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German Pages 484 [485] Year 2011
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SCHRIFTEN DES SIGMUND-FREUD-INSTITUTS
Herausgegeben von Marianne Leuzinger-Bohleber und Rolf Haubl REIHE 2 Psychoanalyse im interdisziplinären Dialog Herausgegeben von Marianne Leuzinger-Bohleber, Rolf Haubl und Stephan Hau BAND 15 Judith Lebiger-Vogel »Gute Psychotherapie« Verhaltenstherapie und Psychoanalyse im soziokulturellen Kontext
© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Judith Lebiger-Vogel
»Gute Psychotherapie« Verhaltenstherapie und Psychoanalyse im soziokulturellen Kontext
Mit 13 Abbildungen und 37 Tabellen
Vandenhoeck & Ruprecht © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Dissertation an der Universität Kassel im Fachbereich I Humanwissenschaften Judith Anna Lebiger-Vogel, Disputation am 04. 11. 2010
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-45187-8 ISBN 978-3-647-45187-9 (E-Book)
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Inhalt
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Problemstellung und Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . .
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2
Gesellschaftlicher Hintergrund: Entwicklungen in westlichen Ländern mit Fokus auf Deutschland – Globalisierte Ökonomisierung und postmoderne Pluralisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
3
Verhaltenstherapie und Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Historische Entwicklungslinien von Verhaltenstherapie und Psychoanalyse und die akademische Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Wissenschaftstheoretische und wissenschaftskonzeptionelle Dimension – Einheitswissenschaftliches Forschungsparadigma versus Pluralität der Wissenschaften . . . . . . . . . . . 3.3 Verhaltenstherapie – Historische Wurzeln, Paradigmen und Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Psychoanalyse – Historische Wurzeln, Paradigmen und Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.5 Empirischer Positivismus versus hermeneutischer Konstruktivismus? – Eine vergleichende Gegenüberstellung psychoanalytisch und verhaltenstherapeutisch begründeter Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
Individuum und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Zur Identitätsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Psychoanalytische Identitätsperspektive – »Gewordensein« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
4.3
4.4 4.5
4.6 4.7
5
6
7
Adoleszente, insbesondere spätadoleszente Identitätsentwicklung aus psychoanalytischer Perspektive – »Wer bin ich?« . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziologische und sozialpsychologische Identitätsauffassung – »Soziale Rolle« . . . . . . . . . . Individuum und Gesellschaft in der Postmoderne aus soziologischer und sozialpsychologischer Perspektive – »Diversifizierung und Pluralisierung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jugend und junges Erwachsensein in der heutigen Gesellschaft – »Realismus und Pragmatismus« . . . Berufswahl als Teil der spätadoleszenten Identitätsentwicklung – »Das bin ich« . . . . . . . . .
Soziale Repräsentationen von Verhaltenstherapie und Psychoanalyse in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen – Manifestationen gesellschaftlicher Mentalitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Soziale Repräsentationen im universitären Kontext – Fachkulturen, universitäre Sozialisationswege . . 5.2 Soziale Repräsentationen im berufspraktischen Kontext – Psychotherapeutische Versorgungsrealität, Aus- und Weiterbildung . . . . 5.3 Soziale Rezeption im gesamtgesellschaftlichen Kontext – Gesundheitspolitische Privilegierung, Behandlungsphantasien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretisches Rahmenmodell zu den empirischen Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hypothesen und Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Zusammenfassende Problemzentrierung und Ableitung der Hypothesen und Fragestellungen . . 7.2 Methodische Fragestellung: Entwicklung des »Fragebogens zur Wichtigkeit von Interventionen in der Psychotherapie« (WPT) . . . . . . . . . . . . . . .
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110 124
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Inhalt 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
7.3
Hypothesenkomplex 1: Differenzielle Wirkung des Studiengangs – Prägung durch Studienumfeld und Fachkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Hypothesenkomplex 2: Wahrnehmung von und Interesse an Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5 Hypothesenkomplex 3: Wahrnehmung von Verhaltenstherapie und psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtungen . . . . . . . . . . . . . 7.6 Hypothesenkomplex 4: Interesse an Verhaltenstherapie und Psychoanalyse sowie insgesamt an psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.7 Hypothesenkomplex 5: Kriterien für Interesse . . . 7.8 Fragenkomplex 1: Interesse – sonstige Einflussfaktoren und Korrelate . . . . . . . . . . . . . . . 7.9 Zur qualitativen Fragestellung: Wege der Entscheidungsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.10 Zur konvergenten Validierung der quantitativen und der qualitativen Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
9
Methode I: Zur Durchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Verortung der Promotion in der DPPT-Studie . . . 8.2 Durchführung quantitativ: Zur Fragebogenuntersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Methodisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Beschreibung der Studierendenstichprobe, Rücklauf und Einschlusskriterien . . . . . . . . . . . . . 8.5 Beschreibung der quantitativen Messinstrumente und Überprüfung der Faktorenstruktur des WPT . 8.6 Durchführung qualitativ: Zu den Interviews . . . . 8.7 Halbstandardisierte Leitfaden-Interviews . . . . . . . 8.8 Zur Interviewdurchführung und narrativen Verdichtung (erste Auswertungsstufe) . . . . . . . . . . Methode II: Zur Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Zur empirischen Umsetzung der quantitativen Hypothesen und Fragestellungen . . . . . . . . . . . . .
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205 207 210 211 212 213 213 214 215 216 224 230 230 233 237 237
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Inhalt
9.2 9.3 9.4 9.5 9.6
Zur empirischen Umsetzung der qualitativen Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Erstellung des Kategoriensystems . . . . . . . . . . Qualitative und quantitative Gütekriterien: Intersubjektivität, Interraterreliabilität . . . . . . . . . Zur Prototypenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Validierung der qualitativen und der quantitativen Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10 Quantitative Befunde zu den Hypothesenkomplexen und der Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Befunde zu Hypothesenkomplex 1: Differenzielle Wirkung des Studiengangs – Prägung durch Studienumfeld und Fachkultur . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Befunde zu Hypothesenkomplex 2: Wahrnehmung und Interesse Psychotherapie . . . . 10.3 Befunde zu Hypothesenkomplex 3: Wahrnehmung von Verhaltenstherapie und psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4 Befunde zu Hypothesenkomplex 4: Interesse an Verhaltenstherapie und Psychoanalyse sowie insgesamt an psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.5 Befunde zu Hypothesenkomplex 5: Kriterien für Interesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.6 Befunde zu Fragenkomplex 1: Interesse – sonstige Einflussfaktoren und Korrelate . . . . . . . . . . . . . . . 11 Befunde zur qualitativen Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . 11.1 Beschreibung des Kategoriensystems . . . . . . . . . . . 11.2 Zur Typenbildung: Sieben typische Wege der Entscheidungsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3 Zur konvergenten Validität quantitativer und qualitativer Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
12 Diskussion und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.1 Zusammenfassende Diskussion der quantitativen Ergebnisse – Zu Wahrnehmung und Interesse . . . 12.2 Zusammenfassende Diskussion der qualitativen Ergebnisse – Zu den Typen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3 Allgemeine Überlegungen zu den Typen . . . . . . . . 12.4 Studierende in der heutigen Zeit – Pragmatische Orientierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.5 Fachkulturelle Eigenheiten – Die vermittelnde Wirkung des Studiengangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.6 Gegenwartsphänomene und die Verfahrensrichtungen – Zum anachronistischen Moment der Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.7 Methodenkritische Anmerkungen – Grenzen der Studie und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.8 Zur Relevanz der Studie – Eine Bilanz . . . . . . . . .
401 403 422 434 436 439
444 445 450
13 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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»Der Mensch soll seine Komplexe nicht ausrotten wollen, sondern sich ins Einvernehmen mit ihnen setzen, sie sind die berechtigten Dirigenten seines Benehmens in der Welt.« (Freud an Ferenzci, 1911/1993, S. 423)
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Problemstellung und Vorbemerkungen »Der Berufsweg von Psychotherapeuten mit seinen schwierigen Wechselfällen, Umschwüngen und Neu-Erfahrungen ist die Realisierung eines (auch schon laut Freud) ›unmöglichen‹ Berufs, der wie wenige andere eine ganzheitliche Dimension anpeilt und diesen Anspruch – Seele, Körper, Moral, Beziehungsfähigkeit und Selbstreflexion gleichsam zusammenzubinden – immer wieder verfehlen muss. Die Zersplitterung der modernen Welt macht auch vor ihm nicht Halt« (Jaeggi, 2006, S. 443).
Die Erforschung von Motiven für das Ergreifen dieses »unmöglichen« Berufs in der heutigen Zeit steht im Zentrum dieses Buches. Neben dieser Frage geht es um die gegenwärtige gesellschaftliche Repräsentation verschiedener psychotherapeutischer Verfahrensrichtungen. Insbesondere wird in der vorliegenden Untersuchung eine empirische Gegenüberstellung der momentan in Deutschland kassenärztlich anerkannten Verfahrensrichtungen Verhaltenstherapie und Psychoanalyse (bzw. psychodynamisch orientierter Verfahren) verfolgt. Zu diesem Zweck werden anhand einer Studierendenstichprobe der dafür in Frage kommenden Fachrichtungen das Interesse an einer psychotherapeutischen Aus- oder Weiterbildung sowie deren Wahrnehmung von psychotherapeutischen Verfahrensrichtungen untersucht. Darauf wird im Folgenden näher eingegangen. Angesichts einer steigenden Nachfrage an psychotherapeutischen Leistungen (Wittchen u. Jacobi, 2001 u. 2006; Albani, Blaser u. Brähler, 2008) z. B. wegen der Zunahme depressiver Erkrankungen (vgl. World Health Organization (WHO), 2003) und der Frage nach kostengünstigen und zugleich nachhaltigen therapeutischen Methoden, enthält diese Thematik eine besondere gesellschaftspolitische Relevanz. So sind Schätzungen zufolge pro Jahr ca. 32 % der erwachsenen Bevölkerung von psychischen Störungen betroffen (vgl. Groeger, 2005). Wegen der hohen Zahl der Betroffenen und aufgrund des solidarfinanzierten Gesundheitssystems erscheint eine differenzierte und wissenschaftlich fundierte
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1 Problemstellung und Vorbemerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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psychotherapeutische Versorgung von hohem allgemeinem Interesse (vgl. Kap. 5.2). Die Zulassung einer bestimmten Therapieform kann »aus sozialgeschichtlicher Perspektive« (Daiminger, 2007, S. 20) immer auch als eine politische und gesellschaftliche Privilegierung gesehen werden. Debatten um die »bessere Therapieform« beinhalten stets Aspekte der Kassenzulassung. Es handelt sich also auch um gesundheitspolitische Fragen, von deren Mandatsübernahme durch die Psychotherapeut/-innen der Erhalt dieser Zulassung abhängt (vgl. Haubl, 1997). Hinzu kommt, dass das erklärte Ziel kassenärztlich finanzierter Therapien immer auch eine Resozialisierung in Fällen psychologischer Devianz ist. Dies ist zumindest partiell normativ gegenüber den Individuen. In diesem Kontext scheint es plausibel, dass die spezifische Form von Psychotherapie, die jeweils gesundheitspolitisch privilegiert wird, auch eine Manifestation gesellschaftlich herrschender Mentalitäten ist. Darauf wird in der vorliegenden Untersuchung durch den Einbezug zeitdiagnostischer Überlegungen eingegangen : Neben persönlichen »Behandlungsphantasien« (Haubl, 1997, S. 10) sind immer auch überindividuelle, d. h. kollektive Vorstellungen (soziale Repräsentationen) der Gesellschaftsmitglieder über »gute Psychotherapie« aufzufinden (vgl. Kap. 5.3). Diese stehen mit allgemeinen gesellschaftlichen Verhältnissen in einem bestimmten historischen Kontext in Wechselwirkung. Momentan fallen in den kassenärztlichen Leistungskatalog nach dem 1998 eingeführten Psychotherapeutengesetz (PsychThG, 1998) (kognitiv-)verhaltenstherapeutische Methoden sowie psychodynamisch orientierte bzw. psychoanalytische Verfahren1, da
1
Im Folgenden werden im theoretischen Teil dieser Arbeit aufgrund ihres theoretischen Hintergrunds, falls nicht anders gekennzeichnet, unter »Psychoanalyse« sowohl Psychoanalyse als auch andere psychoanalytisch begründete bzw. psychodynamisch orientierte Verfahren gefasst. Bei den sogenannten Richtlinienverfahren handelt es sich korrekterweise um drei verschiedene Richtungen. Allerdings werden Psychoanalyse und andere psychodynamisch orientierte Verfahren in der Literatur trotz theoretischer und anwendungsbezogener Differenzen häufig zusammengefasst (vgl. z. B. Fischer u. Möller, 2006), hier allerdings meist unter dem international gebräuchlichen Sammel© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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1 Problemstellung und Vorbemerkungen
diese ihre Wirksamkeit nach bestimmten – momentan als wissenschaftlich geltenden Kriterien – unter Beweis stellen konnten. Jedoch sind beide Richtungen wie auch andere psychotherapeutische Verfahren in der Pflicht, im Abstand einiger Jahre aufgrund aktueller Studien erneut den Nachweis ihrer Wirksamkeit zu erbringen (vgl. z. B. WBP, 2004; Kap. 5.2). Dies wird von Debatten darüber, welche Form der Psychotherapie nach welchen Kriterien als wirksam gilt, begleitet (vgl. Kap. 3 ff.).2 Sowohl theoretisch als auch praktisch sind große Unterschiede zwischen den Verfahrensrichtungen zu verzeichnen (vgl. Kap. 3.3 – 3.5). Debatten um Verhaltenstherapie versus Psychoanalyse als Behandlungsmethoden beinhalten – neben berufspolitischen Aspekten – einigen Autor/-innen zufolge grob vereinfacht auch die Ebene einer Auseinandersetzung um Ursachenforschung versus Symptombehandlung (z. B. Bachrach, Galatzer-Levy, Skolnikoff u. Waldron, 1997; Rüger u. Bell, 2004; Leuzinger-Bohleber, 2007). Der Aspekt der Behandlung nach Symptomatiken unterschiedener Krankheitsbilder (nach Manualen wie dem DSM-IV, begriff der »psychodynamischen Verfahren« (S. 2). Die Kassenärztliche Bundesvereinigung fasst die Verfahren unter dem Begriff »Psychoanalytisch begründete Verfahren« (KBV, 2009) zusammen, der wissenschaftliche Beirat Psychotherapie (WBP, 2004, 2008a, 2008b) bezeichnet sie zusammengefasst als »Psychodynamische Psychotherapie«. Die Entscheidung für den Sammelbegriff »Psychoanalyse« resultiert aus der Überlegung, dass die genannten Ansätze zumindest ursprünglich theoretisch auf psychoanalytischen Modellen und Konzepten basieren. Zudem ist »Psychoanalyse« wohl der gesellschaftlich geläufigste Begriff für diese Richtung. Unter »Verhaltentherapie« werden in der gleichen Logik im Folgenden, falls nicht anders gekennzeichnet, auch kognitiv-behaviorale Ansätze gefasst, auch wenn hier ebenso anwendungsbezogene und theoretische Differenzen zu verzeichnen sind. Darauf wird in den Kapiteln 3.3, 3.4 und 3.5 näher eingegangen. 2 Inzwischen sind auch systemische Psychotherapie und klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie (letztere nur für den Erwachsenenbereich) vom wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie anerkannt, wenngleich sie noch nicht in die reguläre kassenärztliche Versorgung aufgenommen wurden. Vom wissenschaftlichen Beirat derzeit anerkannte Verfahren sind somit die psychodynamische Psychotherapie, die Verhaltenstherapie, die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie sowie die systemische Psychotherapie (WBP, 2002, 2003, 2004, 2008a, 2008b). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
1 Problemstellung und Vorbemerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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vgl. Saß, Wittchen, Zaudig u. Houben, 2003) steht bei verhaltenstherapeutischen Ansätzen im Vordergrund (vgl. Kap. 3.3 u. 3.5), während in psychoanalytischen Behandlungen biographisch erschlossene »Selbsterkenntnis« einen zentralen Stellenwert einnimmt (z. B. Butler, 2003; Lacan, 1996 ; vgl. Kap. 3.4 u. 3.5). So kann davon ausgegangen werden, dass bei den beiden momentan in Deutschland kassenärztlich anerkannten Verfahrensrichtungen eine unterschiedliche Schwerpunktsetzung bezüglich ihrer therapeutischen Ziele vorliegt. Die sehr viel zeitintensivere »Psychoanalyse als Behandlungsverfahren [ist gegenwärtig] durch die Gesundheitssysteme vieler Länder unter Druck geraten« (Leuzinger-Bohleber u. Bürgin, 2004, S. 4; vgl. auch Hau, 2009), und muss sich möglicherweise auch aufgrund vorherrschender Vorstellungen über Psychotherapie in den letzten Jahren verstärkt Debatten um ihre Legitimation stellen. Vieles deutet darauf hin, dass die Psychoanalyse nicht einem heutzutage vorherrschenden »Zeitgeist der Effizienz« (vgl. Kap. 2) entspricht. Zudem gilt sie nach der momentan führenden wissenschaftstheoretischen Auffassung häufig als »nicht empirisch belegbar« (vgl. Kap. 3.1, 3.2 u. 3.5). Auf den in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen festzustellenden Relevanzverlust der Psychoanalyse bei gleichzeitiger Etablierung der Verhaltenstherapie in den letzten Jahrzehnten soll hier mit Bezug auf gesellschaftstheoretische, gesundheitspolitische, fachkulturspezifische sowie wissenschaftstheoretische Überlegungen eingegangen werden. Es soll der Frage nachgegangen werden, ob sich im Zusammenspiel dieser Faktoren gegenwärtig möglicherweise ein Paradigmenwechsel im Bereich der Psychotherapie vollzieht. Die zentrale Ausgangsüberlegung hierbei ist, dass die beiden Verfahrensrichtungen sich deutlich in ihrer »Passung/Anschlussfähigkeit« (Daiminger, 2007, S. 292) zum gegenwärtigen Zeitgeist und zu vorherrschenden gesellschaftlichen Vorstellungen und Bedürfnissen unterscheiden. Sollten sich aus dieser Studie Hinweise auf eine solche veränderte Wahrnehmung verhaltenstherapeutischer und psychoanalytisch orientierter Richtungen ergeben, stellt sich die Frage, worauf dies zurückzuführen ist. Handelt es sich dabei um gesellschaftliche Bedürfnisveränderungen ? Inwiefern spielen Sachzwänge eine © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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1 Problemstellung und Vorbemerkungen
Rolle ? Welche Konsequenzen ergeben sich aus einem möglichen Paradigmenwechsel in diesem Gebiet in Bezug auf die psychotherapeutische Versorgung ? Anknüpfungspunkte ergeben sich somit u. a. zur Psychotherapieforschung (z. B. Fäh u. Fischer, 1998; Kosfelder, Michalak, Vocks u. Willutski, 2005). So erscheint es in diesem Kontext plausibel zu fragen, ob und wie gesellschaftlich vorherrschende Vorstellungen darüber, was eine »gute« Psychotherapie ist, verschiedene diesbezüglich relevante Fragestellungen beeinflussen : so z. B. welche Kriterien bei der Evaluation von Psychotherapien zugrunde gelegt werden, was als Erfolg oder Misserfolg in der Psychotherapie gilt oder auch für welche Patient/-innengruppen im Sinne einer differenziellen Indikation welche Therapieform für angebracht gehalten wird (vgl. Kap. 3.2, 3.3, 3.4, 3.5 u. 5.2). Mit der empirischen Analyse von Hinweisen auf einen möglicherweise stattgefundenen Paradigmenwechsel in den letzten Jahrzehnten im Bereich der Psychotherapie betritt die vorliegende Studie Neuland (vgl. Haubl, 1997). Mit dem Einbezug zeitdiagnostischer Überlegungen in die Untersuchung wird zudem eine Fragestellung verfolgt, die bislang in diesem Forschungsfeld und in dieser Form noch nicht aufgegriffen wurde (Haubl, 1997), sich allerdings in die gesellschaftstheoretische Tradition psychoanalytischer Forschung einordnet (vgl. z. B. Busch, 2001). Es wird somit die Frage aufgegriffen, ob der verschiedentlich konstatierte Wandel in Richtung Verhaltenstherapie auch in dieser Untersuchung tatsächlich empirisch auffindbar ist und wodurch die vermutete Entwicklung beeinflusst worden sein könnte. Des Weiteren sollen im Rahmen der Studie Faktoren identifiziert werden, die dazu beitragen, dass Individuen eine bestimmte psychotherapeutische Ausbildung in Betracht ziehen ; ihrem jeweiligen gegenwärtigen »Identifikationspotenzial« (Daiminger, 2007, S. 224) soll empirisch nachgegangen werden. So werden Determinanten des Fachinteresses Studierender verschiedener Fachrichtungen innerhalb des beschriebenen Rahmens analysiert. Dabei ist davon auszugehen, dass die jeweilige Fachkultur, vor allem die dortigen »Sozialisationsagenten« (Frank, 1990, S. 19) – die Lehrenden – differenziell prägend auf Sichtweisen und Interessen ihrer Studierenden einwirken (vgl. Kap. 4.7 u. 5.1). Fach© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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kulturelle Eigenheiten, Unterschiede sowie Gemeinsamkeiten werden deshalb neben allgemeinen gesamtgesellschaftlichen Gegenwartsphänomenen (vgl. Kap. 2) als eine besonders relevante Einflussgröße in die Analyse einbezogen. Auch diesbezüglich ist bisher insgesamt wenig Forschungsaktivität zu verzeichnen (vgl. Eichenberg, Müller u. Fischer, 2007; Heffler u. Sandell, 2009; Strauß et al., 2009). Die Ergebnisse dieser Untersuchung könnten im Sinne einer »realistic job preview« (z. B. Anderson u. Cunningham-Snell, 2000), als Basis für eine möglichst gut zu persönlichen Interessen und Einstellungen passende Berufswahl im psychotherapeutischen Bereich herangezogen werden. Im Kontext solcher spätadoleszenter Identitätsbildungsprozesse wie der Berufswahl wirft King (2002) allgemein die Frage auf, inwiefern, wie von Zinnecker (1991, S. 75, zit. nach King, 2002) hypostasiert, »generell […] für Adoleszenz in modernisierten Gesellschaften [gilt], dass sich die determinierende Kraft der lebensgeschichtlichen Vergangenheit abschwächt, während die Determiniertheit durch die Eigendynamik der gedehnten Jugend-Gegenwart [also einer verlängerten Phase der Adoleszenz] zunimmt« (King, 2002, S. 40) bzw. in welchem Verhältnis die aufgrund dessen zunehmende prägende Wirkung dieser Phase zum Einfluss der lebensgeschichtlichen Vergangenheit steht. Aufgrund der Überlegung, »dass sich die Zusammenhänge zwischen Herkunft, Geschlecht und Biographie […] subtiler und vermittelter entfalten […] , [stellt sie diesbezüglich die Forderung auf,] analytische Zugänge [zu verfolgen] , […] die die psychischen Entwicklungen mit einbeziehen und aus soziologischer Perspektive untersuchen« (King, 2002, S. 40). Ein solcher Zugang der (spät-)adoleszenzbezogenen Forschung wird für diese Studie im Kontext der beruflichen Identitätsentwicklung verfolgt (vgl. Kap. 4 ff.). Insbesondere der Aspekt der Berufswahl im Zuge spätadoleszenter Entwicklungsprozesse wird dabei in den Blick genommen (vgl. Kap. 4.7). Aus der Perspektive aktueller psychoanalytischer Forschung ist angesichts des zunehmenden Relevanzverlusts der Psychoanalyse sowohl eine Öffnung für interdisziplinäre Forschungsansätze und -zusammenhänge als auch eine Erforschung möglicher Einflussfaktoren auf diese Entwicklung zentral (vgl. z. B. Hau, 2009; Leuzinger-Bohleber, 2002; Leuzinger-Bohleber, Deserno u. Hau, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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1 Problemstellung und Vorbemerkungen
2004). Die psychoanalytischen Fachgesellschaften und Ausbildungsinstitute sind weltweit massiv von Nachwuchsmangel betroffen (z. B. Brauer, Fonagy, Beutel u. Garbarino, 2005; Eith, 2004). Innerhalb der psychoanalytischen Gemeinschaft werden diese Entwicklung und mögliche Lösungsansätze kontrovers diskutiert (vgl. z. B. Fonagy, 2001, 2002; Kernberg, 2006b; Leuzinger-Bohleber, 2007; Perron, 2001, 2002; s. Kap. 3.4). Mit dem vorliegenden Buch soll ein Beitrag zur Diskussion über potenzielle Ursachen der beschriebenen Entwicklung geleistet werden. Der interdisziplinäre und multimethodische Ansatz der Untersuchung gewinnt schließlich epistemologische, aber auch praktische Relevanz daraus, dass einer Pluralität der Wissenschaften u. a. im Bereich der Psychotherapieforschung oftmals immer noch ein wissenschaftstheoretisch überholtes einheitswissenschaftliches Forschungsparadigma entgegengesetzt wird (vgl. Hau, 2009; Leuzinger-Bohleber u. Bürgin, 2004; Kap. 3.2). Durch den Einbezug sowohl quantitativer als auch qualitativer Methoden und den Rückbezug auf eine gesellschaftstheoretische Ebene wird hier der Versuch unternommen, einer aufgrund von Methodenbeschränkungen einseitigen Ergebnisinterpretation entgegenzuwirken. Angesiedelt ist die Untersuchung somit an der Schnittstelle zwischen qualitativer und quantitativer Forschung und zwischen den Fachrichtungen Psychoanalyse, Psychologie und Soziologie. Nachfolgend wird der Ansatz der empirischen Studie vorgestellt, anhand derer die Fragestellungen dieses Buches bearbeitet werden. Im Rahmen der Gesamtstudie des »Developing Psychoanalytic Practice and Training« (DPPT-) Projekts3 wurde untersucht, warum das Interesse an einer klassischen psychoanalytischen Ausbildung (und einer hochfrequenten psychoanalytischen Therapie) in den
3 Es handelt sich um eine Studie im Rahmen des Programms der internationalen psychoanalytischen Vereinigung (IPA): »Developing Psychoanalytic Practice and Training (DPPT)«, in welchem der Rückgang der Psychoanalyse in verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen Fragestellungen in verschiedenen Forschungskontexten untersucht wird. Die Laufzeit des Projektes war von 2005 bis 2008; es fand unter der Leitung von Herrn Prof. Dr. Manfred E. Beutel, Mainz, Frau Prof. Dr. Marianne Leuzinger-Bohleber, Frankfurt a. M. und Herrn Prof. Dr. Reinhold Schwarz, Leipzig statt.
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letzten Jahrzehnten zurückgegangen ist und welche Faktoren heutzutage für oder gegen eine psychoanalytische Ausbildung sprechen.4 In Deutschland können Psychologiestudierende, eingeschränkt auch Pädagogik- und Sozialpädagogikstudierende5, nach Abschluss ihres Studiums eine kassenärztlich anerkannte psychotherapeutische Ausbildung absolvieren (vgl. §11 PsychThG, 1998). Auch Medizinstudierenden steht eine Zusatzausbildung zum/-r ärztlichen Psychotherapeuten/-in offen. Gefördert durch die International Psychoanalytical Association (IPA), die Deutsche Psychoanalytische Vereinigung (DPV) und die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft (DPG) ging das Projekt der Frage nach, warum Studierende der Medizin, der Psychologie und der Pädagogik sowie der Sozialpädagogik6 (N = 679) sich für bzw. gegen eine psychoanalytische oder eine andere psychotherapeutische Ausbildung entscheiden (Substudie I). Zudem wurden Ärzte/-innen und Psycholog/-innen (N = 343), die sich in psychoanalytischer oder verhaltenstherapeutischer Ausbildung befinden (dies allerdings nur PP-Bereich) zu ihren Beweggründen dafür befragt (Substudie II). Im Rahmen der Gesamtuntersuchung wird folglich prospektiv sowie retrospektiv erforscht, welche Beweggründe die Befragten dafür haben bzw. hatten, sich insgesamt für eine psychotherapeutische Ausbildung und speziell für eine bestimmte Ausbildungsrichtung zu interessieren.7 In der vorliegenden Untersuchung werden spezifische Fragestellungen aus Substudie I behandelt (vgl. Kap. 8 ff.). Die Daten aus
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Die diese Entwicklung (in Deutschland) determinierenden Faktoren wurden bisher noch keiner systematischen empirischen Analyse unterzogen. Dies wird mit dem Gesamtprojekt verfolgt. 5 Absolvent/-innen dieser Studiengänge können lediglich eine kassenärztlich anerkannte kinder- und jugendlichenpsychotherapeutische Weiterbildung (KJPsychTh-AprV; § 8 PsychThG) absolvieren. 6 Vereinzelt andere sozialwissenschaftliche Studiengänge (vgl. Stichprobenbeschreibung, Kap. 8.4). 7 Untersuchungsgruppen der Gesamtstudie sind dabei in Substudie I Studierende unterschiedlicher Fachrichtungen, für die eine psychotherapeutische Ausbildung eine berufliche Option darstellt, sowie in Substudie II Verhaltenstherapie- und Psychoanalyse-Ausbildungsteilnehmer/-innen, welche sich bereits für eine bestimmte Ausbildungsrichtung entschieden haben (vgl. Kap. 8.1). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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1 Problemstellung und Vorbemerkungen
Substudie II gehen nicht in die Untersuchung ein (zu Substudie II vgl. Barthel et al., 2010). Zusammenfassend geht die vorliegende Untersuchung vor dem beschriebenen Hintergrund also der Frage nach, ob und aufgrund welcher Einflussgrößen sich Studierende für bzw. gegen den Beruf des/der Psychotherapeuten/-in entscheiden und welche Faktoren bei der Präferenz für ein bestimmtes Verfahren eine Rolle spielen. So wird der gegenwärtigen Wahrnehmung der beiden therapeutischen Richtungen aus Perspektive der Studiengänge, für die eine psychotherapeutische Ausbildung infrage kommt, nachgegangen. Diese Gruppen wurden im Rahmen dieser multimethodischen Querschnittsstudie zunächst mittels einer Fragebogenerhebung zu ihren Präferenzen bezüglich einer psychotherapeutischen Ausbildung befragt. Im Anschluss wurden mit einer Substichprobe vertiefende Interviews durchgeführt. Persönliche Entscheidungsfindungswege zur Frage einer psychotherapeutischen Tätigkeit wurden anhand des qualitativen Interviewmaterials extrahiert. Dabei wird davon ausgegangen, dass sich in der Wahrnehmung der Verfahren durch verschiedene Studierendengruppen gesamtgesellschaftliche Perspektiven und Bedürfnisse widerspiegeln. Ergeben sich hieraus Hinweise auf den erwähnten Paradigmenwechsel im Bereich der Psychotherapie? Welche Studierendengruppen nehmen welche psychotherapeutischen Verfahrensrichtungen in welcher Weise wahr? Wofür interessieren sie sich auf persönlicher Ebene im Zuge ihrer spätadoleszenten Berufswahlfindung ? Inwiefern lassen sich Bezüge von aktuell ermittelten Sichtweisen der beiden Psychotherapieformen zu gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen herstellen ? Wie steht dies im Verhältnis zur tatsächlichen Wirksamkeit der Verfahren, bzw. welches dominante Verständnis von Wissenschaftlichkeit könnte damit verbunden sein ? Auf der persönlichen Entscheidungsebene wird auf das Konzept der (spätadoleszenten) beruflichen Identitätsentwicklung, insbesondere auf das Moment der Berufswahl aus psychoanalytischpsychologischer (vgl. Bohleber, 1992) sowie sozialpsychologischsoziologischer Perspektive (vgl. Keupp u. Hohl, 2006) u. a. für die exemplarische Ermittlung »prototypischer Wege der Entscheidungsfindung« Studierender im qualitativen Teil der Studie rekurriert. Zudem werden, wie erwähnt, fachkulturspezifische Un© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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terschiede und gesellschafts- sowie wissenschaftstheoretische Überlegungen einbezogen.
Zur Gliederung des Buches In den nachfolgenden Kapiteln werden die theoretischen Grundlagen dieser Untersuchung erläutert. Zunächst werden aktuelle gesamtgesellschaftliche Entwicklungen in westlichen Ländern, insbesondere in Deutschland, skizziert und es erfolgt eine gegenwartsdiagnostische Verortung des Buches im Zusammenhang mit der Verwendung des Begriffes der »Postmoderne« (Kap. 2). Im Anschluss werden Entwicklungen von Verhaltenstherapie und Psychoanalyse der letzten dreißig bis vierzig Jahre gegenüberstellend beschrieben, sowie wissenschaftstheoretische und anwendungsbezogene Unterschiede der Verfahrensrichtungen herausgearbeitet (Kap. 3). Darauf folgend wird die individuelle Identitätsentwicklung im gesellschaftlichen Kontext aus psychoanalytischer und sozialpsychologischer bzw. soziologischer Perspektive behandelt (Kap. 4). Mit einer eher individual- bzw. entwicklungspsychologischen Blickrichtung wird aus psychoanalytischer Perspektive auf die frühkindliche Identitätsentwicklung sowie auf die in dieser Studie besonders interessierende Phase der Spätadoleszenz eingegangen. Die Identitätskonzeption aus soziologischer bzw. sozialpsychologischer Perspektive wird im Anschluss vor allem im Zusammenhang mit gegenwartsdiagnostischen Überlegungen verhandelt. In die Theorie zur spätadoleszenten Identitätsentwicklung im gegenwärtigen gesellschaftlichen Kontext wird eingeführt (Kap. 4.3 u. 4.6). Zum Abschluss dieses Kapitels wird auf den ersten Schritt der beruflichen Identitätsfindung – die Berufswahl – bezogen auf den psychotherapeutischen Bereich eingegangen (Kap. 4.7). In den darauf folgenden Kapiteln des Theorieteils werden die psychotherapeutische Versorgungsrealität und die soziale Repräsentation der beiden genannten Verfahrensrichtungen in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten (universitär, berufspolitisch, gesamtgesellschaftlich) behandelt (Kap. 5). Unterschiedliche Fachkulturen in den untersuchten Studienfächern werden in diesem Kontext beschrieben (Kap. 5.1). Im Rahmen der Problemzentrierung sowie der Ableitung der Fragestellungen und Hypothesen wird auf eine zusammenfassende Darstellung des für © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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1 Problemstellung und Vorbemerkungen
die Beantwortung der Fragestellung verwendeten Modells eingegangen (Kap. 6). Um der wissenschaftlichen Sorgfalt zu genügen, erfolgt daran anschließend eine ausführliche Spezifizierung der einzelnen Hypothesen für die Untersuchung der Fragestellungen dieser Studie in mehreren Schritten (Kap. 7). Der/die daran interessierte Leser/-in sei darauf verwiesen. Das achte (Durchführung) und das neunte Kapitel (Auswertung) stellen die verwendeten quantitativen und qualitativen Forschungsmethoden bezogen auf die im Theorieteil entwickelten Hypothesen und Fragestellungen dar. Das zehnte (quantitativ) und das elfte (qualitativ) Kapitel widmen sich der Vorstellung der Untersuchungsergebnisse. Im zwölften und letzten Kapitel werden die ermittelten Befunde diskutiert und zusammenfassend gewürdigt.
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2 Gesellschaftlicher Hintergrund: Entwicklungen in westlichen Ländern mit Fokus auf Deutschland – Globalisierte Ökonomisierung und postmoderne Pluralisierung »Die tiefgreifenden zivilisatorischen Umgestaltungen auf der sozialen Makroebene wirken sich aus in der Alltagskultur, in den Zielen, Werthaltungen, Lebensentwürfen und im Handeln der Menschen« (Werschkull, 2007, S. 25).
In den nachfolgenden Kapiteln wird in die theoretischen Grundlagen der aufgeworfenen Fragestellung eingeführt. In diesem Kapitel wird zunächst erörtert, unter welchen theoretischen Prämissen davon ausgegangen wird, dass eine Verortung individueller Entscheidungen und Interessen in einem spezifischen historischen Kontext für deren tieferes und umfassenderes Verständnis sinnvoll ist. So soll in diesem Buch, um mit Werschkull (2007) zu sprechen, »die Gleichzeitigkeit makrogesellschaftlicher und subjektspezifischer Entwicklungen in den Blick [genommen werden.] Menschliche Bedürfnisse und Verhaltensweisen erscheinen somit als immer schon gesellschaftlich modellierte und historisch variable Phänomene« (S. 22).
Aus dieser Perspektive muss auch in Bezug auf Psychotherapieforschung »die gegenwärtige gesellschaftlich-kulturelle Situation berücksichtigt werden […] [was] im Folgenden wenigstens in skizzenhafter Vereinfachung« (Werschkull, 2007, S. 22) erfolgt. Die Psychoanalyse hat sich – in unterschiedlicher Ausprägung – seit ihren Anfängen bemüht, das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft auszuloten. Unter anderem gründet die psychoanalytische Entwicklungstheorie auf einer interaktionellen Vorstellung der Subjektgenese, in der Form, dass gesellschaftliche Gegebenheiten mittelbar und unmittelbar auf das Individuum einwirken (vgl. z. B. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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2 Gesellschaftlicher Hintergrund
Bohleber, 1992). Zahlreiche Werke beschäftigen sich in der Tradition psychoanalytischer Sozialforschung mit der kulturellen Prägung subjektiver Erlebensweisen und deren Wechselwirkung mit größeren gesellschaftlichen Kontexten (vgl. z. B. Busch, 2005; Horn, 1989; Lorenzer, 1974). Da auch in dieser Untersuchung ein solcher Ansatz verfolgt wird, also eine solche Wechselwirkung bzw. gegenseitige Beeinflussung von individuellen und gesellschaftlichen Verhältnissen in den Blick genommen werden soll, erfolgt im Anschluss eine kurze Darstellung aktueller gesellschaftlicher »Zustände« (Heitmeyer, 2006, 2009) bzw. Verhältnisse. Diese gegenwartsdiagnostischen Überlegungen bilden allerdings lediglich den Rahmen zur empirischen Untersuchung des eigentlichen Forschungsgegenstandes, den eingangs erwähnten Entwicklungen im psychotherapeutischen Bereich. »Der sozialhistorische Ansatz […] fragt explizit nach gesellschaftlichen Verhältnissen, sozialen Entwicklungen, ökonomischen Bedingungen, politischen und ideologischen Kämpfen« (Daiminger, 2007, S. 19).
Nachfolgend wird im Sinne eines solchen Ansatzes dargelegt, aus welcher Perspektive für die Bearbeitung der vorliegenden Fragestellungen von einer Gleichzeitigkeit bzw. einer Interaktion makrogesellschaftlicher und subjektspezifischer Entwicklungen ausgegangen wird. Nach Habermas (1990) erfordert die »Herausarbeitung eines epochenspezifischen Begriffs […] die stilisierende Hervorhebung kennzeichnender Merkmale aus einer sehr viel komplexeren gesellschaftlichen Realität« (S. 13). Eine solche Einschränkung muss notwendigerweise auch den hier beschriebenen Überlegungen zu gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen vorangestellt werden. Ebenso muss eine Entscheidung für eine bestimmte Lesart gesellschaftlicher Entwicklungen getroffen werden. Von dieser Annahme kann gleichermaßen für die zeitdiagnostischen Überlegungen im Rahmen der vorliegenden Untersuchung ausgegangen werden. Weltweit werden derzeit von diversen Autor/-innen große gesellschaftliche Umwälzungen konstatiert, welche u. a. mit einer fortschreitenden, vor allem wirtschaftlichen Globalisierung in Verbindung gebracht werden (vgl. z. B. Beck, 2007; Keupp, 2005b, 2007a, 2007b; Le Monde Diplomatique, 2009; World Trade Organisation, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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2006). In einer spezifischen Weise sind die sogenannten »westlichen Länder« (gemeint sind Europa, die USA und Kanada) mit diesen Entwicklungen konfrontiert. Die hier dargelegten gegenwartsdiagnostischen Überlegungen beschränken sich auf diese Länder, da hier parallele Entwicklungen feststellbar sind. Diese gehen mit Wohlstandsverminderung, einer Absenkung eines vergleichsweise hohen Lebensstandards sowie einer Verringerung sozialstaatlicher Absicherungen einher, während sich diese spezifischen Probleme in anderen Ländern nicht in ähnlicher Weise finden lassen. In Deutschland – im Fokus dieser Untersuchung – haben der sozioökonomische Wandel und der fortschreitende Sozialstaatsabbau, z. B. im Gesundheits- oder Rentensystem (Butterwegge, 2005), zu einem verstärkten Unsicherheitsgefühl und der Angst vor Prekarisierung in vielen Lebensbereichen und Gesellschaftsschichten beigetragen (vgl. z. B. Heitmeyer, 2006, 2009; Keupp, 2007a, 2007b; Miegel, 2003). Die vermehrte Übertragung von vormals gesellschaftlicher Verantwortung auf den Einzelnen wird von diversen Autor/-innen als Ausdruck gesellschaftlicher Individualisierungsprozesse verstanden (z. B. Beck, 1986; Keupp u. Hohl, 2006; Sennett, 2000; Werschkull, 2007). Durch die Veränderung sozialer Strukturen, z. B. die Abnahme traditioneller Familienzusammenhänge, fallen weitere Absicherungsstrukturen weg (vgl. Ricoeur, 2006; Sennett, 2000). Keupp und Hohl (2006) konstatieren entsprechend einen »massiven gesellschaftlichen Strukturwandel […], der die Entwicklungsdynamik der Moderne tiefgreifend verändert, und der dazu geführt hat, dass diese nicht länger als gleichermaßen lineare wie unendliche Zunahme der Beherrschung von äußerer und innerer Natur beschrieben werden kann. Was sich stattdessen durchsetzt, ist eine ›Rückkehr der Unsicherheit‹ in die Gesellschaft und eine ›Vervielfältigung der Moderne‹ – einer Moderne, die offensichtlich nicht mehr, wie von Marx über Weber bis Parsons [vorausgesetzt] einer eindeutigen Entwicklungslogik folgt« (S. 8).
Nicht alle Autor/-innen teilen diese weitreichende Einschätzung. Werschkull (2007) beispielsweise geht eher von einer linearen Entwicklung gesellschaftlicher »Schnelllebigkeit [aus, welche sie] eher als Beschleunigung und Radikalisierung bereits vorhandener Prozesse« (S. 23) begriffen wissen will. Auch Becks (1986) bekannte Diagnose © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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2 Gesellschaftlicher Hintergrund
einer »Risikogesellschaft« (S. 13) versteht sie mit ihm als einen »Bruch innerhalb [Hervorhebung d. Verf.] der Moderne» (S. 13), die dadurch eine neue Gestalt bekommen habe und nicht als eine qualitative Veränderung. Allerdings konstatiert auch Werschkull (2007) seit den 1980er Jahren einen gesellschaftlichen Strukturwandel, welchem »die Interaktionen einzelner Individuen unterworfen […] [seien, die] ihn zugleich durch die Dynamik ihrer Beziehungen mit hervor« (S. 20) brächten. Individuelle und gesellschaftliche Entwicklung griffen dabei stark ineinander.8 Beck (1986) stellt darüber hinaus den »Verlust von traditionellen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen« (S. 206) fest. Keupp und Hohl (2006) sehen die heutige Zeit entsprechend »geprägt durch reflexive Individualisierung […]. Denn jene zentralen institutionellen Strukturvorgaben der Ersten Moderne […] – Familienformen, Normal-Arbeitsverhältnisse, Karriereverläufe, Geschlechterrollen etc. unterliegen heute einem zunehmenden gesellschaftlichen Erosionsprozess« (S. 8).
Auch Beck (1986) geht von einem »Gestaltwandel« (S. 205) im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft aus, wobei es sich um einen »Anfang eines neuen Modus der Vergesellschaftung« (S. 205) handele. Als gemeinsame Diagnose der Gegenwartsforscher/-innen können also – trotz unterschiedlicher Einschätzungen des Ausmaßes bzw. der Qualität gesellschaftlicher Veränderungen – ein gesellschaftlicher Strukturwandel und die damit einhergehenden Individualisierungsprozesse gelten. Dies trägt zu dem oben genannten verstärkten Unsicherheitsgefühl bei. Stegmann (2005) fasst diese Individualisierungsprozesse folgendermaßen zusammen: »Heute bedeutet ›privat-öffentlich‹ vielmehr, dass jede/r – ›von oben‹ (öffentlich) politisiert – arbeitspolitisch (›privat‹) selbst für sich verantwortlich ist, so dass vielmehr von einer neuen neoliberalen Form der Politisierung des Privaten gesprochen werden kann« (S. 254). Es werden unterschiedliche Überlegungen bezüglich der Ursachen 8
Der Mensch sei sozusagen eine »offene […] Persönlichkeit« (Elias, 1997, S. 70 f., zit. nach Werschkull, 2007, S. 20), von anderen Menschen abhängig. Es könne demgemäß immer nur von einer relativen Autonomie im Verhältnis zu anderen Menschen gesprochen werden. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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bzw. Begründungsstrategien für diesen Wandel angeführt. Sennett (2000) zufolge wird beispielsweise die »Zerstörung von sozialen Auffangnetzen und staatlichen Hilfsorganisationen […] mit dem Argument gerechtfertigt, die Wirtschaft des Staates brauche mehr Flexibilität – als ob die Parasiten [sic] die dynamischeren Mitglieder der Gesellschaft behinderten« (S. 192). Keupp (2007b) gelangt zu einer ähnlichen Einschätzung, »und dabei gibt es die neuen normativen Eckpunkte des neoliberalen Menschenbildes der (Hyper-)Flexibilität, der Fitness und der Mobilität, die nicht straflos vernachlässigt werden können« (S. 529). Laut Frommer (2003) schließt sich auch z. B. Sennett »mit […] seiner pessimistischen Zeitdiagnose an die Autoren der Frankfurter Schule an, die bereits in den sechziger Jahren die Auffassung vertraten, dass [die] […] die moderne Gesellschaft beherrschende technische Rationalität und die sie bestimmende [Tauschlogik] […] das steuernde und die Richtung bestimmende Subjekt längst überflüssig gemacht [habe.] […] Gesellschaftliche Strukturen und Prozesse […] strebten einer totalen Rationalisierung zu, die keine Nischen mehr zulasse« (S. 106).
Weiter führt Frommer (2003) aus, dass aus sozialpsychologischer Perspektive urbane Lebensweisen zunähmen, die durch schwache Bindungen in großen sozialen Netzwerken gekennzeichnet seien und eine hohe Dispersion sowie geringe Homogenität und Dichte aufwiesen. Zudem sei zunehmend eine dezentrierte »Patchworkidentität« (Keupp, 1989, S. 64) festzustellen, welche eine hohe Bereitschaft zur Veränderung aufweise und durch komplexe Lebenszusammenhänge gekennzeichnet sei. Auf dessen Bedeutung im Kontext des insgesamt für diese Studie zentralen Konzepts der »Identität« wird in den Kapiteln 4.5 und 4.6 noch einmal näher eingegangen. Eine solche Pluralität von Lebensentwürfen kann sowohl als Chance wie auch als drohender Orientierungsverlust begriffen werden (vgl. z. B. Heitmeyer, 2006, 2009; Keupp, 2007b). Heitmeyer (2006) beispielsweise wertet derartige gesellschaftliche und individuelle Unsicherheiten folgendermaßen: »›Die neue Unsicherheit ist keineswegs nur eine unerwünschte Folge der unsteten Märkte; sie ist dem neuen Kapitalismus einprogrammiert. Sie ist © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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2 Gesellschaftlicher Hintergrund kein ungewolltes, sondern ein gewolltes Element‹ (Sennett, 2005, 19). Dargestellt als unausweichliche Systemzwänge […], dienen sie zur Einschüchterung der Gesellschaft. Konkurrenz wird als Naturgesetz plakatiert (Jessen, 2005, 43 f.) und Effizienz wird quasi zum Mechanismus der Destabilisierung sozialer Integration. Die alternativlose Durchsetzung eines Flexibilisierungszwanges, der eingelebte soziale Lebens- und sozialisatorische Entwicklungsrhythmen zerstört, gehört ebenso zum neuen Charakter eines autoritären Kapitalismus (Heitmeyer, 2001) wie gezielte Verletzungen menschlicher Integrität« (S. 19; vgl. auch Keupp, 2007b; Kurbjuweit, 2005).
Eine weitere gängige gegenwartsdiagnostische These, die hier aufgegriffen wird, ist die Folgende: In den letzten Jahrzehnten werden in (modernen) westlichen Gesellschaften, aber auch in der gesamten übrigen Welt, verschiedenste gesellschaftliche Lebensbereiche verstärkt aus einer wirtschaftlichen Verwertbarkeitsperspektive betrachtet und an Kriterien vermeintlicher »wirtschaftlicher Rationalität« gemessen (z. B. Boxberger u. Klimenta, 1998; Chossudovsky, 2002; Haubl, 2008; Ricoeur, 2006; Stiehler, 2007). Diese Entwicklung findet ihren Niederschlag in der Ökonomisierung verschiedenster Gesellschafts- und Lebensbereiche (Ulrich, 2001; Ricoeur, 2006) und ist mit unmittelbaren Konsequenzen für Individuen und deren Lebensweisen (z. B. bzgl. der beschriebenen Flexibilisierungsanforderungen) verbunden (Kurbjuweit, 2005). Mit Heitmeyer (2006) kann in Bezug auf die Auswirkungen dieses »überwältigende[n] […] Kapitalismus« (S. 17) gefragt werden: »Was bedeutet es dann, wenn eine solche Ökonomisierung von Gesellschaft wirkungsmächtig voranschreitet, also die Sicherung des sozialen Status und des sozialen Zusammenlebens vorrangig unter Effizienzgesichtspunkten organisiert und bewertet wird, mithin instrumentelles Verhalten zur Normalität des Umgangs wird?« (S. 19 f.; vgl. auch Kurbjuweit, 2005).
Die Relevanz dieser gegenwartsdiagnostischen Überlegungen wird besonders deutlich, wenn man die aktuellsten wirtschaftlichen Entwicklungen und deren gesellschaftliche Konsequenzen betrachtet (z. B. Brost, 2009; Heitmeyer, 2009). Auch wenn angesichts der gegenwärtigen globalen wirtschaftlichen Krise staatliche Interventionen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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plötzlich (auch) gerade von den Akteur/-innen dieser zugespitzten Ökonomisierungslogik gefordert werden (vgl. z. B. Konrad-Adenauer-Stiftung, 2009). Flexibilisierung (vgl. Sennett, 2000), Pluralisierung und Individualisierung sowie Diversifizierung von Lebensentwürfen (vgl. Keupp u. Hohl, 2006) und eine vorgeblich »rationale« Ökonomisierung (vgl. Ulrich, 2001) können somit zusammengefasst als vorherrschende Paradigmen »postmoderner« westlicher Gesellschaften wie derjenigen in Deutschland bezeichnet werden. Diese Phänomene werden als gesellschaftlicher Hintergrund dieser Studie und der damit zusammenhängenden Fragestellungen betrachtet. Auf den in seiner gegenwartsdiagnostischen Verwendung nicht unproblematischen Begriff der »Postmoderne« und seinen Gebrauch für diese Untersuchung soll nachfolgend noch kurz eingegangen werden. Die »Postmoderne« hat nach Mayer (2001, S. 522) ihre Wurzeln in den USA der 1960er Jahre und erreichte Europa in den 1970er Jahren (vgl. auch Welsch, 2002). Obwohl einige Autor/-innen Bedenken gegen die Verwendung der Begrifflichkeit der »Postmoderne« äußerten, unter anderem da diese zu unscharf sei (z. B. Beck, 1986), soll die Bezeichnung im Rahmen dieser Untersuchung beibehalten werden, da sie zum einen sehr eingängig ist und zum anderen Phänomene der Pluralisierung und Diversifizierung sowie der Flexibilisierung, die hier, wie ausgeführt, als konstitutiv für die gegenwärtige Gesellschaft angesehen werden, am ehesten zu fassen vermag. Der Schlüsselbegriff der Postmoderne ist »Pluralität« (Kresic, 2006, S. 107). Es handelt sich dabei nach Welsch (2002) nicht um ein Oberflächenphänomen, sondern um eines, das diverse gesellschaftliche Bereiche durchdringt (vgl. auch Keupp u. Hohl, 2006). Auch »der rasante technologische Fortschritt, die mediale Vernetzung und damit einhergehende Globalisierungstendenzen [gelten] als wichtige Merkmale der Postmoderne« (Welsch, 2002, S. 107). »Eine Zweiteilung der Moderne wird in unterschiedlichen Konzepten angenommen […] [u. a. in] Becks Konzept der ›reflexiven Moderne‹ (1986)« (King, 2002, S. 11). Allgemein kann die Postmoderne somit als Phase bezeichnet werden, die auf die Phase der ersten Moderne folgt. So ist für die postmoderne Epoche von zentraler Bedeutung: »der bereits in der Moderne angelegte Bruch mit dem aufklärerischen Projekt einer umfassenden Erfassung und Erklärung der Welt, die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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2 Gesellschaftlicher Hintergrund
Ablösung der sinnstiftenden ›großen Erzählungen‹ (J.-F. Lyotard) der Religion und der Wissenschaft durch fragmentarische vorläufige Wissensmodelle« (Mayer, 2001, S. 522). Aus Perspektive der beschriebenen Lesart gegenwärtiger gesellschaftlicher Zustände bietet sich die Verwendung dieses Begriffes also an, auch wenn er, wie erwähnt, von einigen Autor/-innen kritisiert wurde. Zusammenfassend wird ausgegangen von einem sozioökonomischen Wandel und einem damit einhergehenden Sozialstaatsabbau sowie einem verstärkten Unsicherheitsgefühl in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Individualisierungsprozessen, die sich im Kontext der vor allem wirtschaftlichen Globalisierung entwickeln. Ein umfassender gesellschaftlicher Strukturwandel sowie eine Ökonomisierung verschiedenster Gesellschafts- und Lebensbereiche kann unter den genannten Stichworten angenommen werden. Die aufgeworfenen zeitdiagnostischen Überlegungen bilden also – auf der Makroebene – für diese Studie den Rahmen zur empirischen Untersuchung des Forschungsgegenstands.
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Verhaltenstherapie und Psychoanalyse »Im Zeitgeist-Konzept sieht man die Psychologiegeschichte als Entwicklung, in der das geistige Klima einer Zeit fördernd oder hemmend auf die Ausbildung bestimmter Theorien wirkt« (Daiminger, 2007, S. 19).
Im folgenden Kapitel werden Entwicklungen der beiden psychotherapeutischen Verfahrensrichtungen Verhaltenstherapie und Psychoanalyse in den letzten Jahrzehnten beschrieben. Die jeweiligen wissenschaftstheoretischen und -konzeptionellen Perspektiven werden erläutert und anwendungsbezogene Unterschiede herausgearbeitet.
3.1 Historische Entwicklungslinien von Verhaltenstherapie und Psychoanalyse und die akademische Psychologie »Und wir sind in den 70ern aufgetreten und haben gelehrt: ›Das [Verhaltenstherapie] ist effizient und das ist nicht effizient, und das ist ein Schmarrn‹. Das spielt sicher auch eine Rolle, dass wir viel Publicity erreicht haben» (Zitat Birbaumer aus Daiminger, 2007, S. 221).
Im Folgenden werden historische Entwicklungslinien der beiden Verfahrensrichtungen in einer direkten Gegenüberstellung nachvollzogen, wie sie insbesondere im Kontext der akademischen Psychologie aufzufinden sind. Die Geschichte der Psychologie ist in Deutschland mit der Geschichte der Psychotherapie stark verwoben9. So ist ein Großteil der außeruniversitär beschäftigten Psy9 In dieser Untersuchung wird sich auf die Geschichte der Psychologie bzw. der therapeutischen Verfahren in Westdeutschland bzw. der BRD nach der Wiedervereinigung beschränkt.
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3 Verhaltenstherapie und Psychoanalyse
cholog/-innen klinisch-therapeutisch tätig (vgl. z. B. Burghofer, 2000), wobei die Hälfte aller Psycholog/-innen über eine Approbation verfügen (Hasselhorn, 2009; vgl. auch Schulte u. KrönerHerwig, 2005, S. 7210). Die meisten Psychotherapeut/-innen rekrutieren sich darüber hinaus gegenwärtig aus der Fachrichtung Psychologie (vgl. Strauß et al. , 2009). Wie nachfolgend gezeigt wird, ist sowohl die Selbst- als auch die Fremdwahrnehmung der Psychologie eng mit dem Tätigkeitsfeld der Psychotherapie verbunden. In Kapitel 5.1 wird das jeweilige Verhältnis zu psychotherapeutischen Verfahren in den in dieser Studie untersuchten Studiengängen (Psychologie, Medizin und P ädagogikstudiengänge) im Kontext der dort vorzufindenden unterschiedlichen Fachkulturen gesondert dargestellt. An dieser Stelle wird aus den genannten Grü nden vor allem auf die Repräsentation der beiden Verfahrensrichtungen im Kontext der psychologischen Disziplin eingegangen. Anders als in der dominanten Lesart der Geschichte der Psychologie, die z. B. in Standardlehrbüchern der Psychologie zu finden ist (z. B. Comer, 2008; Smith, Nolen-Hoeksma, Fredrickson, u. Loftus, 2007; vgl. Daiminger, 2007), wird hierbei nicht von einer rein wissenschaftlich begründeten Entwicklung ausgegangen, sondern von einer Wechselwirkung von Entwicklungen der Fachrichtung Psychologie mit der Entwicklung gesellschaftlicher Verhältnisse, im Sinne einer »wechselseitige[n] Durchdringung und Beeinflussung« (Daiminger 2007, S. 20) von Psychologie, Kultur und Gesellschaft. Daiminger (2007) führt dazu aus : »Diese [Standardlehrbücher] konzeptualisieren […] den Prozess der Geschichte der Psychologie als eine kontinuierliche Aufwärtsbewegung von den Tiefen der philosophischen Spekulation in die Höhen der Experimentalwissenschaft, die immer mehr Wissen anhäuft. Die Psychologieentwicklung […] [wird] vor allem als Geschichte der Ideen isoliert vom sozialen und kulturellen Kontext der Disziplin behandelt« (S. 19).
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In 2004 gab es ihnen zufolge 33.000 approbierte Psychotherapeut/-innen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Neben wissenschaftlichen und professionsgebundenen Entwicklungen sind jedoch gesellschaftliche Sichtweisen immer maßgeblich an der Entwicklung von Disziplinen beteiligt. Darauf wird in Kapitel 3.2 nochmals in einer allgemeineren Form eingegangen. Gesamtgesellschaftlich und universitär war die Psychoanalyse in den 1960er und 1970er Jahren äußerst populär und spielte eine zentrale Rolle in der Student/-innenbewegung der »68er« (vgl. z. B. Zaretsky, 2005). So begriffen viele Angehörige dieser Generation die Psychoanalyse als einen emanzipatorischen und damit außergewöhnlichen klinischen sowie gesellschaftstheoretischen Ansatz, weil der Tradition der Aufklärung verpflichtet und mit der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule assoziiert (z. B. Feyerabend, 1976 ; Habermas, 1970 ; Raguse, 1998). Verhaltenstherapeutischen Ansätzen wurde oftmals ein simplifizierendes und rationalistisches Weltbild, ein vorwiegend technisches Interesse am Menschen und eine manipulative und mechanistische Umgangsweise mit Patient/-innen unterstellt (z. B. Görres, 1972 ; Habermas, 1970). Auch war beispielsweise eine zu »›mechanistische‹ Begrifflichkeit der frühen Verhaltenstherapie« (Lazarus, 1971, zit. nach Margraf, 2009a, S. 19) Gegenstand der Kritik.11 Seit etwa den 1980er Jahren findet dementgegen ein fortschreitender Prozess der Entidealisierung und der Abwertung psychoanalytischer Ansätze, vor allem im klinisch-psychologischen Kontext bei einer gleichzeitigen Etablierung von Verhaltenstherapie statt (vgl. z. B. Comer, 2008; Margraf, 1999, 2009a; Schulte u. Kröner-Herwig, 2005; Zaretsky, 2005). Verhaltenstherapien wurden populärer und begannen, insbesondere in den Instituten für Klinische Psychologie der Universitäten, die Psychoanalyse zu ersetzen (vgl. Fischer u. Möller, 2006; Schulte u. Kröner-Herwig, 2005; vgl. auch Kap. 5.1). Wie Daiminger (2007) ausführt, geschah dies oftmals auch »durch politisches Geschick (›gute Politik‹) und die Besetzung von Schlüsselpositionen« (S. 220). So bekleidet die Psychoanalyse mittlerweile meist eine Außen11
Eine andere Kritik formulierte beispielsweise der Linguist Chomski (vgl. Buchholz, 2003). Dieser warf Skinner, einem der Begründer der Verhaltenstherapie, vor, dass aus verhaltenstherapeutischen bzw. Lernprinzipien die Sprachentwicklung nicht ableitbar sei. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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3 Verhaltenstherapie und Psychoanalyse
seiterstellung in den Instituten für Psychologie an deutschen Universitäten (vgl. z. B. Fischer u. Möller, 2006 ; Schulte u. Kröner-Herwig, 2005 ; Strauß et al. , 2009). Verhaltenstherapeutisch orientierte Lehrende konnten dagegen in der Zwischenzeit »durch ihre Berufung auf Lehrstühle für klinische Psychologie oder in Fachgremien wichtige Schlüsselpositionen« (Daiminger, 2007, S. 220) einnehmen (vgl. auch Schulte u. Kröner-Herwig, 2005). Nach einer aktuellen Erhebung von Strauß et al. (2009) sind zurzeit in Deutschland von 47 Lehrstühlen für Klinische Psychologie/Psychotherapie mindestens 41 verhaltenstherapeutisch ausgerichtet (87 %) und nur vier psychodynamisch (7 %; vgl. auch Kap. 5.1).12 Daiminger (2007), die in ihrer Untersuchung eine Zeitzeugenbefragung von Vertreter/-innen verhaltenstherapeutisch orientierter Verfahren vornahm, bemerkt dazu, dass die Etablierung der Verhaltenstherapie in Deutschland in großen Teilen als eine unmittelbare Abgrenzungsbewegung zur Psychoanalyse, sozusagen als ihr Gegenpol verstanden werden kann. Dies sieht sie vor allem in der Disziplin der Psychologie. Einer der von Daiminger (2007) Interviewten führt beispielsweise seine, auch von anderen Interviewpartner/-innen geäußerten Überlegungen aus, nach denen die Verhaltenstherapie als eine Art »›Reaktionsbildung gegen die Psychoanalyse‹ gesehen werden könnte. Mit dem Bild des ›Ingenieur seiner Selbst‹ schildert […] [er] das technische Verständnis von Verhaltenstherapie : […] Vielleicht könnte man […] finden, dass Reaktionsbildungen eine große Rolle spielen, dass die ganze Verhaltenstherapiebewegung eine Abwehrbewegung gegen die Psychoanalyse war. […] Gegen die Kränkung, dass man nicht Verhaltensingenieur seiner selbst ist. Freud sagt […] das Ich ist nicht Herr im Haus, dann folgt daraus, dass auch niemand sozusagen der Ingenieur seiner selbst sein kann. Denn dieser Ingenieur tanzt seines Teils wieder an Fäden, die von unbewussten Kräften gesteuert werden. Und diese Kränkung kann verdrängt werden, wenn man eben solche Reaktionsbildung konsequent durchführt« (S. 178 f.). 12 Nach Drucklegung der Studie sind mit den Lehrstühlen Krause (Saarbrücken) und Fischer (Köln) zwei weitere Lehrstühle nicht länger psychodynamisch ausgerichtet.
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Im Gegensatz zur Entwicklung in anderen (auch) sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen etablierte sich in der Psychologie, die sich verstärkt als Naturwissenschaft begriff, generell empirische quantitative Forschung als Hauptparadigma (vgl. auch Kap. 5.1). Sie verdrängte weitestgehend andere Forschungsansätze (z. B. Bruns, 2002; Cavkaytar, 2000), wie Methoden qualitativer Einzelfallforschung (vgl. Leuzinger-Bohleber, 1995, 2002; Leuzinger-Bohleber, Hau u. Deserno, 2005; Comer, 2008). Dies versteht Vogel (2005) beispielsweise als eine Art »Hegemonieanspruch der Einheitswissenschaft« (S. 16). Kennzeichnend für die beschriebene Entwicklung ist, dass damit einhergehend die Wissenschaftlichkeit psychoanalytischer Forschungsansätze und -ergebnisse vermehrt infrage gestellt wurde (vgl. z. B. Daiminger, 2007; Hau, 2009 ; Reinecker, 2000). Aufgrund von größtenteils quantitativen und zeitlich teils recht eng begrenzten Therapieoutcomestudien und Metaanalysen wurde zudem die Wirksamkeit psychoanalytischer Therapien im Gegensatz vor allem zu verhaltenstherapeutischen Verfahren bezweifelt (z. B. Grawe, Donati u. Bernauer, 1994 ; Renner u. Mack, 2008 ; vgl. auch Tschuschke, Heckrath u. Tress, 1997).13 Obwohl diese Zweifel durch einige neuere Studien entkräftet wurden (vgl. z. B. Berghout u. Zevalkink, 2009 ; de Maat, de Jonghe, Schoevers u. Dekker, 2009 ; Fäh u. Fischer, 1998 ; Leuzinger-Bohleber, Rüger, Stuhr u. Beutel, 2002 ; Shedler, 2010) und beide Verfahrensrichtungen in den kassenärztlichen Leistungskatalog fallen (vgl. Kap. 5.2), hält sich weiterhin der Vorwurf eines mangelnden empirischen Nachweises psychoanalytischer Verfahren. Die beschriebene Entwicklung kann für den Bereich der Psychotherapieforschung wie folgt zusammengefasst werden :
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Besonders großen Einfluss entfaltete in diesem Kontext die Arbeit von Grawe et al. (1994) mit dem Titel: »Psychotherapie im Wandel: von der Konfession zur Profession« die ein Modell »allgemeiner Psychotherapie« postulierte und eine große Breitenwirkung erzeugte. Dort wurde vor allem die Wirksamkeit psychodynamischer Psychotherapie in Frage gestellt. »Allgemeine Wirkfaktoren« wurden zudem als relevantere Einflussgrößen auf einen Behandlungserfolg identifiziert als schulenspezifische Methoden. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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3 Verhaltenstherapie und Psychoanalyse »Seit den 1980er Jahren gilt in der ›wissenschaftlich fundierten‹ (heute evidenzbasierten) Psychotherapie, vor allem in deren akademischem Mainstream, das unumstößliche Gesetz, nur die einheitswissenschaftlichen, aus Positivismus und kritischem Rationalismus abgeleiteten (deduktiv-nomologischen) Forschungsmethoden seien wirklich wissenschaftlich, alles andere sei für unser [psychotherapeutisches] Fachgebiet mehr oder weniger vernachlässigbar oder gar Unsinn. Gemäß dieser Anschauung fallen auch und gerade die erkenntnistheoretischen und philosophischen Grundpositionen der Psychoanalyse – bis hin zum modernen, in der Psychoanalyse sehr viel Geltung gewinnenden Konstruktivismus – unter die weitgehend zu ignorierende Kategorie ›nicht (natur-)wissenschaftlich‹. So gerät auch, quasi als Nebenprodukt, die zentrale psychoanalytische Erkenntnisgewinnung, die Hermeneutik, an den Rand des Geschehens« (Vogel, 2005, S. 16).
Die Verhaltenstherapie als ein genuin psychologisches Therapieverfahren stärkte zudem das Selbstbewusstsein der Psychologie bzw. der Psycholog/-innen gegenüber der bis dato weitgehend psychodynamisch orientierten Ärzteschaft im Bereich psychotherapeutischer Medizin (vgl. z. B. Burghofer, 2000; Daiminger, 2007; Fischer u. Möller, 2006 ; Schulte u. Kröner-Herwig, 2005). Die letztgenannten Autor/-innen fassen dies wie folgt zusammen : »Während die Psychoanalyse bis heute durch die Vorherrschaft von Ärzten gekennzeichnet ist, ist dies bei der Verhaltenstherapie genau umgekehrt. Die – zunächst verzögert und vielerorts halbherzig – übernommene Verantwortung der Universitäten für die psychotherapeutische Ausbildung des psychologischen Nachwuchses hat dann nach Inkrafttreten des Psychotherapeutengesetzes eine relativ schnelle Errichtung von Ausbildungsgängen an vielen Universitäten zur Folge« (S. 71).
Die Verhaltenstherapie bot Psycholog/-innen in ihrer im Vergleich zur Medizin relativ jungen wissenschaftlichen Disziplin (vgl. Kap. 5.1) damit eine eigenständige Möglichkeit der Identifikation. »In Gegenüberstellung zu anderen Therapieverfahren, die ihre Wurzeln in der Psychoanalyse hatten, betrachtete man die Verhaltenstherapie als ein originär psychologisches Verfahren. Dies stärkte das Selbstbewusstsein der Psychologie bzw. der PsychologInnen: Aus Sicht © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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der ZeitzeugInnen zeigte die VT, dass die Psychologie in der Wissenschaft und vor allem auch in Feldern der Anwendung Eigenständiges leistete und damit erfolgreich war. Insofern bot sie PsychologInnen eine Identifikationsmöglichkeit« (Daiminger, 2007, S. 222).
Burghofer (2000) konnte in einer Untersuchung zum Image von Psycholog/-innen bei Mediziner/-innen zeigen, dass sowohl die von ihr untersuchten Mediziner/-innen als auch die Psycholog/-innen mit dem Bereich der Medizin mehr Mächtigkeit und Kraft sowie mehr Schnelligkeit und Bewegung assoziierten als mit der Psychologie. Weiter zeigte sich, dass Psycholog/-innen der Medizin mehr Mächtigkeit, Kraft und Überlegenheit zuschrieben als Mediziner/-innen dies taten. Burghofer (2000) kommt diesbezüglich zu dem Fazit, dass sich darin möglicherweise »das dominante Erleben der Medizin auf Seiten der Psychologen« (S. 168) widerspiegelt. Aus Befunden wie diesem kann ein Statusproblem auf Seiten der Psycholog/-innen abgeleitet werden. Burghofer (2000) stellt dazu entsprechend fest: »Während für viele Psychologen der Beruf des Arztes einen Statusgewinn darstellen würde, würde für viele Mediziner umgekehrt der Beruf des Psychologen einem Statusverlust gleichkommen (vgl. z. B. Schneller, 1978)« (S. 169).
Auch ein unter anderem von Burghofer (2000) postuliertes und empirisch wiederholt aufgefundenes, über das Verhältnis zur Medizin hinaus gehendes, generelles »Image-Problem der Psychologie« (S. 12), könnte für die Bestrebung, die Psychologie als exakte Wissenschaft mit spezifischen, (natur-)wissenschaftlichen Forschungsmethoden zu etablieren, eine Rolle gespielt haben. Burghofer (2000) zufolge »wurde der Psychologie [vor allem von Psycholog/-innen selbst] seit Anbeginn ein Image-Problem attestiert, für das man die Abgrenzung von der Philosophie und den steinigen Weg zur Etablierung als eigenständige Disziplin verantwortlich machte (Benjamin, 1986)« (S. 12).14 Für die wissenschaftliche Profilbildung dieser relativ jungen 14 Ein Überblick über Studien zu dieser Thematik findet sich bei Burghofer (2000, S. 12 ff.).
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Fachrichtung könnte auch deshalb eine Abkehr von der hermeneutischen Tradition der Philosophie nahegelegen haben. Bemerkenswerterweise ist eine Diskrepanz der von Psycholog/-innen selbst vermuteten eher negativen Fremdeinschätzung ihrer Disziplin zur tatsächlichen Außenwahrnehmung festzustellen. Burghofer (2000) kommt bezüglich des Image-Problems der Psychologie demgemäß zu folgendem Fazit : »Es hat sich allerdings gezeigt, daß dieses Image positiver ausfällt, als von Psychologen selbst befürchtet wird […] . Ebenso wurde deutlich, daß die Allgemeinbevölkerung unzureichende Kenntnisse über den Beruf des Psychologen besitzt (vgl. z. B. Montin, 1995, Sander, 1998)« (S. 18).
In einer Untersuchung von Hofstätter (1965, zit. nach Burghofer, 2000) zu Selbst- und Fremdbildern von Psycholog/-innen zeigte sich, dass sie sich selbst am positivsten einschätzten, allerdings die Fremdeinschätzungen nur geringfügig niedriger ausfielen. Das von Psycholog/-innen vermutete Fremdbild dagegen fiel bei Weitem am negativsten aus, dies auch in einer Replikationsstudie von Wahl und Rietz (1999) mehr als dreißig Jahre nach der ersten Befragung. Psycholog/-innen fürchten demnach eine sehr ungünstige Beurteilung durch Nichtpsycholog/-innen, auch wenn dies empirisch nicht zutrifft. Hofstätter (1965, zit. nach Burghofer, 2000) konnte in weiteren Versuchsreihen zudem zeigen, dass Auto- sowie Heterostereotyp von Psycholog/-innen eng verbunden ist mit dem eines/-r Psychotherapeuten/-in. Dies kann wiederum als ein Hinweis auf die erwähnte starke Verknüpfung der psychologischen Disziplin mit dem Bereich der Psychotherapie gesehen werden. Auf Grundlage einiger Untersuchungen zum Image von Psycholog/-innen in verschiedenen Populationen plädierten u. a. Fürntratt und Gutsche (1969, zit. nach Burghofer, 2000) »für eine vielfältige und intensive Public-Relations-Arbeit in jeder Sparte der Psychologie« (S. 16). Aufgrund der Befunde von Hofstätter (1965) lässt sich weiter vermuten, dass der Bereich der Psychotherapie für die »Image-Problematik« der Psychologie bzw. deren Einschätzung besonders relevant ist, diesem also für die Behauptung der Disziplin eine besondere Bedeutung © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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zukommt. Schulte und Kröner-Herwig (2005) bezeichnen gar die »Schaffung des Berufes des Psychologischen Psychotherapeuten und mit Einschränkung des Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten [als einen] […] Modellfall der Professionalisierung des Faches Psychologie« (S. 72). Amelang (1999) kommt zu folgender Einschätzung bezüglich der (Außen-)Wahrnehmung der Psychologie als wissenschaftliche Disziplin vor allem in der Allgemeinbevölkerung (als Fachdisziplin insgesamt wird sie ihm zufolge ähnlich wie andere Disziplinen eingeschätzt): »Anders sieht es dagegen aus beim Ansehen der Psychologie als Wissenschaft, das in der eingeschätzten Wahrnehmung bei anderen Disziplinen nur einen Platz im hinteren Mittelfeld einnimmt […] . Noch weniger vorteilhaft aber ist die vermutete Wahrnehmung des Faches in der Bevölkerung, wo wir – gewiß mit generell sehr kleinen Unterschieden – nur das Schlusslicht bilden […] . Den Resultaten [einer Erhebung] zufolge, die durch umfassendere Erhebungen konsolidiert werden müssen, ist das (vermutete) Ansehen der Psychologie als Wissenschaftsdisziplin (bei anderen Wissenschaftsdisziplinen) weitgehend gleichrangig mit demjenigen anderer Fächer, wobei sich diesbezüglich während der letzten Jahre deutliche Fortschritte ergaben (Rietz & Wahl, 1997). Dahinter bleibt jedoch das Ansehen des Faches in der Bevölkerung deutlich zurück, und zwar deshalb, weil die Psychologie nicht an dem Bonus partizipiert, der allen anderen Fächern (mit Ausnahme der Biologie) zuteil wird, wenn es um das (jeweils höhere) Ansehen in der Bevölkerung relativ zu Wissenschaften geht« (S. 12).
Daraus zieht er folgenden Schluss : »Bei dieser ›Vertrauenslücke‹ darf es nicht bleiben angesichts der Leistungsbilanz, die das Fach vorweisen kann ; aus ihr resultieren bedrohliche Nachteile am Markt, die durch vereinte Anstrengungen auf mehreren Ebenen kompensiert werden müssen. Dazu gehören vorrangig sicher intensivierte Bemühungen um eine weitere Qualitätssteigerung der psychologischen Forschung, zumal unter den unausweichlichen Bedingungen der zunehmenden Internationalisierung. Dazu zählt aber auch eine verbesserte Öffentlichkeitsarbeit, nach der schon ebenso oft wie dringlich gerufen wurde. […] Erfolg in wirtschaftlicher Hinsicht, auf den hier gezielt das Augenmerk ge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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3 Verhaltenstherapie und Psychoanalyse richtet wurde, stellt sicher ein ganz besonders überzeugendes Argument dar« (S. 12).
Zusammenhängen könnten Einschätzungen wie diese unter anderem mit folgender historischer Entwicklung im für die Disziplin der Psychologie – mittlerweile – besonders identitätsstiftenden psychotherapeutischen Bereich: Die Zuteilung einer »Beraterrolle« an Psycholog/-innen und einer »Heilerrolle« an Mediziner/-innen wurde bis in die 1960er Jahre beiderseits weitgehend akzeptiert (vgl. Ploeger, 1982 ; Burghofer, 2000). Bedenkt man dies und die Tatsache, dass Psycholog/-innen erst im Laufe der 1950er Jahre den Zugang zur Psychiatrie fanden und dort zunächst lediglich im Bereich der Diagnostik, mit dem Status von »ärztlichem Hilfspersonal« (Ploeger, 1982, S. 69; vgl. auch Burghofer, 2000; Schulte u. Kröner-Herwig, 2005) versehen, eingesetzt wurden, wird verständlich, dass sich unter anderem das Bemühen um die – als genuin psychologisch aufgefasste – Psychotherapieform der Verhaltenstherapie für die Selbstbehauptung dieser Disziplin anbot. Ploeger (1982) macht entsprechend folgende drei Faktoren dafür verantwortlich, dass sich Psycholog/-innen in den letzten Jahrzehnten schließlich im psychotherapeutischen Bereich etablieren konnten: »das Aufkommen der spezifisch psychologischen Therapieformen, der Gesprächspsychotherapie und der Verhaltenstherapie; […] den einstigen Ärztemangel und das gleichzeitige Angebot an Psychologen; […] [sowie] das Prinzip der therapeutischen Gemeinschaft« (S. 70). Diese Strategie war von Erfolg gekrönt: Burghofer (2000) kommt nach Sichtung der vorliegenden Befunde zu dem Fazit, dass eine Gleichstellung von ärztlichen und psychologischen Psychotherapeut/-innen auch unter Mediziner/-innen mittlerweile anerkannt und akzeptiert sei. Damit sei die ursprüngliche Zuteilung einer nur beratenden Rolle an Psycholog/-innen und einer heilenden Rolle an Mediziner/-innen hinfällig geworden. Einzelne psychotherapeutische Strömungen haben nach Burghofers (2000) Einschätzung im Zuge der Etablierung der akademischen Psychologie als exakte Wissenschaft an Bedeutung verloren bzw. sind Eklektizismen gewichen. Die psychoanalytische Richtung nimmt dagegen eine »gewisse Sonderposition« (Burghofer, 2000, S. 5) innerhalb der Geschichte der Psychologie ein. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
3.1 Historische Entwicklungslinien
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»Ihre Wurzeln liegen nicht in der Experimentalpsychologie, sondern vielmehr im außeruniversitären Bereich in der medizinischen und klinischen Psychologie« (Burghofer, 2000, S. 5). Sie ist demnach sehr viel weniger als die Verhaltenstherapie mit der allgemeinen Geschichte der Psychologie verwoben. Als Gründe für die Etablierung der Verhaltenstherapie, vor allem in der psychologischen Disziplin, fand Daiminger (2007) in ihrer Untersuchung, wie aus Abbildung 1 ersichtlich, ihr Identifikations- und ihr Innovationspotenzial, ihre Passung bzw. Anschlussfähigkeit, ihre empirische Orientierung und ihre Wissenschaftlichkeit, eine starke Handlungs- und Problemorientierung, ihre Machbarkeit sowie ökonomische Gründe. Als wirksame Antriebskräfte oder »Motoren« dafür benennt sie das Glück der richtigen Stunde, fachliche Entwicklungen, gute Politik, einzelne Persönlichkeiten, eine Verbindung von Impulsen, dialektische Prinzipien sowie schlicht Zufälle. All diese Faktoren mögen somit in Interaktion miteinander zur Etablierung der Verhaltenstherapie in der psychologischen Disziplin beigetragen haben. Wachsende Einsicht in Gehirnstrukturen und eine zunehmende Medikalisierung im psychotherapeutischen Bereich gelten, bezogen auf die dargestellte Entwicklung der beiden Verfahrensrichtungen, als weitere – nicht unmittelbar mit der psychologischen Disziplin verknüpfte – relevante Einflussgrößen (vgl. z. B. Fonagy, 2002; Kandel, 1998, 2005; Lear, 1996). Vor allem die zunehmende Bedeutung neurowissenschaftlicher Forschung ist in diesem Kontext zu nennen (vgl. z. B. Berking u. Znoj, 2007; Hau, 2009; Schulte u. Kröner-Herwig, 2005). Darauf wird in den Kapiteln 3.2 und 3.4 noch einmal näher eingegangen. Gesamtgesellschaftlich stellten verschiedene Autor/-innen in den vergangenen Jahren ein regelrechtes »Freud-Bashing« (Böker, 2006, S. 2) fest, so beispielsweise Lear (1996; vgl. auch Küchenhoff, 2005, 2006). Lears (1996) Auffassung gemäß ist eine Art »Feldzug gegen Freud« (S. 600) zu einer regelrechten »Bewegung« geworden (z. B. »Is Freud dead« als Titel des Time Magazine, Nov. 29, 1993; vgl. Meyer, 2005; Stuhr, Leuzinger-Bohleber u. Beutel, 2001; Zaretsky, 2005). Als Ursachen vermutet Lear (1996) die erwähnten Erkenntnisse der Hirnforschung sowie die verstärkte Medikalisierung des psychotherapeutischen Bereichs (z. B. durch Medikamente wie Prozac), aber auch Rückschläge gegenüber © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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3 Verhaltenstherapie und Psychoanalyse
Abbildung 1: »Subjektive Attraktivität der VTund Gründe ihrer Etablierung verdichtet zu Begründungskategorien« (Daiminger, 2007, S. 212, Abb. 7)
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3.1 Historische Entwicklungslinien
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übersteigerten Erwartungen und Ansprüchen der 1950er und 1960er Jahre. Allerdings lieferten in jüngster Zeit gerade Befunde aus der Hirnforschung (z. B. Kandel, 2005) bestätigende Hinweise auf psychoanalytische Konzepte, wie die Vorstellung »unbewusster« Vorgänge (vgl. auch Böker, 2006; Hau, 2009; Lakotta, 2005). In jüngsten Zeitungsberichten wird wieder positiver berichtet. Auch in der Verhaltenstherapie kommt es zunehmend zu einer Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse und sogar zu Versuchen einer Integration psychoanalytischer Theorie- oder Behandlungselemente, worauf unter 3.3 noch einmal näher eingegangen wird.15 Trotz der beschriebenen Entwicklung, vor allem in der akademischen Psychologie, fallen beide Verfahrensrichtungen in Deutschland seit Einführung des Psychotherapeutengesetzes vor rund zehn Jahren in den kassenärztlichen Leistungskatalog. In der psychotherapeutischen Praxis sind in der ambulanten Versorgung psychoanalytische Verfahren sogar immer noch dominant (vgl. Kap. 5.2). Jedoch müssen die meisten psychoanalytischen Gesellschaften in vielen Ländern einen massiven Rückgang von Ausbildungsteilnehmenden konstatieren (Eith, 2004, Brauer et al., 2005; vgl. Kap. 5.2). Ein gewisses Spannungsverhältnis ist hier festzuhalten, so »dürfte die Psychoanalyse [einerseits] eine psychologische Richtung sein, die die größte kulturelle Breitenwirkung erreicht haben dürfte. Dies steht in großem Kontrast dazu, dass sie in der akademischen, universitären Psychologie kaum vertreten ist und lange Zeit als ›unwissenschaftlich‹ angesehen wurde« (Mack, 2008, S. 87). Entsprechend stellt Moser (2006) für den universitären Bereich fest: »Ähnliches [zum Rückgang der Psychoanalyse] ist in Bezug auf die Stellung der Psychoanalyse innerhalb der akademischen Psychologie zu sagen, während es aber ein größer werdendes Interesse für Psychoanalyse außerhalb der naturwissenschaftlichen Fächer an philosophischen Fakultäten und ähnlich in Literaturwissenschaften und Kunstgeschichte gibt« (S. 394 ; vgl. auch Leuzinger-Bohleber u. Bürgin, 2004).
15
Zur Problematik einer theoretisch undifferenzierten Integration verschiedener Behandlungselemente, einer sogenannten eklektizistischen Methodenintegration, vgl. z. B. Leuzinger-Bohleber (2002); Buchholz (2003); Strauß et al. (2009; s. auch Kap. 3.3 – 3.5). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Schließlich werden Versäumnisse psychoanalytischer Gesellschaften in der Vermittlung der Psychoanalyse in Theorie und Praxis in diesem Kontext als relevant angesehen (vgl. z. B. Stuhr et al. , 2001), vor allem im Vergleich zur beschriebenen sehr viel geschickteren berufspolitischen Positionierung verhaltenstherapeutischer Fachverbände sowie Einzelpersonen (vgl. Daiminger, 2007). Ein Indiz dafür ist beispielsweise, dass Weiterentwicklungen in psychoanalytischer Forschung und Theoriebildung (z. B. Fonagy u. Target, 2006) häufig wenig bekannt sind. Kritik an psychoanalytischen Konzepten und Behandlungen bezieht sich zudem oftmals primär auf Freud, also die Ursprünge der Psychoanalyse, und setzt sich weniger mit neuerer Theoriebildung auseinander (vgl. Lear, 1996, 2005; Hau, 2009). So werden zum Beispiel in Atkinsons und Hilgards Standardeinführungswerk in die Psychologie (Smith et al. , 2007) in den Abschnitten, die sich mit der Entwicklung und der Theorie der Psychoanalyse beschäftigen, einzig Freud und dessen »Behauptungen« erwähnt und ausgeführt : »In mancher Hinsicht handelt es sich bei der Psychoanalyse um eine Mischung aus (Kognitions-)Psychologie und Physiologie auf dem Stand des 19. Jahrhunderts« (S. 15). Festgehalten werden kann somit zusammengefasst ein Wandel der gesellschaftlichen sowie der universitären Repräsentation und damit der Attraktivität der beiden psychotherapeutischen Richtungen Verhaltenstherapie und Psychoanalyse in den letzten Jahrzehnten sowie eine Diskrepanz ihrer tatsächlichen und ihrer mehrheitlich wahrgenommenen wissenschaftlichen Fundierung, dies aus Perspektive eines bestimmten (v. a. in der Psychologie dominanten), empirisch-quantitativen Wissenschaftsverständnisses. Darauf wird nachfolgend sowie in Kapitel 5.1 noch einmal näher eingegangen.
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3.2 Wissenschaftstheoretische und -konzeptionelle Dimension
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3.2 Wissenschaftstheoretische und wissenschaftskonzeptionelle Dimension – Einheitswissenschaftliches Forschungsparadigma versus Pluralität der Wissenschaften »Jedes wissenschaftliche System ist das Produkt sowohl des einzelnen Forscherindividuums als auch der Epoche, in der es hervorgebracht wurde (Sartre, 1960), der Gruppe von Forschern, mit denen es diskutiert wurde, gegen die es sich durchzusetzen versuchte : Schnittpunkt individuell besonderer und gesellschaftlich allgemeiner Entwicklungslinien« (Bruder, 1982, S. 7).
Im Folgenden wird auf wissenschaftstheoretische Unterschiede zwischen den Verfahrensrichtungen Psychoanalyse und Verhaltenstherapie und sich daraus ergebende therapeutisch-praktische Implikationen eingegangen.16 Relevant für die vorliegende Untersuchung ist diese Gegenüberstellung, da es sich sowohl theoretisch als auch in ihrer praktischen Umsetzung um sehr unterschiedliche Verfahrensrichtungen handelt, welche, wie eingangs erwähnt, vermutlich eine sehr unterschiedliche Passung zum gegenwärtigen »Zeitgeist« und damit einhergehenden gesellschaftlichen Entwicklungen (vgl. Kap. 2 u. 5.3) aufweisen. Ferner wird davon ausgegangen, dass auf persönlicher Entscheidungsebene unterschiedliche – auch mit dem jeweiligen Wissenschaftsverständnis der Verfahrensrichtungen zusammenhängende – Kriterien für ein Interesse an der jeweiligen Richtung aufzufinden sind. Beschränkt wird sich, wie eingangs ausgeführt, auf diese beiden Verfahrensrichtungen, da es sich um die momentan kassenärztlich anerkannten »Richtlinienverfahren« handelt (vgl. auch Kap. 5.2). In diesem Kapitel werden zunächst, der Kürze der Darstellung geschuldet, in knapper Form allgemeine wissenschaftstheoretische Überlegungen angestellt bzw. gegenwärtig aufzufindende Debatten über Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit referiert. Eine 16 Auf die mannigfaltige Literatur zu Theorie und Praxis beider Verfahrensrichtungen kann an dieser Stelle nur verwiesen werden.
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Definition des Verständnisses von »Wissenschaft« für diese Studie erfolgt. Zudem wird auf die Wechselwirkung der jeweiligen vergänglichen historischen Verhältnisse mit dem vorherrschenden Verständnis von Wissenschaft(-lichkeit) eingegangen. Somit wird die Notwendigkeit des Einbezugs des historischen Kontexts für die Entwicklung einer Wissenschaftsdisziplin und dem damit einhergehenden Wissenschaftsverständnis – auch für den Bereich der Psychotherapie – verdeutlicht. Im Anschluss werden Debatten um gegenwärtige »Leitwissenschaften« vorgestellt. Schließlich wird auf den Gesundheits- und danach speziell auf den psychotherapeutischen Bereich eingegangen. Folgende Überlegungen seien dem Kapitel vorangestellt : Was kann überhaupt unter »Wissenschaft« verstanden werden ? Welche unterschiedlichen Wissenschaftsparadigmen lassen sich identifizieren ? Zunächst eine klassische Unterteilung wissenschaftlicher Erkenntnisprojekte von Habermas (1965): »Für drei Kategorien von Forschungsprozessen läßt sich ein spezifischer Zusammenhang von logisch-methodischen Regeln und erkenntnisleitenden Interessen nachweisen. Das ist die Aufgabe einer kritischen Wissenschaftstheorie, die den Fallstricken des Positivismus entgeht. In den Ansatz der empirisch-analytischen Wissenschaften geht ein technisches, in den Ansatz der historisch-hermeneutischen Wissenschaften ein praktisches und in den Ansatz kritisch orientierter Wissenschaften jenes emanzipatorische Erkenntnisinteresse ein, das schon den traditionellen Theorien uneingestanden, wie wir sahen, zugrunde lag« (S. 155).17
Einer solchen, bereits vor einigen Jahrzehnten formulierten Unterscheidung verschiedener erkenntnisleitender Projekte und damit einhergehender wissenschaftlicher Disziplinen, kurz einer »Pluralität der Wissenschaften« (Leuzinger-Bohleber, 2002, S. 20) wird oftmals ein wissenschaftstheoretisch überholtes, einheitswissenschaftliches Forschungsparadigma in der Tradition des (positivistischen) Empirismus entgegengesetzt (vgl. z. B. Hampe, 2001, 2004; Hau, 2009; Leuzinger-Bohleber, 2002; Leuzinger-Bohleber 17 Für eine genauere Beschreibung der Unterteilung in diese drei Erkenntnisinteressen sei verwiesen auf Habermas (1965).
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u. Bürgin, 2004). Dies geschieht unter anderem mit dem Argument, universell gültige Qualitätskriterien anzulegen und Methoden zu verwenden und somit für Wissenschaft »an sich« zu stehen (z. B. Comer, 2008; vgl. Hau, 2009; Vogel, 2005). So existiert, vor allem in den Naturwissenschaften, oftmals immer noch ein »Glaube« an unhinterfragbares, letztgültiges Wissen, welches mit möglichst objektiven Methoden18 – zumindest theoretisch – vollständig erschließbar sein könnte, ausgehend davon, dass materielle, »objektive Realität« vorhanden und beobachtbar ist (vgl. Habermas, 1981; Holzhey, 2001; Windmann u. Durstewitz, 2001). Relativiert werden muss dies jedoch selbstverständlich am Popperschen Falsifizierbarkeitstheorem in der Tradition des kritischen Rationalismus (vgl. z. B. Popper, 1974). Auch die Überlegung, dass, wie Passig und Scholz (2007) in ihrem »Lexikon des Unwissens« darlegen, jede beantwortete Frage in der Regel zwei neue aufwirft, Unwissen also fraktal ist und nie aufhört, relativiert, ohne den Annahmen des Positivismus zu widersprechen, eine solche Sichtweise. Nietzsche formulierte dagegen folgenden grundlegenden Einwand gegen den Positivismus : »Gegen den Positivismus, welcher bei den Phänomenen stehen bleibt ›es gibt nur Tatsachen‹ würde ich sagen : nein, gerade Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen. Wir können kein Faktum an ›sich‹ feststellen : vielleicht ist es ein Unsinn, so etwas zu wollen. ›Es ist alles subjektiv‹ sagt ihr: aber das ist schon Auslegung. Das ›Subjekt‹ ist nichts Gegebenes, sondern etwas Hinzu-Erdichtetes, Dahinter-Gestecktes – Ist es nicht nötig, den Interpreten noch hinter die Interpretation zu setzen? Schon das ist Dichtung, Hypothese […] . Unsere Bedürfnisse sind es, die die Welt auslegen : unsere Triebe und deren Für und Wider« (Nietzsche, Sämtliche Werke, 1980, zit. nach Vogel, 2005, S. 36).
Auch wenn die Autorin pers önlich geneigt ist, dieser Auffassung Nietzsches bezüglich des Verhältnisses von Bedürfnissen zu Tat18 Nach den klassisch empirisch-experimentellen Vorstellungen der Unabhängigkeit vom/von der Forscher/-in, der Wiederholbarkeit und damit der genauen Zuordenbarkeit von Ursache und Wirkung.
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sachen zuzustimmen, ist f ür diese Untersuchung insbesondere folgender Gedankengang zentral : Es erscheint notwendig, einer »Wissenschaftsgläubigkeit« im Sinne eines Glaubens an eine empirisch-quantitative Forschungsmethodik als einzig gültigen wissenschaftlichen Zugang, ohne an dieser Stelle tiefergehende wissenschaftstheoretische bzw. -philosophische Debatten aufzugreifen, mit Horkheimer (1967) zu entgegnen : »Die durch quantitative Methoden ermittelten sogenannten Tatsachen, welche die Positivisten als die einzig wissenschaftlichen zu betrachten pflegen, sind oft Oberfl ächenphänomene, die die zugrunde liegende Realität mehr verdunkeln als enth üllen« (S. 84). Einem absolutistischen, einheitswissenschaftlichen sowie einem sehr relativistischen Standpunkt, vertreten z. B. durch Feyerabend (1976), erteilen Autoren wie Hampe (2001) und Toulmin (1978) gleichermaßen eine Absage. Pluralität definiert sich in dieser Lesart von den jeweiligen Erkenntnisprojekten verschiedener Disziplinen aus, die diesen Projekten angemessene Begriffe und Methoden zu verwenden suchen. Auf die Relevanz dieser Überlegung für die vorliegende Studie wird an späterer Stelle im Zusammenhang mit Forschung im psychotherapeutischen Kontext noch einmal eingegangen (vgl. Kap. 3.3 – 3.5). Kann nun, trotz dieser Auffassung der Pluralität der Wissenschaften, ein kleinster gemeinsamer Nenner von »Wissenschaft« benannt werden? Leuzinger-Bohleber (2002) führt hierzu aus : »Auf alle Wissenschaften bezogen stellt sich u. a. die Frage, wie ›Wissenschaft‹ etwa in Abgrenzung zu anderen Lebensformen wie Glaubenssystemen, Ideologien, lebenspraktischen Fertigkeiten und Weisheiten etc. charakterisiert werden kann. Nicht gemeinsame Denkformen, Erfahrungen oder Methoden machen, nach Hampe, Wissenschaftlichkeit aus, sondern die Bereitschaft und Fähigkeit zur Intersubjektivität in der Vermittlung der jeweils unterschiedlichen Methoden, Denk- und Erfahrungsformen bei gleichzeitigem Verzicht auf charismatische Initiation als Bedingung dieser Intersubjektivität. […] So ist es doch letztlich ›die Einheit der Vernunft‹ (Hampe), das Streben nach Erkenntnis als Zweck an sich, das die Wissenschaften verbindet« (S. 20 f.).
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Dieser Definition von Leuzinger-Bohleber (2002) sowie den Überlegungen von Hampe (2001) folgend, wird »Wissenschaft« in dieser Untersuchung verstanden als auf intersubjektiver Nachvollziehbarkeit basierend und sich an Vernunft und Erkenntnisstreben orientierend, dabei jedoch nach dem Kriterium der Gegenstandsangemessenheit unterschiedliche forschungsmethodische Zugänge als gleichermaßen sinnvoll betrachtend (vgl. auch Hau, 2009). Als »Differenzierungsmerkmal [zur Alltagserfahrung] dient dabei u. a. die ›Disziplinierung von Erfahrung‹ bzw. der systematische Einsatz von Methoden (vgl. Hampe 2001, S. 30)« (Leuzinger-Bohleber, 2007, S. 972). Jeder wissenschaftliche Ansatz produziert und organisiert, wie bereits erwähnt, Fakten in den jeweiligen Grenzen seiner Theorien und Techniken. In diesem Sinne sind Wahrheiten immer nur relativ zu ihren Werkzeugen und ihren Disziplinen erfahrbar. In jeder empirischen Wissenschaft sind Verkettungen zudem semantischer Natur, bei denen sich die Frage stellt, wie sie aufeinander beziehbar (und damit interpretierbar) sind, im Gegensatz z. B. zu mathematischen Systemen mit rein syntaktischen Verknüpfungen. »Für sich genommen, kann auch das ausgefeilteste Axiomensystem niemals eine ›Wissenschaft‹ bilden, denn kein formales System kann uns sagen, geschweige denn garantieren, welchen empirischen Anwendungsbereich es besitzt. Ebenso wenig kann irgendeine abstrakte allgemeine Theorie, für sich genommen, Naturerscheinungen ›erklären‹ oder ›darstellen‹; vielmehr sind es die Wissenschaftler, die diese Theorie anwenden – auf ganz bestimmte Weise, in ganz bestimmten Fällen, und mit einem ganz bestimmten Maß an Erfolg –, um die Eigenschaften des Verhaltens unabhängig identifizierbarer Klassen von Systemen oder Gegenständen darzustellen und damit zu erklären« (Toulmin, 1978, S. 206).
So beeinflussen die Subjektivit ät des/-r Forschers/-in im Nietzsche’schen Sinne und (dessen/deren) theoretischen Vorannahmen wesentlich, was herausgefunden werden kann (vgl. z. B. Habermas, 1990 ; Heinze u. Kupke, 2006). »Die Beobachtungen und ihre Deutungen […] [sind] in jeder modernen Wissenschaft theorieabhängig« (Leuzinger-Bohleber, 2002, S. 21). Eine Theorie verarbeitet nicht nur die stattgefundene Erfahrung im © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Sinne ihrer nachträglichen Interpretation, »sondern sie ermöglicht sie auch« (Leuzinger-Bohleber, 2007, S. 972). Einschränkend muss hierzu jedoch selbstverständlich mit Habermas (1965) festgehalten werden, dass in »allen Wissenschaften […] Routinen ausgebildet worden [sind] , die der Subjektivität des Meinens vorbeugen« (S. 160). Im Kontext dieser Studie ist die Festlegung auf dieses Wissenschaftsverständnis insofern relevant, als, wie in Kapitel 3.1 beschrieben, die Wissenschaftlichkeit vor allem der Psychoanalyse gegenwärtig aus einem bestimmten Wissenschaftsverständnis heraus infrage gestellt wird. Diese Kritik wird für diese Untersuchung jedoch in der beschriebenen pluralistischen Auffassung aus wissenschaftstheoretischer Perspektive für eher vernachlässigbar gehalten. Aus diesem Grund wird dieses Phänomen hier aus einer soziologischen und (sozial-)psychologischen sowie einer wissenschaftshistorischen Perspektive aufgegriffen. Dabei interessiert vor allem, welches gesamtgesellschaftliche und wissenschaftshistorische Klima zu einer Abwertung eines bestimmten forschungstheoretischen und methodologischen Zugangs beitragen kann. Der historische Kontext epistemologischer Interessen spielt, wie eingangs erwähnt, neben den oben ausgeführten Überlegungen eine zentrale Rolle (vgl. Hampe, 2001, 2008; Toulmin, 1978; Weingart, 2005). Die Entwicklung einer bestimmten Wissenschaftsdisziplin und eines damit einhergehenden Wissenschaftsverständnisses bzw. Vorstellungen von Kontinuität in der Entwicklung einer solchen Disziplin können, wie Toulmin (1978) ausführt, in dieser Lesart nur in ihrem jeweiligen historischen Kontext gefasst und verstanden werden : »Die konkrete Abfolge der Probleme in einer Wissenschaft spiegelt also nicht die äußeren, überzeitlichen Gesichtspunkte der Logik wider, sondern die vergänglichen historischen Verhältnisse jeder einzelnen Problemsituation. Eine ›Vernunftmethode‹ in der Wissenschaft muß also auf jeden Fall auf das Besondere jeder einzelnen wissenschaftlichen Situation eingehen ; und die Urteilsfähigkeit eines Wissenschaftlers zeigt sich weniger darin, dass er sich an eine allgemeine ›Methode‹ hält, als in seinem Spürsinn für die besonderen Erfordernisse seines jeweiligen Problems« (S. 180).
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Gesellschaftliche Verhältnisse stehen demzufolge in unmittelbarer Wechselwirkung mit dem jeweiligen historisch-gesellschaftlich vorherrschenden Wissenschaftsverständnis (vgl. z. B. Heinrich Böll Stiftung, 2006; Weingart, 2005). Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen stellt sich die Frage, welche Formen von Wissenschaft bzw. welche wissenschaftlichen Disziplinen in der heutigen Zeit gesellschaftlich besonders anerkannt sind. Auch ist zu fragen, welche »Wissenschaften« als besonders relevant für gegenwärtige gesellschaftliche Diskurse und zu bewältigende Probleme wahrgenommen werden, dies einhergehend damit, was (wissenschafts-)politisch als besonders förderungswürdig gilt. Gegenwärtig werden Neurowissenschaften sowie biotechnologische Disziplinen (sog. »life sciences«) oftmals als sogenannte »Leitwissenschaften« bezeichnet und prägen – durch ihre Privilegierung – das momentan vorherrschende Wissenschaftsverständnis (vgl. z. B. Fonagy, 2002; Kandel, 2005; Singer, 2003; Täubner, 2006; Tebartz van Elst, 2007). In beiden Disziplinen ist ein empirisch-naturwissenschaftliches (meist quantitatives) Wissenschaftsverständnis vorzufinden. Dieses wird teilweise ohne Überprüfung der Zulässigkeit (z. B. keine Messtheorie) und des Sinns (Frage der Gegenstandsangemessenheit) auf andere Disziplinen generalisiert (vgl. z. B. Holzhey, 2001). Der Gültigkeitsbereich eines naturwissenschaftlichen Wissenschaftsverständnisses ist jedoch, wie ausgeführt, begrenzt auf mit diesen Methoden adäquat erfassbare Gegenstände, wie die eingangs erwähnte Habermas’sche Unterteilung in verschiedene erkenntnisleitende Projekte mit jeweils spezifischen Erkenntnisinteressen verdeutlicht. Problematisch wird es, wenn es durch die gegenwärtig festzustellende Dominanz, bzw. eine häufige, auch historisch-(wissenschafts-)politisch bedingte, Gleichsetzung von Wissenschaft mit Naturwissenschaft zu einer Abwertung anderer wissenschaftlicher Disziplinen und einer damit einhergehenden Verkürzung des Begriffes der »Wissenschaft« kommt.19 Auf die Bedeutung dessen für den Gesundheitsbereich, sowie den – speziell für diese Untersuchung relevanten – psychotherapeutischen Bereich soll nun eingegangen werden. Im Gesundheitsbereich kann die sogenannte evidenzbasierte Medizin (EbM) momentan als Hauptparadigma gelten, empirisch quantitative Forschung als wissenschaftliche Methode der Wahl (z. B. Bruns, 19
Auch, da dies auch mit einer entsprechenden Mittelvergabe einhergeht. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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2002; Fonagy, 2002; Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie (DGVT) u. Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Verhaltensmodifikation (AVM), 2004). Als qualitativ hochwertigste Form der Forschung werden oftmals sogenannte »randomised controlled trials« (randomisierte kontrollierte Studien, RCTs) gesehen, angelehnt an pharmazeutische Medikamentenstudien20. Die Dominanz dieses Forschungsparadigmas besitzt für den psychotherapeutischen Bereich momentan gleichermaßen Gültigkeit (vgl. z. B. Fischer, 2007, 2008; Strauß, 2006; Vogel, 2005). »Die Idee der empirisch gestützten Behandlungsverfahren (›empirically supported treatments‹ EST) stammt aus den vereinigten Staaten […] . Es ist bekannt, dass die Kriterien sehr streng sind, ausschließlich an einer empirisch-positivistischen Auffassung von Wissenschaftlichkeit orientiert sind und sich damit einem Standard annähern, der in der Medizin unter dem Stichwort ›evidence based medicine‹ immer mehr an Bedeutung gewinnt. […] [So kann davon ausgegangen werden] dass das Akronym EST mittlerweile tatsächlich ein Monopol impliziert. Dieses Monopol besteht darin, dass empirisch gestützte Behandlungen jene Behandlungen darstellen, die ausschließlich mit Methoden evaluiert sind, die einer spezifischen philosophischen Epistemologie verpflichtet sind, nämlich dem Empirismus« (Strauß, 2006, S. 359).
Die Überlegung, dass in jeder Wissenschaft der jeweilige historische Kontext, in welchem bestimmte Methoden wissenschaftlich anerkannt bzw. zu präferieren gelten, eine Rolle spielt, ist für den psychotherapeutischen Bereich Leuzinger-Bohleber (2002) zufolge besonders »brisant […], […] in dem wir meist keine rein deskriptiven Theorien vorfinden, sondern unweigerlich auch Überzeugungssysteme eine Rolle spielen, die mit einer bestimmten Technik und Praxis verbunden sind« (S. 21; vgl. auch Hampe, 2001). Was beispielsweise unter »Heilung« im psychotherapeuti20
Idealtypisch werden diese durchgeführt als sogenannte »Doppelblindversuche«, bei denen weder die Untersuchungsdurchführenden noch die Proband/-innen über den Zweck der Studie informiert sind, bzw. wissen, welcher Untersuchungsbedingung letztere zugeordnet wurden (vgl. z. B. Comer, 2008, S. 35 ; zur Kritik daran bezogen auf den psychotherapeutischen Bereich vgl. z. B. Revenstorf , 2005; Fischer 2007, 2008). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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schen Sinne zu verstehen ist, wird – in Abhängigkeit von Weltsicht, Wertesystemen und Menschenbildern unterschiedlicher therapeutischer Richtungen – im »Gebiet der Psychotherapieforschung« (Leuzinger-Bohleber, 2002, S. 21) sehr unterschiedlich ausgelegt (vgl. nachfolgende Kap. 3.3 u. 3.4). Auch diesbezüglich stellt sich die Frage der Gegenstandsangemessenheit von Forschungsparadigmen und -methoden. Heinze und Kupke (2006) betonen in diesem Kontext : »Statt wie die Naturwissenschaften konstitutives Wissen, so genannte ›hard facts‹, zur Verfügung stellen, bietet die Philosophie der Psychiatrie [und der Psychotherapie] eine Orientierung in diesem Wissen an, d. h. ein regulatives Wissen um begründete Zwecke und Ziele, so genannte ›soft facts‹ […] Generell gilt, dass jeder wissenschaftliche Paradigmenwechsel in der Psychiatrie [und wohl gleichermaßen auch in der Psychotherapie] ein Anwendungsfall für philosophische Begriffsund Grundlagenreflexionen ist« (S. 348).
Hinzu kommt die Tatsache, dass jede »Menschenwissenschaft« (Hampe, 2004, S. 19) wesentlich mit Wertbegriffen verknüpft ist. So ist zum Beispiel die Unterscheidung in »krank« und »gesund« im psychischen Bereich immer auch (individualisierend und) bewertend. Eine wichtige Frage im Kontext dieser Untersuchung ist vor dem Hintergrund der beschriebenen wissenschaftstheoretischen und -historischen Überlegungen somit, aufgrund welcher Faktoren welche Psychotherapierichtung in welchem historischen Kontext als wissenschaftlich fundiert gilt. Aus dieser Perspektive scheint es, wie einleitend ausgeführt, plausibel, dass die spezifische Form von Psychotherapie (mit ihren jeweiligen Überzeugungssystemen), die in einem bestimmten historischen Zeitraum gesundheitspolitisch privilegiert wird, auch eine Manifestation gesellschaftlich herrschender Mentalitäten ist. Die in dieser Studie ermittelten gegenwärtigen sozialen Repräsentationen (vgl. Kap. 5 ff.) von Verhaltenstherapie und Psychoanalyse unter Studierenden werden entsprechend in diesem Kontext gefasst. Nachfolgend wird auf diese beiden »Richtlinienverfahren« eingegangen, die, wie eingangs erwähnt, momentan in den kassenärztlichen Leistungskatalog fallen, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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also eine solche gesundheitspolitische Privilegierung aufweisen (genauer dazu vgl. Kap. 5.2 u. 5.3). Sowohl unter »Verhaltenstherapie« als auch unter »Psychoanalyse« sind keine einheitlichen Theoriengebäude sowie Anwendungsdisziplinen zu verstehen (vgl. z. B. Margraf, 2009a, Fonagy, 2002). Eine Gegenüberstellung der Verfahren ist zudem keineswegs immer eindeutig möglich, weshalb sich darauf beschränkt wird, die prägnantesten Kennzeichen und vor allem Unterschiede der beiden psychotherapeutischen Richtungen zu benennen und herauszuarbeiten, dies unter Berücksichtigung der Tatsache, dass unter dem Dach beider Richtungen jeweils eine Vielzahl unterschiedlicher theoretischer Konzepte sowie Behandlungsansätze diskutiert werden. Während einige wenige Autor/-innen Parallelen in der psychoanalytischen und verhaltenstherapeutischen Theoriebildung oder in den jeweiligen Behandlungsansätzen hervorheben (vgl. z. B. Fonagy, 2002 ; Overskeid, 2007), ist der größere Teil der Autor/-innen, die sich mit beiden Ansätzen beschäftigen, eher der Auffassung, dass diese in der psychotherapeutischen Landschaft Gegensätze bilden. Das Freud’sche und das Skinner’sche »Programm« stellen demgemäß entgegengesetzte Pole dar (vgl. Overskeid, 2007) und sind somit Perspektiven, die »appear to be wholly incompatible« (Henriques, 2003, S. 152). Als wichtigster metapsychologischer Unterschied zwischen psychoanalytisch begründeten Therapien und Verhaltenstherapie kann beispielsweise Vogel (2005) zufolge die »Berücksichtigung eines Konstruktes« (S. 31), nämlich des (dynamischen) Unbewussten gelten. Dies wird nachfolgend genauer dargelegt. In den beiden anschließenden Abschnitten wird in komprimierter Form auf die Geschichte, den Gegenstand und den theoretischen Hintergrund, die jeweilige wissenschaftliche Selbstverortung, sowie auf die Verortung von Verhaltenstherapie und Psychoanalyse in der Forschungslandschaft eingegangen. Eine zusammenfassende Gegenüberstellung der Verfahrensrichtungen unter Einbezug der jeweiligen klinischen Anwendungspraxis erfolgt schließlich in Kapitel 3.5.
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3.3 Verhaltenstherapie – Historische Wurzeln, Paradigmen und Konzepte »In ihrem Selbstverständnis hat sich die VT wissenschaftstheoretisch aus der Tradition des Behaviorismus bzw. des Positivismus hergeleitet und bezieht sich auf empirische Erkenntnisse. Dieses System des Wissens verändert sich permanent und lässt sich keiner einheitlichen Definition zuordnen. Es basiert jedoch auf Prinzipien, die im historischen Kontext konstant geblieben sind« (Daiminger, 2007, S. 25).
Seit circa Mitte der 1950er Jahre kann man von einer kontinuierlichen Entwicklung der Verhaltenstherapie sprechen (Vogel, 2005; vgl. auch Schorr, 1984; Schulte u. Kröner-Herwig, 2005). Allerdings gab es, wie z. B. Margraf (2009a) ausführt, keine einzelne Gründungsfigur der Verhaltenstherapie, sondern an verschiedenen Orten wurden relativ zeitgleich ähnliche Ansätze verfolgt (z. B. durch Wolpe, Watson, Lazarus oder Skinner; vgl. auch Schorr, 1984). Der behavioristische Ansatz – und daraus die Verhaltenstherapie – etablierte sich vor allem in Abgrenzung von der bis dato in der Psychologie geläufigen Methode der Introspektion, davon ausgehend, dass diese naturwissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügen könne. Das Neue an diesem Ansatz war die Überlegung, sich stattdessen auf die Erforschung beobachtbaren Verhaltens zu beschränken. Darauf wird später noch einmal ausführlicher eingegangen. Der Geschichtsschreibung der Verhaltenstherapie in Deutschland wurde Daiminger (2007) gemäß bisher relativ wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Auch wird die Geschichte der Verhaltenstherapie generell selten in Zusammenhang mit gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen verhandelt, dies mit einer ähnlichen Begründung wie für die gesamte akademische Psychologie (vgl. Kap. 3.1). »So wird in der eingangs erwähnten Geschichtsschreibung von Verhaltenstherapie die Formierung und Entwicklung der Verhaltenstherapie häufig aus einer wissenschaftsimmanenten Perspektive als eine permanente, wissenschaftliche Weiter- bzw. Höherentwicklung konzeptualisiert. Eine zentrale Argumentationslinie zur Begründung ihrer Etablie© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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3 Verhaltenstherapie und Psychoanalyse rung basiert in dieser Literatur – historisch betrachtet ebenso wie im Kontext der Diskussionen um die Anerkennung psychotherapeutischer Verfahren nach dem Psychotherapeutengesetz – auf der Wissenschaftlichkeit der Verhaltenstherapie. Dagegen findet die Berücksichtigung von gesellschaftlichem und kulturellem Kontext, von gesundheits-, sozialoder wissenschaftspolitischen Bedingungen wenig Berücksichtigung« (Daiminger, 2007, S. 20).
In Deutschland können die Anfänge der Verhaltenstherapie auf die 1960er Jahre datiert werden (Daiminger, 2007; Schulte u. KrönerHerwig, 2005). Nach Kröner-Herwig (2004) liegen »die historischen Wurzeln der Verhaltenstherapie […] in der Anwendung lerntheoretischer Prinzipien auf klinisch-psychologische Anwendungsbereiche. Dabei wurden Forschungserkenntnisse zum instrumentellen/ operanten sowie klassischen Konditionieren in technologische Regeln überführt, um sie auf das therapeutische Vorgehen anwenden zu können« (S. 14).
Diese Erkenntnisse aus der Schule des Behaviorismus stellen die zentralen theoretischen Elemente der klassischen Verhaltenstherapie dar. Für den Gegenstand bzw. die Theorie der Verhaltenstherapie ist weiter kennzeichnend, dass es sich »nicht um ein homogenes Verfahren, sondern um eine Gruppe von Interventionsmethoden« (Kröner-Herwig, 2004, S. 14) handelt. Sie »beinhaltet schon seit ihrem Entstehen eine Reihe an heterogenen Ansätzen« (Watzke, 2002, S. 22; vgl. auch Margraf, 2009a; Vogel, 2005). Wie KrönerHerwig (2004) ausführt, wird die »Verhaltenstherapie […] also eher durch eine offene Grundorientierung definiert als durch ein fest abgeschlossenes Theoriegebäude« (S. 22). Gemeinsam ist verhaltenstherapeutischen Verfahren dabei das lerntheoretische Verständnis der Genese und der Therapie von psychischen Störungen (Kriz, 1994). Es gibt allerdings zahlreiche unterschiedliche Lerntheorien. An dieser Stelle seien theoretisch für die Verhaltenstherapie besonders relevante Definitionen von Lernen, zum einen aus klassisch behavioristischer, zum anderen aus kognitionspsychologischer Perspektive vorgestellt. Im Paradigma des klassischen Behaviorismus wird von Folgendem ausgegangen: © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
3.3 Verhaltenstherapie – Historische Wurzeln, Paradigmen und Konzepte 57 »Die Individualität des einzelnen Menschen liegt in seiner individuellen Lerngeschichte begründet. Diese Lernprozesse werden zumeist als Lernen von Verknüpfungen zwischen situativen Reizen und Reaktionen aufgefasst, d. h. die Lernarten der ›klassischen Konditionierung‹ und der ›operanten Konditionierung‹ […] werden als Lernvorgänge schlechthin betrachtet. Sie sind in ihren Bedingungen objektiv analysierbar. Vom Prinzip der allgemeinen Lerngesetzmäßigkeiten gesehen, nimmt der Mensch keine Sonderstellung ein« (Nolting u. Paulus, 1996, S. 155),
sondern kann, da diese Art von Lernen keiner mentalen Prozesse bedarf, auch bei Tieren beobachtet werden. Die Lerntheorien, welche mit diesem Paradigma gefasst werden, sind also durch die erwähnten folgenden zwei Prinzipien bestimmt: »Durch operante Konditionierung lernen Menschen, spezifische Verhaltensweisen mit Bestrafung oder Belohnung zu assoziieren. Sie können diese Assoziationen auch durch Beobachtungslernen aufbauen. […] Durch klassische Konditionierung lernen Personen, spezifische Situationen mit ganz bestimmten Folgen – zum Beispiel Angst – in Verbindung zu bringen« (Smith et al., 2007, S. 614).
Dieser klassisch behavioristische Ansatz wurde vor allem um den Einbezug kognitiver Theorien erweitert. Das kognitive Modell geht grundsätzlich ebenso von behavioristisch-lerntheoretischen Prinzipien aus (vgl. Comer, 2008). Allerdings gilt für die kognitive Psychologie, aus welcher sich wichtige, über die Annahmen des Behaviorismus hinaus gehende Fortentwicklungen der verhaltenstherapeutischen Theorie und Praxis abgeleitet haben, außerdem folgender Gedankengang: »Im Paradigma der kognitiven Psychologie vollzieht sich Lernen zunächst als Veränderung von Wissensstrukturen. Auch ohne teilnehmendes Verhalten werden Informationen aus der Umwelt aufgenommen, verarbeitet und gespeichert. Lernen ist nunmehr mit den Funktionen des Gedächtnisses verbunden und findet bereits statt, wenn noch keine sichtbare Veränderung des Verhaltens auftritt. Vielmehr lernt der Organismus, Objekte und Situationen zu kategorisieren und zu interpretieren. Es werden Begriffe gebildet, Regeln abgeleitet, und in Form von mentalen Abbildern der Wirklichkeit gespeichert. Anhand des erworbenen Wissens können neue Verhaltensweisen bei Bedarf geäußert werden, um zielge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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3 Verhaltenstherapie und Psychoanalyse richtet auf die Umwelt einzuwirken« (Lexikonredaktion des Verlags F. A. Brockhaus, 2009, S. 337).
Die Verhaltenstherapie ist also neben der Orientierung an lerntheoretischen Grundannahmen wenig durch theoretische (Vor-)Annahmen bestimmt (vgl. Kröner-Herwig, 2004; Vogel, 2005), dies aus der Überlegung heraus, dass verhaltenstherapeutische Methoden aufgrund empirischer Befunde zu ihrer Wirksamkeit angewendet werden sollen. Dies bedeutet, dass das integriert werden sollte, »was sich empirisch als wirksam erwiesen hat« (vgl. z. B. Daiminger, 2007). »Ganz im Sinne eines positivistischen Ansatzes kamen so immer wieder sehr unterschiedliche Methoden zum Einsatz, die weiterentwickelt und eingebaut wurden, wenn sie sich als wirksam erwiesen. Ähnliche Grundideen prägen aktuell in zunehmendem Maße das gesamte Gesundheitswesen; zumindest im Bereich der vertragsärztlichen Versorgung wird der Anspruch erhoben, dass nur solche Behandlungsmethoden eingesetzt werden, deren Wirksamkeit hinreichend belegt ist – das Schlagwort von der evidenzbasierten Medizin (EbM) gibt diesem Anspruch ein modernes Label« (Vorstand der DGVTu. Vorstand der AVM, 2004, S. 9).
Dieses Zitat verdeutlicht auch, dass die Verhaltenstherapie die EbM, wie in Kapitel 3.2 dargelegt, gegenwärtig im gesamten Gesundheitsbereich vorherrschend, ebenfalls zu ihrem Hauptforschungsparadigma ernannt hat. Lazarus (1961) schlug in einer Extremposition die Einführung einer »Breitspektrum-Verhaltenstherapie« (zit. nach Margraf, 2009a, S. 19) vor, in die Techniken mit empirischer Wirksamkeit ohne Rücksicht auf ihre theoretische Herkunft integriert werden sollten. In der Praxis wurde dieser Ansatz von immer mehr Kliniker/-innen aufgegriffen, allerdings auch kritisiert (vgl. Margraf, 2009a). Was empirische Wirksamkeit bedeutet, richtet sich also nach den Kriterien der EbM. Methodologische Probleme ergeben sich diesbezüglich, wie z. B. vom Vorstand der DGVT und der AVM (2004) angemerkt, daraus, dass die meisten existierenden Studien zur Wirksamkeit unter Laborbedingungen, teils mit hochselektiven Stichproben, durchgeführt wurden und ein Mangel an »alltagsbezogenen Studien (Effectivenessforschung; in der Medikamentenfor© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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schung als Phase IV-Forschung bezeichnet) [zu verzeichnen ist, wodurch diese nur begrenzt] Gültigkeit für den Versorgungsalltag beanspruchen können« (S. 11). Nach Kröner-Herwig (2004) ist zudem »die Wirksamkeit von Verhaltenstherapie besser beforscht als ihre Wirksamkeitsmechanismen. […] Dieser Zustand hat seinen Grund in der Schwierigkeit, einzelne Prozesse und Wirkkomponenten isoliert analytisch zu erfassen, weil zumeist komplexe Interventionspakete eingesetzt werden. Grundsätzlich begründet jedoch auch die Komplexität des vermaschten Regelkreises [sic] ›Mensch‹ die Begrenztheit der Analysemöglichkeiten« (S. 22).21
Weiter ist eine starke Orientierung an der empirischen, akademischpsychologischen Grundlagenforschung festzuhalten (vgl. Watzke, 2002; Vogel, 2005; Kap. 3.1). Vor allem in den Anfängen der Verhaltenstherapie waren die Entwickler/-innen verhaltenstherapeutischer Techniken, wie Skinner (Entwicklung operanter Methoden), häufig selbst nicht klinisch-therapeutisch tätig, sondern der experimentellen Grundlagenforschung innerhalb der akademischen Psychologie zuzuordnen (vgl. Margraf, 2009a, S. 15).22 Zur wissenschaftstheoretischen Selbstverortung der Verhaltenstherapie kann zusammengefasst festgehalten werden, dass diese gekennzeichnet ist durch einen positivistischen Ansatz in der Tradition des Behaviorismus. Weiter sollen empirische Erkenntnisse, von denen davon ausgegangen wird, dass ihre Prinzipien im historischen Kontext (weitgehend) konstant bleiben, naturwissenschaftlich-evidenzbasiert erforscht werden. Damit ist diese therapeutische Richtung der EbM verpflichtet. Für den Gegenstand bzw. die Theorie der Verhaltenstherapie kann festgehalten werden, dass es sich um eine Gruppe von Interventionsmethoden handelt, welche eine offene Grundorientierung sowie ein lerntheoretisches Verständnis für die Genese und die 21
Zur Kritik daran bzw. zur Forderung nach »naturalistischen Studien« vgl. z. B. Leuzinger-Bohleber (2002, S. 12 f.). 22 Auch gegenwärtig erfolgen selbst in der klinischen Psychologie einer Erhebung von Fischer und Möller (2006) zufolge Ausschreibungen oftmals nicht mit der Vorgabe einer psychotherapeutischen Ausbildung der Bewerber/-innen als Voraussetzung für eine Stellenvergabe (zur Problematik dessen vgl. Fischer u. Möller, 2006). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Therapie von Störungen aufweisen. Diese sollen aufgrund empirischer Befunde zu ihrer »Wirksamkeit« – orientiert am quantitativempirischen (idealtypisch) experimentellen Forschungsparadigma – angewendet werden. Im Folgenden soll auf die eingangs erwähnte, historisch für deren Entwicklung wichtige theoretische Annahme der Verhaltenstherapie eingegangen werden, da hierin eine zentrale epistemologische Perspektive dieser Richtung zum Ausdruck kommt ; auch wenn diese Sichtweise durch neuere theoretische Konzeptionen in der Zwischenzeit relativiert wurde (vgl. z. B. Margraf, 2009a). Innere psychische Prozesse sind dieser Annahme zufolge zu klein, um direkt beobachtbar zu sein und sollten deshalb nicht empirisch untersucht werden. Lediglich die Ebene gezeigten Verhaltens sollte empirisch(-experimentell) beforscht werden. Anhand der daraus gewonnenen Befunde können standardisierte, auf verschiedene Störungen ausgerichtete Behandlungsmethoden und -techniken entwickelt werden. Overskeid (2007) beispielsweise beschreibt diese Überlegung als eine der theoretischen Prämissen Skinners, wie erwähnt eine/-r der prominenten Vertreter/-innen der klassischen Verhaltenstherapie, sowie insgesamt behavioristischer Ansätze und führt deren Entstehung – in Abgrenzung zur bis dato in der Psychologie vorherrschende Methode der Introspektion – darauf zurück. Diese Annahme Skinners (und anderer) sei analog zu sehen z. B. zu den Überlegungen Machs, eines Physikers des 19. Jahrhunderts, bezogen auf Atome und deren Erforschung. Von ihm war Skinner, Overskeid (2007) zufolge, theoretisch stark beeinflusst: »Because atoms were too small to be observed directly, the atomic hypotheses seemed to Mach unwarrantly by experimental observations (see Kockelmans, 1968). The behaviorist attitude to mental representations seems related« (p. 591).
So entwickelte sich »a source of support for a biologically based psychology divorced from introspection« (Overskeid, 2007, p. 591). Die klassische Verhaltenstherapie beschränkte sich primär auf die Ebene gezeigten und somit direkt beobachtbaren Verhaltens, da davon ausgegangen wurde, dass die davor in der Psychologie geläufige In© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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trospektion (prominenter Vertreter: W. Wundt) eine nicht hinreichend operationalisierbare und damit, wie erwähnt, in einem streng naturwissenschaftlichen Sinne unwissenschaftliche Methode sei (vgl. Bruder, 1982). Im Verständnis eines der Begründer/-innen der Verhaltenstherapie, Watson (1930/1997) ist dementgegen »Psychologie, wie sie ein Behaviorist sieht, […] ein vollkommen objektiver, experimenteller Zweig der Naturwissenschaft. Ihr theoretisches Ziel ist die Vorhersage und Kontrolle von Verhalten. Introspektion spielt keine wesentliche Rolle in ihren Methoden, und auch der wissenschaftliche Wert ihrer Daten hängt nicht davon ab, inwieweit sie sich zu einer Interpretation in Bewusstseinsbegriffen eignen. Bei seinem Bemühen, ein einheitliches Schema der Reaktionen von Lebewesen zu gewinnen, erkennt der Behaviorist keine Trennungslinie zwischen Mensch und Tier an« (S. 13).
Die Verhaltenstherapie bezieht sich in ihrer Theoriebildung somit nach klassischer Sichtweise explizit nicht auf nicht direkt beobachtbare Konzepte, wie z. B. das dynamische »Unbewusste« der Psychoanalyse (s. Kap. 3.4; vgl. z. B. Wassmann, 2006; Vogel, 2005).23 In diesem Sinne handelt es sich bei der Verhaltenspsychologie bzw. -therapie um ein »portrayal of scientific endeavor as the pursuit of tools for the control of life problems rather than a search for timeless truths« (Overskeid, 2007, p. 591). Zusammengefasst kann für die klassische Methode der Verhaltenstherapie also Folgendes gelten: »Die Verhaltenstherapie trachtet danach, die Verhaltensweisen zu identifizieren, die die Probleme einer Person verursachen, und sie durch angemessenere zu ersetzen, wobei die Prinzipien klassischer oder operanter Konditionierung oder des Modelllernens angewendet werden« (Comer, 2008, S. 65).
Kröner-Herwig (2004) bezeichnet die Verhaltenstherapie entsprechend unter anderem als »Verfahren zur Behandlung von Gewohnheiten« (S. 51) im Sinne von Verhaltensweisen. Margraf (2009a) zufolge wurde jedoch insbesondere aus Versuchen 23 Ein Faktum, das die Eingängigkeit und Verständlichkeit dieser Therapieform auch für Nichtexpert/-innen möglicherweise erhöht (vgl. Kap. 5.3).
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der Behandlung von Depressionen neben der Beobachtung und Behandlung gezeigten Verhaltens »die Bedeutung kognitiver Faktoren zunehmend deutlicher« (S. 19), eine Erkenntnis, die schließlich in der sogenannten »kognitiven Wende« (Margraf 2009a, S. 19) in den 1970er bis 1980er Jahren mündete. Im Zuge dessen fand eine Abkehr von rein behavioralen Ansätzen statt. Die Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) etablierte sich, in welcher innere Prozesse, allerdings vorwiegend bewusstseinsfähige, Eingang in Forschung und Behandlung fanden (vgl. z. B. Kröner-Herwig, 2004; zentrale Vertreter: Beck, Ellis, Meichenbaum).24 So ist auch diese Weiterentwicklung der klassischen Verhaltenstherapie, die »kognitive Verhaltenstherapie – wie schon der Name sagt – in erster Linie Therapie des bewussten Denkens […] durch bewusste Prozesse, so bedeutet die Anerkennung eines Unbewussten schon eine Einschränkung kognitiv-verhaltenstherapeutischer Theorien (und damit Therapien). Auch wissenschaftstheoretisch tut sich die dem einheitswissenschaftlichen Diktum des logischen Empirismus […] ergebene Verhaltenstherapie mit diesem Gegenstand schwer, da die daraus abgeleiteten nomologischen Methoden eben diesem Gegenstand schwer gerecht werden können« (Vogel, 2005, S. 46).
Watson beispielsweise, einer der Gründungsväter der Verhaltenstherapie, war dem Gedanken an ein nicht versprachlichtes Denken (»Denken« als implizites Sprechen bzw. implizites motorisches Verhalten) durchaus nicht abgeneigt, ausgehend von der Überlegung, dass »ein Sachverhalt, der keine derartige stellvertretende Entsprechung gefunden hat, dem Denken verschlossen« (Neel, 1983, S. 148) bleibt. Er kam jedoch zu dem Schluss, dass sich dieses damit – in der beschriebenen verhaltenstherapeutischen Logik – schlicht der Erforschung entzöge. Diese Überlegung, ebenso wie Begrifflichkeiten wie 24
Unter KVT werden verschiedene kognitive und behaviorale Therapieansätze zusammengefasst, die insbesondere auf die Entwicklungsarbeiten von Beck (Beck, Rush, Shaw u. Emery, 1979) und Lewinsohn (vgl. Lewinsohn, Munoz u. Youngren, 1979) zurückgehen. Es liegen zahlreiche Publikationen und manualisierte Veröffentlichungen für unterschiedliche Ziel- und Patient/-innenengruppen vor (vgl. Hautzinger, 2003). Es handelt sich um eine strukturierte, problemorientierte Psychotherapie. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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das »implizite Lernen« (im Sinne von sprachlich nicht mitteilbarem Lernen, vgl. Vogel, 2005, S. 47), das »implizite Gedächtnis« (Vogel, 2005, S. 47; prozessuales im Gegensatz zum deklarativen Gedächtnis) oder »automatische Prozesse« (Vogel, 2005, S. 47; z. B. automatische Gedanken nach Beck; vgl. Beck, Rush, Shaw u. Emery, 1979) haben nur sehr entfernt mit dem theoretisch elaborierten Begriff des »dynamischen Unbewussten« in der Psychoanalyse zu tun (vgl. nachfolgendes Kap. 3.4). Auch neuere Entwicklungen, wie die Schematheorie bzw. -therapie beziehen sich auf die kognitive Ebene innerer Prozesse. So wird davon ausgegangen, dass Schemata in früher Kindheit erworben werden und sogenannte »kognitive Einheiten« (Vogel, 2005, S. 48) darstellen. Zur Gefahr eines unscharfen Begriffsgebrauches bzw. einer ungenauen Konzeptualisierung innerer Vorgänge in solch neueren Ansätzen merken Jaeggi, Rohner und Wiedemann (1999) an: »Besonders schwierig wird es, wenn das Konzept der ›automatisierten Gedanken‹ (Beck, 1979) in kognitive Theorien eingearbeitet wird. Oftmals wird dieses Konzept nämlich dem Unbewussten in der Psychoanalyse gleichgesetzt – offenbar eine Verkennung. Sofern das Unbewusste in der Kognitiven Therapie verwendet wird, handelt es sich um vor-freudianisches Verständnis. […] Im psychoanalytischen Rahmen wird der verborgene Sinn durch Deutung aufgedeckt, in der kognitiven Therapie wird nur auf die Irrationalität verwiesen und versucht, diese qua logischer Überzeugungskraft zu überwinden« (S. 150; vgl. auch z. B. Comer, 2008).
In diesem Sinne beschreibt Vogel (2005) Verhaltenstherapie in ihrer Methodik als einen »Versuch, Unbewusstes [eher verstanden als vorbewusste physiologische Prozesse] bewusst zu machen«, um sie der willentlichen Beeinflussung zugänglich zu machen, oder aber »Bewusstes unbewusst zu machen« (S. 49) im Sinne einer Unterstützung der »Errichtung von ›Unterdrückungsmechanismen‹ analog der in der Psychoanalyse konzipierten Abwehrmechanismen« (S. 49). Zunehmend wird auch die Beziehungsgestaltung in der verhaltenstherapeutischen Behandlung als eine relevante Einflussgröße auf den Therapieerfolg einbezogen (vgl. Margraf, 2009b, S. 485 ff.). Aller-
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dings wird darunter als »allgemeine Therapeutenvariable«25 (Vogel, 2005, S. 50 ff.; vgl. auch Grawe et al., 1994) bzw. als eine Art Basisoder Grundfertigkeit etwas wenig Spezifiziertes bzw. theoretisch Definiertes verstanden (Margraf, 2009b). Sie gilt eher als ein allgemeiner Wirkfaktor bzw. eine Voraussetzung für eine wirksame Anwendung verhaltenstherapeutischer Techniken im Sinne einer vertrauensvollen Therapeut/-in-Patient/-in-Beziehung: »In die Beziehungsgestaltung, deren Bedeutung die Verhaltenstherapie für die Wirksamkeit von Interventionen aller Art anerkennt, hat sie selbst keine eigenständigen ›Interventionen‹ eingebracht. Hierzu wurden aus anderen Therapierichtungen Methoden entlehnt. Akzeptanz und Empathie im Sinne beziehungsfördernder und klärungsfördernder Kompetenz sowie Transparenz des Vorgehens werden von Verhaltenstherapeuten als wichtige Basis für das therapeutische Vorgehen angesehen« (KrönerHerwig, 2004, S. 18).
Bezüglich ihrer Anwendungen sind die Störungsspezifität der Interventionen (Schulte u. Kröner-Herwig, 2005) sowie eine aktive und direktive Haltung der Therapeut/-innen kennzeichnend für diese Verfahrensgruppe (vgl. Comer, 2008; Margraf, 1999). Vogel (2005) fasst die Prinzipien der Verhaltenstherapie folgendermaßen zusammen: »1. einzelmethodenorientiert; 2. zielorientiert, 3. symptomorientiert, 4. transparent, 5. am Hier und Jetzt orientiert« (S. 65 f.; vgl. auch Watzke, 2002; Margraf, 2009a). Sicherlich gibt es, diese Auflistung betreffend, Varianten und Abweichungen (vgl. z. B. Margraf, 2009a). Für den Zweck dieser Untersuchung, die sich, wie erwähnt, nicht im Detail mit theoretischen Debatten bzw. empirischen Befunden bezüglich der untersuchten Therapierichtungen befassen kann, sondern auf die Wahrnehmung der Methoden durch eine bestimmte Personengruppe – Studierende – fokussiert, sollen solche richtungsinternen Debatten und Nuancen hier jedoch nicht weiter aufgegriffen werden. Zur Verortung der Verhaltenstherapie in der Forschungs- bzw. Anwendungslandschaft ist festzuhalten, dass diese aufgrund ihrer Orientierung an der EbM eine hohe »Passung« zum gegenwärtig im 25 Anders als die psychoanalytische Beziehungsgestaltung als eine elaboriert konzeptualisierte, zentrale Technik der psychoanalytischen Behandlung.
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Gesundheitsbereich vorherrschenden Wissenschaftsverständnis aufweist (vgl. vorheriges Kap. 3.2). Einem integrativen Therapieverständnis (Grawe et al., 1994), aktuell verschiedentlich diskutiert (vgl. Strauß et al., 2009), steht aus verhaltenstherapeutischer Perspektive wenig entgegen. In diesem Ansatz werden, wie weiter oben ausgeführt, Techniken integriert, welche sich nach EbM-Kriterien als wirksam erweisen, weniger wird, wie in der (klassischen) Psychoanalyse, beispielsweise ein bestimmtes Setting – theoretisch abgeleitet – für zentral gehalten. Die Frage, was wie wirkt, also eine theoretische Konzeptualisierung der Wirkfaktoren wird dabei oftmals eher für zweitrangig gehalten (vgl. z. B. Kröner-Herwig, 2004). Die im Psychotherapeutengesetz verankerte Verfahrensspezifität in Behandlung und Ausbildung ist aus dieser Perspektive nicht unbedingt sinnvoll bzw. notwendig. Sie wird teilweise sogar als »überholtes Psychotherapieverständnis, welches langfristig einem integrativen Psychotherapieverständnis weichen sollte« (Vorstand der DGVT u. Vorstand der AVM, 2004, S. 11) verstanden, auch, da häufig eher eine störungsspezifische Behandlung (im Unterschied zu einer verfahrensorientierten Behandlung, vgl. Strauß et al., 2009) für sinnvoll gehalten wird (Schulte u. Kröner-Herwig, 2005). Somit sind Vertreter/-innen dieser Richtung einem solchen Ansatz gegenüber meist eher aufgeschlossen. Aktuellen Befunden von Strauß et al. (2009) zufolge befürworteten beispielsweise sowohl verhaltenstherapeutische Lehrkräfte als auch Ausbildungsteilnehmende in dieser Verfahrensrichtung eine Erhöhung verfahrensübergreifender Ausbildungsbestandteile und damit einhergehender störungsspezifischer bzw. -orientierter Ansätze. Dazu bemerkt Vogel (2005): »Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Methoden-, Ziel- und Symptomorientierung sowie hohe Behandlungstransparenz und Gegenwartsorientierung die Verhaltenstherapie besonders für integrative Bemühungen prädisponieren« (S. 66).
Auf den psychoanalytischen Blickwinkel auf diese Thematik wird im nächsten Kapitel eingegangen. Weiter wird dieses Thema in der direkten Gegenüberstellung der Verfahrensrichtungen in Kapitel 3.5 noch einmal aus Perspektive beider Verfahrensrichtungen behandelt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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3.4 Psychoanalyse – Historische Wurzeln, Paradigmen und Konzepte »Psychoanalyse. Von Freud begründete Disziplin, in der man mit ihm drei Ebenen unterscheiden kann: […] Eine Untersuchungsmethode […]. Eine psychotherapeutische Methode […]. Eine Gesamtheit psychologischer und psychopathologischer Theorien« (Laplanche u. Pontalis, 1972, S. 410 f.).
