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German Pages 327 [328] Year 2013
Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung Schriftenreihe des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
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Katja Battenfeld
Göttliches Empfinden Sanfte Melancholie in der englischen und deutschen Literatur der Aufklärung
De Gruyter
Herausgeber: Daniel Fulda, Ulrich Barth, Harald Bluhm, Robert Fajen, Wolfgang Hirschmann, Andreas Pecˇar, Jürgen Stolzenberg, Heinz Thoma, Sabine Volk-Birke Wissenschaftlicher Beirat: Wolfgang Adam, Roger Bartlett, Gunnar Berg, Reinhard Brandt, Lorraine Daston, Laurenz Lütteken, Jean Mondot, Alberto Postigliola, Paul Raabe, Peter Hanns Reill Redaktion: Isabel Thomas Satz: Nancy Thomas
ISBN 978-3-11-030724-5 e-ISBN 978-3-11-030741-2 ISSN 0948-6070 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 쑔 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Danksagung In den vergangenen Jahren durfte ich erfahren, dass das Thema Melancholie auch im 21. Jahrhundert begeistert und in Staunen versetzt. Es ist leicht, mit Menschen über ihre unterschiedlichen Melancholie-Vorstellungen ins Gespräch zu kommen; aus diesen Gesprächen erwuchs mir immer wieder eine besondere Motivation, ein Phänomen zu erforschen, das seine Faszination in der Gegenwart nicht verloren hat. Den Anstoß für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Melancholie hat mein Studium der Neueren deutschen Literatur in Marburg gegeben. Daher bin ich meinem Doktorvater Prof. Dr. Burghard Dedner sehr verbunden, der meine Promotionsarbeit von der ersten Stunde an wohlwollend betreut und weise gefördert hat. Ihm und seinem Doktorandenkolloquium verdanke ich unter anderem einen soliden Start ins Promotionsleben und hilfreiche Begleitung. Ebenso möchte ich Prof. Dr. Daniel Fulda danken, der mir als Zweitgutachter und akademischer Mentor im Exzellenznetzwerk Aufklärung – Religion – Wissen durch Rat und Tat zur Seite stand. Seine konstruktiven Hinweise haben mir geholfen, immer wieder einen reflektierenden Blick auf meinen Arbeitsprozess zu werfen. Für ein großzügiges Stipendium, intensive Förderung meines wissenschaftlichen Arbeitens, einen Druckkostenzuschuss zur Veröffentlichung der Dissertation und nicht zuletzt hervorragende Zusammenarbeit im Stipendiatenkreis danke ich herzlich dem Exzellenznetzwerk Aufklärung – Religion – Wissen an der Martin-Luther-Universität Halle- Wittenberg. Insa Kringler, Melinda Palmer Kolb, Ingo Uhlig, Patrick Wulfleff und Cornelia Bogen seien hier stellvertretend für die vielen Personen genannt, die das gemeinsame Forschen zu einer wahren Freude gemacht haben. Darüber hinaus bin ich dem wissenschaftlichen Koordinator des Netzwerks, Apl. Prof. Dr. Rainer Godel, wesentlich zu Dank verpflichtet für umsichtige Beratung und organisatorischen Weitblick. Für die Aufnahme in die Halleschen Beiträge zur Europäischen Aufklärung möchte ich den Herausgebern der Reihe meinen herzlichen Dank sagen. Das Manuskript meiner Dissertation erscheint hier drei Jahre nach seiner Annahme im Fachbereich Germanistik und Kunstwissenschaften an der Philipps-Universität Marburg in leicht überarbeiteter und durch neuere Forschungsliteratur ergänzter Form. Die Redakteurin der Reihe, Dr. Erdmut Jost, und Isabelle Thomas als Lektorin haben den Prozess vom Manuskript zur Druckfassung aufmerksam begleitet. Auch dafür herzlichen Dank.
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Für freundschaftlichen Rat und aufmunternde – auch kulinarische – Unterstützung über all die Jahre danke ich Silke und Jörg Bettelhäuser sowie Birgit Götz. Schließlich gehört der größte Dank meiner Familie, die mich mit Vertrauen und Zuversicht in meinem Tun begleitet hat.
Marburg im Juni 2013
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Katja Battenfeld
Inhalt Einleitung ................................................................................................................. 1 1 Religiöse Melancholie in der englischsprachigen Todesmeditation ................... 33 1.1 Die Entwicklung eines emotiven Kultivierungsprogramms in England zwischen 1720 und 1750 ....................................................... 33 1.1.1 Der Kontext der kontemplativen Lehrdichtung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ........................................................ 35 1.1.2 Das religiöse Kultivierungsprogramm ........................................ 42 1.1.3 Die Rolle des Erhabenen ............................................................ 45 1.1.4 Autorinnen und sanfte Melancholie ........................................... 49 1.1.5 Der Zenit sanfter Melancholie in religiöser Todesmeditation .... 53 1.1.6 Ziele eines kontemplativen Kultivierungsprogramms ................ 55 1.1.7 Die Imaginationstechniken und Motive ...................................... 58 1.1.8 Transformationen der religiösen Melancholie bis zur Jahrhundertmitte ......................................................................... 60 1.2 Die Ästhetisierung religiöser Melancholie in Edward Youngs Night Thoughts .................................................................................... 63 1.2.1 Mild melancholy versus delightful horror .................................. 67 1.2.2 Der Melancholiker und die frohe Botschaft ............................... 70 1.2.3 Gefühl und Verstand. Offenbarung bei Alexander Pope, Francis Gastrell und Edward Young ........................................... 73 1.2.4 Sanfte Melancholie zum Ziel erhabener Erkenntnisse ................ 81 1.2.5 Die literarische Umsetzung in Kontrastierungstechniken ........... 88 1.2.5.1 Vorbild und Aufruf zur Introspektion (Seele – Körper) .................................................................... 88 1.2.5.2 Argumente der Physikotheologie (Verstand – Empfindung) ..................................................... 89 1.2.5.3 Der Mensch halb Gott, halb Wurm (Gott − Mensch −Tier) .......................................................... 90 1.2.5.4 Trauer und Tod (Leiden − Freude)........................................ 92 1.2.5.5 Rhetorik der Klage (Klage − Lobpreis)................................. 95 2 Die empfindsame Melancholie in der sakralen deutschen Literatur ................... 99 2.1 Friedrich Klopstock und ein ‚geistlicher Sensualismus‘ ...................... 99 2.1.1 Sehnsuchtsvolle Melancholie in den frühen Oden Klopstocks ................................................................................ 102 2.1.2 Wehmütige Todesbilder als unterhaltsame und dichterische Anregungen .............................................................................. 111 2.1.3 Göttliches Empfinden. Die Heilige Poesie als eine Vertiefung emotionalen Selbst-Erlebens .................................................... 116
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2.2 Der Christ in der Einsamkeit: Melancholische Erlebnisse in der natürlichen und geoffenbarten Religion ............................................ 122 2.2.1 Empfindungen als subjektivistischer Offenbarungszugang bei Martin Crugot ..................................................................... 124 2.2.1.1 Emotionsgeleitete Selbstschulung ...................................... 127 2.2.1.2 Gott als ein Ermöglicher dieser Selbstschulung ................. 129 2.2.1.3 Introspektive Wahrnehmung: Ein Widerstreit im Menschen ............................................................................ 130 2.2.1.4 Atmosphärische Rahmung .................................................. 131 2.2.1.5 Die selbstgewählte Einsamkeit: Ein Zeichen der Autonomie .......................................................................... 132 2.2.1.6 Melancholie als Wegbereiterin eines prozesshaften Glaubens ............................................................................. 133 2.2.2 Sturms Trivialisierung der religiösen Melancholie für Ungebildete............................................................................... 134 2.2.3 Die orthodoxe Inanspruchnahme biblischer Trauer .................. 141 2.3 Ein Kontrapunkt: Die Hässlichkeit der Schönheit in Schubarts Todesgesängen ................................................................................. 146 2.3.1 Der empfindsame Intellektuelle auf dem Land ......................... 148 2.3.2 Theorie und religiöse Praxis ..................................................... 150 2.3.3 Ein Misanthrop in Geißlingen .................................................. 152 2.3.4 Religiöse Kultivierung am Grabesrand ..................................... 154 2.3.5 Makabre Erbauung: Menschenfresser und Epidemien ............. 157 3 Sympathetische Melancholie im schottischen Kunstepos und ihre deutsche Rezeption ............................................................................................ 160 3.1 The Poems of Ossian. Die Ästhetisierung eines religiösen Kultivierungsprogramms zugunsten sympathetischer Melancholie ...................................................................................... 160 3.1.1 Die Veröffentlichungen Ossians in Großbritannien und Deutschland .............................................. 164 3.1.2 Macphersons Adaption keltischer Stoffe anhand e empfindsamer Ideale................................................................. 167 3.1.3 Macphersons frühe Dichtung und die Sprache religiöser Lyrik ......................................................................................... 169 3.1.4 Sympathetische Melancholie und religiöses Kultivierungsprogramm ............................................................ 172 3.1.5 Der Begriff „joy of grief“ sowie die Funktionen sanfter Melancholie im Kunstepos ....................................................... 176 3.1.6 Kollektive Melancholie wird zum individuellen Genuss ........... 182 3.2 Die empathische Lektüre Ossians in Deutschland............................. 186 3.2.1 Die Zweifel an der Echtheit: Ein Sakrileg ................................ 190
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3.2.2 Das Lesen: ein Rausch der Empfindungen ............................... 192 3.2.3 Funktionalisierungen sanfter Melancholie zwischen 1765 und 1775 .......................................................... 197 3.2.4 Ausblick und Rückblick einer „Wonne der Wehmut“ bei Jung-Stilling ............................................................................. 212 3.2.5 Tugend- und Charakterbildung durch die natürliche Melancholie .............................................................................. 215 3.2.6 Kritik an der sanften Melancholie ............................................ 218 4 Zu einer Autonomie der Gefühle...................................................................... 224 4.1 „Gott! ich bin strafbar, daß ich auch jetzt noch eine Seligkeit fühle“. Werther und die Radikalität der Leidenschaften.... 224 4.1.1 Werthers Vertrautheit mit empfindsamen Konventionen und deren Problematisierung ................................................... 227 4.1.2 Das Ausmessen der Extremzustände ........................................ 233 4.1.3 „Vater, den ich nicht kenne“. Die weltliche Passionsgeschichte Werthers ................................................... 236 4.1.4 Intertextuelle Kontrastierung: Klopstocks Oden in Werthers Briefen...................................................................... 240 4.1.5 Ein archaisches Naturgefühl ersetzt synthetische Gefühle ........ 244 4.2 Anton Reisers Bildung eines Selbstgefühls ....................................... 251 4.2.1 „Zuweilen sang er seine Empfindungen, in Recitativen, von seiner eignen Melodie“: Adaptionen religiöser Emotionalisierungstechniken .................................................... 255 4.2.2 Die formale Verwendung religiöser Emotionalisierungstechniken .................................................... 264 4.2.3 „Ein schönes Nachtstück“ und die Klimax des Romans in der Todesbetrachtung ................................................................ 274 Zusammenfassung ................................................................................................ 278 Literaturverzeichnis .............................................................................................. 289 Register ................................................................................................................ 314
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Einleitung In Johann Martin Millers Siegwart (1776) unternehmen die Freunde Siegwart und Kronhelm an einem Sonntagmorgen nach dem gemeinsamen Kirchgang einen Spaziergang und überlassen sich dabei ganz den eigenen Emotionen angesichts der herbstlichen Natur. „Der helle Herbstmorgen“, so heißt es, machte auf [Siegwarts] offnes Herz den tiefsten Eindruck. […] [A]lles brachte ihm das süße Bild des Todes in die Seele. Er fühlte eine dunkle Sehnsucht, sich hinzulegen und zu sterben. Sein Herz ward erweitert, und Thränen stunden ihm in den Augen. Kronhelm hatte eben dieses Gefühl; beyde schwiegen. Noch nie hab ich so lebhaft und so ruhig an Theresen gedacht, fing endlich Kronhelm an; noch nie eine so süße Melancholie gefühlt. Mir ist so wohl und so wehmüthig! – Mir auch, Bruder, sagte Siegwart mit bebender Stimme. – Sie setzten sich an das etwas erhöhte Donauufer hin, blickten den Wellen nach und dachten nichts. […] Indem schwamm ein Leichnam in der Donau herunter. […] Es war ein junges Mädchen, das nicht übel aussah, von neunzehn oder zwanzig Jahren.1
Die Empfindung ‚süßer‘ Melancholie, eine enge Assoziation von Leidenschaft und Todessehnsucht, hier gefasst in das topische Bild der Begegnung mit einer Ophelia-gleichen ‚schönen Toten‘,2 war gegen Ende des 18. Jahrhunderts kein blasphemischer Wunsch, sondern Ausweis einer ‚gefühlvollen‘ Seele. Die von Siegwart und Kronhelm wortlos geteilte Empfindung der angenehmen Melancholie rekurriert auf ein bekanntes Emotionsphänomen literarischer Prägung, das in der Aufklärungsepoche verschiedenste Funktionen einnehmen konnte. Wie sich diese – durchaus auch erotisch konnotierte – Lust an der Trauer als Emotionsphänomen zwischen 1730 und 1780 entwickelte und dabei zunehmend an Prominenz gewann, soll in dieser Arbeit behandelt werden. Ziel ist es, aus der Perspektive der literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung das aufklärerische Potential einer ‚gemischten Empfindung‘ zu beschreiben. Im Mittelpunkt steht das Phänomen der sanften Melancholie in der Empfindsamkeit, das von der schwarzen Melancholie unterschieden werden muss,3 wie sie 1 2
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Johann Martin Miller: Siegwart: Eine Klostergeschichte. Neue verb. Aufl. 3 Bde. Bd. 1. Frankfurt a.M. 1802, S. 198–199. Vgl. Elisabeth Bronfen: Die schöne Leiche. Weiblicher Tod als motivische Konstante von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis in die Moderne. In: Inge Stephan, Renate Berger (Hg.): Weiblichkeit und Tod in der Literatur. Köln u. Wien 1987, S. 87–115. Kriterium für die in dieser Arbeit ausgewählten Texte war es, dass sie sich für eine Form der Melancholie aussprechen, die als förderlich und positiv verstanden wird. Diese Melancholie bezeichne ich in der Folge als sanfte Melancholie, während die als krankhaft und problematisch betrachtete Melancholie als schwarze oder negative aufgeführt wird. Zur Bezeichnung der Melancholietypen seit der Frühen Neuzeit vgl. Raymond Klibansky, Erwin Panofsky u. Fritz Saxl: Saturn und Melancholie: Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst. Frankfurt am Main 1990, S. 345: „Dem alten Gegensatz zwischen natürlicher und krankhafter Melancholie entsprechend wird eine ‚schwarze Melancholie‘ im Sinne einer krankhaften Gemütsverfinsterung von einer ‚weißen Melancholie‘ […] unterschieden.“
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etwa Hans-Jürgen Schings4 oder Hartmut Böhme gefasst haben. Denn während diese von der Annahme ausgehen, dass die Erscheinung der Melancholie im 18. Jahrhundert allgemein weitgehend verworfen5 und pathologisiert wurde, möchte ich anhand von Texten aus den Gebieten der religiösen Erbauungsliteratur und der Belletristik zeigen, dass das Konzept der Melancholie in seiner sanften Ausprägung unter dem literarischen Code „joy of grief“ („Wonne der Wehmut“) sehr erfolgreich weiterentwickelt und vielseitig funktionalisiert wurde. Auf diese Weise kam es auch während der Vernunftperiode, v.a. im heutigen Großbritannien und Deutschland, in ästhetisierter Form zur Fortführung der Tradition einer kreativen Melancholie oder ‚melancholia generosa‘ bzw. ‚weißen‘ Melancholie. Diese war seit der Antike bekannt und in der Renaissance bspw. durch Marsilio Ficino (De vita libri tres, 1482–1489) wieder aufgegriffen worden. Nicht nur Außenseiter, wie Hartmut Böhme annimmt, haben sich zur produktiven Melancholie bekannt.6 Tatsächlich war die sanfte Melancholie oder eben „Wonne der Wehmut“ in vielen literarischen Bestsellern des 18. Jahrhunderts (u.a. in Werken von Edward Young, Friedrich Klopstock, James Macpherson, Johann Wolfgang von Goethe) stark vertreten und beim Lesepublikum sehr beliebt. Sanfte Melancholie zu empfinden und dieser eine Form zu verleihen, war Ausdruck eines emotionalen Autonomiestrebens, das nicht nur eine Kompensation der bestehenden bürgerlichen Machtlosigkeit, sondern eine ebenso notwendige, komplementäre Emanzipation im privaten Bereich bedeutete.7 In meiner Studie möchte ich am Beispiel des englisch-deutschen Kulturtransfers ab der Mitte des 18. Jahrhunderts nachzeichnen, welche Voraussetzungen und Zusammenhänge gegeben sein mussten, damit die sanfte Melancholie mittels spe-
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Vgl. Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur. Stuttgart 1977, S. 127. Schings postuliert, dass die Diskreditierung der Melancholiker dazu diente, „exzentrische[…] Abweichungen von der Linie der toleranten, vernünftigen und praktischen Religion“ aufzuzeigen, den Melancholiker als Feind der gegenwärtigen Ordnung zu markieren. Vgl. Hartmut Böhme: Kritik der Melancholie und Melancholie der Kritik. In: Ders.: Natur und Subjekt. Frankfurt a.M. 1988, S. 256–273, hier S. 258: „Obwohl die Spur der melancholia generosa in Kunst und Philosophie sich niemals völlig verliert, so sind sich heute linke Aufklärer und konservative Rationalisten in der Verwerfung der Melancholie einig. Die Frage ist, warum gerade die Melancholie so heftig bekämpft wird – und was in der Geschichte die zu rettende Produktivität der Melancholie ausmacht.“ Vgl. ebd.: „Die Autorität der pseudoaristotelischen Tradition wird rigoros gebrochen. Nur so eigenwillige Außenseiter wie Johann Georg Hamann, der eben darum zum Vater der melancholischen Genies im ‚Sturm und Drang‘ wird, wagen es, die Linie Marsilio Ficinos gegen das Unisono der aufgeklärten Geister weiterzudenken.“ Vgl. Wolfram Mauser: Melancholieforschung des 18. Jahrhunderts zwischen Ikonographie und Ideologiekritik. Auseinandersetzungen mit den bisherigen Ergebnissen und Thesen zu einem Neuansatz. In: Lessing-Yearbook 13 (1991), S. 255–277, hier S. 270. Mauser betont, dass Autonomiestreben nicht nur beim Denken, sondern auch im Bereich der Empfindungen entstehe.
zifischer literarischer Techniken zu einem europaweit verbreiteten und konventionell kodierten Emotionsphänomen werden konnte.
Melancholie: eine ästhetische und kultivierende Empfindung Bis heute erweckt das Phänomen Melancholie in vielerlei Hinsicht Aufmerksamkeit und Faszination;8 zahlreiche Disziplinen haben sich im Laufe der Zeit mit dem Wesen und Nutzen der Melancholie beschäftigt. Von Anbeginn existierten dabei die beiden Facetten der schwarzen und der sanften Melancholie nebeneinander. Als Ursache der Melancholie (gebildet aus griech. melas, ‚schwarz‘ und cholé‚ ‚Galle‘) bezeichnete man bis zur Ablösung der Vier-Säfte-Lehre und der Entdeckung des Blutkreislaufs in einem Überschuss an schwarzer, verbrannter Galle, der auf den Blutkreislauf übergriff.9 Melancholie konnte sich für den Betroffenen sowohl in Form einer göttlichen Inspiration (mania) als auch einer dämonischen Trägheit (acedia) äußern; erst im 18. Jahrhundert begannen Mediziner,10 sie als 8
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Umfangreiche Sammelbände verschiedener Herausgeber belegen die epochenübergreifende und interdisziplinäre Arbeit der Melancholieforschung in den letzten 30 Jahren u.a. zur Phänomenologie, Ästhetiktheorie und Medizingeschichte. Vgl. etwa Udo Benzenhöfer (Hg.): Melancholie in der Literatur und Kunst. Hürtgenwald 1990; Rainer Jehl (Hg.): Melancholie: Epochenbestimmung – Krankheit – Lebenskunst. Stuttgart 2000; Andrea Sieber u. Antje Wittstock (Hg.): Melancholie – zwischen Attitüde und Diskurs: Konzepte in Mittelalter und Früher Neuzeit. Göttingen 2009. Die jüngsten deutschsprachigen Monographien und Aufsätze seit der Jahrtausendwende beschäftigen sich mit der Melancholie in den Werken Goethes, Grabbes und Ficonos. Vgl. Mauro Ponzi: Melancholie und Leidenschaft: Der Bildraum des jungen Goethe. Heidelberg 2012; Rainer M. Holm-Hadulla: Melancholie und Kreativität bei Goethe. Ein Beitrag zur Differenzierung von poetischer Melancholie und depressiver Erkrankung sowie deren Beziehung zur Kreativität. In: Wolfram Mauser, Joachim Pfeiffer u. Carl Pietzcker (Hg.): Goethe. Würzburg 2010, S. 47–64; Thorsten Valk: Melancholie im Werk Goethes. Genese – Symptomatik – Therapie. Tübingen 2002; Torsten Halling: Melancholie im Werk Christian Dietrich Grabbes. Bielefeld 2010; Antje Wittstock: Melancholia translata: Marsilio Ficinos Melancholie-Begriff im deutschsprachigen Raum des 16. Jahrhunderts. Göttingen 2011. In der Musikwissenschaft erforschte z.B. Melanie Wald-Fuhrmann unlängst Topoi und Signaturen musikalischer Melancholiedarstellungen in Dies. „Ein Mittel wider sich selbst“: Melancholie in der Instrumentalmusik um 1800. Kassel 2010, S. 259-?. Die jüngsten englischsprachigen Anthologien stellen Sachtexte und fiktionale Literatur des MelancholieDiskurses von der Antike bis zur Gegenwart zur Verfügung: Jennifer Radden (Hg.): The nature of melancholy: from Aristotle to Kristeva. Oxford 2000; Leigh Wetherall Dickson u. Allan Ingram (Hg.): Depressions and melancholy 1660–1800. 4 Bde. London 2012 (Bd. 1: Religious Writings. Bd. 2: Medical Writings. Bd. 3: Autobiographical Writings. Bd. 4: Popular Culture). Als Einstieg in die psychopathologischen Zusammenhänge der Melancholie eignet sich Brigitte Schulte: Melancholie. Von der Entstehung des Begriffs bis zu Dürers Melencolia I. Würzburg 1996. Den Umgang mit Melancholie-Therapien in der Frühen Neuzeit behandelt Johann Anselm Steiger: Melancholie, Diätetik und Trost. Konzepte der Melancholie-Therapie im 16. und 17. Jahrhundert. Heidelberg 1996. Vgl. dazu auch Mary Ann Lund: Melancholy, medicine and religion in early modern England: reading the „Anatomy of melancholy“. Cambridge 2010. Die Strukturen der Gesundheitskommunikation zwischen Arzt und Patienten am Beispiel des Melancholie-Diskurses im 17. und 18. Jahrhundert erarbeitete Cornelia Bogen: Der aufgeklär-
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nervöses Nervenleiden zu betrachten, für das in den kommenden zwei Jahrhunderten Begriffe wie „Hypochondrie“, „Psychose“, „Neurose“ oder „Depression“11 etabliert wurden. Die Neigung zur Melancholie wurde im Laufe der Geschichte sowohl Personengruppen (Religiösen,12 Gelehrten und Hochbegabten,13 Frauen14) als auch Kulturkreisen (z.B. England,15 Deutschland16) oder ganzen Epochen (Empfindsamkeit, Sturm und Drang, Expressionismus) zugeschrieben. Isabelle Guntermann wies in ihrer Studie Mysterium Melancholie (2001)17 zu Recht darauf hin, dass in der Melancholieforschung trotz einer grundlegenden „Inhomogenität ihres Gegenstandsbereichs“18 immer wieder ein „dichtes Netz zitativer Verweisungsstrukturen“19 herrsche. Der Diskurs über die Melancholie werde so dargestellt, dass es „bei aller geschichtlichen und geographischen Bandbreite eine außergewöhnliche Geschlossenheit und Traditionsmächtigkeit“20 gegeben habe. Erst mit Wolf Lepenies (Melancholie und Gesellschaft, 1969) und Martina Wagner-Egelhaaf (Die Melancholie in der Literatur, 1997) habe sich v.a. in der Soziologie und der Literaturwissenschaft die Erkenntnis durchgesetzt, dass das wesentliche „Klassifikationskriterium melancholischer Diskursformen das Moment der (Un-)Ordnung“21 sei, weil die Melancholie zwar der „Stabilisierung von Ord-
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te Patient. Strukturen und Probleme der Gesundheitskommunikation in der Buch und Zeitschriftenkultur des 17. und 18. Jahrhunderts. Mit einem Exkurs zur digitalen Kommunikation im Internet. Bremen 2013. Die psychoanalytische Abhandlung Julia Kristevas zu Depression und Melancholie ist seit 2007 in einer deutschen Übersetzung erhältlich. Darin sind sowohl pathologische Beschreibungen der Depression zu finden als auch literaturtheoretische Exkurse, welche die Melancholie als Ursprung künstlerischen Arbeitens definieren. Vgl. Julia Kristeva: Schwarze Sonne: Depression und Melancholie. Aus dem Französischen übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt am Main 2007. Vgl. dazu auch Allan Ingrams Aufsatzsammlung: Melancholy experience in the literature of the long eighteenth century: before depression 1660–1800. Basingstoke 2011. Vgl. Karl Christian Seltenreich: Beobachtungen und Erfahrungen über Melancholische, besonders über die religiöse Melancholie. Von einem Prediger am Zuchthause zu T. Leipzig 1799. Vgl. Jean Clair (Hg.): Melancholie: Genie und Wahnsinn in der Kunst. Ausstellungskatalog. Stuttgart 2005. Vgl. Helga Meise: „Wahr ich den gantzen Nachmittag betrübt“: Trauer und Melancholie in der Diaristik von Frauen in der Frühen Neuzeit. In: Mererid Puw Davies, Beth Linklater u. Gisela Shaw (Hg.): Autobiography by women in German. Oxford 2000, S. 69–85. Siehe George Cheyne: The English malady: or, a treatise of nervous diseases of all kinds, as spleen, vapours, lowness of spirit, hypochondriacal, and hysterical distempers, etc. In three parts. London 1733. Vgl. z.B. Joachim Hohmann (Hg.): Melancholie. Ein deutsches Gefühl. Bearb. von Rainer Breuer. Trier 1989. Isabelle Guntermann: Mysterium Melancholie. Studien zum Werk Innokentij Annenskijs. Köln 2001. Ebd., S. 97. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 99.
nung“ diene, aber immer auch dazu neige, diese Ordnung wieder aufzugeben.22 Für die Unterscheidung von schwarzer und sanfter Melancholie bedeutete dies, dass die sanfte Melancholie (als Ausdruck von Außerordentlichkeit) gegenüber der schwarzen Melancholie (als Ausdruck gestörter Ordnung) zum „erhabene[n] Seinsverständnis“ aufgewertet wurde.23 Guntermann sieht beide Diskursformationen historisch in einem „Konkurrenzverhältnis“; so habe etwa im Mittelalter „die Position der Ordnung [dominiert, K.B.], in der Renaissance die Position der Außerordentlichkeit“, während in der barocken Medizin „beide relativ gleichwertig nebeneinander existierten“.24 Obwohl ich beide Melancholieformen eher in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis statt in einem „Konkurrenzverhältnis“ sehe, teile ich mit Guntermann die Auffassung, dass der Diskurs der sanften Melancholie in der Epoche der Aufklärung als Reaktion auf neue Rationalitätsstandards verstanden werden muss. Die Träger des Diskurses versuchten, die Melancholie gegenüber der „Verdrängungstaktik der Ordnungsposition“ zu konservieren. Denn auch, wenn die Melancholie „im Ordnungsdiskurs ihre medizinische Rechtfertigung […] eingebüßt hat, so überlebt sie doch in dem metadisziplinär zwischen Kunst und Wissenschaft angesiedelten Raum des Außergewöhnlichen und Außerordentlichen“.25 Konkret sind es die Emotionalisierungsstrategien der Empfindsamkeit, die jenen metadisziplinären Raum des Außergewöhnlichen gestalteten, in dem sanfte Melancholie ihre Berechtigung behielt. Die Idee einer Kultivierung durch Emotionen fand in ihnen ein wertvolles Instrumentarium. Melancholie stellt in diesem Kontext eine ästhetische Empfindung26 dar, die von Trauer und Depression unterschieden werden muss und die – zumal als gemischtes Gefühl – eine Verwandtschaft mit dem Erhabenen aufweist.27 Mit Emily Brady und Arto Haapala ist Melancholie „a complex emotion with aspects of both pain and pleasure which draws on a range of emotions – sadness, love and longing
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Ebd. Siehe ebd., S. 101. Ebd., S. 102. Ebd., S. 102–103. Die „ästhetische Empfindung“, wie sie Konrad Paul Liessmann von der sinnlichen Empfindung äußerer Reize trennt, hat die Aufgabe, innere, emotionale Vorgänge als Antwort auf ästhetische Gegenstände zu beobachten. Vgl. Konrad Paul Liessmann: Vermischte Empfindungen. In: Ders.: Reiz und Rührung. Über die ästhetische Empfindung. Wien 2004, S. 21–36, hier S. 22: „Eine ästhetische Empfindung liegt […] vor, wenn das Wahrgenommene einen spezifischen inneren, affektiven oder emotionalen Eindruck auslöst, der sich primär auf die angebotene Reizkonstellation und nicht auf deren lebensweltliche Bedeutung konzentriert. Die ästhetische Empfindung wird also nicht wahrnehmungspsychologisch als Sinneseindruck interpretiert, sondern als ein Eindruck, dessen spezifische Erlebnisqualität im Moment seiner Aktualisierung verspürt wird.“ Emily Brady u. Arto Haapala: Melancholy as an aesthetic emotion. In: Contemporary Aesthetics 1 (2003). Online in: http://www.contempaesthetics.org/newvolume/pages/article.php?articleID=214 (Stand 16.12.2012).
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– all of which are bound within a reflective, solitary state of mind.“28 Die ästhetische Empfindung der Melancholie beruht jedoch nicht, wie die erhabene Empfindung, auf einer Exaltation, sondern im Gegenteil auf einer umfassenden Harmonie des Gefühls: The pleasure of melancholy does not come from excitement or intensity, but indeed rather from overall harmony we are experiencing. When feeling melancholy […] we are in control of the ‚lower‘ emotions; we have won both overwhelming sorrow and joy. The reflection constitutive in melancholy makes it a rational, controllable emotion.29
Diese Kontrollierbarkeit, so Brady und Haapala, weise Melancholie als eine „‚educative‘ emotion“30 aus, wie sie schon von Edward Young oder Johann Arnold Ebert im 18. Jahrhundert beschrieben wurde. Im Folgenden wird es in erster Linie um diese erzieherische Komponente der Melancholie in empfindsamen Emotionalisierungsstrategien gehen, jedoch werde ich ihre weiteren Eigenschaften, dass sie z.B. zur Reflexion anregt und Ideen kontrastiert, nicht aus den Augen verlieren. Wie ein Überblick über die Melancholieforschung der Vergangenheit zeigt, zählt die Studie Saturn und Melancholie von Raymond Klibansky, Erwin Panofsky und Fritz Saxl aus dem Jahr 1964 bis heute zu den Grundlagenwerken.31 Was als kunsthistorische Auseinandersetzung mit der Melancholie-Symbolik begann, wuchs am Ende zu einer facettenreichen Darstellung von humoralpathologisch begründeten Melancholieaspekten bis zur Frühen Neuzeit an.32 Weiterhin ist Gert Mattenklotts Dissertation Melancholie in der Dramatik des Sturm und Drang zu nennen, die neben den medizinhistorischen Aspekten der Melancholie in kreativer Hinsicht auch ästhetische Ausdrucksformen der melancholischen Stimmung untersucht.33 Wolf Lepenies und Hans-Jürgen Schings’ Analysen der Melancholie als gesellschaftliches Phänomen in der Epoche der Aufklärung34 manifestierten seit Ende der 1960er den Trend, die Beschäftigung mit der melancholischen Stimmung als bürgerlichen Eskapismus zu verstehen. Weltflucht, Rückzug in die Innerlichkeit und ästhetische Scheinidylle sind die Stichworte, welche fortan mit der Melancho28 29 30 31
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Siehe ebd. Siehe ebd. Siehe ebd. Vgl. Klibansky, Panofsky u. Saxl: Saturn und Melancholie (wie Anm. 3). Darin: Der Melancholiebegriff und seine historische Entwicklung, S. 39–202; Melancholie als gesteigerte Selbsterfahrung, S. 334–350; „Melancholia generosa“. Die Glorifizierung der Melancholie und des Saturn im Florentiner Neuplatonismus und die Entstehung des modernen Geniebegriffs, S. 351–396. Zur Erforschung des Melancholie-Diskurses in der Literatur der Frühen Neuzeit siehe auch Douglas Trevor: The poetics of melancholy in early modern England. Cambridge 2004. Vgl. Gert Mattenklott: Melancholie in der Dramatik des Sturm und Drang. Stuttgart 1968. Siehe Wolf Lepenies: Melancholie und Gesellschaft. Mit einer neuen Einleitung: Das Ende der Utopie und die Wiederkehr der Melancholie. Frankfurt am Main 1998; Schings: Melancholie und Aufklärung (wie Anm. 4). Eine ähnliche Studie für den englischsprachigen Melancholiediskurs verfasste Ute Mohr: Melancholie und Melancholiekritik im England des 18. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1990.
lie in enge Verbindung traten,35 z.B. in Franz Loquais Künstler und Melancholie in der Romantik.36 Die als sanft und produktiv apostrophierte Melancholie wurde indessen Gegenstand etwa bei Ludwig Völker, der mit Muse Melancholie – Therapeutikum Poesie37 1978 eine Studie vorlegte, in der die Melancholie als „dialektische Einheit von Utopie und Entfremdung“ verstanden wird.38 Zeitgleich erschien Helen Watanabe-O’Kellys Arbeit zur melancholischen Landschaft im 17. Jahrhundert.39 Darin entwickelt sie exemplarisch die Ikonographie des melancholischen Landschaftstyps und betont dabei ebenfalls das intendierte Zusammenspiel von Melancholie und Tugend.40 Anfang der 1980er unterzog dann Wolfram Mauser die bis dato geleistete Melancholieforschung einer eingehenden Revision und kam zu dem Schluss, dass die These von der Melancholie als „spezifische[r] Krankheit herrschaftsgehemmter Bürger“ mit Blick auf die Geschichte des 18. Jahrhunderts nicht haltbar sei.41 Stattdessen habe, so Mauser, das „primäre Bedürfnis der bürgerlichen Untertanen im 18. Jahrhundert“ auf dem Feld der „Ich-Konstitution des einzelnen als autonome Instanz“42 gelegen; mithin dürfe es sich bei melancholischen Phänomenen auch um die Suche nach individuellen Erfahrungsräumen handeln. Ulrich Breuer schließlich konstatierte 2005 in seinem kurzen Resümee der Melancholieforschung, dass diese bisher übersehen habe, wie stark die „Melancholie in der deutschen Literatur als Individualisierungsprinzip fungiert[e]“. 43
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Vgl. Lepenies: Zum Ursprung bürgerlicher Melancholie: Deutschland im 18. Jahrhundert. In: Ders.: Melancholie und Gesellschaft (wie Anm. 34), S. 76–114; Schings: Melancholie und Aufklärung (wie Anm. 4), S. 252. Vgl. Franz Loquai: Künstler und Melancholie in der Romantik. Frankfurt am Main 1984. Ludwig Völker: Muse Melancholie – Therapeutikum Poesie: Studien zum MelancholieProblem in der deutschen Lyrik von Hölty bis Benn. München 1978. Siehe ebd., S. 40. Helen Watanabe-O’Kelly: Melancholie und die melancholische Landschaft. Bern 1978. Vgl. darin: Der Melancholiker als Genie, S. 20–24 u. 32–39; „Wo Schwermut, da Tugend“. Der Beitrag des 17. Jahrhunderts zur Tradition der Melancholie, S. 42–56. Vgl. ebd., Der locus melancholicus – Ikonographie und Entstehung des melancholischen Landschaftstypus, S. 73–88; Der locus melancholicus in Melancholiedarstellungen des 18. Jahrhunderts, S. 89–94. Mauser: Melancholieforschung des 18. Jahrhunderts (wie Anm. 7), S. 266. Ebd., S. 268. Ulrich Breuer: Der dunkle Grund. Melancholie in der Literatur/Wissenschaft. In: Jean-Marie Valentin (Hg.): Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005. Bd. 7: Bild, Rede, Schrift – Kleriker, Adel, Stadt und ausserchristliche Kulturen in der Vormoderne – Wissenschaften und Literatur seit der Renaissance. Betr. v. Michael Curschmann. Bern u.a. 2005, S. 219–228, hier S. 228.
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Die Empfindungen und ihre perfektionierenden Leistungen Ihren Aufstieg verdankt die sanfte Melancholie einer regelrechten Entdeckung der Empfindungen im 18. Jahrhundert,44 die nicht nur in der Aufklärungsästhetik, sondern auch in zahlreichen anderen Disziplinen stattfand (z.B. Medizin, Erfahrungsseelenkunde und Theologie). Das Gefühl, als ‚niederes‘ Erkenntnisvermögen auf dem Bereich der sinnlichen Erkenntnis fußend, wurde nun gegenüber den traditionell als höherwertig angesehenen Verstandeskräften aufgewertet und nach seiner Teilhabe am Prozess der Erkenntnis befragt. Der qualitative Diskurs der Empfindung ersetzte im Verlauf des 18. Jahrhunderts nach und nach die lange Tradition der vordem gebräuchlichen, eher holzschnittartigen Affektenlehre, dabei ging die Rede von den „Affecten“45 oder Gemütsbewegungen in einem Prozess der Psychologisierung in die Rede von Empfindungen und Leidenschaften über. Der Terminus ‚Affekt‘ war seit dem 16. Jahrhundert in der deutschen Literatur weit verbreitet. Er wurde dann im 17. Jahrhundert durch die Bezeichnung ‚Leidenschaft‘ – in Anlehnung an das französische ‚passion‘ – oder auch ‚Gemütsbewegung‘ teilweise abgelöst und trat im 18. Jahrhundert endgültig hinter den Begriff ‚Empfindung‘ bzw. ‚Gefühl‘ zurück. Wie das Beispiel Shaftesburys zeigt, verfügte die englische Sprache spätestens seit 1709 (The Moralists) über die Begriffe ‚passion‘, ‚affection‘, ‚sentiment‘ und ‚feeling‘; bereits seit dem 17. Jahrhundert findet sich darüber hinaus in England die Beschreibung der Emotion als einer moralischen Instanz. Mit der Moral-SensePhilosophie Shaftesburys, Humes oder Hutchesons wurde diese Vorstellung in Ausdrücken wie ‚sympathy‘, ‚reflected sense‘ oder ‚natural affection‘ dokumentiert. Dass Emotionen immer stärker moralisch und damit auch didaktisch konnotiert wurden, belegen ferner die Verwendung des Begriffs ‚sensibility‘ im Sinne einer sozialen Tugend sowie Sternes Neuschöpfung ‚sentimental‘.46
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Für detaillierte Informationen zum Gefühlswissen des 18. Jahrhunderts vgl. Ute Frevert: Gefühle definieren: Begriffe und Debatten aus drei Jahrhunderten. In: Dies. u.a. (Hg.): Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne. Frankfurt a.M., New York 2011, S. 9– 40, hier S. 20–23. Affekte sind in ihrer historischen Definition das, was wir heute Basisemotionen nennen. Sie schienen objektiv verhandelbar, wirkten stark auf das Individuum und wurden häufig von außen ausgelöst. Folglich waren sie leichter zu unterscheiden als Empfindungen oder Stimmungen. Bis zur Mitte des 18. Jahrhundert wurde der Begriff Affekt auch mit einer moralischen Ausrichtung parallel zu ‚Gemütsbewegung‘ geführt. Vgl. Anon.: Art. Affectus. In: Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschafften und Künste. Bd. 1. Halle, Leipzig 1732, S. 718: „Affectus, sind gewisse Bewegungen des Gemüths und der Sinnen, dem eingebildeten Guten nachzustreben, und das Böse zu meiden.“ Vgl. Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. 2 Bde. Bd. 1: Voraussetzungen und Elemente. Stuttgart 1974, S. 3.
