Gute Unterhaltung, schlechte Unterhaltung: Die Fernsehkritik und das Populäre [1. Aufl.] 9783839402337

Populäres hat in der Kulturkritik traditionell einen schlechten Ruf. In den letzten Jahren scheint sich nicht zuletzt du

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German Pages 362 [363] Year 2015

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Table of contents :
Cover Gute Unterhaltung, schlechte Unterhaltung
Inhalt
Danksagung
Vorwort
Einleitung
Teil 1: Eine positive Perspektive: Cultural Studies und Populärkultur
1. Kurze theoretische Skizzierung der Cultural Studies
1.1 Schwer zu fassen: das Projekt der Cultural Studies
1.2 ›Kultur‹ in den Cultural Studies
1.3 Kulturanalysen in den Cultural Studies
1.4 Cultural Studies und Populärkultur
1.4.1 Exkurs: Was ist Unterhaltung?
1.4.2 Fiske und Populärkultur
1.4.3 Populäre Hierarchien?
1.5 Cultural Studies und populärkulturelle Texte: Zentrale Studien
1.5.1 Janice Radway: »Reading the Romance: Women, Patriarchy, and Popular Literature«
1.5.2 Ien Ang: »Watching Dallas«
1.5.3 Dorothy Hobson: »Crossroads«
1.5.4 David Morley/Charlotte Brunsdon: »Everyday Television: Nationwide«
1.5.5 Seiter, Kreuzner, Borchers und Warth: »Soap Operas im amerikanischen Fernsehen«
1.5.6 Mary Ellen Brown: »Soap Operas and Women’s Talk. The Pleasure of Resistance«
1.6 Zur deutschsprachigen Rezeption der Cultural Studies
Teil 2: Fiske und ›populäre Texte‹
1. Die Offenheit populärer Texte
1.1 Verortung Fiskes in den Cultural Studies
1.2 Ecos früher Blick auf Populäres
1.3 Fiskes ›populäre Texte‹ und ihre Eigenheiten
1.3.1 Undisziplinierte Texte: Populäre Texte und Textoffenheit
1.3.2 ›Inescapable intertextuality‹
1.3.3 Genre als populäre Form horizontaler Intertextualität
2. Grenzen der Bedeutungsfreiheit: Lesarten
2.1 Bedeutungsreservoirs: Konnotation und Denotation bei Barthes
2.2 Bedeutungsproduktion und Lesarten in Halls Encoding/Decoding-Modell
2.2.1 ›A model which has to be worked with and developed and changed‹
2.2.2 Impulse für die Forschung
2.2.3 Kritik an Halls Modell
2.3 Fiskes Lesarten: Bedeutungsfreiraum versus Ideologie
2.3.1 Kurze Vorbemerkung zu ›Ideologie‹ und ›Hegemonie‹
2.3.2 Ideologische Fesseln: Codes of Television
2.3.3 Textuelle Kontrolle: Realismus als ideologisches Konzept
2.3.4 Vergnügen in den Cultural Studies
2.3.5 Widerständiges Vergnügen bei Fiske
2.4 Die Revisionismusdebatte
2.4.1 Die Cultural Studies und der ›neue Revisionismus‹ in der Populärkulturforschung
2.4.2 Fiske im Zentrum der Kritik
3. Anbindung populärer Fernsehtexte an Diskurse
3.1 Fiskes Diskursbegriff
3.2 Fiskes Diskursanalyse(n)
3.2.1 Diskursive Charaktere
3.2.2 Wissen als diskursives Instrument
3.2.3 »Media Matters«
3.2.4 Populäre Texte aus diskursanalytischer Sicht
3.3 Was charakterisiert Fiskes Blick auf Populäres?
Teil 3: »Wer wird Millionär?« und »GZSZ« im Diskurs der Fernsehkritik
1. Inhaltliche Rahmung: Fernsehkritik, Soaps und Quizshows
1.1 Zur Fernsehkritik
1.2 Soaps und Quizsendungen in Deutschland
1.2.1 Quiz Shows – ›Dinosaurier‹ der deutschen Fernsehunterhaltung
1.2.2 »Wer wird Millionär?« (RTL)
1.2.3 Daily Soap Operas – ein Neuling im deutschen Fernsehen
1.2.4 »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« (RTL)
2. Methode
2.1 Begrifflichkeiten
2.2 SZ, FAZ und die diskursive Zirkulation von Bedeutungen
2.3 Das ausgewählte Analysematerial
2.4 Methodisches Vorgehen
3. Der Diskursstrang »GZSZ« in der Fernsehkritik
3.1 Inhaltliche Schwerpunkte in der Bewertung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«
3.2 Erster Fokus: Die Produktion
3.2.1 Argumentationsstrang: »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« als Produkt der Kulturindustrie
3.2.2 Argumentationsstrang: Soaps als Indikator für eine Negativentwicklung des deutschen Fernsehens
3.3 Zweiter Fokus: Die Darstellerinnen und Darsteller
3.3.1 Argumentationsstrang: Keine SchauspielerInnen bei »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«
3.4 Dritter Fokus: Die Handlung
3.4.1 Argumentationsstrang: Handlung nach Plan
3.4.2 Argumentationsstrang: Wo ist der Bezug zur Realität?
3.5 Vierter Fokus: Die ZuschauerInnen
3.5.1 Argumentationsstrang: Passive RezipientInnen
3.5.2 Argumentationsstrang: Handelnde Fans
3.6 Zusammenfassung des Diskursstrangs zu »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«
3.7 Cultural Studies oder ›Kulturindustrie‹? Zwei Blickwinkel auf »GZSZ«
3.7.1 Parallelen zum Diskurs der Cultural Studies?
3.7.2 »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« und die ›Kulturindustrie‹
3.8 »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« und Diskurse zum dualen Rundfunk
3.8.1 Die Konvergenzhypothese
3.8.2 ›Private ownership‹- versus ›public service‹-Diskurs
4. Der Diskursstrang »Wer wird Millionär?« in der Fernsehkritik
4.1 Zentrale inhaltliche Schwerpunkte
4.2 Erster Fokus: Das Konzept von »Wer wird Millionär?«
4.2.1 Argumentationsstrang: »Wer wird Millionär?« als perfekte ›Quizmaschine‹
4.2.2 Argumentationsstrang: »Wer wird Millionär?« als Ausdruck des Populären
4.3 Zweiter Fokus: Die Produzenten
4.3.1 Argumentationsstrang: Kein gutes Haar an den Produzenten
4.4 Dritter Fokus: Der Moderator Günther Jauch
4.4.1 Argumentationsstrang: Das Phänomen Jauch
4.4.2 Argumentationsstrang: Schatten auf der weißen Weste
4.4.3 Argumentationsstrang: Jauch zwischen Unterhaltung und Information
4.5 Vierter Fokus: Die KandidatInnen
4.5.1 Argumentationsstrang: ›Ungeniertes Unwissen‹ – die wahren Motive der KandidatInnen
4.6 Fünfter Fokus: Die ZuschauerInnen
4.6.1 Argumentationsstrang: »Wer wird Millionär?« als perfekter Publikumsanreiz
4.7 Zusammenfassung zum Diskursstrang »Wer wird Millionär?«
4.8 Cultural Studies oder Kulturindustrie?
4.8.1 Parallelen zum Diskurs der Cultural Studies
4.8.2 Der Diskurs der Kulturindustrie bei »Wer wird Millionär?«
4.9 Diskurse zur Situation des Rundfunks
4.9.1 Der Diskurs um Senderkonkurrenzen als Krise der öffentlich-rechtlichen Fernsehunterhaltung
4.9.2 Was ist legitime Fernsehunterhaltung?
4.9.3 Der Diskurs um Authentizität in der Mediengesellschaft
Resümee
Literatur
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Gute Unterhaltung, schlechte Unterhaltung: Die Fernsehkritik und das Populäre [1. Aufl.]
 9783839402337

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Kerstin Goldbeck Gute Unterhaltung, schlechte Unterhaltung

CULTURAL STUDIES • HERAUSGEGEBEN VON RAINER WINTER • BAND 7

Kerstin Goldbeck (Dr. rer. soz.) hat an der Universität Göttingen promoviert. Derzeit arbeitet sie als Referentin für Medienwissenschaft beim Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger.

Kerstin Goldbeck

Gute Unterhaltung, schlechte Unterhaltung Die Fernsehkritik und das Populäre

CULTURAL STUDIES

Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2004 transcript Verlag, Bielefeld Umschlaggestaltung & Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: more! than words, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-233-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lothar Mikos

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil 1: Eine positive Perspektive: Cultural Studies und Populärkultur 1. Kurze theoretische Skizzierung der Cultural Studies . . . . . . . . . 1.1 Schwer zu fassen: das Projekt der Cultural Studies . . . . . . . . . . 1.2 ›Kultur‹ in den Cultural Studies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Kulturanalysen in den Cultural Studies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Cultural Studies und Populärkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Exkurs: Was ist Unterhaltung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2 Fiske und Populärkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.3 Populäre Hierarchien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Cultural Studies und populärkulturelle Texte: Zentrale Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.1 Janice Radway: »Reading the Romance: Women, Patriarchy, and Popular Literature« . . . . . . . . . . 1.5.2 Ien Ang: »Watching Dallas« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.3 Dorothy Hobson: »Crossroads« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.4 David Morley/Charlotte Brunsdon: »Everyday Television: Nationwide« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.5 Seiter, Kreuzner, Borchers und Warth: »Soap Operas im amerikanischen Fernsehen« . . . . . . . . . 1.5.6 Mary Ellen Brown: »Soap Operas and Women’s Talk. The Pleasure of Resistance« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Zur deutschsprachigen Rezeption der Cultural Studies . . . . . . .

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Teil 2: Fiske und ›populäre Texte‹ 1. Die Offenheit populärer Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Verortung Fiskes in den Cultural Studies . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Ecos früher Blick auf Populäres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Fiskes ›populäre Texte‹ und ihre Eigenheiten . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Undisziplinierte Texte: Populäre Texte und Textoffenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 ›Inescapable intertextuality‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Genre als populäre Form horizontaler Intertextualität . . .

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2. Grenzen der Bedeutungsfreiheit: Lesarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Bedeutungsreservoirs: Konnotation und Denotation bei Barthes 2.2 Bedeutungsproduktion und Lesarten in Halls Encoding/Decoding-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 ›A model which has to be worked with and developed and changed‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Impulse für die Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Kritik an Halls Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Fiskes Lesarten: Bedeutungsfreiraum versus Ideologie . . . . . . . 2.3.1 Kurze Vorbemerkung zu ›Ideologie‹ und ›Hegemonie‹ . 2.3.2 Ideologische Fesseln: Codes of Television . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Textuelle Kontrolle: Realismus als ideologisches Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Vergnügen in den Cultural Studies . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.5 Widerständiges Vergnügen bei Fiske . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Die Revisionismusdebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Die Cultural Studies und der ›neue Revisionismus‹ in der Populärkulturforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Fiske im Zentrum der Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Anbindung populärer Fernsehtexte an Diskurse . . . . . . . . . . . . . 3.1 Fiskes Diskursbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Fiskes Diskursanalyse(n) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Diskursive Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Wissen als diskursives Instrument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 »Media Matters« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Populäre Texte aus diskursanalytischer Sicht . . . . . . . . . . 3.3 Was charakterisiert Fiskes Blick auf Populäres? . . . . . . . . . . . . .

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Teil 3: »Wer wird Millionär?« und »GZSZ« im Diskurs der Fernsehkritik 1. Inhaltliche Rahmung: Fernsehkritik, Soaps und Quizshows . . . 1.1 Zur Fernsehkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Soaps und Quizsendungen in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Quiz Shows – ›Dinosaurier‹ der deutschen Fernsehunterhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 »Wer wird Millionär?« (RTL) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Daily Soap Operas – ein Neuling im deutschen Fernsehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.4 »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« (RTL) . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Begrifflichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 SZ, FAZ und die diskursive Zirkulation von Bedeutungen . . . . 2.3 Das ausgewählte Analysematerial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Methodisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Der Diskursstrang »GZSZ« in der Fernsehkritik . . . . . . . . . . . . . 3.1 Inhaltliche Schwerpunkte in der Bewertung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Erster Fokus: Die Produktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Argumentationsstrang: »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« als Produkt der Kulturindustrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Argumentationsstrang: Soaps als Indikator für eine Negativentwicklung des deutschen Fernsehens . . . . . . . . 3.3 Zweiter Fokus: Die Darstellerinnen und Darsteller . . . . . . . . . . 3.3.1 Argumentationsstrang: Keine SchauspielerInnen bei »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Dritter Fokus: Die Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Argumentationsstrang: Handlung nach Plan . . . . . . . . . . 3.4.2 Argumentationsstrang: Wo ist der Bezug zur Realität? . . 3.5 Vierter Fokus: Die ZuschauerInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1 Argumentationsstrang: Passive RezipientInnen . . . . . . . . 3.5.2 Argumentationsstrang: Handelnde Fans . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Zusammenfassung des Diskursstrangs zu »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7 Cultural Studies oder ›Kulturindustrie‹? Zwei Blickwinkel auf »GZSZ« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7.1 Parallelen zum Diskurs der Cultural Studies? . . . . . . . . . 3.7.2 »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« und die ›Kulturindustrie‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3.8 »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« und Diskurse zum dualen Rundfunk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 3.8.1 Die Konvergenzhypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 3.8.2 ›Private ownership‹- versus ›public service‹-Diskurs . . . . 248 4. Der Diskursstrang »Wer wird Millionär?« in der Fernsehkritik . 4.1 Zentrale inhaltliche Schwerpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Erster Fokus: Das Konzept von »Wer wird Millionär?« . . . . . . . 4.2.1 Argumentationsstrang: »Wer wird Millionär?« als perfekte ›Quizmaschine‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Argumentationsstrang: »Wer wird Millionär?« als Ausdruck des Populären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Zweiter Fokus: Die Produzenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Argumentationsstrang: Kein gutes Haar an den Produzenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Dritter Fokus: Der Moderator Günther Jauch . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Argumentationsstrang: Das Phänomen Jauch . . . . . . . . . 4.4.2 Argumentationsstrang: Schatten auf der weißen Weste . 4.4.3 Argumentationsstrang: Jauch zwischen Unterhaltung und Information . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Vierter Fokus: Die KandidatInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.1 Argumentationsstrang: ›Ungeniertes Unwissen‹ – die wahren Motive der KandidatInnen . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Fünfter Fokus: Die ZuschauerInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.1 Argumentationsstrang: »Wer wird Millionär?« als perfekter Publikumsanreiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7 Zusammenfassung zum Diskursstrang »Wer wird Millionär?« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8 Cultural Studies oder Kulturindustrie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8.1 Parallelen zum Diskurs der Cultural Studies . . . . . . . . . . 4.8.2 Der Diskurs der Kulturindustrie bei »Wer wird Millionär?« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.9 Diskurse zur Situation des Rundfunks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.9.1 Der Diskurs um Senderkonkurrenzen als Krise der öffentlich-rechtlichen Fernsehunterhaltung . . . . . . . . . . . 4.9.2 Was ist legitime Fernsehunterhaltung? . . . . . . . . . . . . . . . 4.9.3 Der Diskurs um Authentizität in der Mediengesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337

Danksagung | 9

Danksagung

Mein Dank gilt an erster Stelle meinen Eltern, ohne deren vertrauensvolle Unterstützung das Projekt nicht durchführbar gewesen wäre. Besonders danken möchte ich außerdem Prof. Dr. Elisabeth Klaus für die vielfältigen Anregungen, die Fülle an konstruktiver Kritik und die hervorragende Betreuung, die weit über die berufliche Verpflichtung hinausging. Gleichermaßen danke ich dem Göttinger Kolloquium für die produktiven Anstöße. Ebenso möchte ich mich bei Margret Karsch, Christina Müller, Susanne Kassel, Dr. Eva Rieden, Gesa Hanssen, Antje Korte und Thale Fleming bedanken für die Hilfe bei der Korrektur und vor allem für die freundschaftliche Unterstützung. Danken möchte ich auch Jovan Evermann von RTL, der mir für den empirischen Teil das RTL-Archiv zur Verfügung gestellt hat. An letzter Stelle möchte ich mich bei der Niedersächsischen Graduiertenförderung bedanken, dessen Stipendium die Durchführung des Projektes maßgeblich erleichtert hat.

10 | Lothar Mikos

Vorwort Lothar Mikos

Die Fernsehkritik in Deutschland hat eine wechselvolle Geschichte, die sowohl mit den politischen und gesellschaftlichen Veränderungen seit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts als auch mit den Veränderungen der Fernsehlandschaft zusammenhängt. Die Kriterien der Kritik werden immer auch vom »Zeitgeist« beeinflusst. Sie sind nicht unabhängig von den gesellschaftlichen Diskursen zu sehen, die in bestimmten historischen Phasen dominieren. Waren Ende der 60er und in den 70er Jahren Aspekte der Ideologiekritik ein wesentliches Element auch der Fernsehkritik, in der es darum ging, das Fernsehen und seine Programme als Ausdruck der kapitalistischen, bürgerlichen Gesellschaft zu begreifen. Diese Position wurde bereits in den 80er Jahren aufgeweicht, als eine Generation Kritiker sich zu Wort meldete, die mit dem Fernsehen ausgewachsen war und ihr Vergnügen am und mit dem Medium nicht verhehlen wollte. Kritik bekam nun einen anderen Stellenwert. Sie war nicht mehr Gesellschaftskritik, sondern konzentrierte sich auf die Veränderungen in der Rundfunklandschaft. Die ersten Privatsender erfreuten die Zuschauer mit allerlei Unterhaltungsware, die Programme vermehrten sich nach und nach. Gülden die Kritikerzeiten, als es nur ein Fernsehprogramm gab, das dazu auch nur drei Stunden am Tag zu empfangen war. Heutige Kritiker können kaum noch einen Überblick über die mehr als 30 frei empfangbaren Programme haben, eine systematische Kritik wird immer schwieriger. Die einzelnen Kritiker spezialisieren sich zunehmend auf bestimmte Genres. Manche Programmbereiche bleiben so von der Kritik relativ unbeobachtet. Das wirft die Frage nach der Funktion der Kritik auf. Parallel zur Fernsehkritik hat sich ein Diskurs über die Fernsehkritik entwickelt, der sich mit ihren Aufgaben, Funktionen und Kriterien befasst. Will sie fern einer Gesellschaftskritik eine Funktion haben, muss sie den Diskurs über Qualität im Fernsehen führen. Das gilt sowohl im Hinblick auf die Macher als auch im Hinblick auf die Zuschauer. Während die Kritik die Macher in die Pflicht nimmt, ein qualitativ hochwertiges Programm zu machen, muss sie gleichzeitig die Zuschauer zu kompeten-

Vorwort | 11 ten Nutzern der Programme wenn nicht zu »erziehen«, so doch zumindest anzuregen. Die Praxis der Kritik zeigt jedoch, dass nur die wenigsten Kritiker ihre eigenen Kriterien für Qualität, für »gutes« Fernsehen und »gute« Unterhaltung offen legen. Eine Serviceleistung für die Zuschauer wird kaum erbracht, stattdessen richten sich die meisten Kritiken an Kollegen und Mitarbeiter der Sender. Damit dient sie vor allem der Aufrechterhaltung der Kritiker-Macher-Gemeinschaft, die sich in einem selbstgefälligen Diskurs über ihre eigene Bedeutsamkeit verständigt. Auch die Medien- und Kommunikationswissenschaft hat sich in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt. Die traditionelle Publizistik- und Kommunikationswissenschaft musste sich den Herausforderungen einer veränderten Medienlandschaft und einer sich schnell wandelnden Gesellschaft stellen. Erst seit Ende der 80er Jahre hat sich auch eine Medienwissenschaft etabliert, die wesentlich von der Literaturwissenschaft beeinflusst wurde. Zunehmend herrscht in beiden Disziplinen die Einsicht vor, dass man nur noch mit interdisziplinären Ansätzen der sich ausweitenden Medienlandschaft erklärend und interpretierend nahe kommen kann. Daher lag es nur nahe, dass seit den 90er Jahren auch verstärkt der Ansatz der so genannten Cultural Studies rezipiert wurde – der nicht mit der in Deutschland üblichen Kulturwissenschaft geisteswissenschaftlicher Prägung zu verwechseln ist. Inter- und Transdisziplinarität ist eines der wesentlichen Kennzeichen dieses Ansatzes. Zudem erhebt er den Anspruch politisch interventionistisch zu sein. Er möchte mit seinen Erkenntnissen zur Veränderung der Gesellschaft beitragen. Kultur wird als Feld sozialer, politischer und ökonomischer Auseinandersetzungen begriffen, auf dem sich die verschiedenen Machtgruppen der Gesellschaft und die »Leute« gegenüber stehen. Die Cultural Studies haben sich recht früh mit populären Medien beschäftigt und das Vergnügen und die Selbstermächtigung des Publikums in den Blick genommen, die zu den Machtstrukturen der Medien und der Gesellschaft in Beziehung gesetzt werden. Medienkritik wird im Sinne der Cultural Studies zur Diskurskritik, denn Medien wie das Fernsehen schaffen bedeutungsvolle Diskurse. Zwar haben sich Fernsehkritik und Medien- bzw. Kommunikationswissenschaften in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt, allerdings unabhängig voneinander. Das mag auch daran liegen, dass die Fernsehkritik zu sehr damit beschäftigt war, sich selbst behaupten zu müssen. Dieser Zwang zur Selbstbehauptung resultiert vor allem aus dem gesellschaftlichen Diskursmuster der Stigmatisierung des Fernsehens, das noch aus den Zeiten der »großen« Gesellschaftskritik stammt. Fernsehkritiker beschäftigen sich so nicht nur mit dem Fernsehen, sondern müssen sich zugleich gegen dessen Stigmatisierung wehren. Das kann zu unkritischer Haltung führen, die in einem Anpassungsmechanismus mündet: Die Kritiker schließen sich der allgemeinen Stigmatisierung des Fernsehens an und erheben sich damit über ihren Gegenstand. Aus dieser hohen Warte lässt sich dann auch trefflich auf das Publikum herabschauen, das sich vermeintlich unkritisch den Vergnügungen des Mas-

12 | Lothar Mikos

senmediums hingibt. Die Bedürfnisse der Zuschauer sind den Kritikern dann weitgehend egal. Aber es sind genau diese Bedürfnisse und die Umgangsweisen des Publikums, die in der wissenschaftlichen Betrachtung des Fernsehens vermehrt in den Blick geraten sind. Kerstin Goldbeck greift daher ein aktuelles Thema auf. Anhand zweier populärer Fernsehformate, Wer wird Millionär? und Gute Zeiten, schlechte Zeiten, untersucht sie, ob sich der Diskurs der Cultural Studies mit seiner Aufwertung des populären Vergnügens an Fernsehsendungen, in der deutschen Fernsehkritik der beiden überregionalen Tageszeitungen Frankfurter Allgemeine Zeitung und Süddeutsche Zeitung wiederfindet. Immerhin handelt es sich hier um zwei Zeitungen, die ganz wesentlich die intellektuelle Diskussion in der Bundesrepublik prägen. Sie betritt dabei nicht nur methodisches Neuland, wenn sie den Diskursbegriff von John Fiske operationalisiert und mit dem Verfahren des offenen Kodierens verbindet. Ihre Analyse der Kritiken zu den beiden Fernsehsendungen kann wesentliche Themen und Argumentationsstränge herausarbeiten. So zeigt sich sehr deutlich, wie resistent die Fernsehkritik gegen neuere Erkenntnisse und Diskussionen in der Medien- und Kommunikationswissenschaft ist und sich an alten Mustern diskursiver Strukturen, die seit den späten sechziger Jahren vorherrschen, orientieren. Zudem wird deutlich, dass sich der Diskurs der Cultural Studies über Populärkultur, der mit einer Politik der Anerkennung der kulturellen Praktiken des Publikums verbunden ist, nicht in der Fernsehkritik niedergeschlagen hat. Für die ist das Publikum mehrheitlich noch immer ein passives Massenpublikum, dessen Vergnügen an populären Fernsehtexten auf Unverständnis stößt. Die Ergebnisse von Kerstin Goldbecks Analyse lassen nur den Schluss zu, dass die Fernsehkritik von neueren Erkenntnissen und Diskursen der Medienwissenschaft seltsam unberührt geblieben ist. Zu Recht ist daher die Frage nach der Zukunft der Fernsehkritik zustellen, wenn sie sich nicht in einem selbstbezüglichen Diskurs verlieren will, sondern ihrer Aufgabe als Mittler zwischen Publikum, Profession und Wissenschaft gerecht werden soll. Kerstin Goldbeck liefert zahlreiche Anstöße für eine fruchtbare Diskussion über das (Selbst-)Verständnis der Fernsehkritik. Berlin/Potsdam, Juni 2004

Einleitung | 13

Einleitung

Unterhaltung zwischen intellektuellem Lob und Tadel In der Freizeit überaus beliebt und dennoch häufig abgewertet – der Umgang mit populärer Unterhaltung ist paradox: Insbesondere Intellektuelle haben von jeher ihre Schwierigkeiten mit dem, was massenhaft unterhält. An Umberto Ecos ›Apokalyptiker und Integrierte‹ (1994a) lässt sich dies ablesen. Beide Begriffe verdeutlichen, wie Intellektuelle in den sechziger Jahren auf Populäres reagierten: Entweder lehnten sie es ›apokalyptisch‹ ab, oder sie waren von Superman-Comics, den Peanuts oder James Bond distanzlos begeistert, was Ecos ›Integrierte‹ charakterisiert. Eco selbst verortete sich ›zwischen den Stühlen‹: als Fan populärer Kultur, der jedoch den genauen, analytischen Blick nicht scheue. Massenkultur wird besonders häufig gegenüber so genannten hochkulturellen Angeboten abgewertet. Auch Umberto Eco hielt damals an einer hierarchischen Aufwertung von ›Hochkultur‹ gegenüber populären Genres fest. Sein Beitrag, vor allem sein Werk »Opera aperta« (1962), markieren dennoch wichtige Schritte in der Theorie zur Unterhaltung, da sie das spezifische Vergnügen an populärkulturellen Angeboten betonen und traditionellen ästhetischen Kriterien, wie der Geschlossenheit des Kunstwerks, entgegenlaufen. In den sechziger Jahren, als sich Eco zur Populärkultur äußerte, deutete sich ein Wandel in der Bewertung von Unterhaltung an. Sehr plakativ wurde populärkulturelle Unterhaltung über die ›Pop-Art‹ in den Kreis der traditionellen Hochkultur gehoben – bei diesem Stichwort lächelt uns sofort Warhols Marilyn Monroe entgegen, und wir denken an die Comicmädchen von Roy Lichtenstein. Doch hoben sich damit die – konstruierten, aber nicht minder bedeutsamen – Grenzen zwischen Hoch- und Populärkultur auf? Und wandelte sich damit tatsächlich die Bewertung massenkultureller Vergnügen? Der Kulturwissenschaftler und Soziologe Kaspar Maase (1997) beschreibt anschaulich den Aufstieg der Massenkultur und ihren Siegeszug, der in den sechziger Jahren abgeschlossen worden sei. Eine gesellschaftliche Minderbewertung existiert seiner Ansicht nach nicht mehr.

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Es finden sich allerdings immer noch etliche Beispiele dafür, dass auch heute noch die Bewertung von Unterhaltung entlang der Pole Hochund Populärkultur sehr lebendig ist: So wurde in einem Seminar zum Thema Unterhaltung ein kurzer Fragebogen ausgegeben, dessen Ergebnisse ein deutliches Bild zeichnen.1 Die SeminarteilnehmerInnen hatten einerseits ihre liebsten Unterhaltungsgewohnheiten anzugeben und sollten andererseits benennen, was für sie gute und was schlechte Unterhaltung sei. Das Resultat hätte deutlicher nicht ausfallen können. Die Mehrzahl der Befragten gab an, dass sie sich mit Vorliebe von Soaps, Sitcoms oder Quizshows unterhalten ließen – sie sprachen sich also eindeutig für populäre Unterhaltung aus, was eine Aufwertung andeuten könnte. Die Antworten auf die Frage nach der Bewertung von Unterhaltungsangeboten widerlegen diesen Eindruck jedoch: Als gute Unterhaltung galten Theater, klassische Musik, sogar die Nachrichten. Schlechte Unterhaltung seien dagegen populärkulturelle Angebote, allen voran die Fernsehgenres Daily Talkshows, Soap Operas und auch Sitcoms. Wenngleich populäre Angebote im alltäglichen Handeln einen festen Platz haben, so verlaufen in den Köpfen die Grenzen zwischen Hoch- und Populärkultur noch immer glasklar, und die Abwertung von Populärem scheint nach wie vor zu bestehen. Maases Einschätzung erscheint hiernach nicht ganz zutreffend. Es stellt sich die Frage, womit die Skepsis gegenüber populärer Unterhaltung zu begründen ist. Ein markantes Zeugnis pessimistischer Haltung gegenüber Populärem ist das ›Kulturindustrie-Kapitel‹, das von Horkheimer und Adorno 1944 als Typoskript im Exil veröffentlicht wurde.2 Nicht umsonst lieferten die beiden Verfasser die Vorbilder für Ecos ›Apokalyptiker‹. Bereits der Titel »Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug« spiegelt die rundweg skeptische Einschätzung von massenkulturellem Amüsement wider. Schlager, Radiosoaps oder Donald-Duck-Trickfilme hämmerten dem Publikum eine totalitäre Ideologie ein. Den RezipientInnen würde über populäre Vergnügen die unkritische Akzeptanz von Herrschaft vermittelt. Hier zeigt sich nebenbei ein fragwürdiges Bild der Rezipierenden: passive KonsumentInnen, die unkritisch ganz im Sinne des Stimulus-Response-Modells einseitig Inhalte aufnehmen (vgl. Pürer 1990: 1 | Der Fragebogen wurde im Rahmen eines Seminars verteilt, das im SS 2000 an der Universität Göttingen veranstaltet wurde. Thema des Seminars waren die »Medien und der Wandel des Unterhaltungsbegriffs«. Die Befragung sollte einen Einblick in die Unterhaltungspraxis der teilnehmenden Studierenden geben, sie sollte nicht repräsentativ sein. Insgesamt wurden achtzehn Fragebögen ausgegeben. 2 | Zunächst wurden Horkheimers und Adornos Ausführungen unter dem Titel ›Philosophische Fragmente‹ publiziert, ab 1947 erschienen sie in Amsterdam beim Exilverlag Querido unter dem Obertitel ›Dialektik der Aufklärung‹. Die Entstehung des Kapitels im Rahmen des Dialektik-Projektes wird bei Wiggershaus anschaulich dargestellt (vgl. Wiggershaus 1997: 202 f.; hier: 363).

Einleitung | 15 94/95). Die Kulturindustrie stützt und verkörpert für Adorno und Horkheimer damit die totalitären Machthaber des Dritten Reichs. Tatsächlich stellte Unterhaltung für Goebbels ein Propagandamittel dar, um das deutsche Publikum ›zum Durchhalten‹ zu bewegen. Auch der gezielte Einsatz des ›Volksempfängers‹ macht Adornos und Horkheimers skeptische Haltung in ihrem zeitlichen Kontext nachvollziehbar. Dazu kam die schockartige Begegnung der exilierten europäischen Intellektuellen mit der expandierenden amerikanischen Massenkultur ihrer Zeit (vgl. Hertel 1993). Die abschätzige Einstellung des bürgerlichen, gebildeten Intellektuellen und die Vorstellung, populäre Unterhaltung manipuliere die Rezipientinnen und Rezipienten, ist jedoch auch heute noch aktuell. Um nur ein Beispiel zu nennen: Helmut Schmidt erklärte in einem Interview mit dem Tagesspiegel, »das Gefährlichste an den Medien« sei die Verbreitung von »Trivialkultur«.3 Welches sind die Gefahren, die triviale Vergnügen bereithalten? Gefährlich können Inhalte nur sein, wenn sie auf ein Publikum treffen, das ihnen nichts entgegenzusetzen hat, das sich ›einlullen‹ lässt von Banalität und sich selbst dem Trivialen angleicht. Hier scheint ein ähnliches Publikumsbild vorzuliegen wie bei Horkheimer und Adorno. Wie sieht es in der Wissenschaft aus, wie wird dort Unterhaltung bewertet? Gilt hier Maases These von der Aufwertung massenkultureller Vergnügen? Da Unterhaltung als Gegenstand nicht auf ein Fach beschränkt ist, ergibt sich von selbst eine interdisziplinäre Perspektive. Trotz der Beliebtheit, die so genannte ›Trivialliteratur‹ bei LeserInnen genießt, hat es lange gedauert, bis populärkulturelle Lektüre ins literaturwissenschaftliche Blickfeld rückte. Zuvor wurde »minderwertige Literatur« ausgespart, worunter einerseits Trivialliteratur wie Groschenhefte, aber auch Roman-Bestseller fielen (vgl. Foltin 1976: 243). Wie auch in der bildenden Kunst waren es die sechziger Jahre, die (Ab-)Wertungen ins Wanken brachten – zumindest bis zu einem gewissen Grad. Es entstanden zunächst hauptsächlich Arbeiten zu Groschenheften wie Liebesromanen oder auch Wildwestgeschichten. Erste postmoderne Stimmen, die forderten, die Distanz zwischen Unterhaltungs- und ›ernster‹ Literatur zu überwinden, wurden jedoch von der deutschen Literaturwissenschaft weitgehend überhört und erst in den achtziger Jahren wieder aufgenommen, als man sich vermehrt ›anspruchsvollen Bestsellern‹ zuwandte, wie

3 | Außerdem heißt es: »Medien hätten die ungeschriebene Aufgabe, Schweinereien aufzudecken, aber sie haben nicht die Aufgabe für Schweinereien Reklame zu machen« (zit. nach Leyendecker 2001). Dort wird auch Ulrich Deppendorf mit folgenden Worten zitiert: »Im Overkill und in der Boulevardisierung stecken Gefahren«.

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beispielsweise dem »Parfum« von Patrick Süskind.4 Eine Aufwertung von massenkultureller Literatur deutet sich hier zumindest an. Auch in der Medien- und Kommunikationswissenschaft hat die Auseinandersetzung mit Populärkultur in den letzten zwei Jahrzehnten stetig zugenommen. Obwohl die Beschäftigung mit Populärem längst nicht den gleichen Stellenwert im Fach hat wie die Arbeit auf klassischen kommunikationswissenschaftlichen Feldern, kann eine Öffnung gegenüber der Unterhaltung beobachtet werden. Dies wurde nicht zuletzt an der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Publizistik und Kommunikationswissenschaft (DGPuK) ersichtlich, die sich Anfang der neunziger Jahre mit Unterhaltung befasste (vgl. Bosshart/Hoffmann-Riem 1993). Ebenfalls steht die DGPuK-Tagung 2001 mit dem Titel »Fakten und Fiktionen« für eine stärkere Offenheit gegenüber Populärem, wo sich immerhin zwei Beiträge mit der Real-Life-Soap »Big Brother« auseinander setzten.5 Hier deutet sich an, dass Populärkultur im Fach zunehmend ernst genommen wird. Maßgeblichen Anteil an der wachsenden Akzeptanz von Unterhaltung in der Medien- und Kommunikationswissenschaft hatten die VertreterInnen der Cultural Studies. Sie eröffneten einen neuen Blick auf populäre Medieninhalte, auf Nutzungsverhalten und damit auch auf die Rezipierenden von Unterhaltung. Dabei legen die Cultural Studies spezifische Kriterien an Populäres an: In ihren Arbeiten werden die Eigenheiten populärer Texte herausgestellt und gezeigt, dass sie nach anderen Regeln als nach ästhetischen Vorstellungen organisiert sind.6 Jene ›populären‹ Regeln erforderten einen speziellen Blick, damit man dem Reiz des Populären gerecht werde (vgl. Fiske 2000a). Finden sich hier die ›Integrierten‹ wieder, von denen Umberto Eco gesprochen hat? John Fiske begründet seine Beschäftigung mit Populärkultur damit, dass er selbst zur Entspannung das fesselnde Taschenbuch der hohen Literatur vorgezogen habe: »So bin ich allmählich darauf gekommen, dass die Kultur, in der die meisten Menschen leben, die Kultur, die sie beeinflusst, die für sie am wichtigsten ist, mit der sie die meiste Zeit verbringen, nicht die so genannte Hochkultur ist, sondern Populärkultur, Massenkultur, Alltagskul4 | Ein zentraler Beitrag, der erst in der Auseinandersetzung mit der Postmoderne wieder aufgegriffen wurde, stammte von Leslie Fiedler (1994; ursprünglich 1968). Vgl. auch Zima 1997. 5 | Es fänden sich sicherlich noch weitere Tagungen zu populären Unterhaltungsangeboten, wie auch die Marler Tage der Medienkultur, am 25./26.10. 2001, die sich mit Quizsendungen beschäftigte und fragte »Quiz-Boom – Bildungsfernsehen für Millionen?«. 6 | Den Arbeiten der Cultural Studies liegt ein weiter Textbegriff zugrunde, der auch in dieser Arbeit verwendet werden soll. Danach versteht man unter Texten »nicht nur Geschriebenes und Gedrucktes, sondern generell jedes kommunikative Produkt« (Hepp 1999: 109). Fernsehserien oder Quizshows bezeichnen in diesem Sinne Fernsehtexte oder auch ›populäre Texte‹ (vgl. Fiske 1999b).

Einleitung | 17 tur – wie auch immer man sie nennen will. […] ich kann mich nicht mit etwas beschäftigen, das mich nicht interessiert, das mir keinen Spaß macht« (Interview mit Fiske in Müller 1993a: 5). In seiner Aussage schwingt eine Tendenz mit, die über die Position des Integrierten bei Eco hinausgeht. Ganz offensichtlich wird hier die Bedeutung von Kultur erweitert: Weg von einem elitären Kulturverständnis, das sich an ästhetischen Qualitätskriterien orientiert, hin zum alltäglichen Umgang mit kulturellen Angeboten, hin zum Begriff der Alltagskultur. Dieser Paradigmenwechsel, teilweise als cultural turn bezeichnet, war auch in anderen Wissenschaften zu beobachten, beispielsweise in der Geschichtswissenschaft, die sich nach und nach den Alltagskulturen zugewandt hat. Zu nennen wäre hier auch die Oral-History-Bewegung (vgl. Iggers 1993) sowie die Lebensstildiskussion in der Soziologie (vgl. Hartmann 1999). Die Aufwertung von populärkulturellen Vergnügen, die den Fokuswechsel in der Wissenschaft begleitete, ging also mit einer Erweiterung des Kulturbegriffes einher. Die Aufwertung von Populärkultur bedeutet gleichzeitig die Aufwertung ihres Publikums. In den Cultural Studies geht man von kontextabhängigen aktiven Publika aus, was dem Konzept einer ›homogenen Masse‹ ohne individuelles Bewusstsein entgegenläuft (vgl. z.B. Fiske 1999a: 17). Man stellt die Fähigkeit von RezipientInnen heraus, Massenkultur auch gegen eine ideologisch geprägte Lesart zu nutzen und ›widerständiges Vergnügen‹ daran zu haben (siehe bspw. Fiske 1989a: 49 ff.). Dies steht in direktem Gegensatz zu den Überlegungen von Horkheimer und Adorno. Auch allgemein wird die Hinwendung zur Populärkultur von den Cultural Studies selbst als bewusster Bruch mit früheren wissenschaftlichen Ansätzen verstanden: »Ein Ausgangspunkt für Analytiker von Populärkultur ist folglich, das zu erforschen, was traditionelle Kritiker in populären Texten ignorieren oder anschwärzen, und sich auf solche Texte zu konzentrieren, die entweder der gesamten kritischen Aufmerksamkeit entgangen sind oder nur zur Kenntnis genommen wurden, um diffamiert zu werden« (Fiske 1999b: 69). An dieser Stelle möchte ich zu der Frage zurückkehren, ob die Aufwertung von Massenkultur tatsächlich abgeschlossen ist, wie von Maase vertreten. Die Beispiele aus der Wissenschaft lassen auf eine wachsende Akzeptanz populärer Unterhaltung schließen. Insbesondere der Blick der Cultural Studies, der sich explizit auf Alltagskultur und auf populäre Eigenheiten richtet, weist auf eine Aufwertung von Populärem hin. Allerdings ist fraglich, inwieweit sich von der Wissenschaft auf die Bewertung von Populärem im Allgemeinen schließen lässt. So zeigte die Einstellung der Seminar-TeilnehmerInnen, die anfangs zitiert wurden, dass die Aufwertung von Populärkultur in einer breiten Öffentlichkeit wohl noch nicht in dem Maße vollzogen ist. Natürlich reicht die kurze Seminar-Umfrage nicht als Beleg aus. Inwieweit sich eine Neubewertung von Populärem

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außerhalb der Wissenschaft abzeichnet, ist daher unklar. Ob oder auf welche Weise Maases Beurteilung relativiert werden muss, bleibt also offen. Wissenschaftliche Ansätze, wie die neuen Kriterien der Cultural Studies müssen erst vermittelt werden, um den Weg in eine breitere Öffentlichkeit zu finden. Wichtige Vermittlungsinstanzen auf diesem Weg sind die Medien. Um Einblick in die aktuelle Bewertung von Populärem zu erlangen und zu prüfen, ob sich die Maßstäbe der Cultural Studies bereits weiterverbreitet haben, kann ein Blick in die Fernsehkritik aufschlussreich sein. Zum einen befasst sie sich direkt mit der Bewertung populärer Texte, zum anderen handelt es sich um einen Bereich, der häufig Brücken zwischen Wissenschaft und breiter Öffentlichkeit schlägt, was vor allem in der traditionellen bürgerlichen Kritik der Feuilletons der Fall ist. In diesem Part der Medienkritik zeigte sich darüber hinaus bisher die Abwertung von Populärem besonders deutlich. Wenn Maases Aufwertung von Massenkultur an einer Stelle sichtbar werden sollte, so hier. Fiske beschreibt die Bewertung von Populärem in der Kritik folgendermaßen: »Populäre Filme, Romane und TV-Erzählungen wie Soap Operas werden häufig von intellektuell anspruchsvollen (highbrow) Kritikern falsch beurteilt, die von drei Hauptkomplexen von Gründen ausgehen: Der erste Komplex von Gründen bezieht sich auf ihre Konventionalität, ihre Regelmäßigkeit in ihren Entwicklungsmustern und die Bedingungen ihrer Massenproduktion. Ein anderer Komplex gruppiert sich um Kriterien wie Überflüssigkeit, Sensationsgier, Offensichtlichkeit und Vorhersagbarkeit, während sich ein dritter mit ihrer leichten Zugänglichkeit, mit ihrem Mangel an Herausforderung beschäftigt. Gerade diese Qualitäten, die in der ästhetischen oder kritischen Beurteilung negative sind, sind es aber, die es im Reich des Populären ermöglichen, dass ein Text angenommen und in der Kultur der Leute verwendet werden kann« (Fiske 2000a: 61). Hervorgegangen ist die Fernsehkritik aus der Radiokritik, wobei die Wurzeln beider letztlich in der traditionellen Kunstkritik liegen (vgl. Hickethier 1994). Die Fernsehkritik selbst hat damit zu kämpfen, dass ihr populärer Gegenstand häufig minderbewertet wird. Denn diese Haltung färbt auch auf die FernsehkritikerInnen ab, so dass sie gegenüber ihren Kollegen und Kolleginnen der Literatur- oder Kunstkritik nicht den gleichen intellektuellen Ruf genießen. In den letzten Jahren konnte allerdings eine Aufwertung der Fernsehkritik oder auch allgemein der Medienkritik beobachtet werden, was sich anhand der Etablierung von festen Medienseiten in großen Tageszeitungen wie der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zeigte. Autoren wie Stefan Niggemeier oder Edo Reents und Autorinnen wie Cathrin Kahlweit liefern regelmäßig Beiträge zu neuen Genres, Tendenzen in der Programmgestaltung und rundfunkpolitischen Fragen. Ziel dieser Arbeit ist es also, Einblick in die aktuelle Bewertung von Populärem zu erlangen. Die Forschungsleitende Fragestellung lautet daher: Zeigen sich in dem Diskurs der Fernsehkritik, wie er sich in der Süd-

Einleitung | 19 deutschen Zeitung und der FAZ manifestiert, die Kriterien der Cultural Studies für die Betrachtung populärer Texte, die eine Aufwertung von Populärkultur belegen würden?

Forschungsdesign Diese Frage soll im Rahmen einer qualitativen Untersuchung bearbeitet werden. Die Arbeit gliedert sich in einen theoretischen Abschnitt und einen Empirieteil. Der Theorieteil verdeutlicht den spezifischen Blick der Cultural Studies auf Populäres. Insbesondere stehen die Arbeiten John Fiskes und sein Verständnis von Populärkultur im Zentrum des Theorieteils. Fiske hat als Vertreter der Cultural Studies ihre Populärkulturforschung nachhaltig beeinflusst. Er vertritt in den Cultural Studies nicht die ethnographische Forschung, sondern steht für den textuellen Blick auf Unterhaltungsangebote, wobei er sich vor allem mit dem Fernsehen befasst hat. Bekannt wurde er mit »Television Culture« (1999a; orig. 1987)7, in der er das Fernsehen als wichtigen Knotenpunkt für diskursive Bedeutungen in der Gesellschaft charakterisiert. Es stellt für ihn einen ›Provokateur‹ von Bedeutungen dar (Fiske 1999a: 1), in dessen Texten gesellschaftliche Diskurse aufgegriffen werden und der den RezipientInnen gleichzeitig neue Impulse für ihre Diskurse gibt. Gegenstand von Fiskes Überlegungen sind unter anderem TV-Serien und Quizshows. An ihnen macht er verschiedene Merkmale von Populärem wie beispielsweise den hohen Grad an Intertextualität deutlich. Fiske setzt sich bereits seit mehreren Jahrzehnten mit populären Texten und ihren Eigenheiten auseinander.8 Dabei versucht er die Unterhaltungsangebote und ihre Funktion im Rahmen von gesellschaftlichen Machtverhältnissen zu bestimmen.9 Insbesondere das Anfang der Neunziger erschienene Buch »Power Plays Power Works« (1993a) liefert hierzu einen Beitrag. In seinem letztveröffentlichten Buch »Media Matters« (1996; orig. 1994) verändert Fiske seine Perspektive auf Populäres. Dort wendet er sich ver7 | Im Folgenden wird nur auf einzelne Werke Fiskes hingewiesen, die seinen Fokus besonders deutlich machen. 8 | Vgl. bspw. Fiske 1989a und 1989b. Schon 1978 hatte er sich in »Reading Television« (gemeinsam mit John Hartley) mit Lesarten beschäftigt. 1987 analysierte er mit Bob Hodge und Graeme Turner in »Myths of Oz« (1987) australische Alltagskultur. 9 | Zentral bei Fiske sind widerständige Bedeutungen und das widerständige Vergnügen, das er bei den Publika ausmacht. Fiske siedelt allerdings die Möglichkeiten, sich gegen dominante Bedeutungen und herrschende gesellschaftliche Gruppierungen zur Wehr zu setzen, auf der mikropolitischen Ebene an – Populärkultur eignet sich also nicht zum ›Revolutionsführer‹. Dadurch offenbart Fiske jedoch die alltäglichen Strategien, sich in den alltäglichen Machträumen zu behaupten.

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schiedenen Medienereignissen in den USA zu, um an ihnen den Fluss diskursiver Bedeutungen zu demonstrieren. Fiske führt seinen LeserInnen vor, wie facettenreich Populärkultur ist und welche bedeutsame Rolle Fernsehtexten in der Aushandlung gesellschaftlicher Werte und Bedeutungen zukommt. Der Abschnitt zu Fiskes Diskursbegriff und seine Diskursanalysen leitet den Übergang vom Theorie- zum Empirieteil ein, da die empirische Auswertung der Fernsehkritiken an Fiskes diskursanalytische Überlegungen anknüpft. Wenn man allgemein der Bewertung von Populärem in der Fernsehkritik nachgehen möchte, stößt man zunächst auf eine Grauzone, da im Einzelnen unklar ist, welche Kriterien die Fernsehkritik bei der Bewertung von populären Angeboten anlegt. In der Forschung existieren nur wenige Untersuchungen zur Urteilsbildung der Medienkritik.10 Eine der neueren Arbeiten stammt von Klippel. Die Autorin wertete 137 Fernsehkritiken zu 109 amerikanischen Serien aus, die von 1960 bis 1990 in den Fachpublikationen Funk-Korrespondenz und epd/Kirche und Rundfunk erschienen (vgl. Klippel 1992: 225). Sie kommt dabei zu dem Schluss, dass die Serien und ihr Publikum vorwiegend abgewertet würden und dass die Urteile der Fernsehkritik nach bestimmten Mustern verliefen (ebd.: 233). Leider stellt sie zu wenig auf die Methode ihrer Untersuchung ab. Von 1983 – noch bevor das Privatfernsehen in Deutschland auf Sendung ging – stammt die Arbeit von Waldmann (1983). Er führte eine Umfrage bei FernsehkritikerInnen durch, die für Tageszeitungen schrieben.11 Waldmanns Untersuchung ergab, dass die Kriterien je nach Programmsparte stark differierten. Bei »Show- und Quizsendungen« rangierte die »Unterhaltsamkeit« an erster Stelle, gefolgt von der »Originalität« und der »Ausstattung«. Dagegen standen nach den Angaben der Befragten bei »Anspruchsvollen Fernsehspielen und Spielfilmen« die »Leistung der Schauspieler« im Vordergrund sowie die »Kameraführung und Bildregie« oder auch die »Ansprüche des Autors« (vgl. Waldmann 1983: 83). Bei »Kriminalfilmen und Abenteuerserien« achteten danach immerhin 15 Prozent auf die »Sendezeit« (ebd.). Die Untersuchung gab einen Einblick darüber, welche Momente FernsehkritikerInnen bei bestimmten Sendungen besonders hervorheben. Wie die Bewertungen von Populärem tatsächlich verlaufen und welche Argumentationslinien dabei wesentlich 10 | Vor allem in den sechziger und siebziger Jahren entstanden Arbeiten zur Fernsehkritik, die inhaltsanalytisch geprägt waren. Vgl. beispielsweise Krieg 1959; Schulz 1968; Schulz 1973; Waldmann 1979. In den Untersuchungen von Krieg und Schulz wurden Fernsehkritiken inhaltsanalytisch untersucht und im Wesentlichen erfasst, ob die Beurteilung positiv oder negativ ausfiel. Ziel der frühen Arbeiten war es, überhaupt zu bestimmen, was Fernsehkritik ist, wo sie erscheint und wer sie schreibt. 11 | Insgesamt befragte er 117 KritikerInnen. Dabei mussten die Befragten unter anderem aus einer Liste mit 22 möglichen Kriterien diejenigen auswählen, die sie ihrer Ansicht nach an unterschiedliche Programmformen anlegten.

Einleitung | 21 sein können, lassen sich daraus nicht ableiten. Hier ist Klärungsbedarf gegeben, wozu die diskursanalytische Analyse dieser Arbeit beitragen will. Für die empirische Untersuchung dieser Arbeit wurden Kritiken der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ausgewählt, die über renommierte Feuilletons verfügen und daher für die Bewertung von populärer Kultur eine wichtige Rolle spielen. Beide Zeitungen sind traditionell einer bürgerlichen Leserschaft verpflichtet – wie oben erwähnt, liegt der Untersuchung damit ein spezifischer Ausschnitt der Fernsehkritik zugrunde. Die Wertungen der Kritik wurden anhand von zwei Beispielen untersucht, wobei zwei besonders beliebte Fernsehtexte ausgewählt wurden: Zum einen stand die erfolgreichste deutsche Seifenoper »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« im Mittelpunkt und zum anderen die Quizsendung »Wer wird Millionär?«, die mit ihren zweistelligen Millionenquoten Ende der neunziger Jahre einen Quizboom im deutschen Fernsehen auslöste. Beide Formate werden von RTL gesendet. Methodisch wird in der empirischen Analyse Fiskes Diskursbegriff übernommen. Fiskes Überlegungen werden mit dem Verfahren des offenen Kodierens (vgl. Flick 1999) verbunden, bei dem Textstellen kodiert und Kategorien gebildet werden. Mit Hilfe der Kategorienbildung werden Argumentationen aus den Kritiken herausgearbeitet. Auf diese Weise ist es möglich, die Bewertung beider Sendungen detailliert darzustellen. Die Kritik zu »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« sowie die Beiträge zu »Wer wird Millionär?« werden jeweils als Diskursstrang verstanden, die Teile des übergeordneten Diskurses der Fernsehkritik um populäre Fernsehtexte darstellen. Dementsprechend wird im Empirieteil zunächst die Bewertung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« als Diskursstrang präsentiert, woran sich die Kritik an »Wer wird Millionär?« in gleicher Weise anschließt. Bei der Analyse werden zudem in die Bewertung einfließende Diskurse berücksichtigt und im Anschluss an die Präsentation der Diskursstränge jeweils erläutert. Ziel dieser Arbeit ist es also zum einen, die Kriterien, die im Diskurs der Cultural Studies an Populäres angelegt werden, noch einmal herauszuarbeiten und im Anschluss zu prüfen, inwieweit im Diskurs der bürgerlich verhafteten Fernsehkritik abweichend oder ähnlich argumentiert wird. Zeigt sich darin die vollständige Aufwertung von Populärem, wie Maase vorgibt? Zum anderen wird aus Fiskes diskursanalytischem Ansatz ein Analyseverfahren abgeleitet und fortentwickelt. Die Kombination von Diskursanalyse und offenem Kodieren in dieser Arbeit stellt einen weiteren Beitrag zu dem Bemühen dar, hermeneutische Verfahren sozialwissenschaftlich zu fundieren. Die Untersuchung schließt sich damit an eine Entwicklung an, die seit einigen Jahren in der Wissenschaft zu beobachten ist (vgl. z.B. Jäger 1999).

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Teil 1 Eine positive Perspektive: Cultural Studies und Populärkultur

Kurze theoretische Skizzierung der Cultural Studies | 25

1. Kurze theoretische Skizzierung der Cultural Studies

1.1 Schwer zu fassen: das Projekt der Cultural Studies »Denn Cultural Studies zu betreiben, bedeutet, sie ständig neu als Antwort auf die sich verändernden geographischen sowie historischen Bedingungen und politischen Erfordernisse zu bestimmen« (Grossberg 1999a: 17). »Offenheit und theoretische Vielseitigkeit«, Selbstreflexion und kritische Haltung nennt Johnson in seinem Papier »Was sind eigentlich Cultural Studies?« als zentrale Merkmale (Johnson 1999: 140). Johnsons Papier steht für den programmatischen Charakter der Cultural Studies. Sie bilden keine ›Schule‹, auch wenn der Ausgangsort, das Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) der Universität Birmingham, dafür zu sprechen scheint. Hall wehrt sich dagegen, indem er betont: »Theoretical work in the Centre for Contemporary Cultural Studies was more appropriately called theoretical noise. It was accompanied by a great deal of bad feeling, argument, unstable anxieties, and angry silences« (Hall 1992: 278). Bereits die Anfänge der Cultural Studies waren somit geprägt von theoretischen Auseinandersetzungen und Uneinheitlichkeit. Daher bezieht sich der Begriff Cultural Studies auch nicht auf eine feste Theorie. Vielmehr stellen die Cultural Studies nach Hall eine »diskursive Formation« (Hall 1992: 278) dar, bei Williams ist von einem »Projekt« mit mehreren »Formationen« die Rede (zit. nach Göttlich/Winter 1999: 25) und Grossberg nennt die Cultural Studies einen »diskursiven Raum« oder eine »intellektuelle Praxis« (vgl. Grossberg 1999b: 54/55). Die Offenheit der Cultural Studies scheint ihr markantestes Merkmal zu sein, geeint werden sie offenbar durch ihre Forschungspraxis bzw. durch ihre Forschungspraktiken. Grossberg kommt daher auch zu dem Schluss: »Eine Definition der Cultural Studies ist eine heikle Angelegenheit« (vgl. Grossberg 1999b: 43). Hall hebt den typischen Charakter des Projektes in folgendem Zitat noch einmal hervor:

26 | Teil 1: Cultural Studies und Populärkultur

»Cultural studies has multiple discourses; it has a number of different histories. It is a whole set of formations; it has its own different conjunctures and moments in the past. It included many different kind of works. I want to insist on that! It always was a set of unstable formations« (Hall 1992: 278). Der Diskurs der Cultural Studies verkörpert danach eine Kollektion unterschiedlicher Ansätze (vgl. Nelson et al. 1992: 2), die aus verschiedenen Richtungen ergänzt werden kann, was nicht nur theoretisch, sondern auch räumlich zu verstehen ist: Neben dem Ausgangsland England finden sich beispielsweise Arbeiten der Cultural Studies in Australien, den USA oder den Niederlanden.1 Trotz der Schwierigkeit, die Cultural Studies zu definieren, ist eine Eingrenzung wichtig. Dieser Ansicht sind auch Nelson et al. (1992: 3), wobei sie allerdings davon ausgehen, dass keine abschließende Definition möglich sei. Lutter und Reisenleitner fassen die Cultural Studies in folgender Weise: »Cultural Studies kann als intellektuelle Praxis benannt werden, die beschreibt, wie das alltägliche Leben (everyday life) durch und mit Kultur definiert wird, und die Strategien für eine Bewältigung seiner Veränderungen anbietet« (Lutter/Reisenleitner 1998: 9). Die AutorInnen stellen diese Kurzcharakterisierung ihren Ausführungen zu den Cultural Studies voran und geben damit einen brauchbaren, groben Rahmen vor. Er umfasst die offene Formation der Cultural Studies, ihren Gegenstand, die alltägliche Kultur als Praxis, sowie die politische Zielsetzung der Cultural Studies. Genauer werden die Cultural Studies bei Hepp gefasst. Er spricht allerdings nicht von einer Definition, sondern nennt mit Bezug auf Grossberg fünf Schlagwörter, um die Grundpositionen der Cultural Studies zu markieren (siehe Hepp 1999: 16): Radikale Kontextualität (1), das besondere Theorieverständnis (2), ihr »interventionistischer Charakter« (3), Interdisziplinarität (4) sowie Selbstreflexion (5). Vor allem die Kontextualität ist für die Cultural Studies bezeichnend. Grossberg versteht unter ›radikaler Kontextualität‹ sowohl die eigene Kontextualisierung der Cultural Studies, die je nach Einbettung unterschiedliche Ausprägungen erfahren, als auch die Kontexteinbettung der zu analysierenden Gegenstände. »Um es für die Cultural Studies auf den Punkt zu bringen: der Kontext ist alles, und alles ist kontextuell« (Grossberg 1999b: 60). Die übrigen Charakteristika sind sehr eng miteinander verflochten und zeugen nicht von Trennschärfe, wie das folgende Zitat verdeutlicht: »Theorie ist immer die Antwort auf spezifische Fragen in spezifischen Kontexten und ihr Wert misst sich daran, inwieweit sie geeignet ist, das Verständnis von bestimmten Kontexten zu verbessern« (Hepp 1999: 17). Das Schlagwort ›Theorie1 | In der Literatur spricht man von einem »inter- oder transdisziplinären Projekt« (Hepp, 1999: 15) oder auch von einer »Forschungsstrategie« (vgl. Lutter/ Reisenleitner 1998: 9).

Kurze theoretische Skizzierung der Cultural Studies | 27 verständnis‹ (2) überschneidet sich hier mit Grossbergs radikaler Kontextualisierung (1) und greift daneben dem drittgenannten Merkmal des ›interventionistischen Charakters‹ (3) der Cultural Studies vor. Theorie, Grundbegriffe, wissenschaftliche Praxis und Selbstverständnis sind in den Cultural Studies miteinander verschränkt – somit wird Hepps vage Trennung verständlich. Allerdings müssen die Begriffe noch genauer akzentuiert werden. Hinsichtlich des Schlagworts ›Theorieverständnis‹ sind vor allem zwei Aspekte stärker zu betonen, wie Grossberg es macht: Theorien werden in den Cultural Studies als Bestand theoretischer Möglichkeiten aufgefasst, die an die jeweilige Frage oder den Gegenstand anzupassen sind. Theorie und Kontext »konstituieren« sich dabei gegenseitig (siehe Grossberg 1999b: 69/70). Zudem ist der Theoriebegriff politisch zu verstehen: »Sie (die Cultural Studies; K.G.) sind eine Art, die Position des Gelehrten, Lehrers und Intellektuellen zu gestalten, eine Weise, Theorie zu politisieren und Politik zu theoretisieren« (ebd.: 56). Der »radikale Kontextualismus« unterscheide nach Grossberg die Cultural Studies dabei von anderen derartigen Projekten (ebd.). Die politische Ausrichtung zeigt sich darin, dass die Cultural Studies über ihre Theorie Möglichkeiten aufzeigen, wie die Alltagswirklichkeit zu verändern sei. Sie wollen mit ihrer Analyse die alltäglichen lebensweltlichen Kontexte der Menschen besser verstehbar machen. ›Politisch‹ im Sinne der Cultural Studies meint demnach, Wissen bereit zu stellen, das die Veränderbarkeit der Verhältnisse erkennbar macht (vgl. ebd.: 72; vorher: 67). Politik bezieht sich in den Cultural Studies daher zunächst auf mikropolitische Prozesse, die den Alltag durchziehen und makropolitische Vorgänge überhaupt ermöglichen. So wird hinsichtlich des Gegenstandes ›Medien‹ gefragt, wie sie im Alltag platziert werden und welche Rolle sie bei der Konstruktion der alltäglichen Bedeutungen spielen. Die Schlagwörter ›Selbstreflexion‹2 und ›Interdisziplinarität‹ weisen noch einmal auf den Projektcharakter der Cultural Studies hin: Danach sollen die Cultural Studies die eigene Kontexteinbettung immer wieder reflektieren, Ziele und Konzepte kontinuierlich diskutieren und nach Grossberg immer wieder mit neuen Disziplinen zusammengebracht werden (vgl. z.B. ebd.: 54). Gerade Grossbergs Beschreibung der Cultural Studies verdeutlicht, dass es sich bei den genannten Merkmalen vorrangig um programmatische Ziele handelt – ob die Studien der einzelnen Cultural Studies-VertreterInnen denen gerecht werden, steht auf einem anderen Blatt. Wie lassen sich die aufgeführten Merkmale bündeln? Wie kann eine heuristische, verkürzte Definition aussehen? Vorerst soll folgende Beschreibung als Definition zugrundegelegt werden:

2 | Die Selbstreflexion der Cultural Studies ist allgemein essentiell für Wissenschaft, insbesondere wenn der Gegenstand im Wandel begriffen ist. So weist Klaus auf die Selbstreflexion feministischer Wissenschaft hin (Klaus 1998: 47).

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Bei den Cultural Studies handelt es sich um ein intellektuelles Projekt, das sich alltäglichen kulturellen Praktiken widmet und sie in ihrer kontextuellen Einbettung mit besonderem Blick auf die kontextspezifischen Machtverhältnisse analysiert. Cultural Studies arbeiten interdisziplinär und wollen politisch Möglichkeiten bereitstellen, die eigenen gesellschaftlichen Kontexte zu verändern. Das Programm der Cultural Studies ist aktiv durch ihre VertreterInnen und ihr politisches Ziel, Machtverhältnisse zu analysieren, gestaltet worden. Zentral bei der Anlage der Cultural Studies war und ist jedoch nicht zuletzt ihr Gegenstand: Kultur.3 Wesentliche Charakterzüge, wie die Interdisziplinarität und die eigene Kontextualisierung werden letztlich durch die übergreifende, sich ständig wandelnde Wesensart von Kultur maßgeblich bedingt. Auch die charakteristische Methodenvielfalt könnte man bereits aus dem Gegenstand ableiten.

1.2 ›Kultur‹ in den Cultural Studies Kultur ist ein weiter Begriff und wird auf vielfältige Weise gebraucht.4 Was also meint ›Kultur‹ bei den Cultural Studies, welche Auffassungen von Kultur legen sie ihren Studien zugrunde? Die Anfänge der Cultural Studies am Contemporary Centre for Cultural Studies (CCCS) in Birmingham waren durch das Konzept des ›kulturellen Materialismus‹ von Williams geprägt. Göttlich sieht hier zwei Phasen gegeben: in den fünfziger und sechziger Jahren sei der ›left-culturalism‹ in den Cultural Studies dominant gewesen, für den Hoggart, Thompson und Williams maßgeblich waren.5 In den siebziger und achtziger Jahren setzte sich schließlich 3 | Damit soll nicht der politische Anspruch der Cultural Studies ignoriert werden, wie Göttlich befürchtet. Er betont dazu ausdrücklich, dass der Gegenstand der Cultural Studies nicht »Kultur per se« sei, sondern die »am Aufbau einer kulturellen und sozialen Ordnung spezifischer Gruppen beteiligten Rahmenbedingungen, die sich in ihren Repräsentationen ausdrücken« (Göttlich 2001: 16/17). 4 | Die unterschiedlichen Kulturbegriffe, die in verschiedenen Zeiten und Gesellschaften sowie Theorien herausgearbeitet wurden, sollen an dieser Stelle nicht ausführlich dargelegt werden. Kramer führt verkürzt unterschiedliche Bedeutungen von ›Kultur‹ auf, die sich im Laufe der Zeit veränderten (Kramer 1997: 79 ff.). Dabei diskutiert er fünf Definitionen: 1. im frühen 16. Jhdt. Kultur als ›Ackerkultur‹, 2. die Erweiterung zu ›geistiger Kultur‹ sowie damit früh verbunden eine Vorstellung von Kultur als europäische Kultiviertheit reicher Schichten oder Gruppen. 3. ›Kultur‹ im 18. Jhdt. als Synonym für soziale Entwicklungsprozesse, 4. Kultur in einer anthropologischen Definition als Lebensweisen und 5. Kultur als soziale Handlung. 5 | Hoggart gründete das CCCS und war von 1964-68 Direktor. Er verfasste »The Uses of Literacy« (1958), einer der ›Frühtexte‹ der Cultural Studies. Zu den Frühtexten zählt auch »The Making of the English Working Class«, das Thompson

Kurze theoretische Skizzierung der Cultural Studies | 29 der ›kulturelle Materialismus‹ nach Williams durch (vgl. Göttlich 1999b: 106). Williams entwickelte in seinen Werken »Culture and Society. 17801950« (1958)6 und expliziter noch in »The Long Revolution (1961)« einen anthropologischen Kulturbegriff.7 Er betont darin die »sozialen Praxen« von Kultur, wovon »in allzu glatter Manier die etwas vereinfachte Definition ›Kultur als gesamte Lebensweise‹ abgeleitet wurde« (Hall 1999a: 117). Von Anfang an lag damit ein Schwerpunkt der Cultural Studies auf der Alltagserfahrung (vgl. Johnson 1999: 140). Williams’ Kulturbegriff, in dem er die Gemeinschaft einer Kultur (so Göttlich 1999a: 54) und deren ›common culture‹ herausstellt,8 war eine Reaktion auf das elitäre Konzept der ›minority culture‹, das F.R. Leavis und sein Kreis um die Zeitschrift »Scrutiny« propagierte. Leavis’ Anliegen war es, »›moralische Werte‹ in der literarischen Tradition« (Hepp 1999: 79) gegen eine ›Massenzivilisation‹ zu bewahren. Göttlich bezeichnet seine Haltung als »kulturkonservativ« (Göttlich 1999b: 109). Der Hauptunterschied zwischen Williams’ und Leavis’ Position bestehe darin, dass Williams die Prozesshaftigkeit von Kultur herausstellte. Damit wurden vermeintlich feststehenden kulturellen Werten sowie einem Kanon an qualitativ hochwertigen Kunstwerken eine Absage erteilt (vgl. Göttlich 1999a: 54). Darüber hinaus geht Williams von einer ›structure of feeling‹ aus, die je nach dem Gruppen, Klassen oder der Gesellschaft gemeinsam sei. Auf diese Weise wertete er Alltagserfahrungen gegenüber vermitteltem kulturellem Bewusstsein auf9 und kritisierte kulturkonservative Bildungskonzepte in der Erwachsenenbildung, wo Williams tätig war. Sein Kulturbegriff ermöglichte es, dass die Analyse von Kultur zur Analyse von Gesellschaft generierte. Lindner stellt in seinem Buch »Die Stunde der Cultural Studies« 1963 verfasste, und Williams’ »Culture and Society« (1958) sowie »The Long Revolution« (1961). Die drei Autoren werden teilweise auch als die Gründerväter der Cultural Studies bezeichnet. Vgl. zu Parallelen zwischen Thompson und Williams: Hall 1999a. 6 | In »Culture and Society« beschäftigt sich Williams im letzten Kapitel mit Populärkultur. Er wehrt sich dort gegen die Vorstellung, dass Massenmedien einen Kulturverfall nach sich zögen, und richtet sich gegen die Abwertung von Populärkultur (siehe Lutter/Reisenleitner 1998: 26/27). 7 | In »The Long Revolution« geht Williams neben dem anthropologischen Kulturbegriff von Kultur als Summe »der Beschreibungen« aus, die eine Gesellschaft bzw. eine Gemeinschaft vereine (vgl. Hall 1999a: 116). 8 | Williams habe sein Konzept der ›Gemeinschaft einer Kultur‹ nicht weiter differenziert, z.B. in Schichten (Göttlich 1999a: 55). Williams und die ›New Left‹ sähen Kulturzusammenhang im »Kontext von gesellschaftlicher Entwicklung und Veränderung, im Umkreis des praktischen Alltagslebens« und nicht in Elitekultur (ebd.). 9 | Fiske sieht in der Vorstellung einer gemeinsamen »structure of feeling« die Gefahr der Vereinheitlichung (Fiske 1996: 9).

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Williams’ anthropologisches Kulturkonzept in den Kontext seiner Generation, den ›Scholarship-boys‹ der fünfziger Jahre (vgl. Lindner 2000: 1548).10 Williams und auch Hoggart, beides Stipendiaten, befanden sich seiner Ansicht nach zwischen zwei Kulturen. Ihre Herkunft aus dem Arbeitermilieu eröffnete für sie einen anderen Blickwinkel in der akademischen Kultur als ihn Leavis hatte. Kultur sollte ihrer Ansicht nach mit den Erfahrungen außerhalb des akademischen Umfeldes in Beziehung gesetzt werden. Sie wandten sich gegen die Kluft, die sie in der ›Workers Educational Association‹ (WEA) zwischen dem Alltag der SchülerInnen und der vermittelten Kultur sahen. Das Konzept von Kultur ›als gesamter Lebensweise‹ konnte beide Sphären überbrücken. Später ergänzte Williams in »Culture« (1981) sein Kulturverständnis, indem er Kultur als Bedeutungssystem auswies. Sprache als Teil des Bedeutungssystems sei danach für Williams »ein konstitutives Element der menschlichen, sprich materiellen (sozialen) Produktion und Reproduktion und tritt damit gleichrangig neben die ökonomischen Faktoren gesellschaftlicher Reproduktion« (Göttlich 1999b: 111).11 Übergreifend hat sich in den Cultural Studies die Auffassung von Kultur als ›konfliktärem Feld‹ herauskristallisiert (vgl. dazu Hepp 1999: 20). Die Auffassung von ›Kultur als diskursivem Kampf um Bedeutungen‹ resultiert aus Halls Beschäftigung mit semiotischen und strukturalistischen Ansätzen von Barthes oder Lévi-Strauss, die Hall in den Cultural Studies und am CCCS förderte – er war ab 1968 Leiter des Zentrums. Diese neue Orientierung hängt auch mit dem ›linguistic turn‹ zusammen, den Hall als bedeutsame Wende für die Theorieentwicklung der Cultural Studies beschreibt (Hall 1992: 283). Hier ist auch das erweiterte Textverständnis der Cultural Studies anzusiedeln, wonach jegliches Zeichensystem auch als Text zu begreifen ist.12 Auf dem Terrain der Kultur 10 | Auch Grossberg sieht in den Anfängen der Cultural Studies die Erfahrungen einer spezifischen Generation. Er betont jedoch, dass er diese Generationserfahrung nicht als Begründung für die Cultural Studies ansieht, sondern ihn vor allem die Umsetzung dieser Erfahrungen interessiere (vgl. Grossberg 1999b: 51). 11 | Es zeigt sich hierin auch die Überwindung des Marxschen Basis-Überbau Konzeptes, wenn kulturelle Praktiken als wesentliche Bestandteile der Gesellschaft angesehen werden und nicht als ausschließlich von der Ökonomie determiniert. Zeichen sind demnach Bestandteil dieser »gesellschaftlich vermittelten psychischen und materiellen Welt« (Göttlich 1999b: 111). Allerdings können Zeichen erst über eine aktive Bedeutungsproduktion zu dem gesellschaftlichen Prozess einer (Re-) Produktion beitragen. Wesentlich für Kultur als Bedeutungssystem ist also, dass die Materialität sprachlicher Zeichen durch die Sprache als zentrale soziale Praxis begriffen werden muss (ebd.). Diese Annahme eröffnete für die Forschung die Frage danach, wie unterschiedliche Formen derartiger sozialer sprachlicher Praxis zustande kommen (ebd.: 108/109). 12 | Kramer sieht hier einen weiteren Kulturbegriff gegeben. Er spricht von ›Kultur als Text‹ (vgl. Kramer 1997: 111 ff.). Treffender erscheint es jedoch, nicht

Kurze theoretische Skizzierung der Cultural Studies | 31 prallen demnach diskursiv gesellschaftliche Bedeutungen aufeinander und werden auf diese Weise immer wieder neu verhandelt. Kultur ist somit von Machtkämpfen durchwirkt. Sie ist immer in gesellschaftlichen Machtstrukturen verortet, bildet diese ab und dient dazu, Machtverhältnisse zu reproduzieren. Johnson weist in diesem Zusammenhang auf den marxistischen Einfluss auf die Cultural Studies hin und hebt darüber hinaus den engen Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Verhältnissen und kulturellen Prozessen hervor sowie die Interaktion von Kultur und Kategorien wie ›Gender‹ und ›Race‹. Kultur wird hier also als »Bereich gesellschaftlicher Kämpfe und Differenzen« verstanden (Johnson 1999: 141 f.). ›Macht‹ ist nicht auf Herrschaftsformen begrenzt, sondern wird »als ungleiches Verhältnis von Kräften im Interesse bestimmter Fraktionen der Bevölkerung« aufgefasst (vgl. Grossberg 1999b: 48). Insgesamt umfasst Kultur damit diskursive Praktiken und kulturelle Produkte (Winter 1999a: 49). Die Alltagsorientierung sowie die Vorstellung von Kultur als Bedeutungssystem und als konfliktärem Feld sind auch für Fiskes Kulturbegriff bedeutsam. Er fasst Kultur als Zirkulation von Bedeutungen und Vergnügen in der Gesellschaft (Fiske 1999a: 1). Populäre Texte gäben dabei der diskursiven Zirkulation von Bedeutungen wichtige Impulse. Mit der Annahme, dass ihnen eine zentrale Rolle in der gesellschaftlichen, diskursiven Aushandlung von Bedeutungen zukommt, ergeben sich automatisch neue Bewertungsmaßstäbe. Gerade das Fernsehen, das häufig als populäres Massenmedium gegenüber hochkulturellen Vergnügen abgewertet wird, verkörpert aus dieser Sicht einen wichtigen Lieferanten von Bedeutungen für den diskursiven Aushandlungsprozess in einer Gesellschaft. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass für die Untersuchung von Populärkultur vor allem zwei Aspekte der unterschiedlichen Kulturbegriffe zentral sind: Erstens richten sich die Cultural Studies gegen ein traditionelles ästhetisches Kulturverständnis, das einen hochkulturellen Kanon zum Maßstab für kulturelle Ausprägungen nimmt. Statt dessen stehen alltägliche kulturelle Praxen im Vordergrund. Zweitens wird die Bedeutung von Kultur in den Vordergrund gerückt, was sowohl die Rolle von Populärkultur im Alltag der RezipientInnen umfasst, als auch die gesellschaftliche Bedeutung von Kultur als ›konfliktärem Feld‹. Aufgrund dieser Positionen ist eine konstruktive Analyse von Populärkultur möglich geworden, die ihren Gegenstand aus dem Dualismus Hoch- und Populärkultur löst.

von einem Extra-Kulturbegriff zu sprechen, sondern von einem erweiterten Textbegriff auszugehen, der auf die Arbeiten Derridas und Kristevas zurückgeht (Kramer 1997: 111). Fernsehsendungen gelten nach einem solchen Textbegriff als Fernsehtexte.

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1.3 Kulturanalysen in den Cultural Studies Wie ist diese ›Kultur‹ – insbesondere populäre kulturelle Ausprägungen – angemessen zu analysieren? Williams schloss aus seinem frühen anthropologischen Verständnis von ›Kultur als gesamter Lebensweise‹ mit Blick auf ›soziale Praxen‹, dass Kulturanalyse die Organisationsmuster jener Praxen offen zu legen habe. Vor allem sollten die Beziehungen zwischen einzelnen Mustern Gegenstand der Analyse sein. Auf diese Weise wollte er darstellen, wie aus diesen Beziehungen eine einheitliche ›Gefühlsstruktur‹ für eine spezifische Epoche entstand (vgl. dazu Hall 1999a: 117 f.). Die Medienanalyse der Cultural Studies wurde von Williams’ Positionen nachhaltig beeinflusst, wie Hepp ausführt: »Kulturanalyse kann also nicht das Typisieren von Monokausalitäten sein […], sondern ist die Beschäftigung mit vielschichtigen Prozessen der Konstitution und Repräsentation von Bedeutung innerhalb einzelner Kontexte, Prozesse, bei denen verschiedenste gegenläufige Momente von Relevanz sind« (Hepp 1999: 49). Der Blick soll also auf Zusammenhänge gerichtet sein und Prozesse beleuchten, statt einseitig nach Kausalitäten zu suchen. Ein solches Verständnis von Kulturanalyse läuft zwangsläufig darauf hinaus, mehrere kulturanalytische Wege zu akzeptieren und einen »Königsweg der Kulturanalyse« (Hepp 1999: 49) für die Cultural Studies auszuschließen. Methodisch-theoretisch sind die Arbeiten demnach vielfältig angelegt, eine einheitliche Methode ist nicht gegeben. Grossberg, Treichler und Nelson bezeichnen das Verfahren der Cultural Studies daher auch als »bricolage« (Nelson et al. 1992: 2): Die VertreterInnen der Cultural Studies wählten ihre Vorgehensweise danach aus, wie gut die aktuell anstehenden Fragen mit ihr zu beantworten seien: »Its choice of practice, that is, pragmatic, strategic, and self-reflective« (Nelson et. al. 1992: 2). Die Cultural Studies orientieren sich damit an den Grundsätzen der qualitativen Forschung, das methodische Vorgehen dem Gegenstand anzupassen (vgl. Flick 1999: 148). So findet man Textanalysen, semiotische Studien neben ethnographischen Methoden oder psychoanalytisch beeinflussten Arbeiten. Allerdings hat auch die Flexibilität der Cultural Studies ihre Grenzen, was sich an wiederkehrenden Analysemethoden zeigt. Zudem sind die Kulturanalysen der Cultural Studies in spezifischen wissenschaftlichen Traditionen verankert. Hall geht in seinem maßgeblichem Beitrag »Cultural Studies. Zwei Paradigmen« auf die unterschiedlichen theoretischen Wurzeln ein (Hall 1999a). Mit zwei Paradigmen meint er zum einen eine kulturalistische Tradition, die oben in Bezug auf den Kulturbegriff bereits kurz erläuterte wurde, und zum anderen die strukturalistischen Wurzeln der Cultural Studies. Beide theoretischen Linien bestimmten die Kulturtheorie, die unter Hall am CCCS in Birmingham ausgearbeitet wurde. Dabei hielt er den kulturalistischen und den strukturalistischen Theoriestrang für gleichwertig (Göttlich 1999b: 106). Die Verbindung beider

Kurze theoretische Skizzierung der Cultural Studies | 33 Paradigmen durch ihn lieferte den Cultural Studies einen spezifischen Forschungsblick und regte die Analyse von Bedeutungsproduktion seitens Publika und Medien an (ebd.: 107). Johnson sieht durch die unterschiedlichen Wurzeln eine methodisch-theoretische Trennung der Cultural Studies nach Studien gegeben und begründet dies in den unterschiedlichen Kulturauffassungen der Theoriestränge: ›Kultur als gesamte Lebensweise‹ sei die Grundlage für ethnographische Analysen, während strukturalistisch orientierte Arbeiten die subjektiven Zeichensysteme sowie die diskursive Beschaffenheit von Subjekten und Situationen in den Vordergrund stellen und dabei eine formalistische Darstellung bemühten (vgl. Johnson 1999: 153). Auch Hepp betont, dass der frühere anthropologische Kulturbegriff nach Williams stärker ethnographischen Studien zugrunde liege, während Kultur als Bedeutungssystem eher Ausgangspunkt für die Text- und Diskursanalysen der Cultural Studies sei (Hepp 1999: 42). Wie oben gezeigt, reicht die kulturalistische Ausrichtung der Cultural Studies in die fünfziger, sechziger Jahre zurück. Strukturalistische Einflüsse wurden indes erst in den siebziger Jahren aufgenommen (so Göttlich 1999b: 105/106). Wesentlich für die strukturalistische Neuorientierung seien neben der Althusser-Rezeption (vgl. auch Kap. 2.3.1) vor allem die frühen VertreterInnen semiotischer Theorien und dabei insbesondere Lévi-Strauss gewesen. Letzterer habe den Cultural Studies den Saussurschen Zeichenbegriff zugänglich gemacht (Hall 1999a: 125). Saussures Aufteilung des Zeichens in bezeichnete und bezeichnende Seite war zentral für die Analyse von Bedeutungen und Bedeutungsmöglichkeiten in den Cultural Studies. Göttlich meint, dass die Gemeinsamkeit von kulturalistischem und strukturalistischem Traditionsstrang vor allem in der Integration »sprachtheoretischer Elemente« liege (Göttlich 1999b 106). Hall streicht darüber hinaus die Abkehr vom Marxschen Basis-Überbau-Schema als Verbindung zwischen strukturalistischen und kulturalistischen Denkweisen heraus (Hall 1999a: 125/126). In den siebziger Jahren wurden die Unterschiede zwischen beiden Orientierungen stark betont, indem die kulturalistische Tradition die »Erfahrungskategorie und kulturelle Praxen« (Göttlich 1999b: 106) in den Vordergrund rückte, während der strukturalistische Strang Strukturen fokussierte, die diese Erfahrungen beeinflussten. Hier ist die ideologiekritische Perspektive der Cultural Studies zu verorten (ebd.). Im Kulturalismus gelten Erfahrungen als »Terrain des ›Gelebten‹«. Demgegenüber werden sie im Strukturalismus ausschließlich als Produkt der gesellschaftlichen Strukturen oder Kategorien betrachtet, die nicht bewusst wahrgenommen würden (Hall 1999a: 128).13 Göttlich meint 13 | Diese unbewussten Strukturen nach Lévi-Strauss wurden letztlich von Althusser auf sein Ideologiekonzept angewandt: Ideologie werde über Strukturen transportiert und unbewusst adaptiert (siehe Althusser 1968: 183/184; vgl. dazu auch Hall 1999a: 128). Bei Althusser heißt es: »Sie (die Ideologie, K.G.) ist von Grund auf unbewusst […]. Die Ideologie ist zwar ein System von Vorstellungen; aber

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dazu, dass von der solchermaßen entwickelten Kulturtheorie »die zentralen Impulse in der Populärkulturforschung seit Mitte der siebziger Jahre ausgingen« (Göttlich 1999b: 106). Entscheidend war der ›kulturalistische‹ Blick auf den Alltag sowie der strukturalistische Einfluss, der die Konstruiertheit von gesellschaftlichen und kulturellen Wirklichkeitsentwürfen betonte (vgl. ebd.).14 Hall hielt die Gegensätzlichkeiten beider Theoriestränge in den Cultural Studies für zentral und warnte davor, einen der beiden überzubetonen. Dabei sprach er speziell die strukturalistische Linie der Cultural Studies an. Erst beide Paradigmen ergäben das fruchtbare wissenschaftliche Klima, in dem immer neue Fragestellungen entwickelt werden könnten (vgl. Göttlich 1999a: 60). Insbesondere John Fiske wurde später in der ›Revisionismusdebatte‹ (vgl. den Abschnitt dazu in dieser Arbeit) vorgeworfen, sich zu stark auf textuelle Merkmale populärer Kultur zu fokussieren und damit das strukturalistische Moment überzubetonen (siehe z.B. Mc Guigan 1992). Dies führe dazu, dass ökonomische, soziokulturelle Aspekte sowie technologische Momente (dazu Göttlich 1999b) auf der Produktionsseite und die Frage, »wie das Publikum produziert werde« aus dem Blick gerieten (ebd.: 108). Welche unterschiedlichen Blickrichtungen die Kulturanalyse der Cultural Studies erfordert und welche Prinzipien damit einhergehen, wird besonders gut von Johnson in seinem Papier »Was sind eigentlich Cultural Studies?« veranschaulicht (vgl. Johnson 1999). Mit Hilfe eines Schaubilds zeigt er den kulturellen Kreislauf eines Produktes ausgehend von den Produktionsbedingungen hin zur Produktion, über die Textform, den Interpretationen, den kulturellen Lebensweisen und wieder zurück zum Ausgangspunkt.15 Alle Stationen, die der Text durchläuft, sind voneinander abhängig und bedingen einander, dennoch sei der Blick von einer Station auf eine andere Stufe im Kreislauf oft sehr eingeschränkt. Auch seien Prozesse hinter dem Produkt häufig nicht erkennbar. Zentral sind für Johnson dabei die kulturellen Bedeutungen, mit denen ein Text belegt werden kann. Zudem betont er, dass niemals nur eine Station des kulturellen Produktes relevant sei, sondern immer alle Stationen des diese Vorstellungen haben in den meisten Fällen nichts mit ›Bewusstsein‹ zu tun: sie sind meistens Bilder, bisweilen Begriffe, aber der Mehrzahl der Menschen drängen sie sich vor allem als Strukturen auf, ohne durch ihr ›Bewusstsein‹ hindurchzugehen« (Althusser 1968: 183). 14 | Es ließen sich sicherlich noch etliche Unterschiede zwischen strukturalistischem und kulturalistischem Paradigma in den Cultural Studies finden. Auch Hall macht noch auf weitere Differenzen aufmerksam: Hall 1999a: 127 f. Da es an dieser Stelle jedoch nur darum geht, wesentliche Aspekte beider Theoriestränge zu veranschaulichen, wird auf eine ausführlichere Gegenüberstellung verzichtet. 15 | Grossberg kritisiert die Vorstellung eines kulturellen Kreislaufs mit der Begründung, dass die Trennung von Produktion und Konsumtion fraglich sei (vgl. Grossberg 2000a).

Kurze theoretische Skizzierung der Cultural Studies | 35 Produktionsprozesses betrachtet werden sollten. Das heißt, um einen Text ausreichend zu untersuchen, ist es notwendig, zu analysieren, in welchem Kontext und auf welche Weise er hergestellt wurde, welche textuellen Elemente er enthält, welche Lesarten gegeben sind und wie der Text im Alltag gebraucht wird.16 In diesem Zusammenhang ist erneut Grossbergs ›radikaler Kontextualismus‹ anzuführen, »der sich in dem Verständnis manifestiert, dass kein kulturelles Produkt und keine kulturelle Praxis außerhalb des kontextuellen Zusammenhangs fassbar ist, in dem diese stehen« (Hepp 1999: 17). Daher müssten Machtverhältnisse und Interessen, die den Text beeinflussten, mit in die Analyse aufgenommen werden. Gleichzeitig ist auch Angs Verständnis zum Begriff des ›radikalen Kontextualismus‹ zentral, mit dem sie sich auf die Aneignungsforschung bezieht. Ihr Schwerpunkt liegt dabei auf dem situativen Kontext, in dem Medien, Rezipient/in und Mediennutzung immer zu sehen seien (Ang 1999: 91, 92).17 Allerdings kommen die Studien der Cultural Studies der umfassenden Betrachtung von kulturellen Texten, wie sie Johnson veranschaulicht hat, nicht in gleichem Maße nach, sondern ihre Arbeiten lassen sich in Produktions-, Produktanalysen sowie Rezeptionsstudien einteilen (vgl. Hepp 1999: 109). Für die Populärkulturforschung ist die Kontextualisierung bedeutsam, da dieses Konzept einer angestammten ästhetischen Beurteilung von Kulturangeboten entgegenläuft, bei der vor allem textimmanente Aspekte das Qualitätsurteil bestimmten. Ein Kunstwerk bestach durch seine vollkommene Anlage gegenüber den Mängeln populärkultureller Texte (vgl. Horkheimer/Adorno 1998: 128 ff.). Der Kontext, in dem beide standen, spielte keine Rolle, wodurch wesentliche kulturelle Bedeutungen von populären oder ›hochkulturellen‹ Texten keine Beachtung fanden. Welche Aspekte von Kultur in den Cultural Studies jeweils betrachtet 16 | Um dies zu verdeutlichen, führt Johnson den »MiniMetro« an, ein englisches Automodell, mit dem die englische Autoindustrie auf eine Flaute reagierte. Der Wagen wurde zu einem ureigenen, englischen Produkt stilisiert, das an das englische Nationalbewusstsein der KäuferInnen appellierte. Dem Automodell kam hiermit öffentliche Bedeutung zu. Natürlich erlangte der MiniMetro auch private Bedeutung für seine EigentümerInnen. Daneben stand das Modell auch für einen langen Produktionsprozess mit spezifischen Bedingungen und etlichen Beteiligten. Mit der öffentlichen Präsentation des Autos wurde es zu einer Projektionsfläche, auf der verschiedene Bedeutungen miteinander kollidierten. Das Auto wurde eingebunden in mehrere Bedeutungsdimensionen, die allesamt für die Analyse des Falls »MiniMetro« wichtig seien. 17 | Ang weist auch auf die Probleme hin, die eine radikale Kontextualisierung für die Mediennutzungsforschung mit sich bringen. Der Tatsache, dass niemals alle Kontexte erfasst werden könnten, müsste sich die Wissenschaft bewusst sein. Doch auch wenn keine holistische Erfassung von Mediennutzung möglich sei, seien begrenzte Aussagen machbar, immer unter der Voraussetzung von wissenschaftlicher Selbstreflexion (vgl. Ang 1999: 99).

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wurden, veränderte sich im Laufe der Zeit. So führten beispielsweise feministische Theorien sowie Arbeiten zu Rassismus dazu, dass in den siebziger Jahren vor allem die Rolle von Kultur in der Identitäts-, Subjektsund Geschlechterkonstruktion untersucht wurde (vgl. Lutter/Reisenleitner 1998: 36). Göttlich und Winter fassen die Gegenstände, die seit den fünfziger Jahren in den Cultural Studies Eingang gefunden haben, wie folgt: »jugendliche Subkulturen, die Arbeiterklasse, Geschlechterverhältnisse, das Erziehungs- und Schulsystem, kulturelle Identitäten und ethnische Gruppen, die staatliche Macht und insbesondere die Aneignungsund Nutzungsweisen populärer Medien« (Göttlich/Winter 1999: 26). Diese Arbeit schließt sich an den letztgenannten Aspekt an, es soll mit dem Blick auf Fernsehtexte und ihren Kritiken vor allem die Medienanalyse der Cultural Studies im Vordergrund stehen. Medien wie das Fernsehen oder Tageszeitungen haben auf dem konfliktären Feld Kultur einen wesentlichen Anteil an dem Kampf um Bedeutungen. Sie stehen an kulturell exponierter Stelle, um kulturelle Texte zu transportieren, und beeinflussen die Bedeutungskonstruktion.18 Abschließend kristallisieren sich drei Aspekte als Essenz zu der Kulturanalyse in den Cultural Studies heraus: 1. Die Cultural Studies sind nicht auf eine Methode festgelegt, vielmehr werden je nach Gegenstand und Fragestellung die geeignetsten Methoden ausgewählt oder kombiniert. 2. Die Kombination von strukturalistischen und kulturalistischen Traditionen der Cultural Studies hat einen spezifischen Blick auf populäre Texte geformt, woraus sich einerseits ethnographische Methoden ergeben, die die Alltagsnutzung und Kontexteinbettung thematisieren, und andererseits strukturalistische, semiotische bzw. diskursanalytische Verfahren resultieren, die möglichen Bedeutungen von populären Texten und ihren textuellen Eigenheiten nachgehen. 3. Für die Betrachtung von Populärem war entscheidend, dass die Cultural Studies unter anderem mit der Kontextualisierung bewusst mit ästhetischen Traditionen brachen, wodurch eine neue Bewertung von populären Texten ermöglicht wurde.

1.4 Cultural Studies und Populärkultur Die Abwertung von Populärem hat eine lange Tradition. Mit der Minderbewertung populärer Kultur ging immer auch die Abwertung ihrer RezipientInnen einher, die häufig als passives Massenpublikum abqualifiziert wurden. Gleichzeitig wurde darüber der intellektuelle Führungsanspruch einer ›kultivierten‹ Minderheit gegenüber ›der Masse‹ legitimiert, der auch Leavis’ Auseinandersetzung mit Populärkultur bestimmte. Lutter und Reisenleitner bemerken, dass die Beschäftigung der Cultural Studies mit populärer Kultur eigentlich ihm zu verdanken sei (vgl. Lutter/Reisen18 | Vgl. dazu beispielsweise zur Rolle des Fernsehens in der Bedeutungskonstruktion Hepp 1998; Fiske 1999a.

Kurze theoretische Skizzierung der Cultural Studies | 37 leitner 1998: 22). Leavis’ negative Annäherung an Populäres lieferte den Anreiz, nach einem konstruktiven Umgang mit Populärkultur zu suchen, wozu – wie oben dargelegt – insbesondere Williams beitrug. Die Auseinandersetzung mit populären, kulturellen Praxen macht eine Besonderheit der Cultural Studies aus. Hierbei sind es die Aneignungs- und Nutzungsweisen populärer Medien, die von jeher einen wichtigen Gegenstand der Cultural Studies darstellen (Göttlich/Winter 1999: 26). Populäre Angebote wie Quizshows und Seifenopern fallen unter den Oberbegriff der Unterhaltung, eine nicht ganz eindeutige Bezeichnung. 1.4.1 Exkurs: Was ist Unterhaltung? »Viele glauben, sie werden unterhalten, wenn sie vor der Glotze sitzen, ein gutes Bier trinken und die Zeit totschlagen. Für mich ist Unterhaltung das genaue Gegenteil: Todesangst ist ein gutes Beispiel. […] Und Krankheit! Es gibt nichts Dramatischeres als ein Befund. Wie bei Luis Buñuel im Film: Was sagen sie, Herr Doktor? Na, ja, sie haben Lungenkrebs. Was? Ja, ja, nur noch drei Monate zu leben, Zigarette? Ja, danke! Dann noch rauchen, das ist Unterhaltung« (Christoph Schlingensief im Interview mit dem Jugendmagazin j e t z t der S ü d d e u t s c h e n Z e i t u n g). Schlingensiefs Vorstellung von Unterhaltung mögen nicht alle teilen. Das Zitat zeigt, dass es viele Antworten auf die Frage »was ist Unterhaltung?« gibt. Bei dieser Untersuchung steht mit populären Fernsehtexten und ihren Kritiken ein besonders erfolgreicher Teil der TV-Unterhaltung im Mittelpunkt. Paradoxerweise lässt sich ›Unterhaltung‹ schwer definieren, obwohl jede und jeder weiß, was ihn oder sie unterhält (siehe Dyer 1992: 1 ff.).19 Im Zusammenhang mit der ›radikalen Kontextualisierung‹ hat sich Ang zur ›Unterhaltung‹ geäußert: »Letztlich kann der Terminus ›Unterhaltung‹ eine ganze Reihe unterschiedlicher und wechselnder idiosynkratischer Bedeutungen umfassen, abhängig von den kulturell spezifischen Arten, in der soziale Wesen ›Unterhaltung‹ in jeglicher Situation oder Umgebung erleben. Was für einige Unterhaltung ist (z.B. Horrorfilme), mag für andere ganz und gar nicht unterhaltend sein. Und was wir unter bestimmten Umständen unterhaltsam finden (z.B. eine Folge einer Sitcom nach einem harten Arbeitstag), mag uns zu anderer Zeit nicht unterhalten« (Ang 1999: 91). Ang verdeutlicht hier, wie kontextabhängig die Bedeutung von ›Unterhaltung‹ auf Seiten der RezipientInnen ist. Inhaltlich kann Unterhaltung offenbar nicht fixiert werden, da von den Stimmungen sowie von den individuellen Bedürfnissen und Vorlieben der RezipientInnen abhängt, was als unterhaltsam empfunden wird. Zudem ist Unterhaltung auch von 19 | Vgl. daneben zu unterschiedlichen Begriffen von Unterhaltung z.B. Bosshart 1998.

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den historischen Kontexten abhängig. Texte werden häufig aufgrund ihrer veralteten Bilder oder Moden unfreiwillig zu Unterhaltung oder gar zu ›Kult‹. So war beispielsweise die deutsche Fernsehserie »Raumpatrouille«, die 1966 in der ARD zum ersten Mal gesendet wurde (vgl. Hilger 2000), zwar sowieso als Unterhaltung konzipiert. Die ›phantastischen Abenteuer des Raumschiffes Orion‹ waren jedoch als ›ernster‹ Beitrag zum ScienceFiction-Genre gedacht und sollten nicht das Gelächter erzielen, das heute der Anblick von Bügeleisen und Bleistiftanspitzern als Steuerungsinstrumente des Raumschiffs provoziert. Unterhaltung ist noch nicht lange Gegenstand der deutschsprachigen Medien- und Kommunikationswissenschaft. Ursula Dehm (1984) und Louis Bosshart (1979) waren mit ihren Arbeiten die ersten, die sich eingehender mit dem Thema beschäftigt haben. Insbesondere Bossharts Arbeit macht deutlich, wie stark Unterhaltung einem Rechtfertigungsdruck unterliegt: Unterhaltung wird dort legitimiert, indem ihr unerlässliche Funktionen im menschlichen Leben zugeschrieben werden – wer fragt im Gegensatz dazu nach der Legitimation von Nachrichtensendungen, die allgemein nicht als Unterhaltung gelten? Bosshart vertritt eine anthropologische Unterhaltungsvorstellung und sieht in der Unterhaltung genau wie im Märchen die Grundstrukturen menschlicher Lebensläufe (Bosshart 1979: 21). Im Anschluss führt Bosshart weitere Ansätze auf, die die Bedeutung von Unterhaltung im menschlichen Leben erläutern: Psychologisch könne Unterhaltung Lebenshilfe bieten (ebd.: 78), überdies ziele Unterhaltung auf menschliche Grundbedürfnisse wie »Liebe, Erleben, Sicherheit und Erholung […]« ab (ebd.: 97) und übe eine starke Entspannungsfunktion aus (ebd.: 94). Einem sozial-psychologischen Verständnis gemäß räumt Bosshart der Unterhaltung geradezu therapeutische Wirkung ein (vgl. ebd.: 116), da sie das seelische Gleichgewicht einer Person stütze. Im soziologischen Sinne wirke Unterhaltung gruppenfördernd oder auch »sozial-therapeutisch« (ebd.: 158).20 Auch wenn man Bossharts anthropologische Herangehensweise wie Dehm als zu oberflächlich kritisiert (Dehm 1984: 36 ff.) und einer therapeutischen Funktion von Unterhaltung zumindest noch genauer nachgehen müsste, zeigt seine Arbeit, wie stark Unterhaltung mit den Bedürfnissen der Menschen korrespondiert. Bosshart weist so auf mögliche Funktionen von Unterhaltung hin – jenseits von dem weit verbreiteten Eskapismuskonzept, das in vielen Arbeiten dominiert, die auf dem ›uses and gratifications‹-Ansatz21 20 | Bosshart führt noch weiter aus: Eine ästhetisch-kulturelle Herangehensweise verstünde Medienkultur im Gegensatz zur ›intellektuellen‹ Kunst als ›emotionale‹ Unterhaltung (ebd.: 77). Außerdem sieht er noch einen politischen Begriff von Unterhaltung, nach dem sie politische Systeme stütze, sowie die ökonomische Seite von Unterhaltung, die beispielsweise im Fernsehen als Marktfaktor erhebliche Bedeutung besitze (ebd.: 189). 21 | Nach dem ›uses and gratifications‹-Ansatz nutzen Rezipierende Medien aufgrund verschiedener basaler Bedürfnisse, z.B. aus dem Bedürfnis nach Unter-

Kurze theoretische Skizzierung der Cultural Studies | 39 basieren (vgl. Wegener 2001: 94). Auch andere Autoren und Autorinnen haben die enge Beziehung zwischen menschlichem Leben und Unterhaltung verdeutlicht. Dyer (siehe z.B. 1992: 17 ff.) hat in seinem Beitrag zu Musical-Filmen medialer Unterhaltung einen utopischen Gegenwert zur Alltagswelt eingeräumt. Unterhaltung biete den RezipientInnen das Gefühl einer idealen Welt an, wobei Dyer von fünf unterschiedlichen utopischen Lösungen ausgeht, die zu Alltagsproblemen korrespondieren, wie Klaus zusammenfasst:: »Gegen entfremdete Arbeit und die Erschöpfung in der Freizeit setzt die Unterhaltung Energie und Aktion, gegen die Knappheit von Ressourcen den Überfluss, gegen Monotonie und Bedürftigkeit die Intensität der Gefühle, gegen Fremdbestimmtheit die Transparenz der Charaktere und Handlungen, schließlich gegen Isolierung und Vereinsamung die Vorstellung von einer Gemeinschaft« (Klaus 1998: 341). Hier ist auch Zillmann anzuführen, der stärker dem ›uses and gratifications‹-Ansatz verpflichtet ist. Er führt die Nutzung von Medienunterhaltung auf das Bedürfnis zurück, die jeweilige Stimmung zu regulieren (»mood management«, Zillmann 1988: 147). In Anlehnung an Bourdieu betont Engelhardt dagegen, dass Unterhaltung vielfach als kulturelle Praxis verstanden werden muss, mit der sich verschiedene Unterhaltungskulturen voneinander abgrenzen (vgl. Engelhardt 1994). Auch er charakterisiert Unterhaltung somit als Teil des menschlichen Miteinanders. Wichtigstes Ergebnis von Dehms früher Studie ist, dass der Gegensatz von Information und Unterhaltung seitens der RezipientInnen nicht automatisch konstruiert wird. Das Publikum unterscheidet statt dessen allgemein zwischen ›langweiligen‹ und ›unterhaltsamen‹ Fernsehtexten (vgl. Dehm 1984). Bereits Bosshart hat sich gegen die geläufige Gegenübersetzung von Information und Unterhaltung gewehrt und der Unterhaltung auch eine bildende Funktion eingeräumt (vgl. Bosshart 1979: 124; siehe dazu auch Klaus 1996). Der konstruierte Gegensatz von Information und Unterhaltung spielt für den schlechten Ruf der Unterhaltung eine wesentliche Rolle. An ihm hängen ähnliche Wertungen wie an dem Dualismus von ›Hoch- und Populärkultur‹. In der Tradition der Aufklärung werden die kulturellen Angebote, die als ›Information‹ gelten, höher bewertet als solche Texte, die unter den Begriff ›Unterhaltung‹ fallen. Dass insbesondere die Begriffe Unterhaltung und Information auch an Geschlechtervorstellungen geknüpft sind, die einen weiblichen, emotionalen Hang zum Amüsement gegenüber dem rationalen, männlichen Bürger vorsehen, steht außer Frage (vgl. z.B. O’Connor/Klaus 2000). Hierzu fällt auch immer wieder auf, wie stark ›männliche Unterhaltungsvorlieben‹ – klassischerweise Fußball – für legitim befunden werden und haltung heraus. Um diese Bedürfnisse zu befriedigen, erhoffen sie sich von Medien Gratifikationsleistungen, wobei als Antwort auf das Unterhaltungsbedürfnis insbesondere Eskapismus, also die Flucht vor der (problematischen) Alltagswelt angenommen wird (vgl. Schulz 2002: 175-177).

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›weibliche Vorlieben‹ wie beispielsweise Soap Operas als fragwürdig gelten, obwohl beide Unterhaltungsangebote von den Erzählstrukturen her starke Ähnlichkeiten aufweisen (vgl. O’Connor/Boyle 1993).22 Bildungsbürgerliche Ideale schlagen auch in der Abwertung von Populärkultur gegenüber ›hochkulturellen Angeboten‹ zu Buche. Gegenüber der Abwertung von Unterhaltung aus bildungsbürgerlicher Sicht, genießt Unterhaltung aus ökonomischer Perspektive einen sehr positiven Ruf. In den Medien spielen Unterhaltungsangebote eine zentrale Rolle, wenn es um Einschaltquoten und damit um Werbegelder geht. Aus Produktionssicht soll der Begriff Unterhaltung dem Publikum bessere Orientierung im Programm liefern. Texte werden je nach Genre von vornherein zu Unterhaltung erklärt, wie beispielsweise Sitcoms, deren Bezeichnung bereits verrät, dass sie komisch – also unterhaltsam – sein sollen. Diese Kategorisierung von Texten findet sich auch in den Programmsparten von Fernsehzeitschriften wieder. Unterhaltung bezeichnet also insgesamt keinen eindeutigen Begriff. Vielmehr lässt sich Unterhaltung als Terrain verstehen, das von RezipientInnen auf andere Weise beschritten wird als von Produktionsfirmen und auf dem unterschiedliche Diskurse zusammenlaufen: bildungsbürgerliche Diskurse um ›Information und Unterhaltung‹ finden sich hier ebenso wie der Geschlechterdiskurs. Auf dem Gebiet der Unterhaltung werden offenbar wichtige gesellschaftliche Bedeutungen ausgehandelt. 1.4.2 Fiske und Populärkultur Gleiches gilt danach auch für populäre Kultur, die häufig unter den Begriff ›Unterhaltung‹ fällt. Williams (1981: 227 f.) hat die Bezeichnung ›Massenkultur‹ – und damit ein rein quantitatives Verständnis – für die Cultural Studies durch ›Populärkultur‹ ersetzt. Allgemein haben sich die Cultural Studies immer gegen eine ästhetische Herangehensweise an Populärkultur gewandt und jede Form eines »objektiven sozialen Maßstabs (als ob sie schon dadurch determiniert wäre, wer sie herstellt oder für wen sie hergestellt wird)« (Grossberg 2000b: 51) abgelehnt. Der Ausdruck Populärkultur23 ist ebenso uneindeutig wie der Begriff Unterhaltung – Storey listet sechs verschiedene Definitionen von ›Popular Culture‹

22 | Es verwundert daher auch nicht, dass Sport in manchen Untersuchungen zum Unterhaltungsanteil in Medien erst gar nicht als Unterhaltung deklariert, sondern als Extrakategorie oder als Informationssendung behandelt wird (vgl. z.B. Schatz et al. 1989). 23 | ›Popular Culture‹ wird nicht überall mit ›Populärkultur‹ übersetzt. Vielmehr wird bspw. in den Publikationen, die bei dem Wiener Verlag Turia + Kant in der Reihe ›Cultural Studies‹ erscheinen, der Ausdruck ›Popularkultur‹ verwendet. Ich sehe beide Begriffe als synonym an, bevorzuge selbst aber die Schreibweise mit Umlaut.

Kurze theoretische Skizzierung der Cultural Studies | 41 auf (siehe Storey 1993: 7 f.).24 In den Cultural Studies wird Populärkultur allgemein als »Sphäre« begriffen, »in der Menschen sich mit der Wirklichkeit und ihrem Platz in ihr auseinander setzen, als eine Sphäre, in der Menschen innerhalb schon bestehender Machtverhältnisse kontinuierlich sich mit diesen abarbeiten, um ihrem Leben Sinn zu geben und es zu verbessern« (Grossberg 2000b: 51). Populärkultur umfasst damit kulturelle Praktiken, die im Kampf um Bedeutungen zirkulieren, historisch veränderbar sind und daher nach Grossberg nicht formal zu bestimmen seien (Grossberg 1999c: 224).25 Auch Fiske hebt hervor, dass Populärkultur nur in den kulturellen Praktiken verortet werden könne. In Anlehnung an de Certeau (z.B. 1988) meint Populärkultur also aktives kulturelles Handeln (vgl. Fiske 1989a: 45):26 »Popular culture is not consumption, it is culture – the active process of generating and circulating meanings and pleasures within a social system: culture, however industrialized, can never be adequately described in terms of the buying and selling of commodities« (Fiske 1989a: 23). Populärkultur als Produkt der ›Leute‹ Populärkultur ist nach Fiske das Produkt der ›Leute‹, die sich Ressourcen des ›Machtblocks‹, z.B. kulturindustrielle Angebote, aneignen, um ihnen im Alltag eigene Bedeutungen zuzuweisen. ›Machtblock‹ (›power-bloc‹) und ›Leute‹ (›the people‹) benutzt Fiske in Anlehnung an Hall (siehe Fiske 1993a: 9). Beide verkörpern für ihn unterschiedliche Machtparteien, die jedoch nicht soziodemographische Einheiten, sondern vielmehr flexible Interessengemeinschaften darstellten (ebd.). Während der ›Macht24 | Storey führt folgende Definitionen an: eine quantitative Auffassung (1), eine Definition (2), nach der Populärkultur als Restmenge gilt, wenn man hochkulturelle Produkte von einer Gesamtmenge an Texten abzieht, Populärkultur als Massenkultur (3), als Volkskultur (4), im postmoderne Sinne (5), wonach jegliche Form von Kultur ›postmoderne Kultur‹ sei und eine Trennung von ›Hoch- und Populärkultur‹ ausgeschlossen werde, und zuletzt (6) Populärkultur in Anlehnung an Gramsci als Gebiet, auf dem der gesellschaftliche Kampf um Hegemonie ausgetragen werde (vgl. Storey 1993). 25 | Nach Grossberg verkörpert Populärkultur damit eine kulturelle kontextuelle Artikulation unterschiedlicher politischer und gesellschaftlicher Einstellungen (vgl. Göttlich 1999a: 62; vgl. auch Winter 2001a: 301 ff.). »Die Populärkultur lässt sich nicht durch formale Charakteristika bestimmen, sondern nur innerhalb der Formation und der Empfindungsweise, in denen sie sich artikuliert« (Grossberg 1999c: 227). 26 | Fiskes Rezeption de Certeaus kommt besonders stark in »Understanding Popular Culture« (1989a) zum Ausdruck.

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block‹ ideologisch dominante Machtinteressen in einer Gesellschaft vertritt, verkörperten ›die Leute‹ unterdrückte Positionen. In einem Interview erläutert Fiske beide Parteien folgendermaßen: »Sie bilden einen theoretischen Begriff. Sie existieren nicht als gesellschaftliche Kategorien, sondern als entgegengesetzte soziale Interessen, mit denen sich verschiedene soziale Kategorien verbinden oder aber bekämpfen – zu unterschiedlichen Zwecken, in unterschiedlichen sozialen Phasen und in unterschiedlichen Bereichen ihrer Existenz« (Fiske bei Müller 1993a: 9). Populärkultur ist damit natürlich immer vom jeweiligen (Macht-) Kontext abhängig, was ganz allgemein die Untersuchung von Populärkultur erschwere (Fiske 1992: 155). Fiskes Verständnis von Populärkultur als Teil des gesellschaftlichen Kampfes um Bedeutungen geht auf Gramscis Konzept kultureller Hegemonie in kapitalistischen Gesellschaften zurück. Hegemonie wird danach von herrschenden gesellschaftlichen Gruppierungen gegenüber Subordinierten aufrechterhalten, indem sie beispielsweise für sich beanspruchen, normsetzende moralische Autorität zu sein. Hegemoniale Gruppen suchen dabei immer die Zustimmung der subordinierten zur bestehenden sozialen Ordnung, d.h. die Übereinstimmung mit Werten, Sichtweisen oder Glaubensgrundsätzen, also mit hegemonialen Bedeutungen oder auch Ideologie,27 zu erlangen, um ihre Machtposition zu stützen. Kulturelle Hegemonie stellt sich somit als immerwährender Aushandlungsprozess bzw. als Kampf um Bedeutungen dar (vgl. Lears 1985: 569). Wenn Fiske Populärkultur als Produkt der ›Leute‹ charakterisiert, so räumt er ihnen die Möglichkeit ein, sich durch eigene Bedeutungen gegen hegemoniale Sinngebungen abzugrenzen. Die ›Leute‹ entwickelten dabei widerständige Taktiken gegenüber der hegemonialen Ordnung. Fiske interpretiert dies als politische Dimension populärer Kultur, die im Zentrum seines Interesses stehe: »Es geht mir um das politische Potential der Populärkultur, weil ich der Auffassung bin, dass eine solche Kultur in ihrem Kern immer politisch ist« (Fiske 1999c: 237). Den widerständigen Möglichkeiten der ›Leute‹ räumt Fiske mikropolitische Relevanz ein (ebd.: 238; 249). Auf mikropolitischer Ebene könnten hier Veränderungen ›im Kleinen‹ bewirkt werden, wenn Rezipienten und Rezipientinnen sich von Populärkultur anregen ließen, ihre eigene Lebenswirklichkeit positiv verändern – radikale Umwälzungen schließt Fiske damit aus (vgl. z.B. Fiske bei Müller 1993a: 5). Um diese Wirkung zu veranschaulichen, verweist er mehrfach auf ethnographische Studien, wie beispielsweise auf Radways Studie zu Liebesromanen (1984a), die zeigten, wie Zuschauerinnen aufgrund der Rezeption ihr Leben positiv veränderten, indem sie z.B. ein größeres Selbstbewusstsein entwickelten (Fiske 1999c: 273). Das Ver27 | Gramscis Hegemoniekonzept wurde in den Cultural Studies mit Althussers Ideologiebegriff verküpft (vgl. Jurga 1999: 26/27; vgl. auch Abschnitt 2.3.1 in dieser Arbeit).

Kurze theoretische Skizzierung der Cultural Studies | 43 ständnis von Populärkultur als nicht-elitärem Ort des Widerstandes wurde in den Cultural Studies durch die Rezeption Bachtins und seiner Vorstellung vom karnevalesken Umsturz von Hierarchien beeinflusst (vgl. Bachtin 1969). Populärkultur ist also Teil der Alltagskultur, es besteht keine Distanz zwischen ›populären Künsten‹ und dem Leben – eine wichtige Beobachtung, da ansonsten im kulturellen Bereich häufig ›Distanz‹ benutzt wird, um den Stellenwert eines Textes hervorzuheben oder das Verhalten der RezipientInnen zu regeln (vgl. Fiske 1992: 154). Beispielsweise besteht vielfach im Museum ein räumlicher Abstand zwischen BetrachterInnen und Ausstellungsstücken, womit die Kunstwerke sich klar vom Alltäglichen abheben. Angebote der ›Kulturindustrie‹ Nach Fiske eignet sich ›Massenkultur‹ besonders gut dazu, im Gebrauch der ›Leute‹ Populärkultur zu werden. Populärkulturelle Angebote transportieren und reproduzieren ungleiche Machtverhältnisse, da sie in ihrem Kontext produziert werden (Fiske 1999c: 237). In »Understanding Popular Culture« (1989a) betont Fiske jedoch, dass die Kulturindustrie die Texte nur bereitstelle und die KonsumentInnen ihnen eigene Bedeutungen zuwiesen und zu ihren subjektiven Vergnügen nutzten (Fiske 1989a: 24). Neben massenkulturellen Texten könnten aber auch Erzeugnisse, die ursprünglich für einen kleinen, elitären Kreis produziert wurden, von den ›Leuten‹ angeeignet und Teil ihrer Populärkultur werden.28 Gleiches gelte für subkulturelle Texte. In seinen Arbeiten konzentriert sich Fiske auf massenmediale Texte, die sich also von vornherein an einen großen Kreis richten. Für die Analyse populärer Kultur fordert er zwei Blickrichtungen. Zum einen den Blick ›in die Tiefe‹, d.h. es soll die ideologische Tiefenstruktur der Texte offengelegt werden. Hier könnten semiotische Analysen nützlich sein. Zum anderen führt Fiske den Blick auf die NutzerInnen an und stellt die Frage, wie sie mit Texten und deren Inhalten umgingen, beispielsweise, welche Lesarten sie bevorzugten (vgl. ebd.: 105). Fiskes Sicht auf Populärkultur ist als positive Perspektive auf vormals abgewertete Güter der ›Kulturindustrie‹ und ihr Publikum zu begreifen. Dies zeigt sich auch darin, dass er die kommerziellen Seiten von Populärem nicht negativ bewertet. Merchandisingprodukte stellen für ihn nicht nur Waren dar, sondern seien ein Mittel für Fans, aktiv die von ihnen bevorzugten Bedeutungen zu verbreiten. So entscheide man sich mit dem Kauf eines ›Madonna‹-T-Shirts für eine bestimmte Bedeutung des Stars, die man persönlich in ihm sieht. Trägt man das T-Shirt, verbreite man 28 | Natürlich existiert auch die umgekehrte Transformation: ausgehend von einem populären Status zu elitärer kultureller Nutzungsweise – das Beispiel Shakespeare ist in diesem Zusammenhang sehr anschaulich (vgl. z.B. Puschmann-Nalenz 1994).

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Bedeutungen über Madonna und darüber hinaus eine bestimmte eigene Bedeutung in der Öffentlichkeit (Fiske 1999c: 256). Daher handele es sich nicht um eine kommerzielle Ausbeute. Populärkultur sei dann gegeben, wenn kulturelle Angebote eine Art »symbolische Teilhabe am Produktionsprozess« zuließen (ebd.: 256). Über Sekundärprodukte, wie beispielsweise Fanzines, werde den Fans Wissen bereitgestellt, das ihnen einen aktiven, kreativen Umgang mit Produkten ermögliche. Fiske verweist auf Soap-Fans, denen das Wissen über die Produktion, über das Privatleben der Stars und ähnliches enormes Vergnügen bereitete, wodurch sie in der Lage seien, »eine Art semiotische Kontrolle« über das Produkt zu erlangen (ebd.: 256) und die eigene kulturelle Kompetenz zu steigern. Mit Fanartikeln werde das Vergnügen am Original in den Alltag überführt (ebd.: 258). Fiske betont mit seiner Position die Kompetenzen der RezipientInnen und die unterschiedlichen Mittel, Bedeutungen zu verbreiten. Doch hebt er den gesellschaftlichen Machtfaktor, den die Vergnügungsindustrie mit ihren enormen finanziellen Umsätzen verkörpert, zu wenig hervor. Er räumt zwar ein, dass die kapitalistischen gesellschaftlichen Grundsätze mit dafür verantwortlich sind, dass Leute den Wunsch haben, bestimmte Texte anzueignen. Er nimmt für ihre ›populäre Kreativität‹, ein Begriff, den er bei de Certeau entlehnt, jedoch ein gleichwertiges Gewicht an (vgl. Fiske 1992: 158). Angesichts der vielen wechselnden Trends, die von der Industrie vorgegeben und von den ›Leuten‹ immer wieder aufgegriffen werden, erscheint dieses Gleichgewicht zweifelhaft. Taktiken und Strategien jener Kulturindustrie werden von Fiske zu wenig hinterfragt. Fiskes Positionen zur Populärkultur sind denn auch stark angegriffen worden. Seine Hervorhebung der mikropolitischen Möglichkeiten wurden als überzogen empfunden (vgl. z.B. Seaman 1992). Man reagierte teilweise geradezu empört, wie sich auch bei Müller andeutet: »Nicht nur hierzulande erscheint John Fiskes Unternehmen, Populärkultur als Ort des Widerständigen zu theoretisieren, befremdlich […]« (Müller 1993b: 52). Allerdings waren nur wenige Vorwürfe in jener ›Revisionismusdebatte‹ tatsächlich gerechtfertigt.29 Dennoch ergeben sich für die Beschäftigung mit Populärkultur und populären Angeboten in den Cultural Studies noch weitere Schwierigkeiten. 1.4.3 Populäre Hierarchien? Populärkultur wird in der Praxis häufig an Gegenständen untersucht, die sehr stark an das traditionelle Verständnis von Populärkultur gebunden sind – auch wenn der Begriff ›Massenkultur‹ in den Cultural Studies durch ›Populärkultur‹ ersetzt wurde. Unter anderem beschäftigten sich Arbeiten mit traditionellen populären Vergnügungen wie beispielsweise

29 | Vgl. dazu den Abschnitt zur Revisionismusdebatte in dieser Arbeit.

Kurze theoretische Skizzierung der Cultural Studies | 45 Kirmes.30 Daneben wurden erfolgreiche industriell gefertigte Massenkultur, Medienkultur und Alltagspraxen untersucht, wie der Besuch im Shoppingcenter (vgl. Fiske 1989a: 32 ff.). In den Studien der Cultural Studies werden beispielsweise sowohl Soap Operas (z.B. Ang 1985) als auch Vergnügungsstätten wie das englische Blackpool (vgl. z.B. Bennett 1983; Thompson 1983) im Zusammenhang mit Populärkultur betrachtet. Die Auswahl der Untersuchungsgegenstände werden von unterschiedlicher Seite angegriffen. Lutter und Reisenleitner kritisieren, dass in den Cultural Studies keine Studien zur traditionellen ›Hochkultur‹ betrieben werden (Lutter/Reisenleitner 1998: 91). Eine Konsequenz daraus ist, dass die Cultural Studies zwar ausdrücklich gegen den Dualismus ›Hoch- und Populärkultur‹ vorgehen wollen, ihn jedoch weiterschreiben, wenn auch ihre Sympathien anders gelagert sind und so die ehemals abgewertete Populärkultur aufgewertet wird. Allerdings meint Populärkultur in den Cultural Studies natürlich ausdrücklich die Kultur unterdrückter Gesellschaftsgruppen, eben nicht-elitäre Kulturpraxen, unter denen hochkulturelle Vergnügen noch immer rar gesät sind: »Popular culture is the culture of the subordinated and disempowered and thus always bears within it signs of power relations, traces of the forces of domination and subordination that are central to our social system and therefore to our social experience« (Fiske 1989a: 4/5). Ähnlich wie Lutter und Reisenleitner kritisiert Grossberg, dass in den Cultural Studies erneut kulturelle Angebote bzw. Praktiken hierarchisch klassifiziert werden. Mit der Auswahl der Forschungsgegenstände werde zwischen legitimer und illegitimer Populärkultur unterschieden. Innerhalb der Cultural Studies habe man Populärkultur als widerständiges, körperliches Erlebnis gegenüber einer beschränkten legitimen Kultur herausgestellt (Grossberg 2000b: 52). Außerdem werde Populärkultur in widerständige Formen und ›Mainstream‹ hierarchisch unterteilt. Populärkultur werde darüber hinaus teilweise von Massenkultur explizit abgegrenzt, wobei VertreterInnen der Cultural Studies betonten, dass Populärkultur den ›Leuten‹ näher stünde sowie ein größeres Widerstands- und Kritikpotential gegenüber den Machtverhältnissen aufweise als Massenkultur (vgl. Grossberg 1999c: 223). Bereits in einem der Frühtexte der Cultural Studies, in Hoggarts »The Uses of Literacy«, wird zwischen ›legitimer‹ Populärkultur als Lebensweise der Arbeiter und illegitimer Massenkultur als Kulturindustrie unterschieden (so Lindner 2000: 42), die Form der Hierarchisierung reicht somit bis in die Anfänge der Cultural Studies zurück. Grossberg betont allerdings an anderer Stelle, dass die Cultural Studies Gegenübersetzungen wie Populärkultur und beispielsweise legitimer Kultur immer skeptisch gegenüber standen. Diese Skepsis sei jedoch zu wenig berücksichtigt worden, da man nicht direkt die Praxis 30 | Vgl. zu traditionellen populären Vergnügen und ihrer Geschichte Maase 1997.

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angegriffen habe, derartige Dualismen überhaupt zu etablieren (vgl. Grossberg 2000b: 51). Daneben bestehe die Gefahr, dass Populärkultur über eine intellektuelle Analyse von seinem eigentlichen Reiz, der spezifischen sehr unmittelbaren »Empfindungsweise«, entfremdet werde (Grossberg 1999c: 226/227): »Körperliche Reaktionen sind die sichtbaren Reaktionen der Leute auf die Stimuli der Populärkultur: Tränen, Lachen, Haaresträuben, Schreie, Erschaudern, Augenschließen, Erektionen usw« (Grossberg 1999c: 227). Die Analyse der Cultural Studies ist also nicht frei von neuen Hierarchien, in denen Populärkultur gegenüber ›Hochkultur‹ aufgewertet wird und welche ebenfalls das Populäre strukturieren. Wie Grossbergs Beiträge indes zeigen, werden die Probleme bei der Analyse von Populärem innerhalb der Cultural Studies selbstkritisch diskutiert.

1.5 Cultural Studies und populärkulturelle Texte: Zentrale Studien Für die Populärkulturforschung prägten die Cultural Studies eine neue Sicht: ihr Blick richte sich nicht mehr »top-down«, sondern »bottom-up«, wie Lindner (2000: 61) formuliert. Göttlich betont die Kontextualisierung der Objekte sowie den Einbezug semiotischer, strukturalistischer Annahmen und die positive Sicht auf Texte und Publikum (vgl. Göttlich 1999b: 105/106). Doch nicht nur im Rahmen der Populärkulturforschung stellte diese spezifische Perspektive eine Neuheit dar, sondern auch in der Publikumsforschung allgemein (ebd.). Innerhalb der Forschung wurde teilweise versucht, die neuen Arbeiten zur Populärkultur von der übrigen Forschung abzugrenzen, indem von einem ›Popular Culture Project‹ gegenüber dem ›Public Knowledge Project‹ die Rede war. Beide Begriffe wurden von Corner geprägt (vgl. Gray 1999). Diese Einteilung kann jedoch auch als Ausgrenzung verstanden werden. Kritisch äußert sich Gray: »For Corner, the public knowledge project is concerned with the investigation of mainly factual media, broadcasting and press, and the ways in which they inform or produce ›knowledge‹ in the reader. The popular culture project, conversely, focuses on fictional or ›entertainment‹ texts, and is concerned with the ›imaginative pleasure‹ offered readers by such texts« (ebd.: 23). Gray kritisiert diese Einteilung als zu stark vereinfachend. Vor allem angesichts der Wertungen, die mit der Einteilung in ›Public Knowledge‹ und ›Popular Culture Project‹ einhergehen, sind die Begriffe problematisch. So wurde das ›Popular Culture-Project‹ teilweise als schwächender Einfluss auf das ›Public Knowledge-Project‹ begriffen (ebd.: 23). Die Bedeutung des ›Public Knowledge Projects‹ wurde dagegen in keiner

Kurze theoretische Skizzierung der Cultural Studies | 47 Weise angezweifelt (ebd.: 24). Gleichzeitig schwingen hier natürlich auch Geschlechterkonnotationen mit, die Frauen auf Seiten des Populären und Privaten verorten, Männer wiederum der öffentlichlichen Sphäre zurechnen. Feministische Arbeiten sowie Geschlechterpolitik wurden zudem bei der Einteilung in ›Public Knowledge‹ und ›Popular Culture Project‹ vernachlässigt, obwohl sie den Impuls für die so genannte ›demand-side‹Forschung gaben (ebd.: 24). Außerdem wurde kritisiert, dass die neueren Studien von einem aktiven Publikum ausgingen, da dies Vergnügen und individuellen Geschmack überbetone und politische Ansprüche nicht erfülle. Zudem war von einer unkritischen, nicht gefestigten Methodologie die Rede (ebd.: 23). Gray stimmt diesen Einwänden nicht zu. Statt dessen betont sie, dass in jenen Studien mikropolitische Prozesse sichtbar werden, die zeigen auf welche Weise Öffentlichkeit und Privatheit in den Alltag eingebunden werden oder wie Diskurse arbeiten, wenn es darum geht, Identitäten zu schaffen (ebd.: 31). An dieser Stelle soll daher die Bezeichnung ›Popular Culture Project‹ vermieden werden. Insbesondere feministische Arbeiten haben wichtige Beiträge zur Populärkulturforschung geleistet. Dazu zählen Radways Studie »Reading the Romance« zu Liebesromanen (1984a), Angs Analyse »Watching Dallas« (1985), Hobsons Studie »›Crossroads‹: The Drama of a Soap Opera« (1982) oder auch die Arbeiten von Modleski (1982) und Brown (1994), um nur einige zu nennen (vgl. Gray 1999). An dieser Stelle soll lediglich eine Auswahl an Studien vorgestellt werden, die zentrale Begriffsbildungen bei der Populärkulturforschung der Cultural Studies mitbeeinflusst haben. Neben den genannten feministisch orientieren Studien von Radway, Ang, Hobson und Brown wird dazu Brunsdous und Morleys Nationwide-Studie skizziert, um die Blickrichtung auf Textbedeutungen und Lesarten zu verdeutlichen, die für die Populärkulturforschung der Cultural Studies bedeutsam ist. Außerdem wird die amerikanischdeutsche Studie von Seiter, Kreutzner, Borchers und Warth vorgestellt (vgl. Borchers 1993). 1.5.1 Janice Radway: »Reading the Romance: Women, Patriarchy, and Popular Literature« Eine der frühen Studien, die sich mit Populärem beschäftigt haben, ist die Arbeit von Radway (1984a). Durchgeführt von 1971 bis 1981 befasst sie sich mit der Lektüre von Liebesromanen, denen in Deutschland am ehesten die ›Groschenromane‹ entsprechen. Ziel war es, der Begeisterung vieler Frauen für dieses Genre nachzugehen, die im feministischen Kreis immer wieder auf Unverständnis stieß.31 Methodisch kombinierte Rad31 | Radways Studie wird aus diesem Grund teilweise als Versuch gedeutet, die Lektüre von Liebesromanen für die feministische Bewegung zu legitimieren (siehe Ang 1988: 180).

48 | Teil 1: Cultural Studies und Populärkultur

way dazu Expertengespräch, Befragung und Gruppendiskussion. An ihrer Studie nahmen insgesamt 42 amerikanische Leserinnen von Liebesromanen teil. Radway distanziert sich mit diesem Vorgehen von textanalytischen Herangehensweisen an Populäres, die vor allem den schematischen Aufbau populärer Texte zum Gegenstand hatten (vgl. Borchers 1993: 59). Statt dessen wendet sie sich direkt den Nutzerinnen zu und den Bedeutungen, die sie den Texten zuwiesen. Dies machte ihre Studie für die ethnographische Forschung der Cultural Studies bedeutsam und regte die Aneignungsforschung an, obwohl Radway ihre Arbeit selbst nicht den Cultural Studies zurechnete (vgl. Gray 1999). Radways Untersuchung ergab, dass die befragten Leserinnen mit Hilfe der Liebesromane einen Gegenpart zu ihrer eigenen häuslichen, patriarchal geprägten Welt schufen. »Mit Janice Radways Studie […] rückt die Phantasieproduktion in das Zentrum der feministischen Rezeptionsforschung. Danach resultiert das Vergnügen an den Romanen aus der Milderung jener Widersprüche, die die Leserinnen in ihrem Leben als Hausfrauen, Ehefrauen und Mütter erfahren« (Klaus 1998: 339). Die Frauen flüchteten mit ihrer Lektüre vor den Anforderungen, die ihre Rolle als Hausfrau und Mutter an sie stellte. Gleichzeitig befriedigten sie über die Groschenromane emotionale, romantische Bedürfnisse, die ihnen in der Realität versagt blieben. Klaus spricht hier von »symbolischer Befriedigung von Bedürfnissen« (ebd.: 340). Radway stellte somit kompensatorische Züge der Lektüre heraus und betonte, wie Ang meint, eine ›therapeutische‹ Bedeutung der Rezeption (vgl. Ang 1988: 179). Radway greift hierbei das Eskapismuskonzept des ›uses and gratifications‹-Ansatz auf, was ihre Arbeit für die Cultural Studies problematisch macht (vgl. Hepp 1999: 206). Allerdings zeigte Radways Untersuchung, dass sich die Leserinnen bewusst mit Hilfe der Liebesromane ein Gegenkonzept zu ihrem Alltag schufen. Dies habe den Cultural Studies verdeutlicht, dass widerständige Praktiken nicht auf Subkulturen beschränkt seien (vgl. ebd.). Daneben sieht Radway die Gruppe der befragten Leserinnen als ›Interpretationsgemeinschaft‹,32 die Lesarten und ähnliche Rezeptionserfahrungen miteinander teilten, auch wenn sie nicht in direktem Kontakt miteinander stünden.33 Ang kritisiert daran, dass Radway die Gemeinschaft der Leserinnen mit konstruiert hat, da sie die Frauen extra für ihre Gruppendiskussionen zusammenbrachte – vorher hatten die Liebesromanfans nichts miteinander zu tun (vgl. Ang 1988: 182).34 Insbesondere

32 | Vgl. dazu auch Radway 1984b. 33 | Klaus bezeichnet diese ›Interpretationsgemeinschaften‹ als symbolische Frauenöffentlichkeiten (vgl. Klaus 1998: 119). 34 | Ang kritisiert darüber hinaus die widersprüchliche Auslegung der Lektüre einerseits als widerständige Rezeption und andererseits als mögliches Hemmnis, die Mängel ihres Alltagslebens zu kritisieren und für die Befriedigung ihrer emotionalen Bedürfnisse in der Realität einzutreten. Hierin zeige sich die Distanz

Kurze theoretische Skizzierung der Cultural Studies | 49 greift Ang an Radways Vorgehensweise ihren pädagogischen Impetus an, mit dem sie die Leserinnen zu distanziert betrachte: »In short, what is therapeutic (for feminism) about Reading the Romance is its construction of romance readers as embryonic feminists« (ebd.: 185). Außerdem wendet Ang ein, dass Radway die Kategorie des Vergnügens in ihrer Studie vernachlässige. Das Vergnügen der Leserinnen an Details und ihr fantasievoller Umgang mit ihrem Alltag würden von Radway nicht ernst genommen (ebd.: 185/186).35 Vergnügen sei von ihr als Illusion interpretiert worden, als nicht authentisch. Radway habe an der rein ideologischen Funktion von Vergnügen festgehalten (ebd.: 186). Trotz der Einwände stellt Radways Studie einen wichtigen Beitrag zur ethnographischen Wende in den Cultural Studies dar (so Hepp 1999: 204) und enthält Anreize für die Forschung, der Kategorie Vergnügen und der Mediennutzung weiter nachzugehen. Ebenfalls zeigt bereits Radway unterschiedliche Möglichkeiten auf, populäre Texte anzueignen und sich dadurch mit der Alltagswelt zu arrangieren. 1.5.2 Ien Ang: »Watching Dallas« 1982 erschien »Het Geval Dallas«, Angs Untersuchung über Dallas-Rezipientinnen in den Niederlanden. 1985 wurde die Studie als »Watching Dallas« im englischsprachigen Raum publiziert.36 Angs Untersuchung zählt genau wie Radways Arbeit zu den wenigen, immer wieder zitierten Arbeiten der neuen Publikumsforschung (vgl. dazu Gray 2001: 76). Ang beschäftigt sich darin mit der Rezeption und dem spezifischen Vergnügen am melodramatischen Genre der Soap Opera. Dazu schaltete sie in der niederländischen Frauenzeitschrift »Viva« folgende Anzeige: »I like watching the TV serial Dallas, but often get odd reactions to it. Would anyone like to write and tell me why you like watching it too, or dislike it? I should like to assimilate these reactions in my university thesis. Please write to…« (Ang 1985: 10). Aus der Perspektive eines »Dallas«-Fans heraus, forderte sie also andere Rezipierende in den Niederlanden auf, ihr schriftlich zu beschreiben, aus welchen Gründen sie die Prime-Time-Soap verfolgten oder sie ablehnten. Von den 42 Zuschriften stammten lediglich drei von Männern (ebd.: zwischen Radways eigener feministischen Position und der Welt, in der sich die befragten Leserinnen bewegten (siehe Ang 1988: 183). 35 | Ang weist beispielsweise auf das Vergnügen der Leserinnen an den genauen Details der Geschichten hin (Ang 1988: 186). Sie betont außerdem die fantasievolle Aneignung der Liebesromane (Ang 1988: 187), mit denen die Leserinnen eine Strategie unter Beweis stellen, mit den Mängeln ihrer persönlichen Lebenswelt umzugehen und sich für die Alltagswelt zu ›rüsten‹ (vgl. ebd.: 188). 36 | In Deutschland erschien Angs Studie 1986 unter dem Titel »Das Gefühl Dallas. Zur Produktion des Trivialen«.

