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German Pages [404] Year 2011
Wolfgang Ernst
Beschwörungen und Segen Angewandte Psychotherapie im Mittelalter
2011 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: „Epileptiker“. Miniatur aus dem „Buch der Eigenschaften“, Bibliothèque Nationale, Paris. Aus: Daniela-Maria Brandt, Epilepsie im Bild. Darstellungen zur Fallsucht aus 6 Jahrhunderten. Eine Dokumentation der GEIGY-PHARMA, Wehr, 1985/86, S. 95.
© 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20752-6
Inhalt Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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A
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
B
Die Spruchtexte (nach ihrer Anwendung bei Krankheiten, Symptomen und zur Vorbeugung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15.
16. 17. 18. 19. 20. 21.
Augenleiden: Die heilige Ottilia, die Benediktiner und ihr Mettener Augensegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Augenleiden: Der Segen mit den drei Meerfrauen . . . . . . . . . . . . . . 28 Bärmutterweh, Bauchgrimmen und Kolik: Beschwörungen von St. Gallen und Indersdorf: „Bleib da, wo Gott dich hingesetzt hat!“ 35 Bewegungs- und Stützsystem: „Gicht“-Segen . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Bewegungs- und Stützsystem: Unfallfolgen, Beinbruch und Verrenkung 54 Blutungs- und Wundsegen von Bamberg und Strassburg . . . . . . . . 61 Blutungssegen: Longinus und seine Lanze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Blutungssegen mit dem Jordan: Texte von Millstatt und Trier . . . . 81 Blutungssegen durch das „Cruci-Fix“ aus Wien und Wolfsthurn . . 93 Epileptische Anfallsleiden: Heilige Helfer: Drei Könige, Valentinus und Vitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Epileptische Anfallsleiden: Die altdeutsche Epilepsie-Beschwörung „Doner Dutiger“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Fiebersegen mit den Siebenschläfern von Ephesus . . . . . . . . . . . . . . 116 Geburtshilfe, psychosomatische Psychotherapie oder Gefangenenbefreiung ? Der erste Merseburger Zauberspruch . . . . . . . . . . . . . . 122 Geburtshilfe mit Amulettgebrauch und Riten: „Kindli du vsgang, Christus ruefft dir in die Welt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Gynäkologische Psychosomatik: Die Regelblut-Therapie mit der heiligen Veronika: „nur der Saum seines Gewandes ...“ und ihr „vera icon“, das wahre Abbild des Herrn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Halskrankheiten: Der Münchner Kehlsegen, die Blasiussegen und der „Heilige Atem“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Liebeszauber am Mondsee – an der Schwelle zur Gotteslästerung 159 Liebesglut an Hexenfeuern: Die inquisitorische Perversion . . . . . . . 173 Migräne und andere Kopfschmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Pest und andere Seuchen: Die Würzburger Pestbeschwörung des Michael de Leone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Psychisch krank: „Besessenheit“ und „Irrsinn“ und das Problem Exorzismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
6 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33.
Inhalt
Psychisch krank? Folklore-Psychiatrie: Böser Blick und böse Zungen Psychosomatisches Allerlei: „Von dem Eysenchrowt vnd seyner Tugent“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlafsyndrome: Der Münchner Nachtsegen und sein Geistergewimmel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tiersegen: Der zweite Merseburger Zauberspruch Wotan als Rossarzt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tiersegen für Vieh und Hirtenhund: Wolfsbeschwörungen und Herdenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unfall- und Gefahrenvorsorge: Die Kaiser-Karl-Briefe mit dem Kreuzsegen und die Himmelsbriefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unfall- und Gefahrenvorsorge: Der Weingartener Reisesegen mit dem heiligen Ulrich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wunden: Die drei guten Brüder begegnen Christus . . . . . . . . . . . . Wurmvertreibung: „gang ûz, nesso !“ oder: „ubi pus, ibi evacua !“ . Wurmvertreibung: Der Regensburger Hiobsegen . . . . . . . . . . . . . . Zahnschmerzen: Beschwörungen mit Petrus am Stein und die Gebete zur heiligen Apollonia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die heilkundlichen Segens- und Gebetsformeln der Hildegard von Bingen (1098–1179) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
232 240 250 264 277 291 301 309 313 323 332 346
C
„Christus medicus“ – Arzt und Apotheker in den Segen . . . . . . .
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D 1. 2. 3. 4. 5.
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register einiger wichtiger Gehirngebiete und neurologischer Begriffe Register mehrfach genannter historischer Persönlichkeiten . . . . . . . Verzeichnis der Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stichwortregister (Personen, Sachen und Themen) . . . . . . . . . . . . . Quellenregister (Archivalien und ältere Schriften) . . . . . . . . . . . . .
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Übersicht Den Benutzer dieses Buches erwarten drei Schwerpunkte in einer komplexen Materie: 1. Eine Dokumentation derjenigen medizinisch prägnanten Texte des Mittelalters, die nördlich der Alpen als Urformen oder Quellen von Psychotherapie und psychosomatischer Therapie gelten müssen. Während noch vor Jahrzehnten ihre berühmten Vertreter – der „Tegernseer Altdeutsche Wurmsegen“, die „Merseburger Zaubersprüche“ – Schulstoff waren, ist das Wissen um diese Texte heute nur noch bei Fachgelehrten der Germanistik und der Medizingeschichte präsent. 2. Durch Übersetzung und Erklärung soll zu jedem dieser Texte für jeden Leser ein Zugang geschaffen werden. Kulturelles Umfeld, Wurzeln und Heilstrategie der Formeln werden behandelt. Zum Verständnis der Wirkungsweise dieser Wort-Therapie tragen Theorien zu Magie und Rhetorik bei. Aber deren einseitige Heranziehung ohne Beachtung der Ergebnisse der modernen Gehirnforschung verengt den Blick. Ärzte, Mönchsärzte und Hebammen des Mittelalters waren keine Schamanen, Magier oder Zauberer. Mit der Anwendung der Heilsprüche verband sich in der Regel eine praktische Therapie. Mehr noch: Die Heilspruchtexte dienten aus heutiger Sicht als vielfach genormte neuropsychosomatische Begleitinstrumente in der Arzt-Patient-Beziehung einem erfahrungsgeleiteten ganzheitlichen Vorgehen bei fast allen Krankheiten. Die bisherigen rückblickenden Deutungsmuster der Texte werden total entzaubert, wenn wir theoretisch und modellhaft die Funktionsweisen des menschlichen Zentralorgans in den Blick nehmen. Wie hätten „Zaubersprüche“ funktionieren können? Um die Überbrückung der tiefen semantischen Kluft zwischen Hirnforschersprache und Philologen- und Alltags-Sprache nicht zu überlasten, sind die neurologischen Bemerkungen zu den einzelnen Kapiteln jeweils an ihrem Ende angefügt. Die Sprache der Hirnbiologie mag manchem in Anbetracht der ursprünglich poetischen Sprache der mittelalterlichen Texte allzu technisch, vereinfachend oder oberflächlich erscheinen. Es geht um die Entmythologisierung und um die Sichtbarmachung humanbiologischer Elementarvorgänge. Die Eigenschaft „performativ“, die ich diesen Texten gebe, dürfte einen tragfähigen Brückenpfeiler von der Sprechakttheorie zur Biologie bilden, weil sie die sozialmedizinische Dynamik des Sprechens und die Handlungspotenz der Sprechenden beschreibt. 3. Eine Vogelperspektive in Flügen über Jahrhunderte ist neben der Einzelbetrachtung der Texte für ihre Einschätzung unverzichtbar. Deshalb stellt dieses Buch eine umfangreiche Palette vor. Es ist Absicht, daß hier kirchlich gebräuchliche oder nur geduldete Formeln neben solchen stehen, die geradezu ihre eigene Zerrüttung oder
Übersicht
gar Perversion widerspiegeln. Auch die „reinsten“ spirituellen Sprüche des Hochmittelalters waren schutzlos dem Sinneswandel oder der Sinnverwirrung der Jahrhunderte ausgesetzt, nachdem sie außerhalb der Klosterspitäler geschrieben und später gedruckt wurden. Zu den Verboten des wilden Segensprechens mit dem Vorwurf der Profanisierung heiligen Gutes, hatte schon der Südtiroler Hans Vintler (gest. 1419) die Entwaffnung notiert: Auch sprechend sy: ‚mich hatz gelert ein pfaff, wie möchtz es pöß gesein?‘ Und aus der Sicht des Theologen, der große Prediger Geiler von Kaysersberg (gest. 1510) auf die Frage, wie das Segnen aufgekommen sei: Es hat einen guten anfang gehabt, aber es hat ein bös end genommen. – Und es ist Absicht, daß hier Sprüche der Vorbeugung und der psychiatrischen Randgebiete eingefügt sind. Trotz mancher Verwilderung der Textformen und Inhalte können viele Fährten im nachmittelalterlichen Dschungel dieser Heilkultur bis in die Gegenwart nachgezeichnet werden.
A EINLEITUNG Nach der Diagnose – so der Grundsatz des Arztes – nach ihr, kommt die Therapie: „Vor die Therapie haben die Götter die Diagnose gestellt“. Die Therapie aber hat drei Werkzeuge: das Skalpell, die Pille und das Wort. Vom Wort und seinem Einsatz zur Linderung von Leiden in ferner Zeit soll die Rede sein, von sogenannter „Sprechender Medizin“, von „Verbaltherapie“, von dem, was zum Bereich der heute geläufigen Megabegriffe „Psychotherapie“ und „psychosomatische Therapie“ gehört. Psychotherapie, aus dem Griechischen, heißt „Pflege der Seele“. Nicht enger, nicht spezieller darf Psychotherapie hier verstanden werden. Der Begriff Psychotherapie hat seit über 100 Jahren aufgrund der Herausbildung spezieller Methoden und beruflicher und vereinsgeprägter Standartisierungen feste Definitionen und Inhalte bekommen, die für das Gesundheits- und Krankenkassen-System verbindlich wurden. Eine Flut von Spezialisten mit hunderten von immer attraktiveren Titeln ihrer Künste konkurriert miteinander; ihre Aufzählung allein würde ein eigenes Buch füllen. Die Flut der gleichzeitig blühenden außerwissenschaftlichen esoterischen Heilmethoden in Stadt und Land weist darauf hin, welchen Erfolg die Wellen der laizistischen Aufklärungen seit 250 Jahren hatten.
Ebenso wie die derzeitigen Vorstellungen über Therapiemethoden sind Vorstellungen über „das“ Mittelalter gemäß den heute immer noch nachreformatorischen Klisches zu verwerfen, wenn Annäherung an die hier vermittelten Texte mit einigem Erfolg gelingen soll. Die Waffen verallgemeinernder Ideologien mit ihren Bildern vom Mittelalter als düster, vorwissenschaftlich, tyrannisch, sexualfeindlich und frauenverachtend sind ebenso grob-düster und irrational, wie die Behauptungen selbst. Die Entdeckungsfahrt in die Psychotherapie des europäischen Mittelalters gestattet allerdings kein Abenteuer in neuentdecktem Eiland indigener wilder Urvölker. Sie ist keine transkulturelle also in eine fremde Kultur reisende Besichtigung. Denn sie greift in unsere eigene Geschichte.Wir sind deshalb leicht geneigt, besonders flott in Seelenheilkunde – in der sich ja fast jeder als Heimwerker fühlt – genau das zu sehen, was wir möchten. So kann der Blick ins Mittelalter auch unsere eigenen Phantasien und Inszenierungen projizieren. Nur in einem können wir sicher sein: Die Gehirne unserer mittelalterlichen Vorfahren arbeiteten wie die unseren. Und: Gesunde Gehirne gottgläubiger Menschen und atheistischer Menschen erzielen nach gleichen Prinzipien die gleichen neuronalen Arbeitsabläufe. Als Mittelalter gilt die Zeit vom 6. bis zum15. Jahrhundert, als Hochmittelalter, in dem die Wurzeln einer Vielzahl unserer Texte liegen, gilt die Zeit vom 8. bis 12. Jahrhundert. Für diese letztere Epoche und ihre Literatur hat der Spezialist (Mediävist) Walter Haug (1927–2008) seinen Buchtitel entworfen, der die diametralen Seiten eines Rückblicks rätselhaft verknüpft: „Die Wahrheit der Fiktion“. Ich greife ihn auf und stelle ihn der Verklärung als „Verlorenes Paradies“ durch den Dichter Hermann Hesse gegenüber.
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Einleitung
In den Geschichtsbüchern über Medizin und Psychiatrie haben eher die Werke der Antike große Aufmerksamkeit erfahren. Besonders wird herausgehoben, daß sich die altgriechischen Ärzte vom vormaligen Dämonenglauben befreiten. Seelisches Kranksein werde dort meist als Erkrankung des Körpers, gelegentlich des Gehirns, gesehen und mit Medikamenten, Diät und Zuspruch behandelt. Als Beweis für die Überwindung dämonologischer Vorstellungen der Ägypter und Babylonier ist immer wieder eine Hippokratische*1 Schrift zur Epilepsie herangezogen, in der ihre göttliche oder heilige Ursache abgelehnt wird. Damit werden auch Besessene zu körperlich Kranken. Pythagoras (um 580 vor Christus), später Asklepiades und Celsus zur Zeit des Kaisers Augustus in Rom, empfehlen schon Therapie mit Musik und Geräuschen; man kannte Poesietherapie mit Gesang, Kult und Gebet zu Apoll und Asklepios. Aber auch Drohungen, Folter, Auspeitschen und Wassertauchen waren in Rom gebräulich. Die Viersäftetheorie der Autoritäten von Hippokrates* bis Galen* und bis ins späte Mittelalter stand so stark im Vordergrund, daß weitere Fortschritte nicht möglich wurden. Viele orientierten sich an der Psychotherapie der Philosophen. Eine Unterscheidung seelischer Krankheiten wird erstmals von Soranus genauer beschrieben, für ihn gibt es drei Geisteskrankheiten: Phrenitis als meist fieberbegleitete Psychose, Manie und Melancholie. Diese Benennungen haben mit den heutigen Krankheitseinheiten fast nichts zu tun. Andererseits gingen schon in der Antike Ideen zu einer psychosomatischen Ganzheitsbehandlung den somatisierenden Vorstellungen parallel. Man kann die Philosophie der LeibSeele-Einheit mit Plato (427–347 vor Christus) beginnen lassen. Er wendet sich gegen rein körperliche Behandlung und verweist auf einen thrakischen Arzt, der ihm gesagt hat: Daß dich ja nicht jemand überrede, mit dieser Arznei seinen Kopf zu behandeln, der dir nicht vorher auch seine Seele darbietet, um sie mit den Besprechungen von dir behandeln zu lassen! (Charmides, 157 b). Arznei und Heilspruch gehören damit zusammen, an erster Stelle steht aber die Seele. Heilmittel wirken nur dann, wenn sie mit den richtigen Worten glaubhaft verabreicht werden. – Es ist gedanklich nicht weit bis zu einem Brief des Bischofs Basilius von Caesarea (um 330–379 nach Chr.) an seinen Arzt, aus der Zeit des Umbruchs nach Konstantin und nach dem ersten ökumenischen Konzil von Nicäa (325): Bei Dir ist die Wissenschaft beidhändig. Du erweiterst die Grenzen der Philanthropia, indem Du die Wohltat der Kunst nicht auf den Körper beschränkst, sondern Dich auch um die Heilung der Seelen kümmerst. (Epist.189, Nr.1, zit. nach Entralgo, Arzt und Patient. S. 56). Ein großer Schritt aber ist es bis zu René Descartes. Sein Konzept psychosomatischer Wirkkomponenten im „Traité des passions de l’ậme“ 1649 schließt frühkindliche Erfahrungen und Gehirnfunktionen ein.
Wer sich über die Geschichte der Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Mittelalters und die Tätigkeit der Ärzte jener Zeit informieren möchte, trifft in einschlägigen Werken bis heute auf gravierende Widersprüche oder auf ein schwarzes Loch. Die sog. Klostermedizin im Abendlande mache gegenüber dem Orient einen „schlichten Eindruck“ schreiben Walter Bruchhausen und Heinz Schott 2008 in einem gerade der Theorie und Ethik der Medizingeschichte gewid1
Die mit * versehenen Namen und Begriffe finden im Anhang besondere Erklärung.
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meten Werk. Im Detail müssen sie aber dann im gleichen Buch die karitative Arbeit der Klöster darstellen. – Es sei über Psychiatrie im Mittelalter nicht sehr viel zu berichten, schreibt Erwin Ackerknecht 1963, nur leider viel Negatives. Jedoch seien die gegründeten Klosterspitäler etwas Großartiges gewesen; sie hätten auch seelisch Kranken Schutz und Hilfe geboten. Exorzismus habe oft geholfen, aber – und nun erfolgt wie immer der Sprung ins 15. Jahrhundert – der fürchterliche Rückfall in die Hexen- und Teufels-Vorstellungen, denen auch Psychiater noch lange anhingen, habe die Psychiatrie selbst als Medizinfach degradiert. – Und besonders gern wird die Formel von der „Psychotherapie vor Freud“ benutzt, um im Handumdrehen alles Vergangene zu schwärzen und das vermeintlich Neue zu vergolden. Dabei wird von den Historikern eine Differenzierung der seelisch Kranken mit Psychosen und Wahnideen von körperlich Kranken mit seelisch verursachten oder nachfolgenden Symptomen, also den psychosomatischen Leiden und Beschwerden, oft nicht angestrebt. Die Geschichtsschreibung überfrachtete sich vielmehr mit Stoffen, die nur den Blick fangen. Damit geriet auch die Psychotherapie nichtpsychotischer Krankheiten ins Abseits und wurde oft zusammen mit dem „Zauberspruch“ und der „Magie“ einer postulierten dämonistischen Vorstellung in eine Ecke geworfen. Von germanistischer Seite hat allerdings Joachim Telle schon 1972 klar gestellt, daß die Segen und Sprüche der psychosomatischen Behandlung gedient haben mußten, einfach schon deshalb, weil sie in den alten Medizinbüchern in fester Überlieferungsgemeinschaft mit schulmedizinischen Traktaten und empirischen Rezepten stehen. Selbstverständlich ist die Art einer Psychotherapie, mehr noch als die der praktischen Medizin von den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen, dem Zeitgeist und dem Entwicklungsstand der medizinischen Wissenschaft abhängig. Einige kurze Andeutungen dazu müssen genügen: Nach der Trennung in Ost- und Weströmische Reiche 395, in „Byzanz“ und „Westrom“ und dem Zusammenbruch Westroms 476 waren es im Westen die Klöster, die nach dem Umbruch der Völkerwanderung die Reste antiken medizinischen Wissens zu bewahren suchten. Benedikt von Nursia (480–547), Cassiodor, des Ostgotenkönigs Theoderich Berater und späterer Mönch (vor 490–583) und Isidor von Sevilla (560–636) wurden Exponenten einer christlichen Medizin und neuen Ethik. Krankenfürsorge wird nun aus Nächstenliebe betrieben. Auch wem nicht mehr zu helfen ist, dem darf sich ein Arzt nähern, ohne Beschuldigung zu riskieren. Das Verwerfen nicht ganz perfekter Neugeborener hat ein Ende. Manche Ärzte arbeiten unentgeltlich, auch über die Klöster hinaus in der Bevölkerung. Das Altertum hatte keine allgemein zugänglichen klinischen Einrichtungen gekannt; im alten Rom gingen Ärzte in die Häuser der Wohlhabenden; nur Soldaten in fremden Ländern wurden klinisch versorgt. Vorbild für den Westen wurde das christliche Byzanz mit dem Sampson Xenon. Benedikt verfügt, daß jedes Kloster einen Krankenpflegeraum erhält. Erste Asyle und Spitäler entstehen nach dem 7. Jahrhundert
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in Reims, St. Denis, Auxerre, Corbie und Paris, am Ottilienberg, in St. Gallen und Fulda. Cassiodors Bibliothek mit vulgärlateinischen Schriften gelangt ins Benediktinerkloster Monte Cassino, wo auch weitere antike Medizinwerke, auch jene aus arabischen und byzantinischen Quellen, übersetzt werden, ähnlich in England durch Beda Venerabilis, in Fulda und auf der Reichenau, etwas später in vielen weiteren Klöstern. Die heute nachweisbaren schriftlichen Zeugnisse dieser „Klostermedizin“ mit der Erwähnung ihrer Diagnostik, ihrer Kräutergärten, Instrumente und Pflegeeinrichtungen – zum Beispiel im Krankenhausplan des Klosters St. Gallen dokumentiert – sind nur zufällig oder glücklich erhaltene Spuren und Reste der Belege dafür, was vor etwa 1200 bis 800 Jahren geleistet wurde. Die vielen alten Kataloge zeigen an, was alles verloren ging. Sie können nur eine Ahnung von dem geben, was der geistig-geistliche Neubeginn einer Zuwendung zum Kranken bedeutet hat. Hatten die Arztmönche und Mönchsärzte weniger „Motivation“, Kranken zu helfen als heutige Therapeuten? Hatten sie Methoden und Ideen, die den gesellschaftlichen Gegebenheiten widersprachen? Konnten sie einen medizinischen Fortschritt in Krankheitslehre und Naturwissenschaft bewirken, den die medizinischen Fakultäten erst Jahrhunderte später erzielten? Zu den Spuren der hochmittelalterlichen Medizin gehören auch die einzigen Zeugnisse praktizierter Psychotherapie, die Beschwörungstexte, Segen und Gebete, jene, die ausdrücklich mit Vermerken über die Anwendung für ein Symptom oder eine Krankheit versehen sind. Selbst im Wissen um die Autorität der Theologen, die Vorrangigkeit des religiös verstandenen Seelenheils und den oft symbolhaft verstandenen Charakter körperlicher Schäden und Mängel muß dem Wirken der mittelalterlichen Ärzte unter Gebrauch dieser Spruchformeln eines zugestanden werden: ein Dienst am Kranken in irdisch-lebensnaher und individueller ärztlich-medizinischer Hilfsbereitschaft, gleich wie auch immer bewußt gewollt und gemeint, so doch gleichzeitig bewirkt.
Was Leiden bringen mag und was Genüge, Behend verwirrt und ungehofft vereint, Das haben tausend Sprach- und Redezüge, Vom Paradies bis heute, gleich gemeint.2 Vom Wort ist also die Rede und hier vom Wort des Arztes, des Heilers oder der Hebamme. Und beim Überblick über all die Krankheiten, denen Sprüche gewidmet sind, ist erkennbar, daß ganz überwiegend akute und subakute Zustände, nicht chronische, zur Behandlung anstehen. Das ist es, womit jemand heute wie damals Tag und Nacht einen diensthabenden oder einen Not-Arzt rufen oder aufsuchen würde. Es sind Anfälle, Blutungen, akute Schmerzen, Fieber, Halsenge, Panikattak2
Goethe, im „Maskenzug“, den 18. Dezember 1818
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ken usw. Es geht um akute den praktischen Einsatz begleitende psychotherapeutische Intervention, um Krisenmanagement. Die seit 10 Jahren entwickelten Forschungsergebnisse der bildgebenden Verfahren am Gehirn können trotz nicht voll reanimierbarer teilweise hypothetischer Diagnostik unserer Texte modellhaft nachzeichnen, wie die Sprüche gewirkt haben. Wir wissen also, daß der Kranke in gespannter Erwartung ist und alle Mittel annehmen würde, die Abhilfe schaffen können. Und wir stellen uns nun vor, wie ein Wort oder mehr davon in sein Ohr einfällt, oder besser – hineingezogen und gezerrt wird. Dieses Wort läuft nicht als Buchstabensammlung, nicht im Gewande von Bild, Note, Farbe in den Gehörgang. So hatte sich noch Leonardo da Vinci vorgestellt, daß Abbilder der Außenwelt in den Hirnkammern aufscheinen. Nein, die Schallwellen werden zuerst einmal in elektrochemische Reize umgewandelt, die die Wissenschaft als Aktionspotentiale messen kann. Die Umwandlung geschieht im Hörorgan, in der Schnecke. Die Hörzellen der Schnecke sind vom Schneckennerven (Nervus cochlearis oder accusticus) umsponnen, der die Potentiale aber absolut nicht im Schneckentempo, sondern mit bis zu 360 km/h in zwei verschiedenen Straßen über je zwei Nervenkerne, also Schaltstellen, zur Hirnbasis leitet. Unterwegs zweigen Bahnen ab, die zu Augenmuskelkernen und zum ganzen Körper führen, sodaß im Falle sehr lauter oder zu leiser Worte auch automatisch durch Wendung der Augäpfel die Herkunftsrichtung bestimmt und erforderliche Abwehr oder Annäherung erfolgen kann. Was uns gegenüber Hunderassen und Katzen abgeht, sind Bahnabzweigungen zum Gesichtsnerven, womit die Ohren gespitzt oder verdreht werden können. So gelangt unser elektrochemisches Wortpotential schließlich zum Thalamus, einem zentralen großen Umschaltplatz, den man früher als „das Tor zum Großhirn, zum Bewußtsein“ bezeichnet hat, aber das ist nicht korrekt, er ist mehr. Von hier aus ist praktisch alles erreichbar, 200.000 Kilometer Nervenkabel mit einer Billiarde Schaltstellen, sog. Synapsen. Von allen Richtungen wird jetzt unser „Wort“ „herangezogen“, weil es ja als wichtige Botschaft im Schmerz großes Interesse findet. Und es erfolgt seine Prüfung und Deutung. Es ist das Gehirn, daß die Bedeutung für den momentanen Zustand aufgrund aller Lebenserfahrung herstellt, nicht zuerst das Wort und sein Sprecher. Aber es arbeitet nicht so mathematisch wie ein Computer und seine Arbeit vollzieht sich zum Teil ohne unser Wissen, unbewußt. Wir müssen voraussetzen, daß auch Wahrnehmung wie Atmung, Verdauung, Gleichgewicht und Mimik meist nicht von unserem Bewußtsein, von unserem „Ich denke, also bin ich“ im Sinne des großen Irrtums Descartes’ gelenkt werden. Nehmen wir zum Verständnis drei banale Beispiele. Eine Patientin unserer Tage, sensibel und gut allgemein gebildet, hört von erhöhten Nierenwerten. Die Diagnostik ist in der Nacht nicht abgeschlossen. Sie fragt den jungen Arzt, der noch sein Lehrbuch im Kopf hat. Er sagt ihr: „Viele Menschen müssen mit der Dialyse leben“. Oder ein älterer Patient mit einer Knochenfraktur, der sich des Unfalls nicht mehr erinnert. Der Arzt sagt: „Da müssen wir nach Metastasen su-
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Einleitung
chen“; ein akuter Rückenschmerz mit abgrenzbarer Gefühlsstörung auf der Bauchhaut, der Arzt denkt laut: „Vielleicht ein Querschnitt“. Die drei Worte Dialyse, Metastase und Querschnitt sind dem Spracherkennungszentrum bekannt, können unschwer gedeutet werden und führen bei vielen Patienten zuerst zu ängstlichen oder panischen Reaktionen, obwohl die ärztlichen Aussagesätze eigentlich keine abgeschlossene sichere Diagnose ausdrücken. Aber zu solchen Ärzten geht man nicht mehr, wenn die Worte ein Fehlalarm waren. In diesen Fällen erfolgte ein intensiver Austausch, ein Hin und Her der Potentiale zwischen der mehrspurigen sehr empfindlichen zentralen Hörbahn, aus der unser „Wort“ kommt, der Hirnrinde im linken Schläfenbereich zur Worterkennung und der Amygdala* (Mandelkern) mit dem limbischen System für die emotionale Bewertung. Es scheint, daß die Schaltung zum Stirnhirn mit seinen auch semantisch kritischen Funktionen, die im allgemeinen eine rationale Deutung erzielen, durch die stark negative Wortqualität in der Notsituation überwältigt und gedämpft war. Die Vorläufigkeit differentialdiagnostischer Erwägung, die im vollen Satz der Ärzte steckt, wurde nicht erkannt. Eigentlich hat sich das Gehirn getäuscht. Ein weiteres Beispiel bringt uns den mittelalterlichen „Zauberworten“ einen weiteren kleinen Schritt näher. Ein Chirurg vernähte wieder einmal unverrichteter Dinge einen Bauch, als die Aussaat von Krebs-Metastasen offenkundig wurde. Bei der großen Visite danach, die dem Ritual kirchlicher Prozessionen nicht nachsteht, hebt der Professor seine Hand über dem Kranken empor und spricht das Wort „Moribundus“. Der lateinunkundige Kranke habe es nicht verstanden, sei aber – so die unter Ärzten berühmte Mär – nach vier Wochen gesund nach Hause gegangen. Das unbekannte Wort fand weder in Hirn-Zentren der Erkennung noch in solchen der Bedeutungsermittlung eine schlüssige Klärung. Hier bewirkten die Ereignisse und Bilder des Aufwandes und der Autorität eine Positivierung des negativen Prophetiewortes. Ich ziehe diese Geschichte nur heran, weil es bei manchen Krebsarten mit Metastasen nach Statistik der Deutschen Krebsgesellschaft 0,27 %–8 % Spontanheilungen gibt (Ärzteblatt 2005; 102(46)), sodaß ein solches Zusammentreffen nicht unmöglich ist. Aber es wird theoretisch deutlich, daß Gehirne getäuscht werden können und daß durch für das Gehirn unsinnige und extravagante Worte „suggestiv“ die genannten Zentren verwirrt werden können. Wissenschaftler sprechen von Performation und Perturbation und meinen damit emotionale Salven zur Erzeugung von Aufruhr im Unbewußten; das „Wort“ wird vokativ verstanden, als Aufruf. Und manche unter ihnen glauben sogar, daß außer solch elektrochemischer „Verwirrung“ des Gehirns ab Schuleintrittsalter nicht mehr viel von außen bewirkt werden kann. Oft stellt sich auch in der Gegenwart die Frage, ob nicht mit chinesischen Vokabeln und Zeichen wie früher mit lateinischen in Europa Psychotherapie möglich sei. Experimentell (2006) wurden 2 Studentengruppen untersucht, die eine in hypnotisiertem Zustand aller, die andere mit nicht hypnotisierbaren Personen. Allen wurde in dieser Phase
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erzählt, sie sähen später unsinnige Wörter auf dem Bildschirm und sie müßten auf Kommando die jeweilige Farbe der Schrift benennen. Die gezeigten Wörter waren aber nicht sinnlose Zeichen, sondern Farbnamen in unterschiedlicher Schriftfarbe. Und es ist nicht leicht, ein grün gefärbtes Wort „Rot“ rasch als grün zu benennen (Stroop-Effekt). Bei den hypnotisierten Patienten zeigten die Hirnbildaufnahmen, daß die spracherkennenden Zentren ausgeschaltet waren, so daß die Versuchspersonen nur die Farben unabhängig von dem sie tragenden Wort nennen konnten.
Ziehen wir jetzt Worte und Texte der mittelalterlichen Sprüche heran, wie sie allgemein üblich waren, und beobachten wir die Behandlung eines akut verwundeten, einsamen, von seiner Truppe versprengten Soldaten im Klosterasyl beim diensthabenden Arzt. Der Arzt wird mit einer Pinzette die Pfeilspitze zu entfernen suchen, er versorgt die Wunde mit einem Kraut oder einer Salbe und spricht dazu etwa den Trierer Diptamkraut-Wundsegen des 10. Jahrhunderts, der die Kraft des Schöpfers dieser Pflanze hervorhebt und damit wie viele andere Segen und Beschwörungen eine Verbindung mit Anfang und Gesamtheit der Welt insinuiert. Die kleine an sich unwirksame Pflanze als Konkretum verweist auf das All als Abstraktum. Nicht Worte wie „Ruhe“, „Friede“, „Entspannung“, „Gesundheit“ werden isoliert gesprochen, sondern ein vorstellbares Ding wird eingeschaltet. Die experimentelle Neurolinguistik hat auch hier die Wege des Aktionspotentials im Gehirn geklärt. Nur Konkreta, z. B. „Kraut“ oder „Tomate“ vermögen die Bedeutungskonzepte für gespeicherte Sinneseindrücke zu aktivieren. Mit Tomatengeschichten hatte der amerikanische Hypnotherapeut M.H. Erickson (1901–1980) sinnbildlich seinen Patienten ein Gedeihen ihrer selbst suggeriert. Das heißt, daß bei der Sprachverarbeitung zusammen mit dem sogenannten Arbeitsgedächnis*, dem Skizzen- und Notizblock des Gehirns, kurzfristig eine kaum bewußte Verbindung zu „Aussehen“, „Geschmack“, Anfühlen“ dieses Dinges, also verschiedenen erinnerbaren Sinnesqualitäten bevorzugt hergestellt wird. Hier können alle Veränderungen und Umstellungen, zum Beispiel in frühere Aufenthaltsorte und Szenen erfolgen. Die Aktionspotentiale der Abstrakta kommen dagegen auch nach den modernen Gehirnuntersuchungen nur schlecht an. Wir wissen das von der anderen, der werbenden Ebene: „Du bist Deutschland!“ verlief im Sande. Wen ich plump zu Ruhe oder Einsatz auffordere, der gerät eher in Reserve oder Gleichgültigkeit. Ähnlich funktioniert Autogenes Training auch nur dann, wenn ich meine Gedanken zunächst konkret auf die Gliedmaßen und ihre Schwere und Wärme hinleite. Im Spruch kann also auch der Sprung ins Weltall, die Einheit mit allem, vermittels eines kleinen Gegenstandes ermöglicht werden. Für den Kranken stimmt dann alles, er ist der Verunsicherung entledigt geborgen und gehört wieder in die Ordnung des Weltalls. Dessen Basis war ihm im 12. Jahrhundert noch eine Scheibe mit Rom oder Jerusalem als Mittelpunkt. Sein Mandelkern, der während des Prozesses der Wortprüfung intensiv „eingeschaltet“ war, belohnt ihn mit wohltuenden chemischen Botenstoffen.
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Eine wesentliche Idee vieler Sprüche, vom Liebeszauber bis zu den Pflanzenansprechformeln und die Vielzahl begleitender ritueller Handlungen ist das Faszinosum der Allsympathie. Es kommt bei schizophrenen Psychosen als leibseelische Entgrenzung infolge Defekten in verschiedenen Zentren der Erinnerungs- und Raumvorstellung vor, vor allem in Verbindung mit Minderentwicklung des Hippocampus*-Amygdala*-Komplexes. Der Mensch fühlt sich verbunden mit allem – mit allem, was lebt, und oft mit aller Materie, ja den Weiten des Weltalls. Es ist ein Gefühl universeller Vernetztheit oder Beseelung. Dichter der Romantik und Forscher über Magie haben sich mit Vorliebe des Themas angenommen. Die einen taten es, um ihren Lesern Flügel zu verleihen aus der Enge des Alltags, die anderen, um immer neue Theorien zur Religionsphilosophie zu schaffen. Vielfältig ist die Idee in therapeutischen Systemen angewandt, um Urerlebnisse zu generieren. Existentielle Ängste, man könne seinen Platz im Universum verlieren, werden „bioenergetisch“ bearbeitet. Die Überwindung raumzeitlicher Begrenztheit soll Transzendenzerfahrung ermöglichen. Der Naturphilosoph Gustav Theodor Fechner (1801–1887) schreibt: Die Sonne selber kann die Welt nicht hell machen ohne Seelen, die ihr Leuchten spüren, und er sieht diesen Einheitsglauben vor allem bei Naturvölkern, Kindern und Narren. In der Neuzeit knüpft sich diese Idee an kosmische Astrophysik über die Beryllium-Barriere im Prozess der Kohlenstoffbildung im Weltall: Ob es sein könnte, daß meine Existenz als Kohlenstoff-Einheit ein Indikator der Vorgänge am Wasserstoff und Helium-Abbau nach dem Urknall ist? Man diskutiert „anthropische Prinzipien“. Ist die Welt für uns geschaffen?
Eine weitere Funktion des Mandelkerns ist die Entschlüsselung von Symbolen, gleich ob sie über Auge oder Ohr ins Gehirn kommen. Denn der Mandelkern hat sehr viele Bahnen zum und vom Seepferd (Hippocampus*), das seinen Namen nicht wegen der sehr wählerischen Weibchen dieser merkwürdigen Tiere, sondern allein wegen der anatomischen Form eines mythischen Pferdefischwesens trägt. Es ist das Vorzimmer und die Verwaltung des Langzeit-Archivs unseres Gehirns, über das alle im Laufe des Lebens für speicherwürdig gehaltenen Erfahrungen eincodiert und an die zuständigen Großhirngebiete weitervermittelt werden. Es gehört zu den evolutionär ältesten Gebilden unseres Gehirns und hat bei den „Savants“, den Gedächtniskünstlern, seine Funktion der Archivverwaltung eingebüßt. Aus dem Gedächtnis können also gefühlsmäßig lebenserhaltende Zeichen zusammengesetzt werden. Buchstaben wie INRI und CMB oder Bilder wie eine Pieta, ein Kreuz oder eine Gottesmutter mit Fötus, eine Seitenwunde oder ein Longinusspeer lassen im Gläubigen wie ungläubig Wissenden eine Fülle von Assoziationen dieser kulturtragenden Symbolik aufkommen. Schließlich ein Blick auf die sehr häufigen Vergleiche (Analogien) in den Erzählungen etwa der Begegnungssegen oder im Hiobsegen, in denen Ereignisse berichtet werden. Der akut Kranke hört von einer anderen Welt, die zwar bekannte biblische Gestalten wie „Markenzeichen“ bringt, aber neue Signale zeigt. Diese werden neu – gierig auf ihren Nutzen geprüft und vom Mandelkern gedeutet. Er ist das emotionale Gedächnis des „gebrannten Kindes“. Die Beziehungen zum Hippocampus* und den Archiven des Gehirns finden aber exakt nun in der Notlage der Gegenwart statt. Die erzählte Geschichte wird damit aktuell, wird lebendig und
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Abb. 01 Schema der emotional- vegetativen Neuronenverbindungen mit Amygdala*, Hippocampus* und Hypothalamus zur blutdruckregulierendenVagusbahn
kann genutzt werden, manchmal wie ein Strohhalm, aber völlig unbewußt. Unsere Hirnsysteme neigen im allgemeinen zu harmonischen Interpretationen und dazu, Ursachen passend zu machen. Und so werden berichtete Ereignisse auch einer Bedeutung zugeschrieben, die in Wirklichkeit nicht besteht. Die zeitliche Distanz entfällt. Hiob, Engel, drei Brüder und Christus werden Gegenwart. Die mythische Entbindung von Fesseln durch die Dritte unter den Idisi des ersten Merseburger Zauberspruches oder der Weg des Wurmes in der Tegernseer Wurmbeschwörung aus dem Körper werden Gegenwart. Erzählte Ursachen und erzählte Wirkungen werden zusammengelegt und im Heilungsprozess dynamisiert. Moderne Psychotherapie kennt diese Methode als „katathymes Bild-Erleben“, „suggerierten Tagtraum“ und „Metamorphosen-Erzählung“. Es ist eine sinnvolle Gehirntäuschung. Was bringt uns diese Betrachtung der Gehirnfunktionsabläufe beim Sprechen von Worten in einer medizinischen Notlage? Nichts Unerwartetes? Die Welt unseres
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Einleitung
Gehirns ist nicht wie die Welt um uns. Es hat eine andere Wirklichkeit. Unser Gehirn arbeitet für unser Wohlergehen und unsere Existenz mit vielen Mitteln. Jeder konnte sich das in etwa vorstellen. „After leaving this lecture your brain and its synapses will not be the same as before“ (Eric Kandel 2001 vor mehreren tausend verblüfften Hörern der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft in New Orleans, die noch nicht nachvollziehen konnten, daß uns jede menschliche Begegnung nicht nur psychisch, sondern auch biologisch verändert)3 Ich füge noch hinzu, daß alle Aktionspotentiale, zusammen mit hirneigenen Überträgerstoffen, auf diesen Nervenbahnen letztlich in lebenswichtige regulierende Gebiete eingreifen können, in Atmung, Blutdruck, Hormonausschüttung und Herztätigkeit (Abb. 01). Jeder Stress blockiert durch das Stresshormon Cortisol das Langzeitgedächtnis des Hippocampussystems* mit seinem verbal codierten semantischen Wissen, das Arbeitsgedächtnis* bleibt präsent. Die einzelnen Nervenkabelabschnitte (Neurone) tauschen ihre Informationen über die Schaltstellenspalte (Synapsen) durch Botenstoffe aus. Sie sprechen quasi miteinander und entscheiden im Gesamtnetzwerk, wer unter ihnen zu herrschen und wer zu schweigen hat. Wiederholungen der Sprüche bleiben nicht ohne Folgen, weil sie die Ak-
tivität an den Schaltstellen erhöhen.
Und so halte ich die Heranziehung der Arbeitsweise unseres Gehirns zur Einschätzung der Texte für entscheidend wichtig: Denn die Texte müssen als vernünftig erkannt werden selbst unter den Vorbehalten teilweise ungenügender Diagnostik. Ihre Bezeichnung als Zaubersprüche im Sinne von Undurchsichtigkeit oder Irrationalität verrät die bisherige allgemeine Unkenntnis oder Vernachlässigung des Hirnorgans. Die Forschung mit bildgebenden Verfahren am Gehirn wird die bisher noch unklaren Wirkungsprofile der modernen Psychotherapiemethoden und damit auch den theoretischen Rückblick auf ihre Ansätze in der Geschichte präzisieren. Angelpunkt muß die im ersten Satz der Einleitung gemachte Forderung sein: Therapie nach ärztlicher Diagnose, nicht nach Sozial- oder Geschäfts-Sinn. Denn Spontanheilungsraten und vor allem Placebos könnten uns in Verlegenheit bringen. Anzumerken ist wegen der oft engen Verzahnung der Beschwörungen und Segen mit Gebeten: Über sie, ob demütige Bitte, Erzählgebet in der Not oder nutzenvergessende Zwiesprache, hat der Theologe mitzureden, selbst wenn wir heute wissen, wie Meditation und Kontemplation mit stimmungssteigernder EEG-Aktivierung der linken Hirnhälfte korreliert. Religion und Gläubigkeit ebenso wie reflek-
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Bauer, Joachim, in: Psychotherapie, Psychosomatik, medizinische Psychologie 51(2001), S. 265
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tiertes „Fühlen“ und „Wollen“ bleiben im Gegensatz zu Bewertung und Deutung durch das Gehirn unabmeßbar. Man hat in letzter Zeit Stoffwechsel- und Strukturveränderungen bei „religiösen“ wie „abergläubischen“ und ideologisch fanatischen Menschen festgestellt: Erhöhte Aktivität des Botenstoffes Dopamin und Verkleinerung des vorderen Gyrus Cinguli* haben Enthemmung für Irrationales zur Folge. Und die seelischen Veränderungen bei Temporallappenepilepsie mit ihren Entgleisungen ins Überirdische sind seit langem bekannt. Aber diese Untersuchungen sind unspezifisch. Jede bedachte oder geäußerte Meinung und jeder „Glaube“ bewirken ein „Feuern“ in Gehirnzellen. Vermissen wird der Leser unserer Zeit manches, was heute Erwartungen und Klischees über Psychotherapie auszeichnet: Lebensgeschichten, familiärer und gesellschaftlicher Hintergrund und soziale Situation des Patienten. Die endlose Fahndung nach Gründen von Unheil und Leiden und deren Zuweisung an vorgestanzte Begriffe. Das passive Zuhören des Therapeuten. Aber darauf kam es nicht an. Entscheidend waren die Präsenz eines Helfers und seine praktische Fähigkeit, konkret im Jetzt und Hier eine Wende im Organismus zu ermöglichen. Dies konnte gestern und heute besonders durch Perturbation, durch Verwirrung im Kopf ausgelöst werden, weil unser Gehirn nicht wahrhaftige Realität, sondern immer nur „Bilder“ davon und deren Bewertung bewirkt.
Abb. 02 Die zentrale Hörrinde in der Tiefe der großen seitlichen Hirnfurche dechiffriert nur etwa 30 % der akustischen Signale aus alltäglichen Gesprächen. (Im Falle gespannter Erwartung wie beim akut Kranken steigen ihre Kompetenzen deutlich an.)
B DIE SPRUCHTEXTE 1. Augenleiden: Die heilige Ottilia, die Benediktiner und ihr Mettener Augensegen
– Verehrung der heiligen Ottilia – Einbau ihrer Legende in alte Augensegen: „blind geboren, blind verloren“ – Profanisierung der christlichen Lichtmetaphorik in den volkstümlichen Heilformeln – Erstmals im 15. Jahrhundert ist in einem Schriftdokument aus Metten jene Frau an einen alten Augensegen angefügt, die durch ihr legendengemäß tragisches Geschick weithin auch im Volke Zuneigung finden konnte, die heilige Odilia, Patronin des Elsass. Ältere Segen um Odilia/ Ottilia wurden bisher nicht gefunden. Der Schöpfer dieser Spruchkonstruktion hatte den Nerv volkstümlich mitfühlenden Gemütes getroffen. Das war in diesem Fall für einen Benediktiner oder einen diesem Orden nahestehenden Schreiber nicht erstaunlich, pflegte der Orden doch schon frühzeitig Verbindungen zur Vita, zur Legende und zum Kult der großen Volksheiligen. Der Orden hat immer Ohr und Auge am Volk gehabt und hat volksfrommes Brauchtum bewußt durch die Zeiten getragen, in erster Linie als religiöses Erziehungsgut. Aus dem gleichen 15. Jahrhundert, nämlich für 1414 als Datum der Niederschrift, rankt sich die legendäre Geschichte um eine kostbare Pergamenthandschrift1 des Klosters: 28 Kreuze und unterschiedliche Zeichen, Reime und dazu gehörige Beschwörungstexte wurden zur Keimzelle der bis heute beliebten Benedictusmedaille2. Für die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts ist in Metten die Erweiterung der seit 1294 nachweisbaren Krankenstation belegt.3 Andere Benediktinerkonvente4 hatten sich mit der Pflege der jeweiligen Reliquienkulte eine große Anzahl heilkräftiger Wallfahrtsorte geschaffen. Es entstanden Kultstätten auf dem Nonnberg bei Salzburg zur vergoldeten Hirnschale der hl. Erentrudis gegen Kopfschmerzen und zur Hirnschale des heiligen Sebastian nach Ebersberg mit ihrem SebastiansminneTrunk. Eine Renaissance der Reliquienverehrung hatte im 16. Jahrhundert nach Entdek1 2 3 4
vgl. Andree-Eysn, Marie: Volkskundliches aus dem bayr.-österr. Alpengebiet, Braunschweig 1910, S. 127 Ernst, Wolfgang: Oberpfälzischer Heilzauber, Pressath 20112, S. 60–65. Baader, Gerhard: Mittelalterl. Medizin in bayer. Klöstern, Sudhoffs Archiv 57 (1973), S. 275–296, hier S.290 Krausen, Edgar: Die Pflege religiös-volksfrommen Brauchtums bei Benediktinern und Zisterziensern. In: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und s. Zweige, Ottobeuren 1972, 274–290
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kung römischer Katakomben eingesetzt, weil man die dort gefundenen Reliquien für frühchristliche Märtyrer hielt. Benediktiner und Benediktinerinnen auch der Klöster Geisenfeld (hl. Dionysius, Kopfleiden), Neustadt am Main (Mantel der heiligen Gertrud für Schwangere), und Füssen (Sankt Magnus-Stab gegen Ungeziefer und entsprechende Phobien) betätigten sich im Geiste tradierter psychosomatischer Seelsorge.
Für Odilia, nachweisbar als Äbtissin von Hohenburg, werden Lebensdaten von 660–720 angenommen. Schon an der frühen Kultausbreitung in Süddeutschland hatten Benediktiner wichtigen Anteil. Im 9. Jahrhundert gehörte Odilia der kirchlichen Liturgie von St. Emmeram in Regensburg an: Das erhaltene Bruchstück einer Heiligenlitanei nennt neben Spes, Caritas, Margarete, Lioba und Verena auch Otilia – dies eine Übernahme aus Strassburger Quellen. Das bayerische Urkloster Metten gehört zum Bistum Regensburg. Es wurde ca. 766 von Mönchen der Reichenau gegründet. Das Mettener Scriptorium stand eng mit St. Emmeram in Verbindung. Schließlich war es ein in seinen letzten Lebensjahren im Regensburger Schottenkloster lebender theologischer Schriftsteller, der erstmals die Legende der Heiligen in der Predigtlehre einsetzte, Honorius Augustodunensis (gest. ca. 1151) in seinem „Speculum ecclesiae“. Er war ein Schriftsteller, von dessen phantastischen Geographien sich noch Umberto Eco in Versuchung geführt fühlte, wie er gestanden hat. Honorius hat mehr für praktische Seelsorger als für Gelehrte geschrieben. Doch sei zunächst eine kurze Fassung des Beginns der ursprünglichen Legende5 unserer Heiligen gegeben: Nach Gottes Ratschluß wurde dem Elsässer Herzogspaar eine blinde Tochter geboren. Verwirrung kam über den Vater, weil er glaubte, von Gott damit wegen eines Vergehens bestraft zu werden. Er befahl, das Kind aus dem Weg zu schaffen. Gemäß Joh. 9,3 Jesu Wort: „Weder dieser hat gesündigt, noch seine Eltern, sondern er ist blind geboren, damit die Werke Gottes an ihm offenbar werden“ wollte die Mutter ihren Mann umstimmen. Aber der Herzog beklagte die Schande, und das Kind sollte einem Vertrauten übergeben werden, der es töte oder an einen Ort schaffe, wo es niemand sehen könne. So kam Odilia durch Sorge der Mutter in ein Kloster Palma (Baume-les-Dames ?), wo sie erzogen wurde „bis der Herr einem Bischof aus dem Bayernlande, namens Erhard, im Traum erschien und ihm auftrug: „Gehe zu einem gewissen Kloster, das Palma heißt; dort wirst du ein Mädchen finden, das von Geburt an blind ist; nimm es und taufe es im Namen des dreieinigen Gottes und gib ihm den Namen Odilia, und gleich nach der Taufe wird es das Augenlicht erlangen““. Als der Bischof das Kind „aus dem Taufbecken hob und dessen Augen mit Chrisam bestrich, schaute es nach Lösung der Augenbinde klaren Blickes zum Bischof empor“. An dieser Stelle der Legende setzt eine erste der verschiedenen Ereignisverortungen in der Legenden-Verzweigung ein, deren möglichen historischen Linien der Benediktiner Romuald Bauerreiss nachgegangen ist.6 Er hält eine Verbindung von o. g. Honorius von Augustodunum zum Frauenstift Niedermünster in Regensburg, also zum Grabe des heiligen Wander-Bischofs 5 6
nach Barth, Medard: Die Heilige Ottilie, Straßburg 1938 (gemäß St. Gallen, Codex 577, 9. Jh.) Barth, ebenda, S. 125
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Spruchtexte
Abb. 03 Bischof Erhard öffnet Ottilia durch die Taufe ihre Augen.
Erhard, dessen Lebensdaten freilich mit denen der hl. Odilie nicht direkt übereinkommen, für sicher. Liegt hier die Nahtstelle für Odilias „Umzug“ ins Bistum Regensburg? Das Stift Niedermünster soll in der Gegend von Hellring Besitz gehabt haben. Eine andere Version knüpft die Verbreitung der Ottilienverehrung an die Augustinerchorherren, deren Paringer Stift 1141 besiedelt und nach dem Niedergang in der Säkularisation nun in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts wieder belebt wurde. Dem Orden gelang ein Neubeginn für die verfallene Kirche und Wallfahrt Hellring. Paul Mai7 hält das Bestehen des Ottilienkultes sogar vom Bestehen dieses Ordens abhängig; man verehrt sie als „Kanonissin“, als Chorfrau. Legendär jedenfalls wurde Hellring Odilias Erziehungs- und Taufort, hier vollzog sich das Wunder der Blindenheilung. Odilia war zu einer bayerischen Heiligen geworden. 8
Drey hern gutt vor einer Kyrchen sazen Kom gnadig jungfraw sand Maria und sprach zu im ir drey was siczend ir hye/ sy sprachen fraw wir sehen nit/ do gräff sy nider auf erden und segnete fur wesen und zesen fur steken und fleken / fur den (di?) wissen swarcz und rot / fur den augen swer fur schoß pletter und eren praten. fur alle dye misstaten die ains in aug hat / werd das og als clar und lauter / als unser fraw was / und unsers hern glob / Die heilige jungfraw s. Otilia die ward plind geboren / und ward send in ellend die wurd si wider gesehen Heylig jungfraw Otilie pit ich dich das das og dem menschen wider gesehend Jn nomine patris et filii et spiritus sancti Amen.
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Es saßen drei gute Herren vor einer Kirche. Kam die gnädige Jungfrau Sankt Maria und sprach zu ihnen: Ihr drei, was sitzet ihr hier? Sie sprachen: Frau, wir sehen nicht. Da griff sie nieder auf die Erde und segnete für „Wesen“ und „Zesen“, „Stecken“ und „Flecken“, die weißen, schwarzen und roten, für Augengeschwür, Schossblatter und Ernpraten. Für alles Böse, was einer im Auge hat. Werde das Auge klar und rein wie unsere Frau war und unseres Herrn Glaube! Die heilige Jungfrau Sankt Otilia ward blind geboren und ward in die Fremde gesandt und wurde wieder sehend. Heilige Jungfrau Ottilie, ich bitte dich, schenk dem Menschen sein Augenlicht wieder. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes Amen.
Mai, Paul: Die Augustiner-Chorherren in Bayern (Hg. Rainer M. Müller), Paring 1999, S. 76f München BSB Clm 8258, fol.218r, aus Metten, 15. Jahrh.
Augenleiden
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Mit seinem erzählenden Eingang betreffend „drei Herren gut“ knüpft der Mettener Augensegen an eine ältere Segensfamilie von den „Drei guten Brüdern“ an, womit drei Apostel in Begegnung mit Jesus Christus gemeint sind. Sie fand Verwendung mit einer pflanzlichen Kuranweisung bei Geschwüren.9 Für Augenleiden waren es allerdings zumeist Drei-Frauen-Segen oder Segen mit zwei heiligen Frauen und einem heiligen Mann in verschiedenen Variationen (Tecla, Aquilina und Nazarina, Nazarius oder Nazarenus oder Tranquilius), die in dieser Eingangserzählung auf einem Stein am Ufer des Meeres sitzend für den Kranken gebetet oder gesponnen haben. Am nächsten jenem antik-mittelalterlichen Text des Marcellus* von Bordeaux aus dem 5. Jahrhundert,10 dem man Abkunft aus noch antikeren Formeln nachsagt, kam wohl ein Drei-Heilige-Frauen-Segen, wahrscheinlich altprovenzalischer Herkunft aus dem frühen 11. Jahrhundert: 11
In Christi nomine. Tecla Nicea et Aquilina super ripas maris sedebant. Tres virgas aureas manibus tenebant. Nicea dixit: „Si tu es alba, Christus illam fundat.“ Tecla dixit: „Si tu es rubea, Christus illam fundat.“ Aquilina dixit: „Si tu es nigra, Christus fundat.» In nomine Doomini maclas de oculo illo tollemus. […]
In Christi Namen. Tecla, Nicea und Aquilina saßen am Ufer des Meeres. Sie hielten drei goldene Zweige in ihren Händen. Nicea sagte: «Wenn du weiß bist, Christus vertreibts.» Tecla: «Bist du rot, Christus vertreibts.» Aquilina sagt: «Bist du schwarz, Christus vertreibts.“ Im Namen des Herrn, Augenmakel, tilgen wir dich bei ihm.[…]
Auch gab es in der Personage der Texte eine Tradition, die indirekt auf Evangelien (Veronika, Longinus), auf Legenden frühchristlicher Heiliger (Felicitas, Nikasius) und auf die Erblindung des alttestamentlichen Tobias zurückgriffen. Der Mettener Segen versetzt eine ursprüngliche personale Dreiheit, nicht von Fürbittern, sondern von Leidenden – so scheint es – vom Stein am Ufer des Meeres vor eine Kirche. Und es kommt zu einem Dialog mit der Gottesmutter. Diese übernimmt die rituelle Heilhandlung nach Evangelium Johannes 9,6f und „gräff sy nider auf erden“. Es klingt die biblische Wunderheilung Christi mit dem Erdreich an; es fehlt nur die Erwähnung von Speichel zur Bildung des heilsamen Teiges, den Christus dem Blindgeborenen über die Augen strich. Ob der Schreiber sie kannte oder nicht, nahtlos schlösse sich die Regensburger Augensegnungs-Anweisung12 des 11. Jahrhunderts an mit dem Wissen um Jesu Aufforderung: „Geh hin und wasche dich im Teich Siloah!“. Funktionell verbindet die Gottesmutter diese Wunderheilung mit der aktuellen Not des Augenkranken. Sie wird dazu mittels einer Konnotation zu Lauterkeit und Klarheit legitimiert. Denn nach der Farb- und 9 siehe Kapitel 29 10 siehe Kapitel 13 11 Leiden Univ.Bibl.Voss. lat.8°15, vor 1034 in St.-Martial in Limoges entstanden, veröffentl. in: Anecd. Nov. (Hg. Bernhard Bischoff ) Quellen und Unters. zur lat. Philologie des Mittelalters, Band 7 (1984), S. 264f 12 München BSB Clm 14472, fol.166v, Volltext siehe C, Abb. 87
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Spruchtexte
Symptomaufzählung folgt eine zweite Garantiezusage, nun auf ihre Jungfräulichkeit: Das Auge werde so klar und lauter wie unsere Frau, als sie unseres Herrn genas, also nach der Geburt Jesu. So könnte es, wie man aus anderen Texten weiß, zu lesen sein. Erst danach und offenbar angesetzt an das Bisherige tritt Ottilie in Funktion. Ihre Jungfräulichkeit ist Verbindungsglied zu Maria. Es ist die dritte Abfolge in der Kette der suggestiv wirksamen Wunderbeweise. Neben totaler Blindheit werden weitere Augenleiden aufgezählt: „Wesen“ und „Zesen“ als angeflogene, das heißt infektiöse, oft dämonistisch vorgestellte Leiden, „Stecken“ als stichartig schmerzhafte, „Flecken“ als umschriebene maculöse Veränderungen der Hornhaut, Geschwüre, aufschießende Blatter und schließlich Herbrate. Das wird als „hertbrant“13 oder Brandherd gedeutet und als Entzündung im oder am Augapfel der Attacke eines boshaften Wesens zugeschrieben. Ein weiterer Segen mit Ottilie, aus Schwaben nach Sachsen exportiert,14 ebenfalls dem 15. Jahrhundert angehörend, setzt fragwürdige inhaltliche Beziehungen. Vielleicht war mit „Gabreil“ an den Engel des Buchs Tobit und den Tobiassegen angeknüpft. Der Einsatz der heiligen Ottilie erscheint auch in ihm wie angefügt und hat ein Motiv der Wirkmächtigkeit, das sonst in Hirtensegen mit einem Himmelschlüssel gegen Wölfe dem Apostelfürsten Petrus zusteht.15 Die genannten Augenleiden entsprechen aber dem Mettener Segen. Zusätzlich fallen „Aißnot“, ebenfalls ein Geschwür, und „Fell“, das Pterygium (Flügelfell) auf. Ich gebe ihn gekürzt wieder: Der haillig her sand gabreil Dem heiligen Herrn Sankt Gabriel dem döte seine auge also wee dem taten seine Augen so weh; er nan ain stab in sein hand er nahm einen Stab in seine Hand, er walt auß gaun in alln land er wollt fortgehn in andere Land, ob er iemat fand der im ain rad ob er jemand fände, der ihm Rat an seine auge ton knnd für sein Auge geben könnte. da kam die weiß fraw santi Maria […] Da kam die weise Frau Sankt Maria […] hailigw junckfraw sand Otilg greif Heilige Jungfrau Sankt Ottili greif untern undern sessel u. nim den himelschlissel Sessel und nimm den Himmelschlüssel unt nim Kristoffe aus seine auge und nimm „Kristoff“ aus seinem Auge den aißnote (?) wassen (?) und ffell den „Aißnot“, den „Wassen“ und das Fell und deini aug ser und schueß plater und dein Augengeschwür und die Schußblatter und denn her pratte. ... hailligw junckfraw und den Herprat. heilige Jungfrau Sankt sand Otil du wardest plindw porn und Otil, du warst blind geboren und warst blind wardest plindw douft gesechest wardest getauft sehend (?) und hast mit dem Tag ain geschläifft (?) und haust hwit des die Gewalt, ein jedes Auge zu heilen. […] tags den gwalt das dw ain jedlich aug wal stoelle kanst[…]
13 Schulz, M.: „herbrate“ und „hippischert“, in: Würzb. Med.hist. Mittlg. 19 (2000), 131–152, hier: 134–142 14 Dresden SLUB Mscr. M 180, fol.83rv, Segensammlg. Schönbach, U.B.Gießen, Schönbach vermerkt „grob schwäbisch“, die Fragezeichen von Schönbach gesetzt. 15 Siehe Kapitel 26
Augenleiden
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Auf 1617 datiert ein Segen, aus dem Schwarzwald.16 Darin ist ein anderer Legendenzweig nach Art der Hiob-Segen-Sippe verarbeitet, daher kommt der Einbau vom „Ausfaulen“ der Augen, was der Ottilienlegende fremd ist. Ottilia, so weiß die Legende nämlich, habe für ihren Vater, obwohl er sie völlig verstieß, so heftig getrauert, gebetet und geweint, daß der Stein, auf dem sie kniete, die Spuren zeigt. So gehört heute zur Wallfahrt auf den Odilienberg im Elsaß auch ein Besuch der Tränenkapelle. Sant Ottilia rein, sy kniet auf einem stein, sy weint, sy bettet, sy trauret, daß ihr ihre Augen ausfaulen, da kame Maria Gottes Muotter und sprach, Ottilia, was thuost du hie? ich weine und bette und traure, daß mir meine Augen wend außfaulen. da sprach Maria Gottes Muotter: was wiltu mir geben, ich will dir deine Augen versegnen. sy sprach: waß soll ich dir geben? es ist alles dein, himmel und erden und alles das da ist. Maria huob auf ihre göttliche hand und versegnet sant Ottilia ihre Augen und hữrbraten, den weissen und den roten, den Nagel und den Flecken, als getrib und alles gewib. und alles ungefig, was dir so wehe in deinen Augen thuot, das soll aus dir zerschwinen und zergohn, als die seind zerschwinen und zerganen, die Gott den herrn hand gebunden und gefangen.
Im 16. und 17. Jahrhundert sind vereinzelt weitere Ottilien-Segen aus südlichen Gebieten mitgeteilt, aus der Schweiz ein Spruch des 83-jährigen Martin Keller von Uetikon. Er galt als Spezialist für „den Fleckhen der Augen“. Trotzdem sollte der Kirchenstillstand (Vorstand) zu Meilen dem Greis das Segensprechen untersagen. Geheilt wird hier mit 3 Kräutern, Fleckenkraut, Teufelsabbiß, Frauenkraut (nicht wie sonst üblich mit Augentrost und Rittersporn, die der Ottilie geweiht waren) samt dem Spruch: 17
Unsere Frauw ging in Egyptenland, da sy Sant Ottilia fand. Sy sprach: wer hat dir gethon. Sy sprach: bättist du mich so segnete ich dich […]
Wieder mehr auf die Legende von der Verstoßung in die Fremde, „ins elendt“ eingehend, nun unter stillschweigender Voraussetzung der Wunderheilung durch die Taufe, notiert ein fränkischer Schuster in seinem Hausbuch des späten 16. Jahrhunderts: 18
Ein blatter segen wan eins blattern im Aug hatt sol man einen also für segnen. Die heilig Junpfrau sandt ottill war blindt geborn war blindt verlorn, und war außgesandt, Inns elendt es war eins tags so siz du nider blattern, an
16 Karlsruhe BLB, Handschrift aus St. Blasien Cod. Pap.Germ. 87, ,Arzneibuch eines Wundarztes in Kränkingen‘ (?) 1617, veröff. Mone, Anz.6 (1837), S. 470 17 Wehrli, Paul, in: Schweizer Volkskunde 22 (1922), S. 7 18 Bamberg StAA, Handschrift Rep.A 245 VI Nr.40; Hausbuch (1570–99) des Schusters Hans Zeis, Scheßlitz
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dieser statt, siz nider und zu brich nitt, und thu diesen gesicht nichts, das zell ich mir und dir zu buß […]
In einem elsässischen Segen des 17. Jahrhunderts rückt wieder die Begegnung mit der Gottesmutter in den Vordergrund und Ottilias Klage über unglaubliche Augenschmerzen. Wahrscheinlich ist der „Nagel“ gemeint, eine fiebrige Augenentzündung der Pferde, auch als Augstall oder Haarseil bezeichnet.19 Die Behandlung erfolgte mit Nadel und Faden und einem Abstreichgerät. „Waser badt“ und „atemb aus gotes mundt“ sind Anspielungen auf das Passionsgeschehen, können aber gleichzeitig für eine praktische Therapie mit Spülung und Frischluftzufuhr genutzt werden. 20
Ein segen für augen wee. Gott vnnd St. Otilia giengen über ein grienen heit, begegnet in vnser lieben frauw in einem weißen cleidt. Otilia, wo wilt hin? Ich weiß nit, wo ich hin soll, so biter wee ist mir in meinen augen, das mir weder frauwen noch mann könen glauben. Otilia, se hin den seiden fadten, damit streich dein negel. Alß klar sei das aug alß Gott waser badt, das er hat getragen am heiligen Ostertag. Selig ist die Stundt vndt der atemb, der got auß gotes Mundt.
In einem Siebenbürger Spruch aus einer Visitation um 1650/52 ist Ottiliens Name verwischt, aber ihre Biografie noch erkennbar. Mit der Entfernung nach Osten gegen die Konkurrenz zur heiligen Luzia als Patronin für Augenkranke schwindet die Popularität von Ottilia. Die Erwähnung des „mermelinen Steins“, auf den sie sich weinend niedersetzt, erinnert an die Sippe des Petrus-Zahnwehsegens: 21
Duidelgh, die ward blind geboren, sie ward blind auferzogen, sie kam in ihr Kindheit ihr Eltern in grosz Unheild; sie ging in einen wilden Wald, sie fand ein mermelinen Stein, dar sasz sie nieder nur allein, da weinet sie um ihr grosz Blindheit. Da kam Christus […]
Man sieht, daß sich ein für Ottilia eigentümlicher Spruchtyp nicht entwickelt hat. Die Texte lehnen sich an Motive anderer Segenstypen an. Allein das „blind geboren“ und die Aussetzung des Kindes in die Fremde kehren gelegentlich wieder und blieben Merkmal eines früher wahrscheinlich im Süden verbreiteten Spruches. Seit dem 17. Jahrhundert sind keine weiteren volkstümlichen Heilsprüche mit Ottilia belegt, sieht man von einer Mitteilung aus Siebenbürgen22 für die Mitte des 19. Jahrhunderts ab, wo der zuletzt genannte Text aufgegriffen ist für die Behandlung von Augenstar, kombiniert mit der alttestamentlichen Anweisung aus dem
19 vgl. Lezius, Renate: Die Roßarzneischrift des Joh. Carlyburger 1683, Diss. München 1968, S. 89f 20 Lefftz, Joseph, in: Archiv für elsäss. Kirchengeschichte 7 (1932), S. 213 21 Schuster, F.W.: Siebenbürgisch-sächsische Volkslieder, Hermannstadt 1865, Reprint Sändig, S. 311 (nach Manuskrift Teutsch, Visitationen) 22 vgl. Wlislocki, H.v.: Volksglaube und Volksbrauch der Siebenbürger Sachsen, Berlin 1893, S. 83
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Buch Tobit, Tierleber aufs Auge zu legen. Weder „Duidelgh“ noch „Dudela“ werden aber noch als Namen der Ottilia verstanden. Heute, im Zeitalter „sozialer“ Indikationen und raumgreifender Fötaldiagnostik mit entwickelbaren Konsequenzen einer vorgeburtlichen Selektion kann die Verehrung der heiligen Ottilia Beispiel geben, in welcher Form die Kirche jener Zeit inhumanen Strömungen entgegengetreten ist. Die legendäre väterliche Haltung gegen ein unvollkommenes Kind erinnert an antike heidnische Gewohnheiten und ihre häretischen Rezidive, die die Kirche zu überwinden trachtete. Lebendig bleibt vielerorts die Verehrung der heiligen Ottilia auch deshalb, weil Blindenheilung unter allen Wundern eine höhere Dimension besitzt. Das Sehorgan wurde gegenüber dem Ohr in der christlichen Kultur zumeist als intensivste menschliche Sinnesqualität verstanden. „Sie haben Augen und sehen nicht“ weist auf einen Unglauben hin, den die Lichtsymbolik in Gebet und christlicher Kunst mit Christus als Sonne überstrahlen soll. Gelegentlich ist Ottilia nicht mit ihrem Zwei-Augen-Attribut (auf einem Buch) dargestellt, sondern hält in ihrer Hand eine Sonne (Tafel 1). Und in den Beschreibungen von Heilungswundern wird nicht einfach von „sanatus“ (geheilt), sondern von „illuminatus“ (erleuchtet) gesprochen. Betrachtungen zum folgenden großen Augensegen mit den drei Meerfrauen ergänzen diesen Aspekt. Blindheit / Augenleiden / Neuropsychosomatische Aspekte siehe Kapitel 2
2. Augenleiden: Der Segen mit den drei Meerfrauen
– Drei Frauen fesseln die Sinne – Synchronisierung aktuelles Leiden mit mythischer Erzählung ist Hirnstammfunktion – Imaginative Psychotherapie – Spätere Texte zwischen Psychosomatik und religiöser Erziehung: Gottesblindheit oder Weltblindheit –
Die ursprüngliche Heimat der schlichten Sammelhandschrift Clm 14453 der Bayerischen Staatsbibliothek aus dem Kloster St. Emmeram zu Regensburg, ist noch nicht bekannt. Sie enthält verschiedene Schriften zu den Klageliedern des Propheten Jeremias. Inhaltlich scheint der lateinische Augensegen aus dem biblischen Rahmen dieser Schriften herauszuspringen, aber das Lukasevangelium und ein Blick in die mittelalterliche Kathedralkunst (Abb. 04) lassen vermuten, daß die Einfügung des Segens wohl kein Zufall war. Der im 13. Jahrhundert geschriebene umfangreiche Text lautet in gekürzter Form: 1
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+ aligens +negligens +negligena supra ripam maris sedebant et dixit +aligens et dixit +negligens et dixit +negligena. Eamus et diffaciamus maculam ab oculo famulo dei. N. +ayos (3x) +sanctus (3x) pater noster +allia +neglia +negligena supra maris sedebant maculam de oculo famuli dei N. detergebant et dixerunt[:] Si est alba Christus spargat si est rubra Christus deleat. si est nigra Christus deficere faciat. Christus vincit Christus (97v) regnat Christus imperat. [ayos ...] adjuro te macula per deum altissimum. per patrem et filium et spiritum sanctum et per unum deum vivum et verum omnipotentem creatorem celi et terre. ut exeas et recedas et deleacis de oculo istius famuli dei N. Iterum te adjuro macula per angelos et archangelos . per benedictiones Abraham et Ysaac et Jacob […], deprecor vos ut sitis medicamentum
+Aligens +Negligens +Negligena saßen am Ufer des Meeres. Und sprach Aligens und sprach Negligens und sprach Negligena [:] Gehen wir und entfernen wir die Macula vom Auge des Gottesdieners N. Heilig heilig heilig +Allia +Neglia +Negligena saßen am Meer, wischten die Macula am Auge des Gottesdieners N. ab und sagten [:] Wenn sie weiß ist, möge Christus sie zerstreuen, wenn sie rot ist, möge Christus sie tilgen, wenn schwarz, möge Christus sie z. Abfallen bringen. Christus siegt, herrscht, gebietet. Ich befehle dir, Macula, durch Gott, den Höchsten, Vater, Sohn, hl. Geist, den einen, lebendigen und wahren Gott, den allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erde, daß du herausgehst und weichst und zergehst vom Auge dieses N. Und noch einmal beschwöre ich dich, Macula, durch Engel und Erzengel, durch die Segnungen Abrahams, Isaaks und Jacobs […], Ich bitte euch, seid Arznei über den Augen
München BSB Clm 14453, fol. 97r aus St. Emmeram, Regensburg, 13. Jahrh.,veröffentl. Schönbach, Zeitschr. für dt.Altertum 24 (1880), S. 74f
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super oculum famuli dei. N. amen Domine Jhesu Christe qui es vera salus et medicina,qui salvasti et inluminasti oculos ceci nati anatatoria Syloe salva et inlumina oculos istius famuli dei. N. Absterge maculam sicut a beato Job. […] +Allia +neglia +negligena […]
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des Gottesdieners N. – Herr Jesus Christus, der du bist wahres Heil und Medizin, der du die Augen des Blindgeborenen am Teich Siloam gerettet und erleuchtet hast. Rette und erleuchte auch die Augen deines Dieners N. […] Wisch ab die Macula wie vom seligen Hiob. […]
Dieser Segen setzt wie viele Augensegen mit einer personalen Dreiheit ein, hier mit entstellten Namen heiliger Frauen, die wie Zauberworte wirken. Am Beginn ein Eklat, eine faszinierende Fremdheit, die die Sinne ablenken könnte in eine andere geheimnisvolle imaginative Welt. Die Drei sitzen am Meeresufer wie jene drei Heilwesen der alten Texttradition, deren Entwicklung sich wie ein Wurzelgeflecht seiner exakten Erforschung verschließt.2 Die Namen der drei Heilwesen können entschlüsselt werden. Aus „Nelia Teglia“, aus „Teglie Neglie Negaline“ und aus „Allia Neglia Negalina“ sind „Thekla, Nazarena und Aquilina“ durchzuhören.3 Thekla wurde allgemein in jeder großen Not angerufen; Aquilina ist Märtyrerin, der die Henker mit glühenden Ahlen die Augen durchstachen, und Nazarinus erglänzte bei seiner Passion in himmlischem Licht, als Nero und seine Begleiter beim Verhör erblindeten. Nazarenus’ Name wird zur Konstruktion eines Drei-Frauensegens oft verweiblicht.
Abgesehen von dieser Einleitung baut der gesamte Text auf eindeutig kirchlich-biblischen Elementen auf, wovon er ein buntes Gemisch bildet. Er tendiert zu wiederholenden litaneiartigen symptombeschwörenden Formulierungen und ist formal betrachtet somit kein reiner Segen. Es wird ausschließlich eine „Macula“ attakkiert, die in späteren Texten als Mail und Mal übersetzt, für Katarakt, den grauen Star gelten soll. Im Mittelpunkt steht das Evangelium Johannes 9,6f, also die Heilung eines Blindgeborenen, dessen Augen Christus mit einem aus Erde und seinem Speichel gemischten Teig bestreicht und heilend erhellt mit der Aufforderung: Geh hin und wasche dich im Teich Siloah! – Christus ist wahres Heil und Heilung, göttliche und irdische Medizin, eine biblische Wahrheit, die in volksfrommer Bildgebung für Ärzte und Apotheker später als „himmlischer Doktor“ und „Himmelsapotheke“ Verbreitung finden sollte. Abschließend werden – im obigen Segenstext von uns weggekürzt – zwei frühchristliche (Erz-)Märtyrer und Blutzeugen genannt: Laurentius, der nach der Legende Blinde geheilt hat und Erasmus, einer der 14 Nothelfer, der mit Hilfe eines Engels geistig Blinde dem Lichte Christi zuführte. Hiob ist als besonders lebensnahes und populäres Vorbild eines beharrlich mit Gott um seine Heilung ringenden Menschen zu denken. Sein Leib wird nach alten Ge2 3
siehe dazu das Kapitel 13 Franz, Adolph: Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter, Freiburg 1909 Bd.II, S. 490
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schichten von Maden zerfressen, auch seine Augen. Hiobs Geschichte gibt Aussicht auf eine gute Prognose. In seinem grundlegenden Werk zu den kirchlichen Benediktionen hat Adolph Franz (1842–1916) zu Recht geschlossen, daß die lateinischen Augensegen Vorbild für deutsche Texte wurden. So weisen etwa ein Jahrhundert nach dem „Emmeramer“ Text die ebenfalls umfangreichen Segen der Pergamenthandschrift Codex germanicus Monacensis 544 übersetzte Anteile auf. Sie gehörten wahrscheinlich einmal der Fuggerschen Bibliothek in Augsburg. Dieser aus mehreren Teilen zusammengesetzte deutsche Segen im Cgm 54 – sollte er wirklich in Umformung des Emmeramers oder einzelner seiner Teile entstanden sein – bewahrt die Vermischung segnender Formeln mit befehlenden Beschwörungen und ersetzt die Zaubernamen und die performierende Eingangs-Szenerie der Drei-Frauen-Geschichte durch eine kurze Erinnerung an Johannes den Täufer. Die Jordantaufe kehrt am Schluß wieder, sodaß der Segen wahrscheinlich mit einem Taufwasserritus verknüpft war; wie es auch heißt, daß daz selb taufwazzer müez ab waschen und vertreiben dise mayl und allen smertzen der augen. Weit ausgebreitet sind Preisungen der Dreifaltigkeit, der Engelscharen, biblischer Väter, des heiligen Nicasius und der Evangelisten. Und wiederholt werden die im Emmeramer genannten Blindenheilungen durch Christus aufgerufen. Die „macula“ wird in „mayl“ übersetzt und am Schluß durch weitere Augenübel, zingl, vel und augwe ergänzt. Weitergehende augenärztliche Differentialdiagnose bieten alte deutsche Segen wie der Cambridger aus dem 12. Jahrhundert, wenn er scuzblatrun („aufgeschossene Blatter“) und herbrate5 nennt. Eine größere Heiligenschar führt durch die Nennung der 7 Felicitassöhne der Londoner Augensegen des 12. Jahrhunderts mit sich. So auch der lateinische Kompositsegen des Clm Nr. 7021, fol. 168v. Eine frühe Quelle des späteren Augen-Nix, wie immer man es deuten mag,6 nennt der aus St. Ulrich zu Augsburg kommende Augensegen des Clm 4350, fol. 30v des 14. Jahrhundert, der der macula drei mal befiehlt, „ad nichilum redigaris“, also ins Nichts zurückzujagen.
Es fällt immer wieder auf, daß unter denjenigen Krankheitssegen, die nur einen einzigen Körperteil oder ein Organ behandeln wollen, Augensegen im Mittelalter bei weitem in der Überzahl sind, obwohl gerade die Verbaltherapie organischer Augenkrankheiten kaum erfolgversprechend und empfehlenswert war. Warum wurden sie tradiert? Weil sich mit ihnen die Idee und die Metaphorik einer Sinnerweiterung zu religiöser Klarheit verband, die Behandlung des Unglaubens und damit der Sünde als Krankheitsursache. Und weil kaum eine Symbolik besser die Gehobenheit und Führungsposition des geistlichen Standes erklären konnte. Der Kirchenvater Augustinus hatte drei Arten des Sehens genannt, und die unterste Stufe war Sehen mit Augen, z. B. Lesen von Buchstaben. Die zweite Stufe: Sehen 4 5 6
München BSB Cgm 54, Perg. 14. Jahrh., Blatt 95r (- 96v), veröffentl. Schönbach, Z.f.DA 24, (1880), S. 65ff Schulz, Monika: „herbrate“ und „hippischert“, in: Würzburger Med.-hist. Mitteilungen 19 (2000), 131–152 vgl.Grabner, Elfriede: Krankheit und Heilen, Wien 1997², S. 175–182
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Abb. 04 Am Dom zu Chartres weisen Propheten und ihnen zu Füßen figurierte menschliche Sinne auf den Weg zu Christus als Licht zur Erleuchtung der Heiden. Von links: Unter Jesaias liegt der von Christus Träumende, unter Jeremias sitzt der ihn Hörende, unter Simeon erhebt sich ein Schauender. Das Auge wird zum höchsten spezifisch christlichen Sinnesorgan.
„durch den Geist des Menschen“, „die Schauweise, durch die wir uns in Gedanken mit abwesenden körperhaften Dingen befassen“ z. B. in der Vision. – Die oberste ist das Sehen „durch den Verstandesblick“, der nimmt „jene Dinge“ wahr, „die keine Bilder haben ...“. Diese verstandesmäßige oder intellektuale Schauweise sei den anderen überlegen. Und das Wesen der dritten Art sei die Nächstenliebe.7 Zu Ende des 15. Jahrhunderts hat der Minoritenprediger Bernhardin von Busti (gest. 1513 in Malegnano in der Lombardei) in seinem Mariale, das 63 volkstümliche Predigten zur Gottesmutter und zum heiligen Joseph ausbreitet und das mehrfach gedruckt wurde, die zehn furchtbaren Folgen der Blindheit aufgelistet. Augustinus ist nicht vergessen. Aber Bustis Befunderhebung wirkt auf uns, als habe er aus eigener unmittelbarer Anschauung ermittelt. Es ist wie eine kleine soziopsychosomatische Studie, die auch hirnorganische Störungen einschließt. Busti8 nennt 1. Gefangensein ohne Kerker und Fessel 2. Unfähigkeit zum Urteilen 3.Täuschung beim Umgang mit Sachen 4. Abhängigkeit vom Blindenhund 5. mangelnde Gefahreneinschätzung 6. das häufige Hinfallen 7. Unerreichbarkeit einer Sicherheit 8. Vermeintliches Verborgensein trotz allgemeiner Sichtbarkeit 9. Aufblick zur Sonne, ohne erleuchtet zu werden 10. Existentielles Angewiesensein auf einen Führer. Und Bernhardin wie seine Nachfolger im Orden hatten anhand dieser sich überlappenden Kriterien die Trübung des
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zit. nach Beutin, Wolfgang: Zur Grundlegung der Mystik Theresias von Avila, in: Europäische Mystik vom Hochmittelalter zum Barock, Frankfurt/ M. 1998, S. 167–187, Bezug S. 171 Bernhardin von Busti, Mariale, fol.400v; vgl. Meier, Christel: Gemma spiritalis, München 1977, S. 397 sowie Digitalisat der Universität Granada
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geistigen Blickes wie des Sehorgans als Wurzel für Ketzerei und individuelle Verirrung in die Sünde beschrieben und gepredigt.
Im Folgenden greife ich einen Zweig der Segensentwicklung in die Neuzeit heraus, der mir nach diesem Aspekt entscheidend durch die Korrespondenzen zwischen Volksfrömmigkeit, volkstümlicher Heiltätigkeit und pastoraler Predigt geprägt zu sein scheint. Den alten Verortungen der an Marmorstein und Meerufer sitzenden Dreiheit hat man offensichtlich schon lange nicht mehr überall Sinn abgewinnen können. Was sollte das bedeuten? Schon im Mettener Augensegen sitzen diese Drei an einer Kirche. Die geheimnisvollen Orte als Attraktiva bleiben selten stehen. Die dann im Segen oder in der Beschwörung folgenden Dialoge werden im 16. Jahrhundert erzieherisch konkret. Auf die Frage der Gottesmutter, warum sie denn da sitzen, antwortet einer von ihnen, es sind vier heilige Herren: 9
Was wais ich, fraw mutter. Wir solten siczen, schreiben vnd lesen vnd gottes dienst pflegen. So künden (können) wir es laider nit gesehen
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Oder auf die Frage Christi an den heiligen Andreas, was sitzest du hier? – Ich hab den leidigen Flecken in meinen Augen, ich kann weder gelesen noch gesingen, ich kan mich der Schrift nicht mehr gephlegen Aufhub Christus seine gebenedeiten Hände, er strich ihm über sein Angesicht. Heiliger Andreas, nun stehe auf, und nimm dein Buch in deine Hand, und gehe der lieben Kirchen zuhand! da sollst du singen und lesen, dich der heiligen Schrift gar fleiszig bephlegen. so wird dich Gott erhören […] so sollen dir werden deine Augen gut, wie die helle klare Sonne am heiteren Himmel aufgeht.
Bibelstudium und Gottesdienstteilnahme werden Thema für religiös Sehgestörte. Zwar wird das Sinnesorgan Auge noch einbezogen, aber erst sekundär; und die in der Erzählung genannten Personen suchen Gottes- Erkenntnis, nicht Augentherapie. Noch im 19. Jahrhundert sind derartige Augensegen zu registrieren: 11
Wann ein Mensch oder Tier erblinden will, so sprich also: Es saßen drei arme Blinde wohl auf der Gottes Straße, da sprach unser lieber Herr Jesus Christus: ihr arme Blinde, warum sitzt ihr da? – Darum sitzen wir da, daß wir Gott den Allmächtigen nicht kennen sehen und erkennen. […] (folgt Segnung gegen Geschoß, Fell und Nägel mit Vergleichsbild Judas’ Abgang)
Die alten Motive der drei wirkmächtigen Frauen oder dreier Herren sind vielfältig anderen Gestalten gewichen. Sie gehen mit ihren Augenleiden zum Gottesdienst zum Singen und Beten. Sie erscheinen in eigenwilligen oder volkstümlichen Varia9 Heidelberg Univ.-Biblioth. CPG 244, 16. Jahrh., veröfftl. Heilig, Alemannia 25, S. 264 10 Visitationen Siebenbürgen 1650, zit. nach Schuster, F.W. (Hg.) Siebenbürgischsächsische Volkslieder, Herrmannstadt 1865, Neudruck Wiesbaden 1983, S. 310 11 Heeger, Fritz: Pfälzer Volksheilkunde 1936, Seite 53
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tionen und selten noch rational durchschaubaren Verschreibungen. Und gerade diese geheimnisvolle Verklärtheit in den kurzen Erzählungen blieb entscheidendes, scheinbar von neuronaler Bedeutungsumsicht gewähltes Element. Volksfromme Haltung, Selbsterkenntnis und Gesundungsbegehren konnten dabei zusammenfließen. 12
Für Felle auf den Augen Es waren drei Königstöchterlein, die gingen die rechte Straße die erste ging den rechten Weg, die zweite ging den rechten Steg, die dritte die rechte Straße und hiermit will ich das Fell vom Auge blasen.
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Es gingen drei heilige Weiber unter eine Pappelweide. Die eine blies das Fell von den Augen, die andere blies die roten Blattern von den Augen, die dritte blies all die Kodzel und Striefel von den Augen + + +
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Es gienen ein Mahl drey Evangelüsten auß; Jhr Evangelüsten wo wohlt Ihr aus? Wier Wohllen Hin Ein / in die Kirche gehen Wolln Siengen und Betten, schreibenn und lesen, Es thun uns unsere Auchen Wehe. Unsser augen wohllen uns nicht Vergehen […]. Unser liebe Frau Hatt auf Jhr rechten Hand Ihr rechte geh und Bießet uns für dem nacht neBel, vor den Aßer; schimpf Blatter sitz nieder zerBrich nicht
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Reist Maria über Land, hat sie ein Büchlein in der Hand. Kann sie lesen, kann sie schreiben, kann sie´s Fell vom Aug´vertreiben.
Im Bereich einer Wallfahrt im Bayrischen Wald um Neukirchen beim Heiligen Blut oder im benachbarten böhmischen Klattau entstand im 19. Jahrhundert ein Drei-Marien-Segen, dem man das Vorbild der alten Drei-Frauen-Segen anzusehen meint. Wallfahrer haben ihn in jeweils ortsanpassenden Reimen über Niederbayern, die Oberpfalz und Böhmen verbreitet. 16
Liebe Frau von Hohen Bogen, ist mir was ins Auge geflogen; Liebe Frauen Passaus, Tu‘ mir‘s wieder heraus; Liebe Frau vom heiligen Blut, Mach‘ mir mein Aug‘ wieder gut
12 Curtze, L.: Volksüberlieferungen aus Waldeck, Arolsen, 1860, S. 424 13 Ide, Werner: Heilzauber und Abergl., in: Hess.Blätter f. Volksk.48 (1957) 52, 19. Jh. 14 Wunsiedel Fichtelgebirgsmuseum, Handschr. C213/2823 des J.C. Ächtner, S. 4, S. 307, Interp. korrigiert 15 Toischer, W.: in: Mittlg. d.V. f. Geschichte der Deutschen in Böhmen 16 (1877), 237, 19.Jh. 16 Rank, Joseph: Aus dem Böhmerwald, Leipzig 1843, neu hggb. Prag 1917, S. 59f
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Blindheit / Augenleiden / Neuropsychosomatische Bedeutung der Verbaltherapie Medizinisch betrachtet können Segen und Beschwörungen bei den meisten Augenleiden kaum helfen. Grauer und grüner Star, ganz zu schweigen von angeborener Blindheit, einigen Stoffwechselleiden, Netzhautdegenerationen, auf die wir die in den Segen genannten Krankheitsbegriffe zurückführen könnten, sind organische Erkrankungen. Aus der letzten Zeit des Segensprechens weiß man, daß nur noch Fremdkörper und Gerstenkorn von Heilkundigen behandelt wurden, wobei mehr die praktischen Maßnahmen der Spülungen im Rahmen z. B. von Quellkulten und die bei Ritushandlungen befohlenen Augenverdrehungen zur Entfernung beitrugen, falls die Quellen hygienisch sauber waren. Eine Verbaltherapie für alle Augenleiden war freilich lange in allen wichtigen Arzneibüchern und Hausbüchern enthalten geblieben, denen für Ärzte und denen für Laien, wurde über Jahrhunderte weitergeschrieben und stand meistens zwischen Kräuter- und Chemie-Rezepten. Heilkundigen aller Ebenen und Ausbildung sollte die Möglichkeit eines Rückgriffs auf psychologische Beeinflussung17 erhalten bleiben, mögen doch manche unter ihnen den seelischen Anteilen Aufmerksamkeit geschenkt haben, eben einer psychosomatischen „Ausgestaltung“ bei depressiven oder histrionischen Patienten. Augenmuskelstörungen mit zeitweiligen Doppelbildern, Sehschärfeschwankungen und Gesichtsfeldeinschränkungen sind gelegentlich psychosomatischer Natur.18 Ihnen konnten die Erzähltexte unserer Augensegen psychotherapeutisch durch Imagination ebenso dienen wie den Notfällen bei akuten Infektionen und den Trost Suchenden bei schweren chronischen Augenleiden. Mit umstimmend täuschender Potentialaktivierung im Netzwerk des Hirnstamms und des limbischen Systems könnten sie bei litaneiartigen Wiederholungen zu korrigierender Ausbalancierung der jeweiligen Seh- und Blick-Störungen beigetragen haben. Nachhaltige psychotherapeutische Wirkungen wären natürlich von kurzen Spruchdarbietungen nicht zu erwarten gewesen. Bei angeborener Blindheit besteht keine Gelegenheit, jemals visuelle Erinnerungen zu speichern. Ein ganzes Drittel des Gehirns, das bei Gesunden fürs Sehen arbeitet, kann für andere Sinne, besonders Hören und Tasten aktiviert werden. Musikalität und Blindenschrift erfahren hohe Fertigkeiten. Spiegelneurone*19 der präfrontalen Hirnrinde, die für Nachahmung von Wahrnehmungen fungieren, können bei Blinden der strukturbildenden Stabilisierung eingegangener Hör- und Fühlsignale dienen, sodaß eine kulturgebundene Perzeption der Beschwörungstexte und Segen plausibel wird. 17 vgl. Telle, Joachim: Petrus Hispanus, Diss. Heidelberg 1972, S. 169–172, 210f 18 Zur Psychosomatik der Ophthalmologie siehe Fikentscher, Erdmuthe: Wenn das Auge leidet. Vortrag Lindauer Psychotherapiewochen 2004 (Online); Franke, G. H.: Psychosomatik der Uveitis, Psychother. Psych. Med. 55 (2005), 65–71 19 Die mit * versehenen Namen und Begriffe finden im Anhang Erklärung
3. Bärmutterweh, Bauchgrimmen und Kolik: Beschwörungen von St. Gallen und Indersdorf: „Bleib da, wo Gott dich hingesetzt hat!“
– Von streunenden Kröten im Menschenleib und der Wandelbarkeit der Gebärmutter – Verkörperung von Leibschmerz in eine Tiergestalt – Beschwörung als Ordnungsruf ins autonome Nervensystem –
Zwei erstaunliche Schriftzeugnisse, antik das eine und noch aus der Wende zum 17. Jahrhundert das andere, beleuchten eine alte phantastische anatomisch-physiologische Vorstellung über die menschliche Gebärmutter (= Uterus, Matrix): – Ein altgriechisches Zauberamulett aus dem 3. oder 4. Jahrhundert nach Christus war bei Uterusanhebung mit einem aus 7 verschiedenen Farbsträngen bestehenden Band um den Hals zu hängen. Eine Inschrift auf diesem kleinen Zinnstreifen beschwört beim Schöpfer von Himmel und Erde, Meer, Licht, Finsternis und Engeln diese Gebärmutter. Sie soll zurückkehren an ihren Sitz, soll nicht nach rechts und nicht nach links zum Brustkorb wandern und nicht das Herz annagen wie ein Hund. Sie soll an ihrem gehörigen Platz verbleiben.1 – Ein Passauer Hebammen-Lehrbuch von 1595 beschreibt die Anatomie der Gebärmutter mit ihren „Hörnern“ und „Zeuglen“ (Embryonen) und fügt „nicht ohne Ursache“ hinzu, daß den Frauen zu vermitteln sei, daß die Gebärmutter ein inwendiges Glied ist, denn viele verträten die Auffassung, es sei die Gebärmutter ein lebendiges Tier mit Maul, Füßen, Klauen oder Tatzen, welches etwa nach Katzen-, Frosch- oder Krötenart beiße, nage, kratze und um sich zwicke. Ferner sei zu unterstreichen, daß die Gebärmutter nur „Weibspersonen eigentümlich zugehöre.“ Marktschreier nämlich hätten behauptet, daß auch bei Mannspersonen eine Gebärmutter sich hin- und herbewege und aufsteige und viel Wehetage bereite.2 Ein gesunder Europäer, der heute von solchen eigenwillig im ganzen Menschenkörper herumgeisternden, veränderbaren und quälenden Wesen liest, wird kein Nachempfinden und kaum einmal Verständnis dafür entwickeln können. Oder er wird sich von der Überfülle der Berichte ergriffen, in eine Anfrage an die „paraphy-
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Betz, Dieter: The greek magical papyri, Chicago 1986, S. 123f Sittler, Ludwig: Gesundheitsfürsorge und Heilwesen im Fürstentum Passau, in: Ostbairische Grenzmarken 2 (1958),27–66, Bezug S. 38
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sische Forschung“ verirren, nämlich zum Problem der „verschluckten oder eingehexten“ Tiere, wie es der unglückliche Pfarrer Ebermut Rudolph3 getan hat. Nur Psychiatern, Ethnologen und Abenteuer-Esoterikern ist das Phänomen geläufig. Noch finden geführte Reisen in exotische Regionen statt, wo Pseudoschamanen blutige Knäuel aus den Bäuchen von „Eingeborenen“ herauszelebrieren. Man fährt hin, wohlwissend, daß eine Täuschung durch Folien zugrundeliegt. Noch haben Volksstämme im Amazonasgebiet die Vorstellung vom kranken Wesen in sich. Und in aller Welt beklagen seelisch Kranke mit Wandersensationen bei coenästhetischer Schizophrenie solch erschütternde Erlebnisse, die ihnen keiner nachfühlen kann. Denn Schmerz und Angst sind nur bedingt messbar, geschweige denn sichtbar. Wandernder Schmerz aber drängte massiv zu einer Ursachenklärung und fand in der Gebärmutter das Organ, dem man Bewegungsfreiheit anzusehen glaubte. Das Halbwissen um Vorfälle, Rückwärtslagen, flexible Bänderaufhängung, Schein- und Realschwangerschaften des Uterus und dazu der Mondglaube um Periodizität nährten seit der Antike diese Phantasien. Der griechische Arzt Aretaios hält zu Beginn des 2. Jahrhunderts n. Chr. die Hysterie für eine Krankheit der Gebärmutter, die auch tödlich durch Blutungen enden kann; gleichzeitig gibt es Hysterie für ihn aber auch bei Männern. – Ebenso wie er betrachtet Theodorus Priscianus, ein Medizinschriftsteller des 4./5. Jahrhunderts Koliken unter psychosomatischem Aspekt. Er teilt eine Beschwörung gegen Leibschmerzen mit: „Was zürnst du? Warum treibst du dich wie ein Hund herum? Warum ziehst du dich wieder zurück wie ein Hase? Beruhige dich, Darm und stehe still, Kolikschmerz (crocodile)!“ – Und mit gleicher Theorie notiert Marcellus*4 Empiricus im 4./5. Jahrhundert in einem Spruch gegen starke Regelblutungen: „Ich beschwöre dich Matrix, daß du diesen Jähzorn nicht dulden mögest!“5
Es ist diskutiert worden, inwieweit die oft sieben Kammern zeigenden Darstellungen des Uterus in anatomischen Werken auf die Integration von sieben alten anthropologischen Lehren zurückgehe.6 Dazu gehören die kulturhistorische Bedeutung der Siebenzahl, die Rechts-Links-Lateralisierung der Geschlechter mit Zwitterbildung (Hermaphroditen) in der Mitte des Uterus und die Galen’sche* Siebenzahl der Samenportionen. Andererseits werden die antiken Zeichnungen auf Tiersektionen zurückgeführt. Jedenfalls haben sich die Mehrkammerigkeit und die Ausbuchtungen auf den Bildern mit dem tatsächlichen Aufblähen und der Form der Kröte zu dieser phantastischen Fiktion streunend wandernder Figürlichkeit 3 4 5 6
Rudolph, Ebermut: Rematerialisation oder Psychogenese? Eine Anfrage an die Paraphysik, in: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 1976/77, S. 190–217 Die mit * versehenen Begriffe und Namen finden im Anhang Erklärung Heim, Ricardus: Incantamenta Mag., in: Jahrbücher f. klass. Philologie XIX Suppl.Band Leipzig 1893, S. 479 Reisert, Robert: Der siebenkammerige Uterus, Pattensen 1986 (Hg.: Gundolf Keil, Würzburger Medizinhist. Forschungen, Band 39)
Bärmutterweh, Bauchgrimmen und Kolik
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Abb. 05 Alte Vorstellungen zur Anatomie der menschlichen Gebärmutter (13.–15. Jahrh.)
von Schmerz vereinigt (Abb. 05). Zudem galten in der römischen Antike Kröten oft als Bosheits- und Kampfzeichen.7 Damit wurde „ursachengezielte“ Therapie ermöglicht. Man konnte dem Mutterweh, dem Bauchgrimmen, der Kolik und „Darmgicht“ Befehle erteilen wie einem dressierbaren Tier. Zu den nördlich der Alpen ältesten Beschwörungen der Bärmutter als Matrix gehört ein Text des 10. Jahrhunderts einer Pergamenthandschrift aus der St.Galler Stiftsbibliothek (Abb. 06).
Abb. 06 Die St. Galler Bärmutterbeschwörung (Ausschnitt; 10. Jahrhundert)
Später, im 15. Jahrhundert ist eine ebenfalls noch lateinische Fassung der Gebärmutterbeschwörung in einer Handschrift aus dem ehemaligen Augustinerkloster Indersdorf bei Dachau notiert (Clm 7735, f. 235v), die in ähnlicher Weise sämtliche Uteruserkrankungen verbal attackiert. Ihr folgender Text zählt zunächst Farben und Eigenheiten der Matrix, also der vielgestaltigen Stamm-Gebär-und Urmutter auf. Sie wird mit mehreren Befehlen beschworen wie in einem Exorzismus, sich zurückzuziehen und nicht weiter zu verletzen. Und nun folgt eine besondere Mischung aus antikem Medizinbuchschema, das die Organe – hier nicht weniger 7
Egger, Rudolf: Römische Antike und frühes Christentum, Klagenfurt 1967, S. 144f
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als 27 nach der Regel „de capite ad calcem“, von Kopf bis Fuß – aufzählt nach alter Strategie, wie sie aus Wurmbeschwörungen bekannt war. Nichts am Körper sollte dem Zugriff überlassen bleiben. Es ist die zwanghaft registrierende kettenbildende Variante der Beschwörung eines streunenden Plagewesen, das sich wieder dahin begeben soll, wo Gott, der Windbeherrscher, sie hingeschaffen hat: Jn nomine patris et filii et spiritus sancti + coniuro te matrix alba + matrix nigra + et matrix niffa + m. gilva + m.virida + m.gravosa + m.maculosa + m.splendida + m.demonica + m.impudica + qualiscunques sis+ per deum unum + per deum verum + per deum sanctum + et per tres magos Caspar Balthasar Melchior et per tres pueros Sydrach Mysrach Abdenago et per creatorem omnium creaturarum cui nomen. On. et per nomen dei Eloy et her hoc nomen dei sinxi (?) + Jtem coniuro te matrix qualiscunque sis + per s. Mariam matrem Jhesu Christi et per angelos et per archangelos Cherubin Seraphin tronos et dominationes Jterum coniuro te m. qualiscunque sis + ut recedas ab hac famula dei N + et amplius non ledas eam in capite in cerebro in collo in palpebris in oculis in maxillis in ore in lingwa in naribus in gutture in palato in mento in pectore [...] in genibus in talis in tibiis in ullo membro ejus ut vadas ad loco ubi te deus condidit + hoc impero tibi per illum qui imperat ventis et obediunt ei + consummatum est bene in hoc + Amen + .
Im Namen des Vaters, des Sohnes ... Ich beschwöre dich Weißmatrix, Schwarz-Schneeweiß-Gelb-Grünmatrix, beladene, befleckte, glänzende Matrix, teuflisch, unkeusch, wie du auch seist durch den einen, wahren und heiligen Gott und die drei Magier Caspar, Melchior und Balthasar und die drei Knaben Sydrach, Mysrach, Abednego und durch den Schöpfer aller Geschöpfe und durch seinen Namen On und den Gottesnamen Eloy und «Herr»(?) diesen Namen des heiligen (?) Gottes. Und ich beschwöre dich Matrix, welche auch immer, durch S. Maria, Mutter Jesu Christi, und durch Engel und Erzengel, Cherubim und Seraphim, Thronen und Heerscharen. Ebenso beschwöre ich dich, Matrix, wie du seist, daß du von dieser Gottesdienerin N. weichst und sie fürderhin nicht verletzt an Kopf, Hals, Brauen, Augen, Kiefer, Mund, Ohr, Zunge und Nase, an Gurgel und Gaumen, am Verstand und an der Brust [...], an den Knien, Knöcheln und am Schienbein, an jedem ihrer Glieder, daß du weichest an den Ort, wohin Gott dich gestellt hat. Dies befehle ich dir durch jenen, der die Winde beherrscht, die ihm gehorchen. In ihm ist Vollendung. Amen.
Wie eine solche Bärmutterbeschwörung gehandhabt wurde, beschreibt ein anderer Text,8 der im Zusammenhang mit Ortolfs Medizinbuch steht. Er kommt wahrscheinlich aus dem Münchner Franziskanerkloster des 15. Jahrhunderts: „man sol [diesen Segen] in dreistund nuechter sprechen ob der frawen vnd alls oft fünf pater noster vnd Sand erasin [Erasmus?] gib ain opfer das ist pewärt“ Einen weiteren Akzent bietet die Wiener Handschrift 2999 des 16. Jahrhunderts, die sich auf vier Matrices einläßt und diese den vier Temperamenten zuordnet. Beschworen werden also Matrix sanguinica, matrix colerica, matrix flegmatica und matrix melancolica, dies ein Einfluss der Astromedizin über adaptierte Schrif8
München BSB, Cgm 723, fol. 225v
Bärmutterweh, Bauchgrimmen und Kolik
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ten des Galen*. Die wahrscheinlich über Ägypten im 10. Jahrhundert vorgedrungene Lehre, die den Menschen und seine Krankheiten in Abhängigkeit von Tierkreiszeichen, Planeten und Mondstellungen bestimmt, hatte vereinfachend zur Lehre von den 4 Säften geführt. Hildegard von Bingen hatte sie aus der Antike übernommen. Im paracelsischen Zeitalter war sie dann umkämpft. Blut, Schleim, schwarze und rote Galle, verbunden mit vier Temperamenten, Jahreszeiten und Himmelsrichtungen (Abb. 89) hatten eine starke Systematisierung zur Folge. Nach der Vorstellung dieser Humoralpathologie mit ihrer Viersäftelehre ist man mit Frauenleiden auch zu den Blutwallfahrten gegangen. Ehemals war die Theorie sogar Ärzten als Kalender oder als Lehrfigur von Monarchen für die Ausübung ihres Berufes vorgeschrieben worden.9 Wenn speziell gynäkologische Blutungen genannt sind, können auch Veronica und der „Sanct“ Longinus um Hilfe ersucht werden, wie in der Heidelberger Pergamenthandschrift CPG 214, dem „Speyrer Arzneibuch“ Seite 36ra-36vb mit der Jahresangabe „1321“ und der Zuordnung zur Arzneibuchfamilie des Magisters Bartholomäus.10 Dieser Text ist als ein „Mutterbrief“ dem Leib aufzulegen für ieglichen vrowen, und die ir fluzzes ze vil hat. Auch diese Beschwörung nennt 4 Matrices, aber die sind hier an Organe, an Kopf, Zwerchfell, Milz und an eine „matrix demonica“ geknüpft. Die Bitt- und Dankopferstätten belegen die historisch weitreichende Kontinuität der Bärmuttervorstellung, nicht nur für Frauenleiden, auch für den „Bärvater“. Kaum eine südliche Wallfahrtskirche entbehrte der eigenartigen Tiervotive aus Wachs oder Metall, deren Sinn und Nutzen heute kaum mehr bekannt sind. Eines der Zentren für Wallfahrten bei Frauenleiden war die Verehrung des „Heiligen Blutes“ in Walldürn im Odenwald. Der Uterus wurde bei Menstruationsstörungen als „voll des üblen Blutes“ gedacht, sodaß Walldürn auch bei Frauenleiden Hilfe versprach.11 Konstant seit dem 15. Jahrhundert bis in die Neuzeit ist das ut vadas ad loco, ubi te deus condidit in verschiedenen sprachlichen Ausschmückungen geblieben, im folgenden unter Einschluß von Blutung, Fluor oder Blaseninkontinenz: 12
das du dich nicht auf hebest vnd vnder dich nicht lassest, sunder daz du dich an dein gewönlich stat fügest mit gemache und mit fride
9 Groß, Angelika: „La Folie“, Heidelberg 1990, S. 49f 10 Der „Bartholomäus“ gehört zur frühen deutschen wirkungsstarken Rezeptliteratur des 12. Jahrhunderts mit verschiedenen älteren Quellen und ist vermutlich das Werk eines Mönchsarztes, vgl. Keil, Gundolf, in: Enzyklopädie Medizingeschichte (Hg. Gerabek, W.E. et al. Berlin u. a., 2005) 11 vgl. Assion, Peter: Das Krötenvotiv in Franken, in: Bayerisches Jahrb. f.Volksk. 1968, 65–79, hier: S. 72f 12 Wolfsthurn/Südtirol, hs. Hausmittelbuch des 15. Jahrh., fol. 129v, Bibliothek der Freiherrn von Sternbach, deutsch-lateinisch gemischt, veröffentl. durch O.v. Zingerle, Zeitschr.d.V. f. Volkskunde 1 (1891), S. 176
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Spruchtexte
Abb. 07 Votivbild mit Bärmutterkröte aus der St. Annakapelle zu Sulzbach/ Oberpfalz
Oft sollte die Androhung gemeinsamen schlimmen Schicksals erschrecken, wie aus der Oberpfalz des 16. Jahrhunderts anläßlich Prozessmaßnamen im Umkreis der „Schwarz Kundl“: 13
Beermutter lege dich Tustu es nit, so stirb ich. Stirb ich heut auf disen tag, so legt man Uns Zusamme in ein grab. Jst unß beiden ein große clag
Im 17. Jahrhundert wird von einer hessischen Amme berichtet, die in Londorf die aufsteigende Mutter behandelt: 14
Mutter die gaute, leg du dich uf die rechte stat, da du vormahls uffgelegen hast, du seyest gleich wehemauter oder Beermauter oder Hertz Mauter.
Bis nach Pommern hinauf ist die Formel verbreitet, oft mit großer Anzahl von Namen:
13 Amberg Staatsarchiv Rel. und Ref. Nr.2 fol. 333 14 Diehl, Wilhelm: Aussagen der Protokolle der hessischen Kirchenvisitationen 1628, in: Zeitschr. f. Kulturgeschichte 1900/01, 287–324, Bezug S. 301
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Karlmutter, Hebmutter, Wehmutter, Kindesmutter, Blähemutter, Fürfallmutter, Geburtsmutter, flammende Mutter, Marienmutter, Kreuzesmutter, Blutmutter, Windmutter, Gebärmutter, ich beschwöre dich bei dem Herrn Jesus Christus, daß du gehst, wo du warst, wo du lagst, als ich (oder du) noch eine reine Jungfrau war(st).
Und oft begegnen massive Vorwürfe an eine mordende Dämonin: 16
Behrmutter Wehemutter hast umgebracht dein Vater und Mutter willst mich auch umbringen geh hin an den statt wohin dich Christus der Herr verordnet hat.
So gründlich heute diese abstrusen anatomischen und dämonischen Bärmutterideen auch vergessen sind, ihre Phantastik war bis ins späte Mittelalter breit fixiert. Sie kam in Dichtung und Erzählung, auch in der Kaiserchronik vor und soll für Beatrix von Burgund, Gattin Kaiser Barbarossas in Stein gemeißelt sein, am Portal des Freisinger Domes (Tafel 2). In der Sinnbildkunst der Alchemie wird die Kröte als chthonisch-giftiges Arkanum und als Urmaterie „ante patrem et matrem“ im 16. und 17. Jahrhundert reanimiert.17 Und vielleicht lagen ihre letzten volkssprachlichen Ausläufer im sicherlich kaum von Frauen weitergetragenen „Gedanken“, daß diese Bärmutter nach dem „Phlegma“ (der Säftelehre ! d. h. u. a. nach Sperma) dürste, sodaß man in Bayern sagte, sie „will g´futtert sein.“18
Wanderschmerz, Kolik und Frauenleiden / Psychosomatische Bedeutung einer Beschwörung Medizinhistorisch bleibt anzumerken, daß im Mittelalter die Untersuchung und Behandlung von gynäkologischen Krankheiten wegen der Intimsphäre weitgehend von Frauen als Assistentinnen in Zusammenarbeit mit Ärzten durchgeführt wurde. Die Hebamme spielte hier eine wichtige Rolle, vor allem bei der Diagnose einer „hysterischen Gebärmutterwanderung“. Das dürfte auch für den Gebrauch der Spruchformeln gegolten haben, denn wer sie sprach, sollte den Unterbauch der Kranken fest in die Hand nehmen, um der Beschwörung „Nachdruck“ zu verleihen19. Und die Funktionsweise der Sprüche? Waren sie deplatziert, weil an ein unwirkliches fabelhaftes Objekt gerichtet? Nein. Es ist, als ob sie indirekt jenes Nervensy15 Berg, Alexander: Der Krankheitskomplex der Kolik- und Gebärmutterleiden (Ostpreußen), in: Diepgen, Paul (Hg.), Abhandlungen zur Geschichte der Medizin, Heft 9. Berlin 1935, Neudruck 1977, S. 105f 16 Tüchersfeld Fränkische-Schweiz-Museum Hs. Rep. B Nr.L 71 (E1042) aus Christanz, 19. Jahrhundert? 17 Telle, Joachim: Buchsignete und Alchemie im 16. und 17. Jahrhundert, Verlag G. Presler 2004, S. 70f 18 Kriss, Rudolf: Das Gebärmuttervotiv, Augsburg 1929, S. 34 19 Kruse, Britta-Juliane: Verborgene Heilkünste. Geschichte der Frauenmedizin im Spätmittelalter. Berlin-New York 1996, S. 52, 121, 232f
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stem ansprachen, das als autonomes oder vegetatives bezeichnet wird. Einen Teil dieses Systems bildet der Vagusnerv, der seinen Namen nur statisch wegen seiner weiten Aufzweigung vom Vagieren ableiten kann, anders als das Vagieren der streunenden Körpertiere. Das Vagus-System arbeitet im Brust- und Bauchraum ohne unser Bewußtsein und steuert innere Organe. Jeder weiß, wie stark seelische Vorgänge hier einwirken, wie unkompliziert aber mit der Formel „Sonnengeflecht strömend warm“ beim Autogenen Training dieses Nervengeflecht günstig beeinflußt werden kann. Auch umgekehrt sind wir für Störungen von Herz, Darm und Blase seelisch ziemlich sensibel. Entscheidende Prüf- und Bedeutungszentrale der mit den Spruchtexten eintreffenden Worte und Sinnbilder ist hier im besonderen Maße der Mandelkern, die Amygdala*. Es bestehen enge Verbindungen über das zentrale Höhlengrau zum Vagusnerven,20 der seine Kerne im unteren Hirnstamm hat und zu den Schaltstellen der Nervengeflechte von Sympathicus und Parasympathikus, von deren Gleichgewicht im Körperinneren unser Wohlbefinden abhängt. Bei Schizophrenen mit coenästhetischen Beschwerden im Bauchraum und bei anderen organischen Krankheiten war durch Verbaltherapie allerdings keine nachhaltige Wirkung zu erwarten. Über weitere neuropsychosomatisch schmerzlindernde Komponenten einschließlich labeling emotions* bei Kolik siehe Kapitel 4
20 Vgl. Abb. 01
4. Bewegungs- und Stützsystem: „Gicht“-Segen „Daß die Reformation in Europa nur deswegen erfolgreich war, weil der von Gicht geplagte Kaiser Karl V. auf dem Reichstag zu Worms 1521 nicht so energisch gegen Luther vorgehen konnte, kann auch Prof. Dr. Dieter Paul Mertz nicht beweisen.“1
– Das große Wort Gicht, eine Büchse der Pandora – – Ihre Vertreibung als Krankheitsdämon – – Indikator von Wohlstand oder Volkskrankheit? – – Therapeutische Imagination/Kontemplation und Leidensmystik –
Der Gichtbegriff der mittelalterlichen Schriften ist eine Büchse der Pandora. Nimmt man Traumafolgen aus, so konnten fast sämtliche Symptome nicht nur der Extremitäten und der Wirbelsäule, auch Hautveränderungen und Bewegungsanomalien bis hin zu Lähmungen, Krampf, Zuckungen, insbesondere alle Schmerzen bei der „Diagnose“ Gicht, (Vergicht, Gücht und Gycht) untergebracht werden.2 Noch in der frühen Neuzeit ist manch anderem Schmerzsyndrom berühmter Persönlichkeiten fälschlich das Gichtetikett angehängt worden, wie unlängst bei einer Sektion des Erasmus von Rotterdam entdeckt; er hatte keine Gicht.3 Aber literarisch verwendbar war das allemal; angeblich Gichtkranke wie Luther, Wallenstein, Leibniz, Moritz von Sachsen und Friedrich II. von Preußen, alles Leute aus wohlhabenden Schichten, gaben lange Zeit willkommenen Anlaß zur Satire. Man hat für mittelalterliche Gichtdiagnosen immer wieder vermutet, daß diese Armut an Differentialdiagnostik auch sprachgeschichtlich bedingt war. Das mittelhochdeutsche Giht und Gegiht als Verbalnomen bedeute soviel wie „bekennen“, „aussagen“, „gestehen“ und hänge deshalb mit beidem zusammen, mit der Therapie als „Besprechen“ und mit der dämonistischen Fiktion eines sich Behauptenden. Auch wurde die Nähe zum Wortzwilling „Gift und Gabe“ bedacht.4 So gesehen konnten selbst hochpolitische Vorkommnisse wie die vom Reichstag zu Worms 1521 auf ihren subversiven Gehalt abgeklopft werden.
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Ärzte-Zeitung 2./3. Juni 1989, S. 24 Siehe Beispiele in den Kapiteln Migräne, Bärmutter (Darmgicht), Liebeszauber am Mondsee u. a. Winter, Ulrich: Willibald Pirckheimer: „Apologia seu Podagrae Laus“, Heidelberg 2002, S. 45f Lessiak, Primus: Gicht. In: Zeitschr. für deutsches Altertum 53 (1911/12), 101–183;
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Zwar gab es schon in der Antike Ansätze zu einer Abgrenzung der Gicht; Ruphos von Ephesus, selbst betroffen, erkennt Beziehungen zum Harnlassen. Aber die beherrschende Säftelehre des Galen*5 mit ihrer Herleitung alles Störenden von vier krankhaften Flüssen stand lange in höchstem Ansehen. Erst Paracelsus, Außenseiter und radikaler Neuerer zeigte andere Wege: Es ist seine Begriffswahl und seine Vorstellung: ein Tartarus, eine sich wie Weinstein in Fässern ablagernde „unterirdische“ Substanz, die er allerdings für viele degenerative Krankheiten postulierte. Erst im 18./19. Jahrhundert wurden dann die Zusammenhänge mit den sich als Gichtknoten ablagernden Harnsäurekristallen genauer erforscht.6 Bis zur Entwicklung einer Differentialtherapie von Wirbelsäulen-, Nerven-, Stoffwechselund Gefäßsymptomen an Extremitäten hatte es eine Unzahl von Versuchen gegeben. Rezepte des 12. Jahrhunderts, in denen die Gichtindikation vorkommt, bieten Kräuter, Honig und Ameisen. Dabei hatte bereits das Altertum Colchizin eingesetzt, ein schmerzblockierendes Mittel aus den Samen der Herbstzeitlosen. Es wird heute wegen seiner Nebenwirkungen selten angewandt. Später, noch im 19. Jahrhundert, ist besonders in der Volksmedizin ein verzweifeltes Ausprobieren sehr vieler Mittel eingetreten. Gicht und Rheuma werden mit Regenwürmern, Meerschweinchen, Muskatnüssen und Kastanien behandelt;7 erst Mitte des 20. Jahrhunderts gelingt die Herstellung eines Harnsäure senkenden Präparates.
Im Gegensatz etwa zu Blutstillungs- und Wurmsegen und -Beschwörungen gibt es sehr spät gegen Ende des Mittelalters Textzeugen für eine verbale Schmerztherapie der Gicht. Für die Formel des Marcellus* von Bordeaux aus dem 5. Jahrhundert „fuge, fuge, podagra et omnis nervorum dolor de pedibus meis et omnibus membris meis“8, die die Gicht personalisiert und vertreibt, konnte ich keinen unmittelbaren literarischen Niederschlag finden. Die dann wohl frühesten Texte sind die Dreiengelsegen des 12. Jahrhunderts, die aber „Gegihte“ nur als einen von 7 Krankheitsdämonen einbeziehen. Im Tegernseer Dreiengelsegen des 10. Jahrhunderts waren Knochen und Mark Angriffsstellen lediglich eines Nessia-Wurms. Erst mit dem 16. Jahrhundert häufen sich Spezialformeln für „Gicht“, nachdem erste Belege für zwei Haupttypen seit dem 14. Jahrhunderts vorlagen:
A) Litaneityp: Beispiel aus Stift Göttweig, 14. Jahrhundert: 9
5 6 7 8
9
Ich virbiden dir gycht bi der heylgir wandillungin. Vnd bi den hl.V wunden.
Ich verbiete dir Gicht bei der hl. Wandlung und bei den heiligen fünf Wunden unseres
Die mit * versehenen Namen und Begriffe finden im Anhang Erklärung Michler, Markwart, in: Gerabek, Werner E. et al.: Enzyklopädie der Medizingesch.. Berlin u. a. 2005 S. 492f Masing, Oskar: Volksmedizin. Dresden 1938, S. 49–52 Heim, Ricardus: Incantamenta magica graeca latina, in: Jahrbücher für klass. Philologie XIX Suppl.-Band, S. 477, „Fliehe, fliehe Gicht und aller Nervenschmerz meiner Füße und aller meiner Glieder!“ Aus: Grimm, Jacob: Deutsche Mythologie (4.Auflage 1875–78), Wiesbaden 1992, III, S. 497f
Bewegungs- und Stützsystem
Vnsers herren iesu christi vnd bi deme bluode dat gote vyt sinen V wunden ran vnd bi dem erstin menschin dat got vf erden. ye gemacht oder ye liz geborren werden. Ich verbiden dir bi den drin nagelin. De gode durch sine hende vnd durch sine vuzse wrde geslagen. Ich virbeden dir bi den vyer hulden de da stuonden vf zweyn vuozsin vnd sprachin vys zweyir muodir libe wer si bede van rechtir lybden vmme allis dat mogelich is des wulden si in geweren. Dat was Maria godis muodir vnd was iesus christus vnd was min frauwe sancte Elsebe vnd was myn herre sancte johannes der deufir. ich virbeden dir bi […] dat du mir godes kneghte nyt in schades an allen minen glederen an haubde an hirne an augen an cenden. An armen an henden. An vingeren an rippen an rucke an lenden an huffin an beynen an vuozin an cein an aderen noch an allen. Da ich mich mach keren oder wenden. Des helfe mir de gotis kraft. Und dat heylge graf. Da got selve inne lach. Da herbebede allit dat da was. Pylatus sprach hais du gesughte odir gegichte ? Neyn ich inhan sin nyt. […]
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Herren Jesus Christus und bei dem Blute, das Gott aus seinen fünf Wunden floss, und bei dem ersten Menschen, den Gott auf Erden geschaffen oder ließ geboren werden. Ich verbiete dir bei den drei Nägeln, die Gott durch seine Hände und Füße geschlagen wurden. Ich verbiete dir bei den vier Heiligen, die auf zwei Füßen standen und sprachen aus zweier Mütter Leib, wer sie in Liebe um etwas bitte, alles was möglich sei, wollten sie ihm gewähren. Das war die Gottesmutter Maria und war Jesus Christus und war meine Frau Sankt Elisabeth und mein Herr Sankt Johannes der Täufer. Ich verbiete dir bei [… jüngstem Gericht – heiligem Kreuz – göttlicher Kraft ] daß du mir Gottes Knecht nicht schadest an allen meinen Gliedern, an Haupt und Hirn, an Augen und Zähnen, an Armen an Händen, an Fingern, an Rippen, am Rücken, an Lenden, Hüften, Beinen und Füßen, an Zehen und an allen Adern, ob ich mich umkehre oder wende. Das helfe mir Gottes Kraft und das heilige Grab, in dem Gott selbst lag. Da erbebte alles was war. Pilatus sprach: Hast du Gesücht oder Gicht? Nein, ich habe sie nicht. […]
Diese meist als Gichtbrief verwendete Beschwörung reiht mehrere biblische Heilsgeschehen in ganz unchronologischer Folge auf. Sie betreffen überwiegend Marter und Kreuzigung und bieten damit dem Gehirn des Schmerzgeplagten eine synchronisierbare Angleichung an göttliches Leid, eine Schicksalsgemeinschaft mit Christus. Damit bahnt sich die Möglichkeit an, durch die weitere Erzählung szenisch Schmerzlinderung zu suggerieren. Dazwischen werden die Schöpfung, das letzte Gericht, anfangs die heilige Wandlung und am Schluß Christi Geburt eingestreut und zusammengetragen. Drei Einträge fallen als nichtbiblisch heraus: Etwa in der Mitte die auch den Gicht-Texten der folgenden Jahrhunderte fast obligate Körperteilaufzählung, in der mehr Ordnung steckt als im Gesamttext; hier bleibt die alte den Medizinbüchern eigene Kopf- nach-Fuß-Reihenfolge erhalten. Dann die Heranziehung der vier „Hulden“ (Heiligen), die da standen auf zwei Füßen und sprachen aus zweier Mutter Leibe als volkstümliche Bildvorstellung der Innigkeit des Maria-Elisabeth-Verhältnisses. Es bringt im Gesamt der Texte ein Changie-
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Spruchtexte
ren zwischen den Orten der Schwangeren-Begegnung bei Maria Heimsuchung und der Kreuzigungsbegleitung.10 Befremdend merkwürdig aber springt der Dialog zwischen Christus und Pilatus ins Auge, die Frage des Pilatus, ob er an Gicht oder Sucht leide. Gerade dieser Dialog ist Kernpunkt einer den Gichtdämon attackierenden Sinngebung. Es wird eine Beziehung zwischen dem Erbeben der Erde (Da herbebede allit) und dieser Anfrage des Pilatus (Hais du gesughte odir gegichte?) konstruiert. Dies wird deutlicher erkennbar in Fiebersegen, in denen die zweckdienliche Verkehrung der Abfolge der Passionsereignisse – Erdbeben vor Christi Tod – in engerem kontextualen Zusammenhang steht, unverdächtig einer zufallsbedingten Schrift-Splitterablage und bildhaft vorstellbar wegen der Schüttelfrostkomponente. Die Einfügungen des Grabes, „da got selve inne lach“ und des Erdbebens als Zeichen des Todes Jesu Christi werden also zum Analogon auch des Endes der Gicht- und Fieberdämonen.11 Die strikte Verneinung der Frage durch Jesus vollendet schließlich die Vertreibungsstrategie. Mehrere Gichtbeschwörungen der Sammlung des Pfalzgrafen Ludwig V. bei Rhein im 16. Jahrhundert sind der Göttweiger Schrift des 14. Jahrhunderts gut vergleichbar; sie beinhalten zusätzlich die „Wied“-Rute als Fessel Christi und zugleich Sinnbild für seine Bindekraft und bieten nicht im Titel, so doch innerhalb des Textes die Fieber-/ Biefer-/ Ritten-Indikation, wobei uns damit die genannte Bedeutung des Pilatus-Christus-Dialogs verständlicher wird. Es heißt hier: 12
[…] Do Godt an die marter tradt, do erbiedemd alles das dar was; do erbiedemt die menschhaidt von der grossen marter die er laidt. Pilatus sprach: Jhesus, brichet dich das gegiecht oder hostu den ridten oder daz biefer? Jhesus sprach: der seuchten hon ich kain noch nummer gewan […] Wo der sieche nun glauben dorane hodt, soll er sprechen: Ich glaub, das der artzt So gudt nie warde […]
[…] Da Gott an die Marter trat, da erbebte alles, was da war; da erbebte die Menschheit von der großen Marter, die er litt. Pilatus sprach: Jesus, zerbricht dich die Gicht oder hast du den Ritten oder das Fieber? Jesus sprach: Die Schmach der Seuche bekam ich nicht […] Wenn der Kranke nun Vertrauen hat, soll er sprechen: Ich glaube, nie ward ein so guter Arzt […]
Und ein anderer Text erinnert uns daran, daß der Dialog zwischen Christus und Pilatus mit der Verspottung am Kreuz nach Mt. 27,39ff und Marcus 15,29–32 zusammenhängt und fügt noch eine weitere Krankheit, die Bermutter an.13:
10 vgl. das Kapitel 14 11 Schulz, Monika: Beschwörungen im Mittelalter, S. 114,120 12 Heidelberg Universitätsbibl. CPG 267, fol. 116v, veröffentl. Heilig, Otto, in: Alemannia 27 (1900) S. 120f 13 Heidelberg Universitätsbibl. CPG 267, fol. 112r, veröffentl. Heilig, Otto, ebenda, S. 118f
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[…] Do vnser liebe frawe vnd vnser lieber herr Jhesus Cristus stund für geriecht, do erbiedemt aller seiner leibe; do sprach pilatus mit grossem spodt zu dem almechtigen godt: Jesus, host du den ritten oder bricht dich das gesüecht, der krampff, die bermutter oder das gegiecht? […]
Diese Texte sind oft sehr umfangreich, indem sie weitere Passionsgeschehnisse hinzufügen. Franz14 hat auf ein 23 Seiten umfassendes Gebetsformular einer aus dem Italien des 15. Jahrhunderts stammenden Handschrift der Berliner Bibliothek hingewiesen, der „Oracio ad expellendam guttas“. Dagegen besteht später die Tendenz, die nichtbiblischen Inhalte, also den Pilatusdialog mit dem vorausgehenden Beben ebenso wie die Aufzählung der Gichttypen im Sinne einer Bereinigung von bibelfremden Inhalten aus den „Litaneien“ zu eliminieren und in die mehr volkstümlichen Texte abzutrennen. In verschiedenen Fassungen können solche Litaneien bis in die Neuzeit tradiert werden und als Druckwerke erscheinen. Im Jahre 1822 gibt beispielsweise Alexander von Hohenlohe das „Kräftige Gebet wider das Gesücht oder Gicht“ heraus.15 Der Fürst hatte mit Gebetsheilungen gerade zu Zeiten der „Aufklärung“ weithin Aufmerksamkeit erregt. Zwar wird hier die Krankheit immer noch repetitiv bei den Passionsereignissen beschworen. Aber gemäß Zeitgeist ist eine Demutsformel eingebaut. Und gemäß medizinischen und volksmedizinischen Ursachenvorstellungen über die Wohlstandsfolgen bei echter Gicht fehlt es nicht an kräftiger Ermahnung. Im Anschluß an die Erwähnung der Heiligen unterm Kreuz heißt es: […] In diesem Vertrauen hoffe ich, Gott werde von mir durch die Fürbitte der heiligen Barbara, wenn es zu meinem Seelenheil ersprießlich ist, die Gicht abwenden […] Wer es liest oder gelesen hat und dieses Gebet bei sich trägt und nach dem Inhalt desselben seinen Lebenswandel einrichtet, wird vom Gesücht oder Gichte befreyet […] Mit der Ermahnung zum anderen „Lebenswandel“ waren nicht nur Vorwürfe wegen eines Schlemmerlebens von Wohlstandskranken gemeint. Darüber hatten Ärzte wie der Nürnberger W.H.Ryff16 im 16. Jahrhundert und der Schweizer S.A. Tissot17 im 18. Jahrhundert eingehend geschrieben, wenn auch recht inkonsequent. Denn, so Ryff, soll man sich in Fleischspeisen wohl mäßigen, jedoch sei Wildpret von einem Rehböcklein im Sommer „vast nützlich und guth“. Und in Sachen Wein-Entsagen, so Tissot in seiner den Frauenpersonen von höherem Stande gewidmeten Schrift, sei „von Zeit zu Zeit“ doch „ein wenig Malaga, Madera, Canarien- oder Samoswein“ zu empfehlen, nicht der Landwein der einfachen Leute, sondern die kräftigen Importe. Wie schon erwähnt, hatte das Thema Schlemmerleben seine satirische und freilich auch sozialkritische Bedeutung und war im 16. Jahrhundert
14 Franz, Adolph: Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter, Bd. II, S. 508 15 Koskull, Stephan von: Wunderglaube und Medizin. Die religiösen Heilungsversuche des Fürsten Alexander von Hohenlohe in Franken, Bamberg 1988. Diss. München 1988, S. 42f 16 Ryff, W.H.: New Kochbuch. Nachdr. Ausgabe Egenolff 1545, Lindau 1979, S. 129f 17 Tissot, S.A.: Von den Krankheiten vornehmer und reicher Personen. Frankfurt und Leipzig 1770
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Spruchtexte
Abb. 08 Christus heilt den Gichtbrüchigen: „Und da sie nicht konnten zu ihm kommen vor dem Volk, deckten sie das Dach auf und ließen das Bett hernieder.“ (Mosaik zu Ravenna, 6. Jahrhundert)
zu einer eigenen Literatursparte angewachsen.18 Höhepunkt dieser Literatur war Willibald Pirckheimers „Apologia seu podagrae laus“, die Verteidigungsrede oder das Selbstlob der Gicht, erschienen 1521 und geschrieben von dem selbst betroffenen Nürnberger Ratsherrn. Demonstrativ behindert und leidend legte er den Weg vom Wohnhaus am Markt zum Rathaus auf dem Rücken des Pferdes zurück. In diesem Werk rühmt sich Fräulein Gicht damit, ihre Ankläger durch körperliche Hinfälligkeit vorm Frevel der Fress-Sauf- und Liebesgenüsse zu schützen und ihnen damit Seelenheil zu schenken.19
Mit „Lebenswandel“ waren auch Schuldzuweisungen an den Kranken verknüpft, die einen biblischen Hintergrund hatten und somit kathartisch-entgiftende Therapie verlangten. Wer die „evangelischen Krankheiten“ der Wunderberichte kannte wie der Fürst von Hohenlohe als Priester und Sittenprediger, wußte um die wenigen neutestamentlichen Stellen, die Sünde mit Krankheit als Strafe Gottes verbinden. Es sind die Heilung des Gichtbrüchigen von Kapernaum (Marc. 2,1f; Luc. 18 vgl. Rupprich, Hans: Die deutsche Literatur vom späten Mittelalter bis zum Barock, Zweiter Teil: Das Zeitalter der Reformation. München 1973, S. 214f 19 Pirckheimer, Willibald: Apologia seu podagrae laus, Übertragung Wolfgang Kirsch, Berlin 1988
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5,17f; Matth. 9,1f ) und des Kranken am Teich Bethesda (Joh. 5,14). Selten also ist für Jesus die Krankheit eine Sündenfolge, im Gegenteil, wie sich aus Johannes 9,3 ergibt: „Weder er selbst noch seine Eltern haben gesündigt …“. Nur dem GichtGelähmten sagt er: „Sei getrost, deine Sünden sind dir vergeben“. Dieses Evangelium, der Rekurs auf die Erbsünde und die Doktrin der Kirche haben denn wohl auch einen unter der Unzahl von Texten aller Indikationen seltenen Spruch20 erlaubt. Der Zorn Gottes mache uns als Schuldige krank, die Scheidung der Geister und die Geburt Christi bewirken Erlösung von Sünde und Krankheit. Sünde und Krankheit gehören dann zusammen und als einzige an der Wurzel ansetzende Therapie hat folgerichtig ein Exorzismus zu dienen: 21
Durch Zorn und Gall straft Gott die Menschen all; alle schlechten Säfte und schlechtes Blut, befehle ich die Gicht-Krankheit unter Gottes Huth. […] er hat die Engel im Himmel ausgetrieben und sind auf ewig in der Höll`geblieben. So wahr der Satan ist vom Himmel vertrieben, ist die Krankheit von Dir geschieden […].
B) Begegnungstyp: Beispiel aus Kloster Grünberg-Sagan, 14. Jahrhundert Der Beschwörungstyp der heilkundlichen Begegnungsszenen, wie er sich frühzeitig im Tegernseer Segen des 10. Jahrhunderts22 und in der Schweizer Segensgruppe von Engelberg, Zürich und Basel findet,23 hatte nach seiner elementar kämpferisch antidämonischen und archaischen, schon altorientalisch bekannten Textgestaltung ebenso wie nach seiner Variabilität bis in die Gegenwart ein eminent breites Indikationsspektrum bekommen. Dies entsprach auch der Unschärfe des alten Gichtbegriffes. Beschwörungen, die eigens allein die Gicht nannten, haben diese Gestaltung oft bewahrt: Im 14. Jahrhundert findet sich eine Gichtbeschwörung, in der wie im Ottilienaugensegen24 drei Herren mit dem Patienten zusammentreffen. Hier sind es eindeutig drei Evangelisten: 25
Wylkum du hilger suntag here Myr czu holfe vnd czu troste […] Mych ruryt dy gycht gycht du magist mych gerure ich wyl dich hutte vor gotis antlicz ruge
Willkommen, du hl. erhabener Sonntag, mir zu Hilf und Trost. […] Mich greift die Gicht an. Gicht, du willst mich angreifen. Ich werde dich heute vor Gottes Antlitz anklagen.
20 vgl. Schulz, Monika: Magie oder die Wiederherstellung der Ordnung. Frankfurt 2000, S. 94f 21 Fossel, Victor: Volksmedicin und medicinischer Aberglaube in Steiermark. Graz 1886, S. 167f (aus der Ortschaft Edelschrott, Mitte des 19. Jahrhunderts); der volle Text siehe Kapitel 21 22 vgl. Kapitel 19 23 vgl. Kapitel 30 24 siehe Kapitel 1 25 Breslau Universitätsbiblioth. I Q 308, fol. 51R , veröfftl. Klapper, Josef: Altschlesische Schutzbriefe, in: Mitteilungen der Schlesischen Gesellschaft für Volkskunde 30 (1929), S. 134–179, hier: S. 178
50 do sosyn dri here czwyczhy czw[e] sele der eyne is der lybe here synte Marcus der andyr der lybe here synte Lucas der drite der lybe synte Johannes nycht salt du myr myn blut tringe vnd myn fles fresse bys alle stene sprache daz gebote dir man der an dem wrone cruce dirstarb […]
Spruchtexte
Da saßen drei Herren zwischen zwei Säulen. Der eine ist der liebe Herr S. Marcus, der zweite der lb. Herr S. Lukas, der dritte der lb. S. Johannes Nicht sollst du mir mein Blut trinken und mein Fleisch fressen bis alle Steine sprechen. Das gebiete dir der Mann, der am heiligen Kreuze starb […]
In der Entwicklung der Begegnungssegen sind nach Vermischungen, Abschleifungen und Zersplitterungen in der Abschreibkette über die Jahrhunderte zahlreiche mehr oder weniger plausible Spruchfiguren entstanden, wovon im folgenden wenige Beispiele aus drei Jahrhunderten herausgegriffen sind: 26
Ein segen für das gegiecht vnd anders. Sprich: Cristus der rain Sass vff eim stain. Do kam ein man der hies Sant Thoman. ‚Thoman, siehe mir mein fünff wunden die mir die Jüeden toten, do sie in den mordt troten’. Do sprach das Jüden geriecht, ‚Jhesus, du hast das gegiecht‘ […]
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Ein Segen für das Gicht und kalte Echs Der heilig Jochum wollt ausgehn, wollt nein in seinen lieben Garten gehen, wollt seiner lieben Gejecht warten, begegnet ihm der Vater, Herr Jesu Christ: „Lieber Jochum, wo willst du hin?“ – „Lieber Herr, ich will ausgehn, will in meinen lieben Garten gehn, will meiner lieben Gejecht wart(en).“ – „Jochum, tu’s nicht; brich sie ab; wirf sie unter Mann und unter Frau, daß mich das reisig Gejecht und die kalte Echs verlaß’ und komm nimmermehr an.“ Das sei mir voll zu Buß gezählt. Im Namen […]
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Gicht zu verschreiben und zu versprechen Es gehen 3 hl. Engel in Garten, auf Christum den Herrn wollen sie warden wit wolle sie sein wit (Wied) woln sie Binten, weil 77. Gicht sein – Gicht zieh aus dem Fleisch […]
Gichtartige, rheumatische und polyneuropathische Schmerzen und Symptome waren freilich als Volkskrankheiten so weit verbreitet, daß neben den beschriebenen beiden Typen auch andere Spruchformen und viele Kombinationen zur Aufzeichnung und Anwendung kamen. Nach Art des Merseburger Pferdesegens begegnen sie seltener, so in einer ziemlich unbeholfenen Schrift aus dem Sechsämterland.29 Man kann nur vermuten, daß sich in den klimatisch rauhen und waldreichen Gebieten um das Fichtelgebirge besonders viele verschiedene und ausführliche Gicht-
26 Heidelberg Universitätsbibl. CPG 267, fol. 127v, veröfftl. Heilig, Otto in: Alemannia 26 (1898), S. 71 27 Notizbuch des Handwerkerbauern Andreas Dötzschell von Mitwitz (Lkr. Kronach) um 1624, veröffentl. Hambrecht, Rainer, in: Heimatkundl. Jahrbuch Kronach 13 (1984), S. 345 28 Beschwörungsbüchl aus Buchwald bei Selb um 1800, Teil A, S. 30 (bei Dieter Arzberger, Oberweißenbach) 29 Wunsiedel Fichtelgebirgsmuseum, Hs C 213/2823 des J.C. Ächtner, S. 55f
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texte angesammelt haben. Diese Handschrift des Bauern Ächtner bietet u. a. über zwanzig meist lange Texte gegen „Gicht“. Ein Sbruch vor die gicht gott der Herr stundt von seinen Pferd ab da strieffet Jesus seine beine ab sbrag Jesus bein Wieder bein Fleisch Wieder Fleisch blut Wieder blut Marck wieder Marck Glied Wieder glied daß ist mier alles an meinen leieb gut sendt miers gott der Vatter durch unsern Herrn Jesum Christum Wieder Hien wie ers Miers gesandt hat die gicht ist Sieben und Sieben Zieger art Sie gieng in eines Edlen Hauß Wollte bein streigen Nein sbricht Jesus das solt du nicht thun […]
Die schon erwähnte Schrift aus Buchwald bei Selb zählt in einem als Zettel zu verwendenden Text gar siebenundvierzig verschiedene Gichtsorten auf. Nicht minder als die Stilformen und das Begegnungspersonal variieren auch die bei Gicht angewandten Gebrauchsanweisungen für Zettel und die Rituale, manchmal mit bedrohlicher Erzwingungstaktik. Eine Gichtdoktorin im Mattigtal in Oberösterreich gab unentgeltlich Gichtbriefe ab, die der Patient dreimal lesen sollte. Sie verwarf die Mittel der Doktoren und die Wassergüsse des Pfarrers Kneipp. Am Schluß des handschriftlichen Briefes30 stand die Mahnung: Und wer an diesen Gichtbrief nicht glaubt, der ihn lesen tut, der kriegt die Gicht noch besser, und wer den Gichtbrief abschreibt, der kriegt die stärkste Gicht. Der Inhalt des Briefes entspricht teilweise dem durch die gedruckten Albertus-Magnus-Zauberbücher seit Beginn des 19. Jahrhunderts verbreiteten Begegnungs-Typ: Gicht, o Gicht, wie maderst (marterst) du mich, so klag ich bei Gott über dich und bei den allerheiligsten Mann durch den unschuldigen Tod im Namen des heiligsten Kreuzes, der all unsere Sünden auf sich genommen hat. Da kommt die heilige Anna und spricht: O Gicht, o Gicht, wo wollt ihr hin? (den oder die N.N. den Namen wenn der die Gicht hat) In seinen Leib gehen, wir wollen Fleisch nagen und wollen Blut laben und wollen auch große Schmerzen machen. Da kommt die heilige Jungfrau Maria und spricht: O Gicht, o Gicht, wo wollt ihr hin? Wir wollen, sagt die Gicht, große Schmerzen machen. Ihr sollt nicht Fleisch nagen, sagt die Jungfrau Maria […]
Schließlich sei auf einen besonders heiklen Typ verwiesen, der Abendmahl und Wandlung sehr konkret als suggestiven Kraftquell gebraucht, indem er liturgisch synchronisiert. Dabei wird in einem Heidelberger Segen „für das kalt“ zunächst eine zeitliche Koordination zur Kelcherhebung während der Heiligen Messe gefordert. Danach sollen die fünf zu sprechenden Vaterunser direkt auf die 5 Wundmale Christi bezogen werden. Zeitgleich mit der Bekreuzigung des Kelches durch den Priester wird am Schluß schon ein Dank für die Heilung, also die Eliminierung des Ritten, vorausgesetzt: „Der ridt ist mir worden bas“.