Wie auch für die Darstellung der Entstehung und Entwicklung der Verhaltenstherapie im vorangegangenen Kapitel gilt, dass nicht detailliert auf die Entstehungsgeschichte und die zahlreichen Fortentwicklungen der Psychoanalyse eingegangen werden kann. Zu den Anfängen der Psychoanalyse kann festgehalten werden, dass sie sich relativ eindeutig auf den Beginn des 20. Jahrhunderts datieren lassen und anders als für die Entstehung der Verhaltenstherapie Sigmund Freud als Gründungsvater der Psychoanalyse benannt werden kann. Zaretsky (2005) zufolge war das Neue an der psychoanalytischen Theorie sensu Freud »an internal, idiosyncratic source of motivations peculiar to the individual« (p. 16). In Freuds Auffassung waren vor allem Umstände aus der Kindheit verantwortlich für daraus resultierende Wünsche und Impulse sowie Erfahrungen und Erinnerungen, die gemeinsam das »personale Unbewusste« (»personal unconscious«, Zaretsky, 2005, p. 16) bilden. Für die Entstehung der Psychoanalyse war diese Überlegung zentral. Das klassische Bild der Aufklärung eines rationalen, autonomen Subjekts wurde Zaretsky (2005) zufolge so um den Einbezug eines aus dem Unbewussten und dessen Wirkweisen resultierenden irrationalen Moments erweitert. »For the Enlightenment […] autonomy meant liberation from external authority via reason. […] [In der psychoanalytischen Konzeption] autonomy was acquiring a more personal and psychological cast […] the new conception of personal autonomy« (p. 110 f.),
dies durch ein Erlangen möglichst großer persönlicher Bewusstheit der (unbewussten) Einflüsse meist früher, prägender Erfahrungen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Ein irrationales Moment ist also in der psychoanalytischen Auffassung, neben der aus der Tradition der Aufklärung stammenden Zuschreibung von Rationalität, mit konstitutiv für die menschliche Existenz. Persönliche Autonomie sei neben politischer bzw. gesellschaftlicher nur über eine möglichst große Bewusstheit dieser unbewussten Dimensionen zu erlangen (vgl. Zaretsky, 2005). Wiederum anders als für die Verhaltenstherapie wird in der einschlägigen Literatur, neben einer engen Wechselwirkung von gesellschaftlichen Entwicklungen mit individuellen Dynamiken, oft die gesamte Geschichte der Psychoanalyse in einer Wechselwirkung mit gesellschaftlichen Verhältnissen betrachtet. So weist sie theoretisch in zweierlei Hinsicht starke Gesellschaftsbezüge auf (vgl. z. B. Busch, 2005; Haubl, 1997, 2008; Horn; 1989; Lorenzer, 1974; Reiche, 2004), worauf im nachfolgenden Kapitel (3.5) noch einmal eingegangen wird (vgl. auch Kap. 4.2 u. 4.3). Zum Gegenstand bzw. der Theorie der Psychoanalyse kann dagegen ebenfalls festgehalten werden, dass ihr kein einheitliches Theoriengebäude zugrunde liegt (Kriz, 2006, S. 25; LeuzingerBohleber, 2002; Solms, 2008). Seit ihrer Entstehung zu Zeiten Freuds haben sich viele Schulen und Strömungen entwickelt, was Solms (2008) beispielsweise geradezu als ein »Schlachtfeld theoretischer Unstimmigkeiten« (S. 813) bezeichnet. Da, auch daraus resultierend, zahlreiche Debatten über den »Common Ground« (vgl. z. B. Fonagy, 2001, 2002; Green, 2005; Kernberg, 2006a; Perron, 2001, 2002; Wallerstein, 2005a, 2005b) der Psychoanalyse existieren und diese nicht als homogenes Theoriengebäude gelten kann, kann in diesem Buch, wie auch für die Verhaltenstherapie, lediglich in grober Verallgemeinerung auf Grundzüge und Gemeinsamkeiten psychoanalytischer Epistemologie, Theoriebildung und Praxis eingegangen werden. Eine näherungsweise Einigung kann wohl am ehesten in Bezug auf den Gegenstand, oder, um mit Toulmin (1978) zu sprechen, die »Probleme« (S. 172) der psychoanalytischen Disziplin erzielt werden: Sie ist die Disziplin, die sich mit dem sogenannten (dynamischen) »Unbewussten« beschäftigt (vgl. z. B. LeuzingerBohleber, 2007; Schafer, 1976; Solms, 2008; Vogel, 2005). Laplanche und Pontalis (1972) definieren in ihrem Standardwerk das Unbewusste auf unterschiedliche Weisen, von denen hier lediglich
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die drei Hauptdefinitionen referiert werden sollen. Sie bestimmen es folgendermaßen: »A) Das Adjektiv ›unbewußt‹ wird mitunter gebraucht, um die Gesamtheit der im aktuellen Bewußtseinsfeld nicht gegenwärtigen Inhalte zu bezeichnen, und dies im ›deskriptiven‹, und nicht im ›topischen‹ Sinne, d. h. ohne zwischen den Inhalten der Systeme Vorbewußt und Unbewußt zu unterscheiden. B) Topisch gesehen bezeichnet ›unbewußt‹ eines der von Freud im Rahmen seiner ersten Theorie des psychischen Apparates beschriebenen Systeme: es wird von verdrängten Inhalten gebildet, denen der Zugang zum System Vorbewußt-Bewußt durch den Vorgang der Verdrängung (Urverdrängung und Nachdrängen) verwehrt ist. […] C) Im Rahmen der zweiten Freudschen Topik wird ›unbewußt‹ insbesondere adjektivistisch gebraucht; tatsächlich ist ›unbewußt‹ nicht mehr die Eigentümlichkeit einer speziellen Instanz, da es das Es und teilweise auch das Ich und Über-Ich bezeichnet« (S. 562).
Aus der Gegenüberstellung dieser drei unterschiedlichen Definitionen von »unbewusst« wird deutlich, dass es auch diesbezüglich unterschiedliche Lesarten gibt, bzw. eine Fortentwicklung der Konzeption des Unbewussten stattgefunden hat. Bereits Freud entwickelte seine zunächst eher topisch verstandene Konzeption des Unbewussten weiter zu einer die Instanzen übergreifenden dynamischen Wirkmacht (vgl. z. B. Laplanche u. Pontalis, 1972). Auch auf diese Thematik kann allerdings im Rahmen dieses Buches aus Gründen seiner thematischen Schwerpunktsetzung nicht näher eingegangen werden. Wichtig für die Konzeption der Psychoanalyse in einem allgemeinen Sinne ist jedoch Folgendes: »Wie Kant uns gewarnt hat, die subjektive Bedingtheit unserer Wahrnehmung nicht zu übersehen und unsere Wahrnehmung nicht für identisch mit dem unerkennbaren Wahrgenommenen zu halten, so mahnt die Psychoanalyse, die Bewußtseinswahrnehmung nicht an die Stelle des unbewußten psychischen Vorgangs zu setzen, welcher ihr Objekt ist« (Freud, 1915/1991, S. 269).
Die Psychoanalyse beschäftigt sich also mit der näherungsweisen Entschlüsselung, dem Aufdecken einer »unvollständige[n] und unzuverlässige[n] Wahrnehmung« (Freud, 1917a, S. 11, zit. nach Solms, 2008, S. 812) der (weitgehend unbewussten) inneren Realität durch © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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das Bewusstsein. In dieser »Grundlagenwissenschaft der Seele […] [geht es um ein möglichst weitgehendes] Verständnis der Verdunkelungsmechanismen« (Solms, 2008, S. 813). Wichtig für diesen Gedankengang ist, dass es sich aufgrund der immanenten Begrenztheit der Wahrnehmungsfähigkeit immer nur um eine Annäherung an die Realität handeln kann. »Das Reale wird immer ›unerkennbar‹ bleiben« (Freud, 1940a, S. 126 f., zit. nach Solms, 2008, S. 813). Freud (1915/1991) führt zudem dazu aus: »Wie das Physische, so braucht das Psychische nicht in Wirklichkeit so zu sein, wie es uns erscheint« (S. 269). Aus dieser Perspektive bezeichnet Solms (2008) »die psychoanalytische Methode [als] eine künstliche Wahrnehmungshilfe […], einem Mikroskop oder Teleskop nicht unähnlich, das darauf abzielt, die Effizienz der inneren Wahrnehmung so weit wie möglich zu erhöhen. Jedoch muss alles Neue, das dieses Instrument entdeckt, trotzdem zurückübersetzt werden in das Wahrnehmungsbild des Bewusstseins, was impliziert, dass die fundamentalen Eigenschaften des Unbewussten selbst immer und ausschließlich nur erschlossen werden können« (S. 813).
Um mit Butler (2003) zu sprechen, handelt es sich in dieser Vorstellung des Menschen also um ein »Subjekt, das sich nicht selbst begründet« (S. 28), dessen Entstehungsbedingungen nie vollständig erklärbar sind. Freuds Neuerung durch die Konzeption der Psychoanalyse bestand demzufolge zusammengefasst darin, »Bewusstsein und Rationalität als Epiphänomene gegenüber einem naturhaft blinden und sinnlosen Willen zu entlarven, der dem bewussten Ich ebenso vorausgesetzt ist wie aller Wissenschaft und Moral« (Mies u. Brandes, 1999, S. 1660, zit. nach Vogel, 2005, S. 34). Lear (1996) erklärt dies folgendermaßen : »Die Menschen erzeugen für sich und andere Bedeutungen, von denen sie kein direktes oder unmittelbares Bewußtsein haben. Die Menschen stellen mehr Bedeutung her, als sie zu handhaben wissen. Eben dies meinte Freud mit dem Unbewussten. Und welche triftige Kritik man auch immer gegen ihn oder gegen den psychoanalytischen Berufsstand richten kann, es trifft nach wie vor zu, daß die Psychoanalyse der beständigste und erfolgreichste Versuch ist, diese dunklen Bedeutungen verständlich zu machen« (S. 602). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Zusammenfassend kann zur Bedeutung des Begriffes »Unbewusstes« also festgehalten werden, dass damit die Vorstellung gemeint ist, dass Menschen Bedeutungen erzeugen, von denen sie kein direktes oder unmittelbares Bewusstsein haben, der Mensch demnach ein Subjekt ist, das sich nicht selbst begründet. Diese können mit Hilfe der psychoanalytischen Methode mittelbar und näherungsweise bewusst(er) gemacht werden. Wie auch die äußere Realität ist diese »innere« Realität einer Erforschung nur über das Bewusstsein vermittelt zugänglich (vgl. Abb. 2).
Abbildung 2: Zusammenfassende Veranschaulichung des Modells mittelbarer Annäherung an die innere (und äußere) Realität über das Bewusstsein (in Anlehnung an Lear, 1996) Anmerkungen: Abkürzungen UBW = Unbewusstes; BW = Bewusstsein
Weiter ist im psychoanalytischen Verständnis die (therapeutische) Beziehung zentral (vgl. z. B. Deserno, 1994; Luborsky, 1976), also die Frage, wie diese Bedeutung in der therapeutischen Interaktion zustande kommt bzw. entschlüsselt wird. Vor allem in neuerem psychoanalytischem Verständnis wird betont, dass dies dyadisch und prozessual geschieht und eine spezifische präkonzeptuelle Ordnung aufweist (vgl. Ellman 2010; Gendlin, 1987; Zwiebel, 2007). In der therapeutischen Beziehung, als einem interaktionellen Geschehen, wird mit Hilfe von Übertragungs- und Gegenübertragungsdynamik die idiosynkratische Entwicklungsgeschichte aufgearbeitet bzw. dem Bewusstsein zugäng© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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licher gemacht. Auch diese zentrale theoretische Annahme kann an dieser Stelle lediglich gestreift werden. Auf einschlägige Literatur, auch zur sogenannten »intersubjektiven Wende« (intersubjective turn) in der Psychoanalyse sei verwiesen (z. B. Altmeyer u. Thomä, 2006). Nun soll noch einmal folgendes im wissenschaftstheoretischen Kapitel 3.2 referierte Zitat aufgegriffen werden: »Die durch quantitative Methoden ermittelten Tatsachen, welche die Positivisten als die einzig wissenschaftlichen zu betrachten pflegen, sind oft Oberflächenphänomene, die die zugrunde liegende Realität mehr verdunkeln als enthüllen« (Horkheimer, 1967, S. 84). Für das »Unbewusste«, den Gegenstand der Psychoanalyse, mag diese Überlegung besonders relevant sein. Zur Wissenschaftlichkeit der Psychoanalyse bzw. ihrer Verortung in der Wissenschaftslandschaft kann festgehalten werden, dass diese sich in ihrer Selbstverortung oftmals als »Wissenschaft zwischen den Wissenschaften« (LeuzingerBohleber, 2002, S. 10) begriffen hat. Die Psychoanalyse wurde häufig als eine solche bezeichnet, da sie sich ihrem Forschungsgegenstand sowohl quantitativ als auch qualitativ, sowohl deduktiv als auch induktiv und sowohl naturwissenschaftlich als auch geisteswissenschaftlich26 nähert (z. B. Hau, 2009; Leuzinger-Bohleber, 2002). Innerhalb der psychoanalytischen Gemeinschaft gibt es nahezu seit ihren Anfängen unterschiedliche Positionierungen zu diesem Thema (vgl. Zaretsky, 2005). Verschiedene Strömungen vertreten diesbezüglich sehr gegensätzliche Positionen. Aktuell wird vielfach die Frage diskutiert, wie die Zukunft der Psychoanalyse sowohl im wissenschaftlichen Kontext als auch in ihrer praktischen Anwendung aussehen kann, soll und wird. Exemplarisch sei hier auf die Debatte Roger Perrons, eines Repräsentanten der französischsprachigen Psychoanalyse, und Peter Fonagys, einem eher Sichtweisen des anglosächsischen Raums vertretenden Psychoanalytiker (vgl. auch z. B. Schachter u. Luborsky, 1998) verwiesen.27 Die beiden sind prominente Vertreter sehr gegensätzlicher Auffassungen innerhalb der psychoanalytischen (Forschungs-)Ge26
Zur Problematik der Unterscheidung der Termini Natur- vs. Geisteswissenschaft vgl. z. B. Leuzinger-Bohleber (2002, S. 18; 2007, S. 971). 27 Vgl. »An Open Door Review of Outcome Studies in Psychoanalysis« der IPA (Fonagy, 2001; Fonagy , Gerber, Kächele, Krause, Jones, Perron, Allison, 2002). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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meinschaft, welche nachfolgend in komprimierter Form vorgestellt werden. Zunächst wird auf bestehende Übereinstimmungen zwischen den Autoren eingegangen. Im Anschluss werden vorhandene Kerndifferenzen referiert und schließlich eine möglicherweise integrative Position, vertreten durch Leuzinger-Bohleber (2007), vorgestellt. Perron und Fonagy stimmen darin überein, dass eine klarere epistemologische Basis der Psychoanalyse anzustreben ist. Ihre gemeinsamen Forderungen sind die nach einer Klärung und Präzisierung psychoanalytischer Konzepte, um eine wirklich gemeinsame Sprache zu entwickeln und nach innen und nach außen überzeugender zu sein. Ebenso bedauern beide die Isolation vieler Kolleg/-innen von anderen Disziplinen, vor allem von der Psychologie, und befürworten verstärkte Forschungsaktivitäten. Große Differenzen zwischen Perron und Fonagy existieren dagegen bezüglich der Einschätzung des Gegenstands der Psychoanalyse und dessen adäquater Erfassung bzw. Erforschung: Perron (2001, 2002) sieht als Gegenstand der Psychoanalyse die Übertragungs-Gegenübertragungsdynamik in der klinischen Situation bzw. die darüber erschlossene idiosynkratische Entwicklungsgeschichte und Struktur eines Individuums. Die adäquate Erfassung dessen erfolge über die klinische Einzelfallforschung. Wichtige Aspekte von Veränderung seien quantifizierenden Methoden kaum zugänglich (z. B. von pathologischem psychischem Leid zu »alltäglichem Unglücklichsein« im Freud’schen Sinn). Er sieht im Auflösen von Widersprüchen eine der Hauptaufgaben der psychoanalytischen Arbeit. In diesem Kontext erwähnt er das Konzept der »Nachträglichkeit«28. Die Frage nach dem realen Ereignis rücke in der Behandlung in den Hintergrund (Vidermann, 1971). Für Fonagy (2001, 2002) ist der Gegenstand der Psychoanalyse ebenfalls 28
Nachträglichkeit im psychoanalytischen Sinne bedeutet, dass ein vergangenes Ereignis unter dem Eindruck körperlicher und seelischer Entwicklungen zu einem späteren Zeitpunkt anders wahrgenommen und verstanden wird und somit auf der Erlebnisebene eine neue Bedeutung erlangt (vgl. z. B. Bohleber, 1992; Erdheim, 1993; vgl. auch Kap. 4.6). Dieses Konzept wird Perron (2002) zufolge in unterschiedlichen Sprachräumen verschieden verstanden (französisch: »aprÀs coup«: das Folgende beeinflusst das Vorangegangene; englisch: »deferred«: eher linearer Zeitstrahl), woraus sich ihm gemäß die unterschiedliche Auffassung auch von Psychoanalyse insgesamt in diesen Sprachräumen mit erklären lässt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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die Struktur und Geschichte eines Individuums. Er meint jedoch, dass die Gleichsetzung kognitiver Ansätze der Psychologie und psychoanalytischer Konzepte durchaus möglich ist (gefasst als mentales »Verhalten«). Die adäquate Erfassung gestalte sich folgendermaßen: Zur Hypothesengenerierung sei die klinische Einzelfallforschung anzuwenden, konfirmatorische, experimentelle Methoden dann zur Hypothesenüberprüfung. Für eine gute Operationalisierung sei eine möglichst spezifische (nicht globale) Formulierung von Konstrukten notwendig. Bezüglich der Einschätzung der Wissenschaftlichkeit der Psychoanalyse und ihres Wissenschaftsstatus ist festzuhalten, dass Perron (2002) die Psychoanalyse als spezifische Wissenschaft mit einem spezifischen Forschungsgegenstand – dem Unbewussten – sieht, welcher in der psychoanalytischen Einzelfallforschungstradition zu erfassen ist. Fonagy (2002) attestiert der Psychoanalyse, resultierend aus einem naturwissenschaftlichen Kriterienkatalog, dagegen momentan keinen Wissenschaftsstatus (engl. »science«), sondern eine Zwischenstellung zwischen Kunst und Wissenschaft (vgl. auch Grünbaum, 1987). Entsprechend verschieden sind die Einschätzungen der momentanen Bedrohungen der Psychoanalyse: Perron sieht die Aufgabe des Forschungsgegenstands der Psychoanalyse und die diesem angemessene Methode als Gefahr. Für eine adäquate Lösungsstrategie hält er, die spezifischen Inhalte der Psychoanalyse zu bewahren. Für ihn ist die qualitative (Einzelfall-)Forschung, wie erwähnt, die Methode der Wahl. Er sieht diesbezüglich keinen Änderungsbedarf. Die größte Gefahr für Fonagy ist dagegen die Nichtvernetzung mit anderen Disziplinen sowie der eingeschränkte Fokus auf die Einzelfallforschungsmethodologie. Die dort üblichen narrativen Berichte kritisiert er als so selektiv und subjektiv gefärbt, dass er deren wissenschaftliche Brauchbarkeit anzweifelt (dazu vgl. Beebe, Lachmann u. Jaffe, 1997; Krause, 1997). Dadurch komme es zu einer theoretischen Fragmentierung von innen, was mehr zum Verschwinden der Psychoanalyse beitragen werde als externe Herausforderungen. Er sieht die Psychoanalyse als mit den Disziplinen Neurowissenschaften, Genetik, Psychologie (v. a. Kognitionswissenschaften) und psychiatrischer Forschung verknüpfbar (vgl. auch Solms, 2008). Des Weiteren geht er von der Notwendigkeit experimenteller Wirksamkeitsforschung aufgrund der unter 3.2 beschriebenen Entwicklung zur EbM im Gesundheitswesen aus. In seiner Einschätzung der Zukunft der Psychoanalyse be© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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zieht sich Fonagy auf den Neurowissenschaftler Kandel (1998). Dessen Überlegung sei, dass die Psychoanalyse eine Zukunft nur im Rahmen der experimentellen Psychologie haben könne, zudem neurowissenschaftliche und genetische Erkenntnisse und Techniken integrieren müsse. Eingebettet in den Rahmen der Kognitionswissenschaften könnten die Ideen der Psychoanalyse getestet werden, hier könnten sie ihren größten Einfluss entfalten. Kandel (2005) selbst drückt dies folgendermaßen aus: »The future of psychoanalysis, if it is to have a future, is in the context of an empirical psychology, abetted by imaging techniques, neuroanatomial methods, and human genetics. Embedded in the sciences of human cognition, the ideas of psychoanalysis can be tested, and it is here that these ideas have their greatest impact« (p. 55).
Obwohl sich Perron und Fonagy einig sind, dass sich die ursprünglich von Freud entworfene und in der Zwischenzeit weiterentwickelte Metapsychologie (als generelle Theorie psychischen Funktionierens; vgl. auch Leuzinger-Bohleber, 2002) empirischer Überprüfung entzieht, kommen sie auch diesbezüglich zu einem sehr unterschiedlichen Schluss: Fonagy hält dies für fatal, da durch deren Nichtüberprüfbarkeit die Fragmentierung entstehe (vgl. auch Grünbaum, 1987), während Perron diese, ähnlich den ebenfalls nicht empirisch überprüfbaren Darwin’schen Evolutionstheorien, als sinnvollen theoretischen Rahmen der Psychoanalyse begreift, da »die fundamentalen Eigenschaften des Unbewussten selbst immer und ausschließlich nur erschlossen werden können. Zu diesem Zweck hat Freud eine abstrakte (nichtperzeptive) Wissenschaftssprache entwickelt – seine ›Metapsychologie‹ –, die als Vehikel dient, um das erschlossene Wissen über den nicht wahrzunehmenden Bereich des Unbewussten [der inneren Realität] zu vermitteln, den die psychoanalytische Methode erforscht« (Solms, 2008, S. 813; vgl. auch Leuzinger-Bohleber, 2002, S. 23 f.).
Die vorgestellte Kontroverse wirft die Frage nach angemessenen Forschungsmethoden für den Gegenstand der Psychoanalyse auf. Ist es so, dass quantifizierende Methoden, wie von Horkheimer im angeführten Zitat behauptet, den »Dingen an sich« oft gar nicht auf den Grund gehen und nur Oberflächenphänomene abbilden? Ist Psychoanalyse © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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eine »Technik, die es dunklen Bedeutungen und irrationalen Motiven erlaubt, an die Oberfläche des gewahrenden Bewusstseins zu steigen« (Lear, 1996, S. 615)? Was ist das »Spezifische« der Psychoanalyse? Gibt es so etwas? Oder kann mit Fonagy (2001, 2002) behauptet werden, dass verhaltenstherapeutische Techniken und Therapieergebnisse gleich gut mit verhaltenstherapeutischen oder psychoanalytischen Begrifflichkeiten beschrieben werden könnten? Was bedeutet die »kognitive Wende« in der Psychologie (und in der Verhaltenstherapie) auf konzeptueller Ebene für die Psychoanalyse? Theoriebildung geht jeder empirischen Forschung, ob implizit oder explizit, voraus, ist mit ihr verwoben (vgl. Kap. 3.2). Variablen existieren nicht »an sich«. Wie relevant ist diese Überlegung für den Gegenstand der Psychoanalyse? Wie viel »Empirie« braucht die Psychoanalyse? Und was sollte darunter verstanden werden? Eine von Leuzinger-Bohleber (2007) formulierte »Alternative besteht darin, den charakteristischen psychoanalytischen Erfahrungsbegriff und die damit verbundenen ›spezifischen Erfahrungen‹ und ›Erkenntniswerte‹ herauszuarbeiten und dadurch die Spezifität der psychoanalytischen Wissenschaft mit ihren charakteristischen Forschungsmethoden und ihren spezifischen Prüf- und Wahrheitskriterien im Kanon anderer, ebenso spezifischer Wissenschaften offensiv und selbstbewusst zu vertreten« (S. 973),
von ihr als kontinentaleuropäische Tradition identifiziert. Forschen und Heilen solle darin, Freuds Junktim-Ansatz gemäß, wieder mehr zusammen gedacht und verschiedene Arten von Forschung als sich sinnvoll ergänzend und nicht einander ausschließend betrachtet werden (vgl. auch Hau, 2009). Weiter sei an dieser Stelle die Überlegung von Leuzinger-Bohleber (2007) zur »forschenden Grundhaltung« in psychoanalytischer Praxis und Forschung als möglicher »Common Ground« der Psychoanalyse vorgestellt. Ihre Überlegung ist, ob es nicht »zur psychoanalytischen Kernidentität [gehöre], dass wir […] immer wieder versuchen, ›Nicht-Wissen‹ auszuhalten, jedem neuen Patienten in jeder neuen psychoanalytischen Situation mit der von Bion so eindrücklich beschriebenen Grundhaltung des ›no memory, no desire‹, einer immer neu zu erringenden, stimmigen Kombination von ›Anfängergeist‹ und ›Expertengeist‹ (Zwiebel) zu begegnen (vgl. dazu u. a. Abadi 2003; Schneider 2003; © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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3 Verhaltenstherapie und Psychoanalyse Canestri 2003; Odgen 1992; Ahumada u. di Medina 2004)?« (LeuzingerBohleber, 2007, S. 968).
Könnte diese Sichtweise eine Verbindung zwischen Theorie und Praxis sowie bezüglich der Integration verschiedener Forschungsansätze darstellen? Eine zu starke »Polarisierung« (Leuzinger-Bohleber, 2007, S. 969) in Heilen bzw. professionelles Handeln als eine Art Kunst bzw. ein Handwerk (vgl. Buchholz, 1999, 2006) und Forschung als »fast ausschließlich ›empirische Forschung‹« (S. 969) führt nach LeuzingerBohlebers Auffassung zum Verlust einer zentralen Gemeinsamkeit in psychoanalytischer Praxis und Forschung. Die oben beschriebene, auch bei klinischen Praktiker/-innen vorherrschende »Haltung des NichtWissens« (Leuzinger-Bohleber, 2007, S. 968) im Rahmen der psychoanalytischen Behandlung wird von ihr, analog zu einer möglichst unvoreingenommenen Herangehensweise bzw. Ergebnisoffenheit in der Forschung, als eben diese »forschende Grundhaltung« (LeuzingerBohleber, 2007, S. 969) identifiziert, welche eine sinnvolle JunktimForschung ermögliche. Verschiedene Formen psychoanalytischer Forschung (klinisch, konzeptuell, extraklinisch) sollten dabei als sich sinnvoll ergänzend und nicht als einander ausschließend betrachtet werden. Psychoanalyse sei eine »eigenständige Form der Feldforschung […] mit einer spezifischen Forschungsmethode, die ihrem spezifischen Forschungsgegenstand, unbewussten Phantasien und Konflikten, angemessen ist und über eigene Qualitäts- und Prüfkriterien verfügt« (Leuzinger-Bohleber, 2007, S. 970 f.). Darauf wird im Rahmen des Methodenteils dieses Buches noch einmal eingegangen (vgl. Kap. 8.8 u. 9.4). Zur Verortung der Psychoanalyse in der Forschungs- bzw. Anwendungslandschaft kann festgehalten werden, dass ein integrativer Therapieansatz aus (klassisch) psychoanalytischer Perspektive als wenig sinnvoll betrachtet wird, da durch eine theoretisch unreflektierte Anwendung verschiedener Methoden die Gefahr eines Professionalisierungsverlusts besteht (vgl. z. B. Leuzinger-Bohleber, 2002, S. 32).29 29
Leuzinger-Bohleber (2002, S. 32) betont in diesem Kontext, dass eine Verbindung von Theorie und Anwendung zentral ist: Anwendungen müssen sich aus der Theorie herleiten (vgl. auch Buchholz, 2003). So ist zu bedenken, dass die einzelnen Therapieverfahren über ein über Jahrzehnte hinweg entwi© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Auch gehen psychodynamische Verfahren im Unterschied zu verhaltenstherapeutischen Ansätzen eher selten störungsspezifisch oder störungsorientiert vor (eine Ausnahme ist zum Beispiel die übertragungsfokussierte Psychotherapie bei Borderlinepatient/-innen, vgl. z. B. Kernberg, Yeomans, Clarkin u. Levy, 2008), sondern leiten ihre Behandlungstechnik von einem (persönlichkeits- und kulturspezifischen) allgemeinen Modell psychischer Krankheiten ab.30 In der Untersuchung von Strauß et al. (2009) zeigte sich entsprechend, dass obgleich die Mehrheit der Befragten (Leitungen, Teilnehmende, Absolvent/-innen, Lehrkräfte, Fachleute) insgesamt eine verfahrensorientierte Ausbildung für sinnvoll halten, dies bei den psychodynamisch orientierten Befragten deutlich häufiger der Fall war. Die Autor/-innen kommen zu dem Schluss, dass dies mit unterschiedlichen Auffassungen von psychischen Störungen zusammenhängen könnte. »Es verwundert nicht, dass für eher störungsorientierte Ansätze deutlich mehr Offenheit unter verhaltenstherapeutisch orientierten Kolleginnen und Kollegen und AusbildungsteilnehmerInnen zu verzeichnen ist als unter den psychodynamisch orientierten, wo, aufgrund ganzheitlicher Veränderungsmodelle, nach wie vor störungsorientierte Konzepte eher die Ausnahme denn die Regel sind« (Strauß et al., 2009, S. 335).
Durch die beschriebene Etablierung der EbM auch im psychotherapeutischen Bereich in den letzten dreißig bis vierzig Jahren kam es jedoch zu einem radikalen Bedingungswandel der Situation der Psychoanalyse. Diese steht, wie dargestellt, mit ihrer (auch) qualitativeinzelfallorientierten Forschungs- und Behandlungstradition einer anders orientierten dominanten Forschungskultur sowie gesundheitspockeltes spezifisches Erfahrungswissen verfügen, so dass »ein ›zufälliges, eklektisches Zusammenwürfeln‹ von Wissensbestandteilen aus den verschiedenen Therapieschulen« (Strauß et al., 2009, S. 335), auch eine unreflektierte Übernahme verfahrensfremder Bausteine ohne eine Berücksichtigung der unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen und -methodischen Traditionen besagten Professionalisierungsverlust zu Folge haben könnte. 30 Doch wurden die Anwendungsfelder in den letzten Jahrzehnten stark erweitert und führten zu einem spezifischen Wissen für neue Gruppen von Patient/-innen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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litischen Gepflogenheiten gegenüber (vgl. Kap. 3.2). Die im Gesundheitsbereich momentan vorherrschende evidenzbasierte quantitative Medizin stellt psychoanalytische Forschung somit vor besondere Herausforderungen (z. B. Bruns, 2002; Hau, 2009; Küchenhoff, 2005, 2006). Es kam, Fonagy (2001, 2002) zufolge, vor allem durch die folgenden zwei Einflussfaktoren zu dem erwähnten Bedingungswandel der Situation der Psychoanalyse: • Fortschritte in Grundlagenwissenschaften, welche die klinische Arbeit unterstützen, die sogenannte »Neurobiologische Revolution« (z. B. Erforschung von Hirnfunktionen, Gen-Umwelt-Interaktionen, bildgebende Verfahren etc.) und deren Etablierung als »Leitwissenschaft« (vgl. Kap. 3.2). • Die Entwicklung effektiver Ansätze für verschiedene mentale Störungen, die vorher nur psychoanalytisch behandelt wurden: die sogenannte »kognitive Wende« in der Psychologie (vgl. Fonagy, 2001, 2002; vgl. auch Kap. 3.1)
3.5 Empirischer Positivismus versus hermeneutischer Konstruktivismus? – Eine vergleichende Gegenüberstellung psychoanalytisch und verhaltenstherapeutisch begründeter Verfahren »Das unerschütterliche Vertrauen in narrative Sinnstrukturen ist nicht weiter von einer selbstkritischen Forschung entfernt als das unerschütterliche Vertrauen in die objektiven Zahlen« (Leuzinger-Bohleber, 2002, S. 27).
Wie in den vorangegangenen Kapiteln ausgeführt, sind unter dem Dach der beiden Verfahrensrichtungen Verhaltenstherapie und Psychoanalyse eine Vielzahl unterschiedlicher theoretischer Konzepte sowie Behandlungsansätze aufzufinden.31 In diesem Kapitel erfolgt ihre 31
Der wissenschaftliche Beirat Psychotherapie (WBP) hat im derzeit gültigen Methodenpapier (Version 2.7 vom 09. 07. 2009) eine Unterscheidung getroffen zwischen einem Psychotherapieverfahren und einer Psychotherapiemethode sowie einer Psychotherapietechnik. Die entsprechenden Definitionen lauten wie © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
3.5 Empirischer Positivismus versus hermeneutischer Konstruktivismus?
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vergleichende Gegenüberstellung, ohne Anspruch auf diesbezügliche Vollständigkeit. Die prägnantesten Kennzeichen und vor allem die Unterschiede werden noch einmal herausgearbeitet und, auf den Anwendungsbereich der Verfahrensrichtungen bezogen, zusammenfassend dargestellt. Verschiedenen Autor/-innen zufolge könnten die philosophischen und epistemischen Wurzeln von Psychoanalyse und Verhaltenstherapie kaum unterschiedlicher sein, »eine Tatsache, die – oft vergessen – jenseits aller Effizienz-Argumente den derzeitigen ›Aufschwung‹ kognitiv-verhaltenstherapeutischer Verfahren begünstigt und die zunehmende Ausdünnung der Anwendung psychodynamischer Methoden komplementär vorantreibt« (Vogel, 2005, S. 16). folgt: »Psychotherapie-Verfahren. Ein zur Krankenbehandlung geeignetes Psychotherapie-Verfahren ist gekennzeichnet durch eine umfassende Theorie der Entstehung und Aufrechterhaltung von Krankheiten und ihrer Behandlung beziehungsweise verschiedene Theorien der Entstehung und Aufrechterhaltung von Krankheiten und ihrer Behandlung auf der Basis gemeinsamer theoretischer Grundannahmen, und eine darauf bezogene psychotherapeutische Behandlungsstrategie für ein breites Spektrum von Anwendungsbereichen oder mehrere darauf bezogene psychotherapeutische Behandlungsmethoden für ein breites Spektrum von Anwendungsbereichen, und darauf bezogene Konzepte zur Indikationsstellung, zur individuellen Behandlungsplanung und zur Gestaltung der therapeutischen Beziehung. Psychotherapie-Methode. Eine zur Behandlung einer oder mehrerer Störungen mit Krankheitswert geeignete Psychotherapiemethode ist gekennzeichnet durch eine Theorie der Entstehung und der Aufrechterhaltung dieser Störung bzw. Störungen und eine Theorie ihrer Behandlung, Indikationskriterien einschließlich deren diagnostischer Erfassung, die Beschreibung der Vorgehensweise. Zu den vom wissenschaftlichen Beirat als wissenschaftlich anerkannten Methoden gehört zum Beispiel die Eye-Movement-Desensitization and Reprocessing-Therapie (EMDR). PsychotherapieTechnik. Eine psychotherapeutische Technik ist eine konkrete Vorgehensweise, mit deren Hilfe die angestrebten Ziele im Rahmen der Anwendung von psychotherapeutischen Methoden und Verfahren erreicht werden sollen, z. B. im Bereich der psychodynamischen Verfahren: die Übertragungsdeutung zur Bewusstmachung aktualisierter unbewusster Beziehungsmuster, oder in der Verhaltenstherapie: Reizkonfrontation in vivo« (WBP, 2009, S. 4 f.). Vom WBP derzeit anerkannte Verfahren sind, wie eingangs ausgeführt, die psychodynamische Psychotherapie, die Verhaltenstherapie, die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie sowie die systemische Psychotherapie. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Diese Überlegung, welcher in den vorangegangenen Kapiteln nachgegangen wurde, stellt, wie ausgeführt, eine zentrale Grundlage dieser Untersuchung dar. Verhaltenstherapeutische Ansätze können wohl am ehesten in der Tradition des empirischen Positivismus verortet werden, während die psychoanalytische Richtung (auch) einen starken Bezug zu (de-)konstruktivistischen Ansätzen sowie einer eher hermeneutisch orientierten Tradition aufweist (vgl. Kap. 3.3 und 3.4; Butler, 2003; Daiminger, 2007; Reiche, 2004; Vogel, 2005). Unterschieden werden könnte, in Anlehnung an die Habermas’sche Unterteilung verschiedener erkenntnisleitender Projekte, zudem wohl ein eher »emanzipatorisches« Erkenntnisinteresse oder zumindest -image des Ansatzes der Psychoanalyse und ein eher »technisches« Erkenntnisinteresse bzw. -image des verhaltenstherapeutischen Ansatzes. Darauf wird später noch einmal ausführlicher eingegangen (vgl. Tab. 4). An dieser Stelle soll zunächst noch einmal gegenüberstellend das Verständnis von bzw. das Verhältnis zu »forces of which they [Menschen] are not conscious« (Overskeid, 2007, p. 592) als zentrales theoretisches Unterscheidungsmerkmal der Verfahren thematisiert werden. »Es geht – allgemein gesagt – um die Frage, ob das menschliche Subjekt auf seine bewussten Abläufe (evtl. plus körperlicher Vorgänge […]) reduzierbar ist, und zwar zum einen allgemein, zum anderen speziell in der psychotherapeutischen Situation« (Vogel, 2005, S. 31; vgl. auch Leuzinger-Bohleber, 2002).
Wichtig hierfür ist, dass die Vorstellung dessen, was bei »unobservable variables« (Overskeid, 2007, p. 594) nicht ins Bewusstsein dringt, wie ausgeführt, nicht demselben Konzept entspringt: Von Vertreter/-innen der Verhaltenstherapie, wie Skinner, werden hierunter eher physiologische und automatisierte Prozesse gefasst, während Vertreter/-innen der Psychoanalyse, wie Freud, mit dem dynamischen Unbewussten einen zentralen psychischen Funktionsmechanismus verbinden, welcher neben bewussten Vorgängen das Menschsein wesentlich mit konstituiert. Unter »system operating out of awareness« (Overskeid, 2007, p. 592) versteht Skinner eher physiologische und automatisierte Prozesse, die bei Freud wohl dem Vorbewussten, nicht aber dem Unbewussten zuzuordnen wären (vgl. Kap. 3.4). Die psychoanalytische Richtung hat »unobservable variables« entsprechend zum Gegenstand © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
3.5 Empirischer Positivismus versus hermeneutischer Konstruktivismus?
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ihrer Disziplin gemacht – theoretisch gefasst als das »Unbewusste« – während die andere Disziplin, zumindest in ihren behavioristischen Anfängen, diese explizit nicht zu ihrem Forschungsgegenstand machte bzw. zur Verhaltenserklärung (»explanation of behavoir«, Overskeid, 2007, p. 594) nutzen wollte. Es kann somit festgehalten werden, dass die beiden Verfahrensrichtungen unterscheidbare, sogar sehr verschiedene theoretische Ausrichtungen aufweisen, auch wenn einige Autor/innen, wie Overskeid (2007) der Auffassung sind, dass Theoretiker, wie »Freud and Skinner even emphasized the same basic causes of the human predicament: To a large extent, people are controlled by forces of which they are not conscious. Civilisation creates conflicts between unconsciously controlled tendencies on the one hand and cultural rules and practices on the other« (p. 592).
Jedoch betont auch Overskeid (2007), dass die Vorstellung dessen, was nicht ins Bewusstsein dringt, nicht gleichzusetzen ist: »There are clear differences between the unconscious realm described by Freud and that described by Skinner« (p. 592). Leuzinger-Bohleber (2002) merkt aufgrund dessen zur klinischen Forschung in den beiden psychotherapeutischen Richtungen an: »Bei den psychoanalytischen Verfahren wird, etwa verglichen mit behavioralen Therapien, die Komplexität noch größer, weil der Untersuchungsgegenstand nicht nur bewusste, sondern auch unbewusste Prozesse einschließt, die nur in einer konkreten Interaktion zwischen Analysand und Analytiker in der psychoanalytischen Situation systematisch beobachtet und untersucht werden können. Ein weiteres Charakteristikum der klinisch psychoanalytischen Forschung ist ferner, dass sich der Analytiker auf hierarchische Theoriensysteme bzw. ›eine Hierarchie von theoretischen Überzeugungszusammenhängen‹ ([Hampe, 2001, S.] 329) bezieht« (LeuzingerBohleber, 2002, S. 21 f.).32
Zusammenfassend könnte man die Verhaltenstherapie somit vielleicht 32
Eine Nicht-Berücksichtigung der unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen und methodischen Hintergründe der Verfahren und des jahrzehntelang erworbenen Erfahrungswissens in einem spezifischen Verfahren birgt LeuzingerBohleber (2002) zufolge, wie bereits erläutert, zudem die Gefahr des erwähnten Professionalisierungsverlusts. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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3 Verhaltenstherapie und Psychoanalyse
eher als einen bestimmten (mehr oder weniger bewussten) Umgang mit Erinnerung, die Psychoanalyse dagegen eher als eine bestimmte Erschließungsform der Geschichte bezeichnen (vgl. auch Grösche, 1982). Eingegangen wird nachfolgend in komprimierter Form auf theoretischkonzeptionelle sowie anwendungsbezogene Prinzipien und Grundlagen von Psychoanalyse und Verhaltenstherapie in einer vergleichenden Gegenüberstellung. Behandelt werden Grundprinzipien, das methodologische sowie das ätiologische Grundverständnis, erkenntnistheoretische Positionen, an den Verfahrensrichtungen geäußerte Kritik, sowie Anwendungen (Prozessvariablen) dieser. In Form eines Exkurses wird zum Abschluss des Kapitels der Anspruch beider Verfahrensrichtungen aufgegriffen und vergleichend analysiert, aus ihrer jeweiligen Perspektive eine besonders demokratische Behandlungsform darzustellen. Tabelle 1: Grundprinzipien Verhaltenstherapie a 1.) Orientiert an empirischer Psychologie 2.) Problemorientiert, störungsorientiert
3.) Ansetzen an prädisponierenden, auslösenden und aufrechterhaltenden Faktoren
4.) Zielorientiert 5.) Handlungsorientiert (praktische, konkrete Handlungsempfehlungen) 6.) Nicht auf therapeutisches Setting beschränkt (Alltagsintegration, Hausaufgaben) 7.) Transparent (aufgeklärte/-r, aktive/-r Patient/-in) 8.) Direktivität, »Hilfe zur Selbsthilfe« (anleiten, ermutigen), »aktives« Therapeut/-innenverhalten (Fähigkeiten trainieren etc.)
Psychoanalyse b 1.) Keiner Fachdisziplin (eindeutig) zugeordnet (orientiert an psychoanalytischer Theorie und Forschung) 2.) Individuumorientiert, idiosynkratisch orientiert (jeder Fall ist anders, sichtbar z. B. an nachgeordneter Bedeutung von Diagnostik für die Behandlung) 3.) Verstehen von unbewussten Konflikten und Erlebnismustern in lebensgeschichtlichem Zusammenhang (über Konfrontation mit innerpsychischem Fokus (Konflikte, Widerstände) und Klarifikation/Interpretation im Sinne des Aufdeckens bislang unzugänglicher Krankheitsursachen (Unbewusstes) durch Übertragungsdeutung) 4.) Ergebnisoffen (vgl. Diagnostik), »no memory, no desire, no understanding« (sensu Bion) 5.) Nicht primär handlungsorientiert 6.) (Klassisch) auf therapeutisches Setting beschränkt (Projektionsmöglichkeit, Übertragungsdeutung) 7.) »Nichtwissen« (beider Seiten) als produktives Element der Therapie (intersubjektiver Erkenntnisgewinn) 8.) Nondirektivität, »passives« Therapeut/-innenverhalten, Neutralität und Abstinenz des/-r Therapeuten/-in (Projektions-/Übertragungsmöglichkeit maximierend)
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3.5 Empirischer Positivismus versus hermeneutischer Konstruktivismus?
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(Fortsetzung) 9.) Bemüht um ständige Weiterentwicklung 10.) Einzelmethodenorientiert (bewährte Verfahren)
9.) Bemüht um ständige Weiterentwicklung 10.) Offenheit in Behandlungsmethodik, »prozessuell-adaptiv« (Übertragung als zentrale Behandlungsvariable, Beziehungsanalyse) 11.) Gegenwartsorientiert (am »Hier und Jetzt« 11.) Biographieorientiert (besonderer Fokus auch außerhalb der therapeutischen Situation) auf Kindheit im »Hier und Jetzt« des therapeutischen Settings) 12.) Symptomorientiert (Symptombehand12.) Ursachenorientiert (Selbsterkenntnis, lung und Diagnostik zentral) »selbsterforschende Grundhaltung«) 13.) Haltung des »Wissens« des/-r Therapeu- 13.) Haltung des »Nichtwissens« des/-r Therapeuten/-in; »bottom-up«; zirkulärer Erkenntten/-in (Störungs- und Methodenwissen), nisprozess; Wissensvermittlung des/-r Therapeuten/-in (Psychoedukation), »top-down« (»kompeten- Kompetenz des/-r Therapeuten/-in: wahrnehte/-r Forscher/-in«), Kompetenz des/-r Thera- mungsgeschult bzgl. (Gegen-)Übertragung peuten/-in: geschult in störungsspezifischen und deren Deutung Techniken, Methoden, Übungen 14.) Fokussierung von Emotionen und 14.) Fokussierung der Verhaltensebene therapeutischem Beziehungsgeschehen in (Gedankens- und Verhaltensanalyse und systematische Anwendung von dazu passenden Kombination mit Verhalten (ganzheitliche Mikrobeobachtungen); Einbezug unbewusster Techniken und Übungen); Lernen und Prozesse in Therapie Verlernen in Therapie zentral
Anmerkung: Diese Aufstellung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, lediglich die womöglich prägnantesten Unterschiede wurden aufgegriffen. a modifiziert nach Margraf (2009a, S. 6 f.); Ergänzungen in Anlehnung an Vogel (2005, S. 29; S. 65 f.) und Leuzinger-Bohleber (2007); b in Anlehnung an Leuzinger-Bohleber (2007); Vogel (2005); Watzke (2002); »no memory, desire, understanding« (Bion, 1970, S. 129).
Bezüglich der Grundprinzipien der beiden Richtungen (vgl. Tab. 1) ist festzuhalten, dass sich die Verhaltenstherapie an einer bestimmten universitären Fachdisziplin, der empirischen Psychologie orientiert, während die Psychoanalyse keine solch eindeutige Zuordnung zu einer bestimmten Disziplin aufweist (vgl. Kap 3.1, 3.3 u. 3.4). Weiter kennzeichnet die Verhaltenstherapie eine zielorientierte Herangehensweise (Ziele und Behandlungsplan werden vor bzw. bei Behandlungsbeginn formuliert), die Psychoanalyse eine eher ergebnisoffene Haltung und eine Offenheit in der Behandlungsmethodik. In der Psychoanalyse wird eher individuumorientiert vorgegangen, ausgehend davon, dass die idiosynkratische Entwicklungsgeschichte und deren Einzigartigkeit in der Behandlung intersubjektiv zu verstehen ist (»Ursachenforschung«). Dagegen wird in der Verhaltenstherapie eher symptom- bzw. problemorientiert vorgegangen, ausgehend davon, dass unterschiedliche Techniken bzw. Methoden für verschiedene, nach Symptomatiken klassifizierbare psychische Krankheiten (Störungen) anzuwenden sind. Eine Wissensvermittlung (Psychoedukation) bezüglich einer bestimmten diagnostizierten psychischen Krankheit sowie störungsbezogene Techniken, Methoden und Übungen soll durch eine/-n dies© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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bezüglich kompetente/-n Therapeuten/-in erfolgen. Die Kompetenz des/-r Therapeuten/-in besteht in Störungswissen und dem Wissen über dafür anwendbare Methoden. In der Psychoanalyse ist eine Haltung des »Nichtwissens« des/-r Therapeuten/-in zentral. Die Kompetenz des/-r Therapeuten/-in besteht darin, dass er/sie besonders wahrnehmungsgeschult bezüglich des Phänomens der (Gegen-)Übertragung und deren Deutung ist. Ergebnisoffenheit und »Nichtwissen« gelten als produktive Elemente dieser Therapie, da sie eine Annäherung über Phantasien und Konflikte ermöglichen. Ein weiteres wichtiges Unterscheidungsmerkmal ist, dass die Verhaltenstherapie primär am »Hier und Jetzt« orientiert, ist, während in der Psychoanalyse stärkere Rückbezüge der Dynamik in der aktuellen Behandlungssituation zu biographisch Vergangenem erfolgen. Die zentrale psychoanalytische Behandlungsmethode ist die Arbeit mit Übertragung und Gegenübertragung in einem (meist) genau festgelegten, stabilen Setting, in der Verhaltenstherapie werden einzelmethodenorientiert, nach Verfahren, die als empirisch bewährt gelten, unter Anleitung des/-r Therapeuten/-in aktive Trainings auch außerhalb des psychotherapeutischen Settings durchgeführt. Zudem werden Hausaufgaben gegeben.
Tabelle 2: Methodologisches Grundverständnis a und Wissenschaftsverständnis Verhaltenstherapie b 1. Prinzip: Suche nach Gesetzmäßigkeiten (möglichst: Erklärung und Prognose), nomothetisch
Psychoanalyse c 1. Prinzip: (klassisch) eher einzelfallorientiert in psychoanalytischer Situation, idiographisch, Generalisierung über Fallfamilien (aggregierte Einzelfallstudien) und nomothetisch (z. B. extraklinische Forschung) 2. Prinzip: Beobachtbarkeit (aber auch Einbe- 2. Prinzip: in klinischer Forschung möglichst zug von »innerem Verhalten« im kognitiv ver- gute Annäherung an innere Realität (Unbewusstes) haltenstherapeutischen Sinne) 3. Prinzip: Operationalisierbarkeit (Theorien 3. Prinzip: theoretische Fundierung und Openur sinnvoll, wenn möglichst nahe an Opera- rationalisierbarkeit (Theorien (auch) als metationalisierungen dieser für deren Überprüfbar- psychologischer Rahmen für Behandlung sinnvoll (z. B. analog Evolutionstheorie)) keit) 4. Prinzip: empirische Testbarkeit 4. Prinzip: spezifischer Empiriebegriff im Sinne von (gemeinsamer) Feldforschung (Devereux) und Gegenstandsangemessenheit (Komplexität des Forschungsgegenstands, Sinnperspektive) 5. Prinzip: experimentelle Prüfung 5. Prinzip: intersubjektive Überprüfung und experimentelle Prüfung
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3.5 Empirischer Positivismus versus hermeneutischer Konstruktivismus? (Fortsetzung) 6. Prinzip: medizinisches Denken (kassenkompatibel, symptomreduzierend, einleuchtend), EbM (RCTs als Forschungsoptimum)
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6. Prinzip: medizinisches, aber auch heuristisch geisteswissenschaftliches und sozialwissenschaftliches Denken (auch Kritik an EbM und RCTs)
Anmerkung: Diese Aufstellung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, lediglich die womöglich prägnantesten Unterschiede wurden aufgegriffen; idiographischer vs. nomothetischer Forschungsansatz (vgl. z. B. Revenstorf, 2005; Vogel 2005 S. 16 ff.); a Logik der Methoden, nicht der Methodik; b modifiziert nach Margraf (2009a, S. 8), Ergänzungen in Anlehnung an Daiminger (2007, S. 212); c in Anlehnung an Leuzinger-Bohleber (2007), Perron, 2002 (zu 1. Prinzip: extraklinische Forschung, s. Modell von Leuzinger-Bohleber, 2007, S. 974; vgl. auch Devereux, 1978).
Zum methodologischen Grundverständnis der Verfahrensrichtungen (vgl. Tab. 2) ist festzustellen, dass sie sich insbesondere in der Einschätzung unterscheiden, wie sinnvoll bzw. gegenstandsangemessen die qualitative Einzelfallforschung für den Bereich der Psychotherapie ist. Während in der Verhaltenstherapie ein nomothetisches, an evidenzbasierter Medizin (EbM) orientiertes Wissenschaftsverständnis vorherrscht, gilt für die psychoanalytische Forschung ein einzelfallorientiertes (d. h. idiographisches) Vorgehen – je nach Fragestellung – ebenfalls als sinnvoll. Neben medizinischem Denken sind hier auch heuristisch-geisteswissenschaftliche sowie sozialwissenschaftliche Denkansätze aufzufinden, worin ein spezifischer Empiriebegriff der Psychoanalyse zum Ausdruck kommt. Weiter gelten in der Verhaltenstherapie RCTs als »Forschungsoptimum«, während dies aus psychoanalytischer Perspektive eher kritisch bewertet wird (vgl. Tab. 2 u. Tab. 5). In der Verhaltenstherapie gilt die Operationalisierbarkeit von Theorien als deren zentrales Qualitätsmerkmal, während in der Psychoanalyse stärker auch metatheoretische Elemente als sinnvoll und notwendig betrachtet werden (zur gegenwärtigen regen Kontroverse darum, vgl. Kap. 3.4). Tabelle 3: Ätiologisches Grundverständnis und daraus resultierende Behandlungsziele Verhaltenstherapie a 1.) Prädisposition (Vulnerabilität, Diathese, Auffälligkeit) 2.) Auslösende Bedingungen 3.) Aufrechterhaltende Bedingungen 4.) Gesundheitsfördernde und schützende Bedingungen
Psychoanalyse b 1.) Frühkindliche Genese durch Abwehr, daraus resultierende unbewusste Einflüsse (unbewältigte und überwiegend unbewusste Konflikte und Erlebnismuster) 2.) Auslösende Bedingungen mit Indikatorfunktion für Unbewusstes 3.) Aufrechterhaltende Bedingungen mit Indikatorfunktion für Unbewusstes 4.) Gesundheitsfördernde und schützende Bedingungen
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3 Verhaltenstherapie und Psychoanalyse
(Fortsetzung) 5.) Lernbedingungen, Soziales und Psychisches gehen in Lerngeschichte ein und führen zu Pathologie mit bestimmter Symptomatik, Reduktion dessen ist Ziel
5.) Bislang unzugängliche (unbewusste) Krankheitsursachen aufdecken, damit einhergehende Symptomreduktion als Nebeneffekt
Anmerkung: Diese Aufstellung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, lediglich die womöglich prägnantesten Unterschiede wurden aufgegriffen, a modifiziert nach Margraf (2009a, S. 9), Ergänzungen in Anlehnung an Daiminger (2007, S. 212); b vgl. z. B. Leuzinger-Bohleber (2007); Solms (2008).
In ihrem ätiologischen Grundverständnis geht die Verhaltenstherapie (in einem Diathese-Stress-Modell) davon aus, dass eine persönliche Disposition für eine bestimmte psychische Krankheit geben kann (vgl. Tab. 3). Weiter geht sie von auslösenden und aufrechterhaltenden sowie gesundheitsfördernden und schützenden Bedingungen aus. Aufgrund einer bestimmten Lerngeschichte und einer möglichen biologischen Disposition kann so in Interaktion mit in der Gegenwart vorhandenen Auslösern aus der Umwelt eine spezifische Symptomatik bzw. Pathologie entstehen, falls nicht ausreichend protektive Bedingungen vorliegen. Ziel der Behandlung ist eine Reduktion dieser Symptomatik. Die Psychoanalyse geht zwar ebenfalls von auslösenden (und auch protektiven) Bedingungen für eine psychische Erkrankung aus, allerdings wird hier eine (meist) frühkindliche Genese, primär durch Abwehr, und daraus resultierende unbewusste Einflüsse auf das Individuum in Form von unbewältigten und überwiegend unbewussten Konflikten und Erlebnismustern angenommen. Behandlungsziel ist hier eher, bislang unzugängliche (unbewusste) Krankheitsursachen, welche sich auf das gegenwärtige Erleben auswirken, aufzudecken. Eine damit einhergehende Symptomreduktion wird eher als ein Nebeneffekt gesehen. Tabelle 4: Erkenntnistheoretische Positionen (Weltverständnis/Menschenbild) Verhaltenstherapie a
Psychoanalyse b Realitätsverständnis 1.) Materialismus-Rationalität; Positivismus 1.) Rationalität nur begrenzt möglich durch Unbewusstes als irrationales Moment; nur annäherungsweises Erfassen-Können der Realität durch menschlichen Wahrnehmungsapparat; (De-) Konstruktivismus, Nachträglichkeit 2.) Naturwissenschaftlich-experimentell 2.) Eigener Empiriebegriff im Sinne der (EbM) »Pluralität der Wissenschaften«: naturwissenschaftlich-experimentell, sozialwissenschaftlich, hermeneutisch-geisteswissenschaftlich
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3.5 Empirischer Positivismus versus hermeneutischer Konstruktivismus?
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(Fortsetzung) 3.) Individuum-Umwelt-Interaktion (nicht explizit kultur- oder gesellschaftstheoretisch); keine explizite Thematisierung des gesellschaftlichen Kontextes, Selbstverständnis primär als psychotherapeutischer Ansatz
3.) Kulturell-historischer Kontext in Individuum-Umwelt-Interaktion explizit als zentrales Theorieelement integriert (Grundlage der und Einfluss auf persönliche Identität); explizit kulturtheoretischer Ansatz (z. B. Verknüpfung mit kritischer Theorie, Anwendung psychoanalytischer Konzepte auf kulturelle Phänomene), gesellschaftlicher Geltungsanspruch; Thematisierung und Relevanz des gesellschaftlichen Kontexts: Selbstverständnis nicht nur als therapeutischer Ansatz, auch als kritische Individual- und Sozialpsychologie 4.) Behaviorale und kognitive Lerntheorien 4.) Einflüsse des dynamischen Unbewussten in und Verhaltensforschung (Lernen, Konditiolebensgeschichtlichem Zusammenhang (Trienierung…) be, Konflikte, Abwehr, Verdrängung…) 5.) Innere und äußere Natur »beherrschen«, 5.) Innere Natur verstehen, einbeziehen, daKontrolle von Verhalten und Gedanken c durch größere Rationalität und Kontrolle möglich c »Erkenntnisimage« d 1.) Hart 1.) Weich 2.) Bewährt 2.) Spekulativ 3.) Technisch 3.) Emanzipatorisch Psychische Krankheit 1.) Idiosynkratische Sinnperspektive, persön1.) Allgemeine Krankheitstheorie; allgemeine licher Bedeutungsgehalt, Nichtidentisches, Gesetzmäßigkeiten, unabhängig vom einzelalso subjektive Konflikt-/Erfahrungsgeschichnen Individuum sind zu ermitteln, voneinante mit jeweils individueller Ausformung der abgrenzbare Störungen und Krankheits(Phantasien, Träume etc.) als zu Verstehendes, bilder mit für diese spezifischen Symptomen Parallelen zwischen Individuen werden eher in zu behandeln der Verursachung von Pathologien gesucht Erfolgreiche Therapie 1.) Symptomreduktion, (methodische, 1.) Nachentwicklung von Selbst- und Obtechnische) Kompetenz im Umgang mit spejektbeziehungen, Veränderung der Persönlichkeitsstruktur (Bindungsmuster; »innere zifischer psychischer Krankheit (SelbstkonNatur verstehen«, Patient/-in soll mehr »er/sie trolle, »innere Natur beherrschen«) selbst« werden, Erhöhung von Freiheitsgraden in Erleben, Handeln, Beziehungsgestaltung) 2.) Geringe Bedeutung der ICD-10, DSM IV2.) Hohe Bedeutung der DSM IV, ICD-1033 Diagnostik für Behandlung Diagnostik für Behandlung, da diese den Blick auf individuelle Bedeutungsebene verstellt, stattdessen psychodynamische Diagnose (spezifisch psychodynamische Schulung nötig) 3.) Symptomreduktion zentral 3.) Symptomreduktion nicht zentral Anmerkung: Diese Aufstellung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, lediglich die womöglich prägnantesten Unterschiede wurden aufgegriffen; a in Anlehnung an Daiminger (2007, S. 212); b in Anlehnung an Vogel (2005, S. 44); Lorenzer (1974); Kresic (2006); LeuzingerBohleber (2007); Reiche (2004); c vgl. Keupp und Hohl (2006, S. 13; auch Kap. 4) d erste beiden Spalten: in Anlehnung an Hampe (2008) e vgl. Theorieeinbezug/Status von Theorien für Therapien und Empirie vgl. Leuzinger-Bohleber (2002); Perron (2002).
33 Vgl. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI, 2008).
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3 Verhaltenstherapie und Psychoanalyse
Auf die erkenntnistheoretischen Positionen der beiden therapeutischen Richtungen (vgl. Tab. 4) kann hier nur am Rande eingegangen werden. Eine philosophische Debatte um das Verständnis von »Realität« würde wohl am ehesten um Positivismus bzw. Materialismus versus Transzendentalphilosophie und Konstruktivismus kreisen.34 Vertreter/innen der verhaltenstherapeutischen Richtung ordnen sich am ehesten den Traditionen des Materialismus, des Rationalismus und des Positivismus zu (vgl. Kap. 3.3). Vertreter/-innen der Psychoanalyse halten Rationalität nur für begrenzt möglich, durch das Unbewusste als den Menschen mitkonstituierendes irrationales Moment sowie die Schwierigkeit eines nur annäherungsweise Erfassen-Könnens der äußeren sowie der inneren Realität durch den menschlichen Wahrnehmungsapparat (vgl. Kap. 3.4). Beispielsweise mit Konzepten wie »Nachträglichkeit« steht sie zudem der Schule des (De-)Konstruktivismus nahe (Butler, 2003; Reiche, 2004). Wissenschaftstheoretisch versteht sich die Verhaltenstherapie als naturwissenschaftlich-experimentell, die Psychoanalyse ebenfalls, allerdings, wie dargestellt, auch als geisteswissenschaftlich-hermeneutisch und sozialwissenschaftlich als eine eigenständige wissenschaftliche Disziplin im Sinne einer Pluralität der Wissenschaften (vgl. Kap. 3.2 u. 3.3). Beide Richtungen gehen von einer Individuum-Umwelt-Interaktion aus. Eine explizite gesellschaftstheoretische Verortung der Individuumsentwicklung sowie eine explizite Kulturtheorie finden sich allerdings nur in der Psychoanalyse (vgl. Kap. 3.4, 4.2 u. 4.3). Der Psychoanalyse wird aufgrund der für die psychoanalytische Theoriebildung zentralen Vorstellung eines Spannungsverhältnisses gesellschaftlicher Gegebenheiten mit individueller Entwicklung häufig ein eher emanzipatorisch-gesellschaftskritisches Potenzial zugeschrieben, ebenso im Kontext kultur- und gesellschaftstheoretischer Analysen verschiedener (sozial-)psychoanalytischer Forschungsrichtungen (z. B. Verknüpfung mit Kritischer Theorie). Der Verhaltenstherapie wird dagegen eher ein technisches Erkenntnisinteresse attestiert (z. B. Buchholz, 2003; Grösche, 1982). Einschränkend zu dieser Zuordnung 34
Die komplexen philosophischen Debatten um Materialismus und Transzendentalphilosophie können an dieser Stelle nicht weiter aufgegriffen werden, ebenso nicht die diesbezügliche Einordnung v. a. der Psychoanalyse durch verschiedene Autor/-innen (vgl. z. B. Honneth, 2001; Reiche, 2004). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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muss jedoch festgehalten werden, dass auch Vertreter/-innen der Verhaltenstherapie diese, wenn auch theoretisch weniger explizit, durchaus mit einem gesellschaftskritischen Potenzial verknüpft sehen (vgl. Daiminger, 2007). Behaviorale und kognitive Lerntheorien (Lernen, Konditionierung…) sowie Verhaltensforschung stehen in der Verhaltenstherapie theoretisch im Fokus der Betrachtung, während Einflüsse des dynamischen Unbewussten in einem lebensgeschichtlichem Zusammenhang (Triebe, Konflikte, Abwehr, Verdrängung…) in der Psychoanalyse im Fokus stehen. In verhaltenstherapeutischer Vorstellung geht es eher darum, die »innere Natur« zu »beherrschen« (Selbstkontrolle, Verhaltensmodifikation, fehlangepasstes Verhalten…). In der Psychoanalyse wird eher davon ausgegangen, dass durch das (näherungsweise) Verstehen der »inneren Natur« (des Unbewussten) über die psychoanalytische Technik eine größere Rationalität und Kontrolle durch Selbsterkenntnis möglich ist. Diese Sichtweisen finden im unterschiedlichen Verständnis einer erfolgreichen Therapie ihren Ausdruck: Das Ziel einer verhaltenstherapeutischen Therapie ist die Symptomreduktion bzw. eine methodische und technische Kompetenz im Umgang mit einer spezifischen psychischen Krankheit (z. B. durch Psychoedukation). Das Ziel einer psychoanalytischen Therapie ist die Nachentwicklung von Selbst- und Objektbeziehungen und darüber eine Veränderung der Persönlichkeitsstruktur (z. B. Bindungsmuster). Weiter kommen, damit einhergehend, im Verständnis von psychischer Krankheit große Differenzen zum Ausdruck: Für die Verhaltenstherapie ist die Vorstellung einer allgemeinen Krankheitstheorie und die Ermittlung allgemeiner Gesetzmäßigkeiten unabhängig vom einzelnen Individuum zentral, um voneinander abgrenzbare Störungen bzw. Krankheitsbilder mit für diese spezifischen Symptomatiken nach Kriterien diagnostischer Manuale wie dem DSM-IV und der ICD-10 zu behandeln. Die idiosynkratische Sinnperspektive sowie der persönliche Bedeutungsgehalt finden in der psychoanalytischen Vorstellung dagegen in einer subjektiven Konflikt- bzw. Erfahrungsgeschichte mit jeweils individueller Ausformung (Phantasien, Träume, …) Ausdruck. Diese gilt es unter Einbezug des Nichtidentischen (Unbewussten) zu verstehen. Parallelen zwischen Individuen werden hier eher in
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3 Verhaltenstherapie und Psychoanalyse
der Verursachung von Pathologien gesucht, weniger in ihrem Ausdruck in bestimmten Symptomatiken. Wie bereits in den jeweiligen Kapiteln ausgeführt, steht aus verhaltenstherapeutischer Perspektive einer integrativen Position weniger theoretisch begründete Skepsis gegenüber als aus psychoanalytischer, auch wenn sich beide einig sind, dass eine atheoretische Position des Eklektizismus ohne ausreichende theoretische Verortung nicht sinnvoll sein kann. Das »Erkenntnisimage« der Verhaltenstherapie könnte im Zuge ihrer naturwissenschaftlichen Ausrichtung als eher »hart« und »bewährt«, dasjenige der Psychoanalyse als eher »weich« und »spekulativ« bezeichnet werden (Hampe, 2008). Entsprechend fokussiert sich die Kritik an der Verhaltenstherapie am ehesten auf die Frage der Gegenstandsangemessenheit einer rein naturwissenschaftlichen Methodik, während diejenige an der Psychoanalyse am ehesten auf die Nichtüberprüfbarkeit von Theorien sowie die starke Orientierung an der Einzelfallforschungsmethodologie abzielt (vgl. Tab. 5). Die Gefahren, die bezüglich der verhaltenstherapeutischen Forschungsmethodik aus einem psychoanalytischen Blickwinkel häufig gesehen werden, sind z. B., dass diese zu künstlich, ethisch bedenklich oder unterkomplex sein kann (vgl. z. B. Buchholz, 2003). Aus verhaltenstherapeutischer Perspektive wird die einzelfallorientierte Forschungsmethodik der Psychoanalyse dagegen oftmals u. a. als zu ungenau und als nicht verallgemeinerbar angesehen (vgl. z. B. Comer, 2008). Tabelle 5: Kritik Verhaltenstherapie a - Auch Dinge, die nicht direkt beobachtbar sind, relevant und vorhanden (in KVT aufgegriffen) - Generalisierbarkeit von experimenteller (Labor-)Forschung begrenzt: externe Validität, Relevanz begrenzt; Gefahr RCTs: künstlich, ethisch bedenklich, unterkomplex - Gegenstandsangemessenheit der Forschung (z. B. Frage, ob Wiederholbarkeitsforderung bei komplexen menschlichen Abläufen sinnvoll), Angemessenheit des naturwissenschaftlichen Forschungsparadigmas
Psychoanalyse b - Operationalisierbarkeit von psychoanalytischen Konstrukten, UBW ist direkter Beobachtung nicht zugänglich, zu spekulativ, unsystematisch - Generalisierbarkeit von Einzelfall auf andere Fälle, sehr spezifische, komplexe Informationen, Verallgemeinerbarkeit durch Spezifität fraglich; Reliabilitätsproblem - Interpretation von Befunden als Deutung (mehr oder weniger spekulativ), nach naturwissenschaftlichem Wissenschaftsverständnis unwissenschaftlich
Anmerkung: Diese Aufstellung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, lediglich die womöglich prägnantesten Unterschiede wurden aufgegriffen; KVT = kognitive Verhaltenstherapie; UBW = Unbewusstes; a z. B. Buchholz (2003); b z. B. Comer (2008); Grünbaum (1987).
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3.5 Empirischer Positivismus versus hermeneutischer Konstruktivismus?
Welche anwendungsbezogenen Unterschiede und Gemeinsamkeiten der beiden Therapierichtungen lassen sich nun aus ihren Grundkonzeptionen ableiten? In Tabelle 6 sind die vorgestellten Behandlungsverfahren hinsichtlich verschiedener relevanter Prozessmerkmale im Überblick dargestellt. Diese ergeben sich auf Grundlage der vorangegangenen Darstellungen der Konzeptionen der Therapierichtungen und überschneiden sich teilweise mit diesen. In Anlehnung an Watzke (2002) sind »Bereiche ausgewählt worden, die a) sowohl für den allgemeinen Psychotherapieprozess (unabhängig von Therapieschulen betrachtet) als auch b) speziell für verhaltenstherapeutisch und psychoanalytisch begründete Verfahren von zentraler Bedeutung sind« (S. 30).
Auf Basis ihrer theoretischen Konzeptionen leitete Watzke (2002) die folgenden Prozessvariablen der beiden Verfahrensrichtungen ab: Tabelle 6: Vergleich psychoanalytischer und verhaltenstherapeutischer Prozessvariablen auf Basis ihrer theoretischen Konzeptionen (in Anlehnung an Watzke, Koch u. Schulz, 2006, S. 237, Tab. 135) Prozessvariablen Übertragung
1 2 3
Fokussierung von Vergangenheit /Kindheit Konfrontation mit intrapsychischem Fokus (insbesondere Konflikte und Widerstände) a Klarifikation / Interpretation mit intrapsychischem Fokus (insbesondere Konflikte und Widerstände) Fokussierung von Beziehungen Fokussierung von Emotionen Fokussierung von Kognitionen
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Psychoanalyse xx xx xx
Verhaltenstherapie -
xx
-
xx xx (x)
(x) (x) xx
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Nicht einbezogen wurden hier die bei Watzke et al. (2006) aufgeführten gruppentherapeutischen und fokaltherapeutischen Ansätze. Es wurde sich auf die jeweils »klassischen« bzw. einzeltherapeutischen Behandlungsansätze beschränkt (auf die Vielzahl vorhandener Behandlungsansätze kann an dieser Stelle wiederum nur verwiesen werden), dies auch aus der Überlegung heraus, dass sich hier eher als bei Gruppen- oder Kurzzeittherapien prägnante Unterschiede herausarbeiten lassen (vgl. Watzke, 2002, S. 32 f.). Beispielsweise Glier und Rodewig (2001) betonen die starken Überschneidungen, die die Konzepte psychoanalytisch orientierter Kurzzeitverfahren in einigen Bereichen mit denen der Verhaltenstherapie aufweisen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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3 Verhaltenstherapie und Psychoanalyse
(Fortsetzung) 8 Psychoedukation 9 Strukturiertheit 10 Direktivität 11 Exploration 12 Fokussierung der Verhaltensebene (insbesondere Durchführung von Übungen) 13 Fokussierung von Selbstwirksamkeitserwartung 14 Therapeutische Beziehungsgestaltung
-
x x x x xx
xx
x xx
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Grundhaltung der Neutralität
xx
-
16
Grundhaltung der Abstinenz
xx
-
Anmerkungen: xx zentraler Bestandteil des Therapieverfahrens; x Bestandteil des Therapieverfahrens; (x) möglicher Bestandteil des Therapieverfahrens; die gestrichelte Linie deutet an, dass Neutralität und Abstinenz mit zur therapeutischen Beziehungsgestaltung gezählt werden können (s. auch Erläuterungen im Text); a diese Definition von Konfrontation bezieht nicht Expositionstechniken (wie z. B. Flooding o. Ä.) ein.
Die beiden Bereiche »Interpretation« und »Konfrontation« beziehen sich aufgrund des unter b) genannten Aspekts eng auf die psychoanalytische Konzeption, indem diese Prozessvariablen mit der Ausrichtung auf intrapsychische Konflikte sowie Inhalte betrachtet werden. So werden in den Bereich »Konfrontation« bei dem hier vorgenommenen Vergleich explizit keine Expositionstechniken einbezogen, wie sie etwa in einer üblichen verhaltenstherapeutischen Behandlung von Angstoder Zwangsstörungen zum Einsatz kommen, um eine möglichst eindeutige (jedoch auch eng gefasste) Definition dieser Intervention zu ermöglichen (vgl. Watzke, 2002).36 Insbesondere auf die verhaltenstherapeutische Richtung beziehen sich etwa die Bereiche »Fokussierung der Verhaltensebene« (insbesondere Übungsdurchführungen) oder »Psychoedukation«. Bei einer vergleichenden Betrachtung der Spalten 3 und 4 in Tabelle 6 zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen den beiden Verfahrensrichtungen: Sechs der sechzehn betrachteten Interventionen sind ein (zentraler) Bestandteil der einen therapeutischen Verfahrensrichtung, während in der anderen Richtung diesem Bereich keine Bedeutung zukommt. Dies trifft zu auf die therapeutischen Interventionen »Übertragung«, »Fokussierung von Vergangenheit«, »Konfrontation«, 36 Bei Expositionstechniken handelt es sich zwar ebenso um konfrontative Ansätze. Allerdings in einem anderen Sinne, so dass ein Einbezug dieser hier eine Begriffsvermischung zur Folge hätte.
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3.5 Empirischer Positivismus versus hermeneutischer Konstruktivismus?
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»Interpretation«, »Neutralität« und »Abstinenz« (jeweils Bestandteil der psychoanalytischen Richtung) sowie auf »Psychoedukation«, »Strukturiertheit«, »Direktivität«, »Exploration«, »Fokussierung der Verhaltensebene« und »Fokus auf der Förderung von Selbstwirksamkeitserwartungen« (jeweils Bestandteil der verhaltenstherapeutischen Richtung). In beiden Therapierichtungen ist die Fokussierung von Beziehungen sowie von emotionalen und kognitiven Inhalten wichtig, obgleich auch hier Unterschiede zu verzeichnen sind: »Kognitionen« und deren Bearbeitung (z. B. die Identifikation dysfunktionaler Annahmen) kommen in der Verhaltenstherapie eine größere Bedeutung zu als in der Psychoanalyse; umgekehrt nimmt in der Psychoanalyse die »Fokussierung von Beziehungen« (z. B. die Identifikation internalisierter Objektbeziehungen) und von »Emotionen« (z. B. die Förderung ihrer Wahrnehmung und Differenzierung oder die Erarbeitung widersprüchlicher Emotionen) eine zentralere Stellung ein. Im Unterschied zu den sonstigen genannten Prozessvariablen kommt der »therapeutischen Beziehungsgestaltung« – obwohl sie unterschiedliche konzeptuelle Aspekte beinhaltet (betont sei insbesondere die zentrale Bedeutung von Übertragungsphänomenen für den psychoanalytischen Therapieprozess) – nach Watzke (2002) für beide Richtungen ein hoher Stellenwert zu. Allerdings gilt dies vor allem in dem Sinne, dass die Schaffung eines guten therapeutischen Bündnisses (»alliance«, z. B. Luborsky, 1976), jedoch lediglich als vorprofessionelle unspezifische Therapievariable, als Voraussetzung für das therapeutische Arbeiten innerhalb beider Schulen gesehen werden kann. Die referierte Gegenüberstellung in Anlehnung an Watzke (2002) stimmt mit Arbeiten anderer Autor/innen überein, die Vergleiche der beiden Therapiekonzeptionen auf einer abstrakteren Ebene (d. h. ohne oder nur mit geringem Bezug auf konkrete Prozessvariablen) vorgenommen haben, wie z. B. Wiser, Goldfried, Raue und Vakoch (1996) oder Czogalik und Enke (1997). Der auf der Behandlungsebene womöglich zentralste Unterschied ist, wie in Tabelle 1 dargestellt, die therapeutische Identifikation mit der Position eines/-r kompetenten »Wissenschaftlers/-in« auf der einen Seite (Verhaltenstherapie) bzw. eine Haltung des »Nichtwissens« auf der anderen Seite (Psychoanalyse) und eine damit verbundene sehr unterschiedliche Auffassung des Expertisebegriffs:
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3 Verhaltenstherapie und Psychoanalyse »Bekanntlich behandeln viele der verhaltenstherapeutischen Kolleginnen und Kollegen nicht, wie in der Literatur beschrieben, ›einem Manual folgend‹, sondern versuchen ihren Patientinnen und Patienten eklektisch verschiedene Erklärungsangebote für Verhaltensänderungen anzubieten (neuerdings übrigens auch zu dem, was sie ›Übertragung‹ nennen, vgl. Mc Collough 2000). Doch scheinen sie mit der Position eines ›kompetenten Wissenschaftlers‹ identifiziert zu sein, der ›immer möglichst empirisch abgestützt – wissen muß, was und warum er es dem Patienten als Erklärung seines Verhaltens anbietet‹. Die Haltung des Zuwartens, des Infragestellens, des immer nochmals Neu-Hinschauens (besonders wenn die eigene Unsicherheit sogar offen dem Patienten mitgeteilt wird), wirkt auf viele Verhaltenstherapeuten als ›unwissenschaftlich‹, ›unprofessionell‹ und befremdlich« (Leuzinger-Bohleber, 2007, S. 969).
Leuzinger-Bohleber (2007) stellt weiterhin fest, dass eine »Haltung des Nicht-Wissens, der Offenheit, der grundlegenden Skepsis gegen ›Sicherheit‹ im raschen und eindeutigen Verstehen und Erklären klinischer Phänomene zu den wichtigsten Unterschieden gehört, die […] auffallen, wenn […] [sie] klinische Berichte von kognitiven Verhaltenstherapeuten mit solchen von Psychoanalytikern« (S. 968) vergleicht. In Illustration 1 sind zur Veranschaulichung des Dargestellten exemplarische Gegenüberstellungen von Verhaltenstherapie und Psychoanalyse aufgeführt, zum einen eine kassenärztliche Patient/-inneninformation, zum anderen eine solche aus einem laufenden Forschungsprojekt. Illustration 1: Exemplarische Gegenüberstellungen von Verhaltenstherapie und Psychoanalyse und deren Anwendungen Die tiefenpsychologisch fundierte und die analytische Psychotherapie … haben als gemeinsames Grundverständnis, dass aktuelle seelische und psychosomatische Beschwerden von unbewältigten und überwiegend unbewussten Konflikten und Erlebnismustern (kursive Hervorhebung, jeweils d. Verf.) verursacht werden. Sie sollen im Verlauf einer Therapie bearbeitet und in ihrem lebensgeschichtlichen Zusammenhang verstanden werden, so dass neue Lösungen gefunden werden können. Dabei ist die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie direkter an den aktuellen Beschwerden ausgerichtet. Hingegen lässt die psychoanalytische Therapie mehr Raum auch für den Zugang zu unbe© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
3.5 Empirischer Positivismus versus hermeneutischer Konstruktivismus?
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wussten Vorgängen und ermöglicht dadurch eine tiefgreifendere Neubearbeitung, benötigt dafür aber auch mehr Zeit. Die Verhaltenstherapie … geht davon aus, dass psychische Probleme und Beschwerden erlernt werden und durch neue Erfahrungen auch wieder verlernt oder verändert werden können. Daher wird der Verhaltenstherapeut den Patienten immer wieder dazu anleiten und ermutigen, neue Erfahrungen im Umgang mit seinen Problemen zu machen und neue Verhaltensweisen auszuprobieren. […] Anmerkung: Aufstellung vom Qualitätszirkel Kasseler Vertragspsychotherapeuten (Stand März 2002), mit Unterstützung der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen (KVH) und des Gesundheitsnetzes Nordhessen (GNN; Kassenärztliche Vereinigung Hessen, 2002). Die Kognitive Verhaltenstherapie … zielt auf eine Veränderung des gegenwärtigen Denkens und Verhaltens ab. Die kognitive Verhaltenstherapie ist ein Anwendungsbereich der Verhaltensforschung und Lerntheorien. Im Mittelpunkt der Behandlung steht dabei die Veränderung des Verhaltens, Erlebens und Denkens durch Prozesse wie Neulernen, Umlernen und Verlernen. Therapeut und Betroffener führen zusammen eine genaue Analyse der Probleme durch, die als Lerngeschichte aus der Vergangenheit gesehen werden kann. In der Therapie werden systematisch ungünstige Verhaltensweisen und Denkmuster identifiziert und der Patient wird dazu angeleitet, hilfreiche Strategien zu entwickeln und diese schrittweise selbstständig einzusetzen, um so zu lernen, die nicht optimalen Verhaltensweisen zu verändern. Die Verhaltenstherapie verfügt zur Erreichung von Veränderungen und anvisierten Lösungen, neben dem Gespräch, über eine Vielzahl von bewährten Verfahren, die zum Teil auch außerhalb der Therapiesitzung oder als Hausaufgabe im Anschluss an die Therapiesitzungen durchgeführt werden. Die Therapie findet meist mit einer Frequenz von einmal 50 Minuten in der Woche statt, kann aber je nach Behandlungsphase auch häufiger (z. B. zweimal pro Woche) oder intensiver (z. B. längere Sitzungen bis zu zwei Stunden) durchgeführt werden.
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3 Verhaltenstherapie und Psychoanalyse
In der Psychoanalytischen Therapie … wird der Einfluss untersucht, den unbewusste Wünsche und Ängste auf das bewusste Erleben und Handeln ausüben. Die psychoanalytische Therapie bleibt nicht, wie oft angenommen wird, bei der Aufarbeitung unbewältigter Kindheitserlebnisse stehen, sondern deckt deren unbewusste wie bewusste Wirkung im Zusammenhang mit lebensgeschichtlichen Erfahrungen auch im Hinblick auf die Zukunftsgestaltung auf. Durch die Möglichkeit in der Beziehung zum Analytiker unbewusste Beziehungsgestaltungen zu wiederholen, versucht die psychoanalytische Psychotherapie der Bedeutung wiederkehrender depressiver Verarbeitung von Lebenserfahrungen auf die Spur zu kommen. Die »Nachhaltigkeit« psychoanalytischer Psychotherapie kann in einer »Nachentwicklung« des eigenen Selbstwertgefühls und in der Beziehung zu nahe stehenden Menschen gesehen werden. Eine Veränderung der Symptomatik ergibt sich infolge des analytischen Prozesses, indem die bislang unzugänglichen Krankheitsursachen aufgedeckt, bearbeitet und integriert werden. Die Therapie kann mit einer Frequenz von 1 bis maximal 3 Stunden pro Woche stattfinden. Anmerkung: Patient/-inneninformationen zu psychoanalytischer und verhaltenstherapeutischer Psychotherapie der Studie Langzeittherapie chronischer Depression (LAC, unveröffentlichtes Manuskript). Zum Abschluss des Kapitels soll zur Verdeutlichung der gegensätzlichen Perspektiven der beiden Ansätze exemplarisch darauf eingegangen werden, dass beide Verfahrensrichtungen aus ihrer jeweiligen Perspektive den Anspruch erheben, eine besonders demokratische Behandlungsform zu sein und darin jeweils ein besonderes gesellschaftskritisches Potenzial sehen. Interessanterweise beanspruchen Vertreter/innen beider Verfahrensrichtungen dies gleichermaßen: Verhaltenstherapeut/-innen führen dafür ein möglichst nichthierarchisches und damit mündiges Verhältnis von Behandelndem/-r und Behandeltem/-r an (z. B. in der Verwendung des Terminus »Klient/-in«, nicht »Patient/in«, vgl. z. B. Lairaiter, 1995). Aus verhaltenstherapeutischer Perspektive wird betont, dass aufgrund dessen das Demokratische eher in dieser Therapieform zu verorten sei. So würde der/die Patient/-in mittels Psychoedukation auf Augenhöhe für einen mündigen und soweit als
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3.5 Empirischer Positivismus versus hermeneutischer Konstruktivismus?
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möglich informierten Umgang mit seiner/ihrer psychischen Krankheit geschult (vgl. z. B. Daiminger, 2007; Margraf, 2009a, 2009b). Für die Psychoanalyse wird dagegen über ein erfahrungsbasiertes Bewusstmachen (unbewusster) Unfreiheiten das Erlangen größerer persönlicher Freiheit als demokratisches Moment der Verfahrensrichtung angeführt. Die Vorstellung eines emanzipatorischen Potenzials im psychoanalytischen Sinne wird eher in der Möglichkeit gesehen, sich in einer (notwendigerweise) »hierarchischen«, weil asymmetrischen, therapeutischen Beziehung über unbewusste Verstrickungen bewusster zu werden. Die weiter oben beschriebene (selbst-)kritische und ergebnisoffene Haltung von psychoanalytischen Praktiker/-innen, in welcher der Wahrheitsgehalt von Deutungen intersubjektive Bestätigung (idiosynkratischer Erkenntnisse) durch Analysand/-in (und Analytiker/-in) erhalten muss, wird von diesen zudem als Beleg für das demokratische Moment dieses Therapieverfahrens herangezogen (vgl. Lear, 1996; Leuzinger-Bohleber, 2007). Eine sehr unterschiedliche Auffassung des Expertisebegriffs des/-r Therapeuten/-in in der jeweiligen Richtung wird auch hier deutlich (vgl. auch Tab. 1). In dem einen Fall (Verhaltenstherapie) wird die Expertise im Wissen über eine spezifische Diagnose (anhand festgelegter, allgemeingültiger Kriterien) und einem daraus resultierenden, aufgrund von vorangegangener Forschung als am wirksamsten bzw. funktionalsten geltenden Umgang mit dieser diagnostizierten Krankheit gesehen. Der/die Therapeut/-in schult also den/die Patienten/-in), so dass er/sie selbst zum/-r »Experten/-in« seiner/ihrer Krankheit werden kann. Im anderen Fall ist das Expertentum des/-r Analytikers/-in darin begründet, dass er/sie besonders geschult ist in einem spezifischen Erfahrungswissen, nämlich der Introspektion bzw. dem Wahrnehmen von Übertragungs- und Gegenübertragungsdynamiken und ihrer Deutung in Bezug auf unbewusste Wirkmächte, die zum Aufrechterhalten des subjektiven (idiosynkratischen) Leidens des/-r Patienten/-in beitragen. Ob jedoch eine solche Deutung37 zutreffend sein kann, 37
Dies im Sinne einer aus dem Zusammenspiel von Übertragung und Gegenübertragung geäußerten Vermutung, dem »sorgfältige[n] Tasten nach dem Verständnis unbewußter Dimensionen des Verhaltens des Analysanden in der analytischen Situation […] [, und somit der] Symbolisierungsversuche« (Leuzinger-Bohleber, 2007, S. 976). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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3 Verhaltenstherapie und Psychoanalyse
können nur der/die Analysand/-in und der/die Analytiker/-in gemeinsam entscheiden. Hierin liegt dann die (emotionale) Expertise des/-r Analysanden/-in über sich selbst. Zu starke verallgemeinernde Vorannahmen des/-r Analytikers/-in werden als für diesen ergebnisoffenen Erkenntnisprozess hinderlich angesehen. Erst in einem weiteren Prozess der Abstraktion werden in der Analyse entwickelte Metaphern und Symbolisierungen (möglichst nicht vorschnell und zunächst versuchsweise) »mit Modellen und Theorien in Verbindung gebracht« (Leuzinger-Bohleber, 2007, S. 976 f.; als eine Art theoretischer Vorrat im Hinterkopf). Die in beiden Therapieformen angestrebte Selbstständigkeit des/-r Patienten/-in besteht in einem Fall also aus einem Informationszuwachs an allgemein anerkanntem Störungswissen und dafür entwickelter (wenn möglich experimentell abgesicherter) Umgehensweisen mit den persönlichen Schwierigkeiten (im Sinne von Techniken und Methoden), im anderen Fall aus einer größeren Kenntnis der persönlichen idiosynkratischen Dynamiken und einer Fähigkeit, diese wahrzunehmen (sich im Sinne von Deutung bzw. Symbolisierung möglichst bewusst zu machen), also idealiter in einer »Identifikation mit der analytischen Methode« (Leuzinger-Bohleber, 2007, S. 979). Gleich ist somit in beiden Ansätzen die angestrebte Verinnerlichung – einer sehr unterschiedlichen – »Handhabung« psychischer Schwierigkeiten durch die Patient/-innen. Ein Spezifikum des psychoanalytischen Ansatzes ist darüber hinaus jedoch der erwähnte, über die psychotherapeutische Behandlungssituation hinausgehende, gesellschaftstheoretische Anspruch (vgl. Tab. 4), auf welchen in Kapitel 4 ff. noch einmal eingegangen wird.
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Individuum und Gesellschaft »Die in Lebensbedeutungen implizit oder explizit repräsentierten Muster der Bewältigung dieser [Identitäts-] und anderer Fragen sind kulturell und gesellschaftlich geprägt. Sie sind abhängig von historischen Epochen und deren Umbrüchen. Sie schlagen sich nieder in individuellen, privaten und persönlichen, aber auch in kollektiven Überzeugungen, Selbstverständlichkeiten und Gewohnheiten« (Frommer, 2003, S. 103 f.).
In diesem und den nachfolgenden Kapiteln wird die für diese Untersuchung zentrale Annahme einer Interaktion zwischen Individuumsentwicklung und gesellschaftlichen Verhältnissen aufgegriffen, davon ausgehend, dass sie auch für die hier untersuchte studentische Stichprobe Gültigkeit besitzt. In der psychoanalytischen Theoriebildung, auf welche neben einer sozialpsychologischen bzw. soziologischen Lesart für die vorliegende Studie in diesem Kontext vorwiegend rekurriert wird, ist eine interaktionelle Vorstellung von Individuum und Gesellschaft, wie zu Beginn des Theoriekapitels erwähnt, verankert. Die Subjektwerdung vollzieht sich demnach innerhalb eines komplexen Handlungs- und Reflexionsgeflechts (vgl. Werschkull, 2007). Dies wird im Folgenden näher erläutert. Die klassische Vorstellung von Identität und ihrer Entwicklung in der westlichen Moderne war im zwanzigsten Jahrhundert weitgehend geprägt von der transzendental-monologischen Sicht der Bewusstseinsphilosophie im Sinne der Aufklärung (vgl. Keupp u. Hohl, 2006; vgl. auch Beckmann, 1985). Dieses aufklärerisch-rationale Menschenbild wurde u. a. durch die Entstehung der Psychoanalyse, die das Irrationale sowie das Dialogische der menschlichen Existenz hervorhebt (vgl. Kap. 3.4), zunehmend infrage gestellt. Bereits in der klassischen Freudschen Konzeption wurde von einem Spannungsverhältnis zwischen Kultur und Individuum als zentrale Kernannahme der psychoanalytischen Theoriebildung ausgegangen (vgl. Kap. 3.4). Während also die klassische Subjektvorstellung von der transzen-
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4 Individuum und Gesellschaft
dental monologischen Sicht der Bewusstseinsphilosophie dominiert war, verhandeln verschiedene neuere Ansätze die Individuumsentwicklung in einem Spannungsverhältnis zwischen Kultur und Individuum.38 Ausgehend von diesen Überlegungen wird auch für diese Untersuchung ein interaktionelles Zusammenwirken von Individuum und Gesellschaft bei der individuellen Entwicklung postuliert. Das bedeutet, dass das Individuum in seiner Entwicklung (Lebensführung, Lebensentscheidungen etc.) einerseits von seiner näheren und weiteren Umwelt – also auch von vorzufindenden gesellschaftlichen Konfigurationen – beeinflusst wird, diese andererseits gleichermaßen beeinflusst. Auf die Debatten über soziale versus biologische Determinanten (sog. Anlage-Umwelt-Debatten, z. B. in der Psychologie) der persönlichen Entwicklung kann an dieser Stelle nur verwiesen werden (vgl. z. B. Fonagy, 2005; Smith et al., 2007).39 Mit Werschkull (2007) lässt sich somit »Subjektwerdung verstehen als komplexes Handlungs- und Reflexionsgeflecht, das sich zwischen Menschen aufbaut und inmitten einer Welt natürlicher Gegebenheiten und technisch sowie künstlerisch hergestellter Dinge« (S. 19). Darauf wird in den nachfolgenden Kapiteln eingegangen. Zunächst wird allgemein in die Thematik der Identitätsforschung ein-
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Dieser Lesart entgegen sehen einige Autor/-innen das vorherrschende Menschenbild nach wie vor primär geprägt vom patriarchalen Gesellschaftssystem (z. B. Harding 1990, zit. nach Keupp u. Hohl, 2006, S. 13), in welchem das autonome, individualistische (kapitalistisch besitzende) und selbstbezogene »Ich« als erstrebenswert gilt (vgl. Keupp u. Hohl, 2006, S. 13) und es um das Beherrschen der inneren und der äußeren Natur geht. Harding zufolge handelt es sich dabei primär um eine Selbsterfahrung männlicher Subjekte. Begriffe, wie das »wohltemperierte Selbst« (Elias, zit. nach Keupp u. Hohl, 2006, S. 14) oder die von den Autoren verwendete Begrifflichkeit einer »Selbstzwangsapparatur des Menschen« (S. 14) versuchen in Worte zu fassen, wie diese Beherrschung der inneren Welt sich gestaltet. 39 In verschiedenen Disziplinen, z. B. in der akademischen Psychologie, wurde die Individuumsentwicklung zunehmend dialogisch begriffen. In der sogenannten Anlage-Umwelt-Debatte hat sich hier mittlerweile weitgehend eine »Sowohl-als-auch-Position« durchgesetzt, d. h. eine Beeinflussung der genotypischen Anlage in der phänotypischen Expression durch (gefühlte) Umwelterfahrungen, bzw. »subjektives Erleben« (Fonagy, 2005, S. 150). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
4.1 Zur Identitätsentwicklung 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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geführt, auf welche die vorliegende Studie subjekttheoretisch rekurriert. Im Anschluss daran wird dies aus psychoanalytischer sowie sozialpsychologischer bzw. soziologischer Perspektive vertieft behandelt. Aus psychoanalytischer Perspektive wird insbesondere auf frühkindliche Identitätsentwicklung sowie auf die Spezifika der (Identitäts-)Entwicklungsphase eingegangen, in welcher sich die hier untersuchte studentische Stichprobe befindet, die sogenannte Spätadoleszenz. Daran schließt sich ein Überblick über gegenwärtige gesellschaftliche Einflüsse auf Individuen an, dies vor allem aus einer soziologisch-sozialpsychologischen Perspektive. Darauf folgt eine Betrachtung mit besonderem Fokus auf die Situation Jugendlicher bzw. junger Erwachsener in der heutigen Zeit. Im letzten Unterkapitel werden Prozesse der beruflichen Identitätsentwicklung beleuchtet, insbesondere der für diese Untersuchung relevante Entwicklungsschritt der »Berufswahl« junger Menschen bezogen auf den psychotherapeutischen Kontext.
4.1 Zur Identitätsentwicklung »Identitätsentwicklung ist ein lebenslanger dialektischer Prozess, bei dem die Wahrnehmung und Veränderung des eigenen Selbst immer auf soziale Objekte bezogen und mit ihnen verklammert ist« (Bohleber, 1992, S. 360).
Infolge der Pluralität psychologischer und soziologischer Identitätskonzepte kann dafür kaum ein einheitliches Grundverständnis vorausgesetzt werden (vgl. z. B. Bohleber, 1992; Guggenberger, 1990; Keupp u. Hohl, 2006). Im Folgenden wird in einer sehr komprimierten Form die Entwicklung des Identitätskonzepts von einer Vorstellung eher einheitlicher Entwicklungsschritte, die für eine erfolgreiche Identitätsentwicklung bewältigt werden müssen (z. B. Erikson, 1966), hin zu pluralistischeren Vorstellungen von Identität (z. B. Keupp, 1989) und deren Entwicklung vorgestellt. Im Anschluss erfolgt eine Begriffsbestimmung aus geläufigen und auch für diese Untersuchung zugrunde gelegten Konzeptionen einer soziologischen bzw. sozialpsychologischen Lesart sowie einer psychoanalytischen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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4 Individuum und Gesellschaft
Identitätsauffassung. Weitere wichtige Traditionen werden hier lediglich erwähnt. In früheren Identitätsmodellen wurde Identität im Sinne eines abschließbaren Entwicklungsziels konzipiert (z. B. Erikson, 1966). Sie wurde so verstanden als eine »Art Kernstruktur des Subjekts, die im Laufe der Sozialisation schrittweise aufgebaut wird und sich im Fall einer gelungenen Identität stabilisiert und verfestigt – das Individuum wird konsistent, reif und damit zugleich autonom« (Keupp u. Hohl, 2006, S. 10).
Diese Identitätsauffassung wird prominent in der Erikson’schen Identitätskonzeption vertreten (vgl. Bohleber, 1992). Der Vollständigkeit halber seien an dieser Stelle weitere wichtige Traditionen zum Thema Identität erwähnt. In Konzeptionen des 19. Jahrhunderts galt das Subjekt als »triebgesteuert, aber bildungsfähig und bildungsbedürftig« (Keupp u. Hohl, 2006, S. 9 f.). Weiter sind zu nennen G. H. Meads Ansatz der symbolvermittelten Interaktion (Chicagoer Schule; vgl. Kresic, 2006; Hylander, 2008), Identität als Gruppenphänomene (Tajfel u. Turner, 1986), begrifflich gefasst in der sogenannten Social Identity Theory (SIT; vgl. auch Hylander, 2008); intergruppale Situationen (vgl. Mummendey, 1987) sowie die sogenannte »auszubalancierende Identität« nach Habermas und Krappmann (vgl. Kresic, 2006, S. 92 ff.). Im Folgenden wird eine Begriffsbestimmung von »Identität« aus Perspektive der für diese Studie verwendeten Identitätskonzeptionen vorgenommen. Nach Keupp (2007a) bezeichnet in einer eher soziologischen bzw. sozialpsychologischen Lesart »Identität […] den Selbstpositionierungsprozess der Subjekte, bezogen auf den soziokulturellen Rahmen ihrer Lebenswelt« (S. 12). Eine etwas anders geartete Definition von Identität aus psychoanalytischer Perspektive ist bei Bohleber (1992) zu finden: »Identität stellt die Schnittstelle zwischen gesellschaftlichen Erwartungen an den einzelnen und dessen psychischer Einzigartigkeit dar. Sie ist das Produkt der Vermittlung und eine dynamische Balance zwischen den beiden« (S. 136). Anders als in der Auslegung von Keupp (2007a) wird aus dieser Perspektive das Subjekt weniger stark in seiner gestalterisch aktiven Selbstpositionierung, sondern mehr auch als Produkt sozialer Gege© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
4.2 Psychoanalytische Identitätsperspektive – »Gewordensein« 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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benheiten gesehen. Zudem wird der Aspekt der Interaktion zwischen diesen beiden Ebenen stark betont. Somit birgt nach Bohleber (1992) »Identität […] stets die Spannung zwischen Übernahme sozialer Rollen und individueller Besonderheit in sich« (S. 337). Beiden Konzeptionen gemeinsam ist das postulierte Spannungsverhältnis zwischen der Übernahme sozialer Rollen und individueller Besonderheit, darin enthalten eine Verknüpfung der individuellen und der gesellschaftlichen Ebene, sowie eine nicht lineare und nicht statische Identitätsvorstellung. Darauf wird in nachfolgenden Unterkapiteln ausführlicher eingegangen.
4.2 Psychoanalytische Identitätsperspektive – »Gewordensein« »When I look I am seen, so I exist« (Winnicott, 1971; p. 114).
In diesem Unterkapitel wird auf die psychoanalytische Perspektive der Identitätsforschung eingegangen (vgl. Blos, 1973; Bohleber, 1982, 1992; Frommer, 2003) sowie auf – psychoanalytisch gefasste – (v. a. frühkindliche) identitätsbildende biographische Verinnerlichungsprozesse. Mit Leuzinger-Bohleber und Dumschat (1993) wird die Beschäftigung mit den »unbewußten Anteile[n] der Identität [als] […] genuin psychoanalytische[r] […] Beitrag zur Identitätsforschung« (S. 171) verstanden. Entsprechend sieht Bohleber (1992) einen der »genuinen Beiträge [der Psychoanalyse] zur Identitätsdebatte [darin begründet, dass] die Psychoanalyse, […] das Schicksal der individuellen, im Infantilen wurzelnden Wünsche und idiosynkratischen Trieb- und Liebesbedürfnisse in der Dynamik der gewordenen Persönlichkeit erforscht […] [Dies mache] damit hinsichtlich der Identitätsbildung – wie flexibel oder erstarrt sie jeweils sein mag – immer das im Unbewussten aufbewahrte Nicht-Identische zum Thema« (S. 337 f.).
Nach Leuzinger-Bohleber und Dumschat (1993) kann darüber hinaus aus psychoanalytischer Perspektive »Identität nur in der Beziehung zu einem bedeutungsvollen Anderen gebildet werden« © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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(S. 173).40 Dieses »interaktive Paradigma« (Bohleber, 1992, S. 337), welches in großen Teilen aus Erkenntnissen der neueren empirischen Säuglings- und Kleinkindforschung entwickelt wurde (z. B. Beebe et al., 1997; Beebe, Knoblauch, Rustin u. Sorter, 2005; Dornes, 2000), hat sich für die psychoanalytische Forschung generell als fruchtbar erwiesen und sich in weiten Teilen durchgesetzt.41 Insbesondere die frühkindliche Identitätsentwicklung ist von der Beziehung zu einem bedeutungsvollen Anderen geprägt. Aber auch lebenslang ist die Identitätsentwicklung davon bestimmt. Einen weiteren Höhepunkt erfährt das Thema der Identität neben ihrer frühkindlichen Wichtigkeit in der für diese Untersuchung zentralen Phase der (Spät-)Adoleszenz (vgl. z. B. King, 2002). Die Spezifika dieser Phase werden in Kapitel 4.3 gesondert dargestellt. An dieser Stelle wird auf die Identitätsentwicklung allgemein, dabei vor allem auf die frühkindliche Identitätsentwicklung (Subjektgenese) eingegangen.42 Die (Fort-)Entwicklung 40
Im entwicklungspsychologischen Teil ihrer Monographie behandelt Werschkull (2007) beispielsweise die Bedeutung frühkindlicher Anerkennungserfahrungen für die »Subjektgenese« (S. 16) und greift in diesem Kontext die Debatte zwischen Whitebook und Honneth in der Zeitschrift Psyche zum Thema Anerkennung auf. U. a. geht es dabei darum, ob »die ›Arbeit des Negativen‹ oder die Anti-Sozialität zur natürlichen Grundausstattung des Menschen« (S. 17) gehört und welche Bedeutung »Anerkennungserfahrungen in der Primärbeziehung« (S. 17) zukommen. Nach Werschkull (2007) fasst Busch (2003, zit. nach Werschkull, 2007) die Debatte folgendermaßen zusammen: »›Kampf und Anerkennung« schließen sich aus« (Whitebook) und ›Anerkennung schließt Kampf ein‹ (Honneth)[was Busch in der These zuspitzt, dass es auch um den] […] Kampf gegen Anerkennung« (S. 263, zit. nach Werschkull, 2007, S. 17 f.) gehe. So plädiert er für »die Anerkennung des Nicht-Intersubjektiven […] [als] Einfluß eines Elements naturhafter Leiblichkeit« (S. 273, zit. nach Werschkull, 2007, S. 18). Werschkull (2007) stellt schließlich die These auf, »dass Subjektwerdung sich als Antwort auf vorgreifende Anerkennung verstehen lasse« (S. 17). 41 Nach Bohleber (1992) sollten dabei das inter- und das (Freud’sche) intrapsychische Entwicklungsmodell zusammen gedacht werden. 42 Verwiesen sei hier auf den Überblicksartikel von Bohleber (1992), in welchem sowohl die Entwicklung des Identitätsbegriffes aus psychoanalytischer Perspektive als auch die frühkindliche Identitätsentwicklung zusammenfassend dargestellt ist. Bohleber (1992) bezieht sich in seiner Arbeit u. a. auf folgende © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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psychoanalytischer Identitätstheorien soll hier nicht im Einzelnen nachvollzogen werden. Im Wesentlichen wird diesbezüglich Bohlebers (1992) Integration verschiedener Ansätze und Theorien zu seiner Konzeption der (frühkindlichen) Identitätsentwicklung gefolgt. Obwohl er die Einführung des Identitätsbegriffs in das psychoanalytische Denken als Verdienst Eriksons (z. B. 1966) hervorhebt, kritisiert Bohleber (1992) dessen Identitätsvorstellung auch: Im Erikson’schen Identitätsmodell werde ein »harmonistischer ›Einpassungs‹-Positivismus« (S. 339) sichtbar (vgl. auch King, 2002). Durch Eriksons Vorstellung von Identität als einem abschließbaren Entwicklungsziel – mündend in einen mehr oder weniger stabilen Charakter nach Abschluss der Adoleszenzphase – gerieten Brüche in der Identitätsbildung durch das nicht auflösbare Spannungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft aus dem Blick. Bohleber (1992) schreibt der Adoleszenz, wie Erikson, eine herausragende Rolle für die Identitätsentwicklung zu, hält diese jedoch mit Jacobson (1973) für einen lebenslangen Prozess, beginnend mit der Säuglingsphase und sich entwickelnd in einem steten Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, Natur und Kultur. Weiter führt Bohleber in Anlehnung an Modell (1969) aus, dass für die Entwicklung des Identitätsgefühls die synthetisierende Funktion des Ichs notwendig ist. Dessen Fähigkeit dazu ist abhängig von frühkindlichen Erfahrungen. Das bedeutsame Paradox am Identitätsgefühl ist die »inhärente Spannung zwischen personaler Identität und der Selbst-Objektivierung« (S. 339) nach außen, bzw. einer Objektivierung von außen. Auf den objektiv beschreibbaren Anteil von Identität im Sinne einer Rollenübernahme, der sogenannten »sozialen Rollen-Identität« (Bohleber, 1992, S. 358) wird an anderer Stelle noch einmal näher eingegangen (s. Kap. 4.4). Hier geht es zunächst um die Entwicklung des »subjektiven Identitätsgefühl[s] […], [welches] eine Vorstellung von der Gesamtheit der Selbstrepräsentanzen […] [ist, als ein] Niederschlag verinnerlichter SelbstObjekt-Interaktionen« (Bohleber, 1992, S. 340 f.). wichtige psychoanalytische bzw. psychoanalysenahe Identitätstheorien: erstens die Erikson’sche Konzeption, zweitens Jacobsons Identitätsauffassung, drittens Kernbergs Überlegungen, viertens Modells Vorstellungen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Für die frühkindliche Identitätsentwicklung geht Bohleber (1992) in Anlehnung an Winnicott (1974) sowie Modell (1969) von einer interaktiven Entwicklung eines anfänglichen prärepräsentionalen Kern-Selbstgefühls (Stern, 1985) hin zur Entwicklung der Ich-Identität im Erikson’schen Sinne aus.43 Als Voraussetzung dafür sieht er das sogenannte »good-enough mothering« sensu Winnicott (1971, p. 13): Durch das anfängliche «containing« (Winnicott, 1971, p. 67) der Gefühle des Kindes durch die primäre Bezugsperson, und das sogenannte »mirroring« (Winnicott, 1971, p. 43, Spiegeln, »Glanz im Auge der Mutter«) kommt es zu einem ersten Erleben zeitlicher Kontinuität. Autonomie und soziale Verbundenheit sind dabei komplementär zueinander zu betrachten (Bowlby). Wichtig für diese frühe Phase ist, dass das Kind sich nur wahrnehmen kann, wenn es »durch die Mutter zurückgespiegelt wird« (S. 351, vgl. auch Fonagy, Gergely, Jurist u. Target, 2004) und es sich zunächst auch nur so wahrnimmt, wie das primäre Objekt das Kind sieht (auch in dessen unbewussten Wünschen und Phantasien). Es bedarf somit »des Anderen, um sich selbst zu erkennen« (Bohleber, 1992, S. 351). In der Regel die Mutter »übermittle dem Kind vorangehend eine Identität […] [bzw. ein sogenanntes] Identitätsthema«, wie Bohleber (1992, S. 352) in Anlehnung an Lichtenstein (1977) ausführt (vgl. auch Butler, 2003; Honneth, 2001, 2005; King, 2007). Neuerer Forschung gemäß ist dieser Prozess stärker reziprok zu sehen als anfangs angenommen (z. B. Beebe et al., 1997; Beebe et al., 2005). Über interaktionelle Synchronisation (matching von Säugling und Umwelt bzw. primärer Bezugsperson) kommt es zu reziproken Austauschprozessen44 (Bohleber, 1992; sogenanntes »we-go« sensu Emde, 1988, S. 35) was, wie Bohleber (1992) vermutet, zu dem
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Zur Unterscheidung der theoretischen Debatte um die Begrifflichkeiten Selbst, Ich-Identität, Ich … sei ebenfalls auf den Artikel von Bohleber verwiesen. »Identität« (S. 348) wird von ihm als psychologischer Erfahrungsbegriff und nicht als metapsychologisches Konstrukt gefasst, dies aus der Schwierigkeit heraus, den Begriff mit der psychoanalytischen Strukturtheorie in Einklang zu bringen. 44 Wobei allerdings die Mutter (oder eine andere primäre Bezugsperson) dennoch der reifere und mächtigere Interaktionspartner ist (vgl. auch Fonagy et al., 2004). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Gefühl »beitragen [würde] ›gemeint‹ bzw. ›erkannt‹ zu sein […]. [So bilden sich die] Selbst- und Objektrepräsentanzen […] [vermutlich] in der Form verallgemeinerter Interaktionserwartungen« (S. 351). Der erste Entwicklungsschritt besteht über die Internalisierung des (liebenden) Primärobjekts (Modell) im Aushalten von Getrenntheit und dem Akzeptieren der Grenzen anderer. So entsteht ein »Kern des frühesten guten [zentralen] Identitätsgefühls […] [als] Niederschlag der frühen Beziehung zum Primärobjekt« (Bohleber, 1992, S. 342), das sogenannte »Kern-Selbstgefühl« (nach Stern, 1985; vgl. Bohleber, 1992, S. 358). Dieses ist noch »kein kognitives Konstrukt […], sondern ein Gefühl, das durch die Erfahrung der Interaktionsprozesse entsteht. […] In ihm steckt die regulierende Aktivität der Mutter« (Bohleber, 1992, S. 353) bzw. des primären Objekts. Es steuert schließlich lebenslang innere Veränderungen von Selbstrepräsentanzen. Eine zentrale Annahme zur Entwicklung des Selbst ist nach Bohleber (1992), dass sich dieses »entlang polarer Gegensätze« (S. 347) wie der Folgenden entwickelt: »1. Das Selbst hat per se eine Organisation, die eine Identitätsstruktur darstellt: Das Selbst kann sich nie rein, d. h. unvermittelt erfahren. Es bedarf eines bedeutungsvollen Anderen, um sich selbst erkennen zu können (Mead, 1934). 2. Das Selbst ist ständig in Veränderung und im Wandel begriffen« (S. 348).
Obgleich sich das Selbst derart von außen mit konstituiert und erfährt, ist jedoch das Gefühl einer Einheit in der Veränderung zentral. Frühe (körperliche) affektive Empfindungen, ein Gefühl, dass, nicht wer man sei ermögliche bei allem Wandel Bohleber (1992) zufolge wahrscheinlich, dass man sich trotzdem stets als der- bzw. dieselbe fühle. Die »Fein«-Entwicklung des »Selbstgefühls« unterteilt Stern (1985) in die aufeinanderfolgenden Phasen »auftauchendes Selbst«, das erwähnte »Kern-Selbstgefühl« welches sich im zweiten bis sechsten Monat entwickelt und sich, wie ausgeführt, zunächst (primär) durch Erwartungen des bedeutungsvollen Anderen konstituiert (vgl. auch Bohleber, 1992; Fonagy et al., 2004; Hylander, 2008). Darauf folgt das Gefühl des »subjektiven Selbst« und daran anschließend das © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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des »sprachlichen Selbst«. Zentral für diesen Prozess ist die Entwicklung der erwähnten Selbst- und Objektrepräsentanzen. Die Selbsterprobung im »intermediären Raum« (sensu Winnicott) gilt als notwendig für eine »Entflechtung« (Bohleber, 1992, S. 355) vom primären Objekt und somit für eine Entwicklung des Selbst. So kommt es zu ersten Erfahrungen eines personalen Erlebnisses (als »Selbst-Erfahrungen«, Bohleber, 1992, S. 355) und einem Gefühl »eigener Wirksamkeit (agency)« (Bohleber, 1992, S. 354) bzw. der Autorenschaft innerer Vorgänge. Eine rudimentäre Fähigkeit, allein zu sein, entwickelt sich. Dafür ist das Nutzen von im intermediären Raum angesiedelten »Übergangsobjekten« (Winnicott) in ihrer Mittelstellung zwischen Innen- und Außenwelt notwendig. Nach Bohleber (1992) ist dieser Raum aufgrund dessen mit der »Identität« als Mittlerin zwischen Innen und Außen und als ein Teil von beidem strukturell verwandt. Über Symbolisches wird im intermediären Raum zudem ein drittes Element eingeführt (Green, 2005).45 In dieser Phase kommt es so erstmals zu Proberealisierungen (über Phantasietätigkeit, Spiel) im Abgleich mit zentralen Selbstrepräsentanzen. »Dabei pendelt das Ich von zentralen Selbst-Repräsentanzen, die das Identitätsgefühl vermitteln, hin zu der Repräsentanz, die in Frage steht, um diese im Sinne einer inneren Probesetzung mit der zentralen SelbstRepräsentanz zu vergleichen und zu prüfen, wieweit und bis zu welchem Grade sich dabei das Identitätsgefühl herstellen läßt […] [, eine Prüfung, an der auch das Über-Ich beteiligt ist.] Bei diesem Reflexionsprozeß, der immer wieder und über lange Zeit stattfinden kann, wird in einem kreativen Prozeß vor dem ›inneren Auge‹ in Proberealisierungen und identifikatorischen Festlegungen die eigene Identität erprobt und erweitert. […] [Wichtig dafür ist zudem, dass das] Unbewußte, als das Nicht-Identische […] für die Identität immer auch das andere [ist], auf die sie bezogen ist« (Bohleber, 1992, S. 359).
Dieses Phänomen ist lebenslang wirksam, wenn auch in bestimmten Lebensphasen wichtiger, so z. B. in der Phase der Spätadoleszenz, 45
Später dann in Form von »symbolischen Interaktionsstrukturen und Sinnkategorien einer Gesellschaft« (Bohleber, 1992, S. 356, vgl. auch Kapitel 4.3, 4.6). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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wenn es um die Entwicklung von Berufsvorstellungen und andere zentrale Lebensentscheidungen geht (s. Kap. 4.3 u. 4.7). Die erste Stufe einer »Identität« entwickelt sich schließlich im achtzehnten bis zwanzigsten Lebensmonat mit dem Auftauchen des Bewusstseins, ein getrenntes Selbst zu sein (z. B. sich Erkennen im Spiegel, Bohleber, 1992; vgl. auch Fonagy et al., 2004). Typischerweise ist in dieser Phase die sogenannte »Wiederannäherungskrise« (nach Mahler, 1971, zit. nach Bohleber, 1992, S. 350) als Symptom von durch die Entwicklungsschritte ausgelösten Unsicherheitsgefühlen zu beobachten. Dieser Prozess geht einher mit einer zunehmenden Fähigkeit der Unterscheidung von Selbst versus Objekt sowie Phantasie versus Realität. Bei erfolgreicher Bewältigung der Krise ist der nächste Entwicklungsschritt derjenige, die Getrenntheit zu akzeptieren und damit das eigene Identitätsgefühl zu konsolidieren, »das sich in der Folge durch ›selektive Identifizierungen‹ (Jacobson) weiter stabilisiert und dadurch mehr Inhalt gewinnt« (Bohleber, 1992, S. 350). Auch bei optimaler Entwicklung ist dieser Schritt jedoch begleitet von Trauer und Verlust aufgrund der Loslösung vom primären Objekt. Trennungserfahrungen sind solcherart dem (lebenslangen) Prozess der Identitätsentwicklung in dialektischer Weise inhärent, unter anderem weil ohne eine Selbst-Objekt-Trennung Spiegelerfahrungen durch einen bedeutsamen Anderen nicht möglich wären (vgl. auch Kap. 4.3). »Identität« im psychoanalytischen Sinne kann somit zusammenfassend in einem Spannungsverhältnis zwischen innerer (Phantasien etc.) und äußerer Welt (soziale Umwelt: zunächst primäre Objekte z. B. Eltern, später Kultur) verortet werden. Sie ist per se prozesshaft, stellt im Sinne eines in der frühen Kindheit entstehenden »Identitätsgefühls« eine wichtige persönliche Orientierungsgröße dar und ist immer auch durch Unbewusstes (das Nichtidentische) mitbestimmt. Des Weiteren ist das sich im interaktiven Kontakt mit der primären Bezugsperson entwickelnde »zentrale Identitätsthema« (Bohleber, 1992, S. 363) sozusagen als »Metaplan« der persönlichen Entwicklung lebenslang in unterschiedlichen Kontexten wirksam.
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4.3 Adoleszente, insbesondere spätadoleszente Identitätsentwicklung aus psychoanalytischer Perspektive – »Wer bin ich?« »Im Blick auf die intergenerationellen Strukturierungen […] wird […] hervorgehoben […], dass in diesem Sinne Jugend oder Adoleszenz jenen sozialen Raum der generativen Transition darstellen, in dem sich die Generationenspannung oder die strukturelle Ambivalenz zwischen Generationen mit größter Wirkmächtigkeit entfaltet« (King, 2002, S. 14).
In diesem Kapitel wird die Phase der Identitätsentwicklung eingehender beschrieben, in welcher sich die in der vorliegenden Studie untersuchte studentische Stichprobe weitgehend befindet, die sogenannte Spätadoleszenz (vgl. z. B. Leuzinger-Bohleber u. Mahler, 1993). Dabei wird zunächst in allgemeiner Form auf die Entwicklungsphase der Adoleszenz eingegangen. Im Anschluss folgt eine Betrachtung der – diese abschließende – spätadoleszenten Phase aus einer weitgehend psychoanalytisch-entwicklungspsychologischen Perspektive. Das Hauptmerkmal des Jugendalters, im Folgenden mit dem Überbegriff der »Adoleszenz« (vgl. dazu King, 2002) bezeichnet, besteht diversen Autor/-innen zufolge in der intensiven Beschäftigung mit der eigenen Identität (vgl. z. B. Blos, 1973; Bohleber, 1982; Erikson, 1974; King, 2002; Leuzinger-Bohleber, 2001). Die Beantwortung der Frage »Wer bin ich?« kann als zentrales Problem dieser Lebensphase formuliert werden. Somit ergeben sich in der Adoleszenz einige spezifische neue Entwicklungsaufgaben. R. J. Havinghurst entwickelte erstmals in den 1930er und -40er Jahren ein Konzept von Entwicklungsaufgaben für Jugendliche. Dort wird Entwicklung als Lernprozess aufgefasst, der sich über die gesamte Lebensspanne erstreckt und zu Kompetenzen und Fertigkeiten führen soll, die zur konstruktiven und zufriedenstellenden Bewältigung des Lebens in einer Gesellschaft notwendig sind. Er folgt damit weitgehend der Erikson’schen Identitätskonzeption, einer bei gelungener Entwicklung konfliktfreien Integration in die Gesellschaft. »Eine Entwick© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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lungsaufgabe stellt […] [auch in Havinghursts Konzeption] ein Bindeglied dar im Spannungsverhältnis zwischen individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Anforderungen« (Oerter u. Dreher, 2002, S. 269). Nach Laufer (1965, S. 100 ff., zit. nach Bohleber, 1982, S. 13 f.) können aus psychoanalytischer Perspektive vier verschiedene Entwicklungsaufgaben unterschieden werden. Diese Betrachtungsweise liegt auch den nachfolgenden Ausführungen zugrunde. Als zentrale Entwicklungsaufgaben in der Adoleszenz werden angesehen: 1. Reaktion auf die einsetzende physiologische Reifung Veränderungen des Körpers und das Ausbilden physisch reifer Genitalien führen zur Anforderung einer Integration eines neuen Körperbildes. 2. Veränderte Beziehung zu den Primärobjekten Eine Veränderung der Beziehung zu infantilen Beziehungspersonen (vor allem den Eltern) vollzieht sich. Bestehende Identifizierungen im Ich und Über-Ich bzw. Ich-Ideal werden einer Revision unterzogen, dabei kommt es Bohleber (1982) zufolge »zu einer Wiederbelebung ödipaler Bestrebungen« (S. 14), »neue Identifizierungen« (S. 14) mit der Peergroup erfolgen, daraus resultieren »mehr sekundäre Autonomie und Unabhängigkeit« (S. 14). 3. Finden eines (heterosexuellen) Liebesobjekts Vorstufen davon sind »Onaniephantasien und das Ausprobieren von Beziehungen ohne allzu große Festlegung. Durch die Auseinandersetzung mit den ödipal-libidinösen Bestrebungen, ihrer Abwehr, Umformung und Ablösung kommt es zur Ausbildung ganz spezifischer persönlicher Liebesbedürfnisse« (Bohleber, 1982, S. 14). 4. Integration präödipaler Identifikationen, ödipaler Identifikationen und aktueller innerer und äußerer Verhaltenserwartungen Im Zuge des letztgenannten Entwicklungsschrittes ist, wie weiter oben bereits erwähnt, »›Wer bin ich?‹ [die] typische adoleszente Frage, worauf jeder eine individuelle Antwort finden muss« (Bohleber, 1982, S. 14; vgl. auch King, 2002). Eine zentrale Entwicklungsaufgabe in dieser Phase ist somit das Finden einer stabileren Identität, in © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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welche auch »infantile Triebschicksale und traumatische Erfahrungen« (Bohleber, 1982, S. 14; vgl. auch Blos, 1973) eingehen. Weiter unten wird dies detaillierter ausgeführt. King (2002) betont die Spezifität des Wandels in der Adoleszenzphase. Dieser komme eine »weichenstellende Funktion und Bedeutung […] [bzw. eine] Scharnierbedeutung« (S. 31) zu (psychisch, sowie bzgl. sozialer Identität, Geschlechterbeziehung, Generationenspannung, sozialer Schichtung). Die besondere kulturelle Funktion der Adoleszenz (v. a. in modernen Gesellschaften) wird in Kapitel 4.6 ausführlicher beschrieben. Zu unterschiedlichen Zeitpunkten stehen für Jugendliche unterschiedliche Aufgaben im Zentrum, d. h., dass sich die Aufgabengewichtung im Verlauf des Jugendalters verschiebt.46 In der Adoleszenz führen körperliche Reifungsprozesse und seelische Veränderungen zu einer Verflüssigung vorheriger Strukturen und damit zu einer Destabilisierung des Ichs. Die neue Körperlichkeit muss, wie erwähnt, integriert werden. Nach der im vorangegangenen Kapitel beschriebenen ersten frühkindlichen Phase der Autonomieentwicklung stellt die Adoleszenz eine zweite Phase der Individuierung dar (vgl. z. B. Leuzinger-Bohleber, 2001). Wie für die frühkindliche Entwicklung die Bereitstellung ausreichenden »containings« bzw. »mirrorings« (Stützung und Spiegelung) durch das Primärobjekt zentral sind (vgl. Kap. 4.2), ist auch in diesem Lebensabschnitt eine stützende und zugleich Autonomie und Abgrenzung gestattende Umwelt für den Erfolg des Individuierungsprozesses entscheidend (vgl. z. B. King, 2002, 2007; Leuzinger-Bohleber u. Garlichs, 1991). Analog zum für die frühkindliche Entwicklung notwendigen intermediären Raum (Winnicott) ist in dieser Phase die Möglichkeit zu einem »Probehandeln« bei gleichzeitigen Rückversicherungsangeboten wichtig. »Insofern es um Potentiale geht und nicht um etwas Gewährleistetes, stellt Adoleszenz einen Möglichkeitsraum dar, aus dem Neues hervorgehen kann« (King 2007, S. 38). Dieser Möglichkeitsraum wird von den Erwachsenen, zunächst insbesondere von den Eltern gestal46
Außerdem scheint es geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Gewichtung der Aufgaben zu geben. Mädchen schätzen z. B. das Akzeptieren der eigenen körperlichen Erscheinung als wichtiger ein als Jungen (vgl. King, 2002). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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tet, denn »Entwicklungsprozesse der Adoleszenz sind spezifische Veränderungen in Generationenbeziehungen« (King, 2007, S. 38). King (2007) betont, dass somit »adoleszente Entwicklungen systematisch als intergenerationale Prozesse gefasst werden müssen« (S. 34). Bedeutsame Bezugspersonen tragen entscheidend zur Entwicklung der Individuation der Adoleszenten bei. In diesem Kontext wird von ihr der Begriff der Generativität aufgegriffen. King (2007) versteht unter Generativität »Elternschaft im psychischen und psychosozialen Sinne« (S. 46), vor allem eine »fürsorgebereite und zurückhaltende Begleitung« (S. 37). »Generative Haltungen erfordern [von Seiten der vorangehenden Generation], den Adoleszenten zum einen genügend Freiraum zu lassen, zum zweiten aber auch zur ›Verwendung‹ durch die adoleszenten Kinder zur Verfügung zu stehen und gleichsam einen sicheren Hafen zu bieten, der den Gang hinaus in die Welt ermöglicht« (King, 2007, S. 47).
Wichtig ist in diesem Kontext die »ambivalente Struktur von Generationenbeziehungen« (King, 2002, S. 38). Die Ablösung von bedeutet auch die Ablösung der vorausgehenden Generation. »Individuation« (King, 2002, S. 42) ist also auch unter guten Bedingungen als ein stattfindender Trennungsprozess zu begreifen, der mit Trauer verbunden ist. Für die Adoleszenten ist es notwendig, die so entstehenden Schuldgefühle aushalten zu lernen. King (2007) formuliert dies folgendermaßen: »Für die Adoleszenten selbst [ist] schmerzlich […] im Prozess der unausweichlichen inneren Attacke gegen die Eltern die Ängste, Schuldgefühle, Trauer und insbesondere die dadurch bedingten Einsamkeitsempfindungen zu ertragen und zu durchlaufen. Denn indem die Adoleszenten ihre eigene Welt erschaffen, müssen sie – zumindest phasenweise – auf die Zustimmung und Anerkennung der Eltern verzichten. Man könnte sagen: Adoleszente treten notwendigerweise – und hier werden die Gleichaltrigen besonders wichtig – im Verhältnis zur Erwachsenengeneration in eine Art Anerkennungsvakuum ein« (S. 45).
Aus dieser Perspektive ist von der Adoleszenz als einem »Modus der Katastrophe« auszugehen. Peers werden zunehmend wichtiger (vgl. Bohleber, 1992), auch zur Stützung der eigenen noch sehr unsicheren © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Identität im Verhältnis bzw. in Abgrenzung zu elterlichen Lebensweisen und Werteorientierungen. Ein Generationenwechsel – und eine damit verbundene Trennung von elterlichen Identifizierungen – muss somit vollzogen werden (vgl. King, 2002). Zentrale Konflikte der Adoleszenz manifestieren sich in dieser Konstellation. Auch diesbezüglich wird die Unterstützung durch Peers bedeutsam (vgl. Bohleber, 1992). An dieser Stelle zeigt sich das dialektische Verhältnis zur frühkindlichen Entwicklung. Eine Individuierung in der Adoleszenz setzt die Fähigkeit »sich von der Anerkennung der anderen oder des sozialen Umfelds auch in mancher Hinsicht unabhängig zu machen« (King, 2002, S. 89) voraus. Frühkindliches Anerkanntwordensein stellt jedoch eine wichtige Voraussetzung dieser späteren Fähigkeit dar. Weiter führt King (2002) dazu aus: »Eine konventionsüberschreitende individuierende Identitätsbildung basiert insofern wesentlich auf jener Fähigkeit, auf konventionelle Formen der Anerkennung zu verzichten, wie jegliche kreative Neuerung eben gerade auf der Fähigkeit basiert, eingeschliffene oder garantierte Erfolgswege aufzugeben und neue zu riskieren« (S. 89).
Das Ziel der Identitätsbildung in dieser Lebensphase stellt dar, einen »integrativen Individuierungsmodus« (King, 2002, S. 39; vgl. Mead, 1980; Habermas, 1992, beide zit. nach King, 2002, S. 39) oder auch eine »bezogene Individuation« (Stierlin, et al., 1977, S. 18 ff., zit. nach King, 2002, S. 39) zu erlangen (vgl. auch Fonagy et al., 2004). Die Dialektik besteht dabei in der Tatsache, dass erst durch die unterstützende Bezogenheit der vorangegangenen Generation auf die Adoleszenten diesen eine Individuation (also weniger Bezogenheit zu dieser) gelingen kann. Dies ermöglicht, durch die sich entwickelnde Generativität bei den Adoleszenten, dann wiederum deren bezogene Individuation auf eine nachfolgende Generation (oder auch die Gesellschaft allgemein). Für den beschriebenen Prozess sind weiterhin gesellschaftliche Voraussetzungen für »individuelle Bildungs- und Selbstfindungsprozesse in der Adoleszenz« (King, 2002, S. 40) notwendig. King (2002) zufolge ist der Individuationsprozess durch gegenwärtige gesellschaftliche Bedingungen eher erschwert. Weiter eingegangen wird auf diese Überlegung in Kapitel 4.6. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Die von Laufer (1976) benannte dritte und die vierte Entwicklungsaufgabe (3. Finden eines Liebesobjekts und 4. Integration präödipaler und ödipaler Identifikationen sowie von Verhaltenserwartungen) stehen Bohleber (1982) zufolge »in der Zeit der Spätadoleszenz im Vordergrund« (S. 14). Insbesondere die vierte Aufgabe ist für diese Untersuchung relevant, dies vor allem aus der Perspektive der beruflichen Identitätsentwicklung, welche sich nicht unabhängig von anderen Bereichen der Identitätsentwicklung vollzieht (s. dazu Kap. 4.7). Nachdem in der eigentlichen Phase der Adoleszenz (v. a. Phasen 1 und 2 nach Laufer, s. o.) große Umbrüche und Unsicherheiten bewältigt werden mussten, wird nun die Frage der eigenen Identität, des »Wer bin ich?« nach der adoleszenten Überlegung des »Wer könnte, wer möchte ich sein?« besonders zentral. Leuzinger-Bohleber (2001) hebt die Bedeutung dieser Phase wie folgt hervor: »Die Spätadoleszenz [bildet] häufig einen Kristallisationspunkt der eigenen Biographie« (S. 15). Als »phasenspezifische Hauptaufgabe« (Bohleber, 1992, S. 52) der Spätadoleszenz benennt Bohleber (1982) entsprechend die »Identitätsbildung« (S. 13). Dabei betont er die Rolle der umgebenden Gesellschaft für den Verlauf dieser Phase: »Identitätsbildungsprozesse verlaufen […] nie unabhängig von den jeweiligen gesellschaftlichen Strukturen und Zuständen, in die sich der Spätadoleszente hinein entwickeln soll« (Bohleber, 1982, S. 13). Der Phase der Spätadoleszenz kommt hier besondere Bedeutung zu, da sich Studierende in der Regel in dieser Phase der Identitätsentwicklung befinden (vgl. Leuzinger-Bohleber u. Mahler, 1993, S. 23). Es handelt sich um eine »Zeit der Festlegungen und Wahlen« (Bohleber, 1993, S. 50). Nach Blos (1973) ist sie gekennzeichnet durch einen »Zuwachs an zweckbedingter Handlung, gesellschaftlicher Integration, Berechenbarkeit, Stetigkeit der Gefühle und Stabilität der Selbstachtung […], [sowie durch] das Sich-Abzeichnen jener Dinge, die im Leben wirklich wichtig sind […] [verbunden mit dem Bestreben der] SelbstVerwirklichung« (S. 150).
Kontinuitäten sowie Unterbrechungen treten hervor. Es handelt sich um eine Phase der Festigung der Persönlichkeit in © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Gestalt einer »Konsolidierung von sozialen Rollen und irreversiblen Identifizierungen« (Blos, 1973, S. 172). Im Zuge einer erfolgreichen Bewältigung kommt es schließlich zu Festlegungen im Sinne eines »Das bin ich« (vgl. z. B. Blos, 1973; Bohleber, 1993; King, 2002; Leuzinger-Bohleber, 2001). Dieser Prozess wiederum ist – ebenso wie die (früh-)kindliche intersubjektive Identitätsentwicklung – abhängig von äußeren Anerkennungserfahrungen, trotz des der Phase auch immanenten Anerkennungsvakuums (s. o.; vgl. auch LeuzingerBohleber u. Garlichs, 1991). Neben den Weichenstellungen aus der frühkindlichen Phase und den typischen intrapsychischen Mechanismen der Spätadoleszenz sind die sozialen Umwelten der Spätadoleszenten – bei Studierenden also unter anderem die universitäre Umwelt – entscheidende Größen im Individuierungsprozess. Sie prägen diesen Prozess maßgeblich mit und sollten Erprobungsräume sowie reale Gratifikationen bereitstellen, um die in der Adoleszenz zur Stabilisierung des Ichs notwendigen narzisstischen Größenphantasien »abzuschleifen« (vgl. Blos, 1973; Leuzinger-Bohleber u. Garlichs, 1991; Leuzinger-Bohleber, 2001). Auf die Bedeutung dessen wird im Folgenden detaillierter eingegangen. »Optimale« Erprobungsräume bieten, wie dargelegt, die Möglichkeit zum Probehandeln bei gleichzeitigen Rückversicherungsangeboten, analog zum frühkindlichen intermediären Raum. Dieser Möglichkeitsraum wird häufig als »psychosoziale[s] Moratorium« (Erikson, 1956, zit. nach Blos, 1973, S. 176; King, 2002) bezeichnet. Konkret meint das psychosoziale Moratorium – ein von Erikson geprägter Begriff – eine Phase des Experimentierens, die idealerweise »ein sicheres Gefühl innerer Kontinuität und sozialer Identität« (Blos, 1973, S. 176) als Bindeglied zwischen dem Gewesenen und dem Werdenden entstehen lässt.47 Nach Leuzinger-Bohleber (2001) ist eine intrapsychische Voraussetzung dafür das erwähnte »Verblassen grandioser Selbst-Repräsentanzen« (S. 15), denen in der fragilen Phase der Adoleszenz zunächst eine wichtige »Halte-Funktion« zukommt, die aber an der Realität abgearbeitet werden müssen. Reale Gratifikationen sind in dieser Zeit laut Leuzinger-Bohleber (2001) besonders wichtig, damit eine »schmerzhafte Deidealisierung von 47 King (2002) bezeichnet diese Phase auch als »Bildungsmoratorium« (S. 92).
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Selbst und Objekt […] [und schließlich] eine innere ›reife Ambivalenz‹« (S. 15) möglich wird. Die Bedeutung dieses Prozesses lässt sich vor allem an den Beispielen seines Scheiterns belegen. So kann zum Beispiel die Tatsache, dass bestimmte psychische Störungen vorwiegend bei jungen Erwachsenen in der (Spät-)Adoleszenz ausbrechen, dahingehend verstanden werden, dass die Integrationsfähigkeit der Betroffenen mit der Bewältigung der genannten Aufgaben überfordert ist (vgl. Blos, 1973; Leuzinger-Bohleber, 2001). Im Abgleich mit zentralen Selbstrepräsentanzen kommt es also in der Phase der Spätadoleszenz zu Proberealisierungen und identifikatorischen Festlegungen – unter anderem in Bezug auf die in dieser Untersuchung interessierende Berufswahlfindung (vgl. z. B. King, 2002, S. 89) – sowie zur Festigung von Werteorientierungen und Interessen, welche für Wahrnehmungen psychotherapeutischer Verfahren unter den in dieser Studie untersuchten Studierenden von Bedeutung sind. In diesem Kontext sind zwei Aspekte ihrer Umweltbedingungen zentral, zum einen, welche Möglichkeiten zur Erfahrung von Anerkennung und »Wahrgenommenwerden« (Leuzinger-Bohleber, 2001, S. 34) sich Studierenden in ihrem Studium sowie insgesamt bieten, zudem, wie viel Experimentierraum (psychosoziales Moratorium) ihnen eingeräumt wird für die Identifikation mit oder die Zurückweisung von angebotenen Identitätsentwürfen (z. B. durch Eltern oder Lehrende) in Zusammenhang mit ihrer persönlichen Berufswahlfindung und Interessenentwicklung. LeuzingerBohleber (2001) betont in diesem Kontext die wichtige gesellschaftliche Funktion, die »Bildungsinstitutionen […] [, wie Universitäten gerade in] labilisierenden Zeiten« (S. 37) wie der heutigen zukommt – als Orientierungshilfe, als Quelle der Anerkennung wie auch als Bereitsteller eines »Experimentierraums«. Zum besseren Verständnis der erforderlichen intrapsychischen Prozesse und der »seelischen Integrationsleistung« (Leuzinger-Bohleber, 2001, S. 34), die in der Spätadoleszenz vollzogen werden müssen, werden diese im Folgenden genauer beschrieben: Die psychische Instanz, in der die Festlegungs- und die Konsolidierungsprozesse mit dem Ziel der Ich-Integration stattfinden, ist das »Ich« (Blos, 1973, S. 156). Bohleber (1993) bezeichnet diese Integration als »übergeordnete Aufgabe dieser Entwicklungsphase« (S. 49). Ihre Richtung ist weitgehend von Einflüssen des Über-Ichs und des Ich© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Ideals bestimmt, also von frühkindlichen Erfahrungen geprägt (Blos, 1973). Ihre »Form aber ist von der Umgebung, von sozialen Gegebenheiten, Tradition, Sitten und Wertsystemen beeinflusst« (Blos, 1973, S. 156). Die zentrale Aufgabe der Findung einer stabileren Identität ist somit niemals unabhängig von den jeweiligen gesellschaftlichen Strukturen und Zuständen. Wie bereits erwähnt, sind sowohl progressive als auch regressive Entwicklungsverläufe möglich (vgl. Blos, 1973; Leuzinger-Bohleber, 2001; King, 2002). Wichtig ist, zwischen psychopathologischen, also fehlgeschlagenen, und »normalen« spätadoleszenten Entwicklungen zu unterscheiden (Blos, 1973). Allerdings ist integraler Bestandteil der spätadoleszenten Entwicklungsphase zugleich ein »Kompromißaspekt […], [es könne immer nur] relative Reife« (S. 151) erreicht werden. So gibt es nach Freud »fast immer Resterscheinungen [aus der Kindheit], ein partielles Zurückbleiben« (1937, zit. nach Blos, 1973, S. 151), Blos (1973) zufolge verantwortlich für die großen »Variationen der Individualisierung« (S. 151, vgl. auch Leuzinger-Bohleber, 2001). Es gibt also nicht die eine »richtige« bzw. normale Entwicklung, sondern ein Erfolg dieser Entwicklungsphase zeigt sich vor allem im Gelingen dieses Kompromisses. Da die zentrale Entwicklungsaufgabe dieser Phase die »Ausarbeitung eines vereinheitlichten Ichs« (Blos, 1973, S. 151) darstellt, muss eine enorme Integrationsleistung vollzogen werden. Es handelt sich um einen entscheidenden Wendepunkt (vgl. Bohleber, 1992; Leuzinger-Bohleber, 2001; King, 2002). Erikson (1956) fasste dies unter dem Begriff der »Identitätskrise« zusammen (zit. nach Blos, 1973, S. 152; vgl. auch Leuzinger-Bohleber, 2001). Risiken bestehen in der möglichen Überforderung der »Integrationsfähigkeit des Individuums […] [und in] adaptive[m] Versagen« (Blos, 1973, S. 152). Auch Bohleber (1993) sieht die Überforderung der »Integrationsfähigkeit des Ichs« (S. 50) als Gefahr in dieser Phase an, die er ansonsten hauptsächlich durch das »›Einheitlichkeitsstreben‹ des Ichs« (S. 50) charakterisiert sieht. Psychoanalytisch gesehen geht es dabei um das »Entstehen einer relativ widerspruchsfreien Selbstrepräsentanz mit stabilen Grenzen gegen die Objekt-Repräsentanzen« (Bohleber, 1993, S. 49). Die Spätadoleszenz sollte also mit dem »›relativ konfliktfreien [psychosozialen] Kompromiß‹ einer integrierten Persönlichkeit abgeschlossen werden. [Diese] Tendenz zur Vereinheitlichung erzwingt © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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seelische Kompromißbildungen […] [, wobei die] synthetische Funktion« (Bohleber, 1993, S. 52; vgl. auch Blos, 1973) des Ichs genutzt wird. Darüber wird eine Akzeptanz und ein Ausgleich der »drei Antithesen des geistigen Lebens [angestrebt], nämlich: SubjektObjekt, aktiv-passiv, Lust-Unlust. Eine stabile Einstellung in Bezug auf diese drei antithetischen Modalitäten manifestiert sich subjektiv in einem Gefühl der Identität« (Blos, 1973, S. 170),
wobei es sich um ein Gefühl der Ich-Identität (Erikson) oder des Selbst48 bei (teils) widersprüchlichen Rollen handelt. Dieses »Identitätsgefühl« (vgl. Kap. 4.2) ist beim Vorgang der Synthetisierung ein wichtiges Regulationsprinzip. »Das Selbst übernimmt die Aufgabe eines übergeordneten Organisators, der die seelischen Integrationsprozesse aktiviert und sich dabei der synthetischen Funktionen des Ichs bedient. Zu ihnen gehört auch das Identitätsgefühl« (Bohleber, 1993, S. 52).
Das Selbstgefühl ermöglicht somit, sich als getrennt von anderen zu erleben. Erfahrungen dessen stehen »im Dienste der inneren Abgrenzung und dienen dem Erwerb eines neuen Identitätsgefühls« (Bohleber, 1993, S. 57). Ein innerer Vergleichsprozess unterschiedlicher Strebungen bezüglich ihrer Kompatibilität mit dem Selbst findet statt. Die zentralen Selbstrepräsentanzen dienen dabei als innerer Bezugsrahmen des Identitätsgefühls. So kommt es zu einem Pendeln des Ichs von »zentralen Selbst-Repräsentanzen […] hin zur Repräsentanz, die in Frage steht. […] [und infolge dessen zu einer] Assimilierung oder Verdrängung dieser Repräsentanz« (Bohleber, 1993, S. 53). Bohleber gemäß können dabei Selbst-Repräsentanzen (fungierend als »Identitätselemente«, S. 53) als eine Art von »SelbstGefühl« (S. 53) gefasst werden, welche in Form von »episodic memories« (Bohleber, 1993, S. 53; vgl. auch Leuzinger-Bohleber, 2008) gespeichert werden. Es handelt sich dabei um »Interaktionen, die mit zunehmender Erfahrung generalisiert werden« (S. 53, vgl. auch Kap. 4.2). Selbst-Repräsentanzen sind somit ein 48 Von verschiedenen Autor/-innen wird Ich-Identität und Selbst synonym verwendet, was hier im Folgenden gleichermaßen gilt (vgl. auch Kap. 4.2).
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4 Individuum und Gesellschaft »zentrales Element für Gruppierung und Generalisierung […], die zudem in diesem Synthetisierungsvorgang selbst prototypisch verallgemeinert bzw. abstrahiert werden. […] [Sie sind organisiert in einem] interaktiven generalisierten Kontext […] mit der Möglichkeit, einzelne hoch motivierende ›episodic memories‹ rasch abzurufen, die in dem aktuellen Interaktionszusammenhang von zentraler Bedeutung sind und die auf diese Weise zu Motivationen des Selbst werden« (Bohleber, 1993, S. 53).