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10).37 Angs Interesse richtete sich darauf, wie die VerfasserInnen der Zuschriften »Dallas« erlebten und was für sie Vergnügen an der Serie oder auch Ablehnung bedeutete (ebd.: 11). Die Rezipierenden verfügten dabei über bestimmte Bilder oder Ideologien, die das Erleben unbewusst bestimmten. Winter spricht hier von »Verständnisrahmen« (Winter 2001a: 154), in denen »Dallas« Bedeutungen zugewiesen werden. Übergeordnet steht für Ang damit die Frage nach der Beziehung zwischen Vergnügen und Ideologie im Zentrum (vgl. Ang 1985:11).38 Aus den Briefen gingen unterschiedliche Aspekte hervor. Besonderes Vergnügen bereitet nach Ang der ›emotionale Realismus‹ der Serie (ebd.: 41 ff.). Ang versteht darunter die Nähe zwischen den Gefühlstrukturen der Serienhandlung und den Erfahrungen der Zuschauerinnen. Emotionaler Realismus meint nicht, dass die RezipientInnen die Handlung als Wirklichkeit wahrnehmen, sondern dass sie ihre eigene emotionale Erfahrungswelt mit den emotionalen, melodramatischen Strukturen der Serienhandlung in Beziehung setzten. Dass die glamouröse Szenerie von »Dallas«, die Welt der Ölbarone, nicht der eigenen Alltagswelt entspricht, spiele dabei keine Rolle. Der reale Gehalt liege bei der Serienrezeption somit nicht an der Handlungsoberfläche, der denotativen Textebene, sondern in den tieferen ›tragischen‹ Strukturen, also im konnotativen Bereich (vgl. ebd.: 42-44). Daneben zeigte sich, wie bedeutsam Phantasie bei der Aneignung von Medientexten ist (vgl. Ang 1985: 130 ff.). Phantasie kommt bei Ang eine eigenständige Funktion zu (Ang 1985: 135) und gilt nicht wie Radway fest an den ideologischen Gehalt der Groschenliebesromane gekoppelt (vgl. Klaus 1998: 340). Das fantasievolle Vergnügen an Dallas wird bei Ang als Möglichkeit interpretiert, sich mit der Realität auseinander zu setzen, da Ang »Phantasie zwischen Utopie und Wirklichkeit« (ebd.) ansiedelt. In der Phantasie könnten sich die ZuschauerInnen auf utopische Weise kritisch mit der eigenen Realität auseinander setzen und alternative Lebensentwürfe denken. Phantasie biete gleichzeitig Raum für Erholung vom tatsächlichen Leben (ebd.). Ang distanziert sich also im Gegensatz zu Radway vom Eskapismuskonzept und stärkt die Position der RezipientInnen, indem sie deren Vergnügen als Kategorie ernst nimmt und die Wechselbeziehung zwischen Medientexten und Alltagsleben hervorhebt (siehe Ang 1985: 49). Klaus meint, dass Angs Ergebnisse »die Medienwirkungs- und Rezeptionsforschung von ihrer Wertelastigkeit« befreien und führt aus:

37 | Der geringe Männeranteil ist sicherlich Angs Anzeigenschaltung in einer Frauenzeitschrift geschuldet (so Hepp 1999: 175). 38 | Dabei spricht sie sich direkt gegen den Ansatz von Adorno und Horkheimer aus, die Vergnügen an Massenkultur als Manipulation der Rezipierenden deuten (Ang 1985: 17).

Kurze theoretische Skizzierung der Cultural Studies | 51 »Die Rezeption von Unterhaltungsprogrammen kann weder als Quelle allen Übels noch als normbrechende Tat sinnvoll gefasst werden. Sie ist vielmehr ein Spiel der Möglichkeiten, das sich zwischen der Bestätigung und der Infragestellung der gesellschaftlichen Ordnung bewegt« (Klaus 1998: 340). Angs Studie hat dazu beigetragen, den Blick für die vielfältigen Vergnügen zu öffnen, die Rezipierende an Unterhaltungsgenres wie Soap Operas haben können. Bei ihren Ausführungen muss allerdings die Beziehung von Vergnügen und Politik hinterfragt werden. Ang betont unter anderem, dass die Aneignung von Populärem radikales politisches Engagement oder Bewusstein nicht ausschlösse (Ang 1985: 135) und charakterisiert Vergnügen als potentiell politische Kategorie. Ang läuft hier Gefahr, Vergnügen zu ›romantisieren‹ und die emotionale Seite zu stark herauszustellen, was auch in der Forschung kritisiert worden ist (vgl. u.a. Nightingale 1996: 77). Im gleichen Zusammenhang weist Klaus darauf hin, dass Vergnügen keine eindeutige Kategorie bezeichne, wie es bei Ang den Anschein hat, sondern vielfältige Vergnügen beinhalte und es daher unzulässig sei, Vergnügen und Politik in dieser Weise zu vermengen (vgl. Klaus 1998: 345). Zudem beschreibe Vergnügen lediglich die Relation zwischen einem Text und seinem Leser, nicht jedoch die Wirkung des Textes, also die Art und Weise, wie Rezipierende interpretieren oder Populäres in ihren Alltag integrieren. Ob eine Soap Opera politische Wirkung entfalte, könne nicht »durch eine Analyse des Vergnügens« geklärt werden, Aufschluss könne hier lediglich eine Untersuchung »der verschiedenen Lesarten und ihrer Abhängigkeit vom sozio-kulturellen und Raum/Zeit-Kontext des Rezeptionsprozesses« geben (vgl. ebd. 1998: 345). Hinzu kommt, dass die Analyse von Zuschriften keinen direkten Einblick in die Alltagswelt von RezipientInnen erlaubt. Angs Untersuchung weist hier im Verhältnis zu den Aussagen, die sie über die Vergnügen von Zuschauerinnen und Zuschauern trifft, methodische Schwachstellen auf, insbesondere aus ethnographischer Sicht. 1.5.3 Dorothy Hobson: »Crossroads« Dorothy Hobsons Studie zur englischen Soap Opera »Crossroads« (1982) widmet sich der Rezeption, beschäftigt sich jedoch auch, wie Hepp betont, mit der Produkt- und der Produktionsebene der Serie (Hepp 1999: 171).39 Im Zentrum steht die Aneignung von »Crossroads« in unterschiedlichen soziokulturellen Kontexten. Dazu wählt Hobson methodisch die teilnehmende Beobachtung sowie Interviews und wertet »Rezipierendenpost« aus (ebd.: 173). Der Schwerpunkt liegt dabei auf der ethnographischen Aneignungsforschung. In ihrer teilnehmenden Beobachtung verfolgt Hobson die alltägliche 39 | Hobson streicht dabei die Genremerkmale der Seifenoper heraus und grenzt sie von Reihen und mehrteiligen Serien ab (Hepp 1999: 172).

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Serienrezeption bei den RezipientInnen zu Hause. Es handelte sich bei ihnen mehrheitlich um Frauen, die als Hausfrauen tätig waren (ebd.). Sie setzt dabei bei den Zuschauern und Zuschauerinnen eine große Medienkompetenz voraus, die sich aus ihren Alltagserfahrungen und der langjährigen Medienrezeption speise (Hobson 1982: 106). Hobson arbeitet in ihrer Untersuchung heraus, dass Seifenopern die Zuschauer und Zuschauerinnen dahingehend beeinflussen können, soziale Fragen wahrzunehmen und sich mit ihnen auseinander zu setzen (Klaus 1998: 343). Dies gelinge dem populären Genre sogar besser als Nachrichtensendungen, da die Serienfans die Entwicklung der sozialen Konflikte mitverfolgen können und nicht abrupt mit Problemen konfrontiert werden, wie es bei Nachrichten der Fall ist. Dadurch würden die RezipientInnen von Soaps stärker eingebunden, was auch durch die Identifikation mit den Charakteren und ihren Alltagsschwierigkeiten bewirkt werde (ebd.).40 Hobson belegt in ihrer Studie jedoch, dass die ZuschauerInnen sehr wohl dazu in der Lage waren, Realität und Fiktion zu unterscheiden (vgl. Hobson 1982: 140). Sie sieht bei den Rezipientinnen und Rezipienten eine kritische Haltung gegenüber Medien. Hobson spricht in diesem Zusammenhang von »cultural capital« der Rezipierenden (ebd.: 124/125). Die Soap-Rezeption war dabei in den meisten Fällen fest in den Tagesablauf integriert. Die befragten Hausfrauen gaben an, dass sie die Serie teilweise mit ›schlechtem Gewissen‹ anschauten. Meist wurde »Crossroads« als Abwechslung vom eintönigen Tagesablauf begriffen (vgl. Hepp 1999: 174). Genau wie Ien Ang zeigen auch Hobsons Ergebnisse, dass die Nutzerinnen von Soap Operas diese keineswegs eskapistisch nutzen, sondern dass Medientext und Alltagswelt ›aktiv‹ miteinander in Beziehung gesetzt werden. Die Bedeutungen der Serie differieren dabei je nach Kontext, wobei der Medientext für Hobson polysem ist, wie Winter herausstreicht (Winter 2001a: 152).41 Die Veröffentlichungen von Ang, Radway und Hobson führten zur verstärkten Diskussion des ›Nationwide‹Projektes von Brunsdon und Morley, welches eine sehr frühe Arbeit auf dem Weg der Populärkulturforschung darstellt. 1.5.4 David Morley/Charlotte Brunsdon: »Everyday Television: Nationwide« Morleys Publikation »The ›Nationwide‹ Audience« (1999), die 1980 erschien, war bis zu den angeführten Arbeiten von Hobson und den übrigen Autorinnen noch nicht von einem breiten Publikum wahrgenom40 | Die emotionale Bindung an »Crossroads« ging in einigen Fällen sogar so weit, »dass an die Filmfiguren Genesungswünsche geschickt wurden, wenn sie krank waren, und dass sie Blumen zur Filmhochzeit erhielten« (Klaus 1998: 343). 41 | Hobson knüpfe damit an die kulturalistische Tradition der Cultural Studies an. So Winter 2001a: 152.

Kurze theoretische Skizzierung der Cultural Studies | 53 men worden (Morley/Brunsdon 1999: 2). Sie stellt die zweite Veröffentlichung und den zweiten Teil eines groß angelegten Projektes dar, das 1975/76 innerhalb der Media Group am CCCS konzipiert worden war. »Everyday Television: ›Nationwide‹« (1999), die Publikation, die Morleys Arbeit voranging, erschien bereits 1978 und wurde gemeinsam von Brunsdon und Morley verfasst. Zu der Arbeitsgruppe am CCCS zählte unter anderem Hall, der an dem Konzept des Projektes maßgeblich beteiligt war (vgl. Brunsdon/Morley 1999: 9). Sein Encoding/Decoding Modell diente als Ausgangspunkt der Forschungsarbeiten (vgl. Morley 1999: 287). Die Entscheidung, »Nationwide« zu analysieren, ein englisches Nachrichtenmagazin, das in seiner Regionalberichterstattung stark von populären Themen und Stil geprägt war, ist für die Populärkulturforschung von Bedeutung, da das Projekt einen Bruch in der bisherigen Praxis der Media Group darstellt: »Nationwide« verkörpert einen Kompromiss zwischen den VertreterInnen der Cultural Studies, die bisher die Arbeit mit so genannten ›hard news‹ favorisierten und jenen, die Formaten wie Soap Operas den Vorrang geben wollten (Morley/Brunsdon 1999: 8). Beide, also Seifenopern und ›seriöse‹ Nachrichten, wurden damals als extreme Gegensätze begriffen (ebd.). »Nationwide« stellte eine Art ›soft topic‹ dar, der jedoch nicht in dem Maße weiblich belegt war wie die Soaps, wie Brunsdon und Morley anführen – ein etwas fragwürdiges Argument. Daneben wies die Sendung einen Bezug zur ›tatsächlichen‹ Realität auf, was ebenfalls für eine Analyse des Formats sprach (vgl. ebd.). Beide Auswahlkriterien zeigen somit deutlich traditionelle Maßstäbe, wonach Fakten höher zu bewerten sind als Fiktion und männlich belegte Inhalte akzeptabler erscheinen als weiblich besetzte Unterhaltungsangebote. Dennoch ist die Entscheidung für »Nationwide« letztlich als Schritt in Richtung der Analyse von populärkulturellen Angeboten zu werten, mit dem gleichzeitig einer Aufwertung von Populärkultur Vorschub geleistet wurde. Das Projekt ›Nationwide‹ wurde in zwei große Analyseteile gegliedert. Im ersten Arbeitsschritt nahm die Media Group eine Programmanalyse der Sendung vor, also eine textanalytische Betrachtung.42 Diese sollte mögliche Lesarten bzw. die ›Kodierung‹ des Formats durch die ProduzentInnen zu Tage bringen, indem Themen, Rahmungen oder auch Präsentation und Stil analysiert wurden. Die Ergebnisse dieser Arbeit finden sich von Brunsdon und Morley zusammengetragen in »Everyday Televisi42 | Im ersten Teil des ›Nationwide‹-Projektes wurden über einen längeren Zeitraum hinweg die Struktur des Programms herausgearbeitet, also die Themen, die behandelt wurden, die Länge der Berichte, die Einbindung der einzelnen Beiträge in die Sendung. Zudem konstatierte man grob die Art der Sprache bei den Präsentationen und analysierte den ideologischen Gehalt der Sendung, ein Hauptakzent der Analyse, der in folgenden Populärkulturanalysen fortgesetzt wurde. Daneben fand eine genauere derartige Untersuchung der Ausstrahlung vom 19. Mai 1976 statt.

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on: ›Nationwide‹« (1999). Der zweite Teil ergänzte die erste Textstudie um eine Publikumsanalyse, in der mit Hilfe von Gruppeninterviews die Lesarten zweier Ausstrahlungen von ›Nationwide‹ herausgefiltert wurden. Morley fasste die Resultate dieser Arbeit, die 1976 anlief und bis 1979 weitergeführt wurde, in »The ›Nationwide‹ Audience« (1999) zusammen. In dem Projekt sollte auf diese Weise die Kodierung eines Textes seiner Dekodierung gegenübergestellt werden. Halls Encoding/Decoding-Modell wurde hier auf seine empirische Tauglichkeit geprüft. Insgesamt kam man in dem ersten Teil der Analyse zu dem Schluss, dass »Nationwide« mit Hilfe einer einfachen, populären Sprache und der Art und Weise, wie die verschiedenen englischen Regionen unter ein ›Sendungsdach‹ gebracht wurde, einen nationalen Mythos kreierte.43 Großbritannien erschien nicht als Ort von gesellschaftlichen Strukturunterschieden, also beispielsweise unterschiedlichen Klassen, sondern als Sammelsurium verschiedener Regionen, deren BewohnerInnen jedoch vor dem Hintergrund der einenden Nation alle gleich waren (Brunsdon/Morley 1999: 101). Speziell wurden Mechanismen entlarvt, mit denen die ZuschauerInnen von der Sendung gewissermaßen vereinnahmt wurden, wie beispielsweise das übergreifende ›we‹. Entscheidend war aber auch die Einbindung über eine deutlich gesteuerte Wissensvermittlung (ebd.: 82). Wie Brunsdon und Morley ausführen, wird damit der Zugang zu den Diskursen von ›Nationwide‹ geregelt (ebd.: 82). Der erste Teil des Projektes brachte somit eine eindeutige Kodierung seitens der ProduzentInnen von »Nationwide« zum Vorschein. Im zweiten Abschnitt der ›Nationwide‹-Studie wurden jene bevorzugten Bedeutungen daraufhin überprüft, inwieweit die RezipientInnen sie übernahmen. Dazu wurden Gruppeninterviews durchgeführt, die Strategien, Argumentationen oder auch Interpretationen zum Vorschein bringen sollten (Morley 1999: 150).44 Im Zentrum des Forschungsvorhabens stand die Frage nach einer klassenabhängigen Medienaneignung. In Anlehnung an Halls Encoding/Decoding-Modell wurden die beobachteten Dekodierungen nach dominanten, ausgehandelten und oppositionellen Lesweisen gegliedert.45 Stark vereinfacht ergaben die Untersuchungen

43 | Hierbei beziehen sich die AutorInnen auf den Mythosbegriff bei Barthes (1996). 44 | Spezielle Fragen lauteten unter anderem, ob die ZuschauerInnen dasselbe Vokabular wie die ProduzentInnen benutzten, ob sie dieselben Prioritäten setzten oder auch, ob sie sich mit dem angebotenen Bild identifizierten, das »Nationwide« vom Publikum konstruierte. Außerdem sollte die Rolle von soziodemographischen Faktoren wie Alter, Ethnie, Geschlecht, Klasse geprüft werden sowie der Einfluss von Themen und ihrem Bezug zu der Erfahrung der RezipientInnen (vgl. Morley 1999: 139 ff.). Des Weiteren untersuchte man, ob die Zugehörigkeit zu Parteien oder Gewerkschaften von Einfluss für die Dekodierungen war (ebd.: 142). 45 | Die ZuschauerInnen bildeten dabei 29 Kleingruppen (je 5 bis 10 Perso-

Kurze theoretische Skizzierung der Cultural Studies | 55 der Gruppendiskussionen, dass diejenigen Gruppen, die von Konservativen dominiert waren, eher der dominanten Lesart zusprachen. Demgegenüber wiesen Gruppen, die eher von der Labour-Partei und sozialistischem Denken geprägt waren, vermehrt ausgehandelte und oppositionelle Lesarten von »Nationwide« auf (vgl. Morley 1999: 257).46 Problematisch an der Untersuchung ist sicherlich, dass es sich bei den Gruppen nicht um natürliche Gruppen, sondern um konstruierte Konstellationen in einer künstlichen Umgebung handelte, die in dieser Weise nie zusammengekommen wären. Aussagen über die tatsächliche Alltagswelt der Teilnehmerinnen und Teilnehmer konnten somit nicht getroffen werden. In Morleys Schlussfolgerungen zum zweiten Teil des ›Nationwide‹Projektes betont er die aktive Rezeption, wie sie für die Cultural Studies in den folgenden Jahren immer zentraler und in noch stärker ethnographisch akzentuierten Arbeiten zum Gegenstand wurde (ebd.: 273). Er verwehrt sich damit gegen die Annahme der Screen-Theorie,47 dass die Leseposition einseitig durch den Text bestimmt werde, wozu er außerdem einräumt, dass die dominante Ideologie eines Textes nur dann erfolgreich die Lesarten bestimmen kann, wenn sie den Common Sense der RezipientInnen träfe und mit existierenden kulturellen Formen korrespondierte (ebd.: 274). Morley fordert für die weitere Publikumsanalyse eine stärkere diskursanalytische Ausrichtung. Es müsse ein Modell entwickelt werden, in dem das Subjekt innerhalb von miteinander verflochtenen Diskursen betrachtet wird (ebd.: 286). Seine Forderung resultiert auch aus den methodischen Problemen, die Morley aufgrund der komplexen Verschränkungen von linguistischen, diskursiven sowie ideologischen Aspekten konstatiert (ebd.: 287). Hiermit greift Morley der weiteren Entwicklung der Populärkulturforschung voraus, die im Weiteren eine starke

nen), denen – noch einmal unterteilt – zwei Ausstrahlungen von »Nationwide« vorgeführt wurden. 46 | Morley räumt allerdings ein, dass Lesweisen nicht direkt auf soziale Faktoren zurückzuführen waren (Morley 1999: 256): »it is always a question of how social position plus particular discourse positions produce specific readings, readings which are structured because the structure of access to different discourses is determined by social position« (ebd.). 47 | Die Screen-Theory griff psychoanalytische – die Ansätze Lacans zum Unbewussten – sowie marxistische Überlegungen auf. Insbesondere stützte sie sich auf Althussers Vorstellung der ›Interpellation‹, d.h. die Annahme, dass Subjekte durch Ideologie ›angerufen‹ und hierüber positioniert werden. Die ScreenTheory beschäftigt sich mit Filmdarstellung und geht davon aus, dass Texte ihre RezipientInnen mittels ideologischen Inhalten in der dominanten Ideologie positionieren. Danach hätten Rezipierende keine Möglichkeit, Texte ›gegen den Strich‹ zu lesen. Die Screen-Theorie wurde in den siebziger Jahren entwickelt und nach der britischen Zeitschrift »Screen« benannt (vgl. z.B. Jäckel/Peter 1997: 51/52; Jurga 1999:25).

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diskursanalytische Orientierung erfuhr, was sich beispielsweise in Fiskes »Media Matters« (1996) niederschlug. 1.5.5 Seiter, Kreuzner, Borchers und Warth: »Soap Operas im amerikanischen Fernsehen« Bei der Zuschauerstudie von Kreutzner, Seiter, Warth und Borchers handelt es sich um ein deutsch-amerikanisches Forschungsprojekt (vgl. Seiter et al. 1991). Es wurde 1986 unter dem Namen »Soap Operas im amerikanischen Fernsehen« in Eugene, Oregon, durchgeführt. Beeinflusst wurde die Studie von Morleys Arbeiten und Radways Studie (Borchers 1993: 59). Die ForscherInnen führten 26 Interviews mit 64 SoapOpera-RezipientInnen,48 die sich auf eine Anzeige hin gemeldet hatten. Die Befragten stammten überwiegend aus Oregon und gehörten dem Arbeitermilieu an. Elf der Beteiligten waren zum Zeitpunkt der Interviews ohne Beschäftigung. Das Ziel des Projektes fasst Borchers wie folgt: »Dementsprechend richtete sich unser Erkenntnisinteresse […] auf die in Zusammenhang mit dem Anschauen von S o a p O p e r a s auftretenden kulturellen Praktiken, und zwar so wie diese Praktiken von den mit diesen Produkten vertrauten und kompetent umgehenden Zuschauerinnen und Zuschauern beschrieben werden« (ebd.: 60). Schwerpunkt der Studie war demnach die Medienaneignung. Aus den Interviews ging sehr deutlich hervor, wie Soaps in den Alltag integriert werden können und auch zur Strukturierung des Tagesablaufes dienen. Der Umgang mit Seifenopern muss dabei differenziert werden. So wurden sie teilweise in den Arbeitsalltag von Hausfrauen integriert, was die effektive Organisation des Tagesablaufs vorantrieb. In diesen Fällen nahmen die Rezipientinnen Soap Operas häufig als Belohnung für die erledigten Tätigkeiten wahr. Daneben stellten Seifenopern jedoch auch eine Konkurrenz zu den Aufgaben mancher Hausfrauen dar. Hier wurden die Serien nicht ›organisiert‹ in den Tagesablauf eingefügt (vgl. ebd.: 61). Borchers berichtet, dass in solchen Fällen die Interviews häufig als »Beichtsituation« umgestaltet worden seien (ebd.: 62). Das Forschungsprojekt ergab also insgesamt, dass der Umgang mit Medientexten sehr unterschiedlich ausfällt, obwohl die Situation der Befragten mit ihrem Hausfrauenalltag zunächst gleich erscheint. Daneben traten Strategien zu Tage, mit deren Hilfe RezipientInnen den Soap-Text zu kontrollieren versuchen. Hierzu gehörten gemeinsame Rezeption und Rekonstruktion der Handlungselemente oder auch die Selektion der spannenden Erzählstränge gegenüber den weniger interessanten, auch mit Hilfe des Videorekorders bzw. der Vorspulfunktion (ebd.: 62/63). Dabei offenbarte sich insgesamt ein sehr großes Genrewissen der ZuschauerInnen bezüglich Charakteren und Handlungssträngen 48 | Unter den 64 Befragten waren elf Männer (Seiter et al. 1991: 225).

Kurze theoretische Skizzierung der Cultural Studies | 57 sowie eine ausgeprägte Sensibilität demgegenüber, dass es sich bei Seifenopern um einen hergestellten Text handelt, an dem beispielsweise Storyliner beteiligt sind (ebd.: 63). Die RezipientInnen wissen hiernach sehr genau zwischen Realität und Fiktion zu unterscheiden und gewinnen gerade dadurch ein besonderes Vergnügen an den Erzählsträngen und den Einfällen der Drehbuchautoren und -autorinnen. »Soap Opera-Texte appellieren in erster Linie an das Genre-Bewusstsein der Zuschauerinnen und Zuschauer, an ihr kritisches Textverständnis und an ihren Sinn für die spielerische Qualität einer guten Story« (ebd.: 64). Besonderes Vergnügen hatten die Befragten an den Erzählsträngen, die gegenläufig zu ihrer eigenen Wirklichkeit und ihren Idealen waren. Vor allem Angehörige der Unterschicht bevorzugten subversive Bedeutungen. Damit lehnten die Interviewten meist die Position der ›ideal mother‹ ab (Seiter et al. 1991: 237), wie Modleski sie für Soaps angenommen hat (vgl. Modleski 1982). Die Studie veranschaulicht, wie bedeutsam der Kontext bei der Rezeption von Populärem ist, wie vielschichtig die Bedeutungszuweisung ausfallen kann und wie kompetent die RezipientInnen mit Genres umgehen. 1.5.6 Mary Ellen Brown: »Soap Operas and Women’s Talk. The Pleasure of Resistance« Browns Studie beschäftigt sich mit der Aneignung von Soap Operas und der Einbindung des Genres in Frauennetzwerke. Sie befragte dazu zwischen 1985 und 1991 sieben Gruppen von Serienfans, die sich aus insgesamt dreißig Soap-ZuschauerInnen aus den USA, Australien und England zusammensetzten.49 In ihren Ergebnissen stieß sie auf die wichtige Bedeutung des »kommunikativen Vergnügens« (Klaus 1998: 339), das Frauen untereinander in Gesprächen über die Serie und ihre Charaktere erlebten. Brown deutete dieses kommunikative Vergnügen an Soaps als widerständiges Potential (ebd.: 345) des weiblichen Diskurses gegenüber dominanten, patriarchalen Strukturen. Sie zeigt »dass der informelle Austausch über die Soap Operas differenzierte Sinnproduktionen und Kommunikationsprozesse ermöglicht, die dem traditionellen Geschlechterdiskurs entgegenlaufen« (ebd.: 356). Zentral für eine widerständige Bedeutungsfindung sind nach Brown Gespräche innerhalb eines abgegrenzten Raumes, beispielsweise im Freundeskreis (vgl. Hepp 1999: 217), wo der Austausch mit anderen Frauen zum illegitimen, unerlaubten Vergnügen (Brown 1994: 111) werden kann. Brown bezieht sich in ihrer Studie auf Bachtin und beschreibt die »power of laughter« (ebd.: 133 ff.) als karnevalesken Widerstand gegen hegemoniale, patriarchale Gesell49 | Unter den 30 Befragten fanden sich 26 Frauen, vier Männer; elf Erwachsene, neun junge Erwachsene Anfang zwanzig und zehn Teenager. Insgesamt handelte es sich um AnhängerInnen von vier verschiedenen Serien (vgl. Klaus 1998: 356).

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schaftsordnung. Das widerständige Vergnügen bezieht sich bei Brown also auf subordinierte Gesellschaftsgruppen. Durch das Reden über den Soaptext wird die eigene Situation reflektiert. Klaus hebt hervor, dass Brown einen Raum »für differenzierende und von Textbedeutungen abweichende Sinnproduktionen« von Frauen beschreibt (Klaus 1998: 357). Allerdings lässt Brown in ihrer Arbeit außer Acht, dass in Frauenöffentlichkeiten auch konforme Bedeutungen kursieren (ebd.: 358). Auch auf Brown trifft die Kritik zu, dass das Vermengen von Vergnügen und Politik problematisch ist und die Gefahr besteht, Vergnügen zu romantisieren, einerseits hinsichtlich der Uneindeutigkeit von Vergnügen und andererseits dadurch, dass sich Vergnügen zwischen Leser und Text abspielt, nichts jedoch über die Aneignung aussagt (vgl. Klaus 1998: 345). Dennoch zeigt ihre Studie, wie Medienaneignung und soziale Wirklichkeit miteinander korrespondieren und widerständige Bedeutungen produziert werden können (kritisch dazu Hepp 1999: 218 f.). Die vorgestellten Studien haben auf unterschiedliche Weise die Populärkulturforschung vorangetrieben und wiesen auf die typische Akzentsetzung der Cultural Studies hin. Der Ansatz der Cultural Studies wurde auch im deutschsprachigen Raum aufgenommen.

1.6 Zur deutschsprachigen Rezeption der Cultural Studies Die Cultural Studies haben ihren Siegeszug in den USA bereits in den achtziger Jahren angetreten. Im deutschsprachigen Raum konnte damals von einem solchen ›Boom‹ der Cultural Studies nicht die Rede sein. Auch heute ist die Etablierung der Cultural Studies hierzulande noch nicht abgeschlossen, obwohl ihre Rezeption in den letzten Jahren merklich angestiegen ist.50 Lindner sieht das Jahr 1999 als »Initiation« der CS im deutschsprachigen Raum (Lindner 2000: 9). Allerdings entgehen ihm damit einige frühere Veröffentlichungen sowie deutschsprachige Studien, die Winter und Göttlich aufführen (Göttlich/Winter 1999). Wenn auch der ›Durchbruch‹ noch nicht erfolgte, so lässt sich doch bereits in den achtziger Jahren eine Rezeption der Cultural Studies in Deutschland beobachten. Die Zeitverzögerung, mit der die angloamerikanische Forschung damit im deutschsprachigen Raum aufgenommen wurde, lässt sich zu einem Teil auf das deutsche Wissenschaftsverständnis zurückführen, das an Disziplinen orientiert ist, sowie auf die Ausbreitung der ›Kulturwissenschaften‹, die die Sicht auf die Cultural Studies versperrt haben (vgl. Göttlich/Winter 1999: 30/31). Allgemein ging die Rezeption im deutschsprachigen Raum überwiegend von separaten wissenschaftlichen Disziplinen aus, wie der Anglistik, der Soziologie oder der 50 | Bereits in den siebziger Jahre erfolgte eine erste Rezeption der Cultural Studies im deutschsprachigen Raum mit Schwerpunkt auf der Analyse von Arbeiterkultur (vgl. Lindner 1994).

Kurze theoretische Skizzierung der Cultural Studies | 59 Medien- und Kommunikationswissenschaft,51 in der seit den achtziger Jahren die Cultural Studies schwerpunktmäßig rezipiert werden. Winter und Göttlich teilen die medienwissenschaftliche Rezeption der Cultural Studies im deutschsprachigen Raum in drei Phasen ein und knüpfen sie an verschiedene Forschungsformationen.52 In der ersten Phase siedeln sie Mikos mit seiner Studie zu Familienserien an (1994) sowie die Arbeiten in der Tübinger Anglistik, insbesondere die Untersuchungen zu amerikanischen Soap Operas von Warth, Kreutzner, Borchers und Seiter (vgl. Borchers 1993), die im vorangegangenen Abschnitt skizziert wurden. Die Trierer Forschungsgruppe mit dem Projekt »Medienspezialkulturen« fallen nach Göttlich und Winter in die zweite Phase der Rezeption, wobei unter anderem Rainer Winters Untersuchung zur produktiven Aneignung von Horrorfilmen zu nennen ist (Winter 1995). Zur zweiten Phase zählen die Autoren außerdem die Forschungen der Trierer SprachwissenschaftlerInnen zur Aneignung von Medientexten (z.B. Hepp 1998, Püschel/Holly 1997).53 In den neunziger Jahren, der dritten Phase, konstatieren Göttlich und Winter die breitere Aufnahme der CulturalStudies-Ansätze in der Medienwirkungs-, Publikums- und Rezeptionsforschung der Medien- und Kommunikationswissenschaft. Hier siedeln sie auch feministische Analysen an, wie die von Hipfl (1999), Dorer (1997) und Angerer (1995). Göttlich und Winter betonen, dass auch in der dritten Phase der Rezeption Cultural Studies betrieben worden seien (Göttlich/Winter 1999: 35). Demgegenüber kommt Mikos zu dem Schluss, dass in den neunziger Jahren nur über das Projekt geschrieben worden sei, Studien jedoch fehlten (Mikos 1999: 166). Auch wenn einzelne Studien vorliegen – von einer regen Umsetzung der Cultural Studies in Form von Forschungsprojekten kann im deutschsprachigen Raum nicht die Rede sein. Hier ist noch Bedarf gegeben. Die Periodisierung der Cultural-Studies-Rezeption in der Medienund Kommunikationswissenschaft, die Mikos vornimmt, deckt sich im Wesentlichen mit der bei Göttlich und Winter. Mikos geht allerdings stärker chronologisch als methodisch vor, wie es bei Winter und Göttlich der Fall ist, indem er die erste Phase Mitte der achtziger Jahre, die zweite 51 | Siehe Göttlich/Winter 1999: 36. Hepp sieht vier »Rezeptionsstränge«: »Der erste Rezeptionsstrang ist in der Alltagskulturforschung (insbesondere der empirischen Kulturwissenschaft/Volkskunde und teilweise Pädagogik) zu verorten, der zweite in den Sprach- und Literaturwissenschaften (hier insbesondere Anglistik und Amerikanistik), der dritte wäre die Rezeption der Cultural Studies im avancierten Musikjournalismus und schließlich der vierte in der Medienanalyse, insbesondere in den Medien- und Kommunikationswissenschaften« (Hepp 1999: 101). Letzterer steht hier im Mittelpunkt. 52 | Vgl. auch die Darstellung zur deutschsprachigen Rezeption in der Medien- und Kommunikationswissenschaft bei Hepp (1999: 105-108), der stärker einzelne Publikationen in den Mittelpunkt stellt. Siehe auch Mikos 1999. 53 | Vgl. Göttlich/Winter 1999: 33 f.

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Ende der achtziger und die dritte Phase in den neunziger Jahren verortet (vgl. Mikos 1999). Mit der wachsenden Rezeption nahm Ende der neunziger Jahre auch die Zahl an Monographien zu, mit denen die Cultural Studies im deutschsprachigen Raum etabliert werden sollten. Dazu gehört die Einführung, die Hepp in seinem Buch »Cultural Studies und Medienanalyse« gibt.54 Hepp liefert einen umfassenden Überblick, in dem er sowohl auf die theoretischen Wurzeln eingeht, die Entwicklungsgeschichte der Cultural Studies aufrollt sowie zentrale Studien vorstellt. Gegenüber Hepps Bestandsaufnahme, die eine Basis für die weitere Beschäftigung mit den Cultural Studies liefert, beschäftigt sich Winter mit den »Cultural Studies als Kritik der Macht« (2001a). Winter geht ebenfalls auf die Entstehung des Projektes ein und widmet sich im Anschluss der Analyse von Populärem bei Fiske und Grossberg. Winter rückt die Arbeiten zu alltäglichen Machtstrukturen ins Zentrum und verdeutlicht so wesentliche Zielsetzungen der Cultural Studies, wobei er sehr detailliert die theoretischen kulturalistischen und strukturalistischen Leitfäden des Projektes markiert. Daneben erschienen mehrere Reader, in denen ›Grundlagentexte‹ der Cultural Studies zusammengestellt wurden, unter anderem herausgegeben von Bromley/Göttlich/Winter (1999), Engelmann (1999) sowie der Band »Kultur – Medien – Macht«, den Winter und Hepp (1999, orig. 1997) publiziert haben. Zuletzt erschien von Hepp und Winter (2003) »Die Cultural Studies Kontroverse«. Teilweise enthalten die Bände Übersetzungen der englischsprachigen Originale, beispielsweise von Hall und Johnson, teilweise überschneiden sich die Texte und insgesamt formen sie einen verhältnismäßig einheitlichen Kanon an AutorInnen und Theorien. Der Versuch, die Cultural Studies in der deutschsprachigen Forschung zu etablieren, stellt daher gleichzeitig ein Bemühen dar zu institutionalisieren. Hierzu trägt auch die Cultural-Studies-Reihe des Wiener Verlages Turia + Kant bei, in dem neben »Lesarten des Populären« (2000b), der Übersetzung von Fiskes »Reading the Popular« (1989b), und gesammelten Aufsätzen, die Grossberg rund um das Thema ›Populärkultur‹ verfasst hat (2000a), der bemerkenswerte Band »Cultural Studies. Eine Einführung« von Lutter und Reisenleitner (1998) erschien. Obwohl ihre Publikation nicht so umfassend ist, wie die einführende Darstellung von Hepp, steht sie der theoretischen Tradition der Cultural Studies näher. Lutter und Reisenleitner gehen kritischer an ihren Gegenstand heran und betonen immer wieder die Notwendigkeit einer politischen Gangart. Ebenfalls in Wien erschien das Werk »Die Stunde der Cultural Studies« von Lindner (2000), der versucht, die Bewegung selbst zum kulturanalyti-

54 | Hepp stellt sogar ein Glossar mit zentralen Begriffen der Cultural Studies zusammen (siehe Hepp 1999: 274 ff.).

Kurze theoretische Skizzierung der Cultural Studies | 61 schen Gegenstand zu machen und sie als »Kind ihrer Zeit« charakterisiert (Lindner 2000: 113).55 Erwähnenswert ist außerdem der Sammelband, den Göttlich und Winter herausgegeben haben (2000a). In ihm tragen sie Beiträge zu Vergnügen und Populärkultur zusammen, wobei sowohl Fiske und Grossberg vertreten sind als auch deutschsprachige WissenschaftlerInnen wie beispielsweise Hepp, Mikos, Dorer oder Ganz-Blättler, die sich an der Diskussion um die Cultural Studies im deutschsprachigen Raum beteiligen. Göttlich und Winter treten auch gemeinsam mit Mikos als Herausgeber der »Werkzeugkiste der Cultural Studies« auf, die 2001 in der Reihe ›Cultural Studies‹ des Bielefelder transcript Verlages erschien. In ihr finden sich ganz unterschiedliche Beiträge, die theoretische Momente (z.B. Göttlich 2001) berühren, sich aber auch mit der konkreten Umsetzung der Cultural Studies befassen (vgl. Lutter 2001). Breit gestreut an Themen und AutorInnen ist zudem der Tagungsband, den Göttlich, Albrecht und Gebhardt (2002) herausgegeben haben. Unter dem Titel »Populäre Kultur als repräsentative Kultur« befassen sich sehr unterschiedliche Beiträge mit der Populärkulturanalyse der Cultural Studies, wobei sowohl theoretische Prämissen (vgl. z.B. Göttlich 2002) als auch ästhetische Fragen zur populären Kultur behandelt werden (Hügel 2002). Die beiden letztgenannten Sammelbände spiegeln mit ihrem breiten Themenspektrum den Projektcharakter der Cultural Studies deutlich wider. Monographien, die sich ausschließlich mit John Fiskes Theorien zur Populärkultur beschäftigen, liegen noch nicht vor. Am umfassendsten nähert sich Winter seinen Arbeiten (2001a) in dem bereits angeführten Band zu den Cultural Studies. Allerdings kam 2001 »Die Fabrikation des Populären. Der John Fiske-Reader« heraus, den Rainer Winter und Lothar Mikos herausgegeben haben. Darin findet sich ein Querschnitt aus Fiskes gesamtem Schaffen, von seinen frühen Arbeiten Ende der Siebziger bis hin zu neueren Aufsätzen, die er zwei Jahrzehnte später veröffentlichte. Der ›Reader‹ bietet also einen sehr guten Einblick in Fiskes Ansätze und trägt sicherlich dazu bei, die Fiske-Rezeption im deutschsprachigen Raum noch auszudehnen. Weitere Beispiele für den Anstieg der deutschsprachigen Rezeption, die auch außerakademisch verlief, beispielsweise in der Musikzeitschrift SPEX, finden sich bei Hepp (1999: 99 ff.).56 55 | Zu nennen ist noch der Band »British Cultural Studies«, den Jürgen Kramer (1997) publiziert hat. Er wendet sich allerdings speziell an Anglistik-Studierende, die er an das Projekt Cultural Studies heranführen möchte. Dazu macht er auch Vorschläge, wie ein Seminar über die Cultural Studies gestaltet werden könnte. Auch Teske (2002) richtet sich an Anglistik- sowie an Amerikanistik-Studierende. Hepp und Winter (2003) führen zudem noch den Band von Lutter und Musner (2002) an. 56 | Vgl. z.B Spex 1995, Nr. 7 und 8 zu den Cultural Studies, Ikus Lectures 1994, 17/18, montage/av 2/1/1993 (zu Fiske). Bedeutsame Zeitschriften sind bzw. waren: Medien Journal, Medien Praktisch und Das Argument (vgl. Hepp 1999: 107).

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Die genannten Publikationen eröffnen einen deutschsprachigen Zugang zu den Cultural Studies. Auffällig ist, dass der Kreis derjenigen, die die Cultural Studies mit Sammelbänden und Monographien weitertransportieren, sehr übersichtlich ist. Lediglich der Band von Göttlich, Mikos und Winter (2001), von Göttlich und Winter (2000a) sowie der Tagungsband von Göttlich, Albrecht und Gebhardt (2002) wirken etwas offener von den beteiligten Autoren und Autorinnen her. Insgesamt transportieren die vorgestellten Publikationen also auch eine Festschreibung auf bestimmte AutorInnen, bestimmte Studien und bestimmte Methoden. Dabei wollen sich die VertreterInnen der Cultural Studies gerade durch die eigene Kontextualisierung, also durch die Anpassung der eigenen Methoden an die akute Problemsituation, einen flexiblen Umgang mit ihrem Gegenstand, erhalten, der eine Erstarrung der Methoden ausschließen soll. Wegen ihrer programmatischen Offenheit verwundert es nicht, dass sich VertreterInnen der Cultural Studies, wie beispielsweise Grossberg (1999a),57 immer wieder gegen eine zu starke Institutionalisierung aussprechen, bei der jene Offenheit womöglich eingeschränkt würde (vgl. Hall 1999a).58 Dennoch können sich auch die Cultural Studies einer solchen Institutionalisierung offenbar nicht entziehen. Die unterschiedlichen Entwicklungsstufen, ausgehend vom Center of Contemporary Cultural Studies in Birmingham, werden an anderer Stelle ausführlich erläutert (vgl. dazu Hepp 1999) und sollen daher in dieser Arbeit nicht noch einmal dargestellt werden. Auch auf die internationalen Unterschiede der einzelnen Strömungen in den USA, Australien und Großbritannien als Zentrum soll nicht näher eingegangen werden. Bemerkt sei nur, dass die Cultural Studies von Großbritannien ausgehend in unterschiedliche Länder, beispielsweise auch über Ien Ang in den Niederlanden, transportiert wurden.59 Vor allem in Australien und den USA bildeten sich eigene Gruppierungen, unterstützt durch Lehrtätigkeiten britischer VertreterInnen wie beispielsweise Fiske oder Turner. In den USA, Australien sowie natürlich in Großbritannien wurden denn auch weitere Institute gegründet, die sich den Cultural Studies verschrieben haben. Im deutschsprachigen Raum ist eine solche akademische Institutionalisierung bislang ausgeblieben. Die Zukunft der Cultural Studies in diesem Sprachraum ist also noch ungewiss. Bisher scheint der kritisch-politische Anspruch der Cultural Studies und ihre Offenheit allerdings etwas zu kurz zu kommen. 57 | Vgl. Grossberg 1999a: 16. Grossberg kritisiert vor allem die Festschreibung auf das CCCS. 58 | Vgl. auch die Diskussion um die akademische Institutionalisierung der »Bewegung« oder des »Netzwerks« Cultural Studies bei Johnson (1999: 139-141). Kritisiert wurde mit einer Institutionalisierung auch die zu starke Festlegung auf Grundbegriffe und vor allem auf einen zu starken Textualismus (vgl. Göttlich 1999a: 49-51). 59 | Vgl. zur Internationalisierung der Cultural Studies Hepp 1999: 91 f.

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Teil 2 Fiske und ›populäre Texte‹

Die Offenheit populärer Texte | 65

1. Die Offenheit populärer Texte

1.1 Verortung Fiskes in den Cultural Studies Sich mit der Kultur zu befassen, »in der die meisten Menschen leben« (Fiske in Müller 1993a: 5) – damit begründet Fiske sein Interesse für Populärkultur. Fiske selbst bekennt freimütig, Spaß an Populärem zu haben. Der Alltagswert macht Populärkultur für Fiske als Forschungsgegenstand relevant, was seine Anbindung an Williams’ kulturalistisches Kulturverständnis zeigt. Fiske verortet seine Studien in »that loosely delineated area known as ›cultural studies‹« (Fiske 1999a: 1). Er zählte allerdings nie zum engen Kreis der Cultural Studies um die Birmingham School (Winter 1999a: 54). Nach seinem Studium in Cambridge ging er an die University of Wales in Cardiff (Winter 2001a: 163). Neben Großbritannien und Australien lehrte er ab 1987 als Professor für »Media and Cultural Studies« in den USA am Department für »Communication Arts« an der Universität von Wisconsin, Madison. Seit 2000 ist er emeritiert (vgl. Winter 2001b). Innerhalb der Cultural Studies steht Fiske für eine text- und diskursanalytische Medienanalyse. Er ist vor allem durch seine Veröffentlichungen zu Fernsehtexten bekannt geworden. Bereits 1978 hatte er gemeinsam mit Hartley ein Buch zu Fernsehtexten verfasst, das den Titel »Reading Television« trug (vgl. auch Fiske 1989a, 1989b). Den ›Durchbruch‹ erlebte Fiske mit »Television Culture« (1999a), das 1987 erschien. Mikos betont, dass das Jahr 1987 für die deutsche Fiske-Rezeption auch deswegen bedeutsam war, da Fiske vom 17. bis 20. Februar 1987 an einem Symposium teilnahm, das von der Amerikanistik der Tübinger Universität organisiert war. Bei dieser Tagung, die »tief in der deutschen Provinz, auf der Schwäbischen Alb« stattfand (Mikos 2001: 362), stellte Fiske sein Konzept der Texualität vor. Bedeutsame Vertreter und Vertreterinnen der Cultural Studies wie Ien Ang und David Morley waren ebenfalls angereist (vgl. Mikos 2001: 362). Die Tatsache, dass neben den OrganisatorInnen nur sehr wenige deutsche Wissenschaftlerinnen und Forscher vertreten waren, zeigt, wie eingeschränkt die Rezeption der Cultural Studies und Fiskes zu der Zeit war. In der Folgezeit befassten sich einzelne Beiträge

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mit der Polysemie von Texten oder Fiskes Überlegungen zur Intertextualität (vgl. Wulff 1992; Mikos 1993). Winter (1992) und Kreutzner (1991) involvierten Fiskes Theorie zu Teilen in eigenen Arbeiten (vgl. Mikos 2001: 368). 1993 machte die Zeitschrift montage/av durch ein Schwerpunktheft zu Fiske seine Theorie einem größeren, deutschsprachigen Kreis zugängig (vgl. ebd.). In dem Heft findet sich ein ausführliches Interview, das Eggo Müller mit Fiske führte (siehe Müller 1993a), die Übersetzung von Fiskes Aufsatz zum Kult um Elvis Presley (Fiske 1993b) sowie die kritische Auseinandersetzung Müllers mit Fiskes Theorie (Müller 1993b). Seit diesem Schwerpunktheft sind 10 Jahre vergangen, in denen bis auf Winters Auseinandersetzung (2001a) und dem Fiske-Reader (Winter/Mikos 2001) hierzulande keine größeren Werke zu Fiske erschienen. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass die Cultural Studies-Rezeption im deutschsprachigen Raum allgemein etwas verzögert erfolgte. Außerdem dürften die Angriffe auf Fiskes Theorie zur Populärkultur im Rahmen der ›Revisionismusdebatte‹ eine breitere Rezeption gebremst haben.1 Fiskes methodisches Vorgehen hat sich im Laufe der Zeit gewandelt. Wie auch Winter bemerkt, sind die frühen Werke, zu denen er »Television Culture« (1999a; orig. 1987), »Understanding Popular Culture« (1989a) sowie »Reading Popular Culture« (1989b) rechnet, von Halls Encoding/Decoding-Modell geprägt. In diesen frühen Werken betont Fiske die Offenheit populärer Texte, die sie für den Gebrauch im Alltag besonders geeignet machen. In Fiskes neueren Studien, insbesondere in »Media Matters« (1996, orig. 1994), stehen indes diskursanalytische Verfahrensweisen im Vordergrund, bei denen er sich auf Foucault bezieht (siehe auch Winter 1999a). Insgesamt wurde Fiske von unterschiedlichen Einflüssen geprägt. In »Power Plays Power Works« (1993a) gibt er verschiedene theoretische Wurzeln an, die seine Form der Kulturanalyse beeinflusst habe: Er nennt den Machtbegriff von Foucault sowie strukturalistische, marxistische Theorien, was die Begriffe Ideologie, Klasse oder Bewusstsein betrifft. Außerdem hat Fiske Gramscis Überlegungen zur kulturellen Hegemonie rezipiert, wobei er auf die Weiterverarbeitungen von Hall und Williams verweist und auch Volosinov anführt (ebd.: 9). Ebenso lassen sich der poststrukturalistische Einfluss von Barthes sowie Bezüge zu Bachtin und de Certeau anführen. Fiskes Arbeiten weisen insgesamt vielfältige theoretische Einflüsse auf, die für die Cultural Studies auch allgemein von Bedeutung waren.2 Neben Fiskes Interesse für Populärkultur beschäftigte er sich in jüngeren Arbeiten vielfach mit ethnischen Fragen in den USA, insbesondere 1 | Vgl. dazu den Abschnitt zur Revisionismusdebatte in dieser Arbeit. 2 | Winter stellt in seinen Ausführungen sehr genau die theoretischen Bezüge von Fiskes Arbeiten heraus (Winter 2001: 163 ff.). Winter betont auch den Bezug zu Derrida, den Fiske entgegen Winters Ansicht (ebd.: 164) auch erwähnt (siehe Fiske 1999a: 116).

Die Offenheit populärer Texte | 67 setzt er sich mit dem Bemühen der Afroamerikaner auseinander, gesellschaftliche Gleichstellung zu erlangen. In »Media Matters« schildert Fiske das Ringen um gesellschaftliche Bedeutungen als Ausdruck des Kampfes um Gleichberechtigung (vgl. Fiske 1996). Ein Ziel dieser Arbeit ist es, Fiskes Analyse von Populärem darzustellen, um seine Bewertungsmaßstäbe herauszuarbeiten. Dabei wird diskutiert, inwieweit sein (diskursanalytisches) Vorgehen handhabbar für die Analyse von Texten ist. Zur Übersicht werden noch einmal – stark vereinfacht – zentrale Begriffe in Fiskes Theorie vorgestellt: In »Television Culture« arbeitet Fiske mit einer Definition von Kultur als Hervorbringen und Zirkulation von Bedeutungen und Vergnügen in einer Gesellschaft (Fiske 1999a: 1). Kultur besitze neben der Bedeutungsseite auch immer eine Seite, die Machtverhältnisse transportiere und sie entweder stütze oder ihnen entgegenlaufe (Fiske 1993a: 13). Die ungleichen Machtverhältnisse kapitalistischer Industriegesellschaften schlagen sich daher auch im kulturellen Bereich nieder. Fiske nimmt außerdem eine kulturelle Ökonomie an, in der Bedeutungen und Vergnügen zirkulieren, gegenüber einer finanziellen Ökonomie. Während das Fernsehen aus Sicht der finanziellen Ökonomie einen marktwirtschaftlichen Faktor darstellt, was sich vor allem an der Werbeindustrie widerspiegelt, sind die Vergnügen und Bedeutungen, die es den Publika eröffnet, Teil der kulturellen Ökonomie (vgl. Fiske 1991). Macht bzw. »power« definiert Fiske wie folgt: »Power, then is a systematic set of operations upon people which works to ensure the maintance of the social order (in our case of late capitalism) and ensure its smooth running« (Fiske 1993a: 11). Er lehnt sich an den Machtbegriff Foucaults an, geht also von einem diskursiven Ansatz aus. Text wird von Fiske als strukturierte Menge von Zeichen verstanden, zu der nach einem erweiterten Textverständnis nicht nur gedruckte Texte gerechnet werden. Daneben definiert Fiske den Begriff ›Text‹ in Abhängigkeit von der Aktivität der LeserInnen. Erst die KonsumentInnen erzeugten Text, vorher existierten lediglich industriell produzierte ›Programme‹, die erst durch die Lektüre zu Text transformiert würden (Fiske 1999a: 14). Sein Konzept der Textualität hat Fiske in Anlehnung an Barthes’ Vorstellung von ›Werk‹ und ›Text‹ entwickelt (vgl. Fiske 1999a: 96). Textualität bezeichnet nach Fiske im Gegensatz zu Texten das abstraktere semiotische Potential, aus dem heraus die Bedeutungen und Vergnügen durch die LeserInnen produziert werden (vgl. Fiske 1991) – Fiske bezieht sich dabei auf produzierbare Texte, die die LeserInnen zur Bedeutungsproduktion anregten. Die Textualität des Fernsehens ist für ihn außerordentlich intertextuell (Fiske 1999a: 15). Zudem legten Fernsehtexte ihre Textualität für die RezipientInnen offen, dies werde beispielsweise bei Sportsendungen besonders deutlich, wo der Weg von den Ereignissen zur Präsentation in der Sendung erkennbar sei (ebd.: 237). Texte sind eingebettet in Diskurse, über die gesellschaftliche Bedeu-

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tungen ausgefochten werden. Fiske nimmt eine Realität außerhalb von Diskursen an, die jedoch nur diskursiv erfahrbar sei (vgl. Fiske 1996: 3 ff.).3 Das Fernsehen, welches bei Fiske einen zentralen Stellenwert in seiner Arbeit sowie in der Produktion von Populärkultur einnimmt, definiert er als ›Provokateur von Bedeutungen‹ (vgl. Fiske 1999a: 1). Es ist somit wesentlich für die gesellschaftliche Zirkulation von Bedeutungen in industriellen Gesellschaften. Dabei macht Fiske keinen Unterschied zwischen fiktionalen und non-fiktionalen Formaten und untersucht sowohl Nachrichten als auch Serien oder Quizshows. Meist agiert er dabei mit Hilfe von kurzen Sequenzen, die er beispielhaft für den ganzen Text analysiert. Statt eines Publikums geht Fiske von unterschiedlichen Publika aus, die aktiv Texte rezipieren, indem sie sie mit ihrem spezifischen sozialen Kontext in Beziehung setzen (ebd.: 80-83). Der Rezeptionsprozess, den Fiske annimmt, stellt daher vielmehr eine Aneignung der Texte oder Programme dar, in dem die LeserInnen den angebotenen Zeichen Bedeutungen zuweisen. Die Bedeutungsgebung verlaufe keineswegs willkürlich, sondern sei vom Kontext der LeserInnen und der Textstruktur abhängig. Fiske favorisiert allerdings ein offeneres Modell als Halls Vorschlag der drei Lesarten, den er mit seinem Encoding/Decoding-Modell gemacht hat (vgl. ebd.: 62 ff.). Fiskes Grundbegriffe decken sich weitgehend mit dem Verständnis der Cultural Studies allgemein. Abweichungen zeigen sich darin, wie er die Kompetenzen der Rezipientinnen und Rezipienten beurteilt. In der Revisionismusdebatte warf man ihm vor, mikropolitische Aspekte überzubetonen und makropolitische Elemente zu vernachlässigen (vgl. Teil 2, Kap. 2.4). Fiske ist hierüber in den letzten Jahren zu einem sehr umstrittenen Vertreter der Cultural Studies geworden. Bevor es um Fiske geht, soll ein früher Blick auf Populäres vorgestellt werden: Umberto Eco hat der Populärkulturforschung mit seinen Überlegungen etliche Impulse gegeben, die sowohl mit der Analyse von Texten als auch die Frage der Bewertung betreffen.

3 | Vgl. dazu ausführlicher das Kapitel zu Fiskes Diskursbegriff und seiner Diskursanalyse in dieser Arbeit.

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1.2 Ecos früher Blick auf Populäres »Dem apokalyptischen Tugendhaften verdanken wir einige Begriffsfetische. Ein Begriffsfetisch hat die Eigentümlichkeit, das Gespräch zu blockieren, den Diskurs in einer emotionalen Reaktion zum Stillstand zu bringen. Nehmen wir als Beispiel den Begriffsfetisch ›Kulturindustrie‹. Was ist mehr verpönt als die Kombination des Begriffs Kultur (der eine private und subtile Berührung der Seele andeutet) mit dem Begriff Industrie (der an Fließbänder denken lässt, an serielle Reproduktionen, an öffentliche Zirkulation und den Tausch von Gegenständen, die zur Ware geworden sind)?« (Eco 1994a: 19) Ecos Faszination an dem Konstrukt ›Hoch- und Populärkultur‹ zeigt sich an vielen Äußerungen (vgl. z.B. das Gespräch mit Eco in Arias 1978) und Titeln seiner Veröffentlichungen wie »Platon im Stripteaselokal« (1990) sowie »Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß« (2000). Bereits Mitte der fünfziger Jahre beschäftigte sich Eco mit Populärkultur. Am 17.1.1954 hielt er ein Plädoyer für den Detektivroman, in einem Artikel, der in »Gioventù cattolica« veröffentlicht wurde. Darin betont er, dass sich Bildung und Populärkultur nicht ausschlössen (vgl. Bondanella 1997: 2). Ein früher Höhepunkt dieser Auseinandersetzung mit ästhetischen Prämissen stellte 1962 die Veröffentlichung von »Opera aperta« dar (ebd.: 4). Eco war zu dieser Zeit durch marxistische Ansätze wie Gramsci und Lucácz beeinflusst. Er teilte die Annahme, dass Kultur ideologische Inhalte transportiere. Ein weiteres Zeugnis seiner Beschäftigung mit populären Texten legte er mit »Apokalyptiker und Integrierte« (1994a) ab, das bei seinem Erscheinen 1964 für ebenso viel Aufruhr gesorgt habe wie »Opera aperta« (Bondanella 1997: 42). Eco und Cultural Studies Ecos Beschäftigung mit Populärem wird auch in den Cultural Studies rezipiert. Fiske weist an einigen Stellen auf Ecos Aufsatz zur semiotischen Analyse von Fernsehtexten hin (Eco 1980, orig. 1965). Darin geht Eco davon aus, dass massenmediale Botschaften in der Regel nicht im Sinne der Produzenten bzw. Produzentinnen dekodiert würden. Es sei daher notwendig, Botschaften semiotisch zu analysieren und in einem zweiten Schritt durch Feldforschung zu überprüfen, auf welche Weise das Publikum die Botschaften dekodiere. Dadurch könne man genauer die notwendige Beschaffenheit von Botschaften bestimmen, um die Interpretation der EmpfängerInnen besser zu determinieren und die Botschaften effizienter zu machen (vgl. ebd.).4 Eco beschreibt darin, dass die Inter4 | Eco nimmt dabei neben den Codes der Botschaft Subcodes an, die auf eine konnotative Ebene von Texten verweisen. Für das Fernsehen sieht er beispielsweise ikonische Codes durch die Bilder gegeben, die unter anderem ästhetische Subcodes enthalten könnten. Botschaften enthalten damit verschiedene Ebe-

70 | Teil 2: Fiske und ›populäre Texte‹

pretation von Medieninhalten aufgrund unterschiedlicher ideologischer Bezugssysteme von Publikum und ProduzentInnen differieren könnten. Er hat in einem Nachtrag seine Aussagen etwas modifiziert und betont, dass die abweichenden Dekodierungen des Publikums nicht ausschließlich als falsche Dekodierung gesehen werden könnten, die man möglichst ausräumen müsse. Vielmehr existiere hier auch ein Freiraum für die EmpfängerInnen (ebd.: 148/149). An anderer Stelle beschreibt Eco die Nutzung dieses Freiraums als ›semiotische Guerilla‹ (vgl. Eco 1994a: 13). Wenn es bei Fiske um die Aneignung von offenen Texten geht, bezieht Fiske Ecos Ideen zum ›offenen Kunstwerk‹ mit ein, in denen er den Lesern und Leserinnen eine ›Mitarbeit der Interpretation‹ einräumt (vgl. Mikos 2001). Auch Ecos Überlegungen zur ›Rolle des Lesers‹ (1979) wurden aufgegriffen, worin Eco für einen Text mehrere Lesarten nebeneinander annimmt, die sich je nach ideologischer Perspektive der LeserInnen unterschieden. Hier betont Eco noch einmal, dass Lesen gegen die beabsichtigte Lesweise der ProduzentInenn möglich sei. Eco hat also verschiedene Impulse zur Analyse von Texten gegeben, die sowohl enge Bezüge zu Halls Encoding/Decoding-Modell aufweisen, als auch zu Fiskes Überlegungen zur Bedeutungskonstruktion mittels Fernsehtexten. Eco und Populäres Sehr früh hat Eco versucht, eine neue Perspektive auf Populäres zu entwickeln, die von etablierten, abwertenden Forschungsansätzen abwich. Anfang der sechziger Jahre untersuchte er Ian Flemings James-BondRomane – im Gegensatz zur damaligen ›Scheu‹ Intellektueller vor Populärem. Er kehrt dabei die schematische Struktur von populären Angeboten heraus. Insgesamt nimmt Eco einen anderen Blick ein, als es die Cultural Studies tun. Dennoch hat er nicht nur durch seine immer wiederkehrende Beschäftigung mit Populärem dazu beigetragen, den Platz von Unterhaltung und Vergnügen in der gesellschaftlichen Praxis zu verdeutlichen. Mit seinem Werk »Das offene Kunstwerk« (1973) hat sich Eco zudem gegen die Geschlossenheit von Kunstwerken gewandt, die ein Argument in der Abwertung von massenkulturellen Angeboten darstellte. Eco fasst im Vorwort zur zweiten Auflage zusammen: »das Kunstwerk gilt als eine grundsätzlich mehrdeutige Botschaft, als Mehrheit von Signifikaten (Bedeutungen), die in einem einzigen Signifikanten (Bedeutungsträger) enthalten sind« (Eco 1973: 8). Er widmet sich dort unter anderem den ›Poetiken von Joyce‹ (siehe ebd.: 293 ff.). Beim ›offenen Kunstwerk‹ sei nen. Eco geht daneben von einem ideologischen System aus, das mit Codes und Subcodes interagiere. Aus beiden ergebe sich ein »significance system«. Bei einer semiologischen Analyse müsse man dieses spezifische Bedeutungssystem für die sendende Organisation und die technischen Interpreter bestimmen sowie analysieren, welches System beide bei den EmpfängerInnen der Botschaft voraussetzten. Aufgabe der Publikumsforschung sei es zu prüfen, was tatsächlich von den EmpfängerInnen interpretiert werde (vgl. Eco 1980).

Die Offenheit populärer Texte | 71 der Leser oder die Leserin an der Entstehung beteiligt.5 Demgegenüber sieht Eco beim geschlossenen Werk einen strengen Interpretationsrahmen vorgegeben, in dem es gedeutet werden müsse. Populäre, massenmediale Texte klassifiziert Eco als geschlossen, räumt jedoch trotzdem die Möglichkeit mehrerer Lesarten ein (vgl. Jurga 1999: 124). Ecos frühe Betrachtung der Textualität von Populärem hat der Populärkulturforschung wichtige Impulse gegeben. In Ecos Werk spiegeln sich wesentliche Momente der Bewertung von Populärem wider. Er steht allgemein in der Diskussion um Populärkultur für zwei Aspekte, die in den »Apokalyptikern und Integrierten« anklingen: Einerseits hat er sich bemüht, die Wertungen, die den Diskurs um Unterhaltung durchziehen, aufzuzeigen. Ecos ›Apokalyptiker‹ vermuteten in den Produkten der Kulturindustrie den Untergang der Zivilisation, während die ›Integrierten‹ populärkulturelle Angebote unhinterfragt nutzten und befürworteten. Andererseits findet man in dem Sammelband ›Apokalyptiker und Integrierte‹, wie bereits angedeutet, mehrere Aufsätze zu populären Texten wie den ›Peanuts‹ oder ›Superman‹, die Ecos semiotische Herangehensweise veranschaulichen, die ihn für die Diskussion um populäre Texte bedeutsam macht. Die Untersuchungen zu den ›Peanuts‹, ›Superman‹ oder ›James Bond‹ in den ›Apokalyptikern und Integrierten‹ entstammen allerdings Ecos früher semiotischer Phase – Eco selbst habe von ›prä-semiotischer‹ Zeit gesprochen (Bondanella 1997: 42). Es handelt sich bei ihnen weniger um ausführliche Zeichenanalysen denn um strukturalistische Studien, was später anhand zweier Beispiele noch deutlicher wird. Außerdem analysiert Eco keine Fernseh-, sondern literarische Texte. Eco bemühte sich Mitte der sechziger Jahre um einen neutralen Standpunkt in der Debatte um Massenkultur, wenn er sich sowohl von ›Integrierten‹ als auch von ›Apokalyptikern‹ distanziert. Er hebt das Nutzungsverhalten als Kriterium für unterschiedliche Niveaus kultureller Angebote hervor (Eco 1994d: 54). Es bleibt jedoch bei Andeutungen, mögliche Haltungen zum Text oder gar Lesarten werden dort nicht ausgeführt. Zudem verwickelt sich Eco in Widersprüche. Sieht er einerseits das Rezeptionsverhalten als Maßstab für einen Text an, so hält er andererseits an den traditionellen Bewertungen im Unterhaltungsdiskurs fest, wenn er beispielsweise ›Kitsch‹ gegenüber Kunst abwertet (vgl. Eco 1994a). Zudem klingt bei ihm sehr stark die Suche nach Bedingungen an, unter denen Populäres gut zu heißen sei: »Ich kann mir sehr gut einen Roman vorstellen, der, obwohl zur Unterhaltung gedacht, ästhetischen Wert besitzt, originell ist (keine Nachahmung bereits realisierter Formen) und als

5 | Fiske führt Ecos Perspektive, typische Texte der Avantgarde als ›offen‹ zu verstehen an, um sich bezüglich seiner produzierbaren Texte davon abzugrenzen (vgl. Fiske 1999a: 95).

72 | Teil 2: Fiske und ›populäre Texte‹

Kommunikationsbasis eine stilistische k o i n é, eine Umgangsprache wählt, die in literarischen Experimenten geschaffen wurde, als Versuchsanordnung und Vorschlag […]« (Eco 1994d: 53).6 Deutlich wird, dass Populäres nicht aufgrund der ihm eigenen Merkmale geschätzt wird, sondern Eco typische Momente des ästhetischen Diskurses aufführt, die Populäres legitimieren könnten. Seine Position innerhalb der sechziger Jahre ist dennoch fortschrittlich zu nennen. Massenkultur wissenschaftlich zu untersuchen, galt im damaligen Italien als verpönt (vgl. Eco 1994a: 10). ›Die Struktur des schlechten Geschmacks‹ Bezeichnend ist, dass Eco in der »Struktur des schlechten Geschmacks« (1994b, orig. 1963) den Dualismus aufgreift, der in dem ästhetischen Diskurs des zwanzigsten Jahrhunderts zentral ist. Er stellt das ›Kunstwerk‹ der ›Massenkultur‹ gegenüber.7 Heutige Diskussionen um populäre Kulturangebote kommen ohne ›das Kunstwerk‹ aus. Ein Kunstwerk stellt für Eco eine mehrdeutig angelegte Struktur dar, die vom Publikum ebenso vielfältig dekodiert werden könne. Er hebt damit die »poetische Botschaft« (Eco 1994b: 73) von Kunstwerken hervor. Diese Botschaft könne jedoch im Laufe des Kulturbetriebes verloren gehen, da sich nach und nach eine festgelegte Lesart herauskristallisiere, die von der Mehrheit akzeptiert werde (vgl. ebd.: 80/81). Die Polysemie der Struktur bleibe jedoch erhalten, so dass in neuen Kontexten die Fülle an Lesarten wiedergewonnen werden könne (ebd.: 81 ff.). Dagegen stellt Eco den Kitsch. Dieser sei der fehlgeschlagene Versuch, Bekanntes in eine neue Struktur zu integrieren. Effekthascherei scheint für Eco ein Unterscheidungskriterium zwischen Kitsch und Kunst zu sein. Trotz seiner strukturalistischen Vorgehensweise ist Eco hier anscheinend noch sehr dem ästhetischen Maßstab des ›Originären‹ verpflichtet. Auch die ›Effekte‹, mit denen bereits Adorno und Horkheimer Populärkultur abqualifizierten, deuten die bekannten intellektuellen Werturteile an, die mit Kriterien wie ›Wahrheit‹ den industriell gefertigten Kulturangeboten, die die RezipientInnen täuschten, eine Absage erteilen (vgl. Horkheimer/Adorno 1998). Ähnlich wie in der Analyse des Kitsches argumentiert Eco, wenn er Ian Flemings James-Bond-Romane untersucht (1994c; orig. 1964). Er kommt dabei zu dem Schluss, dass Flemings Werke immer nach denselben Mustern funktionieren. Strukturalistisch geprägt sucht Eco nach Oppositionen, wie ›Gut‹ und ›Böse‹, die sich immer wiederholten. Er zerlegt den Text in einzelne Bausteine. Der Seriencharakter und das

6 | Das Zitat könnte man auch als Vorgriff auf seinen Roman »Der Name der Rose« interpretieren, den Eco in den achtziger Jahren verfasste und der als Beispiel für postmoderne Literatur diskutiert wurde. In ihm kombiniert Eco das populäre Krimigenre mit ausgeklügelten intertextuellen Bezügen. 7 | Vgl. dazu Horkheimer/Adorno 1998; Benjamin 1974.

Die Offenheit populärer Texte | 73 Klischeehafte von Populärem wird hier hervorgehoben. Flemings Erfolg begründet Eco folgendermaßen: »Es ist also klar, warum Flemings Romane einen so breiten Erfolg haben konnten: Sie setzen eine Kette elementarer Assoziationen in Gang, verweisen auf eine ursprüngliche, tiefe Dynamik. Und sie gefallen dem gebildeten Leser, der darin, mit einer Spur ästhetizistischer Selbstgefälligkeit, die Reinheit der primitiven Epik wiedererkennt, die schamlos und boshaft in eine aktuelle Terminologie übertragen worden ist; er zollt Fleming als dem gebildeten Mann Beifall, den er als einen der Seinigen, natürlich als besonders geschickt und unbefangen, erkennt« (Eco 1994c: 298). Das Zitat verdeutlicht, wie stark Ecos frühe Beschäftigung mit Populärem durch den Versuch geprägt ist, zu rechtfertigen. Populäre Vergnügen werden mit mythischen Strukturen begründet und der ›Gebildete‹ finde einen ästhetischen Zugang zu ›James Bond‹. Dennoch weist Eco auch hier auf verschiedene Zugänge oder auch Lesarten von Populärem hin. Ecos frühe Beschäftigung verdeutlicht, dass er Anfang der sechziger Jahre eine Art Vorreiterrolle bei der Aufwertung von populären Vergnügen gespielt hat, die sich natürlich noch merklich von den Positionen der Cultural Studies unterscheidet, wie sie auch Fiske schließlich entwickelt hat.

1.3 Fiskes ›populäre Texte‹ und ihre Eigenheiten 1.3.1 Undisziplinierte Texte: Populäre Texte und Textoffenheit Wie Eco interessiert sich auch Fiske für die Struktur von Texten und ihre Offenheit. Während Eco Offenheit anhand von Kunstwerken untersuchte, wendet sich Fiske dem Populären zu. Beiden Autoren ist gemein, dass sie die Mehrdeutigkeit von Texten hervorheben. Fiske wählt jedoch im Gegensatz zu Eco einen neuen Blick auf populäre Texte, aus der Warte ihrer NutzerInnen heraus. Er fragt danach, wie es zu der Popularität kommt, also welche typischen Merkmale populäre Texte für eine Bandbreite unterschiedlicher Rezipientinnen und Rezipienten attraktiv bzw. nutzbar machen. Fiske reflektiert dabei ästhetische Positionen und kritisiert den Versuch kultureller Minderheiten, ihren Geschmack einer breiten Mehrheit vorzuschreiben (vgl. Fiske 2000a). Im Gegensatz zu Eco nimmt Fiske Abstand von Hierarchien zwischen Kunst und Populärem und versucht zu verdeutlichen, dass die Vielfalt an Angeboten auch eine Vielfalt an unterschiedlichen Vergnügen bereithält, die alle ihren spezifischen Reiz haben. Bei seiner Beschäftigung mit populären Texten geht Fiske von ihrer Textstruktur aus. Daneben sieht er populäre Texte immer auch als Ort, an dem um Bedeutungen gekämpft wird. Dies verdeutlicht er damit, dass die Texte immer zwischen Geschlossenheit und Offenheit stünden (Fiske

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1999a: 99). Das Konzept der offenen und geschlossenen Texte entlehnt Fiske, wie er selbst angibt, von Eco, der es jedoch nicht in derselben Weise verwendet, wie im vorigen Abschnitt ausgeführt wurde (siehe ebd.: 94).8 Den Konflikt zwischen Geschlossenheit und Offenheit macht Fiske anhand zweier gegenläufiger Strategien fest, die Texten zugrunde lägen: Geschlossenheit werde durch logisch aufgebaute Erzählstrategien erzielt, die die einzelnen erzählerischen Bestandteile in eine Struktur bringen. Eine ›realistische‹ Erzählhandlung eines Textes, bzw. das Erzählkonzept ›Realismus‹, ist dafür ein Beispiel. Es bedingt eine eher geschlossene Textstruktur und damit auch eine ideologisch geschlossene Textanlage, die bestimmte Lesarten nahe legt. Dagegen sieht Fiske zum anderen die Strategie, besonders viele Assoziationen durch die Textstruktur zu ermöglichen. Je assoziativer ein Text wirke, desto ›undisziplinierter‹ und offener sei er (vgl. ebd.: 98 ff.). Textoffenheit ist für Fiske eine Voraussetzung für die Popularität von Texten. Gerade für Fernsehtexte, die sehr unterschiedliche Publika ansprechen sollen, sei Offenheit zentral (Fiske 1999a: 94).9 Produzierbare Texte Die Offenheit ist populären Texten von der traditionellen Ästhetik häufig als Defizit ausgelegt worden (Fiske 1989a: 126). Fiske wertet die lückenhafte Struktur populärer Texte, die sich durch die Offenheit ergibt, demgegenüber positiv, da sie eine produktive, kreative Lektüre ermögliche (ebd.). In seinen Überlegungen geht Fiske zunächst von Barthes’ Kategorien der schreibbaren und lesbaren Texte aus (vgl. ebd.: 103 ff.; Barthes 1976). Schreibbare Texte müssten von den RezipientInnen aktiv entschlüsselt und damit ›neu geschrieben‹ werden. Häufig handele es sich dabei um avantgardistische Erzeugnisse mit sehr offener Textstruktur. Lesbare Texte verlangten dagegen keinerlei Aktivität. Vielmehr könnten ihre LeserInnen sich gänzlich passiv der Lektüre widmen, da diese Texte sehr leicht zugänglich seien und mittels einer recht geschlossenen Struk8 | Allgemein knüpft Fiske mit dem Konzept von offenen und geschlossenen Texten an semiotisch strukturalistische Traditionen an, wie neben Eco auch Barthes sie begründet hat. Vgl. dazu den kurzen Überblick bei Jurga 1999: 121 ff. 9 | Gegen die Offenheit von Populärem argumentieren Hepp und Vogelsang (2000) in ihrer Untersuchung zur Rezeption der jüngsten ›Titanic‹-Verfilmung. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass populäre Texte häufig sehr geschlossen seien. Popularität werde demnach nicht durch textuelle Offenheit bedingt, sondern durch »emotionale Multiakzentuiertheit« (Hepp/Vogelsang 2000: 169). Allerdings beschreiben sie in ihrer Untersuchung nicht die individuellen Kontexte der Befragten und lassen daher individuelle Feinheiten in der Aneignung der Liebesgeschichte außer Acht. Das Zusammenspiel zwischen Offenheit und Geschlossenheit wird von den Autoren nicht thematisiert. Bei ihrem Konzept der ›emotionalen Multiakzentuiertheit‹ berücksichtigen sie zudem nicht den ›emotionalen Realismus‹ von Ang (vgl. Ang 1985), was nahe läge und die Faszination an emotionalen Inhalten etwas tragfähiger erklären könnte.

Die Offenheit populärer Texte | 75 tur einen Sinn nahe legten. Ein lesbarer Text müsse daher nicht erst ›erarbeitet‹ werden. Barthes habe letzteren Texttypus vor allem bei populären (literarischen) Texten angenommen (Fiske 1999b: 67). Ausgehend von diesen beiden Gegensätzen entwirft Fiske für das Fernsehen die Kategorie des »producerly« (Fiske 1989a: 103 f.), des produzierbaren Textes, der den leichten Zugang des lesbaren und die Offenheit des schreibbaren Textes in sich vereine und zudem populär sei (Fiske 1999a: 95). Der produzierbare Text zwinge jedoch keine Lesart auf oder verlangt eine aktive Leseweise, sondern biete »sich selbst einer populären Bedeutungskonstitution an« (Fiske 1999b:68). Er liefere sich dem Leser oder der Leserin in diesem Sinne aus und ist daher aus sich selbst heraus nicht mehr ›kontrollierbar‹. Jene produzierbaren Texte seien prädestiniert dafür, populäre Texte zu werden, da sie dem Alltag der KonsumentInnen nahe stünden: »ihre Disziplinlosigkeit ist die Disziplinlosigkeit des Alltagslebens, die vertraut wirkt, da sie ein unvermeidliches Element der populären Erfahrung innerhalb einer hierarchischen, durch Machtverhältnisse strukturierten Gesellschaft darstellt« (Fiske 1999b: 68). Merkmale offener Strukturen Fiske beschäftigt sich in seinen Studien eingehend mit den Eigenschaften, die offene Textstrukturen und damit die Polysemie von Texten fördern. In »Television Culture« führt er hierzu unter anderem Ironie an (Fiske 1999a: 85) sowie Metaphern, Witze und Widersprüchlichkeiten (vgl. ebd.: 87 ff.), die Fernsehtexte ›öffneten‹. Ironie sei beispielsweise denkbar in Fernsehdialogen, in denen ein Charakter etwas sagt, mit dem er genau das Gegenteil des Wortlautes meint. Dadurch, dass die ZuschauerInnen die Ironie erkennen, würden sie in eine übergeordnete, allwissende Position gerückt. Ironie sei immer polysem und eröffne unterschiedliche Lesarten, da Ironie zwangsläufig immer entgegengesetzte Bedeutungen und verschiedene Diskurse kombiniere und den LeserInnen ›anbiete‹ (vgl. ebd.: 86). Auch Metaphern vereinen nach Fiske mehrere Diskurse über den Bezug zum eigentlichen Gegenstand und dem Bildbereich, mit dem dieser charakterisiert wird. Fiske beschreibt den Effekt wie folgt: »The collision of discourses in irony and metaphor produces an explosion of meaning that can never be totally controlled by the text and forced into a unified sense producing a unified and singular position for the reading subject« (ebd.: 87). Je mehr Bedeutungsanreize ein Text enthalte, desto weniger ist er auf eine Lesart festzuschreiben. Witze enthielten genau wie Ironie und Metaphern unterschiedliche Möglichkeiten, gedeutet zu werden. Ein Witz über Frauen sei ebenso als Parodie über patriarchale Vorurteile zu deuten (vgl. ebd.: 87). Widersprüchlichkeiten in Fernsehtexten, beispielsweise Widersprüche zwischen Beruf eines Charakters und dem gezeigten Lebensstil, wiesen auf Bruchstellen in Erzählstrategien und in der transportierten, dominanten Ideologie hin. Widersprüche eröffneten daher subversive Lesarten, was für die Popularität der Texte zentral sei. Ansonsten wäre der Kreis der RezipientInnen auf dieje-

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nigen beschränkt, die konform mit den dominanten Bedeutungen des Textes gehen (vgl. ebd.: 88). Fiske verweist hinsichtlich der Widersprüche und in Bezug auf produzierbare Texte im allgemeinen auf Bachtins Konzept der Heteroglossie, also auf die Mehrstimmigkeit von Texten. Fiske betont, dass nicht eine Textbedeutung vorgegeben werden könne, sondern immer mehrere Bedeutungen nebeneinander gewissermaßen einen ›Chor‹ bildeten. Diese Stimmen seien nach Fiske nicht hierarchisch gegliedert – je nach Rezipient oder Rezipientin würden verschiedene Stimmen in unterschiedlicher Lautstärke wahrgenommen (vgl. ebd.: 96; siehe auch 89).10 In »Understanding Popular Culture« führt er noch Wortspiele als Merkmale populärer Texte an (Fiske 1999b: 70), die er am Beispiel der Boulevardpresse illustriert (vgl. ebd.: 76 ff.). Eigenschaften wie Wortspiele, Metaphern, Witze oder Widersprüche sind aus literarischen Zusammenhängen bekannt. Fiske betrachtet sie jedoch weniger als textuell auffällige Momente, die den Geist des Autors oder der Autorin belegen, sondern in ihrer Funktion für die LeserInnen. Allen ist gemein, dass sie im Text angelegt die Bedeutungsmöglichkeiten des Textes öffnen können. Neben den aufgeführten Merkmalen nennt Fiske die Intertextualität von Texten, die sie zu populären Texten werden ließe (vgl. Fiske 1999a: 108 ff.), sowie ›Exzess‹ und das ›Offensichtliche‹ (Fiske 1999b: 76 ff.). Intertextualität bezeichnet den Bezug von Texten untereinander, seien es Genrebeziehungen, der Bezug zwischen Film und Filmkritik oder dieselbe Schauspielerin, die zwei Fernsehtexte miteinander verknüpft. Der Punkt ›Intertextualität‹ wird im folgenden Abschnitt noch ausführlich diskutiert, daher soll es an dieser Stelle genügen. Begriffe wie ›das Offensichtliche‹ und ›Exzess‹ werden weniger in der literarischen Analyse benutzt. »Exzess und das Offensichtliche sind zentrale Merkmale des produzierbaren Textes. Sie stellen ein ergiebiges Rohmaterial zur Konstitution von Populärkultur zur Verfügung« (ebd.). Mit dem Offensichtlichen, das Fiske erst in »Understanding Popular Culture« (1989a) aufführt, meint er die Plakativität von Populärkultur, die keinen Feinsinn erkennen lässt, sondern auf den ersten Blick den Kern einer Sache zeige. Große Titelphotos oder Balkenüberschriften stehen für das Offensichtliche der Boulevardpresse. Das Offensichtliche, worunter auch Klischees fallen (Fiske 1999b: 79 ff.), und der Exzess, den Populärkultur aufweisen kann, sind kaum zu trennen. Fiske unterscheidet zwei Arten von Exzess: die Übertreibung (»excess as hyperbole«; Fiske 1999a: 90) und einen semiotischen Exzess, der typisch für Fernsehtexte sei (ebd.: 91). Übertreibungen machten entgegengesetzte Deutungen möglich. So könne Popstar ›Madonna‹ durch ihr exzessives Auftreten einerseits als patriarchales Sexsymbol wahrgenommen werden und andererseits als emanzipierte Frau, die konträr zur dominanten Ideologie stehe und von 10 | Fiske bezieht sich an dieser Stelle auch auf Barthes (1976), der von ›verwobenen Stimmen‹ in Texten ausgeht.

Die Offenheit populärer Texte | 77 weiblichen Teenagern zum Vorbild genommen werde (z.B. ebd.: 126; 1999b: 82).11 Sie biete als Text, beispielsweise als Fernsehtext in ihren Musikvideos, exzessive Strukturen an, die völlig konträre Deutungen zuließen. Die zweite Form, semiotischer Exzess, stelle kein konkretes textuelles Moment dar wie die Übertreibung, sondern sei ein generelles Merkmal von Fernsehtexten: »(…) there is always too much meaning on television to be controllable by the dominant ideology. There are always traces of competing or resisting discourses available for alternative readings« (Fiske 1999a: 91). Durch die Masse an Zeichen, seien es Licht, Make-up, Aussehen, Musik etc., werde also immer mehr Bedeutung durch das Fernsehen produziert, als der Text kontrollieren könne (vgl. ebd.: 92). Um das Offensichtliche und Exzessivität zu verdeutlichen, führt Fiske Beispiele aus der Boulevardpresse an. Die deutsche Presselandschaft verfügt zwar nicht über die Vielfalt solcher Blätter, wie sie in Großbritannien oder den USA zu finden sind, die Bild-Zeitung steht ihnen jedoch in nichts nach, wie beispielsweise die »Fußballzwerge« zeigten, ein (›zusammen‹-)gestauchtes Bild der deutschen Fußballnationalspieler mit großer Überschrift, nachdem diese sang- und klanglos in der Vorrunde der Europameisterschaft 2000 ausgeschieden waren. Boulevardsendungen im Fernsehen weisen natürlich ähnlich kreative Stilblüten auf. Exzess und das Offensichtliche werden populären Texten häufig negativ ausgelegt. Fiske setzt sich ausdrücklich gegen jene ab, die hierin Belege für das ›vulgäre‹ Wesen der Populärkultur sehen und sie mit dieser Begründung ablehnen. Natürlich ist Populärkultur vulgär, klischeehaft, übersteigert und offensichtlich, doch sind diese Eigenschaften nach Fiske positiv zu bewerten, denn sie öffnen den Text und steigern so die Option einer aktiven Bedeutungsproduktion für die RezipientInnen (vgl. Fiske 1999b: 76). Indem Fiske typische Eigenarten von Populärem hervorhebt, trägt er zur Aufwertung der Texte bei. Allerdings sind die genannten Merkmale offener Textstrukturen lediglich als Angebote zu verstehen. Ob sie jeweils erfolgreich Bedeutungsvielfalt eröffnen oder womöglich Witze misslingen, Ironie unverstanden bleibt oder Wortspiele überhört werden, liegt ausschließlich bei den Leserinnen und Lesern und ihren Kontexten. Die Frage, welche Bedingungen gegeben sein müssen, damit Eigenheiten populärer Texte ihren ›Zweck‹ erfüllen, wird bei Fiske nicht thematisiert. Er zeigt lediglich textuelle Möglichkeiten auf, die tatsächliche Alltagspraxis von Rezipierenden untersucht er nicht. Textualität des Fernsehens als besondere Form der Offenheit Fiske sieht noch eine weitere Möglichkeit, wie das Fernsehen jenseits der offenen Zeichenstruktur der einzelnen Sendungen kreative Möglichkeiten der Bedeutungsproduktion eröffne. Er hebt die Eigenheiten des Fernse11 | In Fiske 1999b wird stärker auf defizitäre Textstrukturen von ›Madonna‹ abgehoben denn auf Exzess.

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hens selbst sowie die Programmstruktur in diesem Zusammenhang hervor. Werbeunterbrechungen könnten als Assoziationen dienen, mit Hilfe derer die ZuschauerInnen den eigentlich rezipierten Sendungen weitere Bedeutungen zuweisen könnten.12 Durch die Unterbrechungen würden die Fernsehtexte geöffnet und liefen somit ideologischer Geschlossenheit entgegen (vgl. Fiske 1999a: 101). Das Fernsehen weise hier auf die eigene Textualität hin. Daneben liefere die Fernbedienung weitere Möglichkeit zur Kreativität. Über ›Zapping‹ seien die ZuschauerInnen in der Lage, ihre eigene postmoderne Collage zu erstellen. Insgesamt sieht er bei den Publika ein Vergnügen an Diskontinuität gegeben (vgl. ebd.: 102-105). Doch es scheint, dass er hier das Fernsehen zu positiv einschätzt. Fernsehen ruft nicht nur Vergnügen hervor, sondern auch Frustrationen. Gerade die Werbeunterbrechungen führen in Deutschland dazu, dass viele ZuschauerInnen nicht die Offenheit der Texte nutzen, sondern sich vom Fernsehgerät abwenden und die Pause anderweitig nutzen – denkbar ist hier beispielsweise der Gang zum Kühlschrank. Fiske hat dies in anderem Zusammenhang, um die Unberechenbarkeit von Werbung zu belegen, auch angeführt (vgl. Fiske 1989a: 31). Natürlich zeigt dies erneut die Unabhängigkeit der RezipientInnen und ihre Art und Weise, sich das Medium im Alltag anzueignen. Auch beim Zapping nimmt Fiske einen ausschließlich lustvollen Umgang an. Die Realität dürfte jedoch teilweise anders aussehen, wenn kein befriedigendes Angebot gefunden wird. Fiske geht hier zudem ausschließlich von demjenigen oder derjenigen aus, der oder die die Macht über die Fernbedienung in den Händen hält. Dass ›Mitguckende‹ die gezappten Fernsehtextcollagen häufig nicht positiv empfinden, da sie zunächst nicht mitentscheiden, welche Programme ausgewählt werden, ist jedoch durchaus vorstellbar. Das besondere Merkmal populärer Texte sind also ihre offenen, defizitären Strukturen. »Popular texts are to be used, consumed, and discarded, for they function only as agents in the social circulation of meaning and pleasure; as objects they are impoverished« (Fiske 1989a: 123). Populäre Texte entsprechen somit keineswegs ästhetischen Idealen, die in der Bewertung von Kunstwerken auf die Geschlossenheit der Strukturen, auf ihre Perfektion abstellen.13 Fiske stellt demgegenüber die Funktion solcher populären, ›verkümmerten‹ Texte innerhalb der gesellschaftlichen Bedeutungsproduktion heraus: Ihre Offenheit ermögliche besonders vielen KonsumentInnen, einen Bezug zwischen ihrem individuellen Alltag und den Texten herzustellen. Hinzu komme der einfache Zugang zum Text, der nicht erst durch eine spezielle Bildung oder ein elitäres Milieu erworben werden müsse. Fiske blickt, wie die Cultural Studies allgemein, auf die Alltagswelt der ›Leute‹. Die Blickrichtung der klassischen Ästhetik verlief anders. Ausgehend von Idealen einer kleinen Elite 12 | Es sei an dieser Stelle bemerkt, dass sich Fiske ausschließlich auf privatwirtschaftlich organisiertes Fernsehen bezieht. 13 | Von Ecos ›Offenem Kunstwerk‹ (1973) einmal abgesehen.

Die Offenheit populärer Texte | 79 wurde die kulturelle Praxis der ›Leute‹ beurteilt. Dass diese nach anderen Regeln funktioniert und strukturiert ist, als das Ideal ästhetischer Texte, die Kunstwerke, bedingte die beständige Abwertung, die Populärkultur von dieser Seite aus erfuhr. Fiskes Studien verdeutlichen, dass ästhetische Maßstäbe eine konstruktive Sicht auf populäre Texte verstellten. Fiskes textanalytische Herangehensweise ist wesentliche Voraussetzung für eine Aufwertung populärer Texte, denn erst so werden sie als wichtiges Mittel zur Aushandlung gesellschaftlicher Bedeutungen erkennbar. 1.3.2 ›Inescapable intertextuality‹ »Das Defizit des einzelnen Textes und die Betonung der ununterbrochenen Zirkulation von Bedeutungen heißt, dass die Populärkultur sich durch Repetition und Serialität auszeichnet, die es ihr u.a. ermöglicht, sich auf einfache Weise in die Routinen des Alltagslebens einzupassen« (Fiske 1999b: 83). Die Intertextualität von Texten nimmt bei Fiske großen Raum ein. Der Begriff ›Intertextualität‹ wurde von Kristeva in den sechziger Jahren geprägt. Sie bezog sich auf Bachtins Konzept der »Dialogizität«, d.h. die Vielstimmigkeit von Texten (vgl. Pfister 1994: 215). Fiske greift Bachtins Dialogizität in Bezug mit der bereits erwähnten Heteroglossie auf, die er in populären Texten anspricht (z.B. Fiske 1999a). Kristeva und andere TheoretikerInnen vertraten in den Sechzigern eine radikale Auffassung von Intertextualität. Ein Text besteht für Kristeva ausschließlich aus anderen Texten und stellt so ein »Mosaik von Zitaten« dar (zit. nach Pfister 1994: 216). Der Textbegriff erfährt dadurch eine Entgrenzung, so dass alles schließlich als Text gilt (vgl. ebd.: 216). Barthes postulierte in den siebziger Jahren ein ähnliches Konzept von Intertextualität. »Und eben das ist Inter-Text: die Unmöglichkeit, außerhalb des unendlichen Textes zu leben – ob dieser Text nun Proust oder die Tageszeitung oder der Fernsehschirm ist: das Buch macht den Sinn, der Sinn macht das Leben« (Barthes 1974: 53/54). Nach Barthes ist kein direkter Zugriff auf die Realität mehr möglich. Realität ist für ihn nur durch Texte erfahrbar (vgl. Fiske 1999a: 115). Vor allem postmoderne Theorien griffen das Konzept der Intertextualität programmatisch auf (vgl. Pfister 1994: 217). Fiske kommt in »Television Culture« (1999a) kurz auf Barthes’ Ausführungen zur Intertextualität zu sprechen.14 Barthes und ähnliche Ansätze verdeutlichten, dass keine fixen, abschließend zu bestimmenden Bedeutungen existierten. Vielmehr seien symbolische Systeme instabil, so dass niemals eine bestimmte Les14 | »For Barthes, then, the knowledge of reality, and therefore, for practical purposes, reality itself is intertextual: it exists only in the interrelations between all that a culture has written, spoken, visualized about it« (Fiske 1999a: 115).

80 | Teil 2: Fiske und ›populäre Texte‹

art als ›Wahrheit‹ ausgerufen werden könne. Fiske kritisiert jedoch, dass bei Barthes oder Derrida, den er kurz erwähnt, Bedeutungen völlig losgelöst und unbestimmbar erschienen. Bedeutungen sind nach Fiske zwar in Texten nicht starr festgelegt, gewinnen jedoch in der Lebenswirklichkeit der Rezipierenden an Stabilität, wenn auch nur momenthaft (vgl. Fiske 1999a: 116/117). Fiske vertritt hier also keine extreme Position. Texte sind für ihn dennoch eingebettet in ein Netzwerk anderer Texte. Er unterscheidet dabei primäre, sekundäre und tertiäre Texte. Primäre Texte bilden für ihn gewissermaßen den Ausgangspunkt, hierunter fällt beispielsweise eine bestimmte Fernsehserie. Sekundäre Texte stellen Verarbeitungen der primären Texte auf einer Metaebene dar. Zu sekundären Texten zählen beispielsweise sowohl Fernsehkritiken als auch Reportagen über eine Serie oder ähnliches. Man kann Texte demzufolge in verschiedene Ebenen unterteilen, wobei auf einer dritten intertextuellen Ebene tertiäre Texte stehen, welche von den RezipientInnen produziert werden. Lesarten, Fanbriefe, Gespräche über die Serie am Vorabend oder der Austausch darüber, welcher Charakter einem missfällt, gehören hierzu. Die Verstrickungen der primären, sekundären und tertiären Texte bilden dabei nach Fiske zwei Formen, die horizontale und die vertikale Intertextualität. Unter horizontal versteht er die Verbindungen zwischen primären Texten. In Fernsehtexten zählen hierzu vor allem das Genre, bestimmte SchauspielerInnen oder Charaktere, die in unterschiedlichen Sendungen in verschiedenen Rollen zu sehen sind, oder auch inhaltliche Verbindungen (vgl. ebd.: 108). Vertikale Intertextualität meint indes die Blickrichtung von primären auf sekundäre oder tertiäre Texte (ebd.: 108). Intertextualität ist für Fiske eine wichtige Voraussetzung für Popularität, also für den Erfolg eines Textes, da ein Text über seine intertextuelle Angriffspunkte leichter und vielfältiger angeeignet werden könne. Zudem meint er, »Populärkultur kann nur intertextuell erforscht werden, denn sie existiert nur in der beschriebenen intertextuellen Zirkulation. Die Beziehungen zwischen primären und sekundären Texten überschreiten alle Grenzen zwischen ihnen; ebenso überschreiten jene Beziehungen zwischen tertiären und anderen Texten die Grenze zwischen Text und Leben« (Fiske 1999b: 84). Erst die Intertextualität populärer Texte ermöglicht danach die Bedeutungsproduktion im Alltag der ›Leute‹. Außerdem sei der typische Charakter von populären Texten, wie beispielsweise der Kult um Madonna, erst über sämtliche intertextuelle Ausprägungen, also auf primärer bis hin zur tertiären Ebene, tatsächlich zu erfassen (vgl. Fiske 1999b). Fiske setzt bei seinem Konzept der Intertextualität die Bedeutungsebene an erster Stelle. Er vernachlässigt ökonomische Aspekte. So werden die verschiedenen intertextuellen Ebenen im Merchandising erfolgreich genutzt. Fanartikel, Fanzines und ähnliches sind sekundäre Texte, die den ProduzentInnen von Populärem als Einnahmequelle dienen. Beispiels-

Die Offenheit populärer Texte | 81 weise sind zu der Soap Opera »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« (RTL) auch Tassen, Rucksäcke, Spiele, Bettwäsche und Lavalampen erhältlich, um nur einige wenige Produkte der umfassenden Merchandisingkollektion zu nennen. Auf die kommerzielle (Über-)Macht der ProduzentInnen gegenüber den RezipientInnen geht Fiske zu wenig ein. Vielmehr hebt er hervor, dass die Merchandisingartikel von Fans genutzt würden, um ›ihre Serie‹ und damit bestimmte Bedeutungen in ihre Alltagswelt zu überführen. Kommerzieller Erfolg wird von Fiske damit zwar als eine Seite der Intertextualität von Texten wahrgenommen, für ihn steht jedoch der Freiraum des Publikums im Vordergrund.15 Er differenziert bezüglich der Intertextualität außerdem nach populären und hochkulturellen Lesarten. Hochkulturelle Lesarten würden stärker als populärkulturelle den Produzenten oder die Produzentin oder auch die jeweiligen KünstlerInnen in den Vordergrund rücken. »Shining« sei danach bei seinem Kinostart als ›der neue Kubrick‹ mit anderen Filmen des Künstlers intertextuell verbunden worden. Dagegen legten populäre Lesweisen den Akzent eher auf das Genre, wonach »Shining« als neuer Horrorfilm mit anderen Genrefilmen in Beziehung gesetzt worden sei (Fiske 1999b: 83). Etwas unklar bleibt, was Fiske meint, wenn er davon spricht, dass populäre Texte nicht den Text, den Künstler oder die Künstlerin, sondern die DarstellerInnen hervorheben würden. Mit dem Genrebezug, den er zuvor als populäre Lesart hervorhebt, werden doch gerade Eigenheiten des Textes betont. So sind populärkulturelle Lesweisen, die sowohl den intertextuellen DarstellerInnen-Bezug als auch textuelle Momente wie das Genre betonen, durchaus denkbar: die »Liebeskomödie« dieses Sommers oder der neue Film mit »Meg Ryan«, beide Lesweisen sind als populär vorstellbar. 1.3.3 Genre als populäre Form horizontaler Intertextualität Zeitweise kommt es im Fernsehen dazu, dass bestimmte Genres überrepräsentiert sind. Quizsendungen schienen im deutschen Fernsehen vor einiger Zeit auf allen Kanälen präsent zu sein. Populäres wird oft in Genres eingeteilt. Unter diesem Blickwinkel streicht man die Ähnlichkeiten von Texten untereinander heraus. In der traditionellen Ästhetik galten die Unterschiede, d.h. die Originalität eines Textes bzw. eines Kunstwerks als Qualitätsmerkmal. Genregemeinsamkeiten wurden daher als Makel empfunden (Fiske 1999a: 110), populäre Kultur und ihre Genres als zu stereotyp abgewertet. Das Fernsehen ist ein ausgeprägt genreorientiertes Medium. Genres werden von Fiske als Form der horizontalen Intertextualität betrachtet. Sie verkörperten eine kulturelle Praxis, mit der Verbindungen zwischen ProduzentInnen, Text und ZuschauerInnen geknüpft 15 | Dass gerade für Soap Operas tertiäre Texte, also Gespräche, eine zentrale Rolle bei der Aneignung und der Reflexion der eigenen Lebenswelt spielen, wurde auch an anderer Stelle gezeigt (vgl. Brown 1994).

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werden (ebd.). Genrekonventionen interpretiert er als Verbindung bzw. als eine Art vereinbarter Code zwischen ProduzentInnen und Publika. Er verweist hier auf Feuers (1987) ›rituellen‹ Genreansatz,16 nach dem Genres ein konventioneller, regelmäßiger Austausch zwischen ProduzentInnen und Publika sind. Genrekonventionen dienten dabei der Aushandlung von gemeinsamen kulturellen Fragen und Werten, womit Genres im sozialen Kontext verankert seien. Mit ihrer Hilfe werde versucht, der Fülle an Texten und Bedeutungen beizukommen (Fiske 1999a: 109). Für die ProduzentInnen von Fernsehtexten sind Genres vorwiegend aus ökonomischen Überlegungen bedeutsam. Mit der Hilfe von Genres sollen die Vorlieben der Publika berechenbarer werden (ebd.: 112). Genres seien Teil von Kontrollstrategien, um die Polysemie des Fernsehens einzudämmen. Ziel sei es, die Art der Vergnügen zu kontrollieren und die Erwartungen der ZuschauerInnen zu lenken (ebd.: 114). Genres stellten Mittel dar, Publikum und lesendes Subjekt zu konstruieren (ebd.). Für die Publika bezeichnen Genrebezeichnungen eine Möglichkeit, sich zu orientieren. Sie gehen mit bestimmten Erwartungen an ein Genre heran. Genres bestimmten daher Texte und Lesweisen im Voraus mit (ebd.: 111). Daneben hätten ZuschauerInnen auch spezielle Vergnügen an Genrekonventionen (vgl. ebd.: 114). Genres in der Diskussion In »Television Culture« (1999a) betrachtet Fiske Genres aus verschiedenen Perspektiven. Auch in der Forschung wird der Genrebegriff in unterschiedlicher Weise diskutiert. Schneider unterscheidet allgemein zwischen Diskussionen in der Fernsehforschung, die historisch an bestimmte Typen von Texten herangehe, und Ansätzen, die versuchten, ›Genre‹ zu definieren (Schneider 2001: 92).17 Zudem unterteilt sie Genretheorien der frühen sechziger und siebziger Jahre in drei Richtungen: zunächst die sprachwissenschaftlich beeinflusste Suche nach ›Klassifikationskriterien‹ von Genres, daneben der Versuch, Genres durch ihre Merkmale zu bestimmen und schließlich Genres nach ›Intentionen‹18 zu differenzieren (ebd.: 93). Die Historisierung von Genrekategorien sei dabei ausgeblieben. Außerdem seien Genredefinitionen, die auf textuellen Merkma16 | Fiske verweist ebenso auf einen ›ästhetischen‹ und einen ›ideologischen‹ Genreansatz, die Feuer außer dem ›rituellen‹ diskutiere (Fiske 1999a: 111). 17 | Zwischen beiden Perspektiven bestehe Vermittlungsbedarf, so Schneider (Schneider 2001: 93). Hinsichtlich der Genretheorien sieht sie die »Dominanz eines strukturalistischen und semiotischen Ansatzes« (ebd.) in den Sechzigern und Anfang der siebziger Jahre. 18 | »Filme werden danach eingeteilt, ob sie Spannung erzeugen, zum Weinen oder zum Lachen führen sollen« (Schneider 2001: 93). Intentionsansätze seien problematisch, Schneider sieht jedoch die Möglichkeit, sich mit Rezeptionserwartungen zu beschäftigen und damit unter anderem zu untersuchen, »wie sich solche Rezeptionserwartungen in die Filme einschreiben« (ebd.: 94/95).

Die Offenheit populärer Texte | 83 len basierten, häufig redundant. Abgesehen davon vernachlässigte man dabei die Veränderbarkeit von Genres (ebd.: 94). Schneider plädiert für einen Genrebegriff, der Kultur und Kontext einbezieht, wie seit den neunziger Jahren zunehmend propagiert werde. Ein Genre verkörpere danach einen diskursiven Prozess (ebd.). Dass eine Genredefinition über rein textuelle Merkmale problematisch ist, sieht auch Fiske. Er hebt hervor, dass es sich um ein veränderbares Set an spezifischen Texteigenschaften handele: »A genre seen textually should be defined as a shifting provisional set of characteristics which is modified as each new example is produced« (Fiske 1999a: 111). Zwar enthalte ein Text, um zu einem Genre gerechnet zu werden, die wesentlichen Merkmale. Darüber hinaus weise er jedoch Variationen und neue Elemente auf. Genres stellen keine fixen Einheiten dar, sonst wären Mischformen, wie beispielsweise die Real Life Soap aus ›Reality TV‹ und Soap Opera (vgl. Lücke 2002) undenkbar. Fiske spricht sich dafür aus, den ›rituellen‹ Ansatz, in dem die Genrekonventionen als Verbindung von ProduzentInnen und Publika betrachtet würden, mit einer ideologischen Annäherung an Genres zu kombinieren. Genres seien abhängig von ihrem historischen, soziokulturellen Kontext. Genrekonventionen »embody the crucial ideological concerns of the time in which they are popular and are central to the pleasures a genre offers its audience« (Fiske 1999a: 110). Genres und ihre Regeln verkörperten demnach zentrale ideologische Fragen der jeweiligen Zeit. Ihr Erfolg sei daher gesellschaftlichen Prozessen geschuldet. Die ›Cop Show‹ in Amerika sei nicht umsonst im Zuge der Reagan-Ära und der Rehabilitation der US-Erfahrungen in Vietnam zu neuer Popularität gelangt (ebd.: 112). Bestimmte Genres seien also dann erfolgreich, wenn sie den ›Zeitgeist‹ treffen oder anders formuliert: wenn ihre Konventionen in engem Zusammenhang mit der dominanten Ideologie der Zeit stünden (ebd.: 112). Fiske erklärt mit der Anbindung von Genres an Ideologien auch Genremischungen, wenn sich ideologische Widersprüche wie patriarchale Vorstellungen und die Emanzipation von Frauen in der Verbindung von »cop show with soap opera« (ebd.: 113) zeigten, wie in der Serie »Cagney and Lacey«.19 Problematisch an Fiskes Genre-Ansatz ist sein Bezug zum Genderdiskurs (vgl. Fiske 1999a: 179 ff.). Er beobachtet in Genres nicht nur bestimmte Ausprägungen des Geschlechterdiskurses, sondern teilt sie sogar in weibliche und männliche Genres ein. Die US-Actionserie über eine Gruppe von Vietnam-Veteranen, das »A-Team«, deutet er als maskulinen Text, Soap Operas indes als weibliches Genre. Auch Schneider kritisiert diese Festschreibung (Schneider 2001: 99). Fiske betrachtet 19 | Die Industrie experimentiere mit Genres und nehme immer wieder aktuelle soziale Fragen auf (Fiske 1999a: 112). Zudem soll die Kombination unterschiedlicher Genres ein größeres, gemischtes Publikum garantieren, dass für die Werbeindustrie attraktiv ist (ebd.: 113).

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zwar vorrangig die Anlage der Texte und die Beziehung zwischen ihren Diskursen und patriarchaler Ideologie und sucht danach, wie weibliche und männliche Diskurse vertreten sind. Außerdem betont er die Konstruktion von Gender (Fiske 1999a: 203). Trotzdem läuft es der Bedeutungsvielfalt von Texten und dem hybriden Charakter von Genres entgegen, sie als ›männlich‹ oder ›weiblich‹ festzulegen, wenn es auch möglich ist, die Dominanz von bestimmten Diskursen auszumachen. Populäre Texte und ihre Genres sind nach Fiske also eingebettet in soziale Kontexte. Mit ihren Genrekonventionen spielen sie eine wichtige Rolle im Aushandlungsprozess von gesellschaftlichen Bedeutungen. Der Bezug zu zentralen ideologischen Fragen ihrer Zeit ist dabei entscheidend für ihre Popularität. Außerdem stellen Genres wichtige ökonomische Faktoren für die ProduzentInnen dar. Für die Publika sind Genres auch als Bedeutungsangebot zu verstehen und als Möglichkeit zu spezifischen Vergnügen.

Grenzen der Bedeutungsfreiheit | 85

2. Grenzen der Bedeutungsfreiheit: Lesarten

Offenheit und Erfolg hängen bei populären Texten eng zusammen, so Fiske (vgl. Fiske 1999a). Eine offene Textstruktur erleichtert RezipientInnen den Zugang zu Texten und die aktive Aneignung, d.h. die Texte in ihre Alltagswelt zu überführen und ihnen persönliche Bedeutungen zuzuweisen. Dabei handelt es sich nicht um willkürliche Bedeutungen, sondern um das Ergebnis von Interaktion zwischen Text bzw. Zeichen und Lebenswirklichkeit. Hieraus gehen persönliche Lesarten von Texten hervor. Lesarten verkörpern auf diese Weise Ordnungsstrukturen und begrenzen die Fülle an Bedeutungen, die Texte transportieren. Gleichzeitig bleiben immer mehrere Möglichkeiten bestehen, einen Text zu lesen. Lesarten wurden vor allem in der feministischen Rezeptionsforschung untersucht. Dort ging man der Frage nach, was das weibliche Vergnügen an populären Texten ausmache und inwieweit Lesarten der beabsichtigten, häufig patriarchalen Textbedeutung entgegenlaufen (vgl. Klaus 1998: 347 ff.). Spielräume von Bedeutungen, die Zeichen und Texte bereithalten, haben Anteil an der positiven Bewertung von Populärem, da populäre Angebote früher wegen ihrer vermeintlich eindimensionalen Bedeutung als reaktionär abgewertet wurden. Dies war auch der Grund dafür, dass Soap Operas minderbewertet wurden, da sie mit ihren Klischees und Erzählungen auf den ersten Blick ausschließlich dominante patriarchale Ideologien transportieren. Auf den zweiten Blick eröffnen sich jedoch über Klischees, exzessive Handlung oder auch Intertextualität Spielräume, die auch andere Deutungen zulassen. Lesarten stellen einen wichtigen Akzent in der Betrachtung und Bewertung von populären Texten im Diskurs der Cultural Studies dar und auch Fiske hat sich vielfach mit Lesweisen des Populären auseinander gesetzt. Insbesondere im Strukturalismus wurde untersucht, inwieweit Zeichen Bedeutungsräume eröffnen, wobei vor allem die Überlegungen von Barthes bedeutsam sind. Seine beiden zentralen Begriffe ›Konnotation‹ und ›Denotation‹ sind Voraussetzungen für Lesarten, wie sie zunächst bei Hall und schließlich bei Fiske untersucht wurden.

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2.1 Bedeutungsreservoirs: Konnotation und Denotation bei Barthes »Mit Hilfe der Askese soll es manchen Buddhisten gelingen, eine ganze Landschaft aus einer Saubohne herauszulesen« (Barthes 1976: 7). Barthes führt mit seinem berühmten ›Bohnen‹-Vergleich ironisch die frühen Textanalysten vor, welche alle Erzählungen auf eine Textstruktur zurückführen wollten. Das Zitat ironisiert gleichzeitig die Suche nach Bedeutung, wo keine Inhalte zu finden sind, also Zeichen fehlen. Die Suche nach Bedeutungen von Zeichensystemen ist zentral in der Arbeit von Barthes. Er war mit seinen strukturalistischen Ausführungen wesentlich daran beteiligt, dass sich VertreterInnen der Cultural Studies für die Bedeutungen, die Texte eröffnen können, interessierten und damit mögliche Lesarten eines Textes untersuchten. Wie oben bereits erwähnt, hielten semiotische strukturalistische Ideen erst in den siebziger Jahren Einzug in das Projekt Cultural Studies. Vor allem Hall engagierte sich für die Rezeption von Strukturalisten wie Lévi-Strauss und Barthes (vgl. Lutter/Reisenleitner 1998). Lévi-Strauss proklamierte die Wiederaufnahme und die strukturalistische Weiterentwicklung des Saussurschen Zeichenbegriffs, der die Trennung in Bedeutendes und Bedeutetes vorsah, was insbesondere für Halls theoretische Entwicklung wichtig war. Indem Signifikat von Signifikant getrennt wurde, lenkte man die Aufmerksamkeit auf die Arbitrarität des Zeichens. Bedeutung war somit nicht im Zeichen festgelegt, sondern ergab sich aus dem Zusammenwirken der Signifikanten (vgl. Kramer 1997: 103). Mittels eines solchen Zeichenbegriffes ist es generell nicht möglich, Texte als eindimensionale Bedeutungsträger zu behandeln. Zudem wurde mit der Arbitrarität der Zeichen herausgestellt, dass sprachliche Bedeutungen kulturell erlernt und keinesfalls dem Zeichen inhärent sind. Insbesondere Barthes hat dargelegt, auf welche Weise sich hinter Texten regelrechte Bedeutungsräume aufspannen. In den Cultural Studies rezipierte man Werke, die aus unterschiedlichen Phasen seiner Arbeit stammen.1 Hinsichtlich der Frage nach textuellen Bedeutungen spielte sein frühes Werk »Mythen des Alltags« (1996; ursprünglich 1957) eine wichtige Rolle, beispielsweise in der ›Nationwide‹-Studie (vgl. Morley/Brunsdon 1999: 8; Brunsdon/Morley 1999: 102). Spätere Werke, die im Zusammenhang mit Textbedeutungen rezipiert wurden, waren Barthes’ »Elemente der Semiologie« (1979; ursprünglich 1964) sowie »S/Z« (1976; original 1970).2 Auch für die Arbeiten der Cultural Studies zum

1 | Barthes hat in seinem Schaffen eine starke theoretische Entwicklung durchlaufen (vgl. Eagleton 1992: 123). 2 | »S/Z« bezeichnet einen Wendepunkt bei Barthes, von dem ausgehend er sich von seinen strukturalistischen Fragen stärker narrativen Aspekten zuwandte (siehe Calvet 1993: 159; vgl. zur Bedeutung von »S/Z« auch Eagleton 1992: 122).

Grenzen der Bedeutungsfreiheit | 87 ›Vergnügen‹ waren Barthes’ Publikationen von Bedeutung. Hier ist »Die Lust am Text« (dt. 1974) anzuführen, das 1973 veröffentlicht wurde. Geht man der Frage nach, auf welche Weise Barthes textuelle Bedeutungen thematisierte und inwieweit er den Grund bereitete für die Untersuchung von Lesarten, wie später bei Hall und Fiske, so sind in seinen semiologischen Arbeiten zwei Begriffe zentral: ›Konnotation‹ und ›Denotation‹. Bereits in den »Mythen des Alltags« (1996) greift Barthes Saussures Bemerkungen »über die ›Natur‹ des Zeichens« auf »und fügt eine zweite Ebene hinzu, auf der das Zeichen der ersten Ebene zum Signifikanten der zweiten wird« (Kramer 1997: 100; vgl. Barthes 1996: 92/93). Ausführlicher geht er in »Elemente der Semiologie« (1979) sowie in »S/Z« (1976) auf die Begriffe Denotation und Konnotation ein. Dabei spricht er von »Bedeutungssystemen«, die genau wie Zeichen eine Inhalts- sowie eine Ausdrucksseite aufwiesen (Barthes 1979: 75).3 In seinen Ausführungen nimmt er zunächst ein Zeichen- bzw. ein Bedeutungssystem erster Ordnung an, das mit seinen Signifikanten und Signifikaten ein denotatives System bildet. Die Denotation eines Zeichens ist häufig mit der ›wortwörtlichen‹ Bedeutung von Zeichen erklärt worden (vgl. Hall 1999b: 100). Treffender ist es jedoch, sich das denotative Bedeutungssystem tatsächlich auf einer ersten Ebene vorzustellen, auf der die Bedeutung sehr eng gefasst wird. Es existiert gewissermaßen nur ein kleiner Bedeutungsradius um die Zeichen herum. Barthes führt weiter aus, dass jenes Bedeutungssystem erster Ordnung auf einer zweiten Ebene zur Ausdrucksseite eines zweiten Bedeutungssystems werden kann. Diese zweite, übergeordnete Bedeutungsebene bildet die konnotative Dimension des ersten Bedeutungssystems. Wenn also beispielsweise der Signifikant ›Sonne‹ gemeinsam mit dem Signifikat ›Zentralkörper unseres Planetensystems‹ auf einer ersten Ebene das Zeichen ›Sonne‹ bildet, so stellt dies die enge denotative Bedeutung ›Sonne‹ dar. Auf einer zweiten Ebene kann das gesamte Zeichen die Ausdrucksebene eines zweiten konnotativen Bedeutungssystems bilden. Das komplette Zeichen ›Sonne‹ wird zur Ausdrucksseite und bildet mit einem neuen Inhalt ein neues konnotatives Bedeutungssystem. Daraus könnten Konnotationen wie ›Leben‹, ›Hitze‹ oder etwas ähnliches entstehen. Ein Zeichen kann daher über seine Konnotationen ›mehr‹ bedeuten als seine erste, denotative Bedeutung verheißt. Zeichen sind vielmehr polysem – gleiches gilt natürlich auch für Zeichensysteme, sprich: für Texte. Konnotationen stellen somit den Schlüssel dar, wenn es darum geht, textuelle Bedeutungsräume aufzuzeigen. Im Rahmen seines Werkes »Mythen des Alltags« siedelt Barthes auf dieser konnotativen zweiten Ebene seinen Mythosbegriff an, wobei er hier bereits von einem »sekundären semiologischen System« spricht (Barthes 1996: 92). Welche Bedeutung der konno3 | Barthes bezieht sich in seinen Ausführungen auf den dänischen Linguisten Hjelmslev, von dem er auch die Bezeichnungen ›Denotation‹ und ›Konnotation‹ entlehnte. Vgl. Calvet 1993: 180.

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tativen Ebene bei der Lektüre eines Textes aktiviert wird, ist nach Barthes vom Zusammenspiel der übrigen Signifikanten abhängig. Hall kritisiert später in seinem Encoding/Decoding-Modell die strikte Trennung zwischen konnotativer und denotativer Bedeutungsebene. Letztlich unterschieden sich beide Ebenen nicht prinzipiell, sondern beide seien ideologisch bestimmt (vgl. Hall 1999b: 101/102). Barthes räumt jedoch auch selbst zu den Unterschieden zwischen Denotation und Konnotation ein: »Die Denotation ist nicht die erste aller Sinngehalte, aber sie tut so, als wäre sie es. Mit dieser Illusion ist sie schließlich nur die letzte unter den Konnotationen (diejenige, die die Lektüre gleichzeitig zu begründen und abzuschließen scheint« (Barthes 1976: 13/14). Barthes benutzt in diesem Zusammenhang zwar nicht den Begriff ›Ideologie‹, ist jedoch im Wesentlichen kaum von Halls Kritik entfernt. Die Denotation stellt letztlich einen Mythos dar, mit dem der Eindruck hervorgerufen wird, Sprache sei ›unschuldig‹ und ›natürlich‹ (ebd.: 14). Barthes deutet hier schon Überlegungen an, die sich später bei Fiske in Bezug auf die Vorstellung von ›Realism‹ als Ideologiekonzept wiederfinden (vgl. Fiske 1999a). Der Frage nach möglichen Lesarten in dem Sinne, wie der Begriff bei Hall oder Fiske gebraucht wird, ist Barthes selbst nicht nachgegangen. Ihm wäre der Gedanke daran, Bedeutungen von Texten linear festzulegen, wohl unerträglich gewesen. Abgesehen davon, dass der Textbegriff, den Barthes benutzt, nicht dem erweiterten Verständnis der Cultural Studies entspricht, sondern er sich ausschließlich auf schriftliche Zeugnisse bezieht, weicht sein Textverständnis auch noch in anderer Hinsicht ab. So stellt er ganz klar die Bedeutungsseite von Zeichen in den Vordergrund. Formale Aspekte, die, wie Fiske in seinen semiotischen Betrachtungen populärer Texte zeigt (vgl. ebd.), auch ihren Anteil an der Polysemie von Texten haben, werden bei Barthes nicht berücksichtigt. Vielmehr sieht er Texte als »Netzwerk« von Bedeutungen (Barthes 1976: 25), wobei die Bedeutungen oder auch die »Seme« freischwebend seien (ebd.: 27).4 Mit der Vorstellung von Text als Produkt aus anderen vorangegangenen Texten wird die Stellung der Autorin bzw. des Autors relativiert. Nebenbei bemerkt werden damit ästhetische Textkriterien wie Originalität außer Kraft gesetzt. Barthes’ Ideal ist ein Text, der auf unendlich viele Weisen zugänglich ist und bei dem daher keine Strukturen sichtbar sind (ebd.: 10). »Der Text ist in seiner Masse dem Sternenhimmel vergleichbar, flach und tief zugleich, glatt ohne Randkonturen, ohne Merkpunkte« (ebd.: 18). Lesarten wären für Barthes demnach zu einengend.5 Zudem wendet er 4 | An dieser Stelle wird deutlich, wie stark Barthes Anregungen von anderen aufgenommen hat. Hier wird der Einfluss von Kristevas Arbeiten zur ›Intertextualität‹ offenkundig (vgl. auch Calvet 1993: 254). 5 | Er richtet seine Analysen, die er beispielsweise in »S/Z« anhand einer Novelle Balzacs vorführt, darauf, einzelne Bedeutungsaspekte herauszufiltern, wofür er den Text in Sinneinheiten, so genannte ›Lexien‹ einteilt, um die plurale Be-

Grenzen der Bedeutungsfreiheit | 89 sich ausdrücklich dagegen, Bedeutungen zu hierarchisieren. Er hat statt dessen ein Text-Ideal vor Augen, das möglichst viele plurale Bedeutungen zulassen soll.6 Ein bemerkenswerter Aspekt, der auch die Arbeiten der Cultural Studies kennzeichnet, ist die Aktivität der RezipientInnen, die Barthes geradezu fordert. In »S/Z« führt er dazu die Kategorie der »lesbaren« und »schreibbaren« Texte ein (vgl. Barthes 1976: 8 ff.), die oben bereits in Zusammenhang mit Fiskes ›produzierbaren Texten‹ anklangen. Lesbare Texte sind für ihn Produkte, die die RezipientInnen ablehnen oder annehmen könnten. Schreibbare Texte seien dagegen Produktionen der LeserInnen, die nicht lesen, sondern ›schreiben‹, d.h. aktiv Bedeutungen produzieren. Ziel der »literarischen Arbeit« ist daher für ihn »aus dem Leser nicht mehr einen Konsumenten, sondern einen Textproduzenten zu machen« (ebd.: 8). Barthes ist hier nicht weit von der Vorstellung der aktiven Publika entfernt, wie sie in den Cultural Studies angenommen wird (vgl. dazu Winter 1995; Klaus 1997). Die Kategorien des lesbaren und schreibbaren Textes, die Fiske in seiner Arbeit zu populären Texten aufgreift und zu seinem ›produzierbaren Text‹ weiterentwickelt, sind bei Barthes stärker als Ideale zu betrachten, denn als tatsächliche, scharf trennbare Textcorpora. Barthes geht es um die beiden Pole der Offenheit und Geschlossenheit, wie sie sich auch bei Fiske wiederfinden (vgl. Teil 2, Kap.1). Beide Momente scheinen zentrale Bestandteile von Diskursen zu sein, die für die Beurteilung und Analyse von Texten grundlegend sind. So verortet sich Barthes explizit in einem Gegendiskurs zum abendländischen Diskurs der Geschlossenheit, dem die Positionen der traditionellen Ästhetik zugerechnet werden können (Barthes 1976: 11). Auch die Tradition der Cultural Studies lässt sich auf der Seite des pluralen, ›offenen‹ Diskurses ansiedeln.7 ›Originalität‹ und ›Geschlossenheit‹ als textuelle Kriterien werden bei Barthes und später vor allem auch bei Fiske zugunsten von ›Intertextualität‹ und ›Pluralität‹ abgelehnt. Barthes wendet sich dagegen, nach einer ›Wahrheit‹ des Textes zu suchen, sondern gibt statt dessen der Pluralität den Vorzug (vgl. ebd.: 19). Bezogen auf die Bedeutungsebenen von Texten heißt dies, dass Barthes es ablehnt, die Denotation als Wahrheit zu begreischaffenheit von Texten nachzuweisen (vgl. Barthes 1976: 21 ff.). Auf das Analyseverfahren, das Barthes anwendet, kann an dieser Stelle nicht im Einzelnen eingegangen werden. 6 | Begründet werden kann dies sicherlich damit, dass Barthes nicht, wie später beispielsweise Hall, an dem Kommunikationsprozess interessiert war, sondern an der theoretischen Vorstellung eines Textes als pluralem Produkt anderer Texte bzw. ihrer Bedeutungen. Hall nimmt demgegenüber in seinem Encoding/ Decoding-Modell sehr klar eine Hierarchie von Bedeutungen an (vgl. Hall 1999b). 7 | Eine weitere Parallele wäre beispielsweise der marxistische Einfluss, der Barthes und auch die Cultural Studies geprägt hat (vgl. zu Barthes Calvet 1993: z.B. 172 ff.).

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fen und sie über die konnotative Ebene zu stellen.8 Er favorisiert insgesamt die Konnotationen eines Textes, da sie Bedeutungen eröffnen. Der Begriff der Konnotation erscheint ihm allerdings als recht beschränktes Mittel, die Pluralität des idealen, nach allen Bedeutungsdimensionen und Bedeutungsmöglichkeiten hin offenen Textes zu erfassen (ebd.: 11). Offensichtlich waren mehrere Gedanken Barthes’ für die Arbeit der Cultural Studies bedeutsam, wenngleich auch etliche Unterschiede bestehen. Konnotation und Denotation stellen wesentliche Einheiten dar, um die Bedeutungsspielräume von Texten zu beschreiben. Die konnotative Ebene bildet die Basis für die Polysemie von Zeichen und somit auch für unterschiedliche Lesarten von Texten, Barthes’ Ausführungen sind demnach zentral für die diskursanalytische Praxis der Cultural Studies. Im Unterschied zu den Cultural Studies verortet Barthes die Möglichkeiten zur Polysemie von Texten ausschließlich in den Texten. Er führt zwar eine aktive Bedeutungsproduktion durch die RezipientInnen in Zusammenhang mit seinen schreibbaren Texten an, klammert jedoch Aspekte wie deren soziale Kontexte oder ähnliches aus, welche bei den Cultural Studies wesentlich sind. Er berücksichtigt daneben keine formalen textuellen Merkmale, wie Fiske in seinen Analysen, da er diese wohl ebenfalls als zu einengend für die ›freischwebenden Seme‹ betrachtet hätte. Darüber hinaus zielt Barthes in der Mehrzahl seiner Arbeiten nicht auf populäre Texte ab.9 Für konkrete Analysen fällt sein Ansatz teilweise zu abstrakt aus. Vor allem orientiert er sich dafür zu stark an einem Text-Ideal. Barthes widmet sich vorrangig der Theorie von Texten als Bedeutungsnetzwerke. Demgegenüber ist für die Cultural Studies die Polysemie von Texten nur in Hinblick auf die Alltagspraxis der RezipientInnen interessant – eine Perspektive, die von Barthes Blickrichtung entscheidend abweicht. Obwohl beide Polysemie-Konzepte hierin auseinander driften, hat Barthes der Theorieentwicklung der Cultural Studies wichtige Impulse gegeben.

2.2 Bedeutungsproduktion und Lesarten in Halls Encoding/Decoding-Modell Fiske geht in seinen Studien zu ›offenen und geschlossenen Texten‹ auf mögliche Bedeutungen ein, wie sie Barthes angeführt hat. Im Gegensatz zu Barthes stellt Fiske allerdings Textmerkmale wie ›Exzess‹ als Quelle für Bedeutungsspielräume in den Vordergrund. Fiske hat sich in seiner Arbeit auch mit der Begrenzung von Bedeutungsräumen, mit Lesarten, beschäftigt. TextproduzentInnen sind danach 8 | Er sagt ganz klar, dass dies bedeute, zu der Geschlossenheit des ›abendländischen‹ Diskurses zurückzukehren, sei es im Rahmen eines wissenschaftlichen, kritischen oder auch eines philosophischen Diskurses (ebd.: 11). 9 | Die »Mythen des Alltags« bilden hier wohl die Ausnahme, wenn Barthes auf Werbung eingeht (vgl. beispielsweise Barthes 1996: 47 ff.).

Grenzen der Bedeutungsfreiheit | 91 nicht dazu in der Lage, Rezipierenden ihre dominante Lesart zu diktieren.10 Die Art und Weise, in der Bedeutungsräume eingegrenzt werden, kann also nach Produktions- und Rezeptionsseite differieren. In beiden Fällen können Lesarten als Strukturierungen von Bedeutungsspielräumen verstanden werden. Sie engen einerseits die Fülle an textuellen Bedeutungen ein, andererseits wird eine Bedeutungsvielfalt gewahrt, wenn mehrere Möglichkeiten, einen Text zu lesen, gegeben sind. Die Frage danach, welche Lesarten ein Text ermöglicht, spielt in der Bewertung von Texten häufig eine wichtige Rolle. ›Belehrt‹ ein Text beispielsweise seine LeserInnen im bildungsbürgerlichen Sinne, so wird er im Allgemeinen für sinnvoll erachtet, liest man ihn jedoch ›nur zum Zeitvertreib‹, verliert die Lektüre für manche an Wert. Zentral für die Beschäftigung mit Lesarten in den Cultural Studies waren die Arbeiten Halls, insbesondere sein berühmtes Positionspapier zum ›Encoding‹ und ›Decoding‹ von Texten.11 In Fiskes Arbeiten wird immer wieder deutlich, dass er sehr stark von diesem Encoding/Decoding-Modell beeinflusst worden ist. So sieht Winter in Fiskes diskursanalytischem Vorgehen eine »Weiterentwicklung« dieses Ansatzes (Winter 1999a: 50). Halls Modell lieferte außerdem zentrale Anreize für die weitere Populärkulturforschung – sowohl für ethnographische als auch für textund diskursanalytische Arbeiten.

10 | Fiske sieht sich selbst damit im Gegensatz zur Kritischen Theorie der Frankfurter Schule sowie in Opposition zur Screen-Theorie: »The power of the people to make their culture out of the offerings of the culture industry is greater than either of these schools of thought realized, and so too is their power to reject those offerings of the culture industry which do not offer them that opportunity. It is the audiences who make a program popular, not the producers« (Fiske 1999a: 93). 11 | Von Halls Thesen zum ›Encoding/Decoding‹ des Kommunikationsprozesses liegen mehrere Fassungen vor. Ausgangspunkt war Halls Vortrag »Encoding and Decoding in the Television Discourse«, den er bei einer Tagung 1973 an der Universität Leicester hielt (Hepp 1999: 110). Gray (1999: 34) weist auf die drei veröffentlichte Fassungen hin: 1. Zunächst die früheste Version, »The Television Discourse – Encoding and Decoding« von 1974, die in ›Education and Culture‹, Nr.25 (UNESCO 1974) erschienen ist und 1997 nachgedruckt wurde. 2. Daneben erschien 1974: »Encoding and Decoding in the Television Discourse«, Centre for Contemporary Cultural Studies, Stencilled Occasional Paper No. 7, Birmingham: University of Birmingham. 3. Bei der dritten Version handelt es sich nach Gray um die meist zitierte. Diese Fassung stellte einen edierten Auszug aus der zweiten Fassung dar (vgl. Hall 1986). Eine deutsche Übersetzung dieser dritten Version wurde hier verwendet (siehe Hall 1999b).