Moralphilosophische Theorien und religiöse Tendenzen wie der Pietismus, aber auch ästhetiktheoretische Schriften47 erkannten den Emotionen die Fähigkeit zu, Wahrheiten zu konstituieren. Sie avancierten damit zu einem wesentlichen Bestandteil des individuellen Urteilsvermögens und zur bewussten Handlungsgrundlage.48 Auch körperliche Heilkraft wurde den Gefühlen zugesprochen, weil sie – im richtigen Maße angewandt – eine psychische Hygiene garantierten.49 Insgesamt betrachtet, war der Emotionsbegriff des 18. Jahrhunderts mit „weitreichende[n] Bildungs- und Disziplinierungsambitionen“50 verbunden. Die Emotion ermöglichte es dem Individuum, Schlüsse über sich und die Welt zu ziehen, die aber nur innerhalb der Grenzen der Moral wirkungsmächtig werden durften. Gegen Ende des Jahrhunderts fielen dann auch diese Regeln sittlicher Kontrolle, sodass autonome Gefühlswahrnehmungen zulässig wurden. In der christlichen Tradition war die Vorstellung, sanfte Melancholie könne Hilfe leisten bei einer Perfektionierung des Menschen und seiner moralischen Qualitäten, weit verbreitet. Dieser Gedanke findet sich ebenso stark in empfindsamen Kultivierungsprogrammen des 18. Jahrhunderts wieder. Mit der Beobachtung der eigenen Empfindungen, so bemerkt etwa Shaftesbury in der Inquiry Concerning Virtue and Merit (1699–1711), sei eine genussreiche („of the highest delight“) und, damit verbunden, eine moralische Selbstschulung möglich.51 Dass bei Shaftesbury darüber hinaus die Kultivierung sanfter Melancholie von progressiven aufklärerischen Impulsen begleitet wird, stellt einen vorrational gemachten, quasianalytischen Erkenntnisgewinn dar, der das Wissen und Deuten von vermeintlich ‚niederen‘ Erkenntniskräften wie der Empfindung entscheidend bereicherte. Im 18. Jahrhundert bestand solcherart eine Parallelität von teils miteinander rivalisierenden, teils auch harmonierenden (trivial-)literarischen, religiös-erbaulichen, poetologischen oder moralphilosophischen Anleitungen, wie das eigene Selbst an beobachteten Empfindungen zu schulen sei. Unter die wichtigsten Schulungsprogramme fiel auch die sanfte Melancholie; ihre Kultivierung nahm eine entscheidende Rolle im Diskurs der Aufklärung über das Wesen des Menschen 47
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Eine akribische Analyse von Ästhetiktheorien, die auf einem sich entwickelnden Emotionsbegriff des 18. Jahrhunderts beruhen, bietet Ernst Stöckmann: Anthropologische Ästhetik. Philosophie, Psychologie und ästhetische Theorie der Emotionen im Diskurs der Aufklärung. Tübingen 2009. Vgl. etwa Marcelo Caruso, Ute Frevert (Red.): Einleitung in den Schwerpunkt. In: Dies.: Schwerpunkt: Emotionen in der Bildungsgeschichte. Bad Heilbrunn 2012, S. 9f. Vgl. Bettina Hitzer: Gefühle heilen. In: Frevert: Gefühlswissen (wie Anm. 44), S. 121–151, hier S. 127. Frevert: Gefühle definieren (wie Anm. 44), S. 13. Anthony Earl of Shaftesbury: An Inquiry Concerning Virtue and Merit. In: Ders.: Characteristics of men, manners, opinions, Times. 3 Bde. Bd. 2. Basil 1790, S. 88: „We find by ourselves, that the moving our passions in this mournful way, the engaging them in behalf of merit and worth, and the exerting whatever we have of social affection, and human sympathy, is of the highest delight; and affords a greater enjoyment in the way of thought and sentiment, than any thing besides can do in a way of sense and common appetite.“
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und seine emotionalen Belange ein. Das zunächst religiös belegte, später jedoch vermehrt säkulare Empfinden von sanfter Melancholie förderte Prozesse der Selbstfindung sowie ein umfassendes Menschenbild, das dem Einzelnen autonome und komplexe Empfindungen zuerkannte. Innerhalb dieser Programme wurden ‚gemischte‘, d.h. aus angenehmen und unangenehmen Gefühlen zusammengesetzte Empfindungen, zur Schulung des Selbst als besonders geeignet betrachtet, weil sie eine tiefere Wirkung auf den Emotionshaushalt und die Erkenntniskräfte des Menschen haben als homogene Empfindungen wie z.B. die des Schönen. Indem sich Lust und Unlust in einem Spannungsverhältnis verbinden, produzieren sie eine besondere Erfahrungsqualität,52 wie dies auch Moses Mendelssohn in seiner Schrift Rhapsodie oder Zusätze zu den Briefen über die Empfindungen (1761) konstatiert: Die vermischten Empfindungen haben die besondere Eigenschaft, dass sie zwar so sanft nicht sind, als das reine Vergnügen, hingegen dringen sie tiefer in das Gemüth ein, und scheinen sich auch länger darinn zu halten. Was bloß angenehm ist, führet bald eine Sättigung, und zuletzt den Eckel mit sich. […] Hingegen fesselt das Unangenehme, das mit dem Angenehmen vermischt ist, unsere Aufmerksamkeit, und verhindert die allzu frühe Sättigung.53
Johann Georg Sulzer ging dann in der Allgemeinen Theorie der Schönen Künste noch über Mendelssohn hinaus, indem er gemischte Empfindungen als Indiz für die Wirkmächtigkeit einer Seele bezeichnete und ihnen „heilsame“ Wirkungen zugestand.54 Die produktiven Spannungsverhältnisse gegensätzlicher Empfindungen wurden bereits in der Literatur des Barock bewusst zum Einsatz gebracht. Besonders ausgeprägt findet man sie in der spanischen und englischen Dichtung des 17. Jahrhunderts.55 Mit Klibansky, Panofsky und Saxl bilden die gemischten Empfindungen eine wesentliche Voraussetzung für das spezifisch poetische „Melancholiege-
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Vgl. Liessmann: Reiz und Rührung (wie Anm. 26), S. 33. Moses Mendelssohn: Rhapsodie oder Zusätze zu den Briefen über die Empfindungen. In: Ders.: Moses Mendelssohns Philosophische Schriften. Verbesserte Auflage. 2 Bde. Bd. 2. Berlin 1771. Bd. 2, S. 1–94, hier S. 32f. Johann George Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzelnen, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt. 2 Bde. Bd. 2. Leipzig 1774, S. 701f: „[W]ir leiden gern mit ihnen [Personen, die sich retten können, K.B.]; bestreben uns, sie zu retten, arbeiten und schwizen vom bloßen Zuschauen […]; die Hofnung, daß sie dem Uebel entgehen werden, läßt uns von den verschiedenen durch einanderlaufenden Gemüthsbewegungen, auch das Angenehme empfinden; nämlich die Würksamkeit der Seele. Der erste Gundtrieb unseres ganzen Wesens ist die Begierde, Kräfte zu besitzen, und sie zu brauchen. […] Endlich liegt dem Dichter, in Absicht auf die […] Würkung der Werke dieser Art ob, seine Schilderungen so einzurichten, daß die Gemüther für das, was die Leidenschaften heilsames haben, geneigt, und vor dem schädlichen derselben gewarnet werden. […] Dadurch allein, daß wir das niedrige und ängstliche gewisser Leidenschaften, oder das angenehme […] oft empfinden, wird das Gemüth von jenen gereiniget, und zu diesen geneigt gemacht.“ Vgl. Klibansky, Panofsky u. Saxl: Melancholie als gesteigerte Selbsterfahrung. In: Dies.: Saturn und Melancholie (wie Anm. 3), S. 334–350, hier S. 341f.
fühl der Moderne“.56 Dabei handele es sich um ein gesteigertes Ich-Gefühl, „ein sich beständig aus sich selbst erneuerndes Doppelgefühl, in dem die Seele ihre eigene Einsamkeit genieß[e], um sich durch eben diesen Genuß ihrer Einsamkeit erneut bewusst zu werden.“57 Die Entdeckung einer Dynamik des Selbst, wie sie bei John Milton, den frühen Pietisten oder in Shaftesburys Characteristics (1711) programmatisch wurde, fand mit Beginn des 18. Jahrhunderts verstärkt Eingang in die (religiöse) Literatur und Philosophie. Das Phänomen der sanften Melancholie erhielt dabei eine Schlüsselstelle, weil es literarische, religiöse und philosophische Diskurse miteinander zu verbinden vermochte.
Die breite Akzeptanz der gemäßigten Melancholie Während der Melancholiker in der Frühen Neuzeit noch als sozial isolierter Außenseiter gegolten hatte,58 kam es mit der Aufwertung der Melancholie als religiöser und später geschmacksorientierter Selbstschulung bzw. emotiver Perfektionierung zu einem Wandel des Melancholiediskurses; Melancholie wurde ein gesellschaftlich anerkanntes Phänomen. Dabei geriet die Zurückgezogenheit von jeglicher Gesellschaft, die vordem zur Evokation von Melancholie unabdingbar nötig gewesen war, immer öfter zum (literarischen) Topos und die Einsamkeit des Melancholikers – z.B. in Gartenlauben, künstlich angelegten Grotten und Kabinetten – zur ästhetischen (Selbst-)Inszenierung. Sanfte Melancholie etablierte sich als eine Stimmung, die – je nach Bedarf – zeitweilig adaptiert werden konnte; ihre sprachliche Codierung war ein wichtiger Bestandteil der sympathetischen Kommunikation der Empfindsamkeit.59 Die gesellschaftsbildende Kraft der sanften Melancholie ließ allerdings in dem Moment nach, als die moralischen und religiösen Regulierungen gemischter Empfindungen an Einfluss verloren und dem Individuum gänzlich autonome Erfahrungen zugestanden wurden. Dieser Bruch mit den gesellschaftlichen Sanktionen wird Gegenstand des letzten Kapitels meiner Studie sein. Als religiöse Perfektionierungsstrategie war die sanfte Melancholie in der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts weit verbreitet. Schon im 17. Jahrhundert war sie in
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Siehe ebd., S. 338. Ebd. Vgl. dazu Bernd Roeck: Melancholie, Wahnsinn, Genie. In: Ders.: Außenseiter, Randgruppen, Minderheiten. Fremde im Deutschland der frühen Neuzeit. Göttingen 1993, S. 60–62. Vgl. Sauder: Empfindsamkeit (wie Anm. 46), S. 151: „Seit den ersten großen englischen Romanen sind ‚süßmelancholische Empfindungen‘, ‚süße Melancholie‘ und ‚sanfte Schwermut‘ auch in deutschen Schriften möglich –‚pleasing anguish‘, ‚sweet Melancholy‘ (Clarissa), ‚luxury of tender grief‘ (Tom Jones), das berühmte, von Moritz im Anton Reiser evozierte ‚joy of grief‘ prägen Sprache und Affektmode Europas. Wenn die Melancholie ihren Schrecken verloren hat und zum Vehikel empfindelnden Selbstgenusses geworden ist, sehen die Zeitgenossen um so deutlicher die Affinität zur empfindsamen Tendenz.“
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der englischen Literatur beispielhaft in Erscheinung getreten, so etwa in der Lyrik Miltons (Il Penseroso und L’Allegro, 1645). Sanfte Melancholie fand großen Anklang bei den englischen Schriftstellern der graveyard school60 und wurde von ihnen in die beliebte Gattung der erbaulichen Lehrdichtung integriert.61 Diese kontemplative edification poetry empfahl die sanfte Melancholie als Stimulans religiöser Erfahrungen. Die Begriffe „joy of grief“ bzw. „Wonne der Wehmut“, welche erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geprägt wurden, lassen sich daher auch auf die Melancholie in der christlichen Todesmeditation zu Anfang des Jahrhunderts übertragen. Doch nicht nur die Lyrik ist davon betroffen. Wie Ulrike Wunderlich in ihrer Arbeit über Todesbilder in Romanen der Aufklärung notiert, sei auch dort unter dem Etikett der „Wonne der Wehmut“ der Versuch unternommen worden, aus einer Kunst zu sterben eine Kunst zu leben abzuleiten.62 In diesem Zusammenhang verwundert es nicht, dass ein Themenkomplex, der mit sanfter Melancholie und Todesphantasien in enger Verbindung stand, die Freundschaft war,63 genauer: die neuen geselligen Freundschaftskulturen des 18. Jahrhunderts. Ausdrucksformen der Freundschaft waren z.B. Briefwechsel, gemeinsames emphatisches Lesen und Schreiben, das gezielte Evozieren gemeinschaftlicher Empfindungen oder gesellige Ereignisse.64 Die gesellige Literaturrezeption und -produktion diente zur Ausbildung des ‚guten‘ Geschmacks als einer zentralen Kategorie des neuen anthropologischen Diskurses des 18. Jahrhunderts.65 Wolfgang Adam schreibt diesen Freundschaftsformen der Empfindsamkeit eine „tiefgehende Emotionalisierung“66 zu. Schon lange vor dem tatsächlichen Tod eines Freundes bzw. einer Freundin wurde die Freundschaft über den Tod hinaus beschworen und zelebriert. Dies geschah etwa in Form von erinnernden Gedichten, Liedern, Grabstaffagen oder Schmuck. Bürgerliche wie Adlige entwickelten eigene Freundschaftsrituale, suchten ‚geweihte‘ Orte auf und schufen sich eine Topogra-
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Vgl. Eric Parisot: The Historicity of Reading Graveyard Poetry. In: Sandro Jung (Hg.): Experiments in genre in eighteenth-century literature. Gent u.a. 2011, S. 85–103, hier S. 85–?. Vgl. ebd., S. 89f. Vgl. Ulrike Wunderlich: Sarg und Hochzeitsbett so nahe verwandt! Todesbilder in Romanen der Aufklärung. St. Ingbert 1998, S. 128. Vgl. dazu Doris Schumacher: Freundschaft über den Tod hinaus. Die bürgerliche Kultur des Gedenkens im 18. Jahrhundert am Beispiel von Johann Wilhelm Ludwig Gleim. In: Das Jahrhundert der Freundschaft. Johann Wilhelm Ludwig Gleim und seine Zeitgenossen. Göttingen 2004, S. 33–52. Vgl. dazu Wolfgang Adam: Freundschaft und Geselligkeit im 18. Jahrhundert (30.08.2004). Online in: http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/epoche/adam_freundschaft.pdf (Stand 22.10.2012), S. 1–19. Vgl. George Dickie: The Century of Taste. The Philosophical Odyssey of Taste in the Eighteenth Century. Oxford 1995. Siehe auch Astrid Ackermann: Warum ist Geschmack wichtig? In: Jan Konst, Inger Leemans u. Bettina Noak (Hg.): Niederländisch-deutsche Kulturbeziehungen 1600–1830. Göttingen 2009, S. 235–254. Siehe Adam: Freundschaft (wie Anm. 64), S. 3.
fie der Freundschaft in Gärten und Parks.67 Bis heute lassen Grabstaffagen und Grotten in Parkanlagen der Empfindsamkeit die Schauplätze der Freundschaft und der Todesmeditation erkennen.68 Christian Cay Lorenz Hirschfeld z.B. riet in seiner Theorie der Gartenkunst zur Anlage von Urnengräbern, um den melancholischen Charakter einer Landschaft zu verstärken.69 Die Urnen erinnerten an Verstorbene oder waren Denkmäler für literarische Figuren bzw. Werke.70 So bezeugt die Denkmalkultur des 18. Jahrhunderts eine starke Verbindung von melancholischer Empfindung und Freundschaftskult.71 Derart eingerichtete Rückzugsorte in der Natur sollten Schauplätze erhabener Empfindungen werden. Besonders ausdrucksstarke Beispiele für empfindsame Freundschaften über den Tod hinaus geben Klopstocks Oden und Briefe: Klopstock imaginierte den Tod seiner noch lebenden Freunde, um der sanften Melancholie eine Tür zu öffnen.72 Die Einbettung der sanften Melancholie in Freundschafts- und Liebesdiskurse
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Vgl. ebd., S. 14; Reinhard Zimmermann: Künstliche Ruinen. Studien zu ihrer Bedeutung und Form. Wiesbaden 1989, S. 106ff. Vgl. Adam: Freundschaft (wie Anm. 64), S. 15. Vgl. Christian Cay Lorenz Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst. 5 Bde. Bd. 3. Leipzig 1780. S. 144f: „Urnen und Grabmäler können schon aus dem Grunde in dunkeln und melancholischen Revieren der Gärten schickliche Gegenstände seyn, weil sie dem Charakter und den Wirkungen dieser Gegenden so natürlich zustimmen. Allein sie verstärken nicht blos überhaupt den Eindruck der melancholischen Gegend, sondern erwecken auch Ideen und Empfindungen, welche die melancholische Gegend für sich nicht so bestimmt hervorbringen kann. [E]in Gemisch von melancholischem Schauer, von sanfter Wehmuth, von zärtlichem Verlangen.“ Vgl. ebd., Bd. 1. Leipzig 1779, S. 67, über Hagley Park: „Eine einsame ehemals von Pope für diesen Ort bestimmte und nunmehr seinem Andenken in einer Inschrift gewidmete Urne unterhält, wenn sie sich vermittels des Mondlichts durch die Bäume zeigt, das Nachdenken und die Verfassung, in welche die Seele ganz unmerklich durch die übrigen Umstände dieser reizenden Szene versetzt wird.“ Der Landschaftsgarten im Seifersdorfer Tal bei Dresden enthält solche Monumente wie etwa ein Denkmal mit Aschenurne und Tränenkrug für Klopstocks Drama Hermanns Schlacht, eine Grotte für Edward Young oder eine dem Grab Rousseaus nachempfundene Anlage. Vgl. Wilhelm-Gottlieb Becker: Das Seifersdorfer Thal. Mit 44 Kupferstichen von Johann Adolf Darnstedt (1769–1844). Leipzig u. Dresden 1792, S. 75–85. Im Kleinen dienten Ringe mit Urnen-Monumenten oder Porzellan mit Urnen-Motiven einer „Intimisierung des Erinnerungskults“. Vgl. Schumacher: Freundschaft über den Tod hinaus (wie Anm. 63), S. 37. Vgl. ebd., S. 34: „Die Denkmalkultur erfährt im 18. Jahrhundert große Beförderung durch die empfindsame Literatur, die unter anderem die Melancholie für sich entdeckt. Den populärsten Schriften – Edward Youngs […] The Complaint, or night thoughts und Thomas Grays Elegy Written in a Country Church Yard […] – wird nicht nur mit Nachtgedanken und Friedhofslyrik aller Art nachgeeifert, sondern durch diese Lektüre verändern sich auch Lebensgewohnheiten. Nacht und Grab verlieren ihre Schrecken und üben ganz im Gegenteil eine neuartige Faszination aus.“ Vgl. die identische Praxis bei Karl Wilhelm Ramler: „So ist es […] Ramler möglich, sich den Tod Gleims auszumalen, da solche melancholischen Gedankenspiele das Glück der Gegenwart erst bewusst werden lassen und […] erhöhen. Es wird also nicht nur scherzhaft über den Tod gedichtet, sondern in typisch empfindsamer Manier zwischen Tändelei und Trauer gewechselt, sodass jede dieser Stimmungen zur jeweiligen Sublimierung der anderen beiträgt.“ Schumacher: Freundschaft über den Tod hinaus (wie Anm. 63), S. 38.
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zeugt von der hohen Wertschätzung, welche dieser besonderen Empathieübung innerhalb von Sozialbeziehungen entgegengebracht wurde. Ebenso wie die Geselligkeit empfindsamer Freunde spielte die Einsamkeit eine nun gesteigerte Rolle, man suchte und zelebrierte sie in gleichem Maße. Einsamkeit produktiv zu nutzen, wurde im 18. Jahrhundert zu einer der vorrangigen Aufgaben des Empfindsamen; die Vorstellung einer produktiven Einsamkeit findet sich sowohl bei Arnold als auch bei Shaftesbury, Zimmermann und Wieland.73 Die freiwillige Einsamkeit bietet einen Ort zur Erkenntnis und Stabilisierung des eigenen Selbst, wie dies auch Reinhard Zimmermann zusammenfasst: „Es waren […] nicht nur Ruhe und einfache, sinnvolle Tätigkeit, die es zu bewahren galt, sondern die ganze eigene Persönlichkeit mit ihren Interessen und Gefühlen. Der Ort der Einsamkeit wird zu einem Ort der Selbstvergewisserung.“74 Die Einsamkeit, vordem bereits ein Element der meditativen Erbauungstechniken, verhalf dazu, die innere Einkehr des melancholischen Subjekts auch formal zum Ausdruck zu bringen und seine Sinneseindrücke auf gewünschte Reize zu konzentrieren. Die für den Diskurs der sanften Melancholie typische Vorstellung einer ‚Süßigkeit‘ des Schmerzes findet sich an prominenten Stellen in der christlichen Erbauungsliteratur wieder; sie lässt sich vom mittelalterlichen Hymnus bis zum evangelischen Kirchenlied des 18. Jahrhunderts nachweisen.75 Dieser Tradition ist sich auch Jean Paul bewusst, wenn er in der Vorschule der Ästhetik (1804) die romantische Poesie „als eine unmittelbare Folge des Christentums“76 betrachtet und mit einer „Aeolsharfe“ vergleicht, „durch welche der Sturm der Wirklichkeit in Melodien streicht, ein Geheul in Getön auflösend, aber Wehmut zittert auf den Saiten, ja zuweilen ein hinein gerissener Schmerz.“77 Jean Paul bestätigt so die Dynamik der religiösen Melancholie für die kulturelle Entwicklung des 18. Jahrhunderts, übersieht dabei jedoch nicht die Affinität zum Schmerz, aus der sie entstanden war. Bei Heine findet sich dieses Moment noch gesteigert: Ihm wurde eine „Wollust des Schmerzes“78 zum spezifischen Symbol der christlichen Kultur; die Entwicklung der Romantischen Schule schildert er 1833 als das Aufblühen einer „me73
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Mark-Georg Dehrmann hat in seiner Studie zur produktiven Einsamkeit anhand von zeitgenössischen Konzepten gezeigt, wie Einsamkeit positiv für Individuum und Gesellschaft funktionalisiert wurde. Ders.: Produktive Einsamkeit: Gottfried Arnold – Shaftesbury – Johan Georg Zimmermann – Jacob Hermann Obereit – Christoph Martin Wieland. Hannover 2002. Zimmermann: Künstliche Ruinen (wie Anm. 67), S. 72. Vgl. Friedrich Ohly: Süße Nägel der Passion. Ein Beitrag zur theologischen Semantik. BadenBaden 1989. Die Brautmystik des Mittelalters enthält zudem schon den Gedanken des Nachsterbens, der als Liebesbekundung in der Lyrik des 18. Jahrhunderts wieder auftaucht. René Wellek: Geschichte der Literaturkritik 1750–1950. 4 Bde. Bd. 1: Das späte 18. Jahrhundert. Das Zeitalter der Romantik. Berlin u.a. 1978, S. 358. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. In: Ders.: Jean Pauls Sämtliche Werke. HKA. Hg. v. Eduard Berend im Namen der Preuß. Akademie der Wissenschaften. Abt. 1. Bd. 11. Weimar 1935, hier S. 600f. Heinrich Heine: Die romantische Schule. Kritische Ausgabe. Hg. v. Helga Weidmann. Stuttgart 1997, S. 11.
lancholischen Blume, die wir in Deutschland Passionsblume benamsen“, und die „dem Blute Christi entsprossen“ sei. Eine „Blume, die durchaus nicht häßlich, sondern nur gespenstisch ist, ja deren Anblick sogar ein grauenhaftes Vergnügen in unserer Seele erregt, gleich den krampfhaft süßen Empfindungen, die aus dem Schmerze selbst hervorgehen.“79 Im Einklang mit der christlichen Lehre gerieten Schmerzen, Tod und melancholisches Leiden zu oft vereinten Gegenständen der religiösen Wahrnehmung und schließlich von ästhetischen Betrachtungsweisen. Lehnen Jean Paul und Heine aus der Perspektive des 19. Jahrhunderts, dem der Selbstzergliederungsdrang der Aufklärung als pathologisch erscheinen konnte, die Melancholie als ‚Marter‘ des Individuums ab, so stellte die Faszination für das schmerzliche Vergnügen im vorangegangenen Jahrhundert, wie ich zeigen möchte, ein aufklärerisches Potential dar, denn es war gerade die Thematisierung widersprüchlicher und normabweichender Empfindungen, die tiefgreifende Impulse für eine kulturelle Entwicklung bis in die Gegenwart geben konnte.80 Der Transformationsprozess der Melancholie vom religiösen Phänomen zum literarischen Topos, um den es in der Folge gehen soll, orientiert sich vor allem an den rezeptionsgeschichtlichen Verbindungslinien englischer und deutscher Literatur zwischen 1730 und 1780. Die kulturellen Beziehungen zwischen England und Deutschland, die mit den ausgewählten Texten aufgegriffen werden, können belegen, wie deutsche Autoren und Leser mit den englischsprachigen Texten einen Melancholiediskurs rezipierten und adaptierten bzw. die sanfte Melancholie und deren Codes für eigene poetologische, moralische oder politische Zwecke funktionalisierten. Die literarische Verbreitung des Melancholie-Phänomens unterstützte in beiden Kulturen die Individualisierung von Kunst und Religion und damit die allmähliche Hervorbringung des Persönlichen.
Methodische und terminologische Orientierungen Im Rahmen dieser Studie wird der Transformationsprozess eines Emotionsphänomens untersucht, wie er sich im Kulturtransfer zwischen englisch- und deutschsprachigen Autoren des 18. Jahrhunderts ereignete. Dabei stütze ich mich auf das in der internationalen Forschung (nicht nur) zum 18. Jahrhundert seit einigen Jahren fest etablierte Kulturtransferkonzept, mit dem der kulturelle Austausch zwi-
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Ebd., S. 11. Konrad Liessmann argumentiert etwa, dass die ästhetische Empfindungswelt der Moderne erkennbare Bezüge zur Aufwertung der gemischten Empfindung im 18. Jahrhundert habe, deren Reiz in der Ambivalenz der Gefühle und der Irritation des Wahrnehmenden bestehe. Vgl. ders.: Reiz und Rührung (wie Anm. 26), S. 35. Das Paradoxon der sanften Melancholie von Shakespeare bis zu Thomas Mann behandelt Dieter Borchmeyer in: Ders. (Hg.): Melancholie und Heiterkeit. Heidelberg 2007.
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schen Kulturen und dessen Auswirkungen auf diese beschrieben werden können.81 Begründet in den 1980er Jahren durch Michel Espagne und Michael Werner,82 bezieht sich das Konzept auf drei wesentliche Elemente: die Ausgangskultur, die Vermittlungsfiguren bzw. -instanzen und die Zielkultur.83 Neue Arbeiten zum Thema betonen, dass Ausgangs- und Zielkultur bei der Kulturtransferforschung nicht als homogene, unveränderliche Entitäten begriffen werden dürfen, zwischen denen der Transfer linear verläuft.84 Vielmehr handelt es sich immer, wie Michael Rohrschneider zusammenfasst, um kulturelle Wechselbeziehungen, die einem dynamischen Prozess unterliegen.85 Da derart jegliche Fremdbezüge auch als konstitutive Elemente der Identität einer Zielkultur verstanden werden müssen, kann es auch keine Dominanz des einen Kulturkreises über den anderen geben.86 Ausgangskultur in der vorliegenden Studie ist das Königreich Großbritannien, welches mit der Zielkultur, den deutschsprachigen Ländern, nicht nur in belletristischer und journalistischer Hinsicht in einem regen Kulturaustausch stand. Im ersten und dritten Kapitel dieser Arbeit präsentiere ich wesentliche Faktoren der Ausgangskultur am Beispiel ausgewählter Autoren der graveyard school und der Ossian-Fragmente, deren literarische Techniken im Dienst von Emotionalisierungsstrategien analysiert werden. Außerdem bietet die Studie akzentuierte Einblicke in die damals breite Be- und Verarbeitung interkultureller Bezüge durch deutschsprachige Autoren. Dabei geht es, mit Rohrschneider, immer auch um reziproken Transfer, darum, die
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Vgl. Erdmut Jost u. Holger Zaunstöck: Goldenes Zeitalter und Jahrhundert der Aufklärung – zur Einleitung. In: Dies. (Hg.) in Zusammenarbeit mit Wolfgang Savelsberg: Goldenes Zeitalter und Jahrhundert der Aufklärung. Kulturtransfer zwischen den Niederlanden und dem mitteldeutschen Raum im 17. und 18. Jahrhundert. Halle 2012, S. 11–15, hier S. 11. In den vergangenen Jahren ist der Begriff des Kulturtransfers auch für komparative, interdisziplinäre und v.a. auch frühneuzeitspezifische Untersuchungen fruchtbar gemacht worden, z.B. durch HansJürgen Lüsebrink: Kulturtransfer – methodisches Modell und Anwendungsperspektiven. In: Ingeborg Tömmel (Hg.): Europäische Integration als Prozess von Angleichung und Differenzierung. Opladen 2001, S. 213–226; Wolfgang Schmale: Einleitung. Das Konzept ‚Kulturtransfer‘ und das 16. Jahrhundert. Einige theoretische Grundlagen. In: Ders. (Hg.): Kulturtransfer. Kulturelle Praxis im 16. Jahrhundert. Innsbruck u.a. 2003, S. 41–61; vgl. dazu auch Michael North (Hg.): Kultureller Austausch. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung. Köln, Weimar, Wien 2009. Vgl. bes. Michel Espagne u. Michael Werner: Deutsch-französischer Kulturtransfer im 18. und 19. Jahrhundert. Zu einem neuen interdisziplinären Forschungsprogramm des C.N.R.S.. In: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte 13 (1985), S. 502–510; dies.: La construction d’une référence culturelle allemande en France: genèse et histoire (1750–1914). In: Annales. Histoire, Sciences Sociales 4 (1987), S. 969–992. Michael Rohrschneider: Kulturtransfer im Zeichen des Gouden Eeuw: Niederländische Einflüsse auf Anhalt-Dessau und Brandenburg-Preußen (1646–1700). In: Jost u. Zaunstöck: Goldenes Zeitalter (wie Anm. 81), S. 16–31, hier S. 17. Jost u. Zaunstöck: Goldenes Zeitalter (wie Anm. 81), S. 12. Rohrschneider: Kulturtransfer (wie Anm. 83), S. 17. Ebd.
kulturellen Artefakte (etwa Objekte, Texte und Diskurse) zu ermitteln, die von der Ausgangskultur übernommen werden, die Funktion und Bedeutung der vermittelnden Personen und Instanzen zu erschließen sowie die Adaptions- und Rezeptionsformen auf Seiten der Zielkultur zu ergründen.87
Rohrschneider fordert zudem eine „grundsätzliche Vergleichbarkeit der Forschungsobjekte sowie die Berücksichtigung verschiedener Formen des Asymmetrischen“.88 Meine Studie trägt dem Rechnung, indem sie Verbindungslinien innerhalb von Gattungs- und Genregrenzen zieht bzw. definierte Transformationsebenen des Emotionsphänomens sanfte Melancholie miteinander vergleicht. Der von mir verwendete Transformationsbegriff, welcher die verschiedenen Normierungen und Funktionalisierungen der sanften Melancholie beschreiben soll, umfasst sowohl die Kontinuität als auch die Diskontinuität einer Entwicklung. Er geht zurück auf Michel Foucault89 und dient dazu, die Veränderungen des Emotionsphänomens und seiner literarischen Darstellung im Rahmen eines Beziehungsgeflechts von alten und neuen Regelsystemen zu sehen.90 Die Geschichte eines Begriffs sei, so Foucault, nicht allein die Geschichte „seiner fortschreitenden Verfeinerung, seiner ständig wachsenden Rationalität, seines Abstraktionsanstiegs“, sondern auch die „seiner verschiedenen Konstitutions- und Gültigkeitsfelder, die seiner aufeinanderfolgenden Gebrauchsregeln, der vielfältigen theoretischen Milieus, in denen sich seine Herausarbeitung vollzogen und vollendet hat.“91 Konstitutiv für dieses Verständnis von Begriffsgeschichte ist die Gleichzeitigkeit von Progression, Rückkehr oder Wiederholung der Ordnungen innerhalb eines Formationssystems bzw. Diskurses:92 Der Transformationsbegriff Foucaults richtet sich dezidiert gegen ein Verstehen der Geschichte als Optimierungsentwicklung, die naht- und bruchlos verläuft. Stattdessen geht er von einer Diskontinuität der historischen Ereignisse aus, die er in den Begriff Transformati-
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Ebd. Ebd. Vgl. Michel Foucault: Die Veränderung und die Transformation. In: Ders.: Archäologie des Wissens. Übers. v. Ulrich Köppen. Frankfurt a.M. 2008, S. 236–252. Foucault selbst beruft sich in Die Ordnung des Diskurses auf den Soziologen Georges Dumézil bzw. in Archäologie des Wissens auf den Philosophen Georges Canguilhem als die Ideengeber für eine derartige Idee der Transformation. Vgl. ders.: Die Ordnung des Diskurses. Mit einem Essays von Ralf Konersmann. Frankfurt am Main 2012, S. 44; ders.: Die Archäologie des Wissens, S. 11. Die erste diskursanalytische Bearbeitung des Melancholie-Phänomens erschien 1997 mit Martina Wagner-Egelhaafs Habilitationsschrift: Die Melancholie der Literatur, Diskursgeschichte und Textfiguration. Stuttgart 1997. Wagner-Egelhaaf war daran gelegen, nicht die Melancholie in der Literatur, sondern die Melancholie der Literatur angemessen zu betrachten. Vgl. ebd., S. 4. Ebenfalls diskursanalystisch geht Julia Schreiner in ihrer Studie: Jenseits vom Glück, Suizid, Melancholie und Hypochondrie in deutschsprachigen Texten des späten 18. Jahrhunderts. München 2003, vor, um gesellschaftliche Zusammenhänge am Ende des 18. Jahrhunderts zu beschreiben. Foucault: Die Ordnung des Diskurses (wie Anm. 89), S. 11. Foucault: Archäologie des Wissens (wie Anm. 89), S. 246f.
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on fasst.93 Transformationen zu erforschen, bedeutet mithin, „keinen festen Bezugspunkt zu etablieren und das Denken sich nicht setzen zu lassen.“94 Wie Transformationstypen zu analysieren seien, bestimmt Foucault näher in der Archäologie des Wissens. Veränderung allein, so stellt er fest, mache noch keine Transformation aus, sondern verweise auf vorausgegangene Transformationstypen.95 Um diese bestimmen zu können, müsse man zunächst beschreiben, wie sich die verschiedenen Elemente, aber auch die „charakteristischen Beziehungen eines Formationssystems transformiert haben“.96 In einem zweiten Schritt entstehe dann ein Bild, „wie die Beziehungen zwischen den Formationsregeln transformiert worden sind“,97 und schließlich gelange man zu Aussagen darüber, wie sich die „Beziehungen zwischen verschiedenen Positivitäten [Foucault nennt z.B. Philologie, Biologie und Ökonomie, K.B.] transformieren“.98 Ausgehend vom Foucaultschen Transformationsbegriff möchte ich in meiner Studie die Transformationsstufen der sanften Melancholie beschreiben, um deren Gültigkeitsfelder, Milieus und Gebrauchsweisen herauszuarbeiten. Dabei gilt es, die Elemente des Formationssystems sanfter Melancholie zu benennen, sie zueinander in Beziehung zu setzen, die charakteristischen Beziehungen dieser Elemente auch über Sprachgrenzen hinaus zu verfolgen und deren Transformationstypen zu bestimmen, indem z.B. auch Formationsregeln für das Verständnis und die Nutzbarmachung von sanfter Melancholie bezeichnet werden. Wie Foucault in der Archäologie des Wissens betont, existiert im Transformationsprozess jedoch auch die Möglichkeit, dass einzelne Elemente in Transformationen nach Form oder Inhalt verharren, erst später modifiziert werden als andere bzw. nach längerer Pause wieder erscheinen.99 So gehört es zu den hier beschriebenen Transformationstypen im Formationssystem sanfter Melancholie, dass viele Emotionalisierungsstrategien auf die Regeln meditativer Erbauungstechniken zurückgehen oder dass es ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine gleichzeitige Entwicklung von Formationsregeln gab, die sich gegenüberstanden (z.B. Schwärmer und deren Kritiker). Auf der Ebene von Emotionscodierungen möchte
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Foucault: Die Ordnung des Diskurses (wie Anm. 89), S. 12: „[W]ie soll man die verschiedenen Begriffe spezifizieren, die das Denken der Diskontinuität gestatten (Schwelle, Bruch, Einschnitt, Wechsel, Transformation)?“ Ulrich Johannes Schneider: Eine Philosophie der Transformation. In: Ders.: Michel Foucault. Darmstadt 2004, S. 219–235, hier S. 233. Foucault: Archäologie des Wissens (wie Anm. 89), S. 245: „Man muß genau definieren, worin diese Veränderungen bestehen: das heißt die Analyse der Transformationen an die Stelle der undifferenzierten Bezugnahme auf die Veränderung – zugleich allgemeiner Inhalte aller Ereignisse und abstraktes Prinzip ihrer Abfolge – setzen. Das Verschwinden einer Positivität und das Aufkommen einer anderen impliziert mehrere Transformationstypen.“ Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 247.
ich ebenfalls von einer Transformation sprechen, die auf der Veränderung der Zeichenfolge innerhalb von Ähnlichkeiten beruht. Zur Identifizierung eines abgewandelten Emotionscodes bedarf es der Aufdeckung des zugrunde gelegten ‚alten‘ Codewissens. Rezipienten benötigen und nutzen ihnen bekannte Emotionscodes, um gegebenenfalls anhand hinzugetretener Varianten neue semantische Lesarten aktivieren zu können. Der Transformationsprozess der sanften Melancholie, welcher hier beispielhaft für ein kulturelles Emotionsphänomen untersucht wird, weist vor allem eine enge Anbindung an religiöse bzw. quasi-religiöse Codes auf, die der Annahme einer linear-progressiven Säkularisierung für das 18. Jahrhundert widerspricht. Aus diesem Grund verwende ich den Begriff der Säkularisierung nicht im Sinne eines stringenten Verlustes von Religion und schließe auch die gleichzeitige Sakralisierung von kulturellen Phänomenen oder literarischen Motiven nicht aus.100 Formen der Religiosität und deren (ästhetische) Transformationen bleiben im 18. Jahrhundert weit verbreitet und wichtiger Bestandteil des kulturellen Lebens.101 Um die kulturellen Codierungen von sanfter Melancholie in der Literatur zu untersuchen, orientiere ich mich methodisch an den Arbeiten Simone Winkos, welche die Möglichkeiten der Präsentation und Thematisierung von Emotionen in der Literatur anhand der Lyrik um 1900 beispielhaft vorgestellt hat.102 Emotionen werden nach Winko nicht nur explizit in Texten genannt (Thematisierung), sondern auch implizit durch bestimmte Strategien präsentiert.103 Die vorliegende Studie versteht sich daher als Teil der literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung, wie sie unter anderem durch Thomas Anz und Simone Winko gefordert und entwickelt wurde. Es gilt dabei, die codierte Versprachlichung des MelancholiePhänomens z.B. im Zusammenhang mit dem Topos „Wonne der Wehmut“ bzw. „joy of grief“ zu erforschen und dabei zugleich die kontextuellen Bedingungen für seine Codierung zu beachten. Zur Evokation des Vergnügens an der Melancholie bei Lesern von Lyrik oder Prosa setzten Autoren emotionalisierende literarische Techniken ein; Winko
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Vgl. Daniel Weidner: Zur Rhetorik der Säkularisierung. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaften 78.1 (2004), S. 95–132, hier S. 100f: „Gerade der Literatur- und Kulturwissenschaft ist es […] kaum möglich, sich vollkommen vom ‚transitiven‘ Begriff der Säkularisierung zu verabschieden und das ‚starke‘ Konzept der Säkularisierung gegen eine soziologische Theorie vom Bedeutungsschwund religiöser Gemeinschaften zu ersetzen.“ 101 Vgl. dazu auch Jeremy Gregorys Plädoyer für die Erforschung von Religionen und Religiosität im Zeitalter der Aufklärung: Transforming ‚the Age of Reason‘ into ‚an Age of Faiths‘: or, Putting Religions and Beliefs (Back) into the Eighteenth Century. In: Journal for EighteenthCentury Studies 32.3 (2009), S. 287–306. 102 Vgl. Simone Winko: Kodierte Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900. Berlin 2003. 103 Vgl. ebd.: Überkodierte Gefühle. Trauer und Traurigkeit als Beispiel, S. 354–382 und dies.: Typische Strategien der Präsentation von Trauer, ebd., S. 355–367.
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spricht in diesem Zusammenhang von der „Emotionalisierung“ einer Aussage.104 Bei der Codierung von Emotionen spielt die Emotionalisierung eine wesentliche Rolle;105 die Darstellungstechniken, die dabei angewendet werden, bezeichne ich im Folgenden mit Thomas Anz als „literarische Emotionalisierungstechniken“.106 Anz hebt hervor, dass im 18. Jahrhundert eine deutliche Zunahme dieser Techniken wie z.B. der fiktionale Gräberbesuch oder die Antizipationen von Todesfällen aufgetreten sei, weil man nach wirkungsvollen Mitteln der Affektstimulation gesucht habe, die nicht der älteren Rhetoriktradition entsprachen.107 Die den Techniken übergeordneten, verschiedenartig motivierten Regelsysteme emotionaler Affektion von Leserinnen und Lesern bezeichne ich demgegenüber in der Folge als Emotionalisierungsstrategien.108 Die Codierung einer Emotion folgt dem konventionalisierten Wissen einer Kultur.109 Dabei stellen Codes das gegenwärtige kollektive Wissen über Emotionen dar und kontrollieren zugleich den Ausdruck bzw. die Angemessenheit und situative Verwendung einer Emotion.110 Da Codes nicht eindeutig einer Emotion entsprechen, gibt es unter- und überkodierte Emotionen.111 Je nach Textgattung ist mit unterschiedlichen Verfahren der Codierung zu rechnen. In literarischen Texten, so stellt Winko fest, kommen zu den sozialen und kulturellen Typisierungen, die die Alltagserfahrung bestimmen, noch solche hinzu, die durch literarische Muster vorgegeben werden. Tendenziell […] spielen in narrativen Texten die Kodierungen eine stärkere Rolle, die Wissen über soziale Situationen und in ihnen wahrscheinliche Emotionen voraussetzen; in Gedichten dagegen sind es in hohem Maße literarische Typisierungen, die die Kodierung von Emotionen mit prägen. Ausgestaltete soziale Konstellationen, die nicht primär Topos-Charakter haben, kommen in den verdichteten, bilderreichen […] lyrischen Texten erheblich seltener vor.112
104
Vgl. ebd., S. 143. In der Werbung gebräuchlich ist heute auch die Wendung von der ‚Emotionalisierung von Marken‘; in Medientheorie und Marketing wird zudem eine Emotionalisierung von Texten, Filmen und Gegenständen schon länger diskutiert. Vgl. Udo Göttlich: Emotionalisierung durch Medien. In: Uwe Sander, Friederike von Gross u. Kai-Uwe Hugger (Hg.): Handbuch Medienpädagogik. Wiesbaden 2008, S. 454–458. 105 Vgl. auch Mireille Schnyder: Imagination und Emotion. Emotionalisierungen des sexuellen Begehrens über die Schrift. In: Charles Stephen Jaeger u. Ingrid Kasten (Hg.): Codierungen von Emotionen im Mittelalter. Emotions and Sensibilities in the Middle Ages. Berlin 2003, S. 237–250. 106 Vgl. Thomas Anz: Freuden aus Leiden. Aspekte der Lust an literarischer Trauer. In: Wolfram Maurer u. Joachim Pfeiffer (Hg.): Trauer. Würzburg 2003, S. 71–82, hier S. 75. 107 Vgl. ebd., S. 74. 108 Vgl. z.B. Edward Youngs religiöse Emotionalisierungsstrategie im Kapitel 1.2. oder Werthers Bruch mit der empfindsamen Emotionalisierungsstrategie im Kapitel 4.1.1. 109 Vgl. Winko: Kodierte Gefühle (wie Anm. 102), S. 85. 110 Vgl. ebd., S. 86–89. 111 Vgl. ebd., S. 89. 112 Ebd.