Allerdings ist wichtig zu beachten, dass es mehrere »Cluster« von zentralen Selbst-Repräsentanzen gibt, welche, falls nicht integrierbar, miteinander in Konflikt treten können. Beispielsweise könnten dies für eine junge Frau eine berufsbezogene Selbstrepräsentanz und eine Selbstrepräsentanz als zukünftige Mutter sein. Individuelle Identität steht, wie weiter oben ausgeführt, immer in einem Spannungsverhältnis mit der umgebenden Gesellschaft und ist auch aufgrund dessen zwangsläufig durch Brüche und Widersprüche gekennzeichnet. Bohleber (1993) zufolge ist das Ziel der Identitätsentwicklung eine Integration konfligierender Selbst-Repräsentanzen-Cluster; durch gelungene Integration könne ein regelrechtes »Glücksgefühl« (S. 53) entstehen. Die intrapsychischen Strategien, die hierfür genutzt werden können, sind Verdrängung und Aktualisierung sowie eine Re-Inszenierung unbewusster Selbstanteile. Durch eine Reaktivierung präödipaler Strukturen und regressiven Verhaltens ist eine Verarbeitung im Sinne einer »Ich-syntonen Arbeit« (Bohleber, 1993, S. 54) möglich. Allerdings liegt hierin auch die Gefahr einer Überschwemmung durch zu starke prägenitale passive Wünsche und Ängste. Die Frage, ob das Ich sowohl mit aktiven als auch mit passiven Wünschen aktiv umgehen kann, ist für eine progressive Lösung entscheidend (Bohleber, 1993). In diesem Sinne kommt es zu einem idiosynkratischen Kompromiss zwischen prägenitalen und genitalen Trieben. Eine »bewußte und auswählende Aneignung der eigenen Vergangenheit« (Bohleber, 1993, S. 56) ist Teil der Identitätsentwicklung. Kognitive Voraussetzung für diese Aneignung der eigenen Vergangenheit stellt die Fähigkeit zur Anwendung »formale[r] Operationen« (Piaget, zit. nach Bohleber, 1993, S. 56) dar, die sich zwischen dem zwölften und 14. Lebensjahr ausbildet (vgl. auch Fonagy et al., 2004). Aufgrund dieser kognitiven Fähigkeit kann es erst zu »Nach© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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träglichkeit und wiederholende[r] Neuschöpfung« (Bohleber, 1993, S. 56) im Sinne Freuds kommen. Die Kindheit wird im Lichte der erworbenen Sexualität neu gelesen (genauer zum Konzept der Nachträglichkeit, s. Kap. 3.3 u. 4.6). Im Vergleich zur Adoleszenzphase, in der eine starke »introspektive Empfindsamkeit« (Blos; 1973, S. 169) vorhanden ist, beschreibt auch Blos (1973) die nachfolgende Phase der Spätadoleszenz als gekennzeichnet durch eine »zunehmende Fähigkeit für abstraktes Denken [und eine damit einhergehende] Beschränkung, Begrenzung und Kanalisierung« (S.169). Die Festigung der Selbstrepräsentanzen ist zudem spezifisch für diese Phase: »der Erbe der Adoleszenz [ist] das Selbst« (Blos, 1973, S. 158). Neurotische Anpassungen versteht Blos als »unvollkommene Adoleszenz« (S. 164). Die gesamte adoleszente Phase ist durch eine nahe, wenn auch defensive Beziehung zu den Trieben gekennzeichnet (vgl. Blos, 1973). In der Spätadoleszenz kommt es nun zur äußeren Verortung der Triebregungen, was darin mündet, dass im Erleben des Individuums sein Verhalten »als sinnvoll, selbstverständlich, dringend und befriedigend […] [wahrgenommen wird, wodurch in Interaktion mit der Umwelt eine zunehmende Fähigkeit entwickelt wird,] Rest-Traumen zu meistern« (Blos, 1973, S. 154).49 Bei Erfolg führt dies zu einer Neuintegration, bei Scheitern zu einer »persistenten Ich-Dystonizität in Bezug auf z. B. bestimmte IchHaltungen« (Blos, 1973, S. 154). »Reste« bleiben jedoch, wie bereits ausgeführt, bei jedem erhalten. »Ein Charakterzug […] verdankt seine spezielle Qualität der Fixierung an ein bestimmtes Trauma« (S. 155). Die Wirkmacht der Fixierungen an bestimmte »Traumata«, man könnte dies neutraler auch als das individuell Biographische bezeichnen, führt dazu, dass sie einen »jungen Erwachsenen in eine
49 Blos (1973) fasst unter dem Begriff des »Traumas« (S. 154) schwierige lebensgeschichtliche Ereignisse, die bei jedem Menschen zu finden sind und auf die mit spezifischen, den individuellen Charakter (Charakter und Persönlichkeit werden von Blos in diesem Kontext synonym verwendet) mit determinierenden Abwehrmechanismen reagiert würde. Des Weiteren gebe es den »Wiederholungszwang [, also das] Modell der inneren Gefahr« (s. 154), die Originalsituation in substituierter und symbolisierter Form irgendwie zu wiederholen. Es handelt sich somit um einen wenig spezifischen Traumabegriff.
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bestimmte Lebensform zwingt« (S. 155), die dieser dann als seine »ureigene« (S. 155) empfindet und in Form von Lebensaufgaben zu bewältigen sucht. Kindliche Konflikte werden beim Abschluss der Adoleszenz also nicht beseitigt, sondern spezifisch gemacht, »sie werden Ich-syntonisch, d. h. als Lebensaufgaben in den Bereich des Ichs integriert« (Blos, 1973, S.156; vgl. auch Bohleber, 1992; Leuzinger-Bohleber, 2001). Am Ende der Adoleszenz erfolgt ein »selbstbeschränkender Prozess, ein Abstecken eines Lebensraums, der nur innerhalb eines beschränkten psychologischen Gebietes Bewegung« (Blos, 1973, S. 157) erlaubt. In der Spätadoleszenz werden unter anderem »ödipale Reste« (Blos, 1973, S. 157) in Ich-Modalitäten transformiert. Ob die Adoleszenzzeit erfolgreich gemeistert wurde, zeigt sich aus diesem Grunde erst in ihrer Spätphase. Ein Scheitern kann Blos (1973) zufolge als Misslingen der Reifungsaufgabe der »Ich-Identität« (S. 165) gesehen werden. »Ich-integrierende Prozesse« (S. 173) kommen mit Ende der Adoleszenz keineswegs zum Abschluss, die »Persönlichkeitsentwicklung […] [und die] emotionale Entwicklung« (S. 173) dauern an. Die prozesshafte Realitätsanpassung bleibt somit eine lebenslange Anforderung an den Menschen (Blos, 1973, S. 164; vgl. auch Bohleber, 1992). Den Abschluss des vorliegenden Kapitels bildet ein Exkurs über unterschiedliche Phasenaufteilungen und Begrifflichkeiten verschiedener Autor/-innen bezogen auf die Spätadoleszenz. Die sogenannte »Postadoleszenz« stellt nach Blos (1973, S. 171 ff.) den endgültigen Übergang von der Adoleszenz zum Erwachsensein dar. Es handelt sich ihm zufolge um die Zwischenphase »junger Erwachsener«. Eine Harmonisierung der Bestandteile der Persönlichkeit finde statt, als Vorbereitung oder zusammen mit der Berufswahl, dies jedoch in stabiler Weise nur, wenn es die Möglichkeit gebe, »Garantien auszuarbeiten, die automatisch das narzisstische Gleichgewicht schützen« (Blos, 1973, S. 172). In der Spätadoleszenz würden, wie ausgeführt, spezifische Konflikte in den Bereich des Ichs als Lebensaufgaben integriert, in der Postadoleszenz müssten nun spezifische Wege gefunden werden, um mit ihnen umzugehen, bzw. »diese Aufgaben in der Außenwelt« (Blos, 1973, S. 174) zu verwirklichen. Im von Blos (1973) so genannten »postadoleszenten Experimentieren« (S. 174) würden verschiedene Ich-Interessen einander gegenübergestellt, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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»heterogene Bestrebungen […] gleichzeitig und mit der gleichen Dringlichkeit verfolgt […] [z. B.] materieller Gewinn gegenüber Forschungsarbeit, ökonomische Unsicherheit mit Unabhängigkeit gegenüber einer sicheren Anstellung mit dem Akzeptieren von Regeln und Vorschriften« (S. 174).
Schließlich komme es durch das Absinken der Triebkonflikte im Zuge der »Persönlichkeitsstabilisierung […] [zu einer Phase des] ›SichFestsetzens‹« (S. 175) und zu einem endgültigen Akzeptieren oder Zurückweisen von kindlichen Identifizierungen. Die idiosynkratische Ausformung sei dabei von gesellschaftlichen Vorstellungen und Erwartungen »verhüllt« (Blos, 1973, S. 174). Die von Blos (1973) in Anlehnung an Erikson hierbei identifizierten Gefahren für die psychische Entwicklung sind die einer sogenannten »Identitätsdiffusion« (S. 179; vgl. auch Marcia, 1993) oder einer »negative[n] Ich-Identität« (S. 179). Die endgültige Loslösung von den Eltern erfolgt Blos (1973) zufolge erst in der Postadoleszenz, in dem Sinne, dass »die Einigung mit elterlichen Ich-Interessen und -Haltungen […] am besten und bewußtesten während« (S. 179) dieser Phase geschieht. Das Selbst und nicht mehr die Eltern dienen schließlich als Orientierung, um ein »Gefühl der Würde und der Selbstachtung aufrecht zu erhalten« (S. 176). An dem Blos’schen Phasenmodell wurde jedoch vielfach Kritik geübt. So wurde beispielsweise die Validität der Phasen in Frage gestellt (z. B. King, 2002, S. 23). Während Blos (1973), wie ausgeführt, unterteilt in die Phase der Spätadoleszenz und die darauf folgende und (idealtypisch) in der Elternschaft mündende Phase der Postadoleszenz, unterteilt Laufer (1976) diese in die Phasen Spätadoleszenz und junges Erwachsenenalter. Bohleber (1982) verzichtet ganz auf eine solche Unterteilung und spricht nur von der Phase der »Spätadoleszenz« (S. 12). Er führt dazu aus: »Wir befassen uns mit dem Zeitraum vom 18. bis zum 25. Lebensjahr. Es handelt sich entwicklungspsychologisch um den Ausgang und den Abschluß der Adoleszenz, wofür sich als Bezeichnung der Begriff ›Spätadoleszenz‹ eingebürgert hat. […] [In einer Fußnote merkt er dazu an:] Von den Lebensjahren her ist dieser Zeitraum nur grob zu umreißen. Besser definierbar ist er durch die ihn charakterisierenden Entwicklungsaufgaben« (S. 12). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Zusammengefasst handelt sich also in etwa um den Zeitraum vom 18. bis zum 25. Lebensjahr, wobei eine entwicklungsaufgabenbezogene Aufteilung von den meisten Autor/-innen einer altersbezogenen vorgezogen wird. Wie Bohleber (1982, 1992, 1993) verwendet auch King (2002) dafür lediglich den Begriff der Spätadoleszenz. Diesem Verständnis wird auch für diese Untersuchung gefolgt.
4.4 Soziologische und sozialpsychologische Identitätsauffassung – »Soziale Rolle« »Identitäten sind Selbstverständnisse, die an Rollen geknüpft sind und damit an Positionen in sozialen Beziehungen« (Hylander, 2008, S. 23).
Die soziologische bzw. die sozialpsychologische Auffassung von Identität betont den Aspekt der sprachlich kommunikativ verfassten Selbstkonstruktion sowie der Übernahme einer sozialen Rolle (vgl. z. B. Hylander, 2008 ; Keupp, 2007a ; Keupp u. Hohl, 2006). In dieser Sichtweise wird Identit ät weniger als in der psychoanalytischen Perspektive entwicklungspsychologisch gefasst, sondern die aktiv-schöpferische (mehr oder weniger bewusste) Rollenübernahme steht im Vordergrund. Obwohl es sich dabei psychologisch gesehen um einen weniger tief gehenden Blick auf Identität handelt, ist diese Identitätskonzeption für die vorliegende Studie sinnvoll, insbesondere im Zusammenhang mit den formulierten gegenwartsdiagnostischen Überlegungen. Diese Identitätskonzeption wird von vielen Autor/-innen als Referenzrahmen für gegenwartsdiagnostische Überlegungen genutzt, da sie hierfür interessante Verknüpfungsmöglichkeiten bietet (z. B. Frommer, 2003 ; Keupp, 1989, 2007a). Auch in Bezug auf den Selbstpositionierungsprozess von Subjekten, der im nachfolgenden Kapitel 4.5 ausführlicher beschrieben wird, liefert die Herangehensweise wertvolle Ansatzpunkte. Was bedeutet nun »sprachlich kommunikativ verfasste Selbstkonstruktion«? Zunächst wird zur Bestimmung dieses Ausdrucks auf den sogenannten (De-)Konstruktivismus eingegangen und daran anschließend der Begriff der »Rolle« definiert. Darauf folgend © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
4.4 Soziologische und sozialpsychologische Identitätsauffassung 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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werden die beiden Konzepte im Hinblick auf »Selbstkonstruktion« verknüpft. Der Ansatz des (De-)Konstruktivismus betont die »Konstruktion sozialer Wirklichkeit« (Flick, 2000, S. 150; vgl. auch Reiche, 2004). Anders als in der aufklärerischen Sichtweise, wonach ein Subjekt die objektiv gegebene Wahrheit rational erkennen kann (Descartes), wird hier mit einem Realitätsbegriff operiert, der Wahrheit als kommunikativ intersubjektiv Hergestelltes begreift (zur wissenschaftstheoretischen Perspektive, vgl. Kap. 3.2). Nach Reiche (2004) sind die Vorstellungen der modernen Philosophie dadurch gekennzeichnet, dass in diesem Sinne keine objektive Wahrheit vorhanden ist. Er subsummiert diese Sichtweise unter der Konstruktionstheorie. »Gemeinsam ist allen konstruktivistischen Ansätzen, dass sie das Verhältnis zur Wirklichkeit problematisieren, indem sie konstruktive Prozesse beim Zugang zu dieser behandeln« (Flick, 2000, S. 151). Für die Fragestellung dieses Buches ist besonders der Zugang des sozialen Konstruktivismus in der Tradition von Schütz (1971, zit. nach Flick, 2000) relevant. Dieser »fragt nach den sozialen (z. B. kulturellen oder historischen) Konventionalisierungen, die Wahrnehmung und Wissen im Alltag beeinflussen« (Flick, 2000, S. 151).50 Im Anschluss erfolgt eine Definition des Rollenbegriffs aus sozialpsychologischer sowie soziologischer Perspektive. Rolle bedeutet in der Sozialpsychologie »die Summe der von einem Individuum erwarteten Verhaltensweisen, auf die das Verhalten anderer Gruppenmitglieder abgestimmt ist. […] Die Rolle erscheint dann als geordnetes Modell von Verhaltensweisen, relativ zu einer gewissen Position des Individuums in einem interaktiven Gefüge; als ein Satz von […] Rollenerwartungen bezüglich des Inhabers der Position« (Häcker u. Stapf, 2004, S. 815).
Soziologisch wird die soziale Rolle als »die Summe der Erwartungen, die dem Inhaber einer sozialen Position über sein Verhalten entgegen gebracht wird« (Lautmann, 2007, S. 561) gefasst. Aus einer konstruktivistischen Perspektive ist dem hinzuzufügen, dass sowohl 50 Insbesondere die soziale Kategorie »Geschlecht« wird häufig dekonstruktivistischen (oft diskursanalytischen) Analysen unterzogen (z. B. Butler, 2009).
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der/die Rolleninhaber/-in als auch diejenigen, die ihm oder ihr Verhaltenserwartungen entgegenbringen, mit bestimmten Vorannahmen, aus welchen heraus sie die Wirklichkeit wahrnehmen, solche Rollenzuschreibungen vornehmen. In der konstruktivistischen Lesart ist »die äußere Realität [nicht] unmittelbar zugänglich […] – d. h. [nicht] unabhängig von Wahrnehmungen und Begriffen, die wir konstruieren. Wahrnehmung wird nicht als passiv-rezeptiver Abbildungsprozess, sondern als aktiv-konstruktiver Herstellungsprozess verstanden« (Flick, 2000, S. 152 f.).
Auch die zu Anfang dieses Kapitels erwähnten Selbstkonstruktionen, im Sinne der (aktiv-konstruktiven) Selbstwahrnehmung, sind von dieser Dynamik geprägt. Verschiedene Autor/-innen formulierten mit einer bestimmten kulturell-historischen Gemeinschaft zusammenhängende »Identitätsentwürfe« bzw. Subjektkonzeptionen. Keupp und Hohl (2006) stellen diesbezüglich die These auf, dass für eine bestimmte Epoche jeweils eine »›typische‹ […] Subjektstruktur« (S. 10) ermittelt werden kann. So sind zum Beispiel Begriffe, wie »sozialer Habitus« (Bourdieu), »Sozialcharakter« (Fromm) als empirisch epochale Ansätze jeweils in ihrem historischen Kontext zu verorten. Dem stellen die Autoren die diskursanalytischen Ansätze von »Subjektkonstruktionen« entgegen, die sie als weniger stark im historisch-empirischen Kontext verankert sehen. Gegenwärtige empirisch epochale Subjektkonzeptionen werden im Zusammenhang mit den vorgestellten gegenwartsdiagnostischen Überlegungen (vgl. Kap. 2) im nachfolgenden Kapitel diskutiert. Dabei finden insbesondere Becks soziologischer Ansatz und Keupps sozialpsychologischer Ansatz Verwendung.
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4.5 Individuum und Gesellschaft in der Postmoderne 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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4.5 Individuum und Gesellschaft in der Postmoderne aus soziologischer und sozialpsychologischer Perspektive – »Diversifizierung und Pluralisierung« »Der postmoderne Identitätsbegriff beinhaltet gerade die Auflösung allgemeingültiger Entwicklungsregeln, Schemen und Logiken und das Hervortreten von Widersprüchen und Brüchen, ungewissen Perspektiven und fehlenden Zukunftsentwürfen« (Guggenberger, 1990, S. 95).
In diesem Kapitel werden Überlegungen zu Veränderungen von Subjektkonzeptionen (und bedingt auch -konstruktionen, vgl. Keupp u. Hohl, 2006, S. 10) im Zusammenhang mit der in Kapitel 2 beschriebenen »postmodernen« Gesellschaftsentwicklung dargestellt. Dabei wird, wie im vorangegangenen Kapitel dargelegt, davon ausgegangen, dass eine bestimmte Epoche jeweils eine »typische« Vorstellung einer »Subjektstruktur« hervorbringt. Als gegenwärtige, empirisch epochale Form der Subjektivität steht hier die »postmoderne Subjektivität« im Fokus. Verschiedene Autor/-innen sehen die Hauptaufgabe des postmodernen Individuums in der gesunden Bewältigung einer hohen Veränderungsdynamik von Lebensbedingungen (z. B. Beck, 1986; Frommer, 2003; Keupp, 1990, 2007a; Keupp u. Hohl, 2006; Kresic, 2006; vgl. auch Kap. 2). Zum Thema Individuum und Gesellschaft in der (Spät- bzw.) Postmoderne stellen Keupp und Hohl (2006) beispielsweise folgende These auf: »Unter den Bedingungen der modernisierten bzw. reflexiven Moderne ist eine Veränderung nicht nur der institutionellen Strukturen, sondern auch der Handlungs- und Subjektkonzeptionen zu erwarten. Wie diese Veränderungen aussehen, ist umstritten, aber ein Subjektkonzept, in dessen Zentrum das moderne, autonome ›Kernsubjekt‹ steht, reicht zur Erklärung der Phänomene reflexiver Modernisierung auf der Akteursebene sicher nicht mehr aus« (S. 9).
Da das Subjekt grundsätzlich abhängig ist von sozialen Strukturen, Emotionen und Traditionen, kann es nie ein vollständig autonom handelndes sein. Zudem ist der »Emanzipationsprozess des Subjekts […] [immer von Misslingen durch] ›Entfremdung‹ oder ›Wahnsinn‹« © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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(Keupp u. Hohl, 2006, S. 9) bedroht. Durchaus in der aufklärerischen Tradition wurde, wie bereits in Kapitel 3.4. dargestellt, die im frühen zwanzigsten Jahrhundert vorherrschende Vorstellung eines rationalen, autonomen Bewusstseins im weiteren Verlauf des Jahrhunderts zunehmend infrage gestellt und beispielsweise aus psychoanalytischer Perspektive erweitert. »Die theoretische Figur der zweiten Moderne ist […] [zudem] von der Annahme eines durchgängigen Prozesses der reflexiven Individualisierung geprägt, der vor allem hinsichtlich der Subjekt-Struktur-Synchronisation zu nachhaltigen Veränderungen führt. Denn jene zentralen institutionellen Strukturvorgaben der ersten Moderne […] unterliegen heute einem zunehmenden gesellschaftlichen Erosionsprozess. Für die Subjekte heißt das: Sie müssen die zu der eigenen Lebensorganisation ›passenden‹ sozialen Muster in eigener Regie entwickeln, sie müssen zum ›Planungsbüro‹ ihrer Biographie werden (Beck, 1986). Sie haben die Wahl und damit auch die Qual« (Keupp u. Hohl, 2006, S. 8).
Dies bedeutet, dass aufgrund der großen Veränderungen äußerer Lebensformen und der Erfordernis zu deren individueller Verarbeitung Menschen in postmodernen Gesellschaften ihre Lebensentwürfe immer stärker selbst gestalten müssen (vgl. Keupp, 1990; Keupp u. Hohl, 2006). Die radikale Pluralität der Postmoderne bringt so eine inter- und intraindividuelle Pluralität der Identitäten hervor (vgl. Kresic, 2006).51 Das prägt das postmoderne Bewusstsein (vgl. Frommer, 2003). Verschiedene Autor/-innen beschreiben dies derart, dass unter Bedingungen gesellschaftlicher Pluralität auch Individuen eine Fähigkeit zur Pluralität von Lebensentwürfen entwickeln müssen, von Frommer (2003) als »innere Pluralitätskompetenz« (S. 352) bezeichnet (vgl. z. B. auch Welsch, 1991). Die Voraussetzung für eine solche Pluralitätskompetenz im Erwachsenenalter ist Frommer (2003) zufolge eine gelungene Lösung kindlicher Entwicklung (vgl. Kap. 4.2): »Ist diese Voraussetzung gegeben, so beschränkt sich die Pathologie der Bewältigung postmoderner Rasanz auf Akkulturati51
Dies gilt allerdings lediglich im soziologischen bzw. sozialpsychologischen Sinne, nicht aber psychoanalytisch gesehen. Aus dieser Perspektive sei dies dahin gestellt (zur Kritik daran, s. King, 2007, S. 36). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
4.5 Individuum und Gesellschaft in der Postmoderne 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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onskrisen« (Frommer, 2003, S. 109). Eine Gefahr dieser Sichtweise besteht, wie Frommer (2003) selbst anmerkt, in einem unzulässigen Vermischen von Pathologietheorien mit Gesellschaftsanalysen. Bei Welsch (1991) beispielsweise sei eine solche Tendenz in Subjektbezeichnungen wie »polyphren« (Welsch, 1991, S. 358) feststellbar. Nichtsdestoweniger wird für diese Untersuchung davon ausgegangen, dass hochdifferenzierte Gesellschaften gekennzeichnet sind durch spezifische Risiken der Identitätsentwicklung und durch individualisierte »Selbstverwirklichungsaufgaben«, die sich angesichts vieler möglicher Lebens- und Berufswege sowie an Verbindlichkeit verlierender Wertsysteme ergeben und mit hohen Anforderungen an die/den Einzelne/-n verbunden sind. »Es gibt nicht die richtige, gesellschaftlich vorgegebene Lebensform, sondern verschiedene Möglichkeiten des sozialen Miteinanders und unterschiedliche Wege der individuellen Entwicklung« (Kresic, 2006, S. 108 f.). Über eine Enttraditionalisierung scheint sich Identität in diesem Sinne »›kommunikativ zu verflüssigen‹, wie es Albrecht Wellmer formuliert und dies bedeutet den Auszug aus traditionellen Identitätsgehäusen und Schritte in Richtung kreativer Selbstorganisation« (Keupp, 1990, o. S.). Am geläufigsten ist wohl die Keupp’sche Konzeption einer sogenannten »Patchworkidentität« (Keupp, 1989, S. 64). Verursacht durch eine Pluralität und Heterogenität von Lebensformen komme es zu einer solchen dezentrierten Patchworkidentität, die „durch hohe Komplexität und Offenheit für Veränderung« (Kresic, 2006, S. 107) gekennzeichnet sei. Frommer (2003) bewertet dies aufgrund der beschriebenen pluralistischen und rationalisierten Gesellschaftsentwicklung eher als Gefahr für ihre Mitglieder, während andere auch Chancen einer pluralen Gesellschaftsgestaltung sehen (z. B. King, 2002). Insgesamt lässt sich festhalten, dass der postmoderne Identitätsbegriff gekennzeichnet ist durch die Vorstellung einer Auflösung von allgemeingültigen Entwicklungslogiken und Gesetzmäßigkeiten sowie durch ungewisse Perspektiven und fehlende Zukunftsentwürfe, von Brüchen und Widersprüchlichem (Guggenberger, 1990). Nach Befunden von Heitmeyer (2006) ist in den letzten Jahren das Vorkommen von Ängsten in der Bevölkerung deutlich angestiegen. Im Zuge der jüngsten, krisenhaften globalen Wirtschaftsentwicklung © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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kann davon ausgegangen werden, dass diese seit seiner Untersuchung von 2006 einen weiteren massiven Anstieg erfahren haben (vgl. Heitmeyer, 2009). Heitmeyers (2006) Diagnose ist, dass durch gleichzeitige »Problemausblendungen […] zunehmend ›Überflüssige‹ entstehen mitsamt dem damit einhergehenden Anerkennungsverlust. […] [Der] Schutz der psychischen und physischen Integrität von schwachen Gruppen […] [stünde in einer solchen Entwicklung] zunehmend zur Disposition« (S. 9).
Seine Überlegungen, von ihm auf Phänomene »gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit« bezogen, sind jedoch nicht nur in diesem Kontext von Bedeutung, sondern ebenso relevant im Kontext eines Gefühls der Bedrohung bei Menschen, die (noch) nicht marginalisierten Gruppen angehören. Die in der Reihe »Deutsche Zustände« analysierten »riskanten« gesellschaftlichen Entwicklungen haben auch und gerade auf die Zukunftsperspektiven junger Menschen einen großen Einfluss. Das von Heitmeyer (2006) in diesem Zusammenhang konstatierte Auseinanderdriften von Wirtschaftsentwicklung und sozialer Integration, bzw. die drei von ihm benannten gesellschaftlichen Quellen von Verstörungen, vielfältige »Kontrollverluste […] [, eine] Ungerichtetheit der gesellschaftlichen Prozesse […] [und eine] Unbeeinflußbarkeit von ökonomischen Abläufen des internationalen Finanzmarktes« (S. 15; vgl. auch Kap. 2) sind mit gravierenden Folgen auch für individuelle Entwicklungen und Lebensläufe verbunden. So zum Beispiel mit dem Verlust einer erwarteten »Planbarkeit des Lebens und des sozialen Aufstiegs […] Orientierungsunsicherheiten oder gar Orientierungsverluste[n] […] [und der] Wahrnehmung von Macht- und Einflusslosigkeit als Bürger und Wähler« (Heitmeyer, 2006, S. 16). Empirisch nachweisbar haben individuelle soziale »Desintegrationsängste, wie Angst vor Arbeitslosigkeit, der Erwartung eines geringeren Lebensstandards, eventuell eines Abstiegs und negative Zukunftserwartungen« (S. 17) allgemein in der Gesellschaft zugenommen. Vor allem in den »mittleren und gehobenen Soziallagen« (S. 18) sind Ängste vor einem sozialen Abstieg verbreitet. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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4.6 Jugend und junges Erwachsensein in der heutigen Gesellschaft – »Realismus und Pragmatismus« »Dieses vorbereitende Lebensalter ›Jugend‹ ist bereits selbst ein paradigmatisches Produkt von Individualisierungsprozessen« (King, 2002, S. 31).
In diesem Kapitel findet eine konzeptionelle Verknüpfung zwischen einer »Form von Kultur« und »Formen von Spätadoleszenz« statt, unter der Prämisse, dass Jugendliche als Träger/-innen des kulturellen Fortschritts in »heißen Kulturen« wie den modernen westlichen Gesellschaften eine besondere Rolle einnehmen (vgl. Bohleber, 1996; Erdheim, 1993; King, 2002; Leuzinger-Bohleber, 2001; Leuzinger-Bohleber u. Mahler, 1993). Erdheim (1993) zufolge verwendet Freud (1930, in »Das Unbehagen in der Kultur«) einen Begriff von Kultur, »wonach Kultur als ein Prozeß aufgefaßt wird, der über die Menschheit abläuft. Und zwar als ein Prozeß im Dienste des Eros« (S. 129), um libidinöse Verbindungen zwischen immer mehr Menschen zu ermöglichen. Bohleber (1996) sieht bei Freud zudem »den seelischen Adoleszenzprozeß unmittelbar mit der Kulturentwicklung verknüpft« (S. 10). Nach Erdheim (1993) zieht die für die Moderne charakteristische Beschleunigung der Geschichte wesentliche Ressourcen aus der (Spät)Adoleszenz, während traditionalistische, stabile, »kalte Kulturen« (Lvi-Strauss, zit. nach Erdheim, 1993, S. 129) die Adoleszenz streng reglementieren und ritualisieren. Das Chaos – die Veränderung – werde so in der Moderne von der Gesellschaft in die Individuen versetzt: »Im Verlauf der Geschichte kam es zu einer Individualisierung und Verinnerlichung von Chaos. Wir können das Chaos heute insbesondere in der Adoleszenz wiedererkennen; sie ist gewissermaßen ›der Karneval des Subjekts‹« (Erdheim, 1993, S. 130). Die Adoleszenz ist somit als Übergangsphase charakterisierbar, in der chaotische Kräfte (u. a. archaische Allmachtsphantasien, präödipale Triebwünsche, vgl. Kap. 4.3) zum Tragen kommen. Sie ermöglicht zudem kulturellen Fortschritt im Sinne von Veränderung gegenüber vorangehenden Generationen. Erdheim (1993) bezeichnet somit »Kreativität, die den Wandel vorantreibt, als eine dem Chaos entsprungene Kraft« (S. 130). Bei der Bewältigung der beschriebenen Anforderungen sind adoles© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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zente Subjekte nach seiner Auffassung auf sich selbst zurückgeworfen. Ihre Kulturfähigkeit bemisst sich entsprechend an ihren Bewältigungsformen sowie an ihrer Fähigkeit, die dabei entstehenden Spannungen auszuhalten (Erdheim, 1993). King (2002) hingegen betont stärker den intersubjektiven Aspekt dieses Wandels (vgl. auch Kap. 4.3). So könne ein gelungener Übergang in der Phase der Adoleszenz nur bei ausreichender Generativität der vorherigen Generation stattfinden. Die Generativität der Erwachsenen besteht dabei in einer »fürsorgebereite[n] und zurückhaltende[n] Begleitung« (S. 37). King (2002) begreift eine solche »Generativität als dialektisches Komplement der adoleszenten Individuation« (S. 13). Die adoleszente Entwicklung ist nach dieser Auffassung eher zu verstehen als eine Kombination aus der Entwicklungsleistung des/-r Jugendlichen (im Erikson’schen Sinne, vgl. Kap. 4.3) und den gesellschaftlich und sozial bereitgestellten Entwicklungsbedingungen. Der »idealtypische« Zielzustand der Entwicklung besteht schließlich wiederum, wie in Kapitel 4.3 dargestellt, in der Fähigkeit zu Generativität. Eben diese Dynamik fasst King (2002) als »Dialektik von Individuation und Generativität« (S. 14) und spricht dabei sogar von »trügerischen Visionen freischwebender Selbstsozialisation« (S. 15). Die erwähnte »adoleszente Kreativität« (S. 35) ist als eine Art dialektische Klammer für Individuation und Generativität zu begreifen, wobei es wichtig ist, die »ambivalente Struktur von Generationenbeziehungen« (S. 38; vgl. Kap. 4.3) einzubeziehen. Zusammenfassend kann man also von der Entwicklung einer »schrittweisen Individuierung« (King, 2002, S. 29) ab der Moderne sprechen (vgl. auch Kap. 2), die Adoleszenten Experimentierräume (bzw. soziale Möglichkeitsräume) eröffnet und damit im Gegensatz steht zur Vormoderne (oder auch zu »kalten Kulturen«), wo Rituale im Vordergrund stehen und der Jugend (noch) wenig (Gestaltungs)Macht zugestanden wurde. Die moderne »Jugend« kann in diesem Sinne unmittelbar als Produkt, aber ebenso als »Motor« von gesellschaftlichen Individualisierungsprozessen verstanden werden (vgl. King, 2002). So ist das zentrale Kennzeichen des Jugendalters dasjenige der Individuation. Im Zuge der beschriebenen modernen Gesellschaftsentwicklung kam es zu einer zunehmenden Diversifizierung und Pluralisierung auch von jugendlichen Biographieverläufen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Dies zeigt sich insbesondere in der Ausgestaltung von Generationenverhältnissen in heißen im Gegensatz zu kalten Kulturen, auf welche nachfolgend noch einmal näher eingegangen werden soll. In ersteren geht mit jeder neuen Generation ein anderer Umgang mit Lebensverhältnissen einher, was zwischen den Generationen zu größeren Veränderungen und Spannungen führt. In kalten Kulturen dagegen übernimmt die neue Generation die vorhandenen Rituale im Umgang mit den Lebensverhältnissen weitestgehend. Dadurch kommt es zu wenig Veränderung im Vergleich zur vorhergehenden Generation. Erdheim (1993) führt dazu aus, dass in kalten Kulturen solche Ritualisierungen sinnvoll sind, weil die meist streng strukturierte Gesellschaft sich nicht verändern soll: Die »Vergangenheit der Erwachsenen ist [die] Zukunft einer jeden neuen Generation« (Mead, 1971, S. 27, zit. nach Erdheim, 1993, S. 133). Heiße Kulturen sind dagegen von einer Öffnung der Gesellschaft bezüglich ihrer Zukunft gekennzeichnet. Dadurch kommt es zu einer Entwertung der Initiation. Sie verliert ihre Gültigkeit als Einführung in das Leben dadurch, dass viel ungewisser ist, was zukünftige Generationen erwartet. Erdheim (1993) geht, wie erwähnt, in diesem Kontext von einer durch die Industrialisierung beschleunigten Individuierung des Chaos aus. Die Adoleszenz stelle seither die »Übergangsphase von Ordnung der Familie zur Ordnung der Kultur« (Erdheim, 1993, S. 132) dar. Hierin sieht er einen Antagonismus von Familie und Kultur: Die Familie sei bestrebt, das Kind nicht freizugeben. Als Antagonist der Familie könne Gesellschaft nur existieren, indem sie in Gegensatz zur Familie trete (Lvi-Strauss) und Veränderung im Sinne von Loslösung anstrebe. Die Integration in die Kernfamilie sei nur von kurzer Dauer, diese würde dann von der Gesellschaft aufgebrochen. Dieser Antagonismus zwischen beiden Ordnungen bedingt nach Erdheim (1993) eine »Weiterentwicklung der Ambivalenz« (S. 133). Diese sei wichtig, um Autonomie zu entwickeln, indem sie Fixierungen verhindere. Der beschriebene Antagonismus »schafft [somit] objektiven Raum, in welchem die Adoleszenz sich erfüllen kann« (S. 133). Weiter ist laut Erdheim (1993) der in Kapitel 4.3 beschriebene adoleszente »zweite Triebschub […] auch eine Voraussetzung für den Kulturwandel: Weil das Individuum nicht in dem aufgeht, was die Familie ihm vorgegeben hat, ist ein Wandel möglich, der nicht bei der Bio© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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logie des Menschen ansetzen muss« (S. 133). Daraus leitet sich nach Erdheim die beschriebene Sichtweise auf Adoleszenz in einem solchen Kulturwandel ab.52 Das deutlichste Kennzeichen einer zunehmenden Differenzierung jugendlicher Entwicklungen ist King (2002) zufolge darüber hinaus die Entstehung weiblicher Adoleszenz. Sie bezieht sich in diesem Zusammenhang auf eine Untersuchung von M. Mead zur Ausgestaltung von Generationenverhältnissen in verschiedenen Kulturen (analog zu Erdheims heißen vs. kalten Kulturen) und führt aus, dass Jugend als neue »Seinsweise« (S. 38) der Moderne zunächst ausschließlich männlich und bürgerlich gefasst war. Männliche Jugend und Moderne waren also unmittelbar miteinander verknüpft. Durch das Hinzukommen weiblicher Adoleszenz im Verlauf des letzten Jahrhunderts entstanden schließlich neue, differenziertere Entwicklungsaufgaben für beide Geschlechter, vor allem bezüglich Bindung und Autonomie. »Die Annahme der ›Dekonstruktion‹ der polaren ›Zweigeschlechtlichkeit‹ [hat nach King (2002)] hier ihre soziale, historische Basis« (S. 39). Sie diagnostiziert somit – über Erdheims Ausführungen eines kulturellen Wandels im Zuge der Entstehung des Phänomens (moderner) Adoleszenz hinaus – einen zusätzlichen tiefgreifenden Kulturwandel durch die Entwicklung der weiblichen Adoleszenz und eine damit einhergehende gravierende Veränderung der Geschlechterverhältnisse. Die beschriebene, im Verlauf der Geschichte festzustellende Individualisierung und Verinnerlichung von Chaos, insbesondere in der Adoleszenz, wird also als Voraussetzung für einen Kulturwandel gesehen und ist gleichsam durch ihn bedingt. Entwicklungspsychologisch ergibt sich das Veränderungspotenzial dieser Phase aus dem Phänomen der »Nachträglichkeit« (die veränderte Wahrnehmung von Ereignissen aus einer rückblickenden Perspektive, Erdheim, 1993).53 Vergangene Erfahrungen werden je nach Entwicklungs52
Zur Kritik daran bezogen auf Geschlechterrollen sei verwiesen auf King (2002). Sie kritisiert an einer solchen Perspektive, dass die Ordnung der Familie einseitig auf Seiten der Frauen verortet würde. 53 Freuds Konzept der Nachträglichkeit bedeutet, dass Erfahrungen je nach Entwicklungsschritten spezifisch (neu) integriert werden. Damit erlangen sie einen neuen Sinn und eine neue psychische Wirklichkeit. Es handelt sich somit © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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schritt spezifisch (neu) integriert, sie erhalten einen neuen Sinn und eine neue psychische Wirklichkeit und erfahren so eine Relativierung. Die zunehmende Diversifizierung von Lebensverläufen in der Postmoderne verstärkt also Individualisierungsprozesse, auch und besonders für Adoleszente, im positiven Sinne als eine Art Möglichkeits- oder Experimentierraum, im negativen als Quelle der Überforderung (vgl. King, 2002; Heitmeyer, 2006). King (2002) fasst dies im Sinne von »Möglichkeiten der adoleszenten Individuation als einer neuschöpfenden Selbstwerdung« (S. 39). Ihr zufolge werden »Heranwachsende [einerseits] in vielen Bereichen früher selbständig, während klassische Eckpunkte der Jugendphase – der Beginn einer Berufsbiographie oder eine Familiengründung – an normativer Verbindlichkeit verloren haben […] und in ihren Bedeutungen, Bedingungen und Sequenzierungen im Lebensverlauf zunehmend variieren« (King 2002, S. 11).
Als Ursache dieser Entwicklung beschreibt King die folgenden Faktoren: »Generationenbeziehungen haben sich informalisiert, Familienformen pluralisiert und die Wandlungen der Geschlechterbeziehungen haben mit zu einer Diversifizierung von Lebensverläufen beigetragen […] Dies beum eine Reaktivierung neuer »Potentialitäten aus der Vergangenheit« (Bohleber, 1993, S. 135) und um eine Relativierung dieser. Aufgrund »einer das Psychische beherrschenden Monokausalität [komme es zu folgendem Phänomen:] Zwei zeitlich getrennte Ereignisse treten zueinander in eine Wechselwirkung. Die Bedeutung der ersten wird erst später, nachträglich erkennbar und wirksam« (Bohleber, 1993, S.136). Dieses Phänomen bezeichnete Ernst Bloch nach Bohleber als »Dunkel des gelebten Augenblicks« (S. 136). Freud (1895, zit. nach Bohleber, 1993) zufolge verursacht die Verspätung der Pubertät gegenüber der sonstigen psychischen Entwicklung diese Nachträglichkeit, weil durch den zweiten sexuellen Schub in der Pubertät ein anderes Verständnis der Erinnerung erzeugt wird (zweizeitige Entwicklung der Sexualität, durch Latenzzeit unterbrochen). Dadurch sei nun sowohl das Potenzial der Entwicklung einer höheren Kultur, als auch der Neurose möglich. Zudem sei ein Gefährlichwerden von Wünschen in der Adoleszenz feststellbar, da sie eher realisierbar sind. Deshalb sei eine schärfere Trennung von Wunsch und Realität notwendig. Nachträglichkeit ist also als zentral zu sehen sowohl für die Konzeption der Psychoanalyse (vgl. Perron, 2002; Kap. 3.4) als auch für diejenige der Adoleszenz. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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4 Individuum und Gesellschaft deutet auf individueller Ebene eine weitere Öffnung von Lebensentwürfen, […] die Spielräume im Verhältnis zur sozialen und familialen Herkunft vergrößern sich« (S. 12 f.).
Zudem ist die Jugendzeit in den letzten Jahrzehnten im Mittel deutlich länger geworden (z. B. durch verlängerte Ausbildungszeiten etc., vgl. King, 2002). Nach King (2002) stellte Zinnecker (1991), wie einleitend ausgeführt, dazu die These auf, dass der Einfluss der Jugendphase im Vergleich zur lebensgeschichtlichen Vergangenheit zunimmt (vgl. Kap. 1). Wie bereits angedeutet (vgl. Kap. 2), haben Ängste gesellschaftlich in den letzten Jahren merklich zugenommen. Auch Menschen, die (noch) nicht marginalisierten Gruppen angehören, fühlen sich zunehmend von Prekarisierung und Anerkennungsverlust bedroht (vgl. Heitmeyer, 2006). Dies schlägt sich auch in den erlebten Zukunftsperspektiven junger Menschen nieder. Insbesondere in der jüngeren Generation ist eine verstärkte Verunsicherung bezüglich ihrer beruflichen Zukunft und bereits bezogen auf einen Berufseinstieg anzutreffen. So weisen einer Studie zufolge deutlich mehr jüngere Menschen (16- bis 25-Jährige) diesbezügliche »Desintegrationsängste« (Endrikat, 2006, S. 103) auf als ältere. In der Umfrage gaben deutlich mehr jüngere Befragte (63,5 % vs. 51 % ältere) an, »dass sie seit der Verabschiedung von ›Hartz IV‹ Angst vor einem sozialen Abstieg haben« (S. 103) bzw. sich von Arbeitslosigkeit bedroht fühlen. Die Autor/-innen der Shell-Jugendstudie von 2006 kommen anhand ihrer Befunde zu sehr ähnlichen Schlüssen. So bezeichnen sie bereits im Titel die untersuchte Alterskohorte als »Eine pragmatische Generation unter Druck« (Shell Deutschland Holding, 2006). Nach Langness, Leven und Hurrelmann (2006) »haben die [heutigen] Jugendlichen […] [einerseits] aus einer scheinbaren Fülle von [beruflichen] Optionen zu wählen« (S. 65 f.). Andererseits ist ihre berufliche Zukunftsplanung weniger von einer neugierigen und zuversichtlichen Haltung geprägt, sondern »pragmatische« Überlegungen zur eigenen Zukunft und deren Planung spielen zunehmend eine entscheidende Rolle. Insgesamt ist die »Erwartung, die eigenen beruflichen Wünsche verwirklichen zu können […] rückläufig« (S. 72), den Autor/-innen zufolge eine realistische Einschätzung der gesellschaftlichen Realität. »Dieser nüchterne Blick auf die eigenen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Chancen spiegelt sich auch in den Ängsten und Befürchtungen der Jugendlichen wieder« (S. 74). So sind im Jahr 2006 anders als noch 2002 »die Ängste Jugendlicher eher von nationalen wirtschaftlichen Problemlagen bestimmt« (Langness et al., 2006, S. 75). In Zahlen lässt sich dies folgendermaßen ausdrücken: »Die Sorge um den Verlust des Arbeitsplatzes bzw. davor, gar keinen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zu finden, stieg in den […] vier Jahren [von 2002 – 2006] drastisch von 55 % auf 69 % an. Auch die Angst vor der schlechten Wirtschaftslage und steigender Armut nahm um einige Prozentpunkte zu. Hinzu kommt die Angst vor Zuwanderung nach Deutschland [dies allerdings in der Unterschicht sehr viel stärker (46 %) als in der Oberschicht (23 %)]. Alle diese Ängste stehen in engem Zusammenhang mit der eigenen beruflichen und finanziellen Existenzsicherung. Andere Sorgen, die nicht unmittelbar mit der eigenen Existenzsicherung verbunden sind, haben demgegenüber seit 2002 abgenommen, so etwa die Angst vor Ausländerfeindlichkeit, Krieg in Europa oder Diebstahl« (Langness et al., 2006, S. 74 f.).54
Während in den 1990er Jahren bis 2002 Jugendliche ihre persönliche Zukunft eher optimistisch eingeschätzt hatten, ist dieser Trend 2006 rückläufig (vgl. Langness et al. , 2006). Ende der 1990er Jahre hatten zudem noch zwei Drittel der Jugendlichen die »Zukunft der Gesellschaft« (S. 100) als positiv eingeschätzt. In jüngerer Zeit ist diesbezüglich ein kontinuierlicher Rückgang zu verzeichnen, sie lag in 2006 nur noch bei 42 %. Die persönliche Zukunft wird dabei immerhin noch als positiver eingeschätzt als die gesellschaftliche. Mit zunehmendem Alter der Jugendlichen nimmt die beschriebene Tendenz zu. Langness et al. (2006) attestieren den Jugendlichen auch angesichts dieser Zahlen »ein großes Maß an Realismus« (S. 101). Der (spät-)adoleszente Berufsfindungsprozess ist also in jüngster Zeit zunehmend durch Sorgen und Ängste bestimmt, persönliche Interessen spielen dabei eine geringere Rolle als zuvor. »Besonders hoch ist [die Sorge, keinen Arbeits- oder Ausbildungsplatz zu bekommen] in der Altersgruppe von 15 bis 21 54 Angesichts der gegenwärtigen Wirtschaftslage ist davon auszugehen, dass sich diese Tendenz noch verstärkt hat.
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Jahren, in einem Alter, in dem viele Jugendliche in das Berufsleben eintreten wollen« (Langness et al, 2006, S. 75). Dass diese Sorge der Jugendlichen um ihre berufliche Zukunft gerechtfertigt ist, zeigt auch eine aktuelle DGB-Studie (Deutscher Gewerkschaftsbund, 2009) zu Arbeitslosenzahlen bei jungen Menschen. Im Jahr 2009 war die Arbeitslosigkeit von unter 25-Jährigen im Vergleich zum Vorjahr um 16 % gestiegen. Bei 20- bis 24-Jährigen ist die Quote im Jahreszeitraum dreimal so stark angestiegen wie die allgemeine Arbeitslosenquote. Problematisch ist dies insofern, als dadurch das für die spätadoleszente Identitätsentwicklung zentrale psychosoziale Moratorium und auch die für diese Phase so wichtigen Anerkennungserfahrungen zunehmend gefährdet sind (vgl. z. B. Leuzinger-Bohleber u. Garlichs, 1991; Kap. 4.3). Das »Selbstwertgefühl und das Gefühl, von der Gesellschaft gebraucht zu werden« (Langness et al., 2006, S. 96) als Voraussetzungen für eine adäquate Identitätsentwicklung sind angesichts von Arbeitslosigkeit und Zukunftsängsten massiv bedroht. Auch Berth, Förster, Balck, Brähler und Stöbel-Richter (2008) kommen in einer sächsischen Längsschnittstudie an jungen Erwachsenen zu dem Ergebnis, dass sich die Erfahrung von Arbeitslosigkeit auf zahlreiche Bereiche des Erlebens auswirkt und signifikant zusammenhängt beispielsweise mit einer geringeren Zufriedenheit mit dem Einkommen und mit der Demokratie, mit der Angst vor Armut im Alter und vor sozialem Abstieg sowie mit einer pessimistischeren Einschätzung eigener Zukunftsaussichten. Junge Menschen sind aufgrund des demographischen Wandels und der Arbeitsplatzunsicherheit von »starken Verunsicherungen« (Langness et al., 2006, S. 96) betroffen, »die sich auf die gesamte Lebensplanung und Alltagsgestaltung auswirken können« (Mansel et al. 2001, zit. nach Langness et al., 2006, S. 96). Allerdings hat sich nicht die Gruppe derer vergrößert, »die ihre persönliche Zukunft ›eher düster‹ […] [sieht, sondern viele entschieden sich] für die Antwortkategorie ›mal so – mal so‹ […], d. h. viele Jugendliche sind sich unsicher, ob ihre persönliche Zukunft eher positiv oder eher negativ verlaufen wird« (S. 96), was laut den Autor/-innen auf eine ängstliche Selbstpositionierung hinweist. Bei Mädchen und jungen Frauen ist der Rückgang des Optimismus größer als bei Jungen und jungen Männern, ein Befund, den die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Autor/-innen (2006) dahingehend interpretieren, dass erstere möglicherweise »sensibler auf gesellschaftliche Problemlagen« (S. 97) reagieren und diese eher auf ihre persönliche Situation übertragen. Möglicherweise ist dieser Befund jedoch auch mit darauf zurückzuführen, dass junge Frauen zwar mittlerweile die höheren »schulischen Bildungsqualifikationen« (Langness et al., 2006, S. 68) aufweisen, sich dies jedoch nicht auf ihre Karrierechancen auswirkt. Schon bei »der Wahl der Studienfächer kommen weiterhin altbekannte Rollenmuster durch (Statistisches Bundesamt 2006a)« (S. 68). Dass Frauen bei schwindenden Arbeitsplatzzahlen, möglicherweise aufgrund ihrer immer noch schlechteren beruflichen Positionierung, stärker von Arbeitslosigkeit betroffen sein könnten, ist eine nachvollziehbare und nicht unrealistische Befürchtung (vgl. z. B. Alfermann, 1996; Vogel, 2003). Auch für das hier untersuchte psychotherapeutische Tätigkeitsfeld, welches im psychosozialen Bereich angesiedelt ist, mag dieser Befund relevant sein. Auch hier ist eine Überrepräsentation von Frauen vorzufinden (vgl. Kap. 5.2).55 Während in der Befragung der Shell Jugendstudie von 2002 junge Frauen annähernd so zuversichtlich bezüglich der Verwirklichung ihrer beruflichen Zukunftspläne waren wie Männer, sind im Jahre 2006 junge Frauen weit weniger zuversichtlich als junge Männer (vgl. Langness et al. 2006). Weiter ist die Frage, welche »Zukunftsperspektiven Jugendliche entwickeln […] im Vergleich zu 2002 enger mit ihren Sozialisationserfahrungen und Lebensumständen in Familie, Schule und Freizeit verbunden« (S. 100). Diesem Befund gemäß könnte die in Kapitel 4.3 beschriebene Notwendigkeit fördernder sozialer Umwelten für eine erfolgreiche Bewältigung der spätadoles-
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Frauen wählen nach wie vor häufiger weniger gut bezahlte, weniger anerkannte Berufe und sehen sich auch im Berufsleben einem immer noch patriarchal strukturierten System gegenüber (Pateman, 1983; Gouldner, 1988, beide zit. nach Habermas, 1990, S. 19 f.; Vogel, 2003). Weiter wählen sie in weitaus stärkerem Maße »helfende Berufe«, im pflegerischen Bereich, in der Kinderbetreuung etc. und übernehmen auch im Privaten häufiger fürsorgerische Tätigkeiten (vgl. Friebertshäuser, 1992). Auch beim psychotherapeutischen Bereich handelt es sich um eine solch »helfende« Tätigkeit, wenn auch um eine solche am oberen Ende der Anerkennungs- und auch der Gehaltsskala. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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zenten Phase in den letzten Jahren sogar noch an Bedeutung gewonnen haben. Allgemein ist in höheren sozialen Schichten (von 66 % auf 53 %) und bei westdeutschen Jugendlichen (von 58 % auf 50 %) ein größerer Rückgang des Optimismus zu verzeichnen als in unteren Schichten (von 40 % auf 35 %) und bei ostdeutschen Jugendlichen (von 52 % auf 50 %). »Es gibt auch für diese Jugendlichen keine Garantie auf eine erfüllte persönliche Zukunft. Möglichkeiten des Scheiterns werden auch hier realer« (Langness et al., 2006, S. 99). Auch die jüngeren Angehörigen der Mittelschicht (d. h. auch angehende Akademiker/-innen) fühlen sich also zunehmend bedroht. Bei Studierenden ist ein Rückgang des Optimismus von 69 % in 2002 auf 56 % in 2006 zu verzeichnen (vgl. Langness et al., 2006). Stiehler (2007) kommt im Rahmen ihrer Untersuchung diesbezüglich zu dem Ergebnis, dass der Arbeitsmarkt im globalisierten Kapitalismus unter Studierenden in der Vorwegnahme ihrer Berufstätigkeit Zukunftsängste provoziere, die mit Eindrücken von »Nicht-gebraucht-Werden, Überflüssig-Sein, Sich-bedroht-Fühlen, Sich-anpassen-Müssen« einhergehen (S. 809). Die Aussage »Ich habe Angst vor der Zukunft, weil die Welt mich nicht braucht« (S. 808) entspreche dabei häufig den auf die Zukunft projizierten biographischen Lebenserfahrungen. Im Studierendensurvey von 2007 (Bargel, 2008, S. 36) zeigte sich, dass nach Einschätzung der Studierenden die Fairness der sozialen Aufstiegschancen im Vergleich zu früheren Messzeitpunkten (Zeitreihe seit 1983) deutlich abgenommen hat. Sie wurde 2007 so gering eingeschätzt wie zu keinem anderen Erhebungszeitpunkt seit Beginn der Messung. Soziale Unterschiede hingegen wurden als sehr groß und als weitgehend ungerecht eingeschätzt. Damit scheinen Änderungen von Werthaltungen einherzugehen. Zum Thema »alternative Orientierungen« bei Studierenden lässt sich im Studierendensurvey von 2007 nach Bargel (2008) eine Auflösung dieser vormals über zwanzig Jahre hinweg klaren Zuteilungsmöglichkeit feststellen, in den 1980er und 1990er Jahren noch eine trennscharfe Kategorie für die Unterscheidung verschiedener Studierendengruppierungen. Die Studierenden sind insgesamt konventioneller geworden. Der »Grundwert der Selbstverwirklichung« (S. 40) ist von 71 % in 1983 auf 53 % in 1993 sowie 2004 (mit © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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zwischenzeitlichen leichten Schwankungen) zurückgegangen. Bargel (2008) vermutet, dass ein Individualismus Studierender gegenwärtig weniger von Autonomie bzw. dem Streben nach Eigenständigkeit geprägt ist, »sondern eine vordergründige Selbstbehauptung bei allgemeiner Anpassung und Konventionalität« (S. 40) bedeutet. Ein früher Einstieg in das Berufsleben wird vermehrt gesucht, auch weil er schwerer erreichbar geworden ist. Weiterhin äußern Studierende immer weniger Ideen zu und Vorstellungen über eine andere Politik, was nach Bargel (2008) jedoch weder auf das Einverständnis mit den politischen Verhältnissen noch auf Parteienverdrossenheit zurückzuführen ist, sondern auf eine allgemein vorherrschende Konzeptund Ratlosigkeit. Auch ein zunehmender Leistungsdruck direkt an den Universitäten im Zuge der gegenwärtigen Strukturveränderungen an den Hochschulen (u. a. durch die Bolognareform und Studiengebühren; vgl. z. B. Schumann, 2007) könnte bei dieser Entwicklung eine Rolle spielen. Zusammenfassend ist den referierten Befunden zufolge also unter jungen Menschen, auch unter Studierenden, Selbstverwirklichung als Wert zurückgegangen, eine vordergründige Selbstbehauptung ist dagegen verstärkt aufzufinden. Ein früher Einstieg in das Berufsleben wird »pragmatisch« angestrebt, und eine vorherrschende Konzeptund Ratlosigkeit bzw. eine große Verunsicherung sowie eine stärkere Orientierung an sozialen Umwelten sind festzustellen. Im Kontext der Berufswahl als ersten Schritt der beruflichen Sozialisation bzw. Identitätsentwicklung soll im nachfolgenden Kapitel unter anderem auf die Bedeutung dessen eingegangen werden.
4.7 Berufswahl als Teil der spätadoleszenten Identitätsentwicklung – »Das bin ich« »Die Vorstellung und die Definition davon, was ein Beruf ist, ändert sich. Damit ändern sich auch die Bedingungen, unter denen Berufswahl vollzogen werden kann« (Beinke, 2006, S. 14).
In diesem Kapitel wird auf die für diese Untersuchung zentrale Frage der beruflichen Interessenentwicklung und Festlegung, der sogenann© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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ten Berufswahl als ersten Schritt der beruflichen Sozialisation (der Berufsbiographie) eingegangen. Dieser Schritt der beruflichen Identitätsentwicklung ist für die vorliegende Studie von Bedeutung im Kontext der Entscheidungsfindung für oder gegen den Beruf des/-r Psychotherapeuten/-in. Zum Abschluss des Kapitels werden spezifisch auf die Thematik der Wahl einer psychotherapeutischen Ausbildung bzw. Tätigkeit bezogene Befunde referiert. Mit Beinke (2006) sollte zur Beantwortung der Frage, was ein »Beruf« ist, zunächst eine »analytische Trennung von Beruf und Individuen, die einen bestimmten Beruf ausüben [erfolgen] ›In diesem Sinne ist […] [der Beruf ] eine gesellschaftliche Stellung […] mit eigener Struktur, die als Stellung verschiedene Beziehungen zu anderen des geltenden Typus […] der gesellschaftlichen Umwelt hat‹ (Muller, 1961, S. 34)« (S. 12).
Die Bedeutung des Begriffes »Beruf« unterlag seit dessen Entstehung, einhergehend mit sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen, immer wieder großen Wandlungen (vgl. z. B. Bäumer, 2005; Beinke, 2006). Während zunächst ein religiöser Bezug vorherrschend war, wandelte er sich darauf folgend zu einer »inneren Berufung« und kann mittlerweile, grob vereinfacht, als ein Tätigkeitsbündel, das auf Erwerb ausgerichtet ist und zur Volkswirtschaft beiträgt, beschrieben werden (vgl. Bäumer, 2005; Beinke, 2006). Beruf, als ein Konstrukt der Umwelt verstanden, passt sich den Verhältnissen an, ändert sich diesen entsprechend (Beinke, 2006). Berufe können somit generell gefasst werden als »Ausdruck historischkultureller Entwicklungen« (Bäumer, 2005, S. 24). Mit der Entstehung eines Berufes gehen immer auch gesellschaftliche Neuerungen einher. »Professionalisierungsprozesse […] [sind] immer auch Aushandlungsprozesse über die ›richtige‹ Definition der Welt. Mit der Etablierung eines Berufes […] [geht] auch eine Neuordnung dessen einher, was von einer Sache gesehen, gewusst und gesagt werden kann« (Daiminger, 2007, S. 23). Nach Bäumer (2005) dienen Professionalisierungsprozesse dem Festigen eines bestimmten Status, der Steuerung des Zugangs von Berufsanwärter/-innen sowie ihrer Sozialisation. Auf den Aspekt der Berufswahl als ersten Schritt der beruflichen Sozialisation soll im Folgenden näher eingegangen werden. Mit der beschriebenen kulturell© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
4.7 Berufswahl als Teil der spätadoleszenten Identitätsentwicklung 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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historisch bedingten Veränderung von Berufen geht »auch eine Veränderung der Anpassungsbedingungen für die in den Berufen oder der Ausbildung dazu befindlichen Menschen« (Beinke, 2006, S. 13) einher. Es kann somit davon ausgegangen werden, dass jede Geburtskohorte andere Bedingungen und Kontexte vorfindet, in deren Rahmen sie berufliche Entscheidungen – unter anderem die erwähnte Berufswahl – treffen muss (vgl. Bäumer, 2005). Auf die spezifischen gegenwärtigen Verhältnisse (vgl. Kap. 2) im Zusammenhang mit der Berufswahl wird weiter unten näher eingegangen. Allgemein ist der Prozesscharakter beruflicher Sozialisation hervorzuheben, gängigerweise als »Berufsbiographie« (Guggenberger, 1990, S. 21) bezeichnet, in welcher das ebenfalls prozesshafte Moment der Berufswahl eine erste diesbezügliche Weichenstellung bedeutet (vgl. z. B. Bäumer, 2005; Beinke, 2006; Guggenberger, 1990). Die Berufswahl stellt somit einen der bedeutsamsten Akte in der beruflichen Gesamtentwicklung dar (vgl. z. B. Bäumer, 2005). Sie kann verstanden werden als ein »Prozess der fortschreitenden Verengung beruflicher Alternativen« (Bäumer, 2005, S. 7). Meist erfolgt dies, in Interaktion mit jeweiligen Sozialisationsagent/-innen, zunächst als Wahl einer bestimmten Schulform, dann einer bestimmten Ausbildung und schließlich einer bestimmten beruflichen Position. Das per se »Prozeßhafte der Berufswahl« (Beinke, 2006, S. 13) im Kontext der im Ganzen als prozesshaft verstandenen beruflichen Sozialisation, wird, wie Beinke ausführt, durch die weiter oben erwähnte analytische »Trennung von dem Beruf einerseits und dem Ausübenden anderseits« (S. 13) verständlich. »Die Berufswahl als Prozeß ist […] determiniert aus den Veränderungen des Berufes in der Form und in den Inhalten. Diese wiederum verändern sich aufgrund der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen« (Beinke, 2006, S. 13). Das Heranführen an einen Beruf in Interaktion mit seinen Bedingungen (anderen wichtigen Personen, Institutionen, Kenntnissen, Informationen, persönlichen Vorlieben, Motivationen etc.) bezeichnet Beinke (2006) also zusammengefasst als »Berufswahlprozeß« (S. 14), den er als zweiphasig sieht. »Er schafft eine notwendige kritische Distanz gegenüber sich selbst und dem Zielberuf. […] Die Zeit der Berufswahl kann aber nicht nur als Phase der beruflichen Sozialisation gesehen werden. […] In dieser Zeit werden © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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4 Individuum und Gesellschaft in der Schule, in der Familie und in Peer-Groups Beziehungen angeknüpft und Informationsmöglichkeiten genutzt, die beachtliche Bedeutung für die Berufswahl haben können. […] Man kommt der Lösung dieser prozeßhaften Struktur dadurch näher, daß man die Motivation der Betroffenen – also der Berufssuchenden – in das Kalkül einbezieht. Diese Suche dient der ›Berufsfindung‹, mit der die motivationalen Aspekte […] besser beachtet werden können, denn der Prozeß der Berufswahl findet eben seinen Anfang in den noch diffusen und individuellen, von Elternvorstellungen und schulischer Sozialisation bedingten Überlegungen der Schülerinnen und Schüler« (Beinke, 2006, S. 14 f.).
Die Berufswahl sollte sich somit an den jeweiligen individuellen Bedürfnisstrukturen orientieren und gestaltet sich als ein sozialer Prozess in einem System »in dem von den beteiligten Subsystemen (Unterricht, Beratung, Familiengespräche) Informationsleistungen eingebracht werden, die in den individuellen Entscheidungsprozeß eingehen« (Beinke, 2006, S. 16). Er besteht weiter aus verschiedenen Unterphasen bzw. Teilschritten (vgl. Beinke, 2006). Dabei geht die Phase der »Berufsfindung« (Beinke, 2006, S. 15), oder auch der »Berufswahlvorbereitung« (S. 15), der »Berufsentscheidung« (S. 15) bzw. Berufswahl voraus und mündet schließlich im sogenannten »Berufswahlakt« (S. 15). Wichtig ist, dies als einen mit Unsicherheit verbundenen, stufenförmigen Suchvorgang zu verstehen. »In dieser Unsicherheit liegt auch die soziale Problematik. Die soziale Problematik einer Berufsorientierung als lebenslanger Prozeß kann unter vier Aspekten theoretisch bestimmt werden: Als Entscheidungsprozeß, als Zuweisungsprozeß, als Interaktionsprozeß und als Entwicklungsprozeß« (Beinke, 2006, S. 15). In unterschiedlichen Disziplinen wurden entsprechend verschiedene Berufswahltheorien entwickelt (vgl. Beinke, 2006, S. 30).56 Bäumer (2005) zufolge dominiert beispielsweise in den USA die psychologische Perspektive der Berufswahlforschung, während in Deutschland die pädagogische und die soziologische Perspektive vorherrschen. Allgemein ist in Deutschland eher wenig Berufswahlforschung zu verzeichnen (vgl. Bäumer, 2005). Gemeinsam haben laut Beinke (2006) alle Berufswahltheorien, dass sie von zwei Richtungen ausgehen, »einerseits von dem berufswählenden Individuum 56
Ein zusammenfassender Überblick findet sich z. B. bei Bäumer (2005). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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und andererseits von den gesellschaftlichen Institutionen bzw. von der Berufswelt« (S. 30). Beinke (2006) betont, dass der »interaktionstheoretische Ansatz […] [berücksichtige,] daß alle Partner in einen Interaktionsprozess einbezogen sind und einbezogen sein müssen« (S. 34). In diesem Ansatz wird von einer komplexen IndividuumUmwelt-Interaktion ausgegangen: »Gesellschaftliche Bestimmungsfaktoren finden […] im interaktionstheoretischen Ansatz Berücksichtigung, allerdings nicht in der Weise, dass die gesellschaftlichen Faktoren als allein prägend angesehen werden, vielmehr vollzieht sich die Berufswahl als Wechselspiel zwischen personalen und gesellschaftlichen Faktoren. Die Berufswahl wird dabei als ein interaktiver Prozeß begriffen, der zwischen dem Berufswählenden und seinen Interaktionspartnern aus Familie, Schule, Berufsberatung und aus anderen Bereichen abläuft und in den berufsbezogene Interessen, Erwartungen, Wissensbestände, Fähigkeiten und Handlungen aller Beteiligten einfließen. Die abschließende Entscheidung ist das Ergebnis der Verarbeitung dieser Einflüsse durch den Berufswählenden« (S. 35 f.).
Der theoretische Hintergrund dieser Untersuchung speist sich im Kontext der Berufswahl aus diesem Ansatz, da er mit der Vorstellung einer komplexen Interaktion zwischen Individuum und Umwelt gut mit den vorgestellten allgemeinen psychoanalytischen und soziologisch-sozialpsychologischen Identitätskonzeptionen vereinbar ist (vgl. Kap. 4.1 ff.). Gegenwärtig wird verschiedentlich diagnostiziert, dass das klassische Berufsmodell einem verstärkten Erosionsprozess ausgesetzt ist. Die »normale« Berufsbiographie, gekennzeichnet durch eine Ausbildung mit einer darauf folgenden lebenslangen beruflichen Tätigkeit in einem bestimmten Bereich, ist zunehmend in Frage gestellt (vgl. Beinke, 2006; Stiehler, 2007; vgl. auch Kap. 4.5). Gleichwohl wird eine Ausbildung zu einem bestimmten Beruf von den meisten Menschen nach wie vor angestrebt und die Vorstellung, zumindest über einen längeren Zeitraum in diesem tätig zu sein, bestimmt auch gegenwärtige Lebensplanungen und biographische Verläufe. Im westlichen Kulturraum spielt für die meisten Menschen die berufliche Identität und damit auch deren Entwicklung nach wie vor eine zentrale Rolle (vgl. z. B. Krampen u. Reichle, 2002). Auch Beinke (2006) betont, wie zentral die Berufstätigkeit in der heutigen Gesellschaft © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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immer noch ist, sowohl für die persönliche Identität als auch für die soziale bzw. gesellschaftliche Rolle, die eine Person inne hat, auch wenn diesbezüglich zunehmend Brüche und Diskontinuitäten zu verzeichnen sind. »Doch auch in dieser ›teilhaften Bedeutung des Berufs‹ sei [nach Schelsky, 1965] die Berufstätigkeit immer noch der wichtige Faktor für die soziale Bestimmung des menschlichen Lebens in unserer Kultur, denn schon das grundlegende Bedürfnis nach sozialer Sicherheit, der Dauerhaftigkeit einer bestimmten und bejahten Lebensweise verlange mehr als nur durch eine Tätigkeit Geld zu verdienen. […] Durch den Beruf baut sich der Mensch in der Vielzahl von sozialen Rollen ein bestimmtes Handlungssystem auf, das ihm Dauerhaftigkeit und Entwicklungsgesetzlichkeit bietet und dadurch, daß seine Arbeits- und Berufswelt in ihren Anforderungen stabil und dauerhaft wird, werde auch seine soziale Umwelt und sein Verhalten in der Gesellschaft stabil« (Beinke, 2006, S. 15).
Nach Langness et al. (2006) »haben [bereits] die Jugendlichen […] aus einer scheinbaren Fülle von [beruflichen] Optionen zu wählen« (S. 65 f.). Auch für diese Gruppe sind berufliche Orientierungslosigkeit bzw. komplexe Orientierungsanforderungen festzustellen (vgl. z. B. auch Stiehler, 2007). Beinke (2006) betont in diesem Kontext: »Zur Voraussetzung, die Berufswahl frei vornehmen zu können, gehört die Kenntnis von Alternativen. […] Bei der Vielfalt der möglichen Tätigkeiten und der Differenziertheit der arbeitsteiligen Gesellschaft war und ist das so gut wie unmöglich« (S. 21 f.). Dem entgegen steht die »Erkenntnis […], daß eine fundierte Berufsentscheidung kaum ohne ausreichende Information über die wesentlichen damit zusammenhängenden Fragen möglich ist« (Beinke, 2006, S. 22). Daraus ergibt sich bereits für diesen ersten Schritt gegenwärtiger Berufsbiographien eine Schwierigkeit, nämlich die Wahl eines bestimmten Berufes in der gegenwärtigen, auch in dieser Hinsicht pluralistischen gesellschaftlichen Situation, wobei Berufe jedoch nach wie vor eine wichtige identitätsstiftende Funktion einnehmen. Berufliche Identität kann, wie auch andere Identitätsanteile, verstanden werden als »Selbstkonstruktion« von Identität sowie – im psychoanalytischen Sinne – als Identität infolge einer Interaktion bzw. eines Spannungsverhältnisses individueller Entwicklung mit gesellschaftlichen Einflüssen (vgl. Kap. 4.2, 4.4 u. 4.5; © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
4.7 Berufswahl als Teil der spätadoleszenten Identitätsentwicklung 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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vgl. auch Guggenberger, 1990). Bereits Freud (1930) hat Blos (1973) zufolge die »Bedeutung der Arbeit für die Libidoökonomie […] klar dargelegt: ›Keine andere Technik der Lebensführung bindet den einzelnen so fest an die Realität als die Betonung der Arbeit, die ihn wenigstens in ein Stück der Realität, in die menschliche Gemeinschaft sicher einfügt. Die Möglichkeit, ein starkes Ausmaß libidinöser Komponenten […] auf die Berufsarbeit und auf die mit ihr verknüpften menschlichen Beziehungen zu verschieben, leiht ihr einen Wert, der hinter ihrer Unerlälichkeit zur Behauptung und Rechtfertigung der Existenz in der Gesellschaft nicht zurücksteht‹« (S. 157 f.).
Bezogen auf die in Kapitel 4.3 dargestellte spätadoleszente Identitätsentwicklung stellen unter anderem in diesem Bereich »hochidiosynkratische Ich-Interessen und Vorzugsbesetzungen […] eine neue Errungenschaft im Leben des Individuums dar« (Blos, 1973, S. 158; vgl. auch Guggenberger, 1990). Zusammenfassend kann also davon ausgegangen werden, dass die berufliche Identität und deren Entwicklung für die meisten Menschen in der gegenwärtigen Gesellschaft nach wie vor eine hohe persönliche Relevanz aufweist und für deren gesellschaftliche Einbindung bedeutsam ist. Dies ist allerdings bereits für junge Menschen verbunden mit spezifischen Anforderungen und Problemen, unter anderem der Bewältigung einer hohen Komplexität und Unsicherheit. Diese Untersuchung bezieht sich nun auf »wesentliche Teilaspekte« (Guggenberger, 1990, S. 20) der Entscheidungsfindung für oder gegen den Beruf des/-r Psychotherapeuten/-in, »ohne Anspruch auf umfassende Berücksichtigung aller Komponenten von Berufsidentität« (Guggenberger, 1990, S. 20). Nach Guggenberger (1990) ist »die Darstellung von beruflichem Selbstverständnis in […] Interviewgesprächen – die Fähigkeit zur Selbstreflexion – eine Komponente von Identität« (S. 22). Auf die methodische Umsetzung der in dieser Untersuchung verwendeten Interviews wird in Kapitel 8.6 ff. eingegangen. »Der Fragenkomplex über berufliche Perspektiven und Ziele basiert [in dieser Studie] auf dem Konzept der antizipatorischen Identität, d. h. der Möglichkeit des Individuums, die Entwicklung seiner eigenen Identität © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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4 Individuum und Gesellschaft in der Zukunft zu antizipieren (Ottomeyer, 1982, S. 190)« (Guggenberger, 1990, S. 22).
Antizipatorische Identität bedeutet, dass die Zukunftsorientierung von Identität mit dem momentanen Identitätszustand verknüpft ist (Guggenberger, 1990). Im vorliegenden Fall handelt es sich dabei um eine antizipierte Entscheidung für eine bestimmte berufliche Option in Verbindung mit einem bestimmten, persönlichen (beruflichen) Identitätsentwurf. Diese Zukunftsorientierung von Identität hält Guggenberger (1990) für sinnvoll, »da Selbstentwürfe und in die Zukunft projizierte Selbstbilder mit dem momentanen Identitätszustand verknüpft sind« (S. 23). Sie schlägt vor, in der Identitätsforschung wegen des prozesshaften Charakters von Identität »eingehende Prozeßanalysen« (Guggenberger, 1990, S. 21) durchzuführen. Analog zu Guggenbergers (1990) Studie kann es sich bei der vorliegenden Untersuchung, der Befragung Studierender zu ihrer antizipierten Berufswahl, aufgrund des Prozesscharakters beruflicher Sozialisation, lediglich um eine »Momentaufnahme eines sich verändernden komplexen Mosaikbildes [handeln. Mit Guggenberger (1990) kann dabei] […] Mosaik als Metapher« (S. 22) des Identitätsbegriffes verstanden werden. In dieser Untersuchung geht es also – neben den in den Kapiteln 5 ff. behandelten sozialen Repräsentationen – um die »Entwicklung von beruflichem Selbstverständnis und […] zukünftige Vorstellungen von Berufstätigkeit« (Guggenberger, 1990, S. 22) sich vorwiegend in der Spätadoleszenz befindlicher Studierender in Hinblick auf den Beruf des/-r Psychotherapeuten/-in. Die Berufswahl bzw. die Berufsfindung wird dabei als ein erster Schritt der beruflichen Identitätsentwicklung aufgefasst. Dies muss als eine zentrale Entwicklungsaufgabe der Spätadoleszenz (Bäumer, 2005; Blos, 1973; vgl. Kap. 4.3) – in Interaktion mit unterschiedlichen Einflussgrößen – bewältigt werden. Neben der oben beschriebenen Berufsbiographie in einem eher soziologischen Sinne geht es hier auch um die berufliche Identitätsentwicklung als »psychische Verarbeitung bedeutsamer beruflicher Erfahrungen durch das Individuum, bezieht sich also auf Fragen nach dem Zusammenhang von Berufsbild und Berufstätigkeit mit dem Selbstbild, dem Selbstwertgefühl, dem Selbstkonzept« (Guggenberger, 1990, S. 21). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
4.7 Berufswahl als Teil der spätadoleszenten Identitätsentwicklung 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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Zum Abschluss dieses Kapitels soll auf Befunde zum beruflichen Interesse an einer psychotherapeutischen Tätigkeit bzw. einer Ausbildung in den Verfahrensrichtungen Verhaltenstherapie oder Psychoanalyse eingegangen werden. Wie Strauß und Kohl (2009) anmerken, ist diesbezüglich bisher noch eher wenig Forschungsaktivität zu verzeichnen. Jedoch fanden Murphy und Halgin (1995) in einer Untersuchung von Psychotherapeut/-innen und Sozialpsycholog/-innen, dass den größten Einfluss auf die Wahl des Psychotherapeut/-innenberufes persönliche Motive wie ein »professioneller Altruismus« sowie ein Wunsch nach persönlicher Weiterentwicklung hatten. Allerdings spielten auch vergangene, meist belastende Erfahrungen oder der Einfluss einer wichtigen Bezugsperson eine Rolle, ein Befund, der Strauß und Kohl (2009) zufolge auch von anderen Autor/-innen gefunden bzw. diskutiert wurde. Die Lösung persönlicher Probleme stand allerdings nach Strauß und Kohl (2009) bei der Berufswahl nicht im Vordergrund. Auch andere Motive wie intellektuelle Neugier, ein bereits früh existierendes Interesse an Geisteswissenschaften und Literatur, der Wunsch anderen zu helfen bzw. Menschen zu verstehen, wie auch Motive professioneller Eigenständigkeit wurden, wie Strauß und Kohl (2009) beschreiben, in Untersuchungen gefunden. Darüber hinaus wird von ihnen eine »Psychological Mindedness […] [angeführt, die entweder als] angeborene Fähigkeit« (Strauß u. Kohl, 2009, S. 5) oder als durch belastende Ereignisse bzw. eine eigene Psychotherapieerfahrung geförderte innere Haltung, als ausschlaggebend für diese Berufswahl (Farber et al. , 2005, zit. nach Strauß u. Kohl, 2009) gesehen wird. Zur Wahl der Verfahrensrichtung lassen sich folgende Befunde berichten : In einer Studie von Eichenberg et al. (2007) war ein Wandel von einem größeren Interesse Psychologiestudierender an psychodynamischen Verfahrensrichtungen zu Beginn ihres Studiums hin zu einem Interesse an Verhaltenstherapie in höheren Semestern zu verzeichnen (allerdings wurden die Studierenden lediglich in einem Querschnittsdesign befragt ; vgl. dazu auch Topolinski u. Hertel, 2007; Vogel, 2005). Auch fanden Eichenberg et al. (2007), dass für die Studierenden mit psychodynamischem Ausbildungsinteresse ökonomische Faktoren eine weniger große Rolle spielten als für die Studierenden mit einem verhaltensthe© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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4 Individuum und Gesellschaft
rapeutischen Ausbildungsinteresse. Ähnliche Befunde ergaben sich in einer Untersuchung von Strauß et al. (2009), auch hier spielten pragmatische Faktoren für die Verhaltenstherapieinteressierten eine weitaus größere Rolle. Auch die Zustimmung zu den jeweiligen Behandlungskonzepten wurde dort als ein relevanter Faktor gefunden. Heffler und Sandell (2009) brachten unterschiedliche Lernstile in Verbindung mit der Wahl einer Ausbildungsrichtung und fanden, dass psychodynamisch Orientierte eher einen »watch-and-feel«, verhaltenstherapeutisch Orientierte dagegen eher einen »think-and-do« Stil aufwiesen. In einer, allerdings lediglich unsystematischen Befragung psychotherapeutisch Tätiger im stationären und im ambulanten Bereich zur Frage, welche Faktoren »zu der Entscheidung eines jungen Arztes oder Psychologen beitragen« (Vogel, 2005, S. 18), sich für ein bestimmtes psychotherapeutisches Verfahren zu interessieren, ergab sich nach Vogel (2005) folgende Auflistung (vgl. Tab. 7): Tabelle 7: Gründe für die Ausbildung in einem bestimmten psychotherapeutischen Verfahren (zit. nach Vogel, 2005, S. 18) Biographiegeschichtliche Gründe, wie z. B. • Identifikationen oder deren Vermeidung • Menschenbildannahmen • eigene Heilungswünsche und -versuche • Prestigeträchtigkeit • Universitätssozialisation Gesundheitsökonomische Gründe, wie z. B. • Welches Verfahren bringt mehr Geld, • ist sicherer im System verankert • ist an erster Stelle an Kliniken vertreten • etc. Pragmatische Gründe, wie z. B. • Verfügbarkeit eines Ausbildungsinstituts • Kosten der Ausbildung • Investierbare Zeit in die Ausbildung
Vogel (2005) führt hierzu aus: »All diese angeführten Gründe, und sicher sind es noch einige mehr, bestimmen mehr oder weniger reflektiert die Entscheidung für oder gegen ein therapeutisches Verfahren. Manche sind sicher eher vernachlässigbar als andere (z. B. ist die Universitätssozialisation der fast aus© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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schließlich an einheitswissenschaftlich dominierten Instituten ausgebildeten Diplom-Psychologen sicher ein mächtiger Faktor)« (S. 18).
In der vorliegenden Untersuchung wird nun der Versuch unternommen, auf einer empirischen Basis zu einer größeren Systematisierung und Präzisierung dieser Beweggründe unter gegenwärtigen Studierenden beizutragen.
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5 Soziale Repräsentationen von Verhaltenstherapie und Psychoanalyse in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen – Manifestationen gesellschaftlicher Mentalitäten »And if the analyses […] examine the discourses through which psychoanalysis appears as part of the everyday world, they also remind us that discursive elements only become meaningful when they are considered in relation to the representations and the communicative contexts which sustain them« (Duveen, 2008, p. xii).
Neben der Frage der persönlichen Berufswahl ist, wie eingangs ausgeführt, eine der beiden Hauptfragestellungen dieser Untersuchung diejenige nach sozialen Repräsentationen der beiden beschriebenen psychotherapeutischen Verfahrensrichtungen im gegenwärtigen soziokulturellen Kontext. In diesem Kapitel erfolgt zunächst eine Bestimmung des Begriffes der sozialen Repräsentation. Im Anschluss wird auf die soziale Repräsentation bzw. die Präsenz unterschiedlicher psychotherapeutischer Verfahrensrichtungen in verschiedenen, für die Thematik als relevant betrachteten, gesellschaftlichen Bereichen eingegangen. Diese werden in drei Unterkapiteln beschrieben. Es handelt sich erstens um den universitären Kontext, zweitens den berufspolitischen sowie -praktischen Bereich und drittens um eine gesamtgesellschaftliche Ebene. Dabei wird davon ausgegangen, dass in diesen Bereichen, in Interaktion mit den dort vorherrschenden Kulturen (Normen, Werten, Verhaltenscodizes etc.), jeweils spezifische Sichtweisen vorherrschen. Was lässt sich unter einer sozialen Repräsentation verstehen? Mit Moscovici wird sie für diese Studie folgendermaßen definiert:
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»Eine soziale Repräsentation wird […] verstanden als ›ein System von Werten, Ideen und Handlungsweisen mit zweifacher Funktion; erstens eine Ordnung zu schaffen, die Individuen in die Lage versetzt, sich in ihrer materiellen und sozialen Welt zu orientieren und sie zu meistern; und zweitens Kommunikation unter den Mitgliedern einer Gemeinschaft zu ermöglichen, indem es diesen einen Kode für sozialen Austausch und einen Kode zur Benennung und zur eindeutigen Klassifikation der verschiedenen Aspekte ihrer Welt und ihrer individuellen Geschichte und der ihrer Gruppe liefert‹ (Moscovici, 1973, S. XVII)« (Flick, 2009, S. 93).
Somit stellt eine soziale Repräsentation erstens eine Orientierungshilfe für eine Gemeinschaft dar. In dieser Untersuchung wird, neben unmittelbar mit der Thematik »Psychotherapie« befassten Gruppen (universitäre Studiengänge sowie in diesem Bereich Tätige) die »Gesellschaft« in Deutschland (in Deutschland lebende Menschen) als eine solche »Gemeinschaft« gefasst. Es wird, der vorgestellten Definition entsprechend, zweitens davon ausgegangen, dass das, was in den jeweiligen Gemeinschaften unter der sozialen Repräsentation von »Psychotherapie« zu verstehen ist, von diesen jeweils auf eine bestimmte Art kodifiziert wird (vorbehaltlich Ausnahmen bzw. Subgruppenverständigungen), welche für die Verständigung der Mitglieder der Gemeinschaft eine möglichst eindeutige Klassifikation bieten soll, und zwar in Form von Benennungskodes dieses Aspekts ihrer Welt und Geschichte. Somit geht es in den nachfolgenden Kapiteln um das Verständnis bzw. die Einordnung verschiedener psychotherapeutischer Verfahrensrichtungen in der gesamten Gesellschaft der BRD (als am weitesten gefasste Gruppeneinheit) sowie in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, die (universitär bzw. beruflich) unmittelbarer mit der Thematik im Kontext der dort vorherrschenden »Kulturen« befasst sind. Aufgrund der Fragestellungen dieser Untersuchung werden dabei, wie bereits mehrfach erwähnt, primär die sozialen Repräsentationen der psychotherapeutischen Verfahrensrichtungen Verhaltenstherapie und Psychoanalyse im Zusammenhang mit der Verfügbarkeit von Informationen über sie in diesen Kontexten (»Gemeinschaften«) aufgegriffen. Im Zusammenhang mit der sozialen Repräsentation im berufspolitischen sowie -praktischen Bereich wird auf die gegenwärtige psychotherapeutische Versorgungsrealität sowie die Ausbildung in den beiden Verfahrens© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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5 Soziale Repräsentationen
richtungen eingegangen, im Zusammenhang mit universitären Repräsentationen vor allem auf jeweilige universitäre Sozialisationswege im Kontext fachkultureller Eigenheiten.57
5.1 Soziale Repräsentationen im universitären Kontext – Fachkulturen, universitäre Sozialisationswege »Sozialisation in der Hochschule wird dann begriffen als Einübung in einem (fach-)spezifischen Habitus. […] [der Einbindung in] fachwissenschaftliche Sozialisations- und Reproduktionsprozesse. Wie kann der Prozeß der Sozialisation von StudentInnen zu Fachangehörigen beschrieben werden? […] Welche Dispositionen bringen StudienanfängerInnen in diesen Prozeß ein?« (Frank, 1990, S. 12).
57
Hierin wird eine Verbindung des Themas persönlicher »Identität« und deren Entwicklung zum Thema sozialer Repräsentationen in verschiedenen enger oder weiter gefassten Lebensumwelten von Studierenden sichtbar. Dabei ist davon auszugehen, dass die im Folgenden beschriebenen näheren Umwelten einen direkteren und bedeutsameren Einfluss ausüben als die weiter gefasste. So weist Hylander (2008) auf eine theoretische Unterscheidung hin, die Brewer und Gardner (1996) zwischen drei verschiedenen »Ebenen des sozialen Selbst [trafen] und zwar zwischen dem individuellen Selbst, dem relationalen Selbst und dem kollektiven Selbst« (S. 21). Dabei definiert sich das »relationale Selbst« durch Beziehungen mit signifikanten Anderen, das »kollektive Selbst« (S. 21) ist dagegen die durch prototypische Zuschreibungen einer Gruppe geprägte »kollektive Identität« (S. 21). Es sind also zwei unterschiedliche »Typen von sozialer Identifizierung […] [gemeint.] Das relationale Selbst beinhaltet dyadische Beziehungen mit nahen, signifikanten Anderen und das Netzwerk, das eine Erweiterung dieser Selbst-Andere-Beziehungen darstellt. Das kollektive Selbst hingegen beinhaltet depersonalisierte Beziehungen. Kollektive Identität baut auf miteinander geteilten Symbolen und kognitiven Repräsentationen auf, unabhängig von persönlichen Beziehungen in einer Gruppe« (S. 21). Die gesellschaftliche Ebene (Kap. 5.3) wäre hier somit eindeutig der kollektiven Ebene, universitäre (Kap. 5.1) und berufspolitische (Kap. 5.2) Zusammenhänge in höherem, jedoch je nach persönlicher Bedeutsamkeit der Ebenen für das »indivuduelle Selbst« in unterschiedlichem Maße der, für die persönliche Identität bedeutsameren, relationalen Ebene zuzuordnen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
5.1 Soziale Repräsentationen im universitären Kontext 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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In diesem Kapitel wird auf die Verfügbarkeit von Informationen zu Psychotherapie generell, zu verschiedenen psychotherapeutischen Verfahren sowie auf dominante soziale Repräsentationen von »Psychotherapie« im universitären Kontext, d. h. in den hier untersuchten Studiengängen eingegangen. In diesem Zusammenhang werden – nach einer Definition von Hochschulsozialisation – zunächst die unterschiedlichen Fachkulturen in den Studiengängen Psychologie, Medizin und Pädagogik in Verbindung mit jeweiligen universitären Sozialisationswegen vorgestellt.58 Merkmale (Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede) der jeweiligen Fachkulturen werden herausgearbeitet, davon ausgehend, dass diese einen prägenden Einfluss unter anderem auf die wissenschaftliche Identifikation der Studierenden sowie auf deren Sichtweisen auf psychotherapeutische Verfahrensrichtungen aufweisen. Aus Perspektive spätadoleszenter Orientierungs- und Festlegungsprozesse (vgl. Kap. 4.3) ist im Kontext der universitären Sozialisation wichtig, dass universitäre Vorbilder als »Sozialisationsagent/-innen“ (vgl. Kap. 4.7) einen entscheidenden Einfluss ausüben können (vgl. Leuzinger-Bohleber, 2001). Im Anschluss an die Darstellung der jeweils spezifischen Fachkultur wird allgemeinen Unterschieden naturwissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Fachkulturen nachgegangen. Zum Abschluss des Kapitels erfolgt ein Vergleich des Ansehens der hier untersuchten universitären Disziplinen, dies aus der Überlegung heraus, dass dieses möglicherweise mit dem Ansehen der psychotherapeutischen Verfahrensrichtungen korrespondiert bzw. damit in einer Wechselwirkung steht. Portele und Huber (1993) definieren in einer »weiten Definition […] ›Sozialisation‹ […] [als] den Prozeß, in dem sich die Persönlichkeit als gesellschaftlich handelndes Subjekt in Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt entwickelt […]. ›Hochschulsoziali-
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Viele Untersuchungen, die sich mit unterschiedlichen Fachkulturen in verschiedenen Disziplinen auseinander setzen, betrachten schwerpunktmäßig den Faktor »Geschlecht« als relevante Größe (z. B. Engler, 1993; Vogel u. Hinz, 2004; Stegmann, 2005). Obgleich von der Relevanz dieser Kategorie auch für die hier beschriebenen Fachkulturen, insbesondere in Bezug auf angenommene Statusunterschiede, ausgegangen wird, stellt sie in dieser Untersuchung nicht den Schwerpunkt der Betrachtung dar. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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5 Soziale Repräsentationen sation‹ ist dann derjenige Abschnitt in diesem Prozeß, der mit dem Studium an einer Hochschule einhergeht« (S. 93).
Sie entwerfen, trotz einer von ihnen konstatierten Schwierigkeit einer solchen Vereinheitlichung, ein Modell der mit dem Individuum interagierenden Hochschulsozialisations-Umwelten, welche über die Grenzen der Hochschule hinaus reichen und benennen folgende Bereiche: »Wissenschaft« (Wissenschaftsbetrieb; nur »sachliche« Argumente sollen in rationalem Diskurs Geltung haben), »Ausbildung« und »Selektion« (Berufsausbildungsinstitution), »Verwaltung« (bürokratische Organisation und gesellschaftlich geformte Sachumwelt), »Peer-group« und »Subkultur» (Portele u. Huber, 1993, S. 101). Sie gehen weiter davon aus, dass sich »eine theoretisch plausible Ordnung […] in […] Versuche [von Typisierungen verschiedener Studierendenstrategien] bringen [lässt], wenn man annimmt, daß sich Studienstrategien danach bestimmen lassen, an oder in welchen der oben beschriebenen Umwelten sie sich primär orientieren. Demnach wären als Haupttypen wissenschaftsorientierte, ausbildungs- und berufsorientierte, prüfungsorientierte und subkulturell […] orientierte Studierendenstrategien zu unterscheiden und danach zu beschreiben, welche in den hochschulischen Umwelten vorhandenen Möglichkeiten sie als Ziel setzen oder aber für ein Ziel instrumentalisieren« (Portele u. Huber, 1993, S. 198).
Studierende werden derart in einem interaktiven Prozess in ihre jeweilige Fachkultur hinein sozialisiert: »Sozialisation wird dabei verstanden als ein Prozeß der Einübung in (spezifische) habituelle Unterscheidungen und Unterschiede. […] Weil nun aber die Sozialisanden den Sozialisationsraum Wissenschaft bereits mit spezifischen (meint hier: individuellen, aber nicht beliebigen) Unterscheidungsrepertoires betreten, die Sozialisationsagenten also nicht auf eine unsozialisierte Klientel treffen, kann der Prozeß des Einübens in Unterscheidungen auch als Transformation von (mitgebrachten) studentischen Unterscheidungen in fachspezifische Unterscheidungen gesehen werden« (Frank, 1990, S. 19).
Demzufolge prägen sowohl die Lehrenden als auch die Studierenden die jeweilige Fachkultur, wobei insgesamt davon ausgegangen werden © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
5.1 Soziale Repräsentationen im universitären Kontext 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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kann, dass der fachkulturelle Habitus der Lehrenden einen Einfluss auf den des Nachwuchses ausübt (vgl. »Das Outfit der Wissenschaft«, 1998). Stegmann (2005) betont in diesem Kontext wirksame »Kohäsionskräfte« (S. 257), die zu einem spezifischen fachkulturellen Habitus beitrügen, von ihr als »überindividuelle Habitualisierungen« (S. 257) bezeichnet.59 Frank (1990) konnte in ihrer Untersuchung zeigen, dass es bei Studierenden, insbesondere bei Studienanfänger/-innen, häufig zu einer Personalisierung eines Faches kommt, während auf professoraler Ebene eher abstrakt und nicht personenbezogen über ein Fach gesprochen wird. Daher ist anzunehmen, dass Begegnungen mit Lehrenden gerade zu Beginn eines Studiums eine enorm weichenstellende Wirkung entfalten. Dieser Befund stellt einen Hinweis auf die Wichtigkeit der erwähnten Sozialisationsagent/-innen für die Sozialisation in eine bestimme Fachkultur dar. Demnach scheint es gerade zu Beginn des Studiums von großer Bedeutung für die persönliche »fachkulturelle« Identitätsentwicklung der Studierenden zu sein, welches Wissenschaftsverständnis und welche Lerninhalte von den Lehrenden eines Faches mehrheitlich vertreten werden. Auf solche »dominanten« Fachkulturen in den hier untersuchten Studiengängen wird im Folgenden eingegangen. Auf die Fachkultur der Psychologie wurde im Zusammenhang mit der Entwicklung der hier behandelten Verfahrensrichtungen bereits in Kapitel 3.1 kurz eingegangen. An dieser Stelle sollen jedoch noch einmal allgemeiner gegenwärtig dominante Selbstzuschreibungen dieser Disziplin vorgestellt werden. Ohne an dieser Stelle im Einzelnen auf die Geschichte der Psychologie eingehen zu wollen, kann festgehalten werden, dass es sich mit ihrem rund hundertjährigen Bestehen als eigenständiges Fach um eine vergleichsweise junge wis-
59 Sie erläutert dies in Anlehnung an Bourdieus Habituskonzept, welches häufig für hochschulsozialisatorische Fragestellungen Verwendung findet (Sozialisationsprozess verstanden als Ausbildung eines bestimmten Habitus, vgl. z. B. Frank, 1990; Portele u. Huber, 1993; Stegmann, 2005). Für diese Arbeit wird jedoch auf das psychoanalytische sowie das sozialpsychologische Konzept der (interaktiven) Identitätsentwicklung rekurriert (vgl. Kap. 4 ff.). Einen Überblick über mögliche Konzeptualisierungen in diesem Kontext geben Portele und Huber (1993, S. 94 ff.).
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senschaftliche Disziplin handelt (vgl. z. B. Lück, 2009). Benesch (1985) führt dazu aus: »Psychologische Tätigkeiten hat es immer gegeben. Daraus jedoch einen Beruf machen zu können, aus dem man seinen Lebensunterhalt bezieht, das gibt es erst seit dem 19. Jahrhundert, als einige Professoren und Dozenten eine psychologische Lehrtätigkeit aufnahmen« (S. 167, zit. nach Burghofer, 2000, S. 3).
Verortet waren diese zunächst an philosophischen Fakultäten (vgl. z. B. Burghofer, 2000). Insbesondere im Verhältnis zur Medizin wird oftmals eine im Vergleich kurze Phase der Etablierung des psychologischen Berufsstandes festgestellt. »Mitunter plagt [wie bereits in Kapitel 3.1 ausgeführt] die Vertreter der Psychologie die Sorge, ob sie bereits bei dem gegenwärtigen Entwicklungsstand ihres Faches als gleichberechtigte Partner gegenüber Vertretern lange etablierter Fächer bestehen können« (Schönpflug u. Schönpflug, 1989, S. 23). Die momentan in dieser Disziplin geläufigste Definition von Psychologie ist die der Lehre vom »›Erleben‹ und ›Verhalten‹« des Menschen (Nolting u. Paulus, 1996; S. 15; vgl. auch Beckmann, 1985; Burghofer, 2000; Lück, 2009). Weiter führt Burghofer (2000) aus, dass sie »den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten naturwissenschaftlicher Erkenntnislehre und Wissenschaftstheorie […] [gehorche und sich ihre] philosophisch-anthropologische Vergangenheit […] dabei lediglich in der von Psychologen verwendeten Terminologie noch bemerkbar« (S. 8) mache. Entsprechend sieht Burghofer (2000) sie insbesondere mit Biologie und Medizin nahe verwandt. Beispielsweise Schönpflug und Schönpflug (1989) zufolge weist die Psychologie als eine zentrale Human- und Sozialwissenschaft jedoch auch viele Schnittstellen zu Nachbardisziplinen wie der Philosophie, der Soziologie sowie Sprach- und Literaturwissenschaften auf. »Akademisch präsentierte [und präsentiert] sich die Psychologie [jedoch] als objektive, empirische Wissenschaft, die sich mit großer Geschwindigkeit auf neue Forschungsbereiche ausdehnte […]. ›Die Psychologie in der BRD begab sich auf den Weg zur exakten Wissenschaft‹ (Mattes, 1984, S. 31)« (Burghofer, 2000, S. 7). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass die Psychologie als relativ junge Disziplin darum bemüht war und ist, ihre ursprünglich an philosophischen Fakultäten angesiedelte Position zugunsten einer naturwissenschaftlich-experimentellen Orientierung aufzugeben und sich als eigenständige empirische Erfahrungswissenschaft vom Erleben und Verhalten zu etablieren (vgl. z. B. Lück, 2009). Somit ist das dominante disziplinäre Selbstverständnis, dem Studierende der Psychologie begegnen, geprägt von einem naturwissenschaftlich-empirischen Wissenschaftsverständnis. Es weist jedoch, auch wenn dies in vielen Lehrbüchern eher weniger betont wird, nach wie vor ebenso sozialwissenschaftliche Bezüge auf. Auch wenn in Forschung und Lehre der akademischen Psychologie verschiedene Schwerpunkte (wie Arbeits- und Organisationspsychologie, Pädagogische oder Klinische Psychologie) nebeneinander existieren, ist die Motivation der meisten Studierenden zu Beginn ihres Studiums die Aufnahme einer klinisch-therapeutischen Tätigkeit (vgl. Jimnez u. Raab, 1999; Amelang, 1999) und auch im Anschluss an das Studium ist die berufliche Orientierung von über der Hälfte aller Psycholog/-innen, wie in Kapitel 3.1 ausgeführt, im klinisch-therapeutischen Bereich angesiedelt. Aus diesem Grunde ist davon auszugehen, dass für Psychologiestudierende die in dieser Studie behandelte Frage einer späteren psychotherapeutischen Tätigkeit besonders relevant ist und dass diesbezüglich insbesondere klinisch-psychologische Lehrangebote eine prägende Wirkung entfalten. In der Klinischen Psychologie sind die Stellen mittlerweile vornehmlich mit verhaltenstherapeutisch orientierten Professor/-innen besetzt (vgl. Kap. 3.1). So weisen auch Eichenberg et al. (2007) zufolge ca. 80 % der Lehrstuhlinhaber/-innen an bundesdeutschen Universitäten eine verhaltenstherapeutische Ausrichtung auf, weshalb sie von einer »selektiven Beeinflussung der Psychologiestudierenden« (S. 457) bezüglich verschiedener psychotherapeutischer Verfahren ausgehen (vgl. auch Strauß et al., 2009). Auch eine Umfrage von Kröner-Herwig, Fydrich und Tuschen-Caffier (2001) zur universitären Lehre im Fach Intervention (Psychotherapie) des Studiengangs Psychologie ergab, dass diese sich wesentlich auf die Verhaltenstherapie ( 66 %) bezieht. In den medizinischen Fächern sind Eichenberg et al. (2007) zufolge die Verhältnisse weniger einseitig, worauf noch ausführlicher eingegangen wird. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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In der Psychologie angesiedelte universitäre bzw. universitätsangebundene Ausbildungsgänge waren im Jahr 2004 (N = 20) sämtlich der Verhaltenstherapie zuzurechnen (Kröner-Herwig, 2004). Mittlerweile gibt es (bei insgesamt 173 Ausbildungsinstituten zum/zur psychologischen oder kinder- und jugendlichenpsychotherapeutischen Psychotherapeuten/-in) ein universitär angebundenes psychodynamisch orientiertes Ausbildungsinstitut (vgl. Strauß et al., 2009, Kap. 5.2). Somit ist im Psychologiestudium vor allem der Zugang zu einer nachgelagerten verhaltenstherapeutischen Ausbildung (unmittelbar) präsent. Eine solche universitäre Präsenz eines Ausbildungsganges mag den Zugang zu dieser erleichtern, zumal es oft große personelle Überschneidungen universitär Lehrender mit denjenigen an den Ausbildungsinstituten gibt. Aufgrund der referierten Zahlen kann bezogen auf Verhaltenstherapie und Psychoanalyse davon ausgegangen werden, dass den Studierenden im Studiengang Psychologie universitär eher einseitige Informationen zugunsten verhaltenstherapeutischer Inhalte zur Verfügung stehen und dass sie über Verhaltenstherapie mehr Kenntnisse besitzen als über psychodynamische Verfahrensrichtungen. Auch der Zugang zu einer nachgelagerten verhaltenstherapeutischen Ausbildung gestaltet sich aufgrund ihrer Präsenz im Studium bzw. ihrer Anbindung an die Universitäten sehr viel einfacher. Hinzu kommt, dass in der gesamten akademischen Psychologie, also auch in nichtklinischen Fächern, lerntheoretische sowie behaviorale Konzepte und quantitativ-empirische Forschungsansätze weit verbreitet sind (vgl. z. B. Smith et al., 2007). Zusammenfassend sind also im Fach Psychologie gegenwärtig insgesamt lerntheoretische, in der Klinischen Psychologie verhaltenstherapeutische Ansätze dominant. Auf die Fachkultur der Disziplin der Medizin und deren Geschichte wird an dieser Stelle aufgrund der Fragestellung dieses Buches vor allem bezüglich ihres Verhältnisses zur Psychologie und zu Psychotherapie sowie zu verschiedenen psychotherapeutischen Verfahrensrichtungen eingegangen.60 Wie im vorangegangenen Abschnitt 60
Verwiesen sei für einen zusammenfassenden Überblick zur Thematik auf die Ausführungen von Burghofer (2000). Die Anfänge der modernen Medizin werden bekanntlich auf Hippokrates (460 – 377 v. Chr.) zurückge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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ausgeführt, stellt die Psychologie eine vergleichsweise junge Disziplin dar. Zu Beginn der Medizin galt auch das »Seelische« als einer ihrer Anwendungsbereiche. Mehr oder weniger implizit ist dies bis heute so geblieben: »Eine irgendwie geartete Psychologie in der Medizin besteht schon so lange, wie es die Medizin selbst gibt […] Die jahrtausendealten Reflexionen und die Vielzahl der Forschungen zum Leib-Seele-Problem belegen exemplarisch die Bedeutung, die dem Zusammenspiel von somatischen und psychischen Anteilen im Humanbereich zukommt« (Schmidt, 1984, S. 4).
Nach Beckmann (1985) waren in der Antike in der Person des Arztes/ der Ärztin sowohl der/die Handwerker/-in als auch der/die Seelsorger/-in und Philosoph/-in vereint, wobei die handwerkliche Seite des Berufes eher geringes Ansehen genoss. Während des 17. Jahrhunderts gewannen »mechanistische« (Beckmann, 1985, S. 148) Modelle und Vorstellungen neben aufklärerischen Überlegungen in der westlichen Medizin an Einfluss. Der menschliche Körper wurde oftmals mit einer »Maschine« (Beckmann, 1985, S. 148) gleichgesetzt. Beckmann (1985) zufolge stellt diese Auffassung bis heute ein wichtiges Axiom in der somatischen Medizin dar. Der »Gesundheitsbegriff« (S. 148) wurde zunehmend mit dem Begriff der »Arbeitsfähigkeit« (S. 148) gleichgesetzt. Konträr dazu keimten jedoch auch »vitalistische« (Beckmann, 1985, S. 148) Bestrebungen auf: Der »Uterus [wurde] […] als Quelle aller Gemütsleiden« (S. 148) diskutiert und der Begriff der »Einbildungen« (S. 148) wurde zur Erklärung von Krankheiten herangezogen (vgl. auch Burghofer, 2000). Dem 18. Jahrhundert rechnet Beckmann (1985) die Entwicklung des modernen Krankheitsbegriffes im Sinne einer »Normabweichung […], [den Beginn einer] Medikalisierung aller Lebensbereiche« (S. 149) sowie die »Wiederbelebung der hippokratischen Lehre« (S. 149) zu. Während des 19. Jahrhunderts gewannen neben einem sich in »medizinischen Theorien« (Beckmann, 1985, S. 150) niederschlagenden »lebhafte[n] […] Nationalismus« (Beckmann, 1985, S. 150) »biologistisch-naturwissenschaftliche« (Beckmann, 1985, S. 151) Bestrebungen und führt. Ärzte/-innen können also auf eine lange Tradition ihres Berufsstandes zurückblicken (vgl. z. B. Burghofer, 2000, S. 3). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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der Glaube an den Fortschritt innerhalb der Medizin die Oberhand (vgl. auch Burghofer, 2000). Die Psychologie etablierte sich in dieser Zeit als eigenständige Wissenschaft, so dass sich die Wege von Psychologie und Medizin trennten (vgl. vorheriger Abschnitt). Viele Gründungsväter der Psychologie, so z. B. Wundt, Kraeplin und Freud, kamen jedoch ursprünglich aus der Medizin (Helpach, 1946, zit. nach Burghofer, 2000, S. 22). Eine erneute Annäherung der beiden Disziplinen war Helpach (1946, zit. nach Burghofer, 2000) zufolge erst zu Beginn der 1940er Jahre zu verzeichnen. Medizinstudierende »nahmen verstärkt psychologische Weiterbildungsangebote an den Universitäten – die sogenannten Experimentalkurse – in Anspruch. Auf Seiten der Psychologen erfolgte die Annäherung an die Medizin über die Physiologie« (Burghofer, 2000, S. 23). Burghofer (2000) gemäß fand ein institutionalisierter »Einzug der Psychologie in die Ausbildung der Mediziner […] [jedoch] erst 1970 statt« (S. 24). Von Medizinstudierenden kritisiert wurde die psychologische Ausbildung in der Medizin allerdings bereits seit Ende der 1970er Jahre (Feingold u. Chemnitz, 1979, zit. nach Burghofer, 2000, S. 25; Haag, 1988). »Durch die Integration des Kurses in den ersten Studienabschnitt fehle den Studenten die Erfahrung im Umgang mit Patienten und somit auch das Bewußtsein für psychologische Problemstellungen. In späteren Abschnitten des Studiums werden den Medizinstudenten zwar ergänzend Veranstaltungen in den Bereichen Psychosomatik und Psychotherapie angeboten, diese besitzen jedoch größtenteils lediglich Wahlfachcharakter. Ferner wurde kritisiert, daß die medizinische Psychologie beziehungslos neben den anderen Ausbildungsfächern stehe und eine nur vergleichsweise geringe Wertigkeit besitze« (Burghofer, 2000, S. 25; vgl. auch Zwerenz et al., 2007).
Beckmann (1985) kommt bezüglich des Verhältnisses von Psychologie und Medizin zu folgenden Fazit: »Aus historischer Sicht gibt es nur wenige Einflüsse der modernen Psychologie auf die Medizin, in umgekehrter Richtung jedoch kaum übersehbare« (S. 153). Die Geschichte der medizinischen Fachrichtung der Psychiatrie war jedoch über Jahrzehnte vor allem mit der Geschichte der Psychoanalyse eng verwoben (vgl. Böker, 2006; Heinze u. Kupke, 2006). Nach anfänglich beiderseitiger starker Abgrenzung »gelang es vielen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern in den folgenden Jahrzehnten (von den 1920er bis etwa den 1960er Jahren), sich in einer Vielzahl psychiatrischer Kliniken zu etablieren« (Böker, 2006, S. 2). In den letzten Jahren haben sich dort allerdings auch verhaltenstherapeutische Ansätze etablieren können, wenn auch (noch) in geringerem Ausmaß als in der Psychologie. Dennoch zeichnet sich auch hier folgende Entwicklung ab: »Wenn vor wenigen Jahrzehnten die amerikanische akademische Psychiatrie von der psychodynamischen Sichtweise dominiert wurde, kann dies heute keineswegs mehr gesagt werden. Es gibt weniger Analytiker in einflussreicher akademischer Stellung und das Ansehen psychodynamischer Ansichten innerhalb der Psychiatrie hat sich auf Kosten der biologischen Richtung und anderer psychotherapeutischer Verfahren, insbesondere der Verhaltenstherapie abgeschwächt. In einer Psychiatrie, die Schwierigkeiten hat, ihren Platz innerhalb einer rein naturwissenschaftlich ausgerichteten Medizin zu behaupten, begegnen Psychoanalytiker wachsender Skepsis« (Moser, 2006, S. 394).
Eine Konkurrenz ist in der medizinischen Disziplin jedoch immer noch weniger als in der Psychologie zwischen verschiedenen psychotherapeutischen Richtungen aufzufinden, sondern sie ist eher zwischen der sich im Verhältnis zu somatischen Fächern zu behaupten suchenden Psychiatrie und Psychotherapie allgemein zu verzeichnen (vgl. z. B. Böker, 2006). Schmid-Ott et al. (2003) fanden in einer Untersuchung zur Wahrnehmung von Psychotherapie ein um einiges negativeres Bild unter Medizin- im Vergleich zu Psychologiestudierenden. In einer Untersuchung von Burghofer (2000) zeigte sich weiterhin, dass Mediziner/-innen und Medizinstudierende oftmals psychodynamische Ansätze mit Psychologie gleichsetzten. In ihrer Befragung sowohl von Mediziner/-innen (und -studierenden) als auch von Psycholog/-innen (und -studierenden) wurde von erstgenannten der Angabe »Psychologie ist die Wissenschaft vom Unbewussten« sowie »Psychologie ist die Wissenschaft von der Seele« am häufigsten zugestimmt. Ähnliches fand auch Strauß (2003). Psychologie bzw. die Betrachtung der psychischen Ebene wird nach den Befunden von Burghofer (2000) zudem zwar von Mediziner/-innen für wichtig gehalten, allerdings eher als Ergänzung zur somatischen Therapie im Sinne einer »ganzheitliche© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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ren« Sichtweise. Auch schlossen die meisten der von ihr befragten Medizinstudierenden aus, dass sie sich alternativ auch ein Psychologiestudium hätten vorstellen können, während dies andersherum nicht der Fall war. Aufgrund solcher Befunde ist in dieser Disziplin von einem vergleichsweise schweren Stand des psychotherapeutischen Bereiches insgesamt auszugehen. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Psychologische bzw. psychotherapeutische Lehrinhalte sind im Medizinstudium zwar vorhanden, jedoch relativ marginalisiert. In den medizinischen Fächern fällt die Positionierung zu verschiedenen psychotherapeutischen Richtungen weniger einseitig zugunsten der Verhaltenstherapie aus. Allerdings ist deren Vermittlung wohl auch weniger differenziert als in der Psychologie, da Psychotherapie insgesamt dort oft nur in geringem Umfang gelehrt wird (vgl. z. B. Burghofer, 2000; Jungbauer, Alfermann, Kamenik u. Brähler, 2003). Zur Geschichte der Pädagogik61 beschreibt Friebertshäuser (1992), wie die Bildungsreform, die kritisch-oppositionelle Student/-innenbewegung und die Krise des Lehrer/-innenberufs den historischen Hintergrund bei der Formung des neuen Studiengangs Diplompädagogik bildeten. Die Entstehung des Studiengangs ist also praktisch und vor allem theoretisch unmittelbar mit gesellschaftlichen Entwicklungen bzw. diesbezüglichen Veränderungsbestrebungen verbunden: »Die theoretische Verbindung mit den gesellschaftskritischen und auf Gesellschaftsveränderung zielenden Kräften dieser Jahre, dürfte hintergründig […] eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben. Einflüsse der Studentenbewegung schlagen sich im Entwurf eines innovativen und kritischen Studiengangs nieder. So sollen beispielsweise Erziehungsprozesse und soziale Arbeit auf dem Hintergrund gesellschaftswissenschaftlicher Analysen neu reflektiert werden« (Friebertshäuser, 1992, S. 163).
Dabei handelt es sich um Vorstellungen, die sich Friebertshäuser (1992) zufolge rückblickend nur begrenzt erfüllt haben. Somit ist 61
Ein historischer Abriss der Geschichte der Pädagogik gestaltet sich aufgrund der Uneinheitlichkeit dieses Fachgebietes schwierig. Ein guter Überblick über die neuere Geschichte findet sich bei Friebertshäuser (1992, S. 161 ff.). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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dieser Studiengang62 in seiner in den letzten dreißig bis vierzig Jahren existierenden Form der jüngste der verglichenen Studiengänge. Nach Friebertshäuser (1992) ging es bei der Etablierung des Studiengangs auch darum »mit der bereits erfolgten Professionalisierung der PsychologInnen und SoziologInnen gleichzuziehen« (S. 162), wobei die akademische Fachkultur als Motor fungierte. Zuvor widmete sich die Erziehungswissenschaft weitgehend der Lehrer/-innenausbildung (vgl. Friebertshäuser, 1992). Dem neuen Studiengang bescheinigt Friebertshäuser (1992) eine starke »gesellschaftswissenschaftliche Ausrichtung« (S. 163). Diese drückte sich ihr zufolge auch in der Entscheidung für die Nebenfächer Soziologie und Psychologie aus und wurde einer eher geisteswissenschaftlichen Tradition vorgezogen. Eine Öffnung in Richtung empirischer Sozialwissenschaften wurde angestrebt, dies allerdings stärker als z. B. in der Psychologie unter Einbezug sowohl quantitativer als auch qualitativer Methoden (vgl. Strauß et al., 2009; Kerncurriculum der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE), 2004, 2008). Zu den erziehungswissenschaftlich besonders relevanten Ansätzen forschungsmethodischer Grundlagen der Disziplin zählen laut dem Kerncurriculum der DGfE (2004) »z. B. pädagogisches Fallverstehen, Hermeneutik, Phänomenologie, Diagnostik, Evaluation, Bildungsstatistik« (o. S.). Anders als in den beiden anderen Disziplinen wird auch ein hermeneutischer Zugang hier als eine wichtige Methodologie erwähnt. Klassisch naturwissenschaftliche Paradigmen spielen in diesem Studiengang dagegen weniger eine Rolle. Friebertshäuser (1992) führte eine Untersuchung der Übergangsphase des Studienbeginns am Beispiel von Initiationsriten in die pädagogische Fachkultur durch. Dabei fand sie eine gewisse Paradoxie vor. Einerseits weist ihrer Untersuchung zufolge diese akademische Fachkultur einen starken Berufsbezug auf. Die Studierenden orientieren sich stark am künftigen Berufsfeld und sind wenig statusorientiert. Andererseits ist die akademische Fachkultur um »Wissenschaftlichkeit« bemüht, um ihren gesellschaftlichen Status zu erhöhen. Somit »untergraben« die häufig sehr berufsfeldorientierten Studierenden nach den Befunden dieser Untersuchung die universi62 In welchem sich im Zuge der Bolognareform, wie in fast allen Studiengängen, momentan eine weitere große Wandlung vollzieht (vgl. Strauß et al., 2009).
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tären Bemühungen um eine wissenschaftlich orientierte Professionalisierung in diesem Fach. Stegmann (2005) beschreibt diesen Widerspruch folgendermaßen: »So kommt es zu skurrilen Ambivalenzen in Einführungsritualen, in denen zum einen die Außenseiterposition der Pädagogik in der wissenschaftlichen Landschaft […] positiv betont wird, zum anderen aber auch beklagt wird. Offenheit und Demokratisierungsversuche laufen parallel zu subtilen Hierarchisierungsmechanismen« (S. 24).
Diese Schwierigkeiten führt Friebertshäuser (1992) unter anderem darauf zurück, dass sich der Studiengang im Zuge seiner raschen »Institutionalisierung und Expansion« (S. 163) sehr schnell und teilweise recht hektisch und unkoordiniert entwickelte, was beispielsweise zu einem »Rekrutierungsproblem aufseiten [sic] der akademischen Fachkultur« (S. 163) geführt habe. Sehr hohe Studierendenströme und uneinheitliche Studiengänge trugen ihr zufolge zusätzlich zu einer inneren und äußeren Abwertung des Studiengangs bei. Zur Fachkultur in den pädagogischen Fächern führt Friebertshäuser (1992) weiter eine »strukturelle Individualisierung« (S. 182) als Begründung für einen dort aufzufindenden ausgeprägten Individualismus an. Zum einen seien die Lehrinhalte in der Pädagogik stark am Individuum orientiert. Das (einzigartige) Individuum steht im Fokus des Erkenntnisinteresses. Eines der Ziele des erziehungswissenschaftlichen Studiums ist zudem die Förderung der persönlichen Entfaltung von Kindern und Jugendlichen. In den Curricula für Lehrämtler/-innen beispielsweise ist dieses Ziel verankert. Auch die Studienorganisation bzw. ihr -aufbau verlangt den Studierenden eine sehr viel individuellere Studienplanung ab als stärker vorstrukturierte Fächer (vgl. auch Stegmann, 2005). Weiter wird im Anschluss an das Studium den Absolvent/-innen oftmals empfohlen, sich ihre Stellen selbst zu schaffen (vgl. Friebertshäuser, 1992). Engler (2000) fand entsprechend, dass, aufgefordert zu einer Selbstbeschreibung als wissenschaftliche Persönlichkeit, »der Erziehungswissenschaftler sich dabei vor allem auf sich selbst bezieht und sich als ›einzigartige‹ Persönlichkeit entwirft, während [beispielsweise] der Ingenieur auf schon Geschaffenes (Theorien, Entdeckungen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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etc.) rekurriert, um seine wissenschaftliche Persönlichkeit hervorzubringen« (vgl. Engler 2000, 135 f., zit. nach Stegmann, 2005, S. 22).
Entsprechend uneinheitlich gestaltet sich die pädagogische Ausbildung im Einbezug psychologischer sowie klinisch-psychologischer Inhalte (vgl. Strauß et al. , 2009). Empfehlungen pädagogischer Fachgesellschaften sind diesbezüglich sehr offen gehalten (vgl. Friebertshäuser, 1992 ; Strauß et al. , 2009). Neben dem Ideal eines Studiums in »Einsamkeit und Freiheit« (W. v. Humboldt) wird hierbei unter anderem mit der Möglichkeit einer universitären Profilbildung gerade im Zuge der Bolognareform argumentiert (vgl. z. B. DGf E, 2004, 2008). Psychologisch-psychotherapeutische Lehrinhalte sind im bisherigen (Diplom-)Pädagogikstudium als Beifach vorhanden (in den neuen BA/MA-Studiengängen eher als Wahlpflicht- oder Nebenfach), jedoch hängt es aufgrund der flexiblen Lerninhalte stark von den Interessen der Studierenden ab, ob sie in ihrem Studium diesbezügliche Kenntnisse erwerben (vgl. Strauß et al., 2009). In Bezug auf psychotherapeutische Lehrinhalte werden dabei psychoanalytische Inhalte in einem höheren Ausmaß angeboten als in der Psychologie (vgl. Strauß et al. , 2009) bzw. sie erfahren hier, womöglich aufgrund der eher sozialwissenschaftlichen bzw. gesellschaftstheoretischen Ausrichtung und der stärker hermeneutischen (Einzelfall-)Tradition eine geringere Abwertung als in der Psychologie (vgl. z. B. Raithel, Dollinger u. Hörmann, 2007). Festgehalten werden kann zusammenfassend, dass in den pädagogischen Studiengängen die Informationen über Psychotherapie, wie in der Medizin, weniger umfangreich sind als in der Psychologie, hier allerdings oft (auch) Psychoanalyse bzw. ein hermeneutisches Wissenschaftsverständnis vermittelt wird. Bezüglich der Fachkulturen in natur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen allgemein lassen sich große Unterschiede festhalten. Stegmann (2005) beispielsweise verglich die Fachkulturen in Pädagogik und Biologie und kam bezüglich eines Vergleichs von Kleidungsstilen in der sozialwissenschaftlichen und der naturwissenschaftlichen Disziplin zu folgendem Ergebnis: »Diese Beobachtung entlang des ›Dualismus‹ von Nachahmung und Individualität als Kennzeichen von Mode gewinnt ›Schlagseite‹ hin zur Nachahmung in © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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der Biologie und zur Individualität in der Pädagogik« (Stegmann, 2005, S. 252). Diesen Befund sieht sie als verallgemeinerbar auf die Unterschiedlichkeit der Fachkulturen dieser Disziplinen und zieht daraus folgenden Schluss: »Die Aufhebung in der Pädagogik und die Beibehaltung in der Biologie dieser einstmals klaren Definitionen kann aus individueller Perspektive vor- und nachteilig sein: Für die Pädagogik bedeutet sie größere Spielräume, aber auch größere Unsicherheiten […] Demgegenüber bietet die Biologie ein griffigeres Geländer zur Orientierung. Fachkulturelle Konventionen scheinen hier klarer definiert. Für Neuberufene ist diese Rahmung, das ›biologische Geländer‹ vermutlich hilfreich, sobald die Codes entschlüsselt sind« (Stegmann, 2005, S. 253).
In einer Studie von Huber und Leibau (1985, zit. nach Stegmann, 2005, S. 253) zeigte sich zudem, dass Studierende der Sozialwissenschaften eher private Wohnräume für das Studium nutzen und sich weniger lang an der Universität aufhalten, während Naturwissenschaftsstudierende dort mehr Zeit verbringen. Aber es gilt auch: »Was jenseits dessen liegt, ist, stärker abgetrennt, Freizeit« (Huber 1991, S. 14, zit. nach Stegmann, 2005, S. 253). Somit ist Naturwissenschaftsstudierenden eine Arbeitszeitstrukturierung weitgehend abgenommen, während für Sozial- und Geisteswissenschaftsstudierende fließende Übergänge zwischen Arbeits- und Freizeit zu verzeichnen sind (vgl. Stegmann, 2005).63 Schäper (1997, zit. nach Stegmann, 2005) kommt weiter zusammenfassend »zu dem Ergebnis, dass der Lehrhabitus tendenziell in den Lehrkulturen der Natur- und Wirtschaftswissenschaften eher forschungs- als studierendenorientiert ist, im Gegensatz zu den Geistes- und Sozialwissenschaften, in denen der Lehre ein größerer Stellenwert eingeräumt wird und eher kooperative Lehr- und Lernformen bevorzugt werden« (S. 22).
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Sennett (1986) beispielsweise äußerte Kritik an der Vermischung dieser zwei Sphären. So komme es zur Gefahr einer Verschleierung der Machtverhältnisse bei zu großer Konzentration auf private individuelle Verhältnisse. Eine Selbstausbeutung könne die Folge sein. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
5.1 Soziale Repräsentationen im universitären Kontext 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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In Tabelle 8 sind die untersuchten Studiengänge in einer vergleichenden Gegenüberstellung aufgeführt. Tabelle 8: Curriculare Unterschiede in der Ausbildung von Mediziner/-innen und Psycholog/-innen (in Anlehnung an Haag, 1988, S. 28 und Burghofer, 2000, S. 32), ergänzt um die Ausbildung von Studierenden pädagogischer Studiengänge (vgl. Friebertshäuser, 1992) Medizin Fast ausschließlich kognitive und handlungsorientierte Ziele Kommunikation/Interaktion wenig berücksichtigt Ausbildung einheitlich, spätere Tätigkeit (Patient/-innenversorgung) klar, vorrangig auf therapeutische Handeln ausgerichtet Klar geregelte und strukturierte Weiterbildung (Facharzt) Medizinisches Krankheitsmodell
Vermittlung psychologischer Kenntnisse rudimentär (früher Studienabschnitt; nicht fachübergreifend; geringe Wertigkeit), keine Vermittlung pädagogischer Kenntnisse
Psychologie Auch affektive Lernziele, Selbstreflexion und Reflexion der Rolle des/-r Psychologen/-in Kommunikation/Interaktion in Theorie und Praxis Ausbildung unterschiedlich, spätere Tätigkeit unklar, auf therapeutisches Handeln und Forschungsaspekte (Statistik, Methodik, Evaluation) ausgerichtet Fehlende verbindlich geregelte Postgraduiertenausbildung Psychologisches Krankheitsmodell
Vermittlung medizinischer Kenntnisse häufig unzureichend, kaum Vermittlung pädagogischer Kenntnisse
Pädagogik64 Auch affektive Lernziele, Selbstreflexion und Reflexion der Rolle des/-r Pädagogen/-in Kommunikation/Interaktion in Theorie und Praxis Ausbildung unterschiedlich, spätere Tätigkeit unklar, vorrangig auf praktische Tätigkeit ausgerichtet (pädagogische Handlungskompetenz) Fehlende verbindlich geregelte bzw. keine vorgesehene Postgraduiertenausbildung Wenn, dann psychologisches Krankheitsmodell (Beifächer Psychologie und Soziologie, auch psychoanalytisch) Keine Vermittlung medizinischer Kenntnisse, v. a. Vermittlung pädagogischer (und pädagogisch-psychologischer) Kenntnisse
64 Für das Fach Pädagogik bzw. die Erziehungswissenschaften existieren keine Rahmenordnungen, wie z. B. die von der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs) formulierte RPO, weshalb von den verglichenen Fächern hier die heterogensten Curricula aufzufinden sind. Die Integration in diese Gegenüberstellung kann deshalb nur extrem holzschnittartig erfolgen und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Allgemeingültigkeit. Weiterhin muss einschränkend für die hier vorgenommene Gegenüberstellung angemerkt werden, dass auch für die Fächer Psychologie sowie Medizin seit der (teilweisen) Umstellung auf Bachelor-/Master die neuen Studiengänge im Unterschied zum Diplomstudiengang nicht durch eine verbindliche länder- und hochschulübergreifend geltende Rahmenprüfungsordnung geregelt werden (so zuletzt 2002), sondern »lediglich« der Akkreditierung durch Akkreditierungsrat bzw. -agentur zur Sicherstellung der (Mindest-)Qualität der Abschlüsse bedürfen (vgl. Strauß et al., 2009).
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(Fortsetzung) Medizin Medizinische Sprache Empirisch, naturwissenschaftlich, experimentell
Psychologie Sozialwissenschaftliche Sprache Empirisch, eher naturwissenschaftlich, experimentell
Kein gesellschaftstheoretischer Anspruch
Kaum gesellschaftstheoretischer Anspruch
Pädagogik64 Sozialwissenschaftliche Sprache Empirisch, sozialwissenschaftlich, hermeneutisch, verschiedene Forschungsansätze Gesellschaftstheoretischer Anspruch
Anmerkungen: Ergänzt zudem um die unteren zwei Zeilen: Wissenschaftsverständnis, gesellschaftstheoretischer Anspruch
Zusammenfassend ergibt sich anhand der referierten Befunde im Vergleich der Studiengänge folgendes Bild: Es kann von einer »uneinheitliche[n] Ausbildung von Psychologen« (Burghofer, 2000, S. 33) im Gegensatz zu einer einheitlichen Ausbildung von Mediziner/-innen gesprochen werden. In den pädagogischen Studiengängen ist im Vergleich die uneinheitlichste und damit auch die individuellste Ausbildung anzutreffen. Weiter ist anzunehmen, dass in der Medizin als strukturierter naturwissenschaftlicher Disziplin für die Studierenden in ihrer Fachkultur größere und selbstverständlichere Orientierungsmöglichkeiten vorhanden sind, aber auch geringere Freiräume. In den beiden anderen Disziplinen ist, da es sich nicht um (primär) naturwissenschaftliche Disziplinen handelt, vermutlich auch aufgrund ihrer geringeren Strukturiertheit, davon auszugehen, dass die Personen der Lehrenden als Orientierungsquellen eine größere Rolle spielen (vgl. Portele u. Huber, 1993; Stegmann, 2005). Der Psychologie ist sowohl im Grad ihrer Professionalisierung als auch bezogen auf die Anerkennung der Disziplinen eine Mittelstellung zwischen den anderen beiden Disziplinen zu bescheinigen. Siegrist (2005) weist auf einen Sozialisations- und Professionalisierungsvorsprung der medizinischen Disziplin im Vergleich zur Psychologie hin und sieht darin zum Beispiel eine Erklärung dafür, dass Ärzte/-innen in interdisziplinären Arbeitsgruppen häufig die leitende Funktion für sich beanspruchen. Schneller (1978) spricht von einer besonders hohen Selbstrekrutierungsrate und einer geringen sozialen Aufwärtsmobilität unter Mediziner/-innen, so dass häufig Statuserhalt und das hohe soziale Prestige des Arztberufes die ausschlaggebenden Faktoren für die Wahl des Medizinstudiums darstellen (vgl. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
5.1 Soziale Repräsentationen im universitären Kontext 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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auch Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), 2007). Darüber hinaus ist bei Medizinstudierenden im Vergleich zu Psychologiestudierenden eine »klarere Zielorientierung und eine größere Sicherheit sowohl bezüglich der Richtigkeit der Studienfachwahl als auch hinsichtlich der materiellen Erwartungen an den Beruf […] (Fisch, Kohler, Ugarte u. Schmidt, 1975, S. 205)« (Burghofer, 2000, S. 32) vorzufinden. Pädagogikstudiengänge sind beispielsweise Friebertshäuser (1992) zufolge dagegen der Psychologie in dieser Hinsicht eher unterlegen. Wenn es um eine Konkurrenz der in diesen Nachbardisziplinen Tätigen geht, sticht die bereits etwas länger etablierte Disziplin der Psychologie die Pädagogik eher aus. Auch weist diese eine höhere Strukturiertheit und klarere Zukunftsperspektiven für die Studierenden auf. Bei einem Vergleich des Ansehens der Disziplinen ist eine eindeutige Hierarchie zugunsten des am meisten strukturierten, am längsten etablierten und am meisten naturwissenschaftlich orientierten Studienfachs – der Medizin – festzustellen. Burghofer (2000) zufolge ist das »Ansehen des Psychologen […] im Vergleich zu anderen Disziplinen durchgängig im mittleren Bereich angesiedelt. Der Beruf des Arztes nimmt hinsichtlich des Ansehens und der Wichtigkeit hingegen die Spitzenposition ein« (S. 19). In einem von ihr aufgestellten vergleichenden Überblick des Ansehens von Berufen fällt auf, dass in keiner der vier referierten Untersuchungen der Beruf eines/-r Pädagogen/-in vergleichend einbezogen wurde. Möglicherweise ist dies ein Hinweis darauf, dass diesem von den jeweiligen Autor/-innen der Untersuchungen von vorneherein wenig Ansehen bzw. Wichtigkeit beigemessen wurde, möglicherweise jedoch auch darauf, dass das Tätigkeitsfeld, das mit diesem Studiengang erlangt werden kann, als zu wenig klar umrissen für einen solchen Vergleich eingeschätzt wurde (s. o., »Beruf selber schaffen«). Lediglich in einer Studie aus Finnland (Montin, 1995, zit. nach Burghofer, 2000) wurden der Lehrer/-innenberuf und der eines/-r Sozialarbeiters/-in in Bezug auf ihre wahrgenommene Wissenschaftlichkeit in einen Vergleich einbezogen. Beide rangieren dort, anders als Psychologe/-in und Arzt/Ärztin (auf dem zweiten bzw. dritten Rang) auf den hinteren Plätzen. Jedoch nimmt, wie in Kapitel 3.1 referiert, in einer Untersuchung © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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von Amelang (1999) auch die Psychologie bezüglich ihres Ansehens als Wissenschaft im Vergleich zu anderen Disziplinen nur einen Platz im hinteren Mittelfeld ein, während sie hinsichtlich »der Fundiertheit der Ausbildung, der Fachkompetenz auf dem eigenen Gebiet, der Wirksamkeit der Methoden und anderer Gesichtspunkte […] durchgängig als etwa gleichrangig wie die anderen zum Vergleich herangezogenen Fächer eingeschätzt [wird], wenn man von der Medizin absieht, die meist über allen anderen Disziplinen ›schwebt‹« (S. 11 f.).
Auch das wissenschaftliche Image der (Diplom-)Pädagogik ist, wie dargestellt, als eher »schlecht« zu bezeichnen. So leidet, wie Friebertshäuer (1992) feststellt, das gesellschaftliche und wissenschaftliche Ansehen des Berufsstands der Diplompädagog/-innen in der Öffentlichkeit unter einer »nur teilweise gelungene[n] Professionalisierung« (Friebertshäuser, 1992, S. 166), auch unter einem fließend Halten der Grenzen zwischen Ehrenamt und Profession. In den 1980er bis 1990er Jahren kamen Debatten über hohe Arbeitslosenquoten von Absolvent/-innen des Studiengangs hinzu. Insbesondere waren Frauen betroffen. »So sind die reproduktiven und fürsorgerischen Tätigkeiten, als Bereiche in denen vor allem Frauen tätig sind, generell gesellschaftlich nur gering geschätzt und entlohnt« (Friebertshäuser, 1992, S. 166). Ein hohes Ansehen eines Faches bringt dagegen andere Schwierigkeiten bzw. Herausforderungen mit sich. Warneken und seine Projektgruppe kamen in ihrer Analyse verschiedener Fachkulturen zu dem Schluss: »Die vertikalen Hierarchien in einem Fach sind umso ausgeprägter, je größer sein gesellschaftliches Ansehen ist« (»Das Outfit der Wissenschaft«, 1998, S. 108). Möglicherweise ist eine Statusproblematik hier somit in ganz anderer Weise virulent und wird beispielsweise in der hoch angesehenen Medizin eher innerhalb der Disziplin ausgetragen. Im nachfolgenden Kapitel wird nun auf den im Anschluss an das Studium relevanten Bereich, das berufspraktische Feld, eingegangen.
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5.2 Soziale Repräsentationen im berufspraktischen Kontext 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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5.2 Soziale Repräsentationen im berufspraktischen Kontext – Psychotherapeutische Versorgungsrealität, Aus- und Weiterbildung »Zahlen sind eine von vielen Möglichkeiten, sich der Wirklichkeit der Welt anzunähern. Wie alle Bilder vereinfachen und vergröbern sie das Abgebildete und machen es so leichter fassbar. Zahlen erleichtern das Erkennen von Größenordnungen, Strukturen und Zusammenhängen und sind damit eine unentbehrliche Arbeitsgrundlage für Analysen – auch in der Gesundheitspolitik« (Bundesministerium für Gesundheit, 2005).
In diesem Kapitel wird in knapper Form auf die psychotherapeutische Versorgungsrealität in Deutschland, die Aus- bzw. Weiterbildung sowie auf die hier behandelten kassenärztlich anerkannten Richtlinienverfahren und deren rechtliche Rahmung durch das Psychotherapeutengesetz (PsychThG) eingegangen.65 Dargestellt wird zunächst in Kürze die allgemeine psychotherapeutische Versorgungsrealität, da neben dem Interesse für eine spezifische Psychotherapierichtung auch dem generellen Interesse (bzw. Nicht-Interesse) der dafür in Frage kommenden Studierendengruppen an einer psychotherapeutischen Aus- bzw. Weiterbildung nachgegangen wird. Angesichts eines steigenden Bedarfs an psychotherapeutischen Leistungen (Albani et al., 2008; WHO, 2003; Wittchen u. Jacobi, 2001, 2006) ist das Interesse Studierender an einer psychotherapeutischen Weiterbildung von einiger gesellschaftspolitischer Relevanz. Pro Jahr sind, wie einleitend dargelegt, Schätzungen zufolge ca. 30 % der erwachsenen Bevölkerung von psychischen und psychosomatischen Störungen betroffen (Groeger, 2005; Wittchen u. Jacobi, 2001; Jacobi, Klose, u. Witt65
Einzig in diesem Kapitel des Theorieteils wird, da es sich um konkrete Zahlen zu Berufsausübung und Ausbildung handelt, der ansonsten im Theorieteil verwendete Sammelbegriff »Psychoanalyse« (vgl. Kap. 1) nicht verwendet. Um diesbezügliche Uneindeutigkeiten zu vermeiden, wird hier nach »tiefenpsychologisch fundierter« und »analytischer« Psychotherapie aufgeschlüsselt, bzw. für zusammenfassende Betrachtungen die Bezeichnung »psychodynamisch« verwendet. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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chen, 2004; vgl. Kap. 1), für welche eine differenzierte und wissenschaftlich fundierte psychotherapeutische Versorgung erforderlich ist. Obwohl die psychotherapeutische Versorgungssituation in Deutschland aufgrund relativ umfangreicher Versicherungsleistungen als vergleichsweise gut gilt (vgl. European Commission, 2004, 2006), ist verschiedenen Autor/-innen zufolge auch hier eine massive Unterversorgung von Personen mit psychischen Krankheiten festzuhalten (vgl. Bundesministerium für Gesundheit (BMG), 2005 ; Zepf, Mengele, u. Hartmann, 2003). Eine im weitesten Sinne adäquate Behandlung erhalten nach konservativen Schätzungen nur ca. 10 % der Betroffenen. Noch genauer aufgeschlüsselt besteht nach Kriz (2006; vgl. auch Jacobi et al., 2004) ein Bedarf an Psychotherapien von geschätzten fünf Millionen. Die Versorgungsrealität gestaltet sich dementgegen, Kriz (2006) zufolge, folgendermaßen : Im Jahre 2004 waren ca. 300.000 ambulante und ca. 400.000 stationäre Therapieplätze vorhanden, wobei sich dies aufteilt in die ambulant praktizierenden Berufsgruppen von ca. 12.000 psychologischen Psychotherapeut/-innen (8.000 davon weiblich), 3.500 ärztlichen Psychotherapeut/-innen (2.300 davon weiblich) und 2.500 Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut/-innen (1.800 davon weiblich). Psychotherapeutische Leistungen in der vertragsärztlichen Versorgung werden also nur zu ca. 30 – 40 % durch ärztliche Psychotherapeut/-innen und zum überwiegenden Teil von psychologischen Psychotherapeut/-innen erbracht (Koch u. Schulz 2003; Rüger u. Bell 2004). Aus Tabelle 9 ist zu ersehen, dass diesen Zahlen entsprechend nur ein vergleichsweise geringer Anteil von Fachärzten/-innen im Jahre 2003 psychotherapeutisch tätig war. Aufgeführt sind in der Tabelle psychotherapeutische Tätigkeitsfelder im weiteren Sinne, sowie zum Vergleich die beiden medizinischen Fachrichtungen mit der höchsten Anzahl darin tätiger Fachärzte/-innen. Der Anteil der im psychotherapeutischen bzw. psychiatrischen Bereich tätigen Ärzte und Ärztinnen macht mit N = 18.395 zusammengenommen nur knapp die Hälfte des Anteils der Fachärzte/-innen für innere Medizin bzw. sogar weniger als die Hälfte des Anteils der Allgemeinmediziner/-innen aus.
