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German Pages [384] Year 1998
Barbara Fried, Christina Kaindl, Morus Markard & Gerhard Wolf (Hg.)
Erkenntnis und Parteilichkeit
Kritische Psychologie als marxistische Subjektwissenschaft
Erkenntnis und Parteilichkeit Bericht über den 4. Kongreß Kritische Psychologie an der Freien Universität Berlin Subjektwissenschaft zwischen kapitalistischer Rationalität und der Vernunft der Utopie: Kann/muß Kritische Psychologie heute noch marxistisch sein? Wie ist im Zeichen allenthalben diskutierter Globalisierung des Kapitalismus subjektive Handlungsfähigkeit zu denken? Und wie psychologische Praxis? Wie hat sich das Verhältnis Kritischer als marxistischer Psychologie zu feministischen, postmodernen, psychoanalytischen Ansätzen entwickelt? Probleme, denen sich der - interdisziplinär ausgerichtete Kongreß grundlagentheoretisch und praxisbezogen stellte. Der Band dokumentiert Podiumsveranstaltungen, Einzelvorträge und Arbeitsgruppen des Kongresses. Mit Beiträgen von Elmar Altvater, Ellen Brombacher,Torsten Bultmann, Hansgeorg Conert, Ole Dreier, Frigga Haug, Wolfgang Fritz Haug, Sebastian Herkommer, Hans Heinz Holz, Reinhard Kühnl, Wolfgang Maiers, Morus Markard,Wolf Dieter Narr, Ute Osterkamp, Günter Rexilius, Rainer Seidel, Gisela Ulmann,Justus Wertmüller u.v.a.
Argument Sonderband Neue Folge 254 ISBN 3-88619-254-7 • 39,SO DM
Barbara Fried, Christina Kaindl, Morus Markard & Gerhard Wolf (Hg.)
Erkenntnis und Parteilichkeit Kritische Psychologie als marxistische Subjektwissenschaft Bericht über den 4. Kongreß Kritische Psychologie 6. bis 9. Februar 1997 an der Freien Universität Berlin Veranstalter: Arbeitsbereich Kritische Psychologie an der Freien Universität Berlin AStA der Freien Universität Berlin Bund Demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Gesellschaft für Subjektwissenschaftliche Forschung und Praxis
ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 254
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Erkenntnis und Parteilichkeit : kritische Psychologie als marxistische Subjektwissenschaft ; Bericht über den 4. Kongreß Kritische Psychologie 6. bis 9. Februar 1997 an der Freien Universität Berlin / Barbara Fried ... (Hg.). Veranst.: Arbeitsbereich Kritische Psychologie an der Freien Universität Berlin ... - Berlin ; Hamburg : Argument-Verl., 1998 (Argument-Sonderband ; N.F., AS 254) ISBN 3-88619-254-7 Alle Rechte vorbehalten © Argument Verlag Berlin - Hamburg 1998 Eppendorfer Weg 95a, 20259 Hamburg Tel. 040/4018000 • Fax 040/40180020 Umschlag: Martin Grundmann Druck: Alfa Druck, Göttingen Gedruckt auf säure- und chlorfreiem Papier Erste Auflage 1998
Für Klaus Holzkamp, der 1997 70 Jahre alt geworden wäre
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Inhalt Vorwort
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ERÖFFNUNGSVERANSTALTUNG
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Prof. Heinrich Kemper Grußwort des Dekans der Fachbereichs Erziehungswissenschaften, Psychologie und Sportwissenschaft der Freien Universität Berlin Andrea Güttner Grußwort des Allgemeinen Studentinnen-Ausschusses der Freien Universität Berlin Hans H$inz Holz Marx(ismus) als Bezugspunkt kritischer Wissenschaft Morus Markard Kritische Psychologie als marxistische Subjektwissenschaft
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SUBJEKTWISSENSCHAFT ZWISCHEN KAPITALISTISCHER RATIONALITÄT UND DER VERNUNFT DER UTOPIE
Plenum I Ökonomie und Psychologie I (objektive Bedingungen): Der globalisierte Kapitalismus als individuelle Lebenswelt Elmar Altvater, Ariane Brenssell, Sebastian Herkommer Moderation: Barbara Fried
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Plenum II Ökonomie und Psychologie II (gesellschaftliche Bedeutungen): Nationalismus, Risikogesellschaft, Individualisierung Hansgeorg Conert, Reinhard Kühnl, Werner Seppmann Moderation: Christina Kaindl
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Plenum III Kritische Psychologie, psychoanalytische, feministische und postmoderne Ansätze als Varianten der Kritik des psychologischen mainstream: Gemeinsamkeiten und Differenzen Oliver Decker, Ole Dreier, Arnd Hofmeister, Wolf gang Maierst Jutta Meyer-Siebert, Dieter Sandner Moderation: Morus Markard
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8 GESELLSCHAFTLICHE UND INDIVIDUELLE EMANZIPATION: GROSSE ERZÄHLUNG ODER PRAKTISCHE EINGRIFFE?
Plenum IV (zum Rahmenthema der Arbeitsgruppen) Ute Osterkamp Zum Problem der Subjektbeziehung in der Arbeit Klaus Holzkamps Morus Markard Handlungsfähigkeit und psychologische Praxis ARBEITSGRUPPEN
AG I: Nationalismus / Rassimus Gerlinde Aumann, Reinhard Kiihnl, Corinna Wiesner, Petra Wagner Moderation: Corinna Wiesner AG II: Therapiewidersprüche Jochen Kaipein, Günter Rexilius Moderation: Nadja Katsch
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AG III: Gesundheitspolitik und psychologisches Handeln Ole Dreier; Morton Nissen Moderation: Arnd Wünnenberg
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AG IV: Verschulung der Hochschule Kurt Bader, Hans Hermsen, Gisela Ulmann Moderation: Imke Dierks
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AG V: Schul-Praxis: Handeln im Widerspruch Markus Althoff, Thilo Busse, Rosemarie Straub, Wolf gang Podiesch Moderation: Friederike Bliss
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AG VI: Technik als sozialer Prozeß Peter Doge, Stefan Meretz, Ernst Schraube, Bettina Törpel Moderation: Ernst Schraube
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9 INDIVIDUUM UND ORGANISATION
Plenum V Intellektuelle, individuelles Handeln und politische Organisation: Brauchen wir neue Organisationsformen? Ellen Brombacher, Wolf Dieter Narr, Justus Wertmüller, Vertreter der Antifa (M) Moderation: Gerhard Wolf.
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EINZELVORTRÄGE
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Torsten Bultmann Bildungspolitik im Neoliberalismus Moderation: Barbara Fried
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Zur Dialektik sexualpolitischer Kämpfe Vorbemerkung des Moderators (Morus Markard) Frigga Haug Zur Dialektik sexualpolitischer Kämpfe. Am Beispiel der Politik um sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz
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Wolf gang Fritz Haug Karl Marx und Perspektiven marxistischen Denkens
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Vorwort Am Schluß des Vorworts der ersten Auflage des „Kapitals" unterscheidet Marx zwischen wissenschaftlicher Kritik, deren Urteil ihm jederzeit willkommen sei, und Konzessionen gegenüber der „sog. ,öffentlichen Meinung'", die er nie gemacht habe1. Im Falle der Disziplin „Psychologie", die ja - wissenschaftsförmig - an der Organisation, Produktion und Reproduktion, der sog. öffentlichen Meinung beteiligt ist, liegt die Unterscheidung zwischen opportunistischer Konzession an den common sense und inhaltlicher Einsicht nicht immer auf der Hand - zumal dann nicht, wenn, wie in der Kritischen Psychologie, die - eben marxistischen - Grundlagen des eigenen Ansatzes öffentlich zur Disposition stehen, wenn einem nicht nur der Wind der öffentlichen Meinung ins Gesicht bläst, sondern historische Erfahrungen dazu zwingen, die Grundlagen des eigenen fachwissenschaftlichen Arbeitens in Theorie und Praxis zu überdenken. Um in dieser Situation, in der vieles im Fluß sein muß, sich nicht vom Wind der öffentlichen Meinung treiben zu lassen, bedarf es der Organisation einer - sozialen - Selbstverständigung, der in der Tat, jedes Urteil wissenschaftlicher Kritik ... willkommen" ist (ebd.). Diesem Ziel diente der hier dokumentierte (vierte) Kongreß Kritische Psychologie. Sein Titel „Erkenntnis und Parteilichkeit: Kritische Psychologie als marxistische Subjektwissenschaft" knüpft bewußt an die Frage an, mit deren positiver Beantwortung Klaus Holzkamp vor 20 Jahren unseren ersten Kongreß in Marburg als Programmkongreß definierte: „Kann es innerhalb des Rahmens der marxistischen Theorie eine Kritische Psychologie geben?" Seinerzeit konnte sich die Entwicklung einer genuin marxistischen Subjektwissenschaft als Teil einer lebendigen und streitbaren marxistischen Diskussion verstehen. Doch wo stehen Kritische Psychologinnen heute? Diejenigen, die diesen Kongreß - übrigens gegen viele Bedenken - organisiert haben, sehen sich in einer Situation, eine derartige Diskussion wieder mit anregen bzw. dort, wo sie an uns vorbeiging, wo wir sie vernachlässigt haben, Anschluß daran finden zu müssen. Brisanz wie Aktualität der Besinnung auf marxistisches Denken in der Psychologie liegen darin, daß einerseits mit dem Ausbrennen des realsozialistischen Systems grundsätzliche Diskussionen über Relevanz bzw. Aktualität „des" Marxismus vollends unvermeidlich wurden, andererseits sich aber für den Marxismus - wenn man ihn mit Jameson als Wissenschaft von den Widersprüchen des Kapitalismus faßt2 - sein Gegenstand in der Tat „globalisiert" hat. 1 2
Marx-Engels-Werke, Bd. 25,17 Vgl. Frederic Jameson: Fünf Thesen zum real existierenden Marxismus. In: Das Argument 214, 1996,175-181, hier S. 175.
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Die Wiederaufnahme marxistischer Diskussionen ist für die Kritische Psychologie auch deshalb so dringend, weil Konzepte wie „Emanzipation" und „subjektive Handlungsfähigkeit", mit denen der widersprüchliche Zusammenhang von gesellschaftlicher und individueller Reproduktion psychologisch begreifbar werden soll, ohne Bezug auf aktuelle gesellschaftstheoretische Reflexionen abstrakt werden müssen. Außerdem ist gerade die Psychologie in ihrer genannten Eigenschaft als Sprachrohr wie Stichwortgeberin der „sog. öffentlichen Meinung" sehr empfanglich dafür, psychologisierende Ausblendungen gesellschaftlicher Widersprüche zu wissenschaftlichen Konzepten zu formen. Entsprechend können wir - im Zeichen auf akademische Reputierlichkeit setzender qualitativer, postmoderner, subjektbezogener Ansätze - die Einladung zur systematischen Entpolitisierung der Kritik des psychologischen mainstream beobachten, allemal das Einverständnis, Marx als toten Hund zu betrachten. Wir haben versucht, dem Kongreß einen interdisziplinären Charakter zu geben, weil wir es für wichtig halten, gesellschaftstheoretische Debatten zur Kenntnis zu nehmen, aber auch um erörtern zu können, was denn Vertreter/innen anderer Sozial-Wissenschaften von einer marxistischen Subjektwissenschaft (zu) erwarten (haben). Deshalb nahmen die Plena zu diesen Fragen einen breiten Raum ein. Vor diesem Hintergrund sollten exemplarisch die AG's auf verschiedene Bereiche bezogene Foren zur Diskussion darüber bieten, vor welchen fachlich-praktischen Problemen Psycholog/inn/en heute stehen. Die Plena mit organisations- und wissenschaftspolitischen Themen schließlich waren zur Diskussion der Frage vorgesehen, welche Formen wir nützen bzw. uns schaffen müssen, um dem Sog wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Vereinnahmung den antikapitalistisch-emanzipatorischen Impetus der Kritischen Psychologie entgegensetzen zu können. Es bleibt natürlich den Leser/inne/n überlassen zu beurteilen, inwieweit diese Ansprüche erfüllt werden konnten. Wir hoffen zumindest, daß das hier vorgelegte Material Stoff zur Fortsetzung der Diskussionen bietet, für die der Kongreß ein Forum sein wollte. Uns haben sowohl die (unerwartet hohe) Beteiligung von 400 Interessierten als auch der Verlauf des Kongresses wie die Resonanz auf ihn Mut gemacht, ihn als Auftakt für weitere Veranstaltungen - seien es Kongresse, eher zur Fortbildung gedachte „Ferien-Universiäten", Colloquien, etc. - zu betrachten. Die versammelten Beiträge dokumentieren den argumentativen Verlauf des Kongresses nicht vollständig, da manche der Diskussionen aus technischen und/oder organisatorischen Gründen nicht auf Band oder Video aufgenommen werden konnten. Sofern die Beiträge nicht schriftlich vorlagen, wurden sie transkribiert (und von manchen Autor/inne/n der Schriftform angepaßt; daraus erklärt sich der teilweise unterschiedliche Duktus in den Debatten).
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Aus dem akademischen Betrieb haben wir kaum Förderung zu erwarten. Wir haben aber dem Fachbereich Erziehungswissenschaft, Psychologie und Sportwissenschaft und dem Außenamt der Freien Universität Berlin dafür zu danken, daß sie die Reisekosten für auswärtige Referenten übernahmen und damit die Durchführung des Kongresses erleichterten. Während des Kongreßverlaufs wurde seitens des Dekans des FB Jura mehrfach versucht, die Durchführung des Kongresses durch Verweigerung des Zugangs zu zugesagten Räumen zu verhindern. Wir verdanken es der Unterstützung durch den Dekan unseres Fachbereichs, Prof. Kemper, und dem Umstand, daß der Präsident der Freien Universität, Prof. Gerlach, das Hausrecht an sich zog, daß der Kongreß schließlich ohne weitere Komplikationen oder Maßnahmen wie vorgesehen zu Ende geführt werden konnte. Daß Herr Fuhrmann vom Präsidialamt der Freien Universität am Samstag und am Sonntag persönlich vor Beginn der im Jura-Gebäude vorgesehenen Kongreßveranstaltungen anwesend sein mußte, um eine rechtzeitige Öffnung von Gebäude und Hörsaal zu gewährleisten bzw. zu erwirken, möchten wir gesondert hervorheben. Drei der Herausgeber/innen sind Studierende. Generell: Ohne die Studierenden wäre die Kritische Psychologie wohl nicht entstanden3, ohne sie hätte sie ihren akademischen Bewegungsraum nicht schaffen können, ohne ihre argumentative Unterstützung, ohne ihre Tatkraft und organisatorischen (und improvisatorischen) Fähigkeiten wären Planung, Vorbereitung und Durchführung des Kongresses illusorisch gewesen. Viele Kommiliton/inn/en sind in diesem Band schon als Moderator/inn/en, mit Beiträgen, als Transkribent/inn/en erwähnt. Darüber hinaus sind die zu nennen, die die Video- und Bandaufnahmen ermöglichten, die die Einladungen verschickten, über die Anmeldungen Buch führten und private Unterkünfte organisierten, die Essen und Trinken kauften und vertrieben, an der Erstellung des Programmheftes mitarbeiteten, und, und, und...: Katrin Reimer, Catharina Schmalstieg, Elene Miesbach, Ines Molle, Ingo Leven, Micky Zander, Olaf Petersen, Ulrike Otolski, Merve Winter, Claudia Störtebecker & die Histos, Tilmann SchmittDannert, Christian Modersbach, Achim Müller, Alexandra Eller, Nora Markard, Markus Jensch, Santiago Vollmer, Frank Domhan, Boris Friele, Ina Klingenberg, Ender Cavkaytar, Micky Haque, Sonja Schmidt, Christian Wille, Zlata Cviluzec, Nele Allenberg. Der Kongreß war unsere gemeinsame Sache. Morus Markard Berlin, im Oktober 1997 3
Vgl. Klaus Holzkamp: Die Beziehung zwischen gesellschaftlicher Relevanz und wissenschaftlichem Erkenntnisgehalt psychologischer Forschung (Kritisch-historische Analyse der vorstehenden Aufsätze). In: ders., Kritische Psychologie. Vorbereitende Arbeiten, 1972, Frankurt/M.: Fischer, 207-288.
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Eröffnungsveranstaltung Grußwort des Dekans des Fachbereichs Erziehungswissenschaften, Psychologie und Sportwissenschaft der Freien Universität Berlin, Prof. Heinrich Kemper Denen, die sich bei der Nennung des Fachbereichsnamens gewundert haben, vor allem jenen, die aus der Ferne angereist sind und für die der verstorbene Klaus Holzkamp und das ehemalige Psychologische Institut eine Orientierung bedeuten, sei zunächst gesagt: Seit April 1995 sind die beiden psychologischen Institute an der Freien Universität Berlin, das PI und das IfP, in diesem Fachbereich vereinigt worden. Die Ursachen für die langjährige doppelte Organisationsform des Faches an dieser Universität sind bekannt, ebenso die Zwänge zu ihrer Aufhebung in einer Zeit der schrumpfenden Hochschuletats, des Abbaus und der Forderung nach rationellerer Betriebsführung. Angesichts vieler Befürchtungen sei aber hinzugefügt: Die Zusammenführung der beiden Institute bedeutet nicht, daß die Spezifika der einzelnen Ursprungsinstitute zum Verschwinden gebracht werden sollen. Daß die heutige Veranstaltung, initiiert und geplant von Mitarbeitern und Studierenden am Institut für Kritische Psychologie, einem von sechs Nachfolgeinstituten, in denen sich die Psychologie heute an der Freien Universität darstellt, Wirklichkeit geworden ist, darf als Beleg dafür angesehen werden. Auf dem Weg von der Silberlaube, dem eigentlichen Quartier der Disziplinen unseres Fachbereiches, zu diesem Veranstaltungsort hier im Juridicum fiel mein Blick erneut auf das Plakat, das seit einigen Wochen zur Teilnahme an diesem Kongreß einlädt. Es erweckt Interesse - und erfüllt insoweit seine Funktion - gerade dadurch, daß man nicht unmittelbar und schnell das Wesentliche aufnehmen kann. Wird doch eine Vielzahl von Begriffen aufgeführt, die zunächst wenig miteinander zu tun zu haben scheinen: Risikogesellschaft, Wertegemeinschaft, Psychoanalyse, Globalisierung ... Auch bietet schon unser Fachbereich, von dem ich behaupte, gerade Vielfalt und Pluralität zeichnen ihn aus, in dem Ensemble seiner Disziplinen zu jeder der genannten Kategorien etwas an. Vielleicht haben die Initiatoren einfach nur unser kommentiertes Vorlesungsverzeichnis ausgewertet und einige Signalwörter auf das Plakat gesetzt!? Erst bei genauerem Hinsehen entfaltet sich ein Set von zunächst gegensätzlichen Begriffen: Erkenntnis und Parteilichkeit, Marxismus und Subjektwissenschaft, Ökonomie und Psychologie, Kapitalistische Rationalität und Vernunft, Systemkonkurrenz und Lebenswelt usw. Damit wirkt das Plakat nun doch dem naheliegenden Eindruck postmoderner
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Beliebigkeit entgegen, verweist es doch auf eine uralte Methode des Erkennens, die gemeinhin Dialektik genannt wird. Aber kann und darf man heute noch von der "Parteilichkeit des Erkennens" sprechen, wenn man sofort dem Verdacht ideologischer Verblendung ausgesetzt ist? Darauf Antworten zu finden ist Aufgabe des Kongresses, und es scheint mir ein Verdienst der Initiatoren zu sein, sich dieser Fragestellung anzunehmen in einer Zeit, in der uns im postmodernen Gestus suggeriert wird, Erkennen sei ohne besonderes Interesse und alles sei machbar. Der Fachbereich wird diesen Versuch zugleich unterstützen und kritisch begleiten - in bester dialektischer Manier. Den Veranstaltern und Teilnehmern wünsche ich Erfolg und gutes Gelingen.
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Andrea Güttner Grußwort des Allgemeinen Studentinnen-Ausschusses der Freien Universität Berlin Liebe Leute, für den AStA der Freien Universität möchte ich Euch ganz herzlich zu diesem Kongreß begrüßen und einige Worte vorweg stellen. Seit ca. anderthalb Jahren geht in regelmäßigen Abständen ein Aufschrei durch einen Teil der Studierendenschaft. Der offizielle Spardiskurs und die dazugehörige Metaphorik „den Gürtel enger zu schnallen" machen deutlich, daß der gegenwärtig stattfindende neokonservative Umbau der Gesellschaft die Universitäten voll erfaßt hat. Dies bedeutet vor allem die Rücknahme der bescheidenen bildungsund sozialpolitischen Errungenschaften der 70er Jahre. An den Universitäten sind die Auswirkungen dieser Politik inzwischen deutlich spürbar. Fachbereichen werden die ohnehin nicht sehr üppigen Haushalte gesperrt, Personalstellen massiv gestrichen und Fachbereiche zur Vermeidung eines angeblichen Doppelangebots wie z.B. das PI und IfP zusammengelegt. Hinzu kommt die andauernde Diskussion um Studiengebühren, die es in Berlin und Baden-Württemberg faktisch, in Niedersachsen perspektivisch gibt. Die massiven sozialen Einschnitte die es für Studierende immer schwerer werden lassen, Studium und Lebensunterhalt überhaupt zu finanzieren, lassen die Annahme zu, daß es in nicht allzu kurzer Zeit nur noch einer bestimmten Schicht in der Republik möglich sein wird, eine Hochschule zu besuchen. Hinzu kommen Tendenzen der vollständigen Entdemokratisierung der Hochschulen, die Entziehung des Rechts auf ein allgemein-politisches Mandat der Studierendenvertretung etc.. Beispiele für die tiefe Krise und die politisch gewollte Auflösung der bestehenden Hochschulen gibt es genug. In welche Richtung die herrschende Sozial- und Bildungspolitik geht, ist nicht zu übersehen. Abstrakt betrachtet werden Hochschulen zu Dienstleistungsbetrieben umstrukturiert. Dies bedeutet den Ausbau der Drittmittelforschung, die Auslagerung von Forschungskapazitäten, und für die Masse der Studentinnen Ausbildung statt Bildung. Studentinnen sollen an der Hochschule eine Qualifikation bekommen, die sie als marktwirtschaftlich effiziente und verwertbare Arbeitskraft in die Gesellschaft entläßt. Bildung als demokratisches Recht wird ersetzt durch eine Ausbildung entsprechend den Anforderungen der entwickelten kapitalistischen Ökonomie und des Standorts Deutschland. Im konkreten heißt dies für die Studierenden ein Studium unter massivem Zeit- und Leistungsdruck - wobei Leistung an Schnelligkeit und Scheinen festgemacht wird. Ein wissenschaftliches, reflektierendes Studium wird nur noch in einem engen Rahmen möglich sein, da Lehrange-
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bote nach ihrer marktwirtschaftlichen Effizienz ausgesucht und angeboten werden. Diese kurz skizzierten aktuellen und zukünftigen Problemstellungen ziehen eine sichtbare Konsequenz an den Hochschulen nach sich: kritische Wissenschaft als Lehrinhalte an der Universität sind kaum noch existent, beziehungsweise werden immer weiter abgebaut, statt dessen produzieren die Universitäten in zunehmendem Maße Herrschaftswissen. Ein kritisches Studium gleichbedeutend mit der hinterfragenden Auseinandersetzung mit seinem Fach ist nicht mehr erwünscht. Das Fehlen institutionalisierter emanzipatorischer Wissenschaft an den Universitäten zieht die Problematik der fehlenden kritischen Annäherung an fachbezogenen und gesellschaftlichen Fragestellungen nach sich, da eine konkrete Auseinandersetzung mit dem eigenen Studienfach zu einer kritischen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Verhältnissen fuhren muß. Wir wollen ein Studium erkenntnisorientiert studieren und nicht, wie es heutzutage studiert werden soll, schein- und leistungsorientiert. Der AStA sieht einen Kongreß wie diesen als eine Möglichkeit an, die Strukturen des universitären Normalbetriebs zu durchbrechen. Unser Ziel ist es, kritische Wissenschaften an den Universitäten zu verankern. Wir wollen einen sichtbaren Beitrag zur Neuformulierung eines fortschrittlichen Bildungsbegriffs leisten, der mehr ist, als eine Kritik der herrschenden neokonservativen Bildungs- und Wissenschaftspolitik. In diesem Sinne wünsche ich uns und Euch viel Erfolg.
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Hans Heinz Holz Marx(ismus) als Bezugspunkt kritischer Wissenschaft1 Verehrter Herr Dekan, liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen! Als Herr Markard an mich herantrat mit der Frage, einleitende Worte zur Frage zu sagen, ob Marx und der Marxismus noch ein Zentrum für Orientierungen im wissenschaftlichen Denken sein können, war ich naturgemäß freudig überrascht. Denn nach all den Zusammenbrüchen, die nach dem Scheitern des ersten Versuchs zum Aufbau des Sozialismus in Osteuropa nicht nur in Gesellschaften, sondern auch in Individuen geschehen sind, freut man sich natürlich besonders festzustellen, daß es so etwas wie Kontinuitäten gibt. Vielleicht ist das ein konservatives Gefühl, aber das sehen Sie mir bitte nach. Als ich nun hörte, daß Sie hier zwischen kritischem Sport und rechter Rechtswissenschaft angesiedelt sind, habe ich verstanden, daß Sie auch Orientierungshilfen in diesem Dilemma brauchen, daß Ihr Fachbereich nun auch auch noch seinen besonderen Einigungsvertrag zu bewältigen hat. Unterbrechung durch eine Gruppe, die ein Papier zu Gehör bringt (Holz dazu: „Ist kein Problem"): „Lassen wir die Toten ihre Toten begraben. Nachdem die staatliche Nachfrage nach sozialreformerischer Führungs- und Kontrollintelligenz verstummt ist, ergeben sich gerade für darauf spezialisierte Universäten wie die FU Berlin Schwierigkeiten, die akademischen Restposten loszuwerden. Und auch das parate Material fehlt, wenn Jugendlichen verwehrt wird, ihre Arbeitslosigkeit und Unzufriedenheit auf die lange Seminarbank zu schieben, gelingt den geistes- und sozialwissenschaftlichen Integrationsbeamten nicht einmal mehr, ihre unmittelbare Nützlichkeit für die Aufrechterhaltung der Straßenverkehrsordnung vorzuweisen. Plötzlich wird ihre Geistlosigkeit offenbar.... (Lautes Klatschen und BuhRufe, Rufe: „Aufhören") ... Ihre ganze Lächerlichkeit wird offensichtlich, wenn sie mit schlecht kopierten Gesten und Worten eine abwesende Rebellion.... (Abschalten des Mikros, Rufe: , Auf Wiedersehen"; „Und Tschüß", Zwischenruf: „Könnt ihr nicht mal überlegen, welche Veranstaltung ihr hier stört....; Holz: „Lassen wir doch ein paar Minuten...") Gruppen-Sprecherin: „In solchen Zeiten schlechter Konjunktur sind ungewöhnliche Maßnahmen vonnöten. ... daß reformerische, kritische Wissensproduktion nicht nötig sei. Daß sie es aber nicht ist, sondern nur eine weiche Tour, gesellschaftliche Impulse des Widerstandes ideologisch aufzufangen, ist auch den verklärten Vertreterinnen der kritischen Wissenschaften bekannt. So kommen sie nicht von ungefähr auf den Einfall, die abwesende Rebellion theatralisch zu simulieren und exemplarisch zu kanalisieren. (Pfeifen) um ihre manipulativen Fähigkeiten der kritischen Lehrpflicht zu signalisieren, die dem Anerbieten, mit 1
Die Transkription besorgte Nadja Katsch Der Referent hat den Vortrag ohne Manuskript gehalten und in seiner Überarbeitung den Duktus derfreienRede beibehalten.
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Hans Hein Holz
wahlstrategischer Intention und diskretem Support (unverständl)... entspräche. Da aber ihre Manipulativität die Delegation zum Zweck hatte, ist unter der entfalteten Präformation der Vergesellschaftung dieser Versuch notwendig zum Scheitern verurteilt. Es gibt nichts mehr, was noch integriert zu werden brauchte. So werden sie völlig überflüssig. Die Geschichte der Streikversuche an der FU seit 1993 erweist sich deshalb auch als völlig surreal. Die lächerlichen Bemühungen studentischer Politikanten, die kraft der Identifizierung mit der anonymen Macht der Institutionen, die ihr in den kritischen Autoritäten personifiziert entgegentritt, entfachen einen Sturm für die Uni, der ihnen den Verlust gerade der Basis einbrachte, in deren Kontrolle doch gerade ihr einziger Zweck bestand. Mit schizoider Konsequenz nimmt die studentische Politik seither all die Merkmale an, die dem antistudentischen Widerpart vormals eigentümlich waren und bringt es zur vollkommenen Simulation radikaler Kritik, die seltsamerweise nur auf Demokratisierung der Hochschulgremien und Evaluation der Lehre mit emanzipatorischer Relevanz hinausläuft. Auf dem heutigen Kongreß der Kritischen Psychologie wächst nun zusammen, was zusammengehört: Die Romantik der institutionalisierten Kritik mit der Romantik der institutionellen Revolution. Wir sind sicher, daß sie ihren pseudomarxistischen Bezugspunkt im Willen der Souveränität finden, die sich bereit findet, sich zu ihrem Narren zu machen. Bereits jetzt wird über sie gelacht." (Tumulte) Gruppen-Sprecher: „Die Erklärung dafür findet sich nahtlos in dem Geschwalle, was in den ganzen Seminaren, die hier angeboten werden, stattfinden wird. Wenn beispielsweise der Spezialist für Nationalismus Reinhard Kühnl die kühne These aufstellt, daß jede Klassengesellschaft gezwungen ist, die fehlende soziale Homogenität ideologisch wirksam zu kompensieren, in der nächsten These sagt, die Leistung des Nationalismus für die bürgerliche Gesellschaft liegt darin, daß er die auseinanderstrebenden Kräfte des privaten Egoismus usw, zu bändigen unternimmt, dann kann man sich doch mal fragen: Wird er zu dem Punkt kommen, daß er die Funktion des Nationalismus in der Klassengesellschaft des Ostens analysiert. Und alle können sich vorstellen, warum er das nicht tut." Hans Heinz Holz: Das könnt ihr doch in der Diskussion vortragen. Gruppen-Sprecher: „Eine Diskussion ist überflüssig mit solchen Leuten, die sich so disqualifiziert haben." (Abgang der Gruppe)
Hans Heinz Holz: Ich muß sagen, ich habe ein nostalgisches Gefühl. (Beifall, Heiterkeit.) Was wir jetzt gerade hier gehört haben, erinnert mich so an die Auseinandersetzungen der endsechziger Jahre, daß ich direkt Wehmut bekomme, daß wir das jetzt nur noch in so seltenen Fällen mal erleben. Gibt es noch weitere...? (Lachen) Ich würde nämlich gerne zusammenhängend sprechen, wenn sich also vorher noch irgend jemand zu Wort melden will, dann hat er jetzt noch die Gelegenheit... Als vor sieben Jahren etwa - die Zeit vergeht schnell - dieses Scheitern des ersten Versuchs, eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen, politisch-historisch eklatant wurde und diese Gesellschaften zusammenbrachen, da schien es auch so, als ob die theoretische Grundlage, von der jene Gesellschaften wenigstens meinten ausgegangen zu sein - man kann darüber streiten, ob sie in der Tat von einer korrekten Marxschen Grundlage ausgegangen sind, aber sie meinten ja, davon auszugehen - als ob diese theoretische Grundlage damit also auch dementiert sei. Der universelle Sieg des kapitalistischen Systems weltweit, die Herrschaft, die auch
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über die nicht-kapitalistischen Teile der Welt vom Kapitalismus konnte ausgeübt werden, die ja auch ein Moment des Zusammenbruchs - nicht das einzige, aber ein Moment des Zusammenbruchs der sozialistischen Gesellschaften gewesen ist schien so vollständig und zunächst einmal für lange Zeit unwiderruflich, daß man sich fragte, ob marxistische Wissenschaftsbemühungen nicht nur noch als kleine sektiererische Anwandlungen in den Winkeln außerhalb der eigentlichen Scientific Community stattfinden würden. Nun, die sieben Jahre seit seinem Sieg hat der Kapitalismus gründlich genutzt, um zu zeigen, welche reale Substanz die marxistische Theorie gehabt hat. Was seitdem geschehen ist an Sozialabbau, Vernichtung von Arbeitsplätzen, an Verelendung von Hunderten von Millionen bis Milliarden Menschen in der dritten Welt, was als eine allgemeine Sinnkrise gerade von jungen Menschen heute empfunden wird, was sich als eine weltweite ökologische Krise niederschlägt, der Demokratieabbau, die Kriege, die überall wieder aufflammen und als Stellvertreterkriege für die großen Kapitalinteressen regional geführt werden. All diese Elemente, an denen wir das ablesen können, was uns heute beunruhigt und was Sie auch zu einem solchen Kongreß wie diesem hier treibt, zeigen doch, daß der Kapitalismus nicht jenes System ist, von dem er glaubte versprechen zu können, es sei die beste aller möglichen Welten. Daß wir im Laufe dieser sieben Jahre einen immer weiteren Weg in - ich muß sagen - in die Barbarei gegangen sind, läßt sich an unzähligen kleinen Indizien des Alltags ablesen. Eines dieser Indizien, die mich am tiefsten in den letzten Wochen ergriffen und erschüttert haben, ist die Tatsache, daß von einem Staat, der für sich in Anspruch nimmt, ein demokratischer Staat und ein Mitglied der Vereinten Nationen zu sein, nämlich vom obersten Gerichtshof des Staates Israel in zwei Urteilen die Folter als ein rechtmäßiges Untersuchungsverfahren bezeichnet worden ist: Sogar mit genauer Festlegung, was man dann dürfe und was man nicht dürfe, so wie in der alten karolinischen Halsgerichtsordnung. Gefoltert wird überall in der Welt, das wissen wir. Aber selbst die Türkei und Kenia bestreiten, daß sie es tun, weil sie sich unter den Anspruch der Menschenrechte gestellt haben. Es ist eine neue Qualität, wenn ein oberstes Gericht eines demokratischen Staates plötzlich wieder zurückkehrt zu Untersuchungsmethoden, die wir seit der Aufklärung glaubten überwunden zu haben. Und als ein regelmäßiger Leser der „Neuen Zürcher Zeitung" - Sie werden mir das hoffentlich entschuldigen, es ist ein sehr informatives Blatt - war ich umso erschreckter, als im Anschluß an diese beiden Urteile eine Diskussion sich entspann, in der ein hochangesehener Schweizer Anwalt - Vertreter großer Industrieinteressen - sagte, nun ja, man müsse das in der Tat als eine Frage der Güterabwägung betrachten. Ich sagte, das ist ein Indiz, und wir könnten einen ganzen Abend weiter mit einer Enumeration von Indizien des Regresses uns beschäftigen, aber das ist nicht die Aufgabe
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Hans Hein Holz
der Reflexion, die wir hier zu leisten haben. Die Indizien fuhren uns nur auf die Spuren, denen wir folgen müssen. Däs, was jetzt in meinen Worten zum Ausdruck gekommen ist, dieser Impuls moralischer Empörung, bleibt ja, ohne daß wir ihn in eine methodische Reflexion und dann auch in politische Handlung umsetzen können, hilflos. Ich kann das aus meiner eigenen Biographie sagen. Als ich sechzehn Jahre war, 1943, bin ich von den Nazis eingesperrt worden, weil ich aus moralischer Empörung Flugblätter gemacht habe. Ich habe in der Haft der Gestapo erkennen müssen, daß Moralität zur Veränderung dieser Welt nicht ausreicht, daß es in der Tat mehr braucht, daß es wohl immer auch die moralische Empörung braucht - und ich glaube, Sie spüren, daß die in mir auch lebendig ist - daß es aber immer mehr braucht als die moralische Empörung, daß wir etwas begreifen und wissen müssen über die Verlaufsformen - sagen Sie Gesetze, sagen Sie Regeln, das ist mir egal - Verlaufsformen, in denen geschichtliche, politische Prozesse ablaufen. Das heißt, wir müssen Erklärungen für das, worüber wir uns empören, mitliefern können, um in die Lage versetzt zu sein, mehr als eine unbestimmte Negation in uns großwerden zu lassen. Mehr als eine unbestimmte Negation - und damit spreche ich in der Terminologie Hegels - das ist die bestimmte Negation, die an dte Stelle dessen, was wir ablehnen, eine Alternative setzt. Es war einer der großen theoretischen Mängel - und das sage ich jetzt nur so als Fußnote - der alten Frankfurter Schule, daß sie in ihrer politisch-philosophischen Begriffsbildung der Kategorie der Negativität - denken Sie an Adornos großes Hauptwerk - den alleinigen Vorrang im kritischen Denken gab. Es geht nicht darum, daß wir nur verneinen, sondern es geht darum, daß wir aus einer Konzeption heraus verneinen, die eine positive Alternative gegen das, was wir ablehnen, setzt, sonst haben wir keine Möglichkeit, selbst aktiv zu werden. Hier fängt nun - und ich spreche da ganz persönlich - für mich die Erfahrung mit der marxistischen Theorie an. Ich glaube, daß der Marxismus diejenige Theorie ist, die uns am universellsten ein Erklärungsmodell anbietet für das, was man die Bewegungsformen der Gesellschaft nennen könnte. Sie zeigt den Ursprung dieser Bewegungsformen aus dem Prozeß der Reproduktion der menschlichen Gattung in einer Entwicklung - nun wiederum hegelisch gesagt - eines allgemeinen Systems der Bedürfnisse, das sich immer mehr und immer mehr kompliziert, das immer differenzierter wird, immer neue und abgeleitete Bedürfnisse schafft - das sind ja alles Dinge, die Ihnen natürlich als Psychologen in vielfacher Hinsicht auch vertraut sind. Für einen solchen Prozeß, den man auch den Kultivierungsprozeß der Menschheit nennen kann, entwickelt der Marxismus Grundstrukturen, gemeinsame Grundstrukturen, aus denen heraus wir den allgemeinen Charakter dieser Prozesse begreifen können. Ich hielte es für einen großen Fehler anzunehmen, daß man mit einem solchen geschichtsphilosophischen Modell, und das ist zu-