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Die Rede vom Code einer Emotion schließt die prozesshafte Interaktion113 zwischen Bedeutungsträger und sinngebendem Rezipienten mit ein, der im Gedicht vornehmlich auf jene Codierung durch Topoi trifft. Wilhelm Schmidt-Biggemann und Anja Hallacher sprechen daher auch von der Topik als einer Methode der Innovation. Topoi als die flexiblen Bedeutungsträger der Topik befänden sich immer im dynamischen Wandel und ließen somit Neuarrangements von Wissen erkennen.114 Die drei Phasen der Topos-Bildung, Fragmentierung, Neuordnung und Generierung (von neuem Wissen), seien sowohl Ausdruck einer Traditionsbildung als auch eines stetigen Transformationsprozesses.115 Schmidt-Biggemann und Hallacher weisen einen engen Zusammenhang zwischen Topik, Innovation und Wissensbeständen nach, der sich auch für den Topos „Wonne der Wehmut“ im literarischen Code sanfter Melancholie und dessen Transformation bestätigen lässt, indem die Wissens- und die Bildungsgeschichte des 18. Jahrhunderts mit der Emotionsgeschichte eng verquickt waren. Als „zentrales Medium emotionaler Bildung“ eignet sich die schöne Literatur, wie Ute Frevert bemerkt, „hervorragend für eine […] grundlegende Exkursion in die Topografien des Emotionalen, wie sie moderne Gesellschaften und ihre Wissenssysteme entworfen haben“.116 Einen Beitrag zur Topografie eines derart codierten Emotionsphänomens soll dieses Buch leisten.
Die Emotionsforschung seit der Jahrtausendwende Die heute interdisziplinär sehr erfolgreiche Emotionsforschung ist unter anderem eng verzahnt mit Disziplinen wie der Kognitionspsychologie, der Neurowissenschaft oder der Wissenspsychologie.117 Ebenso haben sich aber auch Fächer wie die Linguistik,118 die Mediävistik,119 die Geschichtswissenschaften120 oder die Kunstgeschichte121 mit Emotionsforschung beschäftigt. Der Schwerpunkt der
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Vgl. ebd., S. 111. Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann u. Anja Hallacher: Topik: Tradition und Erneuerung. In: Thomas Frank, Ursula Kocher u. Ulrike Tarnow (Hg.): Topik und Tradition. Prozesse der Neuordnung von Wissensvermittlungen des 13. bis 17. Jahrhunderts. Göttingen 2007, S. 15– 26, hier S. 21. 115 Vgl. ebd., S. 22. 116 Frevert: Gefühle definieren (wie Anm. 44), S. 19. 117 Ein Überblick über die Interdisziplinarität der Emotionsforschung bietet das Vorwort in: Katja Battenfeld, Cornelia Bogen, Ingo Uhlig u. Patrick Wulfleff (Hg.): Gefühllose Aufklärung. Anaisthesis oder die Unempfindlichkeit im Zeitalter der Aufklärung. Bielefeld 2012, S. 11–14. 118 Vgl. etwa Silke Jahr: Emotionen und Emotionsstrukturen in Sachtexten. Ein interdisziplinärer Ansatz zur qualitativen und quantitativen Beschreibung der Emotionalität von Texten. Berlin 2000. 119 Vgl. z.B. Ingrid Kasten (Hg.): Machtvolle Gefühle. Berlin 2010. 120 Vgl. Athena Athanasiou, Pothiti Hantzaroula u. Kostas Yannakopoulos: Performing emotions. Historical and anthropological sites of affect. Athen 2008. 121 Vgl. Klaus Herding und Bernhard Stumpfhaus (Hg.): Pathos, Affekt, Gefühl. Die Emotionen in den Künsten. Berlin 2004.
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Forschung liegt allerdings bei den Philologien, und hier v.a. bei der Germanistik. Seit Thomas Anz’ Plädoyer für die Etablierung einer kulturwissenschaftlichen Emotionsforschung von 1999122 ist eine Fülle von Publikationen entstanden, sodass Anz selbst schon 2006 die Frage stellen konnte, ob nun mit einem „emotional turn“ zu rechnen sei.123 Eindeutig erkennen lässt sich in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts eine gesteigerte – und gewinnbringende – Beschäftigung mit den lange vernachlässigten Emotionen. Ein richtungweisender Grundlagentext für die literaturwissenschaftliche Emotionsforschung gelang 2003 Simone Winko mit ihrer Habilitationsschrift Kodierte Gefühle, worin die Autorin besonders auf Prämissen der literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung eingeht und darlegt, dass die Kommunikation von Gefühlen auf Emotionscodes basiert, die mittels eines semiotischen Zeichenverständnisses analysiert werden können.124 2005 publizierte Burkhard Meyer-Sickendiek seine Kulturgeschichte literarischer Emotionen; darin werden Affekte aus kulturwissenschaftlicher Sicht in unterschiedlichen Gattungen bzw. Genres der Literatur aufgesucht und in poetische Konzepte einbezogen.125 Deutlich wird so, dass Emotionen kognitive, motivationale, interaktionelle und identitätsstiftende Momente enthalten.126 Auf Emotionen in der Tragödie konzentrierte sich ebenfalls 2005 Ulrich Port, indem er Erscheinungsweisen von Pathosformeln in der Literatur und Ästhetik des 18. bis 19. Jahrhunderts gegenüberstellte.127 Wirkungsästhetische Fragen zur Literatur der Aufklärung behandelte dagegen Katja Mellmanns emotionspsychologische Auseinandersetzung mit der Emotionalisierung durch Lektüre von 2006.128 Im Folgejahr setzten sich dann Thomas Anz und Martin Huber in Literatur und Emotion mit den Grundlagen der literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung, z.B. den „Regeln der literarischen Emotionalisierung“, auseinan-
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Siehe Thomas Anz: Plädoyer für eine kulturwissenschaftliche Emotionsforschung (März 1999). Online in: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=47 (Stand 16.12.2012). 123 Vgl. ders.: Emotional turn? Beobachtungen zur Gefühlsforschung. Online in: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=10267&ausgabe=200612 (Stand 3.1.2013) 124 Zur Analyse literarischer Emotionscodes vgl. dort Kapitel 4. Winko: Kodierte Gefühle (wie Anm. 102), S. 110–152. Zu weiteren methodischen Überlegungen zur Emotionsanalyse in Texten vgl. Gesine Lenore Schiewer: Kognitive Emotionstheorien – emotionale Agenten – Narratologie: Perspektiven aktueller Emotionsforschung für die Sprache und Literaturwissenschaft. In: Martin Huber u. Simone Winko (Hg.): Literatur und Kognition: Bestandsaufnahmen und Perspektiven eines Arbeitsfeldes. Paderborn 2009, S. 99–114. 125 Burkhard Meyer-Sickendiek: Affektpoetik. Eine Kulturgeschichte literarischer Emotionen. Würzburg 2005, S. 9. 126 Vgl. ebd., S. 10. 127 Ulrich Port: Pathosformeln. Die Tragödie und die Geschichte exaltierter Affekte (1755–1888). Paderborn 2005. 128 Siehe Katja Mellmann: Emotionalisierung – Von der Nebenstundenpoesie zum Buch als Freund. Eine emotionspsychologische Analyse der Literatur der Aufklärung. Paderborn 2006.
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der.129 2007 war auch das Jahr der Institutionalisierung der Emotionsforschung: An der Freien Universität Berlin nahm das Exzellenz-Cluster Languages of Emotions seine Arbeit auf, das zahlreiche Arbeitsprojekte aus mehr als 20 Disziplinen bündelt;130 ebenfalls in Berlin, am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, untersucht seither Ute Frevert131 mit ihrem gleichnamigen Forschungsbereich die Geschichte der Gefühle (u.a. anhand der Bildung durch Emotionen132). Analog zum deutschen gingen im englischen Sprachraum wesentliche Impulse für die Emotionsforschung zunächst von der Anglistik aus. Bereits 2001 veröffentlichte Geoffrey Sill eine Studie zu Emotionskonzepten in den Romanen Defoes, Richardsons und Fieldings, die er in Beziehung setzte zur Entstehung des neuen Erfolgsgenres.133 Drei Jahre später erschienen Gail Kern Pasters Essays in the cultural history of emotion,134 die einen ähnlichen Ansatz verfolgten wie die Kulturgeschichte literarischer Emotionen Meyer-Sickendieks. Dem Konzept der „moral imagination“ als Aufwertung der Emotionen in der englischen Dichtung des 16. und 17. Jahrhunderts widmete sich 2007 Christopher Tilmouth;135 mit Jennifer Vaughts Studie Masculinity and Emotion in Early Modern English Literature kam ein Jahr später erstmals der Gender-Aspekt in der Emotionsforschung zum Tragen.136 Schließlich unterstrich die jüngst erschienene Arbeit von Ildiko Csengei zur Rolle der Sympathie in der Literatur des 18. Jahrhunderts, wie viele Bezugspunkte Empfindsamkeit und Aufklärung der Emotionsforschung bieten.137 Mindestens seit Mitte der 2000er Jahre lässt sich bei den Philologien in Deutschland, aber auch im englischsprachigen Raum eine immer stärker interdisziplinäre Ausrichtung beobachten. Dabei rückt die Frage nach der Wirkmächtigkeit und den Transformationsleistungen von Emotionsbegriffen in den Mittelpunkt. Beispiele hierfür sind der von Johann Anselm Steiger herausgegebene Band Passi-
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Vgl. z.B. Thomas Anz: Tod im Text. Regeln literarischer Emotionalisierung. In: Ders. und Martin Huber (Hg.): Literatur und Emotion. Bielefeld 2007, S. 306–327; Gesine Lenore Schiewer: Sprache und Emotionen in der literarischen Kommunikation. Ein integratives Forschungsfeld der Textanalyse. In: Ebd. S. 346–361. 130 Vgl. http://www.loe.fu-berlin.de (Stand 12.06.2013). 131 132
Vgl. http://www.mpib-berlin.mpg.de/de/forschung/geschichte-der-gefuehle (Stand 19.12.2012).
Vgl. dazu auch Kristian Folta: Das emotional lernende Gehirn. Zu den hirnpsychologischen und neuropsychologischen Grundlangen des Lernens. In: Karl Ermert (Hg.): Und noch mal mit Gefühl … Die Rolle der Emotionen in Kultur und Kulturvermittlung. Wolfenbüttel 2011, S. 28–40. 133 Geoffrey Sill: The cure of the passions and the origin of the English novel. Cambridge 2001. 134 Gail Kern Paster (Hg.): Reading the early modern passions: Essays in the cultural history of emotion. Philadelphia 2004. 135 Christopher Tilmouth: Passion’s triumph over reason: a history of the moral imagination from Spenser to Rochester. Oxford 2007. 136 Jennifer C. Vaught: Masculinity and Emotion in Early Modern English Literature. Aldershot 2008. 137 Ildiko Csengei: Sympathy, sensibility and the literature of feeling in the eighteenth century. Basingstoke 2012.
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on, Affekt und Leidenschaften138 von 2005, Jenefer Robinsons ästhetiktheoretische Studie Deeper than reason139 (2009) oder Martin Harbsmeiers und Sebastian Möckels Sammelband Pathos, Affekt, Emotion,140 der sich mit Emotionskonzepten und ihrer Transformationsgeschichte seit der Antike beschäftigt (ebenfalls 2009). Im gleichen Jahr wies Ernst Stöckmann in der Studie Anthropologische Ästhetik durch eine umfassende Analyse nach, dass die europäische res publica litteraria des 18. Jahrhunderts insgesamt stark mit der Diskussion von Emotionstheorien beschäftigt war. Die Publikation leistet eine Einbettung der Emotionstheorien in anthropologische und ästhetische Horizonte der Aufklärung.141 Die starken Gegensatzpaare von Kognition und Emotion macht der jüngst erschienene gleichnamige Sammelband Sonja Koroliovs fruchtbar, der Wissen und Rationalitätsstandards seit dem 18. Jahrhundert in Beziehung zu Emotionswissen setzt.142 Die literaturwissenschaftliche wie die interdisziplinäre Emotionsforschung haben sich mittlerweile so fest etabliert, dass erste kritische Resümees gezogen werden können. So fragt Thomas Anz 2011 in einer Anthologie mit dem bezeichnenden Titel Und noch mal mit Gefühl, ob es sich bei der literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung nicht einfach nur um einen Rückweg zur antiquierten Einfühlung handle.143 Denn obwohl der Wissenschaftler über das schweigen solle, was er nicht rational erklären könne,144 müsse er sich bewusst sein, so Anz, dass auch er ohne eine empathische Erkenntnisleitung im Kommunikationsprozess nicht auskomme.145
Kulturhistorische Rahmenbedingungen des Emotionsphänomens Der Diskurs der sanften Melancholie in England und Deutschland zwischen 1730 und 1780 zeigt, dass ihr Transformationsprozess nicht linear verlief. Rückgriffe auf ältere Formen oder hybride Kompilationen waren möglich.146 Während etwa 138
Johann Anselm Steiger (Hg.): Passion, Affekt und Leidenschaft in der Frühen Neuzeit. 2 Bde. Wolfenbüttel 2005. 139 Jenefer Robinson: Deeper than reason: emotion and its role in literature, music, and art. Oxford 2009. 140 Martin Harbsmeier, Sebastian Möckel (Hg.): Pathos, Affekt, Emotion. Transformationen der Antike. Frankfurt am Main 2009. 141 Siehe Stöckmann: Anthropologische Ästhetik (wie Anm. 47). 142 Sonja Koroliov (Hg.): Kognition und Emotion: Transformationen in der europäischen Literatur des 18. Jahrhunderts. Berlin u. Boston 2013. 143 Vgl. Thomas Anz: Emotionen in Literatur und Wissenschaft. „Einfühlung“ als (alter) neuer Weg der Erkenntnis? In: Ermert: Und noch mal mit Gefühl (wie Anm. 132), S. 6–27. 144 Vgl. ebd., S. 21. 145 Vgl. ebd., S. 24. 146 So wurden etwa säkularisierte Topoi der Melancholie wieder in religiöse Kontexte eingefügt oder konservative Erbauungswerke entgegen der Progression literarischer Techniken und Empfindungskonzepte für ärmere Bevölkerungsschichten geschrieben (vgl. z.B. Schubarts Todesgesänge).
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die Normen christlich-religiöser Tradition zum Teil gewahrt blieben, dienten sie zugleich immer öfter der Legitimation experimentierender Empfindungs- und Selbsterfahrungsräume (vgl. z.B. Klopstocks frühe Oden). Zudem wurden im Betrachtungszeitraum mehrere Leser- und Autorgenerationen angesprochen, die sich nicht trennscharf in Kategorien unterteilen lassen. Als die beiden wichtigsten Einflüsse auf den Transformationsprozess sind die fortschreitende Ästhetisierung der Melancholie und die Säkularisierung der Emotionalisierungsstrategien zu nennen. Diese beiden Einflüsse zeigen sich als mit allen weiteren – wie z.B. der Individualisierung oder der Verinnerlichung – verwoben; so wurde die Individualisierung der Empfindung, für welche die sanfte Melancholie maßgeblich steht, von einem Prozess der Ästhetisierung begleitet. Jürgen Peper spricht in einem ähnlichen Zusammenhang von einer „Versinnlichung des Daseins.“147 Ästhetisierung148 bedeutet hier konkret, dass eine Emotionalisierungstechnik ihrer übergeordneten Strategien entbunden wird, Rezipienten etwa die sanfte Melancholie genießen, um ihr im Prozess der Wahrnehmung eine neue Qualität zuzuschreiben. Dies geschah beispielsweise mit den Topoi der sog. Todesmeditation (meditatio mortis), die zunächst als Elemente des Codes sanfter Melancholie in religiöse Emotionalisierungsstrategien eingebunden waren. Im Laufe der Ästhetisierung der sanften Melancholie verloren diese Bilder dann Anteile ihrer religiösen Funktion und wurden in Codes anderer Erfahrungsbereiche integriert. Die von mir ausgewählten Texte umfassen einen Zeitraum von 50 Jahren mit einem Schwerpunkt in der Jahrhundertmitte, als die Ablösung eines rationalistisch orientierten Aufklärungskonzepts durch eine „Aufklärung der Gefühle“149 zunehmend virulent wurde. Diesem emotiven Kultivierungsprogramm unterlag die bis in die Antike zurückreichende Annahme, dass sanfte Melancholie den Geist zu erhabenen Gedanken anrege. Eine milde Form der Melancholie, wie sie PseudoAristoteles und Ficino begabten Menschen zusprachen, sollte in einem breiten Erbauungsbegriff Verwendung finden.150 Besonders Miltons Darstellung des religiö-
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Jürgen Peper: Ästhetisierung als Aufklärung. Unterwegs zur demokratischen Privatkultur. Eine literarästhetisch abgeleitete Kulturtheorie. Berlin 2002, S. IX. 148 Vgl. ebd., S. XIII: „‚Ästhetisierung‘ erweckt das ästhetische Potential eines Gegenstandes (Ding, Vorstellung), indem sie ihn selbstbezüglich sehen läßt, ihn aus seinen entmündigenden Funktionskontexten befreit, ihn emanzipiert. Sie ist also prozessual und erklärt damit u.a. jenen Prozeß steter Entautomatisierungen und Erneuerung der Wirklichkeitswahrnehmung durch innovative ästhetische Techniken […]. Ästhetisierung wirkt so als Kulturkritik, als Treibsatz der Kultur, als ‚Kulturhefe‘.“ 149 Vgl. Sibylle Schönborn u. Vera Viehöver: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Gellert und die empfindsame Aufklärung. Vermittlungs-, Austausch- und Rezeptionsprozess in Wissenschaft, Kunst und Kultur. Berlin 2009, S. 9–22, hier S. 14. 150 Vgl. Hoxie Neale Fairchild: Religious Trends in English Poetry. 2. Auflage. 3 Bde. Bd. 1. New York 1949: 1700–1740. Protestantism and the Cult of Sentiment, S. 235: „In the Night-Piece, graveyardism of the type which decends from the puritan funeral elegies, is tempered by the milder, more contemplative melancholy of the Il Penseroso tradition. […] Nevertheless it is essentially religious, and its moralizing leads straight to the pious conclusion.“
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sen Melancholikers in Il Penseroso (1645) hatte den Dichtern des 18. Jahrhunderts dazu eine maßgebliche Vorlage geboten. Die in der meditativen Passionsliteratur des 17. Jahrhunderts verwendeten Emotionalisierungstechniken wirkten in ihrer Struktur als Selbsterforschung in der Aufklärung stärker nach als die religiösen Zwecke eines guten Trauerns. Wie Stephanie Wodianka in ihrer Studie zur meditatio mortis in der europäischen Literatur des 17. Jahrhunderts gezeigt hat, traten Bußbereitschaft und Sündenbewusstsein bei der Andacht bereits früh in den Hintergrund, während das Telos einer Selbstbestätigung an Raum gewann. Somit war ein Zusammenhang von Todesmeditation und dem Wunsch nach Individualitätsempfinden angelegt.151 In der Folge sollte dann die Begeisterung für Trauer und ihre Symbolik die Botschaft der Auferstehung allmählich ersetzen. Das Phänomen der sanften Melancholie war für die Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts nicht ohne Bezüge zum Erhabenen zu denken. Von besonderem Interesse für die vorliegende Studie ist dabei der Zusammenhang von religiöser Erfahrung und erhabener Empfindung. Andrew Chignell und Matthew C. Haltman, die sich mit diesem Thema am Beispiel von Autoren des 18. Jahrhunderts beschäftigt haben, umreißen die mehrteilige Taxonomie des Erhabenen im Kontext religiöser Offenbarung, ein „theistic sublime“,152 das bekehrend, bekräftigend oder transformativ auf Gefühle und Einstellungen wirken153 könne: „[F]irst, a feeling of being dazzled and even terrified in the face of something vast, violent, threatening, or incomprehensible, and, second, a feeling of reassurance accompanied by a reflecting epiphany or realization.“154 Ich selbst möchte von einem Zweischritt von Erniedrigung und Selbstbeseeligung sprechen, der durchaus auch rein säkulare Gründe haben konnte. Die Geschichte des Erhabenen reicht zurück bis ins erste Jahrhundert n. Chr. zu Pseudo-Longins Traktat Peri hypsous, das den Grundstein für die Jahrhunderte gültige Bedeutung des Erhabenen als rhetorische Stillage legte. Die „Emanzipation des Erhabenen“155 von einer rhetorischen zu einer genuin ästhetischen Kategorie vollzog erst Nicolas Boileau mit seiner Bearbeitung von Peri hypsous für ein modernes Publikum (Traité de Sublime, 1674).156 Den Status eines philosophischen Konzepts erhielt das Erhabene dann während des 18. Jahrhunderts durch Edmund
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Vgl. Stephanie Wodianka: Betrachtungen des Todes. Formen und Funktionen der ‚meditatio mortis‘ in der europäischen Literatur des 17. Jahrhunderts. Tübingen 2004, S. 123. 152 Andrew Chignell u. Matthew C. Halteman: Religion and the Sublime. In: Timothy M. Costelloe (Hg.): The Sublime. From Antiquity to the Present. Cambridge 2012, S. 183–202, hier S. 184. 153 Vgl. ebd., S. 188. 154 Ebd., S. 184f. Die Phasen der religiös-erhabenen Empfindung entsprechen dabei der traditionellen Fassung des Erhabenen, wie sie sich etwa bei Bailie, Addison, Burke oder Kant finden lassen. 155 Vgl. Dietmar Till: Das doppelte Erhabene. Eine Argumentationsfigur von der Antike bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Tübingen 2006, S. 131. 156 Vgl. ebd., S. 199.
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Burkes Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful (1757) und Immanuel Kants Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764).157 Das Religiös-Erhabene tritt erstmals in der Ästhetiktheorie bei John Dennis (The Advancement and Reformation of Poetry, 1701) und Robert Lowth (Praelectiones Academicae de Sacra Poesi Hebraeorum, 1753) auf, die das Erhabene mit religiöser Dichtung verknüpften und eine emotionsorientierte Dichtung forderten, um Erhabenheitserlebnisse zu kommunizieren. John Dennis entwickelte so eine Poetik der religiösen Lyrik, die durch Emotionalisierungstechniken Leser zu erhabenen Gedanken bewegen sollte.158 Vor allem in Begleitung jenes erziehenden Erhabenheitsbegriffs, der emotionale Erschütterung mit religiöser Erbauung verband, avancierte die sanfte Melancholie zu einem perfektionierenden Emotionsphänomen. Die melancholische Stimmung bildete gleichsam den Nährboden, auf dem der Rezipientin oder dem Rezipienten die erhabene Erfahrung ermöglicht wurde (vgl. Kapitel 2.3.3.). Charakteristisch für das Erhabene ist, dass der Mensch auf die kontrollierende Kraft seiner Vernunft und die Macht bzw. Bedeutsamkeit seiner Gefühle hingewiesen wird. Diese Qualität des Erhabenen verlagerte sich zunehmend in den Rezipienten und entfernte sich von den betrachteten Dingen bzw. ihrer künstlerischen Darstellung.159 Erdmut Jost bezeichnet das Erhabene seinem Wesen nach als ein „Mittlerphänomen“, das sinnliche Wahrnehmung und Gedanke verbinden
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Vgl. dazu Timothy M. Costelloe: The Sublime: A Short Introduction to a Long History. In: Timothy M. Costelloe (Hg.): The Sublime. From Antiquity to the Present. Cambridge 2012, S. 1–10, hier S. 7: „[Samuel, K.B.] Johnson‘s entry [into the Dictionary of the English Language, 1755, K.B.] and examples reflect the Anglicised French – English sublime/sublimity from French sublime/sublimité – and thus take over the emphasis on sublime dans le discours, the sublime as an essence not of but expressed in language, reserving the nominative ‚sublime‘ for sublime style. This reflects the convention followed early in the century by the likes of John Dennis, Shaftesbury, and Addison, who employ the term in reference to Longinus and rhetorical effect and use ‚great‘ or ‚grand‘ to indicate what later writers mean by the term ‚sublime‘: those features of objects (such as magnitude, height, and elevation) and the affective states (such as transcendence, awe, fear, and terror) they produce. […] As the century progressed the terms became interchangeable and, in the wake of Edmund Burke’s Philosophical Enquiry into the Sublime and Beautiful (1757), and cemented by Immanuel Kant’s Critique of the Power of Judgement (1792), the Longinian sublime all but disappeared.“ Zur Entwicklung des Erhabenheitsbegriffs im 18. Jahrhundert vgl. u.a. Philip Shaw: The Sublime in the Eighteenth Century. In: Ders.: The Sublime. The New Critical Idiom. Oxford, New York 2006, S. 27–47. 158 Zu Dennis’ Erbauungskonzept vgl. auch Jeffrey Barnouw: The Morality of the Sublime: To John Dennis. In: Comparative Literature 35.1 (1983), S. 21–42; zur Transformation des Erhabenen siehe auch Grit Schorch: Das Erhabene und die Dichtkunst der Hebräer. Transformationen eines ästhetischen Konzepts bei Lowth, Mendelssohn und Herder. In: Christoph Schulte (Hg.): Hebräische Poesie und jüdischer Volksgeist. Die Wirkungsgeschichte von Johann Gottfried Herder im Judentum Mittel- und Osteuropas. Hildesheim u.a. 2003, S. 67–92. 159 Vgl. Erdmut Jost: Landschaftsblick und Landschaftsbild. Wahrnehmung und Ästhetik im Reisebericht 1780–1820. Sophie von La Roche – Friederike Brun – Johanna Schopenhauer. Freiburg i.Br. 2005, S. 336.
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könne.160 Daraus resultiere jedoch ein Konflikt: „Weil das Erhabene Mittlerphänomen ist, changiert es […] immer nach zwei Seiten: der empirischsensualistischen und der geistigen.“161 Wie Christian Begemann festgestellt hat, entwickelten sich daher im 18. Jahrhundert zwei Gattungen des Erhabenen, von denen die eine auf die Vorstellungskräfte, die andere auf die Begehrungskräfte wirkt.162 Nach Jost wechselt das Erhabene zudem ständig „zwischen Universellem und Individuellem, zwischen gattungsmäßigen Gefühlen […] und der je individuellen Empfindung und Idee des einzelnen Betrachters von Natur.“163 Das Erhabene hat somit eine paradoxe Struktur,164 die das Allgemeine im Individuellen sucht und umgekehrt. Jenes paradoxe Modell des Erhabenen „zur Erfassung und Darstellung des Unendlichen“165 fügte sich gut zur Unsterblichkeitsthematik der Erbauungsliteratur. Frauen und anderen vermeintlich Vernunftarmen wurde die Fähigkeit zur Erkenntnis durch das Erhabene zumeist abgesprochen.166 Dennoch zeigen Beispiele von Autorinnen der graveyard poetry und eine besondere Hinwendung an weibliche Leserinnen, dass man erhabene Empfindungen in Kombination mit der melancholischen Stimmung auch Frauen zubilligte und für deren Bildung als nützlich empfand. Mit Chignell und Halteman stimme ich darin über ein, dass das ReligiösErhabene im Laufe des 18. Jahrhunderts zur Erweiterung von Denkstrukturen und einer Entfernung von dogmatischen Ansprüchen beigetragen hat.167 Gefördert wurde die Etablierung der fortan verwandten Melancholie- und Erhabenheitserlebnisse in der Literatur durch die Kritik der orthodoxen Offenbarungsbegriffe von Seiten des Deismus bzw. der Moralphilosophie.168 Diese zwang die Anhänger einer geoffenbarten Religion zur Auseinandersetzung mit den neuen Rationalitäts- und Empfindungsstandards, denn die rationalen Argumentationen bedrohten die Attraktivität mystischer Offenbarungsbegriffe. Um einer Entmystifi160 Ebd., S. 333. 161 Vgl. ebd. 162 Vgl Christian
Begemann: Erhabene Natur. Zur Übertragung des Begriffs des Erhabenen auf Gegenstände der äußeren Natur in den deutschen Kunsttheorien des 18. Jahrhunderts. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literatur und Geistesgeschichte 58 (1984), S. 74–110; vgl. ebenso Christine Pries (Hg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim 1989. Dieser Sammelband gibt u.a. einen guten Einblick in die Diskussion des Erhabenen im 18. Jahrhundert und seine Entwicklung in Werken der Kunst bzw. Theorien der Moderne. 163 Jost: Landschaftsblick (wie Anm. 159), S. 334. 164 Zur paradoxen Struktur des Erhabenen und seiner Tradition bis ins 19. Jahrhundert siehe Till: Das doppelte Erhabene (wie Anm. 155), bes. S. 337. 165 Siehe Jost: Landschaftsblick (wie Anm. 159), S. 334. 166 Vgl. z.B. Kapitel 2.3 zu Schubarts Todesgesängen und Jost: Landschaftsblick (wie Anm. 159), S. 310. 167 Vgl. Chignell und Halteman: Religion and the Sublime (wie Anm. 152), S. 192. 168 Zur Entwicklung einer Kunstreligion, z.B. in Form der ‚heiligen‘ Poesie Klopstocks, in Anregung durch Religionskritik im 18. Jahrhundert vgl. Bernd Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion. Göttingen 2006, S. 182–204.
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zierung entgegenzuwirken, plädierten die Befürworter der Offenbarung für emotive Erfahrungen des Glaubens, die sich Rationalitätsbestrebungen entzogen.169 Doch auch die Betonung der Selbstreflexivität von Empfindungen in der Moralphilosophie und Religionskritik verhalf der sanften Melancholie wesentlich zum Erfolg. So wurde etwa aus dem traditionell christlichen Bußweg über die Trauer (z.B. nach Thomas von Aquin oder Martin Luther) eine solcherart legitimierte Selbsterfahrungs- bzw. Erlebnisquelle. Die emotionale Besetzung des Todes im 18. Jahrhundert führte zu einer Aufwertung literarischer Todesbilder und ließ den ‚schönen Leichnam‘ zu einem Imaginationsobjekt erster Güte avancieren. Triumphales Sterben und seine bildlichen Realisationen wurden zum wichtigsten Thema für die Evokation sanfter Melancholie. Dies ging so weit, dass bei der Darstellung gerade von jung Verstorbenen nicht nur eine religiöse Metaphorik zur Anwendung kam, sondern erotische Erregung angedeutet wurde, die auf eine sexuelle Beziehung zum Toten anspielte.170 Der Abstand, den man bisher zum Tod gehalten hatte, verringerte sich in der künstlerischen Darstellung immens, wie auch Philippe Ariès bemerkt: „Bis zum 17. Jahrhundert werden die beiden Komplexe von Leben und Tod in sicherer Entfernung gehalten. In der Folge durchdringen sie einander dagegen und zerstören sich. Der Tod prägt sich künftig dem Leben ein.“171 Die ästhetische Erinnerung an den Tod äußerte sich in den bürgerlichen Häusern in Form von Grabmodellen auf Beistelltischen, als Gedenkschmuck aus Haaren des Toten oder als Sargminiatur für die Jackentasche.172 Damit verbunden ist eine Privatisierung von religiösen Erfahrungen. Kontemplative Momente sanfter Melancholie fanden zum Beispiel in Gärten und Privaträumen (bei gemeinsamer Lektüre) statt, weniger in Kirchen und Gottesdiensten.
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Vgl. Ernst Müller: Ästhetische Religiosität und Kunstreligion. In den Philosophien der Aufklärung bis zum Ausgang des deutschen Idealismus. Berlin 2004, S. 14: „Mit der Orientierung auf den leidenschaftlichen, inneren, ganzen Menschen bildet zunächst der Pietismus, dann die Gefühlstheologie – vergleichbar, aber nicht zu verwechseln mit dem Sensualismus – den Gegenpart zum Rationalismus.“ 170 Vgl. Philippe Ariès: Der faszinierende Leichnam. In: Ders.: Bilder zur Geschichte des Todes. Wien 1984, S. 207–223, hier S. 222: „Die Begegnung von Tod und Begierde hat eine neue Kategorie von Erotik ins Leben gerufen […]. Der schöne junge Leichnam nimmt fortan einen Raum ein, der an den des Epheben in der hellenistischen Kultur erinnert.“ 171 Ebd., S. 223. 172 Handflächengroße Betrachtungssärglein wurden im 18. Jahrhundert aus Holz oder höherwertigen Materialien gefertigt. Sie konnten in der Jackentasche mitgeführt werden. Vgl. Andrea von Hülsen-Esch (Hg.): Zum Sterben schön. Alter, Totentanz und Sterbekunst von 1500 bis heute. 2 Bde. Bd. 2. Köln 2006, S. 45.
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Quellenauswahl und Anlage der Studie Das erste von insgesamt vier Kapiteln der vorliegenden Arbeit ist maßgeblich dem Diskurs einer positiv konnotierten Melancholie in den Texten der englischen graveyard poetry gewidmet. Gezeigt wird, wie die Vertreter des Genres bis zur Jahrhundertmitte in der englischen Lehrdichtung ein emotives Kultivierungsprogramm etablierten, das durch literarische Emotionalisierungstechniken die religiöse Perfektionierung des Menschen vorantreiben sollte. Autoren wie Elizabeth SingerRowe, Edward Young oder James Hervey versuchten die Erkenntnis bringenden Potentiale von Empfindungen zu nutzen, um dem Leser zu religiöser Einsicht zu verhelfen. Im Zentrum der Analyse steht das prominenteste europäische Beispiel der Verbindung von sanfter Melancholie und Todesmeditation: die Night Thoughts (1742−1745) von Edward Young, die auf dem Zenit der kontemplativen Lehrdichtung erschienen und besonders in Deutschland großen Anklang fanden. Die Night Thoughts erklärten die religiöse Melancholie zu einem empfehlenswerten Kontemplationszustand, grenzten sich jedoch von der zeitgleich entstehenden Tradition des Gothic horror ab (vgl. Kapitel 1.2.1). Wie seine Zeitgenossen Elizabeth Carter und Thomas Warton machte Young Gebrauch vom etablierten Programm der Kultivierung von Gefühlen, das durch sanfte Melancholie zu Erhabenheitserlebnissen verhelfen wollte. Wer in melancholischer Stimmung das Sterben und den Tod lange genug betrachtet habe, so die Vorstellung, werde zur erhabenen Erkenntnis seiner Unsterblichkeit gelangen müssen. Im zweiten Kapitel der Arbeit beschäftige ich mich u.a. mit Friedrich Klopstock als einem frühen Beispiel für die Rezeption der Night Thoughts in Deutschland. Aus seiner Lektüre der englischen Lehrdichtung entwickelte Klopstock eigene Funktionalisierungen sanfter Melancholie, die sich in seinen Briefen, frühen Oden und der Dichtungstheorie nachweisen lassen. Seine Vertrautheit mit dem religiösen Kultivierungsprogramm sanfter Melancholie führte dazu, dass Klopstock die Imaginationstechniken zur Evozierung der Melancholie nicht nur im Kontext der Todesmeditationen verwandte, sondern diese auch auf die Liebes- und Freundschaftsthematik ausdehnte. Insgesamt betrachtet nahmen empathisches Lesen, gefühlsorientiertes Schreiben und vor allem sympathetisches Empfinden ab der Mitte des 18. Jahrhunderts immens an Bedeutung zu. Die emotive Verbindung, die durch sympathetisches Empfinden sanfter Melancholie bei der Lektüre eines Textes entstand, wurde zu einem der wichtigsten Momente in der empfindsamen (Fremd-)Wahrnehmung. So zeugen etwa Klopstocks Brautbriefe von der hohen Wertigkeit vertraulicher Empfindungen, wie sie durch Lektüre hergestellt wurden, und weisen damit unter anderem voraus auf melancholische Selbsterfahrungen in Goethes Werther. Neben Klopstocks Texten kommen vergleichend drei deutsche Erbauungswerke, die in ihrer theologischen Ausrichtung im Umgang mit sanfter Melancholie 30
divergieren, in den Blick: Der Christ in der Einsamkeit (1756) von Martin Crugot, Der wahre Christ in der Einsamkeit (1762) von Christoph Christian Sturm und Der Christ in der Einsamkeit (1763) von Karl Friedrich Bahrdt. Alle drei Werke stehen in unterschiedlichem Maße in der Tradition der englischen Lehrdichtung. Der Socinianer Crugot, der lutherische Prediger pietistischer Prägung Sturm und der damals noch orthodoxe Prediger Bahrdt hatten divergierende Vorstellungen von der Mündigkeit des Lesers im religiösen Kultivierungsprogramm der sanften Melancholie. Es wird zu zeigen sein, dass das religiöse wie das empfindsame Kultivierungsprogramm durch Emotionen immer dann an seine Grenzen stieß, wenn das zugrunde liegende Menschenbild keine Freiheit der Empfindungen zuließ, weil autonome Emotionen als Gefahr für Institutionen und Lehren verstanden wurden. Dieser Befund trifft auch auf Christian Friedrich Daniel Schubarts Todesgesänge von 1767 zu, mit deren Betrachtung das Kapitel abschließt. Das dritte Kapitel untersucht einen weiteren Haupttext der Geschichte der sanften Melancholie im 18. Jahrhundert: James Macphersons Kunstepos Ossian (1760ff.). In Ergänzung der vorausgegangenen Analysen soll dargestellt werden, wie sich Macpherson im Ossian das ehemals religiöse Kultivierungsprogramm zu Nutze machte, um sein schottisches Nationalepos an die zeitgenössischen Vorstellungen von erhabener Dichtung und empfindsamem Heldentum anzupassen. Da im Ossian weder Götter noch andere Formen des Transzendenten eine wesentliche Rolle spielen, erscheint der Text als eine zwar mystische, jedoch stark politisch motivierte Ausprägung des Kultivierungsprogramms sanfter Melancholie. Macpherson verzichtete im Ossian bewusst auf die religiösen Funktionen der sanften Melancholie, jedoch war der religiöse Hintergrund des Kultivierungsprogramms dem Publikum sehr präsent, wie die deutsche Rezeption beweist: Ossian wurde von Seiten seiner Anhänger ein quasi-sakraler Status zugesprochen. Zudem machte die ästhetische Transformation der sanften Melancholie im Ossian diese offenbar anschlussfähig für nationale, moraldidaktische oder poetologische Diskurse in anderen Kulturkreisen; so gab es etwa Versuche, das schottische Vorbild für die Generierung eines deutschen Nationalepos zu verwenden. Die deutschsprachige Rezeption legt nahe, dass die Formel „joy of grief“ zu einem Topos wurde, der die Tradition bzw. Transformationsgeschichte der sanften Melancholie in aller Kürze zitieren und im kulturellen Gedächtnis aufrufen konnte. Ossian und Youngs Night Thoughts stellen somit zentrale Bezugstexte bei der Durchsetzung einer Ästhetik der sanften Melancholie nach 1760 in Deutschland dar. Sie sind, wie auch das Beispiel Goethe demonstriert, verwandte und konsekutive MelancholieLektüren der Lesergenerationen nach 1760.173
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Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: Ders.: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hg. v. Dieter Borchmeyer. Bd. 14. Hg. v. Klaus Detlef Müller. 3. Teil. Buch 13. Frankfurt 1986, S. 629–635.
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Das vierte und letzte Kapitel behandelt die Auseinandersetzungen zweier deutscher Romane mit den Potentialen sanfter Melancholie, Goethes Werther (1774) und Moritz’ Anton Reiser (1785–1790). An beiden Texten erweist sich sowohl die Progressivität als auch die Problematik einer Ästhetisierung von Melancholie. Zum einen wird die Autonomie der Empfindungen durch das Phänomen der gesellschaftlich anerkannten Melancholie bestärkt; das fühlende Individuum tritt aus der Gruppe hervor. Zum anderen veranschaulichen beide Romane, wie die Idee einer Perfektionierung durch Empfindungssteigerung an ihre Grenzen gerät. Werther radikalisiert das empfindsame Kultivierungsprogramm und destruiert dabei seine quasi-religiöse Sprache. Er emanzipiert sich von den gesellschaftlichen (Maß-)Regelungen der empfindsamen Verhaltensideale, erleidet aber (dennoch) Schiffbruch. Die gesellschaftlich anerkannten Perfektionierungsprozesse sanfter Melancholie kippen durch Werthers oder Reisers Ausbrüche aus deren Regelwerken und erscheinen bedrohlich für die Gesellschaft. Der Wunsch nach Natürlichkeit und Unkonventionalität, der im Sturm und Drang etwa bei der Lektüre Ossians aufkam, war schon deshalb nicht unproblematisch, weil er die zuvor gezielt rationierte ‚Droge‘ Emotion freigab. Im Anton Reiser begleitet der Erzähler eine Figur, die ihre persönlichen Defizite und ihre Armut durch eine Strategie kompensiert, welche sie aus dem religiösen Kultivierungsprogramm der Melancholie entwickelt hat. Reiser betreibt schon als Kind mangels positiver Erfahrungen in seinem Umfeld eine gezielte Steigerung seiner Selbst-Empfindung. Getrieben von religiösen Ängsten, durch die Gesellschaft erniedrigt und von eigenen Minderwertigkeitskomplexen gepeinigt, adaptiert er eine Verhaltensstrategie, die ihm sein Elternhaus nahegelegt hat: das gottgefällige Leiden zu genießen. Allerdings ist es nicht die Religion selbst, die den Heranwachsenden fasziniert, vielmehr wird er von deren Emotionalisierungsstrategien und Inszenierungen in Ritualen angezogen. Auf der Suche nach Orientierung und Selbstbestätigung entnimmt Reiser aus diesem Fundus Versatzstücke, ist aber deshalb nicht automatisch Herr seiner Strategien, sondern unterliegt immer wieder den alten (Selbst-)Peinigungen. Moritz’ Erzählung eines negativen Bildungsgangs lässt den Leser miterleben, wie der Protagonist aus den ihn bewegenden Emotionen – im Ergebnis erfolglos – zu lernen versucht: Der bewusste Umgang mit Emotionalisierungstechniken wird bereits gefordert, kann aber noch nicht ganz eingelöst werden. In Reisers Lektüren einiger Melancholie-Texte bündelt der Autor die Entwicklung vom religiösen Melancholie-Begriff zum ästhetischen Erlebnis und literarischen Schlagwort. Wie kein Text zuvor entlarvt der Roman die religiöse Emotionalisierungsstrategie als einen Gefühlsmechanismus von Erniedrigung und Beseeligung. In einem allegorischen ‚Nachtstück‘ rekapituliert der Text schließlich die Herkunft der religiösen Melancholie aus der Todesbetrachtung und -verfangenheit, von der sich der Protagonist, um selbstbestimmt über seine Empfindungen und Wünsche urteilen zu können, befreien will, letztlich aber in sie verstrickt bleibt. 32
1 Religiöse Melancholie in der englischsprachigen Todesmditation 1.1 Die Entwicklung eines emotiven Kultivierungsprogramms in England zwischen 1720 und 1750 In Saturn und Melancholie, einer umfangreichen Studie zur Melancholie von der Antike bis zur Renaissance, heißt es, im England des 18. Jahrhunderts habe nach dem Vorbild Miltons ein Prozess der Differenzierung von Melancholie in Lyrik mit großer Geschwindigkeit und Folgerichtigkeit eingesetzt: „[E]s läßt sich Schritt für Schritt verfolgen, wie sich in dieser Literaturgattung neue Feinheiten und Schattierungen der melancholischen Empfindung sowohl qualitativ als auch gegenständlich herausbilden.“1 Die „weiße Melancholie“ setze sich gegen ihre schwarze Schwester durch und trete in verschiedenen Ausprägungen auf, die sich von der „philosophischen Resignation“ über die „elegische Wehmut“ und „theatralische Leidenschaft“ bis zum empfindsamen Tränenmeer erstreckten.2 Eine religiöse Freude über den Tod war in der Literatur nun schon weit vor dem 18. Jahrhundert verbreitet. Die sanfte Melancholie wurde zum spezifischen Ausdruck dieser Freude. Mit Beginn des 18. Jahrhunderts entwickelte sie sich zu einem didaktischen Instrument einer religiös-empfindsamen Kultivierungsstrategie, die die moralische Perfektionierung des Menschen vor Augen hatte. In der englischen Lyrik zwischen 1720 und 1750 wird die sanfte Melancholie als eine gemischte Empfindung angesprochen, die den Affekthaushalt des Menschen organisieren und ihn somit auf religiöse Erhabenheitserlebnisse vorbereiten soll. Im Vergleich zur bereits traditionsreichen Vergangenheit der Melancholie ist in dieser Phase der englischen Literatur bemerkenswert, dass mit Hilfe der gemäßigten Melancholie die gefühlvolle, nicht widerspruchsfreie Innenperspektive des Individuums ins Zentrum religiös-literarischer Erfahrungen rückte. Die sanfte Melancholie wurde zu einem Synonym für religiös empfundene Persönlichkeit. Veränderungen im theologischen sowie ästhetischen Normensystem der überwiegend kontemplativen Lehr-Dichtung im späteren Großbritannien (und Deutschland) führten zu einer Zurückdrängung von dogmatischen Inhalten wie Sünde- oder Buß-Thematiken. Die deistische Religionskritik, unter den Einflüssen
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Raymond Klibansky, Fritz Saxl u. Erwin Panofsky: Melancholie als gesteigerte Selbsterfahrung. In: Dies.: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst. Frankfurt am Main 1990, S. 344f. Vgl. ebd., S. 345.