92 | Teil 2: Fiske und ›populäre Texte‹

2.2.1 ›A model which has to be worked with and developed and changed‹ Halls Modell ist in der Vergangenheit stark rezipiert worden. Dabei hat man es häufig sehr vereinfacht, wie Gray ausführt (vgl. Gray 1999). Zudem begriff man Halls Vorschlag oft als feststehenden, ausgearbeiteten Ansatz, den er tatsächlich aber nicht darstellt (vgl. ebd.). Hall selbst betonte, dass seine Überlegungen zum ›Encoding‹ und ›Decoding‹ von Ereignissen hypothetisch zu begreifen seien und noch empirisch belegt werden müssten (Hall 1999b: 106). Später urteilte er: »It suggests an approach; it opens up new questions. It maps the terrain. But it’s a model which has to be worked with and developed and changed« (Cruz et al.1994: 255). Hall liefert in seinem Papier zum Encoding/Decoding-Ansatz zunächst die Beschreibung eines diskursiven gesellschaftlichen Kommunikationskreislaufs, in dem ein Produkt verschiedene Stationen durchläuft: von der Produktion, Zirkulation, Distribution/Konsum zur Reproduktion (Hall 1999b: 93). Hall geht dabei davon aus, dass die diskursiven Bedeutungen in den Kreislauf eingespeist und schließlich in gesellschaftliche Praxis umgewandelt werden, »wenn der Kreis vollständig und effektiv geschlossen werden soll« (ebd.). Dem Fernsehen kommt in diesem diskursiven Produktionskreislauf ein fester Platz beim Transport von Bedeutungen zu. Damit brachte Hall die diskursanalytische Tradition der Cultural Studies voran, für die auch Fiske steht. Halls Beitrag wendet sich gezielt dem Eintritt von Bedeutungen in den diskursiven Kreislauf sowie dem Konsum zu. Eine der Schlüsselstellen zum diskursiven Zirkel lautet: »Zuerst muss das Ereignis zu einer Geschichte werden, bevor es zum kommunikativen Ereignis werden kann« (Hall 1999b: 94). Hall blickt somit zunächst auf die Kodierung von Ereignissen,12 die Voraussetzung dafür sei, dass das Ereignis in den diskursiven Kreislauf eingeschleust werden könne.13 Die Art der Kodierung sei 12 | Die Produktion einer Fernsehsendung wäre also nicht die erste Kodierung eines ›originalen‹ Ereignisses. Vielmehr wäre die Sendung die Wiederkodierung des bereits kodierten Ereignisses. 13 | Hall hat später eingeräumt, dass seine Bemerkungen hier missverständlich seien. Sie implizierten die Möglichkeit, Realität zunächst außerhalb von Diskursen wahrzunehmen, was jedoch niemals der Fall sei (vgl. Cruz et al. 1994: 260/261). Hall führt selbst aus: »The encoding moment doesn’t come from nowhere. I make a mistake by drawing that bloody diagram with only the top half. You see, if you’re doing a circuit, you must draw a circuit; so I must show how decoding enters practice and discourses which a reporter is picking up on. The reporter is picking up on the presignified world in order to signify it in a new way again. And I really create problems for myself by looking as if there is a sort of moment there. So you read the circuit as if there is a real world, then somebody speaks about it and encodes it, then somebody reads it, then there’s a real world again. But of course, the real world is not outside of discourse, it’s not outside of signification.

Grenzen der Bedeutungsfreiheit | 93 dabei vom Kontext der ProduzentInnen abhängig, der von ihrem Wissensrahmen, den Produktionsverhältnissen und der technischen Infrastruktur beeinflusst werde. Auf der anderen Seite müsse der Text, ist er einmal in den Diskurs eingeschleust worden, wieder entschlüsselt, also dekodiert werden, um in die gesellschaftliche Praxis überführt werden zu können. Zweiter Schwerpunkt bei Hall ist daher die Dekodierung von Bedeutungen, womit auch die Frage nach Lesarten ins Spiel kommt. Mit dem ›Dekodieren‹ räumt Hall den RezipientInnen einen aktiven Anteil im Kommunikationsprozess ein. Die Dekodierung erfolge ebenso wie die Kodierung kontextbeeinflusst.14 Wesentlich ist, dass Kodierung und Dekodierung eines Textes voneinander abweichen können, da die Bedingungen, unter denen Bedeutungen entschlüsselt werden, niemals völlig identisch sind. Anders ausgedrückt: die Lesarten, die von den TextproduzentInnen erwünscht sind, müssen nicht den Bedeutungen entsprechen, die RezipientInnen schließlich konstruieren. Wenn Hall mehrere Lesarten annimmt, so greift er an dieser Stelle strukturalistische Ideen auf.15 So sind auch die Begriffe der denotativen und konnotativen Bedeutungsdimension von Zeichen, die bei Barthes behandelt werden, in dem nem Encoding/Decoding-Papier bedeutsam (vgl. Hall 1999b: 101 ff.).16 Die Möglichkeiten zur Bedeutungskonstruktion, die Hall den RezipientInnen einräumt, scheinen auf den ersten Blick verhältnismäßig begrenzt, da er lediglich von drei grundlegenden »hypothetischen Positionen« der RezipientInnen ausgeht, also drei Lesarten annimmt (ebd.: 106). Sie stellen den eigentlichen Kern des Encoding/Decoding-Papiers dar. Hall gliedert sie in eine dominant-hegemoniale Haltung17 (ebd.: 107), die It’s practice and discourse like everything else is« (ebd.). Die Uneindeutigkeit seines Modells verursacht Hall also letztlich damit, dass er nur die obere Hälfte seines diskursiven Kreislaufs als Schaubild in seine Ausführungen einfügte. 14 | Kodieren und Dekodieren sind demnach für den Text »determinierte Momente« (Hall 1999b: 94). Die Symmetrie, die in seinem Schaubild zwischen ProduzentInnen und RezipientInnen herrscht, erscheint nicht gerechtfertigt, wenn man sich die ungleichen Möglichkeiten, ein Fernsehprogramm zu beeinflussen, vergegenwärtigt. 15 | Ausgangspunkt für die Überlegung, dass Zeichen mehrere Bedeutungen bereit halten und dass damit auch mehr Lesarten möglich sind als die von den ProduzentInnen beabsichtigten, waren die Arbeiten von Barthes, wie oben ausgeführt wurde. 16 | Hall weist in seinem Papier auf die Vieldeutigkeit von Zeichen hin und betont die Entkoppelung von Bedeutetem und Bedeutendem. Er geht jedoch anders als Barthes nicht ausführlich auf Bedeutungsräume ein, sondern stellt mit den möglichen Lesarten strukturierte Deutungsweisen in den Vordergrund. Er hat später jedoch hervorgehoben, dass er sich mit seinem Encoding/Decoding-Modell gezielt gegen »a particular notion of content as a preformed and fixed meaning or message« wenden wollte (Cruz et al. 1994: 253). 17 | Bereits der Begriff ›hegemonial‹ deutet hier auf Gramscis Hegemonie-

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ausgehandelte Position (ebd.: 108) sowie eine oppositionelle Dekodierung der Zeichen (ebd.: 110). Alle drei Positionen charakterisieren die Beziehung der Publika zu den dominanten Codes oder auch zu der »preferred meaning« (Cruz et al. 1994: 261), auf die ProduzentInnen mit einem Text abzielten. ›Dominant‹ bezieht sich hier auch auf dominante, ideologische Inhalte, die von gesellschaftlich herrschenden Interessengruppen favorisiert würden. Halls Althusser-Rezeption, dessen Ideologiebegriff an späterer Stelle noch kurz erläutert wird, kommt hier zum Ausdruck. Während die dominant-hegemoniale Haltung eine völlige Übereinstimmung zwischen kodierten und dekodierten Codes beschreibt (Hall 1999b: 107), geht Hall bei der oppositionellen Dekodierung von dem genauen Gegenteil aus: Die Nachricht wird zwar von den Rezipierenden verstanden, jedoch mit Bedeutungen versehen, die der beabsichtigten, dominanten Deutung entgegenstehen. Zwischen den beiden extremeren Positionen – der hegemonialen und der oppositionellen Haltung – sieht Hall ein ausgehandeltes Lesen, bei dem sowohl die »hegemonialen Definitionen« (ebd.: 108) angenommen als auch abweichende eigene Bedeutungen konstruiert werden (ebd.: 109). Das Aushandeln von Lesarten ist nach Hall die häufigste Form der Dekodierung (Cruz et al.1994: 265).18 Die unterschiedlichen Lesarten von Texten – also auch von populären Angeboten – ergeben sich bei Hall also aus den differierenden äußeren Bedingungen von Dekodierung und Enkodierung, womit er einen kleinen Schritt in Richtung einer ›ethnographischen‹ Theorieentwicklung unternimmt. Mit diesem Gedanken steht Hall nicht allein, sondern muss im Rahmen zeitgenössischer Theorieansätze verortet werden, die einen Perspektivenwechsel innerhalb kommunikationstheoretischer Arbeiten andeuten. Bereits ein Jahr vor Halls erster Vortragsfassung des Encoding/Decoding-Modells formulierte Eco zum Medium Fernsehen, dass Encoder und Decoder meist einen unterschiedlichen sozialen Hinterkonzept hin (vgl. Lears 1985), das in den Cultural Studies mit Althussers Ideologiebegriff in Verbindung gebracht wurde (vgl. Jurga 1999: 26/27). Hegemonie meint danach den fortwährenden Kampf von herrschenden Gruppierungen und beherrschten Klassen, wobei also hegemoniale Ideologie oder hegemoniale Bedeutungen jene Inhalte meint, die die Interessen gesellschaftlich dominierender Gruppen stützen (vgl. Jurga 1999: 27). 18 | Im Zusammenhang mit den dominanten Codes führt Hall noch den Begriff der »professionellen Kodes« ein (Hall 1999b: 107). Hierunter versteht er eine mediumsspezifische, vorrangig technisch-praktische Form der Kodierung, die relativ eigenständig ist, jedoch innerhalb der dominanten Codes agiert. Der professionelle Code funktioniere beispielsweise in TV-Nachrichten über Kriterien wie Nachrichtenwert oder Attraktivität von Filmaufnahmen, wobei über solche Kriterien (unbewusst) dominante Bedeutungen gestützt würden. Indem Hall in seinem Modell die Aktivität der LeserInnen nicht darauf beschränkt, ein Bedürfnis wahrzunehmen und danach einen Text auszuwählen, der dem entspricht, überwindet er das ›uses and gratifications‹-Modell (vgl. Gray 1999: 26).

Grenzen der Bedeutungsfreiheit | 95 grund aufwiesen und daher Bedeutungen differieren müssten (vgl. Eco 1980). Hall lässt damit textuelle Aspekte außen vor, die unterschiedliche Lesarten bedingen könnten, wie Fiske ausgeführt hat (vgl. Fiske 1999a; siehe auch Pillai 1992: 232). Gleichzeitig zu Halls Modell sind textuelle Analysen im Bereich literarischer Theorie sowie Filmtheorie entstanden, die die Leserposition als vom Text konstruiert betrachten. Diese wiesen vielfach eine feministische Perspektive auf (z.B. Modleski 1982). Hall stand somit nicht allein mit seiner Abkehr von dominanten Kommunikationsmodellen wie dem ›uses and gratifications‹-Ansatz. Vielmehr entstand sein Modell im Rahmen einer allgemeinen Neuorientierung hinsichtlich des geltenden Textund RezipientInnenverständnisses. Auch er selbst verortet sein Encoding/Decoding-Modell innerhalb eines Paradigmenwechsels (vgl. Cruz et al. 1994: 271). 2.2.2 Impulse für die Forschung Hall regte mit seinem Modell an, zu untersuchen, wie Dekodierung von Texten bei den Publika verläuft – neben vielen anderen Impulsen, die er mit seinen Überlegungen gab. So bereitete sein Modell den Grund für die ›Nationwide‹-Studie, in der den ZuschauerInnen ein interpretativer Status zukam (Gray 1999: 28). Seine Annahme, dass Texte bevorzugte Lesarten bereitstellen, lieferte den Nährboden für Fragen danach, wie LeserInnen mit ihnen umgingen. Die oben vorgestellten Studien von Hobson (1982) und Ang (1985) sowie die Arbeit von Katz und Liebes (1990) oder auch Buckingham (1987) gingen im Weiteren diesen Fragestellungen nach (siehe Gray 1999: 29). Daneben wurde untersucht, wie Lesarten in den Alltag integriert wurden, woraus beispielsweise auch die Arbeit von Radway (1984a) resultierte (vgl. Gray 1999: 29). Ebenso hat Fiske etliche Anregungen durch Halls Modell erfahren: Beispielsweise wurden seine Ausführungen zu widerständigen Lesarten von Halls oppositioneller Lesehaltung beeinflusst. Allerdings geht Fiske ausführlicher der Frage nach, welche Bedeutungskonstruktionen insbesondere durch textuelle Merkmale möglich sind, wie diese Bedeutungen in den Alltag integriert werden und auch, welches Vergnügen dabei entsteht. Fiskes Blick geht damit über die Perspektive von Halls Encoding/Decoding-Vorschlag hinaus. Hall stärkt zudem die Stellung der RezipientInnen, die aktiv in seinem Modell an der Bedeutungsproduktion beteiligt sind. Daraus folgt letztlich, dass der Begriff der »Produktion« im Kommunikationsprozess nicht mehr eindeutig auf die Produktion von Texten seitens der ProduzentInnen – beispielsweise FernsehmacherInnen – begrenzt ist. Vielmehr ist ›Produktion‹ gleichzeitig im Prozess der Bedeutungskonstruktion durch die Publika zu verorten. Sie bestimmten hierüber auch die Akzeptanz eines Textes. Diese Gedanken führt Hall in seinem Encoding/Decoding-Modell noch nicht aus. Sie finden sich ausgeprägt später in Fiskes

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Arbeiten zum ›power-bloc‹ und ›the people‹ wieder (vgl. z.B. Fiske 1993a). Hall streicht zudem heraus, dass den RezipientInnen bestimmte Interpretationsrahmen gemeinsam sind (Gray 1999: 27). Hepp betont, dass Hall in seinem Modell die Kontexte der RezipientInnen und der ProduzentInnen einbezieht (Hepp 1999: 111), wobei dies mit seinem »Wissensrahmen«, den »Produktionsverhältnissen« sowie der »technischen Infrastruktur« doch eher grob geschieht. Dennoch ist der Hinweis auf die institutionellen Bedingungen beispielsweise von TV-Produktionen bedeutsam. Voraussetzungen für das medienanalytische Vorgehen der Cultural Studies, nach dem Text und Publika immer im Kontext zu betrachten sind, deuten sich an dieser Stelle an. Angs ›radikaler Kontextualismus‹, also der Einbezug des Kontextes von ForscherIn und Medienaneignung (siehe ebd.: 250) sowie Grossbergs Ausführungen zur Kontextualisierung von Text und RezipientIn (vgl. beispielsweise Grossberg 1999a: 24) stehen hiermit in Zusammenhang. Für Fiske waren wohl auch die Codes, von denen Hall spricht, sehr anregend. So kann man für Fiskes ›Codes of television‹ (Fiske 1999a: 4 ff.) Halls »professionelle Kodes« (Hall 1999b) als Ausgangspunkt nehmen, von dem aus Fiske der Frage nachging, wie das Fernsehen als Institution mit seinen professionellen Codes dominant-hegemoniale Bedeutungen in populären Texten kodiert. Insbesondere Fiskes Kategorie der ›technischen Codes‹ scheinen hiervon beeinflusst zu sein (vgl. Fiske 1999a: 5).19 Allgemein bevorzugt Fiske allerdings ein offeneres Modell als das Encoding/Decoding-Modell mit seinen drei Lesarten (vgl. ebd.: 62 ff.). Insgesamt lässt sich sagen, dass das Encoding/Decoding-Modell sowohl fruchtbar für text- und diskursanalytische Arbeiten als auch für ethnographische Studien war, die vor allem der Frage nach der kontextabhängigen Dekodierung nachgingen. 2.2.3 Kritik an Halls Modell So bedeutsam das Modell von Hall für die Entwicklung der Cultural Studies war, weist es doch etliche Schwächen auf. Es erscheint insgesamt zu wenig ausgearbeitet. Ob drei Positionen ausreichen, um die Bedeutungskonstruktion von RezipientInnen zu beschreiben, ist fraglich, sei es aus der Sicht der Publikumsforschung oder auch aus dem Unvermögen heraus, mit drei Positionen der gesellschaftlichen Diskurspraxis gerecht zu werden (siehe Pillai 1992: 231). So wurde in der ›Nationwide‹-Studie, für die Halls Modell den Ausgangspunkt bildete, beispielsweise betont, dass dominante Ideologie niemals eindeutig sei. Auf Seiten der Dekodierung brachte die Studie mehrere Variationen von dominanten Lesarten zutage (Morley 1999: 257/258).20 Auch Hall selbst hat sein damaliges Vorgehen

19 | Vgl. dazu ausführlicher den Abschnitt ›Ideologische Fesseln: Codes of Television‹ in dieser Arbeit. 20 | Außerdem hänge die ideologische Kodierung stark von der Art der For-

Grenzen der Bedeutungsfreiheit | 97 im Nachhinein relativiert, wenn er angibt, mit den drei Haltungen lediglich die Eckpunkte möglicher Lesepositionen aufgezeigt haben zu wollen. Zudem bezeichne die ausgehandelte Position nicht eine einzige Haltung, sondern mehrere mögliche Positionen (vgl. Cruz et al. 1994: 265). Letztlich bleibt Hall an der Oberfläche der Dekodierungspraxis. Abgesehen davon hält er an der einen, beabsichtigten Textbedeutung seitens der ProduzentInnen fest und stellt die Positionen der Publika als reine Gegenreaktion dar. Bedeutungsproduktion wird hier also verhältnismäßig eng gefasst. Auch die Bedeutungsreservoirs von Texten allgemein, die Voraussetzungen für die unterschiedlichen Lesarten sind, werden mit nur drei möglichen Deutungsweisen sehr stark beschnitten. Außerdem lässt Hall textuelle Merkmale, die Bedeutungsvielfalt erzeugen können, völlig außer Acht und sieht statt dessen Polysemie nur als unmittelbare Folge sozialer Kontexte an.21 Auch Fiske hat sich kritisch zu Hall geäußert (vgl. z.B. Fiske 1999a: 64). Fiske geht davon aus, dass soziale Subjektivität mehr Einfluss auf die Bedeutungsproduktion der Publika hat als die textuell erzeugte Subjektivität (ebd.: 62). Halls Modell der drei Lesarten habe gezeigt, dass Texte ideologisch offener zu begreifen seien. Allerdings kritisiert Fiske, dass Halls Darstellung zu vereinfachend wirke (ebd.: 64). Fiske richtet sich stark gegen eine Vereinheitlichung des Publikums samt seiner Lesweisen und stellt stärker als Hall heraus, dass sehr unterschiedliche Diskurse der RezipientInnen auf die Diskurse der Texte treffen (ebd.: 83). Vor allem widerspricht Fiske der einen bevorzugten Bedeutung im Zentrum eines mulierung ab, somit sei übergeordnet der Begriff des ›Codes‹ nicht eindeutig (Morley 1999: 257/258). 21 | Der Versuch, das Modell empirisch im Rahmen des ›Nationwide‹-Projektes umzusetzen, offenbarte noch weitere Schwächen des Ansatzes. Beispielsweise stellten sich die Kodierungen und die Dekodierungen, die Hall beschreibt, als zu einseitig heraus (vgl. Morley 1999: 257/258). Morley kritisiert in seiner Nachschrift zur ›Nationwide‹-Studie, dass sich hinter dem Dekodieren von Botschaften eine Reihe von unterschiedlichen kognitiven Prozessen verbirgt und nicht, wie es bei Hall scheint, ein einheitliches Handeln (vgl. Morley 1992: 121). Außerdem sieht Halls Modell, das auf den Textmerkmalen beruht, eine Leseverweigerung nicht vor. In der ›Nationwide‹-Studie hatten beispielsweise farbige Teilnehmer die Ausstrahlung abgelehnt, da die Sendung an ihrer Lebenswelt vorbeiginge. Ein solch verweigertes Lesen lässt sich nicht in Halls Modell einordnen, denn es bezeichnet keine oppositionelle Haltung, da gewissermaßen gar keine, auch keine gegenläufige Bedeutungsfindung statt findet (vgl. ebd. 257). Im Gegenzug ist auch die Kodierung bei Hall zu kritisieren. Hall lässt die Frage außen vor, inwieweit das Kodieren von Fernsehtexten bewusst abläuft oder ob hier nicht vielmehr unbewusste Handlungen ausschlaggebend sind (siehe Morley 1992: 120). Ebenfalls ungeklärt ist der Zugang zur bevorzugten Lesart (»preferred reading«). Muss man sie als Eigenschaft des Textes ansehen oder ist eine bestimmte Rezeptionsweise nötig, um sie aus dem Text herauszuarbeiten (ebd.: 122)?

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Textes, die Hall als »preferred meaning« bezeichnet hat. Statt dessen legten Textstrukturen Bedeutungen nahe oder schlössen sie aus. Deutlich wird hier Fiskes Vorstellung von Texten als Fonds diverser Bedeutungen (ebd.: 65). Er betont daneben, dass nicht nur Fernsehtexten unterschiedliche Bedeutungen zugewiesen werden, sondern auch das Fernsehen als Medium unterschiedliche Bedeutungen über die Integration in den Alltag annehmen kann, die beispielsweise auch geschlechtsspezifisch differierten (ebd.: 72) – ein Aspekt, der bei Hall nicht berücksichtigt wurde.22 Kritik übte auch Wren-Lewis (1983), wobei er sich hauptsächlich auf »the model of television as a secondary sign-fixing practice« bezog (Wren-Lewis 1983: 182). Das Fernsehen werde in Halls Kommunikationsprozess auf einen Vermittler von Zeichen reduziert: »Television is seen as reproducing meanings (or not), rather than producing them« (ebd.: 181). Damit käme dem Fernsehen derselbe Status zu wie in Kommunikationsmodellen, die das Fernsehen und seine Zeichen als bloße Abbildung der Wirklichkeit begriffen hätten. Das Fernsehen sei jedoch vielmehr an der Produktion von Bedeutung beteiligt (vgl. ebd.). Für Hall ist das Fernsehen in seinem Modell lediglich ein technisches Übertragungsmittel. Von dem Verständnis des Fernsehens als Medium, wie es sich später in den Cultural Studies durchgesetzt hat, wonach das Fernsehen in die Alltagswelt der RezipientInnen integriert wird und in der Organisation des Alltags sowie der Bedeutungsproduktion eine wichtige Funktion einnimmt (vgl. z.B. Fiske 1999a), ist er in seinem Modell weit entfernt.23 Wren-Lewis kriti-

22 | Hepp bemängelt zudem im Rahmen seiner Studie zur Fernsehaneignung (1998: 120 f.), dass Halls Aushandlungsbegriff uneindeutig sei. So könne man bei dem Begriff an mehrere RezipientInnen denken, die mögliche Lesarten eines Textes ausdiskutierten. Ausgehend von Halls Beschreibung des Kommunikationsprozesses liegt eine solche Fehlinterpretation allerdings nicht sehr nahe. Dennoch ist Hepp natürlich beizupflichten, dass der Begriff des Aushandelns und die Frage danach, wie der/die Einzelne eine Lesart aushandelt, bei Hall nicht ausgeführt werden. So kritisiert auch Pillai (1992: 231), dass Halls ausgehandelte Position als einheitliche Lesehaltung betrachtet werde, wohingegen sämtliche Lesarten ausgehandelt würden. Daneben führt sie an, dass Hall die ›preferred meaning‹, das ›preferred reading‹ als übereinstimmend mit der dominanten Ideologie darstelle. Wenn bei der Dekodierung eine Textbotschaft abgelehnt werde, so bedeute dies nicht automatisch, dass auch die dominante gesellschaftliche Ideologie keinen Zuspruch finde (siehe Pillai 1992: 232). Hall betrachtet also auch in diesem Zusammenhang die Konstruktion von Bedeutungen oder auch die mögliche Vielfalt von Bedeutungen zu eindimensional, der diskursiven gesellschaftlichen Bedeutungskonstruktion wird er nicht gerecht. 23 | Wren-Lewis kritisiert im Weiteren, dass Hall zwei Ebenen der Kodierung beschreibe: zum einen eine allgemeine gesellschaftlich-kulturelle Signifikation und zum anderen eine spezifische diskursive Praxis, wie die des Fernsehens (Wren-Lewis 1983: 180). Hall bestätigt später, dass er von zwei verschiedenen Ebe-

Grenzen der Bedeutungsfreiheit | 99 siert zudem, dass Halls symmetrisches Modell die Prozesse des Kodierens und Dekodierens von Bedeutungen zu stark vereinheitliche. Während das Kodieren darin bestehe, aus dem gesamten Zeichenreservoir, das überhaupt zur Verfügung steht, auszuwählen, werde beim Dekodieren ausschließlich mit einem vorgegebenen ›televisuellen Objekt‹ Bedeutungen ausgehandelt. Die Bezugsmengen seien daher unterschiedlich, so dass die Symmetrie des Modells unberechtigt sei (vgl. Wren-Lewis 1983: 180). Der Autor kritisiert also die Art und Weise, in der Hall die Bedeutungsproduktion auf Seiten des ›Encoding‹ und des ›Decoding‹ charakterisiert. Diese Einwände sind berechtigt, sie zeugen jedoch gleichzeitig von überhöhten Erwartungen, die an Halls Ausführungen trotz des offensichtlichen Modellcharakters gestellt wurden (vgl. Gray 1999). Wie lassen sich Halls Beiträge zur Analyse von populären Texten, wie sie im Weiteren von Fiske und anderen betrieben wurde, zusammenfassen? Zentral sind die drei Lesarten, die Hall anführt. Damit erkennt er Bedeutungsfreiräume an, die im Aushandeln sowie in der Möglichkeit liegen, Nachrichten gegenläufig zu lesen. Für Populäres heißt dies, dass vermeintlich reaktionäre Inhalte nicht in gleicher Weise aufgenommen werden, sondern dass hier die Möglichkeit besteht, sie gegen den Strich zu lesen. Die RezipientInnen von Populärem werden damit von dem Ruf befreit, passiv Inhalte zu konsumieren. Damit geht Hall insbesondere über das Stimulus-Response-Modell und ebenso über das ›uses and gratifications‹-Modell hinaus und stellt gleichzeitig Ansätze aus der ScreenTheorie in Frage.24 Hall wandte sich damit wie oben erwähnt gegen vorherrschende Ansätze der Medienforschung seiner Zeit. Zudem bezog er sich auf Gramscis Hegemoniemodell und richtete sich damit gegen das Marxsche Basis-Überbau Schema (vgl. Gray 1999: 27), wenn er wie Gramsci keine völlige Determinierung durch eine ökonomische Basis annahm, sondern von der Möglichkeit ausging, dominante Ideologien abzulehnen (vgl. zu Gramsci: Lears 1985).25 Außerdem betont Hall die Kontextabhängigkeit von Bedeutungen, wodurch die Alltagswelt der Pubnen ausgegangen sei und meint, er habe sie nicht ausreichend voneinander abgegrenzt (Cruz et al. 1994: 259). 24 | Die Screen-Theorie, in den Siebziger Jahren entwickelt und nach der britischen Zeitschrift »Screen« benannt, ging davon aus, dass Texte ihre Rezipientinnen und Rezipienten in der dominanten Ideologie positionierten. Danach hätten LeserInnen keine Möglichkeit, aktiv Bedeutungen zu konstruieren, die der dominanten gesellschaftlichen Ideologie entgegenlaufen. Maßgeblich für diesen Ansatz, der eine Art Textanalyse darstellt, war Althussers Vorstellung von der Interpellation der Subjekte durch Ideologie in Verbindung mit Lacans Idee des Unbewussten (vgl. z.B. Jäckel/Peter 1997: 51/52 ; Jurga 1999: 25). 25 | Das Basis-Überbau-Modell wurde nach Hall auch durch die Rezeption strukturalistischer Ansätze – wie des frühen Barthes – in Frage gestellt, womit Ideologie, Sprache und Kultur nicht länger als sekundäre Größen galten, die einseitig von sozioökonomischen Prozessen determiniert wurden (Cruz et al. 1994: 254).

100 | Teil 2: Fiske und ›populäre Texte‹

lika stärker in den Blick gerät. Für Fiske war sicherlich die Lesartenfrage besonders ertragreich. Wie oben bereits erwähnt, haben wohl auch seine Ausführungen zu den »Codes of television« Anregungen durch Hall erfahren. Obgleich also der Encoding/Decoding-Ansatz etliche Mängel und Ungenauigkeiten aufweist, bot er für nachfolgende Arbeiten reichhaltige Anregungen: »It suggests an approach; it opens up new questions. It maps the terrain« (Hall in: Cruz et al. 1994: 255).

2.3 Fiskes Lesarten: Bedeutungsfreiraum versus Ideologie 2.3.1 Kurze Vorbemerkung zu ›Ideologie‹ und ›Hegemonie‹ In den vorangegangenen zwei Abschnitten wurden verschiedene Aspekte angeführt, unter denen Texte betrachtet werden können. Ausgehend von Barthes war zunächst von textuellen Bedeutungsräumen die Rede, die für die RezipientInnen Möglichkeiten bereithalten, Bedeutungen zu konstruieren. Ebenso kam anschließend mit Halls Modell die Sprache auf Lesarten, die zugleich Begrenzungen von Bedeutungen darstellen als auch in ihrer Vielfalt eine Freiheit zur aktiven Aneignung verkörpern. Die Bezüge zu Fiskes Analyse von populären Texten traten vor allem bei Halls Encoding/Decoding-Modell zutage, in dem nicht nur die Aktivität der Publika allgemein eine wichtige Rolle spielt, sondern vor allem ihre Freiheit, Texte gegen deren dominant-ideologischen Gehalt zu lesen. Fiske hat in seinen Arbeiten immer wieder den Zusammenhang zwischen Kultur und gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen herausgestellt (vgl. Fiske 1999a: 18). Der Schlüsselbegriff in diesem Zusammenhang lautet »Ideologie«. Der Begriff klang schon einige Male an, wurde jedoch noch nicht ausführlicher betrachtet. Für die Arbeiten der Cultural Studies ist der Ideologiebegriff insgesamt bedeutsam. Jurga liefert eine kurze allgemeine Definition: »Ideologien stellen ein System aus Wertvorstellungen, Ideen und Glaubenssätzen dar, die eine Weltsicht generieren, die im Dienste bestimmter gesellschaftlicher Klassen bzw. Gruppen stehen« (Jurga 1999: 23). Innerhalb von Gesellschaften existieren verschiedene Ideologien, wie beispielsweise die Ideologie des Kapitalismus, des Patriarchats, der Religion oder ähnliches. Ideologien sind immer mit Machtinteressen verknüpft. Der Begriff der Ideologie ähnelt auf dieser allgemeinen Basis sehr der Vorstellung von Diskursen. Auch sie sind an Machtkämpfe gekoppelt, stellen Bedeutungssysteme dar und arbeiten für verschiedene Interessengruppen (siehe dazu ausführlicher Teil 2, Kap. 3). Dass damit auch ein enger Zusammenhang von Diskursen und Ideologien besteht, ist offenkundig. Man könnte ihn vielleicht damit umreißen, dass Diskurse immer Ideologien zugerechnet werden können. Die Arbeiten der Cultural Studies zeichnen sich durch eine fortwährende Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Ideologie aus. Ihr Ideo-

Grenzen der Bedeutungsfreiheit | 101 logiebegriff weicht dabei von frühen marxistischen Vorstellungen ab und wurde stark von der Theorie Althussers beeinflusst. Im marxistischen Theoriegebäude wurden Ideologien als Teil des Basis-Überbau-Modells behandelt (vgl. Marx/Engels 1977: z.B. 212 ff.). Ideologie bildet danach einen Bestandteil des Überbaus und wird demgemäß von der ökonomischen Basis determiniert. Ideologie stellte hiernach ein geschlossenes System dar. Gegen diese Annahme wandte sich Althusser (vgl. Althusser 1977). Er verortete im Überbau neben den repressiven Staatsapparaten (RSA) verschiedene ideologische Staatsapparate (ISA), wie das politische und das juristische System oder auch Bildungsinstitutionen, die relativ autonom funktionierten. Dadurch bildeten sie kein geschlossenes System, sondern lieferten »ein objektives Feld für Widersprüche […], in denen sich in mal begrenzten, mal extremen Formen die Auswirkungen der Zusammenstöße zwischen dem kapitalistischen Klassenkampf und dem proletarischen Klassenkampf sowie ihrer untergeordneten Formen ausdrücken« (ebd.: 123). Jene Widersprüche eröffneten somit einen Raum, in dem sich der gesellschaftliche Klassenkampf offenbarte und sich die unterdrückten gesellschaftliche Gruppierungen zeigten. Althusser bestreitet damit eine völlige Determinierung durch Ideologien. Darüber hinaus konstatiert er eine Rückwirkung des Überbaus auf die Basis und widerspricht so der Marxschen einseitigen Determinierung der Ideologien durch das ökonomische System (vgl. Althusser 1977: 108 ff.; 114). Althusser sieht daneben »ein komplexes ineinandergreifendes System von ökonomischen, politischen und ideologischen Praktiken« gegeben (Jurga 1999: 24), mit Hilfe derer die bestehende kapitalistische Gesellschaftsform gestützt werde. Auf diese Weise würden dominante Ideologien untermauert, d.h. propagierte Werte und Vorstellungen werden durch soziale Praxis gefestigt. Fiske beschreibt die Funktion von Ideologie nach Althusser folgendermaßen: »Ideology as theorized by Althusser, works to iron out contradictions between its subjects’ real and imaginary social relations. It constructs a ›consensus‹ around the point of view of the bourgeoisie and excludes the consciousness of class conflict. Conflict of interest can only be expressed through c o n t r a d i c t i o n , speaking against, so the repression of contradictions in ›the real‹ is a reactionary ideological practice for it mobilizes a consensus around the status quo and thus militates against social change« (Fiske 1999a: 88). Als ›gesellschaftlich-dominant‹ gelten ideologische Inhalte, wenn sie die Interessen von herrschenden Gruppen stützen. Ziel der ideologischen Arbeit ist nach Althusser die Reproduktion der Produktionsverhältnisse (vgl. Althusser 1977: 108 ff.). Althussers Ideologiebegriff war nicht nur nachhaltig prägend für die Studien der Cultural Studies, sondern auch für die Screen-Theorie (vgl. Jurga 1999: 25). Sie knüpft an Althussers zentrale Annahme an, dass die dominante Ideologie über Texte transportiert werde. Über den Rezeptionsprozess werde die Übereinkunft von Einzelnen mit den dominanten

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gesellschaftlichen Werten erreicht. Die Subjekte würden auf diese Weise in die Ideologie eingegliedert. Althusser spricht hier von ›Interpellation‹; er meint, die »Ideologie ruft die Individuen als Subjekte an« (vgl. Althusser 1977: 140). In den Cultural Studies wird eine solche Determinierung der einzelnen RezipientInnen als zu stark empfunden und abgelehnt. So lässt sich Halls Encoding/Decoding-Papier mit seinen ausgehandelten und oppositionellen Lesarten gewissermaßen als Kritik an Althusser begreifen (Lutter/Reisenleitner 1998: 71).26 Am CCCS hat sich insbesondere Hall für die Althusser-Rezeption engagiert (siehe ebd.). Die Widersprüche, die Althusser hinsichtlich der Ideologien beschreibt, boten Hall die Grundlage für seine Lesarten entgegen dominant-ideologischer Inhalte. Ebenso liegt hier Fiskes Ausgangspunkt, um bei den RezipientInnen eine Aneignung zu vermuten, die den ideologischen Inhalten von Texten entgegenläuft (so auch Jurga 1999: 26). Neben Althusser war in diesem Kontext Gramscis Hegemoniebegriff prägend, der mit einer solchen Vorannahme harmoniert, allerdings noch über sie hinausgeht (vgl. Lears 1985). Hegemonie im Sinne Gramscis meint den »Kampf einer herrschenden Ideologie gegen eine Vielzahl von Widerständen […], die der ideologischen Herrschaft durch Angehörige von beherrschten Gesellschaftsgruppen entgegengesetzt werden« (so Jurga 1999: 26). Dieser Ansatz sieht somit einen ständigen gesellschaftlichen Kampf um Macht gegeben und geht damit von einem immerwährenden Kampf um ideologische Inhalte und Bedeutungen aus, womit Gramscis Ansatz ein wesentlich dynamischeres Bild einer Gesellschaft vermittelt, als es bei Althusser der Fall ist. Gramsci billigt dabei den nicht herrschenden Gruppen einen wesentlichen Anteil an gesellschaftlichen Machtkämpfen zu, da er davon ausgeht, dass der Machtraum der dominierenden Interessengruppen nur so weit reicht, wie sich die beherrschten Gruppen darauf einlassen (vgl. ebd.: 27). Gramscis Vorstellungen finden sich vor allem in Fiskes Arbeiten zum Kampf um Bedeutungen zwischen ›Machtblock‹ und ›Leuten‹ wieder (vgl. Fiske 1993a). Bei Fiske spielen ›Ideologie‹ und ›Hegemonie‹ durchgängig eine große Rolle. Er widmet sich dem widerständigen Potential, das die gesellschaftlich nicht-dominierenden RezipientInnen mit Hilfe von populären Texten in einem mikropolitischen Umfang ausüben. Die Art und Weise, in der gesellschaftlich dominante Ideologie über populäre Texte arbeitet, wird von Fiske ausführlich betrachtet. Vor allem diskutiert er den Versuch, Bedeutungen auf ideologisch-dominante Inhalte einzuengen, indem den RezipientInnen im Text dominante Bedeutungen – also bestimmte Lesarten – durch die TextproduzentInnen nahegelegt werden. In seinen Studien deckt er immer wieder derartige ideologische Versuche, Textbedeutungen zu beschneiden, auf, beispielsweise in seinen Ausführungen 26 | Jurga hebt allerdings als Ertrag der Screen-Theorie hervor, dass sie die Diskursivität von gesellschaftlichen Machtkämpfen »für den Bereich audiovisueller Medien« herausgestellt habe (siehe Jurga 1999: 25).

Grenzen der Bedeutungsfreiheit | 103 zum ›Realismus‹ des Fernsehens (vgl. Fiske 1999a).27 Hier ließen sich ebenfalls Fiskes Ausführungen zu den ›Codes of television‹ anführen (ebd.: 4 ff.), in denen er die Arbeit von ideologischen Mechanismen in Fernsehtexten untersucht. Allerdings räumte Fiske später ein, dass er statt dem Begriff der ›Ideologie‹ die Begriffe ›Diskurs‹, ›Wissen‹ und ›Macht‹ vorziehe, da der Ideologiebegriff Wissen als zu homogen erscheinen lasse (vgl. Fiske bei Müller 1993a: 6). In dem Zusammenhang dieser Arbeit und hinsichtlich der Frage, wie populäre Unterhaltung bewertet wird, ist zudem interessant, wie die gesellschaftliche Aushandlung von Inhalten und der hegemoniale Kampf um Bedeutungen in dem Bereich ›Kultur‹ verläuft. Er verkörpert geradezu ein Musterbeispiel an verdeckten ideologischen Strategien. So liegen beispielsweise die Beziehungen zwischen Kultur und ›Klasse‹ nicht offen, sondern werden durch Begriffe wie ›Geschmack‹ verschleiert. Dadurch wird vorgespiegelt, dass jedem oder jeder der Zugang zur Kultur offen stehe, was jedoch aufgrund der herrschenden Machtverhältnisse nicht der Fall ist (vgl. Fiske 1999a: 18). Daneben fällt auf, dass es für die Bewertung von populären Texten schon immer bedeutsam war, sie als Wirkungsstätte bzw. als Instrument von Ideologien zu begreifen. Bereits in der frühen Kritischen Theorie wurde der Zusammenhang zwischen Ideologie und Populärem herausgestellt. Einen der anschaulichsten Beiträge hierzu liefert das ›Kulturindustrie‹-Kapitel von Horkheimer und Adorno (1998). Die Wirkung von Ideologie in populären Texten wurde bei ihnen einseitig im Sinne des Stimulus-Response-Ansatzes begriffen. RezipientInnen waren danach den ideologischen Inhalten, die sie über populäre Texte konsumierten, hilflos ausgeliefert. Besonders das Lachen und Amüsement wurden als Ausdruck der völligen Indoktrination gewertet (vgl. Horkheimer/Adorno 1998: 144 ff.). Die Sicht der Cultural Studies gestaltet sich, wie oben bereits deutlich gemacht, anders. Sie sehen in den RezipientInnen keine hilflosen Opfer, die willenlos ideologisch manipuliert werden können. Gerade das Vergnügen wird bei den Cultural Studies in Anlehnung an Bachtin und seine Ausführungen zum Karnevalesken (vgl. Bachtin 1969) vollkommen konträr als Möglichkeit gewertet, dominantideologischen Inhalten eigene Bedeutungen entgegenzustellen. Populäre Texte gelten bei Fiske somit immer als Ort der gesellschaftlichen und kulturellen Machtkämpfe, an dem um Bedeutungen oder auch um Lesarten gerungen wird – der Sieger oder die Siegerin aus diesen Kämpfen steht jedoch nicht von vornherein fest. RezipientInnen wird im Aushandeln von Bedeutungen gegenüber ideologischen Inhalten mehr Macht und Kreativität zugestanden als in früheren Ansätzen. Populäre Vergnügen sind daher nicht mehr die minderwertigen Verführer, die Menschen verdummen, sondern können ihnen statt dessen »Spielräume des Vergnügens« (Winter 1999b) und Bedeutungsreservoirs sein. 27 | Vgl. dazu ausführlicher das Kapitel ›Textuelle Kontrolle: Realismus als ideologisches Konzept‹ in dieser Arbeit.

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2.3.2 Ideologische Fesseln: Codes of Television Ideologie und Hegemonie bestimmen also die Perspektive auf Populäres im Diskurs der Cultural Studies wesentlich mit und sind auch für Fiske maßgeblich. Um noch einmal auf Hall zurückzukommen: »zuerst muss das Ereignis zu einer Geschichte werden, bevor es zum kommunikativen Ereignis werden kann« (Hall 1999b: 94). Um ein Ereignis in einen Diskurs einzubringen, muss es zunächst an die Regeln des Diskurses angeglichen werden. Im Fernsehen wird beispielsweise die Nachrichtenform als »notwendige ›Erscheinungsform‹ des Ereignisses in dessen Umwandlung von der Quelle zum Empfänger« gewählt (ebd.: 94). Fiske greift die Frage der Kodierung auf und untersucht, auf welche Weise Texte kodiert werden – dieser Punkt wurde bei Hall nur angerissen. Fiske versucht in »Television Culture« (1999a) die Kodierung von Fernsehtexten an einem Modell zu verdeutlichen, in dem er die ›Codes of television‹ beschreibt.28 Wesentliche Vorannahme von Fiskes Modell ist die Kodierung von Realität selbst. Diese setze sich in unterschiedlichen TV-Codes fort. Als ›Code‹ versteht Fiske: »A code is a rule-governed system of signs, whose rules and conventions are shared amongst members of a culture, and which is used to generate and circulate meanings in and for that culture« (Fiske 1999a: 4). Ein ›Code‹ bezeichnet danach eine strukturierte Menge von Zeichen, die auf kulturspezifische Weise zusammenwirkt und so ein System bildet, mit dem Bedeutungen im Fernsehen erzeugt und verbreitet werden. Codes werden hier als Bindeglied zwischen »producers, texts and audiences« (Fiske 1999a: 4) begriffen. Fiskes Modell der »Codes of television« (ebd.: 4 ff.) enthält drei hierarchisch gestaffelte Ebenen. Auf ihnen siedelt er verschiedene Kodierungen an, wobei er betont, lediglich die wichtigsten anzuführen. Fiske will hier ein Prinzip verdeutlichen, kein komplettes Modell darstellen (vgl. ebd.: 4). Er unterscheidet zunächst soziale Codes, die auf einer ersten Ebene für die Realität relevant seien (1). Dazu zählt er Make-up, Kleidung oder auch Verhaltensweisen.29 Auf der zweiten Ebene, der ›Repräsentation‹, platziert Fiske die ›technischen Codes‹, zu denen er beispielsweise die Kameraführung zählt (2). Mit Hilfe von Kameraführung, Lichteinstellung oder auch Musik würden ›konventionelle repräsentative Codes‹ auf 28 | Bereits in Fiskes Publikation »Reading Television«, die er 1978 gemeinsam mit Hartley veröffentlicht hat, ist von ›Codes of Television‹ die Rede. 29 | Fiskes Ausführungen erinnern etwas an Barthes »Système de la Mode« (1967), worin dieser Kleidungsstücke nicht als individuellen Ausdruck, sondern als System wertet, das zudem unterschiedlich gelesen werden könne. Hier könnte sich Fiskes Beeinflussung durch strukturalistische Ideen zeigen. Ebenso könnte man an dieser Stelle Bourdieus Habituskonzept anführen (vgl. z.B. Bourdieu 1999: 277 ff.).

Grenzen der Bedeutungsfreiheit | 105 bestimmte Weise transportiert, worunter bei Fiske das Setting, der Konflikt der Handlung, die Dialoge und ähnliches fallen. Die dritte und zentrale Ebene in dem Modell bildet die Ebene der Ideologie (3). Hier arbeiteten ideologische Codes zusammen, die unter anderem Werte wie ›Individualismus‹ transportierten. Fiske führt als Beispiele ›Patriarchat‹, ›Rasse‹, ›Klasse‹, ›Materialismus‹ und ›Kapitalismus‹ an. Die genannten Momente seien miteinander verschachtelt, so dass unter anderem die Vermischung von ›Individualität‹ und ›Schönheitsideal‹ sowie geschlechtsspezifische Kodierungen zeigten, dass die Codes nicht isoliert stünden, sondern untereinander vernetzt seien. Fiske will anhand seines Modells zeigen, dass Ideologie durch ein komplexes System miteinander verschachtelter Komponenten erzeugt wird. Allerdings wirken seine ›Codes of television‹ allzu starr durch die strenge hierarchische Gliederung. Zudem mutet seine Darstellung zu stringent an. Gegenläufige Codes kommen hier nicht zur Sprache. Dass Fiske zu stark vereinfacht, zeigt auch das Analysebeispiel, mit dem er die Codes vorführen will. Dazu hat er Szenen der US-amerikanischen Serie »Hart to Hart« ausgewählt, in der sowohl Held und Heldin als auch Bösewicht und Schurkin auftreten. Auf diese Weise ist es für Fiske leicht, Oppositionen zu bilden. Heldin und Held würden auf der einen Seite als attraktives, vorteilhaft geschminktes Paar präsentiert, das gut ausgeleuchtet sich ganz nach dem überkommenen Geschlechterstereotyp ›schlauer Mann, weniger schlaue Frau‹ verhalte – technische Codes wie die Beleuchtung wirkten hier zusammen mit sozialen Codes, beispielsweise der Kleidung. Auf der anderen Seite stehen Schurke und Schurkin, die weniger sexuell attraktiv seien, weniger stilvolle Kleidung trügen und sich in kalt ausgeleuchteten Räumen bewegten. Die ›Bösen‹ seien durch das Zusammenwirken der Codes sofort als solche zu identifizieren, was auch für die ›gute Seite‹ gelte. Ideologisch werde hier unter anderem transportiert, dass Verbrechen abzulehnen seien und die soziale Ordnung durch Held und Heldin wiederhergestellt werden müsse. Über die positive Darstellung von Held und Heldin würden ideologisch außerdem Geschlechterbilder vermittelt, die sich in diesem Fall sehr stark an patriarchalen Idealen orientierten. Kategorien wie ›attraktiv‹ und ›weniger attraktiv‹, die Fiske in Bezug auf die Charaktere verwendet, sind problematisch, da sie nicht fix sind, sondern ausgesprochen relativ und nach subjektiven Vorlieben funktionieren. Zudem macht es sich Fiske durch das eindeutige Arrangement von ›Gut‹ und ›Böse‹ etwas zu leicht mit seiner Argumentation (vgl. Fiske 1999a: 6 ff.). Eine komplexere Situation mit differenzierteren Charakteren wäre aufwändiger zu analysieren und sicherlich weniger eindeutig den verschiedenen Kategorien zuzuordnen. Fiske fragt mit seinen ›Codes of television‹ nach der Repräsentation von Bedeutungen. Wie auch bei Hall, ist bei Fiske keine Realität außerhalb von Repräsentation – bei ihm von Kodierung – möglich. Hall unterscheidet allerdings zwei Systeme der Repräsentation. Zum einen das sprachliche Zeichensystem, mit dem Bedeutungen verbalisiert werden

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können (vgl. Hall 1997: 28) – hier setzt Fiske mit seinen ›Codes of television‹ an. Zum anderen die mentalen Konzepte, die der sprachlichen Ebene von Repräsentation vorgelagert sind, wie Hall ausführt: »the concepts which are formed in the mind function as a system of mental representation which classifies and organizes the world into meaningful categories« (vgl. ebd.). Die mentale Seite der Repräsentation – und damit die RezipientInnen – sind bei Fiske an dieser Stelle außen vor. Trotz der Kritik veranschaulicht Fiskes Modell, was für ihn bei der Betrachtung von populären Fernsehtexten bedeutsam ist: Er zeigt, auf welche Weise Fernsehtexte ideologisch-dominante Bedeutungen transportieren können und demonstriert, dass mehrere Komponenten in (populären) Fernsehtexten zusammenwirken. Für Fiske können hierüber bestimmte Lesarten oder auch eine bestimmte Lesehaltung lanciert werden,30 wie zum Beispiel die des »white, male, middle-class American (or westener) of conventional morality« (ebd.: 11; siehe auch 50 ff.).31 Ideologische Codes dienen für Fiske dazu, Common Sense herzustellen. Fernsehinhalte sollten ›natürlich‹ oder auch ›realistisch‹ erscheinen (ebd.: 6). Seine Charakterisierung dieser ideologischen Ebene zeigt den Bezug zu Althusser, der als zentrale Wirkung von Ideologie Offensichtlichkeit ausgemacht hat (Althusser 1971: 161). Der Ausdruck ›Common Sense‹ wird ebenso bei Hall benutzt (vgl. Hall 1977).32 Er führt aus: »It is also crucial that ›ideology‹ is now understood not as what is hidden and concealed, but precisely as what is most open, apparent, manifest – what ›takes place on the surface and in view of all men‹. […] the most obvious and ›transparent‹ forms of consciousness which operate in our everyday experience and ordinary language: common sense« (Hall 1977: 325). Das Phänomen des Common Sense ist hinsichtlich der Frage nach Lesarten interessant, da hier den RezipientInnen ein Freiraum signalisiert wird, der frei von ideologischer Beeinflussung sei, indes liegt vielmehr ein Musterbeispiel für die Eingrenzung von Bedeutungen auf einen übergrei30 | Die Annahme des ideologischen Gehalts populärer Texte steht zunächst einmal nicht im Gegensatz zu früheren Überlegungen, wie sie beispielsweise Adorno und Horkheimer anstellten. Populäre Texte sind ideologisch aufgeladen und sollen meist durch die TextproduzentInnen auf eine dominante Lesart beschränkt werden. Eine besondere Freiheit der RezipientInnen zur aktiven Aneignung, die einen Bruch zur Kritischen Theorie bedeutet, wird in Zusammenhang mit den ›Codes of television‹ von Fiske hier noch nicht thematisiert. 31 | Hierin könnte man eine Parallele zur Screen-Theorie sehen, in der der Text ein Subjekt konstruiert (vgl. Jurga 1999: 25). 32 | Der ›gesunde Menschenverstand‹ macht zudem einen zentralen Aspekt in der ›Nationwide Studie‹ aus. In ihr kamen die AutorInnen zu dem Ergebnis, dass über die Sendung ›Nationwide‹ versucht wird, einen übergreifenden, nationalen allgemeingültigen Konsens herzustellen (vgl. z.B. Brunsdon/Morley 1999: 102 ff.).

Grenzen der Bedeutungsfreiheit | 107 fenden ideologischen Sinn vor. Common Sense will – vereinfacht gesagt – Bedeutungen auf eine dominante Lesart einschränken.33 Fiskes Überlegungen zur Eingrenzung von Bedeutungen setzen sich in seinen Ausführungen zum Realismus im Fernsehen fort. Sein Augenmerk auf populäre Texte unterscheidet sich zunächst nicht wesentlich von früheren Ansätzen, die allein den ideologischen Gehalt von Populärkultur hervorgehoben haben. Erst die Bewertung der Publika und ihrer Aneignung von Texten sowie die Herausarbeitung von textuellen Freiräumen innerhalb populärer Texte sind entscheidend für die Aufwertung von Populärkultur in den Cultural Studies. 2.3.3 Textuelle Kontrolle: Realismus als ideologisches Konzept Hat Fiske sich in den »Codes of Television« einzelnen Mechanismen in populären Fernsehtexten zugewandt, die ideologisch-dominante Bedeutungen stützen, behandelt er an anderer Stelle das geschlossene Konzept des ›Realismus‹ im Fernsehen. Realismus kann man als Zusammenspiel von Fernsehcodes ansehen, mit denen eine allgemein glaubwürdige Vorstellung von Realität erzeugt und vermittelt wird.34 »We can thus call television an essentially realistic medium because of its ability to carry a socially convincing sense of the real. Realism is not a matter of any fidelity to an empirical reality, but of the discursive conventions by which and for which a sense of reality is constructed« (Fiske 1999a: 21). ›Realistisch‹ ist ein Format nach Fiske also nicht, weil es die Wirklichkeit tatsächlich abbildet – dies ist prinzipiell unmöglich –, sondern weil es diskursiven gesellschaftlichen Konventionen folgt, die bestimmen, was als realistisch gilt. Das Fernsehen ist dem Zitat gemäß ein sehr realistisches Medium, da es in der Lage ist, überzeugende Realitäten zu konstruieren. Der Realismus des Fernsehens ist hiernach also ein anderer als gemeinhin unter ›realistisch‹ verstanden wird, wenn man davon ausgeht, dass das Fernsehen Spiegel der Wirklichkeit sei oder unmittelbare Bilder eines realen Geschehens liefere. Das Fernsehen selbst, so Fiske, stellt sich meist als das Medium dar, das in der Lage ist, Abbilder der Wirklichkeit zu 33 | Der Gedanke, dass Ideologie Bedeutungsräume eingrenzt, findet sich bereits bei Barthes, wenn er auf die Definition von schreibbaren Texten zu sprechen kommt: »[…] wir beim Schreiben, bevor das nicht endende Spiel der Welt (die Welt als Spiel) durch irgendein singuläres System (Ideologie, Gattung, Kritik) durchschritten, durchschnitten, durchkreuzt und gestaltet worden wäre, das sich dann auf die Pluralität der Zugänge die Offenheit des Textgewebes, die Unendlichkeit der Sprachen niederschlägt« (Barthes 1976: 9). 34 | Die ›Nationwide‹-Studie hat hierzu interessante Ergebnisse geliefert. Das Sendeformat ›Nationwide‹ versuche vorzuspiegeln, die englische Realität abzubilden (siehe Brunsdon/Morley 1999: 102 ff.).

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schaffen. Dass Fernsehen Realität jedoch nicht eins zu eins abbildet, sondern diskursiv umsetzt, werde dabei verschleiert (vgl. Fiske 1999a: 21). Fiske stützt seine Argumente mit der Beobachtung, dass das US-Fernsehen als realistisches Medium ausgegeben werde, es insgesamt jedoch lediglich die Realität der Mittelschicht wiedergebe (ebd.: 23).35 Aus Fiskes Verständnis des diskursiven Realismus ergibt sich, dass die gängige Trennung zwischen fiktionalen und non-fiktionalen Produktionen an Bedeutung verliert bzw. nach Fiskes Verständnis nicht möglich ist. Statt dessen können Ausstrahlungen, die mit dem Label fiktional versehen wurden, diskursiv realer sein, also gesellschaftliche Diskurse besser transportieren als non-fiktionale. Es muss an dieser Stelle noch einmal betont werden, dass beide, sowohl fiktionale als auch nicht-fiktionale Texte, diskursive Konstruktionen sind. Fiktionale Programme erscheinen unter diesem Blickwinkel gewissermaßen ›ehrlicher‹, da in ihnen erst gar nicht behauptet wird, die ›tatsächliche‹ Realität abzubilden, ein Anspruch, der mit nicht-fiktionalen Produktionen, beispielsweise mit der »Tagesschau«, einhergeht. Betrachtet man das Fernsehen und seine Produktionen, so wird nach Fiske deutlich, dass das Konzept ›Realismus‹ dominiert. Fiske führt aus, dass das Realismuskonzept dazu diene, der Realität eine Bedeutung zuzuweisen. ›Realismus‹ steht für ihn in unmittelbarem Zusammenhang zu gesellschaftlicher ›Ideologie‹, wobei er sich auf Althusser (1971) beruft. Ideologische Inhalte würden über Fernsehtexte dann erfolgreich weitertransportiert, wenn die Texte von den LeserInnen angenommen würden. Auf diese Weise setzten sich ideologische Inhalte durch praktisches ideologisches Handeln fort (vgl. Fiske 1999a: 25). Das Realismuskonzept, welches Fernsehproduktionen häufig zugrunde liegt, macht es ZuschauerInnen leicht, Texte zu akzeptieren, da sie den Eindruck haben, es liege keine Distanz zwischen ihrer Realität und der dargestellten Fernsehwirklichkeit vor. Um seine Ausführungen zu verdeutlichen, führt Fiske eine Szene aus der amerikanischen Polizeiserie »Cagney and Lacey« an und zeigt, wie die Kameraführung, die er als ein formales Element des Realismuskonzeptes klassifiziert, die Position der LeserInnen bestimmt, wobei Fiske den direkten Bezug zur Screen-Theorie zieht (Fiske 1999a: 25). In der Szene wechselt die Kamera zwischen den Hauptprotagonistinnen »Cagney« und »Lacey« hin und her und begleitet den Dialog zwischen ihnen. Fiske meint, dass die RezipientInnen dadurch in die Position von allwissenden Beobachtern und Beobachterinnen gerückt werden. Dadurch können die Rezipierenden ›auf natürliche Weise‹, d.h. aus beobachtender Warte eines oder einer Dritten heraus, der Handlung folgen. Der konstruierte Charakter von Kameraführung und Regie werde verwischt (ebd.: 28). Die Kamera 35 | Fiske diskutiert in diesem Zusammenhang Konzepte des ›sozialen Realismus‹, den er im US-Fernsehen aufgrund der Mittelschichtzentriertheit nicht erkennt (Fiske 1999a: 23).

Grenzen der Bedeutungsfreiheit | 109 strukturiere daneben die Diskurse in dieser Szene und ordne sie hierarchisch. So werde dem Inhalt der Szene der Metadiskurs übergeordnet, den die Kamera etabliert. In diesem Falls heißt dies, die allwissende Position, die sich darüber im Klaren sei, dass die Wahrheit zwischen den beiden hier gegensätzlichen Haltungen der Protagonistinnen liege, steht über dem Inhalt der Szene (vgl. ebd.: 28 ff.). In einem weiteren Beispiel wird die Hierarchisierung von Diskursen noch deutlicher: Es handelt sich um eine Szene, in der Cagney einem Mann gegenübersitzt. Dabei stellten Kamera und Licht den Diskurs, den Cagney verkörpert, über den ihres Gegenübers, so dass der Leser oder die Leserin Cagneys Perspektive einnehmen (ebd.: 33). Fiske macht später deutlich, was er unter ›Cagneys Diskurs‹ versteht. Hier deutet er damit an, dass er die fiktionale Person als diskursiven Körper versteht, der unterschiedliche Diskurse in sich vereine. Fernsehtexte sind an Diskurse geknüpft, worüber im Programm ein widerspruchsfreies, einheitliches Subjekt konstruiert werde (Fiske 1999a: 52). Mittels formaler Momente sei es also möglich, inhaltliche Diskurse eines Fernsehtextes hierarchisch anzuordnen sowie eine Position der Rezipierenden zu schaffen, die noch darüber anzusiedeln ist. Jene Strategien werden jedoch im Fernsehen nicht offengelegt, sondern erscheinen mehr oder weniger ›natürlich‹. Obwohl der Text und seine Diskurse also hierarchisch organisiert sind und keineswegs Realität abbilden, soll der Eindruck erzielt werden, dass keine Distanz zur diskursiven Realität der RezipientInnen besteht.36 Bei dem Realismuskonzept des Fernsehens handelt es sich nach Fiske also um einen Diskurs, dessen diskursive Anlage allerdings nicht offengelegt, sondern verdeckt wird. Statt sich als kulturelles Konstrukt zu ›outen‹, wirke ›Realismus‹ naturgegeben (ebd.: 41) Im Rahmen seines Buches »Power Plays Power Works« stellt Fiske den Machtaspekt, der mit dem 36 | Hinsichtlich der Rolle, die dabei formale und inhaltliche Elemente spielen, kritisiert Fiske im Weiteren Mac Cabe, der der Form eine immens größere Bedeutung einräumt als inhaltlichen Momenten: Mit formalen Mitteln könnten inhaltliche Aussagen, die im Widerspruch zur ideologischen Botschaft stünden, nicht völlig ausgelöscht werden, wie MacCabe annimmt (vgl. ebd.: 35). Für die Fernsehserie »Cagney and Lacey« würde MacCabes Standpunkt bedeuten, dass sie entgegen ihrer feministischen Inhalte über die männliche Form der Polizeiserie wieder in die dominante patriarchale Ideologie eingegliedert werde (ebd.: 38). Fiske ist der Ansicht, dass aus MacCabes Einschätzung die pessimistische Sichtweise der Frankfurter Schule nach sich ziehe. Jedoch sei ein Zusammenspiel der formalen und inhaltlichen Seite von Fernsehtexten anzunehmen. »Cagney and Lacey« galt trotz des Genres Polizeiserie als emanzipatorisch (vgl. D’Acci, J. 1994). Generell erscheint es fraglich, eine Serie als ›männlich‹ oder ›weiblich‹ zu qualifizieren, wie MacCabe und auch Fiske es machen. Fiske kritisiert hier Mac Cabes Überbetonung der Form gegenüber dem Inhalt, indem er die soziale Wirklichkeit der ZuschauerInnen mit ins Spiel bringt. Letztlich beeinflusst der gesellschaftliche Kontext die Lesart, mit denen den Texten Bedeutung zugewiesen wird (Fiske 1999a: 39/40).

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Realismus-Konzept und insbesondere mit dem Anspruch, damit die Welt, wie sie tatsächlich ›ist‹, zu re-präsentieren, noch stärker heraus: »Realism, as a mode of representation, is particularly characteristic of Western cultures and, therefore, in the modern world, of capitalism. It is as powerful and attractive as it is because it grounds our cultural identity in external identity: by making ›us‹ seem real it turns who we think we are into who we ›really‹ are« (Fiske 1993a: 155/156). Über die Möglichkeit, gesellschaftliche Wirklichkeit zu repräsentieren, könne Kontrolle ausgeübt werden. »The power to represent the world is the power to re-present us in it or it in us, for the final stage of representing merges the representor and the represented into one« (ebd.: 160). Ein markantes Beispiel, das Fiske in diesem Kontext anführt, sind die USA, die Hollywood und Satelliten dazu benutzten, die Welt zu repräsentieren und damit eine Art modernen Imperialismus betrieben (ebd.: 161). Populärkultur kommt damit eine zentrale Rolle innerhalb gesellschaftlicher und auch gesellschaftsübergreifender Machtausübung zu. Fiske sieht so einen dominanten, ideologischen Gehalt des Fernsehens gegeben. Er sieht jedoch gleichzeitig immer für die LeserInnen die Möglichkeit, soziale Veränderungen vorzunehmen und sich dominanter ideologischer Bedeutungen zu widersetzen (Fiske 1999a: 45). Die Macht des Fernsehen wird dadurch relativiert. Das Realismuskonzept des Fernsehens hat ebenfalls Folgen für die Bewertung von Fernsehtexten. Allgemein werden nicht-fiktionale, also vermeintlich ›realistische‹ Fernsehinhalte, die die Wirklichkeit ›abbilden‹, höher bewertet als rein fiktionale Formate, die angeblich nichts mit der Realität gemein hätten. Nachrichtensendungen, Dokumentarfilme gelten daher als höherwertig gegenüber Soap Operas oder Sitcoms. Eine solche Bewertung ist vor dem Hintergrund von Fiskes Verständnis von Realismus nicht haltbar. Letztlich stellt jegliche Form von Fernsehtext eine Organisation von Diskursen dar, die Realität herstellen soll, sie jedoch nicht abbildet – nur dass explizit fiktionale Formate in dieser Frage offener oder offensichtlicher vorgehen als vermeintlich ›realistische‹ Sendungen. Der ›Realismus‹-Gehalt kann also nicht als Kriterium zur Bewertung von populären Texten dienen. So geschlossen das Realismus-Konzept im Fernsehen auch arbeitet, wird in den Cultural Studies immer die Möglichkeit zur widerständigen Lektüre hervorgehoben. Insbesondere populäre Texte werden danach bemessen, inwieweit sie tauglich sind, LeserInnen ein widerständiges Vergnügen zu ermöglichen. 2.3.4 Vergnügen in den Cultural Studies Geht man der Frage nach, welche Momente bei der Bewertung populärer Texte im Diskurs der Cultural Studies maßgeblich sind, so stößt man unweigerlich auf die ›Kategorie‹ Vergnügen. Vergnügen im Rahmen dieses Abschnitts als Lesart zu begreifen, erscheint zunächst fraglich, da

Grenzen der Bedeutungsfreiheit | 111 Amüsement keine eindeutige Bedeutung umfasst, sondern vielmehr unterschiedliche Formen von Vergnügen existieren. Beispielsweise differenziert Klaus hinsichtlich Soap Operas zwischen realistischem, formalem, inhaltlichem, kommunikativem und phantasievollem Vergnügen (Klaus 1998: 338 ff.). Die Aufzählung ließe sich sicherlich noch ergänzen, so wäre z.B. auch ein ironisches Vergnügen denkbar (vgl. Bößenroth 1999: 62 ff.). Vergnügen kann man trotz der Vielfalt als Lesart verstehen, denn es meint übergeordnet, Bedeutungen zu gewinnen, die den RezipientInnen Freude bereiten, aus welchen Gründen und in welcher Form auch immer. ›Vergnügen‹ bildet mittlerweile innerhalb der Rezeptionsforschung eine feste Kategorie. Sie hat erst in den achtziger Jahren Eingang in die Publikumsforschung gefunden, wozu vor allem feministische Arbeiten beitrugen (vgl. Klaus 1998: 337). Es kursieren verschiedene Ansätze zum Vergnügen. In den Cultural Studies finden sich unter anderem auch psychoanalytische Herangehensweisen (vgl. Hipfl 1999) oder die Betrachtung von sozialen Aspekten. Dabei geht es unter anderem um die utopischen Wünsche von Rezipierenden, die mit ihren Alltagssituationen korrespondierten (z.B. Dyer 1992; vgl. O’Connor/Klaus 2000: 371). Unter dem Begriff ›Vergnügen‹ oder ›Pleasure‹ werden sehr verschiedene Arten von Amüsement gefasst, ohne die Kategorie zu definieren. Ebenso kursieren Synonyme wie beispielsweise ›entertainment‹ (vgl. z.B. Dyer 1992). Diese Situation belegt, dass ein systematischer Zugang und eine einheitliche Theorie zum Vergnügen immer noch ausstehen (O’Connor/Klaus 2000: 370). In den Arbeiten der Cultural Studies wurde die Kategorie vor allem über Arbeiten zu ›weiblichen Vergnügen‹ etabliert. Dabei untersuchte man anfangs häufig die Freude an Seifenopern (vgl. z.B. Ang 1985; Brown 1994; Borchers 1993). Die frühen Studien fragten danach, wieso Frauen an populären Texten Vergnügen empfanden und welche Art von Vergnügen dies war. Wie oben unter dem Punkt ›zentrale Studien‹ erwähnt, zeugte beispielsweise die Arbeit von Radway (1984a) davon, dass das Vergnügen an Liebesromanen aus feministischer Sicht zunächst als ideologisch bedenklich galt. Vor allem Ang (vgl. Ang 1988; 1985) aber auch Seiter (1987) haben schließlich betont, dass Vergnügen und Ideologie getrennt betrachtet werden müssen (vgl. Klaus 1998: 337).37 Dies leitete die Position der Cultural Studies ein, populäre Vergnügen nicht automatisch als Akzeptanz ideologischer Aussagen zu interpretieren. Statt dessen wurde hervorgehoben, dass man populäre Texte gegenläufig lesen könne, wobei ein besonderes, widerständiges Vergnügen möglich sei (vgl. auch Brown 1994). Auf diese Weise brechen die Cultural Studies mit der Tradition der Kritischen Theorie, in der Vergnügen an Populärem unter anderem als hegemoniales Instrument charakterisiert wurde (siehe z.B. Horkheimer/Adorno 1998: 153). 37 | Siehe auch zu Vergnügen und Ideologie O’Connor/Klaus 2000: 375 ff.; Klaus 1998: 337.

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In der Haltung der Cultural Studies zeigt sich die Rezeption von Bachtin (z.B. 1969), der in seiner Theorie des Karnevalesken subversive Momente im Lachen des Volkes gegenüber den Herrschenden herausarbeitete. Außerdem waren hier die Aussagen von Barthes (1974) zu körperlichem Vergnügen maßgeblich – bei populären Vergnügen spielen körperliche Empfindungen häufig eine Rolle, wie Anspannung bei Gruselfilmen oder Herzklopfen während der Liebeszene (vgl. Grossberg 1999c). Barthes charakterisierte körperliches Vergnügen als ›jouissance‹ und verortete Vergnügen damit nicht im Text, sondern ›in‹ den RezipientInnen (vgl. Hepp 1999: 73; Ayass 2000: 146 ff.). Die Rezeption Bachtins und Barthes’ beeinflusste unter anderem Untersuchungen zu Vergnügungsparks, wie sie Bennett (1983) und Thompson (1983) zu Blackpool durchführten: Die BesucherInnen könnten dort über körperliche Vergnügen eine karnevaleske, symbolische Umkehrung dominanter Ordnungen erfahren. Im Rahmen der Soap-Opera-Diskussion wandelte sich das Vergnügen bald zur politischen Kategorie (Klaus 1998: 338). Es entwickelte sich in den Cultural Studies zu einem Konzept, das für den Widerstand gegen Hegemonie auf einer mikropolitischen Ebene steht. Natürlich spiegelt dieser Fokus auf populäre Vergnügen erneut die Rezeption von Gramscis Hegemonietheorie wider (vgl. Göttlich/Winter 2000b: 10/11). Ebenfalls war hierbei die Beschäftigung mit Foucaults Arbeiten zu ›Macht‹ bedeutsam (ebd.). Vor allem Fiske widmete sich dem widerständigen Vergnügen. Sein Ansatz wurde auch von Brown (1994) aufgegriffen. Daneben wurde widerständiges Vergnügen in den Cultural Studies auch immer wieder in Bezug zur Identitätsbildung von Gruppen und Individuen diskutiert.38 Fiske wurde für seine Ausführungen stark kritisiert, da er die Möglichkeiten zum Widerstand durch das lustvolle Erleben von Texten innerhalb seiner ›semiotischen Demokratie‹ überschätzt habe (vgl. dazu Hepp 1998: 102).39 Ebenfalls wurde der Umgang der Cultural Studies mit dem widerständigen Vergnügen allgemein angegriffen. So bemängeln Dorer und Marschik, dass die Cultural Studies das widerständige Lesen überbewertet und dagegen andere Emotionen vernachlässigt hätten (2000: 281). Die Bedeutung von widerständigem Vergnügen für die Bewertung von populären Texten muss sicherlich differenziert betrachtet werden. Dennoch stellt es eine bedeutsame Kategorie dar, die bei der Analyse von Populärem mitberücksichtigt werden muss. Das Konzept des widerständigen Vergnügens, das den RezipientInnen populärer Texte eine geistige Unabhängigkeit von hegemonialen Inhalten bescheinigt, war für die positive Bewertung des Populären in den Cultural Studies zentral. Es ist wesentlich, wenn man nach Unterschieden 38 | Mikos arbeitet beispielsweise in einem neueren Beitrag heraus, wie das Vergnügen an HipHop- und Rap-Musik Gruppen von Jugendlichen verbindet, die sich hierüber gegen die Erwachsenenwelt abgrenzten (Mikos 2000). 39 | Auch Klaus bestreitet den politischen Charakter von Vergnügen (siehe Klaus 1998: 345).

Grenzen der Bedeutungsfreiheit | 113 zur ›traditionellen‹ Bewertung von populären Texten sucht, nach der Populäres unter ästhetischen Gesichtspunkten abgewertet wurde und man kein widerständiges Potential annahm. Nur Kunstwerke schienen danach in der Lage zu sein, ihren BetrachterInnen subversive Bedeutungen zu eröffnen – und dies erfolgte allgemein nicht über Vergnügen, welches rein emotional begriffen wurde, sondern ausschließlich intellektuell (vgl. beispielsweise Horkheimer/Adorno 1998: 138).40 Die Sicht der Cultural Studies verläuft hierzu konträr. Klaus und O’Connor begreifen Vergnügen gar als ausschlaggebend, damit überhaupt Bedeutungen zugewiesen werden. Der Prozess der Sinngebung umfasse miteinander verwobene Aspekte wie Emotion, Kognition, Unterhaltung, Information, Vergnügen, Ideologie, Fakten sowie Fiktion. Die Aufmerksamkeit der RezipientInnen, die für eine Bedeutungskonstruktion wesentlich ist, werde dabei vom möglichen Vergnügen gesteuert (siehe O’Connor/Klaus 2000: 381). Die Auseinandersetzung mit dem widerspenstigen Vergnügen ist eingebettet in die Debatte um Strategien und Taktiken des Alltags. So zeigt Winter die »Spielräume des Vergnügens« auf, wie sie von de Certeau, Fiske und Grossberg diskutiert werden (vgl. Winter 1999b). Alltägliche Spielräume durch Vergnügen ergäben sich beispielsweise nach de Certeau im Umgang der KonsumentInnen mit Produkten oder auch in der spezifischen Bedeutungsproduktion beim Lesen, während Grossberg das körperliche, emotionale Erleben von Rockmusik herausstelle. Kreative (lustvolle) Praktiken dienen den KonsumentInnen dazu, sich eigenen Freiräume im Alltag von der dominanten gesellschaftlichen Ordnung zu schaffen (vgl. Winter 1999b: 40). Insbesondere de Certeaus ›Guerilla-Taktiken‹ werden häufig auch von Fiske zitiert (vgl. Fiske 1999b: 68). 2.3.5 Widerständiges Vergnügen bei Fiske Generell ist das Vergnügen an populären Texten bei Fiske zentral, beispielsweise betrachtet er das Vergnügen an Quizshows (Fiske 1999a), beim Zapping mit der Fernbedienung (ebd.: 105) und allgemein an textuellen Momenten, wie dem ›Exzess‹ (Fiske 1989a: 116). Hepp sieht ›Widerstand und Vergnügen‹ als Gelenkstellen in Fiskes Konzept der Populärkultur an (vgl. Hepp 1999: 73). Fiske hat sich in seinen Arbeiten immer mit der Beziehung von Vergnügen und Macht auseinander gesetzt und den Zusammenhang zwischen Kultur und gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen herausgestellt (vgl. Fiske 1999a: 18). Vergnügen ist nach 40 | Die Autoren stellen in ihrem Text nicht explizit emotionales Vergnügen intellektuellen Freuden gegenüber. Sie setzen allerdings immer wieder die Produkte der Kulturindustrie in Gegensatz zu Kunstwerken. Während das Vergnügen der Kulturindustrie, vor allem das körperliche Lachen (Horkheimer/Adorno 1998: 149), negativ bewertet wird, ermöglichten Kunstwerke es den BetrachterInnen, gesellschaftliche Wahrheit zu erfassen (ebd.: 138).

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Fiske direkt an Machtverhältnisse gebunden: »Pleasure results from a particular relationship between meanings and power« (ebd.: 19). Übergeordnet unterscheidet Fiske zwischen populären und hegemonialen Vergnügen (vgl. Fiske 1989a: 126). Populäres Vergnügen resultiert danach ganz allgemein daraus, dass eigene Bedeutungen konstruiert werden können (ebd.). Im Gegensatz zu hegemonialen Vergnügen erforderten die populären Kreativität und mehr Produktivität, wohingegen beim hegemonialen Vergnügen Textbedeutungen überwiegend übernommen würden (Fiske 1989a: 57). Das widerständige Potential populärer Vergnügen zeige sich darin, dass mit ihrer Hilfe Freiräume von der herrschenden Ideologie kreiert werden könnten. Empfindet jemand ein besonderes Vergnügen an Sensationen, so deutet Fiske dies als Freude darüber, dass die dominante Kultur an dieser Stelle die ›Kontrolle‹ verloren habe (Fiske 1999a: 116). Die Wirkungsweise populärer Vergnügen ist nach Fiske auf eine mikropolitische Ebene beschränkt. Innerhalb der eigenen Alltagswelt seien sie jedoch dazu geeignet, Veränderungen zu bewirken, wenn beispielsweise Frauen aufgrund von Fernsehtexten ihre Situation reflektierten und darüber ein größeres Selbstvertrauen entwickelten (vgl. Fiske 1989a: 68). Populäre Vergnügen könnten jedoch keinen ›Umsturz der Verhältnisse‹ herbeiführen (ebd.: 54). Wie bereits oben angedeutet, wurden Fiskes Arbeiten zum Vergnügen besonders stark von Bachtin und von Barthes angeregt, wobei er sich auf beide mehrfach explizit bezieht (ebd.: 54 ff.; 69 ff.). So versucht er, Barthes’ Begrifflichkeiten der ›plaisir‹, einem intellektuellen Vergnügen, und der ›jouissance‹, die ein intensives Verschmelzen von Text und Körper bezeichnet, miteinander zu verbinden. ›Plaisir‹ sieht Fiske dabei als soziales Vergnügen, das Bedeutungen schaffe und so die Voraussetzungen für Widerständigkeit und ›jouissance‹, dem körperlichen, energievollen Erleben, liefere (vgl. ebd.: 54 ff.). Fiske differenziert außerdem zwischen evasivem und produktivem Vergnügen: »The pleasures of evasion tend to center to the body, those of the production of contrary meanings center on the mind« (ebd.: 69). Das evasive Vergnügen könne auch immer widerständige Momente enthalten. Beide stellen nach Fiske wesentliche Momente populärer Vergnügen dar. Während evasive, körperliche Vergnügen in Anlehnung an die ›jouissance‹ skandalös und offen seien, seien produktive oder »bedeutungsstiftende Vergnügen« (ebd.) auf kulturelle Identität und soziale Beziehungen gerichtet. Vergnügen und Macht Hinsichtlich des widerständigen Vergnügens sind Fiskes Ausführungen zum ›power-bloc‹ und zu ›the people‹ aufschlussreich, die oben bereits anklangen. Fiskes Überlegungen wurden von Foucaults Machtbegriff beeinflusst, insbesondere von seiner Aussage, dass Macht nur dort gesellschaftlich gegeben ist, wo auch Widerstand auftritt (vgl. Foucault 1983:

Grenzen der Bedeutungsfreiheit | 115 116).41 Zudem wurde Fiske hier von de Certeau (1988) und dessen Theorie der alltäglichen subversiven Taktiken angeregt. Hier kann man unter anderem das ›Wildern‹ anführen (ebd.: xii), worunter de Certeau fasst, wenn Praktiken oder Dinge anderer in die eigene alltägliche Sphäre übernommen werden. Oben klangen bereits die Begriffe ›power-bloc‹ und ›people‹ oder auch ›Machtblock‹ und ›Leute‹ an. Beide hat Fiske von Hall übernommen (siehe Fiske 1993a: 9). In beiden zeigt sich jedoch erneut auch die Rezeption von Gramscis Hegemoniemodell, in dem sich ebenfalls über- und untergeordnete Machtpositionen in der Gesellschaft gegenüberstehen (vgl. Lears 1985). Wenn Fiske von einem ›power-bloc‹ als Opposition zu den ›Leuten‹ ausgeht, so entsprechen beide Einheiten, wie bereits oben erwähnt, dem Verständnis einer flexiblen, mobilen Gesellschaft, denn beide stellen keine fixen Kategorien wie Klasse, Geschlecht oder ähnliches dar. Vielmehr handele es sich um Verbindungen, die temporär geschlossen werden, um gemeinsame Interessen zu vertreten und durchzusetzen (ebd.: 10). Während der ›power-bloc‹ den größten Nutzen aus der sozialen Ordnung ziehe, komme ›den Leuten‹ der geringste zu. Kennzeichen der ›Leute‹ sei daher ein erschwerter Zugang zum Machtsystem, der Mangel an Privilegien sowie das Fehlen von ökonomischen oder politischen Ressourcen (ebd.: 11). Das Verhältnis von ›Machtblock‹ und ›Leuten‹ gestalte sich flexibel: »The opposition between the power-bloc and the people is one constantly in process, never structurally fixed; it is one between the strategy of the power-bloc and the tactics of the people, and it adapts itself chameleon-like to its immediate environment« (ebd.: 10). Vergnügen wird dabei differenziert je nach Zugehörigkeit zu dominanter oder unterdrückter gesellschaftlicher Gruppierung. Für die Unterdrückten entstehe Vergnügen dadurch, dass sie ihre soziale Identität gegen eine »structure of domination« (Fiske 1999a: 19) setzten, also sich widerständig, unabhängig gäben oder zwischen sozialer Identität und dominanter Struktur vermittelten bzw. aushandelten. Fiske lehnt sich hier an Halls Encoding/Decoding-Modell an. In seinen Ausführungen verdeutlicht Fiske, wie Populäres nach seinem widerständigen Gehalt beurteilt wird und demgegenüber ästhetische Kriterien keine Berücksichtigung finden. An anderer Stelle spricht Fiske in diesem Zusammenhang von einer »populären Urteilskraft«, die im Gegensatz zu einer »kritischen Urteilskraft« an Texten ihre ›Relevanz‹ für den Alltag sowie ihre ›Produktivität‹ schätze (vgl. Fiske 2000a). Von den ›Leuten‹ würden beispielsweise Texte besonders geschätzt, die gegen ästhetische Maßstäbe verstießen. Sie griffen damit zwar Strukturen des ›Machtblocks‹ auf, hier: die Richtschnur des Ästhetischen, verkehrten sie dann jedoch, um sich ihren eigenen Machtraum zu schaffen (Fiske 1993a: 20-24). Fiske führt dazu das Beispiel von Obdachlosen an, die den Action41 | Zur Kritik an Fiskes Machtbegriff siehe Bordo 1993: 277/278. Sie meint, dass Fiske den Machtbegriff zu undifferenziert gebraucht. Foucault habe indes winzige Prozesse beschrieben.

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film »Die hard« rezipieren (ebd.: 3 ff.). Die Obdachlosen identifizierten sich mit den ›Schurken‹ im Film und empfänden es als Vergnügen, wenn diese das Mobiliar der Reichen, als Symbol für deren Macht, zerstörten. Sie stellten also eine Beziehung zwischen populärem Filmtext und ihrer eigenen Realität auf der Machtebene her und eigneten sich den Film auf diese Weise an. Dies sei auch der Fall, wenn die Obdachlosen nach Fiske vor allem bei den Szenen Vergnügen empfänden, die seitens der dominanten Ideologie, also beim ›Machtblock‹, verpönt seien: Hierzu zählten besonders blutrünstige Sequenzen, auf die man nach dem Common Sense mit Ekel reagieren müsste (vgl. ebd.: 32). Über ihr subversives Vergnügen verschafften sie sich einen winzigen – semiotischen – Freiraum von der herrschenden Ideologie. Fiske sieht in seiner Beurteilung der ›Leute‹ allgemein eine Bachtinsche Vitalität gegeben, die hier zum Ausdruck komme (ebd.: 9). Die Obdachlosen benutzten an dieser Stelle eine Form von ›symbolischer Gewalt‹, um einen Freiraum, ihr »locale«,42 zu schaffen (ebd.: 127). Fiskes Vorstellung von Widerstand über Vergnügen verkörpert einen sehr eingeschränkten Machtbereich. So seien unterdrückte Gruppen beispielsweise nicht direkt dazu in der Lage, Programmangebote im Fernsehen zu verändern. Auch erscheint das widerständige weibliche Vergnügen an Quiz Shows, das Fiske an anderer Stelle beschreibt, nicht sonderlich progressiv. Frauen empfänden an Shows wie »Der Preis ist heiß« Vergnügen daran, dass ihre Rolle als Hausfrau und ›Managerin‹ der Familie endlich anerkannt würde. Ihr Wissen um Warenpreise fände hier Würdigung (vgl. Fiske 1999a: 276). Abgesehen davon, dass Fiskes Charakterisierung der weiblichen Rolle hier sehr starr ausfällt, erscheint das widerständige Vergnügen weniger als tatsächliche Befreiung von patriarchalen Vorstellungen, denn als Arrangement mit den Umständen, als fänden sich die Frauen mit der eingeschränkten patriarchal vorgegebenen Rolle der Hausfrau ab (kritisch auch Holland 1992: 125). Das tatsächliche Vermögen des widerständigen Vergnügens wirkt auch an anderer Stelle sehr begrenzt: Natürlich richten sich die Programmmacher nach Einschaltquoten, so dass ein Einfluss des Publikums indirekt gegeben ist. In seltenen Fällen nehmen die ZuschauerInnen auch direkt Einfluss, wie im deutschen Fernsehen an dem Fall der Sportsendung »ran« (Sat.1) im Sommer 2001 zu sehen war. Nach einer Programmänderung wurde die Sendung auf Proteste der RezipientInnen hin und unter dem Druck der »katastrophalen Quote« (vgl. Ott 2001) wieder 42 | Die Begriffe ›station‹ und ›locale‹ erinnern sehr stark an die Unterscheidung de Certeaus (1988: z.B. 110) zwischen »place« und »space«, auf die Fiske selbst an anderer Stelle hinweist (Fiske 1992: 160). ›Places‹ würden dabei durch die dominante Ordnung geschaffen, während ›spaces‹ von den Leuten in den dominanten Machträumen mittels der kreativen Umdeutung von Vorgaben des ›Machtblocks‹ (z.B. Unterlaufen der durch den ›Machtblock‹ diktierten Regeln in einem Obdachlosenasyl) durch Lebenspraktiken eingerichtet werden.

Grenzen der Bedeutungsfreiheit | 117 auf einem früheren Sendeplatz ausgestrahlt. Allerdings sind die ProduzentInnen und damit der ›Machtblock‹ viel leichter dazu in der Lage, über ihre Textvorgaben Repräsentationen von Realität zu liefern und darüber eigene Machträume zu kreieren. Ihre Möglichkeiten erscheinen somit wesentlich effektiver und umfassender als die Möglichkeiten der ›Leute‹, sich eigene Freiräume zu schaffen. Fiske meint jedoch, dass kommerzielle Kultur es den ›Leuten‹ erleichtere, sich Freiräume zu schaffen, womit er in direktem Gegensatz zu Theoretikern wie Adorno und Horkheimer steht (vgl. Horkheimer/Adorno 1998). Filme wie beispielsweise »Boyz ´n the hood«, die der dominanten Ideologie widersprächen, würden dennoch im Kino gezeigt (vgl. Fiske 1993a: 174). Ebenso hätten die RezipientInnen die Möglichkeit, kulturindustrielle Produkte abzulehnen und nutzten sie auch, was Flops an der Kinokasse immer wieder belegten (siehe Fiske 2000a: 53). Daneben empfänden Rezipierende häufig ein ›skeptisches Vergnügen‹, wenn sie beispielsweise misstrauisch gegenüber den ProduzentInnen der Kulturindustrie eingestellt seien, sich jedoch das Vergnügen an Texten dadurch nicht verderben ließen (vgl. Hepp/Vogelsang 2000: 178 ff.). Fiske spricht hier von »fließender Skepsis«, die populäres Wissen durchziehe, und bei Fans womöglich zu den »vergnüglichsten« Momenten ihrer Fankultur gehörten (Fiske 1993b: 46). Ein gezieltes, gebündeltes, organisiertes Handeln unterdrückter Parteien scheint jedoch nicht möglich zu sein. Doch erst ein solches wäre als tatsächliche gesellschaftliche ›Macht‹ zu bezeichnen. Fiske unterscheidet denn auch zwischen semiotischer, ideologischer und sozialer, ökonomischer Macht (vgl. Müller 1993b: 55).43 Fiskes Macht der ›Leute‹ beschränkt sich auf einen sehr engen, individuellen semiotischen Machtraum im Alltäglichen. Zudem wirkt sein Konzept vom ›power-bloc‹ und ›the people‹ recht starr, obwohl er beide Gruppen explizit als flexibel und durchlässig verstanden wissen will (vgl. Fiske bei Müller 1993a: 9). Beide erscheinen jedoch in Fiskes Ausführungen letztlich als fixe gesellschaftliche Gruppen, auch wenn er ihr Verhältnis zueinander als Prozess darstellt. Fiskes Perspektive auf populäre Texte enthält mehrere Akzente: Er verortet sie im Machtkampf von ›power-bloc‹ und ›the people‹ und hebt die Einbindung in alltägliche Strategien hervor, wobei vor allem subversive Taktiken und widerständiges Vergnügen auffallen. Trotz der Kritik an Fiskes Überlegungen liefert das subversive Vergnügen an Populärem eine Erklärung für den Erfolg vieler populärer Texte und illustriert die Aktivität von Rezipierenden. Ihre semiotischen Ausweichmanöver stellen vielleicht 43 | Müller meint, Fiske unterscheide »die Macht, Bedeutung, Lust und soziale Identität zu produzieren, von der Macht, ein sozio-ökonomisches System zu bilden und zu beherrschen« (Müller 1993b: 55). Beide Formen seien verknüpft. Müller vertritt die Ansicht, dass Fiske Medienanalyse nach politisch-ökonomischen Gesichtspunkten für relevant hält, jedoch nicht für ausreichend und sie anderen überlasse (vgl. Müller 1993b).

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keine Revolution dar, zeugen jedoch von Kreativität und Selbstbehauptung gegenüber hegemonialen Inhalten. Widerständiges Vergnügen ist wesentlich im Rahmen der Aufwertung von Populärkultur und ihren Publika. Für Populäres sind aus dieser Warte heraus andere Bewertungskriterien maßgeblich als ästhetische Überlegungen. Statt dessen ist entscheidend, inwieweit Populäres Relevanz für den Alltag der RezipientInnen hat und ob es produktives Lesen sowie eine widerständiges Lektüre ermöglicht (vgl. Fiske 2000a: 55 ff.).44 Fiskes subversives Vergnügen verändert also die Sicht auf Populäres. Seine Herangehensweise wurde in den Cultural Studies im Rahmen der Revisionismusdebatte sehr stark angegriffen.

2.4 Die Revisionismusdebatte 2.4.1 Die Cultural Studies und der ›neue Revisionismus‹ in der Populärkulturforschung Wie dargestellt wurde, sind widerständige Bedeutungsproduktion und Bedeutungsmöglichkeiten von Texten bei Fiske typische Kriterien beim Blick auf Populäres. Vor allem die (mikropolitische) semiotische Macht, die Fiske hierüber den LeserInnen einräumt, führte dazu, dass seine Arbeiten seit Ende der achtziger Jahre bis in die neunziger Jahre hinein sehr stark angegriffen wurden, insbesondere im Rahmen der so genannten ›Revisionismusdebatte‹. Hepp erklärt den Begriff zwar etwas umständlich, führt jedoch die zentralen Aspekte auf: »Mit dem n e u e n R e v i s i o n i s m u s wird die These eines Aufkommens eines ›Subjektivismus‹ innerhalb der kulturanalytischen Medienforschung verbunden, der einen Bruch mit einer kritischen Beschäftigung mit politisch-ökonomischen Fragen der Produktion von Kulturwaren einerseits und Fragen hegemonialer Wirklichkeitsdefinition in Medien andererseits forciert« (Hepp 1999: 140). Die Kritik in der Debatte zielte also im Wesentlichen darauf ab, dass makroökonomische und hegemoniale Kontexte vernachlässigt würden, während subjektive Komponenten zu stark im Vordergrund stünden. Diese Vorwürfe richteten sich vor allem gegen Fiske. Neben den genannten wurden noch weitere Gesichtspunkte diskutiert, die sich allgemein gegen die Populärkulturforschung der Cultural Studies richteten: So unterstellte man ihnen, redundante Ergebnisse als neu zu präsentieren, und warf ihnen ›Populismus‹ vor. Die Debatte war sowohl für die Beurteilung von Fiskes Arbeiten bedeutsam als auch für seinen weiteren Forschungs-

44 | Fiske nennt hier die beiden Schlagworte »Relevanz und Produktivität« als Hauptkriterien für populäre Kultur (vgl. Fiske 2000: 53).

Grenzen der Bedeutungsfreiheit | 119 weg. Auch für die Populärkulturforschung der Cultural Studies im Allgemeinen bedeutete die Diskussion einen Einschnitt. Einblick in die Debatte An der Revisionismusdebatte beteiligten sich neben VertreterInnen der Cultural Studies wie Morley oder O’Shea auch Kommunikationswissenschaftler wie Curran oder McGuigan, die nicht dem Kreis der Cultural Studies zuzurechnen sind. Die Kritik gegen die Praxis der Cultural Studies generell umfasste etliche kleinere Punkte. Allerdings stand vor allem das Modell der aktiven, widerständige Bedeutungen produzierenden Publika in der Kritik – hier ist von einem ›neuen Revisionismus‹ die Rede wie auch von ›kulturellem Populismus‹. Curran war es, der den VertreterInnen der Cultural Studies einen ›neuen Revisionismus‹ unterstellte. Er vertrat die Ansicht, die Cultural Studies präsentierten die Aktivität von Publika als neues Forschungsergebnis, obwohl diese bereits in früheren Arbeiten behandelt worden sei. Die Ergebnisse der Cultural Studies seien daher nicht innovativ, sondern ›revisionistisch‹ (Curran 1996a: 265 ff.; vgl. dagegen: Morley 1996a). Die Auseinandersetzung darum entspann sich im Wesentlichen zwischen Curran und Morley (vgl. Curran/Morley/Walkerdine 1996: 251 ff.). Morley bestreitet nicht, dass die Aktivität von RezipientInnen bereits in früheren Studien zur Sprache kam. Allerdings entgegnet er, dass die Forschung der Cultural Studies Voraussetzung dafür war, dass Curran frühere Arbeiten überhaupt wahrgenommen habe (vgl. Morley 1996a). Erst die Ausführungen der Cultural Studies haben die Bedeutung der früheren Arbeiten sichtbar gemacht. Daraus kann man ableiten, dass die Signifikanz ihrer Ausführungen durch Currans Bemerkung eigentlich nicht geschmälert, sondern letztlich gesteigert wird, da dies zeigt, dass die Cultural Studies für eine neue Perspektive in der Forschung stehen, die frühere Arbeiten offenbar in einem neuen Licht erscheinen lässt. Currans Versuch, die Ergebnisse der Cultural Studies als Neuauflage alter Aussagen darzustellen, verlor damit an Bedeutung. Nichtsdestotrotz zeigt Currans Anschuldigung, dass es in dieser Debatte nicht ausschließlich um die Diskussion von Sachfragen ging, sondern man sich nicht scheute, den Ertrag der Cultural Studies grundsätzlich in Frage zu stellen. Daneben bescheinigt McGuigan den Cultural Studies populistische Wurzeln (McGuigan 1992; so auch Gitlin 1997). Er wirft ihnen ›kulturellen Populismus‹ vor, womit er meint, dass sich das Verhältnis von Hochkultur und Alltagskultur bei den Cultural Studies umkehre und nunmehr letztere einen höheren Stellenwert genieße. Die Stellung der Intellektuellen zum Gegenstand Populärkultur habe sich demnach verändert. Gitlin, der McGuigans ›Populismus-Vorwurf‹ beipflichtet, vertritt außerdem die Position, dass Populäres nur aufgrund seiner Beliebtheit und nicht aus formalen Gründen zum Gegenstand der Cultural Studies avancierte (Gitlin 1997: 31). Auch die Kritik von Morris, die den Cultural Studies

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›Banalität‹ unterstellt, zielt in diese Richtung (siehe Morris 1990). Mit diesen Bemerkungen wurden bedeutsame Gesichtspunkte der Populärkulturforschung angegriffen, was die Tendenz der Debatte, Grundlagen der Cultural Studies in Frage zu stellen, illustriert. Allerdings sind die Vorwürfe, die erhoben wurden, zum größten Teil unberechtigt. Insbesondere der ›Populismus-Vorwurf‹ geht daran vorbei, dass mediale populäre Angebote vor der Beachtung durch die Cultural Studies kontinuierlich abgewertet wurden und man sie nicht als Untersuchungsgegenstand in Erwägung zog. Daher ist der Fokus der Cultural Studies im Entstehungskontext der Populärkulturforschung zu verorten und nicht in dem Bestreben, mit besonders beliebten Forschungsgegenständen Aufmerksamkeit zu erregen. Außerdem werden mit dem Populismusvorwurf wichtige Ergebnisse der Populärkulturforschung zu den formalen Eigenschaften populärer kultureller Angebote übersehen, insbesondere ließ man textanalytische Resultate (siehe z.B. Fiske 1999a; Morley/Brunsdon 1999) außer Acht. Demgegenüber ist der Vorwurf einer neuen Hierarchisierung von kulturellen Texten nicht so einfach zu entkräften, wie bereits oben angesprochen wurde.45 Problematisch ist demnach, dass in den Cultural Studies vorwiegend Populäres analysiert wird und ›hochkulturelle‹ Texte keinen Eingang in ihre Arbeiten finden. Eine neue Hierarchisierung ist ebenfalls nicht hinsichtlich der Auswahl populärer Gegenstände von der Hand zu weisen. Sie lässt den Schluss zu, dass in den Cultural Studies zwischen legitimer Populärkultur und weniger erwünschten populären Praxen differenziert wird (vgl. dazu Lutter/Reisenleitner 1998; Grossberg 1999c). So sind beispielsweise die Studien zu pornografischen Texten, die ebenfalls populär zu nennen sind, rar gesät. Teilweise waren die Angriffe auf die Praxis der Cultural Studies also durchaus berechtigt. Der kurze Einblick in die Debatte veranschaulicht zwei Gesichtspunkte: Auf der einen Seite wird deutlich, dass sich die Kritik besonders gegen die Praxis der Populärkulturforschung richtete. Auf der anderen Seite ist die Revisionismusdebatte dadurch gekennzeichnet, dass die Vorwürfe zum Teil recht schwerwiegend ausfielen und grundsätzliche Momente der Cultural Studies berührten.

45 | Vgl. den Abschnitt 1.4.3 ›Populäre Hierarchien?‹ in Teil 1.

Grenzen der Bedeutungsfreiheit | 121 2.4.2 Fiske im Zentrum der Kritik Zielen viele Diskussionspunkte, die hier im Einzelnen nicht alle aufgelistet werden sollen,46 auf die Cultural Studies allgemein ab, so stand letztlich Fiske im Zentrum der Kritik. Beispielsweise sieht McGuigan (1992) in Fiske einen typischen Vertreter des ›Neuen Revisionismus‹ und auch Morley bemerkte, dass sich Currans Anmerkungen dazu vor allem gegen Fiskes Arbeiten richteten (Morley 1996a: 286). Angegriffen wurden unter anderem die Aktivität der Publika sowie die Frage nach möglichen Lesarten, in diesem Fall nach den Möglichkeiten eines Textes zur Bedeutungsproduktion. Ebenso wurde Fiskes Theorie der widerständigen Bedeutungsproduktion mehrfach in der Debatte angesprochen. Die Vorwürfe innerhalb der Revisionismusdebatte zielten auf Fiskes frühe textanalytische Arbeiten und richteten sich besonders gegen seine Ausführungen in »Television Culture« (1999a) oder auch »Understanding Popular Culture« (1989a). Die zentralen Einwände Fiskes KritikerInnen missfiel besonders seine Vorstellung von einer ›semiotischen Demokratie‹, welche die ›aktiven Publika‹ und den Aspekt der ›textuellen Bedeutungsressourcen‹ mit einschließt (vgl. Fiske 1999a: 95; 239). Fiske versteht unter einer ›semiotischen Demokratie‹ die diskursive Kompetenz von ZuschauerInnen, mit der sie selbst bestimmen, welche Bedeutungen und Vergnügen sie aus populären Texten ziehen (ebd.: 239). Morley vermutet hier postmodernen Pluralismus oder auch postmoderne Beliebigkeit (Morley 1997: 124). Curran sieht in einer ›semiotischen Demokratie‹ die Aufnahme bereits verworfener pluralistischer Gedanken in eine radikale Theorietradition, der er die ›neuen Revisionisten‹ zurechnet (Curran 1996a: 269). Die semiotische Macht zur freien Bedeutungs46 | Beispielsweise beklagte Gitlin im Weiteren noch, dass die Cultural Studies nicht frei von Hierarchien seien, wenn ihm auch nicht beizupflichten ist, dass sie alte Hierarchien – hiermit sind wohl frühere Maßstäbe für die Analyse von populärer Kultur gemeint – lediglich verkehrt hätten. Bei ihnen stünden nun die Subordinierten an oberster Stelle (Gitlin 1997: 31). Außerdem wird beispielsweise bemängelt, dass sich die Stellung des Forschers oder der Forscherin zu stark an ihren Gegenstand angenähert habe. McGuigan bezeichnet die Beziehung als »sentimental« (McGuigan 1992: 171), während Morris die Publika bzw. ›die Leute‹ als Allegorie für die ForscherInnentätigkeit sieht und den WissenschaftlerInnen hierüber eine narzistische Haltung bescheinigt (Morris 1990: 23). Es sei darauf hingewiesen, dass an dieser Stelle die wichtigsten Beiträge ausgewählt wurden. Alle TeilnehmerInnen der Revisionismusdebatte zu berücksichtigen, wäre nicht sinnvoll gewesen. Vgl. zusätzlich Budd/Steinman 1989, kritisch zur aktiven Aneignung, Seaman 1992, der den Cultural Studies »pointless populism« vorwirft, Frith 1991 zum ›Populismusvorwurf‹ oder Condit 1989 zur Überbetonung von Polysemie.

122 | Teil 2: Fiske und ›populäre Texte‹

konstruktion wird daneben mehrfach als übertrieben und haltlos bezeichnet (vgl. Curran 1996b: 294; siehe auch: Budd et al. 1990: 171). Fiske würdige hier nicht ausreichend die Begrenzung von Bedeutungen durch das Soziale (vgl. Curran 1996a: 268), sondern stelle die sozialen Kontexte ausschließlich lebendig und subversiv dar, was so nicht zutreffe (Morley 1996a: 287; Curran 1996b: 294). Curran spricht darüber hinaus von einer ›Romantisierung‹ der RezipientInnen, und auch Morley weist auf die Gefahr hin, populären Widerstand zu ›romantisieren‹ (Curran 1996b: 294; Morley 1996a: 289; ähnlich: Budd/Steinman 1989: 15). Hierzu sind ebenfalls die Bemerkungen von Ang anzuführen, die davor warnt, eine Aktivität der RezipientInnen bei der Medienaneignung automatisch mit Macht gleichzusetzen (vgl. Ang 1990 : 247). An anderer Stelle wurde Fiskes Bild der KonsumentInnen, die dominante ideologische Inhalte ablehnen können, gleichgesetzt mit dem Ideal der Verbraucherin oder des Verbrauchers in der freien Marktwirtschaft. Fiske wird damit unterstellt, ein neoliberales Modell des freien Marktes zu vertreten (so Curran 1996b: 294), das eine »consumer sovereignty« vorsieht. Mit dieser Souveränität fänden sich KonsumentInnen auf dem Markt zurecht. Sie legitimiere gleichfalls jede bedenkliche Aktion der ProduzentInnen gegenüber den KundInnen (McGuigan 1992: 72; Morley 1996a: 287). Fiskes Ausführungen zur Mikropolitik machten die Kritik an der Kulturindustrie überflüssig. Durch eine ›Überbewertung‹ der Publikumsaktivität, was oben bereits in Zusammenhang mit dem Vorwurf des ›kulturellen Populismus‹ anklang, verhindere er einen kritischen Blick auf ökonomische Momente (McGuigan 1997: 151; so auch Budd et al. 1990: 170). Einen wichtigen Einwand liefert auch Morley. Er meint, dass bei einer Überbetonung der Mikroaktivität keine Kritik mehr an den Medientexten selbst, an »Hollywood« (Morley 1996a: 286), möglich sei. Kritisch formulieren Budd et al.: »Whatever the message encoded, decoding comes to the rescue: Media domination is weak and ineffectual, since the people make their own meanings and pleasures« (vgl. Budd et al. 1990: 170). Dekodierung werde bei Fiske gewissermaßen zum ›Allheilmittel‹ (siehe dazu auch: Morley 1996a). Daneben wurden Fiskes Ausführungen zur Dekodierung noch in anderer Weise kritisiert: Fiske vertrete die Annahme, populäre Lesarten seien automatisch progressiv (McGuigan 1992: 72). Bereits O’Shea bemerkt, dass widerständige Lesweisen nicht per se politisch links seien, sondern gegenüber dominanter Ideologie durchaus auch sexistischer oder rassistischer Natur sein könnten (O’Shea 1989: 377). Ähnliches wird auch den Cultural Studies allgemein unterstellt, wenn gesagt wird, dass sie populäre Formen prinzipiell zu positiv bewerteten und Widerstand in jeder Form von Populärkultur vermutet würde (Morris 1990: 14). Die Macht der RezipientInnen wird auch von O’Shea in der kritischen Rezension zu »Television Culture« hinterfragt (vgl. O’Shea 1989). Darin wirft er Fiske vor, Ideologie allgemein mit dominanter Ideologie gleichzusetzen und dadurch den Eindruck zu erwecken, dass sich KonsumentIn-

Grenzen der Bedeutungsfreiheit | 123 nen mittels widerständiger Rezeption Freiräume von Ideologie schaffen könnten. Dazu sei jedoch niemand in der Lage, vielmehr befände man sich immer innerhalb von Ideologie (ebd.: 375/376). Fiskes Gebrauch des Ideologiebegriffes wird daneben von Morley kritisiert. Statt Ideologie ausschließlich negativ zu bewerten, müsse man auch ihre positiven Aspekte betonen, wie beispielsweise ihre Rolle bei der Identitätsfindung von Individuen (Morley 1996a: 288). In eine ähnliche Richtung zielen Budd und Steinman, wenn sie beanstanden, dass Fiske das soziale und ökonomische System des Kapitalismus ausschließlich negativ im Sinne einer Ideologie des Individualismus und Wettbewerbs auslege (Budd/ Steinman 1989: 15). Die inhaltlichen Aspekten, die sich in vielfältiger Weise gegen die semiotische Bedeutungsproduktion der RezipientInnen richteten, sind gleichzeitig als Kritik an Fiskes Methodik zu verstehen. Der Kern der Aussagen basiert auf dem Vorwurf, dass Fiske Kontexte vernachlässige, seien es historische (O’Shea 1989: 377, McGuigan 1992), Makropolitik und Ökonomie (McGuigan 1992; ders. 1997), institutionelle Rahmenbedingungen (McGuigan 1992: 71) oder soziale Kontexte, die Bedeutungen determinierten (Morley 1996a: 287). Statt dessen gehe Fiske eindimensional vor (McGuigan 1997: 151) und biete keine ausreichende Differenzierung der Interpretationsgemeinschaften (O’Shea 1989: 377). Letzteres findet sich auch bei Evans (1990). Er ist der Auffassung, dass Fiske soziologische Kontexte der Publika außen vor lässt und aufgrund dessen nicht in der Lage sei, ihre Lesarten als widerständig oder oppositionell auszumachen, da er zuvor nicht mittels genauer soziologischer Kontextualisierung herausarbeite, was als dominante Lesart gilt. So könnten beispielsweise Lesarten innerhalb einer prinzipiell ›rebellischen‹ Gruppe von Heranwachsenden nicht als oppositionell begriffen werden, da sie ihrem Kontext nicht entgegenlaufen (vgl. Evans 1990: 161). Bewertung der Kritik Insgesamt kritisierte man somit einerseits viele Aspekte, die die semiotische Macht der Publika betreffen, andererseits wurde Fiske vor allem fehlende Kontextualisierung vorgeworfen. Die Kritikpunkte müssen differenziert betrachtet werden – nicht alle Einwände sind unberechtigt. So wirken Fiskes Bemerkungen zur semiotischen Macht der RezipientInnen, wie er sie in »Television Culture« (1999a) oder »Understanding Popular Culture« (1989a) hervorhebt, teilweise zu optimistisch. Currans und Morleys Bemerkung, es bestünde die Gefahr, dass Fiske die RezipientInnen ›romantisiere‹, ist nicht ganz abwegig. Allerdings räumt Fiske selbst an einigen Stellen ein, dass der Einfluss der Rezipierenden begrenzt sei (siehe z.B. Fiske bei Müller 1993a: 5). Prinzipiell kann die Möglichkeit der RezipientInnen, auf mikropolitischer Ebene eigene Bedeutungen zu schaffen, entgegen aller Kritik dennoch nicht bestritten werden.47 47 | Nützlich sind hier ebenfalls die Anmerkungen Bordos, auch wenn sie

124 | Teil 2: Fiske und ›populäre Texte‹

Viele kritische Bemerkungen betreffen die Art und Weise, wie Fiske die Dekodierungspraxis von RezipientInnen beurteilt. Nicht von der Hand zu weisen ist, dass Fiskes Betonung der Publikakompetenzen und ihrer widerständigen Bedeutungskonstruktion eine Kritik an Texten oder auch die Forderung nach Qualitätsstandards im Fernsehen nicht dringend notwendig erscheinen lassen. Auch dass Fiske in seinen früheren Arbeiten wie beispielsweise »Television Culture« (1999a) populäre, widerständige Lesarten vernachlässigt, die nicht als progressiv gelten, scheint plausibel. In »Power Plays Power Works« führt Fiske dagegen populäre Verhaltensweisen an, die nicht per se positiv zu bewerten sind, beispielsweise wenn Obdachlose in einem Actionfilm an besonders brutalen und ekelerregenden Filmsequenzen Vergnügen empfinden, wie oben geschildert wurde (vgl. Fiske 1993a: 32; 127). Geht Fiske auch in seinen Studien stärker auf progressive widerständige Rezeptionsmöglichkeiten ein als auf rassistische oder ähnliche Lesarten, so schließt sein Konzept diese dennoch nicht aus. Fiskes Arbeiten sind immer im Rahmen der Aufwertung von Populärkultur zu sehen, im Kontext einer Arbeit gegen die kontinuierliche Abwertung von Texten und vor allem von Publika. Daher sind die Vorwürfe gegen ihn nur begrenzt zutreffend. Insbesondere eine Anschuldigung, wie die von McGuigan, der Fiske letztlich eine einfache Umkehrung der Massenkulturkritik unterstellt, greift nicht (McGuigan 1992; McGuigan 1997). Auch der Einwand, dass Fiske meine, die RezipientInnen könnten sich von Ideologie gänzlich befreien, ist nicht berechtigt. Fiske veranschaulicht in seinen Arbeiten immer wieder, dass sich RezipientInnen ständig innerhalb von Ideologie bewegen, indem er ihren semiotischen Widerstand als Gegenreaktion beschreibt, die immer abhängig von ideologischen Vorgaben sei. Semiotischer Widerstand stellt daher zwar einen Freiraum dar, dieser ist jedoch nichtsdestotrotz von Ideologie durchwirkt. Deutlich wird dies am Beispiel der Jeans, das Fiske in »Understanding Culture« (1989a) anführt. Er argumentiert dort, dass mit dem Kauf einer Jeans die Ideologie des ökonomischen Systems übernommen werde. Der Widerstand dagegen, der durch zerrissene Jeans sichtbar gemacht werde, schaffe zwar subkulturelle Bedeutungen, diese entstünden jedoch nicht losgelöst von ihrem dominant ideologischen Ursprung, sondern als Spiel mit den ideologischen Vorgaben (vgl. dazu Fiske 1989a: 15). Schließlich benutzten beide, die VertreterInnen der dominanten Ideologie sowie Subkulturen mit widerständigen Bedeutungen, dasselbe Zeichensystem. nicht direkt der Revisionismusdebatte zuzurechnen sind. Sie kritisiert Fiskes undifferenzierten Machtbegriff, da er nicht zwischen der semiotischen Macht des Einzelnen unterscheidet, und einer Macht, die beispielsweise bei öffentlichen Demonstrationen zum Ausdruck kommt oder die Programmverantwortlichen innehaben (vgl. Bordo 1993: 277). Zwar thematisiert Fiske in seinen früheren Werken hauptsächlich semiotische Machträume, doch versäumt er es, seinen Machtbegriff ausführlich zu erläutern.

Grenzen der Bedeutungsfreiheit | 125 Fiske stellt demnach die Beziehung von dominanter Ideologie und subkulturellen Freiräumen als komplex miteinander verwoben dar und nicht als subkulturelle Befreiung von jeglicher Ideologie, wie O’Shea (1989) moniert. Ebenso wirken die Anschuldigungen nicht überzeugend, nach denen durch Fiskes Mikroperspektive makropolitische Aspekte ignoriert und kritische Äußerungen an den ProduzentInnen nicht zugelassen würden. Zwar wird durch Fiskes These, dass Leute nicht passiv von ideologischen Inhalten indoktriniert werden, wirtschaftliche Macht relativiert, dennoch sind kritische Überlegungen zu den ProduzentInnen populärer Texte auch nach Fiskes mikropolitisch orientiertem Theoriekonzept möglich. McGuigan spricht zudem davon, dass Utopien an Glaubwürdigkeit verlören, wenn eine Aktivität auf der Mikroebene so hoch eingeschätzt würde (McGuigan 1992: 171). Fiske stellt jedoch nicht Mikropolitik über utopische Ideen oder makropolitische Überlegungen, genauso wenig wie er Makropolitik höher bewertet als die mikropolitische Ebene. Vielmehr geht er davon aus, dass der eine Bereich nicht ohne den anderen möglich ist. Das heißt, dass die semiotische Macht, also das Vermögen, Vergnügen und Bedeutungen zu produzieren, und die soziale Macht, womit vorrangig makropolitisches Potential gemeint ist, ein sozioökonomisches System aufrechtzuerhalten, miteinander verknüpft sind. Wenn er auch hinsichtlich populärer Kultur die semiotische Macht als die entscheidende annimmt, so bestreitet er dennoch nicht die Relevanz von makropolitischen Überlegungen oder politischen Utopien (vgl. Fiske 1999a: 316). Der Vorwurf, Fiske vernachlässige Kontexte, ist dagegen im Ansatz berechtigt, da soziale Kontexte und ihre determinierenden Effekte in Werken wie »Television Culture« (1999a) prinzipiell zu kurz kommen. Ebenfalls spricht Fiske dort generell die Begrenzung von Bedeutungen zu wenig an. Statt dessen hebt er in seinen Ausführungen immer wieder die semantische, diskursive Offenheit von populären Texten hervor (vgl. Fiske 1989a). Gerade angesichts des Grundsatzes der Cultural Studies, Analysen zu kontextualisieren, scheint die Kritik hier nicht unberechtigt. Fiskes frühere Arbeiten sind jedoch daraufhin angelegt, Prinzipien zu verdeutlichen. Er will mit ihnen keinen Aufschluss über Kontexte geben, sondern darlegen, wie Texte hinsichtlich dominanter ideologischer Inhalte angelegt sind oder auch welche textuellen Spielräume sie enthalten bzw. wie Publika sich gegenüber dominanten ideologischen Bedeutungen verhalten können. Fiske will Aufschlüsse über populäre Mechanismen liefern. Der Vorwurf fehlender Kontextualisierung geht daher etwas an der Zielsetzung Fiskes vorbei. Dafür, dass ihn der Vorwurf, Kontexte zu vernachlässigten, getroffen, und er daraufhin seine Konzeption überdacht hat, spricht sein späteres Werk »Media Matters« (1996), in dem er die Kontexte medialer Einzelfälle in vielerlei Hinsicht beleuchtet. Dennoch ist der Aufschrei innerhalb der Revisionismusdebatte nur begrenzt berechtigt. Zudem fällt auf, dass Kontextualisierung zwar bei Fiske gefordert, seine Arbeiten selbst jedoch

126 | Teil 2: Fiske und ›populäre Texte‹

nicht im Rahmen eines allgemeinen Paradigmenwechsels der Populärkulturforschung betrachtet wurden, welcher rechtfertigt, dass sich Fiske auf den progressiven Charakter populärer Formen und auf eine widerständige Bedeutungskonstruktion konzentriert. Insgesamt waren die Argumente, die in der Revisionismusdebatte gegen Fiske lanciert wurden sowohl von ihrer Überzeugungskraft als auch in ihrer Fundiertheit sehr unterschiedlich. Offenbar hat Fiske dennoch aus der Fülle von Anschuldigungen Konsequenzen für seine Arbeit gezogen. So hat er sich in seinen späteren Schriften von seinen ›Lesarten‹ distanziert, wie er sie unter anderem in »Television Culture« (1999a) sowie in »Understanding Popular Culture« (1989a) diskutiert. Statt dessen arbeitete er – wohl auch als Reaktion auf die vehemente Kritik – in »Power Plays Power Works« (1993a) seine Ansichten zum ›Machtblock‹ und den ›Leuten‹ aus. Daneben hat er mit »Media Matters« (1996) versucht, seine Textanalysen stärker in Diskurse einzubetten. Auffällig an der Revisionismusdebatte ist, dass Fiskes Überlegungen teilweise eine größere Bedeutung beigemessen wird, als ihnen in Fiskes Werken tatsächlich zukommt: So nimmt die viel kritisierte ›semiotische Demokratie‹ in Fiskes Theorie nicht annähernd so viel Raum ein, wie es bei den KritikerInnen den Anschein hat. Gleiches gilt für die ›semiotische Macht‹, die Fiske den RezipientInnen einräumt. An einigen Stellen wirken die Einwände überbetont und auch unberechtigt. Teilweise erscheinen sie sogar nicht nachvollziehbar. Ein prägnantes Beispiel hierfür sind die Äußerungen McGuigans, der Fiske als radikalen Theoretiker mit haltlosen Thesen hinstellt (vgl. McGuigan 1992: 73).48 Dass der Tonfall dabei nicht den Anforderungen der wissenschaftlichen Fachsprache entspricht, zeigt folgendes Zitat, in dem McGuigan die oben bereits angeführten Vorwürfe formuliert. Er meint, Fiske »merely produces a simple inversion of the mass culture critique at its worst, thereby reducing television study to a kind of subjective idealism, focused more or less exclusively on ›popular readings‹, which are applauded with no evident reservations at all, never countenancing the possibility that a popular reading could be anything other than ›progressive‹« (McGuigan 1992: 72). McGuigan liefert damit ein Beispiel dafür, dass die Kritik an Fiske im Tonfall hin und wieder ›unter die Gürtellinie‹ geht und sich nicht im Rahmen einer wissenschaftlichen Argumentation bewegt. McGuigans extreme Gegenreaktion lässt vermuten, dass hier noch andere Gründe für die Aburteilung von Fiske relevant waren und Fiske eventuelle wissen48 | McGuigan unterstellt Fiske eine »extreme aversion to economistic reasoning« sowie das Feindbild eines »reified monster that supplies goods« (McGuigan 1992: 72) oder auch des »›white patriarchal bourgeois capitalism‹« gegen das Fiske ankämpfe. Letzteres wird von McGuigan als »empty rhetorical hybrid« abqualifiziert (McGuigan 1992: 72).

Grenzen der Bedeutungsfreiheit | 127 schaftliche (makropolitische?) Empfindlichkeiten berührt hat.49 Interessant ist in diesem Zusammenhang Morleys Vermutung, dass viele Kritiker und Kritikerinnen eine Rückwendung zur »political economy (or classical) sociology« bezweckten und dabei Erträge der Cultural Studies – Morley meint hier vor allem die ethnographische Publikumsforschung – ignorierten (Morley 1997: 121/122). Morley fürchtet damit eine unkritische Rückkehr zu einer Makroperspektive in der Forschung als Gegenreaktion auf ein Zuviel an Mikropolitik (Morley 1997: 125). Dazu passt die Beobachtung Turners, der Mitte der neunziger Jahre das Ende von Forschungen konstatiert, die sich mit ›Widerstand‹ beschäftigen (vgl. Turner 1996: 207). An anderer Stelle hatte Morley daneben auf die Gefahr hingewiesen, Makropolitik als die ›Realität‹ zu begreifen und hierüber mikropolitische Prozesse abzuwerten, obwohl Makropolitik und Mikropolitik voneinander abhängig sind (siehe Morley 1996a: 280). Daneben sehen Göttlich und Winter in der Kritik, wie sie von McGuigan geäußert wurde, die Gefahr, zu alten Bewertungsmaßstäben gegenüber Populärem zurückzukehren (Göttlich/Winter 2000b: 12 ff.). Populäres sei mehr als ein »Ausfluss kulturindustrieller Strategien zur Marktbeherrschung« (ebd.: 13), da Populärkultur, wie Fiske immer wieder belegt hat, wichtige Bedeutungen für die Alltagswelt der RezipientInnen bereithält. Ökonomische Aspekte sind zwar bei der Analyse von populären Texten zu berücksichtigen, ausschließlich auf Ökonomie abzustellen, ist jedoch keineswegs ausreichend (so auch ebd.: 14). Diese Gefahren sind in der Revisionismusdebatte an einigen Stellen zum Vorschein gekommen. Den Beweggründen der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen für ihre Argumente in der Revisionismusdebatte detailliert auf den Grund zu gehen, führt an dieser Stelle zu weit. Die Kritik, die in der Revisionismusdebatte gegen Fiske laut wurde, ist, wie gezeigt wurde, teilweise berechtigt. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Machtbereich, den Fiske den RezipientInnen einräumt, recht begrenzt ist. Außerdem vernachlässigt er die Kontexte von Publika und differenziert sie zu wenig. Zudem versäumt er es, auf die Grenzen von textuellen Bedeutungsräumen sowie auf die Grenzen der Publikaaktivität genauer einzugehen, die sich beispielsweise aus sozialen Bedingungen heraus ergeben. Dennoch ist Fiske prinzipiell zuzustimmen – allerdings müssen Begriffe wie Macht, Aktivität der Publika und textuelle 49 | Unberechtigt wirkt beispielsweise folgender Einwand: McGuigan kritisiert in einem späteren Beitrag (1997), dass Fiske Madonna als widerspruchsfreies Phänomen skizziere, das ausschließlich dazu beitrage, das Selbstbewusstsein junger Mädchen zu stärken. Der Vorwurf, dass Fiske hinsichtlich des Medienphänomens Madonna ökonomische Aspekte vernachlässige, ist durchaus nachzuvollziehen. Fiske jedoch zu unterstellen, dass er Madonna als widerspruchsloses Idol hinstelle, ist nicht haltbar. Madonna dient Fiske immer wieder dazu, die Widersprüche von Populärkultur zu verdeutlichen (vgl. bspw. Fiske 1999a: 126; 1999b: 82). Die Kritik, die McGuigan hier vorbringt, mutet daher recht überzogen an.

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Bedeutungsressourcen wohl differenzierter und vorsichtiger gebraucht werden. Trotz aller Kritik sind textuelle Merkmale, die Bedeutungen eröffnen, dennoch wertvoll für die Analyse, genauso wie Lesarten, die sich hieraus ergeben können. Textanalysen sind daher auch im Weiteren unerlässlich, um Strukturen offen zu legen, die Bedeutungen begrenzen (so auch Morley 1996a: 282). Daneben ist die Aktivität der Publika ebenfalls weiterhin positiv hervorzuheben. Als Konsequenz aus der Revisionismusdebatte muss betont werden, dass die Macht der RezipientInnen im Wesentlichen auf ihren Alltag begrenzt ist und vor allem gegenüber den Möglichkeiten der ProduzentInnen weitaus geringer ist (so auch: Göttlich/ Winter 2000b: 13) – auch wenn sich ab und an das Gegenteil zeigt. Fiskes spezifischer Blick auf Populäres und seine Kriterien zur Beurteilung wurde also insgesamt durch die Debatte in Teilen modifiziert, jedoch nicht umgestoßen. Ein Kritikpunkt, der in der Revisionismusdebatte anklang, ist noch einmal gesondert herauszustellen: Die fehlende Kontexteinbettung bei Fiske. Dies gilt in diesem Zusammenhang auch für die Kontextualisierung von Texten, d.h. für die Analyse von Diskursen, in die Texte eingebettet sind. Bereits in »Television Culture« regt Fiske ein diskursanalytisches Vorgehen an (vgl. z.B. Fiske 1999a: 149 zur diskursiven Analyse von Charakteren). Über eine diskursanalytische Betrachtung populärer Texte ist es möglich, übergeordnete Bedeutungen, die innerhalb einer Kultur zirkulieren, herauszuarbeiten. Diskurse verkörpern aus Sicht der Cultural Studies einen wichtigen Rahmen, in dem populäre Texte betrachtet werden. Fiske hat in »Media Matters« (1996), wie bereits mehrfach angedeutet, Diskurse noch stärker in seine Analyse von Fernsehtexten mit einbezogen.

Anbindung populärer Fernsehtexte an Diskurse | 129

3. Anbindung populärer Fernsehtexte an Diskurse

Obwohl man in der Revisionismusdebatte viel Kritik an der Populärkulturanalyse der Cultural Studies übte, wurde deutlich, dass längst nicht alle bemängelten Aspekte zutreffend waren, sondern hauptsächlich zu einer Relativierung von Fiskes Bewertungskriterien populärer Texte führten. Viel kritisiert wurde vor allem die Bedeutungsvielfalt populärer Texte, deren Begrenzungen seitens Fiske zu wenig berücksichtigt worden wären. Offenheit und die Art der Begrenzung stellen die wesentlichen Diskussionspunkte dar, wenn es um ›Bedeutungen‹ geht. Einige Stichworte, die in diesem Zusammenhang im Rahmen dieser Arbeit fielen, waren ›Polysemie‹, ›Bedeutungskonstruktionen‹, ›Aktivität der RezipientInnen‹ und demgegenüber ›Lesarten‹ als Grenzen der Bedeutungsfindung. Für die Seite der Textoffenheit und die Seite der Begrenzung von Bedeutungen ist darüber hinaus die Kategorie des ›Diskurses‹ bedeutsam: Diskurse stehen einerseits für die Fülle an Bedeutungen, die innerhalb einer Gesellschaft zirkulieren und liefern andererseits große inhaltliche Zusammenhänge, in die Texte eingeordnet werden können, so dass sie letztlich Grenzen für Textbedeutungen darstellen. Natürlich sind Diskurse nicht in dem Maße trennscharf, so dass Texte auch mehreren, sich überschneidenden Diskursen zugerechnet werden können und daher je nach diskursivem Kontext Bedeutungen gewinnen. Auf eine ausführliche Definition des Begriffes ›Diskurs‹ ist bisher verzichtet worden. Statt dessen wurde in dem Abschnitt zu Fiskes theoretischen Grundbegriffen die Kategorie Diskurs nur umrissen und im Weiteren auf ein allgemeines Verständnis abgestellt. An dieser Stelle sollen zwar die Probleme, die sich mit der Verwendung des Begriffes ›Diskurs‹ ergeben, skizziert werden, sie hier abschließend zu klären, ist jedoch nicht möglich. Wichtiger ist es, Fiskes spezifischen Diskursbegriff herauszuarbeiten. Insbesondere ist hier die Verwendung im Rahmen von »Media Matters« (1996) interessant, da Fiske dort ein diskursives Analyseverfahren anwendet, welches sich von seinen früheren text- bzw. diskursanalytische Vorgehensweisen stark unterscheidet. Inwieweit seine Methode noch weitere Aufschlüsse über die Bewertung von populären Texten zulässt, steht im Folgenden zur Debatte.

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3.1 Fiskes Diskursbegriff Die Diskurstheorie ist in einem Dilemma: ihr zentraler Begriff »Diskurs« lässt sich nicht auf eine Bedeutung festlegen. In ihrem Buch »Discourse« führt die Autorin Mills mehrere grundlegende Definitionen des Begriffes ›Diskurs‹ an, wie sie Foucault verwendet habe.1 Es lassen sich zumindest zwei große Diskursbegriffe bei Foucault unterscheiden: So dominiert beispielsweise in »Die Ordnung des Diskurses« (2001) die Vorstellung vom »großen unaufhörlichen und ordnungslosen Rauschen des Diskurses« (Foucault 2001: 33), dessen »unberechenbar Ereignishaftes« (ebd.: 11) durch gesellschaftliche Praxen, insbesondere durch Institutionen, unablässig bereits bei der Produktion kontrolliert, kanalisiert und kontrolliert werden soll. Der Diskurs wird hier als anarchische Hintergrundfolie der Gesellschaft begriffen. Daneben benutzt Foucault einen enger gefassten Diskursbegriff, bei dem er Diskurs als eine Menge von Aussagen begreift, die einem gleichen Formationssystem zugehören. Aussagen verweisen bei Foucault auf etwas außerhalb ihrer selbst, beispielsweise auf eine hintergelagerte Wahrheit. Die Formation, in denen Aussagen gebündelt sind, gehorchen spezifischen Regeln, die historisch wandelbar sind (vgl. Winko 1996). Bereits Foucault, auf den sich auch Fiske bezieht,2 verwendete also unterschiedliche Definitionen, je nach Gegenstand und letztlich auch nach Werk (vgl. ebd.: 467). In diskursanalytischen Arbeiten trifft man daher ebenfalls auf verschiedene Verwendungen des Begriffes (siehe Winko 1996), von den unterschiedlichen Auffassungen davon, wie Diskurse zu analysieren seien, einmal ganz zu schweigen. Häufig wird eine Definition des Begriffes ›Diskurs‹ gänzlich ausgespart und statt dessen auf eine Art Allgemeinverständnis rekurriert. Dass auch Fiskes Diskursbegriff an manchen Stellen nicht ganz eindeutig ist, verwundert aus den 1 | Neben einem weiten Begriff, der sämtliche Äußerungen, die je gemacht wurden, umfasst, stellt sie noch eine etwas engere Vorstellung von Diskurs vor, worunter Diskurse eines bestimmten Themas fallen, sowie einen Diskursbegriff, bei dem die Regeln im Vordergrund stehen, welche konkrete Äußerungen bedingen und produzieren (vgl. Mills 1997: 7). 2 | Fiske meint, dass er in seiner Diskursanalyse und seinem Diskursbegriff vor allem von Foucault beeinflusst wurde. Leider führt er keine Foucaultsche Definition von ›Diskurs‹ an, auf die er sich bezieht und bleibt auch ansonsten in seinen Bemerkungen zu Foucault an der Oberfläche. Fiske grenzt sich mit der Bemerkung von Foucaults Diskursarbeiten ab, dass Foucault eine ›monodiskursive‹ Gesellschaft im Blick gehabt hätte, während er selbst einer ›multidiskursiven‹ Gesellschaft gegenüberstehe, für die Foucaults Instrumentarium nicht ausreiche. Fiske gehe damit über Foucaults Perspektive hinaus (vgl. Fiske 1996: 3-4). Für Foucault stellten darüber hinaus Diskurse zwar Machtinstrumente dar, doch sähe er sie nicht als »terrain of struggle«, was für Fiske jedoch das zentrale Merkmal von Diskurse sei (ebd.: 4).

Anbindung populärer Fernsehtexte an Diskurse | 131 genannten Gründen nicht. So formuliert er zunächst in »Television Culture«: »At its simplest, discourse is the organization of language above the level of the sentence: it is thus an extensive use of language. By extension it can cover nonverbal languages so that one can talk of the discourse of the camera or of lighting« (Fiske 1999a: 14). Im Weiteren weicht er von diesem ›formalistischen‹ Diskursbegriff ab, da die soziale und ideologische Dimension des Begriffes hierin nicht zum Ausdruck komme, und fasst ›Diskurse‹ als sozial gebildete Sprachen oder Systeme der Repräsentation, mit deren Hilfe ein kohärentes Set an Bedeutungen zu wichtigen Themengebieten produziert und weiter verbreitet werde (ebd.). Die produzierten diskursiven Bedeutungen dienten Interessen einzelner gesellschaftlicher Bereiche oder Gruppen, die darauf zielen, ihre bevorzugten Bedeutungen allgemeingültig zu machen – Diskurse sind danach an bestimmte InitiatorInnen gekoppelt. Hier liegt der zentrale Unterschied zu Foucault, der weder bei seiner Vorstellung von Diskurs als »Rauschen« im Hintergrund der Gesellschaft noch bei der Definition von Diskurs als regelhafte Formation von Aussagen die Anbindung an InitiatorInnen vorsieht, sondern Diskurs immer als eigenständige, unabhängige Größe fasst, die durch gesellschaftliche Kontrollmechanismen bezwungen werden soll. Demgegenüber begreift Fiske Diskurse wesentlich eingeschränkter und – wie gesagt – an gesellschaftliche Interessengruppen oder auch InitiatorInnen angebunden. Gleichwohl liegt hier die Schnittstelle zwischen Diskursen und gesellschaftlicher Macht, dem Dreh- und Angelpunkt in Fiskes Beschäftigung mit Diskurstheorie (vgl. ebd.). Diskurse fungieren insgesamt als soziale Praktiken, die dominante Ideologie stützen oder ihr entgegenwirken. Zentrale gesellschaftliche Diskurse mit dieser Funktion sind für Fiske beispielsweise der patriarchalische und der feministische Geschlechterdiskurs (ebd.: 15). Zu ergänzen ist, dass Fiske bei Diskursen eine theoretische und eine praktische Seite annimmt. Auf der theoretischen Ebene sieht er Diskurse als eine Art sozial genutztes sprachliches System (Fiske 1996: 3). Daneben hebt Fiske die praktische Seite von Diskursen hervor, auf der abstrakte Diskurse zu konkreter Praxis werden, wobei er zwischen drei Dimensionen differenziert: »a topic or area of social experience to which its sense making is applied; a social position from which this sense is made and whose interests it promotes; and a repertoire of words, images, and practices by which meanings are circulated and power applied« (ebd.: 3). Zusammenfassend weisen Diskurse nach Fiske also mehrere Merkmale auf: Sie können verbal oder nonverbal verlaufen, betreffen ein bestimmtes Themengebiet und sind an gesellschaftliche Machtverhältnisse geknüpft, da sie von Interessengruppen initiiert werden und für diese arbeiten.