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nächst einmal der Marxismus als Philosophie, jeden Einzelfall sollte erklären können. Es ist gerade die Dialektik zwischen dem Allgemeinen, dem Besonderen und dem Einzelnen, eine Dialektik, die ihre erste logische Darstellung ja schon in Hegels Wissenschaft der Logik gefunden hat, daß das Real-Allgemeine - und darauf insistiere ich allerdings - das Real-Allgemeine, das die großen gesellschaftlichen Entwicklungsprozesse prägt und determiniert, sich in vielerlei und vielartigen Manifestationen, vielartigen Realisierungsformen ausprägt - und darauf müssen dann in der Tat konkrete Antworten gefunden werden. Ich glaube, daß das zu den großen Impulsen auch gehört, die von den Schriften von Marx selbst ausgehen, daß er zusätzlich zu dem, was er an allgemeinen Gesetzen des Gesellschaftsverlaufs als die Grundlagen des historischen Materialismus entwickelt hat, im einzelnen historischen Fall mit sehr genauer und akribischer Untersuchung dessen, was da vorgegangen ist - man lese etwa den Bürgerkrieg in Frankreich oder solche Schriften - herauszuarbeiten versuchte, wie nun diese allgemeinen Gesetze sich im Besonderen und Einzelnen umsetzen. Dies, glaube ich, ist für Sie, die Sie eine marxistische, oder am Marxismus lernende Subjektwissenschaft betreiben wollen, von höchster Wichtigkeit: nicht sozusagen auf der Ebene des Real-Allgemeinen allein zu bleiben, aber andererseits auch nicht bloß in die Ebene des jeweils Singulären des Einzelfalles sich zu verlieren, sondern den Einzelfall selbst wieder als Manifestation eines Allgemeinen zu verstehen. Das heißt zu sehen, um es noch einmal wieder philosophisch zu sagen, daß sich im Marxismus und in dem, was Marxismus als Wissenschaft einer politischen Praxis auch bedeutet, ein altes philosophisches Problem, das Universalienproblem, auf neue Weise stellt: Das Verhältnis von Allgemeinem und Einzelnem. Und mit dem Universalienproblem natürlich auch die Frage nach allgemeinen Wahrheiten, die aussagbar sind, die nicht in postmodernistischen Beliebigkeiten pluraler Meinungen sich verlaufen, sondern hinter denen, wie auch immer sie perspektivisch von jedem einzelnen nur gewonnen werden können, doch der Anspruch steckt, eine Wahrheit damit zu meinen. Es gibt für dieses Verhältnis von Perspektivität der einzelnen Erkenntnis zu dem, worauf sich alle die einzelnen unterschiedlichen Perspektiven beziehen, ein wunderschönes Bild bei Leibniz. Leibniz spricht einmal von einem Wanderer, der um eine Stadt geht, und von jedem Punkt aus auf diesem Rundweg um die Stadt sieht er die Silhouette der Stadt auf eine andere Weise: die Türme stehen anders zueinander, er hat immer ein anderes Bild der Stadt, aber: es ist immer dieselbe eine Stadt, die gesehen wird. So verhält es sich auch mit dem Verhältnis von Pluralität der Perspektiven und der einen Wahrheit: Natürlich haben wir immer nur perspektivische Standorte, von denen aus wir einen bestimmten Blick auf die Sachverhalte, die wir erkennen wollen, gewinnen, aber alle diejenigen, die sich bestimmten Sachverhalten zuwenden, wenden sich demselben Gegenstand zu, und es muß sich irgendwo zeigen lassen und
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finden lassen, wo dieser gemeinsame Gegenstand in den unterschiedlichen methodischen Zugängen, unterschiedlichen Perspektiven als gemeinsamer Gegenstand wieder auftaucht und sich in seiner Identität festhalten läßt. Dieses scheinbar sehr abstrakte Problem der Erkenntnistheorie hängt nun aufs allerengste zusammen mit dem, was Sie hier zum Thema Ihres Kongresses gemacht haben, mit der Frage nämlich nach dem Verhältnis von Erkenntnis und Parteilichkeit. Und ich halte es für eine der ganz großen Leistungen marxistischer Theoriebildung, daß seit den Anfangen von Marx und Engels - schon vor der Deutschen Ideologie, schon in der Kritik des Hegeischen Staatsrechts oder in den philosophisch-ökonomischen Manuskripten finden Sie das - kenntlich gemacht wird, daß es keine wahre Erkenntnis gibt, die nicht zugleich eine parteiliche Erkenntnis ist. Aber was heißt das? Sie haben sich - und der Herr Dekan hat darauf ja schon hingewiesen - mit diesem Thema natürlich auf ein Reizwort eingelassen. Einerseits könnte die Auffassung von der Parteilichkeit der Wissenschaft soweit trivialisiert und banalisiert werden, daß man sagt, nun ja, natürlich, jede Wissenschaft ist parteilich dafür, daß sie das Objektive, das Richtige, das Wahre will und daß sie die Lüge, das Falsche, das Unrichtige ablehnt. Das schiene mir eine Trivialinterpretation des Begriffs Parteilichkeit zu sein. Auf der anderen Seite haben wir die üblen Erfahrungen gemacht - nicht nur in den sozialistischen Systemen, wir kennen das ja beispielsweise auch aus der Tradition der katholischen Kirche -, daß in einer Organisation ein Träger der Institution den Anspruch erhebt, die alleinige Wahrheit zu vertreten, oder Richter darüber zu sein, was alleinige Wahrheit ist oder was als Wahrheit zu gelten habe. Zwischen diesen beiden Extremen - das eine ist so falsch wie das andere, die Trivialisierung so falsch wie diese Zuspitzung auf einen Dogmatismus einer Unfehlbarkeitsdoktrin - zwischen diesen beiden Extremen muß die Erkenntnis, daß Wissenschaft und Erkenntnis immer parteilich ist, sich selbst richtig bestimmen und definieren können. Ich sagte mit dem Gleichnis von Leibniz schon, daß jede Wissenschaft, jedes Wissen, das wir von der Welt haben, standortbezogen ist, und der Standort ist nicht nur, wie das Leibniz-Bild evoziert, ein räumlicher, sondern es ist wirklich auch ein Standort in der Zeit. Denn wir sehen eine Welt mit den Augen des Zeitgenossen des Jahres 1800 anders als heute, und natürlich völlig anders und vielleicht nicht einmal mehr nachvollziehbar als die Zeitgenossen des Jahres 1300. Und ich habe mit Bewußtsein Zeiten genannt, die alle einen revolutionären Gehalt hatten. So sehr wir uns beispielsweise in der revolutionären Bewegung des ausgehenden Mittelalters wiederentdecken mögen - in dem Materialismus der aristotelischen Linken, wie Ernst Bloch das genannt hat, in den sozialen Bewegungen des Ausgangs des Mittelalters - ich glaube, wir müssen doch den ungeheuren Abstand des Blickwinkels und der gesamten psychischen Struktur der damals lebenden Menschen zu uns mitdenken,
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wenn wir daraus historische Erkenntnis und nicht nur schlechte Analogien gewinnen wollen. Also Standortbezogenheit sowohl in Bezug auf den Zeit-Ort, an dem wir uns befinden, als auch in Bezug auf den räumlichen Ort. Auch das läßt sich sehr schön geographisch zeigen an einer Anekdote: Vor zwei Jahren habe ich den Vorsitzenden einer der drei indischen kommunistischen Parteien kennengelernt. Ich hatte damals gerade das Büchlein über Niederlage und Zukunft des Sozialismus veröffentlicht, und er lachte und sagte, „Ja, ihr redet da in Europa immer vom Scheitern des Sozialismus, von einer Niederlage. Wir in Indien haben drei kommunistische Parteien, die inzwischen auch wieder gut miteinander zusammenarbeiten, wir haben zusammen über eine Million Mitglieder, bei uns passiert nichts ohne uns. Wir sind weder gescheitert noch haben wir eine Niederlage erlitten." Das ist eine räumliche Verschiebung der Perspektive, wenn man in Kalkutta oder Neu-Delhi sitzt, gegenüber der Perspektive, wenn man in Dahlem-Dorf sitzt. Die Standortbezogenheit ist nicht nur eine des Raumes und der Zeit, sondern auch eine der jeweiligen individuellen Lage. Das heißt, wir haben es bei jedem Menschen, der Erkenntnis gewinnt, und indem er Erkenntnis gewinnt, ein Allgemeines erkennen will, doch mit jemand zu tun, der diese Erkenntnis im Durchgang durch seine individuellen Erfahrungen gewinnt. Diese individuellen Erfahrungen hängen wieder aufs engste mit den Interessen zusammen, die er hat. Und ich meine damit keineswegs immer nur materielle Interessen, sondern das können Interessen jeder Art sein, die sein Leben bestimmen, die Ziele, die er sich setzt. Das besagt zunächst einmal, daß die Erkenntnis, die wir von einer Sache gewinnen, auch wenn wir sie unter dem Gesichtspunkt gewinnen, wir wollen etwas Allgemeines an ihr erkennen, immer gefiltert ist durch die Singularität des Standorts, zeitlich, räumlich, individuell usw. Interessen, an denen ich eine Erkenntnis über einen Sachverhalt gewinne, fuhren mich auf Einsichten, aber sie bleiben mit den Zwecken, die ich mir setze, verknüpft. Das heißt, ich kann im Grunde genommen, wenn ich nicht mich ganz aus den Lebenszusammenhängen, in denen ich als volles Subjekt stehe und nicht vielleicht nur als Papyrologe oder jemand, der eine ganz besondere spezialisierte und von praktischen Zusammenhängen abgelöste Wissenschaft betreibt, wenn ich mich als Subjekt verstehe, von diesen Interessenzusammenhängen nicht abkoppeln. Das war die richtige Einsicht, die einem Buch zugrunde lag, das in jenen aufgeregten Jahren, von denen wir jetzt gerade eine Wiederauflage erlebt haben, Jürgen Habermas unter dem Titel „Erkenntnis und Interesse" geschrieben hat. Erkenntnisse sind interessengeleitet. Sie dürfen aber in der Verallgemeinerungsfahigkeit dessen, was gedacht wird, nicht einfach Ausdruck der Singularität, der Individualität der eigenen Zwecksetzungen sein. Damit würde sozusagen der Allgemeinheitscharakter wegfallen. Aber sie können auch nicht verallgemeinerungsfahig sein, wenn sie nicht von solchen singulären Zwecksetzungen und Interessenzusam-
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menhängen, Subjektkonstituentien, ausgehen. Die dialektische Logik hat für diesen Sachverhalt eine logische Formel ausgearbeitet, die bei Hegel in der Wissenschaft der Logik zum ersten Mal voll entwickelt da ist, die er das übergreifende Allgemeine nennt. Das Allgemeine ist Gattung seiner selbst und seines Gegenteils, des Besonderen. Das heißt, das Besondere ist sozusagen im Allgemeinen, als ein Element des Allgemeinen, aufgehoben, aber - und das ist nun die raffinierte Sache, die mich auf die Spur eines ganz anderen Widerspiegelungsbegriffs gebracht hat, als er in den trivialen Abbildtheorien vertreten wird: Dieses übergreifende Allgemeine läßt sich auch umgekehrt lesen. Das Allgemeine ist auch vom Besonderen übergriffen, und das steht auch bei Hegel schon im dritten Band der Hegeischen Logik, in der Begriffslogik. Das läßt sich jetzt noch ein Stück weiter interpretieren: Wenn wir unter dem Gesichtspunkt der logischen Subsumtion - also des Wissens der Wissenschaft - vorgehen, dann erkennen wir alles Besondere immer als ein unter das Allgemeine zu subsumierendes Besonderes. Damit haben wir die klassische Klassifikationslogik als Modell. Wenn wir aber nicht vom Begriff, vom Status des Begriffs ausgehen, sondern wenn wir vom Status der Sache selbst, wie das bei Hegel heißt, also des gegenständlichen Objekts ausgehen, des Seienden, dann stellt sich heraus, daß gerade die Singularität des einzelnen Seienden es ist, von der das daraus abzuleitende Allgemeine als ein Moment dieser Singularität erscheinen kann, und dieser Gedanke taucht ja dann wieder auf in den Leninschen Hegelkonspekten, wo Lenin eine Anmerkung zu Hegel macht: das Einzelne ist das Allgemeine, mit mehreren Ausrufezeichen. An anderer Stelle weist er noch einmal darauf hin, daß das sozusagen ein Kernpunkt der Dialektik sei. Wir haben also ein spiegelbildliches Verhältnis zwischen der logischen Struktur einer Wissenschaftslogik und der ontischen Struktur, der Seinsstruktur, von Sachverhalten, der Sache selbst: Und nur wenn wir dieses als ein Spiegelverhältnis verstehen können, können wir auch verstehen, in welcher Weise wir unsere begriffliche Erkenntnis als ein Moment der Praxis wieder gebrauchen können, daß sie ein konstituives Moment der Praxis ist; denn insofern sie als Spiegelbild des ontischen Verhältnisses in Erscheinung tritt, ist sie ein Moment unserer gegenständlichen Tätigkeit, wie Marx das genannt hat: unseres gegenständlichen Verhältnisses, praktischen Verhältnisses zu den Dingen in der Welt. Dieses praktische Verhältnis aber - und damit bin ich wieder bei der Standortbezogenheit ist ein Verhältnis, das sich immer nur konkret, hic et nunc, hier und jetzt, an einem bestimmten Standort unter einer bestimmten Perspektive realisiert. Eine Erkenntnis, die den Begriffscharakter des Begriffs, nämlich Begriff von einer Sache zu sein, selbst reflektiert, die also nicht den Begriff hypostasiert, oder nicht in einer kruden Materialität der Dinge an sich versinkt, denkt immer die Determinanten ihres Standorts mit. Nur eine solche Erkenntnis, die dieses Spiegelverhältnis von Begriff und Gegenständlichkeit selbst zu reflektieren vermag, liefert uns einen Argu-
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mentationsstrang, eine Argumentationsstrategie, von der aus wir den Zusammenhang von Erkenntnis und Parteilichkeit nicht einfach als eine Wahlentscheidung, sondern als eine Folge einer begrifflichen Deduktion auch verstehen können. Ich weiß, das klingt zunächst alles wahrscheinlich für Sie sehr abgehoben von realen Sachverhalten, mit denen Sie es zu tun haben. Aber wir sind ja hier im Raum der Wissenschaft. Wissenschaft verhält sich immer im Verhältnis zu den Sachen abgehoben, insofern sie die Sachen auf Begriffe bringt, in Kategorien, in ein Kategorialsystem auslegt. Wenn wir dieses Spiegelverhältnis nicht denken, dann geraten wir in die Gefahr, daß wir entweder den Begriff der Parteilichkeit so trivialisieren, wie ich das als das eine Extrem am Anfang sagte, oder wir geraten in die Gefahr, daß Wissenschaft mediatisiert wird zu einem bloßen Instrument einer Praxis, die aus anderen Quellen als denen einer reflektierten Erkenntnis der Praxis gespeist wird. Wenn es also darum geht: Kann Wissenschaft orientierend in dieser Welt uns handlungsleitend helfen, dann ist diese Reflexion dieses Verhältnisses conditio sine qua non. Dies aber denkt zum ersten Mal systematisch die Maixsche Theorie. Hegel hat darauf verzichtet, die Gegenstandsseite zur Entwicklung des Begriffs auszuarbeiten. Er hat die Entwicklung des Begriffs in einer ungemein differenzierten Weise als System dargestellt, aber das Verhältnis der Entwicklung des Begriffs zu den Sachen selbst ist nicht mehr Gegenstand Hegelscher Philosophie gewesen. Darum kann Marx sagen, er will Hegel vom Kopf auf die Füße stellen. Daß die Philosophie auf dem Kopf geht, hat ja Hegel selbst gesagt, die Marxsche Metapher ist eine Anknüpfung an ein Hegelwort, er sagt: bitte, Hegel hat gesagt, er geht auf dem Kopf, jetzt müssen wir das wieder auf die Füße stellen. Und auf die Füße stellen heißt, daß wir den Begriff, also die Kopflastigkeit, als den Begriff von den Sachen selbst und als das Verhältnis von Begriff und Sache selbst zu definieren vermögen. Das, denke ich, ist die Aufgabe einer praxisorientierten Wissenschaft, daß sie das immer mitreflektiert. Und darum meine ich, daß jede Subjektwissenschaft, die es ja zunächst immer mit dem individuellen Subjekt, aber doch mit dem individuellen Subjekt in seinen geschichtlichen Verflechtungen zu tun hat, dies mitdenken und mitleisten muß. Dies hat die theoretische Konsequenz, die ich anzudeuten versuchte. Es hat aber auch eine ganz persönliche Konsequenz. Es ist meine Erfahrung eines langen wissenschaftlichen Lebens, daß die politische Entscheidung, die ich am Anfang meines Lebens getroffen habe, zu einem kämpferischen Marxisten zu werden, sich auch als eine notwendige Konsequenz meiner wissenschaftlichen Einsichten ergeben hat. Ich danke Ihnen. (Beifall) Ich möchte noch ein Wort sagen. Das, was ich jetzt alles gesagt habe, ist eine Erfahrung eines langen Lebens. Ich bin ein alter Mann, ich werde
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jetzt 70 in diesem Monat. Es ist eure Aufgabe, ihr seid jung, jetzt von diesen Erkenntnissen aus weiterzugehen - nicht sie einfach hinzunehmen, sondern damit weiterzuarbeiten und zu denken, um unsere Welt besser zu machen.
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Morus Markard Kritische Psychologie als marxistische Subjektwissenschaft Klaus Holzkamp, der in diesem Jahr 70 Jahre alt geworden wäre, war, wie jeder hier wohl weiß, von überragender Bedeutung für die Begründung der Kritischen Psychologie und ihre Entwicklung zu einer marxistischen Subjektwissenschaft. Wenn ich im folgenden vor allem auf sein Werk Bezug nehmen werde, so ist dies sachlich ebenso unvermeidlich wie von mir persönlich intendiert: Dieser (vierte) Kongreß Kritische Psychologie, der nach einer langen Unterbrechung von 12 Jahren stattfindet, soll Klaus Holzkamp und seinem Werk gewidmet sein. Daß es eine Psychologie als Einzelwissenschaft überhaupt geben muß, ist alles andere als selbstverständlich, wenn man nicht das bloße Faktum der Etabliertheit der Psychologie zum Maßstab erheben will - die Etabliertheit einer Psychologie, die changiert zwischen akademischem Methodenkanon, der - mit Marx gesprochen - das „Zeugnis der Sinne verkürzt zur Sinnlichkeit der Geometrie", und psychoboom-induziertem, therapeutisch gemeintem Sprachmüll, der seinen einzig würdigen Platz in Walther Killys Sammlung „Deutscher Kitsch" fände, etwa zwischen Winnetous Christianisierung und einem Poesie-Album ä la Hedwig Courths-Mahler. Die Funktion jedenfalls, die die Psychologie zwischen hartem nomothetischen Machtkalkül und theapeutisch-sanfter Integration, zwischen Repressionsoptimierung und der Personalisierung gesellschaftlicher Widersprüche hat, läßt sich weit zurückverfolgen - hier mag ein frühes Selbstzeugnis genügen: Ellwood stellte schon 1898 die Sozialpsychologie in direkte Konkurrenz zum Sozialismus1: „Wenn die Sozialpsychologie die Vollkommenheitsstufe erreicht hat, in der sie eine Doktrin sozialer Verbesserung oder einer 'sozialen Teleologie' hervorbringen kann, dann tritt möglicherweise eine andere Person neben den Sozialisten, die genau weiß, was sie für die Verbesserung der Gesellschaft tun will; diese Person wird der Sozialpsychologe sein." Dessen Methoden seien vielleicht nicht so schnell, dafür aber wissenschaftlich, in der „Kenntnis des Wesens des sozialen Prozesses", begründet. Wie ähnlich sich Sozialpsychologen und Sozialisten in ihren Illusionen sein oder gewesen sein mögen: Sicher ist, daß - in Anlehnung an Don Martindale formuliert - die Entstehung der Sozialpsychologie eine „konservative Antwort auf den Sozialismus" war. Zu diesem psychologischen Konservativismus in der „Moderne" gehörte die - sozusagen praepostmoderne - Vorwegnahme der postmodernen Aufkündigung des Fortschrittsgedankens, die Aufkündigung der fundamentalen Veränderung der kapitalistischen Gesellschaft. Stattdessen diskutierte man die Konzepte 'social change' und 'social control', beständigen sozialen Wandel, flexible Anpassung im Rahmen des öko-
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nomisch-strukturellen status quo - unter der Kontrolle oder Steuerung der in ihrer Herrschaft Unanalysierten und Uangetasteten. Insofern war die Psychologie schon immer irgendwie postmodern, und so wundert es nicht, daß Smith, Harre und Langenhove die Jetztzeit, die Zeit der ökonomischen Realverallgemeinerung und ideologischen Universalisierung des Kapitalismus, als eine „aufregende Zeit für die Psychologie" bejubeln, für eine Psychologie eben, die mit gesellschaftlichen Verhältnissen nicht wirklich theoretisch etwas am Hute hat. Sie sehen das „Aufregende" am, wie sie meinen, „neuen Paradigma", das in Feldforschung, Diskursanalyse, Beachtung dynamischer Interaktionen und im Personenstatt Variablenbezug bestehe. Eigentlich ist das im wesentlichen die Wiederkehr vorbehavioristischer Denkweisen, der skizzierten Ursprünge der Sozialpsychologie. Aber darüber, daß Psychologen sich gelegentlich in der Weise reproduzieren, daß sie „das Rad wiedererfinden", haben sich Miles & Huberman schon vor gut 10 Jahren mokiert.3 Wie auch immer: Das Schwungrad der Psychologie war und ist jedenfalls die kapitalistische Durchstrukturierung der Gesellschaft - mit in Bewegung gehalten von einer stramm antimarxistischen scientific community mit den üblichen Zitierkartellen, Stellenpfründen, institutionellen Ausgrenzungen und materiellen Selektionen. All das und noch viel mehr, wie Rio Reiser (der leider nie „König von Deutschland" wurde) gesagt hätte, belastet natürlich konzeptionell und politisch die Vorstellung von einer marxistischen Psychologie. Deswegen nimmt es nicht wunder, daß Klaus Holzkamp den ersten Kongreß Kritische Psychologie, der vor genau 20 Jahren, 1977 nämlich, stattfand, und der auch ein Programmkongreß war, mit der Frage eröfffnete „Kann es innerhalb des Rahmens der marxistischen Theorie eine Kritische Psychologie geben?" Kann also - gegen die seinerzeit und nach wie vor vorfindliche bürgerliche Psychologie - eine marxistische Psychologie als möglich oder gar notwendig begründet werden? In der kürzestmöglichen Zusammenfassung beantwortete Klaus Holzkamp die von ihm gestellte Frage mit „Ja" und zwar in Auseinandersetzung u.a. mit zwei anderen Vorstellungen: Erstens mit deijenigen, daß menschliche Subjektivität auf den bloßen Schnittpunkt der ökonomischen Bedingungen zu bringen sei: Dann braucht man überhaupt keine eigene Wissenschaft „Psychologie", Subjektivität ist dann nur unselbständiges Moment der Gesellschaftstheorie. Diese Vorstellung läßt sich allerdings als eine krude psychologische Milieutheorie fassen, in deren Bann Menschen immer nur als bedingt und bewirkt, nicht aber als bewirkend und Bedingungen verändernd begriffen werden können. Dies abzulehnen, bedeutet allerdings noch nicht unbedingt, daß es im arbeitsteiligen Gesamt der Wissenschaften eine gesonderte Einzelwissenschaft „Psychologie" geben müsse4; Sinn bzw. Notwendigkeit eines Faches ergeben sich ja nicht aus seiner bloßen Fak-
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tizität. Es ist durchaus offen, ob die akademische Psychologie das sinnvollste Umfeld für die Thematisierung menschlicher Subjektivität ist. Holzkamp hat dieses Problem in einem Interview, das 1992 durchgeführt und kürzlich in der Zeitschrift „Argument" posthum veröffentlicht wurde, so dargestellt: „Ich würde sagen, innerhalb der Psychologie gibt es für uns keine richtige Perspektive. Es ist schon grotesk, aber das liegt auch an dem Jammerfach Psychologie."5 Er meinte in diesem Zusammenhang, daß „wichtige" Fragen eher in anderen Disziplinen wie etwa der Soziologie und dort entstandenen Arbeitsrichtungen diskutiert würden. Aufschlußreich ist in diesem Kontext, daß wir nicht von Subjektpsychologie oder einer Subjekttheorie innerhalb der Psychologie, sondern von SubjektWissenschaft reden, ein Terminus, der disziplinare Zuordnungen, Eingemeindungen oder Verpflichtungen, etwa auf das Methoden-Corpus der Psychologie, das auf die rücksichtslose Zerstörung von Mitmenschlichkeit gerichtet ist, vermeidet. Die Frage, wo die Perspektive einer Subjektwissenschaft liegt, ist allerdings von dem Problem zu trennen, daß Kritische Psychologie institutionell in diesem Fach entstand und existiert und mindestens in ihrer Kritik dieses von Holzkamp so genannten „Jammerfachs" auch auf die Psychologie bezogen bleiben muß - in Theorie und Praxis6. Inwieweit Subjektwissenschaft theoretisch zum Verständnis und praktisch zur Lösung der Probleme der Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft beitragen kann, ist wesentlicher Aspekt der Plena und Arbeitsgruppen dieses Kongresses. Die zweite Position, mit der sich Holzkamp bei der Beantwortung der Frage „Kann es innerhalb des Rahmens der marxistischen Theorie eine Kritische Psychologie geben?" auseinanderzusetzen hatte, war der Vorschlag, die vorfindliche akademische Psychologie links (oder rechts) liegen zu lassen, die Beschäftigung mit Subjektivität der Psychoanalyse zu überantworten und diese so mit dem Marxismus zu kombinieren, daß dieser den gesellschaftsseitigen Part übernehme. Diese Position haben z.B. 1988 Leithäuser & Volmerg aktualisiert7. Das hierbei auftauchende Problem besteht aber darin, wie etwa auch Richard Lichtman8 meint, daß die Psychoanalyse mit ihrem antigesellschaftlichen Triebmodell ja gerade kein mit dem Marxismus vereinbares Konzept des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft besitzt, was Oliver Decker möglicherweise etwas anders sieht, wie er morgen vielleicht darlegen wird. Die theoretische Aufgabe, den Zusammenhang von Individuum und Gesellschaft in seinen Widersprüchen zu fassen, werde verstellt, wenn die dabei anvisierten wissenschaftlichen Bezugssysteme für die Fragen von Subjektivität und Gesellschaft sich widersprechen. Dies heißt jedoch nicht, daß die Psychoanalyse für die Entwicklung der Kritischen Psychologie zur marxistischen Subjektwissenschaft nicht von Bedeutung gewesen wäre. Notwendig dafür war allerdings, ihr kategoriales Niveau und ihre inhaltliche Problematik auseinanderzuhalten9, was ich hier nicht weiter ausführen kann.
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Gegenüber beiden genannten Vorstellungen - 'Subjektivität als Schnittpunkt ökonomischer Dimensionen' und 'Ergänzung des Marxismus durch Psychoanalyse' - verstand sich Kritische Psychologie selber als Alternative, nämlich als genuin marxistische Subjektwissenschaft mit dem Programm des Begreifens menschlicher Existenz aus der Rekonstruktion der widersprüchlichen Einheit von Natur-, Gesellschafts- und Individualgeschichte. Was es damals zu klären gab, war die Vereinbarkeit einer eigenen Subjektwissenschaft mit marxistischem Denken, nicht grundsätzlich in Frage stand Relevanz marxistischen Denkens fur das Nachdenken über Subjektivität. Dies entsprach in gewisser Weise dem Geist der Zeit: In unserer Einladung zu diesem Kongreß schrieben wir, daß seinerzeit der Bezug auf marxistisches Denken durch eine lebendige marxistische Diskussion und gewisse linke Selbstverständlichkeiten erleichtert wurde. Sie wurde auch durch die Existenz und das Wirken fundamental oppositioneller sozialer Bewegungen erleichtert.
Kritische Psychologie ist in gewisser Weise aus den seinerzeitigen sozialen Bewegungen hervorgegangen; und wie jede marxistische Theorie ist sie in ihrer praktischen Entfaltung an antikapitalistische soziale Bewegungen und deren Entfaltung gebunden, ein durchaus wechselseitiger Prozeß. Der Versuch, davon getrennt, allein oder zuvörderst binneninstitutionell Positionen zu gewinnen, Einfluß auszuweiten, birgt m.E. die klassische Gefahr der Sozialdemokratisierung. Dieser Kongreß ist von einem gegenläufigen Impetus getragen. Wenn Adorno formuliert, „für den Intellektuellen ist unverbrüchliche Einsamkeit die einzige Gestalt, in der er Solidarität noch zu bewähren vermag"10, ist das wohl als Empfehlung zu interpretieren, Ausgrenzung auszuhalten, und darin die theoretischen Arbeiten zu leisten, die das Wiederaufleben einer antikapitalistischen Bewegung braucht, sich dafür Kopf und Zeit freizuhalten. Demi heute ist ein Bezug auf Marx alles andere als selbstverständlich11. Die Brisanz der Besinnung auf die marxistischen Wurzeln der Kritischen Psychologie liegt natürlich vor allem darin, daß mit dem Ausbrennen des realsozialistischen Systems auch grundsätzliche Diskussionen über „den" Marxismus vollends unvermeidlich wurden, an denen wir uns, wie ich jedenfalls meine, nur unzureichend beteiligt haben. Ich denke: Wir sind heute in der Situation, eine Diskussion um die Bedeutung des Marxismus für die (Kritische) Psychologie wieder mit anzuregen bzw. dort, wo sie an uns vorbeiging, wo wir sie vernachlässigt haben, Anschluß daran finden zu müssen. Diese Diskussionen sind keine rein akademischen, ihr politischer Charakter ist überdeutlich. Das ist übrigens nicht neu. In einer Auswertung des 1. Kongresses Kritische Psychologie schrieben Wolfgang Maiers und ich: „Kritische Psychologie entstand und existiert als wissenschaftlicher Ansatz im politischen Kampf."12 Was sich geändert hat, ist allerdings die gesellschaftliche Situation, in der dieser politische Kampf statthat. Hermann Gremliza gab ironisch zu erwägen, es sei angesichts der
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politischen Entwicklung durchaus verständlich, daß manche „nach all den bitteren Enttäuschungen, welche die abhängigen, aber undankbaren Massen, die erniedrigten, aber seltsamen Völker und das politische Leben überhaupt ihnen bereitet haben, resigniert und ihre Bemühungen, die sie 'Kampf zu nennen pflegten, aufgegeben haben. Ihre Kapitulation ist eher zu gut als schwer verständlich, und wer für den Rest seiner Jahre sich ins bürgerliche Leben zurückziehen will, der gehe in Frieden. ... In Frieden heißt: Er gebe Ruhe. Und dekoriere seine Kapitulation nicht als Lernprozeß und Läuterung, die aller Welt täglich kund zu machen die Pflicht des Bekehrten sei."13 Aus der Sicht flexibel sich häutender Immerheutiger ist der, der das sagt, sicher ein Ewiggestriger. Was notwendig ist, ist eine marxistische Selbstverständigung gegen die allfallige subjektive Not, sich zu wenden, gegen den Druck, sich zu normalisieren, endlich beim Normalen mitzumachen. Diese Selbstverständigung ist die eigentliche Aufgabe dieses Kongresses, der insofern, wie der erste Kongreß Kritische Psychologie ein Programmkongreß ist - diesmal gegen den Zeitgeist. Die Frage des Kongresses lautet also heute nicht mehr „Kann es innerhalb des Rahmens der marxistischen Theorie eine Kritische Psychologie geben?" Aktuell ist die Frage „Kann es jenseits marxistischen Denkens eine Kritische Psychologie geben?" In der kürzestmöglichen Zusammenfassung ist die Antwort „nein", die ich freilich noch ein wenig zu erläutern mir die Gelegenheit nehmen will.14 Wir haben natürlich lernen müssen, daß es zwar Karl Marx, aber nicht „den" Marxismus im Singular gibt, weil er sich historisch verändert und durch Theoretikerinnen wie soziale Bewegungen verschiedene (positive) Bezugnahmen und Veränderungen erfahrt. Die Rede von dem Marxismus ist aber dann zulässig, wenn globalisierend je auszuführende Charakteristika marxistischen Denkens gegenüber anderen Grundansätzen etwa der Psychoanalyse - gemeint sind. Nur in diesem Sinne ist hier von „dem" Marxismus - und übrigens auch „der" Kritischen Psychologie die Rede. Ich sehe mindestens drei Bezüge Kritischer Psychologie auf das von Marx begründete Denken: 1. die Spezifizierung und Anwendung des logisch-historischen Verfahrens zur Fundierung psychologischer Grundbegriffe, also Kategorien, 2. den Bezug auf die Resultate Marxscher und marxistischer gesellschaftstheoretischer Analysen als Voraussetzung für psychologische Bedeutungsanalysen und 3. die Nutzung und Konkretisierung der v.a. in der Warenanalyse enthaltenen psychologischen Bedeutungsmomente wie „objektive Gedankenformen". In diesen Bezügen wurde das vorhin erwähnte funktionskritische Moment gegenüber der Psychologie in eine positiv verstandene emanzipatorisch-parteiliche Konzeption eingebunden, in die Entwicklung von der
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Kritik der Psychologie zur marxistischen Subjektwissenschaft. (Der letztere Begriff ist m.E. auch deshalb günstig, weil er nicht nur die terminologische Fixierung auf die Psychologie interdisziplinär lockert, sondern auch mit seinem Bezug auf Subjektivität - etymologischen Uneindeutigkeiten zum Trotz - die Bedeutung des aktiven Eingreifens in die Verhältnisse nahelegt.) Die Funktionskritik bezog sich immer auch auf die Gesellschaft, in der und für die die Psychologie funktional war - in ihrer Umdeutung von objektiver Beschränkung in subjektive Beschränktheit, in ihrem Heilsversprechen, menschliches Leiden unter Ausklammerung der Lebensumstände, aus denen es verständlich wird, kurieren zu können, in der Fixierung auf unmittelbare Situationen und der Ausklammerung übergreifender Strukturen. Insofern repräsentiert marxistische Subjektwissenschaft den Anspruch der Einheit von Psychologie- und Gesellschaftskritik. Er ist vermittelt mit der antikapitalistischen Vorstellung gesellschaftlicher Emanzipation, mit der Kritik der Auflösung des Fortschrittsgedankens in den bloßen social change, mit dem Kampf um subjektive Bestimmung statt social control, mit der Absage an den „sozialdemokratische^) Automatismus an sich, als Aberglaube an die Welt, die von selber gut wird", wie es Bloch einmal formulierte15. Mit der Entwicklung der Kritik der Psychologie zur marxistischen Subjektwissenschaft ist nun der im Kongreßtitel benannte Zusammenhang von Erkenntnis und Parteilichkeit zu explizieren. Dabei will ich ausgehen von der Feststellung Holzkamps, „daß der Mensch, wenn er sich erkennend auf die gesellschaftliche Realität bezieht,... immer schon Teil dessen ist, was erkannt werden soll". Indem Holzkamp diesen Zusammenhang auf die bürgerliche Gesellschaft bezieht, kommt er zu folgendem Ergebnis: In sozialwissenschaftlichen Argumentationen ist „'Klassenstandpunkt'... nicht Ergebnis einer außerwissenschaftlichen Vorentscheidung, sondern ergibt sich aus der wissenschaftlichen Analyse selbst, weil bei historisch-gesellschaftlicher Konkretion die Umwelt sich notwendig als Klassenwirklichkeit verdeutlicht, wobei auch 'Parteilichkeit' in dieser Wirklichkeit selber liegt, weil jeder sich notwendig auf der einen oder anderen Seite des Klassenantagonismus befindet"16. Parteilichkeit ist damit - entsprechend der Unausweichlichkeit impliziter gesellschaftlicher Stellungnahmen in sozialwissenschaftlichen Konzeptionen - die gesellschaftlich-soziale Charakterisierung von Begriffen und darin enthaltenen Einsichten - gegen den Schein der Möglichkeit eines „Standpunktes außerhalb" gesellschaftlicher (Klassen-) Gegensätze. Daß der Standpunkt der Lebenswelt zwar nicht verlassen werden, aber gedanklich durchdrungen werden kann, macht die methodologische Basis materialistischer Dialektik aus. Wie weit der Gedanke der Klassenrealität empirisch trägt, gehört zu den Themen des Kongresses. Kritik des „Standpunkts außerhalb" und die Analyse der Parteilichkeit von Konzepten markieren also ein wissenschaftliches Bezugssystem, das
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sich der Gesellschaftlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis in ihrer historischen Bestimmtheit bewußt ist - vor dem Hintergrund des Spannungsverhältnisses zwischen Objektivitätsanspruch und gesellschaftlichen Interessen. Objektivität wird man als historisch relatives und je umstrittenes Verhältnis von Einsicht und deren Grenzen sehen dürfen. Wie dieses Verhältnis mit gesellschaftlichen Interessen vermittelt ist, wie also das Verhältnis von Objektivität und Parteilichkeit zu verstehen ist, mag man sich an dem Begriff verdeutlichen, den Holzkamp sich in seiner letzten Monographie von „Lernen" machte. Er faßt dort Lernen nicht als eine von Lehren abhängige „Variable", sondern allgemein als Notwendigkeit und Möglichkeit eines erweiterten, oder wie er es formulierte, „expansiven" Weltaufschlusses in Situationen, in denen das betreffende Individuum mit seinen bisherigen Bewältigungsmöglichkeiten nicht 'weiterkommt', also lernen muß. Erst vor diesem Hintergrund lassen sich sog. „defensive" Formen des Lernens abheben, die in bloß externen Anforderungen bzw. zur Abwehr von Bedrohungen begründet sind. Das Begriffspaar „expansiv"-"defensiv" dient dabei nicht der Klassifikation von Menschen, sondern der Analyse von Situationen auf darin gegebene Lernmöglichkeiten bzw. -behinderungen hin. So läßt sich dann z.B. die historisch-konkrete Institution „Schule" auf Handlungsmöglichkeiten und -behinderungen der Beteiligten untersuchen, so läßt sich in der Notengebung der Verwertungsstandpunkt des Kapitals analysieren, so ggf. „der Vereinnahmung des schulischen Lernens durch die offizielle Schulideologie Widerstand entgegensetzen", wie es Holzkamp 1994 in einem Vortrag formulierte17, in dem er übrigens dezidiert auf den Marxismus als Fundament seiner Arbeit verwies: „Also, bitte schön, nichts von Aufgabe, oder auch nur Relativierung, unserer marxistischen Grundorientierung!"
Allgemeiner formuliert: Das Beharren auf der Frage nach der Parteilichkeit von Begriffen bedeutet das Beharren auf der Frage danach, was es ist, das menschliche Möglichkeiten gesellschaftlich desavouiert, damit natürlich auch das Beharren auf der Frage nach der - historisch entwikkelten und zu entwickelnden - begrifflichen Bestimmung dieser menschlichen Möglichkeiten selber, mit dem - wissenschaftlicher Konkurrenz unterliegenden - Anspruch, daß emanzipatorisch funktionale Konzepte auch die inhaltlich gehaltvolleren sind. Läßt sich ein solches Programm jenseits marxistischen Denkens, jenseits einer antikapitalistischen Utopie vorstellen? Wohl kaum. Aber läßt es sich überhaupt (noch) vorstellen? Ist es nicht angesichts siegreichen, mindestens jedoch übrig gebliebenen und sich real verallgemeinernden Globalkapitalismus obsolet, völlig abstrakt? Die kritisch-psychologisch zentrale Unterscheidung von restriktiver und verallgemeinerter Handlungsfähigkeit, auf die ich übermorgen genauer einzugehen habe, ist jedenfalls an das marxistischer Subjektwissenschaft inhärente utopische Moment gebunden. Peter Mattes, der wegen auswärtiger Verpflichtungen an diesem Kongreß nicht teilnehmen kann, hat das genau verstanden und deswegen kürzlich in seinem an^'-utopischen Verständnis postmoderner Existenz das Teilkonzept restriktiver
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Handlungsfähigkeit als das einzig noch zeitgemäße uminterpretiert18, womit übrigens - welch aparter Brückenschlag - Kritische Psychologie, Symbolischer Interaktionismus, Ethnomethodologie und sozialer Konstruktivismus gemeinsam in dem Boot rödelten und ruderten, in dem das Kapital die Bootsmannspfeife erschallen läßt.