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Tabelle 9: Anteil der im weiteren Sinne psychotherapeutisch tätigen Ärzte/Ärztinnen im Jahre 2003 im Vergleich zu den Fachrichtungen mit den höchsten Anteilen in Anlehnung an das statistische Taschenbuch Gesundheit (BMG, 2005) Psychotherapeutische Medizin Psychotherapie KJP Psychiatrie KJP Psychotherapie Nervenheilkunde Neurologie Psychiatrie Psychiatrie und Psychotherapie Gesamt Innere Medizin Allgemeinmedizin
N 3735 22 568 598 4633 2847 3490 2502 18395 37855 39238
weiblich 1799 10 295 322 1639 875 1636 1015 7591 9701 9701
Der geschätzte Therapiebedarf im kinder- und jugendlichenpsychotherapeutischen Bereich betrug nach Kriz (2006) im Jahr 2004 ca. 160.000 (nach Berechnungen des Bundesgesundheitssurveys von 2004; vgl. Jacobi et al., 2004). Dieser könne durch die momentan vorhandene Anzahl an Therapeut/-innen in diesem Bereich nicht abgedeckt werden. Hier ist somit das höchste Maß an Unterversorgung festzuhalten (vgl. auch Borchard-Tuch, 2006). Bezüglich der alten und neuen Bundesländer ist zudem eine große Versorgungsungleichheit zu Ungunsten der neuen Bundesländer festzustellen (Kriz, 2006; vgl. auch Bühring, 2005). Entsprechend diesen Zahlen signalisierte der Deutsche Ärztetag im Jahr 2006, dass die Versorgungssituation von psychosomatisch und psychisch Kranken verbessert werden müsse (Neitscher, Loew u. Bodenstein, 2006). Fünfzig Prozent der Störungen werden nach Kriz (2006) durch Hausärzte/-innen nicht erkannt, was hohe Folgekosten durch Fehlbehandlung und Chronifizierung nach sich zieht (vgl. auch Forsa, 200566). Neben dieser Problematik einer zunächst – teils über 66
In dieser repräsentativen Umfrage der DAK zu psychischen Erkrankungen gaben 52 % der Befragten an, dass sie nicht den Eindruck hätten, Ärzte/-innen würden bei Untersuchungen auch psychischen Krankheiten Aufmerksamkeit schenken. Zudem gaben nur 7 % derjenigen, die eine psychotherapeutische Behandlung in Anspruch nahmen, an, dass der/die Allgemeinarzt/-ärztin sie dazu motiviert habe. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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mehrere Jahre hinweg – somatischen Fehlbehandlung psychischer Störungen (vgl. z. B. Bühring, 2003; Robert-Koch-Institut, 2006), muss aufgrund der generellen psychotherapeutischen Unterversorgung ein Nachwuchsmangel in den Fachgebieten »Psychiatrie und Psychotherapie« sowie »Psychosomatische Medizin und Psychotherapie« (Berger, 2004; Böcker, 2004; Buddeberg-Fischer, Klaghofer, Stamm u. Buddeberg, 2008), ebenso wie im Bereich »psychologischer Psychotherapie« (Schaffmann, 2003) konstatiert werden (vgl. auch Kriz, 2006). Kriz (2006) beispielsweise sieht durch eine Eingliederung in das Medizinsystem die Schwierigkeit einer »enge[n] Kontingentierung der Psychotherapeuten-Praxen und damit einer Festschreibung der derzeitigen Unterversorgung« (S. 18). Neben der ethischen Fragwürdigkeit einer mangelnden Versorgung psychisch kranker Menschen ergeben sich besagte hohe Folgekosten aus der beschriebenen Unterversorgung. Im Bundesgesundheitsbericht 2004 wird beispielsweise mit 22,4 Mrd. ein langfristig enormer volkswirtschaftlicher Schaden benannt (vgl. Kriz, 2006; vgl. auch Albani et al., 2008). Durch eine adäquate psychotherapeutische Behandlung könne es Kriz (2006) zufolge zu Kosteneinsparungen von 8:1 im Vorher-Nachher-Vergleich kommen. Als Probleme der Unterversorgung bzw. Argumente für eine angemessene und qualifizierte psychotherapeutische Behandlung sind demnach zusammenfassend hohe Gesundheitskosten (durch Arbeitsunfähigkeitstage, Arzneimittel, Krankenhausaufenthalte), eine Leidensverminderung bei Patient/-innen durch eine adäquate psychotherapeutische Behandlung, ebenso wie die Eindämmung langer Wartezeiten mit der Gefahr einer Chronifizierung zu nennen. Die Frage einer beruflichen Orientierung Studierender in Richtung Psychotherapie erhält aus dieser Perspektive praktische Relevanz. Neben einem generellen Ausbau der psychotherapeutischen Versorgung wird verschiedentlich eine zielgerichtete »differenzielle Behandlungsindikation« (vgl. z. B. DGVT, 2007; Reinecker, 2009, S. 89; Strauß et al., 2009, S. 373) gefordert. Dabei spielt das »Passungsargument« eine zentrale Rolle: Die »Passung« eines Therapieverfahrens zu den persönlichen Einstellungen, Werthaltungen und Vorlieben eines/-r Patienten/-in stellt demnach einen wichtigen Moderator für den Therapieerfolg dar (vgl. z. B. Linden, 2007). Und auch auf Therapeut/-innenseite wird unter dem Stichwort der »Allegianz« diskutiert, dass für die Qualifiziertheit zukünftiger © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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ärztlicher und psychologischer Psychotherapeut/-innen eine mög-
lichst hohe Identifikation mit den theoretischen Annahmen und Behandlungsansätzen des gelernten Verfahrens ein wichtiges Erfolgskriterium darstellt (vgl. z. B. Berns, 2006). Die Erfüllung der Forderung nach einer solch zielgerichteten differenziellen Behandlungsindikation sowie möglichst hoher Allegianz auf Therapeut/-innenseite wiederum ist abhängig von der Verfügbarkeit differenzierter Informationen zu verschiedenen psychotherapeutischen Verfahren. Diese ist jedoch wohl oftmals schon bei Studierenden, denen nach Abschluss ihres Studiums die Ausbildung offen steht, nicht ausreichend gewährleistet (vgl. Kap. 3.1 u. 5.1), in der Allgemeinbevölkerung ist die Uninformiertheit entsprechend höher. Im Kontext dieser Untersuchung ist diese Überlegung im Zusammenhang mit der Informiertheit der Studierenden über verschiedene psychotherapeutische Verfahren im Verhältnis zu ihren persönlichen Interessen und Vorlieben relevant. Auf Patient/-innenseite geht es um die Verfügbarkeit von differenziellen therapeutischen Angeboten und ausreichenden Informationen darüber, dies ebenfalls im Verhältnis zu persönlichen Bedürfnissen und Vorlieben (vgl. Strauß et al., 2009). Wie zu Beginn dieses Kapitels erwähnt, stellt das Psychotherapeutengesetz (PsychThG)67 seit 1998 eine rechtliche Rahmung dafür dar, welche psychotherapeutischen Verfahrensrichtungen aufgrund eines als ausreichend geltenden Nachweises ihrer Wirksamkeit in den kassenärztlichen Leistungskatalog fallen. Allerdings ist damit nicht endgültig festgelegt, welche Richtungen anerkannt sind, sondern deren jeweilige Fachvertreter/-innen müssen, wie einleitend bereits erwähnt, in regelmäßigen Abständen erneut den Nachweis ihrer Wirksamkeit erbringen (vgl. Kap. 1). Auch Vertreter/-innen gegenwärtig nicht anerkannter Verfahrensrichtungen können sich weiterhin um eine Kassenzulassung bemühen. Der wissenschaftliche Beirat Psychotherapie (WBP) stellte am 11. 11. 2004 nach §11 PsychThG erneut die wissenschaftliche Fundie-
67
Mit Inkrafttreten des PsychThG vom 16.06. 1998 am 01.01.1999 wurde eine offizielle Regelung für Deutschland zur psychotherapeutischen Versorgung gefunden, in der analog zur ärztlichen Approbationsordnung festgelegt wurde, wer mit welcher Vor- und Ausbildung kassenärztlich finanziert psychotherapeutisch tätig sein kann. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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rung der hier gegenübergestellten »Richtlinienverfahren« Verhaltenstherapie und sowie psychodynamischer Verfahren fest. Anders als in ihrer universitären Präsenz, vor allem in der Psychologie (vgl. Kap. 3.1 u. 5.1), sieht die Versorgungsrealität bezüglich der beiden Verfahrensrichtungen momentan eher gleich verteilt aus (s. Tab. 10). So arbeitet nach Rüger und Bell (2004) etwa je die Hälfte der gegenwärtig praktizierenden Psychotherapeut/-innen verhaltenstherapeutisch bzw. psychodynamisch. Nach Zahlen des WBP arbeiteten 40 – 50 % im Jahre 2003 verhaltenstherapeutisch, im Jahre 2004 50 – 65 % psychodynamisch orientiert (hier liegen leider unterschiedliche Jahreszahlen vor). In der ambulanten Versorgung überwiegen somit momentan die psychodynamisch orientierten Verfahren sogar leicht. Nach Fächergruppen aufgeteilt, zeigte sich nach Zahlen der kassenärztlichen Bundesvereinigung (2008), dass im Jahr 2001 unter den ärztlichen Psychotherapeut/-innen der bei weitem überwiegende Teil psychodynamisch orientiert arbeitete (9391 zu 1727), während unter den psychologischen Psychotherapeut/-innen im erwachsenenpsychotherapeutischen Bereich der größere Teil verhaltenstherapeutisch orientiert tätig war (6224 zu 5422; vgl. Tab. 10; etwas andere Zahlenverhältnisse fanden Koch u. Schulz, 2003). Auch die psychotherapeutische Ausbildung erfährt in Deutschland durch das Psychotherapeutengesetz (PsychThG) eine rechtliche Rahmung. Wie ausgeführt, ist seit dessen Einführung im Jahre 1998 darin festgelegt, welche psychotherapeutischen Verfahren in den kassenärztlichen Leistungskatalog fallen. Das PsychThG hat demzufolge nicht Ausbildungen, sondern »Verfahren« als Grundlage. Die Rahmenbedingungen der Aus- und Weiterbildung in den sogenannten »Richtlinienverfahren« werden durch das Gesetz reglementiert. Vorgeschrieben ist z. B. eine bestimmte Menge abzuleistender »praktischer Tätigkeit« (momentan insgesamt 1.800 Stunden) und eine staatliche Prüfung zum Ende der Ausbildung, um die Approbation zu erlangen. Ebenfalls reglementiert sind analog zur ärztlichen Versorgung die Anzahl zugelassener ambulanter Praxen. Ein Erwerb eines Kassensitzes ist erst nach Erlangen der Approbation möglich. Neben dieser gesetzlichen Rahmung der Ausbildung gibt es für die jeweiligen Verfahrensrichtungen unterschiedliche spezifische organisatorische Ausformungen. Die Ausbildungsinstitute sind © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
5.2 Soziale Repräsentationen im berufspraktischen Kontext 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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Tabelle 10: Zahlen zur Psychotherapie 1999/2001, Primär- und Ersatzkassen Behandlungsfälle 1999 (vgl. Kassenärztliche Bundesvereinigung, 2008) 1. Tiefenpsychologisch fundierte und analytische Psychotherapie Ärztliche Psychotherapeut/-innen
Psychologische Psychotherapeut/-innen – tiefenpsychologisch fundiert – analytisch – tiefenpsychologisch fundiert und analytisch Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut/-innen – tiefenpsychologisch fundiert – analytisch – tiefenpsychologisch fundiert und analytisch Gutachter/-innen/Obergutachter/-innen Behandlungsfälle in tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie im Jahre 1999 Kurzzeit (Antragsverfahren) Langzeit (Gutachterverfahren) Behandlungsfälle in analytischer Psychotherapie 1999
9391 4417 319 1686 493 149 959 75 277815 188669 89146 44066
2. Verhaltenstherapie Ärztliche Verhaltenstherapeut/-innen
Psychologische Verhaltenstherapeut/-innen Kinder- und Jugendlichentherapeut/-innen Gutachter/-innen/Obergutachter/-innen Behandlungsfälle in Verhaltenstherapie im Jahre Kurzzeit (Antragsverfahren) Langzeit (Gutachterverfahren)
1727 6224 233 49 1999 176080 67944
Anmerkungen: Stand: 30. Juni 2001; da die »Zahlen zur Psychotherapie« seit einigen Jahren nicht mehr erhoben werden (vgl. kassenärztliche Bundesvereinigung, 2008), liegen keine aktuellen Zahlen vor.
teilweise universitär angebunden (vgl. Kap. 3.1 u. 5.1), in berufspolitischen Verbänden oder aber auch als Einzelinstitute organisiert. Entsprechend heterogen ist das jeweilige Ausbildungsangebot bzw. gestalten sich die jeweiligen Curricula. Für diejenigen Institute, die in größere Verbände eingebunden sind, gibt es teilweise durch diese verbindlich festgelegte Ausbildungsrichtlinien, in welchen reglementiert ist, welche Ausbildungsbausteine in welcher Form zu durchlaufen sind (z. B. DGPT, DGVT68). Für die verhaltenstherapeutische Ausbildung ist diesbezüglich eine heterogenere Landschaft zu verzeichnen (mehrere große Fachverbände und viele Einzelinstitute) als für die psychodynamischen Verfahren, welche zu einem großen Teil in der DGPTorganisiert sind. Für eine klassische psychoanalytische Ausbildung sind zwei große Dachverbände vorhanden, die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft (DPG) und die Deutsche Psychoanalytische Vereinigung (DPV), 68 DGPT = Deutsche Gesellschaft für Psychotherapie; DGVT = Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie
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von denen die DPV seit ihrer Gründung eine institutionalisierte internationale Einbindung in die International Psychoanalytical Association (IPA) aufweist.69 Innerhalb der IPA ist international geregelt, wie die Ausbildung gestaltet sein muss, um ihren Richtlinien zu entsprechen. Im verhaltenstherapeutischen Bereich gibt es bisher noch keine äquivalente internationale Organisation, allerdings sind hier Bestrebungen aufzufinden, einen EU-weiten Verband, die European Association for Behavioural and Cognitive Therapy (EABCT) mit einheitlichen Regelungen zur Ausbildung zu etablieren. Im Rahmen dieses Buches kann nur am Rande auf die äußerst komplexen berufspolitischen Dimensionen der Ausbildung eingegangen werden. Erwähnt sei an dieser Stelle nur, dass es von verschiedenen Interessengruppen diverse Änderungsvorschläge und Modifikationswünsche zur aktuellen Gesetzeslage gibt und nicht absehbar ist, inwiefern sich diese in tatsächlichen Modifikationen der heutigen berufsrechtlichen Situation niederschlagen werden (vgl. z. B. Groeger, 2003). Die Zugangsvoraussetzungen zur Ausbildung werden beispielsweise, auch im Zuge des Bolognaprozesses, neu und kontrovers verhandelt (vgl. Strauß et al., 2009). Auch innerhalb der jeweiligen Verfahrensrichtungen bzw. Fachverbände sind rege Debatten bezüglich eines Änderungsbedarfs der jeweiligen Ausbildungen anzutreffen. Für die psychoanalytische Ausbildung ist dies in einem größeren Ausmaß der Fall und wird meist im Zusammenhang mit dem weltweiten Rückgang psychoanalytischer Ausbildungsteilnehmer/-innen (allerdings mit regionalen Ausnahmen, z. B. Osteuropa, Asien, Lateinamerika) verhandelt (z. B. Fonagy, 2001, 2002; Kernberg, 2006a, 2006b, 2007; Moser, 2006; Perron, 2001, 2002; Wallerstein, 2005a, 2005b; vgl. auch Kap. 3.1 u. 3.4). Die gegenwärtige Ausbildungslandschaft in Deutschland gestaltet sich nach einer aktuellen Erhebung von Strauß et al. (2009) momentan folgendermaßen : Es sind 173 staatlich anerkannte Ausbildungsinstitute aufzufinden, von denen 90 (52 %) eine psychodynamisch orientierte Ausbildung anbieten, während in 73 69 Mittlerweile hat jedoch auch die DPG eine IPA-Anerkennung: Sie bekleidet gegenwärtig den Status einer »provisional society of council«.
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5.2 Soziale Repräsentationen im berufspraktischen Kontext 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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Instituten (42 %) eine verhaltenstherapeutische Ausbildung absolviert werden kann. Nur sehr wenige Institute bieten sowohl eine psychodynamisch orientierte (PD) als auch eine verhaltenstherapeutische Ausbildung (VT) an (n = 9; 5 %) und lediglich zwei der staatlich anerkannten Ausbildungsinstitute bieten momentan (auch) das nicht kassenärztlich anerkannte Verfahren Gesprächspsychotherapie (GT) an (1 %, eines ausschließlich GT, das andere auch eine tiefenpsychologisch fundierte Ausbildung (TP)). Im weitaus größten Teil der Institute (n = 100) kann lediglich eine Ausbildung zum/zur psychologischen Psychotherapeuten/-in (PP) absolviert werden (dieser Ausbildungsgang steht zumindest theoretisch auch Ärzten/Ärztinnen offen ; davon VT: 46, PD : 53, beides : 1). 56 Institute bieten sowohl eine PP als auch eine Ausbildung zum/zur Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten/-in (KJP) an (davon : VT: 20, PD : 28, beides: 7). Lediglich 16 Institute bieten ausschließlich eine KJP-Ausbildung an (davon : VT: 7, PD: 8, beides: 1). Obwohl momentan die Zahl der psychoanalytischen bzw. psychodynamischen Ausbildungsinstitute noch überwiegt, sind psychoanalytische Fachgesellschaften, wie in Kapitel 3.4 erwähnt, auch in Deutschland von einem massiven Rückgang an Ausbildungsteilnehmer/-innen betroffen. Dies trifft vor allem auf den erwachsenentherapeutischen Bereich zu (vgl. Strauß et al., 2009). Verhaltenstherapeutische Institute haben dagegen große Zuwächse zu verzeichnen und bilden mittlerweile Schätzungen zufolge ca. zwei Drittel der gegenwärtigen Ausbildungsteilnehmenden aus (vgl. Strauß et al., 2009). Hier scheint sich also momentan ein Wandel zu vollziehen, dies sehr viel stärker in PP als im KJP-Bereich. Im KJP-Bereich werden eher noch psychodynamisch bzw. psychoanalytisch ausgerichtete Ausbildungsgänge gewählt, während sich im PP-Bereich drei Viertel der Ausbildungsteilnehmer/-innen gegenwärtig für eine verhaltenstherapeutische Ausbildung entscheiden. Bedenkt man in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass sich der größte Teil der Ausbildungsteilnehmenden im PP-Bereich gegenwärtig aus Psychologiestudierenden rekrutiert, erscheint die Überlegung zulässig, dass die in Kapitel 5.1 beschriebene, dort vorherrschende Fachkultur die größte Relevanz für die Gewinnung psychotherapeutischen Nachwuchses in diesem Feld besitzt, während für den KJP-Bereich in sehr viel stärkerem © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Maße auch die in den pädagogischen Fächern anzutreffenden Fachkulturen eine Rolle spielen sollten.
5.3 Soziale Rezeption im gesamtgesellschaftlichen Kontext – Gesundheitspolitische Privilegierung, Behandlungsphantasien »Wir alle sprechen die Sprache Freuds, ob wir es wissen oder nicht, ob wir ihn hoch verehren oder tief verachten. Die psychoanalytische Lehre oder zumindest der psychoanalytische Jargon ist unaustilgbarer Bestandteil unserer Welt geworden« (Gay, 2006, zit. nach Renner u. Mack, 2008, S. 132).
Zunächst sei auf den Wert öffentlicher Zustimmung als einer wichtigen Legitimationsressource von Wissenschaft in der heutigen »Wissensgesellschaft« (Weingart, 2005; Heinrich-Böll-Stiftung, 2006) hingewiesen: »Bekanntlich hat schon Francis Bacon die Wünschbarkeit einer Popularisierung der ›neuen Wissenschaft‹ und den Wert öffentlicher Zustimmung als wichtige Legitimationsressouce erkannt. Unter den seither drastisch veränderten Bedingungen der Allgegenwart der modernen Medien hat sich die Neigung der Wissenschaftler eher verstärkt, deren Aufmerksamkeit zur Mehrung ihrer Forschungsmittel und damit ihres Ruhms (oder ihres Vermögens) einzusetzen. […] Mit anderen Worten: Wissenschaftler adressieren Politik und Öffentlichkeit über die Medien. Das Resultat sind vereinfachte, dramatisierte Verlautbarungen und Prognosen, die Handlungsbedarf signalisieren und […] oft genug zu politisch wirkungsvollen Diskursen werden« (Weingart, 2005, S. 159 f.).
Unter der Prämisse dieser Einschätzung werden die hier referierten gesellschaftlichen Sichtweisen auf Psychotherapie bzw. den Berufsstand des/-r Psychotherapeuten/-in diskutiert, ein Zusammenhang zu den in Kapitel 2 und 4.5 dargestellten gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen wird im Folgenden herausgearbeitet. Für diese Studie zentrale Fragen sind in diesem Kontext, wie einleitend dargestellt, welche gesellschaftlichen Bilder von psychischer Krankheit und Gesundheit, welche gesellschaftlichen »Behandlungsphantasien« (Haubl, 1997, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
5.3 Soziale Rezeption im gesamtgesellschaftlichen Kontext 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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S. 10) und damit einhergehenden Vorstellungen von »guter Psychotherapie« gegenwärtig aufzufinden sind. Weiter wird in diesem Kapitel noch einmal das vermutete gesellschaftlich anachronistische Moment der Psychoanalyse aufgegriffen und diskutiert. In diesem Zusammenhang wird Hinweisen auf mögliche gesellschaftliche Veränderungen therapeutischer Zielsetzungen nachgegangen. Trotz der hohen Zahl der von psychischen Beschwerden Betroffenen (vgl. Kap. 1 u. 5.2) sind gesellschaftlich immer noch Stigmatisierungen psychisch kranker Personen feststellbar (vgl. z. B. Angermeyer, 2004; Roessler, 2005). Anders als somatisch Erkrankten wird diesen beispielsweise nach wie vor oftmals eher eine Verantwortung für das eigene Leiden unterstellt. In einer repräsentativen Umfrage von Forsa (2005) wurde einerseits zwar die gesamtgesellschaftliche Akzeptanz psychischer Krankheit durch 82 % der Befragten als höher eingeschätzt als noch vor einigen Jahren (u. a. im Zuge vermehrter medialer Information), andererseits war es mit 56 % über der Hälfte der Befragten unangenehm, wegen psychischer Krankheiten am Arbeitsplatz zu fehlen (vgl. auch Angermeyer, 2003; Dribbusch, 2009). Verständlich wird dies möglicherweise, vergegenwärtigt man sich, dass es um eine so wichtige soziale Kategorie wie »Normalität« in Verhalten und Erleben geht. So kann psychische Krankheit schnell als gesellschaftliche Abweichung im Sinne einer »Abnormität« gesehen werden (vgl. Angermeyer, 2004). Auch der Berufsstand des/-r Psychotherapeuten/-in als solcher ist von Stigmatisierungstendenzen betroffen. In recht regelmäßigen Abständen wird in den Medien von krank machenden oder zumindest unqualifizierten Psychotherapeut/-innen berichtet (vgl. z. B. Dierbach u. Roberts, 2006, vgl. auch Kap. 5.2).70 Dennoch hat sich das Klima in den letzten Jahrzehnten gewandelt. Die Inanspruchnahme psychotherapeutischer Hilfe erfährt gesellschaftlich eine zunehmende Akzeptanz (vgl. z. B. Keupp, 2005a; Forsa, 2005). Keupp (2005a) stellt entsprechend eine hohe Ambivalenz in der gesellschaftlichen Beurteilung der Psychotherapie fest. 70
Sicherlich ist dies jedoch auf darauf zurückzuführen, dass der Begriff »Psychotherapeut/-in« erst seit ungefähr einem Jahrzehnt eine geschützte Berufsbezeichnung ist und auch heutzutage immer noch viele unseriöse Angebote auf dem »Psychomarkt« zu finden sind. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Verschiedentlich werden Parallelen zwischen gegenwärtigen Entwicklungen im psychotherapeutischen Bereich und gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen aufgezeigt. Darauf soll nachfolgend eingegangen werden. Zum einen stellen verschiedene Autor/-innen insgesamt einen zunehmenden Warencharakter von Psychotherapie, den Einzug einer »Ökonomisierung von Psychotherapie« (Strauß, 2006, S. 356) bzw. eine zunehmende Betrachtung unter einer ökonomischen Verwertungslogik fest (z. B. Duttweiler, 2006; Haubl, 1997; Keupp, 2005a, 2005b; Korte, 2007; Strauß, 2006). So diagnostiziert Strauß (2006) beispielsweise, dass »die Psychotherapie [als Dienstleistung] zunehmend unter dem Primat der Ökonomie« (S. 354) stehe. Vor dem Hintergrund gesamtgesellschaftlicher Veränderungen in Richtung einer Ökonomisierung verschiedenster Lebensbereiche (vgl. Kap. 2) sei »die Frage zu stellen, inwieweit die Psychotherapie in unserer Zeit bereits zur ›Ware‹ geworden (oder verkommen?) ist, die nur noch den Gesetzen einer globalisierten Wirtschaftsgesellschaft unterliegt« (Strauß, 2006, S. 356). Diese Einschätzung ist sehr weitreichend, in der Tendenz mag sie jedoch durchaus Gültigkeit besitzen. Strauß (2006) stellt weiter »einen Trend zu kürzeren Prozessen, der insgesamt alle Zweige der Psychotherapie und ihrer jeweiligen institutionellen Rahmungen durchzieht« (Strauß, 2006, S. 361) fest (vgl. auch Beutel 2004; Margraf, 2009c). Weiter führt er dem Soziologen König (2006) folgend dazu aus: »Konzeptionelle Begründungen, ökonomische Faktoren, Beschleunigungseffekte anderer Art, Zeitgeistideologien, alles sei hierbei vermischt« (Strauß, 2006, S. 361). Die Sorge um sich selbst werde so Strauß (2006), laut König (2006; in Anlehnung an Foucault, 2000) »marktförmiger« (S. 361). Vermutet werden könnte, dass die beschriebenen gesamtgesellschaftlichen Flexibilitätsanforderungen und Ökonomisierungstendenzen hier einen nicht unwesentlichen Einfluss entfalten, beispielsweise in der Form, dass Menschen sich aus Angst vor Prekarisierung zunehmend unter einer funktionalistischen, (selbst-)verdinglichenden Perspektive (im Lukcs’schen Sinne, vgl. Honneth, 200571) betrachten und sich derart sozusagen selbst »ökonomisieren«. 71 Honneth (2005) merkt zur Lukcs’schen Verdinglichungsperspektive jedoch unter anderem kritisch an, dass solche gesellschaftlichen Sphären, welche
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5.3 Soziale Rezeption im gesamtgesellschaftlichen Kontext 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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Weiter konstatieren verschiedene Autor/-innen einen zunehmenden Verzicht psychotherapeutisch Tätiger auf eine Reflexion der eigenen gesellschaftlichen Rolle (vgl. z. B. Keupp, 2005a, 2007b; Strauß, 2006). So schließt sich Strauß (2006) Keupps (2005a) Diagnose einer gewissen »Gesellschaftsvergessenheit« (S. 142) dieser Berufsgruppe an. Problematisch kann dies unter anderem insofern sein, als gesellschaftliche Normen gegenüber dem, was in einer bestimmten historischen Epoche und in einer bestimmten Kultur als »störungswertig« oder als normal gilt – werden sie nicht mitgedacht – relativ unreflektiert in psychotherapeutische Behandlungen einfließen können. Es kann jedoch zum einen, wie sich geschichtlich mannigfach gezeigt hat, keinesfalls davon ausgegangen werden, dass das, was in einer Gesellschaft mehrheitlich für normal gehalten wird, auch normativ richtig ist. Hierin liegt eine wichtige ethische gesellschaftliche Verantwortung psychotherapeutisch Tätiger. Eine Resozialisation bei gesellschaftlicher Devianz übt zudem zwangsläufig eine normative Gewalt gegenüber Individuen aus, ein Spannungsfeld, in dem sich jede psychotherapeutische Tätigkeit notwendigerweise bewegt. Sie ist immer kulturabhängig und auch kulturgestaltend. Hinzu kommt, dass in der Wissensgesellschaft (vgl. Weingart, 2005) auch in der Psychotherapie Fachliches mit Gegenwartsphänomenen zunehmend verwoben ist. Unter anderem ein markförmiger Umgang von Patient/-innen mit sich selbst zeige Strauß (2006) zufolge, »in hochdifferenzierten Gesellschaften aus Effektivitätsgründen darauf angewiesen sind, daß ihre Mitglieder einen strategischen Umgang mit sich und anderen erlernen; […] [aus einer solchen Kritik ausgenommen werden müssten,] in denen jenes beobachtende, teilnahmslose Verhalten einen vollkommen legitimen Platz besitzt« (S. 28). Weiter bezweifelt Honneth, dass, wie von Lukcs postuliert, allein eine kapitalistische, an ökonomischer Tauschlogik orientierte Gesellschaftsform für solche Verdinglichungstendenzen ausreichende Erklärungsmöglichkeiten biete. Auch problematisiert er eine in Lukcs’ Ansatz erkennbare Vorstellung eines »ursprünglichen« (S. 27) nicht verdinglichenden Umgangs mit sich und anderen und eine »›wahre‹ […] menschliche […] Praxis« (S. 25) als eine Art anthropologische Grundkonstante, wenngleich er ihr in Gestalt einer intersubjektiv Anteil nehmenden Perspektive »als Kontrastfolie zur verdinglichenden Praxis« (S. 27) durchaus folgt und dies in seine Überlegungen zu intersubjektiver Anerkennung im Gegensatz zur »Verdinglichung als Anerkennungsvergessenheit« (S. 62) integriert. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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5 Soziale Repräsentationen »dass auch in der Psychotherapie [wiederum nach König (2006)] ›fachliche Entwicklungen und Zeitgeistphänomene immer dichter beieinander liegen, auch wenn dies häufig erst im Rückblick sichtbar‹ würde. Die Koppelung von Psychotherapieentwicklungen mit dem Zeitgeist machten gleichermaßen ihre Stärke und ihre Schwäche, ihre Möglichkeiten und Grenzen aus« (S. 361).
Neben einer zunehmenden Marktförmigkeit sind die Arbeit an der eigenen Identität (vgl. Kap. 4.4) sowie der Umgang mit Grenzen in einer pluralisierten und flexibilisierten Welt Strauß (2006) zufolge gegenwärtig zunehmend wichtigere Aufgaben von Psychotherapie (vgl. auch Keupp, 2005a, 2005b). Auf ein sich ausbreitendes Sinnvakuum solle diese vermehrt eine Antwort finden: »Keupp (2005, 2005) hat die Identitätsarbeit und das Management von Grenzen angesichts der zunehmenden Auflösung von bekannten Lebensformen und Sinnwelten als eine der wesentlichen Aufgaben der Psychotherapie in einer fluiden Gesellschaft bezeichnet. In einer fluiden Gesellschaft kommt der Psychotherapie also vermehrt die Aufgabe zu, auf das ›Entstehen des Sinnvakuums‹ eine Antwort zu geben« (Strauß, 2006, S. 361).
Zusammenfassend ist also einerseits eine zunehmende Marktförmigkeit zu verzeichnen, welche vermutlich beispielsweise zu Forderungen nach einer Verkürzung von Psychotherapien beiträgt bzw. mit diesen in einer Wechselwirkung steht. Dies prägt wiederum, so kann vermutet werden, entsprechend gesellschaftlichen Bildern von psychischer Krankheit und Gesundheit und vorherrschende gesellschaftliche »Behandlungsphantasien«. Andererseits sind vorherrschende Vorstellungen von »guter Psychotherapie« gegenwärtig davon geprägt, Antworten auf ein zunehmendes Sinnvakuum geben zu sollen. Damit nehmen sie eine wichtige sinnstiftende gesellschaftliche Funktion ein, dies bei gleichzeitig geringer Reflexion der eigenen gesellschaftlichen Rolle psychotherapeutisch Tätiger. Im Folgenden soll auf das vermutete gesellschaftlich anachronistische Moment der Psychoanalyse im Zusammenhang mit Anforderungen (post-)moderner Lebensläufe eingegangen werden, dies aufgrund der Fragestellung dieser Untersuchung vor allem in Gegenüberstellung zur Verhaltenstherapie. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Es kann aufgrund der beschriebenen allgemeinen gesellschaftlichen Tendenzen und ihrer im vorangegangenen Abschnitt beschriebenen Auswirkungen auf gesellschaftliche Sichtweisen von Psychotherapie davon ausgegangen werden, dass z. B. die lange Dauer und die hohe Frequenz klassischer psychoanalytischer Therapien in besonderem Ausmaß im Widerspruch zu modernen Biographien mit ihren erhöhten Flexibilitätsanforderungen (z. B. beruflich bedingten Ortswechseln) stehen (vgl. auch Kap. 2, 4.5, 4.6 u. 4.7). Dagegen könnten gegenwärtige, mit gesellschaftlichen Verhältnissen in einer Wechselwirkung stehende Vorteile verhaltenstherapeutischer Verfahren unter anderem ihre kürzere Dauer darstellen. Möglich wäre des Weiteren, dass Veränderungen therapeutischer Zielsetzungen in den letzten Jahren und eine Verschiebung in der Gesundheitspolitik weg von präventiven und längerfristigen Ansätzen mit verantwortlich für einen Rückgang des Interesses an der Psychoanalyse sind (vgl. Bruns, 2002). Pragmatische Faktoren wie Kosten und Dauer psychotherapeutischer Ausbildungen und Therapien könnten dabei eine Rolle spielen (vgl. Morbitzer, Hartmann u. Pfeffer, 2005). Mit diesen Entwicklungen einhergehend könnten sich die Vorstellungen von Patient/-innen bezüglich einer guten Psychotherapie verändert haben. Aus Patient/-innenperspektive wären denkbare Vorteile verhaltenstherapeutischer Verfahren z. B., dass dort Hilfe bei konkreten Handlungen gegeben wird und sie eine eher lebenspraktische Orientierung verfolgen (z. B. Wassmann, 2006), dies gerade in Zeiten von Pluralität, wachsenden Ängsten und Orientierungsanforderungen bzw. -erschwernissen (vgl. Kap. 2, 4.5 u. 4.6; Keupp, 2007a, 2007b). Psychoanalyse wird heutzutage dagegen oftmals als weniger nah am Alltagserleben der Menschen und als generell schwer vermittelbar beschrieben (z. B. Comer, 2008). Der weiter oben erwähnte Wandel gesellschaftlicher Bilder von psychischer Krankheit und Gesundheit und vorherrschender gesellschaftlicher »Behandlungsphantasien« (Haubl, 1997, S. 10) könnte für diesen Prozess von Bedeutung sein. Während, wie in Kapitel 3.1 ausgeführt, in 1960er und 1970er Jahren Verhaltenstherapie häufig mit dem Vorwurf der Patient/-innenmanipulation konfrontiert wurde, zeigt sich heute eher ein umgekehrtes Bild: Der Psychoanalyse wird momentan eher vorgeworfen, die Patient/-innen in einer unmündigen Position zu belassen. So müssen sich psychoanalytische © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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5 Soziale Repräsentationen
Verfahren mittlerweile häufig dem Vorwurf stellen, »nebulöse« Verfahren anzuwenden und die Autonomie von Patient/-innen nicht zu respektieren bzw. zu unterstützen (z. B. Meyer, 2005). In verschiedenen westlichen Ländern kam es, wie weiter in Kapitel 3.1 ausgeführt, zu einem regelrechten »Freud-Bashing«. Als ein weiterer Vorteil kognitiv-verhaltenstherapeutischer Verfahren wird heutzutage häufig die Störungsspezifität der Interventionen angeführt (z. B. Lutz, 2003), einhergehend mit der in Kapitel 3.3 beschriebenen Vorstellung von psychischer Krankheit als durch klar abgrenzbare Symptomatiken zu bestimmen und mit eindeutig zuzuordnenden empirisch fundierten Methoden und Techniken zu behandeln (vgl. auch Kap. 3.5) Weiterhin scheint es heutzutage eher schwer vermittelbar, warum sich psychoanalytische Ansätze darum bemühen, »Unbewusstes« (z. B. Plänkers, 1986, S. 200; Kap. 3.4), also nicht Sicht- oder Greifbares in das Verständnis der menschlichen Existenz zu integrieren; allerdings auch gerade eine mögliche Bedeutung einer psychoanalytischen Perspektive für Gesellschaftsanalysen und -kritik z. B. aus dem Blickwinkel der kritischen Theorie (z. B. Busch, 2005; Honneth, 2001, 2003). Eben diese Perspektive stellt ein verunsicherndes Element dar, welches möglicherweise vor dem Hintergrund heutiger individualisierter Existenz schwer zu bewältigen ist. Die Frage, ob die Konzeption eines »Unbewussten« als verunsicherndes Element in einer pluralisierten und flexibilisierten Welt, in welcher generell mit hoher gesellschaftlicher Unsicherheit umgegangen werden muss, möglicherweise als zu verunsichernd wahrgenommen werden könnte, könnte in diesem Kontext aufgeworfen werden. Verhaltenstherapie beschäftigt sich mit der Ebene gezeigten Verhaltens und bezieht sich in ihrer Theoriebildung nicht auf ein »Unbewusstes« (Wassmann, 2006), ein Faktum, das die wahrgenommene Verständlichkeit dieser Therapieform auch für Nichtexpert/-innen möglicherweise erhöht bzw. unmittelbarer nachvollziehbar macht. Zusammenfassend kann festgehalten werden: Das anachronistische Moment der Psychoanalyse besteht neben einer epistemologischen Dimension wohl auch in der Länge und der Frequenz der Behandlung; die klassische Psychoanalyse wird so wahrgenommen, als sei sie kaum mit heutigen Vorstellungen bzw. Anforderungen moderner Lebensläufe in Einklang zu bringen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
5.3 Soziale Rezeption im gesamtgesellschaftlichen Kontext 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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Auch (gesundheits-)politisch können in Zeiten wirtschaftlicher Krise und leerer öffentlicher Kassen möglichst kurze Interventionen aus zweifacher Hinsicht für sinnvoll gehalten werden (vgl. Hau, 2009).72 Zum einen aus der Perspektive der (kurzfristigen) Belastungen des Gesundheitssystems, zum anderen aus der Perspektive eines möglichst raschen Wiedererlangens von Arbeitsfähigkeit. Auf das Thema der Nachhaltigkeit soll in diesem Kontext nicht näher eingegangen, sondern lediglich auf folgenden von Moser (2006) festgestellten Umstand verwiesen werden: »Hell hat zum Thema ›Sparpolitik und Psychiatrie‹ aufgezeigt, dass historisch gesehen, die Gefahr psychiatrischer Missstände immer dann am größten war, wenn finanzielle Knappheit mit wachsenden sozialen Schwierigkeiten einher ging: […] Die aktuelle Hauptgefahr besteht für Hell darin, dass …kurzfristig angelegte Behandlungsprogramme wegen ihrer leichter zu erfassenden Kosten-Nutzen-Rechnung längerfristig angelegte Behandlungs- und Entwicklungshilfen (mit umständlich zu erstellenden Kosten-Nutzen-Analysen) verdrängen (2003, S. 292)« (Moser, 2006, S. 395).
72 An dieser Stelle sei noch einmal betont: Die tatsächliche Wirksamkeit bzw. Wirkung von Psychotherapie allgemein bzw. verschiedener psychotherapeutischer Verfahrensrichtungen ist nicht das Thema dieser Arbeit. Diesbezüglich wird sich nach dem Kriterium der Anerkennung psychotherapeutischer Verfahren durch den wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie gerichtet, obgleich selbstverständlich davon ausgegangen wird, dass diese neben gesellschaftlichen und sonstigen Sichtweisen auf Psychotherapie für die Etabliertheit eines Verfahrens eine zentrale Einflussgröße darstellt.
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6 Theoretisches Rahmenmodell zu den empirischen Daten
Zum Abschluss des Theoriekapitels wird an dieser Stelle zusammenfassend das für die Beantwortung der Fragestellung verwendete Modell der Verknüpfung der theoretischen Überlegungen mit den empirischen Daten dargestellt (vgl. Abb. 3). Als Hintergrund auf der »Makroebene« (1) dienen gesellschaftstheoretische bzw. gegenwartsdiagnostische Überlegungen, ausgehend von einem Wandel in Richtung einer zunehmenden Ökonomisierung sowie einer Pluralisierung in den letzten Jahrzehnten (vgl. Kap. 2 u. 4.5). Auf der »Mesoebene« (2) wird – ausgehend von der Unterschiedlichkeit der Verfahrensrichtungen – der vermutete Paradigmenwechsel im psychotherapeutischen Bereich weg von der Psychoanalyse und hin zur Verhaltenstherapie vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund gefasst (vgl. Kap. 3.1 – 3.5). Empirisch wird auf der »Mikroebene« (3), der Ebene der Datenerhebung und -auswertung in einer studentischen Stichprobe zum einen exemplarisch die Repräsentation von Psychotherapie und der Verfahrensrichtungen Verhaltenstherapie und Psychoanalyse ermittelt (vgl. Kap. 5 – 5.3), sowie – vor dem Hintergrund von Theorien zu Identitätsentwicklung und Berufswahl – (vgl. Kap. 4.1 – 4.4 u. 4.7) sowohl quantitativ als auch qualitativ das persönliche Interesse an diesen erhoben. Wenn vorhanden, werden die jeweiligen Beweggründe für eine psychoanalytische bzw. eine verhaltenstherapeutische Ausbildung analysiert.
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6 Theoretisches Rahmenmodell 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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Abbildung 3: Theoretisches Rahmenmodell für die empirische Datenerhebung Anmerkungen: MED = Medizinstudierende; PSY = Psychologiestudierende; PÄD = Pädagogikstudierende; PT= Psychotherapie; PA = Psychoanalyse; VT = Verhaltenstherapie
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Hypothesen und Fragestellungen
In diesem Kapitel wird die Ableitung der Hypothesen und Fragestellungen beschrieben, anhand derer in fünf Hypothesenkomplexen und zwei Fragenkomplexen der übergeordneten Fragestellung dieses Buches nachgegangen wird, der Wahrnehmung verschiedener psychotherapeutischer Verfahren sowie dem Interesse an ihnen unter den Studierenden der untersuchten Studiengänge.
7.1 Zusammenfassende Problemzentrierung und Ableitung der Hypothesen und Fragestellungen »Andererseits sind Probleme von großer Tragweite, sogenannte Existenzfragen, häufig gar nicht Fragen der Gerechtigkeit, sondern berühren, als Fragen des guten Lebens, das ethisch politische Selbstverständnis – sei es der Gesellschaft im Ganzen oder einzelner Subkulturen« (Habermas, 1990, S. 40).
Die in den vorangegangenen Kapiteln referierten theoretischen Überlegungen zusammenfassend betrachtet, ist davon auszugehen, dass das Pathologieverständnis sowie die Ziele psychotherapeutischer Behandlungen kassenfinanzierter Psychotherapien in Wechselwirkung mit gesellschaftlich vorherrschenden Vorstellungen von psychischer Krankheit bzw. Normalität stehen. Neben wissenschaftlichen Wirksamkeitsnachweisen üben auch solche Vorstellungen einen Einfluss auf die gesundheitspolitische Privilegierung psychotherapeutischer Verfahren aus (vgl. Kap. 3.2 u. 5.3). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Das zentrale Anliegen dieser Studie besteht darin, Vorstellungen von »guter« Psychotherapie im gegenwärtigen kulturell-historischen Kontext nachzugehen, dies vor dem Hintergrund der Überlegung einer unterschiedlichen Attraktivität bzw. Passung verschiedener psychotherapeutischer Verfahrensrichtungen zum aktuellen »Zeitgeist«. Gegenwärtige gesellschaftliche Zustände sind gekennzeichnet durch eine zunehmende Ökonomisierung und Flexibilisierung im Zuge einer u. a. wirtschaftlichen Globalisierung sowie durch postmoderne Pluralisierung und Diversifizierung (vgl. Kap. 2). Unter Einbezug dieser zeitdiagnostischen Überlegungen wird – angesichts eines festzustellenden Rückgangs der Psychoanalyse und eines Aufschwungs der Verhaltenstherapie – hier die Frage untersucht, ob und inwiefern »klassische« psychoanalytische Forschungs- und Behandlungsparadigmen im Vergleich mit verhaltenstherapeutischen Ansätzen als weniger »zeitgemäß« wahrgenommen werden. Entsprechend ist es möglich, dass sich in der Hinwendung zur Verhaltenstherapie und der Abwendung von der Psychoanalyse in den letzten Jahrzehnten (auch) ein – wahrscheinlich mit gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen zusammenhängender – Paradigmenwechsel im psychotherapeutischen Bereich abzeichnet. Hierbei wird eine größere Passung der verhaltenstherapeutischen Richtung zu gesellschaftlichen Gegenwartsphänomenen sowie einem gesellschaftlich momentan dominanten Wissenschaftsverständnis vermutet (vgl. Kap. 5.3). Es wird angenommen, dass sich auf dieser Grundlage ein Teil des Rückgangs des Interesses an Psychoanalyse erklären lässt. Beide Verfahrensrichtungen weisen gegenwärtig eine gesundheitspolitische Privilegierung auf und sind in der psychotherapeutischen Versorgungslandschaft ungefähr gleich präsent (vgl. Kap. 5.2). Bezüglich ihrer universitären Repräsentation und des Interesses Studierender an einer jeweiligen Ausbildung sind jedoch große Unterschiede festzustellen (vgl. Kap. 3.1, 4.7 u. 5.1). In den Fachrichtungen Medizin, Psychologie und in Pädagogikstudiengängen sind gegenwärtig vorherrschende Sichtweisen auf »Wissenschaft(-lichkeit)« unterschiedlich präsent (vgl. Kap. 5.1). Damit gehen jeweils unterschiedliche Einschätzungen der Wissenschaftlichkeit verschiedener psychotherapeutischer Richtungen und insgesamt von »guter Psychotherapie« einher. Auch die Kenntnis von psychotherapeutischen Verfahrensrichtungen ist in Abhängigkeit von der jeweiligen Fach© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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7 Hypothesen und Fragestellungen
kultur unterschiedlich gut und die Wahrnehmung unterscheidet sich. Bezogen auf die hier untersuchten Studiengänge ist somit davon auszugehen, dass diese mit ihrer jeweiligen Fachkultur sowie unterschiedlichen vorherrschenden Lehrmeinungen bezüglich der Verfahrensrichtungen differenziell prägend auf die Determinanten des Berufsinteresses ihrer jeweiligen Studierenden einwirken. Sie können in Interaktion mit gesamtgesellschaftlichen Verhältnissen (vgl. Kap. 3.2) als besonders relevante Einflussgrößen auf Sichtweisen und Interessen der Studierenden gesehen werden (vgl. Kap. 5.1). Mit dieser Untersuchung sollen vor dem Hintergrund dieser Überlegungen auf individueller Ebene Faktoren identifiziert werden, die dazu beitragen, dass Studierende eine psychotherapeutische Ausbildung in Betracht ziehen und eine bestimmte Verfahrensrichtung einer anderen vorziehen. So wird die Wahrnehmung und das gegenwärtige Identifikationspotenzial psychotherapeutischer Richtungen für die dafür in Frage kommenden Studierendengruppen analysiert. Damit berührt die Studie Aspekte der beruflichen Biographie- und Identitätsforschung, insbesondere hinsichtlich des Moments der Berufswahl (vgl. Kap. 4.3 u. 4.7). Fragen einer optimalen »Passung« persönlicher Vorlieben und Einstellungen zur Berufsfindung im psychotherapeutischen Bereich werden berührt, auch im Zusammenhang mit der Verfügbarkeit von Informationen durch jeweilige »Sozialisationsagent/-innen« (vgl. Kap. 4.7 u. 5.1), d. h. durch wichtige Andere aus dem universitären, dem privaten sowie dem gesellschaftlichem Umfeld. Empirisch untersucht werden sollen zusammengefasst also die folgenden Fragestellungen: • Welche Sichtweisen bzw. Wahrnehmungen sowie Präferenzen können bezogen auf verschiedene psychotherapeutische Verfahrensrichtungen bei den Studierenden der untersuchten Fachrichtungen identifiziert werden?73 73
Auch in den Sichtweisen der Studierenden finden sich, so wird wie ausgeführt angenommen, im gegenwärtigen soziokulturellen Kontext geläufige, mehr oder weniger stereotype Repräsentationen der Verfahrensrichtungen wieder. Es wird weiter davon ausgegangen, dass einerseits diese Sichtweisen nicht korrekt sein müssen (aufgrund der Pluralität der Ansätze, einhergehend mit entsprechenden Debatten auch schwerlich sein können, vgl. Kap. 3 ff.), dass sich andererseits in diesen auch »Korrektes« bzw. »Wahres« wieder findet. Auch wenn © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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• Inwiefern stehen diese in einer Wechselwirkung mit deren »Umwelten« (unmittelbar, d. h. privat und universitär sowie mittelbar, d. h. gesamtgesellschaftlich)? Anhand des empirischen Materials sollen somit in einer studentischen Stichprobe gegenwärtige, gesellschaftlich vorzufindende Vorstellungen von »guter Psychotherapie«, dies mit Fokus auf die Richtlinienverfahren, ermittelt werden. Es wird dabei davon ausgegangen, dass sich die beschriebenen gesellschaftlichen Entwicklungen auch in der Wahrnehmung der Therapieverfahren durch Studierende niederschlagen. Konkret erfolgt die empirische Bearbeitung der Fragestellung über eine Auswertung von Fragebogendaten sowie von qualitativem Interviewmaterial. Anhand der Fragebogendaten wird quantitativ der Wahrnehmung psychotherapeutischer Verfahrensrichtungen unter den Studierenden nachgegangen. Weiter werden anhand der Fragebogendaten und prototypisch verdichteten Einzelfallinterviews mit (anhand von Kriterien aus den Fragebogendaten, vgl. Kap. 8.4) ausgewählten Proband/-innen quantitativ sowie qualitativ Einflussfaktoren auf ein mögliches berufliches Interesse der Studierenden an einer (bestimmten) psychotherapeutischen Ausbildung untersucht. In Form des Prototypenansatzes (z. B. Eckes u. Six, 1984) soll herausgearbeitet werden, anhand welcher Kriterien sich differenzielle Wege »prototypischer Entscheidungsfindungen« Studierender bezüglich der Frage einer psychotherapeutischen Ausbildung sowie einer bestimmten Ausbildungsrichtung ermitteln lassen. Dabei kommt neben einer makrosoziologischen eine »biographische […] Perspektive« (Sutterlüty, 2002, S. 15; vgl. auch King, 2002) zum Tragen. Auf
die Wahrnehmungen der Studierenden nicht im objektiven Sinne »korrekt« sein können, wird also angenommen, dass wissenschaftlich fundierte sowie allgemein gängige Repräsentationen darin eingehen. Weiter wird davon ausgegangen, dass in der Wahrnehmung von Verfahrensrichtungen weniger Feindifferenzierungen erfolgen als z. B. bezüglich einer konkreten Entscheidung für eine bestimmte Ausbildungsrichtung. Entsprechend werden sie auch in der sonstigen Literatur, wie im Theorieteil erläutert, aufgrund ihres theoretischen Hintergrunds häufig zu psychodynamisch orientierten Verfahren zusammengefasst. Darauf wird im Rahmen der Hypothesenableitung noch einmal konkreter eingegangen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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7 Hypothesen und Fragestellungen
die Ableitung der konkreten Fragegestellungen und Hypothesen wird nachfolgend eingegangen. Die methodische Fragestellung dieser Studie befasst sich mit der Faktorenstruktur des für die Untersuchung entwickelten »Fragebogens zur Wichtigkeit von Interventionen in der Psychotherapie« (WPT). Im ersten Hypothesenkomplex erfolgt eine Analyse der Darstellung psychotherapeutischer Verfahren in den untersuchten Studiengängen sowie der Kenntnis von Verfahrensrichtungen nach Studiengang. Neben einer differenziellen Wirkung des Studiengangs auf die Kenntnis der Verfahrensrichtungen, lassen sich, so wird angenommen, ebensolche Wirkungen auf relevante Wahrnehmungsund Interessens-Variablen finden. Aus diesem Grunde erfolgt diesbezüglich, neben einer Analyse über alle Studierenden hinweg, jeweils eine nach Studiengängen unterteilte Betrachtung. Darauf wird schrittweise in den anschließenden Hypothesenkomplexen eingegangen. Der zweite Hypothesenkomplex behandelt die Wahrnehmung von Psychotherapie allgemein sowie das Interesse daran. Im dritten Hypothesenkomplex wird der Wahrnehmung von Verhaltenstherapie und psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtungen nachgegangen.74 Im vierten Hypothesenkomplex erfolgt eine Analyse des In-
74
Unter »psychodynamisch orientiert« werden im Folgenden, falls nicht anders gekennzeichnet, jeweils die psychoanalytisch begründeten Verfahren »psychoanalytische Psychotherapie« bzw. »Psychoanalyse« sowie »tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie« zusammengefasst. Anders als im Theorieteil wird für zusammengefasste Analysen psychodynamischer Verfahrensrichtungen nicht der Sammelbegriff »Psychoanalyse«, sondern »psychodynamisch orientiert« verwendet. Dies kommt erstens durch den Aufbau des Fragebogens zustande: Bezogen auf »Kenntnis« und »Ausbildungsinteresse« wurden die Studierenden getrennt nach »Psychoanalyse« und »tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie« befragt. Um hier eine Feindifferenzierung von »Psychoanalyse« und »tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie« zu ermöglichen, war somit der im Theorieteil verwendete Sammelbegriff nicht funktional. Bezogen auf die »Wahrnehmung« in Gegenüberstellung zur Verhaltenstherapie wurde jedoch zusammengefasst nach »tiefenpsychologisch/psychoanalytisch« gefragt. Dies konnte also nicht getrennt analysiert werden und wird aufgrund dessen nachfolgend unter dem erwähnten Sammelbegriff gefasst. Es wurde für sinnvoll gehalten, der Wahrnehmung der beiden psychodynamisch orientierten Verfahren gemeinsam nachzugehen, da sich beide auf denselben theoretischen Hinter© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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teresses an einer verhaltenstherapeutischen oder einer psychoanalytischen sowie insgesamt einer psychodynamisch orientierten Ausbildung und Behandlung. Im fünften und letzten quantitativen Hypothesenkomplex werden aus den Theoriekapiteln abgeleitete Hypothesen bezüglich unterschiedlicher Kriterien für das Interesse an Verhaltenstherapie oder psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtungen formuliert. Im einzigen quantitativen Fragenkomplex werden sonstige möglicherweise relevante Einflussfaktoren auf bzw. Korrelate des Interesses an Psychotherapie und an Verhaltenstherapie oder an psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtungen in den Blick genommen. Qualitativ werden schließlich prototypische Wege der Entscheidungsfindung bezüglich einer psychotherapeutischen Berufswahl bzw. einer Ausbildung in einer bestimmten Verfahrensrichtung analysiert. Zusammengefasst wird somit in folgenden Teilschritten den Fragestellungen dieser Studie nachgegangen (vgl. Abb. 4): 1. Analyse der differenziellen Wirkung des Studiengangs. 2. Analyse der Wahrnehmung von Psychotherapie allgemein und des Interesses daran über alle Studierenden hinweg und nach Studiengang. 3. Analyse der Wahrnehmung von Verhaltenstherapie und psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtungen über alle Studierenden hinweg und nach Studiengang. 4. Analyse des Interesses an Verhaltenstherapie oder Psychoanalyse sowie insgesamt an psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtungen als Ausbildungsgang und als Behandlungsmethode über alle Studierenden hinweg und nach Studiengang. grund stützen und trotz vorhandener Pluralität somit kognitiv-verhaltenstherapeutischen Ansätzen, unter »Verhaltenstherapie« zusammengefasst, gegenübergestellt werden können. Dafür spricht, dass in der Wahrnehmung wohl weniger starke Feindifferenzierungen zwischen einzelnen psychodynamisch orientierten Verfahrensansätzen aufzufinden sind, diese also weniger spezifisch denn global ist. Bezüglich Kenntnis und Ausbildungsinteresse wird, wenn nicht anders gekennzeichnet, jedoch neben einer globalen Analyse zu »psychodynamisch orientierten« Verfahren jeweils auch spezifisch auf »Psychoanalyse« und »tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie« eingegangen, um zu prüfen, ob sich das vermutete geringe Interesse lediglich für Psychoanalyse finden lässt oder insgesamt für psychodynamische Verfahren gilt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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7 Hypothesen und Fragestellungen
Abbildung 4: Veranschaulichung der Bearbeitungsschritte der Teilfragenstellungen Anmerkungen: Schritte 1 – 6 anhand der quantitativen Fragebogendaten, Schritt 7 anhand der qualitativen Interviewdaten
5. Analyse von unterschiedlichen Kriterien für das Interesse an Verhaltenstherapie oder psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtungen über alle Studierenden hinweg und nach Studiengang. 6. Analyse sonstiger Einflussfaktoren auf und Korrelate des Interesses an Psychotherapie sowie dem Interesse an Verhaltenstherapie oder psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtungen über alle Studierenden hinweg und nach Studiengang. 7. Ermittlung prototypischer Wege der Entscheidungsfindung für bzw. gegen den Psychotherapeut/-innenberuf sowie für eine Ausbildung in einer bestimmten Verfahrensrichtung.
7.2 Methodische Fragestellung: Entwicklung des »Fragebogens zur Wichtigkeit von Interventionen in der Psychotherapie« (WPT) Zur Überprüfung, welche psychotherapeutischen Behandlungsmethoden (vgl. Kap. 3.5) die Befragten als sinnvoll erachten, wurde für diese Untersuchung ein Fragebogen entwickelt. Dieser soll zwischen »allgemeinen« psychotherapeutischen, spezifisch »verhaltensthera© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
7.3 Hypothesenkomplex 1 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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peutischen« sowie spezifisch »psychoanalytischen« Behandlungsmethoden differenzieren.75 Entsprechend wurde eine Dreifaktorenlösung angestrebt. Fragestellung 1) Welche Faktorenstruktur ist beim »Fragebogen zur Wichtigkeit verschiedener Behandlungsmethoden in der Psychotherapie« (WPT) aufzufinden?
7.3 Hypothesenkomplex 1: Differenzielle Wirkung des Studiengangs – Prägung durch Studienumfeld und Fachkultur Da die Entscheidung Studierender für oder gegen eine (bestimmte) psychotherapeutische Ausbildung nicht unerheblich mit Fragen der jeweiligen Fachkultur in den untersuchten Studiengängen verknüpft ist, sind diesbezügliche Einflüsse von Psychologie, Medizin sowie der Pädagogikstudiengänge zu erwarten. Es kann, neben persönlichen Vorlieben und Interessen, somit von einer Prägung durch das jeweilige Studienumfeld und die Vermittlung verschiedener psychotherapeutischer Verfahren durch die dortigen Lehrenden als eine besonders relevante Einflussgröße für das Interesse an Psychotherapie allgemein bzw. an verschiedenen psychotherapeutischen Richtungen ausgegangen werden (vgl. Kap. 5.1). Zunächst wird aus diesem Grund der von den Studierenden wahrgenommenen Darstellung der Verfahren 75
Unter »Behandlungsmethoden« sind hier sowohl »Methoden« als auch einzelne »Techniken« im Sinne konkreter Vorgehensweisen bzw. spezifischer Interventionen nach der Unterteilung des WBP (2009) gefasst, welche den vom WBP definierten psychotherapeutischen »Richtungen« zugeordnet werden können oder aber allgemeine (unspezifische) psychotherapeutische Behandlungsmethoden darstellen. Als »psychoanalytisch« (nicht, wie im restlichen empirischen Teil dieser Arbeit »psychodynamisch orientiert«) werden die Methoden bezeichnet, die grob der psychodynamischen Richtung zugeordnet werden können. Dies resultiert daraus, dass möglichst spezifisch »psychoanalytische« Techniken und Methoden einbezogen wurden, da hier von einer größeren Eindeutigkeit in Abgrenzung zu »verhaltenstherapeutischen« Techniken und Methoden ausgegangen wurde (ausführlich dazu s. Kap. 3.5). Der Fragebogen wurde entsprechend konzipiert. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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7 Hypothesen und Fragestellungen
nach Studiengängen unterteilt nachgegangen. Zusammenhängend mit der jeweiligen Fachkultur werden folgende Unterschiede erwartet: Aufgrund der Ausführungen unter 3.1 sowie 5.1 ist davon auszugehen, dass in der psychologischen Disziplin der Psychotherapie insgesamt – dabei in besonderem Maße der verhaltenstherapeutischen Richtung – eine zentrale Bedeutung im Sinne einer eigenständigen Identifikationsmöglichkeit zukommt. Es wird erwartet, dass dies zu einer positiven und intensiven Darstellung von Psychotherapie sowie der Verfahrensrichtung Verhaltenstherapie in diesem Studiengang beiträgt. Für die medizinische Disziplin und für die Pädagogikfächer kann dagegen davon ausgegangen werden, dass das Thema Psychotherapie insgesamt eine eher nachgeordnete Rolle spielt und entsprechend weniger gelehrt wird. Für die Medizin kann aufgrund der jahrzehntelangen starken Präsenz der Psychoanalyse im Bereich der Psychiatrie (vgl. Kap. 5.1) – trotz eines dort vorherrschenden naturwissenschaftlich-evidenzbasierten Wissenschaftsverständnisses – eine relativ ausgewogene Darstellung dieser Verfahrensrichtung im Verhältnis zur verhaltenstherapeutischen Verfahrensrichtung erwartet werden. In den pädagogischen Studiengängen ist aufgrund einer eher sozialwissenschaftlich-hermeneutischen Tradition von einer positiveren Bewertung und intensiveren Darstellung der Psychoanalyse im Vergleich mit den anderen beiden Studiengängen auszugehen (vgl. Kap. 5.1). Folgende Hypothesen sollen demnach überprüft werden: Hypothese 1.a) Die Darstellung unterschiedlicher Verfahrensrichtungen variiert in Abhängigkeit vom Studiengang. Es sind mit den fachkulturellen Eigenheiten der Studiengänge zusammenhängende Unterschiede bezüglich des wahrgenommenen Umfangs der Darstellung sowie von den Studierenden empfundenen Problemen und Defiziten festzustellen. Im Vergleich der Studiengänge findet im Studiengang Psychologie nach Angaben der Studierenden die ausführlichste Lehre über Psychotherapie statt. Wenn nur bestimmte Verfahren im Studium kennengelernt wurden, sind dies in diesem Studiengang am häufigsten verhaltenstherapeutische Ansätze. In den Pädagogikstudiengängen wird nach Studierendenangaben weniger über Psychotherapie gelehrt, wenn, dann überwiegend psychoanalytische Ansätze. Im Studiengang Medizin werden, bei insgesamt ge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
7.4 Hypothesenkomplex 2 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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ringem Umfang der Lehre über Psychotherapie, nach Angaben der Studierenden beide Verfahrensrichtungen gleich häufig vermittelt. Hypothese 1.b) Bedingt durch Art und Intensität der Verfahrensvermittlung lassen sich weiterhin Unterschiede zwischen den Studiengängen bezüglich der Kenntnis verschiedener psychotherapeutischer Verfahrensrichtungen finden. Diese zeigen sich derart, dass Studierende der Psychologie im Vergleich der Studiengänge über psychotherapeutische Verfahrensrichtungen insgesamt die meisten Kenntnisse angeben. Weiter weisen sie über Verhaltenstherapie die meisten Kenntnisse auf, während Studierende der Pädagogik im Vergleich die meisten Kenntnisse über Psychoanalyse angeben. Bei Studierenden der Medizin werden im Vergleich die geringsten Kenntnisse aller psychotherapeutischen Verfahrensrichtungen erwartet.
7.4 Hypothesenkomplex 2: Wahrnehmung von und Interesse an Psychotherapie Bezogen auf die Akzeptanz von Psychotherapie ist eine gesellschaftlich ambivalente Haltung zu verzeichnen. Einerseits ist eine steigende Akzeptanz einer Inanspruchnahme festzustellen, andererseits sind nach wie vor Stigmatisierungsängste und -tendenzen vorhanden (vgl. Kap. 5.3). Möglich wären somit unter den Studierenden insgesamt sowohl positive Sichtweisen als auch Ambivalenzen zum Thema Psychotherapie. Ein persönlicher psychotherapeutischer Berufswunsch geht, so kann vermutet werden, wohl auch mit einer positiveren Einstellung zu und Wahrnehmung von Psychotherapie einher. In der Wahrnehmung von Psychotherapie durch Studierende mit geringem Interesse an einer psychotherapeutischen Ausbildung spiegeln sich hingegen vermutlich eher gesamtgesellschaftlich allgemein vorzufindende Repräsentationen von Psychotherapie wieder (mit der Einschränkung der Selektivität einer ausschließlich studentischen Stichprobe). Die Sichtweisen letztgenannter könnten somit ambivalenter sein. Obschon alle befragten Studierenden im Anschluss an ihr jeweiliges Studium die Berechtigung zu einer psychotherapeutischen Ausbzw. Weiterbildung aufweisen (vgl. Kap. 5.2), ist aufgrund der Aus© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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7 Hypothesen und Fragestellungen
führungen unter 5.1 davon auszugehen, dass insgesamt nur ein eher geringer Teil der Studierenden an einer späteren beruflichen Tätigkeit im psychotherapeutischen Bereich interessiert ist. Neben der Wahrnehmung von Psychotherapie soll im zweiten Hypothesenkomplex deshalb der Frage nachgegangen werden, für wie viele der befragten Studierenden eine psychotherapeutische Aus- bzw. Weiterbildung überhaupt eine persönliche berufliche Option darstellt, dies jeweils über alle Studierenden hinweg sowie nach Studiengängen unterteilt. Bezüglich der untersuchten Studiengänge ist davon auszugehen, dass – einhergehend mit der positivsten Wahrnehmung von Psychotherapie – unter Psychologiestudierenden das Interesse daran am größten ist, während es in den anderen beiden Fachrichtungen im Verhältnis zu anderen beruflichen Schwerpunkten eher gering ausfällt. Die negativste Wahrnehmung wird dabei unter Medizinstudierenden erwartet. Fragestellung 2) Wie ist die Wahrnehmung von Psychotherapie über alle Studierenden hinweg? Hypothese 2.a) Der größere Teil der befragten Studierenden hat kein oder nur ein geringes Interesse an einer psychotherapeutischen Ausbzw. Weiterbildung. Hypothese 2.b) Es gibt statistisch bedeutsame Unterschiede in der Wahrnehmung von Psychotherapie durch Studierende mit geringem oder hohem Interesse an einer psychotherapeutischen Aus- bzw. Weiterbildung. Studierende mit hohem Interesse nehmen diese positiver wahr. Hypothese 2.c) Die Unterschiede zwischen den untersuchten Studiengängen bezüglich der Wahrnehmung von Psychotherapie zeigen sich derart, dass Psychologiestudierende die im Vergleich positivste Wahrnehmung aufweisen, Medizinstudierende die negativste. Hypothese 2.d) Im Vergleich der Studierenden der untersuchten Fachrichtungen sind Psychologiestudierende am meisten an einer psychotherapeutischen Ausbildung interessiert und Studierende der Medizin am wenigsten. Die Studierenden der Pädagogikstudiengänge © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
7.5 Hypothesenkomplex 3 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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nehmen diesbezüglich eine Mittelstellung ein, weisen jedoch ebenfalls mehrheitlich ein eher geringes Interesse auf. In den beiden letztgenannten Studiengängen überwiegen andere berufliche Interessen.
7.5 Hypothesenkomplex 3: Wahrnehmung von Verhaltenstherapie und psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtungen Im dritten Hypothesenkomplex wird der Wahrnehmung von Verhaltenstherapie sowie psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtungen über die Studierenden hinweg nachgegangen, aufgrund der Ausführungen unter 3 ff. davon ausgehend, dass sich diese vor dem Hintergrund der theoretischen und praktischen Differenzen der beiden psychotherapeutischen Richtungen bezüglich verschiedener Thematiken relativ stark unterscheidet. Zudem wird Unterschieden in der Wahrnehmung der Studierenden der einbezogenen Studiengänge nachgegangen. Weiter wird bezüglich der Wahrnehmung von Verhaltenstherapie und psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtungen davon ausgegangen, dass Studierende mit geringem Interesse an Psychotherapie weniger informationssuchendes Verhalten zeigen und daher ihre Kenntnis und die Differenziertheit ihrer Wahrnehmung geringer ist als bei Studierenden mit hoch ausgeprägtem Interesse. Entsprechend dürfte die Wahrnehmung von Studierenden mit geringem Interesse eher einem insgesamt gesellschaftlich vorzufindenden Bild der Verfahrensrichtungen entsprechen (vgl. Kap. 5.3). Mögliche Wahrnehmungsunterschiede sollen aus diesem Grund ermittelt werden. Wegen der in Kapitel 3.1 und 5.1 beschriebenen Außenseiterstellung der psychodynamisch orientieren Verfahrensrichtungen (insbesondere der Psychoanalyse) an den Universitäten, dies vor allem in der Psychologie, kann erwartet werden, dass diese gegenwärtig für weniger gut mit einer Karriere vereinbar gehalten werden. Außerdem ist zu erwarten, dass die Umsetzbarkeit der Verhaltenstherapie mit Patient/-innen aufgrund von Manualen und größerer Standardisierung als besser eingeschätzt wird. Schließlich kann bezüglich der verhaltenstherapeutischen Verfahrensrichtung, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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aufgrund ihrer starken empirisch-evidenzbasierten Orientierung, davon ausgegangen werden, dass sie im Vergleich für wissenschaftlich fundierter gehalten wird (vgl. Kap. 3.3 u. 3.5). Vor allem die psychoanalytische Ausbildung gilt gemeinhin als langwierig und kostenintensiv (vgl. Kap. 5.3). Es kann vermutet werden, dass auch die befragten Studierenden dies so einschätzen und somit insgesamt eine Ausbildung in einer psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtung für länger und teurer halten. Als ergiebiger werden dagegen, so kann entsprechend ihrer breiten theoretischen Basis erwartet werden, die psychodynamisch orientierten Theorien für das Verständnis seelischer Störungen wahrgenommen (vgl. Kap. 3.4 u. 3.5). Zudem ist anzunehmen, dass die psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtungen eher als Selbsterkenntnis fördernd wahrgenommen werden, da dies als ein zentrales Behandlungsziel dieser Verfahrensrichtungen gilt (vgl. Kap. 3.4 u. 3.5). Schließlich kann wegen ihrer diversen gesellschaftstheoretischen Verknüpfungen und ihrer explizit gesellschaftstheoretischen Konzeption davon ausgegangen werden, dass die psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtungen als stärker zum Verständnis der Gesellschaft beitragend wahrgenommen werden (vgl. Kap. 3.3, 3.5 u. 4.1 ff.). Aufgrund fachkultureller Einflüsse kann bezüglich dieser Einschätzungen wiederum von einer differenziellen Wirkung des Studiengangs ausgegangen werden. Folgende Hypothesen sollen demnach empirisch überprüft werden: Hypothese 3.a) Bezüglich der Wahrnehmung der verhaltenstherapeutischen und der psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtungen sind über alle Studierenden hinweg in verschiedenen Variablen signifikante Unterschiede zu verzeichnen. Diese zeigen sich derart, dass Verhaltenstherapie eher für wissenschaftlich belegt, für besser mit Patient/-innen umsetzbar, für eher mit der Karriere vereinbar gehalten wird, psychodynamisch orientierte Verfahrensrichtungen dagegen eher für Selbsterkenntnis fördernd, für zum Verständnis der Gesellschaft und zum Verständnis seelischer Störungen beitragend (Effekt der Verfahrensrichtung). Zudem kann erwartet werden, dass die Ausbildung in den letztgenannten Verfahrensrichtungen für aufwändiger und länger gehalten wird. Weiter sind zwischen den Studierenden der untersuchten Studiengänge diesbezüglich © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
7.6 Hypothesenkomplex 4 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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signifikante Unterschiede zu verzeichnen (differenzieller Effekt des Studiengangs). Schließlich sind aufgrund fachkultureller Eigenheiten Wechselwirkungen zwischen den Faktoren möglich. Hypothese 3.b) Es gibt bedeutsame Unterschiede in der Wahrnehmung von Verhaltenstherapie und psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtungen durch Studierende mit geringem oder hohem Interesse an einer psychotherapeutischen Aus- bzw. Weiterbildung.
7.6 Hypothesenkomplex 4: Interesse an Verhaltenstherapie und Psychoanalyse sowie insgesamt an psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtungen Im vierten Hypothesenkomplex wird eine zentrale Fragestellung dieses Buches behandelt, das Interesse an Verhaltenstherapie oder Psychoanalyse beziehungsweise insgesamt an psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtungen über die Studierenden hinweg sowie im Zusammenhang mit dem jeweiligen Studiengang. Es kann aufgrund der Ausführungen unter 3.1 und 5.3 davon ausgegangen werden, dass Verhaltenstherapie über alle Studierenden hinweg sowohl als Ausbildungsgang als auch als Behandlungsmethode bei persönlichem Bedarf gegenwärtig auf ein größeres Interesse stößt. Ein Interesse an einer Ausbildung in einer bestimmten Verfahrensrichtung geht, so kann vermutet werden, wohl auch mit einer höheren Wahrscheinlichkeit ihrer Inanspruchnahme dieser im Falle persönlichen Behandlungsbedarfs einher. Deshalb kann weiterhin erwartet werden, dass Ausbildungs- sowie Behandlungswahl zusammenhängen. Daneben sollten aufgrund der unter 4.3, 4.6 und 4.7 dargestellten Befunde und Überlegungen zu spätadoleszenter Identitätsentwicklung die dominanten Lehrmeinungen im Studiengang, wie erläutert, einen wichtigen Einflussfaktor für die Sichtweisen und Entscheidungen der Studierenden darstellen. Im Zusammenhang mit den Ausführungen unter 3.1 und 5.1 kann angenommen werden, dass die Psychologiestudierenden sich im Kontext der im Studiengang Psychologie vorherrschenden Fachkultur am häufigsten für eine verhaltenstherapeutische Ausbildung interessieren und am ehesten eine © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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solche Behandlung in Anspruch nehmen würden. Weiter ist anzunehmen, dass sie sich häufiger für eine verhaltenstherapeutische als für eine psychoanalytische sowie insgesamt eine psychodynamisch orientierte Ausbildung interessieren. Für Pädagogikstudierende kann, einhergehend mit einer positiveren Wahrnehmung dieser Verfahrensrichtung, am häufigsten ein Interesse an Psychoanalyse, sowohl als zukünftiger Ausbildungsgang als auch als Behandlungsmethode erwartet werden (vgl. Kap. 5.1). Hier ist zudem davon auszugehen, dass eine psychoanalytische sowie insgesamt eine psychodynamisch orientierte Ausbildung häufiger in Erwägung gezogen wird als eine verhaltenstherapeutische. Für die Medizinstudierenden ist aufgrund der Ausführungen unter 5.1 zu erwarten, dass diese bezüglich Verhaltenstherapie oder Psychoanalyse sowie psychodynamisch orientierten Verfahren insgesamt keine solch eindeutigen Präferenzen aufweisen. Folgende Hypothesen sollen demnach empirisch geprüft werden: Hypothese 4.a) Die meisten Studierenden bevorzugen gegenwärtig eine verhaltenstherapeutische gegenüber einer psychoanalytischen sowie insgesamt einer psychodynamisch orientierten Ausbildung. Hypothese 4.b) Im Studiengangvergleich sind anteilig die meisten Psychologiestudierenden an einer verhaltenstherapeutischen Ausbildung interessiert. Im Vergleich der Richtlinienverfahren würden sie häufiger eine verhaltenstherapeutische als eine psychoanalytische sowie insgesamt eine psychodynamisch orientierte Ausbildung wählen. Die meisten Studierenden der Pädagogikstudiengänge sind, wenn, dann an einer psychoanalytischen Ausbildung interessiert, wobei sie sich im Vergleich der Richtlinienverfahren häufiger für eine psychoanalytische sowie insgesamt eine psychodynamisch orientierte Ausbildung entscheiden würden als für eine verhaltenstherapeutische. Bei den Medizinstudierenden zeigen sich weder insgesamt bezogen auf eine bestimmte Verfahrensrichtung noch bezüglich der Richtlinienverfahren eindeutige Präferenzen. Hypothese 4.c) Die meisten Studierenden bevorzugen bei eigenem Behandlungsbedarf eine verhaltenstherapeutische gegenüber einer psychoanalytischen sowie insgesamt einer psychodynamisch orien© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
7.7 Hypothesenkomplex 5 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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tierten Behandlung. Weiter lassen sich zwischen den untersuchten Studiengängen bei eigenem Behandlungsbedarf analoge Unterschiede bezüglich der Entscheidung für eine verhaltenstherapeutische oder psychoanalytische sowie eine psychodynamisch orientierte Behandlung finden, wie sie für die Ausbildungswahl postuliert werden. Hypothese 4.d) Aufgrund dessen wird erwartet, dass Ausbildungs- und Behandlungswahl statistisch bedeutsam zusammenhängen. Über alle Studierenden hinweg wird sowohl eine verhaltenstherapeutische Ausbildung als auch eine solche Behandlung einer psychoanalytischen sowie insgesamt einer psychodynamisch orientierten vorgezogen.
7.7 Hypothesenkomplex 5: Kriterien für Interesse Im fünften Hypothesenkomplex werden, basierend auf den Ausführungen in den Kapiteln 3.1 bis 3.5, folgende Überlegungen im Hinblick auf unterschiedliche Kriterien für das Interesse an Verhaltenstherapie oder einer psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtung aufgegriffen:76 Aufgrund der unter 4.5 und 4.6 dargestellten Befunde kann davon ausgegangen werden, dass pragmatische berufliche Erwägungen wie z. B. antizipierte Zukunftsaussichten in einem Tätigkeitsfeld für Berufsentscheidungen junger Menschen gegenwärtig allgemein eine große Rolle spielen. Es kann weiter davon ausgegangen werden, dass es im Zusammenhang mit solchen pragmatischen beruflichen Überlegungen aufgrund des vor allem universitär, aber auch in anderen Bereichen festzustellenden Rückgangs der Psychoanalyse und des Aufschwungs der verhaltenstherapeutischen Richtung (vgl. Kap. 3.1 u. 5.2) zur Zeit insgesamt naheliegender ist, eine verhaltenstherapeutische Ausbildung anzustreben. Für ein Interesse an einer 76
In der gleichen Logik wie für die Wahrnehmung wird aufgrund ihres theoretischen Hintergrunds nicht davon ausgegangen, dass sich die Kriterien für eine psychoanalytische oder eine tiefenpsychologisch fundierte Ausbildung fundamental unterscheiden, weshalb den Gründen für eine Ausbildung in einer dieser Richtungen zusammengefasst nachgegangen wurde. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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psychodynamisch orientierten Ausbildung kann aus demselben Grunde Gegenteiliges erwartet werden. Da es sich, wie in den Kapiteln 3.2 bis 3.5 dargestellt, bei Psychoanalyse (bzw. psychodynamisch orientierten Verfahren) und Verhaltenstherapie theoretisch sowie praktisch um sehr verschiedene Ansätze handelt, kann darüber hinaus erwartet werden, dass auch aus dieser Perspektive unterschiedliche Kriterien für ein jeweiliges Interesse aufzufinden sind. Schließlich kann, wie bereits mehrfach erläutert, davon ausgegangen werden, dass die Art der Begegnung mit einer Verfahrensrichtung, insbesondere universitär, aber auch über andere Quellen, für beide Verfahrensrichtungen eine wichtige Einflussgröße auf persönliche Sichtweisen und ein damit verbundenes Interesse daran darstellt. Von all diesen Faktoren wird erwartet, dass sie in unterschiedlichem Maße in die von den Studierenden genannten Beweggründe für das Interesse an einer der beiden Ausbildungsrichtungen einfließen: Da die an psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtungen Interessierten sich gegen den aktuellen »Trend« (vgl. Kap. 3.1, 3.4 u. 5) orientieren, wird bei diesen ein vergleichsweise höheres inhaltliches Interesse an bzw. eine Identifikation mit dem Verfahren erwartet. Für Verhaltenstherapie wird davon ausgegangen, dass pragmatische oder »harte« (Hampe, 2008) Kriterien, wie deren wissenschaftliche Fundierung, Effektivität oder Effizienz für die Attraktivität dieser Verfahrensrichtung sehr viel häufiger entscheidend sind, da diese als deren besondere Qualitätsmerkmale gelten (vgl. Kap 3.3). Auch die universitäre Verfügbarkeit von Informationen sollte im Zuge der gegenwärtig ausgeprägten »pragmatischen« Berufsorientierung vieler junger Menschen eine größere Rolle für ein Interesse daran spielen (vgl. Kap. 3.1 u. 5.1). Darüber hinaus wäre es möglich, dass sich nach Studiengängen unterteilt die von den Studierenden benannten Kriterien für ein jeweiliges Interesse im Kontext fachkultureller Eigenheiten unterscheiden. Anzunehmen ist weiter, dass ein Interesse an einer verhaltenstherapeutischen oder einer psychodynamisch orientierten Ausbildung jeweils mit einer stärkeren Identifikation und einer damit verbundenen positiveren Sichtweise der Verfahrensrichtung einhergeht. Daher sollten die an einer der Verfahrensrichtungen Interessierten © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
7.7 Hypothesenkomplex 5 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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diese positiver wahrnehmen als diejenigen, die an der anderen Verfahrensrichtung interessiert sind. Des Weiteren kann davon ausgegangen werden, dass die Studierenden, die sich für Verhaltenstherapie oder eine psychodynamisch orientierte Verfahrensrichtung interessieren, ebenfalls im Zuge einer Identifikation damit, jeweils in höherem Maße »verhaltenstherapeutischen« oder »psychoanalytischen« Behandlungsmethoden zustimmen, da dies anderen Befunden zufolge ein relevantes Kriterium für ein jeweiliges Interesse darstellt (vgl. Kap. 4.7). Daraus ergibt sich die empirische Überprüfung folgender Hypothesen: Hypothese 5.a) Diejenigen, die eine verhaltenstherapeutische Therapieausbildung anstreben, geben signifikant mehr pragmatische und effizienzorientierte Kriterien für die von ihnen angestrebte Ausbildungswahl an als diejenigen, die sich für eine psychodynamisch orientierte (psychoanalytische oder tiefenpsychologisch fundierte) Ausbildung interessieren. Diejenigen, die eine psychodynamisch orientierte Therapieausbildung anstreben, geben dagegen signifikant mehr Kriterien wie ein inhaltliches Interesse für und eine Identifikation mit der inhaltlichen Ausrichtung der Verfahrensrichtung für die von ihnen angestrebte Ausbildungswahl an. Dabei wird systematischen Unterschieden nach Studiengang bezüglich der Angabe von Kriterien für die von ihnen angestrebte Ausbildungswahl im Verhältnis zur Gesamtstichprobe nachgegangen. Hypothese 5.b) Die Wahrnehmung der Verfahrensrichtungen unterscheidet sich signifikant unter den Studierenden mit Interesse an einer verhaltenstherapeutischen oder an einer psychodynamisch orientierten Ausbildung. Die an einer Verfahrensrichtung Interessierten schreiben dieser jeweils in höherem Maße damit in Verbindung gebrachte positive Eigenschaften zu. Hypothese 5.c) Es wird erwartet, dass die Zustimmung der Studierenden zu verhaltenstherapeutischen oder psychoanalytischen Behandlungsmethoden mit ihrer jeweiligen Verfahrenspräferenz einer verhaltenstherapeutischen oder einer psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtung übereinstimmt.
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7 Hypothesen und Fragestellungen
7.8 Fragenkomplex 1: Interesse – sonstige Einflussfaktoren und Korrelate Im einzigen quantitativen Fragenkomplex sollen differenzielle Effekte von und Zusammenhänge mit ausgewählten soziodemographischen und anderen Hintergrundvariablen überprüft werden. Untersucht werden soll über die Hauptfragestellungen dieser Studie hinausgehend, welche weiteren Variablen in einem Zusammenhang mit einem psychotherapeutischen, einem verhaltenstherapeutischen sowie einem psychodynamisch orientierten Ausbildungsinteresse stehen könnten. Dabei kann anderen Befunden zufolge von einem Zusammenhang des Geschlechts mit einem psychotherapeutischen Ausbildungsinteresse ausgegangen werden, derart, dass Frauen häufiger eine solche Tätigkeit ergreifen (vgl. Kap. 5.2). Zudem ist wahrscheinlich, dass eine persönliche psychotherapeutische Vorerfahrung zu einem psychotherapeutischen Ausbildungsinteresse beiträgt (vgl. Kap. 4.7). Weiter soll einem möglichen Einfluss des Studienorts nachgegangen werden sowie einem Zusammenhang mit allgemeinen beruflichen Wünschen. Der Ort stellt eine über fachkulturelle Eigenheiten hinausgehende mögliche spezifische Einflussquelle dar (vgl. Strauß et al., 2009). Die gleichen Variablen sollen, bis auf den Ort (vgl. Strauß et al., 2009) in Ermangelung empirischer Befunde ohne entsprechende Vorannahmen, in Zusammenhang mit einem Ausbildungsinteresse in einem der Richtlinienverfahren explorativ getestet werden (vgl. Bortz u. Döring, 2006, S. 379). Interesse an psychotherapeutischer Ausbildung Fragestellung 3.1.a) Stellen die sozioökonomischen Daten Geschlecht und Therapieerfahrung Einflussfaktoren der Präferenz für Psychotherapie als berufliche Tätigkeit dar? Fragestellung 3.1.b) Können bestimmte berufliche Wünsche identifiziert werden, die mit einem Interesse an einer psychotherapeutischen Tätigkeit in einem Zusammenhang stehen und wie verhält es sich damit im Vergleich zu beruflichen Wünschen nach Studiengang?
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7.9 Zur qualitativen Fragestellung: Wege der Entscheidungsfindung 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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Fragestellung 3.1.c) Stellt der Studienort im jeweiligen Studiengang einen Einflussfaktor auf die Präferenz für Psychotherapie als berufliche Tätigkeit dar? Interesse an einer psychodynamisch orientierten oder an einer verhaltenstherapeutischen Ausbildung Fragestellung 3.2.a) Stehen die sozioökonomischen Daten Geschlecht und Therapieerfahrung in Zusammenhang mit der Präferenz für eine verhaltenstherapeutische oder eine psychodynamisch orientierte Ausbildung? Fragestellung 3.2.b) Können bestimmte berufliche Wünsche identifiziert werden, die mit einem Interesse an einer verhaltenstherapeutischen oder psychodynamisch orientierten Tätigkeit in einem Zusammenhang stehen? Fragestellung 3.2.c) Stellt der Studienort im jeweiligen Studiengang einen Einflussfaktor auf die Präferenz für eine der Verfahrensrichtungen dar?
7.9 Zur qualitativen Fragestellung: Wege der Entscheidungsfindung Neben der Behandlung der quantitativen Hypothesen und Fragestellungen soll folgende qualitative Fragestellung im Rahmen dieser Studie untersucht werden: Es sollen auf identitätsentwicklungspsychologischen Berufswahlfindungsprozessen (vgl. Kap. 4.7.) basierende, »prototypische« Entscheidungsfindungswege für oder gegen den Psychotherapeut/-innenberuf allgemein sowie für oder gegen eine Ausbildung in einem der Richtlinienverfahren aus den Interviewdaten ermittelt werden. Dies soll eine Vertiefung und detailliertere Illustration der Fragebogenbefunde über die zusätzlichen Informationen aus den Interviews ermöglichen und zur Hypothesengenerierung genutzt werden. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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7 Hypothesen und Fragestellungen
Fragestellung 4) Welche »prototypischen« Wege der Entscheidungsfindung für oder gegen eine psychotherapeutische Berufswahl bzw. für oder gegen die Ausbildung in einer bestimmten therapeutischen Verfahrensrichtung können aus den Interviewdaten ermittelt werden?
7.10 Zur konvergenten Validierung der quantitativen und der qualitativen Daten Schließlich sollen anhand ihrer inhaltlichen Vergleichbarkeit ausgewählte Variablen der beiden Messinstrumente (Fragebögen und Interviews) auf Übereinstimmungen geprüft werden, um diesbezüglichen Hinweisen auf konvergente Validität der Messinstrumente nachzugehen. Fragestellung 5.1) Inwiefern zeigen sich Konvergenzen in ausgewählten Interview- und Fragebogendaten?
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Methode I: Zur Durchführung
8.1 Verortung der Promotion in der DPPT-Studie Die vorliegende Untersuchung ist, wie einleitend ausgeführt, eingebunden in eine größere Studie, das DPPT-Projekt, im Rahmen dessen die unter 7 ff. hergeleiteten Fragen- und Hypothesenkomplexe empirisch untersucht wurden (vgl. Kap. 1). Das Design des Gesamtprojekts ist in Abbildung 5 einzusehen. Es handelt sich um eine multimethodische Querschnittsuntersuchung, aufgeteilt in einen quantitativen Fragebogenteil und in einen qualitativen Teil, in dem mit ausgewählten Versuchspersonen vertiefende Interviews durchgeführt wurden (vgl. Flick, 2009). Ausführlicher wurde das Projekt im ersten Kapitel beschrieben (s. Kap. 1; vgl. auch Barthel et al., 2010; Lebiger-Vogel et al. 2009; Zwerenz et al., 2007). Wie dort erläutert, handelt es sich weiter um zwei Substudien, in denen prospektiv Studierende zu ihrem Interesse an einer psychotherapeutischen Aus- oder Weiterbildung befragt wurden, sowie retrospektiv Ausbildungsteilnehmende zu ihren Beweggründen für eine bestimmte psychotherapeutische Ausbildungsrichtung. Für die vorliegende Untersuchung fanden, wie dort dargelegt, die Daten aus Substudie I Verwendung. Im Folgenden wird zunächst die Untersuchungsdurchführung dargestellt. Daran schließt sich eine ausführliche Vorstellung der Messinstrumente an. Darauf folgt die Beschreibung der für die Hauptuntersuchung erhobenen Stichprobe, bevor der Methodenteil in der Erläuterung der Operationalisierung der unter 7 ff. formulierten Hypothesen mündet. Die Darstellung der quantitativen Untersuchungsschritte bezieht sich auf das Vorgehen in Substudie I des Gesamtprojekts (vgl. Kap. 1), aus der für die vorliegende Arbeit © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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8 Methode I: Zur Durchführung
Abbildung 5: Studiendesign Anmerkungen: In Substudie II wurden Ausbildungsteilnehmende in Verhaltenstherapie und psychoanalytisch begründeten Verfahrensrichtungen analog zum Vorgehen in Substudie I befragt; QIP = »Questionnaire on Interest for Current Psychotherapies«; FEP = »Fragebogen zu Einstellungen gegenüber der Inanspruchnahme psychotherapeutischer Hilfe«; AT-PT = Adaptation des »Fragebogens zu Einstellungen gegenüber Psychiatrie«: »Fragebogen zu Einstellungen gegenüber Psychotherapie«; GBB-24 = Kurzform des »Gießener Beschwerdebogens«; HADS = »Hospital Anxiety and Depression Scale«.
spezifische Fragestellungen aufgegriffen und analysiert wurden. Der qualitative Teil der Datenverarbeitung wurde spezifisch für die Fragestellung dieser Untersuchung entwickelt.
8.2 Durchführung quantitativ: Zur Fragebogenuntersuchung In einer Voruntersuchung wurde der verwendete Fragebogen an N = 173 Proband/-innen der untersuchten Studiengänge getestet und geringfügig modifiziert (genauer: vgl. Anhang77). Die Erhebung der Hauptuntersuchung in Substudie I erfolgte an neun verschiedenen Universitäten in Deutschland, um möglichst unterschiedliche Studiensituationen an den jeweiligen 77
Der Anhang kann bei der Autorin eingesehen werden. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
8.3 Methodisches Vorgehen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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Universitäten berücksichtigen zu können (genauer, vgl. Tab. 11). Da es sich – aus organisatorischen Gründen – nicht um eine Vollerhebung handelte, ist nicht von vornherein von einer vollständigen Repräsentativität der Daten bezogen auf die universitäre Landschaft auszugehen. Allerdings zeigte sich bei Betrachtung der soziodemographischen Hintergrundvariablen (vgl. Kap. 8.4) eine diesbezüglich hohe Repräsentativität der Stichprobe. Auch handelt es sich um eine vergleichsweise gro ße Stichprobe. Deshalb kann eine Verallgemeinerung der Befunde hier dennoch durchaus für vertretbar gehalten werden.
8.3 Methodisches Vorgehen Der Untersuchung liegt ein multivariates Mehrgruppendesign (Sarris, 1992) zugrunde, wobei für die Bearbeitung der Fragestellungen sowohl quantitative als auch qualitative Auswertungsmethoden78 zum Einsatz kamen (vgl. Kap. 9 ff.).79 Der qualitative Untersuchungsteil diente vor allem der inhaltlichen Vertiefung und Differenzierung der quantitativen Befunde sowie der Hypothesengenerierung zur Hauptfragestellung dieser Studie. Hierfür wurden entsprechend keine hypothesenprüfenden Methoden verwendet. Allerdings wurden ausgewählte Befunde der beiden Untersuchungsteile im Sinne einer konvergenten Validierung zueinander ins Verhältnis gesetzt und derart kombiniert ausgewertet (vgl. Kap. 10.5 u. 11.3). 78
Die strenge Unterteilung in die Terminologien »qualitativ« und »quantitativ« ist wissenschaftstheoretisch überholt und simplifizierend (vgl. z. B. Leuzinger-Bohleber, 2002), wird aber der Einfachheit halber für diese Untersuchung beibehalten. 79 Allerdings handelt es sich um eine quasiexperimentelle Felduntersuchung, in einem sogenannten non-manipulativen Forschungsansatz. D. h. der Versuchsplan zielt auf die Prüfung eines theoretisch vermuteten Zusammenhangs zwischen natürlich vorzufindenden Variablen ohne systematische Variation experimenteller unabhängiger Variablen ab (vgl. Bortz u. Döring, 2006; Yaremoko, Harari, Harrison u. Lynn, 1983, zit. nach Sarris, 1992). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
216 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
8 Methode I: Zur Durchführung
8.4 Beschreibung der Studierendenstichprobe, Rücklauf und Einschlusskriterien Befragt wurden insgesamt N = 679 Studierende, darunter n = 87 Studierende der Sozial- und Gesellschaftswissenschaften, was 12,5 % der Gesamtstichprobe entspricht (darunter n = 70 Pädagogik- und Sozialpädagogikstudierende sowie n = 17 Politologie- bzw. Soziologiestudierende80 ; PÄD), n = 221 Psychologiestudierende (32,5 % der Gesamtstichprobe; PSY) sowie n = 371 Medizinstudierende (55 % der Gesamtstichprobe; MED; vgl. Abb. 5 u. Tab. 11). Rekrutiert wurden die Studierenden größtenteils über Lehrveranstaltungen in ihrem jeweiligen Studiengang.81 Der Frauenanteil entspricht in etwa dem Geschlechterverhältnis der jeweiligen Studiengänge (gesamt: 71 %, vgl. Dettmer, Grote, Hoff u. Hohner, 1999). Nach Zahlen der 18. Sozialerhebung des deutschen Studienwerks von 2006 (BMBF, 2007) liegen die prozentualen Anteile weiblicher Studierender in der Medizin in der vorliegenden Untersuchung nur leicht unter den dortigen Angaben (vgl. Tab. 11; dort: 65 % weiblich (w) und 35 % männlich (m)), in den anderen beiden Studiengängen etwas darüber (vgl. Tab. 11; dort: PÄD/PSY: 70 % w und 30 % m). Als gegenwärtigen Lebensmittelpunkt betrachteten ihr Studium mit 35 % am meisten Medizinstudierende (PSY 33 %, PÄD 21 %), als gleichwertig zu anderen Interessen mit 74 % am meisten Pädagogikstudierende (PSY u. MED je 63 %). In allen drei Studiengängen hielt nur ein geringer Teil andere Interessen für wichtiger (PÄD 6 %, PSY 4 %, MED 2 %).82 Insgesamt gaben 80
Mehrheitlich handelte es sich also um Pädagogik- u. Sozialpädagogikstudierende, vereinzelt um Studierende anderer Sozial- bzw. Gesellschaftswissenschaften. Im Folgenden werden der Einfachheit halber die Studierenden dieser Studiengänge als »Pädagogikstudierende« bezeichnet. Gemeint sind damit, soweit nicht anders gekennzeichnet, die Studierenden der genannten Fachrichtungen. 81 Eine Ausnahme stellten n = 35 Studierende der Psychologie dar, welche über die Institutsbibliothek rekrutiert wurden. Zur Gewährleistung der Anonymität erfolgte die Rückgabe der ausgefüllten Fragebögen in verschlossenen Briefumschlägen. Eine Intervieweinwilligung erfolgte aus Gründen der Diskretion ggf. in einem gesonderten, ebenfalls verschlossenen Briefumschlag. 82 Diese Befunde stimmen mit Zahlen der 18. Sozialerhebung des Studen© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
217
8.4 Beschreibung der Studierendenstichprobe 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
Tabelle 11: Stichprobenbeschreibung der Studierendenbefragung Pädagogikstudierende n % Geschlecht Männlich Weiblich Keine Angabe Altersgruppen unter 20 20 – 25 Jahre 26 – 30 Jahre 31 – 35 Jahre 36 – 40 Jahre 41 – 45 Jahre über 46 Jahre keine Angabe M (SD) Semesteranzahl M (SD) keine Angabe Familienstand ledig verheiratet geschieden/getrennt keine Angabe aktuelle Partnerschaft ja nein keine Angabe Kinder ja nein keine Angabe
Psychologiestudierende n %
Medizinstudierende n %
Gesamt n
%
16 70 1
19 81
32 188 1
15 85
151 220
41 59
199 478 2
29 71
0 55 21 5 2 2 0 2 25,12 (4,76)
0 65 25 6 2 2 0
2 135 46 17 6 8 2 5 26,2 (5,62)
1 63 21 8 3 4 1
0 257 81 7 0 0 0 26 24,6 (2,16)
0 75 24 2 0 0 0
2 447 148 29 8 10 2 33 25,2 (4,06)
0,3 69 23 5 1 2 0,3
7,05 (3,88)
6,75 (3,12) 3
7,36 (2,68) 4
8,53 (1,70) 1
79 7 1 0
91 8 1
198 18 4 1
90 8 2
347 22 1 1
94 6 0,3
624 47 6 2
92 7 1
54 33 0
62 38
137 83 1
62 37
221 148 2
60 40
412 264 3
61 39
6 77 4
7 93
20 193 8
9 91
13 335 23
3 96
39 605 35
6 94
die Studierenden auf einer fünffach gestuften Likert-Skala im Durchschnitt an, »viel« Freude (M = 3,92, SD = 0,75) an ihrem Studium zu empfinden, wobei sich inferenzstatistisch mittels w2-Test diesbezüglich keine bedeutsamen Unterschiede zwischen den Studiengängen zeigten. Die Studierenden befanden sich weitgehend in höheren Semestern (M = 7,63; SD = 2,68), hatten also zumeist bereits Lehrveranstaltungen zu Psychotherapie bzw. Psychosomatik oder Psychiatrie besucht. Außerdem kann aufgrund dessen vermutet werden, dass viele tenwerks (vgl. BMBF, 2007) insofern überein, als dort ermittelt wurde, dass Medizinstudierende bei weitem am meisten Zeit für ihr Studium aufbringen müssen (ca. zehn Wochenstunden mehr als PSY u. PÄD; vgl. auch Kap. 5.1). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
218 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
8 Methode I: Zur Durchführung
sich bereits Gedanken um ihren weiteren beruflichen Werdegang gemacht hatten (vgl. auch Kap. 10.2). Das durchschnittliche Alter betrug M = 25,2 Jahre (SD = 4,06). Es war für alle drei Studiengänge ähnlich (vgl. Tab. 11). Dies ist ebenfalls ein Hinweis darauf, dass das Thema Beruf nach dem Studium für diese Population (bereits) relevant sein könnte. Der überwiegende Teil der Studierenden war mit 92 % zum Zeitpunkt der Erhebung ledig, wiederum ein sehr ähnlicher Prozentsatz wie in der 18. Sozialerhebung von 2006 (BMBF, 2007). In der dortigen Erhebung waren 95 % aller befragten Studierenden nicht verheiratet. 94 % der Befragten gaben an, keine Kinder zu haben, dies fast genau übereinstimmend mit Zahlen in der Sozialerhebung von 2006 über alle Studierenden hinweg (dort: 93 % ohne Kind, bzw. unter den Erststudiumsstudierenden 95 %). 61 % der Befragten befanden sich zum Zeitpunkt der Erhebung in einer festen Partnerschaft. Dieser Prozentsatz ist etwas höher als die Zahlen in der Sozialerhebung von 2006. Dort gaben 51 % eine feste Partnerschaft an. Es wurden keine Abweichungen von der Normalpopulation entsprechend der HADS (Herrmann, Buss u. Snaith, 1995; Ängstlichkeit: M = 5,26; SD = 3,35; Depression: M = 2,79; SD = 3,04), und dem GBB-24 (Brähler u. Scheer, 1983; in allen vier Subskalen) gefunden. Psychische Beeinträchtigungen allgemein83 gaben insgesamt 23 % an, ein Wert, der leicht unter dem in einer Befragung einer allgemeinen Studierendenpopulation (Hahne, 1999) von 27 % liegt. Er entspricht allerdings exakt dem Wert in einer studentischen Feldstichprobe bei Holm-Hadulla, Hofmann, Sperth und Funke (2009) sowie in einer Erhebung von Bailer, Schwarz, Witthöft, Stübinger und Rist (2008). Zum Zeitpunkt der Befragung bzw. zuvor in psychotherapeutischer Behandlung befanden sich 11 % bzw. 6 % der Befragten, ungefähr so viele, wie Personen mit Hochschulabschluss/ Abitur in einer repräsentativen Forsa Umfrage von 2005 (12 % früher; 3 % gegenwärtig).84 2 % der Befragten gaben an, sicher nie 83
Zusammengefasste Antwortalternativen: »ja, gelegentlich« (18,6 %) und »ja, sehr häufig bis permanent« (3,4 %). 84 Unter den Studierenden der Psychologie und der Pädagogikstudiengänge gleichen sich die Anteile der Proband/-innen (76 %) ohne Therapieerfahrung, unter den Medizinstudierenden sind dies deutlich mehr (89 %). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
8.4 Beschreibung der Studierendenstichprobe 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
219
psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen, 7 %, dass sie dies eher nicht tun würden85, während in der Forsa Umfrage von 2005 die Zahlen mit 6 % bzw. 9 % (bei Personen mit Abitur/Hochschulabschluss 7 % bzw. 8 %) nur geringfügig höher waren. Ähnlich der Shell Jugendstudie 2006 (Langness et al., 2006, S. 86 ff.), in welcher 90 % den eigenen Gesundheitszustand als »ausgezeichnet« (ca. 1/3) oder »gut« bezeichneten86, gaben hier 87 % der Befragten an, nicht unter einer chronischen seelischen oder körperlichen Krankheit zu leiden. Diesbezüglich zeigten sich bei Durchführung einer univariaten Varianzanalyse keine statistisch bedeutsamen Unterschiede zwischen den Studiengängen. Insgesamt kann aufgrund der ermittelten Häufigkeiten der soziodemographischen Hintergrundvariablen von einer guten Repräsentativität der Daten ausgegangen werden (vgl. z. B. Rüger, 2002, S. 51).
Rücklauf und Einschlusskriterien Der Rücklauf der Fragebögen lag bei 51 % und ist damit im Vergleich zu ähnlichen Untersuchungen im guten Mittelfeld zu verorten (z. B. Hessel, Geyer, Weidner u. Brähler, 2006; Strauß et al., 2009). Er variiert zwischen 27 % (Pädagogik) und 61 % (Medizin; vgl. Tab. 12). 33 % der Befragten (n = 221) erklärten sich zu einem vertiefenden Interview bereit. Aufgrund der aus organisatorischen Gründen zustande gekommenen ungleichen Verteilung auf die drei Studiengänge ist bei der Interpretation der Ergebnisse zu berücksichtigen, dass Gesamtstichprobenergebnisse zugunsten der größeren Substichproben verzerrt sein könnten (vgl. Rakoczy, 2008, S. 84). In der Gruppe der PädDie Unterschiede zwischen den Studiengängen bezüglich persönlicher psychotherapeutischer Erfahrung sind statistisch hoch bedeutsam (w(.01; 2 ; N = 677)2 = 22,77, p < .01). 85 Vierfach gestufte Likert-Skala »Ich würde nie zu einem/-r Psychotherapeuten/-in gehen« von 1 = »Ich stimme nicht zu« bis 4 = »Ich stimme zu«. 86 Je älter die Jugendlichen waren, desto seltener wählten sie dort die Kategorie »ausgezeichnet«, die häufigste Angabe der 18- bis 25-Jährigen war »gut«; Mädchen und junge Frauen bezeichneten ihren Gesundheitszustand als schlechter als Jungen und junge Männer. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
220 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
8 Methode I: Zur Durchführung
Tabelle 12: Rücklauf und Zusammensetzung der Stichprobe nach Ort und Studiengang Pädagogikstudierende Psychologiestudierende Medizinstudierende Ort der Erhebung Freiburg Hamburg Mainz Leipzig Gießen Saarbrücken Frankfurt Bremen Kassel Gesamt
n
35 26 26 87
Rücklauf in %
35 22 26 27
n
Rücklauf in %
28 56 44 24 69
60 86 55 34 44
221
53
n
Rücklauf in %
53 13 49 162 94
53 30 48 73 72
371
62
agogikstudierenden ist zudem der Rücklauf am wenigsten zufriedenstellend, auch wenn er demjenigen in ähnlichen Untersuchungen in etwa entspricht (vgl. z. B. Sonntag et al., 2009). Verzerrungen aufgrund selektiver Fragebogenbeantwortung sind jedoch nicht gänzlich auszuschließen. Für den Studiengang Psychologie können die ausgewählten Orte bezogen auf die Ausrichtung der klinischen Lehrstühle als weitgehend repräsentativ gelten: Zum Zeitpunkt der Erhebung war einer der klinischen Lehrstühle psychodynamisch besetzt, alle übrigen von verhaltenstherapeutisch orientieren Personen (vgl. Strauß et al., 2009; Kap. 3.1 u. 5.1). In den pädagogischen Studiengängen kann aufgrund ihrer Heterogenität (vgl. Kap. 5.1) zur Repräsentativität der Auswahl der Studienorte diesbezüglich keine sinnvolle Aussage getroffen werden. Auch für den Studiengang Medizin liegen hierzu derzeit keine repräsentativen Daten vor.
Umgang mit fehlenden Werten Die für die Analyse verwendeten Fragebogendaten weisen größtenteils 0 bis maximal 2 % fehlende Werte auf. In sieben der Variablen sind über 5 % fehlende Werte zu verzeichnen (vgl. Tab. 13).87 Eine 87
Lediglich eine der Variablen weist 19 % fehlende Werte auf. Möglicherweise kommt dieser hohe Prozentsatz dadurch zustande, dass es sich bei dem Item um die Frage handelt, welche Ausbildungsrichtung die Studierenden © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
221
8.4 Beschreibung der Studierendenstichprobe 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
sogenannte EM-Analyse wurde durchgeführt, um zu prüfen, ob Datensätze mit fehlenden Werten sich systematisch von denjenigen ohne fehlende Werte unterscheiden oder als zufällig zu betrachten sind (vgl. z. B. Rakoczy, 2008). Eine solch zufällige Verteilung fehlender Werte wird als »missing completely at random« (MCAR) bezeichnet. Als Alternative zum Ausschluss von Proband/-innen mit fehlenden Werten bietet sich das EM-Analyse-Verfahren an (vgl. Rakoczy, 2008; Tabachnik u. Fidell, 2007).88 In der EM-Analyse zeigte sich, dass sich die Proband/-innen mit oder ohne fehlende Werte nicht bedeutsam voneinander unterschieden (Little’s MCARTest: w2(n.s., 11953, N = 679) = 8049,26), weshalb davon abgesehen wurde, Datensätze mit fehlenden Werten aus der Analyse zu entfernen. Tabelle 13: Prozentuale Anteile der Variablen mit mehr als fünf Prozent fehlenden Werten Kinder Umfang Ausge Darstel- wogenheit lung a Darstellung b Fehlende Werte
5%
8%
5%
Defizite in Darstellung b 6%
Wahl der Bekannt- BekanntAusbilheit heit dungsPA/TP d VT d c richtung 19 %
6%
7%
a
Anmerkungen: Umfang Darstellung: fünffach gestufte Likert-Skala: 1 = »viel zu wenig«, 2 = »eher zu wenig«, 3 = »genau richtig« 4 = »eher zu viel«, 5 = »viel zu viel«; b dichotomes Antwortformat: 1 = »ja«, 2 = »nein«; c Wahl der Ausbildungsrichtung: sechsfach gestufte Likert-Skala: 1 = »Psychoanalyse«, 2 = »tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie«, 3 = »Verhaltenstherapie«, 4 = »Gesprächspsychotherapie«, 5 = »andere«, 6 = »weiß nicht«; d Bekanntheit: PA/TP = psychoanalytisch/tiefenpsychologisch; VT = Verhaltenstherapie; jeweils Ankreuzmöglichkeit: »Verfahren nicht bekannt«.
Um zu überprüfen, ob es durch das Fehlen von Werten in Variablen zu einer systematischen Verzerrung der Stichprobe in anderen Variablen kommt, können zudem die Angaben in vollständig ausgefüllten Fragebögen mit denen, die fehlende Werte aufweisen, mittels eines t-Tests verglichen werden. Dies kann als ein Anhaltspunkt dafür dienen, ob die fehlenden Werte zufällig auftreten oder systematisch wählen würden, wenn sie sich für eine psychotherapeutische Ausbildung interessierten. Es wird daher vermutet, dass diejenigen, die sich nicht für eine psychotherapeutische Ausbildung interessieren, die Frage gehäuft nicht beantwortet haben. 88 Dabei werden mittels eines w2-Tests, des sogenannten Little’s MCAR-Test die Werte derjenigen Proband/-innen mit bzw. ohne fehlende Werte auf statistische Bedeutsamkeit verglichen. Es handelt sich um ein Maxium-LikelihoodVerfahren. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
222 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
8 Methode I: Zur Durchführung
mit der Ausprägung der Variablen zusammenhängen (vgl. Rakoczy, 2008). Allerdings kann dies statistisch nur für Variablen, welche ein entsprechendes Skalenniveau (Intervallskalierung) aufweisen, überprüft werden. Betrachtet man für diejenigen Variablen, welche mehr als 5 % fehlende Werte aufweisen, der Konvention entsprechend, die statistisch bedeutsamen Mittelwertsunterschiede bei denjenigen mit fehlenden Werten gegenüber denjenigen ohne fehlende Werte, so lässt sich ersehen, dass diejenigen, die sich mehr für Psychotherapie interessieren und/oder eine positivere Einstellung dazu aufweisen, sowie diejenigen mit größeren Kenntnissen psychotherapeutischer Verfahrensrichtungen in den Indikatorvariablen (den Variablen mit mehr als 5 % fehlenden Werten) weniger fehlende Werte aufweisen.89 Es kann somit vermutet werden, dass die Nichtbeantwortung der Items mit einem geringeren Interesse an der Thematik bzw. mit Unkenntnis zusammenhängt. Dies ist bei der Ergebnisinterpretation zu berücksichtigen. Betrachtet man die Kenntnis der Verfahrensrichtungen Verhaltenstherapie bzw. psychodynamisch orientierter Verfahren, so zeigen sich folgende signifikante Unterschiede in den jeweiligen tTests: Diejenigen mit einer höheren Kenntnis der verhaltenstherapeutischen Verfahrensrichtung gaben signifikant häufiger eine Antwort zur »Ausgewogenheit der Darstellung« verschiedener psychotherapeutischer Verfahrensrichtungen sowie zur Frage nach »Problemen oder Defiziten« in der Darstellung im jeweiligen Studiengang. Letzteres beantworteten auch diejenigen mit höheren Kenntnissen zu psychodynamisch orientierten Verfahren signifikant häufiger. Auch hierbei könnte Unkenntnis eine Rolle spielen. Ansonsten sind in dieser Hinsicht keine systematischen Einflüsse der Beantwortung bzw. Nichtbeantwortung von Items zu erwarten.
Interviewteilnehmende Aus dem Pool der 221 Proband/-innen, die sich vorher zu einem Interview bereit erklärt hatten, wurden nach verschiedenen für die Fragestellung dieser Untersuchung relevanten Kriterien 41 Pro89 Die Kennwerte sind im Detail im bei der Autorin erhältlichen Anhang einzusehen.
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8.4 Beschreibung der Studierendenstichprobe 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
223
band/-innen für ein vertiefendes Interview ausgewählt. Die Kriterien waren »eigene Psychotherapieerfahrung« (ja/nein), »Interesse am Psychotherapeut/-innenberuf« (hoch/mittel/gering) sowie »Studiengang« (Psychologie/Medizin/Pädagogik, vgl. Tab. 14). Problematisch für die Repräsentativität der Auswahl bleibt ein möglicher Bias durch selektive Interviewzusagen. Aus ökonomischen und aus Zeitgründen konnten nicht alle der 221 Interviewbereitschaften berücksichtigt werden (vgl. dazu Stuhr, Höppner-Deymann u. Oppermann, 2002, S. 155). Auch konnten aus diesem Grund zwei der Orte der Fragebogenerhebung (Kassel, Freiburg) keine Berücksichtigung finden. Die Proband/-innen wurden vorher anhand der Kriterien aus den Fragbogendaten in Gruppen unterteilt. Interviewt wurden pro Ort und Studiengang, wenn möglich, jeweils mehrere Vertreter/-innen dieser Gruppen, um diesbezüglich ein möglichst breites Spektrum abbilden zu können. Eine Probandin konnte wegen massiver psychischer Reaktionen auf das Interview nicht in die Auswertung einbezogen werden. Somit gingen vierzig Interviews in die qualitative Auswertung der Daten ein. Das Geschlechterverhältnis entspricht mit 70 % weiblich zu 30 % männlich fast exakt den prozentualen Anteilen in der Gesamtstichprobe (s. o.). Die prozentuale Verteilung der Interviewteilnahme-Kriterien in der Gesamtstichprobe, unter denjenigen, die zu einem vertiefenden Interview bereit waren sowie denjenigen, mit denen ein Interview durchgeführt wurde, verschiebt sich zugunsten von Psychologiestudierenden, Personen mit Psychotherapieerfahrung sowie Personen mit hohem Interesse an einer psychotherapeutischen Ausbildung (vgl. Tab. 14). Es ist naheliegend, dass in der Tendenz mehr Studierende, die persönliche Erfahrungen mit Psychotherapie gemacht haben oder sich beruflich mehr dafür interessieren, auch eine höhere persönliche Motivation für ein vertiefendes Interview zur Thematik aufweisen (vgl. die ersten beiden Spalten). Auch die vergleichsweise hohe prozentuale Bereitschaft Psychologiestudierender zu einem Interview könnte sich aus der besonders hohen Relevanz der Thematik für die Studierenden dieses Studiengangs erklären (vgl. Kap. 3.1 u. 5.1).90 90 Die Verschiebung der prozentualen Anteile in der zweiten und der dritten Spalte kam dagegen aus rein organisatorischen Gründen zustande.
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224 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
8 Methode I: Zur Durchführung
Tabelle 14: Verteilung der Kriterien für die Interviewteilnahme in Gesamt- und Interviewstichprobe Gesamtstichprobe in % (N = 679) 55 (n = 371)
Interview- Interview-durchbereitschaft führung in % (n = 41) in % (n = 221) Medizin 49 34 (n = 108) (n = 14) Psychologie 33 (n = 221) 43 59 Studiengang (n = 95) (n = 24) 8 7 Pädagogik 13 (n = 87) (n = 18) (n = 3) Nein 83 (n = 563) 76 66 (n = 168) (n = 27) Psychotherapieerfahrung (N = 677) Ja 17 (n = 114) 24 34 (n = 53) (n = 14) Gering 61 (n = 410) 51 44 (n = 111) (n = 18) Interesse an PsychotheraMittel 14 16 12 peut/-innenberuf (n = 92) (n = 35) (n = 5) (N = 678) Hoch 26 (n = 176) 34 44 (n = 75) (n = 18) Anmerkungen: Angaben in Prozent, Interesse über die Zusammenfassung von zwei jeweils fünffach gestuften Items »Ich würde gern Psychotherapeut/-in werden« (AT-PT 3) und »Sind Sie an einer beruflichen Tätigkeit im Bereich psychischer bzw. psychosomatischer Erkrankungen interessiert?«(1 u. 2 = niedriges Interesse, 3 = mittleres Interesse; 4 u. 5 = hohes Interesse; s. Gruppenzuteilung der Interviewten); aus Gründen der Rundung der Prozentzahlen kommen vereinzelt prozentuale Angaben von > 100 % zustande.
8.5 Beschreibung der quantitativen Messinstrumente und Überprüfung der Faktorenstruktur des WPT Bei den in dieser Untersuchung verwendeten quantitativen Messinstrumenten handelt sich um standardisierte sowie teils für die Fragestellung geringfügig modifizierte Verfahren und einen in einer Voruntersuchung (s. o.) getesteten Fragebogen91. Dieser umfasst spezifisch für den Forschungsgegenstand entwickelte, sowohl offen formulierte als auch geschlossene Einzelitems im Multiple-ChoiceFormat bzw. Likert-Skalen (vgl. Tab. 15). Verwendet wurden im Einzelnen: • der Questionnaire on Interest for Current Psychotherapies (QIP; Fragebogen zu Einstellungen zu Psychotherapie und psychotherapeutischer Tätigkeit) darin enthalten: 91
Der Fragebogen ist bei der Autorin erhältlich. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
8.5 Beschreibung der quantitativen Messinstrumente 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
225
– der »Fragebogen zur Wichtigkeit verschiedener Behandlungsmethoden in der Psychotherapie« (WPT), • der »Fragebogen zu Einstellungen gegenüber der Inanspruchnahme psychotherapeutischer Hilfe« (FEP, Schmid-Ott et al., 2003), • eine Adaptation des »Fragebogens zu Einstellungen gegenüber Psychiatrie« (ATP-30, Strebel, Obladen, Lehmann u. Gaebel, 2000), der »Fragebogen zu Einstellungen gegenüber Psychotherapie« (AT-PT), • Verfahren zur Erfassung körperlicher und seelischer Beschwerden: – die Kurzform des »Gießener Beschwerdebogens« (GBB-24, Brähler u. Scheer 1983), – die »Hospital Anxiety and Depression Scale« (HADS; Herrmann et al., 1995).
Der Gesamtfragebogen liegt, wie eingangs erwähnt, jeweils in einer Version für Studierende (angepasst an die verschiedenen Studienfächer, dafür jeweils geringfügig modifiziert) und für Ausbildungsteilnehmende vor.92 Für diese Untersuchung wurden, wie ebenfalls bereits erwähnt, lediglich die Daten aus der Studierendenversion verwendet. Eine genauere Beschreibung der berücksichtigten Items erfolgt jeweils in der Ergebnisdarstellung.
Tabelle 15: Inhalte der Fragebögen für die Studierendenbefragung Inhalte bzw. Themenbereiche Teil I bis III: Questionnaire on Interest for Current Psychotherapies (QIP; Fragebogen zu Einstellungen zu Psychotherapie und psychotherapeutischer Tätigkeit) für das Projekt entwickelter Fragebogen mit Einzelitems und Skalen zur Thematik Teil I. Persönliche Angaben u. Angaben zum Studium (QIP) Soziodemographische Anga- Geschlecht etc. ben Angaben zum Studium Fachsemester, Schwerpunktfächer, Intensität, Zufriedenheit
92
Der Fragebogen wurde für die Datenerhebung sowohl in Substudie I als auch in Substudie II entworfen, um eine Vergleichbarkeit der Ergebnisse zu ermöglichen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
226 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
8 Methode I: Zur Durchführung
(Fortsetzung) Inhalte bzw. Themenbereiche Teil II. Psychische und soziale Belastungen (QIP) Angaben zu psychischen und körperlichen Belastungen Angaben zu persönlicher Psychotherapieerfahrung Teil III. Angaben zu Studiumsinhalten, zur Psychotherapieausbildung und beruflichen Plänen (QIP) Vermittlung psychotherapeu- Bekanntheit durch Studium, Umfang der Vermittlung, Austischer Verfahren im Studium gewogenheit der Darstellung, Zufriedenheit mit der Darstellung Informationen jenseits des Literatur, Medien o. Ä. berufliches Umfeld, etc. Studiums und Begegnungen mit psychotherapeutischen Verfahren Berufliche Ziele und Klinisch, praktisch, Forschungstätigkeit etc. Berufliche Wünsche Arbeit mit Menschen etc. Angestrebte Arbeitsfelder Facharztausbildung etc. Entschiedenheit zu psychoEinstellung zu und Interesse an Psychotherapie sowie Psytherapeutischer Ausbildung chosomatik; Sicht auf Psyche bzw. Somatisches etc. Informationssuche über Aus- Intensität, Quellen bildung Art der Ausbildung Verfahrensrichtung Faktoren der Verfahrenswahl Wahrnehmung (insbesondere) der kassenärztlich anerkannten Verfahrensrichtungen Teil IV. Standardisierte sowie für die Fragestellung entwickelte Fragebögen zur Einstellung zu Psychotherapie und psychotherapeutischen Verfahrensrichtungen (WPT, FEP, AT-PT, GBB-24, HADS) »Fragebogen zu Einstellungen Vier, teils interkorrelierenden Skalen mit insgesamt zwanzig Items (fünf Items pro Skala), erfasst mit vierfach gestuften gegenüber der Inanspruchnahme psychotherapeutischer Ratingskalen: Hilfe« (FEP, Schmid-Ott, et - »Kompetenz« des Psychotherapeuten (Cronbachs a = .56) - Negatives »Urteil anderer«, Angst vor Stigmatisierung bei al., 2003) Inanspruchnahme von Psychotherapie (a = .72) - »Generelle Einstellung« zu Psychotherapie (a = .61) - persönliche »Akzeptanz« von Psychotherapie (a = .72) - interne Konsistenz insgesamt mit a = .74 zufriedenstellend - in Faktorenanalyse mittels PCA und in Maximum-Likelihood-Methode jeweils erwartungsgemäß Vierfaktorenlösung93
93
Bei der Entwicklung des Fragebogens (Schmid-Ott et al., 2003) lagen die internen Konsistenzen bei a = .62 für »Kompetenz des Therapeuten«, a = .65 für »Urteil anderer«, bei a = .60 für »generelle Einstellung« und bei a = .64 für »Akzeptanz«, sind also weitgehend sehr ähnlich wie die in dieser Untersuchung ermittelten Werte. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
8.5 Beschreibung der quantitativen Messinstrumente 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
227
(Fortsetzung) Inhalte bzw. Themenbereiche »Fragebogen zur Wichtigkeit Einschätzung unterschiedlicher psychotherapeutischer Beverschiedener Behandlungs- handlungsmethoden bzgl. ihrer Wichtigkeit, bestehend aus methoden in der Psychothe- drei fünffach gestuften Unterskalen (von »gar nicht« bis »sehr« wichtig) zu rapie« (WPT) - verhaltenstherapeutischen (sechs Items, a = .75) und - psychoanalytischen Behandlungsmethoden (sechs Items, a = .79) - einer »Restkategorie« mit zwei Items (a = .51), interpretiert als allgemeine psychotherapeutische Behandlungsvariablen - interne Konsistenz der Gesamtskala mit a = .79 zufriedenstellend94 Adaptation des »Fragebogens Einstellung zu Psychotherapie (statt Psychiatrie), für jeweilige zu Einstellungen gegenüber Studiengänge angepasst: Psychiatrie« (ATP, Strebel et - Neunzehn Items für die Mediziner/-innenversion umbeal., 2000) als »Fragebogen zu nannt in Einstellungen zu Psychotherapie statt Psychiatrie Einstellungen gegenüber Psy- - Vier Items aus Original-ATP-30 übernommen, vier Items für chotherapie« (AT-PT: Attitu- Forschungsgegenstand neu formuliert95 - Für Mediziner/-innenversion und für die Psycholog/-indes towards Psychotherapy) nenversion Reliabilität mit a = .76 und a = .65 zufriedenstellend - Für Pädagog/-innenversion mit a = .46 nur mäßig96 Teil V. Verfahren zur Erfassung körperlicher und seelischer Beschwerden Kurzform des »Gießener Be- Momentanes Belastungsniveau (als möglicher Mediator der schwerdebogens« (GBB-24, Einstellung zu Psychotherapie, Ausschluss klinischer PopulaBrähler u. Scheer, 1983) tion) - vier Subskalen, sechs Items - interne Konsistenz der Skalen in der Eichstichprobe zwischen a = .75 (Magenbeschwerden) und a = .94 (Beschwerdedruck) Momentanes Belastungsniveau (als möglicher Mediator der »Hospital Anxiety and Einstellung zu Psychotherapie, Ausschluss klinischer Depression Scale« (HADS, Population) Herrmann et al., 1995) - zwei Subskalen sieben Items - Cronbachs a in der deutschen Eichstichprobe für die AngstSubskala a = .80 und für die Depressivitäts-Subskala a = .81
94
Auf die Faktorenstruktur sowie die Skalenkennwerte des speziell für diese Untersuchung entwickelten Fragebogens wird im nachfolgenden Abschnitt noch einmal ausführlich eingegangen (vgl. Tab. 16). 95 Drei der Items wurden zudem für die Versionen für Psychologie- und Pädagogikstudierenden aus dem Fragebogen entfernt, da es sich um zu medizinstudiumsspezifische Fragen handelte. Dies begründet sich daraus, dass der Fragebogen in der ursprünglichen Version für Medizinstudierende entwickelt wurde. 96 Die nur mäßige Reliabilität der Pädagog/-innenversion könnte darauf zurückzuführen sein, dass insbesondere für diese Subgruppe der Fragebogen auch in dieser Form nach wie vor zu medizinspezifisch war. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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8 Methode I: Zur Durchführung
Mittels einer konfirmatorischen Faktorenanalyse (CFA) sollte die Dimensionalität und die Faktorenstruktur des für diese Untersuchung entwickelten »Fragebogens zur Wichtigkeit verschiedener Behandlungsmethoden in der Psychotherapie« (WPT) überprüft werden. Dabei wurde, wie im Theorieteil ausgeführt, eine Dreifaktorenlösung erwartet. Bei Anwendung einer Hauptkomponentenanalyse (PCA) mit Varimax-Rotation (vgl. z. B. Bortz, 2005) ergab sich eine Dreifaktorenlösung mit einer aufgeklärten Gesamtvarianz von 52 %. Nach dem »Kaiser-Guttmann-Kriterium« (Bortz, 2005, S. 544) sind nur Faktoren zu interpretieren, deren Eigenwerte größer 1 sind. Obgleich daran verschiedentlich Kritik geübt wurde (vgl. z. B. Bortz, 2005), wird dieses Kriterium hier verwendet, kombiniert mit dem sogenannten »Scree-Test« (Bortz, 2005, S. 544) von Cattell, da sich nach beiden Kriterien eine Dreifaktorenlösung ergab. Dies spricht für die Gültigkeit der gefundenen Lösung. Tabelle 16 zeigt, dass sich die Items des WPT zu den erwähnten drei Faktoren zusammenfassen lassen, wobei einer der Faktoren mit lediglich zwei Items allerdings eher eine Restkategorie darzustellen scheint.97 Die aus theoretischer Sicht angestrebte Unterscheidung zwischen verhaltenstherapeutischen und psychoanalytischen Behandlungsmethoden scheint durch die entwickelte Skala jedoch weitgehend gewährleistet, auch wenn sich bei zwei der Items aufgrund deren Ladungen geringfügige faktorenanalytische Uneindeutigkeiten 97
Unter Ausschluss eines Items (»Wie wichtig erscheint Ihnen in der Psychotherapie mit Patienten zu erkunden, warum sie Themen vermeiden oder Handlungen durchführen, die den Fortschritt der Behandlung verhindern?« WPT 6; M = 4,25; SD = 3,35). Dieses Item trägt sowohl in der Faktorenanalyse als auch bzgl. seiner Skalenkennwerte zu sehr viel schlechteren Werten bzw. einer weniger eindeutigen Lösung bei, möglicherweise mit der sehr hohen Streuung in dem Item zusammenhängend. Aufgrund der beschriebenen Einschränkungen handelt es sich bei dem entwickelten Fragebogen um eine vorläufige, wenn auch für den Zweck dieser Arbeit durchaus zufriedenstellende Lösung. Dennoch sollte er in künftigen Untersuchungen weiteren Validierungsschritten unterzogen werden, um die dreifaktorielle Lösung unter Einbezug weiterer Items abzusichern. So sollten der gegenwärtigen »Restkategorie« mit nur zwei Items weitere Items hinzugefügt werden. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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8.5 Beschreibung der quantitativen Messinstrumente 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
Tabelle 16: Faktorenlösung unter Einbezug der Faktorladungen und der Itemkennwerte auf den Dimensionen Psychoanalyse (PA), Verhaltenstherapie (VT) und der Restkategorie Psychotherapie (PT) sowie der Gesamtskala des »Fragebogens zur Wichtigkeit verschiedener Behandlungsmethoden in der Psychotherapie« (WPT) WPT-Item
VT VT VT VT VT
Wie wichtig erscheint Ihnen in der Psychotherapie … 1. … Patienten zu Aktivität zu ermuntern und dabei zu unterstützen? a 4. … sensibel und empathisch eingestimmt gegenüber den Gefühlen der Patienten zu sein?a) 12. … gewünschtes (positives) Verhalten aktiv zu fördern bzw. gezielt zu verstärken? 13. … Patienten zu ermutigen, sich auf ihre innere Stärke zu verlassen? 14. … Fähigkeiten der Patienten zu trainieren?
15. … dysfunktionale Annahmen der Patienten zu VT verändern? 5. … Gefühle und Wahrnehmungen der Patienten auf PA Situationen oder auf Verhalten aus der Vergangenheit zu beziehen? 7. … wieder kehrende Muster in Verhalten, GedanPA ken, Gefühlen, Erfahrungen und Beziehungen von Patienten herauszuarbeiten? 8. … vergangene Erfahrungen zu erkunden und aufPA zugreifen? 9. … zwischenmenschliche Erfahrungen von Patienten PA zu betonen? b 10. … die Beziehung zwischen Patienten und TheraPA peuten und deren Hintergründe in früheren Beziehungserfahrungen genau zu ergründen? 11. … auch unbewusste Wünsche, Phantasien oder PA Träume von Patienten zu erkunden? 2. … die Gefühle der Patienten zu betonen, damit sie PT diese stärker erleben können? 3. … Patienten auf Gefühle aufmerksam zu machen, PT die sie als nicht akzeptabel betrachten (z. B. Ärger, Neid, Erregung) ?
M Faktorr r ladung itGes itSkala (SD)
4,33 (0,68) 4,34 (0,77) 4,25 (0,81) 4,16 (0,85) 4,20 (0,90) 3.95 (0,89)
.515
.35
.40
.366
.30
.26
.762
.38
.57
.704
.42
.54
.813
.38
.64
.697
.34
.51
.726
.42
.58
3,78 (0,84)
.600
.48
.43
4,43 (0,66)
.829
.45
.66
.572
.58
.52
.638
.44
.54
714
.38
.55
.801
.37
.34
.684
.34
.34
4,08 (0,76) 4,01 (0,75) 3,27 (1,01) 3,72 (0,95) 3,52 (0,81) 3,99 (0,89)
Anmerkungen: Extraktionsmethode: PCA, Rotationsmethode: Varimax mit Kaiser Normalisierung; Es werden nur Ladungen >.25 dargestellt (vgl. Rakoczy, 2008, S. 101); Mittelwerte (M) und Standardabweichungen (SD) sowie Trennschärfen der Items der drei Skalen des WPT, letzteres jeweils für die Gesamtskala (ritGes) sowie die Unterskalen (ritSkala); a Faktorladung auf PT-Skala = .437; b Faktorladung auf VT-Skala = .292, auf PT-Skala = .327. a) Obgleich die interne Konsistenz der Skala durch dieses Item leicht niedriger ist (.75 statt .77) wird das Item hier beibehalten, da in der Faktorenanalyse das Item der Skala zugeordnet ist.
bezüglich der Interpretation ergeben. In Tabelle 16 sind die Skalen des WPT sowie deren jeweilige Itemkennwerte einzusehen.
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8 Methode I: Zur Durchführung
8.6 Durchführung qualitativ: Zu den Interviews Nachfolgend wird die Durchführung des qualitativen Teils dieser Untersuchung beschrieben. Zunächst wird allgemein auf die Verwendung halbstandardisierter Leitfaden-Interviews eingegangen. Im Anschluss erfolgt die Darstellung der konkreten Interviewdurchführung und der daran anschließenden narrativen Verdichtung der Interviews.
8.7 Halbstandardisierte Leitfaden-Interviews Anhand halbstandardisierter Interviews wurden diejenigen Themen des Fragebogens vertiefend mit den ausgewählten Proband/-innen (vgl. Kap. 8.4) besprochen, von denen aufgrund der Fragebogendaten sowie theoretischer Vorüberlegungen davon ausgegangen wurde, dass sie zum Interesse an einer psychotherapeutischen Ausbildung bzw. an einer Ausbildung in einer bestimmten Verfahrensrichtung beitragen. Zu diesem Zweck wurde ein Interviewleitfaden entwickelt, der durch Pretest-Interviews mit zehn Studierenden erprobt und geringfügig modifiziert wurde. Die Entscheidung für ein Leitfadeninterview begründet sich vor allem aus der festgelegten Thematik der Interviews (vgl. Sutterlüty, 2002). Neben biographischen Informationen, die möglicherweise besser, weil unverfälschter in einem narrativen (freien) Interview (vgl. z. B. Schütze, 1977) erfasst worden wären, sollten hier, wie erwähnt, spezifische Themenkomplexe aus den Fragebögen vertieft werden (vgl. Kohli, 1978, zit. nach Sutterlüty, 2002). Gegen den Einsatz narrativer Interviews sprach somit die Gefahr, dass auf diese Weise viele der für diese Untersuchung notwendigen Informationen eventuell nicht zur Sprache gekommen wären (vgl. dazu Sutterlüty, 2002). Dies insbesondere, da das Thema Psychotherapie immer noch teilweise von Stigmatisierung betroffen ist (vgl. Kap. 5.3) und ein persönlicher Bericht den Befragten, auch wenn es sich primär um das Thema der Berufswahl handelte, ohne jegliche thematische Vorgabe möglicherweise schwer gefallen wäre. Auch die dialogische und damit weniger »künstliche« Situation eines Leitfadeninterviews im Vergleich © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
8.7 Halbstandardisierte Leitfaden-Interviews 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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zur monologischen Situation eines narrativen Berichts wird von einigen Autor/-innen als Vorteil gesehen (vgl. Sutterlüty, 2002). Weiter sprach für das Verwenden eines Leitfadeninterviews, dass keine, z. B. für eine klinische Fragestellung wichtige Erfassung unbewusster Phantasien etc. angestrebt, sondern das manifest Gesagte als Datengrundlage verwendet wurde. Dies zum einen im Zuge der Überlegung, dass es sich bei den Befragten nicht um eine klinische Stichprobe handelte. Des Weiteren ging in die Auswertung weniger die individuell biographische Erlebniswelt eines/-r jeden Probanden/-in ein, vielmehr wurde die individuelle Biographie (dabei v. a. bewusste Interessen, Motive etc.) in eine verallgemeinernde Typenbildung integriert (zur Methodik dessen, Kap. 9.2 ff.). Dabei war, wie auch für die gesamte vorliegende Untersuchung, folgender Gedankengang zentral: Nach Lueger (1989) ist ein »Interview nicht von der sozialen Umwelt abgekoppelt, sondern es fließen gesellschaftliche und subkulturelle Werte und Normen« (S. 23) von beiden Interviewbeteiligten in das Interview ein. Weiter sind sie »trotz Isolierung von Alltagsinteraktionen in einen sozialen Gesamtkontext eingebunden« ( S. 23). Diese Überlegung findet insbesondere bei der Interpretation der Daten Beachtung (vgl. Kap. 11) und ist für die Frage ihrer Verallgemeinerbarkeit entscheidend. Sie war jedoch auch für die Interviewdurchführung eine wichtige Orientierungshilfe. Dabei wird mit Lueger (1989) von Folgendem ausgegangen: »Einzelinterviews gehen von der Bedeutung kollektiver Meinungsproduktion ab […] und definieren die Befragten als Träger(innen) individueller Meinungen oder Einstellungen, die aber nicht einzigartig sind. Interviews ermitteln also verallgemeinerbare Einzelmeinungen von Personen mit bestimmten Charakteristika« (S. 33).
Für die Durchführung der Interviews wurde weiterhin als wichtig angesehen, den Interviewten als »mündige Gegenüber« (Sutterlüty, 2002, S. 23) zu begegnen. Für Rückfragen zu »problematische[n] Lebensereignisse[n]« (S. 23) galt beispielsweise folgende Vorgabe: »Der Interviewer muss das, was er aus einer Äußerung heraushört, was er vermutet oder zu verstehen glaubt, kommunikativ zurückspiegeln können, damit sich sein Gegenüber ernst genommen fühlt und einem in© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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8 Methode I: Zur Durchführung teressierten Gesprächspartner gegenüber sich zu öffnen in der Lage ist« (Sutterlüty, 2002, S. 23; vgl. auch Habermas, 1983).
Nach Sutterlüty (2002) stehen »Leitfadeninterviews grundsätzlich in einem Spannungsverhältnis zwischen den Vorgaben des jeweiligen Leitfadens und der Erzähl- und Darstellungslogik des untersuchten Subjekts« (S. 23). Wichtig ist aus Perspektive des/-r Interviewenden aus diesem Grunde ein flexibles Umgehen mit dem jeweiligen Leitfaden, damit es nicht zu einer »Leitfadenbürokratie« (Hopf, 1987, S. 101, zit. nach Sutterlüty, 2002, S. 23) mit der darin enthaltenen Gefahr eines Informationsverlusts kommt. Die Interviewenden wurden entsprechend im Voraus für ein kompetentes, flexibles und soweit als möglich nichthierarchisches98 Umgehen mit dem Leitfaden geschult (vgl. Lueger, 1989, S. 23 ff.).99 Zu beachten ist außerdem, mit welcher Einstellung die interviewte Person in das Interview hineingeht (Lueger, 1989, S. 25). So können den Interviewten »verschiedene Motivationen« (S. 25) unterstellt bzw. diese können in verschiedene »Befragtentypen« (S. 25) unterteilt werden (vgl. Mertens, 1975, S. 104, zit. nach Lueger, 1989, S. 25).100 Allerdings ist das »Befragtenverhalten«101 (Lueger, 1989, S. 26) zu einem großen Teil von Gestaltung des Interviews abhängig. Zentral ist in der ersten Interviewphase eine »enttäuschungsfeste Beziehung« 98
Dies wegen der sonst bestehenden Gefahr des Leitfadens als Disziplinierungsinstrument. 99 Es handelte sich um sechs verschiedene Interviewer/-innen (vier weiblich, zwei männlich), um einen möglichen Bias durch den Stil der Interviewführung bzw. durch persönliche Vorannahmen möglichst gering zu halten und so den »Interviewer als Fehlerquelle« (Frank, 1990, S. 49) zu minimieren. 100 Lueger (1989) benennt beispielsweise die »›gute‹, wissenschaftsgläubige Versuchsperson« (S. 25) bei der er die Gefahr der Ergebnisverfälschung durch Hypothesen-entsprechen-wollen sieht, die »›bewertungsängstliche‹ Person« (S. 25), die sich primär bemüht, sozialen Erwartungen zu entsprechen, die »›fügsame‹ Versuchsperson« (S. 25), die z. B. Antworten bei eigentlicher Meinungslosigkeit gibt, sowie die »›negativistische‹ Versuchsperson« (S. 25), die bewusste Verzerrungen vornimmt, oder einen Boykott des Interviews anstrebt. 101 Das »Befragtenverhalten […] [kann nach Lueger (1989) z. B.] verschlossen, ängstlich, freundlich, kontaktfreudig, hochmütig oder selbstbewusst« (S. 26) sein. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
8.8 Zur Interviewdurchführung und narrativen Verdichtung 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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(S. 26) zu schaffen und zu stabilisieren, was durch die erwähnte Interviewer/-innenschulung und die flexible Interviewführung zu gewährleisten versucht wurde.
8.8 Zur Interviewdurchführung und narrativen Verdichtung (erste Auswertungsstufe) Im Folgenden wird die Interviewdurchführung sowie das Vorgehen der narrativen Verdichtung der Interviews zur Verwendung für die anschließende qualitative Auswertung (s. Kapitel 9.2 ff.) beschrieben. Obgleich es sich bei der Erstellung der Narrationen formallogisch bereits um einen ersten Auswertungsschritt handelt, diente er hier primär der Aufbereitung des Interviewmaterials im Sinne einer »intersubjektiven Validierung« (Rothe, 2009, S. 29) für die darauf folgenden Auswertungsschritte. Deshalb wird er hier der Interviewdurchführung zugerechnet. Die intersubjektiv validierten Narrative (vgl. Leuzinger-Bohleber et al., 2002) wurden im Anschluss als Äquivalente paraphrasierender Verdichtungen von Transkripten (vgl. Mayring, 2003) für die weitere typisierende Auswertung verwendet. Dies kann unter anderem insofern als zulässig betrachtet werden, als sie nicht auf einer wortwörtlichen Ebene ausgewertet wurden (vgl. Kap. 9.5). Mit den Studierenden wurden, wie dargelegt, nach vorher festgelegten Kriterien 41 Interviews durchgeführt (von denen vierzig in die Auswertung eingingen, vgl. Kap. 8.4). Die Durchführung der Interviews sowie das Prozedere des Erstellens der Interviewnarrative gestaltete sich in Anlehnung an das Vorgehen in der Katamnesestudie von Leuzinger-Bohleber et al. (2002) folgendermaßen (vgl. Tab. 17): Zunächst wurde ein halb standardisiertes, auf Tonband dokumentiertes Interview durchgeführt (Schritt 1). Die in den Interviews erfragten Themen wurden in den drei Themenkreisen »äußere Berufswahlmotive«, »Begegnung mit Therapierichtungen« sowie »Persönlichkeitsfaktoren, ›innere‹ Motive« behandelt.