132 | Teil 2: Fiske und ›populäre Texte‹

Wichtig für die Definition von Diskursen darüber hinaus ist, dass Diskurse einerseits selbst gesellschaftlich produziert und aus gesellschaftlichen Ausdrucksformen gebildet werden, andererseits jedoch auch selbst produktiv sind, d.h. gesellschaftliches Handeln produzieren, da durch Diskurse soziale Erfahrungen in gesellschaftliche Bedeutungen umgewandelt werden (Fiske 1999a: 15). Ein Diskurs ist folglich ein dynamisches Gebilde und stellt einen wesentlichen Knotenpunkt in der Aushandlung gesellschaftlicher Werte und Strukturen dar: »It is structured and structuring, for it is both determined by its social conditions and affects them« (Fiske 1996: 3). Fiske führt in »Media Matters« (1996) aus, dass der gesellschaftliche ›Kampf‹ oder die gesellschaftliche ›Auseinandersetzung‹ das wesentliche Moment von Diskursen sei, das ihn für die Diskurstheorie einnehme (ebd.: 3). Er weist dabei auf unterschiedliche diskursive Kämpfe hin, wobei Fiske zu den wichtigsten den Kampf um Worte oder Zeichen zählt, um mit ihnen Bedeutungen zu lenken, oder auch den Kampf um Wortwahl und Bilder, also um das diskursive Repertoire (ebd.: 5). Daneben ist der Kampf um den Zugang zu öffentlichen Diskursen bedeutsam (ebd.: 6). Dass Fiske den Schwerpunkt seines Diskursbegriffes auf die Einbindung in gesellschaftliche semiotische Machtkämpfe um Bedeutungen legt, zeigt folgendes Zitat noch einmal besonders deutlich: »Discourse, then, is language in social use; language accented with its history of domination, subordination, and resistance; language marked by the social conditions of its use and its users: it is politicised, power-bearing language employed to extend or defend the interests of its discursive community« (ebd.: 3). Fiskes Diskursbegriff erscheint zwar etwas allgemein gehalten, er weist jedoch feste Merkmale auf, wie Thema und Interessengruppe, auf die Analysen aufbauen können. Es schließt sich die Frage an, in welcher Beziehung populäre Texte zu Diskursen stehen. Insgesamt urteilt Fiske für das Fernsehen: »The discourses of the program attempt to control and confine its potential meanings: the discourses of the reader may resist this control« (Fiske 1999a: 15). Im Fernsehen treffen somit die Diskurse des Programms auf die Diskurse der RezipientInnen, wobei in der Aneignung des Textes eine Aushandlung von diskursiven Bedeutungen stattfinde. Darüber hinaus ist das Verhältnis von populären Texten und Diskursen ein verschachteltes: Populäre Texte können Teil verschiedener Diskurse sein. Sie werden im Rahmen gesellschaftlicher Machtinteressen produziert, beispielsweise seitens der Programmverantwortlichen, die über sie möglichst hohe TV-Quoten erreichen wollen, und transportieren somit Bedeutungen, die Interessengruppen dienlich sein können. In populären Fernsehtexten finden sich daneben zum einen gesellschaftliche Diskurse wieder, zum anderen werden die Texte durch ihre Ausstrahlung und die Aneignung der RezipientInnen in gesellschaftliche Diskurse eingebunden, wodurch sie gesellschaftliche Praxis mitproduzieren. Dies zeigte sich

Anbindung populärer Fernsehtexte an Diskurse | 133 beispielsweise an einer Seifenoper wie der »Lindenstraße« darin, dass sie in den achtziger Jahren nachweislich dazu beitrug, die HIV-Aufklärungsrate deutscher FernsehzuschauerInnen zu steigern, als in der Serie die Figur »Benno Zimmermann« an Aids starb (vgl. Frey-Vor 1996). Die Serie war Bestandteil des Fernsehdiskurses um HIV, spielte mit der Ausstrahlung jedoch auch eine wichtige Funktion im gesamtgesellschaftlichen HIV-Diskurs und bewirkte, dass HIV-Aufklärungsstellen einen höheren Zulauf bekamen. Dieser Fall stellt somit ein Musterbeispiel dafür dar, wie ein Diskurs mittels populärer Texte in konkrete gesellschaftliche Praxis überführt werden kann. Populäre Texte verkörpern somit einzelne diskursive Bestandteile. Man kann sie auch als ›Diskursfragmente‹3 bezeichnen, wobei sie als solche in mehrere Diskurse eingebunden werden können. Innerhalb der populären Texte sind Diskurse häufig an Charaktere gebunden: »Benno Zimmermann« steht hier für den Diskurs um HIV, er verkörpert daneben noch weitere Diskurse, beispielsweise den Diskurs um die familiäre Vaterrolle. Fiske verdeutlicht die Beziehung von Diskursen und Charakteren anhand der US-amerikanischen Polizeiserie »Cagney and Lacey«. Er beschreibt, wie über die Frauenfigur »Cagney« der Geschlechterdiskurs im Rahmen einer Szene positioniert wird. Mittels Kameraeinstellung, Licht und ähnlichen ›technischen Codes‹ (vgl. Fiske 1999a: 5/6) wird Cagney nicht aus einer patriarchalen Warte heraus gezeigt, sie wirkt also nicht als passives sexualisiertes Objekt, sondern als aktiver Charakter, der die Szene kontrolliert (vgl. ebd.: 53). Personen stellen in Fernsehtexten die wichtigsten textuellen Momente dar, in denen sich Diskurse bündeln, die diskursive Bedeutungen transportieren und an denen Diskurse in populären Fernsehtexten besonders gut ausgemacht werden können. Charaktere sind eingebunden in Diskurse, wobei der Geschlechterdiskurs sicherlich einer der wichtigsten ist. Diese Funktion kommt natürlich auch Personen zu, die nicht in so genannten ›fiktiven‹ Serien agieren, wie QuizmasterInnen oder NachrichtensprecherInnen. Gleichzeitig werden nach Fiske die Bedeutungen populärer, von vornherein polysemer Texte durch die Diskurse beeinflusst, in die Rezipientin und Rezipient eingebunden sind, da auf diese Weise ganz bestimmte Bedeutungen aktiviert werden (vgl. ebd.: 15). Die Diskurse sind abhängig von den Kontexten, in denen sich die ZuschauerInnen befinden, und dementsprechend differieren sie je nach Lebenswelt. Ein Beispiel hierzu liefern Seifenopern, die von pubertierenden Jugendlichen hinsichtlich der typischen Probleme von Heranwachsenden gelesen werden, z.B. unter dem Fokus der ersten Liebe, Sexualität, Probleme mit den Eltern, die jeweils einzelne Diskurse der Jugendlichen ausmachen. Ebenso denkbar ist, dass dieselben Seifenopern von älteren ZuschauerInnen, die in andere 3 | Die Bezeichnung ›Diskursfragment‹ zeigt anschaulich, dass ein Diskurs aus unterschiedlichen Bausteinen konstruiert wird und soll daher hier verwendet werden. Der Begriff stammt ursprünglich von Jäger (z.B. 1999).

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Diskurse eingebunden sind, unter jenen anderen Vorzeichen gelesen werden. Hier spielt womöglich das Thema Familie eine größere Rolle oder der Diskurs um menschliche Beziehungen im allgemeinen. Wie bereits oben erwähnt, sieht Fiske hier einen Kampf zwischen den Diskursen im Programm und jenen der RezipientInnen gegeben (ebd.: 15). Allgemein festzuhalten ist, dass die Einbindung in unterschiedliche Diskurse spezifische Lesarten hervorbringen kann. Wenn Fiske in seinen Ausführungen zu Diskursen auch verhältnismäßig oberflächlich bleibt (vgl. Fiske 1996: 2 ff.; 1999a: 14 ff.), so erscheint sein Diskursbegriff dennoch recht klar und handhabbar. Im Vordergrund steht bei ihm die Anbindung an gesellschaftliche Machtverhältnisse gemeinsam mit dem diskursiven Kampf um Bedeutungen. Diskurse sind somit wesentlich an der semiotischen Machtverteilung einer Gesellschaft beteiligt, wobei das Fernsehen und populäre Texte als diskursive Plattformen von großem Nutzen sind. Fiskes Diskursbegriff erscheint sehr nützlich, wenn es darum geht, die Verbindung zwischen Diskursen und populären Texten zu verdeutlichen und soll daher für diese Arbeit übernommen werden. Das genaue diskursanalytische Vorgehen dieser Arbeit wird vor dem Empirieteil erläutert. Allgemein wird es in der Untersuchung der Fernsehkritik darum gehen, die Bewertung der populären Texte »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« und »Wer wird Millionär?« in Argumentationen aufzugliedern und dabei herauszuarbeiten, welche Diskurse für die Wertungen maßgeblich waren. Abschließend soll auf eine Metapher hingewiesen werden, mit der Fiske die gesellschaftliche Stellung von Diskursen illustriert: er setzt dort Kultur mit einem Fluss von Diskursen gleich. Ein solcher Fluss könne ruhig fließen, seine Strömung könne jedoch ebenso in manchen Zeiten turbulent werden, wenn tiefere, unruhige Strömungen an die Oberfläche träten. Die einzelnen Strömungen verfügten über unterschiedliche Gewichtung, besonders machtvoll sei beispielsweise der Strom Geschlecht oder auch Sexualität. Jene Strömungen mischten sich natürlich untereinander und träten dann als diskursive Themen an die Oberfläche (vgl. Fiske 1996: 7). Das Bild als Fluss macht die Fluidität und die Energie deutlich, die Diskursen innerhalb von Kultur zukommt. Gleichzeitig zeigt es, wie schwierig es ist, Diskurse tatsächlich zu fassen. Wie Fiske mit diesem Problem in seiner Diskursanalyse umgeht, wird der folgende Abschnitt zeigen.

3.2 Fiskes Diskursanalyse(n) Wie oben bereits erwähnt, variieren nicht nur Diskursbegriffe, sondern es existieren auch unterschiedliche Wege, Diskursanalysen durchzuführen. So sind auch die Cultural Studies nicht auf einen Analyseweg festgelegt. Hepp stellt jedoch in seinem Ausblick auf die Methoden der Cultural Studies Fiske als zentralen Vertreter der Kritischen Diskursanalyse vor

Anbindung populärer Fernsehtexte an Diskurse | 135 (Hepp 1999: 262 ff.).4 Fiske scheint in den Cultural Studies eine Art Vorreiterrolle einzunehmen. Seine Diskursanalysen haben sich im Laufe der Zeit stark gewandelt. Inwieweit die Kritik, die im Rahmen der Revisionismusdebatte laut wurde, dafür den Ausschlag gab, kann nicht eindeutig geklärt werden (vgl. Teil 2, Kap. 2.4). Fiskes unterschiedliche diskursanalytische Entwicklungsphasen lassen sich an drei zentralen Werken festmachen: »Television Culture« (1999a; orig. 1987), das für die frühere, semiotisch geprägte Praxis steht, »Power Plays Power Works« (1993a), in dem sich eine Verschiebung hin zu diskursiven Praktiken im Kampf zwischen ›Machtblock‹ und ›Leuten‹ zeigt, bis hin zu »Media Matters« (1996), ursprünglich 1994 erschienen, worin Fiske verschiedene Medienereignisse diskursanalytisch untersucht und seine Ergebnisse in komplexen Betrachtungen bündelt. Wie in dem Abschnitt zu Fiskes Diskursbegriff bereits erwähnt, ist für sein Vorgehen die Unterscheidung zwischen einer theoretischen Dimension von Diskursen, auf der sie eine Art sozial genutztes sprachliches System darstellen (Fiske 1996: 3), und einer Ebene entscheidend, auf der abstrakte Diskurse zu konkreter Praxis werden, wobei er dort mit seiner Analyse ansetzen will. Diese praktische Dimension von Diskursen differenziert Fiske nach einem Bereich sozialer Erfahrung, auf den die zirkulierenden Bedeutungen abzielen, nach der sozialen Position, die jene Bedeutungen produziert und deren Interessen durch die diskursive Bedeutungskonstruktion gestützt wird, und nach der ›Oberfläche‹ von Diskursen, die sich aus dem praktischen Repertoire, bestehend aus Wörtern, Bildern und Praktiken, zusammensetzt und durch das die Bedeutungen in Umlauf gebracht werden sowie Macht ausgeübt wird (siehe ebd.: 3). Jene diskursive Oberfläche lässt sich sicherlich am besten analysieren, da sie direkt greifbar ist, während die Interessen, durch die Diskurse initiiert und gelenkt werden wie auch der Bereich, in dem die diskursiven Bedeutungen wirksam sind, häufig nicht offen liegen, sondern verdeckt sind. In Fiskes frühen Arbeiten findet man daher auch etliche semiotisch geprägte diskursanalytische Ausführungen zu der Oberfläche von Diskursen. Er stützt sich beispielsweise in »Television Culture« auf Textmerkmale, welche die diskursive Zirkulation von Bedeutungen beeinflussen. Wie oben erwähnt, führt Fiske hier unter anderem die Offenheit von Texten an und ihre Intertextualität. Ebenfalls bezeichnend für Fiskes frühen Analysestil ist das fünfte Kapitel aus »Understanding Culture« (vgl. Fiske 1999b). Dort werden Textmerkmale wie der ›semiotische Exzess‹ oder Wortspiele von Fiske analysiert, und er beschreibt, wie sie den Zugang zu populären Texten erleichtern und so die diskursive Zirkulation und die Umsetzung von Diskursen in die diskursive alltägliche Praxis befördern. Weiteres Beispiel für Fiskes frühere diskursive Herangehensweise 4 | Kritische Diskursanalyse ist marxistisch beeinflusst. Sie meint Gesellschaftskritik und ihre Vertreter richten ihr Augenmerk explizit auf Herrschaftsverhältnisse bzw. Machtstrukturen (vgl. z.B. Jäger 1999: 222-232).

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sind die bereits diskutierten »Codes of television«, die er in »Television Culture« (1999a) vorführt: Einzelne Merkmale von Fernsehtexten, wie Kameraführung, Belichtung, das Make-up der DarstellerInnen werden analysiert und schließlich in ihrer diskursiven Funktion gezeigt, in der sie ideologische Inhalte transportieren (vgl. Fiske 1999a: 4 ff.). Charakteristisch an Arbeiten wie »Television Culture« ist, dass Fiske sich nicht auf ein diskursanalytisches Verfahren festlegt, sondern mehrere diskursanalytische Wege beschreibt. Letztlich findet man bei ihm unterschiedliche Möglichkeiten, Diskurse zu lesen. 3.2.1 Diskursive Charaktere Hinsichtlich der Analyse von Diskursen in Fernsehtexten geht Fiske in »Television Culture« auf die im vorangegangenen Abschnitt bereits angerissene diskursive Deutung von Charakteren ein. Eine diskursive Lesart stellt danach Charaktere als Verkörperung sozialer Werte heraus und betont ihre Funktion innerhalb der Erzählung. Demgegenüber würden beispielsweise in einer realistischen Lesweise Charaktere psychologisch als einheitliche Individuen begriffen (vgl. Fiske 1999a: 154). Die Figuren in Fernsehtexten fungierten in einer diskursiven Deutungsweise »as an embodiment of abstract social and political values, and conflict between characters as an enactment of social conflict« (ebd.: 159). Eine Diskursanalyse von populären Texten verortet also Charaktere und Handlungssequenzen innerhalb von gesellschaftlichen Diskursen bzw. im Rahmen der gesellschaftlichen Aushandlung von Bedeutungen. Neben der angedeuteten semiotischen Vorgehensweise, die Fiske in »Television Culture« verfolgt, skizziert er dort ein strukturalistisches Verfahren. Danach vergleicht er die Charaktere einer Szene, indem er ihre Ähnlichkeiten und Unterschiede herausarbeitet, unter anderem in punkto Geschlecht, Nationalität, Rasse, Klasse, finanzielle Verhältnisse, Job, Familienstand, Art, sich zu kleiden, oder auch Haarfarbe (siehe ebd.: 159). So existierten zwischen den Charakteren »Cagney« und »Lacey« beispielsweise hinsichtlich Geschlecht (›weiblich‹), Nationalität (›US-Amerikanerinnen‹) und Aktionsort (›Urban, N.Y.‹) keine Unterschiede, wohingegen »Cagney« einer höheren gesellschaftlichen Schicht angehöre, karriereorientierter und schlanker sei als »Lacey«, keine Kinder habe wie sie und zudem einen männlicheren Namen trage. Problematisch daran ist einerseits, wie Fiske selbst ausführt, dass sich hieraus zwar Bündelungen ergeben, die Frage nach dem ›wie‹ und ›warum‹ und nach der Beziehung der einzelnen Kategorien untereinander, kann jedoch nicht eindeutig beantwortet werden. Andererseits macht Fiske die Kategorienbildung nicht transparent, so dass mit der Auswahl der Vergleichsmomente schon vorab ein spezieller Fokus festgelegt wird. Daneben stellt sich natürlich die Frage, ob man hinsichtlich von Kategorien wie ›Job-Motivation‹ oder ›Attraktivität‹ ohne weiteres für die Allgemeinheit sprechen kann oder nicht vielmehr nach persönlichen Vorlieben urteilt. Die Mehrdeutigkeit von Texten, die an dieser Stelle zum

Anbindung populärer Fernsehtexte an Diskurse | 137 Ausdruck kommt, zeigt, dass diskursive Lesweisen insgesamt nie auf eine Deutung festgelegt werden können, sondern selbst immer polysem sind (vgl. ebd.: 160). Dazu trägt auch die Interaktion zwischen den Charakteren bei: Wenn beispielsweise in der Serie »Cagney and Lacey« die Figur »Cagney« eine unverheiratete, karrierebewusste Frau darstellt und demgegenüber »Lacey« Familie hat und sehr viel Wert auf Häuslichkeit legt, so ließe sich aus Sicht des Diskurses um die ›neue Karrierefrau‹ »Laceys« Familienbezogenheit als rückständig und veraltet lesen. Gleichzeitig könnte der Diskurs darüber, dass Frauen mit Familie gleichzeitig arbeiten und in »Laceys« Fall einen besserbezahlten Job als ihr Ehemann ausüben, »Cagneys« Karriere als zu großes Opfer erscheinen lassen (vgl. ebd.: 163). Charaktere lassen sich also diskursiv analysieren, es existieren allerdings immer mehrere Arten der Deutung. Diese Mehrdeutigkeit stellt womöglich eines der grundlegenden Probleme der Diskursanalyse dar, denn sie führt dazu, dass diskursanalytische Arbeiten häufig von anderen sich als ›eindeutig‹ darstellenden Forschungsrichtungen in Frage gestellt werden. Problematisch an Fiskes frühen Diskursanalysen und insbesondere an »Television Culture« ist, dass er sehr unterschiedliche Methodiken vorstellt, dabei jedoch keinen vollständigen Analyseweg entwickelt. Es scheint, dass es für ihn in »Television Culture« vielfach darum geht, Prinzipien zu veranschaulichen, wie das Prinzip, Fernsehcharaktere oder allgemein Fernsehtexte diskursiv zu lesen. In späteren Werken, wie in »Media Matters« (1996), geht er vermehrt dazu über, eine eigene Methodik herauszustellen. Zu Beginn dieses Abschnitts wurde betont, dass Fiskes diskursanalytische Vorgehensweise sich im Laufe seiner Arbeit gewandelt hat. 1993 erschien »Power Plays Power Works«, ein Buch, das also schon im Titel Machtverhältnisse thematisierte. Diese Publikation verkörpert einen Bruch mit Fiskes vorangegangenen Werken (1999a, 1989a, 1989b), denn es stellt textuelle Eigenschaften bewusst in den Hintergrund. Fiske betrachtet zwar auch die Kompetenzen der ›Leute‹, sich über Texte an der widerständigen Bedeutungsproduktion zu beteiligen, allerdings stehen ›Macht‹ und Machträume ausdrücklich im Vordergrund. »Power Plays Power Works« (1993a) wirkt daher wie eine Erwiderung auf die Revisionismus-Debatte. Fiske scheint sich – wie bereits angedeutet – mit dem Buch den Vorwürfen der Textlastigkeit und der Überbetonung der Publikamacht entziehen zu wollen. Verstärkt geht er stattdessen auf diskursive Praktiken bzw. die Zirkulation von Bedeutungen ein, indem er die Kämpfe zwischen ‹Machtblock‹ und den ›Leuten‹ diskutiert (vgl. Fiske 1993a). 3.2.2 Wissen als diskursives Instrument Dazu behandelt er im Rahmen von »Power Plays Power Works« unter anderem die Frage, inwieweit über Diskurse verschiedene Formen von Wissen produziert und transportiert werden. Er lehnt sich dabei an Ausführungen Foucaults an (vgl. z.B. Foucault 1983), in denen dieser Wissen,

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Macht und Diskurs in Beziehung setzt. Wissen ist für Fiske nur über Diskurse erfahrbar. Gleichzeitig werde über Wissen Macht ausgeübt. Daher sei es direkt an die diskursiven Kämpfe des ›Machtblocks‹ und der ›Leute‹ gekoppelt. Bei dem Wissen des ›Machtblocks‹ handele es sich um wissenschaftliches, rationales Wissen, mit Hilfe dessen andere Wissensformen ausgeschlossen würden und Realität kontrolliert werden solle (vgl. Fiske 1993a: 81 ff.). Daher bezeichnet es Fiske auch als »instrumentelles, machtvolles Wissen« (Fiske 1993b: 36). Diesem ›offiziellen Wissen‹ stehe das ›populäre‹ Wissen der ›Leute‹ gegenüber, welches beispielsweise das Wissen über Fabelwesen wie den Yeti, umfasse, Astrologie und ähnliches sowie das Wissen, das sich Fans aneignen. Fiske führt dazu Beispiele aus der Fangemeinde Elvis Presleys an, wo auch Legenden zu finden seien, nach denen Elvis noch lebe (Fiske 1993a: 81 ff.). Wissen in zwei Bereiche, offiziell und populär, einzuteilen, ist recht schematisch und wirkt mit der Anbindung an den ›Machtblock‹ einerseits und ›Leute‹ andererseits sehr fixierend. Gerade gegenüber Foucaults Ausführungen zum Wissen, auf den sich Fiske ja bezieht, wirkt sein Begriff des Wissens hier zu starr. So führt Foucault beispielsweise anhand des Dispositivs der Sexualität vor, wie stark Wissen und Macht aneinandergekoppelt sind und vor allem, wie kleinteilig diese Beziehung funktioniert. Gleichzeitig macht er deutlich, wie veränderbar die Konstellationen von Macht und Wissen bzw. wie relational beide Begriffe sind. Wissen bei Foucault wird somit nicht wie bei Fiske in zwei Bereiche klassifiziert, sondern als mäandernder Bestandteil des feingliedrigen Beziehungsgefüges von Macht und Diskursen charakterisiert (vgl. Foucault 1983). Demgegenüber sind Fiskes Klassifizierungen hier zu schematisch auf ›Machtblock‹ und ›Leute‹ zugeschnitten. Die Verstrickung unterschiedlicher Wissensformen und diskursiver Machtpraktiken äußere sich nach Fiske einerseits darin, dass populäre Formen von Wissen gesellschaftlich nicht anerkannt, sondern mit Hinweis auf die Bedeutung des Rationellen und Begriffen wie ›unwissenschaftlich‹ oder ›abergläubisch‹ abgewertet würden. Andererseits diene populäres Wissen in den Diskursen der ›Leute‹ dazu, dass sie sich in ihrem unmittelbaren Alltag gegen offizielle Wissensformen abgrenzten bzw. ihnen entgegenarbeiteten (vgl. Fiske 1993b: 37). Allerdings strebten ›die Leute‹ über populäre Wissensformen nicht danach, andere Wissensformen zu verdrängen. Vielmehr hätten in ihren Diskursen mehrere ›Wahrheiten‹ Gültigkeit. Dass die Frage, welche Form von Wissen in populären Texten dominiert, aufschlussreich sein kann, zeigt sich an den beiden Formaten Quizshow und Soap-Opera, die für diese Arbeit ausgewählt wurden. Während im Rahmen von Quizshows zumeist Wissen abgefragt wird, das Fiske als offizielles, rationelles Wissen bezeichnen würde, zeigt sich typisches Soapwissen in den enormen Kenntnissen der Fans über ihre Serie, bei Fiske als populäres Wissen gefasst. Die Tatsache, dass Quizshows gemeinhin ein besserer Ruf anhängt als Seifenopern, könnte auch damit in Zusammenhang stehen.

Anbindung populärer Fernsehtexte an Diskurse | 139 Körper und Wissen Fiske widmet sich in »Power Plays Power Works« (1993a) also vermehrt diskursiven Formen, mit denen Machtbereiche abgesteckt werden, wie mittels der diskursiven Verbreitung von Wissen. Er orientiert sich in diesem Werk stärker an Foucault, als es in seinen früheren Schriften der Fall ist. Dies zeigt sich auch in seiner Beschäftigung mit diskursiven Körpern. Foucault hat unter anderem in »Überwachen und Strafen« (1994) dezidiert aufgezeigt, welche Rolle Körper in der gesellschaftlichen Ausübung von Macht zukommt.5 In »Power Plays Power Works« zieht Fiske wiederum Elvis als Beispiel heran. Der Körper von Elvis sei immer ein Ort gewesen, an dem ›Machtblock‹ und ›Leute‹ um Bedeutungen gekämpft hätten: Dass Elvis sich zu Lebzeiten den Regeln des ›Machtblocks‹ entzogen habe, zeige sich an der Massenhysterie, die er bei den Fans auslöste (Fiske 1993a: 94 ff.). Gleichzeitig zu der plastischen, tatsächlich vorhandenen Körperlichkeit, steht Elvis auch für die Diskursivität von Körpern. Nach seinem Tod wollten sich verschiedene Seiten, insbesondere seine Fans, über ihre jeweiligen Diskurse seines Körpers bemächtigen. Die Auseinandersetzung darum, wer Elvis für sich beanspruchen durfte, wurde nach Fiske diskursiv geführt über verschiedene Formen des Wissens, »denn die Macht des Wissens ist gleichzeitig die Macht der Kontrolle, und die Fähigkeit, Gewusstes in eine allgemein anerkannte Wahrheit zu verwandeln« (Fiske 1993b: 19). Bezüglich Elvis Presley bedeute dies, dass beispielsweise um die ›wahre‹ Todesursache gestritten wurde oder darum, ob Elvis überhaupt gestorben sei. Interessengruppen wie die Gerichtsmedizin verkörperten dabei das offizielle Wissen des ›Machtblocks‹, während einige Fans auch heute noch verträten, dass Elvis lebt und die Verlautbarung seines Todes manipuliert worden sei. Vor allem populäre Medien stützten jenes populäre Wissen, indem sie immer wieder Meldungen über Zeugen und Zeuginnen verbreiteten, die Elvis lebendig gesehen hätten. Populäre Medien transportierten jedoch nicht nur die »Stimmen« der Fans, sondern auch der »Anti-Fans« sowie des ›Machtblocks‹ (vgl. Fiske 1993b: 20). Sie spielten in der Zirkulation von Bedeutungen und der Belebung der Diskurse um Elvis eine zentrale Rolle. »Power Plays Power Works« (1993a) steht also in der Diskursanalyse Fiskes für die Konzentration auf diskursive Praktiken, über die ›Machtblock‹ und ‹Leute‹ um Bedeutungen kämpfen. Hinsichtlich seiner Methodik zeigen sich dabei weder einzelne Analyseschritte noch eine Art ›Anleitung zur Diskursanalyse‹. Fiske nimmt statt dessen gesellschaftliche Situationen in den Blick und versucht, die diskursiven Machtkämpfe darin zu orten und zu erklären, wobei ihm die Positionen des ›Machtblocks‹ und der ‹Leute‹ als Ausgangspunkte dienen. Obwohl seine Ergebnisse weitgehend überzeugen, wirkt sein Verfahren insgesamt wenig transparent und ist daher nur in den Grundzügen mit Fiskes Grundannahmen zur Arbeit von Diskursen auf andere Gegenstände zu transponie5 | Fiske weist auch direkt auf Foucault hin (vgl. Fiske 1989a: 90)

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ren. Fiskes Verfahren hat sich mit »Media Matters« (1996) noch einmal weiterentwickelt. Es wirkt dort komplexer und schlüssiger als in »Power Plays Power Works« (1993a). 3.2.3 »Media Matters« Zentrale Thematiken, die ihn in »Media Matters« beschäftigen, behandelt Fiske bereits am Ende von »Power Plays Power Works« (1993a): Schon dort führt er die Fälle »Rodney King« und »Anita Hill« auf, um Machtstrategien nachzuweisen, die für Fiske einen neuen Rassismus transportieren (vgl. Fiske 1993a: 257 ff.). Die Zielsetzung der Diskursanalyse in »Media Matters« (1996) wird ersichtlich, wenn sie gegenüber linguistischen Sprachanalysen abgegrenzt wird: »Discourse analysis differs from linguistic analysis in focusing on what statements are made rather than how they are« (Fiske 1996: 3). Diese Abgrenzung leuchtet prinzipiell ein, wobei fraglich ist, ob sich eine Trennung in der klaren Weise realisieren lässt. Im Rahmen von »Media Matters« betrachtet Fiske, welche Aussagen im Zusammenhang mit Medienereignissen gemacht werden. An dieser Stelle ist es hilfreich, sich noch einmal das Bild des Flusses ins Gedächtnis zu rufen, in dem Diskurse fließen und die diskursiven Kämpfe um Bedeutungen als Unterströmungen meist unter der Oberfläche ablaufen. Ein Medienereignis verkörpert für Fiske einen Punkt, an dem solche diskursiven Unterströmungen sichtbar werden. »Media events are sites of maximum visibility and maximum turbulence« (ebd.: 7). An solchen medialen Ereignissen treten unterschiedliche Diskurse mitsamt der diskursiven semiotischen Auseinandersetzungen offen zutage. Medienereignisse dienen Fiske als Angriffsfläche für seine diskursanalytische Arbeit, da er von ihren sichtbaren Ausläufern auf darunter liegende, unsichtbare diskursive Abläufe, Strategien und ähnliches schließen kann. Medienereignisse, deren sich Fiske in »Media Matters« annimmt, sind beispielsweise die öffentlichen, im Fernsehen ausgestrahlten Anhörungen im Fall Anita Hill, das Video, das durch die amerikanischen Medien ging, auf dem zu sehen ist, wie weiße Polizisten den Schwarzen Rodney King zusammenschlagen oder auch die von den US-Medien aufgegriffene Rede des damaligen US-Vizepräsidenten Dan Quayle, in der er sich über den Moralverfall der Nation beklagt und im Zuge dessen auf die Sitcom »Murphy Brown« eingeht. Zentral für Fiskes Herangehensweise ist folgende Annahme: »Events do happen, but ones that are not mediated do not count, or, at least, count only in their immediate locale« (ebd.: 2). Erst über die Medien erlangten Ereignisse übergeordnete Bedeutung, die über das Gewicht im eigenen unmittelbaren Alltag hinausgehe. Der Fall Murphy Brown Der Fall »Murphy Brown, Dan Quayle, and the Family Row of the Year«, den Fiske an erster Stelle in »Media Matters« behandelt, soll hier dazu benutzt werden, sein diskursanalytisches Vorgehen dort beispielhaft zu

Anbindung populärer Fernsehtexte an Diskurse | 141 beleuchten. Insgesamt ist Fiskes erster Schritt, ein Medienereignis zu beobachten und für seine Analyse auszuwählen. Sein Kriterium dafür scheint zu sein, dass mehrere wichtige Medien, wie die »New York Times« oder große US-amerikanische Fernsehsender längere Zeit über einen Vorfall berichten. In diesem Fall handelt es sich um ein mediales Ereignis, das seinen Ausgang in einer Rede des ehemaligen amerikanischen Vizepräsidenten Dan Quayle nahm, als dieser im Mai 1992 eine Rede im ›Commonwealth Club of San Francisco‹ hielt, in der er den Verfall von familiären Werten für die sich kurz zuvor ereignenden Rassenunruhen in L.A. verantwortlich macht. Dabei verwies er zuletzt auf die Sitcom »Murphy Brown«, indem er meinte, dass der Entschluss der Titelfigur, ihr Serienkind allein aufzuziehen, die Unruhen noch verschlimmert hätte (vgl. Fiske 1996: 21 ff.). Die Äußerungen Quayles wurden von verschiedenen Medien aufgegriffen und diskutiert, wobei sich insbesondere eine Diskussion um alleinerziehende Mütter und familiäre Werte entfachte. Im Folgenden sichtet Fiske die unterschiedlichen Reaktionen der Presse und diskutiert sie. Beispielsweise führt er verschiedene Überschriften an, wie die der New York Times, die titelte »Views on Single Motherhood Are Multiple at White House« oder die Daily News, die drastischer formulierte »Quayle to Murphy Brown: You Tramp« (siehe ebd.: 22). Zudem fügt er mit der gekürzten Rede Quayles, ganzen Zeitungsartikeln und einzelnen Fernsehbildern Diskursfragmente ein, die ihm zentral für den Ablauf des Medienereignisses erscheinen (ebd.: 68/69; 26/27). Fiske zeigt nun, wie durch die Ausgangsrede in Interaktion mit unterschiedlichen Medien und nicht zuletzt durch die Reaktion »Murphy Browns« in der Sitcom auf die Vorwürfe Quayles der gesellschaftliche Diskurs um familiäre Werte plötzlich an die mediale Oberfläche trat und dort diskutiert wurde. Es wird deutlich, dass das Medienereignis für die parteilichen Interessengruppen unkontrollierbar war: Für die Republikaner, denen der damalige Vizepräsident Quayle angehört, kam die Tatsache, dass ausgerechnet der Angriff auf eine Sitcom von den Medien in der Weise aufgegriffen wurde, völlig überraschend. Dies zeigt die Bemerkung von George Bush (sen.) zum damaligen kanadischen Premierminister: »I told you what the issue was. You thought I was kidding« (zit. n. Fiske 1996: 22). Daneben verdeutlicht Fiske, dass jener Diskurs auf diese Weise ein bedeutsamer Platz im präsidentiellen Wahlkampf zukam, der zur gleichen Zeit zwischen George Bush und Bill Clinton geführt wurde und – so Fiske – das Ende für Bushs Ära andeutete (vgl. ebd.: 24). Die Sitcom »Murphy Brown« fungierte dabei als diskursiver Knotenpunkt: »The show was a discursive ›relay station‹: it drew in the already circulating discourse of ›family values‹, boosted its strength, directed it slightly leftward, and sent it back into circulation again« (ebd.: 24). Fiske beschreibt hier eine Funktion, die das Fernsehen häufig innerhalb von Mediendiskursen ausübt. Diskurse werden dort thematisiert, verstärkt, abgeändert und schließlich über die Ausstrahlung erneut der Zirkulation kultureller

142 | Teil 2: Fiske und ›populäre Texte‹

Bedeutungen zugeführt. Populäre Texte, wie hier die Sitcom »Murphy Brown«, können folglich zentral sein für die Organisation medialer gesellschaftlicher Diskurse. Das Beispiel dieses Medienereignisses bei Fiske zeigt sehr deutlich, dass so genannte ›fiktionale‹ Diskursbausteine, wie die Sitcom, sogar gewichtiger fungieren können als ›nonfiktionale‹ Elemente, wie die Rede Quayles. Nebenbei benutzt Fiske die Austragung des Diskurses um familiäre Werte über eine Sitcom und VertreterInnen der damaligen US-Politik dazu, zu zeigen, dass Realität und ›Fiktion‹ nicht so scharf zu trennen sind, wie meist angenommen Was ist Fiktion, was ist real, wenn die Sitcomheldin »Murphy Brown« in der Serie einem realen Publikum auf Quayles Rede anwortet, um im Anschluss mit realen, nicht fiktionalen alleinerziehenden Vätern und Müttern samt ihren Kindern zu sprechen, die sich den RezipientInnen der Serie mit ihrem tatsächlichen Namen präsentierten? (Vgl. ebd.: 25) Insgesamt lässt sich Fiskes Vorgehen folgendermaßen charakterisieren: Er sammelt zunächst alle medialen Bausteine des Diskurses um familiäre Werte, die er dem Fall um »Murphy Brown« entnehmen kann. Dazu gehören Fernsehauftritte der Beteiligten und Zeitungsausschnitte. Er analysiert sie nicht in einzelnen Schritten, sondern beschreibt sie der Frage nachgehend, auf welche Weise in ihnen diskursive Strategien wirken. Beispielsweise inwieweit über sie rassistische Momente in den Diskurs eingeschleust werden oder was sie über gesellschaftliche Klassen offenbaren. Fiske stützt sich dabei auf sprachliche Auffälligkeiten (vgl. ebd.: 30) sowie auf die Kameraeinstellungen und inhaltliche Bestandteile, also beispielsweise ob eine weiße oder eine schwarze Frau gezeigt wird, drückt sie sich elaboriert aus, was zeigt die Kamera gegenüber dem Text eines Fernsehausschnitts. Bei Presseartikeln achtet Fiske auf das Layout, die Bilder und wie sie aufbereitet wurden, welche Überschriften wie gesetzt wurden sowie auf den Sprachstil und welche diskursiven Verbindungen sich aus dem Text ergeben. Außerdem beobachtet Fiske, was im Text nicht vorhanden ist. Wurden beispielsweise Bezüge auf die Rassenproblematik in den USA vermieden? Was bedeutet es, wenn zwar von Schwarzen die Rede ist, die weiße Hautfarbe von Diskursbeteiligten jedoch an keiner Stelle erwähnt wird (ebd.: 41 ff.)? Zentral sind für Fiske die diskursiven Zusammenhänge, die sich aus den Diskursfragmenten ergeben. Beispielsweise sieht er Parallelen zwischen der Sitcom-Figur »Murphy Brown«, die für ihn die gegenwärtige Situation der Frau verkörpert, und der Art und Weise, in der die Republikaner im Präsidentenwahlkampf Hillary Clinton für ihre Äußerung kritisierten, sie wolle arbeiten statt zu Hause ›Kekse zu backen‹ (ebd.: 29). Die Kritik an »Murphy Brown« und an Hillary Clinton stellen somit nur einzelne Momente dar, in denen sich eine allgemeine Haltung gegen ›die moderne Frau‹ offenbart. Auf diese Weise legt Fiske Strategien im Diskurs bzw. im Medienereignis offen und findet nicht nur sexistische, sondern auch rassistische Taktiken (vgl. ebd.: 39) sowie die Klassenproblematik, die in den Diskurs um ›familiäre Werte‹ eingebunden ist (siehe ebd.:

Anbindung populärer Fernsehtexte an Diskurse | 143 29 ff.). Indem er, wie hier gezeigt, den Fall »Murphy Brown« in Beziehung zum US-amerikanischen Wahlkampf setzt und den Versuch der Demokraten und der Republikaner transparent macht, einzelne Diskursbausteine wie die Antwort »Murphy Browns« auf Quayles Anschuldigungen für sich zu instrumentalisieren (vgl. ebd.: 25), führt er immer wieder die Einbindung des Diskurses in den sozialen Kontext vor. Hierzu kommt er auch auf die Produktionsbedingungen von »Murphy Brown« zu sprechen (ebd.: 34). Darüber hinaus zeigt er an konkreten Beispielen, wie Bedeutungen im Verlauf eines Diskurses wechseln können, beispielsweise, wenn in der Debatte um familiäre Werte die Bedeutung davon, dass »Murphy Brown« einen Ehemann ablehnt, von Diskursteilnehmern wie Quayle in eine Haltung gegen Männer allgemein umgemünzt wird (vgl. ebd.: 29). Es geht Fiske insgesamt darum, zu zeigen, wie Diskurse organisiert sind, wie sie verlaufen können und wie durch Interessengruppen versucht wird, Diskurse zu kontrollieren. Diskurse als Austragungsort von gesellschaftlichen Machtkämpfen um Bedeutungen stehen für Fiske also klar im Vordergrund seiner Diskursanalyse. Fiskes Vorgehen erscheint bei der Lektüre überzeugend. Wie oben bereits anklang, fällt jedoch negativ auf, dass er seine Analyse zu wenig transparent gestaltet. Dieser Eindruck wird vor allem dadurch hervorgerufen, dass Fiske nicht in einzelnen Schritten vorgeht, sondern seine Eindrücke als Ganzes präsentiert. Er gliedert seine Analysen nur thematisch, also beispielsweise in »Racial-Sexual Articulations« (Fiske 1996: 79). Daher wurde oben versucht, die einzelnen Bestandteile seiner Arbeit in »Media Matters« auseinander zu dividieren. Letztlich versucht Fiske in »Media Matters«, seine bisherigen Ansätze zusammenzubringen, wobei auffällig ist, dass er von seiner allzu starren Einteilung der Interessengruppen in ›Machtblock‹ und ›Leute‹ abrückt. Insgesamt einen Fiskes Diskursanalysen sein Blick auf Ideologie und gesellschaftliche Machtverteilung. Allen gemein ist auch, dass Fiske nicht beschreibt, wie er im Einzelnen vorgeht. An einigen Stellen, vor allem, wenn es um ›Machtblock‹ und ›Leute‹ geht, wirken seine Ausführungen darüber hinaus etwas schematisch und entsprechen nicht der Flexibilität und Veränderbarkeit gesellschaftlicher Konstellationen. Sein Blick auf Diskurse ist daher etwas starr und erst in »Media Matters« kommt zum Ausdruck, wie geschmeidig Diskurse und Macht ineinandergreifen. Gleichwohl verdeutlicht Fiskes Blick besonders gut, welche Rolle populäre Texte innerhalb von Diskurse spielen können. 3.2.4 Populäre Texte aus diskursanalytischer Sicht Schlägt man den Bogen von Fiskes Diskursanalysen hin zu der Bewertung von populären Texten allgemein, so sollte ersichtlich geworden sein, dass diese in der Organisation von Mediendiskursen häufig wichtige Rollen spielen, wie das Beispiel der Sitcom »Murphy Brown« beweist. Populäre Texte sind fest in gesellschaftliche Machtverhältnisse eingebun-

144 | Teil 2: Fiske und ›populäre Texte‹

den. Die Art und Weise, wie und von wem sie thematisiert werden, einer Diskursanalyse zu unterziehen, kann verdeckte diskursive Strategien und diskursive Streitpunkte zum Vorschein bringen. Insbesondere die Betrachtung populärer Texte in den Medien – also ‹sekundäre Texte‹ (vgl. Fiske 1999a: 117 ff.), worunter natürlich auch Fernsehkritiken fallen – erscheinen Fiskes Ausführungen gemäß aufschlussreich bezüglich gesellschaftlicher Diskurse. Darüber hinaus können populäre Texte die Dynamik eines Diskurses mitbestimmen, wie in dem Fall, als »Murphy Brown« auf die Angriffe Quayles antwortete, noch dazu zu einem Zeitpunkt, der für den Wahlkampf kritisch war (Fiske 1996: 25). Hier zeigte sich, dass populäre Texte häufig zentraler für einen gesellschaftlichen Diskursverlauf sein können als so genannte nicht fiktionale Diskursfragmente, wie es eben jene Rede war. Die Trennung von fiktional und nicht fiktional muss darüber hinaus unter einem diskursanalytischen Blickpunkt überdacht und neu bewertet werden. Diskurse ›kennen‹ diese Trennung nicht, sie wirken in fiktionalen und nichtfiktionalen Texten. Von diesem Standpunkt aus ist die gängige Abwertung populärer, fiktionaler Texte nicht aufrechtzuerhalten, da ihre Bedeutung für die diskursive Aushandlung von gesellschaftlichen Bedeutungen ebenso wichtig ist, wie es ›nicht-fiktionale‹ Texte sind. Aus dem Dargestellten ergibt sich zwangsläufig die Frage, auf welche Weise Fiskes Ausführungen zur Diskursanalyse für diese Arbeit genutzt werden können. Feststeht, dass einerseits Fiskes genaue textanalytische Vorgehensweise verwendet werden soll und sich das Verfahren hier andererseits daran orientiert, wie Fiske den sozialen Kontext in seine Analysen einbezieht. Zusammenfassend sollte deutlich geworden sein, dass ein diskursanalytisches Vorgehen äußerst aufschlussreich sein kann, was kulturelle Bedeutungen betrifft. Es eignet sich daher auch sehr gut dazu, um der Bewertung von populären Texten in der Fernsehkritik auf den Grund zu gehen. Außerdem sollte klar geworden sein, dass ein diskursanalytisches Herangehen von der klassischen Betrachtung populärer Texte abweicht und auf diese Weise neue Facetten von Unterhaltung zum Vorschein bringen könnte.

3.3 Was charakterisiert Fiskes Blick auf Populäres? Der vorangegangene Theorieteil hat unterschiedliche Schwerpunkte in Fiskes Blick auf populäre Texte enthüllt, die zentral sind für die Bewertung von Populärem im Diskurs der Cultural Studies. An erster Stelle ist hier die Relevanz populärer Texte im Alltagsleben zu nennen. Die Offenheit ihrer Textstrukturen macht sie zu geeigneten Gebrauchsgegenständen, die von den Rezipierenden leicht angeeignet und mit eigenen Bedeutungen versehen werden können. Aspekte wie ›Intertextualität‹ oder ›Exzess‹ liefern vielfältige Möglichkeiten, wie Texte in die Alltagswelt integriert werden können und führen dazu, dass populäre Texte Schnittpunkte

Anbindung populärer Fernsehtexte an Diskurse | 145 von Diskursen bilden, die auch gegenläufig in ihren Bedeutungen sein können. Die Bedeutungskonstruktion ist also ein zentrales Moment in der Betrachtung von populären Texten. Dies zeigte auch die Kategorie ‹Vergnügen‹, die ebenfalls als Kriterium dient. Vor allem das widerständige Vergnügen bedingte eine Aufwertung von Publika und Populärem, da hiermit gezeigt wurde, wie Rezipierende populäre Texte in ihre Lebenswelt integrieren, um sich eigene semiotische Freiräume von hegemonialen Positionen zu kreieren. Kreativität und Flexibilität wurde von den Rezipientinnen und Rezipienten dabei offenbart. Dass die semiotische Macht der Publika ihre Grenzen hat, ist aus der Revisionismusdebatte hervorgegangen. Dennoch sind die Strategien und Taktiken der Publika auf mikropolitischer Ebene aufgrund ihrer großen Bedeutung im Alltag hervorzuheben. Sie sind zentral in der Bewertung von Populärem. Schließlich war es die Einbettung in diskursive, gesellschaftliche Machtkämpfe, die Fiske in seinen Überlegungen zu populären Texten immer wieder in den Vordergrund gerückt hat. Seine ›Codes of television‹ und die Ausführungen zum Realismus zeigten, auf welche Weise Texte Werte und Bedeutungen transportieren und damit ideologische Inhalte etabliert werden sollen. Populäre Texte sind also bedeutsame Mittel im Kampf um Bedeutungen, Wissen und Macht, was sich besonders deutlich im Rahmen von Diskursen und Medienereignissen abzeichnet, wie Fiske in »Media Matters« (1996) verdeutlicht. Er führt dort vor Augen, wie populäre Texte gesellschaftlich relevante Themen in Diskurse einschleusen können, diese gleichzeitig aufgreifen und in veränderter Form wieder in den diskursiven Kreislauf einspeisen. Insbesondere Charaktere in populären Fernsehtexten erwiesen sich als Knotenpunkte, an denen sich Diskurse bündeln. Fiskes Bewertung von populären Texten konzentriert sich gezielt auf ihre Eigenheiten und ihre Rolle im gesellschaftlichen Kampf um Bedeutungen. Seine Maßstäbe wichen also von ästhetischen Positionen oder anderen traditionellen Herangehensweisen ab und suchten nach neuen Wegen, um der Besonderheit von Populärem gerecht zu werden. Die Folgen für eine Bewertung wurden oben bereits mehrfach erwähnt: Texte und ihre Publika erfahren über den neuen Blick der Cultural Studies eine Aufwertung. Die Funktion der Texte im Alltag der ›Leute‹ wird betont und deren Eigenständigkeit hervorgehoben. Was könnte diese Blickrichtung für die Bewertung von einer Soap wie »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« und einer Quizshow wie »Wer wird Millionär?« bedeuten? Welche Aspekte müssten zur Sprache kommen? Nach den oben herausgearbeiteten Kriterien müsste natürlich die Zugänglichkeit beider Texte, also ihre Offenheit für die ZuschauerInnen diskutiert werden. Welche Aspekte könnten den RezipientInnen die Aneignung besonders leicht machen? Welche Lesarten wären denkbar? Die Alltagsthemen der Soap-Handlung eröffnen sicherlich im Rahmen von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« für die Rezipierenden einen leichten Zugang. Die Thematisierung von Beziehungsproblemen und anderer

146 | Teil 2: Fiske und ›populäre Texte‹

menschlicher Eigenheiten ermöglicht es, Bezüge zur Lebenswelt herzustellen und auf diese Weise die Inhalte der Serie anzueignen. Hier werden Alltagswelten thematisiert, deren Muster sich direkt an den Lebenswelten der RezipientInnen orientieren. Viele der Serienprobleme können auf die eigene Beziehung, den eigenen Ärger im Beruf oder ähnliches transponiert werden, wodurch eigene Lesarten und Deutungsweisungen der Handlungsstränge und der Charaktere zustande kommen. Bezüglich »Wer wird Millionär?« könnte man die offene Textgestaltung mittels eingeblendeter Frage und möglichen Antworten nennen, die sich nicht nur an den Kandidaten oder die Kandidatin richten, sondern gleichzeitig die ZuschauerInnen anspricht und sie sofort dazubringt, das eigene Wissen zu prüfen. Je nach Lebenswelt und diskursiver Einbindung der ZuschauerInnen differieren die Lesarten hier. Man könnte das Quiz beispielsweise als Test des eigenen Allgemeinwissens nutzen. Die ZuschauerInnen könnten gegen die QuizkandidatInnen ›antreten‹ und sich ausrechnen, wie viel Geld sie einstreichen würden oder ob es ihnen gelänge, die Verwirrspielchen Günther Jauchs zu durchschauen oder man ihm auf den Leim ginge und so fort. Es lassen sich etliche offene Textstellen bei Quizshow und Soap finden, an denen sich semiotische Freiräume eröffnen. Dass Soap Operas subversive Bedeutungen ermöglichen, haben verschiedene, bereits erwähnte Arbeiten gezeigt (z.B. Ang 1985). Ebenso bieten Quiz-Shows Anreize zur widerständigen Bedeutungsproduktion (vgl. Fiske 1999a). Die Integration beider Texte in die eigenen Lebenswelt scheint also verhältnismäßig einfach zu sein und den Rezipienten und Rezipientinnen etliche Lesarten und Nutzungsmöglichkeiten zu bieten. Zu denken sind hier auch an intertextuelle Aspekte, wie das Spiel zur Quizshow, die Internetseite von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«, das »GZSZ«-Magazin oder auch die Omnipräsenz von Günther Jauch im deutschen Fernsehen, der unter anderem für die SKL-Klassenlotterie, die Champions League, Skispringen und den Jahresrückblick steht und nebenbei noch Werbung macht. Außerdem sind beide Texte interessant, was die ideologischen Bedeutungen betrifft. Denkbar ist zu fragen, ob die Quizsendung bildungsbürgerliche Ideen transportiert oder inwieweit sie kapitalistische Vorstellungen nahe legt. Bezüglich der Soap Opera könnte man vermuten, dass familiäre Werte vermittelt werden und fragen, welche Geschlechtervorstellungen bei »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« transportiert werden. Welche Diskurse beide Texte enthalten und in welche Diskurse sie eingebettet sind, stellt ebenfalls unter Fiskes Blickwinkel eine wichtige Frage dar. Beide Sendungen vereinen vielfältige Diskurse, zu denen unter anderem Geschlechterdiskurse gerechnet werden können. Die Charaktere von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« und der Moderator von »Wer wird Millionär?« wären hierzu nach Fiske von besonderem Interesse. Diese kurzen Überlegungen dazu, wie »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« und »Wer wird Millionär?« nach dem Diskurs der Cultural Studies

Anbindung populärer Fernsehtexte an Diskurse | 147 betrachtet und bewertet werden könnten, zeigen, welche Fülle an Blickpunkten sich dabei ergeben. Ob die beiden populären Texte im Diskurs der Fernsehkritik ähnlich detailliert betrachtet werden und welche Kriterien man dabei angelegt, wird der nächste Teil dieser Arbeit zeigen. Dort steht die empirische, diskursanalytische Auswertung von Fernsehkritiken zu »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« und »Wer wird Millionär?« im Zentrum.

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Teil 3 »Wer wird Millionär?« und »GZSZ« im Diskurs der Fernsehkritik

Inhaltliche Rahmung | 151

1. Inhaltliche Rahmung: Fernsehkritik, Soaps und Quizshows

Im vorangegangenen Theorieteil wurden Momente von Populärem herausgearbeitet, die im Diskurs der Cultural Studies bedeutsam sind. Für die Bewertung von kulturellen Angeboten sind in der Gesellschaft Kritiker und Kritikerinnen zuständig. Fernsehtexte werden regelmäßig in TVZeitschriften, in der Boulevardpresse oder auf den Medienseiten von Süddeutscher Zeitung, Frankfurter Allgemeiner Zeitung, um nur einige Beispiele zu nennen, diskutiert und bewertet. Medienkritik findet also in unterschiedlichen Foren statt, wobei hier die bürgerlich verhaftete Kritik von SZ und FAZ im Mittelpunkt steht. Dort wird der »Tatort« vom letzten Sonntag besprochen, es finden sich Hinweise auf Sendungen, die besonders empfehlenswert seien oder von denen abgeraten wird. Neue Genres finden ebenso Eingang in diesen Ausschnitt der Medienkritik wie Entwicklungen im Rundfunkbereich allgemein, beispielsweise Informationen zu Senderfamilien, Besitzverhältnissen, die Wahl des Intendanten und ähnliches. Der auf bürgerlichen Traditionen fußenden Kritik wird allgemein eine große Kompetenz zugesprochen, was die kulturellen Angebote betrifft. Sie soll RezipientInnen Orientierung in der Bandbreite der Angebote ermöglichen. Letztlich berät die Fernsehkritik die Rezipierenden und verhandelt dabei auch, was ›gute Unterhaltung‹ und was ›schlechte Unterhaltung‹ sei. Ausgangspunkt dieser Arbeit war es, zu fragen, ob populäre Angebote tatsächlich in dem Maße aufgewertet wurden, wie Maase es vertritt. Maase zeichnet in »Grenzenloses Vergnügen« (1997) die Entwicklung von Massenkultur oder auch populären Vergnügungen im zwanzigsten Jahrhundert nach. Die Entwicklung klassifiziert er als ›Aufstieg‹ der Massenkultur, den er zwischen Demokratisierung, Kommerzialisierung und Mediatisierung verortet. Mit diesem Prozess einher hätten bürgerliche Kulturmaßstäbe an Bedeutung verloren. Massenkultur wird bei Maase zum verbindenden, klassenübergreifenden Netz, das er als Ausdruck von Demokratisierung und Überwindung gesellschaftlicher Hierarchien wertet. Abgeschlossen worden sei der Aufstieg der Massenkultur in den sech-

152 | Teil 3: »Wer wird Millionär?« und »GZSZ« im Diskurs der Fernsehkritik

ziger, siebziger Jahren, wo sie zu allgemeiner sozialer Anerkennung gelangt sei. Die Leitposition, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts die bürgerliche Kultur beanspruchte, nehme nun, so Maase, die Massenkultur ein. Geht man von Maases Argumentation aus, so müsste sich auch die Bewertung von populären Vergnügen in traditionell am bürgerlichen Publikum orientierten Zeitungen wie der Süddeutschen Zeitung und der FAZ zum Positiven hin verschoben und die Abwertung gegenüber traditionell ›hochkulturellen‹ Angeboten vermindert haben (vgl. Maase 1997). Die Bewertung von Populärem ist explizite Aufgabe der Fernsehkritik. Die Art und Weise, wie dort populäre Texte betrachtet werden, welche Aspekte hervorgehoben, welche vernachlässigt werden, und an welche Argumente sich eine positive oder eine negative Bewertung knüpfen, verspricht einen Einblick in die aktuelle Bewertung von Populärem. Die Untersuchung dürfte Aufschluss darüber geben, ob die Fernsehkritik aus SZ und FAZ ähnliche Maßstäbe für Populäres bereithält wie der Diskurs der Cultural Studies. Und letztlich dürfte deutlich werden, inwieweit Maases These zuzustimmen ist. Der empirische Teil dieser Arbeit, in denen jenen Fragen nachgegangen wird, soll zuvor noch inhaltlich gerahmt werden: Zunächst wird die Fernsehkritik samt ihrer Entwicklung vorgestellt, um anschließend einen Eindruck der Genres Soap Opera und Quizshow zu geben. Im Anschluss daran werden jeweils die beiden Beispiele »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« und »Wer wird Millionär?« (beide RTL) skizziert, um die es in den zu analysierenden Fernsehkritiken geht.

1.1 Zur Fernsehkritik »Fernsehkritik ist heute die wichtigste Sparte der Kulturkritik«, leitet Hickethier (vgl. 1994: 9) seine »Geschichte der Fernsehkritik« ein.1 Hickethier befasst sich darin mit der Traditionslinie der Fernsehkritik, die sich an ein bürgerliches Publikum wendet, wozu auch die Kritiken der Süddeutschen Zeitung wie auch der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu zählen sind. Er beschreibt das Dilemma der Fernsehkritik wie folgt: Sie beschäftigt sich zwar mit einem der wichtigsten Medien unserer Zeit und millionenfach rezipierten Inhalten, doch sei ihr Renommee im Gegensatz zur Literatur-, Theater-, Film- und Kunstkritik gering (ebd.). Gleichzeitig mit einer allgemeinen Abwertung des Fernsehens gegenüber traditionellen Künsten steht offenbar auch die Fernsehkritik unter einem stetigen Rechtfertigungsdruck. 1 | Hickethiers Publikation ist die einzige, die die Entwicklung der Fernsehkritik genauer nachzeichnet. Daher wurde sie hier vorwiegend benutzt. Allerdings ist Hickethiers Darstellung sehr auf die Kritik der bürgerlich orientierten Feuilletons ausgerichtet. Interessant wäre zu untersuchen, wie Kritiken aus anderen Bereichen, wie beispielsweise der Boulevardpresse oder auch aus Fernsehzeitschriften, in diese Traditionslinie passen oder wo sie von ihr abweichen.

Inhaltliche Rahmung | 153 Die Wurzeln der Fernsehkritik reichen weit zurück. Kulturkritik hat sich gemeinsam mit der bürgerlichen Öffentlichkeit herausgebildet (ebd.: 21) und war zunächst Laienkonversation (ebd.: 23). Voraussetzung für die damalige Kunstkritik war unter anderem, dass sich der »Geschmack« zu einer eigenständigen Kategorie entwickelte (ebd.). Im Zuge der Verbreitung von Zeitungsfeuilletons im neunzehnten Jahrhundert, die mit der Ausdehnung der Tagespresse einherging, entstand der »schreibende Kritiker« als Beruf. Kulturkritik wurde damit professionalisiert (ebd.).2 Bereits damals war die Beziehung zum Publikum gespalten: einerseits verfolgte die Kulturkritik ihm gegenüber pädagogische Ziele, andererseits agierte sie im Auftrag der Rezipienten und Rezipientinnen (ebd.). Zu Anfang stand der ästhetische Diskurs um die Herausarbeitung allgemeiner, idealer Kriterien der Kunst im Vordergrund (ebd.).3 Die Kulturkritik erhob somit von Anfang an einen normativen Anspruch mit der Bewertung von kulturellen Texten und beanspruchte die Rolle als kulturelle, normgebende Instanz gegenüber einem zu belehrenden Publikum. Neben diesen frühen Wurzeln der Fernsehkritik sind natürlich auch die Hörfunkkritik und die Filmkritik aufzuführen, die ihren Anfang zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hatten. Die erste Filmkritik wurde 1909 verzeichnet. Die filmkritischen Diskussionen, an denen Siegfried Kracauer maßgeblich beteiligt war, hatten ganz im Sinne der Kunstkritik das Ziel, zu allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des neuen Mediums Film zu gelangen. Nach Hickethier sahen sie sich als »Vorstufe der Filmtheorie« (ebd.: 31). Zwischen der Radio- und der Fernsehkritik war der Übergang fließend, wofür nicht nur personelle Momente sprechen – etliche Vertreter und Vertreterinnen der Hörfunkkritik verfassten später auch Fernsehkritiken. Vielmehr wurde das Medium Fernsehen insgesamt als Erweiterung des Hörfunks um eine Bilddimension begriffen. Sowohl für die 2 | Mit dem Begriff ›Feuilleton‹ wird neben der Ressortbezeichnung ein besonders lebhafter, anschaulicher Schreibstil assoziiert (Reumann 2002: 150). Feuilletons gehen auf die moralischen Wochenschriften des 18. Jahrhunderts zurück, die vor allem in Kaffeehäusern und literarischen Salons in Europa verbreitet waren – sowohl die Wochenschriften als auch ihre Verbreitungsorte stellen »›Schlüsselphänomene‹ der Aufklärung« dar (Basting 1999: 48/49). Angestammte Aufgabe der Feuilletons ist es nach Seibt, dem Publikum kulturelle Avantgarden zu vermitteln und kulturelle Öffentlichkeit herzustellen (Seibt 1998). In den letzten Jahrzehnten sind neben der Kulturkritik vor allem gesellschaftspolitische Reflexionen Teil der Feuilletons geworden (ebd.). Vgl. zur Feuilletonforschung: Todorow 2000. 3 | Den ästhetischen Diskurs an dieser Stelle aufzuarbeiten, würde zu weit führen, Philosophen wie Kant und Hegel oder auch Kritiker wie Lessing deuten an, wie umfassend der Diskurs geführt wurde und wie unterschiedlich seine Ausprägungen waren. Es sei an dieser Stelle lediglich bemerkt, dass die Ästhetik im 18. Jahrhundert zur eigenständigen philosophischen Disziplin wurde, wofür das Werk von A.G. Baumgarten steht (Hickethier 1994: 21).

154 | Teil 3: »Wer wird Millionär?« und »GZSZ« im Diskurs der Fernsehkritik

Entwicklung der Radio- als auch für die Fernsehkritik stellte die Zeit des Nationalsozialismus einen Bruch dar. In der Weimarer Republik hatte sich die Radiokritik nur kurz ausbilden können. Die Fernsehkritik kam erst 1935 auf. Für beide Bereiche war die nationalsozialistische Skepsis gegenüber jedweder Kunstkritik von Nachteil. 1936 verbot das Reichspropagandaministerium die Kunstkritik vollständig, um statt dessen eine ›Kunstbetrachtung‹ zu propagieren. Bei Kriegsbeginn wurden die Möglichkeiten zu publizieren noch weiter eingeschränkt (vgl. ebd.: 35/36). Die Fernsehkritik musste damit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ›einen neuen Anlauf nehmen‹ – genau wie das Fernsehen selbst.4 Seit dem 25. Dezember 1952 strahlte der NWDR ein regelmäßiges Fernsehprogramm aus und im Laufe der fünfziger Jahre etablierte sich die Fernsehkritik als »Sparte« in den Tageszeitungen (ebd.: 67). Die Süddeutsche Zeitung publizierte ab 1955 kontinuierlich Fernsehkritiken, wobei zunächst vor allem so genannte Sammelkritiken veröffentlicht wurden, die einen Wochenrückblick auf das gesamte Programm enthielten (ebd.: 69). In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung konnte man erst ab 1960 Fernsehkritiken im Feuilleton finden (ebd: 75). Neben den Tages- und Wochenzeitungen, die nach und nach Fernsehkritiken aufnahmen, entwickelten sich ab 1949 die Medienfachdienste, wobei der erste, Kirche und Rundfunk, die Namen der Kritiker und Kritikerinnen nicht nannte (ebd.: 48).5 In den Anfangsjahren der bundesrepublikanischen Fernsehkritik wurde das Spezifische des Mediums Fernsehen häufig ignoriert. Statt dessen galten Theater und Film lange Zeit als Richtschnur der Kritik, was zur Minderbewertung des Fernsehens führte. Kontinuierlichkeit sowie der Patchwork-Charakter des Fernsehprogramms galten nicht als gleichwertig gegenüber der Dominanz des Einzelwerkes in Theater und Film. Häufig war daher vom »Niedergang des Programms« die Rede (ebd.: 69). Erst seit den sechziger Jahren kann man von einer endgültigen Etablie4 | Ab 1952 existierte ein regelmäßiges Fernsehprogramm in der Bundesrepublik, das der NWDR ausstrahlte. Zuvor gab es von 1948 bis 1950 eine Vorbereitungsphase und man sendete zwischen 1950 und 1952 Versuchssendungen aus (vgl. Hallenberger 1994: 34). Auch in der DDR gab es ab 1952 ein Versuchsprogramm, bevor der Deutsche Fernsehfunk (DFF) 1956 seinen Betrieb aufnahm (Wilke 2002: 224). In den sechziger Jahren wurde das Fernsehen zum Massenmedium, obwohl noch keine Vollversorgung gegeben war. Aber es gab längere Sendezeiten, man hatte zwei Programme, erst später kam ein drittes dazu (vgl. Hallenberger 1994). 5 | Neben epd Kirche und Rundfunk sind noch Funk-Korrespondenz, Medium und Weiterbildung und Medien zu nennen (vgl. Leder 1988: 23). Außerdem werden Fernsehtexte in Programmzeitschriften bewertet, um den ZuschauerInnen die Möglichkeit zu geben, ›auf den ersten Blick‹ die besten Angebote des Tages zu erkennen. Häufig wird dabei mit graphischen Elementen gearbeitet. Die Urteile in Programmzeitschriften fallen allerdings sehr oberflächlich und kurz aus.

Inhaltliche Rahmung | 155 rung der Fernsehkritik sprechen, die sich gleichzeitig mit einer Etablierung des Fernsehens in deutschen Haushalten vollzog. Die Fernsehkritik wurde dennoch auch zu dieser Zeit stark abgewertet, da die Intellektuellen dem Fernsehen gegenüber misstrauisch eingestellt waren. Wie so oft hatte diese Minderbewertung den Nebeneffekt, dass sich Räume für die Arbeit von Frauen auftaten, die auf diese Weise in der Fernsehkritik aktiv werden konnten (vgl. ebd.: 79). Es verwundert nicht, dass im Rahmen der ablehnende Stimmung gegenüber dem Fernsehen seine Kritiker und Kritikerinnen die »Dialektik der Aufklärung« wiederentdeckten und Horkheimer und Adornos Missbilligung der Kulturindustrie aufgriffen (ebd.: 155). Die neue Generation von Fernsehkritikern und -kritikerinnen operierte mit einem aufgewerteten Verständnis von Kritik und bildete eine neue kritische Haltung gegenüber dem Fernsehen heraus (vgl. ebd.: 157). 1969 gründete die Süddeutsche Zeitung eine eigene Redaktion »Hörfunk und Fernsehen«. Damit erkannte die Zeitung einerseits die Beiträge der Fernsehkritik an und trug andererseits der großen kritischen Diskussionsbereitschaft in der Fernsehkritik Rechnung. Dass die Fernsehkritik unmittelbar an die jeweils aktuellen Diskurse geknüpft ist, zeigen die Politisierung in den sechziger Jahren und schließlich die Entpolitisierung und der Rückzug ins Subjektive Ende der Siebziger. Hier wurde eine »erklärte Abwehr von der politischen, konflikt- und themenorientierten Ausrichtung und einer Hinwendung zu subjektbezogenen und erlebnisorientierten Ansätzen« dominant (ebd.: 165). Die Fernsehkritik dieser Zeit wies keine programmatische Ausrichtung auf, was Hickethier auch darauf zurückführt, dass man in dem Fernsehen zu dieser Zeit ein stagnierendes Medium sah, im Gegensatz zu den Jahren zuvor, in denen es über die zunehmende Verbreitung und vor allem nach dem »Adenauer-Fall« auch für Progressivität und Staatsferne stand (vgl. ebd.).6 Demgegenüber waren die achtziger Jahre für die Fernsehkritik in anderer Hinsicht bedeutsam, da sie in diesem Jahrzehnt sehr stark in Frage gestellt wurde. Hickethier geht davon aus, dass sich die Kritikpunkte, die hier geäußert wurden, bereits seit den sechziger Jahren durch die Diskussionen um Fernsehkritik ziehen und sich wiederholen (ebd.: 14). Dennoch war das Ausmaß der Kritik in den achtziger Jahren wesentlich 6 | Mit dem »Adenauer-Fall« ist der Versuch des damaligen Bundeskanzlers gemeint, ein zweites Fernsehprogramm über eine privatwirtschaftlich organisierte »Deutschland-Fernsehen GmbH« einzuführen, von der der Bund 51 Prozent Anteile gegenüber 49 Prozent Länderanteil halten sollte. Die SPD-regierten Länder reichten daraufhin Klage beim Bundesverfassungsgericht ein, woraufhin der Plan der Bundesregierung gestoppt wurde und die Kulturhoheit der Länder Bestätigung fand. Der Fall ist als ›Erstes Fernsehurteil‹ in die Fernsehgeschichte eingegangen. Nichtsdestotrotz ging aus diesem Fall letztlich das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) hervor, allerdings ohne staatliche Beteiligung. Vgl. Mathes/Donsbach 2002: 556 ff.

156 | Teil 3: »Wer wird Millionär?« und »GZSZ« im Diskurs der Fernsehkritik

umfassender. Auslöser waren wohl vor allem die Umbrüche des Mediensystems Mitte der achtziger Jahre mit der Einführung des dualen Rundfunks. Beiträge wie der Sammelband der »Bundeszentrale für politische Bildung« zur »Medienkritik im Blickpunkt« offenbaren eine Orientierungslosigkeit der Medienkritiker und -kritikerinnen (vgl. beispielsweise Leder 1988; Hiegemann 1988 und Kübler 1988). Offenbar meinte man, dass die Fernsehkritik angesichts der Programmgestaltung anhand ökonomischer Momente jegliche Einflussnahme durch Kritik verloren habe. Auch Hickethier sieht für die Diskussion der achtziger Jahre ein Ohnmachtsgefühl der Kritik gegenüber den neuen kommerziellen Bedingungen des privaten Fernsehens, die er als »Umorientierung des Fernsehens von einer Kulturagentur zum Marktgeschehen« begreift (Hickethier 1994: 18). Vorwürfe wie die von Conrad, der die »prinzipielle Unangemessenheit« der Fernsehkritik gegenüber dem Medium monierte, zeigen, wie grundsätzlich die Debatte geführt wurde (vgl. Conrad 1986: 190).7 Hieran spiegelt sich wider, wie tiefgreifend die Einführung des dualen Rundfunks in der Diskussion und von der Kritik selbst empfunden wurde. Als positiver Ertrag aus diesen Diskussionen ging eine neue Strömung der Fernsehkritik hervor, deren Anfänge Hickethier bei den Vertretern und Vertreterinnen der Süddeutschen Zeitung verortet. Ab der zweiten Hälfte des Jahrzehnts sieht er dort einen investigativen Journalismus »in bescheidenem Rahmen« (Hickethier 1994: 178), der ökonomische Zusammenhänge wie die fortschreitende Konzentration im Medienbereich untersucht. Hierüber profilierte sich der Medienteil der Süddeutschen und gilt nach Hickethier mittlerweile als führend in der Bundesrepublik (ebd.). Dieser Aufwärtstrend traf allerdings nicht auf sämtliche Redaktionen zu. Innerhalb der Frankfurter Allgemeinen Zeitung dominierten interne Querelen und blockierten eine konstruktive Weiterentwicklung. Erst über einen Generationswechsel verbesserte die Fernsehkritik der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ihr Renommee (ebd.: 186). Die Entwicklung der Fernsehkritik ist also von mehreren Aspekten gekennzeichnet: eine immer wiederkehrende Skepsis ihr gegenüber seitens des Kulturbetriebs, das Hinterfragen der eigenen Wirksamkeit, die Einbindung in den historischen Kontext sowie eine stetige Steigerung des eigenen Selbstbewusstseins. Daneben will dieser Teil der Fernsehkritik seit ihren Anfängen und wie auch ihre Vorläufer immer normativ sein gegenüber Publikum und Rundfunkverantwortlichen, woraus sich eine Distanz zum Publikum ergibt. Teilweise zeigt sich in der Position der Kritik eine abwertende Haltung gegenüber dem Publikum. Dies wird beispielsweise bei Leder deutlich, der eine Annäherung an den Publikumsgeschmack in der Kritik mit fehlenden Kenntnissen und einer mangelnden Ausbildung der Kritik begründet (vgl. Leder 1988: 25). 7 | Einen Einblick in die Debatte bietet auch die Publikation von Frank und Hillrichs (1986).

Inhaltliche Rahmung | 157 »Die größte Gefahr der Medienkritik – sagen die Medienkritiker – besteht darin, dass jeder Journalist glaubt, sie verfassen zu können. Es scheint, dass jeder, der nur über ein empfangstaugliches Gerät verfügt, beispielsweise Fernsehkritiken schreiben darf. Kein Wunder, dass statt Kenntnis Begeisterungsfähigkeit, statt Skepsis Leidenschaft, statt Analyse Anähnelung an den Massengeschmack betrieben wird« (Leder 1988: 25). ›Kritisch‹ heißt nach Leder, die genannten Gegenstände zu beschreiben, sie in ihren historischen Kontext einzuordnen und sie nach »explizierbaren Kriterien« zu beurteilen (Leder 1988: 18). Zu den Kriterien der Fernsehkritik liefert die Untersuchung zur Bewertung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« und »Wer wird Millionär?« detaillierte Einblicke.

1.2 Soaps und Quizsendungen in Deutschland Seifenopern und Quizsendungen sind feste Bestandteile der deutschen Fernsehunterhaltung. Während Quizshows mit Quizmastern wie Peter Frankenfeld und Hans Joachim Kulenkampff bereits in den fünfziger Jahre Fernsehgeschichte schrieben, blicken Soaps in Deutschland auf eine jüngere Vergangenheit zurück: Erst 1992 wurde mit »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« (RTL) eine täglich ausgestrahlte deutsche Seifenoper produziert. Soaps und Quizshows verkörpern beide spezifische Fernsehformate, die allgemein als ›Genres‹ bezeichnet werden. Der Begriff Genre ist umstritten und wurde an unterschiedlicher Stelle diskutiert (vgl. dazu Neale 2000a; 2000b). Oben kam er bereits in Zusammenhang mit Fiskes Überlegungen zur Offenheit von populären Texten zur Sprache.8 Allgemein bezeichnen Genres verschiedene Typen von Texten, die aufgrund von immer wiederkehrenden Merkmalen inhaltlicher oder formaler Art zu unterschiedlichen Genres klassifiziert werden. Fiske verstand Genres zudem als kulturelle Praxen, die Ausdruck verschiedener Diskurse seien (siehe Fiske 1999a). Die Einteilung in Genres ist häufig mit Wertungen verbunden (vgl. Neale 2000a), was sich beispielsweise zeigt, wenn Nachrichtensendungen höher bewertet werden als Soap Operas oder Dokumentarfilme einen besseren Ruf genießen als fiktionale Spielfilme.9 Das Fernsehen ist ein ausgeprägtes Genremedium, wie ebenfalls oben in Bezug auf Fiske schon deutlich wurde. Programmschemata können danach differenziert werden, ob gerade Serien- oder Talkshowzeit ist, eine Entwicklung, die sich im deutschen Fernsehen vor allem seit der Einführung des dualen Rundfunks verstärkt hat. Genres sind jedoch nicht 8 | Vgl. den Abschnitt zu ›Genre‹ als Form der horizontalen Intertextualität in dieser Arbeit. 9 | Es sei an die Umfrage im Rahmen des Seminars zu ›Unterhaltung‹ erinnert, die zu Beginn dieser Arbeit vorgestellt wurde. Dort bewerteten die Befragten unterschiedliche Genres nach einem gesellschaftlichen Wertekanon, obwohl diese Hierarchie ihren eigenen Vorlieben entgegenlief. Vgl. die Einleitung dieser Arbeit.

158 | Teil 3: »Wer wird Millionär?« und »GZSZ« im Diskurs der Fernsehkritik

fix zu bestimmen und auf eindeutige Kriterien festzulegen. Vielmehr gibt es etliche Überschneidungen, wie beispielsweise zwischen ›Quizsendung‹ und ›Game Show‹, was im Weiteren noch ausgeführt wird. Texte können darüber hinaus mehreren Genres zugerechnet werden: Ist ein spannender Film, der in der Zukunft spielt, eher ein Science-Fiction-Film oder ein Psychothriller? Auch sind die Bezeichnungen generell nicht einheitlich. Eine Sendung wie »Ally McBeal« (Vox) wird in derselben Programmzeitschrift gleichzeitig als »Serie« und »Comedy« deklariert. Quizsendungen werden auch als Wissensquiz, Fernsehquiz oder Ratespiele bezeichnet und Seifenopern laufen ebenfalls unter dem allgemeinen Stichwort ›Serien‹ (siehe dazu auch Neale 2000b). Genres sind trotz ihrer Uneindeutigkeit für Publika und Programmverantwortliche bedeutsam. Ist eine Sendeform erfolgreich, werden mehr von ihr produziert. Genres werden dazu strategisch im Wettbewerb mit anderen Sendeformaten platziert (vgl. Turner 2000: 5) oder auch um eine bestimmte Zielgruppe zu einer spezifischen Zeit vor den Fernseher zu locken. Eine Seifenoper wie »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«, die sich nach Angaben des Senders an 14- bis 49-Jährige wendet, wird von RTL um 19.40 Uhr ausgestrahlt, um jene breitgefächerte Gruppe von Zuschauern und Zuschauerinnen in die Primetime zu lotsen. Eine relativ junge – und damit kaufkräftige – Zielgruppe trägt zu höheren Werbeeinnahmen der Sender bei, da die Werbeindustrie in einem solchen Umfeld besonders gerne wirbt. In welchem Genreumfeld ihre Werbespots platziert werden, wenn unterschiedliche Genres mit verschiedenen Sendeplätzen spezifische Gruppen von Rezipierenden binden, spielt natürlich auch für den Werbeinhalt eine Rolle: Bierwerbung wird man häufiger in Zusammenhang mit Sportsendungen als mit Dokumentarfilmen über Papua Neuguinea finden, um nur ein Beispiel zu nennen. Genres machen damit die Zuschauer und Zuschauerinnen vermeintlich berechenbarer und spielen eine erhebliche Rolle für die Werbeeinnahmen der einzelnen Sender. Vor allem für private Sender, die sich hauptsächlich über die Werbeeinnahmen finanzieren, werden Genres damit zu wichtigen strategischen Mitteln in ihrer Finanzpolitik. Genres spielen daneben für die Rezipierenden eine wichtige Rolle. Sie verfügen über ein großes Genrewissen, sind vertraut mit Charakteren und ihren Lebensläufen, wenn es um Serien geht (vgl. Geraghty 1991: 14 ff.) und gehen mit bestimmten Erwartungen an einen Text heran, der als das eine oder andere Genre ausgezeichnet ist. Sie verbinden mit unterschiedlichen Genres auch unterschiedliche Formen von Vergnügen, wie unter anderem mit Soap Operas ein Vergnügen am emotionalen Realismus oder ein Vergnügen an Genremerkmalen wie das offene Ende einer Folge (vgl. z.B. Geraghty 1991: 18 ff.; Turner 2000: 5).10

10 | Auf ostdeutsche Genres bzw. Programmgeschichte kann leider nicht eingegangen werden.

Inhaltliche Rahmung | 159 1.2.1 Quiz Shows – ›Dinosaurier‹ der deutschen Fernsehunterhaltung Die Wurzeln der deutschen Quizsendungen liegen in den USA. Dort liefen bereits in den zwanziger Jahren die ersten Quizshows im Radio. Das Konzept war einfach: man fragte das Wissen von KandidatInnen ab.11 Erst ab 1940 wurde dieses Format stärker mit spielerischen Elementen angereichert, und es wurden Shows entwickelt, in denen ein spezielles Wissensgebiet im Zentrum stand oder die Kandidaten und Teilnehmerinnen nicht die Antwort, sondern die Frage erraten mussten.12 1950 waren Quizsendungen ein fester Bestandteil des amerikanischen Radioprogramms (Hallenberger 1994: 33). Das einfache Konzept und der Erfolg beim Publikum führten dazu, dass das Format beim Start des US-Fernsehens sofort übernommen wurde und sich das Quiz zu einem wichtigen Bestandteil des Programms entwickelte. Der Erfolg setzte sich gleichzeitig mit dem Aufstieg des Fernsehens bei den amerikanischen Zuschauern und Zuschauerinnen fort. Typische Merkmale von Quizshows im Fernsehen waren und sind der Moderator oder die Moderatorin, häufig das Aushängeschild einer Show, nicht prominente KandidatInnen, das Saalpublikum sowie die gleichbleibende Kulisse (vgl. Hallenberger 1990: 121). Beendet wurde der Erfolg der Quizsendungen in den USA mit einem der größten Skandale der Mediengeschichte.13 Es stellte sich heraus, dass KandidatInnen vor der Show mit den Antworten auf die Quizfragen ausgestattet worden waren. Teilweise waren sie sogar instruiert worden, welche mimischen oder gestischen Mittel sie verwenden sollten. Dieser Skandal schädigte den Ruf des Genres nachhaltig. Eine Konsequenz daraus war, dass der Name ›Quiz‹ im US-Fernsehen durch den Begriff ›Game Show‹ ersetzt wurde14 (vgl. Hallenberger 1992: 500/501). 11 | Hallenberger findet in diesem Sendeformat drei zentrale Bausteine wieder: das Preisrätsel, da jede und jeder etwas gewinnen kann, Talentwettbewerbe, aufgrund der Beteiligung von Amateuren und Amateurinnen, die in die Öffentlichkeit träten und das schulische Abfragen, dessen Bezug sich durch das Konzept erklärt – ›Quiz‹ bedeutet im Amerikanischen darüber hinaus auch ›Prüfung‹, ›Klassenarbeit‹ oder ›Ausfragen‹ (vgl. Hallenberger 1992: 499). 12 | Hallenberger sieht in der Show »Take it or leave it«, die 1940 auf Sendung ging, den Ursprung für spielerischere Quizsendungen, in die Aktionselemente integriert wurden. Bei »Take it or leave it« hatten die Teilnehmenden die Möglichkeit, mit jeder richtigen Antwort ihr Preisgeld zu verdoppeln. Im Anschluss konnten sie entscheiden, ob sie weiterspielten oder das Geld mit nach Hause nahmen. Wussten sie die nächste Antwort nicht, war der Gewinn weg (vgl. Hallenberger 1992: 499). Das Konzept fand im deutschen Fernsehen mit dem Quiz »Alles oder nichts« Anwendung, das bis 1988 ausgestrahlt wurde (Hallenberger 1994: 41). 13 | Vgl. ausführlicher zum amerikanischen Quizskandal: Hallenberger 1994: 42 ff. 14 | Die Bezeichnung ›Game Show‹ wurde hierzulande erst in den achtziger Jahren eingeführt und vorwiegend von den privaten Sendern benutzt, um ihre

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Die deutsche Quizgeschichte wurde von einem solchen Skandal bisher verschont.15 Dies war einer der Gründe dafür, dass sich das Format in Deutschland und den USA unterschiedlich entwickelte.Gleichwohl lieferten die US-Quizsendungen in den fünfziger Jahren die Vorlage für die ersten deutschen Fernsehquizshows. Während in den USA nun von Game Shows die Rede war und man stärker spielerische Formate entwickelte, setzte man im deutschen Fernsehen auf die traditionelle Form des Wissensquiz. Die ersten Quizshows im deutschen Fernsehen wurde außerdem sehr stark durch den Anspruch bestimmt, das Publikum zu bilden – die Programmverantwortlichen des frühen deutschen Fernsehens verfolgten bewusst erzieherische Ziele, denen sie das Unterhaltungsbedürfnis der Rezipierenden unterordneten (Hallenberger 1994: 37; 1992: 501).16 Deutsche Quizshows wurden somit von Anfang an fest mit Bildung assoziiert und hierüber positiv wahrgenommen, wohingegen man Unterhaltung abwertete (Hallenberger 1994: 45). Erst in den sechziger Jahren, auch aufgrund der neu entstandenen, ersten Senderkonkurrenzen durch das ZDF, das ab 1963 sendete (vgl. ebd.: 46), wurden vermehrt spielerische Elemente in die Konzepte integriert und der Bildungsimpetus trat zurück. Es wurden neue Abwandlungen des Quizformates entwickelt, die neben den alten auf Sendung gingen. Beispielsweise fand man vermehrt Shows, in denen Hobbys der KandidatInnen im Mittelpunkt standen, statt der klassischen humanistischen Wissensgebiete. Hierfür stehen auch Sendungen wie »Spiel ohne Grenzen«, eine internationale Wettkampfshow, die 1965 in der ARD startete, oder die Sendung »Dalli Dalli«, die in den siebziger Jahren im ZDF mit Hans Rosenthal ausgestrahlt wurde (Hallenberger 1992: 502). In den siebziger Jahren setzte sich der Trend spielerischer Konzepte fort. Statt dem Bildungsquiz wurde nun vermehrt das »Begriffsspiel« ausgestrahlt, in dem man in einer bestimmten Zeit Begriffe erraten musste, wie beispielsweise auch in der bereits genannten Show »Dalli-Dalli« (Hallenberger 1994: 53). Quizhöhepunkt dieses Jahrzehnts war Wolfgang Menges fiktives »Millionenspiel«. 1970 strahlte die ARD die fiktive AbShows gegen ähnliche öffentlich-rechtliche Formate abzugrenzen (Hallenberger 1992: 503). Auch heute noch wird der Begriff Quizshow im deutschen Fernsehen eher für Formate benutzt, die sich an dem klassischen Konzept, Wissen abzufragen, anlehnen. Als Game Shows werden dagegen Sendungen bezeichnet, wenn sie ausschließlich oder zusätzlich zur Wissensprüfung Aktionselemente verwenden. Hallenberger spricht übergreifend vom »Wettbewerbsspiel« (ebd.: 498).Vgl. zu der Diskussion um die Begriffe Game Show und Quiz: ebd.: 503. 15 | Allerdings gab es auch bereits 1953 kleinerer Vorfälle. So waren bei der Fernsehquizsendung »Er oder sie« KandidatInnen vorausgewählt worden, woraufhin der NWDR bei Bekanntwerden dem Moderator kündigte (Hallenberger 1994: 36). 16 | Vgl. dazu auch Angs (1991) Überlegungen zum ›public-service‹-Diskurs, der für das öffentlich-rechtliche Fernsehen prägend war.

Inhaltliche Rahmung | 161 schlusssendung einer Game Show aus, in der der Kandidat von Killern verfolgt um sein Leben bangen musste – etliche ZuschauerInnen hielten die Folge für Realität. Die Reaktionen des Publikums reichten allerdings von Ablehnung bis hin zu Begeisterung und Anfragen, wo man sich denn für die Show bewerben könne.17 Die achtziger Jahre waren in mehrfacher Hinsicht für die Quizshow bedeutsam. 1981 startete das Showformat »Wetten dass...?«, das sich im Laufe des Jahrzehnts zur erfolgreichsten ZDF-Show mauserte. Bis heute gilt diese Mischung aus Spielsendung und Abendshow als »Aushängeschild der ZDF-Unterhaltung« (ebd.: 55). In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre wurden außerdem neue Genreformen konzipiert. Beispielsweise entwickelte man Quizparodien, was Hallenberger als »Spiel mit Spielen« bezeichnet (ebd.: 57). Hierzu zählt unter anderem die Sendung »4gegen Willi« (ebd.: 56), in der Mike Krüger die KandidatInnen mit unvorhersehbaren Situationen konfrontierte – der Wettbewerb in der Show geriet zur Nebensache.18 Gegen Ende des Jahrzehnts setzte eine »Flut« von Quiz- und Game Shows ein (ebd.: 59). Quizsendungen kam hier eine wichtige Bedeutung im Senderwettbewerb von ARD, ZDF und den Dritten Programmen zu. Ende der achtziger Jahre avancierten die Privaten, die seit 1984 auf Sendung waren, zu einer ernsthaften Konkurrenz für die Öffentlich-Rechtlichen. RTL plus (später ›RTL‹) sendete dazu viele selbstproduzierte Quizsendungen, wie z.B. das Reisequiz »Ein Tag wie kein anderer« (ebd.: 60) und versuchte sich ab 1988 probeweise an täglichen Game Shows (ebd.: 60).19 Für die achtziger Jahre sieht Hallenberger mit Einführung des dualen Rundfunksystems eine »Re-Amerikanisierung« des Formates (siehe Hallenberger 1992: 504 ff.). Er meinte damit, dass die Sendungen im Gegensatz zu den Anfängen der Quizshows kürzer waren, häufiger ausgestrahlt wurden und Werbeblöcke enthielten. Diese Entwicklung hat bis heute angehalten.

17 | Hallenberger sieht in Menges »Millionenspiel« eine Tendenz, sich kritisch mit der Fernsehwirklichkeit auseinander zu setzen, die Ende der sechziger Jahre begonnen habe (Hallenberger 1994: 52). 18 | »4gegen Willi« war eine Samstagabendshow, die die ARD zwischen 1986 und 1989 ausstrahlte. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist ebenfalls die Show »Alles Nichts Oder?«, die RTLplus ab 1988 sendete. Hauptziel dieser Show schien es zu sein, die Moderatorin und den Moderator, d.h. Hella von Sinnen und Hugo Egon Balder, am Schluss mit Torten bewerfen zu können (vgl. Hallenberger 1994: 58). 19 | Die Sender RTL plus und Sat.1 kombinierten teilweise auch Werbung und Quizsendung, indem sie tägliche Gewinnspiele veranstalteten sowie Gewinnspiele als Teil der Werbung (z.B. ›Ariel-Kartenlotto‹) konzipierten und Shows wie »Der Preis ist heiß« (RTL plus) und »Glücksrad« (Sat.1) sendeten, in denen die KandidatInnen den Preis von Produkten erraten mussten bzw. Werbegeschenke als Preise erhielten (Hallenberger 1994: 60).

162 | Teil 3: »Wer wird Millionär?« und »GZSZ« im Diskurs der Fernsehkritik

Quizboom im deutschen Fernsehen Ende der neunziger Jahre/Anfang 2000 erlebte das deutsche Fernsehen mit dem riesigen Erfolg von »Wer wird Millionär?« (RTL) die Renaissance der traditionellen Quizshow. Spielerische Konzepte traten in den Hintergrund. Der Erfolg des RTL-Quiz löste eine ganze Reihe an Nachahmungen in anderen Sendern aus, was auch von der Presse reflektiert wurde (siehe z.B. Hoff 2000; Niggemeier 2000). Sat.1 entwickelte beispielsweise die Show »Chance Deines Lebens«, von Kai Pflaume moderiert (Start war Frühjahr 2000), die genau wie »Wer wird Millionär?« von Endemol produziert wird. Außerdem startete bei Sat.1 die »Quiz Show«, bei RTL ging Hans Meiser mit dem »Quiz 21« auf Sendung, wo auch Sonja Zietlow mit »Der Schwächste fliegt« zu sehen war, um nur einige Beispiele zu nennen. Auch die Öffentlich-Rechtlichen versuchten sich dem privaten Quizboom anzuschließen, wozu die ARD – unter anderem – den Moderator Jörg Pilawa von Sat.1 abwarb, wo er »Die Quiz Show« moderiert hatte. Statt dessen startete im Juli 2001 in der ARD »Das Quiz mit Jörg Pilawa«. Daneben fällt auf, dass das ZDF am 31. Januar 2002 das traditionsreiche Quiz »Der große Preis« wieder aufnahm, das achtzehn Jahre lang, von 1970 bis 1992, mit dem Moderator Wim Thoelke ausgestrahlt wurde.20 Neben etlichen neuen Quizreihen wurden zwischen 1999 und 2002 auch mehrere Einzelshows gesendet, vor allem bei RTL. Quotenbringer Günther Jauch moderierte beispielsweise »Den großen IQ-Test«, bei dem gefragt wurde, »Wie klug ist Deutschland?«. Auch gab es einzelne Ausgaben von »Wer wird Millionär?« mit Prominenten (vgl. Fried 2001). Die Flut an Quizshows wurde begleitet durch eine immense Erhöhung der Preisgelder. Zekri veranschaulicht die bescheidenen Anfänge im deutschen Fernsehen, als der Hauptgewinn in Heinz Maegerleins »Hätten Sie’s gewusst« noch ein Röhrenradio war (siehe Zekri 2001: 11). Mittlerweile sind Millionengewinne keine Seltenheit mehr. Seit Januar 2002 kann man in der RTL-Show »Wer wird Millionär?« sogar eine Million Euro statt wie bisher eine Million DM gewinnen. Charakteristisch für die heutige Quizlandschaft und für die Fernsehproduktion allgemein sind, dass die Formate als Markenprodukt verkauft werden, deren Erscheinungsbild häufig mit dem Kauf erworben wird und eingehalten werden muss. Selbstentwickelte Produktionen der Sender finden sich kaum noch. Hallenberger meint dazu: »Heute ist dagegen aus dem Lizenzexport ein Markenartikelexport geworden: Zwischenhändler wie etwa Talbot Television Ltd. verkaufen nicht nur Spielideen, sondern auch ein bestimmtes Erscheinungsbild und kontrollieren den Produktionsstandard, so dass etwa eine Reihe wie ›The Price is Right‹ weltweit als nationale Variante des amerikanischen Originals erkennbar ist – 20 | Umgekehrt begann Kabel 1 im Oktober 2000 damit, den ARD-Klassiker »Was bin ich?« wieder auszustrahlen, eine Show, die von 1955 bis 1989 in der ARD gesendet wurde.

Inhaltliche Rahmung | 163 egal ob die Sendung nun ›Der Preis ist heiß‹, ›El Precio Justo‹, ›Le Juste Prix‹ oder ›OK Il Prezzo E Giusto‹ heißt« (Hallenberger 1992: 504). Quizshows sind lukrative Produkte auf dem internationalen Fernsehmarkt. Ein wesentliches Argument für Quizendungen sind ihre verhältnismäßig geringen Produktionskosten. Die Shows werden meist im Block aufgezeichnet. Z.B. kostet eine Viertelstunde »Quiz Show« auf Sat.1 lediglich 100 000 DM. Außerdem sind die Sender gegen die Gewinnsummen versichert (Zekri 2001: 15). Gleichzeitig zu dem Boom von meist verhältnismäßig kostengünstigen Produktionen wie Reality-Formaten und Quizshows konnte man einen Rückgang von fiktionalen Eigenproduktionen beobachten, die den Sendern häufig Budgets in Millionenhöhe abverlangen (ebd.: 16). Hier ist sogar vom Ende des Geschichtenerzählens die Rede (ebd.). Mit ihrer langen Genretradition haben die Quizsendungen das deutsche Fernsehprogramm nachhaltig geprägt. Frühe Fernsehstars wie Peter Frankenfeld oder Hans Joachim Kulenkampff sind als Quizmaster berühmt geworden und gingen mit ihren Shows in die Fernsehgeschichte ein (siehe auch Hallenberger 1994: 38). Ebenso steht eine Sendung wie »Wer bin ich?« mit Robert Lemke für das frühe deutsche Fernsehprogramm. 1.2.2 »Wer wird Millionär?« (RTL) Auch heute erlebt Günther Jauch mit einem Quiz, der Sendung »Wer wird Millionär?«, den Höhepunkt seiner bisherigen Karriere. RTL knüpfte 1999 mit »Wer wird Millionär?« an die langjährige Tradition der Quizsendungen im deutschen Fernsehen an.21 Als die Produktionsfirma Endemol22 RTL die Lizenz zu »Wer wird Millionär?« verkaufte, war die Show in Großbritannien bereits ein ›Renner‹. Seit 1998 konnten die britischen Zuschauer und Zuschauerinnen dort mitfiebern, wenn ein Kandidat oder eine Kandidatin um viel Geld spielte. Fünfzehn Fragen sind dazu richtig zu beantworten. »Who wants to be a millionaire?«, im Original von der britischen Firma Celador produziert, wurde mehrfach ausgezeichnet und gewann unter anderem 1998 die Silberne Rose von Montreux (vgl. Keil 1999). Mittlerweile läuft die Show auch in den USA, 21 | Bei RTL wird neben »Wer wird Millionär?« auch die Soap »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« ausgestrahlt. Der Sender ist nach eigenen Angaben 2003 zum zehnten Mal Marktführer bei den 14- bis 49-Jährigen, es handelt sich um den erfolgreichsten Privatsender des deutschen Fernsehens. Vgl. die RTL-Pressemitteilung vom 1.1.2003: www.rtl-presse.de/12811.html. Abrufdatum: 5.4.2003. RTL startete 1984 als RTLplus (vgl. zur Rundfunkgeschichte Bleicher 1993). Der Sender ist Teil der RTL Group, an der der Bertelsmann-Konzern die meisten Anteile hält. 22 | Der vollständige Name lautet: Endemol Entertainment Holding GmbH. Die Sendung wird in Köln-Hürth hergestellt.

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Südafrika, Russland, in »fast ganz Europa«, überall gleichermaßen erfolgreich. Zekri (2001) spricht von einem Export des Konzeptes in fast achtzig Länder. Auch in Deutschland wurde »Wer wird Millionär?« ein Hit. Die britische Vorlage wurde dazu exakt kopiert, man baute das Studio nach und übernahm die Dekoration sowie Licht, Ton und Kameraführung. Die Show kennzeichnet eine moderne Kulisse, in der sich Moderator und Kandidat bzw. Kandidatin auf zwei erhöhten Stühlen gegenübersitzen. Wiederkehrende musikalische Elemente untermalen den Ablauf der Show und unterstützen beispielsweise die Spannungssituation, in der sich die KandidatInnen befinden, oder markieren die Antwort auf eine Frage. Ähnlich wird das Licht bei der Show eingesetzt, wobei Spotlights sich auf Jauch und sein Gegenüber konzentrieren. Rasante Kamerafahrten bringen neben Musik- und Lichteffekten Dynamik in die ansonsten starre Konstellation.23 Seit dem 3. September 1999 läuft die Quizsendung mit Günther Jauch bei RTL und löste wie bereits erwähnt mit Quoten, die zu Spitzenzeiten bei über 16 Millionen ZuschauerInnen lagen,24 eine Flut an Quizsendungen im deutschen Fernsehen aus. Noch über ein Jahr nach Beginn der Ausstrahlung, Anfang Mai 2001, lag die durchschnittliche Sehbeteiligung der sechsten Staffel bei 10,36 Millionen Zuschauenden. Dies entsprach durchschnittlich einem Marktanteil von 33,2 Prozent bei dem Publikum insgesamt und lag bei 37,3 Prozent Marktanteil in der werberelevanten Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen.25 »Wer wird Millionär?« verfügte damit auch einige Zeit nach Beginn der ersten Folge und mit einer relativ hohen Sendefrequenz, drei Mal pro Woche, noch immer über außergewöhnliche Quoten. In der Folgezeit gingen die Einschaltquoten leicht zurück, blieben jedoch immer noch spektakulär hoch, wenn im Frühjahr 2002 durchschnittlich 9,58 Millionen ZuschauerInnen einschalteten26, und es Anfang 2003 9,29 Millionen Rezipienten und Rezipientinnen waren.27 Die Show stellt aus diesem Grund ein äußert attraktives 23 | Für den Fall, dass jemand die Millionenfrage richtig beantwortet, steht in jeder Show ein Pyrotechniker bereit, der das Finale mit Knalleffekten und einem Funkenregen gestaltet. 24 | Nach Angabe der Pressemappe des Senders (RTL 2000). 25 | Die Angaben entstammen der RTL Medienforschung, die sich auf GfK-Daten bezieht. 26 | Der Durchschnitt lag bei den 14- bis 49-Jährigen bei 3,89 Millionen, mit einem Marktanteil von 29,9 Prozent. Es lagen Zahlen vom 11.1.2002 bis zum 25.3.2002 vor (RTL-Medienforschung). 27 | Die Angaben beziehen sich auf den Zeitraum vom 10.1.03 bis zum 15.3.03. Laut Auskunft der RTL-Medienforschung, die sich auf GfK-Daten stützt. Danach waren die durchschnittlichen Einschaltquoten in der Gruppe der 14- bis 49jährigen im gleichen Zeitraum wesentlich geringer, sie lagen bei 3,73 Mio RezipientInnen, was jedoch immer noch einem hohen Marktanteil in der Altersgruppe entsprechen dürfte.

Inhaltliche Rahmung | 165 Format für die Werbeindustrie dar, von der finanziellen Bedeutung für RTL aufgrund der Werbegelder und Einnahmen aus den Telefonbewerbungen der ZuschauerInnen ganz zu schweigen. Zur Zeit wird »Wer wird Millionär?« an drei Abenden, montags, freitags und samstags von Viertel nach Acht bis 21.15 Uhr ausgestrahlt. Auffällig ist, dass hier kein besonders verspieltes, actionreiches Konzept im Mittelpunkt steht, sondern ein klassisches Quizformat das Publikum begeistert. Bis auf die futuristisch gestaltete Kulisse und die schnellen Kamerafahrten hätte das Format auch in den fünfziger Jahren ausgestrahlt werden können. 2000 wurde »Wer wird Millionär?« mit dem Deutschen Fernsehpreis in der Kategorie Unterhaltung ausgezeichnet. Für die Zuschauerinnen und Zuschauer der Sendung bietet RTL im Internet die Möglichkeit, parallel zur Sendung mitzuspielen, die Fragen der Kandidatinnen bzw. Kandidaten daheim am Rechner zu beantworten und Preise zu gewinnen.28 Außerdem kann man in einem ›Trainingslager‹ mit Quizfragen sein Wissen prüfen. Die Fans der Quizsendung sollen hiermit noch stärker in das Konzept einbezogen werden und haben auf der anderen Seite die Möglichkeit, die Sendung spielerisch in ihr Alltagsleben zu integrieren.29 Die Spielregeln Im Studio sind neben dem Saalpublikum und dem Moderator Günther Jauch zehn KandidatInnen anwesend, die in der Sendung zunächst die Möglichkeit haben, sich für das eigentliche Spiel mit Günther Jauch zu qualifizieren. Dazu müssen sie eine Frage beantworten, in der sie beispielsweise vier Hauptstädte nach ihrer Größe ordnen müssen. Wer die Aufgabe am schnellsten korrekt löst, darf gegenüber dem Moderator Jauch Platz nehmen und um eine Million Euro spielen. Der Kandidat oder die Kandidatin müssen fünfzehn Fragen richtig beantworten, um zu der Million zu gelangen, wobei sie bei jeder Frage von vier Antwortmöglichkeiten (A, B, C oder D) eine auswählen müssen. Bei jeder richtigen Antwort verdoppelt sich der Gewinn. Bevor sie antworten, können sie entscheiden, ob sie stattdessen aufhören und das bis dahin erspielte Geld mit nach Hause nehmen. Antworten sie falsch, ist das Spiel ebenfalls beendet und die KandidatInnen verlieren ihren Gewinn, außer sie haben bereits eine der beiden Gewinnstufen überschritten, die nach der fünften Frage bei 1 000 Euro bzw. nach der richtigen Antwort auf Frage zehn bei 32 000 Euro liegen. Dieses Geld ist ihnen sicher und kann nicht durch eine falsche Antwort verspielt werden. Während der Spielrunde haben die KandidatInnen drei Joker zur Verfügung, die sie einsetzen können, wenn sie Schwierigkeiten haben, eine Frage zu beantworten. Vorab haben sie mehrere Bekannte als ›Telefonjoker‹ benannt, von denen sie einen anru28 | Siehe www.rtl.de/quiz/werwirdmillionaer.html. Abrufdatum 5.4.2003. 29 | Dies ist unter anderem auch mit einem Gesellschaftsspiel oder mit einem Spiel möglich, das man sich auf das Handy laden kann.

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fen und in 30 Sekunden nach der Antwort fragen können. Daneben steht es ihnen frei, mit dem ›Publikumsjoker‹ das Saalpublikum zu befragen. Im Anschluss wird dem Kandidat oder der Kandidatin eine Statistik präsentiert, aus der hervorgeht, wie viel Prozent sich für die jeweiligen Antworten entschieden hätten. Als drittes gibt es einen ›50:50-Joker‹, bei dem zwei falsche Antwortmöglichkeiten ausgeblendet werden und sich die Teilnehmerin oder der Teilnehmer nur noch zwischen zwei möglichen Antworten entscheiden kann. Das Konzept der Show ist also verhältnismäßig einfach strukturiert und funktioniert nach dem Prinzip, wer viel weiß, gewinnt auch viel. Die Sendung wird daneben auch von dem Moderator Günther Jauch geprägt. Über Mimik und im Gespräch seinem Gegenüber gestaltet er die Sendung maßgeblich mit. Günther Jauch Günther Jauch ist die zentrale Figur bei »Wer wird Millionär?«.30 Dem deutschen Fernsehpublikum ist Jauch zu Beginn der Ausstrahlung bereits durch Sendungen wie »stern TV« (RTL) und über seine frühere Tätigkeit beim »Aktuellen Sportstudio« im ZDF bekannt gewesen.31 Der Erfolg mit »Wer wird Millionär?« ist für Jauch der Höhepunkt einer klassischen Journalistenlaufbahn. Angefangen bei der Münchner Journalistenschule und neben einigen Semestern Politik und Neuere Geschichte arbeitete er in den siebziger Jahren als Sportjournalist bei RIAS Berlin Sportfunk und später beim Bayrischen Rundfunk. Gemeinsam mit Thomas Gottschalk moderierte er ab Juli 1985 die »B3-Radioshow«. Später wechselte Jauch zum Fernsehen und arbeitete ab 1987 auch für das ZDF. Neben ersten Erfolgen mit der Show »Na siehste« (von 1987-1989) leitete er ab 1988 das »Aktuelle Sportstudio«. Im ZDF moderierte er außerdem bis 1996 die Show »Menschen« und arbeitete erneut mit Gottschalk bei der »Großen Show der achtziger Jahre« zusammen. Seit 1989 arbeitet Jauch auch beim Privatsender RTL und moderierte ab 1990 die Sendung »stern TV«, wobei er 1992-1994 auch Chefredakteur war. Letzteres bescherte Jauch Negativschlagzeilen, als die Redaktion gefälschte Beiträge sendete. Auf Jauchs Karriere wirkte sich dies jedoch nicht nachteilig aus. Ab 1994 moderierte er für RTL die Fußball-Champions League und seit 2000 ist er auch bei den Skispringen-Übertragungen zu sehen. Von 1998 an moderierte er seine erste Quizsendung für RTL mit »Millionär gesucht – Die SKL Show«. Bei RTL moderiert er außerdem regelmäßig Sendungen zum Jahresrückblick. Seit dem Erfolg mit »Wer wird Millionär?« schwimmt Jauch auf einer Welle des Erfolgs. In Umfragen wird er regelmäßig zum beliebtesten 30 | Die Angaben zu seiner Laufbahn sind der Pressemappe von RTL entnommen (RTL 2000). 31 | Hier ergibt sich eine Parallele zu Wim Thoelke, dem langjährigen Moderator des ZDF-Quizes »Der große Preis« (1974-1993). Auch Thoelke war vorher bekannt und moderierte in den sechziger Jahren das »Aktuelle Sportstudio«.

Inhaltliche Rahmung | 167 Entertainer des deutschen Fernsehens gewählt, und man bescheinigt ihm darüber hinaus, besonders intelligent und attraktiv zu sein (vgl. Reents 2001; Keil 2000). Nachdem er mit »Wer wird Millionär?« so erfolgreich war, moderierte er neben Prominentenspecials der Quizsendung unter anderem auch »Den großen IQ-Test«, in dem ZuschauerInnen und KandidatInnen in einer langen Reihe von Aufgaben ihren IQ ermitteln konnten. Jauch wurde nicht nur vom Publikum gefeiert, sondern erhielt auch von ›offizieller‹ Seite Anerkennung. Für seine journalistische Arbeit wurden ihm im Laufe der Zeit etliche renommierte Preise verliehen, wie die ›Goldene Kamera‹, der ›Bayerische Fernsehpreis‹, der ›Tele-Star‹, der ›Goldene Löwe‹ sowie der ›Deutsche Fernsehpreis‹. Als Jauch 1999 »Wer wird Millionär?« übernahm, wurde er also bereits von einem großen Publikum sowie von der Kritik als Moderator und Journalist geschätzt. Mit »Wer wird Millionär?« wurde Jauch zu einem der erfolgreichsten Entertainer im deutschen Fernsehen. Für das Format wurde er mit dem Bayerischen Fernsehpreis 2001 ausgezeichnet. Man verlieh Jauch außerdem 2002 den Grimme-Preis für »Verdienste um die Entwicklung des Fernsehens«.32 Es verwundert daher nicht, dass der Moderator im gleichen Jahr das Cover des »Jahrbuch Fernsehens 2001« zierte, das jährlich vom Adolf Grimme Institut herausgegeben wird. 1.2.3 Daily Soap Operas – ein Neuling im deutschen Fernsehen »In deutschen Serien wird in aller Regel eine Wirklichkeit geschaffen, die unsere Wirklichkeit zwar nicht abbildet, von der aber alle glauben, dass unsere Wirklichkeit so sei« (Huby 1995). Im Gegensatz zu den USA, dem Geburtsland der Soap Operas, mussten die deutschen Fernsehzuschauer und -zuschauerinnen sehr lange darauf warten, in den Genuss dieser Serienform zu kommen. Während in den USA bereits in den zwanziger Jahren erste Radio-Soaps zu hören waren und man mit »A Woman to Remember« das Genre Seifenoper schon 1947 ins Fernsehen übertrug (vgl. Rössler 1988: 12), lief die erste deutsche tägliche Seifenoper erst 1992 mit der Ausstrahlung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« bei RTL an. Doch, welche Merkmale machen aus einer Serie eine Seifenoper? Eine Serie stellt zunächst im Gegensatz zur so genannten ›Reihe‹ »eine narrative Programmform« dar, »die eine offene, zukunftsorientierte Geschichte erzählt, die prinzipiell auf Unendlichkeit angelegt ist« (Mikos 1994: 137). Reihen bestehen demgegenüber aus einzelnen abgeschlossenen Folgen.33 Soaps heben sich von der allgemeinen Seriendefinition

32 | Siehe: www.kabel1.de/filmlexikon/eguide/fernsehpreise/grimme/2002/02; Abrufdatum: 4.4.2002. 33 | Neben »Reihen« und »Serien« unterscheidet Mikos noch »Mehrteiler«,

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durch den Cliffhanger ab, mit dem das offene Ende einer Episode gestaltet wird (vgl. auch Brown 1994: 49): D.h. am Schluss einer Folge wird inhaltlich Spannung aufgebaut – ein neuer Konfliktherd wird enthüllt – die jedoch erst in der nächsten Folge aufgelöst wird. Beim Cliffhanger zeigt die Kamera meist das Gesicht eines Darstellers oder einer Darstellerin in Großaufnahme, das die Emotionen der Figur überdeutlich widerspiegelt. Mit Hilfe des Cliffhangers soll das Publikum dazu gebracht werden, in Erwartung der Auflösung auch beim nächsten Mal wieder einzuschalten. Daneben ist bei Daily Soaps charakteristischerweise die fortlaufende Handlung in mehreren parallelen Erzählsträngen organisiert (ebd.). Geraghty führt auch den Umgang mit Zeit, Raum und die spezifische Charakterzeichnung als Kennzeichen der Soap-Opera an. Die Zeit in den Serien versucht das Zeitempfinden der ZuschauerInnen zu adaptieren (vgl. Geraghty 1991: 10 ff.; Brown 1994: 49). Beispielsweise orientieren sich die Jahreszeiten in der Soap wie auch das Verstreichen der Zeit an der Lebenswelt der Publika. Die endlose Zeitstruktur bei Soaps hat zudem Auswirkungen auf die Erzählweise und auf die Gestaltung von Raum (Geraghty 1991: 13), da Wiederholungen bei Soaps vorprogrammiert sind. Sie spielen an immer gleichen Orten mit Charakteren, die teilweise über Jahre Bestandteil der Serie sind. Dadurch entsteht beim Publikum das Gefühl von Familiarität mit der Serie, das typisch für die Soap-Rezeption ist. Die charakteristischen Handlungsorte werden von den Rezipienten und Rezipientinnen sofort erkannt und verschiedenen Erzählsträngen zugeordnet. Dazu werden bestimmte Marker eingeblendet (vgl. ebd.: 13 ff.), wie beispielsweise der Kölner Dom, wenn die Handlung in der ARD-Soap »Verbotene Liebe« von Düsseldorf nach Köln wechselt. Die Rezipierenden lernen nach und nach die Charaktere und ihre Schicksale kennen, wissen um ihre Eigenheiten und können ihre Entwicklung von Folge zu Folge mitverfolgen (vgl. ebd.: 14 ff.). Das Genre ›Soap Opera‹ ist für die Zuschauer und Zuschauerinnen mit spezifischen Vergnügen verbunden (vgl. Klaus 1998), wie bereits oben an einigen Stellen erwähnt und in unterschiedlichen Studien herausgearbeitet wurde (vgl. z.B. Brown 1994; Ang 1985). Die deutschen ZuschauerInnen hatten bereits früh Erfahrungen mit Serien gesammelt – Familienserien wie »Unsere Nachbarn heute Abend« um die Familie Schölermann oder später »Familie Hesselbach«34 liefen schon in den fünfziger, sechziger Jahren (vgl. Mikos 1994: 129 ff.; Fuchs 1984: 137). Neue Serienerfahrungen machte das deutsche Fernsehpublikum »als am 30. Juni 1981 dank der ARD die Fernsehserie Dallas über deutsche Bildschirme hereinbrach« (Fuchs 1984: 137). Das Zitat deutet an, wie spektakulär das neue Format empfunden wurde. »Dallas« wie auch die in ca. vier bis fünf Folgen eine abgeschlossene Geschichte erzählen (Mikos 1994: 136). 34 | Die Serie startete als »Firma Hesselbach« und lief später unter dem Titel »Herr Hesselbach und ...« (vgl. Mikos 1994: 129).

Inhaltliche Rahmung | 169 der »Denver-Clan« werden als Prime-Time-Soaps verstanden, die wöchentlich ausgestrahlt werden. Wie auch bei den Daily Soaps steht am Ende ein Cliffhanger, Unterschiede finden sich neben der späteren Sendezeit am Abend und dem wöchentlichen Turnus beispielsweise in der aufwändigeren Produktionsweise (vgl. Ang 1985: 55).35 Die heftigen, skeptischen Reaktionen seitens der Kritik konnten nicht verhindern, dass die US-Prime-Time-Soap »Dallas« zum Publikumsliebling avancierte (vgl. Fuchs 1984: 140/141). Der erste Kontakt des Fernsehpublikums mit täglichen Seifenopern folgte erst 1986, als die ARD den recht erfolglosen Versuch unternahm, die deutschen Zuschauer und Zuschauerinnen mit der brasilianischen Telenovela »Die Sklavin Isaura« für die Daily Soap zu begeistern (vgl. Rössler 1988: 49). Bei den wöchentlichen Seifenopern war die ARD wesentlich erfolgreicher. So konnte sie 1985 mit der »Lindenstraße« eine deutsche wöchentliche Soap beim Fernsehpublikum etablieren, die auch immer noch jeden Sonntag von einer großen Fangemeinde verfolgt wird. Mit der »Lindenstraße« waren die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten den Privaten im dualen Rundfunksystem, das seit 1985 die deutsche Fernsehlandschaft veränderte, einen Schritt voraus. Dies gelang ihnen jedoch nicht mit den täglichen Seifenopern. Mit RTL sendete im Mai 1992 ein privater Sender die erste deutsche Daily Soap: am 11. Mai um 19.40 Uhr lief die erste Folge von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«. In den Jahren darauf wurden mehrere Dailies von privaten und öffentlich-rechtlichen Sendern ausgestrahlt, die jedoch sehr unterschiedlichen Erfolg bei den Rezipientinnen und Rezipienten hatten. Wieder aus dem Programm genommen wurden beispielsweise die Soap-Produktionen »Jede Menge Leben« (ZDF), »Geliebte Schwestern« (Sat.1) oder auch die Projekte von Pro Sieben »Mallorca« und RTL 2 »Alle zusammen – jeder für sich«. Bis 2002 konnten sich insgesamt vier tägliche Seifenopern im deutschen Fernsehen etablieren. Neben »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« sendet RTL seit 1994 die Serie »Unter Uns«, die am späten Nachmittag ausgestrahlt wird. Darüber hinaus ist die ARD mit »Marienhof« erfolgreich (seit Herbst 1992) und startete 1995 mit »Verbotene Liebe« eine zweite Soap – beide werden ab 17.55 Uhr hintereinander ausgestrahlt (vgl. auch Röper 2000). Die neuen deutschen Soaps waren jedoch nicht nur eine Programmbereicherung für das Publikum, sondern sorgten daneben für einen wirt-

35 | Unterschiede zwischen Prime-Time-Soaps und Dailies sind beispielsweise die höheren Kosten der Abendserien, die Produktion auf 35 mm Film gegenüber der Videoproduktion bei Dailies (vgl. Kreutzner 1994: 121), das schnellere Erzähltempo (vgl. Cantor/Pingree 1983: 23) oder auch die Gestaltung der weiblichen Charaktere, die bei Daily Soaps eigenständiger ausfällt (vg. Seiter 1987: 44/45). Mikos stellt bei Serien generell, so auch bei Prime-Time-Soaps und Dailies, inhaltlich die Familie(n) im Zentrum der Handlung heraus und fasst das Genre als ›Familienserie‹ (vgl. Mikos 1994: 138 ff.).

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schaftlichen Aufschwung im deutschen Fernsehproduktionsmarkt.36 Allerdings waren die Produktionsfirmen für die Entwicklung der eigenen Serien zunächst auf Hilfe aus Australien angewiesen. Die frühen Soaps wie »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« oder auch »Verbotene Liebe« wurden denn auch australischen Serienvorbildern entlehnt: »Verbotene Liebe« orientierte sich an der australischen Serie »Sons and daughters«, während für »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« die Soap »The Restless Years« Pate stand (vgl. Moran 1998: 122 ff.). Die deutsch-australische Zusammenarbeit lief vor allem über die Produktionsfirma Grundy Ufa, die mittlerweile die Produktion von Seifenopern in Deutschland dominiert und drei der vier etablierten deutschen Daily Soaps produziert (vgl. Röper 2000).37 Lediglich für »Marienhof« ist mit Bavaria eine andere Produktionsgesellschaft verantwortlich.38 Ökonomisch betrachtet handelt es sich bei Soap Operas um ein ebenso einträgliches Format wie die Quizshow. Geringe Produktionskosten und große Werbeeinnahmen aufgrund der werbeattraktiven Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen machen Seifenopern zu einem der lukrativsten Fernsehformate. 2001 kostete eine Minute Soap Produktion zwischen 4000 und 7000 DM, wobei der Sender im Gegenzug für eine Werbeminute bei »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« 185.000 DM einstreichen konnte (vgl. Niggemeier 2001) – die Gewinnspanne für die Sender ist enorm. Soap Operas sind somit für die einzelnen Sender wirtschaftlich sehr bedeutsam. Es verwundert daher nicht, wenn »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« immer wieder als ökonomisches ›Standbein‹ von RTL herausgestellt wird (vgl. z.B. Brychcy 1996). Daneben ist die Produktion von Soap Operas mit ihrer täglichen Produktionsweise, die sich über Jahre hinziehen kann, natürlich auch bedeutsam für die Medienwirtschaft allgemein.39 Das Genre Seifenoper wurde in Deutschland somit in den letzten Jahren zu einem festen Bestandteil des Programms, der Medienwirtschaft und der Vergnügen der Rezipierenden.

36 | Vgl. dazu den Artikel »Seifenopern bescheren Fernsehproduzenten eine Flut von Aufträgen« des Autors mit dem Kürzel ›pop‹ (1994). 37 | Vgl. zu dem australischen Konzern Grundy und seiner internationalen Geschäftstätigkeit im Fernsehgeschäft: Moran 1998: 41 ff. 38 | Weitere Produktionsfirmen auf dem deutschen Fernsehmarkt sind in Deutschland neben Grundy Ufa und Bavaria NDF, Studio Hamburg, die deutsche Tochtergesellschaft von Endemol sowie konzernunabhängige Firmen wie Trebitsch, Nova oder Monaco/Odeon (siehe pop 1994). 39 | Vgl. beispielsweise zur ökonomischen Bedeutung von Soap Operas in Nordrhein-Westfalen die Studie des Formatt-Instituts zur Lage mittelständischer Fernsehproduzenten in Deutschland (Röper 2000).

Inhaltliche Rahmung | 171 1.2.4 »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« (RTL) Als erste deutsche tägliche Serie kommt »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« ein besonderer Platz in der Geschichte der deutschen Seifenopern zu – im Jahr 2002 feierte die Produktion zehnjähriges Bestehen und ihre 2500. Folge. Daneben stellt die Serie, von den Fans »GZSZ« genannt, auch noch die erfolgreichste der aktuellen Soap-Produktionen dar.40 Sendeplatz von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« ist montags bis freitags um 19.40 Uhr bei RTL. Zu Beginn hatte die Serie Schwierigkeiten, vom Publikum angenommen zu werden. Wesentlicher Grund dafür könnte sein, dass sich die Drehbuchverantwortlichen aus urheberrechtlichen Gründen streng an die australische Vorlage »The Restless Years« zu halten hatten und deren Handlungsstränge direkt in die deutsche Realität zu übersetzen suchten, was das Publikum offenbar nicht überzeugte.41 Es gibt unterschiedliche Angaben, ab wann die Produktionsfirma Grundy Ufa42 von diesem Konzept abwich und man damit begann, eigene – deutsche – Handlungsstränge zu entwickeln. Himmel meint, dies sei nach 230 Folgen der Fall gewesen (vgl. Himmel 1994). Dagegen erklärt Felix Huby, der zu Beginn der Serie der verantwortliche Drehbuchautor war, dass er etwa ab Folge 90 freier arbeitete (Huby 1995). »The Restless Years« diente fortan nur noch als grobe Vorlage. Im Anschluss entwickelte sich »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« zum Publikumsliebling.43 Bereits zwei Jahre nach ihrem Start avancierte die Serie zur beliebtesten Seifenoper in Deutschland – nur die wöchentlich ausgestrahlte »Lindenstraße« war erfolgreicher (vgl. Moran 1998: 134). Allerdings sanken die Quoten von »GZSZ« im Laufe der nächsten zehn Jahre. Die Teeniezeitschrift »Yam« vermeldete am 5. September 2001 einen »Quotensturz« bei »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«.44 Diese

40 | Beispielsweise schalteten bei »GZSZ« 2002 von Januar bis Oktober durchschnittlich 4,7 Millionen Zuschauer und Zuschauerinnen ein, während es bei »Unter Uns« (RTL) knapp 2 Millionen waren und bei »Verbotener Liebe« sowie »Marienhof« (beide ARD) knapp 2,7 Millionen. Angaben gemäß der RTL-Medienforschung, die sich auf GfK-Daten stützt. 41 | »The Restless Years« war ebenso Vorbild für die niederländische Soap »Goede Tijden, Slechte Tijden« (vgl. Moran 1998: 123 ff.). 42 | Produziert wird die Serie von der Grundy Ufa TV Produktions GmhH in Potsdam-Babelsberg. 43 | Huby (1995) gibt an, dass die Quoten etwa ab der 100. Folge stiegen. 44 | Danach lagen die Einschaltquoten im Jahr 1997 zunächst bei 4,79 Millionen, stiegen 1998 auf durchschnittlich 5,11 und 1999 sogar auf 5,13 Millionen, um im Folgejahr 2000 auf 4,63 Millionen Zuschauer und Zuschauerinnen abzusinken und 2001 sogar noch unter die Einschaltquoten von 1997 auf 4,22 Millionen zu sinken.

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Tendenz wird von den Einschaltquoten, die RTL herausgibt, bestätigt:45 Beim Start schalteten im Durchschnitt lediglich 3 Millionen ein, die Einschaltquoten stiegen bis 1998 kontinuierlich auf 5,34 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer.46 Der große ›Einbruch‹ begann 1999, als nur noch 5,05 Millionen durchschnittlich die Serie verfolgten. Im Jahr 2000 schauten lediglich noch 4,55 Millionen zu und 2001 waren es 4,4 Millionen Zuschauende insgesamt. Der Marktanteil in der werberelevanten Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen lag zu dem Zeitpunkt allerdings immer noch bei 26,23 Prozent. Abgesehen davon steigen die Einschaltquoten seit 2002 wieder.47 Zu Beginn des Jahres 2003 beliefen sich die Einschaltquoten auf durchschnittlich 5,7 Millionen Rezipierende, was den Wachstumstrend bestätigt.48 Die Aussage von David Linn, dem Geschäftsführer Einkauf der größten europäischen Werbeagentur,49 trifft daher wohl auch noch heute zu: »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« sei ein relativ ›quotensicheres Format‹, das die ›richtige Zielgruppe‹ anziehe und damit auch weiterhin für die Werbeindustrie interessant sein werde (siehe Deul 1999).50 Die Gunst der Rezipierenden zeigte sich neben den Quoten auch an dem Bambi-Publikumspreis, der »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« 1999 verliehen wurde. Daneben konnten die Schauspieler und Schauspielerinnen 2003 die Goldene Kamera für die ›Beste deutsche TV-Serie‹ in Empfang nehmen. Als spezielles Angebot für die Fans der Serie startete im Juni 2000 im Internet die »GZSZ«-Homepage. Neben Informationen rund um »GZSZ« finden sich hier auch Chatmöglichkeiten oder Kosmetiktipps.51 Episoden der Serie sind zudem auch als Bücher und Hörspiele 45 | Die folgenden Angaben zu Einschaltquoten und Marktanteilen von »GZSZ« entstammen der RTL Medienforschung, die sich auf GfK-Daten bezieht. 46 | Starke Zuwachssprünge konnten von 1992 (3 Mio) auf 1993 (3,93 Mio) sowie von 1995 (4 Mio) auf 1996 (4,94 Mio) beobachtet werden. Allerdings sanken die Durchschnittsquoten zwischendurch auch immer wieder leicht, wie beispielsweise von 1994 (4,09 Mio) auf 1995 (4 Mio) und 1996 (4,94 Mio) auf 1997 (4,87 Mio). 47 | Zwischen Januar und Oktober 2002 schalteten insgesamt durchschnittlich 4,7 Millionen ein, die Zahlen für November und Dezember liegen leider nicht vor. Angaben nach Auskunft der RTL Medienforschung. 48 | Die Angabe bezieht sich auf Januar und Februar 2003. Quelle: RTL Medienforschung mit Bezug auf GfK-Daten. 49 | Linn war zum Zeitpunkt des Interviews Geschäftsführer der Werbeagentur HMS & Carat. Vgl. Deul 1999. 50 | An den Erfolg von »GZSZ« wollte RTL im Jahr 2000 mit dem ersten Spin Off einer deutschen Soap für das Abendprogramm anknüpfen: »Großstadtträume« war als wöchentliche Serie um ein Berliner Lifestyle-Magazin geplant, floppte jedoch und wurde nach kurzer Zeit wieder abgesetzt. 51 | Mit der Aufteilung in ›Deine Serie‹, ›Deine Welt‹ und ›Deine Freunde‹ zielt die Homepage auf die Alltagswelt der jugendlichen Zuschauer und Zuschaue-

Inhaltliche Rahmung | 173 erhältlich, und es werden eine unüberschaubare Fülle an Merchandising-Produkten hergestellt, die von der Tasse über Brettspiele, Kosmetikartikel bis hin zu Bettwäsche und Handtüchern reichen. Daneben produziert die Dino Entertainment AG seit 1995 ein Magazin zur Serie.52 Die Vermarktung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« orientiert sich somit am Alltag der Rezipierenden und zielt besonders auf jugendliche Erfahrungswelten ab – für den Sender ein lukratives Geschäft.53 Gleichzeitig bieten sich für die Zuschauer und Zuschauerinnen hiermit vielfältige Möglichkeiten, ›ihre‹ Serie spielerisch in ihren Alltag einzuverleiben und eigene Bedeutungen für sich und »GZSZ« zu gewinnen. Zum Inhalt »Geschichten einer jungen Clique aus Berlin – davon handelt ›Gute Zeiten, schlechte Zeiten‹. 15 Jugendliche erleben in GZSZ die erste Liebe, erfüllen sich ihre Träume und Sehnsüchte, kämpfen mit schweren Schicksalsschlägen und Ehekrisen, lernen neue Freunde kennen und spinnen Intrigen. GZSZ ist mit seinen Geschichten direkt aus dem Leben immer topaktuell und spricht die Sprache der heutigen Jugend« So wird die Serie auf der Homepage der RTL-Pressestelle beschrieben.54 Aus dem Zitat geht hervor, dass sich die Serie an die melodramatische Tradition der Soap Opera anschließt. Menschliche Beziehungen samt ihrer Probleme stehen im Mittelpunkt der Handlung. Die Geschichten sind um ein festes Set von Charakteren arrangiert, wobei die Zahl derzeit55 bei zwanzig Hauptdarstellern und -darstellerinnen liegt, die in etwa in zwei Generationen – in Jugendliche, junge Erwachsene und Erwachsene eingeteilt werden können. Aus der ersten Folge sind heute noch zwei Darsteller und eine Schauspielerin dabei, die in der Serie die Figuren »A.R. Daniel«, »Clemens Richter« und »Elisabeth Meinhart« verkörpern. Die Serienhandlung entspinnt sich an mehreren festen Orten, zu denen unter anderem eine Wohngemeinschaft, ein Nobelrestaurant, der »Fasan«, sowie ein Hausboot gehören. »GZSZ« gliedert sich klassischerweise in vier Handlungsstränge. Im März 2003 konnte man verfolgen, wie rinnen ab und versucht sie stärker an die Serie zu binden. Siehe www.gzsz.de; Abrufdatum 5.4.2003. 52 | Die Auflage des Magazins lag 1999 bei 500 000 Heften, die 50,9 % des 37 Millionen Umsatz für das Unternehmen ausmachten (siehe Spies 1999). Damit lag das Heft 1999 auf Platz fünf der verkauften Jugendzeitschriften hinter »Bravo« (881.000), dem Jugendherbergsmagazin »Extratour«, »Bravo-Girl« und »Micky Maus« (vgl. Maier 1999). 53 | Gemäß Arnu 1999 macht RTL jährlich 160 Millionen DM Gewinn mit der Serie. 54 | Quelle: www.rtl-presse.de/2140.html; Abrufdatum: 3.3.2003. 55 | Die Aussage bezieht sich auf März 2003.

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Rechtsanwalt »Jo Gerner« versuchte, eine Affäre vor seiner Lebensgefährtin geheim zu halten, oder wie »Xenia« sich bemühte, ihren ehemaligen Lebensgefährten »Ben« zurückzuerobern. Weitere Handlungsstränge waren die Liebesgeschichte um »Sandra« und »Deniz« und die Geschehnisse um »Antonia«, die an einer unheilbaren, tödlichen Krankheit leidet. Inhaltlich spielte »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« Mitte der neunziger Jahren eine Vorreiterrolle, als in der Handlung zum ersten Mal in der deutschen Daily-Soap-Geschichte mit »Saskia« und »Harumi« ein homosexuelles Paar vorkam (vgl. Maruschat 2000). Mittlerweile sind homosexuelle Beziehungen fester Bestandteil jeder deutschen Daily Soap. Darüber hinaus zeigten sich die Verantwortlichen der Serie spielerisch und ließen eine Folge von »GZSZ« im Rahmen einer Themenwoche bei Sat.1 und RTL in den sechziger Jahren spielen (Bartels 1999).56 Die Serie dient ihren Darstellern und Darstellerinnen immer wieder als Sprungbrett. »GZSZ«-Stars wie Jeanette Biedermann und Oliver Petszokat sind auch in der Musikbranche erfolgreich.57 Einige der Mitwirkenden waren darüber hinaus auch in anderen Serien, Fernseh- und, wie die ehemalige »GZSZ«-Darstellerin Alexandra Neldel, in Kinofilmen zu sehen. Bei »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« treten außerdem regelmäßige Prominente als Gaststars auf. Neben verschiedenen etablierten Schauspielern und Schauspielerinnen (z.B. Brigitte Mira), die Kurzrollen übernahmen, waren auch der ehemalige Berliner Bürgermeister Diepgen und in der 1500. Sendung der damalige Kanzlerkandidat Gerhard Schröder zu sehen. Abgesehen davon arbeitet RTL eng mit der Musikbranche zusammen, so dass neben etlichen Gastauftritten von Bands »Caught in the act«,58 »O-Town« oder »Blümchen« auch regelmäßig CD-Sampler mit der Musik zur Serie veröffentlicht werden. Göttlich und Nieland bezeichnen diese Marketingstrategien, die speziell auf deutsche Soaps zutreffen und gezielt die Lebenswelt Jugendlicher anvisieren, als ›Kult-Marketing‹ (vgl. Göttlich/Nieland 1998; dies. 2001). Bei »GZSZ« wurde hierzu sogar extra die Band »Just Friends« ins Leben gerufen, die in die Handlung der Serie integriert wurde (Göttlich/Nieland 1998: 45).59 Sowohl für die Plattenfirmen als auch für RTL sind solche Verschränkungen kommerziell sehr 56 | Daneben wurde ein Quiz mit DarstellerInnen der Serie unter dem Titel »›GZSZ‹-Supercup« ausgestrahlt. Vgl. Illies 1999. 57 | So erhielt Jeanette Biedermann, die in der Serie die Figur »Marie Balzer« spielte, beispielsweise den ›Echo 2001‹. Der ehemalige »GZSZ«-Mime Oliver Petszokat (»Ricky Marquardt«) hatte als »Oli P« Erfolg in den Charts. 58 | Die Mitglieder der Band »Caught in the Act« wurden auch als Charaktere in die Soap-Handlung integriert (Göttlich/Nieland 1998: 44). »GZSZ« habe hierüber den Trend der Boygroups Mitte der Neunziger maßgeblich mitgetragen (ebd.). 59 | Göttlich/Nieland betonen hier die Inszenierungsstrategien, die mit dem Kult-Marketing einhergehen (1998: 44/45)

Inhaltliche Rahmung | 175 ertragreich. Abgesehen davon bietet die Serie mit Gastauftritten, Merchandising, Homepage etc. eine Fülle an intertextuellen Bezügen und Möglichkeiten, die Serie für sich individuell anzueignen.