30 Preen, Hugo von: Einiges über Bauernaberglauben im Bezirk Braunau/Inn. In: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 1910, S. 44 (aus der „Warte am Inn“ von 1894)
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Spruchtexte
Ein segen für das kalt Sprich, Wan der briester den hailigen fronleichnam vffhebt: Almechtiger Godt, Ich klage dir: der ridt irret mich; In dem namen des suns. Almechtiger Godt, ich klage dir: der ridt irret mich; In dem namen des hailigen gaists. Dornoch bedt v pr nr vnd v au Mra. Das erst solthu opffern dem almechtigen Godt vnd seiner hailigen wunden in der seiten, Das ander in die recht handt, Das dritt in die linck handt, Das vierde in die wunden des rechten fus, Das fünfft in die wunden des lincken fus. Alsdan wan der briester Die kreutz mit dem hailigen fronleichnam vber den kelch macht, Sprich: herr, ich danck dir, Der ridt ist mir worden bas. […]
In einem anderen Text der gleichen Heidelberger Handschrift ist sogar ein Taubenblutopfer parallelisiert. Frisches Opferblut wird auf Brot dargebracht, um das Blutopfer Christi symbolisch direkt am Kranken zu wiederholen. Monika Schulz hat solchen Ritus als „antidämonisches Apotropaion“ gedeutet; mit der Taube sei Christus selbst hic et nunc aktualisiert.32 Akuter Schmerz / Psychosomatisch-neurologische Bedeutung von Verbaltherapie Die mögliche Wirksamkeit des Vorgehens wäre der zweckdienlichen Arbeitsweise sowohl limbischer als auch cortikaler Hirngebiete zuzuschreiben. Folgende unbewußte Vorgänge sind zu erwägen: 1. Die unter Schmerzdruck erwartungsvollen Hirngebiete koordinieren die verfügbaren Gedächtnisinhalte des Hippocampussystems*33 mit diesem aktuell einkommenden Hier und Jetzt; die Amygdala* dechiffriert aus emotionaler Sicht die Symbolik. 2. Dabei laufen im Falle der letzten, auf Liturgie bezogenen Formel sowohl akustische als auch optische und haptische (gefühls- und berührungsbezogene) Aktionspotentiale in den Bedeutungsabgleich ein, was zu einer multiplen Verstärkung führt. 3. Die in den Sprüchen des Litaneityps auftretenden Abweichungen vom üblichen Bibel- und Messtext (Reihenfolge, Bildvorstellungen) führen durch Irritation ebenfalls zu einer unterschwelligen sich summierenden Aktivierung (sog. priming). Das Gehirn ist nicht „gelangweilt“ wie durch immer gleiche semantische Ankömmlinge. 4. Schmerzlinderung könnte auf diese Weise neben der sicheren Wirkung auf die zentrifugalen vegetativen Bahnen auch durch Balancierung im Hirnstamm erfolgen. Dazu diente eine aktive Hemmung der Potentiale zum vorderen Cingulum*. Man weiß, daß die experimentelle Entfernung dieses Gebietes dazu führt, daß Schmerz zwar wahrgenommen wird, aber nicht 31 Heidelberg Universitätsbibl. CPG 267, fol. 11R, 16. Jahrh., veröffl. Heilig, Otto, Alemannia 27 (1900), S. 113 32 vgl. Schulz, Monika: Beschwörungen im Mittelalter, Heidelberg 2003, S. 123 33 Die mit * versehenen Namen und Begriffe finden im Anhang Erklärung
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mehr schmerzhaft ist.34 Er interessiert nicht mehr und man lacht über ihn. 5. Mit der Personalisierung der Gicht kommt die Möglichkeit des Labeling emotions* in Betracht. 6. Analogien in den Spruchtexten in Form von metaphorischen und metonymischen Konstruktionen können auch zur Aktivierung sensorimotorischer Cluster im frontoparietalen Bereich führen: Die selben Schaltkreise, die am Körper Bewegung auslösen und die ihnen eng verschalteten Perzeptionsstrukturen, die Schmerz melden, bewegen auch die Denkstrukturen und ermöglichen unter Umständen eine performative Wirkung der Sprachfiguren.35
34 vgl. Roth, Gerhard: Fühlen, Denken, Handeln. Frankfurt 2001, S. 253f 35 vgl. die interdisziplinäre Arbeit von Hirnforscher und Sprachforscher: Gallese, Vittorio und George Lakoff: The brain’s concepts: The role of the sensory-motor system in conceptual knowledge, in: Cognitive Neuropsychology 3/4 (2005), 455–479
5. Bewegungs- und Stützsystem: Unfallfolgen, Beinbruch und Verrenkung
– Weiterentwicklung der Sippe des Merseburger Pferdesegens – – Christliche Bildgebungen für Trennung und Wiederverbindung von Geweben – – Doppelfunktion der Haselrute für Schienung und Metaphorik – Exkurs mit der Haselrute: Die Piephacke der Pferde –
Verletzungsfolgen der Extremitäten waren bis zum 15. Jahrhundert wohl oft mit den Vielzwecksegen aus der Gruppe der Begegnungssprüche auch verbal begleitend behandelt worden. Dazu zählte etwa der Drei-Engel-Segen mit seinem Angriff auf Nessia, Nagedo, Stechedo, Crampho, Gigihte und Paralisis oder die späteren Wund- und Wundwassersegen. Speziell boten sich für diese Indikation zunächst vor allem die Sprüche der Segenssippe des zweiten Merseburgers an.1 Seit dem 15. Jahrhundert sind noch andere Texte niedergelegt, die christliche Bilder verwenden. Sinnbilder von Trennung und Wiederverbindung: Einige Texte gehen von Christi Höllenfahrt aus und vom Zerbrechen der Hölle. Deren Entzwei-Gehen leitet etwas erzwungen sinnbildlich zum Zusammenfinden von Adam und Eva über, wie es der Fraktur geschehen soll. Der folgende Spruch ist in einen Band aus St. Ulrich zu Augsburg im 15. Jahrhundert eingetragen. Er fügt eine manuelle und eine Phyto-Behandlung mit Pflaster an: 2
Wider Beinbruch oder Verrenkung Item Nota: Gesegnot sy du stund und der tag, als unser her die hel zerbrach und Adam und Eva in das Paradisi schlůg; allso mussest du zemen vaschen (wachsen) und gan, wen ich dich mit dien wortten gesegnot han und wissent, wen man dien segen sprichet, so strichet die hand uber daz bain hin und her, daz ez in ain ander gang. […] und och sol man nemen bunnunmel (Bohnenöl?) und walnucz und sol die walnucz sieden und sol daz bunnunmel und die walnucz zemen knetten zu einem pflaster […]
Ein Parallelspruch des 16. Jahrhunderts aus dem 12-(13-)bändigen Buch der Medizin der Heidelberger Bibliothek3 schreibt von Gott, der die Hölle zerbrach und „adam und eva zu sammen schuff“. Ihm folgt die Anweisung zur Reposition der 1 2 3
vgl. das Kapitel 25 München BSB, Clm 4321, fol.205v, veröffentl.Schönbach, A., Analecta Graec., S. 40f, (Febr.2010 noch nicht digit.) Heidelberg Universitätsbibliothek CPG 267, fol 82v, Digital 0170
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Fraktur: “Du solt das bain ziehen also das es gleich ein ander stehe“; ein weitere Version in der Steiermark4 nennt Gott, der „Adam vnd Eua Heraus nam“. An gleicher Stelle dieser steiermärkischen Handschrift gibt es einen Text, der dem Verletzten die Schuld am Unfall zuschiebt und zu beten ermahnt: Jch N. hab ain Gliedt verrenkht, vnd hab nit an got gedenckht. Hätt Ich N: an gott gedenckht, so Hiett ich mein Gliedt nit verrenckht.
Ein Segen des 16. Jahrhunderts aus dem Kloster Dietramszell in Oberbayern bietet ein weiteres Sinnbild und knüpft an eine Begegnung Christi mit seiner Mutter an. Sie will ihm, der sich an einem Merbelstein verrenkt hat helfen. Christus aber sagt: 5
[…] Mutter, ich gib dir himel vnd erd, daz mir mein fleisch und blued vnd bain wider zemen kệret: drum gib ich dir himel vnd erd. dậ giengen wir vnder dem himel vnd giengen auf erden im Namen Gottes […]
Die Erinnerung an den Osterglauben Eine andere, nun der Kreuzigung und Auferstehung Christi nahegestellte Spruchanalogie ist ebenfalls seit dem 15. Jahrhundert ziemlich konstant nachweisbar und bis in die Neuzeit und in die Zauberbücher mit dem Reimpaar „verrenkt – gehenkt“ verbreitet: 6
Got wurden drey nagel durich sein heylig hend geslagen davon er fier wvnden enphieng, da er an dem heiligen chreucz hyeng fleisch czu fleisch, pluet czu pluet, adern czu adern, alz dy rechten gelider vnd wunden hail warden an dem, der an dem ostertag derstund, Iesus christus. daz ist war, in gotz nomen amen.
7
Unser Heiland liegt im Grab drei Tag, drei Stund; in dieser Zeit werde der Schaden des N.N. frisch und gesund; im siebenzehnten Tag fährt er zur Hölle ab; dem N.N. sein Pferd (oder Ochs oder Schaf ) muß laufen fest im Trab Das Gewächs in dieser Erden ist gewachsen und muß der Schaden geheilet werden. Ex voto.
8
Für verrencken des Treichtlingers segen Ich hab mich verruckht. vnnd hab mich verrenckht, Got den herren hat
4 5 6 7 8
Graz Steiermärkisches Landesarchiv, Hs 476 von 1578, fol. 191 München BSB Cgm 467, fol. 158r, veröffentl. Birlinger, Anton, Germania 17 (1872), S. 75 Wien ÖNB Cod. 5295, fol. 29v, 15.Jh., veröffentl Menhardt, Hermann: Verzeichnis der altdeutschen lit. Handschr. der österr. Nationalbibliothek, Bd.2., Berlin 1961, S. 1122 Losch, Friedrich: Deutsche Segen, in: Württemb. Vierteljahreshefte für Landesgeschichte 13 (Stuttgart 1890), S. 220, 19.Jahrh. (Handschriftlich von einem Schäfer bei Vaihingen a.E.) Stuttgart Württemb. Landesbibliothek, Cod.Phys. 4., Nr.29, fol.111r, 15.Jh., veröffentl. Pfeiffer, in: Anz.f. Kunde d. dt. Vorzeit N.F.1 (1853), S. 165
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Spruchtexte
mann gehenckht. schadt jme sein henckhen nichts, so schadt auch mir mein verrenckhen nichts. […] 9
Di Juure (sic!) han unser herr Grischdus g‘henkt un du hoschder de finger verrenkt. ‘sschad im herr grischdus net ‘s henke un deer net‘s verrenke.
10
Deinen Arm oder Fuß hast du verrenkt, Jesus Christus hat man ans Kreuz gehenkt, thut ihm das Kreuzigen nichts, so schadet dir N.N. auch das Verrenken, Verschlingen, Verziehen, Verstauchen und Uebertreten nichts.+++ 3mal.
Das Anschwellen des Typs vom zweiten Merseburger und der Dialog Christi mit seiner Mutter Großer Beliebtheit erfreuten sich auch in diesem Bereich die vielen märchenhaften Geschichtlein um Dialoge zwischen Jesus und seiner Mutter, wie sie in Begegnungssegen eingebaut sind. Dabei fällt vielfach auf, daß die alte „Zauberformel“ des zweiten Merseburger Spruches, das „Bein zu Bein“ zerschmilzt und gerade noch erkennbar ist und von christlichen Erklärungen abgelöst wird. Mit „Sankt Gleiniss“ scheint sich infolge Fehlinterpretation alter Textvorlagen eine Neuschöpfung zu melden. 11
Guoti weil waz.da der heilig christ selb geporn wart also müzz dir heut sein dez helf mir sant Marey. der heilig christ selb gieng von mad von grüenem graz. er trat auf einen stain. da verrancht er sein pain. do chom sich gangen genädig mein heyligi fraw Marey. Si sprach traut sun mein villieber herre wie traurst du nu so ser. […] Sy sprach amen nu trit her naher paz. dez sol werden vil güt rat seit du mir daz gesagt hast ce pluote pain ce. pain glit gleym dich als dich der heiligi christ geleimt hat. […] daz püezz dir heut sant Gleiniss und alli di chint die in hymelreich und in erdtreich geewigt und geheiligt sint […]
Es war eine gute Zeit (Stunde!), als der heilige Christ geboren war. Ebenso soll dir heute sein. Dazu helfe mir Sankt Maria. Der heilige Christ selbst ging über eine Matte grünen Grases. Er trat auf einen Stein und verrenkte sich sein Bein. Da kam meine heilige Frau Maria gnädig gegangen. Sie sprach, mein lieber Sohn, mein geliebter Herr, warum trauerst du so sehr […] (Christus schildert nun selbst, daß er in Not ist und ihm dies geschah) Sie sprach Amen; tritt näher heran; ich will dir nun, da du es mir gesagt hast, guten Rat geben: (Blut) zu Blut, Bein zu Bein, Glied (zu Glied), füg dich zusammen, wie der heilige Christ dich (mit Lehm) gefügt hat. […] Das helf dir heute Sankt Gleiniss (!) und alle Kinder, die im Himmel und auf Erden in Ewigkeit geheiligt sind. (Zuletzt wird eine Bestärkung der Formel mit Hinweis auf die manuelle Behandlung des Beines durch die Mutter Christi gegeben.)
9 Heeger, Fritz: Pfälzer Volksheilkunde, Würzburg 1936, S. 101 10 Albertus Magnus „Toledo“, Berlin 1908, I, S. 19 11 München BSB, Cgm 54, fol.96r,14.Jahrh. veröff. Schönbach Zeitschr.f.dt. Altert.24 (1880), S. 68
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In einem ebenfalls die Gottesmutter involvierenden Spruch aus dem Ungarischen im 16. Jahrhundert wird Christi Einzug nach Jerusalem detailliert ausgeschmückt; die imaginative Erzähltherapie hat die Bein-zu Bein-Formel geweitet und fest integriert; eine manuelle Berührung ist angedeutet: 12
Unser Herr Gott setzte sich auf den ungesattelten Rücken seines heiligen Esels, nahm den Weg zum Paradies, konnte nicht in das Tor des Paradieses eintreten, sein Fuß strauchelte, sein Fuß verrenkte sich, Knochen trat aus; Mark trat aus, Blut trat aus; das Herz unseres Herrn Gottes ward traurig, er wurde mißmutig. Dies hörte seine heilige Mutter Maria. Erschrick nicht, mein gesegneter heiliger Sohn, ich werde mit meiner heiligen Hand deines heiligen Esels Bein ergeifen, aus meinem heiligen Munde werde ich einen heiligen Spruch darauf sagen, meinen heiligen Odem werde ich darauf atmen, Knochen gehe zu Knochen, Mark gehe zu Mark, Ader gehe zu Ader. Sehne gehe zu Sehne, Blut gehe zu Blut. Auch ich ergriff heutigen Tages mit meiner sündigen Hand des Unvernünftigen Bein, auch ich sage darauf einen heiligen Spruch, blase aus meinem sündigen Mund meinen Atem darauf, auf daß sie an ihre Stelle treten.
Eine große Segensfamilie hat sich nach diesem Muster entwickelt, einem Muster, an dessen Beginn für den deutschsprachigen Raum der zweite Merseburger Pferdesegen steht. Sie bedient sich verschiedener Tiere, die über den Stein stürzen, auch Hirsch und Ochse und schildert Reiseunfälle auf dem Wege nach Rom, in heimische Orte oder in den Wald und läßt Petrus und Christus auftreten. In den norddeutschen Texten kann in der letzten Zeit des Segenssprechens das Geschehen ganz kurz gefaßt sein: 13
Unser Herr Jesus ritt über ein Steinlein, Eselein hat gebrochen sein Beinlein; da kam die Maria gegangen, sprach: Knacka zu Knacka zu Knacka, Lede zu Lede, bis du wieder zurecht werdest. Im Namen […] x x x Amen.
Das Schienen mit der Haselnuss-Rute als Frakturbehandlung Aus einer am Bodensee beheimateten medizinischen Sammelhandschrift der Fürstlich Fürstenbergischen Bibliothek Donaueschingen, wahrscheinlich des 15. Jahrhunderts, stammt die folgende hier gekürzte Frakturbehandlung, die ein Wundfieber ( Frörer) einschließt: 14
Wie man ain haslin schoss ze samen segnet das gut ist für den frörer vnd für das
Einen Haselzweig zusammenzusegnen Das ist gut für das Fieber und wenn
12 Grimm, Hans: Heilsegen aus der Batschka, in: Südosteurop. Forschungen 2 (1937), S. 418– 426, hier: S. 418 13 Haase, K.Ed.: Volksmedizin Grafschaft Ruppin, in: Zeitschr. d. V. f. Volksk. 8 (1898), S. 62, 19. Jh. 14 Karlsruhe Badische Landesbibliothek, Handschr. DON 792, Bl. 143v-144r, 15. [?] Jahrhundert Für die Übersetzung danke ich Herrn Oberstudiendirektor Dietrich Mayer, Mantel/ Opf.
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Spruchtexte
so ainer gebrochen etc. Jtem nim ain haslin schoss das des Jars sye gewachsen vnd spalt es enmitten nach der lengi enzway vnd gib sy zwain mannen in die hend die gegen ainandern standen vnd die schinen also uff den huffen an den siten in den fingern habind […] vnd wenn du die ruten also ze samen hast gesegnet so ergreiff si enmitten da si ze samen komen sind vnd bind si wol ze samen mit ainem faden […] Vnd sind dis die wort + Arcus superius stabat virgo maria notabat + virga viridis lux et aurora fulgebant +
jemand sich (etwas) gebrochen hat etc. So nimm einen einjährigen Haselzweig und spalte ihn mittig der Länge nach entzwei und gieb ihn zwei gegenüber stehenden Männern in die Hände, die also die „Schienen“ mit Fingern seitlich an ihren Hüften halten […] Und wenn du die Ruten so zusammen gesegnet hast, so fasse sie in der Mitte, wo sie zusammen kommen und binde sie mit einem Faden fest zusammen […] Ein gewölbtes Schutzdach darüber, die Jungfrau Maria nahm es wahr; da glänzte die frisch-grüne Gerte im Lichte der Morgenröte.
Ein gespaltener einjähriger Trieb des wundersam geschätzten Haselnussstrauches (Corylus) wird von zwei Männern zur Schienung eines Knochenbruches angelegt. Beide Teile sollen sowohl mittels Bindfaden als auch durch einen Segensspruch fixiert werden. Der zu sprechende oder als Amulettzettel zu schreibende lateinische Spruch ist eine Rarität. Er scheint Marienlyrik mit antiker Dichtung verbinden zu wollen. Im folgenden verwandten deutschen Text des 16. Jahrhunderts aus dem „Zwölf[13-]bändigen Buch der Medizin“ des Pfalzgrafen Ludwig V. bei Rhein ist der Spruchtext durch drei „magische“ Worte ersetzt: 15
Wan ein bain oder arm abgefallen hodt Den sol man wol schindelln und recht uff ein ander binden. Dorzu auch nemmen ein summer latten die als dan von ein ander spalten und zwo person die summer latten uber den schaden heben und werden segen spricht der soll drew mol sprechen Jn dem namen des vatters und des suns und des hailigen gaists. Auch als offt ein + machen Und auch drew mol sprechen Rack smack strack
Abgefallen Arm oder Bein [Luxation? Fraktur?] soll man schienen und fest aufeinanderbinden. Dazu nehme man eine Sommerlatte, spalte sie auseinander und von zwei Personen über den Schaden halten lassen. Und wer den Segen spricht, der soll drei mal sprechen Im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes und ebenso oft ein + machen und drei mal: Rack smack strack sprechen.
Noch im 19. Jahrhundert findet sich die Methode unter Schäfern kursorisch beschrieben, es kann allerdings auch einfach ein Stuhlbein verwendet werden, und das Ganze eignet sich durchaus nicht etwa nur für Tiere: 16
Bein brug oder Arm zu Heilen. Richt das Bein aber Arm recht ein und Schündle es, dan Schindle ein Stühl Pein nim den hinter Rechten
15 Heidelberg Univers.-Bibliothek, CPG 267, fol. 77r Digital 0160 16 Hersbruck Deutsches Hirtenmuseum, Handschrift Kurbug Huzler (1830–1849)
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Pflok ist es ein Arm nim das Fordere Verbinte es wie den Bruch mit Schindeln, Warmen Waßer ein getunkt und Sage Peinbruch Ich Segne dich mit den Wahren Gott das du wieder Heilest auf den Stok das du nit geschwielst und kein Schmerzen hast. Noch geschwürst oder drüest u Wachsest alle Tage So gewieß als der Liebe Hl. Jesus Christ. In der Krüpen (Krippe) gelegen ist. 3 mahl Gesacht.
Exkurs: Behandlung mit der Haselrute als Therapie von Tumoren Die Piephacke der Pferde (= „Elbogen“, Karpalbeule, Gelenkkapselcyste am Pferdebein) Die Anwendung der Haselrute schloß neben der mechanischen Schienung von Frakturen aufgrund der Vorstellung von ihren überirdischen Kräften auch Manipulationen ein, die der Zurückdrängung von überschüssigem Gewebswachstum (Tumoren) dienen sollten. So ist einer anonymen Rezeptsammlung des 15. Jahrhunderts ein Spruch zu entnehmen, der das Vorgehen auch beschreibt: 17
Wenne einem menschen oder einem rosse oder einem anderen viech dar uß wechst (etwas auswächst) / der neme ein hesslein Der ein Jars alt ist / den sneide eins snydens abe Jn dem namen des vatters […]
Der einjährige Schüssling ist mit einem einzigen Schnitt abzuschneiden, ist bei Sonnenaufgang zu segnen und auf die kranke Stelle zu legen. Ausführlicher sind Texte gegen die Anschwellung der Beingelenke bei Pferden: 18
Vor elbogen So solltu nehmen ein Samstag zu morgen vnd sollt abschneiden ein heselen ruet, die in dem selben jor gewachsen sey, vnd sprich also, wann du sie schneitst: + In dem namen des vatters, vnd als vor vnd am andern ende dar gegen ein schnit in der mos ( masel = Gelenkgeschwulst) als vnser her in der alten ehe beschnitten wart, auch in dem namen des vatters […]. Vnd bestreich es an eim morgen am samstag damit vnd sprich […]: Do vnser here das heilig kreucz vmbvieng, dornoch wuchs nie kein berg noch stein. Also soll dir thun dis gebein. Also wor das ist, so hillff vnd gott vnd der heilig krist, Dornoch vnser her gott warde geborn zu bethlahem, er wurt gemarthelt zu jherusalem. das geschicht nun furter nimermer. Also soll dir, pfert, dieser schad vergen.[…]
Der aus einer Handschrift für Pferdeheilkunde mit mehreren Anwendungen der Haselrute für „Elbogen“ entnommene Text analogisiert die Schnittbehandlung der Ge-
17 Heidelberg Universitätsbibliothek CPG 369, fol.171v, Digital 0350, aus Mosbach (?), 1430– 1444 18 Heidelberg Universitätsbibliothek CPG 255, fol.193r, Digital 0471, ca.1510–1544, Pfalzgraf Ludwigs roßarzneiliche Sammlung
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Spruchtexte
lenkcyste mit Christi biblischer Beschneidung nach der alten Ehe, d. h. nach jüdischem Gesetz und mit einer der legendären Folgen der Kreuzigung. Ebenso wie die Einbeziehung eines Kurz-Credos mit dem Singularitätsverweis über Christi Geburt als „nimmermehr“ soll auch die Wachstumstilgung auf Golgatha die Zunahme des Gelenktumors verhindern. Wie die Steine auf Golgatha nicht mehr wachsen, so soll es dem Tumor ergehen. Nicht wiedergegeben wird hier ein Anhang an diesem Spruchtext, der noch mit einem Schwundzauber ergänzt: Die Rute soll immer wieder als grüner Zweig aufgefrischt werden. Die alten Teile sind in ein Stallloch zum Verdorren zu verbringen. Neben dieser Empfehlung grüner Haselhölzer zum Bestreichen und Reiben der „Elbog“ kennen die Rossarzneibücher19 auch Pulver-, Schmeer- und PflasterApplikationen, aber auch das Brennen mit glühenden spitzigen Eisen. Ein sicherer Erfolg gegen das Hinken der Pferde wird aber nach der Beschreibung bezweifelt. Frakturen, Verrenkungen / Neuro-Psychosomatische Bedeutung von Verbaltherapie Spruchtexte nach Art der kombiniert erzählerisch-imperativen Form des zweiten Merseburgers und rein erzählerische Typen mit Analogien sind seit dem 15. Jahrhundert in vielerlei Varianten weiterentwickelt worden und haben vor allem christliche Inhalte aufgenommen. Sie dienten als therapeutische Begleitung den praktischen Maßnahmen der Schienung, Einreibung, Einrenkung und Kräuter-SalbenApplikation. Wesentliche Motivation für Verbaltherapie dürften akute Schmerzzustände gewesen sein, worüber das Kapitel 4 unterrichtet. Beim Menschen konnte über das limbischen System eine schmerzlindernde Verarbeitung mittels Imaginationen erfolgen. Eine Differenzierung in Verrenkungs- und Fraktur-Vorstellungen, obwohl eine genaue Diagnose nicht immer möglich war, deutet sich in den Texten an. Dem Zerbrechen der Hölle und dem Spalten der Haselrute folgt das „Zusammenfügen“ von Adam und Eva und das Zusammenbinden der Haselrute. Verbindende Bildgebungen sind auch „Himmel und Erde“, „Bein zu Bein“ und „alte Ehe – neue Ehe“ = alter Bund, neuer Bund der Testamente. Eine messbare direkte Wirkung auf die Frakturheilung ist lediglich als Hilfe zur Ruhigstellung denkbar; ein Einfluß auf Tumoren ist nicht zu erwarten.
19 Brebaum, H.: Das Roßarzneibuch des Johann M. Weitzen v. Oschitz (1677), Diss. München 1967, S. 66; Lezius, Renate: Die Roßarzneischrift des Johannes Carlyburger (1683), Diss. München 1968, S. 39
6. Blutungs- und Wundsegen von Bamberg und Strassburg
– Die Selbstbehandlung des Jesuskindes mit dem Daumen – Wundbehandlung „per primam“ oder Eiterprovokation: Der „Bamberger“ im chirurgischen Diskurs des 12. Jahrhunderts? – Die Segensfamilie mit der guten Stunde: bis in die Neuzeit beliebt –
Der allgemein als „Bamberger Blutsegen“ bezeichnete Text ist nach Indikation und Motivgestaltung in drei Teile zu trennen. Der Segen ist wahrscheinlich in Bamberg im vierten Viertel des 12. Jahrhunderts in eine Sammelhandschrift eingetragen worden. Er befindet sich inmitten verschiedener praktisch medizinischer Auszüge, u. a. aus Constantinus Africanus und Marcellus*. Er spiegelt damit die Entwicklung chirurgischer Konzepte in der Epoche beginnender universitärer Wissenschaft.
Abb. 09 Der Bamberger Blutungs- und Wundsegen des 12. Jahrhunderts
62 1
Spruchtexte
Accipe ramum crossum sambuci. semipedis longvm et fisso per medium. […] Et coniunctum suspende in collum fluxum patientis. Vel dic ter. Stringe uenam mur mur lu nam cessa. amen. Pater noster. Crist unte iudas spîliten mit spîeza. do wart der heiligo crist wund in sine sîton. do nâm er den dvmen. unte uor dûhta se uorna. So uerstant du bluod. so se iordanis aha uerstunt. do der heiligo iohanes den heilanden crist in iro tovfta. daz dir zo bvza. Crist wart hi erden wunt. daz wart da ze himele chunt. iz ne blŏtete. noch ne svar. noch nechein eiter ne bar. taz was ein file gŏte stunte. heil sis tu wůnte. In nomine ihesu christi. daz dir ze bvza. […]
Nimm einen dicken Holunderzweig, einen halben Fuß lang und mittig gespalten. […] Und hänge (die Teile) verbunden an den Hals des (blutenden) Patienten. Od. sprich 3x. Verbinde die Ader flüstere bei abnehmendem Monde. Amen. Vater unser. Christ und Iudas spielten mit Spießen. Da wurde der heilige Christ wund an seiner Seite. Da nahm er den Daumen und presste ihn vorne darauf. So stehe du Blut wie das Jordanwasser stand, als der hl. Johannes den Heiland Christ in ihm taufte. Dies dir zur Heilung. Christ ward auf Erden wund. Das wurde im Himmel kund. Es blutete nicht, es schwärte nicht. Nicht einmal Eiter bildete sich. Das war eine sehr gute Stunde. Heil sei dir Wunde. Im Namen Jesu Christi. Dies dir zur Heilung […]
(A) Kindlich-göttliche Selbstbehandlung: Christus und Judas spielten mit Spießen … Der erste allein für Blutstillung bestimmte Teil folgt unmittelbar einer symbolischen Pflanzenanwendung. Zwei Hälften eines gespaltenen Holunderzweiges sollen am Halse des Patienten analog zur Wiederverknüpfung des eröffneten Blutgefäßes in Verbindung gebracht werden. Das Sinnbild ist klar. Wir begegnen diesem Heilritus auch vor den Fraktursprüchen mit Ruten.2 Der Segen selbst beginnt mit einer kleinen Geschichte, die auf die Legende eines arabischen Evangeliums zu Christi Kindheit zurückgeht3: Der vom Teufel besessene Judas mischt sich unter die mit Jesus spielenden Kinder und möchte Jesus beißen. Aber das gelingt ihm nicht, und so stößt er ihn mit einem Spieß oder einer Lanze in die Seite und das Jesuskind weint. Diese deutende Zurückführung der Geschichte ist nicht unumstritten, die Forschung hat aber bis heute keine bessere Erklärung gefunden. Plausibel dagegen ist die gedankliche Verknüpfung dieses Kinderspieldramas mit dem Lanzenstich des Soldaten nach Evangelium Johannes 19,24, der den gekreuzigten Jesus in seine Seite stach, dem späteren Longinus.
1 2 3
Bamberg Staatsbibliothek, Msc. Med.6, fol. 139rb, Literatur siehe Paderborner Repertorium Vgl. Kapitel 5 Jacoby, Adolf: Der Bamberger Blutsegen, in: Zeitschr. f. dt. Altertum 54 (1913), 200–209
Blutungs- und Wundsegen
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Abb. 10 Christus als malweisender Schmerzensmann: „ … unte uor duhte se uorna“ (Ausschnitt; Dom zu Wiener Neustadt, 1472)
Durch diese kleine orientalische Legende ist der Bamberger mit dem älteren Straßburger Blutungssegen des 11. Jahrhunderts4 verwandt. Auch in ihm gehen zwei Personen zum Schießen, aber nicht Jesus (=Genzan, =Josua) sondern ein „Jordan“ wird in seiner Seite angeschossen, sodaß dieser Text nicht sinnvoll, sondern verdorben und zerstückelt ist, selbst wenn man eine weitere Kinderspielversion aus den Pseudoevangelien erklärend heranzieht, wie nämlich ein Kind sich zu Tode stürzt und Jesus von dessen Eltern dafür beschuldigt wird.5 Für Jordan und Genzan hatte Jacob Grimm nach Entdeckung des Straßburgers natürlich zwei heidnische Götter vermutet. Doch wird die „Jordan“-Nennung eher als eine Schriftscherbe aus verlorenen Textteilen zu gelten haben. Der Straßburger Segen konnte nur mit Hilfe des Bambergers geklärt werden; er hat folgenden Wortlaut: Ad stringendum sanguinem. Singula ter dic Genzan unde Jordan keken samen sozzon. to versoz Genzan Jordane te situn. to verstont taz plot. verstande tiz plot. stant plot, stant plot fasto !
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Zur Blutstillung. Sprich dreimal alleine Genzan und J. gingen zusammen schießen, da schoß Genzan den Jordan in die Seite. Da blieb das Blut stehen. Stehen bleiben möge dies Blut! Stehe Blut, stehe fest Blut !
Straßburger Bibliothek, 11. Jahrh., die Handschrift im Krieg 1870 verbrannt, veröffentl. Aufhauser, Joh. Baptist, Umweltbeeinflussung, München 1932, S. 80f (Übersetzung nach Koegel) Reinsch, Robert: Die Pseudoevangelien, Halle 1879, S. 11
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Spruchtexte
Der erste Teil des Bamberger Blutungssegens hat unter allen Beschwörungen und Segen eine einmalige Variante. Es ist die legendäre Heilhandlung Christi mit seinem eigenen Daumen als Selbsttherapie. Bleibt man im Bilde der Legende spielender Kinder, so ist diese durch Daumendruck bewirkte Gefäßstrangulation, falls nur oberflächliche Adern verletzt sind, die einzige und schnellste Möglichkeit eines Notfalleinsatzes. Möglich zur Erklärung der Kompressionsbehandlung mit einem Daumen wäre aber auch die Heranziehung einer Bildvorgabe aus Darstellungen, in denen Christus mit seiner Hand auf die Seitenwunde hinweist, also eine traumatologisch nutzbar gemachte Umdeutung des bekannten Gestus des malweisenden Schmerzensmannes (Abb. 10). Diese Bildgebung ist allerdings nördlich der Alpen erst seit dem Ende des 14. Jahrhunderts nachweisbar; sie entsprach der Gefühlswelt der Mystik und diente der Vertiefung der Andacht in Kontemplation. Die Kompression mit Daumenoder Fingerdruck, meist rituell kreuzweise links über rechts und umgekehrt, findet sich in Segen bis zur Neuzeit. In Evangelien kommt Christi Selbsttherapie nicht vor. Die Verbaltherapie ist nun auch hier nicht losgelöst von praktischen Maßnahmen zu betrachten, zumal der Bamberger Codex, wie gesagt, die Practica des Constantinus Africanus bietet, also medizinische Rezepte aus der berühmten Schule von Salerno. Die Medizingeschichte6 weiß heute, daß nicht Celsus und Galen* (1./2. Jahrh. nach Christus) die ältere griechisch-römische Chirurgie überliefert haben, sondern der Grieche Paulus von Aegina im 7. Jahrhundert. Seine Hypomnema (Denkschrift) wurde im 9. Jahrhundert ins Arabische übersetzt und im 11. Jahrhundert von Constantinus Africanus in Salerno aus dem Arabischen ins Lateinische. Mit dieser Chirurgie, die im Schnittpunkt von römischem und hellenistischem Gedankengut steht, begann eine Neubelebung, eine Renaissance des Fachgebietes in Theorie und Praxis im Vorfeld der ersten Universitätsgründungen, eine erste wissenschaftliche Diskussion. Eine vermischte Textsammlung aus Salerno hat ihren Weg nach Bamberg gefunden und wird als „Bamberger Chirurgie“ bezeichnet. Sie befindet sich im gleichen Bamberger Codex Msc. Med. 6 wie unser Blutungssegen.7
(B) Wundbehandlung „Per primam“: (B) Es blutete nicht, es schwärte nicht, es eiterte nicht …. Anders als der erste Teil des Bamberger Segens, dessen Geschichte von der kindlichen Spießverletzung genauso wie der Straßburger Segen weder Vorfahren noch Nachfolger hat, steht der zweite Teil mit seiner Perprimam-Heilformel im Überlie-
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McVaugh, Michael: Therapeutische Strategien: Die Chirurgie. In: Grmek, Mirko Drazen (Hg.): Geschichte des medizinischen Denkens, München 1996, S. 293–311, hier: S. 298f Bergmann, Rolf und Stefanie Stricker (Hg.): Katalog der altdeutschen und altsächsischen Glossenhandschriften, Berlin New York 2005, I, S. 169
Blutungs- und Wundsegen
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ferungsstrom einer großen Segensfamilie. Unter Perprimam-Heilung wird in der Chirurgie eine infektionsfreie, also eiterlose Wundheilung verstanden. Sie kann auf Salben- und Kräuter-Verwendung verzichten. Während im verwandten Longinussegen primär die Wunderkraft von Blut und Wasser aus der Brustwunde zur Heilung einer Blutung herangezogen ist, verweist der Bamberger auf alle 5 Wunden. Dies jedenfalls kann eine angehängte Beschwörungsanleitung bestätigen. Sie läßt den Segenssprecher nach drei Vaterunser noch drei mal hinzufügen: „Ich besuere dich bi den heiligen funf wnten“. Sie greift die Endzeile „heil sis tu wnde“ danach im Sinne einer Textbündelung noch einmal auf. Hier hat ein dem Bernhard von Clairvaux zugeschriebenes Verspaar sinngemäß seinen Einzug in die Heilsprüche gefunden: „Vulnera quinque Dei sint medicina mei“ – Die fünf Wunden Gottes seien meine Medizin. Das Reimpaar „auf Erden wund/ im Himmel kund“ verknüpft Christi Menschsein zunächst mit seinem Gottsein, mit seiner Gottessohnschaft und kann als Erhörung der letzten Worte am Kreuz, der Verlassenheitsklage verstanden werden. Womit dem Sprechenden und dem Verwundeten Erfüllung ihrer Heilintention angekündigt ist. Danach wird im nächsten Verspaar ein neues nicht biblisch verbürgtes Wundergeschehen eröffnet, das den Kern der Heilungsbemühung bildet. Die Wunden Christi zeigen eine bemerkenswerte Entwicklung: sie bluten nicht. Wichtiger noch – das wird sowohl funktionell mit dem Verb „Schwären“ als auch substantiell mit Eiter als Materie ausgedrückt – es kommt zu keiner Wundkomplikation. Es heilen alle Wunden per primam und das war in der Medizingeschichte ein umstrittenes Behandlungsziel. Eindeutiger als im Münchner Drei-Brüder-Segen, dessen Öl-Schafwoll-Verordnung pathophysiologisch dem Nichtschwären widerspricht, wird im „Bamberger“ einer frühen wissenschaftlichen Renaissance der Chirurgie mit Klarheit Rechnung getragen. Gerade inmitten einer Handschrift, die viele Teile und Splitter der Medizin von Salerno sammelt, stellt der Bamberger Wundsegen eine krasse Neuigkeit dar. Die alte Wundbehandlung der Schule des Hippokrates*8 hatte exakt die eiterbedürftigen Wunden von solchen unterschieden, die keine Eiterung brauchten9; diese Differenziertheit war zumeist verloren gegangen. Man erwartete geradezu in jedem Fall Eiter. Ob Quetsch- oder Schnittwunde, offener Knochenbruch oder Pfeilwunde, immer sollte Eiterung sogar provoziert werden, Eiter sei natürlich. Man legte in Unkenntnis von Bakteriologie wohlmeinend ungereinigtes Leinen, Kräuter und Pulver ebenso wie „Öl und Schafwolle“ in die Wunde und glaubte, damit Heilung zu fördern. Der 2. Teil des Bamberger Segens verdeutlicht damit schlaglichtartig den Kampf der Chirurgenschulen der Mitte des 12. Jahrhunderts. Die fortschrittliche Medi-
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Die mit * versehenen Namen und Begriffe finden im Anhang Erklärung Salazar, Christine F.: The treatment of war wounds in graeco-roman antiquity (Hg. John Scarborough), Leiden u. a. 2000, S. 26
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Spruchtexte
zinschule von Bologna10 hatte nach ihren Erfahrungen auf Eiterförderung per Reizung der Wunde verzichtet und statt dessen einen antiseptischen, bakterienfeindlichen Alkoholverband angewendet. Ihre Erfolge gaben ihnen teilweise recht. Narbenbildungen blieben oft komplikationsfrei; kleine Wunden heilten „per primam“ viel schneller ohne funktionelle und kosmetische Defekte. Aber bei größeren Wunden waren andere Maßnahmen erforderlich. Die Bedeutung von Eiterbildung wurde jetzt differenzierter dargestellt.11 Diese medizintechnische und mehr noch auch medizintheoretische Revolution spiegelt sich im Bamberger Segen wider. Er konnte als Propaganda-Instrument für eine neue Therapie eingesetzt werden, methodisch gesehen zeitentsprechend im Klosterbetrieb auf christlicher Spruchfolie sehr wirksam. Es ist müßig, dem Mönch oder Mönchsarzt, der den „Bamberger“ eintrug, eine bedarfsweise Ausbeutung der heiligen Wunden und eine „magisch gepolte Bedürfnislage“12 mit Aussetzung der zwei Naturen Christi zu unterstellen. Die alte germanische Liedform der Zwillinge mit Stabreim beim „Schwellen und Schwären“ der Wunden ist für die Annahme germanischer Vorbilder unseres Bamberger Segens plausibel.13 Aber es sind wenige und magere Zeugnisse, die aus der Zeit vor dem 14. Jahrhundert belegt sind. Und eine allgemein kontroverse Auffassung zur Wundheilung dürfte es auch schon vor den ersten wissenschaftlichen Impulsen der Medizinschulen gegeben haben.
Bis zur Entdeckung der bakteriologischen Nachweise im Mikroskop blieb allerdigs das Dilemma um die richtige Wundversorgung in der Praxis bestehen. Denn wenn auch die Spruchtexte auf Eiterfreiheit angelegt waren, Pflaster und Verband waren es nicht. So kann von einer eitermeidenden Wundversorgung bei einem anderen neuen Segenstyp, dem „Wassersegen“, der die Formeln des „Bambergers“ seit dem 13. Jahrhundert ausweitet, meist keine Rede sein. Während er nämlich die Verbannung des Eiterns auch mit Vertreibung von Ungeziefer in Worten anstrebt, wird in der anschließenden Verbandsanweisung nur selten eine Spülung der Wunde mit dem Wasser oder gar ein desinfizierendes Mittel empfohlen. Nur in einem der von Verena Holzmann14 veröffentlichten acht Wassersegen wird abschließend fließendes Wasser erwähnt, ohne daß eindeutig eine Wundspülung genannt ist. Meist dient das dem Jordantaufwasser gleichgestellte Wasser als Weihwasser, worein die Pflaster und Binden zu tauchen sind oder das zu trinken ist. Es fällt leicht, auf christliche Wissenschaftsfeindlichlkeit zu schließen; komplizierter ist es, die Zeugnisse nichtklerikaler Quellen allgemein mit differenzierter und fortschrittlicher Wundversorgung zu verbinden.
10 Schipperges, Heinrich: 5000 Jahre Chirurgie, Stuttgart 1967, S. 36/41 11 McVaugh, Michael: The Rational Surgery of the Middle Ages, Firenze 2006, Kap.III: The Rationalization of Wound Treatment, S. 104f 12 So Schulz, Monika: Beschwörungen im Mittelalter, Heidelberg 2003, S. 77 13 vgl. Ebermann, Oskar: Blut- und Wundsegen, Berlin 1903, S. 52–64 14 Holzmann, Verena: „Ich beswer dich wurm vnd wyrmin …“ Bern u. a. 2001, S. 232–238
Blutungs- und Wundsegen
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Bei Heranziehung weiterer Wund- und Wassersegen und medizinischer Schriften spiegelt sich die medizinische Kontroverse um die Wundversorgung über weitere Jahrhunderte wider. Das 12-(13-)bändige Buch der Medizin des Pfalzgafen Ludwig V. bei Rhein (um 1525) enthält Handschriften aus dem Besitz der pfalzgräflichen Familie, adliger Laienmediziner, Lehensträger und Ministerialen, bürgerlicher Mediziner und Laienpraktiker,15 bietet also eine breite gesellschaftliche Palette der Anwender und Schriftvermittler in ca. 20000 Einzeltexten. Hier überwiegen bei der Wundversorgung bei weitem die bewußt eiterfördernden Maßnahmen mit und ohne Segensbegleitung, gelegentlich heißt es sogar, die Wunde möge „nit zu balde“ heilen. Demgegenüber gibt es Segen mit der Formel vom Schwellen und Schwären, solche zumal, die den „Gott, der Wein und Wasser geschaffen“ hat, heranziehen und eigentlich eine Wundweihe anzielen, die nach dem Segensspruch empfehlen, „kain ander artznei“ dazuzutun (CPG 266, fol.251r) oder einfach auf die fehlende Wundbehandlung Christi zu verweisen: „Jhesus entpfinge viel wunden, da ward kaine verbunden, also geschehe dieser wunden“ (CPG 266, fol.130r). Ebenso CPG 211, fol.35r: „und heis nüt anders dor zü tün“. – Eine Wiener Handschrift des 14. Jahrhunderts für alle Notfälle (Cod. 2531, fol.58rv) läßt die Wunde mit Essig oder Wein benetzen und explizit „nullo modo“, keinesfalls also, mit Salbe behandeln. Gelegentlich stehen die kontroversen Wundversorgungskonzepte nebeneinander wie in der „Wundarznei“ des Ortolf von Bayerland16: Versorgung von Stichwunden mit Eiweiß und Hanfwerg am Pflaster, Versorgung von Stichwunden mit Abwarten, bedarfsweise Ausblasen mit einem Rohr und Alkohol (Wein). Eine Anweisung zu genauer Differentialdiagnostik, wie selten zu lesen, bietet eine Schrift aus Donaueschingen im 15. Jahrhundert, vgl. im Kapitel 9. Besonders später unter dem Einfluß von Paracelsus, der dem Wundarzt vorwirft, daß nicht er, sondern daß „der Balsam im Leib es ist, der heilet“ mit seiner versteckten Kraft, gerät die Wundversorgung wieder ins Visier. Mit „Eyerklar verbappen“ und mit Pflaster von Harz, Mastix, Wachs und Gummi , solches ist „der Wunde garnicht vieglich“ und ist „Verderbung“.17
Der folgende hier gekürzte Wassersegen entstammt der Münchner Bibliothek, er wurde im 15. Jahrhundert in ein Psalterium des 12. Jahrhunderts eingetragen: 18
Daz wazzer muezz alz wol gesegent sein alz der heilig Jordan waz da got selber inn getawft ward Jch gesegen dich mit der samung der heiligen wunden. […] daz [du] dein swern und dein hirn und dein fliezzen und dein riechen und dein fewchten und dein fäwln
Das Wasser muß so gut gesegnet sein wie der heilige Jordan als Gott selbst in ihm getauft ward. Ich segne dich mit der vereinten Kraft der heiligen Wunden […] daß du dein Schwären und dein „Hirren“ und dein Fließen und dein Riechen und dein Nässen und dein Faulen
15 Keil, Gundolf, in: Verfasserlexikon, V, 1016–1030 16 vgl. Auer, Erltraut u. Schnell, Bernh.: Ein traumatolog. Schema in der Tradition der Wundarznei des Ortolf von Baierland, in: Keil, G. (Hg.) „ein teutsch puech machen“, Wiebaden 1993, S. 349–401, hier: 387 17 Caspar Stromayr: Practica copiosa (1559–67), hrsg. von G. Keil und Peter Proff, Darmstadt 1994, S. 181; über eine Zurückweisung der scharfen Kritik des Paracelsus siehe Rotzoll, Meike, in: Parerga Paracelsica (Hg.: Telle, Joachim), Stuttgart 1991, S. 75f 18 München BSB Clm 23119, fol. 44ab, Segensammlung Schönbach Gießen, S. 903f; 2009 noch nicht digitalisiert
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Spruchtexte
und dein schmeken und dein dorren und dein stechen und dein wechen und dein gswellen lassest ez sein würm oder spinnen oder maden […] daz muz allz tot sein von disen worten die ich gesegent han Du almächtiger got dein heilig wunden die schwuern noch enswullen noch enriechen […] gesegen ez dreistunt und nach ieglichem segen spreng daz wasser vier enden aws
und dein Schmecken und dein Dörren und dein Stechen und dein „Wechen“ dein Schwellen einstellst, es seien Würmer, Spinnen oder Maden […] alles soll absterben durch diese Segensworte. Du allmächtiger Gott, deine hl. Wunden die weder schwüren noch schwellen noch riechen. […] Also segne es drei Stunden und nach jeglichem Segen sprenge das Wasser in vier Richtungen aus!
(C) „Das war eine sehr gute Stunde …“ Aus dem letzten Teil des Bamberger Blutungssegens ging mit der Zeitfestlegung auf eine gute Stunde, auf die heilstiftende Kreuzigung des Opferlammes und unter Nutzung der Gunst des Reimes einer der bis in die Neuzeit beliebtesten Wundsegenstypen hervor. Er nimmt mehr noch wie der zweite Teil außerhalb der Klöster seinen Weg in Medizinbücher, Volksheilbücher und in die mündliche Tradition der Heiler. Die einzelnen Verzweigungen der Formel können im folgenden nur angedeutet werden: 19
Ein segen zu wunden. Sprich. Crist von hiemell warde wundt, Das was vff dieser erden ein glückhafft stunde; Die viel hailigen wunden hailten schier Also mus auch du thun on aiter, on schweren. Das helf mir der wore Gottes sune Crist, der aller welt ein hailsamer artzt ist.
In manchen Segen „von der guten Stunde“ ist Longinus mit seinem Speer angehängt, so eine Formel aus dem Nürnberg des beginnenden 15. Jahrhunderts, wo 1424 durch die Schenkung Kaiser Maximilians die Verehrung des heiligen Speers begonnen hatte: 20
Ich gesegent mich heut mit guten stunden / mit den hailigen funff wunden / Ich gesegen mich mit den heiligen dreynegel die dir lieber hergot durch Hend und fuß wurden geslagen / Ich gesegen mich heut mit dem sper gut daz dir lieber got durch deine rechte seiten wut […]
19 Heidelberg CPG 266 (Buch der Medizin des Pfalzgrafen) fol.130b, 16. Jahrh. Digitalisat 0272 20 Nürnberg Germ. Nationalmuseum Handschr. 5832, fol.5r-5v, veröffentl. Aufsess, Hans von und zu, Anzeiger f.d.Kunde der dt. Vorzeit 1 (1853), S. 136
Blutungs- und Wundsegen
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Andere Texte betonen die Perprimam-Heilung und nennen die zu behandelnde als sechste Wunde wie der sächsische Text im Rossarzneibuch des Johann Martin von Oschitz in Meissen von 1677, notiert auf den Rand einer Seite: 21
Das walt gott […] daß du von dannen weichst, heut ist dieselbige stundt. Gott der heilige ward auch wundt, am dritten tag wardt er wieder gesundt. Das walt gott undt die heyl. 5 wundten, die heilen den schaden, die 6. wundt dieselben jähren nicht und schwern nicht, sie hizn nicht und schwitzen nicht […] undt der unselige judt stach das himmlische kindt […]
Gelegentlich fällt die eine heilbringende christliche Stunde auf die Kreuzigung wie im Bamberger Segen, so hier im Büchlein der Kuhhirtenfamilie von Schivelbein in Pommern, gesammelt und geschrieben zwischen 1787 und 1870: 22
Unser Herr Christus ist verwundt in einer glücklichen Stund Hat nicht gebissen nicht gerissen so soll diese Wunde auch thun[…]
Vielfach tritt aber auch die Geburtsstunde Christi ein wie in einem Spruch meiner Ururgroßmutter, der Frau Lehrerstochter Juliane Maria Anna Ernst (geb. 1816 in Wilburgstetten, gest. 1870 in Nördlingen): Glückselige Wunde, glückselige Stunde, glückselig ist der Tag, da Jesus Christus geboren ward.
Und meistens bis in die Neuzeit und in die gedruckten Zauberbücher tendieren die Texte zu drei glücklichen Stunden, ohne immer den logischen Zusammenhang mit Christi Wunden aufzugeben. Die Nachbarschaft zu den Formeln des Kurzcredos wird damit deutlich, so im 16. Jahrhundert im Elsass: 23
So gut ist die stundt, alß die stundt wahr, da vnser lieber Herr geboren war, alß gut ist die stundt, alß die stundt war, als vnser lieber Herr Jesus Christ gestorben war […] vferstanden war, so gut seindt die 3 stundten. Verhebendt dem Menschen die wundten […] alß das blut gestanden ist an vnserem Herren jesus Christ an dem Stamen deß heiligen kreutz. Das es nit geschwindt vnd hitz, nit schweiß vnd nit geschwell […]
Daß zu Zeiten auch solch fromme Formeln der Segenssprecher Anstoß erregten, zeigt ein Vorgang am Züricher Ehegericht, wo der Schulmeister Heinrich Hardmeyer aus Männedorf 1643 vorgeladen ist. Er hört Vorwürfe wegen des Spruchinhaltes, versichert, daß er kein Geld verlangt hat und bittet um Verzeihung. Sein Spruch:
21 Brebaum, Hendrik: Das Rossarzneibuch des Johann Martin von Oschitz, Diss. München 1967, S. 125 22 Mackensen, Lutz: Ein pommersches Hirtenbuch, in: Bargheer, Ernst und Herbert Freudenthal (Hg.) FS Otto Lauffer, Volkskunde-Arbeit, Berlin und Leipzig 1934, S. 204 23 Lefftz, J., in: Archiv f. elsäss. Kirchengeschichte 7 (1932), S. 217
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Spruchtexte
Es war ein guotte stund, da unser Herr Jesus geboren ward, es war ein guotte stund, da er gestorben war, es war eine guotte stund, da er ufferstanden war. Da weren die drei glückhaft stunden. Ich gebiette deiner wunden, daß sy soll weder blüeten noch erschweren, bis daß sein Liebe Muotter ein ander Kind werdt gebären.
Schicksalhafte Verstrickungen werden am Rande von Segenstexten immer wieder offenbar, so aus dem Zweiten Weltkrieg, als ein Soldat seiner Frau am 9.1.1941 schreibt25: „Liebe Silvia! Vieles steht uns noch bevor, große Strapazen und Kämpfe, ob ich wiederkehre weiß nur Gott allein. So übergebe ich dir ein Geheimnis: Blutstillen: Heilsam ist die Wunde, heilsam ist der Tag wo Jesus Christus geboren ward. (3 Vater unser) aber bitte erst dann öfnen wenn ich nicht mehr unter den Lebenden bin. Heil Hitler! W.“ Der Soldat ist kurz darauf gefallen. Noch 1985 ist der polnische Geistheiler H.S. im Münsterland an der holländischen Grenze tätig. Schon als Junge habe er verletzten Mitschülern geholfen. Die Fähigkeit liege in der Familie. Dieser Spruch sei vermittels eines Pfarrers von einem Schäfer überkommen: 26
Es sind drei wundersame Stunden in diese Welt gekommen: in der ersten ist Gott geboren, in der zweiten ist Gott gestorben, in der dritten ist er wieder lebendig geworden. Nun nehme ich diese Stunden zusammen und stille dir N.N. das Blut
Traumatische Blutung / Psychosomatisch-neurologische Bedeutung einer Verbaltherapie Die Teile des Bamberger Segens bieten der Heilstrategie verschiedene Zugänge. Besonders als vom Heiler drei mal geflüsterter Spruch war die Erzählung des ersten Teils über eine kuriose Selbstheilung des Heilands nach kindlicher Spießverletzung eine wirkliche Überraschung. Das war ganz konkrete Entmystifizierung. Für die Verarbeitungssysteme des Gehirns wirkte sie wahrscheinlich oft irritierend befeuernd auf die limbischen Gebiete. Auf diesem Wege konnte Einfluß über den Hypothalamus*27 auf vegetative vasokonstriktorische Nervenfasern zur Minderung der Blutungsgefahr und über die Amygdala* zu allgemeiner Ablenkung der Aufmerksamkeit weg von der ängstigenden blutenden Wunde genommen werden. Inwieweit und wie auf dem Wege des suggerierten Bilderlebens eine Anpassung der Blutgerinnung über hormonelle Systeme erfolgt, ist derzeit Ziel der Forschung.
24 Wehrli, Paul: Aberglaube im alten Zürich, in: Schweizer Volkskunde 22 (1932), S. 6 25 Denz, Hermann und Manfred Tschaikner: Alltagsmagie … im Bregenzer Wald. Begleitbuch zur Ausstellung des Frauenmuseums in Hittisau, Innsbruck 2004, S. 42 26 Graefen-Johannimloh, Lieselotte und Ursula Castrup, in: Volksmedizin heute, (Hg. Wiegelmann, Günter, Münster 1987) S. 151 27 Die mit * versehenen Begriffe und Namen finden im Anhang Erklärung
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Der zweite Teil des Segens impliziert darüber hinaus die beruhigende Hoffnung auf eine unkomplizierte Heilung, wobei die Wirkung der hier einfließenden Stab- und End-Reime prinzipiell als rhythmisierendes Suggestivum gelten kann. Wenn keine länger anhaltende Blutung durch komplizierte Bedingungen vorlag, dann hatte der Spruch in vielen Fällen seine Schuldigkeit getan.
7. Blutungssegen: Longinus und seine Lanze Christi latus a Longino aperitur: Omne tulit punctum1
– Die Folgen des vieldeutigen Eingriffs in Christi Seite – – Das bleibende innere Geheimnis der Lanze und ihre Doppelfunktion für Kirche und Kaiser – – Imagination heiligster Nähe in eigener Leiderfahrung –
Ausgangspunkt dieses zunächst der Blutstillung dienenden Segens ist allein das Johannes-Evangelium 19, 24: „… einer der Soldaten stieß mit der Lanze in seine Seite und sogleich kamen Wasser und Blut heraus“. Über die Tat des mit Lanze oder Speer bewaffneten Mannes, der den Gekreuzigten in die Seite ritzt, sticht oder bohrt und seine Motive ist über Jahrhunderte unendlich viel nachgedacht worden. War es der Gnadenstoß ? War es Todesvergewisserung oder Todeseintrittszeugnis? Eine Beschleunigung des Todeseintritts wegen bevorstehenden Passahfestes? Die Beine der Schächer wurden aus diesem Grunde gebrochen, Jesus dagegen wird wie ein Opferlamm behandelt. War der Soldat dem Judas oder eher dem Moses am Felsenquell vergleichbar? Lassen wir die Spekulationen, auch die über physiopathologische Fragen, Todeseintritt und Zeichen! Einziger Schlüssel zum Verständnis bleiben Wasser und Blut als Signaturen der entscheidenden Sakramente: Wasser der Taufe, Blut der Eucharistie, Wasser als Lebensspender am Wüstenrand. Alle Menschen leben an ihm. Und Blut als Erlösungsopfer – alle bleiben dessen bedürftig. Nur eine solche Interpretation wird dem Evangelisten gerecht, in dem sie an seinen ersten Brief (1 Joh. 5,6) anknüpft und die Doppelnatur des Christus Jesus beschreibt.2 Aber die Person des Lanzenmannes erregte doch immer wieder Neugier. Ähnlich Veronika, die auf ihrem Schweißtuch ein Original-Relikt des physischen Christus erhielt, bekam auch der Erzeuger der Seitenwunde bald einen Namen und bekam verschiedene Identitäten. Schon in frühen Legenden des 4. Jahrhundertes (Gregor von Nyssa) wurde der Kriegsknecht des Pilatus zum himmlischen Kriegsknecht, ja zum Märtyrer. Und später wird ihm auch Blindheit zugelegt. In der Legenda aurea des 13. Jahrhunderts heißt es: „Von Sanctus Longinus. Longinus war ein Hauptmann, der stund mit anderen Kriegsknechten unter dem Kreuz. [...] Auf des Pilatus Gebot durchstach er die Seite des Herrn mit 1 2
aus : Emblematische Weingartener Hl.-Blut-Geschichte P. Eugen Speth 1694 vgl. besonders Burdach, Konrad: Der Gral, Stuttgart 1938, 1–17
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seinem Speer; aber da er die Zeichen sah, die da geschahen, daß die Sonne ihren Schein verlor und die Erde erbebte, da glaubte er an Christum. Etliche schreiben, daß er sei gläubig worden, da das Blut Christi, das an der Lanze herablief, von ungefähr seine Augen berührte, die von Krankheit und Alter schwach waren, und ihm alsbald sein klares Gesicht wiedergab.»3
Und nicht nur Neugier löst Longinus aus. Er macht Kirchen- und Reichsgeschichte, bahnt Pilgerströme und Katechetenkräfte. Denn der Auferstandene war ja sonst unverletzt, sein Leib hatte als integer zu gelten bis auf die Wundenmale, die Narben. Mit dem Blut als einziger „Reliquie“ des Erlösers konnten konkret – nicht mehr nur geistig-vertikal als Sakrament – Kultentwicklungen gefördert werden. In Weingarten wird 1182 erstmals von einer Heilig-Blut-Reliquie berichtet; bereits 1094 soll sie den Mönchen vom dortigen Martinsberg geschenkt worden sein;4 es ist die Zeit der Kreuzzüge. Auf der Insel Reichenau soll zuvor 925 eine Blutreliquie angekommen sein. Die Heilig-Blut-Wallfahrten, in denen Longinus bis in unsere Zeit verehrt wurde, zeigen seine Bedeutung. Er war auch Sammler und Überbringer des kostbaren Blutes geworden. Und seine Lanze wurde kaiserliches Allmachtssymbol. Die Schöpfer und Gestalter des Longinussegens konnten auf dieser breiten Basis geistiger und legendärer, jedenfalls christozentraler Ebenen ein Jahrtausendwerk mit ununterbrochener Überlieferungskette hinterlassen. In den Segen von den drei guten Brüdern5 wird schließlich sogar Christus selbst zum Autor des Longinussegen ernannt. Doch hat der Longinussegen seinen jahrhundertelangen Weg auch selbständig genommen. Die ältesten nachweisbaren Longinuseinfügungen und Titel finden sich zumeist in überwiegend lateinischen Texten; eine sehr frühe Erwähnung des Soldaten neben einigen althochdeutschen Splittern hat die Rheinauer Handschrift des 10. Jahrhunderts: 6
Longinus miles. Lango zile. Cristes thegan ast astes. Adiuro sanguis per patrem et filium. Et spiritum sanctum Vt non fluas. Plus quam iordanis aha … nelo ( ?) xpe In ea baptizatus est et a… a tribus vicibus ; pater noster cum gloria
Angesprochen in diesem wenig durchsichtigen Text ist jedenfalls der Speerstich des Longinus und die Indikation Blutstillung. In einem noch lateinischen Regensburger Segen des 11. Jahrhunderts aus St. Emmeram, auch er randständig auf einer
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Jacobus de Voragine*: Legenda aurea. Übersetzung Richard Benz, Gütersloh 1999, S. 182 Jensch, Rainer: Die Weingartener Heilig-Blut-und Stiftertradition. Diss. Tübingen 1996 siehe Kapitel 29 Zürich, Zentralbibliothek, Handschrift Ms. Rh. 51, Blatt 23v, blass am unteren Rande; für freundliche Vermittlung danke ich Herrn Prof. Dr. C. Eggenberger.
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Spruchtexte
Seite hinzugefügt, wird das Vorgehen des Longinus berichtet. Beschworen wird ein Stillstand des Blutes durch Erstarren in der Ader.7 Im folgenden Text des Innsbrucker Arzneibuchs des 12. Jahrhunderts gegen Nasenbluten mit einem in deutsch genannten „Der lange Longinus“ und mit nachfolgender Heilkrautinsufflation dominieren empirische Verordnungen. Das gebrannte Pulver aus Eberraute soll durch ein Rohr in die Nase eingeblasen werden:
Abb. 11 Longinussegen im Innsbrucker Arzneibuch (12. Jahrhundert) 8
Contra fluxum sanguinis de naribus. Dicat sic: der lange Longinus transfixit Christi latus statimque fluxit sanguis de latere, in ipsius nomine stet sanguis iste. Deserru rûten einer scala scol man ze pulvere prennen et sufflare[…]
Gegen Nasenbluten soll man sprechen: Der lange Longinus durchbohrte Christus tief, und sogleich floß Blut aus der Seite. In seinem Namen soll das Blut dieses (Patienten) stillstehen. Eberrauten soll man zu Pulver brennen und einblasen[…]
Der wahrscheinlich früheste selbständige rein deutsche Speersegen, der nicht Longinus, aber seine Tat und sein Werkzeug nennt, ist einem Einsiedelner Codex zu entnehmen. Er ist für Menschen, Vieh und Pferd vorgesehen und muß dreimal gesprochen werden. Er wird Mitte des 14. Jahrhunderts typenbildend für Pestsprüche und ist von Gerhard Eis aufgrund seines Wortgebrauchs in das 12. Jahrhundert datiert: 9
Ich beschwer dich, wund vnd geswer vnd by dissem haligen sper, daz got durch fursitten wut, ez waz halig wasser vnd blut.
Ich beschwöre dich Wunde und Geschwür bei diesem heiligen Speer der Gott durch seine Seite drang. Es war heiliges Wasser und Blut.
Aus dem 14. Jahrhundert werden weitere selbständige Longinussegen bekannt, die meisten dienen der Blutungs- und Wundbehandlung. Die an Umfang bedeutendste Gruppe bezieht sich auf die fehlende Eiterung an Christi Wunde(n). 7 8
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München BSB Clm 14569 fol. 17b, blass am linken Rande v. Hand des 11. Jahrh., veröfftl. MSD II³, 275 Innsbruck Univers.- und Landesbiblioth. Perg. Hs. 652, fol.77’, zur Herkunft und Verwandtschaft der Archivalie vgl. Schnell, B.: Das Prüller Kräuterbuch, in: Zeitschr. dt. Altert. u. Lit. 120 (1991), S. 184–202 Einsiedeln Stiftsbibliothek, Cod. 730, Bl. 47v, veröffentl. Eis, Gerhard, Forschungen zur Fachprosa, Bern und München 1971, S. 319f
Blutungssegen
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Die Fremdkörperextraktion für Pfeil und Speer Ein anderer Zweig der Longinus-Segensentwicklung läßt eine Verschmelzung oder eine Kombination der Funktion des Longinus mit der des Nikodemus erkennen. Er ist gemäß Joh. 19,39 Helfer bei der Kreuzabnahme. So wird Longinus als Nagelauszieher in Pfeilsegen zum Helfer bei der Grablegung. Sein Dienst am Leichnam wird analog herangezogen, um eine Eisenspitze zu entfernen : 10
Pfeilsegen. So der mensch so gar ser geschossen ist oder wirt + […] + Longinus der jud der unserm herren Jesu Christo die nagel us zoch us henden und us fuezzen […] als war dis wort sien als werlich geb mir N. got hüit kraft und mach mir .N. christenmenschen dicz isen uf gan und us flaisch zue ziechen.
Pfeilsegen. Wenn ein Mensch angeschossen ist […] + Longinus der Jude [hat] unserem Herrn die Nägel aus Händen und Füßen gezogen […] So wahr diese Worte sind, so wahrhaftig gebe Gott mir Christenmenschen N. heute die Kraft und lasse dies Eisen ausziehen
Diese in sich nicht unlogische, aber nicht direkt Longinus betreffende Anwendung ist mit verschiedenen Zutaten und Abweichungen weithin belegbar11 und vor allem in Kriegszeiten sicher oft getätigt worden. Die Entfernung von Pfeilspitzen, die oft vergiftet waren oder beim Herausziehen abbrachen, gehörte zu den schwierigsten Aufgaben der Feldscher und Chirurgen. Eine diesem Wiener Spruch ganz ähnliche Formel finden wir in Arzneibüchern von Memmingen und Nürnberg im 15. Jahrhundert wieder. Die Parallelität der drei Quellen verdeutlicht ein weiteres Mal exemplarisch den Bedarf an Informationen über beide Seiten der Therapie, empirischer und seelisch-suggestiver. Joachim Telle hat in einer diesbezüglichen Bearbeitung nicht nur die „hohe Textmobilität“ belegen können – handelt es sich doch um einen europäischen Heilsegen – sondern auch das Ungenügen der Interessenten an rein empirisch-praktischer Medizin, wie sie die Rezeptsammlungen des „Thesaurus pauperum“ aus den alten Medizinbüchern anfangs angeboten hatten.12 Die Hereinnahme dessen, was viele heute Zaubersprüche zu nennen gewohnt sind, war keine Extravaganz, sondern diente der zeitgemäß angelegten begleitenden Verbaltherapie. Nicht nur Behandlung, sondern auch Vorbeugung und Schutz vor feindlichen Waffen wird gelegentlich der Longinusformel abgewonnen, so z. B. im Wiener Tobiassegen des 14. Jahrhunderts, der zu den Ausfahrtsegen gehört:
10 Wien ÖNB Cod. 2817, Bl.29c veröffentl. Schönbach, Zeitschr. dt. Altert. 27 (1883), S. 309 11 Viele Beispiele bei Schulz, M.: Beschwörungen im Mittelalter, S. 77f 12 Telle, Joachim: Petrus Hispanus in der altdeutschen Medizinlit., Diss. Heidelberg 1972, S. 169–171, 367
76 13
Herre got, behüete hiut mich .N. durch des vil heilegen speres stich, den dir Longinus durch dîn sîten stach dô dir dîn heilec herze brach; unde beschirme mich daz pluot daz dir durch die selben wunden wuot, daz mir alle mîne vînde entwichen und elliu wâfen gên mir enblîchen.
Spruchtexte
Herrgott, behüte mich, N. heute durch des hochheiligen Speeres Stich, den dir Longinus durch deine Seite antat und dir dein hl. Herze brach. Und beschirme mich das Blut, das dir durch die selbe Wunde quoll, damit mir alle meine Feinde weichen und daß all ihre Waffen gegen mich abstumpfen.
Ausweitung von Indikation und Motivik der Longinusformel Wir registrieren nun ab 15./16. Jahrhundert Segen auch gegen „aller pest wunden“,14 wir treffen eine große Gruppe von Pferdetritt- und Streichen-Segen an, sie betrifft eine mit Blutungen einhergehende Pferdeverwundung durch Gangstörung,15 logischerweise auch Segen „Fiers Stechen Jn der Seitten“,16 aber auch Fiebersegen,17 Pferdewurmsegen18 und einzelne Formeln zur Beschwörung von Wünschelrutenzweigen.19 Eines der Zentren von Wunderkraft bleiben „Wasser und Blut“ Christi als Metonymie von Taufe und Erlösung, wie das in einem Pfeilsegen der vatikanischen Bibliothek belehrend genannt ist: 20
Longinus ein Jude war, der vnsern herren in sin hercze stach; vz der wonden ging wasser vnd blůt; daz wasser ist vnser daufe, daz blut ist vnser losunge [Erlösung], als werlich, als daz war ist, alz musse daz ysen her vz gen. […]
In der folgenden Zahnschmerzbeschwörung werden zwei Vorgänge insinuiert: 1. Wie der falsche Jude seinen Speer herauszog, um ihn in Christi Seite zu stechen und 2. der Blutfluß aus der Wunde. Sie zielen also gleichzeitig auf Zahnextraktion und Wundheilung, wobei wie in vielen dieser Formeln eigentlich Verwundung mit Blutfluß und erzielte Blutungsstillung einen antithetischen Charakter zeigten, wenn sie nicht eine zeitliche Abfolge andeuteten:
13 Wien ÖNB, Cod.2817, fol.25b, veröffentl. MSD II³, S. 298 14 Telle, wie oben, S. 364 15 Eis, Fachprosa, wie oben, S. 322; ders.: Meister Albrants Roßarzneib. im dt.Osten, Reichenberg 1939, S. 99f 16 Graz Steiermärk. Landesarchiv Hs 476 Arznei- und Alchemiebuch des Matheus S. (1587), fol.196r 17 Heidelberg Univers.-Biblioth. CPG 267, fol.13r 18 Heidelberg Univers.-Biblioth. CPG 169, fol. 201r 19 Breslau Univers.-Biblioth. Hs I.Q.156, Bl.148v, aus Grünberg, veröfftl. durch Klapper,J., in Mittlg. d. schlesischen Gesellsch. f. Volksk. 9 (1907), S. 9 20 Rom Vatikanische Bibliothek, Cod.Palat.lat. 832, fol.83, Abschr. Wieser, veröffentl. O. Zingerle, Zeitschr. f. dt. Altertum 31(1887), S. 104
Blutungssegen 21
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Ain bewarter Segen Fier den Zanntwee Sprich also: Du grimig zantwee, Zeuch aus (Hs.: ans) Als der falsch Jud Languinus aus Zach (zog) sein falsches sper vnnd stach vnnsern Lieben herrn Jhesun Cristum Durch sein Heillige seidtn, daraus Rann wasser vnnd rossenfarbs pluet, das sey mir N: fier dem grimigen Zahntwee guet […]
Der Rekurs auf den Blinden Endlich ist auch Longinus’ Erhellung aus Blindheit als Gegenkraft eingesetzt: Im frühen 15. Jahrhundert fungiert der nicht namentlich genannte Longinus in einem mittelniederdeutschen Feuersegen.22 Christi Blut, das dem Manne, der ihm in Herz und Seiten stach, so lieb und wertvoll und erleuchtend war, möge die Glut löschen, eine ganz poetische Vorstellung, daß ein heiliges blutentströmendes Licht irdische Brände zu löschen vermag. Es ist eine sonderbare Beziehungssetzung, wie sie dann auch einige weitere Pfeilsegen aufweisen. Das nach der Legende bei der Passion erzählte Wunder am blinden Mann wird hier als bekannt vorausgesetzt: Der über den Speer herabströmende Blutfluß der Seitenwunde, herabrinnend über seine Hände, mit denen er die Augen bestreicht, macht ihn sehend. Aber die Spruchgestaltung scheint an Überzeugungskraft, d. h. an therapeutischer Performationswirkung auf die Aktivierung des limbischen Systems verloren zu haben, zumal für eine Pfeilextraktion und bedarf im folgenden Spruch mehrfacher Wahrheitsbehauptungen: 23
Mit dem zewcht man den pheil. Longinus der Jud ein Ritter was, daz ist war, der vnsern herren in sein seitten stach, das ist war; dar aus ran wasser vnd blut, das ist war, das blut ym über sein hent ran, das blut er vnder seinew augen straich, das ist war, er was plint vnd wart gesehent […]
Erwartungsgemäß müßten also Segen entstanden sein, die bei Blindheit oder anderen Augenkrankheiten eingesetzt werden konnten. Der blinde Jude Longinus, durch Christi Blut erleuchtet (Tafel 1), hatte ja gemäß der Legende auch wiederum Wunder gewirkt und seine Peiniger sehend gemacht. Analogiebildungen zwischen verschiedenen Augenleiden und Longinus’ Augenheilung sind denn auch verbreitet und blieben lange Zeit beliebt. Ich nenne ein Beispiel aus dem 16. Jahrhundert. Die Heilkraftzentren an Christi Leib werden durch den Gnadenerweis an Longinus selbst ergänzt:
21 Graz Steiermärk. Landesarchiv, Hs 476, wie oben, fol.191r 22 Horn (Lippe), Stadtbuch a. 1404, veröfftl. Harmjanz, H.: Die deutschen Feuersegen, Helsinki 1932, S. 144. 23 Müllenhoff, K.: Segen und Gebete, in: Z. f. dt. Altert. 20 (1877), 24 Longinusformel aus der früheren Prager Lobkowitzschen Bibliothek, Cod. 159, Bl.29a, 15.Jahrh., jetzt Handschrift XXIII G 33
78 24
Spruchtexte
Longinus, der ritter, stach vnsern herren durch sein recht seiten mit einem sper. Doraus ran wasser vnnd bluet durch desselben bluetes ere Vnd der hailigen fünff wunden ere Vnd durch die fraude, die der blint man, herre, von deinen gnaden gewan. Die freude, die gnade, die gabe dein trost: Die mustu Cristenman N., heudt emphohen, Das alles das mus zergen. (Aufzählung verschiedener Augenleiden) Du solt zergen, Das diesem haubt, diesem hirn, diesen baiden augen schad sei. […]
Die betonte Vereinnahmung des Longinus als „Augenheiliger“ erfolgt schließlich in großer volksheilkundlich nachweisbarer Dichte, Breite und Verballhornung und in Kombination mit einem anderen Segenstyp, dem von „glückseliger Stunde /oder Tag“ nach dem Muster des dritten Teils des Bamberger Blutungssegens und korrespondierend mit Drucklegungen in den „Zauberbüchern“: 25
Vor Augen Weh glückselig und heilig ist der Tag darin christus der Herr geboren war flog aus mein Blind logemimus der blinde Jud der Stoch christus dem Herrn Seine Seide und durch daraus floß Wasser und blut das ist dem N N vor Seine Augen gut
Abb. 12 Nürnberger Speerbildchen (um 1500). Die fünfte Wunde durch den Speer des Longinus ist als Schnitt ins Herz versinnbildlicht.
Der vom Beginn im 10. Jahrhundert ununterbrochen bis in die Neuzeit beliebte Longinus-Segen, den am Höhepunkt seiner Verbreitung im 15./16. Jahrhundert eine volksfromme Verehrung des wahrhaftigen Speeres und seiner Abbildung begleitet, behält aber auch seine Wundindikation bei, während zuletzt der Name des Longinus immer mehr Abänderungen und Umdeutungen bis zur Unkenntlichkeit erfährt: 24 Heidelberg Univers.-Biblioth., CPG 244, Blatt 44r, 13. Band des „Buches der Medizin“ (1526–1544), Digitalisat einsehbar 2009 25 München Bayerisches Nationalmuseum Segensammlung Kriss, KrZ 607, aus Reichenau?; ähnlich Albertus Magnus „Toledo“ Berlin 1908, I,10; ähnlich Albertus Magnus Reutlingen o. J.,19.Jh.?
Blutungssegen 26
Ein bewehrter Segen zu allen Schäden. Tanteus Judäus er zog aus seinen Speer, stach unsern lieben Herren unter seine rechte Brust, daraus ging nichts als Wasser und Blut […]
27
Es kam ein Mann geritten aus Galilitten, stopfte Jesu seine Seite, kam Wasser und Blut heraus. Blut steh still […]
28
Gott hat erschaffen Wasser und Wein, daß der Schad soll gesegnet seyn von innen und außen, daß dem Schaden geschehe, wie Lamas Jesus durch seine rechte Seite stach
29
Unßer lieber Herr Jesus Christus hat viele Beueln u Wunden gehabt; und doch keine verbunden sie jähren nicht sie geschwären nicht, es gibt auch kein Eyder nicht. Jonas war blind sprach ich das himmlische Kind, so wahr die heiligen 5 Wunden seyn geschlagen, sie gerinnen nicht […]
79
Was die wahrhaftige Lanze oder den Speer des Longinus angeht, so hat die legendäre Überlieferung immer wieder auf Hochgratpfade bedeutsamer Vermittler und Besitzer abgehoben, beginnend mit der heiligen Helena, die eigentlich alle wichtigen Dinge gefunden hatte, über den heiligen Mauritius und seine thebäische Legion bis zum Ritter Titurel, dem Hüter des heiligen Grals von Monsalvat. Über Jahrhunderte gehörte dann eine der mindestens 8 Lanzen bzw. Lanzenspitzen, die den Anspruch der Authentizität erhoben, zu den Reichskleinodien der Kaiser des Abendlandes, die sie neben der Krone führten und die ihnen Schlachtensiege versprach. Die in der Wiener Schatzkammer verwahrte Heilige Lanze, die auch einen Nagel von Christi Kreuz enthalten soll, ist nach neueren metallurgischen Untersuchungen nach karolingischer Art im 8. Jahrhundert hergestellt worden. Doch die Kernsubstanz des Nagels bleibt geheimnisvoll: Sie soll aus der Zeit Jesu Christi stammen. Auf der von Kaiser Karl IV. veranlaßten goldenen Manschette steht die Inschrift: + LANCEA ET CLAVUS DOMINI + Eine letzte Reise trat diese Lanze im 20. Jahrhundert an, als Adolf Hitler sie 1938, nach dem Anschluß Österreichs, den Nürnberger Genossen zum Reichsparteitag schenkte. Auch daran ranken sich romangeprägte Sagen, die nun dem Führer einen wirklich teuflischen Zauberglauben an die absolute Unbesiegbarkeit durch die Lanze zutrauen. Die Alliierten haben die Lanze 1945 von Nürnberg nach Wien zurückgebracht, und so hat sie nochmals den Weg genommen wie zu Zeiten Napoleons, als die Reichskleinodien aus Nürnberg nach Wien gebracht wurden. 26 Rezeptbuch d. Heilkundigen Harrsch, Essingen, 18.Jahrh., in: Deutsche Gaue (Kaufbeuren), 29 (1926),140f 27 Bahlmann, P., in: Zeitschr. f. rhein. u. westf. Volksk. 23 (1926), S. 8 28 Albertus Magnus „Braband“ um 1840, II,60 29 Hersbruck Deutsches Hirtenmuseum, Kurbug Hutzler, Hirte von Haimendorf, 1849, ähnlich Geistlicher Schild, Romanusbüchlein und Albertus Magnus „Toledo“
80
Spruchtexte
Abb. 13 „Eigentliche Abbildung des Speers, mit welchem unserem Heiland Jesu seine Heilige Seite eröffnet worden“. Den Speer erhielt Nürnberg 1424 von Kaiser Maximilian.
Traumatische Blutung / Psychosomatische Bedeutung Longinussegen mit Speer Die erzählerisch wirksame Komponente der Lanzenlegende kann sowohl in ihrer Verbildlichung von gleichsam mystischer Nähe zum Gekreuzigten liegen als auch in der Vermittlung von imperialer Potenz. Als gesellschaftlich bekanntes Symbol war die Lanze ohne bewußte Gedächtnisbemühung durch das limbische System besonders leicht erkennbar und in ihrer Bedeutung verwertbar. – Bedenkt man die Aneinanderreihung der verschiedenen Spruchtypen zur Blutstillung in den Medizinbüchern des Mittelalters, so kann nicht ausgeschlossen werden, daß die Behandler u. U. verschiedene Texte nacheinander probierend einsetzten. Und so wäre etwa ein eher entmystizierend wirkender erster Teil des Bamberger Blutungssegens alternativ zum Longinussegen in Frage gekommen, beide mit je eigenem neuralen Wirkprinzip.
8. Blutungssegen mit dem Jordan: Texte von Millstatt und Trier – Jordanstillstand bei Christi Taufe als psychosomatische Blockade – – Warum das Jordanwasser heilig wurde – – Der Jordan als christlich-mythischer Kampfplatz –
Zu den wichtigsten biblisch erzählerischen Motiven, die auf den Stillstand traumatischer und spontaner Blutungen hinführen, gehört neben der Kreuzfixierung Christi wie im Wolfsthurner Spruch und dem Lanzenstich des Longinus auch die Stillstandsfiktion des Jordan. Nach Josua 3,14 –17 war der Durchzug der Israeliten durch den Jordan, ebenso wie durchs Rote Meer, auf wunderbare Weise gesichert worden, sodaß sie trockenen Fußes passieren konnten. Die Kirchenväter hatten mit Verweis auf eine Allegorie im ersten Paulusbrief (1 Kor. 10,1–2) den Durchzug durchs Rote Meer zum Sinnbild der Taufe gemacht. Dieses Stillstehen eines sich aufstauenden Wassers wird im spätalthochdeutschen Millstätter Blutungssegen kombiniert mit Christi Taufe an eben demselben Jordan, und der Text gewinnt damit eine sich aus beiden Testamenten speisende Überzeugungskraft. In Armenbibeln werden diese Heilsereignisse bildlich synchronisiert (Tafel 1).
Abb. 14 Der Millstätter Jordansegen des 12. Jahrhunderts
1
1
Der heligo Christ wart geboren ce Bethlehem, dannen quam er widere ce Jerusalem. da ward er getoufet vone Johanne in demo Jordane. Duo verstuont der Jordanis fluz
Der hl. Christ ward in Bethlehem geboren, von dannen kam er wieder nach Jerusalem und wurde von Johannes im Jordan getauft. Da stand der Jordanfluß still in
Wien ÖNB Codex 1705, fol. 32r, 12.Jahrhundert
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Spruchtexte
unt der sin runst. Also verstant du, bluotrinna, durh des heiligen Christes minna: Du verstant an der note, also der Jordan tate, duo der guote sancte Johannes den heiligen Christ toufta. verstant du, bluotrinna, durch des heliges Cristes minna.
seinen Fluten. Also steh auch du still, Blutfluß durch des hl. Christs Minne Du steh still aus Zwang wie es der Jordan getan, als der gute St. Johannes den heiligen Christ taufte. Steh still Blutrinnen, durch des hl. Christs Minne.
Gegen Ende des 11. Jahrhunderts hatten die Edlen Aribo und Poppo in Millstatt ein Benediktinerkloster gestiftet, das im 12. und 13. Jahrhundert durch Schreib- und Malschulen zu großem Ansehen gelangte. Hier entstand neben vielem anderen die berühmte Millstätter Genesis. Abseits von diesen biblischen Schriften im Rahmen eines später angebundenen Textes des 12. Jahrhunderts gegen Berengar von Tours, dem Verteidiger einer von der kirchlichen Lehre abweichenden Abendmahlsdeutung, erscheint als einziger deutsch verfaßter Text dieses Codex der Spruch zur Blutstillung. Seine Herkunft aus St. Blasien im Schwarzwald ist vermutet worden.2
Der Trierer Jordansegen aus dem frühen 9. Jahrhundert hatte ein anderes Motiv: Es ist ein Hinüberschreiten des Täufers und des Täuflings über den Fluß, was zum Stillstand führt, Christi Taufe ist nicht ausdrücklich genannt. Dieser Spruch ist die Abschrift eines älteren und gilt manchem als der früheste Jordansegen überhaupt.3 Eine Rezeptur schließt sich an. Und er bedient sich noch ausschließlich des Lateinischen: 4
Ad nares stagnandas: Pone manum super caput et dic: Unde venis tu iordane sanguis et aqua, Periuro te in nomine domini patris et filii et spiritus sancti, ut redeas et ultra non exeas de naribus istius hominis. […] Christus et sanctus johannes ibant ad flumen Jordanem, restitit tunc flumen jordanus, donec transit christus et sanctus johannes. Sicut restitit flumen jordanis, ita restat uena N., cui nares sanguinem […]
Gegen Nasenbluten Lege die Hand über den Kopf und sprich: Jordan, Blut und Wasser, ich beschwöre dich im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des hl. Geistes, daß du zurückgehst und nicht mehr aus der Nase dieses Menschen fließest. […] Christus und Johannes gingen zum Jordan. Da blieb der Jordan stehen als Christus und Johannes hinüberschritten. Und so höre auch die Ader des N. aus der Nase zu bluten auf […]
Ein anderer ebenfalls noch lateinischer Spruch einer medizinischen und botanischen Sammelhandschrift der Berner Bibliothek vom 11./12. Jahrhundert stellt die 2 3 4
Eis, Gerhard: Forschungen zur Fachprosa, Bern u. München 1971, S. 323 (nach H. Menhardt) Schiel, Hubert, in: Trierisches Jahrbuch 4 (1953), S. 23–36, hier: S. 28 Trier Stadtbibliothek, Hs 40/1018, fol. 13v-14r, veröffentl. Embach, Michael: Trierer Zauber- und Segenssprüche des Mittelalters, in: Kurtrierisches Jahrbuch 44 (2004), 29–76, hier: Seite 43f;
Blutungssegen mit dem Jordan
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Taufe Christi an den Eingang des Spruches. Hier ist es wieder wie im Millstätter Segen der Taufvorgang selbst, der den Stillstand von Jordan und Blutung bewirken soll: 5
+ Christus ibat ad Iordanem, ut baptizatur a Johanne. Jordanis stetit et stupuit. Sic stupescent gutte sanguinis, que cadunt de naribus istius hominis .N. Adiuro te per nomen Xristi: restat sanguis. + restat
Christus ging zum Jordan, um von Johannes getauft zu werden. Der Jordan stand und stockte. Genauso sollen die Blutstropfen stocken, die aus der Nase dieses Menschen tropfen. Ich beschwöre dich durch Christi Namen: Stehe Blut! Stehe!
Eine Besonderheit liefert der Millstätter Segen am Beginn. Für Geographie- und Bibelkundige war er deshalb immer schon etwas rätselhaft und regte zu Spekulation an. Denn Jerusalem liegt nicht am Jordan. Man hat deshalb im Vergleich mit anderen europäischen Segenstexten einen Dreiklang von zeitlich abgrenzbaren Reinigungs- und Heiligungsriten für das Jesuskind als Volksglauben unterstellt:6 a) Geburt in Bethlehem, b) Darbringung im Tempel zu Jerusalem, wo alles Männliche, das den Mutterschoß öffnet (Lukas II,23), erst losgekauft werden mußte. Das gilt für erstgeborene Knaben, die nach jüdischem Gesetz gottgehörig sind. Und c) Taufe im Jordan. Und es gibt auch Segensformeln, die in diesem Sinne eine kompakte Kindheitsbiografie Jesu ausbreiten: ein Viehschutzsegen nennt Geburt, Beschneidung, Jordantaufe, Opferung im Tempel, Flucht nach Ägypten, Ernährung in Nazareth in dieser Reihenfolge.7 Aber der Gottessohn wurde nicht als Kind getauft. Gleichwohl ist die für Christenkinder bedeutungsvolle Vorstellung immer wieder auch in anderen volkstümlichen Segen herangezogen und in Bild und Plastik8 bestärkt worden. Das gilt ebenso für die Darstellung der vor dem Täufling aufgestauten Flut, die einer altchristlichen Apokryphe entspringt.9 Sie kann als ikonographische Parallele zum Segen gedacht werden (Abb. 15).
5 6 7 8 9
Bern Burgerbibliothek, Cod.803, Pergamentrolle der Grafen von Mülinen, 11./12.Jahrh., veröffentl. Schulz, Monika: Beschwörungen im Mittelalter, Heidelberg 2003, S. 80 Ohrt, Ferdinand: Zu den Jordansegen, In: Zeitschrift für Volkskunde N.F. 1 (1930), 269– 274 St. Gallen Stiftsbibliothek, Codex 1164, 15. Jh., fol.127f, veröffentl. Piper, P., Germania 25, S. 67 Strzygowski, Josef: Iconografie der Taufe Christi, München 1885, Tafeln I, VIII und XI (Knabentaufe) vgl. Grabner, Elfriede: Verborgene Frömmigkeit, Wien u. a. 1997, S. 15–43
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Spruchtexte
Abb. 15 Taufe Christi im Jordan, Deckengemälde der St. Martinskirche in Zillis (12. Jahrhundert)
Betrachtet man die Ortsabfolge im Millstätter Segen, so unterliegt sie der sehr alten „Credo-Struktur“.10 Schon seit dem 5./6. Jahrhundert11 sind nämlich Heilformeln bekannt, die verschiedene Glaubenswahrheiten, also Teile des Credos aufreihen. Mit drei oder mehr Glaubensartikeln unter Anhängung eines Anliegens dienten sie gegen viele Leiden.12 Der „Millstätter“ zeigt nur drei solche Credo-Teile. Sie sind zwar infolge der Reimbildung „Johanne“ auf „Jordane“ verändert und abgekürzt. Denn zumeist folgt in den Segen nach Nazareth und Bethlehem das „gemartert zu Jerusalem“. Aber eben diese enge Koppelung an Bethlehem und Jerusalem bedeutet Metonymie, d. h. hier stehen Ortsnamen für Ereignisse der Heilswahrheiten. Das verstärkt die beglaubigende Garantie eines ja nicht dem Neuen Testament zugehörenden Stillstandes. Die Textgestaltung unterlag ganz dem therapeutischen Zweck eines heilenden Zusammenschweißens von Jordanstillstand und Blutungsstillstand. Bis in die Neuzeit sind mannigfaltige Nachkommen aus der großen Familie des Jordansegens in allen deutschen Regionen bekannt, wobei einige Nachkommen des Millstätter Typs in Medizinbücher aufgenommen worden sind, so in der Wiener Handschrift 2817 des 14. Jahrhunderts und im 15. Jahrhundert in den Stadtbibliotheken von Nürnberg13 und Memmingen; hier die Memminger Formel:
10 Schwab, Ute: In sluthere bebunden. In: Studien zum Altgermanischen (Hg. H.Uecker) Berlin 1994, S. 567f 11 Beispiele bei Daniel, Robert W. und Franco Maltomini (Hg.): Suppl. Mag. I, Opladen 1990, S. 63f, 86f, 102f 12 siehe Kapitel 10 und 6 13 vgl. Telle, Joachim: Petrus Hispanus in der altdeutschen Medizinliteratur. Heidelberg 1972, S. 198f, 367
Blutungssegen mit dem Jordan
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14
Crist ward geboren zebethlahem, dana kam er geierusalem, do wart er getöft von iohanne indem iordan. Vnd do verstund das iordans fluß vnd auch sein runß. Also verstand du plut […]
Die Jordansegen bedienten sich vor allem zweier therapeutischer und schutzgebender Erzähl-Elemente:
A) Hemmung und Stoppen unliebsamer und schädlicher Bewegtheit Als häufigstes Suggestivum tritt der Jordanstillstand in Funktion. Er wird – wie gesagt – ausgelöst durch die Taufe selbst, wie im Millstätter, oder durch das Beschreiten des Flusses durch die beiden Akteure, wie im alten Trierer Spruch. Nicht nur Blutung und Schmerz, sondern seit dem 15. Jahrhundert auch das Beschlagen von unruhigen Rossen, das Löschen des Feuerbrandes, die Blockade von bösen Geistern, Dieben und Soldaten, alles was durch Bewegung, Fortschreiten und Flucht Schaden verursachen konnte, bot Angriffsstellen für einen Stoppbefehl. Eine gewisse Verbreitung, ebenfalls durch medizinische Schriften, hatte der folgende, im Aufbau einem Hiobspruch ähnliche Text, dessen frühester Nachweis sich in einem Benediktbeurer Rezeptar15 im 13. Jahrhundert findet und noch im 16. Jahrhundert in Schlesien notiert ist. Er beschreibt die Selbstbehandlung des Elias in der Wüste (1 Kön.,17–19), Elias wird nach einer Legende von seiner Wunde geheilt: 16
fur daz blvt. Ob du daz blvt wellest versprechen daz da vlivzet vz den wnden oder vz der nasen so lege di hant drvber vnd sprich: […] Sanctus helyas saz in heremo vnd floz im daz blvt zebeiden naslocheren vz da begunde er zervfen unserm herrengot an vnd sprach herregot nv hilf mir vnd betwinch das blvt daz ez geste als du betwnge den iordan daz er gestvnt do dich sant Johans drauz tavft
Für das Blut Wenn du das Blut willst besprechen, das aus Wunden oder Nase fließt, so leg die Hand darüber und sprich: […] Sanktus Elias saß in der Wüste und es floß ihm das Blut aus beiden Nasenlöchern. Da begann er zu rufen unsern Herrgott: Hilf mir und bezwinge das Blut, daß es steht, wie du den Jordan bezwungen hast, daß er stand, als Johannes dich taufte.
14 Memmingen Stadtbibliothek Cod 2,39, 15. Jahrhundert, veröffentl. Eis, Gerhard, wie oben 15 Zu Zeugnissen medizinischer Tätigkeit im ältesten bayerischen Benediktinerkloster siehe Baader, Gerhard: Mittelalterliche Medizin in bayerischen Klöstern, in: Sudhoffs Archiv 57 (1973), 275–296, hier: 286–288 16 München Bayr. Hauptstaatsarchiv, Benediktbeuern Kl. Ltr. Nr.32, fol. 20, Mitte 13. Jahrh., veröffentl. Fischer, Hermann: Mittelhochdt. Receptare, in: Mitteilungen der Bayer. Botanischen Gesellsch. IV,6 (1926), S. 69–75, hier S. 74; vgl. Heinrich, Anzeiger f.d. Kunde der dt. Vorzeit 23 (1876), 275; vgl. Birlinger, Anton, (Cgm 384) Anz. 12 (1865), S. 350; MSD Anm. S. 275f (Wien Hs 2817)
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Spruchtexte
Der heilige Elias saß in der wüsten und saß (sic!), das ihm das blutt auß beeden Naßlöchern ran; da begunt er zu ruffen zu unserm herrn und sprach; Herre Gott hilff mir und bezwinge das blutt, alß du bezwungen hast den Jordann, da dich S. Johannis daraus tauffet.
Stillstandsgarantie kann auch durch die Macht evoziert werden, die auf den Fluß vermittels einer Rute oder eines Stabes nach dem Vorbild des Moses ausgeübt wurde; im Klang der Marienlyrik wird sie frühzeitig symbolisch der Gottesmutter anvertraut; mit der Rute ist dann niemand anderes als ihr Sohn selbst gemeint und nur zwischen den Zeilen ist der Jordanfluß einbeschlossen; auch der folgende Text ist wiederum weit verbreitet in medizinischen Büchern: 18
Weder dit blot. Min vrowe sunte Maria scot ene roden in dhe Jordanen. De rode entstunt. Also de rode untstunt also untsta du blot nu unde iummermer. An godes namen. Amen.
Gegen die Blutung Meine Frau St. Maria warf eine Rute in den Jordan. Da stand die Rute. Wie die Rute stand, so steh auch du, Blut, jetzt und immer. In Gottes Namen
Vom 12. bis ins 19. Jahrhundert ist eine performierende Stabmagie, von Christus selbst ausgeübt, durchaus gut bekannt. Es kann der Befehl sein oder die Segenshand, die den Fluß bezwingt, das kommt vor allem in Begegnungssprüchen vor: 19
Ad fluxum sanguinis narium Xpict unde iohan. giengen zuoder iordan. do sprach xpict stant iordan. biz ih unde iohan uber dih gegan. also iordan. do stuont. so stant du. N. illiv bluot.
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Cristus vnd Sant Johannes gingen zu dem Jordan. Do sprach Jhesus, der gudt man: dauff du mich Johannes. Er sprach: Ich enmage, herr. Der bach fleust zu sere. Vff hube Cristus sein handt. Also müs dem menschen geschehen. das helff mir der gudt Crist.
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Christus ging mit Petrus über den Jordan und stach einen Stab in den Jordan, sagte: Stehe, wie der Wald und Mauer. So soll dieser Blutstrahl auch stehen wie Wald und Mauer. Im Namen usw.
Gegen Nasenbluten Christ und Johann gingen zum Jordan. Da sprach Christus: Stehe Jordan, bis ich und Johann über dich gegangen sind. So steh der Jordan, so auch du, Blut!
17 Breslau Stadtbibliothek Handschrift M.1026 (aus 1583), veröffentl. Klapper, Josef, in: Mitteilungen der Schles. Gesellsch. für Volkskunde 9 (1907) S. 5–41, hier: S. 6 18 Utrecht UB., [Medizinische] Handschr. 1355, S. 52r, 12. Jahrh., veröffentl. Gallee, J.H., in: Germania 32 N.R. 20 (1887), S. 452–460, hier: S. 454 19 Paris Bibl. Nat. Nouv. Acquis. Lat. 229, fol. 10a, 12.Jh., veröffentl. Morel-Fatio, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 23 (1879) 435–437, hier: 436; „ganz ähnlich“ der Text der Vatikanischen Bibliothek Rom. Hs Vat. Lat. 5359, fol.30v in lateinischer Sprache, vgl. MSD II, S. 275 20 Heidelberg UB. CPG 264, fol.12a , 16.Jh., veröffentl. Heilig, Otto, in: Der Urquell II (1898) S. 104 21 Haase, K.Ed.: Volksmedizin in der Grafschaft Ruppin und Umgebung in: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 7 (1897) und 8 (1898), hier: 7/S.59 (aus Neuruppin-Zippelsförde )
Blutungssegen mit dem Jordan
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Bei Heranziehung frühchristlicher Zeugnisse für die Anwendung dieser Stillstandsversion trifft man auf weitere Dokumente: Ein griechisches Amulett des 5. Jahrhunderts,22 das eine Augenkrankheit beschwört. Nur ist statt dem Jordan der Euphrat eingesetzt: Unser Herr war verfolgt von den Juden und kam zum Euphrat- Fluß und steckte seinen Stab hinein, und das Wasser stand still. So stehe auch du still, Übel, stehe still vom Kopf bis zu den Zehennägeln im Namen des Gekreuzigten – Der Dichter Sedulius, der immer wieder die Wundertaten Gottes hervorhebt,23 insbesondere die Durchbrechung der Naturregeln, die Überwindung von Unmöglichkeiten zum Heil der Menschen, inseriert im 5. Jahrhundert in die Jordantaufe das übernatürliche Element eines Jordanrückflusses: „Senserunt elementa Deum, mare fugit, et ipse Iordanis refluas cursum convertit in undas“ (II,162–163).
Im 17. Jahrhundert notiert der Arzt Johan Weyer (1515–1588) aus Grave an der Maas in der deutschsprachigen Ausgabe (1567) seiner aberglaubenskritischen „De Praestigiis Daemonvm“ einen Spruch, der die Verbindung zur Credostruktur bewahrt hat: 24
Item/ mit diesen worten wollen sie das blut stillen an allen orthrn (sic!): Christus ist geboren zu Bethlehem vnd hat gelitten zu Hierusale / sein bludt war verstöret / Ich sage dir durch die krafft Gottes vnd durch aller heiligen hilff bleibe stehen / gleich wie der Jordan da der heilige Johannes vnsern Herren Jesum Christum inne Tauffete.
Abseits der Blutstillungindikation seien weitere Beispiele herausgegriffen, hier zuerst eine Schwertbeschwörung mit einer Skizze, die alle Waffen aus Eisen und Stahl, die seit Christi Geburt produziert worden sind, zum Stillstand bringen möchte:
Abb. 16 Waffenstellung mit dem Jordanmotiv (Ausschnitt; um 1510)
22 Heidelberg Institut für Papyrologie der Universität, Inv. G 1101 aus Fustat („Zelt“, =Altkairo), veröffentl. Daniel, Robert W. und F. Maltomini (Hg.): Supplementum Magicum, I, Opladen 1990, S. 90f 23 Springer, Carl P.E.: Sedulius’ Pascale Carmen, Diss. Wisconsin-Madison 1984, S. 144,169; zu Sedulius vgl . Kapitel 15 24 Nahl, Rudolf van: Spätmittelalterl. Zauberglauben an Niederrhein und Maas. In: Volkskundl. Grenzgänge, Erkelenz 1995, S. 385–402, hier: 397
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Spruchtexte
Lieber herr Jhesu Christe, starcher gott, als du gepoten hast dem Jordan, das der sein flüssen mus lassenn, vnd alles, das in himel vnd auff erden ist, walt deins gepocz, verleich mir heüt dein gnad […] Sprich dan also: P. Paün eysen vnd stahel, das sider Cristus gepürt ye geschmidt ist worden, ich verpeüt dir heut pein der craft gottes, damit er das rott mer vnnd den Jordan sten hat lassen haissen […]
In einem Inventar über die Zauberbücher und -zettel26 des in Heimfeld bei Sillian im Pustertal 1595 beschuldigten Christoph Gostner (Fürstbischöfl. Hofarchiv Brixen) wurde eine Beschwörung von Geistern gefunden. Man beschlagnahmte eine Kristallkugel, ein Kettenglied, wohl von einem Galgen und ebenfalls in einem Säckchen einige Würmer, dazu die auch sonst27 nicht unbekannte Beschwörung einer Schlange. Schlangen wurden meist zur Gewinnung von Giften zur Verarbeitung für Apotheker und Alchemisten gefangen:28 Osia, osia, osia, (= Hosianna) du schalckhaftige schlang, stehe still, wie der Jordan stuend, da S. Joannes unseren lieben herren getaufft hat in namen Gottes
Und oft sind sie im Gebrauch von Volksheilern – in Norddeutschland zum „Böten“ (Verbeten) von Blutung, Rose und Schwamm, hier nun meist durch mündliche Tradierung – aufs gerade noch Sinnfällige gekürzt: 29
Blut gewunden, Blut verschwunden! Blut soll stille stahn, wie das Wasser im Jordan, da unser Herr Christus den Taufbund nahm! + + +
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Schwamm, steh still und vergeh‘, tu mir dem Kinde nicht mehr weh, steh, wie das Wasser stand, da unser Herr Jesus über den Jordan gang.
25 München BSB Cgm 5919, fol. 285r, veröffentl. Bolte, Johannes, in: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 14 (1904) 435–438, hier: 437 26 Byloff, Fritz: Volkskundliches aus Strafprozessen der österreichischen Alpenländer, Berlin u. Leipzig 1929, Hg. Geramb, Victor von und Lutz Mackensen 3. Heft, S. 17 27 Als Schlangenzauber: Schönbach, Anton: Analecta Graec.37, 16/17. Jh.; als Zauber bei der Schatzsuche: Birlinger, Anton, Segen aus der Baar (aus den Heften des Schattenmüllers Lanzenberger zu Bonndorf 1727), in: Alemannia 2 (1875) 119–139, hier: S. 131ff 28 Hofmeister, Wernfried: Hor meine wort, in: Zeitschr. für dt. Altert. und dt. Lit. 133 (2004), 329–355 29 Thimme, Adolf: Volkskundliches aus Ostfriesland, in: Niederdeutsche Zeitschrift für Volkskunde 7 (1929) 23–40, hier: 34 (Aufzeichnungen durch Schüler von Aurich, 1889) 30 Staak, Gerhard: Die magische Krankheitsbehandlung in der Gegenwart in Mecklenburg, Rostock Diss. 1930, Nr. 559
Blutungssegen mit dem Jordan
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B) Imagination eines von erster Hand gegen alles Übel der Welt B) geweihten Wassers Eine ganz andere Gruppe von Jordansegen holt sich ihre suggestive Kraft aus der Bedeutung des Jordanwassers. Es gewinnt sie durch die Taufe Christi direkt oder durch sein Hinabsteigen, Reinigen und Baden. Es ist der heilige Jordan, der durch heiligste Ereignisse und Berührung Geweihte, der hier wirkt, wobei eine Übertragung des Fluidums auf das bei der Segnung verwendete Wasser bedacht wird. Dies geht so weit, daß auch Krankheitsprognosen von der Wirkmacht des durch Christi Bad zur Sündenreinigung der Menschheit geweihten Wassers abhängen: Wer die folgende Probe durchführt, soll eine akustische Reaktion deuten können. Wird ein Stein in ein Brunnenwasser geworfen, entscheidet die Dauer des Zischens über die Lebensdauer eines Kranken: 31
In des Jordânes flûm wart gebadet Crist gotes sun: des enist kein lougen. Dar inne badete er sin ougen, sin houbet, brust unde fuoz. Alse waerlich er uns abewuosch in dem Jordâne unsere sünde, alse müeze uns diz wazzer künde, waz disme siechen künftec si.
Im Jordanfluß ward Christ gebadet. Das ist keine Lüge. Er badete darinnen seine Augen, seinen Kopf, Brust und Fuß. So wahr er uns unsere Sünden abwusch im Jordan, so wahr soll dies Wasser künden, wie es diesem Kranken künftig ergeht.
Erwartungsgemäß verwenden zumeist diejenigen Segen die Jordanwasseranalogie, deren Bestreben die Reinigung von Wunden nach Art des Bamberger Segens ist, wie in folgenden Texten aus München (12. Jahrhundert) und aus dem niederösterreichischen Stift Zwettl des 14. Jahrhundert: 32
Wazzer rinnet Jordanis heizzet da der heilige Crist inne getoufet wart. Eiter bistu zegan soltu […]
33
Benedicas aqua optima In nomine patris et filii et spir. sancti. Daz wasser muezz als wol gesegent sein als der heilig Jordan, da got selber inn getauft ward, daz was vnser lieber herr ihs christus daz ist war. In gotes namen Amen. Ich gesegen dich hewt, Vngemaltigew wundn mit den karacharen vns liebn herrn ihs christi, daz du dein geswellen vnd dein smekchn vnd dein faulen vnd dein sawren vnd dein reissen, vnd dein fliessen lassest […]
31 London British library, HS Arundel 295, S. 255r, 13. Jh.veröfftl. Sievers, E., in: Zeitschr. für dt.Altert. 15 (1872), 452–456, eingereiht in die „Flores medicinae“ des Magister Gotefried „sanguis fixus“ auf Christi Standfestigkeit zeigt weder legendäre noch heidnische oder poetische Gesinnung. Der Blutfluß soll per Befehl ebenso standfest, starr und still stehen bleiben, wie Jesus Christus am Kreuz, ein sehr direktes rhetorisches Begriffschangieren, wie es zur Einleitung eines Trancezustandes dienen konnte. Wir stellen uns den Sprecher der Formel dann richtig vor, wenn wir uns seine einfühlende Arbeit in Begleitung einer Wundversorgung in rhythmischer, gesangartiger Vortragsform denken. Wenn er den Verwundeten außerdem dazu auffordert, intensiv die Balkenkreuzung des Hauskruzifixes zu fixieren, dann ist er ein Fachmann.2 Daß die Niederschrift des Wolfsthurner Spruches unvollständig ist, belegt ihren Bekanntheitsgrad; man konnte sie gekürzt wiedergeben. Das älteste lateinische Zeugnis dieses Spruchtyps aus der Mitte des 14. Jahrhunderts gehört zu einer Wiener Sammelhandschrift. Die Formel ist hier als Amulett zu schreiben: 3
Pro fluxo sangwinis scribe hos versus + Stans sangwis in te sicut stetit Jesus in se Stans sangwis fissus sicut steti(t) crucifixus Stans sangwis in tua vena sicut Jesus stetit in morte sua.
Für Blutfluß schreibe diese Verse Stehe Blut in dir wie Christus in sich Stehe Blut fixiert, wie Chr. am Kreuz Steh Blut in deiner Ader wie Christus in seinem Tode.
Eine frühe deutsche Niederschrift mit dem lateinischen Zusatz als Beweis der Blutkoagulation zieht die Enthauptung des heiligen Täufers in den Blick, um damit auf sichere Blutgerinnung zu weisen. Sein vom Rumpf getrennter Kopf ist von Fleisch und Blut befreit und kann isoliert „von Angesicht zu Angesicht“ vor Gott treten. Nicht jeder Patient dürfte das allein vom Lateinischen her verstanden haben und auch sonst fragt man sich, wie diese drastische Bildgebung therapeutisch wirksam werden konnte. Der Segen ist in einer Handschrift aus der Bibliothek der Fürsten von Fürstenberg zu Donaueschingen enthalten: 4
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Diß ist der Blut segen Stant Blut in dinem stetten + also vnßer herre stunt in synen noten + stant Blut an dem lauffe + also vnßer herre stunt an syner martel + stant Blut in dynen adern + also vnßer herre stunt an synem tode
siehe dazu im Kapitel 21 Wien ÖNB Cod. 2817, fol. 31rb, veröffentl. Schönbach in Z. f. dt.Altert. 27 (1883), S. 310 Karlsruhe BLB DON Nr. 787, fol. 108v aus dem 15. Jahrhundert
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+ pax nax rex Johannes decolatus est in cor temply ade (ante) altare5 sanguis suus ecce coagulatus est in testimonium tuum.
Eine weitere noch lateinische derartige Blutstillungsformel einer anderen Donaueschinger Handschrift6 hat den wichtigen Zusatz, daß auf die Wunde zu blasen sei, daß sich die Anwendung oft bewährt habe, aber daß darauf zu achten sei, ob die Wunde infiziert oder ein Gefäß verletzt sei. Beispielsweise haben auch die Bibliotheken Dresden7, Heidelberg8 und St. Gallen9 unsere Fixationsformel aus den beiden Jahrhunderten in ihren Sammlungen. Die letztere mischt deutsche und lateinische Anteile und reimt, im Anklang an die Hölle (= mlat. Styx): Sta sanguis in stix, sicut Cristus stetit in sancta crucifix Stand still pluott als unser herr Jhesus Cristus stuond an dem hailgen crutz.
Ich erwähne an dieser Stelle noch eine in den Segensabschriften gelegentlich zu beobachtende Tendenz, die auf Beliebtheit und Erfolg einer Formel deutet, auf die Vervielfältigung. Aus dem 16. Jahrhundert sind in einem steiermärkischen „Arzneiund Alchemiebuch“ eines „Matheus S.“10, das oft heranzuziehen war,11 gleich mehrere Übersetzungen eines engen Text-Verwandten ins Deutsche verzeichnet. Sicher sollte die Vervielfältigung einem Austausch gegen andere Heilsprüche oder einer Weitergabe zur Anwendung dienen. Die Handschrift des Steiermärkischen Landesarchivs ist bisher auf ihre Herkunft noch nicht weiter bearbeitet worden. Der folgende Texte findet sich innerhalb der Handschrift vier mal: Ain anndere Bluet Stellung So sprich Sanguis Maneat in Me sicut Cristus in see Sanguis Maneat in mea Vena. sicut Cristus fecit poena. / Sanguis Maneat in me Fixus sicut Cristus. pet 3 p: N. 3 a M: 1 gl. pluet pleyb in mie gleich wie Cristus in Jm. pluett pleib in meiner wunden gleich wie Cristus in seiner pein pluet pleib in meinem Leib gleich wie Cristus hat gethan / wie er gekreitzigt ist worden / pet 3 p: N 3 a M 1 gl: 5 Vergl. dazu die Handschriften Heidelberg CPG 226, fol.132r und CPG 264, fol.16: Zacharias [!] decollatus est inter templum et altare et sanguis suus/eius coagulatus est in testimonium nostri Jesu Christi . Es liegt offenbar ein Vermischung Vater/Sohn vor; Zacharias wurde legendär von Herodes ermordet, und sein Blut dient in Matth 23,35 der prophetischen Ermahnung. 6 Karlsruhe BLB DON Nr 792, fol.31v 7 Dresden SLUB C317, unpag. 15 Blatt vor Ende, 16. Jahrh., Segensabschrift Schönbach Gießen, S. 918 8 Heidelberg Universit.-Biblioth. CPG 264, Segensabschrift Schönbach Gießen, S. 203 9 St. Gallen Stiftsbiblioth. Hs.755, fol.35, Abschrift Schönbach Gießen S. 690 10 Graz Steiermärkisches Landesarchiv, Handschrift Nr. 476, fol. 86,86‘,132,133‘ 11 Frau Prof. Dr. Elfriede Grabner, Graz, danke ich für den Hinweis auf diese Archivalie
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Spruchtexte
Auch dieser Spruchtyp gehörte als Verbaltherapie zur Ersten Hilfe. Genauso wie der Longinussegen trägt eine solche sowohl logische als auch natürlich-christliche Formel zur vegetativen Entspannung bei, wie umgekehrt, dies darf nicht übersehen werden, der selten ausbleibende Erfolg etwa bei Lappalien, die Passionsfrömmigkeit vertieft haben mag. Die Verehrung des Kreuzes war schließlich bedeutendster Schlüssel von Katechese und Mission und konnte gerade im Falle persönlichen Betroffenseins im Notfall direkt verankert werden. Man darf sicher sein, daß auch dieser Text zunächst in der Klostermedizin verwendet wurde. Nachkommen der Segensformel sind weit verbreitet in Deutschland, Österreich, den Niederlanden und England gefunden worden, aber sie sind selten in der genauen ursprünglichen Form erhalten geblieben. Vielfach haben sie mehr beschwörende Formen und andere Indikationen bekommen, etwa zum Feuerlöschen, Diebsbannen und Geisterbinden. Mit einer böhmischen Variante des 19. Jahrhundert – der Text ist nun ganz volkstümlich geworden und in die gedruckten Zauberbücher gelangt – haben Jäger und Hirten den Sinngehalt des Spruches auf ihre anschauliche Weise umformuliert: 12
Hirsch ! (oder was für ein Tier es ist, so nennt man seinen Namen) Steh still ! So wenig als unser Herr Jesus Christus vom Kreuz ist weggelaufen so wenig sollst du mir von der Stelle laufen.
13
Wolf, stehe vor den Holz, das du sollst stille Stand haben vor dem Holz, da Christus ist gekreuziget worden, das thu ich den Wolf zu Buß, daß du sollst ein stille Stand vor meiner Herd als wie Jesus Christ ist still gestanden, in seinen heiligen rosin farben Blut, das thu den Wolf zu Buß
Der berühmte „alte Scharfrichter Uter von Königslutter“ (1802–1871) hat den Leuten das Diebsgesindel verbannt und unschädlich gemacht mit dem Spruch: 14
Alles Fuß- und Reitvolk sollen stehen Wie Jesus Christus auch stille gestanden
Und noch vor 100 Jahren hat eine Wenderin im oberen Schwarzatal in Niederösterreich mit einem kleinen Zungenschlag den Sinn verwandelt. Bei Blutungen nahm sie ein Stück Brot in die rechte Hand, hat es in Kreuzesform behaucht und dabei gesprochen: 15
Steh du wülds Bluad! So wie’s unsa’n Herrn Jesu Christ Aufn Kraiz gstanden is.
12 Benedikt, A.: Segensformeln, aus einem Büchlein des Großvaters, in: Mittlg. des Vereins für Gesch. der Deutschen in Böhmen XVIII (1880), S. 156; [= Albertus Magnus Toledo III,46f; die Formel hier gekürzt ohne den vorgesetzten Dreiblumensegen] 13 Marktleuthen Stadtarchiv, Band 30, Handschrift des Johann Anger um 1787, S. 28 14 Königslutter Stadtarchiv Hd I,Gr 2, Maschinenschrift Krieger, Heinz-Bruno, S. 36 15 Schmidt, Leopold: Volkskunde von Niederösterreich 2. Band, S. 146, Horn 1972
Blutungssegen
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Traumatische Blutung / Psychosomatische Behandlung / Cruzifixus-Formel Unter den Blutungsformeln bildet der Crucifix-Typ ähnlich wie der Longinustyp in der Bildgebung eine mehr mystifizierende Annäherung an Christi Leiden (Tafel 3, Geißelung Christi), die eine der Lanze ähnliche Bewertung im limbischen System (Amygdala*, Hippocampus*) finden konnte. In der Notfallsituation entschieden diese Instanzen umgehend über den Nutzen der Imagination, ohne rationales bewußtes Kalkül abzuwarten. Sie leiteten mittels Signalen zur Bildung von Botenstoffen und Hormonen weitere Schritte zur Minderung von Spannung und Angst ein.
10. Epileptische Anfallsleiden: Heilige Helfer: Drei Könige, Valentinus und Vitus
– Warum die Anfallskranken besonders vom Klerus versorgt wurden – – Und warum besonders für Epilepsie spezielle Heilige fungierten – – War Caspar Hauser als Goldstaubträger ein Epileptiker? –
Kaum eine Krankheit konnte durch ihre Symptomgestaltungen stärker in die Gleise und Ideen mittelalterlicher Weltvorstellung von Zeichenhaftigkeit alles Kreatürlichen geraten wie die Epilepsie. Waren schon die Plötzlichkeit und Bedrohlichkeit ihrer Anfallsattacken manchen ein Beweis für Teufelswerk, so fielen die seelischen Veränderungen der Kranken einem symbolischen Bedeutungsdenken geradezu in den Arm. Alle Naturvorgänge sind ja nur Abbild christlicher Ordnung. Viele Kranke haben infolge von Hirnstrukturschäden auch Dämmerzustände und Wesensveränderungen, in denen sie die Realität verkennen, „dreamy states“, die andere Welten vorgaukeln, emotionale Einengungen und Erweiterungen mit Phantasien und Fanatismen, die jeweilige kulturelle Bedingungen manchmal dauerhaft auf absurde Spitzen treiben. Magnetstimulation des linken Schläfenlappens kann Zustände von Hyperreligiosität, Missionierungssucht und Geisterglauben auslösen. Schriftsteller wie Agrippa von Nettesheim (1486–1535), der die Ekstasen, Zukunftsvisionen und die „Divinationsgabe“1 der Epileptiker hervorhob, bis in die letzte, vortherapeutische Zeit zu Dostojewski (1821–1881) haben das Fascinosum derart kranker Gehirne aufgegriffen. Dostojewskis Selbstschilderungen von einem zur Erde sinkenden Himmel, von der zur Sekunde oder zur Ewigkeit werdenden Aura, der verzehnfachten Lebensempfindung und des Doppellebens2, haben das alles plastischer und bunter beschrieben, als es Mediziner mit ihren Begriffen vermochten. Insofern fühlte sich der Klerus selbstverständlich berufen, ja verpflichtet, die Betreuung dieser Kranken in seine Hände zu nehmen. Ärzte haben mangels wirksamer therapeutischer Möglichkeiten keine Chance gehabt, hiermit zu konkurrieren. Sie konnten es nicht besser, während die Orden ihre Spitäler öffneten. Und wenn Mediziner auch Traktate gegen Beschwörungen bei diesen Kranken schrieben, wie etwa Arnald von Villanova (1234–1311), aus ihrer Abhängigkeit von der Theologie konnten sie sich trotz Salerno und Montpellier, den ersten bahnbre-
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Agrippa von Nettesheim: Magische Werke, Berlin 1916, Bd. III, Kap.50 Jaspers, Karl: Allgemeine Psychopathologie 5.Aufl. Berlin u. a. 1948, SS. 72,97,120
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chenden Medizinschulen, und trotz päpstlicher Erlasse gegen Heiltätigkeit von Theologen (in Wiederholung: Innocenz III, 1215), noch lange nicht befreien.3 Insofern waren religiöse Kuren vermittels heiliger Messen, Beichten und Fasten, Kerzenopfer, Münzen- und Ring-Ritualien ebenso wie die Durchführung von Exorzismen übliche Methoden.4 Daneben versuchte man in allen Schichten der Bevölkerung die mehr oder weniger magischen Kautelen mit Pflanzen- und Tiermitteln, Hirschlederriemen5 bis hin zu den seit der Antike geübten drastischen Bluttransfusionen aus gerade eben getöteten Menschen und den seit Paracelsus als magnetische Mumien vorgestellten verdorbenen Körperteilen.6 Bei einer Krankheit, der früher mit keinem Mittel abzuhelfen war und die soviele Gesichter und Namen hat, wurden einfach Unmassen verschiedenster Methoden eingesetzt. Ich beschränke mich auf einige Schlaglichter verbaler und amulettmäßiger Versuche mit Einsatz der wichtigsten Heiligen.
A) Die heiligen Drei Könige Besonders hohe Erwartungen für Linderung oder Heilung des Leidens verbanden sich mit den überall aufstrebenden Reliquienstätten und ihren Wallfahrten. Seit der Translation der Drei-Königs-Reliquien nach Köln 1164 und der breiten Ausstrahlung ihrer Verehrung in ganz Europa gehörten Amulette mit einer Dreikönigsformel zu den beliebtesten Heilsbringern. Bis zum 20. Jahrhundert dienten die Namen der drei Magoi fast als Zauberwörter und waren massenhaft in weitgehend gleichbleibendem Text notiert (Abb. 18, 19). Warum gerade wurden die heiligen Drei Könige für diese sozial meist wenig respektierten Leidensträger bemüht, und für ein nicht sehr ansehnliches Leiden, das nicht gerade immer mit Weisheit gepaart ist? Man hat versucht, ihr Niederfallen, die Proskinese, wie nur vor Göttern und Königen üblich (Matth. 2,11), und ihr Wiederaufstehen vor dem Jesuskind in Analogie zum fallenden Übel zu setzen. Aber man hatte ihnen, den „Weisen aus dem Morgenlande“, betrachten wir die Darstellung der Legenda aurea, auch alle Begabung zu einer effektiven Therapie eines teuflisch organisierten Leidens zugesprochen. Drei mal drei Namen in drei Sprachen aus drei Ländern werden mit drei Aspekten ihres Wirkens versehen, dem Betrügen, dem Zaubern und der Weisheit. Wer sonst konnte einer heilig-teuflisch schillernden Krankheit besser Herr werden?
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vgl. Diepgen, Paul: Über den Einfluß der autoritativen Theologie auf die Medizin des Mittelalters. In: Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftl. Klasse 1 (Mainz 1958), S. 3–20 vgl. Franz, A.: Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter, Freiburg 1909, II, 498ff; Schulz, Monika: Beschwörungen im Mittelalter, S. 124– 134 Grabner, Elfriede: Krankheit und Heilen, Wien 1997², SS. 199,233
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Abb. 18 Das „an die Häupter und Reliquien der H.H. drey Königen in Cöllen angestrichene Brieflein“ (Amulettzettel des 18. Jahrhunderts)
Abb. 19 Haussegensdruck (1751) mit Dreikönigs- und Benediktussegen
„Da unser Herr geboren war, da kamen die drei Magier gen Jerusalem. Sie hießen auf hebräisch Appellius, Amerius, Damascus, auf griechisch Galgalat, Magalat, Sarachin; auf lateinisch Caspar, Balthasar, Melchior.Was für Magier sie aber waren, des sind drei Meinungen, nach dem dreifachen Sinn, den dieser Namen haben mag. Denn magus ist gesprochen der Betrüger, der Zauberer oder der Weise. Sie sind Betrüger genannt, als etliche sprechen, von dem, was durch sie geschah; denn Herodes ward von ihnen betrogen, da sie nicht wieder zu ihm kehrten. […] Zu dem anderen heißt magus der Zauberer, darum man auch die Zauberer des Pharao Magier nennen mag. Also meint Chrysostomus, daß sie von ihrer Zauberei Magier waren genannt, und spricht, daß sie Zauberer waren, darnach aber bekehrt sind worden, und machte ihnen der Herr seine Geburt offenbar, daß sie zu ihm würden geführt und alle Sünder davon eine gute Zuversicht hätten. Zum dritten heißt magus der Weise. Denn Magier ist ein persisch Wort und heißt auf hebräisch der Schreiber, auf griechisch der Philosoph, zu latein sapiens, das ist der Weise. Also waren sie Magier genannt, das ist: Weise; darum ist Magier auch soviel als „welche groß sind in Weisheit““.7
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Jacobus de Voragine*: Legenda aurea, Ausg. Richard Benz, Gütersloh 1999, S. 80
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Eine der ersten nachweisbaren Amulettaufschriften in zwei Ausfertigungen aus dem 12. Jahrhundert entstammt dem Inselkloster Reichenau:8
Abb. 20 Textvorlagen für Drei- Königs- Amulette (Reichenau, 12. Jahrhundert)
+ Melchius + pabtizar portans haec nomina + caspar. Solvitur a morbo Christi pietate caduco (Melchius Baptisar – Träger dieser Namen – Caspar / Von fallender Krankheit werde erlöst durch Christi Güte)
Später werden die Geschenke der Könige und die Gebrauchsanweisungen genauer genannt: 9
Ad malum et ad morbum caducum. faciat istum brevis et scribe in car. et ponis in collum. istum brevis. + Jn nomine patris et fili. et spritu. sancti. Amen. Gaspar fertur aurum. baldasar fertur thus. Melchidion fertur mirra. hec qui cuncp. fertur liberabitur a morbo cadiva.
Für die fallende Krankheit Man schreibe folgenden Brief Und hänge ihn an den Hals. + Im Namen des Vaters […] Caspar trägt das Gold, Balthasar den Weihrauch, Melchidion trägt die Myrrhe. Damit wird von Fallsucht befreit.
Im folgenden Text des 14. Jahrhunderts der Wiener Bibliothek werden die 3 x 3 Namen der heiligen Könige an den Hals zu hängen empfohlen. Dabei waren Namengebung an die Könige und Zuordnung zu 3 Kontinenten und 3 Lebensaltern schon um 700 durch den englischen Mönch Beda Venerabilis (674–735) erfolgt und nach Meinung einiger Historiker hatte Beda schon eine Matrix unserer Amulettformel aus den ihm bekannten Traditionen entworfen. Die Wiener Anwendung vermischt empirisch pflanzliche und tierische Mittel mit dieser Verzettelung ihrer Namen:
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Karlsruhe Badische Landesbibliothek CAug 249, fol.95r (oben) und 95v (unten) Wien ÖNB Hs 2505, fol. 75b,14.Jh., Abschrift Schönbach Gießen S. 524
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Nota caducum morbum remedium optimum primo scribantur nomina sanctorum trium regum hebraice. Secundo grece. Tercio latine. Et proprium nomen hominis ipsius. Morbum ipsum habentem. et de herba pyani que dicitur murken. et sacculo de corio testiculorum hyrci […] Sicut autem ipsa nomina sanctorum trium regum scribantur . Hebraice appelius. amcirus. damascus. Grece. Galgalat Scrathim (Serathim?) Malgalat. Latine. Caspar. Balthesar. Melchior.
Hier das beste Mittel gegen Fallsucht: Zuerst werden die Namen der hl. drei Könige in hebräisch, griechisch und lateinisch geschrieben und der Name des Kranken. Und [nimm] das Kraut Pyani, genannt Murken. Und ein Ledersäcklein von Hirschhoden […] Und so werden die Namen der hl. drei Könige geschrieben: Hebräisch appelius, amcirus, damascus; griech. Galgalat, Scrathim, Malgalat; latein. Caspar, Balthasar, Melchior.
Selbst die Herstellung von Pillen aus dem Blut geköpfter Schwalben in Vermischung mit den Gaben der drei Weisen, also weißem Weihrauch und abgeschabtem Gold im Sommer, für den Winter ein ständig in Ehren zu tragendes Brieflein mit ihren Namen, wurde empfohlen.11 Zur Verstärkung der suggestiven Heilgarantie wird häufig der Verweis auf das Lazaruswunder angefügt, offenbar mit dem Gedanken an eine Erweckung des Bewußtlosen aus einem Zustand, der als dem Tode verwandt erlebt werden kann: 12
Ad caducum morbum. Daz ist gut fuer daz vallunt lait: + Caspar fert mirram thus Mechior Balthasar aurum + Ex hiis qui secum tulerit tria nomina regum + Solvitur a morbo dei pietate caduco + Christus hiezz Lasarum auf sten von dem tod alzo tu du dir wirret nit der heilig Christ helfe dir
Das Dreikönigsamulett ist bis in die gedruckten „Zauberbücher“ des 18./19. Jahrhunderts gelangt und ist im „Geistlichen Schild“ enthalten. Ob ein solches unter den „Gebetbüchern“, die beim 16-jährigen „Findelkind“ Kaspar Hauser am 26. Mai 1828 in Nürnberg gesehen wurden, dabei war, läßt sich nicht mehr feststellen; sie sind aus der Asservatenkammer verschwunden, ebenso ein Schlüssel und ein Rosenkranz. Aber daß Kaspar Hausers Rätsel gelöst ist, daß er gegen alle anderen Vermutungen Epileptiker und Sohn eines Tiroler Pfarrers war, daran hat der Karlsruher Neurologe Günter Hesse keinen Zweifel. Dafür sprachen ihm die beobachteten Halbseitenkrämpfe einer Schläfenlappenepilepsie, die seelischen Auffälligkeiten insbesondere seines Doppellebens, der Obduktionsbefund am Schädel und nicht zuletzt der Vorname eines der drei Könige und der gefundene Goldstaub.13 Der hatte schon Jahrhunderte zuvor z. B. im Nürnberger Arzneibuch und überhaupt permanent zur Anwendung der Drei-Königs-Amulette gehört. 10 11 12 13
Wien ÖNB Hs 3071, fol.102b, aus 1389. Abschrift Schönbach Gießen, S. 713 Nürnberger Arzneibuch, veröffentl. Telle, J.: Petrus Hisp., S. 343, Nr. 418 München Clm 7021, fol. 160v, 14. Jahrh. Abschrift Schönbach Gießen, S. 469 Hesse, Günter, in: Ärzte Zeitung Nr.86 (Mai 1989, Seite 22); Herrn Dr. Hesse danke ich für weitere Informationen 2008/09
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B) Der heilige Valentin Neben den Drei Königen war Valentin einer der bedeutenden Patrone der Fallenden, wobei allgemein seit und mit Luther eine sprachliche Begründung für seinen Einsatz angenommen wurde. Diese Art von Volksetymologie gab es für eine ganze Reihe von Krankheiten, für Augustinus bei Augen-, für Blasius bei Blasenleiden. Die Legenda aurea des Jacobus de Voragine* gibt ein anderes Epilepsiepatronat für einen Valentin von Terni, nicht für den Meran-Passauer Heiligen. Sie berichtet, daß Valentin den Sohn des römischen Rhetors Kraton von einem Krüppelleiden und von Epilepsie geheilt habe. Und es kommt zu Überschneidungen. Man hat auch sprachliche Verschleifungen von Valtl zu Vaitl und Veit zu hören geglaubt. Will man die Wirkmächtigkeit des Heiligen einschätzen, so bedenke man exemplarisch die frühe Einrichtung eines Spezialpflegespitals für Epilepsie in Rufach bei Schlettstadt im Elsaß. Dieses zu Beginn 1183 dem hl. Johannes Baptist – auch er ein „Kopfheiliger“ gegen das Fallende – geweihte Benediktiner-Kloster erhält eine wundertätige Kopfreliquie eines hl. Valentin und wird dann aufgrund einer Stiftung zu seinen Ehren nach diesem benannt. Der Nürnberger Michael Murner, ein mit „der schweren Plag des hohen Siechtumbs“ beladener Bürgerssohn wird eigens zur Pflege nach Rufach geschickt. Aber auch ein Regent, der epilepsiekranke württembergische Ludwig II. hat 1453 ein Gelübde geleistet, in dem es heißt: O Valentin, Vernichter der Großen Plage, durch Dich wird die Epilepsie in die Flucht geschlage! Und er verlobt sich nach Rufach, um ein Bild mitzubringen. Diese Bilddrucke sind Zeugnis für die Blüte der Anstalt und der Wallfahrt im 15./16. Jahrhundert.14 Viele Spruchtexte deuten auf Valentinsverehrung in verschiedener Form hin, auf eine Valentinsmesse und auf Wachsweihe: 15
Incipiunt medicine contra caducum morbum. Super omnia hec nomina dic missam de sancto Valentino + On confortat + panto durat tedet + detragramaton reconciliat [… folgt ein längerer Text mit weiteren hebräischen Gottesnamen, Buchstaben, Passionsbezügen und dem Hinweis auf einen Dämon:] Jtem demon ostendit illa nomina pro caduco morbo. Jnnora tantha tyri post toxica notica clyri Evelliri carras poliu … Valentinus […]
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Contra caducum morbum Gegen die fallende Krankheit Scribe+ ego pater+ filius vita+ spiritus sanctus Schreib+ich Vater+Sohn Leben+hl. Geist remedium + Gordin + Gordian + et in Gordan + Mittel+Gordin+Gordian+ und in Gordan Christus vincit + Christus regnat + Christus Christus siegt + regiert + herrscht Amen
14 Sudhoff, K.: Ein spätmittelalterliches Epileptikerheim. In: Arch.f.Gesch. d.Med. 6(1913), 449–455 15 München BSB Clm 23435 fol.72v, 13. Jahrh., Abschrift Schönbach Gießen, S. 970 16 Wien ÖNB Hs 2817, fol.31bf, aus 1349, Abschrift Schönbach Gießen, S. 845
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Spruchtexte
Abb. 21 Bischof Valentin, Schutzpatron von Rufach/ Elsaß mit einem zu Füßen liegenden Paar mit synchronem (!) Anfall. Wildschwein und Katze als Dämonensymbole. Weiteres hinzutretendes Paar mit Opfergaben. Holzschnitt um 1480.
imperat Amen Dic letaniam ipso jacente et benedic cum signo sancte crucis et da ei literam in dexteram manum […] postea offera ceram denaciatam in honore sancti Valentini et sancti Hainrici
Sprich dem Gefallenen die Litanei und segne ihn mit dem Kreuzzeichen und gib ihm die Buchstaben in die rechte Hand […] danach opfere Wachs zur Ehre der heiligen Valentin und Heinrich.