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8 Methode I: Zur Durchführung
Tabelle 17: Prozedere der Interviewdurchführung und der Gruppenvalidierung der Interviewnarrative (Schritte 1 – 10) Durchführung Schritt 1) Durchführung des auf Tonband dokumentierten halbstandardisierten Interviews, direkt im Anschluss daran Erstellung eines Gedächtnisprotokolls Vorbereitung Schritt 2) Narrative Zusammenfassung des Interviews und der Intervieweindrücke (1 – 2 Seiten anhand des Tonbands und des Gedächtnisprotokolls, möglichst nahe am Gesagten) Schritt 3) Kontrollhören durch zweites Gruppenmitglied In der Gruppe Schritt 4) Vorstellung des Interviews durch Interviewer/-in und anschließend Gruppendiskussion des Interviews (auf Tonband dokumentiert), wobei der/die Kontrollhörer/-in zunächst nicht mit diskutiert Schritt 5) Eindrücke Kontrollhörer/-in (ca. fünf Minuten) Schritt 6) Gruppendiskussion: Dokumentation von Konsens/Dissens bzgl. psychodynamischer Hypothesen Schritt 7) Schriftliche Zusammenfassung der Gruppendiskussionseindrücke Schritt 8) Überarbeitung der Narration aufgrund der Gruppendiskussion Nachbereitung Schritt 9) Überarbeitete Narration u. Zusammenfassung der Gruppendiskussionseindrücke an alle Gruppenmitglieder zurück (Zustimmung oder Ablehnung) Schritt 10) Bei Ablehnung Wiederholung der Schritte 4) bis 9), Ergänzungen der Zusammenfassung der Gruppendiskussionseindrücke u. ggf. erneute Überarbeitung des Narrativs
Im Anschluss erfolgte durch die/den Interviewenden die Anfertigung eines Gedächtnisprotokolls (Schritt 2). Das Tonband wurde darauf an ein weiteres Mitglied der Forschungsgruppe zum Kontrollhören gegeben, um den (individuellen) »subjektiven Faktor« (vgl. LeuzingerBohleber et al., 2002; Leuzinger-Bohleber, 2007) bei der Erstellung des Narrativs möglichst gering zu halten (Schritt 3).102 Der/die Interviewende konsultierte im Anschluss daran eine psychoanalytisch supervidierte Forschungsgruppe, in der er/sie eine erste narrative Zusammenfassung des Interviews präsentierte (Schritte 4 – 8). Dort wurden anhand des Narrativs gemeinsam Hypothesen diskutiert und als »Gruppendiskussionseindrücke« festgehalten (vgl. z. B. Hunt, 1989). Zudem wurden bereits in diesem Schritt erste Regelmäßigkeiten, d. h. Gemeinsamkeiten bzw. Differenzen in Bezug auf die geplante Typenbildung zu Wegen der Entscheidungsfindung identifiziert (vgl. Leuzinger-Bohleber u. Rüger, 2002, S. 134). In einem letzten Schritt wurden das korrigierte Narrativ sowie die »Gruppendiskussionseindrücke« erneut an die Gruppe zurückgege102 Rothe (2009) beispielsweise bezeichnet dies als »Korrektur eigener blinder Flecken« (S. 39).
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8.8 Zur Interviewdurchführung und narrativen Verdichtung 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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ben (Schritte 9 – 10) und gegebenenfalls überarbeitet (Wiederholung von Schritten 4 – 9). Bei diesem Prozedere handelt es sich um eine sogenannte »naturalistische narrative Kontrolle« (Rüger, 2002, S. 62). Auf die beschriebene Weise wurden aus den gewonnenen Daten in einer systematischen, psychoanalytisch orientierten Gruppenvalidierung des Narrativs (vgl. Leuzinger-Bohleber et al., 2002) in mehreren Schritten erste globale Hypothesen entwickelt.103 Mit einer solchen psychoanalytisch orientierten Hypothesengenerierung kam somit das klassische psychoanalytische Forschungsparadigma des Findens des Allgemeinen im Besonderen zur Anwendung (vgl. Leuzinger-Bohleber, 2002; Rothe, 2009). Das so entstandene auf »Intersubjektivität« (Leuzinger-Bohleber, 2007, S. 975; vgl. auch Rothe, 2009) geprüfte Narrativ jedes einzelnen Interviews konnte dann, wie eingangs erwähnt, für die weitere Auswertung anstatt der sonst gebräuchlichen Paraphrasierung eines Interviewtranskripts verwendet werden (dazu vgl. Kap. 9.2 ff.).104 Die Erstellung der Narrationen orientierte sich, analog zur Paraphrasierung sensu Mayring (2003), möglichst nahe am Gesagten (teils wurden Formulierungen der Interviewten wörtlich übernommen) und sollte die »Chronologie der Entscheidungsfindung« in der jeweiligen Biographie möglichst nachvollziehbar machen. Die Verdichtung dessen in Form der erwähnten Prototypenbildung im Anschluss daran (welche ebenfalls auf das von den Proband/-innen explizit Geäußerte fokussierte) wird in Kapitel 9.5 näher beschrieben. Modifikationen zum Vorgehen bei Leuzinger-Bohleber et al. (2002; Leuzinger-Bohleber, Stuhr, Rüger u. Beutel, 2003) bestanden darin, dass ein/-e Kontrollhörer/-in das Interview komplett hörte (nicht die gesamte Gruppe einen Ausschnitt), kein zweites Interview durchgeführt wurde und keine Einschätzung in den Scales of Psychological Capacities (SPC, Wallerstein, DeWitt u. Milbrath, 1999) erfolgte. Diese Modifikationen wurden vor allem vorgenommen, da diese Untersuchung, wie dargelegt, weniger als in der klinischen Katamnesestudie von Leuzinger-Bohleber et al. (2002, 2003) die idio103
Diese orientieren sich stark an psychoanalytischen Theorien und Konzepten, insbesondere zur Entwicklung in der Spätadoleszenz (vgl. Kap. 4.3). 104 Bei allen Narrativen wurde die Diskretion berücksichtigt, sie wurden aktiv verschlüsselt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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8 Methode I: Zur Durchführung
synkratische psychodynamische Dimension (also individuell Lebensgeschichtliches) zum Gegenstand hat. Aus diesem Grund waren weniger die Einzelfalldaten bzw. persönliche Aspekte im Detail relevant, vielmehr sollte, wie erwähnt, möglichst Verallgemeinerbares in einem sozialpsychologischen Sinne über das zu Typen verdichtete Material ermittelt werden (vgl. dazu z. B. Rothe, 2009).105 Psychodynamische Aspekte gehen also lediglich ein, insofern sie »überindividuelle Bedeutsamkeit besitzen« (Rothe, 2009, S. 24). Anders als bei Rothe (2009) wurde für diese Untersuchung zudem nicht ausschließlich eine psychoanalytische Methode angewendet. Explizit geht es nicht um eine Analyse von Übertragung/Gegenübertragung im Forschungssetting, sondern psychoanalytische Theorie fließt als theoretische Hintergrundfolie in das Verständnis des empirischen Materials ein.
105
Dies auch vor dem Hintergrund der Überlegung, dass es der klassischen, klinisch-psychoanalytischen (Einzelfall-)Forschung (vgl. Kapitel 3.3), welche sich meist über einen längeren Zeitraum erstreckt und im spezifischen CouchSetting stattfindet, vorbehalten ist, die je individuelle, sich frühkindlich entwickelnde Bedeutung einer spezifischen Psychodynamik »einzuholen, […] [wenn auch] die frühkindlichen Beziehungsmuster immer auch zum Ausdruck« (Rothe, 2009, S. 24) kommen. Der Forderung der Gegenstandsangemessenheit einer Forschungsmethode (vgl. Kap. 3.2; Hau, 2009) wurde derart versucht zu entsprechen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Methode II: Zur Auswertung
In diesem Kapitel wird auf die quantitativen und qualitativen Auswertungsmethoden eingegangen. Dabei liefern die qualitativen Daten Detail-, sowie ergänzende Informationen zu den quantitativen Befunden, welche wiederum für die Repräsentativität der gezogenen Schlüsse herangezogen werden können. Zunächst wird die Operationalisierung der mittels der Fragebogendaten bearbeiteten Fragestellungen und Hypothesen unter Einbezug der verwendeten statistischen Methoden dargestellt, daran anschließend die Operationalisierung und Auswertung der Interviewdaten mit Bezug auf die qualitative Fragestellung.
9.1 Zur empirischen Umsetzung der quantitativen Hypothesen und Fragestellungen In Kapitel 7 wurde dargelegt, dass die zentralen Anliegen dieser Untersuchung in sieben Teilfragestellungen bearbeitet werden. Die empirische Umsetzung des quantitativen Teils wird im Folgenden beschrieben. Die angewendeten hypothesenprüfenden Verfahren werden auf die Hypothesen bezogen näher erläutert. Die statistischen Berechnungen wurden mit dem Computerprogramm SPSS (Statistical Package for Social Sciences in der Version 15.0; vgl. z. B. Diehl u. Staufenbiel, 2007) für Windows durchgeführt.
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9 Methode II: Zur Auswertung
Hypothesenkomplex 1: Differenzielle Wirkung des Studiengangs – Prägung durch Studienumfeld und Fachkultur Wie im Theorieteil ausgeführt, wird – neben persönlichen Vorlieben und Interessen – von einer Prägung durch das jeweilige Studienumfeld bzw. die Vermittlung verschiedener psychotherapeutischer Verfahren durch die dortigen Lehrenden als eine besonders relevante Einflussgröße für das Interesse an Psychotherapie insgesamt sowie an verschiedenen psychotherapeutischen Richtungen ausgegangen. Im ersten quantitativen Hypothesenkomplex wurde dieser Thematik folgendermaßen nachgegangen: Zu Hypothese 1.a) Darstellung von Psychotherapie nach Studiengang Die wahrgenommene Darstellung von Psychotherapie im jeweiligen Studiengang wurde zum einen über einen Vergleich der empfundenen Angemessenheit des Umfangs der Darstellung psychotherapeutischer Verfahren nach Studiengang ermittelt. Zum anderen wurde ihr über von den Studierenden möglicherweise erlebte Defizite und Probleme in der Darstellung sowie über das Kennenlernen verschiedener Verfahrensrichtungen im jeweiligen Studiengang nachgegangen. Es handelte sich dabei jeweils um Items aus dem spezifisch für diese Fragestellung entwickelten Fragebogen QIP. Die Ermittlung der empfundenen Angemessenheit des Umfangs erfolgte, da dies nach Studiengang von Interesse war, über eine kategoriale Auswertung des fünffach gestuften intervallskalierten Items (QIP III.9, 1 = »viel zu wenig« bis 5 = »viel zu viel«, Mittelkategorie: 3 = »genau richtig«). Durchgeführt wurden prozentuale Häufigkeitsvergleiche zwischen den Studiengängen mit einer daran anschließenden inferenzstatistischen Überprüfung eines Zusammenhangs beider Variablen, also möglicher Unterschiede der empfundenen Angemessenheit des Umfangs in den drei untersuchten Studiengängen, mittels des nonparametrischen Mehrfelder-w2-Tests (vgl. z. B. Bortz u. Lienert, 2008). Inwiefern Unterschiede zwischen den Studiengängen in Bezug auf empfundene Probleme und Defizite in der Vermittlung psychotherapeutischer Verfahrensrichtungen aufzufinden sind, wurde gleichermaßen über prozentuale Häufigkeitsvergleiche zwischen den Studiengängen mit © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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daran anschließenden Mehrfelder-w2-Tests ermittelt. Neben einer solchen Auswertung des diesbezüglichen, im geschlossenen Antwortformat formulierten, dichotomen Items (QIP III.11; Probleme oder Defizite: »ja«, »nein«), wurden in offenen Antwortmöglichkeiten geäußerte Gründe dafür kategorisiert. Für die Zuordnung zu den Kategorien wurde eine Interraterreliabilität etabliert und berechnet mittels dem dafür üblichen Kappa nach Cohen (vgl. z. B. Wirtz u. Caspar, 2002; genauer, s. Kap. 9.4). Im Anschluss wurden die entwickelten Kategorien, wiederum bezogen auf Unterschiede zwischen den Studiengängen, inferenzstatistisch mittels Mehrfelder-w2-Tests ausgewertet. Für das Kennenlernen psychotherapeutischer Verfahrensrichtungen über den jeweiligen Studiengang (QIP III.8), das dritte einbezogene Kriterium der Darstellung von Psychotherapie, wurde ein analoges Vorgehen gewählt. Zunächst erfolgten Häufigkeitsvergleiche des Kennenlernens »aller«, »bestimmter« oder »keiner« der vorgegebenen Verfahrensrichtungen pro Studiengang (dreikategoriales Item). In der Subgruppe derjenigen, die angaben, nur bestimmte Verfahren kennengelernt zu haben, erfolgten prozentuale Vergleiche nach Studiengang der im offenen Antwortformat von den Studierenden angegebenen Verfahrensrichtungen. Daran anschließend fand wiederum eine inferenzstatistische Überprüfung von Zusammenhängen zwischen dem Kennenlernen bestimmter Verfahrensrichtungen und dem Studiengang mittels Mehrfelder-w2-Test statt. Zu Hypothese 1.b) Kenntnisse der Verfahrensrichtungen nach Studiengang Unterschieden zwischen den Studierenden der untersuchten Studiengänge in der Kenntnis verschiedener psychotherapeutischer Verfahrensrichtungen (QIP-Skala III.6) wurde anhand von Mittelwertsvergleichen mit einer daran anschließenden einfaktoriellen multivariaten Varianzanalyse nachgegangen. Nach Tabachnik und Fidell (2007, S. 268) ist eine multivariate Varianzanalyse am besten durchführbar mit hoch negativ korrelierenden Variablen, allerdings durchaus zufriedenstellend auch mit moderat korrelierenden Variablen in beide Richtungen (negativ wie positiv). Da die einbezogenen Variablen im vorliegenden Fall alle hoch bedeutsam moderat positiv miteinander korrelieren, wurde es für zulässig gehalten, sie als Indikatoren des Konstrukts »Kenntnis von Verfahrensrichtungen« multivariat auszuwerten (vgl. Tabachnik u. Fidell, 2007, S. 270). Die MANOVA © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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diente somit der Signifikanzprüfung des Effekts des »Studiengangs« auf die Kenntnis der Verfahrensrichtungen.
Hypothesenkomplex 2: Wahrnehmung und Interesse Psychotherapie Neben der Frage, wie Psychotherapie insgesamt von den Studierenden wahrgenommen wird, behandelt der Hypothesenkomplex 2 die Frage, von wie vielen der befragten Studierenden eine psychotherapeutische Ausbildung überhaupt in Erwägung gezogen wird. Dies wurde folgendermaßen operationalisiert: Zu Fragestellung 2) Wahrnehmung von Psychotherapie Der Wahrnehmung von Psychotherapie über alle Studierenden hinweg wurde über die deskriptive Betrachtung von Mittelwerten in als Indikatoren infrage kommenden Skalen bzw. Items (den vierfach gestuften Skalen des FEP von 1 = »Ich stimme nicht zu« bis 4 = »Ich stimme zu« und thematisch ausgewählten AT-PT-Items, fünffach gestufte Skalen von 1 = »gar nicht« bis 5 = »sehr«) nachgegangen. Bis auf die Skalen negatives »Urteil anderer« und »Kompetenz« des Psychotherapeuten (keine signifikante Korrelation der beiden Skalen) korrelierten alle einbezogenen Variablen statistisch hoch bedeutsam (p < .01) miteinander, weshalb es für zulässig gehalten wurde, sie als Indikatoren des Konstrukts »Wahrnehmung von Psychotherapie« zusammenzufassen. Zu Hypothese 2.a) Interesse an Psychotherapie Das Interesse an Psychotherapie wurde über die Zusammenfassung von zwei jeweils fünffach gestuften Items »Ich würde gern Psychotherapeut/-in werden« (AT-PT 3) und »Sind Sie an einer beruflichen Tätigkeit im Bereich psychischer bzw. psychosomatischer Erkrankungen interessiert?« (QIP-Item III.15; Stufung beider Items von »gar nicht« bis »sehr«) bestimmt. Daran anschließend erfolgte anhand der zusammengefassten Variable eine Dichotomisierung in eine Gruppe mit hohem (Mittelwert größer 3) und eine Gruppe mit geringem Interesse (Mittelwert 1 bis 3). Die beiden Items korrelierten sehr bedeutsam (p < .01) mit r = .80 hoch miteinander. Es kann allerdings vermutet © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
9.1 Zur empirischen Umsetzung der quantitativen Hypothesen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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werden, dass der letztgenannten Aussage, da sie offener formuliert ist, etwas leichter zugestimmt wurde. Darin wurde Interesse allgemeiner und nicht wie in Item AT-PT 3 ein konkreter Berufswunsch erfragt. Für diese Überlegung spricht, dass der Mittelwert dieses Items (M = 3,04, SD = 1,26, N = 670) etwas höher ausfällt als derjenige des AT-PT-Items (M = 2,59, SD = 1,43, N = 672), diesem also tatsächlich in etwas höherem Maße zugestimmt wurde. Die aggregierte Betrachtung beider Items stellt inhaltlich somit eine Bündelung von allgemeinem und spezifischem Interesse dar. Das Vorgehen wurde gewählt, um nur diejenigen Proband/-innen in die Gruppe mit höherem Interesse einzuordnen, die nach Einteilung beider Variablen ein großes bis sehr großes psychotherapeutisches Ausbildungsinteresse aufwiesen. Auch für nachfolgende Berechnungen wird das Interesse, wenn nicht explizit anders erwähnt, über die beschriebene Gruppeneinteilung aus diesen beiden Variablen gefasst. Zu Hypothese 2.b) Wahrnehmung durch Studierende mit hohem oder geringem Interesse Der Einfluss eines Effekts von geringem oder hohem Ausbildungsinteresse der Studierenden (nach der zu Hypothese 2.a beschriebenen Unterteilung) wurde über Mittelwertsvergleiche in den Indikatoren der »Wahrnehmung von Psychotherapie« (den Skalen des FEP und thematisch ausgewählte AT-PT-Items, s. Fragestellung 2) mit einer daran anschließenden inferenzstatistischen Prüfung mittels einer einfaktoriellen multivariaten Varianzanalyse geprüft. Da, wie zu Fragestellung 2 dargelegt, bis auf zwei Skalen alle einbezogenen Variablen hoch signifikant miteinander korrelierten, wurde es wiederum für zulässig gehalten, sie als Indikatoren des erwähnten zusammengefassten Konstrukts »Wahrnehmung von Psychotherapie« multivariat auszuwerten (vgl. Tabachnik u. Fidell, 2007). Zu Hypothese 2.c) Wahrnehmung von Psychotherapie nach Studiengang Ein Effekt des »Studiengangs« auf die Wahrnehmung von Psychotherapie durch die Studierenden wurde in Form von Mittelwertsvergleichen, wiederum mit einer daran anschließenden einfaktoriellen multivariaten Varianzanalyse bestimmt. Sie diente somit der Signifikanzprüfung des Effekts des dreifach gestuften Faktors des »Studiengangs« auf die Indikatoren des Konstrukts der »Wahrnehmung von © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Psychotherapie« (vgl. Fragestellung 2). Bei Vorliegen eines globalen Effekts wurden im Anschluss daran multiple Vergleichstests auf Einzelvergleichsebene durchgeführt (vgl. z. B. Brosius, 2004). Zu Hypothese 2.d) Interesse an Psychotherapie oder andere berufliche Interessen nach Studiengang Für das Interesse Studierender an einer psychotherapeutischen Ausbildung im Vergleich der Studiengänge (Dichotomisierung in hohes vs. geringes Interesse, vgl. Hypothese 2.a) wurden prozentuale Häufigkeiten ermittelt. Zur Überprüfung des erwarteten Zusammenhangs eines psychotherapeutischen Berufsinteresses mit dem Studiengang, also diesbezüglichen Unterschieden zwischen den Studiengängen, wurden daran anschließende Mehrfelder-w2-Tests durchgeführt. Weiter wurde einem psychotherapeutischen Ausbildungsinteresse im Verhältnis zu anderen beruflichen Interessen separat pro Studiengang (QIP-Items III.1 u. III.13) nachgegangen. Eine solche getrennte Betrachtung erfolgte aus Gründen der Nichtvergleichbarkeit der jeweiligen sonstigen beruflichen Perspektiven in den Studiengängen (z. B. andere fachärztliche Tätigkeit nur für Medizinstudierende, Lehramt nur für Pädagogikstudierende möglich). Für diesen Vergleich des Interesses an Psychotherapie im Verhältnis zu anderen beruflichen Interessen wurde von einer inferenzstatistischen Prüfung der ermittelten prozentualen Häufigkeiten aufgrund des Antwortformats mit der Möglichkeit zu Mehrfachnennungen Abstand genommen.107 Weiter wurde explorativ von den Studierenden empfundenen Vorsowie Nachteilen einer psychotherapeutischen im Vergleich zu einer anderen beruflichen Tätigkeit nachgegangen (zwei Items: QIP III.21 107
Die Studierenden aller drei Studiengänge wurden allgemeiner z. B. nach dem Interesse in verschiedenen praktischen Bereichen oder z. B. an einer Forschungstätigkeit befragt. Unter Medizinstudierenden wurde weiter nach einer bereits getroffenen Entscheidung für eine Facharztweiterbildung gefragt, wobei die Antwortmöglichkeiten darin bestanden, eine solche nicht geplant zu haben, sie zu planen, aber noch keine Wahl getroffen zu haben oder aber die Angabe einer von 24 möglichen Fachrichtungen. Für die Psychologiestudierenden bestand die Möglichkeit zur Angabe eines (oder mehrerer) von 11 Arbeitsfeldern im psychologischen Bereich, für die Pädagogikstudierenden konnte zwischen 26 möglichen Arbeitsfeldern gewählt werden. Es waren jeweils Mehrfachnennungen möglich. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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u. QIP III.22: »Was spricht für sie persönlich für / gegen eine psychotherapeutische Ausbildung?«). Dafür wurden die im offenen Antwortformat getätigten Aussagen pro Studiengang kategorisiert und eine Interraterreliabilität etabliert. Im Anschluss wurden auch diesbezüglich prozentuale Häufigkeiten ermittelt.
Hypothesenkomplex 3 – Wahrnehmung von Verhaltenstherapie und psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtungen Der im dritten Hypothesenkomplex behandelten Wahrnehmung von Verhaltenstherapie und psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtungen über alle Studierenden hinweg sowie unterteilt nach Studiengängen wurde mittels der nachfolgend beschriebenen Operationalisierungen nachgegangen. Zu Hypothese 3.a) Wahrnehmung von Verhaltenstherapie und psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtungen durch alle Studierenden sowie unterteilt nach Studiengängen Zweifaktorielle univariate Varianzanalysen mit Messwiederholung mit verschiedenen als relevant betrachteten Variablen zur Thematik der Wahrnehmung von psychodynamisch orientierten Verfahren sowie Verhaltenstherapie (sieben, je fünffach von 1 = »gar nicht« bis 5 = »sehr« gestufte Likert-Skalen, QIP III.19) jeweils als Merkmalsvariablen wurden angewandt, um zu überprüfen, ob sich die Studierendengruppen (Haupteffekt des »Studiengangs«: Psychologie-, Medizin-, Pädagogik) in ihrer Wahrnehmung der beiden »Verfahrensrichtungen« (Haupteffekt der »Verfahrensrichtung«: Verhaltenstherapie, psychodynamisch orientierte Verfahren) signifikant unterscheiden und ob diesbezügliche Interaktionseffekte aufzufinden sind (vgl. z. B. Diehl u. Staufenbiel, 2007). Es handelte sich somit für jede der einbezogenen Variablen um ein zweifaktorielles 3 x 2 Design einer Varianzanalyse mit Messwiederholung. Die Wahl eines Messwiederholungsdesigns begründet sich daraus, dass die Studierenden aller drei Studiengänge jeweils bezogen auf die Verfahrensrichtung Verhaltenstherapie und auf psychodynamische »Verfahrensrichtungen« (»psychoanalytisch/tiefenpsychologisch«) in Hinblick auf dieselben Wahrnehmungsvariablen um © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Aussagen gebeten wurden (vgl. z. B. Tabachnik u. Fidell, 2007). Beim »Studiengang« handelt es sich somit formal um den Faktor der Zwischensubjekteffekte (Einfluss unterschiedlicher Gruppen) und bei der Verfahrensrichtung um den Faktor der Innersubjekteffekte (Messung der gleichen Gruppen unter unterschiedlichen Bedingungen). Zu Hypothese 3.b) Wahrnehmung von Verhaltenstherapie und psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtungen nach hohem versus geringem psychotherapeutischem Ausbildungsinteresse Es wurden zweifaktorielle univariate Varianzanalysen mit Messwiederholung, wiederum bezüglich der einbezogenen Variablen zur Wahrnehmung von psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtungen und Verhaltenstherapie jeweils als Merkmalsvariablen (vgl. Hypothese 3.a) angewandt, um einem Effekt hohen oder geringen psychotherapeutischen Ausbildungsinteresses nachzugehen. Dabei handelte es sich in diesem Fall um ein 2 x 2 Design in der gleichen Logik wie im vorherigen Absatz beschrieben. Der Faktor mit möglichen Zwischensubjekteffekten war hier die »Interessengruppe« (vgl. Hypothese 2.a), die »Verfahrensrichtung« wiederum derjenige der Innersubjekteffekte.
Hypothesenkomplex 4 – Interesse an Verhaltenstherapie und Psychoanalyse sowie insgesamt an psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtungen Eine Analyse des Interesses für eine bestimmte Verfahrensrichtung, sowohl als Ausbildungsgang als auch als Behandlungsmethode bei eigenem Bedarf, über die Studierenden hinweg, sowie unterteilt nach Studiengängen, erfolgte mittels folgender Operationalisierungen: Zu Hypothese 4.a) Interesse aller Studierender an Verhaltenstherapie und Psychoanalyse sowie insgesamt einer psychodynamisch orientierten Ausbildung Zur Überprüfung der inferenzstatistischen Bedeutsamkeit einer gegenwärtigen Bevorzugung einer verhaltenstherapeutischen gegenüber einer psychoanalytischen, sowie insgesamt einer psychodynamisch orientierten Ausbildung über alle Studierenden hinweg, ermittelt © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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über prozentuale Häufigkeiten, kam erneut ein w2-Test zur Anwen-
dung, da es sich um eine sechsstufige nominale Variable handelte.108 Zu Hypothese 4.b) Interesse an Verhaltenstherapie oder Psychoanalyse sowie insgesamt einer psychodynamisch orientierten Ausbildung nach Studiengang Für das Interesse an einer verhaltenstherapeutischen oder psychoanalytischen Ausbildung im Zusammenhang mit dem Studiengang wurden wieder deskriptiv prozentuale Häufigkeiten in den untersuchten Studiengängen verglichen (QIP-Item III.17, vgl. Hypothese 4.a). Der Einfluss des Studiengangs auf die Ausbildungswahl wurde im Anschluss inferenzstatistisch mittels einer logistischen Regression berechnet. Die logistische Regression erlaubt eine Vorhersage, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Ereignis in Abhängigkeit von welchen Einflussgrößen eintritt (vgl. Backhaus, Erichson, Plinke u. Weiber, 2008; Tabachnik u. Fidell, 2007). Ihr Vorteil gegenüber anderen Verfahren, wie z. B. der Varianzanalyse, besteht darin, dass sowohl die Prädiktor- als auch die Kriteriumsvariablen jedes Skalenniveau annehmen können. Weiter setzt sie keine Normalverteilung der Daten voraus und zwei oder mehr zu untersuchende Ereignisse können in die Analyse eingehen (Tabachnik u. Fidell, 2007). Angestrebt wird die korrekte Vorhersage einer Kategorienzugehörigkeit von Individuen aufgrund eines solchen Prädiktorensets (vgl. Tabachnik u. Fidell, 2007, S. 439). Die am besten passende Prädiktoren-Kombination (einschließlich Interaktionen) für die Vorhersage einer Gruppenzugehörigkeit kann ermittelt werden (»goodness of fit«, Tabachnik u. Fidell, 2007, S. 439). In diesem Hypothesenkomplex wurde eine entsprechende Fragestellung verfolgt. So sollte ermittelt werden, welche Studiengangszugehörigkeit den maximalen Prädiktionswert bezüglich der Entscheidung für eine bestimmte Ausbildungsrichtung 108
Antwortalternativen bei diesem QIP-Item (III.17) waren »Psychoanalyse«, »tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie«, »Verhaltenstherapie«, »Gesprächspsychotherapie«, »andere« (mit der Möglichkeit zur Spezifizierung im offenen Antwortformat) und »weiß nicht«. Für die Gegenüberstellung von Verhaltenstherapie und insgesamt psychodynamisch orientierten Verfahren wurden »Psychoanalyse« und »tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie« zusammen genommen betrachtet. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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besitzt, wobei sowohl der Prädiktor als auch die Kriteriumsvariable Nominalniveau aufweisen. Darüber hinaus wurde für einen separaten Vergleich des Interesses für eines der Richtlinienverfahren, ein verhaltenstherapeutisches oder ein psychodynamisch orientiertes Ausbildungsinteresse in Zusammenhang mit dem Studiengang, dieses zunächst einem prozentualen Häufigkeitsvergleich und daraufhin wiederum einem Mehrfelder-w2Test unterzogen. Dafür wurden diejenigen mit Interesse an »Psychoanalyse« und »tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie« (vgl. Hypothese 4.a) in einer Gruppe mit psychodynamisch orientiertem Ausbildungsinteresse zusammengefasst und den verhaltenstherapeutisch Interessierten gegenübergestellt. Zu Hypothese 4.c) Behandlungswahl der Studierenden Auch für die inferenzstatistische Überprüfung der Hypothese einer häufigeren Inanspruchnahme einer verhaltenstherapeutischen gegenüber einer psychoanalytischen, sowie insgesamt einer psychodynamisch orientierten Behandlung bei eigenem Behandlungsbedarf wurden, wiederum für alle Studierenden sowie nach Studiengängen unterteilt, prozentuale Häufigkeiten der Inanspruchnahme verschiedener psychotherapeutischer Verfahrensrichtungen ermittelt (QIP-Item III.7). Daran anschließend wurde eine Überzufälligkeit der gefundenen Verteilung in der Gesamtstichprobe mittels w2-Test überprüft. Da Mehrfachnennungen möglich waren, wurden, um eine eindeutige Interpretation zu ermöglichen, in diesen Vergleich nur diejenigen Studierenden einbezogen, die nur eine Angabe machten. Daneben wurde der Anteil derjenigen erhoben, die sich eine Behandlung in mehr als einer Verfahrensrichtung vorstellen können. Unterschieden bezüglich der Behandlungswahl im Zusammenhang mit dem jeweiligen Studiengang wurde, anschließend an die deskriptive Betrachtung, mittels Mehrfelder-w2-Tests nachgegangen. Zu Hypothese 4.d) Zusammenhang zwischen Behandlungs- und Ausbildungswahl Für die Überprüfung eines vermuteten überzufälligen Zusammenhangs zwischen der Wahl einer Ausbildungs- und einer Behandlungsrichtung kam im Anschluss an Häufigkeitsvergleiche ebenfalls ein Mehrfelder-w2-Test zur Anwendung. Einbezogen wurden im © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Sinne einer eindeutigen Interpretation wieder nur diejenigen mit Nennung nur einer Behandlungswahl.
Hypothesenkomplex 5: Kriterien für Interesse Für die Beantwortung dieser unter 7.7 formulierten Fragen und Überlegungen wurden folgende Operationalisierungen vorgenommen. Für alle in diesem Hypothesenkomplex behandelten Hypothesen wurden die Gruppe derjenigen mit einem verhaltenstherapeutischen und die Gruppe derjenigen mit einem psychodynamisch orientieren Ausbildungsinteresse einander gegenübergestellt. Dafür wurden diejenigen mit Interesse an einer Ausbildung in »tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie« und in »Psychoanalyse« aus inhaltlichen und auswertungstechnischen Gründen zusammengefasst (vgl. Kap. 7.7; s. a. Hypothese 4.b). Zu Hypothese 5.a) Kriterien für Interesse Die Untersuchungsteilnehmenden wurden gebeten, stichwortartig ihre Gründe darzulegen, weshalb sie sich für eine bestimmte psychotherapeutische Ausbildung entscheiden würden. Diese Stichworte wurden nach inhaltlichen Kriterien kategorisiert, um sie einer Auswertung zugänglich zu machen. Eine Interraterreliabilität wurde etabliert und berechnet. Um zu überprüfen, ob sich tatsächlich die Angaben von Kriterien unter denjenigen, die eine verhaltenstherapeutische Therapieausbildung anstreben, statistisch bedeutsam in die erwartete Richtung von denjenigen unterscheiden, die eine psychodynamisch orientierte Therapieausbildung anstreben, wurde ein Vergleich von Häufigkeiten der Kriterien für das jeweilige Interesse in diesen beiden Subgruppen sowie daran anschließend ein Mehrfelder-w2-Test vorgenommen. Auch für die Ermittlung der Verteilung der Kriterien des Interesses in den beiden Subgruppen in Zusammenhang mit dem Studiengang erfolgten Häufigkeitsvergleiche mit daran anschließenden Mehrfelder-w2-Tests.
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9 Methode II: Zur Auswertung
Zu Hypothese 5.b) Unterschiede in der Wahrnehmung von psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtungen und Verhaltenstherapie im Zusammenhang mit einem jeweiligen Ausbildungsinteresse Zur Prüfung des Effekts des Interesses an einer der Verfahrensrichtungen auf die Wahrnehmung von Verhaltenstherapie und psychodynamisch orientierten Verfahren wurden einfaktorielle univariate Varianzanalysen mit Messwiederholung mit den einbezogenen Variablen zur Wahrnehmung der Verfahrensrichtungen als Merkmalsvariablen (QIP-Item III.19, vgl. Hypothese 3.a) durchgeführt. Es handelt sich somit um ein 2 x 2 Design in der zu Hypothese 3.a) beschriebenen Logik, die beiden Faktoren waren die »Ausbildungswahl« und wiederum die »Verfahrensrichtung«. Zu Hypothese 5.c) Unterschiede in der Zustimmung zu »psychoanalytischen« und »verhaltenstherapeutischen« Behandlungsmethoden im Zusammenhang mit einem jeweiligen Ausbildungsinteresse Ein möglicher Einfluss des Interesses für eine psychodynamisch orientierte Verfahrensrichtung oder Verhaltenstherapie auf die Zustimmung zu verhaltenstherapeutischen bzw. psychoanalytischen Behandlungsmethoden wurde anhand von Mittelwertsvergleichen mit einer daran anschließenden einfaktoriellen multivariaten Varianzanalyse der »Ausbildungswahl« als Prädiktor und den WPT-Items (fünffach gestufte Likert-Skalen von 1 = »gar nicht« bis 5 = »sehr«) als Merkmalsvariablen überprüft.
Fragenkomplex 1 – sonstige Einflussfaktoren und Korrelate Die im Folgenden beschriebenen deskriptiv- und inferenzstatistischen Auswertungsmethoden kamen für die Überprüfung der Zusammenhangsüberlegungen zu soziodemographischen und anderen Hintergrundvariablen mit dem Interesse an einer psychotherapeutischen sowie an einer psychodynamisch orientierten oder verhaltenstherapeutischen Ausbildung zum Einsatz.
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9.1 Zur empirischen Umsetzung der quantitativen Hypothesen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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Interesse an psychotherapeutischer Ausbildung Zu Fragestellung 3.1.a) Psychotherapie, Geschlecht und Psychotherapieerfahrung Ein möglicher Einfluss des Geschlechts, sowie einer persönlichen psychotherapeutischen Erfahrung (früher oder gegenwärtig) auf das Interesse an einer psychotherapeutischen Ausbildung (vgl. Hypothese 2.a) wurde jeweils anhand von Mittelwertsvergleichen mit einer daran anschließenden einfaktoriellen univariaten Varianzanalyse geprüft. Zu Fragestellung 3.1.b) Psychotherapie u. allgemeine berufliche Wünsche Der Frage eines Zusammenhangs von beruflichen Wünschen (12 fünffach gestufte Skalen aus dem QIP von 1 = »gar nicht« bis 5 = »sehr«) mit dem Interesse an einer psychotherapeutischen Ausbildung (vgl. Hypothese 2.a) wurde mittels Pearson-Korrelationen nachgegangen. Weiter erfolgte eine varianzanalytische Untersuchung beruflicher Wünsche im Zusammenhang mit dem jeweiligen Studiengang. Hierbei waren nicht aus inhaltlichen, sondern aus auswertungstechnischen Gründen berufliche Wünsche die Kriteriumsvariablen. Im Anschluss erfolgte ein deskriptiver Vergleich der beruflichen Wünsche nach Studiengang mit den ermittelten beruflichen Wünschen in Zusammenhang mit einem psychotherapeutischen Berufswunsch. Zu Fragestellung 3.1.c) Psychotherapie und Studienort Ein möglicher Einfluss des Studienortes auf das Interesse an einer psychotherapeutischen Ausbildung (vgl. Hypothese 2.a) wurde, aufgeteilt nach Studiengängen, anhand von Mittelwertsvergleichen mit einer daran anschließenden einfaktoriellen univariaten Varianzanalyse erfasst.
Interesse an einer psychodynamisch orientierten oder einer verhaltenstherapeutischen Ausbildung Fragestellung 3.2.a) Psychodynamisch orientierte oder verhaltenstherapeutische Ausbildung, Geschlecht und Psychotherapieerfahrung Sowohl für die Frage eines Zusammenhangs des Interesses an einer psychodynamischen oder einer verhaltenstherapeutischen Ausbildung mit dem Geschlecht, als auch für die Frage eines diesbezüglichen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Zusammenhangs mit einer allgemein psychotherapeutischen (früher oder aktuell), sowie einer spezifischen Vorerfahrung in einem der Richtlinienverfahren (Kategorisierung des offenen Antwortformats des QIP-Items II.4), kamen Häufigkeitsvergleiche und daran anschließende w2-Tests zur Anwendung. Zu Fragestellung 3.2.b) Psychodynamisch orientierte oder verhaltenstherapeutische Ausbildung und allgemeine berufliche Wünsche Um mögliche Unterschiede beruflicher Wünsche (vgl. Fragestellung 3.1.b) in Zusammenhang mit dem Interesse an einer verhaltenstherapeutischen oder psychodynamisch orientierten Ausbildung zu ermitteln, wurden t-Tests für unabhängige Stichproben durchgeführt. Auch hier waren nicht aus inhaltlichen, sondern aus auswertungstechnischen Gründen berufliche Wünsche die Kriteriumsvariablen. Zu Fragestellung 3.2.c) Psychodynamisch orientierte oder verhaltenstherapeutische Ausbildung und Studienort Für die Frage eines Zusammenhangs des Interesses an einer bestimmten Ausbildungsrichtung mit dem jeweiligen Studienort, unterteilt nach Studiengängen, kamen wiederum prozentuale Häufigkeitsvergleiche und daran anschließende w2-Tests zur Anwendung.
9.2 Zur empirischen Umsetzung der qualitativen Fragestellung Die qualitative Auswertung zur Ermittlung der »prototypischen Wege der Entscheidungsfindung« aus den Interviewnarrativen (vgl. Kap. 8.8) erfolgte in einer Kombination aus der qualitativen Inhaltsanalyse (QI) nach Mayring (2000, 2003) und der Grounded Theory (GT) nach Glaser und Strauss (1967, 1998), also einem eher top-down und einem eher bottom-up orientierten Ansatz (vgl. z. B. Lietz, 2001; Rothe, 2009). So wurde für diesen Analyseschritt insgesamt in einer »hermeneutischen Zirkelbewegung« (Rothe, 2009, S. 36; vgl. auch Sutterlüty, 2002) sowohl induktiv als auch deduktiv vorgegangen. Dies erfolgte vor dem Hintergrund, dass, wie erläutert, sowohl eine »Theorie(weiter)entwicklung« (Rothe, 2009, S. 36) im Sinne einer Hypothesengenerierung angestrebt wurde als auch eine Vertiefung © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
9.2 Zur empirischen Umsetzung der qualitativen Fragestellung 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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bzw. ein Rückgriff auf bereits bestehende Theorien sowie auf quantitative Befunde aus den Fragebogendaten stattfand. Im Folgenden wird das methodische Vorgehen der dafür vorgenommenen Entwicklung eines Kategoriensystems und der darauf folgenden Erarbeitung von Prototypen beschrieben. In Tabelle 18 ist es zusammenfassend dargestellt. Zu Schritt 1 (zu den Schritten: vgl. jeweils Tab. 18): Statt der klassischerweise zur qualitativen Inhaltsanalyse gehörenden Technik der paraphrasierenden Zusammenfassung von Transkripten (vgl. Mayring, 2003, s. u.) kam hier als erster Schritt die unter 8.8 beschriebene systematische Gruppenvalidierung der Interviewnarrative zur Anwendung. Diese diente statt des von Mayring (2003) empfohlenen Vorgehens einer ersten Zusammenfassung des Materials. Die zu Narrativen verdichteten Interviews wurden dann mit den erwähnten Methoden weiter ausgewertet. Tabelle 18: Zusammengefasste Darstellung der Analyseschritte für die Entwicklung des Kategoriensystems und der Prototypenbildung aus dem qualitativen Interviewmaterial in Anlehnung an die qualitative Inhaltsanalyse (QI) nach Mayring (2003) sowie die Methode der Grounded Theory nach Glaser und Strauß (1998) Analyseschritte und Unterschritte (in mehreren Durchgängen) Schritt 1) Modifikation Schritt 1: Narrativerstellung statt paraphrasierender Zusammenfassung (und erste Hypothesenentwicklung im Zuge der Gruppenvalidierung (s. Kap. 8.8)) Schritt 2) GT für im Text gefundenes Datenmaterial über theoretische Vorannahmen (u. a. Leitfaden) hinaus: 2.1) Offenes und axiales Kodieren nach Kodierparadigma (anhand Narrativ) 2.2) Selektives Kodieren (Schlüsselkategorie: Modifikation: hier bereits festgelegt: Interesse an (bestimmter) psychotherapeutischer Ausbildung) 2.3) Gefundene Kategorien mit GT in Beziehung zu Schlüsselkategorie setzen (dafür Orientierung an QI: Analyseeinheiten (Propositionen = Aussageeinheiten als Kodiereinheiten: minimale Analyseeinheit (bzw. kleinster Textbestandteil; hier: einzelner Satz), Kontexteinheit (hier: Absatz); Auswertungseinheit (Fundstellen im Text; hier: jeweilige vorläufige Kategorie) definieren) Modifikation Schritt 2: im Wechsel mit QI Schritt 3) (QI) Typisierende Strukturierung 3.1) Festlegung der Typisierungsdimensionen (theoriegeleitet) (Definition der Kategorien; welche Textbestandteile fallen unter eine Kategorie?) 3.2) Bestimmung typischer Ausprägungen (theoriegeleitet und nach empirischer Häufigkeit) Zu 3.1) und 3.2) Vorgehen zu den einzelnen Kategorien: a) Definitionen der Kategorien b) Sammeln von Ankerbeispielen (konkrete Textstellen anführen, die unter diese Kategorie fallen) c) Festlegen von Kodierregeln (zur Abgrenzung von Ausprägungen, bei Abgrenzungsproblemen einzelner Kategorien Regeln formulieren für eindeutige Zuordnungen) 3.3) Aus 3.1) und 3.2) zusammen: Kategoriensystem Schritt 4) (QI) aus Ankerbeispielen und Kodierregeln (QI) bzw. Kodierparadigma (GT) Kodierleitfaden entwickeln Schritt 5) (QI und GT) Probedurchgänge (Materialdurchlauf mit Fundstellenbezeichnung, Bearbeitung und Extraktion der Fundstellen) und ggf. Revision von Kodierleitfaden
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(Fortsetzung) Analyseschritte und Unterschritte (in mehreren Durchgängen) Schritt 6) (QI) Kodierungen aller Interviews mittels Kategoriensystem anhand von Kodierleitfaden Nachfolgendes Kapitel: Schritt 7 und 8: Spezifisch für typisierende Strukturierung: Prototypenbildung Schritt 7) (QI) Bestimmung der Prototypen anhand der Kodierungen (Häufigkeiten innerhalb eines Interviews spielen dabei keine Rolle) Schritt 8) (QI) Genaue Beschreibung der Prototypen (theoretisch und mit Hilfe einer Clusteranalyse) Anmerkungen: QI = in Anlehnung an qualitative Inhaltsanalyse; GT = in Anlehnung an Grounded Theory; Modifikationen zu den Methoden sind jeweils gekennzeichnet.
9.3 Zur Erstellung des Kategoriensystems In diesem Abschnitt wird das genaue Vorgehen der Entwicklung des Kategoriensystems unter Verwendung der beiden Analysemethoden detailliert auf die Daten bezogen beschrieben. Zu Beginn wurde anhand eines Narrativs (vgl. dazu Lietz, 2001) ein vorläufiges Kategoriensystem erstellt, das sich sowohl aus den im Text gefundenen Themen (bottom-up, GT) als auch aus den theoretisch als wichtig für die Fragestellung erachteten Konzepten und Theoremen (topdown, QI) ergab. Die jeweiligen Kategorien sollten vom Text abstrahieren, jedoch inhaltlich zunächst nahe an den in den Narrativen gefundenen Inhalten (d. h. an den jeweiligen Textstellen) bleiben. Zu Schritt 2: Für das Auffinden empirischen Datenmaterials, das über die aus theoretischen Vorannahmen entwickelten Themen des Interviewleitfadens hinausging, kam dabei zunächst die Methode der Grounded Theory zur Anwendung. Sie dient vor allem dem Auffinden neuer Informationen und soll zu einem theoretischen Informationszuwachs über bereits formulierte theoretische Annahmen hinaus führen. »So wird das zu untersuchende Material bspw. nicht einem vorgegebenen Kategoriensystem angepasst; letzteres wird vielmehr aus den Daten selbst entwickelt und stellt dann ihre innere Struktur inhaltlich dar« (Wilke, 1992, S. 13). Das erstmals 1967 von Glaser und Strauß beschriebene Verfahren der Grounded Theory hat allgemein die Entwicklung einer solch gegenstandsbezogenen Theorie zum Ziel. Gemeint ist damit, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
9.3 Zur Erstellung des Kategoriensystems 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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»dass eine neue Theorie auf der Grundlage von in der Sozialforschung erhobenen Daten (d. h. in einem Gegenstand verankert) planvoll und systematisch generiert wird. Der Ansatz der Grounded Theory ist damit primär induktiv orientiert. Er ›zeichnet sich durch seine Bemühungen aus, Forschung als kreatives Konstruieren von Theorien zu betreiben, die gleichzeitig fortlaufend an den Daten kontrolliert werden‹ (Wiedemann, 1991, S. 440)« (Lietz, 2001, S. 27).
Grundlage der Theoriebildung ist die sogenannte komparative Methode, d. h. die Suche nach adäquaten Vergleichsgruppen in den Daten, gekennzeichnet durch eine Strategie der gleichzeitigen Datenerhebung und -auswertung. Beim »theoretische[n] Sampling« (Lietz, 2001, S. 27) werden Theorien auf ein bestimmtes Analysefeld bezogen. Damit sind sie als sogenannte gegenstandsbezogene Theorien nicht im Sinne statistisch repräsentativer Methoden verallgemeinerungsfähig. Es werden vielmehr Samples gebildet, die einen Fallvergleich nach dem Gesichtspunkt minimaler (für Begründung der theoretischen Kategorien) und maximaler (für verschiedene Fälle innerhalb einer Kategorie) Kontrastierung (Ähnlichkeit) ermöglichen. Ein Abbruch des Suchprozesses erfolgt nach dem Kriterium der »theoretischen Sättigung« (Sutterlüty, 2002, S. 19), was bedeutet, dass aus neuen Fällen keine zusätzlichen Informationen über theoretische Kategorien gewonnen werden können bzw. diese keine weiteren Veränderungen der Theorie erfordern. Die miteinander verbundenen Auswertungsschritte beim theoretischen Kodieren sind das offene Kodieren, d. h. die datennahe Konstruktion von Konzepten und Kategorien, und das axiale Kodieren. Dabei werden die Kategorien nach situativen und biographischen Entstehungsbedingungen des Untersuchungsphänomens, hier des Interesses Studierender für eine (bestimmte) psychotherapeutische Ausbildung, seinen Interaktionskontexten, darauf bezogene Bewältigungsstrategien und Konsequenzen, dem sogenannten »Kodierparadigma« zueinander in Beziehung gesetzt und ausgearbeitet (Schritt 2.1; vgl. Lietz, 2001; Sutterlüty, 2002). Daran schließt sich das selektive Kodieren an, die Auswahl einer sogenannten Schlüssel- oder Kernkategorie (Schritt 2.2). Diese repräsentiert das Hauptthema der Untersuchung und wird mit den restli© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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chen Kategorien in Beziehung gesetzt (Strauss u. Corbin, 1996, zit. nach Lietz, 2001, S. 28). Dieser klassischerweise in der Methode der GT enthaltene Schritt wurde für diese Untersuchung jedoch nicht vollzogen, da diese – das Interesse an einer (bestimmten) psychotherapeutischen Ausbildung – von vorneherein feststand, sie sich also nicht aus dem Material ergab. In einem weiteren Schritt wurden sich ähnelnde Kategorien, wenn möglich, zwecks weiterer Datenreduktion mit Bezug zur Schlüsselkategorie zu einer ersten gemeinsamen Kategorie zusammengefasst (Schritt 2.3). Zu Schritt 3: Für den darauf folgenden Schritt (bzw. im Wechsel mit Schritt 2) wurde das von Mayring (2003, S. 83 ff.) beschriebene Vorgehen der typisierenden Strukturierung gewählt, welches im Anschluss näher beschrieben wird. Die qualitative Inhaltsanalyse (QI) nach Mayring (2003) dient der systematischen Analyse von Textmaterial unterschiedlicher Herkunft. Grundsätzlich gilt, dass versucht wird, das Material in seinem Kommunikationszusammenhang zu verstehen. Sie zeichnet sich durch ihre Regelgeleitetheit, festgelegte Kodierregeln sowie die Möglichkeit zur Entwicklung eines Kategoriensystems aus. Es werden verschiedene inhaltsanalytische Techniken, die sogenannte Strukturierung, die eingangs erwähnte Technik der Zusammenfassung (vgl. Schritt 1) sowie die Technik der Explikation unterschieden. Die Strukturierung, von Mayring (2003) als »wohl zentralste inhaltsanalytische Technik« (S. 82) bezeichnet, hat zum Ziel, eine bestimmte Struktur in Form eines Kategoriensystems aus dem Material herauszuarbeiten. Die hier verwendete, auf Nominalniveau angesiedelte Art der Datenstrukturierung der »typisierenden Strukturierung« (Mayring, 2003, S. 85109) schließt eine für diese Untersuchung als zu interpretativ verworfene quantifizierende Herangehensweise an das Datenmaterial aus. In einem ersten Schritt müssen dabei die »grundsätzlichen Strukturierungsdimensionen« (Mayring, 2003, S. 83, kursive Hervorhebung d. Verf.) aus der Fragestellung abgeleitet und theoretisch begründet werden (Schritt 3.1). Anschließend werden diese, im vorliegenden Fall handelte es sich um Typisie109
Es werden vier verschiedene Strukturierungsarten, die formale, die inhaltliche, die typisierende sowie die skalierende Strukturierung voneinander unterschieden (vgl. Mayring, 2003). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
9.3 Zur Erstellung des Kategoriensystems 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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rungsdimensionen, in einzelne »Ausprägungen« (Mayring, 2003, S. 83, kursive Hervorhebung d. Verf.) aufgespalten (Schritt 3.2). Zusammen bilden die Dimensionen und die Ausprägungen als mehrkategoriale nominale Variablen das Kategoriensystem (Schritt 3.3). Zur Bestimmung der Kategorienzugehörigkeit eines »Materialbestandteil[s]« (Mayring, 2003, S. 83) wurde sich am von Mayring vorgeschlagenen Vorgehen orientiert: Es erfolgte erstens die Definition der Kategorien (Schritt 3.1 u. 3.2 a), zweitens das Bestimmen von Ankerbeispielen (Schritt 3.1 u. 3.2 b) und drittens das Festlegen von Kodierregeln (Schritt 3.1 u. 3.2 c). Die typisierende Strukturierung »will auf einer Typisierungsdimension einzelne markante Ausprägungen im Material finden und diese genauer beschreiben« (Mayring, 2003, S. 85). Die Festlegung der markanten, d. h. der typischen Ausprägungen erfolgte in Anlehnung an Mayrings Empfehlungen nach den Kriterien des theoretischen Interesses sowie nach deren empirischer Häufigkeit. Von der Möglichkeit, auch extreme Ausprägungen einzubeziehen (vgl. Mayring, 2003, S. 90), wurde Abstand genommen, da über die verdichtende Prototypisierung der Daten vor allem Verallgemeinerbares ermittelt werden sollte (vgl. auch Kap. 8.8). Für unterschiedliche Aussagen zu einem Thema wurden mit dem beschriebenen Vorgehen Ausprägungen der Kategorien entwickelt. Weiter wurden die Kategorien, wenn möglich als Unterkategorien abstrakteren Kategorien höherer Ordnung, den sogenannten Hauptkategorien zugeordnet (vgl. Lietz, 2001; vgl. auch Schritt 2.3). Zu Schritt 4: Die Kodierregeln (QI) bzw. das Kodierparadigma (GT) zusammen mit den Ankerbeispielen zu den jeweiligen Kategorien wurden schließlich zu einem Kodierleitfaden (einem Ratermanual) zusammengefasst. Zu Schritt 5: In mehreren Probedurchgängen wurde das Kategoriensystem getestet. Alle Materialdurchgänge gliederten sich dabei in die Bezeichnung sowie die Extraktion der Fundstellen.110 Erwiesen sich die zunächst aus einem Interview erstellten Kategorien aufgrund weiterer Daten (GT) aus dafür verwendeten Interviews bzw. aufgrund 110
Einbezogen wurden dabei die Narrative sowie die gruppenvalidierten
Überlegungen und Hypothesen im Zuge der Narrativerstellung (vgl. auch
Kap. 8.8). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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theoretischer Überlegungen (QI) konkret als verbesserungswürdig, wurden sie modifiziert. Insgesamt wurden fünf Narrative in die Erstellung des Kategoriensystems einbezogen. In mehreren Schritten wurde so ein Kategoriensystem mit einer hierarchischen Ordnung entwickelt, wobei die Bildung von logischen Ebenen sowohl in Richtung höherer als auch niedrigerer Abstraktion verlief (vgl. Lietz, 2001). Da der Prozess der Kategorisierung der Daten notwendigerweise einer Interpretation der Texteinheiten entspricht, wurde für diese Verdichtung des Materials als qualitatives Gütekriterium eine Prüfung der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit realisiert. Es erfolgte eine konsensuelle Validierung des Kategoriensystems. Weiter wurde die Gruppenvalidierung der Kategorien genutzt, um eine ausreichende Trennschärfe (d. h. Abgrenzung der jeweiligen Bedeutungen) zwischen den Kategorien zu gewährleisten. In fortlaufenden Notizen der am Prozess der Kategorienerstellung und der anschließenden Auswertung beteiligten Personen wurden zudem Schwierigkeiten (z. B. Überschneidungen) mit und Überlegungen zu dem Kategoriensystem dokumentiert.111 Auf diese Weise wurde ein Ratermanual (Kodierleitfaden) entwickelt, welches in mehreren Pretests überarbeitet wurde (vgl. Leuzinger-Bohleber u. Rüger, 2002, S. 134) und schließlich als ein »differenzierter Einschätzungskatalog« (Leuzinger-Bohleber u. Rüger, 2002, S. 134) vorlag. Dieser Kodierleitfaden diente als detaillierte Auswertungsanleitung für die Kodierung aller Narrative durch die Kodierenden (Schritt 6112). In mehreren Durchgängen wurde zudem ein kategoriales System, bestehend aus zwölf Hauptkategorien sowie drei weiteren Ebenen von Unterkategorien (Kategorien zweiter bis vierter Ordnung) mit unterschiedlichen Ausprägungen entwickelt, in welches jeder einzelne
111 Es handelte sich dabei um eine feste Gruppe von vier Personen, welche sich regelmäßig über Probleme, Modifikationen etc. austauschte. Probleme bzw. Modifikationen ergaben sich z. B. zur Chronologie der Entscheidungsfindung: Zunächst sollten Zeitbegriffe diese direkt abbilden. Dies wurde jedoch zugunsten einer indirekten Erfassung über die Kodierung verschiedener Lebensbereiche und deren logischer zeitlicher Verortung (bspw. Schule, Universität) verworfen. 112 Im Detail einzusehen ist das Kategoriensystem im bei der Autorin erhältlichen Anhang.
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Fall eingeordnet werden konnte (Mayring, 2003). Im nächsten Kapitel wird noch einmal detaillierter auf die qualitativen Gütekriterien sowie auf die statistische Absicherung des Kategoriensystems über die Etablierung einer Interraterreliabilität eingegangen. Zusammenfassen lässt sich der konkrete Ablauf der Entwicklung des Kategoriensystems somit folgendermaßen: Zunächst erfolgte eine induktive Kategorienbildung aus dem Material in Anlehnung an die Methode der Grounded Theory mit einem deduktiven Selektionskriterium bzw. einer Schlüsselkategorie aus der Fragestellung dieser Untersuchung (Psychotherapieausbildung ja/nein, welche). Dann wurden (wenn noch nicht induktiv ermittelt) in Anlehnung an die qualitative Inhaltsanalyse Themen des Leitfadens integriert, danach noch einmal induktiv nach neuem Material geschaut etc. So wurde auf Grundlage theoretisch hergeleiteter sowie im empirischen Material aufgefundener Kategorien eine Reduktion und Interpretation des narrativen Interviewmaterials erreicht. Der Prozess der Kategorisierung entsprach dabei, wie erwähnt, einem zirkulären Vorgehen (zwei Bearbeitungsrichtungen) der Interpretation der Texteinheiten durch eine Kombination eines bottom-up Ansatzes, also einer induktiven Kategorienermittlung (GT) und eines theoriegeleiteten top-down Prozesses (QI). Zur Entwicklung und Überprüfung des Kategoriensystems und zur anschließenden Kodierung der Interviews kam das computergestützte Textanalysesystem MaxQDA (Qalitative Data Analysis) für qualitative Datenanalysen in der Version von 2001 zum Einsatz (vgl. z. B. Kuckartz, 2001; Kuckartz, Grunenberg u. Dressing, 2007; Wagner, 2005). Sowohl für die Auswertung der qualitativen Daten (Texte nach entwickelten Kategorien zu kodieren und auszuwerten) als auch für einen Vergleich der qualitativen Daten mit den quantitativen Fragebogendaten (vgl. Kap. 9.6) bietet sich dieses an.113 Das Kategoriensystem selbst sowie die 113
So können mittels MaxQDA aus Textfundstellen im Sinne der Methode der Grounded Theory unmittelbar Kategorien generiert und beliebig modifiziert werden. Zudem können dort für alle Beteiligten direkt zugängliche Notizen gemacht werden. Anschließende Kodierungen der Narrative durch verschiedene Rater/-innen anhand des entwickelten Kategoriensystems können des Weiteren dort vorgenommen werden, funktional u. a. für die statistische Absicherung des Kategoriensystems (Interraterreliabilität) sowie des Kodierverfahrens. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Kodierungen der Narrative anhand des Kategoriensystems können mit relativ wenig Aufwand in SPSS eingelesen und so in statistische Analysen integriert werden. Die Überführung der Daten aus MaxQDA in SPSS diente, neben der erheblichen Aufwandsreduktion einer computergestützten Datenaufbereitung, der Etablierung einer Interraterreliabilität und schließlich der statistischen Untermauerung der Prototypisierung der Daten, worauf in den folgenden Abschnitten näher eingegangen wird.
9.4 Qualitative und quantitative Gütekriterien: Intersubjektivität, Interraterreliabilität Als Grundprinzip qualitativer Forschung kann das »Prinzip der Explikation und Begründung, der schrittweisen Offenlegung aller theoretischen und praktischen Analyseeinheiten […] [gelten, welches die] Stellungnahme des Forschers bezüglich seines Zugangs zum Material« (Wilke, 1992, S. 13) und eine Beschreibung des Materials selbst impliziert. Dabei wird die genaue Beschreibung der Rohdaten als Teil des »Überprüfungspfad[es]« (Flick, 2009, S. 501) verstanden, welcher zur Sicherung der Güte qualitativer Untersuchungen dient. Stuhr et al. (2002) betonen in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit der »Komplementarität« (S. 155) der Datenquellen, der Theorien sowie der Sichtweisen der Beobachter/-innen als einander ergänzende qualitative Gütekriterien. Dieser Forderung wurde entsprochen, indem mehrere Personen sowohl an der Entwicklung des Kategoriensystems als auch an der Prototypisierung beteiligt waren, sowohl klassisch qualitative (u. a. bei der Erstellung der Narrative) als auch quantifizierende bzw. formalisierte Auswertungsschritte einbezogen wurden (u. a. für das Kategoriensystem). Insbesondere für die Prototypisierung der Daten wurde mit der Kombination aus einem clusteranalytischen Vorgehen und der theoretisch-inhaltlichen Interpretation der Daten dieser Überlegung Rechnung getragen. Darauf wird in Kapitel 9.5 näher eingegangen. Zudem ist die gesamte vorliegende Untersuchung dieser Forderung entsprechend konzipiert. So werden quantitative sowie qualitative Forschungsparadigmen verwendet, theoretisch wird ein interdisziplinärer Ansatz verfolgt. Die beschriebene, fortlaufende intersubjektive Validierung, ange© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
9.4 Qualitative und quantitative Gütekriterien 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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fangen mit der Erstellung der Narrative (vgl. Kap. 8.8), diente als zentrales qualitatives Gütekriterium. Neben diesen klassischen qualitativen Gütemaßen kam für die Auswertung der Interviewdaten jedoch mit der Ermittlung einer Interraterübereinstimmung auch ein zumindest teilweise quantifizierendes Gütemaß zur Anwendung, ein Vorgehen, das sich für vorstrukturierte Daten in Form eines Kategoriensystems anbietet (vgl. z. B. Läzer, 2008; Mayring, 2003). Dies wird im Folgenden beschrieben.
Ermittlung der Interraterübereinstimmung Zur Ermittlung der Güte des erstellten Kategoriensystems wurde anhand von zehn Narrativen eine Interraterreliabilität etabliert. Es handelt sich dabei um ein statistisches Gütekriterium für nominale Daten. Wirtz und Caspar (2002) machen darauf aufmerksam, dass für nominalskalierte Ratings »grundsätzlich keine anderen Aussagen als die über die des Grades der Übereinstimmung bei der Beurteilung derselben Objekte gemacht werden« (S. 45) können. Demgemäß liegt eine hohe Zuverlässigkeit der Urteile vor, wenn sich zwei Beurteiler/-innen bezüglich der Kategorienzugehörigkeit jedes beliebigen Objektes meist einig sind und nur selten zu unterschiedlichen Urteilen kommen. Entsprechend sind bei nominalskalierten Kategoriensystemen, wie dem vorliegenden, die Urteile zweier Rater nur dann als zuverlässig zu bezeichnen, wenn beide Rater zumeist exakt gleich urteilen (vgl. Wirtz u. Caspar, 2002). Zur statistischen Analyse dieser Übereinstimmung wurde das klassische Maß zur Bestimmung einer »Urteilskonkordanz bei nominalen Merkmalen« (Bortz, Lienert u. Boehnke, 2008, S. 458), das Nominalskalen-Kappa von Cohen (Cohens j) verwendet (vgl. dazu auch Wirtz u. Caspar, 2002). Zur Gütebestimmung von Cohens j wird nach Wirtz und Caspar (2002) allgemein folgende Faustregel angegeben: ein j > .75 wird als Indikator für eine sehr gute, ein j zwischen .6 und .75 für eine gute Übereinstimmung angesehen. Ein Wertebereich zwischen .4 und .6 kann, je nach Interesse und vor dem Hintergrund der Zuverlässigkeit anderer Messinstrumente, auch noch als akzeptabel gelten. Diese Faustregeln blieben jedoch nicht ohne Kritik (vgl. Übersax 2001; Bakeman u. Gottman, 1986; Frick u. Semmel, 1978, alle zit. nach Wirtz u. Caspar, 2002), unter anderem da die Ausprägung von j nicht nur von © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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9 Methode II: Zur Auswertung
der Übereinstimmung, sondern auch von sonstigen Merkmalen des Ratingverhaltens (z. B. der Grundhäufigkeit der Vergabe von Kategorien) und der Datenverteilung abhängt. Auch eine Skala mit nur wenigen Kategorien oder eine Nichtbesetzung der Zellen in der Matrix hat eine niedrigere Schätzung zur Folge (Wirtz u. Caspar 2002, S. 59). Zudem bedingt die Randsummenverteilung die Ausprägung von Cohens j. Die genannten Faustregeln zur Bewertung sind des Weiteren sehr allgemein, weshalb in Abhängigkeit von den zu ratenden Merkmalen entschieden werden sollte, welcher j-Wert als zufriedenstellend gelten kann. »Für sehr schwer zu erfassende Merkmale, die eine sehr komplexe Informationsintegration erfordern […], ist man unter Umständen zufrieden, wenn man überhaupt eine verwertbare Information über die Rater erhält« (Wirtz u. Caspar, 2002, S. 60). In der vorliegenden Untersuchung wurden, aufgrund der Ausdifferenziertheit des Kategoriensystems (s. o.), des Öfteren nicht alle Kategorien für das jeweilige Narrativ vergeben. Zudem liegen teils nur wenige Ausprägungen pro Kategorie vor, beides Faktoren, die zu einem niedrigen Kappa beitragen können. Aus diesen Gründen wurden vereinzelt auch j-Werte zwischen .52 und .64 als genügend gut betrachtet (insgesamt sieben Mal). In Anlehnung an das Vorgehen bei Rakoczy (2008) wurde ansonsten »in der vorliegenden Arbeit ein relativer […] [Reliabilitätskoeffizient] von > .65 als Kriterium für eine zufriedenstellende Qualität der Daten festgelegt« (S. 98). Dies wurde beim weitaus überwiegenden Teil der Kategorien erreicht. Die sonstigen Werte können als gut bis sehr gut bezeichnet werden. Die meisten der Werte liegen sogar im sehr guten Bereich. Bei den vorliegenden Daten handelt es sich weiter um sogenannte »hoch inferente Ratings […] [, da es sich] um die Einschätzung sehr komplexer Merkmale handelt« (Rakoczy, 2008, S. 98). Folgendes ist damit gemeint: »In Abhängigkeit vom Ausmaß der notwendigen Schlussfolgerungen können […] [Ratings] als niedrig, mittel oder hoch inferent bezeichnet werden. (Seidel, 2003b). Von niedrig inferenten Kategoriensystemen spricht man, wenn sich die Kodierungen auf konkret beobachtbare Verhaltensweisen […] stützen. […] Im hoch inferenten Rating erfolgt keine Einordnung in a priori definierte, qualitativ abgrenzbare Kategorien, sondern es sind verstärkt interpretative Prozesse (Inferenzen) erforderlich (Seidel, 2003b). So können komplexe, zusammenhängende Merkmale integriert und gleichzeitig bewertet werden, was mittels niedrig inferenter Kodierung nicht möglich wäre. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Durch das hoch inferente Rating macht man sich die menschliche Urteilsfähigkeit zunutze, eine Vielfalt verschiedener Aspekte und Kriterien in einem Urteil gleichzeitig zu analysieren und zu integrieren, und trifft gleichzeitig Maßnahmen, um diesen Urteilsprozess zu standardisieren« (Rakoczy, 2008, S. 91).
Konkret wurden, um die Interraterreliabilität zu etablieren, die Interviewnarrative, wie erläutert, durch vier verschiedene Rater/-innen, mit denen auf Basis eines dafür entwickelten Ratermanuals (Kodierleitfadens) eine Schulung durchgeführt wurde, in das dafür entwickelte Kategoriensystem einsortiert.114
9.5 Zur Prototypenbildung Das entwickelte kategoriale System diente, wie erwähnt, als Basis für einen strukturierenden Prototypisierungsprozess, in dem »prototypische Wege der Entscheidungsfindung« der Proband/-innen für oder gegen Psychotherapie allgemein und für oder gegen eine spezifische Verfahrensrichtung analysiert wurden. Die Typisierung hatte zum Ziel, im Datenmaterial nach markanten Konfigurationen, das heißt Kombinationen von Kategorien sowie deren Ausprägungen zu suchen und diese zu beschreiben, um so interindividuelle Muster zu finden und zu Typen zu verdichten (vgl. Mayring, 2003). Mit Typ ist dabei nicht die Beschreibung einer Person gemeint, sondern vielmehr »typische Merkmale […], allgemein markante Ausprägungen auf einer Typisierungsdimension« (Mayring, 2003, S. 90). Der Ausdruck »Typ« wird verstanden als eine Bündelung solch auffälliger Charakteristika. Diese sollten »den Charakter von Prototypen gewinnen […], die auf weitere Fälle verweisen und damit über sich selbst hinausgehen. Der Typusbegriff ermöglicht es […], zwischen dem Einzelfall und nomothetischen Geset114
Für die Berechnung von j, wenn eine Code-Ausprägung nicht von allen Rater/-innen vergeben wurde, kam ein »j für mehrere Rater, wenn dieselben Objekte von gleich vielen, aber nicht von denselben Ratern beurteilt wurden« (Wirtz u. Caspar, 2002, S. 75) zum Einsatz. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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9 Methode II: Zur Auswertung zesaussagen eine erkenntnistheoretische Zwischenposition zu beziehen, die sehr […] konkret bleibt (Stuhr, 1995)« (Stuhr et al., 2002, S. 160).
Die Typen dürfen demnach nicht als Persönlichkeitstypen verstanden werden, sondern wurden hier in Form von Entscheidungsfindungswegen, als »Such- und Orientierungspfade« (Guggenberger, 1990, S. 60) von Studierenden in Bezug auf die untersuchte Thematik gefasst. Identifiziert und beschrieben werden sollten im Anschluss an die Etablierung des Kategoriensystems in Anlehnung an Mayring (2003) somit »besonders anschauliche, für die Ausprägung besonders repräsentative Beispiele oder ›Prototypen‹« (S. 90) von Wegen der Entscheidungsfindung (zum Konzept des Prototypen vgl. Eckes u. Six, 1984). Möglichst homogene Fälle sollten dann um den Prototyp herum gruppiert werden. In diesem Sinne kann »der Begriff des Prototyps als bestes Exemplar beziehungsweise Beispiel, bester Vertreter oder zentrales Element einer Kategorie« (Kleiber, 1993, S. 31) gefasst werden. Auf die konkrete Umsetzung dieser in Tabelle 18 dargestellten Analyseschritte 7 bis 8 in der erwähnten Kombination aus einem statistisch-clusteranalytischen Vorgehen und der theoretisch-inhaltlichen Interpretation der Daten wird nachfolgend eingegangen: Zu Schritt 7: Für die Prototypenbildung wurden die zuvor in das Kategoriensystem eingeordneten Interviewnarrative verwendet. Vom Einzelfall wurde abstrahiert, indem Ausprägungen mehrerer Proband/innen in den entwickelten Kategorien einem »prototypischen Weg der Entscheidungsfindung« zugeordnet wurden. Dafür wurde in Anlehnung an Mayring (2003), über die Interviews hinweg (nicht innerhalb eines Interviews), wie in Kapitel 9.3 dargestellt, bezogen auf die Schlüsselkategorie, das Interesse an einer psychotherapeutischen Ausbildung sowie an einer bestimmten Ausbildungsrichtung, dem Vorkommen einer (Unter-)Kategorie bzw. bestimmter Kombinationen von Kategorienausprägungen nachgegangen. Die Typenbildung schloss unmittelbar an die Entwicklung des Kategoriensystems an und entsprach im Wesentlichen dem von Mayring (2003) vorgeschlagenen Ablaufmodell. Ohne vorschnelle Quantifizierungsschritte zu tätigen, können im Anschluss an die Methodik der qualitativen Inhaltsanalyse begründete quantifizierende Schritte einbezogen werden (vgl. Mayring, 2003). Dieses Vorgehen wurde für die vorliegenden Daten in Zuge der Prototypisierung gewählt, worauf nachfolgend näher eingegangen wird. Die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
9.5 Zur Prototypenbildung 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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quantitative Bündelung des Materials unter Einbezug theoretischer Überlegungen erfolgte anhand der in SPSS eingelesenen kodierten Interviewnarrative mit Hilfe eines sogenannten clusteranalytischen Verfahrens.
Zur Clusteranalyse Für die quantitative Einteilung einer Anzahl von n Objekten (z. B. Personen) anhand ihrer Ähnlichkeit in bestimmten k Eigenschaften oder Merkmalen (z. B. Kategorienausprägungen) in möglichst homogene Gruppen bietet sich das Verfahren der Clusteranalyse (CA) an (vgl. z. B. Backhaus et al., 2008; Bortz, 2005; Eckes u. Roßbach, 1980; Moosbrugger u. Frank, 1992).115 Es handelt es sich um ein exploratives, datenreduzierendes Verfahren, das sich gut zur Hypothesengenerierung eignet, aufgrund seiner Explorativität jedoch theoriegeleitet oder anhand von konfirmatorischen Befunden eine Stützung erfahren sollte (vgl. Backhaus et al., 2008; Moosbrugger u. Frank, 1992). Moosbrugger und Frank (1992) zufolge ist das Verfahren klassischerweise das methodische Werkzeug für typologische Fragestellungen der Persönlichkeitspsychologie. Für die in dieser Untersuchung vorgenommene Typenbildung aus den Interviewdaten wurden zwar keine Persönlichkeitstypen, jedoch, wie ausgeführt, »prototypische Wege der Entscheidungsfindung« ermittelt, welche neben inhaltlichen bzw. theoretischen Überlegungen über das statistische Clusteranalyseverfahren eine Stützung erfahren sollten. In der vorliegenden Untersuchung wurden die interviewten Personen anhand der Ausprägungen in den Kategorien des entwickelten Kategoriensystems, also mehrkategorialen nominalen Merkmalen (vgl. Kap. 9.3) in möglichst homogene Gruppen einsortiert. Dem üblichen Vorgehen für die Durchführung einer Clusteranalyse mit solch nominalen Merkmalen mit mehr als zwei Merkmalsausprä115
Angewendet werden kann das Verfahren somit bei allen Problemstellungen, bei denen es um die Analyse einer heterogenen Gesamtheit von Objekten geht, mit dem Ziel, homogene Teilmengen von Objekten aus der Objektgesamtheit zu identifizieren. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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9 Methode II: Zur Auswertung
gungen, einer Zerlegung in binäre Hilfsvariablen (vgl. Moosbrugger u. Frank, 1992), wurde auch für diese Studie gefolgt. Da hier das übereinstimmende Vorkommen eines Merkmals bei Personen für die Zuordnung dieser zu einer Gruppe relevant war, weniger das gemeinsame Nichtvorkommen, wurde als nicht-metrisches Proximitätsmaß der sogenannte Jaccard-Koeffizient gewählt, welcher die negativen Übereinstimmungen unberücksichtigt lässt (vgl. Moosbrugger u. Frank, 1992). Weiter kam hier die geläufige hierarchische Clusteranalyse zur Anwendung. Dabei wurde eine sogenannte agglomerative Verfahrensart gewählt, welche der Zusammenfassung von Gruppen dient. Dies wurde im Zuge der vorgenommenen Typenbildung angestrebt. Als Fusionierungsalgorithmus (Methode der Zusammenfassung) wurde die Methode »average linkage between groups« angewendet.116 Der erwähnten Forderung nach einer theoretischen sowie einer statistischen Abstützung der ermittelten Clusterlösung aufgrund konfirmatorischer Befunde wurde folgendermaßen entsprochen: Zum einen wurden aufgrund von theoretischen Vorannahmen, in Anlehnung an das Verfahren der qualitativen Clusteranalyse als eine verstehende Verdichtung (vgl. Stuhr et al., 2002, S. 160), inhaltliche Cluster gebildet (in Orientierung an der Schlüsselkategorie). Zum anderen wurden ausgewählte qualitative Befunde statistisch mit den Fragebogendaten verglichen und auf Übereinstimmungen bzw. Widersprüche geprüft (vgl. Kap. 9.6). Wichtig ist dabei jedoch zu betonen, dass die Befunde der interviewten Teilstichprobe, anhand derer die Prototypenbildung erfolgte, nicht – im Sinne einer (zahlenmäßigen) Repräsentativität der Entscheidungsfindungswege – quantitativ interpretiert werden können. Sie können auch nicht quantitativ mit den Fragebogendaten verglichen werden, da hier nach theoretischen Überlegungen eine Vorauswahl getroffen wurde, um diesbezüglich möglichst unterschiedliche Positionen einzubeziehen (vgl. Stuhr et al., 2002; vgl. Kap. 8.4). Zusammengefasst wurde jedoch die Kategorisierung und die daran anschließende Prototypisierung der Daten in dem beschriebenen datenstrukturierenden und 116
Es handelt sich dabei um ein sogenanntes »konservatives« Verfahren (vgl. Backhaus et al., 2008; Fischmann, 2001). Dies bedeutet, dass es weder die Tendenz aufweist, einzelne, etwa gleich große Gruppen (dilatierend), noch wenige große Gruppen, denen viele kleine gegenüberstehen (kontrahierend) zu bilden. Verwendet werden kann es wiederum auf verschiedenen Skalenniveaus. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
9.6 Zur Validierung der qualitativen und der quantitativen Daten 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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-reduzierenden Prozess für die systematische Interpretation der qualitativen Daten verwendet (Schritt 8, vgl. Tab. 18). Dabei ging es, wie ausgeführt, in der Tradition psychoanalytischer Sozialforschung »um ›das Allgemeine‹ im Besonderen« (Rothe, 2009, S. 47). Die Auswertung der Interviews war heuristisch und hypothesengenerierend (vgl. z. B. Wilke, 1992). Sie diente der Illustration und Vertiefung der aus den Fragebögen gewonnenen quantitativen Daten und wurde für die Erstellung des Kategoriensystems und daraus ermittelter »prototypischer Wege der Entscheidungsfindung« verwendet. Durch die Überführung in ein kategoriales System bot sich darüber hinaus jedoch die Möglichkeit, ausgewählte quantitative und qualitative Befunde in Bezug zu einander zu setzen, worauf nachfolgend eingegangen wird.
9.6 Zur Validierung der qualitativen und der quantitativen Daten Wie erwähnt, wurden die Interviewdaten sowie die quantitativen Daten des Fragebogens bezüglich ausgewählter Variablen kombiniert ausgewertet und auf Übereinstimmungen überprüft (vgl. Kap. 7.10). Vor allem wurden dafür aufgrund einer guten Vergleichbarkeit dieser Befunde die quantitativen Kriterien der Auswahl für die Interviewteilnahme (vgl. Kap. 8.4) sowie die diesbezüglichen qualitativ ermittelten Ergebnisse herangezogen. Die beiden Messinstrumente wurden im Hinblick darauf einer konvergenten Validierung unterzogen (vgl. Bortz u. Döring, 2006, S. 203). Die deskriptiv gefundenen Zusammenhänge wurden mit Hilfe univariater einfaktorieller Varianzanalysen (Unterteilung in Prädiktor- und Kriteriumsvariablen lediglich aus auswertungstechnischen Gründen), korrelativ117 und kreuztabellarisch mittels w2-Tests auf statistische Bedeutsamkeit überprüft. 117
Entgegen dem unter 9.2 ff. Ausgeführten wurden die Variablen für die korrelative Überprüfung hier intervallskaliert betrachtet, da für sie die für andere Variablen im Kategoriensystem geltende Einschränkung auf ein Nominalniveau nicht zutrifft. Es handelte sich um die Kenntnis von Psychoanalyse und Verhaltenstherapie, für welche die Ausprägungen »gering«, »mittel« und »sehr« in intervallskalierter Form verwendet wurden. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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10 Quantitative Befunde zu den Hypothesenkomplexen und der Fragestellung
In den folgenden beiden Kapiteln werden die Ergebnisse entsprechend des in Kapitel 9 ff. beschriebenen Vorgehens in fünf Hypothesenkomplexen und zwei Fragenkomplexen referiert. In diesem Kapitel werden abschnittweise die durchgeführten Analysen und Ergebnisse zu den quantitativen Daten dargestellt. In denjenigen Abschnitten, in denen Hypothesen formuliert wurden, wird zusammenfassend darauf eingegangen, inwiefern die Ergebnisse den Hypothesen entsprechen bzw. diese widerlegen. Zur Veranschaulichung der quantitativen Befunde werden illustrativ exemplarische Interviewnarrative referiert.118 Wenn nicht anders gekennzeichnet, wurde jeweils das nachfolgend beschriebene Vorgehen für die verwendeten statistischen Auswertungsverfahren sowie für den Umgang mit Voraussetzungsverletzungen für deren Durchführung gewählt.119 Für Berechnungen zur Überprüfung eines Zusammenhangs zwischen nominalen Variablen mittels des nichtparametrischen w2-Tests
118
Soweit als möglich werden für alle referierten Befunde illustrativ ein oder mehrere (drei, wenn möglich) Beispiele angeführt. Dies war jedoch nicht immer möglich, da nicht immer zu den quantitativen Befunden passende Äußerungen von den Studierenden des jeweiligen Studiengangs vorlagen. 119 Die Fallzahlen der inferenzstatistischen Vergleiche zu den einzelnen Fragestellungen variieren aufgrund einer unterschiedlichen Anzahl fehlender Werte teils geringfügig. Da sich jedoch keine systematischen Verzerrungen aufgrund von fehlenden Werten zeigten, kann dies als unproblematisch betrachtet werden (vgl. Kap. 8.4). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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(vgl. z. B. Bortz u. Lienert, 2008) wurde sich allgemein an Folgendem orientiert: Bei Durchführung eines w2-Tests zeigt ein Phi-Koeffizient größer 0,3 für zweifach gestufte Variablen einen nichttrivialen Zusammenhang an (vgl. Bortz u. Döring, 2006; Backhaus et al., 2008).120 Der Kontingenzkoeffizient, eine andere geläufige Messgröße, kann zwischen 0 und 1 liegen. Ebensolche Werte kann das sogenannte Cramrs V (auch Cramrs Index, CI) annehmen (Backhaus et al., 2008). Es handelt sich dabei um eine Verallgemeinerung von Phi für mehrstufige Variablen (Bortz u. Lienert, 2008). Nach Bortz und Lienert (2008, S. 275) ist der Kontingenzkoeffizient (CC) dem Cramrs V unterlegen, da Ersterer niemals Werte von 1 erreichen kann. Daher wird bei Durchführung eines w2-Tests im Falle mehrstufiger Variablen nachfolgend Cramrs V referiert. Im Falle dichotomer Variablen wird der Phi-Koeffizient berichtet (vgl. z. B. Hypothese 1.a). Um einen w2-Test anwenden zu können, muss weiter, nach einer Faustformel, eine erwartete Zellhäufigkeit größer fünf in mindestens 20 % der Fälle vorliegen (vgl. Backhaus et al., 2008). Da für die vorliegende Untersuchung in einigen Fällen diese Durchführungsvoraussetzung verletzt ist, wurde zur Ermittlung der statistischen Bedeutsamkeit, wie beispielsweise von Diehl und Staufenbiel (2007, S. 215 f.; vgl. auch Backhaus et al. 2008) empfohlen, zusätzlich eine Yatessche Kontinuitätskorrektur (nach Yates, 1934, zit. nach Bortz et al., 2008) durchgeführt, bzw. der eigentlich für kleine Stichproben vorgesehene (exakte) Fisher-Yates-Test verwendet (vgl. z. B. Bortz u. Lienert, 2008, S. 84ff ). Für diesen Test gilt die genannte Voraussetzung nicht, allerdings neigt er zu eher konservativen Entscheidungen (vgl. Garson, 2009). Aufgrund dessen kann bei statistischer Bedeutsamkeit des Tests im Sinne der Alternativhypothese mit einiger Wahrscheinlichkeit von einer Gültigkeit der gefundenen Ergebnisse ausgegangen werden (vgl. z. B. Hypothese 4.d). Für das parametrische Verfahren der varianzanalytischen Auswertungen gilt für die vorliegende Studie allgemein Folgendes: Nach dem Anteil der erklärten Varianz, bezeichnet als Eta2 (g2, Cohen, 1988; nach Bortz u. Döring, 2006, S. 680) ist bei 1 %iger 120 Zu den Schwierigkeiten der Interpretation dieser Maßzahl sei auf Backhaus et al. (2008, S. 309) verwiesen.
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10 Quantitative Befunde
Varianzaufklärung von einem kleinen, bei 9- bis 10 %iger von einem mittleren und bei 25 %iger Varianzaufklärung durch die unabhängige(n) Variable(n) von einem großen Effekt zu sprechen (vgl. Bortz u. Döring, 2006, S. 606; Tabachnik u. Fidell, 2007, S. 55). An dieser Effektgrößenklassifikation wird sich bei der Interpretation der varianzanalytischen Befunde jeweils orientiert (vgl. z. B. Hypothese 1.b). Beim Pillai-Bartlett-Test (Olson, 1976, zit. nach Wentura, 2005, S. 87) handelt es sich um das robustere Verfahren zur Testung der statistischen Bedeutsamkeit von Varianzanalysen, bei Wilk’s Lambda um das teststärkere (vgl. Tabachnik u. Fidell, 2007, S. 269; Bortz, 2005, S. 593 f ). Bei Voraussetzungsverletzungen für die Durchführung einer Varianzanalyse empfiehlt sich daher die Verwendung des Pillai-Tests, ansonsten diejenige von Wilk’s Lambda, ein Vorgehen, dem jeweils gefolgt wurde. Insgesamt gilt jedoch für varianzanalytische Verfahren, dass Voraussetzungsverletzungen für deren Anwendung mit wachsender Stichprobe an Bedeutung verlieren (Bortz, 2005, S. 286). Bei n > 10 Proband/-innen pro Gruppe kann davon ausgegangen werden, dass die Varianzprüfung gegenüber der Verletzung z. B. der Bedingung der Varianzhomogenität robust ist (Bortz, 2005). Generell wird die Varianzanalyse mit ansteigender Stichprobengröße gegenüber Voraussetzungsverletzungen robuster, dies auch bei ungleichgroßen Stichproben (vgl. Bortz, 2005, S. 287). So sind nach Bortz (2005, S. 597) die ANOVA sowie die MANOVA bei großen Stichproben insgesamt robuste und teststarke Verfahren. Somit kann auch im teilweise vorliegenden Falle ungleicher Stichprobengrößen von einer Gültigkeit der Befunde ausgegangen werden (vgl. z. B. Hypothese 1.b). In einer großen Stichprobe wird Tabachnik und Fidell (2007) zufolge der Signifikanztest (Kruskall-Wallis-Test bzw. Lillefor-Test, vgl. Bortz et al., 2008) für die Überprüfung der Normalverteilung sehr leicht signifikant (vgl. auch Diehl u. Staufenbiel, 2007). Ab einer Stichprobengröße von N = 100 verschwinden ihnen gemäß jedoch Unterschätzungen der Varianz durch positive Kurtosis, ab N = 200 Fällen auch für negative Kurtosis. Deshalb empfehlen sie in diesem Fall, die gefundene graphische Verteilung mit derjenigen einer Normalverteilung zu vergleichen. Darüber hinaus zeigten Monte-CarloStudien mit einer Stichprobengröße von mehr als N = 40 (mindestens N = 10 pro Zelle) Robustheit der MANOVA gegenüber der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Verletzung von Normalität (vgl. Seo, Kanda u. Fujikoshi, 1995, zit. nach Tabachnik u. Fidell, 2007, S. 251). Für ANOVAs gilt dies ab N = 20 Proband/-innen pro Zelle (Mardia, 1971, zit. nach Tabachnik u. Fidell, 2007, S. 251). Allgemein führen Bortz et al. (2008, S. 323) an, dass sich bei größeren Stichproben ab N > 30 die statistischen Kennwerte normal verteilen, also in der Regel die Voraussetzungen für die Durchführung parametrischer Tests erfüllt sind. Diese Bedingungen treffen auf alle hier einbezogenen Variablen zu. Obgleich die Verteilungen der einbezogenen Kriteriumsvariablen bei inferenzstatistischer Prüfung nicht der Normalverteilungsannahme entsprechen, möglicherweise mit der Größe der Stichprobe zusammenhängend, zeigten sich darüber hinaus bei der graphischen Betrachtung von Kurtosis und Schiefe nur geringe Abweichungen von Null. Sie sind also als annähernd normal verteilt zu bezeichnen (vgl. Tabachnik u. Fidell, 2007, S. 79 f.), weshalb eine Interpretation unter Anwendung parametrischer Verfahren dennoch für zulässig gehalten wurde (vgl. auch Brosius, 2004, S. 404). Bortz (2005) weist weiter darauf hin, dass bei einer größeren Varianz der kleineren Stichprobe eher eine progressive Testentscheidung, d. h. eine fälschliche Entscheidung zugunsten der Alternativhypothese zu erwarten ist, bei einer größeren Varianz in der größeren Stichprobe dagegen eher eine konservative Schätzung (d. h. eine fälschliche Entscheidung zugunsten der Nullhypothese; vgl. auch Tabachnik u. Fidell, 2007). In einem solchen Fall kann bei signifikanten Befunden von einer zusätzlichen Absicherung der Alternativhypothese ausgegangen werden (vgl. z. B. Hypothese 2.b). Bei Vorliegen eines global signifikanten Effekts wurden zur genaueren Analyse der gefundenen Zusammenhänge Einzelvergleiche angeschlossen (vgl. Bortz, 2005; Moosbrugger, 1994; Tabachnik u. Fidell, 2007). Bortz (2005, S. 273) weist darauf hin, dass solche a posteriori Einzelvergleiche nicht zur Hypothesenüberprüfung genutzt, allerdings im Rahmen eines multivariat signifikanten Befundes (»Overall«-Signifikanz) zur Feststellung verwendet werden können, auf welche Einzelvergleiche der signifikante Gesamtbefund zugunsten der Alternativhypothese zurückzuführen ist. Für die Berechnung dieser Einzelvergleiche wurde, der Konvention entsprechend (Tabachnik u. Fidell, 2007), eine Bonferroni-Korrektur des a-Fehlers vorgenommen, welche zu eher konservativen Ent© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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scheidungen führt (Bortz, 2005, S. 272). Dies bedeutet, dass Befunde zugunsten der Alternativhypothese mit großer Wahrscheinlichkeit tatsächlich zutreffend sind und aufgrund dessen entsprechend interpretiert werden können. Bei Verletzungen von Voraussetzungen für die Durchführung einer Varianzanalyse wurde auch im Einzelvergleich auf robustere Verfahren zurückgegriffen. Im Fall der Varianzanalyse geläufig ist das Games-Howell-Verfahren bzw. aufgrund dessen Neigung zu progressiven Entscheidungen das Tamhane-Verfahren (vgl. Brosuis, 2004; Diehl u. Staufenbiel, 2007). Soweit die Signifikanzen unter Verwendung dieser beiden Verfahren übereinstimmen, kann mit großer Wahrscheinlichkeit von der Gültigkeit der gefundenen Ergebnisse ausgegangen werden. Nur wenn dies nicht der Fall ist, sollten die Befunde mit Vorsicht interpretiert werden. Darauf wird gegebenenfalls eingegangen (vgl. z. B. Hypothese 2.c). Für die varianzanalytischen Auswertungen im Messwiederholungsdesign wurde der Innersubjekteffekt, d. h. derjenige des Messwiederholungsfaktors jeweils unter Verwendung des Hotelling-Spur Verfahrens bzw. des sogenannten Hotelling’s T2 ermittelt (vgl. Diehl u. Staufenbiel, 2007; Tabachnik und Fidell, 2007). Die Ermittlung des Zwischensubjekteffekts, also des Gruppierungsfaktors erfolgte wie für die anderen varianzanalytischen Auswertungen (s. o.) unter Verwendung von Wilks-Lamda bzw. des Pillai-Bartlett Tests. Für die Berechnung von Einzelkontrasten bei globalem Interaktionseffekt (vgl. Tabachnik u. Fidell, 2007, S. 333) wurde das Helmert-Verfahren verwendet (vgl. Diehl u. Staufenbiel, 2007; vgl. z. B. Hypothese 3.a). Für die Auswertung mittels logistischer Regression sowie mittels t-Test sei, da sie jeweils nur einmal zur Anwendung kamen, auf die Erläuterungen im Kontext der jeweiligen Ergebnisdarstellungen verwiesen (s. Hypothese 4.b u. Fragestellung 1.2.b).
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10.1 Befunde zu Hypothesenkomplex 1 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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10.1 Befunde zu Hypothesenkomplex 1: Differenzielle Wirkung des Studiengangs – Prägung durch Studienumfeld und Fachkultur In den folgenden Einzelergebnissen wird auf die Darstellung von Psychotherapie allgemein sowie von verschiedenen Verfahrensrichtungen im jeweiligen Studiengang eingegangen. Es wurde, wie ausgeführt, erwartet, dass diese aufgrund jeweiliger fachkultureller Eigenheiten einen jeweils spezifischen prägenden Einfluss auf die Sichtweisen und Interessen der Studierenden ausüben. Weiter werden Befunde zu Kenntnissen der Verfahrensrichtungen nach Studiengang referiert.121
Zu Hypothese 1.a) Darstellung von Psychotherapie nach Studiengang Umfang der Darstellung: Insgesamt 74 % aller Studierenden gaben an, dass psychotherapeutische Verfahren in ihrem Studium in zu geringem Umfang dargestellt werden, dagegen empfanden lediglich 3 % diesen als zu viel und 23 % als »genau richtig«.122 Nach Studiengängen unterteilt, war die Angabe von 82 % der Psychologiestudierenden (PSY) sowie jeweils von 70 % der Medizinstudierenden (MED) und der Pädagogikstudierenden (PÄD), dass ihnen der Umfang der Vermittlung psychotherapeutischer Verfahren zu gering sei. Nur 5 % der Medizin- und jeweils 1 % der Psychologie- und der Pädagogikstu121
Die referierten Befunde beruhen auf Selbstaussagen der Studierenden und spiegeln damit den selbst eingeschätzten, subjektiven Wissensstand wieder (vgl. auch Kap. 6 u. 7) Dies gilt allgemein für die berichteten Befunde, da keine wissensbasierten Verfahren verwendet wurden. 122 Da aus inhaltlichen Gründen hier die prozentualen Anteile von Interesse waren, wurde eine kategoriale Auswertung der intervallskalierten Variablen vorgenommen (vgl. Kap. 9.1). Die Antwortalternativen »viel zu wenig« und »eher zu wenig« einer fünffach gestuften Likert-Skala wurden zur Kategorie »zu wenig« zusammengefasst, Mittelkategorie blieb »genau richtig«. Die Antwortalternativen »eher zu viel« und »viel zu viel« wurden zur Kategorie »zu viel« zusammengefasst. Als »viel zu viel« empfand dabei keine/-r der Befragten den Umfang. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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dierenden gaben dagegen an, dass ihnen der Umfang zu viel sei. Als genau richtig empfanden den Umfang der Darstellung 17 % der Psychologiestudierenden, 25 % der Medizinstudierenden sowie 29 % der Pädagogikstudierenden. Die Unterschiede zwischen den Studiengängen in Zusammenhang mit dem Umfang der Darstellung sind inferenzstatistisch als hoch bedeutsam, allerdings nach dem Zusammenhangsmaß CI als eher klein bzw. trivial zu bezeichnen (w2(.01; 4; N = 626) = 13,29, p < .01; CI = .103, p < .01). Insgesamt wurde somit von allen Studierenden Kritik am Umfang der Vermittlung geäußert, wenn auch von Psychologiestudierenden am häufigsten. In allen drei Studiengängen wurde der Umfang von einem Großteil als zu gering empfunden. Konkrete Probleme oder Defizite: Zur Frage, ob es konkrete Probleme oder Defizite in der Vermittlung psychotherapeutischer Verfahren im Studium gebe, äußerten insgesamt 62 % Zustimmung (n = 399, von gesamt N = 646; PSY: 66 %; MED: 61 %; PÄD: 56 %; keine signifikanten Unterschiede mittels w2-Test). Somit sahen in allen drei Studiengängen über die Hälfte der Studierenden Probleme in der Vermittlung.123 Tabelle 19: Kategorisierte Probleme und Defizite in der Vermittlung psychotherapeutischer Verfahren aus Sicht der Studierenden Prozent der Nennungen für Studierende der Medizin Psychologie Pädagogik »Generell zu wenig« 46 % 21 % 63 % »Zu wenig Praxisbezug« 35 % 36 % 24 % »Zu PA-lastig« 2% 1% 5% »Zu VT-lastig« 3% 27 % 0% Sonstiges 15 % 16 % 8% Gesamt (n = 350) n = 181 n = 131 n = 38 Anmerkungen: PA = Psychoanalyse; VT = Verhaltenstherapie; fett gedruckt sind die zeilenweise höchsten Prozentwerte; Cohens Kappa: j = .92; unter den Studierenden, die Defizite angaben (n = 399) äußerten sich insgesamt 88 % (n = 350) im offenen Antwortformat: MED: 85 %, PSY: 94 %, PÄD: 83 %; Unterschiede zwischen den Studiengängen: w2(.01; 8; N = 350) = 68,76, p < .01; CI = .313, p < .01. Kategorie
Wie aus Tabelle 19 ersichtlich, gaben fast zwei Drittel (63 %) der sich 123
Die hier referierten Ergebnisse wurden in einer etwas anderen Form bereits in der Zeitschrift »Forum der Psychoanalyse« publiziert (vgl. Lebiger-Vogel et al., 2009). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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im offenen Antwortformat äußernden Pädagogikstudierenden und knapp die Hälfte (46 %) der Medizinstudierenden an, dass psychotherapeutische Verfahren in ihrem Studium »generell zu wenig« (z. B. bzgl. Überblick, Zeit) vermittelt würden. Damit handelte es sich in beiden Studiengängen um die prozentual häufigste Kritik. Immerhin ein Fünftel der Psychologiestudierenden (21 %) empfand die Darstellung von Psychotherapie im Studiengang Psychologie als »generell zu wenig«. Die häufigste Kritik unter den Psychologiestudierenden war jedoch mit 36 % ein mangelnder »Praxisbezug« in der Vermittlung psychotherapeutischer Verfahren, was auch 35 % der Medizinstudierenden sowie immerhin ein Viertel (25 %) der Pädagogikstudierenden monierten. Knapp über ein Viertel der Psychologiestudierenden (27 %), die Defizite in der Vermittlung psychotherapeutischer Verfahren sahen, äußerten diesbezüglich, dass sie das Studium als zu »verhaltenstherapielastig« empfänden. Ein geringer Prozentsatz der Pädagogikstudierenden mit Kritik an der Vermittlung (5 %) gab an, sein Studium als zu »psychoanalyselastig« zu erleben. Die Unterschiede zwischen den Gruppen in Zusammenhang mit den empfundenen Problemen und Defiziten waren hoch signifikant und bezüglich ihrer Größe nichttrivial (vgl. Tab. 19). Um einen w2-Test anwenden zu können, muss nach einer Faustformel, wie zu Beginn des Ergebniskapitels ausgeführt, eine erwartete Zellhäufigkeit größer als fünf in mindestens 20 % der Fälle vorliegen (vgl. Backhaus et al., 2008; s. o.). Diese Voraussetzung für die Durchführung eines w2-Tests ist verletzt, wenn auch nur geringfügig. Dennoch muss dieser Befund mit Vorsicht interpretiert werden.124 Kennenlernen psychotherapeutischer Verfahrensrichtungen im Studiengang: Betrachtet man die Angaben zum Kennenlernen von psychotherapeutischen Verfahrensrichtungen im jeweiligen Studiengang, so zeigt sich folgendes Bild: Mit 40 % war die häufigste Angabe unter den Medizinstudierenden, keine der in Tabelle 20 aufgeführten Verfahrensrichtungen im Studium kennengelernt zu haben, eine Angabe die 28 % der Pädagogikstudierenden und 21 % der Psychologiestudierenden machten. 124
Aus auswertungsökonomischen Gründen musste auf die Berechnung des exakteren Fisher-Yates Test verzichtet werden. Es wird von einer hinreichenden Genauigkeit des w2-Tests ausgegangen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Die Psychologiestudierenden gaben mit 38 % fast ebenso häufig an, alle der genannten Verfahrensrichtungen in ihrem Studium kennengelernt zu haben, im Vergleich zu 22 % der Medizin- und nur 6 % der Pädagogikstudierenden. Mit mehr als der Hälfte (55 %) gab der größte Teil der Psychologiestudierenden jedoch an, nur bestimmte Verfahrensrichtungen im Studium kennengelernt zu haben. Ebenso war dies mit zwei Dritteln (66 %) die Angabe der Mehrheit der Studierenden der Pädagogikstudiengänge. Mit mehr als einem Drittel (38 %) gaben weiter fast ebenso viele Medizinstudierende an, nur bestimmte Verfahrensrichtungen kennengelernt zu haben, wie jene, die angaben, keines der Verfahren im Studium vermittelt bekommen zu haben. Die gefundenen Unterschiede zwischen den Studiengängen in Zusammenhang mit dem Kennenlernen von Verfahrensrichtungen waren zwar inferenzstatistisch hoch bedeutsam, sind jedoch nach dem Zusammenhangsmaß des CI als klein zu bezeichnen (vgl. Tab. 20). Zum Kennenlernen bestimmter Verfahren zeigte sich nach Studiengängen unterteilt bezüglich der Richtlinienverfahren folgendes Bild: Für etwa ein Drittel der Psychologiestudierenden (32 %), die angaben, nur bestimmte Verfahrensrichtungen kennengelernt zu haben, waren dies die Verhaltenstherapie und die Psychoanalyse, gefolgt von etwa einem Viertel (26 %), das angab, nur die Verhaltenstherapie kennengelernt zu haben. 6 % lernten nach eigenen Angaben ausschließlich die Psychoanalyse kennen. Lediglich 5 % lernten zusätzlich zu den beiden genannten auch tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie kennen. Unter den Pädagogikstudierenden gaben fast fünfzig Prozent (48 %) derjenigen, die nur bestimmte Verfahren kennenlernten, an, ausschließlich Psychoanalyse kennengelernt zu haben. Immerhin 23 % gaben an, sowohl Psychoanalyse als auch Verhaltenstherapie kennengelernt zu haben. Ausschließlich Verhaltenstherapie lernte in diesem Studiengang nach Angaben der Studierenden niemand kennen, ebenso wenig wie tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Unter den Medizinstudierenden war unter denjenigen, denen nur bestimmte Verfahren durch ihr Studium bekannt waren, mit 16 % der höchste prozentuale Anteil bezüglich einer Kombination der Verfahrensrichtungen Verhaltenstherapie und Gesprächspsychotherapie zu verzeichnen. Allerdings waren auch in Bezug auf andere © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Tabelle 20: Kennenlernen psychotherapeutischer Verfahren im Studium nach Studiengang
Verfahren kennengelernt (N = 671) a »Nein« »Ja alle« »Ja, nur bestimmte«: b Nur VT Nur PA Nur GT Nur Andere Nur VT u. PA Nur VT u. GT Nur VT u. GT u. PA Nur PA u. GT Nur VT u. PA u. TP Nur VT u. SYS Sonstiges (je < 5 %)
Prozent der Nennungen für Studierende der Medizin Psychologie Pädagogik (n = 85) (n = 368) (n = 218) 40 % 21 % 28 % 22 % 38 % 6% 38 % 55 % 66 % 14 % 6% 9% 12 % 16 % 15 %
26 % 6% 8% 32 % 6% 6%
48 %
23 % 16 % 11 %
5% 6% n = 32 (23 %)
n = 7 (6 %)
n=1 (2 %)
Gesamt »Ja, nur bestimmte« (n = 316; fehlend: (n = 140) (n = 120) (n = 56) n = 15) Anmerkungen: Fett gedruckt sind die zeilenweise höchsten prozentualen Angaben, fett und kursiv gedruckt ist der insgesamt höchste Prozentsatz der Kenntnis bestimmter Verfahrensrichtungen; a für Verfahren kennengelernt: w2(.01; 4; N = 671) = 42,71, p < .01; CI = 0,178, p < .01; b für Nennung bestimmter Verfahren: w2(.01; 32; N = 316) = 160,61, p < .01; CI = 0,517, p < .01; im Detail aufgeführt sind nur Prozentwerte 5 %; VT = Verhaltenstherapie, PA = Psychoanalyse, TP = tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, GT = Gesprächspsychotherapie, SYS = systemische Psychotherapie, Sonstiges = sonstige (Kombinationen von) Verfahrensrichtungen.
Verfahrensrichtungen bzw. ihre Kombinationen ähnliche prozentuale Anteile aufzufinden. 15 % lernten neben den genannten Verfahrensrichtungen nach eigenen Angaben auch die psychoanalytische Richtung kennen. Nur Verhaltenstherapie gaben 14 % an, kennengelernt zu haben, ausschließlich Psychoanalyse 6 %. Nur tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie lernte wiederum (fast) niemand kennen (< 1 %). Die im Zusammenhang mit der Kenntnis bestimmter Psychotherapierichtungen gefundenen Unterschiede zwischen den Studiengängen wiesen statistisch hoch bedeutsame Überzufälligkeit auf und sind als nichttrivial zu bezeichnen. Allerdings ist dieser Befund, wiederum aufgrund der Voraussetzungsverletzung erwarteter Zell-
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häufigkeiten (s. Tab. 20), für die Durchführung eines w2-Tests nur mit Vorsicht zu interpretieren (vgl. Kap. 10).125 Integration der Befunde mit Bezug auf die formulierte Hypothese Erwartungsgemäß erfuhren die Studierenden im Studiengang Psychologie nach eigenen Angaben insgesamt am meisten über Psychotherapie und lernten am häufigsten alle Verfahrensrichtungen kennen. Mehr als die Hälfte der Studierenden dieses Studiengangs gaben jedoch an, nur bestimmte Verfahren über ihr Studium zu kennen. Im Vergleich der Studiengänge lernten dabei, wie erwartet, in der Psychologie nach Selbstauskunft am meisten Studierende ausschließlich die Verfahrensrichtung Verhaltenstherapie kennen. Allerdings gaben mit fast einem Drittel dort mehr Studierende an, sowohl Verhaltenstherapie als auch Psychoanalyse kennengelernt zu haben. Das relativ häufig empfundene Problem einer zu VT-lastigen Lehre unter den zwei Dritteln der Psychologiestudierenden, die Defizite und Probleme in ihrem Studium sahen, mag somit nicht nur der Quantität, sondern auch der Qualität der Darstellung geschuldet sein. Hinweise darauf ergaben sich auch aus der Auswertung des qualitativen Interviewmaterials (vgl. Illustration 2; Kap. 11.2). Dies wird zu diskutieren sein (vgl. Kap. 12.1). Weiter hatten die Studierenden der pädagogischen Studiengänge mehrheitlich nur bestimmte Verfahrensrichtungen in ihrem Studium kennengelernt und zwar, der diesbezüglich formulierten Hypothese entsprechend, zum großen Teil ausschließlich die psychoanalytische Richtung. Dies wurde unter den über 50 % der Studierenden, die in diesem Studiengang Probleme oder Defizite in der Vermittlung psychotherapeutischer Verfahren sahen, jedoch vergleichsweise selten kritisiert (nur von 5 %). Hier war mit über 60 % das am häufigsten empfundene Problem dasjenige, dass psychotherapeutische Verfahren »generell zu wenig« dargestellt würden. Im Studiengang Medizin schließlich ist nach Angaben der Studierenden Lehre zu psychotherapeutischen Verfahrensrichtungen, der diesbezüglich formulierten Hypothese entsprechend, curricular am 125
Aus auswertungsökonomischen Gründen musste auf die Berechnung des exakteren Fisher-Yates Test verzichtet werden. Es wird von einer hinreichenden Genauigkeit des w2-Tests ausgegangen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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wenigsten präsent. Immerhin 40 % gaben an, keine psychotherapeutischen Verfahren in ihrem Studium kennengelernt zu haben. Die Kritik daran fiel jedoch im Vergleich der Studiengänge eher gering aus. Bedenkt man die Randstellung des psychotherapeutischen Fachgebietes innerhalb der medizinischen Disziplin (vgl. Kap. 5.1), so ist ein solcher Befund naheliegend. Es war weiter, wie erwartet, in diesem Studiengang nach Angaben der Studierenden kein eindeutiger Vorzug der Vermittlung zugunsten einer bestimmten Verfahrensrichtung erkennbar. Am ehesten lässt sich festhalten, dass nach Studierendenangaben in der Regel immer (auch) Verhaltenstherapie gelehrt wird. Bezogen auf eine einseitige Darstellung bestimmter Verfahrensrichtungen waren im offenen Antwortformat, wie referiert, entsprechend wenige kritische Äußerungen von Medizinstudierenden zu verzeichnen. Über die Studiengänge hinweg fand sich die größte Übereinstimmung in der Kritik an der Darstellung bezüglich eines zu geringen Praxisbezugs in der Vermittlung von Psychotherapie. Dies wurde von einem Viertel bis etwas über einem Drittel der Studierenden aller drei Studiengänge moniert und war die häufigste Kritik unter den sich äußernden Psychologiestudierenden. In Illustration 2 sind zur Veranschaulichung der quantitativen Befunde Auszüge aus den Narrativen der mit den Studierenden durchgeführten vertiefenden Interviews (vgl. Kap. 8.8) dargestellt. Illustration 2: Interviewauszüge zur Illustration der quantitativen Befunde zu den prozentual häufigsten Angaben von Defiziten in der Darstellung von Therapierichtungen im Studium nach Studiengang Pädagogik und Medizin: »generell zu wenig«126 Im Grunde müsste im Medizinstudium mehr über die Therapierichtungen vermittelt werden, damit die Mediziner besser vermitteln können (MED 132).
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Obgleich es sich nach Studiengängen unterteilt nicht um die häufigste prozentuale Angabe handelt, ist dies dennoch unter den Medizinstudierenden die häufigste Angabe, weshalb dies ebenfalls mit qualitativem Interviewmaterial illustriert wird. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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»[…] bald nach dem Chirurgieblock kam eben dieser Block ›Der psychosoziale Mensch‹ heißt das, glaub ich« (MED 018). Die Erfahrungen, die sie mit Psychotherapie gemacht hat, sind hauptsächlich privater Natur (PÄD 134). Psychologie: »(zu) VT-lastig« In der Uni sei die Lehre ganz ungerade verteilt, sie meint, es würde nur VT und Systemische gelehrt, Psychoanalyse nur fakultativ […]. Sie glaube auch, dass die Ausbildung manipulativ hinsichtlich einer VTAusbildung […] wirke, aber fände dies nicht schlimm, da die Studenten ja kompetente Entscheidungen alleine treffen könnten (PSY 007). Das Bild an der Uni sei schon durch die Vorlieben der Professoren geprägt, »Also es gab einen Überblick, über was gibt es so für Sachen… Das war eine Vorlesung mit vielleicht zwanzig verschiedenen Sachen […]. Und dann gab es eine riesen Vorlesung über VTund eine riesen Vorlesung über Gesprächspsychotherapie« (PSY 029). »Also als erstes ist die Verhaltenstherapie an unserer Uni dominant.« […] Sie erzählt davon, dass ein weit verbreiteter Ausspruch der Professoren über den Anteil und die Wertigkeit der Psychoanalyse im Studium sei: »Macht den Pflichtschein in Psychoanalyse und dann hat’s sich’s« (PSY 101). Im Studium sei er allerdings überwiegend mit verhaltenstherapeutischen Konzepten in Kontakt gekommen. […] Über verschiedene Verfahren und über allgemeine Wirkfaktoren werde zu wenig informiert. Es werden meist extreme Positionen zu Verhaltenstherapie und Psychoanalyse bezogen, was eine Orientierung erschwere. Er habe sich aus diesem Grund außerhalb des Studiums zusätzlich Dinge angelesen, z. B. in Zeitschriften (PSY 048). Pädagogik: »(zu) PA-lastig« In ihrem Fachbereich dagegen sei die Psychoanalyse »gerade der totale Boom« (PÄD 070). Studiengangübergreifend: »zu wenig Praxisbezug« Während des Studiums gab es ein Seminar mit psychologischen Inhalten, das habe ihn sehr interessiert, leider war es zu früh im Studium, man hätte noch keinen Bezug zur Praxis gehabt (MED 076). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Nur während des Studiums in dem Psychosomatischen Seminar wurden Störungsbilder und auch Patienten vorgestellt. […] Auch über Therapieeinrichtungen bzw. -fachrichtungen wusste sie nach eigenen Aussagen fast nichts. Wie bzw. welche Therapie durchgeführt wird, wie gearbeitet würde, das wisse sie nur sehr theoretisch (MED 071). Die Unterschiede zwischen Verhaltenstherapie und Psychoanalyse im therapeutischen Arbeiten kenne er nicht (PSY 116).
Zu Hypothese 1.b) Kenntnis der Verfahrensrichtungen nach Studiengang Mittels einer einfaktoriellen multivariaten Varianzanalyse ergaben sich 12 % Varianzaufklärung durch das Gesamtmodell. Es liegt also ein statistisch hoch bedeutsamer, mittlerer Effekt des Studiengangs auf die Kenntnis von Verfahrensrichtungen bei den Studierenden vor.
Abbildung 6: Vergleich der Mittelwerte und Standardabweichungen der subjektiven Kenntniseinschätzung der Verfahrensrichtungen nach Studiengang Anmerkungen: VT = Verhaltenstherapie, PA = Psychoanalyse, TP = tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, GT = Gesprächspsychotherapie; vierfach gestufte Likert-Skala von 1 = »gar nicht« bis 4 = »genau«; die Angabe »andere Verfahren« wurde aufgrund interpretatorischer Uneindeutigkeit nicht in die Auswertung einbezogen; multivariates Modell: F(8/1330; .01) = 21,80; g2 = 0,116; p < .01; für VT und GT Varianzhomogenitätsverletzung mittels Levene-Test. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Zu den verschiedenen Verfahrensrichtungen gaben die Psychologiestudierenden, wie aus Abbildung 6 ersichtlich, im Mittel die meisten Kenntnisse an. Einzig über Psychoanalyse gaben Studierende der Pädagogikstudiengänge in etwa gleich viele Kenntnisse an. Für alle anderen Verfahrensrichtungen lagen die Mittelwerte der Pädagogikstudierenden geringfügig unter denen der Medizinstudierenden. Bei einer inferenzstatistischen Betrachtung des global gefundenen Effekts auf Ebene der multivariaten Einzelvergleiche zeigte sich, dass die Unterschiede der Kenntnis von Psychoanalyse für Medizinstudierende sowohl im Vergleich mit den Pädagogik- als auch mit den Psychologiestudierenden statistisch hoch bedeutsam ausfallen (partielles gPA2 : 9 % Varianzerklärung). Die Medizinstudierenden kannten sich damit also nach Selbstauskunft hoch bedeutsam am wenigsten aus. Für tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie waren die Unterschiede im Einzelvergleich statistisch hoch bedeutsam sowohl für Psychologie- und Medizinstudierende als auch für Psychologie- und Pädagogikstudierende (partielles gTP2 : 6 %). Die Psychologiestudierenden kannten sich damit nach Selbstauskunft jeweils hoch bedeutsam besser aus. Für Verhaltenstherapie galt dies ebenfalls, allerdings wegen Verletzung der Varianzhomogenität unter Verwendung robusterer Verfahren (vgl. Kap. 10; partielles gVT2 : 11 %). Auch mit dieser Verfahrensrichtung kannten sie sich nach Selbstauskunft hoch bedeutsam besser aus als die Studierenden der anderen beiden Studiengänge. Für die Gesprächspsychotherapie, für welche diese Voraussetzung ebenfalls verletzt war, zeigte sich lediglich mittels Games-HowellVerfahren, nicht aber mit dem Tamhane-Test ein signifikanter Mittelwertunterschied (p < .05) zugunsten der Psychologiestudierenden zwischen diesen und den Pädagogikstudierenden (partielles gGT2 : 1 %). Dieser Befund sollte also nur mit Vorsicht interpretiert werden. Integration der Befunde mit Bezug auf die formulierte Hypothese Zusammengefasst kann festgehalten werden, dass sich der Effekt des Studiengangs auf die Kenntnis psychotherapeutischer Verfahrensrichtungen als bedeutsam erweist. Die Psychologiestudierenden kannten sich mit fast allen Verfahrensrichtungen statistisch bedeutsam am besten aus (zur Veranschaulichung vgl. Illustration 3). Somit © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
10.1 Befunde zu Hypothesenkomplex 1 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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erfährt die aufgestellte Hypothese der insgesamt größten Kenntnis der Verfahrensrichtungen in der Gruppe der Psychologiestudierenden im Vergleich mit den Studierenden der anderen beiden Studiengänge eine Stützung. Ebenso erwartungsgemäß war unter Psychologiestudierenden die Kenntnis von Verhaltenstherapie nach Angaben der Studierenden am höchsten. Statistisch nicht bedeutsam waren die Unterschiede in der Kenntnis zwischen ihnen und den Pädagogikstudierenden für die Verfahrensrichtung Psychoanalyse, womit die diesbezüglich formulierte Hypothese einer höheren Kenntnis der psychoanalytischen Verfahrensrichtung unter Pädagogikstudierenden nur teilweise empirisch gestützt wird. Dies gilt nur im Verhältnis zu den Medizinstudierenden. Im Vergleich mit den Medizinstudierenden waren die Unterschiede zugunsten der Psychologiestudierenden statistisch nicht bedeutsam für die Verfahrensrichtung Gesprächspsychotherapie. Die Befunde weisen eine hohe Übereinstimmung mit der von den Studierenden berichteten Darstellung verschiedener Verfahrensrichtungen im jeweiligen Studiengang auf, ein Hinweis auf die Bedeutsamkeit des Studiengangs als eine zentrale Informationsquelle zu psychotherapeutischen Verfahrensrichtungen für Studierende. Illustration 3: Interviewauszüge zur Illustration der quantitativen Befunde zur Kenntnis der Verfahrensrichtungen nach Studiengang Kenntnis – Medizinstudierende Genaue Informationen zu Therapierichtungen habe sie nicht. Mehr oder weniger beschränken sich ihre Erfahrungen auf den Kurs »Psychosomatik«, das fand sie sehr interessant. Auf die Frage, welche Einfälle sie zur Psychoanalyse habe, antwortet sie, dass sich vorstelle, dass da »die Psyche irgendwo analysiert wird«. Vielleicht mittels Verhaltenspsychologie. So richtig könne sie sich aber nicht vorstellen, was da passiert (MED 034). Zwischen den verschiedenen Therapieschulen differenziert er kaum, er scheint sich mit deren Unterschieden bisher nicht sehr beschäftigt zu haben (MED 018). Nach den unterschiedlichen Therapierichtungen befragt, antwortet meine Gesprächspartnerin, dass sie davon »wenig bis gar nichts« wisse. In der Vorlesung habe sie die Unterschiede zwischen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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10 Quantitative Befunde
Verhaltenstherapie und Gesprächstherapie als zu schwammig empfunden, sich jedoch auch nicht damit auseinander gesetzt. Über Psychoanalyse sei sie nicht gut informiert, könne mit dem, was sie bisher hörte, nicht viel anfangen. Es sei ihr zu abstrakt und würde nicht interessant genug dargestellt (MED 024). Kenntnis – Psychologiestudierende Auf meine Frage am Ende des Interviews, ob es noch Themen gäbe, über die sie gerne sprechen würde, spricht sie tiefenpsychologische Therapien an. Sie sagt, dass sie darüber am wenigsten weiß. Hätte sie nicht das Seminar bei dem Professor aus den USA gemacht, hätte sie sich vielleicht sogar für eine tiefenpsychologische Ausbildung entschieden, da es sich dabei um ein »Mittelding« handelt (nicht so berechnend wie die VT und nicht so kalt wie die Psychoanalyse) (PSY 073). »Über VT bin ich definitiv gut informiert« (PSY 020). Im Studium habe er wenig über Psychoanalyse erfahren, wisse auch nicht, wie eine Therapiesitzung abläuft (PSY 151). Kenntnis – Pädagogikstudierende [Später] entschuldigt sie sich noch einmal dafür, dass sie von dem Thema Psychotherapie keine Ahnung habe (PÄD 134). Im Studium hat sie einige Seminare im ethnopsychoanalytischen Bereich besucht »und da erfahren wir halt viel« (PÄD 172).
10.2 Befunde zu Hypothesenkomplex 2: Wahrnehmung und Interesse Psychotherapie Im folgenden Abschnitt werden die Befunde zur Wahrnehmung von Psychotherapie und dem Interesse daran über alle Studierenden hinweg referiert. Weiterhin wird auf einen Vergleich der Wahrnehmung der Studierenden mit hohem und mit geringem Interesse an einer psychotherapeutischen Ausbildung eingegangen. Schließlich werden diesbezüglich gefundene Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Studierenden der untersuchten Studiengänge referiert. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
10.2 Befunde zu Hypothesenkomplex 2 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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Zu Fragestellung 2) Wahrnehmung von Psychotherapie Betrachtet man die zweite Spalte in Tabelle 21, so zeigt sich über alle Studierenden hinweg insgesamt eine eher positive Wahrnehmung von Psychotherapie, was mit dem Befund einer Forsa-Umfrage (2005) zu dieser Thematik übereinstimmt (vgl. Kapitel 5.3). Den positiven Indikatoren der Wahrnehmung von Psychotherapie, also den positiv formulierten Items der FEP-Skalen stimmten die Studierenden im Mittel insgesamt »eher« zu. Den negativen Indikatoren, also der Skala zur Furcht vor einem »negativen Urteil anderer« und den negativ formulierten (invertierten) AT-PT-Items stimmten die Studierenden dagegen im Mittel insgesamt »gar nicht« bis »kaum« bzw. »etwas« (FEP-Skala) zu (vgl. Tab. 21).
Zu Hypothese 2.a) Interesse an Psychotherapie Zwar waren mit ca. 80 % die meisten Studierenden durchaus an der Entstehung psychischer Krankheiten interessiert127 und über die Hälfte der Studierenden hielt Psychotherapie grundsätzlich schon für einen interessanten Tätigkeitsbereich128. Der größere Teil der befragten Studierenden wies jedoch kein oder nur ein geringes Interesse an einer psychotherapeutischen Aus- bzw. Weiterbildung auf. Bei 64 % der befragten Studierenden (n = 434) war ein eher geringes Interesse und bei 36 % (n = 244) ein hohes Interesse an einer psychotherapeutischen Aus- bzw. Weiterbildung vorzufinden. Die formulierte Hypothese eines größtenteils geringen psychotherapeutischen Ausbildungsinteresses unter den befragten Studie127
Zusammengefasste Antwortalternativen »Es ist interessant, die einer psychischen Krankheit zugrunde liegenden Ursachen herauszufinden« (AT-PT 13): »ziemlich« und »sehr«: 83 %; zusammengefasste Antwortalternativen »Wie stark interessieren sie sich für die seelischen Probleme von Menschen?«: »ziemlich« und »sehr: 78 %. 128 Zusammengefasste Antwortalternativen »Wegen der schlechten Prognose der meisten psychotherapeutischen Patienten ist die Arbeit in der Psychotherapie uninteressant« (AT-PT 12): »gar nicht« und »kaum«: 86 %; »Wie stark interessieren Sie sich für psychotherapeutische Behandlungsverfahren bei psychischen und psychosomatischen Erkrankungen?«: »ziemlich« und »sehr«: 59 %. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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10 Quantitative Befunde
Tabelle 21: Mittelwerte (M) und Standardabweichungen (SD) der Wahrnehmung von Psychotherapie durch alle Studierenden und Unterschiede in der Wahrnehmung durch Studierende mit hohem bzw. geringem Interesse sowie inferenzstatistische Kennwerte Skala bzw. Item
Alle M (SD) (N = 668 – 675)
Hohes Interesse M (SD) (n = 236)
FEP: »Kompetenz Psychotherapeut« a
3,02 (0,51)
3,23 (0,44)
FEP: »Negatives Urteil anderer« a
2,00 (0,60)
1,81 (0,51)
FEP: »Generelle Einstellung« a
3,03 (0,52)
3,25 (0,42)
FEP: »Akzeptanz« a
3,27 (0,52)
3,49 (0,41)
AT-PT Item 2: »Psychotherapeuten/-innen reden viel und tun wenig« a
2,08 (0,94)
1,76 (0,71)
AT-PT Item 6: »Die Anwendung von Psychotherapie ist letztlich Betrug, denn es gibt keine klaren Beweise für ihre Wirksamkeit« a
1,47 (0,71)
1,30 (0,55)
AT-PT Item 9: »Psychotherapie hat kaum wissenschaftliche Grundlagen«
1,93 (0,87)
1,73 (0,76)
AT-PT Item 11: »Psychotherapeutische Behandlungen führen dazu, dass Pati- 2,19 enten sich zu viele Gedanken über ihre (0,90) Beschwerden machen« a
1,97 (0,80)
AT-PT Item 14: »Psychotherapeut/-innen 1,86 können nur sehr wenig für ihre Patienten (0,77) tun«
1,62 (0,69)
AT-PT Item 16: »Die meisten so genannten Fakten in der Psychotherapie sind in Wirklichkeit lediglich vage Spekulationen« a
1,89 (0,70)
2,11 (0,84)
Geringes MANOVA Interesse partielles M (SD) g2 (n = 416) F(1/650; 2,90 .01) = (0,51) 73,09 g2 = .101 F(1/650; 2,11 .01) = (0,62) 42,27 g2 = .061 F(1/650; 2,89 .01) = (0,54) 79,52 g2 = .109 F(1/650; 3,14 .01) = (0,53) 76,78 g2 = .106 F(1/650; 2,27 .01) = (1,02) 46,67 g2 = .067 F(1/650; 1,58 .01) = (0,77) 24,09 g2 = .036 F(1/650; 2,05 .01) = 19,99 (0,91) g2 = .030 F(1/650; 2,32 .01) = (0,92) 23,87 g2 = .035 F(1/650; 2,00 .01) = 38,12 (0,79) g2 = .055 F(1/650; 2,22 .01) = (0,88) 25,63 g2 = .038
Anmerkungen: Skalenmittelwerte von 1 = »gar nicht« bis 5 = »sehr« (AT-PT: Attitudes towards Psychotherapy) bzw. 1 = »ich stimme gar nicht zu« bis 4 = »ich stimme zu« (FEP: Fragebogen zur Einstellung gegenüber Psychotherapie). Ein hoher Wert in den FEP-Skalen bedeutet eine positive Einstellung zur Psychotherapie, mit Ausnahme der FEP Skala »negatives Urteil anderer«, ein hoher Wert in den ausgewählten AT-PT-Items eine negative Einstellung; aufgrund unterschiedlicher fehlender Werte variieren die Fallzahlen bezogen auf die einbezogenen Variablen in Spalte 2 geringfügig; multivariates Modell: F(10/641; .01) = 14,41, p < .01; g2 = .184; Einzelvergleiche: alle p < .01 a Varianzhomogenitätsverletzung mittels LeveneTest.
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10.2 Befunde zu Hypothesenkomplex 2 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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renden erfährt somit Bestätigung. Welche anderweitigen beruflichen Interessen bei den Studierenden vorzufinden waren, wird im Zusammenhang mit dem jeweiligen Studiengang im Rahmen der Ergebnisdarstellung zu Hypothese 2.d) referiert.
Zu Hypothese 2.b) Wahrnehmung durch Studierende mit hohem oder geringem Interesse Differenziert nach Studierenden mit geringem oder hohem Interesse an einer psychotherapeutischen Ausbildung ergab sich bezüglich der Wahrnehmung von Psychotherapie das folgende Bild: Bei Durchführung der MANOVA zeigte sich eine hoch signifikante, durch den Faktor des Interesses an Psychotherapie globale erklärte Gesamtvarianz von 18 % (vgl. Tab. 21). Dies entspricht einem mittleren bis großen Effekt. Wie weiter in Tabelle 21 einzusehen, waren auch auf Ebene der partiellen erklärten Varianzen alle Unterschiede zwischen den Gruppen hoch signifikant. Die jeweils ermittelten erklärten Varianzanteile für die FEP-Skalen entsprechen mit 6 – 10 % eher kleinen bis mittleren Effekten, für die AT-PT-Items sind sie mit 3 – 6 % als eher klein zu bezeichnen (vgl. Tab. 21). Im Vergleich der Mittelwerte wiesen Studierende mit einem höheren Interesse auch eine positivere Einstellung zu Psychotherapie auf. In allen positiv formulierten Items und Skalen zeigten sich bei ihnen signifikant höhere, in den negativ formulierten niedrigere Werte. Zusammengefasst fanden sich somit Belege für die aufgestellte Hypothese einer insgesamt unterschiedlichen Wahrnehmung von Psychotherapie unter Studierenden mit hohem oder geringem Ausbildungsinteresse. Eine positivere Einstellung zeigte sich erwartungsgemäß unter den Studierenden mit höherem Ausbildungsinteresse. Die Nützlichkeit bzw. der Sinn von Psychotherapie wurde durch Studierende mit geringerem Interesse dagegen im Mittel häufiger angezweifelt, ebenso ihre Wissenschaftlichkeit und ihre Wirksamkeit. Auch scheinen diejenigen Studierenden mit geringem Interesse eher ein negatives Urteil anderer, also eine Stigmatisierung durch andere zu befürchten. Die referierten Befunde zu Studierenden mit geringem Ausbildungsinteresse weisen Übereinstimmungen auf mit einer nach wie vor insgesamt gesellschaftlich ambivalenten Hal© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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10 Quantitative Befunde
tung gegenüber psychischer Krankheit und auch gegenüber Psychotherapie sowie deren Inanspruchnahme (vgl. Kap. 5.3; Angermeyer, 2004; Dribbusch, 2009), worauf im Rahmen der Diskussion noch einmal ausführlicher eingegangen wird (vgl. Kap. 12.1).
Zu Hypothese 2.c) Wahrnehmung von Psychotherapie nach Studiengang Bei einem Vergleich der Mittelwerte in den untersuchten Studiengängen zeigte sich, wie in Tabelle 22 dargestellt, dass die höchsten Werte bezüglich der positiven Indikatoren der Wahrnehmung von Psychotherapie sowie die niedrigsten Werte bezüglich der negativen Indikatoren durchgängig bei den Psychologiestudierenden anzutreffen waren. In der Gruppe der Medizinstudierenden zeigte sich ein genau entgegengesetztes Bild. Die Mittelwerte der Pädagogikstudierenden waren durchgängig dazwischen angesiedelt. Die Unterschiede zwischen den Studiengängen wurden, wie im Methodenteil ausgeführt, mittels einer einfaktoriellen multivariaten Varianzanalyse auf ihre Signifikanz geprüft. Es lag ein hoch signifikanter globaler Effekt des Studiengangs auf die Wahrnehmung von Psychotherapie vor (vgl. Tab. 22). Dieser ist mit 11 % Varianzaufklärung durch das Gesamtmodell als mittel hoch zu bezeichnen. Bei einem Einzelvergleich der Mittelwerte der Medizin- und der Psychologiestudierenden waren alle Unterschiede zwischen den Gruppen hoch signifikant (p < .01). Zwischen den Pädagogik- und den Psychologiestudierenden waren die gefundenen Mittelwertsunterschiede hoch signifikant (p < .01) für generelle Einstellung, Akzeptanz und die Aussage »Psychotherapeuten/-innen können nur sehr wenig für ihre Patienten tun« (AT-PT 14). Die Unterschiede zwischen den Medizinstudierenden und Pädagogikstudierenden waren bei Kompetenzwahrnehmung des/-r Psychotherapeuten/-in und Akzeptanz signifikant (p < .05) und hoch signifikant (p < .01) bei dem negativen Urteil anderer und der Aussage »Psychotherapeuten/-innen reden viel und tun wenig« (AT-PT 2).
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10.2 Befunde zu Hypothesenkomplex 2 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
Tabelle 22: Mittelwerte (M) und Standardabweichungen (SD) der Wahrnehmung von Psychotherapie durch die Studierenden der untersuchten Studiengänge sowie inferenzstatistische Kennwerte Skala bzw. Item
Medizinstudierende M (SD) (n = 355)
Psychologiestudierende M (SD) (n = 219)
FEP: »Kompetenz Psychotherapeut« a b c
2,89 (0,51)
3,20 (0,45)
FEP: »Negatives Urteil anderer« a b 2,16 (0,63)
1,79 (0,48)
FEP: »Generelle Einstellung« a b d
2,91 (0,54)
3,22 (0,42)
FEP: »Akzeptanz« a b c d
3,12 (0,53)
3,49 (0,41)
2,32 (1,05)
1,77 (0,69)
1,54 (0,75)
1,37 (0,61)
Pädagogik- MANOVA studierende Partielles M (SD) g2 (n = 78) F(2/649; .01) = 3,07 6,87 (0,54) g2 = .080 F(2/649; .01) = 1,91 9,29 (0,56) g2 = .080 F(2/649; .01) = 2,97 6,53 (0,57) g2 =.073 F(2/649; .01) = 3,28 9,31 (0,51) g2 =.106 F(2/649; 1,90 .01) = 21,78 (0,78) g2 =.074 F(2/649; .01) = 1,51 2,14 (0,73) g2 =.013
2,06 (0,89)
1,78 (0,80)
1,81 (0,88)
F(2/649; .01) = 6,00 g2 =.024
2,36 (0,93)
1,92 (0,78)
2,17 (0,90)
F(2/649; .01) = 13,03 g2 =.050
1,97 (0,81)
1,65 (0,64)
1,96 (0,84)
2,20 (0,86)
1,96 (0,75)
2,06 (0,90)
c
AT-PT Item 2: »Psychotherapeuten/innen reden viel und tun wenig« a b c AT-PT Item 6: »Die Anwendung von Psychotherapie ist letztlich Betrug, denn es gibt keine klaren Beweise für ihre Wirksamkeit« a b AT-PT Item 9: »Psychotherapie hat kaum wissenschaftliche Grundlagen« b AT-PT Item11: »Psychotherapeutische Behandlungen führen dazu, dass Patienten sich zu viele Gedanken über ihre Beschwerden machen« a b AT-PT Item14: »Psychotherapeuten/innen können nur sehr wenig für ihre Patienten tun« b d AT-PT Item16: »Die meisten so genannten Fakten in der Psychotherapie sind in Wirklichkeit lediglich vage Spekulationen« a b
F(2/649; .01) = 7,41 g2 =.038 F(2/649; .01) = 3,91 g2 =.017
Anmerkungen: Skalenmittelwerte von 1 = »gar nicht« bis 5 = »sehr« (AT-PT: Attitudes towards Psychotherapy) bzw. 1 = »ich stimme gar nicht zu« bis 4 = »ich stimme zu« (FEP: Fragebogen zur Einstellung gegenüber Psychotherapie). Ein hoher Wert in den FEP-Skalen bedeutet eine positive Einstellung zur Psychotherapie, mit Ausnahme der FEP Skala »Negatives Urteil anderer«, ein hoher Wert in den ausgewählten AT-PT-Items eine negative Einstellung; fett gedruckt sind jeweils die zeilenweise höchsten Mittelwerte; multivariates Modell: F(20/1282; 2 a .01) = 7,718; g = 0,107; p < .01; globale Effekte auf Einzelebene: alle p < .01; Varianzhomogenitätsverletzung mittels Levene-Test; b signifikante Einzelvergleiche MED-PSY; c signifikante Einzelvergleiche MED-PÄD; d signifikante Einzelvergleiche PSY-PÄD.
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10 Quantitative Befunde
Integration der Befunde mit Bezug auf die formulierte Hypothese Es ließen sich somit zusammengefasst, inferenzstatistisch bedeutsam, die erwarteten Unterschiede zwischen den Studierenden der untersuchten Studiengänge bezüglich ihrer Wahrnehmung von Psychotherapie feststellen. Psychologiestudierende wiesen insgesamt die positivste Wahrnehmung auf, Medizinstudierende die negativste. Pädagogikstudierende befanden sich diesbezüglich im Mittelfeld (zur Veranschaulichung vgl. Illustration 4).129 Illustration 4: Interviewauszüge zur Illustration der quantitativen Befunde zur Wahrnehmung von Psychotherapie nach Studiengang Wahrnehmung von Psychotherapie – Medizin Das Thema »Therapie« sei schon sehr tabuisiert, »man sagt nicht ich geh zum Therapeuten wie man sagt, ich geh zum Zahnarzt« (MED 132). Unter Ärzten existiert viel Geringschätzung gegenüber den »Psychos«. Es gäbe unqualifizierte Äußerungen wie »verrückt, Klapse…« Das finde er nicht gut. Allgemein betrachtet sei Psychotherapie in der Bevölkerung wohl nicht gut angesehen. Die meisten reagierten eher verdrängend, fühlten sich selbst bedroht. Das schlage dann um, wenn jemand selbst Therapie gemacht habe. […] Seine Meinung sei, dass man die Psychotherapie ernst nehmen muss, manchmal sei man als Arzt überfordert in der Beurteilung und Betreuung der Patienten (MED 076). Psychologische Schulungen und Weiterbildungen würde sie nicht in Anspruch nehmen wollen. Bis zu einem gewissen Punkt rede man mit Patienten über deren Probleme. Aber ein »gewisser Grad im normalen Umgang mit Menschen« reiche aus (MED 071).
129 Betrachtet man den Einfluss der Faktoren hohes oder geringes Interesse an einer psychotherapeutischen Ausbildung und Studiengang auf die Wahrnehmung von Psychotherapie gemeinsam, so ist zwar eine Reduktion der jeweiligen erklärten Varianzanteile zu verzeichnen. Allerdings bleibt ein eigenständiger Anteil erklärter Varianz durch beide Faktoren erhalten. Dies stellt eine statistische Absicherung der Zulässigkeit ihrer getrennten Auswertung dar, weshalb eine getrennte Betrachtung sowohl inhaltlich als auch aus auswertungstechnischer Perspektive als gerechtfertigt angesehen wurde.
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Wahrnehmung von Psychotherapie – Psychologie Das, was Psychotherapeuten machen, fand der Interviewte schon immer interessant: »Anderen Leuten helfen, Probleme anhören, Lösungen finden, das hat mich schon immer sehr gereizt«. Allerdings denkt er, dass man dies auch in anderen Bereichen, wie zum Beispiel der Arbeits- oder Schulpsychologie machen kann. […] Der Bedarf an Psychotherapie nimmt zwar zu und es herrscht ein Interesse an Psychotherapien, aber diese werden in der Öffentlichkeit nach wie vor auch belächelt, gerade die Freudschen Theorien. Insgesamt ist die Akzeptanz aber gewachsen (PSY 022). Auf meine Frage, wie sie als Psychologiestudentin auf andere Menschen wirke, sagt sie, dass sie dem Vorurteil begegnet, dass sie als die durchleuchtende Psychologin wahrgenommen wird, obwohl sie im Studium keine Fähigkeiten zur »Durchleuchtung« erlernt habe (PSY 004). Die Interviewte äußert, dass die meisten Menschen mit dem Begriff der Psychologie die Psychotherapie verbinden, die Vorstellung der meisten Menschen, wie eine Therapie aussieht, ist das psychoanalytische Setting. Von der VT weiß der Laie wenig. Momentan ist ein gesellschaftlicher Wandel im Hinblick auf die Akzeptanz von Psychotherapien zu beobachten. Früher wurden Therapien oft »als Humbug abgestempelt«, heute werden Therapien »modern und auch langsam akzeptiert«. Die Ursachen hierfür sind, dass »mehr Menschen Therapien nötig haben« und somit auch mehr über Therapien gesprochen wird und dass Therapien zu »einer Art Modeerscheinung« werden, wodurch man leichter an Therapien »rankommen« kann (PSY 057). Wahrnehmung von Psychotherapie – Pädagogik »Wie stehst Du zur Psychotherapie?» »Ich glaube, dass es schon wichtig ist. […] Aber das […] könnte ich nicht«. Eine Ausbildung zur Psychotherapeutin ist für die Interviewte momentan keine Option (PÄD 070).
Zu Hypothese 2.d) Interesse an Psychotherapie oder andere berufliche Interessen nach Studiengang Welchen Stellenwert nimmt nun der Wunsch, den Beruf eines/-r Psychotherapeut/-in zu ergreifen im Vergleich zu anderen beruflichen Tätigkeitsfeldern ein? Welche beruflichen Vorstellungen und Ziele © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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10 Quantitative Befunde
waren in den untersuchten Studiengängen anzutreffen? Zuerst werden die Ergebnisse für die Medizinstudierenden, dann für die Psychologiestudierenden und abschließend für die Pädagogikstudierenden referiert. Medizinstudierende Unter den befragten Medizinstudierenden gaben 77 % an, sich bezüglich beruflicher Ziele entschieden zu haben. Eine Kliniktätigkeit zogen dabei mit 52 % mehr in Betracht als eine Niederlassung als Facharzt bzw. -ärztin (42 %). Eine akademische Tätigkeit wurde von 13 % der Medizinstudierenden angestrebt.130 Konkret nach der Entscheidung für eine bestimmte Facharztweiterbildung befragt, gaben rund 47 % der Studierenden an, sich bereits dafür entschieden zu haben, nur 5 % schlossen sie für sich aus. Knapp die Hälfte (49 %) strebte eine Facharztweiterbildung an, war jedoch noch unentschieden, in welche Richtung sie gehen möchte.131 Die häufigsten Nennungen waren mit 22 % das Anstreben eines Facharztes für innere Medizin, gefolgt von 20 % mit Interesse an einem Facharzt für Chirurgie. Am dritthäufigsten wurde der Facharzt für Allgemeinmedizin sowie eine fachärztliche Tätigkeit in der Kinderund Jugendmedizin (je 13 %) genannt. Für eine Facharzttätigkeit im Bereich Psychiatrie und Psychotherapie interessierten sich dagegen nur 5 % der Medizinstudierenden. 3 % konnten sich vorstellen, im Bereich Psychosomatische Medizin und Psychotherapie tätig zu werden und 2 % gaben an, zu überlegen, sich in Richtung der Kinderund Jugendpsychotherapie oder -psychiatrie zu orientieren. Diese Zahlen decken sich weitgehend mit den Erhebungen zu berufstätigen Ärzt/-innen in Deutschland im Jahre 2003 (BMG, 2005). Sie weisen auch sonst eine hohe Übereinstimmung mit den in Kapitel 5.1 referierten Befunden zum vergleichsweise geringen Stellenwert der Psychotherapie im Verhältnis zu anderen medizinischen Berufsfeldern auf. 130
Es handelte sich um ein dichotomes Antwortformat; Mehrfachnennungen waren möglich. 131 Einbezogen sind diejenigen, die sich bereits entschieden haben (n = 171), sowie n = 15, die sich noch nicht sicher sind, sich jedoch trotzdem bereits dazu äußerten (insgesamt 24 mögliche Nennungen, Mehrfachnennungen möglich). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
10.2 Befunde zu Hypothesenkomplex 2 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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Zu Vor- bzw. Nachteilen einer Tätigkeit im psychotherapeutischen Bereich befragt, wurde im offenen Antwortformat (Angaben von 56 % der Medizinstudierenden, n = 208; Cohens Kappa: j = .98)132 am häufigsten (48 %) geäußert, dass der Vorteil einer solchen Tätigkeit in einem ganzheitlicheren Zugang im Sinne eines Einbezugs sowohl von Somatischem als auch von Psychischem liegen würde. Am zweithäufigsten wurden mit 16 % die Rahmenbedingungen der Tätigkeit (wie Arbeitszeiten etc.) genannt. Gegen eine psychotherapeutische Ausbildung sprach aus Sicht der Medizinstudierenden, die sich dazu äußerten (Angaben von 69 %; j = .94), jedoch am häufigsten (40 %) eben gerade das häufigste ProArgument, nämlich dass es sich zu wenig um ein somatisch-medizinisches Fach handele. Am zweithäufigsten (22 %) wurde als Nachteil die psychische Belastung bzw. die persönliche Involviertheit durch diese Tätigkeit genannt (vgl. Illustration 5). Illustration 5: Interviewauszüge zur Illustration der quantitativen Befunde zu Vor- und Nachteilen einer psychotherapeutischen im Verhältnis zu einer anderen beruflichen Tätigkeit für Medizinstudierende Vorteil: Somatisch und psychisch Auf die Frage, was sie an Psychosomatik interessiere, antwortet sie, dass sie »jetzt gar nicht so ein Krankheitsbild« interessant fände, sondern eher die Vorstellung »nicht ständig etwas Apparatives machen zu müssen«. Gerätediagnostik gefällt ihr nicht so gut, sondern sie möchte eher »Kontakt zu den Menschen« haben, was »in der Inneren und in der Psychosomatik« eher der Fall wäre. Einen längeren Kontakt zu den Patienten stelle sie sich »einfach schöner vor, so als Arbeitsklima später, […] nicht so dieser Klinikalltag, wo man jemanden vielleicht zwei Wochen sieht und dann nie wieder«. Nicht nur das Organ zu betrachten, sondern die Psyche mit einzubeziehen gefällt ihr »als Vorstellung ganz gut« (MED 193). Die Interviewte würde sich vermutlich für eine gesprächspsychotherapeutische Ausbildung entscheiden, den Facharzt für 132 Es wurde, wie im Methodenteil ausgeführt, pro Studiengang für Vor- und Nachteile jeweils eine Interraterreliabilität etabliert.