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2. Methode

Mit den vorangegangenen Kapiteln wurde der Analyse eine inhaltliche Rahmung gegeben. Deutlich wurde, dass Soap Operas und Quizsendungen feste Bestandteile der deutschen Fernsehunterhaltung sind. Die Seifenoper »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« und das Quiz »Wer wird Millionär?«, die in der empirischen Analyse im Mittelpunkt stehen, knüpfen an die unterschiedlichen Genretraditionen an. Außerdem wurde deutlich, dass die der bürgerlichen Kritiktradition verhafteten Fernsehkritik für sich eine normsetzende Stellung im kulturellen Bereich und damit eine intellektuelle Führungsrolle beansprucht. Sie folgt hierin der traditionellen Kunstkritik. Vor diesem Hintergrund schließt sich nun der empirische Abschnitt der Arbeit an. Im Zentrum der Analyse steht die Frage, auf welche Weise die beiden ausgewählten populären Texte im Diskurs der Fernsehkritik bewertet werden – welche Argumente werden vorgebracht, auf welche Aspekte richtet man in welcher Weise das Augenmerk?

2.1 Begrifflichkeiten Der empirische Teil knüpft an Fiskes diskursanalytisches Vorgehen an, das er in »Media Matters« (1996) angewandt hat und welches oben ausführlich diskutiert wurde (vgl. Abschnitt zu Fiskes Diskursanalyse). Damit ist diese Arbeit innerhalb der qualitativen Forschungstradition verortet. Ausgangspunkt für das weitere Vorgehen ist Fiskes Diskursbegriff: Er definiert Diskurse als sozial gebildete Sprachen oder Systeme der Repräsentation. Diese dienen dazu, ein kohärentes Set an Bedeutungen zu bestimmten Themengebieten zu produzieren und weiter zu verbreiten (Fiske 1999a: 14). Die diskursiven Bedeutungen stützen Interessen einzelner gesellschaftlicher Bereiche oder Gruppen, deren Ziel es ist, ihre bevorzugten Bedeutungen allgemeingültig zu machen. Diskurse sind somit immer an bestimmte InitiatorInnen gekoppelt (vgl. Fiske 1999a: 14). Fiske charakterisiert Diskurse als dynamische Gebilde, die in ein Netz gesellschaftlicher Machtinteressen eingebunden sind. In dieser Untersu-

Methode | 177 chung steht der Diskurs der Fernsehkritik im Mittelpunkt, wobei danach gefragt wird, wie man in ihm Populäres bewertet. Um die Struktur von Diskursen zu verdeutlichen und ein wenig handhabbarer zu machen, bieten sich die Begriffe an, die Jäger in seiner »Kritischen Diskursanalyse« (1999: 158 ff.) benutzt: Diskurse setzen sich nach Jäger aus einzelnen Diskurssträngen zusammen.1 So bildet sich beispielsweise der Umweltschutzdiskurs, wie er von Umweltverbänden initiiert ist, unter anderem aus Diskurssträngen zur Klimapolitik, zur Regenwaldthematik oder auch aus dem Diskursstrang zum Stromsparen. Die einzelnen Diskursstränge werden wiederum aus kleineren Einheiten gebildet, die Jäger als Diskursfragmente betrachtet. Denkbar wären hier Pressemitteilungen zum Klimagipfel, die als Diskursfragmente den Diskursstrang zur Klimapolitik speisen. Diskurs, Diskursstrang und Diskursfragment sind jedoch keine fixen Einheiten. Sie stellen vielmehr relationale Begriffe dar, die je nach Bezugsgröße differieren können: Diskursfragmente können sowohl einzelne Zeitungsartikel sein (siehe ebd.: 159) als auch einzelne Textpassagen (ebd.; siehe auch Pundt 1999). Ebenfalls kann man die Einteilung eines Diskurses in Diskursstränge auf unterschiedliche Art und Weise vornehmen. Je nach dem, auf welcher Ebene man ansetzt, könnte man beispielsweise auch den Diskursstrang Klimapolitik als eigenen Diskurs seitens der Umweltverbände behandeln, der sich erneut in unterschiedliche Diskursstränge wie dem Diskurs um den Treibhauseffekt oder die Regenwaldthematik teilt. Es ist daher wichtig, sich vorher zu verorten und den eigenen Blickwinkel deutlich zu machen. Ausgangspunkt dieser Arbeit ist der bürgerlich geprägte Diskurs der Fernsehkritik um populäre Fernsehunterhaltung. Als Diskursstränge wird einerseits die Bewertung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« und andererseits von »Wer wird Millionär?« analysiert. Dazu werden als Diskursfragmente Beiträge aus der Fernsehkritik der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Allgemeine Zeitung herangezogen. Bei der Analyse steht die Frage im Vordergrund, auf welche Weise die Soap »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« und »Wer wird Millionär?« von der Fernsehkritik bewertet werden, also welche Aspekte werden hervorgehoben, welche abgewertet und welche Argumentationen treten dabei hervor.

1 | Jäger geht bei seiner Einteilung rein thematisch vor und vernachlässigt dabei die InitiatorInnen von Diskursen (vgl. Jäger 1999: z.B. 160), wie Fiske sie in seinem Diskursbegriff betont. An dieser Stelle werden daher zwar die Begriffe von Jäger entlehnt, das Diskursverständnis stützt sich jedoch auf Fiske. Vgl. den Abschnitt oben zu Fiskes Diskursbegriff.

178 | Teil 3: »Wer wird Millionär?« und »GZSZ« im Diskurs der Fernsehkritik

2.2 SZ, FAZ und die diskursive Zirkulation von Bedeutungen Die Fernsehkritiken, die hier untersucht werden, stammen aus der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.2 Beide stellen mit ihren Beiträgen spezifische InitiatorInnen des Fernsehkritikdiskurses dar. Traditionell richten sie sich an ein bürgerlich orientiertes Publikum. Sie verfügen als Massenmedien über einen besonderen Stellenwert in der Produktion und Zirkulation diskursiver Bedeutungen, wie immer wieder bei Fiske betont wird. Das Fernsehen, dem er sich vorrangig widmet, charakterisiert er als Knotenpunkt für den diskursiven Kampf um Bedeutungen. Mit seinen Beiträgen gibt das Fernsehen einerseits Impulse für gesellschaftliche Diskurse und greift andererseits gesellschaftlich kursierende Diskurse wieder auf. Die gleiche Funktion kommt auch anderen Massenmedien zu, wie Zeitungen, vor allem wenn es sich dabei wie hier um große überregionale Tageszeitungen handelt. Ihre Auflagenzahlen und Reichweiten stützen diese Aussage.3 Sowohl die Süddeutsche Zeitung als auch die Frankfurter Allgemeine sind führend unter den überregionalen deutschen Abonnement-Tageszeitungen, was die verkaufte Auflage betrifft.4 Die Reichweite der Süddeutschen Zeitung lag im Jahr 2002 bei 2 | Während die Süddeutsche Zeitung 1945 neu gegründet zum ersten Mal erschien, wurde die Frankfurter Allgemeine Zeitung vier Jahre später im Zuge der Generallizenz 1949 von den Altverlegern »wiederbegründet« (vgl. Pürer/Raabe 1996: 109). Ihre Vorläuferin war die Frankfurter Zeitung, die 1943 eingestellt wurde (ebd. 1996: 77). 3 | Die Süddeutsche Zeitung liegt mit 443.118 verkauften Exemplaren im 3. Quartal 2002 noch vor der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, von der im gleichen Zeitraum 400.219 Exemplaren verkauft wurden. Die Angaben entstammen der IVW Auflagenliste III/2002, die auf der Internetseite der SZ veröffentlicht wurde. Die durchschnittliche Anzahl verkaufter Ausgaben im Jahr 2002 lag bis zum 18.12.2002 für die Süddeutsche Zeitung bei 434.666 verkauften Ausgaben und für die Frankfurter Allgemeinen Zeitung bei 390.726 verkauften Exemplaren (http:// www.sueddeutsche.de/sz/verlag/mediadaten/pdf/mf_auflagen.pdf; Abrufdatum: 18.12.2002). Die verkaufte Auflage der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung lag danach für das 3. Quartal 2002 bei 263.212 verkauften Ausgaben. Diese Angaben können abgefragt werden unter: http://www.faz-verlag.de/IN/INtemplates/Verlag/ images/downloads/FAZ_IVW_Analyse_2002.pdf. Sie stammen aus der IVW-Verbreitungsanalyse 2002. Abrufdatum: 18.12.2002. 4 | Sie rangieren damit weit vor den Auflagen anderer überregionaler Tageszeitungen. Beispielsweise verkaufte Die Welt, die Zeitung, die nach Auflagenstärke den Platz hinter SZ und FAZ einnimmt, im Jahr 2002 durchschnittlich 233.679 Exemplare, also über 150.000 Ausgaben weniger als die FAZ und sogar über 200.000 weniger Exemplare als die SZ. Diese Angaben können unter http://www.faz-verlag.de/IN/INtemplates/Verlag/images/downloads/FAZ_IVW_ Analyse_2002.pdf abgefragt werden. Sie stammen aus der IVW-Verbreitungsanalyse 2002. Abrufdatum: 18.12.2002.

Methode | 179 über 1,1 Millionen LeserInnen täglich5 und bei der FAZ bei 860.000 täglichen Lesern und Leserinnen.6 Dadurch besitzen beide Tageszeitungen die Möglichkeit, Bedeutungen weithin zu verbreiten und haben damit nachhaltigen Einfluss auf die gesellschaftliche Bedeutungsaushandlung. Die Teilhabe an der Bedeutungsproduktion trifft auch speziell für den Diskurs der Fernsehkritik zu. Süddeutsche Zeitung und Frankfurter Allgemeine nehmen in dem Diskurs wichtige Positionen ein. Beide verfügen über renommierte Feuilletons, die im kulturellen Bereich einflussreich sind. Sie haben Teil an gesellschaftspolitischen Debatten wie beispielsweise der Diskussion um das Holocaust-Mahnmal in Berlin, die in den neunziger Jahren ausgetragen wurde (vgl. z.B. Jeismann 1999). Innerhalb der kulturellen Öffentlichkeit sind beide Zeitungen zudem Autoritäten, wenn es um die Bewertung von Filmen, Literatur, Theater, bildende Kunst, Musik oder Fernsehtexte geht. Auch hier liefern die Beiträge der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Allgemeinen zentrale Impulse für aktuelle Debatten. Eines der jüngeren Beispiele ist die »Walser-Debatte«, in der über den möglichen antisemitischen Gehalt des Romans »Tod eines Kritikers« von Martin Walser diskutiert wurde und die ein offener Brief des FAZ-Mitherausgebers Frank Schirrmacher an den Schriftsteller auslöste.7 Beide Tageszeitungen nehmen damit führende intellektuelle Positionen ein, entsprechen somit dem allgemeinen Anspruch der bürgerlichen Kulturkritik (vgl. Basting 1999) und wirken insbesondere über ihre Feuilletons, in denen auch die meisten Fernsehkritiken beider Zeitungen erscheinen, maßgeblich an der Bedeutungsaushandlung im kulturellen Bereich mit. Sie verkörpern einen spezifischen Ausschnitt der Fernsehkritik, der sich in der Traditionslinie der bürgerlich orientierten Kulturkritik positioniert (vgl. Hickethier 1994). Fernsehkritiken finden sich in der Süddeutschen Zeitung regelmäßig auf der täglich erscheinenden Medien-Seite des Feuilletons. Beiträge werden daneben im Magazin der Zeitung und wurden ebenso im mittlerweile eingestellten jetzt-Magazin veröffentlicht. Diskutiert werden neue Genres, Hintergründe der Medienbranche oder Entwicklungen im Rundfunksystem und dem Medienmarkt. Die Süddeutsche Zeitung ist – wie auch die FAZ – immer wieder an Diskussionen um neue Formate beteiligt, wie beispielsweise an der Debatte um »Big Brother« (RTL 2) oder um neuere Sendungen wie »Deutschland sucht den Superstar« (RTL). Einzel5 | Siehe: www.sueddeutscher-verlag.de/index.php?idcat=3; Abrufdatum: 18.12.2002 6 | Angabe siehe: http://www.sueddeutsche.de/sz/verlag/mediadaten/pdf/ mf_ leser.pdf (Quelle Media-Analyse); Abrufdatum 18.12.2002. 7 | Die FAZ lehnte 2002 den Vorabdruck des Walser-Romans mit der Begründung ab, in ihm werde der Kritiker Marcel Reich-Ranicki in antisemitischer Weise diffamiert. Dazu erschien beispielsweise in der SZ am 5.6.2002 eine Stellungnahme von Joachim Kaiser und in der FAZ neben Schirrmachers offenem Brief am 27.6.2002 eine Kritik von Jan-Philipp Reemtsma.

180 | Teil 3: »Wer wird Millionär?« und »GZSZ« im Diskurs der Fernsehkritik

ne Fernsehtexte werden also auch über einen längeren Zeitraum hinweg kommentiert, über Monate oder wie im Falle von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« über Jahre. Auch das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung verfügt über eine Medienseite, die ebenfalls täglich erscheint und Fernsehkritiken enthält. Ebenfalls finden sich in der Sonntagsausgabe der Zeitung Beiträge der Fernsehkritik und bevor es eingestellt wurde, war auch das Magazin der FAZ ein Ort dafür. Beide Zeitungen stellen also wichtige Autoritäten in der Bewertung von kulturellen Angeboten dar. Sie haben aufgrund des Renommees und der großen Verbreitung eine bedeutsame Position im bürgerlich geprägten Diskursausschnitt der Fernsehkritik inne und geben mit ihren Beiträgen wichtige Impulse für die Bewertung von Populärem. Tagtäglich tragen SZ und FAZ dazu bei, Themen und Argumente in den Diskurs einzuspeisen und ihn so mitzugestalten. Beide Tageszeitungen eignen sich daher gut dazu, um maßgeblichen Kriterien nachzugehen, die im Diskurs der Fernsehkritik an populäre Fernsehtexte angelegt werden. Aus ihnen stammen daher die Fernsehkritiken zu »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« und »Wer wird Millionär?«, die für die empirische Untersuchung ausgewählt wurden.

2.3 Das ausgewählte Analysematerial Die Kritiken, die aus der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung analysiert wurden, befassten sich auf unterschiedliche Weise mit »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« und »Wer wird Millionär?«. Es handelte sich um Artikel, die sich entweder ausführlich im Sinne einer klassischen Fernsehkritik mit dem jeweiligen Format beschäftigen oder in denen die Sendungen von der Medienkritik in einem anderen Zusammenhang bewertet wurden. Da »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« von RTL bereits seit Mai 1992 ausgestrahlt wird, wurden Artikel seit Mai 1992 bis Dezember 2001 zusammengetragen. Die Beiträge zu »Wer wird Millionär?« stammen dagegen aus einem kürzeren Zeitraum, da die erste Folge erst im September 1999 gesendet wurde. Hier liegen also Artikel von 1999 bis Dezember 2001 vor. Dabei wurden auch das Magazin der Süddeutschen Zeitung, ihr Jugendmagazin Jetzt sowie die Sonntagsausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung berücksichtigt. Da es in dieser Arbeit darum geht, qualitativ herauszuarbeiten, wie die Bewertung von »GZSZ« und »Wer wird Millionär?« erfolgt und welche Diskurse dabei bedeutend sind, sind die unterschiedlichen Zeiträume nicht in dem Maße problematisch, wie es bei einer quantitativen Analyse der Fall wäre. Zudem würden Veränderungen der Diskurse oder der Bewertungskriterien, die sich im Laufe der analysierten Zeiträume ergeben könnten, in der Analyse auffallen und vermerkt werden. Um das Material zusammenzutragen, wurden alle zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ausgenutzt. Neben einer Recherche im RTL-Ar-

Methode | 181 chiv in Köln, wurde insbesondere auf die Internetarchive beider Tageszeitungen zurückgegriffen, so dass – abgesehen von möglichen Fehlerquellen der Netzarchive – von einer repräsentativen Vollerhebung die Rede sein kann. Insgesamt wurden 78 Beiträge aus der Süddeutschen Zeitung (SZ) und 37 Artikel aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) zusammengetragen, in denen »Wer wird Millionär?« erwähnt wird, sowie 110 Süddeutsche-Artikel und 78 Artikel aus der FAZ, die »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« betreffen. Alle Artikel wurden zunächst mit kurzer Inhaltsangabe in Listen erfasst. Aus diesen Artikeln wurden noch einmal diejenigen ausgegrenzt, die keine Beiträge der Fernsehkritik darstellten und/oder in denen die jeweilige Sendung zwar genannt wurde, die VerfasserInnen jedoch keine deutliche Wertung vornahmen. Beispielsweise wurde ein Artikel, der sich mit der Dino Entertainment AG beschäftigte, nicht aufgenommen, da hier lediglich die Auflagenzahlen des »GZSZ«Magazins genannt wurden. Auf diese Weise wurden zu »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« 29 Artikel der Süddeutschen Zeitung8 und 15 Artikel der FAZ herausgefiltert, von insgesamt 33 verschiedenen Kritikern und Kritikerinnen, wobei eine AP-Meldung dabei war. Zu »Wer wird Millionär?« wurden 19 Artikel der SZ sowie 19 Artikel bzw. Diskursfragmente der FAZ analysiert,9 die von 27 AutorInnen verfasst wurden.

2.4 Methodisches Vorgehen Es bleibt, das konkrete Vorgehen der Untersuchung zu veranschaulichen. Methodisch knüpft diese Arbeit an einige Kritikpunkte an, die oben zu Fiskes diskursanalytischem Verfahren in »Media Matters« (1996) herausgearbeitet wurden. Bemängelt wurde vor allem, dass Fiske seine Vorgehensweise zu wenig offen legt, da er die Auswahl der analysierten Texte nicht näher erläutert. Statt die einzelnen Analyseschritte gesondert darzustellen, liefert Fiske den LeserInnen seine Ergebnisse in zusammenhängender, gebündelter Form. Kriterien wie ›Ethnie‹ oder ›Geschlecht‹ werden vorher nicht extra diskutiert, statt dessen geht Fiske direkt auf die Beziehungen der Kategorien untereinander ein. In welchen Schritten er seine Analyse vollzogen hat, bleibt im Einzelnen ungeklärt. Damit kommt die Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse, ein wichtiges Kriterium qualitativer Forschung, zu kurz (vgl. Flick 1999: 239), wenn auch ansonsten die Art und Weise, wie er die Arbeit der Diskurse beschreibt, überzeugt. An dieser Stelle wird daher Fiskes diskursanalytische Perspektive mit dem Verfahren des ›offenen Kodierens‹ kombiniert, das zur qualitativen Text8 | Ein Artikel stammte aus dem Jugendmagazin Jetzt der Süddeutschen Zeitung (Adorjan et al., SZ 21.6.1999), ein weiterer aus dem Magazin der SZ (Weiler, SZ 1.10.1999). 9 | Drei der Artikel stammten aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung: dpa, FAZ 16.9.2001; rea, FAZ 3.9.2000; Henning, FAZ 15.4.2001.

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analyse eingesetzt wird (vgl. Flick 1999). Das offene Kodieren bezeichnet den ersten Analyseschritt im so genannten ›theoretischen Kodieren‹, mit dem Daten in der qualitativen Forschung interpretiert werden. Entwickelt wurde dieses Verfahren von Glaser und Strauss (vgl. ebd.). »Offenes Kodieren zielt darauf ab, Daten und Phänomene in Begriffe zu fassen« (ebd.: 198). Um Texte zu analysieren, müssen diese zunächst in ihre Bestandteile zerlegt werden, was sowohl einzelne Wörtern als auch Sätze oder Abschnitte sein können. Diese werden im Anschluss mit Kommentaren und Begriffen versehen, also kodiert. Die dabei gewonnenen Kodes werden im Weiteren »um für die Fragestellung besonders relevante Phänomene, die in den Daten entdeckt wurden, gruppiert und damit kategorisiert« (vgl. ebd.: 197). Wie Flick betont, kann das offene Kodieren mehr oder weniger detailliert benutzt werden (ebd.: 200). Dies entspricht auch dem allgemeinen Grundsatz, dass die Methoden qualitativer Forschung nach ihrer Gegenstandsangemessenheit auszuwählen sind (vgl. ebd.: 148). Das Verfahren, das dieser Arbeit zugrunde liegt, wurde daher auf die Fragestellung zugeschnitten und entsprechend abgewandelt. Im Vordergrund steht hier die Bewertung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« und »Wer wird Millionär?« in den Fernsehkritiken, wobei auch geprüft wird, welche übergeordneten Diskurse dafür relevant sind. Ziel ist es, Aufschluss darüber zu erlangen, wie die Diskursstränge zur Serie und der Quiz Show in der Medienkritik von SZ und FAZ strukturiert sind und auf welche Weise die Bewertungen erfolgen. Daher wurde vor allem auf Argumentationen geachtet, d.h. auf Aussagen über die Formate, die sie vor allem über die Wortwahl mit bestimmten Bewertungen versahen oder sie in bestimmte Sinnzusammenhänge rückten. Die Fernsehkritiken, die hier zu analysieren waren, wurden unterteilt in Textteile, also Abschnitte, Sätze oder Satzteile, in denen »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« und »Wer wird Millionär?« von den Kritikerinnen und Kritikern bewertet werden. Dazu wurde das Material zunächst gesichtet und in einem ersten Durchgang Beobachtungen notiert. Anschließend wurden die Artikel noch einmal intensiv gelesen und die Kritiken mit Hilfe des Computerprogramms »Mindmapper« segmentiert. Das Programm ermöglicht es, Textpassagen nach inhaltlichen Schwerpunkten zu sortieren und die inhaltliche Struktur eines Artikels als Baumstruktur abzubilden. Auf diese Weise traten die inhaltlichen Schwerpunkte der Fernsehkritiken klar hervor, um die herum die Bewertung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« und »Wer wird Millionär?« organisiert wurde. Dazu gehörten Aspekte wie die Darsteller und Darstellerinnen der Soap oder dem Quizmaster von »Wer wird Millionär?«. Im Weiteren wurden die Textpassagen anhand der ausgedruckten Baumstrukturen mit Anmerkungen und Begriffen kodiert. Diese Kodierungen wurden kategorisiert und gemäß der Fragestellung danach gebündelt, was sie für die Bewertung aussagen. Daher wurden sie zu (Unter-)Argumentationen zusammengefasst und aus ihnen abgeleitet, welche Diskurse in die Bewertung mit hinein spielen. Wurde beispielsweise die Soap-Produktion mit Begrif-

Methode | 183 fen wie ›Fabrik‹ oder ›Fließband‹ in den Kritiken gekennzeichnet, so legten diese den Kode ›Industrie‹ nahe. Daraus ließ sich in Zusammenhang mit weiteren Kodes die Argumentation ableiten, dass Soap Operas industrielle Produkte darstellen. Solche Argumentationsweisen wurden im Anschluss wiederum zu übergeordneten Argumentationssträngen gebündelt. Auf diese Weise kam unter anderem der Argumentationsstrang ›»Gute Zeiten, schlechte Zeiten« als Produkt der Kulturindustrie‹ zustande, dem sich zwei Unterargumentationen zuordnen ließen – ›Das »Fließband-Dramolett«‹ sowie ›Die »Geldmaschine«‹, in der die kommerzielle Seite der Soap hervorgehoben wurde. Als Diskurs, der in jenen Argumentationen offenbar bedeutsam war, kommt beispielsweise die Kommerzialisierung des Rundfunks in Frage. Ziel war es, mit dieser Vorgehensweise aufzuschlüsseln, welche Argumentationsmuster bei der Bewertung der inhaltlichen Schwerpunkte verwendet wurden. Dabei wurde versucht, sämtliche Positionen zu erfassen, wobei das Erfordernis der theoretischen Sättigung erfüllt wurde, d.h. es konnten am Ende der Untersuchung keine neuen argumentativen Positionen mehr herausgefiltert werden (vgl. ebd.: 203). Neben den Bewertungsmaßstäben, die an beide Formate angelegt wurden, zeigte sich in den Argumentationen, welche zentralen, übergeordneten Diskurse in der Bewertung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« und »Wer wird Millionär?« eine Rolle spielen. Diese werden in den Zusammenfassungen zu beiden Diskurssträngen erläutert. Es folgt noch einmal eine Übersicht der Analyseschritte: Tabelle 1: Analyseschritte 1. Sichtung des Materials, Auffälligkeiten werden notiert Z.B. im Artikel »Start frei zum Seifenkistenrennen!« (SZ 5.12.1994) fällt der Begriff ›Droge‹ auf, mit dem die Autorin Weidinger Soaps bezeichnet. 2. Sortieren der wertenden Textpassagen jedes Artikels mit Hilfe des Computerprogramms ›Mindmapper‹ nach inhaltlichen Schwerpunkten. Das Programm ermöglicht es, Baumstrukturen zu bilden. Inhaltliche die Aspekte,für die Bewertung zentral sind, werden sichtbar. Beobachtungen werden nach dem Kürzel K.G. eingefügt. Beispiel für die Bearbeitung eines Artikels mit ›Mindmapper‹ (Auszug). Hier fällt direkt zu »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« der inhaltliche Schwerpunkt der Serien-Produktion auf, während die ZuschauerInnen hier in Zusammenhang mit Soaps allgemein angesprochen werden:

184 | Teil 3: »Wer wird Millionär?« und »GZSZ« im Diskurs der Fernsehkritik

3. Handschriftliche Kodierung der Textpassagen anhand der Computerausdrucke Kodierungen zu der Passage »Simple Endlosstrickmuster und stichwortartige Texte sorgen auch hier für die angestrebte ›Zuschauerbindung‹, und in der besteht die Realität des kommerziellen TV-Konkurrenzkampfes« wären beispielsweise hinsichtlich der Argumentationen: Schematischer Aufbau von Soaps/Mängel/anspruchslose ZuschauerInnen/Quotenorientierung der Sender/Konkurrenzkampf In diesen Kodes deuten sich beispielsweise der Diskurs um die Konkurrenzsituation im dualen Rundfunk an. 4. Bündelung der Kodierungen aus allen Artikeln zu Unterargumentationen Kodierungen wie beispielsweise die ›industrielle Fertigung‹/›geringe Produktionskosten‹ sowie ›rein kommerzielle Zielsetzung der ProduzentInnen‹ können zu einer Unterargumentation ›Die »Geldmaschine«‹ gebündelt werden. 5. Zusammenfassung der Unterargumentationen zu Argumentationssträngen Es ergeben sich beispielsweise neben der Unterargumentation ›Die »Geldmaschine«‹ noch der untergeordnete Argumentationslinie ›Das »Fließband-Dramolett«‹. Beiden gemeinsam ist die Betonung der industriellen Produktion, ihre kommerzielle Zielsetzung und die mindere Qualität, die von der Kritik in den Soaps gesehen werden. Damit liegt ein Bezug zur Idee der ›Kulturindustrie‹ nahe, so dass man für beide Unterargumentationen einen übergeordneten Argumentationsstrang ›»Gute Zeiten, schlechte Zeiten« als Produkt der Kulturindustrie‹ annehmen kann.

Methode | 185 6. Herausarbeiten der Diskurse, die sich in den Kodierungen und Argumentationen andeuteten

Fiskes Diskursanalyse wird also um das offene Kodieren produktiv erweitert: zum einen erhält man über die Kodierung einen Einblick in die Bestandteile der Diskursstränge um »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« und »Wer wird Millionär?« und kann analysieren, an welchen Argumentationslinien entlang die Bewertung im Einzelnen verläuft. Zum anderen ist es möglich, Diskurse herauszuarbeiten, die für die Bewertung der Kritik bedeutsam sind. Die Kombination von Diskursanalyse und ›offenem Kodieren‹ stellt in dieser Weise einen weiteren Beitrag dar, in dem seit einigen Jahren in der Forschung zu beobachtenden Versuch, die diskursive Hermeneutik sozialwissenschaftlich zu fundieren (siehe z.B. Jäger 1999; auch schon Ritsert 1972) und so den diskursanalytischen Ansatz handhabbarer zu machen. Das Verfahren dieser Arbeit liefert damit weiteren Aufschluss über Schnittstellen zwischen hermeneutischen und sozialwissenschaftlichen Methoden.

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3. Der Diskursstrang »GZSZ« in der Fernsehkritik

3.1 Inhaltliche Schwerpunkte in der Bewertung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« Betrachtet man die Artikel zu der Soap-Opera »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«, so fällt auf, dass die Bewertungen der Kritik um wenige zentrale Schwerpunkte aufgebaut sind. Zu ihnen zählen: • die Produktion: Hierunter fallen sämtliche Textstellen, die den Produktionsprozess der Serie betreffen, also sich mit den ProduzentInnen (z.B. RTL), Produktionsbedingungen (z.B. Kosten, industrielle Produktion), Ausführung (z.B. Kameraführung, Regie), Unterschieden zur internationalen Soap-Produktion (z.B. in den USA), Produktionsmängel (bspw. verhaspelte Dialoge), Dramaturgie (z.B. Herausforderungen für Storyliner) beschäftigen. • die Handlung: Dieser Fokus umfasst Textpassagen, die sich mit dem Inhalt der Serie beschäftigen (z.B. ›Alltagsgeschichten‹, Fehlgeburten in Soaps, Handlungsabläufe). • DarstellerInnen: Hier stehen die Schauspieler und Schauspielerinnen der Serie im Vordergrund, also ihre Ausbildung (z.B. Schauspielunterricht), Karriere (z.B. Popkarriere von Jeanette Biedermann), Anforderungen (z.B. Ausrichtung der Freizeit auf die Soap-Produktion), Fähigkeiten (z.B. Kritik wie Unprofessionalität) oder Arbeitsbedingungen (z.B. Knebelverträge). • Zuschauer und Zuschauerinnen: Unter diesem Punkt werden Aspekte wie die Zusammensetzung des Publikums (z.B.: mehr Frauen als Männer, Teenies) angesprochen, die Art der Rezeption (bspw. passiv, Einbindung in den Alltag) thematisiert sowie die Beziehung der Rezipierenden zur Serie (z.B: emotional) behandelt. Die Schwerpunkte sind zentrale Bestandteile im Prozess der Massenkommunikation, an dem sich die Kritik somit zu orientieren scheint. Teilweise ergeben sich Überschneidungen. So betrifft z.B. eine Passage,

Der Diskursstrang »GZSZ« in der Fernsehkritik | 187 die sich mit der Kameraeinstellung einer Handlungssequenz auseinander setzt, sowohl die Produktion als auch die Handlung der Serie. Bei der Analyse lag der Schwerpunkt darauf, die Einbindung der inhaltlichen Schwerpunkte in einzelne Argumentationsstränge zu verfolgen. Auf diese Weise wird ersichtlich, wie Wertungen zustande kommen und wie sie begründet werden. Auch die Argumentationsstränge überschneiden sich teilweise, d.h. die Textstellen spielen teilweise in mehreren Argumentationen eine Rolle. Zudem sind die Argumentationen und Unterargumentationen unterschiedlich ausgeprägt, so dass die Länge der Textabschnitte differiert und zur Bewertung der Darstellerinnen und Darsteller lediglich ein Argumentationsstrang herausgearbeitet werden konnte, während es in der Charakterisierung der ZuschauerInnen, der Produktion und der Handlung zwei waren. In der Analyse wurde versucht, alle argumentativen Positionen zu erfassen. Daneben wurde darauf geachtet, gegenläufige Textstellen der Diskursfragmente zu erfassen. Trotz des Versuches, alle zentralen Argumentationen herauszuarbeiten, ist es wahrscheinlich, dass sich noch weitere Argumentationsstränge finden ließen, die nicht so ausgeprägt und nicht in dem Maße bedeutsam sind, wie die hier dargestellten – in Diskursen und Diskurssträngen existiert immer ein Nebeneinander unterschiedlicher Argumentationen. Ziel war es jedoch, Ordnungsstrukturen und Mustern nachzuspüren, die den Diskursstrang um die Bewertung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« maßgeblich prägen. An den 44 analysierten Artikeln waren insgesamt 33 AutorInnen beteiligt. Einige steuerten also mehrere Diskursfragmente bei. Dazu zählen Illies (FAZ, 21.10.1995; 13.7.1998; FAZ, 22.2.1999), Hanfeld (FAZ, 24.6.1998; FAZ, 15.12.1995), Siemons (FAZ, 29.1.1994; FAZ 10.7.1993), Thomann (FAZ, 31.10.1997; FAZ, 5.7.1997; FAZ, 20.6.1996), Arnu (SZ, 28.7.1995; SZ, 13.1.1998; SZ, 30.4.1999), Götting (SZ, 20.5.1998; SZ, 24.6.1998), Niggemeier (SZ, 2.8.2001; SZ, 13.10.1997), Weidinger (SZ, 5.12.1994; SZ, 29.12.1994) und Ziegler (SZ, 15.7.1996; SZ 9.11.1995; SZ 17.5.1995). Von ihnen stammen die Hälfte der untersuchten Artikel zu »GZSZ«. Um die Ergebnisse transparenter zu machen, werden als Quellenangaben zu den einzelnen Artikeln im Folgenden die jeweilige Zeitung und das genaue Erscheinungsdatum angegeben und nicht nur der Name von Autor oder Autorin und Jahreszahl. Die Darstellung beginnt mit der Bewertung der Produktion durch die Fernsehkritik, dann wird die Art und Weise erläutert, wie die Handlung, DarstellerInnen und schließlich die Zuschauerinnen und Zuschauer thematisiert werden. In die Auswertung fielen neben Textstellen, die sich ausschließlich mit »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« auseinander setzen, Passagen, in denen allgemein von Soap Operas die Rede war. Die Betrachtung von Seifenopern allgemein mit einzubeziehen, ist notwendig, da oftmals Schlüsse von der einzelnen Seifenoper auf die Gesamtheit gezogen werden und umgekehrt. Es ist daher nicht sinnvoll, die Bewertung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« von den Äußerungen zu Soaps

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allgemein zu trennen – im Übrigen wäre dies wohl auch gar nicht möglich. Aus der Darstellung der Ergebnisse geht allerdings jeweils hervor, auf was sich eine Textstelle in den Diskursfragmenten bezieht.

3.2 Erster Fokus: Die Produktion Eine der zentralen Schwerpunkte innerhalb der Bewertung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« ist die Produktion der Serie. In diesem Fokus sind mehrere Aspekte enthalten, wie der Produktionsvorgang, also die Drehbuchproduktion, Regie, Kameraführung, Beleuchtung, die Einschätzung des Senders RTL oder auch Momente der Soap-Produktion in den USA, Australien, teilweise Kanada im Vergleich zu den deutschen Gegebenheiten. Daneben werden unter der Produktion auch die Massenproduktion, die Mängel der Produktion sowie die Arbeitsbedingungen bei der Soap-Produktion betrachtet. Die hier genannten Aspekte wurden eingebettet in verschiedene Argumentationsstränge, die um die Produktion herum aufgebaut wurden und den Diskursstrang »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« wesentlich strukturieren. Jene Argumentationsstränge verlaufen nicht getrennt voneinander, sondern beziehen sich aufeinander oder ergänzen sich. Übergeordnet sind zwei argumentative Strategien zu erkennen: Zum einen sticht der Argumentationsstrang (1) »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« als Produkt der Kulturindustrie heraus. Hieran knüpfen sich die beiden untergeordneten Argumentationen, nach der »GZSZ« zum einen als industrielles Produkt bzw. als »Fließband-Dramolett« (Zekri, FAZ 10.5.2000) verstanden wird und zum anderen für RTL eine »Geldmaschine« (Niggemeier, SZ 2.8.2001) verkörpert, also in ein kommerzielles System einbebunden ist. Zum anderen ließ sich der Argumentationsstrang (2) herausarbeiten, in dem »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« zusammen mit dem Genre Soap allgemein als Beleg für eine Negativentwicklung des Fernsehens gelten. Dieser Argumentationsstrang wird untergliedert in die Argumentation, dass sich öffentlich-rechtliche Sender an die Privaten angleichen sowie in die Angleichung deutscher Fernsehverhältnisse an Vorbilder aus Australien und den USA. 3.2.1 Argumentationsstrang: »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« als Produkt der Kulturindustrie Das »Fließband-Dramolett« Vor allem in den Kritiken der Süddeutschen Zeitung verläuft die Bewertung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« anhand der Argumentation, nach der die Serie ein industrielles, massenkulturelles Produkt darstellt. Auch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung findet sich diese argumentative Strategie, allerdings greift man nur hin und wieder die industrielle Produktion von Soaps auf, wie beispielsweise mit der Bezeichnung der Serie als »Fließband-Dramolett« (Zekri, FAZ 10.5.2000) – was leicht verniedli-

Der Diskursstrang »GZSZ« in der Fernsehkritik | 189 chend die Härte des Industriebezugs etwas abschwächt – oder indem die tägliche Produktion hervorgehoben wird (Thomann, FAZ 5.7.1997). Diese Argumentation verläuft in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung also eher am Rande. Ausgangspunkt in den Kritiken ist die industrielle Produktion der Seifenoper, die immer wieder als Fabrikarbeit beschrieben wird. »Wie am Fließband einer Autofabrik« (Himmel, SZ 7.6.1994), teilweise auch einer Brezelfabrik (Weiler, SZ 1.10. 1999) oder allgemein als »Mühle« (Himmel, SZ 7.6.1994) wird der Produktionsvorgang von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« gekennzeichnet. Die Sender hätten dazu extra ›Fabriken‹ errichtet. In ihnen wird täglich unter Zeitdruck die von den Storylinern vorbereitete »Wochenration« hektisch produziert. »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« scheint hier vor allem als industrielles Produkt wahrgenommen zu werden. Dazu passt auch, dass hervorgehoben wird, die Serie verfüge über keinerlei Charakteristika, sie sei vielmehr »anonym« (Katz, SZ 14.5.1992) und mit anderen Soaps zu verwechseln. Soaps seien generell untereinander austauschbar. Sie liefen nach einem bestimmten Schema ab und funktionierten nach einem »simplen Endlosstrickmuster« (Weidinger, SZ 5.12.1994). Das Produkt »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« weise daneben etliche Mängel auf – es wird also nicht nur die Anonymität der Serie bemängelt, sondern ihr auch mindere Qualität bzw. »schlampige Herstellungsweise« (Niggemeier, SZ 13.10.1997) bescheinigt. Die hektische Produktion bei Soaps führe dazu, dass manchmal »Halbfertiges« gesendet werde (Weiler, SZ 1.10.1999). Die Studiokulissen seien »so fadenscheinig […] wie die Buchrücken im Ikea-Katalog« (Hanfeld, FAZ 24.6.1998). Kritisiert wird auch die Kameraführung und die Schnitttechnik. Beispielsweise wird die Kameraführung der 1 500. Jubiläumsfolge, die hauptsächlich im Berliner Dom spielt, mit Urlaubsvideos aus der Kathedrale von Palma verglichen, womit man mittels einer Anspielung auf die deutschen Mallorca-UrlauberInnen der Kamera bei »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« die Professionalität abspricht und impliziert, dass die Bilder banal und langweilig seien. Vor allem stehen die Fähigkeiten der SchauspielerInnen in der Kritik (z.B. Niggemeier, SZ 13.10.1997), wie später unter dem zweiten Fokus DarstellerInnen noch ausführlich dargelegt wird (vgl. Teil 3, Kap. 3.3.). In den FAZ-Beiträgen schließt man aus den schauspielerischen Schwächen auf ein anderes Genre: »Bis einen dann, grausamer als jeder Cliffhanger, die Erkenntnis trifft: der Fotoroman ist es, der hier laufen lernt« (Bahners, FAZ 4.6.1992; den Begriff »Fotoroman« verwendet auch: Prümm, FAZ 20.8.1996). Damit werden wiederum Kameraführung und Dialoge kritisiert. Hier wird auch impliziert, dass die Handlung nicht komplex und qualitativ hochwertig sei. Letztlich folgert man, dass es sich bei »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« nicht um ein Fernsehgenre handele, also die Serie in diesem Medium nichts zu suchen habe, da sie leblos sei und ihre Bilder stillstünden. Der Kritik an der vermeintlich mangelhaften Herstellung läuft nur eine Aus-

190 | Teil 3: »Wer wird Millionär?« und »GZSZ« im Diskurs der Fernsehkritik

sage entgegen, die der Soap eine charakteristische, kreative Ausstattung bescheinigt, die immer an die jeweilige Situation einer Figur angepasst würde – je nach dem, ob sie jugendlich heiter oder ernst sei (vgl. Schmidt, SZ 13.10.1999). Mit der Betrachtung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« als industrielles Produkt geht die Einschätzung einher, dass Soap Operas über bestimmte Genremerkmale verfügen, die aus der Massenproduktion resultieren. Es wird unter anderem angeführt, dass die Handlung weniger über Aktionselemente verläuft als über Dialoge, da auf diese Weise schneller produziert werden könne: »Quatschen, was das Zeug hält. Laber. Sülz. Quassel. Ein gutes Soap-Drehbuch ist auch als Hörspiel gut verständlich. Schließlich, so meint einer der Soap-Macher, sollen die Zuschauer auch dabei bügeln können« (Weiler, SZ 1.10.1999). Die Bewertung der Handlung wird noch unter dem Fokus Handlung genau erläutert (vgl. Teil 3, Kap. 3.4). Die spezifischen Soap-Eigenheiten, die sich hiernach aus der kommerziellen Zielsetzung ergeben, werden eher abgewertet. Im Widerspruch dazu steht in einigen Artikeln die positive Aufnahme der Storyliner und ihrer Arbeit. Sie müssten sich den genrespezifischen Anforderungen stellen, wodurch ihre Arbeit erheblich erschwert würde (vgl. z.B. Weiler, SZ 1.10.1999; Himmel, SZ 7.6.1994). Das industrielle Produkt »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« wird im Laufe dieser Argumentation als Gegensatz zu den klassischen Künsten begriffen, wobei mit den fehlenden schauspielerischen Fähigkeiten auf den Film und vor allem auf das Theater angespielt wird, diese also als Vergleichsmaßstäbe dienen, was angesichts der Wurzeln der Fernsehkritik in der Kunstkritik kaum verwundert (vgl. Hickethier 1994).1 Beispielsweise wird in einer Kritik zur ersten Folge von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« der Bezug zu Theaterpremieren hergestellt sowie die griechische Mythologie mit dem Ausspruch »O Lindenstraße, Musentempel« heraufbeschworen (siehe Katz, SZ 14.5.1992). Dass die Seifenoper keine Kunst ist, sondern »routiniert gemachte Fernsehware« (Weidinger, SZ 29.12.1994) sowie Soap-Drehbücher allgemein »keine Lyrik, sondern Gebrauchstexte, exakte Ergebnisse dramaturgischen Handwerks« darstellten, liefern weitere Anhaltspunkte für die Konstruktion des Gegensatzes Industrieprodukt versus Kunstwerk (vgl. auch Thomann, FAZ 5.7.1997). Eckert (SZ 27.2.1997) berichtet auch von der Sichtweise eines Produzenten, der ebenfalls von einer »handwerklichen Herausforderung« spricht. Gestützt wird diese Opposition der Serie zur Kunst noch dadurch, dass an anderer Stelle Volker Schlöndorffs Ablehnung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« referiert wird (»Bilder, die man sofort vergisst«, Rossmann, FAZ 20.11.2001). Schlöndorff verkörpert als Vertreter des anspruchsvollen deutschen Films die Kunst, der sich hier von ›Massenware‹ distanziert. 1 | Vgl. auch den Abschnitt zur Geschichte der Fernsehkritik in dieser Arbeit (Teil 3, Kap. 1.1).

Der Diskursstrang »GZSZ« in der Fernsehkritik | 191 Nicht zuletzt die Gegenüberstellung von Kunst und Massenkultur, bei der letztere abgewertet wird, erinnert an die »Kulturindustrie«-Kritik, von Horkheimer und Adorno bereits 1944 zum ersten Mal publiziert (vgl. Horkheimer/Adorno 1998: z.B. 137). Sie befassen sich darin mit der kulturellen Produktion von Massenunterhaltung durch die Kulturindustrie. Zu diesen Erzeugnissen zählen die Autoren unter anderem Schlager, Zeichentrickfilme und auch die Soap-Opera, damals noch auf die Verbreitung durch das Radio beschränkt. Zwischen der Charakterisierung der Massenwaren bei Adorno und Horkheimer und der Beschreibung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« durch die KritikerInnen ist die Hauptgemeinsamkeit der industrielle Produktionsvorgang, der hervorgehoben wird. Daneben tauchen allerdings auch Punkte wie der schematische Aufbau eines Produktes bereits in den Ausführungen zur Kulturindustrie auf (Horkheimer/Adorno 1998: 133). Die Produktion der Soap Opera wurde in der Kritik einseitig interpretiert und zu ihrem Nachteil ausgelegt. Eine Einschätzung, wie Hobson sie vornimmt, liegt der Kritik offenbar fern: Hobson hebt an der Soap-Opera-Produktion die Teamarbeit hervor, die sie als »dynamisches Wechselspiel« (Hepp 1999: 172) charakterisiert, in dem sich die Beteiligten mit Produktionszwängen und Freiräumen arrangieren müssten. Der Produktionsvorgang sei daher nicht als industrielle Arbeit zu bezeichnen (Hobson 1982: 50). Vielmehr sei hier Kreativität gefragt, besonders angesichts der straffen Produktionsvorgaben. Die Kritik hätte die Herstellung von »GZSZ« auch in dieser Weise interpretieren können. Statt dessen überwog die kulturkritische Einschätzung. Die »Geldmaschine« Die Mängel des Produktes durch seine industrielle Produktion werden letztlich begründet mit der rein kommerziellen Zielsetzung des Senders. Hierdurch entstehe eine kommerzielle Ästhetik, wobei »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« noch unter dem Niveau der Werbung läge (Katz, SZ 14.5.1992). Katz kritisiert auch, dass die Serie in Werbung eingebettet werde, womit die Autorin den Programmablauf des privaten Senders RTL angreift. Daneben richtet sich die Kritik gegen die Einbettung der Serie in kommerzielle Strategien des Kölner Senders. So ziele RTL darauf ab, mit möglichst geringem Aufwand, möglichst viele ZuschauerInnen anzulocken, wobei »Gute Zeiten schlechte Zeiten« als »Einstiegsdroge« süchtig machen soll (Weidinger, SZ 5.12.1994). Hauptinteresse des Senders seien die hohen Werbeeinnahmen und das Merchandising der Serie. »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« stellt für ihn eine »Geldmaschine« dar (Niggemeier, SZ 2.8.2001), mit der man »stinkereich« werden kann (Weiler, SZ 1.10.1999). Die Qualität des Produktes spiele für RTL keine Rolle: »Da ist es dem Sender wurscht-egal, ob seine Produkte schnöde oder blöde sind« (ebd.). Auch der damalige RTL-Geschäftsführer Thoma wird zitiert mit der sich distanzierenden Aussage, »Der Köder muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler« (ebd.). RTL wird hiermit von Weiler als privater Sender

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eine ausschließliche Gewinnorientierung bescheinigt. »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« wird damit zu einem strategischen Produkt, das der Sender einsetzt, um ZuschauerInnen in die Prime-Time zu lotsen. Die Serie ist in den Augen der KritikerInnen fest verankert in dem kulturindustriellen System, für das nicht nur RTL steht, sondern an anderer Stelle auch der Bertelsmannkonzern angeführt wird. Hierfür spricht, dass RTL als »Bertelsmann-Sender« bezeichnet wird (vgl. Bartels, SZ 22.3.2000). Innerhalb dieses Systems verkörpert »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« den AutorInnen zufolge ein ideales, marktwirtschaftliches Produkt, das genutzt werden kann, Merchandisingartikel zu verkaufen oder Stars aus der Musikindustrie Gelegenheit zur Eigenwerbung zu geben (vgl. Arnu, SZ 13.1.1998; Bartels, SZ 22.3.2000). Insbesondere Bartels (SZ 22.3.2000) kritisiert mit dem Verweis auf die Verflechtungen des Bertelsmann-Konzerns in den Medien und die »Bertelsmann’schen Synergien«, die der Konzern zu nutzen verstehe, die fortschreitende Konzentration im Rundfunkbereich. In diesem Teil der Argumentation finden sich einige entgegenlaufende Momente, mit denen die marktwirtschaftliche Bedeutung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« positiver gewertet werden: beispielsweise werden die Arbeitsplätze in der Serienproduktion betont oder die Bedeutung der Serie für die Studios in Potsdam-Babelsberg hervorgehoben, die durch die Serie auf lange Sicht ausgebucht sind (siehe Thomann, FAZ 5.7.1997). Der Sender RTL erscheint insbesondere in Diskursfragmenten der Süddeutschen Zeitung wie ein skrupelloser Unternehmer des Frühkapitalismus. So verwundert es nicht, dass die DarstellerInnen von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« durch die Produktionsfirma Grundy Ufa, die mittlerweile auch zum Bertelsmann-Konzern gehört, als Opfer charakterisiert werden, die man mit ›Knebelverträgen‹ ausnutzt (vgl. Niggemeier, SZ 2.8.2001). Hier wird auf ein Urteil hingewiesen, das gegen diese Arbeitspraxis aufgrund der Klage der »GZSZ«-Darstellerin Stefanie Julia Möller gefällt wurde (vgl. Niggemeier, SZ 2.8.2001). Zuvor hätten sich viele SchauspielerInnen nicht getraut, rechtliche Schritte zu unternehmen, aus Angst davor, kein Engagement mehr zu bekommen. Vor allem das Grundy/Ufa-Unternehmen wird in diesem Zusammenhang kritisiert. Die KritikerInnen verstehen sich in diesem Argumentationsstrang als Anwalt der (schwachen) DarstellerInnen, die in einer knallharten Branche zurechtkommen müssen (siehe Weiler, SZ 1.10.1999). Die Beziehung von den Verantwortlichen zu ihren Angestellten wird somit als Hierarchieverhältnis gekennzeichnet, in dem auch von Strafaktionen gegenüber SchauspielerInnen die Rede ist, die nicht den Anordnungen ›von oben‹ Folge leisten (Weiler, SZ 1.10.1999). »Auch wenn sich alle ganz locker geben: Die Branche funktioniert nach dem Prinzip Beinschuss, Bauchschuss, Kopfschuss« (Weiler, SZ 1.10.1999). Weiler verwendet in dieser Textstelle eine drastische Kriegsmetapher, um die Unmenschlichkeit des Seriengeschäftes zu verdeutlichen. Die Soap-Branche wird insgesamt in den Dis-

Der Diskursstrang »GZSZ« in der Fernsehkritik | 193 kursfragmenten zum Haifischbecken, in dem Skrupellosigkeit herrscht und der Gewinn über gerechte Arbeitsbedingungen gestellt wird. Die privatwirtschaftliche Zielsetzung von RTL wird in dieser Unterargumentation stark kritisiert. Hier prallen ›private ownership‹-Diskurs, für den der Kölner Sender steht, und ›public-service‹-Gedanke (vgl. Ang 1991) des öffentlich-rechtlichen Rundfunks aufeinander, dem die Fernsehkritik zu folgen scheint. Danach sollte nicht der Gewinn, sondern die vermittelten Inhalte für die Programmverantwortlichen den Ausschlag geben. Erneut finden sich auch Parallelen zum Argumentationsstrang »GZSZ« als typisches kulturindustrielles Produkt und damit zur Kritik an der Kulturindustrie bei Adorno und Horkheimer. Die beiden Autoren charakterisieren sie als »ökonomische Riesenmaschinerie« (Horkheimer/Adorno 1998: 135) und auch dort werden skrupellose ProduzentInnen von Massenkultur beschrieben, die ausschließlich auf den Profit schauen und nicht auf Qualitätsansprüche achten. Natürlich liegt der Schwerpunkt der Beschreibung in der »Dialektik der Aufklärung« auf der ideologischen totalitären Zielsetzung der ProduzentInnen der Kulturindustrie – dies ist in den analysierten Kritiken nicht der Fall. Kommerzorientierung und kapitalistische Ideologie werden allerdings sowohl bei den Autoren der Kritischen Theorie als auch bei den Kritikern und Kritikerinnen der SZ und der FAZ bemängelt. Die Gründe sind in beiden Fällen dieselben: Einerseits drückt sich hierin die Angst davor aus, dass eine ausschließlich kommerzielle Orientierung eine Qualitätsminderung der Fernsehproduktionen zur Folge haben könnte. Andererseits schwingt hier auch die Furcht mit, den Einfluss als KritikerInnen auf die Programmgestaltung zu verlieren.2 Diese Furcht trat in der Krise der Fernsehkritik in den achtziger Jahren offen zutage, als die KritikerInnen eine Bedrohung durch die Einführung des privaten Rundfunks monierten (siehe Abschnitt zur »Fernsehkritik« in dieser Arbeit). Offenbar besteht sie auch weiterhin, wenn auch latenter. 3.2.2 Argumentationsstrang: Soaps als Indikator für eine Negativentwicklung des deutschen Fernsehens »Nun also ist das Fernsehen endgültig auf die Daily Soap gekommen«, formuliert Weidinger ihre Ablehnung der deutschen Seifenopern (Weidinger, SZ 5.12.1994). Bereits dieses kurze Zitat zeigt, dass in den Soaps mehr gesehen wird als eine ›neue‹ Serienform. An ihnen wird eine Verschlechterung deutscher Fernsehverhältnisse allgemein abgelesen. So merkt Illies (FAZ 13.7.1998) kritisch an, dass das deutsche Publikum seit »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« und »Marienhof« seine Mindeststandards für schauspielerische Leistung, Ausstattung und Dialogintelligenz nach unten habe korrigieren müssen. Dass »Gute Zeiten, schlechte Zei-

2 | Vgl. zur Angst Intellektueller vor ihrem Funktionsverlust Hertel 1993: 19.

194 | Teil 3: »Wer wird Millionär?« und »GZSZ« im Diskurs der Fernsehkritik

ten« die erste deutsche Daily Soap 1992 war, setzt sie an den Anfang dieser Negativentwicklung und stempelt sie damit zum Auslöser der ›Misere‹ ab. »GZSZ« verkörpert so für die AutorInnen den Beginn einer Negativentwicklung im Fernsehen, wozu allgemein die Angleichung der öffentlich-rechtlichen Sender an private Anstalten zählt, die im Einzelnen vor allem eine fortschreitende Kommerzialisierung umfasst. Daneben wurden hier verschiedene Aspekte sichtbar, die die Gegenüberstellung von US- und australischen Produktionsstandards betreffen. Diese wurden weitgehend negativ geschildert, so dass eine Bedrohung der deutschen Fernsehverhältnisse durch Soaps abzulesen war. Auch hier wurde eine Angleichung befürchtet, diesmal die Angleichung an internationale Fernsehverhältnisse. Der ›Neid‹ der Öffentlich-Rechtlichen oder ihre Angleichung an die Privaten »Nichts neidet die Konkurrenz dem Marktführer RTL mehr als Gute Zeiten, schlechte Zeiten« (Bartels, SZ 22.3.2000) – »GZSZ« gilt den KritikerInnen als marktwirtschaftlich ideales Format, das sich andere Sender zum Vorbild für eigene Seifenopern genommen haben in der Hoffnung auf einen ähnlichen Anklang beim Publikum (Weidinger, SZ 29.12.1994; Arnu, SZ 30.4.1999; Sei, FAZ 10.9.1994; Prümm, FAZ 20.8.1996). Als Grund für den Reiz, den »GZSZ« auf andere Sender ausübe, wird angeführt, dass die Serie ein Produkt darstelle, das mittels hoher Werbeeinnahmen gegenüber geringen Produktionskosten (z.B. Weidinger SZ, 5.12.1994; Niggemeier, SZ 2.8.2001), Merchandising (Weiler, SZ 1.10.1999) und der Möglichkeit zur Cross-Promotion (Bartels, SZ 22.3.2000; Arnu, SZ 13.1.1998) für RTL eine einmalige Einnahmequelle verkörpere (Weiler, SZ 1.10.1999; Adorjan u.a., SZ 21.6.1999; Arnu, SZ 30.4.1999; Bartels, SZ 22.3.2000). Daneben wird auf die starke ZuschauerInnenbindung hingewiesen (siehe z.B. Adorjan u.a., SZ 21.6.1999; Götting, SZ 24.6.1998; Maruschat, SZ 30.5.2000), die relativ feste Quoten garantiere und für die anschließende Prime-time eine günstige Ausgangsquote liefere. »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« nimmt demnach eine strategisch ausgezeichnete Position als »Quotenvorlage« ein (Bartels, SZ 22.3.2000). In einem Artikel von 1994 wird deutlich, dass nicht mehr »GZSZ« allein als ein für Sendeanstalten günstiges Format wahrgenommen wurde, sondern diese Einschätzung auf das Format Daily Soap allgemein übertragen wurde: »Die tägliche Serie, im Branchenjargon Daily Soap geheißen, gilt unter all den Fernsehschaffenden und Werbetreibenden, die berufshalber den Quotenmond anheulen müssen, als probates Mittel, den Zuschauer bei der Stange, das heißt im Kanal zu halten« (Sei, F A Z 10.9.1994). »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« verkörpert durch seine marktwirtschaftlich günstige Form die kommerzielle Philosophie privater Sender, möglichst hohe Einschaltquoten in der werbewirksamen Zielgruppe der 14- bis

Der Diskursstrang »GZSZ« in der Fernsehkritik | 195 29jährigen gegenüber geringen Produktionskosten, und wird so zu einem typisch ›privaten‹ Fernsehformat. Beleg dafür ist auch, dass »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« eng an die Entwicklung des dualen Rundfunks geknüpft wird, wenn es zum Beispiel heißt, der Erfolg der Serie sei einer »Expansion des Privaten« geschuldet (Eckert, SZ 27.02.1997). Die Bedeutung, die »GZSZ« in den Diskursfragmenten beigemessen wird, geht in diesem Kontext noch an anderer Stelle über die einfache Einschätzung als ›marktwirtschaftlich ansprechendes Format‹ hinaus. »GZSZ« steht für den Beginn des Senderkonkurrenzkampfes, der durch die ›neuen‹ privaten Sender aufgekommen ist und der sich vor allem zwischen den Privaten und den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten abspielt. Soaps werden in den Diskursfragmenten als Mittel dargestellt, den Konkurrenzkampf auszutragen (Sei, FAZ 10.9.1994; Illies, FAZ 21.10.1995) – die Sender veranstalten eine Art »Seifenkistenrennen« (Weidinger, SZ 5.12.1994), das sich in einer Vielzahl von neuen Soap Produktionen äußert. Weidinger setzt an anderer Stelle »GZSZ« an den Anfang ihres Artikels, um die Serie als Anfangspunkt hinzustellen: »Dienstag, 27. Dezember: G u t e Z e i t e n , s c h l e c h t e Z e i t e n, die 644. (sechshundertvierundvierzigste), U n t e r u n s, die 21. (einundzwanzigste), M a c h t d e r L e i d e n s c h a f t, die 16. (sechszehnte). Mittwoch, 28. Dezember: G u t e Z e i t e n , s c h l e c h t e Z e i t e n, die sechshundertfünfundvierzigste, U n t e r u n s, die zweiundzwanzigste, M a c h t d e r L e i d e n s c h a f t, die sechzehnte …« (Weidinger, S Z 29.12.1994). Die öffentlich-rechtlichen Sender ARD und ZDF werden dabei – wie bereits erwähnt – als Nachahmer der Privaten begriffen (siehe z.B. Weidinger, SZ 29.12.1994; Prümm, FAZ 20.8.1996). Vor allem die ARD wird seit 1994 vermehrt kritisiert, was wohl mit der Ankündigung der ARD zusammenhing, die Serie »Marienhof« ab Januar 1995 täglich auszustrahlen und gleichzeitig eine weitere tägliche Seifenoper – »Verbotene Liebe« – anzuschließen (siehe: Sei, FAZ 10.9.1994; Hanfeld, FAZ 15.12.1995). Das ZDF geriet mit »Macht der Leidenschaft« ins Blickfeld, einer deutschkanadisch co-produzierten Daily Soap, die schnell wieder eingestellt wurde (vgl. Weidinger, SZ 29.12.1994). Das ZDF wurde später nochmals kritisiert, als der Sender betont jugendliche Produktionen wie »Die Kids von Berlin« in den Senderwettstreit um Einschaltquoten einbrachte. Zum Zeitpunkt dieser Kritik – 1997 – war das ZDF bereits mit seiner zweiten täglichen Soap Opera »Jede Menge Leben« (1995-1996) gescheitert. Diese neue Jugendlichkeit des Mainzer Senders wird von Thomann als Gegensatz zum bisherigen ›altbackenen‹ Image des ZDF begriffen: »Fernsehsender, 36, etwas älter wirkend, aber geistig jung, sucht nach Enttäuschungen noch einmal junge Zuschauer. Wenn Du zwischen vierzehn und neunundvierzig bist und Spaß hast an Vorabendserien, die voll im Trend liegen und zeitgemäße Kriminalfälle in modernem Look zeigen, dann schau mal rein bei ›Die Kids von Berlin‹. Treffpunkt mittwochs um 19.25 Uhr beim ZDF. Kennwort: Quotendruck« (Thomann, F A Z 31.10.1997).

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Der Artikel kritisiert, dass sich das ZDF in der Quotenorientierung an die Privaten anpasst. Dass die ARD das Konzept von RTL imitiere, wird beispielsweise daran festgemacht, dass sie wie der private Sender zwei Soaps hintereinander ausstrahle (siehe Weidinger, SZ 29.12.1994). Dies ist nicht ganz richtig, da die beiden Soaps bei RTL, neben »GZSZ« noch »Unter Uns«, nicht direkt hintereinander gesendet werden, während sich an »Verbotene Liebe« um 17.55 Uhr der »Marienhof« direkt um 18.25 Uhr im Ersten anschließt. Auch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wird an drei Stellen bemängelt, dass sich die ARD RTL zum Vorbild genommen habe und auch bei der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalt zunehmend die Quote an Bedeutung gewinne (Sei, FAZ 19.12.1994; Hanfeld, FAZ 15.12.1995; Prümm, FAZ 20.8.1996). Die Betonung liegt auf neuem strategischen Verhalten der ARD, wobei eine verstärkte Orientierung an werberelevanten Zielgruppen und damit die Ausrichtung nach den Interessen der Mediaplaner in den Vordergrund gerückt werde (Sei, FAZ 10.9.1994). In der Anpassung des öffentlich-rechtlichen Senders an RTL und der Übernahme des Formatfernsehen sieht die Kritik die Vereinheitlichung des gesamten Programms (vgl. Sei, FAZ 10.9.1994; Prümm, FAZ 20.8.1996; Weidinger, SZ 29.12.1994). Zudem wird in einem Beitrag der FAZ ein System RTL heraufbeschworen, dass sich selbst reproduziere. »Gute, Zeiten, schlechte Zeiten« wird dabei zu dem typischen Musterbeispiel des RTL-Programmkonzeptes, das Zuschauerbindung über die Gewöhnung an täglich wiederkehrende ›Bausteine‹ vorsehe (vgl. Siemons, FAZ 10.7.1993). Soaps werden damit als Indiz für eine Angleichung der öffentlichrechtlichen Sender an die Privaten gewertet, was sich auch im Formatfernsehen zeige (z.B. auch Hanfeld, FAZ 15.12.1995), wobei »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« mit seinem Erfolg als Auslöser dieser Entwicklung erscheint. »Tatsache ist, dass die Kommerzialisierung des Fernsehens mit dieser Generalübernahme der Daily Soaps unwiderruflich ein weiteres, großes Stück zugenommen hat« (Weidinger, SZ 5.12.1994). In einem Beitrag heißt es sogar, die ARD büße dabei ihre angestammten Qualitäten ein, Information und Unterhaltung zu verbinden. Lediglich im Abendprogramm sei die ursprüngliche Qualität noch vorhanden (vgl. Hanfeld, FAZ 15.12.1995). Weidinger sieht in der Entwicklung sogar den öffentlich-rechtlichen Auftrag der »Grundversorgung« beeinträchtigt: »Soap, werk- und wochentäglich, gehört damit zur Grundversorgung« (Weidinger, SZ 29.12.1994). Die Soap Opera erscheint als Anzeichen für eine negative Weiterentwicklung des Fernsehens. Prümm sieht in den Seifenopern eine Bedrohung: »das durative Bild droht zum beherrschenden Prinzip des neuen Fernsehens zu werden« (Prümm, FAZ 20.8.1996). Er sieht eine Krise alter Formen, zu denen er das Fernsehspiel, Dokumentarfilm oder auch Literaturfeatures zählt. Seit Beginn des dualen Rundfunks sei die Fernsehvergangenheit hinfällig und Prinzipien wie Familiarität, Überschaubarkeit, Glaubwürdigkeit und die Orientierung am Einzelnen verlören sich zunehmend (vgl. ebd.). Soaps werden hier als Prinzip gewer-

Der Diskursstrang »GZSZ« in der Fernsehkritik | 197 tet, das für die Fernsehzukunft stehe, die mit dem dualen Rundfunk angebrochen sei. In diesen Argumentationsstrang spielt der Diskurs um die Konvergenz des öffentlich-rechtlichen und des privaten Rundfunks hinein, wobei befürchtet wird, die Öffentlich-Rechtlichen passten sich einseitig den Privaten an (vgl. z.B. Merten 1994; siehe auch Ang 1991). In dem Argumentationsstrang werden Soaps und »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« also immer wieder mit der Situation des Fernsehens allgemein in Zusammenhang gebracht. Die Abwertung von »GZSZ« scheint dabei gleichzeitig die Ablehnung privater Rundfunkorganisation und vor allem die Ablehnung von Kommerzialisierung zu sein. Die Bedeutungen, die »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« hier in dem Wettstreit von öffentlich-rechtlichen und privaten Sendern zukommen, sind offenbar für die Minderbewertung der Soap maßgeblich. Angst vor der Angleichung der deutschen Fernsehverhältnisse an Vorbilder aus Australien und den USA Weniger umfangreich und teilweise weniger eindeutig wird in der Süddeutschen Zeitung nicht nur eine Angleichung der öffentlich-rechtlichen Sender an die Privaten kritisiert, sondern auch die Angleichung deutscher Fernsehverhältnisse an amerikanische und australische Standards durch die Einführung der täglichen Seifenoper mit »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« befürchtet. Weiter werden kanadische Einflüsse in Zusammenhang mit einer deutsch-kanadischen Produktion im ZDF am Rande thematisiert (Weidinger, SZ 29.12.1994). Bereits angesprochen wurde das Formatfernsehen als Neuerung aus den USA (Siemons, FAZ 10.7.1993), für das »Gute Zeiten Schlechte Zeiten« als Beispiel angeführt wurde. Weiter werden internationale Aspekte der deutschen Soap-Branche gegenübergestellt, die bis 1992 keine Erfahrung mit der täglichen Soap-Produktion hatte. Ausgangspunkt ist der Import der Serie »The Restless Years« aus Australien als Vorlage für »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«. Vor allem der Beitrag von Himmel (SZ 7.6.1994) stellt Australien als Soap-Profi dar: »Weltweit haben es nur die Australier geschafft, ein großes Publikum täglich bei der Stange zu halten – und das nicht in der flauen Mittagszeit, sondern in den attraktiven Abendstunden« Aber auch in dem Diskursfragment von Eckert werden die Australier als »Studio-Mutterland« kritisiert (Eckert, SZ 27.2.1997). Mehrfach wird daher auch betont, dass für die Produktion von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«, der ersten deutsch produzierten täglichen Seifenoper, australische »Entwicklungshelfer« (Himmel, SZ 7.6.1994; auch: Eckert 27.2.1997; Schmidt, SZ 13.10.1999) hinzugezogen wurden. Interessant hierbei ist, dass die Unerfahrenheit der deutschen Fernsehproduktion mit dem Genre Soap teilweise auf ›typisch‹ deutsche Eigenschaften zurückgeführt wird. Die deutschen Autoren seien zu ernst, hätten Angst vor dem Boulevard und ähnliches (Himmel, SZ 7.6.1994). So habe die Ablehnung gegenüber Soaps in Deutschland bis zum Erfolg von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« eigent-

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lich als unüberwindlich gegolten (Eckert, SZ 27.2.1997). Gegenüber den ›ernsten‹ Deutschen sei bei australischen Produktionen extra eine Arbeiterin für den Bereich Boulevard zuständig, die die Arbeit der Storyliner begleitet: »So eine in Deutschland? Unmöglich. Auch wenn sie den Nerv der Zuschauer vielleicht besser trifft als ein Dr. phil.« (Himmel, SZ 7.6.1994). Hier wird der ›Arbeiterin‹, also der Frau, die Boulevardkompetenz zugeschrieben und dem ›Dr. phil‹ die akademische, intellektuelle Arbeit. Damit klingt die Tradition an, Frauen für den Bereich ›Klatsch und Tratsch‹, für Emotionales und Triviales, festzuschreiben, während die ernste, intellektuelle Arbeit als männliche Kompetenz charakterisiert wird. An die Soap-Produktion wird damit in dem Diskursfragment von Himmel (SZ 7.6.1994) eine Geschlechterkomponente geknüpft, nach der man die traditionelle deutsche Fernsehproduktion als männlich konnotiert begreifen könnte. Die Zunahme von Soaps im deutschen Fernsehen wird daneben auch als Aufgabe deutscher Identität gewertet, was man an Aussagen wie der von Weidinger festmachen kann: »kanadische und amerikanische Fernsehkonsumenten wissen es längst, und teutonische Neulinge werden sich auch an diese Allgegenwart (KG: der Soaps) gewöhnen« (Weidinger, SZ 29.12.1994). Hier spiegelt sich die Frage nach der Bewahrung von kultureller Identität gegenüber internationalen Einflüssen wider, die im Rahmen der Globalisierungsdebatte diskutiert wurde (vgl. z.B. Moran 1998). Neben Australien als ›erfahrenem‹ Soap-Land werden die USA als Geburtsland der Seifenopern herausgestellt, wobei natürlich »Dallas« und »Denver-Clan« angeführt und teilweise direkt mit »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« in Beziehung gesetzt werden (Ziegler, SZ 17.5.1995; Ziegler, SZ 9.11.1995; Reents, SZ 6.11.1999) – beide lieferten dem deutschen Publikum die ersten Erfahrungen mit einer importierten Prime-Time-Variante der Seifenoper.3 Die USA gelten als Land, in dem die Seifenoper seit langem etabliert ist und auf Seifenopern spezialisierte AutorInnen und SchauspielerInnen beschäftigt würden (Weidinger, SZ 5.12.1994; Weidinger, SZ 29.12.1994). Die amerikanische Soap-Produktion wird als eigene Soapindustrie begriffen: »Und wer sich dazu versteigt, im Fall der Soap-opera gar von neuen, modernen Formen des Fernsehspiels zu sprechen, betreibt Etikettenschwindel. Eine soap wird niemals ein Fernsehspiel sein – und das wollte sie auch in ihrer amerikanischen Herkunftsform nie. Dort ist sie ein seit langem etabliertes erfolgreiches Sujet, für das speziell ausgebildete Autoren spezielle Drehbücher schreiben, für das spezielle Schauspieler zuständig sind, die sich auf die verlangte Erzählweise und Drehgewohnheiten einstellen und auch improvisieren können und die sich unter höchst anstrengenden Bedingungen mit dieser trivialen Form der Endlosgeschichte voll und ganz identifizieren« (Weidinger, S Z 5.12.1994). 3 | Bezeichnenderweise wurde der Start von »Dallas« hierzulande durch einen intellektuellen Aufschrei begleitet (vgl. dazu den karikierenden Beitrag von Elke Heidenreich 1984).

Der Diskursstrang »GZSZ« in der Fernsehkritik | 199 Das Zitat offenbart eine ambivalente Einstellung gegenüber dieser als so eigen begriffenen amerikanischen Soap-Produktion. Könnte man den ersten Teil positiv werten, klingt doch die im letzten Satz betonte vollständige Identifikation mit dem ›Trivialen‹ abwertend. In diesem Zusammenhang fällt auch der Beitrag von Bahners auf, der sich gegen die damalige Bush-Regierung wendet und sich dazu an einer Stelle noch deutlicher gegen die USA und ihre Soap-Kultur richtet: »Im Amerika des Präsidenten Bush soll die d a i l y s o a p so wichtig sein wie das tägliche Brot. Aber die Vorliebe der Amerikaner für ungesunde Nahrung ist ja bekannt, und ›Gute Zeiten, schlechte Zeiten‹ verhalten sich zur wöchentlichen Konkurrenz aus der ›Lindenstraße‹ wie Flugzeugkost zum Sonntagsbraten« (Bahners, F A Z 4.6.1992). Die USA werden hier als Nation charakterisiert, für die Soap Operas überlebenswichtig sind. Gleichzeitig wird das Genre Seifenoper stark abgewertet. Hier wird ein Gegensatz zwischen den USA und Deutschland aufgebaut: Auf der einen Seite die soaperfahrenen US-Nation, deren mindere Qualitätsansprüche sich in der Vorliebe für Soaps zeige, und auf der anderen Seite die anspruchsvolleren deutschen ProduzentInnen, die noch keine Erfahrung mit täglichen Serien hatten und damit in den Augen der KritikerInnen noch verschont von dem amerikanischen ›Übel‹ Soap waren. Lediglich Zekri gewinnt den neu erworbenen deutschen Soap-Kenntnissen eine positive Seite ab. Als RTL seinen »GZSZ«-Spin off »Großstadtträume« startet, räumt sie ein, dass RTL bewiesen habe, »dass auch hiesige Sender die Kunst des ›Spin Off‹ beherrschen, die Aufzucht eines blühenden Soap-Zweiges« – in den USA sei diese »Serien-Clonierung nichts Ungewöhnliches« (Zekri, FAZ 10.5.2000). Widersprüchlich zur Argumentation ist auch die Bemerkung von Himmel (SZ 7.6.1994), die als Unterschiede die Sommerpausen in den USA anführt, mit denen sich die dortige Produktion der Hektik entziehe, die die deutsche bestimme. Sie meint, dass in den USA im Gegensatz zu Deutschland auf political correctness geachtet werde. Die Art und Weise, wie die deutsche Soap-Produktion mit US-amerikanischen und australischen Gegebenheiten in den Diskursfragmenten verglichen wird, führt zu folgenden Schlussfolgerungen: einerseits bedingt insbesondere die Abwertung der USA, dass in der Kritik mit »GZSZ« eine allgemeine Verschlechterung der deutschen Fernsehverhältnisse assoziiert wird. Andererseits offenbart sich hiermit eine Skepsis gegenüber der täglichen Seifenoper, so dass man annehmen kann, dass die Kritik es lieber gesehen hätte, wenn das deutsche Fernsehen frei von Soaps geblieben wäre. »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« hat dabei aus Sicht der Kritik durch die australische ›Entwicklungshilfe‹ den Anfang dieser Internationalisierung des deutschen Fernsehens eingeläutet. Die USA stehen hier auch für einen privatwirtschaftlichen Rundfunk und den Diskurs um ›private ownership‹, während demgegenüber das deutsche

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Fernsehen mit dem ›public service‹-Diskurs in Verbindung gebracht wird (vgl. dazu Ang 1991). Erneut fließen hier also Diskurse um den dualen Rundfunk in die Bewertung mit ein. Außerdem drückt sich darin, dass die Orientierung der deutschen Produktion an den USA und Australien negativ bewertet wird, die Angst vor einer internationalen, kulturellen Gleichschaltung aus.

3.3 Zweiter Fokus: Die Darstellerinnen und Darsteller Die Schauspieler und Schauspielerinnen bei »GZSZ« wurden bereits bezogen auf die Serien-Produktion kurz angesprochen. Sie sind für die Bewertung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« jedoch als eigenständiger Fokus bedeutsam. Wiederum werden hier mehrere Aspekte behandelt, wie beispielsweise die darstellerischen Fähigkeiten, Karriere in Soaps, Arbeitsbedingungen und ähnliches. Es fiel auf, dass die DarstellerInnen in Artikeln der Süddeutschen Zeitung ausführlicher diskutiert werden als in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Die Kernaussage, auf der die wesentlichen diskursiven Argumentationen fußen, findet sich allerdings auch in der FAZ: In beiden Zeitungen werden den Soap-DarstellerInnen schauspielerische Fähigkeiten abgesprochen. Diese Aussage bezeichnet den hier zentralen Argumentationsstrang (1), der folgende Unterargumentationen rahmt: So verfügten die Darsteller und Darstellerinnen nicht über die Schlüsselqualifikationen der Schauspielerei. Daneben wird argumentiert, dass die DarstellerInnen keine Distanz mehr zum Serienleben hätten. Zudem verfügten auch prominente Persönlichkeiten nicht über schauspielerisches Potential, sondern nutzten die Serie lediglich zur Selbstdarstellung. Die Charakterisierung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« in diesem Zusammenhang als kommerzielles Forum, bei der prominente DarstellerInnen der Musikindustrie und dem Sender zur Cross Promotion dienten, kommt nur in den Diskursfragmenten der Süddeutschen Zeitung zur Sprache. Hier klingt die oben ausgeführte Argumentation zur Produktion an, »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« sei fest in einem kommerziellen System verankert.

Der Diskursstrang »GZSZ« in der Fernsehkritik | 201 3.3.1 Argumentationsstrang: Keine SchauspielerInnen bei »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« Keine schauspielerischen Schlüsselqualifikationen »Soap-Schauspieler haben mit den Menschen in Pornofilmen das Schicksal gemein, Darsteller genannt zu werden, weil sie tatsächlich nicht schauspielern, sondern nur eine Funktion verkörpern, eine festgelegte Figur, die eine bestimmte Zielgruppe im Publikum ansprechen soll« (Weiler, S Z 1.10.1999). Das Zitat rückt Soap-Schauspieler und Schauspielerinnen in die Nähe von PornodarstellerInnen. Dies impliziert verschiedene Aspekte: Zum einen legt das Zitat nahe, dass die Rollen nach marktwirtschaftlichen Überlegungen besetzt werden und das Talent eines Schauspielers oder einer Schauspielerin keine Rolle spiele. Zum anderen wird mit dem Vergleich zur Pornobranche nahegelegt, dass die Soap-DarstellerInnen bei ihrer Arbeit ›funktionieren‹ müssten. Weitergehend wird damit auch impliziert, dass sie sich vor anderen ›entblößen‹ würden oder im gesellschaftlichen Tabubereich agierten. Vor allem wird hier den Soap-DarstellerInnen abgesprochen, SchauspielerInnen zu sein. Sie werden als »Mitspieler« bezeichnet, die »Schauspieler nun wahrlich nicht genannt werden können« (Hanfeld, FAZ 24.6.1992). Dies ist im Rahmen des Diskursstranges »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« bedeutsam, da auf dieser Behauptung wichtige Argumente des Diskursstranges aufbauen. Mimik, Bewegung und Ausdruck der »GZSZ«-Charaktere – elementare Vorraussetzungen der Schauspielerei – werden an ihnen kritisiert. »Verhaspelte Dialoge« (Katz, SZ 14.5.1992), »eckige Bewegungen«, eine verzögerte Mimik (beides: Bahners, FAZ 4.6.1992) oder »hölzerne Schauspielversuche« (Niggemeier, SZ 13.10.1997) werden ihnen attestiert. Mit Hilfe der Attribute wird der Eindruck geschaffen, die DarstellerInnen seien unprofessionell und laienhaft. Gleichzeitig wird damit darauf angespielt, dass viele SchauspielerInnen über Castings zu den Serien kommen und hier ihre ersten Rollen spielen. Dies scheint jedoch keine Entschuldigung für vermeintliche schauspielerische Anfangsschwierigkeiten zu sein. Ebenso wenig wird »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« in diesem Zusammenhang als Sprungbrett für junge Talente begriffen. Den »GZSZ«-Stars wird eine ›Steifheit‹ bescheinigt, die in der FAZ mit dem »Fotoroman« verbunden wird (Bahners, FAZ 4.6.1992), wie bereits oben erwähnt wurde. Darüber hinaus wird unterstellt, dass die SchauspielerInnen nur wegen ihres guten Aussehens engagiert würden. Als Beispiel wird ein weibliches Zwillingspaar der Serie angeführt, das nach Meinung der Autorin ruhig weniger hübsch, dafür schauspielerischer begabter hätte sein können (Washington, SZ 8.4.1995). Auffällig ist, dass zwei weibliche Charaktere ausgewählt wurden. Hier klingt zudem das Klischee an – direkt wird es an dieser Stelle nicht genannt –, dass ›gutes Aussehen‹ bei

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Frauen mit Dummheit einhergehe. Auch noch an anderer Stelle wird den DarstellerInnen Naivität oder Dummheit unterstellt, was das folgende Zitat verdeutlicht: »Die Sprache, sagt ein Mitarbeiter der Firma Grundy/Ufa, die fast alle deutschen Soaps herstellt, darf niemals zu kompliziert, die Sätze dürfen nie zu verschachtelt sein. Nicht nur im Interesse der jungen Zuschauer. Auch die Stars brauchen es oft ganz einfach. Einmal stand im Drehbuch: ›Schaut konsterniert‹. Daraufhin kam eine Darstellerin ins Büro, schaute konsterniert und fragte, was denn ›konsterniert‹ zu bedeuten habe. Ihre Rolle definierte sich laut Vorgabe der Produktionsfirma so: ›Die 16jährige Schülerin lächelt sich als naiver Sonnenschein in die Herzen der Hausbewohner. Obwohl sie sich sehr anstrengt, hat sie größere Lernschwierigkeiten.‹ Perfekt besetzt, die Rolle, möchte man meinen« (Weiler, S Z 1.10.1999). Wieder wird das Beispiel einer Schauspielerin herangezogen. Nicht schauspielerisches Talent überzeuge die Soap-ProduzentInnen von einem Charakter, sondern das Äußere. Prümm meint, es komme hier auf den Lebensstil an, den die SchauspielerInnen verkörpern, »die Äußerlichkeiten des Kostüms, Frisuren und Schminktechnik werden Schauobjekt« (Prümm, FAZ 20.8.1996). In eine ähnliche Richtung zielt Weiler, der die Karriere der Soap-SchauspielerInnen nicht in ihrem Talent oder ihrer Leistung begründet sieht, sondern eine Art Automatismus des Systems annimmt: »Wenn’s gut läuft, entwickelt die Karriere einen gewissen Automatismus: Die Rolle wird ausgebaut, die Mädchen erscheinen halbnackt in Max, die Jungs in Bravo und Sugar« (Weiler, SZ 1.10.1999). Es sei an dieser Stelle noch einmal an das Eingangszitat erinnert, dass sich ebenfalls bei Weiler fand und die DarstellerInnen in die Nähe von Pornostars rückte. Noch einmal wird hier unterstellt, dass die SoapSchauspielerInnen für Geld alles tun. Die Kritikpunkte sprechen den »GZSZ«-DarstellerInnen mit dem Vorwurf fehlender mimischer und körperlicher Ausdruckskraft Fähigkeiten ab, die traditionell so genannte CharakterdarstellerInnen auszeichnen. Der Gegensatz zu ihnen wird auch dadurch verstärkt, dass die Figuren in Seifenopern auswechselbar seien: »Die meisten Mitwirkenden erfahren ihre spektakuläre Erweckung wenig später in anderen Soaps. Wie in einem System kommunizierender Röhren: Wer bei Gute Zeiten, schlechte Zeiten untergeht, taucht – blubb – im Marienhof wieder auf. Oder anderswo« (Weiler, S Z 1.10.1999). Soaps und ihre DarstellerInnen werden hiermit zur beliebigen Massenware stilisiert, was sich an die oben skizzierte Argumentation »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« als Produkt der Kulturindustrie‹ anschließt. Hierzu passt auch, dass mit der Betonung von Ausdruckslosigkeit und Austauschbarkeit wieder der Gegensatz zu den traditionellen Künsten heraufbeschworen wird, wo im Theater die Charaktere durch individuelles Ausdrucksvermögen glänzen und im Film ›Mythen begründen‹. Dies

Der Diskursstrang »GZSZ« in der Fernsehkritik | 203 zeigt sich auch in dem Artikel von Adorjan et al. (SZ 21.6.1999), in dem sich die AutorInnen mehr oder weniger ernsthaft vorstellen, wie das Leben in Deutschland ohne »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« aussähe. So sehen Adorjan et al. ohne »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« »eine Generation deutscher Schauspielerinnen, deren Ausstrahlung atemberaubend, deren Kunst nahezu göttlich wäre« (Adorjan et al., SZ 21.6.1999). Demgegenüber verkörpere »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« das Mittelmaß schlechthin: »Mittelmäßige Schauspieler, die mittelmäßig aussehen, sagen mittelmäßige Dialoge auf, die sie mittelmäßig auswendig gelernt haben […]« (ebd.). Immerhin wird ihnen hier nicht gänzlich ihre schauspielerische Leistung abgesprochen, so dass diese Textstelle zumindest graduell gegen den Strich der ersten Argumentation läuft. Mit der These, den »GZSZ«-Stars fehle schauspielerisches Talent, wird wieder an die Position angeknüpft, dass Soaps für den Beginn einer TV-Verschlechterung stehen. So hätten die deutschen RezipientInnen mit »GZSZ« ihre Mindestanforderungen für schauspielerische Leistung nach unten korrigieren müssen (Illies, FAZ 13.7.1998). Außerdem kam in zwei Beispielen eine abschätzige Haltung gegenüber den weiblichen Charakteren zum Ausdruck, die dort als naiv oder dumm hingestellt wurden (Weiler, SZ 1.10.1999; Washington, SZ 8.4.1995). Hier spielt der Geschlechterdiskurs in die Bewertung der AutorInnen mit hinein. Auffallend an dieser Unterargumentation ist zudem die Arroganz, die die AutorInnen teilweise gegenüber den SchauspielerInnen an den Tag legen (z.B. Weiler, SZ 1.10.1999). Es stellt sich die Frage, aus welchen Gründen die schauspielerische Leistung die KritikerInnen in dem Maße beunruhigt. Wäre es nicht auch denkbar, vermeintliche schauspielerische Schwächen als Anfangsschwierigkeiten junger Schauspieler und Schauspielerinnen auszulegen? In jedem Fall wird deutlich, dass die Abwertung der DarstellerInnen in der Bewertung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« eine zentrale Position einnimmt. Fehlende Distanz von Serienleben und Realität Begründet wird die Aussage, dass es sich bei den »GZSZ«-DarstellerInnen nicht um SchauspielerInnen handele, noch auf andere Weise: SeriendarstellerInnen würden beim Casting danach ausgewählt, wer dem Rollenprofil persönlich am besten entspreche. Die SchauspielerInnen spielten also keine Rolle, sondern lediglich sich selbst – und sogar das falle Soap-DarstellerInnen allgemein schwer: »Doch selbst das Verkörpern des eigenen Ichs müssen sich die Darsteller, die oft schon mit 16 Jahren über Castings zum Team stoßen, schwer erarbeiten« (Weiler, SZ 1.10.1999). Teilweise sei die Distanz zur Rolle verschwindend gering, so dass die SchauspielerInnen sich im realen Leben wie in der Serie verhalten. Dieser Schluss wird für sämtliche Soaps gezogen und mit Beispielen aus der »Lindenstraße« aber auch aus »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« belegt – wie das Beispiel der ›konsterniert schauenden Darstellerin‹ weiter oben zeigt. Weiteres Beispiel ist das Paar, das zu Beginn von »GZSZ«

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im Mittelpunkt stand: Die Figuren ›Heiko‹ und ›Tina‹ waren danach nicht nur in der Serie ein Paar, sondern die DarstellerInnen Sandra Keller und Andreas Elsholz verband auch im realen Leben eine Liebesbeziehung. »Als die Autoren das Bildschirmverhältnis beendeten, ging kurze Zeit später auch die private Beziehung in die Brüche. Sandra Keller bandelte umgehend mit ihrem neuen Serienfreund an« (Weiler, SZ 1.10.1999). Hier wird unterstellt, dass die DarstellerInnen selbst Serie und Leben verwechselten, bzw. ihr Privatleben nach den Drehbüchern gestalteten. Die Darstellerin scheint sich noch stärker an den AutorInnen zu orientieren und kein eigenes Leben zu führen, als es bei dem männlichen Pendant der Fall zu sein scheint. Das Verschmelzen von Serienleben und Realität, das in den Diskursfragmenten häufig aufgegriffen wird, findet sich in spielerischer, fast verwirrender Form bei Illies (FAZ 22.2.1999). In ironischer Weise kritisiert er den »GZSZ Super Cup«, eine Game ShowVariante der Soap, und spricht den DarstellerInnen ihr Schauspielvermögen ab, wobei er die Serie »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« karikiert. Beispielsweise schreibt er: »Als in der Super-Cup Sendung niemand wusste, wie lange ein Straußenei braucht, bis es hart gekocht ist, war dann auch dem letzten klar, dass die angeblichen Schauspieler diesmal erstmals tatsächlich nur schauspielerten, denn im wirklichen Serienleben wissen dieselben Menschen, wie man Drogenschulden in Höhe von 300.000 Mark anhäuft« (Illies, F A Z 22.2.1999). Schließlich schaltet der Autor erleichtert (»endlich«) ins ZDF um und drückt damit noch einmal aus, dass die Sendung für ihn eine ›Qual‹ gewesen sei. Die fehlende Distanz zum Serienleben wird von Weiler noch damit begründet, dass die DarstellerInnen ihr gesamtes Leben auf die Soap ausrichteten. Sie müssten immer verfügbar sein, an den Wochenenden Autogrammstunden abhalten, Friseurbesuche genehmigen lassen und einiges mehr (siehe Weiler, SZ 1.10.1999). Die DarstellerInnen sind hiernach fest in das weiter oben diskutierte kommerzielle System eingebunden,4 in dem das Produkt ›Soap‹ oberste Priorität habe. Hierdurch würden sie vollständig von der Serienproduktion vereinnahmt und verlören den Bezug zur Außenwelt, die nach anderen Regeln funktioniere. Als Beispiel dafür, dass die fehlende Distanz zur Serie die Entfremdung von den Maßstäben der Wirklichkeit bedingt, führt Weiler Oliver Petzokat an, ehemaliger »GZSZ«-Star, der als Oli P. eine Popkarriere anschloss: »Oliver hat jüngst angekündigt, nun etwas kürzer zu treten, um sich stärker seiner Frau und seinem Kind zu widmen. Der Mann ist 23 Jahre alt« (Weiler, SZ 1.10.1999). Gleichzeitig führe die enge Anbindung an die Serienwelt dazu, dass Soap-DarstellerInnen immer Soap-Stars blieben. Ihnen wird einerseits die Kompetenz abgesprochen, in anderen Formaten 4 | Siehe Argumentationsstrang (1) unter dem Fokus ›Produktion‹ (Teil 3, Kap. 3.2).

Der Diskursstrang »GZSZ« in der Fernsehkritik | 205 mitwirken zu können – und man bezweifelt andererseits ihre Fähigkeiten für andere Karrieren, zum Beispiel als Popstar. So wird das musikalische Talent von Oli P. mit dem sprechenden Hund bei Loriot verglichen (Weiler, SZ 1.10.1999). Dass die »GZSZ«-SchauspielerInnen so charakterisiert werden, als ob sie nicht mehr zwischen Serie und Realität unterscheiden könnten oder mit den Regeln des Alltagslebens nicht mehr vertraut seien, gibt ihnen einen naiven Anstrich. Daneben schließt sich dieser Aspekt an die oben ausgeführte Argumentationskette an, in der »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« als Beginn einer Negativentwicklung des Fernsehens allgemein gewertet wird: Auch die fehlende Distanz von Rolle und Akteur/in sei ein Vorzeichen zukünftiger TV-Entwicklungen. Etwas abstrakt drückt dies Wolf aus, der Soaps als Quintessenz des Fernsehens sieht: »Fernsehen – eine Beziehungskiste. Schauspieler werden zum Stammbaum verknüpft. Verheiratet – getrennt, geschieden. Fernsehen gibt sich als Leben aus« (Wolf, SZ 10.6.1997). Konkreter sieht Prümm in den Soaps ein neues Verhältnis von »Erzählung, Körper und Rolle«, bei dem der Abstand zwischen Schauspieler und Figur nicht mehr bestehe und die Komplexität der Figuren auch gar nicht mehr vonnöten sei. Eine neue Art des Fernsehens dominiere damit den Bildschirm (Prümm, FAZ 20.8.1996). Prominente Persönlichkeiten machen Eigen-PR Betrachtet man die Basisaussage, dass »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«SchauspielerInnen nicht schauspielerten, so schließen sich an sie auch die diskursiven Bestandteile an, die sich mit prominenten Gastauftritten beschäftigen – hier werde ebenfalls nicht geschauspielert, vielmehr spiele man sich selbst. Wieder ist auch hier der Argumentationsstrang bedeutsam, nach der die Serie ein kommerzielles Produkt innerhalb des Systems der Kulturindustrie darstelle. Die Rede ist von der so genannten ›Cross‹-Promotion zwischen RTL und der Musikindustrie. »Blümchen«, die Mädchenband »Tic Tac Toe« sowie die Boygroup »Caught in the Act« traten neben anderen Künstlerinnen und Künstlern bei »GZSZ« auf und konnten dadurch für ihre Musik werben, da Serienfans auch für sie die richtige – jugendliche – Zielgruppe darstellen. Gleichzeitig verkauft RTL Hits, die im Hintergrund bei »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« zu hören sind, über die Plattenfirmen der Stars. Die Soap wird damit zu einem Beispiel dafür, dass manche Serien »zu einer Art fiktionalem Bravo-TV« mutierten (Arnu, SZ 13.1.1998). Allein kommerzielle Gründe seien für den Auftritt der Gaststars ausschlaggebend, inhaltlich fehle ihnen jegliche Motivation. In der Forschung wurde zur ökonomischen Nutzung von Daily Soaps der Begriff »Kult-Marketing« eingeführt (vgl. Göttlich/Nieland 2001: 140; 1998; zu »GZSZ« Hönsch/Graf 2001). »Die Marketing- und Merchandisingkampagnen greifen dabei nicht von ungefähr Trends der Jugendkultur auf und nutzen diese zu einer Dramatisierung des Serienalltags« (Göttlich/ Nieland 1998: 42). Der Begriff Kult-Marketing zeigt an, dass mit dem

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Merchandising auf die jugendlichen Fans abgezielt wird, für die die Serie einen hohen Stellenwert in ihrem Alltags(er-)leben einnimmt. Kein inhaltlicher Sinn wird auch bezüglich des Gastauftrittes von Schröder und Diepgen bei »GZSZ« angeführt. Vor allem Diepgens Auftritt 1995 wird für inhaltlich völlig sinnlos erklärt und hierüber die Serie als PR-Bühne kritisiert. Diepgens Erscheinen wird dazu benutzt, »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« und die DarstellerInnen ganz pauschal abzuwerten: »Der Kurzauftritt des Politikers hatte keinen inhaltlichen Sinn und keine schauspielerische Klasse. Damit passte er wunderbar in die Seifenoper hinein« (Arnu, SZ 28.7.1995). Darüber hinaus wird hier die Medienfixiertheit von Politikern kritisiert und die Medien werden dafür gerügt, dass sie sich instrumentalisieren ließen und sich die Mächtigen der Medien mit den Mächtigen der Politik verbündeten. Der Diepgen-Auftritt erscheint dabei wie eine Karikatur solcher Netzwerke, wenn er sich in der Szene mit Helmut Thoma, dem damaligen RTL-Chef in einer Kneipe zuprostet – die Nähe zum ›Stammtisch‹ ist offenkundig (siehe Arnu, SZ 28.7.1995). Gerhard Schröder trat beispielsweise im Wahlkampf 1998 als Kanzlerkandidat der SPD in der Serie auf, was vor allem in der Kritik der FAZ negativ vermerkt wurde (vgl. Hanfeld, FAZ 24.6.1998). Auch bei ihm wird die fehlende inhaltliche Motivation des Auftritts beklagt. Hinsichtlich der »GZSZ«-DarstellerInnen heißt es, Schröder habe genau so viel Talent wie sie, was angesichts der Aussage, »viele Schauspieler der Serie sind tatsächlich welche, auch wenn man das nicht immer glauben mag« (Götting, SZ 24.6.1998), nicht positiv verstanden werden kann. Die Bewertung der Politikerauftritte geht noch in eine andere Richtung. Herausgestellt wird der Aspekt, dass »GZSZ« instrumentalisiert werde (vgl. z.B. Hanfeld, FAZ 24.6.1998). Generell kann man sagen, dass sich die Diskursfragmente von Süddeutscher Zeitung und Frankfurter Allgemeinen Zeitung in ihrer Schärfe unterscheiden. Während in der SZ eher die Serie und weniger der Schröder-Auftritt kritisiert wird, wird in der FAZ der Schröder-Auftritt an sich lächerlich gemacht, was nicht bedeutet, dass »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« dadurch besser bewertet würde. So heißt es: »In einer Serie, […] deren Mitspieler Schauspieler nun wahrlich nicht genannt werden können, schaffte es Schröder, noch eine Spur künstlicher zu wirken als selbst seine Umgebung« (Hanfeld, F A Z 24.6.1998). Neben einer Kritik an schauspielerischen Fähigkeiten Schröders (»unsicherer Gestus«, der »an den ungelenken Helmut Kohl« erinnert, wie er in jungen Jahren als Ministerpräsident im Parlament aufgetreten sei; »wie eine Loriot-Figur« [ebd.]) wird er über die Handlung lächerlich gemacht – Schröder lässt in der »GZSZ«-Szene die adelige Familie einer Braut grüßen.

Der Diskursstrang »GZSZ« in der Fernsehkritik | 207 »Nachdem er (K.G.: Schröder) erfahren hat, dass das Geschirr für den Polterabend des jungen Herrn Lehmann und der Tochter aus dem Fürstenhaus derer von Montalban parat steht, lässt der mittelgroße steife Herr die Montalbans schön grüßen. Dabei hatten wir bei seinem Parteibuch gar nicht vermutet, dass er Kontakt zu adligen Kreisen pflegt« (ebd.). Insbesondere wird in der Kritik der Bezug zu Schröders Kanzlerkandidatur hergestellt und so indirekt auf den Zweck des Auftritts als Wahlkampf-PR hingewiesen. So werden über den Fernsehauftritt Schröders vermeintliche Qualitäten als Kanzler in Frage gestellt: »Wenn Schröder einmal für Deutschland auf den Treppenabsätzen vor den Regierungsgebäuden dieser Welt stehen sollte, werden wir uns nicht mehr so groß fühlen können wie mit Kohl. Ein Rückfall in Schmidtsche Zeiten steht bevor« (ebd.). Der Autor spielt hier vordergründig auf die reale Körpergröße von Schröder im Vergleich zu Kohl an. Insgesamt überwiegt in der FAZ-Kritik klar ein ironischer Unterton. Die KritikerInnen wehren sich in dieser Unterargumentation gegen eine Instrumentalisierung von Medientexten durch Politik und Kommerz. Sie sehen dadurch die Qualität gefährdet, wobei sie das schauspielerische Niveau von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« per se anzweifeln. Sie kritisieren damit die Versuche, das Publikum zu manipulieren – sei es in Hinblick auf ihre Kauf- oder auf ihre Wahlentscheidung sowie die ProgrammmacherInnen, die sich auf eine politische Instrumentalisierung einlassen und ihr Programm nach kommerziellen Gesichtspunkten gestalten.

3.4 Dritter Fokus: Die Handlung Die Handlung von »GZSZ« stellt einen weiteren inhaltlichen Schwerpunkt in den Fernsehkritiken dar. Dabei fällt zum einen auf, dass sie sich anscheinend anregend auf die sprachliche Kreativität der Kritiker und Kritikerinnen ausgewirkt hat: Neben Reihungen, die den Endloscharakter der Handlung andeuten, schwingt häufig ein ironischer Tonfall mit oder die Kritiken sollen witzig sein. Teilweise wird ein exzessives Handlungselement an das nächste gereiht, um zu zeigen, wie übertrieben und realitätsfern die Handlungsstränge seien. An einigen Stellen formulieren die Autorinnen und Autoren betont kitschig, womit sie auf die melodramatische Anlage von Soaps anspielen. Kein anderer inhaltlicher Schwerpunkt wird so stark über sprachliche Stilmittel charakterisiert. Offenbar versuchen die Kritiker und Kritikerinnen, das Genre Soap Opera zu parodieren. Einerseits wurde deutlich, dass die einzelnen Argumentationen und Unterargumentationen, die herausgearbeitet werden konnten, im Gegensatz zur Bewertung von Produktion sowie Darsteller und Darstellerinnen noch stärker miteinander vernetzt sind. Zwar ließen sich einzelne Stränge klar isolieren, doch deren Bestandteile sind häufig noch in anderen Argumentationsketten wirksam. Zwei Argumentationsstränge scheinen

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für die Bewertung der Handlung zentral zu sein: Zum einen wurde in der Kritik herausgestellt, dass die Handlung ›nach Plan‹ verlaufe (1), wobei als Unterargumentationen ›das Soapschema‹ und die Beeinflussung der Handlung durch ökonomische Erwägungen und Produktionsbedingungen herausgearbeitet wurde. Diese Argumentationslinien hätten ebenso oben unter dem Fokus der Produktion thematisiert werden können, wo »GZSZ« als industrielles Produkt charakterisiert wurde (vgl. Teil 3, Kap. 3.2). Zugunsten der Gliederung nach inhaltlichen Schwerpunkten findet sich die Argumentation jedoch an dieser Stelle der Analyse. Andererseits fiel ein Argumentationsstrang auf, in dem die Kritiker und Kritikerinnen nach dem Bezug der Serie zur Realität fragen (2). Zu ihm wurden die Unterargumentation ›Alltagsspiele‹ herausgefiltert, eine sehr kurze argumentative Linie, sowie die ›Übertriebene Serienhandlung‹. Außerdem kristallisierte sich an dieser Stelle eine Argumentation heraus, nach der es sich bei »GZSZ« um eine ganz eigene Serienwelt handelt, die nichts mit der Realität gemein habe. 3.4.1 Argumentationsstrang: Handlung nach Plan Das Soapschema Zu dem herausgearbeiteten Argumentationsstrang ›Handlung nach Plan‹ konnten wieder einige Unterargumentationen ausgemacht werden. Dominant ist der argumentative Strang, nach dem »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« ein Schema zugrunde liege. Soaps weisen danach keine individuellen Merkmale auf und entstehen nicht in einem kreativen Prozess. Dies wird an Klischees festgemacht, die in »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« die Handlungsträger zu Stereotypen machen. Bemängelt wird unter anderem das Klischee der »deutschen Proleten-Familien« (Katz, SZ 14.5.1992) oder auch, dass jeder männliche Charakter ›groß und stark‹ erscheine, während Frauen ›vollbusig und schön‹ seien (Washington, SZ 8.4.1998). In der Kritik der Süddeutschen Zeitung zum Schröder-Auftritt wird vor allem eine typenhafte Darstellung von Jugendlichen und ihrer Lebenswelt moniert: »hübsche Jungmenschen in grünen und hellblauen H&M-T-Shirts« treten in Daniels Bar auf, wo »die Charts rauf und runter gespielt werden« (Götting, SZ 24.6.1998). Sprachlich wird mit Formulierungen wie »Claudia, die Geliebte« und »Heiko, der Sohn« auf Typenhaftigkeit hingewiesen (Bahners, FAZ 4.6.1992). Klischees werden auch Seifenopern allgemein bescheinigt, in denen »sunny girls und sunny boys« dominierten (Weidinger, SZ 29.12.1994). Neben den Klischees, die »GZSZ« enthalte, sei die Handlung der Serie – und auch von Soaps allgemein – streng schematisch aufgebaut. Seifenopern werden hier als Produkt herausgestellt, dessen Erfolg dazu führt, ihr Grundschema immer wieder zu reproduzieren (siehe Weiler, SZ 1.10.1999). Wiederum werden auf diese Weise Soaps als Massenware herausgestellt, die industriell ›nach Rezept‹ gefertigt werde. Die Diskursfragmente gehen auf unterschiedlich konkrete Schemata bei »Gute Zei-

Der Diskursstrang »GZSZ« in der Fernsehkritik | 209 ten, schlechte Zeiten« ein. Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass die Handlung nach einfachen Mustern gestaltet werde und »keine komplizierten Inhalte« aufweise (Weidinger, SZ 5.12.1994). Soaps werden als »simple Endlosstrickmuster« begriffen (ebd.), deren Handlung oberflächlich verlaufe, ohne anregende, tiefschürfende Konflikte, wie es aus dem Artikel zu einer Rede von Volker Schlöndorf hervorgeht, in der er »GZSZ« als Negativ-Beispiel für Medientexte anführt (Rossmann, FAZ 20.11.2001). Wieder lässt sich hier auch der Vergleich der Soap mit dem »Fotoroman« anführen, der bereits für die Bewertung der Schauspieler und Schauspielerinnen eine Rolle spielte und ebenfalls eine oberflächliche, einfach gestrickte Handlung nach simplen Mustern suggeriert (Prümm, FAZ 20.8.1996). Hanfeld zitiert in seinem Beitrag einen Dialog aus »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«, der ebenfalls Einfachheit und darüber hinaus Banalität demonstrieren soll: »›So wie du küsst, hätte ich Dich auch mit geschlossenen Augen wiedererkannt‹ – ›Wie küsse ich denn?‹ – ›Anders, anders als die anderen. Eben besser.‹ – ›Du auch‹« (Hanfeld, FAZ 24.6.1998). Der Dialog rückt das Geschehen zudem in die Welt pubertierender Jugendlicher. Darüber hinaus werden auch inhaltlich konkretere Schemata angenommen. Washington sieht bei »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« ein Gut/Böse-Schema gegeben (Washington, SZ 8.4.1998), während Hoff den Vergleich zu »Big Brother« zieht und meint, beide seien nach dem Schema »Endlos-Geschichte mit Sex und Intrigen« gestaltet (Hoff, SZ 2.5.2000). Hoff stellt »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« über den Bezug zum Sexuellen in einen abwertenden, trivialen Zusammenhang. »GZSZ« wirkt hier wie eine Billigproduktion, deren Handlung auf plumpe Effekte setze. Es werden auch noch konkretere inhaltliche Muster bzw. Bausteine angenommen, beispielsweise eine weit verzweigte Familie, die in Soaps häufig im Mittelpunkt stünde (Weidinger, SZ 29.12.1994), die inhaltlichen Bausteine ›Selbstmord‹ (vgl. Ziegler, SZ 9.11.1995), ›Unfall‹, wenn ein Charakter ausscheidet (siehe Interviewfrage Kirchner, SZ 28.8.1998) oder ›Fehlgeburt‹: »Die Dramen spielen in Krankenhausfluren: eine Stuhlreihe, besorgte Freundinnen, nur der Vater ist nie da. Zoom durch die Glasscheibe und dort fahlgesichtig eine Frau im Bett. So enden in Seifenopern die Schwangerschaften« (siehe Götting, SZ 20.5.1998). Solche inhaltlichen Muster seien in Soaps generell zu finden und würden auch in »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« angewandt. Die Handlung dort wie auch in Soaps allgemein wird in den Diskursfragmenten als Text begriffen, der aus austauschbaren Versatzstücken besteht und beliebig zusammengesetzt würde – kein origineller Schöpfungsakt steht hier im Vordergrund, sondern die industrielle (Endlos-)Produktion wird hervorgehoben: Seifenopern verkörpern hier »Fast food« im Vergleich zu Feinschmeckergerichten (Weidinger, SZ 5.12.1994). Wie stark das Schematische der Soaphandlung betont wird, zeigt sich, wenn es um die Arbeit der Storyliner geht und eine Art Soap-Formel aufgestellt wird:

210 | Teil 3: »Wer wird Millionär?« und »GZSZ« im Diskurs der Fernsehkritik

»Pro Woche kommen etwa sieben Figurengruppen zum Zuge, in den täglichen 25 Minuten sind drei bis fünf Handlungsstränge ineinander verwoben. Dabei ist es wichtig, die Auftritte eines Schauspielers harmonisch zu verteilen – ein Handlungsstrang soll also nicht erst gegen Ende der exakt 18 Szenen einer Folge beginnen« (Himmel, S Z , 7.6.1994). Soaps werden damit auswechselbar – eine Seifenoper scheint wie die andere zu sein (so auch Weidinger, SZ 5.12.1994). Kreativität spielt in Soap Operas nach dieser Charakterisierung keine Rolle. In die gleiche Richtung geht es, wenn herausgestellt wird, dass es sich bei der »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«-Handlung nicht um ein ›Original‹ handelt, sondern die Handlungsstränge zuerst einfach vom australischen Vorbild »The restless years« übernommen und auf deutsche Verhältnisse abgestimmt wurden (Himmel, SZ 7.6.1994, Prümm, FAZ 20.8.1996). Wenn es hierzu heißt, »die einschlägig erfahrene Firma Grundy trimmte das australische Vorbild auf deutsche Seh- und Einrichtungsgewohnheiten um« (Weidinger, SZ 5.12.1994), so wird die Anpassung auf deutsche Verhältnisse zum bloßen ›Umkrempeln‹. Kreativität wird der Serienhandlung auch abgesprochen, wenn hervorgehoben wird, dass sich Soaphandlung häufig wiederhole. Ziegler spricht beispielsweise von der »soundsovielten Serienhochzeit« (Ziegler, SZ 17.5.1995) und betont daneben den Endloscharakter von Soaps rhetorisch: »Überhaupt: In deutschen Seifenopern vertritt immer jeder jeden und Gute-Zeiten-Milla darf ihre Boutique ruhig mal alleine lassen, weil dann bestimmt Gute-Zeiten-Heiko einspringt! Und wenn der deshalb in seinem Motorradladen vermisst wird, dann hilft Gute-Zeiten-Charly aus! Und wenn Charly in seiner Kneipe gebraucht würde, dann …« (Ziegler, SZ 17.5.1995). Das Gros der Kritik scheint Washington zuzustimmen, wenn sie schreibt, dass es »Klischees, wahnwitzige Abenteuer und überaus seichte Dialoge« waren, die der Serie einen Platz im Vorabendprogramm sichern konnten (Washington, SZ 8.4.1998). Mit den ›Klischees‹ und dem ›schematischen Aufbau‹ als Merkmale von Massenkultur schimmert auch hier wieder der Argumentationsstrang durch, nach dem »GZSZ« ein ›Produkt der Kulturindustrie verkörpert‹. Jene Eigenschaften massenkultureller Unterhaltung sind schon früh im ›Kulturindustrie‹-Kapitel von Adorno und Horkheimer diskutiert worden (vgl. Horkheimer/Adorno 1998: 133). Die einzelnen Bestandteile von Massenkultur seien beliebig austauschbar, so dass man beispielsweise Schlagerstrophen auch schon im Vorhinein mitsingen könne. Charaktere in Serien beruhten auf Klischees, sämtliche Handlungselemente bildeten ein immergleiches Schema (siehe Horkheimer/Adorno 1998: 133). Horkheimer und Adorno sehen hierin die Unterwerfung des Details, die absolute Vereinheitlichung von Teilen und Ganzem (Horkheimer/Adorno 1998: 134). Außerdem existierten keine wirklich neuen Waren in der Kulturindustrie. Vielmehr unterlägen diese einer ständigen Wiederholung (Horkheimer/Adorno 1998: 144). Natürlich sind die Überlegungen der beiden Autoren weitaus komplexer als die Bewertungen der KritikerInnen zu

Der Diskursstrang »GZSZ« in der Fernsehkritik | 211 »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«. Dennoch wurde offenbar der Blick in beiden Fällen auf ähnliche Stellen der massenkulturellen Produkte gerichtet. Die Soaps gelten außerdem hier wie da als minderwertige Formate im Kulturbetrieb. Ökonomie und Produktion bestimmen die Handlung Wieder steht mit der Betonung von Handlungsschemata eine Art technisches Verständnis der Soap-Produktion innerhalb des Diskursstranges im Vordergrund – von Kunst kann demnach keine Rede sein (siehe auch: Weiler, SZ 1.10.1999). So wird die Arbeit der Storyliner nicht als kreative Arbeit gesehen, sondern eher als kniffelige Herausforderung, wenn sie eine »Entsorgung« (Reents, SZ 6.11.1999) von Figuren vornehmen müssen, was eher an die Müllabfuhr als ans Drehbuchschreiben erinnert. Die Handlung wird hierbei nach kommerziellen Überlegungen gestaltet, je nach dem, ob eine Rolle die Zuschauerinnen und Zuschauer überzeugt oder nicht (Niggemeier, SZ 2.8.2001; Himmel, SZ 7.6. 1994). »Unfall! – ist man zwei Rollen los. In einem noch drastischeren Fall entledigte man sich zweier Darsteller per Doppelmord« (Weiler, SZ 1.10.1999). Die in Bezug auf die Bewertung der Schauspieler und Schauspielerinnen erläuterten prominenten Gaststars werden ebenfalls als Beleg für die Gestaltung der Handlung nach kommerziellen Gesichtspunkten interpretiert, wenn die Kritik auf die so genannte ›Cross Promotion‹ hinweist: Die Musikindustrie nutzt »GZSZ«, um ihre Stars in der richtigen Zielgruppe zu bewerben und RTL kann über Plattenfirmen Hits zur Serie veröffentlichen. Gastauftritte von Politikern seien ›inhaltsleer‹ (siehe z.B. Arnu, SZ 28.7.1995), die Handlung werde aufgrund politischer PR-Zwecke umgeschrieben und »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« habe mit dem prominenten Darsteller den Garant für Presseinteresse und womöglich höhere Einschaltquoten. Kommerzielle Strategien der ProduzentInnen scheinen das Drehbuch bei »GZSZ« maßgeblich mitzubestimmen, die Handlung scheint nicht um ihrer selbst willen zu existieren. Der strategische Aspekt wird immer wieder aufgegriffen. Wird beispielsweise eines der markantesten Merkmale von Soaps, der Cliffhanger am Schluss einer Serienfolge, angesprochen, so heißt es, sie würden »an strategisch wichtigen Stellen, vor den Werbeblöcken und am Ende der einzelnen Folge« eingebaut (Himmel, SZ 7.6.1994). Die Arbeit der Storyliner erfährt dabei durchaus Sympathie, wenn von »dem schönsten Cliffhanger« die Rede ist – eine Art ›Einzelprodukt‹ in der Produktionskette Soap (Himmel, SZ 7.6.1994). Soaphandlung wird somit nach strategischen Gesichtspunkten konstruiert. So müsse auch die »Entsorgung«, welche oben bereits genannt wurde, so gestaltet sein, dass eine Rückkehr der Figur möglich bleibe (Reents, SZ 6.11.1999). Neben strategischen, kommerziellen Beweggründen werden die Produktionsbedingungen als handlungsbestimmend angesprochen. Sowohl der erste als auch der zweite Aspekt weisen »GZSZ« als industriell hergestellte Ware aus. Als ein einzelnes Moment hinsichtlich der Produk-

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tionsbedingungen wird angeführt, dass die Produktionsmenge dazu führe, die Handlung über Dialoge laufen zu lassen (Himmel, SZ 7.6.1994; ähnlich: Weiler, SZ 1.10.1999). Darüber hinaus wird beispielsweise die Handlung in Serienkneipen stark von Produktionsvorgaben, wie der nötigen Ruhe für die Tonaufnahmen, bestimmt – Gläserspülen und viele Gäste sind verboten (Ziegler 15.7.1996). Zu den Produktionsbedingungen können auch rechtliche Vorgaben wie Jugendschutzbedingungen gezählt werden, die die ›Fehlgeburtenrate‹ (siehe oben; Götting, SZ 20.5.1998) in Soaps in die Höhe treibe, denn die Drehzeit mit Kindern sei stark limitiert und daher zu aufwändig. Wiederum richtet sich die Kritik in dieser Unterargumentation gegen die Beeinflussung von Medieninhalten durch kommerzielle Überlegungen. Die Auswirkungen bestimmter Produktionsbedingungen auf die Handlung nimmt man dagegen eher als skurrile Eigenart der Serie hin. Insgesamt charakterisieren die Kritiken »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« als strategisches Produkt, dass von den Drehbüchern bis hin zur Cross Promotion durchgeplant ist. Kreativität sehen die Kritiker und Kritikerinnen bei diesem Genre nicht – auch die Arbeit der Storyliner, die in den Diskursfragmenten positiv bewertet wird, wird nicht als kreativer Akt wahrgenommen. Ähnlich wird auch bei Radway die Produktion von Liebesromanen charakterisiert: Sie würden für bestimmte Zielgruppen entwickelt, wobei Autor oder Autorin nicht mehr für die Geschichten hauptsächlich verantwortlich seien. Statt dessen würden Geschichten je nach Publikumspräferenz entwickelt, für die ein Verfasser oder eine Verfasserin gesucht würde (vgl. Radway 1984a: 19-45). Natürlich entspricht die Soap-Produktion nicht dem romantischen Ideal des einzelnen, kreativen Künstlers – dem läuft schon die Beschäftigung eines AutorInnen-Teams entgegen. Inwieweit die Vielzahl der Soap-Folgen mit den unterschiedlichen Handlungsmomenten nicht auch als Zeichen dafür interpretieren könnte, dass Kreativität ein Muss für Storyliner ist, wäre zu überlegen (vgl. Hobson 1982). 3.4.2 Argumentationsstrang: Wo ist der Bezug zur Realität? ›Alltagsspiele‹ bei »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« In den Artikeln messen die Autorinnen und Autoren die Handlung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« häufig an dem eigenen Alltag oder dem der ZuschauerInnen (Prümm, FAZ 20.8.1996). Sie fragen nach Übereinstimmungen und Abweichungen: Berührungspunkte wie der tägliche Rhythmus der Handlung und die Durchschnittscharaktere (z.B. Himmel, SZ 7.6.1994) werden einige Male erwähnt und sprachlich speziell verdeutlicht. Allerdings werden nur in wenigen Diskursfragmenten Parallelen zwischen Serienhandlung und dem Alltag der KritikerInnen gesehen. Zudem werden solche Gemeinsamkeiten nicht ausführlich thematisiert, so dass diese Unterargumentation, die im Folgenden vorgestellt wird, nur einen sehr kleinen Teil in dem Diskursstrang ausmacht.

Der Diskursstrang »GZSZ« in der Fernsehkritik | 213 Der Autor oder die Autorin mit dem Kürzel kj (SZ 11.5.1992) betont die Durchschnittswelt, in der »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« spielt. In dem Beitrag heißt es, dass ein »Kfz-Schlosser aus Berlin-Köpenick und eine Abiturientin aus Königs-Wusterhausen […] den Kölner Kommerzkanal RTL-plus jetzt endgültig in die erste Reihe bringen« sollen (kj, SZ 11.5.1992). Dort werden ebenso die Charaktere in der Vorankündigung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« mit Vornamen genannt – »Tina, Heiko und Co« (kj, SZ 11.5.1992). Dies hebt besonders den Bezug zur Alltagswelt Jugendlicher, die man duzt, hervor. Es ist darin auch die Rede von »Alltagsgeschichten junger Schulabgänger, die auf der Suche nach Glück, Arbeit, Liebe und dem Sinn des Lebens in Intrigen und Tragödien, Eifersuchts- und Beziehungskisten geraten, mit Eltern, Vorgesetzten und Nachbarn im Clinch liegen und von der Werkbank ins Bistro und danach ins Bett wandern« (kj, S Z 11.5.1992). Das Zitat hebt hervor, dass die Serienhandlung am Tagesablauf orientiert sei (siehe auch: Katz, SZ 14.5.1992). Der Bezug zur jugendlichen Welt wird auch in einem Beitrag deutlich, in dem die Sprecherin von »GZSZ« zitiert wird. Sie äußert sich dabei zu den Fehlgeburten in Soaps und meint: »So eine Pille vergessen – das ist schnell passiert« (Götting, SZ 20.5.1998). Fast erinnert ihre Aussage an die Ratgeberseiten der »Bravo«. Der Alltagsbezug der Handlung wird somit als Charakteristikum erwähnt, allerdings nicht ausführlich diskutiert. So benutzt auch Blum (SZ 12.4.1995) nur das Schlagwort »Alltagsspiele«, um »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« und »Marienhof« abwertend zu klassifizieren. Die Fernsehkritik von Blum beschäftigt sich mit der Sendung »Ehen vor Gericht«, die er als »Mischung aus naiv inszeniertem Alltag und Lebenshilfe«, als »hausbackenes Fernsehen«, das »kreuzbrav« einen »Gemeinplatz« verkörpere, noch dazu »ein bisschen steif gespielt« charakterisiert. Interessant ist, dass der Autor trotz dieser Negativbewertung schließlich den »Ehen vor Gericht« immer noch den Vorzug gegenüber den beiden Soaps gibt – »Alltagsspiele« sind somit nicht gleich »Alltagsspiele«. Maruschat thematisiert in ihrem Beitrag direkt die Beziehung zwischen Alltag und Serienwelt und kommt zu dem Schluss, dass Serien die gesellschaftliche Gleichberechtigung von Homosexuellen förderten, indem immer mehr homosexuelle Charaktere in die Handlung integriert würden. Sie stellt hier somit einen starken Bezug zwischen Seifenopern und Alltag heraus. Allerdings kritisiert die Autorin, dass Homosexuelle insgesamt in Serien nicht fortschrittlich dargestellt würden. (Maruschat, SZ 30.6.2000). Übertriebene Serienhandlung Gegenüber den Beiträgen, in der Parallelen von Serienwelt und Alltag angesprochen werden, überwiegen die Argumentationen, die der Serie den Realitätsgehalt absprechen. Die Art und Weise, wie »Gute Zeiten,

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schlechte Zeiten« für unrealistisch befunden wird, differiert. Eine Unterargumentation stützt sich darauf, dass Realität reduziert werde. »Lebensscheibchen« gäben die DarstellerInnen von sich (Katz, SZ 14.5.1992), oder es wird inhaltlich konkreter bemängelt, dass Berlin auf zwei Gastronomiebetriebe beschränkt wird, auf das Serienrestaurant »Fasan« und die Kneipe »Daniels« (Götting, SZ 24.6.1998). Weitaus umfangreicher wird die Argumentation verfolgt, nach der die Handlung übertrieben und exzessiv sei und »wahnwitzige Abenteuer« liefere (Washington, SZ 8.4.1998). Dazu werden überwiegend auffällige Serienereignisse aus den Handlungssträngen ausgewählt, wie der »Strumpfhosenmörder« oder »die übergeschnappte Serviererin aus Daniels Gaststätte«, die sich aus dem Fenster stürzen wollte (Ziegler, SZ 9.11.1995), und nacheinander aufgezählt, was den Eindruck des Exzessiven und Unrealistischen noch verstärkt. Der Handlungsspielraum erstreckt sich danach »vom morgendlichen Koitus bis zum abendlichen Selbstmordversuch am Gasherd« (Katz, SZ 14.5.1992). Die Serienhandlung wirkt offenbar – wie bereits erwähnt – auf die sprachlichen Gestaltungsmöglichkeiten einiger Autorinnen und Autoren sehr anregend. »Das kann doch nicht normal sein! Das soll die Realität des deutschen Durchschnittsbürgers darstellen? Sind wir wirklich ein Volk von Lebensmüden? Hilfe! Woher kommt dieses Massenselbstmorden? Aus den USA, wie alles moderne? Schon als sich Patrick Graf, der ewige Looser aus G u t e Z e i t e n , s c h l e c h t e Z e i t e n mitten im Winter auf eine Parkbank legte, um zu erfrieren, fühlten wir uns doch äußerst stark an Dallas erinnert, wo sich Dauerverlierer Cliff Barnes alleine drei mal umzubringen versuchte. Ist der Freitod ein Meister aus Amerika?« (Ziegler, S Z 9.11.1995) Ob die Anspielung auf Paul Celans »Todesfuge« hier angemessen ist,5 um zu verdeutlichen, wie lächerlich dem Autor die Handlung erscheint, sei dahingestellt. Es verwundert nicht, dass der Bezug zu »Dallas« hergestellt wird, wenn es darum geht, Realitätsferne in Serien zu belegen. Immerhin steht »Dallas« für eine der erstaunlichsten Drehbuchwendungen aller Zeiten, da mehrere Monate Serienhandlung im Nachhinein zur Traumhandlung wurden, als die Rolle des zuvor verstorbenen »Bobby Ewings« nach etlichen Folgen wieder ins Drehbuch hereingeschrieben wurde. Wenn Niggemeier das Exzessive der Handlung beschreibt, fühlt man sich an die Boulevardpresse erinnert oder an TV-Magazine, wie beispielsweise »Explosiv« (RTL), die ihr Programm mit Sensationsnachrichten füllen:

5 | Paul Celan reflektiert in seinem Gedicht »Todesfuge« die Schrecken des Holocaust. Bei Celan heißt es: »der Tod ist ein Meister aus Deutschland«. Vgl. Celan 1994: 18/19.

Der Diskursstrang »GZSZ« in der Fernsehkritik | 215 »Ein ganz normales Leben. Charlotte Bohlstädt war 21, ein spontanes, mitfühlendes Mädchen. Sie litt an Grauem Star, den sie erst geheim halten wollte, dann aber operieren ließ, woraufhin sie erblindete. Ihr Bruder sammelte Geld, um sie in eine Spezialklinik nach Moskau zu bringen, und als sie zurückkam nach Deutschland und die Verbände abnahm, konnte sie wieder sehen. Ihr Freund verschwand dann allerdings auf dem Weg nach Griechenland und kehrte erst Wochen später zurück, weil ihn eine Tropenkrankheit im Busch festgehalten hatte. Charlotte schlief derweil mit einem Erpresser, um die Karriere ihres Geliebten zu retten, und fand schließlich, dass ihre Brust zu klein war, weshalb sie sich unters Messer legte. An SeifenoperStandards gemessen, ein ganz normales Leben« (Niggemeier, S Z 2.8.2001). Niggemeier reiht wieder einzelne exzessive Handlungselemente aneinander, die in Kombination die Handlung absurd erscheinen lassen. Allerdings ist dies die einzige Stelle im Diskursstrang, in dem auf die narrativen Konventionen des Genres Seifenoper hingewiesen wird – die Handlung wird damit nicht nur über die Differenz zu realen Handlungsmaßstäben definiert, sondern erhält einen eigenen Status. Nichtsdestotrotz überwiegt die ›witzige‹ Wirkung, die bisweilen ins Ironische tendiert. Letzteres ist – wie oben beispielhaft gezeigt – vor allem in den Kritiken zum Schröder-Auftritt bei »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« der Fall. Um die Handlung ins Lächerliche zu ziehen, werden neben den aneinandergereihten Übertreibungen an einigen Stellen Serienhandlung und Realität direkt miteinander verquickt:6 »Schröder, der die Montalbans von früher kennt, wünscht dem Paar alles Gute« (AP, SZ 4.5.1998). In der angesprochenen Folge geht es um die Hochzeit eines Serien-Paares im Adelsmilieu. Hanfeld (FAZ 24.6.1998), der ebenfalls die adlige Szenerie hervorhebt (z.B. »Fürstenhaus derer von Montalban«), wundert sich zunächst darüber, dass Schröder als SPD-Mitglied »Kontakt zu adligen Kreisen pflegt« und spielt daneben noch auf das Privatleben Schröders an, der in vierter Ehe verheiratet ist: »Erst im Hinausgehen sagte Schröder zu dem – bürgerlichen – Bräutigam beim Händeschütteln einen Satz, der endlich wieder zu seiner Rolle passte: ›Herzlichen Glückwunsch zur Hochzeit. Ich weiß, wie schwer das ist‹« (ebd.). Serienhandlung und Realität werden hier vermischt, im Weiteren wird von der Serienhandlung und Schröders Auftritt sogar auf eine mangelnde Repräsentationsfähigkeit als Kanzler geschlossen, wie oben bereits bemerkt wurde (vgl. Teil 3, Kap. 3.3). Hanfeld hebt hervor, dass die Handlung das Adelsmilieu berührt, und lässt sie hierüber übertrieben und

6 | Die Vermischung von Serienhandlung und Realität findet sich auch bei Illies (FAZ 22.2.1999), dieser zielt allerdings eher auf eine fehlende Distanz von SchauspielerInnen und Serienhandlung ab (siehe oben Teil 3, Kap. 3.3), provoziert jedoch auch eine lächerlichen Effekt.

216 | Teil 3: »Wer wird Millionär?« und »GZSZ« im Diskurs der Fernsehkritik

lächerlich erscheinen.7 Anklänge an Groschenromane, die traditionell häufig in Adelskreisen spielen, liegen ebenfalls nahe. Die Thematisierung des Adelsmilieus in populären Texten zeigte sich auch in Radways Untersuchung zu Liebesromanen (1984) und ist in Deutschland typisch für spezifische Reihen von Groschenromanen – für bestimmte melodramatische Formen von Populärem ist der Adelsbezug also nicht ungewöhnlich. Ein Diskursfragment steht der gängigen Handlungscharakterisierung entgegen. Zekri scheint in ihrem Artikel die Handlung der Soap ernster zu nehmen. So verwendet sie nicht die übliche Reihung von Extremen: »Am Montag zum Beispiel, gegen 19.50 Uhr, erwischte es Phillip, den sympathischen DJ, mitten in seiner Heimatserie ›Gute Zeiten, schlechte Zeiten‹, bekannt unter dem Akronym ›GZSZ‹. Die kleine, feine Zeitschrift ›City-Lights‹, in der sich Phillip bislang einen Namen erschrieb, schloss ihre Pforten. Chefredakteur Clemens hatte das Blatt verkaufen müssen, denn der Zeitschriftenmarkt ist hart und gnadenlos, das haben die jugendlichen Zuschauer immer geahnt, und Phillip wusste es auch« (Zekri, F A Z 10.5.2000). Dass die Handlung übertrieben sei, wird auch mit Textstellen impliziert, in denen von »Dramen« (Götting, SZ 20.5.1998), »Fließband-Dramolett« (Zekri, FAZ 10.5.2000), von »Dramatik-Brei« (Katz, SZ 14.5.1992) die Rede ist, oder davon, dass sich das »Drama« aus der Person heraus entwickeln müsse (Himmel, SZ 7.6.1994 – hier wird ein australischer ›Entwicklungshelfer‹ der Soap zitiert). Vor allem das ›Drama‹ aus der Person heraus knüpft stark an den Kern der Handlung an: emotionale, private, persönliche Konflikte, in die verschiedene Menschen miteinander verstrickt sind (siehe auch Weidinger, SZ 29.12.1994; Wolf 10.6.1997; Weiler, SZ 1.10.1999). Es ist zudem von »Intrigen und Tragödien« die Rede, die die Handlung bei »GZSZ« kennzeichnen solle (kj, SZ 11.5.1992). Die Handlung wird hierüber mit dem Theater in Zusammenhang gebracht. Allerdings erschließt sich aus dem Kontext, dass dies nicht vorrangig auf hochkulturelle Theatertradition abzielt, sondern vielmehr betont, dass etwas ›aufgeführt‹, inszeniert wird, das sehr stark auf übersteigerte Emotionen abhebt – die KritikerInnen nehmen somit vor allem das Melodramatische der Handlung wahr, wiederum als Indiz dafür, dass die Serie unrealistisch sei. Dieser Bezug zum Melodrama kommt noch an anderer Stelle zum Tragen. »Ricky nämlich hoffnungslos eingeklemmt zwischen Nathalies Liebe und dem Mutter-Gaby-Herz, sah keinen anderen Ausweg mehr und musste sein Eheversprechen, das er Nathalie in einem unbedachten Moment gegeben hatte, brechen. […] Wie in jedem guten Melodram, so war auch hier die Liebe keineswegs erkaltet!« (Reents, S Z 6.11.1999)

7 | Siehe auch Götting, SZ 24.6.1998: die Hochzeit »einer Prinzessin von Weißwoher und eines veritablen Dödels«.