Aber ist denn nicht doch, wie es gelegentlich zu hören ist, die Entwicklung der Kritischen Psychologie zu einer Psychologie vom Standpunkt des Subjekts eine Weg-Entwicklung von der ursprünglichen marxistischen Konzeption. Nein, das ist sie nicht. Wieso nicht? Eine wichtige Aufgabe Kritischer Psychologie besteht darin, gegenüber jedweder Variante bürgerlicher Psychologie den Zusammenhang individueller und gesellschaftlicher Reproduktion auf den Begriff zu bringen. Diese Intention wurde anfänglich noch so realisiert, daß subjektive gegenüber objektiven Notwendigkeiten unterbestimmt wurden. Holzkamp19 erläuterte dieses Problem zum Beispiel an der Engelsschen Rede von der Freiheit als der Einsicht in die Notwendigkeit, die als allgemeine Bestimmung des Bewußtseins nicht hinreichend von individuellen Erfahrungen von und subjektiven Notwendigkeiten gegenüber widersprüchlichen Lebensumstände unterschieden und deshalb normativ rezipierbar wurde. Gegenüber derartigen Verkürzungen stellt die Entwicklung zu einer Psychologie vom Standpunkt des Subjekts keine Systemsprengung, sondern eine innersystematische Entfaltung dar, für die bekanntlich Ute Osterkamps Reinterpretation der Psychoanalyse einen wichtigen Schritt bedeutete. Im Kern beruht die Position einer materialistischen Psychologie vom Standpunkt des Subjekts auf der kategorial begründeten Auffassung, daß Subjektivität nicht im Gegensatz zu den objektiven Charakteristika des gesellschaftlichen Prozesses steht. Das ergibt sich daraus, daß der als bloße »Innerlichkeit' erscheinende Standpunkt des Subjekts und der Umstand, daß sich das Individuum zu seiner Welt je verschieden verhalten kann, als eine historisch gewordene Notwendigkeit und Möglichkeit aus dem materiellen Lebenszusammenhang heraus analysiert worden sind: als Aspekt jenes Prozesses nämlich, in dem sich historisch die gesellschaftlich-menschliche Lebensweise herausbildete, die „gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit individueller Existenz"20. Psychologie vom Standpunkt des Subjekts ist nach unserer Auffassung die theoretisch und methodisch radikale Konsequenz der marxistischen Analyse des Mensch-Welt-Zusammenhangs. Handeln ist darin immer Handeln erster Person, aber nicht frei flottierend, sondern zu verstehen unter Bezug auf konkret-historische Handlungs-Bedingungen; diese wiederum determinieren das Handeln nicht, aber die Handelnden müssen sich zu ihnen als für sie subjektiv bedeutsam, als zu ihren Handlungsprämissen verhalten. Der Welt-Bezug des Handelns ergibt sich daraus, daß es derart in Prämissen begründet ist. Die dieser Auffassung von Subjektivität zukommende Wissenschaftssprache ist nicht der
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Bedingtheits-, sondern der vom Kopf auf die Füße gestellte Begründungsdiskurs. In den letzten 10 Jahren seines Lebens hat Klaus Holzkamp in verschiedenen Zusammenhängen gezeigt, daß diese subjektiv begründeten Weltbezüge des Handelns selbst in nomothetisch gemeinten psychologischen Theorien - kryptisch - enthalten sind, in verborgenen Begründungsmustern nämlich (womit sich der in der Psychologie herrschende Bedingtheitsdiskurs als Selbstmißverständnis erweist). Das bedeutet natürlich nicht, daß sich die Kritische Psychologie und traditionelle Psychologie (einschließlich qualitativ-subjektbezogener Konzepte) inhaltlich angenähert hätten. Der Umstand, daß ein Konzept oder eine Theorie begründungstheoretisch formulierbar sind, hat überhaupt nichts mit der Frage zu tun, inwieweit die Konzeption oder Theorie inhaltlich borniert, bürgerlich und „befriedungsverbrecherisch " ist, um mit den Basaglias21 zu reden: Die Universalisierung inneren Zwangs zu menschlicher Motivation, die - von Zygmunt Bauman22 übrigens als für den Holocaust funktional herausgearbeitet - Verkürzung von Handlungen auf Operationen, die traditionelle Vorstellung von Erziehungszielen sind borniert, bürgerlich und befriedungsverbrecherisch und enthalten mehr oder weniger versteckte Begründungsmuster. Die begründungstheoretische Reformulierung macht dies allerdings besser beurteilbar, weil die Verkümmerung der subjektiven Perspektive besser erkennbar wird, und sie ist hilfreich bei der Aufgabe, Parteilichkeit und Erkemitnisgehalt vorfindlicher Konzeptionen beurteilen zu können. Ich hoffe, meine Auffassung annähernd verdeutlicht zu haben, daß die Kritische Psychologie mit ihrem Bezug auf den Marxismus jedenfalls steht und fallt. Andersherum bedeutet das aber auch: Soweit die Kritische Psychologie sich in ihrer marxistischen Fundierung als wissenschaftlich relevant ausweisen kann, haben damit auch marxistische Überlegungen Bestand. Was bedeutet es aber für diese Subjektwissenschaft und ihren antikapitalistischen Impetus, wenn eine den Kapitalismus transzendierende Utopie nicht „konkret" im Sinne Blochs, wenn sie also kein „NochNicht-Sein erwartbarer Art"23 ist, praktischer: wenn der revolutionären Perspektive das Subjekt flötengeht, jedenfalls gegenwärtig keines aktiv ist, das den Verhältnissen die Melodie vorpfiffe, die jene zum Tanzen brächte? Vernünftiger- und erfreulicherweise hat die Kritische Psychologie ganz in Übereinstimmung damit, daß auch Marx das Reich der Freiheit nicht schon begrifflich tapeziert hat - verallgemeinerte Handlungsfähigkeit nie „positiv" definiert, eine solche theoretische Zumutung sogar dezidiert zurückgewiesen. Dieser Begriff impliziert lediglich das Beharren auf der Frage, wie, wann, warum, je ich in Versuchen der eigenen Lebensbewältigung gleichzeitig eigene und anderer Lebensinteressen verletze - unter der Voraussetzung gesellschaftlicher ^/a&sefl-Strukturen,
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die dies nahelegen (und deren aktuelle Relevanz zu diskutieren der Kongreß Gelegenheit und Anschub sein soll). Marxistische Subjektwissenschaft ist an eine Gesellschaftstheorie gebunden, mit der sich zeigen läßt, daß die gesellschaftliche Struktur nicht in lokale Kontexte aufzulösen ist. Denn diese Auflösung würde bedeuten, der Einladung zur Entpolitisierung subjektwissenschaftlicher Forschung und Praxis Folge leisten zu können, die von psychologischen Interpretationen postmodernen Denkens ausgehen. Nicht daß Menschen in Kontexten handeln, ist eine spezifisch kritisch-psychologische Aussage. Für uns spezifisch ist vielmehr die Frage, welche Handlungswidersprüche sich daraus ergeben, daß in unmittelbar kontextfixiertem Handeln dessen gesellschaftliche Vermitteltheit ausgeblendet wird. Nur so gewinnt die Dialektik von objektiver Bestimmtheit und subjektiver Bestimmung historisch und subjektiv Sinn. Ich werde darauf übermorgen zurückkommen. Der Verzicht auf die - für uns zentrale - Unterscheidung von Kontext und Struktur ist es jedenfalls, der das „Bürgerliche" an Konzeptionen wie dem Symbolischen Interaktionismus ausmacht, wie Holzkamp 1984 herausarbeitete24 - ein Graben, der konzeptionell nicht zu überbrücken und gedanklich gerade heutzutage zu vertiefen ist. Die wissenschaftliche Existenzmöglichkeit marxistischer Subjektwissenschaft ist nicht an ein real existierendes, aktuelles revolutionäres Subjekt gebunden. Woran sie aber gebunden ist, das ist die Utopie der Negation der bürgerlichen Negation des Gesellschaftlichen. Sonst ist marxistische Subjektwissenschaft überflüssig, sonst tun es bürgerliche Konzeptionen auch, die die Welt nicht nur bloß interpretieren, sondern zusätzlich noch den Unterschied von Interpretieren und Handeln, von Wort und Tat, in dem Maße verwischen, in dem sie die Welt als Text behandeln. „Einen Menschen" ..., der die Wissenschaft einem ... ihr fremden, äußerlichen Interessen entlehnten Standpunkt zu akkommodieren sucht, nenne ich gemein."25 Dieser Satz von Marx enthält die allgemeine wissenschaftskritische Aufforderung, den Anspruch wissenschaftlicher Erkenntnis gegen Fremd- und Selbstbeschränkung aufrecht zu erhalten, das Verhältnis von Wissenschaft und Macht zu reflektieren, als ein Verhältnis, das nicht nur äußerlich ist, also die Organisation und institutionelle Durchsetzung wissenschaftlicher Auffassungen betrifft, sondern in die Poren wissenschaftlichen Denkens eindringt. Die (kritisch-) psychologische Frage, inwieweit das Verhältnis von Fremdbestimmung, dem Handeln unter Bedingungen und einem Handeln, das selber Bedingungen verändernd ist, unterschieden werden kann, ist nicht damit erledigt, daß gegenwärtig niemand weiß, wer das Subjekt revolutionärer Veränderungen sein soll. Der Umstand, daß Probleme globalen Ausmaßes nicht erkennen lassen, wer sie verantwortlich lösen soll, ändert nichts daran, daß sie beste-
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hen und gelöst werden müssen. Der Umstand, daß gegenwärtig niemand in der Lage ist, die Notengebung abzuschaffen, ändert nichts daran, daß sie verheerende Konsequenzen auf das Denken und Leben von Lehrenden und Lernenden hat. Daß keine gesellschaftlichen Verhältnisse in Sicht sind, in denen personalisierendes Denken grundsätzlich überwindbar würde, ändert nichts daran, daß diese Denkweise gesellschaftliche Probleme verschleiert und die gesellschaftliche Organisation, die dieses Denken hervorbringt, zirkulär absichert. Ich denke nicht, daß ein einziges der von der Kritischen Psychologie thematisierten Probleme deshalb geringer geworden ist, weil eine globale Veränderungsperspektive fehlt. Das Marxsche Denken machte es etwa möglich, die Verkehrung von Abstraktheit und Konkretheit im psychologischen Denken herauszupräparieren. Dieses Problem erledigt sich nicht damit, daß keine Verhältnisse in Sicht sind, in denen diese Verkehrung real aufgehoben würde. In seinem schon erwähnten Aufsatz (vgl. Fn. 14) meint Günter Rexilius, die Hoffnung, die Entwicklung einer besseren Welt selber noch erleben zu können, sei zerbrochen; gleichwohl, fährt er optimistischer fort, könne ein solcher Abschied für immer nicht den Blick für die schlechten Realitäten verschleiern26. Ich fürchte, daß der Blick doch verschleiert werden kann, hoffe aber, daß wir etwas dagegen tun können, und vielleicht ist der Abschied nicht einer für immer. Wie dem auch sei: ob deswegen oder ob trotz alledem: Gegen die uns alle belastenden Lähmungen und Hemmungen gibt es nur das Mittel eines ungehemmmten und also hemmungslosen Radikalismus der Infragestellung des status quo. Wir wollen ja wohl nicht hinter Oscar Wilde zurückfallen, der sagte: „Unbotmäßigkeit ist für jeden, der die Geschichte kennt, die recht eigentliche Tugend des Menschen. Durch Unbotmäßigkeit ist der Fortschritt gekommen, durch Unbotmäßigkeit und Aufsässigkeit."27 Mehr noch: Der Verlust der sozialistischen Utopie wäre die Universalisierung des status quo, und ein Festhalten an unrealistischen Lösungen wäre eine heruntergekommene, auf den Hund gebrachte Utopie. Vernunft der Utopie scheint mir gegenwärtig zu bedeuten, historisch entstandene Fragen menschlicher Emanzipation auch dann offenzuhalten, wenn historisch entstandene Lösungen noch keine befriedigenden Antworten gebracht haben. Dazu beizutragen, ist die weiter bestehende Aufgabe der Kritischen Psychologie als marxistischer Subjektwissenschaft. Literaturverweise und Anmerkungen 1 2
AmJ.Soc.,1898-89,4,S.664. Smith, J., Harre, R. & Van Langenhove, L. 1995. Introduction. In: Dies. (Eds.), Rethinking Methods in Psychology. London: Sage, 1-8, hier: 1 und 3.
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Miles, M.B. & Huberman, A.M. 1984. Qualitative Data Analysis. A Sourcebook of New Methods. Beverly Hills: Sage, hier: 15. Die Frage, in welcher Disziplin zu welchen inhaltlichen Fragen geforscht wird, ist (historisch) nicht allein wissenschaftssystema/wcA zu beantworten. Das mag man sich an Überschneidungen zwischen Psychologie, zumal Sozialpsychologie, und Soziologie oder zwischen pädagogischer Psychologie und Erziehungswissenschaft verdeutlichen. Holzkamp, K. 1996 (posthum, Durchführung des Interviews: 1992). Über die Entstehung und Entwicklung der Kritischen Psychologie. Ein Interview (Teil II). Das Argument 216, 565-580, hier: 580. Die Ambivalenz im Verhältnis zur Disziplin „Psychologie", die das Subjekt(ive) theoretisch und methodisch so reduziert wie wissenschaftsorganisatorisch usurpiert, wird auch deutlich, wenn Holzkamp in Vorwort und Einleitung zu seinem Hauptwerk „Grundlegung der Psychologie" (1983) dieses Problem reflektiert und feststellt, die Kritische Psychologie gehöre „zwar zur Psychologie, überschreitet aber das ... verkürzte »einzelwissenschaftliche4 Verständnis der bürgerlichen Psychologie" (32), und betont, daß die Kritische Psychologie „weder eine neue psychologische Theorie, noch lediglich eine bestimmte psychologische Arbeitsrichtung oder Schule ist, sondern der Versuch, die gesamte Psychologie... auf eine neue wissenschaftliche Basis zu stellen" (19). Schon die zur Kritischen Psychologie führende Psychologiekritik „war keine bloß einzelwissenschaftliche Angelegenheit, sondern hatte eine politische Stoßrichtung gegen die Psychologie als Anpassungs- und Herrschaftswissenschaft" (25). Angesichts dessen, daß das - solange es die Psychologie gibt - notwendige Bestehen auf dem Psychologischen der Kritischen Psychologie zwischen Kampf gegen Ausgrenzung und Anbiederung uneindeutig ist, verstehe ich die abschätzige Einschätzung der Disziplin als, Jammerfach" als resümierende Warnimg vor der Illusion, innerhalb der Disziplin „mitmachen" zu können, ohne sich „disziplinieren" lassen zu können. Leithäuser, T. & Volmerg, B. 1988. Psychoanalyse in der Sozialforschung. Opladen: Westdeutscher Verlag, hier: 115ff. Lichtman, R. 1990. Die Produktion des Unbewußten. Die Integration der Psychoanalyse in die marxistische Theorie. Hamburg: Argument. Vgl. dazu die bahnbrechende Arbeit Holzkamp-Osterkamps, U., 1976, Motivationsforschung Bd2, Frankfurt/M., Campus. A.a.0,22. So gehörte es im universitären Streit um die Kritische Psychologie eine Zeitlang zu den rhetorischen Spielchen zeitgeistigen Humors mir gegenüber, statt „Kritische" „marxistische" Psychologie zu sagen und sich dann dafür zu entschuldigen, offenkundig in der Absicht, von mir ein bißchen peinlich berührt bestätigt zu bekommen, daß es sich beim Marxismus letztenendes doch um eine Kinderkrankheit dieses mittlerweile ja nun mit 25 Jahren volljährigen und außerdem zu einer Subjektwissenschaft mutierten Ansatzes handelt; irgendwie sei man ja nun reifer, ein bißchen seriöser, irgendwie abgeklärt. Ich möchte aber ungern als abgeklärt bezeichnet werden, bedenkend die Feststellung Adornos aus seinen „Minima Moralia" (22): „Wenn von einem Menschen fortgeschrittenen Alters gerühmt wird, er sei besonders abgeklärt, so ist anzunehmen, daß sein Leben eine Folge von Schandtaten darstellt." Maiers, W. und Markard, M. 1977. Kritische Psychologie als marxistische Subjektwissenschaft. Fazit einer Entwicklung anläßlich des ersten „Internationalen Kongresses Kritische Psychologie". Sozialistische Politik 41,136-156, hier: 140f. Konkret 2/96, S.9 Günter Rexilius hat übrigens vor 4 Jahren in einem Aufsatztitel die Frage gestellt: „Kann kritische Psychologie noch marxistisch sein?" (in: Zygowski, H. [Hg.], Kritik
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der mainstream-Psychologie, Münster, Bessau, 1993,191-199), und zwar vor dem Hintergrund kritisch-psychologischer Ansätze, in denen der Bezug auf den Marxismus keineswegs als verbindlich angesehen wird, was m.E. leichter verständlich wird, wenn man bedenkt, daß diese Ansätze nicht darauf aus waren oder sind, eine eigenständige, positive Subjektwissenschaft zu entwickeln. Rexilius reflektiert in seinem Aufsatz den Erkenntnisgewinn, den kritische Psychologien aus marxistischem Den• ken ziehen können. Meine Aufgabe ist insofern eine andere, als die von mir vertretene Kritische Psychologie sich als genuin marxistischer Ansatz versteht. 15 Bloch, E. 1959. Das Prinzip Hoffiiung. Frankfurt/M: Suhrkamp, hier: S. 168. Als wissenschaftliches Beispiel für diesen Aberglauben darf wohl Sir Karl Popper stehen, Kritischer Rationalist, Anti-Marxist und Pate der deutschen Sozialdemokratie, der vor rund 40 Jahren in seinem Buch „Falsche Propheten - Hegel, Marx und die Folgen" prophezeite, Wirtschaftskrisen und Arbeitslosigkeit gehörten im Kapitalismus der Vergangenheit an (1958, S. 223, zit. Nach Haug, W.F., Was kommt nach dem fordistischen Marxismus?, Das Argument 214,1996,183-199, hier: 187.). Modell war übrigens Schweden als seinerzeitiges, sagen wir mal, Vaterland aller sozialdemokratischen Arbeitnehmer. 16 Holzkamp, K. 1976. Das Marxsche „Kapital" als Grundlage der Verwissenschaftlichung psychologischer Forschung. In: Holzkamp, K. (1978), Gesellschaftlichkeit des Individuums. Köln: PRV, 245-255, hier: S. 254 17 Holzkamp, K. 1994 (1996 posthum veröffentlicht). Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung. Einführung in die Hauptanliegen des Buches. Forum Kritische Psychologie 36,113-132, hier: 116 und 129. 18 Mattes, P. 1994, Kritische Psychologie am Grabmal des Intellektuellen. „Handlungsfähigkeit" in postmoderner Sicht. Journal fur Psychologie, 29-36. 19 Holzkamp, K. 1984. Kritische Psychologie und phänomenologische Psychologie. Der Weg der Kritischen Psychologie zur Subjektwissenschaft. Forum Kritische Psychologie 14, 5-55, hier: 23f. 20 vgl. Holzkamp, K. 1983. Grundlegung der Psychologie. Frankfurt/M: Campus, etwa S. 538. 21 Basaglia, F. & Basaglia-Ongaro, F. 1975. Befriedungsverbrechen. In: Basaglia, F. et al., Befriedungsverbrechen. Über die Dienstbarkeit der Intellektuellen. Frankfurt: EVA, 11-61. 22 Bauman, Z. 1989. Dialektik der Ordnung, Die Moderne und der Holocaust. Hamburg: EVA, hier S. 113ff. 23 Bloch, op.cit., 223. 24 Holzkamp, K. 1984. Kritische Psychologie und phänomenologische Psychologie. Der Weg der Kritischen Psychologie zur Subjektwissenschaft. Forum Kritische Psychologie 14, 5 - 55, hier: S: 52. Vgl. auch die Kritik von Pierre Bourdieu an der „okasionalistischen Illusion" von Sozialpsychologie, Interaktionismus und Ethomethodologie (in: Entwurf einer Theorie der Praxis, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1979,181). 25 MEW 26, Theorien über den Mehrwert, S. 112 26 Rexilius, G. 1993, S. 193. 27 Wilde, O. 1982 (Original: 1891). Der Sozialismus und die Seele des Menschen. Zürich: Diogenes, hier: S.13.
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Plenum I Ökonomie und Psychologie I (objektive Bedingungen): Der globalisierte Kapitalismus als individuelle Lebenswelt Elmar Altvater, Ariane Brenssell, Sebastian Herkommer Moderation: Barbara Fried Barbara Fried: In der Vorbereitung des Kongresses sind wir - auch von Podiumsteilnehmern - mehrfach skeptisch gefragt worden, warum ein Kongreß Kritische Psychologie ausgerechnet mit einem Podium zu Globalisierung und Klassenanalyse beginnen solle und ob das nicht Fragen seien, die mit der Kritischen Psychologie nichts zu tun haben. Wir sind der Ansicht, daß diese Fragen nicht nur mit der Kritischen Psychologie etwas zu tun haben, sondern, daß deren Erörterung für die Selbstverständigung und Entwicklung der Kritischen Psychologie eine theoretische wie praktische Voraussetzung ist. Klaus Holzkamp hat im ersten Kapitel seines Hauptwerkes, der ,Grundlegung der Psychologie' geschrieben: Die Kritische Psychologie ist nur „aus der Art erklärlich, wie sie als Teil und Konsequenz der Studentenbewegung entstanden ist, und immer entschiedener sich als Teil der demokratischen Bewegung dieses Landes entwickelt hat: die Herausbildung der Kritischen Psychologie vollzog sich so von Anfang an nicht nur auf dem Felde der Psychologie, sondern im Zuge einer umfassenden und tiefgreifenden gesellschaftspolitischen und weltanschaulichen Umorientierung. Die Kritik an der traditionellen Psychologie war mithin keine bloß einzelwissenschaftliche Angelegenheit, sondern hatte eine politische Stoßrichtung gegen die Psychologie als Herrschafts- und Anpassungswissenschaft und gegen die Psychologisierung gesellschaftlicher Widersprüche." (S. 25) Nun kann man heute beim besten Willen nicht von einer gesellschaftlichen Aufbruchstimmung sprechen. Wenn man jedoch nicht denkt, daß sich mit dem Realsozialismus auch generell eine systemtranszendierende Perspektive im Kampf um menschenwürdige Lebensverhältnisse erledigt hat, dann ist die Frage nach dem ,Wie' der Veränderung brennender denn je. Im Hinblick auf die wissenschaftliche Fundierbarkeit einer solchen Veränderungsperspektive stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Parteilichkeit, das ja Thema dieses Kongresses ist. Die Kritische Psychologie als marxistische Subjektwissenschaft versucht dadurch einen Beitrag zu diesen Bemühungen zu leisten, daß sie das Verhältnis zwischen individueller und gesellschaftlicher Reproduktion psychologisch auf den Punkt bringt. Sie arbeitet die Verwobenheit menschlichen Denkens und Handelns (und natürlich Leidens) mit gesellschaftlichen Denk- und Handlungsformen heraus und will damit den Zu-
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sammenhang zwischen dem Handeln der Menschen und den jeweiligen Bedingungen des Handelns erfaßbar machen. Aus ihrer Perspektive ist deshalb der Gegenstand der Forschung auch nicht das einzelne Individuum, sondern die Welt, wie sie der Mensch erfährt. So wenig, wie diese ,Welt' in ihren gesellschaftlich-strukturellen Bezügen unmittelbarer Erfahrung zugänglich ist, sondern der theoretischen Rekonstruktion bedarf, so wenig ist die Eingebundenheit menschlichen Handelns in gesellschaftlich-historische Lebensverhältnisse direkt erfahrbar. Im Gegenteil - in der traditionellen Psychologie, die sich das abstrakt-isolierte Individuum zum Gegenstand konstruiert, werden genau die Bedingungen, ohne deren Untersuchung menschliches Handeln unverständlich bleiben muß, systematisch ausgeblendet. Die zentrale Kategorie der Kritischen Psychologie ist die der Handlungsfähigkeit. In ihr soll gerade die Relevanz des Zusammenhangs subjektiver Lebensnotwendigkeiten mit objektiv-ökonomischen Lebensbedingungen zum Ausdruck gebracht werden. Es ist der Anspruch der Kritischen Psychologie als marxistische Subjektwissenschaft, die umgreifende gesellschaftliche Struktur so zu fassen, daß sie in ihrer widersprüchlichen Handlungsbedeutung für den Einzelnen begriffen werden kann, daß also individuelles Handeln, als Realisierung objektiver Handlungsmöglichkeiten und in den jeweiligen Bedingungen des Handelns begründet, verständlich wird. Da ,Gesellschaft' jedoch keine bloß theorieunabhängige Realität ist, bedarf es zunächst einer theoretischen Rekonstruktion dessen, was unter ,objektiven Lebensbedingungen' zu fassen ist. Dies liegt nicht im engeren Sinne innerhalb der Möglichkeiten der Kritischen Psychologie. Sie braucht eine interdisziplinäre oder arbeitsteilige Eingebundenheit in Diskussionen mit anderen Einzelwissenschaften bzw. mit deren marxistischen Ansätzen. Sofern gesellschaftliche Entwicklung beispielsweise nicht anders als von ihrer jeweiligen ökonomischen Basis her zu durchdringen ist, brauchen wir einen Einblick in aktuelle ökonomische Veränderungen, deren Analysen und Diskussionen, um diese innerhalb der Kritischen Psychologie adäquat berücksichtigen zu können. Das heißt, die Kritische Psychologie muß sich damit auseinandersetzen, was es eigentlich konkret ist, das als ,Lebensbedingungen' in die Erfahrungen der Individuen eingeht. Für das heutige Podium ist also die grundlegene Frage, die sich aus der Kategorie der Handlungsfähigkeit ergibt, die von individueller Erfahrung und Existenz im postfordistischen Kapitalismus. In diesem Sinne erhoffen wir uns hier quasi den bedingungsanalytischen Hintergrund für die bedeutungsanalytischen Bemühungen der Kritischen Psychologie.
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Sebastian Herkommer: Die Relevanz des Klassenbegriffsfiiraktuelle Gesellschaftsanalysen: Sechs Thesen 1. Den sozialwissenschaftlichen Zeitdiagnosen, die in den 1980er Jahren von einer „Entstrukturierung der Klassengesellschaft" oder einem „Kapitalismus ohne Klassen" ausgingen, wird in jüngster Zeit, wenn auch noch zaghaft, wegen der offenkundigen Phänomene neuer und verschärfter Polarisierungen und sozialer Exklusion die These einer „Wiederkehr der Klassengesellschaft" entgegengestellt. Ich gehe davon aus, daß in den veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen selbst die Voraussetzungen dafür liegen, daß auch die marxistische Klassentheorie „wiederkehren" und in der politischen und wissenschaftlichen Diskussion erneut an Aktualität gewinnen kann. Die marxistische Klassentheorie ist immer wieder mit Hinweis auf die „Verwischung" der Klassenverhältnisse zurückgewiesen worden. So hat etwa Stefan Hradil von einer dreifachen Pluralität in der deutschen Sozialstruktur gesprochen: Erstens, die Menschen denken und handeln im allgemeinen unabhängiger von äußeren Determinanten, insbesondere von Schicht- und Klassenzugehörigkeit, als früher angenommen wurde; zweitens, die sichtbare Äußerung von Lebensweisen ist ausdifferenzierter als es Klassen- und Schichtungsmustern entspräche; drittens ist die Zugehörigkeit zu Milieus und Lebensstilgruppen heutzutage eine wichtige Determinante für die Alltagspraxis: Wahlentscheidungen, politische Beteiligung, Konsumverhalten sind zu einem großen Ausmaß abhängig von der individuellen Lebensweise, und nicht (mehr) so sehr von den jeweiligen kollektiv geteilten, objektiven Lebensbedingungen. (Hradil 1993: 682 ff.) An diese Wahrnehmungen schließt meine zweite These an. 2. Die Strukturveränderungen in den modernen kapitalistischen Gesellschaften, die unter den Stichworten der funktionalen Differenzierung, der Erosion traditionaler sozial-moralischer Milieus, der Individualisierung und der Pluralisierung von Lebensstilen diskutiert werden, sprechen nicht gegen den Klassencharakter - sie sind im wesentlichen aus der Dynamik des Kapitalverhältnisses als Klassenantagonismus selbst zu erklären. Das gilt für die Veränderungen der Klassenstruktur insgesamt wie auch für die innere Gliederung der Klassen. Die Rede von der „Einheit der Arbeiterklasse", darin können wir Martin Kronauer folgen (1996: 243), war allerdings immer schon mehr Programm als soziale Realität. In der Tat ist nicht bloß die fortschreitende Ausdifferenzierung des „Gesamtarbeiters" das Problem, nicht bloß die Erosion traditioneller Arbeitermilieus und auch nicht allein das Schrumpfen produktiver industrieller Arbeit zugunsten des Dienstleistungssektors, sondern daß es zu weiteren Spaltungen gekommen ist. Diese können zum einen zurückgeführt werden auf die Polarisierung und Segmentierung im Bereich der industriellen Arbeit, zum anderen auf neue Grenzziehungen an den Rändern des
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Beschäftigungssystems insgesamt, z. B. durch die Unterbeschäftigung in sog. prekären Arbeitsverhältnissen jenseits der Industrie (die „bad jobs" im tertiären Sektor). Dazu gehört auch die zunehmende Tendenz neuer Selbständigkeit bzw. scheinselbständiger Erwerbsarbeit, die in der Arbeitswelt einer heraufziehenden „Informationsgesellschaft" - vielleicht etwas voreilig - als dominant gekennzeichnet worden ist: „'Neue Selbständige' werden den abhängig Beschäftigten als dominierenden Typus des Erwerbstätigen langfristig ablösen." (Welsch 1997: 355) Die angedeuteten Strukturveränderungen, behaupte ich, haben den Klassencharakter der Gesellschaft nicht aufgehoben, und also auch den Klassenbegriff für die sowohl deskriptiv wie erklärend angelegte Gesellschaftsanalyse nicht obsolet gemacht. Dieser Klassenbegriff ist allerdings für die gegebenen Verhältnisse genauer zu bestimmen. Der Anspruch geht dahin, sowohl die krassen als auch die feinen Unterschiede der gegenwärtigen Gesellschaft erfassen zu können (vgl. Herkommer 1997) sowie die Handlungspotentiale zu erkennen, die einerseits als Widerstand gegen materielle und politische Formen des Zurückdrängens bereits erreichter Verbesserungen in den Arbeits- und Lebensbedingungen manifest werden können, andererseits als emanzipatorischer Veränderungswille in zeitgemäßer Form. 3. Bereits für Marx war von großer Bedeutung, daß die begriffliche Unterscheidung eines abstrakten Klassenverhältnisses von Kapital und Arbeit (auf der Ebene der ökonomischen Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft) von der Untersuchung konkreter sozialer Klassen in einem gegebenen Land eingehalten wird (hier das Buch über das „Kapital", dort v. a. die Klassenanalysen Franlo-eichs im „Achtzehnten Brumaire" und in den „Klassenkämpfen"). In den sozialen Ungleichheiten unserer Gesellschaft, die nicht nur als differenzierte Beschäftigungs- und Einkommensverhältnisse sowie als qualitativ verschiedene Arbeitsbedingungen, sondern auch als Milieus oder sog. Lebensstilgruppen jenseits des Erwerbslebens zum Ausdruck kommen, ist kein unmittelbarer Determinationszusammenhang zu sehen, vielmehr sind sie vermittelt über staatliche Umverteilung und über Verteilungskämpfe zwischen den Tarifparteien einerseits, individuelle Wahlhandlungen andererseits. Vom unterliegenden Klassenverhältnis völlig abgekoppelt sind sie jedoch nicht, das haben die empirischen Untersuchungen zur Verteilung von Lebenschancen ebenso klar gezeigt wie die zu den sog. Lebensstilen (vgl. zusammenfassend Koch, Speilerberg, Vester u. a.). Welche Differenzierungen bei einer zeitgemäßen Klassenanalyse einzuhalten wären, möchte ich kurz skizzieren anhand weniger aktueller Beiträge. Da ist zunächst Reinhard Kreckel, erklärtermaßen kein Marxist. Mit dem „Konzept des abstrakten Klassenverhältnisses von Kapital und Arbeit" (Kreckel 1990: 51) will er eine Unterscheidung kennzeichnen, die für die Marxsche Klassentheorie selbst wesentlich ist: das, wie er es
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nennt, asymmetrische Spannungsverhältnis von Lohnarbeit und Kapital (als den gegensätzlich bestimmten ökonomischen Kategorien, die das Kapital als ein gesellschaftliches Verhältnis von Klassen begreift) auf der einen Seite und die Existenz von konkreten Klassen auf der anderen Seite. (Auch Poulantzas unterschied bekanntlich das abstrakte Niveau einer „Produktionsweise" als Grundstruktur von der konkreten, empirisch zu ermittelnden „Gesellschaftsformation".) Das abstrakte KJassenmodell bezieht sich, anders als die Beschreibung konkreter Klassen, nicht auf lebendige „große Menschengruppen" (Lenin), sondern auf das grundlegende und zugrundeliegende „Spannungsverhältnis" zwischen Lohnarbeit und Kapital. Die entscheidende These von Kreckel: Dieses „abstrakte Klassenverhältnis von Kapital und Arbeit als strukturelle Bedingung besteht, trotz mancherlei Veränderungen, weiterhin fort, während gleichzeitig die diesem Klassenverhältnis entsprechenden konkreten empirischen Klassen teilweise verwischt, ausdifferenziert und überlagert worden sind, so daß sich ihr Einfluß auf das alltägliche Handeln und Erleben vermindert hat." (S. 60) Um „sterilen Ableitungsmarxismus" einerseits und dogmatischen Marxismus-Leninismus andererseits zu vermeiden, müßte „die Beziehung zwischen abstraktem Klassenverhältnis, kollektiven Akteuren und der Ungleichheit individueller Lebenschancen genauer bestimmt werden" (S. 63). Das skizziert Kreckel anhand der Interessen und Kräfteverhältnisse in den umkämpften Feldern der gesellschaftlichen, staatlich modifizierten Arbeitsmarktbeziehungen im „korporatistischen Dreieck" von Kapital, Arbeit und Staat ebenso wie denen auf der Betriebs- und Unternehmensebene, dem „mikrosozialen Nahbereich". Er kommt zu dem Ergebnis, daß das abstrakte Klassenverhältnis sehr wohl und sehr deutlich auf beiden Ebenen sich auswirke „als konkretes Machtgefölle zwischen individuellen und kollektiven Akteuren". (S. 75) Auch der Beitrag Pierre Bourdieus verspricht die Integration statt Entgegensetzung von Klassen-, Schicht- und Ungleichheitskonzepten und kann zu einer wesentlichen Erweiterung und Differenzierung der klassischen Klassentheorie führen. Er erlaubt es vor allem, den Ursachen und Mechanismen genauer nachzuspüren, die schon für Marx' Enträtselung wesentlich waren: daß in der bürgerlichen Gesellschaft die Menschen, indem sie bewußt handeln und praktisch-ökonomisch ihre Ziele verfolgen, unbewußt die Verhältnisse produzieren und reproduzieren, von denen sie beherrscht werden. Bei der Aufdeckung dieses Paradoxons vom objektiven Sinn ohne subjektive Intention (Bourdieu 1993: 115 f.) spielt die symbolische Dimension der gesellschaftlichen Totalität eine herausragende Rolle. Mit der zentralen These, daß die spezifischen Lebensstile symbolischer Ausdruck „feiner Unterschiede" und sozialer Distinktion sind, mit denen die je nach Ressourcenausstattung (Kapitalart und -volumen) unterschiedenen Positionen sowohl zum Ausdruck gebracht als auch zugleich reproduziert werden, wird dem keineswegs offen zutage-
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liegenden Vermittlungszusammenhang Rechnung getragen zwischen den materiellen Verhältnissen und Beziehungen auf der einen Seite und ihrer Wahrnehmung (Verkennung) und symbolischen Darstellung (Anerkennung) auf der anderen. Mit diesen Konzepten ist die große Chance verbunden, Abschied zu nehmen von der in der marxistischen Tradition vielfach praktizierten Ineinssetzung von „Klasse" als Kürzel für das bestimmte Ausbeutungsverhältnis zwischen Kapital und Arbeit (Kernstruktur) und „sozialer Klasse" als einer realen Großgruppe mit homogenen Erfahrungsgrundlagen und kollektivem, womöglich revolutionärem Bewußtsein der einzelnen Klassenmitglieder. Eine Folge dieser Einsicht ist, daß marxistische Klassenanalyse heute weder von der Annahme einer weitgehenden Einheitlichkeit objektiver (sozialstruktureller) Lagen und Interessen und eine dadurch gegebene unmittelbare Determination kultureller Normen und praktischer Orientierung ausgehen muß, noch von einer strikten Ableitung klassengebundenen sozialen Handelns. Als ein Ergebnis aus den zuletzt von Max Koch zusammengetragenen empirischen Untersuchungen (Koch 1994) kann festgehalten werden, daß es starke Argumente und ausreichende objektive Befunde gibt, die dafür sprechen, die Veränderungen der Sozialstruktur unserer Gesellschaft klassentheoretisch zu interpretieren. An seinem Modell von zwei antagonistischen Klassen (Besitzer von Produktionsmitteln und Lohnabhängige), sozusagen auf der abstrakten Ebene, und fünf sozialen Klassen (differenziert nach Umfang der Produktionsmittel, bzw. nach Berufen, Bildungstiteln und Entscheidungsbefugnissen) kann mit einigen Modifikationen angeknüpft werden. (Ergänzt werden müßte, was am Kochschen Modell fehlt: 1. der Staat als Arbeitgeber, 2. der Staat als umverteilende Instanz, 3. die Assekuranzfonds, 4. das Zusammenfließen verschiedener Revenuen in den privaten Haushalten, damit die Berücksichtigung möglicher heterogener Klassenlagen.) Ausgangspunkt ist die gesellschaftliche Wertschöpfung und die Teilung des jährlichen Wertprodukts zwischen Kapital und Arbeit. Die an Marx sich haltende Schrittfolge besagt, daß auf der je konkret gegebenen Entwicklungsstufe mit der Analyse der primären Produktion und Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zu beginnen ist (industrielles Kapital und produktive Arbeit), dann die Umverteilung zu untersuchen ist innerhalb der Klassen (kommerzielles Kapital usw., kommerzielle Lohnarbeit, unproduktive Arbeit beim Staat, Dienste usw.), dann die staatliche Umverteilung der Einkommen in Form von Steuern, Abgaben und Transferzahlungen (Sozialleistungen, Renten usw.), um auf dieser Grundlage monetärer Verteilung die Klassenpositionen der privaten Haushalte ermitteln zu können (vgl. Bischoff u. a. 1982 und Herkommer 1983). Die nächsten Schritte müssen dann den Spielräumen der Kontrolle und dem Qualifikationsniveau in bezug auf die unmittelbare Arbeit Rechnung tragen, dem objektivierten Bildungsniveau für die Erreichung von berufli-
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chen Positionen und zur Wahrnehmung des kulturellen Reichtums, die Unterscheidung von Stamm- und Randbelegschaften, „normalen" und „prekären" Arbeitsverhältnissen, dem Verhältnis von Produktions- und Reproduktionsfunktionen und den Differenzen nach dem Geschlecht sowie ethnischen, nationalen, regionalen und evtl. auch konfessionellen Besonderheiten. Erst auf der Grundlage eines so beschriebenen ausdifferenzierten „Raums sozialer Positionen und Beziehungen" (Bourdieu) und dies womöglich noch gegliedert nach den „Feldern" sozialer Praxis können die Untersuchungen der symbolischen Dimension sozialer Ungleichheit beginnen, wie sie in den „Lebensstilen" zum Ausdruck kommt. 4. Der Klassenbegriff ist weder in seiner abstrakten, noch in seiner konkreten Fassung bloßer Strukturbegriff. Er schließt die spezifischen Formen des (mystifizierten, widersprüchlich bestimmten) Bewußtseins ebenso ein wie das Handeln der Individuen im konkreten historischen Kontext. („The notion of class entails the notion of historical relationship... The relationship must always be embodied in real people and in a real context." Thompson 1966: 9) Klassenbewußtsein, Klassenhandeln, Klassenhabitus sind jeweils an den Subjekten der je gegebenen konkreten Klassengesellschaft festgemachte Kategorien. Sie sind für kritische Gesellschaftsanalyse zentral, insofern diese ihre Aufgabe sieht in der Enträtselung des Umstands, daß in der bürgerlichen Gesellschaft die Menschen, indem sie bewußt handeln und praktisch (ökonomisch wie kulturell) in ihrem Alltag ihr Leben leben und ihre Ziele verfolgen, unbewußt die Verhältnisse produzieren und reproduzieren, von denen sie beherrscht und bestimmt werden. Auch hier ist also wesentlich die Unterscheidung zwischen den Formen, wie sie auf der Ebene der abstrakten Bestimmung des Kapitalverhältnisses ausgemacht werden können, und den realen Ausprägungen, die der empirischen Untersuchung vorbehalten bleiben. 5. Sowohl marxistisch orientierte Soziologie als auch Psychologie befassen sich mit den einzelnen Individuen in ihrem alltäglichen Lebenszusammenhang auf der Grundlage der Erkenntnis, daß sie doppelt bestimmt sind: als Klassenindividuum (Charaktermasken) und als persönliches Individuum. Charaktermasken haben für Marx in seinem Kapitalbuch kein Geschlecht (sehn wir mal ab von Monsieur le Capital und Madame la Terre). Lohnarbeit kann gleichermaßen von Frauen (ja sogar Kindern) wie von Männern verausgabt werden, das interessiert bei der Darstellung der ökonomischen Bewegungsgesetze zunächst nicht - oder doch nur insoweit, als die kapitalistische Anwendung von Wissenschaft und Technologie in der großen Industrie die „Weiber- und Kinderarbeit" ermöglicht und ernötigt hat (MEW 23: 416 ff.). Das persönliche Individuum erlaubt diese Abstraktion nicht: es ist entweder Mann oder Frau. Erst jenseits der Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft wird das Ge-
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Schlechterverhältnis zum Thema, auf der Ebene der sozialen Institutionen und Felder, und auf der vermittelnden des Habitus. So wie von einem Klassenhabitus gesprochen werden kann, muß auch das geschlechtsspezifische Moment der Habitus (im Plural) in die Analyse aufgenommen werden. 6. Zur Frage neuer Gegensätzlichkeiten, nämlich einer neuen gesellschaftlichen Spaltung in diejenigen, die drinnen sind und die, die draußen sind, kann die Diskussion des Klassenbegriffs ebenfalls einige Antworten geben, so wie umgekehrt diese Phänomene Anlaß geben, sich über die Relevanz und Reichweite der Klassentheorie für die Gesellschaftsanalyse erneut Klarheit zu verschaffen. (Hinweise darauf, im Hinblick auf Martin Kronauers Thesen zur „Schicht" der dauerhaft Arbeitslosen und auf die Ergebnisse der amerikanischen Debatte zur „underclass", habe ich jüngst in verschiedenen Beiträgen gegeben, Herkommer 1996 und 1997.) Die sog. underclass ist keine Klasse, weder im Marxschen, noch im Weberschen Sinne. Sie ist nicht insgesamt und eindeutig bestimmt durch die Stellung zum Kapital (nur Teile der „relativen Übervölkerung" können der Kapitalverwertung wie eine „industrielle Reservearmee" dienen, vgl. MEW 23: 670 ff.), und sie ist nach Klassenlage, Interessen und Lebensführung zu heterogen, um eine konkrete „soziale" Klasse (Weber 1956: 223 ff.) oder eine Schicht mit eigener Mentalität im Sinne Geigers (vgl. Geißler 1990) zu bilden. Immerhin zu erwägen ist, ob sie im Sinne Bourdieus (negativ bestimmt als ohne Kapital- bzw. Ressourcenausstattung am Boden des „Raums der Positionen" befindlich) eine „theoretische" oder „wahrscheinliche" Klasse, eine „Klasse auf dem Papier" ist, die, um eine wirkliche oder praktische Klasse zu werden, der Benennung, Organisation und Repräsentation noch bedarf - wie im übrigen alle anderen Klassen auch. Mit der Skepsis gegenüber einer Verwendung des Unterklassenkonzepts - weil es besetzt ist von neokonservativer Antisozialstaatlichkeit, weil es stigmatisierende und ideologische Effekte hat, weil es Einheitlichkeit von gesellschaftlicher (Klassen- oder Problem-) Lage, gemeinsame Interessen und Organisations- bzw. Handlungsfähigkeit der Ausgeschlossenen unterstellt - darf keineswegs verbunden sein, die in diesen Diskussionen thematisierten Probleme und Erkenntnisse zu verdecken oder sie nicht ernstzunehmen. Gerade wenn der Schluß naheliegt, daß das Konzept eher mit der Schichtungstheorie („Unterschichtung") und mit der modernen Ungleichheitsforschung (Hradil: „pluraldifferenzierte Wohlfahrtsgesellschaft plus Armutssegment") kompatibel zu sein scheint als mit der klassischen Klassenanalyse, so kann es gar keine Frage sein, daß die Analyse der Klassenverhältnisse besser als bisher in der Lage sein muß, die in der Armuts- und Unterklassen-Debatte benannten Phänomene und Probleme in ihren theoretischen Rahmen und in entsprechende
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empirische Untersuchungen sowie politische Schlußfolgerungen aufzunehmen. Einige wichtige Aspekte dieser Diskussion sollen deshalb auch hier noch einmal hervorgehoben werden: - Neu an den Phänomenen der heutigen „Unterschichtung" bzw. Ausschließung gegenüber „industrieller Reservearmee" plus Pauperismus und „Lumpenproletariat" ist die Vermittlung über den Sozialstaat. Staatliche Sozialpolitik trägt durch ihren Umfang, ihre spezifische Reichweite und Selektivität dazu bei, die allgemein beobachtete, zunehmende Polarisierung sozialer Lebenslagen in spezifischer Weise zu modifizieren. Sie kann sie auch verstärken. Nach dem Typus und Grad an Wohlfahrtsstaatlichkeit variieren die Ausprägungen in den kapitalistischen Metropolen. - Unter diesen Bedingungen kommt dem politischen Inhalt und den Formen der Interessenwahrnehmung auf den verschiedenen umkämpften Feldern besondere Bedeutung zu. Die Vermittlung von Analysen der Kapitalakkumulation, der asymmetrischen Machtverteilung innerhalb der industriellen Beziehungen und der Berücksichtigung und Bündelung von Konfliktpotentialen, die einerseits von jener prinzipiellen „Asymmetrie" und andererseits von der spezifischen Ausgrenzung ganzer sozialer Segmente herrühren, ist Voraussetzung effektiver politischer Programmatik im Sozialstaatskapitalismus. - Die Möglichkeiten von Interessenbündelung und der Organisierbarkeit und Handlungsfähigkeit von heterogen zusammengesetzten Segmenten der ausgeschlossenen Bevölkerung sind eng verknüpft mit der Dauer der Ausschließung. Nicht zufällig wird daher in der aktuellen Armuts- und Ungleichheitsforschung der zeitlichen Dimension, etwa der Unterscheidung von episodischer und temporärer Armut, verstärkt Rechnung getragen. - Dasselbe gilt für die räumliche Dimension der Ausgrenzung, mit der die Konzentration von Armut oder ihre Zerstreuung, ihre Sichtbarkeit oder Verborgenheit erfaßt wird. Ökonomische, soziale und kulturelle (oder auch institutionelle) Isolation hat immer auch einen Bezug auf den historisch gegebenen sozialen Raum und dessen Veränderung. Nationale und regionale Unterschiede, die von der ökonomischen Entwicklung sowohl ausgeglichen als auch noch verstärkt werden können, sind genauso zu beachten wie die ungezügelte oder mehr oder weniger planvolle Umgestaltung von Städten und Stadtregionen. - Der Entwicklungsgrad einer Gesellschaft, die regionalen Unterschiede und die verschiedenen Möglichkeiten, daß Armut (wie auch ihre Wahrnehmung und ihre Stigmatisierung) aufgefangen oder eingebettet sein kann in subsistenz- oder schattenwirtschaftliche Strukturen und familiale Netzwerke, sind ebenso zu berücksichtigen wie die Wirkungen staatlicher und kommunaler Wohlfahrtspolitik (Süd- vs. Norditalien, Reagrarisierungstendenzen in Teilen Ostdeutschlands).