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10 Quantitative Befunde
Psychiatrie alleine finde sie zu wenig, da sie mit den Patienten psychotherapeutisch arbeiten wollen würde: »Als Psychiater lernt man, glaube ich einfach, oder zum großen Teil, stumpf: o. k., der hat die und die Störung, wir haben das und das Medikament, das setzten wir hier ein, wir gehen wir mit der Dosis hoch, da muss sie niedriger sein«. Durch eine gesprächstherapeutische Ausbildung würde man vermutlich auch lernen auf Menschen besser einzugehen und Gespräche zu führen, »dass man vielleicht auch Leute eher dazu kriegt, auszusprechen, was sie grade belastet, was vielleicht auch einen somatischen Hintergrund hat«. Dies sind Dinge, die der Interviewten auch als Allgemeinmedizinerin helfen würden, da viele somatische Beschwerden auch psychische Ursachen haben. Nur als Psychotherapeutin zu arbeiten, kann sich die Interviewte nicht vorstellen, dazu ist sie »zu sehr somatisch orientiert«. Für manche Patienten könnte die Psychotherapie sinnvoll sein, die Interviewte kann sich vorstellen, einen Tag in der Woche in der Praxis Psychotherapie zu machen (MED 166). Vorteil: Rahmenbedingungen In der Klinik fände sie die Arbeitsbedingungen »zu stressig« (MED 193). Zur Couch fällt ihr nur ein: »Ja doch, günstige Praxiseinrichtung« (lacht) (MED 034). Auf Nachfrage berichtet sie, dass die Familienfreundlichkeit dieser Richtung schon angenehm wäre […] (MED 132). Nachteil: Nicht somatisch Allerdings sehe er sich nicht als Therapeuten, auch wenn er gerne Kontakt mit Patienten habe und Gespräche mit ihnen führe, sondern er sei »Handwerker« (MED 080). Gegen die therapeutische Arbeit spricht für sie persönlich, dass ihr das Praktische und Greifbare fehle: »Ich sehe eine Platzwunde und kann die zunähen und dann ist gut« (MED 213). Er würde gerne naturwissenschaftlich arbeiten, am Krankenbett, so richtig klassische Stationsarbeit. Dass diese klassische Stationsarbeit wegfallen würde, spräche für ihn auch gegen eine psychotherapeutische Ausbildung (MED 116).
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10.2 Befunde zu Hypothesenkomplex 2 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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Nachteil: Psychische Belastung »Wenn man ein Kind bei einer Vorsorgeuntersuchung untersucht und kann dann sofort sagen, das Kind ist kerngesund, ist das irgendwie schon was anderes, als wenn man da irgendeine depressive Geschichte oder so zu hören bekommt« (MED 213). In Bezug auf Vorurteile gegenüber dem Beruf des Psychotherapeuten oder Psychiaters hört sie von Medizinern und Nicht-Medizinern: »da wirst du ja auch bekloppt bei« und »pass auf dich auf und achte auf dein soziales Umfeld«. Die Interviewte meint, dass da »durchaus etwas Wahres dran ist« und man aufpassen muss, sich ausreichend abgrenzen zu können: »Hier geht die Tür hinter mir zu, das lass ich jetzt da und jetzt bin ich in der Freizeit«. Diese Einstellung muss man lernen, um in diesem Beruf arbeiten zu können. Tatsächlich muss man auch auf ein stabiles soziales Umfeld achten (MED 166). Was ihn daran hindern würde, diesen Job auszuüben, sei die Tatsache, – und das gelte eigentlich auch für alle anderen Fächer bis hin zu Dermatologie – »dass man das, mit dem man sich beschäftigt, bei sich selber auch findet«. Er glaube, dass die Charaktere, die einen solchen Beruf ergreifen, psychosozial sehr gefestigt sein müssten. Er habe aufgrund persönlicher Erfahrung ein paar Bedenken, ob er für die Ausübung eines solchen Berufs gefestigt genug sei (MED 018). Psychologiestudierende Unter den befragten Psychologiestudierenden gaben 59 % (n = 129) an, sich bezüglich ihrer beruflichen Ziele entschieden zu haben.133 Eine Niederlassung als approbierte/-r Psychotherapeut/-in strebten unter ihnen 37 % an, eine Kliniktätigkeit 31 % und eine akademische Karriere 15 %. Konkret nach angestrebten Arbeitsfeldern befragt, gaben mit 63 % am meisten Psychologiestudierende an zu planen, sich in Richtung Klinische Psychologie orientieren zu wollen. Am zweithäufigsten überlegten die befragten Psychologiestudierenden mit 53 %, im Bereich der Psychosomatik oder der Psychotherapie zu arbeiten, gefolgt von 45 %, die sich vorstellen konnten, eine psychologische Beratungstätigkeit, Trainings oder Coaching auszuüben. 37 % überlegten, 133 Für berufliche Ziele und für konkrete Arbeitsfelder waren jeweils Mehrfachnennungen möglich.
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10 Quantitative Befunde
in der Kinder- und Jugendpsychotherapie oder -psychiatrie zu arbeiten, womit dieses Tätigkeitsfeld an vierter Stelle stand (von elf möglichen Nennungen). Diese Präferenzen weisen eine hohe Übereinstimmung mit den in Kapitel 3.1 und 5.1 berichteten Befunden auf (vgl. auch Burghofer, 2000; Hasselhorn, 2009; Strauß et al., 2009). Von Studierenden dieses Studiengangs wurde im offenen Antwortformat (Angaben von 86 %, n = 189; j = .99) als Vorteil einer Tätigkeit im psychotherapeutischen Bereich am häufigsten (29 %) die Möglichkeit einer selbständigen Tätigkeit angeführt, gefolgt von der Art der Tätigkeit bzw. der Arbeit mit Menschen (22 %). Gegen eine psychotherapeutische Tätigkeit sprach aus Sicht der Psychologiestudierenden (Angaben von 88 %, n = 194; j = .91) am häufigsten die Länge oder die Kosten der Ausbildung (68 %). Die zweithäufigste Kontra-Angabe war in dieser Studierendengruppe, wie auch unter den Medizinstudierenden, mit 14 % die psychische Belastung bzw. die persönliche Involviertheit in diese Tätigkeit (dazu vgl. Illustration 6). Illustration 6: Interviewauszüge zur Illustration der quantitativen Befunde zu Vor- und Nachteilen einer psychotherapeutischen im Verhältnis zu einer anderen beruflichen Tätigkeit für Psychologiestudierende Vorteil: Selbständige Tätigkeit Für die Ausbildung spricht, dass eine Ausbildung als Psychotherapeut einem auch in anderen Berufszweigen weiterhelfen kann. Der Beruf des Psychotherapeuten war immer der »typische, klassische Beruf des Psychologen« (PSY 022). Sie glaubt schon, dass es bei Bewerbungen von Vorteil sei, eine Ausbildung zu haben, für sie stehe aber im Vordergrund, dass eine psychotherapeutische Ausbildung sie »sicherer in der Arbeit mit Patienten« machen würde (PSY 051). Vorteil: Art der Tätigkeit/Arbeit mit Menschen Sie habe sich für Psychologie und für Psychotherapie interessiert, weil sie gerne mit Menschen arbeite (PSY 020). Das, was Psychotherapeuten machen, fand der Interviewte schon © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
10.2 Befunde zu Hypothesenkomplex 2 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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immer interessant: »Anderen Leuten helfen, Probleme anhören, Lösungen finden, das hat mich schon immer sehr gereizt« (PSY 022). Sie wolle den Menschen gerne helfen, damit sie sich besser fühlten und mit ihren Problemen besser umgehen könnten. Sie würde schon jetzt im Praktikum (in der Ausbildungsambulanz) am liebsten »mittherapieren« […], sie würde »gerne jetzt schon aktiv werden«. Sie hätte »so einen Helferinstinkt«, die Freude über den Erfolg »schlage dann auf den Therapeuten über«, das gefalle ihr daran. Der Erfolg der Patienten sei auch Bestätigung für sie und ihre Arbeit. Ja, es sei ihr Erfolg und Bestätigung wichtig, aber in erster Linie wolle sie helfen (PSY 110). Nachteil: Kosten bzw. Länge der Ausbildung Er beginnt mit den Argumenten gegen die Ausbildung: Zeit und Geld. Die Ausbildung ist teuer, außerdem ist das Psychologiestudium bereits sehr zeitaufwändig, er schätzt es auf durchschnittlich 13 Semester (er selbst ist in der Mitte des Hauptstudiums) und dann anschließend noch eine zeitintensive Ausbildung zu machen, kommt für ihn, da er bereits 26 ist, vermutlich nicht in Frage (PSY 022). Ein Punkt sei, dass sie es sich nicht vorstellen könne unter dem Existenzminimum zu leben oder auf Kosten ihrer Eltern, nur um die Ausbildung finanzieren zu können, da sei sie jetzt froh um ihre Doktorandenstelle (PSY 051). Sie sagt von sich aus, als ich gerade nachschaue, welche Fragen ich noch stellen kann, dass sie gerne darüber sprechen würde, dass sie es »schrecklich« findet, wie teuer die therapeutische Ausbildung ist und es ein »ziemliches Unding« ist, dass man ein Jahr unentgeltlich arbeiten muss. Außerdem sei das Einstiegseinkommen in Deutschland »unverschämt«, daran würde sich auch die Wertschätzung, die die therapeutische Arbeit in Deutschland genießt, zeigen, in den USA ist das anders. Trotzdem will sie die Ausbildung machen, da sie den Beruf »ganz toll« findet (PSY 073). Nachteil: Psychische Belastung Er erklärt […], dass für ihn von vornherein feststand, dass er sich nicht als Therapeut sieht. […] Es interessiere ihn, warum z. B. nach einem Motorradunfall ein Gehirn nicht richtig funktioniere und wie es sich wieder herstellen ließe. Es muss »greifbar« sein. Und er wolle nicht © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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10 Quantitative Befunde
täglich mit menschlichem Elend bzw. psychischem Leid konfrontiert werden (PSY 116). Pädagogikstudierende Unter den Pädagogikstudierenden gaben 56 % (n = 49) an, sich bereits für bestimmte berufliche Ziele entschieden zu haben.134 Ein direktes Praxisfeld strebten dabei 30 % an, eine Spezialisierung im Zuge einer Sonderausbildung 22 %. Eine akademische Tätigkeit konnten sich 14 % vorstellen, 13 % eine Niederlassung als Kinderund Jugendlichenpsychotherapeut/-in. Konkret nach angestrebten Arbeitsfeldern befragt, planten 40 % eine Tätigkeit im Lehramtsbereich (in unterschiedlichen Schulformen, mit 19 % am häufigsten Grund- und Hauptschullehramt), am zweithäufigsten (25 %) wurde eine Tätigkeit im Kultur- und Gemeinwesen genannt. Mit je 18 % wurde am dritthäufigsten als konkretes Arbeitsfeld eine Tätigkeit in der Erwachsenenbildung, der Erziehungsberatung, in Medien und Journalismus oder der internationalen Jugendarbeit in Erwägung gezogen. 17 % (vierter Platz von 25 möglichen Angaben) konnten sich jeweils vorstellen, in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie wie auch in einer psychosozialen Beratungstätigkeit ihre berufliche Zukunft zu suchen, während nur 8 % sich vorstellen konnten, in der Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie tätig zu werden.135 Aus Sicht der Studierenden der Pädagogikstudiengänge (offenes Antwortformat, Angaben von 81 %, n = 70; j = .97) sprach am häufigsten für eine Tätigkeit im (kinder- und jungendlichen-)psychotherapeutischen Bereich das Erlangen fachlicher Kompetenz oder einer Zusatzqualifikation (36 %), gefolgt von der Möglichkeit, Kin134
Für berufliche Ziele und für konkrete Arbeitsfelder waren jeweils Mehrfachnennungen möglich. 135 Aufgrund der Heterogenität dieses Studiengangs und der starken Individualisierung auch in Bezug auf den beruflichen Werdegang (vgl. Kap. 5.1) gestaltet es sich schwierig, zum Vergleich konkrete Zahlen zum Anteil verschiedener beruflicher Orientierungen heranzuziehen. Allerdings liegen Befunde vor, dass sich die Mehrzahl der im kinder- und jugendlichenpsychotherapeutischen Bereich Tätigen gegenwärtig aus Studierenden dieser Studiengänge rekrutiert (vgl. z. B. Strauß, 2009). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
10.2 Befunde zu Hypothesenkomplex 2 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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dern oder allgemein Menschen zu helfen und der Art der Tätigkeit (jeweils 16 %). Gegen eine solche Tätigkeit sprach für diese Studierendengruppe (Angaben von 75 %, n = 65; j = .97) am häufigsten ein anderer Berufswunsch und andere Interessen (26 %), am zweithäufigsten, wie auch für die Studierenden der anderen Studiengänge, die psychische Belastung sowie die persönliche Involviertheit (17 %; vgl. Illustration 7). Illustration 7: Interviewauszüge zur Illustration der quantitativen Befunde zu Vor- und Nachteilen einer psychotherapeutischen im Verhältnis zu einer anderen beruflichen Tätigkeit für Pädagogikstudierende Vorteil: Qualifikation »Eine gewisse Sensibilität herauszuarbeiten und Fähigkeit zur Empathie und gleichzeitig aber auch die Fähigkeit, sich von sich selbst zu distanzieren und das richtig einzuordnen«. Sie finde das schon sehr sinnvoll […], »sich da weiterqualifizieren zu können« […] Die Interviewte erzählt dann, dass sie ein Aufbaustudium in Psychoanalyse für Sozial- und Geisteswissenschaftler für sinnvoll hält (PÄD 172). Vorteil: Menschen Helfen/Art der Tätigkeit Die Interviewte hat selber einen migrantischen Hintergrund und möchte am liebsten in der Migration arbeiten, z. B. in der Flüchtlingsberatung und so »anderen helfen sich selber zu positionieren und einzuordnen« (PÄD 172). Nachteil: Psychische Belastung »Ich finde es ja jetzt schon schlimm, wenn man so viel von Leuten hört und sich dann vorstellt, was sich so ein Psychologe alles anhören muss« (PÄD 070). Nachteil: anderer Berufswunsch Eine mögliche berufliche Option sieht sie in der »Entwicklungshilfe«. Auf die Nachfrage, was sie sich darunter genauer vorstelle, zögert sie und sagt, dass es schwer und sie sich noch nicht ganz im Klaren sei. »Ich weiß halt, dass ich gern bei den Projekten der Europäischen Union mitarbeiten will, Aufbauprojekte, Schulen, Kindergärten oder © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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10 Quantitative Befunde
bei privaten Projekten wie SOS Kinderdörfer, so was würde ich schon gern machen« (PÄD 070). »Ich seh’ mich so eher als Theoretikerin, betrachte lieber alles von oben und seh’ mich nicht so sehr im direkten Kontakt mit Menschen, wie das bei Psychotherapie der Fall ist« (PÄD 134). Interesse an Psychotherapie nach Studiengang Größeres Interesse an einer psychotherapeutischen Aus- bzw. Weiterbildung wiesen insgesamt 74 % der Psychologie-, 35 % der Pädagogik- und Sozialpädagogik- und 14 % der Medizinstudierenden auf. Die deskriptiv gefundenen Unterschiede zwischen den Studiengängen in Zusammenhang mit einem Interesse an einer Tätigkeit im psychotherapeutischen Bereich sind inferenzstatistisch als hoch überzufällig und bezüglich ihrer Größe als nichttrivial zu bezeichnen (vgl. Abb. 7; Illustration 8).
Abbildung 7: Interesse an Tätigkeit im psychotherapeutischen Bereich aufgeteilt nach Studiengängen Anmerkungen: N = 678; w2(.01; 2; N = 678) = 216,55, p < .01; CI = .565, p < .01.
Integration der Befunde mit Bezug auf die formulierte Hypothese Aus den referierten Zahlen wird ersichtlich, dass sich analog entsprechender Befunde (vgl. Strauß et al., 2009) hypothesenkonform bei weitem die Mehrzahl derjenigen, die sich beruflich in eine psychotherapeutische Richtung orientieren wollten, aus Psychologiestudierenden rekrutiert. Weiter wiesen, wie erwartet, die Medizinstudierenden das geringste Interesse daran auf (vgl. z. B. Strauß, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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2003). Die Pädagogikstudierenden nahmen diesbezüglich eine Mittelstellung ein.136 Übereinstimmend wurde als zweithäufigster Nachteil einer psychotherapeutischen Tätigkeit von den Studierenden aller drei Studiengänge die psychische Belastung durch die Tätigkeit bzw. eine persönliche Involviertheit genannt. Während jedoch Pädagogik- und Medizinstudierende andere berufliche Interessen als häufigstes Kontra-Argument gegen eine psychotherapeutische Ausbildung anführten, sprachen für die Psychologiestudierenden am ehesten die Länge oder die Kosten der Ausbildung dagegen. Für eine psychotherapeutische Ausbildung sprachen aus Sicht der Medizinstudierenden an erster Stelle die Rahmenbedingungen der Tätigkeit. In gewisser Weise gilt dies auch für die Psychologiestudierenden, die die Möglichkeit einer selbständigen Tätigkeit als größtes Plus benannten. Die Möglichkeit einer Zusatzqualifikation und die fachliche Kompetenz waren für die Pädagogikstudierenden am wichtigsten. Wiederum relativ übereinstimmend wurde von allen drei Studierendengruppen als zweithäufigstes Pro-Argument die Art der Tätigkeit im Sinne einer Arbeit mit Menschen, für die Medizinstudierenden im Sinne eines »ganzheitlicheren« (d. h. sowohl somatischen als auch psychischen) Zugangs genannt. Illustration 8: Interviewauszüge zur Illustration der quantitativen Befunden zum Interesse an einer psychotherapeutischen Tätigkeit nach Studiengang Medizin – psychotherapeutische Tätigkeit Eine therapeutische Ausbildung sei für ihn nicht relevant, aber er sei an psychologischer Weiterbildung interessiert. Psychotherapie sei ein nützliches Instrument, es sei sinnvoll, psychologisch gebildet zu sein (MED 076). Wenn ihr ein zukünftiger Arbeitgeber anbieten würde, die therapeutische Ausbildung zu finanzieren, würde sie das auf jeden Fall 136
Bei Vergleichen der Interessierteren und der weniger Interessierten in der Gesamtstichprobe (vgl. Hypothese 2.b) sind also unter den Interessierteren anteilig am meisten Psychologiestudierende, unter den weniger Interessierten am meisten Medizinstudierende anzutreffen (vgl. auch Hypothesen 2c u. d). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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annehmen, »ansonsten müsste man sehen, wie man das finanziert kriegt«. Für die therapeutische Ausbildung spricht, dass sie es spannend findet, »was insgesamt zwischen Therapeut und Patient oder Klient passiert«, oder »was Dinge auslösen können, einfach aufgrund von zwischenmenschlichen Gegebenheiten«. […] Gründe, warum sich jemand für eine psychotherapeutische Ausbildung interessiert, sind, dass jemand sieht »da passiert was« und eigene Therapieerfahrung. Außerdem ist jemand, der sich dafür interessiert wohl eher »ein reflektierterer Typ«, weniger einer, »der so der Macher ist«. Das sind dann eher die Chirurgen. Damit kann die Interviewte »überhaupt nichts mit anfangen« (MED 166). Ausschließlich als Therapeut arbeiten wolle sie nicht, sondern in einer »Kombination aus Medizin und Therapie« (MED 024). Psychologie – psychotherapeutische Tätigkeit Dass sie eine Therapieausbildung machen möchte, war seit Beginn des Studiums klar. […] Sie habe etwas Einblick erhalten, die Störungs- und Krankheitsbilder habe sie sehr interessant gefunden, habe Spaß am Diagnostizieren und der therapeutischen Vorgehensweise gehabt. Sie wolle den Menschen gerne helfen, damit sie sich besser fühlten und mit ihren Problemen besser umgehen könnten (PSY 110). Im Praktikum habe sie Patientengespräche geführt. Das war während des Ärzte-Streiks, wegen Personalmangels haben sie lieber die Praktikanten mit Patienten Gespräche führen lassen, als dass niemand für sie da gewesen wäre. Das habe ihr viel gebracht und sie bestätigt, dass sie »das Richtige« studiere (PSY 050). Mit dem Wunsch Psychotherapeutin zu werden, ging sie auch in ihr Psychologiestudium und in das Praktikum in einer Psychiatrie, welches sie in ihren ersten Semesterferien machte (PSY 113). Pädagogik – psychotherapeutische Tätigkeit »Wie stehst Du zur Psychotherapie?« »Ich glaube, dass es schon wichtig ist. […] Aber das […] könnte ich nicht.« Eine Ausbildung zur Psychotherapeutin ist für die Interviewte momentan keine Option (PÄD 070).
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10.3 Befunde zu Hypothesenkomplex 3 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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10.3 Befunde zu Hypothesenkomplex 3: Wahrnehmung von Verhaltenstherapie und psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtungen Wie werden die Richtlinienverfahren von den Studierenden wahrgenommen? Gab es diesbezügliche Unterschiede zwischen den Studierenden der untersuchten Studiengänge? Im Folgenden werden Befunde zu Unterschieden in der Wahrnehmung von Verhaltenstherapie und psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtungen über alle Studierenden hinweg sowie im Vergleich der Studiengänge referiert, wie auch für Psychotherapie allgemein davon ausgehend, dass sich diesbezüglich differenzielle Effekte des Studiengangs zeigen.
Zu Hypothese 3.a) Wahrnehmung von Verhaltenstherapie und psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtungen durch alle Studierenden sowie unterteilt nach Studiengängen Bei deskriptiver Betrachtung zeigt sich, dass die Studierenden im Mittel insgesamt Verhaltenstherapie für besser mit Patient/-innen umsetzbar, für wissenschaftlich besser belegt und für besser mit der Karriere vereinbar hielten (vgl. Abb. 8). Dagegen lagen die Mittelwerte der Studierenden für psychodynamisch orientierte Verfahrensrichtungen deskriptiv insgesamt höher bezüglich des Aspekts der Förderung von Selbsterkenntnis, ihres Beitrages zum Verständnis seelischer Störungen und der Frage des Ausbildungsaufwands bzw. der Länge der Ausbildung. Einzig bezüglich eines Beitrages zum Verständnis der Gesellschaft waren deskriptiv kaum Einschätzungsunterschiede zwischen den Verfahrensrichtungen aufzufinden.137 Nach Studiengängen unterteilt zeigen sich bei deskriptiver Betrach137
Die hier referierten Ergebnisse wurden in modifizierter Form bereits in der Zeitschrift »Forum der Psychoanalyse« publiziert (vgl. Lebiger-Vogel et al., 2009). Aufgrund einer anderen Auswertungsstrategie weichen die Werte im vorliegenden Fall geringfügig von den bereits publizierten ab. Die zentralen Aussagen zur Wahrnehmung der einbezogenen Verfahrensrichtungen bleiben gleich. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Abbildung 8: Mittelwerte und Standardabweichungen der Wahrnehmung von psychodynamisch orientierten Verfahren (PA/TP) und Verhaltenstherapie (VT) durch alle Studierenden Anmerkungen: Einbezogen wurden nur diejenigen Fälle, denen die Verfahren bekannt sind; jeweils fünffach gestufte Likert-Skala von 1 = »gar nicht« bis 5 = »sehr«; VT = Verhaltenstherapie, PA/TP = Zusammenfassung der psychodynamisch orientierten Verfahren (PA = Psychoanalyse u. TP = tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie); aufgrund unterschiedlicher fehlender Werte variieren die Fallzahlen bezogen auf die einbezogenen Variablen im inferenzstatistischen Vergleich geringfügig (n = 343 – 467).
tung der Mittelwerte folgende Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Wahrnehmung der Verfahrensrichtungen: Wie aus den Abbildungen 9 und 10 ersichtlich, wiesen die Unterschiede in der Einschätzung von Verhaltenstherapie und den psychodynamisch orientierten Verfahren für alle drei Studiengänge in dieselbe Richtung. Einzig für einen Beitrag zum Verständnis der Gesellschaft fand sich bei deskriptiver Betrachtung ein größerer Mittelwertunterschied für die beiden Verfahrensrichtungen in der Gruppe der Pädagogikstudierenden zugunsten der psychodynamischen Richtung. Die inferenzstatistischen Kennwerte sind in Tabelle 23 einzusehen. Die entsprechenden Befunde werden nachfolgend berichtet. Zunächst wird für jede der erhobenen Wahrnehmungsvariablen auf den inferenzstatistisch ermittelten sogenannten Innersubjekteffekt eingegangen. Dabei handelte es sich im vorliegenden Fall um den Haupteffekt des zweifach gestuften Faktors der »Verfahrensrichtung«, also der Wahrnehmung der untersuchten Variablen in Bezug auf © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
10.3 Befunde zu Hypothesenkomplex 3 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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Abbildung 9: Mittelwerte und Standardabweichungen der Wahrnehmung psychodynamisch orientierter Verfahrensrichtungen im Vergleich der Studiengänge Anmerkungen: Zusammenfassung der psychodynamisch orientierten Verfahren Psychoanalyse und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie; einbezogen wurden nur diejenigen Fälle, denen die Verfahren bekannt sind; jeweils fünffach gestufte Likert-Skala von 1 = »gar nicht« bis 5 = »sehr«, aufgrund unterschiedlicher fehlender Werte variieren die Fallzahlen bezogen auf die einbezogenen Variablen im inferenzstatistischen Vergleich geringfügig.
Verhaltenstherapie und psychodynamisch orientierte Verfahrensrichtungen über die Studierenden hinweg. Im Anschluss wird jeweils auf den Zwischensubjekteffekt, also den Haupteffekt des dreifach gestuften Faktors des »Studiengangs« bezogen auf die Wahrnehmungsvariablen eingegangen. Schließlich werden die statistisch bedeutsamen globalen Interaktionseffekte zwischen den beiden Faktoren, d. h. die Unterschiede in den Effekten des einen Faktors auf den Stufen des anderen Faktors, berichtet (vgl. z. B. Leising u. Müller-Plath, 2009). Die statistisch bedeutsamen Einzelkontraste werden jeweils im Sinne der global ermittelten Effekte referiert. 1. Der Ausbildungsaufwand wurde von allen drei Gruppen für die psychodynamisch orientierten Verfahren als höher eingeschätzt. Diesbezüglich lag entsprechend ein hoch bedeutsamer und mit 26 % erklärter Varianz großer Haupteffekt des Faktors der »Ver© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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10 Quantitative Befunde
Abbildung 10: Mittelwerte und Standardabweichungen der Wahrnehmung von Verhaltenstherapie im Vergleich der Studiengänge Anmerkungen: Einbezogen wurden nur diejenigen Fälle, denen die Verfahren bekannt sind; jeweils fünffach gestufte Likert-Skala von 1 = »gar nicht« bis 5 = »sehr«; aufgrund unterschiedlicher fehlender Werte variieren die Fallzahlen bezogen auf die einbezogenen Variablen im inferenzstatistischen Vergleich geringfügig.
fahrensrichtung« vor (vgl. Tab. 23). Weiter lag ein hoch bedeutsamer, jedoch nur kleiner globaler Effekt des »Studiengangs« vor, sowie ein bedeutsamer, ebenfalls kleiner ordinaler Interaktionseffekt (vgl. Bortz, 2005, S. 301). Nur in einem solchen Fall, d. h. bei Vorliegen jeweils signifikanter Haupteffekte beider Faktoren sowie eines Interaktionseffekts, empfehlen Tabachnik und Fidell (2007) die Durchführung einer Interaktionskontrastanalyse, um dem Effekt der Interaktion nachzugehen. Unter Anwendung dieser Analyse zeigte sich ein statistisch hoch bedeutsamer Kontrast in der Einschätzung der Psychologiestudierenden zu derjenigen der Studierenden der anderen beiden Studiengänge: Die Psychologiestudierenden hielten den Unterschied im Ausbildungsaufwand zuungunsten der psychodynamisch orientierten Verfahren jeweils für größer. Betrachtet auf den Stufen des Faktors der »Verfahrensrichtung« zeigte sich im Vergleich der Studiengänge jedoch Folgendes: Die Länge und der Aufwand der Ausbildung wurde für psychodynamisch orientierte Verfahren zwar von Psychologiestudierenden im Verhältnis zu den beiden anderen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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*
*
**
.01) 2
F(1/373; = 130,60 g = .259 F(2/373; .05) = 3,84 g2= .020
F(2/373; .01) = 14.01 g2= .070 **
1. Ausbildung
.01) 2
F(1/340 ; = 18,13 g = .051 n. s.
n. s.
2. Karriere b
F(1/464; .01) = 103,43 g2= .182 F(2/464; .01) = 6,23 g2= .026
**
** **
*
** F(1/446 ; .01) = 214,27 g2= .325 n. s.c
Wahrnehmung von VT vs. PA/TP 3. Seelische 4. Umsetzbarkeit b Störungen F(2/446 ; .01) = 15,13 n. s. g2= .064 **
n. s.
n. s. n. s.
F(1/458; .01) = 73,75 g2= .139
** ** *
**
* * F(1/376; .01) = 123,52 g2= .247 F(2/376; .01) = 48,40 g2= .205
5. Gesellschaft 6. Selbsterkenntnis 7. Wissenschaftlichkeit b F(2/376; .05) = 3,76 n. s. n. s. g2= .020
Anmerkungen : VT = Verhaltenstherapie; PA/TP = Zusammenfassung der psychodynamisch orientierten Verfahren Psychoanalyse und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie; PSY = Psychologiestudierende ; MED = Medizinstudierende ; PÄD = Pädagogikstudierende ; alle globalen Effekte p < .01 (bis auf Interaktion »Ausbildung«; »Wissenschaftllichkeit« Faktor A: jeweils p < .05); a Einzelvergleiche der Mittelwerte ; * = p < .05; ** = p < .01; n. s. = nicht signifikant; b Varianzhomogenitätsverletzung mittels Levene-Test; c die signifikanten Einzelvergleiche werden aufgrund des nichtsignifikanten globalen Interaktionseffekts nicht interpretiert.
Interaktion A x B Studiengang x Verfahrensrichtung Einzel a PSY/MED PA/TP PSY/PÄD MED/PÄD VT PSY/MED PSY/PÄD MED/PÄD
Faktor A Studiengang Einzel a PSY / MED PSY / PÄD MED / PÄD Faktor B Verfahrensrichtung
ANOVA
Tabelle 23: Inferenzstatistische Kennwerte der Varianzanalysen mit Messwiederholung für die einbezogenen Wahrnehmungsvariablen
10.3 Befunde zu Hypothesenkomplex 3
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10 Quantitative Befunde
Studierendengruppen statistisch hoch bedeutsam als höher eingeschätzt, derjenige für Verhaltenstherapie im Vergleich zu den Medizinstudierenden jedoch ebenfalls (vgl. Tab. 23). Dies bedeutet inhaltlich, dass die Psychologiestudierenden die Differenz zwischen den Verfahrensrichtungen, allerdings auch den Ausbildungsaufwand für beide Verfahrensrichtungen im Vergleich der Studiengänge als hoch einschätzten. Alle drei Gruppen hielten jedoch übereinstimmend den Ausbildungsaufwand für psychodynamisch orientierte Verfahren für höher als denjenigen für Verhaltenstherapie. 2. Bezüglich einer Vereinbarkeit mit der Karriere war ausschließlich ein hoch signifikanter Haupteffekt der »Verfahrensrichtung« zu verzeichnen (vgl. Tab. 23). Allerdings war der Effekt mit 5 % durch das Modell erklärter Varianz eher klein. Dennoch kann festgehalten werden, dass alle drei Gruppen übereinstimmend Verhaltenstherapie für eher vereinbar mit der Karriere hielten. 3. Bezüglich eines Beitrages zum Verständnis seelischer Störungen lag global ein statistisch hoch bedeutsamer, mit 18 % Varianzerklärung moderater bis großer Haupteffekt der »Verfahrensrichtung« sowie ein ebenfalls hoch bedeutsamer, allerdings nur kleiner sogenannter hybrider Interaktionseffekt vor (3 % Varianzerklärung, vgl. Tab. 23). Das bedeutet, dass die Rangfolge der Mittelwerte auf den Stufen des einen Faktors gleichsinnig, auf denen des anderen Faktors jedoch gegenläufig war. Aus diesem Grund konnte zwar der Haupteffekt des gleichsinnigen Faktors, hier der »Verfahrensrichtung«, eindeutig interpretiert werden, nicht jedoch derjenige des gegenläufigen Faktors, hier des »Studiengangs« (vgl. Bortz, 2005). Tabachnik und Fidell (2007) empfehlen bei Vorliegen einer solchen Kombination von Effekten eine Interpretation der Einzeleffekte des nicht signifikanten Faktors jeweils auf den Stufen des signifikanten globalen Hauptfaktors. Bei einer Betrachtung der Einzelkontraste zwischen den »Studiengängen« auf den Stufen des Faktors der »Verfahrensrichtung« zeigte sich jedoch, dass dem global signifikanten Interaktionseffekt keine statistisch bedeutsamen Einzelkontraste entsprachen. Inhaltlich bedeutet dies, dass alle drei Gruppen psychodynamisch orientierten Verfahren in höherem Maße einen Beitrag zum Verständnis seelischer Störungen zuschrieben. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
10.3 Befunde zu Hypothesenkomplex 3 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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4. Für die Umsetzbarkeit der Verfahrensrichtungen mit Patient/-innen war global ein hoch bedeutsamer, mit 32 % erklärter Varianz großer Haupteffekt der »Verfahrensrichtung«, sowie ein hoch bedeutsamer eher kleiner Haupteffekt des »Studiengangs« (6 % Varianzerklärung) zu verzeichnen (vgl. Tab. 23). Bezogen auf den Haupteffekt der »Verfahrensrichtung« bedeutet dies inhaltlich, dass Verhaltenstherapie von allen drei Gruppen als besser mit Patient/-innen umsetzbar eingeschätzt wurde. Bezogen auf den Haupteffekt des »Studiengangs« zeigten sich weiter signifikante Einzelkontraste zwischen den Studierendengruppen: Medizinstudierende hielten beide Verfahrensrichtungen für weniger gut umsetzbar als die Studierenden der anderen beiden Studiengänge. 5. Bezogen auf einen Beitrag zum Verständnis der Gesellschaft waren keine statistisch bedeutsamen Effekte zu verzeichnen (vgl. Tab. 23). 6. In Bezug auf die Förderung von Selbsterkenntnis lag ein hoch bedeutsamer, mit 14 % erklärter Varianz mittlerer Haupteffekt des Faktors der »Verfahrensrichtung« vor (vgl. Tab. 23). Alle drei Studierendengruppen hielten die Förderung von Selbsterkenntnis durch psychodynamisch orientierte Verfahren übereinstimmend für höher als durch Verhaltenstherapie. 7. Zur Frage wissenschaftlicher Wirksamkeitsbelege waren ein hoch bedeutsamer, mit 25 % Varianzerklärung großer Haupteffekt der »Verfahrensrichtung«, sowie ein bedeutsamer, allerdings nur kleiner Haupteffekt des »Studiengangs« (2 % Varianzerklärung) zu verzeichnen (vgl. Tab. 23). Zudem lag ein hoch bedeutsamer, großer hybrider Interaktionseffekt vor (21 % Varianzerklärung). Die Wirksamkeit von Verhaltenstherapie wurde also von den Studierenden aller drei Studiengänge eher für wissenschaftlich belegt gehalten. Die Interaktionsanalyse zeigte einen statistisch bedeutsamen Kontrast in der Einschätzung der Psychologiestudierenden im Vergleich mit den Studierenden der anderen beiden Studiengänge. Psychologiestudierende hielten die Differenz zwischen Verhaltenstherapie und Psychoanalyse zugunsten der Verhaltenstherapie für sehr viel größer als die Studierenden der anderen beiden Studiengänge. Bei Betrachtung der Einzeleffekte jeweils bezogen entweder auf die psychodynamisch orientierten Verfahren oder auf Verhaltenstherapie (also jeweils auf einer der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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10 Quantitative Befunde
Stufen des Faktors der »Verfahrensrichtung«) waren folgende Wahrnehmungsunterschiede zwischen den Studierenden der untersuchten »Studiengänge« aufzufinden (vgl. Tab. 23). Statistisch bedeutsam unterschieden sich im Einzelvergleich die Einschätzungen psychodynamisch orientierter Verfahren durch Psychologiestudierende und Medizinstudierende bezüglich ihrer wissenschaftlichen Fundierung, derart, dass sie von den Medizinstudierenden als höher eingeschätzt wurde. Die Wahrnehmung von Verhaltenstherapie unterschied sich im Vergleich der Studiengänge dahingehend, dass deren wissenschaftliche Fundierung von den Psychologiestudierenden im Vergleich mit den Medizin- und mit den Pädagogikstudierenden jeweils signifikant als höher eingeschätzt wurde. Jedoch hielten auch Medizinstudierende diese statistisch hoch bedeutsam für höher als Pädagogikstudierende. Integration der Befunde mit Bezug auf die formulierte Hypothese Über die Studiengänge hinweg wurde erwartungsgemäß Verhaltenstherapie übereinstimmend eine höhere Karrierevereinbarkeit, psychodynamisch orientierten Verfahren eine stärkere Förderung von
Selbsterkenntnis zugeschrieben (einzig Haupteffekt der Verfahrensrichtung). Eine gute Umsetzbarkeit mit Patient/-innen wurde, der formulierten Hypothese entsprechend, übereinstimmend deutlich stärker der Verhaltenstherapie zugeschrieben. Allerdings lag hier auch ein kleiner Effekt des Studiengangs vor. Medizinstudierende schrieben sie beiden Verfahrensrichtungen in geringerem Maße zu. Psychodynamisch orientierten Verfahren wurde, ebenfalls hypothesenkonform, ein Beitrag zum Verständnis seelischer Störungen insgesamt stärker zugeschrieben. Ein geringer Interaktionseffekt lag zwar vor, erlangte jedoch auf Einzelkontrastebene keine Bedeutsamkeit. Bezogen auf Ausbildungsaufwand und -länge sowie die wissenschaftliche Fundierung der Verfahrensrichtungen lag neben Haupteffekten beider Faktoren jeweils ein auch auf Einzelkontrastebene signifikanter Interaktionseffekt vor. Für Ausbildungsaufwand und -länge waren der Effekt des Studiengangs und der Interaktionseffekt beide klein. Die Rangfolge der Einschätzungsunterschiede zwischen den Verfahrensrichtungen war in allen drei Studiengängen gleich. Eine psychodynamisch orientierte Ausbildung wurde, wie erwartet, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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insgesamt als länger und als aufwändiger wahrgenommen. Jedoch nahmen Psychologiestudierende sowohl den Ausbildungsaufwand für beide Verfahrensrichtungen als auch die Differenz zwischen den Verfahrensrichtungen als am größten wahr. Für wissenschaftliche Wirksamkeitsbelege bedeutet der große Haupteffekt der Verfahrensrichtung, dass der Verhaltenstherapie hypothesenkonform wissenschaftliche Belege ihrer Wirksamkeit über die Studiengänge hinweg in höherem Maße zugeschrieben wurden als psychodynamisch orientierten Verfahren. Dies war unter den Psychologiestudierenden am stärksten ausgeprägt der Fall, gefolgt von den Medizinstudierenden. Gleichzeitig schrieben Medizinstudierende psychodynamisch orientierten Verfahren in stärkerem Maße wissenschaftliche Wirksamkeitsbelege zu als Psychologiestudierende. Insbesondere bezogen auf die Wahrnehmung der Wissenschaftlichkeit von Verhaltenstherapie und psychodynamisch orientierten Verfahren (in geringerem Maße auch für den Ausbildungsaufwand) scheint somit eine Wirkung studiengangspezifischer bzw. fachkultureller Eigenheiten vorzuliegen (vgl. Kap. 5.1). Anhand der referierten Befunde kann zusammenfassend festgehalten werden, dass über die Studiengänge hinweg psychodynamisch orientierte Verfahren und Verhaltenstherapie bezüglich der einbezogenen Variablen unterschiedlich eingeschätzt wurden, dies entsprechend der formulierten Hypothese, allerdings mit Ausnahme einer Variable: Im jeweiligen Beitrag zum Verständnis der Gesellschaft wurden so gut wie keine Unterschiede gesehen. Für alle anderen Variablen lagen hoch bedeutsame Haupteffekte des Faktors der Verfahrensrichtung vor. Die Daten stützen die diesbezüglich formulierte Hypothese einer unterschiedlichen Wahrnehmung der Richtlinienverfahren also weitgehend. Es ließen sich jedoch, anders als erwartet, eher geringe Effekte des »Studiengangs« auf die Wahrnehmung der Verfahrensrichtungen auffinden. Die Richtung der Einschätzungen der Verfahrensrichtungen war in allen drei Studiengängen, entgegen der Hypothese, zu einem großen Teil sehr ähnlich (zur Veranschaulichung der Befunde vgl. Illustration 9). Differenzielle Effekte bzw. Wechselwirkungen waren nur bezogen auf die beschriebenen, einzelnen Variablen feststellbar.
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Illustration 9: Interviewauszüge zur Illustration der quantitativen Befunde zur Wahrnehmung von psychodynamisch orientierten Verfahren (PA/TP) und Verhaltenstherapie (VT) über alle Studierenden hinweg (jeweils höherer Mittelwert) Zu 1. Ausbildungsaufwand und -kosten (Mittelwert PA/TP höher): Er wisse, dass eine VT-Ausbildung ca. zehn- bis fünfzehntausend Euro koste, die Analyse durch den Erfahrungsbereich erheblich teurer sei (PSY 004). Über Therapierichtungen habe sie sich nicht rundum informiert. Sie war bei einer Infoveranstaltung des VT-Institutes und habe sich ein wenig über systemische Ausbildung informiert, was sie auch ganz interessant fände. Über eine analytische Ausbildung habe sie nichts vermittelt bekommen, wisse aber, dass durch die Selbsterfahrung und intensivere Supervision die Ausbildung teurer wird (PSY 051). Die [psychoanalytische] Ausbildung koste sehr viel und nur privilegierte Leute könnten sich das leisten. »Vom Geld her« sei das eine elitäre Ausbildung, ansonsten aber nicht (PÄD 172). Zu 2. Karrierevereinbarkeit (Mittelwert VT höher): Die Psychoanalyse sei »nun nicht gerade auf dem Vormarsch« (PSY 039). Verhaltenstherapie sei »von großem allgemeinem Interesse« und zeige schnellere Resultate, was dazu führen könne, dass die Patienten dabeiblieben. Außerdem sei es fraglich, ob in Zukunft Psychoanalyse von den Krankenkassen bezahlt würde. Ich fasse zusammen, dass sie die Ausbildung zum Verhaltenstherapeuten machen möchte, um als Analytikerin zu arbeiten. Wir müssen beide lachen (PSY 050). Gründe für die Ausbildung sind zum einen, anderen Menschen zu helfen, aber auch ein sicheres Einkommen. Die Ausbildung müsse im kassenärztlichen Bereich sein, sie möchte »Karriere« machen. Sie hat auch schon entschieden, dass sie eine verhaltenstherapeutische Ausbildung machen möchte (PSY 130). Zu 3. Beitrag zum Verständnis seelischer Störungen (Mittelwert PA/TP höher): Von Psychoanalyse kenne sie sehr wenig. Sie finde es wichtig, bei einigen Problemen den Ursprung in der Kindheit zu suchen. Sie habe © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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viel über sich und ihre Eigenschaften nachgedacht. […] Sie räumt ein, dass in der Kindheit viel passiert, das finde sie spannend. Deshalb könnte sie sich schon für Psychoanalyse interessieren und sie würde sich gerne mehr damit auseinandersetzen (PSY 110). Ich frage sie nach ihrer Einstellung zur Psychoanalyse. Ursachenforschung sei wichtig, antwortet sie mir. Psychoanalyse sei nicht mehr so wie früher, sondern an den aktuellen Zeitgeist angepasst. Negativ empfindet sie die »krankmachenden« Denkansätze, dass die Sicht der Psychoanalyse sei, dass alles mehr oder weniger krankhaft sei. Persönliche Ressourcen würden nicht berücksichtigt. Ebenso gefalle ihr das hierarchische, distanzierte Verhältnis zwischen Therapeut und Patient nicht. Positiv findet sie die Wichtigkeit der Ursachen einer Störung, besonders wenn diese weit zurückliegen (PSY 002). Wenn sich einer für »Hokuspokus« interessiert; neigt er vielleicht eher zur Psychoanalyse und geht die Probleme »von ganz tief an«, im Gegensatz zu einem Anderen, der etwas »schneller durchziehen möchte« (PSY 057). Zu 4. Umsetzbarkeit mit Patient/-innen (Mittelwert PA/TP höher): Die Verhaltenstherapie sei praktikabel, der Patient profitiere relativ schnell davon und sie sei im Alltag integrierbar (MED 076). Die Vorteile in der Verhaltenstherapie sehe sie in der Verstärkung durch sich selbst und durch andere. Sie sei schneller, effektiver und einfacher in der Umsetzung. Nicht alle Störungen seien durch die Kindheit erklärbar. Nachteilig bei der Psychoanalyse sei, dass viele Menschen nicht so gut reflektieren könnten. Es sei ein langer Prozess, die Menschen dazu zu bringen, dass sie nachdenken (PSY 110). Die Psychoanalyse sei »schwer nachvollziehbar, intellektuell sicher toll, aber nicht praktisch und durchsetzbar« (PSY 039). Zu 5. Beitrag zum Verständnis der Gesellschaft (Mittelwert annähernd gleich): Die Psychoanalyse könne er »als Weltbild nicht annehmen« und verweist auf die Zahlen von Grawe [Grawe et al., 1994, d. Verf.], die ja nicht so gut seien und da müsse man sich schon fragen, warum das so sei. Er geht davon aus, dass Störungen, die einfach kultur- oder gesellschaftsbedingt sind, heute im »Vorrang« stehen, dafür böte sich die VTeinfach an. Für einen geringeren Prozentsatz von Störungen, »die, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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sagen wir mal, exotisch sind […] der kann diese Erfahrung nicht einordnen und braucht einen Therapeuten, der ihm dabei hilft, sein kognitives Selbst wieder in Ordnung zu bringen und wieder zu stabilisieren […]«, da böten sich andere Verfahren wie GT oder Gestalttherapie an (PSY 004). Ihren ersten Kontakt mit Psychoanalyse im Studium hatte sie in einem Feldforschungstheorie-Seminar. In diesem Seminar wurde ein Fall (eine Frau mit einem Migrationshintergrund) vorgestellt und die Unterschiede zwischen Ethnopsychoanalyse und der Psychoanalyse nach Freud herausgearbeitet. Die Lebensumstände, die Zeitgeschichte, der »Zeitgeist«, also die Bedingungen dieser Frau zusätzlich zur individuellen Biographie wurden dort herausgearbeitet. Dort habe sie erkannt, dass das auch »auf gesellschaftliche Einstellungen zurückzuführen ist, wie jemand sich verhält in der Gesellschaft« (PÄD 172). Zu 6. Förderung von Selbsterkenntnis (Mittelwert PA/TP höher): Für die Psychoanalyse spreche der »hohe Anteil an Selbsterfahrung«. »Man sollte sich selbst schon gut genug kennen, bevor man auf andere losgelassen wird.« Sie sei der Auffassung, dass schon während des Studiums Selbsterfahrung sinnvoll wäre. Sie habe z. B. ein Seminar besucht, bei dem Imagination durchgeführt wurde. Sie wolle mehr über sich selbst erfahren. Sie habe auch keine Angst davor, »im Gegenteil« (PSY 042). Der Vorteil bei der VT sei, dass man an die Leute herankomme, man habe schnellere Effekte und der Leidensdruck reduziere sich. Allein VT sei allerdings zu wenig. Es fehlen die Teile auf die Gründe einzugehen und nachzufragen, wie der Patient sich fühle (PSY 050). Selbsterfahrung hält er für zwingend nötig, das sei ein großer Pluspunkt der analytischen Ausbildung. Er betreibe »Selbsterfahrung über Selbstreflexion, […] über eigenes Handeln und Tun sprechen und reflektieren«. Er habe das in den letzten Jahren »mit Freunden und über Literaturstudium intensiviert«. Um Therapeut zu werden, reiche das aber nicht aus (PSY 004). Zu 7. Wissenschaftliche Wirksamkeitsbelege (Mittelwert PA/TP höher): VT sei ergebnisorientiert, evaluiert und brächte schnelle Ergebnisse hervor (PSY 130). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
10.3 Befunde zu Hypothesenkomplex 3 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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Die Psychoanalyse sei zu wenig evaluiert, zu wenig erforscht und einfach nur der Tradition wegen noch irgendwie so weit verbreitet, und würde daher von den Kassen bezahlt (PSY 029). Sie kenne auch die Vorurteile gegenüber der Psychoanalyse, dass die sich nicht so gern evaluieren lasse: »Also da gab ja auch eben die Arbeit von Klaus Grawe, der da ziemlich offen das dann dargelegt hat und da sehr viel Kritik auch eingesteckt hat, klar. […] Er hat eben auch gezeigt, dass […] oder dass die Dauer der Therapie oder dass das analytische Verfahren dann eben […] oder dass verhaltenstherapeutische Verfahren eben mindestens genauso effektiv sind und kürzer« (PSY 051). Die Verfahrensrichtungen im direkten Vergleich Die Verhaltenstherapie sei praktikabel, der Patient profitiere relativ schnell davon und sie sei im Alltag integrierbar. Bei der Psychoanalyse fand er einleuchtend, dass, wenn man die Ursachen kenne, das Verhalten besser modifizieren könne. Sie dauere lange und die Fortschritte seien nicht so offensichtlich. Beide Verfahren haben ihre Berechtigung (MED 076). Die psychotherapeutische Richtung sei abhängig vom Störungsbild. […] Verhaltenstherapie sei einfacher durchzuführen, symptomorientiert. Die Psychoanalyse gehe mehr »auf den Grund« (MED 071). Verhaltenstherapie »ist eine gute Sache bei bestimmten Störungen. Das kann man bestimmt nicht immer einsetzten«. An dieser Stelle berichtet die Interviewte lachend von einer Psychiaterin, die während des Psychiatriepraktikums zu ihr sagte: »Man kann auch eine Ratte konditionieren, dafür muss man nicht besonders helle sein«. Verhaltenstherapie sei gut für Menschen, die für eine Analyse nicht so geeignet sind. Für eine Analyse brauche man Selbstreflektion und müsse »in sich rein horchen können«. Für eine Gesprächstherapie brauche man zum großen Teil ähnliche Charaktereigenschaften (MED 166). Die Psychoanalyse ist ihrer Wahrnehmung nach ganzheitlicher ausgerichtet und integriert philosophische Fragestellungen, wird demnach aber in der Öffentlichkeit (soweit ein differenziertes Bild der unterschiedlichen Therapieschulen vorhanden ist) oft als esoterisch wahrgenommen. Die VT setzt den Schwerpunkt auf Regeln und Verhaltensändernde Intervention. Die Konzepte der VT sind für den © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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10 Quantitative Befunde
Laien besser nachvollziehbar und viele Studenten würden sich aufgrund der besseren Zugänglichkeit für sie entscheiden (PSY 052).
Zu Hypothese 3.b) Wahrnehmung von Verhaltenstherapie und psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtungen nach hohem versus geringem psychotherapeutischem Ausbildungsinteresse Bei der deskriptiven Betrachtung der Mittelwertunterschiede zeigt sich, dass, auch wenn die Studierenden in der Gruppe mit hohem Interesse für beide Verfahrensrichtungen im Vergleich mit denjenigen in der Gruppe mit geringem Interesse einen höheren Mittelwert in fast allen Variablen aufwiesen, die Mittelwertunterschiede größtenteils eher gering waren (einzig für den Beitrag zum Verständnis der Gesellschaft durch Verhaltenstherapie lag deskriptiv ein höherer Mittelwert in der Gruppe mit niedrigerem Interesse vor138). Viele Mittelwertunterschiede zwischen den Gruppen, also Haupteffekte des Faktors »Interessensgruppe«, waren entsprechend varianzanalytisch nicht statistisch bedeutsam. Lediglich für den Aufwand und die Länge der Ausbildung (F(1/374; .01) = 6,30; g2 = .017; p < .01), die Umsetzbarkeit mit Patient/-innen (F(1/447; .01) = 18,20; g2 = .039; p < .01) sowie wissenschaftliche Wirksamkeitsbelege (F(1/377; .01) = 7,55; g2 = .026; p < .01) waren jeweils hoch bedeutsame Unterschiede zwischen den Gruppen aufzufinden. Bei Betrachtung der partiellen Effektstärken zeigte sich allerdings, dass auch diese Effekte als klein zu bezeichnen sind. Der größte Effekt war mit nur 4 % durch das Modell erklärter Varianz in Bezug auf die Umsetzbarkeit der Verfahrensrichtungen mit Patient/-innen zu finden. Der Haupteffekt des Faktors der »Verfahrensrichtung« war dagegen, bis auf einen Beitrag zum Verständnis der Gesellschaft, für alle der Variablen hoch signifikant und lag zwischen 6 % und 43 % erklärter Varianz. Der größte Effekt war hier bezogen auf die Umsetzbarkeit der Verfahrensrichtungen mit Patient/-innen zu verzeichnen (F(1/447; .01) = 338,17; g2 = .431; p < .01). Ein hoch signifikanter, kleiner ordinaler Interaktionseffekt zeigte sich ebenso für wissenschaftliche Wirksamkeitsbelege der Verfahrens138 Die deskriptiven Kennwerte sind im bei der Autorin einsehbaren Anhang aufgeführt.
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10.4 Befunde zu Hypothesenkomplex 4 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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richtungen (F(1/377; .01) = 6,94; g2 = .018; p < .01). Diesbezüglich fanden sich in der Einschätzung von psychodynamisch orientierten Verfahren zwischen den Gruppen kaum Unterschiede, während für Verhaltenstherapie große Einschätzungsunterschiede vorlagen. Die stärker Interessierten schrieben der Verhaltenstherapie wissenschaftliche Wirksamkeitsbelege in einem um einiges höheren Maße zu. Verhaltenstherapie wurde jedoch von beiden Gruppen in höherem Maße für wissenschaftlich belegt gehalten. Ein signifikanter, allerdings nur kleiner disordinaler Interaktionseffekt fand sich für einen Beitrag zum Verständnis der Gesellschaft (F(1/424; .05) = 4,47; g2 = .010; p < .05). Dies bedeutet inhaltlich, dass diejenigen mit hohem Interesse einen Beitrag zum Verständnis der Gesellschaft durch psychodynamisch orientierte Verfahren im Mittel als größer einschätzten, während diejenigen mit geringem Interesse dies der Verhaltenstherapie in einem stärkeren Maße zuschrieben. Insgesamt können die Unterschiede in der Wahrnehmung der beiden Verfahrensrichtungen zwischen Studierenden mit hohem oder geringem Interesse bezogen auf die untersuchten Variablen jedoch als eher klein bezeichnet werden. Somit ist nicht davon auszugehen, dass die stärker an einer psychotherapeutischen Ausbildung Interessierten systematisch andere Sichtweisen auf die Verfahrensrichtungen aufweisen als die weniger Interessierten. Die Interessengruppe scheint keine große Rolle zu spielen für die Wahrnehmung der Richtlinienverfahren. Unabhängig von einem hohen oder geringen psychotherapeutischen Ausbildungsinteresse wurden psychodynamische Verfahrensrichtungen und Verhaltenstherapie meist verschieden wahrgenommen. Die vorliegende studentische Population muss demnach diesbezüglich nicht weiter unterteilt werden.
10.4 Befunde zu Hypothesenkomplex 4: Interesse an Verhaltenstherapie und Psychoanalyse sowie insgesamt an psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtungen Befunde zum Interesse an Verhaltenstherapie oder Psychoanalyse sowie insgesamt an psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtungen über die Studierenden hinweg, sowie im Zusammenhang mit dem jeweiligen Studiengang, werden im Folgenden referiert. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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10 Quantitative Befunde
Zu Hypothese 4.a) Interesse aller Studierender an Verhaltenstherapie und Psychoanalyse sowie insgesamt einer psychodynamisch orientierten Ausbildung Wie verteilt sich das Interesse an den kassenärztlich anerkannten Verfahrensrichtungen in der Gesamtstichprobe? Deskriptiv waren, wie erwartet, insgesamt mehr Studierende (25 %) an einer verhaltenstherapeutischen Ausbildung interessiert als an einer psychoanalytischen (9 %). Auch für die psychodynamisch orientieren Verfahrensrichtungen (PA/TP) zusammen genommen interessierten sich mit 18 % insgesamt weniger Studierende als für eine verhaltenstherapeutische Ausbildung (vgl. Abb. 11).
Abbildung 11: Vergleich aller Studierenden bezüglich des Interesses für eine Ausbildungsrichtung Anmerkungen: VT = Verhaltenstherapie, PA = Psychoanalyse, TP = tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, GT = Gesprächspsychotherapie, andere = andere Verfahrensrichtung; w2(.01; 5; N = 551) = 174,52.
Inferenzstatistisch unterschieden sich bei Durchführung eines w2Tests die beobachteten Häufigkeiten hoch bedeutsam von den erwarteten. Somit kann eine der zentralen Annahmen dieser Untersuchung eines insgesamt größeren Interesses an Verhaltenstherapie als © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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an Psychoanalyse sowie insgesamt an psychodynamischen Verfahren über alle Studierenden hinweg als empirisch gestützt betrachtet werden (zur Veranschaulichung der Befunde vgl. Illustration 10).139
Zu Hypothese 4.b) Interesse an Verhaltenstherapie oder Psychoanalyse sowie insgesamt einer psychodynamisch orientierten Ausbildung nach Studiengang Nach Studiengängen unterteilt interessierten sich prozentual am meisten Psychologiestudierende (42 %) für eine verhaltenstherapeutische Ausbildung, wie in Tabelle 24 einzusehen. Im Studiengang Medizin wussten die Studierenden prozentual am häufigsten nicht, für welche Ausbildungsrichtung sie sich entscheiden würden (43 %). Wenn sie eine Richtung bevorzugten, dann am häufigsten Gesprächspsychotherapie (28 %). Unter den Pädagogikstudierenden war ebenfalls prozentual die häufigste Angabe, nicht zu wissen, welche Ausbildungsrichtung gewählt würde (28 %). Wenn die Studierenden dieses Studiengangs sich für eine Richtung interessierten, so gleich häufig für Psychoanalyse und für Gesprächspsychotherapie (je 22 %). Zur Überprüfung eines angenommenen Einflusses des Studiengangs Tabelle 24: Interesse für Ausbildungsrichtung nach Studiengang
Psychologiestudierende (n = 192) Medizinstudierende (n = 292) Pädagogikstudierende (n = 67)
PA
TP
VT
GT
Andere
9% 6% 22 %
15 % 6% 6%
42 % 16 % 16 %
10 % 28 % 22 %
10 % 2% 5%
Weiß nicht 13 % 43 % 28 %
Anmerkungen: PA = Psychoanalyse; TP = tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie; VT = Verhaltenstherapie; GT = Gesprächspsychotherapie ; fett gedruckt ist das jeweils höchste prozentuale Interesse an einer Verfahrensrichtung nach Studiengang.
auf das Interesse an einer bestimmten Ausbildungsrichtung wurde, wie im Methodenteil erläutert, eine multinominale logistische Regression durchgeführt (vgl. Tabachnik u. Fidell, 2007). Die Güte der 139
Dies auch bei Unterteilung der Stichprobe in diejenigen mit höherem und diejenigen mit geringerem psychotherapeutischen Ausbildungsinteresse, wie im bei der Autorin erhältlichen Anhang im Detail eingesehen werden kann. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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10 Quantitative Befunde
Anpassung des Gesamtmodells mittels LR-Test ist als gut zu bezeichnen (w2(.01; 10; N = 551) = 126.74, p < .01; vgl. Backhaus et al., 2008, S. 281). Da nur ein Prädiktor in das Modell aufgenommen wurde, weicht das Ergebnis des Likelihood-Quotienten-Tests zur Bestimmung der Gütebeurteilung auf Variablenebene nicht davon ab (vgl. z. B. Tabachnik u. Fidell, 2007). Das Nagelkerne-R2, das den Anteil der Varianzerklärung der abhängigen Variablen durch die unabhängigen Variablen bezeichnet, kann mit 21 % für die Güte der Anpassung des Modells als noch akzeptabel gelten (Backhaus et al., 2008).140 Ebenfalls ein Hinweis auf eine akzeptable Modellgüte ist, dass die Trefferquote auf Grundlage des Modells mit 41 % höher ausfällt als diejenige bei zufälliger Zuordnung (31 %).141 Mittels der Wald-Teststatistik (vgl. Backhaus et al., 2008) wurden unter Berücksichtigung der jeweiligen Konfidenzintervalle folgende signifikante Zuteilungswahrscheinlichkeiten zu den Studierendengruppen unter Verwendung des Modells ermittelt: Unter den Psychologiestudierenden war die Wahrscheinlichkeit für ein Interesse an Verhaltenstherapie hoch signifikant (p < .01) größer als für Gesprächspsychotherapie, für Psychoanalyse und für eine »weiß nicht«-Antwort. Weiter war signifikant (p < .05) eher ein Interesse an »anderen« Verfahrensrichtungen aufzufinden als an Psychoanalyse, an Gesprächspsychotherapie und bezogen auf die Kategorie »weiß nicht«. Schließlich fand sich hier hoch signifikant (p < .01) eher ein Interesse an tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie als an Gesprächspsychotherapie, an Psychoanalyse und wiederum bezogen auf eine »weiß nicht«-Antwort. Am unwahrscheinlichsten war bei Zugehörigkeit zur Gruppe der Psychologiestudierenden also ein Interesse an Psychoanalyse, an Gesprächspsychotherapie oder die Kategorie »weiß nicht«.
140 Die sogenannten Pseudo-R2 Statistiken werden nach Backhaus et al. (2008) zur Prüfung der Modellgüte verwendet und können ab .20 als akzeptabel gelten. 141 Die Klassifikationsergebnisse ergeben sich aus dem Vergleich der Trefferquote bei einem zufälligen Ergebnis unter Beachtung der Gruppengröße, der sogenannten maximalen Zufallswahrscheinlichkeit, mit der Trefferquote auf Basis des Modells (also der Übereinstimmung der vorhergesagten mit der beobachteten Quote, vgl. Backhaus et al., 2008).
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In der Gruppe der Medizinstudierenden war statistisch hoch bedeutsam eher ein Interesse an Verhaltenstherapie (p < .01), an tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie (p < .05), an Gesprächspsychotherapie (p < .01) sowie die Angabe »weiß nicht« (p < .01) zu finden als ein Interesse an Psychoanalyse. Bis auf ein Interesse an anderen Verfahrensrichtungen waren also alle anderen Alternativen bei Zugehörigkeit zu dieser Gruppe wahrscheinlicher als ein Interesse an Psychoanalyse. In der Gruppe der Pädagogikstudierenden war die Wahrscheinlichkeit für ein Interesse an Psychoanalyse dagegen statistisch bedeutsam erhöht im Verhältnis zu Verhaltenstherapie (p < .01), zu tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie (p < .01) und anderen Verfahrensrichtungen (p < .01). Des Weiteren war sie erhöht für ein Interesse an Gesprächspsychotherapie im Verhältnis zu Verhaltenstherapie (p < .01), zu tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie (p < .05) und zu anderen Verfahren. »Weiß nicht«-Antworten waren in dieser Studierendengruppe schließlich signifikant wahrscheinlicher als ein Interesse an tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie (p < .01), an Verhaltenstherapie (p < .01), an Gesprächspsychotherapie (p < .01) und an anderen Verfahrensrichtungen (p < .05). Bei Zugehörigkeit zu dieser Gruppe war demnach ein Interesse an Psychoanalyse, Gesprächspsychotherapie oder eine »weiß nicht«-Antwort am wahrscheinlichsten. Bei einer gesonderten Betrachtung des Verhältnisses eines Interesses der Studierenden der untersuchten Studiengänge an den gegenwärtigen Richtlinienverfahren zeigte sich, dass sich in der Gruppe der Psychologiestudierenden fast zwei Drittel eher für eine verhaltenstherapeutische Ausbildung (63 %) interessierten und nur etwas über ein Drittel (37 %) eine psychodynamisch orientierte Ausbildung (PA/ TP) wählen würde.142 In der Gruppe der Pädagogikstudierenden fand sich das exakt umgekehrte Verhältnis (PA/TP: 63 %; VT: 37 %). In der Gruppe der Medizinstudierenden war das Verhältnis, wenn auch zugunsten der Verhaltenstherapie, so doch etwas ausgeglichener (PA/ TP: 42,5 %; VT: 57,5 %). Die gefundenen Zusammenhänge zwi142
Ein psychodynamisch orientiertes Ausbildungsinteresse ergibt sich aus der Zusammenfassung des Interesses an Psychoanalyse und einer tiefenpsychologisch fundierten Ausbildung (vgl. Kap. 7 ff.). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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10 Quantitative Befunde
schen Studiengang und Wahl eines der Richtlinienverfahren sind bei Durchführung eines Mehrfelder-Chi-Quadrat-Tests (vgl. Bortz u. Lienert, 2008, S. 76) inferenzstatistisch als bedeutsam (w2(.05; 2; p < .05), allerdings als klein zu bezeichnen N = 237) = 6.90, (Phi = .171; p < .05). Integration der Befunde mit Bezug auf die formulierte Hypothese Hypothesengemäß waren somit Psychologiestudierende am häufigsten an Verhaltenstherapie interessiert, wobei sie diese im Vergleich der Richtlinienverfahren sowohl einer psychoanalytischen als auch insgesamt einer psychodynamisch orientierten Ausbildung vorzogen. Ebenfalls der formulierten Hypothese entsprechend, war das Interesse an Psychoanalyse in den Pädagogikstudiengängen am größten. Sie zogen eine insgesamt psychodynamisch orientierte sowie eine psychoanalytische einer verhaltenstherapeutischen Ausbildung vor. Für Pädagogik- und Psychologiestudierende waren weiter einander entgegengesetzte Wahrscheinlichkeiten bezüglich der Präferenz für eines der genannten Verfahren anzutreffen. Anders als erwartet jedoch, fand sich auch in der Gruppe der Medizinstudierenden eine geringe Wahrscheinlichkeit für ein Interesse an Psychoanalyse im Vergleich mit den anderen Verfahrensrichtungen und einer »weiß-nicht«-Antwort, wenn auch bei Betrachtung nur des Interesses für eines der Richtlinienverfahren das Votum zugunsten der Verhaltenstherapie im Verhältnis zum Interesse an einer psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtung weniger eindeutig ausfiel als unter den Psychologiestudierenden. Überlegungen zu möglichen Ursachen für das vergleichsweise große Interesse an Gesprächspsychotherapie unter den Studierenden insgesamt sowie insbesondere im Studiengang Medizin werden in Kapitel 12.1 diskutiert.143 143
Die hier referierten Ergebnisse finden sich in einer etwas anderen Version auch in Lebiger-Vogel et al. (2009). Während für die anderen beiden Studiengänge unter den stärker an einer psychotherapeutischen Ausbildung Interessierten ein größeres Interesse an einem der Richtlinienverfahren festzustellen ist, reduziert sich für die Medizinstudierenden das Interesse unter den Weiterbildungsinteressierten an Gesprächspsychotherapie absolut sowie verhältnismäßig nicht, sondern ist noch höher. Während bezogen auf den erstgenannten Befund © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Illustration 10: Interviewauszüge zur Illustration der quantitativen Befunde zum Ausbildungsinteresse in einem der Richtlinienverfahren oder in einer anderen Verfahrensrichtung unter Einbezug von Argumenten für oder gegen die jeweilige Richtung Pro Verhaltenstherapieausbildung Die Interviewte ist kurz vor Ende ihres Studiums und hat sich für die verhaltenstherapeutische Ausbildung entschieden, der Ausbildungsvertrag ist auch schon unterschrieben. […] Der Interviewten ist deutlich anzumerken, wie sehr sie von der Verhaltenstherapie überzeugt ist. Ihre Ausbildung erwartet sie gespannt (PSY 101). Die Interviewte war lange mit dem Menschenbild der VT nicht einverstanden. Als sie eine Veranstaltung bei einem Gastprofessor aus den USA besuchte, der die VT mit »philosophischen Inhalten« wie Entscheidungsfreiheit und persönlicher Verantwortung verknüpfte, wandelte sich ihr Bild von der VT zum Positiven. Über den Umgang mit ihren eigenen Problemen sagt sie, dass sie eigentlich zum Grübeln und Nachdenken neigt, davon aber wegkommen möchte und sich stärker überlegen will, was ihre Ziele sind und wie sie sie erreichen kann (Sie nennt das auch ihre »kleine VT«). Gut findet sie an der Verhaltenstherapie, dass man sich bei ihr mit der Gegenwart (nicht wie bei der Psychoanalyse mit der Vergangenheit) befasst, da die Probleme auch in der Gegenwart liegen. Verhaltenstherapeuten wirken auf sie überzeugend und selbstsicher, Psychoanalytiker werden von ihr größtenteils als autoritär beschrieben und haben »immer so eine Aura um sich« (PSY 073). Wenn sie sich für eine therapeutische Ausbildung entschieden hätte, wäre ihre Wahl auf die Verhaltenstherapie gefallen. Die anderen Verfahren hat sie als »zu tiefgehend« empfunden, die »oberflächliche« Verhaltenstherapie mit der man kürzere Therapien machen kann, hat ihr mehr gelegen. […] Mit der Verhaltenstherapie konnte sie sich »noch am meisten identifizieren«, Psychoanalyse findet sie »teilweise ein Zusammenhang mit einer größeren Relevanz der Kassenanerkennung der präferierten Verfahrensrichtung für Studierende mit höherem Interesse wahrscheinlich ist, stellt sich die Frage, womit das so große gesprächspsychotherapeutische Interesse unter den Medizinstudierenden zusammenhängen könnte. Auch darauf wird im Rahmen der Diskussion der Befunde eingegangen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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10 Quantitative Befunde
ein bisschen albern«: man muss »so viel ruminterpretieren, wo man dann auch extrem falsch liegen kann«. Bei der Verhaltenstherapie arbeitet man mehr mit »Fakten«, außerdem ist sie »authentischer«, man »wühlt nicht in der Vergangenheit rum, nur um etwas zu finden, damit man was findet«. Einen weiteren Vorteil der Verhaltenstherapie gegenüber der Psychoanalyse sieht sie in der kürzeren Behandlungsdauer: der Patient wird nicht so lange »genötigt« und »festgehalten«. Der Nachteil der Verhaltenstherapie ist die Unsicherheit, »ob das nach 25 Stunden auch wirklich abgeschlossen ist« (PSY 057). Kontra Verhaltenstherapieausbildung Sie empfindet die Verhaltenstherapie als manipulierend, meint aber, nicht wirklich viel über dieses Verfahren zu wissen. Ihr Bild von der Verhaltenstherapie ist aber, dass diese sei, »wie ein Pflaster über die Probleme kleben« (PSY 400). Mit dem Verhaltenstherapeutischen könne sie nicht so viel anfangen, »mit jemandem auf einen Turm steigen« das habe sie in einem Film gesehen, Ängste so angehen, sei nicht so »ihr Ding« (MED 193). Verhaltenstherapie ist konditionierend, »man will, dass es eben funktioniert« (MED 166). Pro psychodynamisch orientierte Ausbildung Die Interviewte hält selbst von der Psychoanalyse »ziemlich viel«, weil sie Menschen gesehen hat, die eine Analyse gemacht haben und denen dadurch geholfen wurde. Außerdem, »wenn sich Freud geirrt hätte, wären hier auch sicher schon andere Wissenschaftler darauf gekommen und man würde es nicht weiterverfolgen« (MED 166). Die Interviewte möchte eine psychoanalytische Ausbildung machen, sorgt sich aber um die Finanzierung und sieht keine Möglichkeit auf Förderung der Ausbildung (PSY 400). Sie erklärt mir ihre Vorliebe zur Psychoanalyse. Ihre große Schwester habe ihr die Vorzüge erklärt. Sie selbst fand es zuerst abschreckend, insbesondere weil »unfeministisch«. Sie habe Probleme damit gehabt, »Pro-forma-Aussagen« zu akzeptieren: »Es ist so und so, was man nicht anerkennt ist dann Widerstand«. Dies sei allerdings eine altmodische Sichtweise und würde nicht mehr so praktiziert. Sie habe sich extra eine analytische Fallgruppe ausgesucht, um zu sehen, »ob es so fürchterlich ist, wie ich denke, und es ist nicht so fürchterlich, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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wie ich denke«. Sie denke mittlerweile, dass es sinnvoll ist, nicht »Symptombehandlung« zu machen, obwohl es manchmal notwendig und wichtig ist. Man müsse immer sehen, was der Patient brauche (PSY 050). Kontra psychodynamisch orientierte Ausbildung Allerdings passe eine Ausbildung zum Analytiker nicht zu ihm. Er wolle sich von Menschen abgrenzen, könne nicht der »Spiegel« für andere sein. Aber er räumt seine laienhafte Vorstellung ein, weil er eigentlich keine Ahnung davon habe. »An der Uni wird Psychoanalyse nur marginal erwähnt.« Er weiß, dass Vergangenheit eine Rolle spielt, aber: »Wenn ich was nicht kenne, weiß ich nicht, ob es mich interessiert« (PSY 140). Seine Abneigung gegen die Psychoanalyse begründet er mit seinen Erfahrungen, die er in einer Hauptstudiumsvorlesung sammelte. Er beschreibt die Psychoanalyse als diffuse, »abgespacete« Erfahrungswissenschaft: »Wenn man ein kleines Kind ein Bild malen lässt und dann total viel da hinein interpretiert, dann ist ja klar, dass das keine Hand und Fuß hat« kommentiert er eine Situation aus einem Seminar. Es werde in der Psychoanalyse viel geschöpft und gemutmaßt und sie hätte etwas Esoterisches (PSY 136). Ihr einziges Psychoanalyseseminar ging thematisch um Sexualität und gefiel ihr nicht. Psychoanalyse empfindet sie als »Hokuspokus, Laberrhabarber« und als einfach nicht wissenschaftlich belegbar (PSY 101). Die Verfahrensrichtungen im direkten Vergleich Sie wünscht sich aber eine Annäherung der Verhaltenstherapie und der Psychoanalyse, da sie die Vorteile beider Therapieformen zu schätzen weiß. […] Ihren Wunsch multimodal therapeutisch tätig zu sein, relativierte sie: »Man muss, um Therapeut zu werden eine Richtung richtig beherrschen und erst dann kann man multimodal tätig werden« (PSY 113). Sie habe ein Praktikum in der Psychoanalyse und eines in einer VTPraxis gemacht und habe erfahren, dass Verhaltenstherapeuten auch Anteile der Psychoanalyse verwendeten. Sie erwähnt eine Studie, die belegt hätte, dass sich nach zehn Jahren die Arbeitsweise nicht mehr unterscheide. Demnach könne sie ebenso gut die kürzere und billigere © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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VT-Ausbildung machen, obwohl sie Psychoanalyse mehr interessiere und die Psychoanalyse auch besser behandeln könne (PSY 050). Sie hofft, dass die beiden Therapieschulen (Psychoanalyse und VT) irgendwann »zusammenlaufen« werden und man dann aus beiden das nimmt, »was am meisten nützt«. Sie spricht sich gegen das »Gegeneinander« der beiden Therapieschulen aus (PSY 073). Gesprächspsychotherapeutische oder andere Ausbildung Sie sagt, dass sie sich noch nicht genug mit den verschiedenen Therapieschulen und den Ausbildungsmöglichkeiten beschäftigt hat, um zu entscheiden, welche Ausbildung sie später eventuell machen möchte. Die Tendenz geht aber stark in Richtung Gesprächspsychotherapie (MED 166). Sie meint, es wäre einfacher, einen Job zu finden, wenn man eine Ausbildung in einem anerkannten Verfahren machen würde, zur Not würde sie das auch angeben oder auch machen, aber eigentlich möchte sie gerne in alternativen Verfahren ausgebildet werden. Sie meint, dass Sie eigentlich aufgrund eines eng bemessenen Zeit- und Geldbudgets gleich die Ausbildung machen will, für die ihr Herz schlägt. Und dies sei in ihrem Freundeskreis relativ einhellig so, die meisten wollen schon eher in die alternativen Verfahren, nur einige planen aus einem Sicherheitsgefühl heraus eine Ausbildung in VT. Der Vorteil der alternativen Verfahren sei die Kostengünstigkeit, also diese seien am billigsten, am teuersten und längsten sei die Psychoanalyse. Sie glaubt daran, dass irgendwann die psychotherapeutischen Kassenleistungen sehr eng beschnitten werden und immer mehr »normale« Menschen für ihre Therapie selbst aufkommen müssen, und da sei eine systemische Ausbildung i. S. des Anbietens von lösungsorientierter Kurzzeittherapie am besten, weil die Menschen dann natürlich ein wenig teures und zeitaufwändiges Verfahren wählen werden – sie rechnet sich dadurch einen Marktvorteil aus (PSY 007).
Zu Hypothese 4.c) Behandlungswahl der Studierenden Für die Behandlungswahl zeigt sich ein ähnliches Bild bezüglich der Bevorzugung bestimmter Verfahrensrichtungen wie für die Ausbildungswahl. Gefragt nach der Wahl einer Verfahrensrichtung bei eigenem Behandlungsbedarf gaben jedoch ca. 5 % aller Stu© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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dierenden (n = 31) an, dass sie keine psychotherapeutische Behandlung in Anspruch nehmen würden. Immerhin 45 % (n = 302) der Gesamtstichprobe konnten sich dagegen eine Behandlung in mehr als nur einer psychotherapeutischen Richtung vorstellen. Unter den Studierenden, die nur eine (oder »keine«: 8 % dieser Substichprobe, vgl. Abb. 12) Behandlungsmethode angaben (55 %, n = 370), würden bei eigenem psychotherapeutischem Behandlungsbedarf, dem im vorherigen Abschnitt referierten Ergebnis zur Ausbildungswahl analog, mehr Studierende eine verhaltenstherapeutische Behandlung (17 %) in Anspruch nehmen als eine klassische Psychoanalyse (8 %). Rechnet man jedoch tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie mit ein, so relativiert sich dieser Befund etwas: mit 17 % würden dann entgegen den Erwartungen ebenso viele Studierende insgesamt eine psychodynamisch orientierte Behandlung in Anspruch nehmen wie eine verhaltenstherapeutische (zur Veranschaulichung der Wahl einer dieser beiden Richtungen vgl. Illustration 11). Zudem stand bei der Behandlungswahl, anders als bei der Wahl der Ausbildung, die Gesprächspsychotherapie an erster Stelle (55 %), insofern ein be-
Abbildung 12: Vergleich der Behandlungswahl der Studierenden in Prozent Anmerkungen: VT = Verhaltenstherapie, PA = Psychoanalyse, TP = tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, GT = Gesprächspsychotherapie, andere = andere Verfahrensrichtung; einbezogen wurden diejenigen mit nur einer Angabe; w2(.01; 5; N = 370) = 420,67, p < .01. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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10 Quantitative Befunde
merkenswerter Befund, als diese momentan nicht in den kassenärztlichen Leistungskatalog fällt. Möglicherweise ist dies zumindest teilweise darauf zurückzuführen, dass viele Studierende keine differenzierten Kenntnisse über einzelne psychotherapeutische Verfahrensrichtungen besaßen (s. Hypothesenkomplex 1) und somit unter »Gesprächspsychotherapie« eventuell Psychotherapie im Allgemeinen in Abgrenzung z. B. zu körperorientierten Verfahren verstanden.144 Dies wird zu diskutieren sein (vgl. Kap. 12.1). Die prozentuale Verteilung der Verfahrenswahl bei persönlichem Behandlungsbedarf wies in der Gesamtstichprobe inferenzstatistische Überzufälligkeit auf (vgl. Abb. 12). Auch nach Studiengängen unterteilt zeigt sich bei der Behandlungswahl jeweils ein ähnliches Bild bezüglich der Bevorzugung bestimmter Therapieverfahren wie bei der Ausbildungswahl (vgl. Tab. 25). Es würden sich jeweils 10 % der Medizin- und der Pädagogikstudierenden nicht in psychotherapeutische Behandlung begeben, unter den Psychologiestudierenden waren dies nur 2 %. Tabelle 25: Behandlungswahl der Studierenden nach Studiengang Psychologiestudierende (n = 91) Medizinstudierende (n = 230) Pädagogikstudierende (n = 49)
PA 10 %
TP 15 %
VT 32 %
GT 34 %
Andere 7%
Keine 2%
5% 16 %
6% 12 %
13 % 6%
64 % 55 %
2% 0%
10 % 10 %
Anmerkungen: Einbezogen sind diejenigen, die nur eine Behandlungsrichtung in Betracht ziehen; n = 370; PA = Psychoanalyse; TP = tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie; VT = Verhaltenstherapie; GT = Gesprächspsychotherapie, Andere = andere Verfahrensrichtungen; w2(.01; 10; N = 370) = 54.94, p < .01; CI = .272, p < .01.
Der Großteil der Psychologiestudierenden, welche die Inanspruchnahme nur einer Behandlungsrichtung angaben, würde eine Gesprächspsychotherapie vorziehen (34 %), etwas häufiger als eine 144
Ein aufzufindendes vergleichsweise großes Interesse an einer gesprächspsychotherapeutischen Behandlung unter Studierenden mit geringem psychotherapeutischen Ausbildungsinteresse kann als ein weiterer Hinweis auf die Gültigkeit dieser Annahme interpretiert werden (vgl. auch Befunde zur Ausbildungswahl unter Medizinstudierenden und zur Ausbildungswahl unter gering Interessierten). Im Detail sind diese Befunde im Anhang einzusehen, der bei der Autorin erhältlich ist. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
10.4 Befunde zu Hypothesenkomplex 4 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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Verhaltenstherapie (32 %). Die Medizinstudierenden (64 %; zweite Stelle: VT 13 %:) und die Pädagogikstudierenden (55 %) würden ebenfalls an erster Stelle eine Gesprächspsychotherapie wählen, bei letzteren stand allerdings eine Psychoanalyse an zweiter Stelle (16 %). Nach Studiengängen unterteilt zeigte sich somit, dass alle drei Studierendengruppen mehrheitlich eine Gesprächspsychotherapie vorziehen würden. Die Unterschiede zwischen den Gruppen in Zusammenhang mit der Behandlungswahl waren, wie erwartet, auf dem 1 % Niveau signifikant und sind bezüglich ihrer Größe als nichttrivial zu bezeichnen. Allerdings ist der Befund aufgrund der Voraussetzungsverletzung erwarteter Zellhäufigkeiten für die Durchführung eines w2-Tests lediglich mit Vorsicht zu interpretieren.145 Integration der Befunde mit Bezug auf die formulierte Hypothese Die formulierte Hypothese der Bevorzugung einer verhaltenstherapeutischen gegenüber einer psychoanalytischen Behandlung bei eigenem Behandlungsbedarf erfuhr über die Studierenden hinweg Bestätigung. Allerdings fiel bei Einbezug auch tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie diese Bevorzugung weniger eindeutig aus als bei der Ausbildungswahl. Auch nach Studiengängen unterteilt zeigte sich bezogen auf die Wahl eines der Richtlinienverfahren die erwartete Bevorzugung der verhaltenstherapeutischen Richtung unter Psychologiestudierenden und die Bevorzugung von Psychoanalyse sowie insgesamt psychodynamischer Verfahren in den pädagogischen Studiengängen. Auch unter den Medizinstudierenden würden jedoch, anders als erwartet, immerhin doppelt so viele eine verhaltenstherapeutische wie eine psychoanalytische Behandlung wählen. Bei Einbezug auch tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie relativiert sich dies jedoch. Der hohe Anteil einer gesprächspsychotherapeutischen Behandlungswahl in allen drei Studierendengruppen wird zu diskutieren sein (vgl. Kap. 12.1).
145
Die hier referierten Ergebnisse finden sich in einer modifizierten Form auch in Lebiger-Vogel et al. (2009). Aus auswertungsökonomischen Gründen musste auf die Berechnung des exakteren Fisher-Yates Test verzichtet werden. Es wird von einer hinreichenden Genauigkeit des w2-Tests ausgegangen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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10 Quantitative Befunde
Illustration 11: Interviewauszüge zur Illustration der quantitativen Befunde zur Behandlungswahl in einem der Richtlinienverfahren Verhaltenstherapeutische Behandlungswahl Als Patient wolle er selbst etwas umsetzen, da sei die VT greifbar. Hier würde er dann etwas lernen, mache Hausaufgaben. Er habe das Gefühl Kontrolle zu haben bzw. Einfluss zu nehmen (MED 076). Benötige sie einmal eine Therapie, würde sie VTwählen. Probleme seien oft nicht so tief begründet, dass eine Analyse benötigt würde. Aber es sei abhängig von den Problemen und dem Therapeuten, da wäre eventuell die Richtung egal (PSY 039). Er selbst würde für sich keine tiefenpsychologische Therapie beanspruchen wollen. Die Verhaltenstherapie setze an der Störung an. »Was kann ich tun?« Das entspräche eher seinem Pragmatismus. Nach den Ursachen forsche er nicht, da sich die Umstände stets ändern würden (MED 080). Psychodynamisch orientierte Behandlungswahl Wie sie mit ihren eigenen Problemen umgehe, möchte ich wissen. »Ich warte erst mal ab und guck, wie sich das entwickelt.« Aber sie habe auch immer Ansprechpartner, zu denen sie gehen könne. Wenn die Probleme überhand nehmen würden, würde sie auch eine Therapie machen, »Psychoanalyse natürlich« (PSY 042). In der Psychoanalyse wäre der Therapeut passiv und hätte Distanz zum Patienten. Er würde die Passivität in der Rolle als Analytiker nicht aushalten, wobei er nichts gegen die Therapieform sagt. Allerdings habe er wenig Ahnung, was ihm peinlich war. Er benennt es auch so. Nach kurzer Pause erklärt er, dass er für sich privat eine Psychoanalyse vorziehen würde. Er habe ja keine Angststörung, er möchte seine Kindheit aufarbeiten, seine »schwarzen Flecken putzen« (PSY 140). Die Verfahrensrichtungen im direkten Vergleich Wenn sie ein konkretes Problem hätte, würde sie eine Verhaltenstherapie machen, aus »Selbsterfahrungsgründen« könnte sie sich auch vorstellen, mal eine Psychoanalyse zu machen (PSY 073).
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10.4 Befunde zu Hypothesenkomplex 4 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
Zu Hypothese 4.d) Zusammenhang zwischen Behandlungsund Ausbildungswahl Bei Betrachtung der Diagonalen in Tabelle 26 wird ersichtlich, dass die Wahl der Behandlungs- und der Ausbildungsrichtung einander entsprechen (mit Ausnahme der Wahl einer »anderen« Ausbildungsbzw. Behandlungsrichtung). Der höchste Anteil an »weiß nicht«Angaben bezüglich der Ausbildungswahl war bei denjenigen anzutreffen, die sich nicht in psychotherapeutische Behandlung begeben würden. Es ist naheliegend, dass jemand, der keine psychotherapeutische Behandlung in Anspruch nehmen würde, auch keine Positionierung bezüglich einer bestimmten Ausbildungsrichtung als berufliche Option aufweist. Zur Überprüfung einer vermuteten Überzufälligkeit der Zusammenhänge wurde, wie im Methodenteil ausgeführt, ein w2-Test durchgeführt. Auch unter Verwendung des exakten Fisher-Yates-Tests aufgrund von Voraussetzungsverletzungen für die Durchführung eines solchen Tests (vgl. Kap. 10) waren die gefundenen Zusammenhänge zwischen Ausbildungs- und Behandlungswahl hypothesengemäß hoch signifikant. Dies bedeutet, dass sie mit großer Wahrscheinlichkeit tatsächlich statistische Bedeutsamkeit aufweisen. Nach dem Zusammenhangsmaß CI für mehrfach gestufte Variablen sind sie, wie aus Tabelle 26 ersichtlich, zudem als nichttrivial zu bezeichnen. Somit können zusammengefasst die aufgestellten Hypothesen, dass Verhaltenstherapie insgesamt sowohl als Behandlungsmethode Tabelle 26: Kreuztabellierte Fallzahlen der Ausbildungs- und der Behandlungswahl der Studierenden a
Behandlungswahl
PA TP VT GT Andere Keine Gesamt
PA 15 0 0 4 0 3 22
TP 1 16 0 3 0 0 20
VT 0 1 36 16 3 1 57
Ausbildungswahl GT Andere Weiß nicht 2 1 4 3 0 6 0 2 10 65 4 70 2 2 3 2 0 16 74 9 109
Gesamt 23 26 48 162 10 22 291
Anmerkungen: VT = Verhaltenstherapie, PA = Psychoanalyse, TP = tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, GT = Gesprächspsychotherapie, Andere = andere Verfahrensrichtung; a aufgeführt sind die jeweiligen Fallzahlen (n) in kreuztabellierter Form; fett gedruckt sind die höchsten Fallzahlen bezogen jeweils auf Behandlungs- und Ausbildungswahl; w2(.01; 25; N = 291) = 393,20, p < .01; CI = 0,55, p < .01; exakter Fisher-Yates Test: p < .01.
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10 Quantitative Befunde
als auch als Ausbildungsgang auf ein größeres Interesse stößt, als empirisch gestützt betrachtet werden. Auch der diesbezüglich erwartete Zusammenhang erfuhr empirische Stützung.
10.5 Befunde zu Hypothesenkomplex 5: Kriterien für Interesse Welche konkreten Kriterien für ein Interesse an einer Ausbildung jeweils in einem der Richtlinienverfahren ließen sich finden? Auf die Ermittlung solcher Kriterien wird in diesem Abschnitt eingegangen.
Zu Hypothese 5.a) Kriterien für Interesse Die im offenen Antwortformat formulierten Begründungen der Studierenden mit Interesse an einer Ausbildung in einem der Richtlinienverfahren verteilen sich folgendermaßen auf die diesbezüglich entwickelten Kategorien (vgl. Tab. 27): Tabelle 27: Kategorisierte Gründe für das Interesse an einer psychodynamisch orientierten (PA/TP) oder einer verhaltenstherapeutischen (VT) Ausbildung Kategorisierte Gründe für Interesse an Ausbildung in: Vorerfahrung (eigene oder fremde) Neugier, Interesse Identifikation Effektivität, Effizienz, wissenschaftliche Fundierung Karrieremöglichkeiten, Kassenanerkennung Informiertheit (universitär) Kosten, Dauer der Ausbildung Sonstiges Keine Angabe
PA/TP (n = 100) 30 % 24 % 13 % 3% 9% 6% 1% – 12 %
VT (n = 137) 18 % 7% 10 % 24 % 13 % 12 % 3% 2% 12 %
Anmerkungen: n = 237; Angaben machten 86 % der Studierenden mit psychodynamisch orientiertem Ausbildungsinteresse und 88 % der Studierenden mit verhaltenstherapeutischem Ausbildungsinteresse ; PA/TP = Zusammenfassung der psychodynamisch orientierten Verfahren (PA = Psychoanalyse, n = 50 u. TP = tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, n = 50) fett gedruckt sind die jeweils im Vergleich höheren prozentualen Angaben; inferenzstatistisch einbezogen sind nur diejenigen, die eine Angabe machten (n = 206); Cohens Kappa: j = .82; w2(.01; 7; N = 206) = 37.28, p < .01; Phi = .425, p < .01; aus Gründen der Rundung der Prozentzahlen kommen vereinzelt prozentuale Angaben von > 100 % zustande.
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10.5 Befunde zu Hypothesenkomplex 5 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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Bei der deskriptiven Betrachtung der Daten zeigt sich, wie in Tabelle 27 einzusehen, über alle Studierenden hinweg das erwartete Bild in Richtung der formulierten Hypothese. Dieser Befund erfuhr inferenzstatistische Bestätigung in nichttrivialer Höhe. Diejenigen, die eine psychodynamisch orientierte Therapieausbildung anstrebten, gaben daf ür im offenen Antwortformat prozentual signifikant h äufiger Gründe wie konkrete Vorerfahrungen, Neugier und Interesse oder eine Identifikation mit der Verfahrensrichtung an. Dahingegen gaben die an einer verhaltenstherapeutischen Ausbildung Interessierten statistisch bedeutsam häufiger an, dass die Effektivität, Effizienz oder die wissenschaftliche Fundierung der Therapieform für sie für diese Ausbildungsrichtung spreche. Weiter äußerten Letztere in höherem Maße, dass berufliche Chancen oder eine Kassenzulassung oder aber die universit äre Informiertheit über die Verfahrensrichtung f ür ihre Präferenz entscheidend seien. Betrachtet man die Rangfolge der jeweils genannten Gründe für eine der Ausbildungsrichtungen, so ergibt sich folgendes Bild: An erster Stelle stand für diejenigen, die eine psychodynamisch orientierte Ausbildung in Erwägung zogen, eigene oder fremde Vorerfahrung (30 %). Für etwa ein Viertel dieser Gruppe war Neugier und Interesse ein zentrales Motiv, gefolgt von 13 %, die sich aus Gründen der Identifikation mit der Verfahrensrichtung für diese interessierten. Immerhin noch 9 % interessierten sich aus Karrieregründen oder Gründen der Kassenanerkennung dafür. Die sonstigen Prozentzahlen waren geringer. Unter den Studierenden mit verhaltenstherapeutischem Ausbildungsinteresse spielte am häufigsten deren Effektivität, Effizienz oder wissenschaftliche Fundierung eine zentrale Rolle für ihr Interesse an Verhaltenstherapie. Dies traf auf etwa ein Viertel der Studierenden zu, gefolgt von 18 %, die sich aus Gründen eigener oder fremder Vorerfahrung und 14 %, die sich wegen ihrer Kassenanerkennung oder damit verbundenen Karrieremöglichkeiten dafür interessierten. Die universitäre Informiertheit über die Verfahrensrichtung spielte für 12 % und eine Identifikation mit der Verfahrensrichtung immerhin für 10 % eine entscheidende Rolle. Neugier und Interesse sowie
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Kosten und Dauer der Ausbildung spielten jeweils eine recht geringe Rolle.146 Nach Studiengängen unterteilt wich unter den Psychologiestudierenden das relative Verhältnis der Häufigkeiten der Kriterien bezüglich eines Interesses an Verhaltenstherapie oder an einer psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtung kaum von dem der Gesamtstichprobe ab. Absolut gesehen war unter den Psychologiestudierenden der prozentuale Anteil der Identifikation (21 %) mit psychodynamisch orientierten Verfahren höher, während diesbezüglich die Angabe von Neugier und Interesse (13 %) im Vergleich mit den prozentualen Anteilen in der Gesamtstichprobe geringer war. Größere Unterschiede zu den Gesamtstichprobenbefunden fanden sich dagegen unter den Medizinstudierenden relativ sowie absolut gesehen bezogen auf eine Identifikation mit der Verfahrensrichtung. Anders als in der Gesamtstichprobe gaben sie dies um einiges häufiger als Grund für ein Interesse an Verhaltenstherapie (11 %) an als für ein Interesse an psychodynamisch orientierten Verfahren (3 %). Weiter zeigte sich, obschon hier das relative Verhältnis gleich bleibt, absolut gesehen ein um einiges höherer prozentualer Anteil bezüglich des Kriteriums Neugier und Interesse als Grund für ein Ausbildungsinteresse in einer psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtung (35 %). Bezogen auf das Kriterium der Kosten und Dauer der Ausbildung lagen von Medizinstudierenden keine Angaben vor. Für beide Studierendengruppen sind die Unterschiede in den Angaben von Kriterien für ein Interesse an Verhaltenstherapie oder an einem psychodynamisch orientierten Verfahren als hoch überzufällig und als nichttrivial zu bezeichnen (PSY: w2(.01; 6; N = 119)= 25.15, p < .01; Phi = .460, p < .01; MED: w2(.01; 6; N = 63) = 15.42, p < .01; Phi = .495, p < .05). Dies gilt jeweils aufgrund der Verletzung der Durchführungsvoraussetzung der erwarteten Zellhäufigkeiten auch unter Verwendung eines exakten Fisher-Yates-Tests, was für die Gültigkeit der Befunde spricht. In der Gruppe der Pädagogikstudierenden waren so geringe Fallzahlen pro Kategorie aufzufinden, dass von einer deskriptiven sowie inferenzstatistischen Analyse der 146
Bei Betrachtung nur derjenigen mit hohem Interesse ergaben sich nur geringfügige prozentuale Abweichungen, genauer einzusehen im bei der Autorin erhältlichen Anhang. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Befunde Abstand genommen wurde. Etwas höhere Fallzahlen waren dort jeweils für psychodynamisch orientierte Verfahren aufzufinden147. Integration der Befunde mit Bezug auf die formulierte Hypothese Für die Studierenden scheint somit, unabhängig davon, zu welcher Ausbildungsrichtung sie neigen, Vorerfahrung eine zentrale Rolle gespielt zu haben. Wie erwartet, war jedoch für Verhaltenstherapieinteressierte die Effektivität, Effizienz und die wissenschaftliche Fundierung der Verfahrensrichtung prozentual die häufigste Begründung. Für an psychodynamisch orientierten Verfahren Interessierte dagegen war deren Bedeutsamkeit verschwindend gering. Hypothesenkonform nahm weiter für die an einer psychodynamisch orientierten Ausbildung Interessierten die Identifikation mit der Verfahrensrichtung einen relativ hohen Platz ein. Allerdings scheint dieses Kriterium auch für die Verhaltenstherapieinteressierten, wenn auch etwas weniger, so doch relevant gewesen zu sein. Erwartungsgemäß spielten weiter die Informiertheit über Verhaltenstherapie sowie Karrieremöglichkeiten und eine Kassenanerkennung der Verfahrensrichtung eine größere Rolle für ein Interesse daran. Letzteres war jedoch auch für die an psychodynamisch orientierten Verfahren Interessierten nicht ganz irrelevant. Da beide Verfahrensrichtungen gegenwärtig eine Kassenanerkennung aufweisen, liegt dieser Befund nahe. Neugier und Interesse an der Verfahrensrichtung scheint dagegen, der diesbezüglich formulierten Hypothese entsprechend, primär für an psychodynamisch orientierten Verfahren Interessierte relevant gewesen zu sein. Anders als erwartet, scheinen Kosten oder Dauer der Ausbildung schließlich für beide Gruppen eine untergeordnete Rolle gespielt zu haben (wenn auch für Verhaltenstherapieinteressierte eine geringfügig größere). Die Studierenden zogen somit zusammengefasst meist aus unterschiedlichen Gründen eine Ausbildung in Verhaltenstherapie oder einem psychodynamisch orientierten Verfahren in Erwägung. Für die beiden kassenärztlich anerkannten Verfahrensrichtungen waren somit, wie angenommen, weitgehend jeweils andere Auswahlkriterien 147 Die genauen Kennwerte können im bei der Autorin erhältlichen Anhang eingesehen werden.
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relevanter (vgl. Illustration 12). Analog anderen Befunden (vgl. Strauß et al., 2009) scheinen für diejenigen, die eine verhaltenstherapeutische Ausbildung anstrebten, pragmatische Gründe eine größere Rolle gespielt zu haben, für die Gruppe mit psychodynamischem Ausbildungsinteresse dagegen eher persönliche Erfahrungen sowie Neugier und Interesse daran. Mögliche Gründe für die Abweichungen der prozentualen Anteile von denen der Gesamtstichprobe nach Studiengang, vor allem in der Gruppe der Medizinstudierenden, werden in Kapitel 12.1 diskutiert. Illustration 12: Interviewauszüge zur Illustration der quantitativen Befunde zur jeweils höheren prozentualen Angabe von Kriterien für ein verhaltenstherapeutisches oder ein psychodynamisch orientiertes Ausbildungsinteresse Kriterien für verhaltenstherapeutische Ausbildung (höhere Prozentzahl) Effektivität, Effizienz, wissenschaftliche Fundierung »Also es war mir von vorneherein klar, dass mir das transportierte Menschenbild [der Psychoanalyse] nicht passt, dass das irgendwie von der wissenschaftlichen Fundierung mir auch nicht richtig zusagt, nachdem wir hier […] ja so ziemlich wissenschaftlich und experimentell arbeiten« (PSY 020). Die Vorteile in der Verhaltenstherapie sehe sie in der Verstärkung durch sich selbst und durch andere. Sie sei schneller, effektiver und einfacher in der Umsetzung (PSY 110). Die Psychoanalyse ist langwierig, nur für intellektuelle Menschen nützlich und verschließt sich empirischen Wirksamkeitsuntersuchungen, wie auch Grawe beschreibt. Das wisse sie aus der Uni, alle würden so davon reden. Die Psychoanalyse sei ihr unsympathisch, die langen Prozesse unzeitgemäß. Die Machtverteilung sei ihr unangenehm (PSY 007). Karrieremöglichkeiten, Kassenanerkennung »Wobei für mich immer der leitende Gedanke war: ich möchte was machen, wo ich mit Krankenkassen abrechnen kann. […] Ich will © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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jetzt erst mal was machen, womit ich ’ne Krankenkassenzulassung bekomme. Und wenn ich die dann habe, kann ich mir ja noch überlegen, ob ich noch ’ne Zusatzausbildung mache« (PSY 020). Für die Entscheidung, welche Richtung sie wählen wird, ist es auch schon entscheidend, ob das Verfahren von den Kassen anerkannt ist. Dieses »direkt bezahlt werden« findet sie komisch, aber darüber habe sie noch nicht intensiv nachgedacht. Sie habe aber die Phantasie, sich dann anpreisen zu müssen, das würde sie abschrecken. Außerdem würde sie erschrecken, dass sich derzeit fast nur Verhaltenstherapeuten niederlassen. Die Patienten hätten ja kaum Ahnung davon, da müssten die Hausärzte besser informiert sein (MED 132). Informiertheit (universitär) Er möchte die Ausbildung auf Anraten einer Dozentin – wie er wiederholt betont – in der Verhaltenstherapie [an seiner Universität] machen. Er habe allerdings keine Kontakte zu anderen Therapieeinrichtungen (PSY 140). Wenn von seinen Kommilitonen jemand eine Therapieausbildung machen will, dann Verhaltenstherapie. Aber im Studium bekäme man an seiner Uni auch nichts anderes gesagt. Die Psychoanalyse würde komplett ausgeklammert (PSY 116). Zu Beginn des Studiums hätte sie »ihre Hand dafür ins Feuer gelegt«, dass sie niemals eine VT-Ausbildung machen würde. Dass sie sich jetzt doch für eine VT-Ausbildung entschieden hat, begründet sie klar mit der einseitigen Lehre an der Universität. […] Von den psychoanalytischen Seminaren, die sie an ihrer Uni besucht hat, war sie enttäuscht, was sich aber mehr auf das Niveau der Studierenden als auf das Niveau der Dozenten bezog. Während ihres Studiums näherte sie sich der VT an und entfernte sich von der Psychoanalyse. Dafür stark ausschlaggebend nennt sie den Methodenunterricht, mittlerweile »sträubt« es sich bei ihr, wenn sie die Einzelfallbetrachtungen und Fallstudien in der Psychoanalyse sieht (PSY 073). Kosten, Dauer der Ausbildung Die Entscheidung für die VT hat nach Nachfrage für ihn schon sehr damit zu tun, dass dies ein anerkanntes Verfahren sei, sonst würde er © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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das nicht machen. Entscheidungsgrund sei, dass dieses Verfahren am wenigsten Geld kostet und eben von den Kassen erstattet wird. Das Verfahren könne man »auch ohne Ausbildung« anwenden (PSY 004). Die Wirksamkeit von Psychoanalyse sei nicht bewiesen. Sie sei unsystematisch und würde zu lange dauern. Auch seien die Therapieausbildungskosten höher als bei der Verhaltenstherapie (PSY 130). Wenn sie eine Therapieausbildung machen würde, dann sollte es VT sein. Sie vermutet, dass die Psychoanalyseausbildung länger dauern würde, außerdem sei VT nachvollziehbar und man könne in vielen Bereichen mehr machen (PSY 039). Kriterien für psychodynamisch orientierte Ausbildung (höhere Prozentzahl) Vorerfahrung – eigene oder fremde Die Verhaltenstherapie bekam sie durch ihr Studium vermittelt, den psychoanalytischen Ansatz aus ihrer eigenen Therapie. […] »In der psychoanalytischen Therapie gibt es viel mehr Zeit, Verständnis und Raum für alles und bei der Verhaltenstherapie ist alles zack zack und immer arbeiten« (PSY 113). Neugier, Interesse Eine Neugier für Psychoanalyse hatte sie aber schon vorher. Sie schildert sich als einen »Typ von Mensch«, der sich für solche Sachen interessiert (PÄD 172). Gründe für Verhaltenstherapie seien, so glaubt sie, »oft pragmatisch«, bei denen, die sich für Psychoanalyse interessieren, stehen oft »eher inhaltliche Gründe« im Vordergrund (PSY 042). Identifikation mit Verfahren Auf meine im späteren Verlauf des Interviews gestellte Frage, wie die Interviewte damit umgehe, dass die meisten ihrer Mitstudenten sich für die Verhaltenstherapie interessierten und die Interviewte mit ihrer psychoanalytischen Position eher allein dastehe, antwortet sie, dass sie sich selbst als einen eher abwartenden Menschen sieht, der »skeptisch« © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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sei und »oftmals auch zu skeptisch«. Sie möchte sich nicht von der vorherrschenden Meinung an der Uni »verbiegen« lassen und hält an der Psychoanalyse fest (PSY 400).
Zu Hypothese 5.b) Unterschiede in der Wahrnehmung von psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtungen und Verhaltenstherapie im Zusammenhang mit einem jeweiligen Ausbildungsinteresse Unterscheiden sich die Studierenden mit verhaltenstherapeutischem oder psychodynamischem Ausbildungsinteresse in ihrer Wahrnehmung dieser Verfahrensrichtungen? Aufgrund der berichteten Befunde zu Hypothese 3.b, also der sehr ähnlichen Wahrnehmung der Verfahrensrichtungen durch diejenigen mit hohem oder mit geringem Ausbildungsinteresse, wurde es für zulässig gehalten, in die folgende Ergebnisdarstellung nicht nur Studierende mit hohem psychotherapeutischem Interesse, sondern alle Studierenden mit Interesse an einer der beiden Verfahrensrichtungen einzubeziehen. Bei der deskriptiven Betrachtung der Mittelwertunterschiede (vgl. Abb. 13) zeigte sich folgendes Bild: Die Studierenden mit Interesse an psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtungen wiesen, wie erwartet, im Vergleich zu denjenigen, die an Verhaltenstherapie interessiert waren, einen höheren Mittelwert in fast allen Variablen zur Wahrnehmung von psychodynamisch orientierten Verfahren auf. Umgekehrt wiesen diejenigen mit Interesse an Verhaltenstherapie erwartungsgemäß einen höheren Wert in fast allen Variablen zur Wahrnehmung von Verhaltenstherapie auf. Lediglich für eine Vereinbarkeit mit der Karriere und die Umsetzbarkeit mit Patient/-innen für Verhaltenstherapie sowie für den Ausbildungsaufwand bei psychodynamischen Verfahren lag deskriptiv so gut wie kein Mittelwertunterschied in der Einschätzung durch die beiden Gruppen vor. Entsprechend fanden sich diesbezüglich inferenzstatistisch keine bedeutsamen Gruppeneffekte bezogen auf die Einschätzung der jeweiligen Verfahrensrichtung (vgl. Tab. 28). Folgende statistisch bedeutsame Effekte ließen sich in den zweifaktoriellen, jeweils zweifach gestuften Varianzanalysen mit Messwiederholung für die einbezogenen Wahrnehmungsvariablen finden:
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10 Quantitative Befunde
Abbildung 13: Deskriptivstatistische Kennwerte für diejenigen mit Interesse an Verhaltenstherapie oder einer psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtung bezogen auf ihre Wahrnehmung dieser Verfahrensrichtungen Anmerkungen: Einbezogen wurden nur diejenigen Fälle, denen die Verfahrensrichtungen bekannt waren; PA/TP = Zusammenfassung der psychodynamisch orientierten Verfahren (PA = Psychoanalyse u. TP = tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie); VT = Verhaltenstherapie; dargestellt sind Mittelwerte und Standardabweichungen; aufgrund unterschiedlicher fehlender Werte variieren die Fallzahlen bezogen auf die einbezogenen Variablen geringfügig (PA/ TP: n = 61 – 76; VT: n = 90 – 119); jeweils fünffach gestufte Likert-Skala von 1 = »gar nicht« bis 5 = »sehr«.
1. Der Ausbildungsaufwand wurde von den beiden Gruppen annähernd gleich eingeschätzt. Beide Gruppen schätzten ihn für psychodynamische Verfahren höher ein. Diesbezüglich lag entsprechend ein hoch signifikanter und mit 44 % erklärter Varianz großer Haupteffekt des Faktors der »Verfahrensrichtung« vor (vgl. Tab. 28). 2. Bezüglich einer Vereinbarkeit mit der Karriere lag ebenfalls eine ähnliche Einschätzung der Gruppen vor. Von beiden wurde sie für Verhaltenstherapie als größer eingeschätzt. Auch hier war entsprechend ein signifikanter Haupteffekt der »Verfahrensrichtung« zu verzeichnen (vgl. Tab. 28). Allerdings war der Effekt mit 4 % durch das Modell erklärter Varianz nur klein.
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1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
F (1/193; .01) = 83,65 g2 = .302 F (1/193; .01) = 67,22 g2 = .258
F (1/149; .05) = 6,06 g2 = .039
n. s.
n. s.
3. Seel. Störungen
n. s.
2. Karriere
4. Umsetzbarkeit F (1/188; .01) = 7,32 g2 = .037 F (1/188; .01) = 186,15 g2 = .498 F (1/188; .01) = 14,40 g2 = .071 F (1/178; .01) = 10,85 g2 = .057 F (1/178; .01) = 22,14 g2 = .111
n. s.
5. Gesellschaft
F (1/190 ; .01) = 87,37 g2 = .315 F (1/190 ; .01) = 50,75 g2 = .211
n. s.
6. Selbsterkenntnis
7. Wissenschaftlichkeit F (1/165 ; .05) = 4,66; g2 = .027 F (1/165 ; .01) = 136,12 g2 = .452 F (1/165 ; .01) = 49,67 g2 = .231
Anmerkungen : VT = Verhaltenstherapie ; PA/TP = Zusammenfassung der psychodynamisch orientierten Verfahren (PA = Psychoanalyse u. TP = tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie); jeweils globale Signifikanzen des Modells für Zwischen- und Innersubjektfaktor sowie deren Interaktionen ; alle globalen Effekte p < .01 (bis auf Karriere Faktor B u. Wissenschaftlichkeit Faktor A: p < .05); n. s. = nicht signifikant; einbezogen wurden nur diejenigen Fälle, denen die Verfahrensrichtungen bekannt waren.
Wahrnehmung von VT vs. PA/TP ANOVA 1. Ausbildung Faktor A Ausbildungswahl n. s. VT vs. PA/TP F (1/161; .01) = Faktor B 126,60 Verfahrensrichtung g2 = .440 Interaktion A x B Verfahrensrichtung x n. s. Ausbildungswahl
Tabelle 28: Inferenzstatistische Kennwerte der Varianzanalyse mit Messwiederholung für diejenigen mit Interesse an Verhaltenstherapie bzw. an psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtungen bezogen auf deren Wahrnehmung
10.5 Befunde zu Hypothesenkomplex 5
© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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10 Quantitative Befunde
3. Bezüglich eines Beitrages zum Verständnis seelischer Störungen lagen ein statistisch hoch bedeutsamer, mit 30 % Varianzerklärung großer Haupteffekt der »Verfahrensrichtung« sowie ebenfalls ein hoch bedeutsamer, großer hybrider Interaktionseffekt vor (26 % Varianzerklärung, vgl. Tab. 28). Dies bedeutet inhaltlich, dass beide Gruppen dies psychodynamisch orientierten Verfahren in höherem Maße zuschrieben, allerdings diejenigen mit verhaltenstherapeutischem Ausbildungsinteresse den Unterschied für geringer hielten als diejenigen mit psychodynamischem Ausbildungsinteresse. 4. Für die Umsetzbarkeit der Verfahrensrichtungen mit Patient/-innen war ein hoch bedeutsamer, mit 50 % erklärter Varianz großer Haupteffekt der »Verfahrensrichtung«, ein hoch signifikanter, jedoch kleiner hybrider Interaktionseffekt (7 % Varianzerklärung) sowie ein hoch bedeutsamer, noch kleinerer Haupteffekt des Faktors der »Ausbildungswahl« (4 % Varianzerklärung) zu verzeichnen (vgl. Tab. 28). Dies bedeutet inhaltlich, dass Verhaltenstherapie von beiden Gruppen als um einiges besser mit Patient/-innen umsetzbar eingeschätzt wurde. Dies schätzten beide Gruppen annähernd gleich ein. Diejenigen mit psychodynamischem Ausbildungsinteresse hielten den Unterschied zugunsten der Verhaltenstherapie jedoch statistisch hoch bedeutsam für geringer. 5. Für einen Beitrag zum Verständnis der Gesellschaft war ein hoch bedeutsamer, allerdings mit 6 % erklärter Varianz kleiner Haupteffekt der »Verfahrensrichtung« sowie ein statistisch hoch bedeutsamer, mittlerer disordinaler Interaktionseffekt (11 % erklärte Varianz) zu verzeichnen (vgl. Tab. 28). Demzufolge schrieben diejenigen mit verhaltenstherapeutischem Ausbildungsinteresse der Verhaltenstherapie einen Beitrag zum Verständnis der Gesellschaft in geringfügig höherem Maße zu als den psychodynamisch orientierten Verfahren. Diejenigen mit psychodynamischem Ausbildungsinteresse schrieben dies dagegen in weitaus höherem Maße den psychodynamisch orientierten Verfahren zu. 6. Für die Förderung von Selbsterkenntnis lagen ein hoch bedeutsamer Haupteffekt der »Verfahrensrichtung« sowie ein hybrider Interaktionseffekt vor. Beide Effekte sind als groß zu bezeichnen, die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Varianzaufklärung durch Ersteren lag bei 32 %, diejenige durch Letzteren bei 21 % (vgl. Tab. 28). Die an psychodynamischen Verfahren Interessierten und die an Verhaltenstherapie Interessierten hielten die Förderung von Selbsterkenntnis durch die psychodynamisch orientierten Verfahren gleichermaßen für höher als durch Verhaltenstherapie. Allerdings schätzten Letztere die Unterschiede zwischen den Verfahrensrichtungen als weitaus geringer ein. 7. Zur Frage wissenschaftlicher Wirksamkeitsbelege war ein hoch bedeutsamer, mit 45 % Varianzerklärung großer Haupteffekt der »Verfahrensrichtung«, ein hoch bedeutsamer, großer hybrider Interaktionseffekt (23 % Varianzerklärung) und ein signifikanter, allerdings nur kleiner Haupteffekt der »Ausbildungswahl« (3 % Varianzerklärung) zu verzeichnen (vgl. Tab. 28). Dies bedeutet inhaltlich, dass diejenigen mit psychodynamischem Ausbildungsinteresse den Unterschied zugunsten dieser Verfahrensrichtung zwar für geringer hielten, dies jedoch von beiden Gruppen der Verhaltenstherapie in einem höheren Maße attestiert wurde. Integration der Befunde mit Bezug auf die formulierte Hypothese Auch wenn, wie erwartet, jeweils höhere Mittelwerte (jedoch auch bzgl. des »negativen« Items Länge der Ausbildung) bezogen auf die Einschätzung der jeweiligen Verfahrensrichtung bei den Studierenden mit einen entsprechenden Ausbildungsinteresse vorlagen, so war doch auch Folgendes festzustellen: Die Mittelwerte waren für beide Gruppen jeweils höher für die psychodynamisch orientierten Verfahren bezüglich Länge und Aufwand der Ausbildung, ihren Beitrag zum Verständnis seelischer Störungen und der Förderung von Selbsterkenntnis. Analog waren höhere Mittelwerte bei beiden Gruppen bezüglich Verhaltenstherapie zu finden für eine Vereinbarkeit mit der Karriere, eine Umsetzbarkeit mit Patient/-innen und wissenschaftliche Wirksamkeitsbelege. Einzig der Beitrag zum Verständnis der Gesellschaft wurde von den Verhaltenstherapieinteressierten auch für diese Verfahrensrichtung bedeutsam als höher eingeschätzt, für diejenigen mit psychodynamischem Ausbildungsinteresse dagegen für diese Verfahrensrichtung. Somit kann die formulierte Hypothese einer positiveren Wahrnehmung der Verfahrensrichtung durch die jeweiligen Ausbildungsinteressierten nur teilweise als empirisch ge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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10 Quantitative Befunde
stützt betrachtet werden. Die Wahrnehmungsunterschiede waren eher gering. Übereinstimmungen in der Wahrnehmung der beiden Verfahrensrichtungen überwogen. Zudem nahmen auch die an den psychodynamisch orientierten Verfahren Interessierten den Ausbildungsaufwand für diese Verfahrensrichtung als höher wahr. Unterschiede waren somit primär auf den Faktor der Verfahrensrichtung und weniger auf den des Ausbildungsinteresses zurückzuführen. Überlegungen zu diesem unerwarteten Befund werden in der Diskussion aufgegriffen (vgl. Kap. 12.1).148
Zu Hypothese 5.c) Unterschiede in der Zustimmung zu »psychoanalytischen« und »verhaltenstherapeutischen« Behandlungsmethoden im Zusammenhang mit einem jeweiligen Ausbildungsinteresse Inwiefern stimmten die jeweils an einer der Verfahrensrichtung Interessierten auch den jeweiligen Behandlungsmethoden eher zu? Darauf wird nachfolgend eingegangen. Die Mittelwerte sowie die inferenzstatistischen Kennwerte auf Ebene der einzelnen Variablen bezogen auf die Zustimmung zu »verhaltenstherapeutischen« oder »psychoanalytischen« Behandlungsmethoden im WPT in Zusammenhang mit dem jeweiligen Ausbildungsinteresse sind in Tabelle 29 einzusehen. Auch wenn nicht alle Mittelwertunterschiede zwischen den Gruppen signifikant wurden, so zeigten sie doch deskriptiv in die erwartete Richtung: Diejenigen, die sich für eine verhaltenstherapeutische Ausbildung interessierten, stimmten auch eher verhaltenstherapeutischen Behandlungsmethoden zu. Umgekehrt stimmten diejenigen, welche sich für psychodynamische Verfahren interessierten, eher psychoanalytischen Methoden zu (vgl. Tab. 29). Das Gesamtmodell wies einen statistisch hoch bedeutsamen erklärten Varianzanteil von 27 % durch das Interesse an einer der Verfahrensrichtungen auf, womit es sich um einen großen Anteil durch das Modell erklärter Varianz handelt. Die spezifischen Behandlungsmethoden jeder der beiden Verfahrensrichtungen wurden also jeweils von den Studierenden mit Inter148 Zur Illustration der quantitativen Befunde sei zur Vermeidung von Redundanzen verwiesen auf die Illustration zu Hypothese 3.a).
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Tabelle 29: Angaben zu psychotherapeutischen Behandlungsmethoden im Zusammenhang mit dem Interesse an einer psychodynamisch orientierten (PA/TP) oder einer verhaltenstherapeutischen (VT) Ausbildung Methode WPT-Item
PA/TP MANOVA VT M (SD) M (SD) partielles (n = 131) (n = 96) g2
Wie wichtig erscheint Ihnen in der Psychotherapie … VT
1. … Patienten zu Aktivität zu ermuntern und dabei zu unterstützen?
4,44 (0,66)
4,17 (0,76)
F(1/225; .01) = 8,05 g2 = .035
VT
4. … sensibel und empathisch eingestimmt 4,41 gegenüber den Gefühlen der Patienten zu (0,79) sein?
4,36 (0,81)
n. s.
VT
12. … gewünschtes (positives) Verhalten aktiv zu fördern bzw. gezielt zu verstärken?
4,40 (0,76)
4,00 (0,95)
F(1/225; .01) = 12,63 g2 = .053
VT
13. … Patienten zu ermutigen, sich auf ihre 4,24 (0,79) innere Stärke zu verlassen?
4,09 (0,87)
n. s.
VT
14. … Fähigkeiten der Patienten zu trainieren?
4,44 (0,81)
3,83 (0,96)
VT
15. … dysfunktionale Annahmen der Patienten zu verändern?
4,25 (0,84)
3,84 (0,96)
3,92 (0,79)
4,34 (0,69)
4,49 (0,64)
4,54 (0,54)
PA
8. … vergangene Erfahrungen zu erkunden 3,92 und aufzugreifen? (0,79)
4,34 (0,69)
PA
9. … zwischenmenschliche Erfahrungen von Patienten zu betonen? a
3,94 (0,72)
4,20 (0,79)
2,94 (1,03)
3,59 (0,95)
F(1/225; .01) = 24,00 g2 = .096
3,41 (1,08)
4,09 (0,80)
F(1/225; .01) = 27,33 g2 = .108
3,50 (0,76)
3,58 (0,83)
n. s.
PA
PA
PA
PA PT
5. … Gefühle und Wahrnehmungen der Patienten auf Situationen oder auf Verhalten aus der Vergangenheit zu beziehen? a 7. … wieder kehrende Muster in Verhalten, Gedanken, Gefühlen, Erfahrungen und Beziehungen von Patienten heraus zu arbeiten?
10. … die Beziehung zwischen Patienten und Therapeuten und deren Hintergründe in früheren Beziehungserfahrungen genau zu ergründen? 11. … auch unbewusste Wünsche, Phantasien oder Träume von Patienten zu erkunden? a 2. … die Gefühle der Patienten zu betonen, damit sie diese stärker erleben können?
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F(1/225; .01) = 26,32 g2 = .105 F(1/225; .01) = 11,71 g2 = .049 F(1/225; .01) = 27,00 g2 = .107 n. s. F(1/225; .01) = 17,34 g2 = .072 F(1/225; .01) = 6,60 g2 = .028
344 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
10 Quantitative Befunde
(Fortsetzung) Methode WPT-Item
PT
MANOVA VT PA/TP M (SD) M (SD) partielles (n = 131) (n = 96) g2
3. … Patienten auf Gefühle aufmerksam zu 3,89 machen, die sie als nicht akzeptabel (0,92) betrachten (z. B. Ärger, Neid, Erregung)?
3,99 (0,86)
n. s.
Anmerkungen: VT = Verhaltenstherapie; PA = Psychoanalyse; TP = tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie; PT = Psychotherapie; PA/TP = Zusammenfassung der psychodynamisch orientierten Verfahren; jeweils fünffach gestufte Likert-Skala von 1 = »gar nicht« bis 5 = »sehr«, fett gedruckt sind die statistisch bedeutsam höheren Mittelwerte; Multivariates Modell: F(14/212; .01) = 5,57; p < .01; g2 = .269; globale Effekte auf Einzelebene: alle p < .01; n. s. = nicht signifikant; a Varianzhomogenitätsverletzung mittels Levene-Test.
esse daran für sinnvoller bzw. überzeugender gehalten (vgl. Illustration 13). Bezüglich allgemeiner psychotherapeutischer Methoden zeigten sich dagegen keine Unterschiede. Dies stimmt mit den im Theoriekapitel referierten Befunden von Strauß et al. (2009) überein, insofern, als die Überzeugtheit von entsprechenden Behandlungskonzepten (gefragt wurde dort nicht im Detail nach Methoden oder Techniken der Verfahrensrichtungen) auch in dieser Untersuchung einen gewichtigen Grund für das Interesse an der jeweiligen Verfahrensrichtung darstellte. Illustration 13: Interviewauszüge zur Illustration der quantitativen Befunde jeweils zur Zustimmung zu verhaltenstherapeutischen oder psychoanalytischen Behandlungsmethoden bei verhaltenstherapeutischem oder psychodynamischem Ausbildungsinteresse Verhaltenstherapeutische Behandlungsmethoden Ich frage sie nach den Gründen für eine VT-Ausbildung. Der Umgang mit Menschen sei in der Verhaltenstherapie offener und transparenter. Der Patient sei »aktiv, muss Hausaufgaben machen usw. Therapeut und Patient sind auf einer Ebene«. […] Gut in der Verhaltenstherapie wirken auf sie der offenere Umgang und die schnellere Wirkung der Therapie. Sie habe diese selbst schon bei sich angewandt, gegen ihre Angst vor Spinnen habe sie Desensibilisierung vorgenommen (PSY 002). In der VT könne er die Therapie aktiv gestalten und sie würde Ergebnisse hervorbringen (PSY 140). Wenn, würde er eine VT-Ausbildung machen. Durch Praktika in der Psychiatrie und in einer VT-Praxis habe er die Arbeitsweise noch © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
10.5 Befunde zu Hypothesenkomplex 5 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
345
intensiver kennengelernt als im Studium. Es sei ihm wichtig am momentanen Zustand anzusetzen und durch »Verhaltensveränderung« die Zukunft zu beeinflussen. Die Vergangenheit würde zwar auch etwas aufgearbeitet, aber nicht der Schwerpunkt darauf gelegt. Das entspräche auch seiner Lebenseinstellung. »Ich ändere jetzt was an meinem Zustand und gucke, dass sich [in Zukunft] was verändert.« Er sei in seiner Einstellung auch geprägt durch seine Freundin, die die VT-Ausbildung machen möchte. Es gefalle ihm das Strukturierte an der Verhaltenstherapie. Die Erklärungsansätze seien ganz simpel, man brauche »nur« (die Anführungszeichen sind vom Interviewten) Gedanken bzw. Kognitionen verändern. Wobei er einräumt, dass genau dies gerade nicht einfach sei (PSY 151). »Also mit ’nem Drogenabhängigen irgendwie Psychoanalyse zu machen, ist wirklich ’ne Runde sinnlos, weil, das ist halt so vollkommen so alltagsfern. Da kriegt man keinen Handwerkskoffer mit, den man dann mit rausnehmen kann und irgendwas in seinem Leben dann ein bisschen anders machen kann, oder so« (PSY 029). Für sie wäre dann die VT, die das Symptom und nicht den Grund therapiert, besser. Das fände auch ihr Umfeld besser, ihr Freund sei Neurochirurg, der habe mit Psychoanalyse »gar nichts am Hut« (MED 052). Psychoanalytische Behandlungsmethoden Ich frage sie nach ihrem Interesse an Psychoanalyse. Sie erklärt bestimmt, »Verhaltenstherapie ist nicht meins«. Da würden »Symptome, aber keine Ursachen« behandelt. Sie sei interessiert daran, »woher eine Störung kommt«, um Veränderungen bewirken zu können. Die Erfolge der Verhaltenstherapie seien nicht von langer Dauer (PSY 042). Psychoanalyse sei tiefer gehend, einfach mehr, und biete »Handwerkszeug« und das »grundgute« Gefühl für sich selbst (PSY 050). Man muss dann vielleicht irgendwann mal »anfangen an der Wurzel zu graben« und nicht noch eine Bewältigungsmethode beibringen (MED 193). »Bestimmte Ängste sind so tief verankert, dass man die durch Trainings gar nicht löschen kann … (dunkler Raum, Spinnen, Schlange usw.). Wenn man jemand in einen dunklen Raum einsperrt,
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10 Quantitative Befunde
damit man in den Keller gehen kann, das ist vielleicht ein bisschen übertrieben« (PSY 048).
10.6 Befunde zu Fragenkomplex 1: Interesse – sonstige Einflussfaktoren und Korrelate Im nachfolgend dargestellten einzigen quantitativen Fragenkomplex wurde, wie ausgeführt, weiteren möglichen Einflussfaktoren auf bzw. möglichen Zusammenhängen von Hintergrundvariablen mit dem Interesse an Psychotherapie sowie Verhaltenstherapie und psychodynamisch orientierten Verfahren nachgegangen.
Interesse an psychotherapeutischer Ausbildung Zu Fragestellung 3.1.a) Psychotherapie, Geschlecht und Psychotherapieerfahrung Das Geschlecht der Studierenden hatte einen hoch signifikanten Einfluss auf das Interesse am Psychotherapeut/-innenberuf 149 (einfaktorielle univariate Varianzanalyse: F(1/674; .01) = 42,59; g2 = .059; p < .01). Frauen waren, wie aufgrund anderer Befunde zu erwarten (vgl. Sammet, Stanske u. Rüger, 2007), im Mittel (M = 3,22; SD = 1,28; n = 477) etwas interessierter daran als Männer (M = 2,53; SD = 1,21, n = 199). Allerdings ist die durch den Faktor Geschlecht erklärte Varianz mit 6 % als eher klein zu bezeichnen. Weiter waren diejenigen mit eigener psychotherapeutischer Vorerfahrung (M = 3,62, SD = 1,28, n = 114) statistisch hoch bedeutsam interessierter an einer psychotherapeutischen Ausbildung (einfaktorielle univariate Varianzanalyse: F(1/674; .01) = 31,36; g2 = .044; p < .01) als diejenigen ohne eine solche Erfahrung (M = 2,89; SD = 1,27; n = 562). Der prozentuale Anteil der Modellerklärung ist mit 4 % wiederum gering. 149
Aus auswertungstechnischen Gründen wurde das Interesse an einer psychotherapeutischen Ausbildung anhand der beiden dafür verwendeten Variablen (vgl. Kap. 9.1) hier sowie nachfolgend im Unterschied zu der vorangegangenen Kategorieneinteilung jeweils intervallskaliert ausgewertet. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
10.6 Befunde zu Fragenkomplex 1 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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Zu Fragestellung 3.1.b) Psychotherapie und allgemeine berufliche Wünsche Bezüglich allgemeiner beruflicher Wünsche wiesen die Studierenden der untersuchten Studiengänge folgende Unterschiede sowie Gemeinsamkeiten auf (vgl. Tab. 30): Alle drei Studierendengruppen waren im Mittel »ziemlich« an einem Kontakt mit Menschen interessiert. Auch eine persönliche Weiterentwicklung durch den Beruf wünschten sich alle drei Gruppen im Mittel »ziemlich«. Etwas weniger, aber ebenfalls immer noch »ziemlich« wünschten sie sich ein gutes Einkommen sowie interessante Einblicke in menschliche Schicksale. Lediglich »etwas« wünschten sich alle drei die Möglichkeit, einer wissenschaftlichen Tätigkeit nachzugehen. Bezogen auf diese Variablen lagen keine signifikanten Unterschiede zwischen den Studiengängen vor. Insgesamt lagen, wie aus Tabelle 30 ersichtlich, statistisch bedeutsame globale Effekte des »Studiengangs« auf berufliche Wünsche vor, für den Wunsch nach einer Vereinbarkeit mit der Familie, dem Bestreben, Menschen zu helfen, dem Wunsch nach einem sicheren Arbeitsplatz, einer selbständigen Tätigkeit, guten Karrierechancen, einem hohem beruflichen Ansehen sowie einer intellektuell fordernden Tätigkeit. Allerdings sind alle statistisch bedeutsamen Effekte als klein zu bezeichnen. Bei Betrachtung der multiplen Mittelwertsvergleiche zeigte sich, dass die Medizinstudierenden bei fast allen dieser globalen Signifikanzen im Einzelvergleich statistisch bedeutsam höhere Werte als die beiden anderen Studierendengruppen aufwiesen (vgl. Tab. 30). Bezüglich einer selbständigen Tätigkeit unterschieden sie sich signifikant allerdings nur von den Psychologiestudierenden, bezüglich dem Wunsch nach guten Karrierechancen und einer intellektuell fordernden Aufgabe nur von den Pädagogikstudierenden. In Bezug auf letztgenannte Variable wiesen zudem im Einzelvergleich die Psychologiestudierenden einen signifikant höheren Wert als die Pädagogikstudierenden auf. Die im Vergleich höchsten Mittelwerte wies somit zusammengefasst die Gruppe der Medizinstudierenden bezogen auf eine Vereinbarkeit mit der Familie, den Wunsch, Menschen zu helfen, den Wunsch nach einem sicheren Arbeitsplatz, einer selbständigen Tätigkeit, guten Karrierechancen und einem hohen beruflichen Ansehen auf. Die Psychologiestu© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
348 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
10 Quantitative Befunde
Tabelle 30: Mittelwerte (M) und Standardabweichungen (SD) beruflicher Wünsche im jeweiligen Studiengang und inferenzstatistische Kennwerte sowie Korrelation beruflicher Wünsche mit dem Interesse an einer psychotherapeutischen Tätigkeit Pädagogikstudierende M (SD) ANOVA (n = 85)
1. Kontakt mit Menschen
Psychologiestudierende M (SD) (n = 216 – 221) 4,43 (0,69)
Medizinstudierende M (SD) (n = 363 – 368) 4,38 (0,69)
4,46 (0,70)
2. Vereinbarkeit mit Familie c d
3,92 (1,01)
4,23 (0,92)
3,92 (1,08)
3. Menschen helfen b c d
4,15 (0,91)
4,40 (0,66)
3,96 (0,98)
4. Sicherer Arbeitsplatz b c d
3,62 (1,05)
4,01 (0,95)
3,67 (1,06)
5. Selbständige Tätigkeit b c
3,69 (1,04)
3,99 (0,87)
3,88 (0,88)
6. Gutes Einkommen
3,57 (0,95)
3,61 (0,95)
3,52 (0,91)
7. Gute Karrierechancen d
3,05 (1,00)
3,22 (1,04)
2,91 (1,05)
8. Hohes berufliches Ansehen c d
2,94 (1,00)
3,16 (1,04)
2,67 (1,04)
2,82 (1,15)
2,63 (1,16)
2,78 (1,15)
n. s.
4,32 (0,69)
4,10 (0,79)
3,85 (0,95)
F(2/661; .01) = 12,54 .022 g2 = .036
673
4,44 (0,66)
4,32 (0,74)
4,36 (0,74)
n. s.
.046
671
3,74 (1,11)
3,67 (1,00)
3,74 (1,10)
n. s.
.302**
672
Berufliche Wünsche
9. Wissenschaftliche Tätigkeit 10. Intellektuell fordernde Aufgabe b d e 11. Persönliche Weiterentwicklung 12. Interessante Einblicke in menschliche Schicksale
n. s. F(2/661; .01) = 8,63 g2 = .025 F(2/668 ; .01) = 13,59 g2 = .039 F(2/670 ; .01) = 11,76 g2 = .034 F(2/668 ; .01) = 6,89 g2 = .020 n. s. F(2/670 ; .05) = 3,95 g2 = .012 F(2/668 ; .01) = 8,91 g2 = .026
Interesse PT a
N
.195**
670
-.111** 664
.114**
671
-.159** 673
-.053
671
-.130** 671 -.217** 673
-.236** 671
-.060
671
Anmerkungen: berufliche Wünsche: fünffach gestufte Likert-Skalen von 1 = »gar nicht« bis 5 = »sehr«; PT = Psychotherapie; globale Effekte: p < .01 (bis auf Karrierechancen p < .05); n. s. = nicht signifikant; a Interesse PT u. berufliche Wünsche (letzte beiden Spalten): korrelative Auswertung: ** = p < .01; b bei ANOVA Varianzhomogenitätsverletzung mittels Levene-Test; c signifikante Einzelvergleiche MED-PSY; d signifikante Einzelvergleiche MEDPÄD; e signifikante Einzelvergleiche PSY-PÄD; fett gedruckt ist der jeweils höchste signifikante Mittelwert.
dierenden waren im Mittel am meisten an einer intellektuell fordernden Tätigkeit interessiert. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
10.6 Befunde zu Fragenkomplex 1 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
349
Im Zusammenhang mit einem psychotherapeutischen Berufswunsch zeigte sich folgendes Muster allgemeiner beruflicher Wünsche: Die in Spalte 5 in Tabelle 30 dargestellten Korrelationen zeigen, dass der positive Zusammenhang zwischen dem beruflichen Wunsch eines Einblicks in menschliche Schicksale und dem Interesse an einer psychotherapeutischen Tätigkeit am höchsten war. Weitere statistisch hoch bedeutsame positive Zusammenhänge ließen sich finden für den Kontakt mit Menschen, gefolgt von dem Bestreben, Menschen zu helfen. Der stärkste, hoch bedeutsam negative Zusammenhang zeigte sich dagegen mit dem Wunsch eines hohen beruflichen Ansehens, gefolgt von dem Wunsch nach guten Karrierechancen, einem sicheren Arbeitsplatz, einem guten Einkommen sowie dem Wunsch nach Familienvereinbarkeit. Ein hohes Interesse an einer psychotherapeutischen Tätigkeit scheint somit mit »altruistischeren« Motiven, bzw. dem Wunsch nach Kontakt mit Menschen in einem positiven, mit Karriereüberlegungen und Fragen gesicherter beruflicher Rahmenbedingungen in einem negativen Zusammenhang zu stehen. Nicht signifikant verknüpft war ein berufliches Interesse an Psychotherapie mit Fragen, die eher der konkreten Tätigkeit zuzuordnen sind, sowie dem Wunsch nach einer persönlichen Weiterentwicklung. Im Vergleich mit den beruflichen Wünschen nach Studiengang fällt nun Folgendes auf. Vier der fünf negativ mit einem Interesse an Psychotherapie korrelierenden Variablen stimmten Medizinstudierende signifikant am stärksten zu, deskriptiv auch der fünften, der Möglichkeit eines guten Einkommens. Allerdings stimmten sie auch einer der positiv mit dem Interesse an Psychotherapie korrelierenden Variablen, nämlich dem Wunsch, Menschen zu helfen, signifikant am stärksten zu. Bezogen auf die anderen beiden positiv mit einem Interesse an Psychotherapie korrelierenden Variablen, interessante Einblicke in menschliche Schicksale und Kontakt mit Menschen fanden sich dagegen keine Unterschiede zwischen den Studierenden der drei Studiengänge. Möglicherweise stehen für Medizinstudierende relevante berufliche Wünsche bzw. Überlegungen wie eine relativ ausgeprägte Karriereorientierung, Fragen der Absicherung und beruflicher Rahmenbedingungen in besonderem Maße in einem Widerspruch zu beruflichen Wünschen, die mit einer psychotherapeutischen Ausbildung in einem Zusammenhang stehen. Daraus ließe sich das geringe Interesse an Psychotherapie in diesem Studiengang mit erklä© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
350 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
10 Quantitative Befunde
ren. Überlegungen dazu werden in der Diskussion aufgegriffen (vgl. Kap. 12.1). Zu Fragestellung 3.1.c) Psychotherapie u. Studienort Bezogen auf das Interesse an einer psychotherapeutischen Tätigkeit zeigte sich unter den Psychologiestudierenden kein bedeutsamer Einfluss des Studienorts. Bei den Medizin- (5 % erklärte Varianz) sowie den Pädagogikstudierenden (12 % erklärte Varianz) war dagegen ein global hoch signifikanter Effekt des Ortes zu verzeichnen (vgl. Tab. 31). Bei Betrachtung auf Einzelvergleichsebene zeigte sich weiter, wie aus Tabelle 31 ersichtlich, dass sich die untersuchten Medizinstudierenden aus Freiburg statistisch bedeutsam mehr für eine psychotherapeutische Ausbildung interessierten als die Studierenden dieses Studiengangs aus Mainz, Leipzig und Gießen. Für die Pädagogikstudiengänge zeigten sich, wie weiter aus Tabelle 31 ersichtlich, signifikant höhere Mittelwerte bei den befragten Studierenden aus Kassel als bei den Studierenden aus Frankfurt und aus Bremen. Unter den Psychologiestudierenden scheint der Ort dagegen keinen statistisch bedeutsamen Einfluss auf ein Interesse am Psychotherapeut/-innenberuf zu haben. Das Interesse war in allen einbezogenen Studienorten hoch.