Der Diskursstrang »GZSZ« in der Fernsehkritik | 217 Durch die pathetische, bildhafte Sprache wird das Emotionale der Handlung als »Kitsch« (Washington, SZ 8.4.1998) interpretiert. Reents setzt zusätzlich die Serienhandlung in Kontrast mit dem ›richtigen‹ Leben, wo für den Schauspieler Oliver Pezokat nüchtern das Geldverdienen im Vordergrund stehe und ›richtige Filme‹ gedreht würden (Reents, SZ 6.11.1999). Die melodramatische Soaprealität steht hier im Gegensatz zur harten Wirklichkeit. Die Art und Weise, wie Reents die Handlung schildert, erinnert an die Handlung in Groschenromanen. Dies war bereits oben hinsichtlich des Schröder-Auftritts in der 1500. Jubiläumsfolge bei »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« der Fall (vgl. Götting, SZ 24.6.1998; Hanfeld, FAZ 24.6.1998). Der Bezug zur Groschenliteratur und die sprachliche Gestaltung rückt das Melodrama der Serie in ein triviales, banales Licht (siehe auch: Washington, SZ 8.4.1998). So meint auch Weiler: »Es ist ein steter Fluss von Aufgeregtheiten, die die Serie endlos erscheinen lassen« (Weiler, SZ 1.10.1999; vgl. auch Hoff, SZ 2.5.2000). Insgesamt werden in dieser Unterargumentation Merkmale von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« auf eine Weise betont, die die vermeintliche Unglaubwürdigkeit und Realitätsferne der Serie hervorheben. Genrekonventionen der Soap Operas hinsichtlich der Gestaltung der Serienhandlung werden nicht diskutiert. Auch werden Überlegungen in Richtung eines ›emotionalen Realismus‹ (Ang 1985) nicht angestellt. Mögliche Parallelen zur Welt der AutorInnen geraten in den Hintergrund. Zudem wird deutlich, dass die Kritiker und Kritikerinnen offenbar bei einer täglichen Soap die Anforderung stellen, dass ihre Realität genau abgebildet werden muss. Dass dies nicht erfüllbar und zudem nicht die Aufgabe fiktiver Genres ist, bleibt außen vor. Eigene Serienwelt Dass kein Bezug zur Realität gesehen wird, führt zu der Argumentation, dass es sich bei »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« um eine spezifische Serienwelt handele. Nicht nur exzessive Ereignisse werden als Beleg dafür angeführt. Auch ohne Übertreibungen argumentiert man in dem Diskursstrang in diese Richtung. Dazu wird einerseits die Annahme vertreten, Serien hätten generell nichts mit der Wirklichkeit gemein (Knopf, SZ 8.5.2000). Auch der Handlungsverlauf weist den Kritikerinnen und Kritikern gemäß auf eigene Seriengesetzmäßigkeiten hin, wobei die Einschätzungen sehr widersprüchlich sind. »Die Sequenzen, Personen und Handlungsstränge wechseln so rasch, dass der Zuschauer ständig in Atem gehalten wird. Ein wahrer Horror vacui lässt keine Sekunde und keinen Zentimeter des Bildschirms unausgefüllt. So wird die Wahrnehmung des Zuschauers ständig vorweggenommen, das ›Development‹ ist ihr immer schon voraus« (Siemons, F A Z 10.7.1993). Dagegen spricht Bahners, der die Handlung von »GZSZ« langsamer ablaufen sieht als in der Realität, von einem Stillstand wie beim »ÖTV-

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Streik« (Bahners, FAZ 4.6.1992). Beide zielen jedoch darauf ab, dass die Serienhandlung »nicht in Echtzeit« verlaufe (Bahners, FAZ 4.6.1992). Daneben werden erneut Beispiele aus der Serienhandlung herangezogen, die die Abweichungen von der Realität belegen. So wird angeführt, dass in Serien fast jeder und jede ein eigenes Geschäft führe, wobei, was oben bereits als Beispiel angeführt wurde, jederzeit die Figuren als Vertretung für einander einsprängen (Ziegler, SZ 17.5.1995). Dass die Figuren in ihrer Serienwelt fest verankert sind, zeigt die Bezeichnung als »GuteZeiten-Milla« oder »Gute Zeiten-Heiko« – jede Serie verfügt hiernach über spezifische Figuren, die nur in ihr vorkommen – ein Widerspruch dazu, dass Soap Operas vielfach als beliebig austauschbar gelten. Ziegler hat sich ebenfalls mit den Serienkneipen in Seifenopern beschäftigt, die »wie in echt« sein sollen: »Alle treffen sich dort, wie in echt. Alle trinken literweise Bier, wie in echt. Und alle rauchen wie die Schlote wie in – Nee stimmt gar nicht! In G u t e Z e i t e n , s c h l e c h t e Z e i t e n raucht zum Beispiel nie einer in der Kneipe. Überhaupt raucht da nie jemand. Zumindest nicht, wenn gedreht wird« (Ziegler, S Z 15.7.1996). Serienkneipen entsprächen somit nicht realen Kneipen, sondern seien Produkte einer Serienwelt: »Eigentlich sieht aber in Serien-Kneipen alles etwas doof aus. Unrealistisch eben« (ebd.). Wie oben gezeigt, werde diese Serienwelt durch die Produktionsbedingungen maßgeblich bestimmt. In der Realität würde eine solche Kneipe – mit maximal fünf Gästen – »ruckzuck Pleite gehen« (ebd.). An dem Zitat fällt darüber hinaus auf, dass mündliche Sprache verwendet wird, womit ein lockerer, jugendlicher Eindruck der Serienwelt erzielt wird. Ein weiteres Beispiel für die Spezifika der Soapwelt wurde bereits angesprochen. Die Zahl der Fehlgeburten in Soaps überschreitet die der Realität: »Eigentlich haben diese Typen ja alles […]. Nur Kinder kriegen, das können sie nicht« (Götting, SZ 20.5.1998). Hier scheitere die Nachahmung der Realität, Serien verlaufen nach eigenen Regeln. Insgesamt führen diese Abweichungen von der Realität der AutorInnen jedoch nicht dazu, dass die Soapwelt als spezifische Serienwelt anerkannt wird, bei der andere Momente als eine möglichst hohe Nähe zur Wirklichkeit womöglich den Reiz ausmachen. Statt dessen wird die Differenz zwischen Serienrealität und ›tatsächlicher‹ Wirklichkeit als Manko begriffen. So wird beispielsweise die unrealistische Darstellung von JournalistInnen kritisiert. Geradezu feindselig heißt es zur Serien-Redaktion »City-Lights« in »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«: »[…] dort arbeiten ältere Herren mit leicht grauen oder schon sehr grauen Haaren. Sie haben Versagergesichter, in die das Leben so oft reingeschlagen hat, dass man gleich noch mal reinschlagen möchte« (Adorjan et al., SZ 21.6.1999). Die Selbstironie am Schluss fängt die Härte der Kritik etwas auf: »hatten Journalisten jemals so was wie Würde und Ansehen? Schon gut. Im Grunde können wir uns auch nicht daran erinnern« (Adorjan et al., SZ 21.6.1999).

Der Diskursstrang »GZSZ« in der Fernsehkritik | 219 Soaps und besonders »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« werden mit dieser Argumentation als unglaubwürdig abgewertet (siehe z.B. Bahners, FAZ 4.6.1992). Die AutorInnen meinen offensichtlich, dass Serien, die Gemeinsamkeiten mit dem Alltagsleben aufweisen – wie den täglichen Rhythmus, die Alltagsthematik oder die Bedeutung von Face-to-faceKommunikation – den Alltag perfekt und genau abzubilden hätten. Jene Kritik zeigt sich besonders deutlich bei Bahners, der »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« jeglichen Realitätsbezug abspricht. Die Serie vermittele ausschließlich ein Gefühl von ›Fremdheit‹ – im Gegensatz zur »Lindenstraße«, die die ›Hermetik‹ unserer Gesellschaft repräsentiere (Bahners, FAZ 4.6.1992). »GZSZ« sei durch und durch unglaubwürdig, wobei der Autor den Vergleich zum damaligen Präsidenten der USA zieht, den er als genauso unglaubwürdig einschätzt: »Wie fern die Welt auch ist, die das Fernsehen uns zeigt, so die Lehre dieser Serie, wir entdecken doch nie eine tiefere Stadt. Und wenn wir nach ›Gute Zeiten, schlechte Zeiten‹ in den Nachrichten den Präsidenten Bush beim Umwelt-Gipfel sehen, dann rufen wir ihm zu: Was willst du denn in Rio?« (Bahners, F A Z 4.6.1992) Bahners ist es auch, der die Grundidee von »GZSZ« für unglaubwürdig hält, also die Übertragung einer australischen Serie auf deutsche Verhältnisse kritisiert: »Welches Kind von Möllemann und Cola light schmisse denn die Schule hin, um ›Model‹ zu werden oder Animateur in Kenia? In Australien wird man vielleicht Känguruhhüter« (Bahners, FAZ 4.6.1992). Auch Himmel sieht bei der Übertragung Anfangsprobleme: »Anfangs wurde das Script einfach übersetzt, aus der High School wurde ein Gymnasium, die Flutkatastrophe im Busch wurde zur Überschwemmung im Harz. Aber: Manche Abenteuer sind nur dort möglich, wo das Land wild und weit ist; sie sind im Harz nicht denkbar – also auch nicht zu übersetzen« (Himmel, SZ 7.6.1994). Wieder läuft diese Unterargumentation darauf hinaus, dass »GZSZ« unglaubwürdig sei, eine Position, die auch gegenüber Serien allgemein teilweise eingenommen wird (siehe z.B: Reents, SZ 6.11.1999). Typische Genremerkmale der Soap Opera haben es offenbar schwer im Diskurs der Fernsehkritik. Die alltagsnahe Handlung lenkt den Blick besonders stark auf die Umsetzung von Alltagswelt in Seriengeschehen – Abweichungen von der Welt der Kritiker und Kritikerinnen führen hier zur Abwertung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«.

3.5 Vierter Fokus: Die ZuschauerInnen Vierter inhaltlicher Schwerpunkt der Fernsehkritiken sind die Rezipientinnen und Rezipienten. Um sie zu charakterisieren, werden in den Diskursfragmenten unterschiedliche Aspekte thematisiert. Angesprochen wird, ›wer‹ das Publikum (z.B. Teenies) nach Meinung der Kritik ist, ›wie‹

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es »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« wahrnehme (z.B. aus Fanperspektive) und ›warum‹ (z.B. aus Interesse an Klatsch und Tratsch). Zu den einzelnen Gesichtspunkten wurden verschiedene Argumentationen herausgearbeitet: So werden die Rezipierenden als ›passives Publikum‹ (1) begriffen, was als Unterargumentationen die ›Passivität‹ direkt herausstellt, wie auch die Sicht auf Rezipierende als ›Marktfaktoren‹ und demgegenüber als ›Quotenmacht‹ umfasst. Daneben wurde ein gegenläufiger Argumentationsstrang herausgearbeitet, in dessen Verlauf die Zuschauerinnen und Zuschauer als ›handelnde Fans‹ (2) hingestellt werden. Hier ergeben sich die zwei Unterargumentationen, die ›Fans mit speziellen Vorlieben‹ und die ›pubertierenden Fans‹, die sich »GZSZ« aneignen. Wiederum überschneiden sich diese Argumentationsstränge und Unterargumentationen teilweise. Auffällig war an diesem Fokus die Perspektive, die von den AutorInnen eingenommen wird, die ja selbst auch ZuschauerInnen sind. Meist nahmen sie eine distanzierte Haltung zur Serie ein, die wohl den beobachtenden, kritischen Blick der Kritik zeigen sollte (z.B. Katz, SZ 14.5.1992). An einigen Stellen vertreten die Kritikerinnen und Kritiker die Position eines allgemeinen Fernsehpublikums (siehe z.B. Bahners, FAZ 4.6.1992; Washington, SZ 8.4.1995). Es wurde allerdings deutlich, dass sich die Mehrheit der Autorinnen und Autoren klar von dem Fanpublikum absetzten. Die Perspektive der regelmäßigen »GZSZ«-Zuschauerin, findet sich nur einmal in allen 44 analysierten Diskursfragmenten bei Zekri (FAZ, 10.5.2000). Als Fan von Seifenopern ›outet‹ sich lediglich Ziegler (vor allem Ziegler, SZ 9.11.1995). Begeisterung für eine andere Serie zeigt Illies (FAZ, 21.10.1998) und aus der Perspektive des regelmäßigen Serienzuschauers schreibt Knopf (SZ, 8.5.2000). Die Distanz von Fernsehkritik zum Soap-Opera-Publikum dominiert den Diskursstrang also eindeutig. 3.5.1 Argumentationsstrang: Passive RezipientInnen Das passive Publikum In den Diskursfragmenten wird kein einheitliches Bild der RezipientInnen entworfen. Die erste hier vorgestellte Unterargumentation beschäftigt sich vorwiegend mit der Rezeption von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«. Sie steht im Gegensatz zur Vorstellung der aktiven Publika bei den Cultural Studies, ähnelt teilweise jedoch den Ausführungen von Horkheimer und Adorno, die in ihrem Kulturindustriekapitel die Rezipierenden ebenfalls sehr passiv charakterisieren, so dass auch in diesem Abschnitt der Argumentationsstrang ›»GZSZ« als Produkt der Kulturindustrie‹ anklingt (vgl. Horkheimer/Adorno 1998). Vielfach wirkt die Charakterisierung der RezipientInnen durch die KritikerInnen abwertend, insbesondere da sich die KritikerInnen selbst meist nicht mit dem Publikum identifizieren, sondern eine Sonderstellung für sich beanspruchen. Sie stellen sich in

Der Diskursstrang »GZSZ« in der Fernsehkritik | 221 Opposition zu einem Millionenpublikum – dass es sich bei den »GZSZ« Fans um ein solches handelt, wird immer wieder hervorgehoben (z.B. Himmel, SZ 7.6.1994; Götting, SZ 24.6.1998; Adorjan u.a., SZ 21.6.1999). Die Kritiker und Kritikerinnen heben sich gewissermaßen von ›der Masse‹ ab. In diesem Zusammenhang werden die Rezipierenden von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« an einigen Stellen als passive KonsumentInnen beschrieben, die Inhalte aufnähmen ohne kritische Reflexion: Da ihnen alltägliche Charaktere geboten werden, die dieselben Probleme zu bewältigen haben wie sie, »schlucken die Zuschauer die Mängel der Ausführung […]« (Himmel, SZ 7.6.1994). Hiernach sind Alltagsdarstellungen für das Publikum ein so großer Anreiz, dass sie zugunsten des Inhalts ihre Kritikfähigkeit gegenüber dem Formalen zurückstellten. Dass die Zuschauer und Zuschauerinnen bereit seien, Mängel hinzunehmen, wird noch anderer Stelle betont (Washington, SZ 8.4.1998; Götting, SZ 24.6.1998). Bei Washington werden sie als relativ anspruchslose Rezipierende charakterisiert, die sich von RTL überzeugen ließen, »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« einzuschalten. Die Zwischenüberschrift »Passive Unterhaltung« verweist ebenfalls auf ein rückständiges RezipientInnenbild (siehe Washington, SZ 8.4.1998). Noch deutlicher wird das Publikumsbild bei Weiler, der den Produktionsprozess kritisiert: »Wie in einer Brezelfabrik wird dort Flimmerzeug für all diejenigen hergestellt, die am Abend nicht selbst fühlen und reden wollen, weil sie dazu zu müde sind« Oder auch: »Die lieber andere fühlen und reden lassen.« (vgl. Weiler, SZ 1.10.1999). Mit ›Brezelfabrik‹ und ›Flimmerzeug‹ spielt Weiler auf das ›Knabberzeug‹, also Chips oder ähnliches an, das häufig abends beim Fernsehen konsumiert wird. Er evoziert damit das Bild einer typischen ›Couch-Potatoe‹, womit die Vorstellung eines Zuschauers verbunden wird, der passiv, abgeschlafft vor dem Fernseher sitzt und Chips wie auch Medieninhalte ohne Reflexion gleichermaßen stumpf konsumiert. Die Vorstellung von Rezeption geht nach Weilers Zitaten allerdings noch darüber hinaus. Der Autor unterstellt dort, dass die Soap eine Ersatzfunktion für das Alltagserleben einnimmt, das den Rezipientinnen und Rezipienten verwehrt sei. Es spiegelt sich insgesamt bei Weiler einerseits das frühe Stimulus-ResponseModell wider, nach dem ein Sender Botschaften zum Empfänger sendet, die dieser ohne Reflexion aufnimmt (vgl. Pürer 1990 : 95). Andererseits besteht hier erneut ein Bezug zum Bild des Publikums bei Adorno und Horkheimer: passive Zuschauerinnen und Zuschauer, die unkritisch Inhalte konsumierten (vgl. Horkheimer/Adorno 1999: z.B. 145; 153). Weiler charakterisiert das Publikum von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« als konstituiere es sich ausschließlich aus Fabrikarbeitern und Fabrikarbeiterinnen. Bei Prümm erscheint das Fernsehpublikum allgemein abgestumpft zu sein (FAZ 20.8.1996). Der Konsum der immergleichen Bilder sei ihnen zum Reflex geworden. Kritisch ist das Publikum somit auch nach diesem Beitrag nicht.

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Auch Adorjan et al. transportieren dieses Publikumsbild (SZ 21.6.1999). Sie stellen »GZSZ« als Inbegriff des Mittelmaßes heraus und meinen: »GZSZ ist die erfolgreichste Serie im deutschen Fernsehen. Abend für Abend, von Montag bis Freitag, sitzen Millionen Deutsche vor dem Fernsehen und sehen: Mittelmaß. So was prägt. So viel Mittelmaß erstickt beim Zuschauer jeglichen Funken von Genialität und jede Sehnsucht danach. GZSZ fördert das Mittelmaß in Deutschland« (Adorjan et al., S Z 21.6.1999). Diese Art von Serienkritik ist natürlich überzogen. Der Kontext des Artikels, in dem sich die Autorin und die beiden Autoren mehr oder minder phantasievoll vorstellen, wie die deutsche Wirklichkeit ohne »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« aussähe, legt nahe, dass hier Ironie und Witz im Vordergrund stehen. Dennoch wird das Bild vom passiven Rezipienten und der passiven Zuschauerin über dieses Diskursfragment gestützt. Die Beschreibung von Zuschauer und Zuschauerinnen, die passiv, unkritisch rezipierten, sich womöglich durch den Serientext beeinflussen lassen und Mängel hinnähmen, stützen ein negatives Bild vom Publikum. Dazu kommt, dass die Rezipienten und Rezipientinnen teilweise auch als etwas ›minderbemittelt‹ hingestellt werden. Dies geschieht meist auf indirekte Weise, indem über ein vermeintlich geringes Niveau des Serientextes intellektuelle Fähigkeiten der Rezipierenden hinterfragt werden. So wird nach Weidinger (SZ 5.12.1994) die Zuschauerbindung bei Soaps vor allem durch »simple Endlosstrickmuster und stichwortartige Texte« erzielt. Die gleiche Autorin führt an anderer Stelle aus, es müsse alles doppelt gesagt werden, »damit es auch jeder versteht« (Weidinger, SZ 29.12.1994). Und auch allgemein sieht Weidinger (SZ 5.12.1994) Probleme auf das Soappublikum zukommen. Sie befürchtet Orientierungslosigkeit und Mühe, die einzelnen Soaps auseinander zu halten. Diese Bemerkung richtet sich sicherlich stärker gegen die Texte als gegen die Zuschauer und Zuschauerinnen. Trotzdem wird letzteren offenbar keine Genrekompetenz zugetraut. An anderer Stelle kritisiert Weiler die (abwertende) Sicht der Programmverantwortlichen auf Rezipientinnen und Rezipienten (Weiler, SZ 1.10.1999). Gleichzeitig mokiert sich jedoch auch der Autor selbst über die Vorlieben des Publikums, die er offenbar für niveaulos oder für banal hält. Dass in dem Diskursstrang um die Bewertung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« ein solchermaßen abschätziges Bild der Rezipierenden kursiert und neuere Forschungsbeiträge offenbar noch nicht wahrgenommen wurden, lässt die Fernsehkritik rückständig und teilweise geradezu arrogant erscheinen. Sie selbst würden ihren Rezeptionsvorgang aller Wahrscheinlichkeit nach nicht als passiv und unreflektiert charakterisieren. Sie konstruieren sich hiermit als intellektuell führende Fernsehkritik, die einer stumpfen Masse gegenüberstehe und transportieren damit veraltete Vorstellungen vom Publikum. Detaillierte Kenntnisse über

Der Diskursstrang »GZSZ« in der Fernsehkritik | 223 die Zuschauerinnen und Zuschauer scheinen der Fernsehkritik nicht vorzuliegen. Marktfaktoren und Quotenmacht Die Diskursfragmente behandeln mehrfach das Verhältnis zwischen »GZSZ«-Publikum und Programmverantwortlichen. Die Rezipientinnen und Rezipienten gälten dabei in den Augen von RTL als reine Marktfaktoren – die ›Quote‹ stehe über allem: »In der RTL-Welt spielen Großgruppen wie Parteien, Gewerkschaften oder Kirchen keine Rolle mehr. Hier zählt nur die Unmittelbarkeit der Einschaltquote« (Siemons, FAZ 10.7.1993). Die skeptische Haltung gegenüber RTL kommt dabei zum Ausdruck. Allerdings erwähnen auch die AutorInnen aus ihrer Sicht Marktanteile oder betonen, dass es sich um ein Millionenpublikum handele, das täglich »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« rezipiere (z.B. Weiler, SZ 1.10.1999). Maruschat stellt dabei den Serienkonsum der Rezeption von Nachrichten gegenüber und sagt, dass »GZSZ« »jeden Abend von rund 30 Prozent der 14- bis 49jährigen gesehen wird. (Die Tagesschau hingegen gucken nur 14 Prozent dieser Altersgruppe.)« (Maruschat, SZ 30.5.2000) Auch Weiler führt den Marktanteil von 30 Prozent an, den »GZSZ« in der Zielgruppe erreiche (Weiler, SZ 1.10.1999). Das Verhältnis zwischen Verantwortlichen und Rezipierenden sei von der Jagd nach Quoten gekennzeichnet. RTL sehe das Publikum als Zielgruppen und Marktfaktoren und versuche das gesamte Publikum dadurch abzudecken, das sich der Sender als Familiensender etabliere. Der »Tausendkontaktpreis« (TKP) sei hier der Schlüsselbegriff. Er bezeichnet den »Preis eines Werbespots pro tausend Zuschauer« und berechnet sich aus Kaufkraft der Zielgruppe und der Sendezeit (vgl. Siemons, FAZ 10.7.1993). Zuschauerinnen und Zuschauer werden hier zur Größe, mit der man Werbegelder berechnet. Soaps gelten als Mittel, Rezipierende anzulocken – ihre hohen Einschaltquoten machten sie für die Verantwortlichen zu idealen Formaten. »Das sind viele. So viele, dass die Fernsehsender Fabriken gebaut haben, um immer neue Folgen dieser Serien herzustellen« (Weiler, SZ 1.10.1999). RTL gilt mit »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« als Vorreiter. In den Artikeln wird die Seite der Programmverantwortlichen als Marktstrategen charakterisiert. Es ist von »angestrebter Zuschauerbindung« (Weidinger, SZ 5.12.1994) als wichtigstem Ziel die Rede sowie von einer »zuschauer/verbraucherfreundlichen Sendezeit« (Weidinger, SZ 29.12.1994). »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« wird zur »Quotenvorlage«, die das ideale Publikum für das folgende Abendprogramm anlocke (Bartels, SZ 22.3.2000). Bartels zitiert auch einen der Programmverantwortlichen, der sich das Publikum »jung, deutsch und emotional« wünsche (Bartels, SZ 22.3.2000), wodurch womöglich Kaufkraft und eine möglichst intensive Zuschauerbindung gewährleistet werden solle. Ziel der Programmverantwortlichen sei es, so wird betont, im Sen-

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derkonkurrenzkampf möglichst viele Zuschauende zu ›ködern‹, wobei bei RTL der Zweck die Mittel heilige, das Niveau der Angebote den MacherInnen offenbar egal sei, solange das Publikum einschalte (siehe Weiler, SZ 1.10.1999). Bei dem geplanten Spin-Off von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« meint Weiler denn auch, dieser solle in der Prime-Time »nach Zuschauern, also Marktanteilen, also Werbeeinnahmen angeln« (Weiler, SZ 1.10.1999). Rezipientinnen und Rezipienten verkörperten demnach für RTL lediglich Marktanteile und damit Werbeeinnahmen. Ein weiterreichendes Interesse an ihnen wird nicht angenommen. Mit Hilfe von Strategien sollten sie an das Programm gebunden werden. »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« wird als Beispiel dafür angeführt, wie der »Bertelsmann-Sender« RTL »nach dem Sendestart 1992« im Gegensatz zum sonst herrschenden Quotenzwang ausharrte und »fest zur verlachten Dailysoap« stand, um heute die »Früchte der damaligen Geduld« zu ernten, die sich als drei Millionen Rezipierende im besten Werbealter unter 49 Jahren herausstellten (vgl. Bartels, SZ 22.3.2000). Der Autor meint auch Strategien zu erkennen, wie »Je jünger die Gesichter, desto mehr junge Leute bleiben dran« und »Am besten funktionieren: immer dieselben Gesichter« (Bartels, SZ 22.3.2000). Bartels kritisiert in seinem Artikel die wachsende diagonale Medienkonzentration des Bertelsmann-Konzerns, der bei RTL Programm, Produktion und Merchandising miteinander zu verbinden suche. Wichtigstes Mittel von RTL sei die Programmplanung. »Das Publikum darf nicht über Gebühr absacken, es soll ohne große Verluste von Sendung zu Sendung hinübergleiten« (Siemons, FAZ 10.7.1993) – von »Audience flow« ist hier die Rede. Fernsehen solle als Gewohnheitsmedium in den Alltag eingegliedert werden (dazu auch Prümm, FAZ 20.8.1996), wobei das Formatfernsehen, also das Senden von bestimmten Formaten täglich zur gleichen Zeit wesentlich sei. Während RTL mit »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« in dieser Hinsicht als Vorreiter gilt, habe die ARD das RTL-Konzept imitiert (Sei, FAZ 10.9.1994) Es werde versucht, das Publikum berechenbar zu machen, wobei GfK-Daten mit Konsumdaten der Zuschauergruppen verknüpft werden, wie Siemons ausführt (Siemons, FAZ 10.7.1993). Auch der Grundy-Konzern – ebenfalls Bertelsmann zugehörig – versuche, das Verhalten der ZuschauerInnen zu berechnen und stelle dabei Zeitformeln auf, wonach sich erst nach einem halben Jahr überhaupt ein »Stammpublikum« konstituiere (Arnu, SZ 30.4.1999). Ebenfalls nach Berechnung klingt es, wenn es heißt, »Wenn die Rolle den Zuschauern gefällt, kommen nach spätestens zwei weiteren Wochen die ersten Liebesbriefe« (Weiler, SZ 1.10.1999). Den Autoren zufolge spielt einerseits das Publikum mit und verhält sich, wie von den ProduzentInnen kalkuliert, ist jedoch andererseits auch in der Lage, Rollen abzulehnen. Es wirkt hier jedoch so, als ob es leicht sei, eine emotionale Beziehung zu den Figuren ›anzuzetteln‹. Die Unterargumentation, nach der das Publikum in den Augen der

Der Diskursstrang »GZSZ« in der Fernsehkritik | 225 Programmverantwortlichen ausschließlich Marktfaktoren verkörperten, impliziert immer auch, dass die ZuschauerInnen über die Quote auch Macht ausüben können. Demnach seien Sender und Produktionsgesellschaften auch von ihnen abhängig. Diese Argumentation wird allerdings nur in einigen wenigen Artikeln offen verfolgt. Demzufolge sind die RezipientInnen letztlich dafür verantwortlich, ob eine Soap im Programm bleibe (Arnu, SZ 30.4.1999; Sei 10.9.1994 direkt zu RTL und »GZSZ«). Über die Einschaltquoten hätten die Zuschauer und Zuschauerinnen ebenso Einfluss auf die inhaltliche Gestaltung. Je nach Quote bleibe eine Figur in der Serie oder werde herausgeschrieben, wie dies bei »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« Praxis sei (Niggemeier, SZ 2.8.2001). Prümm sieht als einziger noch eine andere Macht der Rezipierenden gegeben: »Endlosserien […] geben ihren Zuschauern das Bewusstsein der totalen Beherrschung des Textes« (Prümm, FAZ 20.8.1996). Diese Macht wirkt jedoch manipuliert, das Publikum habe zwar das Gefühl, den Text zu beherrschen, sei in Wirklichkeit aber Teil der ProduzentInnen-Strategien. Insgesamt dominiert klar das Bild der Zuschauerinnen und Zuschauer, wie sie der Fernsehkritik zufolge in den Augen der Programmverantwortlichen, insbesondere von RTL wahrgenommen würden: auf Marktfaktoren reduziert. Kritiker und Kritikerinnen bemängeln diese Sichtweise und entwerfen ein negatives Bild von RTL. Die Fernsehkritik wendet sich hier gegen das Publikumsbild, das im ›private ownership-Diskurs‹ entworfen wird, um symbolische Kontrolle über die Rezipierenden auszuüben (vgl. Ang 1991). Ang sieht zudem auch für den ›public service‹-Diskurs, der für öffentlich-rechtliche Sender maßgeblich ist, ein verändertes Publikumsbild von den Staatsbürgerinnen und -bürgern weg, hin zu KonsumentInnen (ebd.). Trotz dieses Wandels hält die Fernsehkritik offenbar an alten Publikumsvorstellungen fest. Außerdem lassen sich erneut Parallelen zum Kulturindustrie-Kapitel von Adorno und Horkheimer ziehen. Dort heißt es, das Publikum würde in verschiedene Einkommens- und Bedürfnisklassen eingeteilt und werde damit für die ProduzentInnen der Kulturindustrie zu einer berechenbaren Größe: »Die Konsumenten werden als statistisches Material auf der Landkarte der Forschungsstellen, die von denen der Propaganda nicht mehr zu unterscheiden sind, in Einkommensgruppen, in rote, grüne und blaue Felder, aufgeteilt« (Horkheimer/Adorno 1998: 131). Auf diese Weise sei es möglich, gezielt für jeden Bedarf zu produzieren. Ist die Position der beiden Vertreter der Kritischen Theorie sicherlich noch radikaler als sie aus den Diskursfragmenten hervorgeht, scheint der Argumentationsstrang, nach dem »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« ein kulturindustrielles Produkt verkörpert, dennoch auch hier in die Bewertung der KritikerInnen einzufließen.

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3.5.2 Argumentationsstrang: Handelnde Fans Fans mit speziellen Vorlieben Neben der Charakterisierung von Rezipierenden als Rechenfaktoren in der Strategie der Programmverantwortlichen, existieren in dem Diskursstrang zu »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« auch gegenläufige Argumentationsstränge. Diese beschäftigen sich mit den ›Fans‹ der Serie, die ihre Begeisterung aktiv auslebten. Allerdings ist diese Beschreibung des Publikums nicht gleichbedeutend mit einer positiven Bewertung seitens der Fernsehkritik. Die Fans werden meist belächelt, als etwas eigenartige Gruppe gefasst oder auch für ihren ›schlechten Geschmack‹ abgewertet, wie unten gezeigt wird. Diese Unterargumentation wird nur durch wenige Beiträge gespeist, wobei lediglich ein Diskursfragment der FAZ darunter ist und fünf aus der Süddeutschen Zeitung stammen. Autor des FAZ-Artikels ist Illies, der die enge Bindung der Fans an ihre Serien betont. In diesem Zusammenhang führt er auch »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« an und spricht von »eingeschworenen Fangemeinden« (Illies, FAZ 31.1.1998). Er stellt also die Gewöhnung von Fans an ihre Serie heraus und den Zusammenhalt unter ihnen. Hier deutet sich bereits an, dass Fans als spezielle Gruppen behandelt werden, wie es auch bei Arnu der Fall ist (Arnu, SZ 30.4.1999). Interessanterweise führt der Autor in diesem Zusammenhang an, dass etwa doppelt so viele Frauen als Männer »GZSZ« einschalteten. Machen Frauen die »GZSZ«-Fans zu einer seltsamen Gruppe? Dieser Schluss wird zwar nicht direkt von Arnu gezogen, wird jedoch leicht impliziert. ›Speziell‹ werden die Fans vor allem durch ihre spezifischen Vergnügen, von denen wenige genannt werden. »Die Fans mögen gerade die Trash-Optik, das Klappern der Kulissen und die grob zusammengehauenen Dialoge. RTL-Chef Gerhard Zeiler drückt es so aus: ›Soaps müssen auch soapig aussehen‹« (Arnu, SZ 30.4.1999). Für den Autor scheint dieses Vergnügen an der spezifischen Soap-Machart Hauptgrund dafür zu sein, Fans als etwas verschroben hinzustellen – ob Soaps tatsächlich so ›trashig‹ aussehen, sei an dieser Stelle dahingestellt. Auch bei Niggemeier sind die Fans eigen. Sie seien beim Inhalt wählerisch, so dass Figuren nicht immer akzeptiert würden und Elemente wie »eine Brustvergrößerung« nicht unbedingt Anklang fänden (Niggemeier, SZ 2.8.2001). Ein Vergnügen an Alltagsdarstellungen sieht Himmel (SZ 7.6. 1994). Auch ein Vergnügen an Klatsch und Tratsch (Himmel, SZ 7.6.1994) sowie Sensationslust oder auch die Lust am Exzessiven wird erwähnt, wenn es heißt, dass ›Mord und Totschlag‹ der Anreiz für die »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«-Rezeption sei (Washington, SZ 8.4.1998). Diese Aspekte werden von den Autorinnen nicht positiv dargestellt. Vielmehr weisen sie mit ihnen auf den vermeintlich schlechten Geschmack der Fans hin und distanzieren sich von ihnen. Eine unterhaltsame Beschreibung des Vergnügens bei der Soap-Rezeption liefert Knopf (SZ 8.5.2000):

Der Diskursstrang »GZSZ« in der Fernsehkritik | 227 »Heute darf man Serien noch immer nicht mit dem Leben verwechseln, aber man möchte es, weil das Leben in den Serien mit dem Leben außerhalb der Serien gar nichts mehr zu tun haben soll und deshalb viel schöner ist, aufregender, jawohl: geiler« (ebd.). Er nimmt die Sicht des Zuschauers ein und verfasst aus der Ich-Perspektive ein fiktives Bewerbungsschreiben an die Redaktion des »GZSZ«Spin-Offs »Großstadtträume«, in dem er sich über die exzessiven Handlungsmomente amüsiert und sich vorstellt, das eigene Leben gegen eine Serienbiographie einzutauschen. Was er hier beschreibt, wird an anderer Stelle als »phantasievolles Vergnügen« bezeichnet (vgl. Klaus 1998: 337 ff.). Seine Ausführungen können jedoch auch ironisch interpretiert werden. Fans stellen nach dieser Unterargumentation eine feste Gruppe dar mit eigenen Vergnügensformen, die sie aus der Rezeption von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« ziehen. Diese Vergnügen werden von den Autorinnen und Autoren allerdings skeptisch beurteilt und dazu benutzt, die Fans distanziert als ›etwas seltsam‹ zu charakterisieren. Davon, populärkulturelle Vergnügen zu akzeptieren und zu respektieren, ist die Kritik hier weit entfernt. Pubertierende Fans Daneben wird die Beziehung der Fans zu »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« häufig als emotionale Bindung charakterisiert. Ziegler, der sich selbst als Serienfan mit »Serienguckerseele« sieht (Ziegler, SZ 17.5.1995), beschreibt die Serienrezeption als Mitfiebern mit »unseren Helden« und am Beispiel von »Verbotener Liebe« (ARD) als Abhängigkeit, was allerdings durch die Übertreibung witzig wirkt: »Und wir Zuschauer krallen unsere Hände vor Aufregung in die Sessel bis die Knöchel weiß hervortreten und wir denken: Nein, nein lasst sie nicht fallen! Lasst sie noch leben! Denn was sollen wir denn tun, ohne Julia von Anstetten in V e r b o t e n e L i e b e, wenn sie sich aus lauter Liebeskummer zu ihrem Zwillingsbruder zu Tode stürzt? Wir lieben sie doch! Wir brauchen sie doch! Natürlich wird sie gerettet […]« (Ziegler, S Z 9.11.1995). Der Autor charakterisiert sich als Fan, dessen Lieblingsserie in sein eigenes Leben integriert ist. Zwischen ihm und den Figuren besteht ein emotionales Verhältnis. Wie eine emotionale Beziehung zwischen Fans und Figuren bei der Rezeption von Soaps allgemein entsteht, beschreibt Prümm genauer: »Die Endlosserie ist die theatralische Form des durativen Bildes, nimmt die temporalen Anforderungen des neuen Fernsehens auf. Endlosserien verschmelzen mit dem unendlichen Programmdiskurs, durchbrechen die Grenzen der Fiktion und gehen in die Erfahrungswelten der Zuschauer auf eine sehr direkte Weise ein, wie dies keiner anderen Erzählung gelingt. Endlosserien funktionieren wie regelmäßige Treffpunkte mit Leuten, die man mag und die man hasst. Die Figuren werden zu Zeitgenossen der Zuschauer in einem sehr wörtlichen Sinne. Täglich

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kann er sie sehen, sich mit ihnen vertraut machen, in ihre Lebenswelt eindringen, mit ihnen Freundschaft schließen und mit ihnen altern. Diese gemeinsame Zeitlichkeit bedingt die starken emotionalen Energien, die von der Endlosserie ausgehen« (Prümm, F A Z 20.8.1996). Die Parallelität von Serienzeit und Echtzeit steht hier im Mittelpunkt und wird auch von der Forschung in dieser Weise gesehen (vgl. Geraghty 1991). Ein weiteres Stichwort, das eine Beziehung zu Serienfiguren fasst, ist die ›parasoziale Interaktion‹, nach der Rezipierende über einen längeren Zeitraum eine emotionale Beziehung zu Seriencharakteren aufbauen können (vgl. Vorderer 1996; Jurga 1999: 83 ff.). Eine emotionale Bindung sieht auch Weiler (SZ 1.10.1999). Eine fiktive Liebesbeziehung scheint nach Weiler normal und vorprogrammiert zu sein, wenn die Rezipientinnen und Rezipienten eine Figur mögen. Die Art und Weise, sich zu begeistern, erhält bei Thomann einen pubertären Anstrich. Er verweist auf weibliche Teenies, die für »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«-Stars schwärmen (FAZ 31.10.1997). »Vor dem rot-weißen Fernsehzentrum hat sich eine Gruppe weiblicher Teenager auf den eigens für sie aufgestellten Bänken verteilt; wie jeden Tag sitzen sie hier und harren darauf, dass einer der Darsteller der RTL-Seifenoper ›Gute Zeiten, schlechte Zeiten‹ erscheint, die hier gedreht wird« (Thomann, F A Z 5.7.1997). Nach ihm sind es also ›naive‹ Mädchen, für die »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« in eine wichtige Entwicklungsphase eingebunden wird, was nach der Selbstverständlichkeit, mit der für sie Bänke auf dem Produktionsgelände bereit stehen, von der Produktionsgesellschaft einkalkuliert werde, also fester Bestandteil der Soap-Kultur zu sein scheint. Das Verhalten männlicher Teenies wird bei Thomann nicht thematisiert. Es gibt noch mehr Textstellen, in denen die Fans als pubertierende Gruppe, als »Generation Clearasil« (Zekri, FAZ 10.5.2000), charakterisiert werden. Prümm sieht »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« als »Kultserie der Zehn- bis Sechzehnjährigen« (FAZ 20.8.1996). In dem Diskursfragment von Adorjan et al. (SZ 21.6.1999), in dem bereits durch die jugendliche Sprache und durch den lockeren, witzigen Ton »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« in ein jugendliches Umfeld gerückt wird, wird ausgeführt, dass die Serie zur Verkehrsberuhigung beitrage: »Erst GZSZ hat es geschafft, wenigstens für 35 Minuten am Tag all jene von der Straße zu holen, die dort besser nichts zu suchen haben: Mädchen, die wegen ihrer wackeligen Ohrringe gerne mal auf den Schulterblick verzichten. Jungs, die mit Flugzeugen im Bauch über die Landstraße rasen« (Adorjan et al., S Z 21.6.1999). Das Zitat verweist auf die typischen Interessen von Jugendlichen in der Pubertät: Mode (die wackeligen Ohrringe), Verliebtsein (die Flugzeuge im Bauch) und Musik, ebenfalls mit den ›Flugzeugen im Bauch‹ angedeutet,

Der Diskursstrang »GZSZ« in der Fernsehkritik | 229 bei denen es sich ursprünglich um einen Musiktitel von Herbert Grönemeyer handelt, sie hier wohl eher auf die Cover-Version von Ex-»GZSZ«Star Oli P. anspielen. Zudem noch das zu schnelle Autofahren, mit dem männliche Jugendliche häufig untereinander konkurrieren. Die Autorinnen und Autoren beschreiben am Ende ihres Artikels noch das Flirtverhalten von Mädchen und Jungen, und wie es sich durch »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« verändert habe. Die Soapmerkmale Cliffhanger, der Wechsel zwischen mehreren Handlungssträngen, die Folgenlänge von ca. 30 Minuten und die melodramatische Handlung würden auf das eigene Leben übertragen. »Wenn man was Wichtiges zu sagen hat, macht man das immer am Schluss: eine Liebeserklärung, ein brutales Geständnis – und dann nichts wie weg. Dann müssen die anderen rätseln, wie es weitergeht. Cliffhanger nennt man das. Es macht Spaß, die anderen an die Klippe zu hängen. Es ist scheiße, wenn man selbst dran gehängt wird. Dann hängt man da die ganze Nacht. Aber man weiß natürlich, dass der nächste Tag die Auflösung bringt. Ohne GZSZ gäbe es noch immer Dichter und Denker und Filmhelden, die ihr ganzes Leben irgendwo hängen würden – ohne Auflösung. Die würden Frauen mit komplizierten Worten liebkosen, und die Frauen würden alles verstehen, aber nie was zugeben. Und kämen nie zur Sache. Schön blöd wäre das« (Adorjan et al. S Z 21.6.1999). Der Punkt der Alltagseinbindung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«, der oben bereits angesprochen wurde, spielt für die emotionale Anbindung der Fans eine Rolle und dient daneben auch als Extraaspekt dazu, die Beziehung von Fans und Serientext zu charakterisieren, die Bedeutung des Textes zu illustrieren. Allerdings findet sich der Aspekt lediglich in den beiden bereits angeführten Diskursfragmenten, Adorjan et al. (SZ vom 21.6.1999) und allgemein auf Soaps bezogen bei Prümm (FAZ 20.8.1996). Die tägliche Ausstrahlung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« wurde jedoch unter dem Punkt der ›Alltagsspiele‹ bereits angeführt. Der tägliche Rhythmus spielt also in einigen Beiträgen eine Rolle, wird jedoch nur in zweien als Integration in den Alltag beschrieben. Die Einbindung wird von Adorjan et al. (SZ 21.6.1999) wie folgt darstellt: »Jeden Tag drei Millionen, die auf dem Sofa hocken statt im Auto oder auf dem Fahrrad, gemütlich Käsebrote essen und sich über Jo Gerner aufregen«. Prümm zeigt die Alltagseinbindung in der oben zitierten Passage, die sich mit der ›freundschaftlichen‹ Beziehung zwischen Fans und Figuren auseinander setzte (Prümm, FAZ 20.8.1996). Prümm hebt die tägliche Rezeption hervor und beschreibt das Eindringen der Soaps in die »Erfahrungswelten der Zuschauer«. Letzteres entspricht dem Begriff der Aneignung aus den Cultural Studies, denn hier wird der Serientext in den Alltag und die Lebenswirklichkeit integriert, er wird dabei mit den eigenen Bedeutungen versehen. Prümm hebt daneben hervor, dass Soaps von Zuschauerinnen und Zuschauern genutzt werden, um ihren Tag zu strukturieren (FAZ 20.8.1996). Insgesamt fällt auf, dass auch bei der

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Schilderung der aktiven Nutzung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« durch die Fans, die Rezipierenden eher abgewertet oder belächelt werden. Offenbar erscheint der Fernsehkritik die Distanz zu den Fans zu groß.

3.6 Zusammenfassung des Diskursstrangs zu »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« Die Analyse hat deutlich gemacht, dass aus der Bewertung der Fernsehkritik in dem Diskursstrang zu »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« eine Reihe von Argumentationen hervorgehen. Zur Übersicht werden die herausgearbeiteten Argumentationsstränge und Unterargumentationen nun noch einmal zusammengefasst. Es geht dabei darum, die wichtigsten Positionen nochmals zu verdeutlichen. Angrenzende Diskurse werden in diesem Abschnitt nur teilweise erläutert. Die Bewertung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« im Diskurs der Fernsehkritik lässt sich in etliche Argumentationsstränge und Unterargumentationen gliedern: insgesamt konnten sieben Argumentationsstränge und siebzehn Unterargumentationen herausgearbeitet werden. Es finden sich also sehr vielfältige Aspekte und Positionen, was nicht automatisch heißt, dass die Bewertungen sehr unterschiedlich verlaufen. Zunächst fällt auf, dass die verschiedenen Schwerpunkte unterschiedlich umfangreich in dem Diskursstrang betrachtet werden, was sich an der Anzahl der Argumentationsstränge und Unterargumentationen zeigt. So kristallisierte sich in der Bewertung der Darstellerinnen und Darsteller lediglich ein Argumentationsstrang mit drei Unterargumentationen heraus. Demgegenüber konnte bei den übrigen inhaltlichen Schwerpunkten je zwei Argumentationsstränge mit jeweils zwei Unterargumentationen ausgemacht werden. Nur hinsichtlich der Handlung finden sich zu einem der beiden Argumentationsstränge drei Unterargumentationen, in denen der Bezug zur Realität diskutiert wird. Von der unterschiedlichen Anzahl der herausgearbeiteten Argumentationsstränge und Unterargumentationen lassen sich Schlüsse auf die Art und Weise ziehen, wie vielfältig oder auch einseitig die Bewertung innerhalb der Kategorien verläuft. Lässt sich zu den ›DarstellerInnen‹ lediglich ein Argumentationsstrang finden, so kann man davon ausgehen, dass die Bewertung der Fernsehkritik hier einheitlich, man könnte auch formulieren einseitig gestaltet ist. Demgegenüber scheint die Bewertung der Punkte, zu denen mehrere Argumentationsstränge herausgearbeitet werden konnten, reichhaltiger an Positionen zu sein. Dies heißt allerdings nicht, dass die Wertungen damit konträr verlaufen, sondern lediglich, dass hier vielfältigere Argumentationen ausgemacht werden konnten. In der folgenden Zusammenfassung werden die Argumentationsstränge jeweils genannt, die Unterargumentationen jedoch nicht einzeln angegeben, da dies einer zusammenhängenden, lesbaren Darstellung im Wege stünde.

Der Diskursstrang »GZSZ« in der Fernsehkritik | 231 Die Argumentationen, mit denen die Produktion betrachtet wird, sind für die Wertungen im Diskursstrang offenbar besonders bedeutsam. In dem ersten, dazu herausgefilterten Argumentationsstrang (1) wird »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« als kulturindustrielles Produkt begriffen – eine Argumentation, die auch in der Bewertung der übrigen inhaltlichen Schwerpunkte bedeutsam ist. Der Produktionsvorgang wird dabei als Fließband- oder allgemein als Fabrikarbeit herausgestellt und die kommerzielle Zielsetzung der Soap-Produktion bemängelt, hier deutet sich der Kulturindustrie-Diskurs an, der noch an weiteren Stellen zum Tragen kommt und später noch genauer diskutiert wird. Vermeintliche Mängel der Schauspielerinnen und Schauspieler oder der Handlung sowie Genremerkmale wie der Cliffhanger werden auf jene ›Massenproduktion‹ und auf die Orientierung an ökonomischen Vorgaben zurückgeführt. Ebenfalls wird die Serie dabei als Gegensatz zur Kunst herausgestellt. Die Kritik an der kommerziellen Zielsetzung richtet sich bezüglich der Produktion vor allem gegen RTL. Qualitative Ansprüche spielten bei der Arbeit des Senders keine Rolle, lediglich der Gewinn sei entscheidend. Letztlich wird RTL über diese Argumentation zum Gegensatz vom ›public-service‹-Modell (vgl. Ang 1991), bei dem nicht der Gewinn, sondern die vermittelten Inhalte an erster Stelle stehen. RTL steht hierüber natürlich auch im Gegensatz zu den Grundsätzen der Fernsehkritik, die für sich in Anspruch nimmt, nach ›Qualitätskriterien‹ zu urteilen und gegenüber ›Quoten‹ unabhängig zu sein.8 »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« erscheint über diese Argumentation als ausschließlich kommerziell reizvolles Produkt, das der Sender für sich als ›Geldmaschine‹ nutzt, wobei Merchandisingartikel und die Verschränkung mit der Musikindustrie ihr übriges dazutun. Daneben werden im zweiten herausgearbeiteten Argumentationsstrang (2) zur Bewertung der Produktion Soaps als Indikator für verschiedene Negativentwicklungen im deutschen Fernsehen gewertet. Insbesondere stehen Seifenopern für die Angleichung der öffentlich-rechtlichen Sender an die Privaten, wobei Quotenorientierung und damit die Kommerzialisierung des Rundfunks bemängelt wird. »GZSZ« und Soaps allgemein werden hier zu Mitteln, die im Senderkonkurrenzkampf eingesetzt werden. ARD und ZDF werden dafür kritisiert, dass sie eigene Seifenopern oder ähnliche Formate entwickelten. Neben der Orientierung an Quoten wird an dieser Stelle des Diskursstranges das Formatfernsehen, also die Organisation des Programms nach Genrebausteinen kritisiert (siehe Meckel 1997). Meckel sieht im Format-Fernsehen eine »formale Konvergenz zwischen vergleichbaren Angeboten der einzelnen Programmgenres und -gattungen« (ebd.: 475). Dieser Aspekt lässt sich im Diskurs der Fernsehkritik als Angst vor Vereinheitlichung des Programms interpretieren. In diese Argumentationen fließen Diskurse um die Situation des dualen Rundfunks mit ein, in denen eine Angleichung 8 | Vgl. den Abschnitt zur Fernsehkritik in dieser Arbeit (Teil 3, Kap. 1.1).

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der öffentlich-rechtlichen Sender an die kommerzielle Ausrichtung der Privaten befürchtet wird (vgl. Merten 1994) sowie die Diskurse um das ›public service‹ Modell gegenüber dem des ›private ownership‹ (siehe Ang 1991).9 Abgesehen davon wird »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« in einzelnen Artikeln im Zusammenhang mit einer fortschreitenden Internationalisierung der Fernsehbranche kritisiert und die Adaptierung australischer und US-amerikanischer Produktionsweisen im deutschen Fernsehen bemängelt, was sich zuvor bereits in dem Aspekt des Format-Fernsehens angedeutet hat. Kern dieser Argumentation ist die Darstellung, dass die deutsche Produktion mit dem Soap-Genre völlig unerfahren sei, im Gegensatz zu den mit Seifenopern vertrauten USA und Australien, die als Ursprungsländer der Soap charakterisiert werden. Die Orientierung der deutschen Produktion an den USA und Australien wird negativ bewertet, worin sich die Angst vor einer internationalen, kulturellen Gleichschaltung andeutet. Insgesamt wird »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« in diesen Argumentationen zum Symbol für eine Negativentwicklung des Fernsehens stilisiert. Beide zusammengefassten Argumentationsstränge zur »GZSZ«-Produktion werten die Serie und das Genre allgemein ab. Die Tatsache, dass sich insbesondere die Charakterisierung der Soap als kulturindustrielles Produkt auch in der Bewertung der übrigen inhaltlichen Schwerpunkte zeigt, belegt die dominante Bedeutung, die der Soap-Produktion in der Bewertung von »GZSZ« zukommt, sowie die Bedeutung des Kulturindustrie-Diskurses für den gesamten Diskursstrang. Hinsichtlich der Bewertung der DarstellerInnen basieren alle isolierten Argumentationen auf einer Aussage bzw. einem Argumentationsstrang (1): die Darstellerinnen und Darsteller könnten nicht schauspielern. Sie verfügten nicht über schauspielerische Schlüsselqualifikationen wie Mimik und Ausdruckskraft. Zudem seien sie nicht in der Lage dazu, Serienleben und Wirklichkeit zu trennen, was sich beispielsweise darin zeige, dass ein Serienpaar auch im realen Leben eine Partnerschaft miteinander führte. Daneben werden Gastauftritte von Prominenten in der Serie kritisiert, die ebenfalls nicht schauspielerten, sondern »GZSZ« als Forum zur Selbstdarstellung nutzten. Als Beleg dafür werden Politikerauftritte herangezogen sowie Auftritte von Stars aus der Musikbranche. Serie und Stars würden sich damit gegenseitig zu größerem Umsatz verhelfen, womit die Serie erneut als Teil eines kommerziellen Systems begriffen wird, was wiederum dem ›public-service‹-Ideal, das die Fernsehkritik offenbar vertritt, entgegenläuft (vgl. Ang 1991). Die Schauspielerinnen und Schauspieler werden im Diskurs der Fernsehkritik sehr einseitig bewertet, worauf auch die Tatsache hinweist, dass lediglich ein Argumentationsstrang herausgearbeitet werden konnte. Im Diskurs der Fernsehkritik spielen die Darsteller und Darstellerinnen von »Gute Zeiten, 9 | Auf die beiden Diskurse wird später noch genauer eingegangen (siehe Teil 3, Kap. 3.8.2).

Der Diskursstrang »GZSZ« in der Fernsehkritik | 233 schlechte Zeiten« für die Bewertung der Serie insgesamt eine durchweg negative Rolle. Die Bewertung der Handlung unterscheidet sich von der Behandlung der übrigen inhaltlichen Schwerpunkte dadurch, dass die Fernsehkritik hier auffällige Schreibstile verwendet. So wird der Endloscharakter von Soaps angedeutet, indem einzelne Handlungselemente aneinandergereiht werden. Häufig werden besonders exzessive Handlungsstränge ausgewählt, um zu verdeutlichen, wie übertrieben die Handlung sei. Daneben mehren sich in dieser Kategorie ironische Passagen. Zudem wird in dem ersten Argumentationsstrang (1) ›Handlung nach Plan‹ einerseits betont, dass Soap Operas einfach, durchgeplant und schematisch seien, wobei neben Klischees Handlungsmuster hervorgehoben werden. Kreativität sei bei der Soap-Produktion nicht gefordert, denn die vorhandenen SerienBausteine würden einfach immer wieder neu kombiniert. Soap Operas gelten daher als auswechselbar. In diesem Zusammenhang wird erneut die ökonomische Zielsetzung angegriffen, die die Handlung beeinflusse – beispielsweise, wenn ein Gastauftritt eines Popstars eingearbeitet wird. Zudem werden die Produktionsbedingungen als Einflussfaktor für die Handlung aufgefasst, wenn beispielsweise in einer Kneipe immer nur eine Hand voll Gäste sitzen dürften, da sonst die Tonqualität leide. Daneben wird im zweiten Argumentationsstrang (2) zur Bewertung der Handlung nach dem Bezug von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« zur Realität gefragt, bzw. er wurde angezweifelt. So wird die Handlung als übertrieben hingestellt und mit exzessiven Beispielen der Serienhandlung belegt, wie bereits oben erwähnt. Die Serie gilt damit als besonders realitätsfern, was wiederum zur Abwertung führt. Dass Fiktion eigenen Gesetzen gehorcht, wird an dieser Stelle ignoriert, was vor allem bei der Beschreibung der melodramatischen Serienhandlung auffällt, die typisch für das Genre Soap Opera ist (vgl. Ang 1985). Die Realitätsferne wird zudem damit begründet, dass es sich um eine spezifische Serienwelt handele, in der beispielsweise jeder ein Geschäft besitze oder Serienjournalisten und -journalistinnen nicht realen ReporterInnen ensprächen. Der Soap und dem Genre allgemein wird über diese Argumentation Unglaubwürdigkeit vorgeworfen. Lediglich in einer kurzen Unterargumentation wurde der Bezug von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« zur Alltagswelt herausgestellt, der dort allerdings weder ausführlich thematisiert, noch positiv gewertet wird. Kern der Kritik ist der Vorwurf, dass die Handlung bei »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« nicht der ›Wirklichkeit‹ entspreche. Eine fiktionale Serie mit dieser Argumentation abzuwerten, erscheint allerdings recht zweifelhaft. Genrekonventionen, fiktionale Gesetzmäßigkeiten werden hier von der Fernsehkritik nicht wahrgenommen. Darin deutet sich der Diskurs um Fakten und Fiktion an, in dem die Bedeutung von Fiktion gegenüber so genannten ›Fakten‹ verhandelt wird. Generell genießen ›Fakten‹ gegenüber Fiktionen einen besseren Ruf, da sie als gesellschaftlich wertvoller erachtet werden (vgl. Klaus/Lünenborg 2002). Dies spiegelt sich beispielsweise in der Wertschätzung wider, die Nachrichtensendun-

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gen entgegengebracht wird, während das Soap-Genre geradezu traditionell abschätzig als bloß unterhaltsam angesehen wird. Dass auch Nachrichtensendungen lediglich Konstruktionen von Wirklichkeit anbieten, wird dabei außer Acht gelassen.10 Als letztes wurde die Bewertung der Zuschauerinnen und Zuschauer analysiert. Im ersten herausgearbeiteten Argumentationsstrang (1) werden die Rezipierenden als Publikum beschrieben, das passiv die Serie konsumiere. Ihm wird an einer Stelle sogar unterstellt, es benötige »GZSZ« als Ersatz für das eigene Leben (siehe Weiler, SZ 8.4.1998). Hier wird das Bild eines abgestumpften Publikums transportiert, wobei man sogar teilweise indirekt die intellektuellen Fähigkeiten der ZuschauerInnen anzweifelt (vgl. Weidinger, SZ 5.12.1994). Andererseits werden die Rezipientinnen und Rezipienten als Marktfaktoren beschrieben, die seitens der Programmverantwortlichen lediglich ein Index für Werbegelder darstellten und über Strategien der Programmplanung gebunden werden sollen. Die Fernsehkritik bemängelte damit die Vorstellung der Rezipierenden als unterschiedliche Märkte, wie sie im ›private ownership‹-Diskurs konstruiert wird (vgl. Ang 1991). Daneben gilt das Publikum etwas gegenläufig als ›Quotenmacht‹, d.h. letztlich seien die ProduzentInnen abhängig davon, dass die ZuschauerInnen einschalteten. Zumindest ›handelnd‹ erscheinen die Zuschauerinnen und Zuschauer im zweiten Argumentationsstrang (2) des Diskursfragmentes, wenn sie als Fans mit speziellen Vorlieben beschrieben werden, die beispielsweise Spaß an den exzessiven Elementen hätten. Handelnd meint auch, wenn die Fans als Teenager in der Pubertät charakterisiert werden, die ihre Stars aus der Serie anhimmeln. Doch auch hier wird das Publikum nicht positiv bewertet. Vielmehr fällt insgesamt auf, dass sich die Fernsehkritik größtenteils von den regelmäßigen »GZSZ«-ZuschauerInnen distanziert. Insgesamt zeigte sich, dass im Diskurs der Fernsehkritik kein differenziertes Bild des »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«-Publikums transportiert wird. Insbesondere bleiben die Möglichkeiten der Rezeption im Dunkeln, was sicherlich mit dem Aspekt zusammenhängt, dass sich dieser Teil der Fernsehkritik als die Initiatorin des Diskurses bewusst vom Serienpublikum abgrenzt.

3.7 Cultural Studies oder ›Kulturindustrie‹? Zwei Blickwinkel auf »GZSZ« Diskurse sind dynamische Gebilde, d.h. sie stehen nicht isoliert voneinander, sondern wirken miteinander und überschneiden sich – Diskursfragmente sind immer Teil mehrere Diskurse. In einem Diskurs sind somit noch andere Diskurse wirksam und umgekehrt. So spielen in den 10 | Der Diskurs um ›Fakten und Fiktion‹ ist eng verknüpft mit dem Diskurs um Privatheit und Öffentlichkeit (vgl. Klaus 2001).

Der Diskursstrang »GZSZ« in der Fernsehkritik | 235 Diskurs der Fernsehkritik um »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« mehrere andere Diskurse eine Rolle, die mit beeinflussen, welche Bedeutungen der Serie von den Kritikern und Kritikerinnen produziert werden. Die Bewertung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« wird durch dieses Zusammenwirken von unterschiedlichen Diskursen maßgeblich beeinflusst. Wie wird jedoch entschieden, ob Unterhaltung ›gute Unterhaltung‹, oder ›schlechte Unterhaltung‹ ist? Die Argumentationen der Fernsehkritik verdeutlichen die Art und Weise, wie »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« bewertet, oder besser gesagt: abgewertet wird. Dass Populäres gerade von intellektueller Seite skeptisch betrachtet wird, ist nichts Neues. Adornos und Horkheimers ›Kulturindustrie‹ liefern hierzu ein markantes Beispiel. Anklänge an die Kritik der ›Kulturindustrie‹ fanden sich auch in dem Diskursstrang zu »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«, wie oben im Analyseteil an den entsprechenden Stellen bemerkt wurde. Die Cultural Studies haben sich bewusst von der Position der Kritischen Theorie abgegrenzt und verkörpern einen neuen Blickwinkel auf populäre Texte, bei dem die populären Angebote aufgewertet werden. Im Theorieteil dieser Arbeit wurden die Maßstäbe, die Fiske zur Bewertung von populären Texten anlegt, ausführlich dargestellt. Es stellt sich nun die Frage, inwieweit diese Kriterien sich in der Position der Fernsehkritik zu »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« wiederfinden oder ob im Diskursstrang zur RTL-Soap der Diskurs um die ›Kulturindustrie‹ dominiert. Zunächst wird diskutiert, ob sich Parallelen zum Diskurs der Cultural Studies finden, um anschließend den Vergleich zum Kulturindustrie-Diskurs zu ziehen. 3.7.1 Parallelen zum Diskurs der Cultural Studies? Im Diskurs der Cultural Studies hat sich John Fiske besonders intensiv mit populären Texten auseinander gesetzt. Betrachtet man die Bewertung der Fernsehkritik, so finden sich vor allem vier Bereiche, die auch bei Fiske angesprochen werden: die Offenheit populärer Angebote, Merkmale wie Klischees und exzessive Elemente, die Frage nach dem realistischen Gehalt und die Rezipierenden. Diese Elemente werden im Folgenden in Hinblick darauf diskutiert, welche Rolle sie im Diskurs der Cultural Studies und im Diskursstrang der Fernsehkritik spielen. Am Schluss dieses Abschnitts gehe ich unter dem Punkt der Rezipienten und Rezipientinnen auf Angs (1991) Ausführungen zum ›official discourse‹ ein und versuche darüber, mögliche Motive im Diskursstrang der Fernsehkritik ein wenig zu beleuchten. Die Offenheit populärer Texte Im Diskursstrang der Fernsehkritik werden ganz unterschiedliche Aspekte von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« hervorgehoben. Zu den Momenten, die auch bei den Cultural Studies angesprochen werden, gehört die Offenheit populärer Texte. So werden populäre Texte in beiden Diskursen als unvollständige Texte begriffen (vgl. Fiske 1989a; 1999b). Beispielswei-

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se beklagt sich die Fernsehkritik über die Massen-Produktionsweise der Serie, die sorgfältiges, langsames Arbeiten verhindere oder über schauspielerische Schwächen. Diese ›Schwächen‹ werden als Beleg dafür genommen, dass Soaps qualitativ mindere Produkte seien. Wieso dennoch so viele bei »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« einschalten – diese Frage wird im Diskurs der Fernsehkritik ausgespart. In den Cultural Studies gelten populäre Texte ebenfalls als unvollkommen, was dort allerdings völlig gegensätzlich bewertet wird: textuelle Lücken kommen den Cultural Studies nach der Offenheit von Texten zugute. Die Offenheit eines Textes gilt als Voraussetzung für dessen Popularität (vgl. Fiske 1989a: 94). In »Understanding Popular Culture« führt Fiske aus, dass diese Offenheit populärer Texte von der traditionellen Ästhetik häufig als Defizit ausgelegt worden sei (ebd.: 126), wie es auch im Diskurs der hier analysierten Fernsehkritik der Fall ist. Im Gegensatz dazu wird die Offenheit populärer Texte im Diskurs der Cultural Studies positiv gewertet, da über eine lückenhafte Struktur eine produktive, kreative Lektüre begünstigt werde (ebd.: 126). Fiske sieht hierin für die Zuschauer und Zuschauerinnen die Chance für vielfältige Vergnügen und vor allem die Möglichkeit, den Text besser in den eigenen Alltag zu integrieren (vgl. Fiske 1989a). Defizitäre Textstrukturen, wie sie die Fernsehkritik bei »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« bemängelt, werden im Diskurs der Cultural Studies somit als Angebot an die RezipientInnen zur kreativen Bedeutungsproduktion verstanden (vgl. Fiske 1999b): »Popular texts are to be used, consumed, and discarded, for they function only as agents in the social circulation of meaning and pleasure; as objects they are impoverished« (Fiske 1989a: 123). Die Wertungen im Diskurs der Fernsehkritik und die der Cultural Studies gehen an dieser Stelle also auseinander. Klischees und Exzess populärer Texte Populäres lebt von Klischees und Übermaß – das ist nicht nur in Boulevardschlagzeilen und in Comics der Fall, sondern trifft auch auf Soaps zu. So ist sowohl im Diskurs der Fernsehkritik als auch bei den Cultural Studies von Klischees, Übertreibung oder dem Exzess in populären Texten die Rede (vgl. Fiske 1999b). Im Diskurs der Cultural Studies wertet Fiske Klischees und ›Exzess‹ erneut als Mittel, Texte für Bedeutungen zu öffnen. Sowohl ›das Offensichtliche‹ (Fiske 1999b: 76 ff.) wie auch Übertreibung (Fiske 1989a: 90) und semiotischer Exzess gelten für ihn als typische Eigenarten von populären Fernsehtexten (Fiske 1989a: 91). Übertriebene Handlungsstrukturen liefern nach den Cultural Studies eine der Voraussetzungen für widersprüchliche Lesarten, wodurch sich die Bedeutung eines Fernsehtextes der Kontrolle seiner ProduzentInnen entzieht (vgl. Fiske 1989a: 92). Demgegenüber kommt im Diskurs der Fernsehkritik exzessiven Handlungsmerkmalen und Klischees eine andere Bedeutung zu: exzessive Elemente der »GZSZ«-Handlung werden häufig ironisch beschrieben und dazu benutzt, die Handlung lächerlich zu machen und die Seifenoper als unrealistisch und übertrieben abzuklassifizieren.

Der Diskursstrang »GZSZ« in der Fernsehkritik | 237 Dies gilt auch für die melodramatische Anlage von Seifenopern (vgl. Ang 1985), die den Kritikern und Kritikerinnen ebenfalls zu ›realitätsfern‹ ist. Erneut finden damit typische Merkmale von Populärem im Diskurs der Fernsehkritik keinen Anklang. Realitätsgehalt von »GZSZ«? Von kreativer Bedeutungsproduktion durch exzessive Soap-Merkmale kann also im Diskurs der Fernsehkritik keine Rede sein. Vielmehr wird dort die Abbildung der Realität zum Maßstab genommen, an dem die Serienwelt gemessen wird. Man könnte auch sagen, die Fernsehkritik verlangt eine Darstellung dessen, was innerhalb ihres Diskurses als realistisch gilt. Diese Regeln verletzt »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« offenbar und wird dafür abgewertet. Hier dominiert die Idee, dass Wirklichkeit kognitiv zu erfassen sei und Texte die Wirklichkeit abbilden könnten11 – am Rande sei erwähnt, dass an dieser Stelle auch der Diskurs um ›Fakten‹ und ›Fiktion‹ mitverhandelt wird, wobei Fiktion traditionell weniger gesellschaftliche Achtung entgegengebracht wird als Fakten.12 Dagegen sehen die Cultural Studies in populären Texten einen realistischen Gehalt, der sich aus der Interaktion der Seriendiskurse mit den Alltagsdiskursen der RezipientInnen ergibt (vgl. Fiske 1999a: 21 ff.). Klassisches Beispiel hierfür ist die »Dallas«-Rezeption, bei der auf konnotativer Ebene ein Bezug zwischen dem Alltagsleben von Zuschauerinnen und dem Leben auf der Southfork-Ranch hergestellt wird, der beispielsweise die Konflikte der Charaktere realistisch erscheinen lässt (vgl. Ang 1985: 41 ff.). Ang spricht in diesem Zusammenhang wie bereits erwähnt von einem ›emotionalen Realismus‹, der in der Nähe des Textes zu den Gefühlen der Rezipierenden gesehen wird (ebd.). Ein Text ist danach realistisch, wenn er den (emotionalen) Diskursen der Publika entspricht. In diesem Sinne kann gerade auch die melodramatische Textstruktur von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« realistisch sein, wenn man davon ausgeht, dass auch sie als Soap emotional realistische Momente transportiert. In den Cultural Studies wird auf Seiten der Soap-Rezipierenden ein spezielles realistisches Vergnügen konstatiert, was gerade darin besteht, den Zusammenhang zwischen Serie und eigener Realität herzustellen (vgl. zur frühen Forschung dazu: Klaus 1998: 342 ff.). Diese Ebene populärer Texte wird jedoch im Diskurs der Fernsehkritik nicht wahrgenommen.

11 | Vgl. zu dieser ›kognitiv-rationalistischen‹ Vorstellung von Realität und Serienrealismus auch Ang 1985: 45. Fiske beschreibt unterschiedliche Vorstellungen von Realismus in seinen Ausführungen zum Diskurs des Realismus in »Television Culture«: Fiske 1999a: 21 ff.; siehe auch das Kap. zu Fiskes ›Realism‹ in dieser Arbeit. 12 | Vgl. zum Diskurs um ›Fakten‹ und ›Fiktion‹ die Sammelbände, die von Baum/Schmidt (2001) und Hermann/Lünenborg (2001) herausgegeben wurden.

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Die RezipientInnen ›Vergnügen‹ ist das Stichwort, für das populäre Texte vielfach im Diskurs der Cultural Studies stehen (vgl. O’Connor/Klaus 2000). Wie bereits erwähnt, wurden insbesondere in der feministischen Tradition der Soap-Opera-Forschung früh die vielfältigen Vergnügen der Rezipienten und Rezipientinnen an Soap Operas untersucht (vgl. Klaus 1998: 337 ff.). Neben dem bereits genannten realistischen Vergnügen zählen dazu beispielsweise ein fantasievolles Vergnügen, wie auch das Vergnügen, widerständige Bedeutungen zu produzieren (z.B. Fiske 1989a: 240 ff.; Klaus 1998 337 ff.). Mit dem ›Vergnügen‹ heben die Cultural Studies die Aktivität der Publika bei der Aneignung von Serientexten hervor. Das widerständige Vergnügen und seine subversive Bedeutungsproduktion illustriere, dass die Publika niemals vollständig von ProduzentInnen und Textvorgaben kontrolliert werden könnten (vgl. dazu auch Ang 1991). Dagegen könnten sich die Rezipientinnen und Rezipienten über die Aneignung der Fernsehtexte Freiräume von den Bedeutungen der dominanten Ideologie schaffen (vgl. Fiske 1989a; 1993a). Widerständige Bedeutungsproduktion sei hier ein wichtiges Mittel der ›Leute‹, sich gegen den ›Machtblock‹ zu wehren (siehe Fiske 1993a). Das Verhältnis von Publikum und Programmverantwortlichen wird also als hierarchische Beziehung interpretiert. Dies ist auch im Diskurs der Fernsehkritik der Fall, wobei von der Kritik keine kreativen, befreienden Verhaltensmöglichkeiten für die Rezipierenden aufgezeigt werden. Die Vergnügen an »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« werden von der Fernsehkritik nicht diskutiert und damit auch nicht ernst genommen. Allerdings wird an einigen Stellen auf Verhaltensweisen von »GZSZ«Fans eingegangen. So wird hervorgehoben, wie weibliche Teenager ihre Serienstars anhimmelten (siehe Thomann, FAZ 5.7.1997). An zwei Stellen wird daneben die Nähe zum Alltag der Heranwachsenden betont (vgl. Adorjan et al., SZ 21.6.1999) und die Alltagseinbindung beschrieben (Prümm, FAZ 20.8.1996). Zumindest besteht hier eine Nähe zu den ›Vergnügen‹ der Cultural Studies oder ihrer Vorstellung von Aneignung. Jedoch führt die ausgeprägte Distanz der Fernsehkritik zum »GZSZ«Publikum dazu, dass die Bewertung der Passagen abschätzig wirkt.13 Die Kritiker und Kritikerinnen betonen durchweg, dass sie nicht Teil des »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«-Publikums sind – offenbar gehen sie auch nicht davon aus, dass die LeserInnen ihrer Kritiken dazu zählen. Diese abgehobene Perspektive steht im Gegensatz zur Haltung der Cultural Studies, die gerade Nähe zu den Publika schaffen wollen, um einen genauen Blick auf die sich widersprechenden, dynamischen Alltagspraxen der Fernsehrezeption zu erlangen. Innerhalb der Bewertung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« nimmt die Distanz der Fernsehkritik zur Serie 13 | Die Art und Weise, wie die weiblichen Teenager beschrieben werden, erinnert zudem an den Hysterie-Diskurs (vgl. z.B. Showalter 1999), was keine positive Bewertung der Teenies zulässt.

Der Diskursstrang »GZSZ« in der Fernsehkritik | 239 und zum Publikum eine wichtige Rolle ein. Ein Erklärungsansatz dafür liefert der folgende Diskurs, den Ang (1991) beschreibt. Ang skizziert einen ›offiziellen‹ oder auch ›professionellen‹ Diskurs, dem die Position der Fernsehkritik stark ähnelt. In diesem ›official discourse‹ werde die Fernsehrezeption samt der Zuschauer und Zuschauerinnen in gleicher Weise distanziert betrachtet und objektiviert. Ang kritisiert die Spanne zwischen jenem ›offiziellem‹ Diskurs und der Bedeutung von Fernsehen im Alltag. So werde die Rezeption in diesem Diskurs häufig mit Stereotypen beschrieben. Ein detailliertes Bild der Rezeption existiere dagegen nicht (Ang 1991: 1). Die Autorin spricht dabei vom ›institutional point of view‹, von dem aus die Vorstellung eines konkreten, einheitlichen Publikums konstruiert werde (ebd.) und Facetten der Publika und ihrer Aneignung nicht berücksichtigt würden. Diesen ›institutionellen‹ Standpunkt beobachtet Ang bei den unterschiedlichen Rundfunksystemen bzw. -sendern aber auch in der Wissenschaft (ebd.: 155). An der distanzierten Haltung der Fernsehkritik gegenüber den Rezipierenden zeigt sich, dass der ›institutionelle Standpunkt‹ dort ebenfalls vertreten wird. Auch der Diskursstrang der Fernsehkritik konstruiert das Bild eines einheitlichen, objektivierbaren Publikums, das zudem passiv oder zu emotional die Serie konsumiere. Wie Ang (1991) zeigt, sind die tatsächlichen Publika und ihre vielfältige Medienaneignung für die Rundfunkanstalten zu komplex, zu wenig greifbar und vor allem zu wenig kontrollierbar. Um jedoch ein Programm gestalten zu können, benötigten die Sender die Konstruktion eines Publikums, das objektivierbar und zu berechnen ist. Mit dieser abstrakte Publikumsvorstellung versuchten sie daher, das Publikum symbolisch zu kontrollieren (vgl. Ang 1991: 7). Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ziehe daneben aus diesem Publikumsbild seine Existenzberechtigung, da er hierüber den Führungsanspruch einer kulturellen Minderheit gegenüber einer vermeintlich ›breiten Masse‹ legitimiere (ebd.: 29). Dies lässt sich ohne weiteres auf den analysierten Diskursstrang der Fernsehkritik übertragen: Mit der distanzierten Haltung zum Publikum wird dort genauso die Vorstellung eines kontrollierbaren, fixierbaren Objektes geschaffen, gegenüber dem die Fernsehkritik selbst eine kulturelle Führungsrolle beanspruchen darf. Den Versuch, die ZuschauerInnen symbolisch zu kontrollieren, zeigte sich bereits in der traditionell belehrende Position der Kunstkritik, die sie im Zuge der Aufklärung gegenüber dem vermeintlich ›dummen‹ Publikum einnahm.14 Ebenso dient die Haltung gegenüber dem Publikum im Diskursstrang zu »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« dazu, die RezipientInnen symbolisch zu kontrollieren und die Arbeit und Existenz der Fernsehkritik zu legitimieren. Gustav Seibt beklagt eine Entwicklung, gegen die sich die Kritik hier offenbar wendet:

14 | Vgl. den Abschnitt zur Fernsehkritik in dieser Arbeit (Teil 3, Kap. 1.1).

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»Bedrohlich dagegen ist für das Feuilleton auf lange Sicht der Geltungsverlust des Ästhetischen. Mit dem Ende der Avantgarden hat die Kunst aufgehört, die Zukunft zu repräsentieren. Das hat nicht nur einem sekundären Modernismus der Nachkriegszeit ein Ende bereitet, […] sondern es droht auch zu einer Umkehrung im Kräfteverhältnis von Kunst und Publikum zu führen. Das Publikum und ihre Anwälte dürfen ihre Unterhaltungsbedürfnisse und ihr Unverständnis wieder ohne Angst vor Blamage zur Geltung bringen« (Seibt 1998: 735). Seibt bezieht sich hier auf das Feuilleton. Er meint wohl vor allem die Literaturkritik, die er selbst vertritt. Jedoch spiegelt dieses Zitat die Distanz zwischen Publikum und Kulturkritik aussagekräftig wider und zeigt die Gefahr, in der sich die Kritik sieht. Mit Hilfe der Bedeutungen, die hier im Diskurs der Fernsehkritik geschaffen werden, wird letztlich also der »Autoritätsanspruch« (Basting 1999: 50) der Kritiker und Kritikerinnen, d.h. die Macht der InitiatorInnen des Diskurses gestützt. Womöglich gilt auch für die VertreterInnen der FAZ und der SZ, was Berger zur Krise der amerikanischen Kritik ausführt: »Die wachsende Bedeutung von Kulturen, die aus kleinen Gemeinschaften hervorgehen, die zunehmende Bearbeitung von Marktnischen, die Auflösung der Grenzen zwischen Hoch- und Populärkultur, die damit verbundene ethische und geografische Vielfalt des Kulturpublikums haben den Bedarf an dominierenden, zentralistischen, kritischen Stimmen vermindert, wo nicht sogar dessen Berechtigung in Frage gestellt« (zit. n. Basting 1999: 50). Die Privatisierungspolitik in Europa, die immer stärker werdende Ausrichtung nach privatwirtschaftlichen Maßgaben, der »Geltungsverlust des Ästhetischen« (Seibt 1998: 735) verbunden mit der Auflösung des Konstruktes eines festen Publikums führt zur Verunsicherung der Kulturkritik und zur Infragestellung der Fernsehkritik. Dass gerade eine Soap Opera im Diskurs der Fernsehkritik als Reaktion darauf abgewertet wird, verwundert eigentlich nicht, verkörpert doch gerade dieses Genre mit dem Widerspruch zwischen traditioneller Abwertung durch die Kritik und nichtsdestotrotz ungebrochener Beliebtheit bei den ZuschauerInnen die Unabhängigkeit der Rezipienten und Rezipientinnen vom kritischen Urteil. Abschließende Bemerkung Insgesamt zeigt sich, dass die Argumentationsweisen und Wertungen zwischen dem Diskursstrang der Fernsehkritik zu »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« und dem Diskurs der Cultural Studies zu populären Texten auseinander driften. Interessant ist, dass textuelle Lücken populärer Texte, Exzess, Klischees und die Frage nach dem realistischen Gehalt von Soap Operas in beiden Diskursen angesprochen, dann jedoch konträr bewertet werden. Vor allem ist es die Haltung gegenüber dem Soap-Opera-Publikum, die zeigt, dass der Diskurs der Cultural Studies für den Diskurs der hier analysierten am bürgerlichen Publikum orientierten Fernsehkritik hier nicht maßgeblich ist. Inwieweit statt dessen der kritische Kulturin-

Der Diskursstrang »GZSZ« in der Fernsehkritik | 241 dustrie-Diskurs eine Rolle für die Kritik spielte, wird sich im Folgenden zeigen. 3.7.2 »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« und die ›Kulturindustrie‹ Während der Diskurs der Cultural Studies für die Bewertung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« nicht maßgeblich gewesen sein kann, sprachen bei der Analyse mehrere Aspekte dafür, dass der Kulturindustrie-Diskurs umso präsenter ist. Dies zeigte sich auch an Argumentationsmustern, die sowohl in dem Diskursstrang der Fernsehkritik als auch in dem wichtigen Diskursfragment zur ›Kulturindustrie‹ von Horkheimer und Adorno vorliegen. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht die Behandlung der Serien-Produktion, die bei der Bewertung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« besonders bedeutsam ist. Der Bezug zur Kulturindustrie wird hier bereits begrifflich hergestellt, wenn die Produktion der Soap als Fabrikarbeit charakterisiert wird und man »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« zum industriellen Produkt erklärt. Diese Charakterisierung zieht sich durch die Bewertung aller inhaltlichen Schwerpunkte, wie der Analyseteil gezeigt hat. Neben dem begrifflichen Bezug lassen sich vier Parallelen erkennen: die Gegenüberstellung von populären, massenmedialen Angeboten mit Kunst, der Systemcharakter, der in der Kulturproduktion gesehen wird, das Hierarchiegefälle zwischen Programmverantwortlichen und Rezipierenden sowie das Publikumsbild. Populäre Unterhaltung als Gegensatz zum Kunstwerk Pop-Art wäre sowohl im analysierten Diskursstrang der Fernsehkritik als auch nach dem Kulturindustrie-Diskurs undenkbar. Dass Populäres zu Kunst erklärt wird, liegt beiden Diskursen fern. »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« wird im Diskurs der Fernsehkritik als Gegensatz zu den klassischen Künsten begriffen, wie beispielsweise dem Theater, da die Soap Opera seitens der Schauspielerinnen und Schauspieler wie auch hinsichtlich der übrigen Textqualität dem Kunstideal nicht entspreche (siehe z.B. Katz, SZ 14.5.1992; Himmel, SZ 7.6.1994). Parallel dazu wird bei Horkheimer und Adorno das Kunstwerk den Massenmedien Film und Radio gegenübergestellt (vgl. Horkheimer/Adorno 1998). In beiden Diskursen gelten populäre Texte gegenüber Kunst als minderwertig. Horkheimer und Adorno sehen den Unterschied darin, dass ein Kunstwerk aufgrund seiner inhomogenen Struktur zum widerständigen Denken anrege (siehe Horkheimer/Adorno 1998: 138),15 wohingegen es sich bei Radio- oder Filmangeboten um das ›Immergleiche‹ handele.

15 | Auch wenn die Autoren am Schluss ihres Kapitels das Aufgehen des Kunstwerks in der Kulturindustrie beklagen, dominiert trotzdem der Gegensatz, den sie zwischen Massenmedien und Kunstwerk sehen. Vgl. Horkheimer/Adorno 1998: 166 ff.

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Populäres stumpfe die Rezipierenden ab und schwöre sie auf die Ideologie der Nationalsozialisten ein (vgl. Horkheimer/Adorno 1998: 169). Hierzu passt auch, dass sowohl die Fernsehkritik als auch die Autoren des Kulturindustrie-Kapitels Klischees, Handlungsmuster und damit schematische Strukturen populärer Texte abwerten. In dem Diskursstrang der Fernsehkritik gelten Soaps als austauschbare Kombinationen von gleichbleibenden ›Bausteinen‹. Dadurch wird dem Produktionsprozess jede Form von Kreativität abgesprochen. Horkheimer und Adorno kritisieren ebenfalls den schematischen Aufbau massenkultureller Unterhaltung (Horkheimer/Adorno 1998: 133). Er mache Schlagerstrophen oder das Ende eines Films vorhersagbar (vgl. Horkheimer/Adorno 1998: 133). Soaps sind daneben aus Sicht der Fernsehkritik mitverantwortlich für eine Vereinheitlichung des Fernsehprogramms (siehe z.B. Weidinger, SZ 29.12.1994). Ähnlich sehen auch Horkheimer und Adorno keine Unterschiede zwischen den kulturellen Angebote mehr: »Kultur heute schlägt alles mit Ähnlichkeit«, beklagen sich die Autoren des Kulturindustrie-Kapitels (vgl. Horkheimer/Adorno 1998: 128; 131). Natürlich weicht der Diskurs der Kulturindustrie von dem der Fernsehkritik ab, wenn es um ihren gesellschaftlichen Bezugsrahmen geht: Horkheimer und Adorno sehen in der Vereinheitlichung die Angleichung an die Ideologie der Nationalsozialisten, wodurch das Publikum manipuliert und ›gleichgeschaltet‹ werden sollte (Horkheimer/Adorno 1998: z.B. 129; 131). In dem Diskursfragment zu »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« wird natürlich ein anderes Ziel verfolgt. Dort geht es darum, die RTL-Soap als qualitativ minderwertige Fernsehunterhaltung auszuweisen, die nicht nach ästhetischen oder anderen Kriterien entworfen werde. Der Fernsehkritik zufolge stehen allein ökonomische Überlegungen bei »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« im Vordergrund, womit sich in der Argumentation eine Verbindung von Massenproduktion, Industrie und Ökonomie ergibt. Diese Vernetzung von kultureller Produktion, Kulturindustrie und Ökonomie ist ebenfalls in der Darstellung Adornos und Horkheimers gegeben, wenn auch mit ideologiekritischem Fokus auf den Nationalsozialismus. Das kulturindustrielle System Zudem fällt auf, wie die kulturelle Produktionssphäre in beiden Diskursen als System charakterisiert wird. Die Fernsehkritik beschreibt, auf welche Weise »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« in ein ökonomisches System eingebunden sei. Dieses sei durchorganisiert und mit anderen Bereichen vernetzt, so dass beispielsweise Musikbranche und Fernsehen Hand in Hand arbeiteten. Inhalte scheinen dadurch für die Serie nebensächlich zu sein, da die Handlung beliebig auf einen Gaststar zugeschnitten werde, sei es eine Größe aus der Musikbranche oder Politprominenz. Im Diskurs der hier analysierten Fernsehkritik dominiert demnach ein ökonomisches System, in dem »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« und RTL feste Bestandteile seien.

Der Diskursstrang »GZSZ« in der Fernsehkritik | 243 Bei Adorno und Horkheimer heißt es: »Film, Radio, Magazine machen ein System aus« (Horkheimer/Adorno 1998: 128). Die Kulturindustrie gerät hier zum System aus den damaligen populären Massenmedien. Auch die beiden Autoren unterstreichen eine ökonomische Seite im System, wenn sie schreiben, dass vor allem Radio und Werbung zusammenarbeiteten (vgl. Horkheimer und Adorno 1998: 165; 168). Wie später die Fernsehkritik verurteilen sie die ökonomische Zielsetzung von »Massenkultur«, wobei sie sich im Folgenden auf Rundfunk und Film beziehen: »Die Wahrheit, dass sie nichts sind als Geschäft, verwenden sie als Ideologie, die den Schund legitimieren soll, den sie vorsätzlich herstellen« (Horkheimer/Adorno 1998: 129). Übergeordnetes ideologisches Ziel sei es erneut, die Rezipierenden vom kritischen Denken abzubringen. Im Diskurs der Kulturindustrie wie auch im Diskursstrang der Fernsehkritik steht man der ökonomischen Organisation in den Medien skeptisch gegenüber, insbesondere, wenn es sich um ein nach außen hin abgeschlossenes System zu handeln scheint. Das hierarchische Verhältnis zwischen Publikum und ProduzentInnen Vergleichbar ist auch das Hierarchiegefälle, dass im Diskurs der Fernsehkritik und im Diskursfragment zur Kulturindustrie zwischen ZuschauerInnen und Programmverantwortlichen verortet wird. Die Fernsehkritik meint, dass die Zuschauer und Zuschauerinnen seitens der Sender und der Produktionsgesellschaft ausschließlich als Marktfaktoren wahrgenommen würden, die lediglich den Schlüssel zu Werbegeldern darstellten. Mittels Strategien – beispielsweise der Platzierung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« vor der Prime-Time – versuchte RTL das Publikum an das Programm zu binden. Dem Sender wird hier unterstellt, die Publika gezielt manipulieren zu wollen. Ebenso versuchten die ProduzentInnen der Kulturindustrie, das ihnen ›unterlegene‹ Publikum (vgl. Horkheimer/Adorno 1998: 129; 134) zu manipulieren. Im Kulturindustrie-Kapitel wird dies als »Macht der ökonomisch Stärksten über die Gesellschaft« interpretiert (Horkheimer/Adorno 1998: 129). Die Manipulation erfolgt dabei auch darin, dass dem Publikum suggeriert werde, es könne sich frei für ein Angebot entscheiden, dabei werde es durch die marktwirtschaftliche Strategie, für jeden Bedarf zu produzieren, von den ProduzentInnen kontrolliert (vgl. Horkheimer/Adorno 1998: 131). Auch ist davon die Rede, dass die Kulturindustrie ihre Konsumenten und Konsumentinnen »betrügt« (Horkheimer/Adorno 1998: 148). Das Publikum verkörpere aus Sicht der Programmverantwortlichen lediglich »statistisches Material« und werde von ihnen in »Einkommensgruppen, in rote, grüne und blaue Felder, aufgeteilt« (Horkheimer/Adorno 1998: 131). »Die Industrie ist an den Menschen bloß als an ihren Kunden und Angestellten interessiert und hat in der Tat die Menschheit als ganze wie jedes ihrer Elemente auf diese erschöpfende Formel gebracht« (Horkheimer/Adorno 1998: 155). Beide Diskurse transportieren in diesem Zusammenhang ein negatives, skrupelloses Bild der ProduzentInnen, was im Rahmen der Fernsehkritik

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noch dadurch gestärkt wird, dass das Arbeitsverhältnis der Schauspielerinnen und Schauspieler als Ausbeutung beschrieben wird. Wesentlich ist, dass das Publikum hier wie auch in der Fernsehkritik als machtlos beschrieben wird und dass in beiden Diskursen betont wird, es komme im Denken der ProduzentInnen lediglich als Marktfaktoren vor. Die Rezipierenden Das dargestellte Machtgefälle von Publikum und ProduzentInnen wird noch durch das RezipientInnenbild in beiden Diskursen gestützt. In dem Diskursstrang der Fernsehkritik zu »GZSZ« wird die Vorstellung konstruiert, dass die Zuschauer und Zuschauerinnen die Unterhaltungsangebote passiv aufnähmen. An einer Stelle wird dem Publikum sogar unterstellt, »GZSZ« diene als Ersatz für das eigene (Er-)Leben (siehe Weiler, SZ 8.4.1998). Die Rezipientinnen und Rezipienten werden dort als zu müde von der Arbeit charakterisiert und es entsteht der Eindruck, das Publikum von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« arbeite vorrangig in der Fabrik (Weiler, SZ 1.10. 1999). Insgesamt wird hier das Bild eines abgestumpften Publikums transportiert, wie es auch in dem ›Kulturindustrie‹-Kapitel zu finden ist. Bei Horkheimer und Adorno wird das Publikum bei der Rezeption vom Text kontrolliert, »der Phantasie und dem Gedanken der Zuschauer« wird kein Raum mehr gelassen (Horkheimer/Adorno 1998: 134). Das Denken werde durch massenkulturelle Angebote gelähmt (ebd.). »Der Zuschauer soll keiner Gedanken bedürfen: das Produkt zeichnet jede Reaktion vor« (Horkheimer/Adorno 1998: 145; siehe auch 158). Hiermit wird die »Totalität« (Horkheimer/Adorno 1998: 144) der Kulturindustrie hervorgehoben. Die Rezeption von kulturindustriellen Angeboten wird bei Horkheimer und Adorno als Flucht vor dem Widerstand dargestellt (Horkheimer/Adorno 1998: 153), also als Flucht vor der tatsächlichen Realität, was in eine ähnliche Richtung abzielt, wie in der Position der Fernsehkritik. Die Rezipierenden gelten bei Horkheimer und Adorno als leicht durch Unterhaltung bzw. »Amusement« zu beeinflussen (vgl. Horkheimer/Adorno 1998: 144). Hier wie auch in dem Diskursstrang zu »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« zeigt sich das Zuschauerbild des Stimulus-Response-Modells, nach dem das Publikum direkt und einseitig von Reizen beeinflusst wird (vgl. Pürer 1990: 94/95). Von aktiver Bedeutungsproduktion oder auch der Akzeptanz von populären Vergnügen kann in beiden Diskursen nicht die Rede sein. Wenn sich auch die Zielsetzungen beider Diskurse darin unterscheiden, dass Horkheimer und Adorno in ihrem Diskursfragment sich gegen das Regime der Nationalsozialisten richten, so ähneln sich dennoch die Positionen bezüglich Populärem. Populärer Text, die Charakterisierung der kulturellen Produktion als System, die Beschreibung von ProduzentInnen und letztlich der Blick auf die Rezipienten und Rezipientinnen wurden in beiden Diskursen ähnlich betrachtet. Der kritische Diskurs der Kulturindustrie ist daher durchaus im Diskurs der Fernsehkritik präsent. Interessant ist in diesem Kontext, dass die Fernsehkritik in den sechziger

Der Diskursstrang »GZSZ« in der Fernsehkritik | 245 Jahren vermehrt die Kritische Theorie, insbesondere Horkheimers und Adornos Theorie der Kulturindustrie rezipiert hat (siehe: Hickethier 1994: 155) – ein Einfluss, der offenbar noch heute die Haltung der an einem bürgerlichen Publikum orientierten Fernsehkritik gegenüber Populärkultur beeinflusst. Kommerzialisierung, Privatisierung und die Emanzipation des Publikums gelten offenbar als Gefahr, die den Diskurs der Kulturindustrie für die Kritik aktuell macht.

3.8 »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« und Diskurse zum dualen Rundfunk Es ist jedoch nicht allein der Diskurs um die Kulturindustrie, der die Bewertung der Fernsehkritik mitbestimmt. In dem Diskursstrang zu »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« zeigten sich immer wieder Schnittstellen zu weiteren Diskursen. Neben der ›Kulturindustrie‹ klangen auch Diskurse um die Konvergenz im dualen Rundfunk an (vgl. z.B. Merten 1994), zum ›public service‹-Modell (vgl. Ang 1991), oder es gab einzelne Hinweise auf Diskurse zur Boulevardisierung im Fernsehen (siehe z.B. Lesche 2001), zur Diskussion um ›Fakt und Fiktion‹ (vgl. z.B. Baum/Schmidt 2002) oder auf den Geschlechterdiskurs. Im Diskursstrang der Fernsehkritik laufen also noch eine Reihe anderer Diskurse zusammen und spielen in die Bewertung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« mit hinein. An dieser Stelle sollen nicht alle Diskurse ausführlich diskutiert werden – sämtliche Diskurse überhaupt zu erfassen, ist wohl bereits unmöglich. Es soll allerdings noch einmal eingehender auf die Diskurse eingegangen werden, in denen die Situation des dualen Rundfunks in Deutschland verhandelt wird, da die Argumentationen der Fernsehkritik mehrfach in diese Richtung abzielten. Beispielsweise wurde in Zusammenhang mit »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« vor einer Vereinheitlichung des Programms gewarnt und man fürchtete die Angleichung der öffentlich-rechtlichen Sender an die Privaten. Dies sind Aspekte, die sich auch im Diskurs zur ›Konvergenzhypothese‹ finden. Daneben scheint der ›public-service‹ Diskurs bedeutsam gewesen zu sein, in dem nach der Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gegenüber dem privatwirtschaftlichen Modell gefragt wird. Dieser Diskurs wird besonders anschaulich von Ang (1991) dargestellt. 3.8.1 Die Konvergenzhypothese Seit der private Rundfunk Anfang der achtziger Jahre in Deutschland eingeführt wurde, diskutieren WissenschaftlerInnen, Medienpolitik und Feuilletons über mögliche Entwicklungen oder Fehlentwicklungen durch die neue Konkurrenzsituation. Mitte der achtziger Jahre, in der Anfangszeit des dualen Rundfunks, führten Schatz, Immer und Marcinkowski eine Begleitstudie zu den frühen Kabelpilotprojekten durch (vgl. u.a. Schatz et al. 1989). Ziel der Studie war es, zu überprüfen, inwieweit die

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neuen privaten Sender die Programmvielfalt tatsächlich steigerten – eines der Hauptargumente für die Einführung des dualen Rundfunks (vgl. Schatz et al. 1989: 10). Schatz et al. untersuchten dazu inhaltsanalytisch die Programmangebote, die während zweier Wochen im Oktober/November 1985 und einer Woche im April 1986 im deutschen Fernsehen gesendet wurden. Sie analysierten die Programmstruktur im Hinblick auf die Breite des Programms, den Informationsgehalt sowie die »Attraktivität« der Senderinhalte (siehe Schatz et al. 1989). Als Ergebnis verneinten die Autoren eine größere Programmvielfalt durch die Privaten und sagten für die Zukunft des deutschen Rundfunks mehrere Angleichungsprozesse zwischen öffentlich-rechtlichen und privaten Sendern voraus, die unter dem Stichwort »Konvergenzhypothese« (Merten 1994: 134) oder auch »Konvergenzthese« (siehe z.B. Krüger 1989; Stock 1990) die Diskussion um Qualität im dualen Rundfunk maßgeblich beeinflussten. Konvergenz meint den Autoren nach die beidseitige Angleichung von öffentlich-rechtlichen und privaten Sendern.16 Parallelen zum Diskurs der analysierten Fernsehkritik finden sich allerdings nur hinsichtlich der Angleichung von Öffentlich-Rechtlichen an die Privaten, dafür stimmen jedoch mehrere zentrale Argumentationen überein. Kern in beiden Diskursen ist die Aussage, dass Konkurrenz Konvergenz bedinge. Daneben ist beiden – ganz allgemein – die pessimistische Einschätzung des dualen Rundfunks gemeinsam. So bewertet die Fernsehkritik die Konkurrenzsituation der einzelnen Sender insgesamt als 16 | Zu unterschiedlichen Konvergenzbegriffen vgl. Stock 1990: 746 ff.; zu verschiedenen Konvergenzformen siehe Krüger 1991: 90/91. Zum weiteren Verlauf der Diskussion um die Konvergenzhypothese lässt sich sagen, dass Schatz et al. keine gesteigerte Programmvielfalt durch die neuen privaten Sender gegeben sahen. Vielmehr warnen die Autoren vor einem Funktionsverlust der öffentlichrechtlichen Sender, die ihr Programmangebot an die privaten Standards anpassten und dadurch ihr eigenständiges Profil einbüßten. Immer stärker integrierten die Öffentlich-Rechtlichen Unterhaltungskomponenten in ihr Programm, so dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk womöglich seiner verfassungsrechtlich festgelegten Aufgabe der ›Grundversorgung‹ nicht mehr nachkommen könne (Schatz et al. 1989) und dadurch sein eigenständiges Profil sowie sein »Gebührenprivileg« einbüße (Schatz 1993: 72). Dass sich VertreterInnen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks immer wieder gegen die Konvergenzhypothese ausgesprochen haben, überrascht vor diesem Hintergrund nicht (vgl. Schatz 1993: 72; Stock 1990; zur Funktion des öffentlich-rechtlichen Rundfunks: Weiß 1991), insbesondere, nachdem sie im Verlaufe der Diskussion durch die Medienpolitik instrumentalisiert wurde (vgl. Krüger 1991: 87; Schatz 1993: 72 ff.). Auch die Autoren selbst relativierten ihre Prognose als solche später (siehe Schatz 1993). Daneben wurde die Studie in der Wissenschaft kritisiert und durch andere Untersuchungen in Frage gestellt (siehe Krüger 1989; 1991; 1997; 2002), allerdings auch bestätigt (siehe Merten 1994). Der Diskurs um eine mögliche Konvergenz öffentlich-rechtlicher und privater Sender verläuft somit kontrovers.

Der Diskursstrang »GZSZ« in der Fernsehkritik | 247 Negativentwicklung. Die zentrale Parallele zwischen Fernsehkritik und der frühen Argumentation von Schatz et al. liegt in dem Begriff der »Selbstkommerzialisierung« (Schatz et al. 1989: 21). Dahinter verbirgt sich die Orientierung der Öffentlich-Rechtlichen an privatwirtschaftlichen Zielen. Die Autoren der Konvergenzhypothese machen diesen Prozess an einer Erhöhung des Unterhaltungsanteils im öffentlich-rechtlichen Programm fest (siehe auch Merten 1994).17 Parallel dazu wird im Diskurs der Fernsehkritik den öffentlich-rechtlichen Sendern vorgeworfen, sich mittels Soap Operas an dem Quotenkampf der Privaten zu beteiligen und sich dem Kommerzialisierungstrend der Privaten anzuschließen. Die vermeintliche »Selbstkommerzialisierung« (Schatz et al. 1989: 21) der Öffentlich-Rechtlichen wird somit in beiden Diskursen bejaht und verurteilt. Sowohl in der Fernsehkritik als auch im Diskurs zur Konvergenzhypothese beklagt man damit die Abkehr vom traditionellen Image des öffentlich-rechtlichen Rundfunks als Informations- und Bildungsinstitution, die ihre Inhalte unabhängig von Einschaltquoten bestimmt. In beiden klingt die Sorge um eine Vereinheitlichung des Programms an. Im Diskurs der Fernsehkritik heißt es, die Soap Operas ›überschwemmten‹ das Programm, so dass sich die Angebote nivellierten (vgl. z.B. Weidinger, SZ 29.12.1994). Auch wird im Diskursstrang der Fernsehkritik an einer Stelle genau wie im Diskurs um die Konvergenzhypothese angedeutet, dass die Öffentlich-Rechtlichen mit der Übernahme privater Standards dem Auftrag der Grundversorgung nicht mehr ausreichend nachkommen könnten (vgl. Schatz et al. 1989; siehe zur Fernsehkritik Weidinger, SZ 29.12.1994). Zudem wird in beiden Diskursen Kommerzialisierung mit ›Entertainisierung‹18 gleichgesetzt und als Qualitätsminderung begriffen. Man kann insgesamt nicht sagen, dass sich der Diskursstrang um »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« und der Diskurs der Konvergenzhypothese in jedem Punkt gleichen. Doch auffällig ist, dass sich die Kernaussagen beider Diskurse decken. Vor allem entsprechen sie sich in der negativen Einschätzung des neuen privaten Programms, die wesentlich verantwortlich für die Abwertung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« als ›typisch‹ private Sendeform ist. Die RTL-Serie verkörpert in dem Diskurs17 | Zudem meinten Schatz et al. beispielsweise, dass sich die Konkurrenzsituation hinsichtlich der Programmbeschaffung verschärfte, da sich öffentlich-rechtliche und private Quellen für Sportsendungen und Unterhaltung überschnitten. Vgl. Schatz et al. 1989. 18 | Diese Tendenz wird teilweise auch als ›Boulevardisierung‹ bezeichnet (vgl. z.B. zu RTL Lesche 2001: 46), eine Diskussion, die Ende der Neunziger, Anfang 2000 in der Debatte um die Spaßkultur in den Medien bzw. um die »Spaßgesellschaft« kulminierte (vgl. z.B. Kamman 2000; Stolte 2001; Glaser 1999). Dabei regte vor allem das Format »Big Brother« die Diskussion an (siehe z.B. Weber 2000). Hier wurde die Beschleunigung von Trends, die Sensationsorientierung, die Suche nach immer extremeren Formaten sowie ein Trend zur Alltagsdarstellung erörtert und zumeist kritisiert.

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strang den wachsenden Einfluss der Privaten auf das Fernsehprogramm, wobei »GZSZ« zur Bedrohung der bestehenden Qualitätsstandards stilisiert wird. 3.8.2 ›Private ownership‹- versus ›public service‹-Diskurs Die Art und Weise, wie die Fernsehkritik gegen eine Anpassung der Öffentlich-Rechtlichen an private Programmstandards argumentiert, deutet neben der Konvergenzhypothese noch auf den ›public service‹-Diskurs hin, der bei Ang erläutert wird. Ang (1991) sieht grundsätzlich zwei verschiedene Diskurse im Rundfunkbereich gegeben: im privatwirtschaftlichen Diskurs (›private ownership‹) stehe der kommerzielle Gewinn an oberster Stelle, während der öffentlich-rechtliche Diskurs (›public service‹) ein autoritäres Modell propagiere, das vorsieht, Werte und Bedeutungen jenseits der eigenen Reproduktion zu transportieren und damit eine Öffentlichkeit zu bedienen. Hier sollen Werte und der Geschmack einer regierenden Minderheit auf die breite Bevölkerung übertragen werden (siehe Ang 1991: 29). Heutzutage sei der öffentlich-rechtliche Diskurs des Rundfunks zwar nicht mehr kulturell elitär, man halte jedoch an der Verpflichtung zum Qualitätsfernsehen und an einem kulturellen Verantwortungsgefühl fest. Beide Diskurse unterscheiden sich durch ein unterschiedliches Publikumsbild, das jedoch bei beiden gleichwohl konstruiert ist: während im öffentlich-rechtlichen Diskurs das Bild des Staatsbürgers transportiert wird (ebd.: 29), gelten die Publika im privatwirtschaftlichen Diskurs als Märkte (ebd.: 27). Ang konstatiert, dass sich dieses öffentlichrechtliche Modell in Westeuropa in einer Krise befände, ausgelöst durch die neue Privatisierungspolitik in Europa (vgl. ebd.: 5), was sich in diesem Zusammenhang in der Einführung des privaten Rundfunks Mitte der Achtziger in Deutschland gezeigt hat. Als Weg aus der Krise versuchten sich die öffentlich-rechtlichen Sender an die Privaten anzupassen, was auch zu einer Veränderung des Publikumsbildes vom Staatsbürger oder -bürgerin weg, hin zu einer Vorstellung von KonsumentInnen (ebd.: 30) führe. Auch Ang sieht somit in der wachsenden Konkurrenz im Rundfunk den Ausgangspunkt für Konvergenzprozesse. Betrachtet man das öffentlich-rechtliche Paradigma gegenüber dem privaten, wie bei Ang veranschaulicht, so wird deutlich, dass sich die Autoren und Autorinnen der Fernsehkritik mit ihren Äußerungen überwiegend im Rahmen des öffentlich-rechtlichen Diskurses bewegen. Dafür spricht zum einen, dass sie generell die kommerzielle Zielsetzung und die Quotenorientierung mit Hinblick auf die Soap Produktion kritisieren. Hier ist es vor allem der Privatsender RTL, der im Blickpunkt steht. Außerdem kritisieren sie das Publikumsbild der privaten Programmverantwortlichen, die die Rezipierenden als Marktfaktoren begriffen. Dies zeigt sich zum anderen darin, dass sie »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« in ihrer Abwertung zu einem typisch privaten Genre stilisieren, die Soap somit für die privaten Rundfunkanstalten stellvertretend bemängelt wird. Außer-

Der Diskursstrang »GZSZ« in der Fernsehkritik | 249 dem kritisieren die Autorinnen und Autoren die Vorstellung der Publika als Märkte, die im ›private ownership‹-Diskurs konstruiert wird (vgl. ebd.). Wenn der Diskurs der Fernsehkritik somit den öffentlich-rechtlichen Diskurs zu stützen versucht, so kann man dies als Gegenreaktion auf die Krise des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland werten, die seit Beginn des dualen Rundfunks zu herrschen scheint. Die KritikerInnen scheinen den öffentlich-rechtlichen Diskurs mit ihren Diskursfragmenten entgegen neuerer Rundfunkentwicklungen weitertransportieren zu wollen. Hierfür spricht auch, dass sich die Zielsetzung des öffentlichrechtlichen Modells mit den Zielen des hier untersuchten Teils der Fernsehkritik deckt: Beide wollen die Werte von kulturellen Minderheiten auf eine breite Bevölkerung übertragen. Dies wird deutlich, wenn sich wenige Fernsehkritiker und -kritikerinnen gegen die erfolgreichste deutsche Serie »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« aussprechen, ohne danach zu fragen, was die Rezipierenden an der Soap fasziniert. Somit ist anzunehmen, dass die Fernsehkritik um ihren Einfluss auf das Programm fürchtet, wenn sich die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten an private Grundsätze angleichen würden: dies bedeutete nämlich, dass das Programm nicht nach bildungsbürgerlichen Maßstäben oder ähnlichem gestaltet würde, sondern die Einschaltquoten den Ausschlag für oder wider eine Sendung gäben.19 Die Rolle der Fernsehkritik würde damit womöglich auf einen feuilletonistischen, journalistischen Sinn reduziert, den Anspruch, das Programm auch mitzugestalten, müsste sie jedoch vollends aufgeben. In der Art und Weise, wie der hier skizzierte Diskurs der Fernsehkritik geführt wurde, zeichnet sich somit sehr klar ab, wie die Kritik durch den Diskurs Bedeutungen für den ›public service‹-Diskurs und gegen den privatwirtschaftlichen Diskurs zu setzen versucht, um ihre eigenen Interessen zu stützen.

19 | Vgl. zur intellektuellen Angst vor dem Funktionsverlust: Hertel 1993.

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4. Der Diskursstrang »Wer wird Millionär?« in der Fernsehkritik

Nachdem im vorangegangenen Abschnitt die Analyseergebnisse zum Diskursstrang um »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« dargelegt wurden, stellt sich nun die Frage, wie »Wer wird Millionär?« im Diskurs der Fernsehkritik bewertet wurde. Zeigt sich in den Kritiken eine ähnlich abschätzige Haltung gegenüber Genre und Rezipierenden, wie dies bei der Soap »GZSZ« der Fall war? Traten ähnliche Argumentationsmuster zutage oder erfolgte die Bewertung auf völlig andere Weise? War ebenfalls der Diskurs der Kulturindustrie für die Bewertung von »Wer wird Millionär?« bedeutsam und zeigten sich ähnliche Diskurse wie im Diskursstrang zu »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«? Lassen sich in diesem Diskursstrang stärkere Berührungspunkte zum Diskurs der Cultural Studies um populäre Texte finden?

4.1 Zentrale inhaltliche Schwerpunkte Im Rahmen der Bewertung von »Wer wird Millionär?« fallen wieder einige Schwerpunkte auf, die die Fernsehkritik in ihren Beiträgen setzte. Dazu gehören das Konzept der Show, die Produzenten, der Moderator Günther Jauch, die Kandidaten und Kandidatinnen sowie die ZuschauerInnen. Der Blick der Fernsehkritik umfasst im Einzelnen: • das Konzept: Hierunter fallen sämtliche Textstellen, die die Idee hinter »Wer wird Millionär?« betreffen und somit Merkmale der Show (z.B. der einfache Ablauf oder typische Inhalte) sowie die Nachahmung des Konzeptes behandeln (z.B. der Entwurf ähnlicher Shows seitens anderer Sender). • die Produzenten: Hier rücken RTL, der ausstrahlende Sender, in den Blickpunkt (z.B. die Werbefinanzierung von RTL) und Endemol, die Produktionsfirma, die das Format in England eingekauft und an RTL weiterverkauft hat (z.B. der Einfluss von John de Mol).

Der Diskursstrang »Wer wird Millionär?« in der Fernsehkritik | 251 • Günther Jauch, der Moderator: Hier steht Jauchs Arbeit bei »Wer wird Millionär?« im Vordergrund (z.B. als Verbindung von Unterhaltung und Information), wie diese bewertet wird (z.B. Jauch als ›Könner‹) oder auch was man an seiner Person wahrnimmt (z.B. Parallelen von »Wer wird Millionär?« zum Privatmensch Jauch). • die KandidatInnen: Unter diesen Punkt fallen sämtliche Textstellen, in der die Teilnehmenden betrachtet werden. Hier kommt ihre Motivation für die Teilnahme bei »Wer wird Millionär?« zur Sprache (z.B. Geld zu gewinnen oder ihr Wissen zu präsentieren), ihr Verhalten in der Show (z.B. Selbstdarstellung) oder die Frage, was für Menschen sich überhaupt bewerben (z.B. ›Bildungsbürger‹). • die Zuschauer und Zuschauerinnen: Diese Blickrichtung enthält Textstellen zu den Rezipierenden. In den Kritiken wird hier vor allem thematisiert, warum das Publikum einschaltet (z.B. weil es ›Jauch-TV‹ will). Genau wie in dem Diskursstrang zu »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«, ergeben sich auch an dieser Stelle wieder Überschneidungen, d.h. manche Textstellen spielten in der Bewertung mehrerer inhaltlicher Schwerpunkte eine Rolle. Insbesondere wurde dies im Zusammenhang mit Günther Jauch in der Unterargumentation ›Machtmissbrauch durch Jauch‹ deutlich, in die auch Textstellen zu den Kandidaten und Kandidatinnen hineinspielen, da es hier um das Machtgefälle zwischen ihnen und dem Moderator geht. Die inhaltlichen Schwerpunkte werden in den Kritiken vom Umfang her sehr unterschiedlich thematisiert. Während das Konzept von »Wer wird Millionär?« und vor allem der Moderator Günther Jauch sehr ausführlich in den Diskursfragmenten besprochen werden, kommt den restlichen Schwerpunkten in der Bewertung der Kritik weniger Raum zu. So konnte bezüglich der Produzenten, der Kandidaten und Kandidatinnen sowie zu den ZuschauerInnen jeweils nur ein Argumentationsstrang ausgemacht werden, der sich je in zwei Unterargumentationen gliedert. Dagegen wurden zu dem Konzept der Show zwei Argumentationsstränge mit je zwei bzw. drei Unterargumentationen herausgearbeitet. In der Bewertung von Günther Jauch lassen sich sogar drei Argumentationsstränge ausmachen, die über jeweils zwei Unterargumentationen verfügen. Jauch kommt in den Kritiken bzw. in dem Diskursstrang die meiste Aufmerksamkeit zu. Demgegenüber wurde zu den Produzenten, also zu RTL und Endemol, am wenigsten von der Kritik bemerkt. Dies ist vor allem auffällig gegenüber dem Diskursstrang zu »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«, wo RTL und die Produktionsfirma in Zusammenhang mit der Produktion wesentlich umfangreicher diskutiert wurde. Dies gilt auch für die Zuschauer und Zuschauerinnen von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«, die mehr Beachtung in der Fernsehkritik fanden, wenn auch nicht in besonders positiver Form. Insgesamt sind an diesem Diskursstrang 27 Autorinnen und Autoren beteiligt, inklusive einer ›dpa‹-Meldung. Einige der KritikerInnen sind mit

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mehreren Artikeln vertreten. Dazu gehören Niggemeier (SZ 9.2.2000; SZ 2.5.2000; SZ 5.8.2000; SZ 30.1.2001; SZ 17.7.2001), Reents (SZ, 9.12.2000; FAZ 30.5.2001), Hoff (SZ 7.7.2000; SZ 9.10.2000; SZ 21.11.2000), Keil (SZ 8.9.1999; SZ 8.11.2000; SZ 31.12.2001), jöt (FAZ 7.6.2001; FAZ 20.7.2001) und Hanfeld (FAZ 9.10.2000; FAZ 8.9.2001). Nicht zuletzt diese Tatsache führt dazu, dass diese Autoren den Diskursstrang stärker prägen als andere. In die Analyse des Diskursstranges zu »Wer wird Millionär?« wurden Textstellen zu der Sendung direkt einbezogen wie auch Passagen, in der von Quizsendungen allgemein die Rede war.

4.2 Erster Fokus: Das Konzept von »Wer wird Millionär?« Das Konzept, das »Wer wird Millionär?« zugrunde liegt, ist in der Bewertung der Quizshow zentral. Beispielsweise sieht Niggemeier in dem Konzept den Grund für den internationalen Erfolg der Show (Niggemeier, SZ 9.2.2000). Zu dem Konzept werden die Idee, die der Quizshow zugrunde liegt, thematisiert, hervorstechende Qualitätsmerkmale des Formates hervorgehoben, der wiederkehrende Ablauf sowie feste Inhalte der Sendung, die Szenerie oder auch Kopien des Quizformates bei anderen Sendern von der Kritik angesprochen. Diese Aspekte konnten zwei größeren Argumentationssträngen der AutorInnen zugeordnet werden. Zum einen kristallisierte sich der Argumentationsstrang (1) ›»Wer wird Millionär?« als perfekte ›Quizmaschine‹‹ samt dreier Unterargumentationen heraus: In der ersten wird die Einfachheit des Konzeptes hervorgehoben und als Qualitätsmerkmal begriffen. Im Rahmen einer weiteren, weniger umfangreichen Unterargumentation wird »Wer wird Millionär?« als Kopie eines englischen Erfolgsformates herausgestellt. Die Opposition Kopie versus Original wird auch in der dritten Unterargumentation thematisiert, allerdings wird hier »Wer wird Millionär?« als perfektes Original dargestellt, das im Gegensatz zu qualitativ minderwertigeren Nachfolge-Quizsendungen steht. Mit dieser Unterargumentation wird Kritik an der Praxis des Fernsehens geübt, erfolgreiche Formate zu kopieren. Zum anderen fiel als zweiter Argumentationsstrang (2) ›»Wer wird Millionär?« als Ausdruck des Populären‹ auf. Dieser Argumentationsstrang bündelt zwei Unterargumentationen: Einerseits eine Argumentationslinie, in der die Quizsendung als ›populäre Inszenierung‹ charakterisiert wird, die starke Bezüge zu anderen populären Genres aufweist. Andererseits wird in der zweiten Unterargumentation von den Kritikerinnen und Kritikern diskutiert, inwieweit populäres Wissen im Konzept von »Wer wird Millionär?« dominiert.

Der Diskursstrang »Wer wird Millionär?« in der Fernsehkritik | 253 4.2.1 Argumentationsstrang: »Wer wird Millionär?« als perfekte ›Quizmaschine‹ »Perfekt einfach« »Die Idee, man kann es nicht oft genug sagen, ist schlicht, deshalb wahrscheinlich brillant: Normale Menschen können zur besten Sendezeit mit normaler Allgemeinbildung beim seriösen Herrn Jauch eine ganze Stange Geld gewinnen. Ein bisschen Glück gehört zwar auch noch dazu, aber eigentlich ist klar: Je mehr man weiß, um so höher ist der Preis« (Krömer, S Z 21.12.2000). Krömer hebt in seinem Zitat positiv hervor, was für ihn offenbar den Kern von »Wer wird Millionär?« ausmacht: die ›schlichte‹, einfache Idee. »Wer wird Millionär?« reiht sich damit ein in die Tradition der klassischen Wissensquizshow, die angesichts der Fülle an neuen Formaten, beispielsweise Real Life Soaps, schon als überholt galt. »Wer wird Millionär?« sticht als schnörkellose Unterhaltung nicht nur für Krömer (SZ 21.12.2000) positiv aus dem Programm hervor. Begeisterung klingt auch in anderen Diskursfragmenten an: »›Wer wird Millionär?‹ ist eine perfekte Quizmaschine«, heißt es bei Niggemeier (Niggemeier, SZ 2.5.2000), womit das reibungslose Funktionieren hervorgehoben wird und »Wer wird Millionär?« Produktcharakter erhält. Der Ausdruck ›Quizmaschine‹ könnte auch als leichter Anklang an den kritischen Diskurs der Kulturindustrie gewertet werden, wogegen allerdings die positive Wertung spricht, gegenüber dem Diskursstrang zu »GZSZ«, wo der Bezug negativ konnotiert war. Auch Keil hebt das einfache Konzept der Sendung hervor: »Wie meistens hat erfolgreiches Entertainment ein simples (Jauch: ›geniales‹) Konzept« (Keil, SZ 8.9.1999; siehe auch: Kahlweit, SZ 14.9.2001; Niggemeier, SZ 2.5.2000 und SZ 9.2.2000).1 Hoff beschreibt die Show geradezu verzückt als »perfekt einfach inszeniert« (Hoff, SZ 9.10.2000). Niggemeiers Beitrag aus der Süddeutschen Zeitung vom 9.2.2000 unterstreicht die Einfachheit des Konzeptes mittels der Anekdote eines englischen Senderchefs. Diesem wurde die Idee des Originals »Who wants to be a millionaire?« schmackhaft gemacht, indem man einige Proberunden mit ihm spielte. Obwohl er frühzeitig ausstieg, hatte ihn die Idee sofort gepackt. Niggemeier führt den Leserinnen und Lesern hier den einfachen Kern des Konzeptes vor: das Risiko, entweder mit der richtigen Antwort sein Geld verdoppeln zu können oder aber alles zu verlieren. An anderer Stelle hebt Niggemeier die einfache Struktur von »Wer wird Millionär?« vor, als er sie auf drei Elemente reduziert, die für ihn die 1 | In Abgrenzung zu anderen Shows charakterisiert Hoff »Wer wird Millionär?« indirekt als besonders einfach. Z.B. sieht er beim »Quiz 21 – das Duell Deines Lebens« (RTL) im Gegensatz zu »Wer wird Millionär?« undurchsichtige Spielregeln« gegeben (SZ 7.7.2000); siehe auch Hoff, SZ 21.11.2000.

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Show ausmachen: eine »simple Dramaturgie«, »Alles- oder Nichts-Spannung« sowie den »Psychostress zwischen Kandidat und Moderator« (Niggemeier, SZ 2.5.2000). In der Bewertung von »Wer wird Millionär?« wird die Einfachheit der Show exzessiven, negativ gewerteten Elementen anderer Formate gegenübergestellt. Vor allem die Quizshows, mit denen andere Sender sich dem Quizboom anschließen wollten und Jauchs Quizsendung abwandelten, werden kritisiert (z.B. bei Hoff, SZ 7.7.2000 »Quiz 21« (RTL)). Zu der Sat.1-Sendung »Die Chance Deines Lebens« heißt es: »Aber ginge es hier um Autohandel, hätte Sat.1 jetzt die grobe Kopie eines Supermodells, mit doppelt so großem Kofferraum und goldenem Lenkrad. Aber ohne Motor« (Niggemeier, SZ 2.5.2000). Kritisiert wird hier die Abweichung vom Wesentlichen, die Übersteigerung der einfachen Quizstruktur, was als Begründung dafür gesehen wird, dass diese ›Quizmaschine‹ nicht funktioniere. Auch schon früher grenzt Niggemeier »Wer wird Millionär?« von anderen Formaten ab und lobt die einfache Anlage: »Andere Shows bedienen ihn (K.G.: Voyeurismus) mit 100 Tagen in Quarantäne und lebensgefährlichen Stunts. Es funktioniert auch mit 15 Fragen. Allein für diesen Beweis muss man ›Wer wird Millionär?‹ mögen« (Niggemeier, SZ 9.2.2000). Hier spielt er auf »Big Brother« an, die Real Life Soap, die einen Boom an ähnlichen Formaten auslöste, in denen es für die Teilnehmenden darum ging, unterschiedliche Strapazen zu überstehen (vgl. dazu Mikos et al. 2000; Lücke 2002). In einem Diskursfragment, das die Aufzeichnung von »Wer wird Millionär?« ausgerechnet am 11. September 2001, dem Tag des Attentats auf das World Trade Centre behandelt, bezieht Jauch Stellung dazu, ob diese Aufzeichnung angesichts der Ereignisse nicht unangemessen sei: »›Eine Ratesendung ist ja kein lautes Musikantenstadel, das man an einem solchen Tag nur schwer erträgt‹, sagt er. ›Wir machen zwar Unterhaltung, aber bei uns dominiert die menschliche Interaktion, die Psychologie‹« (Kahlweit, SZ 14.9.2001). Wieder wird »Wer wird Millionär?« von exzessiven Vergnügen abgegrenzt. Als nicht exzessiv, sondern einfach wird auch die Spannung interpretiert, die »Wer wird Millionär?« erzeuge. Sie wird in mehreren Diskursfragmenten als wesentlicher Anreiz der Show charakterisiert (Niggemeier, SZ 9.2.2000 und SZ 2.5.2000; Kämmerlings, FAZ 2.12.2000; Görtz, FAZ 22.5.2001; Hoff, SZ 7.7.2000). »Die gute Nachricht zuerst: Wegen W e r w i r d M i l l i o n ä r ? muss kein Mensch in der Hölle schmoren. Günther Jauch nicht, die Kandidaten nicht und die Zuschauer auch nicht. Denn das Erfolgsgeheimnis der Sendung ist nicht, wie der S p i e g e l vermutet, Gier. Es ist die Spannung. Und Spannung ist keine Todsünde. Glück gehabt« (Niggemeier, S Z 9.2.2000). Görtz hält die Spannung ebenfalls für ein typisches Kennzeichen von »Wer wird Millionär?« und versucht in seinem Beitrag den Spannungsverlauf beim zweiten Millionengewinn von Marlene Grabherr nachzu-

Der Diskursstrang »Wer wird Millionär?« in der Fernsehkritik | 255 zeichnen (Görtz, FAZ 22.5.2001). Bei Niggemeier wird »Wer wird Millionär?« durch seine Spannung schließlich zum ›Thriller‹ (Niggemeier, SZ 9.2.2000). Er nimmt also Bezug auf ein anderes, fiktionales Genre und hebt die Erzählstruktur der Quizshow hervor, die einen ›Helden‹ beinhalte, der sich gegen Gefahren behaupten muss. Auch den Millionengewinn interpretiert er vor dem Hintergrund jener Erzählung und sieht ihn nicht als Ausdruck von Kommerzialisierung oder von Exzess, sondern als Resultat der Thriller-Struktur: »Und natürlich geht es bei dem Helden im Thriller nicht um Zweimarkfuffzig oder eine Schürfwunde, sondern um Alles oder Nichts. Deshalb muss es bei der Show um ganz viel Geld gehen, also am besten gleich um eine ganze Million« (Niggemeier, SZ 9.2.2000). Das Konzept, also die Regeln, der Ablauf und der Anreiz der Quizsendung werden somit als auffallend einfach begriffen. »Wer wird Millionär?« scheint für die Kritiker und Kritikerinnen eine Art Muster oder Schema zu ergeben. Dieser Eindruck wird auch deutlich, wenn Keil vom »Regelwerk« der Show spricht (SZ 8.9.1999), also die festgelegte, schematische Struktur betont. Dieses Muster lässt sich offenbar journalistisch gut verwenden. Der Autor mit dem Kürzel mar spielt in seinem Beitrag beispielsweise auf die typische Art der Fragen in der Quizsendung an (FAZ 8.6.2001). Niggemeier, der seinen Artikel über »Wer wird Millionär?« mit einer Einstiegsfrage und der Antwort am Schluss rahmt, ist dabei noch direkt beim eigentlichen Sujet (Niggemeier, SZ 9.2.2000). Allerdings wird das Schema auch in anderen Kontexten benutzt. Bahnen spielt in der Kritik zu einem Fernsehfilm auf die »Hundertmarkfrage« und Günther Jauch an und stellt sich ein ›Küchenquiz‹ vor (Bahnen, FAZ 15.3.2001). Vor allem die Art der Fragen mit den vier Antwortmöglichkeiten scheint einen besonderen Reiz auf die Fernsehkritik auszuüben. Mehrfach wird auf die Wortspiele und die absurden Antwortmöglichkeiten Bezug genommen (vgl. Niggemeier, SZ 9.2.2000; Bahnen, FAZ 15.3.2001; rea, FAZ 3.9.2000). Dass die Autorinnen und Autoren die einfache Struktur von »Wer wird Millionär?« in dem Maße hervorheben, lässt darauf schließen, dass sie die übrigen Fernsehformate als zu umständlich und zu exzessiv begreifen. Ihre Kritik wird in einer Zeit geäußert, als besonders viele neue Game Show-Varianten auf den Fernsehmarkt kommen und darüber hinaus etliche Reality-Formate die ZuschauerInnen mit immer neuen Anreizen zu ködern versuchen. »Wer wird Millionär?« scheint hier für die Kritik die Rückkehr zum Einfachen zu verkörpern, was auf den Diskurs um Authentizität in der Mediengesellschaft hindeutet. Das Einfache, Echte scheint darüber qualititav-hochwertige Fernsehunterhaltung gegenüber inszenierten, exzessiven Formaten zu verkörpern. Diese Argumentationen könnte man auch als Diskurs um Qualität im Fernsehen begreifen sowie um neue Genres in der Fernsehunterhaltung – man denke beispielsweise an die Debatte um »Big Brother« (vgl. Mikos et al. 2000; Weber 2000). Grundsätzliche Überlegungen zur Mediengesellschaft

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fließen demnach hier in die Bewertung von »Wer wird Millionär?« mit ein. ›Schamlos geklont‹: »Wer wird Millionär?« als Kopie Im Rahmen des Argumentationsstranges der ›perfekten Quizmaschine‹ wird die Frage gestellt, ob es sich bei »Wer wird Millionär?« tatsächlich um ein (perfektes) Original handelt oder um eine Kopie. Zunächst wird in dieser Unterargumentation die Position dargestellt, nach der »Wer wird Millionär?« lediglich die Kopie eines englischen Originals darstelle. Diese Unterargumentation läuft dem übergeordneten Argumentationsstrang der ›perfekten Quizmaschine‹ an einigen Stellen entgegen. Eher feststellend beschreibt Keil (SZ 8.9.1999), dass der deutschen Ausgabe von »Wer wird Millionär?« das englische Original »Who wants to be a millionaire?« zugrunde gelegt wurde: »Was sich in der Übersetzung des Titels andeutet, gilt für die gesamte Präsentation, sie ist eine detailgetreue Kopie. Studio und Dekoration wurden in Hilversum nachgebaut, Licht, Ton, Kameraführung und Inserts sind identisch, natürlich auch der Modus« (Keil, S Z 8.9.1999). Er bezieht sich neben dem Titel hier auf die Ausstattung und den Ablauf. Auch bei Niggemeier wird darauf verwiesen, dass das Konzept von »Wer wird Millionär?« nicht original in Deutschland entwickelt wurde, sondern in Großbritannien. Allerdings sieht er hierin keinen Makel, sondern stellt den internationalen Erfolg des Konzeptes positiv heraus (SZ 9.2.2000; ähnlich: Ott, SZ, 8.2.2001). Daneben finden sich Textstellen, in denen gleichzeitig Kritik an der Situation des Rundfunks geübt wird. Der Artikel von Hoff, in dem ausgehend von der Verleihung des Deutschen Fernsehpreises Personae und Rituale der Fernsehbranche sowie die Veranstaltung an sich verrissen wird, stellt »Wer wird Millionär?« als Import von Endemol heraus: »Wie mächtig John de Mol wirklich ist, zeigt sich später, als in der Kategorie Unterhaltung wieder mal nicht die ambitionierte Eigenschöpfung Z i m m e r f r e i den Preis erhält, sondern W e r w i r d M i l l i o n ä r ?, ein von Endemol aus England importiertes Format, das so perfekt einfach inszeniert ist, dass selbst ein begnadeter Könner wie Günther Jauch mit zartem Mienen-Spiel nur das Sahnehäubchen aufsetzen kann« (Hoff, S Z 9.10.2000). Hier steht »Wer wird Millionär?« für die Macht des Endemol-Konzerns, durch die das öffentlich-rechtliche Format auf der Strecke bleibt. Die Quizshow verkörpert den florierenden internationalen Handel mit TVFormaten, der hier als Praxis des privaten Rundfunks charakterisiert wird. Demgegenüber habe ein selbst entwickeltes öffentlich-rechtliches Format keine Chance. In Hoffs Bewertung fließt somit der Diskurs um Senderkonkurrenzen innerhalb des Dualen Rundfunks mit ein. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung stieß die Verleihung des Deutschen Fernsehpreises ebenfalls auf Kritik. »Wer wird Millionär?« wird dabei in ähnlicher

Der Diskursstrang »Wer wird Millionär?« in der Fernsehkritik | 257 Weise als Produkt von Endemol charakterisiert, an dem sich der Konkurrenzkampf zwischen öffentlich-rechtlichem und privatem Rundfunk abzeichne (Hanfeld, FAZ 9.10.2000). So schreibt Hanfeld: »Das paneuropäische Marketingfernsehen also wurde doch nicht ausgezeichnet, dafür aber Günther Jauch als Moderator der Show ›Wer wird Millionär?‹, die wiederum John de Mol vertreibt, und die sich gegen das Unterhaltungsformat ›Zimmer frei‹ vom WDR durchsetzte, das wenigstens eine Eigenentwicklung ist« (Hanfeld, F A Z 9.10.2000). Hanfeld sieht in »Wer wird Millionär?« an anderer Stelle in seinem Diskursfragment ein amerikanisches Format, was nicht richtig ist, denn das ursprüngliche Konzept wurde in Großbritannien entwickelt. Sicherlich ist dies zu wenig Indiz für eine antiamerikanische Haltung, hierin könnte sich jedoch erneut die Angst vor einer kulturellen Vereinheitlichung andeuten, die in dem Diskursstrang zu »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« sichtbar wurde.2 Auffällig ist zudem, dass Hanfeld betont, »Wer wird Millionär?« sei die Kopie einer ›amerikanischen‹ Quizshow und auch die ›holländische‹ Herkunft Endemols hervorhebt. Offenbar versucht er hiermit auf die vermeintliche Schwäche der deutschen Fernsehproduktion hinzuweisen und indirekt die Internationalisierung des Fernsehmarktes zu kritisieren. In eine ähnliche Richtung zielt Meijas, wobei »Wer wird Millionär?« die deutsche Ausprägung eines alten TV-Genres bezeichne (»diese alten Dinosaurier«), das zum Erstaunen des Autors einen internationalen Quizboom ausgelöst habe. »Wer wird Millionär?« sei dabei in Deutschland »schamlos geklont« worden (Mejias, FAZ 26.5.2000), womit der Autor die Praxis der Verantwortlichen kritisiert. Die RTL-Quizsendung ist hier wieder eingebettet in den Senderkonkurrenzkampf, den der Autor als »Quotenrennen« bezeichnet. Und erneut wird »Wer wird Millionär?« fälschlicherweise als aus den USA importiertes Format beschrieben. Zekri fügt der Diskussion um »Wer wird Millionär?« als Kopie eine weitere Komponente hinzu. Sie moniert allgemein die Fernsehpraxis, erfolgreiche Formate endlos zu kopieren: »Inständig hoffen die Geschichtenerzähler des Fernsehens, dass die Erfolgsformate recht bald zu Tode kopiert sind, und lesen in jedem Marketing-Getöse und jeder neuen Radikalisierung ein Zeichen von Schwäche« (Zekri, FAZ 30.1.2001). Ihre Kritik ist an dieser Stelle auf Quizsendungen allgemein sowie auf Reality-Formate bezogen. Sie richtet sich gegen die aktuelle Praxis, auf Trends aufzuspringen, wobei fiktionale Produktionen ins Hintertreffen gerieten und allgemein eine Vereinheitlichung des Programms befürchtet wird (siehe auch Niggemeier, SZ 5.8.2000). Inhärent ist Zekris Zitat die Kritik an der Quotenorientierung im Fernsehen, womit ein Qualitätsverlust einher2 | Vgl. dazu in dem Abschnitt zum »GZSZ«-Diskursstrang die Unterargumentation ›Angst vor der Angleichung deutscher Fernsehverhältnisse an Vorbilder aus Australien oder den USA‹.