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von Empirismus und Rationalismus, zwang die religiöse Erbauung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zur Argumentation mit sinnlichen Erkenntniskräften.3 Die religiös-politischen Kompromisse, mit denen sich der Protestantismus zu Anfang des Jahrhunderts in England auseinandersetzte,4 führten u.a. nach Fairchild zur Betonung von religiösen Gefühlen in der Dichtung.5 Das Evozieren sanfter Melancholie ersetzte schrittweise dogmatische Formulierungen. Dieser normative und formale Wandel, der in der Literatur zu beobachten ist, ging mit einer Privatisierung und einer Emotionalisierung des englischen Protestantismus des 18. Jahrhunderts einher. Aus theologischer Sicht bedeutete das literarische Kultivierungsprogramm eine Reaktion auf reformatorische Strömungen innerhalb und außerhalb der anglikanischen Kirche. Während zu Beginn des Jahrhunderts die Befürworter affektiver Gotteserkenntnis einer streng rationalistischen Theologie entgegentraten, beeinflussten ab 1740 nonkonformistische Bewegungen wie der Methodismus die Bildung einer stärker introspektiven, protestantischen Bekenntnisdichtung.6 Schrittweise wurden Konzepte wie Tod oder Melancholie ästhetisch aufgewertet und die didaktische Formulierung von Lehrsätzen durch emotional gesteuerte Erkenntnisprozesse ersetzt. Unter den Transformationsprozessen der Verinnerlichung und Ästhetisierung wurde die sanfte Melancholie in Literatur zu einem Instrument der emotionalen Sensibilisierung und damit moralischen Perfektionierung des Menschen. Fairchild,7 der sich dem Einzug sentimentaler Charakteristika in der Poesie zwischen 1700 und 1740 widmete, setzte den Beginn der sentimentalen Dichtung in religiöser Literatur um 1720 an. So nahm die kontemplative Dichtung eine Entwicklung von melancholischen Lehrgedichten zur wehmütigen Idyllen- und Erlebnisdichtung.8 Auf die eher morbiden Lehrstücke von Thomas Parnell oder Robert Blair folgte ab 1750 eine Transformation der sanften Melancholie zur ästhetischen Selbstbeseligung in der Idylle.
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Vgl. Wilhelm Große: Aufklärung und Empfindsamkeit. In: Walter Hinderer (Hg.): Geschichte der deutschen Lyrik. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Würzburg 2001, S. 139–176, hier S. 151. Vgl. Hoxie Neale Fairchild: Religious Trends in English Poetry. Bd. 1: 1700−1740. Protestantism and the Cult of Sentiment. New York 1949, S. 487: „We have seen Low-Church Anglicanism and Nonconformity breaking down into latitudinarianism, and latitudinarianism breaking down into deistic sentimentalism. What we have to interpret, then, is not the swing of a pendulum but of the course of a stream.“ Vgl. ebd., S. 204. Der katholische Einfluss jansenistischer Literatur von Pierre Nicole und Jean Pascal zeigt sich bei Autoren wie Elizabeth Singer-Rowe und Edward Young. Besonders Pascals introspektive Pensées wurden durch Übersetzungen zu Anfang des 18. Jahrhunderts in Oxford verbreitet und kontrovers rezipiert. Vgl. Fairchild: Religious Trends (wie Anm. 4). Vgl. Gerhard Haefner: Formen der Nacht- und Grabesdichtung im England des 18. Jahrhunderts. In: Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft 3 (1972), S. 112–132, hier S. 132.
Dieses Kapitel ist auf die Entwicklung einer religiösen Kultivierung mittels sanfter Melancholie in der kontemplativen Lehrdichtung zwischen 1720 und 1750 beschränkt. Dazu werde ich zunächst auf die literarischen Traditionen eingehen, die die religiöse kontemplative Literatur bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts geprägt haben. Aus ihrem Zusammenspiel erklärt sich das Melancholie-Verständnis der Autoren, die die sanfte Melancholie zu ihrer Inspirationskraft ernannten. Auch die theologischen Faktoren, die zu einem literarischen Umgang mit religiöser Melancholie geführt haben, sollen nicht unbeachtet bleiben. In deren Zentrum steht sowohl die Entwicklung eines neuen Emotionsbegriffs für religiöse Offenbarung als auch die Veränderung des Todesbildes im 18. Jahrhundert. Danach wird die Funktion der sanften Melancholie im religiösen Kultivierungsprogramm diskutiert, das bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts ebenfalls eine normative Umgestaltung erfuhr. Da sich dieses Programm nicht nur häufig an Frauen wandte, sondern auch literarisch von ihnen forciert wurde, werde ich anhand zweier erfolgreicher Autorinnen, Elizabeth Singer-Rowe und Elizabeth Carter, deren Verständnis von sanfter Melancholie im Dienst eines religiösen Kultivierungsprogramms analysieren. Als eigentliche Hochphase der produktiven und kritischen Auseinandersetzung mit kontemplativer Melancholie in der englischen Lehrdichtung sind die Jahre zwischen 1742 und 1747 anzusehen. In diesem Zeitraum erschienene Werke möchte ich zu einem gesonderten Vergleich heranziehen und anhand dieser auf die Imaginationstechniken sowie Ziele der kontemplativen Literatur eingehen. Abschließend werden die ästhetischen und normativen Transformationen des Melancholie-Verständnisses in der kontemplativen Lehrdichtung anhand eines Vergleiches mit Thomas Grays Elegy Written in a Country-Churchyard (1751) aufgezeigt, da sich an seinem Beispiel Mitte des 18. Jahrhunderts sehr gut die ästhetische Entwicklung sentimentaler Melancholie in Lyrik abzeichnet.
1.1.1 Der Kontext der kontemplativen Lehrdichtung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Die kontemplative englische Lehrdichtung zwischen 1720 und 1760 zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass sie die melancholisch gefärbte Wahrnehmung von Natur und Kunst in gefühlsbetonter und reflexiver Weise schilderte, um daran religiöse Assoziationen zu knüpfen. Literarische Figuren sinnieren z.B. häufig bei Nacht über Anblicke und Visionen, die in Zusammenhang mit mystischen Gotteserfahrungen stehen sollen. Diese Eigenschaft machten die häufig als PreRomantics bezeichneten Autoren zur beliebten Lektüre und Vergleichsgröße für die Dichter der Romantik. Wie in einer Studie von Herbert Schöffler nachgewiesen ist, wurde ein großer Teil der englischen Friedhofsdichtung, die wiederum einen
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nicht unerheblichen Teil kontemplativer Lyrik darstellt, bis 1770 von Theologen geschrieben.9 Zahlreiche Impulse dieser Lyrik liegen thematisch und technisch in der religiösen Todesmeditation. Die Betonung einer emotionalen Betrachtung gab nun der bisher stark rituell geprägten Todesmeditation die Möglichkeit zur Individualisierung und Entwicklung von persönlichen Wahrnehmungsebenen. Eine paradigmatische Wende in der Bewertung von Melancholie war schon im 15. Jahrhundert mit Marsilio Ficino eingetreten, der gemäß Pseudo-Aristoteles die Melancholie als Temperament großer Denker gedeutet hatte. Seine Wirkung hatte dieses Bild vom genialen Melancholiker vor allem im England des 16. und 17. Jahrhunderts.10 Die Melancholie leite, so Ficino, zur Betrachtung höherer und geheimer Dinge (im Zeichen des Saturns) an.11 Viele der religiösen Autoren verstanden sich als Nachfolger in der Dichtungstradition des 17. Jahrhunderts. Vorbilder waren ihnen John Milton, Edmund Spenser und John Norris. Vor allem Milton stiftete der kontemplativen Melancholie mit seiner frühen Dichtung Il Penseroso (1645) einen klassischen Referenztext, der die ästhetische wie religiöse Facette der einsamen Nachdenklichkeit in Worte fasst. Miltons Text zeigt die Melancholie als eine spirituelle, positive Kraft und folgt Ficino, indem er sie als eine Möglichkeit, die Empfindungen zu steigern, einsetzt. Gerade der bittersüße Widerspruch in der gemäßigten Melancholie aktiviere das Ich-Gefühl, heißt es über Miltons Melancholie-Begriff in Saturn und Melancholie.12 Nicht zuletzt durch seine Adaption biblischer Stoffe wurde Miltons Lyrik den Autoren des 18. Jahrhunderts zum Beispiel erhabener, religiöser Dichtung. Einige der neoklassizistisch geprägten Autoren hingegen verweisen in ihren Oden auf die elegische Odendichtung nach Horaz oder die zurückgezogene Lebensweise des römischen Dichters (vgl. z.B. Elizabeth Carter). Die Auswahl der antiken Versmaße in Oden und Elegien zeigt den Willen zur ausgeprägten Formgestaltung und hohen Stillage, die den erhabenen Gedanken angemessen sein sollte. Während sich vor allem die elegische Lyrik der sanften Melancholie annahm, spielte die Erbauungsliteratur in Prosa für diese Entwicklung eine untergeordnete und allmählich schwindende Rolle. Eine wirkungsästhetische Diskussion über das Erhabene in der Lyrik durch John Dennis unterstützte die Entwicklung der sanften Melancholie als einer gemischten Empfindung zur Quelle religiöser Erkenntnis. Dennis (der sich auf Pseudo-Longin stützte) sprach sich 1704 in The Grounds of Criticism on Poetry
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Vgl. Herbert Schöffler: Protestantismus und Literatur. Neue Wege zur englischen Literatur des achtzehnten Jahrhunderts. Leipzig 1922. Vgl. Raymond Klibansky, Fritz Saxl u. Erwin Panofsky: Marsilio Ficino. In: Dies.: Saturn und Melancholie (wie Aum.1), S. 367–394, hier S. 368. Vgl. ebd., 374. Ebd., S. 337.
für die emotionale Bewegung der Seele aus, die durch Lyrik herbeigeführt werden solle und eine erhabene Vorstellung von der göttlichen Schöpfung des Menschen auslöse. Der Widerstreit der faculties Verstand und Empfindung werde in dieser Vorstellung aufgelöst und eine harmonische Gestimmtheit bereite so auf göttliche Offenbarung vor. Die sanfte Melancholie als bevorzugte Emotion dieser poetischen Seelenerfahrung wurde in der religiösen Lehrdichtung zur anerkannten Größe. Auch Robert Lowth, der in Oxford ab 1741 eine berühmt gewordene Vorlesung über die heilige Poesie der Hebräer hielt, schrieb religiöser Lyrik die Fähigkeit zu, erhabene und damit gemischte Empfindungen hervorzurufen, die wiederum Gotteserkenntnis auslösten. Sowohl Dennis als auch Lowth empfahlen in ihren Schriften, was die kontemplative Lehrdichtung bis zur Mitte des Jahrhunderts praktisch versuchte: die religiöse Perfektionierung des Menschen mit Hilfe einer gemischten Empfindung. Formal finden sich die Imaginationsmuster der anglikanischen Meditation in der kontemplativ-melancholischen Literatur. Die überkonfessionelle Technik der Meditation fand schon während der Frühen Neuzeit eine erhebliche Verbreitung in Großbritannien und Deutschland. Während in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts noch streng systematische Meditationsrichtlinien nach Ignatius von Loyola in Großbritannien üblich waren,13 begann man in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts assoziative, mystisch-visionäre Meditationstechniken zu favorisieren.14 Vor allem die Meditationsanleitung durch Bischoph Joseph Hall hat große Zustimmung gefunden und kann als eine wichtige theoretische Grundlage der Todesmeditation in englischsprachiger Lyrik betrachtet werden.15 Noch 1784 zeigt eine Ausgabe der Passionspredigt Halls, der Edward Youngs Night Thoughts in Auszügen beigefügt wurden, dass zeitgenössische Leser einen festen Zusammenhang zwischen Halls affektorientierter Predigt und Youngs späterer lyrischer Todesmeditationen sahen.16 Evert Jan van Leeuwens Aufsatz über die Nähe der graveyard poetry zu Leichenpredigten des 18. Jahrhunderts erklärt ferner, dass der Leser des 18. Jahrhunderts sich durch die kontemplative Literatur
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Vgl. z.B. Udo Sträter: Wie bringen wir den Kopff in das Hertz? Meditation in der Lutherischen Kirche des 17. Jahrhunderts. In: Gerhard Kurz (Hg.): Meditation und Erinnerung in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2000, S. 11–36; ders.: Sonthom, Bayly, Dyke und Hall: Studien zur Rezeption der englischen Erbauungsliteratur in Deutschland im 17. Jahrhundert. Tübingen 1987. Vgl. Philipp Wolf: Meditative Lyrik und Erinnerung im England des 17. Jahrhunderts. In: Kurz: Meditation und Erinnerung (wie Anm. 13), S. 201–218, hier S. 203f. Vgl. Joseph Hall: The Art of Divine Meditation. In: Ders.: The Works of the Right Reverend Joseph Hall. D.D. Bishop of Exeter and Afterwards of Norwich. New Edition. 10 Bde. Revised and Corrected, with Some Additions. By Philipp Wynter. D.D. President of St. John’s College, Oxford. Bd. 6. Oxford 1863, S. 46–79. Vgl. Joseph Hall: The Passion Sermon, Preached at Paul’s Crosse, on Good Friday, April 4, 1609. Birmingham 1784. Darin: Extracts from Dr. Young’s Night Thoughts, S. 60–63.
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der meist anglikanischen Pastoren an Todesmeditationen erinnert sah.17 Im Gegensatz zu Leeuwen möchte ich betonen, dass die individuellere Form der häuslichen Meditation den hier untersuchten Werken näher stand als im institutionellen Rahmen gehaltene Predigten. Joseph Halls Art of Divine Meditation (1606) richtet sich zur Verbesserung des Menschen an alle christlichen Leser. Darin unterstreicht er, dass die religiöse Lehre besser durch Affekte als durch Verstand vermittelt werden könne.18 Er betont zwar, dass die Meditation mit einem Verstandesteil beginne, in einem zweiten Teil seiner Anleitung greift er aber die Wirkung der Affekte im Besonderen auf.19 Ohne die Wirkung der Emotionen sei der Anfang der meditativen Übung sogar nutzlos, denn: „A man is a man by his understanding part, but he is a Christian by his will and affections.“20 Glaube wird als ein Zusammenspiel von Bejahung und Leidenschaften verstanden. Habe man die affektive Wirkung der Meditation auf die Seele genossen, müsse eine Klage angeschlossen werden. Auch hier gilt wie im späteren Vergleich zu Young oder Klopstock das Muster der tiefen Bestürzung und der ihr folgenden Beseligung: „[F]or the more we are cast down in our conceit, the higher shall God lift us up at the end of this exercise in spiritual rejoicing.“21 Die kontemplative Lehrdichtung des 18. Jahrhunderts hatte sich des bei Hall noch vorhandenen, verstandesgeleiteten Vorlaufs in weiten Teilen entledigt und nun dominierte die affektive, zweite Phase in Lyrik und Prosa. Hall mag jedoch auch in weiteren Punkten ein Vorbild gewesen sein: So empfiehlt er keine feste Meditationsform, sondern überlässt es dem Individuum, die am besten geeignete Vorgehensweise zu finden. Diese relative Regellosigkeit gilt ebenfalls für die Gelegenheitsmeditationen der vorgestellten Werke. Oft treffen die meditierenden Figuren scheinbar zufällig auf Objekte, die sich zur Meditation eignen. Die Freiheit, in der Natur oder Gesellschaft gesehene Objekte zur meditativen Anregung zu nutzen, kommentiert Hall als eine von Gott vorherbestimmte Auswahl: „Man is placed in this stage of the world, to view the several natures and actions of the creatures; to view them, not idly, without his use, as they do him. […] He only can make a benefit of what he sees; which if he does not, it is all one as if he were blind or brute.“22 Halls Erbauung mittels eines aktiven, emotiven Sehens gleicht den imaginativen Techniken der späteren Lyrik.
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Vgl. Evert Jan van Leeuwen: Funeral Sermons and Graveyard Poetry: The Ecstasy of Death and Bodily Resurrection. In: Journal for Eighteenth-Century Studies 32 (2009), S. 353–371. Vgl. Hall: The Art of Divine Meditation (wie Anm. 15), S. 48: „One said, and I believe him, that God’s school is more of affection than understanding: both lessons needful, very profitable.“ Vgl. ebd., Chapter XXVIII: Of Our Second Part of Meditation: which is the Affections: − wherein is required, 1. A Taste and Relish of what we have thought upon, S. 72–79. Ebd., S. 72. Ebd., S. 73. Ebd., S. 49.
Unter den Voraussetzungen zur gelungenen Meditation nennt er die Bereitschaft zur Buße, ein Begriff, der nur noch bei den konservativen Autoren Mitte des 18. Jahrhunderts fällt. Die jedoch idealen Rahmenbedingungen der Meditation, die Hall nicht obligatorisch macht, treffen in einigen bemerkenswerten Punkten mit der hier untersuchten Literatur überein. So ist die Einsamkeit des Ortes von hoher Bedeutung.23 Viele der literarischen Figuren suchen diese gezielt auf, um ihre affektive (Selbst-)Wahrnehmung zu festigen.24 Zudem spricht sich Hall für die Abendstunden aus, da sie die ungestörtesten seien.25 Auch in diesem Punkt ist sein Ratschlag mit den nächtlichen Friedhofsbesuchen und Monologen vergleichbar. Weiterhin informiert er den Leser darüber, dass er am besten im Gehen seinen Körper den kommenden Emotionen überlassen könne.26 Nun liegt der Gedanke nahe, dass im Vergleich dazu die nächtlichen Friedhofsgänge in der Literatur des 18. Jahrhunderts dem Muster solcher religiösen Geh-Meditationen folgen. Die literarischen Figuren in der kontemplativen Literatur verharren selten an einem Ort, sondern sie gehen spazieren oder lassen ihren Blick über die Landschaft schweifen.27 Auch Youngs monologische Klagen kommen Halls frühem Beispiel von anglikanischer Meditation nahe. So führt Hall im Anschluss an seine Meditationshinweise ein religiöses Selbstgespräch nach den vorgesehenen Schritten aus, das in seiner interrogativen, klagenden und zugleich preisenden Form, aber auch dem Thema nach an Youngs Night Thoughts erinnert. Halls Beispiel, A Meditation of Death,28 enthält keine wörtlichen Hinweise auf eine Lust Melancholie, jedoch findet sich hier ebenfalls die Idee des guten Todes, an dessen Bild man sich durch eine solche Meditation gewöhnen könne.29
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Ebd., S. 55. Vgl. Fairchild: Religious Trends in English Poetry (wie Anm. 4), S. 218: „The practices of ‚retreat‘ for the sake of religious meditation had not yet become a Catholic monopoly. […] Retirement was still a living tradition in Protestant Christianity and one that exerted a strong influence upon sensitive Puritans who recoiled from the worldliness or the contentiousness of their environment.“ Vgl. Hall: The Art of Divine Meditation (wie Anm. 15), S. 56: „I have ever found Isaac’s time fittest, who went out in the evening to meditate. No precept, no practice of others, can prescribe to us in this circumstance.“ Vgl. ebd., S. 57: „But of all others, methinketh, Isaac’s choice is the best, who meditated walking. […] In all which the body, as it is the instrument and vassal of the soul, so will easily follow the affections thereof; and in truth, then is our devotion most kindly, when the body is thus commanded his service by the spirit, and not suffered to go before it, and by his forwardness to provoke his master to emulation.“ Diese Tradition der kontemplativen Spaziergänge findet sich auch in Moritz’ Anton Reiser oder Goethes Die Leiden des jungen Werthers. Vgl. Hall: A Meditation of Death, according to the former Rules. In: Ders.: The Art of Divine Meditation (wie Anm. 15), S. 80–88. Vgl. ebd., S. 86 „O death, how sweet is that rest wherewith thou refreshest the weary pilgrims of this vale of mortality! How pleasant is thy face to those eyes that have acquainted themselves with the sight of it, which to strangers is grim and ghastly!“
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In der didaktischen Tradition der erbaulichen Literatur des 18. Jahrhunderts sollen meditative Achtsamkeitsübungen nicht nur zu einem neuen Selbst- und Lebensbewusstsein, sondern auch zu einem neuen Todesbewusstsein führen. Während das Lesen der Texte bzw. das stille Sitzen und Betrachten der Kirche eine passive Form der Meditation sein kann, sind die beschriebenen Spaziergänge auf dem Friedhof mit Meditationsreisen vergleichbar, die zwar individueller gestaltet sind, aber nach einem bewussten Schema der graduellen Affizierbarkeit von Menschen angelegt werden. Ein großer normativer Unterschied zu Hall findet sich allerdings darin, dass die im Vordergrund stehenden Themen in den Texten des 18. Jahrhunderts weniger das dogmatische Erinnern eines christlichen Heilsgeschehens denn eine emotional kultivierte, ethisch-religiös ausgerichtete Lebens- und Sterbehaltung befördern wollen. Das prominenteste Thema in der religiösen Literatur Mitte des 18. Jahrhunderts, das im Zusammenhang mit einer sanften Melancholie erscheint, ist immer wieder der Tod. In der kontemplativen Literatur nach 1720 herrscht ein Todesbild vor, das sich von der vorausgegangenen barocken vanitas-Dichtung deutlich unterscheidet.30 Philippe Ariès hat mit seiner Forschung deutlich gemacht, dass der Tod bis zum 17. Jahrhundert in Distanz zu den Lebenden gehalten wurde, dann aber Leben und Tod einander zu durchdringen begannen, bis sich dieser dem Leben eingeprägt habe.31 Zum Ausdruck kommt diese Grenzüberschreitung im 17. und 18. Jahrhundert besonders plastisch durch Miniatursärge (Betrachtungssärglein), die man als reich verzierten Halsschmuck oder in der Westentasche bei sich tragen konnte.32 Ebenso zeigen Schmuckstücke,33 die mit den Haaren eines Toten gestaltet wurden, und Zimmergrabmale,34 die man in Wohnräumen aufstellte, eine neu entstandene Nähe zum Tod. Nicht nur, dass der hier ästhetisierte Tod in vielen Fällen kein schrecklicher Knochenmann war, er wurde auch mehr und mehr zu einer bewussten Handlung, die am Ende des Lebens zu vollziehen war. Dem Sterben wurde die Passivität, vor allem durch die christliche Vorstellung vom gottgefälligen Sterben, genommen
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Vgl. z.B. Ulrike Wunderlich: Sarg und Hochzeitsbett so nahe verwandt. Todesbilder in Romanen der Aufklärung. St. Ingbert 1998; Philippe Ariès: Die Nekrophilie des 18. Jahrhunderts. In: Ders.: Geschichte des Todes. München 1985, S. 477–485. Vgl. Philippe Ariès: Der faszinierende Leichnam. In: Ders.: Bilder zur Geschichte des Todes. München 1984, S. 207–223, hier S. 223. Vgl. z.B. Vergänglichkeit für die Westentasche. Miniatursärge und Betrachtungssärglein. Ausstellungskatalog. Hg. v. Zentralinstitut und Museum für Sepulkralkultur. Kassel 2005. Vgl. Zum Sterben schön. Alter, Totentanz und Sterbekunst von 1500 bis heute. Bd. 2: Ausstellungskatalog. Hg. v. Andrea von Hülsen-Esch und Hildtrud Westermann-Angerhausen. Köln 2006, S. 52–56: Totengedenkringe aus England und Deutschland waren im 16. und 18. Jh. verbreitet. Seit Mitte des 17. Jahrhunderts wurden menschliche Haare in den Trauerschmuck eingearbeitet. Vgl. dazu Babette Stadie-Lindner: Zimmerkenotaphe. Ein Beitrag zur Sepulkralkultur des 18., 19. und 20. Jahrhunderts. Berlin 1991.
und in fiktiver Form zumindest ein imaginiertes Fühlen des Sterbens ermöglicht. Einen Einblick in diesen Umstand gibt ein Anhang zu Elizabeth Singer-Rowes Erstausgabe von Friendship in Death aus dem Jahr 1728. Dort veröffentlicht sie als Übersetzerin eine Abhandlung mit dem Titel Thoughts on Death,35 die sie den Jansenisten von Port Royal zuschreibt. Tatsächlich handelt es sich bei den Gedanken über den Tod um einen Auszug aus Pierre Nicoles (1625−1695) Essais des morales.36 Da Nicole Jansenist war, verstand er den Menschen als vollkommen abhängig vom göttlichen Gnadenwillen. Ein menschlicher Beitrag zur Erlösung war daher nicht möglich. Der übersetzte Textauszug ist für die Entwicklung einer sanften Melancholie in Großbritannien aussagereich, weil er ein religiöses Todesbild zeigt, das die Notwendigkeit zur Selbstaffektion in der Todesmeditation bestärkt und den Tod als Handlung versteht: „Death indeed is a Privation of Life, and Human Action, but it is a Privation which is felt, and produces surprizing Effects in the Soul.“37 Der Tod entreiße uns alle Objekte der Sinne und Leidenschaften,38 um den Menschen in eine schmerzhafte Leere zu versetzen, die Platz für göttliche Offenbarungen mache. Zudem belegt der Text als konkretes Beispiel, dass englischsprachige Autoren auf der Suche nach Vorbildern für ihre Meditationstechniken auch Anleihen bei katholischen Traditionen gemacht haben. Bemerkenswert ist, dass die Übersetzung bis 1760 weitere 13-mal als Anhang von Singer-Rowes beliebtem Werk Friendship in Death erschien.39 Nicoles Text ist eine quasi-wissenschaftliche Studie des Todes, die beschreibt, was der Mensch während des Sterbens fühlt, wie der Tod das Fühlen selbst verändert. In ihm werden religiöse Gedanken über die menschliche Wahrnehmung und ihre Veränderung durch den Tod entwickelt, die physiologisch und erkenntnistheoretisch fundiert erscheinen wollen. Dem Traktat kann ein Begriff des Todes entnommen werden, der sich bei Singer-Rowe und den ihr nachfolgenden Autoren niederschlägt: Er erscheint als eine menschliche Handlung bzw. emotives Selbsterleben und nicht als Endpunkt. Er sei ein Ereignis, das man fühlen könne und das überraschende Effekte in der Seele hervorbringe. Das Sterben wird auf diese Weise seiner Passivität enthoben. Jene Idee kommt dem kulturellen Phänomen sanfter, ästhetisierter Melancholie zugute, weil es somit eine
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Vgl. Pierre Nicole: Thoughts on Death. Translated from the Moral Essays of the Messieurs du Port Royal. In: Elizabeth Singer-Rowe: Friendship in Death; Letters from the Dead to the Living. London 1728, S. 115–124. Vgl. Pierre Nicole: Essais de morale. Contenus en divers traitez sur plusieurs devoir importants. 4 Bde. Paris 1678−1679. Nicole: Thoughts on Death (wie Anm. 35), S. 115–124, hier S. 116. Vgl. ebd., S. 122. Friendship in Death erschien bis 1760 weitere 16-mal in London, Glasgow, Dublin und Edinburgh bei acht verschiedenen Verlegern.
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Verlängerung des Todes in das Leben hinein geben kann, indem man den durchaus fühlbaren Tod im Voraus mit religiöser Absicht imaginiert.
1.1.2 Das religiöse Kultivierungsprogramm Die in diesem Kapitel besprochene, kontemplative Literatur zeichnet sich dadurch aus, dass sie ein didaktisch organisiertes, meditatives Kultivierungsprogramm der Sinne und des Verstandes aufweist, das vorgibt, aus persönlichen Gewohnheiten entstanden zu sein bzw. von Individuum zu Individuum gereicht zu werden. Damit gehen Illusionen von Laienhaftigkeit und Organisationslosigkeit einher. Obwohl die affektiven Fähigkeiten des Menschen besonders stark angesprochen werden, handelt es sich dennoch um das Konzept einer umfassenden Perfektionierung, das ebenfalls die kognitiven Fähigkeiten fördere. Vor allem in der Lyrik war dieses Kultivierungsprogramm mit religiösen Vorzeichen weit verbreitet. Die erbauliche Prosa spielte eine eher untergeordnete Rolle.40 Da es sich um ein Lehr-Programm handelt, weist die Literatur immer wieder Appelle zur Verbreitung von melancholisch machenden Meditationstechniken auf. Angesprochen wurden überwiegend junge Männer und Frauen, welche die Dichtung als Privatpersonen zum häuslichen Gebrauch nutzen sollten. Damit wurde die melancholische Meditation als Mittel eines emotiven Kultivierungsprogramms bewusst außerhalb religiöser Institutionen und innerhalb von Privathaushalten verortet. Ihre Anleitung ist relativ frei von dogmatischen Hinweisen gehalten. Ein frühes englisches Beispiel für dieses affektiv operierende Kultivierungsprogramm findet sich in der Wochenschrift The Plain Dealer aus dem Jahr 1724. Dort wird anhand eines Exempels erläutert, wie das meditative Versinken in sanfte Melancholie stattfinden kann.41 Der Artikel selbst wurde mit seiner Anleitung zu einem Referenz-Text für das sich weiter verbreitende Phänomen der
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Ein Artikel des Plain Dealers dokumentiert mit einem Verweis auf das Gedicht Westminster Abbey (1721) von John Dart, dass die meditative Technik ihre literarische Verbreitung vor allem in der Lyrik fand (vgl. Anm. 41). Vgl. Anonym: [Ausgabe, K.B.] No. 42. Friday, August 14th. 1724. In: Aaron Hill (Hg.): The Plain Dealer: Being Select Essays on Several Subjects, Relating to Friendship, Love, and Gallantry, Marriage, Morality, Mercantile Affairs, Painting, History, Poetry and other Branches of Polite Literature. Published originally in the Year 1724. 2 Bde. Bd. 1. London 1730, S. 351–359.
kontemplativen Melancholie in religiöser Literatur.42 Er verdeutlicht eine meditative Technik, die eine kultivierende Wirkung auf den Geist haben solle. Dabei kommen die genaue Methode des Verfahrens sowie seine Voraussetzungen zur Sprache. Leider wird der Verfasser nicht genannt. Aaron Hill, einer der Herausgeber, und Edward Young waren einander bekannt, weshalb man annimmt, Young habe 1724 anonyme Artikel zum Plain Dealer beigesteuert.43 Den Publizisten Hill und den durch Patronage geförderten Schriftsteller Young vereinte, dass sie der ästhetisch-religiösen Literaturkonzeption von John Dennis folgten und sich moraltheoretisch mit ihren Zeitgenossen Isaac Watts, Samuel Richardson und Richard Blackmore verbunden sahen.44 Der anonyme Verfasser beschreibt es in seinem Artikel als seine persönliche Gewohnheit, zur erbaulichen Kontemplation in die Westminster Abbey zu gehen. Deutlich betont er die Praxis einer individuellen Meditationstechnik, die auf seine Person zugeschnitten ist. Er berichtet, dass er sich fünf oder sechs Stunden zwischen die Gräber setzte, ohne einem Gottesdienst zu folgen. Diese Technik platziert er außerhalb eines kirchlich organisierten Rahmens. In den Vordergrund tritt dabei die persönliche Gewohnheit. Die Kontemplation des Todes und im Anschluss ein Versinken in eine erhaben-melancholische Stimmung werden als Alltagsgeschehen dargestellt. Dieser Vorgang ist nicht als Mühe, sondern als ein Genuss gekennzeichnet, der dem geplagten Weltmenschen Erholung bietet: „I enjoy a cool Composure, a kind of Venerable Refreshment.“45 Somit preist der Artikel ein emotionales Erlebnis an, das positiv und wahrnehmungsverändernd sei. Selbst die Betrachtung des Todes werde zu etwas Schönem („rather pretty“), aus dem man schließlich Klarheit und Unparteilichkeit des Urteilens gewinnen könne.46 Als Voraussetzung nennt der Verfasser eine Bereitschaft zur Zurückstellung eigener Leidenschaften und Interessen. Er führt dazu aus, dass er sich in der Stille vergrabe, sich unter den Toten selbst zur Leiche mache: „Here I bury myself, in solemn Silence, and im-
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1730 erschien der Sammelband, der die Artikel des Plain Dealer in zwei Bänden, hg. v. Aaron Hill, zusammenfasste. James Hervey stellte seinen Meditations Among the Tombs (1742) daraus ein prägnantes Zitat voran, die wiederum auf Edward Youngs Night Thoughts rekurrieren. Vgl. ebd, S. 357: „Every Stone that we look upon, in this Repository of past Ages, is an Entertainment, and a Monitor. – I never leave its venerable Gloom, without finding my Mind cooler, and more compos’d than when I enter’d. – I sink deep into myself, and see my Heart without Disguise; in its good, or evil Propensities: And I gather Power from these strong Impressions to resist Pleasure, Pride, Ambition, or low Avarice.“ Vgl. Walter Thomas: Le poète Edward Young: étude sur sa vie et ses oeuvres. Paris 1901, S. 83. Thomas vermutete, dass der anonyme Artikel im Plain Dealer aus dem Jahr 1724 von Edward Young stammt. Vgl. Fairchild: Religious Trends (wie Anm. 4), S. 448. Vgl. Anonym: [Ausgabe, K.B.] No. 42. Friday, August 14th. 1724. In: Hill: The Plain Dealer (wie Anm. 41), S. 351. Vgl. ebd., S. 352.
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print my Imagination with Images, which awaken Thought and prepare me for Humility.“47 Einer Betrachtung ausgewählter Objekte geht ein Rückzug in die (zumindest geistige) Einsamkeit voraus, da es neben den Eigenschaften des Meditierenden am Meditationsort bestimmter Stimuli bedarf. Vom Verfasser werden verschiedene Objekte genannt, die geeignet seien, das Auge des Betrachters zur Kontemplation in nützlicher Weise zu reizen. Der Text macht die favorisierten Gegenstände zu den eigentlichen Katalysatoren des Prozesses. Sie sind nicht zufällig die später häufig auftretenden Topoi der sich entwickelnden graveyard poetry. Ihre Wirkung auf den Betrachter wird reinigend und ordnend genannt: „Its dusky Cloisters, majestick Isles, Quire, Organs, Royal Tombs, and reverend Variety of strong, impressive, Images, have a never-failing Power to reduce my Mind from Transport, when Hope, Prosperity, or Pleasure have betray’d it into Vanity; or to relieve it, when disorder’d by a Weight of Anguish, or Oppression.“48 Das in dieser Auswahl Gesehene kann unnötige Gedankenkreise einschränken und die Arbeit des Geistes erleichtern. Die Objekte aber stehen nicht für sich, sondern sind Stellvertreter des Todes. Ausgelöst durch ihren Anblick beginnt eine Beschäftigung des Geistes mit der Bedeutung und Qualität des Todes. Der deskriptive Artikel betont ausdrücklich, dass die derart ausgeführte Kontemplation des Todes ein erfolgreiches Instrument zur Kultivierung der Sinne und des Verstandes sei. Das Auftreten eines solch meditativen und letztlich emotiven Lehr-Programms in einer Wochenschrift zeigt die Popularität und den Gedanken der universellen Anwendbarkeit, die beide mit dem Phänomen religiöser Melancholie verbunden waren. Ausgewählte öffentliche Orte wie die Abtei, der Garten oder der Friedhof werden in ihren Lehrstücken zu Schulen „of moral reasoning“.49 Neben den Moralischen Wochenschriften rufen auch andere zur Verbreitung dieser Technik auf. In der didaktischen Lyrik finden sich Appelle an die Gesellschaft, eine selbst-affizierende Meditation zum Nutzen der Moral und (darin noch inbegriffen) des Glaubens zu kultivieren. Die Dichterin Elizabeth Carter etwa wünscht in Ode to Melancholy (1739), dass junge Menschen in einer Meditation unterrichtet werden müssten, die die Seele erhebe.50 James Hervey beschreibt die Methode in seinem Vorwort zu Meditations Among the Tombs (1746) als das
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Ebd., S. 353. Ebd., S. 351. Vgl. ebd., S. 355. Vgl. Elizabeth Carter: Ode to Melancholy. In: Dies.: Poems on Several Occasions. 2. Ausgabe. London 1766, S. 82. Dort ist die Rede von Lehre und Meditation. Die Voraussetzungen formuliert Carter damals noch deutlich konservativer als der Verfasser des obigen Wochenschriftartikels: Demut und Buße sind vonnöten. Die Trauer könne nur genossen werden, wenn sich auch Schrecken und damit Wille zur Umkehr einstellten.
Wahrnehmen von „affecting Representations“,51 das die Moral des Menschen kultivieren helfe („to cultivate the Morals“). Die Adressaten, an die sich seine Literatur richtete, waren überwiegend Frauen, wie es auch der volle Titel der Meditations ankündigt. Damit reihte er sich in das didaktische Programm einer Kultivierung der Moral speziell weiblicher Leser. Mit seinem Werk wollte Hervey das affektive Meditationsmodell zum praktischen Hausgebrauch bereitstellen und der Leserin religiöse Erbauung sowie einen religiös kultivierten Geschmack verschaffen.
1.1.3
Die Rolle des Erhabenen
Eine wesentliche Gemeinsamkeit der in diesem Kapitel vorgestellten Texte sind die Verweise der Werke auf erhabene Empfindungen. Als erhaben wurden dabei sowohl die Themen bezeichnet, die die Werke verhandeln (Tod, Auferstehung, Offenbarung, Gottesbilder) als auch die Empfindungen, die der Leser oder Autor beim Gedanken daran habe. Dass es sich bei dieser Vorstellung um die Entfaltung eines Religiös-Erhabenen in der Lyrik drehte, soll im folgenden Abschnitt erläutert werden. Über das Religiös-Erhabene in der englischen Lyrik und Literaturkritik des 18. Jahrhunderts hat David Morris bereits eine einschlägige Studie verfasst.52 Sie ist eine wesentliche Grundlage dieser Erörterungen. Stilistische Vorbilder für die Ausprägung des Religiös-Erhabenen waren neben der kritischen Rezeption von Pseudo-Longins Peri Hypsous auch Miltons Dichtung und die Bibel. Von Samuel Monk stammt die bisher bekannteste Übersicht zur Theorie des Erhabenen im 18. Jahrhundert,53 die zuletzt von Karl Axelsson kritisch hinterfragt wurde.54 Um die englische Debatte über das Erhabene besser zu verstehen, müsse man die Rezeption von Pseudo-Longins Peri Hypsous als Anstoß einer eigenständigen englischen Diskussion betrachten. Sie habe sich Axelssons Ansatz zufolge von der rein rhetorischen Tradition gelöst. Das Erhabene sei zu einem neuen Emotionsphänomen geworden, das weder allein durch Pseudo-Longins Übersetzungen noch durch eine Verbindung zu Kants Kritik ausreichend erschlossen werden könne. Die Betonung eines englischen Sonderwegs des Erhabenen im Vergleich zu Frankreich und Deutschland findet sich auch in einem Aufsatz Jeffrey Barnouws
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Vgl. James Hervey: Meditations among the Tombs. In a Letter to a Lady. London 1746, S. 17. Vgl. David Morris: The Religious Sublime. Christian Poetry and Critical Tradition in 18th Century England. Kentucky 1972. Samuel H. Monk: The Sublime. A Study of Critical Theories in XVIII-Century England. Michigan 1960. Vgl. Karl Axelsson: The Sublime. Precursors and British Eighteenth-Century Conceptions. Oxford u.a. 2007.