Weitere Verehrungsorte des heiligen Valentin bei Epilepsie waren die Franziskanerkirche zu Würzburg, wo Berührung oder Küssen der Reliquie gegen Epilepsie und Fraisen helfen sollten17, war die St. Valentinsstatue von Marzoll bei Grossgmain in Österreich, wo an der Altarrückseite Kleintieropfer eingegeben wurden18, und ist bis heute Kiedrich am Rhein.19 Patronat und Attribut gingen früh schon vom heiligen Valentin von Terni auf den Passauer heiligen Valentin über. An diesen erinnert eine ganz volkstümliche Inschrift in Haselbach bei Braunau am Inn, die einmal auch das Zwielichtige eines Heiligen andeutet, eine respektheischende Strafandrohung für „St. Veltins Weh“. Immer wieder wird über einen Fluch, über das „Jemandem Sankt Velten wünschen“ berichtet, wie hier seine Spötter mit Fraiß geschlagen werden.20: 17 Lammert, G.: Volksmedizin und Aberglaube in Bayern, Würzburg 1869 (Neudruck Regensburg 1981), S. 25 18 Eysn, Marie: Votivgaben, in: Zeitschr.d.V.f.Volkskunde 11(1901), S. 185 19 Schneble, Hansjörg: Krankheit der ungezählten Namen, Bern u. a. 1987, S. 62 20 Kriss, R.: Volkskundliches aus altbayrischen Gnadenstätten, Augsburg 1930, S. 317f
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Sanct Valentin nach Passau wallt, von Rom sein Heerd zu weiden. Zierd mit bischöflicher Gewalt, der Satan wollts nicht leiden. Von Menschen treibt er Teufel aus, den Götzendienst abschaffet, Sein Lehr den Bösen ist ein Grauß, mit Fraiß Gott Spötter strafet.
Im katholischen hessischen Rheingau wird aus der Mitte des 19. Jahrhunderts ein frommes volkstümliches Gebet zu Valentin verrichtet21: Gegen fallende Sucht und andere Schwachheiten. O, heylger Valentine, du Patron der Kranken, der du als Arzt vor Gottes Thron gewürdiget warst, nimm von uns das Uebel der spanischen Schwachheit, der Ritter (= Ritten, Fieber) und der fallenden Sucht. +++
C) Der heilige Vitus (Veit) Im 12. Jahrhundert lesen wir in der einst berühmten, wohl vom Pfaffen Konrad in St. Emmeram zu Regensburg niedergeschriebenen Kaiserchronik auch etwas über die Bestimmung des heiligen Veit, sanct Uit, zum Helfer für die Fallsucht: 22
Nu suln wir ovch sagen. Welhen trost wir zu den herren aben. sanct Uit was ain wenigiz kindelin. an siner marter bat er minen trehtin. swem wirret div uallende suht. Di habent alle zu im fluht. daz gehiiez im selbe unser herre. daz di iemer mere. ze ainer iares friste. Sculn haben reste.
Nun wollen wir auch sagen, welche Zuversicht wir zum Herrn haben. St. Veit war ein schwaches Kind. Bei seiner Marter bat er meinen lb. Herrn: Denen die fallende Sucht kommt, die haben alle Zuflucht bei ihm. Das verspricht ihm unser lieber Herr selbst, daß sie über ein Jahr und mehr Sicherheit haben sollen.
Der heilige Veit war im 10. Jahrhundert von den sächsischen Königen zu ihrem Schutzpatron ernannt worden und fand bald als eine Art Nationalheiliger weithin Verehrung. Die Vituslegende erzählt vom Martyrium des Kindes im Jahre 303/304 unter Kaiser Diokletian. Obwohl Vitus dessen Sohn von der Epilepsie heilt, läßt der Kaiser dem christlichen Wohltäter, der schon seinen blinden Vater und die gelähmten Hände seiner ersten Henker geheilt hatte, keine Gnade zuteil werden. Man kennt die vielen Darstellungen des dem siedenden Ölkessel entsteigenden Heiligen. Berühmte Kernpunkte der Verehrung seiner Reliquien sind Kloster Corvey an der Weser und der Prager Veitsdom. In Regensburg ist der Vituskult seit Ende des 10. Jahrhunderts nachweisbar: 997 gründet Bischof Gebhard I. das Benediktinerkloster Prüll zu Ehren des Heiligen Geistes und der Heiligen Vitus, Gregorius und Bartholomäus, wobei sich schon im Verlaufe von Jahrzehnten Vitus als Hauptpatron „durchsetzt“. Über die Bedeutung von Kloster Prüll und seine mutmaßliche Spitalfunktion ist im Kapitel 31 die Rede. Schlägt man ei21 Roth, F.W.E., in: Am Urdhsbrunnen 7 (1888/89) 22 nach Diemer, J.: Kaiserchronik, 1849 [= Parallelschrift Vorau] Massmann, v.6487–96; Mon. germ. hist., Deutsche Chroniken I,1,S. 200, Vers 0469ff
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nen Bogen in die Neuzeit, so ist durchaus die Frage berechtigt, ob die königliche Regierung in München 1852 bei der Einrichtung der Kreisirrenanstalt in den alten Klostermauern das Patronat des heiligen Vitus bedacht hat, unter dessen Schutz sich Prüll einst gestellt hatte.23
Legende, Verbreitung und Intensität des Veits-Kultes boten Patronate für mehrere Krankheiten, auch für Drehkrankheit der Tiere, für alle Zuckungen und epidemischen Hysterien; Vitus blieb bis heute Namengeber für den erblichen Veitstanz, also die Chorea Huntington, ein Gendefekt mit Hirndegeneration, der zu schweren generellen Bewegungsstörung mit Demenz führt. Ein historisch weit reichendes stabiles Hauptpatronat für Epilepsie läßt sich anhand der volkstümlichen Segensformeln für Veit aber nicht belegen. In den letzten Jahrhunderten wurden volkstümliche Formeln gegen Bettnässen gesprochen. Sicherlich stand nicht allein die Verbindung vom Ölkesselbild mit Nachttopf für diese Funktionsbestimmung. Denn protrahiertes Bettnässen ist häufig Symptom unerkannter nächtlicher epileptischer Anfälle. Alle diese Texte sind im ganzen deutschen Sprachraum erst im 19. und 20. Jahrhundert verbreitet, reizvoll in Dialekt und Zweckbindung: 24
In Oberschwaben rufen die bettnässenden Kinder den hl. Veit, den mit 12 Jahren Verstorbenen an: Heiliger Sankt Veit, wecke mich bei Zeit, wecke mich zur Stund, wenn mich s‘Brunze ankummt.
25
Abendgebet aus dem Egerland. Halicha St. Veit, weck mich af za da rechta Zeit, daß ich za da Zeit dawach u ma Sterbastund niat vaschlaf.
26
Gebet der Kinder an St. Veit (15. Juni) Heiliger S. Vit, wegg mi be Zit, nit z’früä und nit z‘spout, winn‘s um Brünzlä-n-umä gout.
In älteren Spruchformeln wird St. Veit zu sehr unterschiedlichen Anliegen bemüht, wobei nicht nur seine Einreihung unter die 14 Nothelfer von Bedeutung sein mag, sondern oft einfach nur die Reimbildung und seine große Popularität. Aus dem 15. Jahrhundert wird ein Segen gegen Wölfe aus Mittelfranken mitgeteilt, den ein Hirte gesprochen hat. Sein Anfang lautet: „Du Wulfin und du Bock, ich verbeut dir deinen Geith (Gier), mit dem lieben Herrn St. Veit.“ 27. Eine Reihe von Beschrei-Formeln mit der reimenden Anrufung mehrerer Heiliger haben das „Hat dich beschrien ein Weib (oder andre Leut), so helf dir Gott und Sankt Veit“, z. B. das Hausbuch Pfuhl bei Ulm, um 180028; auch gegen „Neid“ reimt sich Veit. 23 Mai, Paul: Die Verehrung des heiligen Vitus. In: 1000 Jahre Kultur in Karthaus Prüll. Regensb. 1997, 249f 24 Höhn, Heinrich: Volksheilkunde I, Stuttgart 1980², S. 278 (aus Saulgau) 25 Sladek, P./K. Hübl: Gebete und religiöse Sprüche der Vertriebenen, BJV 1970/71, S. 147 (aus Marienbad) 26 Manz, Werner: Volksbrauch und Volksglauben des Sarganserlandes, Basel und Straßburg 1916, S. 79 27 Schöller, Rainer G.: Die Institution des Gemeindehirtenwesens, in: Hutanger in der Hersbrucker Alb, Schriftenreihe der Sonderausstellungen Bd. 4 (Hersbruck 1992), S. 12 28 Kopp, Andreas: Das Pfuhler Hausbuch, Ulm 1998, S. 89
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Mehrfach wird ein Veitswurm verbetet, z. B. im Taubertal29 aus dem Jahre 1621. Im Fichtelgebirge heißt es im 18. Jahrhundert: „Sanct Veit der war ein brafer Mann, der den Frissel und Unflath bald stillen und legen kann“30, die Formel wird hier einem kranken Pferd, nicht der Epilepsie eines Kindes zugedacht. Ob die vorbeugend gegen Schnittwunden mit Sichel und Sense zu sprechenden Formeln wie „Heiliger Sankt Veit, wach, daß i mi net stoß und schneid!“, bekannt jedenfalls in Baden und Böhmen, auf Befürchtungen wegen einer Absencenepilepsie zurückzuführen sind, bleibt zu erwägen. Denn diese kurzen, kaum bemerkbaren geistigen Abwesenheiten können tatsächlich zu Schnittverletzungen führen.
D) Weitere Segensformeln bei Epilepsie In Analogie zum erwünschten Wiederaufstehen des Kranken konnten auch die allgemein bekannten und bei vielen Leiden gebräuchlichen Kurz-Credoformeln mit Weihwasserbegießungen in Hände und Gesicht, ergänzt um die sinnfällige Nennung der Auferstehung Christi Verwendung finden, zum Beispiel im 14. Jahrhundert im Gothaer mittelniederdeutschen Arzneibuch und seiner Sippe. So im 15. Jahrhundert in einer Breslauer Handschrift: 31
Contra morbum caducum. Wen eyn mensch dy fallende crangheit ankommet ader bestet, wer denne bussin (büßen, heilen) wil, der sal stan zcu den fussen vnde heyschen em brengen geweith wasser vnde gissen vf des sychen lincke hant vnde sprechen alzo: Ich gisse das wasser in dem namen vnsers herren Jhesu Cristi, der entphangen wart in Nazareth […], geborn wart zu Bethlehem […], gecrewcziget wart zcu Jherusalem. vnd denne sal man den menschen angreyffen mit dem gurtel vnd of brengen vnd sprechen: stunt mit vf. In dem namen vnsers herren Jhesu Cristi, der an dem dritten tage vf irstunt von dem tode. […]
Der folgende gebetmäßige Bezug auf die heiligen fünf Wunden Christi bei Epilepsie mit einer an hebräische Götternamen und einstige Öl-Salbungen32 dieser Kranken erinnernden Einleitung entstammt einer Handschrift der Hofbibliothek der Herzöge von Sachsen-Coburg-Gotha. Der Text ist zwischen Abgarlegende, Waffenabwehrsegen und einer „Heiligen Länge“ platziert. 33
Contra caducum Morbum + Unctabor + manus + Heron + Selmas + Amptubor + Vario + Dissen-
Gegen fallende Krankheit (Fallsucht) „Ich werde gesalbt“ + „an Händen“ + Heron + Selmas + Amptubor + Vario + Dissengeode +
29 Scharold, in: Archiv Hist. Verein Unterfranken 5 (1839), S. 168 30 Marktleuthen Stadtarchiv, Bd. 30, Handschrift des Joh. Anger, um 1787, S. 169 31 Breslau Univers.-Biblioth. Hs III. Q.7, fol.33v, veröff. Klapper, J. Mttlg. Schles. Gesellsch. Vk.9(1907),23; Norrbom, Sven (Hg.): Gothaer mnd. Arzneibuch, S. 149 32 Franz, Adolph: Kirchliche Benediktionen im Mittelalter II, 542 33 Coburg Landesbibliothek Ms 24 (fol.3v und 4r) Pergament, 1647 auf „1447“ geändert. Für Übersetzungshilfe danke ich Herrn Dr. Hans-Ludwig Oertel, Würzburg
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Abb. 22 Epilepsiegebet und Beschreibung der „Heiligen Länge“ mit naiver Federzeichnung der „Arma Dei“ (17. Jahrhundert)
geode + Unu(m?) pater noster Ave Ein(?) Vaterunser, Ave Maria. Die fünf Wunmaria. Vulnera quinque dei sint meden Gottes mögen mir Arznei sein + Durch medicina mei + Vulneribus quovis jedwede Wunde reiße mich heraus, o Christus, erue me Criste Martinum Kislingium. mich, Martin Kiesling. Verletzt steht Jesus Jn cruce stat Jesus pro nostro crifür unsere Schuld am Kreuz. O Herr mine lesus. Domine Jesu criste resJesus Christ, blicke auf mich, deinen Diener, pice super me Martinum famulum Martin°; heile und befreie mich von der Falltuum sana & libera me a caduco sucht und von allen Krankheiten der Seele und morbo et ab omnibus infirmitatides Körpers. Amen bus anime et corporis Amen ° überschriebener Rasurversuch : « Matheum »
Begegnungssegen von Heiligen (Maria, Anna, Christus) mit den personifizierten 77 und/oder namentlich aufgezählten Gicht und Gichtern nach Art langer Wurmsegen der letzten Jahrhunderte sind teils als Sammelstellen verschiedenster Erkrankungen, teils als „Gichter und fallende Sucht“ gezielter titelnd weithin bekannt. Im fränkisch-böhmischen Raum fungieren diese Texte zumeist als Segen gegen Kinderkrämpfe, auch Frais, Gefrais, Gefraisch oder Unkraut genannt.34 Sozialmedizinische Bedeutung von Spruchtextgebrauch und Amulett bei Epilepsie Bei epileptischen Anfällen handelt es sich um ungeregelte elektrische Entladungen von krankhaft übererregbaren Neuronenkomplexen. Die Störung kann ererbt sein oder durch erworbene Hirnschädigung auftreten. Verbaltherapie und Amulette sind per se wirkungslos. Allerdings können sie zur Vermeidung sozialer Isolierung des Kranken beitragen, siehe dazu Kapitel 11.
34 Lammert, Gottfried: Volksmedizin und mediz. Aberglaube in Bayern, Würzburg 1869, Neudruck Regensburg 1981, S 122–126
11. Epileptische Anfallsleiden: Die altdeutsche EpilepsieBeschwörung „Doner Dutiger“ – Adams Sohn Christus schlägt Teufelssohn Donar – – „Sprechende Medizin“ über einen Bewußtlosen? – – Die soziale Komponente des Beschwörens und Segnens – – Legenden vom Kreuzholz und von Petrus / Paulus vor Rom –
Abb. 23 St. Emmeramer Doner dutiger- Beschwörung der Epilepsie (11. Jahrhundert). Die Schwärzung als Folge chemischer Bearbeitung durch frühere Untersucher.
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Spruchtexte
Wer als Nichteingeweihter einmal überrascht einem großen epileptischen Anfall beiwohnen mußte, wird sich wohl besonders an drei Symptome des Ereignisses erinnern. Erstens die Plötzlichkeit des aus heiterem Himmel geistig weggezerrten und blitzartig oft mit einem Initialschrei fallenden Kranken. Zweitens sein Zustand der „tonisch-klonischen“ Verkrampfung, der stählern gespannten und grob zitternden Muskulatur, der Atem-Blasen-Darm- und Bewußtseinsstörung und drittens die Besorgtheit und Hilflosigkeit der Umgebung. Hat einer Schulung, Erfahrung oder Einblick in ein Epilepsie-Merkblatt gehabt, dann weiß er um die Regeln der Lagerung, also der Schadensvermeidung wegen Verletzungs- und Asphyxiegefahr. Das heißt: Erbrochenes, Blut des Zungenbisses, Getränke, Gebiß, Zähne oder Nahrung können in die Luftröhre eindringen. Was sollte in solch desolat scheinender Lage ein Spruch, ein Gebet, oder aus Kloster St. Emmeram im Regensburg des 11. Jahrhunderts, eine Beschwörung helfen? War das ein Placebo für Ratlose? War das „Sprechende Medizin“ als Theater über einem Bewußtlosen? Es gibt nur zwei vergleichbare Parallel-Exemplare des Spruches. Ich ziehe das andere heran, das zwar um etwa ein Jahrhundert jünger sein soll als unser Regensburger Text, das aber auch eine vorbereitende lateinische Handlungsanweisung vor dem althochdeutschen Spruchtext bewahrt hat. Dem Regensburger Blatt fehlt sie wie so vielen unserer Texte, die ohne die in der Praxis übliche Anleitung aufgezeichnet wurden1. Es folgt unter Auflösung der Kürzel und leichten Teil-Korrekturen die aus Rheinfranken stammende Pariser Handschrift des 12. Jahrhunderts: 2
Contra caducum morbum Accede ad infirmum iacentem. & a sinistro vsque ad dextrum latum spacians. sicque super eum stans dic ter: Doner+dutigo, dietewigo+ do quam des tiufeles sun. uf adames bruggon. unde sciteta einen stein ce wite. do quam der adames sun. unde sluog des tiufeles sun zuo zeinero studon. petrus gasanta. paulum sinen bruoder. da zer aderuna. aderon ferbunde pontum patum. ferstiez er den satanan. also tuon ih dih unreiner athmo. fon disemo christenen lichamen. also sciero werde buoz. disemo christenen lichamen. so sciero so ih mit den handon. die erdon beruere. & tange terram utraque manu. et dic pater noster. Post hec transilias ad dextram et dextro pede dextrum latus eius tange et dic: stant uf waz was dir. got der gebot dir ez. hoc ter fac. et mox uidebis infirmum surgere sanum. Gegen Fallende Krankheit. Tritt hin zu dem (gestürzt) liegenden Kranken. Und überschreite ihn (dich über ihn breitend) von der linken zur rechten Seite.Und derartig über ihm stehend sprich dreimal:
1
2
vgl. Schulz, Monika: Magie oder die Wiederherstellung der Ordnung, S. 247–252, Problem der „reduzierten Aufzeichnung“. Handlung und Riten wurden allgemein eher dem Erlernen durch Beobachten überlassen, während die Worte zum Ablesen niedergeschrieben wurden. Paris Bibliothèque Nationale Cod. nouv. acq. lat. 229, 9v
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Doner dutigo dietewigo. Es kam des Teufels Sohn auf Adams Brücke und spaltete Stein und Holz. Da kam Adams Sohn (Christus) und schlug des Teufels Sohn (Donar) vernichtend in eine Staude. Petrus sandte Paulus, seinen Bruder, da nach Rom. Die Adern verband er. (daß er die Adern zu Rom verbände? daß er zu Rom den Widersacher in Banden lege?). Er trieb den Satan aus. Ebenso tue ich es mit dir, unreiner Atem (Geist), von diesem christlichen Leibe. So rasch heile dieser christliche Leib, so rasch ich mit den Händen die Erde berühre. Berühre danach die Erde mit beiden Händen und sprich ein Vater unser. Dann springe hinüber auf die Rechte, und mit dem rechten Fuße berühre seine rechte Seite und sprich: Steh auf ! Was war mit dir los? Gott gebot es dir. Dies mache drei Mal. Und bald wirst du sehen, daß der Kranke sich gesund erhebt.
Generationen von Germanisten haben seit Konrad Hofmann3 1871 und Alfred Morel-Fatio4 1879 an diesen beiden Sprüchen gearbeitet. Doch eine allgemein anerkannte Erklärung für „Doner dutiger diet mahtiger“ (St. Emmeram) und „Donerdutigo dietewigo“ (Paris) hat es nicht gegeben. Schon bald hatte mancher im Hinblick auf den Merseburger Pferdespruch und dessen Wotan auch hier einen germanischen Gott zu erkennen geglaubt und den „Heil-bringenden Donar und Großen Kämpfer“5, den „Donnergnädigen und Volkserhalter“ aus einem „DonarHymnus“ und vieles andere Gewaltige gefunden. „Stünde nicht Doner, so würde man nie an heidnische Herkunft gedacht haben“6, aber „wer verwegen genug ist, kann deuten.“7 Nach letzten Untersuchungen wurde übersetzt: „Gnädiger und immerwährender Donar! Tosender Donar, ewiger Schall!“8 Überlassen wir weitere spezielle Text-Bearbeitungen den Germanisten. Treten wir zu einem epileptischen Anfall hinzu und nehmen „Doner dutigo“ als Kraftwort oder Fluch, als Abracadabra, antikes Fremdsprachengeröll oder Heidengott. Gleichgültig – wir betrachten es als massives Performativum, als Paukenschlag zu einer Urform des Pacing- and-Leading für eine Wende und Umkehr des Geschehens. Wir folgen den Text-Anweisungen und beugen uns schützend mit gespreitzten Beinen über den Kranken, halten ihn an den Seiten gegen ein Wegrutschen und Anstoßen fest, halten die Umstehenden und panisch Geängstigten möglichst fern und sprechen den Text dreimal, wie vorgeschrieben und – wir gewinnen und 3 4 5 6 7 8
München BSB Clm 14763, fol.88r, veröffentl. Hofmann, K.: Sitzungs-.Berichte. München, philos.-hist. Kl. 17 (1871), 659–664 Morel-Fatio, A., in: Zeitschr. f. dt.Altertum 23 (1879), 435–437 Huismann, J.A.: „Contra caducum morbum“, Amsterdamer Beitr. zur älteren Germanistik 17(1982), 39–50; Jacoby, Adolf: Segensprüche und Zauberformeln, Luxemburg 1921(?), S. 20 bei SegenSammlung Hepding, Gießen S. 42 MSD, Dritte Ausg. Berlin 1892, II,301; s. ferner: Steinhoff, H.-H.: Verf.-Lexikon Pogliani, Annarita: Durch ein ungleiches Schicksal verbunden, in: Zeitschr. f. dt. Altertum und dt. Lit. 138 (2009), S. 296–311; darinnen mehr zur Unterscheidung der beiden Handschriften
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Abb. 24 Petrus und Paulus, vermutlich gemäß Apokryphen Dämonen vertreibend über der Stadt Rom. (Müstair, 12. Jahrhundert)
beherrschen Zeit und Raum. Es entsteht Entspannung und Beruhigung. Der Anfall kommt zum Stehen, weil er ohnehin meist nur einige wenige Minuten andauert. Es war eine Erste-Hilfe-Leistung, um noch Schlimmeres zu vermeiden, mehr nicht. Weitere Anfälle können folgen. Aber die Bedingungen des großen Anfalls waren ideal, um sich eines Spruches zu bedienen.9 Der erste erzählende Teil des Textes schildert den Kampf auf Adams Brücke mit dem Sieg Christi, des „Neuen Adams“. Verschiedene Deutungen gingen dahin, daß die Kreuzholzlegende dahinter steht.10 Nach ihr hat Adams Sohn Seth vom Baum an Vaters Grab Samen oder einen Zweig mitgebracht, aus dessen Gewächsen wiederum später Holz für den Tempelbau in Jerusalem genommen werden sollte. Aber das Holz passte nicht dafür. So diente es denn für die Brücke über den Kidronbach und sollte später für Christi Kreuz Verwendung finden. Der Teufel und in seiner Gestalt der Heidengott Donar habe die Brücke zerstören wollen. Der zweite Teil erinnert an die Berufung der Apostel gemäß Marcus 3,13–17, wo zwar Jacobus und Johannes angesprochen sind, aber auch die Macht der Heilungen, des Teufelsaustreibens und die Benennung als Bnehargem, also der Donnerskinder. So die Deutungen. Peter und Paul sind Schlüsselfiguren für das Verständnis des Textes, zumal sie in Apokryphen, Homilien und Bildern als Romreisende und Teufelsaustreiber (Abb. 24) vorkommen, und als solche auch in der Emmeramer Kaiserchronik, die dem Regensburger Aufschreiber des Textes nicht ganz fremd sein konnte. Die Endzeilen unseres Epilepsietextes beziehen sich eindeutig auf Wunderheilungen Christi gemäß Matth. 17,14–18, Marcus 9,17– 29 und Lukas 9,37–42. In allen drei Evangelien sind Symptome beschrieben, die keinen Zweifel an einem epileptisches Ge-
9
vgl. Murdoch, Brian: Peri Hieres Nousou: Approaches to the Old High German Medical Charms. In: „mit regulu bithungan“. Neue Arbeiten zur althd. Poesie und Sprache, Göppingen, 1989, S. 142–159 10 Baesecke, Georg: Kleinere Schriften z. althdt. Sprache (Hg.: W. Schröder, Bern 1966), 234– 236
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schehen lassen. Und in allen dreien ist das Entweichen eines Geistes, Teufels oder Pneumas (Tafel 3) beschrieben. Die Krankheit hat nicht nur Betroffene und Helfer seit allen Zeiten heftig bewegt, sondern auch Kulturhistoriker. Denn an ihr sammelten sich und schieden sich die „Geister“: Jene Luft-Geister, die man mangels naturwissenschaftlicher Kenntnisse für Erzeuger dieser dramatischen Anfallsszenerie hielt und jene, die das Wesen dieser einst recht häufigen unbehandelbaren Krankheit verstehen wollten – jedes Zeitalter hatte gemäß seiner soziologischen und kulturreligiösen Bedingungen die seinigen.11 Bis heute blieb ihr der Name „Epilepsie“ aus dem Griechischen für „Ergriffen- und Gepacktsein“ als Idee eines zupackendes Dämonen, Geistes, Gottes oder anderen übernatürlichen Wesens als Signalement erhalten. Schon der erste Gesetzestext der Menschheit, der Dioritblock-Codex des altbabylonischen Königs Hammurabi (1728–1686 vor Chr.) gibt arbeitsrechtliche Anweisung, daß gekaufte Sklaven, bei denen sich Benû, also ein Anfall, vor Ablauf eines Monats nach dem Kauf zeigt, mit Ersatz zurückgegeben werden können. Tontafeln der assyrischen Beschwörungssammlung Maqlû aus der Bibliothek des Königs Asurbanipal in Ninive (669–626 vor Chr.) geben Zeugnis von verbaler Kampfansage auch gegen Lamaštu und Been-nu, die packenden Dämonen.12 Gegenüber diesen babylonisch-assyrischen Zeugnissen war die antike griechische Medizin weit fortgeschritten. Zwar nennt eine Hippokratische* Schrift vom Anfang des 4. Jahrhunderts vor Chr. den schon üblichen Begriff der „Heiligen Krankheit“, aber er wird völlig relativiert: Mit der sogenannten heiligen Krankheit verhält es sich folgendermaßen: sie ist nach meiner Ansicht keineswegs göttlicher oder heiliger als die anderen, sondern wie die anderen Krankheiten so hat auch sie eine natürliche Ursache. […] Diejenigen, die zuerst die Krankheit für heilig erklärt haben, waren Menschen, wie sie auch jetzt noch als Zauberer, Entsühner, Bettelpriester und Schwindler herumlaufen. […] Schuld an diesem Leiden ist in Wirklichkeit das Gehirn. – Trotzdem: Eine weit verbreitete magische Weltsicht sollte diesem ersten erfassbaren Beginn naturwissenschaftlicher Beobachtung noch lange entgegenstehen. Die griechischen Papyri haben auch für Epilepsie eigene Beschwörungsformeln gegen Dämonen.13 – Die römische Antike hat im Bereich der Medizin das Erbe der Griechen weitgehend übernommen und fortentwickelt. Auch für den Arzt Galen* ist Epilepsie letztlich Hirnkrankheit mit der Ursache eines Verschlusses in den Hirnventrikeln. Daran anknüpfend wurde versucht, die beiden Erzählungen unseres Doner dutiger-Spruches mit ihren Aktionen des Spaltens und wieder Verbindens zu interpretieren.14
11 vgl. Schneble, Hansjörg: Krankheit der ungezählten Namen. Bern Stuttgart 1989, S. 2 12 Meier, Gerhard: Die assyrische Beschwörungssammlung Maqlû. Neudruck der Ausgabe 1937, Osnabrück 1967, Tafel II,54–71; ferner Tafel II, 213: Schlimme Been-nu, falle auf dich! 13 Siehe z. B. Betz, Dieter: The greek magical papyri Chicago 1986, 313, PGM CXIV.1–14 14 Pogliani, Annarita: Durch ein ungleiches Schicksal verbunden, in: Zeitschr. f. dt. Altertum und dt. Literatur 138 (2009), S. 296–311, hier: S. 310
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Abb. 25 Heilung einer Prinzessin durch den hl. Zeno. Der Kranken entfährt aus dem Munde ein mächtiger Teufel. (Bronzetür Verona; 12. Jahrhundert)
Nach dem Untergang des römischen Reiches hatte seit dem frühen Mittelalter die Mönchsmedizin Versorgung und Pflege übernommen. Jahrhundertelang blieb das Leiden an die Vorstellungen aus der Zeit Christi und an den von den Kirchenvätern und manchen Theologen literarisch mittransportierten Gegensatz von Glauben und Aberglauben gebunden. Und so war es nicht mehr immer Strafe Gottes, sondern auch Teuflisches und Dämonisches, was hinter den Symptomen vermutet wurde. Dies sind in der Behandlung die Hauptangriffspunkte, wie sie unserem Text gedanklich zugrunde liegen. Deutlich zeigen es die bildlichen Darstellungen Fallsüchtiger, denen die Teufel und Untiere aus dem Mund flüchten (Abb. 25; Tafel 3); ähnlich wie bei Besessenheit griff die Kirche zum Exorzismus. Die Doner-dutiger-Beschwörung aber hatte trotz ihres entsprechenden Strategieansatzes keine Weiterbildung und Tradierung erfahren, wahrscheinlich wegen der mindestens heidenverdächtigen Eingangsworte. Dafür entstanden seit dem 12. Jahrhundert mehrere den Bedarf ersetzende Spruchtypen, die sich an Reliquienkulte einiger Heiliger flochten. Die beiden „Donerdutigo“ und „Doner dutiger“– Beschwörungen u. a. deshalb als „Marginalsegen“ zu bezeichnen, weil die Reanimierung ihrer historischen Anwendungspraxis noch nicht bewiesen sei,15 das verkennt ihre theoretische Bedeutung als Kettenglied in der Entwicklung der Kausalattributionen und der therapeutischen Strategien.
15 Stuart, Heather und F. Walla: Die Überlieferung der mittelalterlichen Segen, in: Zeitschr. für deutsches Altert. und dt. Lit. 116 (1987), S. 53–79, hier 70
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Epileptische und andere Anfälle / Sozialmedizinische Bedeutung einer anfallbegleitenden Verbaltherapie Der Pariser Doner-dutigo-Text verdeutlicht eine wichtige Komponente aller Beschwörungs- und Segensstrategie, indem er auf das soziale Umfeld eingeht. Ob gewollt oder ungewollt werden mit diesem wie mit vielen anderen Krankheitssegen vor allem auch Bezüge zu den Angehörigen oder zu anderen Patienten und Umstehenden hergestellt, Bezüge, die dem Kranken nützen. Im Falle eines epileptischen Anfalles war durch Verbaltherapie keinerlei direkte Hilfe für den Kranken gegeben. Ein Bewußtloser kann keine Worte hören oder auch unbewußt verarbeiten. Aber in Befolgung der auch beigegebenen Anweisungen zum Spruch schützte der Sprechende den Gestürzten vor zusätzlichen Schäden, demonstrierte eine rituelle und praktische Zuwendung und entsprach damit ethischen Geboten. Zwar haben die Formeln nach heutigen Vorstellungen nicht destigmatisiert, aber das praktische Vorgehen konnte gegen Diskriminierung oder Gleichgültigkeit bei einer einst sehr häufigen Krankheit beitragen. Sie hat oft zu erheblicher Einschränkung der Lebenschancen geführt. Neurologische Bedeutung der anfallbegleitenden Sprüche Den epileptischen Anfällen liegen in 65% komplex vererbliche krankhafte Neuronenverbindungen zugrunde. Ein weiterer Prozentsatz geht auf Traumen mit krankhafter Reorganisation der Synapsen zurück. Meist besteht eine Sklerose des Hippocampus*. Seelische Veränderungen aller Art häufen sich daher bei den epileptisch Kranken, vor allem dann, wenn auch das Temporalgebiet betroffen ist, vgl. dazu Kapitel 10. Schließt man in die Betrachtung auch „psychogene“, einer Epilepsie ähnlich sehende Anfälle ein, die heute als dissoziative Anfälle bezeichnet werden, so ist davon auszugehen, daß im Mittelalter bedeutend häufiger als heute derartige Kranke auch wie Epileptiker behandelt wurden. Erfolgsmeldungen über Therapie, ähnlich wie bei anderen „histrionischen“ (ehedem „hysterisch“ genannten) Erkrankungen, unter Spruchtherapie und Exorzismus müssen vor allem auf diese Kranken zurückgeführt werden. Eine Unterscheidung zwischen „Besessenheit“ und Epilepsie war damals nicht immer erfolgt, obwohl oder gerade weil diese „psychogenen“ Anfälle meist viel theatralischer und symbolträchtiger aussehen.
12. Fiebersegen mit den Siebenschläfern von Ephesus
– Die Höhle der Siebenschläfer als Sinnbild des Mutterschoßes – – Heilschlafbehandlung gegen Fieber – – Erzählkunst und Psychotherapie als Synchronisierung aktueller mit vorgeburtlicher Existenz – – Eine Urform der regressionsfördernden Therapiesysteme? –
Über die Siebenschläfer von Ephesus berichtet uns ausführlich die Hauptquelle christlicher Erzählkunst, die Legenda aurea des Jacobus de Voragine* aus dem 13. Jahrhundert: Die Geschichte des Martyrologiums der Siebenschläfer datierte aus dem dritten Jahrhundert, in der Zeit der Christenverfolgung unter Kaiser Decius. Die sieben Hirten verweigerten als Christen die Anbetung römischer Götterbilder, flüchteten vor Verfolgung in eine Höhle am Berge Celion und wurden auf Befehl des Kaisers im Jahre 251 eingemauert. Als ein Bürger im Jahre 447 die Höhle als Schafstall benutzen möchte und die Mauer entfernen läßt, erwachen die Brüder. Einer geht Brot zu holen und kennt niemanden mehr in der inzwischen christlichen Stadt. Der Bäcker staunt über die alte Goldmünze aus Kaiser Decius‘ längst vergangener Zeit, mit der der Fremde bezahlen will. Man hält ihn schlicht für geistig gestört, und nach vielen Wirren und Zweifeln geht Bischof Martinus mit den Bürgern zur Höhle und findet alle Brüder lebend vor und findet, daß ein großes Wunder geschehen ist.
Die Verbreitung des Siebenschläferkultes hatte besonders Bischof Gregor von Tours (ca. 540–593) gefördert. Er hatte eine syrischen Passion bearbeitet, die im 8. Jahrhundert ein Mönch in Fulda abgeschrieben hat. Dies belegt das überhaupt älteste deutsche Bücherverzeichnis aus der Fuldaer Klosterbibliothek, einer Stätte, an der Hrabanus Maurus* gewirkt hatte, an der die ältesten deutschen Schriftzeugnisse, das Hildebrandslied und die „Merseburger Zaubersprüche“ verzeichnet worden waren. Die Bibliothek ist während der Reformation zerschlagen und zerstreut worden. Im betreffenden, jetzt in Basel befindlichen Codex lautet die Stelle:
Abb. 26 Nachweis eines Buchtitels zu den Siebenschläfern aus dem wahrscheinlich ältesten in Deutschland entstandenen Bücherverzeichnis im Kloster Fulda (8. Jahrhundert)
Fiebersegen 1
liber uita s(an)c(t)orum dormientium in effeso qui dormierunt et in ilum librum sunt cronih, sancti furseus liber, sententialis liber, liber alexantri
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Buch (zum) Leben der heiligen Schläfer in Ephesus, die wie verstorben waren und in dem Buch sind Chroniken, das Buch des hl. Furseus, ein Sentenzenbuch, ein Buch über Alexander
Eines der frühesten Zeugnisse für medizinische Nutzung der Legende findet sich in einem St. Emmeramer Codex aus Regensburg. Diese Schrift des 9. Jahrhunderts ist aber wahrscheinlich nicht hier entstanden, sondern wie sich aus Schriftvergleichen ergab, in Nordostfrankreich.2 Der Spruch ist eine Kombination aus christlicher Segnung und einer Beschwörung. Überraschend scheint zunächst seine Indikation. Nicht für Schlafstörungen, Narkose oder Hypnose wird er eingesetzt, sondern gegen Fieber: 3
In nomine domini nostri Iesu Christi. Im Namen unseres Herrn Jesus Christus In ephasa ciuitate in monte Celio In der Stadt Ephesus im Celio-Berg ibi requiescunt VII dormientes: dort ruhten die sieben Schläfer: Maximinianus, Malchus, Martinianus, Constantinus, Dionisius, Iohannes, Serapion. [...] Per merita et intercessionem eorum […] Durch ihre Verdienste und Fürsprache omnipotens deus dignetur saluare möge der allmächtige Gott seinen Diener istum famulum illum ab omnibus vor aller Krankheit von Fieber und Kälte infirmitate febris uel frigoris. Et [Schüttelfrost] bewahren. Und wie jene sicut illi more infantium in utero nach der Kinder Art im Mutterschoß quiescentium non sentientes laboruhend weder Mühe noch Schmerz oder rem neque dolorem neque mortem, Tod spüren, lass deinen Diener weder im in isto famulo dei illo [fac, ut] Schlaf noch im Wachen an Fieber oder neque dormiendo neque uigilando Kälte leiden. […] Ich beschwöre euch, sentiat infirmitatem febris uel friihr Fieber, […] daß ihr keinen Ort goris. [...] Adiuro vos [febres, …] und keine Macht haben sollt über ut non habeatis locum neque diesen Gottes-Diener, sondern potestatem in isto famulo dei illo, weichen möget […] sed redeatis, [...]
Mit der Legende über diese Jahrhundertlang-Schläfer wird explizit an die Schutzfunktion und die Urheimat des Mutterschoßes erinnert. Es wird die Imagination/ Kontemplation eines unüberwindbaren selbst dem Tod trotzenden Lebensbewahrers gebahnt. Die Höhle von Ephesus und die Höhle der Gebärmutter werden 1
2 3
Basel Universitätsbiblioth. Ms F.III.15a, fol. 18r; Lehmann, Paul: Fuldaer Studien, Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissensch. Philosoph.-philolog. und hist. Klasse 1925, München 1925, S. S.5,49: Neben der Siebenschläferlegende, wohl nach Bearbeitung Gregors von Tours, gehörten dem verschollenen Fuldaer Codex noch ein Leben des irischen Mönches Furseus, ein Sentenzenbuch und ein Buch über Alexander den Großen an. Bischoff, Bernhard: Die südostdeutschen Schreibschulen und Bibliotheken in der Karolingerzeit, Teil I, Die Bayrischen Diözesen, Wiesbaden 1960, S. 235 München BSB Clm 14179, fol. 1‘, veröffentl. Franz, Adolph: Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter, Freiburg 1909, Band II, S. 480
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Spruchtexte
parallel gestellt. Beide werden Schutzwall gegen alle Unbillen und Eindringlinge und sollen es gegen Fieberdämonen sein. Die Fieber sind als Personen und Ursache der Krankheit angesprochen und beschworen. Gegenüber den hier ganz allgemein als febris und frigor, Fieber und Kälteschauer abgemahnten Übeln werden gelegentlich spezialisiertere Missetäter genannt, so in einer Beschwörung des 10./11. Jahrhunderts der Vatikanischen Bibliothek4 jene „Sieben Schwestern“, von denen jede einen besonderen Fiebertyp mitbringt. Ihnen konnten genau in dieser von jeher bedeutungsvollen Siebenzahl die Schläfer von Ephesus Gegenpart bieten. Solche Formeln gegen Fieber waren kirchlich meist nur geduldet. Die Erfahrung, daß nach gutem Schlaf morgendlich meist Rückgang eines Fiebers eintritt, dürfte Leitidee dieser Spruchanwendung gewesen sein, es war also an einen Heilschlaf gedacht. Ein solcher Heilschlaf auf Basis von pflanzlichen Hypnotika – Alraune, Bilsenkraut, Schlafmohn tränkten einen Schlafschwamm – war aus der Antike bekannt. Damit wurden beispielsweise verwundete Krieger versorgt. Mit einer zusätzlichen Verbaltherapie könnte die Hypnotikawirkung verstärkt oder ersetzt worden sein, wie heute durch eine Hypnotherapie. Archivalische Beweise für eine solche Kombination der Formel mit jener „Ars somnifera“ konnte ich zwar nicht finden, aber es ist kaum anzunehmen, daß in Fieberfällen, einstmals immer ein sehr ernst zu nehmendes Symptom, nicht gleichzeitig pragmatisch und verbal behandelt wurde und daß man sich allein auf die Verbaltherapie verlassen hätte. Auch gegen Zahnwürmer werden die Sieben eingesetzt: 5
Ante vermes. + bon + pen + na + ason + ad dentes. In eremo in monte Celion In der Einöde im Monte Celion ibi sederunt VII fratres dormientes saßen sieben schlafende Brüder + Marcius + Marcellinus + Serapion + Alexander + Vitalis + Philippus + Dyonisius + per istos VII fratres dormientes durch diese 7 schlafenden Brüder coniuro vos vermes, ut recedatis beschwöre ich euch, Würmer, daß ihr et hominem istum non ledatis. weichet und diesen Menschen nicht verletzt.
Seit dem 14. Jahrhundert häufen sich die Belege. Bei einer Restauration der St. Georgskirche am Prager Burgberg wird in einer Nische ein Pergament-Amulett von 10 x 4 cm gefunden: 6
+ In nomine + patris + et filii + et spiritus sancti +. In monte + Celion + resquiescunt septem dormientes + [...]. Es soll einen Dobrozlauam vom Quintanfieber befreien.
4 5 6
vgl. Franz, A., ebenda II, 474,481,482; dort weitere Beispiele Engelberg Stiftsbibliothek , Cod.45, fol.157, 12.Jahrh., veröffentl. Heim, R.: Incantamenta Mag. (1892),555 Hovorka, Oskar von und Adolf Kronfeld, Vergleichende Volksmedizin Stuttgart 1908, I,30 (nach Novacek)
Fiebersegen
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Und es tauchen endlich Segen auf, die direkt der Schlafförderung dienen sollen, nicht mehr nur dem Fieberkranken. In der Sammlung des Johannes Posenanie7 in Schlesien, geschrieben 1361–1365 wird ein Schlafbrief vermerkt. Er ist unter den Kopf zu legen, zählt die Namen der Sieben auf und hat keine Befehle an Dämonen mehr. Es ist ein Segen, der sich an Gott wendet mit der Bitte um Hilfe, dem Schlafenden möge es wie jenen ergehen. Unter seinen Schlafrezepten für Kinder und Wöchnerinnen übernimmt das Arzneibuch des Meisters Bartholomäus die Siebenschläfer ebenso wie das von ihm abhängende, im folgenden zitierte mittelniederdeutsche Arzneibuch des Bremer Ratsherrn Arnoldus Doneldey, abgeschlossen 1382. Aber nur die Anweisung zu seiner Handhabung ist deutsch gefaßt: 8
To deme slape.Oppe dat de kindere slapne, so sprek desse collecten unde scrif se unde bind se deme kinde umme den hals ofte legghe se eme under dat hovet: Oremus: Deus qui septem dormientes in monte celion dormire fecisti […].
Zum Schlaf. Damit die Kinder schlafen so sprich dieses Gebet und schreibe es und binde es dem Kind um den Hals oder lege es ihm unter den Kopf: Laßt uns beten: Gott, der du sieben Schläfer im Berge Celion schlafen ließest […]. ..
Im 16. Jahrhundert nennt ein deutschsprachiger Fieberbrief9 unter Einfügung ritueller Vorschriften die Siebenschläfer nach Art einer Namensmagie. Sie sind mit Alpha et O auf eine wächserne Tafel zu schreiben, dann die Buchstaben mit Weihwasser abzuwaschen. Das Wasser ist mit weißen Myrrhen vermischt vom Kranken zu trinken, wenn ihn der Ritten, also das Fieber schüttelt. – Hier sind Beschwörung und Segen in magischen Ritus abgewandelt. In einigen umfangreichen Segenstexten und medizinischen Traktaten angelsächsischer Handschriften10 findet man die Schläfer wieder. Die Sieben Heiligen werden entfremdet in einen Oblatenzauber, wahrscheinlich gegen typhöse Fieberschübe eingespannt. Auf 7 kleine Teile ist je einer ihrer Namen zu schreiben. Danach ist ein Spruch erst ins linke, dann ins rechte Ohr, dann über den Kopf zu sprechen. Es gab noch weitere besonders suggestive Anwendungsvarianten, etwa DolchInschriften. Dabei werden nach exakter Anweisung die Namen der Siebenschläfer in ihrer Reihenfolge von der Spitze zum Handgriff hin auf die Klinge geschrieben 7 Breslau Universitätsbiblioth., Misc.Handschrift I Q.1, fol.82a, veröffentl. Schultz, Alwin, Anzeiger für die Kunde der dt. Vorzeit 18 (1871), Sp. 302 8 Windler, Ernst: Das Bremer mittelniederdeutsche Arzneibuch des Arnoldus Doneldey, Neumünster 1932, S. 35; man vergleiche die Perg.Hs 13647 Wien, fol.128f, der Spruch veröffentl. durch Haupt, Joseph: Ueber das md. Arzneibuch des Meisters Bartholomäus, SB Wien 71 (1872), S. 522 9 Heidelberg Universitätsbiblioth., CPG 267, fol.12a, veröffentl Heilig, O., Alemannia 27 (1900), S. 115 10 Sandmann, Gert: Studien zu altenglischen Zaubersprüchen. Phil. Diss. Münster 1975, S. 52f
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Spruchtexte
Abb. 27 Siebenschläferaltar in Rotthof bei Ruhstorf/ Ndb. (18. Jahrhundert)
mit dem Zusatz von Zauberworten +Rer +ser +pres +. Auf der Umseite das Gleiche, aber vom Handgriff zur Spitze hin. Der Dolch ist dann heimlich dem Schlafgestörten unters Haupt zu legen (Cod. lat. mon. 7021, 14.Jh.). Die Raffinesse dieser Zeremonie besteht in der Herstellung einer seelischen Erlebnis-Synchronie. In stark geraffter Bedeutungsabfolge dient die Herstellung von Verunsicherung durch die Waffe zunächst sogar der Steigerung von Unruhe als Aktivierung des Hirnstamms und der limbischen Gebiete, die geritzten, eingravierten oder gestichelten Namen dienen der Entschärfung, die Heimlichkeit der Applikation als doppelter Boden. Dabei wirkte das Wissen der Menschen jener Jahrhunderte um die Magie des Festmachens mithilfe von Waffensegen, Waffeninschriften und -Figuren im Kampf und auf der Reise als Vehikel. Seit dem 14. Jahrhundert hatte man begonnen, individuelle Zeichen auf Waffen anzubringen. In die volksmedizinischen Heilsprüche der letzten Jahrhunderte sind die Namen der Sieben nicht gelangt. Allenfalls sind es korrumpierte Wortsplitter, die mit den Texten schriftlich vermittelt wurden. Das gilt, wie sich zeigt, auch für eine Reihe von Kautelen, in denen sie nur noch wie Zauberworte eingesetzt waren. Ein Ersatzprodukt waren zum Beispiel „Sompius, Sopnifex, Sammator et Staborius“,11 ein Phantasiegebilde, das man zusammen mit den Namen der in Schlaf zu wiegenden Feinde auf Jungfernpergament12 schrieb; dabei handelt es sich um ursprünglich wegen seiner Stoffwertigkeit benutztes zartes Pergament als Schreibmaterial für Zaubervorbereitungen.
11 Heidelberg Univers.Bibliothek CPG.369,fol.273v, Digitalisat 0554, 15. Jahrhundert 12 Genaueres siehe Brückner, Wolfgang, in: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 1969, S. 85– 112
Fiebersegen
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Der mündlichen Überlieferung standen mangelnde Möglichkeit zur Reimbildung, geringe Verankerung in kirchlichen Andachtsformen und die Sperrigkeit der Namen entgegen. Es gibt in Europa anders als in islamischen Ländern nur wenige den Siebenschläfern geweihte Stätten (Abb. 27). Anliegen der Wallfahrer sind Fieber und Schlaflosigkeit geblieben wie in den alten Texten. Fiebertherapie / Sedierung / Neurologische Bedeutung, Psychosomatische Therapie Die Erzähltherapie mit einer solchen Legende war geeignet, einen fieber- und schmerzdämpfenden Ruhezustand zu fördern. Die konkrete Imagination der ungewöhnlichen Autoritäten eines Zweijahrhundertschlafes, deren Namenfolge aufhorchen ließ und mindestens latente Aufmerksamkeit summierte, dürfte wohl kaum ein limbisch-hippocampales* System gelangweilt haben. Die unbewußte Prüfung und Deutung der absonderlichen Geschichte durch Mandelkern*13 und Arbeitsgedächtnis* führte zur begrifflichen und damit synchronisierenden Abstimmung der sinnvollen Höhlen-Metaphorik. Das Thema, inwieweit das Gehirn sich der eigenen intrauterinen Geborgenheit „erinnern“ kann, wird von der modernen Forschung immer mehr aufgegriffen. Es besteht wissenschaftlich kein Zweifel, daß diese Erinnerungen zum Kernbestand unseres Unbewußten gehören. Sie umfassen alle perzeptiven, kognitiven und emotionalen Prozesse, die im Gehirn des Föten vor Ausreifung des assoziativen Cortex ablaufen. Alle Sinnesorgane des Föten sind in den letzten Wochen der Schwangerschaft aufnahmefähig; das limbische System nimmt seine Bewertungsarbeit auf und Botenstoffe aus dem mütterlichen Gehirn beeinflussen auch das fötale Gehirn.14 Insofern kann die Imagination des Siebenschläferszenarios zumindest konzeptionell als Urform vieler moderner Psychotherapien gelten, am anschaulichsten in der Aquaenergetik. Mit ihr werden Poolerlebnisse zur Regression in mutterleibähnliche Zustände simuliert und spekulativ mit den Vorstellungen von „Wiederauferstehung“ und „Erleuchtung“ kombiniert.15
13 Die mit * versehenen Begriffe werden im Anhang erklärt. 14 Roth, Gerhard: Fühlen, Denken, Handeln. Frankfurt/M. 2001, S. 218,328 15 Bindrim, Paul: Aqua-Energetik, in: Corsini, Raymond C.: Handbuch der Psychotherapie, Weinheim und Basel 1983, Bd. I, S. 23–51
13. Geburtshilfe, psychosomatische Psychotherapie oder Gefangenenbefreiung ? Der erste Merseburger Zauberspruch – Die Merseburger Sprüche stammen aus dem Kloster Fulda – – Der Erste: Ein polyvalenter Lösezauber durch die Dreiheit der Idisi – – Das Geheimnis der Idisi: christliche, keltoromanische oder universale Schicksalsfrauen – – Sprechgesang, Tönen und Klingen im Kreißsaal: Hebammenwerkzeug fürs „archaische“ Gehirn? –
Abb. 28 Der erste Merseburger Zauberspruch (9./ 10. Jahrhundert)
Diplomatische Wiedergabe: Eiris sazun idisi, sazun hera duoder suma hapt heptidun sumaherilezidun sumaclu bodun umbicuonio uuidi insprinc hapt bandun inuar uigandun .H.
Normalisierte Wiedergabe: Eiris sazun idisi, sazun heraduoder. Suma hapt heptidun, suma heri lezidun, suma clubodun umbi cuonio uuidi. Insprinc hapdbandun, inuar uigandun!
Übertragung A (nach Beck, Wolfgang, 2003): Einst saßen Idisi (Schlachtjungfrauen), saßen auf den Kriegerscharen. Einige fesselten einen Gefangenen, einige hemmten die Heere. Einige zertrennten ringsherum die scharfen Fesseln. Entspringe den Fesseln, entfahre den Feinden!
Übertragung B (sinngemäß nach Riesel, Elise, 1958) Einst saßen Idisi (weise Heilfrauen), da über die Erde dahin. Einige knüpften Knoten, einige hielten die verknoteten Fäden zurück, Einige entwirrten die verknüpften Fäden. Entspringe den Haftbanden! Entfahre den feindlichen (Krankheits-) Dämonen!
Der erste Merseburger Zauberspruch
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Während der zweite Merseburger Zauberspruch mit der Behandlung eines verwundeten Pferdebeines seine eindeutige Indikation verrät, bleibt der ihm vorangehende erste Spruch rätselhaft vieldeutig. Bei ihm war (und ist noch teilweise) jede Wortdeutung unter Germanisten umstritten. Die wissenschaftlichen Fronten umkämpften zwar auch hier die religionsgeschichtlichen Wurzeln, noch mehr aber die Frage nach der Anwendung des Zaubers. Wüßte man etwas über seinen Gebrauch, so hätte man den Schlüssel zur Deutungshoheit. Aber wie beim zweiten Spruch ist auch dem ersten keinerlei praktische Handlungsanweisung beigegeben. Unsere beiden Übertragungen liefern zwei ganz entgegengesetzte Auffassungen. Besonders deutlich wird die völlig divergierende Deutung am Beispiel „heraduoder“, ein Wortunikat in der germanischen Sprache. Ist es ein Kriegerheer, ein Erdball, ists eine Ortsbezeichnung wie hier(hin) und dort(hin) oder sind es hehre Mütter als Matronen? Die Verlegenheit der Forschung und die Phantasie der Bearbeiter spiegeln sich zudem im Falle des Großbuchstaben .H. wieder, der nicht weniger als 7 Deutungen1 erfuhr über Runenvermutung bis hin zur Initiale des Hrabanus Maurus,* der seit ca.788 Abt des Klosters Fulda war.
Den ersten Quellpunkt der Sinngebung als Entfesselung von Kriegsgefangenen hatte Jacob Grimm eröffnet. Er geht weit zurück und sieht jenen Kampfplatz nahe der Weser vor sich, auf dem im Jahre 16 nach Christus die Heere Armins des Cheruskers und Germanicus des Römers aufeinanderstießen. Tacitus hatte den Platz als „idistaviso“ benannt, was Grimm zu „idisiaviso“ umdeutet.2 Damit entsteht die „Frauenwiese“ der schlachtentscheidenden Idisi. Fälschlich zieht Grimm die Walküren der nordischen disir heran, nicht die Gestalten der hier in Frage stehenden westgermanischen Welt. Die Forschung schien durch Nachweise von Erzählungen über zauberhafte Gefangenenbefreiung in der Literatur diese erste Vermutung bestätigen zu können. So gibt es aus christlichen Quellen Berichte Gregors des Großen, Honorius Augustodunesis’ und des Beda Venerabilis über allerlei seltsame Begebenheiten3 in Fürbitten für totgeglaubte Gefangene. Aber altdeutsche Zauberspruchtexte zu diesem Zweck fanden sich nicht. Der erste Merseburger stand somit isoliert unter den sonst therapeutischen oder der Tierzucht dienenden Spruchtexten seiner Zeit. Zweifel erhoben sich über seine Praktikabilität, sodaß man sich in die Annahme präventiver oder telekinetischer Taktik flüchtete. Wie sollten Gefangene oder ihre Helfer so etwas erfolgreich einsetzen? Hatten sich jemals Spruchtexte tradiert, die unbrauchbar waren? Oder war es doch einmal eine über jeden Zweck erhabene Poesie, eine Dichtung des Volkes oder gar hohe Kunstdichtung?
1 2 3
vgl. Beck, Wolfgang: Die Merseburger Zaubersprüche, Wiesbaden 2003, S. 85–89 ebd., S. 9f ebd., S. 355–358
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Spruchtexte
Die wissenschaftlichen Arbeiten an der Freilegung der kulturellen und religiösen Wurzeln des ersten Merseburgers lassen sich mit Blick auf drei Hauptdeutungen der Idisi grob vereinfachen:
A) Die christliche Sicht Als frühzeitige Gegenstimme zu Grimms Walkürenthese verwies 1842 der Germanist Hans Ferdinand Massmann (1797–1874) auf die vom Nordischen abweichende mythologische Vorstellung über die Idisi.4 Es handele sich im Bereich Westgermaniens um einfache Frauen oder Jungfrauen. „Idisi“ werde hauptsächlich im biblischen Kontext gebraucht, z. B. in der Bibelausdeutung des elsässischen Mönches Otfried von Weißenburg für die Jungfrau Maria. Dann im altsächsischen Heliand, einem Gedicht über die Geschichte Jesu Christi für Maria, Elisabeth und Maria Magdalena. Man weiß heute, daß die Entstehung dieser beiden Werke des 9. Jahrhunderts mit der Lehrtätigkeit des Hrabanus Maurus* in Fulda verknüpft ist.5 Zu denken war also besonders an diese drei Frauen am Grabe Christi, die seit dem 10. Jahrhundert in Würzburg6 und weit verbreitet in dramatischen Osterspielen auftraten ebenso wie an den apokryphen Bericht von drei Jungfrauen als Näherinnen im Tempeldienst als Gefährtinnen Marias. Julius Schwietering (1884– 1962) greift diese Deutung wieder auf. Der besonders mit christlicher Dichtung vertraute Germanist führt die Idisi auf die zum Ostergrab gehenden Marien zurück. Diese Erkenntnis sei durch die zufällige Nachbarschaft mit dem zweiten Merseburger von vornherein verbaut worden. Er sieht die Rolle dreier Marien als Fessellöserinnen des Ostermorgens: „Erst die eigentliche Beschwörung ‚insprinc haptbandun, invar vigandun!‘ brachte der vorbereiteten Handlung den erstrebten Erfolg: Christus entsprang den Todesbanden“.7
B) Die Matronen der keltogermanisch-römischen Mischkultur: Hier sind die Idisi als Verwandte der Matronen zu verstehen. Das sind Schutzgöttinnen der Krieger. Aber sie sind durch ihre den Steindenkmälern beigegebenen Fruchtbarkeitszeichen mit der Vorstellung allgemeiner Schicksalsbestimmung eher den Moiren und Parzen vergleichbar als den ursprünglichen kriegerischen Walküren des Nordens. Man übersehe deren spätere romantische Verklärung etwa durch 4 5 6 7
Massmann, Hans Ferdinand: Besprechung von Jacob Grimm, Ueber zwei entdeckte gedichte. In: Münchener Gelehrte Anzeigen 91–96 (1842), Sp. 729–773 Weddige, Hilkert: Einführung in die germanistische Mediävistik, München 1992², S. 101 Bischoff, Bernhard: Ein Magierspiel im mittelalterlichen Würzburg, in: Mainlande 3 (1952), S. 73–75 Schwietering, Julius: Der erste Merseburger Spruch (1917), in: Philologische Schriften (Hg.: Friedrich Ohly und Max Wehrli), München 1969, S. 118–126
Der erste Merseburger Zauberspruch
Abb. 29 Drei Frauen am Grabe Christi. Walroßzahnschnitzerei (11. Jahrhundert)
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Abb. 30 Drei Frauen am leeren Grab begegnen dem Engel. Bernwardspforte Hildesheimer Dom (11. Jahrhundert)
Richard Wagner. Mit der Umdeutung von hera duoder in hera muoder, den hehren ehrwürdigen Müttern8 hatte 1964 Gerhard Eis (1908–1982) diese drei Frauen gegenüber Massmanns genannter Einschätzung wieder erhöht und sie dem Matronen-Mutterkult zugeordnet. Vorwiegend in linksrheinischen, aber doch auch in südlich Fulda gelegenen Gebieten sind ca. 1100 Altäre und Weihesteine mit Matronennamen überliefert, die zum Teil keltische und germanische Ursprünge und Einflüsse9 haben und von Dedikanten verschiedenster Berufe gesetzt wurden, überwiegend von Soldaten. Die Blüte dieses vorchristlichen Matronenkultes wird zumeist ins 2. und 3. Jahrhundert gelegt. Dieser vorchristliche Matronenkult gilt als eine bedeutende Wurzel des DreiJungfrauenkultes um die drei „Bethen“ Ainbeth, Walbeth und Wilbeth, deren historisch früheste Bezüge sich besonders um Worms und Straßburg ranken.10 Die drei nur im Volke wohl seit dem 11. Jahrhundert wie Heilige verehrten Frauen waren als Helferinnen bei Kindbett, Kinderkrankheiten und Pest in Südwestdeutschland, dem Elsass, der Schweiz und Tirol (Tafel 3) weithin beliebt.
8 Eis, Gerhard: Altdeutsche Zaubersprüche, Berlin 1964, S. 60 9 Beck, Wolfgang (wie oben), S. 23 mit Verweis auf Helm 1913, S. 393 10 Thomann, Günther: Weibliche Heilige und Schicksalsgöttinnen. In: Volkskultur und Heimat, Hg.: Harmening, Dieter und Erich Wimmer, Würzburg 1986, S. 389–409
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Spruchtexte
Abb. 31 Steinplastiken weiblicher Gottheiten mit typischer Kopfbedeckung, Gestirnszeichen an den Halsketten und Früchten im Schoß, rechts flankiert von Siegesgöttinnen als Hinweis auf Segensspendung
C) Die Idisi als universale weise Heilfrauen Die Idee einer medizinischen Indikation kam zuerst 1880 dem Wormser Augenarzt und Medizinhistoriker Johann Hermann Baas (1838 – 1909), als er eine assyrische Formel aufgriff: 11Die Hexe zur Rechten sich setze, die Linke lasse sie frei! Den Knoten der sieben Adisina knüpfe, das Haupt des Kranken umwinde, die Seite des Kranken umwinde, seine Glieder gleichwie mit Fesseln. An sein Lager dich setze, mit Wasser der Verjüngung besprenge ihn! Dann unter Hinweis auf eine altindische Parallele vermutet 1954 Arno Schirokauer funktionell eine Befreiung aus Lähmung und Gliederkrampf. Und 1958 legt die Germanistin Elise Riesel12 entscheidende Gewichte auf die Waagschale der medizinischen Anwendung, indem sie den Lösezauber der Idisi in eine große europäische Zauberspruchfamilie einordnet, die seit Marcellus* von Bordeaux im 5. Jahrhundert bis in die Gegenwart der Zauberbücher bestanden hat. Die beiden mit mehreren Unmöglichkeiten (Adynata) faszinierenden performierenden Sprüche13 dieses mutmaßlichen Hofarztes des römischen Kaisers, im Fulda des 9./10. Jahrhunderts nicht unbekannt, gegen „Kollern“ im Magen und gegen „Rose“ lauten (gekürzt): 11 zit. nach Beck, W., wie oben, S. 352; zu Baas vgl. Gerabek, Werner E. et al. (Hg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. Berlin u. a. 2005 12 Riesel, Elise: Der erste Merseburger Zauberspruch, in: Deutsches Jahrbuch für Volksk. 4 (1958) S. 53–81 13 Marcelli De Medicamentis Liber, Hg.: Helmreich, Georg, Leipzig 1889, Cap. 21,S. 220 und Cap.28,S. 301
Der erste Merseburger Zauberspruch 14
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Tres virgines in medio mari mensam marmoream positam habebant, duae torquebant et una retorquebat (eam). Quomodo hoc numquam facta est, sic numquam sciat illa Gaia Seia corci dolorem!
Drei Jungfrauen hatten in Meeresmitte einen Marmortisch aufgestellt: zwei drehten ihn, eine drehte ihn zurück. Wie dies niemals geschehen ist, so soll diese N.N niemals Schmerz vom Kollern im Bauch spüren!
Stabat arbor in medio mare / et ibi pendebat situla intestinorum humanorum, tres virgines circumibant, duae alligabant, una resolvebat
Es stand ein Baum in Meeresmitte daran hing ein Gefäß menschlicher Därme drei Jungfrauen gingen herum zwei fesselten, eine löste die Schlingen.
Der entsprechende Text des „Albertus-Magnus“– Zauberbuches der Neuzeit lautet: 15
Für die Bärmutter. Es sitzen 3 Weiber im Sand, sie haben des Menschen oder Roß oder Vieh Gedärm in der Hand, die erste regt’s, die zweite schließt’s, die dritte legt’s wieder zurecht. +++
Damit war der Durchbruch zu einem neuen Verständnis all dessen gebahnt, was gemeinhin, also über alle kulturellen, individuellen und situativen Grenzen hinweg, sinnbildlich mit Ketten, Fesseln, Fäden, Bändern und Netzen als Einschränkung seelischer und körperlicher Funktionen des Menschen gemeint werden konnte. Und damit verknüpfen sich personale Kausalattributionen zu denen, die die Macht über jegliche Bindung haben und individuelle Repression bewirken oder zu tilgen vermögen. Riesel nennt ihre Deutung „entmilitarisierend“. Sie hat zugleich die psychosomatische Dimension eröffnet. Der erste Merseburger wird von ihr als Begleittext zu einer empirischen oder magischen Krankenbehandlung verstanden. Entscheidend in Riesels Einschätzung ist die Umdeutung des Befehls. Nicht mehr für gefangene Soldaten „Entfahre den Feinden“ sondern „Entfahre den Krankheitsdämonen!“ soll es heißen. Wirft man einen Blick auf die Tätigkeit der Frauen im Spruchtext, so ist die dritte Gruppe wie üblich bei den Dreiheiten der Volksdichtung die wichtigste. Sie löst die Verknotungen auf, befreit von Krampf und Spannung. Sie kann übelbringenden Kräften trotzend Heilung erzielen. Zuvor war durch die erste Gruppe der Frauen Böses verursacht wie in der griechischen Sage. Die eifersüchtige Hera läßt bei der Niederkunft der Alkmene die Moiren durch Überkreuzen der Beine und Verschränken der Finger die Geburt verzögern. Das ist Fesselung gegen „Entbindung“. Es ist eine Spiel guter und böser Mächte, wie es in allen Kulturen in Lied, Sage und Brauch auftritt und Maler der Romantik anregte (Tafel 4).
14 Zit. nach Önnerfors, Alf: Antike Zaubersprüche, Stuttgart 1991, S. 23 15 Albertus Magnus bewährte und approbierte sympathetische und natürliche egyptische Geheimnisse, Toledo [Berlin 1908] II,37
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Spruchtexte
Abb. 32 Die drei Parzen in der Wochenstube. Kupferstich des 16. Jahrhunderts
Gehen wir mit Ute Schwab16 den möglichen Wegen der Spruchüberlieferung und Spruchakzeptanz nach, so kann das oben zu Fulda Gesagte noch ergänzt werden. Denn nicht nur jene christlichen Schriften mit unseren Idisi-Nennungen wie Ortolfs Bibelexegese und der Heliand, sondern auch die gar nicht christlichen Schriften des vielgenannten Marcellus* wurden hier im 9. Jahrhundert kopiert noch vor der Niederlegung der „Merseburger“. Der aus Südfrankreich stammende Marcellus* am Hofe des Kaisers Theodosius I (gest. 395) war zwar Christ und war sogar amtlich mit der Entfernung von Nichtchristen vom Hofe betraut, aber seine große medizinische Sammlung von Rezepten, magischen Anweisungen und Sprüchen enthält nur ein einziges christliches Element. Er nimmt auch altheidnische und jüdische Texte auf. Die Schrift des Marcellus war anerkannt und ihre Rezepte und Formeln zierten nicht Bibliothek und mönchische Diskurse, sondern wurden angewendet. Durfte das mit den etwas später auftauchenden ganz ähnlichen oder an Marcellus angeglichenen Merseburgern nicht geschehen? Das Kloster Fulda hatte im Jahre 779 wohl 400 Mönche, im Jahre 917 noch 190 Mönche.17 Zur Zeit der Abtswahl des Hrabanus Maurus*, 822, waren es einschließlich der Außenstellen ca. 675 Mönche.18 Alle kamen aus dem Volk, aus allen Schichten und weitem Einzugsgebiet und brachten allerhand mit; es war kein Schweigekloster. Anhand der berühmten althochdeutschen „Fuldaer Beichte“ mit ihren Bildern aus dem 10. Jahrhundert ist festgestellt, „welch bedeutende Stellung die Volkssprache 16 Schwab, Ute: Sizilianische Schnitzel. Marcellus in Fulda. In: Fiebig, A. und H.J.Schiewer (Hg.): Literatur und Sprache von 1050–1200. Berlin 1995, S. 261–296, hier: S. 267, 271, 294 17 Lübeck, Konrad: Fuldaer Studien. Geschichtliche Abhandlungen, Fulda 1949, S. 127f 18 Schmid, Karl: Hrabanus Maurus und seine Mönche im Spiegel der Memorialüberlieferungen, in: Kottje, Raymund und H. Zimmermann (Hg.): Hrabanus Maurus. Lehrer, Abt und Bischof, Wiesbaden 1982, S. 104
Der erste Merseburger Zauberspruch
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im Bereich von Beichte und Buße in althochdeutscher Zeit bereits erlangt hatte“.19 Schließlich hat sich Abt Hrabanus Maurus* selbst um die Bibliothek bemüht und auch als Schreiber im Scriptorium betätigt.20
Ute Schwab hat in ihrer Art als Präambel zu einem Rezeptauszug das Folgende geschrieben. Es ist von mir nur um die Beschwerdeangabe verändert, mit der Zielrichtung auf den zu bedenkenden Heilspruch mit drei Frauen, die die Gedärme ordnen und der gleichzeitigen wohltuenden Bauchmassage im XXVIII. Kapitel von Marcelli* De medicamentis liber und damit auf die Worte des ersten Merseburgers hin: „Wir wollen uns vorstellen, daß einer der Brüder (warum nicht auch Hrabanus* selbst?) oder der Gäste des Klosters Fulda sich zu dem dortigen ‚Pfefferkorn‘ begibt, weil ihn seine [… Bauchkoliken wie Kollern im Magen plagen] und ihn um ein Mittel bittet. Der schlägt seinen Marcellus auf. Was wird er ihm wohl raten?“ Im altprovenzalischen Drei-Frauensegen21 des 11. Jahrhunderts ist die Verwandtschaft zu den Texten des Marcellus in der geheimnisumwobenen MeeresLokalisation zu spüren, obwohl nun die drei Frauen verchristlicht sind und keine entgegengerichteten dämonischen Kräfte mehr verkörpern. Viel später im 17. Jahrhundert – es ist scheinbar ein weiter Weg – steht in der bildlichen Darstellung in der Augsburger St. Peter-Kirche am Perlach die Muttergottes Maria als Knotenlöserin (Tafel 6) ganz im Mittelpunkt und ist für alle „Probleme“ zuständig; eine Dreiheit durch Flankierung zweier Engel wird Nebensache; einer Darstellung dämonischer Antipoden bedarf es nicht. Der in unmittelbarer Nähe arbeitende Nervenarzt und Psychotherapeut hat in 20-jähriger Tätigkeit in den 1970er und 80er Jahren von Patienten in langen Gesprächen nicht eine einzige Bemerkung zu diesem volksfrommen Bild bekommen. Ist dessen einstige Wunderkraft und seine Symbolik vergessen, scheute man sich des Glaubensbekenntnisses oder bedurfte es für Betende vor diesem Bilde nie wieder eines Psychiaters?22 Betrachtet man den 1. Merseburger unter der Voraussetzung einer tatsächlich nur medizinischen Indikation, dann sind differenzierend folgende Vorschläge gemacht worden: Geburtsbesprechung (Schwietering, 1917), Lähmung, Gliederkrampf oder Muskelstarre (Schirokauer, 1954), Heilung irgendeiner Besessenheit / jedes Unglück (Riesel, 1958), plötzliche Anfälle, vor allem Epilepsie (Murdoch 1989), Beißen und Kollern im Leib, Lösen von Darmknoten (Schwab, 1994,1995). Zuletzt hat Klaus Düwel (2009) einen immer wieder verhalten geäußerten möglichen Zusammenhang, für den bis jetzt nur Schwietering offen plädiert hatte, 19 Honemann, Volker: Zum Verständnis von Text und Bild der ‚Fuldaer Beichte‘, in: Fiebig, Annegret und Hans-Jochen Schiewer (Hrsg.): Deutsche Literatur und Sprache 1050 bis 1200, Berlin 1995, S. 124 20 Spilling, Herrad: Das Fuldaer Scriptorium, in Kottje, R.(wie oben), S. 165–181 21 siehe das Kapitel 1 22 Herrn Dr. med. Martin Kurek, Friedberg bei Augsburg, danke ich für die Mitteilung
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ausgebreitet und ihn mit Hinweis auf die große historisch universelle Bedeutung von Binde- und Lösezauber beschrieben. Die Schwangere ist die vom Manne Gebundene; der Austreibungsbefehl geht nicht mehr an Kriegsfeinde oder Krankheitsdämonen, sondern an einen Föten. Und Binden und Lösen gehören zusammen. So heißt es bei Plinius: 23
Folgender Brauch beschleunigt die Geburt: wenn der (Mann), von dem die Frau empfangen hat, seinen Gürtel löst und die Frau damit bindet, dann ihn wieder löst und den Spruch hinzufügt, daß derselbe, der gefesselt habe auch lösen werde – und dann fortgeht.
Ebenso könnte man sich das Wirken der Idisi vorstellen: Es wird dann ihr schrittweise ausgeführtes Binden, Halten und Lösen klar, wenn man als Mittelpunkt des wirkenden Geschehens die empfangende, tragende und entbindende Frau in der Symbiose zunächst mit ihrem ungeborene Kind sieht: Empfangendes Binden (hapt heptidun) und hemmendes antiabortives Festhalten (heri lezidun) der Frucht gegen Heerscharen, auch die der gefallenen Engel der Hölle, der Abtreibungs-Dämonen durch die Idisi der ersten beiden Gruppen. In Hildegards von Bingen Geburtssegen öffnet Christus die Schlösser der Hölle.24 Im Brauch der Völker gab es die Anwendung von Gürteln als magische Klammer. Seit der Antike bis ins 20. Jahrhundert in Südosteuropa wurden Geburtsgürtel als Analogie zu Binden und Lösen vor der Entbindung angelegt. Der Gürtel verschließt etwas zu Schützendes, seine Lösung öffnet den Schoß. Die Umlegung eines Mannsgürtels wie bei Plinius wiederholt den Zeugungsakt.25 Die Idisi der dritten Gruppe – so eine Wortdeutung durch Eichner – klaubten Wickelbänder: Gotisch/althochdeutsch kuna- habe wohl am ehesten einen Lehnzusammenang mit lateinisch cunae, Wiege und incunabula Windeln. Aber „für den Zusammenhang von Binden und Lösen genügt das Klauben an irgendwie gearteten Fesseln, die mit den zuvor gehefteten Banden/ Fesseln identisch sein dürften. Der Ausdruckswechsel hängt gewiss mit dem geforderten Stabreim zusammen: hapt heptidun und clubodun […] cuoniouuidi.“26
Es wäre also zu phantasieren, daß einer Gebärenden in einem Singsang die Zeilen ein- oder mehrmals vorgetragen wurden, z. B. zwischen den Presswehen, von der Wehemutter oder einer anderen Frau. Es hätte dann eine stimmlich flexible Betonung der Verben mit lautlich beschwichtigender Absenkung auf „heptidun“ und „lezidun“ als vergangene Erlebnisse der Schwangerschaft erfolgen können. Eine 23 zit. nach Düwel, Klaus: Der erste Merseburger Zauberspruch – ein Mittel zur Geburtshilfe? In: Erzählkultur. Beiträge zur kulturwissenschaftl. Erzählforschung, Hg.: Brednich, Rolf Wilhelm, Berlin u. a. 2009, S. 406 24 Vgl. im Kapitel 14 25 Grabner, Elfriede: Das „Umgürten“ als Heilbrauch, in: Carinthia I 155 (1965), S. 548–568, hier S. 564 26 zit. nach Düwel, Klaus, wie oben, S. 410f
Der erste Merseburger Zauberspruch
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sehr kräftige, suggestive Hervorhebung von „clubodun“, noch aus der Historiola und ein Fortissimo des Sprechgesangs bei den Befehlen am Schluß entsprächen dann den Austreibungsformeln der vielen anderen Geburtssprüche. Während der Presswehe gesprochen läge es gedanklich in der Nähe zur Lazaruserweckung, der Entbindung aus Wickelbändern und Geburtsgürteln, der Befreiung aus jetzt lebensgefährlich feindlich gewordenen Banden. Das entspricht in medizinischer Terminologie z. B. einer früher tödlichen Plazenta praevia, einer Querlage oder einer komplizierten Mehrlingsschwangerschaft. Wenn solche Hindernisse bestanden, war unser Begleitspruch-Singsang therapeutisch fatal illusorisch. Wie aber wirkte er bei normalem Geburtsverlauf ? Entbindungsverlauf. Neuropsychosomatischer Aspekt eines begleitenden Sprechgesangs Die linkshirnigen Gebiete des Wernicke-Sprachzentrums und die umgebenden perisylvischen Areale sind für Sprachaufnahme und -verarbeitung zuständig (Abb. 02). Bildgebende Verfahren am Gehirn27 haben allerdings gezeigt, daß die Sprachverarbeitung nicht nur in diesen Zentren geleistet wird. Vielmehr werden je nach Lebenswichtigkeit einer Situation unbewußt auch solche Hirngebiete aktiviert, die die aktive Umsetzung der jeweiligen Kategorie generieren. Und so findet bei im Gehirn eintreffenden Tätigkeitswörtern eine Ko-Aktivierung derjenigen Hirnareale statt, mit der die gehörte Tätigkeit ausgeführt werden könnte: z. B. armbezogene Wörter aktivieren auch die Leitstelle für Armbewegung, gesichtsbezogene diejenige für die mimische Muskulatur. Perzeption und Aktion können auf dieser Ebene eine zellulär materielle Einheit bilden (Spiegelneurose*). Ich betrachte diese Vorgänge als Bereitstellungspotenzierung und Voraussetzung für Trance- und Hypnotherapieerfolge, weil sie rationale Tätigkeit, also die Bedenken, Zweifel und Fragen der Zivilisation unterlaufen und die Wirkung gezielter Worttherapie ermöglichen. Entsprechende Weiterleitung von Aktionspotentialen ist auch für den Geburtsverlauf zu erwarten, weil hier enge Verbindungen zu hormonsteuernden Gehirnzentren bestehen, besonders zum Zwischenhirn (Tafel 5) für die Bereitstellung von Oxytocin, dem Hormon des Nucleus paraventricularis. Von ihm aus wird die Wehentätigkeit gesteuert. Entscheidend für weitere Folgen dieser nachgewiesenen zentralen Ko-aktivierung ist dann die vitale Bedeutung. Über sie entscheidet das permanent befragte Bewertungssystem im Schicksal bestimmenden limbischen System, vor allem in der Amygdala*. Ihr zentraler Kern hat zugleich Einfluß auf die Cortisolausschüttung und damit auf die Blockade von Angst und Stress. Bei expe-
27 Nitsch, Cordula: Möglichkeiten und Grenzen der Untersuchung von Sprachverarbeitg. im Gehirn mit den neuen bildgebenden Methoden, in: Zeitschr. f. Literaturw. und Linguistik 155 (2009), S. 85–110, hier: S. 92,108
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rimenteller Heraustrennung der Amygdala melden sich neugeborene Tiere nicht mehr durch Schreien, wenn sie von ihrer Mutter entfernt werden. Konnten also die Wörter der Austreibungsbefehle nicht zum Geburtsverlauf beitragen? Konnten das „insprinc haptbandun“, „entspringe den Banden!“ und das „invar vigandun“, „entfahre den Feinden!“ als ein seinem Inhalt angepasster Sprechgesang „Anklang“ finden? Unser Gehirn vermag ohne Betonung und kulturgemäße Sprechmelodie Frage und Ironie nicht von einer Aussage oder einem Befehl zu unterscheiden, das muß dem „trockenen“ Text der Merseburger Schrift hinzugedacht werden. Für die emotionale Komponente der Sprache (Prosodie) fungiert eigens ein Gebiet im rechten Schläfenlappen. Daß Sprache als Sinnvermittlung und Sprechgesang als Tonqualität verschiedene Repräsentationen im Gehirn haben, sich aber vielfach gegenseitig verstärken können, ist durch die Hirnforschung bestätigt.28 Es besteht in der rostromedialen praefrontalen Rinde ein die Musik, den Rhythmus und die Emotionen verbindendes Zentrum.29 Rhythmizität wird von Musiktherapeuten als „Missing link“ zwischen Musik, Mathematik, Physiologie und Medizin beschrieben.30 Moderne Hebammenschulen, die die Akzeptanz und Wirkung aller Verfahren prüfen, die zu einer „Archaisierung“ der Entbindung beitragen können, haben dem Tönen, Singen und Klingen im Kreißsaal durch und für die bekanntlich meist hochsuggestible Gebärende eine unterstützende Funktion eingeräumt. Denn mit Archaisierung ist nichts anderes gemeint als die Ausschaltung des „corticalen“ störenden Verstandes, die Hinlenkung auf den limbischen Teil des Gehirns31 und damit einfach konsequent ein „Zurück zur Natur“. All das ist nicht neu und wurde immer wieder aufgegriffen. Man denke an die „Tübinger Badegespräche“32 und an Experimente der Universitätsfrauenklinik Heidelberg. Dort hat man zuletzt den Einfluß von Musik unter dem Aspekt „ganzheitlicher“ Konzepte untersucht, um „Geborgenheit“ zu vermitteln. Eine Einsparung von Medikamenten wurde allerdigs zunächst nicht erwartet.33
28 Scott, K.Sophie und Johnsrude, Ingrid S.: The neuroanatomical and functional organization of speech perception, in: Trends in Neuroscience 26 (2003), 100–106 29 Janata, P., Dartmouth College, online EurekAlert 12.12.2002 30 Spintge, Ralph: Musikmedizinische Forschung, in: Decker-Voigt, H.-H. und E.Weymann (Hg.): Lexikon Musiktherapie, Göttingen 2009, S. 303–306 31 siehe z. B. Affolter, Tabea: Wiederentdeckung archaischer Bedürfnisse, Fachhochschule Bern, Studiengang Hebamme, 2007 (Online) 32 Fiedler, G.: Schmerzlinderung bei der vaginalen Geburt, in: Anaesthesiologie, Intensivmed. 36(2001),49–53 33 Pressemitteilung Universität Heidelberg Online (verantwtl. Annette Tuffs, 2006)
14. Geburtshilfe mit Amulettgebrauch und Riten: „Kindli du vsgang, Christus ruefft dir in die Welt“
– Vom Herausrufen des Kindes aus dem Mutterschoß – – Imagination heilig garantierter Ursprünge gegen die Schrecken der Entbindungsrisiken – – Prophetien statt Pränataldiagnostik – – Amulett, Kulturprägung und Spiegelneurone –
Abb. 33 Geburtshilfespruch aus dem Schwarzwald (15. Jahrhundert)
Kaum jemand wird sich beim langsamen Lesen oder Vorsichhinsprechen solcher Zeilen dem Charme dieser frühalemannischen Geburtssegnung „Ad preparacionem mulierum“ – Zur Vorbereitung der Frauen – entziehen können. Kindli du vsgang – Christus ruefft dich in die Welt1, grammatikalisch betrachtet eigentlich ein Befehl, entbehrt die Formel doch in der zarten Milde und frommen Berufung jeglicher Schärfe. Und das auf dem Hintergrund oftmals dramatischer, früher noch viel bedrohlicherer Umstände der entbindenden Frau. Die Segnung konnte von Hebammen gesprochen werden, ist aber wohl meist als Brieflein oder Amulett verwendet worden, das man der Gebärenden unterlegte oder aufgebunden hat. Sie ist zwar vom Klerus nach alter Tradition fortgeschrieben und teilweise verwendet oder als Text gegeben worden,2 war aber nicht als Benediktion anerkannt. Über Jahrhunderte ist sie mehr im Volk, in den Familien, unter Frauen, Hebammen, Ärzten und Ammen gepflegt worden.
1 2
Karlsruhe Badische Landesbibliothek Hs DON 792, fol. 132v, aus der Fürstenbergischen Bibliothek Donaueschingen Franz, Adolph: Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter, Freiburg 1909, Bd.II, S. 198
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Dabei trügt jedoch der Schein einer sorglos anrührenden Idylle. Bruchstückhaftes Wissen um Hygiene und Schmerzlinderung, Prophylaxe und geburtsmedizinische operative Techniken ließen zusammen mit der Erfahrung um hohe Säuglingssterblichkeit oftmals eine Atmosphäre bedrohlicher Unsicherheit um gefährdend Schicksalhaftes für Mutter und Kind aufkommen. Medizinische Irrtümer wie bizarre Gebärpositionen und Gebärvorrichtungen, einschnürende Säuglingswickel und falsche Stillanweisungen ebenso wie der Pfusch mancher Hebammen waren katastrophenförderlich.3 Man spürt umso mehr die Absicht spannungsmindernder suggestiver Beruhigung der Gebärenden durch die evokative Formel. Darüberhinaus mögen gelegentlich auch die aus Evangelien genährten Vorstellungen über die Geburt einer satanischen Gegenmacht zur Verunsicherung der Gebärenden und ihrer Helfer beigetragen haben (Abb. 34, 35).
Abb. 34 Kaiserschnittentbindung mit Geburt des Antichrist aus der sterbenden Mutter. Ein Satan zu Füßen leitet den Vorgang, ein zweiter holt die Seele des Kindes aus dem Munde der Mutter. (Aus einem Volksbuch von 1475)
3
Zglinicki, Friedrich von: Geburt. Eine Kulturgeschichte in Bildern, Braunschweig 1983, S. 122–124 (Folterstuhl), 322 (Hebammen) und passim.
Geburtshilfe mit Amulettgebrauch und Riten
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Abb. 35 Schwere Geburt. Der Gebärstuhl konnte nicht genutzt werden. Die Hebamme hat einen Arzt gerufen. Ein Geistlicher liest Gebete oder Segen. (Kupferstich 18. Jahrhundert)
Vergleichen wir eine christliche Papyrusschrift des 5. Jahrhunderts für Geburtshilfe mit unserer Schwarzwälder Formel, so überrascht beides: Verwandtschaft und Abweichung. Dort heißt es: 4
Komm heraus aus deinem Grab – Christus ruft dich! Lege die Tonscherbe auf den rechten Oberschenkel
Diese frühchristliche Formel, auch sie volkstümlich genutzt, bezieht Lazarus ein und bemüht damit suggestiv die konkrete Wiedererweckung des Toten nach dem Johannesevangelium 11,41–43 als Kontrastelement für die Lebendgeburt eines Kindes. Die Tonscherbe erinnert an alttestamentlichen Glauben zur Embryonalentwicklung, an das Geschaffensein „aus Ton“ (Hiob 10,9). Die Vermutung einer Verwandtschaft zwischen „womb“ und „tomb“, Mutterschoß und Grab, ist nicht zwingend, aber sie stand wohl oft im Raum. Die seit dem 16. Jahrhundert verbreiteten „Trostbücher“, in denen die Gebärende ermutigt wird, eine Totgeburt oder den eigenen Tod mit Freuden hinzunehmen, es sei eine Gleichstellung zu den Märtyrern zu erwarten, er4
Betz, H.D.: The greek magical papyri, Chicago 1986, Seite 319 =PGM CXXIIIa, Zeile 50
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innern sehr deutlich daran. Die Frankenkönigin Clothilde soll nach einer Legende beim Tod eines Neugeborenen Gott gedankt haben, daß er sie für würdig befand, ein Kind zur Welt zu bringen, das er so bald in sein Reich aufgenommen hat. Auch unsere Schwarzwälder Handschrift, liest man sie weiter, spricht schon im nächsten Stück diese sehr nüchterne Sprache, indem sie den Tod des Kindes in Betracht zieht: Ob das kind in der geburt des wibes stirbet. Jtem Nim vier Hand vol grünen poletey vnd mische das mit altem wine oder esel milch […]. In Texten des 10. und 11. Jahrhunderts soll der Ruf an Lazarus als Zusatz angefügt werden. Ich erwähne zwei fast gleiche Texte aus Trier und Maria Laach. Sie sind hier kombiniert mit den ausführlichen und weit verbreiteten Maria-ElisabethFormeln, die bis in die Neuzeit geläufig blieben. 5
Bei schwerer Geburt ein sehr bewährtes Mittel. Elisabeth gebar den Vorläufer, die heilige Maria gebar den Erlöser. Ich beschwöre dich durch Christus, du seist Knabe oder Mädchen, daß du ans Licht kommst, weil der Erlöser dich ruft. Alle Heiligen sollen für diese Frau bitten. Und schreibe auf ein anderes Pergament, auf die Brust zu legen: Lazarus, komm heraus !
Die kleine, aber bedeutsame Vorgeschichte um die Heimsuchung gab es ursprünglich auch in der Version, daß Elisabeth in den Geburtswehen mit ihrem Sohn, dem künftigen Täufer, das „Christus ruft dich“ sprach. Häufig ist Anna, die Mutter Marias und sind biblische Vorfahren Christi als Wurzel David einbezogen, um der Gebärenden eine lebendige familiäre Abfolge, wie es die Evangelien von Matthaeus und Lukas hervorheben, nahezulegen. Eine St. Galler Handschrift, die im 9. Jahrhundert in Norditalien entstand, greift auf das erste Menschenpaar zurück und bedient sich damit einer Quelle antiker Medizinbücher: 6
Ut cito pariat mulier: „Sicut Adam clamavit ad Evam: advena, exi foras. Adam expectat, age ergo III“
Daß die Geburt glatt verläuft (sprich:) „Wie Adam nach Eva gerufen hat: Komm, komm heraus! Adam wartet! Sprich dies drei mal“
Demgegenüber haben sich die Heimsuchungstexte als Grundbaustein weiterer Varianten in der Tradition viel stärker durchgesetzt, wenn sich auch immer wieder der weite Rückblick auf die allererste biblisch menschliche Entbindung findet, so in einer süddeutschen Handschrift aus dem 14. Jahrhundert der Vatikanischen Bi5 6
Trier Stadtbibliothek, Hs. 40/1018, fol.18v-19r, veröffentl. Roth, F.W.E., Z.f.dt.A 52 (1910), S. 171, 10. Jahrh.; ähnlich: Maria Laach, Cod.membr. 11.Jahrh., fol.40; beide lat. St. Gallen Stiftsbiblioth. Codex 751, fol. 441, veröff. Heim, Ricardus, Incantamenta Magica Graeca Latina. In: Jahrbuch für klass. Philologie XIX, Suppl. Band Leipzig 1893, S. 564; zur Geschichte der Handschrift siehe Bergmann, R. und S. Stricker: Katalog der althochdt. und altsächs. Glossenhandschr. Berlin u. a. 2005, II,556
Geburtshilfe mit Amulettgebrauch und Riten
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bliothek. Man sieht: Mit dem Allererstgeborenen verbanden sich nur Befürchtungen vor der ersten Unperson aus dem menschlichen reproduktiven Organ: 7
Contra matricem. + Eua ex matrice peperit chaym + Elizabeth ex matrice peperit Johannem + Virgo Maria peperit Christum perquem te adiuro matrix invillosa et maliciose morbe.
Gegen die Matrix Eva gebar Kain aus der Matrix. Elisabeth gebar aus ihr Johannes. Die Jungfrau Maria gebar Christus, durch ihn beschwöre ich dich, du glatte Matrix, du bösartige Krankheit!
Die Verbundenheit Marias als Mutter Christi mit Elisabeth, die mit Johannes eine Schwangerschaft jenseits fruchtbarer Lebensjahre glücklich ausgetragen hat, dürfte mehr Zutrauen und persönliche Wärme ausgestrahlt haben als die Erwähnung des Brudermörders. Das Heimsuchungsmotiv zieht sich bis hinein in die wichtigsten Medizinbücher, auch die der niederdeutschen Gebiete.8 Ein markantes Sinnbild für das Verhältnis der beiden Frauen, das die Heimsuchung beleuchtet, liefert ein Gichtsegen aus dem Zwölf(13-)bändigen Buch der Medizin des Pfalzgrafen Ludwig V. bei Rhein aus dem 16. Jahrhundert9: Dieser Segen soll „bei den vier hailigen, die uff zwaien füssen stunden“ wirksam werden. Und obwohl jeder das seltsame Rätsel10 zu lösen vermochte, wird erklärt, „das was (war) Maria, Godtes mutter und Jhesus Christus und mein frawe Sant Elizabeth und Sanctus Johannes baptista […] Sie reden zu einander aus zwaier mutter leibe und gelobten das zu einander von rechter lieb“. Wir waren dem beliebten Zweifrauenbild bereits im Göttweiger Gichtsegen begegnet.
Abb. 36 Mariae Heimsuchung mit Darstellung extrauteriner Föten. (Tonrelief um 1430) 7 Rom Bibliotheca Apost. Vaticana, Hs Palat.Lat. 1245, fol. 39v, veröff. Schuba, Ludwig: Die medizin. Handschriften der Codices Palatini lat. in der Vatik. Bibliothek, Wiesbaden 1981, S. 273 8 siehe die vergleichende Übersicht bei Norrbom, Sven: Das Gothaer mittelniederdeutsche Arzneibuch und seine Sippe, Hamburg 1921, S. 37 9 Heidelberg Universitätsbibliothek CPG 267, fol.117r, Digitalisat 0239 10 Das poetische Zusammenspiel von 2- und 4-Füßigkeit als Brücke zum Säuge- und zum Nutztier ist in den indischen Veden vorgebildet, vgl. Schmitt, Rüdiger: Dichtung und Dichtersprache in indogermanischer Zeit, Wiesbaden 1967, S. 210f
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Gelegentlich werden den Segen frühchristliche Heilige beigegeben, meist mit dem verbindenden Element prophetischer Weitsicht. Nach der Legenda aurea des Jacobus de Voragine* geht der Geburt des heiligen Remigius von Reims der Traum eines blinden Einsiedlers voraus, mit Worten, wie wir sie vom Engel bei Mariae Verkündigung kennen, gefolgt von einem Verssplitter des Vergil. Hier in einem Pergamentblatt des 12. Jahrhundert aus dem ehemaligen Benediktinerstift Gleink: 11
Ut mulier cito pariat, Anna peperit Sanctam Mariam. Sancta Maria peperit Christum. Elysabet peperit sanctum iohannem. Sancta cylinya peperit sanctum remygium. Sancta cecilia genuit sanctum Benygnum
Daß die Frau schnell gebären möge Anna gebar Sankt Maria. Sankta Maria gebar Christus. Elisabeth gebar Sankt Johannes. Sankta Celina gebar St. Remigius Sankta Cecilia schuf Sankt Benignum
Als besonders attraktive Vorgeschichte hat eine Handschrift den mithörenden und direkt als Konsiliarius eingreifenden Erlöser selbst eingebaut, wenn es heißt: 12
Christus hört Geschrei von der Erde her; auf seine Frage berichten Engel, daß ein Weib leidet, weil sie nicht gebären könne. Der Herr sendet darauf einen Engel mit dem Auftrag, der Frau ins rechte Ohr zu rufen: Gebäre, Weib, wie Maria Christum, wie Elisabeth den Vorläufer! Komme heraus, Kind, Christus ruft dich und die Erde erwartet dich
Als wichtige Ratgeberinnen und Garantinnen für geburtshilflichen Erfolg galten natürlich die Weisungen zweier hervorragender Frauen, der Trotula und der Hildegard von Bingen. Die Lebensdaten der Trota oder Trotta, meist verkleinert „Trotula“ genannt, sind nicht bekannt. Aber ihre Existenz im 11./12. Jahrhundert ist unbestritten. Sie gilt als eine der ersten Ärztinnen des Abendlandes und gehörte der berühmten frühen Medizinschule von Salerno an. Von drei verschiedenen medizinischen Schriften, die „der“ Trotula oder Pseudo-Trotula oder welchen Frauen auch immer zugesprochen werden, ist nur eine erhalten; darin wird in erster Linie die gegenüber dem Mann höhere gesundheitliche Gefährdung der Frau dargelegt und die Motivation für ihr Studium der Medizin: Frauen vertrauen sich eher einer Frau an. Dammschutzpraktik, Bäder, Getränke mit geschabtem Elfenbein, Kräuterhilfsmittel, Handmagneten und vieles andere sollen auf sie zurückgehen.13 Wem sonst als einer solch selbstbewußten, gerühmten und verklärten Frau hätte man auch die Kreation von Schönheitsmitteln und einer Creme für die Lippenrisse küsswütiger Liebespaare zuschreiben können? 11 Linz Oberösterreichische Landesbibliothek Handschrift 33, fol. 197r, veröffentl. Helm, Karl, in: Hess. Blätter f.Volksk. 9 (1910), S. 209 12 zit. nach Franz, Adolph: Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter, Freiburg 1909, II,204 (griechischer Text aus einer Neapolitaner Handschrift von 1495) 13 vgl. bes. Kruse, Britta-Juliane, Verborgene Heilkünste, Berlin New York 1996, S. 13–19; Bertini, Ferruccio: Trotula, die Ärztin. In: Medioevo al femminile, Rom und Bari 1989, deutsche Übersetzung u.d.T. Heloise und ihre Schwestern, München 1991, S. 139–163
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Andere Geburtshilfen sind den Schriften der Hildegard von Bingen (1098–1179) zu entnehmen. Die visionär begabte Mystikerin, als Ratgeberin für Papst und Kaiser, ja selbst als Predigerin bekannt, hatte in ihren „Causae et Curae“, d. h. dem Buch der Ursachen und Behandlung menschlicher Krankheiten das Prinzip der Viersäftelehre des Galen* übernommen und weiterentwickelt, indem sie eine „Verkettung“ und Abhängigkeit der vier Elemente voneinander postulierte – im Blick auf die absolute Einheit alles Geschaffenen. Schwerpunkt der Therapie ist eine intuitiv entstandene, dichterische Kosmologie um Pflanzen und Steine. Hildegards Ratschläge bei schwerer Geburt sind Fenchel und Gundelrebe, die man kochen und dann warm auf Schenkel und Rücken aufzulegen hatte (Causae et curae). Der auf Buchen wachsende abgekochte und gesiebte Pilz, das auf den Nabel gelegte Herz eines Löwen sowie Jaspis, der gegen böse Geister in der Hand zu halten ist, alles keine experimentell-wissenschaftliche, sondern phantasiegeprägte allegorische Imagination, sollten der Gebärenden helfen (Physika, Heilkraft der Natur).
Die von Riten umgebenen christlichen Segensworte der Hildegard entsprachen nicht den kirchlichen Segen: 14
Die Lenden sind mit einem Sardius (Sardus) zu bestreichen, wobei zu sprechen ist: Wie du, Stein, auf Gottes Befehl am ersten Engel geglänzt hast, so gehe du, Kind, hervor als Mensch leuchtend und in Gott bleibend. Und mit dem vor die Scham gehaltenen Stein bete man: Öffnet euch, Wege und Tor, in welcher der Gottmensch Christus erschien und die Schlösser der Hölle öffnete: so gehe auch du, Kind, aus der Pforte hervor, ohne zu sterben und ohne deine Mutter zu töten! Schließlich soll ein mit diesem Stein versehener Gürtel umgelegt werden.
Viele Texte, so schon der genannte Gleinker Segen, griffen auf Verse Vergils zurück. Seit Kaiser Konstantin ist seine vierte Ekloge der Hirtenlieder (Bucolica) unter Christen als Prophetie auf die Geburt des Messias gedeutet und bedichtet worden. Bruchstückhaft verwittert, noch mit Anfangsversen aus der Aeneis geschmückt, und, wie im zweiten folgenden verflochten mit Elisabeths Entbindung sollten sie als Brief auf den Leib der Gebärenden gebunden werden: 15
Daz ist den frowen ze chemenaten. + Occeanum in terra [interea] surgens Aurora reliquit. Jam nova progenies de celo [de]mittitur alto. Panditur interea domus omnipotentis Olympi. Für Frauen, die zur Entbindung kommen (mittelhochdt. = zur Kemenate gehen) Unterdessen entschwebte die Morgenröte dem Meere (Vergil Ae. 11,1) Nun wird neu ein Sproß entsandt aus himmlischen Höhen (Vergil Ekl. 4,7) Weit erschließt sich indes der Olymp, die Stätte der Allmacht (V. Ae. 10,1)
14 Hildegardis Physika, IV,10; Übertragung nach Franz II,189; zum Umgürten vgl. Grabner, Elfriede, in: Carinthia I,155 (1965), S. 563; zur Stein-Deutung und 4-Säfte-Lehre vgl. Kapitel 33 15 München BSB Clm 7021, 160d, 14. Jahrh. veröffentl. Schönbach, An.gr., S. 39; Übertragung gemäß Ausgabe Joh. und Maria Götte, Berlin 1971, München 1972
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Panditur in terra Deus omnipotentis olimpi. Ecce an nunquam simul surgens Aurora relinque. Ex vulva propera et Johannes infans petet ad lucem +
Auf eine Seltenheit hat Britta-Juliane Kruse17 in ihrer Dissertation 1994 hingewiesen. In einer Solothurner Handschrift18 des 15. Jahrhunderts wird empfohlen, die Formel Maria peperit et non doluit, also Maria gebar ohne Schmerzen, als eine Figur mit Kreide in eine Schüssel zu schreiben, aus der dann die Entbindende klares Wasser trinken muß. Die Figur gibt an drei Ecken Kreuze und an einer einen Kelch wieder:
Abb. 37 Schüsselritus mit Maria-peperit- Formel (15. Jahrhundert)
Ebenso wie Hildegard von Bingen als Volksheilige im Geburtssegen und in frommen Bräuchen um ihre Reliquien und Devotionalien wirkungsmächtig blieb, man bedenke etwa auch den Einsatz ihres Haarzopfes für Gebärende,19 so finden wir für die andere große deutsche Heilige, für Elisabeth von Thüringen (1207–1231) eine Vielzahl von Wunderberichten: Sie ranken sich zunächst um Heilungen an ihrem Grab, deren Registrierungen zu einer raschen Kanonisation geführt haben. 16 Heidelberg Univers. Biblioth. CPG 213, fol.96v, 1421, Digitalisat 02000, hier umdeutende Verschreibungen der Zeilen 1 und 2, vgl. oben; Zeile 3: aus vertrautem Schoße strebt auch Kind Johannes zum Licht. 17 Kruse, Britta-Juliane: Verborgene Heilkünste, Berlin New York 1996, S. 59f 18 Solothurn Zentralbibliothek Cod. S. 386, fol.165 19 Vita Hildegardis 3,11.12 veröffentl. Klaes, Monika, Fontes Christiani Bd.29, Freiburg 1998, S. 191f
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Einen besonderen Reiz als geburtsförderndes Mirakelobjekt übte der sog. Glasbecher (auch „Kopf“ genannt) der Elisabeth aus (Abb. 38). Er gehörte zum Reliquienschatz des sächsischen Kurfürsten Friedrich des Weisen und wird um 1540 von Luther in Wittenberg zu Tisch benutzt. Der „Kopf“ hatte damit zwar seine Heilkraft eingebüßt, ist profanisiert worden, aber immerhin blieb der Respekt vor der von ihm verehrten Frau, denn Luther verwendet ihn nur bei besonderen Anlässen.20 In der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts hatte der „Kopf“ zusammen mit Gürtel und Löffel der Heiligen bei Geburten im sächsischen Fürstenhaus leichte und gefahrlose Entbindungen erhoffen lassen, war an verwandte und befreundete Familien immer wieder über weite Strecken ausgeliehen worden. Einen anderen derartigen „Reliquien“-Verleih hatte es schon zu Beginn des 15. Jahrhunderts in Köln gegeben. Die Bürgerin Gudula Jude schenkt hier 1403 testamentarisch einen Gürtel, den die heilige Elisabeth getragen haben soll, an St. Maria im Kapitol; er möge jeder Frau aus ihrer Verwandtschaft bei Geburten herausgegeben werden.21
Abb. 38 Der Glasbecher der heiligen Elisabeth diente dem sächsischen Königshaus als wunderkräftige Entbindungshilfe. (vermutlich byzantinisches Glas, 12. Jahrhundert)
Abb. 39 Segnung der Mutter nach Entbindung. Priester mit Ministrant. Im Flechtkorb das kunstvoll gewickelte Neugeborene. Vorne rechts eine Helferin mit Intarsienband oder Amulettgürtel (?). Lambacher Rituale des 12. Jahrhunderts
20 Blume, Dieter und Matthias Werner (Hg.): Sankt Elisabeth – eine Europäische Heilige, Katalog Erfurt 2007, S. 454 u.U.; Koch, Robert: Der Glasbecher der heiligen Elisabeth in Coburg, in: Sankt Elisabeth, Fürstin Dienerin Heilige. Hg.: Philipps-Universität Marburg. Ausstellung Marburg 1981/82, S. 272–284 21 Terpitz, Dorothea: Testament der Kölner Bürgerin Gudula Jude, in: Blume, Dieter (ebenda), S. 406f
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Spruchtexte
Aus der Fülle weiterer volkstümlicher Bemühungen oder, genauer gesagt volkskundlicher Veröffentlichungen der letzten Jahrhunderte, der Gebärenden zu helfen, sei nur weniges herausgegriffen. Man verwendet das Gebet zur „Länge unseres Herrn Jesus Christus“, das „Geistliche Schild“ mit der Offenbarung Christi an die drei Frauen Elisabeth, Brigittä und Mechtildis oder verschiedene Zauberworte wie I.M.I.K.I.B.I.B.Lit. Dommpervobism oder einfach die SATOR-Formel. – „Vrnum, burnum, blitbon“ und „Vrium, Burium Pliaten“ sind schon im 15. Jahrhundert in verschiedenen Handschriften verstreut. Die Namen der hl. drei Könige in einen geteilten Apfel zu schreiben,22 die Applikation eines „Hexenschlüssels“ an den rechten Arm23 und die Inschriften auf ein Messer24 gehen noch mehr in indifferent „magische“ Richtung. Eine Sonderstellung nehmen volkstümliche hebräische Geburts- und Wochenbett-Beschwörungen25 ein. In ihnen begegnen sich gute und böse Mächte wie Elias und Lilith, Engel und Satan, und es kommen die Namen der alttestamentlichen Ehepaare Adam und Eva, Abraham und Sarah, Isaak und Rebekka auf Kindbett-Taferln zur Abbildung, um Schutz zu erwirken.
Entbindungsverlauf / Neurologische Bedeutung kultureller Prägungen Es ist müßig, die therapeutische Kraft all dieser volkstümlichen Riten, Amulette und Formeln für eine schmerzarme Geburt anzuzweifeln. Sie waren immer nur Signale einer frommen Grundhaltung. Muskuläre Entspannung, Gemütsberuhigung und Zuversicht konnten damit nur im integrierten Verbund aller geburtshilflichen Maßnahmen gefördert werden. Gilt doch auch hier eine Aussage der Hirnforschung: Alle Signale, die unser Gehirn treffen, wirken weniger aufgrund ihrer Beschaffenheit, als durch die Bedingungen, unter denen sie aufgenommen werden. Nur was für die Hirnzellsysteme wichtig und nach Gedächtnis und dessen Bewertungskomponenten im gegebenen Zeitpunkt nützlich erscheint, kommt an. Mit anderen Worten: Es ist die Empfängerin, die Bedeutung herstellt.26 Und die Bedeutungskraft heiliger Worte und Symbole war ihr in manchen Epochen erzieherisch und gesellschaftlich intensiv und weitgehend homogen eingeprägt worden. Kulturfähigkeit und Fähigkeit zu kognitiver Empathie sind genetisch angelegt, aber ihre jeweilige Ausgestaltung ist nicht genbedingt, sondern wird kulturell geprägt.27 Diese nicht überraschende Einschätzung Alfred Gierers von 1998 wurde mit der Entdeckung der Spiegelneurone* bestätigt. Sie encodieren auch lokale Traditionen und helfen bei der individuellen Aneignung der eigenen Kultur. Dabei werden Einflüsse auch für Sprechenlernen und Sprachverständnis vermutet. 22 23 24 25
Klapper, Josef, in: Mittlg. d. Schles. Gesellsch. Volksk. 9 (1907), 22 (aus Schlesien), Kopp, Andreas: Das Pfuhler Hausbuch, Ulm 1998, S. 111, (aus der Ulmer Gegend) Häßler, Josef, in: Mein Heimatland, 18 (1931) S. 84 (Scharfrichterbüchlein Schwarzwald) Spinner J., Am Urquell 2 (1891), S. 144f; Temesvary, R.: Volksbräuche … Geburtshilfe Ungarn, Leipzig 1900, S. 69; Grunwald, M., Mittlg. Jüd. Volksk. N.F. 3 (1907), S. 126 26 Roth, Gerhard: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Frankfurt 1997, S. 107, 229 27 Gierer, Alfred: Innovationstheorie und die Evolution menschlicher Fähigkeiten: Beispiel Empathie, in: Nova Acta Leopoldina NF 77 (1998), Nr.304, S. 85–98
143 Fremde Gesten und fremde Bräuche vermochten die entsprechenden Neurone nicht zu aktivieren.28 Am Beispiel der jesuitischen Gegenreformation, einer der größten und am längsten anhaltenden Massenbewegungen des letzten Jahrtausends, ließ sich darstellen, wie die Geburtsgürtel des heiligen Ignatius und der heiligen Margarete, wie das Maß des Gürtels Mariens und die Länge Christi und all das erzählerische und liturgische, volkstümlich gewordene Kulturgut bis in die letzten Winkel süddeutscher Landesteile eine tiefe Verankerung erfahren hatten.29
28 Molnar-Szakacs, I. und Marco Iacoboni, Universität L.Angeles, Online unter www.plosone. org/doi/pone. 29 vgl. Harvolk, Edgar: „Volksbarocke“ Heiligenverehrung und jesuitische Kultpropaganda. In: Heiligenverehrung in Geschichte und Gegenwart, Hg.: Dinzelbacher, Peter. und D.R.Bauer, Ostfildern 1990, S. 262–278
15. Gynäkologische Psychosomatik: Die Regelblut-Therapie mit der Heiligen Veronika: „nur der Saum seines Gewandes ...“ und ihr „vera icon“, das wahre Abbild des Herrn „Nicht nur die Frauen, sondern auch Psychologen, Soziologen und Kliniker sind nicht mehr nur der Meinung, dass die seit vielen Jahren von einigen wenigen Frauen praktizierte temporäre Ausschaltung der Menstruation sinnvoll ist, sondern, dass die Menses nicht mehr notwendig ist [ist!]…“1
– Die Fuldaer Segenskombination aus irischer Missionszeit – – Die evangelikale Segensformel aus Trier und Regensburg-Prüll – – Berührungs- und Imitationsriten vermittels Amulett – – Vom Trostpflaster für Blutflüssige zur Abschaffung der Menses –
Nur den Saum seines Kleides hatte die Frau ganz verschämt von hinten berührt (Tafel 6) und war gesund geworden. Ihr Name ist nicht überliefert. Sie war blutflüssig. So berichten drei Evangelisten übereinstimmend.2 Sie hatte offenbar eine Menometrorrhagie, d. h. eine verstärkte oder verlängerte Regelblutung, schon seit 12 Jahren. Lukas, selbst ein Arzt,3 und auch Marcus fügen hinzu, wie die Frau gelitten hat und ihr ganzes Vermögen an Ärzte ausgegeben hat, und es war nur immer schlimmer geworden. Später hat die Überlieferung sie aus der Namenlosigkeit befreit, hat sie als Martha, die Schwester des Lazarus angesehen oder nach einem apokryphen Nikodemusevangelium als Veronika, wegen der Schweißtuchlegende. Auch gab es eine legendäre heidnische namensähnliche Berenike oder Beronike, die an der Jordanquelle als Dank für ihre Heilung Christus eine Statue erstellen ließ; an ihrem Brunnen wächst eine Heilpflanze. Eine Erzähltradition um „das wahre Abbild“, die „vera icon“, wie man volkstümlich ihren Namen auch deutete oder ableitete, knüpfte sich an die Legendenfamilie4 um Kaiser Tiberius und Pilatus, die das Versagen der Ärzte aufgreift. Der kranke römische Kaiser erfährt 1 2 3 4
Prof. Dr. G. Göretzlehner, Rostock, Zbl. für Gynäkologie 127 (2005), S. 301: „Blutung – muß das sein?“ Mt. 9,20–22; Mc. 5,25–34; Lk. 8,43–48 Paulus, Kolosser, 4,14 Über deutschsprachige Veronikalegenden s. Meyer, Matthias: herre, den duch han ich bihalden, in: Fiebig, A. und Schiewer, H.-J. (Hg.): Deutsche Literatur und Sprache 1050–1200,
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von einer Frau Veronika und ihrem Wunderheiler, schickt einen Boten nach Jerusalem, erfährt vom Kreuzestod Christi, läßt Pilatus nach Rom überführen. Der Kaiser wird geheilt durch das im Besitz der Frau befindliche Bild, läßt Jerusalem zerstören und bestraft den Pilatus. Ein Zweig der Legende neigt sich später in die Zentralschweiz.
Und so haben fromme Segenstexte gegen krankhafte Regelblutungen dieses Heilwunder aufgegriffen. Die folgende Formel entstammt dem 8. Jahrhundert und gehört zu den ältesten außerkirchlichen lateinischen Krankheitsgebeten, die auf deutschem Boden aufgeschrieben wurden:
Abb. 40 Beronice- Blutungssegen aus einem Fuldaer Codex zu Basel (8. Jahrhundert)
5
Beronice, Beronice, Beronice libera me de sanguinibus, deus deus salutis meae et exultavit lingua mea iustitiam tuam.
Beronice, Beronice, Beronice! befreie mich von den Blutungen, Herr, Gott meines Heils ! Und meine Zunge wird deine Gerechtigkeit preisen.
Rivos cruoris torridi contacta vestis abstruit fletus rogantis supplices arent fluenta sanguinis.
Die Massen sengenden Blutes nimmt nach seiner Berührung das Kleid hinweg. Durch die demütigen Bitten der Frau sind die Blutströme ausgetrocknet.
+a+e+n+o+l+a+s+e+n+o+l+a+g+l+u+a+
Dieses Gebet, das durch seine Kombination einem Segen nahekommt, besteht aus vier Elementen: Erstens der dreimaligen Anrufung des Namens der Beronice, zwei-
5
Berlin 1995, 163–180; über Schweizer Veronika/Pilatus-Legenden s. Lütolf, A.: Sagen und Bräuche, Lucern 1862, S. 7–14 Basel Universitätsbibliothek, Ms.F.III.15a, fol.18r; veröffentl. Lehmann, Paul: Fuldaer Studien, in: SB Philosoph.-Philologische Klasse, München 1925, S. 47f
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Spruchtexte
tens dem Vers 16 von Psalm 51 (50): „Errette mich von dem blutigen Tod, o Gott, mein Helfergott, daß meine Zunge jauchzt ob deiner Milde!“ Danach hat drittens der Aufzeichner eine Hymnenstrophe angefügt, die sich auf die Heilung der blutflüssigen Frau bezieht. Diese frühchristliche Strophe in trochäischem Dimeter,6 also mit der Bildung von Zeilen aus zwei gleichen Metren, ist der Poesie des Sedulius entnommen, einem lateinischen Dichter des 5. Jahrhunderts. Viertens folgen nach Sedulius’ Strophe Einzelbuchstaben, deren Sinn noch zu enträtseln ist. Von Sedulius, ca. 425–450, dessen (unbekannter) Vornamen von der Überlieferung bald als „Caelius“ oder „Coelius“ himmlisch erhoben wurde, ist biografisch kaum etwas bekannt, weder seine Herkunft noch sein Amt oder Beruf. Vermutet wird nach dem Wiener Codex 85, daß er ein konvertierter Heide war, getauft von einem Macedonius. Sicher scheint, daß er Philosophie und Dichtung in Rom lehrte und in Griechenland geschrieben hat. Sein Dichtungsstil lehnte sich an die römische Klassik, vor allem an Vergil an.7 Seine Osterhymnen und Gedichte waren wie die Ambrosianischen Hymnen über Jahrhunderte berühmt. Die unserem Segen eingefügte Strophe gehört als Hymnus II zu einem Abecedarium, das also 23 Strophen hat mit Initialen von A–Z, dessen Zeilen 65–68 mit Initiale R. Der Hymnus beginnt mit einer Strophe, die Luther als Weihnachtslied in sein Gesangbuch aufgenommen hatte: A solis ortus cardine.
Der Fuldaer Segen erinnert zugleich an die anglo-irische Mission. Er findet sich in ganz ähnlicher Form in einer Londoner Handschrift Royal 2.A.XX und im „Prayer Book of Aedeluald the bishop“, genannt Book of Cerne, das im 8./ 9. Jahrhundert geschrieben ist unter dem Einfluss irischer Mönche. Unsere Fuldaer Handschrift stammt aus dieser Inseltradition; ihre Schrift ist angelsächsisch, aber wahrscheinlich in Fulda entstanden.8 Bei der folgenden Trierer rituellen Segensanweisung des 10. Jahrhunderts kann zu Recht gezweifelt werden, ob sie immer nur bei Nasenbluten Anwendung fand; der Intimbereich wird in den Krankheitssegen im frühen Mittelalter noch nicht direkt benannt, und allein der Name der Blutflüssigen als Erfolgsgarant dürfte die gynäkologische Indikation in etwas verdeckter Form bezeichnet haben. Der Trierer Veronicaspruch ist in seiner Pergamenthandschrift nicht isoliert unter theologischen Texten, sondern steht zusammen mit weiteren Blutungssegen und dem Stephanuspferdespruch.9 Bemerkenswert ist, daß jetzt die exakte Sprache des Evangeliums mit einer Blutschrift des Namens „Beronice“ zusammenfällt.
6 7 8 9
Für die Bestimmung und Übersetzung danke ich Herrn OStDir. Dietrich Mayer in 92708 Mantel Huemer, Iohannes (Hg.), CSEL, Vol.X, S.163 Wien 1878; Neudruck Wien 2007; vgl. Springer, Carl P.E.: Sedulius‘ Pascale Carmen, Diss. Wisconsin-Madison (1984) Lehmann, Paul, wie oben, S. 4f siehe Kapitel 25
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Ad sanguinem de naribus sistendum. In Christi nomine in fronte scribis de ipso sanguine nomen beronicae. ipsa est, quae dixit: „Si tetigero fimbriam vestimenti domini mei, salva ero.“
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Nasenbluten zu stillen In Christi Namen schreibe mit dem (herabfließenden) Blut den Namen Beronica auf die Stirn. Sie ist es, die gesagt hat: „Wenn ich nur den Saum vom Gewand meines Herrn berühre, werde ich gerettet sein“.
Eine solche Blutverschreibung an die Stirn, wie sie aus den Werken des Marcellus* Empiricus11 im 5. Jahrhundert gut bekannt ist, wirkt auf uns schon wie eine Imitation sakramentaler Riten. Die Verwendung einer Hostie zur Aufschrift einer Siegelzeichnung ist es dann auch. Die folgende Prüller Handschrift des 12. Jahrhunderts vereint diese suggestiven Kräfte. Die uralte Versiegelung als Gottes persönliches Geschenk, abhängig von kulturellen Gestaltungen auf Salomo, Christus oder auf beide bezogen und mit verschiedensten Zeichen weltweit operierend, wird hier zweckdienlich auf Veronica angewandt. Und sie wird in die medizinische Praxis aufgenommen. Das ist wie in Trier aus der direkten Nachbarschaft mit anderen Krankheitssprüchen12 zu schließen. Dieses Veronicasiegel ist als Amulett zu benutzen, gibt aber gleichzeitig rituelle Anweisung:
Abb. 41 Veronica- Siegel mit sog. Hostienzauber aus Kloster Prüll/ Regensburg (12. Jahrhundert)
13
Contra fluxum sanguinis Zentrum: Alfa et ᾡ In nomine patris et filii et spiritus sancti in firmitate mea Innenkreis : + Dixit sancta Veronica + Si tetigero fimbriam vestimenti + salva ero +
Gegen Blutfluß Alpha und Omega Im Namen des Vaters […] für meine Stärkung Sancta Veronica sprach: Wenn ich den Saum des Kleides berühre werde ich gerettet sein
10 Trier Stadtbibliothek Hs 40/1018 8°, fol.17v-18r, veröffentl. Embach, Michael, Kurtrierisches Jahrbuch 44 (2004), S. 45 11 De Medicamentis Liber X,33f (Hg.: Helmreich, Georg, Leipzig 1889) 12 siehe im Kapitel 31 13 München BSB Clm 536, fol.84r; Abb. der gesamten Seite s. Kap. 31
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Spruchtexte
Außenkreis : in tri bis oblatis scribe da infirmo comedere
auf drei Oblaten schreibe es zweimal gieb es dem Schwachen zu essen
Der Blutschreibritus, nun aber mit dem Wort „Bermicza“ statt Beronike, findet sich später noch einem der viel stärker verbreiteten Longinussegen angehängt, hier werden sogar die Schreibinstrumente empfohlen. Nicht auf die Stirn, sondern auf die Hand ist zu schreiben. 14
scrip daz wort bermicza mit dem selben blute of des wunden hant mit eyme halme adir federe
Aus einer Rezeptsammlung des Nikolaus Myrepsus,15 eines Arztes im Alexandria des 13. Jahrhundert, ist eine Blutflußtherapie überliefert, die mit Jaspis oder Haematit, dem Blutstein, arbeitet. Das hatte schon Hildegard von Bingen empfohlen. Der Stein ist während der Formelaussprache in der Hand und dann an die blutende Nase zu halten. Während die biblische Wunderformel unverändert über Jahrhunderte weitergegeben wird, zeigen die Anweisungen zu ihrem Einsatz am Körper viele Varianten. Man kann vermuten, daß der Rückgriff auf die demütige Berührung Christi als Kleidungskontakt die Tendenz zu Applikationen am Körper mittels Amuletten und Siegeln förderte, sodaß die Anwendung als gesprochene Formel weniger gebräuchlich war. Ich füge noch einen teils deutschen Text Fuer daz pluot einer Wiener Handschrift des 14. Jahrhunderts an. Hier ist das Amulett auf den Nabel zu binden; die Indikation wird jetzt direkt benannt: 16
Swelch fraw irs rechtes ze vil hat oder suest daz pluot durch si gat diu binde dicz brieflin ueber den nabel so wird si gesunt Sancta Veronica tenebatur ab isto langwore tunc ergo dixit si tetigero fimbriam vestimenti ejus salucia per merita istius sanetur hec famula.
Welche Frau ihrer Regel zu viel hat oder sonstige Blutstörung, die binde dieses Brieflein über den Nabel, so wird sie gesund. Sancta Veronica ertrug lange dieses Leiden. Dann aber sagte sie: Wenn ich den Saum seines Kleides berühre, durch dessen Verdienste wird diese Dienerin gesund.
Vielfach aber ist der Name der Blutflüssigen entstellt oder bruchstückhaft verstreut auffindbar, etwa schon im 11. Jahrhundert in einer Fieberbeschwörung eines Münchner Codex, der ansonsten Heiligenlegenden und Hymnen mitteilt: Nach dem kurzen Fluchtbefehl an das Fieber folgt eine Reihe unklärbarer Zauberworte, die mit einem „beronice“ anklingen. Man kann sich vorstellen, wie in den Texten der weiteren Jahrhunderte immer wieder Splitter und Scherben transportiert wurden:
14 Breslau Univ.Biblioth. Hs.I.F.334, 15.Jh., veröffentl. Klapper, Josef, in: Mitteilungen der Schlesischen Gesellschaft für Volkskunde 9 (1907) S. 5–41, hier: S. 7 15 Heim, Ricardus: Incantamenta magica graeca-latina, Jahrbücher für klassische Philologie XIX Suppl.Bd. Leipzig 1892, S. 525 16 Wien ÖNB Cod. 2817, S. 30a, 1349, Abschrift Schönbach Gießen S. 832,833
Gynäkologische Psychosomatik 17
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In nomine domini fuge ab eo N. beronice. Im Namen des Herrn, fliehe von ihm N. birinice. turlur leodrune. et malifragra. Et ……………………… gahel. et gail. tigloit. tiliot depetonge. Ego Ich bin Alpha und Omega, Anfang und sum alfa. et. Ω. initium et finis dicit dominus Ende, sagt der Herr. (Und es folgt eine Zeremonieanweisung mit einer zu schneidenden Fruchtholzrute unter Anrufung der Heiligen Vitus und Gallus.)
Ebenso ist „Veronika“ auch in die verschiedenen literarischen Stämme und Zweige der ärztlichen Medizinbücher gelangt, als heilbringender Zaubernamen und verballhornt pflanzennah als „Bertonica“ oder legiert im Badischen mit der heiligen Verena als „Verenouilla“. Und auch dem männlichen Geschlecht kann der Segen gelten.18 Das Veronikaamulett mit seinem Segen erinnert an eine Wunderheilung Christi, die Selbstverständnis und Würde der Frau und Achtung vor der Natur ihres lebenspendenden Organs betreffen. Die natürlichen Vorgänge um all das, was Menstruation bedeutet, haben jahrhundertelang zu Unverständnis bis hin zur Herabsetzung der Frau geführt. Ihre „Tage“ galten schon den Propheten Israels als Unreinheit. Wer sie berührte, mußte seine Kleidung waschen und sich baden. Die Haltung Christi kam einer kulturellen Revolution gleich. Selbst die Jünger finden es erstaunlich, daß er mit einer Frau spricht.19 Er nahm diese „unreine“ und fremde Frau, die ihn berührte, nicht nur an, sondern heilte sie durch seine Berührbarkeit, entgegen dem hebräischen Wortverständnis von „heilig“ als unantastbar (q-d-š). Auf theologischer Ebene hat christliche Bibelerklärung die Blutflüssige als Symbol der Heidenkirche verstanden; nach dem Ambrosiuskommentar war nur der Berührende ein Gläubiger und Christus damit ein Arzt der Kirche, der als Allwissender selbst von rückwärts berührt werden konnte. Obwohl Veronika als legendäre Begleiterin der Passion durch ihr Schweißtuch, durch das sie vom gemarterten Kreuzträger ein „Bildnis“ bekam, in den letzten Jahrhunderten bei weitem bekannter geworden ist, als in der Funktion der Blutflüssigen, sind Beschwörungen und Segen um das Motiv des wahren Abbildes Christi selten. In einem umfangreichen Augensegen des Gothaer mittelniederdeutschen Arzneibuches heißt es an einer Stelle: 20
Deus qui nobis signatum lumen vultus tui, domine, memoriale tuum ad instanciam Veronice ymaginem tuam sudario inpressam relinquere voluisti […]
Gott, der du uns mit dem Licht Deines Antlitzes gezeichnet hast, gedenke des Augenblickes, als du der Veronika im Schweißtuch dein Bild hinterließest […]
17 München BSB, Clm 18956, Blatt 77b, veröffentl. Steinmeyer, Z.f. dt. Altertum 22 (1878), S. 247 18 Beispiel bei Telle, Petrus Hisp, S. 189, 341f, vgl. auch dortige Veronika-Amulette S. 179f 19 Joh. 4,27 20 Gotha Forschungsbibliothek, Chart 980, fol. 14b, veröffentl.Norrbom, Sven: Das Gothaer mittelniederdeutsche Arzneibuch und seine Sippe, Hamburg 1921, S. 78
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Um 1400 war Veronika mit dem Schweißtuch, darauf das wahre Abbild, „vera icon“ geprägt ist, dem sie wahrscheinlich ihren Namen verdankt, ein sehr populäres Pilgerzeichen der Romfahrer und gab Anlaß zur Verbreitung von Andachtsbildern aller Art. Immer aber blieb im Hintergrund die Frage, ob eine Bildfixierung des Gottessohnes möglich, respektabel und wahrhaftig sei oder ob vielmehr das mittels Veronicas Anliegen sanktionierte Gnadenmittel, den Entwurf seines Gesichtsabdruckes zu bewahren und zu verehren, Anerkennung oder auch Nachahmung verdient. Vielen ging es auch einfach um Belehrung des leseunkundigen Volkes.21 Gelegentlich finden sich in der Neuzeit Amulette in verschiedenen Anliegen mit der „Vera Icon“. Ich weise besonders auf zwei Armbänder hin, die speziell für Frauenbedarf, also für gute Entbindung22 und gegen krankhafte Blutungen Verwendung finden konnten. Sie wurden als Teil einer Taufgarnitur nach Familientradition des Besitzers vom bayerischen Kurfürsten dem Freiherrn Max Joseph von Perfall von Greifenberg geschenkt. In einer der volkstümlichen 12 Miniaturen dieser zwei Schutz-und Abwehr-Amulettbänder erhebt Veronika das Antlitz Christi, in einer anderen begegnen sich Maria und Elisabeth (Tafel 7). Gynäkologische Blutungsstörungen / Neuropsychosomatische Therapie Menstruationsstörungen sind heute nach statistischen Erhebungen zu ca. 30 % überwiegend soziopsychosomatisch bedingt. Seelische Krankheiten und persönliche Konflikte bilden einen hohen Anteil. Belastende Lebensereignisse in Partnerschaft und Beruf, verbunden mit mangelhafter Stressbewältigung führen zu hormonellem Ungleichgewicht mit der Folge verschiedener Zyklusveränderungen. Das gilt in besonderem Maße für länger anhaltende und das subcorticale System erschöpfende Lebenskrisen und für somatische Anämiefolgen, wie das von Evangelisten geschilderte Schicksal der Blutflüssigen in der Bibel. Die Veronikagebete, Sprüche und Amulette und die gesamte Verehrung der Heiligen boten mit ihrer Imagination auf Kulturdissonanzen in patriarchalischen Systemen ein kleines religiöses Trostpflaster. Ob dieses erfolgreich war, hing nicht allein vom Umfeld ab, in dem diese volkstümlichen Bräuche geübt wurden, sondern auch von medizinischen Hilfen gegen den chronischen Blutverlust. Nur das Gesamt der Maßnahmen konnte vermittels einer Stabilisierung der Stress- und Sexualhormonfunktionen in Hypothalamus* und Hypophyse wirksam werden. Inwieweit moderne Tendenzen, die naturgegebenen Zyklen der Frau total auszuschalten, wenn sie sich denn durchsetzen, buchstäblich dem Ausschütten der Kinder mit dem Bade gleichen oder die Erde vor Übervölkerung retten, wird die Zukunft zeigen. 21 vgl. zur Gesamtproblematik der Christusabbildungen: Büchsel, Martin: Die Entstehung des Christusportraits. Bildarchäologie statt Bildhypnose, Mainz 2007³, S. 8–12 und 152f 22 Münsterer, Hanns Otto: Beiträge zur Amulettforschung. Ein kurbayerisches Geburtsamulett, in: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 1966/67, S. 87–94
16. Halskrankheiten: Der Münchner Kehlsegen, die Blasiussegen und der „Heilige Atem“
– Sonderfall Blasiussegen: Aufnahme ursprünglich psychosomatischer Begleittherapie in die spätere Segenspraxis der Kirche – – Vom Ritus des Anblasens und der Bildgebung für Leidensmystik –
Halsnotfälle mit Erstickungsgefahr und schwere Erstickungspanik stehen an Dringlichkeit einer Herzattacke oder einer schweren traumatischen Blutung nicht nach. Die Verstopfung der Atemwege, also der Kehlenge, von Medizinern Isthmus faucium genannt, sei es durch Gegenstände, Wespenstich oder hochakut entzündlich-tumoröse Veränderungen, verlangt rasches Eingreifen. Die anatomisch vorgegebene Passagebeengung begünstigt Panikreaktionen, zumal bei Kleinkindern. Jeder kann sich an derartige Situationen erinnern. Wir stehen vor einem ähnlichen Phänomen wie beim großen epileptischen Anfall1 und anderen dramatischen lebensbedrohlichen oder als solches empfundenen Ereignissen. Auch hier gehört Sedierung mittels eines Sicherheit ausstrahlenden Standpunkts des Helfers zu den Vorbedingungen jeder Therapie. Zu den frühen literarischen Zeugnissen von verbaler Akuttherapie – Tracheotomie und Intubation haben ihre eigene lange Geschichte – zählt die Beschwörung einer durch einen steckengebliebenen Knochen verursachten Halsverlegung. Der byzantinische Arzt Aëtius von Amida notiert im 6. Jahrhundert neben einigen auch praktischen Mitteln zur Beseitigung von Fremdkörpern den folgenden Spruch: 2
Wie Jesus Christus Lazarus aus dem Grabe zog und Jonas aus dem Walfisch, so befiehlt Blasius, der Märtyrer und Diener Gottes: Knochen komm heraus oder geh herunter!
Bereits in diesem frühen orientalischen Spruchtext begegnet der heilige Blasius, der bis heute in katholischen Gegenden an seinem Tage, dem 3. Februar als Helfer bemüht wird. Er ist natürlich nicht mehr Notfalltherapeut, sondern wird vorbeugend eingesetzt und der Segen wird vom Priester gesprochen, nicht vom Arzt oder Heilkünstler. Der Einbeziehung des Märtyrerbischofs aus der Zeit des Kaisers Diokletian in einen kirchlichen Segen gingen allerdings außerkirchliche Formeln voraus. Sie sind Beispiele für die Übernahme einer an einen Heiligen gebundenen 1 2
siehe das Kapitel 11 Franz, Adolph, Benediktionen I, 459; griech. Original bei Heim, Ricardus: Incantamenta graeca latina, Leipzig 1893, S. 524f
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Spruchtexte
urspünglich wahrscheinlich außerkirchlichen Verbaltherapie in die Segenspraxis der Kirche, ein Ausnahmefall. Auch ist jetzt der kirchliche Spruch von einer beschwörenden Diktion weit entfernt. Sein begleitender Ritus mit den vor dem Gläubigen gekreuzten Kerzen erwächst aus zwei Legenden. Blasius von Sebaste (gest. 316) hatte in Deutschland seit dem 8. Jahrhundert nachweisbare Verehrung gefunden. Reliquien im Kloster Reichenau, Einbeziehung in das Martyrologium durch Hrabanus Maurus* und Patronate der Schwarzwaldklöster und des Klosters Admont, die Weihe von Wasser auf seinen Namen, später Einreihung unter die 14 Nothelfer deuten auf seine Beliebtheit. Nach der Legende bei der Christenverfolgung durch Diokletian in eine Höhle geflüchtet, rettet er einen Knaben aus Lebensgefahr durch Befreiung von einer Fischgräte. Einer Frau läßt er ein geraubtes Schwein vom Räuber wiederbringen, und als die Frau sich mit dem Schweinebraten und mit Kerzen zur Erhellung seiner Höhle bedankt, verspricht er jedem Hilfe, der die Frau nachahme. Und so verbindet sich mit dem heutigen Blasiussegen, der erst im 16. Jahrhundert aufkam und im 17. Jahrhundert offiziell im Anhang des Rituale Romanum der Kirche Eingang findet,3 historisch eine Lichtsymbolik. Sie entspringt einerseits der Nähe zum Vortage Mariä Lichtmess mit seiner Kerzenweihe und andererseits diesen Legenden.
Der vom Priester alljährlich gespendete Blasiussegen lautet: Per intercessionem sancti Blasii, episcopi et martyris, liberet te deus a malo gutturis et a quolibet alio malo in nomine […]
Durch die Fürsprache des hl. Blasius, des Bischofs und Märtyrers, befreie dich Gott von Kehlkrankheit und jedem anderen Übel im Namen […]
Als Zwischenglied zwischen der frühmittelalterlichen Beschwörung des 6. Jahrhunderts und diesem Blasiussegen der Neuzeit kann zwanglos eine altdeutsch-lateinische Mischformel, halb Gebet, halb Segen des 12. Jahrhunderts angesehen werden, der sog. Münchner Kehlsegen:
Abb. 42 Der Münchner Kehlsegen (13. Jahrhundert)
3
Franz, Adolph: Benediktionen I, 458f, 202
Halskrankheiten 4
Suemo du kela. virsuillit. Segeno. Domine Iesu Christe, per orationem famuli tui sancti Blasii. Festina in adiutorium famuli dei .N. et mox in eam (vel eum) fac misericordiam tuam ad gloriam et laudem nominis tui, domine. Dar nach sprich dristunt Pater noster qui es in celis. s.n.t.. (Späterer Nachtrag:) Oracio sancti Blasii, so ainem der hals oder die Kelle verswild; ora et liberaberis.
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So einem die Kehle verschwillt. Sprich: Herr Jesus Christus, durch das Gebet deines Dieners, des hl. Blasius. Eile zu Hilfe dem Gottesdiener N. und erbarme dich ihrer (oder seiner) zur Ehre und zum Ruhme deines Namens, o Herr. Danach sprich drei Mal das Vater unser, der du bist im Himmel … Gebet zum heiligen Blasius, wenn einem Hals oder Kehle anschwellen. Bete und du wirst befreit werden!
Abb. 43 Blasiuswunder: „Hie hailet er ain Kind so ain fischgretn geschluckt“. Blasiuskirche Kaufbeuern (15. Jahrhundert)
Auch die folgenden Formeln des 15. und 16. Jahrhunderts vereinnahmen die legendär schützende Gebetskraft des Heiligen. Der volkstümliche deutsche St. Galler Spruch ist noch auf Blasius’ Legende und auf Fremdkörper konzentriert: 5
So dir etwas in der Kelen ist gesteckt, so sprich das wortt O herre Jesu Crist min gott, by dem gebette dines knechtes sant Blasius ich fordren an dich das du mir komist ze hilff.