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gehe. Insgesamt gerät in dieser Unterargumentation die aktuelle Situation des Fernsehens in den Blick, wobei »Wer wird Millionär?« als privates Erzeugnis von Endemol im Senderkonkurrenzkampf gegen die Öffentlich-Rechtlichen gesetzt wird. Die Kritik an der Reproduktion des erfolgreichen Formates »Wer wird Millionär?« ist gegenüber der sonstigen Begeisterung in dem Diskursstrang nicht sehr ausgeprägt. Hier kommt erneut der Diskurs um Authentizität oder Echtheit ins Spiel, der offenbar dazu beiträgt, dass »Wer wird Millionär?«, als Kopie betrachtet, weniger wohlwollend bewertet wird, als es sonst im Diskursstrang der Fall ist. Es handelt sich bei dieser Unterargumentation außerdem um eine der wenigen Stellen innerhalb des Diskursstranges, wo der kritische Diskurs um die Kulturindustrie in die Bewertung der Kritik einzufließen scheint. Darin wird ebenfalls die kulturindustrielle Reproduktion des Immergleichen angegriffen (vgl. Horkheimer/Adorno 1998). Man könnte hier auch auf Benjamins Ausführungen zur »technischen Reproduzierbarkeit« von Kunstwerken Bezug nehmen, wo er beschreibt, wie die »Aura« des Originals unter der massenhaften Reproduktion leide (vgl. Benjamin 1974).3 In Bezug auf »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« wurde die kulturindustrielle Argumentationslinie von der Fernsehkritik ausführlich verfolgt – bezüglich »Wer wird Millionär?« kommt dieser Argumentation dagegen eine weitaus geringere Rolle zu. So ist die Darstellung von »Wer wird Millionär?« als Kopie wesentlich weniger ausgeprägt als die folgende Unterargumentation, in der »Wer wird Millionär?« als Original begriffen wird. In ihr steht der nationale Blick auf den deutschen Fernsehmarkt im Vordergrund. ›Warhols Suppendose‹: Kopien vom Erfolgsformat »Er soll uns in der Zeit ohne ›Wer wird Millionär?‹ den Günther Jauch machen: Hans Meiser kehrt heute zurück mit seinem ›Quiz Einundzwanzig‹ (RTL, 20.15 Uhr), und niemand weiß so genau, warum« (jöt, FAZ 7.6.2001). Nicht in jedem Diskursfragment stellt sich der Autor oder die Autorin so distanzlos hinter »Wer wird Millionär?« und gegen das Nachfolgeformat eines anderen Senders wie an dieser Stelle. Neutralere Stimmen werden allerdings selten laut, wenn es darum geht, dass sich andere Sender durch den Erfolg von RTL angespornt mit eigenen Quizshows dem Quizboom anschließen wollten (eher neutral: rea, FAZ 3.9.2000; Zekri, FAZ 30.1.2001; Niggemeier, SZ 5.8.2000). Vielmehr sind negative Reaktionen 3 | Unter ›Aura‹ fasst Benjamin die ›Autorität‹ des Originals, die sich durch die Verankerung in einer Tradition ergebe und durch das unmittelbare ›Hier und Jetzt‹ eines Kunstwerkes, was seine ›Echtheit‹ bedinge. Reproduktion löse ein Kunstwerk aus seiner Traditionslinie heraus und ermögliche, dass es sozusagen an jedem Ort präsent sein könne (vgl. Benjamin 1974: 437/438).

Der Diskursstrang »Wer wird Millionär?« in der Fernsehkritik | 259 der Kritik die Regel. »Wer wird Millionär?« gilt in fünf Diskursfragmenten als perfektes Original, ähnliche Produktionen dagegen als schlechte Kopien (vgl. jöt, FAZ 7.6.2001; Hoff, SZ 7.7.2000; ders. 21.11.2000; Niggemeier, SZ 2.5.2000; ders. SZ 9.2.2000). Immerhin sechs Formate werden als Imitationen bzw. Nachfolger von »Wer wird Millionär?« begriffen. Genannt werden das »Quiz 21 – das Duell Deines Lebens« (RTL) (Hoff, SZ 7.7.2000; jöt, FAZ 7.6.2001; hpe, FAZ 27.3.2001), »Der Schwächste fliegt« (RTL) (hpe, FAZ 27.3.2001), »Champions Day« (Sat.1), »Multimillionär« (RTL 2) (Niggemeier, SZ 20.1.2001), »Die Chance Deines Lebens« (Sat.1) (Niggemeier, SZ 2.5.2000), »Quizshow« (Sat.1) (Zekri, FAZ 30.1.2001), »Cash« (ZDF) (Hoff, SZ 21.11.2000; Zekri, FAZ 30.1.2001). Die Kritik erfolgt häufig in Abgrenzung zu »Wer wird Millionär?«. Kurz skizziert tauchen als Kritikpunkte folgende Aspekte auf: Das Konzept der jeweiligen Show sei zu kompliziert (Hoff, SZ 7.7.2000; ders., SZ 21.11.2000; jöt, FAZ 7.6.2001) und teilweise zu exzessiv (Hoff, SZ 7.7.2000; Niggemeier, SZ 30.1.2001), womit die bereits diskutierte Unterargumentation ›Einfach also perfekt‹ anklingt. »Der Wille, ganz groß zu inszenieren, ist […] zur Gier nach Opulenz verkommen«, meint Hoff zum »Quiz 21« (Hoff, SZ 7.7.2000). Daneben steht der Moderator bzw. die Moderatorin im Blickpunkt, die nicht so gut wie Jauch seien (Niggemeier, SZ 30.1.2001; ders., SZ 5.8.2000; jöt, FAZ 7.6.2001; Hoff, SZ 21.11.2000). Niggemeier beschreibt Hans Meiser, der in den Sommerpausen von »Wer wird Millionär?« das »Quiz 21« »als Jauchs Urlaubsvertretung« (Niggemeier, SZ 5.8.2000) bei RTL moderiere, als »verwirrten alten Mann« (ebd.). Hoff moniert an der Moderatorin von »Cash« (ZDF), Ulla Kock am Brink, dass sie zu steril agiere: »Klinisch rein wird da am offenen Quiz operiert, und auch die wie bei Jauch wirbelnden und sich final verengenden Scheinwerfer retten im Zusammenspiel mit Fanfaren und Spannung simulierenden Herzschlagtönen den Patienten nicht mehr« (Hoff, SZ 21.11.2000). An anderer Stelle beklagt Hoff »keine Spur von Intimität und Spannung« (Hoff, SZ 7.7.2000), und Niggemeier spricht sich ebenfalls gegen andere Anreize als Spannung aus (siehe Niggemeier, SZ 9.2.2000). Zudem wird kritisiert, wenn die Nachfolgeshow zu eng an der Vorlage entwickelt worden sei (Niggemeier, SZ 2.5.2000; ders., SZ 30.1.200). Die Entwicklung anderer Formate im Anschluss an »Wer wird Millionär?« wird eher negativ bewertet, wobei einerseits die Abweichungen vom Erfolgskonzept beklagt werden und andererseits die Imitation kritisiert wird. Auffallend ist, dass hier auch Jauch als zentraler Bestandteil des Erfolgskonzeptes von »Wer wird Millionär?« gewertet wird, der als Moderator das Original zu verkörpern scheint, gegen den die Quizmaster und Moderatorinnen anderer Shows abfallen. Im Detail fällt auf, dass mit der Kritik an Nachfolgeformaten häufig der Fernsehmarkt allgemein angegriffen wird. Wenn Niggemeier vor den »Nachahmern« der Show warnt, die nicht mehr allein auf Spannung setzten, kritisiert er hiermit implizit, dass sich die ProduzentInnen auf

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dem Fernsehmarkt immer mit Anreizen zu übertreffen suchten. Niggemeier bemängelt dabei das erste Folgeformat, das in den USA entwickelt wurde und weniger elaboriert als »Wer wird Millionär?« an »die Instinkte des Menschen appelliert, aber vor allem an niedere. Der Nachfolger heißt Gier« (Niggemeier, SZ 9.2.2000). Gegenüber »Wer wird Millionär?« locke »Gier« somit mit einer ›Todsünde‹, von der Niggemeier in seinem Artikel vorher die RTL-Quizsendung freigesprochen hat. »Gier« bewege sich damit auf einem niedrigeren Niveau als »Wer wird Millionär?« und appelliere an Instinkte, nicht an intellektuelle Reize, die mit der Spannung von »Wer wird Millionär?« womöglich noch angesprochen würden – das Zuschauerbild verändert sich mit einer solchen Einschätzung erheblich: während bei »Wer wird Millionär?« nach Niggemeier intellektuelle Thrillerfans vor dem Bildschirm sitzen, scheint das Publikum von »Gier« auf einfache Reize zu reagieren – der Ausdruck ›niedere Instinkte‹ assoziiert ein animalisches Verhalten. Der Autor mit dem Kürzel hpe bezeichnet die Titel von Nachfolgesendungen wie »Der Schwächste fliegt« und »Quiz 21 – das Duell Deines Lebens« als »vielsagend« (hpe, FAZ 27.3.2001), was im Kontext des Artikels die Shows fragwürdig und exzessiv erscheinen lässt. Eine Kritik an den Mechanismen des Fernsehmarktes deutet sich auch bei Zekri an: »Zuverlässig wie Warhols Suppendose generiert auch der RTL-Quoten-Gigant ›Wer wird Millionär?‹ immer neue Kopien« (Zekri, FAZ 30.1.2001). Die Nachahmung eines Erfolgsformates scheint ein wesentliches Kennzeichen der deutschen Fernsehproduktion zu sein. An dieser Praxis, die letztlich aus dem Senderkonkurrenzkampf folgt, sind den KritikerInnen nach nicht nur private Sender, sondern auch die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten beteiligt – Zekri führt hierfür die Beispiele »Quizshow« (Sat.1) und »Cash« (ZDF) an. Diese TV-Praxis stößt auch bei Niggemeier mehrfach auf Kritik. So betitelt Niggemeier seinen Artikel, in dem er sich mit dem Boom an Quizsendungen und Realityformaten beschäftigt, mit »Copy Shop« (Niggemeier, SZ 5.8.2000). Das Bemühen des Senders Sat.1, eine Kopie von »Wer wird Millionär?« auf den Markt zu bringen, macht Niggemeier an anderer Stelle lächerlich: »Erst schmollten sie, dann gingen sie zu den Endemols: ›Sowas wollen wir auch!‹« (Niggemeier, SZ 2.5.2000) Niggemeier charakterisiert den Konkurrenzkampf der Privaten als albernes, kindliches Trotzverhalten. Verniedlicht wird der Senderwettstreit auch bei Hoff (SZ 7.7.2000), der zu der »Quiz Show« (Sat.1) schreibt, sie sei gerade so weit abgewandelt, »dass sie den Zuschauern noch vertraut vorkommt, es aber für eine Ideen-Klau-Klage von RTL nicht reicht« (Hoff, SZ 7.7.2000). Ironisch wertet Hoff den Versuch des ZDF, sich an den Quizboom anzuhängen: »Alle Achtung vor dem ZDF! Kaum hat die derzeit grassierende Quizeritis […] ihren Höhepunkt überschritten, da preschen die Mainzer schon vor, bereit den Ratemarkt aufzurollen – natürlich mit einem Quiz. Für öffentlich-rechtliche Verhältnisse ist das atemberaubend schnell,

Der Diskursstrang »Wer wird Millionär?« in der Fernsehkritik | 261 und bedenkt man, dass die einstige Quiz-Großmacht ARD immer noch völlig ohne ernsthaftes Frage-Antwort-Spiel dasteht, wird deutlich, wie fix das ZDF reagiert hat« (Hoff, S Z 21.11.2000). Die Öffentlich-Rechtlichen scheinen im Senderwettkampf der Privaten nicht bestehen zu können: als zu langsam, zu unflexibel werden sie hier geschildert. Gleichzeitig zeigt Hoff an dieser Stelle, dass es sich bei der Quizsendung um ein ursprüngliches Vorzeigeformat der ARD handele – allerdings scheint die Sendeanstalt beim Sprung der Quizshows aus der Fernsehvergangenheit in die Gegenwart nicht mitgehalten zu haben. Hoff meint, es werde nicht nur das Konzept der RTL-Quizsendung im Zuge des Senderkonkurrenzkampfes kopiert, sondern auch der Moderator: »Pilawa sieht oft aus wie Jauch, der seine Entfaltungsmöglichkeiten genutzt hat, und versucht, genau wie sein Vorbild, den Höhepunkthinauszögerer zu spielen« (Hoff, SZ 7.7.2000). Zekri bringt noch einen neuen Gedanken in den Diskurs ein. Sie kritisiert, die »Spottpreise«, zu denen »Original und Kopie« produziert würden: »Der Reiz der neuen Formate liegt darin, dass sie zu Spottpreisen zu haben sind. Die Ratespiele werden in mehreren Teilen täglich en bloc produziert, und gegen hohe Gewinne sind die Sender versichert« (Zekri, FAZ 30.1.2001). Die Mechanismen des Fernsehmarktes stehen hier erneut in der Kritik. Allerdings stellt die Autorin hier keinen Industriebezug her, wie es in dem Diskursfragment zur Bewertung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« Praxis war, wenn auf die Produktionsbedingungen eingegangen wurde und man daneben den schematischen Aufbau von Soaps bemängelte. Insgesamt wird in dieser Unterargumentation des Diskurses deutlich, dass sich die Kritik gegen die aktuelle Situation auf dem Fernsehmarkt wendet, in der Erfolgsformate sofort von anderen Sendern kopiert werden. Im Gegensatz zur vorangegangenen, nicht sehr ausführlichen Argumentation, in der »Wer wird Millionär?« als eine Kopie unter vielen abgewertet wurde, wird die Show, als Original betrachtet, positiv bewertet. Wie bereits oben erwähnt, kommt hier der Diskurs um Authentizität von bzw. in Medien zum Tragen. Die Wertung der Kritik deutet dabei auf ein Bedürfnis nach dem Originalen, Echten hin, dem die gängige Praxis im Fernsehbereich dem Empfinden der Kritiker und Kritikerinnen nach entgegenläuft. Darin zeigen sich ebenfalls wieder Anklänge an den Diskurs der Kulturindustrie, wo die Reproduktion von erfolgreichen Produkten angegriffen wird (vgl. Horkheimer/Adorno 1998). Hierüber wendet sich die Kritik gegen die kommerzielle Ausrichtung der ProduzentInnen, denen es nicht um Kreativität, sondern vorrangig um Profit gehe. Man könnte hier ebenfalls wieder einen Bezug zu Benjamin sehen, wobei »Wer wird Millionär?« in die Rolle des reproduzierten Kunstwerks gerückt würde, dessen Kopien an Wert verloren hätten.4 Auch klingt hier 4 | Allerdings scheitern nach der Kritik die NachahmerInnen bereits an der

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wieder Kritik am ›private ownership‹-Diskurs an (Ang 1991), die bereits im Diskursstrang zu »GZSZ« in der Charakterisierung von RTL mitschwang. Wieder scheint es, dass die Vertreter und Vertreterinnen dem ›public service‹-Diskurs näher stehen. 4.2.2 Argumentationsstrang: »Wer wird Millionär?« als Ausdruck des Populären »Wer wird Millionär?« als populäre Inszenierung In der Beschreibung von »Wer wird Millionär?« klingt an einigen Stellen an, dass die Kritiker und Kritikerinnen die Show für genau arrangiert halten. So spricht Hoff vom »inszenierten« Quiz (Hoff, SZ 9.10.2000). Diese Charakterisierung erfolgt auf unterschiedliche Art und Weise. Elfferding, dessen Diskursfragment in dieser Unterargumentation eine zentrale Rolle spielt, betont, mit dem Hinweis auf eine besonders ›strikte Regie‹ ein bewusstes, genau festgelegtes Arrangement von »Wer wird Millionär?«. Die Inszeniertheit macht Elfferding zudem daran fest, dass andere populäre Genres in der Ausstattung der Quizsendung zitiert würden. Er charakterisiert die Kulisse als »Raumschiff« (Elfferding, SZ 4.4.2001) und stellt den Bezug zu Science-Fiction-Genres noch in weiteren Textstellen dar: »Was bedeutet es, so fragt man sich beim ersten Blick auf die Lokalität, dass die neuen Quizshows in Kommandozentralen vom Typ Raumschiff Enterprise oder, für ältere Leser, in so einer Art Weltmachtzentrale des Dr. No stattfinden, in die James Bond eindringen wird, um postwendend auf den Folterblock gespannt zu werden?« (Elfferding, S Z 4.4.2001) Er bezieht sich hier einmal auf eine Science-Fiction-Serie und verweist ›für die Älteren‹ auf die James Bond-Verfilmungen. Beide bestechen durch außergewöhnliche Ausstattungen, die häufig futuristisch angelegt sind. Elfferding hält demnach die Kulisse von »Wer wird Millionär?« für populärkulturell exzessiv. Er meint allgemein: »Diese Shows brauchen offenbar eine Filmkulisse, ein science-fiktionales Ambiente. Je populärer die Show, desto mehr tendiert die Ausstattung in dieser Richtung« (Elfferding, SZ 4.4.2001). Offenbar ist er der Ansicht, dass die Bezüge ein größeres Publikum anzögen. Zudem vertritt der Autor die Ansicht, dass durch die Ausstattung der Eindruck von Transparenz erzeugt werden soll, damit niemand auf die Idee komme, in dem Quiz werde betrogen: »[…] wie viel mehr also müssen die Millionenspiele darauf bedacht sein, auch nur den geringsten Zweifel daran, dass alles mit rechten Dingen zugeht, im Keim zu ersticken. Und welche Zeichensprache wäre besser geeignet, dies zu besorgen, als die der Computer und der Raumfahrt?« (Elfferding, S Z 4.4.2001) genauen Reproduktion des Originals, was bei Benjamin (1974) so nicht der Fall ist. Daher passt der Bezug nicht völlig.

Der Diskursstrang »Wer wird Millionär?« in der Fernsehkritik | 263 Offenbar assoziiert der Autor mit den Bereichen Computer und Raumfahrt Rationalität, Neutralität und technische Präzision, was das Publikum über die Kulisse mit »Wer wird Millionär?« assoziieren solle.5 Elfferding spricht hier von einem »astralem Bühnenbild«, womit der Bezug zum Theater und zur Inszenierung offensichtlich wird. Neben Elfferding stellt Ritter die Beziehung zum Science-Fiction-Genre her, wenn er von einem »künstlichen Arrangement, einer Arena für Sternenkrieger« spricht (Ritter, FAZ 15.4.2001). Die Kulisse wird hier als besonders futuristisch und modern aufgefasst. Dies veranlasst Zips, Makowsky und wiederum Elfferding zu ironischen Bemerkungen über die Stühle: bei Makowsky werden sie als »Barhocker« (Makowsky, SZ 20.2.2001) gesehen, bei Zips als »Zahnarztstuhl« (Zips, SZ 8./9.9.2001), während Elfferding »irgendetwas zwischen Zahnarztstuhl und Barhocker« (Elfferding, SZ 4.4.2001) annimmt. Die Stühle scheinen den Kritikern und Kritikerinnen besonders aufgefallen zu sein, wobei die Bezeichnungen sich nicht nur auf das moderne Design beziehen, sondern wohl auch die Spannungssituation der KandidatInnen in der Show andeuten sollen: zwischen der Qual auf dem Zahnarztstuhl und dem persönlichen Gespräch unter vier Augen, wie sie es in einer Bar erleben könnten. Neben den intertextuellen Bezügen zum Science Fiction spricht Elfferding mit dem Hinweis auf James Bond das Genre des Agententhrillers an. Er verweist noch mit weiteren Textstellen auf die Gattung des Thrillers oder Krimis, indem er auf Gestaltungsmittel wie einem »erbarmungslosen Zeittakt« hinweist (Elfferding, SZ 4.4.2001) sowie darauf, dass die Tonfolgen bei »Wer wird Millionär?« der Musik in »Serien oder Krimis« ähnele (ebd.), die »durchgehenden Puls im Bass« aufwiesen (ebd.). Hierüber solle »das Blut in Wallung« (ebd.) gebracht werden. Auch Niggemeier und Makowsky stellen über die Musik einen Bezug zum Thrillergenre her (Niggemeier, SZ 9.2.2000; Makowsky, SZ 20.2.2001). Elfferding spricht von »musikalische Klischees, die stereotyp eingesetzt werden, wenn ›Spannung‹, ›Achtung!‹ oder ›Aus!‹ bedeutet werden sollen« (Elfferding, SZ 4.4.2001). Mit den Klischees und der einhergehenden Minderbewertung klingen an dieser Stelle Kriterien wie bei Adorno und Horkheimer in ihren Ausführungen zur Kulturindustrie an (vgl. Horkheimer/Adorno 1998), was sich auch darin zeigt, wenn von einem »maschinellen Ablauf« die Rede ist (Elfferding, SZ 4.4.2001). Niggemeier sieht auch noch die Lichtregie als inszenierten Bezug zum Thriller: »Musik mit Herzschlag. Lichteffekte, aber im entscheidenden Moment ist alles dunkel bis auf die Gesichter der Protagonisten« (Niggemeier, SZ

5 | Elfferdings Bemerkungen kann man auch als Andeutung auf den amerikanischen Quizskandal verstehen, wo KandidatInnen vorab mit der richtigen Lösung präpariert worden waren, das Publikum also betrogen wurde. Vgl. den Abschnitt zur Genregeschichte von Quizsendungen in dieser Arbeit.

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9.2.2000). »Wer wird Millionär?« wird über den Bezug auf andere populäre Genres in eine populärkulturelle Tradition gestellt. Ohne Bezug auf Populäres stellt Kahlweit den inszenierten Charakter von »Wer wird Millionär?« heraus. In ihrem Beitrag beschreibt sie den Ablauf der Show am 11. September 2001. Darin sieht sie die Quizsendung im krassen Gegensatz zu den Geschehnissen der Außenwelt. »Wer wird Millionär?« wird bei der Autorin zur kleinen, inszenierten eigenen Welt, die nach eigenen Regeln verläuft und in der sich die Beteiligten nicht von den Terroranschlägen der Außenwelt beeinflussen lassen dürfen (Kahlweit, SZ 14.9.2001). »Wer wird Millionär?« wird in den Diskursfragmenten von Elfferding, Niggemeier und Makowsky mit populären Genres wie dem Thriller in Beziehung gesetzt. Alle drei sehen typische populäre Merkmale. Hierüber verorten sie die Quizsendung in einer populärkulturellen Tradition. Die Diskursfragmente machen zudem deutlich, wie polysem die Show offenbar durch die intertextuellen Bezüge bzw. Zitate für sie ist. Während Niggemeier sich auch als Fan populärkulturellen Vergnügens wie dem ›Mitfiebern‹ versteht, steht Elfferding dem populären, teilweise auch körperlichen Vergnügen skeptischer gegenüber, wobei der Diskurs um die ›Kulturindustrie‹, wie er insbesondere von Horkheimer und Adorno geführt wurde, mitschwingt. Populäres Wissen kontra traditionelle Bildung »Wer wird Millionär?« wird in den Diskursfragmenten dazu genutzt, um über Bildung zu debattieren und darüber, welche Inhalte für die Sendung wesentlich sind. Mehrere Kritiker und Kritikerinnen betonen, dass die Fragen unterschiedliche Wissensbereiche kombinieren: populäres Wissen, worunter in den Artikeln Fernsehinhalte gezählt werden, wird ebenso abgefragt, wie Inhalte des bildungsbürgerlichen Wissenskanons (Ritter, FAZ 15.4.2001; Keil, SZ 8.9.1999; Kämmerlings, FAZ 2.12.2000). Keil beschreibt die Inhalte wie folgt: »Es geht darum, sich durch 15 Fragen (solides Allgemeinwissen von Käpt’n Blaubart bis Gregor Mendel) zur Million vorzukämpfen […]« (Keil, SZ 8.9.1999). Unter Allgemeinwissen, das in der Show gefordert sei, versteht er hier eine Mischung von populärem Wissen und klassischen Inhalten: Käpt’n Blaubär, den er in seinem Artikel fälschlicherweise »Käpt’n Blaubart« nennt, ist eine Figur von Walter Moers, die sich mit Fernsehtexten, Film und Buch eher an Kinder richtet. Die Kenntnis der Mendelschen Vererbungslehre stellt klassisches Schulwissen dar. Auch Kämmerlings betont unterschiedliche Wissensformen bei »Wer wird Millionär?«. Er trennt allerdings ausdrücklicher zwischen einem traditionellen Wissen und populären TV-Inhalten, die er mit einer Frage zum Fernsehprogramm andeutet: »Wer prägte den Ausspruch ›Wissen ist Macht‹? War das A) Franz Alt? B) Francis Bacon C) Karl Schinkel oder D) Jürgen Rüttgers? Mit der richtigen Antwort B haben sie 32 000 Mark sicher. Die nächste Frage hat es dafür in sich: Wer moderierte gemeinsam mit Hugo Egon

Der Diskursstrang »Wer wird Millionär?« in der Fernsehkritik | 265 Balder die RTL-Show ›Alles Nichts. Oder!?‹? War das A) Hartmut von Hentig B) Alexa Hennig von Lange C) Peter von Matt oder D) Hella von Sinnen? Den Joker bitte!« (Kämmerlings, F A Z 2.12.2000) Der Autor hebt starke Unterschiede zwischen den Wissensbereichen hervor. Zudem stuft er die zweite, populäre Frage als besonders schwierig ein und ordnet sich selbst damit dem traditionellen, intellektuellen Wissensbereich zu. Breites Wissen hebt er bei Harald Schmidt hervor, wobei er dessen Kenntnisse über die aktuelle Musikszene (›die Söhne Mannheims‹) sowie aus dem Literaturbereich (»die Todesarten berühmter Schriftsteller«) betont. Lediglich im Arabischen habe Schmidt letztlich versagt (vgl. ebd.). Daneben stellt Kämmerlings kindliche Wissensinhalte und erneut TV-Wissen als populäres Wissen heraus und zeigt am Fallbeispiel einer Kandidatin deutlich, dass er das klassische Wissen dem populären überordnet: »Erstmals ins Schwimmen kam sie bei dem Hilfsmittel Ariadnes, das Theseus aus dem Labyrinth half. War es nicht vielleicht doch ein Kreidestück?« (Kämmerlings, FAZ 2.12.2000) Der Autor führt hier seine eigenen Kenntnisse der griechischen Mythologie vor und wertet die Kandidatin geradezu arrogant ab. Görtz zeichnet in seinem Artikel die Fragerunde nach, in der die Kandidatin Marlene Grabherr die zweite Million der Show gewonnen hat. Wieder tauchen Bereiche aus dem Kinderwissen zu einem Fernsehtext auf, wie mit der Frage nach dem König der ›Erdmännchen‹, der in der Augsburger Puppenkiste zu Hause ist. Der Autor meint, das Typische an dieser Art von populärem Wissen sei, dass man keinerlei Vorbildung benötige – »auswendig lernen wie Lateinvokabeln kann man solche Dinge nicht« (Görtz, FAZ 22.5.2001). Lediglich müsse man zur richtigen Zeit als Kind Fernsehen geschaut haben. Görtz stellt hier den Bezug zur Lebenswelt der ZuschauerInnen her. Er vergleicht dieses Wissen mit dem über Fußball (Görtz, FAZ 22.5.2001). Nur an einer Stelle bezieht er sich auf eine Frage nach dem Islam, die nicht populärem Wissen zuzurechnen ist. Insgesamt herrscht populäres Wissen damit nach Görtz bei »Wer wird Millionär?« vor und führe zur Million. Es verwundert nicht, dass er mit der Anspielung auf Fußball einen Bereich auswählt, der einerseits ein populärkulturelles Vergnügen par excellence darstellt und bei dem andererseits viele Fans über ein sehr großes Fachwissen zu Mannschaften, Meisterschaften, Spielern etc. verfügen. Der Autor mit dem Kürzel rea betont stärker den Witz der Antwortmöglichkeiten, die häufig Wortspiele oder Offensichtliches beinhalten: »›Wer waren die früheren Herrscher Mexikos? Waren es Azubis, Azurris, Azoren oder Azteken?‹« (rea, FAZ 3.9.2000) Die Mischung von populärem und klassischem Wissen führt Ritter als Begründung dafür an, dass bei Quizsendungen keine Bildungsinhalte vermittelt würden. Der Autor meint, dass sich in Quizshows die Alltagserfahrung widerspiegele, mit dem Wissen, das man direkt verfügbar hat, zurechtzukommen (vgl. Ritter, FAZ 15.4.2001). Ähnlich argumentiert

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auch Reents, der meint, dass nicht klassische Bildung, sondern populäres Wissen für den Alltag entscheidend sei: »Um mitreden zu können, muss man sich anderswo auskennen als in Stadt-Land-Fluss-Angelegenheiten. Hinter dem Mond lebt nicht, wer Shakespeare nicht kennt, sondern wer noch nichts von Boris und Barbara Beckers Trennung mitbekommen hat« (Reents, S Z 9.12.2000). »Faktenwissen«, das häufig als Allgemeinbildung gilt, habe nichts mit Intelligenz zu tun (ebd.). Für »Wer wird Millionär?« sei populäres Wissen unerlässlich: »Andererseits kann einer mit gelehrten Zitaten noch so um sich schmeißen – wenn er nicht weiß, dass Verona Feldbusch kein Engel für Charlie ist, kann er nicht Quizkönig werden« (ebd.). Bildung sei heute nicht mehr Voraussetzung für gesellschaftliches Ansehen. Reents spielt mit dem Shakespeare-Bezog oben auch auf »Big Brother« an, wo der Teilnehmer »Zlatko« Kultstatus erlangte, als deutlich wurde, dass ihm der Name Shakespeare nicht geläufig war (ebd.). Selbstbewusster Verzicht auf Bildung und ironische Selbstreflexion des eigenen Unwissens würden heute belohnt, wie auch an einem Auftritt von Verona Feldbusch bei Harald Schmidt deutlich geworden sei, die vor laufender Kamera zwei und drei zu fünf richtig addierte »und für diesen so selbstbewussten wie ironischen Zug Applaus bekam« (Reents, SZ 9.12.2000). Reents zieht hier von »Wer wird Millionär?« Schlüsse auf ein verändertes gesellschaftliches Bewusstsein. Bildung habe danach einen anderen Stellenwert erhalten, sei nicht mehr essentiell für gesellschaftliche Reputation. Es existiere auch kein »Bildungskanon« mehr. Selbstironie und Spiel mit dem Image als Ungebildete lassen Verona Feldbusch danach zum Star werden – wohlgemerkt zu einem Pop-Star. Gegen eine Bedeutung von populären Inhalten äußert sich Zips, der diese bei »Wer wird Millionär?« als banal verurteilt (Zips, SZ 8./9.9.2001). Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen schließt Elfferding wie oben Reents in seine Überlegungen mit ein. Er sieht den gleichen Wandel bezüglich des Wertes ›Bildung‹, bewertet dies jedoch negativ: »Gewiss, die Million hat der Professor geholt. Das verleitet dazu, das Millionenspiel als Rückkehr des Bildungsbürgertums zu feiern. Die deutsche Hierarchie stimmt noch. Sie stimmt eben nicht: Die Sendung beweist gerade das Gegenteil – dass alle, und nicht nur der Professor, erfolgreich sein können« (Elfferding, S Z 4.4.2001). Empört wehrt sich Elfferding in seinem Artikel dagegen, »Wer wird Millionär?« als Bildungssendung zu verstehen (ebd.). Der Bezug von »Wer wird Millionär?« auf gesellschaftliche Bedingungen scheint nahe zu liegen, denn auch Ritter stellt ihn her. Er interpretiert den gesellschaftlichen Wandel als Zeichen der »Informationsgesellschaft«, für die ein »Überschuss an diffusen und ungenutzten Kenntnissen« typisch sei (Ritter, FAZ 15.4.2001). Die Fülle an populären Kenntnissen erkläre sich folgendermaßen:

Der Diskursstrang »Wer wird Millionär?« in der Fernsehkritik | 267 »Denn den Wilhelm Tell, der nun gerade nicht zu den ›Bringern‹ gehört, hat man nur einmal gelesen, in der Schule vor vielen Jahren, während all das, was man im Fernsehen immer wieder hört und sieht, in der Regel nicht nur einmal vorkommt, sondern immer wieder, ob man will oder nicht« (ebd.). Populäres Wissen ist bei Ritter demnach nutzloses Wissen aus dem Fernsehen. Die Kritiker und Kritikerinnen begreifen die Mischung von populärem Wissen und klassischen Bildungsfragen insgesamt als typisches Merkmal von »Wer wird Millionär?«. In der Bewertung dessen gehen ihre Meinungen auseinander. An diesen Stellen kommt einerseits die Frage zum Tragen, welche Art des Wissens sie persönlich für gesellschaftlich relevant halten und ob sie den klassischen bildungsbürgerlichen Werten verhaftet sind. Hier fällt beispielsweise Kämmerlings auf, der das populäre Fernsehwissen bei »Wer wird Millionär?« für zu dominant hält und ironisch meint: »Doch nicht jeder, der auf sein Oberstübchen hält, wird dort Namen wie Katy Karrenbauer oder Peter Kloeppel gespeichert haben. Dass dies selbst eine Bildungslücke ist, wollte diese Sendung zeigen« (Kämmerlings, FAZ 2.12.2000). Ebenso äußert sich Kaspar kritisch, bezieht sich jedoch auf Quizsendungen allgemein: »Der Wissenskanon, den die Shows ins Spiel bringen, wirkt egalitär, denn er umfasst potentiell nicht allein ›alles, was man wissen muss‹, wenn man sich an einen hartnäckigen Bestseller hält, sondern ausdrücklich auch vieles von dem, was der Gebildete laut der dort aufgefrischten Tradition ›nicht wissen sollte‹. Wer anderswo mit ungebetenen Sportkommentaren oder wortreicher Technikbegeisterung aneckt, kann hier über den weltfremden Akademiker triumphieren« (Kaspar, F A Z 2.5.2001). Kaspar geht von einer Hierarchie zwischen populärem und bildungsbürgerlichem Wissen aus und interpretiert Quizshows als Ort, an dem Leute ohne klassische Bildung die gebildeten AkademikerInnen schlagen könnten. Ob sein Zitat ironisch gemeint ist, kann nicht eindeutig geklärt werden. Es fällt insgesamt auf, dass vielfach Wissensgebiete aus dem Fernsehen, der Boulevardpresse oder Kinderwissen einem traditionell akademischem Wissen gegenübergestellt werden, für das eine Vorbildung nötig sei. Dabei wird immer wieder der Bezug zum Alltag der Rezipierenden hergestellt, in dem das erstgenannte, populäre Wissen überwiege und teilweise brauchbarer sei. In dieser Unterargumentation laufen Diskurse zusammen, wie der Diskurs darum, was Bildungswerte seien und welches Wissen im Alltag relevant sei. Zudem kommt an dieser Stelle der Diskurs zum gesellschaftlichen Stellenwert von Bildung zum Ausdruck, der gerade auch durch Medienstars wie Zlatko oder Verona Feldbusch belebt wird, die ihr Image als ›Dummchen‹ geschickt zu ironisieren (und zu vermarkten) versteht.

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4.3 Zweiter Fokus: Die Produzenten Als zweiter inhaltlicher Schwerpunkt der Fernsehkritik wird die Bewertung der Produzenten erläutert, zu denen hier RTL gezählt wird – als Auftraggeber für die Produktion und ausstrahlendem Sender – und der Endemol-Konzern als ausführende Produktionsfirma. Der Blick der Kritik fällt hier gegenüber den anderen zentralen inhaltlichen Momenten wesentlich weniger umfangreich aus. Auffallend ist, wie eindimensional RTL und Endemol beschrieben werden. So wurde ein Argumentationsstrang (1) ›Kein gutes Haar an den Produzenten‹ ausgemacht, die den Beschreibungen beider Unternehmen übergeordnet ist. Als Unterargumentationen wurde zum einen ›RTL im Quotenrausch‹ herausgefiltert, wobei der Sender vor allem aufgrund seiner privatwirtschaftlichen Organisation angegriffen wird, und zum anderen die Charakterisierung von Endemol als ›Marktmacht‹ und damit als Ausdruck fortschreitender Konzentration im Rundfunkbereich. Insgesamt werden also beide von der Fernsehkritik überwiegend negativ charakterisiert. 4.3.1 Argumentationsstrang: Kein gutes Haar an den Produzenten RTL im ›Quotenrausch‹ In dem Diskursstrang zu »Wer wird Millionär?« hat RTL keinen guten Stand. Beispielsweise deutet die Abwertung des RTL-Publikums auf Ressentiments gegenüber dem Sender hin: »Am nächsten Wochenende werden gleich mehrere Vorurteile auf die Probe gestellt: beispielsweise die verbreitete Meinung, dass Blondinen dümmer sind als der Rest der Menschheit. Oder die naheliegende Vermutung, dass der RTL-Zuschauer mit weniger Verstandeskraft gesegnet ist als der Durchschnitt der Bevölkerung« (Meuren, F A Z 2.9.2001). RTL gilt als Sender, der keine intellektuell hochwertigen Programminhalte verbreite, sondern unter anderem an die »Schadenfreude« seiner ZuschauerInnen appelliere (Reents, FAZ 30.5.2001). In die gleiche Richtung zielt Keil mit der Bezeichnung des Privatsenders als »Powersender RTL, zwischen Werbeinsel und Erotikthriller« (Keil, SZ 8.11.2000). Alle drei Diskursfragmente offenbaren tief verankerte Abneigungen gegenüber RTL, wobei man auf die kommerzielle Ausrichtung und die vermeintlich anspruchslosen exzessiven Programminhalte abstellt. Diese Haltung steht der positiven Bewertung der Sendung sowie der Einschätzung Jauchs gegenüber, der häufig gesondert von RTL betrachtet wird: »Die Leute in den Wohnzimmern wollen Jauch-TV, was mit RTL nichts zu tun hat« (Keil, SZ 31.12.2001).6 Vor allem der Aspekt des Kommerziellen wird bei RTL, dem »werbe6 | Siehe auch Reents, FAZ 30.5.2001, der meint, dass sich Jauch nicht mit RTL identifiziere.

Der Diskursstrang »Wer wird Millionär?« in der Fernsehkritik | 269 finanzierten Sender« (hpe, FAZ 27.3.2001) in Bezug auf »Wer wird Millionär?« kritisiert. Hier wird die Quizsendung als Format dargestellt, das für den Sender aufgrund der geringen Produktionskosten und der hohen Werbeeinnahmen optimal ist. Der RTL-Geschäftsführer Zeiler wird mit der Aussage zitiert, die Sendung verkörpere ein »›perfektes Format mit einem perfekten Moderator‹ und vor allem mit perfekten Einschaltquoten« (Olbert, FAZ 27.3.2001). Hinter dem Interesse an der Qualität des Formates stehe also immer das Gewinnstreben des Senders. Der Autor kommentiert dies sarkastisch: »Lauter saubere und anständige Zeitgenossen sind das, die RTL eine Rekordbilanz mit einem Gewinn von 497 Millionen Mark bescheren, nach dem Motto: ›Wir haben uns Großes vorgenommen und haben mehr erreicht‹« (ebd.). Dass sich RTL nur nach dem Profit richte, wird auch von Keil angedeutet, wenn er meint, dass »Wer wird Millionär?« von RTL natürlich »totgesendet« werde – es sei im Fernsehen gängige Praxis, so mit einem Erfolgsformat umzugehen (vgl. Keil, SZ 31.12.2001). Niggemeier meint: »RTL erliegt der Versuchung, ›Wer wird Millionär?‹ nicht nur als Highlight ein paar Mal im Jahr zu programmieren« (Niggemeier, SZ 5.8.2000). Profitorientierung stehe danach dem ›behutsamen‹, maßvollen Umgang mit erfolgreichen Produktionen entgegen, Überdruss sei auf diese Weise beim Publikum vorprogrammiert. Gleichzeitig wird damit das Senden von Immergleichem kritisiert (siehe auch Zekri, FAZ 30.1.2001), also die Vereinheitlichung des Programms, der Rückgang von vielfältigen Formaten. Dies klingt auch bei Niggemeier an, der bemängelt, das Fernsehprogramm bestehe aus »Reality, Reality, Reality, Quiz, Comedy und Reality« (Niggemeier, SZ 5.8.2000). Die Gewinnausrichtung wird auch von Zekri kritisiert, wobei sie sich zu Quizsendungen allgemein sowie zu Reality-Formaten äußert und die große Gewinnspanne zwischen Produktionskosten und Einnahmen angreift: »Zu Fernsehfilmen oder anspruchsvollen Serien verhalten sich diese Budgets wie eine Aldi-Tüte zum Prada-Beutel« (Zekri, FAZ 30.1.2001). Quizshows stehen für sie sowohl in preislicher als auch in qualitativer Hinsicht im Gegensatz zu Fernsehfilmen. Deutlicher wird sie noch, wenn es heißt: »Nun lassen sich Quizfragen und ›Container-Gefummel‹ zwar nicht recyclen, doch macht allein die schiere Masse der Ramsch-Produktionen der Fiktion Konkurrenz« (Zekri, FAZ 30.1.2001). Zekri kommt hier auf die Massenproduktion von Quizformaten zu sprechen und wertet sie hierüber und über die Verbindung mit Reality-Formaten ab (Zekri, FAZ 30.1.2001). Wie bereits oben an anderer Stelle erwähnt, fällt hier auf, dass die Autorin zwar die Massenproduktion von Quizsendungen hervorhebt, jedoch keinen Industriebezug herstellt, wie es bei »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« häufig der Fall war. Die kommerzielle Orientierung zeige sich bei RTL in einer Präferenz des Auffälligen, wonach sich auch die Auswahl der Teilnehmenden richte. »Damit die Rechnung auch für den Sender aufgeht, braucht es Kandidaten, für die der Zuschauer sich interessiert, die dafür sorgen, dass auch

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morgen noch 12 Millionen kraftvoll zuschauen« (Krömer, SZ 21.12.2000). In diesem Zitat spielt Krömer auf eine bekannte Zahnpasta-Werbung an, die vor Jahren im deutschen Fernsehen gezeigt wurde. Damit referiert er erneut auf die Werbefinanzierung von RTL. Deutlicher wird noch Zips, der den Auftritt einer Kandidatin kommentiert, die bei »Wer wird Millionär?« über ihre Arbeit in einem Swingerclub redete: »RTL hatte Glück mit Frau Weidinger. Die Fernsehleute waren so begeistert, dass sie auf einen Werbeblock verzichteten – nur, um nichts von dem quotenbringenden Wortwechsel herausschneiden zu müssen« (Zips, SZ 8./9.9.2001). »Wer wird Millionär?« gerät in den Diskursfragmenten zum einmaligen Erfolg für RTL, der auch die Unternehmenspolitik maßgeblich bestimme, da der Sender sich durch den Erfolg der Quizsendung anregen ließe, in anderen Geschäftsbereichen zu expandieren und neue Formate auf den Markt zu bringen (hpe, FAZ 27.3.2001). RTL trudele im »Quizund Quotenrausch« und vernachlässige die Produktion von fiktionalen Formaten (Zekri, FAZ 30.1.2001). Nicht nur die Sendung »Wer wird Millionär?« wird bei RTL als Erfolgsprodukt gesehen, sondern vor allem auch Günther Jauch wird von der Kritik als Mittel wahrgenommen, das von RTL auf der Jagd nach Einschaltquoten eingesetzt wird, man zählt auf die »Jauch-Begeisterung« (Kahlweit, SZ 14.9.2001; siehe auch: Zekri, FAZ 30.1.2001; Meuren, FAZ 2.9.2001). Das Verhältnis von RTL und Jauch wird als enge Verbindung charakterisiert (Hanfeld, FAZ 9.10.2000), wobei sich RTL von dem Moderator abhängig mache (siehe Zekri, FAZ 30.1.2001; Keil, SZ 31.12.2001). Der Erfolg mit »Wer wird Millionär?« wird lediglich an zwei Stellen in den untersuchten Kritiken für RTL positiv gewertet. Zum einen bei Meuren, der bezüglich des »Großen IQ-Tests« formuliert: »Nachdem RTL mit dem Start der Quiz-Sendung ›Wer wird Millionär?‹ am 3. August 1999 einen Boom der Wissens-Shows ausgelöst hat, sorgt der Sender nun für ein Novum in der deutschen Fernsehgeschichte« (Meuren, FAZ 2.9.2001). Zum anderen wertet Niggemeier RTL auf, der den Erfolg mit folgender Aussage legitimiert: »Es gibt wenige Erfolge, die man RTL uneingeschränkt gönnen kann. Dieser gehört dazu« (Niggemeier, SZ 9.2.2000). Die Aussage impliziert natürlich, dass RTL außer »Wer wird Millionär?« keine Qualitätsunterhaltung biete und eigentlich abzuwerten sei. Diese Unterargumentation macht deutlich, dass die Kritik dem privatwirtschaftlichen Rundfunk skeptisch gegenübersteht. RTL wird ein minderwertiges Programm bescheinigt, das ausschließlich nach kommerziellen Gesichtspunkten gestaltet werde. Erneut spielt hier der Diskurs um Rundfunk als ›public service‹ oder als ›private ownership‹ (vgl. Ang 1991) in die Bewertung von »Wer wird Millionär?« mit hinein.

Der Diskursstrang »Wer wird Millionär?« in der Fernsehkritik | 271 Marktmacht Endemol »Die Endemols hatten in England eine wunderbare Show entdeckt, ein Quiz, perfekter und geldschwerer als je zuvor, und es an RTL als Wer wird Millionär? verkauft« (Niggemeier, SZ 2.5.2000). Als Produktionsfirma von »Wer wird Millionär?« wird auch das Unternehmen Endemol in dem Diskursstrang betrachtet. Ähnlich wie RTL wird Endemol eher negativ eingeschätzt. Ein Grund dafür ist sicherlich die Kritik an der Konzentration im Rundfunkbereich, die unter anderem bei Zekri angesprochen wird: »Und auf dem internationalen Markt der Lizenzen können ohnehin nur die Großen mitbieten. So werden wir dank Quiz und Reality-TV am Ende dieses Jahres auf eine noch stärker konzentrierte, noch enger verflochtene Produktionslandschaft blicken, die dem Zuschauer kaum mehr Vielfalt bescheren dürfte« (Zekri, F A Z 30.1.2001). Sie fürchtet hier die Vereinheitlichung des Programms und kritisiert, dass Quizsendungen allgemein die Machtkonzentration weiter begünstigt hätten. Zu jenen wenigen Großen auf dem Fernsehmarkt gehört ohne Zweifel auch das Endemol-Unternehmen, das vor »Wer wird Millionär?« als Produzent von »Traumhochzeit« (RTL) und der umstrittenen Real Life Soap »Big Brother« (RTL 2) bekannt wurde. »Während Zuschauer und Erzähler auf Diät gesetzt werden, mästet der Show-Markt seine dicksten Kinder. Big-Brother-Erfinder Endemol wird gewiss noch (umfang)reicher werden« (Zekri, FAZ 30.1.2001). Die Macht des Konzerns wird außer von Zekri zweifach im Rahmen der Verleihung des Deutschen Fernsehpreises thematisiert und an der Person des Chefs, John de Mol, festgemacht. Hoff schreibt: »Er (K.G.: Dirk Bach) bringt den in der ersten Reihe präsidierenden John de Mol zum Lachen, als er die Big-Brother-Nominierung ›als weiteren Schritt von John de Mol zur Weltherrschaft‹ einordnet. So etwas ist in solch einem Rahmen lustiger als anderswo, und es bleibt fast unbemerkt, dass dem so zweifelhaft Geehrtem das Lachen irgendwo mittendrin abstirbt. Mächtige lachen besser nicht zu lange über sich selbst« (Hoff, S Z 9.10.2000). De Mol wird hier als Herrscher charakterisiert. Sein Einfluss zeige sich nach Hoff auch bei der Preisverleihung, wenn statt der öffentlich-rechtlichen Sendung »Zimmer frei« das private Format »Wer wird Millionär?« prämiert werde (Hoff, SZ 9.10.2000). Hoff verbreitet hier eine skeptische Einschätzung des Fernsehmarktes und zweifelt die Unabhängigkeit der Jury und der Beteiligten an. Hanfeld illustriert seine ebenso kritische Einschätzung der Fernsehlandschaft mittels einer Anekdote: »Und schließlich gelang es sogar dem Moderator Kai Pflaume darzulegen, worum sich es bei dieser Art Fernsehen wirklich handelt. Auf seine Preisfrage nämlich, in welcher Maßeinheit in diesem Land der holländische Medieneinfluss gemessen wird, entschied sich John de Mol, der

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Produzent von ›Big Brother‹, nicht für die Antwort ›Carell‹ (was richtig gewesen wäre), sondern für ›Kartell‹ (was im eigentlichen Sinne stimmt)« (Hanfeld, F A Z 9.10.2000). Neben der Kritik an der Machtkonzentration des Endemol-Konzerns sowie der zunehmenden Konzentration im Rundfunkbereich allgemein, die hier mitschwingt, richtet sich das Zitat gegen einen niederländischen Einfluss im deutschen Fernsehen. Eine Beeinflussung von außen wird damit angegriffen. Dass gerade die Verleihung des Deutschen Fernsehpreises so stark kritisiert wird, lässt sich damit begründen, dass die Fernsehkritik sich selbst und ihre Kriterien als einflusslos erfährt. Wertschätzung erfolgt nach ihrer Ansicht nicht mehr aufgrund von ästhetischen oder ähnlichen Kriterien, sondern aufgrund der Macht von ProduzentInnen. Bei Niggemeier steht weniger der Einfluss des Endemol-Unternehmens im Zentrum als vielmehr die Tätigkeit auf dem Fernsehmarkt: Er spricht von den »Endemols« und impliziert damit familiäre Strukturen bei dem Unternehmen sowie eine monopolistische Aufteilung des Fernsehmarktes (Niggemeier, SZ 2.5.2000). Niggemeier stellt in seinem Beitrag Endemol als geschäftstüchtigen Händler in den Vordergrund und fügt dem Diskursstrang damit eine etwas andere Charakterisierung des Konzerns hinzu. Insgesamt macht der Autor das Handeln auf dem Fernsehmarkt lächerlich, wie oben bereits erwähnt wurde: »Die Produktionsleute zögerten. Sie wollten es sich nicht mit RTL verscherzen. Sie wollten aber auch mit Sat.1 ins Geschäft kommen. Und dass das Gequengel aufhört. Deshalb dachten sie nach« (Niggemeier, SZ 2.5.2000). Endemol wirkt hier wie der ›lachende Dritte‹, der mit allen Seiten Geschäfte macht, und in jedem Fall bei dem Konkurrenzkampf der Sender als Gewinner dasteht. Insgesamt verkörpert Endemol für die meisten hier aufgeführten Kritiker und Kritikerinnen die monopolistische Machtkonzentration im Rundfunkbereich, die an der Person John de Mol festgemacht wird. Gegenüber dem Diskursstrang zu »GZSZ«, wo die Macht des Bertelsmann-Konzerns angegriffen wurde, steht bei Endemol also weniger ein Systemgedanke im Vordergrund, wie es bei dem Gütersloher Unternehmen der Fall war, sondern die Vorstellung eines ›Patriarchen‹, der sein Unternehmen führt. De Mols Macht reiche sogar bis in vermeintlich unabhängige Preisverleihungen hinein. Das niederländische Unternehmen Endemol wird als Störfaktor der deutschen Fernsehlandschaft charakterisiert, der das Niveau negativ beeinflusse. In dieser Unterargumentation kommt der Diskurs um Konzentrationsprozesse im Rundfunkbereich deutlich zum Vorschein. Außerdem klingt der Diskurs um die Internationalisierung des Fernsehmarktes an.

Der Diskursstrang »Wer wird Millionär?« in der Fernsehkritik | 273

4.4 Dritter Fokus: Der Moderator Günther Jauch Als drittes wird erläutert, wie Günther Jauch als Moderator der Show von der Kritik charakterisiert und bewertet wird. Die Kritikerinnen und Kritiker greifen dazu mehrere Aspekte auf: Jauchs Engagement in der Show und in anderen Projekten, seine journalistische Laufbahn, die Arbeit im Unterhaltungsbereich, Kompetenzen, die ihm zugeschrieben werden sowie teilweise sein familiärer Hintergrund. Außerdem gilt die Aufmerksamkeit der Kritik Jauchs Image, also auch Charaktereigenschaften, die man ihm zuschreibt, der finanziellen Seite seines Berufs und der Art und Weise, wie er in seiner Funktion als Moderator mit den Kandidatinnen und Kandidaten umgeht. Günther Jauch wird somit am umfangreichsten im Diskursstrang besprochen. Dies schlägt sich auch in der Anzahl der Argumentationsstränge und Unterargumentationen nieder, die herausgearbeitet werden konnten. Es kristallisierten sich insgesamt drei Argumentationsstränge heraus: Zunächst wird Jauch im ersten Argumentationsstrang (1) als (Ausnahme-) ›Phänomen‹ in der Fernsehlandschaft charakterisiert. Dazu ergaben sich erneut zwei Unterargumentationen: Zum einen stellte man Jauch als unschlagbaren ›Terminator‹ im Quotenkampf dar, zum anderen beschreiben ihn die Kritiker und Kritikerinnen als ›Saubermann‹ ohne Makel. Gegenläufiges findet sich hierzu in dem zweiten analysierten Argumentationsstrang (2) zu Jauch, in dem die AutorInnen ›Schatten auf der weißen Weste‹ im Rahmen von zwei Unterargumentationen ausmachen. Hier werden einerseits seine Beziehung zum Kommerziellen thematisiert und andererseits der Umgang mit den KandidatInnen angesprochen, der sich als ›Machtmissbrauch‹ darstellt. Daneben konnte noch ein weiterer Argumentationsstrang (3) herausgearbeitet werden, in dem die AutorInnen den Moderator zwischen den Polen Unterhaltung und Information stehend beschreiben. Hierunter wurden zwei Unterargumentationen sichtbar, die sich einerseits mit Jauch als ›Unterhaltungsprofi‹ auseinander setzen und andererseits seinen journalistischen Hintergrund beleuchten. 4.4.1 Argumentationsstrang: Das Phänomen Jauch ›Der Terminator‹ – Jauch im Quotenkampf Günther Jauch wird in den Diskursfragmenten zu »Wer wird Millionär?« häufig erwähnt. Dabei überwiegt die Begeisterung für den Quizmaster – Niggemeier stilisiert ihn sogar zum idealen Moderator (Niggemeier, SZ 30.1.2001). An einigen Stellen wird »Wer wird Millionär?« zu Jauchs – ›seiner‹ – Show erklärt, also über ihn definiert (z.B. Meuren, FAZ 2.9.2001; Ritter, FAZ 15.4.2001; jöt, FAZ 7.6.2001; Makowsky, SZ 20.2.2001). Der Autor mit dem Kürzel rea spricht beispielsweise von der »Jauchschen Rätselrunde« (rea, FAZ 3.9.2000) und Ott nennt die Show »Jauchs Quotenhit« (Ott, SZ, 8.2.2001). Tage, an denen »Wer wird Millionär?« ausgestrahlt wird, werden zu »Jauch-Tagen« erklärt (Zekri, FAZ

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30.1.2001). Selten wird neutraler formuliert als die »von Günther Jauch moderierte Quizsendung« (hpe, FAZ 27.3.2001; ähnlich: dpa, FAZ 16.9.2001). Der Erfolg der Show wird vielfach ihm zugeschrieben (z.B. Hoff, SZ 7.7.2000) und als Ausnahmeerscheinung oder – besser gesagt – als Ausnahmeleistung begriffen. Meuren spricht vom »gigantischen Erfolg« (Meuren, FAZ 2.9.2001), Keil und Hoff betonen die Millionenquoten (Keil, SZ 8.11.2000; Hoff, SZ 7.7.2000), Kämmerlings hebt hervor, dass sich Jauchs Sendung »am Übertreffen von Quotenvorgaben« messe (Kämmerlings, FAZ 2.12.2000). Bei Keil (SZ 31.12.2001) und dem Autor mit dem Kürzel rea wird Jauch für den Quizboom verantwortlich gemacht: »Damit konnte Günther Jauch den TV-Dinosaurier, der seit ›Einer wird gewinnen‹ vor sich hin dämmerte, erfolgreich reanimieren« (rea, FAZ, 3.9.2000). Jauchs Erfolg wird vor allem im Kontext des Senderkonkurrenzkampfes betrachtet. Eine Überschrift wie »Der Terminator kehrt zurück« (Hanfeld, FAZ 8.9.2001) wirft ein eindeutiges Licht darauf, welche Bedeutung Jauch im Kampf um Einschaltquoten beigemessen wird: »Terminator« ist eine Filmfigur aus dem gleichnamigen Science-Fiction-Film von James Cameron. Bei der Figur handelt es sich um eine »Killer-Maschine aus der Zukunft«, einen »unbarmherzigen Feind, der ›nicht zu stoppen ist‹«, wie es in den ›Spielfilmtipps zum Wochenende‹ der SZ (5./6.10.2002) heißt. Wenn Jauch zum ›Terminator‹ gemacht wird, so sieht man ihn als übermächtigen Gegner für andere Sender, der im Quotenkampf nicht bezwungen werden kann (vgl. Zekri, FAZ 30.1.2001) – der Bezug zum ›Terminator‹ charakterisiert zudem den Erfolg von Jauch mit »Wer wird Millionär?« als exzessiv und so übersteigert, dass er eigentlich in einem Actionfilm zu verorten wäre. Jauch wird in dieser Weise von der Kritik zur persönlichen Bedrohung für die Quoten anderer Sender stilisiert. Bei Keil wird er zum »Quotenmann« (SZ 8.11.2000), bei Hanfeld gar zum »Quotengott« (FAZ 8.9.2001). Von Jauchs Erfolg sei auch das ZDF und sein eigentlich traditionell sehr erfolgreicher Fernsehfilm betroffen (jöt, FAZ 20.7.2001): »Es mag dies der Tag gewesen sein, in dem der ZDF-Fernsehspielchef Hans Janke gern die Zeit angehalten hätte. Die Zeit aber läuft weiter – und bald kehrt Günther Jauch aus dem Urlaub zurück und fährt fort damit, Janke die Früchte seiner Arbeit zu rauben« (jöt, F A Z 20.7.2001). Jauch wird in dem Beitrag zum persönlichen Albtraum für Janke stilisiert – hier wird der Senderkonkurrenzkampf zwischen Privaten und Öffentlich-Rechtlichen mit Jauch und Janke personalisiert. Daneben konkurrieren an dieser Stelle zwei unterschiedliche Genres miteinander, Quiz und Fernsehfilm, und damit nonfiktionale Quizsendung und Fiktion. Der Konkurrenzkampf mit dem ZDF wird noch von einem weiteren Autor personalisiert. Die »Top-Quoten« von »Wer wird Millionär?« hätten Jauch zum Konkurrenten von Thomas Gottschalk gemacht (Keil, SZ 31.12.2001). Bei Ott führt »Jauchs Quizshow« bei der ARD sogar zu der Erkenntnis,

Der Diskursstrang »Wer wird Millionär?« in der Fernsehkritik | 275 dass »sie auf diesem Gebiet nicht mehr viel zu bestellen hat« (Ott, SZ, 8.2.2001). Doch nicht nur die öffentlich-rechtlichen Programme scheinen keine Chance gegen Jauch zu haben. Zekri schreibt, dass Sat.1 zu den Sendezeiten von »Wer wird Millionär?« günstige Formate sende, »weil teure Serien an Jauch-Tagen untergehen«. RTL 2 ›locke‹ nur an Tagen ohne »Wer wird Millionär?« mit ›Multi-Millionär‹ (vgl. Zekri, FAZ 30.1.2001). Die Sender richteten also ihre Programmplanung danach aus, ob Jauch an diesem Tag auf Sendung sei oder nicht. In die gleiche Richtung argumentiert der Autor mit dem Kürzel nr, der eine Bedrohung für das Werbegeschäft von »Ran« bei Sat.1 sieht, sobald RTL plane, »Wer wird Millionär?« auch samstags auszustrahlen (nr, FAZ 4.8.2001). Der Erfolg wird also direkt an die Person Jauch geknüpft und scheint darüber hinaus nicht auf das Format »Wer wird Millionär?« beschränkt zu sein. So geht Kahlweit ganz selbstverständlich davon aus, dass Jauch in der Ausgabe von »Stern-TV« zum 11. September höhere Einschaltquoten als die ARD und das ZDF mit Sendungen zum gleichen Thema erreichen werde (Kahlweit, SZ 14.9.2001). Auch Hanfeld meint im Voraus: »Das Heulen und Zähneklappern werden die anderen bekommen, wenn er selbst mit einem solch denkbar trockenen Unterfangen (K.G.: ›Der große IQ-Test‹) wieder jene monströsen Quoten holt, an die man sich im Zeitalter von ›Wer wird Millionär?‹ gewöhnt hat« (Hanfeld, F A Z 8.9.2001). Jauch scheint nach diesem Zitat Maßstäbe im Kampf um Einschaltquoten gesetzt zu haben. Dieser Eindruck wird auch in einem Artikel bestätigt, in dem ZDF-Fernsehspielchef Hans Janke mit dem Begriff »Quotenexzess« zitiert wird, den »Wer wird Millionär?« ausgelöst habe (jöt, FAZ 20.7.2001). Dass Adjektive wie »monströs« oder an anderer Stelle »gigantisch« (Meuren, FAZ 2.9.2001) benutzt werden, um den Erfolg zu beschreiben, macht deutlich, wie extrem die Quoten und Jauchs Erfolg empfunden werden. Die Einschaltquoten werden als Ausnahmeerscheinung in der Fernsehlandschaft charakterisiert, von der die Kritik selbst überwältigt zu sein scheint. Insbesondere bei Reents kommt dies zum Ausdruck: »Er leide, so war kürzlich im ›Spiegel‹ zu lesen, unter dem ›Beckenbauer-Syndrom‹. Günther Jauch muss sich aber deswegen keine Sorgen machen. Wie Beckenbauer sich mit der FußballWeltmeisterschaft 1990 endgültig in den kritikfreien Raum verabschiedete, so hat sich Jauch mit seiner Sendung ›Wer wird Millionär?‹ in ein Reich jenseits von Gut und Böse begeben. Niemand kann ihm dort etwas anhaben« (Reents, F A Z 30.5.2001). Jauchs Erfolg wird insgesamt als außergewöhnlich wahrgenommen. Es ist von einem »erstaunlichen Publikumserfolg« die Rede (Ritter, FAZ 15.4.2001), wobei die Zuschauerinnen und Zuschauer echte Jauch-Fans (Zekri, FAZ 30.1.2001) zu sein scheinen, die ihm alles zutrauten (Reents, FAZ 30.5.2001). Die Begeisterung für Jauch färbt allerdings nicht auf die

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Produzenten, RTL und Endemol, ab: »Jauch ist größer als RTL« (Keil, SZ 31.12.2001), schreibt Keil. Dass RTL keinen guten Ruf bei der Kritik genießt, hat bereits die Bewertung der ›Produzenten‹ gezeigt. Genauso geschieht es bei Hoff, der die Macht John de Mols kritisiert, Jauch im gleichen Atemzug jedoch als »begnadeten Könner« ausweist (Hoff, SZ 9.10.2000). Nach der herrschenden Meinung in den Diskursfragmenten kommt Jauch über die Millionenquoten, die er mit seinen Sendungen erzielt, ein Sonderstatus im deutschen Fernsehen zu. Er gilt bei den Kritikerinnen und Kritikern als ›unbesiegbar‹ im Quotenkampf, so dass ihm von der Kritik eine Art ›Heldenstatus‹ zugewiesen wird. Diese Art der Charakterisierung wirkt überhöht. Kritische Ansprüche scheinen bezüglich Jauch kaum noch Geltung zu haben. Dies zeigt sich auch in der folgenden Unterargumentation. ›Bares im Brustbeutel‹ – der Saubermann »Das, was er da macht, kann er leider‹, sagt Reif, ›und sein Geheimnis ist: Glaubwürdigkeit‹« (Keil, S Z 8.11.2000). ›Glaubwürdigkeit‹ sieht Marcel Reif in diesem Zitat als Grund für den Erfolg, den Jauch mit »Wer wird Millionär?« hat. Diese Argumentation klingt auch bei Krömer an: »Die Authentizität ist ein scheues Reh. Doch sie ist der Motor für den Siegeszug, auf dem Jauch und Endemol zur Zeit durch die Fernsehlandschaft brausen« (Krömer, SZ 21.12.2000). Das Image, das in den Diskursfragmenten über Jauch konstruiert wird, ist ein besonders positives. Glaubwürdigkeit stellt dabei einen wesentlichen Aspekt dar. Dass Jauch von der Kritik für besonders glaubwürdig gehalten wird, zeigt sich an anderer Stelle darin, dass Hanfeld (FAZ 8.9.2001), Keil (SZ 8.11.2000) und humoristisch Makowsky (SZ 20.2.2001) Schlüsse von Jauchs Rolle bei »Wer wird Millionär?« auf ihn als Privatperson ziehen. Offenbar vertreten sie die Meinung, dass der Quizmaster Jauch der Privatperson Jauch gleiche. Hanfeld leitet seinen Artikel, für den er Jauch zu Hause interviewte, in folgender Weise ein: »Zum Empfang gleich die erste Fangfrage: ›Wie robust sind Sie denn?‹ Der Hausherr taxiert den Gast mit zusammengekniffenen Augen. Diese Miene kommt uns aus dem Fernsehen irgendwie bekannt vor. Die Hunderttausend-Mark-Frage wird mit diesem Blick gestellt. Doch was haben wir zu verlieren?« (Hanfeld, F A Z 8.9.2001) Der Autor fügt sich sogleich in die Rolle eines Kandidaten bei »Wer wird Millionär?«, überträgt also die Show auf sein Zusammentreffen mit Jauch. Indem Hanfeld bei dem Privatmensch Jauch die gleiche Mimik und die gleiche Art von Fragen konstatiert, wie in der Show, legt der Autor hier nahe, dass Jauch im Fernsehen keine Rolle spielt, sondern sich so gibt, wie er tatsächlich ist – er wird für authentisch befunden. Umgekehrt

Der Diskursstrang »Wer wird Millionär?« in der Fernsehkritik | 277 hieße dies, Jauch sei eben ein Quizmaster durch und durch. Ähnliches findet sich bei Keil: »Privat scheint er es nämlich zu halten wie im Studio: Die Gäste sollen reden. Er hört zu und sagt: ›Aha.‹ – ›Hmmm.‹ – ›Jaaa? Ehrlich?‹« (Keil, SZ 8.11.2000) Ebenso versucht Keil aus »Wer wird Millionär?« Schlüsse auf Jauchs politische Einstellung zu gewinnen: »Man möchte meinen, dass Jauch links denkt, weil er so eine unaufdringliche Art hat in seinen Sendungen, sich gegen den Starken zu stellen und den Schwachen zu schützen. Oder die Selbstbewussten zu verunsichern und die Verunsicherten aufzurichten. Denkt er also links? ›Darf keiner wissen‹, sagt er: ›Alles zu ideologiebelastet‹« (Keil, S Z 8.11.2000). In der Glosse von Makowsky wird in witziger Weise Jauch unterstellt, dass er private Vorlieben für Berlin – Jauch wohnt in Potsdam, also in der näheren Umgebung Berlins – in der Show pflege, die sich in den Fragen äußere und er auch bei der Art und Weise, wie er die KandidatInnen behandele, persönlichen (Ab-)Neigungen nachgebe (Makowsky, SZ 20.2.2001). Der Privatmensch Jauch und dessen persönliche Vita spiegele sich danach auch in der Arbeit des Quizmasters wider. So liege ihm sowohl im Fernsehen als auch privat die Bildung am Herzen: »Zwei Töchter nahm er von der Schule, weil die trotz einiger Fehler noch sehr gute Diktatsnoten bekamen und meldete sie in einer anderen an« (Keil, SZ 8.11.2000). Jauch sei in der Quizshow also ganz er selbst. Neben den Schlüssen, die von Jauch im Fernsehen auf Jauch privat gezogen werden und über die man ihm eine besondere Authentizität bei »Wer wird Millionär?« bescheinigt, wird sein außergewöhnlich positives Image noch in anderer Weise gestützt. Keil zitiert Gottschalk, der Jauchs und sein eigenes Elternhaus, beide ›christlich und solide‹, dafür anführt, dass Jauch und er im Fernsehen hehre Ziele verfolgten: »wir beide wollen etwas in ein Fernsehzeitalter hineinretten, das vielleicht schon keinen mehr interessiert. Wir sind in der Beziehung Old Economy, denn wir glauben, dass wir als Massenbeweger, so blöd das Wort ist, Verantwortung haben« (Keil, SZ 8.11.2000). Hier wird der Eindruck des moralischen Entertainers hervorgerufen, was auch in einem anderen Artikel von Keil anklingt. »Der hat seine Rolle erst finden müssen, und geholfen hat ihm dabei, dass RTL sich entschied, Wer wird Millionär? an vier aufeinanderfolgenden Tagen ins Programm zu heben. Anfänglich fehlte das Tempo, Jauch zögerte mit der Auflösung (›B, Sie bleiben bei B? Oder doch D?‹), weil ein Teil der Dramaturgie durch ihn entstehen soll. Er unterstützt die Hilflosen, er schützt die Zocker und bremst die Überheblichen« (Keil, S Z 8.9.1999). Wieder wird Jauch auf die Rolle einer moralischen Instanz, eines Erziehers und verantwortungsbewussten Entertainers festgeschrieben, in der er sein Gegenüber ›auf den richtigen Weg führt‹. Das Bild, das von Jauch als moralischem Entertainer konstruiert wird, der besonders authentisch in seiner Show auftritt, wird auch von dem Bild

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des Privatmenschen Jauch gestützt, das in den Diskursfragmenten entworfen wird. Vor allem die Beiträge von Keil und Hanfeld sind dazu sehr ausführlich. Jauch erscheint in den Diskursfragmenten als besonders bescheiden (Keil, SZ 8.11.2000; Reents, FAZ 30.5.2001) und wird bei Hanfeld als Familienmensch charakterisiert, der seine Familie vor der Öffentlichkeit schütze (Hanfeld, FAZ 8.9.2001). Daneben sei Jauch nach Keil besonders sparsam, fast schon geizig (Keil, SZ 8.11.2000).7 Trotz Millionengehalt sei er bodenständig geblieben, wozu Marcel Reif zitiert wird: »Bares trägt er wie früher, als Jugendlicher im Brustbeutel unterm Hemd« (Keil, SZ 8.11.2000). Dazu, dass Reifs Kommentar etwas lächerlich wirkt, schreibt Keil nichts. Etwas negativer gilt Jauch bei Keil auch als »misstrauisch, vorsichtig, kopfgesteuert«, der alles kontrollieren möchte (Keil, SZ 8.11.2000). Das Bodenständige, Solide an Jauch wird durch die Gegenüberstellung mit Gottschalk verdeutlicht, der als extrovertiert und eitel hingestellt wird (Keil, SZ 8.11.2000; Hanfeld, FAZ 8.9.2001). Das Gottschalk-Zitat bringt beide gegensätzlichen Images auf den Punkt: »Es beginnt ja schon so, dass alle denken: Ich sitze in meiner Strandvilla in Malibu und frühstücke mit Madonna, während der Günther im Morgengrauen seine Zwei-Zimmer-Wohnung verlässt, um sein Kind auf dem Fahrrad in die Kinderkrippe zu bringen. Auf dem Rückweg holt er noch ein Jutekleid für seine Thea aus dem Dritte-Welt-Laden, während meine Thea bei Chanel rumwühlt« (Gottschalk zit. bei Keil, S Z 8.11.2000). Während Gottschalk das Image des luxuriösen, extrovertierten Showmasters anhaftet, steht Jauch für Bescheidenheit und verkörpert bei Keil dadurch sogar die Ausnahme im Fernsehen (Keil, SZ 8.11.2000). Jauch transportiert hier Werte wie den verantwortungsvollen Umgang mit Geld und den Verzicht auf Luxus. Zusammen mit dem bereits erwähnten Verweis auf Jauchs christlich geprägtes Elternhaus (Keil, SZ 8.11.2000) und seines Arbeitseifers, der später noch thematisiert wird,8 entspricht das hier konstruierte Image zu einem großen Teil Idealen der protestantischen Ethik (vgl. Weber 1992). Daneben wird sogar Jauchs Äußeres bei Keil und bei Hanfeld diskutiert. Keil zitiert erneut Gottschalk: »Doch den Frauen ist er trotz seines Stiftenkopfes und Kinns so angenehm, dass sie ihm eine Schönheit unterstellen, die er nicht hat« (Keil, SZ 8.11.2000). Hanfeld spricht vom »Sex-Appeal der Unscheinbarkeit« (Hanfeld, FAZ 8.9.2001). Die Artikel von Keil und Hanfeld stellen Porträts von Jauch dar, was das Interesse an der Privatperson Jauch teilweise erklärt. Dennoch widmen sich die Autoren auffällig intensiv den Charaktereigenschaften, die sie bei Jauch zu erkennen meinen. Zudem ist das Image, das hier konstruiert wird, insgesamt betont positiv: Berufliche Rolle und Privatleben 7 | Angedeutet auch bei Hanfeld, FAZ 8.9.2001: »Apropos Häppchen (die es zum Tee nicht gibt) […]« 8 | Vgl. dazu die Argumentation ›Der Unterhaltungsprofi‹.

Der Diskursstrang »Wer wird Millionär?« in der Fernsehkritik | 279 klaffen bei Jauch den AutorInnen nach nicht auseinander. Er sei hier wie dort solide, bodenständig und glaubwürdig. Gegenläufige Textstellen zu dieser Unterargumentation sind rar gesät. Elfferding kommentiert dieses extrem positive Image ironisch. Er spricht vom »guten Jungen« und vom »menschelnden Schwiegersohn Nummer eins des deutschen Fernsehens« (Elfferding, SZ 4.4.2001). Ähnlich schreibt Krömer, dass man »beim seriösen Herrn Jauch eine ganze Stange Geld gewinnen« könne (Krömer, SZ 21.12.2000). Diesen Autoren scheint Jauchs Image wohl nicht mehr authentisch, sondern übertrieben. Sie betonen hier die Rolle, die er bei »Wer wird Millionär?« spiele (siehe auch: Görtz, FAZ 22.5.2001). Es stellt sich die Frage, warum Jauch in den überwiegenden Diskursfragmenten ein solcher Sympathieträger ist. Fast scheint es, als sähen die Kritiker und Kritikerinnen in ihm den ›Retter der Fernsehmoral‹. Gleichzeitig wird er als Durchschnittsmensch beschrieben und gelobt. Offenbar vertreten die AutorInnen die Ansicht, dass Authentizität, Verantwortungsbewusstsein, Bodenständigkeit oder auch konservative Werte allgemein im Fernsehgeschäft Mangelware seien. Hier spielt der Diskurs um Authentizität in der Mediengesellschaft (vgl. z.B. Willems/Jurga 1998) in die Argumentation hinein. Jauch scheint hier auf eine Sehnsucht nach echten, nicht inszenierten Persönlichkeiten zu antworten. In den Augen der Kritik ragt er durch seine vermeintlichen Eigenschaften aus der übrigen Fernsehlandschaft hervor. Immer wieder auffällig ist, wie sehr dabei versucht wird, ihn von den Privaten abzugrenzen: »Ein eigenartiger Kontrast ist spürbar zu Jauchs distanziertem, ironischem Stil, dessen vorherrschender Ausdruck der Spott ist und nicht, wie sonst bei den Privatsendern, Engagement und Identifikation« (Reents, FAZ 30.5.2001). Der privatwirtschaftliche Rundfunk ist bei der Kritik nicht wohl gelitten – daran scheint auch ein so positives Image, wie Jauch es hier hat, nichts zu ändern. 4.4.2 Argumentationsstrang: Schatten auf der weißen Weste Jauch und Kommerz Hinsichtlich der Produzenten wurde die kommerzielle Zielsetzung bei RTL stark kritisiert. Jauch selbst bezieht von RTL ein Millionengehalt – Hanfeld sieht ihn als bestbezahlten Moderator des deutschen Fernsehens mit einem geschätzten Jahresgehalt von 7,5 Millionen DM (Hanfeld, FAZ 8.9.2001). Es stellt sich daher die Frage, ob Jauch aus diesem Grund in derselben Weise angegriffen wird, wie dies bei RTL der Fall ist. Jauchs Gehalt fließt in jedem Fall in die Betrachtung des Moderator mit ein (z.B. Niggemeier, SZ 17.7.2001), wenn auch nicht sonderlich umfangreich, sondern lediglich in einzelnen Bemerkungen. Spöttisch heißt es etwa in der Bildunterschrift von Meijas: »Er ist wohl einer. Das hindert Günther Jauch heute um 20.15 Uhr in RTL nicht an der Frage ›Wer wird Millionär?‹«(Mejias, FAZ 26.5.2000). Kritischer stellt Zekri fest: »Nur die Kos-

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ten von ›Wer wird Millionär?‹ hütet RTL wie ein Beichtgeheimnis, denn sonst käme heraus, dass der einzige Millionär der Show die Fragen stellt und nicht beantwortet« (Zekri, FAZ 30.1.2001). Ebenfalls kritischer bemerkt Ritter zu Jauchs Arbeit bei »Wer wird Millionär?«: »bei ihm klingelt die Kasse bei den falschen wie bei den richtigen Antworten« (Ritter, FAZ 15.4.2001). Ritter wehrt sich damit dagegen, Jauchs Tätigkeit als Bemühen um Bildung zu interpretieren. Ebenso schreibt der Autor mit dem Kürzel mar spöttisch: »Eine Frage, die Günther Jauch demnächst in seiner Quizsendung ›Wer wird Millionär?‹ stellen sollte, lautet: ›Für welche Firmen mache ich keine Werbung?‹ Gar nicht so einfach zu beantworten, denn Jauch gehört zu jenen multiplen Werbeträgern, die ihre hohen Sympathiewerte gern und oft zu Markte tragen« (mar, F A Z 8.6.2001). Hier klingt allerdings schon die Geschäftstüchtigkeit und Cleverness an, die neben jenen kritischeren Diskursbeiträgen in Jauchs finanziellen Interessen gesehen werden. So hebt Keil Jauchs berufliche Ziele hervor, die er mit den kommerziellen von RTL günstig kombiniert habe (Keil, SZ 8.9.1999). Der Moderator nutze hier seine Chance und der kommerzielle Aspekt des Arrangements liegt danach in der privatwirtschaftlichen Organisation des Senders begründet. Keil fragt allerdings weiter: »Bei seinem Wechsel (K.G. vom ZDF zu RTL) hat das Einkommen keine geringe Rolle gespielt. Ist das unseriös?« (Keil, SZ 8.11.2000) Die kommerzielle Seite von Jauchs Arbeit bei »Wer wird Millionär?« klingt insgesamt in dem Diskursstrang nur verhalten an – spöttische Bemerkungen dazu bleiben vereinzelt. Bei der Bewertung von Jauchs Engagement scheinen seine finanziellen Interessen, die er offenbar erfolgreich vertritt, keine Abwertung zur Folge zu haben. Vielmehr wurde deutlich, dass sie zugunsten Jauchs in den etwas ausführlicheren Kommentaren als Geschäftstüchtigkeit und cleveres Verhalten ausgelegt wird. Jauch und sein Haussender RTL werden hier deutlich mit zweierlei Maß gemessen. Machtmissbrauch durch Jauch In der Charakterisierung Jauchs wird auch auf sein Verhalten gegenüber den KandidatInnen bei »Wer wird Millionär?« eingegangen. Dieses wird in einer Art und Weise geschildert, die zu der Beschreibung Jauchs als ›Saubermann‹ im Gegensatz steht. Die Beziehung zwischen Jauch und Kandidat oder Kandidatin macht den Kern der Show aus. Sie gestaltet sich per se als Hierarchiegefälle, da Jauch als Moderator den Ablauf der Show kontrolliert. Er stellt die Fragen, die KandidatInnen müssen antworten. Ihm steht es frei, »seinen Kandidaten die Möglichkeit« einzuräumen, Joker einzusetzen und fremde Hilfe in Anspruch zu nehmen (Reents, SZ 9.12.2000). Es ist zudem von »Jauchs Kandidatin« die Rede (Reents, SZ 9.12.2000). Jauch ist somit nach dieser Unterargumentation der Akteur in der Sendung. Dies wird auch an dem Prominentenspecial deutlich, das

Der Diskursstrang »Wer wird Millionär?« in der Fernsehkritik | 281 Kämmerlings kommentiert mit »Jauch setzt Prominente auf den heißen Stuhl« (Kämmerlings, FAZ 2.12.2000). Der Autor spielt damit auf die Show »Der heiße Stuhl« von RTL an, die Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre gesendet wurde. In ihr musste eine Person eine provokante These im konfrontativen Streitgespräch gegen mehrere Opponenten verteidigen. Dem Moderator kam dabei die Rolle zu, die Auseinandersetzung noch weiter anzufachen. Die Hierarchie zwischen Moderator und KandidatInnen spiegelt sich ebenfalls bei Kahlweit wider, die von Jauch als Moderator spricht, »der auch aus dem dämlichsten Kandidaten noch einen Star für ein paar Minuten machen kann« (Kahlweit, SZ 14.9.2001). Jauchs Einfluss auf den Auftritt der KandidatInnen drückt sich hier aus sowie eine abschätzige Haltung gegenüber den Teilnehmenden. Die Hierarchie werde nach Reents von Jauch bewusst herbeigeführt, gezielt umgebe er sich mit Gästen, die ihm nicht gefährlich werden könnten (Reents, FAZ 30.5.2001). Was er selbst als »menschliche Interaktion« (Jauch zit. bei Kahlweit, SZ 14.9.2001) umschreibt, die bei »Wer wird Millionär?« im Vordergrund stehe, wird an anderer Stelle als Prüfungssituation charakterisiert, in der »Prüfungskitzel« herrsche (Kaspar, FAZ 2.5.2001). Keil erinnert in diesem Zusammenhang an die Schulsituation, in der das Wissen von Schülerinnen und Schülern abgefragt wird: »Studienrat Jauch bei der Erwachsenenbildung« (Keil, SZ 8.11.2000) oder Jauch als »Lehrer« (Ritter, FAZ 15.4.2001), der sich – etwas gegenläufig – »oberlehrerhafte Hinweise auf Wissenslücken und Wiederholungsbedarf durchaus nicht« verkneift (Elfferding, SZ 4.4.2001). Elfferding betont jedoch, dass es sich um keine Situation wie in der Schule handele und kein »Bildungsdialog« stattfinde (ebd.). Verschiedene AutorInnen interpretieren die Situation bei »Wer wird Millionär?« als mentale Belastung für die KandidatInnen, die von Jauch produziert werde. Niggemeier sieht den »Psychostress zwischen Kandidat und Moderator« dabei als zentral für die Dramaturgie der Quizshow an (Niggemeier, SZ 2.5.2000). Fried beschreibt Rezzo Schlauch, Spitzenpolitiker der Grünen, wie er sich nur aus Angst, dass sonst Guido Westerwelle (FDP) statt seiner eingeladen werde, »auf den Stuhl getraut« habe (Fried, SZ, 1.12.2001) – die Situation wird hier als Stresssituation beschrieben (vgl. z.B. Reents, FAZ 30.5.2001) und teilweise sogar als ›Verhör‹ charakterisiert (Keil, SZ 8.9.1999). Die Kritiker und Kritikerinnen sehen somit wesentlich mehr in der Situation als harmlose ›menschliche Interaktion‹. Sie wirken fasziniert von dieser Stresssituation, so dass man den Eindruck gewinnt, auch sie ließen sich von dem voyeuristischen Anreiz der Sendung ködern. Jauchs Rolle bei diesem Arrangement wird nicht als neutral beschrieben. Teil seiner Rolle, wie nach Ritters Ansicht in Quizsendungen allgemein (Ritter, FAZ 15.4.2001), ist es, die Kandidaten und Kandidatinnen zu verunsichern (z.B. Görtz, FAZ 22.5.2001). Ritter kürt Jauch zum »Meister der unterkühlten Verunsicherung« (FAZ 15.4.2001), sieht in Jauch aller-

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dings auch den »sympathischen Lehrer« und charakterisiert damit dessen Rolle ambivalent. Reents titelt »Qualität kommt von quälen« (FAZ 30.5.2001), er attestiert Jauch eine sadistische Ader, auf die er an anderer Stelle auch direkt hinweist: »während der Fragerei kommt es auf Nervenstärke an, die Jauch sadistisch auf die Probe stellt« (Reents, SZ 9.12.2000). In dem Artikel vom 30.5.2001 kritisiert Reents Jauch für sein Verhalten und wertet es als Taktlosigkeit. Neben diesem sadistischen Zug schreibt Reents ebenfalls, dass sich Jauch in seinem Verhalten gegenüber den KandidatInnen von persönlichen Neigungen und Abneigungen lenken lasse: »Aber wehe, jemandes Nase passt ihm nicht, dann irritiert er ihn mit beachtlichen Taktlosigkeiten, von denen einige nah an der Grenze zur Gehässigkeit sind und von denen unklar ist, ob sie noch zum Sendekonzept gehören oder nicht doch einer Laune oder Abneigung des Moderators entspringen« (Reents, F A Z 30.5.2001). Reents vertritt dabei die Ansicht, dass sich Jauch absichtlich in diese für ihn ungefährliche Situation ohne echten Gegner oder Gegnerin begeben habe. Jauch treibe somit ganz bewusst seine Späße auf Kosten der ›hilflosen‹ KandidatInnen: »Wie ein großer, kluger Vogel sitzt er den Leuten dann gegenüber und scheint sich nichts zu denken bei solchen Bosheiten« (Ebd.). Er schildert hier einen bewusst taktlosen Moderator, der »ohne mit der Wimper zu zucken« auf Schwächen seiner KandidatInnen hinweist (ebd.). Auch Kaspar meint, dass Jauch vorsätzlich seine Machtposition in der Show ausnutze, wenn er zunächst »verschwörerisch in die Kamera« blinzele (Kaspar, FAZ 2.5.2001) und dann einen Studenten »vorführt« (ebd.). Kaspar nimmt hierin »verdeckte Grabenkämpfe der Wissensgesellschaft« wahr (ebd.). Auch Reents sieht eine Abneigung gegen junge Männer, »die den Fehler machen, ihm anzuvertrauen, dass sie noch bei ihrer Mutter wohnen. Jauch lässt dann keine Gelegenheit aus, sie als Muttersöhnchen und Spätentwickler lächerlich zu machen« (Reents, FAZ 30.5.2001). Makowsky parodiert dieses willkürliche Verhalten und bringt eine leicht sexuelle Komponente mit hinein: »Mit den Damen ewig herumschäkern, aber den Kandidaten, der Knoblauch gegessen hat, im Eiltempo abfertigen!« (Makowsky, SZ 20.2.2001) Während Makowsky die Situation übertreibt und auf witzige Weise thematisiert, beschreibt Elfferding Jauch bei »Wer wird Millionär?« kritischer und mit zynischem Tenor: »Überhaupt kann man sich die Illusion sparen, es gehe, abhängig vom Charakterzuschnitt des Playmasters, um ein Von-Mensch-zu-Mensch. Zwar sitzen beide, Master wie Kandidat, auf dem selben Typus von Sitzmöbel – irgendetwas zwischen Zahnarztstuhl und Barhocker –, aber die Rollenhierarchie ist von vornherein klar. Wenn Jauch drauf ist, die Leute fertigzumachen, dann macht er sie fertig – unter Wahrung der Form aber doch wahrnehmbar. Endlich ein Lehrer, von dem man sich’s gern sagen lässt« (Elfferding, S Z 4.4.2001).

Der Diskursstrang »Wer wird Millionär?« in der Fernsehkritik | 283 Das Verhalten des Moderators gegenüber seinen KandidatInnen wird geradezu als boshaft wahrgenommen. Die neutrale Beschreibung, nach der Jauch seine Gegenüber beispielsweise in »situationskomische Gespräche« verwickele (Keil, SZ 8.9.1999), stellt eine Ausnahme in den Diskursfragmenten dar. Bereits der Kommentar von Kahlweit, die Leistung liege im »Zwang zur Spontaneität« (Kahlweit, SZ 14.9.2001) macht den Druck deutlich, der auf den KandidatInnen laste. Elfferding und Niggemeier betonen an Jauchs Verhalten zudem das Spiel mit den KandidatInnen, heben also sein Agieren aus der Machtposition heraus hervor: »Jauch lehnt sich zurück und zieht seine Kandidaten an langen Marionettenfäden dahin, wo er sie haben will« (Niggemeier, SZ 17.7.2001). Elfferding bemerkt allgemein: »Angesichts der strikten Regie und des maschinellen Ablaufs der Show kann die Frage aufkommen, ob da die Menschen spielen oder ob sie gespielt werden« (Elfferding, SZ 4.4.2001). Elfferdings Bemerkung stellt eine der Textstellen dar, in der die Show als kulturindustrielles, maschinelles Produkt beschrieben wird, dem die Teilnehmenden womöglich ausgeliefert sind. Das Bild, das in dieser Unterargumentation von Jauch gezeichnet wird, ist das eines taktlosen, autoritären Moderators, der gezielt seine Gäste vorführt und sich nicht scheut, ihre Schwächen vor einem Millionenpublikum zu offenbaren. Daneben wird Jauch als ein Quizmaster wahrgenommen, der Abneigungen oder wie im folgenden Zitat seine Sympathien offen auslebe: »Harald Schmidt trat in den Ring, und Jauch konnte es nicht lassen, das ohnehin vermutete Gefälle zu den anderen noch zu vergrößern, indem er ihn mit dem ›Spiegel‹ zum ›Inbegriff und idealtypischen Verkörperung‹ deutscher Leitkultur kürte« (Kämmerlings, F A Z 2.12.2000). So hänge teilweise der Gewinn davon ab, ob ihm Kandidat oder Kandidatin behagten oder nicht – je nach seinen persönlichen Sympathien gebe er Tipps oder verunsichere die Person in einem Maße, dass sie die nächste Gewinnstufe nur mit äußerster Konzentration oder großem Selbstbewusstsein erreichen könne. Verwunderlich dabei ist, dass abgesehen von Reents und Elfferding dieses Verhalten als zusätzlicher Anreiz bei »Wer wird Millionär?« gewertet wird und als Markenzeichen von Günther Jauch. Die Kritiker und Kritikerinnen identifizieren sich in dieser Argumentationslinie mit dem Publikum, das sicher zu Hause vor dem Fernsehschirm sitzt und seine voyeuristischen Bedürfnisse mit Hilfe von Jauch auf Kosten der KandidatInnen befriedigt. Verurteilt wird Jauch wegen seines Machtmissbrauchs somit nicht.

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4.4.3 Argumentationsstrang: Jauch zwischen Unterhaltung und Information Der Unterhaltungsprofi In den Diskursfragmenten wird Jauchs Tätigkeit bei »Wer wird Millionär?« besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Das Engagement des Moderators wird bei Keil bildlich hervorgehoben: »Jauch schaufelt noch immer acht, neun Millionen Menschen vor den Bildschirm« (Keil, SZ 31.12.2001). Jauch ist hier der Akteur, der hart, in diesem Zitat körperlich, für den Erfolg arbeitet. Keil unterstreicht dies auch noch mit Folgendem: »Andererseits bietet dieser Moderator am Ende immer auch handwerkliche Qualität, womit beim Fernsehen noch heute gilt: Handwerk lohnt sich« (Keil, SZ 31.12.2001). Jauchs Einsatz im Fernsehen wird hier als handfestes Engagement interpretiert. Die Unterhaltung, die Jauch produziert, erscheint damit als bodenständige Unterhaltung, als Produkt harter Arbeit und nicht, was ebenfalls denkbar wäre, als seichte Unterhaltung.9 Auch sonst gilt Jauch als ›Arbeitstier‹: »Unter der Woche eilt er von der Produktion von ›Wer wird Millionär?‹ zu ›Stern TV‹ zur ›Champions League‹ und zurück« (Hanfeld, FAZ 8.9.2001; siehe auch Kahlweit, SZ 14.9.2001). Dies wird daneben mit einzelnen Verweisen auf andere Shows von Jauch deutlich, wie auf »Stern-TV« (Kahlweit, SZ 14.9.2001) oder auf seine Werbejobs, die leicht kritisiert werden (mar, FAZ 8.6.2001). Jauch wird als fleißiger Profi dargestellt, der auch selbst nach dem Attentat am 11. September die Aufzeichnung von »Wer wird Millionär?« professionell meistert (Kahlweit, SZ 14.9.2001): »›Natürlich war diese Sendung am Dienstag merkwürdig und besonders‹, sagt er ›denn man ist mit dem Kopf woanders. Aber letztlich muss ich bei aller Betroffenheit meinen Job machen‹« (ebd.). Keil nennt ihn einen »Frontmann der Unterhaltung« (Keil, SZ 8.9.1999) und stellt ihn ebenfalls als Unterhaltungsprofi dar, wenn er ihn an anderer Stelle als Konkurrent von Gottschalk beschreibt. Keil sieht in Gottschalk offenbar den Entertainer des deutschen Fernsehens, in deren Klasse Jauch nun aufgestiegen sei (Keil, SZ 31.2001; ähnlich: Reents, FAZ 30.5.2001). Keil beschreibt diese Konkurrenz als Kampf zweier Größen der Fernsehunterhaltung, wobei Jauch erst durch Gottschalk in diesen Bereich gekommen sei: »Auf die Trallalaschiene hat ihn der Trallalameister gesetzt: ›Ich war der Mephisto, der ihm die Unterhaltung eingeflüstert hat‹, sagt Gottschalk. ›Ohne den Thomas wäre es nicht gegangen‹, sagt Jauch« (Keil, SZ 8.9.1999). Der Begriff ›Trallalaschiene‹ wird in dem Beitrag als Zitat von Marcel Reif verwendet, der damit die Unterhaltungssparte abwertet. Dass Jauch zur Unterhaltung ›verführt‹ wird, lässt den 9 | Oben wurde bereits auf die Ideale der protestantischen Ethik verwiesen, die sich hier erneut zeigen in der Betonung von Jauchs Arbeitseifer. Auf diese Weise wird Unterhaltung legitimiert, die eigentlich protestantisch-ethischen Ansichten entgegenläuft (vgl. Weber 1992).

Der Diskursstrang »Wer wird Millionär?« in der Fernsehkritik | 285 Bereich zu einem gesellschaftlich heiklen Terrain werden, auf das sich Jauch begeben habe – die Textstelle ist gegenläufig zur sonstigen positiven Wahrnehmung von Jauchs Arbeit als Entertainer. In der Begeisterung für Jauch als Unterhaltungsprofi wird der Geschlechterdiskurs an einigen Stellen deutlich. So stilisiert Reents Jauch zu »einem einsamen Herrscher im TV-Olymp, zu dem sich höchstens noch Thomas Gottschalk und Harald Schmidt gesellen dürfen« (Reents, FAZ 30.5.2001). Jauch erhält hier sogar göttliche Züge, auch wenn Reents Jauch als »den Allgegenwärtigen« (ebd.) bezeichnet, also auf die christliche Bezeichnung Gottes als dem ›Allmächtigen‹ anspielt. Wieder wird Gottschalk als ihm ebenbürtig genannt, hier auch Harald Schmidt. Nach Reents scheinen in der ersten Liga der Fernsehunterhaltung nur männliche Profis mitspielen zu dürfen. Professionelle Unterhaltung wird in den Beiträgen von Hanfeld (FAZ 8.9.2001), Keil (SZ 8.11.2000; SZ 8.9.1999) und Reents (FAZ 30.5.2001) zum männlichen Bereich (vgl. dazu Röser 1994), besser gesagt zum verspielten ›Jungsbereich‹, was vor allem durch die Fußballbezüge erreicht wird. Hanfeld lobt Jauch und verleiht seinen Fähigkeiten Kultstatus: Er habe »eine Fußballübertragung, während derer ein Tor umfällt und das Spiel lahm legt, in ein Happening verwandelt, das die Kenner sich auf Video gezogen haben […]« (Hanfeld, FAZ 8.9.2001). Keil lässt neben Thomas Gottschalk Marcel Reif ausführlich zu Wort kommen, der Co-Moderator bei jenem denkwürdigen Champions-LeagueHalbfinale zwischen Real-Madrid und Borussia Dortmund 1989 war, in dem das Tor umfiel: »Marcel Reif sagt: ›Bring mir zehn andere, die das so können. Erst wenn’s die gibt, sag ich: ›So, Güntherchen, nun ziehen wir dich mal aus der Trallalaschiene raus, und du musst Gutes tun‹« (Keil, SZ 8.11.2000). Reif und Jauch werden hier zu alten Freunden, zu ›Kumpeln‹. Weiter zitiert Keil Jauch mit den Worten, »›Das hat ChampionsLeague-Niveau‹« (Keil, SZ 8.9.1999), mit denen der Moderator die Quoten von »Wer wird Millionär?« kommentiert. Der Fußball-Bezug wird auch mit dem oben bereits zitierten »Beckenbauer-Syndrom« (Reents, FAZ 30.5.2001) evoziert. Reents spricht in seinem Beitrag von der Fußball-Weltmeisterschaft 1990, erwähnt jedoch nicht, dass Beckenbauer zu der Zeit Teamchef der Deutschen Nationalmannschaft war und dass sie die WM als Weltmeister verließ – diese Informationen setzt er bei seinen LeserInnen voraus. Gottschalk und Jauch, Reents nimmt noch Schmidt hinzu (ebd.), beherrschen nach ihm die TV-Unterhaltung. Professionelle Fernsehunterhaltung wird in den drei erwähnten Diskursfragmenten männlich konnotiert. Fernsehunterhaltung mit Reif, Gottschalk, Jauch, Schmidt wird hier zur Fortsetzung der Freundschaften, die ›Jungs‹ auf dem Fußballplatz schließen. Diese Art von (männlicher) Unterhaltung – handfest, mit Kultstatus, professionell gemacht – ist in den Beiträgen legitime Unterhaltung. Eine winzige Ausnahme dazu bildet eine Textstelle bei Hoff, in der er die Talkmasterin Sandra Maischberger und Jauch in einem Atemzug nennt: sie bringe in den Talk ›die Ruhe‹, »die Jauch im Quiz so erfolgreich zelebriert« (Hoff, SZ 9.10.2000). Allerdings bezieht

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sich Hoff hier auf Genres und nicht auf den gesamten Bereich der Fernsehunterhaltung, wie dies Reents, Keil und Hanfeld zuvor tun. Hoff charakterisiert Jauch hier als Meister seines Faches. Der Begeisterung für Jauch scheinen bei der Kritik von SZ und FAZ keine Grenzen gesetzt zu sein. Die Charakterisierung des Moderators wirkt geradezu übersteigert. Es stellt sich die Frage, ob der Kritik die übrige Fernsehunterhaltung so unprofessionell (und illegitim) erscheint, dass Jauch in dieser positiven Weise zur Ausnahmeerscheinung gemacht wird. In jedem Fall scheint Jauch hier im Rahmen der Diskussion um Authentizität in der Mediengesellschaft bewertet zu werden, wobei er als Garant dafür genommen wird, dass er ›hält, was er verspricht‹ und seine Unterhaltung mehr sei als nur ›schöner Schein‹. Der seriöse Journalist In vier Diskursfragmenten wird Jauchs Tätigkeit bei »Wer wird Millionär?« zu seiner Ausbildung als Journalist in Beziehung gesetzt (Keil, SZ 8.9.1999; rea, FAZ, 3.9.2000; Reents, FAZ 30.5.2001; Hanfeld, FAZ 8.9.2001). In den Beiträgen werden Themenkomplexe wie ›Unterhaltung als Gegensatz von Information‹ und die Unterschiede zwischen öffentlich-rechtlichem und privatem Rundfunk mitverhandelt. Vor allem Keils Beitrag ist hier aufschlussreich. Der Autor diskutiert insbesondere, ob Jauch für den öffentlich-rechtlichen oder den privaten Rundfunk stehe. Für ihn stellt sich Jauch eigentlich als öffentlich-rechtlicher Journalist dar. Jauch bewundere Hanns Joachim Friedrichs, also den Journalisten, der in den siebziger Jahren das »Aktuelle Sportstudio« (ZDF) leitete. Friedrichs war in dieser Hinsicht also einer von Jauchs Vorgängern bei dieser Sendung und hat lange Zeit die Tagesthemen der ARD moderiert – Friedrichs steht somit für die Öffentlich-Rechtlichen (vgl. Keil, SZ 8.9.1999). Der Autor möchte Jauch denn auch in seinem Beitrag zu dessen Nachfolger küren: »Wahrscheinlich hat er trotzdem den falschen Job. Öffentlich-rechtlicher Nachrichten-Mann mag Günther Jauch, 44, aber noch nicht sein. Er könnte sich inzwischen ein heute-journal-Gehalt leisten. RTL-Trallala ginge als Anchorman ja nicht mehr. ›Ach‹, sagt er, ›da lassen wir die Haare erst weiß werden.‹ Dann spitzt er den Mund. Quizfrage: ›Wie alt war Hajo Friedrichs, als er die Tagesthemen übernahm?‹ Seine Haare waren weiß« (Keil, S Z 8.11.2000). Das Zitat verdeutlicht, dass Keil klar zwischen Unterhaltung als ›RTLTrallala‹ und ›seriösen‹ öffentlich-rechtlichen Nachrichten trennt. Darin drückt sich auch der Diskurs um Fakten und Fiktion aus, in dem Faktion fiktiven Inhalten häufig übergeordnet werden (vgl. z.B. Klaus/Lünenborg 2002). Der private Sender RTL verkörpert hier für Keil seichte, irrelevante Unterhaltung. Ein Job als öffentlich-rechtlicher ›Anchorman‹ wird hier als Karrieresprung gegenüber Jauchs Arbeit bei »Wer wird Millionär?« begriffen. Der Autor hält in seinem Beitrag an dieser Trennung fest, obwohl Jauch ihm gegenüber andere Ansichten vertritt und sich gegen die Be-

Der Diskursstrang »Wer wird Millionär?« in der Fernsehkritik | 287 schränkung von Qualitätsfernsehen auf öffentlich-rechtliche Sender äußert – er verteidigt hier natürlich auch seine Arbeit bei RTL gegenüber der Abwertung durch sein Gegenüber (Keil, SZ 8.11.2000). An anderer Stelle zitiert Keil Thomas Gottschalk, um den konstruierten Gegensatz ›seriöse Nachrichten‹ gegenüber ›unwichtiger Unterhaltung‹ aufzuzeigen: »Gottschalk sagt: ›Der Günther hat etwas, was in Deutschland ganz selten ist: eine Präzision, eine ausgesprochen klare und nachvollziehbare Sprechweise.‹ ›Mit diesem Talent und ›seiner journalistischen Begabung müsste er jetzt das werden, was in Amerika in positivem Sinne ein Anchorman ist. Wenn er mich fragt: Ich würde ihm dazu raten. Noch hat er sich durch seine Abfragespielchen nichts kaputt gemacht‹« (ebd.). Das ›Abfragespielchen‹ »Wer wird Millionär?« wird an dieser Stelle sogar zu einer Bedrohung für Jauchs Karriere. Jauch erscheint hier als Vermittler und Journalist, der sein Talent bei RTL vergeude. Lediglich aus kommerziellen Gründen, die Jauch als geschäftstüchtigen, cleveren Mann erscheinen lassen, lässt Keil sein Engagement bei RTL gelten: »Andererseits ist Günther Jauch inzwischen längst ein Frontmann der Unterhaltung geworden, ein wortgewandter Plauderer, der seine beruflichen Interessen mit den kommerziellen Interessen seines Haussenders RTL verbunden hat. So gesehen hat der Moderator gerade gute Arbeit geleistet« (Keil, S Z 8.9.1999). Nichtfinanzielle Gründe, bei einem privaten Sender zu arbeiten, kommen für Keil demnach nicht in Betracht. Gleiches gilt, wenn Keil Jauchs Laufbahn darstellt, zunächst als klassischer Journalist: »Was Jauch betriff, hat er als Berichterstatter begonnen wie der Vater. Er war auf der Universität, hat ein paar Jura Scheine gesammelt« und schließlich bei RTL, wo er auch kommerziellen Erfolg hatte (Keil, SZ 8.11.2000). Jauch bewegt sich nach Keil von der bodenständigen Tradition des Vaters ins Reich des Kommerziellen. »›Das, was der Günther macht, verstehe ich zwar nicht, aber es wird wohl gut bezahlt: Kein Mensch weiß, warum,‹« wird der verständnislose Vater bei Keil zusätzlich noch zitiert. An anderer Stelle zitiert Keil Gottschalk, der bekennt, dass er Jauch zur Unterhaltung ›verführt‹ habe. Jauch scheint für Keil vom ›rechten Weg‹ des soliden Journalismus abgekommen zu sein, vom Geld und von Gottschalk als ›Mephisto‹ verleitet. Dass Gottschalk für das ZDF arbeitet und daher für öffentlich-rechtliche Unterhaltung steht, ist ein Widerspruch in Keils Argumentation. Hier brechen die starr von Keil vertretenen Gegensätze zwischen öffentlich-rechtlichem Sender auf, der für Information, Seriosität und Nachrichten stehe, und RTL, der als privater Sender seichte Unterhaltung biete, allerdings ohne, dass der Autor dies kommentiert. Für seine Betrachtung der Person Jauch scheint dies keine Rolle zu spielen. Nur der Sportbereich wird von Keils strikter Einteilung ausgenommen:

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»Jauch ist Infotainer. Wenn er vom Skispringen keine Ahnung hat, sagt er, dass er vom Skispringen keine Ahnung habe und lässt sich das mit dem Skispringen erklären. Das ist eine Kunst im Fernsehen, die er mit niemandem teilt« (Keil, S Z 8.11.2000). Im Bereich der sportlichen Unterhaltung sieht Keil offenbar keinen Karriereknick für Jauch. Sport ist demnach für den Autor legitime Unterhaltung, mit der sich Jauch sogar hervortun kann. Auch Reents spielt auf Jauchs journalistischen Hintergrund an. Er kritisiert Jauchs ›Aussetzer‹ bei »Wer wird Millionär?« gegenüber manchen KandidatInnen, die der Quizmaster unfair dem Spott des Publikums preisgäbe. Dies passe nicht »zu seinem Image als seriösem Qualitätsjournalisten« (Reents, FAZ 30.5.2001). Der Autor mit dem Kürzel rea kritisiert das seiner Ansicht nach geringe Niveau der Fragen bei »Wer wird Millionär?« und meint: »Das muss den Mann, im Nebenberuf seriöser Journalist, schmerzen« (rea, FAZ 3.9.2000). Gegenläufig argumentiert Hanfeld, der meint, dass Jauch aufgrund seiner Kompetenz, Unterhaltung und Information zu vermitteln, »zwangsläufig beim Privatfernsehen landen musste« (Hanfeld, FAZ 8.9.2001). Hier wird zwar davon ausgegangen, dass öffentlich-rechtlicher Rundfunk und private Sender einen Gegensatz darstellen, allerdings werden letztere nicht wie bei Keil abgewertet. Zudem wird ihnen nicht nur eine Unterhaltungskompetenz zugestanden, sondern die besondere Fähigkeit, im Gegensatz zu den Öffentlich-Rechtlichen Unterhaltung und Information zu verbinden. Die Person Jauch wird hier zwar immer noch vor allem als Journalist wahrgenommen, jedoch nicht als einer, der auf Abwege geriet: »Günther Jauch ist der Mann fürs Unberechenbare. Er macht es berechenbar. In seiner unterhaltsamen Darbietung von InfoHäppchen wird dieser rast- aber nie ratlose Reporter höchstens erreicht von Kermit, dem Frosch« (Hanfeld, FAZ 8.9.2001). Der konstruierte Gegensatz von Unterhaltung und Information, der in den Diskursfragmenten verhandelt wird, taucht noch in der Frage auf, ob Jauch bei »Wer wird Millionär?« Bildung vermittele oder ›nur‹ unterhalte. Reents schreibt: »Dies alles führt dazu, dass seine Quiz-Sendung ist, was er nach eigener Auskunft gar nicht machen will: Event-Fernsehen, das zwar frei von Klamauk ist, aber mehr mit Schadenfreude als mit Bildung zu tun hat und beim Sender RTL also gut aufgehoben ist« (Reents, F A Z 30.5.2001). RTL wird hier zum Sender für niedere Unterhaltung, wobei »Wer wird Millionär?« ein Bildungsgehalt abgesprochen wird. Offenbar ist sich Reents in dieser Hinsicht jedoch gar nicht so sicher, da er an anderer Stelle bemerkt: »Bildung – dreimal die Woche liefert Günther Jauch den Fernsehzuschauern dieses Paket frei Haus, und es wird, wie alles, was die eigene Konzentration nicht sonderlich strapaziert, gerne genommen« (Reents, SZ 9.12.2000). Die Form der Bildungsvermittlung steht hier

Der Diskursstrang »Wer wird Millionär?« in der Fernsehkritik | 289 unter Kritik, dass es sich um Wissensinhalte handelt, wird jedoch nicht angezweifelt. Dies ist auch der Fall, wenn er herausstellt, dass Jauch »über das Fernsehen so viele Menschen erreicht und unterrichtet wie kein Zweiter« und trotzdem einen »Bildungselitarismus« vertrete (Reents, FAZ 30.5.2001). Er charakterisiert Jauch hiermit trotz seiner Massenwirkung als Bildungsbürger, der eigentlich gegen das populäre Medium Fernsehen eingestellt sei: »Seine Haltung gegenüber dem Medium, in und mit dem er Geld verdient, ist die des latent Angewiderten, der alles für einen Sumpf aus Lug und Narretei hält, aus dem er desto glänzender herausragt« (Reents, FAZ 30.5.2001). Gegenläufiges vertritt Elfferding. Der Autor konstruiert dabei einen unvereinbaren Gegensatz von Bildung und Unterhaltung: »Die Kommentatoren irren, die in Jauch den wider allen Unkenrufen wiederkehrenden Bildungsbürger sehen wollen. Zwar mimt er den Wissenden, blinzelt, mitunter etwas von oben herab, auf sein zweifelndes Gegenüber, verkneift sich oberlehrerhafte Hinweise auf Wissenslücken und Wiederholungsbedarf durchaus nicht. Aber es kann doch nicht ernsthaft behauptet werden, dies finde in einem Bildungsdialog statt, wo es um Sachen geht. Nein, unser Blick wird durch Jauchs Grimassen nur umgelenkt auf die Hauptsache: die Grimassen des Triumphes oder der Niederlage auf der Jagd nach dem einen. Es geht ums Zocken, um sonst gar nichts« (Elfferding, S Z 4.4.2001). Elfferding verreißt die Unterhaltung bei »Wer wird Millionär?« als kommerzielles, kapitalistisches, unseriöses Vergnügen. In dieser Unterargumentation werden privater und öffentlich-rechtlicher Rundfunk als Gegensätze begriffen, wobei den Öffentlich-Rechtlichen ein seriöses Image anhaftet, mit dem sie für Information im Fernsehen stehen. Dagegen wird ein privater Sender wie RTL mit seichter, nutzloser Unterhaltung assoziiert. Hier spielen Diskurse wie der um Fakten und Fiktion (vgl. z.B. Baum/Schmidt 2002) und der Diskurs um Glaubwürdigkeit bzw. Authentizität in den Medien mit hinein. Daneben lassen sich erneut die Überlegungen zum ›public service‹-Modell oder dem ›private ownership‹-Gedanken (siehe Ang 1991) in der Bewertung der Kritik verorten. Gleichzeitig zeigt sich in dieser Unterargumentation deutlich, wie stark das Aushandeln darüber, was Unterhaltung sei und was Information oder Bildung ausmache, im Prozess begriffen ist. Die Person Jauch verkörpert dabei einen Knotenpunkt, an dem die Diskurse um Unterhaltung und Information zusammenlaufen, ähnlich der diskursiven Figuren, die Fiske für Fernsehtexte annimmt (vgl. Fiske 1999a: 149 ff.).

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4.5 Vierter Fokus: Die KandidatInnen Als viertes wird analysiert, auf welche Weise sich die Fernsehkritik mit den Kandidaten und Kandidatinnen von »Wer wird Millionär?« beschäftigt. Hierunter fallen auch die Motive der Teilnehmenden, die Bedeutung, die sie den AutorInnen nach der Show beimessen, und ihr Verhalten bei »Wer wird Millionär?« selbst. Insgesamt kristallisierte sich lediglich der Argumentationsstrang ›»Ungeniertes Unwissen« – die ›wahren‹ Motive der KandidatInnen‹ heraus. Er bündelt zwei Unterargumentationen, die zum einen die ›Aktivität‹ der KandidatInnen in der Show behandeln und zum anderen den finanziellen Anreiz für die KandidatInnen gegenüber dem Wunsch, Wissen zu präsentieren, als ausschlaggebend charakterisieren. 4.5.1 Argumentationsstrang: ›Ungeniertes Unwissen‹ – die wahren Motive der KandidatInnen Aktive KandidatInnen Im Gegensatz zur Unterargumentation ›Machtmissbrauch durch Jauch‹, in der die KandidatInnen beschrieben wurden, als seien sie dem Moderator ›ausgeliefert‹, wirft eine Unterargumentation ein anderes, aktiveres Licht auf die Teilnehmenden. ›Aktiv‹ heißt, dass die KandidatInnen zum einen freiwillig an der Show teilnehmen und sich für »Wer wird Millionär?« bewerben (Kahlweit, SZ 14.9.1999; jumo, FAZ 19.1.2001; Keil, SZ 8.9.1999). Sie lassen sich demnach freiwillig auf die Stresssituation ein. Zum anderen weisen mehrere Artikel darauf hin, dass die KandidatInnen trotz der dominanten Rolle des Moderators die Sendung selbst ein Stück weit mitgestalten können. So stellt Keil heraus, dass die Teilnehmenden auf Jauchs Verhalten eingehen und sozusagen ›mitspielen‹ (Keil, SZ 8.9.1999). Zips beschreibt einen Dialog zwischen Jauch und der Kandidatin Weidinger, die in einem Swinger-Club beschäftigt ist: »Jauch: ›Was ist der billigste Tag im Club?‹, Weidinger: ›Mittwoch. Da ist zu‹« (Zips, SZ 8./9.9.2001). Die Kandidatin spielt hier bei dem – wie der Autor betont – quotenbringenden Dialog mit. Sie steht zudem selbstsicher zu ihrem gesellschaftlich umstrittenen Beruf. Auffallend ist allerdings, dass der Autor die Kandidatin und ihr Umfeld in seinem Artikel lächerlich macht und abwertet (ebd.). Bei Reents wird eine Situation beschrieben, die von dem Autor zwar als Zeichen für Jauchs Macht über einen Kandidaten gewertet wird, jedoch auch einen anderen Schluss zulässt. Als Jauch bei einem Kandidaten spekuliert, dass er ein Hemd trage, auf dem sich sicherlich Schweißflecke abzeichneten, hebt der Kandidat prompt die Arme, offenbart zwei große Schweißflecken und gibt sich selbst der Lächerlichkeit preis (vgl. Reents, FAZ 30.5.2001). Reents legt dieses Verhalten zuungunsten des Kandidaten aus. Der Kandidat sei wie hypnotisiert gewesen und demnach fremdbestimmt von Jauch, ohne eigenen Willen. In der Beschreibung der Szene

Der Diskursstrang »Wer wird Millionär?« in der Fernsehkritik | 291 steckt jedoch auch ein Stück aktives ›Mitspielen‹ nach dem Motto ›Angriff ist die beste Verteidigung‹. Obwohl diese Szene uneindeutig bleibt, wird die Situation zwischen Jauch und den KandidatInnen in dieser Argumentationslinie spielerischer begriffen und nicht als einseitiger Machtmissbrauch hingestellt. Dass die Teilnehmer und Teilnehmerinnen aktiv am Spiel partizipieren, zeigt der Artikel von Kahlweit: »Bei Günther Jauch kommt an diesem Abend, die junge, noch namenlose Frau aus Ostdeutschland ziemlich weit. Mit weit aufgerissenen, braunen Augen beantwortet sie Frage um Frage, lässt sich von den Scherzen des Moderators nur ungern ablenken und scheitert schließlich an der Angst vor dem Risiko. Applaus, die Spannung fällt ab« (Kahlweit, S Z 14.9.2001). Trotz der auffälligen Beschreibung der Kandidatin, die das Bild des rehäugigen, hilflosen und ängstlichen Mädchens evoziert, wird in dem Artikel deutlich gemacht, dass die Kandidatin Jauchs Verunsicherungstaktik Stand hält und sich durch Konzentration davor schützt. Niggemeier sieht an anderer Stelle das Wissen der KandidatInnen als Schutzschild gegen Jauch (Niggemeier, SZ 17.7.2001). Allerdings bleibt damit auch in dieser Unterargumentation das Machtgefälle zwischen Jauch und den KandidatInnen bestehen. Dies ist auch der Fall, wenn zwei Autoren davon sprechen, dass Kandidatinnen versuchten, Jauch in einen Flirt ›zu verstricken‹, also ihre Weiblichkeit einsetzten, um den Moderator zu manipulieren (Elfferding, SZ 4.4.2001; Krömer, SZ 21.12.2000). Sowohl Elfferding als auch Krömer verurteilen dieses vermeintliche Verhalten. Elfferding beschreibt Jauchs Methode, eine Kandidatin zu bremsen: »Blinkert die Kandidatin allzu sehr mit den Augen und vergisst dabei, die alles entscheidende Frage zu beantworten, so fängt Jauch an, ›fünf, vier, drei...‹ herunterzuzählen, um dem ältesten Spiel, das seinen Namen verdient, ein Ende zu setzen. Das technische Ritual hält die Triebe in Schach« (Elfferding, S Z 4.4.2001). Das Zitat legt nahe, dass Flirtversuche häufig in der Sendung der Fall seien. Die Kandidatin Sybille Kleinschmitt wird bei Krömer abwertend und geradezu gehässig charakterisiert: »Ihre ›eindimensionale Bildung‹ (Kleinschmitt über Kleinschmitt) suchte sie mit Flirtversuchen in Richtung Jauch wettzumachen« (Krömer, SZ 21.12.2000). Sie hätte ein »körperbetontes Blüschen« getragen und sei Jauch »juchzend um den Hals« gefallen. Der Autor charakterisiert die Kandidatin als ungebildete Frau, die ihre ›weiblichen Reize‹ vergeblich einzusetzen versucht, um ihre Chancen zu erhöhen. Damit sei sie jedoch gescheitert, was Krömer folgendermaßen kommentiert:

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»Am Dienstagabend hatte sie es schon in die Harald-Schmidt-Show geschafft, wenn auch nicht als Gast, so doch als Objekt der Belustigung. Schmidts Redaktionsleiter und genialer Sidekick Manuel Andrack zog mit würdigem Ekel über die kokette Kandidatin her und verriet grinsend das angeblich von Jauch-Autoren verbreitete Gerücht, dass man gejubelt habe, als Frau Kleinschmitt rausflog« (ebd.). In diesem Zitat zeigt sich ein Geschlechterdiskurs, in dem die männliche Position mit Andrack und den Jauch-Autoren Machtpositionen darstellen. Sie haben die Macht darüber, sich öffentlich über die Kandidatin zu mokieren und damit die Bedeutung, die sie in ihrem Auftritt sehen, in den öffentlichen Diskurs einzubringen. Der Autor schließt sich der Machtposition hier an und transportiert mit seinem Artikel diese vergeschlechtlichte Bedeutung zuungunsten der Kandidatin. Was Krömer und Elfferding kritisieren, ist nicht nur der Versuch, den Moderator zu beeinflussen, sondern der Versuch seitens der KandidatInnen die Show zur Selbstdarstellung zu instrumentalisieren. Bei Elfferding versuchten sogar die Begleitpersonen, sich selbst zu produzieren. Er spricht vom »kamerageilen Ehemann« (Elfferding, SZ 4.4.2001). Die Kandidatin Kleinschmitt habe die Hoffnung verfolgt – so Krömer (SZ 21.12.2000) – durch »Wer wird Millionär?« ›entdeckt‹ zu werden. Auch Reents bemängelt selbstdarstellerisches Verhalten. Der Geschichtsprofessor Eckhard Freise, der erste Millionengewinner bei »Wer wird Millionär?« habe sich in der Show und auch nach seinem Millionengewinn stark produziert (Reents, 9.12.2000). Freise wird hier der »Bildungshuberei« bezichtigt, was mit dem »Geltungsbedürfnis« begründet wird, das den Gebildeten allgemein außer Geld an der Show reize (ebd.). Krömer schreibt: »Der Preis ist heiß, aber längst nicht mehr alles, was Kandidaten und Zuschauer interessiert« (Krömer, SZ 21.12.2000). Er spricht dabei lax vom »Big Brother-Zweite Staffel-Effekt«, d.h. die KandidatInnen testeten nach den Diskursfragmenten aus, wie weit sie die Regeln überschreiten oder ausgestalten können. Sie setzen sich danach über diese Rolle hinweg, nach der sie einfach nur auf Jauchs Fragen antworten müssen. Krömer bewertet dieses Verhalten negativ – die Kandidatin Sybille Kleinschmitt wird von ihm charakterisiert, als ob sie die Öffentlichkeit täuschen wolle. Der Autor beklagt hier den Verlust der Authentizität (Krömer, SZ 21.12.2000). Krömer beschreibt, dass die Bedeutung der Quizshow »Wer wird Millionär?« über den möglichen Geldgewinn für die Kandidaten und Kandidatinnen hinaus gehe: »Herr Klump nahm sein Scheitern nicht locker, und statt zu fluchen verabschiedete er sich mit dem Satz: ›Ich wollte hier eine gute Figur abgeben, das war mir wichtig und das habe ich gemacht« Der Kandidat hatte eine Antwort gegeben, die nach Jauch falsch war, jedoch auch als richtig gewertet werden konnte. Der Rechtsstreit des Kandidaten mit RTL sei schon beigelegt, »aber für eine Schlagzeile auf dem Boulevard hat’s mal wieder gereicht.« (Krömer, SZ 21.12.2000). Hiernach geht es dem Kandidaten nicht mehr nur um Geld, sondern darum, im Licht der Öffentlichkeit zu bestehen. Der Auf-

Der Diskursstrang »Wer wird Millionär?« in der Fernsehkritik | 293 tritt in der Show werde zur Messlatte für die eigene Person. Etwas neutraler beschreibt Kahlweit in ihrem Artikel bei den KandidatInnen das Motiv, sich selbst über die Sendung zu bestätigen (Kahlweit, SZ 14.9.2001). Die Angst in der Öffentlichkeit zu versagen, ist nach den AutorInnen die Kehrseite dieser Motivation und betrifft auch prominente Teilnehmende des Prominentenspecials: »Die Angst vor der Blamage ist groß. Die Angst, dass bei Wer wird Millionär die 300-Mark-Frage zur unüberwindlichen Hürde werden könnte« (Fried, SZ, 1.12.2001). Das Verhalten, das die Kritik an den KandidatInnen wahrnimmt, erinnert an Fiskes Beschreibung von ›power-bloc‹ und ›people‹, wobei es ihm natürlich um das kreative Agieren des Publikums gegenüber Texten geht, das sich dabei vom ›Machtblock‹ abgrenzt. Jedoch steht hier wie dort ein Machtgefälle im Zentrum, wobei der untergeordnete Part versucht, vorgegebene Strukturen zu seinen Gunsten umzugestalten (vgl. Fiske 1993a). Fiske sieht hierin eine begrenzte Möglichkeit zum semiotischen Widerstand und den Versuch der ›Leute‹, sich einen eigenen Machtraum zu kreieren. Auffällig ist, das das ähnlich geartete Verhalten der Kandidatinnen und Kandidaten in den Diskursfragmenten negativ bewertet wird. Man interpretiert es als Versuch, die Regeln der Show zu umgehen und Jauch zu manipulieren. Demgegenüber könnten die Kritiker und Kritikerinnen das Verhalten der KandidatInnen genauso als Medienkompetenz interpretieren. Kahlweit schreibt zu einem Teilnehmer: »Ihm ist es egal, denn: Die Gewinnsumme ist genau so hoch wie sein Kleinkredit bei der Bank. Er findet, er habe gewonnen. ›Auch wenn alles lacht und sagt: Deutschlands dümmster Krankengymnast bei Jauch‹« (Kahlweit, SZ 14.9.2001). Der Kandidat hat bereits die Überschrift der Boulevardpresse vor Augen, weiß also über mögliche Konsequenzen seines öffentlichen Auftritts in den Medien Bescheid und stellt sich darauf ein. Die AutorInnen sehen bei den Kandidaten und Kandidatinnen, dass für sie die Sendung mehr bedeutet, als die Möglichkeit, Geld zu gewinnen. Der öffentliche Auftritt wird nach den Diskursfragmenten zu einer Bewährungsprobe für die eigene Persönlichkeit oder als vermeintliches Sprungbrett für eine Medienkarriere gewertet. ›Hätten Sie weitergemacht?‹ Man könnte mutmaßen, dass die Teilnahme der Kandidaten und Kandidatinnen an Quizshows einerseits von dem Willen motiviert sei, ihr Wissen zu zeigen, und andererseits von dem Wunsch, dass dieses Wissen mit Geld honoriert wird. In dieser Unterargumentation geht die Kritik der Frage nach, ob die Präsentation von Wissen noch eine Bedeutung für die Teilnehmenden habe oder der finanzielle Anreiz für sie überwiege. Dass Bildung für die Kandidaten und Kandidatinnen von »Wer wird Millionär?« bedeutsam sei und sie selbst gebildet seien, wird in vier Diskursfragmenten auf unterschiedliche Weise deutlich gemacht. Meuren schreibt, dass die Show »Wer wird Millionär?« »vor allem diejenigen gewinnen lässt, die eine gute Allgemeinbildung haben« (Meuren, FAZ

294 | Teil 3: »Wer wird Millionär?« und »GZSZ« im Diskurs der Fernsehkritik

2.9.2001) – ein breites Wissen sieht er somit als Voraussetzung für einen Gewinn an. Dass Bildung immer noch Bedeutung für die KandidatInnen habe, wird in zwei weiteren Artikeln nahegelegt, die auf die Blamage hinweisen, wenn etwas nicht gewusst wird. Kahlweit meint, dass Nichtwissen als Peinlichkeit empfunden werde und sich die Teilnehmer und Teilnehmerinnen mit der Ausrede ›Dabei sein ist alles‹ über ihr Ausscheiden hinwegtrösteten (Kahlweit, SZ 14.9.2001). Zudem sieht sie in den KandidatInnen »selbstsichere Bildungsbürger« (ebd.). Gebildete KandidatInnen sieht Kämmerlings in Harald Schmidt und Hella von Sinnen beim Prominentenspecial: »Ähnlich Hella von Sinnen, die gar nicht erst Antwortvorschläge abwarten wollte. Bei ihr ist Wissen Power!« (Kämmerlings, FAZ 2.12.2000) Keil sieht zudem noch das Ziel der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, sich durch »solides Allgemeinwissen« bis zur Million ›vorkämpfen‹ zu wollen (Keil, SZ 8.9.1999). Wissen hat danach noch einen Stellenwert bei den KandidatInnen. Ritter sieht dies anders. Er spricht von »ungenierter Unwissenheit« in Quizsendungen (Ritter, FAZ 15.4.2001). Der Autor mit dem Kürzel rea meint ähnlich, dass in Quizshows generell »eine falsche Antwort weniger einen Ansehensverlust als vielmehr die schwindende Aussicht aufs große Geld« bedeute. In den frühen Quizshows wie »Hätten Sie’s gewusst?«10 habe dagegen der Leitsatz »was man weiß, was man wissen sollte« gegolten, und die TeilnehmerInnen hätten Unwissen noch als Blamage empfunden (rea, FAZ 3.9.2000). Bildung habe danach für die Kandidaten und Kandidatinnen heute einen geringeren Stellenwert als für die Teilnehmenden in der Fernsehvergangenheit. Zudem wird an drei Stellen das Unwissen von einzelnen KandidatInnen bei »Wer wird Millionär?« beklagt (Kämmerlings, FAZ 2.12.2000; Krömer, SZ 21.12.2000; spöttisch: Kaspar, FAZ 2.5.2001). Zips beschreibt die Situation der Teilnehmer und Teilnehmerinnen ironisch, wenn er nach der ›Erotik des Geistes‹ fragt, mit der Jauch den Erfolg seiner Sendung erkläre: »Was aber ist erotisch daran, wenn sich Moderator und Kandidat auf zwei Zahnarztstühlen gegenübersitzen und vor Flachbildschirmen sinnieren, wer sich eine ›singende Herrentorte‹ nennt. Wenn Finanzbeamte jemanden anrufen dürfen, der auch nichts weiß, aber viel Glück wünscht. […] Die Erotik der Sendung – das ist das Wissen der Kandidaten. Wer richtig miträt, ist glücklich. Vorspiel, Klimax, Höhepunkt. Begrüßung, Frage, Antwort. Auch Intelligenz macht sexy« (Zips, S Z 8./9.9.2001). Zips sieht keine ›Erotik des Geistes‹ gegeben. Vielmehr ironisiert er diese, indem er den Ablauf der Show mit einem Koitus vergleicht. Er charakterisiert hier die Inhalte als banal und sieht auch keine Bildung bei den Kan10 | ›Hätten Sie’s gewusst?» war der Titel einer Quizsendung, die von Heinz Mägerlein zwischen 1958 und 1969 in der ARD moderiert wurde. Die Show hatte das Motto »Was man weiß, was man wissen sollte« (vgl. Hallenberger/Kaps 1991: 31).

Der Diskursstrang »Wer wird Millionär?« in der Fernsehkritik | 295 didaten und Kandidatinnen. Krömer hebt daneben Peter Kloeppel als »Ankermann im Meer des Unwissens« hervor (Kämmerlings, FAZ 2.12.2000), betont also das Wissen des Einzelnen, sieht jedoch eine Dominanz von Wissenslücken. Das Zitat könnte man auch als Anspielung auf RTL verstehen, wo Kloeppel als Moderator der Nachrichtensendung »RTL Aktuell« und offenbar gebildeter Mensch aus dem übrigen Unterhaltungsprogramm herausrage. Genauso wird Eckhard Freise, der Geschichtsprofessor, der als erstes bei »Wer wird Millionär?« eine Million gewann, als Ausnahme begriffen. Er werde »bestaunt wie ein Fossil aus vergangener Zeit. Selbst Günther Jauch schien froh zu sein, es mit einem gebildeten Menschen zu tun gehabt zu haben« (Reents, SZ 9.12.2000). Freise steht hier für Bildungsgrundsätze, die es aus Reents Sicht heute nicht mehr gebe. Hier klingt der Diskurs um die Allgemeinbildung der Deutschen an, der beispielsweise durch das schlechte Abschneiden deutscher SchülerInnen bei der PISA-Studie11 im Jahr 2000 verstärkt geführt wurde. An anderer Stelle wird Freise eine Sonderstellung als Hochintelligenter zugewiesen (dpa, FAZ 16.9.2001). »Ein Trostpflaster bleibt aber auch für wenige Schlaue: ›Wenn man Glück hat mit dem Raten, kann man es schaffen‹, sagte Weiss. Die zweite Gewinnerin der RTL-Show war vor wenigen Monaten eine Hausfrau: Sie gab zu, die meisten Antworten erraten zu haben« (dpa, F A Z 16.9.2001). Aufällig ist, dass Marlene Grabherr hier nicht namentlich erwähnt und als ›weniger Schlaue‹ abgewertet wird. Kämmerlings meint ironisch zu dem Auftritt von Ottfried Fischer in der Prominentenausgabe von »Wer wird Millionär?«: »Nachdem Fischer zuvor meist ins Leere gestarrt hatte, wie bei einer Theoriestunde für den Traktorführerschein, drehte er auf mit einer unnachahmlichen Bauernschläue, die freilich auch nur eine Rolle war. […] ›Dann mach ich’s halt mit Intelligenz‹, sprach er, als der letzte Joker gezogen war« (Kämmerlings, F A Z 2.12.2000).

11 | Hinter der Abkürzung ›PISA‹ verbirgt sich das ›Programm for International Student Assessment‹, eine internationale Schulleistungsstudie, die zum ersten Mal im Jahr 2000 von der ›Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung‹ (OECD) durchgeführt wurde. Sie untersucht die Lesekompetenz sowie die mathematische und naturwissenschaftliche Grundbildung 15-jähriger Schülerinnen und Schüler. An ihr sind 32 Staaten beteiligt. Die Ergebnisse wurden Ende 2001 veröffentlicht: Deutschland lag in allen Bereichen unter dem OECDDurchschnitt. In den Medien war daraufhin die Rede vom »PISA-Schock«. Bereits 1997 hatte die internationale Schulstudie ›TIMSS‹ deutschen SchülerInnen lediglich mittelmäßige Fähigkeiten bescheinigt. Quelle und weitere Informationen: http://www.mpib-berlin.mpg.de/pisa/; Abrufdatum: 13.3.2003.

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In diesen Diskursfragmenten werden die Teilnehmenden bei »Wer wird Millionär?«, prominent oder nicht, als vorrangig ungebildet charakterisiert. Auch diese Textstelle zielt wie bei Reents erneut auf den Diskurs um die Allgemeinbildung der Deutschen ab. Daneben wird argumentiert, dass die KandidatInnen von »Wer wird Millionär?« statt ihr Wissen unter Beweis zu stellen, nur auf den Geldgewinn fixiert seien. Reents (SZ 9.12.2000) sieht Geld neben Geltungsdrang als Anreiz für Ungebildete und Gebildete im Vordergrund. Und Görtz schreibt: »Im Fernsehen gibt es bei den richtigen Antworten gehöriges Geld dafür. Denn nur richtiges Geld sorgt für den Kick, den mit Erdmännchen-Adel allein kaum einer sich verschaffen wird«12 (Görtz, FAZ 22.5.2001). Der ›Kick‹, den auch nach Kahlweit die KandidatInnen suchen (Kahlweit, SZ 14.9.2001), stellt die Teilnahme bei »Wer wird Millionär?« in eine Reihe mit so genannten Extremsportarten wie Bunjee-Jumping, mit denen alltagsmüde Menschen durch den Adrenalinstoß aus dem täglichen Trott ausbrechen möchten. Für sie sei die Möglichkeit, einmal im Leben in der Öffentlichkeit zu stehen, etwas Besonderes: »Eigentlich hätte dieser Dienstag für die Kandidaten ein großer Tag sein sollen, der eine Kick im Leben, der anders ist als der tägliche Trott. Einmal Günther Jauch gegenüber sitzen, einmal von einem Millionenpublikum bewundert oder beneidet werde, einmal, vielleicht bei 125 000 Mark sagen dürfen: ›Ich nehme das Geld und höre auf‹« (Kahlweit, S Z 14.9.2001). Die Teilnahme an »Wer wird Millionär?« wird den KandidatInnen bei Görtz durch den finanziellen Anreiz zum Abenteuer. Die Gier nach Geld, die ebenfalls mit dem ›Kick‹ angedeutet wird, unterstellt der Autor mit dem Kürzel rea, wenn er von ›abräumen‹ spricht und davon, dass einer allein »im absoluten Glücksfall […] eine Million mit nach Hause nehmen« kann (rea, FAZ 3.9.2000). Lediglich Kahlweit schätzt die KandidatInnen ambivalent ein als »leistungsorientierte Mittelschicht«, was das Interesse am Gewinn beinhaltet, und als »Bildungsbürger« (vgl. Kahlweit, SZ 14.9.2001). Glück statt Wissen, Geldgier und die Suche nach dem ›Kick‹ werden bei den KandidatInnen überwiegend konstatiert. Wissen zu präsentieren ist danach für die KandidatInnen nicht von Bedeutung. Sehr kritisch äußert sich Elfferding dazu (SZ 4.4.2001), wenn er vom ›Zocken‹ in Quizshows spricht. Er stellt »Wer wird Millionär?« in einen ideologischen Zusammenhang und bringt damit noch einen neuen Aspekt in die Unterargumentation ein:

12 | Görtz spielt mit »Erdmännchen-Adel« auf eine Frage an, in der nach dem ›König der Erdmännchen‹ gefragt wurde. Es handelt sich dabei um eine Figur der Augsburger Puppenkiste.