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- Viel zu geringe Beachtung fanden in traditionellen Klassenanalysen einerseits die ethnische Zusammensetzung, andererseits das Verhältnis der Geschlechter und die Familienstrukturen. (Berücksichtigung findet die Rassen- und Klassenteilung etwa im Begriff der „ethnoclass".) - Schließlich ist von erheblicher Relevanz die Berücksichtigung der symbolischen Dimension. Soziale Ausschließung findet über stigmatisierende Benennung, über die Aktivierung von Vorurteilen und mittels alltagsästhetischer Zeichen der Distinktion statt. Auch die Reproduktion der krassen Unterschiede ist vermittelt über die feinen Unterscheidungen, und diese wirken umso effektiver, je verborgener die Mechanismen sind, mit denen die bessergestellten, um ihre Besserstellung aber bangenden sozialen Schichten „nach unten" und gegenüber dem „Fremden" sich abzuschotten versuchen. In den Untersuchungen zur „Kultur der Armut" (Lewis) sind umgekehrt Ansätze zu erkennen, auch die Formen von Selbstausschließung bzw. die Wirkungen des „Sense of one's place" (Goffman) zur Erklärung des Phänomens heranzuziehen, wie es zur Stabilität offenkundiger und greller Ungleichheit kommt. Damit ist die Notwendigkeit unterstrichen, den ideologischen Momenten der Vorstellungen von Inklusion und Exklusion genauer nachzugehen. Literatur: Joachim Bischoff u. a. (1982): Jenseits der Klassen? Hamburg Pierre Bourdieu (1974): Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt/Main Pierre Bourdieu (1982): Die feinen Unterschiede, Frankfurt/Main Pierre Bourdieu (1985): Sozialer Raum und,»Klassen", Frankfurt/Main Pierre Bourdieu (1993): Sozialer Sinn, Frankfurt/Main Rainer Geißler (1990): Schichten in der postindustriellen Gesellschaft, in: Peter A. Berger, Stefan Hradil (Hrg), Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile, Göttingen Sebastian Herkommer (1983): Sozialstaat und Klassengesellschaft, in: Reinhard Krekkel (Hrg), Soziale Ungleichheiten, Sonderband 2 der Sozialen Welt, Göttingen Sebastian Herkommer (1996 a): Veränderungen in der Klassenstruktur Europas, in: Sozialismus Supplement Heft 4-1996 Sebastian Herkommer (1996 b): Das Konzept der „underclass", in: Zeitschrift Marxistische Erneuerung Z. Nr. 26 Sebastian Herkommer (1997): Die feinen und die krassen Unterschiede, in: Johanna Klages/Peter Strutynski (Hrg), Kapitalismus am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, Hamburg Stefan Hradil (1993): New German Social Structure Analysis, in: Schweizerische Zeitschrift für Soziologie, Vol. 19 Max Koch (1994): Vom Strukturwandel einer Klassengesellschaft, Münster Reinhard Kreckel (1990): Klassenbegriff und Ungleichheitsforschung, in: Peter A. Berger und Stefan Hradil (Hrg), Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile, Göttingen Martin Kronauer (1995): Massenarbeitslosigkeit in Westeuropa: Die Entstehung einer neuen „Underclass"? In: Soziologisches Forschungsinstitut Göttingen - SOFI (Hrg.) Im Zeichen des Umbruchs, Opladen Martin Kronauer (1996): Krise der Erwerbsarbeit, Spaltung der Gesellschaft, in: Pietro Ingrao und Rossana Rossanda, Verabredungen zum Jahrhundertende, Hamburg
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Karl Marx, Friedrich Engels Werke (MEW): Manifest der Kommunistischen Partei (Band 4), Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (Band 8), Das Kapital, Band 1 (Band 23) Annette Spellerberg (1996): Soziale Differenzierung durch Lebensstile, Berlin E. P. Thompson (1966): The making of the English working class, New York Michael Vester/Peter von Oertzen et al. (1993): Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel, Köln Max Weber (1956): Wirtschaft und Gesellschaft, Studienausgabe, Erster Halbband, Köln und Berlin Johann Welsch (1997): Die Arbeitswelt der Informationsgesellschaft. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 3
Ariane Brenssell: Geschlechtsspezifische Dimensionen kapitalistischer Globalisierung In einem Artikel mit dem Titel ,Die neuen Widersprüche' beschäftigen sich Rossana Rossanda und Pietro Ingrao mit der ungebrochenen Vorherrschaft und dem veränderten Profil des Kapitalismus und stellen die Frage, warum die Linke es nicht schafft, die neuen Widersprüche zu analysieren. Damit greifen sie ein auch für mich zentrales Phänomen der gegenwärtigen gesellschaftlichen Veränderungen auf: Die Tatsache, daß es keine oppositionelle Interpretation der gesellschaftlichen Veränderungen, keine denkbaren Alternativen oder alternativen Denkformen gibt, (mit) denen es gelingt, in Widerstreit zu den Reden vom Sachzwang, dem Sparzwang und dem Standortwahn zu treten. In ihrer Analyse der ,neuen Widersprüche' arbeiten Ingrao/Rossanda heraus, daß die Dimensionen ökologischer Zerstörung, sozialer Exklusion und Marginalisierung, die wachsende Anzahl sich ethnisch präsentierender Kriege mit den traditionellen Kategorien linker Politik und Theorie nicht adäquat faßbar sind. Sie zeigen, wie das Festhalten an ,alten Befreiungsperspektiven', die weiterhin implizit auf einem erwerbsarbeitszentrierten Gesellschaftskonzept basieren, Fragen danach verstellen oder liegen lassen, mit denen die derzeitige ,Neubeschreibung' gesellschaftlicher Normalität gefaßt werden könnte. Dabei kommen sie zu dem Schluß, daß sich diese Fragen nicht mehr in dem - zu eng gewordenen - Bezugsrahmen einer auf Erwerbsarbeit zentrierten Befreiungsperspektive fassen lassen, daß sie vielmehr auch auf dem Terrain der Zivilgesellschaft und Lebensweise, der Ideologie und der Subjektwissenschaft bearbeitet werden müssen. Diesen theoretischen Perspektivwechsel sehen sie als Voraussetzung für eine erneuerte Hegemoniefähigkeit der Linken. Grundlage hierfür ist für sie die Überwindung einer männlichen Sichtweise, die von „den körperlichen Befindlichkeiten, den Gefühlen und Zeiten der Reproduktion abstrahiert" (Ingrao/Rossanda 1995, 428) - und, so könnte ergänzt werden, somit auch von den Erfahrungen der Menschen. Die Konzeptualisierung dieser ,Reproduktionsseite' steht einer verkürzenden Abstraktion entgegen, die zu den Grundlagen männlicher Kultur und Macht gehört. Dabei
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handelt es sich bei dem Aufgreifen dieser Dimensionen nicht um sogenannte Frauenfragen im Sinne von Fraueninteressen oder -belangen: Es geht um mehr als den „verkürzenden Blick auf die Vorrangstellung eines Geschlechts. Denn dahinter steht die verarmende Reduktion des Daseins auf das Ökonomische ..., eine Reduktion, die in brutaler Weise die Komplexität und Mannigfaltigkeit der individuellen wie der gesellschaftlichen Existenz beschneidet." (Ingrao/Rossanda 1995,429) Durch einen solchen Blick auf die Globalisierungsprozesse werden neue Fragen auf die Tagesordnung gesetzt: Wie sehen die Bewegungsformen aus, die die sich zuspitzenden Widersprüche lebbar machen und sie zugleich vorantreiben? Welche Denkformen und Verarbeitungsweisen werden nahegelegt? Wie werden diese Nahelegungen aufgegriffen, wie Widersprüche erfahren, gedacht, lebbar gemacht? Kurz: Der Blick auf die Vermittlung zwischen Alltagshandeln, Lebensweise und ,Gesellschaft im Großen' erschließt einen strategisch wichtigen ,Frageraum' im Ringen um ein adäquates Verständnis neoliberaler Hegemonie und Globalisierung. Es geht darum herauszufinden, wie sich die alltäglichen Lebensweisen mit den gesellschaftlichen Veränderungen im ,Großen' vermitteln und „wie Gesellschaft sich alltäglich reproduziert" (Haug 1994, 642). Ich werde im folgenden keine empirischen Befunde zur Frage der geschlechtsspezifischen Dimensionen von Globalisierung vorstellen, sondern ein Vorhaben bzw. eine Denkrichtung skizzieren, die sich einen solchen Perspektivwechsel zum Programm oder vielmehr zum Ausgangspunkt macht. In einem ersten Schritt möchte ich fragen, wie die Geschlechterverhältnisse in die kapitalistische Produktionsweise eingeschrieben sind, um Fragen zu gewinnen für eine geschlechtspezifische Analyse der neoliberalen Globalisierungsprozesse. In einem zweiten Schritt möchte ich an zwei Beispielen vorführen, wie, von einem feministischen Standpunkt aus, auch Verkürzungen in Politikkonzepten überwunden werden können, indem die Subjektdimension, d.h. die den Menschen zugewandte Seite mitberücksichtigt wird. Schließlich werde ich mich der Frage zuwenden, wie die Globalisierung im Hinblick auf die individuelle Lebenswelt gefaßt werden könnte. Ich werde hier auch ein paar sehr vorläufige Ideen und Thesen zur spezifischen Veränderung der Handlungsmöglichkeiten vorstellen. 1. Wie lassen sich Verknüpfungen zwischen Wirtschaftsweise und Geschlechterverhältnissen vorstellen, und warum geht die Frage nach den geschlechtsspezifischen Dimensionen nicht in der Frage der Auswirkungen der Globalisierung auf Frauen auf? Globalisierung präsentiert sich geschlechtsneutral. Die Analysen sind es mehrheitlich auch. Einzig im Blick auf die Auswirkungen wird immer wieder wahrgenommen, daß die Veränderungen auch einem geschlechtsspezifischen Muster folgen, daß Männer und Frauen unterschiedlich von den Globalisierungsprozessen
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betroffen sind, daß es in der Regel Frauen sind, die die Hauptlast der Globalisierung zu tragen haben1. Globalisierung steht für die Öffnung der Märkte, für die Liberalisierung des Handels, die Entstaatlichung der Wirtschaft, den transnationalen Siegeszug großer Konzerne und geht mit der Entstehimg von Niedriglohnzonen und der Zunahme von Enklaven informeller Ökonomie quer durch alle Länder und Kontinente einher. Im Zuge der Globalisierung werden die Arbeitsmärkte weltweit umgekrempelt, Frauen und Männern neue Plätze ,zugewiesen', so daß „wie in der Entwicklungswelt und in Mittel- und Osteuropa auch in den Industrieländern vornehmlich Frauen von den Verwerfimgen betroffen sind, die durch das Zusammenwirken von Globalisierung, Tertialisierung und Informalisierung der Beschäftigung erzeugt werden" (Altvater/Mahnkopf 1996, 307). Somit ist zwar die Frage nach den geschlechtsspezifischen Auswirkungen öfter mal aufgegriffen und bearbeitet worden, weniger ,theoriefahig' aber scheint nach wie vor die Frage danach, wie sich die Geschlechterverhältnisse auch im ,Zentrum' niederschlagen, inwiefern Geschlechterverhältnisse eben auch Produktionsverhältnisse sind (vgl. Haug 1996). Ich möchte meinen Blick daher jetzt von den ,Effekten' auf den strukturellen Zusammenhang mit dieser Wirtschaftsweise richten, einer Wirtschaftsweise, die durch Ignoranz gegenüber allen nichtprofitabel verwertbaren Tätigkeiten gekennzeichnet ist und die eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung mit hervortreibt, weil sie sie in gewisser Weise zur Voraussetzung hat. Diese auch geschlechtsspezifische , Struktur' der kapitalistischen Produktionsweise zeigt sich nicht nur darin, daß die Unternehmen in ganz überwiegendem Maße von Männern kontrolliert werden, daß die Chefetagen der Wirtschaftsministerien wie auch der internationalen Finanzwelt mit männlichen Führungskräften besetzt sind. Sie zeigt sich vor allem in der Weise, wie die geschlechtshierarchischen Dimensionen in die Strukturen und Praxen eingeschrieben sind. Dies herauszuarbeiten ist kein leichtes Spiel, sondern Ergebnis der langen Arbeit feministischer Theoretikerinnen, die darin besteht, aus vermeintlich allgemeingültigen/-menschlichen, geschlechtsneutralen Begriffen, Konzepten, Theorien usw., die Einseitigkeiten und Entnennungen herauszuarbeiten und zu zeigen, wie diese Institutionen, Denkformen, Praxen, praktisches Bewußtsein und Alltagshandeln bestimmen (vgl. Eichler 1994). Ich will das jetzt am Beispiel ,Produktivität' vorführen. Produktivität ist ein ,sexistischer' Begriff, weil die allgemeine Definition von ,Produktivität' unbezahlte Arbeit, die keinen Gewinn auf dem Markt bringt, ausschließt. Produktivität ist beileibe kein belangloser Begriff, 1
Unter dem Stichwort "Feminisierung der Beschäftigung" wird so z.B. eine zunehmende Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse gefasst, die der ständigen Umstrukturierung der Wirtschaft entspricht.
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sondern sehr praxisrelevant, weil er die Grundlage des UN-Systems der Volkwirtschaftlichen Rechnung (UNSNA) bildet, das wiederum Grundlagen für die ökonomische und politische Planung in der Welt entwikkelt. Kurz: Die geschlechtsspezifischen Arbeitsteilungen werden so über einen geschlechtsblinden Blick in das Weltwirtschaftssystems eingeschrieben, weil in seinen Berechnungsgrundlagen unbezahlte Arbeit schlicht ausgeblendet bleibt. Eine der entscheidenden Grundlagen unseres sozialen und ökonomischen Systems nicht in seine Rechnung miteinzubeziehen, kann aber nicht bloß als Versäumnis bezeichnet werden. 1988 rechnete eine feministische Ökonomin die oben skizzierten Berechnungsgrundlagen durch unter der Prämisse ,If women counted' (Waring 1988) und kam zu dem Ergebnis, daß eben dies zum Zusammenbrechen der gesamten Weltwirtschaft führen würde. Ökonominnen, die sich die feministische Analyse von Wirtschaftstheorie und -programmen zur Aufgabe machen, sprechen daher von einem Strategischen Schweigen' (Bakker 1994): Denn die einseitige Sicht der Makroökonomie, die allein die profitablen und vermarktbaren Seiten der produktiven Ökonomie' beachtet, basiert darauf, daß die menschlichen Seiten der reproduktiven Ökonomie, Gesundheit, Erziehung, Entwicklung von Fähigkeiten usw. ignoriert werden. Besonders in den vielfältigen Analysen der Entwicklungspolitischen Programme der Weltbank wird immer wieder sichtbar gemacht, wie diese die Unterwerfung von Frauen mitbetreiben und die Herstellung hierarchischer Geschlechterverhältnisse vorantreiben (vgl. Hannak 1995). Das zeigt, wie wenig die Frage nach den geschlechtsspezifischen Dimensionen bloße Frauenfrage ist, die Sonderinteressen von Frauen meint und die womöglich - gerade auch noch in Krisenzeiten - ad acta gelegt werden kann, weil sie sodann als ,Luxus' erscheint. Daß sie stattdessen zentraler Bestandteil kapitalistischer Wirtschaftsweise ist, in der die Handlungstrategien in hohem Maße von den geschlechtsspezifischen Arbeitsteilungen abhängen. Inwieweit und wie müssen somit die aktuellen Veränderungen in den geschlechtsspezifischen Arbeitsteilungen als Voraussetzungen für die Durchsetzung der neoliberalen Hegemonie analysiert werden, weil mit ihnen erst, konkreter durch die Arbeit von Frauen -'im Verborgenen'eine Entschärfung des enormen Anpassungsdrucks stattfindet, der ein solche Gesellschaft erst lebbar macht? Hier wäre zum Beispiel konkret zu untersuchen, wie soziale Normen und Netzwerke, die für eine erfolgreiche Wirtschaftsweise (von Unternehmen, Dienstleistungsbetrieben usw.) erforderlich sind, ebenso auf geschlechtsspezifischen Arbeitsteilungen und/oder schlecht bezahlter Frauenarbeit usw. beruhen, und wie insofern auch wieder geschlechtsspezifische Arbeitsteilungen ausgebaut und festgeschrieben werden (vgl. Elson 1994).
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2. Am Beispiel der immer wieder formulierten feministischen Kritik am herrschenden Arbeitsbegriff soll nun gezeigt werden, wie die Aufnahme von solchen feministischen Perspektiven in Konzeptualisierungen und Forderungen konkrete Verschiebungen ermöglicht, bei der auch die den ,Menschen zugewandte Seite' (Holzkamp) in den Blick gerät. Der herrschende Arbeitsbegriff läßt sich nach wie vor als Hauptbastion patriarchaler Dominanz entziffern, mit der eine Fixierung auf männlich geprägte Werthierarchien und Denk- und Verhaltensmuster zementiert wird. Dies, weil implizit immer noch eine Perspektive auf Arbeit aufrechterhalten wird, die „dem Inhalt nach auf industrielle Tätigkeit, der Form nach auf Erwerbstätigkeit und nach Regularien des sog. Normalarbeitsverhältnisses, dem Wert nach auf Produktivität und Rentabilität und dem Sinn nach auf die permanente Anhebung des Lebensstandards fixiert ist. In diesem Arbeitsbegriff steckt nicht nur das patriarchale Modell der Arbeitsgesellschaft, sondern er erhält auch einen innerhalb des Modells nicht auflösbaren Mechanismus der Krisenverstärkung, da mit ihm die Mythologisierung von Erwerbsarbeit als zentralem Lebensinhalt fortgeschrieben wird." (Kurz-Scherf 1995, 381f.) So werden dann alte Gewißheiten festgeschrieben, die neue Verständigungsprozesse blockieren statt fördern. Wer hingegen „die von der Warenform befreite Arbeit zum Angelpunkt macht, wirft nicht das Problem der Umverteilung, sondern der Struktur der Gesellschaft und des Individuums auf: die Verwendung von Zeit im menschlichen Leben; das Verhältnis zwischen Produktions- und Reproduktionszeit, zwischen beidem und den Zeiten der Ruhe, zwischen kollektivem und individuellem Leben, zwischen Arbeit und Lernen, dem Handeln und dem Betrachten, dem Sein und dem Machen." (Ingrao/Rossanda 1995, 426f.) Diese Verschiebungen sollen an zwei kurzen Beispielen konkretisiert werden: (1) Politik um Arbeitszeit oder ,Was macht der VW-Arbeiter am fünften Tag?' Das Beispiel Arbeitszeitverkürzung eignet sich gut, um die Relevanz dieser Verkürzungen (oder eben liegengelassenen Fragen) vorzuführen, weil sich hier zeigt, wie nützlich es wäre, die oben skizzierten Fragen und Dimensionen zum Bestandteil politischer Debatten zu machen. Arbeitszeitverkürzungen sind ja immer auch zentraler Bestandteil alternativer Wirtschaftskonzepte. Mit ihnen ist insofern die Einsicht verbunden, daß es aktuell um nichts weniger als um eine grundsätzliche Neuverteilung von Arbeit gehen muß. (Dies vor allem, weil aufgrund der Grenzen des Wachstums und der strukturellen Erwerbslosigkeit auch die Grenzen ,alter Lösungen' deutlich werden, damit die Einsicht in die Notwendigkeit eines grundlegenden gesellschaftlichen Umbaus, einer grundlegenden Neuverteilung von Aufgaben und Tätigkeiten einhergeht.) Am Beispiel der Auswertung des Modells der Arbeitszeitverkürzung bei Volks-
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wagen zeigte sich jedoch, daß die Durchsetzung von Arbeitszeitverkürzungen nicht nur auf ökonomische oder politisch-institutionelle Blockaden stößt, sondern auf die der Menschen, konkreter der Männer. Nach Einführung der 28,8 Stunden-Woche wurde sichtbar, daß diese in den Köpfen vor allem der männlichen VW-Arbeiter nicht als Chance aufgegriffen wird (vgl. Gesterkamp 1995). Die Schwarzarbeit in der Region stieg immens an. Daß dieses Beispiel kein beliebiges, etwa regional spezifisches (gebunden etwa an die Region Wolfsburg, an VW, die bundesdeutsche Facharbeiterkultur oder Steuerpolitik usw.), sondern, daß diesen Beharrungsmomenten ein übergreifender, "certain-machismo-factor" (Menzies) innewohnt, zeigt Heather Menzies am Beispiel von Kellogg's Corn Flakes in Michigan/USA: "Kellogg's Com Flakes factory turned three eight-hour shifts into four six-hous shifts, added 25 per cent more workeers to the payroll, and increased hourly wages by 12 per cent. Kellogg took this step in 1930 as a way to ease the local employment situation. Some fifty years later the six-hour day was popular only among the women, who saw it as giving them more time for familiy, community, and genuine leisure. The men repudited the experiment, seeing leisure as something ,for silly women or sissy men* ... In the end senior male workers combined with Kellogg management to lobby against the shorter work day, and it was dropped as an option in 1984." (Menzies 1996,157f.)