Der lateinische Marburger Spruch erweitert die Indikation und nennt verschiedene anatomische Orte für den Sammelnamen Halskrankheiten. Eine Beschränkung auf Fremdkörperverlegung ist damit entfallen; der Marburger Spruch schließt nun eine
4
5
München BSB Clm 23390 fol. 59v, veröffentl. Franz, A.:Benediktionen I, 459; veröffentl. Wilhelm, Friedrich, Denkmäler deutscher Prosa des 11. und 12. Jahrhunderts, München 1960, S. 50 St. Gallen Stiftsbibliothek Codex 755, 15. Jahrh. „Tschudi’s Nachlaß“. Segensammlung Schönbach Gießen, S. 695 (März 2009 noch nicht digitalisiert)
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neue Krankheit ein, die seit Ende des 15. Jahrhunderts als epidemische Halsbräune oder Diphtherie bekannt wird.6 7
Item bona oratio contra squinanciam. domine I. Chr., vere deus noster, pro virtute tui sancti nominis Iesu et pro oratione beati Blasii, servi tui, liberare digneris hunc N famulum tuum vel famulam, ab omnibus infirmitatibus gulae et gutturis et vuule [sic] et aliorum membrorum suorum […]
Gutes Gebet gegen Kehlsucht Herr J.Chr., unser wahrer Gott, bei der Kraft deines heiligen Namens Jesus und beim Gebet des seligen Blasius, deines Dieners, befreie gnädig deinen Diener N od. deine Dienerin von allen Krankheiten an Kehle, Gurgel, Zäpfchens und seinen anderen Gliedern […]
Im zwölf(13-)bändigen Buch der Medizin des Pfalzgrafen Ludwig V. bei Rhein im 16. Jahrhundert erfährt Blasius Verstärkung durch andere Heilige: 8
Ein gudter segen zu der kelen Sprich / Gelobet seistu her Godt Gelobet seistu her künig ewiger Godt Gelobet seistu allen deinen hailigen Jch bit dich herr Durch die bedt So der gudt Sant blasi vor seiner hailigen marter thedt Das du mir büesest blat vnd sper vnd alle übell dinge Die mir in meiner kelen seint Sant blasi vnd Sant simon die büssen mir mein kelen auch den schlunt Mein frawe Sancta Maria die rügent (rücke) mich in meiner kelen gesunt […]
Der heilige Blasius wird aber auch für eine Reihe anderer Indikationen herangezogen, besonders im Blick auf seine legendäre Wolfszähmung, bei Tierkrankheiten und beim Herdenschutz: 9
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In nomine domini nostri Jhesu Christi: Sanctus Blasius custodiat peccora ista a dentibus luporum, a manibus latronum et ab omni periculo. Amen. […]
Im Namen unseres Herrn Jesus Christus S. Blasius behüte dieses Vieh vor den Zähnen der Wölfe, vor den Händen der Räuber und vor jeder Gefahr! […]
Sudhoff, Karl: Neue Krankheiten, in: Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin 6 (1913), 120–128 Marburg Universitätsbibliothek Hs B20, fol. 117b, [neu: Ms.26 (III), Bl. 247v, Mitteilung 10.3.09] veröffentl. Dietrich, F., Zeitschr. für deutsches Altertum und deutsche Lit. 13 (1867) 193–216. hier: 216 Heidelberg Universitätsbibliothek CPG 268, fol. 82r, Digitalisat 0169; ähnlicher Text CPG 202, fol. 53r, Digitalisat 0109–0110, zwischen Roßarzneien, 15.Jahrh. München BSB Clm 7021, 14. Jahrh., fol. 158r, veröffentl. Schönbach, A.E.: Eine Auslese altdt. Segensformeln. Anal. Graec. Festschr. zur 42. Versammlg. Dt. Philologen in Wien 1893. Graz 1893, S. 32
Halskrankheiten
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In Formeln gegen Schweinepest,10 gegen das Pirzel, das ist die Pferdewurmbeule,11 in einem Blutungssegen12 und, gar nicht so fernliegend, in einem Segen zum Herausziehen eines Pfeileisens aus Menschenkörpern,13 finden wir den Heiligen als Fürbitter in Sprüchen des 13. bis 15. Jahrhunderts wieder. Es sind überwiegend gebetsähnliche Texte, die keine spezifischen Strukturen haben und die wir hier nicht ausbreiten. Mit dem folgenden kurzen Exkurs ist auf zwei Siebenbürger Texte des 19. Jahrhundert mit einem Ritus und einem Motiv hinzulenken, die enge Beziehung zum Hals- und Mundorgan haben, sowohl in sinnbildlicher als in therapeutischer Hinsicht: Zunächst sei ein besonders eigenartiger volkstümlicher Text gegen Halsgeschwüre genannt, eine köstliche Mixtur. Es ist, als werde der Krankheit der Marsch geblasen und dazu wird die Klangverwandtschaft mit dem Namen unseres Heiligen als Vertreibungsstrategie eingesetzt. Unter „Ohm“ ist ein Atemhauch, wohl als böse ansteckende personifizierte Ausdünstung zu verstehen: 14
Gegen Geschwür und Eiterbeulen. Man nehme eine Trompete, halte sie über das Geschwür und lasse in das Instrument hineinblasen. Der Leidende spreche unterdessen: Heiliger Blasius, du frommer Knecht, tu mir recht, erhör’ mein Gebet, treib‘ in den Wald meinen Ohm! Ist der Leidende eine Mannsperson, so blase ein Weib und umgekehrt. Nach dem Hersagen des Spruches aber blase die betreffende Person (nicht die Leidende) mit der Trompete gegen einen Wald zugekehrt einige Stöße.
Ebenfalls aus Siebenbürgen des gleichen Jahrhunderts stammt ein Text, in dem eigentlich Christus das Anhauchen übernimmt. Der Spruch ist junger entfernter Nachfahre des zweiten Merseburgers. Aber die Möglichkeit oder die Versuchung für den Heilkundigen, der da in der konkreten Situation spricht und Schweinefett schmiert, wird offensichtlich. Er übernimmt, den Heiland imitierend, die Wundergabe und setzt selbst zum Blasen, Hauchen und Pusten an. Das ist aus vielen Tex-
10 Niederalteich Cod. Jen. des Necrologium Altahense, fol. 155, 13. Jahrh., veröffentl. Mannhardt, W., in: Zeitschrift für deutsche Mythologie und Sittenkunde 4 (1859), S. 418 11 München Universitätsbibliothek Cod. Ms. 691, 74r, um 1465, erwähnt bei Kornrumpf, G. und P.-G. Völker: Die deutschen mittelalterl. Handschriften der Universitätsbibliothek München, Wiesbaden 1968, S. 172 12 Luxemburg Bibliothèque Nat. Hs 27, fol 157, 14. Jh., veröffentl. Jacoby, Adolf, Segenssprüche und Zauberformeln aus Luxembg. Handschriften, S. 6 [Aufsatz in der Sammlung Hugo Hepding, Gießen, Nr.42] 13 Wolfsthurn Sterzing/Südtirol, Bibliothek v. Sternbach, Handschrift des 15. Jahrh., fol. 123c, veröfftl. Zingerle, Oswald von: Zeitschr. des Vereins f. Volksk. 1 (1891) S. 172–177, 315– 324, hier: S. 316 14 Wlislocki, Heinrich von: Volksglaube und Volksbrauch der Siebenbürger Sachsen, Berlin 1893, S. 93
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Spruchtexte
ten der letzten Jahrhunderte bekannt.15 Es ist zum üblichen Streichen, Flüstern und Handauflegen eine überraschende Ergänzung, für den Kranken u.U. ein Ritus von perturbierender, d. h. emotional aufrührender Wirkung. 16
Gegen Verrenkung: Jesus kam mit St. Peter geritten, da haben sich die Teufel gestritten; da brach sich St. Peter das Bein! – Wein‘ nicht, Genosse mein! Nimm Schmeer und Salz, schmier dein Gebein, schmier dein Fleisch! Ich hauch‘ es an mit meinem heilenden Mund, und du wirst wieder gesund.
Noch genauer teilt ein Segen des Wolfsthurner Hausbuchs des 15. Jahrhunderts den Heilritus eines Wundsegens mit. Nach einer Versorgung mit Tüchern und Pflastern heißt es: Darnach legt im die dawmen kreutzling vber die wunden vnd hebt euch mit dem mund nahent zu der wunden, dass der attem von dem segen in die wunden gee 17 Damit nähern wir uns einer allgemein geläufigen, aber im Bereich der Halsund Atemwegserkrankungen noch wenig beachteten Schwellensituation. Dem gläubigen Christen können die zweckgerichteten Formelgestaltungen heute ebenso befremdlich vorkommen wie seinerzeit den Kämpfern gegen „Aberglauben“. Das gilt für den Einsatz des Wunderwirkens Christi in der Heilkunde und für manche mißbräuchlich verwendete Formel aus dem Alten Testament etwa im Bereich der Liebeszaubersprüche. Und das gilt für den Gebrauch der Texte um die christlichen Sakramente. Hier nun aber ist eine tief empfindbare Botschaft um Christi Atem, seinen letzten Lebenshauch am Kreuz, seine Verbindung zum Heiligen Geist, in medizinische Therapie eingebunden. Diese Nutzung der Atemhauch-Metaphorik in der Verbaltherapie verdeutlicht sehr klar, daß das Christentum sich in erster Linie immer als eine therapeutische, also heilende Religion verstanden hat, daß aber körperliche Gesundung einerseits und Seelenheil als Todesüberwindung und Todesbereitschaft nicht rigoros getrennt wurden.18 Ein von Predigern auch heute gern verwendetes Sinnbild ist die Mund-zu Mund-Beatmung als Lebensrettung, wenn an Gottes Atem am Schöpfungstag, an den Kreuzestod oder an die Anblasung der Jünger durch den Auferstandenen beim Friedensgruß (Joh. 20,22) zu erinnern ist. Zu Zeiten einer Diphtherie-Epidemie, die oft wie die Pest wütete, war ohne Antibiotika eben fast ‚jedes Mittel recht‘. Oberflächlich wird im folgenden elsässischen Spruch des 15. Jahrhunderts aus einem klösterlichen Gebetbuch der letzte Atemhauch des Gekreuzigten zum Heilmittel, indem er die Angina als Person vernichtet. Aber lag für bewußte und besonders unbewußte Erinnerungszentren des Kranken 15 Beispiele bei Hampp, Irmgard: Beschwörung Segen Gebet, Stuttgart 1961, SS. 20, 22, 48, 142,218,227; vgl. auch Most, Georg Friedrich (Arzt in Rostock): Enzyklopädie der Volksmedizin 1843, S. 16f 16 Wlislocki, wie oben, S. 104 17 Wolfsthurn Bibliothek v. Sternbach, Hausmittelbuch, fol.10r 18 vergleiche dazu Kap. C, Christus medicus
Halskrankheiten
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und für den Beschwörungssprecher das Thema derart eindeutig vor? Oder konnten auch Signale an einen eigenen gesegneten Tod unter Berufung auf Christi Sterben aktiviert werden? An ein Sterben mit ihm im Sinne der Nachfolge? Sicher ist, daß solch ein Text Alarmierung im Hirnstamm auszulösen vermochte; es ging um Leben oder Tod. 19
Für das zepffel oder blatt. Wo die crütz ston, do mach ein crütz an den halß vnd sprich: + Brich blatt vnd gesperr + das dich der heilige otem derr + der gott vß sinem munde ging + do gott sin hymelscher vatter + sin sel an dem crütz empfing. Amen.
Gegen das anginöse Zäpfchen Wo die Kreuze stehen, da mach ein Kreuz an den Hals und sprich: Verschwinde Angina-Geschwür ! Der heilige Atem soll dich verderben, der Christus aus seinem Mund ging, als Gott sein himmlischer Vater eine Seele am Kreuz empfing.
Das oft erwähnte Medizinbuch des Pfalzgrafen bei Rhein enthält mehrere derartige Segensformeln gegen Halserkrankungen, wobei im folgenden nicht der heilige Atem zum „Derren“, also zum Verderben, Ausdörren der personal vorgestellten Angina fungiert. Hier wird Christi Tod, das Ausgehen seines heiligen Geistes mit dem erwünschten Ausgehen des Blattes (= Angina) parallel gestellt: 20
Ein Segen für das blat in der Kelen Sprich / Ich beschwer dich blat bei dem hailigen grabe Do vnser lieber herr Jhesus cristus selb in lage das du aus müssest gan Als unserm lieben herren Jhesu Cristo sein hailiger gaist aus gieng als er hieng an dem hailigen fron kreutz
Ein anderer Halssegen bedient sich der Form des Begegnungstyps. Christus trifft auf den hilfsbedürftigen Kranken, es ist kein Edelmann, sondern ein „Schaucher“, womit man vom Schächer am Nebenkreuz bis zum Betrüger und Räuber oder armem Teufel allerhand assozieren konnte. Er ruft, ja er schreit und klagt gegen Gott, wie es sonst von Hiob geschrieben steht. Es ist eine Anspielung auf den reuigen Schächer, dem Jesus das Paradies verspricht (Lukas 23,39ff ), der nach der Legende Dismas hieß und später der Patron der zum Tode Verurteilten und der Henker wurde. Man spürt wieder, daß sich in diesen Texten angesichts schlechter Prognosen z. B. bei Diphtherie nicht mehr nur irdische Hoffnung äußert. 21
Vnser herr stund vnder der kirchthür Do ginge ein armer schaucher herfür
Unser Herr stand unter dem Kirchentor Da kam ein armer Schächer hervor.
19 Straßburg Stadtbibliothek Hs 500, fol. 30v, aus hs. Gebetbuch eines Straßburger Frauenklosters, 15. Jahrh.veröffentl. Lefftz, Joseph, in: Archiv für elsässische Kirchengeschichte 7 (1932), S. 218 20 Heidelberg Universitätsbibliothek, CPG 268, fol. 73r, Digitalisat 0151 21 Heidelberg Universitätsbibliothek, CPG 268, 16. Jh., fol. 79r, Digitalisat 0163, veröffentl. Schönbach, A.E., An. Graec. S. 41
158 er gund sich ruffen vnd wuffen gen God uff ruchen. Do sprach vnser herr Jhesus Christus: Ach du armer schaucher, was wirdt dir? Do sprach er: Ach herr meinster, Do hon ich die sparren vnd das bladt, das ich nit genesen mage. Do sprach vnser herr Jhesus Cristus: So thu uff deinen mundt, So will ich dir dor ein blosen den viel hailigen gaist
Spruchtexte
Er begann zu rufen, zu schreien und zu Gott zu klagen. Da sprach unser Herr Jesus Christus: Du armer Schächer, was fehlt dir? Da sprach er: Herr Meister, ich hab Halskrampf und Angina und ich kann nicht genesen. Da sprach unser Herrr Jesus Christus: So öffne deinen Mund und ich werde dir den heiligen Geist einblasen …
Akute Halsenge / Psychosomatische Intervention mittels Verbaltherapie Verengungen der Kehle mit Erstickungsgefahr sind Notfälle, die des intensiven Einsatzes bedürfen. Der Versuch, zum Beispiel durch erzählte Bilddarbietungen zur Angstbearbeitung beizutragen, war in solchen Fällen immer akut wichtig, um muskuläre Verkrampfung zu lösen. Unter den Bildern standen sich vor allem zwei Typen gegenüber: Einerseits die alte Vertreibungsstrategie gegen Fremdkörper und Hindernis, die sich u. a. an die bekannte Legende um den volkstümlichen Heiligen knüpfte. Schon die Nennung seines Namens und dessen Verbalisierung als „Blaseln“ konnte „Anklang“ im limbisch-hippocampalen* System finden. Andererseits sind seit dem 15. Jahrhunderte Symbole der Leidensmystik aufgenommen worden, wie wir sie auch in manchen Sprüchen gegen Pest finden. Die Metaphorik des Unerbittlichen und Ungewissen, des Krankseins auf Leben oder Tod, verankerte sich im Atemhauch Christi, wobei beides in die Waagschalen des unbewußt prüfend-deutenden Amygdalabereichs* ‚gesogen‘ werden konnte, beides: Todeshauch am Kreuz oder Lebenshauch des Auferstandenen. Weitere Auskünfte über die jeweiligen Wege oder Irrwege der Hirnpotentiale sind ohne diagnostische Spekulation nicht möglich.
17. Liebeszauber am Mondsee – an der Schwelle zur Gotteslästerung
– Ein verbotener Randeintrag in die Klosterhandschrift und die schwankenden Liebesbeziehungen – – Gefährliche Mixturen: Liebeskrankheit, mystisches Entsagen, Fleischeslust und Gottesliebe – – Von der Unordnung der Sinne zur Machtillusion – – Sprucheinsatz als Selbsttherapie einer Zwangskrankheit? –
War es ein Mönch, der mit flüchtigem Federstrich im 15. Jahrhundert am Kloster Mondsee im heutigen Salzkammergut diese Beschwörung hinschrieb? Sie steht auf den Rändern der schon im 14. Jahrhundert gefüllten Pergamentseiten. Wer hatte außer den Benediktinern Zugang zum Schreibsaal? Oder hatte der Codex einmal die Klostermauern verlassen, sodaß ein Laie hineinschmieren konnte?
Abb. 44 Randeintrag eines Liebeszaubers am Kloster Mondsee (15. Jahrhundert)
160 1
Spruchtexte
Perunder pawm, ich vmbvach dich, Sensucht, ich sach dich, in ir fleisch vnd in ir pain, Sensucht, ich sent dich dem lieb N. haim in irn sin vnd irn můt, in ir fleisch v[nd] in ir plůt un[d] m[ů]z dem [lieb] N. nach mir ha[im] alz we nach mir sein, alz ir m[ů]tter waz, d[o] sy we[llund] par mit drieffunder wundn vnd mit smirzunder tunnen. und[iz] m[ů]z dir N. als we nach mir sein alz dem man waz, der tot an dem (bricht ab)
Fruchttragender Baum, ich umfasse dich, Sehnsucht, ich befehle dich in ihr Fleisch und Bein send ich dich, Sehnsucht dem Lieb N. heim in ihren Sinn und Mut, in ihr Fleisch und Blut. Und es möge dem Lieb N. nach mir so weh sein als es ihrer Mutter war, da sie, sich wälzend, mit triefender Wunde gebar und mit schmerzender Schläfe. Und es möge dir N. so weh nach mir sein, als dem Manne war der tot an dem
Die Beschwörung steht bei einer auch nicht kirchlichen Johannesminne, und es ist vermutet worden, daß ein Mönch unseren aus dem Volksmund kommenden Liebeszauber hier nicht ganz deplatziert hingesetzt hat. Vielleicht sei er auch durch den Seiten zuvor befindlichen nachgeburtlichen Segen an den Liebesschmerz erinnert worden und habe ihn selbst unbeholfen erdichtet. Vielleicht war ihm von einem Heilkundigen der Spruch mit seinem Ritus gegen Verzauberung, alle Sucht und Gicht bekannt, der wie im Liebesspruch Leid und Schmerz in Umarmung einem Fruchtbaum abliefern möchte: 2
Wan ainer Zaubert wär oder Heet sunnst Jücht oder schüß oder darsucht So gee an ainem Erchtag Pfintztag oder sambstag nächt Zu ainem frucht paren pämb, Vnd Vmbfach den Pämb mit peiden Armen, Vnd sprich Salliger fruchparer pämb. Jch khumb da Her Zu dier gegangen. Jch pin mit 72 Siechthumb vmbfangen wer Mier die Hab gethann es sy frau oder mann, daz mueß auß mainen gepain
Wenn einer verzaubert ist oder hat sonst Gicht, Akutschmerz oder Darrsucht (Tbc?) So gehe an einem Dienstag, Donnerstag oder Samstag zu einem fruchtbaren Baum, umfange den Baum mit beiden Armen und sprich: Seliger Fruchtbaum, ich komme daher zu dir gegangen. Ich bin von 72 Krankheiten umfangen Wer mirs auch angetan hat, ob Frau oder Mann, es muß raus aus meinen Knochen
Ein unergründliches Rätsel gibt der Abbruch der Niederschrift auf. Aber unsere vage Vermutung, daß der Schreiber den Fortgang des Liebeszaubertextes und seine 1 2
Wien ÖNB, Perg.-Codex 1953, fol. 65v und 66r, 15. Jahrhundert, veröffentl. durch Menhardt, Hermann, Zeitschr. f. dt. Philologie 71 (1951/52), 365–369 Graz Steiermärk. Landesarchiv, Arznei-und Alchemiebuch des Matheus S., Hs 476,fol. 208 von 1587
Liebeszauber am Mondsee
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anderen frech-frommen Varianten sehr wohl kannte, und daß ihm an heikler Stelle die Feder stockte, dürfte nicht allzu fern liegen und mag ihm zugute gehalten sein. Hatte man ihn erwischt ? – folgt ja auf der nächsten Seite von ihm noch ein Abracadabraschema ! Oder sollte das ganze eine Korrektur des Spruches unter Ausmerzung christlicher Bezüge sein? Spekulationen waren wie vorprogrammiert.
Abb. 45 Liebessehnsucht am Mondsee: „Perunder pawm, ich vmbvach dich …“ Zeichnung Fritz Klier 2010
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Spruchtexte
Das durch den Bayernherzog Odilo 749 gestiftete Kloster Mondsee befand sich gerade zur Zeit dieses Eintrages – nach Hermann Menhard war es die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts – vermutlich in einem instabilen moralischen Zustand. Eine Visitation im Jahre 1435 stellt fest, daß die Mitglieder „vom Wege der Gebote Gottes und den Pfaden seiner Räte und der heiligen Regel, unter der sie streiten, weit abwichen“. Unter dem Einsatz des Magisters Johannes von Werdea [Wörth], der 1451 dem Kloster beitritt3, der schon an der Wiener Universität die Sittenlosigkeit der Studierenden angeprangert hatte, muß sich hier nun einiges getan haben. Johannes, oder wie er nun heißt, Hieronymus, soll erfolgreich die Prinzipien der Melker Reform vorgelebt haben und den „Kampf gegen Welt, Fleisch und Teufel“, gegen Sinnes- und Augenlust geführt haben. Er war wahrscheinlich eine Zeit lang Bibliothekar und seit 1463 Prior des Klosters. Vor weltlichen Ausgelassenheiten, etwa den volkstümlichen Feuerbräuchen am Johannestag hat Hieronymus nachweislich streng gemahnt und zur Abschaffung dieser Feiern und ihrer sündhaften Auswüchse geraten.
Ziemte sich also der Umgang mit einem Erotikzauber, in dem ein Fruchtbaum magisch in Vereinigungsbegehren als Ersatzpartnerin umarmt wird, der ein heißes Sehnen aussendet in Fleisch und Blut einer irdischen Geliebten, ziemte sich so etwas für einen Benediktiner? Mit dem „Lieb N.“ nämlich hatte er sich verraten, hatte nicht die überirdische Geliebte gemeint, sondern eine beliebig bei Gebrauch des Spruches einzusetzende irdische Frau „N“. Der Fruchtbaum, das war ja auch einmal ein Bild der Gottesmutter Maria, das „apfeltragende Holz in der Mitte des Paradieses“,4 das die Tugenden und Früchte der Liebe hervorbringt, und das war später bei Mechthild von Magdeburg der dreifaltige Gott, den die Seele umfangen konnte. In der Minne-Baum-Tradition galt ein entbehrungsreicher Baumaufstieg als die Tugend zur Erlangung der Unio mystica. Die erotisch wirkende eindeutig religiöse Mystik kannte freilich auch das dem Hohelied nachempfundene Mund zu Mund der/s Ungeküssten, das Brust-an-Brust mit Christus und das Bett-Bereiten des „Minnesiechen“,5 also der/s liebeskranken Asketen(in). Der Umschlag in sexuelle Liebe lag nahe: „Ich flehe dich an, komm morgen zur Alten Kapelle. Klopfe nur leicht an, denn dort wohnt der Kirchdiener. Was dir mein Herz noch verbirgt, offenbart dir dann das Lager“, heißt es in einem lateinischen Regensburger Liebesbrief des 12. Jahrhunderts unter Rückgriff auf das Hohelied.6 3
4
5 6
Glückert, Ludwig: Hieronymus von Mondsee. In: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige. N.F. 17 (1930), 99–201; Schwaighofer, Hartwik: Die ehemalige Benediktinerabtei Mondsee, in: Christliche Kunstblätter 1/2 (1948), S. 3–26, hier:13–16 zit. nach Meier, Christel, Gemma spiritalis, München 1977, S. 154, aus Pseudo-Ildefons = Paschasius Radbertus, ca.790 – ca. 859, ein Abt, der an der Gründung von Kloster Corvey an der Weser teilgenommen hatte, seine Schriften waren zugeschrieben an Pseudo-Ildefons. vgl. Mechthild von Magdeburg: „Das fließende Licht der Gottheit“, hrsgg. von Hans Neumann, besorgt von Gisela Vollmann-Profe, München 1990, S. 10, 67 Henkel, Nikolaus: Carmina Ratisbonensis, in: Morsbach, Peter (Hg.): Ratisbona sacra, das Bistum Regensburg im Mittelalter, München Zürich 1989, S. 161f; ob es sich bei diesen und anderen mittelalterlichen Liebesbriefen um persönliche Korrepondenz oder dichterische Mu-
Liebeszauber am Mondsee
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Nach Meinung des „Hexenhammers“, der 1487 erschien, lag hier eindeutig ein Mißbrauch vor, weil der Schmerz der Gottesmutter geschmäht ist. Und wie der Text in seiner Christus anrufenden Version (mit dem verbreiteten Reim „der Mann, der den Tod am Kreuze nahm“) seinerzeit fortzusetzen war, ergibt sich z. B. aus einer anderen Liebesbeschwörung des 15. Jahrhunderts, die die Untreue einer weggelaufenen Frau zu verhindern sucht: 7
Ich waiß nit wo du bist, so schick ich dir unseren lieben herren Jhesu Christ, das er dir verkund und verbiett und dich wol behüt, das du mit kaim andern man mugest zu schicken han ( mhd. zu schaffen haben) die weil du lebst dan on mich allain. das verbiett dir der man, der tod und marter an dem hailigen crutz nam […]
Man kann die der Treueversicherung und jene der Treueerzwingung dienenden Texte gesondert heranziehen, ohne daß in ihnen ursprünglich wesentliche Unterschiede zu den Sprüchen der Liebeserweckung oder -Erzwingung bei einem begehrten Partner deutlich würden. Beiden Zwecken werden sowohl religiös-biblische, christlich-lyrische als auch natur-magische Analogiebilder und Zeremonien dienstbar gemacht. Auch solche Naturbilder kennen wir von den Mystikern(innen): Bei Mechthild ist es die Stimme des Raubtieres, die das drängende Begehren versinnbildlicht: „Und mein Herz schmilzet nach deiner Minne, und meine Seele brennt mit eines hungrigen Löwen Stimme“.8 Im Folgenden hat sich gemäß Aufzeichnung aus einem Inquisitionsprozess eine verlassene Frau an die „Zauberin“ Anna Durmeigersche von Braunschweig gewandt, ob sie nicht Rat wüßte. Die Meigersche erbittet ihren Trauring, um davon etwas abzuschaben und es vor den „sul“, die Türschwelle, wo der Mann rübergegangen war, zu streuen. Dann nennt sie seinen Namen und spricht an drei Tagen, erst bei Sonnenaufgang, dann 2mal bei Sonnenuntergang: 9
Ick se dick na und sende dick na de werden hilligen drefoldicheitt dat dw most lopen na dinem echten gaden euen alse de henne na dem brode alse de visch na der flott alse de hengst na der stoett
7 8 9
Ich sehe dir nach und sende dir nach die ehrenwerte heilige Dreifaltigkeit, daß du zu deinem richtigen Weibe (Heim) (zurückkommen) laufen mußt genauso wie die Henne nach dem Brote genauso wie der Fisch nach dem Wasser wie der Hengst nach der Stute,
ster handelt, bleibt unklar. Vgl. dazu auch Worstbrock, F.J., Verf.Lex. zu den „Tegernseer Liebesbriefen“. Heidelberg Univ.-Biblioth. CPG 691, fol. 79b; veröffentl. Schönbach, An.Graec.(1893), S. 49 Mechthild von Magdeburg (wie oben), S. 66 Braunschweig Stadtarchiv, Orgichtboecke 11.–20.Juli 1565, Sign.: B I 15:15, S. 413ff, veröffentl. Schütte, O., Zeitschr. d.V. f. Volksk. 15 (1905),180
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Spruchtexte
alse Maria dede na orem herte leuen kinde, do se id hangen sach am galgen des hilligen crutzes [...]
wie Maria nach ihrem herzlieben Kinde, da sie es am Galgen des heiligen Kreuzes hängen sah[…]
Ein großer Teil der Liebeszaubersprüche operiert autoritär, mit Befehlen und Drohungen; es wird der erwünschten Person der Schmerz der Gottesmutter bei Geburt oder Kreuzestod Christi zugemutet.10 Es werden Mond und Abendstern angerufen, die dem/der Ersehnten auf Zunge, Lunge und Leber scheinen sollen, ihm den Schlaf rauben, ihn verzehren und abmagern lassen. Älteste diesbezügliche Textenanteile in deutscher Sprache bietet die voluminöse Sinngrünbeschwörung der Münchner Bibliothek aus dem 14. Jahrhundert, wie sie beim Ausgraben der Vinca minor gesprochen werden soll. Sie wird bei Gott und Engeln, bei Sonne und Mond und hebräischen Götternamen angerufen, damit dem Kraut alle Kraft und Tugend zukomme, eben auch die Erweckung von glühender Liebe: 11
swen ich mit ir treut und chuesse si, daz si in miner minne prinn, und also daz wachs zerfleuzzet bei dem fuer und als daz fuer gluewet, alzo muezze ir herze, ir plut, ir leber, ir miltze und elleu ir lider erhaizzen und prinnen und zefliezzen umbe min minne, und mueg weder slaffen noch wachen, si gedench an mich.
Wenn ich mit ihr kose und küsse sie, daß sie in Liebe zu mir brenne und wie Wachs am Feuer zerfließe und erglühe wie Feuer, so sollen ihr Herz, ihr Blut, ihre Leber, ihre Milz und ihre Glieder hitzen und brennen und zerfließen um meiner Liebe willen, und sie soll weder schlafen noch wachen, wenn sie nicht an mich denkt.
Neben Vinca minor (Sinngrün) werden auch Mandragora (Alraune), Madelger (Enzian, St. Peterswurz), Nessel, Wegwarte und Raute beschworen und eingesetzt, wobei die Namen der Kräuter kaum botanischen Kriterien unterliegen und weitgehend austauschbar sind und die Pflanzen nicht immer im Ritus einer Berührung verzaubern sollen, wie das ein Text des Wernigeroder Arzneibuches12 verdeutlicht: madelger, ich drit dich […] welch frauw ich myt dir umb fahe oder umb griff, die musz myr holt sin und werden mit ganzen truwen, onwiderlosz […]
10 vgl. Siller, Max : Zauberspruch und Hexenprozesse, in: Tradition und Entwicklung, Germanistische Reihe 14, Innsbruck 1982, S. 131 (nur weil die angewünschten „krachenden Lenden“ der Diebsmutter in einem Diebszauber als gerecht empfundene Strafe vorkommen, wird der Tiroler Gostner Ende des 16. Jahrhunderts dafür nicht bestraft) 11 München BSB, Clm 7021, (lateinisch und in kürzester Fassung 180d–181a), 165c, 14. Jahrh., veröff. Schönbach, Studien Altdt. Predigt, S. 142–144 12 Wernigerode Fürstl. Stolberg-Wernigerode Bibliothek, Handschrift Zb 4m des Wernigeroder Arzneibuches des 16. Jahrhunderts, verschollen seit 1945, aus verschiedenen Textproben veröffentlicht von Kofler, Walter, in: Zeitschr. für deutsches Altertum und dt. Literatur 137 (2008), S. 489–512, hier: S. 503
Liebeszauber am Mondsee
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Abb. 46 Eine Zauberin entfacht Liebesglut am Herzen ihres Opfers. (Jena 1467)
Im folgenden Text aus einer Handschrift des Klosters Lambach in Oberösterreich ist zunächst nicht von Untreue die Rede, sondern „nur“ von einem Mann, der „nimis durus“ sei, der sich also ziemlich wüst und ungestüm verhält. Hat er seine Frau geprügelt? Die Frau bekommt von einer „sehr erfahrenen“ weisen Alten, einer „Vetula“ einen Spruch, den sie an drei folgenden Nächten in ihrem Garten am Hanfkraut „Canapum“, Cannabis also, sprechen muß. Er lautet: 13
Alrawn du vil güett, mit trawrigem müett rüeff ich dich an, dastu meinen laydigen man, bringst dar czu, das er mir kain laid nymmer thwe.
Alraune, du gute, mit traurigem Mute ruf ich dich an, daß du meinen schändlichen Mann bringst dazu, daß er mir kein Leid mehr antu.
In der dritten Nacht aber, nach Rezitation des Spruches, meldet sich dann „Alraune“ mit einem anderen Spruch und bedeutet ihr: Fraw, du solt haym gan und solt güetten müet han, und solt leyden, meyden und sweygen ... damit könne sie einen guten Mann gewinnen; und, so fährt der Bericht sinngemäß fort, allen Frauen eine Lehre: die Frau tat desgleichen und der böse Mann war gewandelt. 13 Lambach Stiftsbibliothek, Papier-Hs. Nr.247, 15. Jahrh., veröffentl. Mone, Anz.7,423.
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Spruchtexte
Die Vetula hatte versteckt im Garten als Alraune mit drei Worten all das ausgesprochen, was man heute als strukturelle gesellschaftliche Unterdrückung der Frau „dem Mittelalter“ vorwirft. Ob solchem Verhalten der Frau die listig schmeichelnde und verlockende Absicht, die Berechnung also, immer gefehlt hat, wird sich nicht mehr feststellen lassen. Der ‚Weiberzauber‘ des Walther von Griffen in Kärnten mit seinen neun Regeln im Umgang mit Männern ist nicht von einer Frau geschrieben.14 Überall begegnet man im Mittelalter dem Gleiten zwischen irdischer und geistlicher Liebe: Besonders im Minnegesang15 spiegelt sich der stets schroffe Übergang ohne eine Zone des Mittelmaßes zur tiefreligiösen Mystik der Frauenklöster und der ihnen nahestehenden Beginen. Man vergleiche etwa Mechthild von Magdeburg in der Mitte des 13. Jahrhunderts.: 16
Wilt du den magetům zieren [...] so solt du diemueteclich swigen und minneclich kumber liden[…].
Willst du deine Jungfräulichkeit zieren […] so mußt du demütig schweigen und in Minne Kummer erleiden […].
Die Pflanze ist meist nur literarisches Kunstmittel. Andere magische Mittel, um dem geliebten Menschen sehnsüchtige Gegenliebe zu bereiten und ihn Hunger und Durst verlieren zu lassen, sind etwa Wochentagszuweisungen und Zeitmaße. Sie bauen zusätzlich suggestiv anankastische Treppenbildungen ein, wie im folgenden hier gekürzt wiedergegebenen Text der Heidelberger Bibliothek. Er ist nach Sonnenaufgang zu sprechen: 17
Nim du vil Jhesus Christ wye gleich du N. am suntag der heyligen martter unsers herren under dein augen pist hewt am suntag morgen am montag hincz erichtag am erichtag hincz mitteichen hincz phincztag [usw. bis Samstag]. Daz du N. dy ganczen wochen muest nach mir N. mit ganczen deinem gemüt mit ganczen deinem herczen darren und sochen (siechen, kränkeln, abmagern) Daz dir N. am phincztag als wind und als weh nach mir N. sey und geschech als der lieben unser lieben fraw geschach da sy ir liebs chind an dem heyligen fron chreücz sach da geschach unser lieben frawn so wind und so we und so laid hundert tausend stund geschech dir N. wirs und laider nach mir.
Abendsonne und Abendstern suggerieren besonders in den Liebes- und Heilspruchtexten eine naturmagische Verknüpfung mit dem Geliebten, indem sie „sympathische“ Vorstellungen der Verbundenheit alles Kreatürlichen bedienen. Sie werden als Bilder von Dichtern und Literaten immer wieder verwendet. Mond, Sonne und Morgenstern als schmückende Attribute in der Werbung um die Er14 Haupt, Moriz, Zeitschr. f.dt. Altertum 15 (1872), S. 245 15 Dinzelbacher, Peter: Minne ist ein swaerez spil, in: Müller, Ulrich u. a. (Hg): Göppinger Arbeiten zur Germanistik 1986, S. 75–110 16 Mechthild von Magdeburg, „Das fließende Licht der Gottheit“, nach der Einsiedelner Handschrift Msc.277, hgg. von Hans Neumann, Bd. I, besorgt von Gisela Vollmann-Profe, München 1990, S. 109 (4.Buch,I) 17 Heidelberg Univers.Biblioth. CPG 597, Bl. 48r, 1426, Digitalisat 0044
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sehnte finden sich ebenso wie „rosenfarbener Mund“, „Venus“, „Herzenswonne und Krone“ oder „Freudenreiche“ in der höfischen Unterhaltung des Minnesangs schon bei Heinrich von Morungen um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert und später im Meistergesang. Hervorzuheben ist der Venusstern irdisch-himmlisch schillernd lockend-verführend, am bekanntesten im Tannhäuser-Mythos, dem Sängerkrieg auf der Wartburg, in Wagners Bearbeitung: O du mein holder Abendstern, wohl grüßt‘ ich immer dich so gern. Es war Wolfram von Eschenbach, der sich im Streitgedicht der Meistersinger-Handschriften seiner Kenntnisse des Sternhimmels rühmt: Ich han die sterne überlesen. Mit derartig „himmlischer“ Sphäre leiten die beiden folgenden Texte ein: 18
Ad amorem [...] Hele vrouwe Avonsterre, Hele vrouwe Lieve, langhe hebbic u gesocht, nu hebbic u vonden; nu man ic u, vrouwe, des diere, dat ghi mi lonet mine stont. Ic mane u bi den banne ende bi den goeden sente Janne ende bi den heligen lichame [...], dat ghi schijnt int huus, da er N. ute ende in gaet. Schijnt hem in tsine oren. schijnt hem unt ten ogen, benemt hem allen lust van wive, sunder alleene van minen live! Schijnt hem onder zine voete ende wecten zo onzoete, dat hi enmach slapen no waken no eten no drinken, hi enmoet om mi dinken […]
Für die Liebe Leuchtende Frau Abendstern, Leuchtende Frau Liebe, lange hab ich Euch gesucht, nun hab ich Euch gefunden. Nun ermahne ich Euch, Fraue, daß Ihr mir mein Warten belohnt. Ich mahne Euch bei dem Bußgebot und bei dem guten heiligen Johannes und bei dem Abendmahl, [...] daß Ihr in das Haus scheinet, wo er N. aus und ein geht. Scheint ihm in seine Ohren, scheint ihm in seine Augen, nehmt ihm alle Lust am Weibe, außer an meiner Liebe! Scheint ihm unter seine Füße und weckt ihn zu Unzeiten, daß er weder schlafen noch wachen, noch essen und trinken kann. , Er muß an mich denken. […]
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Biß gotwilkum, du liebeu abentsun ! du scheinst mir in meins herczen wund, du scheinst mir an ir bett und an irn arm und an iren atom warm und an ir triel[?], das ich ir zum herczen ziech durch ir lungen und ir leber, durch ir flaysch und ir plut: [……………] das helfen mir allu die kint, die in gottes himel sind
Sei mir willkommen, du liebe Abendsonne, du scheinst mir in meines Herzens Wunde, du scheinst mir an ihr Bett und ihren Arm und an ihren Atem und ihren Mund, [?] daß ich ihr zu Herzen zieh durch Lungen und Leber, durch ihr Fleisch und Blut: das solln mir all die Kinder helfen, die in Gottes Himmel sind,
18 Erfurt Bibliotheka Amploniana, Hs Duodez 17, fol.37b, 14. Jahrh., veröfftl. Schönbach, Anal. Graec. S. 48 19 Heidelberg Univers. Biblioth. CPG 691, fol.79v, 15. Jahrh., Digitalisat 0166
168 und alle die westerparn und all die buch, die got selber schuff, und der wyrach und der mirrach […]
Spruchtexte
und all die Täuflinge und all die Buch die Gott selber schuf und der Weihrauch und die Myrrhe […]
Bis ins 19. Jahrhundert hat sich die Zuwendung zum Abendstern erhalten, etwa in der Oberpfalz. Dabei kommt auch die erwünschte Zweisamkeit einer Liebesbegegnung, das Gegenüber von Sichelmond und Stern ins Spiel: 20
Ist der Mond im Wachsen, und steht der Abendstern nicht weit von ihm, so geht das Mädchen hinaus und stellt folgende Bitte: Grüß dich Gott, mein lieber Abendstern, ich seh dich heut und allzeit gern Scheint der Mond übers Eck, meinem Herzliebsten aufs Bett, laß ihm nicht Rast, laß ihm nicht Rou, daß er zu mir kommen mou.
An welch scharfen Grenzwegen sich jedoch früher all diejenigen befanden, die mit diesen Texten zu tun bekamen, sie weitergaben, anwendeten oder empfahlen, hatte sich schon aus der Herkunft des o. g. Braunschweiger Spruches gezeigt. Ich füge einen Spruch der Stauderin, einer Flachsknüpferin in Augsburg an, der ebenfalls im Rahmen eines Inquisitionsverfahrens notiert wurde. Die Stauderin hatte weiße Magie betrieben, war ausgewiesen worden und bekam wenig später ein Kind. Nun durfte sie zurückkehren und nach einem viertel Jahr wurde sie begnadigt.21 Es wurde damals 28 mal wegen Hexerei verhandelt und die Urteile fielen vergleichsweise mild aus, sodaß das ländliche Umland entrüstet war. „Die „Zauberer“ in der Bevölkerung hielten nichtschädliche Magie für erlaubt und nicht für Teufelszeug, es bestand kaum ein Unrechtsbewußtsein. Der Grad des magischen Wissens auch bei Personen aus den unteren Bevölkerungskreisen kann als hoch bezeichnet werden. Ohne schriftliche Hilfsmittel konnten die beschuldigten Zauberinnen lange gereimte Formeln memorieren, die auf ein reichhaltiges Repertoire verweisen.“ „Selbstverständlich wurden nur nichtschädigende Zauberformeln zu Protokoll gegeben, die die Harmlosigkeit […] unter Beweis stellen sollten, doch der Übergang zur schwarzen Magie war fließend. Wachsbildnisse, Krotten, Hostien, Nadeln etc. fanden sich bei den Hausdurchsuchungen immer wieder“, so der Historiker Wolfgang Behringer. 22
Eine lieb zu haben Da Gott eintrat in den sal: Bis mir Gott wilkumen du seliger Mon. So schein mir heut freund vnd won. (mhd. won = Wohnung,)
20 Schönwerth, Franz Xaver von: Aus der Oberpfalz, Augsburg 1857, I,133 (Neuausgabe Pressath S. 80) 21 Augsburg Stadt, Strafbuch 1588–96, fol.75, daraus veröffentl. Behringer, Wolfgang: Hexenverfolgung in Bayern, München 1988, S. 158–159, 185 22 Augsburg Stadtarchiv, Urgichtenakten Anna Stauderin, Flachsknüpferin in Augsburg, vom 23. 7.1590
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Schein mir heut an daß Hauß, da mein buel geet ein vnd aus. (mhd. buel, buole = Geliebter) Schein Jm auf sein Zungen dz er muß zu mir khomen, Schein Jm uff sein lung vnd leber dz Jm so wee nach mir geschech. Als seiner lieben Muter geschach da sy Jn gebar [...]
Was den Einsatz von Hilfsmitteln zur Erlangung eines/r Partners/in angeht, so hat moderne Klick-Magie alles Frühere bei weitem übertroffen. Trotzdem ist auch für die hier besprochene Zeit des Mittelalters bei der immerwährenden Brisanz des Themas mit allem zu rechnen. Manche Befunde sprechen dafür, daß die Menschen des Hochmittelalters sich noch mehr als Geschlechtswesen, weniger als Individuen erfahren haben,23 deren Beziehung immer auch schon die geschlechtliche Seite einschloß. Zwischen Liebe und Sexualität im heutigen Sinne wurde kaum unterschieden, sodaß Enthaltsame schon fast heilig waren. Das hatte sich schon im Frühchristentum gezeigt. Das älteste Scenario übernatürlicher Gewalt durch Liebeszauber war ein Muster für Schriftsteller im 2. Jahrhundert. Die heidnischen Eltern der Thekla sexualisierten ihr Verhalten. „Weg mit dem Zauberer, denn er hat alle unsere Frauen verdorben“. Die später heilig gesprochene Thekla hatte sich von Paulus’ Predigten über Jungfräulichkeit und Auferstehung mitreißen lassen. „Die Frau, besonders die keusch lebende Witwe war zu jener Zeit zentrale Gestalt der christlichen Bewegung. Sie war als ein von Natur verletzliches Wesen das „Tor“ sowohl zu Gott als auch zum Teufel; sie war Eva und zugleich Visionärin und trug Anwartschaft zum Märtyrium immer in sich“.24 Solch sublime Wege der Veredelung von Sehnsucht waren der heidnischen Antike fremd. Zeugnisse ihres Liebeszaubers auf Bleitafeln nannten Namen von Absendern und Ersehnten, kannten die geheimnisvollen Schriftwinkel und Zeichen und wurden von ihren Anwendern wie „Wanzen“ mit performierender Psychowirkung in Mauern eingepflanzt. In Peiting bei Schongau, in der Kammer einer Villa an der Via Claudia Augusta, will im 2. oder 3. Jahrhundert ein Clemens seine spröde oder untreue Gemella verzaubern und hält ihr sein natürliches Verlangen vor. 25 – In Mautern-Favianae an der niederösterreichischen Donau, etwa zur gleichen Zeit, ist es eine Frau, die Silva, welche ihren Aurelius besitzen will und die Götter der Unterwelt anruft: Pluto und Eracura. Auf ihrem Bleiplättchen ist sein Name magisch wirksam umgekehrt, auf dem Kopf stehend geschrieben.26
Erzwungene Trennung von fleischlicher und „ideeller“ Liebe, von Geschlechtslust und Herzensneigung konnte Marter werden. Ein Mann, der eine Frau begehrt, ist 23 Willms, Eva: Liebesleid und Sangeslust, Liebeslyrik im 12./13. Jahrhundert, München 1990, S. 163f, 24 vgl. Brown, Peter: Die Keuschheit der Engel. Sexuelle Entsagung, Askese und Körperlichkeit am Anfang des Christentums, München Wien 1991, S. 168ff 25 Nesselhauf, Herbert, Germania. Anzeiger d. römisch-germanischen Kommission des deutschen archäolog. Instituts 38 (1960), S. 76–80 26 Egger, Rudolf. Römische Antike und frühes Christentum, Klagenfurt 1967, II, 24–33
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infolgedessen „minnesiech“, das heißt „in Liebe krankhaft entbrannt“; sein Verlangen nicht zu stillen, macht Liebesqual und beißende Sehnsucht, und ist gleichsam Betrug und Sünde, ja vielleicht einmal fast Vernachlässigung eines armen Kranken. War doch eine von Constantinus Africanus in Salerno im 11. Jahrhundert übersetzte Vorstellung antiker Liebeskrankheit mit psychophysischen Störungen nach Art von Besessenheit in die abendländische Krankheitslehre und in die Minnedichtung gelangt. Und das Leiden hatte vorwiegend die „Herren der Schöpfung“ befallen.27 Umso heftiger werden die Formeln, wenn der „Dienst des Liebenden“ nicht belohnt wird, wenn die Spielregeln der strikten Dienst-Lohn-Relation zwischen den Geschlechtern, zwischen Gläubiger und Schuldner, nicht eingehalten werden.28 Und so blieb beinahe jedes Mittel anwendbar, bis hin zum trivialen, aber doch noch milden Einsatz des Kirchgangs und einer Weiheformel der heiligen Messe: 29
Item das dir eini nachgang. Item wan du in die kirch gast an suntag, so sprich, Madalena (oder wi si dan heist) gedenk hiut an mich, als ich [an] dich; das enpeut ich dir pey dem 3. wort, die der priester ob dem altar spricht, wan er den zarten frolichnam (heilige Hostie) unseres herren Jesu Christi zů 3 stucken prich: (bricht) das erst ist sus, das ander ist milt, das drit ist gůt, also mues ich dir sin in dinem sin und můtt.
Über all die hier genannen Formeln und Riten hinaus wurden Befehle also oft noch dringlicher, noch zwingender und zorniger, wenn eine einmal an sich gesunde Sehnsucht, die nicht mehr rational befragt wird, ihr Ziel verlor und umkippte. Der im 12. Jahrhundert einsetzenden Wende aus dem allgemeinen Schutzmantel der Kirche hinaus zu mehr Vereinzelung der Seelen folgte bald eine Entfesselung von Leidenschaften in beide Richtungen, mystische und magische. Alles freilich nur, soweit wir das schriftlichen Quellen entnehmen können. Stellenweise perfekt aufräumende Rachsucht kam nun von einer ganz anderen, nicht mehr nur privaten nachbarlichen Seite und bediente sich bevorzugt gerade dessen, was die Denunzianten mitbringen mußten (!), des Satans und seiner Feuersglut und ätzend-stechender Instrumente. Wie so oft in der Geschichte hat sich eine Krankheit für ihre eigene Therapie gehalten oder ausgegeben. Kausalitätsfahndung, wo Startblock und Startschuß standen, geriet leicht in Kreisschlüsse. Im Kapitel 18 folgen einige Texte, die die Systematisierung und Verwaltung von „Liebesglut“ bezeugen.
27 vgl. Jacquart, Danielle: Die scholastische Medizin, in: Grmek, Mirko D.(Hg.): Die Geschichte des medizinischen Denkens, München 1996, S. 216–259, hier: S. 258f 28 Willms, E. wie oben, S. 137 29 Chur Staatsarchiv Graubünden, Handschrift B 931, 16. Jahrhundert, veröffentl. durch Jecklin, F.:Proben aus einem Arzneibuch, in: Schweiz. Arch. Volksk. 27 (1927),79
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Abb. 47 Liebeskrankheit im Hohelied und christliche Warnung und Weisung. Figurale Bibelsprüche (Augsburg 1684)
Neurologisch-psychiatrische Bedeutung von Liebeszaubersprüchen Im Gegensatz zu den medizinischen Notfällen, auf die die vielen anderen Spruchtexte zielen und denen eine meist eindeutige Erwartung im limbischen System eines Patienten zu unterstellen ist, bieten angewandte Liebeszaubersprüche eine ganz andere Grundsituation. Die hier genannten Beispiele zeigen verschiedene Ziele an, die Erzwingung von Gegenliebe, von Rückkehr aus Untreue und die Verschonung vor Brutalität. Gemeinsam ist ihnen die versuchte Fernsuggestion, wie sie theoretisch bei expansiv-persekutorischen Syndromen im Rahmen von Psychosen und bei Zwangsneurosen vorkommen kann. Der besprochene Partner und Geliebte ist selten anwesend; die Beschwörung oder das Gebet richtet sich an eine vermittelnd angerufene Instanz, ob Himmelskörper, Pflanze und Baum oder Jesus Christus. Schon nach ihrer archivalischen Herkunft sind die Texte von reiner Stimmungslyrik und Trennungsklage weitgehend abgrenzbar, obwohl sie oft deren Elemente enthalten. Dem Neurologen bieten sie Einblicke nicht allein in die Selektions- und Verarbeitungsweisen von Gehörtem und Gesehenem und in weitere sensorische „Eingänge“ und ihre Verarbeitung ins Gehirn, sondern in die nur scheinbar produktiveren „Ausgänge“. Wir stellen uns einen Menschen voller drängender Gefühle vor, Gefühle der Wut und der Illusion von Macht, die im Begriff ist, zornig in Ohnmacht umzuschlagen. Und vor allem: zwanghafter Eifer unerfüllter sexueller Begierde, einer Naturgewalt30 seit Menschengedenken. Gegenüber Primaten sind beim 30 Der Hinweis auf „Natur“ ist historisches Kontinuum der rhetorischen Verweise auf kulturell Erlaubtes und Verbotenes. vgl. Walter, Tilmann: Unkeuschheit und Werk der Liebe, Berlin u. a. 1998, S. 483
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sexuell erregten Menschen nicht Amygdala* und Hippocampus* als evolutionär alte Gebiete erregt, sondern die rechte orbitofrontale Großhirnrinde, ein Gebiet des voll bewußten Planens, zusammen mit dem linken vorderen Cingulum31, dem Dirigenten der Hormonsteuerung. Gleichzeitig wird ein Gebiet links orbitofrontal, das Sexualität bremst, außer Betrieb gesetzt. Diese Lokalisation der Gehirnerregung gleicht in fataler Weise den Ergebnissen bei Zwangskranken, die ebenfalls innere Impulse nicht rational umzusetzen vermögen. Sind Liebeszaubersprüche bei Liebeskrankheit närrische Versuche symbolgestützter Selbsttherapie, Urformen der paradoxen Intention? Hier wie in zahllosen anderen Feldern der Zwangsneurose, einer der im Gehirn verankerten seelischen Störungen, der viele als „magisch“ beschriebene Mechanismen menschlichen Verhaltens entspringen, sind in naher Zukunft klärende Forschungsergebnisse zu erwarten. Mit Hilfe der bildgebenden Verfahren werden direkte neuronale Korrelate von symptomunabhängigen krankheitstypischen Defiziten zu unterscheiden sein. Darüberhinaus zeichnen sich differentialtherapeutische Hilfen für Zwangskranke ab.32
31 Stoleru, Serge et al.: Brain processing of visual sexual stimuli, in: Psychiatry Research: Neuroimaging 124 (2003), S. 67–86 32 Walter, Henrik: Funktionelle Bildgebung in Psychiatrie und Psychotherapie. Stuttgart New York 2005, S. 315
18. Liebesglut an Hexenfeuern: Die inquisitorische Perversion der heilige geist ist ein liep, der tiuvel zeiget dir ouch sin liep. […] der heilige geist ist daz viur (Feuer), der tiuvel ist alsame (ebenso). der tiuvel entvahet (entzündet) daz saflose (dürre) holz unde swerzet ez zem ersten mit suggestione (Versuchung).1 Ganze Bussladungen von Kindern, wohl mit Bibi Blocksberg oder Hexe Lilli im Hinterkopf, stürmen die Ausstellung.2
– Die verhexte Quellenlage des Liebeszaubers – – Inquisitoren als Spruchgestalter? – – Kam Hexenwahn von „unten“ oder von „oben“? – – Eine der vielen Krankheiten, die sich für ihre Therapie hielten –
Zeitlich parallel zu den volkspoetischen oder den der christlichen Mystik nachempfundenen Textanteilen des Liebeszaubers sind gleichfalls seit dem frühen 15. Jahrhundert Sprüche nachweisbar, die nun drastisch mit Hölle, Glut und Teufel operieren. Ob und welche ihrer Wurzeln mehr römischer Antike oder mehr germanischem Heidentum entspringen, ist unter Historikern angesichts der jahrhundertelangen Korrespondenzen bei der Akkulturation der nordischen Völker umstritten. Dabei geht es um Gewichtung und Transporteure: Hatten gelehrte Schriften oder hatte der Volksmund von Generation zu Generation getragen, was den Boden für Wellen der Unvernunft bildete? Denn alles war schon einmal dagewesen. Römische Dichtung und Zauberpraktiken kennen den Bildzauber mit Nadeln und Wachsschmelzen, kennen das anorektische Schmachten, das Glühen der Scheiterhaufen und die Wolfsgestalt.3 Vergleichbare schriftliche Zeugnisse der Germanen4 konnte es nicht viele geben, aber war nur auf Schriftquellen Verlaß? Waren sexueller Verkehr mit Teufeln und Monstern, Teufelsbuhlschaft und Glaubensabschwörung keine volkstümlichen Erzählstoffe?5 Ging die Dynamik der Repression vom 1 2 3 4
5
Aus dem St. Trudperter Hohelied, Prolog, 12. Jh., Hg. Ohly, Friedrich, Frankfurt 1998 Aus: Kommentar zur Ausstellung Hexen – Mythos und Wirklichkeit, im Historischen Museum der Pfalz, Speyer; FAZ 27.10.2009 Luck, Georg: Hexen und Zauberei in der römischen Dichtung, Zürich 1962; Graf, Fritz: Gottesnähe und Schadenzauber, München 1996 Beispiel bei Niederhellmann, Annette: Arzt und Heilkunde in den frühmittelalterlichen Leges, Berlin u. a. 1983, S. 96, (Hg.: Karl Hauck, 12. Band. Die volkssprachlichen Wörter der Leges Barbarum. Teil III, hrsg. von Ruth Schmidt-Wiegand) vgl. Petz, Wolfgang: Die letzte Hexe, Frankfurt/ New York 2007, S. 110
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„Druck der Straße“ und der Dörfer auf die Gerichte aus?6 Die detaillierte Erforschung der „Hexenprozesse“ in den letzten Jahren hat mit großer Übereinstimmung ergeben, daß die Bevölkerung mit Nachdruck eine Bestrafung der für wirksam gehaltenen Zauberei verlangt hat. Sicher ist, daß unter den Prozesstorturen aus Angst vor Schmerzen oft die wildesten Dämonengeschichten aus volksläufiger und aus kirchlicher Hexentradition konfabuliert wurden,7 daß aber in regional unterschiedlichem Grade die prozessentscheidende Teufelsmagie hineingefoltert wurde. Kaum jemand wird sich freiwillig belastet haben. Wer sich einen Überblick über historische Forschungsergebnisse zu schaffen versucht, wird wie selten auf einem Problemfeld eine breite Palette finden und darunter viele von Gruppen- und Eigeninteressen gefärbte Abseitsprodukte.8
Halten wir uns an einige der in Archiven verwahrten Spruchtexte, so muß dem vorreformatorischen Zeitalter der Beginn eines Umkippens vieler älterer Textgestalten und Text-Indikationen in magische Teufelspraktiken, in Blasphemie und in
Abb 48 Jenseitsstrafen für Fleisches- Verfehlungen. Leiber in Verstrickung mit Schlangen der Lüste, Teufel beim Aufräumen mit Spießen: Hinab durch Gluten in den Rachen der Hölle. Deckengemälde der Kirche in Schmirrn am Brennerpass um 1750
6 7 8
Behringer, Wolfgang: Hexerei ist machbar, Frau Nachbar, Rez. zu R. Briggs, in: FAZ 1.10.99, S. 49 Dinzelbacher, Peter: Heilige oder Hexen, Zürich 1995, S. 221 Außer den zitierten Autoren sei auf folgende Arbeiten verwiesen: Eine guten Überblick zu methodischen Ansätzen bei der Erforschung der Hexenverfolgung gibt ein Sammelband, herausgegeben von Christian Degn, Hartmut Lehmann und Dagmar Unverhau (Hexenprozesse, Neumünster 1983). Einen differenzierten christlichen Rückblick vermittelt Victor Conzesius unter dem Titel „Die Inquisition als Chiffre für das Böse in der Kirche“ in Stimmen der Zeit 217 (1999), S. 651–668. Für die österreichische Situation hat Heide Dienst (in Zöllner, Erich (Hg.), Wien 1986) einen wertvollen Beitrag gegeben.
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Egozentrik zugeordnet werden, wenn ein stärkeres Anschwellen auch erst später, z. T. im 30-jährigen Krieg erfolgte. Das betrifft beispielsweise ebenso die Ausfahrtsegen mit der 3-Blutstropfenbeschwörung und der Verbiegung des Kreuzsegens in eine satanische 3-Knoten-Praxis wie nun hier die in die Rechtspraxis der Verwaltungsstrukturen vorgedrungenen und damit uns überlieferten Hexensprüche. Das helf mir Luzifer … Bei der Niederschrift dieser „Liebe“ heischenden verbalen Ermächtigungsversuche in den Amtsstuben lagen die Raster von Fragekatalogen zugrunde, die einen Teil der Justiz dazu verführte, bei diffamierten, verhaltensauffälligen oder sozial nicht integrierten Mitmenschen zwischen zwei Extremen zu unterscheiden, zwischen heilig oder unheilig. Und bekanntlich ging es oft um Leben und Tod oder Vertreibung. Mit Liebe und Tod, Fegfeuer und Teufel hatten freilich auch schon die christlichen mystischen Dichtungen gerungen. Die Sünde sei klein oder groß, der Teufel ist ihr Genoss’, heißt es bei Mechthild von Magdeburg. Und viele Zeitgenossen der Mystiker und Mystikerinnen waren sich uneins, ob eines die außergewöhnlichen Fähigkeiten von Gott oder vom Teufel hatte.9 Aber die Anmaßung, über persönliche Verfehlung der Mitmenschen den Stab physischer Gewalt zu brechen, wäre allen christlichen Mystikern als Absurdität erschienen. In einem der frühesten Prozesse in Basel 1407 haben Ärzte folgenschwer bestätigt, daß der Mann der angeklagten Stammlerin wirklich durch Nahrung von seiner Frau vergiftet worden sei. Das Gift habe dann nicht im Magen, sondern in seinem Kopf gewirkt und zur Taubheit geführt. Intrigante Verkettungen und Denunziationen werden, wie in fast allen diesen Verfahren, akribisch und mit einem Hexen-Lichtkegel abgesteckt. Hier soll mit Unterstützung ihres Spruches der untreue Gatte von neun Werwölfen mit Luzifers Hilfe zerbissen und zerrissen werden; schon der Eingang läßt das Muster des Textabklatsches erkennen und was aus den 55 Engeln des Weingartener Reisesegens10 geworden ist: 11
Jch sich dir nach und sende dir nach nün gewerewolffe drie die dich zerbyssent, drie die dich zerrissent, drie die din hertzlich bluot usslappent und sugent – und lege dich har zuo diser gluot din sinne und ouch dinen muot,
Ich schau dir nach, ich sende dir nach: neun Werwölfe drei die dich zerbeißen, drei die dich zerreißen, drei die dein Herzblut auslecken und aussaugen, und lege dich her zu dieser Glut, deine Sinne und deinen Mut,
9 Dinzelbacher, Peter: Die christliche Mystik und die Frauen, in: Beutin, W. und Bütow, T. (Hg.): Europäische Mystik vom Hochmittelalter zum Barock, Frankfurt u. a., 1998, 13–30 10 Vergleiche das Kapitel 28 11 Liebeszauber der Stammlerin, Stadtarchiv Basel, Leistungsbuch Anno 1407; veröffentl. Buxtorf-Falkeisen: Basler Zauber=Prozesse, Basel 1868, XI, S. 18
176 din schlaffen und din wachen, din essen und din trinken – das du min in dinem hertzen ze guettem nyemer moegest vergessen. Dir müsse nach mir werden als wunder we – als dem wachsse by dem füre – das helffe mir Lutzifer in der helle und alle sine gesellen.
Spruchtexte
dein Schlafen und dein Wachen, dein Essen und dein Trinken. daß du meiner in deinem Herzen im Guten kannst nie mehr vergessen. Dir muß nach mir werden gerade so überaus wehe wie dem Wachs am Feuer. Das helf mir Luzifer in der Hölle und alle seine Gesellen.
Die Stammlerin wird auf Dauer der Stadt Basel verwiesen zur Strafe, daß sie ihrem Mann das Gift gab. Außerdem habe sie ein wächsernes Männlein an einem Spieß gebraten und eben jenen bösen unreinen Segen gesprochen in des Teufels Luzifers Namen. Das heißt, daß die Strafe auch wegen des Zauberspruches erfolgte. Die Prozesse jener Jahre hatten, so schreibt Carl Buxtorf-Falkeisen 1868 „gerade in höchsten Familienkreisen der Stadt, unter Adel und Bürgertum“ stattgefunden und waren nach seiner Meinung „durchaus von weiblicher Seite ausgehend“. Die Hinzuziehung von Ärzten beschränkte sich auf die Frage nach Toxizität; aber auch berühmte Ärzte wie Guy de Chauliac und Ambroise Paré glaubten an Hexen. Nach mentalen Gegebenheiten von Klägern, Beklagten, Zeugen und Richtern war nicht gefragt. Der geistige Zustand der Gesellschaft schloß die Existenz von Psychiatrie aus. (Gesellschaftlich anerkannte Psychiatrie und Hirnforschung können einen Massenwahn allerdings nicht verhindern.) Adel und Bürgertum waren nicht nur in Basel involviert. Die Merowingerkönigin Fredegunde, selbst in Zauberkünsten bewandert, ließ im 11. Jahrhundert ihre Feinde wegen Zauberei grausam foltern und töten.12 Kaiser Rudolf II. (1576–1612) wird für einen Zauberer gehalten. Krankheiten am bayerischen Hofe und anderen Fürstenhäusern werden auf Verhexung zurückgeführt.13 Des Kurfürsten Johann Georg IV. von Sachsen Tod 1694 löst einen Prozess um Satans Feuerspieße aus.14 Der folgende Spruch vermischt die bekannte Bocksreiterei der Hexen mit christlichem Glaubensgut und korrespondiert also mit den potentiell allgemein menschlichen ambitendenten Charakteranteilen, die Erfolg um jeden Preis, auch unter Verlust sittlicher Ordnung anzielen. Die als Hausbuch deklarierte anonyme Sammelhandschrift des Codex palatinus germanicus 212 der Universitäts-Bibliothek Heidelberg stammt „eventuell aus dem Besitz Kurfürst Ludwigs V. von der Pfalz“; allein schon die Delegierung des Erfolges nicht an göttlichen Willen, sondern an den Satan weist bei Zugrundelegung des Fragekatalogs des inzwischen 1487 erschienenen Hexenhammers, des Malleus maleficarum, auf eine Herkunft 12 Blöcker, Monica, Ein Zauberprozess im Jahre 1028, in: Zeitschr. für Schweizerische Geschichte 29 (1979), S. 533–555, hier: S. 534 13 Behringer, Wolfgang: Hexenverfolgung in Bayern, München 1988, S. 170f 14 Ebel, Karl: Allerlei Todes- und Liebeszauber. In: Hessische Blätter f. Volkskunde III (1904), S. 130–154
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des Spruches aus Prozessakten hin. Hier begegnet eingangs die auf dem Zaun reitende althochdeutsche Hagazussa, das Zaunweib, die nordische Zunrite, wie sie in den Rezeptionen der Jahrhunderte bewundert als helfendes Naturweib und Alleswisserin oder verdammt als höllische Verführerin, als Hexe eben, eigentlich bis heute höchst attraktiv blieb. 15
Gee zu einem Zaunstecken. Vnd sprich zu einem Zaunstecken, ich weckh dich ! Mein Lieb das wolt ich. Jch beger vil mer dan alle[r?] teufel her her zu mir so rür ich dich Zaunstecken. Alle teufel müssen dich wecken vnd füren in das haus do mein lieb geen [ein] vnd aus [:] das du müssest faren in dy vier wend‘ wo sich mein lieb hin ker’ oder wend. Es ist aller Eeren wol werd, Jch sent ir einen Bockh (zum Pferd?) Jch ruff euch heut alle gleich, bei den drey negeln reich, und bey dem rosen farben plut das gott aus seinen heiligen Wunden floß. Jch beut euch teufel her, ir bringet zu mir mein lieb N. her […]
Genaueres ist den Goslarer Inquisitionsakten des 16. Jahrhunderts zu entnehmen. Die Venne Richerdes ist beschuldigt, beim Prozess um die Rammelsberger Metallgruben die Stadt Goslar in Augsburg beim kaiserliches Gericht verraten zu haben. Sie wird bei ihrer Rückkehr verhaftet und erzählt „ungezwungen“ von Feuerkatzen, mit denen sie Goslar in Brand stecken wollte. „Schärferes Befragen“ ergibt Kontakt mit einem Schäfer. Und die Folterung sowie Zeugenaussagen „angesehener Männer“, denen Krankheit angehext ward, förderts an den Tag. Die Angeklagte habe auf Anraten mit einem blühenden Ahornzweig erfolglos im Feuer gestochert und den Teufel dabei angerufen: 16
Um eines Mannes Liebe zu gewinnen, müßte sie nachts unter einen Ahorn gehen und leise sprechen: Alhorn, du blôte, Ahorn, du Blüte ik bidde dik dorch dine sôte, ich bitte dich bei deiner Süße dat ik moge affbreken daß ich möge abbrechen unde heime dragen und heimtragen Sin barnede leve in minen schragen. seine brennende Liebe in meinen Besitz.
15 Heidelberg Univers.Biblioth. CPG 212, fol.57v, Digital 0124 (16. Jh.), veröff. Mone, Anz. 3 (1834), 278f 16 Goslar Stadtarchiv A 12334, Privata 1533,11
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Spruchtexte
Abb. 49 Fegfeuerqualen. Jede Sünde wird speziell bestraft. Stereotypiedruck (15. Jahrhundert)
Das hätte sie auch befolgt, auch darnach, wie geheißen, ins Feuer gestochert (in dat vûr stoken) in seinem und in ihrem Namen unter Anrufung des Teufels, der der Liebe Macht hätte. Aber es hätte nichts geholfen; so bäte sie als ein unglückliches Weib, daß man ihr dies nicht als Sünde anrechnen wolle
Wegen Verrats der Stadt und Zaubereien wurde Venne „mit dem Schwert vom Leben zum Tode gebracht“. Die neuzeitliche Einschätzung der Prozess- und Urteilsgerechtigkeit ist bemerkenswert: Prof. Hölscher (1902): „Rabiate Person, denn wenn es auch durch die Folter erzwungene Geständnisse waren, so möchte doch kaum ein Zweifel bestehen, daß sie richtig waren“17 – 91 Jahre (1993) später gibt Ingeborg Titz-Matuszak folgende Einschätzung: Ihr Haß gegen die Stadt, die ihrer Familie großes Unrecht getan habe (wegen Brachliegens der Gruben verarmt), „ließ sie mutige und für eine Frau ihrer Zeit ungewöhnliche Schritte (zum Augsburger Reichstag 1530) unternehmen“. Zaubereivorwurf als Instrument, um mit einer 17 Hölscher, U., Zeitschr. des Harz-Vereins f. Gesch.und Altertumsk. 35 (1902), 415
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couragierten Frau fertig zu werden. V.R. „wurde jedenfalls nicht als Zauberin verbrannt, sondern „nur“ enthauptet, wegen Verrates der Stadt und Zauberei.“18 Je heißer das Feuer ... Neben der Anrufung des Satans hat ein Teil dieser Belege aus den Inquisitionsakten eine Strategie, die wohl nicht zufällig gerade an das erinnert, was in den Torturen geschah und was andererseits über die schmachtenden Körper der frühchristlichen Asketen, Märtyrer und Märtyrerinnen geschrieben stand, das Blutig-Stechen, Hitzen, Glühen und Brennen, wie es die verbreiteten Fegfeuerdarstellungen auch dem Leseunkundigen zeigten (Tafel 7; Abb. 48, 49). Derartige Texte sind bis in die letzten beiden Jahrhunderte immer wieder weitergegeben oder abgeschrieben worden. In Bremen steht 1574 Gesche Meier vor Gericht. Sie zauberte „professionell“, hatte ein Generalrezept für Liebeskalamitäten und viel Zulauf. Um sich mit einer Mannsperson zu versorgen, nimmt sie drei Nähnadeln und drei eiserne Nägel und erhitzt sie in Wasser über dem Feuer. Dabei sagte sie: 19
Hyr steyste yn der glot, Hier stehst du in der Glut dyn flesk dyn blot. dein Fleisch, dein Blut Dann nannte sie den Namen des Mannes und fügte hinzu: dat du kamest balde daß du bald kommen mußt
Eine ganz ähnliche Absicht, ebenfalls im 16. Jahrhundert, verrät ein Text aus Böhmen: 20
Zauberformel zum Erzwingen der Liebe Item wildu machen das eine kain rueh mag haben den sy thue dainen willen So schreib auff ein weyss Glass dyse wart +assoael + mammens + baldus + rebaldus + tausent listiger vnd leg das glas czu dem feure vnd sprich dise wartt als hayss das glas ist als hayss sy der n nach mir N Etc.
Bis ins 19. Jahrhundert und nun losgelöst von den Stätten der Inquisition werden solche Texte in Haus- und Zauberbüchern weitervermittelt. Sie behalten aber die Allegorien und Analogien der Liebesglut: 21
Wil du daß dier ein Weibsbielt deinen wiellen dutht, so schreibbe Ihren nahmen mit schwartzem bluth in einen sbüchel (Spiegel). So oft du dreinsiehest So wirth ihre lüben
18 Titz-Matuszak, Ingeborg, Zauber und Hexenprozesse in Goslar, in: Niedersächs. Jahrbuch für Landesgeschichte 65 (1993), S. 118–120; Romanverarbeitung Hermann Kassenbaum 1926 19 Schwarzwälder, Herbert: Die Formen des Zauber- u. Hexenglaubens in Bremen, in: Heimat und Volkstum 1958, S. 18 20 Ammann,J.J., Zeitschr.f.dt.Altert. 35(1891), aus Kloster Hohenfurt, Böhmen, Hs Nr.12, fol.89b,16.Jahrh. 21 Wunsiedel Fichtelgebirgsmuseum C213/2823, Hs Ächtner, 1769/1796
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Spruchtexte
(Lippen) endtzündten. Wielt du es noch besser machen So niem ein Glaß und schreib ihren Nahmen druff und wierff es in das feuer daß es warm wierd und Sbrich So Heieß dieses glaß wiert so Heiß mießen Deine lüben / end zünden werden.
Die Formeln der Machtgewinnung über erwünschte Partner, meist aber Partnerin, und die Symbolik der Mittel und Riten sprechen eine ganz klare Sprache. Es heißt, sie muß kommen, darf keine Ruhe mehr finden, muß immer heißer glühen, sich entzünden, muß nachlaufen, sich aufdecken, ausziehen und letztlich willfährig werden. Dabei ist rhetorisch gesehen oft eine Komparativformel eingebaut, das „Je heißer – umso heftiger“ und die fiktive Grenzenlosigkeit physischer Potenz für Wärmeerzeugung imaginiert einen Bumerang-Effekt, ein eher Selbst-Verglühen, nun nicht mehr unter Torturbedingungen. Kaum ein Zaubertyp vermag besser die Ohnmacht und Hybris von Wünschen zu verdeutlichen als diese Art des Liebeszaubers. Das zeigen auch weitere Texte, in denen die sprachsuggestiven Elemente zugunsten praktischer Zeremonien zurücktreten. Selbst-Betörung durch Glutsteigerung, Fundamentlosigkeit auf Eselsohrenschmalz, Unterwerfung unter Nichtigkeit und Wechselhaftigkeit windiger Haare – das alles kennzeichnet diese Texte schließlich eher als literarische Blüten einer Parodie menschlichen Selbstbetruges. In seiner Hirschmonografie notiert der Nürnberger Stadtarzt und Paracelsusanhänger Heinrich Wolf die in alten Rezeptbüchern geschätzten Hirschsubstanzen als Liebesmedizin; eine Kerze aus dem Fett des Wildes muß angezündet werden: 22
Ein Licht von eim hirschen (-Unschlitt) zu machen, wens angezint, das sich die frauenbild entblössen müssen
Ähnliche Anliegen mit komplizierterer magischer Technik sind dem Hausbuch der Heilerfamilie Johannes Anger im Fichtelgebirge zu entnehmen: 23
Daß dich (sich) eine Aufdecken muß, bis an den Nabel. Nim Haar von ihr von Kopf, oder sonst von ihren Leib, und Schmaltz von einen Esels Ohr, und mach es zu Pulver, und gieb ihrs zu trinken, sie wird sich aufdecken, als wollte sie ins Wasser. Es soll oft probiert sein.
24
Einen Weibsbild die Liebe zu thun Daß dir eine muß nachgehen, wo du hin wilt, so nim ein Ey daß an einen Mittwoch gelegt ist, und schreib deinen und ihren Namen darauf, und legs auf klühende Kohlen, wan es sich erhitzet so muß sie kommen, aber, du mußt es in des bösen Namen thun, oder nim Haare drey von der Stirn, und thue sie mit obigen Wortten in eine Mühlwelle, merck aber, das du weist, wo du sie hinein gethan hast, wen du sie wiederum aufthun willst, das du sie wiederum kriegst.
22 Aus der Jagdschrift des Nürnberger Stadtarztes Heinrich Wolf, 16. Jahrh, veröff. Telle, Joachim, in: Zeitschrift für Jagdwissenschaft 17 (1971), 78–94, hier: S. 88 23 Marktleuthen Fichtelgeb., Stadtarchiv Bd. 30, hs. Hausbuch Joh. Anger um1787, S. 58 24 ebenda, S. 54, veröffentl. Ernst, W., Zauber, Riten und Rezepte, Weißenstadt 2007, S. 54
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Auch dieses magische Liebesrezept ist mit seiner Feueranalogie älteren Arzneibüchern nicht fremd: 25
Item (nim) eine ei, das an einem phingstag gelegt worden sy, scrib darauff iren namen und dinen und facta libatio helitur, legs fürn für (Feuer), wan die hitz angat, so kumpt si
Abb. 50a/b Liebeszauber mit Teufelsbeistand und Kastrationsangst als Selbstbestrafung bilden zwei Antipoden sexueller Entgleisung. a) Aquarell (2005) zu einem Spruch des 18. Jahrhunderts: „Einem Weibsbild die Liebe zu tun …“ b) Patientengemälde bei neurotischer Depression, über Schlangenbändern ein blindes Auge Gottes
Nicht nur Glas, Nadeln und Nägel, Eier und Kräuter sind zu erhitzen, um die Ersehnte für sich zu entflammen, sondern auch Wachs, wie es schon mit anderen Absichten die Baseler Stammlerin in ihrem Spruch sinnbildlich als Bedrohungsmittel einsetzte und wieder anders Birgitta von Schweden in mystisch-liebender Verzückung: Die Heilige ließ sich flüssiges Wachs auf die Haut tropfen. Im folgenden soll eine Tafel Wachs junger Bienen nach erwünschtem Bilde geformt, mit dem Namen der Ersehnten und mit einer obskuren Buchstabenfolge versehen werden. Je näher ans Feuer gesetzt, umso heftiger eilt sie herbei: 26
Amore. Item nimm Junckfrauen wax, mach ein Bhild darauß […] gib im den Namen, wie sie heißt; so du geben wilt; schreib den bilt die Caracter auf die Brust vorn auf das herz ff + b + 0 + 2 + d als dan sez es zu dem feuer. wol heißer dem bilt geschicht je heftiger sie zu dir eilt und bliebt nit auß
25 Chur Staatsarchiv Graubünden, Handschrift B 931, veröffentl. durch Jecklin, F.: Proben aus einem Arzneibuch, Schweiz. Archiv f. Volksk. 27(1927),80 26 Birlinger, Anton, Aus Schwaben, (Wiesbaden 1874), I, 462, „Alte Handschrift“, keine Quellenangabe
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Spruchtexte
Im folgenden Rache-Zauber aus der Obersteiermark erinnern magische Prozedur und Racheandrohung an antike Bleitafeln, auf denen Götter der Unterwelt angerufen werden, wie im Fund aus Mautern:27 28
Ein Mädchen, das die Treue des Geliebten festbannen will, begibt sich um zwölf Uhr Nachts auf den Friedhof, nimmt sieben Totenschädel und eine Zahl Totengebeine, legt sie in einen Korb auf eine Bahre und zieht die so beladene Bahre hin und her, worauf sie sagt: Lieber N.N. bleib’ Deinem Mädchen treu, sonst werden diese Toten in Deine Schlafkammer dringen und Dich und meine Nebenbuhlerin erwürgen.
Sieht man von den einstreuenden christlichen Begriffen, Beglaubigungen und Gebetsformeln in diese Texte ab, so sind viele hier versammelten Riten und Befehle des Liebeszaubers in der Antike sehr breit vorgebildet. Die Wachs- oder Tonfiguren, die Gliederaufzählungen, das Durchbohren von Hirn bis Scham, die brutalen Forderungen, die Defixionen, also Anbindungen als symbolische Akte erotischer Unterwerfung. Hier nur ein Beispiel, in dem ebenso wie in den mittelalterlichen Texten die Beschworene mit Dringlichkeit ihrer lebenswichtigen Funktionsabläufe beraubt werden soll: 29
Thobarabau teuthraiaiaiao bakao phlen noph ephophthe amou amim bain baara aalo bainaara aaaaaaa eeeeeee êêêêêêê iiiiiii oooooo yyyyyyy ôôôôôôô. Make fly through air the soul and the heart of Leontia, whom the womb of Eva bore, and do not let her eat or drink or get sleep until she comes to me, Dioskouros, whom Thekla bore, now now, quickly quickly.
In schriftlichen Zeugnissen der Dämonenliteratur, der Magiesammlungen, Medizinbücher, Häretikerschriften, Dekalog-Katechesen und Inquisitionskataloge ist im Kampf der Ideen manches Verwirrende über die Zeiten transportiert worden. Seit der Zeit des Buchdruckes um ein vielfaches vermehrt, geriet es in den letzten Jahrhunderten in Haus-, Brauch-, Kunst- und Zauberbücher. Die Epoche des 14./15. Jahrhunderts brachte dem Abendland von Island bis Sizilien vielfältige bedrückende und sich wechselseitig potenzierende Bedingungen: Pestepidemien, Hungerkatastrophen, Agrarverfall, Ketzerbewegungen und Endzeitpanik und mit all dem eine tiefe allgemeine Verunsicherung in Glaubensfragen. Die Folge war ein Prozess der panisch-krampfhaften Vergewisserung über die Tragfähigkeit der überkommenen strengen gesellschaftlichen Sitten- und Ordnungsprinzipien, wie sie beispielsweise in den Dekreten des Wormser Bischofs Burchard im 11. Jahrhundert schon früh vorgebildet waren. Die Versuche der Absicherung, 27 siehe im Kapitel 17 28 Schlossar, Anton, Germania 36(1891),403, ohne Quellenangabe. 29 Papyrus 9,3 x 9,5 cm, heidnischer Text trotz christlich bekannter Namen, 4. Jahrhundert nach Christus unbekannter Herkunft, Institut für Altertumskunde Köln, aus: Robert W. Daniel und Franco Maltomini (Hg.): Supplementum Magicum I, Opladen 1990, S. 155f
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zumal wenn verwaltungsmäßig als Reinigung sanktioniert, wurden oft und mancherorts bizarr reglementiert. Viele der hier verzeichneten Texte scheinen aus heutiger Sicht die Wirkmacht extrem dualistischer, schizoider und teilweise sado-masochistischer Verirrungen widerzuspiegeln, die Perversion, die sich für Therapie hielt. Die Geschichte kennt andere Beispiele aus manchen ihrer Wellentäler mit kollektiven Bewegungen. Diese psychiatrischen Bezeichnungen sind allerdings unangemessen, wenn nicht eingeräumt wird, daß bloße derzeitige Benennungsmuster nicht in der Lage sind, einst lebendige Menschen in Verstrickung mit ihrem Zeitgeist richtig erfassen zu können. Mit Vorliebe wurden und werden diese Zeugnisse von ideologisch färbenden, historisch skotomisierenden oder von sensationsbietenden Medien und Institutionen instrumentalisiert.
19. Migräne und andere Kopfschmerzen „Diese kleine Hölle, welche man im Kopf trägt“ (Heinrich Heine) Es hat sich ergeben […], „daß der Migräneanfall zur Darstellung einer gewaltsamen Defloration verwendet werden kann.“ (Siegmund Freud, 1899)
– Der Mini-Exorzismus: Artemis Ephesia gegen Antaura Carnuntina und die Verchristlichung eines Begegnungsspruches – – Die Symptome: Offene Köpfe und keine Himmelsschau – – Die vielen Namen: Hauptgescheid und Hauptgeschoss, Ungeseng und Hirngedräng, Hauptgestell und Kopfgeschwell … –
Im Jahre 1922 wurde bei Feldarbeiten nahe dem antiken römischen Lager von Carnuntum, 40 km östlich von Wien, ein Steinsarkophag gefunden, in dem sich eingerollte Gold- und Silberplättchen befanden. Eines der kleinen Silberplättchen ließ das Wort „Sabaoth“ in griechischen Buchstaben erkennen, ein anderes, etwas größer, ca. 52 x 92 mm, mit grauem Belag und unten abgebröckelt, überraschte mit einem Textfragment: 1
ПРОСНМІКРА ΝΙΝΑΝΤΑVΡΑ HΞHΛΘΕΝΕΚΤΗC ΘΑΛΑCCHCANE BOHCENΩC EΛΑΦΟCANE KPAΞENΩCBOVC V∏ANTAAVTH APTEMICEΦEC .. ANTAVPA∏O. V∏AΓ`EICTOH MIKP….N .HOV .. ICTA. ’I I ∏A KA
1
ÜBER HEMIKRANIE ANTAURA STIEG AUS DEM MEER, SIE SCHRIE AUF WIE EIN HIRSCH; SIE ERHOB EIN GEBRÜLL WIE EIN RIND; ES BEGEGNETE IHR ARTEMIS EPHESIA: „ANTAURA, WOHIN FÜHRST DU DIE HEMIKRANIE? DOCH NICHT IN DIE ….. ?“
Barb, Alphons: Griechische Zaubertexte vom Gräberfelde westlich des Lagers [Carnuntum], in: Der Römische Limes in Österreich Heft XVI (1926), Sp.53–68; für Übersetzungshilfe danke ich Herrn Dr. Manfred Krill, Königstein/Ts.
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Dieses Kleinamulett des 3. Jahrhunderts nach Christus handelt von Hemikranie, dem typischen Halbseitenkopfschmerz, wie ihn Migränepatientinnen auch heute nicht anders empfinden. Den Begriff hat der kaiserliche Leibarzt Clarissimus Galen* (um 129–216 nach Christus) verwendet: „Hemi“ kommt von griechisch „halb“ und „kranie“ aus lateinisch „cranium“ für Schädel. Daraus wurde später „Migräne“. Der Text gehört den erzählenden Begegnungssprüchen an, wobei hier die Schädigerin, also die Krankheitsüberbringerin Antaura auf eine Gegenkraft trifft, auf die bekannte Göttin Artemis. Beide sind weiblich und das entspricht zwar auch dem viel häufigeren Betroffensein der Frau, aber vor allem ihrer mythischen Übermacht als Zeugerinnen und Vernichterinnen. Drastisch ist denn auch der meist in Minuten subakut anschwellende, oft als vernichtend erlebte Schmerzanfall im Verhalten der Antaura wiedergegeben. Der Vergleich mit dem Röhren und Brüllen von männlichen Großtieren ist eine dichterische Meisterleistung. Antaura, deren Name sonst im Altertum nicht vorkommt, wird vielfach der sumerischen Dämonin Abyzou und der jüdischen Lilith nahe gestellt, ihnen gemeinsam sind die im (bösen) Winde wehenden langen Haare. König Salomon läßt Abyzou an diesen ihren Haaren vor dem Tempel aufhängen. Bestimmte Winde, Föhn, Meltemi, Mistral und Scirocco sind als Kopfschmerzauslöser allzu gut bekannt. Antaura, zwanglos aus Anti-Aura ableitbar, ist Gegenwind, Gegenhauch, ist ordnungswidriges Prinzip. Ich versage mir den Ausflug in die Vielgestaltigkeit der großen Göttin Artemis, der unter anderem auch der mit Antaura auftauchende Hirsch zugehört. Ich halte mich an jene Artemis Ephesia, die in dieser Stadt als Schutzgöttin fungierte. Eine unlängst am Hadrianstor auf einer Straßenplatte gefundene Inschrift des zweiten Jahrhunderts bezeugt Artemis als Amme und Förderin der Menschen, als Früchtespenderin, die Schmerzen und Seuchen zu vertreiben vermag, als lichtbringende Retterin, Artemis Soteira.2 Der Geschichtsschreiber Pausanias hatte von den wunderwirkenden Zauberbuchstaben an Gürtel und Stirnband einer ihrer Figuren berichtet, den „Ephesia grammata“. Und es hat Dankgebete an diese Artemis gegeben.
Die also in der Erzählung auftauchende Plage sucht ein Opfer und wird von Artemis aufgehalten. In unserer Silbertafelinschrift beginnt Artemis damit, Antaura auszufragen. Es ist, als unterbreche sie die Böse mit dem Namen einer schon vermuteten Migränekranken. Dabei übersehe man nicht, daß auch antike Denkweise als Kampf göttlicher Kräfte über dem ohnmächtigen Menschen mitspielen könnte. Denn wie dann die auf dem Amulettplättchen geritzte Formel, die leider hier abbricht, fortzusetzen wäre, wissen wir nicht; man bedenke, daß in den griechischen Zauberpapyri Artemis mit Selene und Hekata im Liebeszauber identisch ist.3
2 3
Schwindt, Rainer: Das Weltbild des Epheserbriefes: eine religionsgeschichtlich-exegetische Studie, Tübingen 2002, S. 127–129 Betz, Hans Dieter (Ed.): The greek magical papyri in translation. Chicago 1986, S. 332
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Trotzdem geraten wir in den kräftigen Sog der Fülle von späteren Begegnungssegen, die eine typenbildende Fortsetzung der Geschichte von Antaura und Artemis nahelegen. Überall da, wo ein personalisiertes Übel mit einer helfenden Macht zusammentrifft, entwickelt sich ein Dialog nach dem Muster: Abfrage über Ort und Art der beabsichtigten Schädigung, Antwort mit Geständnissen, Verbot und Vertreibung, meist mit exakter Angabe abseitiger Gegenden. Wo die Übel herkommen, dahin sollen sie wieder verschwinden. Gleiches wird mit Gleichem vergolten, mit der gleichen Waffe wird heimgezahlt. Es ist eine Art Mikroexorzismus. Ein anderer ebenfalls der Migräne gewidmeter griechischer Text der Pariser Bibliothek wurde über 1000 Jahre später niedergeschrieben, wahrscheinlich auf einer griechischen Insel oder in Kleinasien. Der Spruch läßt die Beharrlichkeit dieses Therapieschemas genau erkennen. Nur die Personen der Erzählung sind der neuen Zeit angepasst: Christus begegnet einem Teufelsgeschöpf, auch dies aus dem Meer steigend wie Antaura. Die Fronten sind nun ganz eindeutig. Der Migräneteufel wird mit einem Trick klein gemacht; es ist eine Halbierung des Halben, die diminuierende Gemination, die vermindernde Verdoppelung der Rhetoriker. Und die ganze Erzählung bekommt als Einrahmung einen gottesfürchtigen Sprecher: 4
Über Migräne (περί τον ήμίκρανον) Beim großen Namen Gottes des Allmächtigen! Als der Halbkopfschmerz, das Halbe des Halbkopfschmerzes, des Teufels Geschöpf, aus den Meerestiefen stieg, da begegnete ihm unser Herr Jesus Christus und fragte: „Wohin ziehst du, Halbkopfschmerz, Hälfte des Halbkopfschmerzes?“ Und der antwortete und sprach: „O Herr, was fragst du mich? Ich ziehe in den Gottesknecht N.N., in seinen Kopf mich niederzulassen, sein Mark zu martern, seine Augen zu verwirren.“ Es antwortete unser Herr Jesus Christus und sprach zu ihm: „Ziehe auf den Berg Ararat! Wo der (Kirchen-) Glockenklang nicht zu hören ist, und nicht des Hahnes Stimme. Dort magst du essen und trinken, dort nach deinem Sinn handeln!“ – Christus wurde in Bethlehem in Judäa geboren; Christus wurde an der Schädelstätte gekreuzigt, Christus erstand wieder an der Schädelstätte. Fliehe Halbkopfschmerz, Hälfte des Halbkopfschmerzes, vom Gottesdiener N.N. !
Kopfschmerzen und Migräne werden mit vielen Segenstypen besprochen Dieses alte erzählerische Therapieschema war natürlich völlig unspezifisch und konnte für die meisten Erkrankungen, vor allem schmerzende und degenerative Allgemeinleiden Verwendung finden. Wir begegnen ihm im 10. Jahrhundert im Drei-Engelsegen aus Kloster Tegernsee gegen Wurm, wo ein rätselhaftes „agrip4
Paris Bibliotheque Nationale, Cod. Parisinus 2316, f.319, 15. Jahrhundert, veröffentl. Barb, A., wie oben, Sp.66–68.
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pina“ auftaucht. Ist das ein Eigenname für das Übel wie „Antaura“ und vertritt es damit auch „Nesso“, den Wurm? Ist es von altfranzösisch „gripe, griper“, = „Übergriff, Auflehnung“ abgeleitet oder wahrscheinlicher: ists beider Legierung?: 5
In nomine dni tres angeli ambulauer sup monte synai / & obuiauer nesie & sic dixer vbi vadis nessia […] ego vado ad famulum dei N. ossa eius c[on]tun|dere medulla illius c[on]torq,re […] In nomine / dni dei summi adiuro te agrippina […] vt non habeas potestatem in istu famulu dei. N.
Im Namen des Herrn. Es wanderten drei Engel auf den Berg Sinai / Sie begegneten dem Wurm und sprachen : Wohin gehst du Nessia ? Ich gehe zum Gottesdiener N., ihm seine Knochen zerstoßen, sein Mark ihm herumdrehen […] Im Namen des Herrn beschwöre ich dich Agrippina, […] daß du keine Macht über diesen Gottesdiener N. haben sollst.
In den Jahrhunderten bis in die Neuzeit hat sich die gleiche Strategie dieses Typs in Wurm- und Gichtsegen und ihren Absplitterungen erhalten. Sie boten mit ihrer Anhäufung von Krankheitsdämonen ein Sammelbecken, wobei in den Schweizer Drei-Engelsegen im erzwungenen Geständnis der Übeltäter die Kopfattacke noch an erster Stelle steht.6 Das dürfte dem antiken Schema medizinischer Schriften mit ihrem „von Kopf bis Fuß“– Register entsprungen sein. Frühe Aufklärer haben alle Segen, besonders die Menge ihrer Dämonen aufgespießt, „daß man nichts Unziemliches lernen kann“, wie etwa Rudolff Gwerb, Diener der „Kilchen Meilen“ am Zürichsee, der in seiner Schrift von 1646 mittels einer bewußten Verdrehung der Spruchinhalte (in Spottzetteln) eindringlich warnt: 7
[…] Et centum dämones te possunt asportare. Das ist. Thut dir der kopff wee, welcher dir pfleget wee zuthun, so falle dir mehr schmertzen darzu, und dem der dir wol wil oder günstig ist. Thun dir die augen wee, thun dir die zähn wee, thut dir der leyb wee, vnd der bauch, so pack dich zum Meer hinab, vnd laß dich besägnen oder beschweeren, so werden dich hundert Teüfel herauff tragen.
Bis in die gedruckten Zauberbücher der letzten Jahre hinein sind Segen erhalten, die Kopfschmerzen als Neben- oder Teilerscheinung von „Gicht“, als eines ihrer Familienmitglieder behandeln, am weitesten verbreitet und immer wieder abgeschrieben im „Albertus Magnus“-Zauberbuch als Hirn- und Hauptgicht mit dem Eingang O Gicht, o Gicht, wie marterst du mich, das klag ich Gott über dich […] Wir begegnen der Kopfschmerz- und Migränetherapie auch im Petruszahnsegen als ‚Vermis emigraneus‘ also Hemikraniewurm. Eine echte Migräne ist dann 5
6 7
München BSB Clm 27152, 53rv, Codex des 9. Jahrh. mit Segenseintrag im 10.Jh., veröffentl. und kommentiert: Steinmeyer, E. von, in: Zeitschr. f. dt. Altertum 21 (1877), S. 209; vgl. Bischoff, Bernhard, Schreibschulen I,165 Siehe Kapitel 30 Gwerb, Rudolff.: Von dem abergläübigen vnd verbottenen / Leüth- vnd Vych besägnen Zürich 1646, S 144
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Spruchtexte
nicht von einem ausgedehnten Zahnschmerz abgegrenzt. Über Diagnose und Therapie entscheidet der Wurm: „Warum so traurig, Petrus?“ „ O Herr, es ist ein Hemikraniewurm, der frißt an meinen Zähnen “8 Weithin galten Kopfschmerzen auch als angezaubert und wurden entsprechend mit Berufungssegen,9 d. h. Verteidigungssprüchen gegen ‚Verzauberung‘ angegangen: 10
Drey dich sahen drei dich wider sahen. daz ain der vater daz ander waz der sun daz dritt waz der heylig geyst der püezz dir heint waz dir werre aller maist. piefer und pieferynn (Fieber und Fieberin) und daz haubtgescheid und allz ir gesind. und allez daz püswirdig an dir sey […]
Und noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbleiben in den meist kurzen Heilersprüchen in Mecklenburg die Formeln des Kurzcredos und der Drei-Frauensegen auch für Kopfschmerz in Gebrauch: 11
Koppweihdag’, Kopfweh Christus geboren zu Bethlehem, gefangen zu Jerusalem, getauft am Jordan, ist so gewiß als mir der Kop stand. Fluß. Es gingen 3 heilige Mägde übern Weg, die erste schüttet Sand in den Weg, die zweite pflückt Gras aus dem Weg, die dritte nimmt den Fluß aus Kopf und Augen weg.
Wesentlich Vorschub für die Anwendung dämonenhaltiger Spruchtherapie gab auch im Falle der Kopfschmerzen die Unkenntnis von Anatomie und Physiologie, Bau und Funktion des Zentralorgans. Die Bedeutung des Gehirns, des unsichtbaren und durch seine knöchern schützende Umhüllung unzugänglichsten Organs, ist bis in die Neuzeit nicht erkannt worden. Steinzeitliche Funde von gelöcherten Schädeln (Trepanationen) werden heute nicht mehr übereinstimmend als Relikte therapeutischer Verfahren zur Druckentlastung, sondern eher als magische Operationen zur Gewinnung von Knochenamuletten gedeutet.12 Und so wur8 Wien ÖNB Cod. 2817, f. 28a, 14.Jh., veröff. Schönbach, Anton Z. f. dt. Altertum 27 (1883), S. 308; der vollständige Spruch siehe Kapitel 32 9 Spamer, Adolf, Bearbtg. Nickel, Johanna: Romanusbüchlein, Berlin 1958, S. 111: dort als ältester deutscher Berufungssegen angegeben, aber vgl. Wackernagel, Altdeutsche Predigten, S. 216: Codex 69, Kloster Muri zu Bozen-Gries (jetzt im Benediktinerkolleg Sarnen): das Motiv mit Augenbezug bereits im 12. Jahrh.; vgl. Kapitel 22 10 München BSB Cgm 54, fol 96v, Pergament des 14.Jahrh., veröffentl.: Schönbach, Anton, E.: Zeitschrift für deutsches Alterthum 24 (1880), S. 69f (vermutl. aus der Bibliothek der Fugger) 11 Staak, Gerhard: Die magische Krankheitsbehandlung in der Gegenwart in Mecklenburg. Rostock Diss. 1930, Nrs. 414 und 598 (aus Neukloster und Ribnitz) 12 Karenberg, Axel, in: Gerabek et al. (Hg.): Enzyklopädie der Medizingeschichte, Berlin 2005, S. 1037f
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den auch seit babylonischen Zeiten Kopfschmerzen meist als dämonische Einwirkungen behandelt. Zwar gibt es erste Anzeichen neurologischer Symptomaufnahme im berühmten Papyrus ‚Edwin Smith‘ aus dem Theben des 2. Jahrtausends vor Christus. Es werden Kopfverletzungen mit nachfolgenden Gliedlähmungen, Sprachstörungen und Harninkontinenz beschrieben, also hirnbedingte neurologische Fernsymptome. Aber im allgemeinen haben die frühen Hochkulturen das Herz als Quelle von Denken und Handeln betrachtet. In der griechisch-römischen Antike bestanden herzzentrierte und dämonistische Auffassungen neben der seit dem 4. Jahrhundert vor Christus entstandenen hippokratischen* Schulmeinung. Diese hatte Epilepsie und Apoplexie als Hirnerkrankung mit gestörter Säftemischung im Körper betrachtet. Aber Galen* hatte einen im Herzen gebildeten Lebensgeist postuliert, der in den Hohlräumen (!) des Gehirns gespeichert werde. Für Migräne nahm er ursächlich ein Aufsteigen schwarzer Galle an. Diese autoritär verankerte Meinung blieb lange erhalten und wurde von Kirchenlehrern ergänzt. In die Hirnkammern wurden Wahrnehmung, Vernunft und Gedächtnis lokalisiert. Ein Wissen um den Inhalt des Kopfes hat es letztlich bis ins 16. Jahrhundert nicht gegeben, bis zu Andreas Vesalius, dem Basler Anatomen, dessen Familie aus Wesel am Niederrhein stammte, und zu René Descartes in Paris. Erst spät wurde klar, daß nicht die Hohlräume, sondern die Substanz des Gehirns von entscheidender Bedeutung ist.
Kopfschmerzen haben in den Sprüchen sehr viele Namen Migräne und andere Kopfschmerzformen sind in den letzten Jahrhunderten mit unzähligen Namen versehen worden. Dazu trugen die einstige Rätselhaftigkeit der Kopfschmerzursachen, die eigenartige Symptomatik der Migräne mit ihren unvorhersehbaren Anfallsattacken, den Seh-Gefühls-und Magenstörungen und den oft schweren seelischenVerstimmungen bei. Darüberhinaus ist Kopfschmerz als bloßes Symptom bei Allgemeinerkrankungen (Fieber, Magen-Darm-Lebererkrankungen, Bluthochdruck, Durchblutungsstörungen usw.) sehr häufig. Vor allem aber stand eine Anzahl überlieferter Dämonen in den tradierten Texten bereit, so die altbekannten Elben und Pilfas/Pulves-Quälgeister, letztere den Bilwizen verwandt, die Wurm und Würmin, Geschoss, Schüsser und Anwad, Aischlein und Freischlein, die alle nur teilweise von den wenigen speziellen Kopfschmerznamen erklärend eingegrenzt oder abgelöst werden. Regionale Schwerpunkte hat es immer gegeben, aber die „kleinen Leute“ in Pommern, die Stryli und Strelci (Jäger und Jägerinnen) im Osten Europas und die Uroki in Masuren sind nicht nur für Kopfschmerzen genannt. Hauptschein und Hauptgestell waren für Kopfschmerzen reserviert. Es folgen einige Beispiele, denen man ansieht, daß sie nicht immer ursprünglich für Kopfschmerz standen oder daß sie auch eine Allgemeinkrankheit meinten. In einem hessischen Hexenprozess des Jahr 1657 in Eschwege13 gegen die Frau Hochapfel und deren Mutter macht Eva Mulienfeld folgende Aussage:
13 Vilmar, A.F.C.: Idiotikon von Hessen. Marburg und Leipzig 1868, S. 89
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Sie hätte Sixti Schnaußen Frau das Haupt gemessen vor die bösen dinger. Was das were, die bösen Dinger? Das wisse sie nicht, die gutten Heiligen, wie man sie nennt, wann es einem so im Kopf reißt vnd bricht. Näher nach dem Wie? jenes Messens gefragt, sagt sie, es geschehe dies mit einem Hosenbande, und der dazu gehörige Segen ist folgender: Weicht aus Elben und Elbin, hie kombt der liebe herr Jesus Christus vnd wil zu vns herin, Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes 14
So die Pilfes verhartet ist, und mit Beten nicht will helfen, muß man auch aufsieden. Wenn man aber auch aufsieden will, so holle ein Wasser von ein solchen wär es gut wo Hochzeit und Leichen dariber gehet, […] sprich also. Ich such Ruh und Rast, Ruh und Rast hab ich funden ich N: Befehl mich in die h. fünf Wunden. Gieß das heiße Wasser in ein hölzerne Schüsel setz sie den aufs Haupt, […]
Die uralte Vorstellung von einem durch Projektil angeschossenen oder sich als Dämon selbst anschießenden Übel15 als Hexenschuß, Schußblatter, Geschoss oder Schüsser findet in der volkstümlichen Kopfschmerzbehandlung ihren Niederschlag. Eine Entsprechung bietet die moderne Nomenklatur der Neurologen mit dem „Primären Donnerschlagkopfschmerz“ (IHS 4,6). Die Auslösefunktion des Windes, die ich schon oben als Vergleichselement der Göttinnen erwähnte, als „Anwart“, oder in anderen Segen „Anwad, Anwand oder Anwahd“ ist als böses anblasendes Unwesen zu entdecken, das mittels Anwehen schädigt. 16
Es kam eine heilige Frau vom heiligen Land, sie segnet aus die Brandgeschoß, die Hargeschoß, die heimliche schoß, die verborgene Schoß, die Leidensgeschoß, die Stechengeschoß, die glänzende geschoß, die Feuergeschoß und die sieben und siebziger Geschoß, das der nicht mehr sein – es sein ihr 77 lege dich geschoß im haupt und zeug neun klaffter tieff unter die Erden und schad weder Menschen noch Vieh, dazu betet die fünff glauben und fünff Vater-Unser.
17
Für das wilde Geschoß Anwart. Ich prüfe dich, Anwart und alles, was dich angaht, alles, was dir N.N. ist, helf dir der lieb’Herr Jesu Christ! Und du, wildes Geschoß, sollst hinweg in das fließende Wasser gehen.
14 Moro, Oswin: Volkskundliches aus dem Kärntner Nockgebiet, Klagenfurt 1922, S. 47–51, Bilwis-Sprüche des Wunderarztes „Graf Michl“ von Koflach 19. Jh., hier S. 47; vgl auch den Spruch im Kapitel 24 15 Schulz, Monika, Magie oder, Frankfurt 2000, S. 72ff 16 Coburg Staatsarchiv, Amtsbücherei F 226, Visitationsbericht von 1613, Beschwerde des Pfarrers Moltherus, die Thomasen von Stein hat Segnerei gebraucht, ist ermahnt, abzustehn, hats auch verheißen 17 Höhn, Heinrich: Mitteilungen über volkstümliche Überlieferungen in Württemberg Nr.8(Volksheilkunde) in: Württ. Jb. f. Statistik und Landeskunde, S. 286 (1917,1918) Neudruck Stuttgart 1980
Migräne und andere Kopfschmerzen
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Ebenso konnten die Begriffe Ungesäng und An-(Ohn)geseng, seit dem 15. Jahrhundert für Hautekzeme, Schmerzen und Wunden verwendet, dann auch für Hitze- und Kälteanfälle18 eingesetzt werden. Kombiniert mit einem auf den Kopf bezogenen Namen wie Hirngedräng oder mit entsprechenden rituellen Handlungen, z. B. in eine mit Kaltwasser gefüllte Schüssel auf dem Kopf heißes Blei zu gießen, konnten sie in die Therapie von Migräne Eingang finden. Man entnimmt dem Ungeseng (Ungesegnet!) unschwer die Fiktion von Gesamt- oder Teil-Entblößung des Körpers durch mangelhafte Segenspraxis, z. B. mit Weihwasser und damit eröffnete Einfallchance für Schadensgeister. Dabei bestand offenbar wenig Tendenz zur Spezialisierung auf eine bestimmte Dämonensorte, heißt es doch ausdrücklich: sie haben Namen, wie sie wollen, daß sie dir N.N. nicht schaden sollen. Die folgenden Segen finden sich im böhmisch-nordbayerischen Raum: 19
Für das Vngesäng zu Büßen Ungesäng wilstu mich verlassen, gehe in alle weeg und alle Strassen, gehe wieder hin in deinen Weeg, wo du hergegangen bist […]
20
Mercke Wan man sagt 77 ger ley gicht so legt man die zwey hände kreutz weiß eine oben und die andere unten am Arm oder bein, und streiffet damit über die gelencke vor die gichte, gesichte angesäng und Hiern gedräng da der Herr Jesus zur Marter gieng seyn Wunder, Werck am Kreutz anfing nach seinen gottlichen Wesen die Menschen zu erlesen da trug Er auch der sünden gicht
Kopfschmerztypik in den Sprüchen Einen spezifisch oder auch nur schwerpunktmäßig dem Kopfschmerz dienenden Segenstyp konnte es also aus den genannten Gründen nicht geben. Jedoch lassen sich für die letzten Jahrhunderte zwei textgebundene Motive isolieren, die typisch auf Migränesymptome hinzielen: 1. Das Offen- oder Auseinanderstehen des Kopfes, der aus den Fugen geraten zu sein scheint, was dementsprechend eine zusammendrückende Behandlung erfordert, es dürfte Hinweis auf Schmerzintensität und Halbseite geben. Erfahrungsgemäß hilft die Manipulation einigen Patienten ebenso wie die moderne Akupressurmethode. Vielleicht gab es deshalb die Umgürtungen mit eisernen Ringen, wie sie Elfriede Grabner21 beschrieben hat. 2. Der Blick in den Himmel durch ein Fenster als poesieartiger Niederschlag des Flimmerskotoms und der Lichtempfindlichkeit. – Auch das Abmessen mit Fäden und Schnüren als
18 Höfler, Max: Deutsches Krankheitsnamen-Buch, Nachdr. Hildesheim New York 1970, S. 631 19 Cheb (Eger) Okresni Archiv, Inquisitionsakten Fasc. 328 (256?), (Prozeß gegen Magdalene Ottin von Zettendorf bei Eger 1679, veröffentl. John, Alois, in: Unser Egerland 5(1901), S. 5 20 Wunsiedel Fichtelgebirgsmuseum, C 213/2823, HS Joh. Christoph Ächtner „1769“, S. 133/134 21 Grabner, Elfriede: Das „Umgürten“ im Heilbrauch, in: Carinthia 155 (1965), S. 548–568
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Spruchtexte
Heilpraxis ist vielseitig angewandt und könnte auf antikes Denken über Idealmaße zurückgehen. Marcellus* von Bordeaux22 empfiehlt im 5. Jahrhundert nach Christus gegen Migräne unter anderem ein Gras, das auf Statuen wächst mit rotem Faden in einem roten Tuch auf den Kopf zu binden. 23
Unsere liebe Frau geht übers Land, sie findet einen Kopf, der war ganz auseinander. Sie nimmt ihn in ihre schneeweiße Hand und drückt ihn wieder zusammen. Man legte die offenen Hände an beiden Seiten an den Kopf und deutete das Drücken an.
24
Dein Kopf steht dir offen, dein Kopf ist dir wider zugeschloßen. Das püße dir der man, der den todt am stammen deß heiligen creutz nam.
25
Für Kopfschmerzen. Die Besprecherin fährt mit der an beiden Enden verknüpften Schnur über den Kopf. Das Stück zwischen den Knoten ist das Normalmaß. Erweist sich aber die Schnur als zu lang oder zu kurz, hat sich der Schädel erweitert oder zusammengezogen. Daher rühren die argen Schmerzen. Die Besprecherin legt die Hand auf den Scheitel: Im Namen Jesu und der allerheiligsten Dreifaltigkeit, unseres Herrn Jesus und des heiligen Petrus! Die haben einen goldenen Pflug [… folgt ein Wurmackersegen]
Abb. 51 Aus den Visionen der Hildegard von Bingen. Konzentrische Rundformen, Augenlidgruppen, Sterne mit Funkenfall und Zickzacklinien wie Burgmauern, die von der Volksheiligen als bewegte Objekte gesehen und den Zeichnern beschrieben wurden, galten manchen als Symptome (Skotome) einer ophthalmischen Migräne. 22 Niedermann, Max (Hg.) Marcellus. Über Heilmittel, Berlin², 1968, S. 67 23 Bonomi, Eugen von: Aus der deutschen Volkskunde des Ofener Berglandes in Ungarn, in: Jahrb. für ostdt. Volksk. 18 (Marburg 1975) gesammelt 1930–1944, S. 227–261, hier: S. 248 24 Hirschmann, Gerhard: Die Kirchenvisitation im Landgebiet der Reichsstadt Nürnberg 1560 und 1561. Neustadt/Aisch 1994, S. 236 (Geständnis der Barbara Schusterin, sie könne das Hauptgeschoss und alle Schäden mit Geschosskraut segnen) 25 Weber, Ludwig: Vom Ansprechen und seinem Verhältnis zu den modernen Methoden der Psychotherapie. In: Heimat und Volkstum 11 (1933), S. 74–80, hier: S. 77 (aus dem Gebiet Regen, Bayer. Wald, beg. 20. Jahrh.)
Tafel 1 St. Ottilia im Kreuzgang zu Brixen; rechts St. Ursula (zu Kap. 1)
Tafel 1 Lanzenstichwunder des Longinus in St. Nikolaus, Klerant (zu Kap. 7)
Tafel 1 Christi Taufe im Jordan, flankiert vom Durchzug der Israeliten durchs Rote Meer und mit Josua durch den Jordan ins „Gelobte Land“. Salzburger Armenbibel (zu Kap. 8)
Tafel 2 Kaiser Barbarossa und Kaiserin Beatrix am inneren Domportal zu Freising. Gebärmutterkröte als Verweis auf Kinderlosigkeit der Kaiserin? (zu Kap. 3)
Tafel 3 Geißelungsszene: „Christus stetit in sua poena“ im Kreuzgang der Franziskaner zu Schwaz (zu Kap. 9)
Tafel 3 Schemenhafte Darstellung eines großen Krampfanfalls (Miniatur, Paris, 15. Jh.) (zu Kap. 10)
Tafel 3 Christus heilt einen Fallsüchtigen, Luth. Kirche in Krummenau (um 1750) (zu Kap. 11)
Tafel 3 Drei Frauen Ampet, Gemet und Ouvet, Nikolauskirche Klerant (15. Jahrhundert) (zu Kap. 13)
Tafel 4 Die drei Idisi beim Fesseln und beim Lösen. Gemälde von Emil Doepler (um 1900) (zu Kap. 13)
Tafel 4 Wotan heilt Balders Ross mit Wort und Segenshand. Gemälde von Emil Doepler (um 1900) (zu Kap. 25)
Tafel 5 Schematische Projektion tiefer Hirnstrukturen. Die aus der Hörbahn über den Thalamus kommenden Potentiale gelangen zur Amygdala* und zum Hypothalamus* , der die Wehen- und Stresshormone reguliert. Verbindungen zum Hippocampus vermitteln früheste Erfahrungen (zu Kap. 13)
Tafel 6 Maria „Knotenlöserin“, Gemälde um 1700 in St. Peter am Perlach zu Augsburg (zu Kap. 13)
Tafel 6 Die Blutflüssige kniet am Saum seines Gewandes. Echternach Goldener Codex um 1030 (zu Kap. 15)
Tafel 7 Schutzbandamulett mit u.a. Veronika als Schweißtuchträgerin und Mariae Heimsuchung. Die Bilder sind auf einem Seidenripsband installiert. Geschenk des bayerischen Kurfürsten an Max Joseph von Perfall auf Greifenberg (18. Jh.) (zu Kap. 15)
Tafel 7 Jenseitsvisionen der Mystikerin Coletta von Corbie: Eingebung von Gott oder Satan? Siedegeräte und Höllenrachen. Genter Clarissinnenkloster um 1740 (zu Kap. 18)
Tafel 7 Die Würzburger Pestbeschwörung aus dem Hausbuch des Michael de Leone. (Ausschnitt, um 1350) (zu Kap. 20)
Tafel 8 Abklingende Depression: „Mein Vater kann mir nichts mehr anhaben“. Links: Die vier Lebensphasen, rechts: drohende Vateraugen (zu Kap. 22)
Tafel 8 Steinmalereien einer Wahnkranken. Kein Winkel ihrer Wohnung war frei von archaischen Fratzen, mit denen sie sich zum Schutz umstellte. (zu Kap. 22)
Tafel 9 Die Nachtmahr. Gemälde Johann Heinrich Füssli 1781 (zu Kap. 24)
Tafel 9 Hiob am Mist mit Frau, Freunden und einem peitschenden Satansknecht. Kreuzgang des Domes zu Brixen. (zu Kap. 31)
Tafel 10 Der Karlsbrief des Münchner Karmeliterkonvents (Ausschnitt, 15. Jahrhundert) (zu Kap. 27)
Tafel 11 Die Mitwirkung des heiligen Ulrich bei der Schlacht am Lechfeld. Oben: Ein Engel überreicht das Kreuz in Erinnerung an die legendäre Schlacht Kaiser Konstantins 312. Unten: Übergabe der Siegesfahne: IN HOC SIGNO VINCES. (Eresing 1757, Ausschnitte) (zu Kap. 28)
Tafel 12 Heilung des Blindgeborenen. Wandmalerei St. Georg Reichenau. Rechts: Nachzeichnung (zu C)
Tafel 12 Christus als Arzt und Apotheker. Ehemals Kapelle zum Himmlischen Doktor in Rotholz, Tirol, um 1800) (zu C)
Tafel 12 Christus heilt den Wassersüchtigen (Echternach Goldener Codex, um 1030) (zu C)
Migräne und andere Kopfschmerzen
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Das Motiv des Aufschauens zum Fenster hinaus, in den Himmel, in Gottes Haus, das vielfach in die Spruchtexte eingebaut ist, dürfte für Migränekranke während eines Anfalls eigentlich eine geradezu quälende Vorstellung sein. Denn die hohe Lichtempfindlichkeit gebietet einen Rückzug in dunkelste Ecken. Die Spruchheiler haben genau dieses Symptom aufgegriffen und ihren eigenen Blick ins Licht gelenkt, um kompensierend für den Kranken, gleichsam als Stellvertreter, zum Himmel und zum heilenden Gotteshaus aufzublicken: 26
Gegen arges Kopfweh. Man muß durch die obere Scheibe eines Fensters an den Himmel hinaufschauen, dem Kranken beide Hände auf den Kopf legen und sprechen: Ich schaue zum Fenster hinaus und schaue in das schöne Gotteshaus wen schau ich an? den allerhöchsten Mann, der dir deinen Hauptschädel auflösen und heilen kann. /Erkenbrechtsweiler-Nürtingen,
Eine Sonderstellung nimmt sicherlich die Einbeziehung der Dornenkrone Christi oder der ihr verwandten Kreuzesnägel ein, beides nicht nur für Kopfschmerzsegen verwendet, aber doch in ihrer lokalisatorischen und schmerzbeschreibenden Parallelität z. B. für den stechenden Charakter einer Trigeminusneuralgie, erwartungsgemäß sinnfällig. Nicht zufällig hatte bereits der o. g. Pariser Spruch auf Christi Schädelstätte verwiesen. 27
Vor das Kopf Füber so soll man das hemmet ausziehen. Ich zieg aus an meinen Rechten Arm wie die Juden den herrn Jesum seinen Rock ausgezogen haben. Ich zieb (zieh) aus über mein Haubt wie die Juden den Herrn jesum seinen Rock ausgezogen haben. Ich setze an mein Haubt meine Haube wie die Juden den Herrn Jesum die Dörnerr Grone an sein Haubt gesetz haben das ein Dorn spitz in Hirn abgebrochen und Stecken geblieben ist. Da von hielf mir und dir N. vor das Kopf füber. G.V.+ G.S. G.H.G. + 5. V., 5.A. zu ehren der 5 Wunden
Migräne und andere Kopfschmerzen / Aspekte einer verbalen Akuttherapie Unter den 14 klassifizierten Kopfschmerzkardinaltypen ist die Migräne meist gut abgrenzbar. Beim Migräneanfall kommt es infolge einer Erregung von Nervenkernen im Hirnstamm zu Gefäßerweiterung und Austritt von Flüssigkeit. Je nach deren Verbreitung und Schwerpunkt können verschiedene Begleitsymptome auftreten. Meist sind bei der erblichen Form eine Kopfhälfte und die Sehrinde betroffen mit der Folge wellenförmiger Fortleitung und bewegter Flimmer- und ZackenSkotome im Gesichtsfeld. Große statistische Untersuchungen weisen auf einen lebensgeschichtlichen Zusammenhang mit Depressionen und Angststörungen hin. Allen Migränepatienten ist eine angeborene Störung bei der Verarbeitung potentiell stressauslösender Reize zueigen; sie haben eine zentral gesteigerte Reizbar26 Höhn, Heinrich, wie oben, S. 285 (19. Jahrh.) 27 Blaas, C.M.: Volksthümliches aus Niederösterreich in: Germania 26 (1881) 229–242, hier: S. 233, 19. Jahrhundert (?)
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Spruchtexte
keit, besonders in Erwartung von Leistungssituationen. Entsprechende psychotherapeutische Verfahren zielen auf vorbeugende Entspannung und Psychoedukation. Verbaltherapie mit Spruchtexten im Migräne-Schmerzanfall ist wenig hilfreich, vielfach sogar störend und allenfalls als Trostpflaster praktizierbar. Bei anderen Kopfschmerzen, besonders den durch muskuläre und gefäßbedingte Spannung verursachten, konnte eine Spruchtherapie durchaus ihr Ziel im limbischen System und im Cingulum* finden, wie in Kapitel 4 allgemein für die verbale Schmerztherapie erwähnt. Ob die vielen Namen, die man für Kopfschmerzen verwendete, ein Indiz für die Nützlichkeit des Labeling emotions* und damit für die psychovegetative Entspannung sind, kann vermutet werden.
20. Pest und andere Seuchen: Die Würzburger Pestbeschwörung des Michael de Leone „Mi frater, mi frater, mi frater ! Heu mihi, frater amantissime ! Was soll ich sagen? Wo soll ich beginnen? Wohin soll ich mich wenden? […] Überall ist Schmerz, überall Angst! Du siehst in meiner Person vereint, was du über die große Stadt [Troja] bei Vergil gelesen hast: ‚Allenthalben herrscht grauenvolle Trauer und Angst, überall zeigt sich der Tod.‘ O, mein Bruder, wäre ich doch nie geboren ! […] – Wirst du, o Nachwelt, es glauben?“ (Francesco Petrarca, Brief an seinen Bruder Gherardo von 1349)
– Die große Pestepidemie der Mitte des 14. Jahrhunderts und ihre Folgen – – Die fatalen vorwissenschaftlichen Ursachenerfindungen – – Die zahllosen vergeblichen Beherrschungs-Versuche – – An den Grenzen von Verbaltherapie als Sterbebegleitung –
Von der Pest zu sprechen, ist heute in Deutschland Geschichtsstunde oder Panikimport; wir kennen sie nur noch aus Sagen, Redewendungen und den Bildern der Alten und der Historienmaler. Künstler unserer Tage widmen sich dem Kampf gegen Aids, wie Keith Haring, der selbst mit 28 Jahren an dieser Seuche verstarb. In seinen Werken stellt er die Unschuld des Kindes und im Tryptichon von St. Eustache in Paris unverkennbar die des Jesuskindes dar. Er schuf kurz vor seinem Tod ein Werk, in dem den Gebeten der Betroffenen das Blutopfer und die spirituelle Strahlkraft Christi entgegenkommen (Abb. 52). Die schlimmste Seuche, wahrscheinlich durch Beulen- und Lungenpest verursacht, soll allein 1348 in Europa ca. 25 Millionen Menschen dahingerafft haben und schlug immer wieder zu. Ganze Orte und halbe Städte waren entvölkert. In der Mitte des 14. Jahrhunderts führte sie zu schweren gesellschaftlichen Verwerfungen, Weltuntergangsstimmung, Krise im medizinischen Denken und Herausbildung verschiedenster Erklärungsversuche von den Planeten-, Säfte-, Luft- und Erddunsthypothesen über die Schuldzuweisungen an ethnische und soziale Minderheiten bis zu den Vorstellungen von Teufeln und Drachen, vom blauen Rauch und von „Frau Sterb“, der Zusammenrafferin. Es dauerte lange bis zu den ersten Ansätzen pragmatischer Ursachenvorstellung. Noch mit seinem „Scrutium pestis“, der „Erforschung der Pest“, hatte der Jesuit und Universalgelehrte Athanasius Kircher (1602–1680) im Jahr 1658 ein traditio-
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Spruchtexte
Abb. 52 „Das Leben Christi“, Bronze- Tryptichon (1990) Keith Haring (1962–1990)
nelles Pestbuch1 verfasst, das damals von dem Leipziger Mediziner Christian Lange herausgegeben, die alten Ideen darlegte. Und doch bot Kircher etwas ganz Neues. Weniger daß er die Pest auf kleine Würmer zurückführte, das hatten viele, selbst im Volke schon auch gemeint, sondern indem er eigene primitive freilich noch untaugliche Mikroskope benutzte, wurde er geistiger Vorläufer der wissenschaftlichen Bakteriologie. Im Jahre 1894 hat der Japaner Shibasaburo Kitasato, ein Schüler von Robert Koch, das Pestbakterium entdeckt, gleichzeitig und unabhängig auch der Schweizer Alexandre Yersin. Die Pest ist heute noch nicht besiegt, obwohl sie mit Antibiotika zu behandeln ist; 2008 wurde eine Epidemie aus Madagaskar gemeldet. Aus der Zeit der großen Pestepidemie um das Jahr 1348 und danach stammen mehrere Pestbeschwörungen, Pestsegen und -gebete, von denen ich im folgenden eine Auswahl aufreihe. Die Zeiteingrenzung ist Gewähr oder mindestens Indiz dafür, daß es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um Texte handelt, die dieser Indika1
Dieterle, Reinhard u. a.: Universale Bildung im Barock. Der Gelehrte Athanasius Kircher, Ausstellung der Stadt Rastatt 1981, S. 110
Pest und andere Seuchen
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tion gewidmet waren. Denn die in ihnen genannten Symptombegriffe sind sonst oft unspezifisch gebraucht und nicht immer ist die Pest als Pest genannt. Man hat vermutet, daß der Name Pest wie Pestilenz gemieden wurde, so wie man den Teufel nicht gern nannte. Geschwür, Drüse und Beule kommen am häufigsten vor, sie sind aber, wenn nicht gemeinsam genannt und wenn mit anderen kombiniert, auch bei Wundkomplikationen, Viehkrankheiten und Krebs üblich. Andererseits ist „Pest“ ein Sammelname für jede Seuche gewesen. Gut datierbar aus jener tragischen ersten großen Pestwelle der Mitte des 14. Jahrhunderts ist die Niederschrift der Pestbeschwörung aus der Würzburger Liederhandschrift (Tafel 7), dem Hausbuch des Michael de Leone. Sie steht dort inmitten einer Reihe von Gebeten gegen Schelm, jähen Tod und Pestilenz, in denen Kilian und Sebastian um Fürbitte ersucht werden. Michael de Leone (ca.1300 – 1355), der diese berühmte Handschrift anlegte, war als Jurist und Kanzler (Protonotar) der Bischöfe Otto von Wolfskehl und Albrecht von Hohenlohe eine herausragende Persönlichkeit Würzburgs. Er stand in enger Verbindung zum Stift Neumünster und seiner Schule. Er galt als „homo litteratus“, und die Sammlung verschiedener Minnelieder geht auf ihn zurück. Jeder Besucher des Lusamgärtchens ist mit Michaels traditionsgeprägter Überzeugung konfrontiert, daß Walther von der Vogelweide hier lebte und sein Grabmal fand. Die große Pestepidemie, die Würzburg erst 1351 überfiel, hat er noch miterlebt, und so kam es zu einer reichhaltigen Sammlung diesbezüglicher Texte aller Art. Darunter findet sich auch eine Abschrift des Pariser Pesttraktats und ein Abschnitt aus italienischer Quelle, der sich gegen die Gestirnsätiologie richtet. Darin sind erstmals Forderungen nach einer sozialmedizinisch und hygienisch orientierten Kooperation zwischen Ärzten und Gemeinwesen enthalten.2 – Würzburg war auch eine der ersten deutschen Städte mit einem Totentanz, und das Volk nennt den um 1350 entstandenen Christus im Neumünster mit den vorn verschränkten Armen den „Pestchristus“ oder das „Pestkreuz“. 3
2 3
Fur die drůse vnd den schelmen. + JN namen des uaters. suche ich dich + Jn namen des suns. vinde ich dich + in namen des heiligen geistes vertribe ich dich + Jch beswer dich drůs vnd geswer. bie dem heiligen sper. vnd bie den heiligen drἱn nageln die got durch hende vnd durch fuzze worden geslagen. vnde durch des heligen Cruczes ere. daz du wollest widerkere. vnd disem menschen N. nicht wὁllest schaden. als werlichen als daz gotes menscheit an dem heligen fronen cruce erstarp. amen. +
Sudhoff, Karl: Pestschriften aus den ersten 150 Jahren nach der Epidemie des „schwarzen Todes“ von 1348, in: Archiv für Geschichte der Medizin 5 (1912), 36–87, hier: 83–87 München Universitätsbibliothek Cod.ms.731 (= Cim.4), fol. 7vb Hausbuch Michaels de Leone, Band 2 (Würzburger Liederhandschrift) Pergament, ca. 1345–1354, veröffentlicht Kornrumpf, Gisela und Paul-Gerhard Völker: Die deutschen mittelalterlichen Handschriften der Universitätsbibliothek München, Wiesbaden 1968, S. 78; Tafel 7 zeigt einen Ausschnitt von fol. 7vb, Zeile10–22
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Spruchtexte
In ihrer Indikation ist diese Beschwörung auf zwei Symptombezeichnungen der Beulenpest gerichtet, auf Drüse und Schelm, und wird ergänzt im Spruchteil durch eine dritte Bezeichnung, das geswer, also das Geschwür, eine blutig und eitrig aufbrechende Schwellung. Mit „Schelm“ ist der alte Seuchendämon, ursprünglich bei Viehepidemien phantasiert, beschworen und die Symptome werden als Folge seines Wirkens begriffen. Der Würzburger Segen ist eine Kombination zweier älterer Teile. Der Textbaustein des ersten Teils begegnet uns bereits im 9. Jahrhundert mit der Trinitätsmatrix im St. Galler Wurmsegen, der die Personen der heiligen Dreifaltigkeit in variierbaren konsekutiven Funktionen einsetzt: 4
Uenit pater tollat filius minuit spititus sanctus
Es erscheint Gott Vater Es zieht (den Wurm) heraus der Sohn Es vernichtet ihn der heilige Geist.
Der zweite Teil ist vorgebildet im Roßtrittsegen des Einsiedelner Codex 730, Bl.47v, der aus Meister Albrants Roßarzneibuch schöpft und dessen Entstehung von Gerhard Eis dem 12. Jahrhundert zugerechnet wurde.5 Dieser Segen hatte schon seine Gebrauchsanweisung vom Pferd auf Mensch und Rind ausgedehnt. Dem zweiten Teil des Würzburger Segens entspricht auch ein aus einer Handschrift des Augsburger Benediktinerklosters St. Ulrich und Afra6 stammender Text, dessen praktische Therapieanweisung erstaunlich ist. Es sollen die Daumen auf das Geschwür gelegt werden. In einer Parallelfassung der Marburger Bibliothek,7 auch sie nach dem Wortlaut auf älteren Fassungen aufbauend, soll das Geschwür sogar mit Speichel befeuchtet werden. Damit wäre der Kranke berührt worden; an Infektionsschutz ist nicht gedacht. Wenn sie überhaupt für echte Pest verwendet wurden, kann man vermuten, daß die Erfahrungen mit ihr noch nicht gereift waren und daß ältere Formeln bedenkenlos und überstürzt herangezogen worden sind. In einem Spruch des Nürnberger Medizinbuches ist dagegen ein Distanzgebot eingebaut. Hier zunächst die Augsburger Formel: Fur die trüsen. Fliuch trüs vnd geswer. daz piut ich dir pey dem hailigen sper. daz vnserm herren durch sein hailigen seitten wutt. daz du gewinnest weder aitter noch plutt. 4 5 6 7
Für die Drüsen Fliehe, Drüse und Geschwür; ich gebiete dir beim hl. Speer, der unserem Herrn durch seine hl. Seite drang. Daß du weder Eiter noch Blut gewinnst
Sankt Gallen Stiftsbibliothek, Cod. 550, fol.55, veröffentl. Piper, P., Germania 25 (1880), S. 70 vgl. Kapitel 7 München BSB Clm 4350, fol. 38r, Abschr. Schönbach Segensammlg. Gießen, S. 587 (1/10 kein Digitalisat) Marburg Universitätsbibliothek Ms 26 (Sammel-Hs.: Alchemie, Rezeptare, Alb. Magnus, olim B.20, Bl.110b)
Pest und andere Seuchen
Jn gotez namen Amen und leg die daumen krautzstal vber die trüsen et dic tribus vicibus et tria pater noster et tria Ave Maria.
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in Gottes Namen. Amen und leg die Daumen kreuzweise über die Drüse und sprich das dreimal und drei Vater unser und drei Ave Maria.
Der folgende Nürnberger Segen des 15. Jahrhunderts8 ist noch in einer weiteren Hinsicht interessant. Er weist auf die Austauschbarkeit und Anpassung der Spruchtexte. Man kann das immer wieder beobachten, z. B. auch an einem DreiEngel-Segen der Basler Pergamenthandschrift B v 21, Bl. 120v des 13. Jahrhunderts, der vor die Symptomaufzählung seiner Vorgängersprüche, also vor „nessia, nagedo, stechedo“9 ein „male pestilencie“ einfügt.10 Hier am Nürnberger wird besonders deutlich, daß ein ursprünglicher Wundsegen jetzt mit „aller Pest“ titelt; er soll nur dann nicht vom Kranken selbst gesprochen werden, wenn der es nicht mehr vermag, und er schließt nach Art eines Longinus- bzw. Dreibrüdersegens: Ditz ist aller pest wundenseg Dies ist aller Pest Wundsegen vnd ist bewert. […] und ist bewährt. […] So man in hab gesegnet, so sol Wenn man ihn, (den Kranken), gesegnet hat, der darnach die wunden nit an ruren so soll man seine Wunden danach nicht […] berühren […] er soll auch sein hende zwahen, Er, (der Kranke), soll auch seine Hände falten, wenn er in sprechenn will: wenn er ihn sprechen will: Inn dem namen des vatters vnnd des suns vnd des hailigen geists, amen. Der got, der wein vnnd wasser hat beschaffen, der heile die wunde von grunde vnncz oben auß in gottes namen, amen. Ich segenn dich wunden gut,/ mit des hailigenn Cristus plut. […]
Ebenfalls auf die Zeit der großen Pestepidemie ist der folgende exklusive lateinische die Pestbeule beschwörende Segen der Wiener Handschrift 281711 datiert. In seiner einleitenden Therapieanweisung für den lateinunkundigen Benutzer erklärt er zunächst, daß die Geschwulst, wenn sie rot ist, driuunculus heißt, eine Übersetzung von „Schelm“ ins Lateinische als Zusammenziehung aus Trifur (dreifacher oder Erzdieb) und Furunculus (Spitzbub, kleiner Dieb). Ein phantasiebegabter Arzt dürfte das Geschwür als Blutansammlung um einen Eiterherd herum mit dem Geiztrieb der Winzer verglichen haben, als Raubmörder am Säfteetat des Körpers. Denn die Pest „schleicht wie ein gedungener Meuchelmörder, bedeckt mit der be8 Nürnberg Stadtbibliothek Codex Amb.55, fol. 165r-166r, Nr. 537, 15. Jahrh., veröffentl. Telle, Joachim: Petrus Hispanus in der altdeutschen Medizinliteratur, Diss. Heidelberg 1972, S. 364 9 Vgl. Kapitel 30 10 vgl. Steinmeyer, Elias, Zeitschr. f. dt. Altertum 17 (1874), S. 560 11 Wien ÖNB Hs 2817, f.30b, aus dem Jahre 1349; Abschrift Schönbach, Segensammlung Gießen, S. 835
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Spruchtexte
trügerischen Larve des Friedens still umher, und mordet auf einmal, ehe man es versieht“.12 In der Mitte stehen Teile des Psalms 91. Es ist ein um Schutz bittender Psalm, denn der Herr „errettet dich vom Strick des Jägers und von der schädlichen Pestilenz“ […] „Denn er hat seinen Engeln befohlen, […] daß sie dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest. Auf Löwen und Ottern wirst du gehen und treten auf junge Löwen und Drachen“; diese Symbolgebung ist heikel, weil sie dem Betenden durch Risikoausmalung hohes Vertrauen abfordert und an die Versuchung Christi erinnert. Man hat tiefenpsychologisch die Gefahr erkennen wollen, Eigenverantwortung dem Satan, hier eben einem Krankeitsdämonen abzugeben.13 Wenn dem so ist, dann müßte die Absicherung besonders kräftig ausfallen. Und tatsächlich wird das Psalmfragment im Spruchtext flankiert von gleich drei Trinitätsformeln, die den Problemfall schrittweise umzingelnd vernichten sollen. Es ist hohe Kunst in Gebrauchsdichtung. Der Segen lautet: + Jn nomine patris inveni te + Jn nomine filii circui te + Jn nomine spiritu sancti delebo te Et super aspidem et basiliscum ambulabis et conculcabis leonem et draconem et velut leonem conteram te
Im Namen des Vaters hab ich dich gefunden im Namen des Sohnes umkreise ich dich Im Namen des hl. Geistes werde ich dich vernichten Und über Schlange und Basilisk wirst du schreiten, den Löwen und Drachen zertreten und wie den Löwen werde ich dich zermalmen
Circumcingat te majestas filii Circumcingat te virtus spiritus sancti destruat te deus pater destruat te filius destruat te spiritus sanctus […]
Es umzingle dich die Majestät des Sohnes; es umzingle dich die Kraft des hl. Geistes; es vernichte dich Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist ! […]
Neben der Verbaltherapie nutzt der Segen auch eine Sudapplikation; auf die Geschwulst sollen Seife, Salz, Harn und Liebstöckelkraut kommen. Und er schließt mit einem Kurzcredo und der Anrufung der Heiligen Calixtus, Blasius, Christophorus und Barbara. Einen sehr ähnlichen Segen hat das Nürnberger Arzneibuch14 des 15. Jahrhunderts, das gleichfalls und in gut verwandten Texten15 aus der Tradition des Meisters Bartholomäus schöpft und von den empirisch therapeutischen Texten des Petrus Hispanus durchtränkt ist.
12 Niederhuber, Ignaz: Abhandlungen über die jetzt epidemische herrschende Viehseuche, der gelbe Schaden genannt, München 1790, S. 18 13 Wachinger, Lorenz: Spiegelung und dunkles Wort. In: Becker, H. und R. Kaczynski (Hg.): Liturgie und Dichtung II, St. Ottilien 1983, S. 335–357, hier: 351f 14 Nürnberg Stadtbibliothek: Codex Amb.55, fol. 162v-163r, Nr.527, 15. Jahrh., veröffentl. Telle, Joachim: Petrus Hispanus, (wie oben), S. 362 15 Die enge Verwandtschaft der Wiener, Nürnberger und Memminger Medizinbücher, basierend auf gemeinsamer Vorlage des 14. Jahrhunderts, ist gut belegt. (Telle, wie oben, S. 42f )
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Während sich dieser Segen auf den Einsatz der hl. Dreifaltigkeit stützt und die vier unter den über 60 Heiligen, die man meist aus anderen Anliegenssparten nun in Katastrophenzeiten für Pest heranzog, nur angefügt scheinen, wird im folgenden der Hauptheilige gegen Pest in den Mittelpunkt eines Gebetes gestellt. Die „plegen“ sind als „Plagen“ zu verstehen, wie man im 13.–15. Jahrhundert auch Epidemien genannt hat: 16
Aber fiür die plegen Sancte Sebastiane mag(.) est fides tua intercede pro nobis ad dominum nostrum Jesum Christum ut a peste et a morbe epydemie liberemur […]
Aber für die Plagen Hl. Sebastian ! Groß ist dein Glauben; stehe uns bei vor Gott unserem Herrn Jesus Christus, damit wir von Pest und Seuchen befreit werden […]
Dieses Gebet hat lange Zeit Bestand. Es wird als Pestzettel ausgegeben, den man bei sich tragen oder täglich lesen soll17 und wird mit Versatzstücken in deutscher Sprache ausgeweitet bald als Haussegen genutzt.18 Im Rahmen von Wallfahrten und Prozessionen, die bis heute an Pestzeiten erinnern, auf Votivtafeln und in eigens errichteten Pestkapellen ist die Verehrung der Pestheiligen in Süddeutschland weithin lebendig geblieben. In das 15. Jahrhundert gehört ein weiterer Segen des Würzburger Typs aus St. Gallen. Er titelt mit der Indikation „hühist gibristin“, hitziges Gebresten, ehemals wie Gebrechen ein unscharfer Begriff für vielerlei Allgemeinleiden, besonders Seuchen, im 15. Jahrhundert für Pest gebräuchlich. Er hat die gleiche einleitende Trinitätsformel und nennt die Symptome „bül, ös und geschwir“ = Beule, Drüse (oder Wurmbeule) und Geschwür. Der Reim geswer – sper, hier anlautend gischwir – gisper bleibt weiter stabil: 19
Mit gott dem Vattir such ich Dich + Mit gott dem son find ich Dich + Mit gott dem hailigin gaist vertrib ich dich + bül ös vnd gischwir Ich biswir dich + by dem hailigen gisper […]
Kaum ein mittelalterliches Ereignis hat eine derartige Umwälzung in allen Lebens- und Kulturräumen ausgelöst. In der Kunst häufen sich die Darstellungen des Totentanzes und der Gottesplagen- und Pestbilder. In Altartafeln, Fresken und Grafik, überall wird die große Epidemie des „Schwarzen Todes“ von 1348 als Zorn Gottes, Geißel und Strafe über die Menschheit dargestellt. Gott der Herr schleudert seine Waffen aus der Höhe hinab. Die Erinnerung an die schwerste Epidemie gräbt sich über Generationen ein und flammt jeweils ausgelöst durch Rezidive immer wieder auf. „Anno 1468 schwam ein grosser lindwurm jn einer wassergrösse zuo Lucern vom seew herab vnder der Rüßbrugk durch, die Rüs nider, 16 Wien ÖNB Hs. 2817, f.36d-37a, nach 1349, Segenabschrift Schönbach Gießen, S. 856 17 Karlsruhe Badische Landesbibliothek, Donaueschinger Handschrift 792, fol. 171r, 15. Jahrh. 18 vgl. Schmidt, Leopold: Pestgebet des 16. Jahrh., Österr. Zeitschr. f. Volksk. 54 (NF 5,1951), S. 59 19 Sankt Gallen Stiftsbibl., Cod. 1164, fol. 101f, veröffentl. Piper, P., Germania 25 (1880), S. 71
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daruff volgt ein grosse pestilenz“ – Bereits durch ein „Grusen“ (Grausen, Schauern] beim Erzählen über die Pest seien schon viele gleich gestorben, berichtet der Apotheker Renward Cysat aus Luzern20 und verknüpft damit gespenstische Vorstellungen.