Interesse an einer psychodynamisch orientierten oder einer verhaltenstherapeutischen Ausbildung Fragestellung 3.2.a) Psychodynamisch orientierte oder verhaltenstherapeutische Ausbildung, Geschlecht und Psychotherapieerfahrung Bezogen auf das Geschlecht der Studierenden zeigte sich, wie aus Tabelle 32 ersichtlich, kein statistisch bedeutsamer Zusammenhang mit dem Interesse an einer verhaltenstherapeutischen oder einer psychodynamisch orientierten Ausbildung. Inferenzstatistisch hoch bedeutsam, allerdings bezüglich der Größe des Zusammenhangs trivial, wiesen dagegen mehr Studierende, die sich für eine psychodynamisch orientierte Verfahrensrichtung interessierten, eine persönliche psychotherapeutische Vorerfahrung auf als solche, die sich für Verhaltenstherapie interessierten (vgl. Tab. 32). Aufgeteilt nach psychodynamisch orientierter oder verhaltenstherapeutischer Vorerfahrung zeigte sich, wie weiter aus Tabelle 32 ersichtlich, dass die persönliche Erfahrung in einer der beiden Verfahrensrich© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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10.6 Befunde zu Fragenkomplex 1 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
Tabelle 31: Interesse an psychotherapeutischer Ausbildung nach Ort und Studiengang Pädagogikstudierende M n ANOVAa (SD)
Ort der Erhebung Freiburg Hamburg Mainz Leipzig Gießen Saarbrücken
2,97 (0,99) 2,69 (1,35) 3,68 (1,07)
Frankfurt Bremen Kassel Gesamt
35 26
F(2/83; = 5,21 g =.122 p < .01
PsychologieMedizinstudierende studierende M M n ANOVA n (SD) (SD) 2,87 53 (1,11) 2,54 13 (1,20) 3,96 2,06 28 49 (0,94) (1,26) 3,98 2,38 56 162 (0,94) (0,96) 4,27 2,26 44 n. s. 94 (1,04) (1,03) 4,42 24 (0,72) 3,90 69 (1,10)
ANOVAb
F(4/366; = 4,79 g = .050 p < .01
.01) 2
.01) 2
25 86
221
371 a
Anmerkungen: n. s. = nicht signifikant; Einzelvergleiche: Pädagogik: Frankfurt-Kassel u. Bremen-Kassel: p < .05; b Medizin: Freiburg-Mainz u. Freiburg-Leipzig: p < .01, FreiburgGießen: p < .05, verglichen wurden aus inhaltlichen Gründen jeweils nur die Studierenden eines Studiengangs.
Tabelle 32: Interesse an einer psychodynamisch orientierten oder einer verhaltenstherapeutischen Ausbildung im Zusammenhang mit ausgewählten soziodemographischen Variablen
Geschlecht
a
PT Vorerfahrung b Vorerfahrung c
Männlich (n = 50) Weiblich (n = 187) Nein (n = 181) Ja (n = 55) PA/TP (n = 26) VT (n = 16) Andere (n = 11)
Interesse PA/TP 46 % 42 % 37 % 58 % 85 % 19 % 55 %
Interesse VT 54 % 59 % 63 % 42 % 15 % 81 % 45 %
Anmerkungen: PT = Psychotherapie; PA/TP = Zusammenfassung der psychodynamisch orientierten Verfahren (PA = Psychoanalyse u. TP = tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie); VT = Verhaltenstherapie; a n = 237; n. s. = nicht signifikant; bw2(.01; 1; c 2 N = 236) = 7.76, p < .01; Phi = -.181; p < .01; w (.01; 2; N = 53) = 17.79, p < .01; Phi = .579; p < .01.
tungen, wie es naheliegt, mit der jeweiligen Ausbildungsorientierung der Studierenden statistisch hoch bedeutsam und nichttrivial korre© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
352 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
10 Quantitative Befunde
spondierte. Bei Vorliegen einer anderen psychotherapeutischen Erfahrung zeigte sich dagegen eher ein ausgeglichenes Verhältnis bezüglich der Präferenz für eine der beiden Verfahrensrichtungen. Somit scheint eine psychotherapeutische Vorerfahrung allgemein eher ein Interesse an einer psychodynamisch orientierten Ausbildung zu begünstigen (ein Befund, der sich mit den von den Studierenden angegebenen Gründen im offenen Antwortformat deckt, vgl. Hypothese 5.a), während eine spezifische Vorerfahrung in einer der Verfahrensrichtungen eher prägend in Richtung eines diesbezüglichen Interesses zu wirken scheint. Zu Fragestellung 3.2.b) Psychodynamisch orientierte oder verhaltenstherapeutische Ausbildung und allgemeine berufliche Wünsche Aus Tabelle 33 wird ersichtlich, dass sich die Studierenden mit Interesse an einer verhaltenstherapeutischen oder einer psychodynamisch orientierten Ausbildung bezüglich allgemeiner beruflicher Wünsche deskriptiv minimal und inferenzstatistisch nicht bedeutsam unterschieden. Beide Gruppen strebten jeweils beruflichen Kontakt mit Menschen, eine Familienvereinbarkeit, die Möglichkeit Menschen zu helfen, einen sicheren Arbeitsplatz, eine selbständige Tätigkeit, eine intellektuell fordernde Aufgabe, eine persönliche Weiterentwicklung sowie Einblicke in menschliche Schicksale »ziemlich« an. »Etwas« strebten sie im Mittel ein gutes Einkommen, gute Karrierechancen, ein hohes berufliches Ansehen sowie eine wissenschaftliche Tätigkeit an. Bezüglich allgemeiner beruflicher Wünsche ähnelten sich die beiden Gruppen stark. Somit scheinen keine bedeutsamen Unterschiede allgemeiner beruflicher Wünsche im Zusammenhang mit dem Interesse an einer der beiden Verfahrensrichtungen vorhanden zu sein. Zu Fragestellung 3.2.c) Psychodynamisch orientierte oder verhaltenstherapeutische Ausbildung und Studienort Für das Interesse an einer verhaltenstherapeutischen oder einer psychodynamisch orientierten Ausbildung zeigte sich für die Psychologiestudierenden ein statistisch hoch bedeutsamer, nichttrivialer Zusammenhang mit dem Studienort. Während in Mainz, Leipzig und Gießen das Verhältnis ungefähr 80 % zu 20 % betrug, war dieses in Saarbrücken genau gegenteilig und in Frankfurt in etwa gleich verteilt © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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10.6 Befunde zu Fragenkomplex 1 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
Tabelle 33: Mittelwerte (M) und Standardabweichungen (SD) sowie inferenzstatistische Kennwerte beruflicher Wünsche bei Interesse an einer verhaltenstherapeutischen oder einer psychodynamisch orientierten Ausbildung Berufliche Wünsche 1. Kontakt mit Menschen 2. Vereinbarkeit mit Familie 3. Menschen helfen 4. Sicherer Arbeitsplatz 5. Selbständige Tätigkeit 6. Gutes Einkommen 7. Gute Karrierechancen 8. Hohes berufliches Ansehen 9. Wissenschaftliche Tätigkeit 10. Intellektuell fordernde Aufgabe 11. Persönliche Weiterentwicklung 12. Interessante Einblicke in menschliche Schicksale
VT M (SD) 4,50 (0,61) 3,99 (1,00) 4,26 (0,81) 3,62 (0,93) 3,77 (0,95) 3,42 (0,90) 2,96 (0,89) 2,98 (0,90) 2,74 (1,19) 4,18 (0,78) 4,34 (0,74) 3,75 (1,03)
PA/TP M (SD) 4,34 (0,71) 3,84 (1,05) 4,15 (0,83) 3,64 (1,10) 3,87 (0,91) 3,46 (0,90) 3,03 (1,11) 2,80 (1,10) 2,84 (1,20) 4,24 (0,75) 4,42 (0,72) 3,85 (1,09)
t-Test a
n. s. n. s. n. s. n. s. n. s. n. s. n. s. n. s. n. s. n. s. n. s. n. s.
nVT/ nPA/TP 135/ 100 135/ 99 136/ 100 137/ 100 135/ 99 137/ 100 137/ 100 136/ 100 135/ 100 136/ 100 137/ 99 137/ 100
Anmerkungen: VT = Verhaltenstherapie; PA/TP = Zusammenfassung der psychodynamisch orientierten Verfahren (PA = Psychoanalyse u. TP = tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie); berufliche Wünsche: fünffach gestufte Likert-Skalen von 1 = »gar nicht« bis 5 = »sehr«; n. s. = nicht signifikant; a t-Test für unabhängige Stichproben.
(vgl. Tab. 34). In der Gruppe der Medizinstudierenden lag ebenfalls ein hoch signifikanter, nichttrivialer Zusammenhang mit dem Ort der Erhebung vor. Hier zeigte sich, wie aus Tabelle 34 ersichtlich, dass sich die untersuchten Medizinstudierenden aus Freiburg, Mainz und Gießen häufiger für eine verhaltenstherapeutische Ausbildung interessierten als für eine psychodynamisch orientierte, lediglich bei den Studierenden dieses Studiengangs aus Leipzig lag ein umgekehrtes Verhältnis vor. Für die Pädagogikstudierenden zeigten sich, wie weiter aus Tabelle 34 ersichtlich, keine signifikanten Häufigkeitsunterschiede zwischen den befragten Studierenden aus Kassel, Frankfurt und Bremen. Verhaltenstherapie wurde im Verhältnis zu psychodynamisch orientierten Verfahren von den Studierenden aller drei Orte seltener bevorzugt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
33 % (n = 4) 38 % (n = 3) 40 % (n = 4) n = 11
67 % (n = 8) 63 % (n = 5) 60 % (n = 6) n = 19
Pädagogikstudierende VT PA/TP
n. s.
w2
n = 80
80 % (n = 16) 80 % (n = 20) 80 % (n = 25) 20 % (n = 3) 44 % (n = 16)
n = 47
20 % (n = 4) 20 % (n = 5) 19 % (n = 6) 80 % (n = 12) 56 % (n = 20)
Psychologiestudierende a VT PA/TP
w2(.01; 4; N = 127) = 26,93 p < .01
w2
n = 46
n = 34
Medizinstudierende b VT PA/TP 87 % 13 % (n = 13) (n = 2) (n = 0) (n = 1) 73 % 27 % (n = 8) (n = 3) 34 % 66 % (n = 11) (n = 21) 67 % 33 % (n = 14) (n = 7)
Anmerkungen : PA/TP = Zusammenfassung der psychodynamisch orientierten Verfahren (PA = Psychoanalyse u. TP = tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie) ; VT = Verhaltenstherapie; a Phi = .461; p < .01; b Fisher-Yates-Test: p < .01; b Phi = . 438; p < .01; Hamburg wird aufgrund zu geringer Fallzahlen inhaltlich nicht interpretiert ; aus Gründen der Rundung der Prozentzahlen kommen vereinzelt prozentuale Angaben von > 100 % zustande.
Gesamt
Kassel
Bremen
Frankfurt
Saarbrücken
Gießen
Leipzig
Hamburg Mainz
Ort der Erhebung Freiburg
w2 w2(.01; 4; N = 80) = 15,34 p < .01
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
Tabelle 34: Interesse an verhaltenstherapeutischer oder psychodynamisch orientierter Ausbildung nach Ort und Studiengang
354 10 Quantitative Befunde
© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
11
Befunde zur qualitativen Fragestellung
Die Ergebnisse der verdichtenden Prototypisierung der qualitativen Daten werden im Folgenden dargestellt und unter Bezugnahme auf die theoretischen Annahmen dieser Untersuchung erläutert. Zunächst wird das dafür entwickelte Kategoriensystem vorgestellt.
11.1 Beschreibung des Kategoriensystems Wie unter 9.3 dargelegt, wurden mit der dort ausgeführten Methode zwölf Hauptkategorien sowie Unterkategorien zweiter bis vierter Ordnung aus dem Interviewmaterial herausgearbeitet. Diese werden hier unter Bezugnahme auf die theoretischen Annahmen dieser Untersuchung inhaltlich erläutert. Vorab theoretisch als möglicherweise relevante Einflussgrößen für die Ermittlung der Prototypen festgelegt waren die Kriterien, nach denen die Interviewten ausgewählt wurden, also das Interesse am Psychotherapeut/-innenberuf, vorherige eigene Therapieerfahrung, Studienort sowie die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Studienfach (vgl. Stuhr et al., 2002, S. 155; vgl. Kap. 8.4). Ebenso theoretisch vorab festgelegt waren die Themen des Interviewleitfadens (s. Kap. 8.8), welcher insbesondere auf psychoanalytische Spätadoleszenztheorien rekurriert. Aufgrund dieser Vorabfestlegungen war zu erwarten, dass diese Themen auch im entwickelten Kategoriensystem auftauchen. Darüber hinaus wurden für die Entwicklung des Kategoriensystems, wie im Methodenteil dargelegt (vgl. Kap. 9.3), empirische Häufigkeiten weiterer, möglicherweise relevante Zusammenhänge moderierender Themen über die Fälle © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
356 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
11 Befunde zur qualitativen Fragestellung
hinweg ermittelt. Neue Theoreme ergaben sich, wie dort erläutert, insbesondere aus dem Ansatz der Grounded Theory.150 Alle im Folgenden dargestellten Kategorien wurden zudem unter Bezugnahme auf die Schlüsselkategorie, dem Interesse an einer (bestimmten) psychotherapeutischen Ausbildung, entwickelt. Mehrere der entwickelten Kategorien beziehen sich jeweils auf eine Theorie. Es sei an dieser Stelle noch einmal betont: Der Mehrwert der Befunde aus den Interviews ergibt sich insbesondere theoretisch und zwar in Form einer Vertiefung und Differenzierung der quantitativen Befunde sowie der Hypothesengenerierung. Für die gefundenen Zusammenhänge aus den Fragebogendaten wurden somit qualitative Typen im Sinne moderierender Konfigurationen spezifiziert. Beispielsweise konnten so anhand qualitativ moderierender Einflussgrößen (d. h. persönlich besonders relevanten Kriterien) quantitativ ermittelte Zusammenhänge zwischen einem Psychologiestudium und einer verhaltenstherapeutischen Ausbildung vertiefend analysiert werden (vgl. Kap. 10.4). Der verwendete theoretische Rahmen ist in Tabelle 35 noch einmal zusammenfassend aufgelistet. Tabelle 35: Zusammenfassung des theoretischen Rahmens für die Erstellung der Kategorien 1. Zeitgeist: »Postmoderne« (Flexibilisierung, Diversifizierung, Pluralisierung) u. »Ökonomisierung« 2. Allgemein psychoanalytische Identitätskonzeption: erstens interaktiv (bedeutungsvoller Anderer), zweitens prozesshaft (lebenslang), drittens mit Bezug auf Unbewusstes (Nichtidentisches) 3. Spätadoleszente Identitätsfindung (»Wer bin ich?«): Festlegung in Abgleich mit zentralen Selbstrepräsentanzen u. in Interaktion mit anderen; Anerkennungserfahrungen u. Orientierungsmöglichkeiten wichtig (u. a. Vorbilder) (soziologisch/sozialpsychologisch u. psychoanalytisch) 4. Berufswahl im Kontext spätadoleszenter Identitätsfindung (u. a. Fachkultur in bestimmtem Studiengang, prozesshaft, antizipatorisch)
150
In nachfolgenden Untersuchungen könnten diese z. B. quantitativ überprüft werden (vgl. Kap. 12.7). Es zeigte sich bei der Auswertung der Interviews unter anderem, dass die Studierenden zumeist sprachlich nicht zwischen Psychoanalyse und tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie differenzierten. Vielmehr wurde fast immer lediglich eine Unterscheidung zwischen »Verhaltenstherapie« und »Psychoanalyse« getroffen. Deshalb wurde im Rahmen der Auswertung der Interviews, wie auch im Theorieteil dieser Arbeit (vgl. Kap. 1) sprachlich ebenfalls lediglich zwischen diesen Verfahrensrichtungen differenziert. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
11.1 Beschreibung des Kategoriensystems 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
357
Die entwickelten Kategorien sind unter Bezugnahme auf diesen Rahmen ebenso tabellarisch dargestellt (vgl. Tab. 36) und werden zusammenfassend erläutert. Tabelle 36: Hauptkategorien des Kategoriensystems sowie darin enthaltene Themen Kategorie Hauptkategorie 1.: Umfeld Privat • Vorerfahrungen des privaten Umfelds (Familie und Freunde/Freundinnen (Peers) mit Psychotherapie, Verhaltenstherapie, Psychoanalyse; vgl. z. B. Strauß u. Kohl, 2009). • Einstellungen des privaten Umfelds zum Themenfeld • Familiäre Einstellung zu einem psychotherapeutischen Berufswunsch (ablehnende oder unterstützende Haltung; Anerkennung bzw. Anerkennungsvakuum, vgl. King, 2002). • Helfender Beruf von Familie oder Freunde/Freundinnen (vgl. Roßrucker, 1990) u. Benennung als Vorbild oder als Abgrenzungsobjekt (vgl. Guggenberger, 1990; King, 2002, 2007). Themen: Biographische/außeruniversitäre Prägung (Prägung durch das Elternhaus bzw. Subgruppenorientierung, vgl. z. B. Bohleber, 1992; Guggenberger, 1990; Hylander, 2008; Leuzinger-Bohleber, 2001; Portele u. Huber, 1993; Roßrucker, 1990; Strauß u. Kohl, 2009; Sutterlüty, 2002; Kap. 4.2); Spätadoleszenztheorien, Generationenbeziehungen u. -ablösung, Orientierungsmöglichkeiten und Vorbilder (vgl. z. B. Leuzinger-Bohleber, 2001; Sutterlüty, 2002; King, 2002, 2007; Bohleber, 1992; Blos, 1973; Kap. 4.3 u. 4.6) Hauptkategorie 2.: Umfeld beruflich / Studium • Einstellungen zum Themenfeld und berufliche Orientierungen von Studien- und beruflichem Umfeld (Kolleg/-innen bzw. Kommiliton/-innen) Themen: Fachkultur (situative Einflüsse, vgl. z. B. Eichenberg et al., 2007, Strauß et al., 2009); Anerkennungserfahrungen (weniger prägend, weil weniger persönlich relevant, aber dennoch nicht unwichtig für berufliche Entscheidungen; vgl. Kap. 4.3, 4.7 u. 5.1) Hauptkategorie 3.: Jobs / Praktische Erfahrungen • Praktische Vorerfahrungen im psychotherapeutischen sowie in anderen Berufsfeldern (Praktika, Jobs etc.) • Deren Beschreibung als positiv oder negativ prägend bezogen auf die Schlüsselkategorie (dazu vgl. z. B. Sonntag et al., 2009). Themen: Fachkultur (situative Einflüsse); Anerkennungserfahrungen (vgl. z. B. Sonntag et al., 2009; Kap. 4.7 u. 5.1) Hauptkategorie 4.: Schule; Studium; Universität Schulzeit: • Kontakt mit Psychotherapie, Psychoanalyse und Verhaltenstherapie im Unterricht • Frühe Berufswünsche bzw. eine bereits früh getroffene Berufsentscheidung (vgl. Strauß u. Kohl, 2009). Studium: • Kontakt mit Psychotherapie, Psychoanalyse und Verhaltenstherapie im jeweiligen Studiengang • Benennung von universitären Vorbildern (oder auch Abgrenzungsobjekten; vgl. King, 2002; Leuzinger-Bohleber, 2001; Blos, 1973; Bohleber, 1992, 1993) • Curriculare Darstellung von Psychotherapie(-richtungen) Themen: Bildungsinstitutionen : Schule und Universität und mögliche prägende Wirkung (dominante Fachkultur (situative Einflüsse) vorherrschendes Wissenschaftsverständnis, vgl. Bäumer, 2005; Bruns, 2002; Daiminger, 2007; Eichenberg et al. 2007; Eichenberg u. Brähler, 2008; Fischer u. Möller, 2006; Fonagy, 2001, 2002; Kandel, 2005; Küchenhoff, 2005, 2006; Strauß u. Kohl, 2009; Sutterlüty, 2002; Zaretsky, 2005; Kap. 3.1 – 3.5 u. 5.1); Anerkennungserfahrungen; Orientierungsmöglichkeiten: Vorbilder; Abgrenzungsobjekte; Studium als Berufsvorbereitung im Zuge der Sozialisation in eine bestimmte Fachkultur besonders prägend für die beruflichen Entscheidungen und Weichenstellungen (vgl. z. B. Beinke, 2006; Blos, 1973; Bohleber, 1992, 1993; King, 2002; Leuzinger-Bohleber u. Garlichs, 1991; Kap. 5.1).
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358 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
11 Befunde zur qualitativen Fragestellung
(Fortsetzung) Kategorie Hauptkategorie 5.: Persönlichkeitsfaktoren • Persönlichkeitsfaktoren, wie Einstellungen und Werthaltungen v. a. im Zusammenhang mit der Schlüsselkategorie • Individualitäts- und Originalitäts- bzw. Konformitätswünsche in Anlehnung an die ShellJugendstudie 2006151 (vgl. Kap. 4.6) und evtl. kritische Distanziertheit zum vorherrschenden Studienangebot (vgl. Kap. 4.3, 4.7 u. 4.1) • »Intrinsische« Gründe für eine psychotherapeutische Berufswahl im Sinne des Berufes als innere Haltung bzw. als »Berufung« (vgl. Bäumer, 2005; Bohleber, 1992; Guggenberger, 1990). • Selbstheilungswunsch bzw. Wunsch nach Selbsterfahrung im Zuge der Ausbildung (vgl. Strauß u. Kohl, 2009; Kap. 4.7) • Eher pragmatischer oder selbstreflexiver Umgang mit eigenen Problemen (Zusammenhang mit Interesse an einer bestimmten psychotherapeutischen Verfahrensrichtung; vgl. Heffler u. Sandell, 2009) Themen: Psychoanalytische u. sozialpsychologische Identitäts- sowie spätadoleszente Identitätsentwicklungstheorien (vgl. King, 2002; Leuzinger-Bohleber, 2001; Sutterlüty, 2002; Kap. 4.2, 4.3, 4.4 u. 4.5): spätadoleszente Identitätsentwicklung im Zusammenhang mit PTInteresse (»innere« berufliche Orientierung; vgl. Kap. 4.3 u. 4.7) Hauptkategorie 6.: Biographie • biographische Eckdaten: • Milieu (Unterteilung in Anlehnung an Shell-Jugendstudie 2006, Langness et al., 2006, S. 72) • Migrationshintergrund • Schlüsselszene als biographischer Wendepunkt (vgl. Sutterlüty, 2002, S. 251) Themen: Biographische/außeruniversitäre Prägung (vgl. Langness et al., 2006; Sutterlüty, 2002; Kap. 4.2, 4.3 u. 4.7) Hauptkategorie 7.: Therapieerfahrung • Eigene Therapieerfahrung und deren positiver oder negativer Einfluss (vgl. Sonntag et al. 2009) • Verhältnis zum/-r Therapeuten/-in Themen: Biographische/außeruniversitäre Prägung, Orientierungsmöglichkeiten: Vorbilder, Abgrenzungsobjekte (vgl. Kap. 4.2, 4.3 u. 4.7) Hauptkategorie 8.: Berufsplanung / Extrinsische Berufswahlmotive • »extrinsische« Berufswahlmotive (d. h. solche, die nicht unmittelbar in der Art der Tätigkeit liegen): • Einschätzung von Berufsaussichten • Karriereambitionen • Rahmenbedingungen (z. B. Familienvereinbarkeit) • Ökonomische Sicherheit • Interesse an einer psychotherapeutischen Qualifikation bzw. Zusatzqualifikation als Möglichkeit eines Kompetenzzuwachses (vgl. z. B. Langness et al., 2006) • Anderes berufliches Interesse Themen: Spätadoleszente Identität (Interessen, Werthaltungen, berufliche Orientierung; vgl. Kap. 4.3, 4.6 u. 4.7 u. 2.3.2) Hauptkategorie 9.: Psychotherapeutische Ausbildung • Information über psychotherapeutische Ausbildung • Wahrnehmung psychotherapeutischer Ausbildung u. in Ausbildungsrichtung Praktizierender • Persönliche Relevanz dieser Thematik für Berufswahl
151
In Anlehnung an die Shell Jugendstudie von 2006 bezeichnet ein Originalitätswunsch bzw. der Wunsch nach »Individualität« (Gensicke, 2006, S. 180) die Abgrenzung von angebotenen Studieninhalten, der allgemeinen Position zu Sachverhalten im Studium, in der Schule etc., ein »Konformitätswunsch« (Langness et al., 2006, S. 180) bedeutet dagegen das Bedürfnis, das zu tun, was die anderen auch tun. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
11.1 Beschreibung des Kategoriensystems 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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(Fortsetzung) Kategorie Themen: Spätadoleszente Identität (berufliche Orientierung, auch: situative Einflüsse; vgl. Kap. 3.1, 4.7 u. 5.2), pragmatische Erwägungen (vgl. Kap. 4.3 u.4.6), Sichtweise nach Studiengang (vgl. Kap. 5.1) Hauptkategorie 10.: Wahrnehmung von Psychotherapie (-Richtung) • Wahrnehmung von Verhaltenstherapie und Psychoanalyse insgesamt • Positionierung zu eklektizistischen bzw. integrativen Ansätzen (vgl. z. B. Vogel, 2005) • Beurteilung konkreter verhaltenstherapeutischer und psychoanalytischer Behandlungsmethoden • Beschreibung eines/-r »typischen/-r« Verhaltenstherapeuten/-in und bzw. Psychoanalytikers/-in Themen: Spätadoleszente Identität (Interessen, Werthaltungen, berufliche Orientierung, direkt bezogen auf Thematik VT vs. Psychoanalyse); Rückschlüsse auf zukünftige Therapeutenvariablen; Beurteilung, konkreter Behandlungsmethoden bedeutsam mit einem Interesse an Verfahrensrichtung zusammenhängend (vgl. Strauß et al., 2009; Kap. 3 – 3.5); Vorbild oder Abgrenzungsobjekt (vgl. Kap. 4.3 u. 4.6) Hauptkategorie 11.: Gesellschaftliche Einflüsse • Thematisierte gesellschaftliche Sichtweisen (Vorurteile etc.) auf Psychotherapie sowie auf die beiden psychotherapeutischen Verfahrensrichtungen (»Zeitgeist«) • Relevanz dessen für die Studierenden • Gegenwärtige Gesundheitspolitik Themen: Gesellschaftliches Klima bzw. »Makroebene« (vgl. z. B. Beck, 1986; Heitmeyer, 2006, 2009; Keupp u. Hohl, 2006; Ricoeur, 2006; Werschkull, 2007; Sennett, 2000); gesellschaftliche Behandlungsphantasien (Haubl, 1997) bzw. gesellschaftliche Vorstellungen von »guter Psychotherapie« und deren Einfluss auf ein Interesse der Studierenden, als situative Einflüsse; Anerkennungserfahrungen (Kap. 2, 4.5, 4.6 u. 5.3) Hauptkategorie 12.: Einstellungen / Interessen / Werthaltungen • Weltbild, Menschenbild, bzw. Werteorientierungen: Unterteilung der Shell-Jugendstudie 2006 (Gensicke, 2006, S. 186 ff.) in Macher/-innen, Unauffällige, Idealist/-innen und Materialist/-innen152 • Eher praktische oder theoretische berufliche Interessen • Sozial- bzw. geisteswissenschaftliche oder naturwissenschaftliche Identifikation • Psychische, somatische oder neurowissenschaftliche fachliche Orientierung Themen: Spätadoleszente Identität (Interessen, Werthaltungen, berufliche Orientierung), unter anderem von der jeweiligen Fachkultur der Studiengänge beeinflusst (vgl. Kap. 4.3 – 4.7 u. 5.1).
152
In Anlehnung an die Shell Jugendstudie von 2006 (Gensicke, 2006, S. 186 ff.) handelt es sich generell um die zwei Achsen: »Humanität vs. Egozentrik« (vgl. auch Schwartz, 1992, zit. nach Bäumer, 2005, S. 59) und »Aktivität vs. Passivität«, auf der der Autor vier verschiedene Typen verortet. »Idealisten« (S. 186) engagieren sich für andere Menschen oder ideelle Werte. Humanität gilt als wichtiger Wert (»Kultur und Bildung, Interesse an öffentlichen Themen, menschliches Mitgefühl« (S. 186), Freude am Lernen). »Pragmatische Idealisten« verbinden Aktivität und Humanität und haben somit ein starkes Motiv, »Menschen zu helfen«. »Materialisten« (S. 186) verkörpern das andere Extrem auf der Achse von Humanität versus Egozentrik. Sie sind nach Unterteilung der Shell-Jugendstudie gekennzeichnet durch eine »egozentrische Lebensperspektive«, also einem Streben nach Besitz, einen Genuss der »materiellen Güter […] und eine starke Konkurrenzorientierung« (S. 186) als Dreh- und Angelpunkt (»Macht, Lebensstandard« © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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11 Befunde zur qualitativen Fragestellung
Das entwickelte Kategoriensystem rekurriert zusammengefasst theoretisch auf die spätadoleszente Entwicklung Studierender im Zusammenhang mit deren beruflichen Entscheidungen in Interaktion bzw. Wechselwirkung mit verschiedenen Umwelten der Studierenden: Außeruniversitäre Einflüsse, biographische Prägungen und subkulturelle Peergruppen-Einflüsse (auch universitär) werden in den Hauptkategorien 1, 6 und 7 aufgegriffen. Die universitäre Prägung und die jeweilige Fachkultur findet sich in den Hauptkategorien 2, 3 und 4 wieder. Die Frage von Anerkennungserfahrungen, Orientierungsmöglichkeiten und der Ermöglichung eines psychosozialen Moratoriums im Zusammenhang mit spätadoleszenter Identitätsentwicklung ist in diesen Kategorien besonders präsent, jedoch auch in fast allen anderen Kategorien direkt oder indirekt enthalten. Um Fragen der personalen Identität, wie Persönlichkeitsfaktoren, Interessen und Werthaltungen im Kontext zentraler Selbstrepräsentanzen geht es in den Hauptkategorien 5, 10 und 12, allerdings auch in Hauptkategorie 8, in welcher eher eine Orientierung an äußeren bzw. pragmatischen Berufswahlmotiven thematisiert wird. In Hauptkategorie 9 geht es um die Relevanz organisatorischer Rahmenbedingungen der Ausbildung in Zusammenhang mit der antizipierten Berufswahl, in Hauptkategorie 10 um zukünftige Therapeutenvariablen und bevorzugte Behandlungsmethoden (vgl. Tab. 36 u. 37).
(S. 187), Genussorientierung, Fairnessverletzung, wenn nötig). Ein »robuster Materialist« verbindet Aktivität mit Egozentrik. Der »Macher« (S. 186) wiederum wird beschrieben mit einem »Impuls der Freude am Tätigsein« (S. 187). Ein »selbstbewusster Macher« zeichnet sich primär durch Aktivität aus und versucht die beiden Pole des Idealismus und des Materialismus in sich zu vereinen. Beim vierten Typ handelt es sich nach Unterteilung der Shell Jugendstudie um »Unauffällige« (S. 186). Ein »Persönlichkeitsprofil, das von Apathie und Passivität gekennzeichnet ist [was der Autor mit] Misserfolgsorientierung« (S. 187) in Verbindung bringt. Ein »zögerlicher Unauffälliger« (S. 187) zeichnet sich primär durch Passivität aus. Die Person positioniert sich nicht eindeutig, äußert keine Meinung, Werthaltung o. Ä. als handlungsleitende Orientierung. Entnommen und für die Jugendforschung der Shell-Studie adaptiert, erstmalig in 2002, wurde diese Unterteilung aus der Werteforschung (vgl. Klages u. Gensicke, 2005, 2006, zit. nach Gensicke, 2006, S. 186). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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11.2 Zur Typenbildung 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
Tabelle 37: Zusammenfassende theoretische Einordnung der Einflussgrößen u. Identitätsanteile (bzw. Selbstrepräsentanzen) in die Kategorien 1 bis 12 Einflussgrößen – Außeruniversitäre Prägung: Kat. 1 + 6 (+ 7) – Fachkultur, universitäre Prägung: Kat. 2 + 3 + 4 – Anerkennungserfahrungen: Kat. 2 + 3 + 4 (+1) – Wirken auf … Spätadoleszente Identitätsanteile – Persönlichkeit/Interessen/Werthaltungen: Kat. 5 + 10 + 12 – Praktische bzw. pragmatische berufliche Orientierung: Kat. 8 + 9 – Zukünftige Therapeut/-innenvariablen bzw. Behandlungsmethoden (z. B. Fragen der Direktivität, Aktivität, Ursachenergründung, …): Kat. 10
11.2 Zur Typenbildung: Sieben typische Wege der Entscheidungsfindung »Welche Funktionen nimmt sie [die Biographie] ein auf der lebensweltlichen Ebene des sozialen Handelns und welche im Gesamtgesellschaftlichen?« (Fischer-Rosenthal, 1995, S. 253).
Die im Folgenden referierte Clusterlösung ergab sich aus den referierten theoretisch-inhaltlichen Überlegungen (vgl. Kap. 2 – 7) in Kombination mit den clusteranalytischen Auswertungen der anhand des entwickelten Kategoriensystems kodierten Interviewnarrative (vgl. Kap. 9.2 – 9.5). Aufgrund der Komplexität und Ausdifferenziertheit des Kategoriensystems wurden eher geringe Jaccard-Koeffizienten von > .175 als Abbruchkriterium für eine Clusterlösung als zulässig erachtet. Es zeigte sich eine Clusterlösung mit sieben, allerdings unterschiedlich großen Clustern sowie einer Probandin, die keinem dieser Cluster zugeordnet werden konnte. Fünf relativ eindeutige Clusterzentren konnten identifiziert werden. Diese weisen einen Jaccard-Koeffizienten von > .337 auf. In zwei weiteren Clustern befanden sich jeweils nur zwei Proband/-innen, welche sich anhand ihrer Kodierungen zwar mehr ähnelten als allen anderen, zwischen welchen die Ähnlichkeiten jedoch dennoch eher gering waren. Dieser Interpretation der gefundenen Clusterlösung entspricht auch das Ergebnis einer Clusterlösung mittels Single-Linkage-Verfahren, wel© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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11 Befunde zur qualitativen Fragestellung
ches sich besonders zur Ermittlung von Ausreißern eignet (vgl. Backhaus et al., 2008). Dort wurde die Probandin, die mittels Average-Linkage keinem der Cluster zugeordnet werden konnte, sowie einer der Probanden in Cluster 4, welchem lediglich zwei Proband/-innen mit relativ geringer Ähnlichkeit angehören, als »Ausreißer« identifiziert. Zur externen Validierung der Clusterlösung wurden ausgewählte Befunde der qualitativen Auswertung mit Fragebogendaten verglichen, wie beispielsweise von Bortz (2005, S. 583) empfohlen (vgl. Kap. 9.6 u. 11.3). Eine inhaltliche Übereinstimmung wurde als Beleg für die Gültigkeit der Befunde interpretiert153. Nachfolgend werden die gefundenen Clusterlösungen zu den »prototypischen Wegen der Entscheidungsfindung« verallgemeinert inhaltlich interpretiert. Ein Narrativ aus dem jeweiligen Clusterzentrum wird als paradigmatisches Beispiel (vgl. Sutterlüty, 2002) bzw. als Prototyp illustrativ und in aktiv verschlüsselter Form dargestellt. Ein Prototyp bestimmt sich dabei dadurch, dass bei ihm (fast) alle Ausprägungen in Bezug auf eine bestimmte Variablenkonfiguration vorhanden sind.154
Cluster 1 (Vier Proband/-innen (3 m = männlich, 1 w = weiblich); Clusterzentrum: MED 080, MED 076) Typ 1) »Mediziner als akademischer Handwerker – Chirurg« »Also, ich wollte was Sinnvolles tun und – ja, ein akademisches Handwerk. Da gibt es außer der Medizin, glaub ich, nicht viel.« (MED 018) Im ersten ermittelten Cluster befinden sich ausschließlich Medizinstudierende, von denen die Mehrzahl männlich ist. Sie weisen eine 153
Im Detail einzusehen ist die ermittelte Clusterlösung im bei der Autorin erhältlichen Anhang. 154 Wie bereits im Methodenteil dargestellt, wurde bei allen Narrativen die Diskretion berücksichtigt, sie wurden aktiv verschlüsselt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
11.2 Zur Typenbildung 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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stark naturwissenschaftliche Identifikation auf. Dieser erste ermittelte typische Weg der Entscheidungsfindung, »Mediziner als akademischer Handwerker – Chirurg« zeichnet sich weiter dadurch aus, dass die Frage einer psychotherapeutischen Ausbildung für ihn zu keinem Zeitpunkt wirklich relevant ist. Dieser Typ scheint einen, den quantitativen Befunden entsprechend, häufig vorkommenden Weg der beruflichen Entwicklung im Studiengang Medizin zu repräsentieren, welcher durch eine primär somatische Orientierung gekennzeichnet ist und mehrheitlich kein psychotherapeutisches Ausbildungsinteresse aufweist. Weiter sind die Studierenden dieses Entscheidungsfindungstyps meist sehr praktisch orientiert. Sie möchten somatischhandwerklich tätig sein und tendieren aus diesem Grund zum handwerklichen Bereich der Chirurgie. In diesem Arbeitsfeld steht nicht der Patient/-innenkontakt, sondern die manuelle Tätigkeit im Vordergrund. Eine psychotherapeutische Zusatzausbildung schließen sie dabei nicht gänzlich aus. Sie halten diese für einen kompetenten Umgang mit Patient/-innen im medizinischen Alltag durchaus für sinnvoll, ebenso gegebenenfalls eine Delegation an Fachleute. Jedoch betonen sie stark das Handwerkliche des Mediziner/-innenberufes und zeigen kein berufliches Interesse an Psychotherapie als Fach. Ihr Verhältnis zu dieser Thematik könnte somit als recht distanziert bzw. »leidenschaftslos« charakterisiert werden. Hierin zeigt sich wiederum eine Übereinstimmung zu den quantitativen Befunden in der insgesamt nicht sehr ausgeprägten Kritik an einer nach Studierendenangaben eher geringen Darstellung psychotherapeutischer Verfahrensrichtungen im Studiengang Medizin. Es liegt keine persönliche Psychotherapieerfahrung vor, allerdings wird teils von einer hilfreichen Psychotherapieerfahrung von Familienmitgliedern berichtet. Generell spielen jedoch persönliche Kontakte mit Peers oder universitären Vorbildern eine vergleichsweise geringe Rolle, ein zum in naturwissenschaftlichen Fachkulturen aufzufindenden unpersönlichen Lehrhabitus sowie zur insgesamt dort vorzufindenden Fachkultur passender Befund (vgl. Kap. 5.1). Darauf wird im Rahmen der Diskussion noch einmal näher eingegangen. Dieser »geradlinig medizinische Weg« wird eher von männlichen Medizinstudierenden, die der Mittel- oder Oberschicht angehören, beschritten. Sie scheinen sich in diesem stark strukturierten Studiengang – relativ unpersönlich – gut orientieren zu können. Weiter beschreiben sie sich, wie erwähnt, als © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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11 Befunde zur qualitativen Fragestellung
eher praktisch-anwendungsorientiert und wurden mittels des Kategoriensystems am ehesten als »Macher/-innen« in Anlehnung an die Unterteilung in der Shell Jugendstudie von 2006 kategorisiert. Sie beschreiben dementsprechend ihren Umgang mit eigenen Problemen als pragmatisch und auch ihre berufliche Planung ist durch pragmatische Erwägungen geprägt. Ein Selbsterkenntnisinteresse ist entsprechend gering. Peers oder universitäre Vorbilder spielen für die berufliche Orientierung der Studierenden dieses Clusters eher keine Rolle, ebenso wenig wie gesellschaftliche Sichtweisen auf Psychotherapie oder die Rahmenbedingungen einer psychotherapeutischen Ausbildung. Bezüglich verschiedener psychotherapeutischer Verfahrensrichtungen weisen die Studierenden geringe bis gar keine Kenntnisse auf. Die Verhaltenstherapie halten sie aufgrund deren pragmatischen Zugangs und deren schneller Ergebnisse, ihrem persönlichen Umgang mit Problemen entsprechend, am ehesten für sinnvoll und nachvollziehbar. Dies wäre auch ihre Therapiewahl bei eigenem Behandlungsbedarf. Selbstpositionierungen wie diese könnten den quantitativen Befund einer vergleichsweise hohen Identifikation im Studiengang Medizin mit dieser Verfahrensrichtung im Vergleich zur Gesamtstichprobe mit erklären, ebenso das unerwartete hohe Interesse daran in diesem Studiengang. Die berufliche Planung der Studierenden dieses Clusters ist insgesamt durch pragmatische Erwägungen geprägt. Im biographischen Verlauf zeigen sich hier wenige Brüche. Der spätadoleszente Berufsfindungsweg scheint von Anerkanntsein in und starker Identifikation mit der (dominanten) medizinischen Fachkultur sowie dem Mediziner/innenberuf geprägt zu sein. Zusammengefasst zeichnet sich somit ein Weg der Entscheidungsfindung ab, in welchem das Thema einer psychotherapeutischen Ausbildung nie wirklich eine Rolle spielt. Stattdessen wird sich, teils schon zu einem frühen Zeitpunkt (Schule, Zivildienst) in Richtung der und im Studium an der medizinischen Fachkultur orientiert, ohne jedoch Psychotherapie grundsätzlich abzuwerten. Primäre Interessen im medizinischen Berufsfeld liegen in dem Bereich, der am stärksten als manuell bzw. handwerklich beschrieben wird, in der Chirurgie.
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Stichwortartige Zusammenfassung unter Bezugnahme auf das Kategoriensystem: – – – – – – – – – –
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Eher männlich Chirurgisches Interesse (8) Milieu: Mittelschicht, obere Mittelschicht (6) Naturwissenschaftliche Orientierung (5) Eher praktisch, anwendungsorientiert (5) Peers: eher unwichtig (1) Keine Psychotherapie (aber Zusatzqualifikation, Weiterbildung) (8) Macher/-in (5) Pragmatisch im Umgang mit eigenen Problemen (5) Geringe Kenntnis von Psychotherapie u. verschiedenen Verfahren, wenn eher VT-Orientierung (z. B. Therapiewahl bei eigenem Bedarf ) (4 u. 5 u. 7 u. 10) »Was soll ich sonst machen« oft schon in Schulzeit oder Zivildienst (4) Positive berufliche Erfahrungen in einem nichtpsychotherapeutischen Bereich (3) Dominante Fachkultur wird nicht in Frage gestellt (5) Pragmatische berufliche Überlegungen sind relevant (8) Somatische Behandlung: »akademisches Handwerk« im Vordergrund, eher geringes Interesse an Reden als Behandlungsmethode (12) Keine eigene Psychotherapieerfahrung, aber teils von Verwandten (positiv) (1) Universitäre Vorbilder nicht entscheidend (4) Eher »leidenschaftsloses« Verhältnis zu Psychotherapie, jedoch schon sinnvoll, Delegation dessen an Fachleute (10)
Anmerkung: In Klammern sind jeweils die Nummern der thematisch relevanten Hauptkategorien vermerkt.
Interviewnarrativ zur Illustration des Clusters Der Interviewte hat ein sicheres, sympathisches Auftreten. Er spricht schnell, flüssig und viel. Man erkennt seine Bildung und sein umfangreiches Interesse an seinem Fachgebiet. Er interessiert sich sehr für Herzchirurgie und freut sich, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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wenn er die Möglichkeit bekommt, hier zu arbeiten. Ansonsten würde er auch gerne Viszeralchirurgie machen, nicht unbedingt Unfallchirurgie, weil die Menschen dort so merkwürdig seien. Er räumt allerdings ein, dass man dazu neigt, eine schlechte Stimmung auf das Fach allgemein zu übertragen, das sei nicht richtig so. Nach seinem Kontakt mit Psychotherapie im Studium befragt, erzählt er von einer Vorlesung und einem Seminar, bei dem sie unter anderem Videos über Erstgespräche gesehen und analysiert haben. Das habe ihm sehr zugesagt. Auch sonst im Kontakt mit Patienten erlebe er immer wieder, dass Krankheitsursachen nicht organisch seien. Allerdings sehe er sich nicht als Therapeuten, auch wenn er gerne Kontakt habe und Gespräche mit Patienten führe, sondern er sei »Handwerker«. Ich frage nach seinem direkten Umfeld. Auskunftsfreudig erzählt er von seinem Vater, der einen Herzinfarkt hatte. Zuerst habe dieser seinen körperlichen Zustand nach erfolgreicher Behandlung heruntergespielt, aber musste sich eingestehen, dass er bei der Arbeit nicht mehr sehr belastbar war. Auf Anraten der Familie machte er eine Kur und aktuell eine Psychotherapie, was ihm gut tue. Er erzählt weiter, dass sein älterer Bruder im Zuge einer Trennung wohl gerade eine Depression bekomme. Er habe dies relativ früh erkannt und die Eltern und schließlich auch den Bruder von seiner Erkrankung überzeugt. Er mache nun eine Verhaltenstherapie. Seine Mutter ist Lehrerin. Sein Vater ist im mittleren Management in einer größeren Firma. Der Bruder studierte Jura. Seine Eltern haben ihn in seiner Studienwahl unterstützt. Er wollte schon früher Arzt werden. Im Zivildienst als Rettungsdienstfahrer bestätigte sich seine Entscheidung. An Medizin interessiere ihn die fachliche Seite, die tägliche Herausforderung und das Handwerk. Natürlich möchte er auch ein gutes Einkommen haben, deshalb begrüße er die aktuellen Ärztestreiks. Er würde aber auch ins Ausland gehen für einige Jahre, nach Skandinavien etwa oder England. Oder auch in ein Entwicklungsland z. B. nach Ghana. In England z. B. seien die Menschen trotz schlechterer Bedingungen zufriedener, die Dienstzeiten geregelter und man würde als Arzt mehr verdienen als in Deutschland. Nach Vorurteilen bezüglich Therapiefachrichtungen befragt, fällt ihm zunächst nicht viel ein. Er bleibt erst sehr allgemein. Jeder sei von seiner Fachrichtung überzeugt und baue eine Rivalität zu einer anderen auf. Bei den Medizinern würde allerdings eine bessere interdisziplinäre Verbindung unter den Fachärzten bestehen. Er selbst würde für sich keine tiefenpsychologische Therapie beanspruchen wollen. Die Verhaltenstherapie setze an der Störung an. »Was kann ich tun?« Das entspräche eher seinem Pragmatismus. Nach den Ursachen forsche er nicht, da sich die Umstände stets ändern würden. In diesem Zusammenhang erwähnt er
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seinen Bruder, bei dem sich die Umstände aufgrund der Trennung von seiner Freundin in ein »ungutes Klima« gewandelt hätten. Er berichtet dann von einer Freundin, die auch Medizin studiert und sich mit großer Begeisterung für alternative Medizin und Psychotherapie interessiert. Er akzeptiere dies teilweise, stehe dem aber auch skeptisch gegenüber. Er erzählt, dass er überwiegend dann Probleme damit habe, wenn zu viel daran verdient wird. Er möchte diese Freundin auch »von ganz abgehobenen Dingen« abhalten. Außer bei dem Praktikum im Studium habe er keine direkten Kontakte mit Psychotherapieeinrichtungen gehabt. Durch Patientenkontakte werden aber häufig psychische Überlagerungen einer Krankheit sichtbar. Die Schulmediziner hätten dann oft eine ablehnende Haltung gegenüber der Psychologie und wollten sich mit dieser Thematik nicht beschäftigen. In diesem Zusammenhang bemängelt er ein Schubladendenken. Allerdings hätte er dies auf einer onkologischen Station anders erlebt. Nun berichtet er wiederum interessant und kompetent von psychoonkologischen Themen. Er interessiert sich schon für die Psyche der Patienten, möchte sich mit dem Thema beschäftigen, allerdings nicht als Therapeut, sondern, und auch nur, wenn es sich ergibt, durch Schulungen und Weiterbildungen. Er erzählt in diesem Zusammenhang von verschiedenen Placebo-Studien und bestätigt, dass das Psychische Einfluss nimmt. Er äußert allerdings Skepsis, wenn Behandlungen zu teuer sind. Seine politische Einstellung würde er als »liberal-konservativ« beschreiben. Ich frage nochmals nach seinen psychologischen Interessen. Die kamen in der Zeit des Zivildienstes – auch heute fährt er immer noch für den Rettungsdienst – wo er Unterschiede bei seinen Mitfahrern im Umgang mit den Patienten erlebt habe. Er berichtet z. B. von Alkoholikern, die Respekt und würdevollen Umgang erfahren sollten, ihren Lebensgeschichten, die er sich anhört, oder von Angehörigen bei einer Notfallrettung. »Die meisten sterben eh«, erklärt er leicht abwehrend, aber es sei wichtig, wie man mit den Angehörigen umgehe. Auf die Frage, wie er selbst mit dem Tod umgehe, antwortet er: Er ärgere sich, weil er beruflich versagt habe. Er weiß, bei einer Notfallrettung gibt es nur 10 % Überlebenschance. Belastend sei für ihn nicht so sehr der Tod, sondern eher die Zuschauer, die Notfälle als »Show« ansehen. Er setze sich dann unter Druck, weil unter Beobachtung des Publikums, täusche dann eine gewisse Geschäftigkeit vor. Man müsse die Intimsphäre wahren, sowohl die des Toten als auch seine eigene. Den Tod an sich sehe er eher »sportlich«, dass jemand stirbt, »kann ich nicht ändern.« (MED 080)
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Cluster 2 (Sieben Proband/-innen (2 m, 5 w); Clusterzentrum: MED 034, MED 024) Typ 2) »Psychotherapie als Option – Nervenärtzin« Sie wolle erst den Facharzt für Neurologie machen und dann entscheiden, ob sie die psychiatrische oder die therapeutische Schiene wählen soll. (MED 024) In Cluster 2 befinden sich ebenfalls ausschließlich Medizinstudierende, hier ist die Mehrzahl allerdings weiblich. Die Studierenden sind bezogen auf den psychotherapeutischen Bereich weniger stark mit der dominanten Fachkultur der Medizin identifiziert. Durch diese – somatische – Fachkultur sind die Studierenden dieses Typs, »Psychotherapie als Option – Nervenärtzin« somit weniger stark beeinflusst, wenngleich sie sich ihrer bewusst sind und sie auch nicht grundsätzlich in Frage stellen. Sie kritisieren jedoch beispielsweise vorherrschende Vorurteile gegenüber einer Tätigkeit in psychischen Bereich, den »Psycho«-Fächern und gegenüber psychisch erkrankten Patient/-innen unter Studierenden, aber auch unter Dozent/-innen. Diese Kritik an der dominanten Fachkultur entspricht der quantitativ ermittelten, im Vergleich der Studiengänge negativsten Wahrnehmung von Psychotherapie unter Medizinstudierenden. Die Studierenden in diesem Cluster wünschen sich teilweise auch eine ausführlichere Lehre zum psychotherapeutischen Bereich. Biographisch sind sie häufig durch die Elternberufe in Richtung Medizin geprägt, wobei ein psychotherapeutisches Berufsinteresse familiär eher kritisch gesehen wird. Größtenteils stammen die Studierenden wie die Studierenden im ersten Cluster aus der Mittel- oder der oberen Mittelschicht. »Reden als Instrument«, zusätzlich zum somatischen Behandeln wird jedoch für attraktiv bzw. sinnvoll gehalten. Dies entspricht dem quantitativen Befund eines derart »ganzheitlichen« Zugangs als häufigstes Pro-Argument für eine psychotherapeutische Tätigkeit unter Medizinstudierenden. Das Fachgebiet der Neurologie wird teils als eine Art Zwischenlösung oder Kompromiss empfunden. Weiter sind die Rahmenbedingungen der beruflichen Tätigkeit wie Familienfreundlichkeit oder geregelte Arbeitszeiten für diese Gruppe © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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eher relevant für ein eventuelles Interesse an einer psychotherapeutischen Tätigkeit, das quantitativ ermittelte zweithäufigste Pro-Argument. Über die Ausbildung sowie über verschiedene Verfahrensrichtungen haben sich die Studierenden jedoch nicht konkret informiert. Nach der Unterteilung der Shell-Jugendstudie (2006) in unterschiedliche Werttypen handelt es sich mehrheitlich um »Idealist/-innen«. Unterschiede zum ersten Typ sind weiter bezogen auf das wissenschaftliche Selbstverständnis zu verzeichnen. Es ist weniger nur naturwissenschaftlich orientiert. Weiter sind Differenzen vorhanden bezogen auf das Interesse an Kontakt mit Patient/-innen, die Relevanz von Vorbildern, und den Umgang mit persönlichen Problemen. Dieser ist teils pragmatisch, teils auch selbstreflexiv. Hier ist kein eindeutiges Muster erkennbar. Allerdings beschreiben sich die Studierenden, ebenso wie diejenigen in Cluster 1, als eher praktischanwendungsorientiert. Der Psychoanalyse stehen sie positiver gegenüber als die Studierenden in Cluster 1, diese bewerten sie wie auch die Verhaltenstherapie ambivalent. Es handelt sich bei Entscheidungsfindungen dieses Typs somit um einen weniger mit der dominanten medizinischen Fachkultur identifizierten Weg, obgleich eine biographische Prägung in diese Richtung vorhanden ist. Möglicherweise sind hierbei geschlechtsspezifische Faktoren wirksam, worauf im Rahmen der Diskussion noch einmal näher eingegangen wird. Übereinstimmungen finden sich mit den Studierenden des ersten Typs in einer geringen Kenntnis von verschiedenen psychotherapeutischen Verfahrensrichtungen. Dies scheint, wie auch die quantitativen Daten nahelegen, bei fast allen Medizinstudierenden der Fall zu sein. Allerdings ist im zweiten Cluster eine größere Affinität zu Psychotherapie allgemein sowie eine positivere Sicht der Verfahrensrichtung Psychoanalyse aufzufinden. Ein diesbezüglich relevantes Unterscheidungskriterium ist möglicherweise, neben den zu diskutierenden geschlechtsrollenspezifischen Aspekten, der häufiger vorkommende selbstreflexive Umgang mit eigenen Problemen im Gegensatz zu einem ausschließlich pragmatischen Umgang damit im ersten Cluster. Auch für diese Studierenden spielen pragmatische und praktische Erwägungen, allerdings im Zusammenhang mit einem Interesse an einer eventuellen Tätigkeit im psychotherapeutischen Bereich (z. B. eine vergleichsweise preiswerte Praxiseinrichtung), eine Rolle. Anders als für die Studierenden in Cluster 1 sind jedoch ebenso ein Interesse an mensch© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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lichen Schicksalen sowie eine Faszination für »Reden als Behandlungsmethode« im Zusammenhang mit diesen beruflichen Überlegungen relevant. Stichwortartige Zusammenfassung unter Bezugnahme auf Themen des Kategoriensystems: – Eher weiblich – Schicht: mehrheitlich Mittelschicht, obere Mittelschicht (6) – Psychotherapie als ernsthafte Option (oder Zusatz), aber auch andere medizinische berufliche Interessen (8) – Reden als Instrument attraktiv, sinnvoll (8), aber auch somatische Behandlung, Einfluss von Psyche auf Somatisches (12) – Eher nicht so stark identifiziert mit dominanter Fachkultur, wenn auch dieser bewusst (Kritik an Vorurteilen gegenüber »Psycho«Fächern) (2 u. 4) – Familienfreundlichkeit, Arbeitsbedingungen in Psychotherapie relevant (8) – Berufliche, universitäre Erfahrungen mit Fachrichtung und Vorbilder relevant (3 u. 4) – Begegnung mit Psychotherapie in Studium/Praktikum, als positiv erlebt (3 u. 4) – Eher Idealist/-in (5) – Selbstreflexiv und pragmatisch (5) – Eher praktisch, anwendungsorientiert (12) – Wissenschaftliche Identifikation: eher naturwissenschaftlich, teils auch beides (12) – Geringe Kenntnis von psychotherapeutischen Verfahren, wenig differenziert, keine Informationen über Ausbildung (4 u. 9 u. 10) – Psychoanalyse und VT gegenüber eher ambivalent (10) – Kritik am Studium, eher zu wenig Info über Psychotherapie (4) – Verwandte, Freunde/Freundinnen: eher negative Einstellung zu Berufswunsch im psychotherapeutischen Bereich (1) – Elterntätigkeit häufig im medizinischen Bereich (1) Anmerkungen: In Klammern sind jeweils die Nummern der thematisch relevanten Hauptkategorien vermerkt.
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Interviewnarrativ zur Illustration des Clusters Die Interviewte kommt pünktlich zum Termin, sie ist groß und schlank. Sie kenne wenige, die mit dem Gedanken spielen, eine psychotherapeutische Richtung einzuschlagen. Sie finde das Gebiet aber interessant und glaube, dass es eine große Rolle in allen medizinischen Bereichen spiele. Daher möchte sie gerne einen Einblick bekommen, weshalb sie auch zum Interview gekommen sei. Die Psyche und auch das Umfeld spielten eben überall eine Rolle und da habe sie das Gefühl, dass sie ein wenig mehr Vorbereitung haben wolle. In ihrer bisherigen Ausbildung fehle das bisher. Konkrete Pläne bezüglich einer Facharztausbildung in diesem Bereich habe sie nicht, sie denkt, sie brauche schon eher etwas Klinisches [womit sie Somatisches meint] und würde sich das eher als Zusatzausbildung vorstellen können. Die klinische Tätigkeit, das Untersuchen und Abtasten, das würde ihr sonst sehr fehlen. Vielleicht habe sie auch Vorurteile oder Angst, dass sie sich angreifbar macht, wenn sie sich konzentriert mit dem Gebiet der Psyche beschäftige, sie bezeichnet das als »Selbstschutz«. Genaue Informationen zu Therapierichtungen habe sie nicht. Mehr oder weniger beschränken sich ihre Erfahrungen auf den Kurs »Psychosomatik«, das fand sie sehr interessant. Auf die Frage, welche Einfälle sie zur Psychoanalyse habe, antwortet sie, dass sie sich vorstelle, dass da »die Psyche irgendwo analysiert wird«. Vielleicht mittels Verhaltenspsychologie. So richtig könne sie sich aber nicht vorstellen, was da passiert. Sie kenne die Tiefenpsychologie [aus der Vorlesung Psychosomatik, welche mit einer MC-Klausur beendet wird], mit den verschiedenen Ebenen Ich und Über-Es – aber so richtig falle ihr davon auch nichts mehr ein. In ihrer Gruppe würde der Kurs in Psychosomatik geteilt aufgenommen : »Da waren sehr viele, die … ähm das ging mir teilweise selber auch so, dass man Aggressionen manchmal so entwickelt hat. Also was heißt Aggressionen ? Aber wir hatten sehr viele verschiedene Patienten dort sitzen und auf jeden Fall haben sie sehr unterschiedliche Reaktionen, auch Emotionen ähm in einem hervorgerufen.« Man habe sich auch bei anderen beherrschen müssen, nicht in Mitleid zu zerfließen. Und es gebe eben solche, die sich in eine Opferrolle hineinbugsiert und schon mit der Körpersprache Aggressionen hervorgerufen hätten. Prinzipiell habe ihr der Kurs gut gefallen. Sie habe auch kurz drüber nachgedacht, eine Facharztausbildung in dieser Richtung zu machen. Einige Patienten hätten sie allerdings auch ungeduldig gemacht, was ihr nicht so gefallen habe. Ihr Vater sei Orthop äde und habe ihr zugeraten, da er glaube, dass sie auf dem »psychischen« Gebiet Kompetenzen habe. Ein guter Freund habe aber gesagt : »Tu das nicht, sonst bekommst du noch irgendwie so einen an der Klatsche […] .« Eine Kommilitonin wiederum habe gesagt, wenn man das perspektivisch betrachte, wäre es gut, da die Praxiseinrichtung sehr günstig wäre. Ihr Mann habe eher mit Angst reagiert, dass ihr das vielleicht zu nahe gehen könnte, sie vielleicht die Pa© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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tienten mehr mit nach Hause nähme als in einem anderen Fach. Selbsterfahrung fände sie gut. Sie berichtet in diesem Zusammenhang über einen Fall, in dem ihr ein Patient sehr nahe ging. Selbsterfahrung wäre schon in einem gewissen Maße nötig. Andererseits glaube sie, dass es nicht gut tue, wenn man da zu sehr reingehe. Nach Kontakt mit Psychotherapie befragt, berichtet sie über eine entfernte Verwandte, die Psychologin sei. Sie wisse aber nicht genau, was sie mache. Eine Freundin sei Ergotherapeutin, mehr Berührungspunkte habe sie nicht. Eine andere Freundin habe ihr aber berichtet, dass sie eine Therapie mache, was sie sehr erstaunt habe. »Obwohl ich dachte, Mensch eigentlich kann man das ja auch nicht so von vornherein sagen, ob da jetzt eigentlich jemand ähm, ja … ob da jetzt jemand ’ne Therapie macht oder nicht.« Dieser Freundin würde das sehr gut tun, sie bekäme Denkanstöße und könne mit Hilfe der Therapie besser reflektieren und alles aufrollen. »Es ist irgendwo auch erstaunlich, wenn man das so sieht, wie sehr ihr das so hilft. Und das find ich, find ich sehr schön. Und ähm ja wie sie, wie sie da eigentlich in dem Bereich irgendwie jetzt auch immer mehr an Stärke gewinnt. Und dass ich prinzipiell dann auch zu dem Entschluss gekommen bin, dass ich manchmal denke : Vielleicht bräuchten das viel mehr Menschen als sie sich das selber vielleicht eingestehen.« Sie habe ein Praktikum in der gynäkologischen Praxis einer befreundeten Ärztin gemacht und die Hilflosigkeit der Ärzte in manchen Situationen habe sie gelehrt, dass sie psychologische Kompetenzen braucht. Ihre Mutter, die als Fremdsprachensekretärin arbeite, meine allerdings, dass sie ein zu zart besaiteter Mensch sei und ihr eine therapeutische Arbeit zu sehr an die Substanz gehen würde. Die letzte Zeit im Studium habe ihr schon zu denken gegeben, sie glaubt, sich da auch verändert zu haben. Auch gebe es in der Familie Probleme, ihr jüngerer Bruder habe wahrscheinlich eine Angststörung oder etwas in der Art – sie würde ihm gerne mehr helfen, sehe auch Schwierigkeiten in der Familie, habe aber noch nicht genügend Ahnung, da etwas zu tun. Sie spüre auch im Studium starke Vorurteile gegenüber der Psychiatrie. Sie habe das nun als Wahlfach ausgesucht und merke schon, dass sie komisch angeschaut würde. Sie fühle sich etwas allein mit der Entscheidung, aber das störe sie nicht zu sehr. Eigentlich fühle sie sich gut dabei, dass sie das so entschieden habe und glaube, dass es ihr für später viel helfen wird. Ich frage sie, welche Facharztausbildung sie machen will. Sie wisse es nicht genau, vielleicht Gynäkologie, vielleicht doch Psychosomatik, das schwanke. Chirurgie und Innere seien jedoch nichts für sie. Der Menschenschlag der Chirurgen habe doch wenig Einfühlungsvermögen, damit wolle sie sich nicht identifizieren. Und in der Inneren sei dann doch der Altersdurchschnitt der Patienten sehr hoch, das wäre nichts für sie, da würde sie eher »der Natur ihren Lauf« lassen. Diese »Sterbestation« mache ihr Angst. Zu Sigmund Freud fiele ihr nicht viel ein, außer vielleicht diese Einteilungen in
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orale und anale Phase und das mit diesem Ich und Über-Es. Sie habe das mal gelernt, fand es recht kompliziert, glaube aber, das habe schon seine Richtigkeit. Zur Couch fällt ihr nur ein: »Ja doch, günstige Praxiseinrichtung. (lacht). Nee. Ja, vielleicht doch eher so auch dieses typische Klischee, ne: ›Komm leg dich auf meine Couch, Augen zu, entspann dich und nun erzähl mir mal, was bedrückt dich so?‹« Karrieremäßig sehe sie in der Psychotherapie recht gute Möglichkeiten. Wichtig sei ihr bei der Entscheidung aber auch die Familienfreundlichkeit, daher auch der Wunsch Gynäkologie. (MED 034)
Cluster 3 (Sieben Proband/-innen (7 w); Clusterzentrum: PSY 400, PSY 042) Typ 3) »Psychoanalyse als Ursachenforschung – den Dingen auf den Grund gehen« »Ich interessiere mich dafür, woher eine Störung kommt, um Veränderungen bewirken zu können.« (PSY 042) Das dritte gefundene Cluster des Typs »Psychoanalyse als Ursachenforschung – den Dingen auf den Grund gehen« ist dadurch gekennzeichnet, dass dort sowohl Medizin- als auch Psychologiestudierende anzutreffen sind, welche alle als mehr oder weniger »psychoanalyseaffin« zu bezeichnen sind. Es handelt sich ausschließlich um weibliche Studierende, die alle der Mittelschicht zuzurechnen sind. Während einige konkret eine psychoanalytische Ausbildung planen, sind sich andere noch nicht sicher, ob sie in die psychotherapeutische Richtung gehen möchten. Alle nehmen jedoch, entsprechend den quantitativen Befunden, psychoanalytische Behandlungsmethoden als positiv und sinnvoll wahr und sehen verhaltenstherapeutische Behandlungsmethoden eher kritisch. Einige der Studierenden in diesem Cluster beschreiben ein bereits seit der Schulzeit existierendes Interesse an Psychoanalyse (und am Psychotherapeut/-innenberuf ), welches sich im Verlauf des Studiums nicht verändert hat. Sie besitzen meist hohe Kenntnisse über diese Verfahrensrichtung und beschreiben teilweise einen hohen universitären Kontakt damit. Über die psychoanalytische Ausbildung sind sie größtenteils gut informiert. Kosten und Dauer der Ausbildung sind für sie gegen eine Ausbildung sprechende Faktoren, jedoch nicht in einem solchem Maße, dass sie sich aus © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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diesem Grund dagegen entscheiden würden. Dies entspricht dem quantitativen Befund, dass die an psychodynamischen Verfahrensrichtungen Interessierten – trotz ihres Interesses – dieser Richtung erwartungswidrig einen ebenso großen Ausbildungsaufwand zuschreiben wie Verhaltenstherapieinteressierte. Wie die Studierenden im vorherigen Cluster, sind diese Studierenden durch eine idealistische Werthaltung nach Unterteilung der Shell Jugendstudie (2006) gekennzeichnet. Auch interessieren sie sich ebenfalls meist sowohl für Somatisches als auch für Psychisches. Dies entspricht unter den Medizinstudierenden wiederum dem quantitativ häufigsten Argument für eine psychotherapeutische Ausbildung. Weiter ist die wissenschaftliche Orientierung der Studierenden in diesem Cluster, wie auch bei einigen Studierenden im zweiten Cluster, sowohl sozial- als auch naturwissenschaftlich, oder aber, im Unterschied zu den ersten beiden Clustern, ausschließlich sozial- bzw. geisteswissenschaftlich. Anders als die Studierenden der ersten beiden Cluster sind die Studierenden zudem alle als selbstreflexiv im Umgang mit eigenen Problemen zu bezeichnen. Allerdings beschreiben auch sie sich, wie die Studierenden der anderen beiden vorgestellten Cluster, als eher praktisch und nicht theoretisch orientiert. Häufig weisen sie, den quantitativen Befunden entsprechend, eine eigene Psychotherapieerfahrung auf oder beschreiben Psychotherapieerfahrungen von Familienmitgliedern oder Freunden/Freundinnen. Der Wunsch nach Selbsterfahrung und derjenige nach persönlicher Weiterentwicklung spielen als Motive für eine Ausbildung eine wichtige Rolle. Die Förderung von Selbsterkenntnis, die dieser Verfahrensrichtung quantitativ zwar von allen Befragten höher, besonders stark jedoch von den an einer psychodynamischen Ausbildung Interessierten zugeschrieben wird, könnte in diesem Zusammenhang relevant sein. Zudem werden in der Art der Tätigkeit liegende und andere »intrinsische« Gründe für ein Interesse genannt. Dies entspricht der gefundenen vergleichsweise hohen Identifikation mit dieser Verfahrensrichtung als ein quantitativ relevantes Kriterium. Bei allen Studierenden in diesem Cluster ist ein wichtiges Motiv, verstehen zu wollen, warum Menschen so sind, wie sie sind, also die eine oder andere Art der »Ursachenforschung«. Der hohe Beitrag zum Verständnis seelischer Störungen, der dieser Richtung quantitativ von allen Studierenden und besonders stark von den an der Ausbil© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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dungsrichtung Interessierten zugeschrieben wird, könnte für diese Studierenden somit ein ausschlaggebendes Kriterium für ihr Interesse darstellen. Der Typ der Entscheidungsfindung ist des Weiteren gekennzeichnet durch die Erwähnung eines relativ starken Individualitäts- und Originalitätswunsches und durch eine damit einhergehende kritische Distanziertheit gegenüber dem jeweiligen Studienangebot. Insbesondere im Studiengang Psychologie beschreiben einige Studierende in diesem Cluster ihr Studium als nicht sehr befriedigend. Dies könnte mit dem quantitativen Befund einer relativ häufig empfundenen Problematik einer zu VT-lastigen Lehre in diesem Studiengang in einem Zusammenhang stehen. Allerdings wird häufig ein Vorbild in Person eines/-r bekannten Analytikers/-in, teilweise im privaten Umfeld, benannt. Es kann also zusammengefasst davon ausgegangen werden, dass für diesen Typ der Entscheidungsfindung weniger Anerkennung bzw. Gratifikationen über das unmittelbare Studienumfeld entscheidend sind, sondern dass biographische Prägungen sowie außeruniversitäre Vorbilder eine größere Rolle spielen. Pragmatische Gründe scheinen so gut wie keine Rolle für die Präferenz der Studierenden zu spielen, sondern eine relativ starke Identifikation mit der Verfahrensrichtung und deren Behandlungsansätzen. Etwas eingeschränkt werden muss diese Interpretation jedoch bei Betrachtung der quantitativen Befunde: Hier spielt zumindest die Kassenanerkennung auch für an dieser Verfahrensrichtung Interessierte durchaus eine Rolle. Bei den Medizinstudierenden scheint ein wichtiges Motiv zu sein, sich mit dem Menschen als Ganzes und nicht nur mit einem kleinen (somatischen) Ausschnitt beschäftigen zu wollen, worin sie den Studierenden im zweiten Cluster ähneln. Selbsterfahrungswünsche, häufig biographisch begründet, werden vor allem von den Psychologiestudierenden in diesem Cluster formuliert. Letztere betonen teilweise sehr explizit ihre Entscheidung für Psychoanalyse und gegen Verhaltenstherapie, wobei sie eine hohe Überzeugung von dieser Verfahrensrichtung und ihren Behandlungsansätzen aufweisen. Weiter befinden sich in diesem Cluster ausschließlich Frauen, was jedoch den quantitativen Befunden gemäß eher mit einem Interesse an Psychotherapie insgesamt als an einer der Verfahrensrichtungen zusammenhängt. Überlegungen dazu werden im Rahmen der Diskussion aufgegriffen.
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Stichwortartige Zusammenfassung unter Bezugnahme auf Themen des Kategoriensystems: – Wahrnehmung psychoanalytischer Behandlungsmethoden positiv (10) – Wahrnehmung verhaltenstherapeutischer Behandlungsmethoden negativ (10) – Interesse an Psychoanalyse schon in Schulzeit (4) – Wahrnehmung Psychoanalytiker/-in positiv (Vorbild) (1 u. 10) – Selbstreflexiv (5) – Idealist/-in (12) – Originalitäts-, Individualitätswunsch u. kritische Distanziertheit zu Studienangebot (5) – Persönliche Weiterentwicklung u. Selbsterfahrung angestrebt (5) – Sozialwissenschaftliche, geisteswissenschaftliche Orientierung (12) – Hohe Informiertheit, Kontakt mit Psychoanalyse an Universität u. hohes Wissen über Psychoanalyse (4 u. 5) – Informiertheit über psychoanalytische Ausbildung, Kosten u. Dauer relevant (9) – Intrinsische Gründe für Psychotherapie-Ausbildung (5) – Eigene Psychotherapie oder von Freunden, Verwandten (1 u. 7) – Mittelschicht (6) – Elternberufe gemischt (helfende und nicht helfende Berufe) (1) – Gesellschaftliches Klima relevant (11) – Psychisch u. somatisch (12) – Praktisch, anwendungsorientiert (12) – Entscheidung explizit für Psychoanalyse und nicht für VT (8 u. 10) – Keine Angabe pragmatischer Gründe (8) Anmerkung: In Klammern sind jeweils die Nummern der thematisch relevanten Hauptkategorien vermerkt.
Interviewnarrativ zur Illustration des Clusters Ja, antwortet meine Interviewpartnerin mir auf meine Anfangsfrage, viele ihrer Kommilitonen überlegen, ob sie eine Therapieausbildung machen sollten. Es gibt unterschiedliche Gründe, unter anderem der Zeit- und Kostenaufwand. Diese Überlegungen seien wichtig, auch für sie persönlich. Wenn, dann möchte © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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sie auf jeden Fall eine Psychoanalyseausbildung machen, dies am besten berufsbegleitend. Der Zeitaspekt sei für sie nicht relevant, sie sei 24 Jahre alt und man könne die Ausbildung ohnehin erst mit 25 Jahren beginnen. Sie ist im neunten Semester und möchte im nächsten Jahr fertig werden. Zurzeit beschäftigt sie sich mit ihrer Diplomarbeit über »Jugendlichendelinquenz und Persönlichkeit« anhand einer Fragebogenuntersuchung. Ich frage sie nach ihrem Studiengang. Sie wolle auf jeden Fall im kriminologischen Bereich arbeiten, entweder in der Rechtsmedizin oder in der forensischen Psychologie. Da Psychologie ein kürzeres Studium als Medizin sei, hätte sie sich dafür entschieden. »Abweichendes Verhalten« habe sie schon immer interessiert, wie es dazu kommt, und wie man etwas bewegen könne. Ihre Eltern finden es gut, dass sie Psychologie studiere, ihre Vorliebe für Forensik sehen sie jedoch mit Skepsis und befürchten, dass dies zu anstrengend und zu gefährlich sei. Die Mutter ist Sozialarbeiterin, der Vater besitzt eine Schreinerei. Sie hat eine Schwester, die Biologie auf Lehramt studiert und eine, die Tierärztin werden möchte. Das Studium empfand sie bis zum Vordiplom als sehr anstrengend, da musste sie sich »durchbeißen«, aber im Hauptstudium mache es ihr Spaß. Sie habe neben der klinischen Psychologie und der Arbeits- und Organisationspsychologie noch Diagnostik und Intervention als Wahlfach belegt. Praktika habe sie in im Jugendarrest und der Forensik gemacht. Sie fand das sehr interessant. Ich frage sie, was sie daran reize. »Nein, ich kann es nicht erklären.« Aber das Interesse an Forensik war für ihr Psychologiestudium entscheidend. Ich frage sie bezüglich ihres Interesses an Psychoanalyse. Sie erklärt bestimmt: »Verhaltenstherapie ist nicht meins«. Da würden »Symptome aber keine Ursachen« behandelt. Sie sei interessiert daran, »woher eine Störung kommt«, um Veränderungen bewirken zu können. Die Erfolge der Verhaltenstherapie seien nicht von langer Dauer. Sie räumt jedoch ein, nicht viel Wissen über Verhaltenstherapie zu haben, da sie ihre Seminare in Psychoanalyse belegt habe. Das Angebot sei begrenzt. Die Psychoanalyse-Fallgruppe sei ein Seminar, bei dem man gemeinsam mit der Seminarleitung Patienten betreut. Dieses Seminar »wird von der Psychiatrie aus« angeboten und war sehr praxisnah, so etwas fehle sonst in den anderen Bereichen des Studiums. Gründe für Verhaltenstherapie seien, so glaubt sie, »oft pragmatisch«, bei denen die sich für Psychoanalyse interessieren, stehen oft »eher inhaltliche Gründe« im Vordergrund. In ihrem privaten Umfeld gibt es mehrere, die eine Therapie machen oder machen wollen, z. B. wegen Prüfungsangst, jedoch, glaube sie, »überwiegend VT«. Sie spricht nicht viel mit ihnen darüber, sie sei da zurückhaltend. »Ich lass die immer und wenn sie was erzählen wollen, können sie was erzählen, aber ich frag da nicht nach.« Wie sie mit ihren eigenen Problemen umgehe, möchte ich wissen. »Ich warte
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erst mal ab und guck, wie sich das entwickelt.« Aber sie habe auch immer Ansprechpartner, zu denen sie gehen könne. Wenn die Probleme überhand nehmen würden, würde sie auch eine Therapie machen, »Psychoanalyse natürlich«. Ich frage sie nach den Kontakten im Jugendstrafvollzug. Es sei ein »eigenartiges Klima – nur junge Männer«. Sie versuche, sich darauf zu konzentrieren, was dahinter liegt, wie die Geschichte dieses Menschen aussieht. »Wenn Emotionen hochkommen würden, könnte ich gar nicht mit ihnen arbeiten«, erklärt sie mir. Aber so weit lasse sie es nicht kommen, ihr Interesse und ihre Neugierde stehen im Vordergrund. Wenn sie fertig ist, möchte sie im Jugendstrafvollzug »als Analytikerin arbeiten«, und wenn sie doch in einer eigenen Praxis arbeiten sollte, dann gerne auch mit Jugendlichen, die schon Haftstrafen hinter sich haben. Für die Psychoanalyse spreche der »hohe Anteil an Selbsterfahrung«. »Man sollte sich selbst schon gut genug kennen, bevor man auf andere losgelassen wird.« Sie sei der Auffassung, dass schon während des Studiums Selbsterfahrung sinnvoll wäre. Sie habe z. B. ein Seminar besucht, bei dem Imagination durchgeführt wurde. Sie wolle mehr über sich selbst erfahren. Sie habe auch keine Angst davor, »im Gegenteil«. Bei Tagungen, Seminaren und auch bei Freunden sei ihr aufgefallen, dass »Menschen, die in der Psychoanalyse arbeiten, zufrieden und ausgeglichen« wirken. Sie findet das »toll, wenn das so nach außen strahlt«. Sie räumt aber ein: »Vielleicht nehme ich das selektiv wahr, mache mir das so schmackhaft.« Die Sichtweise der Psychoanalyse außerhalb der Uni sei »oft veraltet«, die Studenten setzten sich mehr damit auseinander. Viele hätten zwar andere Interessenschwerpunkte, aber keine Vorurteile. Ich frage nach ihrer Wahrnehmung in den Medien. Sie sehe sich sehr viel im Fernsehen an. Zum Beispiel werden die in Talkshows auftretenden Psychologen »den Vorurteilen entsprechend« dargestellt. Ich frage sie nach ihrem Zugang zu anderen Menschen. Sie habe schon immer gerne zugehört, wenn Menschen über ihre Probleme gesprochen haben. Aber auch umgekehrt spricht sie gerne mit ihren Freunden. Sie könne sich auch ganz gut abgrenzen. Sie denke zwar auch hinterher über »Sachen« nach, aber wälze die Probleme nicht. Sie achte auf sich und darauf, »dass es bleibt, wo es hingehört«. (PSY 042)
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Cluster 4 (Zwei Proband/-innen (1 m, 1 w); »Clusterzentrum«: PSY 048, PSY 113) Typ 4) »VT als Ausbildung – Psychoanalyse als Patient/-in« Sie wünscht sich aber auch eine Annäherung der Verhaltenstherapie und der Psychoanalyse, da sie die Vorteile beider Therapieformen zu schätzen weiß. Die Verhaltenstherapie bekam sie durch ihr Studium vermittelt, den psychoanalytischen Ansatz aus ihrer eigenen Therapie. (PSY 113) Im vierten Cluster befinden sich nur zwei Proband/-innen, welche, wenn auch hier zusammengefasst, eine eher geringe Ähnlichkeit aufweisen. Dieser Typ der Entscheidungsfindung »VT als Ausbildung – Psychoanalyse als Patient/-in« kann aufgrund der Kleinheit des Clusters sowie der geringen ermittelten Ähnlichkeit nur mit Vorsicht interpretiert werden. Deshalb wird dieses Cluster nur bezüglich einer Besonderheit, die sich bei beiden Proband/-innen findet, beschrieben. Hier scheint trotz einer positiven Sichtweise auf Psychoanalyse aufgrund einer eigenen psychoanalytischen Psychotherapie dennoch das Studienangebot im Studiengang Psychologie ausschlaggebend für ein Interesse an einer verhaltenstherapeutischen Ausbildung zu sein. Dies entspricht dem quantitativen Befund einer im Verhältnis größeren Relevanz universitärer Informiertheit für ein Interesse an einer verhaltenstherapeutischen Ausbildung. Auch zeigt sich hierin eine Parallele zur quantitativ ermittelten hohen Informiertheit über Verhaltenstherapie in diesem Studiengang. Der Weg der Entscheidungsfindung ist von einem Wandel eines Interesses an Psychoanalyse vor dem Psychologiestudium hin zur verhaltenstherapeutischen Richtung im Verlauf des Studiums gekennzeichnet, wobei jedoch eine Annäherung der beiden Verfahrensrichtungen gewünscht wird. Die Strukturiertheit und die klaren Regeln der Verhaltenstherapie werden als positiv für eine eigene spätere berufliche Tätigkeit im psychotherapeutischen Bereich gesehen, obgleich die Offenheit und der Freiraum der Psychoanalyse aus Patient/-innenperspektive als positiv erlebt wurden. Ein Wunsch nach persönlicher Orientierung und Struktur scheint für diesen spätadoleszenten Berufsfindungsweg © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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somit ein relevantes Motiv zu sein, wobei die Möglichkeit dazu eher mit einer verhaltenstherapeutischen Tätigkeit in Verbindung gebracht wird. Darauf wird im Rahmen der Diskussion noch einmal ausführlicher eingegangen. Stichwortartige Zusammenfassung unter Bezugnahme auf Themen des Kategoriensystems: – Vorbilder, Erfahrungen an Uni, in Praktika wichtig (3 u. 4) – Verhaltenstherapeutische Behandlungsmethode strukturierter: positiv (10) – Kontakt mit VT universitär hoch (3 u. 4) – VT positiv (4 u. 10) – Hohe Kenntnis von VT (5) – Kontakt mit Psychoanalyse hoch über eigene Psychotherapie (7) – Psychoanalyse positiv (10) – In Schulzeit eher psychoanalyseorientiert (4) – Integrative Psychotherapie positiv, nicht aber Eklektizismus (10) Anmerkung: In Klammern sind jeweils die Nummern der thematisch relevanten Hauptkategorien vermerkt.
Interviewnarrativ zur Illustration des Clusters Nachdem ich die Anfangsfrage präzisiert habe, erzählt mir die Interviewte von ihrem Wunsch Verhaltenstherapeutin zu werden. Mit dem Wunsch Psychotherapeutin zu werden, ging sie auch in ihr Psychologiestudium und in das Praktikum in einer Psychiatrie, welches sie in ihren ersten Semesterferien machte. Dieses Praktikum in der Station für Angsterkrankungen einer Psychiatrie dauerte sechs Wochen und wurde von einer Verhaltenstherapeutin betreut, die sie in die stattfindenden Tests und in die Gruppentherapien integrieren konnte. Sie fügt hinzu, dass dies nur möglich gewesen sei, da es sich um eine Station gehandelt habe, auf der die Therapien begannen. Die sie betreuende Therapeutin sorgte für eine inhaltliche Umorientierung ihres Wissens über Psychologie. Vor diesem Praktikum bezog sie ihr Wissen aus den Büchern Freuds, die sie im Rahmen ihres Schulunterrichts ein halbes Jahr lang behandelt hatten. Wir kommen dann auf die unterschiedlichen Vorgehensweisen der Verhaltenstherapie und Psychoanalyse bezüglich der Mitteilung der Diagnose gegenüber den Patienten zu sprechen. In diesem Punkt zeigt sich die Interviewte offen, sie ist nicht nur mit der Verhaltenstherapie identifiziert. So schätze sie einerseits die Transparenz der Verhaltenstherapie, dem Patienten die Diagnose mitzuteilen, andererseits befürchte sie, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
11.2 Zur Typenbildung 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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dass der Patient sich dadurch an die Diagnose klammere und diese vor sich hertrage, ohne inhaltlich zu begreifen, was mit ihm los sei. Als wir über die Ausbildung zum Psychoanalytiker oder Verhaltenstherapeuten zu sprechen kommen, meint sie, dass die strukturellen Umstände wie Geld, Dauer usw. für sie keine Rolle spielen würden, sondern ihre Wahl rein auf methodischen Interessen basiere. Sie wünscht sich aber eine Annäherung der Verhaltenstherapie und der Psychoanalyse, da sie die Vorteile beider Therapieformen zu schätzen weiß. Die Verhaltenstherapie bekam sie durch ihr Studium vermittelt, den psychoanalytischen Ansatz aus ihrer eigenen Therapie. Ihren Wunsch multimodal therapeutisch tätig zu sein, relativiert sie: »Man muss, um Therapeut zu werden, eine Richtung richtig beherrschen und erst dann kann man multimodal tätig werden.« In der psychoanalytischen Therapie, die parallel zu ihrem Studium begann, machte sie positive Erfahrungen: »In der psychoanalytischen Therapie gibt es viel mehr Zeit, Verständnis und Raum für alles und bei der Verhaltestherapie ist alles zack zack und immer arbeiten.« Sie schildert ihre Therapeutin positiv, als eine Frau, die ihre Entscheidung für eine verhaltenstherapeutische Ausbildung nicht verurteilte. Im Gegenteil, seit dem Moment, wo für die Interviewte klar wurde, dass dies ein für sie guter Weg sei, unterstützte sie ihre Entscheidung. Wenn sie in der Therapie, die sie vor Kurzen beendet hat, die methodischen Ausdruckformen der Verhaltenstherapie benutzte, um sich auszudrücken, stellte ihre Therapeutin nur fest, dass sie beide methodisch divergieren, ohne sie dabei für die psychoanalytische Perspektive begeistern zu wollen. Auf mein Nachfragen stellt sie verschiedene Formen der Arbeitsweisen in der Verhaltenstherapie vor und drückt ihr Gefühl aus, dies auch in ihrer Therapie erfahren zu haben: »›Wie denke ich, was fühle ich und wie handele ich‹ und dann tritt man in den sokratischen Dialog, dies ist eine Wirkform der Verhaltenstherapie.« Die Interviewte berichtet von ihrem Umzug aus einer kleineren in eine größere Stadt. Dieser Umzug war auch durch ihren Studienplatz in Psychologie bedingt, aber mehr noch zog es die Interviewte in eine größere Stadt, um in der hiesigen HipHop-Szene ein »neues Zuhause« zu finden, »naja, auch mit Grafitti und so halt…«. Sie selbst sieht sich rückblickend als jemanden der »Flausen« im Kopf hatte und im Rahmen der Pubertät Dinge tat, wie z. B. ein hoher Alkoholkonsum, von denen sie sich heute distanziert. Mit Hilfe der Therapie war es ihr dann möglich, ihr Studium ernsthafter zu betreiben und sich von den Freunden aus der »Szene« zu distanzieren. Sie genoss den Freiraum ihrer Therapie, wünscht sich aber gleichzeitig mehr Struktur in Form von Übungen, etc. Die Verhaltenstherapie mit ihren klaren Regeln erscheint ihr auch deshalb attraktiv. Diese Strukturierung erfährt sie nun durch die Arbeit als Hiwi in einer verhaltenstherapeutischen Ambulanz und sie hat näheren Kontakt zur verhaltenstherapeutischen Denkweise durch einen Professor, den sie sehr schätzt. Dieser Professor war es auch, der ihr riet, vor der Kommission der verhaltenstherapeutischen Ambulanz ihre psychoanalytische Therapie nicht anzugeben, um
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nicht in den Verdacht zu geraten, multimodal tätig sein zu wollen, statt wie in der Ausbildung gelernt, nur verhaltenstherapeutisch. (PSY 113)
Cluster 5 (Fünfzehn Proband/-innen (4 m, 11 w); Clusterzentrum 5a: PSY 101, PSY 130 u. Subclusterzentrum 5b: PSY 020, PSY 002) Typ 5a und 5b »Psychologische/-r Verhaltenstherapeut/-in« In Cluster fünf »Psychologische/-r Verhaltenstherapeut/-in« befinden sich diejenigen Studierenden, die als »verhaltenstherapieaffin« zu bezeichnen sind. Allerdings sind, wie im dritten vorgestellten Cluster bezogen auf Psychoanalyse, auch Proband/-innen in diesem Cluster, die zwar Verhaltenstherapie als Verfahrensrichtung bevorzugen, jedoch konkret (noch) keine psychotherapeutische Ausbildung planen. Es sind ausschließlich Psychologiestudierende, die in der Mehrzahl weiblich sind. Mehrheitlich finden sich hier weiter nach Einteilung der Shell Jugendstudie 2006 »Idealist/-innen«, allerdings sind auch einige »Macher/-innen« bzw. nicht eindeutig zuzuordnende Studierende darunter. Da es sich bei diesem Cluster um eine vergleichsweise große und recht heterogene Gruppe handelt erschien es inhaltlich sinnvoll, neben dem eindeutigeren Clusterzentrum ein weiteres solches »Zentrum« in die Interpretation des Clusters einzubeziehen. Die nachfolgenden Darstellungen beziehen sich unter 5a zunächst auf das eindeutigere Zentrum (d. h. dasjenige mit der größeren Ähnlichkeit zwischen den beiden Proband/-innen), unter 5b dann auf das etwas weniger ähnliche, jedoch inhaltlich ebenfalls relevant erscheinende zweite »Clusterzentrum«. Typ 5a) »Überzeugte psychologische Verhaltenstherapeutin – empirische Wirksamkeit« Sie hat auch schon entschieden, dass sie eine verhaltenstherapeutische Ausbildung machen möchte. Im Studium wird fast nur Verhaltenstherapie gelehrt. VT sei ergebnisorientiert, evaluiert und bringe schnelle Ergebnisse hervor. Die Wirksamkeit von Psychoanalyse sei nicht bewiesen. Sie sei unsystematisch und würde zu lange dauern. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Auch seien die Therapieausbildungskosten höher als bei der Verhaltenstherapie. (PSY 130) Um Clusterzentrum 5a gruppiert sich der Typ »Überzeugte psychologische Verhaltenstherapeutin – empirische Wirksamkeit«. Dieser Typ ähnelt dem ersten der vorgestellten Typen der Entscheidungsfindung darin, dass sich die Studierenden mit der im Studiengang – hier der Psychologie – dominanten Fachkultur sehr gut identifizieren können. Es handelt sich jedoch größtenteils um Frauen. Das Studium wird als befriedigend erlebt, das große, vor allem verhaltenstherapeutische klinische Lehrangebot ebenfalls. Dies entspricht dem quantitativen Befund des im Vergleich der Studiengänge größten Wunsches nach einem vermehrten psychotherapeutischen Lehrangebot im Studiengang Psychologie. Universitäre Vorbilder sowie die Möglichkeit, bereits im Studium praktisch tätig sein zu können (z. B. HiWi-Tätigkeit an universitären Ausbildungsambulanzen, Praktika) werden darüber hinaus als positiv beschrieben. Da das universitäre Angebot und die persönlichen Interessen gut übereinstimmen, sind Anerkennungserfahrungen und Gratifikationen durch das Studium gut möglich und werden genannt. Die Studierenden sind naturwissenschaftlich identifiziert und beschreiben sich im Umgang mit eigenen Problemen als eher pragmatisch. Entsprechend überzeugt sind sie von der empirischnaturwissenschaftlichen und praktisch-ergebnisorientierten Ausrichtung der Verhaltenstherapie. Die quantitativ im Verhältnis häufigere Nennung von Effektivität, Effizienz und wissenschaftlicher Fundierung dieser Verfahrensrichtung als Gründe für ein verhaltenstherapeutisches Ausbildungsinteresse stimmt damit überein. Weiter stimmt dies überein mit dem quantitativen Befund, dass insbesondere die Ausbildungsinteressierten der Verfahrensrichtung eine wissenschaftliche Fundierung in höherem Maße attestierten und relativ häufig eine Identifikation mit der Verfahrensrichtung als für sie ausschlaggebendes Kriterium nannten. Den hohen universitären Kontakt mit dieser Verfahrensrichtung erleben die Studierenden als positiv, sie weisen hohe Kenntnisse darüber auf. Auch hierin zeigen sich Übereinstimmungen zur quantitativ im Vergleich häufigeren Nennung universitärer Informiertheit als Kriterium für ein verhaltenstherapeutisches als für ein psychodynamisches Ausbildungsinteresse. Über Psychoanalyse geben die Studierenden mittlere Kennt© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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nisse an, empfinden diese allerdings als unwissenschaftlich und unattraktiv. Sie sind, wie die an Psychoanalyse interessierten Studierenden in Cluster 3 und wiederum den quantitativen Befunden entsprechend, überzeugt von den Behandlungsmethoden der von ihnen favorisierten Verfahrensrichtung Verhaltenstherapie und sehen psychoanalytische Behandlungsansätze kritisch. Die Studierenden zeichnen sich zudem gleichfalls durch Individualitäts- und Originalitätswünsche aus. Weiter sind auch in dieser Gruppe im persönlichen Umfeld Psychotherapieerfahrungen zu verzeichnen, was wiederum ebenfalls den quantitativen Befunden entspricht. Das Psychologiestudium wurde auch von diesen Studierenden, entsprechend der quantitativen Befunde im Studiengang Psychologie, mit dem Wunsch begonnen, Psychotherapeut/-in zu werden. Anders allerdings ist, dass pragmatische berufliche Überlegungen eine große Rolle spielen, dies auch im Zusammenhang mit Karriereüberlegungen sowie Fragen einer Kassenanerkennung. Weiter ist, wie beschrieben, keine kritische Distanziertheit zum Studienangebot festzustellen. Bezogen auf die Einteilung der Shell-Jugendstudie 2006 in verschiedene Werttypen lässt sich kein eindeutiges Muster erkennen. Die Studierenden weisen eine hohe Informiertheit über die Ausbildung auf, deren Kosten und Dauer sind relevant. Ein Selbsterfahrungswunsch im Zuge eines Ausbildungsinteresses wird explizit ausgeschlossen. Zum Milieu bzw. dem familiären Hintergrund liegen von diesen Studierenden keine Angaben vor. Neben der Übereinstimmung auch in diesem Subcluster mit dem quantitativen Befund eines Zusammenhangs zwischen weiblichem Geschlecht und psychotherapeutischem Ausbildungsinteresse wird auf mögliche geschlechtsrollenspezifische Aspekte in Zusammenhang mit einem verhaltenstherapeutischen Ausbildungsinteresse im Rahmen der Diskussion näher eingegangen. Die Studierenden betonen, analog zu den Studierenden in Cluster 3 (allerdings in umgekehrter Richtung) teilweise explizit ihre Entscheidung für Verhaltenstherapie und gegen Psychoanalyse, verbunden mit einer auch quantitativ aufzufindenden hohen Zustimmung zu den entsprechenden Behandlungsmethoden. Der Weg der Entscheidungsfindung ist somit relativ gradlinig. Das Studium wurde mit dem Berufswunsch Psychotherapeut/-in aufgenommen und wird als weitgehend positiv erlebt. Mit Verhaltenstherapie und mit ihrem Studiengang sind die Studierenden hoch identifiziert (in letzterem gleichen sie den © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Studierenden in Cluster 1). Sie sind überzeugt von verhaltenstherapeutischen Behandlungsmethoden und planen im Anschluss an ihr Studium eine Ausbildung in dieser Verfahrensrichtung. Stichwortartige Zusammenfassung unter Bezugnahme auf Themen des Kategoriensystems: – Weiblich – Vorbilder, praktische Erfahrungen an Universität, in Praktika etc. wichtig (3 u. 4) – Anerkennungserfahrungen, Erfolgserlebnisse wichtig (4 u. 5) – Überzeugtheit von verhaltenstherapeutischer Behandlungsmethode (10) – Kontakt mit VT hoch (3 u. 4), Einfluss positiv (4 u. 10), hohe Kenntnis (5) – Kontakt mit Psychoanalyse mittel (3 u. 4), Einfluss negativ (4 u. 10), mittlere Kenntnis (5) – Eher praktisch, anwendungsorientiert (12) – Pragmatisch im Umgang mit eigenen Problemen (5) – Naturwissenschaftlich (12) – Originalitäts-, Individualitätswunsch (5) – Keine kritische Distanziertheit zu Studienangebot (5) – Ausbildungskosten u. -dauer relevant, hohe Informiertheit über Ausbildung (9) – Kassenanerkennung, Karriereambitionen u. pragmatische Kriterien wichtig (8) – Beginn des Psychologiestudiums mit Berufswunsch Psychotherapeutin (5 u. 6) – Selbsterfahrung: nein (5) – Entscheidung explizit für VT und gegen Psychoanalyse (8 u. 10) – Psychotherapie von Freunden/Freundinnen, Verwandten (1) Anmerkung: In Klammern sind jeweils die Nummern der thematisch relevanten Hauptkategorien vermerkt.
Interviewnarrativ zur Illustration des Clusters Die Interviewte ist kurz vor Ende ihres Studiums und hat sich für die verhaltenstherapeutische Ausbildung entschieden, der Ausbildungsvertrag ist schon © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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unterschrieben. Sie will die Ausbildung innerhalb von drei Jahren absolvieren statt in fünf Jahren, was, wie sie ausführt, berufsbegleitend auch möglich ist. Sie ist detailliert über den Ablauf der Ausbildung informiert. Im ersten Jahr wird sie in der Psychiatrie arbeiten und an begleitenden Kursen teilnehmen. Danach wird sie innerhalb der Ambulanz, unterstützt von Supervision, Therapien durchführen und Abendkurse besuchen. Der Interviewten ist deutlich anzumerken, wie sehr sie von der Verhaltenstherapie überzeugt ist, ihre Ausbildung erwartet sie gespannt. Ursprünglich wollte sie Medizin studieren, wichtig daran war es ihr, klinisch arbeiten zu können. Gegen das Psychologiestudium sprach für sie, dass dies in der Zeit, in der sie ihr Abitur machte, unter jungen Frauen in ihrem Umfeld stark in Mode war. Fast die Hälfte der Schülerinnen wollten Psychologinnen werden, in diese Masse wollte sich die Interviewte nicht einreihen. Sie berichtet im Anschluss, wie sie dann doch zum Psychologiestudium kam. Von ihrem Wunsch Medizin zu studieren, kam sie erst durch die Erfahrungen mit behandelnden Ärzten während eines Praktikums in der inneren Medizin ab. »Die Ärzte hatten weniger mit den Patienten zu tun als das Pflegepersonal.« Als Kind wollte sie Krankenschwester werden, aber als sie erlebte, wie die Krankenschwestern im Krankenhausbetrieb abgewertet und ausgebeutet werden, änderte sich das schnell. Auch stellt sie sich vor, als Therapeutin den Spagat zwischen Familie und Beruf besser hinzubekommen. Schon im ersten Semester des Psychologiestudiums merkte die Interviewte, dass das »mein Ding ist«. Erst im Studium und insbesondere durch ihre Hiwi-Tätigkeit in der verhaltenstherapeutischen Ambulanz an der Universität wurden ihr die Unterschiede zwischen den verschiedenen Schulen der Psychologie bekannt. Als ich sie frage, wie es zu ihrer Präferenz der Verhaltenstherapie kam, sagt sie: »Also als erstes ist die Verhaltenstherapie an unserer Uni dominant.« Um näheren Kontakt zu einer Professorin, die sie beeindruckte, zu bekommen, bewarb sie sich als HiWi. Über ihre Tätigkeit an der verhaltenstherapeutischen Ambulanz ist sie sehr glücklich und weiß die »tiefen Einblicke«, die sie dadurch in die Psychologie bekommt, zu schätzen. In einem klinischen Seminar zeigte sich deutlich, welchen Stellenwert die Psychoanalyse in der Psychologie habe. In dem Lehrbuch, das in dem Seminar behandelt wir, wird die Psychoanalyse nur in »einem Absatz« erwähnt. Sie erzählt davon, dass ein weit verbreiteter Ausspruch der Professoren über den Anteil und die Wertigkeit der Psychoanalyse im Studium sei: »Macht den Pflichtschein in Psychoanalyse und dann hat’s sich’s.« Ihr einziges Psychoanalyseseminar ging thematisch um Sexualität und gefiel ihr nicht. Psychoanalyse empfindet sie als »Hokuspokus, Laberrhabarber« und als einfach nicht wissenschaftlich belegbar. An der Verhaltenstherapie gefällt ihr, dass der Patient als erst einmal stabi-
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lisiert wird und erst danach eventuell »tiefer« geschaut wird. Als wir über die unterschiedlich lange Behandlungsdauer von Verhaltenstherapie und Psychoanalyse sprechen, führt sie das Beispiel eines Manisch-Depressiven an, der am Anfang durch Medikamente stabilisiert wird und dann in eine psychoanalytische Behandlung kommt. Diese unter Umständen lange Behandlung bringt aber nicht viel und es kommt zu Rückschlägen. Danach berichtet sie über ihren manisch-depressiven Onkel, bei dem eine Psychoanalyse »nach hinten losging«. Die Interviewte erzählt, dass sie das Gefühl hat, dass ihrem Onkel viele Dinge eingeredet wurden. Sie fände es besser, wenn er mittels verhaltenstherapeutischer Verfahren zu einer dauerhaften Stabilisierung gefunden hätte. Wir sprechen dann über die gesellschaftliche Wahrnehmung und den gesellschaftlichen Wissensstand über Psychologie. Den meisten Menschen, die sich nicht mit Psychologie beschäftigen, sei nicht klar, dass es unterschiedliche Psychologieschulen gibt. Als wir über die Einflüsse des Studiums auf ihr Leben zu sprechen kommen, erzählt sie, dass ihr vermehrtes verhaltenstherapeutisches Wissen ihr etwas hilft, wenn sie sich mit eigenen Problemen beschäftigt, aber Gespräche mit Freunden ihr mehr bringen. Solange sie die verhaltenstherapeutische Ausbildung macht, will sie auch nur verhaltenstherapeutisch arbeiten, sie kann sich aber vorstellen, nach ihrer Ausbildung z. B. auch systemische Methoden einzusetzen. Gerade bei Kindern findet sie auch projektive Verfahren sinnvoll. Im Verlauf ihres Studiums hat sie drei verhaltenstherapeutische Praktika gemacht. Sie sagt selber dazu, es sei vielleicht etwas einseitig, worauf ich entgegne: »Warum? Wenn’s einem liegt.« Sie berichtet dann noch etwas genauer über ein Praktikum in einer großen Psychiatrie, bei dem sie viel lernen konnte. (PSY 101)
Typ 5b) »Sozialisation in die VT – soziale Orientierung« Einige ihrer Kommilitonen wollten VTmachen, weil sie schneller und billiger in der Ausbildung sei, aber auf jeden Fall Elemente der Psychoanalyse integrieren. (PSY 002) Der Typ des Entscheidungsfindungsweges in Subclusterzentrum 5b »Sozialisation in die VT – soziale Orientierung« ähnelt dem Typ vier der Entscheidungsfindung in seiner Haltung zu Psychoanalyse und Verhaltenstherapie. Da die meisten Kommiliton/-innen eine Ausbildung in Verhaltenstherapie wählen würden, wird diese ebenfalls angestrebt. Gesellschaftliche Sichtweisen auf Psychotherapie, ebenso wie Vorurteile im näheren Umfeld, werden als relevant thematisiert und als © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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problematisch erlebt. Die Studierenden beschreiben ihre Kenntnisse über Verhaltenstherapie als hoch, diejenigen über Psychoanalyse als gering. Dies wird klar auf die universitäre Präsenz dieser Verfahrensrichtungen zurückgeführt. Es entspricht dem quantitativen Befund, dass ein Viertel der Psychologiestudierenden, die angaben, nur bestimmte Verfahren kennengelernt zu haben, ausschließlich Verhaltenstherapie angab. Allerdings ist keine kritische Distanziertheit gegenüber dem dominanten Lehrangebot festzustellen. Vielmehr wird zwar teilweise bedauert, dass Psychoanalyse wenig bekannt ist, jedoch nicht verbunden mit einer direkten Kritik am Studiengang. Entsprechend ist eher ein Konformitätswunsch bei diesen Studierenden zu verzeichnen. An Verhaltenstherapie wird positiv hervorgehoben, dass diese praktikabel, konkret und nichthierarchisch sei, Psychoanalyse wird dagegen eher als vage und diffus beschrieben, was unter anderem als hierarchisch kritisiert wird. Die Vermutung eines »Ausgeliefertseins« in dieser Verfahrensrichtung wird als unangenehm beschrieben. Die Studierenden halten Selbsterfahrung durchaus für wichtig, sind aber unsicher, ob sie sich das »leisten« können. Psychoanalyse wird somit ambivalent beschrieben, ein gewisses Interesse daran formuliert. Teilweise ziehen die Studierenden bei eigenem Behandlungsbedarf eine psychoanalytische Psychotherapie in Betracht. Es handelt sich um weibliche Studierende, die den Wunsch Menschen zu helfen als eines ihrer Hauptmotive für den Therapeut/innenberuf angeben. Dies stimmt überein mit den quantitativen Befunden zu allgemeinen beruflichen Wünschen in Zusammenhang mit diesem Berufswunsch sowie mit dem diesbezüglich zweithäufigsten Pro-Argument unter Psychologiestudierenden. Auch familiär sind oftmals helfende Berufe anzutreffen. Die Studierenden gehören eher der Mittelschicht oder der unteren Mittelschicht an. In Hinblick auf den Umgang mit eigenen Problemen zeigt sich kein eindeutiges Muster (sowohl selbstreflexiv als auch pragmatisch), ebenso wenig ist eine klare Zuteilung bezogen auf bestimmte Werthaltungen nach Unterteilung der Shell-Jugendstudie möglich. Bezüglich ihrer wissenschaftlichen Orientierung positioniert sich diese Gruppe eher naturwissenschaftlich, ist allerdings, anders als die Studierenden beispielsweise in den Clustern 2 und 3, klar psychisch und nicht somatisch orientiert. Die Kosten der Ausbildung sind wichtig, ebenso die Möglichkeit einer Kassenanerkennung im Zuge der Ausbildung. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Darin zeigt sich eine Parallele zu den quantitativen Befunden im Hinblick auf Gründe für eine Entscheidung für die verhaltenstherapeutische Ausbildungsrichtung. Ein eklektizistischer »Methodenmix« oder auch eine integrative Psychotherapie wird von diesen Studierenden als gegenwärtiger Standard gesehen, weiter, dass die Ausbildung in einer Verfahrensrichtung nicht zwangsläufig bedeutet, im Anschluss nur in dieser zu arbeiten. Sie wird eher als Mittel gesehen, eine Kassenanerkennung zu erlangen. Es wird somit davon ausgegangen, dass auch bei einer verhaltenstherapeutischen Primärausbildung in der Praxis Elemente anderer Therapierichtungen integriert werden können. Bei den Studierenden in dieser Gruppe ist zusammengefasst wie bei den Studierenden in Clusterzentrum 5a keine kritische Distanziertheit zum dominanten Studienangebot zu verzeichnen, anders als bei diesen liegt jedoch eher ein Konformitätswunsch vor. Kennzeichnend für diesen Entscheidungsfindungsweg ist eine starke Orientierung am sozialen Umfeld, dies sowohl auf Ebene von Peers als auch auf derjenigen des universitär vorhandenen Lehrangebots. Neben einer subgruppenorientierten Studierendenstrategie (vgl. Portele u. Huber, 1993) scheint in diesem Subcluster somit der Weg der beruflichen Entscheidungsfindung zu sein, dass das bestehende universitäre Angebot aufgegriffen wird. Dies entspricht dem quantitativen Befund universitärer Informiertheit als ein im Vergleich häufigerer ausschlaggebender Faktor für die Entwicklung eines verhaltenstherapeutischen gegenüber einem psychoanalytischen Ausbildungsinteresse. Solcherart wirkt die psychologische Fachkultur prägend in Richtung einer verhaltenstherapeutischen Ausbildungsrichtung. Persönliche Interessen und Vorlieben scheinen eher eine nachgeordnete Rolle bei der beruflichen Orientierung zu spielen. Stichwortartige Zusammenfassung unter Bezugnahme auf Themen des Kategoriensystems: – – – –
Peers wichtig, Richtung VT (1) Vorbilder und universitäre Prägung wichtig (2 u. 4) Eltern Helferberuf (1) VT positiv: v. a. nicht vage, diffus, Ausgeliefertsein u. praktisch, konkret, praktikabel (10) © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Psychoanalyse ambivalent (7 u. 10) Eklektizismus positiv (10) Gesellschaftliche Wahrnehmung/Vorurteile relevant (11) (Untere) Mittelschicht (6) psychisch (12) Studium/Praktika: VT hoch, Einfluss positiv, hohe Kenntnis, Psychoanalyse gering, Einfluss negativ (4 u. 10) Kenntnis Psychoanalyse gering, wenig Wissen über unterschiedliche Therapieschulen über Studium (4 u. 5) Menschen helfen (5) Selbsterfahrung / Psychoanalyse als eigene Therapie: ja (5) Selbstreflexiv oder pragmatisch (12) Praktisch, anwendungsorientiert (12) Naturwissenschaftlich (12) Kosten etc. wichtig (9) Kassenanerkennung wichtig (8) Konformitätswunsch u. keine kritische Distanziertheit gegenüber Studienangebot (5)
Anmerkung: In Klammern sind jeweils die Nummern der thematisch relevanten Hauptkategorien vermerkt.
Interviewnarrativ zur Illustration des Clusters Die Interviewte ist relativ groß und hat kurze dunkle Haare. Sie berichtet, dass die Entscheidungssituation, ob sie eine therapeutische Ausbildung machen wolle, für sie relevant sei. Sie sei bald fertig mit ihrem Studium und wolle im Anschluss daran eine Therapieausbildung beginnen. Nachdem sie angefangen hatte zu studieren, war ihr relativ schnell klar, dass sie eine solche Ausbildung machen will, schon bevor sie wusste, worum es da eigentlich genau geht. Vor einem Jahr etwa habe sie sich für eine verhaltenstherapeutische Weiterbildung entschieden, auch, weil sie darüber eine Kassenzulassung bekomme: »Wobei für mich immer der leitende Gedanke war: ich möchte was machen, wo ich mit Krankenkassen abrechnen kann. […] Ich will jetzt erst mal was machen, womit ich ne Krankenkassenzulassung bekomme. Und wenn ich die dann habe, kann ich mir ja noch überlegen, ob ich noch ne Zusatzausbildung mache.« In ihrem Freundeskreis teile sich das in zwei Gruppen, die eine möchte an der Uni bleiben und forschen und die andere eine Therapieausbildung machen. Diejenigen, die planen, an der Uni zu bleiben, denken jedoch auch darüber nach, noch eine © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
11.2 Zur Typenbildung 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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Ausbildung zu machen. Alle wollen eine verhaltenstherapeutische Ausbildung machen. Psychoanalyse wird in ihrem Studiengang so gut wie gar nicht gelehrt und einem nicht wirklich näher gebracht. Dazu findet sie außerdem nur ganz schwer Zugang. »Also es war mir von vornherein klar, dass mir das transportierte Menschenbild nicht passt, dass das irgendwie von der wissenschaftlichen Fundierung mir auch nicht richtig zusagt, nachdem wir hier […] ja so ziemlich wissenschaftlich und experimentell arbeiten.« Keiner, den sie kennt, wolle eine psychoanalytische Ausbildung machen. Sie hat bereits eine gesprächspsychotherapeutische Ausbildung für eine Nebentätigkeit in einer Erziehungsberatungsstelle gemacht, möchte aber auf jeden Fall auch eine kassenärztlich anerkannte Therapieausbildung machen. Sie halte nicht viel von der Argumentation, wenn einem das wert wäre, könne man auch 50 E in eine Therapie investieren, da viele einfach nicht so viel Geld hätten. Systemische Therapie, die sie im Ansatz auch im Studium kennengelernt hat, ist ihr zu esoterisch und zu sehr eine Heilslehre. Hauptsächlich hat sie im Studium aber VT kennen gelernt, da auch viel Selbsterfahrung gemacht und Trainings durchgeführt: »Über VT bin ich definitiv gut informiert.« Sie kann sich vorstellen, in der Praxis auch Elemente anderer Therapierichtungen einzubeziehen, da sich die Therapieschulen ohnehin immer mehr annähern würden. Das sei auch das, was sie in einem Praktikum bei einer Therapeutin mitbekommen habe. Das sei »immer eher eine Sammlung«. Bei dieser Therapeutin habe sie auch kennenlernen können, wie die therapeutische Praxis aussieht, wie viel Zeit man z. B. mit organisatorischen Dingen verbringen muss. Zu den verschiedenen Therapieschulen gibt sie an, dass diese für sie alle ähnliche Elemente beinhalten und es ihr teils schwer falle, sie auseinander zu halten. Sie bezeichnet sie als »nicht trennscharf«. »Vom Menschenbild her und von den grundlegenden Sachen her« seien die Schulen wohl verschieden, aber die Methoden seien oft sehr ähnlich, weshalb sie sich nicht mehr so an Schulen orientiere, sondern daran, »was wirkt«. Der Therapeut sei in der systemischen und in der psychoanalytischen Therapie eher »geheimnismäßig«, was sie persönlich als unangenehm empfinde. Zum Beispiel habe sie Schwierigkeiten mit der Deutung in der Psychoanalyse, sie sei eine Geheimwissenschaft geblieben. Der Patient würde in einer unmündigen Position gelassen und bekomme keine Informationen über sich selbst. Dies alles fördere Unselbständigkeit, während verhaltenstherapeutische Methoden dem Patienten etwas Konkretes mit nach Hause geben würden, womit dieser sich dann selber helfen könne, auch in anderen Situationen. »Ich bring dir jetzt bei: Selbstmanagement, ich erklär dir jetzt, was für eine Störung du hast. Das und das ist das Problem und wir versuchen das auf diese Art und Weise zu lösen. Dass ich den Patienten sozusagen versuche mitzugeben: ›So und so kannst du dir später
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11 Befunde zur qualitativen Fragestellung
selber helfen.‹« Das mit der Selbsterfahrung in der Psychoanalyse finde sie aber schon ganz gut. Sie habe sich für Psychologie und für Psychotherapie interessiert, weil sie gerne mit Menschen arbeite. Reizvoll finde sie z. B. eigene Wirksamkeitserfahrungen in Konfliktsituationen. Für wissenschaftliches Arbeiten sei sie nicht systematisch genug. Während ihres FSJ lernte sie einen Psychologen kennen, was ihren Berufswunsch gestützt habe. Über ihre Familie berichtet sie, dass diese mit Psychotherapie nichts zu tun hätte. Ihre Mutter ist Zahnarzthelferin und ihr Vater Buchhalter. Ihre ältere Schwester habe BWL studiert und arbeite jetzt in einer Bank. In der Öffentlichkeit gebe es oft die Reaktion: »Oh, Psychologe, ich hab da mal folgendes Problem, oder genau gegenteilig, dass die Leute sagen oh, Psychologie, da muss ich ja aufpassen.« Therapeut und Patient würden oft auch nicht zusammenpassen, oder die Leute würden gar nicht wissen, worauf sie sich einlassen und seien dann enttäuscht. Es müsse mehr Aufklärung über die verschiedenen Therapieschulen geben. Das Bild des Psychologen mit dem Geheimwissen würde in den Medien oftmals gefördert, aber auch durch die Darstellung der Psychologen selber. Auch Psychologen in Talkshows findet sie problematisch, da dadurch ein komisches Bild entstehe. Sie sei kein »Übermensch«, der jeden durchschaue und allwissend sei. Psychoanalyse wirke oft wie eine »Geheimwissenschaft« auf sie, allerdings sei die Darstellung in der Öffentlichkeit ohne Vereinfachungen wohl sehr schwer. Die verschiedenen Therapieschulen würden in der Öffentlichkeit gar nicht als getrennt wahrgenommen. (PSY 020)
Cluster 6 (Zwei Proband/-innen (2 m); »Clusterzentrum«: PSY 136, PSY 116) Typ 6) »Psychologe – kein Therapeut!« Er schildert sein Interesse an der A- & O-Psychologie und sieht sich selbst am ehesten in diesem Bereich. Auf die Frage nach seiner Motivation, in das Studium der Psychologie einzusteigen, schildert er sein grundlegendes Interesse am Menschen und an dessen »Kern«. (PSY 136) Das sechste Cluster »Psychologe – kein Therapeut!« ist wiederum sehr klein und wenig ähnlich und soll aus diesem Grund wie das vierte vorgestellte Cluster nur bezüglich weniger prägnanter Gemeinsam© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
11.2 Zur Typenbildung 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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keiten beschrieben werden. Es handelt sich bei diesem Typ der Entscheidungsfindung um einen solchen männlicher Psychologiestudierender, die mit ihrem Studium identifiziert sind, für sich jedoch eine psychotherapeutische Ausbildung ausschließen. Darin zeigt sich eine Entsprechung zu den quantitativen Befunden eines geringeren psychotherapeutischen Ausbildungsinteresses unter Männern. Vorstellen können die Studierenden sich dagegen eine Tätigkeit im arbeits- und organisationspsychologischen Bereich (A & O) oder in den Neurowissenschaften. Sie betonen das »Rationale« und Greifbare in diesen Richtungen. Bezüglich eines neurowissenschaftlichen Interesses ähneln sie den Studierenden in Cluster 2. Beide Studierende gehören der Mittelschicht an. Biographisch sind sie in Richtung eines helfenden Berufes geprägt. Einen intensiven Kontakt mit Menschen schildern sie allerdings als unattraktiv. Möglicherweise sind hier – wie bei den weiblichen Medizinstudierenden im zweiten Cluster und den weiblichen Psychologiestudierenden in Cluster 5a – geschlechtsrollenspezifische Einflüsse wirksam. Darauf wird im Rahmen der Diskussion näher eingegangen. Stichwortartige Zusammenfassung unter Bezugnahme auf Themen des Kategoriensystems: – Männlicher Psychologiestudent – Keine Psychotherapie, Psychotherapeut/-innenberuf unattraktiv (kein individueller Kontakt mit Menschen) (8) – Neurowissenschaften oder A & O (8 u. 12) – Eltern: Helferberuf (1) – Mittelschicht (6) – Status Psychologe – Mediziner relevant Anmerkung: In Klammern sind jeweils die Nummern der thematisch relevanten Hauptkategorien vermerkt.
Interviewnarrativ zur Illustration des Clusters Der Interviewte ist freundlich und ich finde ihn sympathisch. Auf die Anfangsfrage hin erklärt er mir, dass eine Therapieausbildung für ihn nicht in Frage komme. Er studiere Psychologie »auf Empfehlung seines älteren Bruders«, der auch © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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11 Befunde zur qualitativen Fragestellung
Psychologie studierte und gerade sein Diplom gemacht habe. Er stammt, wie er betont, aus einem humanistischen Elternhaus. Der Vater ist Mathematiker und hätte es vermutlich gerne gesehen, wenn sein Sohn ebenfalls Mathematiker oder auch Informatiker geworden wäre. Die Mutter habe ihn ermuntert zu machen, was ihn interessiere. Sie selbst sei Sozialpädagogin, arbeite als Erzieherin und mache verschiedene Weiterbildungen im psychosozialen Bereich. Da er sich mir entsprechend präsentiert, frage ich ihn, ob er seine eigene Vielseitigkeit von der Mutter habe. Etwas zögernd bestätigt er, es habe ihn schon früher immer vieles interessiert. Als Kind habe er viel gelesen über Dinosaurier, das Universum, Philosophisches, ältere Kulturen oder künstliche Intelligenzen. Da er sich für »alles« interessiere, war es schwierig für ihn ein Studienfach zu wählen. Es sollte etwas Naturwissenschaftliches sein, aber nicht ausschließlich. Seine Sorge z. B. bei Mathematik oder Informatik war, dass man zu sehr festgelegt sei. An Psychologie interessiere ihn die Vielfalt der Inhalte, »Existenzrealität«, philosophische Fragen, medizinische Inhalte, Funktionsweisen – eigentlich alles außer dem therapeutischen Bereich. Er betrachte das Studium »inhalts- und nicht abschlussorientiert«. Er hat sich auch noch nicht entschieden, was er nach der Prüfung machen möchte. Diese wird voraussichtlich in zwei Jahren sein. Zu therapeutischen Einrichtungen hatte er nur begrenzt Kontakt, z. B. im Rahmen eines universitätsinternen Praktikums mit Anschluss an die Institutsambulanz oder in einer Klinik im Bereich Neuropsychologie. Von der Psychoanalyse kennt er nur Vorurteile und die Stereotypen »Kindheit und Couch« und vermutet, dass diese nicht mehr zeitgemäß seien. Er habe auch ein Praktikum in einem neurologischen Therapie-Zentrum gemacht. Die Unterschiede zwischen Verhaltenstherapie und Psychoanalyse im therapeutischen Arbeiten kenne er nicht. Des Weiteren kenne er auch niemanden, der Kontakt zur Psychoanalyse habe. Wenn von seinen Kommilitonen jemand eine Therapieausbildung machen will, dann Verhaltenstherapie. Aber im Studium bekomme man an seiner Uni auch nichts anderes gesagt. Die Psychoanalyse werde komplett ausgeklammert. In welche Richtung er nach dem Studium gehen möchte, wisse er noch nicht. In der Klinik hätten ihm die hierarchischen Strukturen nicht gefallen. Ich frage nach und er erklärt mir, dass der Psychologe dort nicht wertgeschätzt würde und eine Rivalität von Seiten der Mediziner gegenüber den Psychologen existiere, nach dem Motto: »Die brauchen wir nicht wirklich.« Wenn ihn etwas an der klinischen Psychologie interessieren würde, dann die neuropsychologische Richtung. Oder vielleicht der A- & O-Bereich Coaching und Lebensberatung. Er habe sich mit verschiedenen Sparten der Psychologie befasst, aber bisher habe ihn »aus dem Angebot des Psychologie-Studiums … noch nichts wirklich überzeugt«. Er erklärt noch einmal, dass für ihn von vornherein feststand, dass er sich
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nicht als Therapeuten sieht. Es interessiere ihn nicht, warum jemand Ängste habe. Es interessiere ihn, warum z. B. nach einem Motorradunfall ein Gehirn nicht richtig funktioniere und wie es sich wieder herstellen ließe. Es muss »greifbar« sein. Und er wolle nicht täglich mit menschlichem Elend bzw. psychischem Leid konfrontiert werden. (PSY 116)
Cluster 7 (Zwei Proband/-innen (2 w); »Clusterzentrum«: PÄD 172, PÄD 070) Typ 7) »Psychoanalyse als Kulturtheorie – gesellschaftliche Verhältnisse« »Wie stehst Du zur Psychotherapie?« »Ich glaube, dass es schon wichtig ist.« Sie erzählt, dass sie die Psychotherapie und Psychoanalyse »schon« interessiere und sie lese »auch« gern »Freud und Fromm, aber das selber zu machen, das könnte ich nicht«. (PÄD 070) Auch in diesem Cluster befinden sich nur zwei Proband/-innen, welche, wenn auch zusammengefasst, eine eher geringe Ähnlichkeit aufweisen. Sie werden, wie die Studierenden im vierten und im sechsten Cluster, nur bezüglich weniger prägnanter Gemeinsamkeiten beschrieben. Die beiden weiblichen Studierenden gehören einem pädagogischen Studiengang an. Dieser siebte und letzte hier vorgestellte Typ der Entscheidungsfindung »Psychoanalyse als Kulturtheorie – gesellschaftliche Verhältnisse« weist mit dem dritten beschriebenen Typ Übereinstimmungen auf, insofern als Psychoanalyse positiv wahrgenommen wird. Anders ist jedoch, dass hier stärker ihr kulturtheoretischer Beitrag betont wird. Hierin zeigt sich eine Übereinstimmung zu den quantitativen Befunden, derart dass zumindest deskriptiv einzig in diesem Studiengang psychodynamisch orientierten Verfahren ein Beitrag zum Verständnis der Gesellschaft in höherem Maße zugeschrieben wird. Eigene oder fremde psychoanalytische Vorerfahrung ist anzutreffen, welche als positiv beschrieben wird. Allerdings führt dies, ähnlich wie für die Studierenden in Cluster 4 nicht zu einem solchen Berufswunsch. Dies entspricht dem quantitativ häufigsten Argument gegen eine psychotherapeutische Ausbildung in diesem Studiengang: andere berufliche Interessen. In ihrem © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Studium haben beide ausschließlich Psychoanalyse kennengelernt, besitzen entsprechend große Kenntnisse darüber und beschreiben den Einfluss dieses Kontakts als positiv, ein Befund, der ebenso mit den quantitativen Ergebnissen übereinstimmt. Beide setzen zudem Psychotherapie mit Psychoanalyse gleich. Es handelt sich, wie auch bei den Studierenden in den Clustern 2 und 3, um weibliche »Idealist/innen« nach Einteilung der Shell-Jugendstudie (2006). Sie beschreiben sich als eher selbstreflexiv und ihre wissenschaftliche Orientierung ist eindeutig geistes- bzw. sozialwissenschaftlich. Ihre beruflichen Interessen liegen, anders als bei den Studierenden in allen anderen beschriebenen Clustern, eher im theoretischen als im praktischanwendungsorientierten Bereich. Stichwortartige Zusammenfassung unter Bezugnahme auf Themen des Kategoriensystems: – Eigene Psychoanalyse oder im nahen Umfeld (Freunde/Freundinnen, Verwandte) positiv bzw. Therapiewahl bei eigenem Bedarf: Psychoanalyse (1 u. 5 u. 7) – Anderer Berufswunsch (8) – Kontakt zu Psychoanalyse im Studium hoch (4 u. 5), Einfluss Psychoanalyse positiv u. sinnvoll (10) – Kenntnis Psychoanalyse hoch, sonstige Psychotherapie gering (5) – Idealist/-in (5) – Selbstreflexiv (5) – Geistes-/sozialwissenschaftlich (12) – Eher theoretisch (5) Anmerkung: In Klammern sind jeweils die Nummern der thematisch relevanten Hauptkategorien vermerkt.
Interviewnarrativ zur Illustration des Clusters Auf die Anfangsfrage antwortet die Interviewte, dass sie »eine therapeutische Zusatzausbildung in ihrem Studiengang […] insofern interessant [findet], wenn man sich auf dem Gebiet Ethnologie auf Migration spezialisiert«. Da komme man ja auch »mit Menschen, mit Migranten in Kontakt, die teilweise Gewalterfahrungen erlebt haben, die teilweise traumatisiert sind, eben durch diese Migration« und sie finde das »schon eine wichtige Kompetenz, […] diese Menschen auch richtig aufnehmen zu können und auch richtig einschätzen zu © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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können. Eine gewisse Sensibilität herauszuarbeiten und Fähigkeit zur Empathie und gleichzeitig aber auch die Fähigkeit, sich von sich selbst zu distanzieren und das richtig einzuordnen«. Sie finde es schon sehr sinnvoll, »sich da weiterqualifizieren zu können«. Die Interviewte hat selber einen migrantischen Hintergrund, sie stammt aus Russland, und möchte am liebsten im Bereich der Migration arbeiten, z. B. in der Flüchtlingsberatung, und so »anderen helfen sich selber zu positionieren und einzuordnen«. Ihre Perspektiven sind jedoch ganz anders, da sie einen Job an ihrer Universität hat, wo sie jetzt direkt nach dem Studium promovieren kann. Da sie dort schon in einem Projekt arbeitet, wird sie jetzt »in eine ganz andere Bahn« gelenkt. Aber zu diesen Zeiten, »wie sie halt sind«, ist das nach ihrer Einschätzung »natürlich eine Chance, die man auch wahrnimmt«. Die Frage, was sie gerne machen möchte, stellt sich für sie also in diesem Sinne gar nicht. Sie überlegt, dass ihr eigentlicher Berufswunsch wohl nur im Rahmen einer ehrenamtlichen Tätigkeit möglich wäre und sie dann wohl als Kellnerin ihr Geld verdienen müsse. Sie würde gerne in der ethnopsychoanalytischen »Feldforschung« mitarbeiten und glaubt, dass sie dafür genug Kompetenzen hätte, aber der Zufall sich eben nicht so gefügt habe. Forschung und Praxis zu verbinden, hält sie für sehr sinnvoll. Ihren ersten Kontakt mit Psychoanalyse im Studium hatte sie in einem Feldforschungstheorie-Seminar. In diesem Seminar wurde ein Fall (eine Frau mit einem Migrationshintergrund) vorgestellt und die Unterschiede zwischen Ethnopsychoanalyse und der Psychoanalyse nach Freud herausgearbeitet. Die Lebensumstände, die Zeitgeschichte, der »Zeitgeist«, also die Bedingungen dieser Frau zusätzlich zur individuellen Biographie wurden dort herausgearbeitet. Dort habe sie erkannt, dass das auch »auf gesellschaftliche Einstellungen zurückzuführen ist, wie jemand sich verhält in der Gesellschaft«. Später habe sie ein Seminar zu »Kultur und Emotion« besucht, wobei es um Migration und Trauma gegangen sei. Einzelne Fallbeispiele wurden dort besprochen. Sie könne mit dem Thema viel anfangen und durch ihren migrantischen Hintergrund »von zwei Welten darauf blicken. […] Da gibt es schon bestimmte Sachen, die doch ähnlich verlaufen sind«. Im Studium hat sie einige Seminare im ethnopsychoanalytischen Bereich besucht. Sie hat auch eine eigene Psychoanalyse hinter sich. Diese hat sie parallel zum Studium gemacht und kurz nach ihrem Studienanfang begonnen. Sie erzählt, dass das eine sehr positive Erfahrung für sie gewesen sei. Sie hat sich danach sehr viel unabhängiger gefühlt und dadurch einen »ganz wichtigen Teil« ihrer Kindheit aufgearbeitet. Später bemerkt sie, dass sie eigentlich gar nicht genau wisse, was die Analytikerin gemacht habe. Eine Neugier für Psychoanalyse hatte sie aber schon vorher. Sie schildert sich als einen »Typ von Mensch«, der sich für solche Sachen interessiert. Im Deutschunterricht in der Oberstufe hätten sie auch Psychoanalyse, hauptsäch-
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lich Freud, behandelt, was ihr Interesse geweckt hat. Ihre Einstellung gegenüber einer Psychotherapie für sich persönlich habe sich aber erst über die Zeit geändert. Am Anfang sei es »eher ein Tabuthema« gewesen, «Man ist krank, wenn man das macht.« Dann sei ihr, als sie ihr Studium begann, klar geworden, dass es ein paar schmerzliche Punkte zu bearbeiten gibt. Sie hatte in dieser Zeit eine Krise und das Bedürfnis, sich damit zu versöhnen und ihre »Ruhe« zu finden. Sie erzählt dann, dass eine Art »Wurzel« entstanden sei, auf die sie sich »immer wieder berufen kann«. Wichtig sei dabei auch, dass sie immer wieder zu ihrer Psychoanalytikerin Kontakt aufnehmen könne, das sei beruhigend. Sie habe in ihrer Analyse, so sieht sie das heute, »ganz normale Probleme, denen jeder Mensch ausgesetzt ist«, aufgearbeitet. Sie führt aus, »dass es ein Glück ist, wenn man die Möglichkeit hat, das aufzuarbeiten, damit man ein paar weniger Steinchen im Weg hat, später«. Sie ist der Meinung, dass man in der Gesellschaft damit mittlerweile ganz offen umgehen könne, zumindest in den »Kreisen in denen [sie] […] [sich] bewege«. Es gebe schon Leute, die das erstaune, aber man würde nicht an Achtung verlieren. Der persönliche Erfahrungshintergrund sei zudem für die Seminare hilfreich. In den ethnologisch angehauchten Teilen ihres Studiums sei man sehr offen und z. B. bei Referaten fast »zu nett« zueinander. Sie hält lebenspraktische und psychologische Hilfe für Migranten für gleichermaßen wichtig und führt mehrere Beispiele – z. B. Sprache lernen – für eine lebenspraktische Hilfestellung an. Klassische Psychoanalyse sei aber in diesem Bereich nicht funktional. Die Ausbildung koste sehr viel und nur privilegierte Leute könnten sich das leisten. »Vom Geld her« sei das eine elitäre Ausbildung, ansonsten aber nicht. Die sehr positive Therapieerfahrung, mit sich selber in einen inneren Dialog treten zu können, sei für sie bei dieser positiven Sicht wichtig. Man entwickle im besten Fall eine »Kompetenz zur inneren Ehrlichkeit«. In ihrem Umfeld gebe es teilweise eine große Offenheit und teilweise seien »das aber auch einfach noch Kinder«, die nicht wissen, was das bedeutet. Das ständige »auf die Kindheit schauen« sei einer Freundin von ihr zuwider. Diese würde keine Ausbildung in Psychoanalyse machen. Die Interviewte erzählt dann, dass sie ein Aufbaustudium in Psychoanalyse für Sozial- und Geisteswissenschaftler für sinnvoll hält. Auch Lehrer müssten schon im Studium dafür besser ausgebildet werden. An ihrer ehemaligen Schule in einem »Ghetto« z. B., wo fast nur Migrantenkinder waren, seien die Lehrer nicht offen gewesen für ihre eigenen Schüler. Die Wirtschaft und diejenigen, die Einfluss hätten, würden sozial- und geisteswissenschaftliche Richtungen häufig abwerten. Die Mehrheit der Bevölkerung habe aber oft »bewusst oder unbewusst« eine sehr viel positivere Einstellung zu Geistes- und Sozialwissenschaften, weil »das mit der Gesellschaft und mit dem Menschen zu tun« hat. (PÄD 172)
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11.3 Zur konvergenten Validität quantitativer und qualitativer Befunde 399 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
11.3 Zur konvergenten Validität quantitativer und qualitativer Befunde Um die verwendeten quantitativen und qualitativen Messinstrumente einer konvergenten Validierung zu unterziehen wurden, wie ausgeführt, Zusammenhänge zwischen ausgewählten Interview- und Fragebogenbefunden untersucht. Einbezogen wurden die Kriterien für die Auswahl der Interviewten sowie weitere theoretisch relevante Kriterien in Bezug auf die Schlüsselkategorie des Interesses an einer (bestimmten) psychotherapeutischen Ausbildung. Der Zusammenhang zwischen den qualitativen und den quantitativen Befunden zu einem der beiden inhaltlichen Kriterien für die Auswahl der Interviewten, dem Interesse für eine psychotherapeutische Ausbildung, wurde mittels einer einfaktoriellen univariaten Varianzanalyse erfasst. In dieser stellte aus auswertungstechnischen Gründen die quantitative Variable aus den Fragebogendaten die Merkmalsvariable dar. Es zeigte sich eine große, statistisch hoch bedeutsame gemeinsame Varianz der beiden Variablen von 49 % (F(1/38; .01) = 36,91; g2 = .493; p = .01). Dies kann als ein Beleg für die Validität der beiden Messinstrumente interpretiert werden (trotz Verletzung der Varianzhomogenität, vgl. Kap. 10). Zur Überprüfung der Überzufälligkeit eines Zusammenhangs jeweils des Ausbildungsinteresses in einem der Richtlinienverfahren, also in Verhaltenstherapie bzw. in der psychodynamischen Verfahrensrichtung im Verhältnis zu einem anderen Berufswunsch kamen w2Tests zur Anwendung.155 Für beide Verfahrensrichtungen zeigte sich ein hoch bedeutsamer nichttrivialer Zusammenhang zwischen den qualitativen und den quantitativen Befunden (PA/TP: w2(.01; 1; N = 32) = 9,93; Phi = -.557; p < .01; VT: w2(.01; 1; N = 32) = 7,80; Phi = -.494; p < .01). Auch dieses Ergebnis kann als ein Beleg für eine konvergente Datenlage in den beiden Messinstrumenten interpretiert werden. Bezogen auf das zweite inhaltliche Auswahlkriterium für eine Interviewteilnahme, eigene psychotherapeutische Vorerfahrung, zeigte sich 155
Bei Verletzung der erwarteten Zellhäufigkeiten für die Durchführung eines w2-Tests wurden zusätzlich jeweils die Ergebnisse des robusten exakten Fisher-Yates-Tests verwendet (vgl. Kap. 10). Dabei zeigten sich, wenn nicht anders gekennzeichnet, keine Abweichungen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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11 Befunde zur qualitativen Fragestellung
ebenfalls ein hoher substanzieller Zusammenhang zwischen den beiden Erhebungsinstrumenten (PT: w2(.01; 1; N = 40) = 11,87; Phi = .545; p < .01). Unterteilt nach psychodynamisch orientierter (PA/TP) oder verhaltenstherapeutischer (VT) Vorerfahrung war allerdings nur für die psychodynamisch Richtung, nicht jedoch für Verhaltenstherapie ein bedeutsamer nichttrivialer Zusammenhang vorzufinden (PA/TP: w2(.05; 1; N = 13) = 5,08; Phi = -.625; p < .05; exakter Fisher-Yates-Test (einseitige Testung): p < .05). Bezogen auf die selbst eingeschätzte Kenntnis der Verfahrensrichtungen Psychoanalyse bzw. Verhaltenstherapie zeigte sich schließlich für erstere eine statistisch bedeutsame moderate Korrelation mit den Interviewdaten (r = .38, p < .05) und für letztere eine sehr bedeutsame hohe Korrelation (r = .71, p < .01). Zusammenfassend zeigen sich somit Konvergenzen der einbezogenen Variablen aus den Fragebogen- und den Interviewdaten. Sie weisen in die gleiche Richtung. Dieser Befund kann als ein Hinweis auf die Validität sowohl der aus dem Interviewmaterial ermittelten Typen als auch der Fragebogenbefunde gelten.
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Diskussion und Ausblick »Welche Zusammenhänge lassen sich bei einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe, in einer bestimmten Zeitspanne, in bestimmten Ländern nachweisen zwischen den Rollen dieser Gruppe im Wirtschaftsprozess, der Veränderung in der psychischen Struktur ihrer einzelnen Mitglieder und den auf sie als Gesamtheit im Ganzen der Gesellschaft wirkenden und von ihr hervorgebrachten Gedanken und Einrichtungen?« (Horkheimer, 1931/1988, S. 33).