Vor dem Hintergrund dessen, daß generell die Arbeitszeitprioritäten geschlechtsspezifisch unterschiedlich sind - sie liegen bei Männern bei ca. 40h/Woche - bei Frauen bei unter 30h/Woche (vgl.Schulze-Buschhoff 1994) - wird an solchen Stellen zum einen deutlich, welche Ansatzpunkt für konkrete Politiken aufgegeben werden, wenn der Teil (hier: die Interessen der Männer) fürs Ganze (hier: als allgemein-menschliches Interesse) genommen wird. Zum anderen wird hier aber auch plausibel, warum Politikkonzepte, die die geschlechtsspezifischen und subjektiven Handlungsbegründungen außen vor lassen, ins Leere laufen müssen, solange sie nicht auch mit den Menschen darin - die Männer und Frauen darin sind - rechnen. (2) Alternative Verkehrspolitik oder ,Die Liebe zum ,Light Truck' Die ,Automobilität' liefert hierfür weitere Beispiel. Nur soviel: Seit in den USA benzinsparende Automobile eingeführt wurden, stieg die Liebe zum sogenannten ,Light-Truck'. ('Light Trucks' sind modifizierte Geländewagen, die zunehmend bevorzugt auch in den Städten gefahren werden, die durchschnittlich 14 Liter Benzin auf 100km verbrauchen und 1,6 t Blech pro Fahrzeug; Zahlen, die zeigen, daß diese Autos mit ökologischen Maßnahmen reichlich wenig zu tun haben.) Über 40% der Konsumenten entschieden sich bei Neukauf für einen solchen. Daß solche Aspekte in alternativen Verkehrskonzepten eine Rolle spielen müssen, daß es auf diese ,Konsumlust', die jeglichen ökologischen Umbau in der Verkehrspolitik so aussichtslos erscheinen läßt, auch einen ge-
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schlechtspezifischen Zugriff geben müßte, wird unter anderem auf Berlins Straßen tagtäglich offen-sichtlich. Mit diesen Beispielen wollte ich zeigen, daß die Beharrungsmomente nicht nur außen, sondern auch innen liegen. Oder mit Marx gesprochen: Die versteinerten Verhältnisse, die wir zum Tanzen bringen müssen, sind innen und außen. Deutlich wird hier, wie sehr auch in den scheinbar so unspektakulären Momenten alltäglicher Zustimmung wesentliche Blokkierungen für Veränderungen liegen. Es geht darum, auch das, was ich jetzt ganz unbegrifflich gesprochen als ,Begehren' oder Sinnkonstruktion fassen möchte, zu ent-naturalisieren. Oder andersherum: Es zu politisieren und zu einem Thema von linker Theorie und Politik zu machen. Und übrigens immer auch geschlechtsspezifisch zu fassen. Denn Ideen eines emanzipatorischen gesellschaftlichen Umbaus verlassen ja erst dann das ,Terrain' des Utopischen, wenn die Menschen - die in diesen Verhältnissen in der Regel Männer und Frauen sind - sie mit Leben füllen können und somit selbst auch zu Akteurinnen darin werden. 3. Der schwierigste und in der Debatte sicher auch unbearbeiteteste Punkt ist nun sicher die Frage, wie sich die Prozesse neoliberaler Globalisierung im Hinblick auf Veränderungen in den Handlungsmöglichkeiten, also die den ,Menschen zugewandte Seite', denken lassen? Ich werde hierzu einen Vorschlag machen, wobei ich hier noch einmal auf den vorläufigen Charakter meiner Überlegungen hinweisen möchte und die vielen ungelösten Fragen, beispielsweise nach dem Verhältnis zwischen den ,großen strukturellen Veränderungen', den Handlimgsmöglichkeiten und den subjektiven Verarbeitungsweisen. Anthony Giddens faßt Globalisierung als „Intensivierung weltweiter sozialer Beziehungen, durch die entfernte Orte in solcher Weise miteinander verbunden werden; daß Ereignisse an einem Ort durch Vorgänge geprägt werden, die sich an einem viele Kilometer entfernten Ort abspielen, und umgekehrt. (...) Wer sich heute etwa in irgendeiner Gegend der Welt mit der Erforschung der Städte beschäftigt, stellt fest, daß das, was sich an einem Ort in einer bestimmten Nachbarschaft abspielt, wahrscheinlich von Faktoren - wie weltumspannenden Finanzmitteln und Warenmärkten - beeinflußt wird, die in beliebiger Entfernung von dieser Nachbarschaft selbst eingesetzt werden. (...) So steht der zunehmende Wohlstand eines Stadviertels in Singapur durch ein kompliziertes Netz globaler Wirtschaftsverbindungen womöglich in kausalem Zusammenhang mit der Verarmung einer Nachbarschaft in Pittsburgh, deren lokale Produkte auf den Weltmärkten nicht mehr konkurrieren können" (Giddens 1996,85) Die Spezifik der Globalisierung sieht er darin, daß Verbindurigsweisen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten oder Regionen über die Erdoberfläche als ganze hinweg vernetzt werden. Dies nennt er ,raumzeitliche Abstandvergrößerung'. Sie umfasst: Interaktion über Ent-
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fernungen hinweg; komplexe Beziehungen zwischen lokalen Beteiligungsweisen; Entbettung, das heißt Herausheben sozialer Beziehungen aus ortsgebundenen Interaktionszusammenhängen und ihre unbegrenzte Raum-Zeit-Spannen übergreifende Umstrukturierung Diesen Tatbestand versucht auch die feministische Soziologin Dorothy Smith mit dem Begriff der ,veränderten Verfügungsverhältnisse' zu fassen (vgl. Smith 1994). Ausgehend von dem Phänomen, das Giddens Entbettung und raumzeitliche Abstandvergrößerung nennt, sieht sie eine entscheidende Dimension der Globalisierung in der Neuentstehung, mehr aber noch der Ermächtigung von sog. ,Hyperrealitätendie transnational und mit globaler Reichweite agieren, die in die lokalen Praxen eingreifen und somit auch über die Handlungsmöglichkeiten der Menschen vor Ort bestimmen. Schärfer als Giddens faßt sie als Spezifik der Globalisierung deren neue Herrschaftsdimensionen: Die Aufspaltung der (Welt)Gesellschaft in verschiedene und hierarchisch angeordnete Möglichkeitsräume. Einerseits in sog. betretbare und bedienbare ,Hyperrealitäten', wie beispielsweise die Börse, in denen Entscheidungen entlang eigener Regeln getroffen werden, die in der Eigendynamik dieser ,Hyperrealitäten' angelegt sind, und die textuell - und das heißt auch über Zahlen (!) - vermittelt eingreifen in die lokalen Praxen. Den ,Hyperrealitäten' stehen so lokale Orte bzw. Standorte (vgl. Altvater/Mahnkopf) gegenüber, in deren lokale Bezüge und Beziehungen eingegriffen wird, die normiert werden usw. Am Beispiel der Buchführung als organisierendem Text macht Smith sehr grob verkürzt deutlich, wie sich zum Beispiel die Realitäten der amerikanischen Börse mit denen der hiesigen lokalen Arbeitsverhältnisse vermitteln: Der Zugang bundesrepublikanischer Unternehmer an der US-amerikanischen Börse setzt u.a. die Übernahme der amerikanischen Buchführungsmethoden voraus. Diese setzt ihre Priorität bei der Rentabilitätsberechnung in stärkerem Maße als in der BRD auf den ,Kostenfaktor Arbeit'. Dies wiederum ,ermutigt' Manager in der BRD dazu, bei der Rationalisierung hier vor allem an den Löhnen anzusetzen. Eine spezifische Veränderung ist so einmal in dem Bedeutungszuwachs zu sehen, den unter den Bedingungen neoliberaler Globalisierung derzeit die sog. ,Hyperrealitäten' - also eine Vielzahl von global agierenden Institutionen - erhalten, in dem sich aktuell ein weltweites Netz von Institutionen und Regulierungsmechanismen herausbildet, mit dem sich neue Formen und Mechanismen von Macht materialisieren (vgl. Smith 1992; vgl. Sassen 1995,1996). Entscheidend ist zweitens, daß die Eigendynamik dieser ,Hyperrealitäten', aufgrund der in ihnen herrschenden Regeln, den Standpunkt der in ihnen handelnden Akteurinnen abkoppelt von den Konsequenzen im Lokalen, während sie jedoch strukturell und vermittelt über Texte (auch Zahlen) mit ihnen verknüpft sind. Diese Textvermitteltheit des Bezuges zu lokalen Praxen entbindet so die Standpunkte derjenigen, die hier Ent-
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Scheidungen treffen, von den Konsequenzen ihrer Entscheidungen im Lokalen. Umgekehrt aber - in den lokalen Praxen - verändern sich faktisch nicht nur die Eingriffs-, sondern auch die Einsichtsmöglichkeiten. Eine Spezifik der Veränderungen sieht Smith also einmal in der Institutionalisierung neuer Herrschaftsformen, einer neuen Ebene gesellschaftlicher Organisation, der zunehmenden Textvermitteltheit gesellschaftlicher Koordination und Organsiation, in der damit einhergehenden Aufspaltung der (Welt)Gesellschaft in unterschiedliche Möglichkeitsräume und der Frage nach der ,Tragweite' der Handlungen in den jeweiligen Möglichkeitsräumen. Subjektwissenschaftlich gewendet, rücken so die veränderten Handlungsmöglichkeiten als veränderte Erkenntnis- und Eingriffsmöglichkeiten, abhängig vom jeweiligen Standpunkt der einzelnen, ins Zentrum der Analyse. Anders als Giddens benennt Smith auch die geschlechtsspezifischen Dimensionen dieser Entwicklung. Sie schlägt vor, einen Standpunkt, den sie Frauenstandpunkt nennt, zum Ausgangspunkt von Erkenntnis zu machen. Dieser Vorschlag ist nicht essentialistisch zu verstehen, sondern als Vorschlag für eine Subjektposition. Er basiert dennoch auf den ,realexistierenden' Geschlechterverhältnissen, die Frauen zum einen weitgehend aus „Hyperrealitäten" oder regulierenden Mächten ausschließen und die Frauen zum anderen für die Bewältigung eines Alltags zuständig machen, der durch Probleme bestimmt wird, die in zunehmendem Maße nicht mehr von den Beziehungen zwischen den Menschen an diesen lokalen Orten abhängen. Daher - so Smith - wird, vom „Frauenstandpunkt" als Subjektposition aus die Koordination der Handlungen vor Ort zum Problem, von hier aus werden entsprechende Erkenntnisse möglich. Diese Entscheidung ist auch eine politische Entscheidung für die Aufnahme und Bearbeitung bestimmter Fragen, die in der Wissenschaft als eigenem Machtapparat in der Regel nicht bearbeitet werden. Mit einem Beispiel soll dieser sehr abstrakt bleibende Vorschlag konkretisiert werden: Bei einer Befragung von Müttern, die sich nach Tschernobyl zusammengeschlossen haben, zeigte sich wie die ,Risikowahrnehmung' durch geschlechtspezifische Erfahrungen und diese wiederum durch die geschlechtsspezifischen Arbeitsteilungen geprägt ist. Frauen, hier als Mütter, sind zuständig für die konkrete Bewältigung des Alltags, was unter den gegebenen Verhältnissen (nach Tschernobyl) zum Dilemma wird: Der Versuch, nach Terschnobyl die belasteten Lebensmittel zu vermeiden, machte sie von den Positionen der Experten abhängig (Richtwerte) und führte dazu, daß sich ihre Handlungsmöglichkeiten auf die Wahlmöglichkeit zwischen Cäsium und Strontium beschränkte (vd. Schultz 1996,205). Erforderlich wird dann der Austritt aus dieser Privatform und aus der ihr anhaftenden Inkompetenz, d.h. es mußte um einen „Akt der politischen Wiederaneignung von gesellschaftlicher Realität" gehen (Schultz 1996,206). Dies ist weiter nichts Neues, da ja Voraussetzung für eine Erweiterung der Handlungsfähigkeit an einem gewissen
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Punkt immer die Überwindung der PrivatfÖrmigkeit ist. Neu ist aber, so eine vorsichtige These, eine graduelle Verschiebung, durch die sich die Widersprüche zuspitzen: Mit der globalisierten Gesellschaftserfahrung' verschärft sich punktuell so etwas wie die ,Überlebensnotwendigkeit der Befreiung' aus der Privatform, zugleich erschwert sich aber diese Möglichkeit, weil parallel auch - wie hier - die Angewiesenheit auf ein Expertenwissen, auf eine Interpretation der Zusammenhänge zunimmt. Das heißt: Die Notwendigkeit und der Druck, sich kompetent zu machen, vergrößert sich und ist unter den Bedingungen, in denen sich die Verhältnisse immer weiter gegen die Menschen verselbständigen (s.o.), zugleich erschwert. Abschließend möchte ich einige sehr vorläufige Fragen formulieren, die sich für mich aus der skizzierten theoretischen Betrachtung der neoliberalen Globalisierungsprozesse ergeben und die erste Vorschläge für eine Konkretisierung meiner Ausgangsfrage nach der Bedeutung veränderter Verfügungsverhältnisse für die Handlungsmöglichkeiten sind. (1) Ich vermute zum einen, daß die ,Hegemonie der Technokratie', der Zahlen und Sachzwänge, spezifische Veränderungen in den Formen und Wahrnehmungen von Macht mit sich bringt: Welche Bedeutung hat es z.B., daß Herrschaft sich in gewisser Weise als „ortlos" und ent-subjektivierter präsentiert. Nicht, weil sie es ist, sondern weil eben die Orte und Subjekte kaum mehr in Erscheinung treten. Sie verschwinden dabei nicht nur hinter Zahlen/Sachzwängen sondern auch hinter einer Kette von Vermittlungschritten. (2) Weiterhin wäre zu fragen, welche Bedeutung es für die Entwicklung der Handlungsfähigkeit hat, daß der globalisierte Bezugsrahmen von Macht jederzeit in Widerspruch zu den alltagspraktischen Notwendigkeiten treten kann, die ja lokal gebunden und entsprechend ohn-mächtig sind. Wobei eine Ermächtigung angesichts der sich global herausbildenen Institutions- und Regulierungsgeflechte (s.o.) auch zunehmend schwerer vorstellbar scheint. Und natürlich bleibt hier zu fragen, wie diese Bedingungen unter den bestehenden geschlechtsspezifischen Arbeitsteilungen unterschiedlich erfahren, verarbeitet und lebbar gemacht werden. (3) Eine weitere für eine Veränderung der Handlungsmöglichkeiten relevante Dimension sehe ich in dem, was ich ökonomistische Einengung nenne. Auf der Ebene von Staat und Ökonomie schlagen sie sich in den gesellschaftlichen Prioritätensetzungen, d.h. normativ nieder: Etwa im Sparen von Zeit und Geld und eben nicht im Sparen von ökologischen Ressourcen oder in einer Zukunft, die vor allem als Zukunft von neu zu erobernden Märkten gefaßt ist (vgl. Schultz 1994). Ich nehme an, daß sich dies auf der Subjektebene widerspiegelt in dem verstärkten Zwang einer Antizipation dessen, was machbar und/oder sinnvoll scheint z.B. die Qualifikation betreffend. Dies vor dem Hintergrund drohender ,Exklusion aus der Gesellschaft'. Hier wäre dann zum Beispiel zu prüfen, in
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welcher Weise der veränderte Lebensraum eine strukturierende Rolle spielt für das, „was für das »Unternehmen Leben' auf der Tagesordnung steht" (Baumann 1995, 225f). Dies gelebt etwa in einer stärkeren Ausrichtung des eigenen ,Lebens für den Lebenslauf. Dabei ist davon auszugehen, daß die politische Prioritätensetzung von den einzelnen aufgrund etwa gesellschaftlicher Leitbilder eines vornehmlich männlichen ,homo oeconomicus' (verkörpert etwa in dem ,Finanzjongleur' als hegemonialer Männlichkeits- und Subjektform (vgl. Connell 1995 a/b) geschlechtsspezifisch verarbeitet und wahrgenommen wird. Unter solchen Bedingungen, die die Entwicklung von neuen Fragen notwendig machen, werden auch die Aufgaben einer Kritischen Psychologie dringlicher, weil immer deutlicher wird, wie wenig es ausreicht, die Veränderungen allein in struktureller Hinsicht begrifflich und theoretisch zu fassen. Es muß zunehmend auch darum gehen, herauszuarbeiten, wie sie in angemessener Weise in Begriffe übersetzt werden können, die Erfahrungen faßbar werden lassen (vgl. Holzkamp 1995, 1996). Oder anders gesagt, es müßte darum gehen, den Alltagsdiskursen der Ratlosigkeit zu entkommen, indem subjektive Unbehagen auch als , Subjektseite' der neoliberalen Globalisierung gefaßt werden. Literatur: Altvater, Elmar; Mahnkopf, Birgit 1996: Grenzen der Globalisierung. Ökonomie, Ökologie und Politik in der Weltgesellschaft. Münster Bakker, Isabella (Hg.) 1994: The strategic silence. Gender and economic policy. London/Ottawa Baumann, Zygmunt 1995: Ansichten der Postmoderne. Berlin/Hamburg Connell, Robert W: 1995a: ,The big picture': Formen der Männlichkeit in der neueren Weltgeschichte. In: Widersprüche 56/57,1995 Connell, Robert W. 1995b: Neue Richtungen für Geschlechtertheorie, Männlichkeitsforschung und Geschlechterpolitik. In: Armbruster, C./Müller,U./ Stein-Hilbers, M. (Hg.) 1995: Neue Horizonte? Sozialwissenschaftliche Forschung über Geschlechter und Geschlechterverhältnisse. Opladen Eichler, Margit 1994: Sieben Weisen den Sexismus zu erkennen. In: Das Argument 207,6/1994,941-954 Elson, Diane 1994: Micro, Meso, Macro: Gender and Economic Analysis in the Contxt of Policy Reform. In: Bakker, Isabella (Hg.): The strategic silence. Gender and economic policy. London/Ottawa Gesterkamp, Thomas 1995: Geteilte Zeit - Geteilte Ansichten. In: Mitbestimmung, 9 / 1995 Giddens, Anthony 1996: Konsequenzen der Moderne. Frankfurt a. M. Hall, Stuart 1984: Ideologie und Ökonomie - Marxismus ohne Gewähr. In: Projekt Ideologie-Theorie: Die Camera obscura der Ideologie. Berlin Hannak, Ilse 1995: Frauen und Entwicklungspolitik. In: Österreichisches Nationalkomitee Weltfrauenkonferenz: Wien-Peking - Wien. Wien Haug, Frigga 1994: Alltagsforschung als zivilgesellschaftliches Projek. In: Das Argument 206,4/5 1994,638 - 658
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Elmar Altvater: Vier Anmerkungen zur Globalisierung Nach diesen im positiven, im guten und - man gestatte den Begriff - auch produktiven Sinne belehrenden Referaten und angesichts der fortgeschrittenen Zeit werde ich mich auf einen Kommentar beschränken, damit noch etwas Zeit für die diskursive Beteiligung des Auditoriums bleibt. Ich werde vier Punkte erwähnen, die alle bereits in den Referaten angesprochen wurden, und versuchen, eine andere Sichtweise einzunehmen, vielleicht auch zusätzliche Überlegungen zur Globalisierungsdebatte hinzuzufügen. Ein Referat über Nationalstaat und Globalisierung würde meines Erachtens den Rahmen der heute geführten Diskussion sprengen. 1. Der erste Punkt bezieht sich auf den von Ariane Brenssell erwähnten Begriff der „Entbettung". Er ist von Anthony Giddens erneut in die Debatte gebracht und von Dorothy Smith kritisch gewendet worden. Ursprünglich stammt er jedoch von Karl Polanyi, der ihn benutzt um zu zeigen, was an Unerhörtem geschehen ist, als sich die Wirtschaftsweise
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der Menschen vermarktwirtschafllichte. Polanyi beschreibt den Prozeß des Übergangs zur kapitalistischen Marktwirtschaft als eine ,große Transformation', deren entscheidendes Merkmal es ist, daß sich zum ersten mal in der Menschheitsgeschichte die Wirtschaft aus der Gesellschaft entbettet. Sie drängt nun ihre Logik und ihre Gesetzmäßigkeiten den Individuen und der Gesellschaft auf und zwingt sie auf diese Weise zu veränderten Handlungslogiken und Handlungsmotiven. Diese Kehrseite des Prozesses der Entbettung besteht in der sachzwanghaften Rückwirkung dessen, was da entbettet worden ist, auf die Gesellschaft und auf die Individuen. Diese zweite Seite der Entbettung behandelt Polany nicht sehr genau. Es geht dabei aber um genau das, was man theoretisch entwickelt bei Karl Marx in der Analyse des Fetischcharakters von Ware, Geld, Kapital etc. finden kann: Was von Menschen gemacht worden ist, löst sich aus ihrem Zugriff und ihrer Steuerungsfahigkeit heraus und gewinnt nun sowohl in den Bewußtseinsformen als auch in ihren Handlungsmöglichkeiten Macht über sie. Das von ihnen Gemachte wird zur Macht über sie. Das ist der Punkt, der von Marx in aller Klarheit herausgearbeitet wird. Den Begriff der Entbettung kann man in unterschiedliche Entbettungsmechanismen aufschlüsseln: es gibt die Entbettung des Marktes aus der Gesellschaft und noch weiterführend die des Geldes von der Ware. Man kann Entbettung auch begreifen als die Herauslösung der Zeitregime aus dem gesellschaftlichen Erfahrungshorizont und dem Erfahrungsschatz der Menschen in Richtung einer abstrakten Zeit- und Raumstruktur und eines Koordinatensystems, in dem sich die Menschen nun zurecht finden müssen und es eigentlich nie richtig können, weil sie dabei völlig von ihrer Subjekthaftigkeit zu abstrahieren hätten. Weiterhin kann man Entbettung auch so begreifen, daß sich die Politik aus der Ökonomie löst und sich ihr gegenüber verselbständigt. Diese Trennung von Politik und Ökonomie ist letztlich auch dafür verantwortlich, daß sich im Wissenschaftsbetrieb die Wissenschaften wechselseitig verselbständigen und dann die Ökonomie zu einer isolierten Rationallehre davon wird, wie Menschen unter Bedingungen knapper Ressourcen rational, das heißt im Sinne einer abstrakten Zweck-Mittel-Rationalität entscheiden, und wie diese individuellen Entscheidungen dann über einen gemeinsamen Koordinationsmechanismus - nämlich den des Marktes - wieder gelenkt bzw. reguliert werden. Schließlich kommt so etwas wie ein Gleichgewicht - ein dynamisches Gleichgewicht sicherlich - heraus. Aber Zeit und Raum spielen da keine Rolle mehr, sie sind quasi aufgelöst - insbesondere in der Neoklassik. Man kann noch einen weiteren Entbettungsmechanismus anführen - ich gehe darauf ein, weil der Begriff der Produktivität als ein sexistischer Begriff bezeichnet worden ist. Ich würde sagen, daß dieses Urteil aus einer gewissermaßen verschwörungstheoretischen Betrachtungsweise folgt. Es geht nämlich darum, daß auch eine Entbettung der Energien aus
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dem menschlichen Maß stattfindet. Die Energien, die die Menschen beherrschen, sind biotische Energien, also außer ihren eigenen auch diejenigen der Tiere und der Pflanzen. Die Anstrengungen, diese Energien in nützliche Arbeit und nützliche Produkte (Endenergien, also Lebensmittel) umzusetzen, war bestimmend in der gesamten Menschheitsgeschichte bis zur industriellen Revolution, bis man auf die fossilen Energieträger zurückgreifen konnte und mit den entsprechenden Energiewandlungssystemen - sowohl im technischen Sinne als auch im sozial-organisatorischen Sinne - nun in der Lage war, die Produktivkraft der Arbeit nahezu unendlich zu steigern. Es tritt sozusagen der Energiewandlungsmechanismus neben den einzelnen Arbeiter und neben den Gesamtarbeiter. Der Energiewandlungsmechanismus, das Maschinensystem, die Fabrik, das Fabriksystem können von ihm zum Arbeiten gebracht werden. Auf diese Weise können Qualität, insbesondere aber Quantität des Produkts ungeheuer gesteigert werden. Wenn man das auf die einzelne Arbeitsstunde oder auf den einzelnen Arbeiter bzw. die einzelne Arbeiterin bezieht, erscheint es als Produktivitätssteigerung. Mit anderen Worten: Die Produktivitätssteigerung ist kein sexistischer Begriff, sondern unmittelbarer Ausfluß des menschheitsgeschichtlichen Übergangs (der „großen Transformation") nicht nur zur kapitalistischen Marktwirtschaft, sondern auch im Zuge der industriellen Revolution zum Industriesystem, zu einer fossilistischen Produktionsweise. Das ist, glaube ich, ein ganz wichtiger Punkt, den man dabei nicht vergessen darf. Und all das war nur auf der Basis der sich herausbildenden „europäischen Rationalität der Weltbeherrschung" möglich, die seit dem 14., 15. Jahrhundert das Denken und das Handeln und das Wünschen und das Erfinden und die Projektierung bestimmt hat. Erstens also haben die Entbettungsvorgänge (bzw. „Entbettungsmechanismen", wie sie Giddens nennt) verschiedene Dimensionen. Zweitens hat Entbettung etwas Sachzwanghaftes. Sie wirkt auf ihre Urheber zurück. Diesen Aspekt kann man sehr gut mit dem Fetischbegriff bei Marx erfassen. Aber bei Marx kommt noch ein dritter Aspekt hinzu. Im 8. Kapitel des ,Kapitals5 über den Arbeitstag und dessen Grenzen wird nämlich analytisch herausgearbeitet, wie der von Marx so bildhaft genannte Werwolfsheißhunger des Kapitals nach Mehrarbeit dazu führt, daß die Arbeitskraft, also die Grundlage der kapitalistischen Verwertungsprozesse, systematisch zerstört wird. Auch die Natur wird zerstört, wie er im 13. Kapitel bei seinen Ausführungen über die Industrialisierung der Landwirtschaft schreibt. Gegenüber diesen Tendenzen der Zerstörung der Ausbeutungsgrundlage von Monsieur le Capital und der Zerstörung von Madame la Terre, unserer Mutter Erde, gibt es eine Gegenbewegung, die Marx im Zusammenhang mit dem Arbeitstag beschreibt. Es geht darum, daß durch soziale Bewegungen dem Kapital Grenzen aufgeherrscht werden gegenüber der Grenzenlosigkeit des kapitalistischen Verwertungstriebs. Dieser Verwertungstrieb hat eine zeitliche Dimension: Akkumu-
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lation, immer schneller, immer schneller. Beschleunigung sozusagen als Prinzip, dem ja auch unser Alltagsleben folgt und mithin auch unser Bewußtsein. Unsere Motivationstruktur ist auf Beschleunigung aus - auf immer schnellere Autos, einen immer dichteren Terminkalendar etc. Der Verwertungsbetrieb hat weiterhin eine räumliche Dimension: er bedeutet Expansion im Raum. Das heißt, die Bedeutungslosigkeit des Raums steckt in der Grenzenlosigkeit der Expansion. Diese Expansion im territorial-geographischen Sinne ist das, was wir normalerweise als Globalisierung bezeichnen. Ich würde jedoch auf jeden Fall hinzufügen, daß man diese Art der Globalisierung nicht begreifen kann, wenn man nicht auch die zeitliche Dimension mithineinnimmt. Denn Globalisierung im Sinne der Expansion in allen Weltregionen haben wir seit mehreren hundert Jahren, verstärkt natürlich wegen der verbesserten Transport- und Kommunikationsmedien seit einigen Jahrzehnten. Die „weißen Flecken" auf der Landkarte gibt es schon lange nicht mehr. Aber die Globalisierung durch immer mehr Beschleunigung, also durch Wachstum in der Zeit ist es, worunter wir heute viel mehr leiden als unter dem geographisch expansiven Charakter dieser Globalisierung. Also ist Grenzenlosigkeit das Prinzip. Grenzen gegenüber der häufig zerstörerischen Grenzüberschreitung, Grenzen dieses Überspringens und Über-die-Stränge-Schlagens müssen dem Kapital immer wieder aufgeherrscht werden. Der Begrifff des Aufherrschens taucht am Ende des 8. Kapitels über den Arbeitstag bei Marx auf. Er beschreibt gegenüber der Entbettung und der Herrschaft des Fetisches, der Sachzwänge, immer wieder einen Prozeß des Aufherrschens, der Setzung von Grenzen. Grenzen der Ausbeutung der Arbeit durch den Sozialstaat, Grenzen der ökologischen Zerstörung, die sehr viel später in harten Konflikten gesetzt werden, Grenzen gegenüber dem Über-die-Stränge-Schlagen im Sinne der territorialen und temporären Akkumulation. Das Denken der Grenzenlosigkeit ist verbreitet und wird mit Begriffen gefasst, die auch Ariane schon kritisiert hatte. Im Neoliberalismus spielen sie eine ganz zentrale Rolle. Deregulierung und/oder Liberalisierung heißt ja Beseitigung von Grenzen, von nationalstaatlichen Grenzen, aber auch von Grenzen, die das Handeln der Menschen in bestimmte Kanäle leiten und ihm eine Richtung und auch Halt geben. Liberalisierung ist immer verbunden mit Privatisierung; öffentliche Räume werden eingeschränkt oder beseitigt, die Grenzen gegenüber dem privaten Zugriff müssen abgesteckt werden, gegenüber der Grenzenlosigkeit der ökonomischen Expansion und Akzeleration. Auch wenn Universitäten privatisiert werden, ist das die Vernichtung von öffentlichen Räumen und die Unterwerfung dieser dann privatisierten Räume unter die Gesetzmäßigkeit des privaten Systems, und das heißt in diesem Sinne: Expansion und Akzeleration; die Privatisierung nimmt auf individuelle Bedürfnisse, die in Menschlichkeit, in der Leiblichkeit, auch in der seelischen und sonstigen Verfasstheit von Menschen liegen, keine Rücksicht. Die Grenzen,
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die zählen, sind die der monetären Kaufkraft und/oder die der individuellen Leistung. Die Entbettungsmechanismen sind also heute genauso gültig und wirksam, wenn auch in anderer Form, wie zu der Zeit, als Karl Polanyi sie beschrieb. Der Prozeß des Aufherrschens hingegen ist sozusagen die aktionsspezifische Antwort auf die Deregulierungs- und Entbettungsmechanismen. Solange Entbettungsmechanismen ihre Bedeutung nicht verlieren, bleibt auch die Gegenbewegung des „Aufherrschens" aktuell. 2. Der Sachverhalt der Globalsierung wird von sehr vielen - nicht nur hierzulande - in Frage gestellt. Man sitzt meines Erachtens einer Fehlinterpretation von Globalisierung auf, wenn man sie heutzutage mit irgendwelchen ökonomischen Daten bezweifeln will, beispielsweise mit dem Hinweis darauf, daß 60% des Handels der Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft innerhalb der EU stattfindet und daher zwar von Europäisierung, kaum aber von Globalsierung geredet werden könne. Der Begriff der Globalisierung sei eine Übertreibung. Das ist allerdings eine absurde Betrachtungsweise. Denn wenn ich das weiterdenke, würde ich zu dem Resultat gelangen müssen, daß eine „Kreuzbergisierung" stattfindet, wenn ich zum Beispiel um Kreuzberg herum eine - gedachte Zollgrenze legen würde. Wenn man an dieser Zollgrenze die internen und externen Wirtschaftsbeziehungen Kreuzbergs messen würde, dann würde man vielleicht herausbekommen, daß 50% der Wirtschaftsbeziehungen auf Kreuzberg beschränkt sind: die Frisöre, die Bäcker und so weiter liefern in Kreuzberg selbst. Also habe ich eine Kreuzbergisierung und noch nicht einmal eine Berlinisierung. Von der Berliner Wirtschaft zu reden wäre eine Übertreibung, müsste man dann wohl behaupten. Erst recht findet keine Verdeutschung der Kreuzberger Wirtschaft statt und Globalisierung sowieso nicht. Lassen wir das Beispiel; mit anderen Worten: Die These von dem Mythos der Globalisierung hat sehr viel mit der Art des Messens zu tun - wo ich messe, wie ich messe, was ich messe. Das Messen ist jedoch letztlich irrelevant, auch wenn dies die Diskussion über Globalisierung - deswegen bin ich überhaupt darauf eingegangen - momentan sehr stark beeinflußt. In Veröfffentlichungen (z.B. seitens der Gewerkschaften) wird immer wieder dajs Argument von den Handelsverflechtungen und Direktinvestitionen gebracht, die auf eine Europäisierung hinweisen. Das Argument ist aber gar nicht stichhaltig, so daß es eigentlich wundert, wie verbreitet es ist. Globalisierung ist ein Sachverhalt, der am Ende des 20. Jh. gar nicht so verwunderlich ist. Marx hatte ja schon im vorigen Jahrhundert, rein spekulativ zu seiner Zeit, von der „propagandistischen Tendenz des Kapitals den Weltmarkt herzustellen" gesprochen und diese propagandistische Tendenz ist nun mehr als Propaganda, sie ist Wirklichkeit geworden. Nicht daß jetzt jede Lebensfaser vom Globalen beeinflußt wäre. Aber die Standards werden global vorgegeben, und das ist das Entscheidende. In
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Kultur und Kommunikation haben wir es mit der Coca-Cola-Kultur zu tun; wenn sich Wissenschaftler heute verständigen, dann in der globalen lingua franca, in English. Es ist viel über die machistischen Dimensionen dieser Kultur geschrieben und gesprochen worden, ich brauche es nicht zu wiederholen. Die Hotels in aller Welt sind gleich, und wenn man zu bestimmten Zeiten mit dem Flieger fliegt, dann sind da die schwarzbekofferten Herren so wie du (Herkommer) und ich da drin zu sehen Frauen findet man selten. Das alles ist Globalisierung. In der Kultur, in den Kommunikationsmedien ist das selbstverständlich. Das Stichwort „Internet" löst einen ähnlichen Diskurs über Globalisierung als Vereinheitlichung eines „Transferprotokolls" aus. Im ökonomischen Bereich erscheint die Globalisierung als Festlegung von Preisen der Waren auf internationalen Märkten, der Wechselkurse und Zinsen auf globalen Finanzmärkten. Dies ist kaum zu bestreiten, und selbst jene, die Gloablisierung als „Mythos" abtun wollen, geben dies zu. Die globalen Standards sind entscheidend. Selbst die lokale Kreuzberger Produktion, um das Beispiel noch einmal zu bemühen, kann sich darüber nicht hinwegsetzen, auch wenn - nehmen wir es einmal an - 50% der Produkte lokal gehandelt werden. Der Manager Lopez von VW - VW ist wegen des Arbeitszeitmodells schon erwähnt worden, aber Lopez muß man auch in diesem Zusammenhang erwähnen - ist ja von VW auch deshalb eingekauft worden, weil er den schönen Spruch geprägt hat: ,Nenn mir den Preis des Wagens, den ich erzielen kann, und ich mach das mit den Kosten'. Das ist der globalisierende Manager, der nur noch die Kosten am Standort sieht, aber globale Standards voll akzeptiert und nicht mehr versucht, daran herumzudeuteln, oder der gar anfängt zu klagen: ,die Preise sind zu niedrig, dazu kann ich doch gar nicht produzieren'. Nein, diese Art von Globalisierung ist eine Herausforderung. Die Leute sehen nur noch Kosten und versuchen, die Kosten an die vorgegebenen Preise anzupassen. Die Preise der Waren sind global vorgegebene Parameter, denen sich die Produktion unterzuordnen hat. Aber auch die Zinsen, die sehr wichtig sind für wirtschaftspolitische Eingriffsmaßnahmen, sind global vorgegeben. Wenn wir von der Erosion des Nationalstaates sprechen, und auch von der Erosion des Sozialstaates, dann nicht zuletzt auch deshalb, weil die Nationalstaaten ihre Souveränität in wirtschaftspolitischer und sozialpolitischer Hinsicht weitgehend haben einbüßen müssen. Wechselkurse spielen natürlich auch eine Rolle. Alle Länder - das kriegt man ja sogar, wenn man Nachrichten hört, mit - befinden sich in der Währungskonkurrenz und müssen sich den damit verbundenen Herausforderungen stellen. Die Parameter am Standort müssen also an die Parameter des globalen Systems angepaßt werden. Ganz allgemein gesprochen müssen also die Kosten gesenkt werden, was man durch Lohnsenkung machen kann, oder durch Produktivitätssteigerung und damit also durch mehr fossilen Energieverbrauch. Das wiederum zieht ökologische
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Probleme nach sich und erst recht soziale Probleme, weil dadurch ganze Gesellschaften und Individuen unter Streß gesetzt werden, was nicht gerade ein Faktor der Erhöhung von Leistungsbereitschaft und Wettbewerbsfähigkeit ist. Dieser Prozeß ist voll von Widersprüchen. Eine weitere Variante ist die der nationalstaatlichen Stabilisierungspolitik, die immer auch Senkung der Staatsausgaben einschließt, da man in der globalen Konkurrenz die Einnahmen nicht erhöhen kann. Die Senkung der Staatsausgaben findet natürlich zunächst in den Bereichen statt, wo der soziale Widerstand am geringsten ist. Unter Bedingungen der Globalisierung müssen alle Gesellschaften Strukturanpassung betreiben. Sie stehen unter dem permanenten Zwang, die Strukturen an die globalen Bedingungen anzupassen. Das ist eine permanente Streßsituation, die sich politisch entsprechend auswirkt und individuell sicherlich auch. Nicht zuletzt ist Globalisierung ökologische Globalisierung. Wir sprechen nicht zu Unrecht von globalen Umweltproblemen, die daraus entstanden sind, daß eben die Grenzenlosigkeit des Akkumulationsprozesses in Zeit und Raum irgendwann auf die Grenzen der Tragfähigkeit dieses Planeten Erde stößt. Die Grenzen eines Umweltraums, der irgendwie sogar bemessbar wäre, werden überschritten. Die Reaktionen darauf sind notgedrungen global. Klimapolitik läßt sich nicht mehr national durchführen. „Global governance" ist eine Notwendigkeit geworden. Das alles sind Elemente der Globalisierung. 3. Der dritte Punkt, ganz kurz: Die Globalisierung hat natürlich auch Konsequenzen für das demokratische Prinzip. Demokratie findet immer in territorial begrenzten Räumen statt. Demokratie hat ihre Zeiten; kein Mensch ist in der Lage, über bestimmte Zeitlimits hinwegzugehen oder hinwegzusehen. Das Beispiel Tschernobyl ist schon erwähnt worden. Wir können nicht demokratisch über Atomkraft oder die Folgen von Tschernobyl entscheiden, das geht einfach nicht. Die Entscheidungsräume und die Partizipationsmöglichkeiten im demokratischen System einerseits und die Zeiträume von Zerfallszeiten nuklearer Produkte auf der anderen Seite sind so wenig kongruent, daß demokratische Entscheidungsprozesse einfach nicht möglich sind. Das Problem besteht darin, daß erstens der formale Rahmen von Demokratie ausgehöhlt wird und dann natürlich Politikverdrossenheit entsteht. Warum soll man sich um Partizipation bemühen, wenn das, was man da entscheidet, doch keine Relevanz hat? Zweitens: Wenn durch den Druck auf den Sozialstaat die substantielle Dimension von Demokratie eingedrückt wird, dann leidet darunter auch die formale Seite der Demokratie. Mit anderen Worten, es entstehen dann die ,unverfaßten Mächte', wie sie Wolf-Dieter Narr bezeichnet hat, die nicht mehr kontrollierbar sind, und die auch gar nicht mehr kontrolliert werden wollen von denjenigen, von denen sie eigentlich kontrolliert werden müßten. Hier ist also eine Entdemokratisierungstendenz angelegt. Vor wenigen Tagen konnte man eine Stellungnahme
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des Präsidenten des Mitteldeutschen Wirtschaftsforschungsinstitutes in Halle, eines dieser großen Wirtschaftsforschungsinstitute lesen. Dort hieß es sinngemäß: Wir müssen unseren demokratischen Mechanismus an die Globalisierung anpassen, und zwar durch eine Beschleunigung der Entscheidungsverfahren, um dem globalen Druck standzuhalten. Aber wenn man beschleunigt - Demokratie braucht ihre Zeit - wird man die Demokratie entsprechend aushebeln. Mit anderen Worten: da ist eine sehr große Gefahr für die Demokratie entstanden. Wenn wir dieser Gefahr nachgeben, landen wir im Autoritarismus. Das muß kein Faschismus wie vor 50 oder 60 Jahren sein. Aber dies ist kein Trost, und erst recht keine Ausrede, sondern eine Warnung. 4. Letzter Punkt. Das Aufherrschen hatte ich schon erwähnt. Das ist meiner Ansicht nach die einzige Antwort auf die Entbettungsmechanismen, die als Globalsierung, Entdemokratisierung usw. daherkommen. Aufherrschen. Aber die Frage lautet natürlich: Wie? Wenn auf der nationalstaatlichen Ebene der territoriale Sinn des Nationalstaates aufgehoben ist oder erodiert, wenn auch die soziale Substanz von Demokratie nicht mehr vorhanden ist, kann man auf nationaler Ebene überhaupt noch „Grenzen der Globalisierung" - so lautet der Titel des Buches, das Birgit Mahnkopf und ich gerade publiziert haben - aufherrschen? Kann man das vor allem auch in den tradierten organisatorischen Strukturen tun, die auf nationalstaatlicher Ebene die Verbindungslinie von Gesellschaft und politischem System darstellen, nämlich in den Parteien? Man spricht ja auch nicht zu Unrecht von Parteienverdrossenheit. Das ist eine Frage. Ich habe keine präzise Antwort darauf. Ich würde sehr pragmatisch auf der Handlungsebene immer sagen: dort sollte man handeln, wo man am ehesten meint, etwas erreichen zu können. Warum also nicht in den Parteien, warum nicht auf nationalstaatlicher Ebene durch Lobbyarbeit oder durch Unterschriftensammlungen, durch Aufklärung der Öffentlichkeit, was auch immer? Das kann ja nicht schaden, man muß sich nur über die Handlungsrestriktionen einigermaßen im Klaren sein. Gibt es auf der globalen Ebene überhaupt Handlungsmöglichkeiten? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Zunächst würde jeder sagen, natürlich gibt es sie auf der globalen Ebene nicht, genausowenig, wie es Handlungsmöglichkeiten im Wolken-Kuckucksheim gibt. Aber es gibt bereits globalisierte Karrieren. Ich denke an diesen Herrn Leeson, der in Singapur mit japanischen Aktien spekuliert, wegen des Erdbebens in Kobe in eine Krise gerät, eine Londoner Bank in die Pleite reißt, in Frankfurt in den Knast geworfen wird und dann über London nach Singapur ausgeliefert wird, um dort seine Strafe abzusitzen. Das ist eine globalisierte Karriere, die ich jetzt nicht als Vorbild für irgendwelche Handlungsmöglichkeiten auf globaler Ebene vorschlagen möchte. Ich wollte damit nur deutlich machen, daß wir nicht einfach sagen können: ,Global, da kann man gar nicht handeln.' Und tatsächlich handeln sehr
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viele Gruppen und Bewegung auch auf globaler Ebene. Auch deshalb, weil sie auch lokal präsent sind. Die Nicht-Regierungs-Organisationen vernetzen sich und verknüpfen so lokale, nationale und globale Ebenen in Ansätzen zwar nur, aber immerhin. Bei den NGOs handelt es sich anders als im Falle der Parteien, die über harte Strukturen verfugen eher um lockere Bindungen, um Netze, die aber mehr sind als das, was die Neuen Sozialen Bewegungen der 70er Jahre ausgezeichnet hatte. Die waren temporär und haben zu bestimmten Ereignissen und zwar singulär als single-point-issues gearbeitet und vor allem lokal. Die Aufgaben, die jetzt anstehen und die gerade durch die Globalisierung auf die Agenda kommen, wie globale Umweltprobleme, globale ökonomische Probleme, eine Vielfalt von sozialen Problemen etc., sind nicht mehr nur temporärer Natur, sondern Dauererscheinungen; sie sind nicht mehr nur lokal, sondern global; sie sind nicht mehr nur single-point-issues, sondern sie haben mit großen Zusammenhängen zu tun. Sie brauchen daher auch neue Organisationsformen, neue Vernetzungsformen, die sich unter dem Aspekt des Aufherrschens lokal und global ausformen. Damit man etwas aufherrschen kann, muß man erkennen, wo der Hase im Pfeffer liegt. Das ist zunächst durch Aufklärung zu bewältigen, es muß aber auch so etwas wie eine gewisse Wut hinzu kommen, daß man die Verhältnisse - von der sozialen Exklusion und hoher Arbeitslosigkeit bis zur ökologischen Krise -, die einem das Leben schwer machen, nicht mehr weiter ertragen will. Aber die Leidensfähigkeit der Menschen, das wissen die Kritischen Psychologen besser als ich, ist unübertroffen groß, und das macht dieses Wort vom Aufherrschen natürlich nicht zu einer Sache, die man zum schlichten Programm erheben kann, sondern zu einem Orientierungspunkt des alltäglichen Handelns.