Die seit der Mitte des 14. Jahrhunderts einsetzende, im 15. Jahrhundert durch weitere Epidemien immer wieder aufflammende Panik löst eine Flut von Pestschriften, Traktaten, Aderlaßvorschriften, Regimenten21 aus. Es scheint dagegen, als habe mit ihnen der Niederschlag an Segen, Beschwörungen und Gebeten in Haus- und Medizinbüchern und ein Übergang in mündliche Anwendung nicht konkurrieren können, abgesehen von zertrümmerten Textteilen, die man für alle Leiden heranziehen konnte. Kamen Formeln jemals zur Anwendung? Nicht einmal Hypothesen, ihre Anwendung am Pestkranken zu belegen, könnten ernst genommen werden. Günstige Verläufe bei der Beulenpest, die „nur“ in 50–90 % tödlich ausging, würden angesichts der 100 % tödlichen Lungenpest schwerlich statistisch zu verrechnen sein. Waghalsige oder naive „Therapeuten“ konnten keine Kunde mehr abgeben. Ein exemplarischer Bericht aus dem Erzgebirge:22 Anno 1582 starbs im Gebirge herum. Magdalena / Donat Schrollen Weib zum Geyer gab sich verwegener Weise dafür aus /si könte die Leuten für die Pest seegnen / der Schulmeister zu Hermerßdorff ließ sie holen / und bat / sie solte ihre Kunst an ihm gebrauchen. Sie sprach zwar den Seegen / holte aber damit die Pest selber / und starb samt dem Schulmeister in 4 Tagen. Einige Texte stellen sogar ihre eigene Ohnmacht bloß, indem sie die Kraft des Gebetes oder Segens zeitlich eingrenzen. So auch ein gedruckter Antoniuszettel des 15.23 mit 24 Stunden und ein Pestgebet des 16. Jahrhunderts,24 das nur drei Tage Pestschutz verspricht. Die Diskrepanz zwischen der Unerbittlichkeit der Seuche und der erwiesenen Untauglichkeit angepriesener Therapien, besonders der verbalen Versuche, reizten manchen zu Spott:25
20 Cysat, Renward: Collectanea chronica und denkwürdige Sachen pro chronica Lucernensi et Helvetiae [16.Jh.] Bearbeitet von Josef Schmid 2 Bände Luzern 1969, S. 563, 602f 21 vgl. Telle, Joachim (Hg.): Pharmazie und der gemeine Mann, Katalog Wolfenbüttel Nr.36,1983, S. 108–111; vgl. Sudhoff, Karl: Pestschriften, in: Archiv für Gesch. der Med. 6 (1913) 313–378, ders.: Pesttraktate. Archiv für Gesch. d. Med. 8(1915), 280–285; Schmutzer, Richard, in: Archiv f. Gesch. der Medizin 40 (1956) 336–339; Hirth, Wolfgang: Wacholderbeertraktate, in: Fachprosa-Studien, Hg. G. Keil, Berlin 1982, S. 448–461; Sittler, Ludwig: Gesundheitsfürsorge...im Fürstt. Passau. In: Ostb. Grenzmarken 2(1958) 27–66, hier: 52–57 22 Lehmann, Christian: Historischer Schauplatz derer natürlichen Merckwürdigkeiten in dem Meißnischen Ober-Ertzgebirge. Leipzig 1699, S. 900 23 Andree-Eysn, Marie: Volkskundliches aus dem bayr.-österreich. Alpengebiet. Braunschweig 1910, S. 66 24 Schmidt, Leopold, in: Zeitschr. für österr. Volkskunde 54 NF. 5(1951), 59 25 Gwerb, Rudolff: Bericht von dem abergläubigen vnd verbottenen / Leüth- …besägnen Zürich 1646, S. 132
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Vil werden auch deren gefunden, welche sägen von Characteren wunderbarlicher art, auff Jungfraw pergament geschriben: auch etwann S.Johannis Evangelium darbey an hals gehenckt. Lassen jhnen die wort Adonai, Ananisapter, tetragrammatom & . Auff gold vnd silber stechen / sol jhnen dann gut seyn für den gehen (jähen) tod / Pestilentz vnd andere prästen / alß ob Gottes macht in disen geschrifften verfasset seye / Die überlieferten schriftlichen Zeugnisse von v e r b a l e r Pesttherapie sind daher weitaus mehr als die vielen anderen Texte unseres Gesamtspektrums als von Sammlern gepflückt und kombiniert zu betrachten. In die Poesie und Praktik der Volksmedizin von Heilern, Besprechern, Wenderinnen und weisen Frauen ist kein stabiler Heilspruchtyp eingegangen; ihr Versagen und ihre Gefährdung bei der Pest hat die Tradierung gemindert. Umso mehr ist ihr literarischer Bestand auch aus dem Aspekt des religiösen Glaubens an Hilfe und Erlösung zu betrachten. Verschiedene Zweige in der Entwicklung der pestbezogenen Heilsprüche 1.) Die Kombination der Trinitätsformel mit dem Geschwer-(Ge-)sper-Reim hat sich, wie man sieht, aus Wund- und Tierpestformeln entwickelt. Diesem Segenstyp von Würzburg und St. Gallen folgen zeitlich im 15. und 16. Jahrhundert mehrere Aufzeichnungen: a) München BSB Clm 849, fol. 120v, Image 242, 15.Jahrhundert Jtem widder dy pestilencie So sail man dissen sayn sprechin wan se eyme menschen uff schoße Der vater suchte dich der son der fant dich […]
Anschließend soll ein Kreuz auf die Erde gemacht werden und die „Karagteres“: „thün dryweit thüphachell thuphahel thuphahell“ und es soll jegliche Wunde mit dem Segen besprochen werden, sei es Mensch oder Pferd. b) Heidelberg Univers.Biblioth. CPG 244, fol. 93r, Digital. 0189, 16. Jahrh. Ein segen für das bös ding Sprich + Mit Godt dem hailigen vatter sich ich dich + […] Du seist Pestelentz drüs bloter oder geschwer + […]
Der Segen ist bis auf den Titel mit anderen von CPG 213 aus 1421 und CPG 272 des 16. Jahrhunderts fast identisch und nennt als Gewährsmann wie in CPG 272 Steffen von Venningen Ritter in Hirschhorn. c) Graz Steiermärk. Landesarchiv, Arznei-und Alchemiebuch, 158726 Ain bewerter Segen Fier Die Zaichen vnnd Fier Das Gach Enndt Alletag Zu Sprechen mit got dem vattern suech ich dich + […] Es sei peil drüests oder geschwer + 26 Graz Steiermärkisches Landesarchiv Hs 476, Arznei- und Alchemiebuch des „Matheus“ von 1587, fol.190v
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Dieser Segen, schon auch als Haussegen gebraucht, zeigt stärkere Ausweitungen, nennt auch den Vornamen des Beters und Segnenden Matheus, ermahnt zu Andacht, Frömmigkeit und Karfreitagsfasten und spendet im Dialekt bei Einhaltung der Gebote Trost. Man brauche sich nicht zu sorgen, „daz Ennck die pessen Zaichen ain wurtzen oder das gach Enndt“ (daß Euch die bösen Zeichen, sprich Übeltäter, umklammern oder gar das jähe Ende) d) Staatsarchiv Bamberg: Hausbuch des Scheßlitzer Schusters Hans Zeis d) 1577–159927 Ein segen wan einer peulln hat sie sein Groß oder klein solch segen darüber sprechen da sollen sie jmo nit schaden. Der vatter sucht dich, der Sohn findt dich, der heilig Geist vertreib dich, vnd mach vber dem peul ein + mit dem finger vnd sag also, ich beschwer dich peul vnd Geschwer bei dem heiligen Sperr […]
Der vom biblischen Geschehen ziemlich abweichende Text empfiehlt am Schluß, die Beule aufzustechen. Unter der Vorstellung einer Giftansammlung lag diese wundchirurgische Maßnahme nicht fern und wurde auch manchmal als erfolgreich dargestellt.28 e) Staatsarchiv Bamberg: Anonymes Roßarzneibuch Msc Med. 37, ab 159529 Wellichen Menschen anstosst die wehetage der Pestilainz. der Spröch dariber den gueten. Sögen Als offt ein Chreiz steht als offt macH ein Chreiz mit den Rechten Thaum Vnd wer In bey Ihm tregt der ist sicher […] + mit gott den Vatter + suech ich dich […]
Der Text ist mit einem Eintrag im Günzburger Gebetbuch von 1587 des Ludovicus Faber verwandt.30 2.) Weniger verbreitet war eine alte Kombinationsformel, die die Trinitätsanrufung von 1) mit einem Kurzcredo verbindet: 31
Daz ist eyn gut segen vor alle seuche ynd geswolt an dem halsse an dem hewpte vnd anderswo: + In dem namen des vaters suche ich dich seuche + In dem namen des sones vinde ich dich + Cristus wart geborn + Cristus wart gemartert + Cristus dirstunt. Cristus der lege desin sichen.
27 Bamberg Staatsarchiv Rep. A 245 VI Nr 40 28 Ithen, Anna: Erinnerungen aus der Pestzeit in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 3(1899) 133–137 29 Bamberg Staatsarchiv Msc. Med. 37, veröffentl. Malkusch, Sonja: Ein anonymes Rossarzneibuch aus der Bamberger Staatsbibliothek, Diss. München 1986, S. 88f 30 Wittig/ Seuffer, in Alemannia 14 (1886), S. 233 31 Breslau Stadtbibliothek Hs. B. 1932, fol. 30r, 1460, veröffentl. Klapper, Josef: Mitteilungen der Schlesischen Gesellschaft für Volkskunde 9 (1907) S. 5–41 hier: S. 24
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Diss sal man sprechen, wen den mannen we wirt alzo daz her nicht gewandern mag ader gereiten ynd auch wenne her gesse hot.
3.) Eine weitere Segensgarantie will der Bezug auf die Gottesmutter Maria bieten. Dabei wurden ihre Unberührbarkeit und Lauterkeit sinngebend als Analogie einbezogen. Der Eingang des Segens mit dem Verweis auf die „gute Stunde“ des Bamberger Blutungssegens stimmt darauf schon ein: 32
Ain guter segen für die pestilencz. Sprich also dri stund dis wort Gut was die stund do got geborn ward etc. und sprich denn aber Jch beschwer dich büll und geschwer Bi dem vil hailigen sper […] Das du dich nit höher erhabist vnd nit tüffer in mich grabest vnd mach mich dis gebresten als luter vnd als clar als miner frow sant Maria ir megtum was do si Jhesu Christi ir liebs hailigs truts Kinds genas […]
4.) Seit dem 16. Jahrhundert sind Sprüche notiert, die die Wiedwinder und Wiedbinder einführen, das sind der legendäre Seiler und die Marterknechte mit ihren Geißeln und Stricken bei Christi Passion. Damit kombinieren sich die alten Geschwer-Sper-Formeln und bisweilen das Motiv des fehlenden Berg- und SteinWachstums seit Christi Geburt, hier im 13. Band des Buches der Medizin und im Umkreis vieler Rezepte, Regimina und Traktate gegen Pest: 33
Ein segen für die Pestelentz vnd trües Sprich: Seidt das cristus der her geboren warde, Do gewuchs ninn berg oder stain. Verganck vnd haile! Verschwindt drüs! Als der man der die wiede dreet vnd bandt; Der die wiede hodt gewunden, Domit Jhesus Cristus ward gefangen vnd gebunden: Also mustu, drües, auch verschwinden.
Daß seit Christi Geburt Berge und Steine nicht „gewachsen“ sind, mag logisch sein. Das Motiv kommt in Volkssegen und Beschwörungen seit dem 13. Jahrhundert immer wieder vor, um ein Tumor- oder Drüsenwachstum zu besprechen.34 Wahrscheinlich geht der Vergleich auf einen Apokryphenbericht zurück, wonach Christus bei der Taufe im Jordan auf einer Tonplatte oder einem Stein stand, die den Satanspakt Adams beinhaltete. Danach sollte die Erde dem Adam übergeben sein. Indem Christus darauf stand, machte er diesen sündhaften Pakt ungültig. Das gleiche gilt für sein Kreuzesopfer auf dem Berge Golgatha. Sinngemäß wurden auch Heiden als Steine bezeichnet, weil sie Steine als Götter anbeteten. 32 Karlsruhe Badische Landesbibliothek, Donaueschinger Handschrift 792, fol.140v, 15. Jahrh. sowie mit ähnlichem Bezug 792, fol.170r, Abschriften Schönbach Segensammlung Gießen S. 666 und 674 33 Heidelberg Universitätsbibliothek CPG 244, fol. 113r, 16. Jahrh., aus der Sammlung des „Hensell von Schifferstat, Zinsmeister zu Hepffenhem an der Bergstrasen“, Digitalisat 0229; ähnliche Texte bei CPG 272 34 Vgl. Kapitel 5
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Ebenso wie in mittelalterlichen Bildzeugnissen des gegeißelten Heilands war die Anbindung und Fesselung Christi in den Beschwörungs- und Segenstexten von großer Bedeutung. „Binden“ und „Lösen“ flossen aus biblischem und theologischem Kontext heraus vielfach medizinisch gebrauchsfähig in die Texte ein und konnten für mehrere Symptome konkret verwendet werden. Mit dem Mann ist Judas gemeint, der Verräter, der sich erhängt und sich damit ein endgültiges und schmachvolles Ende bereitet, so soll analog die Pestbeule verschwinden. Hinzu kommt die Vorstellung, daß im Gegensatz zu den Kreuznägeln die aus vegetabilen Materialien hergestellten Fesseln vermodern35 und also vergänglich sind. Im Rahmen von Inquisitionsprozessen an der Wende zum 17. Jahrhundert gegen Westerwälder „Werwölfe“ wurde der folgende Spruch gegen Tierpest mit einem Wiedwinder bekannt: 36
Vor geschwolst ... oder do ein pferdt den Schwem (Schelm?) hett: Jch gesegne dich, bleter vndt geschwer, Bey dem h. gesper x Lanza Bey den h. fünf wunden, die gott der herr an seiner h. seiten wunden, daß do wol vergehe eiter vndt blutt, Gleich wie der man verschwan, der die wiedt wandt , der den herrn Christum an das Creutz bandt. […]
Drängende Fragen nach der Ursache der Seuche vertiefen kollektive Ängste und Schuldzuweisungen Die Ursachenvorstellung zur Pest lag buchstäblich in der Luft. Sie war schon durch antike Schriften, etwa das Regimen Sanitatis der Schule von Salerno vorgegeben, war auch für die medizinische Zunft, die vielfach von Regenten bis zu Stadtverwaltungen um Rat gefragt wurde, immer wieder die verdorbene Luft, der giftige Dunst. Dazu kamen die Sterne und alle Zeichen am Himmel, wobei manche von den Ärzten eine kritische, natürliche Erklärung erwarteten ohne „Einflüsterungen des Teufels“.37 Ein Gutachten der Medizinischen Fakultät Paris 1348 für König Philipp VI. hatte ursächlich giftige Luft und Gestirnskonstellation bestätigt. Noch zu Anfang des 18. Jahrhunderts soll bei der Planung einer Stadtanlage wie Karlsruhe der Durchlüftungsfaktor gegen unreine Lüfte, gegen „Miasma“, den üblen befleckenden Dunst und gegen Gift gründlich Beachtung gefunden haben. Nach Einführung der Drucktechnik im 15. Jahrhundert florieren auch die Flugblätter mit Meldungen über unheilverkündende Kometen, Nebensonnen, 35 Schwab, Ute: In sluthere bebunden, in: Studien zum Altgermanischen, Hg.: Heiko Uecker, Berlin u. a. 1994, S. 554–583, hier: S. 575f 36 Wiesbaden Hauptstaatsarchiv 369/290, Blatt 9, Prozess gegen Rottgers Bestgins von Dorsdoff, Amt Burgschwalbach, veröffentl. Bach, Adolf: Westerwälder Werwölfe, in: Zeitschr. f. rhein. u.westf. Volkskund 20/21 (1923/1924), S. 33 37 Hartlieb, Johannes: Das Buch aller verbotenen Künste. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von S. Eisermann und E. Graf, Ahlerstedt 1989 (=CPG 478, 1470), S. 87–89, 76. Kap.
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Nordlichter und Kugelblitze, oft mit apokalyptischen Visionen verbunden zur Ermahnung an Gottes Gerichte.38 Auch diese Form der Angstableitung und der Angstpropaganda ist von den Seuchen mitgeprägt. Sie korrespondiert mit volkstümlichen Dämonenvorstellungen über die Schädiger und ihre Waffen, zahlreich in der Malerei dargestellt. Die Furia infernalis fiel vom Himmel herab, geflügelte Wesen von der Mücke bis zum Drachen überwältigten die Menschheit.39 Und so gibt es folgerichtig Segen gegen die böse Luft und das wilde Geschoss, die wahrscheinlich bevorzugt gegen Pest gerichtet waren wie der folgende als Variante eines Drei-gute-Brüder-Segens: 40
Gegen den schwarzen Umlauf oder das geschossene Geschwür: Es gingen drei Apostel […] Wir gehen zu der getauften N.N. das dreimal neunfach geschossene Geschwür segnen […]
Standen sich Medizin und Theologie generell in einem Spannungsverhältnis gegenüber, so geriet in Pestzeiten das unzulängliche medizinische Denken weniger in Konflikt. In Anbetracht ihrer weitgehenden Ohnmacht mußten Ärzte letztlich hinter aller Katastrophe Gottes Wirken sehen und anerkennen. Gravierend waren jedoch Vorwürfe über Verstöße gegen Nächstenliebe und soziale Pflichten, Vernachlässigung der Kranken durch flüchtige Ärzte, über Fluchen und Gotteslästerung. Dabei kam es zeitweise zu einer Art behördlichem Versammlungsverbot, zu Verboten von Gebetswachen und Prozessionen. Und es wurden Verleumdungen gegen Priester laut, die den Kranken Kontakte ausdrücklich verboten hätten, damit sie sich nicht des Totschlags an ihrem Nächsten schuldig machten. Es sollte auch nicht aus dem Beichtstuhl geflüchtet werden. Nicht ohne Grund mag dementgegen Abraham a Sancta Clara die Verdienste der Wiener Geistlichkeit um aufopfernde Seelsorge hervorgehoben haben.41 Man kann nur versuchen, sich diese explosive Gemengelage von Ansteckungsangst, kollektiver Schuld- und Strafvorstellung mit allen Folgen bis zur Verwirrung der Gemüter, verstärkt noch zu Zeiten der Kriege vorzustellen.
Von der Unzahl der Pestmittel in Medizin, Religion,Volksglauben und im Handel Die Kirche hat eine Reihe von Regulativen geschaffen, von der Einrichtung von Pestmessen,42 der Einbeziehung vieler Heiliger in Votivmessen über die Verbreitung von Gebeten bis zur Gründung von Wallfahrten, nicht zuletzt Vierzehnheili38 Bott, Gerhard: Zeichen am Himmel, Flugblätter des 16. Jahrhunderts, Ausstellung des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg 1982 39 vgl. Höfler, Max: Krankheits-Dämonen. Archiv für Religionswissenschaft II, H 1/2, 86–164 Leipzig u. Tübingen 1899, S. 101 40 Corpus der deutschen Segen und Beschwörungsformeln am Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde Dresden Geschwür 5, veröffentl. Schulz, Monika: Vneholden. In: Linguistica e filologia (Bergamo), 11 (2000), 146 41 Moser-Rath, Elfriede: Dem Kirchenvolk die Leviten gelesen … Stuttgart 1991, S. 352 42 Franz, Adolph: Die Messe im deutschen Mittelalter, Freiburg 1902, S. 171,178–190
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gen im Bistum Bamberg. Die Verehrung der 14 Nothelfer hatte gerade nach 1348 größere Verbreitung gefunden. Ebenso haben über Jahrhunderte die Ebersberger Sebastiansminne, also der Trunk aus der Hirnschale des Kopfreliquiars,43 und die Berührung der heiligen Lanze im Nürnberger Heiliggeistspital vornehmlich der Pestabwehr gegolten. Die Verunsicherung erklärt zur Genüge das Anschwellen religiöser und vor allem parareligiöser Absicherungsformen, insbesondere der Amulette mit ihren der Allgemeinheit geheimnisvollen Buchstaben. Der große Sorten-, Formel-, Materialund Sinnreichtum dieser Abwehrmittel wäre ohne Pest nicht denkbar. Die TauKreuze des frühen Christentums verbinden sich nun mit Darstellungen von Antonius und Franziskus, mit dem Zachariassegen, mit hebräischen Götternamen Tetragrammaton, Adonai und mit magischen Wortgebilden wie Ananisapta. Es entstehen Rochussiegel, Glückselige Hauskreuze und kleine Pestpfeile. Teufelspeitschen mit exorzistischen Formeln und „Heilige Längen“ werden zu vielverbreiteten Handelsobjekten. Zu den bis heute und seit dem 17. Jahrhundert beliebtesten Amuletten in Süddeutschland gehören die Benediktusmedaillen des Benediktinerordens.44 Darüberhinaus erwähnen fast alle Schutzzettel und Schutzbriefe und alle gedruckten Zauberbücher in ihrem Repertoire immer auch die Pest, etwa die Himmelsbriefe, das Geistliche Schild oder das Romanusbüchlein mit der Erzählung über eine Rettung vor der verpesteten Luft von 1546 in Trient und dem bekannten Buchstabenkreuz des Zachariassegens. Es besteht aus Bibelversen, die jeweils einem Buchstaben entsprechen und in Kreuzform irgendwie angeordnet werden können: + Z + DIA + B I HSFIZBFRS + A B + Z +
Zelus domus tuae liberat me Deus, Deus meus expelle pestum ; In manus tuas (Luc 23,46) Ante coelum et terram Deus erat; Bonum est praestolari auxilium Dei (Jeremias 3,26) Inclinabo cor meum (Psalm 119,112) Salus tua ego sum; abyssus abyssum invocat (Ps. 41,8) Beatus vir qui sperat in Domino (Ps. 39,5) Zelus honoris Dei convertat me: Haeccine reddis Domine populo stulte (4 Mos. 32,6); Factae sunt tenebrae (Luc. 23,44) Beatus vir qui non respexerit in vanitates; Factus est Deus in refugium mihi (Ps. 93,22); Respice in me Domine (Ps. 21,1); Salus mea tu es (Jer. 17,14) […]
Der Vielzahl der um Trost angeflehten Heiltümer entsprachen die unzähligen Mittelchen der Ärzte und Heilkundigen. Alles wurde erprobt, erfunden, geboten, und
43 Krausen, Edgar: Die Pflege religiös-volksfrommen Brauchtums, in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens ... 83 (1972) 274–290, hier: S. 276f 44 Münsterer, Hanns Otto: Amulettkreuze und Kreuzamulette, Regensburg 1983, 170–186
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geschickt beworben wie z. B. Theriak aus Venedig,45 der über Jahrhunderte für alles heiß begehrt war: „… Anno 1634 ist in Venedig so eine greuliche Pest gewesen, daß die Leute so miteinander geredet, umgefallen und gleich tot geblieben, dafür uns Gott in Gnaden behüten wolle, sind aber durch Gottes Hülfe, nachdem dieses Rezept erfunden worden, etliche 1000 damit errettet worden …“. Theriak wurde von der Firma Tröger in Schneeberg im Erzgebirge aus angeblich 110 Ingredienzien produziert,46 jedes Teil extra angebaut, zubereitet, verpackt gehandelt, die Arbeit der Laboranten über Jahrhunderte in den deutschen Mittelgebirgen. Inhaltsstoffe waren neben anderen Schießpulver, Schwefel, Knoblauch, gedörrte Kröten, Wacholderrauch, Zwiebelpflaster. Am bekanntesten hielt sich Bibernell, des Reimes wegen, in den aus jedem Ort geläufigen Sagen um rettende oder richtiger weissagende Vögel: „Esst Bibernell, dann sterbt ihr nicht so schnell“. Selbst Herzog Wallenstein soll sich, dieser Werbung erlegen, am 30. 6. 1632 in Tirschenreuth in der Oberpfalz ein Pfund Bibernell zum Mittagessen bestellt haben.47 Bis heute kennt jeder Arzt die Regel: Wenn nicht ein einziges Mittel hilft, sind 1000 erfunden. Der Medizinhistoriker Gundolf Keil hat im Überblick auf die seuchenhygienischen und symptombezogenen Maßnahmen betont, daß die zeitgenössischen Ärzte gegen Pest nicht vollkommen machtlos waren. Sie konnten durch Quarantäne, durch Mittel, die die Krankheitsüberträger abweisen (Repellentien) und durch Antiseptika die Infektionsgefahr und die Malignität der Primärkomplexe mindern.48
Abb. 53 Der Pestarzt – Kleidung wider den Tod. „Doctor Schnabel“ mit Kristallbrille
Abb. 54 Der Pestarzt beim Ausschneiden einer Beule zur Eiterentfernung
45 Beck, Hans, Heimat und Volkstum 14 (1936), S. 302f 46 Sommerfeldt, Gustav: Erzgebirgische Forschungen zur Kulturgeschichte, Dresden 1930, S. 129 47 Stadlbauer, Ferdinand: Reibet die Fußsohlen, Regensburg 1979, S. 44 48 Keil, Gundolf: Der kranke Mensch im Mittelalter. Randnotizen. In: Aspekte der Germanistik (FS H.-F. Rosenfeld), Göppingen 1989, S. 307–321, hier: 315
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Doch als Hauptregel und sicherstes Mittel galt letztlich allgemein die Flucht. „Mox, longe, tarde, cede recede redi“ hieß die Parole, also rasch lange weit weg und sehr langsam wieder zurück. Und damit hatte sogar in Florenz 1348 ganz delikat eine der bekanntesten Liebesgeschichten begonnen, als die feine Gesellschaft in die saubere Luft ihrer Landgüter floh, mit Gesang und Scherz und Liebeslust auf dem „Vulkan“ tanzte und Boccaccio in die Lage versetzt war, sein blütenlesendes ZehnTage-Werk, sein Decamerone zu schreiben. Pest und andere Seuchen / Therapieversuche mit Spruchtexten Eine verbale Therapie mit Sprüchen unter Kontakt mit dem Kranken hatte bei jeder echten Seuche zwar vorübergehend einmal angstlösende, aber kaum den Heilungsprozess unterstützende Wirkung, wenn sie überhaupt bei hohem Anstekkungsrisiko bei einer gelegentlich milde verlaufenden Bubonenpest unbefangen durchgeführt wurde. Man muß sie medizinisch als lebensgefährliche und damit unter mittelalterlichen Umständen selbst als Sterbebegleitung kontraindizierte Methode betrachten. Manche praktischen Maßnahmen wie das Herausschneiden der Pestbeulen hatten eher infektverbreitende Wirkung.
21. Psychisch krank: „Besessenheit“ und „Irrsinn“ und das Problem Exorzismus
– Welche Krankheiten wurden gemäß heutiger Diagnostik exorziert? – – Exorzismus als Intensivrapport mit kulturgeprägten Symptomgestalten – – Textbeispiele aus kirchlicher und volktümlicher Tradition, ihre HauptElemente und ihre Variationen und Splitter – – Vom Exorzismus zur Hypnose: Johann Joseph Gaßner – – Berührungspunkte mit gegenwärtigen Psychotherapieverfahren –
A) Zur „Besessenheit“ – mittelalterliche und moderne Annäherung und A) Behandlungskompetenz Die Versuche einer auf antiken Traditionen beruhenden Austreibung böser Geister aus Kranken (Exorzismus) sind bis heute in der Öffentlichkeit beharrlich umkämpft und dienen einer gewissen Presse als Futter für sensationslüsternes Publikum. Dabei sind die damit „behandelten“ schicksalhaften Krankheiten gravierend. Die historischen Quellen können besonders in diesem Bereich nur unter strikter Berücksichtigung des jeweiligen „Zeitgeistes“ herangezogen werden. Soweit retrospektive Diagnostik möglich, sind unter Besessenheit mindestens vier Krankheitseinheiten zu vermuten, wenn Kranke eine Affektion durch Dämonen (Schad-Geister) äußern oder – wie früher oft – ihnen aufgrund bestimmter Symptome solches nachgesagt wurde: 1.) Histrionische Störungen (= dissoziative, = konversionsneurotische Störungen; früher als Hysterie benannt – der abwertend gebrauchte Begriff wird derzeit gemieden.), Krankheiten ohne bisher eindeutig fassbare körperliche Ursache. Darunter fallen die zu Tagträumen neigenden Persönlichkeiten, die in unbewußter Inszenierung publikumswirksam auch Zwiegespräche mit Geistern führen. Die alte Dämonenlehre und ihre Anwendung seitens der Kirche und der Gesellschaft schuf ebenso günstige Bedingungen für ihr Auftreten wie mit anderen jeweils spezifischen Phänomenen prahlend die sexuelle Prüderie des 19. und die kontaminations- und strahlungsphobischen Ideen des 20./21. Jahrhunderts. Jedes Milieu schafft sich seine geltungssicheren Bühnengestalten für Zuschauer. 2.) Wahnvorstellungen bei Schizophrenie mit Verfolgung oder Trugwahrnehmungen (Halluzinationen verschiedener Sinnesorgane) beruhen auf erblicher Gehirnkrankheit, werden vom Betroffenen selten als krank wahrgenommen und geleiten
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deshalb oft nicht direkt zur angemessenen ärztlichen Behandlung. Rein schematisch nur kann man sich die Symptombildung ähnlich wie bei 1) als Abspaltung seelischer Persönlichkeitsanteile (Dissoziation) vorstellen, sodaß der Eindruck eines zweiten „dämonisierten“ Ichs entsteht. 3.) Epilepsien mit und ohne Wesensveränderungen, mit und ohne Psychosen, sind ebenfalls Gehirnerkrankungen. Sie wurden früher vielfach in den Begriff der Besessenheit einbezogen (vgl. Kapitel 10 und 11). 4.) Chronische Vergiftungen, insbesondere Alkohol- und Drogenhalluzinosen und toxische Gehirnveränderungen bei sonstigen körperlichen Krankheiten dürften gelegentlich Anlaß für Exorzismen gewesen sein. Unbehandelt drohen für viele dieser Leiden sozialer Abstieg und Isolation, Verwahrlosung, Zuwendung zu einem Satanskult oder die Folgen übersehener anderer z. B. entzündlicher oder tumoröser Hirnerkrankung. Wesentliche Voraussetzung für Therapie aller vier Krankheitsformen ist der Rapport, d. h. eine auf die krankhaften Vorstellungen „eingehende“ Haltung des Therapeuten ohne Versuch vorschneller Korrektur. Nur so entsteht Vertrauen. Aber gerade damit kann leichtfertig Mißbrauch unter Ausnutzung persönlicher Machtposition betrieben werden durch unseriöse esoterische Verfahren. Die jetzt kirchenrechtlich in Deutschland geltenden strengen Richtlinien sehen bei erwünschtem Exorzismus mehrfache periodische Vor- und Begleituntersuchungen durch Ärzte verschiedener Fachrichtungen mit konsequentem Ausschluß von relevant Kranken vor. Theoretisch kann ein vom Betroffenen erwünschter Exorzismus als Intensivrapport mit seinem Symptom nicht schädlicher sein als die sogenannte psychosoziale Betreuung und als eine Form der Psychoanalyse, die sich wie Exorzismus als entgiftend versteht (s.u.). Alle nichtmedizinischen Versuche können aber dann schädigen, wenn sie nicht vorrangig das Ziel ärztlicher Diagnostik und Therapie verfolgen. Dämonenvertreibung hat es in allen Kulturen gegeben. Die alte christliche Kirche hatte in klarer Abgrenzung von heidnischer Göttervielfalt und Mythos eindeutige Unterscheidungen postuliert. Heidengötter wurden zu Dämonen, und Heiden und Ketzer mußten mit ihnen verbunden sein. Zwar konnten auch Christen durch schwere Sünden dem Teufel verfallen im Sinne einer „ethischen“ Besessenheit. Aber unter allgemein antikem Einfluss und dem Wissen oder Glauben um Christi Wundertaten an Besessenen nimmt der Kirchenlehrer Origenes (ca. 185–253/54) auch einen direkten physischen Einfluß böser Geister an. Man notiert den Glauben, daß Dämonen in die Menschen einschleichen, ohne ihre Seelen vollends zu erreichen.1 Die Personalisierung des Bösen kam und kommt theorie- und abstraktionsmeidendem bildhaftem „volkstümlichen“ Denken nahe. Und so wurden diese 1
Franz, Adolph: Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter. Freiburg 1909, S. 516
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Abb. 55 Votivtafel zur Heilung einer Besessenen, „welche allda beschworen und von etlich hundert bösen geistern erlediget worden“ (Bubenhausen 1691)
Vorstellungen über Jahrhunderte transportiert, nicht nur weil es wenig Zweifel an ihrer Gültigkeit gegeben hätte, sondern auch weil sie der Kirche zur Glaubenserziehung dienten. Anlaß für therapeutische Einflußnahme im Sinne einer Vertreibung dieser eingedrungenen Dämonen waren Verwirrtheits- und Erregungszustände aller Art. Besonders jene Auffälligkeiten führten zum Exorzisten, die mit Konvulsionen, Augenrollen, plötzlicher Erblindung, Gehstörungen, Sprach- und Denkstörungen einhergingen. Wo sich Dämonen mit Blasphemien, Unzucht und anderen gottabfälligen Lästerungen zu melden schienen oder wo „fremde“ Sprachen als Wissen um eine geheime Welt gedeutet werden mußten, kam keine andere Hilfe in Betracht. Der Mensch des Hochmittelalters vom Laien bis zum höchsten Kleriker, vom Bauern und Handwerker bis zum Gelehrten lebte in diesem bald immer mehr systematisierten Regime einer in diesem Sektor phantastischen Welt. Unter den Zweiflern waren manche Ärzte, die aus der alten griechischen Medizin etwas über Funktionen des Gehirns gelernt hatten; der Autorität der Kirche waren sie nicht gewachsen. Vor ihnen warnt im 10. Jahrhundert der Dämonologe Michael Psellus: „Man darf den Ärzten nicht glauben, welche die Möglichkeit einer dämonischen Besessenheit leugnen und die Besessenen als bloß körperlich Kranke mit ihren Arzneien behandeln wollen. Denn diese Ärzte wollen nichts anerkennen,
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was sie nicht mit den körperlichen Sinnen erfassen“.2 Deutlicher kann die bis zum fatalen Machtkampf um die Seelen reichende Konkurrenz zwischen Medizin und Theologie, die sich dann gegen Ende des Mittelalters anbahnt, nicht beschrieben werden. Ein Teil der Theologie, nicht nur der katholischen, blieb dabei, fast jede schwere körperliche und zugleich seelische Krankheit, besonders auch die Epilepsie bis ins 19. Jahrhundert als Besessenheit und damit Besitzergreifung durch den Teufel zu betrachten. Einen Arzt als „Galileo Galilei“ für den psychiatrischen Durchbruch hat es nicht gegeben. Ein Johan Weyer konnte im 16. Jahrhundert keine Wende bewirken; er glaubte selbst an Hex und Teufel, wenn er sie auch relativierte und die Folter als eine Quelle betrachtete, die Beweise gegen Hexen lieferte.3 Zu spät kam Philippe Pinel, der 1795 in Paris die erste psychiatrische Abteilung schuf, dem man für seelisch Kranke eine „Befreiung von Ketten“ nachrühmt.
B) Der Exorzismus – „Handwerkszeug“4 der Religion Erst ab 3. Jahrhundert gab es den Stand der Exorzisten, feste Formeln innerhalb der Kirche sind erst seit dem 7. Jahrhundert nachweisbar.5 Von den Beschwörungen unterscheidet sich Exorzismus (griechisch: orchos = Schwur, exorkizo = beschwören, austreiben) durch seine engere, gezieltere Bedeutung. Es ist ein Kampfbegriff mit Ausrichtung gegen eine als anwesende Person vorgestellte böse Macht. Der Begriff Beschwörung umfasst dagegen auch Vorbeugung und unpersönliche abstrakte Bedrohungsabwehr. Kernpunkte der kirchlichen Exorzismus-Formeln wurden: 1. Der Name Jesu 2. Tatsachen aus dem Leben Jesu, insbesondere Heilwunder 3. Strafandrohungen gegen den Dämon mit Höllenqualen beim Weltgericht 4. Erweiterungen durch die jüdischen Formeln, wie sie der große Pariser Zauberpapyrus aus dem Jahre 300 nach Christus aufweist, zunächst nur der Urväter Israels, später auch der jüdischen Gottes- und Engelsnamen 5. Beschwörung bei Gott Vater und seinen Wundertaten für die Israeliten (Wolken- und Feuersäule, Sieg über Pharao, Ereignisse an Jordan und Rotem Meer) 6. Erweiterungen aus Apokryphen- und Häretikertexten (Petrus beschwört die Dämonen des Simon Magus, Thomas vertreibt Incubus mittels Schmähungen und schlägt Dämonen bei einer Besessenen in die Flucht, Johannes auf Patmos bezwingt die Dämonen eines Rhetors) 7. Befragen des Dämonen nach Name, Herkunft und Begehren sowie dessen Beschimpfung
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Zit. nach Franz, Adolph, wie oben, II, 520 Hauschild, Thomas: Der böse Blick, Berlin 1982², S. 25 Angenendt, Arnold: Grundformen der Religion im Mittelalter, München 2003, S. 34 vgl. dies und im folgenden Franz, wie oben, S. 532–542
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Bedeutender als die Formelinhalte waren alle Aktionen der Vorbereitung, die Praxis und die Riten (Handauflegen, Fasten, Bußgewand, Ölung, Salbung, Kreuzzeichen usw.), zumal der Text in lateinischer Sprache vorgetragen wurde. Exorzismuserfolge, wie sie bei den histrionischen Störungen erwartungsgemäß oft vorkamen, haben zur Tradierung des Exorzismus beigetragen. Die Kirche hat bis heute an der Möglichkeit von „Obsession“ wegen der biblischen Tradition, der Liturgie und der Unterscheidung der Geister festgehalten, betrachtet Exorzismus aber als etwas Randständiges.6 Die Textinhalte, einschließlich der Befragung der Geister nach Namen und Herkunft, sind weitgehend unverändert geblieben. In dem heute gültigen Text des Großen Exorzismus der katholischen Kirche in der von Papst Pius XII. genehmigten Fassung7 heißt es u. a.: Ich befehle dir, unreiner Geist, wer immer du bist, und deinem ganzen Anhang, die ihr diesen Diener (diese Dienerin) Gottes in Gewalt habt: wegen der Geheimnisse der Menschwerdung, des Leidens, der Auferstehung und der Himmelfahrt unseres Herrn Jesus Christus, wegen der Aussendung des Heiligen Geistes und der Wiederkunft unseres Herrn zum Gericht: gib mir Deinen Namen, den Tag und die Stunde deines Fortganges mit irgend einem Zeichen kund! Gehorche in allem mir, Gottes unwürdigem Diener! Füge diesem Geschöpfe Gottes oder ihrem Hab und Gut keinen Schaden zu! Im Namen unseres Herrn Jesus + Christus beschwöre ich dich, unreiner Geist, jede feindliche Macht, jedes Gespenst: reisse dich los und weiche von diesem Geschöpf Gottes +. Er selbst befiehlt es dir, auf dessen Wort du von den Höhen des Himmels in die Hölle gestürzt wurdest. Er selbst befiehlt es dir, der dem Meer, den Winden und Stürmen gebot. Höre es also und fürchte dich, Satan, du Glaubensfeind, du Widersacher des Menschengeschlechts, du Mörder und Räuber des Lebens, du Verächter der Gerechtigkeit, du Wurzel aller Übel […] Neid, […] Geiz, Zwietracht […]. Weiche also Gott + , der dich und deine Bosheit in Pharao und in dessen Heerschar durch Mose, seinen Diener, im Meer versenkte. […]
Im folgenden sind zunächst einige Beispiele der älteren kirchlichen Exorzismuskultur genannt. Die Exorzisten oder diejenigen, die sich berufen fühlten, hatten eine gewisse Gestaltungsfreiheit. Zu den frühesten Aufzeichnungen gehört der Exorzismus des heiligen Gallus. Er heilte nach einer Legende die Tochter eines Adligen. Als besonderes Merkmal des Exorzismus und seines Umgangs mit dem personalisierten Bösen ist der Dialog mit jenem Teil der behandelten Person zu werten, der als vom Bösen besetzt und „besessen“ (als Besitz!) verstanden wurde und den man 6 7
Scheffczyk, Leo, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Freiburg 1995, III, 1127; Messner, Reinhard, ebenda, S. 1128 Siegmund, Georg (Hg.): Der Exorzismus der kath. Kirche, Stein am Rhein [1981], S. 31, 39; die ausführlichsten exorzistischen Anleitungen aus Quellen des 16./17. Jahrhunderts, deutsch übersetzt, finden sich bei Probst, Manfred: Besessenheit, Zauberei und ihre Heilmittel, Münster 2008 (Veröffentlichungen des Abt-Herwegen-Instituts der Abtei Maria Laach). Dokumentiert ist u. a. Hieronymus Mengus (Menghi), dessen Schriften von Gaßner (s.u.) verwendet wurden.
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modern als Rapport mit dem Symptom verstehen kann. Der Dämon spricht aus der Kranken als ein anderes, zweites Ich, das als schwarzer Vogel schließlich entweichen muß. Hinzu tritt im folgenden Text die Sonderrolle des Mönches und Heiligen, dessen Kompetenz infolge seines gottgefälligen Lebens und seiner Gelübde erhöht ist. Der Legende nach hatte der Satan dem irischen Missionar vergeblich seinen Weg nach Alemannien durch Feuer verwehren wollen. Gallus hatte ihn durch Gebet und Fasten überwunden. Ähnlich ist später eine „Oratio sancti Galli super energumenum“ aus dem Codex Sangallensis 394, fol.199 des 11. Jahrhundert verbreitet.
B1) Exorzismus des Heiligen Gallus (550–645) für eine Besessene 8
„Domine Iesu Christe, qui in hunc mundum veniens ex virgine dignatus es nasci, quique ventis et mari imperasti et sathanam retro redire iussisti […] iube hunc immundissimum spiritum de hanc puella egredi!“ […] „Impero tibi in nomine Iesu Christi, ut exeas et recedas ab hoc plasma dei.“ Cum haec dixisset, illa apertis oculis aspexit in eum spritusque inmumdus locutus est ad eum: „Tu es Gallus, qui prius proiecisti me, sed ego huc intravi, quia pater meus cum sociis tuis eiecit te; si me nunc eiecis, ubi vadam ?“ Vir dei respondit: „Ubi dominus te dimersit in abyssum. „Statim enim videntibus illis exivit de ore eius, quasi turpissima avis nigra et horribilis.“
„Herrr Jesus Christus, gnädig in diese Welt geboren aus der Jungfrau, der du dem Wind und dem Meer befahlst und den Satan zum Zurückweichen beschworst, befiel diesem unreinen Geist, das Mädchen zu verlassen!“ [Zum Geist gewendet mit Handauflegung:] „Ich befehle dir im Namen Jesu Christi, daß du herausgehst und dieses Geschöpf Gottes verläßt!“ Als er das gesagt hatte, schaute sie ihn offenen Auges an und der Geist sagte: „Du bist Gallus, der mich einst verbannt hat, aber ich bin hier eingedrungen, seit mein Vater dich mit deinen Brüdern verjagte; wenn du mich jetzt verjagst, wohin soll ich gehen?“ Der Mann Gottes: Wohin Gott dich versenkt hat, in die Hölle!“ Sogleich entfuhr er aus ihrem Munde wie ein häßlicher, schwarzer und schrecklicher Vogel.
Im 11. Jahrhundert wird dem heiligen Godehard von Hildesheim ein Exorzismus zugeschrieben. Als Abt von Niederaltaich, wo er erzogen worden war, wurde ihm, als er einmal in Regensburg weilte, eine besessene Frau vorgestellt. Er widmet sich ihrem Dämon, der sie als ihr Eigentum betrachtet. Denn sie habe Zaubersprüche angewandt; Gott habe doch die Besprecher zu töten befohlen, zumal sie diese ihre Sünden kaum beichteten, weil die Dämonen ihnen den Mund verschlössen. Daraufhin beginnt der Abt seine Gebete. Der Dämon weicht schließlich und die Frau sinkt in Ohnmacht. Als der Abt sie aufrichtet und sie die lange Zeit geübte Sünde beichtet, erhält sie die Lossprechung. In dieser Formel tritt die Beschimpfung des Dämons hinzu, der sich widerständig zu verteidigen sucht, sowie ein indirekter Verweis auf das Jüngste Gericht und die Gemeinschaft der 8
Monumenta Germaniae, Scriptores II,11, 9. Jahrh., veröffentl. Franz II, S. 547
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Heiligen. Dieser Godehardtext ist auch Beispiel für den Behauptungswillen der Theologen gegen die Konkurrenz der Scharlatane und Zauberer. Die Formel lautet:
B2) Exorzismus des Heiligen Godehard (960–1038) bei einer B2) Besessenen in Regensburg 9
„Ergo, immundus spiritus, da honorem deo, et recede ab hac creatura eius, ut redeat ad gratiam, quam tu ab ea abstulisti.“ Et daemon ait. «Cur me in tantam agis violentiam? quid feci tibi? Aut quid habes contra me?» Et ille ait: «Audi, proterve et immunde spiritus: In illa aeterna patria, de qua tu superbiens cecidisti, tanta mihi erit laetitia de bono communi, ut de meo proprio, imo et multo maior. Et ideo hic dolere convenit de malo alieno multo fortius, quam de malo proprio. Per hoc enim vitam aeternam promerebor. Habeo ergo contra te iustam causam, quod minus iuste possides et punis sororem meam, plasma creatoris tui. Non enim, ut asseris, ago tibi violentiam, sed pro gloria dei et amore plasmatis eius, pro quo unigenitus eius sanguinem suum fundens, amarissimam mortem sustinuit, contra te non pugil, sed victor gloriosus [decerto]. Ergo tibi praecipio, superbe et immunde spiritus: in nomine Iesu Christi recede ab ea, et non praesumas ammodo creaturam [s]uam molestare.»
„Nun, du sündiger Geist, gib Gott die Ehre und weiche von dieser seiner Kreatur, daß sie zur Gnade zurückkehrt, die du ihr geraubt.“ Sprach der Dämon: „Warum fügst du mir soviel Gewalt zu? Was hab ich dir getan? Was hast du gegen mich?» Sprach jener: „Höre, schamloser, unreiner Geist: In jener ewigen Heimat, aus der du stolz gewichen, wird mir große Freude in edler Gemeinschaft sein, so dauernd unermesslich und groß. Und daher schmerzt hier fremdes Leid viel mehr als eigenes Leid. Denn dadurch verdiene ich das ewige Leben. Ich habe also gegen dich rechten Grund, weil du meine Schwester unrechtmäßig besitzt und strafst; sie ist Geschöpf deines Schöpfers. Ich füge dir nämlich keine Verletzung zu, sondern führe den Entscheidungskampf für Gottes Ehre, seiner Liebe zu den Geschöpfen, für die sein Eingeborener sein Blut vergießend den bitteren Tod erlitt, gegen Dich nicht mit der Faust, sondern als ehrenhafter Sieger. Und so befehle ich dir, stolzer und sündiger Geist: Im Namen Jesu Christi weiche von ihr, und maße dir ab jetzt nicht mehr an, sein Geschöpf zu belästigen.“
Besondere dichterische Gestaltungskraft verraten die Exorzismen der Hildegard von Bingen. Wieder charakterisieren sich die Riten und Texte durch direkten Dialog und Umgang mit einem besitzergreifenden Ungeist, dessen Forderungen nach Berührung mit der berühmten Äbtissin bei der Behandlung der Sigewiza von Brauweiler sogar nachgegeben wird. Aber es kommt auch zur Nutzung der Edelsteinallegorie und zum Ausbau ritueller Methoden.
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Franz, Adolph, wie oben, S. 550
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Abb. 56 Heilung des Besessenen von Gerasa. Entweichen der unreinen Geister in Schweinen (Reichenau um 980)
B3) Exorzismus der Hildegard von Bingen (1098–1179) B3) gegen Besessenheit und Liebeswahn 10
Und wenn ein Mensch vom bösen Geist besessen ist, lasse ein anderer Mensch den Saphir in Wachs legen. Und nähe jenes Wachs in Leder ein und hänge ihm das an den Hals und sage: „Oh du schlimmster Geist, weiche schnell von diesem Menschen, wie bei deinem ersten Fall die Herrlichkeit deines Glanzes sehr schnell von dir abfiel.“ Wenn aber der Teufel einen Mann zur Liebe zu einer Frau aufreizt, sodaß er ohne Magie und ohne Anrufung der Dämonen in Liebe zu ihr unsinnig zu sein beginnt, und wenn der Frau dies lästig ist, dann gieße sie dreimal etwas Wein über den Saphir und ebensoviele mal sage sie: „Ich gieße diesen Wein mit hitzigen Kräften über Dich, wie Gott deinen Glanz, pflichtvergessener Engel, abnahm, damit du so die begierliche Liebe dieses brennenden Mannes von mir abziehst“.
10 Physika 4–6, Vom Saphir, Übersetzung Portmann, 1991, S. 307f; vgl. Franz, A. Bened. II,566 – Deutung: Saphir leuchtet nur im Tageslicht; alle Sinne sollen sich dem ewigen Licht der Sonne zuwenden, der Gottesliebe also, nicht dem fauligen Dunkel. Gegenüber allen anderen Steinen hat Saphir in der Steindeutung (schon wegen 2 Moses 24,10) eine ziemlich konstante Auslegung als Himmelsbläue, als himmelsgleiches Leben mit Distanz zum Irdischen, Abwehr des Bösen und Nähe zu Marias Reinheit. Nach Beda Venerabilis ist er wie Topas im Wirken der Sonne ein Zeichen für Gottes Handeln am Menschen.
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B4) Exorzismus der Hildegard bei einer Besessenen von Brauweiler B4) bei Köln 11
Nach dreimonatigem erfolglosen Exorzismus in der Abtei Brauweiler bei Köln, erklärt der Dämon der besessenen Frau Sigewiza, nur die Gebete einer rheinaufwärts wohnenden „Scrumpilgardis“ (eine Schmähung auf Hildegardis) könnten ihn vertreiben. Die Kranke soll schon sieben Jahre lang besessen gewesen sein. Vom Abt von Brauweiler befragt, verneint Hildegard ein Eindringen des Teufels in einen Menschen; nur „ein schwarzer Schatten und Rauch“ umdunkle die Seele, Gott erlaube es nicht, daß der Teufel in die Seele eindringe. Hildegard versucht, die Besessenheit als rein körperliche Affektion zu deklarieren und bedient sich der Vorstellungen der Galenischen* Säftelehre.12 Sie rät ausführlich zum Fasten, zu Almosen und zu Heiligen Messen mit sieben Priestern. Diese sollen je einen Stab in der Hand halten zum Gedenken an Moses, da er Wasser aus dem Felsen schlug; der erste Priester soll sprechen: „Höre, boshafter und törichter Geist, der du in diesem Menschen wohnst, höre diese Worte, die nicht von Menschen erdacht, sondern von dem, der da ist und lebt, geoffenbart sind.“ [...] Aber auch dieser Exorzismus hatte nur kurzzeitigen Erfolg. So wurde dem Wunsch des Geistes nachgegeben und die Frau nach Kloster Rupertsberg gebracht. Dort tobte er, redete wechselnd unzüchtig und (seltener) fromm. Hildegard korrigierte die Reden des Bösen und die Nonnen fasteten und beteten. Es kam zu einer klösterlichen Gemeinschaftstherapie. Schließlich an einem Karsamstag nahm die Besessene an einer Taufwasserweihe teil und Hildegard sprach: „Weiche Satan, aus dem Körper dieser Frau und mache in ihm Platz dem Hl. Geist!“ Darauf floh der Dämon und die Frau blieb fortan gesund. Tun wir einen Sprung ins 16. Jahrhundert, dann nahm bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts13 die Popularisierung von Besessenheit und Exorzismus in Bayern und Österreich zu und wurde in der Gegenreformation unter Petrus Canisius (1521–1597), dem „ersten deutschen Jesuiten“, professionalisiert. Augsburg erlebte 1563 mit ihm eine Welle der Teufelsaustreibungen bis hinein in angesehene
11 Hildegard: epist. 60 und 61 und Vita lib III,c.2, n.47–51, veröffentl. Franz II,553–555 – Der Bericht kann als Hinweis auf „Therapie“ als dienende, persönliche Leistung, als direkte Begegnung mit dem Kranken gelten, die nicht delegierbar ist. 12 Schipperges, Heinrich: Zum Phänomen der „Besessenheit“ im arabischen und lateinischen Mittelalter, in: Zutt, Jürg (Hg.) Ergriffenheit und Besessenh. Ein interdiszipl. Gespräch. Bern u. a. 1972, S. 81–94, hier: S. 88 13 Genaueres vgl. Lederer, David: „Exorzieren ohne Lizenz …“. Befugnis, Skepsis und Glauben im frühneuzeitlichen Bayern, in: Waardt, Hans de (Hg.): Dämonische Besessenheit. Bielefeld 2005, S. 213–232
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Kreise.14 Bald begann auch das Bemühen, inoffizielle Konkurrenten abzuhalten. So sollte zur Regulierung von Wildwuchs das Rituale Romanum von 1604 dienen. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts setzte immer mehr Skepsis ein, auch am bayrischen Hof und unter Jesuiten. Ende des 18. Jahrhunderts verstärkte sich der Kampf gegen Aberglaube, Exorzismus und Volksfrömmigkeit. Besessenheit als Massenphänomen sistierte zu Beginn des 19. Jahrhunderts, zu einer Zeit, als die erste bayerische Irrenanstalt in Giesing gegründet wurde (1803).
C) Volkstümliche Exorzismusformeln Es hat immer nahe gelegen, sich unerlaubt und inkompetent religiöser Mittel zu bedienen, um durch Mithilfe christlicher Segen und Beschwörungen Erfolge zu erzielen, Erfolge um jeden Preis. Keiner Religion ist es je gelungen, alle ihre Gläubigen auf gradem Wege mitzunehmen. Für eigenes Renommee taten und tun es Quacksalber, Zauberer, Scharlatane, Hochstapler und Geistheiler, aus Nächstenliebe taten und tun es Geistergläubige und selbst chronisch psychisch Kranke, deren Tätigkeit als Selbsttherapie durch konstruierte Identitätsgerüste zu verstehen ist. Selbst Psychiater der Neuzeit mit eigener Poltergeisterfahrung und dem Schmucktitel parapsychologischer Wissenschaft gehören gelegentlich dazu.15 Dies trug einerseits zur Abwertung der priesterlichen Exorzismen bei, hatte aber historisch gesehen über Jahrhunderte auch Verformungen und Entfaltungen der Texte zur Folge. Das erste Beispiel zeigt indes, wie der Böse in kirchlichen Exempla-Erzählungen warnend erzieherisch eingesetzt werden konnte. In der Handschrift des 15. Jahrhunderts gerät nach zwölf Jahren treuer Ehe ein Kaufmann nach Wirtshausbesuch in einen deliranten Zustand. Büsche und Bäume sitzen voller Teufel, die ihre verwerflichen Arbeiten schildern, Zwietracht sähen zwischen Christen und Heiden und zwischen Eheleuten, Anleitung zu Meineid, Raub und Verrat. Getadelt vom Oberteufel verspricht der zwölf Jahre erfolglose für Kaufmann und Frau zuständige Kleinteufel nun, sich zu „bessern“ und durch Einschleichen via Weinfäßlein des Kaufmanns sich an dessen Frau heranzumachen, damit sie Streit entfache. Der Mann hatte es gehört, ließ den Teufel in das Fäßlein und sprach eine erste Verbannung im Namen der Dreifaltigkeit mit dem Ziel endgültiger Einsperrung. Aber seine Frau, der er nach Rückkehr alles berichtet, ist nicht zufrieden. Sie bringen das Fäßlein ins Kloster und der Abt macht die Sache öffentlich. Er zeigt es vor allem Volke und spricht: 14 vgl. z. B. Schad, Martha: Die Frauen des Hauses Fugger von der Lilie, Tübingen 1989, S. 67– 70 15 wie z. B. Dr. Naegeli-Osjord, Hans: Besessenheit und Exorzismus, Remagen 1983, passim, s. besonders Legitimation, S. 22f und Die eigene Methode, S. 240–243 mit den Chakra-Einsprengungen und der Vorstellung „feinstofflicher Kraftabgabe“.
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„Ich beschwöre dich, unreiner Teufel, daß du herausfährst und dich sehen läßt, so schön, als wenn du im Himmelreich wärst, damit du uns gefällst.“ Der Teufel fuhr aus dem Fäßlein und war der schönste Engel. […] Danach gebot er ihm, ein greulicher Teufel zu werden. Und nun erschraken alle und fielen in Ohnmacht. Da sprach der Abt: „Weil du nun alle Leute so irre machst, gebe ich dir zur Buße auf, in die Wüste zu fahren, wo nie ein Mensch hinkam und bis an den jüngsten Tag. Das gebiete ich dir bei Vater, Sohn und heiligem Geist!“ Und er fuhr weg mit Geschrei, Lärm und Gestank, als ob er alle Berge und Häuser zerstören wollte, daß es alle Leute sahen, auch die Ehelichen. Und sie wurden danach besser. Also geschehe uns allen. Amen.
Ein zweites Textbeispiel volkstümlicher Art ist direkt einem von Elben Besessenen gewidmet. Eine vorausgehende Anweisung befiehlt, den Kranken nackend auf nakkende Beine zu nehmen und mit der Zunge seine Nase zu lecken, ein Test, der bei salzigem Geschmack den Elbenbefall bestätigt. Nach heutigen Erkenntnissen kann das Aufspüren stark salzhaltigen Schweißes als Test auf Mukoviszidose gelten, eine erbliche Stoffwechselstörung. Sodann erfolgt die Beschwörung beim Vater-Unser, der Gottesmutter und den Aposteln. Ein Dialog mit den Geistern findet nicht statt, nur die Ansprache mit Aufzählung aller ihrer möglichen Farben und Nachkommen und eine kompakte dreifache Vertreibungsstrategie: Tot nach drei Tagen, Abweisung in eine Wied, hier dürfte damit ein Galgenstrick gemeint sein, wo sie als Fieber schütteln und reiten mögen und, eine Spezialtaktik, ein Adynaton, eine Unmöglichkeit: Im Falle ihres Wiederkommens müssen die Bösen ein heiliges Kreuz in ihren Händen tragen; sie wären damit natürlich ganz entmachtet, dies eine der vielen in den volkstümlichen Sprüchen zu findenden unmöglich erfüllbaren Aufgaben. 17
da by beswere ich uch, alp unde elbynnen, unde mit allen uwern nachkomelingen, ir syhit wiß addir roit, brün, swarcz, gell, addir yn wilcherley wiß ir syhit, daz ir alle muß it sin tot an dem dritten tage. daz gebudit uch got unde der liebe herre sente Job. fort mehe so wiel ich uch gebieden, daz ir sollit kommen yn eyne widen, dy sollit ir schudden und ryden also lange, daz ditte mentsche nach uch begynnet czu vorlangen. aber wol-
dabei beschwöre ich euch, Alp und Elbinnen, und mit allen euren Nachkommen, ob ihr weiß, rot, braun, schwarz, gelb oder welcher Art ihr auch seid, daß ihr alle am dritten Tag tot sein müßt. Das gebiete euch Gott und der liebe Herr Sankt Job. Ferner will ich euch gebieten, daß ihr in eine Wied (Seil, Strick) kommen müßt, die sollt ihr schütteln und reiten, bis dieser Mensch wieder nach euch verlangt. Aber wenn ihr wieder kommen
16 Pfeiffer, Franz: Predigtmärlein (aus einer Straßburger Handschr.), in: Germania, 3 (1858), S. 416–419; vgl. auch Moser-Rath, Elfriede: Geistliche Bauernregeln, in: Zeitschr. für Volkskunde 55 (1959), S. 221: Zum Gebrauch christlicher Formeln in der volkstümlichen Heilkunde (17. Jahrh.): „Ein und anderer aus dem einfältigen Bauren-Volck machet mehrmalen einen Einwuff, sagend: … ist nichts Böses, sondern es kommen heilige Sachen und Gebräuch […] Wisse aber mein lieber Einfältiger, daß der Teuffel zum öffteren sein Spihl mache unter dem Schein des Guten.“ 17 BSB München Clm 849, Bl.131b, veröff. Schönbach, Anal. Graec., S. 43, 15.Jh
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dit y widder kommen, ir brengit daz heilge frone crucze yn uwerin henden.
wollt, dann traget das hochheilige Kreuz in euren Händen.
Das dritte Textbeispiel zielt ebenfalls auf die Behandlung eines Besessenen und zeigt mit dem Begriff „Widersprechung – Satan und seinem Anhang“ die Nähe zum alten Taufgelöbnis mit seiner Abschwörungsformel („ec forsacho diabolae end allum diobolgeldae“). Es konzentriert auf den Namen Jesu und auf eine Garantiegabe, daß Gott Vater seinen Sohn auch nicht „gewiret und geweret und gewern“, also in Verwirrung hat kommen lassen. Der Verweis auf Gottes Schöpfungsakt ist ein wichtiges Element vieler dieser Exorzismus-Formeln, weil er die Ohnmacht Satans auch im Blick auf die menschliche Seele, die nach Origenes und Augustinus niemals vollends vom Bösen besessen werden kann, wiedergibt. Als Schöpfer bleibt Gott auch Inhaber der Menschenseele. Das drücken schon die althochdeutschen Trierer Teufelssprüche aus: „Es braucht niemand den Teufel zu fürchten, denn er vermag dem Menschen nur zu schaden, wenn es Gott (Christus) ihm gestattet.“18 Im übrigen schließt der folgende etwas verschriebene steiermärkische Text ängstlich- depressive Symptome ein und reiht sechs Körperteile auf, die teuflisch besetzt seien. Im Verlauf geht der Text in ein Bittgebet über. 19
Ain Widersprechung fier posse gespennst vnd Vermainen [… sprich:] Heut ist ein Heilliger leblicher N widersprich ich dich N. dem teuffl vnd allem seinem Anhang. durch den suessen namen Jhessus den pessen füessen, pessen Henden, pessen Zungen / pessen meüllern pessen augen pessen falschen Hertzen. Da widersprich ich dich N. Heut vnd alle Zeit, alles daz dir schaden mag. An sell vnd an leib, vnd an Allen dem, was du von got deinem Hern hast, da wider sprich ich dich N mit got dem süessen Namen Jhesus vnd mit den krefftigen worten daz gott der Herr Himel vnd Ertrich mit beschueff […]
Gegen böses Gespenst und Verzaubern. […Sprich:] Heute am heiligen und löblichen Tag X widersage ich dir,N, dem Teufel und all seinem Anhang, durch den süßen Namen Jesus. (Ich widersage) den bösen Füßen, Händen, Zungen, den bösen Mäulern, Augen und falschen Herzen. Ich verbanne dir, N,, heut und alle Zeit alles, was dir schaden kann an Seele und Leib und an all dem, was du von Gott bekommen hast. Ich verbanne dich mit Gott und dem süßen Namen Jesus und den Worten Gottes, als er Himmel und Erde schuf […]
Sprich sannt Johannis Ewangell, Jm Anfang was daz wort. […] Vnnsser Her Jhesum Crist wart wundt, es wart got seinem Himellischen Vattern geen Himel khundt, spricht got der vatter. Sonn. dir gewiret nicht, Als wenig wirt dir N auch nicht gewern. […]
Sprich das Johannes Evangelium, Im Anfang war das Wort […] Unser Herr Jesus Christus war wund, das ward Gott, seinem himmlischen Vater zum Himmel kund. Da spricht Gott: Sohn, du wirst nicht verwirren, ebenso wird dir N. auch nicht irre werden. […]
18 Embach, Michael: Trierer Zauber- und Segenssprüche d. M.alters. In: Kurtrierisches Jahrb. 44 (2004), 29–76 19 Graz Steierm.Landesarchiv, HS 476 Arznei- und Alchemiebuch von 1587, S. 119v-120r
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O Got Himel Her Vatter Jch befülche die des Arme Seel. Heut vnd alle Zeit, sein Angst vnd not, truebsall vnd Krankheit Klag ich dir, Jch pit dich treib aus alle Vnsaubreigkhait Vnd schwachheit Ich pit dich mein Himelischer Vatter. […]
Der ständige Kampf gegen die Macht böser Geister spiegelt sich in den letzten Jahrhunderten auch in den vielen verbreiteten Druckschriften, Amulettbriefen und Zetteln, den Sieben-Schloss-Gebeten, Himmelsriegeln, Teufelsgeißeln, Benediktus-, Franziskus-, Laurentius-, Lucassegen, Gewittersegen, im Geistlichen Schild und in den Albertus-Magnus- und Mosisbüchern. Aus dieser Flut von volksfrommen Beschwichtigungen haben sich Splitter für Heilkundige gelöst, die in verschiedensten Anliegen, nicht nur für seelisch Kranke eingesetzt wurden. Auch hat man jüdische Amulette20 gefunden, die nach Exorzismusart mit viel Geisterdialog besonders unter Nennung vieler Gottesnamen, Geister-Namensbann, Namens-Preisgabeerzwingung gegen Lilith bei der Wöchnerin vorgehen. Einige Textbeispiele mögen auf die Vielfalt der exorzismusartigen Ansätze hinweisen bei Vermutung von seelischen Krankheiten. Es vermischt sich die Metaphorik des Esels bei Erregungszuständen mit Christi Eselsritt und mit Eselsblut, es wird die alttestamentliche Scheidung der Geister eingespannt, um Böses abzuspalten. Pflanzenriten und Zahlenspiele sollen die Macht der Worte steigern, ebenso die Anrufung des Erzengels Michael als Drachentöter. Seine Erwähnung weist darauf hin, daß oft eine Korrespondenz zum Exorzismus der Tridentinischen Messe des Rituale Romanum (Papst Leo XIII, 1890) bestehen kann. Mit der unverwandten Ausrichtung der Augen auf ein schwarzes Kreuz begegnet echte hypnotische Technik. 21
Ein guoter Segen für die beße Leuth Hat dich der Teuffel geritten, so helf dir der Mann, der zu Jerusalem auf einem Esel ist geritten. Im Namen […]
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Wann ein Mensch dischberat ist, so muß er Eßelsblut trinken, einen schopeben, von einen ganzen Hengst. – Ich weiß nicht, wo du her kommen bist und weiß nicht, was aus dir werden wilzt, und weiß nicht, was du bist, so helft dir der liebe Herr Jesu Christ, Gott Vater, Sohn und heiliger Geist.
20 Angerstorfer, Andreas: Ein Schutzblatt (Amulett) für eine Wöchnerin, (Red.) Schriften des Fränkische-Schweiz-Museums, 2 (Bayreuth) 1987, S. 87–92 21 Birlinger, Anton: Aus Schwaben. Sagen, Legenden, Aberglauben, Wiesbaden 1874 (Neuausgabe Aalen 1969), S. 450, aus einem alten Heft von 1733, von Oberndorf, Ammertal 22 Telle, Joachim: Ein handschr. Kunst-und Viehbüchlein des Wasenmeisters Busch 1819, S. 159–185 hier S. 175, in: Assion, Peter (Hg.): Ländliche Kulturformen im deutschen Südwesten, Stuttgart 1971
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Spruchtexte
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Teufel zu bannen Zwischen Erdingen und Denklingen bannte einst ein mutiger Küster den Gottseibeiuns mit den Worten: So schlag‘ ich nun mit Jesu Wunden Dich, Teufel, bis zur Höll‘ hinein
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Seegen für Zauberey und Gespenster so den Menschen Nachstellen .+. .+. .+. Im ersten Buch Mossis im 3.ten Capitel Ich will Feindschafft setzen spricht der Herr zwischen dir u. dem Weibe zwischen deinem Saamen u. ihrem Saamen derselbe […] soll dir den Kopf zertretten u. du wirst sie in die Ferssen stechen Hörest du verfluchter Höllen-Geist, der Heilige Nahme Jesus behüte mich; der Heilige Nahme Jesus Schelte dich; der Heilige Nahme Jesus Scheide mich u. dich von einander, von Nun an bis in Ewigkeit Ammen.
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Fürn teufel Wiltu den teuffel von ainem menschen pringen, so nym Seuenpawm [Wacholder] drew czweigel vnd leg sy in einen hafen vnd gews drey stund daran guten wein in dem namen des vaters vnd des suns vnd des heyligen gaistes vnd lass sieden, daz es wol erwalle, vnd leg ez dem pesessen menschen auf daz haubt, daz ers nit wisse, so muss der teufel antwurten vnd weichen.
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Fernexorzismus Millionen, Milliarden, Billionen mal: Im Namen der Hochallerheiligsten Dreifaltigkeit. Im Namen Jesu, Maria und Josef! Befehle ich euch ihr höllischen Geister, weichet von ihnen und von ihren Orten und waget nicht wiederzukehren und sie zu versuchen und ihnen zu schaden an Leib und Seele! […] Weil die Menschheit so verstrickt im Bösen ist, daß sie selbst gar nicht mehr davon frei wird. Heute und vor längerer Zeit wurde mir geoffenbart, daß vom Hl. Berg Heroldsbach aus, der dämonische Geist, welcher heute über die ganze Erde ausgebreitet ist, niedergekämpft werden muß […]
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Durch Zorn und Gall straft Gott die Menschen all; alle schlechten Säfte und schlechtes Blut, befehle ich die Gicht-Krankheit unter Gottes Huth. Ich beschwöre Euch beim lebendigen Gott, Gott
23 Schell, Otto: Bergische Zauberformeln (19. Jahrh.). In: Z. d. V. für Volksk.16 (1906),S. 170– 176, hier 176 24 Oertel, Barbara: Ein Rezept- und Zauberbüchlein vom Ende des 18. Jahrhunderts, in: Bausinger, Hermann (Hg.): Zauberei und Frömmigkeit (Volksleben 13) Tübingen 1966, S. 80 25 Zingerle, Oswald von: Segen und Heilmittel aus einer Wolfsthurner Handschrift 15. Jh., in: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 1 (1891) S. 172–177, 315–324, hier S. 322 26 Kriß, Rudolf: Heroldsbach, Statistiken und jüngste Entwicklung (Mitte 20. Jahrhundert) In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 1955, S. 106–118, hier: S. 117 27 Fossel, Victor: Volksmedicin und Medicinischer Aberglaube in Steiermark, Graz 1886, S. 167f (19.Jh.)
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Sabaot, Gott Sabaot! Dreimal in neun Tagen, beim heil. Erzengel Michael beschwöre ich Euch dreimal, er hat die Engel im Himmel ausgetrieben und sind auf ewig in der Höll`geblieben. Ja beim heiligen Kindlein im Stall beschwöre ich Euch dreimal! Gott Sabaot, Gott Sabaot! Ich beschwöre dieses in Gottes Macht, zu wenden an Schwund und Gicht, Gott weiss es und hilft auch Dich, so wahr der Satan ist vom Himmel vertrieben, ist die Krankheit von Dir geschieden. Bei dieser Beschwörung wird vor den Kranken ein schwarzes Cruzifix gestellt, auf welches der Patient unverwandt sein Auge zu richten hat, und der schmerzhafte Körpertheil mit Weihwasser besprengt. Weiters hat der Kranke durch 40 Tage hindurch täglich 39 Vaterunser und einen Glaubengott zu beten, täglich den ausgepressten Saft des Benedictus-Krautes (Geum montanum, reptans) und des Nebenauf-Krautes (Veronica) einzunehmen und unverbrüchliches Schweigen zu bewahren.
Dieser steiermärkische Text gibt darüberhinaus in seinem Ordinationsteil eine bemerkenswerte therapeutische Anweisung. Der Kranke muß ein Kreuz „unverwandt“ anblicken und wird damit einer bei jeder modernen Hypnotherapie üblichen Fixationsmethode unterzogen. In Kärnten waren unter Mönchen derartige Techniken mit Glaskugeln schon zu Zeiten des Paracelsus in Gebrauch. Das über längere Zeit unablässige Anstarren eines Punktes – hier dürfte der Kreuzungspunkt des Kruzifixes oder das Corpus gemeint sein – führt bekanntlich durch Reizmonotonie zur Senkung bzw. Einengung der Aufmerksamkeit. Der Therapeut kann nach dieser Induktion suggestiv entspannend und schmerzlindernd vorgehen. Er erleichtert damit, ergänzt durch die Weihwasserbesprengung die Einübung in eine Art spirituellen Heilschlaf. Der gesprochene Text selbst verweist auf exorzistische Ansätze einer Entsühnung. Die „Hausaufgabe“ eines permanenten 40-Tage-Gebetes verbindet Einlassung auf eine Zeitdimension Jesu Christi mit der Ablösung vom Therapeuten, wie wir das bei Gaßner (s.u.) sehen werden. Einem ganz anderen Typ gehören die Begegnungssprüche an, in denen nicht der Exorzist, sondern helfende göttliche Mächte mit den Krankheitsdämonen in Dialog treten. Sie sind seit babylonischer Zeit bekannt und sind wahrscheinlich unabhängig oder nur in lockerer Berührung mit Exorzismen tradiert und meist als Wurm-Gicht- und Fiebersegen entwickelt gewesen. Die Verwandtschaft dieser Mikro-Exorzismen zum Großen Exorzismus ist aber unübersehbar: Die Absicht der Schädiger wird erfragt. Die Schädiger nennen ihre Drohungen und werden ins Abseits vertrieben.28 Der folgende Segen entstammt der Sammlung des Coburger Arztes Johann Christian Frommann (1623–1695), der in der Nachfolge Johan Weyers wenige weitere Schritte von Magie abrückte. Wenn auch noch dämonengläubig, so verwarf er doch die Zauberei als direkte visuelle und vokale Einwirkungen auf die Körper anderer Menschen29 und gehörte zu den ersten Kämpfern gegen „Aberglauben“. 28 vgl. das Kapitel 19 29 Hauschild, Thomas, wie oben, S. 26
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Spruchtexte
Gegen Gegicht und Gesücht Unser lieber Sohn und unser liebe Fra (Frau) gingen über eine grüne Ae (Au) da begegnet jhnen das Reißlich vnd Freischlich, das gegicht vnd allerley Gesücht. Wo wiltu hin Gegicht und allerley Gesücht? Da will ich in deß Mannes Haus will jhm sein Fleisch fressen, will jhm sein Blut aussaugen will jhn gar zu nicht machen. […] Das solt du nicht thun kehr wieder um Reißlich und Freischlich das Gegicht und allerley Gesücht! Nein in wilden Wald, in holen Stock …
D) Vom Exorzismus zur Hypnose – Johann Joseph Gaßner Höhepunkt und zugleich Wendepunkt des Exorzismus sind die Wunderheilungen Johann Joseph Gaßners (1727–1779).31 Der aus dem Klostertal in Vorarlberg stammende Pfarrer hat gerade in der Blütezeit der Rationalaufklärung erhebliches Aufsehen erregt. Höchste weltliche und kirchliche Autoritäten mußten Stellung beziehen. Nachdem 1766 die letzte Hexenverbrennung in Bayern stattgefunden hatte, sahen aufgeklärte Kreise mit ihm bedrohliche Gefahren aufkommen. Nach dem Studium in Prag und Innsbruck an seine erste Pfarrstelle gesetzt, begannen sich bei ihm ausgerechnet beim Gottesdienst Beschwerden einzustellen: Kopfschmerzen, Schwindel, Nervosität und heftige Schlaganfallängste. Kein Arzt kann helfen. Schließlich erkennt er, zumal nach einschlägigem Bücherstudium, daß kein anderer als der Satan ihn heimtückisch von seiner priesterlichen Tätigkeit abhalten will. Fest steht für immer seine Überzeugung, daß es Teufelsbund und Hexenritte gibt und vor allem, daß der Mensch allüberall vom Teufel umlauert wird und jede Krankheit (außer Blindheit mit ausgeronnenen Augen und gewalttätige Verletzung) der Bosheit des Teufels entspringt. Im Jahr 1759 nach intensiver Anrufung des Namens Jesu gegen den bösen Feind erlangt er bei sich Heilung und beginnt seinerseits andere zu behandeln. Systematisch unterteilt er die Dämonenplage nach Schweregrad in Anfechtungen, Bezaubertsein und Besessensein. Nach seiner Theorie wollen böse Geister Gottes Ehre schmälern, indem sie den Menschen seelisch anfechten und seinen Leib ergreifen. Gaßner wird zeitweise wie ein Heiliger verehrt, vor allem in Ellwangen. Dort entwickelt sich um ihn so etwas wie eine internationale Wallfahrt. Von November 1774 bis Juni 1775 sollen über zwanzigtausend Patienten in seine Kuren gekommen sein, Leute aus allen Ständen mit allen Leiden, die es gibt. Und hier beginnt mit Gaßner die Geschichte der modernen Hypnotherapie. Die katholische Kirche hatte Gaßners Tätigkeit mit größter Skepsis verfolgt und 30 Birlinger, Anton: Alemannia 17 (1889) 241f (aus Frommann, Johann Christian D Medico provinciali Saxo-Coburgico et PP Norimbergae Tractatus de Fascinatione Novus et Singularis, S. 354, Endter 1675) 31 Vgl. besonders Hanauer, Josef: Der Teufelsbanner und Wunderheiler Johann Joseph Gaßner, in: Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg 19 (1985), S. 356f
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hatte wegen des großen Rummels um seine Person und der völlig abweichenden Exorzismustechnik eine Untersuchung veranlaßt. Ein Mitglied der Kommission war der Arzt Franz Anton Mesmer, bekannt durch eine nicht spirituelle Art von Kuren, die er als „animalischen Magnetismus“ bezeichnete. Mesmer erkannte zwar die Bedeutung Gaßners und seine Erfolge, führte aber dessen Wunderkuren auf seinen eigenen „Magnetismus“ zurück. Instrumentalisiert32 durch die neu gegründete Bayerische Akademie der Wissenschaften war Mesmer gegen einen Laien vorgegangen, indem er damit argumentierte, Gaßner habe nur am Symptom kuriert. Nicht mehr Geister, sondern das „magnetische Fluidum“ war nun alles. (Treppenwitz der Geschichte: 1784 erfährt Mesmer in Paris das gleiche Urteil: Erfolge ja, aber theoretischer Unsinn) Von Kaiser Joseph II. wurde Gaßner in eine kleine Gemeinde versetzt; nach Weisung von Papst Pius V. wurden ihm Exorzismen verboten. Eine der Formeln Gaßners lautet: 33
Ich befehle im Namen Jesu einem jeden Teufel insonderheit und allen insgesamt, daß ihr von meinem Leibe und der Seele sollet fortweichen mit allen Anfechtungen und ins Künftige keine Gewalt mehr haben, mich weder an der Seele noch am Leibe zu belästigen; denn ich will stehen unter dem Schutze Gottes und des heiligsten Namens Jesu. Wer ist wie Gott? Heilig, heilig, heilig ist er, den ich über alles liebe, weil er das höchste Gut, an den ich glaube, daß er mir helfen kann, weil er allmächtig, auf den ich hoffe, daß er mir helfen will, weil er unendlich gütig und barmherzig, mir helfen wird, weil er es versprochen und in seinem Versprechen unendlich getreu und wahrhaft ist. Ich will streiten im Leben und Tode. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes Amen!
Bahnbrechend für den Erfolg des Wunderpfarrers waren derartige Spruchtexte allerdings nur in einer neuen Form der Anwendung. Von vielen wurden ähnliche Beschwörungen gesprochen und das christliche Fundament in ihnen war selbstverständlich. Den eigentlichen Impuls für die Entstehung der ärztlichen Hypnotherapie brachte seine Methodik der Suggestion, die er Exorzismus probativus nennt. Die direkte Bedrängung, Schmähung und Vertreibung des Satans als Person, wie bei den mittelalterlichen Verfahren, trat in den Hintergrund. In einer bis dahin völlig unbekannten, verbal und manuell zupackenden Taktik verstand es Gaßner, Krankheitssymptome zu provozieren. Während die Exorzisten des Mittelalters Dämonen herausquälten, die jedenfalls nach den Schriften protestierend mit Lärm und Gestank, Löwen- und Schweinegebrüll die Kranken verließen, traktierte Gaßner seelische und körperliche Krankheitssymptome, die sich daraufhin bedrohlich meldeten. Er entlockte seinen Patienten Zornausbrüche und Lachen, Traurigkeit 32 So Peter, Burkhard: Hypnotische Selbstkontrolle, in: Hypnose und Kognition 17 (2000), S. 19–34, hier S. 30 33 Hanauer, Josef, wie oben, S. 367
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Abb. 57 Johann Joseph Gaßner an der „Magischen Säule“ in Meersburg am Bodensee (Peter Lenk 2007). Der Exorzist demonstriert als Vierfüßler auf einem Podium den Gaffern, wie er böse Geister als seine eigenen Darmwinde austreibt. Die Satire entspricht dem Trend orofäkalen Clearings im Kunstbetrieb.
und Schmerz, Schwindel und Ohnmacht, Krampfanfälle, Darmwinde und Gebärmuttervorfälle, ließ alles kommen und gehen nach Befehl. Gaßner war mit einer bezwingenden fanatisch suggestiven Kraft begabt und konnte hypnotische Zustände erzeugen; allerdings tat er es meist mit Zuschauern in einer heiklen Bühnensituation; das war sein Verhängnis, die Zeit dafür ging zu Ende. Extreme Veränderungen am menschlichen Leib, die er provozierte, waren die sog. „sterbenden Gichter“, bei denen es auch zu Zeichen des Sterbens kam. Auf seinen Befehl „Signa morientis et mortui habeat!“ sank die Person zu Boden, wurde blass und pulslos, bis Gaßner sprach: „Iterum sit sana in nomine Jesu!“ Aus heutiger Sicht war Gaßners Vorgehen zunächst Differentialdiagnose: Wenn sich keine „übernatürlichen“ Symptome beim Probeexorzismus meldeten, also kein Satan etc., schickte er seine Patienten zum Arzt, denn dann waren körperliche Krankheiten zu vermuten. Soweit es die uferlosen Protokolle erkennen lassen, behandelte er keine Schwachsinnigen, Depressiven und Zwangskranken. Das entscheidend Neue seiner Therapie bestand in der Beherrschung der Symptome, die durch Befehle wiederholt und oft stundenlang kamen und gingen und die schließlich nach einiger Übung auch der Patient mit Hilfe der Exorzismusformel selbst
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zum Verschwinden bringen konnte. Der Patient lernte Selbstkontrolle,34 er war in den therapeutischen Prozess aktiv einbezogen. Als posthypnotische Selbstsuggestion bekam er die Hausaufgabe, das gleiche Verfahren im Bedarfsfall wieder anzuwenden. Und so war die Verbreitung seiner gedruckten Bilder und Segen „ an allen Türen einfältiger Leute“ nicht erstaunlich.
E) Exorzistische Ansätze in der derzeitigen Therapie-Methodik Obwohl moderne seriöse Psychotherapie ausgebildeter Ärzte, Psychologen, Pädagogen, Philosophen und Theologen – sie alle können eine Zulassung zu Krankenkassenerstattung beantragen – dem kirchlichen Exorzismus kaum vergleichbar ist und ungern verglichen wird, nenne ich einige theoretisch-methodische Berührungspunkte, ich betone, Punkte: 1) Als Herausgeber eines Handbuches der Psychotherapie (ca. 1500 Seiten, 96 überwiegend amerikanische Autoren, über 70 verschiedene Methoden) bekennt sich Raymond J. Corsini, Professor für Klinische Psychologie an der Universität Hawaii zu einer „Konfrontativen“ Therapie35 als institutioneller Behandlung. Er verweist theoretisch auf historische Ereignisse, auf die radikale Konversion des Saulus zum Paulus, auf Wunderheilungen mit schlagartigem Gesinnungswandel, auf den Exorzismus Johann Joseph Gaßners und die Hypnosen Franz Anton Mesmers im 18. Jahrhundert. Und er nennt den spirituellen Ansatz heutiger Geistlicher. Allen gemeinsam ist das Plötzliche der Umkehr zum Besseren. Die Theorie für einen modernen Gebrauch dieser Konfrontativen Therapie unterstellt Selbstheilungskräfte und die Umgehung des kosten- und zeitverschwendenden Machtkampfes mit inneren Widerständen des Kranken. Diese Therapie ist im Vergleich zu allen anderen Therapien extrem schnell, einfach und billig. Der Vergleich des Verfahrens mit der Beseitigung jenes einzigen verklemmten Baumstammes, der an einer Engstelle den Flößern den Abtransport eines ganzen Waldes blockiert, ist plausibel. Hauptarbeit des Therapeuten ist a) Vertrauensaufbau mit Erwärmung und Mitgefühl, ähnlich dem „Rapport“. b) Angriff und verletzend gezieltes emotionales Zuschlagen im Moment höchster Erregung im Sinne der Performation. c) kühles Abstoßen. – Man bedenke aber, welcher Institution Corsini diese Methode als erfolgreich und heute anwendbar zuordnet: Es ist die Strafanstalt. Deutliche Parallelen zu dieser Methode bietet die Volksmedizin (s. Kapitel 32).
34 Peter, Burkhard, wie oben, S. 20–24 35 Corsini, J.Raymond (Hg.): Handbuch der Psychotherapie. (Übersetzung Gerd Wenninger) Weinheim und Basel 1983, S. 555–570; vgl. auch Kapitel 32; in der Verhaltenstherapie hat der Begriff Konfrontation einen anderen Sinn bekommen.
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2) Mit den Zauberworten Clearing, Katharsis oder Recycling könnten sich Sparten einer Abart der Psychoanalyse (Kleinianismus) schmücken, die theoretisch dem Prinzip der Container-Verladung verhaftet sind. Der Nervenarzt und Psychoanalytiker Manfred Krill36 schildert eine solche Form der Erwartung bei erwachsenen Patienten als „Übertragung“ auf den Therapeuten: Jeder Patient soll vor allem seine bösen, neid- und hasserfüllten innerseelischen Objekte in den Therapeuten abwerfen, ihn als Abfallbehälter nutzen. Der Therapeut soll dann alles entgiften und gereinigt zurückgeben. Krill erinnert anhand dieser mechanistischen, unpersönlichen Methode an Teufelsaustreibung und an den modisch hochbedeutsamen Trend des Recycling der Müllhalden. Besonders wird auf die Überschätzung des Therapeuten und die Gefahren von Machtmißbrauch hingewiesen. 3) Als eine dem esoterischen New-Age-Trend nahestehende umstrittene Methode wird das Neurolinguistische Programmieren (NLP) derzeit vielfach von privaten Außenseitern betrieben. Seine Beliebtheit ist Folge der beabsichtigten Vertrauensseligkeit in eine künstlich geschaffene spiegelbildartige Annäherung des Therapeuten an den Klienten nach Beobachtung seiner Mimik, Sprache, Gestik, Körperhaltung und Atmung. Keine ganz neue Methode, hatte doch Ovid schon in seiner „Liebeskunst“ zur Verführung empfohlen: „Wenn sie weint, zögere nicht, auch zu weinen“. Und kannten wohl einst viele das alte Sprichwort „Wer Toren möchte stillen, der rede nach ihrem Willen“. Alles wird kopiert und soll durch „Pacing“ (= Schrittsteuerung) und „Leading“ (Führen) über die Spiegelneurone* zur Beeinflussung neurophysiologischer Vorgänge beitragen. Man hat dies als ein „suggestives Brimborium“ benannt.37 Die Methode ist nur im Punkte des maßlosen und sehr direkten Rapports mit den „abgespaltenen“ seelischen Persönlichkeitsanteilen dem Exorzismus entfernt verwandt. Beliebt ist sie auch in der Werbung. Sie gibt sich im Internet gern bescheiden als vielseitiges „Werkzeug“ aus, ebenso wie der Theologe Angenendt den Exorzismus und die Segen der Kirche. Exorzismus und Neuropsychosomatik Die Wirkung exorzistischer Verfahren ist in hohem Maße von der Diagnose abhängig. Je mehr es sich um psychogene Erkrankungen im Sinne der histrionischen Persönlichkeit handelt, z. B. um dissoziative Anfälle oder Lähmungen, umso eher ist und war eine Besserung der Symptome zu erwarten, dies natürlich nur dann, wenn die Verfahren „rituell“ dem entsprechenden kulturellen Milieu entsprechen. Etwaige neuronale strukturelle Prägungen histrionischer Erkrankungen sind in der 36 Krill, Manfred: Das Gutachterverfahren für tiefenpsychologisch fundierte und analytische Psychotherapie, Gießen 2008, S. 46, 83ff 37 vgl. Goldner, Colin: Psycho-Therapien zwischen Seriosität und Scharlatanerie. Augsburg 1997, S. 249f
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Forschung trotz erster Hirnbefunde mit Veränderungen im cingulären* und präfrontalen Cortex noch nicht eindeutig erfasst und geklärt.38 Eine Behandlung der Schizophrenie und der anderen eingangs genannten Hirnerkrankungen mit Exorzismus ist stets fahrlässig und konnte auch unter mittelalterlichen Bedingungen nicht wirken. Entsprechende Rückschlüsse auf die zugrunde liegende Diagnose bei einer damals behaupteten Heilung sind möglich, d. h. daß die psychogenen, also nicht eindeutig strukturell im Gehirn verankerten Krankheiten dem Exorzisten immer wieder Erfolge brachten.
38 Noll-Hussong, Michael und Peter Henningsen: Zur Neuro-Psychosomatik der Konversion. In: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 160 (2009), 356–361
22. Psychisch krank? Folklore-Psychiatrie: Böser Blick und böse Zungen Item, einige doctores wollen wahrhaben und schwören Stein und Bein, es müsse Hirnspezialisten unter den Kleinen [Spirochäten] geben, Liebhaber der zerebralen Sphäre, ein virus nerveux. Sie wohnen aber in der bekannten Halde. Es ist umgekehrt. Es ist das Gehirn, das nach ihrem Besuche lüstern ist und ihm erwartungsvoll entgegensieht.1
– Permanente Volksdiagnostik: Aus Ignoranz zur Ursachenerfindung – – Die Umkehrungen der Beweislast für unklärbare Krankheiten – – Sind abgründige Imaginationen Potenzverstärker für Volksheiler? – – Die Hypothese: Böse Blicke und Zungen als historische Kernsymptome für Angst und Paranoia –
Die in diesem Kapitel versammelten Texte geben uns vor, eine bestimmte Störung oder krankhafte Veränderung zu behandeln oder ihnen vorzubeugen. Es entsteht der Anschein einer Diagnose: Verhexung, Verzauberung, Angetanes, Zugriff einer bösen Macht oder eines bösen Menschen. Prüft man den Gehalt an realen Symptombeschreibungen in und um diese Texte herum, wird man nur wenig oder nur diffuse Versuche finden.2 Nur selten sind spezielle Beobachtungen am Körper genannt, etwa das Abnehmen der Kinder oder global einfach Gesundheitsverlust, häufiger finden sich Angaben über Symptome beim Stalltier. Aus keinem der Sprüche geht das hervor, was wir heute bei erstem flüchtigem Blick vermuten würden, daß mangels körperlicher Symptombeschreibung vielleicht eine seelische Krankheit vermutet wurde und behandelt werden sollte. „Wo die Volksmedizin […] Wissen mit vermeintlichem Wissen verknüpfen will, da werden ihre Ergebnisse oft unsicher, unklar und falsch.“3 Ohne jede ärztliche Etikettierung aus Texten und Symbolen fast aller Völker bis in die Neuzeit begegnen4 uns die Phänomene der bösen Augen und Blicke, böser 1 2 3 4
Mann, Thomas: Doktor Faustus, Berlin 1952, S. 316 (Rede des Teufels) Hampp, Irmgard: Beschwörung Segen Gebet, Stuttgart 1961, S. 105; Seligmann, Siegfried: Der böse Blick und Verwandtes, Berlin 1910, I, S. 252f Hampp, ebenda Für eine Reihe wichtiger Quellen siehe Seligmann, Siegfried: Die Zauberkraft des Auges und das Berufen, [Hamburg 1921], S. 15–93; Gager, John G. (Hg.): Curse Tablets and binding
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Zungen und Mäuler auch in manigfaltiger kultureller Gestalt, am Tempel, an Waffen, am Bug der Schiffe, an Stalltüren und Hauspforten, in Form von Neidköpfen und Amuletten.
Abb. 58 Schutzkulte gegen bösen Blick. Von links: antike Augenvase, Gorgonenhaupt der Akropolis, Odysseus bei den Sirenen in Pompej, Schicksalsgöttinen eines etruskischen Spiegels, syrisches Amulett
Eine diagnostische Unterscheidung, ob diese abwehrenden Vorkehrungen jeweils nur Kultgewohnheiten waren, ob sie gegen reale erlittene Schädigung oder mehr wegen Angst und Argwohn mit Aggressivität oder schon wegen Wahnkrankheit erfolgten, läßt sich nicht treffen. Das gilt ebenso für unsere Texte. Der Hinweis auf die vehemente Insistenz früher Texte darauf, daß sie Reaktion auf eine bösartige erlittene Schädigung seien, nicht primäre Schadensabsicht,5 hilft diagnostisch nicht weiter, wenn man davon ausgeht, daß nicht materielle und reale, sondern scheinbar ganz überwiegend ursächlich krankmachende Bosheit mit diesen Texten angesprochen wurde. Das wahrscheinlich älteste deutsche Profangebet aus dem 12. Jahrhundert, das vor dieser bösen seelischen Zudringlichkeit, diesem Psychoterror vermeintlicher oder tatsächlicher Feinde schützen soll, entstammt der Bibliothek des Klosters Muri zu Bozen: 6
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Oratio bona ad deum Herre almehtige got. ich bite dich dur din heiligis hovbit.unde dur allv dinu heiligin werch. unde dur allv div heiligin wort die du den menischon zignadon ie gispreche. du inphach disu licht. unde gibint unde bitwinc hute andisime tage alle die zungin die minin scadin sprechin wellen. alde die mich hute
Kräftiges Gebet zu Gott Herr, allmächtiger Gott, ich bitte dich durch dein heiliges Haupt und durch alle deine heiligen Werke und durch alle deine Worte, die du den Menschen je gnädig gesprochen hast: Empfange dieses Licht und Band und bezwinge heute an diesemTag all die Zungen, die zu meinem Schaden sprechen wollen oder die mich heute
spells from the ancient world, New York, 1992; Eibl-Eibesfeldt, Irenäus und Christa Sütterlin: Im Banne der Angst, München 1992 Schulz, Monika: Magie oder Die Wiederherstellung der Ordnung, Frankfurt 2000, S. 131 Bozen Kloster Muri, Codex 69 (jetzt im Benediktinerkolleg Sarnen), veröffentl. Wackernagel, Wilhelm: Altdeutsche Predigten und Gebete, Basel 1876, S. 216f; veröffentl. und komm. Eis, Gerhard, Altdeutsche Zaubersprüche, Berlin 1964, S. 117–123
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ansehin suln. odir diheinen giwalt ubir mich habin suln. unde chere ir allir zungin unde ir wort. unde ir willin an mine frovde. unde an mine hulde. unde an mine minne.
ansehen sollen oder die keine Gewalt über mich haben sollen. Und kehre all ihre Zungen und ihre Worte und ihren Willen um zu meiner Freude, meinem Wohlwollen und meiner Güte.
Ein ganz ähnliches Segensgebet des folgenden 13. Jahrhundert nennt auch die anfängliche Messtechnik mit einem Band von Haaransatz bis Kinn und von Ohr zu Ohr, eine Manipulation, die Sprech- und Sehorgan stellvertretend für alle Menschen dem Walten Gottes unterstellen soll, während beide Handschriften im Anschluß an das Gebet weitere Messungen beschreiben, die kreuzförmig über Herz und von Brustbein bis zum Nabel anzulegen sind. 7
Der in nὁten sey, der spreche daz gebet. Nim ein tacht und miz dein antluetze chraeutzling von dem har untz an daz chintpayn, von dem oren an daz ander, und sprich: Du almaechtiger got, durch dein heiligs haubt und durch dein heiligiu wort, die du den menschen ie ze genaden spraech, du emphach ditze liecht und gebiut aller menschen zung
Gebet in Not, Gefahr und Bedrängnis Nimm einen Docht und miss dein Gesicht kreuzweise vom Haar bis ans Kinn und von einem Ohr zum anderen und sprich: Du allmächt. Gott, durch dein hl. Haupt und durch deine hl. Worte, die du den Menschen je gnädig zusprachst, empfange dieses Licht und gebiete aller Menschen Zunge
In manche hochmittelalterlichen Texte sind die alten Abwehrmetaphern und die „magische“ Manipulation gelangt. Es ist ein Einfluß der Literatur der „artes illicitae“, d. h. der verbotenen Künste vermutet worden,8 jedoch ist ebenso von einer elementaren seelischen Grunddisposition auszugehen, die ein solches Schutzanliegen ins Gebet einführt. Die Einträge in die Codices entsprachen auch hier wie etwa beim MondseeLiebeszauber und vielen anderen Sprüchen nicht immer den strengsten Regeln, das zeigt schon die Flüchtigkeit, mit der neben Federproben unter verschiedenen Schreibern auf das wertvolle Pergament der letzten Seiten der Kaiserchronik Segenstexte wie Lückenfüller geschmiert sind, die u. a. in einem Morgensegen um Behütung „vor wertlichen schanden und Totleichen sunden vor falzzer zung vor pöser mainym“ bitten.9 War etwa einmal die eigene böse Zunge gemeint? Ob im Rahmen von frommen Texten oder losgelöst von ihnen, gewinnen die Sprüche zunehmend aggressive Gestalt. Zwar bleiben sie oft noch Bitte an Gott, aber die wie eine Vergeltungswaffe, ja Verfluchung gemeinten Worte zielen und schießen härter und deutlicher und manchmal auf weitere Organe des Angreifers: 7
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München BSB Clm 23435, fol. 72v-73r, hs. Segenabschriften Schönbach, Gießen, S. 971f, veröffentl ders. in: An. Graec., S. 47, 13. Jh., Clm 23435, fol. 72r. (Herkunft? Febr. 2010 nicht digitalisiert) Eis, Gerhard: Altdeutsche Zaubersprüche, Berlin 1964, S. 119 München BSB Cgm 37, fol. 133r, 14.Jh., veröffentl. Roediger, Max, Z. f.dt. Altertum 21 (1877), S. 207f
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O jesu christ marien sun. dein marter sey heut mein frum (Nutzen). daz all mein feind vorcheren (umkehren) sich. dez pit ich lieber herre dich. daz si erstarren und erstummen an mund und an zungen. an augen und an handen. daz sy ymmer vollenden (beenden, zu Ende bringen) an mir iren willen dez pit ich herre gar stille. Got vater Got sun Got heyliger geist wann du ir aller hertz wol waist so behüt mich vor in (ihnen) allen. daz si also vor mir vallen. als vor dir tet der juden diet (Kerl). da dich Judas kegen in verriet. amen. pater noster.
Gelegentlich halten sich die Formeln an exorzistische Muster: 11
Ain Widersprechung fier posse gespennst vnd Vermainen […] heut […] wider sprich ich dich N. dem teuffl vnd allem seinem Angang. durch den suessen namen Jhessus den pessen füessen, pessen Henden, pessen Zungen, pessen meüllern pessen augen pessen falschen Hertzen. Da widersprich ich dich N. Heut vnd alle Zeit, alles daz dir schaden mag. An sell vnd an leib, vnd an Allen dem, was du von got deinem Hern Hast […]
Wie im obigen Cgm 54 des 14. Jahrhunderts werden oft die vor Christus fallenden Juden als Analogon benutzt, im folgenden aus der gleichen steiermärkischen Handschrift des 16. Jahrhunderts: 12
Ain Annderes fiers verschreyen Fich (Vieh) vnd Leith Sprich: Vnnser Lieber herr Jhesus Cristus gieng in den garten. da dheten (täten) sein die falschen Juden warten da sprach Jhesu wen suecht Jr da, da sprachen die Juden wir suechen Jhessum Von Nassareth, da sprach Jhesus Jch pins, da fielen die Juden al Hinder sich Zu Rugkh, also müessen alle Zungen, durch die Crafft vnd macht vnsers Lieben Hern Jhesu Cristi Zu Rugkh fallen die dich N. Haben peschrieren […]
Ein besonders verbreitetes bis in die Zauberbücher des letzten Jahrhunderts tradiertes Motiv ist als Numeralzauber13 benannt worden, d. h. die „Überzahl an zurückgesandten Pfeilen [auch in ethnografischen Belegen] oder der ‚guten Augen‘ gegen den bösen Blick“ soll über den Erfolg entscheiden, ein rhetorischer Trick, wie wir ihn umgekehrt von der Minimierung der Dämonen z. B. im Falle des „hal10 München BSB Cgm 54, fol. 106v, 14. Jh. veröffentl. Schönbach, Zeitschr f. dt. Altertum 24 (1880), S. 71 11 Graz Steiermärkisches Landesarchiv, Arznei-und Alchemiebuch, Handschr. 476, fol. 119 von 1587 12 Graz Steiermärkisches Landesarchiv, Handschrift 476 von 1587, S. 188v 13 Schulz, Monika: Magie oder (wie oben), S. 129
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Spruchtexte
ben Halbseitenkopfschmerzes“ kennen. Früheste Andeutung dieser Zahlenspiele ist dem 14. Jahrhundert zu entnehmen: 14
Drey dih sahen drei dich wider sahen. daz ain der vater daz ander waz der sun daz dritt waz der heylig geyst der püezz (heile) dir heint waz dir were aller maist.
15
Twe quaden haben dir angesehen, drei guden sehen dich widder ahn, hatt dir die düfel angesehen mit seinen widen ogen unser her Gott sehe dich wieder […]
Zwei Böse haben dich angesehen, Drei Gute sehen dich wieder an hat dich der Teufel angesehen mit seinen großen Augen. Unser Herrgott sehe dich wieder […]
In weitgehend ähnlichen Sprüchen wird mit teilweise regional gewichtbaren, mehr oder weniger deutlichen Begriffsvarianten immer die gleiche „Diagnose“ gestellt: Der Betroffene ist verschrien, beschrien, berufen, versprochen, gestochen, vermeldet, verneidet, angewendt oder behext; er ist von bösem Wind angegriffen, es ist ihm etwas angetan, zugetan und zugesandt, und böse Augen haben ihn übersehen oder hinter sich gesehen oder sind über ihn gesprungen.16 Viele Texte drücken ihre Ratlosigkeit unumwunden aus und räumen ein, keine Diagnose stellen zu können. Nur Gott wisse, was geschehen ist: 17
Leuth- und Vechsegen. Wann ein Kindt oder vech von den bösen Leuthen verschreut ist worden, so nim die gerechte hand und leg sie auf ihn und sprich: Ich weiß nit, waß dir ist, helff dir der l.H.J.Chr. und die unschuldigen Kind, die bey Gott gnedig im himel sind in der ewigen fraiden. Kind, es haben dich zwey böse Augen übersehen, heut übersehen dich 3 guot Augen, daß ist Gott der Vater usw. der geb dir wider gesund bluot und flaisch!
Seit dem Ende des 16. Jahrhundert häufen sich die Textnachweise. Und in einem ihrer Traditionszweige werden statt der bösen Augen und Mäuler nun böse Gestalten aller Sorten und Stände angegriffen,18 im gereimten Text aus dem Sechsämterland des 18. Jahrhunderts sogar mit den zugehörigen bösen Gesinnungen: Neid, Hass, Eifer und Zorn.
14 München BSB Cgm 54, veröffentl. Schönbach, Zeitschr, f.dt.Altertum und dt. Lit. 24 (1880), S 69f; vgl. Kap. 19 15 Bartsch, Karl: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Mecklenburg, gesammelt und hrsgg. Wien 1879, Band 2, S. 15 (Bekenntnis der Anneke Hinrich Quisen, wie sie die Leute butet, Krim.protokoll Rostock 21.Juni 1584) 16 vgl. die umfassende Bestandsaufnahme bei Spamer, Adolf: Romanusbüchlein, S. 109–157 17 Karlsruhe Badische Landesbibl., Hs. aus St. Blasien Cod. Pap.Germ. 87 (Arzneibuch eines Wundarztes in Kränkingen?), aus 1617, veröff. Mone, Anzeiger 6 (1834),S. 471 18 Spamer (wie oben), S. 115ff
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Vor daß Beruffen oder Verschreien Falsche augen falsche Sinnen falsches Hertz und falsch Beginnen ist gegangen üBer mich Gott Württ mein Erbarmen süch (sich) Hats gethan ein Man aus Neide komt ihn in die Brust und seite Hats gethan eine Frau aus Haß komt ihr ins HauBt Hals und Naß Hats gethan ein Knecht aus Eieffer komts ihm in Munt und Zungen und geiffer Hats gethan eine Magd aus zorn komt ihr in Hand Fuß und Korn gott der Würd es ihnen senden alles bösse von mier Wenden […]
Ein anderer Traditionszweig betont und ergänzt die Aufzählung der zurückzuschleudernden Organschäden, im folgenden fest eingebettet in andere bekannte christlich orientierte Spruchpartikel: 20
[…] Gesegne mich Johannes die heil. fünf Wunden, damit seind alle meine Feind gebunden +; Gesegne mich Johannes sein rosenfarbnes Bluet, das sei mir für alle meine Feinde guet +, die mich anblicken und ansehen mit ihren schlechten Waffen, Zauberei und Teufels Gespenst, dass mir Johannes kein Schaden mag sein, Also wenig dir heint, Herr Jesu, Schaden mög sein, Es sei mit starken Worten oder Werken, Es sei an Leib oder an Guet, An Fleisch oder an Bluet. Wann ich meine Feind am alle ersten ansiehe, so muessen ihre Augen an mir erglasen, Ihr Maul an mir erstummen, Ihr Herz an mir erkalten, Ihr Hand an mir erstarren, Ihr Bein und Fuess erstehn, dass ich Johannes + in kein Schaden möge gesetzt werden. […]
Weitere Segensformeln in katholischen Gegenden bedienen sich des Einsatzes vieler Heiliger: 21
Gegen den Neid […] wird auch folgendes gebraucht: über das Vieh ein Kreuz machend sage den Ansprechreim: Vieh, wer hat dir das Futter verneidt, Knecht oder Dirn so helf dir der hl. Ritter zu St. Irgn (St. Georg) und hat dir vermeint Weib oder Mann, so helf dir der hl. Wolfgang und haben dir’s vermeindt andere Leut’ so helf dir der hl. St. Veit.
All diese Verbannungen und Revanchen gegen böse Augen und Zungen haben sowohl nach ihrer literarischen Herkunft als auch nach Tradierung und Gebrauch einen Weg genommen, der wie jener der Liebeszaubersprüche und der Exorzismen
19 Wunsiedel, Fichtelgebirgsmuseum, Hs C213/2823 Handschrift des Bauern Ächtner 1769/96, S. 31 20 Baumgarten, P. Amand, in: Beiträge zur Landeskunde von Österreich ob der Enns 19 (1864), S. 92f (aus dem Archiv Kremsmünster, im Jahre 1756 geschrieben von Joh. Wolfslehner) 21 Regensburg Stadtarchiv, Nachlass F.X. von Schönwerth, Fasc.VI,1
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Spruchtexte
kaum mit Medizinern in Berührung kam. In den Medizinbüchern fehlen sie. Sie kommen aus volkstümlichen Gebeten, wie die Schrift von Muri, stehen zwischen theologischen Abhandlungen wie im Clm 23435, der vom letzten Gericht handelt und Dämonennamen nennt.22 In vielen Ausfahrtsegen und in den Tobiassegen tauchen die zu bindenden schädigenden fremden Augen und Münder auf, vor denen der Reisende bewahrt sein möge, im 12. Jahrhundert z. B. im Kölner und im Hannoveraner Reisesegen.23 Dabei werden die Feinde einbezogen, ob sie sichtbar oder unsichtbar sind und auch deren Ohren, Herzen, Hände und Füße. Folklore-Psychiatrie: „Böser Blick und böse Zungen“, „Böse Augen, böse Mäuler“ / Abgründige Imagination / Hypothetische Angst- und ParanoiaSyndrome Wir müssen vermuten, daß die zumeist als Besprechungen gegen böse Absichten von unfassbaren Feinden beschriebenen Texte in Wirklichkeit fast immer auf dem Boden von Ungewissheit und freier Ursachenfahndung erwachsen sind. Denn unsere Vorfahren wären im Falle ängstlicher oder wahnhafter Erkrankung wenigstens gelegentlich einmal in der Lage gewesen, so etwas mutig zu beschreiben. Es gibt eine Sucht nach Begründungen, eine Sucht sogar, der viele Philosophen tiefgründig nachgegangen sind. Die Suche nach einer Erklärung von Krankheit und Leid, von Not und Verlust führte oft nach einer Weile der Sprachlosigkeit aus einem „Horror vacui“ zur erlösenden Phantasie erfundener Bilder und Gestalten. Die vage unbenannte Angst erlöste und entschärfte sich beispielsweise im Münchner Nachtsegen mit der Einführung traditioneller Dämonen. In ratlosem Unwissen griff der um Abhilfe gerufene Heiler zum Mittel einer meist anerkannten „magischen“ Potenz, indem er Ignoranz in Aktion umkehrte. Er gab vor, das Geheimste zu wissen, kontrollieren und besiegen zu können. Seine kranke oder betrügerische Diagnose war zugleich Therapie, eine Therapie die sich der paranoiden, d. h. der dem menschlichen Denken selten mangelnden phantastischen bis wahnartigen Ursachenzuweisungen bediente. Er benutzte die Möglichkeit, das menschliche Gehirn täuschen zu können, wobei gegenüber anderen Beschwörungen und gegenüber den Segen eine abgründige Bildgebung bestand. Die Erfahrung des Heilers im Volke, meist aus der Nachahmung seiner Väter genährt, ließ ihn erkennen, wie sehnsüchtig Gehirne sich besonders leicht Täuschungen hingeben, die eigene Mängel auf anderes und andere projizieren. Legt man aber der in den Spruchtexten steckenden Begründung einen realen Kern zugrunde, so müssen als Quellpunkt Angst- und Wahnsyndrome angenommen werden. Angst wird im heutigen Sprachgebrauch von gesunder Sorge und re22 München BSB Clm 23435, fol. 72v, vgl. Kapitel 10 (Valentin) 23 Grimm, Wilhelm, Altdeutsche Blätter II, Leipzig 1840, S. 1f. Königliche Bibliothek Hannover; ähnlich der Segen bei Wilhelm, Friedrich: Denkmäler, München 1960, S. 93
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aler Befürchtung kaum unterschieden. Meist tritt sie bei Verstimmungen und Depressionen auf. Sie kann mit körperlichen Mißempfindungen, mit sozialen Konflikten oder mit eigenwilligen Vorstellungen korrespondieren. Fließend ist der Übergang zu den sich immer wieder aufdrängenden überwertigen Ideen, die oft auf ein eingreifendes Erlebnis zurückgehen und sich in Argwohn und Benachteiligungsverdacht äußern. Etwas ganz anderes ist es, wenn derartige argwöhnenden Verstimmungen nicht mehr korrigiert werden können und von der Realität offensichtlich grob abweichen, wenn der Betroffene ganze Systeme entwickelt und alle seine Beobachtungen dieser Irrealität unterordnet. Dann liegt eine Wahnkrankheit vor. Deren häufigster Inhalt ist die feste Überzeugung, von anderen verfolgt zu werden. Es kann mit einem auffälligen Hüsteln des Nachbarn beginnen, mit dessen Gesten und komischem Lächeln, mit geflüsterten Anspielungen, aber auch mit einem gewissen Blick. Und alles bezieht der Kranke auf sich, fühlt sich verdächtigt, verspottet und verachtet. Immer mehr Leute, offen, verdeckt oder verkleidet, in der Familie und aus dem Fersehschirm, beobachten ihn Tag und Nacht, reden über ihn, schikanieren, verleumden, vergiften und verletzen ihn.
Erst mit der Entwicklung der Psychiatrie seit Ende des 18. Jahrhunderts konnten Kranke mit ängstlichen und wahnhaften Störungen genauer diagnostiziert werden. Auch in unserer Zeit knüpfen sich Ängste oft an erschreckende Augen. Während generell die Abschätzung von Emotionen eines Gegenüber allein aus den Augen ohne das Gesamtgesicht sehr schwierig ist, haben psychologische Testuntersuchungen bei Borderline-Patienten eine erhöhte Unterscheidungsfähigkeit bei diesen Kranken ergeben. Damit verbindet sich eine Instabilität für die Einschätzung der Absichten begegnender Menschen.24 Die bildgebenden Verfahren der letzten Jahre haben ein in Amygdala*, Locus coeruleus und orbitofrontaler Rinde befindliches Furchtsystem25 ermittelt, bei dessen fehlerhafter Konditionierung besonders nach extremen oder permanenten Traumen eine erhöhte Sensibilität auftritt. Bei endogen-psychotischen (major) Depressionen finden sich vergrößerte Amygdalakomplexe.26 Bei Wahnvorstellungn kommen Veränderungen auch im Hippocampus* und im vorderen Cingulum* hinzu. Erst seit dem 20. Jahrhundert können diese Erkrankungen angemessen behandelt werden. Neben der entscheidend wichtigen medikamentösen Therapie sind spezielle psychotherapeutische Verfahren entwikkelt. – Seit Jahrzehnten haben Kranke im Rahmen der Kunsttherapie auch selbst dazu beigetragen, je eigene Wege in der Bearbeitung ihrer Probleme zu wagen (Tafel 8). 24 Fertuck, E.A. et al.: Enhanced „Reading the Mind in the Eyes“ in borderline personality disorder, in: Psychological Medicine 39 (2009), 1979–1988 25 Sachsse, Ulrich und Gerhard Roth: Neurobiologische Traumaforschung, in: Leuzinger-Bohleber, Marianne et al.: Psychoanalyse Neurobiologie Trauma, Stuttgart 2008, S. 71 26 Hamilton J.P. et al.: Amygdala volume in major depressiv disorder, a meta-analysis, in: Molecular Psychiatry 13 (2008), S. 993–1000
23. Psychosomatisches Allerlei: „Von dem Eysenchrowt vnd seyner Tugent“ Wenn sie das Eisenkraut ausgraben, gebrauchen sie dazu einen Haufen Zeichen, darnach lassen sie es weihen und rufen darüber an freventlich den Namen Gottes und der Heiligen, wie sie es vielleicht von einem gottlosen Juden gelernt haben. Martin Luther In keinem Lehrbuch steht etwas über die Dosierung, in welcher der Arzt sich selber verschreiben sollte. Michael Balint
– Mythologische und naturreligiöse Wurzeln der Pflanzenverehrung – – Ihre christliche Akkulturation in den Segen – – Eisenkraut als Vielzweck-Wundermittel im Lichte des modernen Diagnose-Schemas ICD 10 – – Placebos sind Pfeilspitzen für ärztliches Wort –
Die Entdeckung der Pflanze als Hilfsmittel in sublimen Lebenslagen beginnt mit der Haltung des Menschen zur Schöpfung. Moderne Religionswissenschaft hat in Unterscheidung von profaner Weltbetrachtung dem religiösen Menschen die Begabung zur Zeichensetzung im sonst diffusen, gestaltlosen Raum um uns herum zugesprochen. Berge, Bäume und Quellen als Naturelemente werden zu bedeutungsschwangeren Fixpunkten der Orientierung. Pflanzen aller Arten und ihre Teile werden Erkennungsmale des Geschaffenen und seines Schöpfers und über Orientierung hinaus zu Stätten der Teilnahme am Schöpfungsprozess. Menschliche „rituelle Besitzergreifung“ (Mircea Eliade) wiederholt den göttlichen Schöpfungsakt, der in allen frühen Kulturen von „Mutter Erde“, magna mater, Gaia oder Tellus (Abb. 59) entfaltet wird. Zugleich treten Mensch und Pflanze als gemeinsam Geschaffene in eine tiefe Verbindung. und können sich ansprechen und somit aufeinander einwirken.1 Das hat zur Folge, daß die Entwurzelung einer Pflanze einst als ein Attentat auf die Rechte der göttlichen Natur2 empfunden wurde und somit
1 2
Vergleiche das in der Einleitung zur All-Sympathie Ausgeführte Delatte, Armand: Herbarius. Recherches sur le cerémonial usité chez les anciens pour la cueillette des simples et des plantes magiques, Brüssel 1961, S. 4
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gründliche Extraktionsriten verlangte. Medea benötigt 9 Tage und 9 Nächte für die Erlangung ihres Zauberkrauts. Eine Beschwörung der Heilkräfte der Kräuter aus dem antik-römischen Herbar des „Pseudo-Apulejus“ findet sich in der nach Klapper ältesten Handschrift der Breslauer Bibliothek aus dem 9. Jahrhundert: 3
Precacio terre. Dea sancta tellus, rerum naturae parens que cuncta generas […] Precacio omnium Herbarum. Nunc uos potestis omnes herbas deprecor […] Gebet zur Erde. Heilige Göttin Tellus, Mutter der Schöpfung, die du alles zeugst […] Gebet zu allen Kräutern. Nun beschwöre ich euch alle ihr kräftigen Kräuter und eure Gattung und Majestät. Euch, die die Mutter Erde gebar und allen Völkern schenkt, euch verlieh sie Würde und Heilkraft, damit ihr die nützlichsten Heilmittel seid.
Abb. 59 Anrufung der Mutter Erde, rechts auf einer Schlange sitzend, und ihrer Kräuter (Wien, 13. Jahrhundert, nach Vorlagen des 6. Jahrhunderts (?))
Ebenso findet sich im Maria-Laacher Codex des 11. Jahrhunderts die Anwendung eines blutungstillenden Trankes mit Drachenwurz. Die Pflanze muß bei Sonnenaufgang gepflückt und angesprochen werden: 4
Proserpinatisch Kräutlein, des Königs Horcus Töchterlein; ich beschwöre dich bei deinen Kräften, wie du der Mauleselin Schoß verschlossest, verschließe die Wogen dieses Blutes
Derartige Texte unterlagen freilich der Verchristlichung, und in der gleichen Breslauer Handschrift findet sich dafür einer der seltenen Befunde für die korrigierende Hand eines Schreibers. Er streicht eine antike Heilkrautformel zum Harz des Dra3 4
Breslau Universitätsbibliothek Codex III. F.19, fol. 21rv 9. Jahrh., veröff. Klapper, J., in: Mittlg. der schles. Gesellsch. f. Volkskunde 9 (1907), 5–41, Bezug S. 15f Bartsch, Elmar: Die Sachbeschwörungen der römischen Liturgie, Münster 1967, S. 108 (nach R. Heim, Incantamenta, 554), weitere antike Formeln bei Bartsch SS. 47,161,209f,212.
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Spruchtexte
chenbaumes durch, die noch mit Mutter Erde und nach Anweisungen des Asklepios die Pflanze beschwört, und schreibt darüber rechts seitlich: „Was hier folgt ist wirkungslos; dafür spreche man das Vater unser und das Credo.“
Abb. 60 Sturz der alten Götter in den Schriften. Durchstrichen ist: „Ygia, summa nutrix draconum, per matrem terram te adiuro, ut curis praecantationibus Asclepii, herbam doctorem, incantationem meam perferas inlibatam.“
Und so haben die in vielen Medizinbüchern tradierten Texte ihre antiken Götter verloren. Deren Sturz kündigte sich früh an. Selbst Kaiser Julian (331–363), der als letzter heidnischer Kaiser die konstantinische Wende bekämpfte und wieder den Asklepios/ Äsculap verehren ließ, hatte schließlich anerkennend empfohlen, in der Versorgung von Kranken, Unheilbaren und Elenden den Christen nachzueifern.5 Hohes Ansehen behielten eher einige Pflanzen, die von den Arztschriftstellern der Antike empfohlen waren. Der Trierer Wundsegen des 10. Jahrhunderts beschwört ein Kraut, das nach mythologischen Vorstellungen der Aeneis des Vergil die Kraft haben sollte, Pfeile aus einer Wunde zu ziehen: Diptam bzw. Dictam, eine Wunderpflanze, die noch Wolfram von Eschenbach im Parzival einsetzt. Der Trierer Wundsegen hat diese alte Vorstellung behalten: 6
5 6
Si quis percussus fuerit de sagitta eamque gustaverit sagitta de corpore educe et egens eam sic dices:
Wenn einer durch einen Pfeil verwundet wurde und ihn in seinem Körper spürt, ziehe den Pfeil heraus und sprich:
Sudhoff, Karl: Kleines Handbuch der Geschichte der Medizin, Berlin 1922, S. 157f Trier Stadtbibliothek Handschrift 40/1018, fol. 17v, veröffentl. und übertragen nach Embach, Michael, Trierer Zauber-und Segenssprüche, in: Kurtrierisches Jahrbuch 44 (2004), 29–76, Bezug S. 51–54
Psychosomatisches Allerlei
diptampnum herba precor per eum qui iussut te nasci, ut uenias ad me cum tuis uirtutibus
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Diptampnum, du Kraut, ich bitte dich im Namen dessen, der befohlen hat, daß du entstehst, du mögest zu mir kommen mit deinen Kräften
Unter den aus antiken Schriftstellern ins Mittelalter übernommenen Heilkräutern steht an erster Stelle das Eisenkraut. Es war von Plinius und Dioskurides, den höchsten naturkundlichen Autoritäten der Römerzeit, über alles und für alles gelobt worden. Dabei ist unsere nordeuropäische heute als Eisenkraut (Verbena officinalis) bezeichnete Pflanze kein auffallendes schmückendes Gebilde, sondern eher ein hochwachsendes Mauerblümchen, das an abseitigen Standorten wächst und nur winzige blaßlila Blüten trägt. Eines fällt allerdings auf: Dieses Kraut ist äußerst zäh und schwer ab- und auszureißen; und trotz aller Zweifel, ob es mit dem Kraut der Antike identisch ist, könnte damit doch ein gemeinsames und für seinen Namen und Gebrauch wichtiges Merkmal gegeben sein. Es hieß ja auch einmal im 14. Jahrhundert „Isenhart“ und wurde technisch zur Eisenhärtung verwendet.7 Und manche haben im „erba verminata“ einer Pariser Handschrift des 13. Jahrhunderts einen Zusammenklang von „verbena“ und „vermis“, dem Wurm, zu hören geglaubt; damit wäre der Verbena eine zentrale Stellung als Therapeutikum zugekommen, weil „Wurm“ eigentlich fast alles bedeuten konnte.
Abb. 61 Eisenkrautdarstellungen in Kräuterbüchern der frühen Neuzeit. Von links: Leonhard Fuchs 1543, Hieronymus Bock 1546, Lonicerus-Uffenbach 1679
7
Hils, Hans-Peter: Von dem herten. In: Sudhoffs Archiv 69 (1985), S. 62–75, hier: S. 73f
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Die historisch nachweisbare Berühmtheit der Verbena und ihr Fortleben bis in die Medizinbücher der Renaissance hat allerdings nichts mit somatisch-medizinisch nachweisbaren Wirkungen zu tun, sondern einzig mit ihrem Renommee als Kultpflanze und Zauberkraut mit wundervollen Ausgrabungs- und Anwendungsriten, mit einem Vielzweckversprechen und mit dem die Pflanze zum Ansprechpartner im Schöpfungswerk aufwertenden Begegnungsspruch. Das hatte schon Plinius gerügt, als er den Magiern wahren Unsinn mit dieser Pflanze vorwarf.8 Ebenso hatte noch Hieronymus Bock in seinem Kräuterbuch 1551 beklagt, daß andere Kräuter nach dem Vorbild des Eisenkrautes (Verbena) mißbräuchlich in Aberglauben und Zauberei gekommen sind. Auch Martin Luther „eifert gegen Aberglaube“: Es gebe Leute, die Eisenkraut, Käse und andere Dinge an die Kinder binden, die getauft werden sollen.9 In der folgenden Wiener Handschrift des 14. Jahrhunderts steht wenige Seiten nach dem „Salernitanischen Arzneibuch“ ein ausführlicher Eisenkrauttext, den wir wie alle seiner Art als ursprünglich selbständige Schrift aufzufassen haben, als ein „Traktat“, eine thematisch eng ausgerichtete Texteinheit, die aus mehreren Bausteinen bestehen kann, so wie es Traktate für Harnschau, Pulsfühlen, Aderlaß, aber auch für andere Pflanzenstoffe wie Kranewitber (Wacholder) und Eichenmistel gab. 10
Von dem eysenchchrawt vnd seyner tugent. Daz ist dew wurtzen dy da hayzzet verbena, eysenchrawt. will du sey graben so ging dar tzu eynes erichtag nachts vnd eynes phyntztag nachts vnd stoz eyn vingerleyn oben an die wurtz daz von lawtern silber sey vnd sprich: Genaedigew wurtz ich peswer dich in den eren der heyligen dryvaltigchait vnsers herren ihesu christi. Genaedigew wurtz ich peswer dich in dem nam des vaters vnd des svns vnd des heyligen geists. G. Ich peswer dich pey der potschafft dew der engel chvndt tet vnser frawn daz si gottes mueter werden scholt […] ich peswer dich pey der peschaffung da got hymel vnd erd peschueff vnd allez daz dar inne beslozzen ist. G. ich peswer dich pey dem vall vnd
Vom Eisenkraut und seiner Tugend Das ist die Wurzel namens Verbena, Eisenkraut. Zum Ausgraben geh an einem Dienstag oder Donnerstag nachts und stoß oben an die Wurzel einen rein silbernen Fingerring und sprich: Gnädige Wurzel, ich beschwöre dich zu Ehren der hl. Dreifaltigkeit unseres Herrn Jesus Christus. GnädigeWurzel, ich beschwöre dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des hl. Geistes Ich beschwöre dich bei der Botschaft der Engel an unsere liebeFrau, daß sie Gottesmutter werden sollte […] Ich beschwöre dich bei der Schöpfung, als Gott Himmel und Erde erschuf mit allem, was darin beschlossen ist. G. Ich beschwöre dich bei dem Fall, als
8 Plinius, Nat.hist. 25,105ff, zit. nach Marzell, Heinrich: Bayer. Volksbotanik 1968, S. 168 9 Marzell, Heinrich: Zauberpflanzen, Hexentränke, Stuttgart 1963, S. 76 10 Wien ÖNB Perg. Hs. 13647, „Wiener Bartholomäus“, fol. 130r-132r [?], 15. Jahrh., veröffentl. bei Haupt, Joseph, SB phil.-hist. Klasse Wien 71 (1872), S. 523ff; ähnliche Schriften aus dem 14. und 15. Jahrhundert siehe Holzmann, Verena: „Ich beswer dich wurm vnd wyrmin…“, Bern u. a. 2001, Seite 164–166
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got denn tewfel vallen hiez von dem hymel vnd pey den panten da er in mit gepvndten hat […]
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Gott den Teufel stürzen hieß vom Himmel und bei den Banden, mit denen er ihn fesselte […]
Dieser umfangreiche Text setzt sich fort mit Beschwörungen bei Geburt und Taufe Christi und seinen heiligen vierzig Tagen, seinem Ölberggebet, seinem Kreuzweg und bei einer Reihe weiterer Glaubenswahrheiten bis hin zu Ostern und zum Pfingstwunder, in summa also den Elementen des großen Credo. Das hatte der oben genannte Mönch in Schlesien schon gewünscht und das war offenbar weithin so empfohlen worden. In weiteren Absätzen der Schrift werden Kautelen der Wurzelextraktion und die Tugenden, d. h. die „zauberhaften“ Wirkungen der Wurzel beschrieben, wenn man sie bei sich trägt, ihr Schutz vor einem Tod ohne Sakrament, aber sogleich auch weltlicher Nutzen: Erkennung von Dieben, Fundstellen und Sterbetagen im Traum, wenn man die Wurzel unter den Kopf legt. Die Gebärende hat die Wurzel auf ihre Brust zu legen. Die Wurzel hilft vor Gericht, hilft gegen das Fallende, also gegen die Epilepsie und gegen alle Feinde, hilft zum Schlafen und gegen Erschöpfung, selbst den Pferden, denen sie untern Sattel zu legen ist. Und während in vielen Schriften dieses Typs das Credo nicht mehr ausgebreitet wird, bleiben Vorschriften für den Ritus des Ausgrabens und besonders die „Tugenden“ des Krautes als Wunderwaffe später frei verfügbar. Sie dienen zur umfassenden Lebenshilfe, bleiben zweckmäßig als Angebot für Auswahl und Spezialwunsch, können unter hundert Alltagsanliegen von Abschreibern oder mündlich Tradierenden gestaltet werden. Und so wurden sie Bestandteil oder Anhang vieler Medizinbücher, besonders des „Bartholomäus“ wie im Breslauer Arzneibuch des 13. Jahrhunderts.11 An „Tugenden“ werden weiterhin Geburtshilfe und Schlafförderung, ferner auch Schutz vor dem Teufel, d. h. vor Versuchungen, vor Anklagen bei Gericht, vor Verirren auf dem Wege versprochen. Als ein vom unbekannten Traktatautor aus der Antike übernommener Anteil gilt die Vorschrift, das Eisenkraut mit Edelmetall zu umgeben,12 zu umkreisen und niemals mit eisernem Gerät auszugraben. Eisen zerstört den Zauber. Als christliche Zutaten zum Anwendungsritus fungieren neben der Terminierung auf den Maria-Himmelfahrtstag oft die Einlage in Weihwasser, das Verbringen unter ein Altartuch oder die offene Weihe. All diese Kautelen haben dem Kraut eine respektable Position eingetragen. Einige der Traktate haben sogar prognostische Hinweise, Voraussagen auf Krankheitsverlauf, Entbindungsergebnis und Todeseintritt aufgenommen. In der 11 Keil, Gundolf : Magische Elemente im „Breslauer Arzneibuch“, in: Unverricht, Hubert und G. Keil (Hg.) : De Ecclesia Silesiae (FS 25 Jahre Apostol. Visitatur Breslau/ Winfried König), S. 199–208, hier : S. 205f 12 Telle, Joachim: Petrus Hispanus, Heidelberg 1972, S. 157, dort weitere Parallelhandschriften genannt
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folgenden Handschrift ist diese ganz eigenartige „Tugend“, die dem Kraut ein geheimes höheres Wissen um die Zukunft einräumt, das selbst den Arzt übertrifft, wie so oft ganz an den Anfang gestellt. Dieser Todesprognostik hat die Forschung sogar eine Vorläuferfunktion zu romantisch-mesmeristischen Ideen zuerteilt. „Mittels magisch-magnetischer Manipulation wurde ein Rollentausch zwischen Arzt und Patient angestrebt“13, dem hellsichtig gewordenen Patienten könnten ärztliche Aufgaben zufallen. 14
Ein chrout heizet verbena, daz ist für manich dinch nutze unde guot. Von dem selben chrute saget uns Macer, der best arcet, der ie wart, daz si habe groze chraft an ir, swer si neme mit wurz mitalle unde bedecke si in der cesewen hant und ge zuo dem siechen, daz er der wurz niht inne werde, unde sprech zuo im: „wie versihestu dich ze leben und wie gehabestu dich?“ sprichet der siech danne: „ich gehabe mich wol“, zwar, so geniset er wol; sprichet er: „Ich gehab mich übel“, so enchümt er nimmer ouf […]
Ein Kraut heißt Verbena, das ist für manche Dinge nützlich und gut. Von dem selben Kraut sagt uns Macer, der beste Arzt, den es je gab, daß sie große Kraft habe, wer sie mit der Wurzel mit Metall nehme und bedecke sie mit der li. Hand und gehe, derer unbemerkt zum Kranken und spreche: „Wie meinst du zu leben, wie geht es dir?“ Spricht der Kranke: „Es geht mir gut“, so wird er genesen; spricht er „Es geht übel“, so kommt er nicht mehr auf. […]
Den entscheidenden Indikationskreis des Zauberkrautes benennen die Texte mit ganz verschiedenen Begriffen und Situationen, die ich im vollen Bewußtsein teilweise hypothetischer Schlussfolgerungen doch manchen psychischen Erkrankungen und Beeinträchtigungen zuordnen möchte. Die folgenden „Tugenden“ bei Eisenkrautanwendung entnehme ich der o. g. Breslauer Handschrift des 13. Jahrhunderts15, die als Übersetzung des frühen lateinischen Arzneibuches des Meisters Bartholomaeus gilt. Die modernen „Indikationen“ entstammen dem Diagnoseschlüssel der WHO ICD 10. Als Vorbeugung oder Behandlung konnte gegen folgende Verhaltensstörungen oder Erkrankungen mit Eisenkraut als „Talisman“ vorgegangen werden: 1) „Swelchem kinde man si bindet vmbe den hals, daz erkumet nimmer vnde hat gut rue, vnde in-mac ez nieman besprechen“ Störung des kindlichen Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten (F91,3), Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung (F94,2) 2) „Swelchich mensche nicht geslafen mac vnde unrue hat in dem slafe: vnde hat ez di verbenam bi im, so hat ez als gute rue.“ Nichtorganische Insomnie (F51,2),
13 ders., Petrus Hispanus, 1972, S.161 14 München BSB Cgm 92, fol. 13c–14b, 13. Jahrh. veröffentl. Pfeiffer, F., SB philos.-hist. Klasse Wien 1863, S. 150 15 vgl. Keil, G. wie oben und vgl. Pergament HS Univ.Biblioth. Breslau IV.O.6 des 15. Jahrh., veröffentl. Klapper, Joseph, Mitteilungen der schlesischen Gesellschaft für Volkskunde 7/8 (1905–1906), H.13, S. 23
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Angststörungen [mit Agrypnie] (F41, 0–8) oder Reaktion auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (F43) 3) „Swelch mensche di uerbenam bi im hat: swen ez damit geruret, der muz im holt sind“ Sexuelle Reifungskrise (F66,0), Sexuelle Beziehungsstörung (F66,2), ängstliche (vermeidende), dissoziale oder schizoide Persönlichkeitsstörung (F60,6; F60,2;F60,0) oder soziale Phobie (40,1) 4) „Swer di uerbenam bi im hat, der endarf nimmer kein zauber gefurchten.“ Akute schizophreniforme psychotische Störung (F23,2) oder spezif. Phobie (F40,2) 5) „Swer uerre riten sol, der sol uerbenam […] dem rosse binden vnder den zopf: swa der hin ritet, der enwirt nimmer irre; daz ros wirt nimmer mude …“ Spezifische Phobie (F40,2) oder neurotische Asthenie (F48,0) 6) „den der alp truget: berouchet er sich dristund mit der verbenam, im gewirret nimmer nicht.“ Alpdruck (F51,5) oder paranoid-halluzinatorische Psychose (F22,0) 7) „Swer di verbenam bi im hat, der enwirt des weges nimmer irre“ Alzheimer Demenz (G30,0) oder kognitive Störung bei anderen Hirnfunktionsstörungen (F06,8) oder spezifische Phobie (F40,2) 8) „Verbena machet den menschen liep vnde geneme, vnde machet in ze allen ziten vorgemut“ Leichte depressive Episode (F32,0) oder rezidivierende depressive Störung (F33,0) oder Dysthymie (F34,1) oder sonstige anhaltende affektive Störung (F34,8) Seit dem 16. Jahrhundert blieb Eisenkraut weiter in Verwendung, wurde aber immer öfter als Kompositrezept mit anderen Kräutern empfohlen, geriet in die Kräuterbücher von Alchemisten wie Leonhard Thurneysser (1531–1596): „Verben, Agrimonia und Madelger, Charfreitag graben hilft dir sehr, daß dir die Frawen werden hold, doch brauch kein Eisen, grabs mit Gold!“. Es taucht bei den Verhören der Inquisition und der Visitationen auf. Zuletzt führen es auch die Albertus-MagnusZauberbücher teilweise als alkoholische Lösung, die zu trinken oder einzureiben ist. Haus- und Zauberbücher der Laienheilkundigen übernehmen etliche Varianten. Kräuter wie Widertat, Fünffingerkraut und Beifuß haben die „zauberhaften“ Funktionen des Eisenkrauts oft ersetzt. Die Kräuter sind austauschbar. Ebenso Wegwart, Tausendgüldenkraut, Liebstöckel und Sinngrün. So notiert der Schattenmüller Lanzenberger bei Bonndorf auf der Baar in seinem „Kunstbiechlein zue den Rechtshendlen“ von 1727: 16
Ein Experiment dass einer von aller welt geliebt wird So gang in einer nacht hin, wan der mond under tagen voll ist am abendt zue der sinngrien, mach ein krayss darumb mit silber, gold, laß darbey ligen über nacht; am morgen ehe die sonn auffgeht, gang darzuo, wesche die hende und dein angesicht; zuvor sprich:
16 Birlinger, Alemannia 2 (1875), S. 135
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Spruchtexte
ich beschwöre dich sinngrien bei dem adramentum agratum Ellio und bey den 72 namen unser lieben herren Jesu Christi und bei dem gesaz der alten ehe, dass Moses geben ward auff dem berg Sion (folgen: bei Christi Geburt, Taufe, Marter und Tod, Auferstehung und Himmelfahrt, Märtyrer, Heilige) ich beschwöre dich, sinngrien bei allen deinen worten, die ich versprochen hab, dass wöhr ich dir zu einer, es sei weiber oder jungfrauwen, das meinen willen thuon
Im Fichtelgebirge notiert Nicol Anger (1747–1810), ein Spross der großen Heilerfamilie von Röslau in seinem Haus- und Zauberbuch viele Kräutersegen, darunter einen typischen Eisenkrautsegen und die Beschwörung des St. Johanneskrauts: 17
Das Eisenkraut anzusprechen. Und zu graben. So geh hinaus vor Aufgang der Sonnen, grabe es mit Silber und Gold und bete derowegen ein Vater Unser und einen Glauben und sprich: ich gebeut dir bey den Erz-Engel St Michael St Gabrie St. Raffael St Lucas, und bey den 4 Evangelisten […] daß du keine Tugend in der Erden läßt, und (bleib)ist immer in meiner Gewalt mit denselbigen Kräften und Macht Tugend die dir Gott gegeben hat, wer sie bey ihn hat wird nicht bezaubert, und wird auch nicht irre, so er reiset, legts man einen Kranken unter sein Haupt, fragt ihn wie er sich befindet, spricht er wohl, so ebt er, spricht er übel, so stirbt er probatum
18
Die Beschwörung von St. Johannes Kraut am Johanni tag in der 12. ten Stunde geholt keusch und rein. Gott grüsse St. Johannes Kraut in deinen Kräften, ich falle nieder auf meine Knie […] daß du mir wollest geben die Kraft und Gewalt, die dir Gott der Vater und die heilige Dreifaltigkeit auf Erden gegeben hat X X X
Psychotherapeutisch-neurobiologische Bedeutung von Placebos Besonders Johanneskraut wurde Konkurrent des Eisenkrautes und hat mit Hilfe der paracelsischen und nachparacelsischen werbenden Huldigungen bis heute einen hohen Grad an Bekanntheit behalten, nachdem schon in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts seine Wirkung bei seelischen Krankheiten im St. Rochus-Krankenhaus in Telgte durch den Psychiater J. Hühnerfeld getestet worden war.19 Gegenüber den meisten anderen Pflanzenmitteln hat Johanneskraut bei vielen Patienten eine Wirkung, es macht erhöhte Lichtempfindlichkeit und Brandblasen. Seine Wirkung auf seelische Störungen gilt trotz zahlreicher Untersuchungen und positiver Wertungen bei leichten und mittelschweren Depressionen letztlich als inkonsistent. Entscheidend für die Wirkung des Krautes wie auch jeden Placebos ist das
17 Marktleuthen Stadtarchiv Bd. 30, Handschr. Hausbuch Johannes Anger, S. 56 18 ebenda S. 86, das Stück veröffentl. durch Ernst, Wolfgg: Zauber, Riten und Rezepte, Weißenstadt 2007, S. 47 19 Linde, Otfried K. (Hg.): Pharmakopsychiatrie im Wandel. Klingenmünster 1988, S. 114– 118
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Wort des Arztes20 oder Heilers an das Deutungssystem erwartungsvoller Gehirnareale. Die mit Placebos wie Eisenkraut verbundenen Suggestionen führen zu einer Ausschüttung von Endorphinen und Dopamin, den schmerz- und stimmungsregulierenden Botenstoffen. Vorraussetzung dafür ist die Erweckung einer Erwartungshaltung im Patienten, wie sie durch Spruchtexte, gemeinsame Weltanschauung, emotionale Beziehung, therapeutisches Ritual und Potenzinsignien des Heilers aufgebaut werden kann.21
20 Breidert, Matthias und Karl Hofbauer: Placebo: Mißverständnisse und Vorurteile. In: Deutsches Ärzteblatt 106 (2009), S. 751–755 21 vgl. Walach, Harald und Catarina Sadaghiani: Plazebo und Plazeboeffekte – Eine Bestandsaufnahme, in: Psychotherapie Psychosomatik med. Psychologie 52 (2002), S. 332–342
24. Schlafsyndrome: Der Münchner Nachtsegen und sein Geistergewimmel Wart! Ich ermanne mich, Vogel und nenne dich, Nennend verbrenn ich dich, Böser, und banne dich! Mein Wort hat Macht die ich nicht weiß, Ich zieh um dich den starken Nennungskreis. Die Silben, die dich sagen, Werden, Falken und Dohlen, Dich fremden Krächzer niederholen, Oder aus meinem Garten jagen. Worte, fliegt aus, die mein Wachschlaf gewann: In den Bann mit dir, in den Bann, in den Bann!!1
– Generalangriff auf ausgesetzte Quälgeister – – Vom Rätsel unserer Träume und vom Etikettieren unserer Gefühle: Entlastung des limbischen Systems –
Der Ursprung des Münchner Nachtsegens liegt im Dunklen. Als seinen Schöpfer müssen wir uns einen umsichtigen und gebildeten Menschen des 13. oder 12. Jahrhunderts vorstellen oder eher noch eine Abfolge mehrerer Bearbeiter und Kompositoren. Der Segen setzt sowohl Kenntnis der Volkssprache, ihrer literarischen Niederschläge oder der magischen Künste als auch theologisches Wissen voraus. Vielleicht waren es Mönchsärzte, die ihn therapeutisch verwendet haben. Die uns erhaltene Handschrift war wahrscheinlich zeitweise in Besitz des Nürnberger Arztes und Humanisten Hartmann Schedel (1440–1514), worauf ein nicht mehr sicher lesbarer Vermerk auf dem Vorderdeckel des Codex latinus Monacensis 615 hinweisen könnte, in dem der Segen enthalten ist. Im 17. Jahrhundert erwarb ihn der bayerische Kurfürst von einem Henricus de prusia de coto (Cottbus?). Dieser Codex ist nach seiner Schrift im 14. Jahrhundert entstanden, baut auf älteren Schriften auf und bietet neben dem Nachtsegen medizinische Werke, astrologische Schriften und Heilkräuterlisten.2
1 2
Franz Werfel: Beschwörungen, München 1923 Bergmann, Rolf und Stefanie Stricker: Katalog der althochdeutschen und altsächsischen Glossenhandschriften Bd.II, Seite 946f (Clm 615)
Schlafsyndrome
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Abb. 62 Der Münchner Nachtsegen (Ausschnitt 14. Jahrhundert)
Der Segenstext in historisch-kritischer (nicht buchstabengetreuer) Edition nach Theodor v. Grienberger3
Erläuterungen und Anmerkungen in Stichworten
Daz saltir ‚deus virtutum‘, daz hohiste ‚numen divinum‘, daz heilige ‚sancte spiritus‘, daz saltir ‚sanctus dominus‘, 5daz muze mich noch hint bewarn vor den bosen nahtvarn und muze mich bikrizen vor den swarzen unde wizen di di guten sint genant 10unde zu dem Brockelsberge sint vor den bilewizzen, [gerant; vor den manezzen, vor den wegeschriten, vor den zunriten, 15vor den klingenden golden vor den unholden !