Der Diskursstrang »Wer wird Millionär?« in der Fernsehkritik | 297 »Soweit es in der Sendung menschelt, dienen die Menschen doch letztlich nur als Diskursfolie, um unseren Blick darin einzuüben, wie man zockt, ohne viel zu wissen. Über die Frage ›Hätten Sie’s gewusst?‹ hat sich längst die andere geschoben: ›Hätten Sie weitergemacht?‹« (Ebd.) Elfferding übt Kritik an der kapitalistischen Ideologie, bewegt sich demnach in ideologiekritischer Tradition. Hier werden die KandidatInnen durch die Anlage des Spiels zum ›Zocken‹ gebracht und auf kapitalistische Maximen eingeschworen. Bildung und Wissen soll den KandidatInnen danach auch nicht mehr vorrangig bedeutsam sein. Bildung spiele in unserer Gesellschaft allgemein gegenüber kapitalistischen Zielen eine untergeordnete Rolle: »Hier ist das Lernen gelandet, bei Günther Jauch und Ulla Kock am Brink. Nachdem die Bildungsreformen des vergangenen Jahrhunderts im Wesentlichen zum Ergebnis hatten, das Lernen einem immer ausgefeilteren formalen Kalkül zu unterwerfen, dem Punktesammeln, entpuppt sich nun, worauf dieses Kalkül schon immer hinauslief – auf Cash. Für Geld ist uns keine Frage zu blöd« (Elfferding, S Z 4.4.2001). Wieder wird der Bildungsdiskurs sichtbar, wenn Elfferding die Bildungsreformen der letzten Jahre kritisiert. Dass das Wissen der KandidatInnen nicht mehr das sei, worauf es bei »Wer wird Millionär?« ankomme, legen auch Kommentare von Ritter (FAZ 15.4.2001), Görtz (FAZ 22.5.2001), rea (FAZ 3.9.2000) und Reents (SZ 9.12.2000) nahe, die meinen, Raten oder Kombinationsgabe sowie sich nicht verunsichern zu lassen, seien entscheidend für den Erfolg. Für Quizshows und für das Alltagsleben sieht Ritter: »Hier wie im Alltag gilt: Unsicherheit schadet mehr als Unkenntnis« (Ritter, FAZ 15.4.2001; ähnlich: rea, FAZ 3.9.2000). Görtz betont bei der zweiten Millionengewinnerin Marlene Grabherr, dass sie sich ebenfalls nicht habe verunsichern lassen. Auch sie ›wusste‹ nach Görtz nicht viel, habe aber ›gut geraten‹ (Görtz, FAZ 22.5.2001; siehe auch dpa, FAZ 16.9.2001). Hier wird nicht das Wissen der Teilnehmer und Teilnehmerinnen als Qualität hervorgehoben, sondern andere Fähigkeiten, wie Standhaftigkeit. Bildung sei es danach nicht, was von den KandidatInnen gefordert werde. Reents beschreibt die Teilnehmerin, die im Anschluss an den Millionengewinner Freise Jauch gegenübersaß als Kandidatin »die nicht viel wusste, aber mit Kombinationsgabe trotzdem eine viertel Million Mark erwirtschaftete und sogar Jauch Respekt abnötigte. Es war wie beim Fussball, wo die spielerisch unterlegene Mannschaft gewinnt, und mancher mochte sich fragen, wie es einer mit so beschränkten Mitteln so weit bringen kann. Doch Jauchs Kandidatin tat erst gar nicht so, als wäre sie sonderlich gebildet« (Reents, S Z 9.12.2000). ›Zocken‹ oder ›Bluffen‹ ist es, was die Kandidatin hier dem Zitat nach macht und was von den KandidatInnen gefordert sei (nicht ganz eindeutig dazu auch: Görtz, FAZ 22.5.2001). Dass sie den Beweis, viel zu wissen,

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nach der Fernsehkritik gar nicht mehr antreten wollten, wird bei Kahlweit noch auf etwas andere Weise thematisiert. Sie fragt danach, wie sich der Erfolg bei »Wer wird Millionär?« bemesse. Ein Kandidat, der »mit viel Hilfe, vielen Fehlern, drei Jokern und wenig Wissen« wenige tausend Mark gewinnt, sieht sich dennoch als Gewinner, da er mit dem Geld seine Schulden begleichen kann (Kahlweit, SZ 14.9.2001). Der Teilnehmer definiert Erfolg auf seine eigene Weise. Die Motivation, bei »Wer wird Millionär?« Wissen zu präsentieren, findet sich in den Diskursfragmenten lediglich im Rahmen der Angst, sich öffentlich zu blamieren, oder negativ als Geltungsdrang bei Freise (z.B. Reents, SZ 9.12.2000). Ansonsten überwiegen die Stimmen, die bei den Teilnehmenden die Gier nach Geld herausstellen. Statt Wissen verfügten sie über andere Qualitäten, wie sich nicht verunsichern zu lassen, zu ›zocken‹ oder gut zu raten. Das Bild, das hier von den gegenwärtigen KandidatInnen gezeichnet wird, ist somit kapitalistisch geprägt. Bildung bedeute ihnen als Wert an sich nicht mehr allzu viel und sei teilweise nicht mehr vorhanden, schenkt man der Kritik Glauben. In drei Artikeln kommen die Autoren denn auch insgesamt zu dem Schluss, dass Wissen bei »Wer wird Millionär?« marginal sei (vgl. Ellferding, SZ 4.4.2001; Ritter, FAZ 15.4.2001; Kämmerlings, FAZ 2.12.2000). Insbesondere Elfferding zeigt sich empört darüber, dass die Show teilweise als Bildungssendung dargestellt worden sei. Man habe nur Inhalte wahrgenommen, jedoch nicht die Form: »Wie wäre es sonst möglich, dass der Altbundespräsident Günther Jauchs Millionärsshow wegen ihres Bildungswerts in den höchsten Tönen lobt, woraufhin – oder hängt das gar nicht miteinander zusammen? – der gute Junge gleich einen Preis bekommt?« (Elfferding, S Z 4.4.2001) Ritter sieht keinen Bildungsgehalt von »Wer wird Millionär?«, da keine klassischen Wissensgebiete sondern Alltagswissen abgefragt werde (Ritter, FAZ 15.4.2001). Wie oben angemerkt, fließt in dieser Unterargumentation der gesellschaftliche Diskurs um Bildung ein. Kämmerlings kommt zu dem Schluss: »es steht nicht so schlecht um den Bildungsstand der Nation, wie das Fernsehprogramm vermuten ließ«, obwohl er in seinem Artikel dem Wissen der Teilnehmenden eher skeptisch gegenüber steht (Kämmerlings, FAZ 2.12.2000). Der Autor schließt von den KandidatInnen auf die Bildung der Deutschen. Der dominante Tenor dieser Unterargumentation sieht die Zukunft der Bildung jedoch anders. Bildung habe schlechte Zukunftsaussichten. Man kann die Charakterisierung von Millionengewinnerin Marlene Grabherr und Eckhard Freise, der die erste Million bei »Wer wird Millionär?« gewann, für die Bewertung von Bildung in den Diskursfragmenten nehmen: Der Intellektuelle Freise steht dort für traditionelle Bildungsideale, während Grabherr Kombinationsgabe und Glück verkörpert und als ›ungebildete Hausfrau‹ abgewertet wird. Insgesamt

Der Diskursstrang »Wer wird Millionär?« in der Fernsehkritik | 299 sehen die AutorInnen die Dominanz des Alltagswissens gegenüber abnehmender traditioneller Bildung bei den KandidatInnen von »Wer wird Millionär?«.

4.6 Fünfter Fokus: Die ZuschauerInnen An fünfter Stelle fällt der Blick auf die Zuschauer und Zuschauerinnen. Sie werden von der Kritik allerdings nicht sonderlich umfangreich behandelt. Vor allem sind es die unterschiedlichen Anreize, »Wer wird Millionär?« einzuschalten, die von den Autoren und Kritikerinnen thematisiert werden. Das Bild, das von dem Publikum entworfen wird, ist somit nicht besonders facettenreich. Dennoch ist es nicht eindeutig. Meuren hält ›RTL-Zuschauer‹ für dümmer als den Bundesdurchschnitt (Meuren, FAZ 2.9.2001), was sich wohl eher gegen RTL richtet, als gegen »Wer wird Millionär?«, wie das Negativ-Image von RTL in Bezug auf ›die Produzenten‹ ebenfalls nahe legt. Daneben wird das Publikum als »Millionenpublikum« an einigen Stelle sehr positiv bewertet (Keil, SZ 8.9.1999). Niggemeier schreibt: »Bei RTL haben am Montag über zwölf Millionen Menschen die bis zum Frühsommer letzte Folge gesehen. Das ist phänomenal« (Niggemeier, SZ 9.2.2000; siehe auch Niggemeier, SZ 2.5.2000).. Die Zuschauer und Zuschauerinnen, die millionenfach einschalten, werden somit nicht als ›Masse‹ abqualifiziert, wie dies bei den RezipientInnen von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« zu beobachten war. Als Argumentationsstrang wurde ›»Wer wird Millionär?« als perfekter Publikumsanreiz‹ herausgearbeitet. Darunter fallen zwei Unterargumentationen: Neben der Charakterisierung des Publikums als ›Jauch-Fans‹, wird der ›einfache Zugang‹, den sie zum Quiz hätten, beschrieben. Wie bereits in dem Diskursstrang zu »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« soll kurz auf die Haltung der Kritiker und Kritikerinnen eingegangen werden, die ja ebenfalls Rezipierende darstellen. Während bei der Seifenoper meist eine distanzierte Position eingenommen wurde und man sich häufig betont von den Fans der Serie abhob, bekannten sich einige KritikerInnen bezüglich »Wer wird Millionär?« dazu, Fans der Quizshow zu sein (siehe vor allem Niggemeier, SZ 9.2.2000). Mehrere AutorInnen identifizierten sich mit dem Publikum, z.B. jöt (FAZ, 7.6.2001) und Hanfeld: »Im Herbst, der vor der Tür steht und wieder vor Quotenkämpfen heiß wird, werden wir uns von ihm noch viele Fragen gefallen lassen« (Hanfeld, FAZ 8.9.2001). Dass AutorInnen die Quizshow regelmäßig verfolgen, wurde auch deutlich, wenn in anderem Kontext ohne Erläuterung auf die Regeln der Quizsendung angespielt wird. So stellt ein Autor in einer Rezension zu einem Fernsehfilm die ›Hundertmarkfrage‹ (Bahnen, FAZ 15.3.2001), oder es fühlt sich Hanfeld in einem Porträt von Jauch als Kandidat (Hanfeld, FAZ 8.9.2001). Noch einmal zur Erinnerung: Im »GZSZ«-Diskursstrang fand sich überhaupt nur ein Beitrag, in

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dem sich die Autorin als regelmäßige »GZSZ«-Zuschauerin offenbarte (siehe Zekri, FAZ 10.5.2000) – die beiden Diskursstränge unterscheiden sich somit hinsichtlich der Position der Kritik wesentlich. In einigen Artikeln distanzierten sich die AutorInnen jedoch auch von »Wer wird Millionär?« (siehe Kämmerlings, FAZ 2.12.2000; Olbert, FAZ 27.3.2001; Elfferding, SZ 4.4.2001). Diese Distanz zeigte sich beispielsweise in einer Abwehrhaltung gegen die Interpretation der Quizsendung als Bildungsformat (so Elfferding, SZ 4.4.2001), gegen die Vermittlung populären Wissens gegenüber der klassischen Bildung (vgl. Kämmerlings, FAZ 2.12.2000) und gegen den Gewinn, der durch die Show für RTL erzielt wird (Olbert, FAZ 27.3.2001). Insbesondere die Artikel von Elfferding (SZ 4.4.2001) und von Kämmerlings (FAZ 2.12.2000) fallen mit ihrer distanzierten Haltung gegenüber der Show auf. Während Elfferding eine ideologiekritische Perspektive einnimmt, wird Kämmerlings Distanz zu »Wer wird Millionär?« auch in etwas befremdlichen stilistischen Ausdrücken deutlich, die zeigen, dass er kein Zuschauer der Sendung ist. Den ›Telefonjoker‹ bezeichnet er als »der Ratgeber am Telefon«, außerdem ist von der »klügsten Brillenschlange« und von »Eierköpfen« die Rede (Kämmerlings, FAZ 2.12.2000), was statt des wohl beabsichtigten witzigen Effektes antiquiert wirkt. 4.6.1 Argumentationsstrang: »Wer wird Millionär?« als perfekter Publikumsanreiz Jauch-Fans Die Begeisterung des Publikums für »Wer wird Millionär?« ist der zentrale Aspekt, der bezüglich der Rezipienten und Zuschauerinnen thematisiert wird. Dabei sehen mehrere Kritikerinnen und Kritiker Jauch als Hauptanreiz einzuschalten (vgl. Kahlweit, SZ 14.9.2001; Reents, FAZ 30.5.2001; Keil, SZ 31.12.2001; Zekri, FAZ 30.1.2001). Die RezipientInnen werden als Fans beschrieben, was auch Jauch selbst herausstelle: »Für seine Allgegenwart im Fernsehen […] ist, so gibt er uns zu verstehen, gar nicht er verantwortlich, sondern ein Publikum, das auf ihn nicht verzichten mag« (Reents, FAZ 30.5.2001). Die Beziehung des Publikums zu Jauch erscheint dabei als übersteigert. Sie scheinen uneingeschränkt von der Person Jauch eingenommen zu sein: »Das Fernsehpublikum bescheinigt ihm denn auch Qualitäten, mit denen es normalerweise nicht so schnell bei der Hand ist: eine beinahe uneingeschränkte Kompetenz, großes Einfühlungsvermögen und eine Glaubwürdigkeit, die auch durch den Reportagenfälscher Born nicht erschüttert werden konnte […]«(Reents, F A Z 30.5.2001).13 13 | Reents bezieht sich hier auf Michael Born, auf dessen gefälschte Reportagen die Redaktion von »stern TV« und Moderator bzw. zeitweise auch Chefredakteur der Sendung Günther Jauch hereinfiel. Der Skandal flog 1996 auf. Vgl. dazu den Beitrag von Reichert (2001).

Der Diskursstrang »Wer wird Millionär?« in der Fernsehkritik | 301 Jauch werde sogar für einen ›besonders schlauen‹ Menschen gehalten, so Reents. Das Publikum wirkt hier fast abhängig von Jauch in ihrer scheinbar grenzenlosen Bewunderung für ihn: »Undenkbar, dass die Zuschauer seiner überdrüssig werden. Fast scheint es umgekehrt, als stünde er desto besser da, je öfter ihn die Leute zu sehen bekommen« (Reents, FAZ 30.5.2001). Die ZuschauerInnen beteten Jauch geradezu an und ihm werde seine »Allgegenwart« im Fernsehen entgegen anderer Gepflogenheiten nicht negativ ausgelegt: »Was sonst gerne als mediale Prostitution diffamiert wird, ist bei ihm Ausweis seiner Kompetenz« (Reents, FAZ 30.5.2001). Auch Zekri sieht eine extrem enge Zuschauerbindung, das an »jauchfreien Sonntagen« »verwaist« zurückbliebe (Zekri, FAZ 30.1.2001). Ohne Jauch scheint hiernach Fernsehen keinen Sinn zu machen. Kahlweit meint, dass RTL mit »Jauch-Begeisterung« spekuliere, »neu belebt durch eine Sendung, für die sich ein Großteil aller Fernseh-Zuschauer dreimal pro Woche vor der Glotze vereint wie dereinst für den Großen Preis« (Kahlweit, SZ 14.9.2001). Die Autorin beschwört hier die Rückkehr zur Fernsehvergangenheit und stellt den Bezug zum öffentlich-rechtlichen Erfolgsformat her, das Jahrzehnte gesendet wurde14 und das Anfang 2002 sogar vom ZDF wieder auf Sendung geschickt wurde. Keil differenziert, die ZuschauerInnen wollten »Jauch-TV« und nicht RTL (Keil, SZ 31.12.2001). Die Zuschauerinnen und Zuschauer werden in dieser Unterargumentation als ›Jauch-Fans‹ charakterisiert, die eine sehr intensive Beziehung zu ihm aufgebaut hätten. Dass die Kritik ihnen teilweise unterstellt, sie schrieben Jauch Kompetenzen zu, die sich aus seiner Arbeit bei »Wer wird Millionär?« nicht zwingend ableiten ließen, wie z.B. besonders intelligent zu sein, wirft ein unkritisches, emotional gefärbtes Licht auf das Publikum. Es wird hier als uneingeschränkt begeistert gezeichnet, wobei betont wird, dass diese Begeisterung nicht RTL, sondern Günther Jauch gelte. Nach den Kritiker und Kritikerinnen seien die ZuschauerInnen auf Jauch fixiert und geradezu süchtig nach ihm. Einschalten und mitraten – der einfache Zugang zum Quiz »Jeder kann mitmachen, alle wissen es besser (vor allem die zuhause) und dazu, worum es geht« (Keil, SZ 8.9.1999). Einer der Anreize, der »Wer wird Millionär?« attraktiv für die ZuschauerInnen mache, sei der einfache Zugang, d.h. die ZuschauerInnen schalten ein und könnten sofort mitraten (Zips, SZ 8./9.9.2001). Der leichte Zugang zu »Wer wird Millionär?« deutet sich auch in der Unterargumentation ›Perfekt einfach‹ zum Konzept der Sendung an, wo sich die Fernseh14 | Die Show »Der große Preis« wurde von 1974 bis 1993 im ZDF ausgestrahlt und schließlich nach 232 Folgen eingestellt. Moderiert wurde das Quiz lange Zeit von Wim Thoelke. Vgl. Strobel/Faulstich 1998.

302 | Teil 3: »Wer wird Millionär?« und »GZSZ« im Diskurs der Fernsehkritik

kritik begeistert zeigte. Dieser Aspekt wird in unterschiedlicher Weise in verschiedenen Diskursfragmenten verhandelt. Niggemeier versucht, die Rezipierenden zu ködern, indem er das Konzept der Quizsendung auf seinen Artikel überträgt und einleitend eine Frage mit mehreren Antwortmöglichkeiten stellt, die er erst am Ende beantwortet. Er führt auf diese Weise vor, wie leicht man durch die Fragen in das Spiel hineingezogen werde. Diese Erfahrung belegt er noch mit der Anekdote des englischen Senderchefs, der nach einer Proberunde sofort ›Feuer und Flamme‹ für das Spiel gewesen sei (vgl. Niggemeier, SZ 9.2.2000). Ähnlich wie Keil, Zips und Niggemeier argumentiert auch der Autor mit dem Kürzel rea (FAZ, 3.9.2000). Reents bewertet den leichten Einstieg in die Show negativer. Die Zuschauer und Zuschauerinnen werden bei ihm als RezipientInnen charakterisiert, die Anstrengungen, wie erhöhte Konzentration, gern vermieden und deshalb bei »Wer wird Millionär?« einschalteten (Reents, SZ 9.12.2000). Der Kommentar von Reents zielt darauf ab, dass die Inhalte der Fragen und nicht nur, wie oben angeführt, die Art und Weise der Präsentation einen Zugang erleichtere. Dieser Aspekt wird noch in weiteren Artikel herausgestrichen, indem die Nähe der Wissensgebiete zum Alltag der ZuschauerInnen betont wird: »Wie der König der Erdmännchen in der Augsburger Puppenkiste heißt? Zur Beantwortung dieser Frage, das ist das Verlockende daran, braucht man weder ein Universitätsstudium noch eine Berufsausbildung. Eigentlich müsste man nur zur richtigen Zeit Kind gewesen sein und das richtige Nachmittagsprogramm angeschaut haben. Bei wichtigen Fußballspielen und dem entscheidenden Tor, in welcher Minute auch immer, ist es im Prinzip nicht anders« (Görtz, F A Z 22.5.2001). Vorbildung benötigten die ZuschauerInnen somit nicht, um bei »Wer wird Millionär?« mitraten zu können. In ähnlicher Weise begründet Ritter den Erfolg von Quizsendungen damit, dass sie mit ihrem Alltagswissen auch die Alltagserfahrungen des Publikums widerspiegelten. Er spricht von einem »bunten Allerlei der aufgeschnappten Kenntnisse«, klassische Bildung sei hier unnötig: »Mit dem, was man im Kopf hat, will man ja auch sonst nur irgendwie weiterkommen. Es will nicht vergeblich erworben sein« (Ritter, FAZ 15.4.2001). Der Zugang zum Quiz scheint demnach allen offen zu sein. Görtz beschreibt die Zuschauer und Zuschauerinnen ebenso als Menschen, »die in der Zeitung regelmäßig das Vermischte lesen und darüber staunen, wie bunt die Welt ist und wie einfach sie sich erklären lässt, wenn man in der Schule oder vor dem Fernseher aufgepasst hat« (Görtz, FAZ 22.5.2001). Die Rezipierenden werden an dieser Stelle als etwas naiv charakterisiert. Kaspar problematisiert in seinem Beitrag den leichten Zugang über das Alltagswissen: Quizsendungen appellierten an die Vorurteile der Zuschauer und Zuschauerinnen, in deren Augen AkademikerInnen »weltfremd« seien (Kaspar, FAZ 2.5.2001).

Der Diskursstrang »Wer wird Millionär?« in der Fernsehkritik | 303 Als weiterer Punkt, der einen einfachen Zugang zu »Wer wird Millionär?« fördere, wird das Verhältnis der ZuschauerInnen zu den Kandidatinnen und Kandidaten genannt. Zum einen bestünde die Möglichkeit, sich mit dem »Held« (Niggemeier, SZ 9.2.2000), hier: dem Kandidaten oder der Kandidatin, zu identifizieren. Niggemeier wird nicht müde, die Spannung hervorzuheben, die das Publikum bei »Wer wird Millionär?« dabei auf Anhieb packe. Die RezipientInnen ›fieberten‹ bei diesem einfachen Zugang körperlich ›mit‹ (ebd.), was an die Beschreibung des körperlichen Vergnügens in den Cultural Studies und zuvor bei Barthes erinnert (vgl. z.B. Fiske 1989a: 69; Barthes 1974). Vor allem die Musik von »Wer wird Millionär?« spiele bei diesem Erleben eine zentrale Rolle: »durchgehender Puls im Bass, der das Blut in Wallung bringt« (Elfferding, SZ 4.4.2001). Zum anderen wird der leichte Zugang zu »Wer wird Millionär?« an dem voyeuristischen Vergnügen festgemacht, von dem sich das Publikum nicht freimachen könne und welches ein wesentlicher Anreiz sei einzuschalten (vgl. Niggemeier, SZ 9.2.2000; Elfferding, SZ 4.4.2001; Reents, FAZ 30.5.2001). Dem Publikum würden dazu »menschliche Leidenschaften […], Abgründe, die sich offenbaren, Hoffnung, Glück, Dramatik, Trauer, Zuversicht« geboten, also »alles, was das Leben zu bieten hat« (Niggemeier, SZ 9.2.2000). Bissiger formuliert es Elfferding: die KandidatInnen böten »Charakter-Striptease im Angesicht des Geldes« (Elfferding, SZ 4.4.2001). Reents interpretiert das Interesse des Publikums als »Schadenfreude« (Reents, FAZ 30.5.2001) und formuliert zum Anreiz von Quizsendungen allgemein: »Das Risiko des Scheiterns ist beim Tüchtigen am größten. Dass sich ihm jemand freiwillig und dazu öffentlich aussetzt, macht die Quizsendungen so interessant – abgesehen davon, dass der Zuschauer dabei auch sein eigenes Wissen überprüfen kann« (Reents, S Z 9.12.2000). Für den Sender sei das voyeuristische Interesse zentral, der in dieser Hinsicht reizvolle Kandidaten und Kandidatinnen benötige (Krömer, SZ 21.12.2000), wobei Krömer das voyeuristische Vergnügen der ZuschauerInnen negativ bewertet (ebd.). Hoff stellt in seinem Beitrag den Bezug von »Wer wird Millionär?« zur gesellschaftlichen Realität her. Für ihn zeigt sich in der Begeisterung des Publikums über den einfachen Zugang ein gesellschaftliches Bedürfnis nach Einfachheit: »Der Rückfall in die einfachen Strukturen spiegelt ein Bedürfnis nach Orientierung in einer sich immer unübersichtlicher gebenden Welt. Wenigstens im Fernsehen soll gelten, dass Wissen Macht ist und nicht bloß alertes Auftreten an der Börse oder im Manager-Meeting« (Hoff, S Z 7.7.2000). Der Autor meint hier, dass die Bedeutung der Show für die Zuschauer und Zuschauerinnen über einen einfachen Unterhaltungsanreiz hinaus-

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gehe. Sie suchten in der Sendung einen Gegenentwurf zu ihrer eigenen Realität, die ihnen zu kompliziert und unübersichtlich erscheine. Der einfache Zugang zu »Wer wird Millionär?« wird in dieser Unterargumentation somit auf unterschiedliche Weise thematisiert. Insbesondere wird die Nähe zum Alltag des Publikums mehrfach angesprochen. Zudem zeigt sich die vieldeutige Anlage der Quizshow, wenn die KandidatInnen auf unterschiedliche Weise vom Publikum wahrgenommen werden könnten: voyeuristisch mit Schadenfreude oder über die Identifikation und ›Mitleiden‹ – hier wird sogar ein körperliches Vergnügen beschrieben. Damit werden in dieser Unterargumentation Aspekte angesprochen, die auch in den Cultural Studies diskutiert werden. So sind Alltagsnähe und die offene, vieldeutige Textanlage dort Kennzeichen populärer Kultur (vgl. Fiske 1999b: 67 ff.), die den ZuschauerInnen die Aneignung erleichterten. Die Bewertung dieser Momente ist in der Unterargumentation ambivalent. Bezüglich des leichten Zugangs aufgrund alltäglicher Wissensinhalte überwiegt eine abwertende Haltung gegenüber den Rezipierenden. Dagegen wird der einfache Einstieg über die Fragen eher positiv betrachtet. Insgesamt ist das Zuschauerbild, das hier entworfen wird, also uneindeutig. Je nach dem, ob sich der Autor oder die Autorin mit dem Publikum identifizieren oder sich von ihm distanzieren, fällt es günstiger oder weniger positiv aus. Hier spielt erneut der Diskurs um populäres Wissen bzw. Bildung eine Rolle sowie die Frage danach, wann welche Vergnügen legitim sind.

4.7 Zusammenfassung zum Diskursstrang »Wer wird Millionär?« Eines steht fest: Der Diskursstrang zu »Wer wird Millionär?« steht der Analyse von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« im Umfang kaum nach – trotz der viel kürzeren Laufzeit. Genau wie bei der Bewertung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«, ließen sich auch aus den Kritiken zu »Wer wird Millionär?« mehrere Argumentationen herausarbeiten. Die Positionen von SZ und FAZ waren erstaunlich einhellig, wobei sich die Artikel der Süddeutschen Zeitung in der Regel ausführlicher mit der Quizshow beschäftigten. Insgesamt fielen acht verschiedene Argumentationsstränge mit siebzehn Unterargumentationen auf. Schwerpunktmäßig beschäftigte sich die Fernsehkritik dabei mit Günther Jauch, dem Moderator der Show, dem Konzept der Sendung, den Produzenten sowie mit den KandidatInnen und den Zuschauerinnen und Zuschauern. Wieder ließen sich damit einzelne Akzente ausmachen, die in der Bewertung der Quizshow zentral sind und die mit Produktion, Text und Rezeption wesentlichen Momenten der Massenkommunikation entsprechen. Die einzelnen Schwerpunkte unterscheiden sich von denen bei »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«. Zur Erinnerung: dort widmete man sich vor allem der Produktion, der Handlung, den DarstellerInnen und den Rezipierenden. Die Unterschiede sind zunächst den unterschiedlichen Genres und ihren

Der Diskursstrang »Wer wird Millionär?« in der Fernsehkritik | 305 Eigenheiten geschuldet – so treten beispielsweise bei Soaps Schauspieler und Schauspielerinnen auf, während sich bei »Wer wird Millionär?« Moderator sowie KandidatInnen finden. Allerdings ist daneben auffällig, dass die Produktion, die bei der RTL-Seifenoper sehr ausführlich von der Kritik thematisiert wurde, bei »Wer wird Millionär?« lediglich in Form der Produzenten, also dem Sender und dem Endemol-Unternehmen, angesprochen wurde und dies in recht einseitiger Form, wie aus der Analyse hervorging. Offenbar maßen die Kritikerinnen und Kritiker von SZ und FAZ der Produktion von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« wesentlich mehr Bedeutung bei als es bei »Wer wird Millionär?« der Fall war. Dies als Bemerkung vorab – im Weiteren werden nun noch einmal die wichtigsten Positionen der Analyse zusammengefasst. Wenn die Fernsehkritik den Blick auf Jauch richtet, so überwiegen positive Argumentationen. In den Argumentationssträngen ›das Phänomen Jauch‹ (1) und ›Jauch zwischen Unterhaltung und Information‹ (3), die herausgearbeitet wurden, charakterisiert man ihn als Profi, als Sympathieträger und als unbesiegbaren ›Terminator‹ im Quotenkampf. Die etwas negativeren Bemerkungen zu den kommerziellen Interessen des Moderators und dem extremen Hierarchiegefälle gegenüber seinen KandidatInnen, die in dem Argumentationsstrang (2) ›Schatten auf der weißen Weste‹ anklangen, fallen nicht in dem Maße ins Gewicht, dass sie seinem Positiv-Image schaden könnten. So wird in der Fernsehkritik die Meinung vertreten, dass Jauch seine Position als Moderator und die damit verbundene Macht gegenüber seinen KandidatInnen ausnütze, um sie vorzuführen. Die Bewertung dessen fällt jedoch ambivalent aus. So ist die Fernsehkritik teilweise von seinem Fehlverhalten fasziniert. Die Tatsache, dass auch auf Jauchs journalistische Vergangenheit Bezug genommen wird, legt den Schluss nahe, dass sich ein Teil der KritikerInnen ihm hierüber verbunden sehen und ihn als Kollegen begreifen. Hier spielt auch der Diskurs um Fakten und Fiktion mit hinein, wobei Jauch als ›seriöser Journalist‹ offenbar für handfeste Fakten im Unterhaltungsbereich steht. Auffällig an der Betrachtung des Moderators ist zudem das Interesse an der Privatperson Jauch, das im ersten Argumentationsstrang zum Ausdruck gebracht wurde. Die Textstellen dazu werden ebenfalls benutzt, das positive Image des Quizmasters zu untermauern und ihn als nüchterne, konservative, bescheidene Person darzustellen, die auch über kleine Macken verfügt. Jauch wird hier zum ›normalen Menschen‹ gemacht – allerdings mit herausragenden Talenten und einem festen Charakter. Vor allem die Gegenüberstellung mit Thomas Gottschalk zeigt, dass Jauch bei den Autorinnen und Autoren als unprätentiös gilt, womit er offenbar für sie aus der Unterhaltungsbranche heraussticht. In der Bewertung von Jauch wird daneben in einigen Beiträgen der Geschlechterdiskurs sichtbar. Dies ist vor allem der Fall, wenn Jauch als ›Unterhaltungsprofi‹ gemeinsam mit männlichen Kollegen wie Thomas Gottschalk, Harald Schmidt zu den Besten ihrer Branche stilisiert wird.

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Professionelle Unterhaltung wird an dieser Stelle männlich konnotiert. Dies wird noch unterstrichen mit dem Bezug zum Sport in einigen Artikeln, insbesondere zum Fußball, wobei auch Jauchs ehemaliger Kollege Marcel Reif ausgiebig zu Wort kommt (vgl. Keil, SZ 8.11.2000). Professionelle Unterhaltung wird mit Bemerkungen wie »Das hat ChampionsLeague-Niveau« (Keil, SZ 8.9.1999) zu einer Art Fortsetzung der Freundschaften vom Fußballplatz gemacht (siehe auch Reents, FAZ 30.5.2001). Die positive Bewertung des Moderators wirkt an einigen Stellen geradezu überhöht (vgl. z.B. Reents, FAZ 30.5.2001; Hanfeld, FAZ 8.9.2001). Mit dem Akzent auf dem unprätentiösen, seriösen Menschen, der seinem Publikum zuverlässig professionelle Qualitäts-Unterhaltung liefere, fließt in seine Bewertung der Diskurs um die Authentizität innerhalb der Mediengesellschaft ein. Der Moderator verkörpert in den Argumentationen Glaubwürdigkeit und Authentizität, offenbar Werte, die in den Augen der Kritik im Medienbetrieb Seltenheitswert besitzen. Die Argumentationen deuten demnach auf ein Bedürfnis nach authentischen Persönlichkeiten hin, die nicht schauspielern oder inszeniert werden, wie es oft Real Life Soaps zum Vorwurf gemacht wurde (vgl. Mikos et al. 2000). Jauchs Charakterisierung ist aufgrund der Vielzahl der herausgearbeiteten Argumentationen und wegen der Fülle an Positionen und Unterargumentationen für den Diskursstrang besonders bedeutsam. In der Bewertung von »Wer wird Millionär?« spielt die positive Wahrnehmung von Günther Jauch somit eine Schlüsselrolle. Der Aspekt des ›Schnörkellosen‹, der ebenfalls bei der Charakterisierung von Jauch bedeutsam war, passt auch zu der Bewertung des Show-Konzeptes durch die Fernsehkritik, wo in dem ersten herausgearbeiteten Argumentationsstrang ›»Wer wird Millionär?« als perfekte ›Quizmaschine‹‹ (1) auch Einfachheit und die klaren Züge positiv wahrgenommen werden. Auffällig ist, dass der Ausdruck ›Maschine‹ an dieser Stelle nicht negativ gewertet wird. Mit dem Begriff klingt zwar die ›Kulturindustrie‹ an, die typisch abwertende Argumentationsweise des Diskurses, wie sie bei Horkheimer und Adorno (1998) zum Ausdruck kommt, schlägt sich indes nicht nieder. In den Kritiken manifestiert sich an dieser Stelle eine Abneigung gegen exzessive Unterhaltungsformate, was sich wohl auch gegen Real-Life-Soaps wie »Big Brother« und ähnliche Formate richtet, die zu der Zeit verstärkt im deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurden. Erneut drückt sich hierin ein Bedürfnis nach Echtheit aus, worin sich der Diskurs um Authentizität in einer medialen Gesellschaft zeigt. Daneben wird in den Argumentationen, die zum ›Konzept‹ herausgearbeitet werden konnten, die Fernsehpraxis kritisiert, Erfolgsformate endlos zu kopieren – die NachahmerInnen von »Wer wird Millionär?« finden in den Artikeln keinen Anklang. Genau wie im Diskurs der Kulturindustrie wird hier die Reproduktion des Immergleichen abgelehnt (vgl. Horkheimer/Adorno 1998). Außerdem fiel auf, dass in dem zweiten Argumentationsstrang (2) ›»Wer wird Millionär?« als Ausdruck des Populären‹, der Bezug zur Popu-

Der Diskursstrang »Wer wird Millionär?« in der Fernsehkritik | 307 lärkultur auf zweierlei Art und Weise hergestellt wird: zum einen beschreibt man »Wer wird Millionär?« als populäre Inszenierung, indem Bezüge auf andere populäre Genres in der Show gesehen werden. Zum anderen wird der Bezug zum Populären geschaffen, wenn sich die KritikerInnen ausführlich mit den Wissensgebieten in der Sendung auseinander setzen, wobei sie eine Mischung zwischen populären Inhalten aus dem Fernsehen oder Kinderwissen mit traditionellen Wissensbereichen konstatieren. »Wer wird Millionär?« wird hier von der Fernsehkritik somit nicht als Rückkehr zum klassischen Bildungsgut bzw. als Rückkehr des Bildungsbürgertums gefeiert, wie es teilweise in anderen gesellschaftlichen Bereichen der Fall war (siehe Elfferding, SZ 4.4.2001)15 und wie man auch als Grund für den positiven Tenor in der Kritik hätte annehmen können. Die Bewertung der gemischten Wissensinhalte der Quizshow fällt darüber hinaus uneindeutig aus. Teilweise wird der Bezug des populären Wissens zum Alltag der ZuschauerInnen positiv hervorgehoben. An anderer Stelle bemängelt man jedoch die Fülle an populären Inhalten, die zuungunsten der klassischen Wissensgebiete überwiege (vgl. Kämmerlings, FAZ 2.12.2000; Elfferding, SZ 4.4.2001). An dieser Stelle wird der Diskurs um Bildung offenkundig. Ein Bestseller wie »Bildung – Alles, was man wissen muss« von Dietrich Schwanitz (1999) zeigt, dass der Bildungsdiskurs zur Zeit der Ausstrahlung von »Wer wird Millionär?« in den Medien recht präsent war. Dafür spricht beispielsweise auch, dass Marcel Reich-Ranicki, Deutschlands ›Literaturpapst‹, im Juni 2001 für den »Spiegel« eine Liste mit Literaturempfehlungen zusammengestellt hat, die man ›gelesen haben sollte‹. Es verwundert daher nicht, dass auch in der Fernsehkritik die Frage verhandelt wird, welches Wissen ›relevantes Wissen‹ sei und ob die traditionelle, humanistische Bildung womöglich überholt sei. Gespeist wurden die Diskussionen um Bildung natürlich auch durch die Schulstudien, zuletzt die 2001 durchgeführte PISA-Studie, bei der die deutschen Schüler in jedem Durchgang sehr schlecht abschnitten. Die Tatsache, dass die Positionen hierzu in dem Diskursstrang nicht übereinstimmend verlaufen, spiegelt wider, dass auch der gesellschaftliche Aushandlungsprozess zu diesem Themenkomplex noch nicht abgeschlossen ist. Betont werden muss allerdings noch einmal, dass »Wer wird Millionär?« nicht als Rückkehr der klassischen Bildung gefeiert wird. Statt dessen wird die Vermischung unterschiedlicher Wissensgebiete hervorgehoben. Im Gegensatz dazu, dass die populären Inhalte bei »Wer wird Millionär?« ambivalent bewertet werden, also sowohl positiv als auch negativ, werden die KandidatInnen dafür ausschließlich kritisiert, dass es ihnen an klassischem Wissen mangele. Dies geschieht im Rahmen eines einzigen zu ihnen herausgefilterten Argumentationsstranges (1) »›Ungeniertes Unwissen- die wahren Motive der KandidatInnen‹«. Die Fernsehkritik 15 | Elfferding kritisiert eine Rede des Altbundespräsidenten, in der dieser Jauchs Show als Rückbesinnung auf Bildungswerte hervorgehoben habe.

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äußert sich generell eher abwertend über die Kandidaten und Kandidatinnen. So werden ihre Aktivitäten in der Show als Selbstdarstellung gedeutet und abgewertet. Abweichungen vom ›originalen‹ Konzept werden offenbar nicht geduldet, Selbstinszenierung gilt als Regelverstoß, womit noch einmal der Diskurs um authentische Personen im Fernsehen anklingt. Auch das Ziel, möglichst viel Geld zu gewinnen, wird angegriffen, obwohl dies im Konzept der Show vorgesehen ist und in diesem Zusammenhang nur selten kritisiert wurde (z.B. Elfferding, SZ 4.4.2001). Hier zeigt sich, dass die Argumentationen, die in der Bewertung auffielen, teilweise gegenläufig sind. Aspekte, die die Kritik sowohl bezüglich der KandidatInnen als auch in Hinblick auf das Konzept der Sendung thematisiert, werden unterschiedlich bewertet. Blass bleibt die Bewertung der Zuschauerinnen und Zuschauer. Ebenfalls konnte hier nur ein Argumentationsstrang herausgearbeitet werden, in dem sich die Kritik auf den einfachen Zugang konzentriert, den das Konzept eröffne und die Begeisterung für Jauch hervorhebt. Überschrieben wurde diese Argumentation (1) mit ›»Wer wird Millionär?« als perfekter Publikumsanreiz‹. Die negativste Bewertung des Diskursstrangs wird den Produzenten der Sendung zuteil. Die analysierte Argumentation (1) ›Kein gutes Haar an den Produzenten‹ verläuft einseitig abwertend. Während RTL für seine privatwirtschaftliche Organisation gescholten wird, steht Endemol für seine vermeintliche Machtkonzentration in der Fernsehbranche in der Kritik. Vor allem die Bedeutungen, die der Verleihung des Deutschen Fernsehpreises zugewiesen werden, sind dabei aufschlussreich (vgl. Hoff, SZ 9.10.2000; Hanfeld, FAZ 9.10.2000). Die beiden Kommentatoren zur Preisverleihung machen den Einfluss Endemols verantwortlich dafür, dass »Wer wird Millionär?« ausgezeichnet wurde. Unabhängige Qualitätskriterien sehen sie nicht. Dies erstaunt angesichts der positiven Argumentationen, die zum Konzept der Sendung herausgefiltert wurden. Dass in den beiden Kritiken die Verleihung des Deutschen Fernsehpreises als Niedergang der Fernsehunterhaltung wahrgenommen wird und darüber hinaus als Entmachtung der Kriterien, die sie selbst als Fernsehkritik anlegen, wird offensichtlich. In die Bewertung fließt hier die Kritik am ›private ownership‹-Diskurs mit ein. Offenbar stehen die Kritiker und Kritikerinnen dem ›public service‹-Modell des Rundfunks positiver gegenüber (vgl. Ang 1991). Insgesamt fiel auf, dass die einzelnen inhaltlichen Schwerpunkte der hier analysierten Fernsehkritik, wie der Moderator oder das Konzept der Sendung, unterschiedlich umfangreich behandelt werden. Während Günther Jauch sehr ausführlich in den Artikeln dargestellt wird und zu seiner Person drei Argumentationsstränge herausgearbeitet werden konnten, wird lediglich das Konzept ähnlich ausführlich behandelt, zu dem immerhin zwei Argumentationsstränge sichtbar wurden. Die übrigen Kategorien bleiben deutlich dahinter zurück, da sich zu den KandidatInnen, den RezipientInnen sowie zu den Produzenten jeweils nur ein

Der Diskursstrang »Wer wird Millionär?« in der Fernsehkritik | 309 Argumentationsstrang herauskristallisierte. Dass sie weniger ausgeprägt diskutiert werden, deutet insgesamt darauf hin, dass diese Aspekte in der Bewertung von »Wer wird Millionär?« eine geringere Rolle spielen als der Moderator und das Konzept der Sendung. Dies zeigt sich auch darin, dass die analysierten Argumentationsstränge zu den Produzenten, den Kandidatinnen und Kandidaten sowie den ZuschauerInnen eindimensional verlaufen: Die Produzenten RTL und Endemol werden rundweg abgewertet für ihre kommerzielle Orientierung und die Machtkonzentration, die KandidatInnen werden kritisiert, wenn sie von den vorgeschriebenen Regeln der Show abweichen und beim Publikum wird lediglich geschaut, welche Anreize die Sendung ihnen bietet, worüber letztlich erneut Jauch und das Konzept hervorgehoben werden. Dagegen sind die Argumentationsstränge, die zu Jauch und dem Konzept von »Wer wird Millionär?« herausgefiltert wurden, vielfältiger gestaltet. Daneben lassen sich in der Bewertung der Kritik einige übergreifende Argumentationsmuster erkennen. Bei Jauch und dem Konzept wird das ›Einfache‹ hervorgehoben. Gleichzeitig wird an beiden ihre ›Originalität‹ und in Bezug auf Jauch seine Authentizität positiv betont. Dies zeigt sich in der Charakterzeichnung Jauchs und hinsichtlich der Idee der Sendung in der Abwertung sämtlicher Nachfolgeprodukte. Außerdem ist hier die Abwertung der KandidatInnen zu nennen, die mit dem Versuch, sich selbst zu inszenieren, die Show nach Ansicht der Kritik um ihre Authentizität brächten. Das ›Einfache‹ oder auch das ›Authentische‹ erfährt hier eine positive Bewertung gegenüber der Abwertung von exzessiven Momenten und Imitationen. Interessant ist, dass die ›en-bloc‹-Herstellung von »Wer wird Millionär«, die der vermeintlichen Originalität der Show entgegen zu laufen scheint, lediglich in einem Diskursfragment angesprochen wird (vgl. Zekri, FAZ 30.1.2001). Im Gegensatz zur Kritik an »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« wird »Wer wird Millionär?« dort nicht in den Kontext der Fabrikproduktion gestellt, wie es in dem Diskursfragment zur RTL-Seifenoper vielfach der Fall ist. Daneben fällt auf, dass bei dem Fokus auf Jauch und dem Konzept der Quizshow konservative Werte von der Kritik positiv wahrgenommen werden: Der Moderator wird dort als Familienmensch charakterisiert, als sparsam und solide, sowie als verantwortungsbewusster Entertainer. In diesen Parallelen in der Bewertung von Moderator und Konzept deutet sich eine konservative Haltung der Fernsehkritik gegenüber den Unterhaltungsangeboten im Fernsehen an, die an protestantisch-ethische Positionen erinnern. Hier schwang auch der Diskurs darum mit, was das Fernsehen zeigen darf und wann moralische Grenzen überschritten werden. Die Tendenz, immer neue, immer exzessivere Formate zu entwickeln, die sich zu jener Zeit anhand von einer Vielzahl von neuen Reality-Sendungen abzeichnete, stieß offenbar auf Ablehnung und wurde als Qualitäts- und als Moralverlust wahrgenommen, was auch die Diskussion um »Big Brother« vor der Ausstrahlung deutlich belegt. Dort diskutierte man, ob die Container-Show die Menschenwürde der KandidatInnen

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verletze (vgl. z.B. Wunden 2000). Den Kritiken zufolge ist dieser vermeintlichen Entwicklung mit einer Rückbesinnung auf klassische Formate, auf einfache Strukturen und allgemein mit einem neuen Verantwortungsbewusstsein im Fernsehen zu begegnen. Die Fernsehkritik gibt sich hier ausgesprochen moralisch. Die Zusammenfassung des Diskursstranges macht die spezifische Bewertung von »Wer wird Millionär?« noch einmal deutlich. Es wurden dabei bereits einzelne Diskurse angerissen, die in die Kritiken mit einflossen. Inwieweit sich in der Kritik die Perspektive der Cultural Studies zeigt, wird im Folgenden anhand von möglichen Vergleichsstellen zwischen dem Diskurs der Fernsehkritik und Fiskes Betrachtung populärer Texte untersucht.

4.8 Cultural Studies oder Kulturindustrie? 4.8.1 Parallelen zum Diskurs der Cultural Studies Im Vordergrund dieser Arbeit steht die Frage danach, inwieweit der Diskurs der Cultural Studies sich auch in der am bürgerlichen Publikum orientierten Fernsehkritik zeigt, wenn es um die Bewertung von Populärem geht. Bereits zu »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« wurden mögliche Parallelen zum Diskurs der Cultural Studies untersucht. Dort konnten mehrere Aspekte herausgearbeitet werden, die sowohl in der Bewertung von populären Texten seitens der Fernsehkritik als auch in den Cultural Studies bedeutsam sind. Hierzu gehörten beispielsweise die Klischees der Texte oder die offene Struktur populärer Angebote. Allerdings bewerteten die KritikerInnen diese populären Merkmale bei »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« insgesamt negativ im Gegensatz zur positiven Betrachtung bei den Cultural Studies, was sich vor allem an der Bewertung des Soap-Publikums zeigte. Musikalische Klischees Bezüglich »Wer wird Millionär?« könnten Parallelen zwischen der Betrachtung von populären Texten bei den Cultural Studies und der Fernsehkritik hinsichtlich der textuellen Ebene der Sendung vorliegen. So fällt auf, dass bei »Wer wird Millionär?« in einem Artikel auf ›musikalische Klischees‹ (vgl. Elfferding, SZ 4.4.2001) hingewiesen wird, die in der Show eingesetzt würden. Der Begriff ›Klischees‹, der bereits in der Bewertung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« von der Kritik verwendet wurde, stellt bei Fiske ein typisches Kennzeichen populärer Kultur dar (siehe Fiske 1999b). Während Fiske solche Übertreibungen jedoch als Anreiz für die RezipientInnen versteht, Bedeutungen zu konstruieren, nimmt die Fernsehkritik die ›musikalischen Klischees‹ bei »Wer wird Millionär?« als Zeichen für mindere Qualität wahr (Elfferding, SZ 4.4.2001) – wie es auch schon bei der RTL-Seifenoper der Fall war. Dort war dies allerdings

Der Diskursstrang »Wer wird Millionär?« in der Fernsehkritik | 311 nicht nur wie hier in einem Artikel der Fall, sondern wesentlich ausgeprägter. Intertextualität Darüber hinaus legt die Intertextualität der Quizshow den Vergleich zwischen Kritik und Cultural Studies nahe. Intertextualität ist bei Fiskes Analyse populärer Texte zentral (vgl. Fiske 1999a). Ebenso weist die Fernsehkritik mehrfach auf die Intertextualität der Show und ihres Moderators hin – Intertextualität könnte somit auch in der Bewertung der Kritik eine wichtige Rolle spielen. Die AutorInnen führen hierzu andere Projekte des Moderators an, wie beispielsweise »Stern TV«, um dessen ›Fleiß‹ und ›Omnipräsenz‹ im Fernsehen zu belegen. Dies fällt unter den Begriff der horizontalen Intertextualität (vgl. Fiske 1999a). An anderer Stelle wird in dem Diskursstrang auf sekundäre Texte zur Show eingegangen, wie auf Handy-Spiele (siehe hpe, FAZ 27.3.2001), bei Fiske als vertikale Intertextualität thematisiert (vgl. Fiske 1999a). In beiden Fällen kommt in den Kritiken der Intertextualität jedoch keine herausragende Bedeutung zu, obwohl immerhin darauf hingewiesen wird, dass die ZuschauerInnen die Möglichkeit hätten, nun das RTL-Quiz in anderer Form zu nutzen oder auch Jauch immer häufiger auf dem Bildschirm zu erleben. Dieser Aspekt wird von den Kritikern und Kritikerinnen jedoch nicht weiter ausgeführt. Auffällig sind die intertextuellen Bezüge, die in zwei weiteren Artikeln hervorgehoben werden und die Nähe zu anderen Genres betreffen: So werden Merkmale des »Raumschiff Enterprise« und der James BondAgentenfilme (Elfferding, SZ 4.4.2001) bei »Wer wird Millionär?« wiedererkannt und das Quiz als Thriller interpretiert (Niggemeier, SZ 9.2.2000). Sie beschreiben damit die von Fiske als horizontale Intertextualität bezeichnete Ebene der Show. Beide Autoren sehen hier auch etwas Exzessives in der Quizshow, was auch von Fiske als ›Exzess‹ oder ›semiotische Übertreibung‹ behandelt wird (Fiske 1999b). Die Wertung geht in der Kritik an dieser Stelle auseinander. Während Niggemeier begeistert ist, ist Elfferding über die Bezüge zu den anderen populären Genres befremdet. Auffallend ist außerdem, dass exzessive Momente in Bezug auf Nachfolgeformate von »Wer wird Millionär?« immer rundweg abgelehnt werden, insgesamt macht Niggemeiers Begeisterung somit eine Minderposition in dem Diskursstrang aus. Von einer Dominanz der Cultural Studies Position kann hinsichtlich des Aspektes ›Intertextualität‹ also keine Rede sein, sie lässt sich lediglich erahnen. Populäres Wissen Parallelen zum Diskurs der Cultural Studies könnten daneben in Hinblick auf die unterschiedlichen Wissensgebiete bestehen, die von der Fernsehkritik bei »Wer wird Millionär?« gesehen werden. Bereits Fiske hat darauf hingewiesen, dass sehr unterschiedliche Wissensbereiche in Quizsendungen gefordert werden. Er spricht daher von »knowledges« (Fiske 1999a: 267). Fiske teilt das Wissen bei Quizshows in ›Faktenwissen‹ und

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»human knowledge« ein (Fiske 1999a: 269). Letzteres sieht er bei einer US-Quizshow, in der soziale Normen abgefragt werden. Bei »Wer wird Millionär?« handelt es sich nach Fiske also um Faktenwissen, das geprüft wird, und dem Fiske eine enge Anbindung an gesellschaftliche Macht nachsagt.16 Daneben liegt noch ein weiterer Bezug zwischen Fernsehkritik und Cultural Studies vor: Fiske spricht an anderer Stelle von populärem Wissen, das er den ›Leuten‹ zurechnet, gegenüber dem offiziellen Wissen des ›Machtblocks‹ (vgl. Fiske 1993a: z.B. 181). Er betrachtet dieses Wissen im Rahmen des gesellschaftlichen Machtsystems und sieht beide Wissensarten als Mittel im diskursiven Kampf um Bedeutungen an. Populäres Wissen, das Fiske am Beispiel von ›Elvis-Fans‹ erläutert (vgl. Fiske 1993a), dient für ihn dazu, den Machtraum der ›Leute‹ zu vergrößern und sich gegenüber dem offiziellen, rationalen, wissenschaftlichen Wissen abzugrenzen. Sein Fokus liegt also vor allem auf dem ›irrationalen Wissen‹ gegenüber dem ›Rationalen‹. In der Fernsehkritik konstatiert man demgegenüber ein populäres gegenüber einem traditionell humanistischen Wissen in der Show sowie eine Vermischung beider ›Wissensgebiete‹. Im Gegensatz zu Fiskes Verständnis gelten in der Kritik Alltagsfragen als populäres Wissen wie auch Wissen über Stars, Fernsehserien und ähnliches, das man von humanistischen Bildungsfragen abgegrenzt. Das Verständnis der unterschiedlichen Wissensbereiche unterscheidet sich insgesamt also von Fiskes Einteilung in populäres und offizielles Wissen, wobei sowohl in der Kritik als auch bei Fiske der Bezug des ›populären Wissens‹ zur Alltagswelt der Menschen ein zentraler Punkt ist. Die Kritik stellt indes keinen expliziten Bezug zum Machtaspekt her. Allerdings werden populäre Inhalte der Quizsendung als Wissen gewertet, zu dem jeder Zugang habe, über das jeder Durchschnittsmensch verfüge. Wie im Analyseteil dargelegt, wird auch mancherorts von der Kritik die Position vertreten, dass es sich bei dem populären Wissen um das eigentlich wichtige Wissen handele und dass Bildung im traditionell humanistischen Sinne ausgedient habe (siehe Reents, SZ 9.12.2000). In Ansätzen kann man hier also von einer Nähe zu Fiskes Ideen sprechen, wobei insgesamt die Bewertung der Wissensbereiche bei »Wer wird Millionär?« sehr uneinheitlich erfolgt, wie oben ausgeführt wurde. KandidatInnen Interessant ist das Machtgefälle zwischen KandidatInnen und Moderator, dass die Fernsehkritik bei »Wer wird Millionär?« beobachtet. Aus den Kritiken geht hervor, dass die KandidatInnen sich nicht vollständig auf ihre ›machtlose‹ Rolle gegenüber Jauch einschränken lassen, sondern die 16 | Mit dem Abfragen von Faktenwissen werde das Schulsystem reproduziert (Fiske 1999a: 269). Fiske unterscheidet das Faktenwissen auch – nicht sehr differenziert – in eher akademisches Wissen und Inhalte, die einen stärkeren Bezug zum Alltag aufwiesen.

Der Diskursstrang »Wer wird Millionär?« in der Fernsehkritik | 313 Regeln der Show für sich erweitern und den Raum, der ihnen gegenüber Jauch eingeräumt wird, beispielsweise dazu nutzen, sich selbst in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Dies weist Ähnlichkeiten zu dem typischen, kreativen Verhalten der ›Leute‹ auf, bei dem Machträume zugunsten der eigentlich ›machtlosen Partei‹ umgedeutet werden – wenn sich auch Fiske auf das kreative Verhältnis von Publikum zu Text bezieht. Zentral ist, dass es sich bei dem Verhalten der KandidatInnen und Fiskes Leuten um kreatives Umdeuten vorgegebener Machtstrukturen aus der untergeordneten Position handelt. Gerade bei »Wer wird Millionär?« fällt ein solches Verhalten der Kandidaten und Kandidatinnen immer wieder auf, beispielsweise, wenn sie versuchen, dem Wortwitz des Moderators auf gleiche Weise zu begegnen, wenn sie ein Maskottchen mit in die Sendung bringen oder – wie in einer Folge, die 2002 ausgestrahlt wurde – stolz einen ›Kleckselkuchen‹ als Spezialität ihrer Heimat in der Sendung präsentieren und Jauch davon anbieten. In den Kritiken zur Sendung wird ein solches Verhalten abgewertet, was sich vor allem darauf bezieht, dass Kandidatinnen und Kandidaten versuchten, die Show für ihre Selbstdarstellung zu instrumentalisieren (siehe z.B. Elfferding, SZ 4.4.2001). Während bei Fiske das Agieren der ›Leute‹ also als Kreativität gedeutet wird, lehnt die Fernsehkritik das einfallsreiche Verhalten der TeilnehmerInnen als ›Regelverstoß‹ ab. Rezeption Verhaltene Parallelen zum Diskurs der Cultural Studies lassen sich an dem Umgang der Kritik mit der Rezeption von »Wer wird Millionär?« ablesen. So nimmt die Fernsehkritik bezogen auf die Rezeption von »Wer wird Millionär?« ein körperliches, populäres Vergnügen an (vgl. Niggemeier, SZ 9.2.2000; Elfferding, SZ 4.4.2001), was auch bei Fiske behandelt wird (siehe Fiske 1989a: 49 ff.; Barthes 1974). Dieses körperliche Erleben wird jedoch lediglich bei Niggemeier positiv bewertet. Hinsichtlich der ZuschauerInnen zeigen die Autorinnen und Autoren zudem unterschiedliche Lesarten der Show auf, wenn sie auf voyeuristische Rezeption und auf die Möglichkeit eingehen, mit den KandidatInnen mitzuleiden. Es fehlt in der Kritik – natürlich – eine ausführliche Diskussion der Lesarten, die »Wer wird Millionär?« bereithält, dennoch kann man hier eine Ähnlichkeit zur Perspektive der Cultural Studies festhalten. Ebenfalls ist der einfache Zugang zu »Wer wird Millionär?« als Parallele zu den Cultural Studies anzuführen, den die Kritik hervorhebt. Insgesamt werden die Zuschauerinnen und Zuschauer in der Kritik allerdings nicht näher betrachtet, was dem Fokus der Cultural Studies entgegenläuft, für die die Bedeutungsproduktion der MediennutzerInnen zentral ist. Abschließende Bemerkung Die Zusammenstellung einiger Vergleichsstellen hat verdeutlicht, dass sich in der Bewertung von »Wer wird Millionär?« in einzelnen Artikeln einige ›Spuren‹ des Cultural Studies-Ansatzes nachweisen ließen. Die

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Bewertungen des populären Textes seitens Fernsehkritik und dem Diskurs der Cultural Studies verlaufen jedenfalls nicht in dem Maße konträr, wie es in dem Diskursstrang zu »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« der Fall war. Dennoch differieren die vorgenommenen Wertungen häufig: Das körperliche Erleben populärer Kultur wird in der Kritik ambivalent beurteilt. Ebenso existieren zur Nähe der Wissensgebiete bei »Wer wird Millionär?« und der Nähe zum Alltag der ZuschauerInnen in der Kritik unterschiedliche Positionen. Exzessive Aspekte der Show werden bezüglich »Wer wird Millionär?« nur angedeutet und bei anderen Nachfolgeformaten abgewertet. Der größte Unterschied zum Diskurs der Cultural Studies liegt allerdings in der Behandlung der ZuschauerInnen und der Beurteilung der Kandidatinnen und Kandidaten. Den RezipientInnen kommt in den Cultural Studies sehr viel Raum zu, insbesondere wird ihre Aktivität bei der Rezeption hervorgehoben.17 Die Fernsehkritik befasst sich in ihren Artikeln jedoch nur sehr wenig mit der Publikumsseite. Das Bild, das die Kritik vom Publikum hat, scheint erneut ungenau und lückenhaft zu sein, was nach Ang auf den »institutional point of view« hindeutet (Ang 1991: 2). Allerdings wird die Distanz zum Publikum nicht in dem Maße hervorgehoben, wie es bei dem »GZSZ«-Publikum der Fall war. Die Kluft zwischen dem Diskurs der Cultural Studies und der Fernsehkritik ist also insgesamt längst nicht so groß wie bei der Bewertung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«. Grund hierfür ist sicher die geringere Distanz zu den RezipientInnen von »Wer wird Millionär?«, was sich unter anderem darin zeigt, dass einige der KritikerInnen unverhohlen ihre Begeisterung für die Show und den Moderator kundtun. Partielle Überschneidungen zwischen dem hier analysierten Diskursteil der Fernsehkritik und Überlegungen der Cultural Studies können also insgesamt bejaht werden, ein bewusster Bezug oder gar eine Dominanz ihres Ansatzes ist jedoch auszuschließen. 4.8.2 Der Diskurs der Kulturindustrie bei »Wer wird Millionär?« Im Diskursstrang zu »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« zeichneten sich deutliche Bezüge zum kritischen Diskurs der Kulturindustrie ab (siehe Kapitel ›»GZSZ« und die ›Kulturindustrie‹‹). Parallelen waren beispielsweise die Gegenüberstellung von Populärem und Kunst, die Charakterisierung der Produktionssphäre als kulturindustrielles System oder die Hierarchie zwischen Publikum und Produzenten. Besonders auffällig war das ähnliche Zuschauerbild, das im Diskurs der Fernsehkritik wie auch im Diskurs der Kulturindustrie transportiert wurde: die Rezipierenden als passive KonsumentInnen. Ihre Vergnügen wurden nicht ernst genom17 | Beispielsweise beschreibt Fiske, wie eine Gruppe von Leuten die Sitcom »Married ... with Children« rezipiert und dabei ihre persönlichen Erfahrungen und Bedeutungen mit dem Text in Beziehung setzen. Vgl. Fiske 1999d. Siehe auch z.B. Brown 1994.

Der Diskursstrang »Wer wird Millionär?« in der Fernsehkritik | 315 men und insgesamt waren die Kritiken von einem sehr distanzierten Verhältnis der Autoren und Autorinnen zum »GZSZ«-Publikum geprägt. Die Serie wurde dabei überwiegend als kulturindustrielles Produkt charakterisiert. Der Diskurs um die Kulturindustrie erschien in der Fernsehkritik als eine Art Gegenentwurf zur Bewertung populärer Texte in den Cultural Studies. »Wer wird Millionär?« als kulturindustrielles Produkt? Bei der Beurteilung von »Wer wird Millionär?« fanden sich ebenso Bezüge zur Kulturindustrie, wenngleich sie nicht so präsent waren wie bei »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«. So spielte die Produktion der RTL-Quizsendung bei der Fernsehkritik keine herausragende Rolle und wurde nicht ausführlich thematisiert im Gegensatz zur Bewertung der Soap Opera, wo die Produktion häufig als Fabrikproduktion charakterisiert wurde. Dies verwundert, da sich die Produktion von »Wer wird Millionär?« und »GZSZ« ähneln: beide werden mit verhältnismäßig geringen Produktionskosten en bloc hergestellt. Doch lediglich Zekri (FAZ, 30.1.2001) weist überhaupt auf die Block-Produktion von »Wer wird Millionär?« hin. Außerdem wertet sie die Sendung daraufhin nicht als industrielles Produkt ab. Ebenso bleiben Verweise auf Fabrikarbeit oder andere Industriebezüge aus – das typisch abwertende Argumentationsmuster aus dem Kulturindustrie-Diskurs findet sich hier somit nicht wieder. Als mögliche Parallele zum Diskurs der Kulturindustrie könnte man die negative Wertung von RTL und Endemol als Produzenten von »Wer wird Millionär?« werten und die Kritik an der Machtkonzentration. Dies erfolgt jedoch auch nicht annähernd so ausgeprägt wie im Diskurs um »GZSZ«, so dass die Kritik an den Produzenten eher auf den ›public-service‹-Diskurs (Ang 1991) zurückführen ist, als auf die Ausführungen zur ›Kulturindustrie‹. Es lassen sich jedoch an anderer Stelle Verweise auf den Diskurs finden. Begrifflich klang die Kulturindustrie anhand der ›Quizmaschine‹ bei Niggemeier (SZ 2.5.2000) an sowie im ›maschinellen Ablauf‹, den Elfferding moniert (SZ 4.4.2001). Lediglich Elfferding wertet die Quizsendung jedoch in diesem Zusammenhang ab. Niggemeier betont dagegen das ›perfekt funktionierende‹ Konzept der Show, wertet sie positiv und entspricht damit nicht dem Argumentationsmuster des pessimistischen Kulturindustrie-Diskurses. Demgegenüber fügte sich Elfferdings Artikel insgesamt in die Argumentationen des Kulturindustrie-Kapitels ein. Hierfür spricht auch, dass er die Musik der Quizsendung als ›musikalische Klischees‹ kritisiert und den kapitalistischen Gehalt der Show angreift. Damit bewegt er sich wie Horkheimer und Adorno in ideologiekritischer Tradition.

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Das positive Millionen-Publikum Das Argumentationsmuster, den populären Text »Wer wird Millionär?« als kulturindustrielles Produkt minder zu bewerten, spielt offenbar nur in Elfferdings Artikel eine Rolle, im übrigen Diskursstrang findet es sich in dieser Form nicht. Ein weiterer Punkt, der gegen eine starke Präsenz des Kulturindustrie-Diskurses spricht, ist die Darstellung des Publikums. Die Kritik stellt hier zum einen kein starkes Hierarchie-Verhältnis zwischen Rezipierenden und ProduzentInnen heraus, wie bei der Bewertung von »GZSZ«. Zum anderen bleiben die Zuschauer und Zuschauerinnen von »Wer wird Millionär?« zwar recht ›blass‹, sie werden jedoch nicht als passive KonsumentInnen beschrieben und auch nicht als ›Masse‹ abqualifiziert, wie dies beim »GZSZ«-Publikum überwiegend geschah und im kritischen Kulturindustrie-Diskurs der Fall ist. Statt dessen werden die Millionen-Einschaltquoten von der Fernsehkritik positiv gewertet. Ebenso erfolgt hinsichtlich »Wer wird Millionär?« keine Gegenüberstellung mit Kunstwerken oder ähnlichem. Reproduktion und Vereinheitlichung Die Abweichungen vom Kulturindustrie-Diskurs in der Bewertung von »Wer wird Millionär?« und die Tatsache, dass sich die wenigen Anklänge an kulturindustrielle Bewertungskriterien hinsichtlich der Quizsendung letztlich auf den Artikel von Elfferding (SZ 4.4.2001) eingrenzen lassen, deuten darauf hin, dass der Diskurs nur wenig präsent ist. Zur Show direkt könnte man lediglich noch die Charakterisierung als Kopie anführen, eine eher marginale Unterargumentation in der Fernsehkritik. Außerdem kann man die Bewertung der Nachfolgequizshows anderer Sender nennen, an denen die Kritik die Reproduktion des Erfolgsformates angreift und exzessive Nachfolgeformate bemängelt. Dies deutet auf das Argumentationsmuster hin, dass populäre Texte aufgrund ihrer typischen, exzessiven Eigenheiten abgewertet werden. Ein deutlicherer Anklang an den Diskurs der Kulturindustrie findet sich demgegenüber in der Kritik an der gängigen Fernsehpraxis, Erfolgsformate zu kopieren und das Programm dadurch zu vereinheitlichen (z.B. Zekri, FAZ 30.1.2001). Dies weist auf die Argumentationslinie im Diskurs der Kulturindustrie hin, dass die kulturellen Angebote zunehmend vereinheitlicht würden und nur noch das Immergleiche produziert werde (vgl. Horkheimer/ Adorno 1998). Abschließende Bemerkung Insgesamt fällt auf, dass der Diskurs um die Kulturindustrie zwar an einigen Stellen in den Diskurs der Fernsehkritik einfließt, für die Bewertung von »Wer wird Millionär?« jedoch nicht prägend war. Die Aspekte, die an »GZSZ« bemängelt wurden, wie beispielsweise die Produktion, wurden bezüglich »Wer wird Millionär?« nicht kritisiert – Soap und Quizsendung werden hier mit zweierlei Maß gemessen. »Wer wird Millionär?« wird nicht als kulturindustrielles Produkt wahrgenommen. Im Umkehr-

Der Diskursstrang »Wer wird Millionär?« in der Fernsehkritik | 317 schluss kann man jedoch auch nicht sagen, dass die Quizshow die Kriterien des kritischen Kulturindustrie-Diskurses in positiver Weise erfülle, da »Wer wird Millionär?« ebenso wenig als Kunstwerk charakterisiert wird, das Zuschauerinnen und Zuschauer dazu anregt, die Widersprüche der Realität wahrzunehmen (vgl. Horkheimer/Adorno 1998). Dass »Wer wird Millionär?« größtenteils als Original geschildert wird, geht noch am ehesten in diese Richtung. Letztlich scheint hier jedoch der Diskurs um Authentizität in der Mediengesellschaft naheliegender zu sein.

4.9 Diskurse zur Situation des Rundfunks Es fragt sich, welche Diskurse für die Bewertung von »Wer wird Millionär?« maßgeblich waren, wenn man die Cultural Studies weitgehend ausschließen kann und auch der Diskurs zur Kulturindustrie nicht dominierte. Berührt wurden im Diskurs der Fernsehkritik unter anderem der Geschlechterdiskurs, die Diskussion um Bildung und vor allem Diskurse zur Situation des Rundfunks. So spielt der Diskurs um die Konkurrenz zwischen öffentlich-rechtlichem und privatem Rundfunk eine große Rolle, und damit wiederum der ›public service‹- sowie der ›private ownership‹-Diskurs (vgl. Ang 1991). Fernsehunterhaltung wird hier erneut als Feld begriffen, auf dem Öffentlich-Rechtliche und Private ihren Konkurrenzkampf austragen. Daneben werden in dem Diskursstrang Qualitätsmerkmale von Fernsehunterhaltung verhandelt. Insbesondere bei der Beschäftigung mit Günther Jauch floss dazu der Diskurs um ›Information und Unterhaltung‹ mit ein (vgl. dazu Klaus 1996). 4.9.1 Der Diskurs um Senderkonkurrenzen als Krise der öffentlich-rechtlichen Fernsehunterhaltung »In der Unterhaltung ist aus dem Ersten das Letzte geworden: Die ARD erkennt ihren ›schwersten Fehler der letzten 10 Jahre‹« (Ott, S Z 8.2.2001). In diesem Untertitel des Artikels »Gefehlt« (Ott, SZ 8.2.2001) wird der ARD vorgehalten, dass sie den Anschluss an den Quizboom verpasst habe. Ott zitiert hier eine interne Einschätzung beim NDR. Der Erfolg von »Wer wird Millionär?«, dem Auslöser der deutschen Quizwelle, steht damit gleichzeitig für den vermeintlichen Misserfolg der öffentlich-rechtlichen Unterhaltung. Diese Position klingt auch im Diskursstrang zu »Wer wird Millionär?« an (siehe z.B. Hoff, SZ 21.11.2000). Der Diskurs um Senderkonkurrenzen wirkt sich hier auf die Bewertung der Kritik aus, da die Quizshow als Mittel im Wettkampf der Rundfunkanstalten gesehen wird. Allerdings erhält der Diskurs um Senderkonkurrenzen an dieser Stelle eine ganz andere Wendung als in der Bewertung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«, wo das RTL-Format als schlechte, private Unterhaltung

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abgewertet wurde, dem die Öffentlich-Rechtlichen in keinem Fall nacheifern sollten. »Wer wird Millionär?« wird dagegen als Vorzeigeformat behandelt, das den Öffentlich-Rechtlichen zu Recht das eigene Versagen vor Augen führe. So werden der ARD und dem ZDF vorgeworfen, sie hätten die Fernsehentwicklung verschlafen und seien nicht in der Lage, schnell genug auf Trends zu reagieren (vgl. z.B. Hoff, SZ 21.11.2000; Keil, SZ 8.11.2000). Dass der Diskurs um den Senderkonkurrenzkampf zwischen öffentlich-rechtlichem und privatem Rundfunk hier in anderer Weise wirksam ist als bei der RTL-Seifenoper, zeigt sich auch darin, dass Jauch dafür gelobt wird, jeden Sender und jedes Format im Kampf um Einschaltquoten zu schlagen. Die Kritik ist an dieser Stelle geradezu überwältigt von Jauchs Quotenerfolgen (vgl. u.a. jöt, FAZ 20.7.2001). Außerhalb der Fernsehkritik finden sich noch weitere Artikel, die ebenfalls diese diskursive Beschreibung der Senderkonkurrenzen widerspiegeln. In einem Interview mit Friedrich Nowottny, dem ehemaligen WDR-Intendanten, und dem einstigen RTL-Chef Helmut Thoma diskutieren beide über die Entwicklung der Konkurrenzen zwischen Öffentlich-Rechtlichen und Privaten seit Einführung des dualen Rundfunks. Beide vertreten die Ansicht, dass der Erfolg von »Wer wird Millionär?« zeige, dass die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten in Bezug auf den Quizboom einen Fehler gemacht haben: »Das hat die ARD verpennt«, meint Friedrich Nowottny dazu (Feldmeier/Löw 2001). Der Erfolg der Quizshow gilt ihm hier als Indiz für die »Entscheidungsträgheit« (ebd.) von ARD und ZDF. Sowohl Thoma als auch Nowottny sehen die Probleme der öffentlich-rechtlichen Unterhaltung in der neuen Konkurrenz mit den Privaten, insbesondere mit RTL, begründet. Dies wird auch in dem Artikel von Ott vertreten, aus dem das Eingangszitat stammt (Ott, SZ 8.2.2001). Dort wird beklagt, dass die ARD keine Entertainer mehr im Programm habe. »Spätestens seit dem großen Erfolg von Günther Jauchs Quizshow Wer wird Millionär? bei RTL, ist der ARD klar, dass sie auf diesem Gebiet nicht mehr viel zu bestellen hat« (Ott, SZ 8.2.2001). Dennoch: Wieso verläuft der Diskurs um den Wettbewerb zwischen öffentlich-rechtlichen und privaten Sendern hier zugunsten des RTLFormates und schlägt sich nicht wie bei »GZSZ« als Abwertung nieder? Die wohlwollende Aufnahme von »Wer wird Millionär?« verwundert auch deswegen, da die Kritik der Praxis auf dem Fernsehmarkt im Sendekonkurrenzkampf ansonsten skeptisch gegenübersteht. Sie kritisiert beispielsweise die Kopie von Fernsehformaten (Niggemeier, SZ 2.5.2000) oder auch den Rückgang fiktionaler Formate gegenüber Quizsendungen (Zekri, FAZ 30.1.2001) – alles Aspekte, die man auch bei »Wer wird Millionär?« konstatieren könnte. Eine Erklärung für die positive Behandlung im Rahmen des Senderkonkurrenzkampfes könnte sein, dass man die Show mit ihrem schlichten Konzept als öffentlich-rechtliches Genre ansieht und nicht als typisch privates Format (vgl. z.B. Hoff, SZ 21.11.2000), wie es bei »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« der Fall war. Wie oben ausge-

Der Diskursstrang »Wer wird Millionär?« in der Fernsehkritik | 319 führt, hat das Genre ›Quizshow‹ eine lange Tradition im deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehen, an deren klassischen Formen »Wer wird Millionär?« anknüpft, wohingegen Daily Soaps im deutschen Fernsehen relativ neu waren (vgl. Teil 3, Kap. 1.2). Zentral für die Wahrnehmung als öffentlich-rechtliches Format ist zudem, dass auch der Moderator Günther Jauch als ›Öffentlich-Rechtlicher‹ wahrgenommen wird, der eigentlich nicht ins private Fernsehen gehöre (vgl. insbes. Keil, SZ 8.9.1999). Nicht nur in den analysierten Artikeln der Fernsehkritik gilt »Wer wird Millionär?« nicht als typisch ›privates‹ Format. Selbst Helmut Thoma meint im Interview, dass »Wer wird Millionär?« genauso gut bei einem öffentlich-rechtlichen Sender hätte ausgestrahlt werden können (siehe Feldmeier/Löw 2001). In der Fernsehkritik spricht dafür auch, dass »Wer wird Millionär?« losgelöst von den Produzenten der Show positiv bewertet wird. RTL und Endemol werden dagegen für ihre privatwirtschaftliche Ausrichtung stark kritisiert, was zeigt, dass hier erneut der Diskurs um ›public service‹ und ›private ownership‹ (Ang 1991) wirksam ist. Nach dem ›public service‹-Diskurs haben kommerzielle Kriterien für die Programmgestaltung – vereinfacht gesagt – im Rundfunk nichts zu suchen (ebd.). Die Fernsehkritik scheint sich in der Bewertung von »Wer wird Millionär?« selbst jenem ›public service‹-Diskurs zuzuordnen. Offenbar fungiert er hier wie bereits oben bei der Bewertung von »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« als wichtiges Paradigma der Fernsehkritik, das ihre Perspektive maßgeblich beeinflusst. Erneut scheint die Fernsehkritik den Diskurs und seine Kriterien zur Programmgestaltung weitertransportieren zu wollen, da ihr im ›private-ownership‹-Diskurs keine einflussreiche Position zukäme. Deutlich wird hieran, dass die Situation der InitiatorInnen selbst die positive Bewertung von »Wer wird Millionär?« maßgeblich beeinflusst. 4.9.2 Was ist legitime Fernsehunterhaltung? Wie sich immer mehr herauskristallisiert, scheint der Diskurs um ›public-service‹ für die Perspektive der Fernsehkritik sehr bedeutsam zu sein. Eng verknüpft mit dem ›public service-Gedanken ist der Diskurs um ›Information und Unterhaltung‹, der für die Bewertung von »Wer wird Millionär?« ebenfalls zentral zu erscheint. In dem Diskurs werden die Bedeutungen von ›Information‹ und ›Unterhaltung‹ ausgehandelt und beispielsweise diskutiert, inwieweit sie tatsächlich Gegensätze darstellen (vgl. dazu Klaus 1996) und auf welche Weise Auf- oder Abwertungen mit ihnen einhergehen. So ist traditionell der Begriff ›Information‹ positiver besetzt als der Unterhaltungsbegriff. Lässt man sich auf die Gegensatzbildung ein, so gelten Informationen als wichtiger, da mit ihnen das Bildungsinteresse vorangetrieben wird. Hierin steckt vor allem der Gedanke, dass sich der ›Staatsbürger‹ informieren müsse, um seinen staatsbürgerlichen Pflichten ausreichend nachkommen zu können. Dagegen wird der

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Bereich der Unterhaltung seit jeher als unwichtiger abgetan, da er keine staatstragende Funktion zu erfüllen scheint. Unterhaltung dient in diesem Verständnis ausschließlich der Ablenkung oder des Amüsements. In dem Diskursfragment zu »Wer wird Millionär?« kommt der Diskurs um Unterhaltung und Information vor allem in Bezug auf die Person des Moderators zum Tragen. Fiske beschreibt in »Television Culture« (1999a) Figuren in Fernsehtexten als diskursive Personen, die unterschiedliche Diskurse in sich bündeln (Fiske 1999a: 149 ff.). Dieser Ansatz lässt sich auf den Diskursstrang zu »Wer wird Millionär?« übertragen. Dort fungiert Günther Jauch als diskursive Person, in der sich die Diskurse der Fernsehkritik bündeln. Der Diskurs um ›Information und Unterhaltung‹ spielt dabei eine auffällige Rolle. Festgemacht wird er vor allem an der beruflichen Laufbahn Jauchs, der als Journalist, einem traditionell der seriösen ›Information‹ verpflichteten Beruf (vgl. Klaus 2003), gearbeitet hat,18 bevor er in die Unterhaltungsbranche wechselte. Die Kritiker und Kritikerinnen beschäftigen sich in ihren Beiträgen recht ausführlich mit Jauchs beruflichem Werdegang und seiner Arbeit bei »Wer wird Millionär?«. Bezogen auf den Moderator wird betont, dass er seriöser Journalist sei, der in die Unterhaltungsbranche hineingerutscht ist. An einer Stelle wünscht sich ein Kritiker sogar, dass Jauch als Karrierehöhepunkt Nachrichtenmann wird (siehe Keil, SZ 8.11.2000) und damit also wieder in den Informationssektor wechsele. Hier schwingt trotz des Lobes, das sonst die Bewertung von »Wer wird Millionär?« prägt, mit, dass dies keine angemessene Beschäftigung für einen ausgebildeten, kompetenten Journalisten sei. Interessant ist die Ausgestaltung des Diskurses dennoch besonders an den Stellen, in denen sich die KritikerInnen mit Jauchs Arbeit bei »Wer wird Millionär?« auseinander setzen. Auffällig ist, dass sie immer wieder hervorheben, dass Jauch besonders professionell arbeite und sehr authentisch oder auch glaubwürdig sei. Unterhaltung wird hier als schnörkellose Fleißarbeit charakterisiert und nicht als ›seichtes Amüsement‹, wie es bei anderen populären Unterhaltungsangeboten durchaus der Fall ist. An dieser Stelle wird Jauch eine spezielle Form von Unterhaltung, eine besondere Mischung von Information und Unterhaltung zugeschrieben, die für die Kritik legitime Unterhaltung darstellt. Im Analyseteil wurde bereits darauf hingewiesen, dass Jauch von der Kritik an einigen Stellen als Unterhaltungsprofi in einer männlich dominierten Elite von Entertainern begriffen wird. Der Geschlechterdiskurs, der legitime Unterhaltung hier als männlichen Bereich ausweist, korrespondiert wiederum mit dem Diskurs um ›Information und Unterhaltung‹, da der Bereich Information traditionell eher männlich besetzt ist. Wie lässt sich die Praxis der Fernsehkritik an dieser Stelle interpretieren? Es stellt sich die Frage, ob der Diskurs um ›Information und Unterhaltung‹ hier 18 | Die Anbindung von Journalismus an ›Information‹ zeigt sich auch in der Perspektive der Journalismus- und der Nachrichtenforschung. Vgl. Klaus/Lünenborg 2000: 193.

Der Diskursstrang »Wer wird Millionär?« in der Fernsehkritik | 321 eine neue, innovative Wendung erfährt, indem ein neuer Unterhaltungsbegriff geschaffen wird. Anzunehmen ist indes vielmehr, dass der Diskurs mit seinen alten Wertungen wirksam ist, wonach Information als positiv und Unterhaltung als weniger positiv gilt. Letztlich führen die Überlegungen erneut zum ›public service‹-Diskurs, der sich immer mehr als maßgebliches Paradigma der Fernsehkritik erweist. Hierfür spricht auch, dass Jauch neben seinen Informationskompetenzen ein Verantwortungsbewusstsein zugesprochen wird, das ihn, wie im Analyseteil angemerkt, zu einer Art ›moralischem Entertainer‹ macht – Fernsehen mit Auftrag, dies entspricht der Vorstellung des ›public service‹-Modells (vgl. Ang 1991: 28). Gestützt wird dieser Eindruck noch dadurch, dass die KritikerInnen ihn als solide Persönlichkeit charakterisieren, für die Äußerlichkeiten nebensächlich seien. Dass die wenigen Textstellen, in denen Jauch etwas verhaltener bewertet wird, sich mit Momenten beschäftigt wie seinen kommerziellen Interessen, also einem Aspekt, der dem ›public-service‹-Gedanken entgegenläuft, verwundert daher nicht. Die Bewertung von Günther Jauch ist offenbar wesentlich für die positive Aufnahme von »Wer wird Millionär?«. Der kurze Abschnitt hat gezeigt, dass das ›public service‹-Modell in Verbindung mit dem Diskurs um ›Information und Unterhaltung‹ hier einen Erklärungsansatz für die Sympathie der Kritik gegenüber dem Moderator liefern kann. Innerhalb einer Fernsehsituation, die den bürgerlichen Traditionen verhafteten Kritikerinnen und Kritikern durch die Privatisierung des Rundfunks zunehmend kommerzialisiert erscheint, verkörpert Jauch für sie offenbar eine Ausnahmeerscheinung und eine Rückkehr zu öffentlich-rechtlichen Maßstäben. 4.9.3 Der Diskurs um Authentizität in der Mediengesellschaft Fragt man nach typischen Medien-Phänomenen des Jahres 2000, so zählt »Wer wird Millionär?« sicherlich dazu. Auch »Big Brother« dürfte hier genannt werden. Noch deutlich in Erinnerung ist das Medienecho und die empörten Stimmen aus Medienkritik und Politik, die vor der Ausstrahlung auf RTL 2 ab März 2000 laut wurden (vgl. Schicha 2000: 81/82). Man diskutierte zum einen, was Medien zeigen dürfen (vgl. z.B. Wunden 2000). Verletzte eine Show wie Big Brother die Menschenwürde? Immerhin wurden zehn Personen, die für hundert Tage in einen (Wohn-) Container zogen, dabei »von 28 TV-Kameras und 60 Mikrophonen 24 Stunden am Tag beobachtet« (Schicha 2000: 79). Das Recht auf Intimsphäre schien außer Kraft gesetzt. Zum anderen wurde »Big Brother« zum Anlass genommen, die Authentizität der Medienwelt zu hinterfragen. »Big Brother« wurde mit dem Anspruch vermarktet, das ›wahre Leben‹ zu zeigen. Im Zuge der Sendung wurde immer stärker die Frage diskutiert, inwieweit hier direktes Alltagsleben präsentiert wurde, auf welche Weise der Sender die Gruppensituation beeinflusste und damit

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inszenierte (vgl. Mikos et al. 2000; Schicha 2000). Außerdem wurden die KandidatInnen daraufhin in Frage gestellt, inwieweit sie sich selbst inszenierten, um die Aufmerksamkeit der Kamera auf sich zu ziehen und die Gunst des Publikums zu erlangen (ebd.), das nach und nach Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus der Show herauswählen durfte. Wie Schicha herausarbeitet, lief bereits die »künstlich herbeigeführte Ausnahmesituation« (Schicha 2000: 84) einer authentischen Alltagsdarstellung entgegen. Hier wurde der Konflikt der Mediengesellschaft offensichtlich: Inwieweit lässt sich überhaupt noch beurteilen, ob Medieninhalte authentisch oder inszeniert sind? Diese Frage diskutierte man im Jahr 2000 auch noch an einem anderen Fall: Im Mai wurde bekannt, dass der Schweizer Autor Tom Kummer über mehrere Jahre hinweg unterschiedlichen Publikationen gefälschte Interviews mit Hollywood-Stars verkauft hatte. Unter anderem druckte das Magazin der Süddeutschen Zeitung mehrere seiner Beiträge ab (vgl. Ott/Ramelsberger 2000). Kummer hatte in seinen Artikeln und besonders in seinen Interviews mit Stars wie Courtney Love oder Sharon Stone sehr erfolgreich Fakten mit Fiktionen vermischt. Gerade im Journalismus schlug der Fall hohe Wellen, da hier Grundsätze journalistischer Ethik verletzt wurden (ebd.). Die Glaubwürdigkeit von Medien und der authentische Gehalt medialer Darstellungen wurden hier erneut in Frage gestellt (vgl. Klaus/Lünenborg 2002: 154). Der Diskurs um die Authentizität der Medienwelt in einer »Inszenierungsgesellschaft« (Willems/Jurga 1998) war somit zur Anfangszeit von »Wer wird Millionär?« sehr aktuell19 und trug zur positiven Aufnahme von »Wer wird Millionär?« bei. Nur untergeordnet klang an, dass es sich bei »Wer wird Millionär?« um eine ›populäre Inszenierung‹ handele. Ganz überwiegend hob die Kritik an der Sendung Momente positiv hervor, die sie als Rückkehr zum Authentischen auswies: neben dem Konzept, das als einfach, unprätentiös spannend galt, wurde vor allem Jauch zur authentischen Fernsehpersönlichkeit erklärt, der sich beruflich genauso zeige, wie er auch im Privatleben sei. Über seinen Ruf als seriöser Journalist wird er in der Kritik mit Fakten assoziiert, er gilt als ehrlicher Entertainer, der seinem Publikum nichts vormachen will. Natürlich fließt hier wieder auch der Diskurs um ›Fakten und Fiktion‹ mit ein, wonach neben dem Moderator auch das Abfragen von Wissen positiv für handfeste Fakten in einer Medienwelt stehen, in der ansonsten die Grenzen zwischen Fakten und Fiktionen zu verschwimmen scheinen. Der Diskurs um Authentizität liefert auch einen Erklärungsansatz dazu, warum Jauchs häufig herablassendes Verhalten gegenüber seinen KandatInnen in der Kritik positiv aufgenommen wurde: Wenn Jauch Abneigungen und Präfe19 | Dies belegt auch die Vielzahl an Veröffentlichungen, die sich mit Inszenierungen in Medien beschäftigen: vgl. z.B. Schicha/Ontrup 1999; Willems/Jurga 1998; auf die Inszenierung von Politischem beschränkt: Meyer/Ontrup/Schicha 2000.

Der Diskursstrang »Wer wird Millionär?« in der Fernsehkritik | 323 renzen offen zeigt, ist er nur ehrlich und verstellt sich nicht. Daneben wird er zum verantwortungsbewussten, moralischen Entertainer gemacht. Jauch wird somit als Hoffnungsträger charakterisiert, der mit seiner Glaubwürdigkeit und Authentizität aus der sonst unzuverlässigen Medienwelt herausragt. Damit wird der Überschwang zum Teil erklärbar, mit dem die Fernsehkritik auf ihn reagierte. Demgegenüber wurden Aspekte, die die Authentizität der Sendung und seines Moderators in Frage stellen könnten, abgewertet: Kandidatinnen, die Jauch in einen Flirt verstrickten, fielen hierunter ebenso wie Kandidaten, die die Show zur Selbstinszenierung zu nutzen versuchten. Die Rückkehr der Fernsehvergangenheit mit einem klassischen Wissensquiz wurde damit im Diskurs der Fernsehkritik zur Rückkehr von Authentizität und Glaubwürdigkeit in einer zunehmend inszenierten Medienwelt. Dass gerade Jauch als Musterbeispiel einer authentischen Persönlichkeit genommen wurde, ist eigentlich erstaunlich, da er selbst Mitte der neunziger Jahre in den Skandal um den Journalisten Michael Born verwickelt war. 1996 geriet die Sendung »stern TV« und ihr Moderator sowie zeitweiliger Chefredakteur Günther Jauch in die Schlagzeilen, als in ihr gefälschte Beiträge von Born ausgestrahlt wurden (vgl. Reichert 2001). Obwohl auch Günther Jauch für die Ausstrahlung der Beiträge mitverantwortlich war, schadete dies nicht seinem Ruf als seriöser Journalist – damals nicht und wie sich in der analysierten Fernsehkritik zeigt, auch heute nicht. Wie glaubwürdig und seriös Jauchs Ruf darüber hinaus in der Medienöffentlichkeit ist, belegt auch folgendes Beispiel: In der Analyserunde zum zweitem ›Kanzlerduell‹20 am 8.9.2002 war er neben dem ARD-Moderator Thomas Roth, Journalist Gerd Ruge und Anne Volk, der Herausgeberin der Zeitschrift »Brigitte«, ebenfalls anwesend. Seine Popularität wurde gelobt, seine Fachmeinung geschätzt. Mit dem Diskurs um die Authentizität in den Medien geht auch der Diskurs um das ›Original versus einer Kopie‹ einher. So galt »Wer wird Millionär?« überwiegend als authentisches Original. Kopien der Show wurden demgegenüber abgewertet. Der Gedanke, dass das Originelle höher wiege als Nachahmungen oder Vervielfältigtes ist in der Geistesgeschichte sehr ausgeprägt. Der Beitrag von Benjamin zur technischen Reproduzierbarkeit von Kunstwerken stellt nur ein Beispiel dazu dar (vgl. Benjamin 1974). Wie bereits oben erwähnt, konstatiert Benjamin den Verlust der ›Aura‹ bei reproduzierten Kunstwerken, die ihre »Echtheit« einbüßten und deren »Hier und Jetzt« entwertet würde (Benjamin 1974: 438): »Die Reproduktionstechnik, so lässt sich allgemein formulieren, löst das Reproduzierte aus dem Bereiche der Tradition ab. Indem sie die Reproduktion vervielfältigt, setzt sie an die Stelle seines einmaligen Vor20 | Im bundesdeutschen Wahlkampf fanden zum ersten Mal in der Deutschen Geschichte im Fernsehen ›Rede-Duelle‹ zwischen dem amtierenden Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) und seinem Herausforderer Edmund Stoiber (CSU) statt, die im Anschluss in Gesprächsrunden kommentiert wurden.

324 | Teil 3: »Wer wird Millionär?« und »GZSZ« im Diskurs der Fernsehkritik

kommens sein massenweises« (ebd.). Die Argumentationslinie, in der »Wer wird Millionär?« als Kopie einer britischen Show abgewertet wurde, kam in den Kritiken kein zentraler Stellenwert zu. Das RTL-Wissensquiz scheint für die Kritiker und Kritikerinnen die Rückkehr zu den Ursprüngen der Fernsehunterhaltung, zu solidem, ›echtem‹ Entertainment verkörpert zu haben, was durch die Darstellung als Original untermauert wurde. Natürlich übersah die Fernsehkritik dabei auch, dass das Genre ›Quizshow‹ im deutschen Fernsehen gerade in den Anfängen aus Kopien US-amerikanischer Fernsehshows bestand (vgl. Hallenberger 1994). Die Bewertung von »Wer wird Millionär?« und insbesondere seines Moderators Günther Jauch ist das Ergebnis des Zusammenwirkens unterschiedlicher Diskurse. Der Diskurs um Authentizität ist einer davon. Dass in ihm ebenfalls mehrere Diskurse zusammenwirken – wie die Frage des Originals oder Überlegungen zu Fakten und Fiktionen – zeigt umso deutlicher, wie einzelne Diskurse in der Bewertung der Fernsehkritik miteinander vernetzt sind und zusammen wirken. Wie die »Codes of television«, die Fiske untersucht (vgl. Fiske 1999a), formen auch im Diskurs der Fernsehkritik die einzelnen Argumentationsstränge ein mehr oder minder einheitliches Bild, was sich in der dominierenden positiven Bewertung der Quizsendung ausdrückt.

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Teil 4 Resümee

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Sehr beliebt in der Freizeit, dennoch häufig abgewertet – so wurde das Dilemma populärer Unterhaltung zu Beginn dieser Arbeit charakterisiert. Dagegen stand Maases These (1997), dass massenkulturelle Unterhaltung seit den sechziger Jahren stetig aufgewertet worden sei, weshalb es aktuell keine Minderbewertung gegenüber der so genannten ›Hochkultur‹ mehr gebe. Eine Aufwertung in einzelnen Bereichen erschien in jedem Fall plausibel. Dafür sprach auch der Paradigmenwechsel in der Wissenschaft, die sich verstärkt den Alltagskulturen widmet, und die zunehmende Öffnung der Medien- und Kommunikationswissenschaft gegenüber dem Gegenstand ›Unterhaltung‹. Vor allem die wachsende Rezeption der Cultural Studies, deren Populärkulturforschung einen neuen Blick auf Populäres entwickelt hat, scheint Maases These zu untermauern. Allerdings stellte sich die Frage, inwieweit die wissenschaftlichen Überlegungen verallgemeinerbar sind. Ziel der Untersuchung war es daher, die aktuelle Bewertung von Populärem zu beleuchten und zu prüfen, ob man in einem Bereich wie der Fernsehkritik, die per se mit der Bewertung populärer Texte befasst ist und häufig zwischen Wissenschaft und breiterer Öffentlichkeit vermittelt, von einer neuen, aufgeschlossenen Haltung gegenüber Populärem sprechen kann. Zeigen sich in dem Diskurs der Fernsehkritik die Kriterien der Cultural Studies für die Betrachtung populärer Texte, die eine Aufwertung belegen könnten?

Der neue Blick auf Populäres Um die Frage zu beantworten, war es zunächst notwendig, im theoretischen Teil den Blick der Cultural Studies auf Populäres zu skizzieren. Dazu gehört das erweiterte Kulturverständnis des interdisziplinären Forschungsprojektes Cultural Studies, wonach Kultur Alltagspraxen umfasst, als Bedeutungssystem verstanden werden kann und übergreifend als ›konfliktäres Feld‹ begriffen wird, auf dem diskursive, gesellschaftliche Bedeutungen ausgehandelt werden. Im Mittelpunkt stand Fiskes Herangehensweise an populäre Kultur, der die Populärkulturforschung mit

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seinen Analysen zu Fernsehtexten maßgeblich beeinflusst hat. Seine Vorstellung von Kultur als Zirkulation von Bedeutungen und Vergnügen in einer Gesellschaft hebt die Rolle populärer Texte bei der diskursiven Aushandlung von Bedeutungen hervor. Dabei versteht Fiske Populärkultur als Produkt der ›Leute‹, die sich gegenüber den dominanten Bedeutungen des ›Machtblocks‹ ihre eigenen semiotischen Machträume erschaffen. Populäre Texte transportierten dabei zwar hegemoniale Positionen, böten ›den Leuten‹ jedoch aufgrund ihrer offenen, lückenhaften Textstruktur Anregungen zur Bedeutungsproduktion. Für die Aufwertung von Populärem war dabei entscheidend, dass populäre Texte widerständige Bedeutungen eröffnen können. Mit dieser Vorstellung von Populärkultur geht gleichzeitig die Aufwertung der RezipientInnen einher, die aktiv Texte aneigneten und nicht passiv textuelle Bedeutungen konsumierten. Vielmehr bereite ihnen die widerständige Aneignung besonderes Vergnügen. Der Weg hin zu diesem neuen Blickwinkel wurde mittels zentraler Studien zur Populärkultur illustriert, die vor allem die Eigenständigkeit der Rezipierenden, die notwendige Differenzierung von Textbedeutungen und Ideologie sowie Vergnügen als Analysekategorie hervorheben. Insgesamt wurde deutlich, dass die Cultural Studies hier mit ästhetischen Traditionen sowie kulturpessimistischen Herangehensweisen an Populäres brechen. Populäres erfordert einen spezifischen Blick, der dem Reiz von Populärem gerecht wird. Allerdings zeigte sich auch, dass die neue Herangehensweise der Cultural Studies nicht frei von neuen Hierarchien ist, wenn beispielsweise populäre Kultur in ihren Studien ›hochkulturellen Praxen‹ vorgezogen wird. Deutlich wurde auch, dass die Anforderungen der Cultural Studies, die unter anderem Offenheit, Kontextualisierung sowie ihren interventionistischen Charakter betreffen, im deutschsprachigen Raum noch nicht in dem Maße umgesetzt werden. Die Etablierung der Cultural Studies ist hierzulande noch nicht abgeschlossen, es ist vor allem noch Bedarf an Forschungsarbeiten gegeben. Zudem wird der politische, kritische Anspruch der Cultural Studies noch nicht in dem Maße realisiert. Die theoretische Einführung wurde ergänzt durch einen Blick auf Ecos frühe Studien zu Populärem, in dem eine semiotisch-strukturelle Herangehensweise überwiegt. Eco hat sich früh mit der intellektuellen Scheu vor Populärem auseinander gesetzt und wurde auch verschiedentlich in den Cultural Studies rezipiert. Neben Eco wurde auf Barthes’ Ausführungen zur ›Konnotation‹ und ›Denotation‹ eingegangen, die Überlegungen zur Bedeutungsvielfalt von Texten fundierten. Ebenso wurde Halls Modell des Encoding/Decoding von Texten kritisch erläutert und die Bezüge zu Fiskes Arbeiten zum widerständigen Vergnügen und bezüglich der ideologischen Kodierung von Texten dargestellt. Im Mittelpunkt zu Fiskes Arbeiten stand insgesamt die Begrenzung von Bedeutungen durch Lesarten sowie durch Konzepte wie dem Realismus und die Öffnung von Bedeutungsmöglichkeiten. Hierzu sind textuelle Eigenheiten, wie beispielsweise semiotischer Exzess und besonders die Intertextua-

Resümee | 329 lität von Texten zu zählen. Um Fiskes Herangehensweise noch näher zu kennzeichnen, wurde die Kritik dargestellt, die in der Revisionismusdebatte an ihm geübt wurde. Hier zeigte sich jedoch, dass die schwerwiegenden Vorwürfe gegen Fiske nicht haltbar sind. Allerdings können Kritikpunkte wie der, dass Fiske Kontexte vernachlässige und seine Beschreibung der semiotischen Macht zu stark wirke, nicht ganz von der Hand gewiesen werden. Als Übergang vom theoretischen Teil zu der empirischen Untersuchung wurde Fiskes Diskursbegriff vorgestellt und seine Diskursanalyse erläutert. Zur Sprache kamen hier seine ›diskursiven Charaktere‹, Körper und Wissen sowie ausführlicher sein Vorgehen in »Media Matters«, in dem er die Arbeit von Diskursen beschreibt und dabei unterschwellige Bedeutungen offen legt, die teilweise sexistischer und rassistischer Natur waren. Fiske stellt hier heraus, dass Diskurse immer an InitiatorInnen gebunden seien, deren Interessen über Diskurse gestützt werden sollten. Dazu werde vor allem versucht, ihre bevorzugten Bedeutungen über Diskurse allgemeingültig zu machen. Fiskes Untersuchung in »Media Matters« verdeutlichte dies. Es zeigte sich darüber hinaus, dass die Trennung von fiktionalen und non-fiktionalen Texten aus diskursanalytischer Sicht verwischt, da beide gesellschaftlich-relevante Diskurse transportieren und die Bedeutungsaushandlung mit beeinflussen. Auch wird damit die Abwertung populärer fiktionaler Texte gegenüber non-fiktionalen, die wichtiger für die gesellschaftliche Ordnung seien, hinfällig. Offenbar ist eine diskursanalytische Perspektive bezüglich kultureller Wertungen besonders aufschlussreich.

Der empirische Teil In der empirischen Untersuchung wurde analysiert, auf welche Weise im Diskurs der Fernsehkritik populäre Texte bewertet werden. Zeigen sich hier Kriterien wie Offenheit, Intertextualität oder Vergnügen der Publika, die Fiskes Blick auf populäre Texte kennzeichnen? Ausgewählt wurden Kritiken der Süddeutschen Zeitung sowie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, beides renommierte Tageszeitungen, die für die traditionell bürgerlich verhaftete Kritik steht und aufgrund ihrer führenden Stellung im kulturellen Bereich Einfluss auf die gesellschaftliche Bedeutungsproduktion haben. Daher war es interessant zu analysieren, welche Bedeutungen bezüglich populärer Texte in ihren Kritiken transportiert werden. Gegenstand der Kritiken war zum einen die RTL-Soap »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« sowie die Quizsendung »Wer wird Millionär?«, ebenfalls RTL, die von Günther Jauch moderiert wird. Beide Sendungen sind in ihren jeweiligen Genres die erfolgreichsten im deutschen Fernsehen. In der inhaltlichen Rahmung wurde zum einen die kulturelle Führungsrolle deutlich gemacht, welche die bürgerlichen Wurzeln verhaftete Fernsehkritik für sich beansprucht, und es zeigte sich zum anderen, dass die Diskussionen

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der Kritik und ihre Selbstwahrnehmung an aktuelle Diskurse in der Gesellschaft gebunden sind. Zum anderen wurde die Anbindung von »GZSZ« und »Wer wird Millionär?« an die jeweiligen Genretraditionen im deutschen Rundfunk sichtbar: Während die Seifenoper 1992 die erste deutsche Daily Soap darstellt, knüpft »Wer wird Millionär?« an eine lange Genregeschichte an, die bis in die Anfänge des deutschen Fernsehens zurückreicht. Methodisch schloss sich die Analyse an Fiskes Diskursverständnis an, das mit dem offenen Kodieren zu einem Analyseverfahren ausgearbeitet wurde. Durch die Kategorienbildung und die genaue Erläuterung des Vorgehens wurde gewährleistet, dass das Verfahren der Arbeit nachvollziehbar war. Aus den Kritiken von Süddeutscher Zeitung und Frankfurter Allgemeinen Zeitung wurden schließlich anhand der einzelnen inhaltlichen Schwerpunkte Argumentationen herausgearbeitet und erläutert, welche Diskurse in die Beiträge der Fernsehkritik mit einfließen.

Kein Bezug auf die Cultural Studies Die Frage danach, inwieweit im Diskurs der Fernsehkritik die Kriterien der Cultural Studies präsent sind, scheint eindeutig zu beantworten zu sein. Textuelle Offenheit, Exzess und populäre Vergnügen finden bei der hier untersuchten Fernsehkritik keinen Anklang: nur sehr marginal zeigt sich der Diskurs der Cultural Studies und die typische Sicht auf populäre Texte in den Kritiken. Lediglich in der Art und Weise, wie die Rezeption von »Wer wird Millionär?« an einigen Stellen beschrieben wird, klingt eine Ähnlichkeit zum körperlichen Vergnügen in den Cultural Studies an. Ansonsten driften der Diskurs der Fernsehkritik seitens SZ und FAZ und die Perspektive der Cultural Studies in wesentlichen Punkten auseinander. Vor allem das Publikumsbild im Diskurs der bürgerlich verhafteten Fernsehkritik schließt einen bewussten Bezug auf die Cultural Studies aus. Distanz prägt die Beziehung von Kritik zum Publikum – bei der Quizshow etwas weniger als bei der Soap –, genauere Kenntnisse über Rezipientinnen und Rezipienten, was Zusammensetzung, Nutzungsverhalten und vor allem Vergnügen angeht, kommen in den Kritiken nicht zum Ausdruck. So werden die RezipientInnen als passives Massenpublikum charakterisiert. Die Fans der Serie werden distanziert als (pubertierende) Gruppe betrachtet, für deren Vergnügen in der Kritik kein Verständnis aufgebracht wird. In den Kritiken zur Soap dominiert ein überkommenes Publikumsbild, das dem Stimulus-Response-Ansatz verpflichtet ist. Bezüglich der ZuschauerInnen von »Wer wird Millionär?« ist die Distanz dieses Teils der Fernsehkritik nicht in dem Maße ausgeprägt, da sich einige KritikerInnen selbst als regelmäßige ZuschauerInnen geben und ihre Begeisterung für die Sendung zeigen. Dennoch werden die RezipientInnen von der Kritik gesondert betrachtet, wobei auf Vergnügen

Resümee | 331 an der Spannung hingewiesen wird und ansonsten die Begeisterung für Jauch im Mittelpunkt steht. Genauere Kenntnisse über Zuschauerinnen und Zuschauer werden jedoch auch hier nicht deutlich.

›Public-Service‹-Diskurs und Kulturindustrie Der Diskurs der Cultural Studies wurde von der Kritik in SZ und FAZ demnach nicht aufgenommen. Statt dessen kommen offenbar andere Diskurse zum Tragen. Vor allem zeigte sich, dass die Maßstäbe aus dem ›public-service‹-Diskurs (Ang 1991) angelegt werden, zu denen insbesondere die Gestaltung des Rundfunks nach kommerziell unabhängigen Kriterien zählt sowie die Vorstellung eines zu belehrenden Publikums. Daneben werden Maßgaben aus der Kritik an der Kulturindustrie immer wieder sichtbar. Die Haltung der KritikerInnen gegenüber »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« und »Wer wird Millionär?« ist unter diesem Fokus gespalten: Wird die Seifenoper als ›schlechte Unterhaltung‹ abgetan, gilt die Quizshow den KritikerInnen als Paradebeispiel ›guter Unterhaltung‹. Insbesondere an Günther Jauch macht sich das positive Urteil fest, Kritisches klingt lediglich am Rande an. »Wer wird Millionär?« gilt den KritikerInnen als eigentlich öffentlich-rechtliches Format mit einem eigentlich öffentlich-rechtlichen Moderator. Jauchs Image wirkt hier geradezu übersteigert positiv: Er wird als glaubwürdig, bescheiden, fleißig und seriös charakterisiert, wobei »Wer wird Millionär?« als unprätentiöses, perfekt einfaches Format positiv bewertet wird. Jauch mache mit der Show professionelle Unterhaltung, die aus dem übrigen Programm heraussteche und mit ihren enormen Einschaltquoten Maßstäbe gesetzt habe. Dagegen wird die Soap als privates, kommerzielles, industrielles Produkt abgewertet. Dies zeigte sich an Argumentationen, die den Produktionsvorgang der Seifenoper als industrielle Fertigung ausweisen, sie als ›Geldmaschine‹ für RTL charakterisieren oder auch eine Verschlechterung des Rundfunks im Allgemeinen an die Einführung der Daily Soap »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« knüpfen. Die Soap-Handlung wird als schematisch und beliebig herausgestellt und stehe in keinem Bezug zur Realität – was der Kritik offenbar ein wichtiges Qualitätsmerkmal auch für fiktionale Texte zu sein scheint. Vor allem die SchauspielerInnen der Serie werden sehr stark kritisiert und man spricht ihnen jegliche darstellerischen Fähigkeiten ab. Absinken der Qualitätsstandards, Vereinheitlichung des Programms, zunehmende Kommerzialisierung und damit allgemein die Konvergenz der Öffentlich-Rechtlichen an die Privaten werden einhergehend mit »GZSZ« befürchtet. Es soll gar nicht bestritten werden, dass die frühe deutsche Soap-Produktion Mängel aufwies, ebenso ist dies nicht der Ort, um Jauchs Qualitäten zu diskutieren, doch die Reaktionen der Kritik sind in den Diskurssträngen hier übersteigert negativ, wie sie auf der anderen Seite übersteigert positiv ausfallen.

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Der Diskurs der Fernsehkritik als konfliktäres Feld Neben dem ›public-service‹-Ideal und der pessimistischen Haltung gegenüber der Kulturindustrie fließen noch weitere Diskurse in die Wertungen der Fernsehkritik aus SZ und FAZ mit ein. So zeigen sich in der Bewertung der RTL-Quizsendung und »GZSZ« Diskurse um Konvergenz, Authentizität, Original, Fakten und Fiktion, ebenso wie der Geschlechterdiskurs, Überlegungen zur Bildung oder Fragen danach, was die Qualität von Unterhaltung ausmache und welche Praxen den Fernsehmarkt beherrschten. Die Aufzählung dürfte nicht vollständig sein, da es generell nicht möglich ist bzw. war, allen Hinweisen in den Argumentationen der Kritik nachzuspüren und alle einfließenden Diskurse zu erfassen. Der Diskurs der Fernsehkritik um populäre Unterhaltung erweist sich hier als konfliktäres Feld, auf dem gesellschaftlich-relevante Bedeutungen ausgehandelt werden. Ein konkretes Beispiel dafür ist die Frage ausgehend von »Wer wird Millionär?«, welches Wissen oder welche Form von Bildung heutzutage relevant sei, ob klassisches humanistisches Wissen ausgedient habe und dagegen Wissen über alltägliche, populäre Fragen dominiere. Hierzu liegen in der Kritik unterschiedliche, auch widersprüchliche Positionen vor, was belegt, dass die gesellschaftliche Aushandlung solcher Fragen noch im Prozess begriffen ist. Sehr deutlich wird der Charakter des Diskurses als konfliktäres Feld auch hinsichtlich der Charakterisierung Jauchs, der als diskursive Person fungiert und unter anderem den Diskurs um Fakten und Fiktion bzw. um Information und Unterhaltung transportiert. Zudem zeigt sich der Diskurs der Authentizität in der Medienwelt, wobei »Wer wird Millionär?« als besonders authentisch und Jauch als überaus glaubwürdig wahrgenommen wird. Diskussionen wie etwa zum Fall Tom Kummer oder um die Inszeniertheit von Real Life Soaps dürften die positive Aufnahme der Quizsendung in dieser Hinsicht mitbewirkt haben. Die Analyse verdeutlichte, wie stark der hier untersuchte Diskursausschnitt der Fernsehkritik in die gesellschaftliche Bedeutungsaushandlung eingebunden ist. Er greift zum einen gesellschaftliche Diskurse auf und speist zum anderen Bedeutungen in die Diskussionen ein. Ebenfalls wird daran deutlich, dass populäre Texte in dem Prozess der gesellschaftlichen Bedeutungsfindung einen festen Platz haben. Denn offenbar gaben sie den Kritikerinnen und Kritikern reichlich Anstöße zur Bedeutungsproduktion.

Interessen im Diskurs der Fernsehkritik Dass bestimmte Diskurse präsenter sind als andere und aus der Bewertung unterschiedliche Argumentationslinien hervorgehen, verdeutlicht, dass die Organisation des analysierten Fernsehkritik-Diskurses nicht willkürlich erfolgt, sondern nach bestimmten Prinzipien verläuft: Nach Fiske arbeiten Diskurse für die Interessen ihrer InitiatorInnen. Bedeu-

Resümee | 333 tungen, die jene Interessen stützen, sollen über Diskurse allgemeingültig gemacht werden. Initiatorin des analysierten Diskursausschnitt ist zunächst die Kritik von SZ und FAZ. Dahinter stehen natürlich die beiden Zeitungshäuser mit ihrem spezifischen Profil und ihren besonderen Interessen. Ganz im Sinne Fiskes zeigt sich, dass auch dieser Diskursteil den Interessen der InitiatorInnen dient. Die Bewertungen, die hier aus dem Diskurs hervorgehen, untermauern die intellektuelle Führungsrolle der KritikerInnen, die zu den traditionellen Ansprüchen bürgerlichen Kritik gehört (vgl. Hickethier 1994). Kulturell führend möchten sich auch die beiden Zeitungen hinter der Kritik positionieren. Süddeutsche und FAZ wenden sich an ein bürgerlich orientiertes Publikum, dem sie zudem signalisieren möchten, dass ihre Ansichten bei ihnen präsent sind. Für das Interesse von Kritik und Verlagen an einer kulturell exponierten Stellung im gesellschaftlichen Diskurs spricht zunächst die vehemente Abwehrhaltung der Kritik gegenüber kommerziellen Aspekten als Maßgabe der Programmgestaltung. Kritisiert wird die Praxis auf dem Fernsehmarkt und die Machtkonzentration im Rundfunkbereich. »Längst herrschen ›Senderfamilien‹, die dynastische Wärme verheißen, aber kalt wie Geld sind, mit ihren Kindern über die gesamte Länge der Wertschöpfungskette: von der Produktion über Ausstrahlung und Online-Auftritt bis zum Merchandising und zur Lizenzvermarktung« (Zekri 2001). Die pessimistische Haltung der Kritik gegenüber dem Rundfunkbereich ist hier überdeutlich. Offenbar ist dieser Teil der Kritik hier wie in den Achtzigern immer noch durch die Privatisierung und zunehmende Kommerzialisierung im Zuge des dualen Rundfunks und Momenten wie der wachsenden Internationalisierung des Fernsehmarktes verunsichert. Offenbar befürchtet sie auch heute die »Umorientierung des Fernsehens von einer Kulturagentur zum Marktgeschehen« (vgl. Hickethier 1994: 18). Diese widerspricht der Orientierung an kulturellen Qualitätskriterien, für die die hier analysierte Fernsehkritik samt der SZ und der FAZ stehen. Durch die Orientierung am Kommerziellen könnte einerseits die Funktion beider InitiatorInnen geschwächt werden: Zumindest die Fernsehkritik will ja auch Einfluss auf die Programmgestaltung nehmen, was ihr dadurch erschwert würde. Andererseits dient die Kritik am Kommerziellen natürlich auch der Identitätsbildung von Kritik und Zeitungen – vor allem an der extrem negativen Kritik der Machtkonzentration durch den Bertelsmann-Konzern und Endemol drückt sich dies aus. Je stärker das Kommerzielle, in der Darstellung der Kritik hier ›Nicht-Kulturelle‹ verurteilt wird, umso glänzender stehen die Bewahrer der bürgerlichen Kultur dar. Ebenso dient diese Selbstdarstellung den bevorzugten, bürgerlich orientierten Zielgruppen als Raum zur Identifikation. Die Kritik am Kommerziellen dient hier also dazu, kulturelle Führungsrollen herauszustreichen.

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Daneben ist das Publikumsbild anzuführen, das in dem Diskurs von den NutzerInnen populärer Unterhaltung gezeichnet wird. Die Rolle der Kritik als kulturelle Normgeberin rechtfertigt sich darüber, dass die Notwendigkeit besteht, ein Publikum anzuleiten. Dass die Kritiken die RezipientInnen zum Teil im Sinne einer institutionellen Perspektive (vgl. Ang 1991) als objektivierbare Masse charakterisieren, deren Vergnügen nicht ernst genommen werden, erklärt sich hierdurch. Dies trifft besonders auf die Art und Weise zu, wie die RezipientInnen von »GZSZ« charakterisiert werden. Seifenopern werden von jeher seitens Intellektueller abgewertet und stehen demgegenüber um so mehr für die Unabhängigkeit der RezipientInnen vom kritischen Urteil, die trotz der intellektuellen Abwertung einschalten. Dass gerade die »GZSZ«-Rezipierenden von der Kritik abqualifiziert werden, ist daher bezeichnend. Sie erscheinen hierüber umso bedürftiger, was kulturelle Kompetenz anbelangt. Kulturelle Führung lässt sich nur beanspruchen, wenn es jemanden gibt, der orientierungslos ist. Das konstruierte Publikum ist für den bürgerlich geprägten Diskurs der Fernsehkritik ebenso notwendig, wie die Publikumsbilder im ›publicservice‹- und im ›private-ownership‹-Diskurs für den Rundfunk (vgl. Ang 1991). Hier könnte der Hauptgrund dafür liegen, dass der Diskurs der Cultural Studies nicht von diesem Teil der Kritik angenommen wird: Erkennt man den Eigenwillen und die spezifischen Vergnügen der Rezipierenden im Sinne der Cultural Studies an, wird ein Anspruch auf eine autoritäre Führungsrolle obsolet. Das Selbstbild dieser in der bürgerlichen Tradition stehenden Kritik müsste dann grundlegend verändert werden, womöglich hin zu einer mehr beratenden Stimme oder stärker als Anwalt der Publika. Gleichzeitig bieten die Kritiken ihren bürgerlich orientierten Zielgruppen hier erneut Raum zur Abgrenzung von einem vermeintlich ›kulturlosen‹ Massenpublikum. Das konstruierte Publikumsbild in diesem Diskursausschnitt dient also genau wie die Verurteilung des Kommerziellen sowohl der Fernsehkritik, den beiden Zeitungen SZ und FAZ wie auch dem anvisierten Leserkreis zur Identitätsbildung, indem man sich von einem vermeintlich unintellektuellen Massenpublikum abgrenzt.

Aufwertung ›ja‹ oder ›nein‹? Bleibt zu fragen, ob Maase Recht hat. Hat die Aufwertung von Massenkultur stattgefunden? Macht man die Antwort auf diese Frage daran fest, ob sich die Kriterien der Cultural Studies in der hier analysierten Kritik zeigen, so kann sie nur mit ›nein‹ beantwortet werden. Doch belegen die Kritiken zu »Wer wird Millionär?«, dass durchaus positiv auf Populäres reagiert wird und Kritiker wie Niggemeier sich nicht scheuen, sich selbst als Fan zu offenbaren. Insgesamt kann jedoch von einer Aufwertung im Diskurs der Fernsehkritik, so wie er in der SZ und der FAZ initiiert wurde, nicht die Rede sein. Zu präsent ist der kritische Diskurs um die Kul-

Resümee | 335 turindustrie, wie ihn bereits Horkheimer und Adorno (1998) transportierten. Es verwundert daher nicht, wenn aktuelle Publikumserfolge wie »Deutschland sucht den Superstar«, erneut von RTL produziert, mit ähnlichen Bemerkungen abgetan werden wie »GZSZ«: Begriffe wie »Medienmaschine« (Wehler 2003), »Kommerzfalle« (Oswald 2003), »Geldmaschine« (Hoff 2003) in Verbindung mit Kritik am Kommerziellen und am Exzessiven zeigen, wie fest die Muster der Bewertungen verlaufen.1 Lediglich in einer Kritik von Fuchs (2003) kommt zum Ausdruck, dass die »Superstars« für die RezipientInnen womöglich noch anderes darstellen als Kommerz, dass sie sich mit dem Faible für einen Außenseiter gegenüber den Interessen der Veranstalter abgrenzen. Maases Aufwertung massenkultureller Vergnügen ist sicherlich auf dem Weg, doch die Aushandlung der Bewertungen ist noch nicht in dem Maße abgeschlossen, wie Maase es darstellt.

Ausblick Abschließend ist zu betonen: Fernsehkritik ist notwendiger denn je. Kritisch die Entwicklungen im Rundfunkbereich zu begleiten, ist wichtig, um die Verflechtungen von Konzernen im Rundfunkbereich transparenter zu machen, um zu zeigen, wo die Interessen der Rezipierenden an vielfältigen Inhalten möglicherweise in Gefahr geraten. Fernsehkritik ist auch notwendig, um die Qualität von kulturellen Angeboten zu bewerten und Negativtendenzen argumentativ entgegenzuwirken. Es stellt sich allerdings die Frage, ob es nicht für die Kritik der bürgerlich orientierten Feuilletons an der Zeit wäre, die Zuschauer und Zuschauerinnen besser kennen zu lernen. Gerade, wo Rundfunkanstalten sich stärker an den Unterhaltungsvorlieben der RezipientInnen orientieren wollen oder müssen, ist es notwendig, die Vergnügen der Rezipierenden in die Öffentlichkeit zu tragen und auch darzustellen, was ZuschauerInnen nicht gefällt und worauf sie im Programm verzichten können. Ein genauerer Blick auf Vergnügen und Nutzungsweisen im Sinne der Cultural Studies würde der Kritik zeigen, wie komplex ZuschauerInnen populäre Unterhaltung rezipieren und wie wenig sie ein einheitliches Massenpublikum verkörpern. Ihr Publikumsbild zu revidieren und darüber ein neues Selbstbild zu entwickeln, könnte die Herausforderung der Zukunft für diesen Teil der Fernsehkritik sein. Andernfalls stellt sich die Frage, ob ihre Kritiken womöglich irgendwann ins Leere laufen. Aus der Untersuchung ergeben sich nicht nur Fragen an die Fernsehkritik. Vielmehr schließen sich an die Analyse mehrere offene Fragen für die Forschung an. So war die Fernsehkritik selbst bislang zu wenig Gegenstand von Untersuchungen. Hier gilt es, die einzelnen Bereiche des 1 | Bereits Klippel hat hervorgehoben, dass die Fernsehkritik recht schematisch urteile (vgl. Klippel 1992: 233).

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Diskurses noch genauer zu differenzieren und beispielsweise die hier untersuchte Fernsehkritik aus Süddeutscher Zeitung und Frankfurter Allgemeinen Zeitung der Kritik aus Boulevardpresse oder Fernsehzeitschriften gegenüberzustellen. Welche unterschiedlichen Interessen kommen jeweils zum Tragen? Nach welchen Regeln funktionieren die unterschiedlichen Diskursteile? Forschungsbedarf besteht darüber hinaus hinsichtlich der Bewertungskriterien für Populäres in den verschiedenen Bereichen der Fernsehkritik. Weitere Untersuchungen, in denen Argumentationen herausgearbeitet werden, wären wünschenswert. Daneben eröffnet das Publikumsbild der Medienkritik Raum für weitere Analysen. Es ist beispielsweise davon auszugehen, dass das distanzierte Verhältnis zum Publikum bei anderen Teilen der Kritik nicht in dem Maße ausgeprägt ist, wie es in der FAZ und der SZ der Fall war. Welche Unterschiede bestehen und vor allem welche Funktion das gleichermaßen konstruierte Publikum in anderen Diskursteilen hat, wäre eine weitere Frage an die Forschung. Zudem werfen auch die Cultural Studies als Forschungsgegenstand weitere Fragen auf. Interessant wäre es, noch genauer zu untersuchen, wie die Rezeption des Cultural Studies-Ansatzes verläuft. In welchen gesellschaftlichen Diskursen werden Annahmen reproduziert, welche Forschungsdisziplinen schreiben die Cultural Studies fort und wo bleibt die Rezeption weiterhin aus? Welche Aspekte, beispielsweise gesellschaftliche Interessen, institutionelle Strukturen und ähnliches, sind für die Rezeption förderlich und welche behindern sie? Sicher aufschlussreich ist hierzu eine internationale Perspektive, gerade angesichts der verzögerten Rezeption in Deutschland. Wie sich die Cultural Studies vor allem in der Medien- und Kommunikationswissenschaft weiterentwickelt, bleibt abzuwarten. Die Analyse von Machtstrukturen voranzutreiben und noch stärker gesellschaftskritische Perspektiven einzunehmen, wäre gewiss produktiv für die kommunikationswissenschaftliche Anwendung der Cultural Studies hierzulande. Allgemein ist hier noch weiterer Bedarf an empirischen Studien gegeben, die gesellschaftliche Machträume und alltägliche Praxen analysieren. Methodisch wäre es wünschenswert, wenn die Diskursanalyse weiterentwickelt würde und noch stärkere Anwendung fände. Insbesondere in der Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Bedeutungsaushandlung sind diskursanalytische Ansätze ertragreich, wie die Untersuchung gezeigt hat. Die Verbindung von diskursanalytischen Verfahren mit sozialwissenschaftlichen Vorgehensweisen liefert noch etliche Möglichkeiten, von denen die hier erprobte Verbindung von Diskursanalyse und offenem Kodieren nur eine darstellt. Hermeneutische Verfahren für die Sozialwissenschaften fruchtbar zu machen, was auch ein Anliegen der vorliegenden Arbeit war, könnte der Forschung noch weitere neue Perspektiven eröffnen – sowohl in methodischer als auch in inhaltlicher Hinsicht.

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Literatur | 357 Thomann, Jörg (1997): Auf Seife zu den Sternen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 5.7.1997. Thomann, Jörg (1997): Trau keinem um die Dreißig. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 31.10.1997. Zekri, Sonja (2000): Tief im Whisky. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 10.5.2000. Süddeutsche Zeitung Adorjan, Johanna/Klotzek, Tim/Kniebe, Tobias (1999): Ohne GZSZ sähe die Welt anders aus. In: Süddeutsche Zeitung / Jugendmagazin Jetzt v. 21.6.1999. AP (1998): Er spielt sich selbst. In: Süddeutsche Zeitung v. 4.5.1998. Arnu, Titus (1995): Diepgen der Statist. In: Süddeutsche Zeitung v. 28.7.1995. Arnu, Titus (1998): Ein Lied für Wedel. In: Süddeutsche Zeitung v. 13.1.1998. Arnu, Titus (1999): Voll abgeschmiert. In: Süddeutsche Zeitung v. 30.4.1999. Bartels, Christian (2000): Die Gütersloh Connection. In: Süddeutsche Zeitung v. 22.3.2000. Blum, Heiko R. (1995): Kreuzbrav. In: Süddeutsche Zeitung v. 12.4.1995. Eckert, Guido (1997): Mit 500 Folgen um die Welt. In: Süddeutsche Zeitung v. 27.2.1997. Götting, Markus (1998): Schröder Soap. In: Süddeutsche Zeitung v. 24.6.1998. Götting, Markus (1998): Und fahl liegen sie im Bett. In: Süddeutsche Zeitung v. 20.5.1998. Himmel, Maria (1994): Vor dem Werbeblock muss ganz viel Spannung sein. In: Süddeutsche Zeitung v. 7.6.1994. Hoff, Hans (2000): ...und schließlich eine ganz normale Soap. In: Süddeutsche Zeitung v. 2.5.2000. Katz, Anne Rose (1992): Werbezeiten. In: Süddeutsche Zeitung v. 14.5.1992. Kirchner, Thomas (1998): Heulsuse? Blödsinn! (Interview mit Tina Bordhin). In: Süddeutsche Zeitung v. 28.8.1998. Kj (1992): Schlechte Zeiten. In: Süddeutsche Zeitung v. 11.5.1992. Knopf, Michael (2000): Das Leben ist anderswo. In: Süddeutsche Zeitung v. 8.5.2000. Maruschat, Ania (2000): Bis das Drehbuch sie scheidet. In: Süddeutsche Zeitung v. 30.5.2000. Niggemeier, Stefan (1997): Ich verdrück mich. In: Süddeutsche Zeitung v. 13.10.1997. Niggemeier, Stefan (2001): Leben nach dem Tod. In: Süddeutsche Zeitung v. 2.8.2001. Reents, Edo (1999): Ewig lockt die Mutter. In: Süddeutsche Zeitung v. 6.11.1999.

358 | Literatur

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Literatur | 359 Meuren, Daniel (2001): Blondinen gegen Studenten. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 2.9.2001. Nr (2001): Werbekunden drohen mit Rückzug bei Ran. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 4.8.2001. Olbert, Frank (2001): Mit vollem Körpereinsatz. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 27.3.2001. Rea (2000): Mit Killerinstinkt zum Geld. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 3.9.2000. Reents, Edo (2001): Qualität kommt von quälen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 30.5.2001. Ritter, Henning (2001): Das Schollenduett oder die ungenierte Unwissenheit. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 15.4.2001. Zekri, Sonja (2001): Das Ende der Geschichten ist nahe. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 30.1.2001. Süddeutsche Zeitung Elfferding, Wieland (2001): Gott ist Geld. In: Süddeutsche Zeitung v. 4.4.2001. Fried, Nico (2001): Angst im Studio. In: Süddeutsche Zeitung v. 1.12.2001. Hoff, Hans (2000): Denn sie wissen nicht, was sie hier tun. In: Süddeutsche Zeitung v. 9.10.2000. Hoff, Hans (2000): Käpt’n Cash. In: Süddeutsche Zeitung v. 21.11.2000. Hoff, Hans (2000): Wir schalten sie weg. In: Süddeutsche Zeitung v. 7.7.2000. Kahlweit, Cathrin (2001): Die schwierigste aller Fragen. In: Süddeutsche Zeitung v. 14.9.2001. Keil, Christopher (1999): Die Quotenfrucht. In: Süddeutsche Zeitung v. 8.9.1999. Keil, Christopher (2000): Der Beweger. In: Süddeutsche Zeitung v. 8.11.2000. Keil, Christopher (2001): Das Jauch TV. In: Süddeutsche Zeitung v. 31.12.2001. Krömer, Dirk (2000): Beim Raten entdeckt. In: Süddeutsche Zeitung v. 21.12.2000. Markowsky, Jutta (2001): Wir werden Millionär. In: Süddeutsche Zeitung v. 20.2.2001. Niggemeier, Stefan (2000): Kann Spannung Sünde sein?. In: Süddeutsche Zeitung v. 9.2.2000. Niggemeier, Stefan (2000): Copy Shop. In: Süddeutsche Zeitung v. 5.8.2000. Niggemeier, Stefan (2001): Das Hirn friert. In: Süddeutsche Zeitung v. 30.1.2001. Niggemeier, Stefan (2001): Der Grenzgänger. In: Süddeutsche Zeitung v. 17.7.2001.

360 | Literatur

Niggemeier, Stefan (2001): Die Zehn-Millionen-Minuten-Show. In: Süddeutsche Zeitung v. 2.5.2000. Ott, Klaus (2001): Gefehlt. In: Süddeutsche Zeitung v. 8.2.2001. Reents, Edo (2000): Der Kandidat. In: Süddeutsche Zeitung v. 9.12.2000. Zips, Martin (2001): Das (Un)Glück sitzt an der Fummelbar. In: Süddeutsche Zeitung v.8./9.9.2001.

Die Titel dieser Reihe:

Gerhard Schweppenhäuser

Brigitte Hipfl, Elisabeth Klaus,

»Naddel« gegen ihre

Uta Scheer (Hg.)

Liebhaber verteidigt

Identitätsräume

Ästhetik und Kommunikation

Körper und Geschlecht in den

in der Massenkultur

Medien.

November 2004, ca. 160 Seiten,

Eine Topografie

kart., ca. 14,80 €,

Juli 2004, ca. 280 Seiten,

ISBN: 3-89942-250-3

kart., ca. 24,80 €, ISBN: 3-89942-194-9

Christoph Jacke Medien(sub)kultur

Ruth Mayer,

Geschichten - Diskurse -

Brigitte Weingart (Hg.)

Entwürfe

VIRUS!

Oktober 2004, ca. 330 Seiten,

Mutationen einer Metapher

kart., ca. 25,00 €,

April 2004, 318 Seiten,

ISBN: 3-89942-275-9

kart., 26,00 €, ISBN: 3-89942-193-0

Birgit Richard Sheroes

Ulrich Beck, Natan Sznaider,

Genderspiele im Dritten Raum

Rainer Winter (Hg.)

Oktober 2004, ca. 120 Seiten,

Globales Amerika?

kart., ca. 15,00 €,

Die kulturellen Folgen der

ISBN: 3-89942-231-7

Globalisierung Übersetzt von Henning Thies

Kerstin Goldbeck

2003, 344 Seiten,

Gute Unterhaltung, schlechte

kart., 25,80 €,

Unterhaltung

ISBN: 3-89942-172-8

Die Fernsehkritik und das Populäre

Jannis Androutsopoulos (Hg.)

September 2004, ca. 320 Seiten,

HipHop

kart., ca. 26,00 €,

Globale Kultur – lokale

ISBN: 3-89942-233-3

Praktiken 2003, 338 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-114-0

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Die Titel dieser Reihe:

Udo Göttlich, Lothar Mikos,

Rainer Winter,

Rainer Winter (Hg.)

Lothar Mikos (Hg.)

Die Werkzeugkiste der

Die Fabrikation des

Cultural Studies

Populären

Perspektiven, Anschlüsse und

Der John Fiske-Reader

Interventionen

Übersetzt von Thomas Hartl

2001, 348 Seiten,

2001, 374 Seiten,

kart., 25,80 €,

kart., 25,80 €,

ISBN: 3-933127-66-1

ISBN: 3-933127-65-3

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de