Diskussion Fried: Ich würde jetzt gerne kurz das Erkenntnisinteresse der Vorbereitungsgruppe in Bezug auf diese Podiumsdiskussion erläutern. Dann können wir eine kurze Runde auf dem Podium machen und anschließend Euch (dem Auditorium) die Möglichkeit geben Fragen zu stellen. Am Anfang habe ich dargestellt, daß für die Kritische Psychologie eine Beschäftigung mit Globalisierung und Klassenanalyse vor einem bedeutungsanalytischen Hintergrund relevant ist. Wenn man davon ausgeht, daß sich seit der Veröffentlichung der ersten programmatischen Arbeiten der Kritischen Psychologie die weltweiten ökonomischen Verhältnisse erheblich veränderte haben - wie es die Diskussion um Globalisierung meist nahe legt - , dann könnte es sein, daß ein solcher Wandel Auswirkungen auf Theoriebildungen der Kritischen Psychologie hat und damit auf die Frage nach der Konzeptionalisierung von Handlungsmöglichkeiten unter den veränderten Bedingungen. Mit dem ersten Teil der Frage werden sich Kritische Psychologinnen beschäftigen müssen, den
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zweiten Teil, den nach der Analyse der Bedingungen von Handlungsmöglichkeiten, würde ich gerne mit euch diskutieren. Wir wollten mit der Zusammenstellung des Podiums drei Aspekte akzentuieren, die uns bei der Beantwortung der Frage relevant erschienen: Das ist zum einen die Frage, ob sich im Zuge der Globalisierung die ökonomische Basis so relevant verändert, daß sie für individuelles Handeln eine neue Bedeutung gewinnt. In diesem Zusammenhang fände ich es sehr interessant, wenn ihr auf die These der ,Globalisierung als Ideologie' kurz eingehen könnten. Es wird ja von einigen Leuten behauptet, daß allein das Denken und Sprechen in globalisierten' Dimensionen schon eine Beschränkung der Handlungsmöglichkeiten darstellt, weil die Dimensionen, in denen Veränderung denkbar wäre, um ein Vielfaches überschritten werden und man überhaupt nicht mehr weiß, wo man ansetzen soll. Die zweite Ebene, die wir interessant fanden, war die der klassenanalytischen Betrachtung. Ist es innerhalb eines globalisierten Kapitalismus noch möglich, mit einem Klassenbegriff zu operieren, der ja immer auch ein gesellschaftliches Bewegungsmoment enthält? Uns stellte sich die Frage, wie angesichts der veränderten Situation gesellschaftliche Veränderung gedacht werden kann, von wem sie ausgehen könnte und ob diese Momente mit Hilfe des Klassenbegriffs analytisch aufzuschlüsseln sind? Und als dritte Ebene die des Geschlechterverhältnisses. Hier interessieren uns eure Positionen, zu der Frage, ob bisherige Kapitalismusanalysen durch die Vernachlässigung z.B. der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in einem Maße zu kurz greifen, daß sie grundlegend neu konzipiert werden müssen, oder welche Vorstellungen ihr bezüglich einer Integration dieser unterschiedlichen Konzepte habt. Es wäre schön, wenn ihr euch über diese Punkte kurz austauschen könntet. Frage aus dem Publikum: Ich habe noch vorab eine Frage an Herrn Altvater. Ich würde Sie bitten Stellung zu nehmen zu der Frage, die Herr Herkommer aufgeworfen hat, nämlich wie sich durch Globalisierung für Sie die Sicht auf veränderte Klassenverhältnisse modifiziert und wie Sie unter den Bedingungen der Globalisierung eine Anwendung des Klassenbegriffs, des hier vorgeschlagenen modifizierten Klassenbegriffs für realisierbar halten. Altvater: Ich bin auf die Analyse von Sebastian Herkommer deshalb nicht eingegangen, weil ich weitgehend mit ihr übereinstimme. Ich kann nur noch einzelne Aspekte hinzufügen. Der Klassenbegriff ist ja immer in nationalstaatlich konzipierten, territorial gebundenen Gesellschaften gedacht worden. Die Territorialität durchzieht sozusagen unsere Begriffe, ohne daß wir das immer spezifizieren und explizieren. Wenn man sie heute unter Globalisierungsbedingungen zu explizieren gezwungen ist, muß man versuchen, diese territoriale Dimension zu begreifen und innerhalb der einzelnen Bereiche zu differenzieren: zum Beispiel Zeit und Raum, Ort und die Verschiedenheit dieses Ortes als abstrakter Raum, als
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konkreter Ort, als Platz, als ökonomisch gedachter Standort, in diesem abstrakten Raum des Weltmarktes mit seiner Konkurrenz etc. Ich bin mir jetzt auf die Schnelle nicht im Klaren, welche Art von Differenzierung die angemessene ist, um dies in den Klassenbegriff einzubringen. Das zweite: die Exklusionsthese ist natürlich bedeutsam, gerade unter Bedingungen der Globalisierung. Die Internationale Arbeitsorganisation hat in ihrem Bericht von 1994 von 750 Millionen Arbeitslosen oder prekär Beschäftigten in der Welt gesprochen.,Prekär beschäftigt' heißt, daß diese Leute entweder kein auskömmliches Lohneinkommen bzw. Erwerbsarbeitseinkommen haben, oder aber daß sie unter Bedingungen arbeiten, unter denen es keinen Arbeitsvertrag, keinen Arbeitsschutz, keine sozialstaatliche Absicherung etc. gibt. Das Entstehen solcher Arbeitsformen wird als ,Informalisierung' oder als ,informeller Sektor' bezeichnet. Welche Konsequenzen sich aus dieser Deformalisierung von Arbeit ergeben, ist eine Frage, die man im Zusammenhang der Globalisierung unbedingt diskutieren muß. Wenn wir von Klassen und von Lohnarbeit reden, haben wir immer auch ein bestimmtes Regelungssystem vor Augen - früher wurde das als ,Normalarbeitsverhältnis' bezeichnet. Es existierte in den hochentwickelten Ländern, wo der Prozeß des Aufherrschens gegenüber der deregulierenden Entbettung in Teilen erfolgreich war. In den sozialstaatlich organisierten, modernen kapitalistischen Gesellschaften Europas, Westeuropas vor allem, aber auch in den USA, gab es dieses Normalarbeitsverhältnis, das Zeit- und Schutzregelungen in vielfältigster Form, vom Kinderschutz über den Mutterschutz bis hin zum Nachtarbeitsverbot etc. enthalten hat und zum großen Teil immer noch enthält. All das ist jetzt einem Erosionsprozeß unterworfen, einer Deformalisierung, und diese Deformalisierung ist ganz zweifellos ein Moment des Globalisierungsprozesses. Es stellt sich also die Frage nach der Informalisierung - vielleicht auch danach, ob es nicht auch eine Reformalisierung gibt: in welcher Form kann sich ein Arbeitsverhältnis wieder rekonstituieren und wie wird es in Zukunft aussehen. Vielleicht muß man das auch je nach Weltregion spezifisch diskutieren - ob man es länderspezifisch denken kann, sei dahingestellt. Wenn man nun in diese Überlegungen die subjektive Dimension einbezieht oder, genauer gesagt, die organisatorische Dimension, die ja einen Teil der subjektiven Dimension darstellt, dann wird man herausfinden, daß im Zuge der Globalisierung der Wirtschaft, bei gleichbleibender nationaler Gebundenheit der Organisationen der Lohnarbeit, speziell der Gewerkschaften, an dieser Stelle ein neuer Widerspruch entsteht, ein Widerspruch, der der politischen Bearbeitung bedarf. Ob man diesen Widerspruch dadurch auflöst, daß man versucht die Organisierung (zumindest) auf europäische Ebene zu heben, wie es oft diskutiert wird und ich hab mich an der Diskussion auch beteiligt - sei dahingestellt. An dieser Stelle kommt ein bedeutsamer Punkt hinein, der auch von Bourdieu beachtet worden ist bei dem Klassenbegriff, der ja eine objek-
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tive Dimension immer noch hat und behalten wird - es gibt nun einmal Kapital und Arbeit und dann die verschiedenen Dimensionen, die Herkommer ja in seinen vier Schritten herausgearbeitet hat: Dieser bedeutsame Punkt, das sind die Möglichkeiten der kulturellen Differenzierung auf den beiden Klassenantipoden, wenn man so will und wenn man mal die Differenzierung für einen Moment bei Seite läßt, die natürlich sehr unterschiedlich ausgeprägt sind. Das Kapital und die Repräsentanten des Kapitals, die können sich in dieser globalisierten Kultur bewegen. Sie sprechen englisch, und wenn sie es nicht selber tun, können sie sich Ubersetzer halten. Arbeiter können das in der Regel nicht. Sie sind tatsächlich aufgrund von sprachlichen Barrieren und wegen ihrer Gebundenheit an konkrete Orte, auch an Standorte, viel weniger in der Lage, diesen globalisierenden Herausforderungen Rechnung zu tragen. Da stellt sich jetzt die Frage - ich hab da ein Fragezeichen, ich will da gar keine Antwort geben: Ist das ein Nachteil, oder ist das vielleicht sogar ein Vorteil? Das ist eine Frage, der man sich zuwenden muß. Ich weiß nicht wie die Antwort aussieht. Ich finde es nicht nur vorteilhaft, wenn man sich im globalen Raum international bewegt und so die lokalen Bindungen, auch die Sprache und sonstigen Kulturbiotope austrocknet zugunsten eines europäischen oder gar globalen Nicht-mehr-Biotops. Im Habermasschen Sinne, würde ich sagen, ist das Zerstörung von Lebenswelt durch systemweltliche Einflüsse. Das sind also Punkte, die man unbedingt berücksichtigen muß, wenn man die globale Dimension mit dem Klassenbegriff in Zusammenhang bringt. Entscheidend ist, wie gesagt, vor allem diese territoriale Dimension, die in allen unseren Begriffen impliziert ist, nicht nur im Klassenbegriff. Die muß man meines Erachtens viel deutlicher hervorheben und explizieren, um begrifflich an die neuen Tendenzen besser heranzukommen. Fried: Mich würde jetzt von Sebastian Herkommer noch interessieren, welche praktische Relevanz denn ein solcher aktualisierter Klassenbegriff, wie du ihn dargestellt hast, haben kann, wenn man den Vertretern der Individualisierungs-These folgt und wenn es richtig ist, daß immer mehr Leute nicht mehr ,nur' ausgebeutet werden, sondern regelrecht aus dem System rausfallen. Wie kann unter solchen Bedingungen kollektives Handeln, ohne das gesellschaftliche Veränderung nicht denkbar ist, oder auch nur Bewußtwerdung, gedacht werden? Herkommer: Zunächst wollte einen Aspekt aufgreifen, in dem ich mich mit Elmar Altvater einig weiß. Ein wichtiger Punkt war die Diskussion, die um den herrschenden Arbeitsbegriff als Hauptbastion patriarchalischer Dominanz geführt worden ist, damit da kein Mißverständnis entsteht. Die Marxsche Theorie, so wie ich sie hier vorgestellt habe, wie wir denken, sie anwenden zu müssen, geht der Frage nach, was die Bewegungsgesetze der modernen Ökonomie sind. Und die Bewegungsgesetze
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der Ökonomie, die sind zunächst einmal unabhängig zu diskutieren von der Verteilung der Frauen und Männer auf die mehr oder weniger gut ausgestatteten Arbeitsplätze. Es ist überhaupt keine Frage, daß es dann um die Verteilung von Hausarbeit und Erwerbstätigkeit geht. Aber begrifflich, da würde ich daran festhalten, ist diese Unterscheidung erst auf einer späteren abgeleiteten Ebene relevant, und noch nicht auf der Ebene der Analyse der Wirkungsweise der moderne Gesellschaft. Und insofern schließe ich mich dieser von Elmar unter dem 2. Punkt vorgeführten These der Globalisierung als realem Sachverhalt an. Der These, daß der Weltmarkt die Weltgesellschaft produziert hat, daß das vorgegebene globale Standards nach sich zieht, die sowohl kulturell als auch in ökologische'r Hinsicht als Folge der ökonomischen Verflechtung und Beherrschung der Märkte zu begreifen sind. In Folge kann man auch Globalisierung in Bezug auf das Geschlechterverhältnis diskutieren, denke ich. Jetzt zu der anderen Frage, inwieweit globale Klassenverhältnisse sich durchsetzen, inwieweit das Phänomen der Ausgrenzung und der Unterschichtung oder der Bildung von ausgegrenzten, ghettoisierten Unterklassen beobachtet werden kann. Ich denke, es ist auch hier die allgemeine Analyse Voraussetzung für die Untersuchung von Unterschieden und Besonderheiten. Auf die hat Elmar auch zu Recht hingewiesen, und ich versuchte das ja mit dem Beispiel der amerikanischen Ghettos und der Frage nach der entsprechenden Herausbildung von solchen ausgegrenzten Kulturen oder Klassenteilen und der an den Rand der Gesellschaft gedrängten Gruppen zu machen. Letzlich bedarf es komparativer, umfassend empirischer Untersuchungen über nationale und regionale Besonderheiten, über die historische Entwicklungen der industriellen Beziehungen, der Gewerkschaften etc., um überhaupt beurteilen zu können, inwieweit sich globale Tendenzen tatsächlich auch in den einzelnen Nationalstaaten und Regionen durchsetzen. Ähnliches muß auch für die Frage gelten, wie sich innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise mystifizierte Bewußtseinsformen entwickeln. Elmar hat darauf hingewiesen, daß mit dem Fetisch Entscheidendes gesagt worden ist über die Verkehrung im Bewußtsein. Ich hab es kurz erwähnt in meinem Beitrag als widersprüchlich bestimmte Bewußtseinsform. Wenn wir davon ausgehen, daß unsere Gesellschaft eine kapitalistisch organisierte ist, dann müssen wir genauso auf der abstrakten Ebene zunächst einmal für die Bewußtseinsformen ermitteln, inwiefern sie widersprüchlich bestimmt sind, inwiefern sie die bürgerlichen objektiven Gedankenformen von Freiheit, Gleichheit und Leistung enthalten, und inwiefern auf dieser Grundlage auch die Widersprüchlichkeiten von den Arbeitern, den Lohnabhängigen, erkannt werden können in der Erfahrung dieser in der Zirkulationssphäre maßgeblichen Formen der Gleichheit und Freiheit und dem Gegensatz, daß unter dieser Form genau das Gegenteil praktiziert wird. Es ist zu klären, daß sich das auch in den Ge-
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danken, in den Denkformen der Menschen als ein Widerspruch reproduziert. Ich hoffe, daß verständlich wird, daß ich auch hier eine ähnliche Vorgehensweise vorziehen würde: von einer allgemeinen abstrakten Bestimmung aus dem Kapitalverhältnis die Bewußtseinsform zu entwickeln und dann unter den je spezifischen Bedingungen der Arbeitssituation und der Lebensbedingungen zu erklären, wie sich diese Widersprüchlichkeiten in fealen Erfahrung der Unterdrückung, der nicht-Privilegierung, aber auch der erweiterten Möglichkeiten am gesellschaftlichen Reichtum teilzunehmen, wie sich das also im Bewußtsein niederschlägt, bzw. wie das auch die Handlungsmöglichkeiten im Sinne des Handeln-wollens bestimmt. Wir können nicht unmittelbar aus der allgemeinen Analyse in die Bewußtseinsformen des konkreten Alltagslebens springen, sondern wir müssen die Vermittlungen nachvollziehen. Wenn das als Voraussetzung akzeptiert ist, dann bin ich vollkommen einverstanden, daß man auch Ingraos und Rossana Rosandas Vorstellungen übernimmt; daß man an Gramsci anschließt und den Begriff der Zivilgesellschaft aufgreift, bzw. die gegenwärtigen Bedingungen, unter denen zivilgesellschaftliche Errungenschaften bedroht sind, thematisiert, und die kulturelle Dimension in Betracht zieht. Also wenn man an die schon erreichten Möglichkeiten, an gesellschaftlichem Reichtum zu partizipieren, das Leben selbständig zu gestalten, an die Erfahrungen also anknüpft, daß diese gegenwärtig bedroht sind, wird es dann erst möglich und nötig, diese kulturelle Dimension einzubeziehen und entsprechende politische Bündelung von Interessen vorzunehmen, was eine ausgesprochen prekäre Aufgabe ist und eine schwierige Situation, was ich nicht unbedingt unterstreichen muß, wenn man die Heterogenität der Interessen betrachtet, die allein schon in der Gruppe der Marginalisierten aber erst recht zwischen denen, die noch Arbeit haben, und denen die keine Arbeit mehr haben, bestehen. Ich wollte auf die Schwierigkeit hinweisen, aber zugleich auch auf politische Handlungsmöglichkeiten, die für politische Institutionen bestehen. Fried: Möchtest Du (Brenssell) jetzt, obwohl Herr Altvater gegangen ist2, noch etwas zu der Frage sagen, inwieweit das Geschlechterverhältnis strukturierendes Moment des Kapitalismus ist? Brenssell: Nein, das möchte ich so nicht, aber ich habe die ganze Zeit überlegt, was ich jetzt sage, weil ich im Prinzip meine ganzen Thesen jetzt noch mal entfalten könnte. Das tue ich nicht, keine Angst. Einen Gedanken finde ich wichtig. Ich denke, daß in einem Nachdenken über Herrschaftsverhältnisse von oben sich auch ein Zugriff auf diese verliert. Ich habe versucht, dies von unten zu tun und diese Dimensionen in den Blick zu nehmen. Ich finde, daß dieser Blick von oben immer wieder an 2
Elmar Altvater mußte, wie vorher von ihm mitgeteilt, wegen eines kollidierenden Termins das Podium vorzeitig verlassen.
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dem subjektlosen Sprechen über Veränderung deutlich wird. Ich geh mit ihm total d'accord über den Fetisch, wie Marx ihn entfaltet hat. Das ist ein erkenntnistheoretisches Problem bei Marx: die Verhältnisse verselbständigen sich gegen die Menschen und das macht es schwierig, sie als von Menschen gemachte zu rekonstruieren. Und ich glaube, daß sich diese Schwierigkeit immer wieder in Theoretisierungen und Konzeptualisierungen zeigt. Das heißt, daß es immer sehr naheliegend ist, das System als selbsttreibendes zu denken. Dazu zwei Punkte, die ich jetzt leider nicht mehr an Altvater direkt richten kann, aber noch erwähnen möchte. Nämlich, daß die Frage der Handlungsmöglichkeiten in einer Formulierung wie ,Leidensfähigkeit' der Menschen über Bord geworfen wird, und mich interessiert, was da eigentlich dahinter steckt. Ich hingegen favorisiere ein Denkkonzept von Herrschaftsverhältnissen, das die Zustimmung von unten zur Voraussetzung hat. Das entspricht diesem Blick von unten und ich gehe davon aus - ganz kritisch-psychologisch daß die Menschen schon Gründe haben, wenn sie zustimmen, daß diese Gründe ernst zu nehmen sind und daß einer dieser Gründe - das habe ich ja versucht zu zeigen, strukturell und nicht verschwörungstheoretisch in geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung liegen könnte, und daß man sich diesem Problem zumindest stellen sollte. So weit erst einmal. {Aufgrund eines technisches Fehlers bricht die Aufzeichnung der Diskussion hier leider ab.)
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Plenum II Ökonomie und Psychologie II (gesellschaftliche Bedeutungen): Nationalismus, Risikogesellschaft, Individualisierung1 Hansgeorg Conert, Reinhard Kühnl, Werner Seppmann Moderation: Christina Kaindl Christina Kaindl: Zur Einleitung möchte ich die Konzeption dieses Plenums erläutern, auch deswegen, weil bezüglich des vorangegangenen Plenums offensichtlich Zweifel an der Zulässigkeit unserer Konzeption bestanden, bis hin zum Vorwurf aus dem Publikum, wir betrieben durch Fokussierung auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen „Kontrollwissenschaft". Die Konzeption orientiert sich - wie Barbara Fried bereits ausführte an der Bedingungs-Bedeutungs-Begründungsanalyse, die zentral für die Kritische Psychologie ist. Dabei ist es natürlich richtig, daß für die Aufklärung subjektiver Probleme der Analyseweg vom Subjekt über die Bedeutungsstrukturen zu den Bedingungen läuft. Andererseits aber wurde von Holzkamp herausgearbeitet, daß dafür wiederum eine Analyse des historisch-konkreten gesamtgesellschaftlichen Prozesses unerläßlich ist, um nicht in der Unmittelbarkeit sozusagen zu versumpfen. Die Frage, wie unsere Lebensbedingungen strukturiert sind, ergibt sich ja nicht einfach aus ihrer Anschauung, sondern ist theoretisch - gesellschaftstheoretisch - umstritten. Diese Bedingungsanalyse ist also nicht Aufgabe der Psychologie, sondern wird auf gesellschaftstheoretischer Ebene von anderen Wissenschaften geleistet - in ihren Ergebnissen aber ist sie für die Kritische Psychologie hochrelevant. Denkt man sich selbst nicht außerhalb des Prozesses der Gesellschaftsveränderung, sondern als Teil desselben, sind diese Ergebnisse für uns selber, unser Handeln und unsere Forschung und Theorieentwicklung wesentlich. Im ersten Plenum sollte versucht werden, ökonomischen Strukturveränderungen nachzugehen. Dieses - zweite - Plenum versucht in gewisser Weise eine Vermittlung zwischen diesen ökonomischen Analysen und der Psychologie zu leisten, indem es der Frage nachgeht, wie diese ökonomischen Strukturveränderungen sozialwissenschaftlich reflektiert werden und wie sie in alltägliche Denkweisen eingehen. In der Terminologie der Kritischen Psychologie gesprochen, geht es also um bedeutungsanalytisch relevante Fragen überindividueller Denkfiguren; individuelles Denken vollzieht sich ja, wie Holzkamp u. a. herausgearbeitet haben, im Medium gesellschaftlicher Denkformen. „Bei solchen sub1
Wegen eines technischen Fehlers wurde die Diskussion nicht aufgezeichnet.
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jektwissenschaftlichen Bedeutungs- und Denkformenanalysen, die sich auf alle gesellschaftlichen Bereiche, bis hin zu den entwickeltsten Formen wissenschaftlichen, wissenschaftstheoretischen, philosophischen Denkens beziehen muß, ist einerseits zu berücksichtigen, daß die Genese solcher Bedeutungen/Denkformen einschließlich ihres ideologischen Aspekts mit dem Hinweis auf deren geschilderte ,subjektive Funktionalität' nicht hinreichend aufklärbar ist, sondern dazu der übergreifende gesellschaftliche Produktions- und Reproduktionsprozeß (...) in die Analyse hineingenommen werden muß." (Holzkamp, 1983,393f) Kennzeichen des ideologischen Aspekts von Bedeutungen und Denkformen ist, daß sie einerseits eine ideologische Funktion zur Sicherung bürgerlicher Herrschaft erfüllen müssen, dies aber nur können, wenn sie für die Individuen andererseits Denkmöglichkeiten eröffnen, in denen diese ihre Welt- und Selbstbegegnung in Übereinstimmung mit diesen Machtverhältnissen denken können. Es soll auf dem Podium also einerseits um ideologiekritische Dimensionen gehen, also die Frage, ob und wieweit Herrschaft theoretisch abgebildet, verschleiert, ausgeblendet ist, bzw. wie die gesellschaftlichen Strukturveränderungen theoretisch verkürzt konzipiert werden. Theoretische Konzeptionen wie Kommunitarismus, Risikogesellschaft bzw. postmodernes Denken gehen ja auch in psychologische Theorienbildung ein (diesem Aspekt wird möglicherweise auch auf dem am Abend folgenden Plenum weiter nachgegangen werden können). Andererseits ist auch die Frage, wie diesen Theoremen und Konzeptionen theoretisch begegnet werden kann, wie „widerständige" Denkformen konzipiert sind, die ein Denken und Handeln über den gegebenen gesellschaftlichen Rahmen hinaus ermöglichen würden.
Reinhard Kühnl: Weltgesellschaft und Nationalismus2 I. Der Nationalstaat verliert an Bedeutung. Er wird unterlaufen und ausgehöhlt durch die Internationalisierung der Produktion und des Austausches, durch die wachsende Potenz der transnationalen Konzerne und durch den Machtzuwachs supranationaler Gebilde. Ist damit nicht auch dem Nationalismus der Boden entzogen? Offenbar nicht ohne Weiteres: Die herrschenden Klassen in den Metropolen appellieren allenthalben ans Nationalbewußtsein. In zerfallenden multinationalen Staaten Ostund Südosteuropas flammt ein wilder Nationalismus auf. Die Emanzipationsbewegungen in den Ländern der Dritten Welt definieren sich als „nationale Befreiungsbewegungen". Und alle Staaten der Welt deklamieren sich heute offiziell als Nationen. Um zu ergründen, welches die Rolle des Nationalismus in der heutigen Welt sein kann, sind Ursachen, politische Funktion und Wirkungs2
Der Beitrag von Reinhard Kühnl wurde wegen Erkrankung des Referenten von Imke Dierks verlesen.
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weise des Nationalismus ins Auge zu fassen. Daß dies hier nur verkürzt und vergröbert möglich ist, versteht sich von selbst.3 II. Klassengesellschaften sind dadurch gekennzeichnet, daß eine Minderheit, die herrschende Klasse, imstande ist, die Mehrheit der Bevölkerung für ihre Zwecke zu instrumentalisieren: als Arbeitskräfte, als Soldaten und als Sexualobjekte. Wie aber kann Gesellschaft trotz der permanenten Verletzung der Interessen der großen Mehrheit als einheitlicher Wirkungszusammenhang über einen längeren Zeitraum hin existieren? Zwang und Furcht allein können die Integration nicht erzeugen. Sie ist nur möglich, wenn beträchtliche Teile der unterdrückten Klassen dazu gebracht werden können, die gegebene Gesellschaft mindestens in ihren Grundzügen zu akzeptieren. Diese Leistung vollbringt in vorbürgerlichen Gesellschaften hauptsächlich die Religion, die die gegebene Ordnung als göttlichen Willen deklariert und für alle Leiden, sofern sie nur geduldig hingenommen werden, reichlich Entschädigung im Jenseits verheißt. Mit dem Aufstieg wissenschaftlicher Weltbilder, der Alphabetisierung großer Bevölkerungsmassen und der Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung konnte die Religion diese Integrationsleistung nicht mehr vollbringen. Die bürgerliche Gesellschaft weist sowohl eine neue Selbstdefinition (mit neuen Versprechen) wie auch neue soziale Bruchlinien auf: Sie verspricht Freiheit, Gleichheit und Gemeinschaft („Brüderlichkeit"), zerreißt aber zugleich die Gesellschaft in lauter Individuen, die ihre Interessen gegeneinander, im Konkurrenzkampf, zu verfolgen gezwungen sind. „Weil", schreibt Marx, „das Privateigentum jeden auf seine eigene rohe Einzelheit isoliert und weil jeder dennoch dasselbe Interesse hat wie sein Nachbar, so steht ein Grundbesitzer dem anderen, ein Kapitalist dem anderen, ein Arbeiter dem anderen feindselig gegenüber. In dieser Verfeindung ... ist die Unsittlichkeit des bisherigen Zustandes der Menschheit vollendet; und diese Vollendung ist die Konkurrenz."4 Auf diese Problemlage gab und gibt es zwei prinzipielle Antworten. Die eine lautet (in den Worten von Marx): „Produziert mit Bewußtsein, als Menschen, nicht als zersplitterte Atome ohne Gattungsbewußtsein, und ihr seid über alle diese künstlichen und unhaltbaren Gegensätze hinaus." 5 Die andere will Integration stiften auf dem Boden des kapitalistischen Klassensystems. Da reale soziale Homogenität nicht existiert, bedarf es fingierter Homogenität, um den Zusammenhalt der Gesellschaft 3
Siehe bes. E. Balibar, I. Wallerstein, Rasse, Klasse, Nation, Hamburg, Berlin 1990; E. Gellner, Nationalismus und Moderne, Berlin 1991; E. J. Hobsbawm, Nationen: Mythos und Realität seit 1780, Frankfurt; New York 1991 4 MEW 1, S. 513 5 MEW 1, S. 515
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zu gewährleisten. Im Zentrum solcher Integrationsideologie steht der Nationalismus. III. Der Nationalismus ist dabei insoweit auf der Höhe der Zeit, als er zwei Bedingungen erfüllt, die die Religion nicht erfüllen konnte: Er bot erstens eine säkulare Antwort an. Und er nahm zweitens Bezug auf das Volk als politisches Subjekt. Insoweit erfüllte er dieselben Anforderungen wie der Sozialismus. Wie aber können die auseinanderstrebenden Kräfte des privaten Egoismus, die in Konkurrenzkampf ihren Ausdruck finden, wie auch der Interessenantagonismus zwischen Eigentümern und abhängig Arbeitenden gebändigt und in ein Gemeinsames eingebunden werden? Das Gemeinsame ist die Nation, eine politische Gemeinschaft all derer, die auf einem gegebenen Territorium gemeinsam leben und ihre Zukunft gestalten. Dieser politische Begriff der Nation, wie er von der Französischen Revolution konzipiert war, erwies sich allerdings als nicht hinreichend, um die eklatanten sozialen Brüche zu überwölben. So wuchsen im Laufe des 19. Jahrhunderts die Bemühungen, substanzielle Homogenität für die Nation zu erfinden. Denn, wie uns die Ideologen des kapitalistischen Staates gerade jetzt, nach dem Wegfall des kommunistischen Feindbildes, das Integration erleichterte, immer aufs neue sagen: Die liberale Staatsidee ist eine rein negative und überhaupt nicht geeignet, Gemeinschaftsbewußtsein zu erzeugen. Die Suche nach Elementen, mit denen substanzielle Homogenität fingiert werden konnte, erwies sich als äußerst erfolgreich. Was die Nation zusammenhält, ist demnach die gemeinsame Sprache, allgemeiner noch: die gemeinsame Kultur, die gemeinsame Geschichte und die gemeinsame Herkunft. Auf der Basis dieser Gemeinsamkeiten bildet die Nation den gemeinsamen Staat, der also den kollektiven Willen dieser substanzhaft geeinten Nation ausdrückt. Mit dieser Ideologie ist der Nationalismus am Ende des 19. Jahrhunderts in allen wesentlichen Elementen entwickelt. Tatsächlich handelt es sich bei all diesen angeblich wesensmäßigen Gemeinsamkeiten um Fiktionen: Nirgends gab es die gemeinsame Hochsprache, bevor der Staat sie systematisch erzeugte, vor allem durch Schulpflicht und Wehrpflicht. Sie war nicht, wie es der Mythos deklarierte, das archaische Fundament der Nationalkultur, die Seele der Nation, sondern sie war ein Kunstprodukt. In Deutschland dürften es nur drei- bis fünfhunderttausend gewesen sein, die im 18. Jahrhundert die Hochsprache auch nur zu lesen vermochten, und noch viel weniger, die sich tatsächlich in der Hochsprache ausdrückten. Und in Italien waren es nicht einmal 3%, die italienisch sprachen, als der Nationalstaat errichtet wurde. Von einer gemeinsamen Geschichte kann überhaupt keine Rede sein bevor der Nationalstaat die politische Einheit herstellte. Selbst wenn man davon absieht, daß auch vor Ort der Feudalherr und der leibeigene
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Bauer die jeweilige Geschichte sehr unterschiedlich erlebten, hatten die verschiedenen Regionen weder eine gemeinsame Geschichte noch das Bewußtsein einer Gemeinsamkeit. Tatsächlich war es also umgekehrt: Es ist in der Regel der Staat, der die gemeinsame Sprache schafft und ebenso die Vorstellung einer gemeinsamen Geschichte samt aller damit verbundenen Mythen. Denn, wie Renan schon vor über hundert Jahren schrieb: „Kein Nationalstaat ohne Fälschung der Geschichte."6 IV. Nation als politische Willensgemeinschaft und Nation als Sprach-, Kultur- und Abstammungsgemeinschaft sind aber schon deshalb genau zu unterscheiden, weil sie ganz unterschiedliche Konsequenzen in sich bergen. Die erste Linie führt vom Denken der Aufklärung über die Französische Revolution zur bürgerlichen Demokratie. Sie beruht auf den Ideen der allgemeinen Menschen- und Bürgerrechte und der Volkssouveränität. Sie ist sowohl universalistisch als auch individualistisch: Die Menschenrechte kommen prinzipiell allen Menschen zu, denn es gilt das Prinzip der Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt. Und sie kommen jedem einzelnen zu: gegenüber dem Staat und bei der Mitwirkung im Staat. Volk und Nation werden als demos verstanden, als politische Gemeinschaft. Staatsbürger sind nach dieser Logik alle, die in den Grenzen des Staates längerfristig leben. Es gilt also (neben dem Abstammungsrecht) das Territorialprinzip, das ius soli. Die Gegenbewegung, die ihr Zentrum in Deutschland hatte und bis heute hat, lehnt das Prinzip der Gleichheit aller Menschen und der Universalität der Menschenrechte strikt ab. In ihrer konsequenten Fassung können Träger von Rechten nur Völker sein - Völker, die als unterschiedliche und eigentümliche Wesenheiten vorgestellt werden, geprägt durch gemeinsame Abstammung, gemeinsame Geschichte, gemeinsame Kultur, die ihrerseits als etwas unabänderlich Gegebenes, sozusagen Ontologisches gedacht wird. Zugehörigkeit als Staatsbürger und Ausgrenzung der „Anderen" sind also wesenhaft gegeben. „Deutschstämmig" müssen sie sein in unserem Fall. Es gilt, wie das Lateinische sehr präzis sagt, das ius sanguinis, das Recht des Blutes. Die Konsequenzen dieses völkischen Nationalismus, der zum Rassismus hin offen ist, haben sich in der Geschichte Europas drastisch gezeigt. Werden sie ernst genommen, so blockieren sie nicht nur die Humanisierung der gesellschaftlichen Beziehungen im Innern des Nationalstaates sondern auch die Chance, in den Beziehungen zwischen den Völkern und Staaten Gewaltverhältnisse durch Rechtsverhältnisse abzulösen. Denn Geschichte ist in diesem Verständnis nichts anderes als der ewige Kampf der Völker ums Dasein, und Rechtsnormen oberhalb dieses Existenzkampfes kann es gar nicht geben. Der Kanzler des Deutschen 6
Renan, Qu' est ce que c'est une nation? Paris 1882, S. 7
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Reiches verkündete deshalb schon 1914 zur Begründung des Überfalls auf das neutrale Belgien: „Not kennt kein Gebot". Und Adolf Hitler formulierte dann in der gewohnten Präzision: „Recht ist, was dem deutschen Volke nützt". Der völkische Nationalismus macht jede Völkergemeinschaft und jede Weltgesellschaft schon vom Prinzip her unmöglich. Er ist ein Feind der Menschheit. Auch für die Gestaltung der inneren Beziehungen zählen Menschenrechte nicht. Wird die Logik des völkischen Nationalismus konsequent angewandt, so muß das Volk ethnisch homogen und politisch einheitlich ausgerichtet werden. Daß dann die Einwanderer, auch die der zweiten und dritten Generation, nicht dazugehören können, ist evident. In der Kunst politischer Rhetorik noch unerfahrene Politiker wie der berühmt gewordene CDU-Stadtrat aus Rostock aber sprechen dann auch offen aus, daß dann auch Juden nicht dazu gehören können, und verweisen Ignaz Bubis nach Israel. Was die Nichtdazugehörenden betrifft, so besteht die mildere Variante darin, sie politisch rechtlos zu halten. Das praktiziert die Bundesrepublik bis heute gegenüber den 7 Millionen „Ausländern", und das versuchten viele neu gegründete Nationalstaaten in Ost- und Südosteuropa: die Slowaken gegenüber den Ungarn, die Litauer gegenüber den Polen, die Kroaten gegenüber den Kraina-Serben usw. Aber auch die härtere Variante, die Vertreibung, wurde und wird praktiziert. Absolut destruktiv wirkt hier überall das Prinzip, daß die Nationalität, daß ethnos und nicht demos die Basis der Staatsbildung darzustellen habe. Die Bundesrepublik hat die Anwendung dieses Prinzips auf Jugoslawien forciert, und die Folgen sind nun zu besichtigen. Sie waren voraussehbar und wurden vorausgesagt. Es ist klar, daß die weitere Anwendung dieses Prinzips ganz Mittel- und Osteuropa in Flammen setzen und übrigens auch die großen westeuropäischen Länder - Frankreich, Spanien, Großbritannien - destabilisieren würde, denn alle diese Länder sind multinational. Würde die Bundesrepublik die gleichen Prinzipien wie in Jugoslawien anwenden, so müßte sie Militärinterventionen gegen Frankreich und Spanien fordern, da dort den Basken und den Korsen die Errichtung eines eigenen Staates verweigert wird. Diese Destruktionspotenz des Nationalismus gilt übrigens weltweit, denn der größte Teil der etwa 180 existierenden Staaten ist multinational und multiethnisch. Dem Ausschluß derer, die nach völkischen Kriterien nicht dazugehören, entspricht die Einbeziehung der „Volksteile", die „unerlöst" in Nachbarstaaten leben, als Teile der Nation. Die extreme Rechte der Bundesrepublik spricht das offen aus in Bezug auf Westpolen, Österreich, „Südsteiermark", Südtirol, Elsaß und „Nordschleswig". Die regierende Rechte hält sich zurück, spricht aber von den neuen Bundesländern als „Mitteldeutschland" (Schäuble), verfahrt so, als ob unser Staat für „die Deutschen" in Polen zuständig sei, und läßt in den Schulen die erste Strophe des Deutschlandliedes lernen, damit die Kinder erfahren,
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was alles „zu uns" gehört. Der völkische Nationalismus stellt also auch eine Bedrohung des Friedens zwischen den Staaten dar. Gegenüber diesem Verständnis von Nation als ethnos, als Abstammungsgemeinschaft, ist also das Prinzip der Universalität der Menschenrechte und der Nation als demos, als politische Willensgemeinschaft zu verteidigen. Unterschiedlichen kulturellen Traditionen können Entfaltungschancen auf der Basis von Dezentralisierung und Autonomie gewährleistet werden. Sie müssen keineswegs zur territorialer Absonderung, zu Seperatismus oder zu Homelands, führen. Von diesem Boden aus kann dann auch die Frage der realen sozialen Homogenität gestellt werden, der Aufhebung der Klassengesellschaft. V. Ideologien können bekanntlich Massenwirksamkeit nur dann erzielen, wenn sie mindestens zwei Bedingungen erfüllen: Sie müssen erstens real existierende Probleme aufgreifen und darauf Antworten geben, real existierende Wünsche und Hoffnungen aufgreifen und ihre Erfüllung verheißen. Und sie müssen zweitens Elemente der Realität aufnehmen, an Alltagserfahrungen anknüpfen, so daß sie eine gewisse Evidenz erlangen können. Dem Nationalismus gelingt beides. Er greift die sozialen Zerklüftungen und die Sehnsucht nach gesicherter Zukunft und nach Gemeinschaft auf und benennt die Bedingungen für die Erfüllung dieser Hoffnung: Harmonie nach innen, d. h. auch Eliminierung der Störelemente, und Stärke nach außen, um im internationalen Konkurrenzkampf durchsetzungsfähig zu sein - die Nation als Schicksals- und als Kampfgemeinschaft. Der Nationalismus fungiert also einerseits als Kampfinstrument gegen die sozialistische und internationalistische Linke und zweitens als Mobilisierungsideologie für den ökonomischen Konkurrenzkampf, für Imperialismus und Krieg. Was nun die Gemeinsamkeit der Sprache und der Kultur und den Bezug auf den gemeinsamen Staat angeht, so scheinen alltägliche Erfahrungen diese Gemeinsamkeit nachhaltig zu bestätigen. Das Bewußtsein, daß „wir" seit undenklichen Zeiten eine Gemeinschaft bilden, wird durch historische Mythenbildung schon im Kindheitsalter im Bewußtsein verankert und durch nationale Symbole permanent befestigt. Helmut Schmidt, Ex-Bundeskanzler und Präsident der deutschen Nationalstiftung, teilte kürzlich mit, daß die Geschichte des deutschen Volkes mit Otto dem Großen beginne. Nun wissen wir also von allerhöchster Autorität, daß „wir", das „deutsche Volk", schon mehr als tausend Jahre alt sind. Der Aufstieg von Sportwettkämpfen zu nationalen Schauspielen und deren enorme Intensivierung durch die Massenmedien haben diese Vorstellungswelt „wir Deutsche" - „die Anderen" auch im letzten Dorf verankert. Bahnbrechend war hier die Nutzung der Olympiade von 1936 durch den deutschen Faschismus.
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VI. Aber: Sind nationalstaatliches Denken und gar dieser Nationalismus nicht doch Auslaufmodelle? Wird Ihnen nicht durch Internationalisierung und Globalisierung der Boden entzogen? Unzweifelhaft lassen sich drei Feststellungen treffen: Zu keinem der großen Probleme unserer Zeit kann der Nationalismus irgend etwas beitragen, das uns einer Lösimg näherbringt. Im Gegenteil: Wo immer er auftritt, bedroht er den erreichten Stand an Humanisierung. Das ist zwar nichts Neues. Aber bis zur Zwischenkriegszeit konnte man vielleicht noch annehmen, daß das Prinzip der sogenannten „nationalen Selbstbestimmung", das Wilson 1918 dem Prinzip der sozialen Revolution entgegensetzte, befriedend wirken würde. Diese Hoffnung kann man heute beim besten Willen nicht mehr haben. Hobsbawm weist mit Recht darauf hin, daß „die brisanten nationalen Fragen Europas" nach 1989 „exakt dieselben (waren) die man 1918-1921 geschaffen hatte" und die vor 1914 größtenteils gar nicht existiert hatten.7 Schon die größeren Nationalstaaten sind nicht mehr imstande, eine territorial definierte Volkswirtschaft herzustellen. Bei kleinen Nationen wie Esten, Letten, Slowaken, Slowenen usw. ist ein solcher Anspruch auf einen souveränen Nationalstaat mit allen zugehörigen Insignien und womöglich mit einer eigenen Fluglinie einfach absurd. Die Fassade des Nationalstaates verbirgt, daß es sich um halbkoloniale Räume für den Imperialismus der großen kapitalistischen Staaten handelt. Aber auch die politischen Hauptakteure der Zukunft werden, wie Hobsbawm sagt, „weit größere Gebilde sein als die Staaten, die den typisch nationalistischen ... Bewegungen des ausgehenden 20. Jahrhunderts vorschwebten."8 Migrationsbewegungen großen Ausmaßes erweisen die Grundannahmen des Nationalismus, daß es sich bei Nationalstaaten um ein sprachlich und ethnisch homogenes Territorium handelt, immer deutlicher als bloße Fiktion. Das alles bedeutet aber keineswegs, daß der Nationalismus seine ideologische Potenz schon bald verlieren muß. Für die absehbare Zukunft wird er, so vermute ich, eine sehr einflußreiche Ideologie, wahrscheinlich die zentrale Integrationsideologie, bleiben. Das vermute ich jedenfalls für die entwickelten kapitalistischen Länder.9 Ich möchte vier Gründe für diese These wenigstens andeuten: Ungleichheit innerhalb kapitalistischer Staaten und zwischen ihnen ist ein wesentliches Merkmal der kapitalistischen Welt. Wie der gesell7
Hobsbawm a.a.O., S. 211 Ebenda 9 In vielen Entwicklungsländern fehlten von Anfang an wesentliche Voraussetzungen des Nationalismus schon deshalb, weil die Kolonialmächte die Grenzen ganz willkürlich gezogen hatten, so daß der Nationalismus im Wesentlichen eine Sache intellektueller Eliten war. 8
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schaftliche Reichtum verteilt wird, welches Maß an sozialen Rechten und Sicherungen existiert, ist nach wie vor sehr unterschiedlich und hängt von den konkreten Stärkeverhältnissen zwischen den politischen Kräften, von nationalen Traditionen usw. ab. Der Nationalstaat stellt also immer noch und wahrscheinlich noch für längere Zeit ein zentrales Kampffeld dar, auf das alle politischen Akteure sich beziehen müssen. Ob Lohnfortzahlung oder Krankenversorgung, ob Steuerrecht oder Mietrecht oder Bildungssystem - das Hauptkampffeld ist immer noch der Nationalstaat. Die scheinbare Evidenz des Nationalismus beruhte in hohem Maße auch auf der Erfahrung, daß die Nationalstaaten sich tatsächlich in einem harten Konkurrenzkampf befinden, so daß dann leicht auch die Folgerung akzeptiert wurde, daß es dabei um Wohl und Wehe des nationalen Ganzen geht, für das dann notfalls auch getötet und gestorben werden müsse. Ein solcher Totalitätsanspruch des politischen Ganzen an den Einzelnen ist nicht ohne Weiteres auf supranationale Gebilde zu übertragen, ohne wesentlich an Akzeptanz zu verlieren. Kurzum: Die von der kapitalistischen Weltlichkeit erzeugten sozialdarwinistischen Menschenund Weltbilder verleihen dem Nationalismus zusätzliche Schubkraft. Daß dieser kapitalistische Konkurrenzkampf nachlassen könne, ist aber nun wirklich nicht erkennbar. Die künftige „Weltgesellschaft" wird noch lange eine von kapitalistischen Partialinteressen zerrissene Weltgesellschaft sein. Mit welcher Ideologie aber sollen die Volksmassen in diesen Konkurrenzkampf einbezogen werden, wie soll ihre Identifizierung mit solchen Partialinteressen hergestellt werden, wenn nicht mit Hilfe des Nationalismus? Längerfristig könnten supranationale Gebilde durchaus eine ähnliche Akzeptanz erfahren wie heute der Nationalstaat, wenn sie sich offensichtlich als die maßgeblichen politischen Instanzen konstituieren und entsprechende „Gemeinsamkeiten" der Zugehörigen glaubwürdig behaupten können. Von einem solchen Zustand aber ist die heutige Welt noch weit entfernt. Für die „Nation Europa" z. B. bedeutet die sprachliche Vielfalt schon eine mächtige Barriere. Es ist also kein Zufall, daß die herrschende Klasse - trotz aller realer Europäisierung und Globalisierung - ideologisch gänzlich auf die Formel „Standort Deutschland" setzt - mit durchschlagender Wirkung bis weit in die Gewerkschaften hinein. Es ist richtig, daß die Ideologie, die die Nation ins Zentrum setzt, die Wirklichkeit vor allem ökonomisch und ökologisch nicht mehr trifft. Das ist aber nichts gänzlich Neues. Der Nationalismus gewinnt seine Massenwirksamkeit gerade in der Zeit, in der seit 1880 große Migrationsbewegungen die Vorstellungen von ethnischer Reinheit der Völker eigentlich schon ad absurdum führten. Er gewinnt sie aber jetzt gerade deshalb, weil er die Ängste aufgreift, die mit diesen Migrations- und Vermischungsprozessen verbunden sind, weil er den Protest gegen sie artiku-
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liert. Diese Prozesse aber dauern an und auch die Ängste, die sie hervorrufen. Die geschichtlichen Erfahrungen zeigen, daß der Nationalismus auch dann mächtige Wirkungen in der gewünschten Richtung entfalten kann, wenn es ökonomisch und politisch schon längst um Anderes geht. Ich nehme als Beispiel den Ersten Weltkrieg. Das Kapital hatte die nationalen Grenzen längst gesprengt. Der internationale Waren- und Kapitalverkehr hatte sich in hohem Tempo entwickelt. Und die Firma Krupp verkaufte ihre Patente für Geschoßzündungen auch an englische Firmen, die dann nach dem Krieg für jedes einzelne der damit versehenen Geschosse präzis an Krupp abzurechnen hatten. Die SPD war von dieser Internationalisierung der Wirtschaftsbeziehungen so beeindruckt, daß sie meinte, eine Neuinterpretation der kapitalistischen Welt entwickeln zu müssen, die besagte: Mit Krieg zwischen den kapitalistischen Staaten sei künftig nicht mehr zu rechnen. Diese Theorie wollte sie beim Kongreß der II. Internationale im September 1914 in Wien vortragen. Leider mußte dieser Kongreß dann wegen des Krieges ausfallen. Der Krieg brachte dann einen gigantischen Aufschwung des Nationalismus: des von oben geschürten wie des eigendynamischen. Die Interessen, für die der Nationalismus gebraucht wurde, waren aber überwiegend keine, die man auch nur im Sinne der herrschenden Klasse als spezifisch nationalstaatliche kennzeichnen konnte. Einerseits nämlich wurde der Nationalismus benutzt von solchen kapitalistischen Interessen, die über den Nationalstaat längst hinaus waren (wenngleich sie den Nationalstaat nach wie vor als Machtinstrument benötigten). Und andererseits wurde der Nationalismus auch benutzt von den Teilen der herrschenden Klasse, die aus der vorangegangenen Gesellschaftsformation übrig geblieben waren und für die der Begriff der Nation gänzlich fremd war. Die Aristokratie war nämlich durchaus übernational: Die Fürstenhäuser Europas waren untereinander versippt und verschwägert, sprachen in der Regel nicht die Landessprache sondern lateinisch oder französisch, und wo wer regierte, hatte mit der nationalen Zugehörigkeit überhaupt nichts zu tun. Sie sahen sich als gänzlich abgehoben vom Volk und rochen im Begriff der Nation schon den Plebs und die jakobinische Revolution. Das hinderte sie aber nicht daran, den nun einmal vorhandenen Nationalismus kräftig zu nutzen. Also legte das englische Königshaus seinen deutschen Familiennamen der Weifen ab und nannte sich fortan Winsor, und der russische Zar beeilte sich, den deutschen Namen Petersburg zu tilgen und diese Stadt fortan Petrograd zu nennen. Dem preußischen König war die Notwendigkeit, nationalistische Emotionen zu nutzen, von seinen intellektuellen Beratern schon 1813 bei den sogenannten „Befreiungskriegen" klar gemacht worden. Kurzum: der Nationalismus ist wegen seiner breiten Fundierung und seiner großen Flexibilität auch für solche Ziele verwendbar, die mit dem Nationalstaat nicht viel zu tun haben. Da die Ursachen seiner Wirkung
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nach wie vor bestehen, da er ein hohes Maß an Eigendynamik entwikkeln kann und da andererseits eine Ersatzideologie, die für die herrschende Klasse dasselbe leisten könnte, nicht einmal in Umrissen erkennbar ist, haben wir mit fortdauernden nationalistischen Mobilisierungsversuchen zu rechnen. Denn, wie der wahrscheinlich künftige Bundeskanzler Schäuble klarstellt: Die Gesellschaft „braucht einen zentralen Bestand an Gemeinsamkeit, an Grundüberzeugungen, an Werten... Das Band, das ein solches Gemeinwesen zusammenhält und Identität stiftet, ist die Nation." (FAZ 06.07.1994). Nicht die Verfassung, nicht die Marktwirtschaft, nicht Europa und nicht die NATO, aber auch nicht das christliche Abendland sondern: „Die Nation". Die Wirkungsmacht dieser Ideologie schwindet nicht von selber, sondern muß niedergerungen werden. Das kann nur in dem Maße gelingen, in dem die Linke es schafft, für die real vorhandenen und bedrängenden Probleme andere, nämlich wahre Erklärungen anzubieten, andere, nämlich humane Lösungen zu entwickeln und den Kampf für diese Lösungen auch zu organisieren mit dem Ziel der Einbeziehung aller, die durch den Kapitalismus materiell und psychisch beschädigt werden.