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über John Dennis’ Konzeption des Erhabenen. Der erste englische Theoretiker, der das Religiös-Erhabene in der Literatur bekannt gemacht habe, sei Dennis (1657−1734) zu Anfang des 18. Jahrhunderts gewesen.55 Als ein Gegner der rationalistischen Theologie und Vertreter der offenbarten Religion wurde er zum Theoretiker der hier gesammelten Beispiele kontemplativer Lyrik. In Grounds of Criticism in Poetry (1704) nahm er schon zu Beginn des Jahrhunderts an, dass Pseudo-Longin das Wesen des Erhabenen sehr unzureichend erläutert habe, sei es doch eigentlich jedem Menschen intuitiv verständlich.56 Schon damit wird offensichtlich, dass das Erhabene nicht länger durch eine komplizierte Rhetorik zu erhalten, sondern jedem Laien zugänglich sein sollte. Besonders die Religion sei die Quelle, von der aus das Erhabene zuerst hergeleitet werden könne. Eine wesentliche Gemeinsamkeit von Religion und Lyrik sei es, dass sie beide Emotionen auslösten.57 Das Erhabene „exalts the Soul and makes it conceive a greater Idea of it self; filling it with Joy, and with a certain noble Pride.“58 Aus der Wahrnehmung des Erhabenen erwachse dem Menschen Dennis zufolge eine höhere Meinung der eigenen Auffassungsgabe, die schließlich Vernunft und Emotionen miteinander in Einklang bringe: „By consequence the more it is mov’d by the Wonders of Religion the more it values if self upon its own Excellence. […] So that Reason and Passion are of the same side, and this Peace between the Faculties causes the Soul to Rejoice.“59 Dennis nahm ferner an, dass sich große Dichtung (z.B. eschatologische Werke) immer einen erhabenen Gegenstand zu eigen mache, der eine ebensolche Reaktion beim Publikum auslöse. An die Leser stellte er die Anforderung, dass sie wie der Autor mit enthusiastischer Leidenschaft die Kunst wahrnähmen. Gefühl und Verstand blieben dabei immer in einem Gleichgewicht. Dennis vermutete, dass gerade die Erfahrung des Erhabenen in der Lyrik eine Harmonie der Geisteskräfte auslösen könne.60 Die Form der Meditation erschien ihm als beste Möglichkeit, den Gefühlen diese Freiheit zu geben. Das Erhabene in der religiösen Meditation zu erfahren, führe Leidenschaften, Sehnsüchte und Vergnügen zusammen.61 Mit
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Vgl. Jeffrey Barnouw: The Morality of the Sublime: To John Dennis. In: Comparative Literature 35.1 (1983), S. 21–42. Vgl. John Dennis: The Grounds of Criticism in Poetry. London 1704, S. 77f. Vgl. ebd., S. 42: „The affinity Dennis sees between sublime poetry and the Christian religion depends on their common encouragement and enhancement of passion.“ Vgl. ebd., S. 80. Vgl. ebd., S. 82. Vgl. Barnouw: The Morality of the Sublime (wie Anm. 55), S. 22: „Dennis thinks of the sublime as continuous with the beautiful, as an experience of profound harmony between the different powers of the mind. With this conception of the positive interdependence of the sense, feelings, passions, and reason, Dennis sets himself in opposition […] to a long tradition that constitutes the intellectual heritage of Kant’s conception of the sublime experience.“ Vgl. ebd., S. 30f.: Das Erhabene sei „a positive conception that stresses the interanimation of desire, passion, and pleasure. Contemplation, for Dennis, epitomizes this interanimation.“
den Night Thoughts sei nach Dennis’ Plänen eine „imaginative devotion“62 geschaffen worden, so David Morris. In ihnen sei die religiöse Meditation ein Produkt der poetischen Vision.63 Young wurde schließlich – auch beim deutschen Publikum – als Meister der Erhabenheitsdichter Mitte des Jahrhunderts anerkannt.64 David Morris argumentiert, dass das Erhabene und nicht die sachliche Argumentation eine verändernde Wirkung auf den Weltmenschen Lorenzo in den Night Thoughts gehabt habe.65 Die bessernde Wirkung des Erhabenen entfalte sich schon am Beispiel der literarischen Figur. Im Vergleich dazu habe in Deutschland mit Klopstock eine Transformation des Religiös-Erhabenen ins Sentimentale stattgefunden.66 In Großbritannien waren nach John Dennis Robert Lowth und Edmund Burke diejenigen, die das Verständnis vom Erhabenen in der Dichtung nach 1740 maßgeblich geprägt haben. Edmund Burkes Schrift A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and the Beautiful (1757) spielt allerdings erst für den zweiten Teil der hier gezeigten Entwicklung eine größere Rolle (vgl. Kapitel 3.1.4). Lowths Lectures on the Sacred Poetry of the Hebrews wurden zuerst in lateinischer Sprache zu Beginn der 1740er in Oxford gehalten, bevor sie 1753 zum ersten Mal publiziert wurden. Robert Lowth gab in ihnen Auskunft über das Verständnis der Zeitgenossen von religiöser Lyrik in der hebräischen Kultur, ihrem Verhältnis zum Erhabenen sowie den Stilmitteln erhabener Dichtung. Hugh Blair (1718−1800), der in Edinburgh Literatur und Rhetorik unterrichtete und später Ossian kommentierte, hat Lowths Theorie von erhabener Dichtung zur Zeit der hebräischen Antike in seine Literaturkritik der vermeintlich keltischen Quellen aufgenommen. Das Ergebnis war eine Stilisierung Ossians zu einem naturverbundenen primitivism, die dessen melancholischen Kriegs- und Naturschilderungen etwa im Vergleich zu den biblischen Texten als ebenbürtig erhaben erklärten. Die Todesmeditation verschaffte dem Leser zunächst eine ästhetisierte Lust an Trauer, die, lange genug genossen, in ein Erhabenheitsempfinden der Seele münden sollte. In dieser literarischen Tradition bildete sich vor allem eine Poesie
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Vgl. Morris: The Religious Sublime (wie Anm. 52), S. 130. Vgl. ebd., S. 142. Johann Arnold Ebert äußert sich in seinem Kommentar zur deutschen Night ThoughtsÜbersetzung mehrfach zur Bedeutung des Erhabenen in Youngs Dichtung: „[Diese Stelle, K.B.] kann zu einem Beyspiele des allerstärksten Pathos, und derjenigen Art des Erhabnen dienen, von welcher Longin […] redet […] so sehen wir hier die heftigsten Symptome und Wirkungen eines wütenden Grams mit den emphatischen Ausdrücken beschrieben. […] seine Empfindlichkeit glüht […] seine Worte glühen.“ Vgl. Johann Arnold Ebert: Kommentar. In: Edward Young: Dr. Eduard Young’s Klagen, oder Nachtgedanken über Leben, Tod und Unsterblichkeit. Bd. 1. Braunschweig 1760, S. 234f. Vgl. Morris: The Religious Sublime (wie Anm. 52), S. 150. Vgl. ebd., S. 158.
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der Superlative heraus: Sie wählte nicht nur die höchste (pathetische) Stillage, sondern evoziere darüber hinaus die erhabensten Gefühle beim Rezipienten. Die Lyrik der kontemplativen Todesmeditation ließ einen Nährboden für das Erhabene entstehen, indem sie mit ihren kontrastreichen Bildern (häufig zwischen Unsterblichkeit und Tod) gemischte Empfindungen auslöste, die benötigt würden, um erhabene Gefühle herzustellen. Dass erhabene Empfindungen mit melancholischer Meditation in Verbindung gebracht wurden, belegt schon der Artikel des Plain Dealer aus dem Jahr 1724. Die Meditation in der Westminster Abbey wurde dort als „sweetly serious, and sublimely melancholy“ umschrieben.67 Melancholie und Erhabenheit waren für die Zeitgenossen demnach keine Gegensätze. Vielmehr fügte sich die Erhabenheit folgerichtig an die sanfte Melancholie an. Auch Elizabeth Carter sprach in ihrer Ode to Melancholy von der Erhabenheit der Seele, die eintrete, wenn die Religion den Menschen über seine Begierden erhebe.68 Die melancholische Empfindung besitze Erhabenheit auslösende Kräfte, die die Angst des Todes vernichteten und den nachdenklichen Geist verwöhnten: „Thou sweetly-sad ideal Guest, / In all thy soothing Charms confest, / Indulge my pensive Mind.“69 James Hervey formulierte in seinen Meditations, dass der Mensch sich zwar keine quantitative Vorstellung von der Größe Gottes machen könne, aber eben in jener Unzulänglichkeit die Möglichkeit liege, sich durch erhabene Gefühle während des Versuchs der Gotteserkenntnis einen qualitativen Eindruck zu verschaffen. An die Stelle des quantitativen Begreifens trat ein qualitatives, ein emotionales Erstaunen über Gott, welches sich in einem analogen Gefühl von persönlicher Erhabenheit ausdrückte.70 Aus dem ehemals rhetorischen Begriff war ein Gefühlsphänomen geworden, das als emotives Lernen während der Lektüre von Lyrik an die Stelle argumentativer Erbauung treten sollte. Ähnlich dem modernen Wissen über Spiegelneuronen versuchten die Autoren des 18. Jahrhunderts ihren Lesern die wünschenswerten Emotionen „zu spiegeln“, um in ihnen beispielsweise Gefühle der Erhabenheit oder Endlichkeit auszulösen.
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Vgl. Anonym: [Ausgabe, K.B.] No. 42. Friday, August 14th. 1724. In: Hill: The Plain Dealer (wie Anm. 41), S. 357. Vgl. Carter: Ode to Melancholy (wie Anm. 50), S. 79–83. Die Religion könne die Seele erhaben machen (vgl. S. 82, „sublim’d by thee“) und erhebe sie über ihre Begierden (vgl. S. 83, „elate“). Vgl. ebd., S. 79. Vgl. Hervey: Meditations among the Tombs (wie Anm. 51), S. 4f.: „The whole Passage breathes such a Delicacy, and is animated with such a Sublimity of Sentiment, that I cannot persuade myself to pass on without repeating it. * But will GOD indeed dwell on Earth? Behold! The Heaven, and Heaven of Heavens cannt contain Thee; ow much less this House that I have builded? – Incomparable Saying!“
1.1.4 Autorinnen und sanfte Melancholie Frauen waren nicht nur sehr häufig diejenigen, die das gefühlsbetonte Kultivierungsprogramm ansprechen wollte, sondern sie zählten auch zu den Schriftstellern, die das elegische und todesverhaftete Schreiben weiter entwickelten. Die zur Veranschaulichung ausgewählten Autorinnen, Elizabeth Singer-Rowe und Elizabeth Carter, gehören den beiden Gruppen an, in die man alle Autoren dieses Kapitels unterteilen kann: einer älteren Generation, die vor 1700 geboren wurde und sich stärker mit deistischen Tendenzen in Religion und Literatur auseinandersetzte, sowie einer jüngeren Generation, die nach 1700 geboren wurde und bereits stärker ästhetisierte, introspektive Literatur schrieb. 1728, 14 Jahre vor Edward Youngs Night Thoughts, feierte Elizabeth SingerRowe (1674–1737) in England mit Friendship in Death; in Letters from the Dead to the Living ihren größten literarischen Erfolg. Europaweite Bekanntheit erreichte sie als Autorin dieses Prosa-Werkes, das in Briefen von Toten an Hinterbliebene moralische Unterweisungen kommunizierte. Als bereits ältere Autorin mit religiös nonkonformistischen Ansichten71 hatte sie moraldidaktische Prosa und Lyrik geschrieben, bevor sie 1728 die Briefe veröffentlichte, die von Autoren wie Young, Klopstock, Richardson, Samuel Johnson, Isaac Watts, dem frühen Wieland und Herder hoch gelobt beziehungsweise literarisch adaptiert wurden.72 Der Nordische Aufseher berichtete 1758 von ihr als einem Genie.73 Man sprach ihr Kühnheit und feurige Bilder zu. Der Ausdruck persönlicher, religiöser Gefühle und Krisen findet sich – wie in der deutschen pietistischen Tradition weit verbreitet – in ihren literarischen Werken wieder. Tod und Einsamkeit waren darin ihre beliebtesten Themen. Im Umgang mit ebendiesen favorisierte sie eine melancholische Mischung aus Freude und Leiden, die von wechselnden irdischen Sorgen geprägt auf ein erhofftes, besseres Jenseits hinweist.74 Klopstocks
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Elizabeth Singer-Rowe war kein Mitglied der anglikanischen Kirche, sondern gehörte wie ihre Familie den Dissenters an. Vgl. Henry F. Stecher: Preface. In: Ders.: Elizabeth Singer Rowe, the Poetess of Frome. A Study in Eighteenth-Century Pietism. Frankfurt am Main 1973, o.S. Vgl. etwa ihre Nennung in Klopstocks frühen Oden oder ihre Rolle als Vorbild in Wielands früher Dichtung. Vgl. Der Nordische Aufseher 1758. Bd. 2. 75. Stück, S. 185. Zitiert nach Peter Damrau: Elizabeth Singer-Rowe und ihre Bedeutung für die deutsche Frauenliteratur des 18. Jahrhunderts. In: German Life and Letters 60.1 (2007), S. 4–16, hier S. 6f.: „Sie vereint mit der Grösse und Hoheit ihrer Gedanken eine solche Kühnheit der Vorstellung, eine so feurige und in neuen Bildern so reiche und schimmernde Einbildung, […] und eine solche Stärke und Richtigkeit des Ausdrucks, dass sie wegen ihres Genies ebenso sehr bewundert zu werden verdient, als sie mit Recht wegen ihres so vortrefflichen Lebens verehrt, geliebt und zur Nachahmung angepriesen wird.“ Vgl. Fairchild: Religious Trends (wie Anm. 4), S. 136: „But the Christian melancholy which mingles with her Christian joy is neither morbid nor, with rare exceptions, cultivated for mere literary effect.“
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Verehrung Elizabeth Singer-Rowes, die er in seinen frühen Oden zum Ausdruck bringt,75 unterstreicht deutlich ihren Einfluss auf religiöse Melancholie bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts.76 Miltons Tradition des nachdenklichen Melancholikers entsprechend, lebte Singer-Rowe bevorzugt abseits der Gesellschaft. In einem Brief an ihren Mann, Thomas Rowe, erklärt sie ihm das melancholische Vergnügen, das ihr das weltabgewandte Leben – vergleichbar einer Vorstufe des Todes – verschaffe: But there is a sort of serious and melancholy pleasure, in fancying one’s self in a state of separation. As all my joys lie buried in the dust, my imagination fixes itself with ease on these subjects: nor does the silence and solitude which reigns eternally in my chamber, differ very much from that of a sepulchre. However, my thoughts are not entirely confined to those gloomy mansions, but sometimes make excursions into the Elysian fields and myrtle groves.77
Dieses der religiösen Melancholie eigentümliche Mischungsverhältnis von Todesfaszination und Freude schlägt sich in zahlreichen Werken Singer-Rowes nieder. So lobt das lyrische Ich im Gedicht Thoughts of a Dying Christian das Ende des Lebens mit enthusiastischer Freude.78 Für Friendship in Death, eine Textsammlung, die Rowe ihrem Vorbild Edward Young widmete, spielt die religiöse Melancholie eine die einzelnen Briefe verbindende und damit werkkonstituierende Rolle. Das kurze, von Edward Young verfasste Vorwort gibt einige vorwegnehmende Hinweise auf die späteren Gemeinsamkeiten mit den Night Thoughts.79 Die Briefe sollen ebenso wie diese als Visionen entstanden sein und einem moralisch bildenden Zweck dienen. Die dargestellten Empfindungen sollen somit die Qualität des Authentischen und des affektiv Nachvollziehbaren erlangen. Youngs Vorwort erklärt zudem, dass es das Ziel sei, die Unsterblichkeit der Seele zum Ausdruck zu bringen – ein Thema, dessen sich Young nicht nur in den späteren Night Thoughts ausführlich annimmt, sondern dessen Verbindung zur religiösen Melancholie damit erneut augenfällig wird. Noch vor Young versuchte Singer-Rowe die Unsterblichkeit in ihren Briefen durch „affections and imagination“ dem Leser zu vermitteln und dabei keinen tradierten Lehrmeinungen
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Vgl. Kapitel 2.1.1. Vgl. Damrau: Elizabeth Singer-Rowe und ihre Bedeutung für die deutsche Frauenliteratur des 18. Jahrhunderts (wie Anm. 73), S. 7: „Friedrich Klopstock schwärmte häufig von der ‚göttlichen Rowe‘. Er erwähnt ‚Die fromme Singer‘, oder er erinnert der ‚unsterblichen, tiefer denkenden Singer‘.“ Elizabeth Singer-Rowe: Letters. Letters to Mr. Thomas Rowe. In: Dies.: Works. Bd. 4. London 1796, S. 249f. Vgl. Elizabeth Singer-Rowe: The Miscellaneous Works in Prose and Verse of Mrs. Elizabeth Rowe. London 1739, S. 202. Vgl. ebd., Preface, S. lxix: „Dr. Young was the author of the preface to Friendship in Death.“
zu folgen.80 Dieser Anspruch auf eine emotive Vermittlung von Inhalten, den Young bei Singer-Rowe erkennt, wird ebenfalls den Night Thoughts gerecht. Die für Singer-Rowe nachweislich prägende und sicher widersprüchliche Shaftesburyund Pascal-Lektüre81 mag zu dieser besonderen Mischung von introspektiver, meditativ-enthusiastischer Todesliteratur beigetragen haben. Noch konkreter malt das Vorwort die Lektüre der Briefe als eine Form der „vorteilhaften Kontemplation“ aus.82 In Friendship in Death spricht Singer-Rowe folglich einschlägige Motive der religiösen Meditation wie Einsamkeit, die Vergänglichkeit der irdischen Güter oder die Schönheit des Selbstgesprächs an. Die letztgenannte Idee dürfte sie ebenfalls durch die Lektüre Shaftesburys kennengelernt haben.83 Dass Elizabeth Singer-Rowe eine meditative Todesbetrachtung persönlich nicht fremd war, zeigen mehrere ihrer Briefe. Eine Art der edlen Melancholie sei in der Lage, sie beim Gedanken an das Ziel des Menschen in Freude zu versetzen: „There is a sort of noble melancholy that the mind loves to indulge: and, amidst some of the greatest gaieties, we are conscious that we came into the world, for some more important end than to laugh.“84 Ihre literarischen Berichte der Toten an die Hinterbliebenen schöpften aus einem in der Meditationsliteratur tradierten Fundus von Todesbildern und der religiösen Überzeugung, persönliche Glaubenserfahrungen seien von einer hohen Bedeutung. Immer wieder wird in lyrischen Einschüben über den Tod selbst meditiert.85 Technisch überwindet Singer-Rowe Gattungsgrenzen, indem sie die religiöse Selbstaffektion der meditativen Literatur mit der populären Briefform verbindet und kontemplative Elemente in die aktuellere Briefform aufnimmt. Ihre Briefe zeigen Peter Damrau zufolge den Übergang von traditioneller Erbauungsliteratur zu moralischen Gesellschaftsromanen von Richardson oder La
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Vgl. Edward Young: Preface. In: Elizabeth Singer-Rowe: Friendship in Death: in Twenty Letters from the Dead to the Living. To which are added, Letters Moral and Entertaining, in Prose and Verse: In Three Parts. By Mrs. Elizabeth Rowe. London 1752, S. vf., hier S. vi. Vgl. Elizabeth Singer-Rowe: Miscellaneous Pieces. Letters to the Right Honourable the Countess of – – – . In: Dies.: Works. 4 Bde. Bd. 4. London 1796, S. 190: „I should have begun my Japan table as soon as I came home, if Les Pensees de Pascal had not accidentally come in my way, and given my thoughts a situation superior to all earthly things.“ Ebd., S. 55f.: „My thoughts are not at present entirely consistent. – I have been reading my Lord Shaftesbury’s Moralist, which has filled my head with beauty and love, and harmony, but all of a divine and mysterious nature.“ Vgl. Edward Young: Preface. In: Singer-Rowe: Friendship in Death (wie Anm. 80), o.S.: „advantageous contemplation“. Vgl. Stecher: Elizabeth Singer Rowe (wie Anm. 71), S. 29: „She responded enthusiastically to his attitudes on retirement and solitude, and to his moral and ethical views. Like him she felt able to communicate with the spirit of divinity in and through nature.“ Singer-Rowe: Letters. Letter XLVI. To the Right Honourable Countess of – – – . In: Dies.: Works. Bd. 4 (wie Anm. 81), S. 101f., hier S. 101. Vgl. Singer-Rowe: Letter IX. From Theophilus to Mr. A. – – –, with a poetical meditation on Death. In: Dies.: Friendship in Death (wie Anm. 80), S. 250–252.
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Roche, deren Rezeption sie in Deutschland maßgeblich durch eine „säkulare Erzählweise“ vorbereitet habe.86 Im Vergleich zur jüngeren Generation von Elizabeth Carter ist die Melancholie in Singer-Rowes Lyrik von einer Bewegung in die Abgeschiedenheit und Einsamkeit begleitet, während Carter im Gegensatz dazu die Melancholie demonstrativ in der Literatur exponierte und sich selbst zu einer öffentlichen Person machte. 1738, etwa zehn Jahre später als Elizabeth Singer-Rowe, schrieb Elizabeth Carter (1717−1806) ihre elegischen Oden. Eine der ersten ist der verstorbenen Singer-Rowe gewidmet. Wie diese zählte Carter als Übersetzerin und Dichterin zu den intellektuellen und künstlerisch tätigen Frauen ihrer Zeit.87 Mitte des Jahrhunderts wurden sie und Singer-Rowe von Zeitgenossen zu den bekanntesten englischen Schriftstellerinnen gezählt.88 Die heutige Forschung hält Elizabeth Carter aufgrund ihres intensiven Einsatzes für eine wichtige Frauenrechtlerin des 18. Jahrhunderts, jedoch erscheint sie im hier betrachteten Zeitrahmen bis 1740 eher als eine junge, vom Vorbild Singer-Rowes geprägte religiöse Schwärmerin mit klassischer Bildung. Wie viele ihrer Zeitgenossen teilte sie die Begeisterung für die Oden von Horaz und übersetzte diese. Nachdem sie 1738 ihren ersten Gedichtband veröffentlicht hatte, schrieb die religiös konservative Protestantin89 im Alter von 22 Jahren die beiden Oden Ode to Melancholy (1739) und Thoughts at Midnight (1739), die anklingen lassen, welchen Stellenwert die sanfte Melancholie in einem orthodoxen Geflecht von Buße, Bekehrungsängsten, Schuld und Gehorsam sowie irreführenden Leidenschaften einnahm. Die angeführten Oden haben einen meditativen Charakter und den Tod zum Fluchtpunkt ihrer Betrachtungen. Carter macht in ihnen deutlich, dass die sanfte Melancholie, die das lyrische Ich darin preist, sowohl künstlerisch inspirierende als auch erfreuliche Züge habe: „Come Melancholy! silent Pow’r, / […] Indulge my
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Vgl. Damrau: Elizabeth Singer Rowe (wie Anm. 73), S. 12. Wie Singer-Rowe veröffentlichte sie ihre Lyrik zunächst in den Moralischen Wochenschriften (etwa in The Athenian Mercury), in denen bekannte Autoren wie Swift oder Defoe veröffentlicht hatten. Vgl. Stecher: Elizabeth Singer Rowe (wie Anm. 71), S. 181. Beide sind Mitte des 18. Jahrhunderts als bekannte Autorinnen in einer Anthology: Poems of Eminent Ladies (London 1755) vertreten. Vgl. Gary Kelly (Hg.): Bluestocking Feminism. Writings of the Bluestocking Circle. 1738– 1785. Bd. 2: Elizabeth Carter. Hg. v. Gary Kelly und Judith Hawly. London 1999, S. ix–xix, hier S. xv: „Carter is politically conservative and orthodoxly Christian; she believes in submission to higher powers.“
pensive Mind“.90 Die Melancholie präsentiert sich als eine Muse, vermöge derer man intellektuelle Kräfte steigern könne. Diese lenkt nicht wie andere von elementaren Themen fort, sondern leitet genau auf sie zu. Sie wecke einen „philosophic Dream“.91 Das lyrische Ich stellt sein Schaffen ins Zeichen der Todesmeditation und lobt sie als lebensspendende Kraft. Diese Melancholie verwandle den Tod, den schrecklichen König, zu einem sanften Engel92 und „Sublim’d by thee, the Soul aspires / Beyond the Range of low Desires.“93 Mithilfe des melancholischen Fühlens werden Todesvorstellungen nicht nur erträglicher, sondern sie adeln auch das Vorstellungsvermögen des betreffenden Menschen. Carters Oden sind im Besonderen ein Beispiel dafür, wie die antike Idee der intellektuell stärkenden Melancholie mit christlicher Todesmeditation zu einer gefühlsorientierten Selbstbetrachtung verbunden wurde.
1.1.5 Der Zenit sanfter Melancholie in religiöser Todesmeditation Der Höhepunkt der literarischen Auseinandersetzung mit sanfter Melancholie in englischer Lehrdichtung liegt nach 1740. Die bisher vorgestellten Texte laufen auf diesen zu und werden aus zeitgenössischer Publikumssicht nur noch von den literarischen Produktionen James Herveys, Edward Youngs, Thomas Wartons und Robert Blairs in den Schatten gestellt. Weder vor 1742 noch nach 1750 ist die kritische und produktive Auseinandersetzung mit sanfter Melancholie in der erbaulichen Dichtung des 18. Jahrhunderts größer. Young, Hervey und Warton studierten in Oxford, Robert Blair in Edinburgh. Bis auf Thomas Warton waren Hervey, Young und Blair Geistliche, die in ihrer kirchlichen Karriere wenig Erfolg hatten. Den Anfang machten 1742 die ersten Veröffentlichungen der Night Thoughts von Edward Young, bis 1745 waren sie vollständig erschienen. Robert Blair veröffentlichte 1743 das Lehrgedicht The Grave. 1746 publizierte James Hervey seine Meditations Among the Tombs.94 Die Entstehung der drei Werke überschnitt sich für einen kurzen Zeitraum. Zuletzt veröffentlichte Thomas Warton, damals noch Student in Oxford, Pleasures of Melancholy im Jahr 1747, dessen Entstehung aber auf 1745 datiert wird. Dies verkürzt den Zenit der Entwicklung kontemplativer Melancholie in der Dichtung auf etwa fünf Jahre.95
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Carter: Ode to Melancholy. In: Dies.: Poems on Several Occasions (wie Anm. 50), S. 79–83, hier S. 79. Ebd., S. 79. Vgl. ebd., S. 82. Ebd. Hervey: Meditations among the Tombs (wie Anm. 51). In diesen Zeitraum fallen ebenfalls die Vorlesungen Robert Lowths, die in Oxford über die Erhabenheit der hebräischen Dichtung in der Bibel gehalten wurden.
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Innerhalb dieses Zeitraums entwickeln sich Youngs Night Thoughts in den Augen vieler Rezipienten zum literarischen Optimum der Darstellung kontemplativer Melancholie in erbaulicher Dichtung. In zahlreichen Querverweisen und in literarischen Adaptionen bzw. Kritiken deutet sich an, dass sich viele Autoren der Vorbildstellung selbiger bewusst waren.96 Eine ausführliche Betrachtung der Nachtgedanken als literarische Ästhetisierung religiöser Melancholie erfolgt im Kapitel 1.2. Die in Briefform verfassten Meditations von James Hervey enthalten Zitate aus Youngs Night Thoughts. Mit ihnen erklärte Hervey, dass er sich in die Tradition erhabener Dichtung stellen wolle, zu welcher er die Night Thoughts zählte. Über die vierte Nacht schrieb er, dass sie für ihre energiegeladene Sprache, die Erhabenheit des Gefühls und die Schönheit der Dichtung selbst zu bewundern sei.97 Nach Hervey verband Youngs Dichtung den höchsten Stil mit den delikatesten Bildern und den größten Lehren des Christentums. Eine solche Poesie der christlichen Superlative biete die beste denkbare Unterhaltung und verbessere den Menschen: „They not only refine our Taste, but prepare us for Death, and ripen us for Glory.“98 Neben Hervey folgten auch Thomas Warton und Robert Blair literarisch dem gemeinsam anerkannten Ideal Youngs, die einen Stil umsetzten, der sich sowohl auf die Tradition Miltons berief als auch durch die Thesen von John Dennis (The Advancement and Reformation of Modern Poetry, 1701) und Robert Lowth (On the Sacred Poetry of the Hebrews, 1741) eine Ästhetik des Religiös-Erhabenen erfüllte. Thomas Wartons Ode The Pleasures of Melancholy gibt ein Beispiel des Zusammentreffens vieler literarischer Traditionen sanfter Melancholie (wie der Nachfolge Miltons und Spencers, der Vorliebe für die antike Versdichtung sowie der ästhetischen Konzeption des religiös inspirierten, prophetischen Dichters). Warton schrieb als Student in Oxford sein bekanntestes Gedicht kurz nach dem Erscheinen der Night Thoughts.99 Er gehörte ebenso wie Young oder Hervey in das kirchentreue Tory-Umfeld der Universität, an der er später zum Professor für Dichtung ernannt wurde. Der junge Warton war weniger euphorisch religiös als vielmehr von der antiken Idee einer genialen Melancholie beeinflusst. Seine Ode stellt sich schon zu Eingang in die Tradition der Horaz-Imitation: „Teach me sad
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Vgl. Paul van Tieghem: La poésie de la nuit et des tombeaux en Europe au VIIIe siècle. Genève 1970, S. 15f.: „Il est probable que Young a connu Parnell et Blair, ses prédécesseurs; il es possible qu’il les ait consciemment imités. En tout cas, ses Nuits dépassent infiniment leurs poèmes en importance et en succès, au point qu’elles ont incarné pour la plupart toute la poésie nocturne et sépulcrale. […] il constitue le pont central et le pivot de cette étude.“ Vgl. Hervey: Meditations among the Tombs (wie Anm. 51), S. 69: „Almost every Line glows with Devotion; rises into the most exalted Apprehensions of the adorable Redeemer, and is animated with the most lively Faith, in His All-Sufficient Meditation.“ Ebd. Thomas Warton: The Pleasures of Melancholy. A Poem. London 1747.
strains, o Melpomene“ (Oden, I, xxiv, 2–3). Neben den historischen Referenzpunkten wird die Melancholie ebenso in eine keltische Tradition eingeordnet. Mit dem Musenruf fällt das lyrische Ich eine Entscheidung, die für alle weiteren Bilder folgenschwer ist. Die Melancholie, personifiziert durch Melpomene als Muse des Trauergesangs, soll zur Führerin in allen Dingen werden. Entgegen dem anakreontischen Ideal lehnt das lyrische Ich Vergnügen ab und möchte stattdessen, wie in der kontemplativen Lyrik der Zeit topisch, von einer Eva mit schwarzen Brauen geführt werden.100 Wenigen geschmacksgeschulten Menschen sei bekannt, welche besondere Freude diese Melancholie bringe,101 denn nur der nachdenkliche Geist könne sie schmecken.102 Es deutet sich eine Selektion der idealen Leser und Interpreten an, die nicht moralisch fundiert, sondern geschmacksabhängig ist; die kontemplative Melancholie wird elitär und aristokratisch. In der Imagination des lyrischen Ichs sitzt die Muse unbeeindruckt von aller Welt in einem Turm mitten im tobenden Meer. Dort kann sie nichts von ihrer stoischen Ruhe ablenken. Diesem Ideal einer melancholischen Stoikerin will das lyrische Ich nacheifern. Setzt man Wartons Ode in Bezug zur späteren Schwärmerkritik am einsamen Melancholiker, dann sieht sein Verständnis eines Kultivierungsprogramms sanfter Melancholie kein grenzenloses Schwärmertum vor, sondern will durch gezielte Stimulation zur inneren Festigung einiger Auserwählter gelangen.
1.1.6 Ziele eines kontemplativen Kultivierungsprogramms Das deutlichste und immer wieder genannte Ziel des prominenten emotiven Kultivierungsprogramms durch sanfte Melancholie war die Verbesserung des Menschen, meist in einem religiösen Sinn. Mit der Todesmeditation bereitete der Mensch sein Leben gottgefällig auf ein richtiges Sterben vor. Die melancholische Selbstaffektion konnte jedoch noch mehr: Sie konnte den Künstler – gemäß der reaktivierten antiken Tradition durch Ficino – zu neuen literarischen Ideen inspirieren. Während im ersten Fall das Kultivierungsprogramm die Moral stärken, den Leser missionieren wollte, versuchte die Selbstaffektion im zweiten Fall ein Verständnis von individueller, an den menschlichen Grenzen orientierter Lebensund Sterbe-Kunst zu schaffen. Elizabeth Carters Oden rufen aus einem religiösen Interesse dazu auf, junge Menschen in der Meditation zu unterrichten, damit es der Religion möglich werde, das schreckliche Todesbild in ein angenehmes zu verändern. Diese Veränderung
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Vgl. ebd., S. 4: „black-brow’d Eve“. Vgl. ebd., S. 9: „Few know that Elegance of soul refin’d, / Whose soft sensation feels a quicker joy / From Melancholy’s scenes.“ 102 Vgl. ebd., S. 16.
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könne den Blick des Lesers auf Transzendentes richten. Für Carter bedeutete dies, dass der Mensch von seinen gewöhnlichen irdischen Eigenschaften zu einem gottähnlichen Wesen verwandelt bzw. ihm die Erhabenheit seiner Seele deutlich werde. Ein scheinbares Nebenprodukt dieses Perspektivwechsels sei die Freude, die man dabei empfinde: „Indulge my pensive Mind.“103 Mittels des Lehr-Programms könne der Mensch sich nicht nur – wie am Beispiel des lyrischen Ichs der Night Thoughts nachvollzogen – erhaben empfinden, sondern diese neue Sicht auch auskosten. Der von Carter als philosophisch bezeichnete Traum ist die affektiv genossene Idee von der eigenen Unsterblichkeit. Edward Young und seine Zeitgenossen fordern, die Seele solle diese Momente suchen: „the Thought of Death indulge.“104 Die beschriebenen Empfindungen wurden oftmals mit dem Begriff ‚sublime‘, erhaben, qualifiziert.105 Der zunächst rhetorische Ausdruck von Erstaunen kommt dem christlichen Mysterium im Verständnis der Zeitgenossen nahe. Wer die sanfte Melancholie im Anblick des Todes genieße, könne sich erhaben empfinden, denn er erkenne seine Unsterblichkeit und daher auch seinen Schöpfer. Die Formeln der gemischten Empfindungen, die den paradoxen Zustand beschreiben und sich später zur Phrase „joy of grief“ verdichteten, sind nicht erst bei Edward Young zu finden, sondern auch schon früher bei James Hervey erkennbar: „What a pleasing, yet awful Thought is this? Full of Delight and full of Dread. O! may it alarm our Fears, quicken our Hopes, and animate all our Endeavours.“106 Aus jenem paradoxen Empfinden sollte sich, wie das Zitat ausführt, eine verbesserte Selbstwahrnehmung und Aktivierung der eigenen Hoffnungen ableiten. Da in der Folge die melancholische Klage immer mehr zum literarischen Versatzstück wurde und die religiösen Gründe für die Meditation in den Hintergrund traten oder gänzlich verschwanden, zeigt es sich bei späteren Beispielen wie der Elegy Written on a Country Churchyard von Thomas Gray,107 dass von der gezielten Selbstaffektion innerhalb eines vertrauten kulturellen Bildes häufiger nur die didaktischen Affizierungstechniken der Todesmeditation übrig blieben bzw. Ethik an die Stelle von Religion trat. Mit Blick auf eine weitere an Bedeutung zunehmende Tendenz, die kontemplative Melancholie als musisch inspirierende Kraft zu verstehen, schildert Thomas Warton Melancholie als großen Genuss. In seiner Ode The Pleasures of Melancholy (1747) ist die Rede von einer Wirkung kontemplativer Melancholie,
103 Carter: Ode to Melancholy (wie Anm. 50), S. 79. 104 Vgl. Edward Young: Night the Third. Narcissa. London 1742, S. 105 Vgl. z.B. bei Carter: On the Death of Mrs. Rowe. In: Poems on 106 107
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16. Several Occasions (wie Anm.
50), S. 10–12, hier S. 10: „Sublime the Passions“. Vgl. Hervey: Meditations among the Tombs (wie Anm. 51), S. 75. Vgl. Kapitel 1.1.7.
die den Menschen in einen temporären Opium-Rausch versetze. Die personifizierte Melancholie, die durch keine Ablenkung aus ihrer Ruhe gelockt werden könne, werde aktiviert, wenn sich einige der stereotypen Motive der kontemplativ-elegischen Dichtung einstellten: „chearless shades“, „ruin’d seats“, „twilight cells and bow’rs“.108 Das lyrische Ich wünscht sich unter moosbedeckte Grabsteine bei Mitternacht und Mondschein.109 In pathetischer Weise beschreibt es dunkle Beinhäuser, in denen unheimliche Stimmen und geisterhafte Figuren zu sehen seien. Die anfangs noch moderaten Wünsche nach Kontemplation werden nun durch Bitten um Furcht und Schrecken gesteigert. Im Vordergrund steht zeitweilig nicht Trauer, sondern Schrecken. Die Bilder lösen beim lyrischen Ich einen „religious horror“110 aus, der seine Seele mit tödlicher Stille umhülle. Warton trennte offensichtlich den selbst herbeigeführten Schrecken nicht streng von der kontemplativen Melancholie. Das lyrische Ich fügt hinzu, dass solche imaginierten nächtlichen Wanderungen sehr erfreulich sein könnten.111 Es vergleicht diesen Zustand mit einem Rausch („opiate dews“).112 Bei Warton finden sich Anklänge von alltäglichen Grenzüberschreitungen und dem rauschhaften Genuss des Schrecklichen. Diese werden aber letztlich auch in das Konzept der Kontemplation eingefügt, das auf diese Art die Erfahrung von meditativen Freuden einlösen möchte.113 Das Ende des Gedichtes weist auf eine erfolgreiche Kultivierung der Sinne durch die Muse der Melancholie hin.114 Auf ein Kultivierungsprogramm übertragen bedeutet dies, dass die Vorstellungskraft des Menschen ausgeprägter werde und die Melancholie auf diese Weise ermögliche, die eigenen Gedanken zu erhabenerer Entzückung zu führen, damit neue Bereiche von Freude bzw. Empfindungen entdeckt würden.115 Aus dem Erfahren neuer emotionaler Erlebnisse sollte neue Kunst entstehen. Melancholie stimulierte nach der stärker künstlerisch orientierten Ausprägung des Kultivierungsprogramms zu neuer Dichtung. Auch in Joseph Wartons (1722−1800) Ode on the Death of – – – (1746) kündigt sich an, dass die religiöse Melancholie einen Kreislauf sich selbst inspirierender Klagen hervorbringe.116 Das
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Vgl. Thomas Warton: The Pleasures of Melancholy. London 1747, S. 4. Vgl. ebd., S. 5. Ebd., S. 6. Vgl. ebd.: „Nor undelightful is the solemn noon / Of night, when haply wakeful from my couch / I start: lo, all is motionless around!“ Das Gedicht spielt mit der naiven Vorstellungskraft der Leser und versichert, dass man sich umso mehr fürchte, wenn man wisse, dass man der Einzige sei, der wach ist. 112 Vgl. ebd., S. 7. 113 Vgl. ebd., S. 8: „Then let my contemplation thought explore / This fleeting state of things“. 114 Vgl. ebd., S. 17: „Nor let me fail to cultivate my mind, / With the soft thrillings of the tragic Muse, / Divine Melpomene, sweet Pity’s nurse.“ 115 Vgl. ebd., S. 23: „To loftier rapture thou canst wake the thought.“ 116 Vgl. Joseph Warton: On the Death of − − − . In: Ders.: Odes, on Various Subjects. London 1746, S. 39–41.
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lyrische Ich meditiert am Grab eines Freundes, „Thus stretch’d upon his grave I sung“117 – und dies bringt in ihm stets neue Klagen, für die Erbauung stets neue literarische Blüten hervor: „Each night indulging pious woe, / Fresh roses on thy tomb I strew“.118 Da die erbaulichen Texte mehrfach ihre Nutzanwendung unterstrichen, wird etwa durch Herveys Meditations deutlich, dass die Lust an Trauer nicht nur innerhalb der Texte als Fallbeispiel beschrieben wurden, sondern den ganzen Kommunikationsprozess zwischen Leser, Autor und Text einschlossen. Von der kontemplativen Melancholie wurde erzählt; ihre Beispiele waren Anleitungen zum praktischen Nachvollzug dieser Technik. Es entstand ein idealisierter Kreislauf sich selbst nährender Melancholie, der zumindest bis zur Mitte des Jahrhunderts von den hier genannten Autoren und einem breiten Publikum nicht als bedenklich oder literarisch minderwertig verstanden wurde.
1.1.7 Die Imaginationstechniken und Motive Der methodische Einsatz emotional erschütternder Bilder war das hervortretende Merkmal des kontemplativen Kultivierungsprogramms. Die Mehrheit der untersuchten Texte weist zu diesem Zweck eine auffällig detaillierte Beschreibung der angewandten Imaginationstechniken auf. Dabei handelte es sich auch um eine vorbildhafte Darlegung der Vorzüge von Meditation. Über ein Imaginieren von ausgesuchten Todesmotiven gelangt das lyrische Ich zu religiöser Erkenntnis und somit schließlich zu erhabenen emotionalen Genüssen. Elizabeth Carters lyrisches Ich ruft die Melancholie an, damit es sich die Objekte vor Augen bringen könne, die seinen „philosophischen Traum“119 inspirierten. Daraufhin imaginiert es ausgewählte Gegenstände: einen einsamen Spaziergang durch den nächtlichen Eibenwald, Würmer, das kühle Grab oder ein Zusammentreffen mit Toten. Das Ziel der geistigen Wanderungen gebe die Melancholie Carter zufolge selbst vor: Kalt gegen irdische Genüsse begebe sich das lyrische Ich unter die Toten. Carters Gedicht stellt einen notwendigen Zusammenhang von kontemplativer Trauer und Tod her. Wer sich melancholischen Bildern überlässt, wird am Ende auf den Tod stoßen müssen. Es handelt sich um einen bewusst eingegangenen Imaginationsprozess, der mit nächtlichen Naturwahrnehmungen am Grab und Friedhofsrequisiten beginnt, um von diesen zu abstrakten Fragen über das Wesen des Todes inspiriert zu werden. Die atmosphäri-
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Vgl. ebd., S. 43. Vgl. ebd., S. 42. Auffällig ist der qualitative Unterschied zwischen einer kontemplativ bewegten, religiösen Wahrheit und der Evokation eines philosophischen Traums wie ihn Carter nennt.
schen Bilder, die das Gedicht zu Anfang präsentiert, sind in diesem Prozess allein die affekt- und gedankenauslösenden Stimuli, die durch ihre Zugehörigkeit zur Melancholie in Erscheinung treten müssen. Dies mindert aber nicht ihre Relevanz. Auch James Hervey maß den ausgewählten Motiven seiner Dichtung eine hohe Bedeutung bei. In den Meditations Among the Tombs schreibt er, diese Relikte seien für eine religiöse Unterweisung wichtiger als alle literarischen Werke.120 Wie seine Vorgänger verstand er die Betrachtung der Grabsteine zugleich als unterhaltend und warnend, als einen Stimulus zur Meditation. Neben den visuellen spielten auch akustische oder olfaktorische Reize eine Rolle. Häufig anzutreffende Motive sind der Eulenruf oder das Läuten der Uhr als ein bekannter Topos für das Ablaufen der irdischen Lebenszeit. Ebenso auffällig ist das scheinbar zufällig ausgewählte Auftreten sakraler Räume wie Kirchen, Friedhöfe oder Kapellen. In James Herveys Vorwort zu seinen Gelegenheitsmeditationen heißt es, sie könnten den jeweiligen Leser an seinen Tod erinnern und die Seele in neue Ordnung bringen.121 Diese ausgesuchte Gültigkeit der sakralen Räume steht in einem Widerspruch zur unvorhergesehenen und sich individuell gestalteten Gelegenheitsmeditation, wie Hervey sie am Beispiel eines Blumengartens schildert. Während die Meditationen als originell und zufällig an einzelnen Orten geschehen ausgegeben werden, sind ihre Inhalte doch didaktisch gezielt an Bilder und Motive überlieferter Traditionen gebunden. Der Blumengarten als Ort der Meditation findet sich zum Beispiel in der meditativen Erinnerung an den Garten Gethsemane (ein bereits biblischer Meditationsort).122 Auch innerhalb der kontemplativen Literatur bildeten sich eigene Topoi heraus. So erinnert etwa der wilde Wermut auf den moosbedeckten Gräbern an die empfundene Trauer. James Hervey wählte 1743 die Dorfkirche von Kilkhampton für seine Briefmeditation aus. Mit dieser Wahl verband er noch vor Thomas Gray die ländlich-naive Idylle des Dorffriedhofs mit den schwermütigen Gedanken von Tod und Auferstehung. In beiden Texten dienen die Grabsteine am Boden als Stimuli der gewünschten Emotionen. Durch ihren Anblick wird die betrachtende literarische Figur zu Reflexionen über Tod und Unsterblichkeit gezwungen. Der Dorfkirchhof blieb weiterhin ein beliebter Meditationsort der elegischen Dichtung.123 Noch 1762 nannte John Cunningham den nächtlichen Friedhof als das geeignetste Motiv der
120 Vgl. Hervey: Meditations Among 121 Vgl. ebd., S. v. 122 Vgl. Nathanael Munns: On his
the Tombs (wie Anm. 51), S. 53.