1–4 Als Schutzschild die Kennung dreier Psalmen (saltir) und der Pfingstsequenz „Veni creator spiritus“ (?) 5–7 mögen in kommender Nacht (hint=hinaht) bewahren und umringen (bikrizen) vor dem wilden Heer streunender, plündernder Nachtfahrer (ein Sammelbegriff ) ab 8 Aufzählung der einzelnen Geister. Auch die schwarz-weißen, d. h. hier Teilsteils-Hausgeister (Penaten?) sind Blocksberg-entrückt. 11 = Bilwis, Pilmaz, Pulwechs u. a., Krankheit anschießend, Kornfeld schneidend, ostdeutsch 12 Tote Seelen, röm.„Manes“ /Menschenfresser? 14 zaunreitende Hexen 15 Unklare Klanggeister (Sirenen? Zauberlieder) 16 Nachtfahrende ursprüngl. Hexengestalten
Glozan unde Lodevan, Trutan unde Wutan, Wutanes her und alle sine man, 20di di reder und di wit tragen
17 meist als bedrohliche Slaven gedeutet 19 Germanengottes Wotans Heer, Totengott 20–21 Hingerichtete (durch Räder und Strang = Wied) als Mitläufer im wilden Heer
3
Grienberger, Theodor von: Der Münchner Nachtsegen. In: Zeitschr. für dt. Altertum 41 (1897), S. 335–363
252 geradebreht und irhangin, ir sult von hinnen gangin !
Spruchtexte
22 erste Forderung an genannte Gestalten
Alb unde elbelin, ir sult nicht lenger bliben hinn, 25albes swestir unde vatir, ir sult uz varen obir den gatir; albes mutir, trute unde marn, ir sult uz zu dem virste varn ! Noch mich di mare drücke, 30noch mich di trute zücke, noch mich di mare rite, noch mich di mare beschrite ! Alb mit diner krummen nasen, ich vorbite dir aneblasen; 35ich vorbite dir, alb ruchen, kruchen unde anehuchen. albes kinder, ir wihtelin, lazet uwer tastin nach mir sin !
23–38 Familie der Alben mit Schwester, Vater, Mutter, Trud und Mar, Kindern (Wichtel) ihre Methoden: Drücken, Kneifen, Aufreiten und Beschreiten, Anblasen, Räuchern (=ruchen), kriechendes Anschleichen (=kruchen), vergiftendes Anhauchen (=anehuchen; vgl.Pesthauch), Betasten 24 sollen nicht länger bleiben 26 sollen ober den Zaun (gatir; Gatter) und 28 zum Dachfirst ausfahren 34,35,38 wiederholte nun ausdrückliche, verschärft formulierte Verbote
Und du klagemutir 40gedenke min zu gute ! Herbrot unde herebrant vart uz in ein andir lant ! du ungetruwe molkenstelen du salt minir tür vorvelen;
39–40 Klageweib, Winselmutter, Holzweib, (vgl. Nachtkauz als Vorboten und Verkünder) 41 Personifikationen des angegifteten Augenübels (~ Hordeolum, Gerstenkorn, ~ Wurm?) 43 treulose Milchhexe, die den Nutzen stiehlt, 44 sollst meine Tür verfehlen (=ver-vaelen)
45daz biver unde daz vuzspor, daz blibe mit dir da vor ! Du salt mich niht berüren, du salt mich niht zuvüren, du salt mich niht enschechen, 50den lebenden vuz abemehen, daz herze niht uz sugen, einen strowisch darin schuben !
45 Fieber und schmerzh. Fußkrampf, Fuß-Sparr mögen fern bleiben. 47–52 Spezifizierung der Verbote: das Tasten, 48 das Verwirren (=zevüeren, mnd. tovoren) 49 das Verführen (zur Brocken-Ausfahrt ?) 50 das lebendig den Fuß Rauben (?) 51/52 das Herz-Aussaugen und mit Strohbüschel (Herrschaftssymbol) verstopfen (?)
Ich vorspige dich hute und alle tage, 53–56 Heute und immer will der Beschwörende ich trete dich baz, wan ich dich trage;das unreine Gespenst (=getwas) mit Ausspeien 55nu hin balde, du unreiniz getwas, (=verspigen) verachtend abwenden und es treten, wan du wesens hi nicht has ! mehr als er selbst, ihn tragend, getreten wird. Ich beswere dich ungehure bi dem wazzer und bi dem vure, und alle dine genozen 60bi dem namen grozen des visches, der da zelebrant in der messe wirt genant. ich beswere dich vil sere
57–75 Direkte autoritäre Beschwörung eines einzig als Ungeheuer benannten Geistes, wahrscheinlich wieder des Albs mit seinen Genossen, als ob er anwesend ist. Zunächst bei den Elementen Feuer und Wasser (sich aufhebende Gegensätze), danach mit christlichen Motiven. 60–62 Zelebrant ist der Priester, der als Christi
Schlafsyndrome
bi dem miserere, 65bi dem laudem deo, bi dem voce mea, bi dem de profundis bidem salm coheuntes, bi dem nunc dimittis, 70bi dem benedictus, bi dem magnificat bi der alten trinitat, bi den salmen also her, daz du vares obir mer 75und mich gerüres nümmermer ! Amen
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Stellvertreter (Fischsymbol) die Messe liest. 64–73 Aufreihung von Psalmeninitien, Evangelien (oder z. T. Messformeln) (nach v. Grienberger:) 64 Psalm 4,2; 65 Lucas 18,43 66 Psalm 3,5 67 Psalm 129,1 (130,1) „De profundis“ 68 AT Makkabäer 6,11 69 Lucas 2,29 70 Lucas 1,68 71 Lucas 1,46 72 „alt“ = ewig
Flankiert von Psalmen- und Gebetseingängen nennt der Text die Namen von über 20 verschiedenen Wesen, die als altbekannte geisterhafte Dämonen betrachtet werden können. Alb und Elbelin, bis heute sprachlich geläufige nächtliche Druckmächte, sind mit ihrem „Familien“-Anhang katalogisiert. Ihr aufdringliches Benehmen, also die Symptome der Angst- und Alpdruck-Störungen im Schlaf (Parasomnien, Traumschlafsyndrom) stehen im Mittelpunkt und sind minutiös aufgezählt, ohne daß aus der Fülle eine umschriebene, hiermit zu behandelnde Krankheitseinheit erschlossen werden kann. Neben den nächtlichen Albenleuten werden nämlich auch andere Krankheitserreger und Ungeheuer genannt, sodaß das Anliegen des Textes über die Nacht hinausgeht. Die Vertreibungsstrategie läuft als Crescendo vom einfachen Wunsch „Ihr sollt von hinnen gehen !“ über die Befehle und Verbote bis schließlich zum „Ich beschwöre dich Ungeheuer !“ Diese Bitten und Beschwörungen werden an Anfang und Ende eindeutig in biblischen Elementen verankert. Ich füge einige Texte an, in denen einzelne Geister des Münchner Nachtsegens wieder auftauchen. Direkte Vorfahren oder Nachkommen, was den Umfang seiner Geisteransammlung betrifft, wurden bislang nicht gefunden.
A) Bilwis, Bilmizen, Pulwecks, Pilfsen, Pilfas, Bilmesschneider Ein Wesen mit Begabung zum Schießen und Schneiden, dem selbst Jesus Christus in Sprüchen ausgesetzt ist. Später, im 16. Jahrhundert wird der Bilwis zum Kornfeldschnitter.4 5
4 5
Der heilig christ selb gieng wetter und wint. Er niettet sich ellender ding.
Der heilige Christ ging in Wetter und Wind, er ertrug furchtbare (fremdartige) Dinge.
Schulz, Monika: Magie oder Die Wiederherstellung der Ordnung, S. 78f München BSB, Cgm 54, fol.96r 14. Jahrh., veröff.: Schönbach, Anton, Z.f.dt Altert. 24 (1880), S. 70
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Spruchtexte
Abb. 63 Der gezähmte Bilmesschneider. Den mit Sicheln an den Füßen zur Vernichtung der Kornfelder auftretenden Ungeist hat der Künstler mit einer Eule und einem Peace-Symbol besänftigt. (Joseph Michael Neustifter 1995, Marktplatz zu Cham)
Er chom gangen vil verre hin auf den pilwissen perg. do chomen die übeln weip und benamen im seinen leib. sy ze legten im sein arm. si ze legten im sein darm [...] 6
Segen gegen Verwundung […] Nun gesegen mich der myt den pulwechsen nageln an das kreutz genagelt ward […]
Er kam gegangen weit hin auf den Bilwizzenberg; da kamen die üblen Weiber und raubten ihm seinen Leib; sie zerlegten ihm seinen Arm und seinen Darm […]
[…] Es segne mich, der mit den Nägeln der Pulwechsen ans Kreuz genagelt wurde […]
7
Segen für Menschen und Vieh Die Pilfsen schießen, die Pilfsen fließen durch dein Gemüt, durch dein Geblüt, durch dein Gebein, die Pilfsen ziehen wieder heim.
Gegen den Kornfeld-Bilmesschneider 8
(so weni)g mir ein Mensch (kann) (mei)ne Creutz auff Erden …
6 7 8
Bamberg Staats-Bibliothek Msc. misc. 451, 1534, veröffentl.: Deutsche Gaue 15 (1914) 153f Aus Visitationsakten 17.Jahrh., Jobst Schwantners Weib zu Waldkirchen/ Zwickau, veröffentl. Klotz, H., Unsere Heimat Bd. 1 (Zwickau 1901), S. 77 Handschr. Kunstbuch Johannes Zahn, Dürnberg bei Röslau, (Fichtelgebirge) vor 1691, veröff. Ernst, Wolfgang, in: Arch. Hist. Verein Oberfranken 77 (1997), S. 331
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ken zu brechen so weing keinen (können) mir die hetzen vnd die Bilmiz en Schneider mir Mein gedreid (ni)cht nehmen noch abrehan … müsen mir gunen gros gut … (gunnen = gönnen) … mut wie Vnser liebe (Frau kein ande)rn sohn ginen düh(t) 9
Bulves-Gebeth (gegen Kopfreißen) Wo unser lieber Herr Jesus Christ geboren war, da wolte die Bilvus ausreiten, und wolte streiten, auf das sie wieder kammen und das Aertlein einnahmen, also will ich dir die Bilvus austreiben, aus Hirn und aus Nirn und aus deinen Gehör, und wünsche euch hin in den wilden Wald […]
B) Holden/Unholden, Ohnholden Als frühe Quelle für diesen Namen wird meist ein Dekret des Bischofs Burchard von Worms aus dem 11. Jahrhundert mit Einfügung eines älteren Bußbuches aus dem 10. Jahrhundert genannt.10 Es geht um eine „Schar von in Frauengestalt verwandelten Dämonen – die die Dummheit des Volkes ‚holda‘ nennt – (und gewisse Frauen, die mit ihnen) in bestimmten Nächten auf bestimmten Tieren zu reiten“ (beabsichtigen). Sie gelten als „nachtfahrende“ Frauen, in der Forschung als die ursprünglichen Hexengestalten, obwohl bei Burchard eine nach dem Volksglauben auch als ambivalent zu verstehende „holde Schar“ genannt ist. Schon die zweite deutsche (fränkische) Bischofssynode 743 in Liftina in Belgien, hatte im Bemühen um die Zurückdrängung heidnischer Bräuche ein präzisierendes Verzeichnis, einen „Indiculus superstitionum“ erstellen lassen. Eine Urkunde dazu mit dem Taufgelöbnis ist in der zweiten Hälfte des achten Jahrhunderts wahrscheinlich in Fulda entstanden und in der Sachsenmission verwendet worden;11 diese Schrift kam aus der Heidelberger Bibliothek im 30-jährigen Krieg nach Rom (= Codex palat. Vatic. 577). Sie fordert Entsagung von Teufel, Teufelsgilde, Teufelswerken, Worten und allen „unholdun the hira genotas sint“, also allen Unholden, die
9 Moro, Oswin: Volkskundliches aus dem Kärntner Nockgebiet, Klagenfurt 1922, S. 51, Bilwis-Sprüche des Wunderarztes „Graf Michl“ von Koflach 19. Jh. 10 Schild, Wolfgang: Holda zwischen und jenseits von Göttin und Hexengestalt, SS. 1,6,13, in: Internet (=Ausführliche Fassung des Beitrags für FS Gernot Kocher (2007)), 33 Seiten; vgl. auch Lauffer, Otto: Die Hexe als Zaunreiterin, in: Volkskundliche Ernte, 1938, 114–130, Bezug S. 119 11 Mittler, Elmar (Hg.): Bibliotheca Palatina, Katalog zur Ausstellung 1986 Heidelberg, I, S.126; zu den Hexen-Begriffen der zauberkundigen Germanen siehe Niederhellmann, Annette, Arzt und Heilkunde, in: Hauck, Karl (Hg.): Die volkssprachlichen Wörter der Leges Barbarum, Berlin u. a. 1983, Teil III, S. 106ff
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Abb. 64 Lärmgeister erzeugen Ohrensausen. Radierung Francisco da Goya (1794/98). Der Künstler stellte damit sein eigenes Leiden dar.
Spruchtexte
Abb. 65 Verführende Hexen mit dolchdurchbohrten Herzen und Spinnrocken zum Nestelknüpfen. Bemalte Pferdedecke 1467
ihre Genossen sind.12 Hier folgen Beispiele ihrer Verbannung aus dem 15. bis zum 18. Jahrhundert, das erste mit einem hübschen Adynaton, der unmöglichen Aufgabe, Christi Krippe und Windeln beizubringen. Es ist die Hürde gegen ihre Untaten und ein aktivierendes Signal für den vorderen cingulären*13 Cortex: 14
Von unholden wil man uch uwer milch nemen, sprich: nematz. ich verputt uch unholden mein milch bi der hailigen gottes krafft und wil ich si uch nitt laussen, ir bringt mir dan des vass, da gott selber in lag, die windlen und die wat, da gott selber in gewunden und gewicklet wart.
Will man euch eure Milch wegnehmen, so sprich: „Nematz“, ich verbiete euch Unholden meine Milch bei Gottes Kraft Ich will sie euch nicht lassen, es sei denn, ihr bringt mir den Korb, in dem Gott selber lag und die Windeln und das Gewand, worein Gott gebunden und gewickelt war.
12 Widlak, Franz: Die abergläubischen und heidn. Gebräuche der alten Deutschen, Znaim [ca. 1900], S. 1–6; Maßmann, H.F.: Die deutschen Abschwörungs- …. Formeln, Quedlinburg und Leipzig 1839, S. 68 13 Mit * versehene Namen und Begriffe finden im Anhang Erklärung 14 Stuttgart Württemb.Landesbibliothek, Cod. med. et phys. 4°, Nr.29, fol.111, 15. Jh., veröff. Pfeiffer, Franz, in: Anzeiger für die Kunde der deutschen Vorzeit 1 (1853/54), S. 36
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Vor böse Leuth im stall und Hauß Ich beschwöre befehle und gebiethe dir du böser geist hexen ohnholden und Tufels geschmeiß daß bey allen Elementen und gottes gewalt bey dem bluth und Tod Jesu Christi bey den Cerubin und seravimen Jezt must du diesen augenblick auf Ewig Von dannen zu Reisen
Gegen das Verschreien der Kinder Sie legen unter die Wiegen deß Kinds ein Messer, einen Creutzschlüssel, einen Strennen Garn, ein Stück Brod, einen Spiegel, ein Geißstirn und was dergleichen mehr ist, zu dem Ende, daß es dem Kind wider das Verschreyen wider Unholden und wider andere Gespenst helfen soll.
Abb. 66 Ausfliegende Hexen. Links: Miniatur als Ketzerdarstellung 1451; rechts: Fresko 14. Jh.
C) daz vuzspor, fueßgspar, fuespar; die Fußsparr17 Auch diese als Bein- oder Fußblockierung zu verstehende Störung ist personalisiert und wird gelegentlich mit der Trud gleichgestellt. 18
Daz ist fueßgspar. Vier die Trut sprich also. so du dich Zu peth legst 3 mal Fuespar pleib Heut darvor, Vnd Vnd yetzt (zähle) die stern; piß morgen. tag wil werden, daz Helff mir got ... vnd mach 3 + mit der Zungen am gaumb.
15 Aus dem Pfuhler Hausbuch, um 1800 (Raum Ulm), veröffentl. durch Kopp, Andreas, in: Ulmer Kulturanthropologische Schriften, Band 10, 1998, S. 58 16 Saubertus, Prediger, Nürnberg, 17.Jh.(?), zit. bei Birlinger, Alemannia 17 (1889), S. 244 17 Zum Begriff vgl. Höfler, Krankheitsnamen, Hildesheim New York 1970, Nachdruck der Ausgabe München 1899, Sp.661 18 Graz Steiermärkisches Landesarchiv Hs 476, Arznei- und Alchemiebuch des „Matheus“ von 1587, fol.122r
258 19
Spruchtexte
Gegen die Fußsparr N.N., du hast den Fußsparr siebenmal nein nicht siebenmal – sechsmal ...[usw.] Du sollst nicht dreimal – zweimal, Nicht zweimal – einmal, Du sollst nicht einmal – keinmal
D) Herbrote, Herbrant, Hertprate, Harbrate, Heerbran, Herebrade Die Namen umfassen die archaische Vorstellung über fressende Würmer und pfeilschießende Wesen und gehören oft mit „Geschoß“, „Schußblatter“ und Pestprojektil, „feurigem Drachen“ und Entzündung (Brand) zusammen.20 21
Ich beswer hivte dine hir bi dem hailigen xpe der sich zemartervnne gap / [...] daz vel vnd die hir vnd die suzblatrun/ div wazer blater vnd der herbrate vnd allez daz gesuhte. [...]
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Herbran, schame dy, die katzen sterth Herbran, schäm dich, der Katzenschwanz jaget dy, schamest dy nicht weg, die jagd dich; schämst du dich nicht weg, katten sterth jaget dy der Katzenschwanz jagd dich und nimm eine lebendige Katze und streiche mit dem Schwanz kreuzweise über das Auge
Ich beschwöre heute deine „Hir“ bei dem hl. Christ, der sich der Marter ergab. das Fell und die Hir und Schußblatter, die Wasserblatter und Herbrate und all das Gesüchte.
E) Alp, Trute, Drud und Mare Wie der Alpbegriff im allgemeinen Gebrauch, so hielten sich in Norddeutschland die Mahr, im Süd-Osten die Drud, im Süd-Westen Dock und Doggeli, Schättele und Rättele, wenn sich auch eigentlich alle Krankheitsdämonen als Druckgeister melden konnten.23 Aber kaum eine volkstümliche Krankheits- oder Mißempfindens-Erklärung hat sich so weit bis ins 20. Jahrhundert erhalten wie diese nächtlichen aufdringlichen Geister, auch in Sagen und Märchen; die Szenarien blieben ein attraktives Thema für die Bildende Kunst (Tafel 9). Es waren die Alpträume, die den Glauben an Geister, und mit ihm diesen Zweig volkstümlicher Erzähltradition transportiert haben. Die Diskrepanz zwischen mangelnder Objektivierbarkeit des Erlebten durch 19 Frischbier, Hermann: Hexenspruch und Zauberbann, Berlin 1870, S. 58, aus Ostpreußen, 19. Jahrh. 20 Schulz, Monika: „Vneholden“ und anderes: Bemerkungen zum sog. Münchner Nachtsegen. In: Linguistica e filologia (Bergamo) 11 (2000), S. 129–160, Bezug: S. 140,145 21 Cambridge Universitätsbibliothek, Ms Peterhouse 130,fol. 219v, 12. Jahrh., veröffentl. Weinhold, Karl, Z.d.V.f. Volkskunde 11 (1901), 79 22 Rostock Protokoll des Rostocker Niedergerichts von 1576, fol. 151v, Böthen (Segnen) der Hausfrau Anna Lünenborges zu den Augen, veröffentl. Bartsch, Karl, Sagen, Märchen und Gebräuche aus Mecklenburg, Wien 1879, Bd.II, S. 11 23 Höfler, Max: Krankheitsdämonen. Archiv für Religionswissenschaft II, H.1/2, S. 86–164, Leipzig und Tübingen 1899, Bezug S.104ff
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Außenstehende und dem hohen Leidensdruck war Nährboden stetiger Weitergabe von alten Erklärungsmodellen. Die Umwandlung der erst vagen Ängste in greifbare Phobie (Furcht-)-Gestalten entschärfte in der Kooperation limbischer und corticaler Bahnen des Hirns Ohnmacht und Fremdheit und schenkte Möglichkeiten des Erzählens, Austauschens und Sich-Anvertrauens in der Gemeinschaft. Ältester Beleg der allgemeinen Alp (Elben)-Bezeichnung findet sich in einem Exorzismus gegen Besessenheit um 800.24 Später werden stark komprimierte und von „Zauberworten“ eingeleitete Kurzexorzismen in medizinische Werke notiert wie der folgende: 25
Ein segen fur den alp + Amara + Tanta + Cyri + Sicaliri + Adjuro vos Elphos + Et Elphos + Et omne Jenus demoniorum + per patrem + filium + spiritum s. + Ut per virtutem + Domini nostri Jhesu Cristi + Et per omnes sanctos et sanctas + Et per omnes electos dei + ut recedatis ab hoc famulo dei N + Et amplius + eo nichil faciatis + Jn nomine dei patris + Et filii
Ich beschwöre euch Elfen und alle Geschlechter der Dämonen durch Vater, Sohn und Heiligen Geist, daß ihr durch die Kraft unseres Herrn Jesus Christus und durch alle Heiligen und alle Auserwählten Gottes zurückweicht vom Diener Gottes N. und ihm weiter nicht schadet. Im Namen Gott Vaters und Sohnes
Mara und truta werden im 9. Jahrhundert in einem Codex von St. Emmeram zu Regensburg genannt.26 Im 18. Jahrhundert war es der berühmte Wunderheiler und Teufelsbanner Johann Joseph Gaßner,27 der volksnah auch Schrätlein und Trut in seine Exorzismen einbezog: 28
Ich befehle dir, du Höllenhund, in dem allerheiligsten Namen Jesu, daß du augenblicklich von diesem Hause abweichest und auf keine Weise ihm einigen Schaden zufügst !
Dieser Exorzismus vertreibt von den Kindern und Erwachsenen das Schrätlein oder Trut, löset alle gemachte Gefrörnisse, Stellungen, Aufbäumungen, Hindernis im Schmalzmachen, die durch Malefiz verursachte Hindernisse der Eheleute, erhält das Kind im Mutterleibe, befördert die Geburt 24 Franz, Adolph: Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter, Freiburg 1909 II,578: „Adiuro te, satanae diabolus, alfae ...“ 25 Heidelberg Universitätsbibliothek, Codex Palat. Germ. 271, S. 229, 16. Jahrh., aus dem 12–(13)bändigen Buch der Medizin des Pfalzgrafen Ludwig V. bei Rhein 26 Keinz, F.: Eine mitteldeutsche Beschwörungsformel. In: Sitzungsberichte der königl. bayer. Akademie der Wissenschaften, phil.-philolog. Classe 1867 II.I, Seite 1–18; Hofmann, C.: Bemerkungen zum Nachtsegen, Nachtrag zu SB Keinz 1867, S. 159–172 27 siehe im Kapitel 21 28 Hanauer, Josef: Der Teufelsbanner und Wunderheiler Johann Joseph Gaßner, in: Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg 19 (1985), S. 366
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Für den bayrisch-österreichischen Raum überwiegt in den letzten Jahrhunderten bei weitem die Bezeichnung Drud/ Trud. Die Sprüche arbeiten weniger mit Befehlen im Sinne von Exorzismen und Beschwörungen, sondern mit der listigen Methode unlösbarer Aufgaben (Adynata) an die Drud. Das geschieht einerseits durch Zeitaufschub bis zum neuen Tag, dessen Aufleuchten in Zeiten ohne Elektrizität immer schon als unüberschreitbare Grenze für Dämonen galt, andererseits unter Einsatz Johannes des Täufers in volksfrommen Gebeten. Der hatte die Macht über Ungetaufte und stoppte das Unwesen der Drud. Denn die Vorstellung über sie hatte sich gewandelt, nicht mehr ein Nachtdämon, sondern ein suspekter Mensch war schicksalhaft zum Drücken verurteilt, weil bei seiner Taufe ein „Versehen“ passiert war, eine Fehlleistung, wie ein Stottern, ein ungewöhnliches Verhalten, ein falsches Wort. Es genügte aber auch schon, die Drud – wenn sie über einen gekommen war und man es noch vermochte – beim Taufnamen anzurufen, so mußte sie ablassen. 29
Trut, du bist ‘born wie ein Kalb, mußt durch sieb’n Wasser wodn, mußt sieb’n Bäum oblodn, mußt sieb’n Kirchen einweihn, mußt sieb’n Hemdn asleihn, mußt sieb’n Tulkn ausweitn, mußt sieb’n Straßn oschreitn ... Trut! – dawahl ists Togh!
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Trud, Trud du alte – I bitt um Gottes Gwalti – Kimm heut‘ Nacht net zu mir Ent du bringst den Johannes mit dir – Und die Stutz und die Kruz und die Muz – Und den irdenen Häfendeckel, daß mi ka Hund und ka Katz net wuckt.
Als Inbegriff einer deutschen Geisterbeschwörung ragt der Münchner Nachtsegen aus dem Meer der sonst spezialisierteren und mehr oder weniger christlich geformten Textzeugen heraus. Wohl liegt seine Urheimat kaum in München, noch ist er definitionsgemäß ein reiner Segen. Seine kulturhistorisch hohe Bedeutung als Paradebeispiel für den Dämonenglauben eines derzeit populär dunkel gefärbten Mittelalters verweist Ärzte und Mediziner auf ein Zentralanliegen heutiger Krankheitslehre in Theorie und Praxis, kurz gesagt auf die Problematik der weiterhin der Mode unterworfenen Vorstellungen über Ursachen und Ursachenfiktionen seelischer Leiden und seelischer Leidensanteile. Sie verweist damit auf Fragen um bewußte persönliche Mitverantwortung des Leidenden und Kranken.
29 Urban, Michael, Zur volkstümlichen Frauenheilkunde, in: Ärztliche Standeszeitung 6, Wien 1908, aus Böhmen, 19. Jahrhundert 30 Preen, Hugo von, in: Zeitschr. f. österr. Volkskunde 18 (1912), 220, aus Gilgenberg, südl. Braunau
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Angesichts einer solchen Dämonenbeschwörung bleibt einerseits die Versuchung einer fortschrittseifernden Zeit, die vermeintlich weit zurückliegende Epoche durchgehend zu verdächtigen: Sie sei sich sicher gewesen, daß alle Angst durch drückende und alle Mißernten durch schneidende Geister angerichtet seien. Der böse Blick der Neider habe alle Mauern durchbohrt, Kinder und Vieh gekränkt, und alles Übel sei angeblasen und aufgehockt gewesen, oft schon im Mutterleib. Andererseits ahnen wir seit Sigmund Freud, woher manches Mißbehagen resultiert; vor dem Blick des Archäologen der Seele erschienen die Tiefschläge eben jener dämonischen Unholde, mit denen die alten Beschwörungen sich abtun. Er verlegte sie in uns, auch weil sie hier beweglicher und angreifbarer sind, eben besonders in jenen unserer Träume, denen der alte Alb bis heute den Namen gegeben hat. Denn, so einer seiner Leitgedanken (nach Vergil, Aeneis 7,312), „Kann ich den Himmel nicht bewegen, so hetze ich die Tiefen in Aufruhr“. Alpträume / Pavor nocturnus / Schlafwandeln / Neuropsychosomatische Aspekte Nach den neurophysiologischen Erkenntnissen sind Alpträume tatsächlich Botschaften aus tiefen Speichern des Gehirns. Dabei kann man sich Schlafwandeln als Gegenpol zum Alptraum vorstellen. Das eine ist motorisches Erwachen mit psychischem Schlaf, das andere umgekehrt motorische Lähmung, eben „vuzspor“, Bewegungssperre, bei teilweise psychischem Erwachen. Es bestehen fließende Übergänge zum unruhigen Schlaf mancher Gesunder, mit Alpdruck und Angstträumen, Aufschreien und Sprechen. Fraglich ist, inwieweit die kindlichen Attacken von „Schlafterror“ in diesen Bereich gehören. Entgegen der Theorie der Freudschen Psychoanalyse geht es bei den Traumbotschaften mit ihren vielseitigen Verzerrungen allerdings keineswegs vorwiegend um Sexualität, also z. B. um die aus der Antike kommende Vorstellung eines erotischen Incubus, eines Aufliegers, dem bekämpften Buhlteufel der mittelalterlichen Hexen. Trotz einiger neurowissenschaftlicher Einblicke in Grundlagen des Traumschlafes sind wir heute von einem exakten Verständnis noch weit entfernt. Aber in einem scheint die Freud’sche Theorie mit den neueren neuro-physiologischen Ergebnissen übereinzustimmen: Träume bedeuten Aufhebung des Verdrängten. Bewußte Verdrängung aktiviert Teile des dorsolateralen Stirnhirns und deaktiviert den Hippocampus*; genau das Gegenteil geschieht während des Träumens im REM-Schlafstadium.31 Andere Hypothesen: Ist Traumschlaf mit seinen Störungen als Arbeitsvorgang, Wunschvorstellung, Epilepsievorbeugung zu verstehen?32 Melden sich archaische Stimmen embryonaler und stammesgeschichtlicher Prägung? 31 Anderson, M. et al., Science 303 (2004), 5655, S. 232–237 32 vgl. Diederich, N.J.: Zur Neurologie des Traumschlafes. Versuch einer Synopsis, in: Nervenarzt 78 (2007), S. 406–417.
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Abb. 67 Die Unholdin im Füssener Totentanz (um 1600). Die Gleichstellung der Hexe mit allen anderen menschlichen Ständen setzt auch sie unter die Macht des Todes.
Die Litanei der Geister im Münchner Nachtsegen führt nicht ins Abseits kurioser Winkel. Jeder Arzt, der auch persönliche Therapie betreibt, kennt das Wachsen der Krankheits“keime“ im Umfeld von Fassungslosigkeit und Unerklärbarkeit. Er weiß, daß „laienhafte“ Ursachenerklärungen nicht wissenschaftlich exakt, aber dem Heilungsprozess oft nützlicher sind, als manche nackte Wahrheit. Die Strategie, der Angst einen Namen zu geben, sie damit zu isolieren, zu entschärfen und mit anderen Betroffenen „abhandeln“ zu können, ist einer der Königswege therapeutischer Arbeit geblieben. Und nicht einer, sondern eine Vielzahl von Königswegen sind heute im Zeitalter des Individualismus geboten. Ein Rückzug der hinter- und urweltlichen „Quälgeister“ ist also nicht zu erwarten, nur haben die therapeutischen Schlachten gegen sie und die Verstrickungen mit ihnen zeitgemäße Benennungen erhalten. Ihre Namen, als Symbolik, Methodik oder Option gedeutet, unterstehen dem Primat gezielter Zweckmäßigkeit für den Kranken. Sie titeln als „Urschrei“, als „Umgang-mit …“ statt „Umgehen-des …“-Strategie (aus dem „Es“ des Unbewußten sollte ja ein „Ich“ werden), als „Brief an den Tinnitus, den gemeinen Hund“, als „Selbstentdeckungsreise“, „New-Identity-Prozess“, „Feministisches Selbstbehauptungs-Training“ (gegen die einst und jetzt von lustfeindlichen Männern zur Hexe entmündigte Verführerin) oder doch wieder als „geheimer Zauberspruch“, wie es das Deutsche Grüne Kreuz im Internet für Eltern alptraumgeplagter Kinder empfiehlt. Letztendlich war und ist eine scharfe Trennung zwischen leibhaftigen konkreten Dämonenvorstellungen und der sie potentiell stets begleitenden Metaphorik als Be-
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nennung von Furcht, Abscheu und Ekel, zumal allein auf Basis von Schriftquellen nicht möglich.33 Die Beziehungen zwischen dem Münchner Nachtsegen und seinen Verwandten zur Funktion der Neuronen liegen weniger im Unterlaufen bewußter Denkvorgänge zur Herstellung eines Trancezustandes wie bei den Blutungs- und Schmerzsprüchen. Vielmehr geht es hier um die Benennung der Angst, das Etikettieren des Unbegreifbaren. Die neurobiologische Forschung hat die im Gehirn dafür bereitstehenden Aktionsabläufe im letzten Jahrzehnt als „Labeling emotions“* und „emotional awareness“ beschrieben. Therapeutisch ebenso wichtig ist die Funktion der Spiegelneurone*, die eine soziokulturelle Relaisstation für die jeweils zeit- und regionalspezifischen Dämonenbegriffe und Bedrohungsszenarien bereitstellen.
33 vgl. Jaberg, Karl: Krankheitsnamen, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 47 (1951), 112
25. Tiersegen: Der zweite Merseburger Zauberspruch Wotan als Rossarzt Die Arbeit des Mythos ist die Arbeit am Mythos. Hans Blumenberg
– Nur Göttervater Wotan beherrscht den Zauberspruch – – Die gewaltige Arbeit am Mythos: Streiflichter zur Forschungsgeschichte: Ist die Spruchherkunft germanisch, indogermanisch, christlich-romanisch? – – Alte und neue Pferdeflüsterer arbeiten mit operantem Konditionieren –
Abb. 68 Der zweite Merseburger Zauberspruch (9./10. Jahrhundert)
Phol ende uuodan uuorun zi holza; Du uuart demo balderes uolon sin uuoz birenkict. Thu biguol’en sinhtgunt, sunna, era suister; thu biguol’en friia, uolla, era suister; thu biguol’en uuodan, so he uuola conda: “sose benrenki, sose bluotrenki, sose lidirenki: ben zi bena! bluot zi bluoda! lid zi geliden, sose gelimida sin!”
Tiersegen: Der zweite Merseburger Spruch
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Phol und Wodan ritten in den Wald; da ward dem Rosse Balders der Fuß verrenkt. Da besprach ihn Sinthgunt und Sunna, ihre Schwester; da besprach ihn Freja und Volla, ihre Schwester; da besprach ihn Wodan, so gut (nur) er es vermochte: „Sei es Knochenverrenkung, sei es Blutverrenkung sei es Gliedverrenkung: Knochen zu Knochen! Blut zu Blut! Glied zu Gliedern, daß sie gelenkig sind!“
Die berühmte althochdeutsche Formel wurde auf einer Seite mit dem ersten Merseburger im ersten oder zweiten Drittel des 10. Jahrhunderts auf einem freien Vorsatzblatt eines lateinischen Sakramentars des 9. Jahrhunderts niedergeschrieben. Wahrscheinlich gab es eine ältere Vorlage. In einem Sammelband sind sie vereint mit dem „Fränkischen Taufgelöbnis“ und anderen christlichen Dokumenten, die dem Fuldaer Scriptorium entstammen. Die „Merseburger Zaubersprüche“ bieten gegenüber diesen christlichen Schriften im gleichen Band ein anderes Schriftbild, sodaß der Ort ihrer Niederschrift zunächst unsicher war. Nach neueren Untersuchungen1 mit den Nachweisen von Namenslisten und Lebensdaten Fuldaer Mönche und ihre Koordination mit der Handschriftzusammenstellung und mit historischen Ereignissen ist sich die Forschung sicher, daß die Eintragung der „Merseburger Zaubersprüche“ noch in Fulda erfolgte, daß sie innerhalb der Sammelhandschrift erst spät als Geschenk an die Merseburger Dombibliothek kamen.2 Mehr noch als die altdeutschen Beschwörungen des Wurmes „Gang uz nesso“ und der Epilepsie „Doner dutigo“ stehen die Textdeutungen der beiden Merseburger seit über 150 Jahren im wissenschaftlichen Streit der Fachgelehrten. Bis heute sind viele Fragen nicht geklärt und werden wohl unlösbar bleiben, falls nicht überraschend neue Dokumente gefunden werden. Einig kann sich die Forschung heute überwiegend darin sein, daß im zweiten Merseburger Spruch zwei Göttinnenpaare eine Heilungszeremonie vorbereiten oder in Gang setzen, die im dritten Anlauf nach der Regel des „Achtergewichts“ – d. h. des Schwergewichts der letzten Zeile – durch Wodan vollendet wird. Er allein ist es, der die eindeutig alte Heilformel „Bein zu Bein“ wirksam anzuwenden vermag. Von den sieben Götternamen sind Phol und Sinhtgunt nur hier belegt und man deutet Sinhtgunt neben Sunna meist als göttliche Wandelgestirne. Phol und Balder werden von vielen für identisch gehalten,3 weil der Unfall dem „balderes volon“ (volo = junges Reitpferd) zustößt.
1 2 3
Beck, Wolfgang: Die Merseburger Zaubersprüche. Band 16 der Imagines Medii Aevi, hrsgb. von Horst Brunner u. a., Wiesbaden 2003, S. 247–249 Weiteres zum Fuldaer Scriptorium siehe die Kapitel 12, 13 und 15 Steinhoff, Hans-Hugo, Verfasserlexikon 1985 (-87), Sp.410–418
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Die „Merseburger Zaubersprüche“ I und II wurden 1841 in der Bibliothek des Domstiftes Merseburg von Georg Waitz (1813–1886) entdeckt. Waitz gehörte zur historisch-kritischen Schule Leopold von Rankes. Er hat die Texte direkt an Jacob Grimm weitergegeben. Grimm war nicht zuletzt durch seine „Deutsche Mythologie“ seit 1835 (nach den Befreiungskriegen) zu einer der Koryphäen des Rückblicks in die Germanenurzeit im Sinne nationaler Identitäts- und Nativitätssuche geworden. Ihm ging es um die Bestätigung, „daß auch ‚unser einheimisches heidenthum‘ die ‚keime des göttlichen‘ getragen habe.“4 An den beiden Sprüchen hatte er zunächst den „ungeahnten Blick in die Götterwelt“ begrüßt, die teilweise rätselhaften Götternamen untersucht, ihr Verhältnis zueinander befragt und einen Sonnenmythos angenommen. In seiner Antrittsvorlesung am 3.2. 1842 in Berlin konnte Grimm die Texte jubilierend präsentieren als ein „Kleinod … welchem die berühmtesten bibliotheken nichts an die seite zu setzen haben.“5
Forschungsgeschichte: a) Indogermanische Herkunft – Ein Erbe der Veden? Wenige Jahre nach Grimms Erstveröffentlichung begründet Adalbert Kuhn (1812– 1881) die indogermanische Altertumskunde. Zunächst 1845 und 1853 beschreibt er vedisch-europäische Wortentsprechungen wie „unvergänglicher Ruhm“ und „Sonnenrad“. 1864 setzt er indische und germanische Zaubersprüche zueinander6 und bereitet damit der Forschung einen der viel begangenen Pfade vor. Auf diesem Pfad gingen der französische Iranist James Darmesteter, der in seiner Avesta-Übersetzung 1892/93 eine gemeinsame Satzlehre postuliert, der Germanist Franz Specht, der 1938 die gemeinsame Auffassung über Heilungsbefehle („ben zi bena“) betont und Franz Rolf Schröder, der 1954 die indogermanische Liedform als „Aufreihlied“ beschreibt.7 Nach den weiteren Detailuntersuchungen auf diesem Pfad melden sich mehr und mehr kritisch-differenzierende Stimmen, die zwar eine enge typenmäßige Verwandtschaft zu den indischen Veden zugestehen, aber historische Verwandschaft nurmehr für möglich halten. So wendet Bernfried Schlerath 1961 ein: Die literarische Form ist nicht spezifisch genug: Die Völkerkunde bringt eine Materialfülle aus verschiedenen Ecken der Welt und immer wieder erstaunliche Parallelen, auch zum Indogermanischen. Die germanischen Sprüche sind nur kümmerliche Reste; die gemeinsame Grundlage ist deshalb zu schmal.8 4 5
6 7 8
zitiert nach Beck, Wolfgang, wie oben, S. XXIII Grimm, Jacob: Zu den Merseburger Gedichten, in: Zeitschr. f. dt. Altert. 2(1842), 188–190; Über zwei entdeckte gedichte aus der zeit des deutschen heidenthums, in: Abhandl. der Ak. d. Wissensch. zu Berlin 1842, = Kl. Schriften II, 1865, S. 1–29, Bezug S. 26 Kuhn, Adalbert: Indische und germanische Segenssprüche, in: Zeitschr. für vergleichende Sprachforschung 13 (1864), 49–74, 113–157 Schröder, Franz Rolf, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 4 (1954),179–185 Schlerath, Bernfried, in: Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft 2 (1961) Sonderheft 15 Innsbruck 1962, S. 139–143
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Und so verengt sich für den 2. Merseburger vorläufig der „indogermanische“ Forschungs-Pfad, weil auch altirische und russische Zauberformeln der „ben-zibena“-Art gefunden sind. Die Bearbeiter der immer wieder reizvollen Materie üben sich nun in vagen Formulierungskünsten über eine „kumulative Evidenz“ bei Häufung der Argumente für die gemein-indogermanische Dichtersprache (So Paul Thieme in der Diskussion 1961 in Innsbruck) und über die gemeinsamen indogermanischen Vorbilder als „plausibelste Erklärung“ (So Rüdiger Schmitt 19679). Daß dieser indogermanische Forschungsansatz nicht völlig im Holzweg endete, verdankt er der Tatsache, daß der andere Pfad, der der Ableitung aus christlichen oder antik-römischen Quellen für den 2. Merseburger, anders als für den ersten, ebenfalls keine sicheren Ergebnisse brachte. So schreibt Gerhard Eis 1949 zwar, daß die Ursprünglichkeit der heidnischen Zaubersprüche durch christliche Varianten in Frage gestellt werde, trotzdem sei eine heidnische Herkunft sicher.10 Mit Genzmer sei die Zeit des 2. Merseburgers in die Jahre des Hunnenschlachtliedes um 500 zu legen. Besonders die drei gleichlaufenden Befehle werden wie allgemein so auch von Eis als viel älter eingeschätzt, sie seien „als indogermanisches Erbe erwiesen“. Forschungsgeschichte: b) germanische oder christliche Herkunft – Umformung christlicher Texte? Oder: Der Kampf um Wodan Die skandinavischen Philologen Sophus Bugge, Kaarle Krohn und Schüler Mansikka und Christiansen hatten den Ersatz ursprünglich christlicher Namen im Merseburger Pferdespruch durch heidnische Personen vermutet. Bugge hatte sogar die Existenz germanischer Zaubersprüche völlig abgelehnt, Krohn und Mansikka argumentierten damit, daß der schreibende Mönch den Namen des Christengottes nicht entweihen wollte, er habe deshalb Wodan und sein Personal eingesetzt. Die Forschergruppe berief sich auf eine große Anzahl germanischer Varianten im Norden, die weitgehend christliche Namen zeigen. Dieser wissenschaftliche Pfad fand starke Unterstützung seit der Entdeckung des Trierer Pferdesegens durch den Archivar F.W.E. Roth 1910.11 Dieser Spruch des 11. Jahrhunderts ist aus einer Vorlage des 9. oder 10. Jahrhunderts entstanden, ist also vielleicht nicht jünger als der Merseburger. Hier reiten Christus und Stephan statt Phol und Wuodan. Sie reiten nach Jerusalem (Saloniun, Salomonstadt). Was lag näher, als an den biblischen Einzug Christi in die Stadt zu erinnern und dies als Kern der Sprüche zu postulie9 Schmitt, Rüdiger: Dichtung und Dichtersprache in indogermanischer Zeit. Wiesbaden 1967, S. 290 10 Eis, Gerhard: Altdeutsche Handschriften, München 1949, S. 38 11 Roth, Friedrich Wilhelm Emil und Schröder, Edward: Althochdeutsches aus Trier, in: Zeitschr. f.dt. Altertum und dt. Lit. 52 (1910), 169–182
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ren? – Spurihalz ist hier diejenige Art der Pferderähe, die nach Gerhard Eis12 als Fuß- (= Spur) Lähmung (halz = lahm) auftritt, also jenes Verfangensein (entphangana), das zum Lahmen führt: die Windrähe. Die Aufnahme Stephans in den Segen könnte seiner Funktion als Pferdeheiliger und seiner Kalendernähe zu Christi Geburt entsprechen.13 Der Trierer Pferdesegen hat folgenden Wortlaut: 14
Incantatio contra equorum egritudinem Quam nos dicimus spurihalz: Quam Krist endi sancte Stephan zi ther burg zi Saloniun; thar uuarth sancte Stephanes hros entphangan. Soso Krist gibuozta themo sancte Stephanes hrosse thaz entphangana, so gibuozi ihc it mid Kristes fullesti thessemo hrosse. Paternoster.
Spruch gegen die Pferdekrankheit, die wir Spurihalz nennen: Christus und Sankt Stephan kamen zur Stadt Saloniun; da zog sich das Ross Sankt Stephans eine Krankheit zu. So wie Christus dem Rosse Sankt Stephans die Krankheit heilte, so heile ich mit Hilfe Christi diesem Ross die Krankheit. Vaterunser.
Und mit diesem Trierer Spruch beginnt eine jahrzehntelange wissenschaftliche Diskussion mit zeitweilig hohem Wellenschlag. Edward Schröder15 hatte dem Fund Roths auch gleich ein Bekenntnis beigegeben: „… und ich gesteh, dass ich mich jetzt der auffassung KKrohns zuzuneigen beginne, wonach alle heidnischen zauber-
Abb. 69 Wodan als Pferdeheiler? Menschlicher Kopf und Pferdeteile auf einem Schmuck der Völkerwanderungszeit
12 Eis, Gerhard: Altdeutsche Zaubersprüche Berlin 1964, S. 48–52 13 Embach, Michael: Trierer Zauber- und Segenssprüche des Mittelalters, in: Kurtrierisches Jahrbuch 44 (2004), S. 39 14 Trier Stadtbibliothek Hs 40/1018 8°, fol.36v, Übertragung nach Embach, Michael, in: Kurtrierisches Jahrbuch 44 (2004), S. 37 15 Schröder, Edward, wie oben (Z.f. dt. Altertum und dt. Lit. 52), S. 180
Tiersegen: Der zweite Merseburger Spruch
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Abb. 70 Fränkischer Reiter von Hornhausen (7. Jahrhundert)
sprüche des europäischen nordens erst umformungen frühchristlicher vorbilder oder substrate sind.“ Noch im gleichen Band der Zeitschrift für deutsches Altertum16 kommt heftiger Widerstand durch Richard M. Meyer, der diesen „Radikalismus“ beklagt, der überall entweder nur heidnischen oder nur christlichen Ursprung postuliere. Zum Höhepunkt der wissenschaftlichen Auseinandersetzung stößt vor allen anderen, wie beim altdeutschen Wurmsegen, Felix Genzmer vor, als er 1949 nach der Art Grimms die romantische Verklärung des „königlichen Merseburger Kleinods“ wieder aufnimmt: „Der zweite Merseburger Spruch ist […] von einem der grössten Sprachkünstler geschaffen worden, den die Germanen hervorgebracht haben. Zuerst hat Wodan gesungen; erst nach ihm hat Krist gesegnet.“ Und zum Trierer Spruch: „Konnte ein Erzeugnis, das in jeder Beziehung so geringwertig ist, das Urbild für das Merseburger Kleinod abgeben?“17
16 Meyer, Richard M.: Trier und Merseburg, in: Zeitschr, f.dt. Altert. und dt. Lit. 52 (1910), S. 390–396 17 Genzmer, Felix: Da signed Krist – thü biguol’en Wuodan, in: ARV 5 (1949), 37–68
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Aber schon seit von Unwerth (1913) und Roethe (1915) haben viele Forscher angenommen, daß Trierer und Merseburger Pferdesprüche zwei selbständige literarische Erscheinungen sind, die sich berühren mochten18,19 und daß die Niederschrift kirchlich verpönter Formeln immer wieder auch von frommen und ehrenwerten Personen an Leerstellen theologischer Literatur und später in Medizinbüchern getätigt wurde.20 Was die Annahme einer Abhängigkeit des Trierer Spruches vom 2. Merseburger als eines „oberflächlich christianisierten Verwandten“ angeht, 1995 so wieder von Wolfgang Haubrich21 im Hinblick auf die fehlende Performierungsformel „ben zi bena“ behauptet: Mit seinen aus vielen alten tiermedizinischen Handschriften abzuleitenden Befunden hatte Eis gefolgert:22 daß „… weder vom kirchengeschichtlichen noch vom veterinärmedizinischen Gesichtspunkt her ein Argument gegeben (ist), das zu dem Schlusse nötigen würde, daß dieser christlichlegendenhaften Variante eine mythisch-altgermanische vorausgegangen sein müsse.“ Alle Vorarbeiten der Germanisten, besonders jener, die vom Mythos fasziniert waren, hatte schon 1932 der Volkskundler Rudolf Kriss,23 – freilich unter dem Eindruck der Lehre Friedrich Naumanns vom abgesunkenen Kulturgut – aus den Wolken geholt, als er schrieb: „Die Frage nach Verfasser und genauen Orts- und Zeitangaben ist verfehlt, weil es Zeugnisse des Volksglaubens sind.“ Und das hieß „unpersönliche Primitivreligion“!; es sei unwichtig, ob eine mythologische Deutung richtig oder falsch ist. Auch dies hatte wohl Genzmer zu seiner oben zitierten Wodan-Verherrlichung geführt. Und ohne die mühevolle Arbeit der alten Meister zu verachten, ist mit Adolf Spamer (1957) in Grimms Deutungen die „visionäre Poesie der Romantik“24 oder mit Brian Murdoch (1989) ihre Neigung zu „spekulativer Philologie und teutonischer Mythologie“25 zu benennen. Mythologisch orientierte Detailarbeit: 1) Beispielhaft steht das erste Wort unseres Spruches „Phol“ für eine Kette von unbefriedigenden Erklärungsversuchen. Ist es ein unbekannter 18 von Unwerth, Wolf: Der zweite Trierer Zauberspruch, in: Zeitschr. f.dt. Altertum 54 (1913), S. 195–199 19 Roethe, Gustav: Zu den altdeutschen Zaubersprüchen, in: Sitzung der phil.-hist. Klasse Berlin 1915 (Vortrag am 11. Februar) 20 Vogt, W.H.: Zum Problem der Merseburger Zaubersprüche, in: Z.f. dt. Altertum 65 (1928), S. 97–130 21 Haubrich, Wolfgang: Die Anfänge: Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen Mittelalter, Tübingen 1995, S. 344 22 Eis, Gerhard: Altdeutsche Zaubersprüche, wie oben, S. 52 23 Kriß, Rudolf: Grundsätzliche Betrachtungen zum 2. Merseburger Zauberspruch, in: Oberdeutsche Zeitschrift für Volkskunde 6 (1932), S. 114–119 24 Spamer, Adolf: P(h)ol ende Uuodan, in: Deutsches Jahrb. für Volkskunde 3 (1957), S. 347– 365, hier: S. 349 25 Murdoch, Brian: Peri Hieres Nousou: Approaches to the Old High German Medical Charms, in: „mit regulu bithungan“, Neue Arbeiten zur althochdeutschen Poesie und Sprache, Göppingen 1989, S. 142–160
Tiersegen: Der zweite Merseburger Spruch
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Gott, ein Gott der Fülle oder eine lokale Gottheit, ist es St. Paulus, ist es Apollo, ists ein Adjektivteil, ein Hörfehler, eine reine Alliteration oder ein Pol wie Pogge im Streitmotiv? Oder gar der Friedensfürst des goldenen Zeitalters? – Ebenso schillernd fallen die Ideen und Phantasien zu Funktion und Sinn des Spruches aus: Altes Germanenzauberlied, Allegorie auf die nordische Mittsommernacht, Kunstprodukt eines überfrommen Mönches (der den Namen Gottes nicht entehren wollte und mit dem Einbau der vielen Götter das 1. Gebot mit dem 2. Gebot schlug), Wandergut aus Indien, größtes germanisches Kunstwerk zur Erzielung der Unio mystica, magisches Zahlenspiel 3 x 3 x 3 u.s.w. – Fehlte 1941 zum 100-jährigen Jubiläum von Waitz’ Entdeckung nur noch die Erkenntnis seiner tatsächlichen chiliastischen Kraft: „Die eigentliche Zauberformel des zweiten Spruches (tief im Domfelsen verwahrt, viel älter als all die Weisheit der Kirchenschriften) hat bei der großen Wendung unserer Geschichte genau nach hundert Jahren, in denen sie immer wieder gelesen und gesprochen wurde, in denen sie wieder klang, eine wunderbare Erfüllung gefunden. Auf Vereinigung, auf Heilung und glückliches Wachstum deuten die uralten, geraunten Worte: Bein zu Beine, Blut zu Blute, Glied zu Gliede!“26 2) Beispiele für Phantasien zur Eingangsszene. Grimm: „Sobald des sonnengottes roß erlahmt und es seinen umlauf zu unterbrechen genöthigt ist, läuft alles gefahr, und nichts ist den gütigen Gottheiten angelegener als schleunig sie abzuwenden; heilungen und beschwörungen vorzunehmen war frauengeschäft, darum sich hier vier hehre göttinnen des zaubers unterfangen, obwohl vergebens; erst dem oberhaupt aller götter gelingt es ihn zu lösen.“ – Felix Niedner (1899): „die erste zeile bedeutet: der gott des zwielichtes und sein vater, der tagesgott, reiten auf lichten rossen am morgenhimmel empor“27 – Felix Genzmer (1949): „Täglich reiten dort Götter zur Beratung, wir können auch sagen: zum Ding, nach der Esche Yggdrasil …“ „Und im Volksglauben lebt Wodan-Odin heute in Reitergestalt als wilder Jäger fort.“28
Dieser Glaube an ein kontinuierliches Fortleben der alten Götter hatte mit der Edda-Wiederentdeckung und mit deren Übersetzung durch Karl Simrock 1851 und mit Grimms Mythologie ein Zeitalter geprägt und hatte auch die volkskundliche Forschung angeregt, ja wohl auch erst begründet. Ein einziges Beispiel aus der Unmenge volkskundlicher „Statistik“: Karl Bohnenberger (1904) mit 600 Berichten aus fast ebensoviel Orten: „Die Vorstellung von Wuotans Heer ist die einzige, die […] heute noch mit Gewißheit die Person eines unserer himmlischen hohen Götter erhalten hat. Freilich ist Wuotans Person kaum mehr von seinen Heeresgenossen zu unterschieden.“29 Wie erhellend die Einschränkung aufs Indifferente! Denn das „Wissen“ um die alten Götter war über Jahrhunderte versunken, hatte sich latent mit vielen Veränderungen und Vermischungen nur in Sagen und Orts26 Berger, Siegfried, Manuscript Stadtarchiv Merseburg HStaM, M I 19 des Aufsatzes: Das älteste Schriftgut der Provinz Sachsen: Zur Entstehung der „Merseburger Zaubersprüche“, in: Die Provinz Sachsen. Amtsblatt des Oberpräsidenten, Hrsg. vom Landeshauptmann 12 (H. 7) 15.10.1942, S. 49f 27 Niedner, F.: Der Mythos des zweiten Mersebg. Spruches, in: Z.f.dt. Altert.43 (1899), S. 101– 112, hier S. 108 28 Genzmer, Felix: Da signed Krist – thu biguol’en Wuodan, in: ARV 5 (1949), S. 42 29 Bohnenberger, Karl: Mitteilungen über volkstümliche Überlieferungen in Württemberg, in: Württemb. Jahrbücher für Statistik und Landeskunde 1904, I,92 (kursiv durch Verf.)
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und Pflanzennamen erhalten. Grimm hatte Erzählungen und Erscheinungen des Volkslebens seiner Gegenwart weitgehend als uraltes deutsches Gut umgedeutet, so dann geschehen besonders an lokalen Geisterbegriffen wie Muotas, Wuotas oder Guotas, die zum Wotansheer wurden.30 Prominentestes Zeugnis dieser Vorstellungen ist ein renommierter visionengeladener Gelehrter der Psycho-Zunft, der aus seinen Spukträumen kein Hehl gemacht hat. Im Frühjahr 1924 erwacht C.G. Jung im Turm in Bollingen am See von Lachen, Singen und Akkordeonspiel, was sich als hartnäckig immer wiederkehrend, schließlich auch mit visuellen Erscheinungen hunderter dunkler Gestalten erweist. Ungewöhnlich, denkt Jung. Wars Folge einer Körperempfindung oder wars Archetypus? Lange Zeit bleibt der eigene Traum dem Traumspezialisten ein Rätsel. „Einen Sinn erkannte ich erst viel später, als ich mit der Luzerner Chronik des Renward Cysat aus dem 17. Jahrhundert bekannt wurde“. Darin findet Jung die Parallele zu Cysat, der nachts den Pilatus bestiegen und genau das Gleiche wie er in seinem Traum erlebt hatte: ‚Wuotansheer‘ und ‚sälig Lüt‘. „Auf einer Alp am Pilatus – dort soll ja Wotan noch sein Wesen treiben“. Jung bleibt mit seinem eigenen Traum nicht beim Mythos, versucht den „Realitätscharakter“ mit früheren historischen Umzügen in der Gegend zu erklären.31 Ganz anders aber: „In den Träumen von Deutschen, die ich damals [z.Z des 1. Weltkrieges] behandelte, konnte ich die wotanistische Revolution heraufkommen sehen …“32
Forschungsgeschichte c) derzeitiger Stand Erstmals sind im Jahre 2003 in einer großangelegten Untersuchung von Wolfgang Beck auf 450 Seiten seiner Dissertation allein die Merseburger Zaubersprüche behandelt worden, was in dieser Breite noch keinem Zauberspruch- oder Segenspaar zuteil wurde. Damit ist ebenso ihre Bedeutung33 und allgemeine Akzeptanz angemessen dokumentiert wie die Zahl und Vielfalt der bezauberten Forscher endlich im Überblick erfassbar wird. Neben der detaillierten Beschreibung der Forschungsgeschichte hat Beck auch eigene Ergebnisse vorgelegt, besonders zur Geschichte der Handschrift und zur Klärung des kulturhistorischen Umfeldes. Er betrachtet die Merseburger Zaubersprüche im gesamten Überlieferungsstrom der Zauberspruchformeln und stellt fest, daß „ihre Entstehung und Ausgestaltung den aktuellen Anforderungen der Heilsituation zuzuschreiben ist“. Das heißt, es ist von „typologischen Parallelfällen der Überlieferung auszugehen“. Die Entstehungszeit der
30 Behringer, Wolfgang: Chonrad Stoeckhlin und die Nachtschar, München 1994, S. 80–82 31 Cysat, Renward: Collectanea Chronica und denkwürdige Sachen pro Chronica Lucernensi et Helvetiae. Bearbeitet von Josef Schmid, Luzern 1969, S. 617 32 Jung, C.G.: „Wotan“ (1936), Aufsätze zur Zeitgeschichte. Zürich 1946, zit. nach Gottschalk, Herbert, C.G. Jung, Band 17 der „Köpfe des XX.Jahrhunderts“, Berlin 1960, S. 86 33 Nach dem 1.Weltkrieg war die Handschrift in Gefahr, als kulturelle Reparation an Belgien übergeben werden zu müssen. 1929 erfolgten auf Befehl des Generalfeldmarschalls August von Mackensen ein fester Verschluß und geregelte Zugangsverordnungen. (vgl. Beck, W., wie oben, S. 217)
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Sprüche, nicht ihre Niederschrift, wird auf die Zeit der Missionierung der rechtsrheinischen Germanen datiert.34 Der germanisch-heidnische Inhalt und die Stabreimform weisen auf diese Zeit der Christianisierung, „da diese in hohem Maße zur Besinnung auf die alte religiöse Tradition anregte, und solchermaßen die Schaffung eines germanischen Zauberspruches motivieren konnte …“. Eine Schlussfolgerung, die sicherlich hinsichtlich der Frage nach einem Genius der Neuschöpfung nicht ohne Widerspruch und Ergänzung bleiben wird. Trotz aller Bemühungen hat der Merseburger Pferdesegen noch immer sein Geheimnis gewahrt und hat damit zauberhaft den Fleiß einer inzwischen sehr großen Zahl von Forschern verschiedener Couleur angeregt. Um mit Hans Blumenberg zu sprechen, wurde die [verführerische!] Arbeit des Mythos zur Arbeit am Mythos oder hier genauer an der Rekonstruktion und Revitalisierung eines Mythos. Sie bietet sich hier wie selten so fokussiert zu einem Spiegelbild kultureller Sichtweisen der letzten 150 Jahre dar. Zur Frage der Anwendung: Dichtung oder Therapie? Ob zur Registrierung der Äußerungen des einzudämmenden Heidentums, ob in antiquarischem Interesse oder zum Studium der germanischen Sprache, immer wieder ist der Aspekt der Motivation zur Aufzeichnung der „Merseburger“ Formeln beachtet worden. Seit Grimm lag der Akzent vieler Untersucher auf ihrer Funktion als Dichtung. Allenfalls wurde im „so he uuola conda“ ein Kulturbild des Konkurrenzkampfes zwischen heilkundigen Männern und Frauen, Priestern und weisen Frauen, Schäfern und Kräuterweibern insinuiert.35 Im Vergleich zum altdeutschen Wurmbann „Gang uz nesso“ war sogar für den 2. Merseburger die Tätigkeit eines Heilkundigen gleichsam ausgeschlossen worden: „Der zaubernde Mensch hat keine Stätte.“36 Zunehmend hat sich jedoch aufgrund der Vergleiche mit anderen klösterlichen Handschriften und dem genannten Strom der Überlieferung die Einschätzung durchgesetzt, daß den Scriptorien ein Medium zur Eintragung heilkundlicher Texte ebenso wie für Rezepte gefehlt hat, sodaß solche Heilsprüche an freie Stellen eingetragen wurden. Vergessen wir nicht, daß im Handschriftenband der Merseburger Zaubersprüche auch noch eine Fieberbeschwörung (fol. 75v) sowie ein Salzsegen gegen Viehpest und eine Messe für Viehpest (fol. 52r) verzeichnet sind. Die Mönche haben zwanglos nichtchristliche Texte aufgenommen,37 zumal für medizinische Anwendung, wenn auch nicht generell und nicht zu allen Zeiten. 34 Beck, Wolfgang, wie oben, S. 238f 35 Roethe, Gustav: Zu den altdeutschen Zaubersprüchen, in: Sitzung der phil.-hist. Klasse Berlin 1915, S. 280 36 Vogt, W.H.: Zum Problem der Merseburger Zaubersprüche, in: Z.f. dt. Altertum 65 (1928), S. 117 37 Nach den Richtlinien Papst Gregors des Großen vom 16. Juni 601 galten als Missionsprinzipien: „die schonende Weiterpflege der alten Bräuche unter Substituierung christlicher Ideen und Ausmerzung der Götzenbilder“, zit. nach Spamer (wie oben, S. 356)
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Abschließend einige verwandte Texte späterer Zeit aus mehreren Ländern Europas, die vor allem die Veränderungen des ersten, d. h. des epischen Teils zeigen. Nicht zu Unrecht hat Oskar Ebermann38 schon 1903 anhand der weiten Verbreitung der Exemplare auch allgemein hohen Bekanntheitsgrad und mündliche Überlieferung angenommen. Ich verweise auf seine umfangreiche Zusammenstellung sowie auf Kapitel 5. 39
Unser Herr auf dem berge ritt; Sein Fohlen den Fuss sich vertrat Da segnete Krist, da segnet’ das Kreuz, da segnete selbst Santa Maria: Blut zu Blut! Ader zu Ader! Heil und haltbar, wie es vordem war. Im Namen […]
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The lord rade, and the foal slade; He lighted, and he righted. Set joint to joint, bone to bone, And sinew to sinew. Heal in the holy ghosts name!
41
Der heilig man S. Simeon sol gein Rom reiten oder gan. Da tratt sein folen uf ein stein und verrenkte ein bein. Bein zu bein, blut zu blut, ader zu ader, fleisch zu fleisch So rein khomen sie zusamn in unsers herrn Jesu Christi namn, also rein, als du ausz motterleib khomen bist. In namen Gott […]
42
Drei Rosenkränze beten + + + Der heilige St. Peter ritt zum Berg, zum Holz, zu allen Jüngern. Schnell ritt er, der Ritt tat not. Alle Jünger warteten auf ihn. Da lahmte das Bein, da lahmte der Fuß. Da stieg er ab und führte das Pferd. Alle Jünger warteten auf ihn in Not. Das Bein lahmte stärker, die Not ward größer. Da kamen ihm eilend der Herr Jesus und die heilige Mutter Maria zu Hilfe. Bein zu Bein. Blut zu Blut. Die Lahme verschwinde gesund ward das Pferd. Der heilige Petrus ritt zum Berge, zum Holz. Zu allen Jüngern + + + Drei Rosenkränze beten.
38 Ebermann, Oskar: Blut- und Wundsegen, Palaestra XXIV, Berlin 1903 39 Genzmer, Felix, (wie oben, S. 65, ein 1618 in Dänemark aufgeschriebener Spruch) 40 Ebermann, Oskar, wie oben, S. 4, nach Grimm, Mythologie III (4.Auflage 1968), S. 1031 (nach Rob. Chambers, Edinburg 1842) 41 Zimmer, H., Zeitschr, f. dt. Altertum 21 (1877), S. 211, aus einer Kirchenvisitation von 1575 in Winterburg in der Grafschaft Sponheim/ Rheinland-Pfalz; die Segensprecherin berichtet, daß sie häufig aufgesucht werde, wenn ein Mensch oder Ross den Schenkel oder andere Glieder verrenkt hat. 42 Dieck, Alfred, Magische Krankheitsbehandlung, in: Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung 19 (1986) S. 155–165; der Spruch nach Mittlg. durch Prof. Eduard Tratz, Salzburg aus dem Lungau und Berchtesgaden; Tratz habe schon mit 20 Jahren einen solchen Segen erhalten. [Tratz (1888–1977) wird im Internet als Naturwissenschaftler mit nationalsozialist. Verbundenheit zu Blut und Boden etc. beschrieben]
Tiersegen: Der zweite Merseburger Spruch 43
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Jesus wandert mit Petrus auf einer Straße. Jesus wendet sich um und sagt: Petrus, kannst du nachkommen? Ich kann nicht, mein Pferd hat auf einen albernen Stein gestoßen und hat sich seinen Fuß verrenkt. Nimm Salz und Schmalz und schmier es auf den Fuß! Bein zu Bein, Glied zu Glied, Ader zu Ader. Im Namen […]
Schmerzbehandlung und Züchtung bei Pferden / Verhaltenstraining Daß derartige Texte als Verbaltherapie eine medizinische Wirkung hatten, legt uns ihre Persistenz über Jahrhunderte nahe. Entscheidend für die Wirkung aufs Tier war natürlich weniger der Spruch selbst, geschweige denn sein Inhalt. Es war vielmehr die gewaltlose Kommunikation mit dem Tier durch einfühlsames Verhalten, Beobachtung seiner Reflexe und Reaktionen auf die Berührung all seiner Sinne, seiner „Zeichensprache“ und eben auch seines Hörorgans. Ob als Gesang, als Worte oder Geräusch, die akustische Berührung konnte vertrauensvolle Nähe zwischen Mensch und Tier schaffen und unterstützte die Entspannung des Pferdes etwa in Zusammenhang mit chirurgischen Eingriffen. Der Inhalt der Texte dagegen gab dem heute als „Pferdeflüsterer“ benannten Heilkundigen die Kraft, mit seinem heimlichen Spezialwissen Macht auszuüben, die im Stillen wirkte, die sich nicht in lautem brüllenden Befehlen oder aggressivem Züchtigen verausgabte. Ein interdisziplinärer Forschungszweig an verschiedenen Hochschulen mit Ausbildung in Hippiatrie hat sich in den letzten Jahren der Beeinflussung des Pferdes gewidmet. Daß auch zu früheren Zeiten begabte Einzelne mit Tieren zu kommunizieren vermochten, belegen viele Sprüche, früh schon im lateinischen Trierer Talpa- Wurm- Spruch des 10. Jahrhunderts, der neben genauen Berührungsabläufen und Rundgängen um das Tier das Vaterunser ins Ohr zu sprechen empfiehlt.44 Im 12. Jahrhundert finden wir dafür altdeutsche Worte im Spruch „ad equum errehet“, der bei Gliedersteife der Pferde: „tu rune imo in daz ora“, „raune ihm ins Ohr! …“ vorschlägt. Manche Texte legen eine Herkunft aus der berühmten Roßarznei des Meisters Albrant bei Kaiser Friedrich II. von Neapel nahe.45 Auch die bei Pferderennen zu raunenden Zauberworte, damit ein Pferd anderen davonläuft, sind gelegentlich notiert worden.46 Eine Anzahl von Manipulationen, die bei Verletzungen zusammen mit dem Spruch in Gebrauch waren, hat Monika Schulz47 zusammengestellt. Die Menschen schuldeten in früheren Zeiten dem unentbehrli43 Krauß, Friedrich: Krankheitssegen aus dem Nösnerland, in: Korrespondenzblatt des Vereins für Siebenbürgische Landeskunde 42/43 (1919/1920), S. 53, dort weitere Beispiele und Dialektschrift, 19. Jahrhundert 44 Trier Stadtbibliothek Hs 40/1018 8°, fol.41v-43r, veröffentl. Embach, wie oben, S. 48f. 45 Breslau Universitätsbibliothek Cod. Vrat. III. 4° .1., veröffentl. Hoffmann, Heinrich, in: Monatsschrift von und für Schlesien 1829, S. 764 46 Memmingen Stadtbiblioth. Cod. 2,39, fol.127r, veröff. Eis, Gerhard, in: Tierärztl. Umschau 18 (Konstanz 1963), S. 559–562, hier: S. 561f 47 Schulz, Monika: Beschwörungen im Mittelalter, Heidelberg 2003, S. 149–153
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chen Pferd wirklich mehr Anstrengung ihrer Phantasiekraft für wirksame Zucht und Behandlung als heute. Neurophysiologisch sehen wir uns bei dieser Methodik einer Kombination in der Aktivierung von Rückenmarkreflexen und Hörbahnreflexen gegenüber, die beim Tier als positive Verstärker im Verhaltenstraining (klassisches und operantes Konditionieren48) eingesetzt werden. Im Tiergehirn werden dabei innere emotionale Gedächtnisprägungen der Amygdala* mit der Skelettmuskulatur über das Kleinhirn verankert. An einem viel kleineren Tier, der Aplysia-Schnecke hatte Eric Kandel (Nobelpreis 2000) festgestellt, daß mit dem Erlernen von Reflexen eine Veränderung der Übertragungsstärke der Synapsenverbindungen, also ein nachhaltiges Lernen erreicht ist. Von der Deutung als „Kontaktmagie“49 kann man Abschied nehmen.
48 Bohnet, Willa: Pferdeflüsterer, in: Hundkatzepferd 4 (2008), S. 50–53 49 So Wipf, K.A. in Bezug auf den altdeutschen Rähesegen „ad equum errehet“, in: Numen 22 (1975), S. 58
26. Tiersegen für Vieh und Hirtenhund: Wolfsbeschwörungen und Herdenschutz
– Wiener Hundesegen: Christus war eher als der Wolf – – Trierer Viehsegen: Christus als Retter versus Wolf als Teufel – – 500 Jahre „Petri Schlüssel gegen Wolfes Rüssel“: Die Segen von Graz, München und Basel und: vom Segensbrauch zum Brauchtumssegen –
Seit Beginn der menschlichen Viehhaltung und Herdenkultur sind Bemühungen um den Schutz der Nutztiere wesentliche Bedingung für Ernährung und Kleidung sesshafter wie wandernder Völker. Der altbabylonische Gott Marduk beklagt seinem Vater Ea die Untaten der Dämonen, „Zicklein und Kalb holen sie aus der Hürde, Kalb und Lamm holen sie aus dem Viehhof“ und erhält Anweisungen für Beschwörung und Ritus.1 Neben technischen und medizinischen Maßnahmen schätzte auch das christliche Mittelalter verbale Methoden, um den Segen Gottes oder die Hilfe der Heiligen zu erlangen. Seit dem Frühmittelalter waren das Kreuz Christi, den Rindern auf die Stirn appliziert, und die Fürbitte bei Heiligen im Volke in Gebrauch; später hat die lateinische Liturgie Votivmessen und die Weihe von Salz und Wasser für Erhaltung des Viehbestandes eingesetzt.2 Die wichtigsten Volkspatrone für das Vieh im deutschen Sprachraum waren zunächst Blasius, der legendär einen räuberischen Wolf zu zitieren vermochte und Martin, der den bösen Geist einer Kuh beschworen hatte. Beide wurden in die Segen einbezogen. Ein lateinischer Segenstext für die Schweineherde aus St.Gallen des 10. Jahrhunderts stellt diesen beiden Johannes den Täufer voran, erteilt jedem der Drei eine besondere Aufgabe und fügt drei „Zauberworte“ hinzu. 3
In nomine domini. isti porci, qui enumerati sunt sanctus Iohannes videt eos, sanctus Martinus expascat illos, amen sanctus Blasius emendat illos, amen,
1 2 3
Im Namen des Herrn. Diese Schweine, die gezählt sind, Sankt Johannes erkennt sie Sankt Martin führt sie auf die Weide Sankt Blasius pflegt und hütet sie, amen,
Froehner, Reinhard, in: Beiträge zur Geschichte der Veterinärmedizin 1 (1938/39), S. 366 Franz, Adolph: Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter, Freiburg 1909, II,139 St. Gallen Stiftsbibliothek, Cod.111.fol.1,10.Jh., veröffentl. Franz, ebenda, mit Deutungsversuchen der „Zauberworte“
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ab omni malo, amen, vor allem Bösen, amen, alan, tabalim, fugan, ab omni malo, alan, tabalim, fugan, vor allem Bösen, exaudita est oratio tua. dein Gebet ist erhört.
Deutlich wird damit, daß ein solcher Segen beim Austrieb der Tiere gesprochen wurde, wenn sie unter Abzählung den Stall verlassen mußten. Eine konkrete Nennung dessen, was als Böses gemeint ist, wird in weiteren Segen des 10. Jahrhunderts notiert: 4
In nomine domini nostri creati ! crescite et multiplicamini. Christus uos deducat et reducat. Ante fuit Christus quam lupus; Christus interpretatur saluator. Lupus interpretatur diabolus. Christus liberet canes istos alias bestias de dentibus luporum. de manu latronum. Et ab omnibus inimicis. […]
Ihr im Namen unseres Herrn Erschaffenen ! Wachset und vermehret euch ! Christus geleite euch und führe euch heim. Christus war früher als der Wolf; Christus bedeutet Heiland-Retter Wolf bedeutet Teufel. Christus möge diese Hunde befreien und andere Tiere aus Wolfszähnen, aus Räuberhand und von allen Feinden. […]
Der älteste und zugleich deutsche Text dieser Art ist der sog. Wiener Hundesegen des 9. oder 10. Jahrhunderts: 5
Christ uuart gaboren er uuolf ode diob. do uuas sancte Marti Christas hirti. der heiligo Christ unta sancte Marti, der gauuerdo uualten hiuta dero hunto, dero zohono, daz in uuolf noh uulpa za scedin uuerdan ne megi, se huuara se gehloufan uualdes ode uueges ode heido. Der heiligo Christ unta sancti Marti, de fruma mir sa hiuto alla hera heim gasunta.
Christ war geboren vor Wolf oder Dieb. Da war Sankt Martin Christi Hirte. Der heilige Christ und Sankt Martin Der lasse heute walten über die Hunde. Und über die Zaupen, daß Wolf und Wölfin ihnen nicht schade. Ob sie in Wald, Weg oder Heide weglaufen. Der heilige Christ und Sankt Martin, Der führe sie mir heute alle gesund heim.
In ihm ist nicht primär die Herde gesegnet, sondern der unentbehrliche Helfer, der Hirtenhund, über den der Hirte oder der Verwalter beim Austrieb den Segen spricht. „Wenn der Hund wacht, mag der Hirte schlafen. Wenn die Hunde schlafen, hat der Wolf gut Schafe stehlen“, sagt das alte Sprichwort. Der Wolf ist der Dieb und ist zugleich der Teufel, in Kontrast zu Christus gestellt. Denn Christus ist „der gute Hirte, läßt sein Leben für die Schafe [...] und der Wolf erhascht sie und zerstreut die Schafe“, wie es bei Johannes 10, 12 heißt. Auf den ersten Blick 4 5
Trier Stadtbibliothek, Hs. 40, Bl. 74v und 75v, 10.Jh., veröffentl. Steinmeyer, Sprachdenkmäler, S. 396 Wien Österreichische Nationalbibliothek Codex 552, fol. 107r, 9./10. Jahrh., veröffentl. MSD IV,3
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ungewöhnlich ist die Eingangsformel des Wiener und die Zeile vier des Trierer Spruches, beide mit der Vorstellung, Christ sei geboren, bevor der Wolf war. Sie verweist auf einen Vorgang der universalen Einmaligkeit, einen Ausnahmezustand jenseits „natürlicher“ Kräfte, in dem Christus mit seiner Geburt als Mensch aus seiner göttlichen Dimension heraus einen Frieden bringt, der alles Kreatürliche miteinander versöhnt. „Wehr dich, Wolf, wenn du eher als Christus warst“, heißt es in einem Wolfsthurner Spruch herausfordernd, der bei einer Wolfsbegegnung zu sprechen ist.6 Die biblische Wurzel liegt bei Kolosser I,13–15: (Der Vater) „hat uns errettet von der Obrigkeit der Finsternis und versetzt in das Reich seines lieben Sohnes ... welcher ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene vor allen Kreaturen.“ Vor allen Kreaturen, also auch den bösen und wilden Wesen der Finsternis, über die er als ihr Schöpfer im Geheimnis der Dreifaltigkeit Macht hat. Mehrere fundamentale christlich-biblische Motive verbergen sich allgemein in diesen Hirtensegen. Der Friede, der von Christi Erscheinen ausging, die Einzigartigkeit Christi als Mensch und Gott zugleich, das Parallelprinzip des Schöpfungsaktes im Entstehen von Mensch und Tier, von wilden und zahmen, also aktuell gesehen auch Anfragen an Wertkriterien und Grenzen der Wissenschaft im Nachahmen der Schöpfung. Manche dieser Motive haben sich in Sprüchen bis in die letzten Jahrhunderte erhalten. Ich nenne stellvertretend als ein noch spätmittelalterliches Beispiel für eine große Zahl den Wolfsbann des Münchner Clm 4350: 7
Daz ist der wolfsegen: Jch enphilch dich in den frid der gesworn wart, da der hailig Krist geporn wart: Nu seien dier waeld weg und strazz als dierloz und als dieploz und alz schatloz, als unser herre ist genossloz und alz unser fraw sancta Maria ist manloz. in gottez namen Amen.
Das ist der Wolfssegen. Ich besorge dich in den Friedensschutz, der beschlossen war, als der heilig Crist geboren wurde: Es seien dir Wald, Weg und Straßen ebenso wildtier- dieb- und schadlos, als unser Herr ist ohnegleichen und als unsere heilige Frau ist gattenlos. In Gottes Namen. Amen.
Die folgenden biblischen Motive haben in die Vielfalt der Hirtensegen Eingang gefunden: 1) Einzigartigkeit/ Einmaligkeit Christi, der am Kreuz „genosslos“, ohne seinesgleichen, dessen Mutter niemals „einen anderen Sohn“, keinen zweiten, gebären kann. Der Physiologus, das frühchristliche Buch phantastischer Tiersymbolik verknüpft den Epheserbrief 4,5–6 unter Akzentverschiebung mit der Schwalbe, die nur einmal Junge hervorbringe und dann nicht mehr. „Mein Heiland ist einmal im Mutterleib getragen, einmal geboren, einmal begraben, einmal auferstanden“ (Seel, 31). Vgl. Johannes Paul II: Jesus-Gott: Ein übertriebener Anspruch? In: Die Schwelle der Hoffnung überschreiten (Hg. Vittorio Messori) Hamburg 1994, S. 70–73. Der polnische Papst antwortet auf die Frage, warum Jesus nicht einfach ein Weiser wie Sokrates, ein Prophet wie Mohamed, ein Erleuchteter wie Buddha sein könnte. Er entwickelt die Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit des eingeborenen Soh-
6 7
Wolfsthurn Biblioth. der Freiherren von Sternbach, hs. Hausmittelbuch, fol. 87a München BSB Clm 4350, fol.73v, beg. 14.Jahrh.
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nes Gottes, wie von Anfang an (Petrus bei Cäsarea Philippi, Matth. 16,16) im Christentum angelegt. „Wir dürfen nicht ablassen, dies zu wiederholen“. 2) Friede bei Christi Geburt, „Ich enphilch dich in den frid der gesworn wart, da der hailig Krist geporn wart“ (Clm 4350, fol.73v); am deutlichsten im Weingartner AusfahrtSegen (s. Kapitel 28). Nach manchen Überlieferungen wurde die Zeit der Geburt Christi als Zeit politischen Friedens im Römerreich verstanden, woraus eine Gleichstellung sozialer Realität und religiöser Symbolik resultierte. vgl. Faust, Eberhardt: Pax Christi et Pax Caesaris, Freiburg/Schweiz, 1993, S. 221f; vgl. Zeichen und Wunder bei Christi Geburt in der „Legenda aurea“ des Jacob de Voragine*, Ausgabe Benz, Richard, Gütersloh 1999, S. 39; vgl. Weddige, Hilkert: Einführung in die germanistische Mediävistik, München 1992, S. 96 (Bischof Otto von Freising und die christliche Geschichtsdeutung). Der Physiologus führt den Wolf erst in späteren Ausgaben ein. Für Christi Friedensstiftung nach antikem Orpheusvorbild kann man den Panther heranziehen. Seine Stimme und sein Balsam-Wohlgeruch zähmen alle wilden Tiere (Seel, Otto, Stuttgart 1960, S. 16f ). 3) Als Konsequenz aus 2) Einbeziehung der Gottesmutter als Ernährerin, „mein Vieh gesegnet, wie unser lieber Herr Jesus an einer lieben Mutterbrust, da unser lieber Herr antrank ... und werden (dem Waldhund) alle Zähne so weich, wie unserer lieben Frauen Brust“ (HSTA Wiesbaden Z 4187–89,fol.3, von 1604, veröffentl. Koppenhöfer, Johanna: Die mitleidlose Gesellschaft, Frankfurt u. a. 1995), auch „Hünd sweig styll durch des ersten wortz will das vnser liebe fraw sprach do sie den ersten Hell Hünd sach“ (Cgm 823,2,fol.37v). 4) Wildblockade durch das Kreuz. In einigen Texten ist es ein: (schlag ihm) „das heilige Kreuz in den Mund“, welches als Waffe gegen die Zähne des Raubtieres dient, oder Christus „trug ein Guldes creutz Jn seiner Hand“ (Cgm 823,9, fol 116v) oder „Wolf steh vor dem Holz, daß du sollst stille Stand haben vor dem Holz, da Christus ist gekreuzigt worden“ (Hs aus Marktleuthen, S. 28). Diese Formulierungen stammen ebenfalls aus Ausfahrtsegen. Man kann aber vermuten, daß die Kreuzzeichnungen auf Tierstirnen oder andere Ritualien gedanklich Pate standen. 5) Gegenüberstellung Wolf – Christus, wie in einer Handschrift XI, 620,Teil 3 aus St. Florian, ca.1593 : „Christus renatus, lupus ligatus in terra“ (Lindner, Kurt (Hg.): Deutsche Jagdtraktate, Berlin 1959 II,61) als Rekurs auf den (mlat. durch die Taufe) Auferstandenen, so in hermeneutischer Richtung: „ Conjuro vos lupos per celum et terram et per sanctum Danielem, qui est leonibus datus et non peterunt ei nocere“ (Clm 7021,158a, veröffentl. Schönbach, Analecta Gr., S. 32, 14. Jh.) 6) Reflexionen über Schöpfungsgeschichte. Der Mensch anfänglich und zum Herrn über Tiere geschaffen, nach seinem Bilde; des Wolfes Klage als Hybris: „Gott im Himmel will ich’s klagen, der mich geschaffen hat so gut als einen Pfaff und Edelmann“ (Uhland, Schriften, 60,71); viele Sprüche seit dem 18. Jahrhundert gegen tollwütige Hunde nach dem Muster: „Hund, halt den Mund, beiß in die Erden! Gott hat mich erschaffen und dich lassen werden“ (Losch, 162).
Unter den verschiedenen Typen von Wolfsbeschwörungen und Hirtensegen beschränke ich mich auf einen markanten und beliebten Traditionspfad, einen Zweig der Hirtentexte, der sich betont aus österreichisch-bayrischen Schriftquellen abzeichnet, weil er ganz volkstümlich einfach durch einen gedächtnis-eingängigen Reim markiert wird und mit ihm einen dem Katholizismus besonders wichtigen
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Heiligen als Kraftquell heranzieht. Den geografischen Hauptwegen der Wanderhirten entspricht diese Verbreitung nicht. Es geht um Petrus, dessen Name schon manchem Herausforderung war und ist. Mindestens seit dem Leipziger Disput Martin Luthers gegen Johannes Eck, zweier Augustinerpatres im Jahre 1519, im Beisein des Kurfürsten, geriet das Petrusamt ins Visier. Nur allein die Schrift sollte nach Luther Maßstab des Lebens werden. Luther relativiert die 3 Evangelienstellen Matth. 16,18; Lk.22,26.32; Joh.21,15ff, die Petrus einsetzen. Bis heute legen in ökumenischen Gesprächen evangelische Christen den Akzent auf Paulus. Petri Einbeziehung und Tradierung auch in die Hirtenkultur war mit Sicherheit von den Klöstern, die die Hauptabnehmer etwa der Schafwolle und der Häute waren, mehr als erwünscht, ja wohl auch katechetisch initiiert oder gefördert. Hinzu kamen später die verschiedenen kulturell vorgetragenen Propagandamethoden der Gegenreformation mit ihren Liedern, Hirtenspielen, Theatervorstellungen und Predigten. Der Wolf hatte in der Reformationspolemik zur Verunglimpfung des Papstes gedient. Mit Mattheus 16,19 war die Gewalt des „Bindens und Lösens“ (in rabbinischer Sprache ist das „Verbannen und Begnadigen“, Zulassung und Versagung des Zutritts zur Gemeinschaft) auf Petrus übertragen worden. Seit Papst Gregor VII (1073–1085), dem großen Reformpapst der Cluniazenser, der den Kaiser in Canossa empfing, war der biblische Petrus noch enger mit dem Papsttum identifiziert worden. Es entwickelten sich über Jahrhunderte Petruskult und Petrusmystik.8 Die gesamte Symbolik von Schlüssel, Felsen und Schifflein steht eng mit dem Anspruch des Papsttums zusammen und hat sich aus der Primatstheologie der Kirchenväter (besonders Ambrosius) bis in die profane Symbolik hinein entwickelt. Mit der Beschreibung eines solchen nur durch ein einziges Reimpaar gekennzeichneten Spruchtyps und seiner Verbreitung ist eine scharfe Abtrennbarkeit gegen andere Zweige der Textgestaltung nicht postuliert. Die Schweizer Alpensegen etwa, manche als Bet-Rufe bezeichnet, sind den im folgenden besprochenen Segen eng verwandt. Zunächst war es einmal St. Martin, der dem Hirten im Spruch aufgibt, mit der Waffe des Schlüssels die Herden zu schützen: 9
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Fur die wolfe Der gute herr sant Martein der lag auff dem pette sein, er sprach: „Stand auff, hirte mein, nym des hymels slüssel, versperr dem wolfe seinen drussel vnd dem pern (Bären) seinen czandt (Zahn) und dem diebe seine hant […]“
Köhler, Joachim: Die mittelalterl. Legende als Medium christl. Verkündigung, in: Dinzelbacher, Peter und Dieter R. Bauer (Hg.): Heiligenverehrung in Gesch. und Gegenwart, Ostfildern 1990, S. 175–200, hier: S. 182f Wolfsthurn Biblioth. v. Sternbach, handschriftl. Hausmittelbuch des 15. Jh., veröffentl. Zingerle, S. 318
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Petri Schlüsselgewalt steht nun zwar früh schon in Reisesegen als geistiger Schutzschild gegen Feindeswaffen, wie in einer Beschwörung des 12. Jahrhunderts: 10
Ich bivelin dich. N. deme gitruime sente petre. Ich befehl dich dem treuen S. Petrus vnde indi seluin gnadin so ime der heligi krist. und in eben die Gnade, in die ihm sine schaf bival. Undi di sluzile des himilis. der hl. Christ seine Schafe empfahl. Und die Schlüssel des Himmels.
Aber für Herdenschutz finden sich die ersten Belege im 15. Jahrhundert. Petrus wird als Schlüsselwalter gegen Raubtiere eingesetzt. Die folgenden drei Texte bilden die ersten Quellen unseres Typs: 11
Cristus wolt ze lutt gan Er sprach zue sinem hirten Stand uff, Symeon, der sprach Jch entar vor den diebeswolfen So nim den himelschlüssel Und beschlüss den diebeswolfen iren trüssel Dem dieb sin hand Dem wolf sinen zan [...]
Christus wollte unter die Menschen gehen. Er sprach zu seinem Hirten Steh auf, Simon (Petrus), der sprach (:) Ich bin in Not vor den diebischen Wölfen. (Christus:) So nimm den Himmelschlüssel und schließ den Diebeswölfen ihren Trüssel dem Dieb seine Hand, dem Wolf seinen Zahn [...]
Abb. 71 Viehsegen mit Petri Schlüssel (St. Ulrich und Afra, Augsburg, 15. Jahrhundert) 10 Grimm, Wilhelm, in: Altdeutsche Blätter (1840), S. 1 (aus der Königl. Bibliothek Hannover); weiteres Beispiel eines Reisesegens im 14. Jahrhundert mit „sente petir“s „hemilslossil“ bei Holzmann, Verena: „Ich beswer dich“, Bern 2001, S. 284 11 Urbarnachtrag der Löwenburg (Berner Jura) im Staatsarchiv Basel BS, Adel M3,2,89, veröffentl. Meyer, Werner: Die Löwenburg, Basel und Stuttgart 1968 (Band 113 der Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft, Hg. von Bonjour, Edgar und Werner Kaegi), S. 201f
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Abb. 72 Petrus herrscht über alle Bestien (Müstair, 12. Jahrhundert)
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Heyliger herr sant Symeon (idest sckt petrus) mein vich sol (daz iar) zue holcz vnd zu veld gan zu wayd vnd zu wasser we imps der lemptig got hat beschaffen Nim den Hymel Schüssel vnd versleus allen wolfen vnd wuelfin iren druessell daz es gee als tier los vnd als dieb los vnd alls vebels los Als venser lieber Herr vntter dem Heyligen crauetz waz genosslos [..] 13
Heil. Herr St. Simeon (das ist S. Petrus), mein Vieh soll (dies Jahr) zu Wald und zu Feld gehn, zu Weide und Wasser, wie es der lebendige Gott hat geschaffen. Nimm den Himmelschlüssel und verschließ allen Wölfen und Wölfinnen ihren Drüssel, damit es gehe ebenso wild- und dieblos und ohne alle Schädigung, wie unser lb. Herr unterm hl. Kreuz ohne seinesgleichen war.
Ich treib heut aus in unser lieben frauen haus in Abrahams garten,
der lieber herr sant Martein, der sol heut meines (vihes) pflegen und warten, und der lieber herr sant Wolfgang, der lieb herr sant Peter, der hat den himelischen slussel, der versperrent dem wolf und der vohin irn drussel, daß si weder plut lassen noch bein schroten. 12 München BSB, Cgm 796, fol.1, 15.Jahrh., mittelbayrische Mundart, veröffentl. Schmeller, Joh. Andreas: Bayerisches Wörterbuch 2/2, S. 902 mit Signatur: Cod. S. Ulr. p.118 [Augsburg] 13 Graz Univers. Bibliothek Hs. 38/31 4°, letztes Blatt, 15.Jahrh. veröffentl. Jeitteles, in Germania, 20 (1875), S. 437; Hs. 980, Papier, Blatt 211 der Univ.Bibliothek Graz, 15. Jahrh. aus dem Zisterzienserstift Neuberg, vgl. Grabner, Elfriede, Martinisegen, Eisenstadt 1968, S. 50; vgl .Grimm, Dt. Mythologie II, 1037
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Spruchtexte
des helf mir der man, der chain ubel nie getan und die heiligen V wunden behüten mein vieh vor allen holzhunden. Aus dem 16. Jahrhundert findet sich ein solcher Petrus-Schlüssel-Einschub erstmals in einem Text in Franken. Er wird anläßlich einer Kirchenvisitation erhoben. Wir erfahren nun Genaueres über Funktion, zeitgemäße Beurteilung durch Obrigkeit und Klerus zu den Sprüchen und letztlich zum Stande der Hirten: 14
Da treib ich mein viehe aus. Treibs vor der lieben frauen hauß. Treibs in unser lieben frauen garten. Unser liebe fraue und ir trauts kindt söllen mirs helfen huten und warten: Ein gantz jar und ein tag, wie gott der herr uf seinem grab. Treib ichs perg und dieffe thal; weit und breit und überal […] Nemb ich den wolf und die wölfin und all ir gesindt nemb Sant Peters schlüßel, versperr dem wolf und wölfin iren trüßel daß er mir keins peiß und keins zerreiß und keins übergien, sei gleich drauß oder hinn und keins uberstehe, also lang unser liebe frau ein ander sohn gepfleg. Also soll diß viehe gesegnet sein als der kelch als der wein, als das heilig abendtbrot, das gott der herr sein 12 jüngern both […]
Es ist ein Austriebssegen anläßlich des ersten Jahres-Weideganges des erfahrenen Kuhhirten Hanns Klügel, den man mit seiner Ehefrau vor Visitatoren zitiert. Denn man weiß um magische Riten und Sprüche der Hirten und verdächtigt sie zauberischer Gepflogenheiten. Hirten und Schäfer vertraten ein geheimnisumwittertes Gewerbe und wurden oft gegensätzlich betrachtet, schwankend zwischen Visionären und Betrügern. Es sind Visionäre am Quellpunkt von Frankenthal 1454/46 und Maria Taferl 1633, Schelme dagegen in Sagen über Hostienfrevel und Zauberbuchnutzung. Und es sind verschlafene Faulpelze mit Weckrufbedarf. Hier wie für die holden und unholden Geisterfahrer im Münchner Nachtsegen (s.d.) hatte Bischof Burchard von Worms bereits im 11. Jahrhudert zu fahnden empfohlen, ob jemand von Zauberliedern der Sau- und Kuhhirten wisse, und wie sich bestimmte Leute vor Verlust ihrer Herden und Hunde schützten. Andererseits erwarteten die Bauern vom Hirten, als er später nicht mehr dem Kloster unterstand, diese segnenden Worte über ihre Tiere. Für die Hirten wurde das Segnen „ein einträgliches Geschäft.“15 Da der Spruch des Klügel keine anstößigen Worte, Formeln oder Beschwörungen enthielt und sich in christlicher Gesinnung um den Segen Gottes bemühte, erfolgte seitens der Kirchenvisitation nur eine Verwarnung, das Segnen fortan zu 14 Nürnberg Staatsarchiv, Rst. Kirchen und Ortschaften auf dem Lande Nr. 454, fol.97‘, Gründlach / Landkreis Fürth, 1561, veröffentl. Schöller, Rainer G.: Der Gemeine Hirte, Nürnberg 1973, S. 277 15 Schoeller, ebenda, S. 278
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unterlassen. Ob die Petrus-Formel zu Zeiten der Reformation in diesem Fall für das Verbot den Ausschlag gab, wissen wir nicht. Seit dem 17. Jahrhundert häufen sich die Belege für diesen Petrus-Schlüssel / Wolfes-Rüssel-Reim. Und die archivalischen Provenienzen der Aufzeichnungen lassen auch hier erkennen, welchen Zweck die Sprüche erfüllen sollten und wer sich wie für sie interessierte. 16
In gottes namen tritte ich herein, gott behüete euere rinder und schwein, gott behüet euch eure haus und euer hof, gott behüet euch eure treu und ehr, gott behüet euch euer leib und sel, also solt ir gesegnet sein, wie der h. opferwein, gleichwie das wahre himmelbrot, das gott seinen 12 jüngern geben hat. Wol an dem h. antlastag treiben wir hinaus durch alle engelhaws, durch alle engelthal, das mein gott behüet wol überall. Da kommet der heil sct. Petrus wol mit dem himmelschlüssel, er versperret allen wilden thieren den rüssel, dem wolf als der wölfin, dem bern als der berin, dem zauberer als der zauberin, ir hendt, ir füeß, ir mundt, ir schlundt, das sie euch dieses jar kein vieche nit bezaubern oder machen wundt, daß kein heutel reißt, daß kein peintel peißt, kein blut laß und kein armen man aus euch nit mach, das helfe gott […]
Dieser Segen wurde von umherziehenden Hirten (nach Byloff: Landstreicher) im Rahmen polizeilicher Ermittlung notiert. Sie stammten aus dem Burgenland. Der Segen wird auch über Haus und Hof gesprochen und wie der vorige aus Franken schließt er das Abendmahl, den Gründonnerstag, die Eucharistie als segenspendende Kraft mit ein. Trotzdem konnten nun derartige Segen, wenn sie als „Wolfsbannerei“ inkriminiert wurden, eine gefährliche Brisanz für ihre Sprecher oder Inhaber erhalten. In einem Prozess des Landgerichts Wolkenstein im Ennsthal wird Christian Gruber aus Lassing 1651 zum Tode verurteilt und hingerichtet. Ihm hatte man unter Folter zugesetzt, bis er gestand, auch drei Wölfe zu Diensten gehabt zu haben. Sicherlich gibt die Aufzeichnung seines Wolfsbannes nur einen Bruchteil wieder: 17
St. Peter mit dem heyligen Himmelschliessel versperr dem Holzhundt (Wolf ) und dem wilden Braitschedl (Bär), Zant (Zähne) und Trampen (Füße) und dem Lux Zant und Schlund.
Noch deutlicher als Wolfsbann mit magischem Dienerbeistand, also nicht als Segen über Vieh oder Hirtenhund, sondern eher als ein Gegenbann, konnte 1635 der Spruch des Blasius Pürhinger von Bayrisch Waydhofen vor dem Forstmeister im
16 Graz Steirisches Volkskundemuseum Handschrift Inventar-Nr. 9217 (Leihgabe aus dem Steiermärk. Landesarchiv Graz), veröffentl. Grabner, E.: Martinisegen und Martinigerte in Österreich, Eisenstadt 1968, S. 7; bei Byloff, Fritz: Volkskundliches aus Strafprozessakten der österreichischen Alpenländer, S. 22, St. L.A. Polizeiakten 1615, Beilagen von Landprofosenberichten 17 Wichner, P.J., in: Mitteilungen d. hist. Vereins f. Steiermark 42 (1894), 211
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Spruchtexte
Ennstal „entlarvt“ werden. Den Hintergrund bilden die alten Werwolfvorstellungen, wie sie der schon erwähnte Burchard von Worms zu erfragen befohlen hatte, nämlich daß ein Mensch, bei der Geburt dazu vorbestimmt, sich in einen Wolf verwandeln könne.18 Ein Deckname wie „Goridi“ erschien dafür sehr verdächtig und konnte leicht mißdeutet werden: 19
Goridi, ich habe dich ausgeschikht in den wildten waldt, das du kain pain nit peissen thuest, so kombt der h. St. Peter mit seinen schlüssel
und verpandt dier deinen trüßl bis an die kugl, daß er loß werdt. Freilich gab es nicht nur im österreichischen Ennstal, sondern vielerorts, auch im Nürnberger Raum, nicht von allen Seiten Verständnis für „Wolfsbanner“. Obwohl der Hirt Hanns Bressel von Leinburg in der Frankenalb eine fromme Formel sprach, unter Einbeziehung der 14 Nothelfer, wurde er des Landes verwiesen. Sein Spruch weist keinen Petrus-Schlüssel, jedoch einen weiteren verbreiteten und diesem Typ häufig integrierten Reim aus, der manche an den Psalm 22,17, andere an frühe christliche Märtyrer erinnerte, an ihr Zerrissen- und Zerbissenwerden durch wilde Tiere: 20
Du Wulffin vnd du Pock, Jch verpeut dir deinen geith (Gier), mit den 14 notthelffern vnd dem lieben Herrn Sanct Veith, das er mir kein Kuh noch kein Kalb nit peiß, noch Jr haut zereiß vnd Ir plut nit lauff, als lang Vnser liebe frau royne maid ist […]
Schon in einem Teil der alten Sprüche, soweit sie ihren genauen Einsatzzweck und ihre soziale Zuordnung nach den Akten der Archive offenbaren, zeichnet sich eine Tendenz zur Entwicklung brauchtumsmäßiger Anwendung ab. Das heißt: Finden über die volkstümliche Segnung von Hirtenhund und Vieh hinaus strikte Terminfixierung, weitergehende Haus- und Hofeinbeziehung mit rituellem Gepräge und mit Belohnung der Hirten statt, dann ist aus der ehemaligen Besegnung ein Brauch geworden. Die Übergänge sind fließend, lassen sich nicht immer genau reproduzieren und hingen auch von der Gewichtung der Zeremonien und des Spruchtextes ab. Und das Brauchtum trägt weiderechtliche und hirtentümliche Züge wie etwa in der „brauchmäßig verbrämten Lohneinforderung“ und in den „Arbeitsabschlußfeiern“.21
18 vgl. Lorey, E.M.: Heinrich der Werwolf. Frankfurt 1997, S. 199: Vom Wolfssegner zum Werwolf 19 Markt Aussee St. L.A. Sond.-Arch., 1635, veröffentl. Byloff, wie oben, S. 23 20 Nürnberg Staatsarchiv Rst. Nürnberg, Diff.-Akten, Nr.33c,fol.51r, von 1480, veröffentl. Schöller, Rainer G.: Die Institution des Gemeindehirtenwesens, in: Hutanger in der Hersbrucker Alb. Hersbruck 1992, S. 12 21 Schöller, Der Gemeine Hirte, wie oben, S. 296
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Schon in einem den Wolf beschwörenden Hundesegen des 15. Jahrhunderts wird in der Würzburger Gegend die Fastnacht als Termin genannt, wenn der Segen für ein Jahr gelten soll.22 Aus der Mitte des 17. Jahrhunderts, für 1649, notiert ein Gerichtsbuch von Asparn an der Zaya den Spruchvortrag für Martini, Fasching und Ostern; der Viehhüter kann zu diesen Terminen „absammeln“.23 Und so marschiert der Halter Michael Schrembser im niederösterreichischen Patzmannsdorf im Weinviertel gegen Ende des 17. Jahrhunderts von Haus zu Haus und bettelt um Gaben. Dies unter völliger Mißachtung des Verbots durch den Pfarrer und das Consistorium, die ihm den „teuflischen Segen der Martinigarten“ strikt verbieten, während die Gemeinde ihren Martinisegen nicht entbehren will und den Pfarrer mit Schlägen bedroht.24 Sein Spruch tendiert zum Brauchtum, nicht mehr zum reinen Segnen. Aus der Fülle österreichischer Texte hat Elfriede Grabner den als „Märtensegen“ benannten Typ mit der Martinsgerte herausstellen können, wie er sich weit verbreitet noch im 20. Jahrhundert finden ließ. Der Martinstag, 11. November, war von Bayern bis zum Burgenland das Ende der Weideaufsicht. Der Halter, Hüter oder Hirte kam an diesem Tage in die Häuser, um seinen Lohn zu holen, woraus sich Rechtsbräuche entwickelt haben. Und dazu gehörten die Gerte und gehörte ein Großteil unserer zunehmend fixierten Texte. Wie im frühen o. g. Burgenländer Spruch der Wanderhirten beginnen diese Brauch-Segen mit Gruß und Glückwunsch unter Einschluß allen Haus- und Hofpersonals und Inventars in einen Segenswunsch, bieten dann den permanent ähnlichen Kern des Petrus-Schlüsselreims und einige andere stereotype Formeln für den Einzeltier- oder Herdenschutz. Den Abschluß bilden stets heischende Bitten um Gaben und Opfer für den Hirten. Und die Bitten können zur, man weiß nicht wie strengen Drohung werden: „Nudel aus, Küchl aus! Oder ich schlag ein Loch ins Haus!“, heißt es in einem niederbayerischen Spruch. Die Verbreitung dieser unserer Petrus-Bindegewalttexte vom Burgenland und der Steiermark über Bayern bis nach Franken und sporadisch nach Sachsen, zeichnet sich nicht nur in Hirten- und Viehsprüchen sondern auch als Einsprengsel in ganz andere Gebrauchstexte wie Ausfahrt- oder Wurmsprüche ab. So etwa im Kunst- und Zauberbuch des Johannes Zahn von Dürnberg im Fichtelgebirge, vor 1691 enstanden, wo in einer Zeit nach dem 30-jährigen Krieg die Vorstellung vom Wolf als Räuber auf die marodierenden Soldaten übertragen wird: 25
Einen Segen vor die oberigkeitt Zu Morgens wen du deine hendt gewaßen hast
22 23 24 25
München BSB, Cgm 823,9, fol. 116v Grabner, wie oben, S. 35 Grabner, ebenda Ernst, Wolfgang: Das Kunstbuch des Johannes Zahn von Dürnberg. Ein handschriftliches Zauberbuch vom Ende des 17. Jahrhunderts. Teil I, in: Archiv für Geschichte von Oberfranken 76 (1996), S.171f
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Spruchtexte
striedt (tritt) mit dem Recht Fuß auffs dier S..h.lel (Türschwelle) und mit der Rechten hand daran gehaldten und den spruch gedahn: Zu Morgens wen Jch auß gehe da steht der Herr Christus da und wardt meiner und :S: Peters mit seinen himmelschlißell, der spert allen peßen Rachen ihren Rießel, er spert allen meinen feinden ihre Hende und Mund das ich kan sicher gehen durch die Ober keit durch das gantze land
Ebenso in der volksmedizinischen Formel der Mitte des 19. Jahrhunderts aus Pleystein in der Oberpfalz: 26
St. Petrus mit deinem Schlüssel vertilg allen Würmern seinen Rüssel
Weitere Hirtentexte in einem anderen Hausbuch des 18. Jahrhunderts, ebenfalls aus dem Fichtelgebirge, ergänzen den Eindruck der genannten Verbreitung. Hier hat die Familie Johannes Anger, die als Laienheilkünstler, Kräutersammler, Segensprecher und Buckelapotheker über Generationen tätig war, auf ihren Reisen und durch vielseitige Kontakte in ihrem Milieu auch Sprüche gesammelt und notiert. Wir erfahren leider nicht, woher genau sie stammen und wer sie wie angewendet hat, aber ihre Formeln entsprechen dem Grundtyp der Austriebsegen, hier ein Beispiel: 27
Ein Wolfs=Segen alle Montag zu sprechen: Jn Gottes Namen tret ich herein, Gott behüte meine Rinder, Schaafe, Ziegen und Schwein und alles was ich in meinen Stall. Mein Vieh soll mir gesegnet seyn, also wie der Kelch und der Opfer Wein, also geschah am grünen Donnerstag Knecht Cilian du sollst aufstehen; und sollst mit meinen Vieh auf der Waithe gehen, auf der Waid und in den Wald, darin das Vieh ist jung und alt, heiliger St Peter mit seinen himlischen Schlüßel, du versperst allen wilden Waldhunden ihre Rüssel, daß er meinen Vieh keine Hauth zerreißt, daß er ihnen kein Blut kan laßen, daß sey ihn verbothen bey den Namen Gottes des Vaters x S x heil. Geistes x Amen X X X
Es ist selbstverständlich, daß in all diese Hirten-Texte, nicht nur die hier herausgenommenen mit der Petrus-Schlüssel-Formel, immer wieder auch noch Heilige in verschiedenen Funktionen zugefügt werden, allgemein neben Kilian als Knecht auch Wendelin, Wolfgang, Leonhard, Antonius, dann Veit mit den 14 Nothelfern in Franken und Theodul, Gallus und Magnus und oft kleine Heiligen-Litaneien in den Schweizer Alpen-Bet-Rufen. Mit Entfernung vom österreichisch-bayrischen 26 Schönwerth, F.X von: Aus der Oberpfalz, Sitten und Sagen, Augsburg 1869 Bd. III, S. 251 27 Marktleuthen Stadtarchiv, Band 30, handschriftl. Hausbuch Joh. Anger von Röslau 1787, veröffentl. Ernst, Wolfgang: Zauber, Riten und Rezepte. Geheimärzte und Waldmänner im Fichtelgeb., Weißenstadt 2007, S. 14
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Gebiet häufen sich schriftliche Verballhornungen der Namen. Es mutieren Sankt Wendelin zum „fank-Wendel“ in der Gegend von Halle/ S.,28 Petrus zu „Oberdus“ in Siebenbürgen.29 Und gegen alle Nacherklärung ist wohl auch an Petri Stelle ein fast zum Gottseibeiuns gewendeter „Liberuns“ (Nr.10) und „Leiberuns“ (Nr.12) geworden, der den Schlüssel vom hohen Himmel leihen muß; so ist es im Rostokker Niedergerichtsbuch von 1584 zu lesen, wo unter der Folter auch S. Walburga zu „S. Wolbrecht“-Nacht am Blocksberg (Nr.27) wird und die „Bekennende“ zu Tode gerichtet wird.30 Zwar operieren auch westdeutsche Spruchtexte gelegentlich mit einem Schlüssel, z, B. einem Schlüssel Gottes,31 aber der Petruseinsatz ist dem Osten vorbehalten. Daß einmal Peter und Paul in Aufgabenteilung eingesetzt sind, ist aus Mainburg in Unterfranken für das 19. Jahrhundert berichtet. Hier gab es einen Martinisegen mit Hornblasen, auch dies aus hirtenrechtlichen Bedingungen, nämlich als Schadensfallmeldung entstanden. Und es ging um ganz spezielle Wünsche, um Küchel, Kirchweihnudeln und Fleisch: 32
Noch vor wenigen Jahrzehnten ging der Dorfhirt Andre Huber am St. Martinitag von nachmittags 5 Uhr an von Haus zu Haus, wobei er sprach: Hui aus-haar aus heut is mei Jahr aus Morgn treib i nomal aus zu den kloan Türl naus. Steht der Peter und Pauli drauß, der Peter mitm Schlüssl und der Paul mitm Drischl[…]
Viehsegen und Wolfsbann / Bedeutung für die soziokulturelle Identität der Hüter und Hirten Anders als in den Pferdesegen war mit den Segnungen der Hirtenhunde nach den uns vorliegenden literarischen Quellen keine Zuchtabsicht verbunden. Es überwiegt in diesem Bereich zunächst das Anliegen, den Segen Gottes auf die Tiere zu erbitten. Bald wird diese Segnung zum Brauchtum der Hirten, wobei wahrscheinlich die katholische Glaubensschulung regional Einfluß hatte; die Hüter und Hirten standen den Klöstern ursprünglich nahe. Das Brauchtum hatte eine kulturund gemeinschaftsfördernde Funktion. Es half dieser meist abseits lebenden Be28 Zahn, Adolf, in: Zeitschr. für Mythologie und Sittenkunde 2 (1855), S. 117 29 Kriss, Rudolf: Die schwäbische Türkei, Düsseldorf 1937, S. 61 30 Rostock Urtheilsbuch des Niedergerichts 1539–1586, fol. 315, veröffentlicht Bartsch, Karl: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Mecklenburg, Wien 1879 II,22f (Neudruck 1978); HDA IX,Sp.801,802 31 vgl. Bach, A.: Westerwälder Werwölfe und Wolfsegen, in: Zeitschr. des Vereins für rhein. und westf. Volkskunde 20/21 (1923/24) S. 31 32 Deutsche Gaue 13 (1912), 181; ähnlich schon Panzer, Friedrich: Bayerische Sagen und Bräuche, München 1848, II, Neudruck Göttingen 1956, S. 40, aus Gögging, Ndb.
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rufsgruppe zu Selbstvertrauen und Potenzgefühl mittels einer Fiktion. Nicht zu übersehen ist dabei ihre praktisch tierärztliche und die oft allgemein heilkundliche Tätigkeit, mit der sie oft Anerkennung als Geheimärzte und Wunderheiler fanden. Das Hirtenamt wurde sehr oft in Sippen weitergetragen, sodaß eine von Kindheit an durch Spiegelneurone* und durch erziehungs- und milieubedingte Synapsenschaltung vermittelte Fixierung dieser Identitätsmerkmale plausibel erscheint.
27. Unfall- und Gefahrenvorsorge: Die Kaiser-Karl-Briefe mit dem Kreuzsegen und die Himmelsbriefe – Von der Verehrung des Kreuzes zur Trivialnutzung eines Gebetes – – Rätselhafte Ursprungsvermutungen um den Schutzbrief – – Wandlungen am Segenstext: Insertion von Eigennamen, Einfluß des Colomanussegens mit der Vision von Himmelsherkunft – Unter den unspezifischen Schutzsegen bilden die Kaiser-Karl-Briefe in den ersten Jahren ihres Erscheinens einen abgrenzbaren Spruchtyp, der als Amulettbrief und Gebet gegen mancherlei Unbillen Verwendung fand. Typisch ist die Einleitung: „König Karl“ habe einen Brief erhalten. Der Brief soll seinem Träger, aber auch dem Leser und Hörer seiner Zeilen, als Vorbeugung gegen Feuer und Schwert, gegen Feindschaft und Unwetter dienen. Einer Schwangeren soll er gute Entbindung gewähren. Und überhaupt sei er für alle Nöte nützlich. Der vielleicht älteste teilweise deutschsprachige Brief dieser Segensgruppe entstammt einem verbrannten Fragment des endenden 13. Jahrhunderts der Münchner Universitätsbibliothek, dessen Entstehungsort wir nicht kennen. Seine lateinischen Anteile entspringen einem viel älteren Kreuzsegen: 1
1
Das ist der brieff von babilon den der Engl kunig karrl sand vnd ist also bebärt wer de | den mag den tag kain Eyssen nit verschneiden noch mag in kainem wasser ertrincken noch in pey jm hat der müeß den leitten wol gefallen […] + Crux kristi sit mecum + Crux kristi est semper quem adoro + Crux kr | gloriam dominy + Crux christi soluit vincula mortis + Crux christi est venerabilis arma + Crux christi sit michi protectio + Crux christi custodiat me Vlricum […]
Dies ist der Brief von Babylon, den der Engel an König Karl gesandt hat. Er ist bewährt; und wer den … den kann am Tag kein Eisen verletzen, noch kann er in einem Wasser ertrinken. Und wer ihn bei sich trägt, der muß den Leuten gut gefallen. … Das Kreuz Christi sei mit mir. Das Kreuz Christi will ich stets anbeten. Das Kreuz Christi … zur Ehre des Herrn. Das Kreuz Christi löst die Fesseln des Todes. Das Kreuz Christi ist heilige Waffe. Das Kreuz Christi sei mir Schutz. Das Kreuz Christi bewahre mich, Ulrich …
München Universitätsbibliothek, Fragment 135, Pergamentstreifen 84x205 mm, Ende 13. Jahrhundert, veröffentl. Lehmann, Paul und Otto Glauning, Mittelalterliche Handschriftenbruchstücke der Univ.-Bibl. und des Georgianum München, Zentralblatt für Bibliothekswesen, Beiheft 72, Leipzig 1940, S. 137f
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Dieser eingepaßte Kreuzsegen ist seit dem 8. Jahrhundert als Distichon, d. h. als Doppelvers bekannt.2 Ein Vorfahre findet sich im Codex Salmasianus der Pariser Nationalbibliothek: Crux Domini mecum, crux est quam semper adoro, Crux mihi refugium, crux mihi certa salus.
Während der genaue Quellpunkt der den Segen potenzierenden Verpackung – als Brief eines Engels oder als Brief höchster geistlicher an höchste weltliche Autorität – unbekannt ist, sind wir über seinen Kern, das kreuzverehrende Gebet besser informiert. Im Gebet des Pariser Codex Salmasianus des 8. Jahrhunderts, dem es nachgebildet ist, wird als Verfasser auf den Epigrammendichter und Grammatiker Calbulus gewiesen, der im 5./6. Jahrhundert in Afrika wirkte. Seine Verszeilen sind bald in figurale Formen gebracht worden und haben eine weitreichende literarische Wirkung gehabt.
Abb. 73 Figurierte Gedichte zur Kreuzanbetung des Hrabanus Maurus*. Von links: Die Adoration des H.M., Christus in Kreuzform, neun Engelchöre als Crux salus (9. Jh.)
So hat der irische Abt Joseph, der dem Kreise Alkuins am Hofe Karls des Großen angehörte, ein Figurengedicht geschaffen mit dem Beginn: „Crux mihi certa salus“, „das Kreuz ist mein sicheres Heil“. Weitere Gebete und Gedichte hat der angelsächsische Theologe Alkuin (730–804), wichtigster Ratgeber und Gelehrter am Hofe von Karl dem Großen, gesammelt.3 Hrabanus Maurus*, der bei Alkuin studiert hat, widmet seine erste Schrift „De laudibus sanctae crucis“ eben diesem zentralen christlichen Thema.4 Eine Legende läßt im 13. Jahrhundert Thomas von Aquin das Kreuzgedicht an seine Zellenmauer in S. Giacomo zu Anagni in der 2
3 4
Bischoff, Bernhard: Ursprung und Geschichte eines Kreuzsegens, in: Mittelalterliche Studien, Stuttgart 1967, S. 275–284; Das Distichon ist eine Strophe aus 2 Versen, einer Hexameter- und einer Pentameterzeile. Bischoff, Bernhard, wie oben , S. 281 Embach, Michael: Die Kreuzesschrift des Hrabanus Maurus, Trier 2007, S. 19
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italienischen Region Latium schreiben, nachdem er einmal fast vom Blitz getroffen worden war. Dortige Zettel mit „Thomaskreuz“ blieben als suggestive Mittel gegen Gewitterschaden lange in Gebrauch. Doch schon lange zuvor, im 9. Jahrhundert, war es zur Einfügung von zweckdienlichen Schutzwünschen gegen Fieber und Seuchen in die ausgeweiteten Kreuzsegen gekommen.5 Insgesamt wurden von mir 11 Karlssegen (solche im engeren Sinne) erfaßt. Die deutschsprachig/ lateinischen Segen vom 14. bis zum 16. Jahrhundert in den Bibliotheken Wien,6 Innsbruck,7 BSB München aus dem Karmelitenkloster München (Tafel 10),8 Straßburg,9 St. Gallen,10 und die im folgenden noch genannten haben alle die Elemente der älteren Kreuzsegen und auch sonst ganz ähnliche, aber ausgeweitete Schutzwünsche aufgenommen. Allerdings weichen sie vom o. g. Fragment der Münchner Universitätsbibliothek insoweit ab, als sie den Absender nicht mehr als Engel, sondern zumeist als Papst Leo angeben, einmal auch als Papst Urban. Sie erbitten in erster Linie Schutz gegen Feuer und Waffen oder nennen direkt Ertrinken und Verbrennen, der Straßburger und der Züricher11 fügen Räuber und Mörder an. Manche der Segen gewähren einen Ablaß, der Breslauer12 hundert Tage, der Münchner des Karmelitenklosters nur vierzig. Vielfach soll „kein Herzeleid“ widerfahren, Frauen die Geburt erleichtert werden und meist wird, so auch im folgenden gekürzt wiedergegebenen Segen aus dem Kloster Weihenstephan,13 das dreidimensionale Kompassmotiv eingesetzt, wie im Weingartener Reise-Segen. Die Reste des alten Kreuzsegens und das Kompassmotiv in Fettdruck: […] daz ist der brif den past Leo sand dem edell Kunig Karlen + vnd ist auch oft geweit [?gewert?] Swer den brif dret pem ym vnd in alltag. List oder hort lesen oder in an sicht dem selben mag nich ge-
Dies ist der Brief, den Papst Leo an den edlen König Karl sandte; er ist oft geweiht [bewährt?] Wer den Brief bei sich trägt und ihn täglich liest oder lesen hört oder ansieht, dem kann weder Feuer
5 Bischoff, B. wie oben 6 Wien ÖNB Cod. 2817, fol.26r, 14. Jh. 7 Innsbruck Univers.- und Landesbibliothek Tirol, Pergamentzettel Frgmt. 36, 14./15. Jh., veröffentl. Schönbach, Zeitschr f. dt. Altertum 33 (1899), S. 393f 8 München Cod. Germ. 850, Bl.62r-65r, Münchner Karmelitenkloster, nordbayerisch/ fränkisch, 15. Jh. 9 Straßburg National- und Universitätsbibliothek L.germ.659, fol. 19, 15. Jahrh. 10 St. Gallen Stiftsbiblioth. Cod. 522, 15. Jahrh. 11 Zürich Zentralbiblioth., Ms. C 101,fol.106r, veröffentl. Werner, J., in Alemannia 16 (1888), S. 233f 12 Breslau Univers.-Biblioth. I.D.8,fol. 157r, 15. Jahrhundert, veröffentl. Klapper, J., Mittlg. Schles. Gesellsch. f. Volksk. 9 (1907), S. 37f 13 München Bayerische Staatsbibliothek, Clm 11601, fol.183v, die überwiegend im 14. Jahrhundert entstandene Handschrift kam erst im 18. Jahrhundert nach Kloster Polling (Herrn Dr. Friedrich Helmer, München, danke ich für die Mitteilung. Damit ist ein direkter Zusammenhang mit der alten Pollinger Kreuzverehrung ausgeschlossen.)
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shaden er weder fewr noch wazzer noch Wasser noch Eisen [Waffen] noch eysen vnd mag auch nimer schaden und er kann auch nicht ermer werden vnd muzz von tag ärmer [krank] werden und von Tag an Ze auf nehmen an leyb vnd an wird er zunehmen an Leibeskraft und guet vnd hat in ain fraw pey ir Gut. – Und hat ihn eine Frau bei alz sy zu dem Kind get sich, wenn sie zur Entbindung kommt, der kann auch nimer misslingen ihr kann [es] auch niemals mißlingen. vnd swer in auch pey ym hat an Und wer ihn in seinen letzten Tagen sein leczten zeyten der sel kann bei sich trägt, dessen Seele kann auch nimer verlorn werden vnd auch niemals verloren gehen und auch von gottz amplich nimer vor Gottes Antlitz [Gericht] niemals verstozzen werden verstoßen werden. + daz Crewcz Jhesu Christi sey mit mir Johannes das creucz + Christi pet ich an. daz creucz + Christi ein wores hayl + daz creucz Christi vber wintet alle das Kreuz Christi überwindet alle woffen + daz kreucz Christi erloset Waffen, das Kreuz Christi erlöst mich Johannes auz aller not + daz mich Johannes aus aller Not, froleych zaychen Christi sey mit das heilige Zeichen Christi sei mir Johannes. auf wegen vnd auf mit mir Johannes, auf Weg und stegen mit dem zcajchen Christi Steg, mit dem Zeichen Christi vber wint ich Johannes alle […] überwinde ich Johannes alle + daz gotleych creucz + Jhem Christi selig mich vnd vor mein und ob mein und neben mein und vnder mein […]
Als Anzeichen erster individueller Entfaltung mit beginnender Renaissancezeit kommt der Mut auf, mitten in die Segen Eigennamen zu installieren. Nicht für die Klostergemeinschaft, nicht für eine Gemeinde oder eine anonyme Person wird der Segen angelegt, sondern die Aufschreiber denken an sich oder an einen Auftraggeber und dessen Heil. Das hatte im 13. Jahrhundert bei Handschriften begonnen, nachdem auch Schreiber außerhalb der klösterlichen Scriptorien beschäftigt wurden.14 Es entstehen allmählich außerkirchliche Gebete und Segen, die zum Teil in leere Räume der Schriften eingetragen sind. So nennt sich wie im Segen aus Weihenstephan auch im Münchner mehrfach ein „Johannes“ als Beter. In Breslau ist es eine Anna, die die Briefzeilen um sich selbst bereichert, im Züricher Segen ein Gallus, im Fragment 135 der Münchner Universitätsbibliothek (s.o.) ist es ein Ulrich. Abweichend scheint für die frühen Karlsbriefe eigentlich nur ein kleiner Teil der Texte, der den Papstbrief als vom Himmel herab kommend einleitet. Es fand sich dies nur in zwei Exemplaren: Im Pergament der Familie Stockalper in Brig aus dem beginnenden 16. Jahrhundert:15 „Das ist der brieff den bapst leo kunig karolo 14 Signaturen der Tafelmaler kommen erst nach dem 14. Jahrhundert auf; das hing auch mit Urheberschaft und Qualitätsanspruch zur Zeit beginnender Druckgrafik zusammen. Vgl. Burg, Tobias: Die Signatur. Kunstgeschichte Bd. 80, Berlin 2007, S. 71,73,517 15 Pergamentblatt mit Karl-Segen aus Brig, veröff. Imesch, D., Schweizer. Archiv für Volksk. (1900), S. 341
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von himel sant …“ und ebenso im Karlsruher Exemplar aus St. Georgen im Schwarzwald,16 das zudem den Papst und den König Karl zu Brüdern werden läßt. Nach Kenntnis der historischen Zusammenhänge bedurfte es eigentlich keiner Himmelslegende; diese Version ist nur als Einfluß eines anderen Schutztextes, des sog. Colomanusbriefs erklärbar (s.u.). Die Briefe waren nicht unumstritten. So berichtet der Augustinerpropst Johannes Busch einen Vorgang aus Halle im Jahre 1451.17 Der Beichtvater entdeckt einen Beutel am Halse einer Soldatenangehörigen. Auf seine Bitten erhält er Einsicht und findet darin das Pergamentblatt mit all den Verheißungen des Papstes Leo und vielen Kreuzen und Buchstaben. Der Beichtvater äußert seine Verwunderung, daß der Teufel ihr noch nicht den Hals gebrochen hat, denn das sei gegen Gott und den katholischen Glauben. Und so läßt die Arme aus lauter Angst nun den für ihren Soldaten nützlich gehaltenen Brief vom Priester verbrennen. Auch Martin Luther hat einen Karlssegen gekannt und ihn in seiner Dekalogpredigt als anachronistisch eingeschätzt: „Es han etlich brieff, darin vil heiliger wort und zeichen stan, sprechen, das der bapst Leo sy geschickt hab kaiser Carolo in den Krieg, das doch nit allein ein üppikeit sondern auch ein lügen ist. So die Cronicken anzeigen, das die zwee nit zu einer zit synd gewesen“.18 Tatsächlich haben Papst Leo III, der Heilige, und Karl der Große zur gleichen Zeit gelebt, Karl wurde im Jahre 800 von Leo gekrönt; Leo war sogar vor römischen Feinden nach einer Verwundung zu Karl geflohen, sodaß die Idee eines Schutzbriefes nahe liegt. Aber ein diesbezüglicher Original-Brief wurde bisher nicht gefunden. Vielleicht ist zu Karl dem Großen manchmal Papst Leo der Große (440– 461) assoziiert worden oder – wohl öfter – hatte man sich am Colomanusbrief orientiert. Dieser sei von Gott dem Coloman für seinen Vater, den König von Yberien gesandt und nach dem Test an einem Verbrecher für wirksam befunden worden. Nach seiner Vervielfältigung kam er dann über Papst Leo an Kaiser Karl. Und da mit Coloman ein Zeitgenosse Heinrichs des II. (1002–1024) gemeint war, lag der Anachronismus zutage.19 Berühmte Namen sind wie Sternbilder projektiver Gestaltung. Sie schenken Identifizierung und Orientierung und in der Werberhetorik Verführung und Vereinnahmung. Besonders in der Heilkunst wächst therapeutische Kraft, wenn die Namen klingen. Es gab als Rezepturen ein Electuarium Karoli und ein Karls-Wasser, ein Karls-Balsam und ein Karls-Magenpulver. Ein Kräuterrezept, die KaiserKarls-Latwerge, diente fast 1000 Jahre lang als Mittel gegen Heiserkeit.20 Ebenso 16 Karlsruhe Badische Landesbibliothek, Handschrift St. Georgen 95, fol.363r-371v 17 Dieterich, Albrecht: Kleine Schriften, Leipzig und Berlin 1911, S. 247 18 Liebe, G., in: Zeitschrift für hist. Waffenkunde 4 (1906–08), S. 240–245; Haustein, Jörg: Martin Luthers Stellung zum Zauber- und Hexenwesen. Stuttgart u. a. 1990, S. 40 19 Jacoby, Adolf, HDA II,97f 20 Telle, Joachim: Erfabelte Rezeptautoren, Med. Monatsschrift 23 (1969), 117–121; Broszinski, Hartmann, Med. Monatsschr. 29 (1975),S. 397; Keil, Gundolf, in: Gerabek et al.: Enzyklopädie der Med., S. 714
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konnte unser Kaiser-Karls-Gebetsbrief zum Therapeutikum gegen persönliche Katastrophenängste werden. Wir sehen am Beispiel der Karlsbriefentwicklung, daß die im 14. Jahrhundert von Italien ausgehende Renaissance seit dem 15. Jahrhundert auch Deutschland erreicht hat; auch weltliche historische Autoritäten werden zu wirksamen Werbeträgern. Auf anderen Feldern wirken Salomon und Hippokrates als Messlatten für Richter und Ärzte. Die Spitalaufsicht geht an weltliche Autoritäten über; das Corpus Hippocraticum aus der Antike wird 1525 erstmals zunächst lateinisch veröffentlicht. Und so übernehmen noch in den letzten Jahrhunderten Napoleone seinen, den karolingischen Talisman in Verbindung mit Kreuzsplitter, entnommen dem Aachener Domkapitel.21 Und so bedienen sich Exorzisten dieses Wunderinstrumentes: „Es muß auch der Exorzist ein Stäblein bey sich haben, welches man den Stab Caroli zu nennen pflegt …“.22 Dabei ist nicht zu vergessen, daß stets eine parallel laufende Tradierung und sich mit dem Karlssegen immer wieder berührende Vorstellung von einem Himmelsbrief aufkam. Manche Forscher vermuten sogar, daß die oben schon genannte Colomanusversion der Karlsbriefe, also ihre himmlische Herkunftvision älter und ursprünglicher sei.23 Das war eine wirklich faszinierende Vorstellung von einem uns Menschen per Brief ansprechenden Gotteswesen. Eine personale Gottesnähe konnte nicht wirksamer entworfen werden und war den Mystikern auch anderer Religionen nicht fremd. Heilige Buchstaben aus allererster Hand ! Hatte nicht schon Salomon, der biblische König in seinen Oden des Höchsten Gedanken wie einen Brief, geschrieben vom Finger Gottes empfunden? Hatte nicht gemäß einem der ersten großen Kirchengeschichtsschreiber, dem Eusebios von Cäsarea (um 260– um 340), Jesus Christus selbst einmal die Feder zur Hand genommen, um dem kranken König Abgar, jenseits des Euphrats zu antworten ? Mehr noch, waren nicht die zehn Gebote an Moses eine Art Handschrift Gottes? Wer trennte stets säuberlich zwischen Realität und Metapher? Zu Zeiten der Vermittlung von Schrift, der ersten Glossenhandschriften, die mit dem „Abrogans“ (= spätlateinisch-althochdeutsches Wörterbuch aus Freising, 765/770), der Verschriftlichung germanischer (schriftloser!) Vulgärsprache ins Lateinische begannen, zu Zeiten als Karl der Große mit seinen Kapitularien staatliche wie kirchliche Ordnung und Einheit gegen diffundierende geistige und geistliche Kräfte und Irrlehren im Reich und in den Klöstern und Kirchen anstrebte, hatte eine Bildungsoffensive großen Ausmaßes eingesetzt. Gerade zu jener Zeit war schon einmal ein solcher Himmelsbrief in Umlauf gekommen. Frage: Gab es Kräfte, die mit der göttlichen Herkunft von Schrift und Buchstabe katechetische Volkserziehung betreiben wollten? Jedoch: Der Brief diente sofort als Exempel für Verwerfliches. Zwar wird ein gewisser Aldebert, ein Bonifatiusgegner dafür verantwort21 Kronfeld, Ernst Moritz: Der Krieg im Aberglauben und Volksglauben. München 1915, S. 68f, 22 Horst, Georg Conrad: Zauberbibliothek Mainz 1821–1826, I,152. 23 vgl. Stübe, R., in: HDA IV, 24 sowie ausführlich: Der Himmelsbrief, Tübingen 1918
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lich gemacht, zwar wird der legendäre Brief, den Christus in Jerusalem fallen ließ und der nach Rom gelangte, zusammen mit seinem Verbreiter Aldebert vom Papst verbannt und von Karl im Kapitulare von 789 als Irrtum und Fälschung beschrieben, aber das hat auf Dauer nicht geholfen.24
Bis in die Neuzeit und in die Zauberbuchdrucke hinein wurden immer wieder Schutzbriefe verbreitet, die auf den Karlsbrief, den Colomansbrief und die alten Kreuzsegen zurückgreifen. Der folgende Text ist dem Eingang des „wahren Geistlichen Schild(es), so vor 300 Jahren von dem heil. Papst Leo X. bestätigt worden, wider alle gefährliche böse Menschen sowohl als aller Hexerei und Teufelswerk entgegengesetzt“ entnommen. Mein Exemplar datiert sich auf 1617, ist aber wahrscheinlich 1849 gedruckt: Ein schöner und wohlapprobirter Heiliger Segen zu Wasser und Land wider alle seine Feinde, so ihm begegnen auf allen seinen Wegen und Stegen. + I. H. S. Das ist die Abschrift die der Papst Leo dem Katolo [!] seinem Bruder gesendet, auch hat diesen Brief der würdige Abt Colomanus seinem Vater, dem Könige Yberten gesendet. Und wer diesen Brief bei sich trägt, und Gott zu Lob und Ehre täglich fünf Vater unser und ein Glauben, auch U.L. Frauen zu Ehren und Gedächtniß ihres Herzensleids 7 Ave Maria betet, dem mag selben Tag kein Herzeleid widerfahren, er wird selben Tag behütet vor Feuers- und Wassersnoth, er wird auch in keinem Streit umkommen, und erschlagen werden …“
Dem folgt eine Reihe weiterer Schutzgarantien, eine ausführliche Unterrichtung über die Briefvermittlung an Coloman: „Gott erhört sein Gebet, und sendet … einen Brief vom Himmel“ und über die wunderbaren Wirkungen. Nach dem Initium Johannes folgt der Kreuzsegen: „Christi Kreuz + sei bei mir N. N. Christi Kreuz + bete ich an zu aller Zeit. Christi Kreuz + überwindet mir alle Wasser und Feuer …“
24 Kronfeld, E.M. wie oben, S. 20; Jacoby, Adolf, Zu den Himmelsbriefen, Dorfkirche 2 (1909), S. 440; zu Karls Religionspolitik: Mordek, Hubert und Michael Glatthaar, Archiv für Kulturgeschichte 75 (1993), 33–64
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Seit dem 15. Jahrhundert registrieren wir eine Anschwellung der Schutztexte und eine fast grenzenlose Vermischung verschiedenster biblischer Motive wie im Morgen- und Reisesegen einer Handschrift des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg. Hier am Ort der Lanzen- und Speerverehrung durften die Wunden Christi mit Nagel- und Speerbezug den Eingang bilden. Daß es sich um einen Kaiser-Karls-Brief handelt, wird wie so oft erst ganz am Schluß mitgeteilt.25 Anton E. Schönbach notiert am Rande einer seiner Abschriften aus der Dresdner Bibliothek, daß es sich um ein „ungeheures mixtum compositum“ handelt: 26
Das ist der brieff den babst Leo dem Keyser Karolo magno gab unde hat dy der engel gottes Sanct Gregorio geleret. Alle die do in streiten ßeyndt ßollen ßie bey yn tragen – In der ere der heyligen Feronica …
Der Brief listet auf: Leo von Juda, die 72 Namen Jesu, Lucas-Evangelium, die Länge Christi 16 mal genommen, Johannes- Evangelium, Kreuzesanrufungen, Erzengel, Drei-Könige und in der Folge: Sanctus Columbanus der heylig bischoff hat diese caracteres gemacht dem Kunyngk aus Schotten der seyn frundt was do er must streytten … Und immer mehr phantastische Varianten mit legendären Fundberichten leiten die Briefe ein. So als Himmelsbrief: 27
Dieses Gebet ist gefunden auf dem Grabe unseres Herrn Jesu Christi im Jahre 783 und gesandt von dem Papst an Kaiser Karl, als er zum Streite zog, und gesandt zum heiligen Michael in Frankreich, wo es wunderschön mit goldenen Buchstaben gedruckt zu finden ist. – Wer dieses Gebet täglich liest oder lesen hört, oder bei sich trägt, soll nicht plötzlich sterben, nicht im Feuer verbrennen, nicht in die Hände der Feinde geraten, nicht in der Schlacht umkommen …
Zuletzt erscheinen vereinzelt Briefe, die den Kaiser selbst zum Finder machen,28 solche mit absurder Vermischung mit einem Grafenamulett: Ein Himmelsbrief, den Soldaten im Krieg 1866 trugen: „Dieses ist der Brief Caroli der seinen Bruder Philippum aus Flandern Tödten und ihm das Haupt apschlagen wollte um etliche Mißthat willen …“,29 und andere, die die Fundjahre auf 1505 oder gar auf 180530 und 190531 verlegten. 25 Nürnberg GNM Papierhandschr. 5832 des 15. Jahrh., veröffentl. unter Red. v. Aufsess, Anz.f Kd.Vorz. N.F. 1(1853), S. 136 und Beilage 1854 26 Dresden SLUB Hs 206, Schönbach Segensammlung Gießen, S. 760–760a 27 Strackerjan, Ludwig: Aberglauben und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg Bd.I², S. 62, vermutlich aus Vechta, 1849 28 bäuerl. Hs aus Mallersdorf/ Thür., veröff. Liebers, B.: Mitteldt. Bl. f.Volksk. 4 (1929), S. 54f 29 Jeep, in: Niedersachsen 8 (1902/03), S. 177 30 Olbrich, Karl: 10 Soldaten-Schutzbriefe, in: Mittlg. Schles. Gesellsch. f.Volksk. 10(1908),45– 70, hier S. 55 31 Denz, Hermann und Manfred Tschaikner: Alltagsmagie, Hexenglauben und Naturheilkunde im Bregenzerwald, Begleitbuch zur Ausstellung im Frauenmuseum Hittisau, Innsbruck 2004, S. 67ff
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Neuropsychosomatische Bedeutung der alten Karlsbriefe und Kreuzsegen Der alte Kreuzsegen hätte dem Gläubigen einen direkten Weg zur spirituellen Kontemplation weisen können. Bei konsequenter Anwendung als Gebetssegen führte die Versenkung zu einer Erhöhung der Aktivitäten im Präfrontalhirn, im Thalamus und z. T. im Cingulum* mit entsprechenden positiven Botenstoffwirkungen. Diese Effekte sind in den letzten Jahren durch bildgebende Verfahren bei christlichen und buddhistischen Ordensangehörigen experimentell nachgewiesen. Verbunden mit einer Konzentration auf das Selbst und einer Abwehr äußerer Einflüsse konnte zwar eine Entspannung erfolgen. Inwieweit der Nutzer des Briefes allerdings seelisch für praktische Unternehmungen gestärkt war, hing von weiteren Bedingungen ab. Dabei scheint der Einbau der dreidimensionalen Kompassformel in den alten Segen insofern von großer Bedeutung gewesen zu sein, als die mit der Versenkung verbundene Abnahme der Potentialreize auf das hintere Aufmerksamkeitssystem32 zu einer Orientierungsstörung geführt hätte. Spirituelle Erlebnisse als Verschmelzung mit der Umwelt oder als Unio mystica waren ja nicht immer erwünscht. Die Kompassformel könnte also je nach Motivation für den Gebrauch des Briefes kompensierend ein allzu intensives Versenken gemindert haben. Entwicklung der Himmelsbriefe als kulturelle Marker in Spiegelneuronen Die inhaltliche Entwicklung der Karlsbriefe und Kreuzsegen zeichnet ihren Weg nach aus der geschlossenen klösterlichen Gemeinschaft in die offene Gesellschaft. Nicht mehr spirituelle Konzentration, wie sie Hildegard von Bingen in ihren Texten gelehrt und therapeutisch angewendet hatte, wird erstrebt. Man könnte überspitzt sagen, daß dem christlichen Wahrheitskern des Kreuzes zunehmend ein werbendes profanes Kouvert verliehen wird, das man Brief nennt. Aus dem schambedingten tiefen Widerstand gegen solche Verirrungen erwuchs die Tendenz, die alte Mär von einer überirdischen Briefherkunft aufzugreifen und bedarfsweise zu aktualisieren. Die Konkretisierungen in Verortung auf Briefpoststellen, auf Personalisierung mit höchsten Autoritäten und auf Allerweltsheilschutz blieben schließlich dann in den letzten drei bis vier Jahrhunderten als rein zweckdienliche Anwendungen für bestimmte soziale Schichten brauchbar. Es kam zur Verwilderung in moralzwängige Kettenbriefe und Massendrucke. Die Kettenbriefe, die jeder Empfänger vervielfältigt abschreiben und weitergeben mußte, sind ein typisches und anschauliches Beispiel für infektionsartige Ausbreitung und nachahmende Wort- und Symbolwahl. Sie breiteten sich nicht nur synchron flächendeckend innerhalb einer Generation, sondern diachron über Jahrhunderte aus. Neurobiologische Akteure für die Beteiligung am Markt sind die Spiegelneurone*, die jeweils von Kindheit an wie mit Werbeslogans aufgefüllt wur-
32 vgl. Kapitel 28
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den. Die Briefe mit ihren beglückenden Verheißungen befeuerten die Neurone mit Belohnungsaussichten und schenkten zugleich die Illusion der Teilhabe an einem gesellschaftlichen Prozess. Anders als die Heilspruchtexte, die meist eine gewisse umschriebene Indikation hatten, von bestimmten beruflichen Sparten angewendet wurden und deren Weitergabe oft geheim oder in unzugänglichen Medizinbüchern erfolgte, waren die Himmelsbriefe allgemein verfügbar. Vielfach wurden sie von herumreisenden Händlern zusammen mit Kurzwaren unter die Leute gebracht. Die Himmelsbriefdrucker haben beim Vertrieb ihrer verführerischen Ware weniger Aufwand betrieben als heutige gehirngerechte Marketingseminare zur Erlernung der Generierung von Emotion im limbischen System, um den „Kaufknopf“ im Kundengehirn zu finden.