Werner Seppmann: Individualisierung oder Vereinzelung? Repressive Widerspruchsverarbeitung im Risikokapitalismus I. Hätten sich die Prognosen aus den soziologischen Oberseminaren über die zukünftige Gesellschaftsentwicklung doch nur bestätigt! Niemand müßte sich mehr Sorgen um seine sozialen Existenzbedingungen und die Sicherheit seines Arbeitsplatzes machen, „postindustrielle Verhältnisse" wären angebrochen, in denen soziale Differenzen sich bis zur Unkenntlichkeit verflüchtigt hätten. Gemäß der Mehrheitsmeinung diverser Soziologentage in den 80er Jahren, hätten sich die Menschen in der „Erlebnisgesellschaft" eingerichtet und die berufliche Tätigkeit hätte nur noch periphere Bedeutung für ihre psycho-soziale Reproduktion. Statt sich mit unsicheren Lebensperspektiven und sozialen Regressionstendenzen auseinandersetzen zu müssen, könnten sie - selbstverständlich auf der Basis „kommunikationsgesellschaftlicher Ressourcen" - die „Evolutionspotentiale moderner Gesellschaften" ausschöpfen. Bekanntlich ist alles anders gekommen. Deshalb ist es erklärungsbedürftig, warum trotzdem ein nicht unwesentlicher Teil dieser gesellschaftstheoretischen Wunschbilder sich großer Vitalität und ungebrochener Überzeugungskraft erfreut. Während im Alltag allemal noch gilt, daß Lügen kurze Beine haben, ist in den wissenschaftlichen Artikulationsbereichen bestimmten Verschleierungsformeln offensichtlich ein langes Leben beschieden. Einen prominenten Platz im Kosmos der sozialwissenschaftlichen Mythologien nimmt immer noch die Individualisierungstheorie ein. Ihr Einfluß ist keinesfalls nur auf den akademischen Kontext beschränkt;
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ihre Grundbegriffe und Metaphern haben mittlerweile den Status von sozio-kulturellen Selbstverständigungsformeln angenommen. Auch wenn die Individualisierungstheorie - nicht zuletzt durch eine Gesellschaftsentwicklung, die überhaupt nicht mehr in das von ihr gemalte Bild einer breiten Wohlstandsentwicklung mit zunehmenden personalen Entwicklungschancen passen will - ihren Glanz verloren hat, werden ihre assoziativen Stichworte von den „pluralisierten Lebenslagen" und „individualisierten" Sozialverhältnissen immer noch bereitwillig reproduziert: Selbst in kritisch intendierten Diskussionen hat sie ihre Spuren hinterlassen. Theoriegeschichtlich hat die Individualisierungstheorie die technokratisch orientierten „Modernisierungs"-Konzepte, sowie die diversen soziologischen Nivellierungstheorien der Nachkriegszeit abgelöst. Ulrich Beck als ihr prominentester Wortführer und begabter Popularisator schloß an die legitimatorischen' Positionen über die „nivellierte Mittelstandsgesellschaft" und den Beginn eines „postindustriellen Zeitalters" an: Das Zentrum seines Gesellschaftsbildes bildet die Annahme einer Auflösung der Klassengrenzen bei Fortbestand, aber auch gleichzeitiger Umschichtung der sozialen Ungleichheiten. Er hebt drei Entwicklungstrends hervor, die als Ausdruck einer elementaren sozio-kulturellen Akzentverschiebung vorgestellt werden: Die beträchtliche Erhöhung des Masseneinkommens, die „Bildungsexplosion" und die Verbesserung der Aufstiegschancen für breite Schichten der Bevölkerung. Das Resultat dieser sozio-strukturellen Entwicklung sei eine „kulturelle Evolution der Lebensformen", die zu einer „Enttraditionalisierung der Lebensverhältnisse" und der „Diversifizierung und Individualisierung von Lebenslagen" geführt habe. „Individualisierung" wird mit der Verringerung von Fremdzwängen und dem Bedeutungsverlust ökonomischer Strukturen für die persönliche Lebensgestaltung gleichgesetzt. Durch diesen Prozeß hat sich nach Beck „das Leben der Menschen in der Lohnarbeitsgesellschaft ein gutes Stück aus dem Joch der Lohnarbeit herausgelöst", wurden neue biographische Entfaltungsspielräume geschaffen. Die Gesellschaftsentwicklung wird jedoch keinesfalls nur in rosigen Farben gemalt. Die Desintegrationsrisiken werden, zumindest seitdem sie unübersehbar geworden sind, durchaus zur Kenntnis genommen. Doch auch sie böten nach individualisierungstheoretischem Selbstverständnis den Menschen eine zunehmende Zahl „individueller Freiheitsoptionen" und neuartige Chancen eigenverantwortlicher Lebensgestaltung. Auch der krisengeprägte „Individualisierungsprozeß" kulminiere in vermehrten Selbstbestimmungschancen und gesteigerter sozialer Partizipation. Während es bei einigen Individualisierungstheoretikern Differenzierungsmomente, ein Nachdenken auch über die „Schattenseiten" der postulierten „Enttraditionalisierung" und sozialen „Freisetzung" gibt, hat sich aber in der Rezeption ein eindimensionales Verständnis der „Indivi-
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dualisierung" im Sinne von Kompetenzgewinn, Selbstverwirklichung und vermehrter Selbstbestimmung durchgesetzt. II. In entscheidenden Punkten wurden die Konstruktionen des individualisierungstheoretischen „Diskurses" mittlerweile von der Wirklichkeit konterkariert: Ungleichheit und Unteiprivilegierung, Ausgrenzung und Fremdbestimmung sind unverkennbar zur Signatur der angeblich „anderen Moderne" (Beck) geworden. Davon, daß sich - wie Beck immer wieder unterstrichen hat - „die Ungleichheitsfragen sozial entschärft haben", kann ernsthaft nicht mehr die Rede sein. Und ebensowenig, daß sich durch die sozialstaatliche Absicherung die grundlegenden Risiken der Lohnarbeiterexistenz beseitigt hätten, und wir deshalb „heute in der Bundesrepublik bereits in Verhältnissen jenseits der Klassengesellschaft" (!) leben würden. Auch wenn durch den Druck der Tatsachen es in den individualisierungstheoretischen Positionsbeschreibungen still um solche normativen Festlegungen geworden ist, wird weiter an den theoretischen Grundentscheidungen und dem „ambitionierten" Programm, die „Klassen inmitten der kapitalistischen Klassengesellschaft verschwinden zu lassen", (J. Ritsert) gearbeitet. Ihr konstitutives Element ist die Behauptung eines weitgehenden Bedeutungsverlustes sozio-struktureller Rahmenbedingungen für die individuelle Lebensgestaltung. Stichwortartig lautet das Argumentationschema: Die Gesellschaft als Systemzusammenhang hat sich aufgelöst, die „industriekapitalistischen" Orientierungsnormen haben ihre Bedeutung, die Berufstätigkeit ihre identitätsstiflende Funktion verloren. Bezugspunkt für die individuelle Lebensgestaltung sind fragmentarisierte und „entstrukturierte" Sozialverhältnisse. Die sich herausbildenden „pluralisierten Lebenslagen" haben mit traditionellen Klassenund Schichtlinien nur noch wenig Gemeinsamkeiten. Das Leben gestaltet sich in relativer Ferne von ökonomischen Zwängen durch den Einfluß „kultureller" Vermittlungsnetze; der Ausdruck individualisierter Sozialverhältnisse sind die konkurrierenden Lebensstile. Wie jemand lebt, welche „Optionen" er wählt und welchen Entwicklungsweg er einschlägt, ist Ausdruck einer autonomen Entscheidung und weitgehend von seiner Klassen- und Schichtzugehörigkeit unabhängig. Während diese Konstrukte im Gesellschaftsverständnis der sozialwissenschaftlichen Bürokratie den Status nichthinterfragbarer Wahrheiten angenommen haben, sprechen die realen Verhältnisse, ohne ideologische Scheuklappen betrachtet, eine andere Sprache. Alle seriösen empirischen Untersuchungen verweisen auf die Stabilität der Ungleichheitsverhältnisse: Statt von einer Nivellierung der sozialen Gegensätze muß vielmehr von einer unübersehbaren Tendenz zu ihrer Verschärfung und Verfestigung und statt von einem Bedeutungsverlust der sozio-ökonomischen Ausgangslage für die Lebenschancen, sogar von der zunehmenden Rolle der sozialen Selektionsmechanismen gesprochen werden. Und
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welche ungebrochene Bedeutung die Arbeit für die psycho-soziale Reproduktion der Individuen besitzt, wird spätestens dann deutlich, wenn sie den Menschen vorenthalten wird, die Arbeitskraftverkäufer und -Verkäuferinnen aus dem Erwerbsleben ausgegrenzt und in die Trost- und Perspektivlosigkeit der Arbeitslosenexistenz geworfen werden. III. Gerade weil die Individualisierungstheorie von empirisch unhaltbaren Voraussetzungen zehrt, soziale Entwicklungstrends mit dem Vergesellschaftungsprozeß in seiner Gesamtheit verwechselt, ging von ihrem Interpretationsschema zu Zeiten, als der „Traum einer immerwährenden Prosperität" (B. Lutz) noch das Massenbewußtsein benebelte, fraglos eine hohe Faszination aus. In zentralen Bereichen repräsentierte es die Selbsteinschätzung der „aufstiegsorientierten" Protagonisten des „Reformkapitalismus". Jedoch war der Theorierahmen flexibel und mehrdeutig genug, um auch nach der sozio-ökonomischen „Wende", nach den ersten gefährlichen Rissen im System des sozialstaatlichen „Interessenausgleichs" verwendungsfähig zu scheinen: Weil der Individualisierungsbegriff sowohl Persönlichkeitsentwicklung intendiert, als auch soziale Absonderung bezeichnen kann, ist er ebenfalls bei der Beschäftigung mit gesellschaftlichen Entwurzelungs- und Ausschlußprozessen aktivierbar. Seine flexible Verwendungsweise ist möglich, weil auf viele Aspekte regressiver Gesellschaftsentwicklung schon im individualisierungstheoretischen Begründungskontext hingewiesen wurde. Jedoch werden durch diesen sozialen „Realismus" die sozial-illusorischen Prämissen in ihrem Kern nicht berührt. Krisenhafte Entwicklungen und „sozialpathologische" Erscheinungen werden zwar beschrieben, nicht aber theoretisch erklärt, d.h. im Kontext der gesellschaftlichen Machtverhältnisse und sozialen Interessengegensätze interpretiert. Trotzdem steckt aber in den individualisierungstheoretischen Beschreibungen der Sozialverhältnisse ein realistischer Kern, der auch bei einer kritischen Beschäftigung mit der klassengesellschaftlichen Realität nicht aus den Augen verloren werden darf. „Individualisierung" im Sinne von Vereinzelung ist eine elementare Lebens- (und Leidens-) Erfahrung in der Konkurrenzgesellschaft. Jeder muß seinen eigenen Weg finden, sein Leben jenseits verläßlicher Anhaltspunkte und solidarischer Beziehungsstrukturen gestalten: Die entwickelten kapitalistischen Sozialverhältnisse weisen eine Veränderungsdynamik auf, die die Menschen mit stetig wachsenden Anforderungen und Zumutungen konfrontiert. Es gibt Gruppen für die der soziale Abstieg vorprogrammiert scheint. Jedoch ist es unabsehbar, wen es letztlich treffen wird und durch welche Qualifikationen und Eigenschaften der Absturz vermieden werden kann. Bedingt durch die strukturellen Zwänge, immer öfter nach Alternativen suchen zu müssen, verschiedene „Optionen" abzuwägen, kann beim oberflächlichen Betrachter der Eindruck entstehen, „daß immer mehr Menschen ihr Leben nach individuellen Gesichtspunkten fuhren"
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(s. Hradil). Vor dem Hintergrund manifester beruflicher Integrationsprobleme und sozialer Statusindifferenzen für viele, stellt sich aber die Frage, worin die unterstellten personalen Entfaltungsmöglichkeiten und lebensperspektivischen Freiräume zu sehen sind. Läßt sich sinnvoll von einer Vergrößerung der Lebenschancen sprechen, wenn immer mehr Menschen an der Krise scheitern und ihr Leben aus den Fugen gerät? Nach individualisierungstheoretischem Selbstverständnis sind solche Problematisierungen aber obsolet geworden. Fragen nach der Vernünftigkeit sozialer Verhältnisse werden ebenso wie nach den menschlichen Kosten der Konkurrenzvergesellschaftung systematisch ausgeklammert obwohl Absonderung und Einsamkeit, Mißtrauen und Existenzängste zwangsläufige Begleiterscheinungen des Individualisierungsprozesses sind. Wenn der „Individualisierungs-Diskurs" dieses häßliche Gesicht verwertungsorientierter Vergesellschaftung dennoch einmal zur Kenntnis nimmt, kann er es Aufgrund seines bürgerlich-dogmatischen Menschenbildes - welches das Subjekt als Monade definiert und Selbstverwirklichung bzw. Persönlichkeitsentfaltung als Resultat eines distanzierten Verhältnisses zum Mitmenschen begreift - als positiven Vergesellschaftungseffekt interpretieren. Der individualisierungstheoretische „Diskurs" hat einen wichtigen Beitrag zur „Umwertung" der sozio-kulturellen Selbstverständigungsformeln und zur herrschaftskonformen Verformung der gesellschaftspolitischen Terminologie geleistet. Die Demontage von Sozialstaat und Demokratie kann dem ratlosen Massenbewußtsein als „Modernisierung" und die Verfestigung des Klassenantagonismus als funktionelle „Differenzierung" verkauft werden - auch wenn die sozialwissenschaftlichen Zauberlehrlinge, angesichts der realen Katatrophenentwicklung, ihrer Worte nicht mehr recht froh werden! Mit ihren zentralen Prämissen bewegt sich die Individualisierungstheorie im Windschatten des „postmodernen Denkens", das die Frage nach Vergesellschaftungsalternativen tabuisiert hat, und dessen intellektueller Horizont mit der Vorstellung einer „unaufhörlichen Gegenwart" identisch ist. Sie ist Bestandteil jener postmodernistischen „Diskurse" die die Welt als unwiderruflich zersplittert und zusammenhanglos begreifen und die angebliche Ununterscheidbarkeit von Realität und Fiktion, Wahrheit und Lüge postulieren. Bestätigt wird durch die pseudokonkrete Terminologie der Individualisierungstheorie das manipulierte Gegenwartsbewußtsein, das durch die „wissenschaftliche Totalisierung der Kontrollen" (H. Marcuse) Schwierigkeiten hat, das Richtige vom Falschen und das Schöne vom Häßlichen zu unterscheiden: „Bestätigt" wird das weltanschauliche Klima der Hoffnungs- und Orientierungslosigkeit, gefördert die „epidemische Verbreitung eines Geistes der Resignation".^. Wielenga) Das „postmoderne" Individuum im Strudel des „Individualisierungsaufruhrs" (Beck) ist auf seine Vereinzelung, die eine Faktizität und
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gleichzeitig eine ideologische Spiegelung ist, zurückgeworfen. Ihm fehlt nicht nur ein Verständnis seiner aktuellen Lebensbedingungen sondern schon der Ansatz eines historischen Vorstellungsvermögens. Ohne realistische Orientierungspunkte wird das falsche Bewußtsein hegemonial, konzentriert sich das Lebensinteresse auf den flüchtigen Augenblick, wird Erfahrung durch das „Erlebnis" und die medial vermittelten Interpretationsschablonen überlagert. Fatale Konsequenz der „postmodernen" Indifferenz ist die Versöhnung mit den individuellen Konsequenzen entfremdeter Sozialbeziehungen, der Zerstörung von Sensibilität und Widerspruchsbedürfnissen. Der „Individualisierungs-Diskurs" systematisiert und generalisiert die virulenten Formen des falschen Bewußtseins - ist aber nicht als deren Urheber anzusehen. Die kapitalistische Lebenspraxis selbst erzeugt hohe Barrieren gegen das Verständnis der eigenen Lebenssituation: Verzerrte Gesellschaftsbilder sind die „naturwüchsige" Begleiterscheinung der universellen Durchsetzung der Warenform und der arbeitsteiligen Organisation des Sozialgefüges, des herrschenden Tatsachenfetischismus und der menschenverachtenden Zweckrationalität. Der entwickelte Kapitalismus produziert permanent entfremdetes Denken und verdinglichte Bewußtseinsformen, so daß die gesellschaftlichen Subjekte, die von ihnen selbst erzeugte soziale Welt, „als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Dingen" (Marx) erleben und Interpretationsmuster akzeptieren, die ihren eigenen Interessen widersprechen! IV. Der sozio-ökonomische Strukturwandel, auf den sich das Individualisierungstheorem bezieht, hat tatsächlich zu tiefgreifenden Veränderungen geführt und u.a. auch die beruflichen Entwicklungschancen für einen (kleineren) Teil der abhängig Beschäftigten positiv verändert. Durch die Verabsolutierung dieser Tendenz, wird allerdings ein verzerrtes Gesellschaftsbild produziert: Denn der „Nebeneffekt" des „Modernierungsschubes" sind verschlechterte Lebenschancen für wesentlich größere Sozialgruppen. Nicht einmal mehr als Mittelschichtperspektive kann der individualisierungstheoretische Prognoserahmen interpretiert werden. Die traditionellen Qualifikationsmuster sind keine Garantien mehr gegen den sozialen Abstieg: Es sind gerade die aufstiegsorientierten Sozialgruppen, die von der gegenwärtigen Krisenentwicklung betroffen sind. Hintergrund dieser Entwicklungstendenz des Risikokapitalismus sind nicht „kulturelle" Akzentverschiebungen, sondern grundlegende Änderungen des Akkumulationsmodus, der durch die Ausbreitung der Informationstechnologien und die Steigerung arbeitsplatzvernichtender Rationalisierungsinvestitionen geprägt ist. Bei den Neuinvestitionen bleibt durch den konsequenten Einsatz moderner Technologien die „Beschäftigungswirksamkeit" gering. Der Kapitaleinsatz in bestehende Anlagen führt regelmäßig zur Verringerung der Arbeitsplätze, bei gleichzeitiger Erhöhung der Produktivität. Beide Faktoren zementieren die Massenar-
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beitslosigkeit und damit die zugespitzte Konkurrenz der Arbeitskraftverkäufer untereinander. Und weil durch die „Bildungsoffensive" das Qualifikationsniveau generell gewachsen ist, erhalten traditionelle Selektionsmechanismen im Kampf um die begehrten Positionen neue Wirkungskraft. Mit ein wenig guten Willen (und gelegentlicher Lektüre der Zeitungen des Großkapitals) hätte auch den Individualisierungs-Propagandisten nicht verborgen bleiben dürfen, „daß die gesellschaftliche Dynamik nach wie vor entscheidend von der Kapitalakkumulation bestimmt wird" (J. Hirsch). Die „durchschlagende" Wirkung der Akkumulationsdynamik beeinflußt die Lebensführung der „dezentrierten Individuen", die angeblich „nicht mehr sozio-strukturell erklärt werden" kann, elementar: Der erreichte soziale Status ist hochgradig instabil und immer öfter auch mit der Erfahrung verbunden, daß noch so große Anstrengungen die soziale Unsicherheit nicht beseitigen, und auch wenn die propagierte „Verantwortung für den eigenen Lebensweg" ernstgenommen wird, alle Strategien zur Restabilisierung an der „Macht der Umstände" scheitern. Doch auch die „Erfolgreichen" und „Flexiblen" haben einen hohen Preis für die soziale Selbstbehauptung zu zahlen. Weil die leistungsgesellschaftliche „Normalität" mit ihrem permanenten Konkurrenz- und Anpassungsdruck ein permanentes Widerspruchsprinzip zu den menschlichen Selbstentfaltungsbedürfnissen darstellt, werden massenhaft psychische Defekte produziert und durch zwanghafte Formen der Selbstdisziplin emotionale Verwüstungen hervorgerufen: Viele Menschen werden von Angstzuständen und Depressionen geplagt, leiden unter den unsicheren Zukunftsperspektiven, dem Gefühl der Sinnlosigkeit ihres Lebens, der sozialen Beziehungs- und Rücksichtslosigkeit. Wer das Tempo der „Leistungsgesellschaft" nicht mehr mithalten und dem psychischen Leidensdruck nicht mehr standhalten kann, flüchtet - auch um den Preis der Selbstzerstörung - in legale und illegale Drogen. Hunderttausende sind Rauschgiftsüchtig, die Zahl der Medikamentenabhängigen und Alkoholkranken geht in die Millionen! V. Bei vorurteilsfreier Betrachtung erweist sich die Behauptung einer erweiterten Gestaltbarkeit des Lebensentwurfes innerhalb einer „anderen Moderne" (Beck) nur als uneingelöstes Versprechen: Für mehr als die Hälfte der bundesdeutschen Bevölkerung ist nicht eine vermeintliche „Wohlstandsperspektive", sondern die Sorge um die Existenzsicherung mentalitätsprägend. Noch vor wenigen Jahren „gesichert" erscheinende Lebensverhältnisse werden von realen Abstiegssorgen überschattet. Statt von einer „offensiven", zukunftsorientierten Handlungsbereitschaft, kann (keineswegs ausschließlich) bei den Verlierern der aktuellen „Modernisierungsoffensive" nur noch von einer resignativen Erwartungshaltung die Rede sein.
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Auch wer aktuell nicht bedroht ist, beurteilt die Zukunftsaussichten zunehmend skeptisch: Immer größere Bevölkerungsgruppen registrieren einen zunehmenden Widerspruchs zwischen der offiziellen Wohlfahrtsideologie und der krisengeprägten Alltagsrealität: Solche lohnarbeitstypischen Unsicherheitserfahnmgen sind so konstant und von solch elementarer Bedeutung, daß sie von den „lebensweltlichen" Erlebnismomenten, von Konsummustern, Freizeitverhalten und politischen Präferenzen zwar temporär überlagert, nicht aber außer Kraft gesetzt werden können. Die Realität bringt sich gegenüber den individuellen Illussionen und ideologischen Nebelwelten immer wieder zur Geltung! Soziale Konfrontationen und verunsichernde Lebensverhältnisse alleine führen aber nicht zu kritischem Bewußtsein. Von der Spezifik der sozio-kulturellen Einflußfaktoren ist es abhängig, ob die Widerspruchserfahrungen verständig verarbeitet, resignativ hingenommen werden oder einen fruchtbaren Boden für kompensatorische „Orientierungs-"Schablonen wie Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus bilden. Triumphierend verweisen die herrschaftskonformen Sozialwissenschaften auf die Defizite des Alltagsbewußtseins, stellen mit kaum verhohlener Schadenfreude das Fehlen klassenspezifischer Artikulationsformen fest. Sie begnügen sich mit dem Verweis auf diesen Zustand um gleichzeitig seine politische Dimension zu verdrängen. Denn die ideologische Selbstunterwerfung funktioniert deshalb so reibungslos, weil die Kräfte alternativer Orientierung schwach entwickelt sind und die Hegemonie der kapitalistischen Orientierung massenwirksam nicht in Frage gestellt wird. Fetischisierte Bewußtseinsformen, die unmittelbar aus der kapitalistischen Lebenspraxis resultieren, können sich ungestört entfalten und die Vorstellungen von der Unerschütterlichkeit der bestehenden Verhältnisse verfestigen. Für diesen Zustand gibt es strukturelle Ursachen: Die sozialen Gruppen sind durch die arbeitsteiligen Organisationsformen aufgesplittert, ihre unmittelbaren Interessen haben sich unterschiedlich ausgeprägt. Ein adäquates Bewußtsein über die eigene Lebenssituation stellt sich auch unter wesentlich günstigeren sozio-kulturellen Bedingungen nicht automatisch ein, sondern ist Ergebnis eines voraussetzungsvollen Vermittlungsprozesses, dessen wichtigste Elemente widersprüchliche Sozialerfahrung, Auflehnungs- bzw. Artikulationsbedürfnis und die Aneignung emanzipatorischen Wissens sind. Durch den Bedeutungsverlust kritischer Gesellschaftsbilder bleibt trotz massenhafter Unsicherheit und Unzufriedenheit die sozial-integrative Allragsorientierung dominant. Für diesen „Stabilitätszustand" gibt es auch schlechte historische Gründe: Die der deutschen Arbeiterbewegung vom Faschismus geschlagenen Wunden sind bis heute nicht verheilt. „Hierzulande zehren", wie Erich Fried treffend gesagt hat, „die Kräfte der Unterdrückung immer noch von dem reichen Kapital, das die Hitlerzeit ihnen hinterlassen hat"!
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VI. Wie die fetischisierte Widerspruchsverarbeitung funktioniert, möchte ich beispielhaft an der individualisierungstheoretischen Auffassung über die „Diversifizierung von Lebensstilen", als Ausdruck einer angeblich von den sozialen Strukturzwängen abgekoppelten Vergesellschaftungsweise diskutieren: Es sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt, daß auch auf diesem, ihrem ureigenstem Gebiet, die empirische Bestandaufnahme zuungunsten der Individualisierungstheorie ausfällt. Die Lebenstilinszenierungen repräsentieren weder den behaupteten Modus „ökonomieferner" Vergesellschaftung, noch sind sie Ausdruck vergrößerter individueller Gestaltungsspielräume, sondern Indiz für den Einbruch kapitalistischer Orientierungsmuster auch in die Lebensbereiche jenseits der Erwerbsarbeit. Alternativ zum individualisierungstheoretischem Wahrnehmungsschema wird deutlich, daß sich neue (Lebensstil-)Milieus eng an traditionelle Ungleichheitskulturen anschmiegen und weitgehend die hergebrachten Relationen sozialer Differenzierung reproduzieren. Die Machtbalance im sozialen Raum bleibt unberührt, soziale Demarkationslinien werden durch die konsumvermittelten Lebensstilmuster selten überschritten: Ein lohnabhängig Beschäftigter mag sich in seiner Freizeit vielleicht der Einbildung hingeben, daß er als Mercedes-Besitzer (und somit durch die werbestrategisch intendierte „Simulierung fremder Lebensstile") seinem (ebenfals mercedes-fahrenden) Chef gleichgestellt ist - eine konfrontative Begegnung mit diesem im Betrieb wird ihn aber schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholen! Die Lebensstilmuster sind weniger Ausdruck autonomer Lebensgestaltung, sondern des Zwangscharakters des sozialen Reproduktionsrahmens. Die Lebensstilinszenierungen spielen eine zunehmende Rolle bei der sozialen Positionsbehauptung, sie sind eine sozio-kulturelle Form, in welcher die Auseinandersetzung um den Konkurrenzvorteil und die Statussicherung ausgetragen wird. Der durch den Fortfall tradierter Bindungen angeblich erweiterte soziale Handlungsspielraum wird subjektiv als Anpassungszwang an nicht nur sich ständig verändernde, sondern auch „unerprobte" und durch den Verlust kollektiver Erklärungsmuster undurchschaubare Lebenssituationen erlebt. Die Relativierung der traditionellen Qualifikationskriterien erzwingt nachdrückliche Formen der Selbstrepräsentation. Die Marktkonformität des Eignungsprofils muß durch adäquate Verhaltensweisen symbolisch demonstriert, die personale Identität durch Distinktion zum Ausdruck gebracht werden. Die Selbststilisierungen sind zuallererst Ausdruck der Anpassung der Psyche an die veränderten Verwertungsbedingungen der Ware Arbeitskraft. Das Individuum ist gezwungen, auf die Erwartungs- und Anspruchshaltungen des Marktes durch „symbolische" Demonstrationen zu reagieren, seinen „Individualismus" nach außen zu kehren. Es muß eine „Fassade" (Freud) aufbauen, um seine soziale Funktionalität zu beweisen. Individualisierung in ihrer sozio-strukturellen Bedeutung entlarvt sich somit als Aus-
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druck realer Vereinzelung, als Resultat gesellschaftlicher Verhältnisse, in denen das Individuum nur in Kokurrenz zu anderen Subjekten und durch die Instrumentalisierung seiner eigenen Persönlichkeit bestehen kann. Die individualisierungstheoretische Konzentration auf den Bedeutungsverlust „traditioneller Bindungen", führt zu einer weitreichenden Fehleinschätzung, der an ihre Stelle getretenen sozio-ökonomischen Abhängigkeiten: der existenziellen Notwendigkeit zur Selbstverwertung und zur rigorosen Anpassung an die marktvermittelten Reproduktionsformen. In dieser sozialen Anordnung ist auch die zunehmende Konfrontationsbereitschaft - die zur Signatur aller entwickelten Industrieländer geworden ist - angesiedelt: Denn die Herausstellung der eigenen Qualifikationen ist - ob gewollt oder ungewollt - immer gegen andere gerichtet und wird in der Situation latenter Statusgefährdung zielstrebig als Mittel im sozialen Positionskampf benutzt. Lebensstil wird zunehmend zur sozialen Abgrenzung und zur Ausgrenzung lästiger Konkurrenten eingesetzt. Lebensstilisierung ist zugleich Symbol sozialer Ungleichheit. Der Einzelne will - um in der Konkurrenzgesellschaft nicht übersehen zu werden - sich unverwechselbar „profilieren", und wenn er erfolgreich ist, signalisieren, daß er zurecht den „gehobenen" Platz einnimmt. Ein „profilierter" Lebenstil soll die Legitimität der Überlegenheit demonstrieren und den Abstand zu den Konkurrenten festschreiben. Deshalb ist „die Pluralisierung der Lebensstile kein harmonisch-friedvoller Prozeß, sondern von Herablassung und Neid, von Mißgunst und Kränkung, von Abgrenzungskämpfen und dem Bestreben umstellt, Exklusivität zu erreichen." (S. Neckel) VII. „Lebensstil" ist gleichzeitig auch eine Rationalisierungsform individueller Versagensängste, die durch die herrschenden psycho-sozialen Regulationsformen im Kontext einer krisenhaften Sozialentwicklung hervorgerufen werden: Weil sie (nach außen) die eigene Lebensmisere, für die sich die Krisenopfer verantwortlich fühlen, verschleiern können, aber auch (subjektiv) ein Mindestmaß an Ordnung und Orientierung in einer unüberschaubar gewordenen Welt versprechen, klammern sich die sozial „enttäuschten" und verunsicherten Arbeitskraftverkäufer und -Verkäuferinnen an die werbemedial aufgearbeiteten Lebensstilmuster: Je größer der Anpassungszwang und die Fremdbestimmung, um so bereitwilliger wird die kollektive Lebenslüge eines selbstbestimmten Individualismus „kultiviert": Von der Vorstellung, sich als unbeschränkter Herr seiner Lebensumstände geben zu können, geht angesichts der krisenhaften Sozialentwicklung eine große Faszination aus! Treffend hat Friedhelm Kröll diesen Vorgang als „Selbstermächtigung der gesellschaftlichen Individuen unter den Strukturbedingungen der Ohmacht" beschrieben.
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Nicht nur aus diesen Gründen sind die Lebensstil-Inszenierungen alles andere als Ausdruck „ökonomieferner" und selbstbestimmter sozialer Artikulation. Sie tragen das Signum der Fremdbestimmung, nicht zuletzt deshalb, weil sie sich durch warenästhetisch aufbereitete Leitbilder, durch den Konsum werbemedial konstruierter Symbolträger realisieren und Ausdruck einer Tendenz zur „Auflösung der persönlichen Würde in den Tauschwert" (Marx) sind. Solche Problematisierungen übersteigen den Horizont der positivistischen „Lebensstilforschung". Nicht einmal ansatzweise wird die soziale Bedeutung der Konsum-"Kultur" problematisiert; unbeachtet bleibt die Funktion der Lebensstilinszenierungen als angestrengter Versuch individueller „Selbsterhaltung in der Warenwelt" (C. Daniel), aber auch ihre konkrete Bedeutung für die ideologische Reproduktion des Machtsystems. Stattdessen werden die ideologischen Selbstbespiegelungen und individuellen Rationalisierungsmuster als adäquate Realitätsbeschreibungen mißverstanden: Die Individualisierungsthese begnügt sich mit der Registration dieser Selbstbeschreibungen, ohne auch nur ansatzweise ein Bewußtsein des gewichtigen Problems subjektiver Widerspruchsverarbeitung, oder über die Rolle der Selbstbilder als Moment der alltäglichen Praxisbewältigung zu besitzen. Die Situation ist paradox: Trotz der behaupteten Hinwendung zu subjektiven Erfahrungsdimensionen hat im individualisierungstheoretischem Kontext das Indiviuum als Handlungsubjekt mit seinen Motivationsstrukturen und Bedürfnisartikulationen keinen systematischen Stellenwert. Dehalb wird verkannt, daß „Individualisierung" zum Teil nichts anderes als eine ideologische Reflexionsform darstellt, sich hinter dem „Individualisierungskomplex" eine im Marxschen Sinne „kategorielle", die tatsächlichen gesellschaftlichen Zusammenhänge verzerrende Bewußtseinsform verbirgt. Individualisierung im Sinne von Vereinzelung ist Ausdruck der konkurrenzförmigen Vergesellschaftung und einer elementaren Orientierungslosigkeit gleichermaßen. Nicht die (sozioökonomischen) Zwänge haben sich verflüchtigt, sondern die Wahrnehmungsformen und Interpretationsmuster „individualisiert": Die eigene Stellung innerhalb der Klassen- und Konkurrenzfiguration, die Isolationserfahrung und subjektivistische Zurückgeworfenheit wird von den betroffenen Subjekten „verabsolutiert"; das „individualisierte" Bewußtsein zerreißt den gesellschaftlichen Zusammenhang und produziert partikulare Sichtweisen und Verarbeitungsformen. Durch den Verzicht auf eine konkrete Untersuchung der gesellschaftlichen Reproduktionsdynamik bleibt das Individualisierungstheorem diesen spontanen Selbsttäuschungen des Alltagsbewußtseins verhaftet, gleicht sich die Sozialtheorie dem Rationalisierungshorizont der „vereinzelten" Subjekte an.