Passion in the Garden Gethsemane, and his Apprehension there. In: Ders.: The Great Example, or, the Way to Conquest. A Poem. London 1735, S. 19– 33. 123Vgl. Georg Hanreich: Die Dorfkirchhofselegie im 18. Jahrhundert. Wien 1911.
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Kontemplation: „Tis but the church-yard of the Night; / An emblematic bed! / That offers to the mental fight, / The temporary dead.“124 Häufig wählt das lyrische Ich zur meditativen Selbstaffektion die Nacht. Sie eignet sich wie kein zweiter Zeitraum zur Einsamkeit, Nachdenklichkeit und nicht zuletzt zum Schrecken. Elizabeth Carter weist der Nacht in Thoughts at Midnight (1739) eine beruhigende Rolle zu. Die Nacht steht durch den Schlaf und ihre Dunkelheit in einem engen metaphorischen Zusammenhang zum Tod. Diese notwendigen Ruhestunden im menschlichen Rhythmus wie auch die Pause der Natur seien Gott gewidmet. Der immer wieder durch neue Stimuli affizierte Blick könne sich in der nächtlichen Dunkelheit Ruhe gönnen bzw. reduzierten sich die visuellen Reize in der Nacht auf eine bestimmte Auswahl. Damit richte sich der Mensch zugleich auf elementare Ideen wie seine Seele aus.
1.1.8 Transformationen der religiösen Melancholie bis zur Jahrhundertmitte Da sich die Entwicklung kontemplativer Lyrik stark durch eine Ästhetisierung von Grab- und Naturansichten auszeichnet, wurden die anfangs noch an religiösen Topoi orientierten Szenen austauschbar und vorwiegend zur Imaginationskulisse für Reflexionen unterschiedlichster Art. Der eingezäunte Friedhof ähnelte immer mehr dem weitläufigen Garten oder der natürlichen Landschaft. Man kann von einer Entdogmatisierung der Meditationspraxis sprechen, die nicht länger in ein Korsett der Rituale gezwungen wurde, sondern zum Beispiel das Raumerlebnis einer Landschaft zum Auslöser ihrer Visionen nahm. Die Imaginationsanreize verloren ihre bisherige christliche Bedeutung. Die Eigendynamik der Selbstaffektion eines lyrischen Ichs, die nicht immer mit einer Selbststabilisierung einhergehen musste, schritt in der englischen Lyrik des 18. Jahrhunderts fort. Die meditative Lyrik enthielt nun normfreiere, privatere und individuellere Züge.125 Vergleicht man etwa James Herveys Meditations mit älteren Meditationstypen, dann geht der Briefsteller zwar zur Meditation direkt zwischen die Gräber, der Autor aber verdeutlicht schon im Vorwort, dass es sich dabei nur um eine ästhetisch anregende Kulisse handelt, die der ernsten Kontemplation angemessen sei. Der geeignete Leser könne bei diesen Gedanken nicht unberührt bleiben, so Hervey.126 Es sei vielmehr ein Zeichen guten Geschmacks, wenn man durch den
124 John 125 Vgl.
Cunningham: The Contemplatist. A Night Piece. London 1762, S. 11. Philipp Wolf: Meditative Lyrik und Erinnerung im England des 17. Jahrhunderts. In: Meditation und Erinnerung in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 13), S. 201–218. Auch für die meditative Lyrik des 17. Jahrhunderts lassen sich die Tendenzen einer Individualisierung und relativen Dogmenfreiheit nachweisen. 126 Vgl. Hervey: Meditations Among the Tombs (wie Anm. 51), S. vi.
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Anblick der Bilder Frömmigkeit erlange. Religiosität wurde bei Hervey u.a. zur Frage des ausgeprägten Geschmacks und ästhetischer Progression. Am Beispiel von Thomas Grays127 Elegy Written in a Country Churchyard (veröff. 1751, geschrieben 1742−1750) zeigt sich der selbstreferentielle Kreislauf der Emotionalisierung, den eine Dichtung im Zeichen sanfter Melancholie oftmals beförderte.128 Die gezielte Imagination ruft neue Bilder hervor, wodurch sich ein zirkulärer Prozess von Visionen und ihren korrelierenden Empfindungen entwickelt. Die Imagination schafft Wehmut und diese wiederum neue Bilder. Im Gegensatz zu seinen literarischen Vorgängern nutzte Gray eine mildere Sprache, weniger starke Kontraste und freundlichere Bilder. Er deutete mit seiner Elegie bereits in Richtung romantischer Naturbetrachtungen. Der höchste Wert, den seine Elegie lobt, ist nicht mehr das gute Sterben oder die Mäßigung von Leidenschaften, sondern das Erleben von Freundschaft. Die Beschreibung der Melancholie hatte eine gesellschaftskritische Dimension angenommen und an die Stelle des guten Sterbens ist die Lehre vom guten Zusammenleben getreten. Natur und Tod wurden dabei ein guter Teil ihrer kulturellen Verfasstheit genommen. In Saturn und Melancholie heißt es über die bis heute bekannte Elegie, man könne beobachten, „wie im Einklang mit den neuen ästhetischen Theorien über das ‚Erhabene‘ Miltons ‚grüne kurz geschorne Wiesen‘ und ‚murmelnde Gewässer‘ allmählich durch eine ‚wildromantische‘ Landschaft mit finsteren Wäldern, Höh-len, Abgründen und Einöden verdrängt werden.“129 Die Elegie schildert einen Besuch des lyrischen Ichs auf dem idyllischen Dorfkirchhof. Es spekuliert über die Lebensgeschichten der dort Begrabenen. Die vorherrschende Empfindung, ein ästhetischer Genuss von Melancholie, inspiriert das lyrische Ich bzw. den künstlerisch aktiven Menschen zu neuen Reflexionen. Der Dorffriedhof spielt in diesem Kreislauf das räumliche Verbindungsstück zwischen memorativem Garten und idyllischer Landschaft.130 Er evoziert die Gefühle, die diese neue Form der Elegie braucht. Der Ort, der das Ende aufzeigt, wird zum Auslöser von Kontemplation, Stimmungen und schließlich von Kunst.
127
Thomas Gray (1716–1771) gehörte der anglikanischen Kirche an, war aber stärker von Cambridges Liberalismus beeinflusst als einige Tory-Dichter aus Oxford. Vgl. Fairchild: Religious Trends in English Poetry. Bd. 2 (wie Anm. 4), S. 358. 128 Sie ist bis heute in modernen Lyrik-Anthologien der englischen Sprache zu finden. Vgl. Thomas Gray: Elegy Written in a Country Churchyard. In: Margaret Ferguson, Mary Jo Salter u. Jon Stallworthy (Hg.): Norton Anthology of Poetry. New York 1996, S. 609–612. 129 Klibansky, Saxl u. Panofsky: Saturn und Melancholie (wie Anm. 1), S. 345f. 130 Vgl. Adrian von Butlar: Das Grab im Garten. Zur naturreligiösen Deutung eines arkadischen Gartenmotivs. In: Heinke Wunderlich (Hg.): „Landschaft“ und Landschaften im achtzehnten Jahrhundert vom 20.–23.11.1991 in Wolfenbüttel. Heidelberg 1995, S. 79–119.
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Im Gegensatz zu älterer Friedhofsdichtung schilderte Gray seinen Friedhof in sanften und idyllischen Bildern. Beispielsweise findet seine Friedhofsschau am Abend und nicht um Mitternacht statt. Dem Betrachter wird Zeit gegeben, die Welt in der Dunkelheit der Nacht untergehen zu sehen. Mit dieser von Lichtver-hältnissen ausgelösten Verwandlung verändern sich auch die Beziehungen zwischen lyrischem Ich, Gegenständen und Zeit. Der Friedhof und seine Objekte gehören nun dem einsamen Betrachter. Verschiedene Sinne werden vom lyrischen Ich angesprochen. Neben den schemenhaften Bildern der Nacht sind es vor allem Naturgeräusche: das Summen von Käfern oder Eulenrufe. Die Requisiten der Friedhofsliteratur (Kirchturm, Efeuranken, dunkle Bäume) formieren sich bei Gray zu einer angenehmen, vor allem nicht erschreckenden Umgebung. Die Gräber werden nicht als kühle Höhlen, sondern als kleine Zellen beschrieben, in denen die Vorväter auf den jüngsten Tag warten. Im Gegensatz zum lyrischen Ich, das mit der Sinnenwelt noch korrespondieren kann, erreicht die Toten kein Ton mehr (wie die angedeuteten Geräusche von Schwalben oder Hähnen). In wiederum von Gefühlen ausgelösten, imaginierten Szenen stellt sich das lyrische Ich vor, wie der Alltag der Toten ausgesehen haben könnte und besonders, auf was sie nun verzichten müssten. Ländliche Familienidyllen stehen dabei im Vordergrund: der Vater mit Mutter und Kind am häuslichen Herd, der Fleiß der Landbevölkerung etc. Ihre Abwesenheit als Tote wird als unveränderbar bestätigt. Aus dieser Endgültigkeit zieht das lyrische Ich neue, wehmütige Empfindungen und Imaginationen von den verlorenen Talenten der Toten. Grays Elegie bietet ein Loblied auf die Potentiale des benachteiligten Menschen und bedauert seine Einschränkungen, doch sie zieht ebenso den pathetischen Vergleich zur Natur, in der Blumen ungesehen verblühen. Die Melancholie wird in diesem letzten Beispiel von 1751 neu funktionalisiert. Sie ist in einer anteilnehmenden Art und Weise gesellschaftskritisch bzw. lässt in einem bedauernswerten, fiktiven Individuum das hypothetische Schicksal anderer anklingen. Das Gedicht steht daher nicht für eine religiöse Klage, sondern für einen sozial motivierten Seufzer, der die literarischen Konventionen seiner Zeit zu vereinen weiß. Das Epitaph am Ende der Elegie unterstützt diese Deutung. Beim Anblick des Grabes eines zu unrecht Vergessenen heißt es: Hier ruhe ein junger Mann, der trotz aller Talente sterben musste. Um sein Grab hat sich ein Mini-Idyll eingestellt. Die Natur (Blumen und ein Vogelnest) ehrt den Toten, der von den Menschen vergessen wurde. Sein potentielles Heldentum bleibt verschlossen. Jedoch weist der Grabstein darauf hin, was er stattdessen genossen hat: Freundschaft. Deren Wert setzt an die Stelle von Frömmigkeit, Reichtum oder Macht. Die Trauer über den Tod wird mit Freude über eine Freundschaft und nicht mit Unsterblichkeitsvisionen gemildert. Am Ende der Dichtung überwiegt eine gemäßigte Wehmut, keine religiöse Melancholie über die evozierten Bilder. Der Wert der
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Gemeinschaft wird mit diesen Empfindungen pathetisch erhöht. In diesem Beispiel wird zum ersten Mal die sozialkritische Funktionalisierung der sanften Melancholie, wie sie später in ossianischer Dichtung häufiger vorkam, erkennbar. Das religiöse, emotive Kultivierungsprogramm trat bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts in zwei Ausprägungen auf, die nicht immer voneinander zu trennen sind, weil sie beide im Zeichen der religiösen Kunst vertreten wurden. Dabei nahm die Tendenz der ästhetisierten Melancholie, die (Kunst-)Erlebnisse schaffen und abbilden wollte, im Vergleich zur religiösen Ausrichtung, die erbauen und missionieren wollte, zu. Im Zuge dieser Ästhetisierung wurden neue Normen in die affektive Vermittlung eingeführt. Die religiösen Dogmen wurden durch Themen der Moral sowie des Geschmacks ersetzt. Die Melancholie, die schon durch eine Freude an der Unsterblichkeit des Menschen im Vergleich zu ihrer schweren, als krankhaft geltenden Ausprägung gemildert war, wurde nun mit ihrem Einsatz in der idyllischen Natur- und Gesellschaftsbetrachtung zu einer sentimentalen Wehmut reduziert.
1.2 Die Ästhetisierung religiöser Melancholie in Edward Youngs Night Thoughts „How wretched is the Man, who never mourn’d“, schrieb Edward Young in seinen Night Thoughts und kündigte an, dass er mit ihnen eine wertvolle Trauer zu fördern gedenke: „I dive for precious Pearls in Sorrow’s Stream: / Not so the thoughtless Man that only grieves; / Takes all the Torment, and rejects the Gain.“131 Seine Dichtung will eine Anleitung zur Kultivierung von Trauer sein, die einer Selbstunterweisung ähnelt. Als erfolgreicher und europaweit bekannter Text erreichte Edward Youngs christliche Sittenlehre ein breites Publikum, das daraus in der zweiten Hälfte seiner Rezeption nicht selten die Aufforderung zu einem Trauerkult ablas oder in eine Jammertheologie verfiel. Statt eines erbaulichen Ziels beförderten die Night Thoughts in ihrer Rezeption die in ihnen kritisierte Erscheinung sentimentaler Todesverklärung.132 Offensichtlich hatten sich im Zeitraum von 1745 bis 1770 die Rezeptionsbedingungen religiöser Melancholie grundlegend verändert. Die christliche Todesmeditation hatte ihre (Selbst-)Ver-
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Edward Young: The Complaint: or, Night Thoughts on Life, Death and Immortality. To Which is Added, A Paraphrase on Part of the Book of Job. 5th Night. London 1750, S. 92. 132 In Justus Mösers Schreiben einer Dame (1768/69) wird beschrieben, wie sie zum Beispiel die heftigsten Kopfschmerzen auslösen. Vgl. Justus Möser: Schreiben einer Dame an ihren Kaplan über den Gebrauch ihrer Zeit. In: Ders.: Justus Mösers Sämtliche Werke. 14 Bde. Hg. v. der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Abt. 2. Bd. 4: Patriotische Phantasien und zugehöriges. Bearbeitet von Ludwig Schirmeyer u. Werner Kohlschmidt. Berlin 1943, S. 232– 235, hier S. 235.
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ständlichkeit verloren. Diese Interpretation der Night Thoughts und deren Verbindung zum zeitgenössischen Kontext gibt Aufschluss darüber, inwiefern im Text eine religiöse Emotionalisierungsstrategie angewandt wurde, die einerseits freudige Trauer befürwortete, deren ästhetische Transformation zugleich eine Affekterregung begünstigte, die sich von ihrem normativen Kontext zu trennen begann. Die Kultivierung sanfter Melancholie zu religiösen Zwecken und ihre Einbettung in einen literarischen Kontext wurden bereits dargestellt. Am Beispiel Edward Youngs wird die sanfte Melancholie als die literarische Umsetzung eines christlichen Gedankens der süßen Leiden in moraldidaktischer Dichtung in ihrem Zenit aufgezeigt. Sie ist dort in die aktuellen moraltheoretischen und naturphilosophischen Ansprüche der Religionskritik eingebunden, das kontemplative Leiden hat jedoch zugleich seine ursprünglichen Merkmale wie Bußbereitschaft und eine auf das Selbst verzichtende Demut verloren. Young überschritt mit den Night Thoughts die Grenze zur individuellen, vom Dogma gelösten Todesbetrachtung. Die Night Thoughts sind bis heute dafür bekannt, dass sie das deutsche Publikum zu Schwärmereien in traurig-süßen, oftmals morbiden Gedanken veranlassten. Dieser Eindruck entsteht besonders dann, wenn man auf die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts blickt, in der die Anzahl der Kritiker der Night Thoughts die Anzahl der Befürworter sukzessive überwog.133 Die anfängliche, nicht unerhebliche Welle der Begeisterung war verebbt, als Johann Wolfgang von Goethe rückblickend über den Text schrieb, den er selbst als junger Mann gelesen hatte. In Dichtung und Wahrheit (1812) nennt Goethe Youngs Text ein für die damalige Zeit typisches, moraldidaktisches Gedicht, das „nur einen düsteren Überdruss des Lebens“ zeige.134 Das Werk sei ein vorzügliches Beispiel dafür, dass dem Verstand „eine Aufgabe zugewiesen“ werde, die er nicht lösen könne, „da ihn ja selbst die Religion […] im Stich“135 lasse. Die christliche Todesmeditation der Night Thoughts hatte mit ihrem Totalitätsanspruch auf die menschliche Seele für Goethe keinen Gültigkeitsanspruch mehr. Der Normenwandel der Zwischenzeit hatte das Verständnis des Textes verändert. Was Mitte des 18. Jahrhunderts noch vorbildliche Erbauungsliteratur gewesen war, war bis zum Ausgang des Jahrhunderts zur unvorstellbaren Anforderung an den Leser geworden. Relativ selten findet man heute eine Aussage wie die des Germanisten Howard Gaskill: „There is
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Vgl. John Kind: Edward Young in Germany. Historical Survey, Influence upon German Literature and Bibliography. New York 1906, S. 62f. Kind teilt die Rezeption in sieben Phasen ein, in denen der Erfolg des Werkes in den 1740er begann und bis in die 1770er andauerte. Das Abebben der Begeisterung dauerte von den 1770er bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts an. 134 Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hg. v. Dieter Borchmeyer. Bd. 14. Abt. 1. 3. Teil. Buch 13. Hg. v. Klaus Detlef Müller. Frankfurt 1986, S. 631. 135 Ebd., S. 632.
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plenty of joy in Young – one of the surprises for a modern reader who cares to open the Night Thoughts, having previously formed his impressions of the work at second or third hand (on the basis of eighteenth-century reception and the comments of later critics), is what a relatively jolly work it is.“136 Gemeint ist die religiöse Freude, in die sich Trauer in gleichem Maße durch eine Unsterblichkeitserkenntnis umkehren sollte. Sie wurde von Interpreten nach 1770 sehr selten wahrgenommen. Die eigentliche Ursache von Goethes Kritik aber war der zuvor betonte Umstand, dass besonders junge deutsche Leser ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Begeisterung für diesen Text entwickelten. Düstere Betrachtungen hätten um sich gegriffen bei denjenigen, die der englischen Poesie, welche ein „ernster Trübsinn begleite“, verfielen.137 Trauer ohne Grund wurde zu Goethes Erinnerung an die Night Thoughts. Tatsächlich zeigt die Rezeptionsforschung zu Youngs Werk, dass ab 1770 immer mehr Leser annahmen, es handle sich um eine der Todessehnsucht geweihte Dichtung.138 Die Rezeption des Textes in Deutschland lässt sich daher in eine frühe, wohlwollende und produktive Phase von etwa 1745 bis 1770 und eine zweite, kritische Phase von 1770 bis 1800 einteilen. Als ein Zeitzeuge der ersten Phase nennt Friedrich Klopstock Edward Young in seinen Briefen einen Heiligen und Propheten.139 Ein Zeitzeuge der zweiten Phase, der Dichter Johann Benjamin Michaelis (1746–1772), schreibt spöttisch von einer epidemischen Modewelle unter den Lesern: „Young klagt – kein Jüngling ist, der nicht sogleich sich härmt, von Gräbern etwas lallt, vom Sterben etwas schwärmt.“140 Während die ersten Leser und Kritiker der Night Thoughts die religiöse Erbauung durch den Text lobten, ihn als Beispiel religiöserhabener Lyrik verstanden, nahm die Begeisterung bei Lesern und Autoren des Sturm und Drang ab, beziehungsweise wurde der Bedarf des Publikums an subjektiven, melancholischen Gefühlsbildern von einem anderen englischsprachigen Text gestillt: von James Macphersons Ossian. Setzt man sich heute literaturwissenschaftlich mit den Night Thoughts auseinander, wird man feststellen müssen, dass die Lektüre der zweiten, kritischen Phase die dominante geworden ist und mit dieser Bewertung eine enorme
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Howard Gaskill: The ‚joy of grief‘: Moritz and Ossian. In: Colloquia Germanica. Internationale Zeitschrift für Germanistik 28.2 (1995), S. 101–125, hier S. 103. 137 Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (wie Anm. 134), S. 630. Goethe mahnt an, dass die wahre Poesie, indem sie ein „weltliches Evangelium“ vertrete, innere Heiterkeit schaffen wolle und derart von irdischen Lasten befreie. Vgl. ebd., S. 631. 138 Vgl. Kind: Edward Young in Germany (wie Anm. 133), S. 70. 139 Meta Klopstock: Klopstock an Meta Moller am 22.12.1751; Klopstock an Meta Moller am 1.5.1752. In: Dies.: Es sind wunderliche Dinger, meine Briefe. Meta Klopstocks Briefwechsel mit Friedrich Gottlieb Klopstock und mit ihren Freunden. 1751–1758. Hg. v. Franziska und Herrmann Tiemann. München 1980, S. 100 u. S. 146. 140 Johann Benjamin Michaelis: Sämmtliche Poetische Werke. Wien 1791, S. 116.
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Diskrepanz zwischen Werk und Rezeption eingetreten ist. Die folgende Analyse der Night Thoughts will darlegen, wie der Text nach dem religiösem Verständnis der ersten Rezeptionsphase zu betrachten ist, da nur so die spezifisch literarischen Wurzeln des Kultivierungsprogramms sanfter Melancholie und ihrer Ästhetisierung in religiöser Lyrik freigelegt werden können. Ferner wird zu zeigen sein, dass zwar die Anstöße für eine kritische Lesart bereits im Text liegen (z.B. eine religiöse Idealisierung des Todes), von den Lesern aber erst später als überfordernd oder lebensfremd wahrgenommen wurden. Die ältere Forschung zu Youngs Werk konzentrierte sich entweder auf die Klärung autobiographischer Fragen, suchte nach historischen Vorbildern für die Figuren der Night Thoughts141 oder stellte die kontroverse Rezeption im deutschsprachigen Raum in den Vordergrund.142 Dies reicht nicht aus, um die Tragweite des ausgeprägten Kultivierungsprogramms sanfter Melancholie und seines formalen Emotionalisierungskonzepts in der Literatur nach 1745 zu klären, vor allem vor dem Hintergrund, dass man Young immer wieder als Vorbild für Konzeptionen der Nacht bei Friedrich von Hardenberg, Friedrich Schelling oder Johann Hölderlin vermutete. Es fehlt bisher an einer grundlegenden Analyse, die die Lehrdichtung mit Blick auf ihre literarische Strategie in den Kontext ihrer Zeit stellt. Daher soll es an dieser Stelle anfangs um die explizite Positionierung des Werkes gehen – dargebracht in Vorworten Youngs und Aussagen des lyrischen Ichs – , um die Diskrepanz zwischen der Textgrundlage und ihrer Rezeption zu verstehen. Damit klärt sich gleichermaßen das Verhältnis der Night Thoughts zur heute eher gering geschätzten Grabes- und Nachtliteratur der Zeit. Im Anschluss werden die intertextuellen Bezüge des Werkes zu Alexander Popes Essay on Man und Francis Gastrells Moral Proofs of the Certainty of a Future State im Hinblick auf die Betonung von Empfindungen im Text angeführt. In einem dritten Punkt sei das Verhältnis der im Text umworbenen, gemischten Empfindungen zum Ideal des Religiös-Erhabenen erläutert, bevor die textinternen, narrativen Positionierungen des lyrischen Ichs gegenüber den elementaren Themen Trauer und Tod, die Mitte des 18. Jahrhunderts einen grundlegenden Bedeutungswandel erfuhren, angeführt werden. Eine Auswertung der Relationen von Form und Inhalt, Rhetorik und Thematik mit Blick auf die kontemplative Todeswahrnehmung beschließt die Interpretation. Erkennbar wird, dass es Edward Young darum ging, eine gemischte Empfindung durch eine literarische Emotionalisierungsstrategie hervorzurufen, die eine religiöse Botschaft vermittelt. Literarisch wird diese angenehme Form der
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Vgl. Thomas: La Poète Edward Young (wie Anm. 43), S. 144–179, S. 342–424 u. S. 489–520. Vgl. Johannes Barnstorff: Youngs Nachtgedanken und ihr Einfluss auf die deutsche Litteratur. Mit einem Vorwort von Franz Muncker. Bamberg 1895; Kind: Edward Young in Germany (wie Anm. 133); Harold Forster: Edward Young in Translation: The German Phase 1749– 1769. In: The Book Collector 19 (1970), S. 481–500.
Melancholie implizit präsentiert,143 vor allem in lexikalischer und rhetorischer Form, oder auch explizit im Werk thematisiert. Youngs Emotionalisierungsstrategie, die den Leser sowohl schockiert als auch belohnt, wird zur Voraussetzung einer religiösen Erkenntnis, die einem Erhabenheitserlebnis der Seele gleichkommen soll.
1.2.1 Mild melancholy versus delightful horror Irreleitende Pauschalisierungen bestimmen bis heute die Rezeption der Night Thoughts und verstellen den kritischen Zugang zum Text. Über die vergangenen drei Jahrhunderte hat sich so ein fest geprägtes Fremdbild der Night Thoughts entwickelt, wie Isabel Bliss in ihrer Young-Monographie richtig anmerkt: „But many misleading generalizations, based on failure to read the poem […] and on a blind acceptance of some of the misconceptions that gained currency in the late eighteenth century, and others contributed also by ignorance and prejudice in the nineteenth century, and repeated in reference to Young in the twentieth century, are formidable deterrents to the uninformed modern reader.“144 Da die Night Thoughts nur noch selten gelesen werden, wird deren kritische Lektüre noch seltener gefordert. Die modernen Zuschreibungen der Night Thoughts zum Gothic horror müssen hinterfragt werden, um den Text als religiöse Lehrdichtung verstehen zu können. Liest man die Widmung des bekanntesten deutschen Young-Übersetzers, Johann Arnold Ebert, an den Theologen Friedrich Wilhelm Jerusalem, erfährt man, dass es sich nach seinem damaligen Verständnis um ein vortreffliches Gedicht handele, das die nützlichste und erbaulichste Szene im Menschenleben, das Todeserlebnis, überzeugend vorführe.145 Diese Perspektive auf den Sterbenden war im Übrigen eine durchaus bekannte und traditionelle literarische Blickrichtung, wie man sie in pietistischen Lebensberichten und Leichenpredigten der Zeit vorfinden konnte. Der Theologe und Schriftsteller Johann Andreas Cramer umschrieb Young seinem deutschsprachigen Publikum als einen Propheten und die
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Vgl. Präsentation von Emotionen in Texten als analytischer Begriff bei Simone Winko: Kodierte Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900. Berlin 2003, S. 108. 144 Isabel Bliss: Chanted Beneath the Glimpses of the Moon: 1742–1745. In: Dies.: Edward Young. New York 1969, S. 111–133, hier S. 111. 145 Johann Arnold Ebert: Zueigungsschrift an Se. Hochwürden Herr Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem. In: Young: Dr. Eduard Young’s Klagen, oder Nachgedanken über Leben, Tod und Unsterblichkeit. In neun Nächten. Aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt von Johann Arnold Ebert. Braunschweig 1760, o.S.
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Night Thoughts als der Offenbarung ebenbürtig.146 Seine Lektüre sei ein erhabener Genuss, der alle Seelenkräfte des Menschen mit Nahrung versorge.147 Die Night Thoughts selbst treten als eine religiöse, teilweise autobiographisch motivierte Lehrdichtung auf, die Young in den Vorworten zur siebten und achten Nacht Ungläubigen und Deisten widmet.148 Argumentativ zielt die Dichtung darauf ab, den Leser von der Existenz eines ewigen Lebens zu überzeugen, das am Ende aller Trauer stehe. In diesem Sinn fand der Text zahlreiche englisch- und deutschsprachige Nachahmer zu Beginn der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.149 Jedoch sahen bei Weitem nicht alle Leser in der meditativen Trauer eine Möglichkeit, die Unsterblichkeit des Menschen zu ‚beweisen‘. Früher als in Deutschland wurde Youngs Dichtung durch englische und irische Autoren abgelehnt.150 Im Vergleich zu deutschsprachigen Ländern stand sie in Irland und England früh unter dem Verdacht, eine überkommene Todesmeditation zu pflegen, die allein depressiv mache. Die Bezeichnung „Nacht- und Grabdichtung“151 und die Zuordnung der Night Thoughts zur graveyard poetry sind problematisch, da die wenigen gemeinsamen Elemente der graveyard school unzureichend in den Night
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Vgl. Johann Andreas Cramer: [Rezension zu Youngs Nachtgedanken, K.B.] In: Ders. (Hg.): Der nordische Aufseher. Bd. 1. 13. St. Kopenhagen u. Leipzig 1760, S. 158–182, hier S. 160f.: „Unter den Schriftstellern […] verdient in der höheren Classe den ersten Rang D. Eduard Young, […] der ehrwürdigste Greis, und noch in seinen hohen Alter ein Genie, das nach weit über einen Milton erhoben ist, sondern auch unter den Menschen am nächsten an den Geist Davids und der Propheten grenzt; ein Mann, der […] deswegen am meisten bewundert und geliebt zu werden verdient […]. Nach der Offenbarung kenne ich fast kein Buch, welches ich mehr liebte; kein Buch, welches die Kräfte meiner Seele auch eine edlere Art beschäftigte, als seine Nachtgedanken.“ 147 Vgl. ebd., S. 161–164. 148 Young: Preface. In: Ders.: The Complaint: or, Night Thoughts (wie Anm. 131), S. 117–120 u. S. 147–150. 149 Vgl. Anonym: Night Thoughts among the Tombs, or the Noctuary. In Blank Verse. With a Poem on the Last Day. London 1753; Thomas Denton: Immortality, or the Consolation of Human Life. A Monody. London 1754; Anonym: Religious Conscience, or the Morning and Evening Sacrifice. A Poem. In Imitation of Dr. Young’s Night Thoughts. London 1755; Anonym: Klage bei dem Tode der Geliebten. Altenburg 1753; Philipp Ludwig Statius Müller (Hg.): Einsame Nachtgedanken. Eine Wochen-Schrift, oder moralische Betrachtungen über die Welt und weltliche Begebenheiten. Erlangen 1757–1758. 150 William Warburton, der spätere Bischof von Gloucester, nannte die Night Thoughts schon 1743 eine „dismal rhapsody“ und fürchtete die Verfinsterung der Seelen durch ihre Lektüre. Der irische Dichter Henry Jones antwortete mit einer Polemik: The Relief; Or, Day Thoughts: A Poem Occasioned by the Complaint, or Night Thoughts. London 1754; vgl. ebenso Anonym: The Vindication: or, Day-Thoughts on Wisdom and Goodness: Occasioned by The Complaint, or, Night-Thoughts on Life, Death, and Immortality. London 1753; vgl. dazu die Zusammenfassung von Ute Mohr: Melancholie und Melancholiekritik im England des 18. Jahrhunderts. Frankfurt am Main u.a. 1990, S. 197–199. 151 Vgl. Paul van Tieghem: La poésie de la nuit et des tombeaux en Europe au XVIIIe siècle. 2. Aufl. Genf 1970; Gerhard Haefner: Formen der Nacht- und Grabesdichtung (wie Anm. 8), S. 112–132.
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Thoughts erfüllt sind.152 Stattdessen verleitet dies zur Annahme, die Night Thoughts würden den Leser mit angenehmem Schrecken statt mit melancholischen Stimmungsbildern unterhalten wollen. Ferner haftet der Gruppe ein Ruf an, den Goethe im Faust II zur Satire nutzte und der für affektheischende Dichtung stand, die Übungsstücke auf dem Weg zur Gothic literature darstellten.153 Für diese Untersuchung ist es jedoch wichtig, zwischen sanfter Melancholie und angenehmem Schrecken bzw. Horror zu unterscheiden als auch von einem möglichst objektiven Standpunkt aus Erkenntnisse zu definieren. Motive eines angsteinflößenden, nächtlichen Friedhofs mit seinen Schädeln, Ruinen und Eulenrufen, die etwa Robert Blair verwendete, lehnte Young ab. Isabel Bliss betont die Problematik dieser Zuordnung, da infolgedessen die Night Thoughts immer wieder falsch interpretiert werden: „To consider the Night Thoughts as belonging in this group is one of the most serious misconceptions of Young’s masterpiece and indicates a failure to read the poem. None of the characteristic elements are developed; […] Contrary to what some illustrators later chose to depict, the setting is not that of a cemetery.“154 Im Vergleich mit einem etwa zeitgleich erscheinenden Gedicht Robert Blairs, The Grave (1743), sah es Young nicht als seine Aufgabe, „the gloomy Horrors of the Tomb“155 zu zeichnen. In seinem didaktischen Gedicht von etwa 800 Versen betonte Blair die Ängste und den Glauben des Menschen an Übernatürliches. Hier geht es um das Unheimliche, nicht um Trauer. Blairs Szenerie erinnert an die spätere Gothic literature: „Doors creak, and Windows clap, and Night’s foul Bird, / Rook’d in the Spire screams loud.“156 Das Erlebnis, das der Text dem Leser verschaffen will, „makes one’s Blood run chill.“157 Blair beschreibt den Schrecken des Grabes als ein temporäres, kühles Bett mit einer abschließenden Wendung zum Erlösungsgedanken aller Seelen in einem Jenseits. Die ausführlich geschilderte Verwesung des Körpers und die übernatürlichen Vorstellungen von Untoten bieten die anregende Grundlage seiner Vorbereitung auf ein verheißungsvolles Ende in der Auferstehung. Mit Blick auf seine finale Botschaft zielte Robert Blair ebenso auf eine gemischte Empfindung, die aber im Gegensatz zu Youngs ‚mild
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Es ist fraglich, ob man mit Recht von einer solchen Dichterschule sprechen darf. Letztlich handelt es sich bei dem lose assoziierten Verband von Dichtern um Autoren, die das Sujet „das Grab/der Friedhof“ auf unterschiedlichstem Niveau bedienen, gleichgültig mit welcher intentionalen Ausrichtung oder stilistischen Eigenart. 153 Vgl. dazu Johann Wolfgang von Goethe: 1. Akt. Lustgarten. In: Faust. 2 Bde. Hg. v. Albrecht Schöne. Bd. 1: Texte. Frankfurt am Main 1994, S. 225: „Die Nacht- und Grabdichter lassen sich entschuldigen, weil sie soeben im interessantesten Gespräch mit einem frisch erstandenen Vampyren begriffen seien, woraus eine neue Dichtart sich vielleicht entwickeln könnte.“ 154 Bliss: Edward Young (wie Anm. 144), S. 125. 155 Robert Blair: The Grave. A Poem. London 1743, S. 3, Vers 5. 156 Ebd., S. 5, Verse 34f. 157 Ebd., S. 5, Vers 44.
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melancholy‘ im Bereich eines ‚delightful horrors‘ liegt. Diese Unterscheidung zwischen Gothic literature und graveyard poetry macht auch Evert Jan van Leeuwen, um zu erklären, dass Autoren wie Young zu religiösen Erfahrung anregen wollen: „In Gothic fiction the gloomy imagery of churchyards, graves, corpses and ghosts is often linked to psychologised concepts such as revulsion, morbid fascination, fear and superstition. In graveyard poetry, by contrast, the same imagery functions to communicate to the reader a religious experience: namely, the ecstasy of true faith, which makes the speakers in the poems desire the grave out of curiosity.“158 Diesen anregenden Schauer findet man in den Night Thoughts dezidiert nicht, denn statt des Schreckens wollen sie Trauer zur Lehre und Unterhaltung einsetzen. Young verwendete dazu einen unverorteten Raum, aus dem das erwachende lyrische Ich spricht, dessen Schlaflosigkeit immer in ein Gespräch mit dem Alter Ego Lorenzo mündet. Statt Ruinen und Gräber abzubilden, behandelte Young mit einem aus heutiger Sicht überstrapaziertem religiösem Eifer die abstrakte Frage nach der Unsterblichkeit des Menschen. Sein lyrisches Ich spricht aus der seiner Ruhelosigkeit zu seinem antagonistischen Gesprächspartner Lorenzo und nicht zuletzt zum Leser. Die gemischte Empfindung, die von seinem Werk ausgehen sollte, ist eine Freude am gottgefälligen Leiden. Das Christentum kennt solche selbstkasteienden Vorstellungen durch die Bibel, Thomas von Aquin oder Martin Luther.159
1.2.2 Der Melancholiker und die frohe Botschaft Aus der Vorrede Youngs zur ersten Nacht ergibt sich das Bild eines durch Todesfälle in seiner Familie motivierten, prophetischen Schreibens, das zunächst versuchsweise betrieben und durch sein eigenes Empfinden diktiert wird.160
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Van Leeuwen: Funeral Sermons and Graveyard Poetry (wie Anm. 17), S. 353. Vgl. Prediger 7, 2–4: „Es ist besser in das Klagehaus gehen, denn in ein Trinkhaus; in jenem ist das Ende aller Menschen, […] Es ist Trauern besser als Lachen; denn durch Trauern wird das Herz gebessert. Das Herz des Weisen ist im Klagehaus, und das Herz des Narren im Hause der Freude.“ In: Die ganze Heilige Schrift deutsch. Hg. v. Hans Volz. Übers. von Martin Luther. München 1972; vgl. ebd. Paulus im 2. Korinther 7, 10: „Denn göttliche Traurigkeit wirkt zur Seligkeit eine Reue, die niemand gereut; die Traurigkeit aber der Welt wirkt den Tod.“; vgl. Thomas von Aquin: Die Liebe (Teil 2). Klugkeit. Kommentiert von Josef Endres. In: Ders.: Summa Theologica. 34 Bde. Hg. v. Albertus Magnus Akademie. Bd. 17 B: 2–2. 34– 56. Heidelberg 1960, S. 27: „Traurigsein über das Gute in Gott, gutes Traurigsein über die Sünde“; vgl. Martin Luther: „Besser ist eim Christen, daß er traurig sei, denn sicher, wie die Welt pfleget.“ In: Ders.: D. Martin Luthers Werke. 127 Bde. Hg. v. Rudolf Hermann und Gerhard Ebeling. Abt. 2. Bd. 1: Tischreden. Weimar 1912, S. 405. 160 Vgl. Edward Young: Preface. In: The Complaint, or Night-Thoughts on Life, Death and Immortality. Night the First. London 1743, S. If.: „As the Occasion of the Poem was Real, not
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Schließlich sei das Werk von der Dichtung der Zeit verschieden, da es wenig Handlung, aber viel moralische Aussage biete. Young stellte gezielt eine Distanz seiner Dichtung zur Parabel oder Allegorie her. Sein Schreiben sei den Themen selbst geschuldet, die auf natürliche Weise moralische Gedanken beim Betrachter auslösen müssten.161 Der Autor umwarb die psychologisierende Gedankenabfolge des lyrischen Ichs als natürlichste Darstellungsform. Sie sei dem menschlichen Verstehen am angemessensten. Auf Drängen des Verlegers Samuel Richardson wurde das Vorwort der vierten Nacht nachträglich zur Vorrede des gesamten Werkes. Hier schreibt Young, es sei ungewiss, ob er diese Arbeit weiterführen werde, da es sich bei seiner Motivation um eine temporäre Neigung handle.162 Werbewirksam suggeriert er die flüchtige Stimmung einer inspirierenden Wehmut. Weiterhin informiert er, die von ihm gebrauchte Methode sei „rather imposed, by what spontaneously arose in the Author’s Mind, on that Occasion, than meditated, or designed.“163 Die Dichtung erhebt keinen Anspruch auf durchdachte Komposition, sondern unterwirft sich selbst dem Diktat der dominanten Seeleneindrücke. Dieser konventionelle Eingang einer Bekenntnisschrift wiederholt sich in jeder einzelnen Nacht. Die vierjährige Produktionsgeschichte der Night Thoughts spiegelt die Länge des Werkes in seiner allmählich überbordenden Anlage und den Charakter der Nächte als jeweils eigenständiger Erbauungsschriften.164 Ebenso relativiert Young seine Absichten, ein Ganzes zu schaffen, indem er berichtet, der Versuch der Night Thoughts „was entered on purely as a Refuge under Uneasiness, when more proper Studies wanted sufficient Relish to detain the Writers’s Attention to them. And that Reason […] ceasing, the Writer has no farther Occasions, I shou’d rather say Excuse, for giving in, so much to the Amusements, amid the Duties, of Life.“165 Mit dem Verzicht auf Einheit und Vollkommenheit traf Young den zeitge-
Fictitious; so the Method pursued in it, was rather Imposed, by what Spontaneously arose in the Author’s Mind, on that Occasion, than meditated, or designed.“ 161 Vgl. ebd., S. If.: „For it differs from the common Mode of Poetry, which is from long Narrations to draw for short Morals. Here, on the contrary, the Narrative is short, and the Morality arising from it makes the Bulk of the Poem. The Reason of it is, That the Facts mentioned did naturally pour these moral Reflections on the Thoughts of the Writer.“ 162 Young: Preface. In: Ders.: The Complaint: or, Night-Thoughts on Life, Death and Immortality. Night the Fourth. London 1744, S. If., hier S. II. 163 Ebd., S. I. 164 Zwischen 1742 und 1745 schrieb Young an den neun Nächten des Werkes. Bis 1747 waren alle Nachtgedanken anonym und einzeln erschienen. Erst in 1750 erstellte man eine vollständige englische Ausgabe aller neun Nächte. So finden sich in deutscher Sprache viele Teilübersetzungen, vor allem der vierten Nacht (Der christliche Triumph), dem vorläufigen Höhepunkt des Werkes. Folgt man dem ersten Verleger Youngs, Robert Dodsley, so hätte Young schon mit der siebten Nacht ein Ende finden müssen. Dort beendete er seine Zusammenarbeit mit ihm. Tatsächlich wurden die Nachtgedanken eines der am meisten aufgelegten Werke des 18. Jahrhunderts. 165 Young: Preface. In: Ders.: The Complaint (wie Anm. 160), S. II.