28. Unfall- und Gefahrenvorsorge: Der Weingartener Reisesegen mit dem heiligen Ulrich
– Die drei Teile des alten Segens: a) Körperverbindlicher Abschied, b) Diametrale Symbolik der Ziele als Tore, c) Wegweisender Kompass – – Die Universalität der 3D-Kompassformel, ihre Beziehung zum hl. Ulrich und ihre Bedeutung für das neurale Aufmerksamkeitssystem –
Abb. 74 Der Weingartener Reisesegen des 12. Jahrhunderts 1
Ic dir nach sihe, Ic dir nach sendi mit minin funf fingirin funvi undi funfzic engili. got dich gisundi heim dich gisendi.
Ich schau dir nach, ich sende dir nach mit meinen 5 Fingern 55 Engel Gott sende dich gesund heim.
offin si dir diz sigidor, sami si dir diz selgidor: Bislozin si dir diz wagidor, sami si dir diz wafindor.
Offen sei dir das Siegestor, ebenso offen sei dir das Segenstor: verschlossen seien dir Wogen- und Waffentor.
des guotin sandi Ulrichis segen vor dir vndi hindir dir vndi obi dir vndi nebin dir si gidan, swa du wonis undi swa du sis, daz da alsi gut fridi si, alsi da weri, da min fravwi sandi Marie des heiligin Cristis ginas.
Der Segen des guten S. Ulrich vor dir und hinter dir und über dir, unter dir und neben dir sei getan, wo du auch wohnest und seist, daß da auch so Frieden sei, als er bestand, da meine Frau S. Marie den heiligen Christ gebar.
Heimat dieses volksfrommen Segens ist das oberschwäbische Benediktinerkloster Weingarten, dessen Scriptorium einst gerühmt wurde und dessen Bibliothek zerstreut ist. Segenssprüche vor Reiseunternehmen sind zwar üblich und werden von 1
Stuttgart Württembergische Landesbibl. HB II 25 fol. 123v, 12. Jahrh., veröffentlicht MSD², I, S. 18f
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Priestern gesprochen, heute vor Klostertouren, Wallfahrten, Bildungsreisen und in Autobahnkirchen, beim Steingadener Ulrichsritt, manchmal mit einer Reliquie des Heiligen, aber wohl kaum nach dieser alten Weingartener Art. Der Augsburger Kathedralsegen mit der Crux victorialis des heiligen Ulrich hat demgegenüber eine andere weniger konkrete Dimension. Der Weingartener Segen des 12. Jahrhunderts beginnt mit einem rituellen Abschiedsgruß, der im Spiel mit der Zahl 11 (5x11= 55; 12-1 der Apostel) anhand der aus den eigenen Fingern gezogenen überirdischen Kräfte die Trennung vom Fortreisenden entschärft und hinausschiebt. Bei aller räumlichen Distanzierung bleibt damit seelische Zuwendung erhalten und Rückkehr vorausgesehen. In einem zweiten (mittleren) Teil sind dem Reisenden in Stabreim zwei Tore zum Siege und zu Heil und Segen vor Augen geführt, während zwei andere Tore vor Bedrohung durch Wasser und Wogen und Waffen verriegelt werden sollen. Man fragt sich, warum diese altdeutschen vierfachen Wortverbindungen mit „-dor“ den Erstbeschreibern und vielen nachfolgenden Germanisten einen solchen Schauer bescherten, daß sie es für „zauberstark“ hielten und den Spruch deshalb für „in der Sache heidnisch“ erklärten.2 Denn die Tore erweisen sich als Abbilder der Tore Jerusalems, wie sie seit alttestamentlichen Zeiten (Ezechiel 40f ) bis in die christliche Allegorie und Dichtung Visionen, Phantasien und Sehnsüchte nicht nur der Pilger erweckt haben.3 Bei Germanisten umstritten wie die Lese-und Deutungsart von „selgidor“ und „saeldedor“ (Segenstor), „seldidor“ (Herbergstor) oder „segildor“ (Segeltor) ist auch die ursprüngliche Zusammengehörigkeit der Teile, besonders die an St. Ulrich geknüpften Verse an die zuvor gestellten vier Torbilder. Wer dem Unterschied der beiden Teile nachsinnt, möchte in ihnen sogar einen Zeitsprung bei der Christianisierung der Germanen entdecken. Aber nach Hugo Moser4 muß der prosaische sich anschließende Ulrichsegen nicht spätere Zutat sein. Die vielseitigen Gefahrenquellen damaliger Reisen und die Schwierigkeiten der Wegefindung sind kaum mehr vorstellbar. Und obwohl viele zu Übertreibungen neigten, um die Verdienste der reisenden Mönche in bestes Licht zu stellen, ging es doch immer in „die Fremde“. Reisen war kein Selbstzweck, kein Sightseeing. Das gab es erst in der Renaissance, als Petrarca den Mont Ventoux bestieg und als die Maler Landschaften in ihre Gemälde aufnahmen. Reiseräume waren zuvor Zwischenräume, Wald und Meer waren Wildnis für viele Gemüter. Wegzeichen boten sich stellenweise nur als Stein- oder Gestrüpphaufen, und bewaffnete Wegelagerer bedrohten Reiter und Gefährte. Schließlich galt der Segen auch und besonders für
2 3 4
Diutiska, Denkmäler deutscher Sprache und Literatur, Stuttgart 1827, Bd. II. Blank, Walter: Die deutsche Minneallegorie, Stuttgart 1970, S. 160f Moser, Hugo: Vom Weingartener Reisesegen zu Walthers Ausfahrtsegen. In: H.Paul’s und W.Braune’s Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, Sonderband zu 82 (Halle/S. 1961), S. 69–89
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Soldaten, weil die biografischen Fakten um den heiligen Ulrich und die Schlacht am Lechfeld vorausgesetzt werden konnten. Insofern war die dreidimensionale Windrose etwas ganz Besonderes: In Ermangelung präzisen Kartenmaterials und eines Navigators imaginierte sie Raumabsicherung, auch zur Höhe und zum Boden in Form einer geistlichen Umhüllung, die allseitigen göttlichen Schutz bieten sollte. Die Richtungsnennungen rund um den Segensempfänger oder zumindest in zwei oder drei Richtungen weisenden Formeln sind vielfach vorgebildet etwa im Sumerischen,5 in einem Papyrus aus Kairo,6 im Psalm 139, in den indischen Veden,7 in einer äthiopischen Siegesinschrift von 356 nach Christus8 und in den altirischen Segenstexten der „Lorica“ irischer Wandermönche. Und sie korrelieren dem Ritus der Segenspraxis der Kirche, die Pilger mit Kreuzzeichen von allen Seiten und in alle Richtungen einsegnete. Gegenüber der Kompassformel des dritten Segensteiles hat der zweite Teil mit seinen Torbildern kaum Verbreitung gefunden.
Abb. 75 Pilgersegnung mit Überreichung des Pilgerstabes. Initiale des Lambacher Rituale (12. Jh.)
Aus dem 12. Jahrhundert ist beispielsweise eine solche kirchliche Formel aus dem Rituale von St. Florian überliefert: 9
5
6 7 8 9
Crux divina ante te, infra te, subtus te, a dextris sit in tuam custodiam et protec-
Das göttliche Kreuz vor dir, bei dir, unter dir und zur Rechten möge zu deinem Schutz
Falkenstein, Adam: Die Haupttypen der sumerischen Beschwörung. Leipzig 1931, S. 32, S. 87; Meissner, R.: Babylonien und Assyrien 2 Heidelberg 1925,S. 170; vgl. auch die griechischen magischen Papyri bei Betz, Hans Dieter, Chicago 1986, S. 211,289 (Horus vor mir, Isis hinter mir) Bartsch, Elmar: Die Sachbeschwörungen der römischen Liturgie, Münster 1967, S. 100 (= PGM P13a) Schmitt, Rüdiger: Dichtung und Dichtersprache in indogermanischer Zeit. Wiesbaden 1967, S. 209f Kaufmann, Carl Maria: Gebete auf Stein nach Denkmälern der Urchristenheit, München [um 1925], S. 65 St. Florian Bibliothek des Chorherrenstifts Perg.-Hs XI 467, fol 123’–124’, veröffentl. Franz, Adolph: Das Rituale von St. Florian, Freiburg 1904, S. 116
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tionem. […] Signum sancte crucis defendat te a malis presentibus et futuris […]
sein […] Das Zeichen des heiligen Kreuzes bewahre dich vor allem Bösen, jetzt und in Zukunft. […]
In den profanisierten Kreuzgebeten und Karlssegen (s.d.) ist die Formel ebenfalls eingebaut wie später im Segen Sancti Ubaldi des Geistlichen Schildes und im Augsburger Rituale von 1870. In der christlichen Dichtung waren diese elementaren räumlichen Universalbezüge sehr beliebt. Der Erzbischof von Tours, Hildebert von Lavardin (1056–1133) hat seine Verse der Dreifaltigkeit gewidmet: 10
[…] Über, unter allem thronend, außer, und in allem wohnend In dem All Uneingeschränkter, außerm All niemals Verdrängter, Überm Weltall Unentrückter, unterm Weltall Unbedrückter, Drüber ganz als Schützer waltend, drunter ganz als Stützer schaltend […]
In einem umfangreichen Gebet aus dem Pergamentbüchlein aus St. Georgen, einer geistlichen Sammelhandschrift des 14. Jahrhunderts heißt es: 11
Protege me domine a dextris et a sinistris, ante et retro, intus et superius, in aero in terra in mar, in flexu, in erectione in gressu in statione dormiendo uigilando, in omni motu
Schütze mich, Herr, zur Rechten und zur Linken, vor mir und hinter mir, innerhalb und über mir, in Luft, Erde und Meer, ob auf Knien, erhoben, im Lauf oder im Stehen, schlafend oder wachend, in jeder Bewegung
In der jüdischen Tradition wird wie in unseren Kindergebeten in einem Nachtgebet unter Einbeziehung der Engelgestalten in ähnlicher Form an die Wüstenwanderungen der Israeliten erinnert: 12
Im Namen des Ewigen, des Gottes Israels, stehe Michael mir zur Rechten, Gabriel zur Linken vor mir Uriel, hinter mir Raphael und über meinem Haupt die Majestät
Bis in die Segen und Gebete der Neuzeit blieb diese universale Windrosenformel beliebt und variabel gestaltet, unterlag aber auch mißbräuchlicher Zerschreibung (s.u.). Eine wörtliche Segenskreation durch den heiligen Ulrich (890–973) ist für den Weingartener Spruch unwahrscheinlich. Aber wer den Segen fast 300 Jahre nach dessen Tode niederschrieb oder aus Teilsegen zusammensetzte, muß das episkopale und säkular-historische Lebenswerk Ulrichs genau gekannt haben. 10 Zoozmann, Richard: Lobet den Herrn. München 1928, S. 228 11 Karlsruhe Bad. Landesbibl. Hs St.Georgen 38, fol.132r, veröff. Holder, Alfred, Alemannia 4 (1877), 280 12 Jacoby, Adolf: Die Teufelspeitsche. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 28 (1928), S. 101
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Das ergibt sich aus folgenden Parallelen: Für die Ideen vom Reichsfrieden stehen Ulrichs geistliche Führerschaft in der Schlacht am Lechfeld und die Vermittlung zwischen König Otto und Sohn in Illertissen. Berthold von Regensburg (gest. 1272) hatte in seinen Predigten den Bischof als vorbildlichen auch politischen Friedensherrscher, als Bewahrer von Frieden und Recht13 herausgehoben, vielleicht war das die Zeit der Segensniederschrift. Für den Schutz vor vielfältigen Tourengefahren stehen seine Romreisen und stehen mehrere Legenden, besonders jene zum Schutz vor wilden Tieren und reißenden Flüssen (Wertachwunder). Und diese Schutzgarantien waren gekrönt von der erfolgreichen Kraft des segnenden Kreuzes, das nach römisch-konstantinischen Zeiten nun dem schwäbischen Bischof zugeteilt wurde. Es sind Engel, die ihm in Legenden und Bildern das Kreuz überreichen wie einst dem Kaiser Konstantin mit den Worten: „Unter diesem Zeichen wirst du siegen“. Übrigens konnte auch ein Trank aus dem Kelch des Heiligen und konnte die Ulrichsminne für Reisende geistigen Beistand geben. Im Weingartener Segen wird die dreidimensionale Windrosenformel ganz sinnfällig dem hl. Ulrich als erstem deutschen Heiligen zugedacht und mit der Pax Christi-Idee, die in den kirchlichen Segen unbekannt ist, eng verbunden: Die Geburt Christi gewinnt sowohl politische als auch persönliche Bedeutung. Nach einigen Überlieferungen und nach Legenden, von der Legenda aurea14 aus Älterem gesammelt, war die Zeit der Niederkunft Jesu Christi auch eine Zeit des Friedens im Römischen Reich. Man hat das eine „Strukturhomologie“ zwischen sozialer Realität und religiöser Symbolik genannt.15
Kein anderer konnte letztlich mehr Zuversicht sowohl bei allgemeinen als auch persönlichen Unternehmungen bieten als der beliebte Schwabenbischof, der der Patron der Wanderer und Reisenden geblieben ist. Nicht zuletzt bietet auch die darstellende Kunst reichhaltige Spuren der Verehrung (Tafel 11). Was die einfache Folie der Windrose angeht, so wurde sie in den letzten Jahrhunderten stellen- und zeitweise in den Haus- und Zauberbüchern sehr derb konkret. Sie hat sich immer weiter von einer frommen, ehemals christlich universal gefüllten Formel entfernt. Während im Priamel des Hans Rosenplüt (etwa 1400– 1460), des Nürnberger Volksdichters, noch scheinbar eine Krankheit besprochen werden soll Der Himmel ist ob dir, das Erdreich ist unter dir Du bist in der Mitten, ich segne dich vor das Verritten
traten besonders in Zeiten des Chaos und Sittenverfalls aggressive Texte in Umlauf, die nicht mehr Raumabsicherung, sondern Raumbeherrschung, nicht mehr Phobieabweisung oder Selbstbeschwichtigung, sondern pure Selbstbehauptung und Überlegenheit anzielen. Sie zeigen den Übergang in schizoide, d. h. bedenkenlos erfolgszentrierte Beschwörungen einer Knotenmagie mit der Vermischung heiligster und profanster Mittel. Die folgenden Formeln sind nach dem 30-jährigen Krieg im Fichtelgebirge aufgezeichnet worden: 13 Hagenlocher, Albrecht: Der guote vride, Berlin New York 1992, S. 212 14 Jacobus de Voragine*, Ausgabe Benz, Richard, S. 38 15 Faust, Eberhard: Pax Christi et Pax Caesaris, Freiburg/Schweiz 1993, S. 221ff; vgl. Kapitel 26
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Daß kein Mensch nichts Richt vor obrigkeit kein Förster nichts fange kein Fischer Summa kein Mensch kan nichts außrichten vnd nichts erlangen ehe dich dein feind siechet […] Sprich: Vnden siehe ich dich ins teuffels nahmen und mach ein knoten in den senckel in der mitten bindt ich dich ins teuffels nahmen Mach noch ein knoten, oben überwinde ich dich […] Wan du leudt siehest auff der Straßen: dar für du einen grauen haben möchst so Sprich: Vnden durch siche ich dich, oben überwind ich dich, mitten Zu pindt ich dich mit der handt, da Vnser liebe Fräüe Jhr herzte liebskind mit zu pandt
Wie die Segensworte so haben auch die Riten weithin magieartigen Gebrauch erlitten. Der Arzt Johan Weyer (1515–1588) berichtet17, viele hätten es nicht bei einem einzigen Kreuzzeichen belassen und es „vornen / hinden / ja an allen orten auf die erden“ vollzogen. Diese Inflation der Bekreuzigungen, auch hier voll des erfolgheischenden Eifers, sei vor allem zu Unwetterbannungen verwendet worden. All diese Korrumpierungen der mittelalterlichen Segen durch Trivialisierung haben zu Mißdeutungen und generalisierenden Fehlinterpretationen geführt, indem auch ihre Quellen im Zuge einer „rationalen“ „Aufklärung“ vergiftet und einer „magischen Kosmologie“ angenähert wurden. Mehr als viele andere, vor allem mehr als die Gruppe der Krankheitssegen, unterlagen gerade die Reise- und Ausfahrtsegen der Zerstückelung und der Sinnberaubung. Zehn Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs, als 1955 das Millenium der Schlacht am Lechfeld bei Augsburg begangen wird, nach einer Zeit, da das Deutsche Reich erst expansive, dann implosive Menschenfluchtströme produziert hatte, erscheinen in einem kleinen Bändchen18 unter dem Titel „1000 Jahre Abendland“ einige Vorträge, u. a. von Reinhold Schneider und Walter Dirks. Ein weiterer Vortrag titelt mit „Menschen unter der Windrose“. Er ist von Benno Reifenberg (1892–1970) und nennt weder Ulrich noch den Weingartener Segen, aber er führt in die Schnittstelle dessen, was im Segen gemeint ist. Er handelt von Aufbruch und Seßhaftigkeit, Heimat und Fremde. Er stellt zielloses, unstetes Streunen, wie es auch die Zeit der Völkerwanderung kannte, und ackergebundene kulturschaffende Bodenständigkeit gegenüber, ebenso wie das Haltmachen und das Fortgehen und Beten als Zug und Gegenzug der Himmelsrichtungen. Und er fragt schließlich, ob uns Heutigen die Himmelsrichtungen noch Symbole sind.
16 Handschrift des Johannes Zahn von Dürnberg, vor 1691, S. 134–136,55f, veröffentl. Ernst, Wolfgang, in: Archiv für Geschichte von Oberfranken 77 (1997), II, S. 296–299 17 zit. nach Nahl, Rudolph van: Zauberglaube und Hexenwahn im Gebiet von Rhein und Maas: Spätmittelalterlicher Volksglaube im Werk Johan Weyers, Bonn 1983, S. 151f 18 Reifenberg, Benno, in: Tausend Jahre Abendland. Augsburg Basel [1955], 113–134
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Segensimmanente Reisevorbereitung mit Raumorientierung: Anthropologisch-neurophysiologische Bedeutung Der Segenstext zielt nicht nur einfach auf maßstabgerechten Orientierungsbedarf im Leerraum. Das menschliche Gehirn arbeitet nicht geometrisch oder perspektivisch homogen: Unsere Augen nehmen ein Sehfeld sehr ungleichmäßig wahr, manches „springt“ ins Auge, anderes „entgeht“ dem Blick, und was über, unter und hinter uns liegt, kann nur gefolgert werden. Man hat in der Philosophie schon lange einen mathematischen, unendlichen, körperlos-stummen Raum von einem „Anschauungsraum“ unterschieden, der farbig und klingend und gestimmt unserem menschlichen Erleben entspricht. Im Gegensatz zu den akuten psychotherapeutischen Interventionen der Krankheitsbesegnungen erreicht die geistig-geistliche Vorsorge des Weingarteners nicht allein oder überwiegend das limbische unbewußte System. Zwar mag der Abreisende des Mittelalters eine erfahrungsgeprägte, furchtkonditionierte emotionale Spannung erlebt haben. Hier setzte eine selektive Perzeption durch den Amygdalakomplex* mit Locus coeruleus und orbitofrontalem Cortex ein und konnte unter Umständen Raumangst und Furcht regulieren und eine Vorentscheidung über
Abb. 76 Das hintere Aufmerksamkeitssystem. PP = hinterer Scheitellappen; Cs = Colliculus superior = oberer (optokinetischer) Hügel am Mittelhirndach empfängt Lichtreize und vermittelt Augenbewegungen. Th = Thalamus, an dessen seitlichem Rand das Pulvinar (Kissen) anschließt.
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Spruchtexte
Flucht oder Kampf treffen. Auch wurden Engelscharen und heilige Stadttorpassagen gegen unheilige Stadttorsperrungen imaginiert, die bei jedem mittelalterlichen Menschen gespeichert und in Wiedererrinnerung (= Amygdala* + Hippocampus*) verfügbar waren. Aber es konnte außerdem eine bewußte Verarbeitung der Kompassformel ins Spiel kommen, die als Hinweisreiz fokussierend fungierte. Der Reiz des Aktionspotentials erreichte befeuert durch die Amygdala besonders das sogenannte hintere Aufmerksamkeitssystem.19 Es besteht aus Bereichen des oberen und hinteren Scheitellappens rechts und seinen Verbindungen zum Pulvinar des Thalamus und zur Augenbahn (Abb. 76). Es speichert und vermittelt räumliche Wahrnehmung und Bewegung in der Welt, Geografie und Dreidimensionalität. Es konnte direkt mit unserer wohl oft auch vom Priester gesprochenen dreidimensionalen Windrose korrespondieren. Bewußtes Ziel des dritten Spruchteils ist also die Imprägnierung einer Aufmerksamkeitsausrichtung. Sie bewirkt hier wie im allgemeinen die Aktivierung eben der zu jenen angezielten neuronalen Strukturen hinlaufenden Nervenkabel. Denn viele Zellen des hinteren Scheitellappens haben über den Colliculus superior direkt mit der Koordination und raschen Umlenkbarkeit der räumlichen Aufmerksamkeit und Blickrichtung zu tun.
19 vgl. Roth, Gerhard: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, Frankfurt 1989, S. 180
29. Wunden: Die drei guten Brüder begegnen Christus
– Persönliche Anweisung Christi als Kombination verbaler und praktischer Wundbehandlung – – Identifikation des Verwundeten mit den hilfesuchenden Brüdern? – – Imagination Ölberg-geweihter Heilkräuter –
Der seit dem 12. Jahrhundert nachweisbare Segen von den drei guten Brüdern gehört zur großen Gruppe der Begegnungssegen, deren Personen und Mächte sowie ihre Namen, Autoritäten und Instanzen bestens austauschbar sind. Damit konnte dieser Typ als formbewahrende Schablone für erzählerische, den jeweiligen kulturellen und epochalen Einflüssen nützliche Personalbesetzung „eine außerordentliche Produktivität“ erreichen. Mit seiner „Affirmation eines segenverheißenden Vollzuges“1 erzielt er hohe suggestive Dynamik. Die Texte sind durch einen Dialog gekennzeichnet. Dabei können folgende Begegnungen stattfinden: 1. gute heilende Macht mit einem Krankheitsdämon wie in den Drei-Engelsegen und z. B. im Migränespruch von Carnuntum, 2. gute heilende Macht mit dem Leidenden wie im Hiobsegen2 und 3. zwei gute heilende Mächte miteinander, wie im DreiBrüder-Segen. 3
Drei gute Brüder treffen Jesus Christus, der sie nach ihrem „Wohin“ fragt. Sie nennen einen Berg, auf dem sie ein Wundkraut suchen wollen, es soll für Schlagund Stichwunden und überhaupt für alle Wunden gut sein. Jesus verlangt zunächst ihr Versprechen, daß sie darüber weder schweigen noch dafür einen Lohn nehmen, empfiehlt ihnen den Berg Olivet, das Öl vom Ölbaum und die Wolle von Schafen. Beides soll auf die Wunde gelegt werden, und dabei ist zu sprechen: Alsô de Jud Longinus der unsern hêrren So wie der Jude Longinus unseren Herrn Jhêsum Christum staech in die sîten Jesus Christus mit dem Speer in die mit dem sper, – daz eneitert nith, Seite stach, – das eiterte nicht noch gewan hitze, noch enswar, das hitzte nicht noch schwärte es, noch enbluotet zevil, noch enfuelt: das blutete nicht zuviel noch faulte es: alsô tuo disiu wnde, diu enbluot nith Ebenso soll diese Wunde nicht bluten noch enfuoel […] noch faulen […] Der Segen ist drei Stunden lang zu sprechen mit vielen Vaterunsern.
1 2 3
Schulz, Monika: Magie oder .. Frankfurt 2000, S. 295f zu 1. und 2. vgl die entsprechenden Kapitel München BSB Clm 23374, Bl.16v, (Herkunft?) veröffentl. Müllenh. Zeitschr. f.dt. Altert. 15 (1872) S. 454; Beschreibung der Handschrift MSD XLVII,3
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Spruchtexte
Dieser Segen nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als er Jesus zum himmlischen Arzt macht. Die Kräuter sollen vom Ölberg stammen, wo Christus zuletzt seine Jünger traf und wo er festgenommen wurde. Christus verordnet aber nicht nur Mittel, sondern empfiehlt auch einen Segensspruch, der seine zentrale Glaubensbotschaft und überirdische Heilkraft als spirituelle Therapie beinhaltet. Er behandelt sowohl medikamentös als auch verbal. Hier ist es einer der seit dem 10. Jahrhundert bekannten Longinussprüche mit Garant für das Sistieren einer Blutung, mit der Formel von den nicht eintretenden Verwundungsfolgen, wie später im Bamberger Blutungssegen und bis in die Neuzeit als große Segenssippe entwikkelt. Aus heutiger Sicht chirurgisch eine zweifelhafte Empfehlung, die mit der Auflage von Öl und Wolle die Gefahr einer Sekundärinfektion erhöht, also eine Heilung „per secundam“, eine komplizierte, entzündlich „eiternde hitzende faulende schwärende“ Wunde geradezu riskiert. Das war die schon im Papyrus Smith aus Altägypten (Leinenfasern, Harz, Fett), in der Ilias Ambrosiana aus Troja (Kräuterauflage) und nach hippokratischer Säftelehre berichtete Methode, die das Eitern, das „pus bona et laudabile“ der Wunde bewußt provozieren wollte. Das finden wir auch in den Wurmsegen aus Engelberg des 9. und aus der Provence des 10. Jahrhunderts.4 Die fortschrittliche scholastische Medizin-Schule von Bologna hat dagegen seit Beginn des 12. Jahrhunderts eine eher reizlose Reinigung der Wunde und die Vermeidung der Eiterung bevorzugt, also eine Heilung „per primam.“5 Umso mehr mag die von Irmgard Hampp6 vorgeschlagene Deutung eines Bezuges auf die Reinheit der Wunden Christi für Gläubige bedeutet haben. Das gilt auch für manche Hinweise in anderen Segen auf die geringe Blutungsneigung an Christi Wunden. Die deutsche Longinusformel als Segensempfehlung Christi des Münchner Wundsegens ist aus lateinischen Vorbildern übersetzt, die sich schon seit dem 10. Jahrhundert auch vereinzelt selbständig, also nicht als Teil des Drei-gute-BrüderSegens, findet. Die dreimalige Segens- und Gebetspraxis, doch wohl minutenlang, mit gleichzeitiger Beobachtung mag zur Beruhigung des Patienten einerseits und zur Tradierung des Spruchtextes andererseits günstig gewesen sein, weil Blutstillung ohne Verletzung größerer Gefäße durch die Gerinnungsfaktoren zunächst ohnehin von selbst eintritt. Man konnte also einen „Erfolg“ sehen. Unser Münchner Segen befindet sich innerhalb der Handschrift Clm 23374 inmitten vieler anderer Krankheits-Heil- und Ausfahrtssegen und dürfte auch tatsächlich angewendet worden sein. Gelegentlich ist in vergleichbaren Textniederschriften, wie sie von medizinisch gebildeten Mönchen eingebracht wurden, noch auf das Abbinden der Gefäße verwiesen, etwa in Clm 4350, Bl. 73v. Dort heißt es 4 5 6
vgl. Kapitel 30 vgl. Kapitel 6 Hampp, Irmgard: Beschwörung Segen Gebet, Stuttgart 1961, S. 43, s.a. S. 201ff
Wunden
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gegen Ende: „Strangula uenam limis“, ebenso im Clm 14569,Bl.17v „tu fac stagnare uenam“. Für die medizinische Wundversorgung war seit langem der Einsatz von Tiersehnen zum Abbinden größerer Gefäße selbstverständlich. Vollständige Drei-Brüder-Segen sind bis zum 16. Jahrhundert nachweisbar. Frühe lateinische Exemplare der Stiftsbibliothek St. Florian in Österreich (13.Jh), der Pauliner Bibliothek in Leipzig (13.Jh.) und ein nach England exportierter deutscher Segen (13.Jh.) sind ganz ähnlich gestaltet. Das trifft auch für den Wiener Segen des 14. Jahrhunderts zu und für die später zu datierenden Schriften der Stuttgarter, Hamburger und weiterer Bibliotheken.7 Seit dem 16. Jahrhundert zerfällt der Drei-Brüder-Segen in Einzelteile, verändert seinen ursprünglichen Sinngehalt oder seinen Umfang. So gehen die Brüder in einem Segen der Wiener Bibliothek in einen Wald oder treten als „selige waldt brüeder“ auf wie im Elsass, wo schon Geiler von Keysersberg ihn kannte. Sie gehen „über einen süssen Miltenfrist“, was immer das sein mag, oder es treffen in einem böhmischen Segen „drei ehrlichste Brüder und eine der ehrlichsten Jungfrauen“ den „allerliebsten Gott“. Und in einem Arzneibuch des 17. Jahrhunderts kniet Christus vor den drei Brüdern und bietet sich selbst als das gesuchte heilbringende Kraut dar.8 Der folgende Segen aus dem Münchner Karmeliterkloster des 15. Jahrhunderts läßt beispielhaft erkennen, welchen Veränderungen die Schriften unterlagen. Der mons Olivetti ist ein ganzes anderes, undurchsichtiges Einsprengsel geworden. Statt Christus fungiert nun die Gottesmutter. Die Formel von der guten Stunde aus dem Bamberger Segen ist installiert. Nicht mehr Blutung, sondern „Wildes Feuer/ Fieber“, also eine Phlegmone, ein infektiöses, sich „brennend“ ausbreitendes, meist septisch „laufendes“ Geschehen, vielleicht ein St. Antonius-Feuer, soll damit behandelt werden; eine exakte Indikation ergibt sich nicht. Aber die Warnung vor Schweinefleisch und Frauen könnte ihre Gründe gehabt haben. 9
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Ain segen vor dem brechen vnd blatter Es giengen drey brüeder gen sant iop gen metigon auff den pergk nach Kreutern do kom vnser liebe fraw vnd sprach Ir hern wa wöllent ir hin Da sprachen sie wir wollent gen sant iop gen metigon auff den bergk nach Kreutern die gut sind vor das kranck kuk loffent gute vnd das wilt fewer Do sprach vnser liebe fraw
Ein Segen für das Brechen und die Blatter Drei Brüder gingen zu Sankt „Iop“ nach Metigon auf den Berg um Kräuter, da kam unsere lb. Frau und sprach: Ihr Herren, wohin wollt ihr? Sie sagten: Wir wollen zu Sankt Iop gen Metigon auf den Berg nach Kräutern, die für „Kuklaufendes“ und wildes Fieber gut sind. Da sprach unsere
Dokumentation s. Holzmann, Verena: „Ich beswer dich wurm vnd wyrmin …“, Diss. Wien 1997, Bern u. a. 2001, S. 219–226; und s. Schulz, M.: Wund-und Blutbeschwörungen, in: Verf.lex. 11 (2004), Sp. 1683–1685 zit. nach Ebermann, Oskar: Blut- und Wundsegen, Berlin 1903, S. 38f; Schulz, Monika: Beschwörungen im Mittelalter, Heidelberg 2003, S. 70; Lefftz, Joseph, Archiv für elsässische Kirchengeschichte 7 (1932), 211 München BSB Cgm 850 fol. 73r-75v, zit. nach Segensammlg Schönbach Gießen, S. 77f
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Spruchtexte
+ Jch beswer dich kranck kul loffent gute vnd das wilt fewer Da du widder erbrennest noch bratest auff disem gebain das du still standest des beswer ich dich noch heüt ade noch hin nach bey den heiligen stunden bey den hailigen funf wunden bey den hailigen nageln die got durch hend vnd füß wurden ge schlagen. […] vnd nim sant anthonien wein vnd thu das ain leffel vol in ain schuessel vol gutz essigs vnd wasche dann den gebrechen damit Wer aber das swarcz gros blatter da were So nym aines ayes totter vnd saltz […] Vnd huete dich vor sweine flaisch vnd vor gesuechtiger speise vnd vor frawen So pistu genesen
lb. Frau: Ich beschwöre dich, krankes „Kuklaufendes“ und Wildfeuer, daß du weder brennest noch bratest auf diesem Glied, daß du still stehest, dafür beschwör ich dich bei den heiligen Stunden, den fünf Wunden und bei den heiligen Nägeln, die Gott durch Hände und Füße geschlagen wurden. […] Und nimm St. Antonien-Wein, einen Löffel in eine Schüssel mit gutem Essig und wasche den Schaden damit. Wenn es aber die große Schwarzblatter ist, dann nimm Eidotter und Salz […] Und hüte dich vor Schweinefleisch, hitzigen Speisen und vor Frauen, so bist du gesund.
Wundsegen Drei gute Brüder / Psychosomatische Bedeutung Mit seinem Verweis auf Christi spezielle therapeutische Anweisung an die hilfesuchenden Brüder, die biblisch nicht bekannt ist, die also vom Kranken noch nie gehört wurde, überrascht der Segenstyp in Amygdala*, Hippocampus* und Cingulum* mit einer wohltuenden und befeuernden Neuigkeit. Das ist ähnlich wie im ersten Teil des Bamberger Segens mit seinem spielenden Jesuskind. Die Wirkung der verbalen Heilkunst erwuchs immer wieder effektvoll aus den Abweichungen vom biblischen Kanon. Daraus entsprangen der performierende Reiz und die Spannung, daß eigentlich alles Geschehen dieser Welt, auch empirische Naturgesetze, ganz anders ablaufen können. Andererseits kann sich der Kranke mit den Brüdern identifizieren. Gegenüber der mehr konkreten entmystifizierenden Bamberger Daumenmanipulation bringt die imaginierte Begegnung mit dem Heiland-Retter gleichzeitig eine eher mystische Annäherung, wie sie auch in der Seitenwunde durch die Longinus-Lanze versinnbildlicht ist. (Vergleiche die Kapitel 6 und 7)
30. Wurmvertreibung: „gang ûz, nesso !“ oder: „ubi pus, ibi evacua !“
– Die Imagination der „Wurm“extraktion: Deutung ad libitum: Urbild magischen Handelns, empirische Operationsbeschreibung oder katathymes Bilderleben. – Wohin mit dem Wurm? Alte Entsorgungsprobleme: In die Tülle, in die Erde, in die Ferne, in den Wald – – Die Pfeilidee für „tulli“ als magischer Rohrkrepierer in die Urzeit – – Und die sagenhafte Wunddrainage –
Abb. 77a/b Die Tegernseer Wurmbeschwörung (10. Jahrhundert) a) oben: Planfilmkopie b) unten: Nachzeichnung
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Spruchtexte
Pro nessia: Gang uz Nesso, mit niun nessinchilinon, uz fonna marge In deo adra, vonna den adrun In daz fleisk, fonna demu fleiske In daz fel. vonn demu velle In diz tulli. Ter Pater noster. Für Würmer: Geh heraus Nesso, mit neun Nesslein, heraus aus dem Mark in die Ader, von der Ader in das Fleisch, vom Fleisch in das Fell, vom Fell in die Tülle (Hornsohle). Drei Vater unser. Das Benediktinerkloster Tegernsee war eines der bayerischen Urklöster. Als Gründungsdatum gilt das Jahr 746. Von den ersten Bauten sollen Reste einer Rundmauer nach Art der Jerusalemer Heiliggrabrotunde zeugen, von einer Stiftskirche St. Peter und Paul ist nichts erhalten. 975 wurden Kloster und Kirche bei einem Brand zerstört. Aus der ersten Schreibschule des 8. und 9. Jahrhunderts gibt es nur spärliche Reste. Manches, was gerettet werden konnte, fiel der späteren Klosterbuchbinderei zum Opfer.1 Der Codex Clm 18524b mit seinen theologischen Dokumenten ist aber von einer Salzburger Hand geschrieben; auf dem letzten Blatt ist im mittleren Drittel des 10. Jahrhundert unsere Beschwörung angefügt. Seine genaue Heimat ist also nicht zu ermitteln. Im 15. Jahrhundert liegt der Codex in Tegernsee. Man hat aus der Anfügung des Eintrages auf letzter Seite schließen wollen, daß die Wahrscheinlichkeit einstmals praktischer Nutzung groß ist. Denn an solchen Stellen konnte Laien- und Medizinerwissen einen inoffiziellen Platz finden. Wer antiquarisches Interesse oder erhaltungswürdiges nicht theologisches Gut für die Nachwelt erhalten wollte, konnte Lücken des teuren Pergaments nutzen.2 Andere Vermutungen über eine frühe Nutzung der Heilformel gibt es nicht. Eine Infirmarie (Klosterkrankenhaus) ist in Tegernsee erst für 1229 nachgewiesen, deren Erweiterung für 1260. Es überrascht also nicht, daß sich Abt Eberhard im Jahre 1003 nicht an einen Klostermediziner wenden kann, sondern eine heilkundige Frau Judith konsultiert, von der er Rezepte für einen Heiltrank für Schwächezustände und für seine abgekauten Zähne erbittet.3 Ein Arzneibuch des Meisters Bartholomäus und andere medizinische Texte kamen im 13. Jahrhundert nach Tegernsee.4
Nur wenige kleine Vierzeiler haben so viel zum Spannungsreichtum des germanistischen Forschungsbetriebes beigetragen wie die Tegernseer Wurmbeschwörung. Sie gehört zusammen mit den Merseburger Sprüchen zu den ältesten deutschen Heilspruchformeln. Der Edda-Übersetzer Felix Genzmer (1878–1959) findet mit ihr nicht nur die steinzeitliche „Urgestalt aus der Zeit, wo sich gebundene Rede erst
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Bischoff, Bernhard: Die süddeutschen Schreibschulen und Bibliotheken in der Karolingerzeit, Wiesbaden 1960, I, S. 153; II,151f Stuart, Heather und F. Walla: Die Überlieferung der mittelalterlichen Segen, in: Zeitschr. für dt. Altertum und dt. Lit. 116 (1987), 53–79, hier: S. 61,67 Gerabek, Werner E.: Heilkundliches in der Tegernseer Briefsammlung, in: Würzburger medizinhist. Mitteilungen 8 (1990), S. 15–25 Baader, Gerhard: Mittelalterl. Medizin bayer. Klöster, in: Sudhoffs Archiv 57 (1973), 275– 296, hier: 288
Wurmvertreibung
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zu formen begann“, sondern auch eine „Blutsverwandschaft“ zu den indischen Veden und eine Nähe zu den germanischen Runen.5 Jacob Grimm hat das letzte Wort vor den „ter pater noster“, das „tulli“, als ein „Gerät“ erklärt6, im Deutschen Wörterbuch dann wie die Tülle als „röhrenförmige Verlängerung von Pfeil- und Speerspitze, in die der Schaft eingefügt wird“. Seitdem haben Altphilologen im althochdeutschen Tegernseer Wurmbann wie in seinem altniederdeutschen Parallelspruch der Wiener Bibliothek eine von Anfang bis Ende magische Manipulation zu erkennen geglaubt. Während Adalbert Kuhn (1812–1881), Begründer der Vergleichenden Sprachforschung 1864 den Weg des Nesso, „gebannt … aus dem Leibe in die Tülle (die Röhre der Pfeilspitze) oder in den Pfeil selber“ und damit „in den Wald geschossen“ noch für „wohl wahrscheinlich“7 hält, sieht hier Genzmer die „reine magische Welt“: Es sei eine Zauberhandlung, daß der Pfeil wie in verwandten Sprüchen in Wald oder Einöde geschossen werde. Dabei ist von einem Schießen und einem Geschoss oder einem Pfeil nichts geschrieben, auch nicht in den verwandten Texten; eine als Röhre verstandene Tülle ist kein Pfeil. Vielleicht hat die Methode der Tegernseeer Wurmbeschwörung ihre Vorfahren. Besonders haben Wurmzauber aus den indischen Veden, 1500 bis 1000 Jahre vor Christus, Beachtung gefunden, im Sinne einer antiken griechisch-römischen Übermittlung als Migrationselement. 8
Aus den Knochen und aus dem Mark, aus den Sehnen und Adern auch aus den Händen, aus den Fingern, Nägeln vertreibe ich das Schwinden dir
Aber dieser hier immer wieder von Forschern herangezogene Text aus den AtharvaVeden, so sehr seine Ähnlichkeit erst einmal in die Augen springt, bietet keine stringente dynamisch-pathophysiologische Kettengliedkoppelung wie der Tegernseer, nirgends in den Veden kommt ein „Hinaus aus – hinein in“ vor. Eine Differenzierung der Sprachgestaltung dieser Therapie ist nützlich. Neben der Beschreibung einer Wanderbewegung eines Krankheitselementes von einem Gewebe in ein nächstes Gewebe wie im Tegernseer Spruch, zeigen sich in den Texten frühzeitig und immer häufiger einfache Auflistungen von Geweben oder Organen in anatomisch nicht mehr sinnvoller Reihenfolge. Nur gelegentlich lehnen sie sich bei Tieren an einen Streichritus von Kopf bis Schwanz an oder erinnern an das „de capite ad calcem“ der antiken medizinischen Literatur.9 Davon unterscheiden die Texte und damit ihre Anwender weitgehend konsequent eine 5 6 7 8 9
Genzmer, Felix, Germanische Zaubersprüche, in: Germanisch-romanische Monatsschrift N.F.1(1950), S. 23f; ders.: Da signed Krist, in: ARV 5 (1949), S. 37–68, hier: S. 45–47 Grimm, Jacob: Deutsche Mythologie, Nachdruck der 4.Auflage Berlin 1875–78, Graz 1968 II,1032 Kuhn, Adalbert: Indische u. german. Segenssprüche, in: Zeitschr. für vergl. Sprachforschung 3(1864),S. 65f Kuhn, Adalbert, wie oben, S. 67,68 vgl. Schulz, Monika, Beschwörungen im Mittelalter, S. 57f.
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Spruchtexte
andere Heilmethode, die bei Knochenbrüchen und Verrenkungen ein „Glied zu Glied“, also eine Verbindung zerteilter Gewebe anstrebt, wie im Merseburger Pferdesegen.
Mehr methodische und sprachliche Parallelität zu unserem Wurmspruch haben dagegen beispielsweise der zweite Teil eines Textes aus dem 10. Jahrhundert aus der Provence und ein oberitalienischer Text des 9. Jahrhunderts der St. Galler Handschrift 751. Beide beinhalten eine kontinuierliche Gewebsabfolge als Leitschiene für den zu vertreibenden Krankeitsherd. Und beide schildern eine kombiniert verbale und praktische Therapie: 10
Tomida femina in tomida tomid infant in falda sua tenea, tomides mans et tomidas pes, […] Exsunt en dolores, d’os en dolores, d’os en polpa, (de polpa en curi) de curi en pel de pel en erpa, taerra madre susipiant dolores
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(contra fleumata) Adiuva me, deus salvator […] hic moveat de ossa in pulpam, de pulpa in pellem, de pelle in pilum, de pilo in terram Tolle siligineam farinam et mel mitte in frixoria
(Sinngemäße Übertragung nach Vorgabe durch Bischoff:) Der (schmerz-) erstarrten Frau, die ihr ebenso starres Kind hält, beschädigt an Hand und Fuß […], möge der Schaden weichen, aus Knochen in Fleisch, aus dem Fleisch in die Haut, aus der Haut in ein (Heil-)Kraut. Die (Heil-? Mutter-) Erde nehme den Schaden auf. (Gegen entzündl. Schwellung, phlegmata) Hilf mir, Gott, Retter […] (Der Wurm) gehe aus Knochen in das Fleisch, aus Fleisch in Haut, aus Haut in das Haar (Fell), aus dem Fell in die Erde Nimm Weizenmehl und Honig in einen Tigel
Unschwer ist die lateinisch-antike Schablone dieser beiden Texte in der „Physica Plinii“ (5./6. Jahrhundert) zu vermuten. So wurde die um magische Anweisungen und Beschwörungen erweiterte Fassung der „Naturalis historia“ des Plinius12 (4. Jahrhundert) benannt. Wir entnehmen ihr die Beschwörung des personalisierten Nierenschmerzes: Audi, dolor renium, exi a medullis ad ossa ab ossibus ad pulpam
Hör zu, Nieren-(Lenden-)schmerz verschwinde vom Mark in die Knochen von den Knochen ins Muskelfleisch,
10 Clermont-Ferrand Bibl. Municip. 201, 9./10. Jahrhundert, veröffentl. Bischoff, B., in: Anecdota Nov., 1984, S. 261, dort eine weitere Formel dieser Art aus der Bibliothek in Verona, 9.Jahrh. erwähnt: „exi de osso in pulpa, de pulpa in pelle, de pelle in pilo, de pilo in terra. Terra matre, suscipe ...“ 11 St.Gallen Stiftsbibliothek Cod. 751, fol.452, veröffentl. Heim, Incantamenta, S. 564, vgl. Önnerfors, Alf: Antike Zaubersprüche, Stuttgart 1991, S. 14; ders.: Physica Plinii quae fertur Sangallensis, Lund 2006/07; freundl. Vermittlung und Information verdanke ich Herrn Dr. Karl Schmuki. 12 Zur literarischen Entwicklung der Medicina Plinii siehe Keil, Gundolf, in: Enzyklopädie Medizingeschichte (Hg. Gerabek, Werner, E. et al. Berlin et al., S. 902)
Wurmvertreibung
a pulpa ad nervos, a nervis ad cutem a cute ad pilos a pilis in cente[n]simum! Excutiens incantas, exspues aut ter aut quinqies aut septiens aut novies.
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vom Muskelfleisch in die Sehnen, aus den Sehnen in die Haut, aus der Haut in das Fell, aus dem Fell hundert Meilen weg ! Während du diese Beschwörung sprichst, schüttelst du den Patienten und spuckst drei, fünf, sieben oder neun mal aus.
Über hundert Jahre nach der Erstbeschreibung unseres Tegernseer Spruches durch Jacob Grimm mußte Gerhard Eis (1908-1982) darauf aufmerksam machen, daß Krankheiten seit jeher nicht nur von „Zauberern“ behandelt wurden. Die Heranziehung der Medizingeschichte, speziell der Wundchirurgie hatte man einfach vergessen. In seiner Antrittsvorlesung 1955 in Heidelberg belegt Eis „tulli“ nach vielen Beispielen aus der alten Pferdeheilkunde und nach anatomischen Gegebenheiten am Pferdehuf als äußersten Teil der Hornsohle.13 Damit war aufgezeigt, daß im Rahmen der Behandlung mit diesem Beschwörungstext eine Grundregel jeder chirurgischen Tätigkeit, das „Ubi pus, ibi evacua“, „Wo Eiter ist, dort entferne ihn!“ vorausgesetzt wurde, zumindest werden konnte. Andere von innen nach außen wandernde pathophysiologische Gewebsreaktionen wie Nekrosen und Fremdkörper schließen sich an. Einer magisch anmutenden Heilmethode mit dem Versuch, etwa die zentrifugale oberflächliche Abszedierung (Ansammlung) der Wundkomplikation als Vereiterung suggestiv zu beschleunigen, indem ein zentraler Herd auf seinem Wege in die Hornsohle verbal begleitet wurde, folgte also die chirurgische Technik. Schließlich kann nicht ausgeschlossen werden, daß ein solcher, den natürlichen Heilungsprozess beschreibender Text, wenn man ihn nur seiner ersten Zeile beraubt, der beschwörenden, den Wurm personalisierenden Option also, auch einmal als Lehrstück für Gesellen der Hippiatrie genutzt wurde. Ob also konservativ durch Applikation von Heilerde, Honig oder Kräutern, wie in den o. g. alten Texten zu sehen, oder nach hippokratischer Regel bei komplizierten Wunden durch Ausschälen oder Ausbrennen – es konnte nun nach oder schon während der Besprechung der zweite Schritt der kombinierten Therapie einsetzen. Beharrt man aber auf der Deutung von „tulli“ als Rinne oder Röhre, dann ist die Vermutung einer Drainagetechnik weniger spekulativ als die Pfeilhypothese. Bei Wolfram von Eschenbach klingt im „Parzival“ der Einfluß einer über Salerno seit dem 9. Jahrhundert adaptierten Klostermedizin an: Mit Gawans Rindenkanüle wird Hämatothorax behandelt. In der Edda werden in eine infizierte Wunde Metallröhren eingelegt.14 „Die Diskussion um Sinn und Unsinn einer Drainage ist nahezu so alt wie die Chirurgie. Bereits
13 Eis, Gerhard: Altdeutsche Zaubersprüche, Berlin 1964, S. 7–29 14 vgl dazu Hintze, Arthur: Wundbehandlung, Wund- und Blutsegen bei den alten Deutschen, in: Zentralblatt für Chirurgie 68 (1941), 2282–2288
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Abb. 78 Therapie am Grab des hl. Gallus. Salbung einer Eiterwunde und einer Handgeschwulst unter Verwendung von Staub am Grabe und Öl der Lampe, nachdem alle anderen Heilmittel versagten.
Hippokrates u. a. kannten die Drainage und verwandten sie vornehmlich zur Therapie des Empyems.“15 Drainagebehandlung in Literatur und Sage: 1. Parzival des Wolfram von Eschenbach: Die Quetschwunden des Parzival werden durch Gurnemanz gewaschen und verbunden und die weitere Pflege den Jungfrauen anvertraut. Der Ritter Gawan tritt hier als besonders heilkundig auf: Er erkennt an einem speerdurchbohrten Mann die innere Blutung und rettet ihn, indem er das Blut, das angeblich aufs Herz drückt, durch ein rasch aus einem Lindenzweig gebildetes Röhrchen von der helfenden Frau aus der Wunde saugen läßt; dann wird die Wunde verbunden, das Sprechen der Segensformel aber nicht vergessen. „Gawan die wunden verbant/ mit der frouwen houbtgewant/ er sprach zer wunden wunden segn“. Die Wunde wird danach mit Heilkräutern versorgt und nochmals verbunden. Danach Wunsch nach Spitalverbringung. – 2. Noch eindeutiger eine Wunddrainage im Gudrunlied der Edda: Wate von Irland, ein heiltüchtiger Recke weiß ein heilkräftiges Wundpflaster herzustellen, hat es von einem „wilden Weib“ gelernt. Eine klaffende Wunde wird zunächst mit Leinwandstreifen ausgestopft, um die Blutung zu stillen. Zum Abfluß von Wundabsonderungen werden Metallröhrchen eingelegt; hierüber kam ein fester Verband.
Die Germanistin Monika Schulz, die in den Heilformeln allgemein ein logischmagisches Ordnungsprinzip sieht, beschreibt den Spruch als „exorzistischen Imperativ“ und neigt eher zur Pfeilhypothese mit der Begründung, bei Annahme einer Vertreibung des Wurmes in den Hufstrahl „würde“ „der dämonische Wurm demnach beim Auftreten des Pferdes im Huf zermalmt“. Schulz räumt zwar ein, daß 15 Muhl, E. und Hohlbach,G.: Fördervolumen und Qualität von Drainagesekret, in: Zumtobel,V. und K.Schäfer (Hg.): Wunddrainage in der Elektiv- und Notfallchirurgie, Lengerich 1991, S. 99; zum Gebrauch von Röhren und Kanülen s. a. Sudhoff, Karl: Beiträge zur Geschichte der Chirurgie im Mittelalter, Teil 2, Leipzig 1918, S. 32–36 mit Abbildungen S. 457
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„die Deutung von Gerhard Eis […] einiges für sich hat“,16 verkennt aber, daß man Pferde als unentbehrliche Reise- und Transportmittel auch zu allen Zeiten gewiß nicht allein einem Beschwörer, Segensprecher oder Pferdeflüsterer überlassen hat. Eher konnte ein Schreiber die vollständige Niederschrift des Gehörten, also die praktische chirurgische Maßnahme, vergessen oder das Selbstverständliche unterlassen haben. Nachfolger hat die Strategie dieser Wurmbeschwörung vorwiegend in Sprüchen gegen die Schwinden gefunden, womit zumeist lokale oder generalisierende Atrophien, also Rückbildungsprozesse, gemeint sind. Ein Beispiel für späteren konsequenten Einsatz der Tegernseer zentrifugalen Vertreibungsmethode, die im Althochdeutschen außer im Wiener Text keine weiteren Parallelen hat, richtet sich zunächst gegen das wilde Geschoß, einen als dämonisch vorgestellten akuten Schmerz, z. B. eine Trigeminusneuralgie, eine akute Lumbago, einen „Hexenschuß“: 17
Wilde schoß, ich gebeut dir aus dem Markh in das Bain, […] aus dem Bain in das Flaisch, aus dem Flaisch in das Bluot, aus dem Bluot in die haut, aus der Haut in das Haar, aus dem Haar in die Erden, neun Claffter tief !
Erst seit dem 18. Jahrhundert häufen sich solche Beschwörungen, isoliert oder in größere Texte eingebaut: 18
Ich beschwerren Heüt alle die bössen brästen Von disem Viech von dem Marg in das bein auss dem bein in das fleisch auss dem fleisch in das blut auss dem blut in die hutt aus der haut in die Haar auss dem harr auss dissem dach Vnd ge Mach (Sennhütte).
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Schwindsucht, ich segne dich aus dem Mark wol in das Bein Schwindsucht, ich segne dich aus dem Bein wol in das Fleisch (u.s.w. aus Fleisch in das Blut, aus dem Blut in die Haut, in den wilden Wald)
16 Schulz, Monika: Beschwörungen im Mittelalter, Heidelberg 2003, S. 58,176 17 Karlsruhe Badische Landesbibliothek, aus St. Blasien, Cod. Pap.Germ. 87 (Arzneibuch eines Wundarztes in Kränkingen?), 1617, veröff. Mone, Anz. 6, 470 18 Zahler, H., aus sog. Doktorbüchern, das Stück aus 1772, in: Die Krankheit im Volksglauben des Simmenthals, Bern 1878, S. 235f, ähnliche Texte für das Schweinen und fürs Vieh S. 234f 19 Segensammlung Hepding, Universitätsbibliothek Gießen Nr. 28, aus Weinheim/Baden, 1825. – Ganz ähnlich sind Beispiele aus Schwaben (Höhn, in: Volkstüml. Überlieferungen in Württemberg, Stuttgart Neudruck 1980 Volksheilkunde I, S. 258f ), aus Kirchheim bei Heidelberg (Zimmermann, W.: Badische Volksheilkunde, Karlsruhe 1927, S. 31), aus dem Kahlgrund im nördl. Spessart (Heimbücher, N., Volksmed., in: Unser Kahlgrund, 22(1977), S. 99), aus dem Kesseltal südlich des Nördlinger Ries (Heider, Deutsche Gaue 5 (1903), S. 23), aus Jugenheim, Hessen (Wolf, J.W., Sammlung der Hebamme Jung, in: Beitr. z.dt. Mythologie, Göttingen 1852, S. 256), sowie aus Brauchbüchlein im Odenwald (Schopp, J., Zauber-und Segenssprüche aus dem Odenwald, Otzberg-Lengfeld 1975, S. 13), nachweisbar, alle 19. oder 20. Jahrhundert.
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Spruchtexte
Der Begriff „nesso“ und „nessia“ ist in manchen Beschwörungen zu finden und bedeutet „vermis“, Wurm bzw. Würmer. In verschiedenen Symtomgestalten sowie Organaufzählungen von Kopf bis Fuß, also anders als im Tegernseer, wird er dezidiert in einer Gruppe von Drei-Engel-Segen20 beschworen: + In nomine domini tres angeli ambulauerunt super montem synay et obuiauerunt illis. Nessia. nagido. crampho. tropho. Stechido. paralisis. Gegihte. Quibus angeli dixerunt. vnde venitis [?] … imus ad famulum dei .N. Caput eius conterere. collum. humeros. brachia. scapulas. dorsum. latera. ventrem […]
In Gottes Namen gingen drei Engel über den Berg Sinai und trafen sie: Die Würmer, Nage-, Krampf-, Tropf-, Stech-, Lähm-, Gicht-Wurm. Wohin wollt ihr? Wir gehen zum N., ihm den Kopf erschüttern, den Hals, die Schultern, Arme, Rücken, Bauch […]
Der „Nesso“-Begriff kommt auch in Therapie-Texten ohne Spruchbegleitung im 9. Jahrhundert vor, wie im Codex Sangallensis 550, Perg., fol.54. Auch findet man später in deutschen Wurmsegen den „Ungenannt“ oder „Unbekannt“ anstelle des „nesso“, „nessia“-“nescia“, dies eine wörtliche Übersetzung aus lateinischem Wortstamm „nescio“ (ich weiß nicht). Manchmal scheinen Begriffe wie „Nösch“ und „Nezit“ für Nesso zu stehen. An diese also unbekannte Krankheitsperson kann dann häufig nach den langen Wurm-, Farb- und Organlisten eine religiöse Abweisung mit Einsatz des ungerechten Richters (Pilatus) angefügt sein in folgenden Sprüchen aus dem Schwarzwald, aus Oberösterreich und der Schweiz: 21
Wurm, ich beschwer dich bey dem heiligen Tagschein, Wurm, ich beschwer dich bey dem heiligen Sonnenschein, ich beschwer dich bey der heiligen Dreyfaltigkeit […] Ihr seyen scjwartz, weiß, gelb oder roth, graw oder blaw; du seyest der sponwurm in den Därmen, du seyest der ausßwerffent wurm, du seyest der fressenif wurm (gnadendig, beissendig, schlafent, fliegent, umgehent, segent, haarwurm) oder ungenannt wurm oder deiner gesellen einer […] daß du müessest stohn und standest mir bey den Menschen still, vergangest und verschwinest, wie die Juden verschwinen und vergiengen, die Jesus bunden und fiengen als wenig der Mann kann noch bestohn, der am Gericht sitzet und ein falsches urthel über Wittwen und Waisen gibt
20 Zürich ZBibl. Rheinauer Codex 67, fol. 46, veröffentl. von Steinmeyer, Zeitschr.f.dt. Altert. 22(1878),246. – Vergleichbar und ebenfalls 13. Jahrh. die Segen aus Kloster Engelberg (neu: Codex 33, Vorsatzblatt) und aus Basel (Pergamenthandschr. B v 21, Bl. 120b) sowie bereits aus dem 10. Jahrhundert der Text aus Kloster Tegernsee (Clm 27152, Blatt 53rv – siehe Kapitel 19) 21 Karlsruhe Bad. Landesbibl. Cod. 87 aus St. Blasien, veröffentl. Mone, Anzeiger 6 (1834) S. 462, aus 1617?
Wurmvertreibung 22
Für den ausspeienden Wurm alls wider sey das fleisch vnd das pain czu peissen, als vnserm herren der man ist, der vrteil geit vnd selber wol ein pesrew wais
23
Wurm, du seiest weiss oder schwarz, rot oder blau, grün oder gelb, grau oder griss, schlafend oder wachend, kreichend oder fliegend, beraubt sei dir Haar und Haut, Fleisch und Bein, Mark und Blut, so gewiss als der Mann nicht im Himmel kommen mag, der in dem Rath sitzet, der das recht weiss und das Unrecht spricht
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Von besonderem Reiz bis in die Neuzeit sind jene mindestens seit dem 17. Jahrhundert notierten Sprüche, die nun in weniger anankastischer, mehr perturbierender Heilstrategie phantastische Kettenmärlein erzählen. Mittels ihrer rhetorisch simplen Strategie der Gradatio (graduell abstufende Wiederholungsfiguren) suggerieren sie eine einengende Assoziationsspirale. Es soll eine Parallele zum gedanklich auf Wurmvernichtung konzentrierten Wirken hergestellt werden. Dabei droht durch die sich hinziehende Erzählung ermüdende Langeweile, die schließlich von einer bedeutenderen Information abgelöst wird. Damit wird therapeutisch wirksame Aufmerksamkeit erzielt wie mit einem Paukenschlag. Diese Texte haben sich schon weit von unserem Tegernseer Wurmsegen entfernt, zeigen aber durch den Ausspruch einer strikten Leitschiene für die Austreibung des Übels eine gewisse Verwandtschaft an: 24
Auf den Kutten Berg stehet ein Born, in den Born da steht ein Stab, in den Stab da liegt ein Wurm, liege stille, bis Maria einen (anderen) Sohn gebärt
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Auf Gottes Berge liegt Gottes Acker, auf Gottes Acker liegt Gottes Garten, in Gottes Garten steht Gottes Baum, auf Gottes Baum wächst Gottes Apfel, in Gottes Apfel steckt der leidige Wurm. Der soll sterben
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Wir haben einen Brunn im garthen. im brun steht ein stil, der hat einen ast. darin steckt das nest, im Nest liegt der Wurm […] auf dem dritten Tag ist er tot.
22 Stift Schlägl Oberösterreich Albrant-Anhänge Cod. 194, 15.Jahrh., veröffentl. Eis, G., in: Beiträge zur Geschichte der Veterinärmedizin 5 (1942), 27 23 Eberle, A.: Volkskundl. aus Flums, in: Schweizerisches Arch. für Volksk.34 (1936), S. 235f , beg. 20. Jh. 24 Segensammlung Hepding Univ.Bibliothek Gießen Nr.27, Handschr. Hausbuch sächsischer Herkunft 17./18.Jahrh. im Besitz des Amtsrichters Walter von Hirschfeld zu Schneidmühl bei Posen 25 Lauffer, Otto: Volkskundliche Erinnerungen aus Göttingen und dem oberen Leinetal, Göttingen 1949, S. 133, 19. Jahrhundert 26 Staak, Gerhard: Die magische Krankheitsbehandlung in der Gegenwart in Mecklenburg, Diss. 1930, Spruchtext Nr. 803
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Spruchtexte
Wurmaustreibung (Eiter-Nekrosen- und Fremdkörperentfernung) / Neuropsychosomatische Funktion der Verbaltherapie Als Zielpunkt des Therapieansatzes dürften innere oder subkutane lokale Störungen vorzustellen sein, ob als komplizierte Wunde, als Schmerz, als eingedrungener Fremdkörper oder als Funktionsstörung. Der Wurmbegriff erlaubt uns im Rückblick selten eine exakte Diagnose, bot aber vielleicht manchem Patienten im Falle unbekannter Veränderungen eine vorläufige ersatzweise Ursachenbeschreibung. Dieses konkrete Wort, das in den mutmaßlichen Nachkommen des Tegernseer Spruches auch noch in Farben und Eigenschaften ausgemalt wurde, so nebelhaft es uns heute vorkommt, konnte dem Arbeitsgedächtnis* zur Abrufung weiterer unbewußt förderlicher konkreter Erinnerungen dienen, besonders weil die Vorstellung einer Dynamik hinzutrat. Die schrittweise Entfernung von Bösartigem aus einem Gewebe ist nicht besser zu beschreiben. Man stelle sich vor, daß der Kranke etwa einen verwurmten Apfel assoziierte, den der Helfer bereinigte. Das war für die Bedeutungskonzepte des limbischen Systems ähnlich attraktiv wie die Tomatengeschichten des Hypnotherapeuten als katathymes Bildprogramm für positives Wachstum (vgl. Einleitung). – Andererseits ist die Benennung des Übels als Wurm im Zusammenhang mit der Einordnung von Gefühlen ein Labeling emotions* und kann im Bereich rechts frontoventraler Kerngebiete angstlösend wirken.
31. Wurmvertreibung: Der Regensburger Hiobsegen
– Segensstiftung nach Hiobsbotschaft – – Der Hiobsegen verbindet Altes und Neues Testament – – Von der Volkstümlichkeit des Kranken auf dem Mist, seiner sozialen Isolierung und seinem Ringen mit Gott – – Ideale Bildvorgabe für das limbische System –
Das ungewöhnlich tragische Schicksal eines ehrbaren Mannes in einer dem Alten Testament eingereihten Dichtung hat zu allen Zeiten die Gemüter bewegt. Hiob im Lande Uz hatte 10 Kinder, hatte sehr viel Gesinde, hatte 7000 Schafe, 3000 Kamele, 500 Joch Rinder und 500 Eselstuten. Bis sich eines Tages aus heiterem Himmel die Verlustmeldungen überschlagen; alles ist verloren, verbrannt und geraubt; alle verlassen ihn in Verachtung und Hohn. Er gerät als Kranker mit Geschwüren (nach den biblischen Texten medizinisch undefinierbar) auf den Aschehaufen, wie seinerzeit bei „Aussatz“ üblich. Nichts bleibt ihm außer seiner Frau, die ihm nach Einflüsterung des Satans einfach rät, seinem Gott abzusagen und zu sterben (Tafel 9). Und es beginnt sein langes Ringen mit Gott, einem Gott, der zuvor mit Satan über ihn verhandelt hat. Was Hiob nicht weiß: daß zwischen den beiden vereinbart ist, ihn am Leben zu lassen. Hiob ist nicht der fromme Dulder, wie oft angenommen wurde. Denn er fordert von Gott Gericht über sich; er beugt sich nicht altisraelischer und altorientalischer Gesinnung über Krankheit als zu büßender Schuld, als unausweichlicher Bestrafung oder als Jahwes Schicksalswürfel. Und so beginnt mit dem Buch Hiob für die Theologie und für jede Theorie der Krankheitsentstehung ein neues Kapitel. Krankheit wird auch Lebensprüfung, auch soziale Anfrage an die Umwelt, auch Schlaglicht auf persönliches Innenleben, freilich erst in Ansätzen, bis dann Christus als Arzt eine differenzierte Sicht auf Krankheitsursachen ermöglicht. Hiob hält trotz aller Klage am Glauben fest, gerade weil er mit seinem Gott streitet, er verharrt – ob er will oder nicht – in leidender Berührung mit seiner eigenen persönlichen Vorstellung des Höchsten. Als zugleich leidender und kämpfender Mensch des Alten Testaments steht er vielen Kranken so nahe, daß er fast wie ein Heiliger zum Stellvertreter des Kranken in einer Fülle von Gebets- und Segenstexten wird, bis in die Neuzeit. Zu Beginn des 16. Jahrhundert hatte es nach Einbruch der Syphilis in Passau und Salzburg sogar offizielle kirchliche Formeln gegeben, die ihn in eine Messe „de beato Iob contra morbum gallicum“, „zum seli-
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Spruchtexte
Abb. 79 Der Hiobsegen zwischen einer Lehranleitung zum griechischen Alphabet und Sigillen für Fieber und Blutstillung (Prüll/ Regensburg, 12. Jahrhundert)
gen Job gegen die Franzosenkrankheit“ aufnahmen.1 Zu den frühesten deutschen Hiobsegen gehört der kurze Text aus dem ehemaligen Kloster Prüll. Das Kloster Prüll bei Regensburg, wo der Segen im 12. Jahrhundert niedergeschrieben wurde, hatte eine wechselvolle Geschichte. Seine Gründung durch Bischof Gebhard I. von Regensburg im Jahre 997 wird den Wünschen dieses Bischofs um ein eigenes Bischofskloster gegenüber dem mächtigen St. Emmeram zugeschrieben. Sicherlich lag aber im Aufbau eines Armen-(=Kranken-!) Hospitals und einer Gästeherberge nach der Regula Benedicti ein ebenso gewichtiges Gründungsmotiv. Die ersten Äbte kamen ebenso wie die ersten Codices als Grundbestand der Bibliothek aus St. Emmeram. Das Emmeramer Scriptorium arbeitete auch für Prüll, und Prüll wurde Benediktinerkonvent. Hier entstanden im gleichen 12. Jahrhundert wie unser Text ein erstes kleines deutsch-sprachiges Kräuterbuch und 1
Franz, Adolph: Die Messe im deutschen Mittelalter, Freiburg 1902, S. 191
Wurmvertreibung
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der erste Ansatz eines deutschen Steinbuches.2 Ob erst wie urkundlich nachweisbar 1223 oder schon früher, Prüll wurde Doppelkloster und der Gedanke, daß hiermit auch weibliches Pflegepersonal für das Hospiz herangezogen werden konnte, liegt nicht fern. Nach dem Niedergang übernahmen Karthäuser 1484 das Kloster. 1852 wurde es in eine Nervenheilanstalt umgewandelt.3 Heute auf dem Gebiet der Regensburger Universität gelegen, ist das Langhaus der 1110 geweihten Hallenkirche erhalten.4
Der Segen lautet in Neuhochdeutsch: Job lag in dem Miste; er rief zu Christe, Herrgott du gnädiger Christ, der du in dem Himmel bist, du büße (heile) dem Menschen den Wurm (des) N. Durch des Jobs Beten, das er zu dir getan da er in dem Miste lag, da er in dem Miste schrie zu dem heiligen Christ: Der Wurm ist tot; tot ist der Wurm.
Dieser Prüller Segenstyp ist noch bis ins 16. Jahrhundert zu verfolgen. Er findet Legierungen und Zusätze und ist in ärztliche und veterinärärztliche Medizinbücher aufgenommen. An einem Wurmsegen, eingefügt dem „Nürnberger Arzneibuch“, eine der Überlieferungen des Thesaurus pauperum des Arztpapstes Petrus Hispanus (Johannes XXI), läßt sich beispielhaft erkennen, daß nun im 15. Jahrhundert um den Kern des Prüller Segens herum andere Textstücke gereiht sind, um die Heilwirkung zu erhöhen. Man muß aber auch bedenken, daß der Prüller Text eine Kurzfassung ist. Die Prüller Anteile in Fettdruck: 5
2 3 4 5
Daz man die wurem tottet ann dem menschen vnnd ann dem rose, so sprich diese wort: „+Vlpium + pandax +alpandi + troysum + transitor + ayos + mirituß + crucifixus + jn dem namen des vatters + vnnd des suns + vnnd des heiligenn geists + er ist tot, paternoster. – Job + den auß der wurm, die weyl got wolt; da got nicht mer wollt, da ward jm paß des sichtumß des selben tag; piß ich dir mit der selben puße vnd (168r) des wurems. – Job lag auff der erde oder auff dem mist, er reyf zu dem hailigen Crist: Da du in dem himel bist. Du erhortest Jobs gabet, das er mit anndacht zu dir tet do in dem mist, zu dir Crist, vil tyff. Der wurem ist dot, paternoster, credo in deum. – Got durch sein tat gebit dir hir, das du ligest tat, vnnd durch die marter, die er leit, da er ann dem heiligenn creutz schreit, die wunden namenn im den leip, got gebiet dir, wurem, das du sterbest ann dieser zeit. – Es pissen meinen hern sannd Job drey wurem: Der ein waß weiß, der annder rot, der dryt swartz. Wurem, du solt ligenn tat durch guten sannd Job ere, das du des (168v) menschen. N. fleisch noch bein einpeisset nymmermer, amen.“ Schnell, Bernhard: Das „Prüller“ Kräuterbuch, in: Z. für dt.Altert. und dt. Lit. 120 (1991), 184–202 vgl. dazu im Kapitel 10 (St.Veit) siehe auch: Schmid, Alois, in: 1000 Jahre Kultur in Karthaus-Prüll, Hg. Bezirk Oberpfalz, 1997, S. 11–19 Nürnberg Stadtbibliothek Cod.Amb.55, veröffentl. Telle, Joachim: Petrus Hispanus. S. 366, Nr.542; ebenso Wiener Hs 2817, Bl.32c-33a; ohne die Anfangsteile CPG 169, fol.172
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Spruchtexte
Den Eingang dieses Spruches bilden „Zauberworte“. Sie wirken überraschend und befeuernd im limbischen System. Es folgen Bruchstücke aus dem Hiobbuch und Fürbitten, zuletzt die Abzählung dreier Würmer mit ihren Farben, wie in anderen Typen der Wurmsegen. Den alten Prüller Text beschließt eine rhetorisch wirkkräftige Sprachfigur, eine Anadiplose und ein Chiasmus (überkreuz gestellte Wiederholungsfigur): Der Wurm ist tot – tot ist der Wurm. In den Rossarzneibüchern6 bilden Hiobwurmsegen einen bedeutenden Anteil, insbesondere jene mit den „Zauberwort“-Amuletten und den Eingängen: Der Würmer waren drei, die Sankt Job bissen mit ihren Farben, und Der gute Herr Sankt Job lag auf dem Mist und bat den heiligen Christ, der aller Welte Herre ist, wobei dem Tier meist auch Worte ins Ohr zu flüstern oder zu blasen, auf Blei zu schreiben und auf die Stirn zu binden waren. Gleiches Alter wie der Prüller Wurmsegen, aber einen anderen Akzent bietet ein Text der Grazer Bibliothek aus dem Augustinerchorherrenstift Seckau in der Steiermark. Er unterscheidet verschiedene Wurmarten und will damit den Anschein differenzierender und sammelnder Symtombeherrschung erwecken: 7
Der herre iob lach inmiste. rief uf. ze xpe. mit eiter bewollen di maden im uz uielen. des buozte im der hailige crist. also si. N. des manewurmes, des harwurmes. des magewurmes. des perzeles vnde aller der slahte wurme die niezende sin oder verzerende sin […]
Der Herr Job lag im Mist, rief auf zu Christ. Mit Eiter befleckt, die Maden fielen ihm aus. Das heilte ihm der heilige Christ. So auch geschehe dem N. vom Mähnen-, Haar- und Magenwurm, vom Perzelwurm und allen plagenden Würmern, die fressen und zehren […]
Die Popularität und Wirkungskraft Hiobs war enorm. Es gibt Berichte, daß ein ungebildeter Bauer das Hiobbuch auswendig Wort für Wort aufsagen konnte. Und so nimmt es nicht wunder, daß der alttestamentliche „Heilige“ ebenso wie Abraham, Isaak und Jakob, Loth und Daniel schon früh immer wieder in Gebete und Segen für weitere allgemeine Zwecke aufgenommen war. Der Errettung Hiobs aus körperlicher und seelischer Apathie wird in einem Text des 9. Jahrhunderts aus Noyon, dem römischen Noviomagus in der Picardie, als Schutz vor Reisegefahren gedacht. Offenbar sind hier neben Wildtier- und Feuerüberfällen auch Erschöpfung und Hinfälligkeit angesprochen: 8
Qui consiliis eruit felicibus Loth de flammis Daniel de leonibus Qui salvavit Job de langoribus,
6 7 8
Wie er durch glückliche Ratschläge Lot aus Flammen und Daniel von Löwen erlöste, wie er den Hiob aus langem Leiden rettete,
vgl. bes. Eis, Gerhard: Meister Albrants Roßarzneibuch im deutschen Osten, Reichenberg 1939, S. 95–101 Graz Universitätsbiblioth., Hs.1501, f. 132v-133r, veröff. Schönbach, Z.f.dt. Altertum 21 (1877), S. 413 Paris Bibl.Nationale, Cod.lat.1153, veröffentl. Bischoff, B. (Hg.) Anecdota nov., 1984, S. 154ff
Wurmvertreibung
pueros tres de ignis ardoribus, Ut sicut cum his erat omnibus, sic et nobis Deus sit propitius.
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die drei Knaben aus dem Feuerofen, und wie er mit ihnen so zu allen war, so möge Gott auch uns gnädig sein.
Abb. 80 Hiob im Mist liegend, oben Jahwe- Gottvater und Engel. Vor seinen Freunden (links) und seinem Weibe (rechts) wird Hiob vom Teufel mit weitgespannten Armen gequält, „von der Fußsohle bis zum Scheitel“. (Chartres Nordportal, 12. Jahrhundert)
Vielfach wird in der christlichen Dichtung entgegen biblischer Schilderung mehr dem Charakterprofil eines großen Dulders und asketischen Büßers entsprochen. In einem vor 1419 vor den Hussiten geretteten Prager Kartäuserpergament des 14. Jahrhunderts aus Kloster Smichow kommt die demütige Haltung der schweigenden Mönche zum Ausdruck. Die Nähe zur späteren „Hymelstrass“, dem volkstümlichen frommen Belehrungsbüchlein des Stephanus von Lanzkranna ist nicht zu übersehen: Wir armen milben und schaben tun nymmer gut. Der Herr habe so wenige erwählt, die Straße zum Himmel sei so eng. Ich chan mich doch chainer meiner werch, die ich ie getet, gefrewen, seint sich seyn getrewer frewnt iob wunschet, daz er in seiner mueter leib gestorben wer.9 Die Zahl der Sünden sei so groß wie die der Sandkörner am Meer. Und doch nehmen in der Großzahl der späteren Segen Auflehnung und Klage überhand: Warum hat Gott mich vergessen? Warum diese Verlassenheit, letztlich auch Topos und Reflex auf die kulturbedingte Ausgrenzung des „aussätzigen“ 9
vgl. Eis, G. Mittlg. aus altdeutschen Handschr. aus den Sudetengebieten. In: Stifter-Jahrbuch 1964, S. 173
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Spruchtexte
Kranken: Wie beißen mich die Würmer so übel? – Es lag Sant Job ann einem Stein, und aßen ihm die Würmer sein Gebein – Christ hat mich vergessen, mich wollen die Würmer essen! – So und ähnlich lauten Hunderte von Heilsegen in ganz Europa. Und meistens wie im Heidelberger Codex 255 des 16. Jahrhunderts folgt im Dialog der vielen Begegnungssegen Gottes tröstend-heilende Antwort: Stant vff, Job! vnd gehe heim. Sie dir ersterben, eche das sunnen schein vnd mon schein vff erden. Sie seint weis oder gel oder rot, sie ligent alsament dot. Diese dem Segen immanente optimistische Heilungsaussicht – ausdrücklich wird sein Leiden sogleich als vorübergehend bezeichnet – findet sich im 10. Jahrhundert im Trierer Wurmsegen gegen den Talpa, einem Maulwurf als Krankheitserreger, vorgezeichnet. Nach Verordnung eines umständlichen Ritus wird eingangs mit dämonisch klingenden Namen operiert: 10
Piupi und Uripi, es ist zwecklos, daß ihr euch heranschleicht. Der heilige Hiob wurde von den Würmern nur vorübergehend befallen. Daher möge auch jener Mensch und jenes Pferd, es sei weiß oder schwarz, die Würmer nicht behalten. So will es der Herr, die heilige Maria und der gute Hiob.
Aus dem Innsbrucker Arzneibuch ist folgender lateinisch-deutsch gemischter Segen mitgeteilt, der im 12. Jahrhundert geschrieben wurde, und der dem talpa (Maulwurf ) noch einen cancer (Krebs) hinzufügt. Man bedenke, daß „Wurm“ als Oberbegriff für die meisten eingedrungenen tierisch vorgestellten Krankheiten galt: 11
Quem vermis mordet. […] Xpc in petra sedebat. et uirgam in manu tenebat et dixit. Dne. si uermes isti sunt viui. moriantur. […] Dne libera seruum istum uel ancillam. N. vone demo wurme cancro et talpone. et omnibus uermibus. wrm ich gebivte dir bi gotes worten et sci iob unte siner heligin chinde. daz tusen (du disen) man uel dizes viibes mer enbizzest. noch tages. nohc nahtes.
Wen der Wurm beißt […] Christus saß auf einem Stein und hielt eine Rute in der Hand und sagte. Herr. Wenn diese Würmer leben, sollen sie sterben. […] Herr, befreie diesen Diener oder die Magd N. von dem Wurm, Krebs und Talpa und von allen Würmern. Wurm, ich gebiete dir bei Gottes Wort und bei Sankt Iob und seiner heiligen Kindschaft, daß du diesen Mann oder dieses Weib nicht annagst, weder des Tages noch in der Nacht.
Aus seinem Typ mit der changierenden Eingangsgestalt (Christus oder Hiob?), dem getragenen Stab oder der Rute in der Hand, dem Dialog zwischen Gott und Hiob, wie er als ziemlich stabiles Motiv aus den alten Petrussegen12 hinzutrat, ist 10 Trier Stadtbibliothek, Hs 40/1018 8°, fol.41v-43r Übertragung aus dem Lateinischen durch Embach, Michael, in: Kurtrierisches Jahrbuch 44 (2004), 49f 11 Innsbruck Univers.-und Landesbiblioth. Tirol, Hs. 652 fol. 77v/78r aus Kloster Stams, veröffentl. durch Mone, Anz.7,609; Zingerle, Germania 12,466; Wilhelm, Denkmäler,41 12 vgl das Kapitel 32
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ein weiterer bis in die Neuzeit praktizierter Wurmsegenstext zu verfolgen, dessen Textbeginn zur Vorlage auch für die gedruckten volkstümlichen Zauberbücher findiger Verleger wurde, die „Egyptischen Geheimnisse“ des „Albertus Magnus“, das Romanusbüchlein und den „Wahren Geistlichen Schild“. 13
Job, Job, gieng über Land, er trug ein Stäblein in seiner Hand, da verkam ihm GOtt der HErr, GOtt der HErr sprach: Job, Job, warum trauerst du so sehr, HErr, warum sollte ich nicht traurig seyn, es will meinem Kind sein Zung und Mund verfaulen
In der Mitte des 19. Jahrhunderts hat sich ein letzter Zweig praktischer Verwendung für Volksheilkundige erhalten, der weitgehend bei Mundinfektionen der Kinder angewandt wurde. Beispiele aus der Oberpfalz zeigen deutlich, daß der ehemalige Hiobwurmsegen nun für Mundfäule (opf. Mundfal), also Bräune, Mehltau und beim Vieh Geifern (opf. Gurfel) in rudimentärer Form und mit stärkerer Ritusbetonumg immer noch volkstümlich blieb: 14
Die Mundfäule ist ärger als der Mehlthau. Kinder zwischen 10 und 12 Jahren bekommen sie. Mittel dagegen ist: Man nimmt drey Strohhalme aus einem Misthaufen, wie sie vor den Häusern auf dem Lande liegen und spricht dazu: Sitzt der hl. Job auf dem Mist und fragt, warum du so traurig bist. Diese drei Strohhalme zieht man kreuzweise durch den kranken Mund, indem man dazu betet: Helf dir Gott Vater, Sohn und hl. Geist. Und legt dann die Halme wieder an ihren vorigen Ort. Ebenso hilft das Messer des Abdeckers.
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Wehes Maulerl des Kindes, Einfallen von Löchern darin. Man spricht: Job begegnete Gott dem Herrn, sagt Gott der Herr: Job, warum trauerst du so sehr? O Herr warum soll ich nicht trauern mir will mein Mund und Schlund abfaulen. Dann haucht man 3 mal in den Mund und spricht: geh hin in jenem Thal dort fließt ein Fluß oder Brunn der heilet dir den Mund und Schlund. So helf etc. 5 VU und 5 AM.
13 Albertus Magnus „Braband“ um 1834, Teil I, S. 11 14 Schönwerth, F. X. v., Nachlaß Fasc. XXXIII; Sitten und Sagen III,268 (Neuausgabe Pressath 2010 S. 470) 15 ders.: Nachlaß XXXIII (Stadtarchiv Regensburg) Fasc. VI,24, aus Neuenhammer
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Spruchtexte
Die Heilanweisung, den Mund mit Wasser zu spülen, ist diesem Spruchtyp erst seit dem 15. Jahrhundert beigegeben, die Anwendung von Misthalmen seit dem 19. Jahrhundert.16 Belege für diese Strohhalm- oder Ähren-Manipulation häufen sich in landwirtschaftlich geprägten Gebieten. Die Handlungsanweisungen solcher Texte verlangen ausführliche magische Prozeduren. Der Fronauer Heilspruch ist rudimentär. Hinsichtlich des Spruchtextes besser erhalten und mit eben dieser Ritusanweisung ausgestattet ist eine Formel aus Furth im Wald. Der Strohhalmgebrauch ist als Christi Heilanweisung „eingebaut“: 17
Mundfäule bei Kindern Sitzt der hl. Job auf dem Mist, kommt zu ihm der Herr Jesu Christ. Sagt zu ihm Herr Jesu Christ, warum er so traurig ist. Ach, warum sollt’ ich nicht traurig sein? Geht doch mein ganzer Mund in Faul. Sagt zu ihm Herr Jesu Christ: Nimm drei Strohhalm aus dem Mist und zieh sie durch dein Maul.
Eine ganz ähnliche, schon weit abgeschliffene Kurzformel, die den Hiob nicht mehr kennt, wurde noch 1966 im Bayrischen Wald beim „Ansprechen“ verwendet: 18
Mistfäule bitte hilf mir gegen die Mundfäule. 3 Kreuzzeichen über den Mund mit einem Strohhalm aus dem Misthaufen. 7 Vaterunser.
Die raffinierteste Technik wird aus Schwaben berichtet. Man mußte ein oder drei Strohhalme mit dem Munde aus dem Misthaufen und dann dem Kind durch den Mund ziehen und sprechen: 19
Mundfäule, Urfäule, geh aus meines Kinds Mäule, geh aus meines Kinds Rachen, geh in eine Mistlachen.
Das Bild des am Mist dahinsiechenden Hiob war zweifellos ein starker Magnet derartiger Strohhalmriten, deren Tragfähigkeit wider alle Hygiene bis ins 20. Jahrhundert reicht. Die Fruchtbarkeit des Düngers, dessen erste Fuhre im Frühjahr mit Weihwasser besprengt wurde, gab diesen Prozeduren wichtige suggestive Wirkkomponenten. Zudem liegt eine Analogievorstellung zugrunde, die im „Similia similibus“ Fäule des Mundes mit Fäule des Mistes therapiert. Schließlich galt sogar Gestank seit Alters als Mittel der Unheil- und Dämonenvertreibung. Meist ergeht 16 Spamer, Adolf: Romanusbüchlein, S. 83. 17 Höser, Josepf: Oberpfälzer Volksheilkunde, Kallmünz 1921, S. 21 18 Haller, Reinhard: Ansprechen und Ansprechformeln im Landkreis Regen, in: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 1970/71, S. 153–156 19 Höhn, Heinrich, in: Volkstüml. Überlieferungen in Württemberg, 1917/18, Neudruck Stuttgart 1980, S. 261f
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die Vorschrift, den Spruch direkt auf dem Misthaufen stehend zu sprechen und so bleibt bei aller Verwitterung der Texte und Variabilität der Bräuche dieser Heilspruch bis zuletzt mit Hiobs Schicksalsort als sozial Ausgegrenztem eng und sinnfällig verbunden. Akute und chronische degenerative und infektiöse Allgemeinerkrankungen / Psychosomatische Therapie Die Anwendung der älteren Hiobsformeln erfolgte wohl meist im Rahmen empirischer Behandlung als begleitende Entspannungsmaßnahme. Die Gestalt des von Geschichten umwundenen Siechen, der in Himmel und Hölle wichtig wird, um den Gott und Teufel verhandeln, der in den Mittelpunkt des Weltgeschehens gerückt ist, konnte mühelos zu einer hoffnungsvollen Identitätsfigur werden. Wußte man doch um ihr glückliches Ende. Die kurze Geschichte war schon spannend genug, um im limbischen System Interesse zu finden; Amygdala* und Hippocampus* erkennen die Bedeutung eines „Hiob“-Signals. Unser emotional aktives Gedächtnis vermag die kurzschlüssige, aber aufbauende Segensgeschichte unter Umständen auszumalen, durch eigene Erfahrungen zu ergänzen und zu aktualisieren. Sie wird lebendig, bewirkt Bildung von Botenstoffen und trägt im Falle von Stressbelastung, Angst und Unruhe zur Wiedergewinnung von Balance bei. Im Falle von Organerkrankungen oder relevanten seelischen Leiden waren nachhaltige Wirkungen nicht zu erwarten.
32. Zahnschmerzen: Beschwörungen mit Petrus am Stein und die Gebete zur heiligen Apollonia
– Die direkte Einbeziehung des Patienten in den Heilspruch: Von der alten Befindensfrage zur Folklore: Schmerztestung und Konfrontationstherapie – – Die Zahnpflege: Von Marmor-Ziegel-Pulver zur Mundspülung – – Die heilige Apollonia, europäische Zahnheilige, „der wurden ir zen vsgeschlagen“ –
A) Die Petrus-Zahnweh-Beschwörung Schon die frühesten Zahnwehbeschwörungen der babylonischen, chinesischen und altgermanischen Kulturen hatten das Ziel einer Wurmvertreibung. Diese Vorstellung eines oder vieler Würmer als Zahnmarkokkupanten, als schmerzverursachende persönliche Unwesen reicht weit bis in die Neuzeit. Selbst Paracelsus glaubt noch an einen nagenden Wurm. Erst im 18. Jahrhundert werden durch den französischen Zahnarzt Pierre Fauchard nachhaltig Zweifel laut.1 In einer der bedeutendsten europäischen Zahnheilspruchfamilien steht um 1100 eine kleine Erzählung. Auf einem Stein, hart und beständig wie der erwünschte Zahn selbst, einem Stein aus Marmor, sitzt Christus, als ihm ein trauriger Petrus begegnet: 2
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Christus super marmoreum sedebat Petrus tristis ante eum stabat manum ad maxillam tenebat et interrogabat eum dominus dicens: „Quare tristis es, Petre ?“ Respondit Petrus et dixit : „Domine, dentes mei dolent “ Et dominus dixit: Adiuro te,
Christus saß auf einem Marmorstein. Petrus stand traurig vor ihm und hielt die Hand an seine Wange. Da fragte ihn der Herr: Warum bist du so traurig, Petrus ? Antwortet Petrus: Herr, meine Zähne schmerzen. Sagt der Herr : Ich beschwöre dich,
Gerabek, Werner E.: Der Zahnwurm – Geschichte eines volksmedizinischen Glaubens, in: Zahnärztliche Praxis 44 (1993), S. 162–165, 210–213,258–261, hier: S. 163 London British Library Harley MS. 585, fol.183r, veröffentl. Cockayne, O.(Hg.): Leechdoms, wortcunning, and starcraft of Early England, Band III, S. 64, London 1866, zit. nach Brie, Maria, Mitteilungen Schles. Gesellsch. für Volkskunde 8 (1906), S. 25 und ergänzt nach Schulz, Monika: Beschwörungen im Mittelalter, Heidelberg 2003, S. 54
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migranea vel gutta maligna, per Patrem et filium et spiritum sanctum et per coelum et terram ut non possit diabolus nocere ei nec dentes nec in aures nec in palato […]
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migranea oder böser gutta, durch Vater und Sohn und hl. Geist. Und durch Himmel und Erde, daß ihm Satan nicht schaden kann, weder an Zähnen, noch Ohren und Gaumen […]
Die weiteren Formeln verkehren nur die Sitzordnung; nun sitzt Petrus auf dem Stein, und nur gelegentlich werden Personen getauscht, statt Petrus die Gottesmutter, in französischen und niederländischen Texten später Apollonia. Auch wechseln die Schmerzgesten und -haltungen des Patienten Petrus. Man hat vermutet, daß die Stein- oder Felslokalisation mit Matthaeus 16,18 zusammenhängt, also mit dem Vorsatz des Gottessohnes, seine Kirche auf Petrus dem Fels zu gründen. Eine andere Ursprungsvermutung ist historisch orientiert: Jerusalempilgern sei einst ein großer Stein hinter der Stadtmauer unweit der Kidronbrücke gezeigt worden, dort wo Petrus saß und die Verleugnung Jesu während der Passion bitter beweinte.3 Die Evangelien sagen uns nur, daß Petrus nach dem Krähen des Hahnes hinausging und bitter weinte, nicht wohin er ging (Matth 26,74, Luc 22,60). Die Legenda aurea weiß von drei Tage lang währender Beweinung, gibt allerdings als Ort eine Grotte Gallicantus4 an. 5
Der zen segen. Sanctus Petrus cum sederet super petram marmoream misit manum ad caput, dolore dentium fatigatus tristabatur. apparuit autem ei Jesus qui ait: „quare tristaris, Petre?“ „Domine, venit vermis emigraneus et devorat dentes meos.“ Jesus autem ait: „adjuro te, emigranee, per patrem et filium et spiritum sanctum […]
Der Zahnsegen. Sankt Petrus saß auf einem marmornen Stein und hob seine Hand an die Wange. Er war vom Zahnschmerz erschöpft und bedrückt. Da erschien ihm Jesus: « Petrus, was bedrückt dich ? » „Herr, der Hemikraniewurm frißt meine Zähne“. Jesus sprach „Ich beschwöre dich bei Vater, Sohn und heiligem Geist […]
Eine römische Handschrift des 14. Jahrhunderts verändert die Szene in eine Unterweisung Jesu an seine Jünger, die alle versammelt sind; nur Petrus sitzt auf dem Marmorstein und fordert mit seiner Wehmut die Anfrage Jesu heraus, während ein weiterer Wiener Text die Jünger als Gemeinschaft nach dem Vorgehen Jesu fragen läßt; diese Version ist seltener, aber sie weist uns noch direkter auf die Wurmvorstellung bei der Zahnschmerzentstehung hin:
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Jacoby, Adolf: Segenssprüche und Zauberformeln aus Luxemburg, Ons Hemecht 24, S. 30 Jacobus de Voragine*: Legenda aurea, Übersetzung Richard Benz, Gütersloh 1999, S. 215,328 Wien ÖNB HS 2817, fol. 28r (14. Jahrhundert), veröffentl. Schönbach, Anton, Zeitschr. für deutsches Altertum 27 (1883), S. 308
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Spruchtexte
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Iesus docebat discipulos suos et ibi sedeba(n)t […], et Petrus, qui sedebat super petram marmoream, tenebat manum suam a caput suum e cepit contristari. Dissit Iesus : Petre, quare tristis es ?
Jesus lehrte seine Jünger und da saßen […] und Petrus, der saß auf einem Marmorstein, hielt die Hand an seinen Kopf und trauerte. Sagt Jesus: Warum bist du traurig, Petrus?
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Christus in petra sedebat et virgam in manu tenebat et vermibus contradicebat. Discipuli veniebant qui ad eum dicebant: domine, quid facis hic? qui respondit: vermibus contradico; si sint vivi moriantur, si mortui sunt exeant foras.
Christus saß am Stein und hielt eine Rute in der Hand und beschwor Würmer. Jünger kamen und fragten: Herr, was machst du hier ? Er antwortete : Ich beschwöre Würmer : Wenn sie leben, müssen sie sterben, wenn sie gestorben sind, müssen sie heraus.
Als ältester deutschsprachiger Petrus-Zahnsegen gilt der Wolfsthurner Spruch des 15. Jahrhunderts aus der Handschrift des Schlosses der Freiherren von Sternbach: 8
Sant peter sas auf einem stain vnd hub sein wange in der hant. Do chom vser herre vnd sprach czu ym: Peter, was hastu? Da sprach sant Peter: Herre, die würm haben mir die czende durchgraben. Da sprach der herre: Ich beswer euch czende, pey dem vater vnd pey dem sun vnd pey dem heiligen geist, daz ez (ihr) hinfuhr chainen gewalt mer habt, Petro sein czenden cze graben. Ayos, ayos, ayos, tetragramaton.
Das Typische der meisten dieser Texte ist die Befindensfrage an den Patienten bei einer Begegnung zwischen Heilerperson und Krankem. Diese Frage nach dem Grund einer Verstimmung als Eröffnungsformel erinnert an die psychiatrische Anamnese, bei der Bemühung um Diagnose und Therapie zusammenfließen. Als Zeichen des Eingehens auf die Nöte des Leidenden wird sie als Kern dieses Typs bis in die Neuzeit Bestand haben. Die Befindensfrage dürfte Vorbild auch für den Dialog in den verwandten späteren Hiobsegen gewesen sein, in denen allerdings mehr der Hilferuf als die Trauergestik an erster Stelle steht. Die Befindensfrage als persönliche Annäherung an den Kranken, als individuelle Annahme seiner Klagen mag vielleicht auch den Boden für praktische Kuranweisungen zur Zahnpflege gegeben haben. Außerdem bot sich aus diesem einzigartigen Einbau von Indiskretion, Distanzminderung und Individualisierung in die übergeordnete eigentlich unpersönliche Beschwörungsformel die Möglichkeit von Parodisierung, wie sie rein theoretisch gesehen einer modernen Psychotherapieform nahesteht. Darauf ist noch zurückzukommen. 6 7 8
zit. nach Köhler, Reinhold, Germania 13 (1868), S. 178 (aus der Biblioteca Corsiniana, Rom) Wien ÖNB HS 2817, fol. 30c, veröffentl. Schönbach (wie oben), S. 309 Wolfsthurn Bibliothek v. Sternbach, Hausmittelbuch, veröffentl. Zingerle, Z.des V. f. Volksk. 1 (1891), 175
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B) Verwilderung der Textformen und der Heilriten. B) Von der Befindensfrage zur Schmerzabschätzung B) Christus empfiehlt Mundspülung Mindestens seit dem 14. Jahrhundert verzeichnen wir neben den Sprüchen des genannten Typs mit ihrer Erzählung auch Wort- und Buchstabensplitter als Amulettapplikationen in den Medizinbüchern. Gerade für die Zahnindikation ist das besonders häufig. Schon Marcellus* von Bordeaux hatte im 5. Jahrhundert neben einer Unmenge von mehr oder weniger nützlichen, zumeist pflanzlichen Mitteln ein ARGIDAM MARGIDAM STURGIDAM9 bei zunehmendem Mond am Tag des Mars oder Jupiter siebenmal zu sprechen empfohlen. Er notiert auch die Übertragungsmagie an einen Frosch, dem man in sein Maul zu spucken hat und an eine Schwalbe, der man nach Bereiben der Zähne mit dem unzüchtigen Mittelfinger nachruft: Schwalbe, ich sage dir: wie dies nicht zum zweitenmal in meinem Mund sein wird, so sollen mir das ganze Jahr die Zähne nicht schmerzen!10 Das Bremer Arzneibuch des Arztes Arnoldus Doneldey (1313–1398) empfiehlt, bestimmte Worte auf Jungfernpergament oder direkt auf die Wange zu schreiben. Dem niederdeutschen „Buten“ entspricht in den oberdeutschen Medizinbüchern das „Büezen“ und „Büßen“, also das „Heilen“: 11
To den tenensere. Scrif desse namen Für den Zahnschmerz. Schreib diese Namen in ungheboren permet auf Jungfernpergament .#. allubia .#. transeon .#. trayson .#. leroboneon .#. astroya .#. Wultu der tenen sweren schire buten, Willst du den Zahnschmerz heilen, so schreibe so scrif eme in de wanghen desse wort ihm diese Worte mit Tinte auf die Wange: myt dinten: Rex pax vax in Christo filio,
Wieder andere Buchstaben-Applikate bietet eine Handschrift des 13. Jahrhunderts aus dem Kloster Niederalteich, aber nicht ohne eine auch praktisch medizinische Anweisung mit der Verwendung von Cantharidin zu geben. Das ist Musca hispanica, die noch bis in die Neuzeit12 als schmerzlindernd und blasenziehend rezeptierte „Spanische Fliege“. Detailliert ist beschrieben, wie dieser Gleuml-Käfer um Johanni gesammelt und wie er zubereitet und angebracht werden muß. Die nachfolgenden obskuren Buchstabenfolgen, vielleicht alte Splitter, sind zum Teil ausradiert. Sie lauten:
9 vgl. dazu Meid, Wolfgang: Heilpflanzen und Heilsprüche. Zeugnisse gallischer Sprache bei Marcellus von Bordeaux. Innsbruck 1996, S. 56. 10 Marcellus: Über Heilmittel, Hg.: Niedermann, Max, Berlin 1968, SS. 219,223 11 Hannover Staatsarchiv Ms AA 16, Pergament 1382 (verbrannt), veröff. Windler, Ernst: Das Bremer mittelniederdeutsche Arzneibuch des Arnoldus Doneldey, Münster 1932, SS. 4, 9 12 Kobusch, Helmut: Der Zahnwurmglaube in der deutschen Volksmedizin, Diss. Frankfurt/M., 1955, S. 31f
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Spruchtexte
+ Un, den.dan.ne. nos. has. breunam(?) sunt. salus et detonsio(?) pan. pan. nas. in perenilla + + vbo ..+ ..... + ..... + Aenosque ..... + istos caracteres ligatos ad locum doloris tenebris (etwa : Diese Buchstaben sind an verborgene Schmerzstelle zu binden)
Diese sinnentleerten Elemente deuten einerseits auf die Tendenz der Heiler zu zauberhaft-geheimnisvollem Worteinsatz zur Performation bei Schmerzgeplagten. Andererseits spüren wir die Angreifbarkeit solcher Textsplitter und Wortsalate für die Aufklärer. Wichen sie doch von den christlichen oder wenigstens christlich ummäntelten Sprüchen weit ab. Darüber hinaus werden seit dem 15. Jahrhundert immer mehr effekthaschende Mittel für Zahnkranke bekannt. Der Stand der Zahnärzte hat sich sehr spät gebildet; erst im 18. Jahrhundert „verschob sich der Schauplatz zahnärztlichen Handelns vom Marktplatz in das Zimmer.“14 Zahnbrecher zogen als Marktschreier noch lange durch die Lande und boten Aufsehen erregende Amulette, Büschel und Tincturen an. Turbulente Szenen schildert eine hessische Chronik von 1595 aus Kassel über Störger (= Scharlatane), wo der Theriakskrämer Georg von Harz plötzlich einen Konkurrenten bemerkt, der seine Ware ekelerregend, lautstark und eben werbeattraktiv feilbietet. Er hat Schlangen und Kröten angebissen und gefressen und danach seinen bewährten Wundertheriak als Gegenmittel gepriesen. Dagegen kann sich Georg nur noch erfolgreich wehren, indem er den Gaffern reimend eine wilde Frau vorgaukelt: Schau, Bauer, schau! Hier ist eine wilde Frau! Schau und lauf, hier findest du den besten Kauf: Dill, Petersill, Wurmsamen, in Gottes Namen! Heran, heran, wer hat einen bösen Zahn. Hier ist der Mann, der ihn ohne Schmerzen langen kann!15 In solchem Milieu konnten sich Helfer für Zahnkranke bestens tummeln. Zusammen mit Zauberworten kommt auch eine „magische“ Zeremonie in Gebrauch, die „durch Gottes Willen“ den Hufnagel und den Hammer eines Schmiedes scheinbar gegen den bösen personalisierten Zahnwurm einsetzen. So in der Grazer Handschrift des „Matheus“ von 1587: 16
Ain Bewärte Kunst fier den Zanntwee So Gee die person zu Ainem schmidt, vnd pit im durch gottes willen vmb 3 Hueff Nagl. Darnach stel (stelle) die person an ain thüre da man aus vnnd ein geet, darnach so schreib die wort auff ain Zetl
13 Mannhardt, W., in: Zeitschr. für deutsche Mythologie und Sittenkunde 4 (1855), S. 417f, aus dem Cod. Jen. des Necrologium Altahense, fol.155, 13. Jahrhundert 14 Keil, Gundolf und Werner E. Gerabek: Ein zäher Kampf der Zahnärzte (Kulturgeschichte der Zahnheilkunde), in: Zahnärztliche Mitteilungen 79 (1989), S. 1872–1876, S. 2064– 2069,2194–2197, hier: 2067 15 Nodnagel, August: Hessische Sagen. In: Z. für deutsche Mythologie und Sittenk. 1 (1853) 30–36, hier: S. 35 16 Graz Steiermärkisches Landesarchiv, Hs. Nr 476 Arznei- und Alchemiebuch des Matheus S., fol.38
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Alß. + Saba + Kallas + sabba + Kallda + . Darnach so nim ain Hueffnagl vnd schlach in in das erst wort, der person ob dem Khopff Vnnd frag die Person dieweill du denn Nagl schlegst. ob Jr der Zandt noch weethuet, sagt sy Nain, so schlag den Nagl piß an den Khopff. in die thüre, vnd sagt sie, er thue jr noch wee, so schlag den andern Nagel in dz Anndere wortt; frag sie so lang: piß du Kain Nagl mer hast darnach Zerreiß die Zettl.
Aber es ist nicht mehr eindeutig der Wurm, der genagelt werden soll. Das Vorgehen wird zwielichtig. Es geht auch den Leidenden selbst an, indem er fast „ob dem Khopff“ mit einem Hammer bedroht wird und mit System einer drängenden Befragung unterstellt ist, der unausgesprochenen Frage nämlich nach seinem wirklichen Leidensdruck. Denn auch Zahnschmerzen können psychogen oder teilpsychogen sein. Eine Handschrift des 15. Jahrhunderts erwägt und beschwört messerscharf die Glaubwürdigkeit der Klage: 17
Item nym ain tennyn holtz und mache Nimm ein Tannenholz und mache ein ain prettlin, schreib dorauf also: Brettlein und schreibe darauf: + Mechmet + hilff im + nach seinem willen. + dornach sprich zu dem kranken: Danach sprich zu dem Kranken: Ich main du hetst und sehest ytzo nichts Ich meine, du hättest und sehest nichts liebers dann das dir paß an zenen were. lieber, als daß dir an den Zähnen geholSpricht der mit warhait ja, so thue drey fen sei. Spricht er glaubaft „Ja“, so straich auf ain messer, das setze mit der ritze drei Striche auf ein Messer und schneiden auff die obgemelte geschrift setze es mit der Schneide auf die und sprich: im namen got des v. etc. Schrift und sprich Im Namen Gottes etc. und verprenn das pretlin. und verbrenne das Brettlein.
All diese willkürlichen Textgestaltungen finden Kritik von kirchlicher Seite. Sie werden als Verstöße gegen das erste Gebot verstanden, weil sie etwas hinzufügen, was nicht dazu gehört. So wendet sich der Theologe und Klosterreformer Nikolaus von Dinkelsbühl gegen die Hufnagelzeremonie als Täuschung und eitles Dazutun.18 Und noch weitere „eitle Zutaten“ zum Besegnen fallen auf, nämlich der Versuch einer Zahnpflege, die zu jenen Zeiten sehr vernachlässigt wurde. Man bedenke eine Anleitung zur Zahnpflege des 14. Jahrhunderts,19 die ein Zahnpulver aus gebranntem Marmor, Dattelkernen, weißem Glas, roten Ziegeln und Bimstein, also lauter zeichenhaften Substanzen empfiehlt, die mittels Leintuch auf die Zähne zu reiben waren. Das entsprach schon der alchemistischen Signaturenlehre, die aus 17 Innsbruck Ferdinandeum, Pap.Hs IX. C. 14 ½, veröffentl. Mone, Anzeiger für die Kunde des deutschen Mittelalters 7 (1838), S. 420 18 vgl. Harmening, Dieter: Glaubenslehre-Aberglauben-Ketzerei. Formen der Religionskritik. In: Harmening, /Wimmer (Hg): Volkskultur – Geschichte -Region (FS W.Brückner) Würzburg 1990, S. 319 19 München BSB Clm 444, fol. 208r-210r, veröffentl Schultz, Alwin, in: Z.f.D.A. 24 (1877), S. 189
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Spruchtexte
stofflichen Ähnlichkeiten auf natürliche Zusammenhänge und Wirkungen schloß. Gegen Mundgeruch besonders wenn sie mit ihrem Freunde schlafen sol, müssen Damen Lorbeerblätter oder Muskat kauen und nach dem Essen den Mund mit Wein spülen. Da waren die Frischwasser-Spülempfehlungen, zumal oft mit Quellenbesuch oder Gang zu einem „heiligen“ Wasser verbunden, schon fortschrittlicher. Sie sind auch vielen Hiobsegen zueigen. Wir finden sie in der gleichen oben erwähnten Handschrift aus Graz , wo das Jordan-Taufwasser Jesu als Heiltum sich mit Mundspülung als praktischer Reinigung legiert,20 und in einer Handschrift des 17. Jahrhunderts aus dem Rheingau an einen Petrus-Stein-Segen angefügt. Christus spricht keine Beschwörung mehr, sondern ermutigt zur praktischen Mundpflege: 21
St. peter stund zu eyner Stund und hette Vieh im Mund an den Zehnen sein mit großer Peyn. Da sprach herre Jesus Christ: St. peter du traurig bist. Von deiner Zähne Ungemach wird dir gar gach. Geh hin in Grund, nymm Wasser in den Mund. Und spey es aus dem Mund wieder in den Grund.
Bis in die Neuzeit hat dieser Quellengang Bestand und wird oft gründlicher beschrieben und an bestimmte lokale Quellen gebunden wie zum Beispiel an die Alandsquelle bei Würzburg.22 Zuletzt finden die Petrus-am Stein-Texte immer weniger Akzeptanz. Beispielsweise wird über eine fehlgeschlagene Behandlung zu Beginn des 20. Jahrhunderts ganz nüchtern berichtet, wie der 70-jährige Landwirt Josef Wasserheß sich einer Segensprecherin anvertraut: „Dann sagt sie ‚Petrus sprach zu Jesus, meine Zähne fangen an zu faulen‘, dann sollte ich das Wasser in den Bach speien; ich mußte mir aber das Lachen verbeißen, habe das Wasser geschluckt und bin Laufen gegangen – zum Dr. K. nach Beuel.“23 Kommentarlos reiht der Oberpfälzer Schönwerth in der Mitte des 19. Jahrhunderts den folgenden Schwank in seine Sammlungen unter „Zahnweh“ ein: 24
Einem thaten die Zähne weh. Da sagte der Andere: Weißt was, steig auf den Baum hinauf und sprich dann: Daud man Zon wai, daud ma nimma wai. ( Es tut mein Zahn weh; es tut mein Zahn nicht mehr weh) So stieg der Kranke zu oberst hinauf und sagte dem Zweyten den Spruch herunter. Der aber entgegnete: Non, wenn a da nimma wai daud, sua steig ner wida – r oba, sua brauchst mi nimma ! (Also wenn er dir nicht mehr weh tut, so steig nur wieder herunter, so brauchst mich nicht mehr) Und ging damit fort.
20 Graz Steiermärkisches Landesarchiv, Hs. Nr 476 von 1587, Arznei- und Alchemiebuch des Matheus S., fol.180v, der Text siehe Kapitel 08 21 Roth, F.W.E., in: Zeitschr. für Kulturgeschichte N.F. 2 (1895), S. 183–191, hier: S. 190 22 Schöppner, Alexander: Sagenbuch der bayerischen Lande, München 1852–66 III, 57 23 Dittmaier, Heinrich: Sagen, Märchen und Schwänke von der unteren Sieg, Bonn 1950, S. 69 24 Schönwerth, Franz Xaver v.: Aus der Oberpfalz. Bd.III, S. 245 (Neuausgabe Pressath 2010 S. 460)
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In diesem Dialog wird dem Leidenden ein Baumaufstieg und eine selbst zu sprechende Formel empfohlen. Der Leser könnte Spott über jemanden empfinden, der ebenso schmerzgeplagt wie naiv wirkt. Die Funktion dieses Schwankes ist Verunglimpfung des alten Zauberglaubens und seiner Formeln. Die Siege der Aufgeklärten über die Ahnungslosen, die Triumphe der Gebildeten über die Unerfahrenen gehören zu den wichtigsten Attraktiva des Schwankes in verschiedensten Bereichen.25 Der Volksmund hat sich gerade bei diesem Thema gerne der Parodie und des Spottes bedient, eindeutig im Rahmen der frechen Amulettzettel, die kluge Leute mit geheimnisvollen Sprüchen beschrieben, deren Eröffnung ausdrücklich verboten wurde. Bei Nichtbefolgung stieß man auf bittere Bosheiten wie: Der Teufel reisse dir die Augen aus und fülle die Lücken mit Koth! 26 Diese Parodien der letzten Zeit auf den „Zauberspruch“ im allgemeinen und speziell auf Zahnwehformeln kündigen sich schon lange an. Die spottreichen Berichte entstammen nicht einer allerletzten Aufklärungswelle. Schon in seinem 1646 veröffentlichten Werk hat Gwerb27 eine ähnliche Version, bei der am Schluß nicht erkennbar wird, ob der Inhalt des Zettels entdeckt wurde, mit der Bemerkung versehen, das alles hat diser edel Zädel vermögen / oder vil mehr der Teüfel durch denselben. Und Christian Lehmann28 aus dem Erzgebirge bezichtigt 1699 einen Apothekergesellen, der die Methode der Altweiber-Philosophie entnommen haben soll, der Gaukelei: Er schrieb einige Buchstaben auf einen alten Lappen / hielt dann einen alten Huffnagel auff den alten Buchstaben / schlug mit einem Hammer drauf / und fragte den Patienten: ‚Thut dir der Zahn noch wehe?‘ und hatte aus der Erfahrung / daß sich der Schmertzen in puncto gelegt. Die Deutung als Parodie gereicht allerdings nicht zum vollen Verständnis. Der reale, ein Zwielicht schaffende Hintergrund dieser Schwänke liegt in der vieldeutigen Subjektivität des Schmerzempfindens und der Schmerzäußerung. Schmerzen sind nicht messbar und eine Diagnose ist nicht gestellt. Man hat demnach vergleichbare Kurzformeln durchaus als ernst zu nehmende Beschwörungen auffassen müssen, wie die Zahnschmerztherapie des auf 1851 datierten Ulmer „Albertus Magnus“-Zauberbuchs: 29
Zahnschmerzen. Man fragt den Leidenden mit sanfter Stimme: „Haben Sie Zahnschmerzen?“ Wenn nun, wie natürlich, derselbe dies bejaht, so spricht man mit barscher, kräftiger Stimme: „Das ist nicht wahr, es ist dennoch nicht wahr!“ Und siehe da, verschwunden ist der Schmerz.
25 Bausinger, Hermann: Formen der „Volkspoesie“, Berlin 1968, S. 151 26 Schönwerth, wie oben, Bd.III, S. 232 (Neuausgabe Pressath 2010 S. 455) 27 Gwerb, Rudolff: Bericht/ Von dem abergläubigen vnd verbottenen / Leüth=vnd Vych besägnen, Zürich1646, S. 141f 28 Lehmann, Christian: Historischer Schauplatz derer natürlichen Merckwürdigkeiten in dem Meißnischen Ober-Ertzgebirge, Leipzig 1699, S. 901 29 Albertus Magnus sympathetische und natürliche egyptische Geheimnisse, Ulm 1851, S. 122
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Spruchtexte
In eine darauffolgende Formel im gleichen Ulmer Zauberbuch wird die Nagelschlag-Bedrohung im Takt der Dreifaltigkeit verstärkt und eine „Fixierung der Phantasie“ nach populärer Suggestionsvorstellung eingeführt: Man legt seine Hand einige Augenblicke an die Wange der leidenden Seite des Kranken. Hilft dieses nicht, so nimmt man einen nicht rostigen Nagel mit dessen Spitze die Höhlung des Zahnes oder das nahe Zahnfleisch berührt wird. Alsdann wird der Nagel in eine Tür geschlagen. Mit dem ersten Nagel spricht man leise: Im Namen Gottes des Vaters. Nun fragt man: Haben Sie noch Zahnschmerz? Wird ja, oder nein geantwortet, so folgt der zweite Nagel mit den Worten: Im Namen Gottes des Sohnes. Dann wird noch einmal gefragt und darauf beim dritten Schlage: Im Namen des heiligen Geistes! gesagt.Während des Experiments muß der Kranke dem Zimmerfenster und der Straße den Rücken zukehren, damit seine Phantasie fixiert wird.
Eine Selbstsuggestion aus Böhmen verrät in Kurzfassung die gleiche emotional steuernde Strategie: 30
Meine Zähne thun wieh – meine Zähne thun sehr wieh – meine Zähne thun ungeheuer wieh – meine Zähne thun gor ne mei wieh.
Den Formeln ist eine recht direkte zupackende Methode zueigen, die nicht mehr primär einen Krankheitsdämon beschwört. Auch diesen ward ja oft erst freundliche Begrüßung zuteil, strategisch bedachte Überrumpelung, bevor man ihnen Befehle erteilte.31 Hier nun wird der Kranke zunächst mild vertrauensvoll mit einem „weißt was“ und „mit sanfter Stimme“ angesprochen, es wird ihm ein guter Rat gegeben und ein intensiver Blickkontakt hergestellt,32 Noch ein gwiß mitel, Zanwehe alsbald zuo stellen wan ein mentsch das Zahnwehe hatt, so sag ihm, ehr soll dich starck in den angsicht ansechen, vnd sag heimlich still vnd lug dise person auch eigentlich an, sag: Nicodemo ... so hörth das Zanwehe alsobald; ich habs an 3 personen also probiert, hat in als bald ghört vnd nit wider kommen; sei läbend noch all dri.
und er wird zum Aussprechen seines Schmerzes aufgefordert. Auf diese vertrauensbildenden Maßnahmen folgt der Schock, eine kalte Dusche, eine Gegenbehauptung: „Das ist nicht wahr!“, folgt sogar der Betrugsvorwurf 33:
30 Paudler, A.: Mitteilungen des Nordböhmischen Excursionsclubs 28 (1905), S. 369 31 Hampp, Irmgard: Beschwörung, Segen, Gebet. Stuttgart 1961, S. 74 32 Dettling, A.: Aus dem Arzneibuch des Landammanns Michael Schorno von Schwyz + 1671, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 15 (1911), SS. 89–94 und 177–184, hier: S. 93 33 Zahler, H. Die Krankheit im Volksglauben des Simmenthals, in: 16. Jahresbericht der Geographischen Gesellschaft von Bern 1897, Bern 1898, S. 133–260, hier: S. 245
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Gegen Seitenstechen sagt der Beschwörer [...] nachdem der Patient gesagt: D’s Milzi schnydet mich – Du lügst! was ebenfalls drei Mal wiederholt wird.
ergänzt bisweilen durch schmerzzufügendes Nageleinstechen in den Zahn oder Einrenkmanipulation: 34
Hat sich jemand (v)errenkt und läßt sich dafür thun, so muß er sagen: Ich ha mich errenkt! Der Beschwörer antwortet darauf: Du hest ses erdencht! Das wird drei Mal wiederholt. Beim letzten Mal sagt der Beschwörer: Du hest ses erlogen un erdencht. Dazu wird allerdings der kranke Arm kräftig gezerrt.
Es ergibt sich von selbst, damit die volkstümliche primitive Urform einer stellenweise anerkannten und von Ärzten oft intuitiv betriebenen Psychotherapiemethode zu erblicken. In den hier aufgereihten aus verschiedenen Gegenden kompilierten Texten der letzten Jahrhunderte deutet sich ein gemeinsames Vorgehen an, das nicht mehr das fremde „Es“ der Zahnwürmer, sondern „Ich“-Anteile des Patienten erreichen möchte. Fast systematisch werden mit dem Patienten drei Schritte in gleicher Abfolge durchlaufen: 1. Erwärmung
2. Konfrontation
3. Abstoßung.
Genau diesem Schema entsprechen mit freilich entwickelterer Differenziertheit die drei Schritte einer modernen Konfrontationstherapie, wie sie ein amerikanisches Handbuch der Psychotherapie verzeichnet.35 Obwohl sie einen Patienten bloßstellt, ist diese Therapie oft nicht erfolglos, denn der Arzt schließt unausgesprochen einen Pakt mit den gesunden und gereiften Anteilen der Persönlichkeit. So berichtet ein Augsburger Nervenarzt in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts von einer Patientin, die eine halbjährige Ärzte-Odyssee hinter sich hatte, bis ihr schließlich einer nach gründlicher Untersuchung knapp gesagt hat: „Sie sind gesund. Also benehmen Sie sich gefälligst auch wie eine Gesunde!“. Nach diesem Satz, den sie sich gemerkt habe, seien ihre Beschwerden schlagartig verschwunden.36 Diese Therapieform wird heute in Deutschland seltener angewandt. Sie steht im Wohlfahrtsstaat der narrativen Selbstentfaltung des Patienten und den merkantilen Interessen des Arztes entgegen. Über eine Einschätzung als Therapie Strafgefangener siehe Kap. 21.
34 ebenda 35 Corsini, Raymond J.: Konfrontative Therapie (amerik.: Immediate Therapy), in: Corsini, R.J. (Hg.): Handbuch der Psychotherapie. 2 Bände, Weinheim und Basel 1983, Bd. I, S. 55– 570 36 Kurek, Martin: Der Neurotiker und sein Hausarzt. In: Allgemeinmedizin 16(1987),100–106
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Spruchtexte
C) Die Zahnschmerzgebete mit Sankt Apollonia Anders als die meisten oberdeutschen heiligen Helfer, die oft nur regional bekannt wurden, ist Apollonia europaweit Patronin der an Zahn- und Kiefererkrankungen Leidenden und der Zahnärzte geworden. Heute gibt es eine Apolloniaklinik für Oral-Chirurgie in Ludwigshafen und eine Apollonia-Stiftung der Zahnärzte in Westfalen-Lippe. Ihre historische Existenz scheint unbestritten; stets wird auf einen Bericht des Bischofs Dionysius von Alexandria (247–265) an Fabian von Antiochien gewiesen, wonach sie im Jahre 249 in Alexandria den Märtyrertod erlitt. Die Stelle lautet: Apollonia, eine virgo presbytera (eine Diakonin?) wurde sehr verehrt. Männer (dieses Pogroms) packten sie und brachen ihr durch wiederholte Schläge alle Zähne aus. 37 Den Unterkiefer habe man zertrümmert und einen Scheiterhaufen errichtet. Spätere Legenden melden, daß ihr die Zähne einzeln mit einer Zange brutal herausgerissen wurden. In der Legenda aurea von 1260 erklärt Jacobus de Voragine*, warum diese Frau verehrt wird: „Diese furchtlose Märtyrerin konnte von den Qualen nicht besiegt werden“. Im Jahre 1276 riet dann Papst Johannes XXI., bei Zahnschmerzen im Gebet der Apollonia zu gedenken. Erst 1634 wurde sie heilig gesprochen. Seit dem 14. Jahrhundert wird sie um Fürsprache gebeten. Zunächst gilt ihre Fürsprache nur als Alternative zum alten Steinsegen: 38
Ich kny uf desen Steyn clag den vil heligen gebeyn […] vel scribatur ista benedictio Apolonia martir et virgo cui dentes extracta erunt
Ich kniee auf diesem Stein klage dem allerheiligsten Gebein […] Oder man schreibe diesen Segen der Märtyrerin und Jungfrau Apollonia, der die Zähne ausgebrochen worden sind
Die Düdesche Arstedie des mittelniederdeutschen Gothaer Arzneibuches des 14. Jahrhunderts verzeichnet in ihrer nach Kopf bis Fuß geordneten Heilmittellehre im Rahmen vieler empirisch praktischer Mittel im Kapitel XXXI auch zwei Anrufungen der Heiligen „Wedder de thenenworme“, also gegen Zahnwürmer : 39
Jtem men secht, dat Got heft sunte Appollonyen vorlenet, we se alle daghe eret myt synen beden vnde eren dach vastet vnde dyt bet lezet, dat em de thene nummer grote noet endoen. […]
Man sagt, daß Gott (es) der hl. A. verliehen habe, wer sie täglich mit Gebet ehrt und an ihrem Ehrentag fastet und dieses Gebet liest, daß dem die Zähne nie mehr große Not bereiten. […]
37 Eusebius, Historia Ecclesiae I, VI,41. 38 Rom Vatikanische Bibliothek, Pal.lat.1293, fol. 88v, 14. Jahrhundert, siehe Schuba, Ludwig: Die med. Handschriften der Codices Palatini Latini in der Vatikanischen Bibliothek, Wiesbaden 1981, S. 374 39 Gotha Forschungsbibliothek, Chart. A 980, fol. 21r, veröffentl. Norrbom, Sven: Das Gothaer mittelniederdeutsche Arzneibuch und seine Sippe, Hamburg 1921, S. 89
Zahnschmerzen
Ora pro nobis, beata Appollonia, vt digni efficiamur promissione Christi. Deus qui b. Appolloniam virginem tuam per martyrii palmam dentibus excussis a maligno hoste triumphare fecisti, tribue nobis, quesumus, vt eius meritis et intercessione a dolore dencium et ab ab omni langwore mentis et corporis liberemur
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Bitte für uns, selige A., daß wir würdig werden der Verheißungen Christi. Gott, der du Apollonia triumphieren ließest mit der Palme des Martyriums, da ihr der böse Feind die Zähne aussschlug, hilf durch ihr Verdienst und Fürsprache von Zahnschmerz und allen Leiden von Seele und Körper
Erste ober- und niederdeutsche volkstümliche Gebetssegen mit kurzer Eingangserzählung notieren eine Wiener und eine Lübecker Handschrift, beide im 15. Jahrhundert: 40
Sancta appollonia vas ain haillige iungfovr. der wurden ir zen vsgeschlagen. do batt sy sy got durch iren mund, wer irren namen by ym troeg, dem dett kain zan nuemmer me we. Des helf vens sancta appollonia vnd sanctus vitus
Sta. Apollonia war eine heilige Jungfrau der wurden die Zähne ausgeschlagen. Da bat sie Gott durch ihren Mund, wer ihren Namen bei sich trage, dem solle kein Zahn mehr wehtun. Das helfe uns Sta. Apollonia und St. Vitus
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S. Appolonia vele Gnade heffstu macht, du bist weldich dach vnde nacht, auer dat tenenwehe, in aller gnade, sta vns by fro vnde spade.
S. Apollonia, viele Wunder hast du getan, du bist mächtig Tag und Nacht über das Zahnweh, in Gnaden stehe uns bei, früh und spät.
In den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts sind in der Gemeinde St. Michael in Reifferscheid in der Eifel zwei Kirchenlieder zu Apollonia beliebt, die ihre Legende schildern. Deren eine Strophe lautet: 42
Gib, daß geduldig ich, nach dir beständig, o Apollonia gib, daß durch Zahnpein, Kreuz und Leid ich lauf zu deiner Herrlichkeit.
In französischen und niederländischen Texten tritt Apollonia eindeutig an die Stelle Petri in den alten Stein-Segen: 43
Sinte Apolonia kwam van een warmen steen, onze Heer Jezus Christus kwam daer voorbij en sprak tot haer, Appolonia wat doet gij daer; ik ben tot gekomen voor mijn tandpijn
40 Wien ÖNB, Hs 5166, fol. 137v, 15. Jahrhundert, veröffentl. Menhardt 2, S. 1100, danach Holzmann, Verena, „Ich beswer dich wurm vnd wyrmin …“, Bern u.a 2001, S. 205f 41 Schiller, Karl: Zum Thier-und Kräuterbuche des mecklenburgischen Volkes, Schwerin 1861, I, S. 18 42 Steinmetz, Wolfgang: Die Verehrung der hl. Apollonia als Patronin der Zahnkranken im Eifelgebiet. Med. Diss. Bonn 1977, S. 71 43 Haver, Jozef van: Nederlandse Incantatieliteratuur, Gent 1964, S. 164
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Spruchtexte
Sainte Apolline la divine assise au pied d’un arbre, sur une pierre de marbre, Jésus notre sauveur, passant là par bonheur, lui dit : Apolline, qui te chagrine?
D) Weitere Zahnschmerzsprüche anderer Motive Neben den genannten Segen und Gebeten wurde der Zahnschmerz in den letzten Jahrhunderten mit einer Reihe weiterer Spruchformeln bedacht. Es haben sich Texte verbreitet, die in der Ansprache des Mondes, besonders des Osterneumondes zumeist eine Analogie zu Mondspitzen herstellen. In der Physica des römischen Arztes Plinius ist das vorgebildet: Luna nova, dentes nova, vermes putridi foras exite! (Neuer Mond, neue Zähne; fahrt hinaus, Eiterwürmer!)45 Andere Texte bieten das Vertragen und Verbohren an Gewächse. Einige empfehlen den Gang zu einem Mark- oder Grenzstein, auf den die Wange zu legen oder in den hineinzubeißen ist; sie lassen sich zwanglos aus den Petri-Stein-Beschwörungen erklären: Ich trete auf einen Stein, die Würmer verzehren mir mein Gebein. Weit verbreitet sind Formeln nach messgebundenem Volksglauben, die sich auf Christi Passion und Auferstehung beziehen. Dabei liegt ein Augenmerk auf einer typologischen Deutung, d. h. hier in der Zusammenschau eines alttestamentlichen Ereignisses mit dem Geschehen im Neuen Testament, in unserem Beispiel die Beziehung von 2 Mose 12,46 zu Johannes 19,32–37: In den Vorschriften zum Passahmahl hatte der Herr befohlen, daß dem Lamm kein Knochen, „kein Bein“, zerbrochen werden darf. Man vergleiche das zur Longinusfunktion46 Erörterte. Ich füge zwei Beispiele aus dem 15./16. Jahrhundert an, das erste mit einer antithetischen Suggestionstaktik ausgerüstet: Die Würmer müssen mit Christus sterben, aber nur er kommt wieder zum Leben. Im zweiten Beispiel hilft die Berührung der Zähne während dieser Worte im Gottesdienst gegen Schmerzen. 47
Ain segen wem die Zene we tund. Mit dem vatter da such ich dich, mit dem sun find ich dich […] Unser lieber herre knüget (kniet) vff ainen stain, daz klag’ ich gott vnd dem hailigen bain daz gott in sinem munde gerstarb vnd an dem dritten tag wider lebendig ward Also müssen die wurm vnd daz wilde blut ersterben vnd nymer mer ewiclich lebendig werden
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Köhler, Reinhold, Germania 13 (1868), S. 181 Önnerfors, Alf: Antike Zaubersprüche, Stuttgart 1991, S. 30 Vergleiche Kapitel 7 Lommer, Victor: Volksthümliches aus dem Saalthal. Orlamünde 1878, S. 4f (Aus der Summe des Bruders Berchtold 1444, Archiv des Amtes Kahla)
Zahnschmerzen 48
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[…] gleich als wann einer spricht die heilige weissagung von dem gebeine Christi das es vngebrochen bleiben solt / Exodi ca. 12. Joannes. 19. Ir solt kein Bein jme brechen: vnd rüret die zeene dieweil Meß gethan wirt solt das zeen wehe vertreiben.
Zahnschmerzformeln / Neuropsychosomatische Bedeutung Die alten Petrus-am-Stein-Formeln reihen sich in die Strategie der anderen schmerzbezogenen Sprüche ein. Dem limbischen System wird eine überraschende Version nichtbiblischer Begegnung heiliger Personen angeboten, die eine Identifizierung mit Petrus und einen emotionalen Nachvollzug seiner Situation erlaubt. Amygdala* und Hippocampus* gewichten in der Not des Schmerzes die Bedeutung des Wortes und selektieren individuell aus diesem und anderem Hilfsangebot der Umgebung. Ähnlich wie beim Hiobtext, aber nun ganz spezifisch organ-gezielt, erfolgt eine auch ins Bewußtsein geleitete katathyme Bildgebung. Sie ermöglicht „ablenkende“ Kontemplation unter Einschluß der heiligen Apollonia bis hin zur täuschenden Aktualisierung des Spruchinhaltes und damit Balancierung der verschiedenen Botenstoffe und Stresshormone. Eine Besonderheit bei der Entwicklung mancher Zahnformel liegt in der Entwicklung zu einer folkloristischen Ausschlußdiagnostik mittels Brüskierung des Patienten. Eine Gefühlsaufwallung mit Aktivierung des limbischen Systems könnte gleichzeitig im Falle seelisch bedingter Schmerzen therapeutisch wirksam werden und über das vordere Cingulum* zum Umschlag der Emotionen von Klage in lachende Selbstironie führen, ein Vorgang, der ohne das klasssische Labeling emotions* verläuft, der aber bisher keiner experimentellen Untersuchung mit bildgebenden Verfahren unterzogen wurde. Es wäre möglich, daß die Konfrontationsformeln als Akte perturbierender Frustration, weil sie der Zufügung von körperlichem Schmerz verwandte Hirnfunktionsabläufe zeigen, zur Entkoppelung von Verdrängtem und zu Neubewertungen beitragen können. Weitere Folgerungen wären spekulativ.