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Hansgeorg Conert: Antikapitalismus in der Risikogesellschaft 'Antikapitalismus in der Risikogesellschaft' - dieses Thema ist, mit einer Lieblingsfloskel von Günter Grass' Romandoppelgänger ,Fonti' gesprochen, „Ein weites Feld"; jedenfalls zu breit und tief, um das Thema in dem mir auf Anfrage genannten Zeitlimit von einer halben Stunde in seiner Vielschichtigkeit ausloten zu können. Ich beschränke mich deshalb im wesentlichen auf einige Erläuterungen und Ergänzungen der fünf Punkte des von mir eingereichten Thesenpapiers (für das KongreßProgramm-Heft, die Hrg.), wobei ich von der dort gewählten Reihenfolge abweiche. Überlegungen zu meiner ersten These z.B., überschrieben mit „Weshalb Antikapitalismus heute?", werde ich als Schlußteil vortragen. Zunächst kurz zu der in der dritten These aufgeworfenen Frage nach dem Verhältnis von Antikapitalismus und Opposition gegen neoliberalmonetaristische Politik. Daß beide Positionen nicht identisch sind, ist ebenso evident wie die allgemeine Bestimmung ihrer Differenz dahingehend, daß Antikapitalismus konsequenter, radikaler, in seiner Zielsetzung weiterreichender ist. Empirische Evidenz könnten Protagonisten der Opposition gegen den herrschenden Neoliberalismus für die These in Anspruch nehmen, daß es heute aussichtslos sei, in den Gesellschaften des westlichen Kapitalismus zureichende Unterstützung für antikapitalistische Politik zu finden. Deren Befürworter mögen dagegen nicht unbegründet einwenden, der von nicht wenigen Linken verklärte ,Fordismus' sei infolge erodierter Voraussetzungen unwiederholbar und der Neoliberalismus nur wirksam als Kapitalismus zu kritisieren und zu bekämpfen. Dieser Art abstrakte Kontroversen innerhalb der Linken mögen in Anbetracht ihrer heutigen Randexistenz naheliegen, sind praktisch aber folgenlos. Unter den gegebenen gesellschaftlich-politischen Verhältnissen kann für die verbliebene Restlinke nur Verbreiterung und Intensivierung der Kritik der herrschenden neoliberalen Ideologie und der Opposition gegen die so begründete Politik auf der Tagesordnung stehen. Aus den Erfahrungen und Resultaten dieser Opposition können und müssen Konsequenzen für Handlungsmöglichkeiten und Durchsetzungschancen erwachsen. In der Tat steht die kapitalismuskritische Linke in der sog. ,ersten Welt' trotz der französischen Massenstreiks und -demonstrationen im Spätherbst 1995 und ungeachtet jüngerer Ansätze zu breiter artikulierter Opposition gegen Neoliberalismus und Monetarismus in Schweden und Belgien vor der manchen rätselhaft dünkenden Situation überwiegender Hinnahme von Massenarbeitslosigkeit, Sozialabbau, Umverteilung von unten nach oben, verschärften Arbeitsanforderungen, Deregulierung von Anspruchs- und Schutzrechten u.a.m. Zu diesem Problem habe ich einige Stichworte in meiner zweiten These formuliert. Wir haben es hier mit einem Komplex von Fragen zu tun, die kritische Psychologie, die sich als marxistische Subjektwissenschaft versteht, besonders dringlich her-
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ausfordern. Wohl niemand erwartet eine summarische Standarderklärung der Gründe des scheinbar paradoxen Phänomens von verbreiteter gesellschaftlich-politischer Lethargie, Gleich- und Langmut angesichts permanenter Androhungen und Zumutungen neuer materieller, sozialer, psychischer u.a. Einschränkungen und Belastungen. Wir kennen eine ganze Reihe von Teilerklärungen, die z.B. Soziologie, Psychologie und Politologie liefern, die ein Bündel sich ergänzender und/oder verstärkender Faktoren bilden und die in verschiedenen Dimensionen von Persönlichkeitsstruktur zu verorten sind. Dazu zählen Teilantworten wie z.B. die soziologische der entsolidarisierenden Wirkungen fortschreitender sozialstruktureller Parzellierungen, die politologische der politisch-gesellschaftlichen Desillusionierung nach der Implosion der ,realsozialistischen' Gesellschaften oder die psychologische der resignativen und individualisierenden Konsequenzen manifester oder drohender Arbeitslosigkeit und Verarmung. Das sind Beispiele für Antworten, die Linke, also kapitalismuskritisch orientierte Frauen und Männer, ohne Beeinträchtigung tradierter Denk- und Erklärungsmuster zur Kenntnis nehmen können. Ich möchte dagegen auf eine (Teil-)Erklärung verweisen und eine Überlegung zur Diskussion stellen, die bis vor geraumer Zeit unter Sozialisten tabuierte, zumindest verdrängte Sachverhalte betreffen. Zum einen beziehe ich mich auf das Phänomen, das J.K. Galbraith (1992) für die USA als „The Culture of Contentment" analysiert hat und das - ungeachtet dort besonderer Ausprägung infolge des größeren Anteils und Umfangs von Vermögenseinkommen - zweifellos auch in Westeuropa wirksam ist. Die Verbreitung dieser Grundhaltung von Zufriedenheit erwächst aus einem in historischer Sicht in der Tat wohl erstmaligen und fast noch neuem Phänomen: Die Armen bilden nicht mehr die Majorität jener Gesellschaften.10 Dieser Sachverhalt drückt sich auch aus in dem verbreiteten, aber durchaus kritisch intendierten Begriff der ZweidrittelGesellschaft. Nach meinem Eindruck stellt die heutige Restlinke die subjektiven Konsequenzen dieser Entwicklung nicht zureichend in Rechnung, indem sie das Phänomen selbst ignoriert oder jedenfalls unterschätzt. Dem Ignorieren, Verdrängen und Verharmlosen von Arbeitslosigkeit und ihren Folgen, von Sozialabbau, Verarmungsprozessen, sozialer Ausgrenzung, unzureichenden Ausbildungs- und Berufschancen Jugendlicher etc. seitens neoliberaler Politiker, Unternehmer und Publi10
Reich und arm sind hier nicht definiert und es liegt nahe, eine zirkelschlüssige Definition zu vermuten: Wer zufrieden ist, ist nicht arm. Daß das keineswegs stimmen muß, wissen wir aus Vergangenheit und Gegenwart. Galbraith bezieht sich jedoch auf eine Majorität, die Vermögenswerte in einem Umfang besitzt, der die Kennzeichnung ,reich' begründet, was auch objektivierbar ist. Das ist in Europa vermutlich nicht derart ausgeprägt. Aber auch hier rechtfertigen übliche Wohlstandsindikatoren zumindest tendenziell die Feststellung.
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zisten korrespondiert umgekehrt tendenzielle Überzeichnung des tatsächlichen Maßes und Umfangs einschneidender Betroffenheit von monetaristisch begründeter Austeritätspolitik durch Linke. Mit einer zweiten Überlegung begebe ich mich auf wesentlich unsicheres und glatteres Eis, sowohl der Sache wie auch mangelnder Fachkompetenz wegen. Aus eigenem Bedenken formuliere ich das Problem als Frage, nicht als Hypothese, und schicke noch voraus, daß ich keineswegs Verfechter der Annahme anthropologischer Konstanten oder gattungsgeschichtlicher Determinanten bin. Zugleich denke ich, daß sich nicht nur mir die Frage nach Erklärungen dafür aufdrängt, daß die individualistisch, utilitaristisch und hedonistisch geprägte liberal-kapitalistische Lebensweise eine derartige Attraktion, wie sie heute zu beobachten ist, selbst auf Menschen ausübt, die noch unter andersartigen ('vormodernen') religiösen, sozialen, ökonomischen, soziokulturellen usw. Traditionen und Verhältnissen sozialisiert wurden. Ich habe keine Antwort auf diese Frage bzw. die, die sich anbieten, genügen mir nicht. Indiziert dieses Phänomen, so könnte man zugespitzt dramatisieren, den Sieg Benthams über Marx? Ich denke, daß die marginalisierte Linke, wenn sie die heutige Gesellschaft mit ihren Individuen, Klassen und Schichten begreifen und breitere Resonanz finden will, Probleme wie dieses aufnehmen und reflektieren muß. Ich möchte nun einige Erläuterungen und Ergänzungen zu meinen Thesen vier und fünf geben. Am Beginn der vierten These erkläre ich ohne Begründung die marxistische Auffassung von der Arbeiterklasse als gleichsam historisch ,geborenes' und ,berufenes' Subjekt einer den Kapitalismus überwindenden Massenbewegung für obsolet. Verkürzt dazu soviel: Schon die teils explizite, teils implizit erschließbare Argumentation bei Marx selbst ist geprägt von einem objektivistischen Überschuß: Dem sozialen Antagonismus von Lohnarbeit und Kapital liegt die Enteignung der Mehrwertproduzenten zugrunde, ihre Ausbeutung durch die Kapitaleigner und ihre Unterdrückung aufgrund deren Dispositionsgewalt über die erworbene Lohnarbeit. Von diesem materiell-ökonomischen Verhältnis kann aber nicht unmittelbar auf die bewußtseins- und handlungsrelevante Perzeption durch die proletarischen Subjekte geschlossen werden. Dazu entwickelte Marx zwar eine nichttriviale These, die dennoch prekär ist, weil er einen ihm durchaus bewußten Grundsachverhalt mißachtet: Innerhalb der bestehenden kapitalistischen Verhältnisse, die sich im Denken auch der Proletarier fester als angenommen einnisten, ist Lohnarbeit, mithin deren lebendige Träger, an das Wohl und Wehe des Kapitals gebunden. Die Wirkungen dieses „stummen Zwangs der Verhältnisse" (Marx) können wir aktuell immer wieder beobachten. Wenn ich von der Erosion oder Marginalisierung der Linken, also der bewußten kapitalismuskritischen Bewegung und ihrer individuellen Protagonisten heute spreche, trifft das kaum bestreitbar für deren über-
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kommene, bis vor geraumer Zeit vorherrschende Organisationsformen und Aktionsweisen zu. Es gibt in Deutschland, aber auch in den anderen Gesellschaften des entwickelten Kapitalismus, so gut wie keine gesellschaftlich und politisch einflußreichen Organisationen der Linken im tradierten, kapitalismus-oppositionellen Sinne. Allerdings gibt es Parteien, Gewerkschaften, politische und gesellschaftliche Verbände, Vereine usw. unterschiedlicher Zielsetzung und Ausrichtung, in denen sich Linke als Individuen oder auch Gruppierungen engagieren. Mir scheint allerdings fraglich, ob eine Erneuerung der Linken, so sie überhaupt realisiert wird, in diesen tradierten Formen zustande kommt. Eine Alternative dazu ist etwa seit Beginn der 80er Jahre zu beobachten, von der traditionellen Linken seinerzeit, wie noch heute, womöglich unterschätzt. Ich beziehe mich auf Ausdrucksformen eines existenten, tätigen, aber eher unbewußten und insoweit,naturwüchsigen' Antikapitalismus', oder zumindest einer durchaus engagierten, impliziten Kapitalismuskritik. Hierzu sind unterschiedliche Formen bewußten Engagements und zielgerichteten Handelns zu zählen, aber auch das eher latente gesellschaftlichpolitische Phänomen individueller Einstellungsmuster und Haltungen, die zu den Leitbildern, Normen, Leistungsanforderungen und Verhaltenszumutungen der konkurrenz-, produktivitäts- und wachstumsgetriebenen Wirtschaft und der durch diese geprägten Lebensweise permanent gesteigerter Hektik, Erwerbs-, Erlebnis- und Erneuerungssucht etc. quer liegen. Kaum eine dieser Formen von Organisation und Engagement ist überregional entwickelt, sie realisieren im Gegenteil Anerkennung, Wirksamkeit und Erfolge aus örtlich und regional gebundenen Anlässen, Bedingungen und Chancen zur Artikulation und Intervention. Vielfältig sind zugleich die sachlichen Anstöße und die Felder solcher Initiativen, Vereinigungen, Bewegungen, z.B. ökologischer, humanitärer, sozialer, menschenrechtlicher, karitativer, kultureller Art. Ganz überwiegend geht es um Mißstände, Probleme, Materien und Erscheinungen, die in den Diskursen des politischen und gesellschaftlichen mainstreams zwar registriert, in dessen Praxis aber den Prioritäten und Zwängen von Standortkonkurrenz, Wachstumsfetischismus und Verwertungsmaximen nachgeordnet werden. Kennzeichnend scheint mir, daß sich die Mehrzahl der in dieser Weise engagierten Jugendlichen, Frauen und Männer nicht oder nicht vorrangig links und antikapitalistisch tätig sieht, obgleich sie das im Verständnis der traditionallen Linken objektiv' durchaus sind. In Thesenform verkürzt nun zur Einschätzung der Handlungsmöglichkeiten und -erfordernisse der kapitalismuskritischen Linken unter den gesellschaftlich-politischen Bedingungen der Gegenwart, also in kürzerfristiger Perspektive: • Initiativen zur Gründung einer bundesweit aktiven, konsequent sozialistischen Partei (die perspektivisch etwa mit der PDS fusionieren oder
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diese ganz oder in Teilen in sich aufgehen lassen könnte), halte ich für kaum aussichtsreich, eher verfehlt und auch entbehrlich. • Die heutige Linke ist nicht nur marginalisiert, sie ist auch hochgradig zersplittert. Wünschbar und möglich sind Initiativen zur Überwindung dieser Parzellierung, zur Erzeugung, Ausweitung und Intensivierung unterschiedlicher Formen der Kommunikation zwischen Gruppierungen und auch individuellen Protagonisten etwa durch Informationsdienste, Publikationen ähnlicher Art und Bestimmung, allgemeine, der Theorieund Konzeptentwicklung dienende Kongresse wie auch themen-, adressaten- und problemspezifische Arbeitstagungen. Auf diese Weise stabilisierte und dauerhafte Kommunikation sollte auch Anstöße geben für gruppen- und ortsübergreifende politisch-gesellschaftliche Initiativen und Aktionen. Dieses Kommunikationsnetz müßte beide genannten Bereiche der heutigen Linken umfassen, die »traditionelle' wie die neuere, gleichsam latent und potentiell antikapitalistische. • Die in unterschiedlichen Formen zu entwickelnde, zu erweiternde und zu intensivierende Kommunikation, die auch kleinere Gruppierungen und individuelle Protagonisten der Linken erreichen soll, müßte methodisch und inhaltlich abzielen auf Stärkung, Erweiterung und Vermehrung der örtlichen und regionalen Initiativen und organisierten Aktivitäten der angedeuteten Art. • Die kapitalismuskritisch orientierte Linke von heute ist zahlen- und einflußmäßig zwar schwach, sie umfaßt jedoch ein erhebliches Potential fachwissenschaftlicher, anderer professioneller, kultureller und publizistischer Kompetenzen, das bislang völlig unzureichend genutzt wird. Seine Aktivierung, Zusammenfuhrung und Inanspruchnahme kann durchaus zur Überwindung der gegenwärtigen Artikulations- und Einflußschwäche der Linken in der Öffentlichkeit verhelfen; ein in Anbetracht der Dominanz neoliberaler Ideologeme, Deutungsmuster und Legitimationsformeln dringliches Desiderat. Abschließend einige ergänzende Thesen zur Begründung von Antikapitalismus: • Zweifelsohne gibt es heute genügend - wie es in modischer, empiristisch gefärbter Wissenschaftssprache heißt - .harte' sozioökonomische Sachverhalte, die Kapitalismuskritik als Opposition gegen neoliberalmonetaristische Politik zu begründen vermögen: Mangel an Willen und Fähigkeit der Regierenden und der Unternehmer, der Massenarbeitslosigkeit Herr zu werden, Beseitigung sozialer Anspruchs- und Schutzrechte sowie von Regulativen des Lohnarbeitsverhältnisses, die im Verlauf von Jahrzehnten von Arbeiterschaft und Gewerkschaften erkämpft wurden, faktische Gleichgültigkeit der Entscheidungs- und Verfligungsmächtigen gegenüber den Gefährdungen der natürlichen Lebensgrundlagen und den menschlichen Existenzrisiken diverser Art, gegenüber Hunger und Massenarmut in großen Teilen der ,Dritten Welt', den wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen etc. Folgen global freigesetzter und
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auf die Spitze getriebener Technologie-, Produktivitäts-, Wachtums- und Niedriglohnkonkurrenz u.a.m. Neben diesen gibt es jedoch allgemeinere, teils noch latente, teils (noch) nicht sinnlich wahrnehmbare oder nicht mit der kapitalistischen Ökonomie in Zusammenhang gebrachte Phänomene und Tendenzen, die deshalb in jener Ausdrucksweise als ,weiche' gelten, die jedoch Antikapitalismus nicht weniger legitimieren als die sog.,harten Fakten'. Zur Vergegenwärtigung wenige Beispiele: • Welche Reform- und Wandlungsfähigeit man immer der kapitalistischen Wirtschaftsweise zuerkennen mag, ein nicht auf ständiges Kapitalwachstum fixierter Kapitalismus ist theoretisch nicht denk- und empirisch nicht nachweisbar. Da jedoch seine menschliche und natürliche Umwelt, in die er verwoben ist und in der er, Menschen und Natur permanent beanspruchend und belastend expandiert, zwar unmittelbar flexibel, generell aber begrenzt ist, entlarvt sich die Vorstellung eines global ewigen Kapitalismus als illusionär. Das zur Kenntnis zu nehmen, verlangt die Konsequenz, schon heute ernsthaft über Alternativen jenseits der kapitalverwertenden Ordnung der gesellschaftlichen Produktion und des individuellen wie kollektiven Verbrauchs nachzudenken. • Seit ihren Anfängen reflektierte Philosophie - später vor allem als Ethik und Sozialphilosophie - über Wesen, Bedingungen und Möglichkeiten des „guten Lebens". Theoretiker und Propagandisten der liberalen Privat- und Marktwirtschaft versprachen es den Menschen auf Erden. Was jedoch bei Adam Smith unter den seinerzeit bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen, den noch gültigen ethischen Normen, tradierten Werten und aufgeklärten bürgerlichen Gesellschaftskonzeptionen noch zureichend realitätsbezogene Begründung fand, realisiert sich heute in pervertierter Weise. Das vom Utilitarismus erstrebte „höchste Glück", bereits bei Bentham vorrangig reduziert auf Besitz und materiellen Wohlstand, manifestiert sich in den Gesellschaften des entwickelten Kapitalismus zwar im geheiligten und weithin verinnerlichten „Besitzindividualismus" (C.B. Macpherson), aber das, was man unter ,gutem', nämlich menschengerechtem, Leben verstehen kann, bietet und gewährleistet die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft der Gegenwart nicht. Statt gesicherter Lebensverhältnisse ringsum die vielfaltigen, u.a. von U. Beck (1986) eindringlich beschriebenen Lebensrisiken, statt Muße Dauerstress und Hektik, statt Genuß des Erlangten ständige Sucht nach Neuem, statt freundlichen Miteinanders Fremdheit und allseitige Rivalität, statt Zukunftszuversicht Dauerfurcht. Was können uns heute Kapitalismus und Neoliberalismus noch glaubhaft verheißen? • Neben struktureller Wachstumsfixierung ist der Kapitalismus infolge des ihm (als gesellschaftliche Produktion unabhängiger Pnvafproduzenten) immanenten Konkurrenzprinzips durch permanente Erzeugung und Reproduktion von Ungleichheitsverhältnissen gekennzeichnet. Das gilt innerhalb wie zwischen den Gesellschaften bzw. Nationen. Der von Konkurrenzbeschränkungen zunehmend global freigesetzte Weltmarkt
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erzeugt und reproduziert notwendig diese asymmetrische Struktur, innerhalb deren aber Rangverschiebungen nach oben und unten stattfinden, ohne die die Konkurrenz unwirksam wäre. Diese Struktur belegt die Haltlosigkeit der Verheißungen „nachholender Industrialisierung und Modernisierung"; in globaler Dimension findet Nachziehen statt, aber kein Aufholen. Zu den Folgen zählen: (a) Die (relative) Armut und Rückständigkeit wird nicht überwunden, (b) Der Aufholwettlauf überdehnt Ressourcenverbrauch und Umweltbelastung, (c) Die ökonomischen Konkurrenzverhältnisse schlagen direkt oder vermittelt immer wieder in politische Spannungen und manifeste gewaltförmige Konflikte um. (d) Der Hierarchie der Staaten der Erde gemäß ihrer ökonomischen und wissenschaftlich-technischen Potentiale entspricht die Verteilung der staatlichen, militärischen, weltpolitischen Macht. Ohne Übertreibung kann man die G7 als die weltpolitischen Entscheidungsmächte kennzeichnen, die ungeachtet interner Rivalitäten zur Bewahrung ihrer Position nach außen konsensual auftreten und weltweit ihrem Kollektiv- oder dem hegemo-nialen Einzelinteresse der USA gemäß manifeste Gewaltexzesse, wo immer auf dem Globus, entweder ignorieren (aktuelle Beispiele: Afghanistan, Zaire) oder mit Instrumentalisierung der UN unterdrücken, ohne die Ursachen zu beseitigen. Deshalb findet die „friedensstiftende" Wirksamkeit dieser Interventionen an den latenten und manifesten konfliktorischen Konsequenzen der zuvor gekennzeichneten asymmetrischen Struktur der globalen Verteilung von Reichtum, Wohlstand und Macht notwendig immer wieder ihre Grenze. • Unter den hier nur unvollständig skizzierten weltweiten ökonomischen, sozialen und politischen Bedingungen kommt die kapitalverwertende Form gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion strukturell von zwei Seiten zugleich in die Klemme: Es ist unbestritten, daß die von ihren Protagonisten verhießene globale Verallgemeinerung der verbrauchsund verschwendungs-fixierten „westlichen" Lebensweise - die angedeutete strukturelle Unmöglichkeit ihrer Realisierung einmal ausgeblendet ökologisch nicht tragbar ist und katastrophisch enden müßte. Aus der Erkenntnis dieser Bedingung werden die Gesellschaften der sog. „ersten Welt" von besorgten Organisationen, Gruppen und Personen immer wieder zum Maßhalten gemahnt. Dazu sind allerdings so gut wie keine Ansätze auszumachen. Man mag ob dieses Maßes menschlicher Lernunfähigkeit erstaunt und entsetzt sein, muß sich jedoch u.a. vergegenwärtigen, daß die Legitimation der Regierenden und Herrschenden auf dem Versprechen der Erhaltung dieser Lebensweise beruht. Unter der Perspektive OECD-weiter Befolgung der Parole des deutschen Kanzlers „Weiter so!" werden sich allerdings, und das ist die zweite Zwinge der Klemme, die weltweiten Rivalitäten und Konflikte um Ressourcen, Märkte, Produktionen, Innovationen, Abhalden usw. zu immer weniger regulierbaren Formen intensivieren und kapitalistische Destruktivität manifestieren.
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Plenum III Kritische Psychologie, psychoanalytische, feministische und postmoderne Ansätze als Varianten der Kritik des psychologischen mainstream: Gemeinsamkeiten und Differenzen Oliver Decker, Ole Dreier, Arnd Hofmeister, Wolfgang Maiers, Jutta Meyer-Siebert, Dieter Sandner Moderation: Morus Markard Morus Markard: Heute morgen ging es erstens um ökonomische Strukturveränderungen im sich globalisierenden Kapitalismus und zweitens um Denkformen und theoretische Reflexionen über diese Veränderungen im sozialwissenschaftlichen Kontext. Die Diskussion heute abend ist so konzipiert, daß wir versuchen wollen, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Ansätzen, die alle gegenüber der mainstream-Psychologie kritisch sind, genauer herauszuarbeiten, auch unter dem Aspekt, in welcher Weise sie sich zu den gesellschaftlichen Verhältnissen in Beziehung setzen, das Verhältnis von Gesellschaft und Individuum fassen. Dabei wird auch zu klären sein, was die jeweiligen Vertreter unter „mainstream" verstehen und welche Konsequenzen aus ihrer mainstream-Kritik folgen. Leider mußte Jutta Meyer-Siebert, die heute morgen noch hier war, aus Krankheits-Gründen wieder nach Hannover zurückfahren, so daß also eine feministische Position entgegen der Planung nicht vertreten ist1. Dieter Sandner: Ich finde es etwas schade, daß für die Diskussion zwischen Psychoanalyse und Kritischer Psychologie nur sehr wenig Zeit ist, weil ich meine, daß da viele fruchtbare Fragen wären, die zu diskutieren sich lohnen würde. Aber ich werde doch einige Fragen hier vortragen, die mir als Psychoanalytiker wichtig scheinen. Ich beschäftige mich seit vielen Jahren mit psychoanalytischer und psychologischer Grundlagenforschung, also mit der Frage: Wie können Prozesse in Gesprächen, in Gruppen, in Interviews wissenschaftlich, subjektwissenschaftlich abgebildet werden? Wie lassen sich Prozesse und Strukturen, die da vor sich gehen, erfassen? Sie werden sehen, daß das eine wichtige Frage ist, die sowohl die Psychoanalytiker wie auch, das wissen Sie ja selber, die Kritische Psychologie sehr beschäftigt. Ich habe meine Überlegungen um 5 Unter1
Der von Jutta Meyer-Siebert vorgesehene Beitrag wurde schriftlich eingereicht und wird weiter unten im Anhang zu dieser Podiumsdiskussion dokumentiert.
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schiede gruppiert zwischen Psychoanalyse und Kritischer Psychologie, die vielleicht auch eine gute Möglichkeit zur Diskussion bieten. Der erste Unterschied, meine ich, ist der: Natürlich ist die Psychoanalyse eine subjektwissenschaftliche Psychologie, und es geht und ging der Psychoanalyse immer um das Verständnis ganz konkreter Menschen, ob das jetzt in Einzeltherapien oder in Gruppentherapien oder bei kulturanalytischen Untersuchungen ist. Um ganz konkrete Menschen, aber zugleich auch immer - und das ist vielleicht auch der erste Unterschied zur Kritischen Psychologie - um die Beziehung zwischen dem Psychoanalytiker und dem Analysanden, also dem Menschen, mit dem er zu tun hat, also um, psychoanalytisch ausgedrückt, Übertragungs- und Gegenübertragungsbeziehungen, d.h. um die Verzerrungen, die vorhanden sind, auch wenn man sich noch so sehr als Psychologe bemüht, Dinge nicht zu verzerren. Also das ist, glaube ich, ein wesentlicher Unterschied. Mir scheint, es wird auch bei der Kritischen Psychologie versucht, dieses Problem anzugehen, aber da ist, glaube ich, trotzdem ein Unterschied. Zweiter Unterschied: Es geht und ging der Psychoanalyse immer darum, sich nicht nur sozuagen auf der grünen Wiese die psychologischen Phänomene anzuschauen, sondern von früh an Bezugssysteme zu entwickeln aus der praktischen Arbeit, wie die vielfältigen, zum Großteil unverständlichen Phänomene, die z.B. Freud in seiner Praxis vorgefunden hat, überhaupt zu verstehen sind, wenn Patienten ganz seltsame Symptome zeitigen, deren Unsinnigkeit sie sowieso wissen: trotzdem, es läßt sich nichts ändern. D.h. also, es ging immer darum, aus der psychoanalytischen Arbeit - oder zunächst aus der Arbeit, die Freud machte - Denkmodelle zu entwickeln, welchen Sinn diese Symptome und Probleme haben. D.h. die Psychoanalyse hat im Laufe ihrer Geschichte verschiedene typische Bezugssysteme entwickelt, schlagwortartig also z.B. die triebpsychologische Modellvorstellung, die sehr lange war und sehr bedeutsam war und ist. Oder z.B. die selbstpsychologische Modellvorstellung oder die objektpsychologische Modellvorstellung oder in neuerer Zeit die Überlegungen von Jessica Benjamin über Beziehungen in der Psychoanalyse. D.h. es wurden spezifische Theorien, Vorstellungen, Hypothesen aus der klinischen Praxis versucht zu entwickeln, was Sinn macht oder, wie Lorenzer das sagt: wie klinische Phänomene vermessen werden können, also eine Metatheorie der Phänomene. Da scheint mir auch, daß das in der Kritischen Psychologie noch unzureichend ist, daß wir in jedem Fall Bezugssysteme haben und daß da in der Psychoanalyse ein großer Fundus an Vorstellungen vorhanden ist, wobei die Frage natürlich ist, inwieweit die heute zutreffen. Der dritte Unterschied ist, daß es in der Psychoanalyse - neben der klinischen Psychoanalyse i.e.S. - kulturtheoretische Überlegungen gibt mit, wie mir scheint, auch heute sehr bedeutsamen mythologischen Konzepten, wie Freud und auch seine Nachfolger sich vorgestellt haben, wie die Beziehungen der Menschen in unserer Gesellschaft damals und heute
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grundsätzlich zu betrachten sind, z.B. die Vorstellung, die heute vielleicht auf den ersten Blick absurd erscheinen mag, die Freud in „Totem und Tabu" entwickelt hat, die Vorstellung der Urhorde, nämlich, sie kennen ja wahrscheinlich die Theorie, daß der Hordenvater sozusagen alle Macht besessen hatte, auch die Frauen sowieso, die hatten sowieso keine Bedeutung, und auch den Söhnen gegenüber, und daß die versucht haben, den umzubringen, oder sie haben ihn umgebracht, und daß sie dann aber gemerkt haben, sie müssen trotzdem wieder eine Macht aufrichten, nämlich die Autorität des Vaters, sonst bringen sie sich gegenseitig um. Das ist eine Modellvorstellung, ein mythologisches Bild. Es gibt in der Psychoanalyse mehrere dieser Bilder, z.B. den Ödipuskomplex. Die Frage ist, ob nicht auch heute unter unseren gesellschaftlichen Bedingungen diese mythologischen Bilder reale gesellschaftliche und psychologische Beziehungen doch noch relativ gut abbilden, auch wenn, was Freud noch angenommen hat, die mythologischen Vorstellungen keine Naturkonstanten sind oder der Ödipuskomplex sozusagen universell ist, sondern daß es Konstellationen sind, die sich unter unseren gesellschaftlichen Bedingungen um die Jahrhundertwende zeigten und heute noch in vieler Hinsicht noch zeigen. Das heißt, daß neben den klinischen auch kulturelle Bezugssysteme sind, die wir benutzen könnten und sollten. Der vierte Unterschied: In der Psychoanalyse geht und ging es immer um die Erforschung unbewußter Prozesse, d.h. da gibt es eine lange Tradition, daß Dinge, die die Menschen, mit denen wir umgehen, und wir auch selber, sagen und auch Begründungszusammenhänge - und das ist ja ein sehr wichtiger Gesichtspunkt in Ihrer Theorie - verderbt sind, wie das so schön heißt in der marxistischen Theorie. Das heißt, daß die Begründungen, die gegeben werden, nicht die sind, die Menschen wirklich bewegen, und zwar auf beiden Seiten, sowohl auf Seiten der Menschen, mit denen wir arbeiten, als auch auf unserer eigenen Seite. Und daß also die Frage - das ist ja ein wichtiger Punkt auch in der Kritischen Psychologie - daß es darum geht, diese unterschiedlichen Begründungszusammenhänge herauszuarbeiten und zu Wort kommen zu lassen und zu schauen, was sich da auflöst, was sich im dialektischen Prozeß zwischen Psychologe / Psychologin und Patienten, den Menschen, mit denen sie arbeiten, zum Ausdruck kommt. Eben unbewußte Prozesse, und da ist für mich - ich habe mich sehr lange mit diesen Grundlagen- und Abbildungsproblemen beschäftigt - sehr deutlich geworden: Es reicht mit Sicherheit nicht zu glauben, wir könnten in der Arbeit mit den konkreten Patienten, in den Gesprächen, auf eine wissenschaftliche Weise abbilden, was da jeweils der Fall ist oder was nicht der Fall ist, was die Begründungszusammenhänge sind und was nicht. Das ist eine erste Stufe der psychologischen Theoriebildung, aber es müssen zwei weitere Stufen dazukommen für meine Begriffe, und zwar: die zweite Stufe ist, daß wir die Bezugssysteme, mit denen wir jeweils an die Patienten oder auch
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an unser eigenes Verhalten herangehen, möglichst explizieren. Also explizieren, was einem wichtig ist, oder welche Hintergrundstheorie man hat. Die dritte Stufe ist dann, daß Vertreter unterschiedlicher Richtungen ein und denselben Fall bzw. ein und dieselbe Konstellation aus unterschiedlichen Richtungen anschauen. Ob das nun Kritische Psychologen oder Psychoanalytiker sind oder auch Vertreter anderer Richtungen, weil, das läßt sich auch gut zeigen, in der jeweiligen Theorietradition starke Verzerrungen sind, und das ist dann für die Forschung sehr bedeutsam, wenn diese unterschiedlichen Theorietraditionen an ein und demselben Fall zusammenkommen. Dann lassen sich Verzerrungen einigermaßen verringern und es findet auch auch eine wechselseitige Bereicherung der Konzepte und eine Bereicherung dessen, was da analysiert wird, statt. Das war er vierte Punkt. Auf einen Punkt möchte ich noch hinweisen: Die Psychoanalyse ist von ihrer ganzen Anlage her, von ihrer ganzen Therapeutik her, ein patriarchates, patristisches Verfahren. Punkt. Das ist so. Aber es gibt mittlerweile auch - das läßt sich bis ins therapeutische Setting, bis in die therapeutische Theoriebildung, bis in die Art von Theorie zeigen - andere Vorstellungen innerhalb der Psychoanalyse. Und da möchte ich Sie insbesondere auf Jessica Benjamin hinweisen, die versucht, das Prinzip wechselseitiger Anerkennung als Grundprinzip der Psychoanalyse überhaupt und der psychologischen Theoriebildung herauszuarbeiten, wechselseitige Anerkennung also von Analytiker und Analysand, von Psychologe und Klient - das ist - das kann ich jetzt nur mit einem Wort sagen - eine andere Variante von Psychoanalyse, von der ich meine, daß sie besonders Zukunft hat. Letzter Punkt: Herbert Marcuse (Heiterkeit). Sie wissen ja alle, daß Herbert Marcuse in der studentischen Bewegung eine sehr große Rolle gespielt hat, heute redet kaum jemand mehr von ihm. Ich meine, zu Unrecht. Denn Herbert Marcuse hat eine an der Psychoanalyse orientierte kulturpsychologische Theorie entwickelt über das sog. kulturelle Gehäuse, in dem wir uns befinden, und an dem wir eigentlich den ganzen Tag heute diskutiert haben. Die Argumente kamen immer: „Was hat das für eine psychologische Relevanz?" Und dieses psychologische Gehäuse ist in vieler Hinsicht sehr anders als die ökonomischen Bedingungen, auch als bestimmte Milieus. Es gibt auch das Phänomen - kulturpsychologisch betrachtet, was Marcuse herausgearbeitet hat - daß unter unseren gesellschaftlichen Bedingungen viele Menschen überhaupt kein Interesse haben, irgendetwas zu verändern. Das liegt nicht daran, daß sie keine Spielräume hätten, sondern daß sie keinen Grund sehen, diese Spielräume zu nutzen. Ich sage das jetzt alles sehr verkürzt. Aber - das ist das kulturpsychologische Gehäuse, in dem wir uns bewegen, und das hat Marcuse sehr gut herausgearbeitet. Dabei belasse ich es jetzt. (Beifall)
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Wolfgang Maiers: Ich bin ein bißchen in Not, erstens, weil mein Vorredner wirklich so schnell gemacht hat, daß ich jetzt unter Druck komme, es ihm nachzutun, und ich fürchte, ich kann das nicht ganz. Aber wir werden sehen. Die zweite Not ist eine eher inhaltliche. Ich fürchte, so sehr mich die eben gehörten Thesen interessieren, daß das, was ich jetzt sage, völlig von ihnen wegfuhrt. Das, wozu ich etwas sagen wollte, betrifft nämlich den Satz, mit dem Morus Markard gestern sein Referat beendete: „Die Kritische Psychologie ist marxistisch oder sie ist nicht". Wir haben uns nicht abgesprochen, aber manchmal laufen die Gedanken ja in dieselbe Richtung, wohl nicht ganz zufallig. Jedenfalls wollte ich eben diesen Zusammenhang im Hinblick auf ein paar Aspekte noch mal beleuchten, und mich dabei nicht so sehr auf die politische Theorie des Marxismus beziehen, obwohl die heute den ganzen Tag über eher im Mittelpunkt stand, sobald über Marxisms geredet wurde, sondern auf die Konzeption des Marxismus als allgemeiner historischer Subjektwissenschaft, wie Holzkamp das mal - 1986, glaube ich - formulierte. Ich möchte auf andere - philosophische, wissenschaftstheoretische - Seiten des Marxismus abheben, gewissermaßen auf die „Souveränität" des Marxismus in Bezug auf die Entwicklungsarbeit in den Wissenschaften, also das, was man auch formulieren könnte als „streitbaren Materialismus" in den Wissenschaften. Ursprünglich hätte ich ganz gerne den Entwicklungsweg der Kritischen Psychologie noch einmal vom Ausgangspunkt der „Relevanzkritik" und der Kritik an der Herrschaftsfunktion der Psychologie vor 20 Jahren nachgezeichnet - das, was also die Ideologiekritik der frühen Anfange einer kritisch-emanzipatorischen Psychologie aus-r machte - um von dort aus mich über einige relevante Wegstationen zu dem jetzigen Ansatz einer subjektwissenschaftlichen Psychologie vorzuhangeln und darüber vielleicht die spezifische Differenz der Kritischen Psychologie zu anderen Subjektpsychologien oder subjektpsychologisch orientierten Kritiken am mainstream deutlich zu machen. Das kann ich hier aus Zeitgründen nicht tun und so halte ich einfach nur mal fest: Der Anfangsschritt wurde sehr frühzeitig mit der bei der Aneignung des Marxschen „Kapitals" erfolgenden Klärung der Interdependenz zwischen erkenntnisleitenden Interessen, Wahrheitsgehalt und gesellschaftlicher Funktionalität von Wissenschaft getan - mit einem Wort, der Klärung dessen, was die objektive Parteilichkeit von Wissenschaft ausmacht. Diese Klärung schloß auch materialistische Ideologiekritik ein, die Einsicht, daß der begrenzten Rationalität bürgerlicher Psychologie als in den herrschenden Gedankenformen der Privatheit individueller Existenz in einer naturhaften Umwelt befangenenen Wissenschaft nur durch kritische Revision der vorfindlichen Begriffe der Psychologie mittels eines „begreifenden Denkens" (Marx) über die Pseudonatürlichkeit dieser historischen Form entfremdeter gesellschaftlicher Praxis (vgl.
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Plenum III
Haug, 1977) hinaus zu entkommen sei. (Heiterkeit). Ja, das war ein langer Satz (Heiterkeit). Ich glaube, der Satz ging aber auf (Heiterkeit, Beifall). Es gibt auch ein paar kürzere Sätze. (Heiterkeit) Was können also Denken, Wahrnehmung, Fühlen, Motivation usw. bedeuten, wenn man sie als Funktionsmomente geschichtlich produzierter, d.h. unter unseren Verhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft zugleich ermöglichter wie systematisch durchkreuzter, behinderter Subjektivität und Handlungsfähigkeit auffaßt? Solche Wendung von der bürgerlichen zur Kritischen Psychologie - Hans Heinz Holz sprach gestern die Aufgabe der „bestimmten Negation" an - konnte allerdings ohne eine Methodisierung der Begriffsbildung nicht auskommen. Es ging also darum, aus der Sicht der Kritischen Psychologie - und das ist ein entscheidender Differenzpunkt zu anderen Ansätzen einer kritischen Psychologie zu jener Zeit - die Wissenschaftlichkeit der traditionellen Psychologie durch die methodische Konstituierung eines Begriffssystems überhaupt erst einmal sicherzustellen, eines Begriffssystems, das die wesentlichen äußeren und inneren Verhältnissse des Psychologiegegenstandes aus der Entwicklungslogik seines historischen Gewordenseins aufschlüsselt. Und das Paradigma dafür bot Marx' konkrete Negation der klassisch-bürgerlichen Ökonomie als deren Kritik und Weiterentwicklung. Die Frage war also die: Warum nicht das im „Kapital" gebrauchte Instrument logisch-historischer Untersuchung auf die spezifische historische Empirie der Psychologie, nämlich die Geschichte des Psychischen, konkret umsetzen? Jetzt überspringe ich einen Teil, den ich gerne ausgeführt hätte, was genau die Methode dialektischer Theoriebildung, jedenfalls in der Sichtweise der Kritischen Psychologie, ausmacht, die „