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nössischen Wunsch nach regelloser, fragmentarischer Kunst, die allein von Seeleneindrücken geleitet schien. Gattungsspezifisch spielte Young auf das Genre der Bekenntnisschrift an, deren Merkmale er zu seinen Zwecken veränderte. Charakteristisch für die Night Thoughts ist der Stil bekenntnisartiger, in die Nacht hineingesprochener Beschäftigungen mit dem Selbst und im Anschluss daran mit der Frage nach Gott.166 Das lyrische Ich beklagt den Tod dreier Menschen und schafft gewisse Analogien zu Edward Youngs Leben. Zur biographischen Interpretation liefern die vom lyrischen Ich erwähnten Verstorbenen keinen Aufschluss. Die verschleierten Andeutungen regen aber gezielt zu Spekulationen an. Youngs Andeutungen erleichtern dem Publikum Autorkonstruktionen, da sie genügend Fragen offen lassen, um eine Spekulation über Biographisches reizvoll zu machen. Manche dieser Legendenbildungen stellen den größten Teil der Rezeption und deren Erforschung dar.167 Das Werk berichtet von drei Todesfällen in relativ kurzer Abfolge, die mit den Todesfällen in Youngs Familie korrespondieren können.168 Dennoch sind die Andeutungen in der Dichtung so verschleiert, dass sie einer Legendenbildung Vorschub leisteten, die Young als depressiven, düsteren Pastor zum Mittelpunkt hat, der im katholischen Frankreich seine früh verstorbene Stieftochter bei Nacht begraben muss.169 Die Schlaflosigkeit
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Edward Young steht in einer Tradition mit Pascals Pensées (1670), der ebenso plötzlich motiviert durch ein persönliches Ereignis (die „Wunderheilung“ seiner Nichte 1656), eine christliche Apologetik zu Papier zu bringen versuchte. Die darin enthaltene Dialektik und die Vorstellung vom Menschen als einem, der auf der Flucht vor dem Tod ist, gleichen den Gedanken Youngs. 167 Vgl. Kind: Edward Young in Germany (wie Anm. 133), S. 61: „They did not know that the three darts which the ¸insatiate archer‘ aimed at Young’s happiness hit during a period of four years, […] they overlooked the artificiality of the ,Complaint‘, and did not realize the bombast and insincerity of the poet-preacher, who was quite gay and dissipated in youth and was weaned from the world only when age overtook him. To the Germans, Young’s life was that of a saint, his grief the wail of an immortal in the wilderness of mortal sins and weaknesses; and so the courtier and disappointed flatterer became for his cousins across the Channel the essence of all that is good and noble in the Christian, the guide to life.“ 168 Gemeint sind der Tod der Stieftochter Youngs, Elizabeth Temple (1736), der Tod seiner Frau Elizabeth Young (1740) und seines Freundes Thomas Tickell (1740) bzw. seines Schwiegersohns Henry Temple (1740). 169 Vgl. die Beschreibung von Narcissas Grab im Ausland. Edward Young: The Complaint, or: Night-Thoughts in Life, Death and Immortality. Night the Third. London 1750, S. 46. In Lyon starb die Stieftochter Elizabeth Temple am 8. Oktober 1736, sehr wahrscheinlich spielt Young darauf an. Die römisch-katholische Kirchengemeinde von Lyon ließ nicht zu, sie auf ihrem Friedhof zu bestatten. Auf dem Friedhof der Schweizer Kolonie in Lyon wurde sie bei Nacht begraben. Vgl. dazu Bliss: Edward Young (wie Anm. 144), S. 91–110, hier S. 94.
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Youngs, hervorgerufen durch die Anfänge der Nächte in Ruhelosigkeit, wurde legendär; die Anonymität, in der seine Werke zunächst erschienen, konnte dem vor allem in Deutschland bald einsetzenden Personenkult keinen Abbruch tun.170 Dass Young mit seiner melancholischen Selbststilisierung eine Strategie der Publikation betrieb, wird klar, wenn man das Vorwort zu ersten Gesamtausgabe von 1750 liest. Er spricht dort die Erkenntniskräfte an, die für seine literarische Strategie maßgeblich sind: Emotionen. Statt einer verstandesgemäßen Argumentation bevorzugt er „inclination“: „Sensible Appearances affect most Men much more than abstract Reasonings; and we daily see Bodies drop around us, but the Soul is invisible. The Power which Inclination has over the Judgement, is greater than can be well conceived by those that have not had an Experience of it.“171 Die Argumente, die er für die Unsterblichkeit des Menschen und damit für eine Gottesebenbildlichkeit heranziehen möchte, entstammen dem Bereich der Emotionen (wie z.B. Unzufriedenheit, Leidenschaften, Furcht vor dem Tod, Ehrgeiz, Neid und Freude).172 Aus diesem Grund ist es sinnvoll, die literarischen Referenzpunkte zu betrachten, die Young im Werk zu Autoren zieht, die sich mit der Wirkung von emotionalen Dispositionen in religiöser Offenbarung beschäftigt haben.
1.2.3 Gefühl und Verstand. Offenbarung bei Alexander Pope, Francis Gastrell und Edward Young Bevor die Verbindungen zwischen Youngs Lob der Leidenschaften und Alexander Pope sowie Francis Gastrell gezogen werden, die beide für die Teilnahme der Emotionen in einem Prozess der Erkenntnis plädieren, möchte ich auf die frühen Kenntnisse von Emotionstheorien bei Edward Young hinweisen. Diese Vorkenntnisse zeigen dessen durchaus theoretisches Interesse an Emotionen („passions“). Der Zusammenhang von Religiosität und „passions“ war Young weit
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Harold Forster schreibt über die Entstehung der Nachtgedanken, Edward Young habe seit 1740 zunehmend an Schlafstörungen, Depressionen und Rheumatismus gelitten. Außerdem habe er den größten Teil der Nacht mit Meditation und Komposition zugebracht. Der am Tag ausgeglichene Young sei in der Nacht zum depressiven Dichter geworden, so Harold Forster: Edward Young. The Poet of the Night Thoughts 1683−1765. Alburgh 1986, S. 174–193, hier S. 174. 171 Young: Preface. In: ders.: The Complaint, or Night Thoughts (wie Anm. 131), S. 117–119, hier S. 118. 172 Vgl. ebd., Contents, S. 151f.: „In the Sixth Night Arguments were drawn from Nature, in Proof of Immortality: Here, others are drawn from Man: From his Discontent, p. 154; from his Passions and Powers, 155; from the gradual Growth of Reason, ibid; from his Fear of Death; 156; […] from the Nature of Ambition; 162, &c. Avarice, 165; Pleasure, 166. A Digression on the Grandeur of the Passions, 167. Immortality alone renders our present State intelligible, 167, 168.“
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vor den Night Thoughts bekannt. Er schrieb jedoch schon früh, dass Emotionen nur dann glücklich machen könnten, wenn sie auf die überirdischen Ziele gerichtet seien. Neben dem klassischen rhetorischen Nutzen von Affekten und deren Wirkung kannte Young die zeitgenössischen Auffassungen von Emotionen im religiösen und erkenntnistheoretischen Kontext. Seine Schrift A Vindication of Providence (1728, später A True Estimate of Human Life. In Which the Passions are Considered in a New Light) nennt die große Bedeutung der Emotionen für religiöses Leben.173 Darin versucht Young die Wahrnehmung der irdischen Welt durch den Einfluss von Emotionen auf den Menschen zu verstehen. Er beginnt die Abhandlung mit der Annahme, dass die zeitgenössischen Leser ohnehin so stark mit Konzeptionen von Empfindungen beschäftigt seien, dass sie einem solchen Thema im Titel Aufmerksamkeit schenken würden.174 Die Einleitung weist nach, dass Young die theoretische Diskussion um Emotionen zur Kenntnis genommen hat, vor allem Descartes Les Passions de l’âme. Er unterschied zwischen physiologischen, moraltheoretischen und rhetorischen Theorien von Emotionen.175 Schon in A Vindication of Providence beschrieb er Emotionen als die schmerzvollen Antriebskräfte des Lebens, die vor dem Grab keinen Halt machen: But I do not know that they [the passions, K.B.] have been consider’d in a System, or with any Accuracy, as the Pains, and Promoters of the Pains of Life. In this View I shall speak of them, with as much Light, and Distinction, as I can. It is the Passions that give the perpetual Motionof human Life, that roll us from Place to Place, from Object to Object, nor will the Grave itself afford them Rest.176
Diese negative wie umfassende Kraft machte Youngs frühes Emotionsbild aus. Mit ihr kalkulierte er aber auch seinen literarischen Auftritt und machte sie zum Lockmittel für potentielle Leser. Bemerkenswert ist die Einheit von Körper und Geist, die eine Auseinandersetzung mit Emotionen erst notwendig macht: We consist of Soul, and Body; the Passions are the Wants of the Soul, as the Appetites may be call’d the Passions of the Body. […] And as Passions are the Pains […] so are they the Destroyers too, of our Nature. They pain the whole Soul, they confound the Memory, make wild the Imagination, and hurt the Understanding, like Ebriety, which they resemble in their Natural, and More ill Consequences.177
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Vgl. Edward Young: A Vindication of Providence: or, a True Estimate of Human Life. In Which the Passions are Consider’d in a New Light. Preach’d in St. George’s church near Hanover-Square. London 1728. 174 Er gibt zu, seine Schrift mit diesem Thema zu bewerben. Ebd., Preface, o.S. 175 Vgl. ebd., S. 34: „An Account of the Passions is properly a History of the Active Part of the Soul, as an Account of the Understanding is of the Contemplative. […] They have by others been consider’d Physically, as they constitute Part of our Nature; Morally, as they influence Virtue and Vice; and Rhetorically, with regard to composition.“ 176 Ebd., S. 34. 177 Ebd., S. 49.
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In der Folge werde ich zeigen, dass Young sich trotz seiner stoischen Einflüsse eine wohldosierte Trunkenheit durch Emotionen für die Night Thoughts zunutze gemacht hat. Impulse für diese Bevorzugung der Emotionen mögen Alexander Pope und Francis Gastrell geliefert haben. Erst aufgrund von Youngs Auseinandersetzung mit Emotionen und deren Wirkung in literarischen Emotionalisierungsstrategien konnten die Night Thoughts so erfolgreich werden. Popes deistischer Essay on Man und Gastrells physikotheologische Moral Proofs for the Certainty of a Future State sind die Quellen, auf die sich Young bei der Niederschrift der Night Thoughts direkt bezieht. Sie tragen zu seinem Verständnis von erkenntnisbringenden Emotionen und deren Bedeutung für die persönliche Selbsterfahrung bei.178 Grundlegend verhalfen sie Young zu einem anthropologischen Bild, das Emotionen nicht nur als zerstörerische Kräfte, sondern auch als Teil menschlicher Befähigung versteht. Gemäß dieser Aufwertung erklärte Edward Young alle Arten der emotionalen Selbsterfahrung zu Anzeichen göttlicher Ebenbildlichkeit. So erscheinen die Night Thoughts als eine vermittelnde Antwort auf den physikotheologischen Rationalismus des Boyle lecturers Gastrell und das deistische Menschenbild Popes, indem Young den emotional befähigten Menschen mit älteren Traditionen der religiösen Selbstaffizierung verknüpft hielt.179 Es ging ihm bei dieser Einbindung emotionaler Fähigkeiten in eine vernunftkonforme Religion nicht um eine willenlose ‚Wiederverzauberung‘ ihrer Anhänger, sondern um einen ebenso bewussten Umgang mit sinnlichen Erkenntniskräften. Sowohl aus der deistischen Lyrik Alexander Popes als auch aus der physikotheologischen Schrift Francis Gastrells entnahm Young die Idee der reflektierten Emotion als eines wichtigen Bestandteils im Prozess der (religiösen) Selbsterkenntnis. Es ist dieser Gedanke, den Young als Grundlage seiner literarischen Emotionalisierungsstrategie verwendete und schon bei literarischen Vorläufern wie Singer-Rowe angedeutet sah.Young schätzte das Talent Popes sehr, distanzierte
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Vgl. Isabel Bliss: Young’s Night Thoughts in Relation to Contemporary Christian Apologetics. In: Publications of the Modern Language Association 49 (1934), S. 37–70; Daniel W. Odell: Young’s Night Thoughts as an Answer to Pope’s Essay on Man. In: Studies of English Literature 12 (1972), S. 481–501; Douglas Lane Patey: Art and Integrity: Concepts of Self in Alexander Pope and Edward Young. In: Modern Philology 83 (1985), S. 364–378; Cecil Vivian Wicker: Edward Young and the Fear of Death. A Study in Romantic Melancholy. Albuquerque 1952. 179 Vgl. zur Prägung einer religiösen Ästhetik als Antwort auf deistische Religionskonzepte Ernst Müller: Ästhetische Religiosität und Kunstreligion. In den Philosophien der Aufklärung bis zum Ausgang des deutschen Idealismus. Berlin 2004, S. 13: „Die vernünftige Interpretation der Religion, gleichermaßen von Spinoza wie vom englischen Deismus entworfen, hatte zur Folge, dass ihre Kritiker auf der sinnlich-ästhetischen Dimension der Religion beharrten.“
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sich aber von ihm, als dessen deistische Haltung offensichtlicher wurde.180 Popes Essay on Man muss Young in einigen entscheidenden Punkten unvereinbar mit seinem eigenen Menschenbild erschienen sein: Die Einzigartigkeit des Gott ebenbildlichen Wesens und der darin liegende Beweis seiner Unsterblichkeit waren bei Pope nicht zu finden. Young reagierte darauf, indem er ebendiese Unsterblichkeit des Lebens in den Night Thoughts betonte. Er drückte so seine Unzufriedenheit mit einem Menschenbild aus, das sich mit der Fehlerhaftigkeit auf Erden zu arrangieren versucht hatte. Pope entwarf in seinem Essay das Bild eines Individuums, das der stetigen Verbesserung seines Selbst bedürfe (‚infinite perfectibility‘), während Young in der Entrückung aus dem status quo die schließliche Perfektion des Menschen sah.181 Die Night Thoughts wurden daher auch als eine Antwort auf den Essay on Man geschrieben und in der ersten Nacht als ein Essay on Immortal Man bezeichnet: „Man too He sung; Immortal Man I sing.“182 Obwohl beide Autoren die Idee von einer Welt, die nach einem Plan geschaffen wurde, teilten, betonte Pope die Bereitschaft des Menschen, seinen Status auf Erden anzunehmen, während Young die Notwendigkeit unterstrich, bereits im Leben nach einer Unsterblichkeit zu streben. Über diesen nicht unwesentlichen Punkt hinaus waren beide der Meinung, dass Sehnsucht und Leidenschaften die entscheidenden Faktoren im Prozess jedes Gottesverständnisses seien. Es ist wichtig zu bemerken, dass viele der emotions- und moraltheoretischen Ideen, wie sie Young unter anderem in Popes Essay vorfand, vom Moralphilosophen Anthony Earl of Shaftesbury stammen. Aber nicht nur mit seinem intertextuellen Bezug zu Pope stellte Young eine indirekte Verbindung zum emotionsorientierten Moralbegriff Shaftesburys her; sein Werk erschien zugleich auf dem Höhepunkt der christlichen Shaftesbury-Rezeption in England, die trotz Shaftesburys kritischer Haltung gegenüber dem Christentum bis zum Anfang der 1740er Jahre gestiegen war. Wie Isabel Rivers darlegt, bestand von Seiten christlicher Philosophie ein großes Interesse daran, Shaftesburys Denken in das christliche Moralsystem zu integrieren.183 In Youngs Night Thoughts spiegelt sich Shaftesburys Idee vom ethischen Handeln, das durch die moralische Qualität der
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Vgl. Edward Young: Two Epistles to Mr. Pope, Concerning the Authors of the Age. Dublin 1730. Young schreibt darin polemisch über die Autoren der Zeit, deren französische Einflüsse er nicht billigt. Stattdessen favorisiert er britische Kulturprojekte. 181 Vgl. Patey: Art and Integrity (wie Anm. 178), S. 373. 182 Young: Night the First. In: Ders.: The Complaint: or, Night Thoughts (wie Anm. 131), S. 15. 183 Vgl. Isabel Rivers: Reason, Grace and Sentiment: a Study of the Language of Religion and Ethics in England, 1660–1780. 2 Bde. Bd. 2: Shaftesbury to Hume. Cambridge 2000, S. 151: „His philosophical followers, by disregarding on the whole his sceptical side, were able to incorporate his ethics into the Christian tradition from which he had deliberately divorced himself.“; ebd., S. 187 „It is not surprising that more orthodox Christians responded with horror to the Shaftsburian educational and publishing programme that began in the 1720s and burgeoned on the 1740s with the works of Turnbull, Fordyce, Hutcheson, Moor, and the Foulis brothers.“
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Emotionen eingelöst werden kann und auf individuellen Emotionsregungen sowie deren kritischer Prüfung beruht. Der Mensch soll den Ursachen seiner Emotionen nachgehen, um moralisch handeln zu können. Youngs Night Thoughts rufen zu einer solchen Selbstprüfung der Emotionen auf. Zudem erklärte Shaftesbury die gemischte Empfindung als das Krisenmoment, das für ein Erhabenheitserlebnis notwendig sei. Wie bereits dargelegt, nahm Young trotz oder aufgrund seiner Positionierung gegen deistisches Gedankengut Popes literarische Adaption Shaftesburys im Zusammenhang mit moralischer Orientierung auf. In Abgrenzung zum rationalistischen Weltbild und einer Entmystifizierung der Offenbarung setzte Young auf die Sinnlichkeit der Religion und plädierte für ein Zusammenspiel von Emotionen und Verstand. Das moralische Gefühl, bei Shaftesbury dezidiert ohne religiösen Einfluss gedacht, fußt bei Young auf den göttlichen Anlagen des Menschen. Es wird durch die Zurückdrängung von Institutionen und Dogmen zur verlässlichen Korrekturhilfe in einem religiösen Leben. Sowohl Young als auch Pope betonten die Selbsterfahrung der Persönlichkeit durch eine Mischung von Beobachtung und Experiment. Gemäß seiner Natur sollder Mensch nach Offenbarung oder doch zumindest nach Tugend forschen und damit auch die Ursachen seiner Gefühle finden. So verwendete Pope das Motiv des Sturms als Beschreibung der emotionalen Krise, die jeder religiösen Erkenntnis zuvorkommen müsse. Damit betonte er ausdrücklich die Krise der Leidenschaften, die jeder durchleben solle, der nach Lebensweisheit suche: In lazy apathy let Stoics boast Their virtue fix’d, ‘tis fix’d as in a frost, Contracted all, retiring to the breast; But strength of mind is exercise, not rest; The rising tempest puts in act the soul, Parts it may ravage, but preserves the whole. On life’s vast ocean diversely we sail, Reason the card, but Passion is the gale; Nor God alone in the still calm we find, He mounts the storm, and walks upon the wind. Passions, like elements, tho’ born to fight, Yet mix’d and soften’d, in his work unite: These ‘tis enough to temper and employ; But what composes Man, can Man destroy? Suffice that Reason keep of Nature’s road, Subject, compound them, follow her and God. Love, Hope, and Joy, fair pleasure’s smiling train, Hate, Fear, and Grief, the family pain; These mix’d with art, and to due bounds confin’d Make and maintain the balance of the
Laß prahlen Stoiker mit Apathie; Was starr wie Eis, halten für Tugend sie, beschränkt auf innere Gefangenschaft; doch Übung, nicht die Ruh, bringt Geisteskraft. Ein Wirbelsturm die Seele aktiviert; auch teils zerstört das Ganze weiterführt. Vereinzelt auf dem Lebensmeer wir sind: Vernunft ist Kompaß, Leidenschaft der Wind. Wir finden Gott nicht nur in stiller Ruh; Er fährt im Sturm und kommt im Wind herzu. Durch Leidenschaft, Elementen gleich, trotz Widerstreit vereint, sein Werk wird reich. Zu zügeln und zu nutzen sie, genügt. Kann man zertör’n, was uns zusammenfügt? Vernunft halt’ sie bei der Natur Gebot, befehle ihnen, folge ihr und Gott. Lieb’, Hoffnung, Freude, Lust am Schmerz, Haß, Furcht und Angst und all der Gram und Schmerz, gehörig eingeschränkt, geschickt gemischt. Bewirken stetes Seelengleichgewicht.
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mind: The lights and shades, whose well accorded strife Gives all the strength and colour of our life.
Von Licht und Schatten wohldosierter Streit Gibt unserm Leben Kraft und Farbigkeit. 184
Verstand als die Karte und Leidenschaften als die treibenden Stürme seien die notwendigen Helfer in der erfolgreichen Erlangung von Selbsterkenntnis. Pope präsentiert dem Leser einen Gott, der nur im Moment der emotionalen Verwirrung gefunden werden kann. Was gefährlich erscheint, ist als nützlich zu bewerten:„Passions, like elements, tho’ born to fight, / Yet mix’d and soften’d, in his work unite: / These ‘tis enough to temper and employ.“185 Die Überzeugung Popes ist die Annahme, dass unser Wissen, die gegenwärtige Freude und Zukunft allein von unserer Selbsterkenntnis abhängen. Diese leitet sich zu einem großen Teil aus emotiver Erkenntnis ab. Die Ausgewogenheit der Emotionen und die ständige Beschäftigung der Seele mit ihnen sind weitere Voraussetzungen für das Glück des Menschen. Emotionen werden so zu wichtigen Impulsgebern kritischen Denkens und moralischer Standpunktbestimmung für das 18. Jahrhundert. Der emotionale Konflikt in den Night Thoughts zielt mehr auf eine Selbstbestätigung ab, als dass er ein Ergebnis offen lässt: Literarische Figuren und mitfühlende Leser genießen eine melancholische Stimmung, in der sie ihre eigenen moralischen Standpunkte bestätigt finden. Wie Popes Vorbild Shaftesbury zu Anfang des Jahrhunderts reformuliert hatte: Selbst in Momenten der Furcht und Trauer finde man Freude und genieße Übereinstimmung mit moralischen Standpunkten.186 Young vertraute darauf, dass der Leser sich besonders unterhalten und angesprochen fühle, wenn die Illusion eine melancholische sei. Zudem erklärt sein Werk, dass die melancholischen Gefühle beim Leser eine Suche nach Tugend fördern sollten. Dieser theoretischen Annahme folgend, entwarf Young eine Sittenlehre auf der Basis einer Emotionalisierungsstrategie, die den Menschen in den Zustand künstlicher Trauer versetzen sollte. Das prä-psychologische Bild vom Menschen und eine generelle Qualifizierung der Emotionen sind dabei Grundvoraussetzungen dieser Lyrik. In seiner Rezeption der Moral-Sense-Theorie verfestigte sich die Annahme, der Mensch benötige Emotionen, um eine mora-
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Alexander Pope: Vom Menschen. Essay on Man. Übers. von Eberhard Breidert. Mit einer Einleitung von Wolfgang Breidert. Hamburg 1993, S. 44f., Verse 101–120. 185 Ebd., S. 44f. 186 Vgl. Anthony Earl of Shaftesbury: Inquiry Concerning Virtue and Merit. In: Ders.: Characteristics. Hg. v. John M. Robertson. 2 Bde in 1 Bd. New York 1964, S. 297f.: „We may observe withal, in favour of the natural affections, that it is not only when joy and sprightliness are mixed with them that they carry a real enjoyment above that of the sensual kind. […] We find by ourselves that the moving of our passions is in this mournful way, the engaging them in behalf of merit and worth, and the exerting […] is of the highest delight, and affords a greater enjoyment in the way of thought and sentiment than anything besides can do.“
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lische Unterweisung erfahren zu können, die nicht allein auf dogmatischer Vermittlung beruhe. Mit anderen Worten: Die gemischten Empfindungen garantierten einen Moment der (vorgeblichen, künstlichen) Unentschlossenheit, der reflektiert werden konnte und der selbst zur Voraussetzung für emotionale Selbsterkenntnis wurde. Die Niederschrift der Night Thoughts dauerte vier Jahre. Aus zunächst vier geplanten Nächten wurden schließlich neun. Die letzten drei Nächte weichen vonden ersten in ihrer Argumentation derart ab, dass sie Youngs Hinwendung zu einer stärker rationalistisch orientierten Auffassung von Offenbarung veranschaulichen. Eine Erklärung für diesen Wandel ist der spätere Einfluss von Francis Gastrells A Moral Proof for the Certainty of a Future State (1725). In diesem Werk versucht der ehemalige Boyle lecturer und Bischof von Chester die Unsterblichkeit des Menschen unter anderem durch seine Fähigkeit zur Trauer zu belegen. Während Young die sechste Nacht verfasste, bat er brieflich um eine Kopie von Gastrells Text.187 Beide Autoren fokussierten den Menschen, der emotive Kräfte habe, und kombinierten diese Idee mit physikotheologischen Argumentationen. Nach Gastrell verband auch Young die emotive Selbsterkenntnis in den Night Thoughts mit einer traditionell rationalistischen Vorstellung von Offenbarung. Der ehemalige Bischof und Young stimmten in der Ansicht überein, dass man durchdachte Begründungen für die offenbarte Religion vorbringen müsse und versuchten so, den Befürwortern der natürlichen Religion mit deren Argumenten zu begegnen. Gastrell begann seine teleologische Beweisführung für eine Unsterblichkeit des Menschen mit der Betonung einer klaren Strategie, die jedem verständlich sei: „It is but one single Argument I have made use of, […] and that a natural easy argument, which every Man is capable judge of; […] parts of Knowledge that lie open to every Man, who will either look into [Hervorh. K.B.] himself, or look about him.“188 Der Hintergrund dieser Aussage ist die Vorstellung von einer verlässlichen Natur und Urteilskraft des Menschen. Zudem unterstrich Gastrell die Möglichkeit der religiösen Erkenntnis durch natürliche Emotionen, die Shaftesbury nicht in dieser Form als Offenbarungswerkzeuge eingeführt hatte: „Surely all these natural Sentiments, and Desires, which we feel in our Souls, have some real Foundation, and we have some future Interest to pursue, however we may be mistaken in the nature of what we seek for.“189 Die Grundlage der Empfindungen solle eine für den Menschen tatsächlich erfahrbare sein, die darauf hinweise, dass der Mensch ein jenseitiges Interesse verfolge.
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Vgl. Edward Young: Brief vom 29.1.1743. In: Ders.: The Life and Letters of Edward Young. Hg. v. Henry Shelley. London 1914, S. 167. 188 Francis Gastrell: A Moral Proof of the Certainty of a Future State. London 1728, S. 78. 189 Ebd., S. 15.
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Gastrell und Young teilten ferner die Auffassung, dass auch negative Emotionen wie zum Beispiel Ehrgeiz als ein Zeichen für die Göttlichkeit des Menschen gesehen werden können. So wird Youngs Figur Lorenzo immer wieder aufgefordert, seinen Ehrgeiz als einen göttlichen Zug zu verstehen. Gastrells rationalistische Erklärungen für innere, emotionale Konflikte deuten ebenfalls aufdas Göttliche im Menschen hin. Er vermutete, dass emotionale Irritationen die Komplexität der unsterblichen Seele widerspiegelten und dass die Sorge als die Kraft zu verstehen sei, die unsere Gedanken leite: „Why we were born to trouble? […] There are no other Beings, […] which are liable to Sorrow and Affliction but Man; at least, he is the only Being that knows himself to be miserable, and is capable of complaining that he is so.“190 Der Zug des Menschen, Trauer erkennen zu können, verhelfe ihm derart zur Unsterblichkeit. Selbst ein möglicher Konflikt zwischen Verstand und Leidenschaft wurde von Gastrell als Beweis der Unsterblichkeit benannt. Der Mensch muss ihm zufolge die Welt erdulden, um leidvolle Erfahrungen machen zu können. Wie bereits am aufklärungsphilosophischen Beispiel Popes gezeigt, wandte auch Gastrell Youngs Blick in der Tradition der rationalistischen Theologie auf eine natürlich gegebene innere Stimme, indem er schrieb: „Let us rather hearken to the Voice of Reason within us; whereby we are assured that we are the workmanship of a wise Being, who ordereth every thing to some proper end and purpose. Let us consider the dignity of our Nature.“191 Diesem Rat folgend entnahm Young der zeitgenössischen Wissenschaft Hinweise auf die Beschaffenheit der Welt. Er fand zum Beispiel Anregungen für astrotheologische Argumentationen bei Newton. Jedoch verband er diese rationalistischen Annahmen der Welt mit einem neuen anthropologischen Bild von einem emotional befähigten Menschen. Young versuchte die Existenz Gottes nicht nur durch die Kreation der Welt zu belegen, sondern auch in der Einbindung irrationaler Komponenten in dieses Konzept. In Youngs Vorstellung mochte die planvolle Ordnung dieser Welt ebenso negative wie auch funktionale und erkenntnisreiche Ereignisse umfassen. Daher wird in einer häufig zu findenden Phrase dieser Zeit die Figur des Lorenzo angehalten, die Ordnung der Welt als christliche Predigt zu lesen: „Read Nature; Nature is a Friend to Truth; / Nature is Christian; preaches to Mankind.“192 In dieser Schule der Natur sind der Tod und die Trauer als Lehrer beschäftigt. Wer sie und die Natur verstehe, verstehe nicht zuletzt auch sich selbst: „The Telescope is turn’d: / […] Leave to thy Foes these Errors, and these Ills; / To Nature just, their Cause and Cure explore.“193
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Ebd., S. 10f. Ebd., S. 77. Young: Night the Fourth. In: Ders.: The Complaint, or: Night Thoughts (wie Anm. 131), S. 78. Ebd., Night the Second, S. 23.
Die Kontroverse zwischen rationalistischer Theologie und deistischen Tendenzen charakterisiert die intellektuelle Situation, in der die Night Thoughtsverfasst wurden. Es ist der Kompromiss zwischen beiden Tendenzen, der zum Anstieg individueller Beurteilungen und kritischer Einblicke in religiöse Literatur führte. Bis ins 19. Jahrhundert galten sie vereinzelt als ein christlichphilosophisch ausgerichteter Text, der Trauernde tröste.194 Die ästhetisch ausgerichtete Transformation fußte unter anderem auf einem Wandel in der Aufklärungsphilosophie, der sich vor allem auf das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung bezog. Der elementare Begriff der Erfahrung hielt Einzug in Offenbarungstheorien und knüpfte an religiöse Erfahrungsprozesse (wie z.B. im deutschen Pietismus) an.195 Der entscheidende Unterschied zwischen Youngs Konzept einer Offenbarung und dem Versuch ihrer rationalistischen Auffassung ist eine starke Betonung und literarische Präsentation irrationaler Befähigungen des Menschen. Es ist eine emotionale Erkenntnis, die als Weisheit in den Night Thoughts auftritt: „But Wisdom smiles, when humbled Mortals weep. / When Sorrow wounds the Breast, as Ploughs the Glebe, / And Hearts obdurate feel her soft’ning Shower; / Her Seed Celestial, then, glad Wisdom sows.“196 Mit dem Aussäen der göttlichen Weisheit, der Befähigung des Menschen durch Gottes Willen, erlangte das religiöse Leben den Stellenwert eines intuitiven, emotional geleiteten Naturtriebes. An diese Ideen knüpfte Young an, als er in seiner Komposition eine christlich tradierte Emotionalisierungsstrategie mit psycho-theologischen Momenten verband. Die Night Thoughts als oftmals ungelenk erscheinende Konstruktion sind ein Baustein in der Entwicklung von einer rationalistischen und dogmatischen Religionsbetrachtung zu einer individualistischen Konzeption von Religiosität, die alle menschlichen Fähigkeiten in Betracht zieht.
1.2.4 Sanfte Melancholie zum Ziel erhabener Erkenntnisse Die Night Thoughts legen dar, dass der Christ, um die Erhabenheit göttlicher Schöpfung erkennen zu können, seiner Empfindungen bedürfe, weil vermeintlich höhere Erkenntniskräfte nicht ausreichten. Alle Erkenntnisvermögen des
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Vgl. Elise von Hohenhausen: Vorwort. In: Edward Young: Eduard Young’s Nachtgedanken. Ins Deutsche übertragen von Elise von Hohenhausen. Kassel 1844, S. VII–XXVIII, hier S. VII: „Der tiefste Seelenschmerz, durch den Tod meines unglücklichen Sohnes erzeugt, wollte nicht von mir lassen […] als ein christlich-philosophischer Freund mir rieth, Young’s Nachtgedanken zu übersetzten.“ Dem Text ist eine Ausführung zu Hegels Religionsphilosophie beigefügt. 195 Vgl. Müller: Ästhetische Religiosität und Kunstreligion (wie Anm. 179), S. 47. 196 Young: Night the Fifth. In: Ders.: The Complaint, or: Night Thought (wie Anm. 131), S. 92.
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Menschen müssten gleichwertig an religiöser Erfahrung beteiligt sein. Das Erhabene der Schöpfung zu erkennen bedeute, ein Offenbarungserlebnis mit allen Sinnen und auf der Verstandesebene zu haben, wie in den psycho- bzw. physikotheologischen Passagen zu sehen ist. Die Wahrnehmung des ReligiösErhabenen wird in den Night Thoughts durch sanfte Melancholie herbeigeführt, indem sie den inneren Gefühlskontrast des Lesers zwischen Erniedrigung und Beseligung erhöht. Objekte wie der Sternenhimmel stellen das konventionelle Abbild erhabener Gegenstände dar, während die religiöse Erhabenheit in Youngs Night Thoughts als Endprodukt eines emotiven Erkenntnisprozesses in Todesmeditation entsteht. Da die Seele selbst erhaben sei,197 erkenne sie sich in erhabenen Gegenständen wieder: That, Mind immortal, loves immortal Aims: / That, boundless Mind affects a boundless Space: / That, Vast Surveys, and the Sublime of Things, / The Soul assimilate, and make her Great: That, therefore, Heav’n her Glories, as a Fund / of Inspiration, thus spreads out to Man.198
Die sanfte Melancholie wird zum Multiplikator und Vorbereiter religiöser Erhabenheitserlebnisse. Wie Christian Begemann für die Entwicklung von Erhabenheitskonzepten im 18. Jahrhundert gezeigt hat, ist es in jener Epoche kennzeichnend, dass das Erhabene sich an Erlebnissen vom Selbst und an den Grenzen des Individuums ausrichtete.199 Die Todesbetrachtungen, die Youngs lyrisches Ich anstellt, sind solche Grenzerfahrungen.200 Die Distanz, welche die Fiktion zu diesen besitzt, schafft den idealen Nährboden für Erhabenheitserlebnisse des Lesers. Das Sterben eines anderen tritt nach Youngs Normierung zu der Reihe von Erhabenheitserlebnissen. Wie Jean-Baptiste Dubos vermutete Young, dass die Seele immer neuer Beschäftigungen bedürfe, um mit sich zufrieden sein zu können.201 Er hielt sich für einen Kenner der menschlichen Psyche, die er mit Emotionalisierungsstrategien zu ergreifen versuchte. Pseudo-Longins Schrift, wie das Erhabene rhetorisch zugestalten sei, war ihm ebenfalls bekannt.202 Sein deutscher Übersetzer Ebert führte einige Stellen der Night Thoughts auf Pseudo-Longin zurück und markierte
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Vgl. ebd., Night the Second, S. 37: „His Soul Sublime“. Ebd., Night the Ninth, S. 266. Vgl. Christian Begemann: Erhabenheit und Lust. Zu Charakter und Funktion der Erhebung. In: Ders.: Furcht und Angst im Prozess der Aufklärung. Zur Literatur und Bewusstseinsgeschichte des 18. Jahrhunderts. Frankfurt 1987, S. 136f. 200 Young: Night the Second. In: Ders.: The Complaint, or: Night Thoughts (wie Anm. 131), S. 35: „[T]he Theme most affecting, most sublime, / […] Man’s highest Triumph! Man’s profoundest Fall.“ 201 Ebd., S. 23: „Cares are Employments; and without Employ / The Soul is on a Rack; the Rack of Rest, / To Souls most adverse; Action all their Joy.“ 202 Ebd., Notes, S. 322. 198 199
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die „glühende Empfindlichkeit“ des lyrischen Ichs als poetologische Parallele.203 Die wirkungsstrategisch geplante Erschütterung des Rezipienten gehe auf PseudoLongin zurück. Tatsächlich sollen die kontemplativen Todesphantasien der Night Thoughts den melancholischen Nährboden schaffen, um dem paradoxen Perspektivwechsel, der Umdeutung des Todes in ewiges Leben, zu einem größeren Kontrast zu verhelfen – und somit die daraus resultierende Erhabenheit der menschlichen Seele zu verstärken. Das Gleichgewicht der Instanzen Verstand und Gefühl fällt bei der Lektüre des Werkes zugunsten der Emotionen. Diese sollen die Möglichkeit schaffen, zumindest in einem Nachvollzug, wenn nicht in einem Verständnisprozess, das Erhabene im Menschen zu erkennen. Im Anschluss an die gemäßigte Trauer soll sich ein Erhabenheitserlebnis entwickeln. Erst durch den Kontrast der gemischten Empfindung, der Sterblichkeit des Körpers im Vergleich zur empfindenden Seele, kann ein Gefühl von Erhabenheit entstehen. In Youngs Night Thoughts wird mit dem Religiös-Erhabenen eine Verbindung zwischen Religion und Literatur geknüpft, wie sie für das 18. Jahrhundert bezeichnend ist. Dichter wie Mark Akenside, Edward Young und Thomas Gray machten den Begriff des Erhabenen für die Wahrnehmung von Religiosität fruchtbar. Das Erhabene, im 17. Jahrhundert als rhetorische Kategorie zurück ins Bewusstsein der Dichter und Denker gebracht, erlebte in England mit Shaftesbury und Dennis eine Rückführung in die ästhetische Theorie. Im Moment der moralischen Erkenntnis, so Shaftesbury, sei der Leser betroffen von „rapture“ und „ecstasy“, zwei begriffsgeschichtlichen Schwestern des Erhabenen.204 Allerdings ließen weder Shaftesbury noch Young die Ekstase ungehemmt wachsen. Beide sahen sie nur als Mittel zum Zweck, nicht als die Religion bzw. die Moral selbst. Das Ergebnis einer solchen Emotionskrise sollte keine melancholische oder religiöse Verwirrung sein, sondern ein „divine enthusiasm“,205 der den Menschen in eine harmonische Balance mit der Schöpfung bringe. Auch wenn Shaftesburys Kritik an christlicher Religion die Lyrik der Night Thoughts sicherlich mit eingeschlossen hätte, so kann man Youngs Werk als einen religiösen Versuch verstehen, den „divine enthusiasm“ zu schildern, wie ihn Shaftesbury für eine
203
Vgl. Johann Arnold Ebert: Kommentar. In: Young: Klagen, oder Nachtgedanken (wie Anm. 64), S. 234. 204 Anthony Earl of Shaftesbury: Inquiry Concerning Virtue (wie Anm. 186), S. 279: „For ‘tis impossible that such a divine order should be contemplated without ecstasy and rapture.“ 205 Vgl. ebd., Letters on Enthusiasm. Section 7, S. 45: „So that inspiration may be justly called divine Enthusiasm: for the world itself signifies divine presence, and was made use of by the philosopher whom the earliest Christian fathers called divine, to express whatever was sublime in passions. This was the spirit he allotted to heroes, statesmen, poets, orators, musicians, and even philosophers themselves. Nor can we, of our own accord, forbear ascribing to a noble Enthusiasm, whatever is greatly performed by any of these. So that almost all of us know something of this principle.“
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spekulativ-philosophische Weltsicht skizzierte.206 Es ist das widersprüchliche und kaum zu erreichende Vorhaben, die kalkulierte, vernunft-geleitete Freude am Leiden in einen rational gesicherten Enthusiasmus münden zu lassen. Im deutschen Kommentar der Nachtgedanken von 1760 ist die Rede von einem „poetischen Enthusiasmus“, an dem sich Young versuchte.207 Ohne diese Annahme wäre auch schwer zu verstehen, wie sich die physikotheologischen Betrachtungen im zweiten Teil des Werkes ins Bild fügen sollen, da sie doch viel stärker den kalkulierenden Verstand ansprechen. John Dennis fasste das Erhabene als einen „großartigen Gedanken“ auf,208 der immer einen religiösen Ursprung habe. Erhabenheit müsse den Menschen emotional bewegen und pathetischen Ausdruck fordern.209 Mit der Bewegung der Seele vertieften sich die großartigen Gedanken, woraufhin das Individuum schließlich eine höhere Meinung von sich selbst erhalte.210 Zudem führe die religiöse Erhabenheit auch hier die Seelenkräfte in Einklang miteinander. Als Ursachen für die weitere, enge Verbindung des Erhabenen mit religiösen Inhalten nennt David Morris den naturphilosophischen Einfluss Newtons, die daraus resultierenden physikotheologischen Argumentationen durch Kleriker und die Reaktionen auf die für manche ernüchternde Erkenntnistheorie Lockes.211 Der die Religion treffende Rationalisierungsschub veranlasste die religiöse Argumentation, Offenbarung stärker als subjektivistische und zunehmend ästhetische Kategorie zu begründen. Diese Ausweichbewegung ins Gefühlsbetonte, die sich auch in anderen Diskursen findet, schlug sich in der Lyrik Youngs nieder. Dass es sich bei Literatur um fiktionale Erfahrung aus zweiter Hand und damit nicht um reale Erfahrungen von Erhabenheit handelte, spielte für den sympathetisch rezipierenden Leser keine bedeutende Rolle.212 Young arbeitete eine Form des Religiös-Erhabenen heraus, die sich von den Schauerdichtungen seiner Zeit absetzen sollte. Im Gegensatz zu dem Schotten Robert Blair, der mit seinem Gedicht The Grave eine Facette des Schrecklich-
206
Vgl. Shaun Irlam: Immortality, or the Art of Remaining forever Young: Edward Young’s ,Night-Thoughts‘. In: Ders.: The Poetics of Enthusiasm in Eighteenth-Century Britain. Stanford 1999, S. 171–200. 207 Vgl. Ebert: Kommentar. In: Young: Klagen, oder Nachtgedanken (wie Anm. 64), S. 44. 208 Vgl. Dennis: The Grounds of Criticism in Poetry (wie Anm. 56), S. 78: „For the Sublime is nothing else but a great Thought, or Great Thoughts moving from it’s Ordinary Situation by the Enthusiasm which naturally attends them.“ 209 Vgl. ebd., S. 78. 210 Vgl. ebd., S. 82. 211 Vgl. Morris: The Religious Sublime (wie Anm. 52), S. 2 u. S. 4. 212 Vgl. ebd., S. 7: „Reading […] was itself the century’s most popular form of travel, and sitting in his study Gray would have recognized a similar mingling of the natural, the literary, and the religious in almost any passage of sublime description from Thomson’s The Seasons.“ Aus diesem Grund versteht Morris auch eine Unterscheidung von „natural“ und „rhetorical sublime“ als wenig hilfreich.