48 Nahl, Rudolf van: Zauberglaube und Hexenwahn im Gebiet von Rhein und Maas. Spätmittelalterlicher Volksglaube im Werk Johan Weyers (16.Jh.), Bonn 1983, S. 142
33. Die heilkundlichen Segens- und Gebetsformeln der Hildegard von Bingen (1098–1179)
– Hildegards Position: Inspiration „offenen Auges“ – – „Spirituelle Therapie“ als Heilansatz mit dem persönlichen Gott – – Hildegards naturphilosophische Konzepte: Viridas (Grünkraft) gegen Schwarzgalle, Edelsteinallegorie und kosmologische Dimension –
Eine Annäherung an Hildegard von Bingen birgt Gefahren. Die Hindernisse derzeitiger Fehldeutungen und Mißbräuche von vielen Seiten sind zu überwinden, wenn man einen Blick auf das zentrale Anliegen einer Volksheiligen werfen will, die eine Sonderstellung nicht nur für die mittelalterliche Welt einnimmt. Es ist der Blick auf ihre kosmologisch orientierte sinnenklare Erlebnismystik und ihre authentische visionäre Dichtkunst. Zu erinnern ist etwa an drei Sichtblockaden: 1. Im Zeitalter der Kuschelfarmen und Esoterik-Gurus konnte eine grobschlächtige Vermarktung sog. Hildegard-Medizin nicht ausbleiben. Wer sich heute Hildegardis Intelligenzpillen gönnt, kann noch belächelt werden. Wer einer Mutter empfiehlt, die Schuppenflechte ihres Kindes mit der Galle eines bei zunehmendem Monde frisch geschossenen Hasen zu beträufeln, kann vielleicht Aufwand erzeugen. Wer aber als Arzt die Behandlung von Praecancerosen, also krebsverdächtigen Gewebsveränderungen allein mit einem „hildegardischen Aderlaß“ und mit Wasserlinsen-Elixier verordnet, ist ein verantwortungsloser Scharlatan. 2. Wichtiger zu nehmen sind die oft einer historisch einfärbenden Sicht verschriebenen Bedenken, die man heute mit allem verbindet, was Exorzismus war und ist. Diese Bedenken sind nicht auszuräumen, erinnern sie doch an epochale Verzögerungen des medizinischen Fortschritts, insbesondere der Psychiatrie. Und sie legen Wurzeln einer sowohl gesellschaftlichen als auch berufsspezifischen Rivalität frei, die man am Kampf um die Seele des Menschen versinnbildlicht hat. Als ob Geschichte sich rächen könnte, ist die Waage zwischen Arzt und Priester heute in die andere Richtung gekippt. 3. In seiner Dankesrede für den von Zahnärzten gestifteten „Hildegard-von-BingenPreis“ für Publizistik 2008 beschreibt ein Journalist sein Verhältnis zu Hildegard mit den Worten: „Das einzige, was mich mit Hildegard von Bingen verbindet, sind Visionen. Wobei ihre von ganz anderer Art waren, als meine es heute sind. Da ich auf Diät bin, muß ich immerzu an Cremeschnitten, Sachertorten […] und Palatschinken denken“ (FAZ 15.9.08, S. 34).
Bei allen Etiketten und Superlativen: Hildegard ist keine Ärztin im Sinne alter und neuer Berufsordnungen; Hildegard ist keine Botanikerin nach alter und mo-
Die Heilformeln der Hildegard von Bingen
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derner experimenteller Naturwissenschaft. Und von den sonst als Mystiker/innen verehrten Frauen und Männern des Mittelalters unterscheidet sie sich nach ihren Schriften deutlich: Ein seelischer Distanzverlust, ahistorisch psychiatrisch als kognitive Ich-Entgrenzung zu benennen, ein totales Zerfließen mit Gott oder eine Umklammerung durch Gott in Leidens- und Liebesmystik, der Unio mystica, das ist bei Hildegard nicht zu finden, jedenfalls nicht so wie etwa bei Katharina von Siena oder Mechthild von Magdeburg. Hildegard berichtet, wovon sie glaubt, daß Gott es ihr optisch und akustisch mitteilt. Sie bringt sich selbst nur wenig ein. Sie ist inspiriert, aber sie empfand nach ihren Worten nicht „das Vernichtende der Ekstase“, sondern stand fast dauernd „mit offenen Augen“ im visionären Licht. Man hat den Vergleich gewagt, sie sei fast wie eine „Reporterin“1 gewesen.2 Zwischen den visionären, d. h. intuitiven Schriften wie z. B. Scivias –Wisse die Wege, dem Liber Divinorum Meritorum, dem Liber Divinorum Operum – Gottes Wirken in den Naturgeheimnissen – und den Briefen einerseits und dem naturkundlichen Werk (Liber simplicis medicinae, später als „Physika“ im Erstdruck und Liber compositum medicinae = „Causae et Curae“) besteht nach der Überlieferungsgeschichte eine tiefe Zäsur: Die bislang gefundenen ältesten Textzeugen der naturkundlichen Schriften sind nicht im Rupertsberger Scriptorium, wo Hildegard ihrem Sekretär Propst Gottfried diktierte, entstanden und tauchten erst 100 Jahre nach Hildegards Tod auf. Die Echtheit dieser Schriften ist in der Forschung umstritten. Die Vermutung späterer Zusätze und Abänderungen liegt auf der Hand. Sind es Kopien, sind es Kopien von Kopien? Eine Originalschrift ist noch nicht gefunden. Und doch gibt es ein einziges relevantes Indiz dafür, daß Hildegard Naturkundliches geschrieben und in seiner Bedeutung dem Visionären gleichgestellt hat: In einer eigenen Bibliografie aus dem Jahre 1163 erwähnt sie eines ihrer naturkundlichen Bücher. Es sei durch eine Vision veranlaßt.3 Aus medizinischen literarischen Quellen der Antike, aus Galen*4, Dioskurides oder Plinius, oder aus dem Physiologus hat Hildegard nicht einfach abgeschrieben, wie das sonst üblich war. Aber sie kannte, wie inzwischen an Untersuchungen ihres 1 2
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Ruh, Kurt: Vorbemerkungen zu einer neuen Mystik, in: SB Philosoph.-hist. Klasse H. 7, München 1982, S. 12 Aus der gewaltigen Literatur über Hildegard sei besonders verwiesen auf: Hildegard von Bingen: „Physika“, Hg.: Basler Hildegard-Gesellschaft mit Übersetzung Marie-Louise Portmann, Einführung S. 7–19, Augsburg 1991; Dinzelbacher, Peter: Die christliche Mystik und die Frauen, in: Beutin, Wolfgang und Thomas Bütow (Hg.): Europäische Mystik vom Hochmittelalter zum Barock, Frankfurt/M. 1998, S. 13–30; Sroka, Anja: Hildegard von Bingen: Visionärin, Prophetissa Teutonica- und Mystikerin? in: ebenda, S. 33–64 vgl. Embach, Michael: Die Schriften Hildegards von Bingen. Überlieferung. Berlin 2003, S. 287 Die mit * versehenen Namen und Begriffe finden im Anhang Erklärung
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Spruchtexte
Vokabulars vermutet wird, die Schriften des Constantinus Africanus (zw. 1010 und 1015– um 1087). Der hatte arabische Medizin studiert und übersetzt und hatte einen großen Einfluß auf die Medizinschulen von Salerno und Chartres ausgeübt. Dieser weitgereiste und gebildete Mann war wenige Jahre vor Hildegards Geburt im Benediktinerkloster Monte Cassino wahrscheinlich als Laienbruder gestorben.5 Es wird vermutet, daß die Edelsteinallegorie Hildegards nicht zuletzt auch eine arabische Quelle hat. Selbstverständlich ist, daß die hochbegabte Nonne benediktinische Bildungstraditionen übernahm, nach der Benediktinerregel und nach der Augustinuskonzeption des Hrabanus Maurus* dachte und lebte. Schließlich war ihre Epoche auch eine Hochblüte der Klostermedizin, der Krankenpflege und der Heilkräutergärten. Viele Pflanzennamen sollen ihrer heimatlichen Umgebung entnommen sein, Sunnewirbel für Wegwarte, Sichterwurz für den weißen Germer, Byverwurtz für die Eberwurz, Rifelbeere für Preiselbeere. Hildegards Naturphilosophie basiert zusammengefaßt auf folgenden Grundsätzen6: Der Mensch als Gottes Geschöpf hatte ursprünglich eine optimale Verfassung und alle Elemente dienten ihm, weil sie spürten, daß er das Leben habe; sie kamen seinen Unternehmungen entgegen und wirkten zusammen mit ihm, wie er mit ihnen (Physika 1125A). Daraus resultiert ein Konnex zu den Strukturen des Weltalls und eine universelle Kraft kosmologischer Dimension verbunden mit einem ökologischen Auftrag: Der Mensch hat ein Amt in der Welt. Durch sein Autonomiestreben aber und seine Rebellion wird er gebrechlich (Abb. 81). Krankheit ist Zeichen seiner Deformation, die unter dem Schlüsselbegriff „Schwarzgalle“ gedeutet wird. Dieser schwarzgalligen Schwermut als dem Symbol der Krankheit wirkt die Grünheit (viriditas) als natürliche Lebenskraft entgegen. Ähnlich wie die vielen christlichen Mystiker/innen wirkte Hildegard in Wellenlängen, um deren Verstehbarkeit heute zu ringen ist. Denn das Mittelalter begriff Gottes Offenbarungen als außerseelische Botschaften, deren irdische Träger anerkannt waren wie einst die Propheten des Alten Bundes und somit letztlich auch „therapeutisch“ wirken konnten. Dabei waren sie nur Exponenten der Weltsicht ihrer Zeit. Untersuchungen an den Wunderberichten am Grabe der heiligen Elisabeth von Thüringen (1207–1231) mit Hinweisen auf das „religiöse Bewußtsein des Mittelalters“ bei den Kranken weisen darauf hin, daß die verehrten „Heiligen“ nicht als Exzentriker, nicht als Gegenstimmen empfunden wurden und daß die Verehrer und „Wallfahrer“ das gelebte Vorbild der Mystiker nicht nur als Symbol werteten und empfanden.7 Von den Mystikern wurde „das Wort Christi ‚Ich bin das Licht der
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Schipperges, Heinrich, in: Enzyklop. der Medizingesch. (Hg.: Gerabek, Werner E. u. a.), Berlin 2005, S. 269f nach Schipperges, H. in: Kosmos und Mensch aus der Sicht Hildegards von Bingen. Hg.: Führkötter, Adelgundis OSB, Mainz 1987, S. 3f Wendel-Widmer, Barbara Ruth: Die Wunderheilungen am Grabe der Heiligen Elisabeth von Thüringen. Eine medizinhistorische Untersuchung. Med. Diss. Zürich 1987, S. 19f
Die Heilformeln der Hildegard von Bingen
Abb. 81 Vision der Hildegard: Der Sündenfall. Durch Rebellion liegt der Mensch quer zur Schöpfung am Abgrund und leidet an Schwermut und vielen Krankheiten.
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Abb. 82 Hildegard empfängt Visionen, dargestellt als Flammen. Sie registriert: „Es durchströmte mein Gehirn“
Welt‘ […] nicht metaphorisch, sondern ontologisch verstanden.“8 Und das heißt: Es ist geistige Existenzgrundlage, nicht nur Erkenntnis, Abbild oder Gleichnis. Die folgenden Spruchtexte aus verschiedenen Werken der Hildegard fokussieren den Blick auf den Kern ihrer Verbaltherapie, auf Segen, Gebet, Beschwörungen und Exorzierung als Elemente personaler Ansprache an den Kranken und als Gebetsanleitung. Sie sind die spirituelle Therapie im Sinn des Wortes. Ihr Ursprung: „Spirituell“ von Spiritus (Geist) ist die Wirkung Gottes, des Heiligen Geistes, dargestellt als Flammen (Abb. 82), die den Kopf der Seherin umgreifen.9 Diese Spiritualität steht
8
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Haug, Walter: Zur Grundlegung einer Theorie des mystischen Sprechens. In: Brechungen auf dem Weg zur Individualität. Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters. Tübingen 1995, S. 536,537 Zu den ungelösten Fragen um Zeitpunkt und Authentizität der Miniaturen siehe Suzuki, Keiko: Rezension, Bildgewordene Visionen oder Visionserzählungen, in: Z. f. dt. Altertum und dt. Lit. 129 (2000), 215–222
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Spruchtexte
einer indifferenten „spirituality“10 der Moderne entgegen, indem sie einen persönlichen Gott voraussetzt; offenbarungstheologisch wird der Heilige Geist als „Liebe Gottes in Person“, als „persongewordene Liebe zwischen Vater und Sohn“ (Walter Kasper) definiert.
A) Aus einem Brief der Hildegard an Frau Sibilla in Lausanne 1) Die Blutungs-Beschwörung Adams Blut – Christi Blut Für die Geschichtsdeutung des Hochmittelalters („Typologie“) war das Alte Testament eine Vorabbildung des Neuen. Augustinus hatte im geistigen Kampf des Frühchristentums mit extremer Ausführlichkeit den Sündenfall Adams behandelt. Der Ungehorsam gegen Gott, das Essen der verbotenen Frucht, symbolisierte ihm die dunkelsten Seiten der menschlichen Seele. Dem ersten Menschenpaar waren die Augen geöffnet worden für ihre Nacktheit, der das Schamgefühl folgte. Augustinus interessierte die psychologische Seite, der Kontrollverlust mit dem Gewahrwerden von Willensschwäche und Endlichkeit, Trieb-Ohnmacht und Tod im Spiegel einer nun schuldig-unschuldig gespaltenen Seele.11 Und die den Menschen ins Zentrum treffende Strafe an seinem allerersten Paar mußte unter diesem Aspekt des Mängelwesens nun auf all das hin drängen, was die Kirche mit Christus an Gnaden zu verschenken hatte, auf Taufe, Segnungen und Erwartung des Himmlischen Jerusalem. Das war auch gesellschaftlich auf staatliche und moralische Ordnung hin orientiert und zugleich echt paulinisch. Adam ist gemäß Paulus’ Römerbrief 5, 14 Vorläufer und Antityp Christi: Doch herrscht der Tod von Adam an bis auf Mose auch über die, die nicht gesündigt haben und mit gleicher Übertretung wie Adam, welcher ist ein Bild dessen, der zukünftig war. Und Korinther 15,22: Denn wie in Adam alle sterben, so werden sie in Christus alle lebendig gemacht. Genau an dieser entscheidenden Stelle, im Blick auf die Endlichkeit des Menschen, setzt Hildegards Krankheitslehre ein. Es geht wie bei Augustinus um Adams Übertretung, die sogenannte Erbsünde, die im Begriff „mors“, etymologisch in christlicher Sinndeutung12 auch als „morsus“, als (Apfel-) Biß zu denken war. Die Sünde wird Ursache einer „Verunreinigung“ der Körper-Elemente, der Veränderung von Feuer, Wasser, Luft und Erde im Schema Galens*, also nach heutigem Sprachgebrauch einer Störung des „vegetativen“ und „psychosomatischen“ Gleichgewichts bis hin zu einer Stoffwechsel- und Strukturabweichung. Kein Text 10 vgl. Grom, Bernhard: Spiritualität ohne Grenzen, in: Stimmen der Zeit 227 (2009), S. 145f; vgl. Benke, Christoph: Sehnsucht nach Spiritualität, Würzburg 2007, S. 18f 11 vgl. Brown, Peter Robert: Die Keuschheit der Engel. Sexuelle Entsagung, Askese und Körperlichkeit am Anfang des Christentums. München Wien 1991, S. 425–437 12 Ohly, Friedrich, Vom geistigen Sinn des Wortes, in: Z. für dt. Altertum 89 (1958/59), S. 1–21, hier: S. 12
Die Heilformeln der Hildegard von Bingen
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spricht in dieser Form der antithetischen Analogie (Vergleich in Gegensätzen) prägnanter die Erlösungssehnsucht des Christen aus, die religiös Heil und medizinisch Heilung umfasst: 13
Hec inquit uerba circa pectus et umbilicum tuum pones in nomine illius, qui recte omnia dispensat: + In sanguine Adae orta est mors: + in sanguine Christi redempta est mors: + in eodem sanguine Christi praecipio tibi + sanguis, ut fluxum tuum cohibeas.
14
Lege diese Worte um Brust und Nabel im Namen dessen, der alles richtig fügt: Im Blute Adams entsprang der Tod, Im Blute Christi erlosch der Tod. In diesem Blut Christi befehle ich dir, o Blut, halte ein in deinem Lauf!
Es wird angenommen, daß Hildegard, der die verschiedenen im Volke kursierenden anderen Blutstillungsformeln sicher bekannt waren, diesen Text eigens für die an Blutfluß leidende Frau Sibilla in Lausanne erfunden hat.15 Er ist in einem authentischen Brief enthalten, wurde aber auch vom Biographen Theoderich in die Vita Hildegardis aufgenommen. In lateinischer Sprache findet sich der Segen zum Beispiel im Speyerer Arzneibuch von 1321. Nachdem die Beschwörung im 15. Jahrhundert in deutscher Sprache, wie im folgenden St. Galler Codex vorliegt, und im 16. Jahrhundert durch den holländischen Arzt Johann Weyer (1515–1588) bekannt wird, ist sie als Spruchtyp bis in die Neuzeit verbreitet, wie die weiteren Beispiele zeigen. 16
Item dis ist ain bewäred segen für das blutten wa das ist. Item des ersten leg din Hand uff die wunden oder uff die nasen vnd sprich dise wortt In dem blutt ade ist uf entsprungen der tod In dem blutt xisti ist erlöschen der tod In de selben blutt xisti so gebutt ich dir o blutt das du dinen fluß verstellist in dem namen des vatter und des sons und des Haillgen gaistes amen und wenn du dis wortt gesprachest so sprich drü pater noster vnd aue maria.
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Das blued zw verstillen. Durch Adams blued erhuob sich der todt durch Xristus blued starb er der todt Ich gebuet dir blued, durch Xristus blued daz du still stees vnd nit weider gest!
13 nach Nahl, Rudolf von: Zauberglaube und Hexenwahn, Bonn 1983, S. 138, eine Rückübersetzung Weyers ins lateinische 14 nach Führkötter, Adelgundis OSB: Das Leben der hl. Hildegard, Düsseldorf 1968, S. 29 15 Theodoricus Monachus: Vita Hildegardis 3, X, ediert Klaes, Monika, S. 190, dort contineas statt cohibeas; vgl. Franz, Adolph, Kirchliche Benediktionen im Mittelalter II,511f; die Beschwörung konnte offenbar sowohl zur Unterbindung als auch zur Förderung von Blutfluß dienen, was auf ihren vielseitigen Gebrauch hinweist. Entscheidend war die der jeweiligen Notsituation angemessene Verbalintervention. 16 St. Gallen Stiftsbibl. Codex 755 Papier p71, veröffentl. Piper, P.,Germania 25 (1880),S. 68 17 München BSB Cgm 467, fol. 165r, 17. Jh., veröffentl. Birlinger, Anton, Germania 17, 76
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Spruchtexte
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Den Fluß zu stellen. wenn er zu stark fließt. Lasse zu Ader und laß sie diesen Zettel anhängen zwischen Brust und den Nabel, welches Helmont empfiehlt; lautet also: Durch das Blut Adams ist der Tod entsprungen, durch das Blut Jesu Christi ist der Tod wieder ausgerottet worden; in diesem Blute Jesu Christi gebiete ich dir, o Blut, daß du stille stehest und deinen Lauf endest.
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Blutstelung. Durch Adams blut komt her der Todt ich gebiete dir Blut durch Christi blut stehe stiehl + + +
Angefügt sei ein Text des 19. Jahrhunderts, der sinngemäß dem Typ nahekommt, auch Bezug auf den gleichen Paulusbrief hat, der aber durch seine schlicht-fromme volkstümliche Reimgebung und eine andere Indikationsstellung abweicht. Man kann vermuten, daß Hildegards Fassung interpretationsbedürftig geworden war, wenn „der soteriologische Aspekt beiseite“ gelegt und seine Bedeutung als ambivalent (zwiespältig) empfunden wurde, wie das eine sich zu magischer Ordnung verpflichtete Zugangsweise nahelegt.20 Ein solcher Text erfüllt dann die Bedürfnisse magischer Wegwerfzeremonie und Christus wird vom Erlöser zum Tröster: 21
Das Fieber durch das Besprechen fortzuschaffen. Der so das Fieber besprechen will (muß mit dem Leidenden allein sein in einem Zimmer) legt die rechte Hand auf die Schulter des Kranken, indem er folgende Worte spricht: Gott schuf Adam und seine Magd, die Krankheit ist uns zugesagt; das Fieber ist ein Sündenfall, welches nun herrschet überall darum nehm ich das Fieber und werfs ins Meer; wo Moses durchgegangen mit seinem Heer, das thue ich im Namen Jesu Christ, weil du mein Trost und Helfer bist.
B) Aus dem Edelstein-Buch der „Physika“ / Von den Steinen Das Edelsteinbuch als Kapitel 4 der „Physika“ behandelt alle zwölf Edelsteine der Geheimen Offenbarung des Johannes und zehn weitere. Die im folgenden vorkommenden Steine außer dem Magnet gehören diesem Buch des Neuen Testamentes an. Obwohl die Herkunft dieser Texte noch unsicher ist, werden sie hier ausge18 Losch, Friedrich (Hg.): Deutsche Segen-Heil- und Bannsprüche. In: Württemb. Vierteljahreshefte für Landesgeschichte XIII (1890), S. 230 Hs des Chirurgen J.G. Wagner, 1728 19 Hersbruck Deutsches Hirtenmuseum, Handschr. Kurbug Hutzler Haimendorf, ähnlich Lammert, Gottfried: Volksmedizin, Würzburg 1969, S. 192 aus dem Odenwald; ähnlich Ebermann, O: Blut- und Wundsegen, Palaestra XXIV,78f sowie weitere bei Schulte,W., Volkst. und Heimat (Münster 1929),129 aus Umkreis Siegen und Schell, Otto, Z.d.V.f. Volksk. 16 (1906),173, aus dem Bergischen Land 20 vgl. Schulz, Monika: Beschwörungen im Mittelalter, Heidelberg 2003, S. 91 21 Greifswald Volkskundearchiv der Universität, Aus dem Schreibheft der Elise Wilke, Demmin, 19.Jh. Für freundliche Vermittlung danke ich Frau Prof. Dr. Renate Herrmann-Winter.
Die Heilformeln der Hildegard von Bingen
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breitet, weil sie in ihrer Grundidee einer spirituellen Therapie nicht widersprechen und sich z. B. ihre Steinallegorese in der christlichen Steinkunde wiederfindet. Ob sie alle dem Diktat der Volksheiligen entspringen, muß weitere Forschung klären. Die Vorstellung einer Heilkraft von Steinen fand in der mittelalterlichen Medizin nach antiken Vorbildern ebenso große Verbreitung wie sie heute wieder zu finden scheint. Mit Hildegard wurde der Stein als Teil der Natur in die christliche Kosmologie integriert. Ein neurobiologisches Konzept für die mögliche Effizienz der Texte ergibt sich aus den einleitend in diesem Buch beschriebenen Selektions- und Perzeptionsfunktionen corticaler Strukturen in der medizinischen Notfallsituation. Die wenigen hier nachgestellten Deutungsmöglichkeiten der Steine orientieren sich an dem umfassenden Werk von Christel Meier22, die Übersetzungen aus Physika entnehme ich der textkritischen Ausgabe mit Marie-Louise Portmann.23 2) Fiebergebet mit Wein und Brot: Der Blick in Engelspiegel Und wenn irgend ein Mensch Fieber hat, mache er mit dem Topas in weichem Brot drei mäßige Gruben, und er gieße reinen Wein in sie. Und wenn jener Wein verschwindet, gieße er wiederum neuen Wein hinein, und er schaue sein Gesicht an in jenem Wein, den er in jene Gruben goß, wie in einem Spiegel und sage: „Ich blicke mich an wie in jenem Spiegel die Cherubim und Seraphim Gott anblicken, so daß er diese Fieber mir abwirft.“ (Physika, Cap. 4–8 Vom Topas)
Das Gebet speist sich aus „visionärer“ und eucharistischer Ebene, indem es Sehnsucht und Bewegung zu einer Unio mystica, zu einer Nähe zu Gott, als christliches Heil der physischen Heilung von Fieber nutzbar zu machen sucht. Gegenläufig zu dieser Bewegung geschieht die Entfernung von Luzifers Macht, denn der verabscheut jeglichen Stein und das Element Feuer wie die Fieberhitze, weil er darin seine Strafe verbüßt. Beim Patienten soll eine innere Erneuerung gefördert werden, der ganze Mensch steht im Heilungsprozess, im Schmelztiegel des Fieber-Feuers, das durch Wein gekühlt wird. Der ganze Mensch ist gemeint – eben jene Wunschvorstellung unserer Zeit, die von überforderten Ärzten „Ganzheitsmedizin“ erwartet. Quelle des Textes liegt bei Paulus 1 Korinther 13,12: Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in aenigmate, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin. Aenigma ist das Rätsel und die dunkle Andeutung und wird in den Bibelübersetzungen mit „dunkles Bild“ „unklares Bild“ oder „dunkles Wort“ wiedergegeben. Es ist der Verweis auf menschliches Verhaftetsein in Dunkelheit gegenüber dem absoluten Licht, ein Zustand, der durch mystische Vereinigung mit Gott im Leben und nach dem Tod 22 Meier, Christel: Gemma spiritalis. Methode und Gebrauch der Edelsteinallegorese vom frühen Christentum bis ins 18. Jahrhundert, München 1977 23 wie oben (Hg. der „Physika“ durch die Basler Hildegard-Gesellschaft))
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überwunden werden könnte. Die Spiegel-Metapher verstärkt den Entscheidungsdruck hin zur transzendierenden Richtung heraus aus dem Kreislauf des Ich-Selbst. „An diesem Wort [des Paulus] hängt das ganze mittelalterliche Weltverständnis. Und entscheidend dabei ist, daß dieses Verständnis eine immer neue Bewegung fordert, da nur die lebendige Erfahrung den Sinn erreicht bzw. die Grenzen der Sinnerfahrung zum Bewußtsein bringt.“24 3) Gebetsanleitung gegen eitrige Säfte und Milzleiden Und wer in der Milz Schmerzen leidet, oder wer innerlich Fäulnis hat, wie wenn sie in seinem Körper innerlich faulte, der lege den Topas für fünf Tage in richtigen „morach“ [Maulbeerwein?], und dann nehme er den Topas weg und lasse jenen Wein aufsieden. […] Aber lege alle Tage morgens den Topas auf dein Herz und sage: „Gott, der über alles und in allem verherrlicht ist, werfe mich in seiner Ehre nicht weg, sondern erhalte mich in seinem Segen und er bestärke mich und festige mich.“ Und sooft du das getan hast, wird das Übel von dir weichen. Denn von Gott hat der sehr starke Stein diese Kraft, weil er in der Neigung der Sonne wächst, daß er die Schmach vom Menschen sich abwenden läßt. (Physika, Cap. 4–8 Vom Topas) – Deutung: Bauchschmerzen sind Gewissensschmerzen. Topas verweist (nach seiner Fundgeschichte, dem Verkauf Christi durch Judas) auf Christus als durch den Kreuzestod erhöhten Gottessohn und damit auf die Heilkraft der Sonne gegen psychische und materielle Fäulnis.
4) Gebetsanleitung gegen Epilepsie Und wenn jemand von der Fallsucht geplagt zu Boden fällt, wenn er dann so hingestreckt liegt, lege den Smaragd in seinen Mund und sein Geist belebt sich wieder. Und nachdem er aufgestanden ist und nachdem er jenen Stein aus seinem Mund genommen hat, dann soll er ihn aufmerksam anschauen und sagen: „Wie der Geist des Herrn den Erdkreis erfüllt hat, so erfülle er das Haus meines Körpers mit seiner Gnade, daß es nie von der Stelle gerückt werden kann.“ […] Aber er trage jenen Stein immer bei sich. (Physika, Cap. 4-1 Vom Smaragd) – Deutung: Der grüne Smaragd funkelt wie Blitz, blitzartig kommt auch das Fallende. Nach Beda Venerabilis (673–735) weist Smaragd auf das im Glauben schon ergriffene ewige (viridis, grünkräftige) Erbe. Gegen die aus dem Munde des Epileptikers entweichenden Dämonen empfiehlt Hildegard einen Smaragd, Gleichnis einer Versiegelung? Geiler von Kaysersberg deutet Fallsucht als Sünden-Fall, als Erbsünde, die durch den Smaragd Christus aufgehoben wird.
5) Segen gegen Verzaubertsein und Trugbilder Und wenn jemand durch Trugbilder oder magische Worte bezaubert ist, sodaß er wahnsinnig wird, nimm warmes Roggenbrot, und schneide [mit Hyazinthstein] in die oberste Kruste die Form eines Kreuzes, jedoch ohne es ganz zu zerbrechen, und ziehe 24 Haug, Walter: Autorität und fiktionale Freiheit, in: ders.: Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Tübingen 2003, S. 117
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diesen Stein durch den Schnitt nach unten und sage: „Gott, der alle Kostbarkeit der Steine vom Teufel wegnahm, als er sein Gebot übertrat, nehme von Dir, N., alle Trugbilder und alle magischen Worte weg und löse von dir den Schmerz dieses Wahnsinns“. Und indem du wiederum den Stein durch jenes warme Brot in der Quere ziehst, sage: „Wie der Glanz, den der Teufel in sich hatte, wegen seiner Übertretung von ihm genommen, so soll auch dieser Wahnsinn, der den N. durch verschiedene Trugbilder und durch verschiedene Magie plagt, von dir weggenommen werden und von dir abfallen“. Und du wirst jenes Brot um jenen Einschnitt, durch den du den Hyazinth zogst, dem, der Schmerzen leidet, zu essen geben. (Physika Cap.4-2 Vom Hyazinth) – Deutung: Hyazinth wechselt im Licht zwischen Klarheit und Trübung, er fordert heraus zu rechtem Unterscheidungsvermögen und klarer Orientierung.
6) Segen gegen Kopfweh und Unsinnigkeit Wenn aber ein Mensch von mancherlei Krankheiten und Schwächen Kopfweh hat, so daß er davon wie unsinnig wird, dann binde er den Sarder in einem Hut, in einem Tuch oder in einem Leder über diesen Scheitel und sage: „Wie Gott den ersten Engel in den Abgrund warf, so trenne er diesen Wahnsinn von Dir, N., ab und gebe dir gute Einsicht zurück“. (Physika Cap. 4–7 Vom Sarder) – Der rote Sarder (heute ungebräuchl. Begriff, später auch als Chalzedon oder Karneol gedeutet oder benannt) galt nach frühchristl. Bibelexegese (Apokalypse) als die mit Feuer strafende Gottesmacht, hier: Abtrennung der guten von bösen Geistern/Engeln, später als erlösendes Blut Christi, vgl. dazu das über Topas und Luzifer bei 2) Ausgeführte.
7) Segen gegen Besessenheit Und wenn ein Mensch vom Teufel besessen ist, dann gieße etwas Wasser über ihn [den Chrysopras] und sage: „Ich, oh Wasser, gieße dich über diesen Stein in jener Kraft, mit der Gott die Sonne mit dem laufenden Mond schuf“. Und du wirst dieses Wasser jenem Besessenen zu trinken geben. (Physika Cap. 4–13 Vom Chrysopras) – Deutung: Der grüne Stein ist nach Richard von St. Victor das niemals welkende Verlangen nach Ewigkeit. Übergeordnet dieser und vielen anderen Deutungen steht die unabhängig von Farben herrschende Furcht des Luzifer vor allen Edelsteinen, weil sie aus Feuer entstanden und er durch Feuer bestraft ist.
8) Beschwörung gegen Besessenheit Und wenn ein Mensch rast oder auf irgendeine Weise in der Fantasie „virgogelecht“ [?] ist, dann bestreiche den Magneten mit seinem Speichel und bestreiche den Scheitel des Rasenden mit dem so feuchten Stein sowie seine Stirn in der Quere und sage: „Du rasendes Übel, weiche in jene Kraft, durch die Gott die Kraft des vom Himmel stürzenden Teufels in die Güte des Menschen verwandelte“. Und jener (Kranke) wird seine Sinne wieder erlangen. Denn das Feuer dieses Steines ist nützlich und unnütz, weil das Feuer, das er aus der eisenfarbigen Erde hat, nützlich ist.
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(Physika Cap. 4-18 Vom Magneten) – Deutung: nach dem Physiologus: Wenn nun schon die Dinge der Schöpfung sich anziehen, um wieviel mehr der Schöpfer den Menschen. Hildegards häufige Erinnerung an Luzifers Sturz meint immer Gottes Macht über das Krankheits-Übel.
9) Exorzismus gegen Besessenheit und Liebeswahn mit Saphir siehe Kapitel 21 10) Segen bei Gebärenden mit einem Sardiusstein siehe Kapitel 14
C) Aus der „Physika“: Von den Elementen / Von den Pflanzen Einer der Schlüsselbegriffe zum Verständnis der Naturallegorien Hildegards ist die Viriditas, die Grünkraft. Mit ihr wird elementare Lebenskraft, in der sich Gottes Wort und Wirken offenbaren sollen, postuliert. Differenziert gelten dabei Zweige als Erkenntnis, Blüten als Willen und Früchte als Vernunft. All diese Kräfte wirken im Menschen wie in der übrigen Schöpfung und sollen dem Schicksal und den Taten der Menschen zugeordnet werden. – Diese sehr originellen und eigenwilligdichterischen Phantasien ergeben ebenso wie die Steinpraktiken kein irgendwie logisches naturkundliches Fundament für die Heilkraft von Pflanzen und Bäumen. Sie folgen wie die Steine der christlichen Allegorese nach Farben, Formen, Standorten und Wachstum in ihrem biblischen und historisch-literarischen Hintergrund. Heilpraktische Folgerungen und alle systematisierenden Versuche an der Hildegardschen Pflanzendeutung bleiben, wenn sie nicht den christlich-kosmologischen Aspekt respektieren, im Bereich freier Assoziationen. 11) Segen gegen Ohnmacht Wenn jemand ohnmächtig wird, wie wenn er die Lähmung hätte, soll ein anderer Mensch etwas Erde von der rechten und der linken Seite nehmen, wo sich der Kopf jenes (Kranken) im Bett befindet, und auf gleiche Weise Erde rechts und links von seinen Füßen, und wenn er sie grabend wegträgt, soll er sagen: „Du Erde, schläfst in diesem Menschen N.“, und er soll die Erde […] unter seine Füße legen, damit sie Wärme von ihnen empfange. Und wenn diese Erde unter den Kopf und unter die Füße jenes (Kranken) gelegt wird, soll der damit Beschäftigte sagen: „Du Erde, in diesem Menschen N., wachse und gedeihe, damit er seine grüne Farbe ( Munterkeit) wieder erlange, im Namen des Vaters und des Sohnes und des Hl.Geistes, welcher der allmächtige und lebendige Gott ist“, und so soll man es drei Tage lang machen. (Physika Cap. 2–14 Von der grünlichen Erde) – Deutung: Nach dem Matthäus-Evang. 13,24ff, Weizen gegen Unkraut. Acker = Erde wird meist als Menschenseele gedeutet, weniger oft als Welt oder Kirche.
12) Segen mit zeichenhafter Manipulation gegen Verzaubertsein Wenn ein Mensch vom Teufel oder durch Magie verfangen ist, nimm von [Zypressen-] Holz, das in der Mitte dieses Baumes ist, und durchbohre es mit einem Bohrer, und
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dann schöpfe mit einem Tongefäß Wasser aus einer sprudelnden Quelle und gieße es durch dieses Loch und fange es in jenes Tongefäß auf, und während du gießest, sprich: „Ich gieße dich, Wasser, durch dieses Loch und in jener heilkräftigen Tugend, die Gott ist, damit Du mit jener Stärke, die in deiner Natur liegt, in diesen Menschen strömst, der in seinem Empfinden verfangen ist, und damit du in ihm alle Widerwärtigkeiten zerstörst, die in ihm sind, und damit Du ihn in jene rechte Beschaffenheit zurückbringst, in die Gott ihn gebracht hat“. […] Und während neun Tagen soll dieses (Wasser) auf gleiche Weise gesegnet werden. (Physika Cap. 3–20 Von der Zypresse)
13) Segen gegen Gelbsucht Und wenn ein Mensch […] Gelbsucht hat, schneide aus diesem [Buchen-] Zweige kleine Stücke ab, und gib sie in ein Gefäß, und gieße dreimal etwas Wein darüber, und sprich jedesmal die folgenden Worte, und gieße Wein über die Stücke: „Durch das heilige Band der heiligen Menschwerdung, durch die Gott ein Mensch wurde, zieh von diesem Menschen den Schmerz der Gelbsucht weg“. (Physika Cap. 3–26 Von der Buche)
14) Beschwörung gegen Fieber Aber wenn jemand Schüttelfrost hat, nimm von der Buchenfrucht, wenn sie gerade herauskommt, und zerstoße sie in klarem Wasser, nämlich eines Springbrunnens, und sprich die folgenden Worte: „Durch das heilige Band der heiligen Menschwerdung, durch die Gott Mensch wurde, du Schüttelfrost, ihr Fieber, werde schwach und werdet schwach in deiner Kälte und Hitze in diesem Menschen N.“ Und dann gib ihm jenes Wasser zu trinken. […] Aber füge auch Buchenwurzel hinzu und nimm die obere Rinde dieser Wurzel und schneide dort soviel ab, so viel du mit einem Schnitt erfassen kannst und sprich: „Durch das erste Sich-Sehenlassen, durch das Gott den Menschen sah in der Wurzel von Mambre, brich ich die Wogen des Giftes dieses Menschen ohne dessen Tod“. (Physika Cap. 3–26 Von der Buche)
15) Segen gegen Ausschläge Und wenn ein Mensch Ausschläge in seinem Körper hat, dann schneide etwas mit einem Schnitt von diesen Stäben (der Buchenwurzel) ab und lege es in ein Gefäß, und gieße dreimal etwas klares Wasser eines Springbrunnens darüber und sprich: „Durch das erste Sich-Zeigen, durch das Gott im Jordan getauft worden ist, nimm durch dieses Gift, ohne den Tod des Menschen N., weg von ihm alle Täuschung dieser Krankheit, gleich wie auch Jesus reines Leben war“. (Physika Cap. 3–26 Von der Buche) vgl. auch Orth, Zu den Jordansegen, Zeitschr.f.dt. Altert.15,454, Patr.Lat.197,1236, „freyschlein“ –
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16) Gebet um Weihe der Mandragora gegen Melancholie und Liebeszauber u. a. Die Alraune ist warm und etwas wässrig und ist von jener Erde verbreitet worden, aus der Adam geschaffen wurde; sie ähnelt etwas dem Menschen, mehr teuflische Einflüsterung als bei anderen Krankheiten dabei und stellt ihm nach. […] Wenn ein Mensch in seiner Natur so durcheinander ist, daß er immer traurig ist und immer in Drangsal ist, so daß er häufig Schwäche und Schmerz in seinem Herzen hat, der nehme Alraune […] und lege sie, von der Quelle abgewaschen, in sein Bett neben sich. So wird von seinem Schweiß dieses Kraut warm, und er sage: „Gott, der du den Menschen aus dem Schmutz der Erde ohne Schmerz machtest, nun lege ich diese Erde, die nie überschritten worden ist, neben mich, damit auch meine Erde jenen Frieden spüre, wie du ihn geschaffen hast.“ (Physika Cap. 1–56 Von der Alraune (Mandragora)) – Deutung: Mandragora wuchs zuerst an der Stelle, von welcher Gott den Stoff zur Schaffung Adams nahm. – Ungereinigt dient Alraune zu schlimmem Zauber. – vgl. Kap. C: Alraune als Abbild Christi
D) Verschiedenes 17) Beschwörung des Zungenbandes, Behandlung eines Taubstummen nach dem Evangelium In nomine illius, qui muto dixit „Effeta“, Im Namen dessen, der dem Stummen das et ille loqui coepit, tibi uinculum infir„Öffne dich“ zusagte, und jener beginnt zu mitatis, quod linguam hominis huius sprechen, befehle ich dir, Krankheitsfessel, debilitasti, praecipio, ut soluaris et die du die Sprache dieses Menschen gelähmt hinc recedas nec amodo linguam hast, daß du dich auflöst und weichest und in eius ad loquendum impedias. Zukunft nicht mehr seine Sprache behinderst. (Hildegard: Vita St. Disibodi (+674) M.CXCVII 1105, den Spruch veröff. Franz, Ben. II,421); die Beschwörung leitet sich aus Christi Wunderheilung eines Stummen nach Markus 7,34 ab; das Zungenband galt früher als Ursache von Sprachbehinderung und wurde zeitweise auch chirurgisch angegangen. Jesus hatte dem Kranken seine Finger in die Ohren gelegt und seine Zunge mit Speichel berührt; bei der Taufe spricht der Priester das „Hephata“ zur Öffnung der Sinne über den Täufling; es ist aramäisch und entstammt der Umgangssprache Jesu. Der Beschwörer ist hier fast Nachahmer Christi, in dessen Namen er wirkt.
18) Wunderheilung an einem blinden Jungen mittels Imitatio Christi Als sie [Hildegard] einmal beim Ort Rüdesheim die Fluten des Rheines mit dem Schiff durchpflügte und zum benachbarten Frauenkloster eilte, näherte sich eine Frau, die einen blinden Knaben in den Armen hielt, dem Schiff und rief ihr weinend zu, sie möge ihm ihre heiligen Hände auflegen. Jene dachte in frommem Empfinden an den, der sagte: „Geh zum Teich Schiloach, und wasch dich“ (Joh. 9,11), schöpfte mit der linken Hand Wasser aus dem Fluß und segnete es mit der rechten. Als sie dies dem Knaben auf die Augen spritzte, erhielt er durch göttliche Gunst und Gnade das Sehvermögen zurück.
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(Theodoricus Monachus: Vita Hildegardis, Buch 3, XVIIII, ediert durch Klaes, Monika: Leben der Heiligen Hildegard, Freiburg u. a. 1998, S. 199); vgl. die Kapitel 2 und C.
19) Gegen Ohren-Taubheit Wenn aber ein Mensch taub ist, dann schneide das rechte Ohr des Löwen ab, und ein anderer Mensch stecke es so lange in das Ohr jenes tauben Menschen, bis sein Ohr von dem Ohr des Löwen innerlich warm wird, aber nicht länger, und sage: „Höre, Tauber, durch den lebendigen Gott und die höchste Stärke des Gehörs des Löwen.“ Und tue das oft, und jener wird das Gehör wieder erlangen. (Physika Cap. 7–3 Vom Löwen)
20) Gegen Fieber und Lähmung [?] Und wenn ein Mensch von Lähmung geplagt wird und diese wandelbaren Krankheiten in sich hat, die nach dem Mond und in ihm zunehmen und abnehmen, wie bei den Mondsüchtigen, dann betrachte den Ort, wo der Esel getötet wird oder von sich aus stirbt, oder wo er sich auf der Erde wälzt, das ist „walgert“, und dann (lege) alsbald jenen Menschen dorthin, entweder auf Gras oder auf Erde, indem du ein Tuch über ihn legst, oder, wenn er sehr krank ist, eine dünne Ochsenhaut, und laß ihn dort für eine kurze Stunde liegen und schlafen, wenn er schlafen kann, und dann ergreife seine rechte Hand und sage: „Lazerus schlief und ruhte und erstand, und wie Christus ihn aus dem stinkenden Gestank erweckte, so erstehe mit dieser gefährlichen Krankheit und von den wandelbaren Arten der Fieber in diesem Zusammenhang, in dem Christus sich auf solches setzend sich damit verband, hinweisend darauf, daß er den Menschen von seinen Sünden erlösen und ihn aufrichten würde.“ Dann, nach einer mäßigen Stunde, mach das am selben Ort dreimal am Tag, und am zweiten oder dritten Tag, mach es gleichfalls dreimal am selben Ort, mach es am ersten, zweiten und dritten Tag abermals dreimal, und er wird geheilt werden. (Physika, Cap. 7–9 Vom Esel)
21) Exorzismus bei Besessenheit der Sigewiza siehe Kapitel 21
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Abb. 83 Hildegard von Bingen. Bronzetor des Speyerer Domes (Toni Schneider- Manzell 1971). Die Äbtissin hebt ihre Augen in Erwartung der Visionen, Pflanzenteile weisen auf ihre heilkundliche Tätigkeit.
C „CHRISTUS MEDICUS“ – ARZT UND APOTHEKER IN DEN SEGEN Entscheidendes und allgegenwärtiges Fundament bei der Aufzeichnung, Anwendung und Tradierung der meisten Heilspruchtexte waren der Glaube an oder das Wissen um Jesus Christus. Auch wenn bei einem Teil der frühen Aufzeichnungen antike und germanische Formen, Inhalte und Einflüsse erkennbar waren, bildete die inspirierende Kraft des Religionsstifters das sinngebende und dynamisch prägende Element. Den in der Meinung des Volkes Gläubigsten verdanken wir unsere Kenntnis der frühen Texte; es sind die Missionare und die Arbeiter in den Scriptorien der Klöster. Paradoxerweise folgten sie nicht dem persönlichen Vorbild Christi in Sachen Schreiben. Es gibt kein ernst zu nehmendes Indiz, daß Jesus Christus je eine Zeile aufgezeichnet hat. Die Schöpfer der Himmelsbriefe und Abgarlegenden waren Romanciers. Doch die Mönche einiger Orden haben sich von Anfang an im Sinne des Apostolats als Vermittler seiner Lehre verstanden. Hatte Jesus zeitlebens Schreibkunst, Sprachkunde und seines Vaters technische Fertigkeiten wohl nicht ausgeübt, so tritt er nach den Evangelien vielfach als Richter auf und bleibt dies auch nach christlichem Verständnis im Bereich der Berechnung von geistiger Lebensleistung. Das haben nicht zuletzt die Arbeiter in den Schreibsälen als Ermutigung, Sinngebung und höheren Lohn empfunden und im Bilde dokumentiert:
Abb. 84 Die Seelenwaage. Einem verstorbenen Schreiber neigt sich die Waage der Engel unter der Last des Buches und unter Aufsicht Jesu zum Positiven (Prüfening, 12. Jahrhundert)
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„Christus medicus“
Eindeutig als Selbstverständlichkeit allerdings, ja als Allgemeinplatz, gilt das Arzttum Jesu Christi. Unter den Hochreligionen ist Christentum die Religion der Therapie; der Buddhismus sieht Krankheit als Zeichen der Nichtigkeit des Daseins. Das Verlangen nach Heilung ist dem Christentum eigen. Dazu hat die Doppelnatur ihres Stifters als Gott und Mensch, besonders auch als leidender Mensch, wesentlich beigetragen. Die Wunderberichte des Neuen Testaments und der Apokryphen sind vielfältig in die hier in diesem Buch versammelten Texte aufgenommen oder werden ihnen zwischen den Zeilen unterstellt. Als Gleichnisse werden sie spirituell oder meditativ genutzt und oft trivial verformt. Heiligstes kommt zumal im späten Mittelalter und in der Neuzeit neben Banalstem zu stehen. Neben den Wunderberichten (Tafel 12) tritt die Passion Christi und damit die Nähe des Leidenden zu ihm oft in den Mittelpunkt der Texte. Damit wird die Überwindung des Schmerzes angestrebt. Wir wissen heute sehr genau, daß Schmerz und Behinderung erst seit der Einführung von Krankenkassen und Versicherungen mess- und zählbar gemacht worden sind und welcher schamvoll verschwiegenen Illusion wir damit erlegen sind. In diesem Zusammenhang konnte über körperliche Krankheit hinaus mit Joh. 11,4 jedes Leiden als Fingerzeig Gottes empfunden werden: Die Krankheit ist nicht zum Tode, sondern zur Ehre Gottes, daß der Sohn Gottes dadurch geehrt werde, ein Gedanke, den die Mystik als „süße Nägel der Passion“ aufnahm. Die Vorstellung von Christus als Arzt setzt die Verheißungen des Alten Testaments in Exodus (2 Moses 15,26) fort. Ich bin der Herr, dein Arzt, hatte Jahwe dem auserwählten Volk unter Bedingung des Gehorsams zur Verhinderung von Krankheiten versprochen. Christus bestreitet den altjüdischen Glauben an die Schuldhaftigkeit von Krankheit (Joh. 9,3). Mit ihm, der eben zugleich als Arzt, Leidender und Erlöser (Soter) gedacht werden kann, gewinnt der humanbiologische und psychosomatische Akzent im Christentum bei weitem an Bedeutung, zumal das LeibSeele-Verhältnis von der griechischen Vorstellung einer persönlichen über den Tod hinaus repräsentativen Seele beeinflußt war.1 Was unsere Volkssegen und Beschwörungen angeht: Direkt als handelnder Arzt, als „Christus medicus“, der die Behandlung mit seinen Worten in direkter Rede bestimmt, erscheint er weniger oft, als man vermuten könnte. Naturgemäß sind es die Dialoge mit Christus in den Begegnungssprüchen, die eine solche direkte Konsultation mit ihm als Arzt ermöglichen. Im Dreibrüdersegen2 gibt er in der Erzählung eindeutig den Begegnenden eine Anweisung; er nennt ihnen das Heilmittel und dessen Fundort und den Segensspruch, also praktische und verbale Therapie. Ebenfalls in einem Begegnungssegen, dem Rähesegen gegen das Wundlaufen der Pferde finden wir Anweisungen, dem Pferd auf den Fuß zu treten und ihm ins Ohr einen Spruch zu raunen. Eine sogar mystisch wirkende innige Nähe 1 2
Angenendt, Arnold: Grundformen der Frömmigkeit im Mittelalter. München 2003, S. 30 Siehe Kapitel 29
Arzt und Apotheker in den Segen
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zu Christus als Geburtshelfer vermittelt ein Segen,3 der der Gebärenden eingibt, Christus höre ihre Schreie; es wird ihr ein Engel gesandt mit dem Auftrag, eine bestimmte Segensformel ins Ohr zu rufen. Eine Besonderheit bietet der Bamberger Blutungssegen, wenn das daumendrückende Jesuskind als Wundbehandler im Notfall imaginiert wird, nicht als Arzt, aber doch als wundersamer erster Helfer – durchaus wirkungsversprechende Vorlage für ein Bilderleben. Andere Segensgestaltungen nehmen direkt als Empfehlung auf, was die Wunderheilungen der Evangelien an Therapie bereitstellen. Beispielsweise greift die altdeutsche Regensburger Formel des 11. Jahrhunderts zur Behandlung Blindgeborener (Abb. 85) ebenso auf Johannes 9, 7/11 zurück, wie das von Hildegard von Bingen bei der Besegnung eines blinden Jungen berichtet wird.4
Abb. 85 Segensanleitung für Blindgeborene: „Ganc zedemo fliezzentemo vvazzera …“ Gehe zum fließenden Wasser und benetze ihm seine Augen und besprich mit dem selben Segen, mit dem der allmächtige Gott dem Regenblinden seine Augen segnete …
In einer nicht dem Evangelium entnommenen Formel der Vergicht- und Fiebersegen treffen wir eine „negative Versicherung“ an, die dem Gekreuzigten in den Mund gelegt ist, die oft als Amulett genutzt wird: 5
„den rider oder Vergifft ich nit hab“ undt niemandt der die wortt bei ihm tregt oder sprähen kann, so weis ich das kein arzt so gutt ist, […] ich glaub das mir dem Vergifft niemandt helffen kann als der [, der den] Todt und Marter für Namb
„Das Fieber und die Gicht hab ich nicht“ und [hat] niemand, der diese Worte bei sich trägt oder sprechen kann. Ich weiß, daß kein Arzt so gut ist. […] Ich glaube, daß mir gegen die Gicht niemand helfen kann, als der, der den Tod und die Marter auf sich nahm.
Und es werden seit dem 16. Jahrhundert die letzten Worte am Kreuz, besonders das „Consummatum est“ als Heilgarantie wie magische Chiffren in verschiedene Beschwörungen und Zettel aufgenommen. Vielfältig gibt es Ritusanweisungen, eine Art Volksliturgie, in der zu einer Nachahmung der wunderwirkenden Gesten und Handlungen Christi durch den 3 4 5
Siehe Kapitel 14 Siehe Kapitel 33, Nr.18 München BSB Cgm 4426, fol.5v, 17. Jahrh., vgl. Kapitel 4
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„Christus medicus“
Heilkundigen angeregt wird. Das konnte emotional vom Kranken als praktische Therapie angenommen werden. Man denke an das Aufheben von Erde, ihre Vermischung mit Speichel zu einem Teig, der aufzulegen ist oder an die Berührungen mit dem Finger an Ohr oder Zunge.6 Viele Sprüche nutzen den Heiland wie ein Werbemittel. Er wird als Apotheker und Arzt gepriesen. Und er wird gleichgesetzt, er selbst als Person oder seine Heilsmerkmale, mit Heil und Pharmakon: – Domine Jesu Christe qui es vera salus et medicina7 – Sprich Jch wais kain weisen rodt Godt der sei selb der best artzet8 – Si du warer vater Jhesu Crist wenn du mein got und schopfer pist Jch swer dir hewt einen aid dir und aller cristenhait das nit pesser arczt ist wann [=als] du warer got vater Jhesu Crist9
Die einzige praktisch angewandte Formel dieser Art mit gewisser Kontinuität vom 15. bis zum 19. Jahrhundert ist die oft mehr oder weniger abgewandelte oder verderbt lateinisch für Wunden eingesetzte Fünf-Wunden-Christi-Garantie aus kirchlichen Benediktionen, die man dem Bernhard von Clairvaux zugeschrieben hat. Sie ist aus England als Geburtsbrief mitgeteilt, der der Gebärenden ans Bein zu hängen war: – Per Virtutem Domini sint Medicina mei pia Crux et Passio Christi. + Vulnera quinque Domini sint Medicina mei +10 – Das Leiden / Die heiligen fünff wunden Jhesu Cristi sei mein artzenei11 – In Siebenbürgen ist eine andere Formel ganz volkstümlich adaptiert für Mastitis, die Brustentzündung in der Stillzeit: die beste Medizin für Schmerzen ist Jesu Binsenbett sowie sein steinernes Kissen12
In den älteren Texten hätte es der Formeln vom besseren Arzt, von Christus als „Arzenei“, von „allerwelt ein Artzet“, vom „Arzt aller Ärzte“, vom „summus medicus“ wohl kaum bedurft. Aber der Arzt war ursprünglich eine Metapher der Theologen und diente der Glaubenslehre zur Erklärung von Heilung und Errettung der Seele. Die Einfügung in medizinische und volksmedizinische Texte war also sekundär und hat sich auch erst seit dem 14. Jahrhundert durchgesetzt. Zur frühmittelalterlichen Tradition des „medicus coelestis“, des himmlischen Arztes kann auf eine Vielzahl ikonografischer Darstellungen des späten 4. Jahrhunderts mit Einflüssen antiker Götter- und Heroenwelt verwiesen werden13 sowie auf 6 7 8 9 10 11 12 13
Weitere Beispiele siehe bei Schulz, Monika: Beschwörungen im Mittelalter, S. 145f München BSB Clm 4350, fol.30v, 14. Jahrhundert Heidelberg Cpg 202, 15. Jahrhundert und Cpg 266, 16. Jahrhundert Karlsruhe BLB DON 793, fol. 39v, 16. Jahrhundert Helm, Karl, in: Hessische Blätter für Volkskunde 9(1910), S. 210 (aus dem Jahre 1475) Heidelberg Cpg 267, fol. 13r. 16. Jahrhundert Temesvary, Rudolf: Volksbräuche, Leipzig 1900, S. 121 vgl. Knipp, David: ‚Christus medicus‘ in der frühchristlichen Sarkophagskulptur, Brill u. a. 1998
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Abb. 86 Heilung des Blindgeborenen. Türflügel am Dom zu Benevent (12. Jahrhundert)
Papyrusamulette des 5./6. Jahrhunderts, etwa auf den norditalienischen Psalter, der aus Alt-Kairo-Fustat kam.14 Christus-Arzt bzw. Christus-Apotheker-Metaphern im Dichten und Denken und in der Kunst des Mittelalters als soteriologische Garantie waren ungemein beliebt, beispielsweise in der Symbolik der Kräuterbücher, in denen Christus als Heilpflanze spricht: Ich bin der Himmelschlüß genannt, ein edel Balsam kraut bin ich.15 In der Heilpflanzenallegorie im St. Trudperter Hohelied des 12. Jahrhunderts, heißt es von der Mandragora (Alraune): Diese Wurzel bedeutet Gott, dessen Abbild Christus war. Auf der Erde glich er einem Menschen. Er ist uns Arznei und ein Pfand des ewigen Lebens.16 Wissenschaftsgeschichtlich hat die allzu separierende Vorstellung der Neuzeit von Heilkunde versus Seelenheil, von Medizin gegen oder allenfalls neben Seelsorge das Christus-medicus-Motiv als eine für die „Heilkunde des Mittelalters“ „marginale Po-
14 Daniel, Robert W. und Franco Maltomini (Hg.): Supplementum magicum, Opladen 1990, S. 104–110, mit weiteren Belegen 15 Krafft, Fritz: Christus ruft in die Himmelsapotheke (Ausstellung Altomünster 2003), Stuttgart 2002, S. 81f 16 Ohly, Friedrich (Hg.): Das St. Trudperter Hohelied, Frankfurt 1998, S. 265, S. 1157
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„Christus medicus“
sition“ bezeichnet.17 Diese Tendenz hatte der Theologe Bultmann mit seiner „Entmythologisierung“ eingeleitet; moderne Medizin vertrage sich nicht mit der Geisterund Wunderwelt der Evangelien.18 Damit nahm man im Diskurs um die Konkurrenz zwischen Theologie und Medizin Strömungen des Mittelalters zum Maßstab, die durch Überhöhung der Seele und Verachtung des Leibes den Arzt für überflüssig hielten; bekanntester Vertreter dieser Position war Bischof Gregor von Tours im 6. Jahrhundert. Das heilkundliche Wissen und die heilkundliche Tätigkeit der Klöster in somatischer und psychischer Richtung – in beidem betätigten sich die Arztmönche – wie sie z. B. für St. Gallen seit dem 8. Jahrhundert nachweisbar sind,19 zeigen jedoch, daß einseitige oder Körper und Seele radikal separierende Modelle nicht generell bedeutsam waren. Es gibt aus dem Bereich der in diesem Buch behandelten Segen und Beschwörungen keinen Text, aus dem ein Widerspruch zwischen psychischer und somatischer Behandlung erschließbar wäre. Nirgends etwa wird explizit oder latent eine Abkehr von praktischen Heilmethoden erwogen. Das heißt auch, daß eine gleichzeitige Behandlung somatisch-praktisch mit Heilkraut und psychisch mit Worten, wie im Drei-Brüder-Segen keine „Ambivalenz“20 darstellen kann. Christliche Liebestätigkeit im Sinne des Christus-medicus-Motivs, war auch nicht nur als Dienstbarkeit am sozial und materiell Armen zu sehen. Der seelischgeistig Arme, sprich: der psychosomatisch oder psychiatrisch Kranke, der durch die in fast allen Medizinbüchern eingeschobenen Heilformeln bedacht sein sollte, bliebe sonst unbeachtet. Das Wörtchen „pauper“ ist in seiner hochmittelalterlichen Bedeutung nicht modern einseitig zu betrachten, krank und (materiell) arm waren zwei Seiten der gleichen Medaille und ursächlich untrennbar kulturell und neurobiologisch verwoben. Das gilt auch für den „Christus pauper“, die aussätzige Leitfigur der späteren Franziskuslegende, die immer beide, Arzt und Seelsorger, verband. Mit Christi Bekenntnis, ein Arzt zu sein, das sich bei drei Evangelisten übereinstimmend findet,21 war er auch als neuer Asklepios in neuem Zeitalter in Ablösung alttestamentalischer und antiker Gebräuche verstanden worden.22 Daß umgekehrt „Arzt“ und „Pharmakon“ als theologische Metaphern verwendet wurden, hatte, wie gesagt, eine erklärende Funktion. Religiöses Heil und irdische Heilung flossen einfach zusammen. 17 So Keil, Gundolf: Der kranke Mensch im Mittelalter, Randnotizen, in: Aspekte der Germanistik (FS Rosenfeld), Göppingen 1989, S. 307–321, hier: 319 18 Honecker, Martin: Christus medicus. In: Der kranke Mensch in Mittelalter und Renaissance (Hg. Peter Wunderli), Düsseldorf 1986, S. 27–44, hier: S. 27 19 vgl. Duft, Johannes: Notker der Arzt, St. Gallen 1972, passim 20 So Schulz, Monika: Beschwörungen im Mittelalter, Heidelberg 2003, S. 96–98; zum Begriff „Ambivalenz“ vergleiche Sponsel, Rudolf: Internetpublik. Erlangen 2002: „A.“ ist eine Erfindung Eugen Bleulers zur Charakterisierung der Zwiespältigkeit von Schizophrenen. (Zentralblatt für Psychoanalyse 1 (1911), 266ff ) 21 Matth. 9,12/13; Markus 2,17; Lukas 5,31/32 22 vgl. die Kapitel 15 und 31
D ANHANG
1. Register einiger wichtiger Gehirngebiete und neurologischer Begriffe Amygdala, Corpus amygdaloideum, Mandelkern Bedeutende Region für Entstehung und Steuerung von Emotionen. Sie besteht 1. aus einer dem Riechhirn verbundenen unbewußt für Sexualkontakt wichtigen Zellgruppe, 2. aus einem zentralen Kern, der vegetative Reaktionen und Stress unbewußt steuert und 3. aus der Kerngruppe für Furchtkonditionierung = Abteilung „gebranntes Kind“, das nie vergißt und emotionale Erinnerung mit Entscheidung über Flucht oder Kampf bereit stellt. Die Verbindungen zu allen Teilen des Gehirns sind eng und wirken weitgehend auf alle individuell geprägten kognitiven, vegetativen und motorischen Reaktionen. Die Reifung der Amygdala im Leben ist früher abgeschlossen als die Reifung des Hippocampus (Archivverwalter des bewußtseinsfähigen Wissens) mit der Folge, daß die Bildung von bewußtseinsfernen Emotionen der Sprachentwicklung vorausgeht, was zur Organisation des Unbewußten mit allen Folgen führt. Arbeitsgedächtnis Es bildet eine für vorübergehende Erinnerung zuständige Relaisstelle, die wie ein Skizzen- oder Notizblock der flexiblen Handlungsplanung dient. Zielgerichtete Entscheidungen und Organisationen können damit auf verbaler, räumlich-visueller und zentral-exekutiver Ebene erfolgen.Vom impliziten und deklarativen Langzeitgedächtnis wird es ebenso unterschieden wie vom reinen Kurzzeitgedächtnis. Es umfasst Teile der linksseitigen Stirn-, Scheitel- und Schläfenlappen sowie der Basalganglien, letztere sind für vielfältige exekutive Leistungen zuständig. Manche Untersucher vermuten, daß bei Schizophrenie hier ein spezifisches Defizit besteht. Cingulum, vorderes; anteriorer cingulärer Cortex (ACC). Es liegt beidseits innen im Spalt zwischen den beiden Hirnhälften über dem Balken und ist Vermittler zwischen Emotionen, Denken und Verhalten. Im Zusammenspiel zwischen dem ACC, der Amygdala und der orbitopräfrontalen Rinde (OFC) werden Gefühle und Schmerz verarbeitet. Je nach Situation und individueller Ausstattung entscheidet der ACC mit darüber, welchen ankommenden Impulsen wir unsere Aufmerksamkeit zuwenden; er ist Lichtkegel in sonst dunkler Umgebung und erfaßt kleine Ausschnitte, je heller, umso kleiner. Bei Patienten mit verminderter Schmerzempfindung, Schmerzabstumpfung, aber gleichzeitiger Schmerzwahrnehmung sind Amygdala und ACC
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Anhang
deaktiviert, während der präfrontale Cortex hochaktiv wird. Störungen der Form und Funktion des ACC finden sich auch bei Geisteskrankheiten (Schizophrenie). Eine weitere Funktion des ACC besteht zusammen mit dem Hippocampus im Vergleichen einkommender kognitiver Elemente auf ihren Neuigkeitswert, z. B. bei der Erkennung bisher ungehörter Worte und auch bei allen Inkongruenzbedingungen (unmögliche Aufgaben, Pseudoworte).
Abb. 87 Medianschnitt des Gehirns mit Blick auf die Innenseite einer Hirnhälfte. ACC = vorderes Cingulum; Amy. = Amygdala; OFC = orbitofrontaler Cortex; Thal. = Thalamus; K = Kleinhirn
Hippocampus, Seepferd. Es befindet sich beidseits am unteren inneren Rande des Schläfenlappens und ist Organisator und Verwalter des Archivs unseres Gehirns, der nicht in sich selbst speichert, sondern bewußtseinsfähiges Wissen in die jeweiligen Gebiete einordnet, Gesehenes in die Sehrinde, Gehörtes in die Hörrinde, Sprachliches in das Sprachzentrum. Bei den sog. Inselbegabungen („idiot savants“) ist die Verwaltung defekt, sodaß diese Musik-, Rechen- und Sprachgenies wie Gefangene mitten in einem einzigen Archiv leben.
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Bisher dem Gehirn unbekannte Sinnesreize lösen wahrscheinlich ein „Neuigkeitssignal“ aus, das mit erhöhter Ausschüttung von Dopamin ein besseres Lernen ermöglicht. Eine beidseitige Zerstörung führt zu einem Teilverlust des Altgedächtnisses, wie es auch bei der Alzheimerschen Demenz bevorzugt vor anderen Gebieten zurückgebildet ist. Beim Aufruf emotionell besetzter Gedächtnisinhalte besteht eine arbeitsteilige Kooperation mit der Amygdala. Während also Patienten mit Amygdalaschädigung auf ein erschreckendes Hundebellen keine Angst- und Schreckreaktion zeigen, aber genau den Hintergrund des Vorfalles stumpf-emotionslos hinnehmen (das sog. deklarative Gedächtnis ist erhalten), können Patienten mit Hippocampusschaden nur noch den Schreck erleben (emotionales Gedächtnis), ohne sein Warum zu erkennen. Der akute Stress einer Notfallsituation fördert die Ausschüttung des Hormons Cortisol, was kurzfristig die Bildung neuer Gedächtnisinhalte bewirkt, gleichzeitig aber die Verbindung zum Altgedächtnis verschlechtert; dieser Vorgang bewirkt erhöhte Suggestibilität und trägt zur Wirksamkeit der Imaginationen durch Psychotherapie bei. Hypothalamus Er bildet einen Teil des Zwischenhirns, liegt unter dem Thalamus und ist durch einen Stiel mit der Hypophyse, der Hirnanhangsdrüse verbunden. Damit dirigiert er in enger Verbindung zur Amygdala die wichtigsten hormonellen Funktionen des Körpers und das Vegetativum. Biologische Grundfunktionen wie Kreislauf, Atmung. Schlaf, Temperatur, Sexual-Angriffs- und Verteidigungsverhalten werden von ihm kontrolliert und gesteuert. Von Außenreizen wird der Hypothalamus nicht direkt erreicht, stets sind Strukturen des dopaminergen Belohnungssystems, neben Amygdala vor allem auch der Nucleus accumbens (Zentrum für Suchtproblematik) und die praefrontale Rinde vorgeschaltet. Spiegelneurone. Sie wurden gegen Ende des 20. Jahrhunderts durch die italienische Forschergruppe um Giacomo Rizzolatti in Parma entdeckt. Affengehirne, wenn sie einen anderen Affen beim Bananenauflesen beobachten, aktivieren Zellgruppen im Bereich der dorsolateralen praemotorischen Rinde des eigenen Stirnhirns (Feld F5). Zunächst konnte nur die Reaktion bei visuellen Wahrnehmungen belegt werden: Die Zellen werden sowohl bei Eigenaktivität als auch in Nachahmung fremder Handlungen befeuert. Es sind Imitationsneurone, die etwas „nachäffen“. In den letzten Jahren sind Spiegelneurone auch beim Menschen entdeckt worden; sie arbeiten hoch spezialisiert. Es gibt z. B. Zellgruppen, die nur beim Beobachten von Fußbewegungen, andere die nur bei Beobachtung eines küssenden Mundes aktiviert werden. Ein internationales Forscherteam hat 2006 beweisen können, daß nicht nur durch unmittelbare Beobachtung mit den Augen, sondern auch durch Lesen eines Textes Spiegelneurone akti-
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Abb. 88 Der Hypothalamus als Steuerungsorgan wichtiger Hormone. a. Hypothalamus b. Cingulum c. Hypophyse d. Türkensattel e. Brücke f. Mittelhirn
viert werden: Ein Video und eine gelesene Beschreibung über Kirschenessen stimulieren die gleichen Zellen (Forschergruppe um Lisa Aziz-Zadeh). Schließlich konnte auch bei akustischen Reizen die Aktivierung von Spiegelneuronen entdeckt werden. Das auditorische Spiegelsystem beim Menschen, ebenfalls hoch spezialisiert, empfindet Aktionsgeräusche aller Art nach, d. h. gehörte fremde Aktionen, wie ein Händeklatschen können erlebt werden, als ob es selbst ausgeführt wurde (Forschergruppe um Simone Schütz-Bosbach). – Die Spiegelneurone erleichtern durch Beobachtung und Anhören anderer die Entwicklung des motorischen Systems und der Sprache, indem sie kartografisch die Aktionen anderer für den eigenen Körper mittels Stabilisierung synaptischer Verschaltungen und Neuritenwachstum erfassen und prägen. Damit bilden sie eine Grundlage für soziales und kulturangemessenes Handeln und sind Beweise dafür, daß unsere biologische Ausstattung zu echtem intuitiven Mitgefühl (Empathie) in Freude und Leid angelegt ist, ohne Mitwirkung des Verstandes. Bei Autismus sind die Spiegelneurone in ihrer Aktivität stark eingeschränkt. Für die Akuttherapie kann die Möglichkeit, Schmerz gemeinsam mit anderen Menschen in gleicher neuronaler Erregung des affektiven Schmerznetzwerkes (vordere Insel, rostraler und dorsaler anteriorer zingulärer Cortex u. a.) wahrzunehmen, bedeutsam sein (Forschergruppe um Tania Singer, Zürich).
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Labeling emotions, emotional awareness. Die in der Literatur zu den performativen Texten konstant als „Magie“ beschriebene Personalisierung von internen und externalisierten Leidenszuständen und Symptomen wurde schon vor vielen Jahren aus der Dämonologie in die Metaphorik, also in strategisch-rhetorische Sinngestaltung heruntergeholt (z. B. Jaberg, Karl, Krankheitsnamen, Schweizerisches Archiv für Volkskunde 47 (1951), S. 77– 113). Wer sagt uns, daß der Mensch des Mittelalters stets ein leibhaftiges, irreales Wesen dachte, wenn er „Bärmutter“, „Wurm“, „Herbrate“ oder „Elben“ in den Mund nahm? Auch psychosomatisch Kranke der Gegenwart neigen dazu, über ein betroffenes Organ in anthropomorpher Sprache zu reden (Hoffmann S. O. und Gerd Hochapfel: Einführung in die Neurosenlehre, Stuttgart 1987², S. 192f.) Allerdings: Hilfreich und nützlich konnte es sein. Das zeigen die weltweiten Erfahrungen tausender Jahre und zuletzt die Forschungen der Palo Alto-Gruppe: Die Entdeckung, daß eine Botschaft nicht nur metaphorisch-sinnbildlich, sondern auch wörtlich gemeint sein kann – und umgekehrt (Gregory Bateson, 1953) – eröffnete der Psychotherapie neue Wege. Die Hirnforschung nähert sich derzeit einer schlüssigen Klärung. Mehrere Forscherteams (Ochsner, K.N. et al., J.Cogn. Neuroscience 14 (2002),1215–1229; Lieberman, Matthew und David Creswell, Online über EurekAlert, Public release 21. Juni 2007) beobachteten mit bildgebenden Verfahren die bekannte Erhöhung der Aktivität der Amygdala beim Anblick der Bilder zorniger Gesichter. Das war der erwartete Alarmzustand zur Gefahrenfrühwarnung. Anders jedoch war das Ergebnis, wenn die bösen Fratzen durch die Versuchspersonen benannt wurden, als das was sie darstellen, Zorn, Aggression und Wut. Dann nahm die Aktivität der Amygdala ab, und es kam zu einer Aktivierung eines rechts frontoventral gelegenen Gebietes, das offenbar für Worte über Gefühle zuständig ist. Mit der bewußten Benennung von Gefühlen und deren figuraler Ausgestaltung sinkt die Spannung im limbisches System. Wichtig war dabei, daß im Rahmen der Experimente keine bewußte Korrektur oder Unterdrückung der Angstgefühle stattfand, sondern nur ihre Etikettierung ohne das direkte Verlangen, gesund, schmerzfrei und froh damit zu werden. Diese Fähigkeit des Gehirns, die individuell unterschiedlich ausgeprägt ist und erst spät mit der Herausbildung der neocorticalen, also bewußtseinsnahen Strukturen der Hirnrinde reift, ist und war entscheidende Voraussetzung für Erfolge einiger Methoden der Verbaltherapie.
2. Register mehrfach genannter historischer Persönlichkeiten Galēn; Galenus, Clarissimus: geb. um 129 n.Chr. in Pergamon, gest. um 216 (199) in Rom; war und ist neben Hippokrates der bekannteste Arzt des Altertums. In seiner Heimatstadt wurde der Heilgott Asklepios verehrt. Auf seinen Reisen besuchte G. auch
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Labeling emotions, emotional awareness. Die in der Literatur zu den performativen Texten konstant als „Magie“ beschriebene Personalisierung von internen und externalisierten Leidenszuständen und Symptomen wurde schon vor vielen Jahren aus der Dämonologie in die Metaphorik, also in strategisch-rhetorische Sinngestaltung heruntergeholt (z. B. Jaberg, Karl, Krankheitsnamen, Schweizerisches Archiv für Volkskunde 47 (1951), S. 77– 113). Wer sagt uns, daß der Mensch des Mittelalters stets ein leibhaftiges, irreales Wesen dachte, wenn er „Bärmutter“, „Wurm“, „Herbrate“ oder „Elben“ in den Mund nahm? Auch psychosomatisch Kranke der Gegenwart neigen dazu, über ein betroffenes Organ in anthropomorpher Sprache zu reden (Hoffmann S. O. und Gerd Hochapfel: Einführung in die Neurosenlehre, Stuttgart 1987², S. 192f.) Allerdings: Hilfreich und nützlich konnte es sein. Das zeigen die weltweiten Erfahrungen tausender Jahre und zuletzt die Forschungen der Palo Alto-Gruppe: Die Entdeckung, daß eine Botschaft nicht nur metaphorisch-sinnbildlich, sondern auch wörtlich gemeint sein kann – und umgekehrt (Gregory Bateson, 1953) – eröffnete der Psychotherapie neue Wege. Die Hirnforschung nähert sich derzeit einer schlüssigen Klärung. Mehrere Forscherteams (Ochsner, K.N. et al., J.Cogn. Neuroscience 14 (2002),1215–1229; Lieberman, Matthew und David Creswell, Online über EurekAlert, Public release 21. Juni 2007) beobachteten mit bildgebenden Verfahren die bekannte Erhöhung der Aktivität der Amygdala beim Anblick der Bilder zorniger Gesichter. Das war der erwartete Alarmzustand zur Gefahrenfrühwarnung. Anders jedoch war das Ergebnis, wenn die bösen Fratzen durch die Versuchspersonen benannt wurden, als das was sie darstellen, Zorn, Aggression und Wut. Dann nahm die Aktivität der Amygdala ab, und es kam zu einer Aktivierung eines rechts frontoventral gelegenen Gebietes, das offenbar für Worte über Gefühle zuständig ist. Mit der bewußten Benennung von Gefühlen und deren figuraler Ausgestaltung sinkt die Spannung im limbisches System. Wichtig war dabei, daß im Rahmen der Experimente keine bewußte Korrektur oder Unterdrückung der Angstgefühle stattfand, sondern nur ihre Etikettierung ohne das direkte Verlangen, gesund, schmerzfrei und froh damit zu werden. Diese Fähigkeit des Gehirns, die individuell unterschiedlich ausgeprägt ist und erst spät mit der Herausbildung der neocorticalen, also bewußtseinsnahen Strukturen der Hirnrinde reift, ist und war entscheidende Voraussetzung für Erfolge einiger Methoden der Verbaltherapie.
2. Register mehrfach genannter historischer Persönlichkeiten Galēn; Galenus, Clarissimus: geb. um 129 n.Chr. in Pergamon, gest. um 216 (199) in Rom; war und ist neben Hippokrates der bekannteste Arzt des Altertums. In seiner Heimatstadt wurde der Heilgott Asklepios verehrt. Auf seinen Reisen besuchte G. auch
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Alexandria, die damalige Hochburg medizinischer Wissenschaft, einschließlich Anatomie. In Pergamon und in Rom behandelte er verwundete Gladiatoren. 168 berief ihn Kaiser Marc Aurel zum Einsatz gegen eine Epidemie unter Soldaten, wahrscheinlich nicht Pest, sondern Pocken. Ab 169 war G. kaiserlicher Leibarzt. Er übernahm die 4-Elementen- und Säftelehre (Humoralpathologie) der alten Griechen und hinterließ über 100 medizinische Abhandlungen.
Abb. 89 Die Hippokratisch- Galenischen Elementarprinzipien der Medizin, sog. Humoralpathologie und Viersäftelehre. Stoicheia (gr.) = Urelemente
Hippokrates von Kos: geb. um 460 vor Chr., gest. um 370/75; sein Geschlecht führte sich auf den Heilgott Asklepios zurück. H. gilt mit seiner koischen Schule als Begründer der wissenschaftlichen Medizin. Nur wenige der 61 Teile der Schriften des „Corpus Hippocraticum“ können dem H. selbst zugeschrieben werden, darunter „Über die Epilepsie“ und „Über die Umwelt“. Entscheidend war die Absage an magisch-religiöse Ideen und die natürliche Erklärung von Krankheit aus dem Ungleichgewicht der Körpersäfte. Auf die Schule des H. werden Aderlaß, Abführmittel und Schröpfköpfe zurückgeführt, besonders aber auch bis heute gültige hygienische und ethische Richtlinien für den Arzt. Hrabanus Maurus: geb. um 780 in Mainz, gest. 856 in Winkel/Rheingau; Mönch in Fulda seit ca. 788; gefördert durch Alkuin an der kaiserlichen Hofschule in Aachen; Studien in Tours; Abt des Klosters Fulda 822–842, seit 847 Erzbischof von Mainz als 5. Nachfolger des hl. Bonifatius. Schöpfer des Figurengedichtes „Vom Lob des heiligen Kreuzes“, Werke zur Ausbildung der Geistlichen und eine Enzyklopädie „Die Natur der Dinge“; H. M. gilt als bedeutender Vermittler christlichantiker Überlieferung im Rahmen der karolingischen Renaissance.
Verzeichnis der Abbildungen
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Jacobus de Voragine: (1230–1298), der 1816 selig gesprochene Theologieprofessor, Prediger, Dominikanermönch und Erzbischof von Genua hat in seiner Legenda aurea alle Früchte der 1000-jährigen christlichen Personalgeschichten notiert. Alles, was Dichter und Schriftsteller über heilige Vorbilder aufgezeichnet hatten, was christliche Weltdeutung und Bildgebung außerhalb des streng theologisch vermittelten Denkens betraf, fand hier seinen Niederschlag. Das war keine historische Dokumentation im heutigen Sinne, sondern sollte als Hilfsmittel christlicher Erbauung und Erziehung dienen. Ob nach heutiger Benennung Roman, Erzählung, Reportage oder Gerücht, alles wurde in die Sammlung aufgenommen. Sie ist eine der wichtigsten Dokumentationen zur Deutung der Inhalte vieler Beschwörungen und außerkirchlicher Segen. Marcellus Empiricus « von Bordeaux »: lebte im 4./5. Jahrhundert nach Chr. und stammte aus Gallien bzw. Südfrankreich; er führte hohe Staatsämter unter den Kaisern Theodosius I und Arcadius. Im Jahre 408 stellt er für seine Söhne ein Arzneibuch (De medicamentis liber) zusammen, dessen 36 Kapitel aus Schriften der Medicina Plinii, aus Pseudo-Apulejus und aus der Volksmedizin schöpfen. Es enthält zahlreiche performative Heilspruchtexte und Heilpflanzennamen, die von seiner gallischen Heimat zeugen.
3. Verzeichnis der Abbildungen a) Innerhalb Text Abb. 00
Abb. 01 Abb. 02 Abb. 03
Abb. 04 Abb. 05
Abb. 06 Abb. 07 Abb. 08 Abb. 09
Titelbild. Schemenhafte Darstellung eines großen Krampfanfalls, Miniatur aus Bartholomäus’ Buch der Eigenschaften, BN Paris, aus: Brandt, Daniela- Maria: Epilepsie im Bild, Geigy Pharma Wehr, 1985/86 Schema der emotional- vegetativen Neuronenverbindungen, aus: CIBA Collection of medical illustrations, Vol.I, 1974, S. 152 Die zentrale Hörrinde. Aus: Benninghoff- Goerttler: Lehrbuch der Anatomie Bd. III; rechts: Nachzeichnung einer kernspintomografischen Aufnahme Die Taufe der heiligen Ottilia durch Bischof Erhard. Passionale des Benediktinerklosters Zwiefalten, 12. Jahrh. (Landesbibl. Stuttgart), aus: Löffler, K.: Schwäbische Buchmalerei, Augsburg 1928, Tafel 33 Jesias, Jeremias und Simeon. Nordportal der Kathedrale von Chartres, Foto W.E. Alte Vorstellungen zur Anatomie der menschl. Gebärmutter. Links und Rechts : Mailänder Michael-Scotus-Handschrift; Anthropologium des Magnus Hundt, Mitte: Guido da Vigevano, aus: Reisert, Robert, Pattensen 1986 Bärmutterbeschwörung (Ausschnitt) St. Galler Codex 752, fol.159 Votivbild der Annakapelle Sulzbach/Opf. Foto W.E. Christus heilt den Gichtbrüchigen. Mosaik San Apollinare, Ravenna, aus: Schiller, Gertrud: Ikonographie christl. Kunst, Abb. 435 Der Bamberger Blutungs- und Wundsegen, Staatsbibl. Bamberg Msc.Med. 6, fol.139rb
374 Abb. 10 Abb. 11 Abb. 12 Abb. 13 Abb. 14 Abb. 15 Abb. 16 Abb. 17 Abb. 18 Abb. 19 Abb. 20 Abb. 21 Abb. 22 Abb. 23 Abb. 24 Abb. 25 Abb. 26 Abb. 27 Abb. 28
Abb. 29 Abb. 30 Abb. 31 Abb. 32
Abb. 33 Abb. 34 Abb. 35 Abb. 36
Anhang Christus Schmerzensmann: Steinskulptur Th. Strayff, Dom zu Wiener Neustadt, aus: Dinzelbacher, Peter: Himmel, Hölle, Heilige. Darmstadt, 2002, S.143 Der Longinussegen des Innsbrucker Arzneibuches. Innsbruck ULBT Hs. 652, fol.77r Nürnberger Speerbildchen. Holzschnitt um 1500, aus: Spamer, Adolf: Kleines Andachtsbild, München 1980², Tafel VII Abbildung heiliger Speer. Bayerisches Nationalmuseum München, Sammlung Kriss, KrZ 389 Der Millstätter Jordansegen. Österreichische Nationalbibl. Wien Cod. 1704, fol.32r Taufe Christi im Jordan, St. Martinskirche Zillis/ Graubünden. Aus: Grabner, Elfriede: Verborgene Volksfrömmigkeit, Wien 1997, Abb. 5 Die Münchner Waffenstellung mit dem Jordanmotiv, BSB München, Cgm 5919, fol.285r Blutstillung aus dem Hausmittelbuch Schloss Wolfsthurn/ Südtirol, fol. 126r Amulettzettel zu den hl. drei Königen in Köln, 18. Jahrhundert Amulettzettel, Kupferstich 1751 (Benedictus-Zacharias-Segen, CMB u. a.) Vorlagen für Drei-Königs-Amulette des 12. Jahrh. Reichenau, Karlsruhe BLB CAug 249, fol.95rv Bischof Valentin von Rufach/ Elsaß, Holzschnitt um 1480 Epilepsiegebet und „Heilige Länge“ 17. Jh. LB Coburg Ms 24, fol.3v, 4r Die St. Emmeramer „Doner dutiger“-Beschwörung. München BSB, Clm 14763, fol.88r, 11. Jahrh. Petrus und Paulus vor Rom. Nordapsis Kloster Müstair, Graubünden.12. Jahrhundert, colorierte Nachzeichnung Eva Sixt, München Heilung der Prinzessin. Bronzetür St. Zeno, Verona. Aus: Brandt, D.-M., Epilepsie im Bild, Geigy Pharma Wehr, 1985/86 Nachweis eines Buchtitels zu den Siebenschläfern aus dem Bücherverzeichnis im Kloster Fulda des 8.Jahrh. Univ. Bibl. Basel Ms FIII 15a, f.18r Siebenschläferaltar von Rotthof bei Ruhstorf, Ndb. 18. Jahrh. Foto W.E. Der erste Merseburger Zauberspruch, Domstiftsbibliothek Naumburg, ehemals Domstiftsbibliothek Merseburg Hs 136, fol 85R, aus: Prospekt der Stadt Merseburg Drei Frauen am Grabe Christi, Walroßzahnschnitzerei, 11. Jahrh. Köln, Schnütgenmuseum. Aus: Legner, Anton (Hg.): Monumenta Annonis, Köln 1975, S. 151 Drei Frauen begegnen dem Engel, Bernwardspforte Hildesheim, 11. Jahrh. Foto F. Faure, Goslar Steinplastiken weiblicher Gottheiten, Röm.-Germ. Museum Köln, aus: K.RömerIllustrierte I,1974, S. 90 Die drei Parzen in der Wochenstube. Kupferstich nach Joh. Stradanus, aus: Zglinicki, Friedrich von: Geburt. Eine Kulturgeschichte in Bildern, Braunschweig 1983, S. 220 Geburtshilfespruch aus dem Schwarzwald, Badische Landesbibliothek Karlsruhe Hs DON 792, 132v Kaiserschnitt mit Geburt des Antichrist. Volksbuch 1475, aus: Zglinicki, Friedrich v.: Geburt, Kulturgeschichte in Bildern, Braunschweig 1983, S. 131 Schwere Geburt, Kupferstich Hebammenlehrbuch Christoph Völter 1722, aus: wie Abb. 34, S. 122 Mariae Heimsuchung, Tonrelief um 1430, Rosgarten-Mus. Konstanz, aus: Zglinicki, F.v.: Geburt, S. 49
Verzeichnis der Abbildungen Abb. 37 Abb. 38
Abb. 39 Abb. 40 Abb. 41 Abb. 42 Abb. 43 Abb. 44 Abb. 45 Abb. 46 Abb. 47 Abb. 48 Abb. 49 Abb. 50a Abb. 50b Abb. 51 Abb. 52 Abb. 53 Abb. 54 Abb. 55 Abb. 56 Abb. 57 Abb. 58 Abb. 59 Abb. 60 Abb. 61 Abb. 62 Abb. 63
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Schüsselritus mit Maria-peperit-Formel. Solothurn Zentralbibliothek Cod. S 386, 165 Sog. Glasbecher der hl. Elisabeth. Kunstsammlungen Veste Coburg, Inv. Nr. A.S. 652, aus: Blume, Dieter und W. Matthias (Hg.): Elisabeth von Thüringen, Katalog der Ausstellung, Nr. 299 Wochenbettsegnung des Lambacher Rituale, aus: Franz, Adolph, Das Rituale von St. Florian, Freiburg 1904, Tafel 5b Veronika-Blutungssegen aus dem Basler Fuldensis des 8. Jahrhunderts. UB Basel, Ms FIII. 15a, f.18r Veronica-Siegel aus Kloster Prüll b. Regensburg, München BSB Clm 536, fol.84r Der Münchner Kehlsegen des 13. Jahrhunderts. München BSB Clm 23390 fol. 59v St. Blasiuskirche Kaufbeuern, „Hie hailet er ain Kind so ain fischgretn geschluckt“ Foto W.E. Randeintrag eines Liebeszaubers Kloster Mondsee. Wien ÖNB Codex 1953, 65v und 66r „Perunder pawm, ich vmbvach dich …“. Liebessehnsucht am Mondsee, Zeichnung Fritz Klier 2010 Liebeszauber. Malerei auf Pferdedecke. Aus: Sieber, Friedrich, Festwerk Barock, Berlin 1960, Tafel 86 Liebeskrankheit im Hohelied. Figurale Bibelsprüche. Aus: Geistliche Herzenseinbildungen, Kupferstiche von Hanns Georg Bodenehr, Augsburg 1684 Jenseitsstrafen für Fleischeslust. Deckengemälde der Kirche Schmirrn am Brennerpass. Foto W.E. Fegfeuerqualen. Stereotypiedruck 16. Jahrhundert, nach einem Holzschnitt zu „Der Seelen Wurzgarten“, Augsburg J. Schönsperger. BSB München Inc.c.a. 1521 Liebeszauber mit Teufelsbeistand. Aquarell Eva Sixt, München 2005 Kastrationsangst als Selbstbestrafung. Aus: Müller-Thalheim, Kunsttherapie. München 1991, S. 71 Visionen der Hildegard von Bingen. Scivias, Verlag Otto Müller, Salzburg 1954 (Illuminierter Rupertsberger Codex der Landesbibliothek Wiesbaden) „Das Leben Christi“, Bronze-Tryptichon (1990) von Keith Haring (1962–1990), Seitenaltar in der Kirche St.Eustache, Paris. Foto W.E. Der Pestarzt. Die Kleidung wider den Tod. Kupferstich Marseille um 1730 Der Pestarzt beim Ausschneiden einer Beule. Holzschnitt Würzburg 1482 Votivtafel zur Heilung der besessenen Maria Müllerin von Bubenhausen 1691, Fuggermuseum Babenhausen. Foto Siggi Müller, Babenhausen Heilung des Besessenen von Gerasa. Codex Egberti, Reichenau um 980, Stadtbibliothek Trier. Museumsrepro Mittelzell Reichenau Johann Joseph Gaßner. „Magische Säule“ von Peter Lenk, Meersburg/ Bodensee. Foto W.E. Schutzkulte gegen bösen Blick. Aus: Seligmann, S.: Der böse Blick, Berlin 1910 Anrufung der Mutter Erde. Aus: Hans Biedermann: Medicina antiqua, Graz 1986³ („Medicina antiqua“ Wien ÖNB Codex 93, fol.9r) Sturz der alten Götter in den Schriften. Breslau Universitätsbibliothek Codex III F.19 Eisenkrautdarstellungen in den Kräuterbüchern der frühen Neuzeit. Aus: Leonhardt Fuchs (1543), Hieronymus Bock (1546) und Lonicerus-Uffenbach (1679) Der Münchner Nachtsegen (Ausschnitt) BSB München, Clm 615, 127r Der gezähmte Bilmesschneider in Cham. Skulptur von Joseph Michael Neustifter 1995 Foto W.E.
376 Abb. 64 Abb. 65
Anhang
Lärmende Geister, Soplones. Radierung Francesco da Goya Die zur Liebe verführenden Hexen. Bemalte Pferdedecke. Aus: Sieber, Friedrich: Festwerk Barock, Berlin 1960, Tafel 87 Abb. 66a-b Fliegende Hexe, Miniatur aus Martin Le France 1451; Dämonenritt, Astrup Kirche zu Falster, 14. Jahrhundert, aus: Schild, Wolfgang: Die Maleficia der Hexenleut’, Schriftenreihe des Kriminalmuseums Rothenburg o. d. T. Nr.1, S. 39,97; Abb. 67 Die Unholdin im Füssener Totentanz, Gemälde des Jacob Hiebeler um 1600. Foto W.E. Abb. 68 Der zweite Merseburger Zauberspruch, Domstiftsbibliothek Naumburg, ehemals Domstiftsbibliothek Merseburg Hs 136, fol 85R; aus: Prospekt der Stadt Merseburg Abb. 69 Goldbrakteat Aschersleben. Landesamt für Denkmalpflege Sachsen-Anhalt, Foto J. Liptak Abb. 70 Der Reiterstein Hornhausen (Wodan?). Landesmuseum für Vorgeschichte Halle/ Saale Abb. 71 Der Viehsegen mit Petri Schlüssel, Bayerische Staatsbibliothek Cgm 796, fol.1 Abb. 72 Beschwörung der Untiere. Wandmalerei Kloster Müstair 12.Jh. Nachzeichnung Eva Sixt, München Abb. 73 Figurierte Gedichte zur Kreuzesanbetung. Aus: Embach, Michael: Die Kreuzesschrift des Hrabanus Maurus, Trier 2007, S. 67, 69, 71 (Wien, ÖNB Cod. Vind. 652) Abb. 74 Der Weingartener Reisesegen. Landesbibliothek Stuttgart HB II 25 123v Abb. 75 Pilgersegnung in einer Initiale des Lambacher Rituale. Aus: Franz, A.: Das Rituale von St. Florian, Freiburg/Br. 1904, Tafel 2 Abb. 76 Das hintere Aufmerksamkeitssystem. Bildschema W.E. Abb. 77a Die Tegernseer Wurmbeschwörung. BSB Clm 18524 b, 203v, Digital Nr. 417 Abb. 77b dies.,Nachzeichnung. Aus: Froehner, Reinhard: Kulturgeschichte der Tierheilkunde (1954) II, S. 98 Abb. 78 Heilbehandlung am Grabe des heiligen Gallus. Aus: Duft, Johannes: Notker medicus, St. Gallen 1972, Tafel III (Codex 602 der Stiftsbibliothek St. Gallen) Abb. 79 Lehranleitung zum griechischen Alphabet, Hiobsegen, Fieber- u. Blutstill-Sigillen auf einer Schriftseite des Codex. (12. Jahrhundert) BSB München Clm 536, fol.84, Digital Nr.171 Abb. 80 Hiob im Mist. Kathedrale Chartres Nordportal, Tympanon (13. Jahrhundert). Foto W.E. Abb. 81 Der Sündenfall. Repro der Tafel 3 des Rupertsberger Codex, Abtei St. Hildegard, Eibingen, Wiesbaden Landesbibliothek Hs. 1 Aus: Hildegard von Bingen, Wisse die Wege, Salzburg 1954 Abb. 82 Hildegard von Bingen, Prolog (Die Seherin). Aus: Hildegard von Bingen, Wisse die Wege, Salzburg 1954, (Codex der Abtei St. Hildegard, Eibingen, Pergamentfaksimile des seit dem 2. Weltkrieges verschollenen Rupertsberger Codex Wiesbaden LB, Hs.1) Abb. 83 Hildegard von Bingen von Toni Schneider-Manzell, Bronzetor des Domes von Speyer. Aus: Weindel, Philipp: Das Bronzetor des Speyerer Domes, Speyer 1974, S. 115 Abb. 84 Die Seelenwaage. Aus: Stollreither, Eugen (Hg.): Bildnisse des IX–XVIII Jahrh. der BSB, Teil I, München 1928, Tafel 14 Kloster Prüfening 12. Jahrh. (Isidori Hispalensis Etymologiae, Clm 13031) Abb. 85 Segensanleitung für Blindgeborene. “Ganc zedemo fliezzentemo vvazzera“. Kloster St. Emmeram, 12. Jahrhundert, München BSB Clm 14472, fol.166v
Verzeichnis der Abbildungen Abb. 86 Abb. 87 Abb. 88 Abb. 89
377
Heilung des Blindgeborenen. Türflügel am Dom zu Benevent (12. Jahrhundert), aus: Mende, Ursula: Die Bronzetüren des Mittelalters, München 1994, S. 218 Medianschnitt des menschlichen Gehirns. Bildschema W.E. Der Hypothalamus. Bildschema, Zeichnung Christian Tuma Schema der Hippokratisch-Galenischen Medizin. Aus: Biedermann, Medicina antiqua, Graz 1986, S. 16
b) Farbtafeln Tafel 1 Tafel 1 Tafel 1 Tafel 2 Tafel 3 Tafel 3
Tafel 3 Tafel 3 Tafel 4 Tafel 4 Tafel 5 Tafel 6 Tafel 6
Tafel 7 Tafel 7 Tafel 7 Tafel 8 Tafel 8
Tafel 9 Tafel 9 Tafel 10
St. Ottilia im Kreuzgang von Brixen, Foto W.E. Longinuswunder. St.Nikolaus, Klerant/Südtirol. Foto W.E. Taufe Christi im Jordan, aus: Salzburger Armenbibel Codex aIX 12 der Erzabtei St. Peter zu Salzburg. Aus: Faksimile-Ausgabe Salzburg 1983, V 1, 9 Barbarossa, Beatrix und die Bärmutterkröte, Freisinger Dom. Foto Bungartz, Freising Geißelung Christi. Kreuzgang Franziskanerkloster Schwaz, Tirol Graffito. Foto W.E. Schemenhafte Darstellung eines großen Krampfanfalls, Miniatur aus Bartholomäus’ Buch der Eigenschaften BN Paris, aus: Brandt, D.-M.: Epilepsie im Bild. Geigy Pharma Wehr, 1985/86 Christus heilt Fallsüchtigen. Luth. Kirche Krummenau, um 1750, aus: Brandt, D.M.: Epilepsie im Bild, Wehr 1985/86 Die Drei Frauen Ampet, Gemet, Ouvet. Nikolauskirche Klerant (Brixen), Südtirol, 15. Jahrh. Foto W.E. Die drei Idisi beim Fesseln und Lösen. Gemälde von Emil Doepler, aus: E. Doepler und W. Ranisch: Walhall. Die Götterwelt der Germanen, Berlin 1900, S. 13 Wodan heilt Balders Pferd. Emil Doepler (1855–1922). Aus: wie oben Schematische Projektion tiefer Hirnstrukturen. Aus „Gehirn und Geist“ (Spektrum der Wissenschaft) Nr. 1/2002, S. 83 Maria „Knotenlöserin“, Gemälde um 1700, St. Peter am Perlach zu Augsburg, Foto W.E. Heilung der Blutflüssigen, Codex aureus Epternacensis, Benediktinerkloster Echternach 1030 aus: Ingo F.Walther und Norbert Wolf: Codices illustres, Taschen GmbH 2001, S. 131 Schutzbandamulett 18. Jahrh. Bayerisches Nationalmuseum München Inv. Nr.L.56/107 und 108 Jenseitsvision der Mystikerin Coletta. Clarissinnenkloster Gent. Aus: Dinzelbacher, Peter: Himmel. Hölle. Heilige. Darmstadt 2002, S. 99 Die Würzburger Pestbeschwörung. Universitäts-Bibliothek München, Cod. ms. 731 (neu: Cim.4), 7vb Abklingende Depression. Aus: Müller-Thalheim, Wolfgang: Kunsttherapie, hg. von Walter Pöldinger, München 1991, S. 49 Steinmalereien einer Wahnkranken. Aus: Psychopathologie und bildnerischer Ausdruck, Ikonographische Sammlung, Serie 12, F. Gnirss, Psychiatr. Klinik Basel, Hg. von Sandoz, Basel 1967 Die Nachtmahr. Gemälde von Joh. H. Füssli 1781. Aus: King, Francis: Magie, Frankfurt 1976 Abb. 43 Hiob am Mist. Kreuzgang des Brixener Domes. Foto W.E. Der Karlsbrief des Münchner Karmeliterkonvents (15. Jahrhundert, Ausschnitt) BSB München Cgm 850, 62rv
378 Tafel 11 Tafel 12 Tafel 12 Tafel 12
Anhang Die Mitwirkung des heiligen Ulrich bei der Schlacht am Lechfeld (Ausschnitte). Deckengemälde (1757) der Kirche von Eresing/ Obb. Foto W.E. Heilung des Blindgeborenen. St. Georg Oberzell, Reichenau. Museumsrepro mit Nachzeichnung. Foto W.E. Christus als Arzt und Apotheker. Rotholz, Inntal in Tirol (um 1800), ehemals Gnadenkapelle „Zum himmlischen Doktor“ Foto W.E. Christus heilt einen Wassersüchtigen. Codex aureus Epternacensis, Echternach 1030, aus: Walther, Ingo F. und Norbert Wolf: Codices illustres, Taschen 2001, S. 131
Abbildungsnachweis: Archive, Bibliotheken, Museen Babenhausen, Fuggermuseum Abb. 55 Bamberg Staatsbibliothek: Abb. 09 Basel Universitätsbibliothek: Abb. 26, 40 Breslau Universitätsbibliothek: Abb. 60 Coburg Landesbibliothek: Abb. 22 Halle Landesamt für Denkmalspflege Sachsen-Anhalt: Abb. 69 Innsbruck Universitäts- und Landesbibliothek Tirol: Abb. 11 Karlsruhe Badische Landesbibliothek: Abb. 20, 33 München Bayerisches Nationalmuseum: Abb. 13, Tafel 7 München Bayerische Staatsbibliothek: Abb. 16, 23, 41, 42, 49, 62, 77a, 79, 85, Tafel 10 München Universitätsbibliothek: Tafel 7 Reichenau-Mittelzell, Museum: Abb. 56 Reichenau-Oberzell, Museum: Tafel 12 Sankt Gallen Stiftsbibliothek: Abb. 06 Solothurn Zentralbibliothek: Abb. 37 Stuttgart Württembergische Landesbibliothek: Abb. 74 Wien Österreichische Nationalbibliothek: Abb. 14, 44 Wolfsthurn Bibliothek Freiherren von Sternbach: Abb. 17
Veröffentlichungen (Bücher, Zeitschriften) Biedermann, Hans: Medicina antiqua, Adeva (Akad. Druck- und Verlagsanstalt Graz) 1986³, S. 78: Abb. 59 Brandt, Daniela-Maria: Epilepsie im Bild, Geigy Pharma Wehr, 1985/86, S. 25, 63, 95: Abb. 25, Tafel 3 CIBA Collections of medical illustrations, Vol. I, 1974,152: Abb. 01 Dinzelbacher, Peter: Himmel.Hölle.Heilige. Darmstadt 2002, S. 143, 99: Abb. 10, Tafel 7 Doepler, Emil und W. Ranisch: Walhall. Berlin 1900, S. 13,14: Tafel 4 Duft, Johannes: Notker medicus, St. Gallen 1972, Tafel III: Abb. 78 Embach, Michael: Die Kreuzesschrift des Hrabanus Maurus, Trier 2007, S. 69, 67: Abb. 73 Franz, Adolph: Das Rituale von St. Florian, Freiburg/Br. 1904, Tafeln 5b und 2: Abb. 39, 75 Froehner, Reinhard: Kulturgeschichte der Tierheilkunde II, Konstanz 1954, S. 98: Abb. 77b
Stichwortregister
379
Gnirss, F. Psychopathologie und bildn. Ausdruck, Sammlg. Serie 12 (Hg. Sandoz Basel 1967): Tafel 8 Hildegard von Bingen: Scivias, Otto Müller-Verlag Salzburg 1954, Tafeln 1,3,5: Abb. 51, 82 King, Francis: Magie. Frankfurt 1976, Abb. 43: Tafel 9 Legner, Anton (Hg.): Monumenta Annonis, Köln 1975, S. 151: Abb. 29 Löffler, K.: Schwäbische Buchmalerei, Augsburg 1928, Tafel 33: Abb. 03 Mende, Ursula: Die Bronzetüren des Mittelalters, München 1994, Tafel 218: Abb. 86 Müller-Thalheim, Wolfgang: Kunsttherapie (Hg. W. Pöldinger), München 1991, S. 71, 49: Abb. 50b, Tafel 8 Reisert, Robert: Der siebenkammerige Uterus, Pattensen (Diss.) 1986: Abb. 05 Römer-Illustrierte, Römisch-Germanisches Museum Köln, I,1974, S. 90: Abb. 31 Salzburger Armenbibel, Faksimile 1983, V1,9: Tafel 1 Schild, Wolfgang: Die Maleficia der Hexenleut’, Schriften d. Kriminalmus. Rothenburg, Nr. 1: Abb. 66 Seligmann, Siegfried: Der böse Blick, Berlin 1910: Abb. 58 Sieber, Friedrich: Volk und volkstüml. Motivik im Festwerk des Barocks, Berlin 1960, Tafel 86,87: Abb. 46,65 Spektrum der Wissenschaft (Gehirn und Geist) Nr. 1/2002, S. 83: Tafel 5 Stollreither, Eugen: Bildnisse des IX.–XVIII. Jahrhunderts der BSB, Teil I, München 1928, Tafel 14: Abb. 84 Walther, Ingo F. und Norbert Wolf: Codices illustres, Taschenverlag 2001, S. 131: Tafel 6 Weindel, Philipp: Das Bronzetor des Speyerer Domes, Speyer 1974, S. 115: Abb. 83 Zglinicki, F.von: Geburt. Kulturgesch. in Bildern, Braunschweig 1983, S. 49,131,220: Abb. 32, 34, 35, 36
4. Stichwortregister (Personen, Sachen und Themen) Abgarlegende 107, 296, 361 Ablass 293 Abraham (Patriarch) 27, 142, 283, 326 Abraham a Sancta Clara 207 Abrogans 296 Abtreibungsdämon 130 Adam und Eva 54, 142, 350 Adynata (Unmöglichkeiten) 126, 221, 256, 260, 327, 368 Aetius von Amida 151 Alchemie 88, 247, 337 Allsympathie 15f, 240 Alpträume 258, 264 Amygdala 367, und passim Anblasen (der Wunde) 95, 155 Antaura 184f Antichrist 134 Aquaenergetic 121 Arbeitsgedächtnis 15, 18, 92, 121, 322, 367
Archaisierung (der Entbindung) 132 Arnald von Villanova 98 Ars somnifera 118 Artemis 184f Ärzte (Versagen) 144f, 176, 207, 353 Arztmetapher (der Theologen) 364 Astromedizin 36, 38f, 164, 197, 206 Asurbanipal 113 Aufmerksamkeitssystem 299, 307ff Augustinus 30, 103, 222, 350 Barbara, hl. 47, 200 Bärmutterkröte 35–41 Beda Venerabilis 12, 101, 123, 218, 354 Befindensfrage 334 Benedikt von Nursia 11 Benediktiner 12, 20f, 82, 85, 103, 138, 159, 198, 208, 301, 314, 324, 348 Bernhard von Clairvaux 65, 364
Stichwortregister
379
Gnirss, F. Psychopathologie und bildn. Ausdruck, Sammlg. Serie 12 (Hg. Sandoz Basel 1967): Tafel 8 Hildegard von Bingen: Scivias, Otto Müller-Verlag Salzburg 1954, Tafeln 1,3,5: Abb. 51, 82 King, Francis: Magie. Frankfurt 1976, Abb. 43: Tafel 9 Legner, Anton (Hg.): Monumenta Annonis, Köln 1975, S. 151: Abb. 29 Löffler, K.: Schwäbische Buchmalerei, Augsburg 1928, Tafel 33: Abb. 03 Mende, Ursula: Die Bronzetüren des Mittelalters, München 1994, Tafel 218: Abb. 86 Müller-Thalheim, Wolfgang: Kunsttherapie (Hg. W. Pöldinger), München 1991, S. 71, 49: Abb. 50b, Tafel 8 Reisert, Robert: Der siebenkammerige Uterus, Pattensen (Diss.) 1986: Abb. 05 Römer-Illustrierte, Römisch-Germanisches Museum Köln, I,1974, S. 90: Abb. 31 Salzburger Armenbibel, Faksimile 1983, V1,9: Tafel 1 Schild, Wolfgang: Die Maleficia der Hexenleut’, Schriften d. Kriminalmus. Rothenburg, Nr. 1: Abb. 66 Seligmann, Siegfried: Der böse Blick, Berlin 1910: Abb. 58 Sieber, Friedrich: Volk und volkstüml. Motivik im Festwerk des Barocks, Berlin 1960, Tafel 86,87: Abb. 46,65 Spektrum der Wissenschaft (Gehirn und Geist) Nr. 1/2002, S. 83: Tafel 5 Stollreither, Eugen: Bildnisse des IX.–XVIII. Jahrhunderts der BSB, Teil I, München 1928, Tafel 14: Abb. 84 Walther, Ingo F. und Norbert Wolf: Codices illustres, Taschenverlag 2001, S. 131: Tafel 6 Weindel, Philipp: Das Bronzetor des Speyerer Domes, Speyer 1974, S. 115: Abb. 83 Zglinicki, F.von: Geburt. Kulturgesch. in Bildern, Braunschweig 1983, S. 49,131,220: Abb. 32, 34, 35, 36
4. Stichwortregister (Personen, Sachen und Themen) Abgarlegende 107, 296, 361 Ablass 293 Abraham (Patriarch) 27, 142, 283, 326 Abraham a Sancta Clara 207 Abrogans 296 Abtreibungsdämon 130 Adam und Eva 54, 142, 350 Adynata (Unmöglichkeiten) 126, 221, 256, 260, 327, 368 Aetius von Amida 151 Alchemie 88, 247, 337 Allsympathie 15f, 240 Alpträume 258, 264 Amygdala 367, und passim Anblasen (der Wunde) 95, 155 Antaura 184f Antichrist 134 Aquaenergetic 121 Arbeitsgedächtnis 15, 18, 92, 121, 322, 367
Archaisierung (der Entbindung) 132 Arnald von Villanova 98 Ars somnifera 118 Artemis 184f Ärzte (Versagen) 144f, 176, 207, 353 Arztmetapher (der Theologen) 364 Astromedizin 36, 38f, 164, 197, 206 Asurbanipal 113 Aufmerksamkeitssystem 299, 307ff Augustinus 30, 103, 222, 350 Barbara, hl. 47, 200 Bärmutterkröte 35–41 Beda Venerabilis 12, 101, 123, 218, 354 Befindensfrage 334 Benedikt von Nursia 11 Benediktiner 12, 20f, 82, 85, 103, 138, 159, 198, 208, 301, 314, 324, 348 Bernhard von Clairvaux 65, 364
380
Anhang
Bernhardin von Busti 31 Berthold von Regensburg 305 Berufungssegen 188 Berylliumbarriere 16 Bethen drei 125 Bettnässen 106f Bilderleben siehe Imagination Binden- und Lösen 130, 206, 281 Birgitta von Schweden hl. 181 Bock, Hieronymus (Arzt) 244 Botenstoffe 15, 18, 19, 97, 121, 249, 299, 331, 345 Burchard von Worms 182, 255, 284, 286 Cannabis 65 Cantaridin (spanische Fliege) 335 Cingulum 367, und passim Coenästhetisch siehe Schizophrenie Colomanusbrief 295, 297 Constantinus Africanus 61, 64, 170, 348 Cortisol (Stresshormon) 18, 131, 345, 369 Credostruktur (Kurzcredo) 60, 69, 81ff, 87, 107, 188, 200, 204 Cysat, Renward (Apotheker) 202, 272 Dämonennamen 250–259, und passim De Chauliac, Guy (Arzt) 176 Descartes, René 10, 13, 189 Desinfektion 66, 198 Diagnostik – Differential- 9, 60, 67, 95, 115, 211f, 228, 230f, 232f, 236, 238f, 322, 339, 345 – Fötal- 27 – Schlüssel ICD 246 Dioscurides 243, 347 Diphtherie 154, 156f Dolchinschrift 119 Dostojewski 98 Drei Evangelisten 49 Drei Frauen 23, 29f, 124f, 129, 188 Drei Knaben (Feuerofen) 38 Edda 271, 318 Eiterbildung siehe Wundversorgung Elias (Prophet) 85, 142 Elisabeth von Thüringen 140f, 348
Empathiefähigkeit 142, 370 Erasmus hl. 29, 38 Erasmus von Rotterdam 43 Erickson, Milton.H. (Psychiater) 15 Erste Hilfe s. Krisen- Notfallmedizin Erzählstruktur 16, 32, 34, 45, 57, 60, 80f, 85, 112, 121, 186, 259, 321, 331 Esoterik 9, 36, 212, 230, 346 Exorzismus 11, 37, 49, 99, 114, 115, 186, 208, 211–231, 235, 259f, 296, 319, 347, 349, 356, 359 Fabri, Felix von Basel 91 Fernexorzismus 224 Fernsuggestion 171 Fixationsmethode (s.a. Hypnotherapie) 225 Fötus – extrauterine Abbildung 137 – Gehirn 121 – Diagnostik 27 Frauen – Assistentinnen 41 – Drei s.d. – Hebammen s.d. – Herabsetzung 9, 149, 165 – Medizinstudium 138 Freud, Siegmund 11, 182, 261 Frommann, Joh. Christian (Arzt) 225 Fremdkörperextraktion 75, 317 Furunculus 199 Galenus, Clarissimus 10, 36, 39, 64, 113, 139, 185, 189, 219, 350, 371 Gallus hl. 216 Gaßner, Joh. Joseph 226–229, 259 Geburtsgürtel 130, 141 Gegenreformation 143, 219, 281, 285 Geiler von Keysersberg 8, 311 Geminatio 186 Gläubigkeit 18 Godehard hl. 216f Gradatio 321 Grafenamulett 298 Gregor von Tours 116, 366 Häresien 27, 214
Stichwortverzeichnis
Haring, Keith 195 Haselnussrute 57–59 Hauser, Kaspar 102 Hausväterschrift 93 Hebamme 7, 35, 41, 132, 133f, Heilige Länge 107f, 143, 208 Heilschlaf 118 Helena hl. 79 Hexen (auch Prozesse) 174, 177, 189, 226, 255, 261 Hexenhammer 163, 176 Hildegard v. Bingen 130, 139, 148, 192, 217f, 299, 346–360, 363 Hippocampus 368, und passim Hippokrates 10, 65, 113, 189, 296, 310, 317, 372 Hirnrindenareale 367–371, – Cingulum s. d. – frontodorsal 261 – frontoparietal 53 – Hörrinde 19 – orbitofrontal 172, 239, 307 – perisylvisch 92 – praefrontal 34, 231, 299 – temporal (Schläfe) 14, 96, 98, 102, 132, 367f histrionische Störung 36, 41, 115, 211– 231, 230f Hohelied 162, 171 Hohenlohe, Alexander von 47, 48 Höhlenmetaphorik 117f, 121 Honorius Augustodunensis 21, 123 Hostienzauber siehe Oblaten Hrabanus Maurus 116, 123, 292, 348, 372 Hyperreligiosität 98 Hypnotherapie 15, 131, 223, 225–229 Hypothalamus 17, 70, 150, 369 Hysterie siehe histrionisch Imagination 29, 34, 57, 60, 70, 92, 97, 117, 121, 139, 150, 322, 345, 363, 369 Individualisierung (Vereinzelung, persönliche Entfaltung) 120, 170, 294, 334 Inquisition 163, 168, 172–183 Irrationales 19, (s.a. Hyperreligiosität) Isidor von Sevilla 11 Jeremias (Prophet) 28, 31 Johannes Baptist 30, 45, 82f, 94, 260, 277 Joseph II (Kaiser) 227 Judas 62, 206
381
Jüdische (hebräische) Texte und Amulette 128, 142, 214, 223, 304 Jung, C.G. 272 Kandel, Eric 18, 276 Karl der Große 295, 296 Karl IV. (Kaiser) 79 Karl V. (Kaiser) 43 Kastrationsangst 181 Katechese (religiöse Erziehung) 20, 32f, 96, 213, 281, 296 Kircher, Athanasius 195 Klostermedizin 10–12, 15, 85, 96f, 103, 114, 314, 324, 348, 366 Kompassmotiv (Windrose) 293, 299, 303f, 308 Konditionieren, operantes 276 Konfrontationstherapie 229, 341 Konkurrenz Arzt – Priester (Medizin – Theologie) 98, 207, 214, 366 Konstantin (Kaiser) 10, 139, 242, 305 Kontemplation 18, 64, 92, 117, 299, 345 Krankenkassensystem 9, 362 Krankheitsprognose 30, 89, 157, 245f Krankheitsursachen (Kausalattribution) 48f, 127, 195, 206, 238, 260, 323, 362 Krisen-Notfall-Medizin 13ff, 34, 64, 67, 96f, 112, 151, 158, 318, 351, 353, 363, 369 Kunsttherapie 239 Labeling emotions 53, 194, 263, 322, 345, 371 Laurentius hl. 29 Lazarus 102, 131, 135f, 151 Legende (Jesu Kindheit) 62f, Legenden (Heilige) – Apollonia 342 – Blasius 152 – Dreikönige 99f – Longinus 72f – Ottilia 21 – Thekla 29 – Veit 105 – Veronika 144 Longinus 62, 68, 73–80, 309f, 312 Lucia hl. 26 Lungenschwindsucht 90 Luther, Martin 43, 103, 141, 146, 240, 244, 281, 295
382
Anhang
Magnetstimulation (Hirnrinde) 98 Maria hl. 22ff, 38, 56, 58, 86, 129, 162, 205, 280 Mariae Heimsuchung 45, 136f, 150 Marien Drei 33, 124 Martin hl. 277, 281 Matronen 124f Mauritius hl. 79 Maximilian (Kaiser) 68 Mechthild von Magdeburg 162, 163, 166, 175 Meditation 18, 362, (s.a. Kontemplation) Melker Reform 162 Mesmer, Franz Anton (Arzt) 227, 229, 246 Messtechnik, magische 190, 192, 234 Metaphorikverarbeitung (Gehirn) 53 Michael (Erzengel) 90, 223, 225, 248, 304 Minnesang 166f Mission, anglo- irische 146, 303 Moses 86, 224, 350 Mund- zu- Mund- Beatmung 156 Mundfäule 329 Mutterbrief 39 Mutterschoß 117 Myrepsius, Nikolaus (Arzt) 148 Mystik 64, 80, 158, 162, 173, 175, 181, 296, 299, 312, 346ff, 362 Neurolinguistisches Programmieren 230 Nikodemus 75 Nikolaus von Dinkelsbühl 337 Notfallmedizin s. Krisen-Notfall-Medizin Numeralzauber 235 Oblatenzauber (Hostien) 119, 147f Origenes (Kirchenlehrer) 212, 222 Otfried von Weißenburg 124 Pacing and leading 111, 230 Päpste – Gregor VII 281 – Johannes XXI (Arzt) 325, 342 – Johannes Paul II 279 – Leo III 295 – Leo XIII 223 – Pius V 227 – Pius XII 215 Paracelsus 44, 67, 99, 332 Paradoxe Intention 172 Paré, Ambroise (Arzt) 176
Parodie 180, 334, 339 Paulus von Aegina 64 Per primam (Wundheilung s. Wundversorgung) Peter und Paul 112 Petrarca, Francesco 195, 302 Petrus Canisius hl. 219 Petrus hl. 24, 86, 90, 274, 281–289, 332f Pferdeflüsterer 275, 319 Phytotherapie 25, 44, 54, 62, 74, 101f, 118, 139, 164f, 209, 225, 240–249, 309, 348, 356–358 Piephacke (Gelenkzyste Pferde) 59 Pilatus 45, 46f, 72, 144f, 320 Pinel, Philipp (Arzt) 214 Pirckheimer, Willibald (Humanist) 48 Placebos 18, 248f Plinius maior 130, 243, 316, 344, 347 Prognose s. Krankheitsprognose Psalmen 146, 200, 208, 251, 253, 286, 303 Psychoanalyse 212, 230, 261 Reformation 43, 116, 281, 285 Regressionstechnik 121f Remigius von Reims hl.138 Rhythmisierung 71, 94, 130, 132 Rosenplüt, Hans 305 Rudolf II (Kaiser) 176 Ryff, W. H. (Apotheker) 47 Salerno (antike Medizinschule) 64, 65, 99, 138, 170, 206, 317, 348 Satan siehe Teufel Satire 47, 228 Savants (Inselbegabungen) 16, 368 Schedel, Hartmann (Humanist) 250 Schizophrenie 16, 36, 211ff, 231, 247, 366f, 368 – coenästhetische 36, 42 Schlangengift 88 Schmerzensmann (Christus) 64 Schmerzverarbeitung (Gehirn) 13, 36, 42, 44f, 52f, 60, 194, 249, 322, 339f, 345, 367, 370 Schüsselritus (Entbindung) 140 Schwertbeschwörung 87
Stichwortverzeichnis
Sebastian hl. 201 Sedulius 87, 146 Soziale Indikation 27 Sozialkritik 47 Sozialmedizin 108f, 115, 197 Speer (Lanze), Heiliger 68, 73f, 78–80, 208, 312 Spiegelneurone 34, 131, 142, 230, 263, 290, 299, 369f Spiritualität 349f Spontanheilungen 14, 18 Sprachfiguren 53, 326 Sprachverarbeitung und -Erkennung (Gehirn) 14, 15, 53, 92, 131, 142, 368 Stabreim 66, 71, (s.a. Rhythmisierung) Stephan hl. 267f Stephanus von Lanzkranna 327 Stresshormon siehe Cortisol Teufel 112, 114, 134, 173ff, 200, 212, 219ff, 232, 255, 278, 295, 323, 327 Text– Aufzeichnung (reduzierte) 110 – Erforschung 111, 123, 265–273, 302, 314, 347 – Verchristlichung 241f – Verdrehung (Parodie) 187 – Vervielfältigung 95 Thekla hl. 29, 169 Therapieversagen (der Ärzte) 202ff, s. a. Ärzte Thomas von Aquin 292 Tobiassegen 75 Trinitätsstruktur 198f, 203, 304 Trotula 138
383
Typologische Motive (Altes/ Neues Testament) 60, 81, 323f, 344, 350 Vegetativum 17, 18, 42, 52, 70, 194, 350, 367, 368 Vergil 139, 242 Vesalius, Andreas (Anatom) 189 Viersäftelehre (Humoralpathologie) 10, 38, 310, 372 Vintler. Hans 8 Volksfrömmigkeit 32, 33, 223 Volksmedizin (und Volksheiler) 44, 51, 88, 94, 96, 106, 120, 142, 203, 207f, 220, 329, 340f Waffensegen 120 Wallenstein 209 Wallfahrt 20, 25, 33, 39, 73, 99, 103f, 201, 207, 226, 302 Wassersegen (Wunden) 66f, 90 Werfel, Franz 250 Weyer, Johann (Arzt) 87, 214, 306, 351 Wolfram von Eschenbach 242, 317f Wundversorgung (und Heilungsverlauf ) 61f, 64f, 67, 69, 74, 310, 317 Zachariassegen 208 Zahnpflege 337f Zauberbücher, gedruckte 51, 55, 69, 78, 102, 179, 182, 187, 247, 277, 297, 304, 329 Zauberworte (und Buchstaben) 14, 120, 142, 148, 181, 208, 326, 335 Zwangsneurose 171f
5. Quellenregister (Archivalien und ältere Schriften) Agrippa von Nettesheim: Magische Werke (Ausgabe Berlin 1916): 98 „Albertus Magnus Braband“: 79, 329 „Albertus Magnus Toledo“: 56, 127 „Albertus Magnus Ulm“: 339 Amberg Staatsarchiv Rel. und Ref. 2,333: 40 Augsburg Stadtarchiv Urgichtenakten, Strafbuch: 168
Aussee (Markt) St. L.A. Sond. Archiv: 286 Bamberg Staatsarchiv msc. Med. 6: 62; msc. Med. 37: 205; msc. misc. 451: 254; RepA 245 VI: 25, 204 Basel Staatsarchiv Basel BS, Adel M3,2: 282 Basel Stadtarchiv Leistungsbuch 1407: 175 Basel UB Ms FIII. 15a: 145, 117
Stichwortverzeichnis
Sebastian hl. 201 Sedulius 87, 146 Soziale Indikation 27 Sozialkritik 47 Sozialmedizin 108f, 115, 197 Speer (Lanze), Heiliger 68, 73f, 78–80, 208, 312 Spiegelneurone 34, 131, 142, 230, 263, 290, 299, 369f Spiritualität 349f Spontanheilungen 14, 18 Sprachfiguren 53, 326 Sprachverarbeitung und -Erkennung (Gehirn) 14, 15, 53, 92, 131, 142, 368 Stabreim 66, 71, (s.a. Rhythmisierung) Stephan hl. 267f Stephanus von Lanzkranna 327 Stresshormon siehe Cortisol Teufel 112, 114, 134, 173ff, 200, 212, 219ff, 232, 255, 278, 295, 323, 327 Text– Aufzeichnung (reduzierte) 110 – Erforschung 111, 123, 265–273, 302, 314, 347 – Verchristlichung 241f – Verdrehung (Parodie) 187 – Vervielfältigung 95 Thekla hl. 29, 169 Therapieversagen (der Ärzte) 202ff, s. a. Ärzte Thomas von Aquin 292 Tobiassegen 75 Trinitätsstruktur 198f, 203, 304 Trotula 138
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Typologische Motive (Altes/ Neues Testament) 60, 81, 323f, 344, 350 Vegetativum 17, 18, 42, 52, 70, 194, 350, 367, 368 Vergil 139, 242 Vesalius, Andreas (Anatom) 189 Viersäftelehre (Humoralpathologie) 10, 38, 310, 372 Vintler. Hans 8 Volksfrömmigkeit 32, 33, 223 Volksmedizin (und Volksheiler) 44, 51, 88, 94, 96, 106, 120, 142, 203, 207f, 220, 329, 340f Waffensegen 120 Wallenstein 209 Wallfahrt 20, 25, 33, 39, 73, 99, 103f, 201, 207, 226, 302 Wassersegen (Wunden) 66f, 90 Werfel, Franz 250 Weyer, Johann (Arzt) 87, 214, 306, 351 Wolfram von Eschenbach 242, 317f Wundversorgung (und Heilungsverlauf ) 61f, 64f, 67, 69, 74, 310, 317 Zachariassegen 208 Zahnpflege 337f Zauberbücher, gedruckte 51, 55, 69, 78, 102, 179, 182, 187, 247, 277, 297, 304, 329 Zauberworte (und Buchstaben) 14, 120, 142, 148, 181, 208, 326, 335 Zwangsneurose 171f
5. Quellenregister (Archivalien und ältere Schriften) Agrippa von Nettesheim: Magische Werke (Ausgabe Berlin 1916): 98 „Albertus Magnus Braband“: 79, 329 „Albertus Magnus Toledo“: 56, 127 „Albertus Magnus Ulm“: 339 Amberg Staatsarchiv Rel. und Ref. 2,333: 40 Augsburg Stadtarchiv Urgichtenakten, Strafbuch: 168
Aussee (Markt) St. L.A. Sond. Archiv: 286 Bamberg Staatsarchiv msc. Med. 6: 62; msc. Med. 37: 205; msc. misc. 451: 254; RepA 245 VI: 25, 204 Basel Staatsarchiv Basel BS, Adel M3,2: 282 Basel Stadtarchiv Leistungsbuch 1407: 175 Basel UB Ms FIII. 15a: 145, 117
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Anhang
Beschwörungsbüchl Buchwald/Selb A 30: 50 Bern Burgerbibl. Cod. 803: 83 Bozen Kloster Muri Cod. 69: 90, 188 (die Hs jetzt Sarnen, Benediktinerkonvent) Braunschweig Stadtarchiv Orgichtb. B I 15: 15 Breslau Stadtbibl. Hs M 1026: 86 Breslau UB Hs III F 19: 241; Hs I.D.8: 293; Hs I.Q. 1: 119; Hs I.Q. 156: 76; Hs I.Q.308: 49; Hs III Q.7: 107; Hs I.F. 334: 148; Hs B 1932: 204; Hs IV.O.6: 246; Hs Vrat.III: 275 Cambridge UB Ms. Peterhouse 130: 258 Chur StA Graubünden Hs B 931: 170 Clermont- Ferrand Bibl. Municip. 201: 316 Coburg LB Ms 24: 107 Coburg Staatsarchiv Amtsbücherei F 226: 190 Coburg Privatarchiv Ernst Hs Kunstbuch Joh. Zahn Dürnberg: 254, 306 Cysat, Renward: Coll. Chr. Lucernensi (Ausgabe Josef Schmid): 202, 272 Dresden Institut für Geschichte und Volkskunde, Corpus der deutschen Segensund Beschwörungsformeln (Bearbeitung Spamer, Adolf /Nickel, Johanna; Bearbeitung Schulz, Monika): 188, 207 Dresden SLUB Mscr. 180: 24; Mscr. 206: 298; Mscr. C 317: 95 Eger Okresni Archiv Inqu. Fasc. 328: 342 Einsiedeln Stiftsbibl. Cod. 730: 74 Engelberg Stiftsbibl. Cod. 45: 118 Erfurt Bibl. Amploniana Hs Duod. 17: 167 Gießen UB Segensammlung Hepding: 319, 321; Segensabschriften Schönbach: passim Goslar Stadtarchiv A12334 Privata 1533,11: 177 Gotha Forschungsbibl. Chart A 980: 107, 149, 342
Graz Steierm. Landesarchiv Hs 476: 55, 76, 77, 91, 95, 160, 203, 222, 235, 257, 336, 338 Graz Steierm.Landesmuseum Joanneum Hs.Inv. 9217: 285 Graz UB Hs 38/31,4°: 283; Hs 980: 283; Hs 1501: 326 Greifswald Volkskundearchiv der Universität, Schreibheft Elise Wilke: 352 Gwerb, Rudolff, Zürich 1646: 187, 202, 339 Hannover Staatsarchiv Ms AA16, Perg 1382 [verbrannt; ed.Windler]: 119, 335 Heidelberg UB CPG 169: 76; CPG 202: 364; CPG 212: 177; CPG 213: 140; CPG 226: 95; CPG 244: 32, 78, 203, 205; CPG 255: 59; CPG 264: 86, 95; CPG 266: 68, 364; CPG 267: 46, 52, 54, 58, 76, 119, 137, 364; CPG 268: 154, 157; CPG 271: 259; CPG 369: 59, 120; CPG 478: 206; CPG 597: 166; CPG 691: 163, 167 Heidelberg Institut für Papyrologie der Universität Inv. G 1101: 87 Hildegardis Vita (Ed. Klaes) 140, 219, 347, 359 Hildegardis Physica (Ed. Basler HildegardGesellschaft): 139, 218, 347–359 Hersbruck Deutsches Hirtenmuseum Hs Hirtenfamilie Huzler (unpag.): 58, 79, 352 Innsbruck ULB Tirol Hs 652: 74, 328; Pergamentzettel Frgmt. 36: 293 Innsbruck Ferdinandeum Pap.Hs IX C14: 337 Jacobus de Voragine (Ed. Benz) 73, 100, 280, 305, 333 Karlsruhe BLB C Aug.249: 101; Hs DON 787: 94; DON 792: 57, 95, 133, 201, 205; DON 793: 364; Hs Pap. Germ. 87: 25, 236, 319, 320; Hs St. Georgen 38: 304; Hs St. Georgen 95: 295
Quellenregister
Köln Institut für Altertumskunde der Universität Inv. 5514: 182 Königslutter Stadtarchiv Hd I Gr.2: 96 Lambach Stiftsbibliothek Hs 247: 165 Lehmann, Christian: Hist. Schauplatz Ober- Ertzgebirge, Leipzig 1699: 202, 339 Leiden UB Bibl. Voss. lat. 8°15: 23 Linz OÖLB Hs 33: 138 London Brit. Libr. Arundel MS 295: 89; Harley MS 585: 332 Luxemburg BN Hs 27: 155 Marcelli De Medicamentis (Ed. Helmreich, Ed. Niederhellmann): 126, 147, 335 Marburg UB Ms 26 (III): 154, 198 Marktleuthen Stadtarchiv Band 30: 96, 107, 180, 248, 288 Mechthild von Magdeburg (Ed. VollmannProfe): 162, 166 Memmingen Stadtbibl. Cod.2,39: 85, 275 Mon. Germ. Hist. Deutsche Chroniken I,1,200: 105; Script. II,11: 216 München BHStA Benediktbeuern Kl. Ltr. 32,20: 85 München BNM Segensammlung Kriss KrZ 607: 78 München BSB Cgm 37: 234; Cgm 54: 30, 56, 188, 235, 236; Cgm 92: 246; Cgm 467: 55, 351; Cgm 723: 38; Cgm 796: 283; Cgm 823: 287; Cgm 850: 293, 311; Cgm 4426: 363; Cgm 5919: 88; Clm 100: 89; Clm 444: 337; Clm 536: 147; Clm 849: 203, 221; Clm 4321: 54; Clm 4350: 198, 279, 364; Clm7021: 102, 139, 154, 164; Clm 11601: 293; Clm 14179: 117; Clm 14453: 28; Clm 14472: 23; Clm 14569: 74; Clm 14763: 111; Clm 18956: 149; Clm 23119: 67; Clm 23374: 309; Clm 23390: 153; Clm 23435: 103, 234, 238; Clm 27152: 187; München UB Fragment 135: 291; Cod.ms. 691: 155; Cod.ms.731: 197 Niederalteich Cod. Jen. d. Necrol. Altahense: 155, 336
385
Nürnberg GNM Hs 5832: 68, 298; Hs 28909: 90 Nürnberg Staatsarchiv Rst. Kirchen u. Ortsch. auf dem Lande Nr. 454: 284 Nürnberg Stadtbibl. Cod Amb. 55 (Ed. Telle): 102, 199, 200, 325 Paris BN Cod. Parisinus 2316: 186 ; Cod lat. 1153: 326 ; Cod Nouv.Acqu. lat. 229: 86, 110 Physiologus (Ed. Seel): 279, 280, 347, 356 Pirckheimer, Willibald (Ed. Kirsch): 48 Plinius Nat. hist.: 244, 316 Prag Tsch. NB Hs XXIII G33 (olim Bibl. Lobkowitz): 77 Regensburg Stadtarchiv Nachlass Schönwerth: 237, 329 Rom Bibl. Apost. Vat. Cod. Vat. lat. 5359: 86; Cod. Palat. lat. 832: 76; Palat. lat. 1245: 137; Palat. lat. 1293: 342 Rostock Stadtbibl. Protokoll Niedergericht von 1576: 258, 289 Ryff, Walter Hermenius: New Kochbuch (Ed. Egenolff 1545): 47 Sankt Florian Bibl. des Chorherrenstifts Hs XI 467: 303 Sankt Gallen Stiftsbibl. Cod. 111: 277; Cod. 452: 316; Cod. 550: 198; Cod. 522: 293; Cod. 751: 136; Cod. 755: 95, 153, 351; Cod. 1164: 83, 201 Sankt Trudperter Hohelied (Ed. Ohly): 173 Schlägl Stiftsbibl. Cod. 194: 321 Solothurn ZBibl. Cod. S 386: 140 Speth, Eugen: Emblematische Weingartener Hl. Blut- Geschichte 1694: 72 Straßburg Nat. und UB L.germ. 659: 293 Straßburg Stadtbibl. Hs. 500: 157 Stromayer, Caspar: Practica cop. (1559–67) (Ed. Keil/Proff ): 67 Stuttgart Württbg. LB Cod Phys 4° Nr. 29: 55, 256; HB II 25: 301 Tissot, S.A. Von den Krankheiten vornehmer und reicher Personen 1770: 47
386
Anhang
Trier Stadtbibl. Hs 40/1018: 82, 136, 147, 242, 268, 275, 278, 326 Tüchersfeld Fränk.-Schweiz- Museum Rep. B Nr.L71 (E1042): 41 Utrecht UB Med. Hs 1355: 86 Vergil Aeneis (Ed. Götte): 139 Wernigerode Fürstlich Stolberg- Wernigerode Bibl. Hs Zb 4m: 164 Wien ÖNB Cod. 552: 278; Cod. 1705: 81; Cod. 1953: 160; Cod. 2505: 101; Cod. 2817: 75, 76, 94, 103, 148, 188,
199, 201, 293, 333, 334; Cod. 3071: 102; Cod. 5166: 343; Cod. 5259: 55; Cod. 13647: 244 Wiesbaden Hauptstaatsarchiv 369/209,9: 206 Wolfsthurn Bibl. Freih. von Sternbach Hausmittelbuch: 39, 93, 155, 156, 279, 281, 334 Wunsiedel Fichtelgebirgsmus. Hs C 213/2823: 33, 50, 179, 191, 237 Zürich ZBibl. Ms C 101: 293; Ms Rh 51: 73; Ms Rh 67: 320
INGE FRIEDL
HEILWISSEN IN ALTER ZEIT BÄUERLICHE HEILTR ADITIONEN
Wer gegen Kopfschmerzen heute wie selbstverständlich eine Tablette schluckt, sollte daran denken, wie Krankheiten noch vor wenigen Jahrzehnten am Land behandelt wurden. Kräutlerinnen, Salbenmacher, ein Zahnreißer, Knocheneinrichter, eine Landhebamme, alte Bäuerinnen und Bauern, sie alle erinnern sich an althergebrachte Heiltraditionen, die auch viel mit Aberglauben und Magie zu tun hatten. Weisheiten und Geheimnisse aus der bäuerlichen Hausapotheke von A wie Arnika bis Z wie Zwiebel runden diesen Band ab. 2009. 204 S. GB. 155 x 235 MM. ISBN 978-3-205-78313-8
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Patrick HersPerger
kircHe, Magie und ›abergl aube‹ »suPerstitio« in der k anonistik des 12. und 13. JaHrHunderts (ForscHungen zur kircHlicHen recHtsgescHicHte und zuM kircHenrecHt, band 31)
Magische und ›abergläubische‹ Vorstellungen und Praktiken der Menschen im Mittelalter haben immer wieder die Aufmerksamkeit verschiedener Diszipli
nen auf sich gezogen. Der kirchenrechtliche Diskurs über superstitio wurde bislang jedoch nur unzureichend aufgearbeitet. Die vorliegende Publikation schliesst diese Lücke, indem sie Texte der klassischen Kanonistik vom Decretum Gratiani (um 1140) bis zum Liber Extra (1234) ins Zentrum einer detail reichen Analyse rückt. Neben gedruckten werden insbesondere ungedruckte Quellen in ihren Entstehungskontext gestellt und thematisch ausgewertet. Schwerpunkte bilden dabei Dämonenvorstellungen, die Wahrsagepraktik des Losens, der Glaube an Amulette sowie die Anwendung von ›Schadenzauber‹ in geschlechtlichen Beziehungen. So wird deutlich, wie zunehmend rö
mischrechtliche Konzepte in die von Augustinus († 430) geprägte Super stitionenkritik der Kirche eingeflossen sind. Damit öffnet sich der Blick auf die Verflechtung von Religion und Recht in der Kultur des lateinischen Mittelalters. 2010. 533 S. Br. 150 x 230 mm. ISBN 978-3-412-20397-9
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