Ziel der vorliegenden Untersuchung war es, der gegenwärtigen Repräsentation psychotherapeutischer Verfahrensrichtungen sowie der Berufswahl im Bereich der Psychotherapie als Teil der spätadoleszenten Identitätsentwicklung in einer Studierendenpopulation nachzugehen. Dies erfolgte im Kontext fachkulturspezifischer, wissenschaftstheoretischer, (identitäts-)entwicklungspsychologischer sowie gesellschaftstheoretischer Überlegungen. Im Folgenden werden die Ergebnisse dieser Untersuchung mit Bezug auf die dafür relevanten theoretischen Herleitungen zusammenfassend interpretiert. Zunächst sollen dafür die theoretischen Annahmen der Studie noch einmal zusammenfassend dargestellt werden: Die Untersuchung bezieht sich auf wesentliche Teilaspekte der Entscheidungsfindung für oder gegen den Beruf des/-r Psychotherapeuten/-in, ohne Anspruch auf umfassende Berücksichtigung aller Komponenten einer sich entwickelnden Berufsidentität. Als theoretischer Hintergrund auf psychologischer Ebene dienten Erkenntnisse zur beruflichen Identitätsentwicklung in der Entwicklungsphase der Spätadoleszenz (vgl. z. B. Blos, 1973), da sich die untersuchten Personen mehrheitlich in diesem Lebensabschnitt befanden. Neben dieser phasenspezifischen Betrachtung wurden soziologisch bzw. sozialpsychologisch (z. B. Keupp u. Hohl, 2006) sowie psychoanalytisch (z. B. Bohleber, 1992) begründete allgemeinere Identitätskonzeptionen in die Analyse des empirischen Materials einbezogen. Das psychoanalytische Identitätskonzept wurde gewählt, da es sich in besonderem Maße eignet, die Interaktion indivi© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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dueller Entwicklung mit gesellschaftlichen Realitäten zu untersuchen (vgl. Bohleber, 1992; Keupp u. Hohl, 2006). Wie in Kapitel 4.2 ausgeführt, kommt der Identität eine »Mittelstellung« (Bohleber, 1992, S. 355) zu: »Sie stellt eine Balance dar zwischen äußeren Erwartungen, gesellschaftlichem Rollenverhalten und der inneren Wirklichkeit, den Phantasien und persönlichen idiosynkratischen Wünschen« (S. 356). Auch der Prozesscharakter beruflicher Sozialisation (vgl. Guggenberger, 1990), für den die vorliegende Untersuchung eine Momentaufnahme liefert, kann in ein ebenso als prozesshaft verstandenes Identitätskonzept (vgl. Bohleber, 1992) sinnvoll integriert werden. Verschiedene Einflussgrößen auf die berufliche Identitätsentwicklung (u. a. Orientierungsmöglichkeiten an Vorbildern und Anerkennungserfahrungen, Fachkultur im jeweiligen Studiengang, peer-group, Elternhaus, Werthaltungen, etc.) gingen in die Analyse der Daten ein (vgl. z. B. Leuzinger-Bohleber u. Garlichs, 1991). Die individuelle Berufsfindung in einer komplexen gesellschaftlichen Realität stellt einen schwierigen, aber ebenso notwendigen Orientierungsprozess dar, dem eine »Spannung zwischen Übernahme sozialer Rollen und individueller Besonderheit« (Bohleber, 1992, S. 337) immanent ist. Junges Erwachsensein in der heutigen Gesellschaft findet, wie in den Kapiteln 2, 4.5 und 4.6 ausgeführt, vor dem Hintergrund wachsender ökonomistischer Pragmatik (z. B. Ricoeur, 2006; Ulrich, 2001) und postmoderner Pluralisierung von Lebensentwürfen (z. B. Beck, 2008; Keupp u. Hohl, 2006; Kresic, 2006) statt. So ist, der Shell Jugendstudie 2006 zufolge, »Pragmatismus« kennzeichnend für die heutige Generation junger Menschen. Eine Haltung, die angesichts hoher Zukunfts- und Planungsunsicherheit sowie sehr weitgehender Flexibilitätsanforderungen begründet erscheint und von der angenommen wurde, dass sie auch die Wahl einer psychotherapeutischen Ausbildung beeinflusst. Weiter wurde, im Zusammenspiel mit allgemeineren gesellschaftlichen Zuständen, von einer gesellschaftlichen Privilegierung bestimmter Studiengänge, einhergehend mit einem bestimmen Wissenschaftsverständnis (»Leitwissenschaften«), ausgegangen. Schließlich wurde von einer diesbezüglichen Interaktion mit gesundheitspolitischen Privilegierungen von psychotherapeutischen Verfahrensrichtungen aufgrund eines bestimmten vorherrschenden Pathologie- sowie Behandlungsverständnisses ausgegangen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
12.1 Zusammenfassende Diskussion der quantitativen Ergebnisse 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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12.1 Zusammenfassende Diskussion der quantitativen Ergebnisse – Zu Wahrnehmung und Interesse Zu Hypothesenkomplex 1: Differenzielle Wirkung des Studiengangs – Prägung durch Studienumfeld und Fachkultur Zur von den Studierenden erlebten Darstellung psychotherapeutischer Verfahrensrichtungen im jeweiligen Studiengang geben die Psychologiestudierenden erwartungskonform am häufigsten an, in ihrem Studium über alle Verfahrensrichtungen informiert worden zu sein. Dennoch ist dies immer noch weniger als die Hälfte der Studierenden dieses Studiengangs. Die Mehrheit gibt an, nur bestimmte Verfahren kennengelernt zu haben. Weiter bemängeln sie im Vergleich der drei Studiengänge am häufigsten, dass psychotherapeutische Verfahren in ihrem Studium in einem zu geringen Umfang gelehrt würden. Allerdings scheint weniger der Umfang der Darstellung psychotherapeutischer Verfahrensrichtungen insgesamt Gegenstand der Kritik zu sein, vielmehr wird von den Psychologiestudierenden häufig ein zu geringer Praxisbezug in der Darstellung sowie eine zu einseitig »VT-lastige« Darstellung moniert. Allerdings scheint auch Psychoanalyse in diesem Studiengang vergleichsweise häufig gelehrt zu werden. Ein Drittel der Studierenden, die angeben, nur bestimmte Verfahren kennengelernt zu haben, hat beide Verfahrensrichtungen kennengelernt, während jedoch immerhin circa ein Viertel ausschließlich das Kennenlernen von Verhaltenstherapie angibt. Die berichteten Befunde können demnach gleichwohl als Bestätigung der Annahme eines stark an verhaltenstherapeutischen Inhalten orientierten Curriculums im Studiengang Psychologie gelten (vgl. Eichenberg et al., 2007; Kröner-Herwig et al., 2001; Kröner-Herwig, 2004; Fischer u. Möller, 2006; Strauß et al. 2009). Weiter scheinen zumindest einige der Studierenden dies als problematisch zu empfinden. Jedoch könnte mehr noch die Qualität als die Quantität der Darstellung einseitig sein. Das Empfinden von Studierenden, die Lehre sei zu »verhaltenstherapielastig«, scheint nicht allein darauf zurückführbar, dass andere Verfahrensrichtungen schlicht nicht ver-
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mittelt werden. Ein großer Teil hat alle Verfahrensrichtungen, einige neben Verhaltenstherapie auch Psychoanalyse kennengelernt. Die Studierenden der Pädagogikstudiengänge empfinden den Umfang der Darstellung von Psychotherapie ebenfalls häufig als zu gering. Entsprechend kritisieren sie am häufigsten von allen Studierendengruppen, dass psychotherapeutische Verfahren in ihrem Studium generell zu wenig unterrichtet würden. Sie beanstanden weiter ebenso einen zu geringen Praxisbezug in der Darstellung. Zwei Drittel geben an, in ihrem Studium nur bestimmte Verfahren kennengelernt zu haben. Der aufgestellten Hypothese entsprechend, handelt es sich dabei primär um die Verfahrensrichtung Psychoanalyse, nur bei etwas weniger als einem Viertel auch um Verhaltenstherapie. Obgleich auch hier von einer bevorzugten Vermittlung einer Verfahrensrichtung – einer »psychoanalyselastigen« Lehre – ausgegangen werden kann, ist dies selten Gegenstand der Kritik der Pädagogikstudierenden. Möglicherweise überwiegt hier das Empfinden eines allgemeinen Informationsdefizits. Unter Umständen ist hier auch weniger eine qualitativ bevorzugte Vermittlung einer bestimmten Verfahrensrichtung im Sinne einer wertenden Gegenüberstellung zu verzeichnen, weshalb die Studierenden dies im Pädagogikstudium eventuell nicht als einen kritisierenswerten Faktor empfinden. Die Medizinstudierenden schließlich geben im Vergleich, wiederum hypothesenkonform, am häufigsten an, keinerlei psychotherapeutische Verfahrensrichtungen in ihrem Studium kennengelernt zu haben (vgl. z. B. Burghofer, 2000; Jungbauer et al., 2003). Zwar wird von fast der Hälfte derjenigen, die eine Kritik äußern, beanstandet, dass die Darstellung psychotherapeutischer Verfahren generell zu gering sei, allerdings ist unter den Studierenden dieses Studiengangs im Vergleich zu den anderen Studiengängen am wenigsten Kritik an der Darstellung anzutreffen. Dieser Befund könnte damit zusammenhängen, dass viele der Medizinstudierenden eine wenig ausführliche Darstellung schlicht nicht als problematisch empfinden, da ihre Interessen anders gelagert und nicht im psychotherapeutischen Bereich angesiedelt sind (vgl. Burghofer, 2000). Darauf wird an späterer Stelle noch einmal eingegangen. Einen zu geringen Praxisbezug in der Darstellung empfinden allerdings auch einige dieser Studierenden. Dies kann somit als ge-
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meinsamer Kritikpunkt aller drei Studiengänge an der Lehre, bezogen auf den psychotherapeutischen Bereich, festgehalten werden. Im Studiengang Medizin ist unter denjenigen, die in ihrem Studium nur bestimmte Verfahren kennengelernt haben, keine eindeutige curriculare Verfahrenspräferenz festzustellen. Am ehesten kann hier als Muster festgehalten werden, dass in der Lehre immer auch Verhaltenstherapie vertreten ist. Somit ist im Studiengangvergleich hier am wenigsten von einem Einfluss einer bevorzugten Vermittlung bestimmter Verfahrensrichtungen auszugehen, wenn auch quantitativ eine leichte Tendenz zugunsten der Verhaltenstherapie vorzuliegen scheint. Wie erwartet sind im Vergleich der Studiengänge die Psychologiestudierenden über unterschiedliche Therapieverfahren insgesamt am besten informiert (vgl. z. B. Strauß et al., 2009), ein mittlerer Effekt des Studiengangs auf die Kenntnis ist zu verzeichnen. Den Hypothesen entsprechend kennen sie sich weiter im Vergleich der Studiengänge mit Verhaltenstherapie am besten aus. Anders als erwartet geben sie jedoch nicht schlechtere, sondern etwa gleich gute Kenntnisse über Psychoanalyse wie die Pädagogikstudierenden an. Erwartungskonform kennen sich allerdings die Pädagogikstudierenden mit Psychoanalyse besser aus als die Medizinstudierenden. In der Kenntnis der Verfahrensrichtungen nach Studiengang zeigt sich eine hohe Übereinstimmung mit der berichteten Darstellung dieser Verfahrensrichtungen im jeweiligen Studiengang. Daraus kann auf einen großen Einfluss der Lehre im jeweiligen Studiengang geschlossen werden. Bei den referierten Befunden fällt eines auf, und zwar dass obgleich die Psychologiestudierenden im Verhältnis zu den Studierenden der anderen Studiengänge im Rahmen ihres Studiums am häufigsten über alle Verfahrensrichtungen informiert wurden, sie ebenfalls am häufigsten bemängeln, dass psychotherapeutische Verfahren in einem zu geringen Umfang dargestellt würden. Dieser Befund steht darüber hinaus im Widerspruch dazu, dass als Problem oder Defizit eine generell zu geringe Darstellung psychotherapeutischer Verfahren von dieser Gruppe vergleichsweise selten genannt wird. Obwohl das Thema Psychotherapie im Vergleich der Studiengänge somit in der Psychologie curricular am präsentesten ist, scheinen die untersuchten Psychologiestudierenden noch mehr Informationen über psychothe© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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rapeutische Verfahren zu wünschen. Dieser Befund lässt sich als Hinweis auf das besonders ausgeprägte Interesse der Studierenden dieses Studiengangs an Psychotherapie interpretieren. Dies deckt sich mit den im Theoriekapitel referierten Befunden zum großen beruflichen Interesse der Psychologiestudierenden an einer Tätigkeit im psychotherapeutischen Bereich (vgl. Kap. 3.1 u. 5.1; vgl. auch Jimnez u. Raab, 1999; Strauß et al., 2009) und zeigt sich auch in dieser Studie. Darauf wird nachfolgend eingegangen.
Zu Hypothesenkomplex 2: Wahrnehmung und Interesse Psychotherapie Die Studierenden nehmen Psychotherapie insgesamt eher positiv wahr. Allerdings weist, wie erwartet, die Mehrheit ein geringes Interesse an einer psychotherapeutischen Aus- bzw. Weiterbildung auf. Unter den Studierenden mit geringem Interesse zeigen sich eine negativere Wahrnehmung von Psychotherapie sowie eine größere Angst vor Stigmatisierung für den Fall der Inanspruchnahme einer psychotherapeutischen Behandlung als bei den Studierenden mit größerem Interesse. Dies ist ein überaus naheliegender Befund, bedenkt man, dass das Interesse an einem bestimmten Tätigkeitsfeld sehr wahrscheinlich durch eine positive Einstellung dazu mit bedingt ist. Weiter steht es im Einklang damit, dass gesellschaftlich vor allem bei nicht unmittelbar in diesem Bereich Tätigen, wie in Kapitel 5.3 ausgeführt, nach wie vor eine Angst vor Stigmatisierung im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen und der Inanspruchnahme psychotherapeutischer Hilfe existiert (vgl. z. B. Angermeyer, 2004; Dribbusch, 2009; Forsa, 2005; Roessler, 2005). Die referierte hohe Informiertheit der Psychologiestudierenden korrespondiert mit einer insgesamt positiven Wahrnehmung von Psychotherapie. Dies ist zudem naheliegend vor dem Hintergrund, dass ein Großteil der Psychologiestudierenden sein Studium mit dem Ziel einer anschließenden psychotherapeutischen Ausbildung aufnimmt (vgl. z. B. Jimnez u. Raab, 1999). Die Pädagogikstudierenden befinden sich erwartungsgemäß im Mittelfeld. Unter den Medizinstudierenden dagegen ist, anderen Befunden entsprechend, wie erwartet, die negativste Wahrnehmung von Psychotherapie aufzufinden © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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(vgl. Schmid-Ott et al., 2003). In einer Untersuchung zur Einstellungen von Journalist/-innen und Medizinstudierenden gegenüber psychischer Krankheit beispielsweise zeigte sich unter letztgenannten eine sehr ähnliche – negative – Einstellung wie in der Allgemeinbevölkerung (Gutierrez-Lobos u. Holzinger, 2000). Das Interesse an einer psychotherapeutischen Aus- oder Weiterbildung in den in Frage kommenden Studiengängen ist recht heterogen. Psychologiestudierende weisen erwartungsgemäß bei Weitem das größte Interesse daran auf. Fast drei Viertel der Studierenden dieses Studiengangs ziehen eine psychotherapeutische Ausbildung in Erwägung (vgl. Jimnez u. Raab, 1999; Strauß et al., 2009). Für diese Studierendengruppe spricht für eine psychotherapeutische Ausbildung am häufigsten die Möglichkeit einer selbständigen Tätigkeit. An zweiter Stelle steht für sie die Art der Tätigkeit bzw. eine Arbeit mit Menschen. Dies entspricht den Befunden von Murphy und Halgin (1995), die diesbezüglich professionellen Altruismus mit als wichtigstes Motiv identifizierten. Es zeigen sich zudem Entsprechungen zu einem Befund von Amelang (1999) zur Motivation von Studierenden für die Aufnahme ihres Psychologiestudiums. Er fand drei Dimensionen, die er als »Allgemeines Interesse an Psychologie«, »Therapeutische Motivation« und »Chancen am Arbeitsmarkt« interpretierte, was in Bezug auf den Beweggrund der therapeutischen Motivation mit den Ergebnissen der vorliegenden Studie übereinstimmt, möglicherweise im Sinne einer selbstständigen Tätigkeit als häufigstes ermitteltes Pro-Argument für eine Ausbildung auch mit dem Motiv der Arbeitsmarktchancen. Die Dauer sowie die Kosten der Ausbildung sind für diese Studierendengruppe der größte Einwand gegen eine psychotherapeutische Ausbildung. Die psychische Belastung durch diese Tätigkeit ist für sie das zweithäufigste Gegenargument. Immerhin etwa ein Drittel der Pädagogikstudierenden interessiert sich für eine psychotherapeutische Ausbildung. Für die Studierenden der Pädagogikstudiengänge spricht am häufigsten für eine psychotherapeutische Ausbildung die damit zu erwerbenden fachlichen Kompetenzen oder eine damit verbundene Qualifizierung. An zweiter Stelle steht für sie als Pro-Argument, ebenso wie für die Psychologiestudierenden, Menschen zu helfen bzw. die Art der Tätigkeit. Gegen eine psychotherapeutische Tätigkeit sprechen für die Studierenden dieses Studiengangs an erster Stelle andere berufliche Inter© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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essen, an zweiter Stelle gleichfalls die damit verbundene psychische Belastung. Unter den Medizinstudierenden interessieren sich insgesamt nur 14 % für eine psychotherapeutische Ausbildung. Für eine psychotherapeutische Tätigkeit sprechen aus Sicht dieser Studierendengruppe am ehesten deren Rahmenbedingungen sowie an zweiter Stelle deren ganzheitlicherer Zugang im Sinne eines Einbezugs gleichermaßen von Psychischem wie Somatischem. Gegen eine psychotherapeutische Tätigkeit spricht aus Sicht der Studierenden dieses Studiengangs jedoch genau das Letztgenannte, nämlich dass es sich nicht um ein somatisches Fach handelt. Als zweithäufigstes Argument gegen eine psychotherapeutische Tätigkeit wird auch von ihnen die damit verbundene psychische Belastung angeführt. Es scheint somit unter den Studierenden aller untersuchten Studiengänge relativ große Einigkeit darüber zu herrschen, dass es sich bei einer psychotherapeutischen Tätigkeit um einen emotional belastenden Beruf handelt. Dies scheint für alle drei Studierendengruppen ein gewichtiges Argument gegen eine solche Ausbildung darzustellen und entspricht beispielsweise den von Frank (1990) ermittelten Befunden. Bei Medizinstudierenden und auch bei Pädagogikstudierenden sind andere berufliche Interessen übereinstimmend das häufigste Kontra-Argument, bei den Psychologiestudierenden spielt der Ausbildungsaufwand eine wichtigere Rolle. Möglicherweise kommt hierin aufgrund einer größeren Entschiedenheit dazu, eine konkretere Auseinandersetzung mit der realen Ausbildung und ihren Bedingungen zum Ausdruck.
Zu Hypothesenkomplex 3: Wahrnehmung von Verhaltenstherapie und psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtungen Wie erwartet, werden die psychodynamischen Verfahrensrichtungen und Verhaltenstherapie über die Studiengänge hinweg, wohl aufgrund ihrer theoretischen und praktischen Differenzen, unterschiedlich wahrgenommen (vgl. Kap. 3.3 – 3.5). Ein Effekt der Verfahrensrichtung ist für fast alle Wahrnehmungsvariablen zu verzeich© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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nen. Der Verhaltenstherapie werden erwartungsgemäß eine größere Karrierevereinbarkeit, eine bessere Umsetzbarkeit mit Patient/-innen sowie mehr wissenschaftliche Wirksamkeitsbelege bescheinigt. Der psychodynamischen Richtung werden dagegen ein größerer Beitrag zur Förderung von Selbsterkenntnis, zum Verständnis seelischer Störungen sowie eine längere und aufwändigere Ausbildung attestiert. Anders als erwartet, findet sich jedoch kein signifikanter Einschätzungsunterschied zwischen den Verfahrensrichtungen zugunsten der psychodynamisch orientierten Verfahren bezüglich eines Beitrages zum Verständnis der Gesellschaft. Ein bemerkenswerter Befund, bedenkt man, dass in früheren Jahrzehnten insbesondere das hohe gesellschaftsanalytische bzw. -theoretische Potenzial vor allem der Psychoanalyse hervorgehoben wurde (vgl. z. B. Feyerabend, 1976; Habermas, 1970; Raguse, 1998; Zaretsky, 2005). Möglicherweise könnte hierbei auch eine von Keupp (2005a) gegenwärtig der psychotherapeutischen Szene diagnostizierte »Gesellschaftsvergessenheit« (S. 142) eine Rolle spielen (vgl. auch Strauß, 2006; Kap. 5.3). Bezüglich verschiedener Wahrnehmungsvariablen sind weiter zwar teilweise erwartungsgemäß statistisch bedeutsame Unterschiede zwischen den Studiengängen zu verzeichnen, allerdings fallen diese lediglich gering aus. Die Richtung der Unterschiede in der Einschätzung der beiden Verfahrensrichtungen ist, bis auf einen Beitrag zum Verständnis der Gesellschaft, welchen die Pädagogikstudierenden allerdings nur deskriptiv für Psychoanalyse als etwas höher einschätzen, weitgehend gleich. Für folgende Variablen zeigen sich differenzielle Effekte des Studiengangs sowie Interaktionseffekte: Der Aufwand bzw. die Länge der Ausbildung wird im Vergleich der Studiengänge von den Psychologiestudierenden für beide Verfahrensrichtungen am höchsten eingeschätzt, allerdings sind dort auch die Differenzen in der Einschätzung der Verfahrensrichtungen zugunsten der Verhaltenstherapie am größten. Differenzielle Effekte sind zudem festzustellen für die Umsetzbarkeit der Verfahrensrichtungen mit Patient/-innen, sowie für deren wissenschaftliche Fundierung. Die Medizinstudierenden schreiben beiden Verfahrensrichtungen eine gute Umsetzbarkeit mit Patient/-innen am wenigsten zu. Auf diesbezügliche fachkulturelle Einflüsse wird an späterer Stelle eingegangen. Bezüglich der Zuschreibung wissenschaftlicher Wirksamkeitsbe© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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lege sind die größten Unterschiede zugunsten der Verhaltenstherapie unter den Psychologiestudierenden aufzufinden, die geringsten unter den Pädagogikstudierenden. Allerdings attestieren Medizinstudierende dies trotzdem auch den psychodynamischen Verfahrensrichtungen statistisch bedeutsam am meisten. Die im Vergleich der Studiengänge so große Differenz in der Zuschreibung wissenschaftlicher Wirksamkeitsbelege zu den Verfahrensrichtungen im Studiengang Psychologie, aber auch die vergleichsweise hohe Zuschreibung solcher Belege an die psychodynamischen Verfahrensrichtungen im Studiengang Medizin, könnte mit den in Kapitel 5.1 dargestellten fachkulturellen Eigenheiten, Traditionen und dem damit verbundenen, jeweils vorherrschenden Wissenschaftsverständnis zusammenhängen. Hier ist von studiengangsspezifischen Einflüssen auszugehen. Anders als angenommen, sind insgesamt jedoch relativ hohe Übereinstimmungen in der Wahrnehmung der Verfahrensrichtungen durch die Studierenden der untersuchten Studiengänge zu verzeichnen. Auch zwischen Studierenden mit hohem oder geringem Ausbildungsinteresse unterscheidet sich die Wahrnehmung von psychodynamisch orientierten Verfahren und Verhaltenstherapie nur geringfügig. Die gefundenen Effekte sind als klein zu bezeichnen. Verhaltenstherapie und psychodynamisch orientierte Verfahrensrichtungen werden also unabhängig vom Studiengang und von einem hohen oder geringen psychotherapeutischen Ausbildungsinteresse weitgehend verschieden wahrgenommen, dies in die erwartete Richtung. Zusammengefasst wird Verhaltenstherapie von den Studierenden vor allem mit pragmatischen und praktischen Erwägungen sowie dem Ruf großer Wissenschaftlichkeit in Verbindung gebracht. Für Psychoanalyse dagegen zeigt sich, dass diese negativ mit einer praktischen Frage, nämlich der Länge und dem Aufwand der Ausbildung in Verbindung gebracht wird. Allerdings scheint ihr Beitrag zum Verständnis seelischer Störungen und zur Förderung von Selbsterkenntnis insgesamt für größer gehalten zu werden.
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Zu Hypothesenkomplex 4: Interesse an Verhaltenstherapie, Psychoanalyse sowie insgesamt an psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtungen Eine der Haupthypothesen dieser Untersuchung, eine gegenwärtige Präferenz der Verhaltenstherapie, sowohl als Ausbildungsgang als auch als Behandlungsmethode, kann anhand der ermittelten Befunde über alle Studierenden hinweg als empirisch gestützt betrachtet werden (vgl. Strauß et al., 2009). Die Wahl der Behandlungsmethode scheint zudem mit jener der Ausbildung zu korrespondieren. Allerdings sind bezogen auf die Ausbildungswahl Unterschiede zwischen Studierenden mit geringem oder hohem Ausbildungsinteresse aufzufinden. Studierende mit hohem Interesse würden sich häufiger für eines der Richtlinienverfahren entscheiden.156 Dies könnte damit zusammenhängen, dass die Kassenanerkennung eines Verfahrens bei einem konkreten Berufswunsch eine größere Relevanz besitzt. Dementsprechend würden diejenigen mit geringem Ausbildungsinteresse bei eigenem Behandlungsbedarf sehr häufig eine gesprächspsychotherapeutische Behandlung in Anspruch nehmen. Dies könnte ein Hinweis auf eine relative Unkenntnis der rechtlichen Rahmung zur Kassenfinanzierung einer Behandlung sein, da zu vermuten ist, dass auch für Studierende mit geringem Ausbildungsinteresse bei Bedarf die Kostenübernahme einer Behandlung durch die Krankenkasse durchaus von praktischer Relevanz ist. Weiter bevorzugt ein Großteil der Studierenden der Fachrichtung Psychologie erwartungskonform eine verhaltenstherapeutische Ausbildung. In diesem Studiengang ist die Wahrscheinlichkeit für ein Interesse an einer psychoanalytischen oder einer gesprächspsychotherapeutischen Ausbildung am geringsten, diejenige für Verhaltenstherapie mit am größten. Im Vergleich der Richtlinienverfahren zeigt sich zudem eine klare Bevorzugung von Verhaltenstherapie im Verhältnis zur psychodynamischen Ausbildungsrichtung (vgl. Strauß et al., 2009). Im Vergleich nur zur Psychoanalyse ist dieses Verhältnis auch für die Behandlungswahl sehr eindeutig, bei Einbezug auch von tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie fällt es jedoch etwas weniger eindeutig aus. Die Wahl einer gesprächspsychotherapeuti156
Genauer einzusehen ist dies im bei der Autorin erhältlichen Anhang. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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schen Behandlung bei eigenem Bedarf liegt darüber hinaus in etwa gleichauf mit der Wahl einer verhaltenstherapeutischen Behandlung. Die Pädagogikstudierenden würden sich, wenn überhaupt, dann hypothesenkonform am häufigsten für eine psychoanalytische oder aber für eine gesprächspsychotherapeutische Ausbildung entscheiden, die Wahrscheinlichkeit für Verhaltenstherapie oder tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ist im Vergleich gering. Die psychodynamischen Verfahrensrichtungen zusammengenommen wären unter diesen Studierenden die erste Wahl. Dies entspricht auch ihrer Behandlungswahl bei entsprechendem Bedarf. Bezogen auf die Richtlinienverfahren würde von diesen Studierenden eher ein psychodynamisches Verfahren gewählt, allerdings insgesamt eine Gesprächspsychotherapie noch sehr viel häufiger. In der Gruppe der Medizinstudierenden ist, wenn überhaupt, das größte Interesse an einer gesprächspsychotherapeutischen, das geringste an einer psychoanalytischen Ausbildung zu verzeichnen. Eine psychoanalytische Ausbildung ist demgemäß die unwahrscheinlichste Wahl. Bei Bedarf würden sich in dieser Gruppe die meisten Studierenden in eine gesprächspsychotherapeutische Behandlung begeben. Das Richtlinienverfahren, das diese Gruppe als Behandlung am häufigsten wählen würde, ist die Verhaltenstherapie. Wider Erwarten findet sich unter den Medizinstudierenden bezogen auf die Richtlinienverfahren in Hinsicht auf die Ausbildungs- sowie auf die Behandlungswahl eine Tendenz in Richtung Verhaltenstherapie. Dies relativiert sich jedoch etwas bei Einbezug aller psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtungen. Das Verhältnis fällt dann zwar immer noch zugunsten dieser Richtung aus, allerdings weniger stark. Für Psychologie- und Pädagogikstudierende sind somit bezogen auf die kassenärztlich anerkannten Verfahrensrichtungen entgegengesetzte Wahrscheinlichkeiten einer Verfahrenspräferenz für Verhaltenstherapie und Psychoanalyse zu verzeichnen. Unter den Medizinstudierenden ist die Wahrscheinlichkeit für Psychoanalyse am geringsten. Allerdings ist unter letztgenannten die Verfahrenspräferenz für eine dieser Richtungen, wie referiert, am wenigsten eindeutig. Bei Betrachtung nur derjenigen Studierenden, die an einem der Richtlinienverfahren interessiert sind, zeigt sich im Vergleich der Studiengänge, dass etwa zwei Drittel der Psychologiestudierenden sich für Verhaltenstherapie sowie exakt genauso viele Pädagogikstudierende © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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sich für eine psychodynamisch orientierte Verfahrensrichtung interessieren, während unter den Medizinstudierenden das Verhältnis ausgeglichener ist. Bezogen auf die Behandlungswahl ergibt sich der unerwartete Befund einer Präferenz von Gesprächspsychotherapie in allen drei Studiengängen, wenn auch bezüglich der Richtlinienverfahren die erwarteten Präferenzen zu verzeichnen sind. Unter den Studierenden mit großem Interesse an einer Ausbildung, unter den Psychologiesowie unter den Pädagogikstudierenden ist das Interesse an den Richtlinienverfahren größer, unter den Medizinstudierenden ist jedoch, anders als zu erwarten wäre, ein noch stärkeres Interesse an Gesprächspsychotherapie anzutreffen. Mögliche Gründe dafür und auch für die häufige Wahl dieser Verfahrensrichtung bei persönlichem Behandlungsbedarf in allen drei Studiengängen könnten eine Unkenntnis der methodischen Differenzen der verschiedenen Verfahrensrichtungen und damit eine Gleichsetzung von Gesprächspsychotherapie mit Psychotherapie allgemein sein. Denkbar wäre jedoch auch, dass insbesondere für die Medizinstudierenden die Kassenanerkennung einer Ausbildungsrichtung weniger relevant ist, da sie über andere fachärztliche Qualifikationen praktizieren bzw. sich niederlassen können und dafür nicht auf eine Approbation als Psychotherapeut/-in angewiesen sind. Die referierten Befunde legen insgesamt weitgehend den erwarteten Einfluss von bzw. die Wechselwirkung mit dem Studiengang bezüglich der Entscheidung der Studierenden für eine psychotherapeutische Ausbildung sowie für eine bestimmte Verfahrensrichtung nahe. Es lässt sich somit die Vermutung bestätigen, dass entsprechend anderen Befunden (vgl. z. B. Eichenberg et al., 2007) das Interesse in hohem Maße von den universitär zur Verfügung stehenden Informationen abhängt und mit der jeweiligen Fachkultur in einem differenziellen Zusammenhang steht. Das Studienumfeld bzw. die dort vermittelte Lehre scheinen die Orientierung in Richtung eines bestimmten Verfahrens entscheidend zu prägen (vgl. z. B. Reimer, Jurkat, Vetter u. Raskin, 2005). Aus den zu Hypothesenkomplex 3 referierten Befunden ergeben sich Anhaltspunkte dafür, dass dabei weniger die Wahrnehmung der Verfahrensrichtungen, bezüglich derer ja recht große Übereinstimmungen zwischen den Studierenden der untersuchten Fachrichtun© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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gen festzustellen sind, für eine jeweilige Verfahrenspräferenz entscheidend ist. Vielmehr scheinen bei einer ähnlichen Wahrnehmung dieser jeweils unterschiedliche Kriterien für die Interessenunterschiede zwischen den Studiengängen ausschlaggebend zu sein. So steht die »klassische« Mediziner/-innen-Sozialisation, orientiert an einer somatischen und naturwissenschaftlich-evidenzbasierten Symptombehandlung, dem gesprächsbasierten, auf Ursachenforschung fokussierten psychoanalytischen Behandeln möglicherweise besonders entgegen (vgl. Beckmann, 1985; Burghofer, 2000). Dies würde erklären, warum Medizinstudierende ein geringes Interesse am »Redefach« Psychotherapie allgemein und an Psychoanalyse im Speziellen zeigen. Allerdings steht dieser Befund im Widerspruch zur jahrzehntelang eher psychodynamischen Ausrichtung der Ärzteschaft. Hierin wird möglicherweise ein sich vollziehender Wandel im Bereich der traditionell eher psychodynamisch ausgerichteten Psychiatrie und der Psychosomatik (vgl. Böker, 2006; Burghofer, 2000; Heinze u. Kupke, 2006) in Richtung der Verhaltenstherapie sichtbar (vgl. Moser, 2006). Während im Jahre 2001 noch die Mehrzahl der ärztlichen Psychotherapeut/-innen psychodynamisch orientiert war (vgl. Kap. 5.2), verschiebt sich das Verhältnis gegenwärtig möglicherweise in Richtung Verhaltenstherapie. Aufgrund der relativ geringen Informiertheit der Medizinstudierenden über verschiedene Verfahren lässt sich allerdings auch vermuten, dass es für diese Gruppe schwierig ist, auf einer fundierten Basis eine Entscheidung hinsichtlich einer bestimmten Richtung zu treffen. Der Befund einer solch hohen Attraktivität der gesprächspsychotherapeutischen Richtung in diesem Studiengang legt dies nahe. In Bezug auf die Psychologiestudierenden ist wahrscheinlich, dass ein mittlerweile ebenfalls eher naturwissenschaftlich-evidenzbasiertes Wissenschaftsverständnis sowie die zentrale identitätsstiftende Funktion des verhaltenstherapeutischen Ansatzes für den Studiengang Psychologie (vgl. z. B. Daiminger, 2007) zum großen Interesse an diesem Verfahren auch unter den Studierenden beiträgt. Auch die Dominanz der verhaltenstherapeutisch orientierten Lehre sowie die Anbindung verhaltenstherapeutischer Ausbildungsgänge an die Universitäten (vgl. Fischer, 2008; Fischer u. Möller, 2006; Schulte u. Kröner-Herwig, 2005; Strauß et al., 2009) wird diesbezüglich einen Einfluss entfalten. Die referierten Befunde sprechen dafür. Unter © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
12.1 Zusammenfassende Diskussion der quantitativen Ergebnisse 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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Psychologiestudierenden zeigt sich eine vergleichsweise große Differenz in der Einschätzung der wissenschaftlichen Fundierung von Verhaltenstherapie und psychodynamisch orientierten Verfahren sowie des jeweiligen Ausbildungsaufwandes. Dies könnte somit relevant für die gefundene Bevorzugung der Verhaltenstherapie in diesem Studiengang sein. Dafür spricht auch, dass der Ausbildungsaufwand für beide Verfahrensrichtungen im Vergleich der Studiengänge unter Psychologiestudierenden als besonders hoch eingeschätzt wird und der Aufwand für die Ausbildung das gewichtigste Argument gegen eine psychotherapeutische Ausbildung darstellt. Die sehr viel höhere Attestierung wissenschaftlicher Belege ihrer Wirksamkeit stellt für diese Studierendengruppe, wohl im Zuge der Orientierung an einem naturwissenschaftlich EbM-orientieren Wissenschaftsverständnis, ein weiteres bedeutsames Kriterium dar. Die Kenntnis von Psychoanalyse ist unter Psychologiestudierenden im Vergleich der Studiengänge nicht als gering zu bezeichnen (vgl. Hypothesenkomplex 1). Dies kann als weiterer Hinweis auf die Gültigkeit dieser Überlegung interpretiert werden, zumal somit Kenntnis allein nicht der ausschlaggebende Faktor für das Interesse an einer der Verfahrensrichtungen zu sein scheint. Dass in der Gruppe der Pädagogikstudierenden, anders als in den beiden anderen Gruppen, mehrheitlich eine psychoanalytische Ausbildung einer verhaltenstherapeutischen vorgezogen wird, könnte wiederum damit zusammenhängen, dass in diesen Studienfächern, wie ausgeführt, weniger eine naturwissenschaftliche Tradition als eine hermeneutisch-sozialwissenschaftliche Orientierung sowie ein »struktureller Individualismus« (Frank, 1990, S. 182) anzutreffen sind (vgl. z. B. Küchenhoff, 2005; Raithel et al., 2007), somit der psychoanalytische Ansatz mit seiner starken Einzelfallorientierung und seinem Zugang des idiosynkratischen Sinnverstehens in der Fachkultur präsenter ist und auch den Studierenden dieses Studiengangs näher liegt. Der geringe gefundene Unterschied in der Zuschreibung wissenschaftlicher Wirksamkeitsbelege zur verhaltenstherapeutischen und zur psychodynamischen Verfahrensrichtung könnte ein Hinweis darauf sein, ebenso die, allerdings nur deskriptiv gefundene, höhere Attestierung eines Beitrages psychodynamischer Verfahren zum Verständnis der Gesellschaft einzig durch Pädagogikstudierende. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Zu Fragenkomplex 1: Interesse – sonstige Einflussfaktoren und Korrelate Das Geschlecht der Studierenden hat, entsprechend anderen Studien (vgl. z. B. Sammet et al., 2007), einen bedeutsamen Einfluss auf das Interesse am Psychotherapeut/-innenberuf, derart, dass sich Frauen mehr dafür interessieren. Allerdings hat es keinen Einfluss auf das Interesse an einer verhaltenstherapeutischen oder einer psychodynamisch orientierten Ausbildung. Der Studienort als spezifische Einflussquelle ist nur für Medizinund Pädagogikstudierende für ein Interesse an einer psychotherapeutischen Ausbildung relevant, für ein Interesse an Verhaltenstherapie oder einer psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtung dagegen nur für Psychologie- und für Medizinstudierende. Dies stellt einen weiteren Hinweis auf differenzielle Effekte des universitären Angebots dar (vgl. Kap. 5.1). Eine psychotherapeutische Vorerfahrung hängt statistisch bedeutsam sowohl mit einem Interesse an einer psychotherapeutischen (vgl. Strauß u. Kohl, 2009), als auch speziell dem an einer psychodynamisch orientierten Ausbildung zusammen. Für die Richtlinienverfahren gilt, dass eine persönliche therapeutische Vorerfahrung in der jeweiligen Verfahrensrichtung ein Interesse an einer Ausbildung in dieser zu begünstigen scheint, also eine diesbezüglich positiv prägende Wirkung hat (vgl. auch Strauß et al., 2009). Bezogen auf allgemeine berufliche Wünsche ist ein Unterschied zwischen denjenigen mit bzw. ohne Interesse an einer psychotherapeutischen Ausbildung festzustellen. Die Interessierten wünschen sich in der Reihenfolge ihrer Nennung, anderen Befunden entsprechend, in stärkerem Maße Einblicke in menschliche Schicksale, Kontakt mit Menschen sowie die Möglichkeit, Menschen zu helfen (vgl. Amelang, 1999; Murphy u. Halgin, 1995; Strauß u. Kohl, 2009). Weniger stark ausgeprägt sind bei ihnen Wünsche nach einem hohen beruflichen Ansehen, nach Karrierechancen, einem sicheren Arbeitsplatz, einem guten Einkommen sowie Familienvereinbarkeit. Letztgenannte Wünsche sind unter Medizinstudierenden am stärksten ausgeprägt. Das geringe Interesse an einer psychotherapeutischen Tätigkeit in diesem Studiengang könnte mit daraus erklärbar sein. Allerdings ist
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12.1 Zusammenfassende Diskussion der quantitativen Ergebnisse 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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auch das Motiv, Menschen zu helfen, unter Medizinstudierenden am stärksten ausgeprägt (vgl. dazu auch Kap. 12.2). Psychologiestudierende wünschen sich im Vergleich am meisten eine intellektuell fordernde Tätigkeit, ein Wunsch, der keinen bedeutsamen Zusammenhang mit dem Berufswunsch einer psychotherapeutischen Tätigkeit aufweist. Allerdings wurden in einer Untersuchung von Hofstätter (1965) vor allem in nichtstudentischen Fremdeinschätzungen »mit der Person des Psychologen sowohl elternhaftes Verständnis als auch intellektuelle Klarheit assoziiert« (zit. nach Burghofer, 2000, S. 15). Möglicherweise korrespondiert diese Zuschreibung mit einer tatsächlichen Interessenlage unter Studierenden dieses Fachs. Für Verhaltenstherapie- bzw. an psychodynamisch orientierten Verfahren Interessierte finden sich bezüglich allgemeiner beruflicher Wünsche wiederum keine bedeutsamen Unterschiede.
Zu Hypothesenkomplex 5: Kriterien für Interesse an Verhaltenstherapie oder psychodynamisch orientierten Verfahrensrichtungen Welche Kriterien für ein Interesse an einer der beiden Verfahrensrichtungen können nun aus den Befunden dieser Studie abgeleitet werden? Hypothesenkonform spielen für an Verhaltenstherapie Interessierte in stärkerem Maße pragmatische Kriterien sowie eine universitäre Information über diese Verfahrensrichtung eine Rolle (vgl. auch Strauß et al., 2009). Für an psychodynamisch orientierten Verfahren Interessierte sind hingegen, wie erwartet, in höherem Maße eine Identifikation mit der Verfahrensrichtung, eine persönliche oder fremde Vorerfahrung sowie Neugier und Interesse relevant. Somit scheint die Unterschiedlichkeit der Verfahrensrichtungen in Interaktion mit fachkulturspezifischen Einflüssen sowie persönlichen Vorlieben zu unterschiedlichen Kriterien für ein Interesse daran zu führen. Es zeigen sich jedoch auch Übereinstimmungen in den Gründen für ein Ausbildungsinteresse in einer der beiden Verfahrensrichtungen. Für ein Interesse an beiden ist Vorerfahrung bedeutsam (vgl. auch © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Fragenkomplex 1). Eine Identifikation mit der jeweiligen Verfahrensrichtung spielt für beide eine Rolle, auch ist eine Kassenanerkennung für beide nicht ganz irrelevant. Dies ist naheliegend, da beide Verfahrensrichtungen in den kassenärztlichen Leistungskatalog fallen. Die Kosten und die Dauer der Ausbildung sind für beide Gruppen eher unwichtig. Dennoch sind die Entscheidungskriterien für eine der beiden Verfahrensrichtungen insgesamt größtenteils verschieden. Unter den Psychologiestudierenden sind diejenigen oben genannten Kriterien, die für die gesamte untersuchte Stichprobe am relevantesten sind, gleichermaßen als ausschlaggebend zu bezeichnen. Unter den Medizinstudierenden spielt das Kriterium der Identifikation mit der Verfahrensrichtung dagegen für Verhaltenstherapie eine weitaus größere Rolle. Neugier und Interesse an der Verfahrensrichtung sind hier in einem um einiges höheren Maße als in der Gesamtstichprobe für ein Interesse an Psychoanalyse relevant. Kosten und Dauer der Ausbildung scheinen für die Medizinstudierenden dagegen keine Rolle zu spielen. Möglicherweise lässt sich der unerwartete Befund einer höheren Identifikation mit Verhaltenstherapie als mit Psychoanalyse unter den Medizinstudierenden daraus erklären, dass diese eine Neuerung zum »althergebrachten« psychodynamisch orientierten Denken darstellt, worauf sich auch Hinweise aus der Interpretation der Typen ergeben (genauer, vgl. Kap. 12.2), jedoch auch, dass verhaltenstherapeutisches und medizinisch-somatisches Denken sehr viel größere Ähnlichkeiten aufweisen (z. B. EbM-Orientierung) als Psychoanalyse und klassische somatische Medizin. Die höhere Neugier hinsichtlich Psychoanalyse dagegen könnte – darauf ergeben sich ebenfalls Hinweise aus der Typenbildung – auf eine bestimmte, weniger stark mit der somatischen Kultur ihres Studiengangs identifizierte Gruppe zutreffen, die das psychoanalytische Denken zwar nicht unbedingt gut kennt, sich jedoch neben Somatischem auch für Psychisches bzw. einen weniger am herkömmlich medizinischen Denken orientierten Ansatz interessiert. Ein solches Interesse ist auch in den Pro-Argumenten für den Psychotherapeut/-innenberuf unter Medizinstudierenden aufzufinden (vgl. Hypothesenkomplex 2). Für die Pädagogikstudierenden, für die aufgrund sehr geringer Fallzahlen in den einzelnen Zellen dieser Befund jedoch nur mit großer Vorsicht interpretiert werden sollte, sind die prozentualen Anteile bezüglich aller Kriterien für Psychoanalyse höher. Hier weichen also die Krite© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
12.1 Zusammenfassende Diskussion der quantitativen Ergebnisse 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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rien ebenfalls in unerwarteter Weise von denen der Gesamtstichprobe ab, möglicherweise mit der größeren Kenntnis und positiven Wahrnehmung von Psychoanalyse in diesem Studiengang zusammenhängend. Die Unterschiede in der Wahrnehmung der beiden Verfahrensrichtungen weisen bei denjenigen, die sich für Verhaltenstherapie oder für eine psychodynamisch orientierte Verfahrensrichtung interessieren, in die gleiche Richtung und ähneln denen der Gesamtstichprobe (vgl. Hypothesenkomplex 3). Die jeweils an einer Verfahrensrichtung Interessierten schätzen jedoch die Differenz zuungunsten der von ihnen präferierten Verfahrensrichtung als niedriger ein als diejenigen, die an der anderen Verfahrensrichtung interessiert sind. Sie schreiben ihr also jeweils in höherem Maße auch die positiven Eigenschaften zu, die sie stärker bei der anderen Verfahrensrichtung verorten. Bei Betrachtung auf den Stufen des Faktors der Verfahrensrichtung, also in Bezug nur auf die Wahrnehmung jeweils der Verfahrensrichtung Verhaltenstherapie oder der psychodynamisch orientierten Verfahren, zeigen sich weiter zwar erwartungskonform für alle positiven Variablen höhere Mittelwerte bei denjenigen, die an der Verfahrensrichtung interessiert sind, als bei den an der anderen Verfahrensrichtung Interessierten. Die Ausbildungskosten und den -aufwand, die einzige »negative« Variable, schätzen jedoch, erwartungswidrig, die an der psychodynamischen Verfahrensrichtung Interessierten als ebenso hoch ein, wie die an Verhaltenstherapie Interessierten. Unterschiede in der Wahrnehmung der Verfahrensrichtungen sind insgesamt primär auf den Faktor der Verfahrensrichtung und weniger auf den des jeweiligen Ausbildungsinteresses zurückzuführen. Einzig für den Beitrag zum Verständnis der Gesellschaft bedeutet eine disordinale Interaktion zwischen Ausbildungsinteresse und Wahrnehmung der Verfahrensrichtungen, dass an Verhaltenstherapie Interessierte dieser Richtung einen Beitrag dazu stärker zuschreiben, während an psychodynamischen Verfahren Interessierte dies der von ihnen präferierten Verfahrensrichtung stärker attestieren. Somit ist eine relativ große Einigkeit in der Wahrnehmung beider Verfahrensrichtungen zwischen denjenigen mit verhaltenstherapeutischem und denjenigen mit psychodynamischem Ausbildungsinteresse zu verzeichnen und auch zur Wahrnehmung durch die Gesamt© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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stichprobe sind, wie erwähnt, nur geringfügige Unterschiede vorhanden. Unter den an einer der Verfahrensrichtung Interessierten ist somit, wenn überhaupt, nur von geringfügigen »Verzerrungen« der Wahrnehmung zugunsten der von ihnen präferierten Verfahrensrichtung auszugehen. Dies deutet darauf hin, dass bezüglich eines Ausbildungsinteresses in einer der Verfahrensrichtungen eine Wechselwirkung mit persönlichen Prioritäten der Studierenden vorliegt. Bei einer ähnlichen Wahrnehmung der Verfahrensrichtungen scheinen jeweils andere Kriterien eine Rolle für ein Interesse zu spielen: Für diejenigen, die an Verhaltenstherapie interessiert sind, scheinen die dieser insgesamt stärker zugeschriebenen Eigenschaften (wissenschaftliche Fundierung, universitäre Informiertheit, Umsetzbarkeit mit Patient/-innen, Vereinbarkeit mit der Karriere) relevanter zu sein, für diejenigen, die an psychodynamisch orientierten Verfahren interessiert sind, die diesen stärker zugeschriebenen Attribute (Beitrag zum Verständnis seelischer Störungen, Förderung von Selbsterkenntnis). Dass die Ausbildung in dieser Verfahrensrichtung als länger und aufwändiger gilt, wird wohl kaum einen Grund für ein Interesse darstellen. Die besonders hohe Zuschreibung dessen durch daran Interessierte könnte vielmehr eine Befürchtung sein, wie auch die qualitativen Befunde nahelegen (vgl. Kap. 12.2). Hoch bedeutsam unterscheidet sich weiter für die an psychodynamischen Verfahrensrichtungen oder an Verhaltenstherapie Interessierten die Zustimmung zu konkreten psychoanalytischen oder verhaltenstherapeutischen Behandlungsmethoden. Die an Verhaltenstherapie Interessierten stimmen verhaltenstherapeutischen Behandlungsmethoden stärker zu, die an psychodynamischen Verfahren Interessierten psychoanalytischen Methoden. Die Art der Behandlung scheint somit einen relevanten Faktor für das jeweilige Interesse daran darzustellen. Die jeweils Interessierten scheinen sich mit den Behandlungsmethoden der präferierten Verfahrensrichtungen stärker zu identifizieren. Was also eine »gute Psychotherapie« ausmacht, unterscheidet sich für die Studierenden in Abhängigkeit von ihrer jeweiligen Präferenz. Ob zum Beispiel eine störungs- und symptomorientierte oder eine individuums- und ursachenorientierte Behandlung für sinnvoll gehalten wird (vgl. Margraf, 2009a; Leuzinger-Bohleber, 2007), darin unterscheiden sich die jeweils an Verhaltenstherapie oder © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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an psychodynamischen Verfahren Interessierten, wie auch die qualitativen Befunde nahelegen (vgl. Kap. 12.2). Eine zielorientierte Haltung und eine der Handlungsorientierung (des Machens, vgl. Daiminger, 2007) bzw. eine eher ergebnisoffene Haltung des Nichtwissens sowie der Offenheit in der Behandlungsmethodik im Sinne eines idiosynkratischen Sinnverstehens (vgl. Leuzinger-Bohleber, 2007) scheinen ebenso für unterschiedlich sinnvoll gehalten zu werden. Dies entspricht Befunden von Heffler und Sandell (2009), die, wie im Theoriekapitel referiert, unterschiedliche Lernstile in Verbindung mit der Wahl einer Ausbildungsrichtung brachten. Sie fanden, dass psychodynamisch Orientierte eher einen »watch-and-feel« Stil, verhaltenstherapeutisch Orientierte dagegen eher einen »thinkand-do« Stil aufwiesen. Aus dieser Untersuchung ergeben sich nun ebenfalls Hinweise auf solch persönliche Vorlieben für eine bestimmte Art der Behandlung in Zusammenspiel mit den Selbstbildern von Studierenden, welche durch ihre Umwelten differenziell beeinflusst zu werden scheinen (vgl. auch Kap. 12.2). Die referierten Ergebnisse zu relevanten Kriterien für ein Interesse weisen insgesamt eine hohe Übereinstimmung mit Befunden der Untersuchung von Strauß et al. (2009) auf. Auch wenn in dieser Studie lediglich Studierende der Psychologie einbezogen wurden, zeigte sich auch dort, dass prozentual157 mehr Studierende mit Interesse an einer psychodynamischen Verfahrensrichtung (PD) angaben, dass sie sich dafür entscheiden würden, weil das Menschenbild, das Vorgehen und der therapeutische Stil am besten zu ihrer Persönlichkeit passe, sie das Verfahren am meisten interessiere und weil sie dem Verfahren inhaltlich am meisten zustimmen würden. Mehr Studierende mit Interesse an einer verhaltenstherapeutischen Ausbildung (VT) gaben dort, in Übereinstimmung mit den hier referierten Befunden an, dass für sie folgende Faktoren besonders relevant wären: eine Kassenzulassung, empirische Wirksamkeitsnachweise, die wissenschaftliche Anerkennung des Verfahrens, dass sie durch die Ausrichtung des Studiums bereits viel Vorwissen darüber hätten und dass mögliche Arbeitgeber eine Ausbildung in diesem Verfahren verlangen würden. Prozentual gleichauf lag in dieser Untersuchung 157 Dies bezogen auf beide Verfahrensrichtungen jeweils in der Reihenfolge der Nennung, allerdings waren Mehrfachnennungen möglich.
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die Relevanz dessen, dass die jeweiligen Behandlungskonzepte überzeugender seien (für VT an zweiter, für PD an dritter Stelle) Auch dieser Befund ist konsistent mit den Ergebnissen der vorliegenden Untersuchung.
12.2 Zusammenfassende Diskussion der qualitativen Ergebnisse – Zu den Typen Es kann also festgehalten werden, dass, wohl in Interaktion mit dem jeweiligen Studiengang, ähnliche Einschätzungen der Verfahrensrichtungen eine unterschiedliche Wertigkeit für ein Interesse an den Richtlinienverfahren besitzen. Um diesbezüglich zu differenziellen Aussagen zu gelangen, wurden die aus dem Interviewmaterial extrahierten Wege der Entscheidungsfindung herangezogen. Hier zeichneten sich sieben »prototypische« Wege ab. Diese sind zumeist stark mit dem jeweiligen Studiengang und der dort vorherrschenden Fachkultur verknüpft. Dieser Befund liegt nahe, wenn man bedenkt, dass meist bereits die Wahl eines Studienganges von persönlichen Vorlieben geprägt ist. Wenn das Studium nun als zufriedenstellend empfunden wird, was, wie unter 8.4 dargestellt, auf die meisten der hier Befragten zutrifft, ist eine starke Identifikation mit bzw. inhaltliche Zustimmung zur jeweiligen Fachkultur im Zuge der spätadoleszenten Entwicklung wahrscheinlich und naheliegend. Im Folgenden soll noch einmal zusammenfassend auf die gefundenen »prototypischen Wege der Entscheidungsfindung« eingegangen werden: Der erste ermittelte typische Weg, »Mediziner als akademischer Handwerker – Chirurg«, ist, wie im Ergebnisteil beschrieben, dadurch gekennzeichnet, dass die Frage einer psychotherapeutischen Ausbildung für ihn zu keinem Zeitpunkt relevant ist. Dieser Typ scheint, wie auch die quantitativen Befunde nahelegen, einen häufig vorkommenden Weg der beruflichen Entwicklung im Studiengang Medizin darzustellen, der sich durch eine primär somatische Ausrichtung auszeichnet. Weiter sind diese Studierenden praktisch orientiert und tendieren zum chirurgischen Bereich. In diesem Fachgebiet sind Frauen nach wie vor unterrepräsentiert (vgl. Buddeberg-Fischer et al., 2008). Die manuelle, »handwerkliche« Tätigkeit, weniger der Kontakt mit Patient/-innen steht im Vorder© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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grund. Insgesamt spielen persönliche Kontakte und davon ausgehende Impulse eine vergleichsweise geringe Rolle. Dieser Befund passt, wie ausgeführt, zum in naturwissenschaftlichen Fachkulturen aufzufindenden unpersönlichen Lehrhabitus sowie zur allgemein dort zu verzeichnenden Fachkultur (vgl. Burghofer, 2000; Stegmann, 2005; Kap. 5.1). Dieser geradlinig medizinische Weg scheint eher von der Mittel- oder Oberschicht angehörenden männlichen Medizinstudierenden beschritten zu werden. Dies entspricht einer insgesamt geringen sozialen Aufwärtsbewegung in diesem Studiengang (vgl. BMBF, 2007). Die Studierenden scheinen sich im stark strukturierten medizinischen Studiengang – relativ unpersönlich – gut orientieren zu können. Wie im Ergebnisteil ausgeführt, sind in dieser Gruppe primär »Macher/-innen« nach der Unterteilung der Shell-Jugendstudie von 2006 (vgl. Gensicke, 2006) aufzufinden. Es wäre möglich, dass bei diesem Typ eine insgesamt in dieser Generation vorzufindende pragmatische Haltung besonders ausgeprägt ist und dass diese Sachorientierung (vgl. auch Buddeberg-Fischer et al. , 2008) zu einer größeren Affinität zur »pragmatischen« Verfahrensrichtung Verhaltenstherapie führt. Ein Hinweis darauf ergibt sich aus der quantitativ gefundenen höheren Identifikation mit dieser Verfahrensrichtung unter Medizinstudierenden im Vergleich zur Gesamtstichprobe (vgl. Hypothesenkomplex 5). Psychotherapie wird insgesamt nicht sonderlich abgewertet, sondern eher pragmatischleidenschaftslos betrachtet. Die in anderen Untersuchungen gefundene Randständigkeit des psychotherapeutischen Bereichs für die medizinische Disziplin (z. B. Burghofer, 2000; vgl. Kap. 5.1) steht für die Studierenden dieses Clusters jedoch wohl außer Frage. Ein Interesse am Chirurg/-innenberuf könnte somit innerhalb der Medizin eine Art Gegenpol zu einem psychotherapeutischen Berufsinteresse darstellen. Die Chirurgie ist, wie schon der Name sagt, mit die handwerklichste Tätigkeit (griech. cheir = »Hand«, ergein = »arbeiten«, Brockhaus Wahrig, 1981, S. 94), die man im medizinischen Bereich ausüben kann, die Psychotherapie dagegen eine weniger, wenn nicht gar die am wenigsten handwerkliche. Dass sowohl der verhaltenstherapeutischen als auch der psychodynamischen Verfahrensrichtung im Vergleich der Studiengänge quantitativ von Medizinstudierenden die geringste Umsetzbarkeit mit Patient/-innen bescheinigt wird, stützt diese Überlegung. Möglicherweise unterschei© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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den Medizinstudierende diesbezüglich weniger zwischen den beiden Verfahrensrichtungen, sondern eher zwischen Psychotherapie insgesamt im Gegensatz zu somatischen Fächern. Der spätadoleszente Berufsfindungsweg scheint, wie im Ergebnisteil referiert, von Anerkanntsein in und starker Identifikation mit der medizinischen Fachkultur und dem Mediziner/-innenberuf geprägt zu sein. Im biographischen Verlauf zeigen sich hier wenige Brüche. Die aufzufindende sehr pragmatische Haltung mag den Umgang mit gegenwärtigen Verhältnissen und deren Herausforderungen erleichtern, auch die stark an der medizinischen Fachkultur orientierte berufliche Identität; dies auch aufgrund des hohen Ansehens dieser Disziplin. Darauf wird an späterer Stelle noch einmal allgemeiner eingegangen. Der zweite typische Entscheidungsfindungsweg ist, wie im Ergebnisteil dargestellt, bezogen auf den psychotherapeutischen Bereich weniger stark mit der dominanten Fachkultur in der Medizin identifiziert. Die Studierenden des zweiten Typs, »Psychotherapie als Option – Nervenärtzin«, kritisieren, anders als die zuvor beschriebenen Studierenden, in ihrem Studiengang existierende Vorurteile gegenüber Psychotherapie (vgl. Hypothesenkomplex 2). Die eher weiblichen Studierenden in diesem Cluster sind biographisch häufig durch die Elternberufe in Richtung Medizin geprägt (vgl. Guggenberger, 1990). Zusätzlich zum somatischen Behandeln wird »Reden als Instrument« als positiv empfunden. Weiter sind Familienfreundlichkeit und Arbeitszeiten für die Wahl einer Facharztausbildung relevante Themen. Zudem sind diese Studierenden nach der Shell-Jugendstudienunterteilung eher als »Idealist/-innen« zu bezeichnen. Hierbei kommen möglicherweise geschlechtsrollenspezifische Unterschiede zum ersten vorgestellten Typ zum Tragen, derart, dass junge Frauen in ihrer beruflichen Planung immer noch eher auf eine Vereinbarkeit von Familie und Beruf achten (z. B. Langness et al., 2006). Auch zeigt sich hier eine Entsprechung zum quantitativ ermittelten häufigsten Pro-Argument für eine psychotherapeutische Tätigkeit unter Medizinstudierenden. In einer Befragung von Jurkat, Reimer und Schröder (2000) zeigte sich übereinstimmend, dass unter Medizinstudierenden ein diesbezüglicher Rollenkonflikt zwischen familiären und beruflichen Anforderungen bei angehenden Ärztinnen an erster Stelle geschlechtsspezifischer Probleme bei der Ausübung einer späteren beruflichen Tätigkeit gesehen wurde. Dies wurde von beiden Ge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
12.2 Zusammenfassende Diskussion der qualitativen Ergebnisse 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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schlechtern für männliche Medizinstudierende sehr viel seltener als primäres Problem benannt. Auch der Wunsch nach Kontakt mit Menschen sowie eine altruistischere (idealistischere) Haltung ist eher mit einer »typisch« weiblichen Geschlechtsrolle vereinbar (vgl. Gensicke, 2006; Vogel, 2003). Unterschiede zum ersten Typ sind weiter bezogen auf das wissenschaftliche Selbstverständnis, die Relevanz persönlicher Vorbilder, sowie eine weniger nur pragmatische als teils auch selbstreflexive Haltung zu verzeichnen. Übereinstimmungen finden sich mit den Studierenden des ersten Typs allerdings in der geringen Kenntnis über verschiedene psychotherapeutische Verfahrensrichtungen. Dies scheint, wie auch die quantitativen Befunde nahelegen, auf fast alle Medizinstudierenden zuzutreffen. Allerdings ist beim zweiten Typ eine größere Affinität auch zur Psychoanalyse aufzufinden. Ein diesbezüglich relevantes Unterscheidungskriterium ist, wie im Ergebnisteil erwähnt, möglicherweise der auch selbstreflexive Umgang mit eigenen Problemen im Verhältnis zu einem rein pragmatischen Umgang damit im ersten Cluster. Das insgesamt höhere psychotherapeutische Ausbildungsinteresse korrespondiert mit dem quantitativ ermittelten höheren Interesse daran unter Frauen. Somit erfolgt in diesem Cluster bezogen auf das Thema einer psychotherapeutischen Tätigkeit, durchaus auch aus pragmatischen Gründen, ein anderer Schluss als für die Studierenden im ersten Cluster, da dieser Bereich als vergleichsweise familienfreundlich und weniger zeitintensiv gesehen wird. Aus diesen geschlechtsspezifischen Überlegungen heraus erscheint eine psychotherapeutische Tätigkeit eher attraktiv (vgl. Aßmann, Schneiderat u. Balck, 2008). Daneben ist jedoch, ebenso mit geschlechtsrollentypischen Zuschreibungen konform, ein größeres Interesse an einem persönlichen Kontakt mit Menschen zu verzeichnen. Der Bereich der Neurowissenschaften wird dabei teils als eine Art Zwischenlösung gesehen. Es handelt sich somit bei Entscheidungsfindungen dieses Typs um weniger mit der dominanten medizinischen Fachkultur identifizierte Wege, obgleich eine biographische Prägung in diese Richtung vorhanden ist. Möglicherweise handelt es sich dabei um eine geschlechtsspezifische Ausformung des beruflichen Daseins in der gesellschaftlich so hoch angesehenen medizinischen Disziplin (vgl. Kap. 5.1). Das dritte gefundene Cluster »Psychoanalyse als Ursachenforschung – den Dingen auf den Grund gehen« ist dadurch gekennzeichnet, dass © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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dort sowohl Medizin- als auch Psychologiestudierende anzutreffen sind, welche alle mehr oder weniger psychoanalyseaffin sind. Häufig hatten sie schon in der Schulzeit Interesse an Psychoanalyse, welches sich durch ihr Studium nicht verändert hat. Sie besitzen eher hohe Kenntnisse über diese Verfahrensrichtung. Wie die Studierenden im vorherigen Cluster weisen sie eine »idealistische« Werthaltung nach Unterteilung der Shell-Jugendstudie auf und interessieren sich sowohl für Psychisches als auch für Somatisches. Anders als die der ersten beiden Typen ist ihre wissenschaftliche Orientierung primär sozialbzw. geisteswissenschaftlich. Allerdings sind auch sie, wie die beiden anderen vorgestellten Typen, eher praktisch-anwendungsorientiert. Eine eigene oder fremde Vorerfahrung ist, den quantitativen Befunden entsprechend, häufig vorhanden. Intrinsische Gründe für die Ausbildung, wie der Wunsch nach Selbsterfahrung und einer persönlichen Weiterentwicklung, spielen, ihrer selbstreflexiven Haltung entsprechend, eine Rolle (vgl. Vogel, 2005; Murphy u. Halgin, 1995: dort für ein Interesse am Psychotherapeut/-innenberuf allgemein). Des Weiteren ist ein relativ starker Individualitäts- und Originalitätswunsch und damit einhergehend eine kritische Distanziertheit gegenüber dem jeweiligen Studienangebot festzustellen. Allerdings wird häufig ein Vorbild in Person eines/-r bekannten Analytikers/-in benannt. Es kann also gefolgert werden, dass für diesen Typ weniger Anerkennung und Gratifikationen über das unmittelbare Studienumfeld entscheidend sind, sondern biographische Prägungen und außeruniversitäre Vorbilder eine größere Rolle spielen (vgl. Guggenberger, 1990). Auch entspricht dieser Typ der Entscheidungsfindung nicht der gegenwärtig oftmals vorzufindenden pragmatischen Haltung junger Menschen (vgl. Langness et al, 2006; Bargel, 2008; Kap. 4.6.). Kosten und Dauer der Ausbildung, die Sorge um ihre Finanzierung, sowie dominante (negative) gesellschaftliche Sichtweisen auf psychodynamische Verfahren sind zwar relevante Themen, jedoch nicht in einem solchen Ausmaß, dass die Studierenden deshalb diesen Berufswunsch verwerfen würden. Dies entspricht dem quantitativen Befund, dass obgleich die daran Interessierten den Ausbildungsaufwand in dieser Verfahrensrichtung als ebenso hoch einschätzen wie Verhaltenstherapieinteressierte, sie sich dennoch für die psychodynamische Ausbildungsrichtung interessieren. So nehmen die Studierenden, entsprechend den quantitativen Befunden, psy© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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choanalytische Behandlungsmethoden positiv und verhaltenstherapeutische Behandlungsmethoden negativ wahr. Weiter sind, wie für die Studierenden in Cluster 2, geschlechtsrollenspezifische Aspekte nicht auszuschließen, da es sich in diesem Cluster ausschließlich um weibliche Studierende handelt. Aus den quantitativen Befunden ergeben sich jedoch eher Hinweise auf einen diesbezüglichen Einfluss insgesamt auf ein psychotherapeutisches Ausbildungsinteresse, nicht aber auf ein spezifisches Interesse an einer der Verfahrensrichtungen. Intrinsische Motive sowie die positive Wahrnehmung der Verfahrensrichtung, insbesondere der Aspekt der »Ursachenforschung«, scheinen ausschlaggebende Faktoren zu sein. Gemeinsam ist Medizinund Psychologiestudierenden in diesem Cluster, dass sie sich mit der im jeweiligen Studiengang dominanten Fachkultur vergleichsweise wenig zu identifizieren scheinen und insbesondere die Psychologiestudierenden sich eher kritisch distanziert zu ihrem Studiengang beschreiben und ihre Individualität betonen. Eine Verweigerung des »naheliegenden«, sowohl in Bezug auf eine eher pragmatische Berufsorientierung als auch in Bezug auf fachkulturelle Gegebenheiten, könnte hierin zum Ausdruck kommen. Der vierte Typ eines Entscheidungsfindungsweges »VT als Ausbildung – Psychoanalyse als Patient/-in« kann aufgrund der Kleinheit des Clusters sowie der geringen Ähnlichkeit der beiden Proband/-innen, wie im Ergebnisteil ausgeführt, nur mit Vorsicht interpretiert werden. Er ist dadurch gekennzeichnet, dass trotz einer positiven Sichtweise auf Psychoanalyse aufgrund einer eigenen psychoanalytischen Psychotherapie dennoch das Studienangebot im Studiengang Psychologie, den quantitativen Befunden entsprechend, ausschlaggebend für ein Interesse an Verhaltenstherapie ist. Im Weg der Entscheidungsfindung vollzieht sich ein Wandel von einem Interesse an Psychoanalyse vor dem Psychologiestudium hin zur verhaltenstherapeutischen Richtung im Verlauf des Studiums, wobei jedoch eine Annäherung dieser beiden Verfahrensrichtungen gewünscht wird. Die von Eichenberg et al. (2007) gefundene Umorientierung von einem psychodynamischen Interesse zu Beginn des Psychologiestudiums hin zur verhaltenstherapeutischen Richtung in dessen Verlauf scheint auf diese Studierenden zuzutreffen. Die klaren Regeln und die Strukturiertheit der Verhaltenstherapie werden als positiv für die geplante eigene © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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psychotherapeutische Berufstätigkeit empfunden, obschon aus Patient/-innenperspektive Ergebnisoffenheit und Freiraum der psychoanalytischen Behandlung als positiv erlebt wurden. Neben persönlich-biographischen Komponenten könnten die beschriebenen gesellschaftlichen Pluralisierungs- und Flexibilisierungstendenzen für eine solche spätadoleszente Berufs(um)orientierung eine Rolle spielen. Für diese Überlegung spricht, dass die Studierenden Psychoanalyse durchaus positiv wahrnehmen und bedauern, dass Aspekte dieser Richtung im verhaltenstherapeutischen Ansatz nicht vorkommen, auch dass sie aus Patient/-innenperspektive das ergebnisoffenere und weniger zielorientierte Vorgehen dieser Verfahrensrichtung als positiv erlebten. Dennoch scheint eine möglichst klare und strukturierte berufliche Perspektive gesucht und eher mit der Ausübung einer verhaltenstherapeutischen Tätigkeit in Verbindung gebracht zu werden. In Cluster fünf »Psychologische/-r Verhaltenstherapeut/-in« befinden sich diejenigen Studierenden, die als verhaltenstherapieaffin zu bezeichnen sind. Es handelt sich ausschließlich um Psychologiestudierende. Da der Typ des Entscheidungsfindungsweges in Subclusterzentrum 5b »Sozialisation in die VT – soziale Orientierung« dem zuvor vorgestellten Typ 4 der Entscheidungsfindung ähnlicher ist, wird er hier als erstes zusammenfassend interpretiert. Portele und Huber (1993) identifizierten fünf Haupttypen von Studierendenstrategien, die sie in wissenschaftsorientierte, ausbildungs- und berufsorientierte, prüfungsorientierte und subkulturell Orientierte unterteilten (vgl. Kap. 5.1). Für die Studierenden dieses Subclusters scheint der typische Weg der Entscheidungsfindung stark geprägt zu sein von einer subkulturell- bzw. peer-orientierierten Studierendenstrategie (vgl. auch Hylander, 2008). Die meisten Kommiliton/-innen planen eine verhaltenstherapeutische Ausbildung, diese wird ebenfalls angestrebt. Über Verhaltenstherapie beschreiben die Studierenden ihre Kenntnisse aufgrund des Studienangebots als hoch, diejenigen über Psychoanalyse als gering. Obschon dies klar auf die universitäre Präsenz dieser Verfahrensrichtungen zurückgeführt wird, ist hier keine kritische Distanziertheit gegenüber dem dominanten Lehrangebot festzustellen. Dass Psychoanalyse wenig bekannt ist, wird zwar teilweise bedauert, jedoch nicht verbunden mit einer unmittelbaren Kritik am © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Studiengang. Bezogen auf Umgangsweisen mit eigenen Problemen, wie auf bestimmte Werthaltungen nach Unterteilung der Shell-Jugendstudie zeigt sich kein eindeutiges Muster. Ein eklektizistischer »Methodenmix« oder auch eine integrative Psychotherapie wird von diesen Studierenden als gegenwärtiger Standard im psychotherapeutischen Bereich wahrgenommen (dazu vgl. Kap. 3 ff.). Sie gehen entsprechend davon aus, dass die Ausbildung in einer Verfahrensrichtung nicht zwangsläufig bedeutet, dann nur in dieser zu arbeiten. Sie wird eher als Mittel gesehen, eine Kassenanerkennung zu erlangen. Es handelt sich um weibliche Studierende, die, den quantitativen Befunden entsprechend, Menschen zu helfen als eines ihrer Hauptmotive für den Therapeut/-innenberuf angeben (vgl. Murphy u. Halgin, 1995). Bei diesem Subtyp des Entscheidungsfindungsweges bleibt eher als im eigentlichen Zentrum des Clusters 5 offen, in welche Richtung sich die Studierenden bei einer anderen fachkulturellen Ausrichtung des Studiengangs Psychologie orientieren würden. Sowohl eine Orientierung in Richtung alternativer Verfahren als auch in Richtung Psychoanalyse scheint möglich. Jedoch ist ein relativ großes Sicherheitsbedürfnis anzutreffen, welches die gegenwärtig naheliegendste Ausbildung wahrscheinlich macht. Auch die Strukturiertheit und die Transparenz der Verhaltenstherapie scheinen für diese Studierenden eine Rolle zu spielen. Das Praktikable und Konkrete dieser Richtung, ihre Handhabbarkeit wird positiv hervorgehoben. Als negativ wird an Psychoanalyse dagegen ein Gefühl des »Ausgeliefertseins« in einer vagen, diffusen und hierarchischen Therapierichtung geschildert. Bei dieser Sichtweise könnten möglicherweise auch gesellschaftliche Unsicherheiten und belastende Orientierungsanforderungen an die junge Generation eine Rolle spielen. Selbsterfahrung halten die Studierenden nämlich durchaus für wichtig, sind aber unsicher, ob sie sich das »leisten« können. Psychoanalyse wird somit ambivalent beschrieben. Die Studierenden in diesem Subcluster kommen familiär aus weniger bildungsnahen Schichten, wobei eine biographische Prägung in Richtung helfender Berufe anzutreffen ist. Auch dies kann zu einem Gefühl persönlicher Unsicherheit, einer Sorge um die berufliche Zukunft und einer Orientierung an vorherrschenden disziplinären Positionierungen beitragen. Weiter scheinen gesellschaftliche Vorurteile gegenüber Psychotherapie sowie gegenüber Psycholog/-innen für die Studierenden in diesem Sub© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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cluster relevant zu sein. Möglich wäre, dass diese Gruppe aufgrund dessen in besonderem Maße mit einer in der psychologischen Disziplin häufiger anzutreffenden vermuteten negativen Fremdeinschätzung des Faches beschäftigt ist, welche meist weit weniger positiv als die tatsächliche Einschätzung ausfällt (vgl. Kap. 3.1 u. 5.1). Real nach wie vor vorhandene Vorurteile gegenüber Psychotherapeut/-innen (vgl. Kap. 5.3) könnten jedoch ebenfalls als belastend empfunden werden. Und noch in einer anderen Hinsicht können Vorstellungen von Psycholog/-innen in der Öffentlichkeit als recht »aufgeladen« bezeichnet werden. Melchers (1987, zit. nach Burghofer, 2000) kam in einer psychoanalytisch ausgerichteten Untersuchung zu dem Schluss, dass die Vorstellungen von Psycholog/-innen in der Öffentlichkeit um »Bewahren und Verändern« kreisen. »Demnach befindet sich der Psychologe häufig in dem Dilemma, daß hohe, vielleicht zu hohe Erwartungen an ihn heran getragen werden, und gleichzeitig seine angeblich manipulativen Fähigkeiten Angst erzeugen« (S. 17; vgl. auch Frank, 1990). Die starke Betonung eines als hierarchisch empfundenen »Ausgeliefertseins« in der psychoanalytischen Richtung mag auch aus dieser Perspektive die Richtung für die Studierenden in Subcluster 5b besonders unattraktiv erscheinen lassen. Die konkrete, fassbare und als demokratisch und nichthierarchisch beschriebene Herangehensweise der Verhaltenstherapie (vgl. Kap. 3.3 u. 3.5) könnte dagegen auch diesbezüglich als vorteilhaft empfunden werden. In Clusterzentrum 5a befindet sich die »Überzeugte psychologische Verhaltenstherapeutin – empirische Wirksamkeit«. Mit der im Studiengang Psychologie dominanten Fachkultur können sich die weiblichen Studierenden, wie im Ergebnisteil ausgeführt, gut identifizieren, worin sich eine Parallele zu den (eher) männlichen Medizinstudierenden im ersten vorgestellten Cluster zeigt. Das Studium und das vor allem verhaltenstherapeutische klinische Lehrangebot werden als befriedigend erlebt. Weiter werden verhaltenstherapeutisch orientierte universitäre Vorbilder sowie die Möglichkeit, bereits im Studium in diesem Bereich praktisch tätig sein zu können, als positiv beschrieben. Hier befinden sich möglicherweise Studierende, die eine von Psycholog/-innen vorangetriebene Entwicklung hin zur Verhaltenstherapie im Studiengang Psychologie im Sinne einer eigenständigen Identifikationsmöglichkeit für die psychologische Disziplin in hohem © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
12.2 Zusammenfassende Diskussion der qualitativen Ergebnisse 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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Maße befürworten (vgl. Daiminger, 2007). Da das universitäre Angebot und persönliche Interessen und Werthaltungen, wie z. B. eine naturwissenschaftliche Orientierung, gut übereinstimmen, sind Anerkennungserfahrungen und Gratifikationen durch das Studium gut möglich und werden berichtet. Über Psychoanalyse geben die Studierenden mittlere Kenntnisse an, gehören also wohl eher der quantitativ ermittelten Gruppe an, die beide Verfahrensrichtungen im Studium kennenlernten, finden diese allerdings unwissenschaftlich und nicht attraktiv. Das quantitativ gefundene »Herausstellungsmerkmal« der verhaltenstherapeutischen Richtung, ihre gut belegte empirische Wirksamkeit, scheint für sie zur Attraktivität dieser Verfahrensrichtung beizutragen. Anders als die Studierenden im zuvor beschriebenen Subcluster 5b zeichnen sich die Studierenden im eigentlichen Zentrum dieses Clusters, ebenso wie die an Psychoanalyse interessierten Studierenden, durch Individualitäts- und Originalitätswünsche aus. Auch hier sind, wie im ersten und im dritten Cluster, teilweise Psychotherapieerfahrungen im persönlichen Umfeld zu verzeichnen. Das Psychologiestudium wurde, wie bei den Psychologiestudierenden in Cluster 3, auch hier mit dem Wunsch begonnen, Psychotherapeut/-in zu werden (vgl. auch Subcluster 5b; Hypothesenkomplex 2; Kap. 3.1 u. 5.1). Anders als für diese spielen für den Typ des Clusters 5a jedoch pragmatische berufliche Überlegungen eine große Rolle, auch im Zusammenhang mit Karriereüberlegungen. Ein Selbsterfahrungswunsch im Zuge des Ausbildungsinteresses wird dagegen verneint. Eine bestimmte Schichtzugehörigkeit wird nicht thematisiert. Geschlechtsrollenspezifische Aspekte könnten, wie bei den weiblichen Medizinstudierenden im zweiten Cluster, in dieser Gruppe zum Tragen kommen. Vorstellbar wäre hier jedoch eine eher gegenteilige Wirkrichtung. So ist es im weiblich dominierten Studiengang Psychologie (vgl. Kap. 3.1 u. 5.1) für karriereambitionierte, also in dieser Hinsicht mit »geschlechtsrollentypischen« Zuschreibungen nicht konforme Frauen (vgl. Vogel, 2003) naheliegend, die verhaltenstherapeutische Richtung zu favorisieren. Dies liegt nahe, da eine verhaltenstherapeutische Ausbildung ein gegenwärtig in der Psychologie eher mit einer Karriere zu vereinbarender Weg zu sein scheint. Die pragmatische Orientierung dieser Studierenden, auch im Umgang mit eigenen Problemen, könnte ein Hinweis auf eine solche, weniger stark mit einer stereotyp »weiblichen« Geschlechtsrolle © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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identifizierte Haltung sein, da auch dies als »geschlechtsrollenuntypisch« gilt (vgl. Alfermann, 1996). Die Studierenden in diesem Subcluster scheinen die Anforderungen an die junge Generation insgesamt eher als Herausforderung denn als beängstigend zu erleben. Sicherheit bietet ihnen, wie auch den Studierenden im ersten Cluster, dabei möglicherweise ihre pragmatische Haltung und die starke Orientierung an ihrem Studiengang. Das sechste Cluster »Psychologe – kein Therapeut!« ist wiederum sehr klein und wenig ähnlich und wurde im Ergebnisteil aus diesem Grund nur bezüglich einiger prägnanter Merkmale beschrieben. Es handelt sich um männliche Psychologiestudierende, die für sich eine psychotherapeutische Ausbildung ausschließen. Vorstellen können sie sich dagegen eine Tätigkeit im arbeits- und organisationspsychologischen Bereich oder in den Neurowissenschaften. Biographisch sind sie allerdings in Richtung eines helfenden Berufes geprägt (vgl. Guggenberger, 1990). Einen intensiven Kontakt mit Menschen empfinden sie, obgleich sie ihr Studium als positiv erleben, als unattraktiv. Möglicherweise spielen hier, wie bei den Studierenden in Cluster 2 und in Cluster 5a, geschlechtsrollenspezifische Aspekte eine Rolle. Es wäre vorstellbar, dass im weiblich dominierten Fach Psychologie ein nichtpsychotherapeutischer Berufswunsch sozusagen »durch die Hintertür des Rationalen« zur Sicherung einer männlichen Identität genutzt wird. Auch scheinen Statusunterschiede, ebenso möglicherweise in besonderem Maße aus einer geschlechtsrollenspezifischen Perspektive, relevant zu sein (vgl. Daiminger, 2007; Kap. 3.1). So wird der Status von Psycholog/-innen im Verhältnis zu Mediziner/-innen von einem der Interviewten explizit problematisiert. Neurowissenschaften könnten, wie auch für die weiblichen Medizinstudierenden im zweiten beschriebenen Cluster, eine Art Bindeglied zwischen einer »Psycho«- und einer »Somatik«-Orientierung darstellen. Der siebte und letzte Typ der Entscheidungsfindung »Psychoanalyse als Kulturtheorie – gesellschaftliche Verhältnisse« weist mit dem dritten beschriebenen Typ Übereinstimmungen auf, derart, dass Psychoanalyse sehr positiv gesehen wird. Allerdings wird hier stärker ihr kulturtheoretischer Beitrag betont. Eine eigene psychoanalytische Vorerfahrung bzw. eine des nahen Umfeldes ist anzutreffen und wird als positiv beschrieben. Allerdings führt dies, ähnlich wie für © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
12.2 Zusammenfassende Diskussion der qualitativen Ergebnisse 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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die Studierenden in Cluster 4, nicht zu einem solchen Berufswunsch. Es handelt sich, wie auch in Cluster 3 (und 2) um weibliche »Idealist/-innen«, die ihren Umgang mit Problemen als selbstreflexiv beschreiben und deren wissenschaftliche Orientierung geistesbzw. sozialwissenschaftlich ist. Allerdings liegen ihre beruflichen Interessen eher im theoretischen als im praktisch-anwendungsorientierten Bereich, worin sie sich von den Studierenden in allen anderen Clustern unterscheiden. Fachkulturelle Einflüsse der Pädagogikstudiengänge wirken bei diesen Studierenden klar in Richtung einer »psychoanalyseaffinen« Haltung, wohl auch in Richtung eines gesellschaftstheoretischen Interesses, jedoch wie bei den Studierenden im ersten vorgestellten Cluster weniger prägend hinsichtlich eines psychotherapeutischen Berufswunsches. Insgesamt ist über die Cluster hinweg das weibliche Geschlecht mit einem höheren psychotherapeutischen Berufsinteresse verbunden, wie auch aus den quantitativen Ergebnissen dieser Studie hervorgeht. »Materialist/-innen« nach Unterteilung der Shell-Jugendstudie (Gensicke, 2006) kommen in den ermittelten Typen nicht vor. Dies verwundert nicht, bedenkt man, dass die untersuchten Studierenden sich aus Studiengängen rekrutieren, die perspektivisch zumeist auf Heil- oder helfende Berufe hinauslaufen. Es fällt jedoch weiter auf, dass sich unter den stark somatisch orientierten Medizinstudierenden im ersten Cluster ausschließlich »Macher/-innen« befinden. Diese sind nach Gensicke (2006) neben einer aktiven Haltung dadurch gekennzeichnet, dass sie versuchen, Idealismus und Humanität mit einer durchaus materialistischen Haltung zu verbinden. Betrachtet man nun die quantitativen Befunde zu beruflichen Wünschen unter Medizinstudierenden, so zeigt sich, dass diese einerseits zu einem großen Teil beruflichen Wünschen im Zusammenhang mit einem psychotherapeutischen Ausbildungsinteresse widersprechen, andererseits jedoch auch, dass der in einem positiven Zusammenhang mit einem psychotherapeutischen Ausbildungsinteresse stehende Wunsch, Menschen zu helfen, bei Medizinstudierenden besonders stark ausgeprägt ist. Dieser Befund könnte aus eben einer solchen »Macher/-innen«Haltung erklärbar werden. »Idealist/-innen« sind nach Gensicke (2006) eher weiblich. Die bei den stärker Psychotherapieinteressierten größtenteils aufzufindende © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Haltung des Idealismus stimmt somit gut überein damit, dass sich Frauen stärker für eine psychotherapeutische Tätigkeit interessieren. Weiter sind unter den Psychoanalyseinteressierten mehrheitlich Idealistinnen zu finden, unter den Verhaltenstherapieinteressierten lässt sich diesbezüglich kein eindeutiges Muster festhalten. Das Interesse an Verhaltenstherapie scheint – auch auf Basis der quantitativen Befunde – eher zusammenzuhängen mit einer Zuschreibung von Effektivität, Effizienz und wissenschaftlicher Fundierung, mit Karriereüberlegungen und deren Kassenzulassung. Verhaltenstherapie könnte, zumindest im Studiengang Psychologie, als Orientierung an der Mehrheitskultur gelten. Das Interesse an Psychoanalyse ist eher durch konkrete Erfahrungen damit, bereits früher entwickeltes Interesse daran und eine Identifikation mit dem Verfahren gekennzeichnet. Insbesondere im Studiengang Psychologie könnten Psychoanalyseinteressierte gegenwärtig als »outcasts« bezeichnet werden, in den Pädagogikstudiengängen stellen sie jedoch eher den »mainstream« dar.
12.3 Allgemeine Überlegungen zu den Typen »Dennoch kommt die individualgeschichtliche Komponente bei einigen Psychologen da zur Sprache, wo es um Gründe für die Wahl einer bestimmten Ausbildungsrichtung ging und um den Entscheidungsprozeß, in welcher Form man den Psychologenberuf ausüben möchte: z. B. wird […] neben der Atmosphäre im Elternhaus häufig das positive Vorbild des Vaters oder der Mutter vorgebracht, die als Ärzte oder Psychotherapeuten arbeiten« (Guggenberger, 1990, S. 187).
Die Beschreibungen der entwickelten Typen zeigt für die Studierenden eine hohe Bedeutung von Prozessen der spätadoleszenten Identitätsentwicklung, die jedoch jeweils unterschiedlich gelöst werden. Bei der Mehrheit der Studierenden spielen, entsprechend allgemeinen Befunden und Diagnosen zu gegenwärtigen Haltungen von Studierenden, auch bezogen auf den hier untersuchten psychotherapeutischen Bereich, pragmatische Kriterien im Zuge ihrer berufliche © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
12.3 Allgemeine Überlegungen zu den Typen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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Orientierung eine wichtige Rolle (vgl. Bargel, 2008; Langness et al., 2006; Stiehler, 2007). Diesbezüglich scheinen tatsächlich diejenigen, die sich für psychodynamische Verfahren interessieren sowie die Studierenden der Pädagogikstudiengänge als einzige ausgenommen. Allerdings lassen die Befunde aus dieser Untersuchung eine etwas andere Schlussfolgerung zu als diejenige, zu der Eichenberg et al. (2007) kommen. Eichenberg et al. (2007) betonen, dass situative Einflussfaktoren (z. B. die Lehrmeinung der Dozent/-innen) in höherem Maße die Richtungswahl in der Psychotherapie zu bestimmen scheinen als Persönlichkeitsfaktoren, womit sie den Wandel von einem Interesse an psychodynamischen Verfahren zu Beginn des Psychologiestudiums hin zur Verhaltenstherapie erklären. Anhand der Befunde dieser Studie wird hier jedoch eher von einer differenziellen Wirkung ausgegangen, derart dass biographische Prägungen und zentrale identitäre Selbstrepräsentanzen mit den im Studium vorzufindenden Lehrmeinungen sowie der dort jeweils dominanten Fachkultur bezüglich der Entwicklung von Berufsvorstellungen interagierten. Bereits die Wahl eines Studienganges ist von persönlichen Vorlieben und Interessen geprägt. Allerdings scheint es speziell im Studiengang Psychologie eine gewisse Diskrepanz der tatsächlich angebotenen und der von Studierenden erwarteten Lehrinhalte zu geben (vgl. Burghofer, 2000).158 »Der Verfasser dieser Zeilen hat sich entschlossen, Psychologie zu studieren, weil er Sigmund Freud gelesen hat« (Renner, 2008, S. 132) ist beispielsweise eine häufiger aufzufindende Äußerung, wohl oftmals einhergehend mit einer Abkehr von einer solchen Haltung im Zuge des Studiums (vgl. Eichenberg et al., 2007). Dies kann als Indiz für den beschriebenen Wandel in Richtung Verhaltenstherapie in-
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Fürntratt (1969, zit. nach Burghofer, 2000, S. 16) untersuchte die Vorstellungen von Gymnasiast/-innen, Psychologiestudierenden und ausgebildeten Psycholog/-innen zu den Anforderungen, die ein Psychologiestudium an Studierende stellt. Die informierteren Gruppen betonten neben »Intelligenz« insbesondere »Beweglichkeit« und »Studiertechnik«, die weniger informierte Gruppe war dagegen der Auffassung, dass »Humanität« besonders wichtig sei. Zum Gegenstandsbereich der wissenschaftlichen Disziplin rückten weiter empirische Fragestellungen in den Vorder-, die Vorstellung von Psychologie als »Geheimnisdeutung« in den Hintergrund (vgl. Burghofer, 2000, S. 16). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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nerhalb dieser Disziplin gefasst werden, der sich allerdings wohl nur langsam auf andere Disziplinen überträgt. In der Fachrichtung Medizin sind jedoch anhand der hier ermittelten Befunde erste Anzeichen für eine solche Veränderung in Richtung der Verhaltenstherapie zu verzeichnen. Der Wandel, der sich in den letzten Jahrzehnten innerhalb der Psychologie bereits in diese Richtung vollzogen hat, scheint allerdings außerhalb dieser noch eher wenig bekannt bzw. wenig relevant zu sein. Dafür spricht aus den hier ermittelten Befunden, dass in keinem der anderen beiden untersuchten Studiengänge eine »Richtungsdebatte« aufzufinden ist. Die Entwicklung im Studiengang Psychologie wiederum könnte mit der beschriebenen Wichtigkeit der Verhaltenstherapie für die Selbstbehauptung der psychologischen Disziplin zusammenhängen, worauf an späterer Stelle noch einmal ausführlicher eingegangen wird. Weiter spricht aufgrund der hier berichteten Befunde einiges dafür, dass universitäre bzw. fachkulturelle und gesellschaftliche Entwicklungen miteinander in einer, bezogen auf die Thematik dieser Untersuchung, relevanten Wechselwirkung stehen. Auf diese soll im Folgenden unter anderem eingegangen werden.
12.4 Studierende in der heutigen Zeit – Pragmatische Orientierungen »Eine pragmatische Generation unter Druck« (Shell Deutschland Holding, 2006, Titel).
Zum Thema alternativer Orientierungen bei Studierenden im Vergleich zur 68er Generation, der Anti-AKW-Bewegung oder auch der feministischen Bewegung stellte Frank im Jahre 1990 eine Haltung fest, die sie als »Schlendern statt verändern« (Frank, 1990, S. 115) bezeichnete. Dies hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten jedoch in Richtung einer »pragmatische[n] Generation unter Druck« (Hurrelmann, Albert, Quenzel u. Langness, 2006, S. 31) verändert. Von Schlendern ist nicht mehr viel zu spüren. Was allerdings bereits damals im Vergleich zu Angehörigen der Generation der 68er zu beobachten und auch heute noch vorzufinden ist, ist eine Haltung, die Frank (1990) als eher illusionslos und wenig kritisch, beispielsweise © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
12.4 Studierende in der heutigen Zeit 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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gegenüber einem universitär vorherrschenden Wissenschaftsverständnis beschreibt. Sie führt dafür folgende Gründe auf: »Die dafür nötige persönliche Disposition haben heutige Studenten eher als ihre Vorgänger. In ihren Selbstdarstellungen stehen weder sie selbst als konsistente identische Persönlichkeiten, noch ein global ideologisches Gesamtbild von Gesellschaft im Mittelpunkt. So haben sie auch keine existentiellen Erwartungen an Wissenschaft. […] Einst ließ man sich noch von dem Motto leiten ,um ein Ding kennen zu lernen, muss man es verändern ›[…], heute heißt das Motto eher (und auf eine Wissenschaft bezogen), um mit einer Sache vertraut zu werden, darfst Du nicht zu viel von ihr erwarten‹« (S. 119 f.).
Die sich im Studierendensurvey von 2007 (Bargel, 2008, S. 36) zeigende Einschätzung der Studierenden, dass die Fairness der sozialen Aufstiegschancen im Vergleich zu früheren Messzeitpunkten deutlich abgenommen hat, soziale Unterschiede hingegen sehr groß und weitgehend ungerecht sind, sowie dass es auch für Jugendliche in höheren sozialen Schichten keine Garantie auf eine persönlich erfüllte Zukunft gibt und Möglichkeiten des Scheiterns realer werden (vgl. Langness et al., 2006), macht pragmatische Haltungen Studierender bezogen auf ihre beruflichen Entscheidungen wahrscheinlich und nachvollziehbar. Die von Bargel (2008) konstatierten Änderungen von Werthaltungen im Sinne einer Abnahme »alternativer« Orientierungen bei Studierenden und einer insgesamt konventionelleren Haltung hängen wohl auch damit zusammen. Das gesellschaftskritische Potenzial, das die Psychoanalyse für frühere Generationen attraktiv machte, scheint gegenwärtig nur zweitrangig zu sein. Dieses Thema taucht entsprechend in den Daten nicht als sonderlich relevant auf. Der Befund, dass es gegenwärtig so wenig alternative Haltungen unter jungen Menschen gibt, kann eine Erklärung dafür liefern. Weiter ist unter Studierenden, Bargel (2008) zufolge, der »Grundwert der Selbstverwirklichung« (S. 40) stark zurückgegangen. Eine vordergründige Selbstbehauptung ist dagegen seiner Studie gemäß verstärkt aufzufinden. Der zentrale Wert der Selbsterkenntnis bzw. der persönlichen Auseinandersetzung mit sich selbst in der psychoanalytischen Richtung und des Erlangens von größerer persönlicher Autonomie im Zuge dessen ist also gegenwärtig für Studierende vermutlich mehrheitlich ein als anachronistisch empfundenes Moment. Bargel © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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(2008) vermutet demgemäß, dass ein von ihm gefundener Individualismus Studierender gegenwärtig weniger von Autonomie bzw. dem Streben nach Eigenständigkeit geprägt ist, »sondern […] [besagte] vordergründige Selbstbehauptung bei allgemeiner Anpassung und Konventionalität« (S. 40) bedeutet. Ein früher Einstieg in das Berufsleben wird vermehrt gesucht, auch weil er schwerer erreichbar geworden ist. Weiterhin äußern Studierende immer weniger Ideen zu und Vorstellungen über eine andere Politik, was nach Bargel (2008, S. 41) jedoch weder auf das Einverständnis mit den politischen Verhältnissen noch auf Parteienverdrossenheit zurückzuführen ist, sondern auf eine allgemein vorherrschende Konzept- und Ratlosigkeit. Die Befunde von Stiehler (2007), die in diesem Zusammenhang in ihrer Untersuchung zu dem Ergebnis kam, dass der Arbeitsmarkt im globalisierten Kapitalismus unter Studierenden in der Vorwegnahme ihrer Berufstätigkeit Zukunftsängste provoziere, die mit Eindrücken von »Nicht-gebrauchtWerden, Überflüssig-Sein, Sich-bedroht-Fühlen, Sich-anpassen-Müssen« (S. 809) einhergehen, lassen gleichfalls eine Orientierung hin zu einer sowohl kürzeren und strukturierteren Ausbildung als auch einer strukturierten und als effizient und effektiv geltenden Therapieform naheliegend erscheinen. In diesem Kontext zeigt sich ein gegenwärtiges Paradox. Wie in Kapitel 4.5 dargestellt, fungiert in modernen Gesellschaften Jugend als Motor für Veränderungen. Gleichzeitig stellt diese als eine sehr labile biographische Phase einen Kristallisationspunkt für Veränderung dar und ist auf reale Anerkennungserfahrungen sowie ein intergenerationell förderndes und stützendes Umfeld angewiesen (vgl. Kap. 4.3 u. 4.6). Kann nun eine »pragmatische Generation unter Druck« in einer »postmodernen« und wirtschaftsrationalisierten Gesellschaft (vgl. Kap. 2), in welcher gesamtgesellschaftlich eine hohe Unsicherheit und ein hoher Leistungsdruck zu verzeichnen sind (vgl. Kap. 4.5), überhaupt ein solcher Motor für Veränderung sein? Langness et al. (2006) stellten fest, dass die Frage, welche »Zukunftsperspektiven Jugendliche entwickeln […] im Vergleich zu 2002 enger mit ihren Sozialisationserfahrungen und Lebensumständen in Familie, Schule und Freizeit verbunden« (S. 100) ist. Dies könnte ein Hinweis auf eine in den letzten Jahren zunehmende Wichtigkeit der sozialen Umwelten Spätadoleszenter sein und steht möglicherweise unmittelbar in einer Wechselwirkung mit der dargestellten Zukunftsunsicherheit dieser Generation. Da jedoch nicht nur bei jungen Menschen, sondern © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
12.5 Fachkulturelle Eigenheiten 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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auch in der gesamten Gesellschaft Verunsicherungen festzustellen sind, stellt sich die Frage, ob die sozialen Umwelten hier überhaupt eine adäquate Orientierungshilfe bieten können. Ebenso verunsichernd wie die persönliche Zukunftsabsicherung kann die von Langness et al. (2006) konstatierte Schwierigkeit sein, aus einer scheinbaren Fülle von beruflichen Optionen zu wählen (vgl. Kap. 4.7). Angesichts solch komplexer beruflicher Orientierungsanforderungen (vgl. z. B. Stiehler, 2007) mag die sich strukturiert präsentierende Verhaltenstherapie als Therapie- und als Ausbildungsrichtung besonders attraktiv wirken. Dabei gerät die Frage des Berufes als eine »innere Berufung« möglicherweise eher ins Hintertreffen und wird zweitrangig (Beinke, 2006). Einer der interviewten Psychologiestudierenden fasst dies folgendermaßen zusammen: Mit diesem »Spagat« komme er zurecht. Sein Selbstbild sei der Psychoanalyse zugewandt, die Ausbildung wolle er allerdings in der VTmachen (PSY 140).
12.5 Fachkulturelle Eigenheiten – Die vermittelnde Wirkung des Studiengangs »Es wird […] deutlich, dass die Schulenauseinandersetzung bis heute auch eine Auseinandersetzung zwischen den an der psychotherapeutischen Versorgung primär beteiligten Berufsgruppen, Ärzte und Psychologen, ist« (Vogel, 2005, S. 18).
Wie in den Theoriekapiteln dargelegt wurde, sind die Fachkulturen der hier untersuchten Studiengänge als recht unterschiedlich zu bezeichnen. Frank (1990) konnte in ihrer Untersuchung zeigen, dass es bei Studienanfänger/-innen häufig zu einer »Personalisierung« eines Faches kommt. Im Verlauf eines Studiums und einer anschließenden wissenschaftlichen Laufbahn zeigt sich dann eine graduelle Entwicklung hin zu einer Entpersonalisierung des Studiengangs: »Studentische Beschreibungen sind in dieser Hinsicht vor allem geprägt von Personen-Beschreibungen, von persönlichen Erlebnissen mit Wissenschaftlern und Studenten. Demgegenüber abstrahieren die Hochschullehrer (fast) völlig von Personen und sprechen von der Psychologie, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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12 Diskussion und Ausblick der Biologie […] etc. […] Personalisierung ist den Beschreibungen allgemein immanent, von ihnen abstrahieren zu können, ist ein Merkmal wissenschaftlicher Sozialisation. […] Relativ disparate Unterscheidungsdispositionen werden zu spezifischer Distinktion, indem sie spezifiziert und entbiographisiert, im Resultat homogenisiert werden« (Frank, 1990, S. 189).
Dieser Befund legt eine Interaktion der generellen Wichtigkeit von Orientierungsmöglichkeiten in der spätadoleszenten Identitätsentwicklungsphase mit persönlichen Erfahrungen mit Lehrenden im jeweiligen Studiengang nahe. Wie in der Darstellung der Typen beschrieben, spielt dies für die untersuchten Studierenden tatsächlich häufig eine Rolle, allerdings für einige mehr als für andere. Im Studiengang Medizin scheint dies weniger wichtig zu sein als in den stärker individualisierten und weniger strukturierten Studiengängen Psychologie und Pädagogik. Allerdings sind auch in diesen Studiengängen diesbezüglich differenzielle Entscheidungsfindungswege identifizierbar. Hier zeigt sich möglicherweise eine Wechselwirkung zwischen Ansehen und Strukturiertheit des jeweiligen Studienfachs und der Orientierung an einer Verfahrensrichtung. Es lässt sich eine graduelle Abstufung von Status, Strukturiertheit sowie damit verbundenen Orientierungsmöglichkeiten in der Reihenfolge ihrer Nennung von der Medizin über die Psychologie hin zur Pädagogik feststellen (vgl. Kap. 5.1). Es zeigt sich nicht etwa, dass in der am besten angesehenen Disziplin, der Medizin, die gegenwärtig am besten angesehene Verfahrensrichtung am positivsten wahrgenommen wird, sondern dass die »naturwissenschaftlichere« Verhaltenstherapie eine zentrale Funktion für die Behauptung der aufstrebenden Disziplin Psychologie in ihrer Etablierungsphase hatte und nach wie vor hat (vgl. Daiminger, 2007). Ein Beleg für diese Sichtweise ergibt sich aus einer Studie von Burghofer (2000). Dort zeigte sich, dass der überwiegende Teil der Psychologiestudierenden und auch von Absolvent/-innen dieses Faches sich auch ein Medizinstudium hätte vorstellen können. Burghofer (2000) verglich dies mit der Aufgeschlossenheit von Mediziner/-innen und Medizinstudierenden, welche sich signifikant seltener ein Psychologiestudium hätten vorstellen können. Nun scheint, wie in den Theoriekapiteln dargelegt, für Vertreter/-innen der psychologischen Disziplin eine Statusaufwertung © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
12.5 Fachkulturelle Eigenheiten 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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gegenüber naturwissenschaftlichen Fächern allgemein, sowie insbesondere gegenüber der auch im psychotherapeutischen Bereich vertretenen und dort zunächst dominanten Fachrichtung der Medizin, ein angestrebtes Ziel für ihr Fachgebiet gewesen zu sein (vgl. Kap. 3.1 u. 5.1). Im Zuge dessen scheint eine Hinwendung zur Verhaltenstherapie als naturwissenschaftlich deklarierte und originär als psychologisch angesehene Verfahrensrichtung stattgefunden zu haben (vgl. z. B. Daiminger, 2007). Für die Medizin dagegen ist der gesamte psychotherapeutische Sektor eher ein Randgebiet, welches nicht sonderlich beliebt ist und entsprechend wenig identitätsstiftend für diese Disziplin zu sein scheint (vgl. Kap. 5.1; Burghofer, 2000). Für die in der universitären und der gesellschaftlichen Fächerhierarchie »aufstrebende« psychologische Disziplin ist dagegen der psychotherapeutische Bereich derjenige mit dem größten Identifikationspotenzial. In der Studie von Burghofer (2000) zeigte sich zudem, dass sowohl Studierende der beiden Disziplinen als auch ausgebildete Psycholog/-innen und Mediziner/-innen die Psychologie überwiegend sowohl als Geistes- als auch als Naturwissenschaft betrachteten, ein Befund, der die aufgestellte These zumindest indirekt ebenfalls stützt. Nach Friebertshäuser (1992) ging es, wie im Theoriekapitel ausgeführt, bei der Etablierung des Studiengangs Pädagogik auch darum »mit der bereits erfolgten Professionalisierung der Psycholog/-innen und Soziolog/-innen gleichzuziehen« (S. 162). Hier wird sich also am Status dieser orientiert und »abgearbeitet« (vgl. Kap. 5.1). Die noch jüngere Disziplin der Pädagogik hat aus diesem Grund möglicherweise bei einer Orientierung in Richtung der einzelfallorientierten und wissenschaftlich gegenwärtig weniger »renommierten« Psychoanalyse am wenigsten Statusverlust zu befürchten. In dieser Untersuchung zeigte sich, dass für Psychologiestudierende für eine psychotherapeutische Ausbildung am häufigsten die Möglichkeit einer selbständigen Tätigkeit spricht. Unabhängigkeit von einer Tätigkeit in einem Angestelltenverhältnis scheint also ein wichtiges Motiv zu sein. Möglich wäre, dass hierbei auch das Bestreben nach einer Stellung unabhängig vom hierarchisch strukturierten medizinischen System eine Rolle spielt, zumal Psycholog/-innen in diesem System zumeist sowohl monetär als auch ihren Status betreffend in der Hierarchie nach wie vor © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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unter Mediziner/-innen angesiedelt sind (vgl. Burghofer, 2000). Für die Studierenden der Pädagogikstudiengänge sprechen am häufigsten für eine psychotherapeutische Ausbildung die damit zu erwerbenden fachlichen Kompetenzen oder eine damit verbundene Qualifizierung. Dies könnte somit ein »Gleichziehen« mit dem beruflichen Status der Psycholog/-innen bedeuten, wenn auch nur partiell, da mit der Einschränkung auf den kinder- und jugendlichenpsychotherapeutischen Bereich. Wie ausgeführt, kommt es zwar zu einer allmählichen Akzeptanz von Psychotherapie, allerdings sind diesbezüglich nach wie vor auch Ambivalenzen festzuhalten. Die von Psycholog/-innen vermutete Fremdwahrnehmung ihrer Disziplin ist zudem sehr viel negativer als deren tatsächliche. Dies könnte eine Motivation für eine Hinwendung zur »greifbaren«, naturwissenschaftlichen Verhaltenstherapie (»Fakten«) gewesen sein, die gegebenenfalls als Möglichkeit der Reduktion von Vorurteilen und Legitimationsproblemen empfunden wurde. Die These, die somit formuliert werden soll und mit den empirischen Daten, insbesondere aus den ermittelten prototypischen Entscheidungsfindungswegen, gestützt werden kann ist, dass Verhaltenstherapie zur Selbstbehauptung der psychologischen Disziplin vor allem gegenüber der Medizin genutzt wurde und wird, was von Mediziner/-innen, die somatisch identifiziert sind und ein hohes gesellschaftliches Ansehen genießen, schlicht als wenig bedrohlich erlebt wird. Auch wenn die Ärzteschaft über Jahrzehnte eher psychodynamisch orientiert war, stellt hier Psychotherapie insgesamt nur ein Randgebiet dar (Beckmann, 1985; Burghofer, 2000; Jungbauer et al., 2003). Dies bot wiederum (verhaltenstherapieorientierten) Psycholog/-innen die Möglichkeit der beruflichen Profilierung und Selbstbehauptung, da Psychotherapie (mittlerweile) als primäre Identifikation des Berufsstands der Psycholog/-innen bezeichnet werden kann (vgl. Schulte u. Kröner-Herwig, 2005). Möglicherweise kann die Hinwendung zur Verhaltenstherapie ab den 1970er Jahren zudem als eine Art Generationenablösungskonflikt (King, 2002) verstanden werden. Daimingers (2007) Befunde legen dies nahe. Diesbezüglich soll nun noch auf einen Aspekt eingegangen werden, der in diesem Kontext ebenfalls wichtig gewesen sein könnte, nämlich die Thematik »Naturwissenschaft, Status und Geschlecht«. Auf den Aspekt von helfenden Berufen (psychosozialer Bereich) als klassischen Frauenberufen in einem nach wie vor patriarchalen Gesellschaftssystem wurde im Theoriekapitel eingegangen, ebenso auf beste© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
12.5 Fachkulturelle Eigenheiten 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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hende Rollenmuster im Zusammenhang mit der Wahl der Studienfächer (vgl. z. B. Friebertshäuser, 1992; Langness et al., 2006). Für Männer ist es rein zahlenmäßig eher untypisch, ein Psychologiestudium aufzunehmen. Auch sonst handelt es sich nicht um ein »typisch« männliches Fachgebiet (vgl. Alfermann, 1996). Möglich wäre, dass die (empfundene) Stigmatisierung des psychologisch-psychotherapeutischen Bereiches etwas ist, das aus diesem Grund in besonderem Maße für Männer in diesem Fachgebiet eine Rolle spielt. Daimingers (2007) Befunde legen auch dies nahe: »Im Hinblick auf Karriereinteressen und -möglichkeiten sprachen die ZeitzeugInnen noch einmal Geschlechtsunterschiede an: So sei die VT aufgrund ihrer Strukturiertheit und Klarheit attraktiver für Männer. Gleichzeitig würden Männer ein stärkeres akademisches Interesse aufweisen als Frauen und zudem innerhalb der Wissenschaftsstrukturen stärker gefördert. In der Kombination solcher Mechanismen könnte meines Erachtens die VT ein größeres Identifikationspotential für Männer gehabt und durch diese wiederum mehr Förderung im akademischen Feld erhalten haben« (S. 224).
Auch aus der hier vorgenommenen Typenbildung ergibt sich ein Hinweis auf die Gültigkeit dieser Annahme. Es handelt sich zwar nur um ein sehr kleines und recht unähnliches Cluster, jedoch finden sich in Cluster sechs zwei männliche Psychologiestudierende, die sich stark von einer psychotherapeutischen Tätigkeit als weiblich kodiertem, »helfenden Beruf« abgrenzen. Für die karriereambitionierten – allerdings in dieser Untersuchung eher weiblichen – Psychologiestudierenden wiederum, die sich für den psychotherapeutischen Bereich interessieren (Cluster 5a), ist eindeutig die Verhaltenstherapie interessant. Somit könnte zusammengefasst für die Psychologie und auch ihre Studierenden Verhaltenstherapie ein Ausweg aus einer Statusunsicherheit gewesen sein. Sie bietet die größtmögliche Annäherung an »hard facts« und an das Renommee der Medizin als Naturwissenschaft. Ein hohes Einkommen, Ansehen etc. ist für Mediziner/-innen dagegen eher in einer klassischen Mediziner/-innentätigkeit zu finden. Eine Orientierung in Richtung des psychotherapeutischen Bereichs bedeutet daher für Studierende dieses Studiengangs eher einen Abstieg, im Gegensatz zu Pädagog/-innen, die damit eher »aufsteigen«. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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12.6 Gegenwartsphänomene und die Verfahrensrichtungen – Zum anachronistischen Moment der Psychoanalyse »Die Risikobereitschaft wird heute aber nicht mehr nur Venturekapitalisten oder außerordentlich abenteuerlichen Individuen zugemutet. Das Risiko wird zu einer täglichen Notwendigkeit, welche die Masse der Menschen auf sich nehmen muss« (Sennett, 2000, S. 105).
Das Bedürfnis nach solchen »hard facts«, wie sie die Verhaltenstherapie zu bieten hat, kann neben fachkulturspezifischen und -geschichtlichen Komponenten auch ein »moderner Schrecken des Kontrollverlustes« (Sennett, 2000, S. 24) besonders begünstigen. Im beschriebenen flexiblen Kapitalismus erfahren Menschen, die sich beispielsweise beruflich verändern, verschiedene Arten von Unsicherheit. Sennett (2000) bezeichnet dies als »›mehrdeutige Seitwärtsbewegungen‹ [d. h. Seitwärtsbewegung in losem Netzwerk statt realem Karriereaufstieg], ›retrospektive Verluste‹ und unvorhersehbare Einkommensentwicklung« (Sennett, 2000, S. 112). Diese Entwicklung wiederum begünstigt eine Zuwendung zu schnellen Lösungen und Orientierung und Halt versprechenden Strömungen (z. B. Hinwendung zu neuer Religiosität; vgl. Leuzinger-Bohleber u. Klumbies, 2010). Das »harte« Erkenntnisimage der Verhaltenstherapie im Vergleich zum »weichen« der Psychoanalyse (Hampe, 2008) mag hier gleichermaßen attraktiv, weil Orientierung bietend wirken, ebenso wie wissenschaftliche »Fakten« allgemein in einer immer komplexer werdenden Welt (Weingart, 2005). Relevant könnte zudem eine »topdown« Orientierung (kompetente/-r Forscher/-in), ein eher technisches Erkenntnisinteresse in der Verfahrensrichtung der Verhaltenstherapie und eine damit verbundene erlebte Unsicherheitsreduktion im Gegensatz zur Psychoanalyse mit ihrem eher emanzipatorischen Erkenntnisinteresse, ihrer Offenheit in der Behandlungsmethodik sowie der diese kennzeichnenden Haltung des Nicht-Wissens (Leuzinger-Bohleber, 2007) in einem zirkulären Erkenntnisprozess sein. Zudem ist gegenwärtig eine höhere Zielstrebigkeit im Hinblick auf die Karriere möglich und die »Machbarkeit« und die praktische © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
12.7 Methodenkritische Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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Umsetzbarkeit der Verhaltenstherapie gelten als Herausstellungsmerkmale dieser Richtung (vgl. Daiminger, 2007), wie auch in dieser Untersuchung gezeigt werden konnte. Könnte nicht die gegenwärtig hohe Attraktivität der Verhaltenstherapie, ähnlich wie auch der neurowissenschaftlichen Forschung gerade darin bestehen, dass das Nichtidentische, ein den Menschen mit Konstituierendes, nie ganz Erfassbares, dort theoretisch eher ausgeklammert wird? Die Subjektvorstellung der Verhaltens- und Kognitionswissenschaften eines im positivistischen Sinne zumindest prinzipiell nahezu vollständig erforschbaren Menschen und der dortige Fokus auf das »Rationale«, Fassbare bietet aus dieser Perspektive ebenso Orientierung und Halt.
12.7 Methodenkritische Anmerkungen – Grenzen der Studie und Ausblick Bei der Interpretation und Diskussion der Ergebnisse wurde deutlich, dass einige der Schlussfolgerungen nur vorsichtig formuliert werden können, da verschiedene Aspekte im Design oder der Methode der Datenauswertung keine eindeutigere Interpretation zulassen. Auch unterliegt die Untersuchung den üblichen Beschränkungen eines Querschnittsdesigns. Eine Längsschnittbetrachtung wäre wünschenswert, gerade um die hier diskutierte prozessuale Perspektive empirisch besser abstützen sowie um Verläufe, auch in einem kausalen Sinne, beispielsweise bei der Ermittlung von Einflussgrößen auf einen Entscheidungswandel abbilden zu können. Weiter handelt es sich nicht um ein experimentelles Design, sondern um Feldforschung, weshalb Kausalitätsaussagen im streng experimentellen Sinne nicht zulässig sind. Allerdings ist ein experimentelles Design bei einer Fragestellung, die komplexe soziale Realitäten abbilden möchte, auch nicht sinnvoll möglich. Einer Beschränkung durch eine einseitige Methodenverwendung wurde wie beschrieben durch eine multimethodische Annäherung an den Untersuchungsgegenstand versucht entgegenzuwirken (vgl. z. B. Hau, 2009). Von einem diesbezüglichen Einfluss ist also weniger auszugehen. Bei wenig vorstrukturiertem Datenmaterial, wie den hier verwendeten Interviewdaten, ergibt sich die Problematik mangelnder © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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Reliabilität, bei stark vorstrukturiertem Material dagegen stellt sich die Validitätsfrage. Durch die vertiefte Betrachtung der quantitativen Befunde in den Interviews sind beide Schwierigkeiten hier, wenn überhaupt, nur eingeschränkt wirksam. In dem untersuchten Forschungsfeld ist bisher relativ wenig Forschungsaktivität zu verzeichnen. Es handelt sich bei der vorliegenden Untersuchung entsprechend nicht um eine Replikationsstudie. Auch aufgrund dessen wurden zur qualitativen Fragestellung keine Vorabhypothesen formuliert. Somit besitzen die Interviewdaten in Ermangelung vorangegangener ähnlicher Untersuchungen einerseits zwar explorativen Charakter und wurden zur Hypothesengenerierung genutzt. Die Validität (und Repräsentativität) der ermittelten »prototypischen Wege der Entscheidungsfindung« sollte aus diesem Grund in weiteren Untersuchungen geprüft werden. Denkbar wären im Zuge dessen auch quantifizierende Zugänge. Neue Theoreme ergaben sich, wie erläutert, insbesondere aus dem Ansatz der Grounded Theory. In nachfolgenden Untersuchungen könnten auch diese quantitativ operationalisiert und überprüft werden. Allerdings diente die Auswertung der Interviews andererseits auch dem vertiefenden Verständnis der quantitativen Befunde und ist in dieser Hinsicht als konfirmatorisch zu bezeichnen, zumal, wie dargelegt wurde, Konvergenzen zwischen quantitativen und qualitativen Befunden festzustellen sind. Weiter ist für die Interpretation der Ergebnisse problematisch, dass aus organisatorischen Gründen mit verschiedenen Stichprobenumfängen in den untersuchten Studiengängen operiert werden musste. Verzerrungen zugunsten der größeren Gruppen sind insbesondere bei der Interpretation von Gesamtstichprobenbefunden nicht auszuschließen. Auch ergeben sich daraus Schwierigkeiten bei der Verwendung von parametrischen Verfahren, dies allerdings nur bedingt, da bei so großen Stichprobenumfängen wie in dieser Untersuchung, wie im Ergebnisteil dargelegt, von ausreichender Robustheit der verwendeten Verfahren auszugehen ist. Darüber hinaus hätte jedoch die Rekrutierung der Proband/-innen noch besser systematisiert werden können. Zwar erfolgte sie fast immer über klinische Lehrveranstaltungen im jeweiligen Studiengang, allerdings in einem Fall, wie im Methodenteil beschrieben, auch über die Institutsbibliothek, was die Möglichkeit zur Kontrolle dieser möglichen Störquelle einschränkt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
12.7 Methodenkritische Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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Zu den Orten der Erhebung ist anzumerken, dass, wie ebenfalls im Methodenteil dargestellt, zwar für den Studiengang Psychologie von einer akzeptablen Repräsentativität in Bezug auf die universitäre Landschaft ausgegangen werden kann, dies für die anderen beiden einbezogenen Studiengänge jedoch in Ermangelung von Studien zur Repräsentativität sowohl für die curriculare Präsenz von Psychotherapie insgesamt als auch für diejenige der Verfahrensrichtungen ein problematischer Faktor bleibt. Auch ist in den Pädagogikstudiengängen aufgrund ihrer großen curricularen Heterogenität eine diesbezügliche Repräsentativitätserfassung insgesamt nur schwerlich möglich. Im Zuge der gegenwärtigen Umstellung auf Bachelor- und Masterstudiengänge ist auch in den anderen beiden Studiengängen eher von einer Zunahme der Heterogenität der Studienbedingungen auszugehen (vgl. Strauß et al., 2009). Allerdings erfolgte eine Erhebung an mehreren Universitäten, um unterschiedliche Studiensituationen zu berücksichtigen. Bezüglich der soziodemographischen Variablen ist weiter von einer sehr zufriedenstellenden Repräsentativität der Daten auszugehen. Pädagogikstudierende sind aus organisatorischen Gründen im Vergleich der Studiengänge unterrepräsentiert, auch ist die dortige Rücklaufquote im Vergleich am wenigsten zufriedenstellend, wenn auch im Vergleich zu ähnlichen Untersuchungen noch als ausreichend zu bezeichnen (vgl. z. B. Sonntag et al., 2009). Dennoch ergibt sich die Schwierigkeit, dass hier eine systematische Verzerrung aufgrund einer selektiven Fragebogenbeantwortung nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann. Auch sind für einzelne Subgruppen-Fragestellungen die Fallzahlen für eine inferenzstatistische Auswertung zu klein. Insgesamt ist nicht auszuschließen, dass Persönlichkeitsvariablen für die Beantwortung der Fragebögen und die Bereitschaft zur Interviewteilnahme relevant waren. Auch handelt es sich beim Thema Psychotherapie um eine nach wie vor von Stigmatisierung und Ängsten betroffene Thematik. Ein Einfluss dessen kann sowohl bei der Frage der Studienteilnahme als auch bei der Beantwortung der Fragebögen und der Interviews nicht ausgeschlossen werden. Zudem ist ein Einfluss sozialer Erwünschtheit bei der Fragenbeantwortung nicht auszuschließen. Befragt wurden angehende Akademiker/-innen aus Studiengängen, für die das Thema relevant ist bzw. sein kann, in denen also wahrscheinlich ist, dass persönliche Vorurteile eher ein Tabuthema sind und weniger zum Ausdruck gebracht werden. Dies könnte sich im Antwortverhalten nieder© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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geschlagen haben. Wünschenswert wäre für zukünftige Untersuchungen ein systematischerer Umgang mit dieser Problematik. So könnten in nachfolgenden Untersuchungen zusätzlich soziale Erwünschtheitsskalen eingesetzt werden. Problematisch für die Repräsentativität der Interviewbefunde bleibt weiterhin ein möglicher Bias durch selektive Interviewzusagen. Auch wurde, um möglichst Vertreter/-innen verschiedener Gruppen einzubeziehen, eine Vorauswahl für die Interviewteilnahme getroffen, was eine Einschränkung ihrer quantitativen Verallgemeinerbarkeit bedeutet. Allerdings wurde dies, wie im Methodenteil erläutert, bezogen auf die Interviews ohnehin nicht angestrebt. Vielmehr sollte ein möglichst breites Spektrum quantitativ ermittelter Positionen zu thematisch relevanten Variablen abgedeckt werden. Einer Verzerrung durch die Subjektivität der/des einzelnen Interviewenden, sogenannten Interviewer/-inneneffekten (vgl. Bortz u. Döring, 2006, S. 246) wurde, wie im Methodenteil dargelegt, durch mehrere Validierungsschritte entgegengewirkt: Zum einen erfolgte die Interviewdurchführung durch mehrere Interviewende, es wurden systematische Interviewer/-innenschulungen im Vorhinein durchgeführt und das Vorgehen wurde in Probeinterviews geprüft. Auch die psychoanalytisch supervidierte intersubjektive Validierung der Narrative diente der Kontrolle möglicher diesbezüglicher Effekte. Weiter wurden aus ökonomischen Gründen keine wissensbasierten Tests eingesetzt, mit welchen die tatsächliche Kenntnis psychotherapeutischer Verfahrensrichtungen hätte erfragt werden können. Es wurden lediglich Selbstaussagen zum Kenntnisstand der Studierenden erhoben. Ein zusätzlicher Einbezug objektiver Tests hätte diesbezügliche Interpretationsuneindeutigkeiten vermeiden helfen können. Allerdings war in dieser Untersuchung primär die subjektive Komponente der Wahrnehmung und deren Einfluss auf Entscheidungsfindungen Studierender von Interesse, dies vor dem Hintergrund individuell unterschiedlicher Informiertheit zu verschiedenen Verfahrensrichtungen. Beschränkt wurde sich hier auf den Weg hin zur Entscheidung Studierender für oder gegen eine psychotherapeutische Ausbildung, also die prospektive Perspektive der Berufsfindung. Die Befunde aus Substudie II zu den Ausbildungsteilnehmenden könnten einbezogen werden, um, wenn auch nicht kausale, so doch retrospektiv konvergente
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12.7 Methodenkritische Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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Befunde zur referierten Datenlage zu erörtern bzw. Widersprüchliches zu eruieren. Verwiesen sei hier auf die Befunde von Barthel et al. (2010). Weiter erfolgte in den Interviews keine »Tiefenbetrachtung« in einem klassisch psychoanalytischen Einzelfallforschungssinne (vgl. Perron, 2001, 2002). Dies wurde verworfen, da es sich hier nicht um eine klinische Population handelt. Auch ging es, wie in der Methode beschrieben, um das Finden des Allgemeinen im Besonderen (Leuzinger-Bohleber, 2002; Rothe, 2009) weshalb eine solche Tiefenbetrachtung als weniger relevant für diese Studie angesehen wurde. Es wurden gegenwärtige gesellschaftliche Zustände in die Interpretation der Befunde einbezogen. Eine vereinfachte Gleichsetzung individualpsychologischer Betrachtungen mit gesellschaftlichen Phänomenen ist wenig sinnvoll, wie es in sozialpsychologisch-psychoanalytischen Ansätzen mittlerweile wohl Konsens ist. Dennoch wurde hier der Versuch gemacht, vorsichtige Parallelen bzw. Verbindungen herauszuarbeiten, dies vor dem Hintergrund der Überlegung, dass Menschen als soziale Wesen mit ihrem spezifischen soziokulturellen Umfeld zwangsläufig in einer wechselseitigen Verbindung stehen und beide prägend aufeinander wirken (vgl. z. B. Bohleber, 1992). Eine Langzeitstudie könnte auch in diesem Kontext zu einer kausalen Erforschung des Zusammenhangs beitragen. So wären z. B. biographische Untersuchungen darüber denkbar, ob spezifische Entwicklungsbedingungen für ein psychotherapeutisches Berufsinteresse, sowie dasjenige an einer spezifische Verfahrensrichtung identifizierbar sind und die hier extrahierten Entscheidungsfindungswege auch im Längsschnittverlauf in einem sich wandelnden gesellschaftlichen Kontext aufzufinden sind. Zudem wäre eine Querschnittsbetrachtung verschiedener Kohorten denkbar. Schließlich wäre der Einbezug weiterer Länder in zukünftige Untersuchungen wünschenswert, um zu überprüfen, ob die ermittelten Befunde insgesamt für westliche Länder Gültigkeit besitzen oder ob es sich um spezifisch auf deutsche Verhältnisse bezogene Phänomene handelt.
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12.8 Zur Relevanz der Studie – Eine Bilanz »Wenn die Sicherheitserwartungen und -unterstellungen an die Wissenschaft ebenso wie deren Wissensansprüche der Einsicht weichen, dass Unsicherheit des Wissens und Nichtwissen ebenso zur Wissenschaft gehören, wie gesichertes Wissen, dass die Diskussion und die Umsetzung von unsicherem Wissen in Entscheidungen unvermeidlich ist und dass sie die involvierten Entscheidungen nicht einseitig zu legitimieren vermag, dann sind Wissenschaft, Politik und Medien in der Wissensgesellschaft angekommen« (Weingart, 2005, S. 166).
Ausgangspunkt dieser Studie war die Frage, welche Wahrnehmung psychotherapeutischer Verfahrensrichtungen bei Studierenden, für die die Frage einer psychotherapeutischen Ausbildung im Anschluss an ihr jeweiliges Studium relevant sein kann, anzutreffen ist und welche Rolle dabei ihren unmittelbaren und mittelbaren Umwelten zukommt. Wahrnehmung ist immer Konstruktionsprozessen unterworfen und ist nicht gleichzusetzen mit »objektiven Gegebenheiten«, sie resultiert nur teilweise aus ihnen (Rakoczy, 2008). Der kulturelle Hintergrund bzw. das jeweils wichtige Bezugssystem spielt darüber hinaus eine entscheidende Rolle (Hylander, 2008), wie auch diese Studie zeigen konnte. Die individuelle Wahrnehmung steht weiter in einem engen Zusammenhang mit persönlichen Entscheidungen, der zweiten Fragestellung der Untersuchung: derjenigen nach dem gegenwärtigen Identifikationspotenzial psychotherapeutischer Verfahrensrichtungen für Studierende verschiedener Fachrichtungen, einer Berufswahl im Bereich der Psychotherapie. Die Auswirkungen einer Diskrepanz der Wahrnehmung psychotherapeutischer Verfahrensrichtungen und deren tatsächlicher wissenschaftlicher Fundierung sind im Kontext der Befunde dieser Untersuchung relevante Aspekte. Eine Äußerung eines interviewten Psychologiestudierenden zur Psychoanalyse war beispielsweise: »Nein, ich würde sie nicht komplett eliminieren, nein, um Gottes willen. Nur mal als Gleichnis: Isaak Newton war ein hervorragender Physiker und Sigmund Freud ist dies auch, oder James Watt, der hat die Glühbirne © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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erfunden [sic] und heute haben wir Neonleuchten und große Scheinwerfer – genau so sehe ich das mit Sigmund Freud und der heutigen Psychotherapie. Der ist halt ein Genie seiner Zeit gewesen, aber heute sind wir eben weiter entwickelt und haben nicht nur die Glühbirne, die er entwickelt hat, sondern große Halogenscheinwerfer« (PSY 004).
In einer Einschätzung wie dieser drückt sich die Vorstellung aus, dass Psychoanalyse zur Zeit ihrer Entstehung zwar durchaus ihre Berechtigung hatte, gegenwärtig jedoch eine veraltete und wenig »erhellende« Theorie und Therapieform darstellt. Hier ergeben sich, neben Implikationen für die Nachwuchsrekrutierung psychoanalytischer Fachgesellschaften, beispielsweise Anknüpfungspunkte zu Fragen der Gewährleistung einer differenziellen Indikation von Psychotherapie für verschiedene Störungsbilder und Patient/-innengruppen, bei einer, wie die Ergebnisse dieser Studie nahelegen, wohl eher einseitigen Wahrnehmung verschiedener therapeutischer Ansätze und deren gegenwärtigem Nutzen. So wäre der Zugang zu möglichst objektiven Informationen über verschiedene Psychotherapierichtungen aus Patient/-innenperspektive, aber auch aus Perspektive der Behandelnden, wie z. B. dem/-r gegebenenfalls überweisenden Arzt/Ärztin, wünschenswert. Davon kann anhand der vorliegenden Befunde jedoch nicht ausgegangen werden. Vielmehr ergeben sich Hinweise auf ein Informationsdefizit zu verschiedenen psychotherapeutischen Verfahrensrichtungen bzw. auf eine erlebte einseitige Darstellung dieser Richtungen. Dies ist auch in der relativ informierten Gruppe der für eine psychotherapeutische Ausbildung infrage kommenden Studiengänge präsent. Relevant ist diese Problematik unter dem Stichwort der »differenziellen Indikation« sowie der »Allegianz« auf Therapeut/-innenseite. Aus Perspektive psychotherapeutischer Nachwuchsforschung ergibt sich die Relevanz dessen, da nur bei genügend guter Kenntnis verschiedener psychotherapeutischer Verfahrensrichtungen auf einer fundierten Basis eine Entscheidung für eine psychotherapeutische Ausbildung insgesamt sowie für ein bestimmtes Verfahren erfolgen kann. Da die Allegianz zur Verfahrensrichtung seitens des/-r Therapeuten/-in, das heißt die Identifikation mit dieser, wie verschiedentlich diskutiert (vgl. z. B. Linden, 2007), einen wichtigen Faktor für den Erfolg einer Behandlung darzustellen scheint, ist es eher be© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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denklich, wenn Studierende sich primär aus pragmatisch-organisatorischen Gründen für die Ausbildung in einer Verfahrensrichtung entscheiden (vgl. z. B. Vogel, 2005). Dass ein eklektizistischer »Methodenmix« ebenfalls nicht zur Qualität einer Behandlung beiträgt, nicht beitragen kann, steht wohl außer Frage (vgl. z. B. Buchholz, 2003). Dennoch wird dieser Weg, wie die Befunde dieser Untersuchung nahelegen, insbesondere von einigen der Psychologiestudierenden gegenwärtig ins Auge gefasst. Auch liegt, wie andere Studien zeigten (vgl. z. B. Eichenberg et al., 2007) und worauf sich auch aus dieser Untersuchung Hinweise ergeben, häufiger eine Diskrepanz zwischen von Studierenden erwarteten – auch psychodynamischen – Inhalten vor allem des Psychologiestudiums und dem tatsächlichen Lehrangebot vor. Eine »eklektizistische Positionierung« könnte somit als ein Versuch der »pragmatischen« Vereinigung von Ansätzen, die ein geringeres persönliches Identifikationspotenzial aufweisen, mit identitätskongruenteren Inhalten verstanden werden. Von der »Methodenmix«- bzw. Allegianz-Problematik sind die Pädagogikstudierenden wohl etwas ausgenommen, jedoch nicht etwa, weil sie differenziertere Kenntnisse besitzen würden, sondern eher, weil sie relativ »puristisch« die psychoanalytische Richtung zu kennen scheinen und sich damit größtenteils gut identifizieren können. Es bleibt hier die Problematik einer möglicherweise zu geringen differenziellen Indikationskompetenz. In diesem Kontext werden Fragen des jeweiligen Menschenbildes psychodynamisch bzw. verhaltenstherapeutisch orientierter Ansätze berührt, des theoretischen Hintergrundes und der damit einhergehenden therapeutischen Herangehensweisen. Letztere könnten in der Tradition des empirischen Positivismus als störungsorientiert, manualisiert-einzelmethodenorientiert und eher »technologisch […]« (Buchholz, 2003, S. 6) bezeichnet werden, während sich psychoanalytische Ansätze in der Bemühung sehen, Unbewusstes, also nicht Sicht- oder Greifbares, in das Verständnis der menschlichen Existenz zu integrieren (vgl. Zaretsky, 2005), dabei in einer »prozessuell-adaptiven«, idiosynkratisch orientierten Perspektive eher eine Offenheit in Behandlungsmethodik aufweisen. Die Erkenntnis, dass Menschen mehr Bedeutung erzeugen als sie erfassen (Butler, 2003; Lear, 1996), und dass eben diese schmerzhaft © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
12.8 Zur Relevanz der Studie 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
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oder zerstörerisch sein kann, aber Menschen vor ihr nicht passiv zu sein brauchen, ist eine Perspektive, die Psychoanalyse einbringen kann. Die psychoanalytische Konzeption geht nicht von einem rein rationalen Subjekt mit der Fähigkeit zu uneingeschränkter Selbsterkenntnis aus (Butler, 2003), sondern bezieht menschliche Irrationalität ein. Gerade dieser Einbezug kann jedoch vor dem Hintergrund gegenwärtiger gesellschaftlicher Verhältnisse, wie im Theorieteil dargestellt, als bedrohlich empfunden werden (vgl. Kap. 5.3), worauf sich Hinweise aus den in dieser Untersuchung ermittelten Typen ergeben. So ist in einer pluralistischen Gesellschaft mit hohen von außen an Individuen herangetragenen Orientierungsanforderungen, verbunden mit Ängsten vor sozialem Abstieg, die Vorstellung eines nur sehr begrenzt zugänglichen, irrationalen »Unbewussten«, das sich einer Kontrollierbarkeit entzieht, möglicherweise eine zusätzlich als bedrohlich erlebte Vorstellung. Die theoretische und praktische Ausklammerung einer solchen Perspektive im verhaltenstherapeutischen Ansatz scheint dagegen als Halt und Orientierung gebend erlebt zu werden, wie die Befunde der Untersuchung nahelegen. Auch seine praktische Handlungsorientierung und seine Handhabbarkeit scheinen hierbei eine Rolle zu spielen. Insbesondere der Aspekt einer wissenschaftlich belegten Wirksamkeit scheint als Herausstellungsmerkmal dieser Verfahrensrichtung angesehen und ein relevantes Kriterium für ein Interesse daran zu sein. So mag auch aus beruflicher Perspektive eine psychoanalytische Tätigkeit vor dem Hintergrund gegenwärtiger Verhältnisse als eher schwierig zu bewältigen empfunden werden, da sie eine Offenheit für eigenes Unwissen erfordert, ja ein Arbeiten damit und eben keine Orientierung an »allgemeingültigem«, empirisch ermitteltem Störungswissen (vgl. LeuzingerBohleber, 2007) bietet. Auch in der Verhaltenstherapie kommt es allerdings, wie im Theorieteil ausgeführt, zunehmend zu einer Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse und sogar zu Versuchen einer Integration psychoanalytischer Theorie- oder Behandlungselemente.159 Aufgegriffen
159 Zur Problematik einer theoretisch undifferenzierten Integration bestimmter Behandlungselemente, einer sogenannten eklektizistischen Metho-
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werden soll in diesem Zusammenhang folgender Gedankengang des Soziologen Sennett (2000): »›Die wahrhaft selbständige Person erweist sich als keineswegs so unabhängig, wie es kulturelle Stereotypien voraussetzen‹ sagt der Psychologe John Bowlby. Im Erwachsenenleben ist eine ›im gesunden Sinne selbständige Person‹ in der Lage, sich auf andere zu stützen, ›wenn die Situation es erfordert‹. […] In Liebesbeziehungen, in der Familie oder Freundschaft bedeutet die Angst vor Abhängigkeit das Fehlen von Vertrauen; stattdessen herrschen die defensiven Reaktionen. In vielen Gesellschaften verbindet sich mit der öffentlichen Erfahrung von Abhängigkeit denn auch wenig oder keine Scham« (S. 192 f.).
Angesichts einer zunehmenden gesellschaftlichen Effizienzorientierung im Zuge einer Betrachtung verschiedener gesellschaftlicher Lebensbereiche unter einer ökonomischen Verwertungs-Perspektive, geraten die Wichtigkeit einer solchen Bezogenheit und die Integration von Erfahrungen des Scheiterns in den Hintergrund. Gerade diese führen jedoch oft zur Notwendigkeit einer Inanspruchnahme sozialer Netzwerke oder gar einer psychotherapeutischen Behandlung. Hier erlangt Psychotherapie insgesamt eine sinnstiftende und identitätsstützende Funktion (vgl. Keupp 2005a, 2005b; Strauß, 2006). Die Relevanz der therapeutischen Beziehung wird nun mittlerweile auch in der Verhaltenstherapie, wenn auch weniger theoretisch untermauert und systematisiert als in der psychoanalytischen Behandlung, verstärkt einbezogen (vgl. Margraf, 2009b; zur Problematik dessen vgl. z. B. Buchholz, 2003). Allerdings bleibt zu bedenken, dass die Beziehungsebene in der verhaltenstherapeutischen Theoriebildung nicht explizit konzeptionalisiert ist (vgl. z. B. Kröner-Herwig, 2004). Wie nun also umgehen mit sich und anderen in einer komplexen, pluralistischen äußeren Welt unter Einbezug einer wohl ebenso komplexen, pluralistischen inneren Welt? Auf der Ebene des psychischen Erlebens kann dies ein Hinschauen auf das jeweils individuelle Gewordensein in Beziehung zu bedeutungsvollen Anderen, nicht als Geschichte des Fortschritts, sondern denintegration, vgl. z. B. Buchholz (2003); Leuzinger-Bohleber (2002); Linden (2007); Strauß et al. (2009; s. auch Kap. 3.3 ff.). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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der Integration und der Akzeptanz des eigenen Seins bedeuten. Das »alltägliche Unglücklichsein«, das Freud dem »pathologischen Unglücklichsein« gegenüberstellte, kann eine solcherart integrierende Perspektive sein. Eine Perspektive subjektiven Sinnverstehens ermöglicht auch eine innere Integration dessen, woran ein Mensch scheitert, was ihm Probleme bereitet. In der vorliegenden Untersuchung wurde der Versuch unternommen, auf einer empirischen Basis multimethodisch zu einer größeren Systematisierung und Präzisierung von Beweggründen für eine psychotherapeutische Ausbildung unter gegenwärtigen Studierenden beizutragen. Aus der Bearbeitung dieser Frage ergeben sich wertvolle Hinweise für die Gestaltung universitärer Lehre zu den in den kassenärztlichen Leistungskatalog fallenden Verfahrensrichtungen, beispielsweise einer stärkeren Berücksichtigung einer Passung persönlicher Vorlieben zu einer therapeutischen Richtung. Bereits universitär sollte eine solch differenzierte Vermittlung psychotherapeutischer Verfahrensrichtungen stattfinden. Die Ergebnisse legen nahe, dass dies gegenwärtig nicht der Fall ist. Die erwarteten Hinweise auf eine diesbezüglich differenzielle Wirkung des Studiengangs konnten empirisch untermauert werden. Zum gegenwärtigen Identifikationspotenzial der kassenärztlich anerkannten psychotherapeutischen Verfahrensrichtungen lässt sich festhalten, dass bei einer größtenteils ähnlichen Wahrnehmung dieser, auch zwischen den untersuchten Studiengängen, eine unterschiedliche Bewertung dessen, zu differenziellen, wie es scheint, meist eng mit der jeweiligen Fachkultur verknüpften Wegen der Entscheidungsfindung führt. Es erwies sich somit als fruchtbar, dem Phänomen im Kontext fachkultureller Eigenheiten nachzugehen. Anders als in vielen psychologischen Standardwerken wurden der – auch hier empirisch gefundene – Aufschwung der Verhaltenstherapie und der Rückgang der Psychoanalyse nicht schlicht als »wissenschaftlicher Fortschritt« gefasst, sondern es wurde in einer zeitdiagnostischen Verortung dieses Phänomens von einer Privilegierung von Verfahrensrichtungen im Zusammenspiel mit gesellschaftlichen »Zuständen« sowie vorherrschenden Pathologie- und Behandlungsvorstellungen ausgegangen. Dies trug zu einer zusätzlichen Klärung bei und zeigte weitere differenzielle Zusammenhänge auf. Gegenwärtigen Repräsentationen und Identifikationspotenzialen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879
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psychotherapeutischer Verfahrensrichtungen wurde somit im aktuellen gesellschaftlichen Kontext nachgegangen. Dies trug zu einer differenziellen Erhellung von Motiven für das Ergreifen des »unmöglichen« Berufes des/-r Psychotherapeuten/-in bei. Es ergaben sich Hinweise auf das vermutete, als anachronistisch empfundene Moment der Psychoanalyse, welchem unter Berücksichtung verschiedener Betrachtungsebenen nachgegangen wurde, ebenso jedoch auf große Informationsdefizite unter Studierenden. Eine Privilegierung psychotherapeutischer Verfahrensrichtungen sollte immer auch den Kontext aktueller historischer Verhältnisse einbeziehen, gerade in einer Menschenwissenschaft wie dem psychotherapeutischen Bereich bestimmen diese wesentlich mit, was als »gute Psychotherapie« gesehen wird.
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Zusammenfassung
Ziel des vorliegenden Promotionsvorhabens war eine Auseinandersetzung mit möglichen Faktoren, die zur Veränderung der Inanspruchnahme verschiedener Psychotherapieformen sowie der Ausbildungswahl in unterschiedlichen psychotherapeutischen Verfahren geführt haben. Insbesondere erfolgte eine Gegenüberstellung von Verhaltenstherapie und Psychoanalyse (bzw. psychodynamisch orientierten Verfahren) – den beiden momentan in Deutschland kassenärztlich anerkannten Verfahrensrichtungen – und der gegenwärtigen Repräsentation dieser Richtungen unter Studierenden. Anhand einer größeren Querschnittstudie (N = 679) wurde in der studentischen Stichprobe überprüft, inwieweit sich Entwicklungen bezüglich eines angenommenen gesellschaftlichen Relevanzverlusts der Psychoanalyse, insbesondere im klinischen sowie im universitären Kontext, tatsächlich empirisch auffinden lassen. Zudem wurde in Form einer Prototypisierung von Wegen der Entscheidungsfindung dem Identifikationspotenzial verschiedener Verfahrensrichtungen nachgegangen. Es wurde quantitativ sowie qualitativ geprüft, welche Studierenden der dafür in Frage kommenden Fächer sich aufgrund welcher Kriterien bzw. Einflussgrößen für eine bestimmte psychotherapeutische Ausbildung entscheiden. Schließlich wurden Bezüge aktueller gesellschaftlicher Sichtweisen der beiden Psychotherapierichtungen zu gesamtgesellschaftlichen Phänomene diskutiert.
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Danksagung
Meinen herzlichen Dank aussprechen möchte ich Marianne Leuzinger-Bohleber, die mir mit Rat und Tat, Anregungen und Kritik bei der Erstellung dieses Buches zur Seite stand. Mit ihren differenzierten und umfassenden Kenntnissen zur Thematik konnte sie mir immer wieder wesentliche Denkanstöße geben. Die Arbeit entstand im Rahmen eines größeren Forschungsprojektes. Auch bei den anderen Projektbeteiligten des DPPT-Projekts, Prof. Manfred E. Beutel, Prof. Gerd Rudolf, Prof. Reinhold Schwarz, Dr. Yvette Barthel, Dipl.-Psych. Michael Koenen, Dipl.-Psych. Rupert Martin und Dr. Rüdiger Zwerenz, möchte ich mich für die gute und hilfreiche Zusammenarbeit bedanken. Bedanken möchte ich mich weiter bei den Praktikant/-innen und Hilfswissenschaftler/-innen am Sigmund-Freud-Institut, die sich in ihren verschiedenen Phasen an der Durchführung und der Auswertung der Untersuchung beteiligten. Mein besonderer Dank gilt Simon Dechert und Pawel Hesse für ihre kontinuierliche, unterstützende, phantasievolle und kritische Begleitung. Stephan Hau danke ich für seine methodenkritischen Anmerkungen. Weiter gilt mein Dank Rolf Haubl, der die Arbeit konstruktivkritisch und wohlwollend begleitete. Die Arbeit wurde finanziell und ideell von der Heinrich-BöllStiftung gefördert, eine große Bereicherung und Voraussetzung dafür, dass sie verfasst werden konnte. Weiter möchte ich mich bei den Untersuchungsteilnehmenden bedanken, insbesondere bei denjenigen, die sich zu einem vertiefenden Interview bereit erklärten, und hoffe, dass ich ihnen mit den
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Interpretationen und der Lesart der vorliegenden Untersuchung gerecht werden konnte. Bei meinen Freundinnen und Freunden und meiner Familie möchte ich mich bedanken für die Lektüre verschiedener Fassungen, für Diskutieren, Anregen und Begleiten, insbesondere bedanke ich mich bei Sarah Römisch, Miriam Kapinus, Thorsten Kolling, Maria von Oettingen, Melanie Winkler, Britta Hölzel, Gerhard Bachmann, Katrin Rakoczy und Paul Ruhnau-Vogel. Schließlich möchte ich mich bei meinem Mann Christoph bedanken, dessen Unterstützung bei diesem Projekt ich mir in allen seinen Phasen sicher sein konnte.
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Literatur
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© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451878 — ISBN E-Book: 9783647451879