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Erhabenen evoziert, versuchte sich Young mit etwas, das seine Dichtung als „A Theme so like thee, A quite Lunar Theme, / Soft, modest, melancholy, female, fair!“ bezeichnet.213 Diese Attribute entsprechen nicht dem Bild vom gewaltigen Erhabenen, sondern stehen der sanften Melancholie näher, die als eine milde, herabgestimmte Variante des lunaren Temperaments erscheint. Vor allem die Begriffe „soft“ und „modest“ weisen auf die gleichzeitig kalkulierte Mäßigung der gewünschten Empfindungen hin. Herausgefordert durch die Vertreter der natürlichen Offenbarung griff Young zu neuen Mitteln der künstlerischen Umsetzung von religiösen Inhalten. Die Rivalität zwischen Vernunft und Gefühl sollte gelöst werden, indem Young eine Neubewertung der Leidenschaften einführte und zugleich dem Erhabenen die Qualität zuwies, die traditionellen Offenbarungsquellen gleichkommt. Thus, without rejecting the claims of reason, Young simply insists that, in addition, sense, passion, and feeling can provide a legitimate access to truth. […] Young without hesitation invokes the aid of feeling. […] Convinced that feeling is a legitimate mode of inspiring belief, Young no doubt concluded that in the sublime he had a ready made instrument for moving the passions of Lorenzo and for bringing him from doubt to affirmation.214
Nicht irgendein Gefühl, sondern das Gefühl der göttlichen Perfektion sollte die traditionellen Formen der Offenbarung ergänzen können. Wie schon angedeutet, blieb Young nicht bei den konventionellen Formen der religiösen Dichtung stehen, sondern entwickelt mit den Night Thoughts einen neuen Typ bekenntnishafter Lyrik. Statt sich beliebter literarischer Konventionen wie der pastoralen Elegie oder der biblischen Paraphrase zu bedienen, versuchte er im Zusammenspiel mit zeitgenössischen Vorstellungen einer erhabenen Sprache der Bibel die Evozierungdes Religiös-Erhabenen in assoziativer, lyrischer Seelenschau. Seine Night Thoughts wurden dabei introspektiver und experimenteller im Umgang mit Emotionen als das bisher Bekannte. Youngs lyrisches Ich wertet etwa das Sterben als einen erhabenen Moment individueller Erfahrung. Den Knochenmann tauscht es gegen einen sanften, gleichmachenden Tod, dessen Lehre die Empfindungen und nicht so sehr den Verstand berühre. Das Spiel mit kontrastierender Lichtmetaphorik soll den Moment der Erkenntnis unterstützen: Yet am I struck; as struck as the Soul, beneath / Aëreal Groves impenetrable Gloom; / Or, in some mighty Ruin’s solemn Shade; / Or, gazing by pale Lamps on high-born Dust, / In Vaults; thin Courts of poor Unflatter’d Kings! / Or, at the Midnight Altar’s hallow’d Flame. / It is Religion to proceed: I pause – / And, enter, aw’d the Temple of my Theme. / Is it his Death-bed? No; It is his Shrine; / Behold him, there, just rising to a God.215
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Young: Night the Third. In: Ders.: The Complaint, or: Night Thoughts (wie Anm. 131), S. 43. Morris: The Religious Sublime (wie Anm. 52), S. 146. Young: Night the Second. In: Ders.: The Complaint, or: Night Thoughts (wie Anm. 131), S. 36.
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Das zunächst Obskure wird metaphysisch zu neuem Licht umgewertet. Das lyrische Ich wendet die Dunkelheit zu seinem Gewinn. Die religiöse Verzückung über den Anblick des sterbenden Freundes und die daraus geschöpfte Ekstase ist notwendiger Bestandteil der religiösen Erkenntnis. Es ist ein zu Beginn jeder Nacht wiederholter rhetorischer wie programmatischer Klagegestus, der die Nächte in zwei Teile eines Ganzen teilt: das Anheben der Klage und ihre Verwandlung in überschwängliche Freude. Durch dieses Wechselspiel von Erniedrigung und Erhöhung kann das ReligiösErhabene überhaupt erst zutage treten. Diese gedankliche Vorstellung setzt sich durch bis zu Moritz’ Anton Reiser, der ebenfalls seine sanfte Melancholie aus einer Erniedrigung und gleichzeitigen Erhebung schöpft.216 Der Mensch bedauert sein Verlorensein und findet sich überrascht davon, dass dieses Verlorensein die eigentliche Erfüllung ist. Das Religiös-Erhabene hat, wie alle Formen des Erhabenen, eine doppelte Voraussetzung: Es bedarf sowohl des Verlusts als auch der Erlösung, die eine paradoxe Verbindung eingehen. Nach Blaise Pascal, so Johann Arnold Ebert, habe Young diesen Perspektivwechsel von der Erniedrigung zur Beseligung gebildet: Young „such[e den Leser, K.B.] zugleich zu erniedrigen und zu erheben; aber seine Absicht geht doch mehr auf dieses, als auf jenes; ja, er brauchte sogar jenes als ein Mittel zu dem letztern.“217 Der Anblick einer sterbenden Person sei die emotionale Krisensituation, die aus gemischten Empfindungen Glauben wecken könne: „We gaze; we weep; mixtTears of Grief and Joy! / Amazement strikes! Devotion bursts to Flame! / Christians adore! And Infidels believe.“218 Danach empfiehlt das lyrische Ich der Night Thoughts seinem Gegenüber in einer typischen Exklamatio, diese Form der Trauer zu genießen: „Lorenzo! no; the Thought of Death indulge; / Give it its wholesome Empire, let it reign, / That Kind Chastiser of the Soul to Joy!“219 Die Erfahrung des Religiös-Erhabenen ist als mentaler wie physischer Genuss beschrieben. Der Höhepunkt der schmerzhaften Erfahrungen ist erreicht, wenn sie mit der nächtlichen Gegenwart einer Geliebten verglichen wird. So weckt zum Beispiel die Erinnerung an den Tod einer jungen Frau einen „voluptuous Pain“.220 Philippe Ariès weist in seiner Geschichte des Todes ausdrücklich darauf hin, dass im 18. Jahrhundert der tote Körper erotische Anziehungskraft erhielt, die in Literatur und bildender Kunst beobachtet werden konnte.221 Die erotischen
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Vgl. Kapitel 4.2.1. Ebert: Kommentar. In: Young: Klagen, oder Nachtgedanken (wie Anm. 64), S. 21. Young: Night the Second. In: Ders.: The Complaint, or: Night Thoughts (wie Anm. 131), S. 37. 219 Ebd., Night the Third, S. 49. 220 Ebd., S. 44. 221 Vgl. Ariès: Geschichte des Todes (wie Anm. 30), S. 481: „Die Texte des achtzehnten Jahrhunderts sind voll von Liebesgeschichten mit Toten.“
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Konnotationen der Trauer sind selten in Youngs Werk, aber sie nehmen in der Rezeption desselben, wie etwa in Klopstocks frühen Oden, deutlich zu. Das Motiv der erotischen Melancholie findet sich ebenfalls im deutschen Roman nach 1770 wieder, wenn Werther die unerfüllte Liebe zu Lotte mit sakralen Passionsbildern vergleicht und seine erotische Begierde darunter subsumiert222 oder wenn in Millers Siegwart ein Jüngling auf dem Grab der Geliebten verstirbt.223 In jeder Nacht lädt das lyrische Ich seinen Leser dazu ein, den heilsamen Schmerz zu teilen. Die nächtlichen Gedanken sind einer Erkenntnis gewidmet, die aus den bisher unerforschten Gebieten des menschlichen Seelenlebens kommt. Zugleich erinnern sie an die Erhabenheit der Seele, die durch eine Metaphorik der Lichtkontraste im Inneren der Person zu finden sei: „Darkness has more Divinity for me; / It strikes Thought inward, it drives back the Soul / To settle on Herself, our Point of supreme!“224 Die Ruhelosigkeit der Figur ist unterbrochen von Momenten der Selbsterkenntnis. Die Wiederholungen in jeder Nacht symbolisierendie zirkuläre Wahrnehmung der Welt und den Wunsch, ihr zu entkommen. Einen Ausblick auf dieses Entkommen bietet die erhabene Empfindung. Religiöse Offenbarung gelangte somit stärker in den Bereich des Persönlichen und Privaten. Die göttliche Instanz, die selbige gewähren konnte, trat zugunsten einer individuellen Erfahrung in den Hintergrund. Das Erleben von Kunst und Religion vollzog sich für den Leser des 18. Jahrhunderts über ihre emotive Schnittstelle, das Religiös-Erhabene. Karl Auerochs konstatierte die Entstehung eines „religiösen Gefühls“ in der Literatur des 18. Jahrhunderts.225 Kunst und Religion machten von jener Ergriffenheit im Enthusiasmus Gebrauch und steuerten auf eine Kunstreligion zu. Die Leser Youngs erfuhren die religiösen Anleitungen als einen ästhetischen Selbstversuch, der Ekstase hervorbringen wollte. Auch in diesem Fall verstärkte die Rezeption die Tendenz und bewies, dass die zukünftige Erbauungsliteratur wie die Belletristik persönliche Sprache und Problematiken, Introspektion und die Vermeidung von dezidiert ausgesprochenen Dogmen auszeichnen würde – allerdings mit dem Interesse, die traditionell verankerten Lehrsätze ‚empirisch‘ zu
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Vgl. Kapitel 4.1.4. Vgl. Johann Martin Miller: Siegwart. Eine Klostergeschichte. Frankfurt 1802, S. 354: „Auf dem Grab! Auf dem Grab! rief endlich eine Nonne, die am Fenster stand. Alle flogen auf den Kirchhof, und der edle Jüngling lag erstarrt und todt im blassen Mondenschein auf dem Grabe seines Mädchens, der er treugeblieben war bis auf den letzten Hauch.“ 224 Young: Night the Fifth. In: Ders.: The Complaint, or Night Thoughts (wie Anm. 131), S. 88. 225 Vgl. Bernd Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion. Göttingen 2006, S. 91: „Im 18. Jahrhundert entsteht so ein merkwürdiges Gebilde, dessen Bedeutsamkeit für die Auffassung von Kunst als Ersatzreligion kaum unterschätzt werden kann: ein ‚Sinn fürs Universum‘, ein Gefühl für eine moralisch relevante umfassende Ganzheit, für einen höheren, ‚mehr als mechanischen Zusammenhang‘. Bei diesem Gefühl […] handelt es sich um die Folge der aufklärerischen Religionskritik. […] Als unzweifelbares Fundament der Religion tritt dann an die Stelle der Offenbarung das religiöse Gefühl.“
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bestätigen, nicht, um sie zu stürzen. Letztlich bot das Werk eine Anleitung zur sinnlichen Kontemplation des Todes als metaphorisch gesehen erhabenes Wegstück in einem idyllischen Tal: „The Vale of Death! That husht Cimmerian Vale, / [… is a, K.B.] Fit walk, Lorenzo, for proud human Thought! / There let my Thought expatiate; and explore / Balsamic Truths, and healing Sentiments“.226 Dem Einzelnen wurde mit der Erfahrung des Erhabenen die Befähigung zugesprochen, aus der Erforschung seines Leidens eine spirituelle Erkenntnis ableiten zu können.
1.2.5 Die literarische Umsetzung in Kontrastierungstechniken Die spezifische Qualität des Textes ist im Vergleich zu Popes moraldidaktischem Essay on Man in einem christlichen Konflikt begründet: der dialektischen Apologetik christlicher Lehre (z.B. das Leben im Tod zu finden). Darin ist eine Bewertung des Leidens zu gottgefälliger Unterweisung enthalten. Das gute und richtige Leiden steht im Mittelpunkt der nächtlichen Gedankenkette, die dem Zuhörer in oft biblischer Rhetorik offenbarungsartig mitgeteilt wird. Im Folgenden konzentriere ich mich auf die im Text explizite Thematisierung einer sanften Melancholie und ihre literarische Umsetzung. Young schöpft einige rhetorische Mittel für seine Emotionalisierungsstrategie aus, darunter vor allem Techniken der Kontrastierung (z.B. Parallelismen, Antithetik und Lichtmetaphorik) und Hyperbeln.
1.2.5.1 Vorbild und Aufruf zur Introspektion (Seele – Körper) Die Night Thoughts zeichnen sich durch eine Subjektivierung der Darstellungsperspektive aus. Zweifel oder Rückfälle und stetig neue Bekenntnisse eines persönlichen Glaubens an das gesteckte Ziel, das ewige Leben zu finden, werden durch die Rede des lyrischen Ichs vermittelt. Edward Young schafft es, sich einen elementaren Schritt von den moraltheologischen Erbauungswerken zu entfernen und die Phantasie des zeitgenössischen Lesers für seine gedanklichen Ausflüge zu entfachen bzw. die Nachahmung seines lyrischen Ichs anzuregen. Doch auch in Youngs Lehrdichtung erkennt man den Einfluss der protestantischen Meditationsliteratur nach Hall, die zuerst im Geist beginne, dann aber zum Herzen absteige und dies in wohlbedachten Schritten tue, um schließlich von irdischen Sorgen zu einem himmlischen Hochgefühl zu gelangen.227
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Young: Night the Third. In: Ders.: The Complaint, or Night Thoughts (wie Anm. 131), S. 48. Vgl. Hall: Chapter XVI: The proceeding of our meditation; and therein a method allowed by some authors rejected by us. In: Ders.: The Art of Divine Meditation (wie Anm. 15), S. 61:
Ebenso lobt das lyrische Ich die Gewandtheit des menschlichen Geistes und die Beschaffenheit eines christlichen Seelenkonzeptes.228 Der Endlichkeit des Körpers steht eine unsterbliche Seele gegenüber, deren Beweglichkeit von der Größe Gottes zeugen soll. Sowohl das, was von ihr gedacht werden kann, als auch die leidenschaftliche Intensität, mit der sie empfindet, werden zum Beweis für den Christen, dass es eine göttliche Wahrheit geben müsse. In seiner Darstellung hebt Young weniger auf die Verletzlichkeit des Körpers als auf die Unsterblichkeit derSeele ab. Technisch tut er dies, indem die Gedanken des lyrischen Ichs sich immer wieder selbst stimulieren und eine Kette von scheinbar assoziativ hergeleiteten Themen bilden. Lorenzo verkörpert das egoistische Streben nach Erfolg und Vergnügen; sein Widerspruch ist der des aufgeklärten Atheisten im 18. Jahrhundert. Ihm wird, wie auch dem Leser, eine akribische Selbst- und Naturbeobachtung angeraten. Lyrisches Ich und Leser unterziehen sich einem Selbstversuch, der nur in religiöser Erkenntnis münden kann, wie die Dichtung versichert. Es geht um die Erfahrbarkeit des Glaubens in Beobachtung und Experiment.
1.2.5.2 Argumente der Physikotheologie (Verstand – Empfindung) Vergleichbar mit Brockes verwendete Young die Techniken der Physikotheologie in religiöser Lyrik. Beide Autoren bemühten sich, den Beweis einer göttlichen Existenz zu erbringen, indem sie Teile der Welt als zweckmäßige Punkte im Gesamtplan Gottes verstanden. Ein wesentliches Nebenprodukt dieses Vorhabens sind die dabei auftretenden gemischten Empfindungen (wenn z.B. das Altern den Anstrich hässlicher, aber ermahnender Bestimmung gewinnt).229 Neben die Furcht vor dem Vulkanausbruch kann auch die Bewunderung seiner Stärke treten. Nicht gegen die neuen wissenschaftlichen Techniken der Aufklärung, sondern mit ihnen argumentieren die Physikotheologen für eine rational erfahrbare Umwelt, deren Ziele und Zwecke freilich zugunsten eines Schöpfergottes gedeutet werden. Young verschrieb sich erst vergleichsweise spät dieser Technik, integrierte aber neue Ansätze in sie, indem er den Tod als Offenbarungserlebnis betrachtete. Er gab der Physikotheologie durch die Beigabe der gezielten Emotionalität seines Textes eine
„Hitherto the entrance. After which our meditation must proceed in due order, not troubledly, not preposterously. It begins in the understanding, endeth in the affection; it begins in the brain, descends to the heart; begins on earth, ascends to heaven; not suddenly, but by certain stairs and degrees, till we come to the highest.“ 228 Vgl. Young: Night the First. In: Ders.: The Complaint, or Night Thoughts (wie Anm. 131), S. 6. 229 Vgl. dazu Carsten Zelle: Das Erhabene in der deutschen Frühaufklärung. Zum Einfluss der englischen Physikotheologie auf Barthold Heinrich Brockes’ Irdisches Vergnügen in Gott. In: Arcadia 25 (1990), S. 225–240.
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kuriose, individualistischere Wendung und machte aus der reinen Vernunftreligion ein Mischungsverhältnis von vernunftgeleitetem und emotivem Erfahren. Die Beschaffenheit des Menschen und seiner Umwelt stehen dabei im Zentrum der nächtlichen Überlegungen. Die religiös-anthropologischen Ausführungen des lyrischen Ichs, die den abtrünnigen Lorenzo von der Existenz Gottes überzeugen sollen, entwickeln eine Neubewertung des erschreckenden menschlichen Endes zu einem göttlichen Fingerzeig. Neben den astrotheologischen Argumentationen (vgl. die neunte Nacht) verwendet Young psychotheologische Argumente. Immer wieder fordert das lyrische Ich auf, die Natur und die Seele auf Anzeichen ihrer Schöpfung zu lesen: „Read Nature […] Hast thou ne’er seen the Comet’s flaming Flight? […] Terror sheds on gazing Nations, from this fiery Train of Length enormous.“230 Die Natur erklärt sich zum Spiegel des Menschen.231 Über die Eigenschaften der unwirtlichen Gebiete der Welt z.B. soll der Mensch auf seine eigene Unvollkommenheit schließen.232 Die Perfektion allerdings erlangt er nur durch den Tod. Auch die von Lorenzo beanspruchte Lust bzw. Wollust wird zu einem sinnvollen, irdischen Instrument der Gotteserkenntnis gemacht: Nur wer diese nützlich – gemeint ist tugendhaft – einsetze, könne sie vollkommen genießen.233 Eine psychologische Gratwanderung zwischen Erschrecken (etwa über die Unbezwingbarkeit des Todes) und der darauf notwendig folgenden Besänftigung (durch den Glauben an einen gnädigen Gott) wird in jeder einzelnen Nacht vollzogen. Die Theodizee, somit die Antwort auf den Sinn eines vernichtenden Todes, liegt in den Night Thoughts in der persönlichen Selbsterfahrung des Leidens und Sehnens.
1.2.5.3 Der Mensch halb Gott, halb Wurm (Gott − Mensch − Tier) Der Mensch steht, wie die Night Thoughts darlegen, im Konflikt mit seinen jeweils göttlichen und tierischen Anlagen. In diesem Konflikt drückt sich eine Unvollkommenheit aus, zugleich aber auch das Bestreben, Perfektion zu erreichen. Als Anzeichen, dass der Mensch sich stärker vom Wurm als von einem Gott
230
Young: Night the Fourth. In: Ders.: The Complaint, or Night Thoughts (wie Anm. 131), S. 78. Ebd., Night the Second, S. 27: „But why on Time so lavish is my Song? / On this great Theme kind Nature keeps a School, / To teach her Sons Herself. Each Night we die, / Each Morn are born anew: Each Day, a Life!“ 232 Ebd., Night the First, S. 11: „A Part how small of the terraqueous Globe / Is tenanted by Man! the Rest a Waste, / Rocks, Desarts, frozen Seas, and burning Sands: / Wild Haunts of Monsters, Poisons, Stings, and Death: / Such is Earth’s melancholy Map! But far / More sad! this Earth is a true Map of Man.“ 233 Dies ist ein Gedanke, der von Shaftesburys „natural affections“ ausgeht. 231
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unterscheiden wolle, weist der Text auf die Seelenkräfte wie Phantasie und Ideenreichtum hin, die den vergleichsweise immobilen Körper von der Seele qualitativ trennten: While o’er my Limbs Sleep’s soft Dominion spread, / What, tho’ my Soul phantastic Measures trod / O’er Fairy Fields; or mourn’d along the Gloom / Of pathless Woods; or down the craggy Steep / Hurl’d headlong, swam with Pain the mantled Pool; / Or scal’d the Cliff […] / Her ceaseless Flight, tho’ devious, speaks her Nature / Of subtler Essence than the trodden Clod; / Active, aërial, tow’ring, unconfin’d, / Unfetter’d with her gross Companion’s Fall.234
Es handelt sich nicht um eine Einschränkung des Konflikts zwischen Körper und Seele, wenn Young neben die rationalen Argumente für die Unsterblichkeit des Menschen auch seine emotive Begabung treten lässt. Die Vorstellungskraft als ursprünglich irrationale Komponente befähigt den Menschen die Natur- und Tierwelt ebenso zu übertreffen wie die rationale Verstandesleistung. Den rationalen Geisteskräften wie der vernünftigen Gelehrsamkeit wird keine allein ausreichende Macht für ein gottgefälliges Dasein gewährt. Die nötigen Einsichten für eine Gotteserkenntnis müssten durch Emotionen bereichert bzw. durch eine gemischte Empfindung kristallisiert werden.235 Im Menschen zeige sich der Wille, Gott ähnlich zu sein, denn Leidenschaften wie Ehrgeiz und Sehnsucht repräsentierten göttlichen Instinkt. Selbst die Lust wird in einer bemühten Wendung gegenüber Lorenzos Unmoral zu seinen Tugenden erhoben: And as her Empire wide, her Praise is just. / Patron of Pleasure! Doaster on Delight! / I am thy Rival; Pleasure I profess; / Pleasure, the Purpose of my gloomy Song. / Pleasure is nought but Virtue’s gayer Name; / I wrong her still, I rate her Worth too low; […].236
Johann Arnold Ebert war gar der Meinung, ein großer Teil der Night Thoughts sei in einer „melancholischen Wollust der Betrübniß“237 verfasst worden. Während Shaftesbury die altruistische Freude als Zeichen der natürlichen Tugend des Menschen verstand, bewertete Young diese im christlichen Sinne als Zeichen der göttlichen Anlagen im Menschen. Ferner vereinen die Night Thoughts unter den göttlichen Eigenschaften alle dessen Sinne: „Our Senses, and our Reason, are divine.“238 Diese umfassende Nutzung der Sinne sei nicht zu verhindern, weil der Mensch eine harmonische Vervollkommnung verfolge: „Ye modern Stoics! Hear my soft Reply; / Their Senses Men will trust: We can’t impose; Or, if we could, is
234 235
Young: Night the First. In: Ders.: The Complaint, or Night Thoughts (wie Anm. 131), S. 6. Ebd., Night the Fifth, S. 92: „But Wisdom smiles, when humbled Mortals weep. / When Sorrow wounds the Breast, as Ploughs the Glebe, / And Hearts obdurate feel her softning Shower: / Her Seed Celestial, then, glad Wisdom sows.“ 236 Ebd., Night the Eighth, S. 212. 237 Ebert: Kommentar. In: Young: Klagen, oder Nachtgedanken (wie Anm. 64), S. 218. 238 Young: Night the Seventh. In: Ders.: The Complaint, or Night Thoughts (wie Anm. 131), S. 132.
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Imposition right?“239 Emotionen werden als komplementäres und von der Naturgegebenes Erkenntnismodell eingeführt. Wer sie zu deuten fähig sei, sehe auch in ihnen eine Bestimmung göttlicher Züge im Menschen. Das Kultivieren der emotionalen Kräfte solle eine Emanzipationsbewegung der Sinne beginnen, an deren Ende frommes Leben und Sterben stehe.
1.2.5.4 Trauer und Tod (Leiden − Freude) Die bevorzugte Form der Emotion, die solcherart kultiviert werden soll, ist die gemäßigte Trauer. Im bewussten Umgang mit ihr erlange das Individuum Freude, Weisheit und Ruhe. In oxymoronischer Verbindung tritt dieses zentrale Element vielfältig auf: So grief, as conscious Grief may rise to Joy; / So joy, as conscious Joy to Grief may fall. / Most true, a wise Man never will be sad; / But neither will sonorous, bubbling Mirth, / A Shallow Stream of Happiness betray: / Too Happy to be Sportive, He’s Serene.240
Die angedeutete Gefühlsmischung von Trauer und Freude fügt sich nahtlos in die Vorstellung einer reflektierten Emotion ein, da nur eine bewusste Trauer erfreuen könne. Der kritische Umgang mit der Emotion Trauer und ihre im christlichen Sinne kultivierende Wirkung auf den Menschen sind Ziele der literarischen Emotionalisierungsstrategie. Die ausdrückliche Kritik an den Anhängern falscher Trauer steht der richtig verstandenen Trauer gegenüber: „Some Joys endear Eternity; some give / Abhorr’d Annihilation dreadful Charms.“241 Young war sich bewusst, dass diese Anhänger eines in Schrecken genossenen Todes mit den gleichen Voraussetzungen arbeiteten wie er selbst, nämlich der Zuneigung des Menschen zu bewegenden, verstörenden Emotionen. Explizit werden daher die angeklagt, deren Trauer nur durch eine Lust an bewegenden Emotionen motiviert sei: They weep impetuous, as the Summer-Storm, / And full as short! The cruel Grief soon tam’d, / They make a Pastime of the stingless Tale; / Far as the deep-resounding Knell, they spread / The dreadful News, and hardly feel it more. / No Grain of Wisdom pays them for their Woe.242
Der bloße Zeitvertreib mit Kummer sei gottlos und verschwende die darin gegebenen Lehren. Aus Trauer sei daher nur dann Gewinn zu schlagen, wenn siebewusst und in Maßen genossen werde. Methodisch wird die Klage als Form der Meditation benötigt, weil dort der Geist nicht vergessen könne. Trauer wird
239 240 241 242
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Ebd., Night the Eighth, S. 213. Ebd., S. 218. Ebd., S. 225. Ebd., Night the Fifth, S. 100.
zum Erinnerungsmechanismus der religiösen Kultur. Resultat dieser Überlegungen muss eine gemäßigte Trauer sein, die zwar Betroffenheit auslöst, aber auch Tugendempfindungen im Menschen bewirkt. Auch hier werden Oxymora eingesetzt, um das dialektische Denken bildhaft zu vermitteln: „That, Nature’s first, last Lesson to Mankind; / The selfish Heart deserves the Pain it feels. / More gen’rous Sorrow, while it sinks, exalts; / And conscious Virtue mitigates the Pang.“243 Zudem heißt es in den Night Thoughts, dass die Beschäftigung mit Sorgen eine angenehme Regung der Seele verursachen könne: „Cares are Employments; and without Employ / The Soul is on a Rack; the Rack of Rest; / To Souls most adverse; Action all their Joy.“244 So muss man annehmen, dass sich Young nicht nur den altruistischen, sondern auch den egoistischen Zug der Empfindungen zunutze machte, wenn er auf Leser spekulierte, die von der emotionalen Beschäftigung angezogen, einen Erlösungsgedanken fassen sollten. In der dritten Nacht wird die wiederkehrende Trauer mit einer Geliebten verglichen, der das lyrische Ich nächtlich begegnet: „Once more I wake; and at the destin’d Hour / Punctual as Lovers to the Moment sworn, / I keep my Assignation with my Woe. // […] Who think it Solitude, to be Alone. / Communion sweet! Communion large, and high!“245 In der Form der zahlreich verwendeten Steigerungen (hier: sweet, large, high) wird die Trauer mit einer intimen Zusammenkunft in emphatischer Weise in Verbindung gebracht. Die Erinnerung an die tote Narcissa und deren Lieder wird mit „voluptuous pain“246 betrachtet. Wie Thomas Anz in seinem Aufsatz zur Lust an literarischer Trauer bereits angedeutet hat, erzeugt die Freude an ästhetischer Trauer soziale Nähe oder kann Strafe für geheime Wünsche sein.247 Sie stellt in diesem Fall etwa die körperlich erregende Vorstellung an die tote Narcissa her. Was als rein kontemplative Methode erscheint, erhält somit auch Anklänge an physische Verzückung. Die Erfahrungen, die das lyrische Ich mit der Trauer macht, werden dem Gegenüber Lorenzo als nützlicher Lustgang beschrieben, der jedem anzuraten wäre..248 Wiedersteht der Nutzen einer solchen Lust vor dem Leid des beobachteten Sterbenden. Die historische Begeisterung für geliebte Verstorbene ging im 18. Jahrhundert sogar soweit, dass man ihren Körper als einbalsamierte Mumien im eigenen Haus aufbewahrte.249
243 244 245 246 247
Ebd., Night the First, S. 11. Ebd., Night the Second, S. 23. Ebd., Night the Third, S. 41. Ebd., S. 44. Thomas Anz: Freuden aus Leiden. Aspekte der Lust an literarischer Trauer. In: Wolfram Mauser u. Joachim Pfeiffer (Hg.): Trauer. Würzburg 2003, S. 71–82, hier S. 77–79. 248 Vgl. Young: Night the Third. In: Ders.: The Complaint, or Night Thoughts (wie Anm. 131), S. 48. 249 Vgl. Ariès: Die Mumie im Haus. In: Ders.: Die Geschichte des Todes (wie Anm. 30), S. 490– 495.
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Der Tod stellt eine Lehre dar, keine Vernichtung oder Qual.250 Die eigene Angst vor dem Tod kann das lyrische Ich nicht verbergen. In dieser Offenheit für alle emotionalen Vorgänge – tugendsame wie erschreckende – mag ein weiterer Faktor für den Erfolg der Dichtung liegen. Betont wird aber, dass alle Ängste vor dem Tod unbegründet seien, da sie nur aus irrigen Vorstellungen resultierten: „Death has feign’d Evils, Nature shall not feel.“251 Auch der Horror makaberer Todesbilder sei eine beliebte Einbildung: „The Knell, the Shroud, the Mattock, and the Grave; / These are the Bugbears of a Winter’s Eve, / The Terrors of the Living, not the Dead. / Imagination’s Fool, […] Man makes a Death, which nature never made.“252 Gemäß der christlichen Dialektik ist der Tod Philanders sein größter Triumph wie auch sein tiefster Fall. Das das Leben umkehrende Ereignis ist zugleich der Sieg des Lebens über den Tod. Der in der späteren Tradition der religiösen Melancholie entscheidende Blick der Beistehenden auf den Sterbenden wird als ein erhabener Moment voller gemischter Empfindung geschildert. Der Tod tritt in einer Vielzahl von positiven Bildern auf: Er wird mit dem Zahltag, dem Ratgeber, einer Quelle der Freuden, einer Krone oder dem Friedensfürsten verglichen.253 Die Freude am ewigen Leben soll schließlich jede mögliche Angst vor dem Tod überwiegen. Der Tod beflügele den Menschen seine irdische Gefangenheit zu verlassen: „And feel I, Death! no Joy from Thought of Thee? / Death, the great Counsellor, who Man inspires / With ev’ry nobler Thought, and fairer Deed! / […] Death, of all Pain the Period, not of Joy; / Joy’s Source, and Subject, still subsist unhurt“.254 Durch die Verwendung der Anapher in diesen Versen wird der Tod wiederholt in seiner Funktion hervorgehoben. In einem religiösen Sinn vertreten die Night Thoughts einen Wunsch nach dem Ende des Lebens: „When shall I die to Vanity, Pain, Death? / When shall I die? – When shall I live for ever?“255 Wie in der Abfolge von Tod und ewigem Leben, der Abfolge von schmerzhaftem Verlust und verzückter Errettung, so steht auch in der rhetorischen Frage bzw. ganzen Realisation des Werkes die Klage vor dem Lobpreis.
250
Der Ort der Totenstille wird plötzlich „beseelt“: „How populous! how vital, is the Grave! / This is Creation’s melancholy Vault.“ Young: Night the First. In: Ders.: The Complaint, or Night Thoughts (wie Anm. 131), S. 6. 251 Ebd., Night the Third, S. 49. 252 Ebd., Night the Fourth, S. 59. 253 Vgl. ebd., Night the Third, S. 51: „Death, the Deliverer, who rescues Man! / Death, the Rewarder, who Rescu’d crowns! / Death, that absolves my Birth; Curse without it!“ 254 Ebd., S. 55. 255 Ebd.
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1.2.5.5 Rhetorik der Klage (Klage − Lobpreis) Der klare Zusammenhang von Inhalt und Form in den Night Thoughts ist öfter angezweifelt worden, wohl auch, weil die erste Konzeption von vier Nächten durch das Gesamtbild von neun Nächten überbordend wirkt.256 Dennoch lassen sich deutliche Parallelen zwischen der literarischen Form des Unsterblichkeitsthemas und seinen Inhalten ziehen.257 Mit Blick auf ein Religiös-Erhabenes und den Vorgang einer religiösen Offenbarung versuchte sich Young in der Erzeugung einer ‚Verzückung‘ beim Leser („essential rapture“258). Die Aufwertung der Gefühle für einen solchen Vorgang ist in der Wahl Youngs rhetorischer Mittel erkennbar. Die Intention des Werkes, den Leser immer neu aus dieser Welt in eine andere, jenseitige zu führen, vollzieht sich nicht nur in der Anlage der einzelnen Nächte, sondern auch innerhalb seiner Bilder und Vergleiche. Johann Arnold Ebert kommentierte, Youngs rhetorische und inhaltliche Vorbilder seien zu diesem Zweck John Milton, François de la Rochefoucault, Blaise Pascal, Robert Lowth und nicht zuletzt die Autoren des Alten Testaments gewesen.259 Tatsächlich findet sich bei Young eine Imitation der Dichtersprache der Bibel, insbesondere der Psalmen, die von Robert Lowth etwa zeitgleich zum Vorbild erhabener Dichtung ernannt wurden. In typischer Psalmensprache, Parallelismen, Antithetik und hyperbolischem Sprechen, steigert sich das lyrische Ich zu einer bildgewaltigen Rede von der doppelten Natur des Menschen seiner irdischen Schwäche und göttlichen Ebenbildlichkeit: „A Worm! A God! – I tremble at myself, / And in myself am lost! […] O what a Miracle to Man is Man, / Triumphantly distress’d! what Joy, what Dread!“260 Die Paradoxien des christlichen Glaubens, etwa Gott werde zum Menschen, oder das Leben beginne nach dem Tod, legen den Grundstein für die kontrastreichen Bilder der Dichtung. Einnehmend für das Publikum wird das lyrische Ich dort, wo es in Oppositionspaaren und starken Kontrasten eine Sammlung anschaulicher Beispiele aufbaut: Der phantasierende Traum in Unruhe steht dem furchtsamen Wachen in
256
Vgl. Mohr: Melancholie und Melancholiekritik (wie Anm. 150), S. 183–201, hier S. 284: „Die Nachtgedanken sind nicht nur extrem sentimental, ich-zentriert, düster, enthusiastisch und emotionsgeladen zugleich, sondern auch vage, obskur, repetitiv, ohne Strukturprinzip und Plan, gedanklich widersprüchlich, regellos, pompöse und bombastisch und verstoßen damit gegen alle Regeln des eleganten Geschmacks.“ 257 Vgl. Merrill D. Whitburn: The Rhetoric of Otherworldliness in Night Thoughts. In: Essays in Literature 5 (1978), S. 163–174, hier S. 171. Die Night Thoughts werden dort als ein „rhetorical attempt to discourage secularism and encourage otherworldliness“ gelesen. 258 Vgl. Mary S. Hall: On Light in Young’s Night Thoughts. In: Philological Quarterly 48 (1969), S. 452–463, hier S. 454. 259 Vgl. Ebert: Kommentar. In: Young: Klagen, oder Nachtgedanken (wie Anm. 64), S. 90, S. 208, S. 245, S. 307 u. S. 327. 260 Young: Night the First. In: Ders.: The Complaint, or Night Thoughts (wie Anm. 131), S. 5.
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der Nacht gegenüber, die gedankenreiche Dunkelheit dem blendenden Tag, die gelehrte Vernunft, die alles zu erreichen glaubt, der verlockenden Phantasie, das irdische, unstete Leben einem verklärten, höheren Dasein. In zahlreichen Umkehrungen erfahren die ansonsten negativ besetzten Begriffe eine Neubewertung: Die Nacht siegt über den Tag, der Tod über das Leben. Die irdische Welt steht in diesen Nächten Kopf und weist so auf eine andere Welt hin. Die Klage als ein Gestus des Psalmisten im Alten Testament wie auch ihre prophetische Sicht auf eine göttliche Zukunft werden aufgegriffen (vgl. z.B.: „The Day too short for my Distress! and Night, / Even in the Zenith of her dark Domain, / Is Sunshine, to the Colour of my Fate.“261). Der alttestamentarisch inspirierten, gänzlichen Selbstverleugnung vor Gott folgt am Ende ein Lob auf dessen Stärke und Güte. Die Erzählerposition bleibt dabei an stereotype Weisheitsfiguren des Christentums angelehnt: der erleuchtete Einsiedler, der geplagte Prophet und der ermüdete Wanderer in göttlicher Mission. Die Weltabkehr der Figur beglaubigt einen Zugewinn an Erkenntnis und gibt dem Ratgeber im übertragenen Sinne Führungsqualitäten. Am Anfang der neunten Nacht folgt ein Vergleich mit dem stetig Reisenden.262 Stark vertreten ist außerdem eine Lichtmetaphorik, die sich der Dunkelheit nicht nur als einzige Verortung des Dialogs, sondern auch als Raum der Inspiration verschrieben hat. Die Nacht als Abtrennung vom Alltag des Lichts gewährt die Möglichkeit zum Innehalten und, wohl noch wichtiger, einen privaten Raum für den geschützten Blick in die bisher unbekannten Bereiche der Seele: „Inspire me, Night! with all thy tuneful Spheres inspire; / […] And shew to Men the Dignity of Man.“263 In der Nacht werden die gemischten Empfindungen freigesetzt („Night is fair Virtue’s immemorial Friend; / The conscious Moon, thro’ ev’ry distant Age, / Has held a Lamp to Wisdom, and let fall, / On Contemplation’s Eye, her purging Ray.“264), die am Tag nicht gesehen werden können. Erst die Dunkelheit regt im wörtlichen wie übertragenen Sinne zur kritischen Auseinandersetzung mit Gefühlen an: „Darkness has more Divinity for me; / It strikes Thought inward; it drives back the Soul / To settle on Herself, our Point supreme!“265 Eindrücklich zeigt das lyrische Ich ein Schwanken der persönlichen Überzeugung, wenn von Rückschlägen und Schlaflosigkeit die Rede ist. Aus der Unruhe des Schlafes findet es prozessartig zu Orientierung und Selbsterkenntnis. („I wake, emerging from the Sea of Dreams / Tumultuous; where my wreck’d,
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Ebd., S. 3. Vgl. ebd., Night the Ninth, S. 239: „As when a Traveller, a long Day past / In painful Search of what he cannot find, / At Night’s Approach, content with the next Cot, / There ruminates, awhile, his Labour lost / […] Thus I, long-travell’d in the Ways of Men.“ 263 Ebd., Night the Fourth, S. 64. 264 Ebd., Night the Fifth, S. 82. 265 Ebd., S. 88.
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desponding Thought / From Wave to Wave of fancy’d Misery, / At random drove, her Helm of Reason lost.“266) Schlaf und Tod werden zu Pausen der Natur, die ansonsten in einem zirkulären Gang den Menschen nicht aus seiner Beschränktheit entlässt. Diese zyklische Erfahrung spiegelt sich in den Wiederholungen der jeweiligen Nacht-Anfänge wieder, die das lyrische Ich narrativ vollzieht, wenn es erwacht und erneut zu einer Klage ausholt. Entgegen der Annahme, die Night Thoughts seien ein Werk schauerlicher Friedhofsdichtung, wird deutlich, dass die in ihnen empfohlenen gemischten Empfindungen eine gemäßigte Trauer, eine sanfte Melancholie verfolgen. Edward Young konzipierte die Night Thoughts als ein Werk, das in einem orthodoxen Sinn einer christlichen Todesmeditation verpflichtet sein will, indem es den Gedanken der heilsamen Trauer aufnimmt, um eine Offenbarung zu befürworten, die emotionsgeleitet und zugleich meditativ durchdrungen ist. Mit diesem Konzept reagierte Young auf die religionskritischen Stimmen seiner Zeit. Daraus folgt, dass die Etablierung eines ästhetischen Trauerns in der Literatur vor allem durch die Idee eines in Fragen der Moral und Religion emotional befähigten Menschen gefördert wurde. In Youngs bekenntnishafter und empathischer Dichtung wird die Vorform der später als Schlagwort gefassten „joy of grief“ für ein ästhetisches Erlebnis religiöser Melancholie entwickelt. Mit dem enormen Erfolg der Night Thoughts in ganz Europa zeigt sich zugleich der Erfolg des Phänomens „joy of grief“, einer in der Rezeption zunehmend ästhetisierten Lust an Trauer. Die noch immer religiöse Melancholie etablierte sich mit Young als Gegenstand der erfolgreichen Literatur des 18. Jahrhunderts. Wie ein Blick auf die weitere Entwicklung der kontemplativen Literatur in England zwischen 1750 und 1765 zeigt, blieb die Beliebtheit der meditativen Seelenschau in religiösen Texten erhalten. Mit dieser Popularität trat aber zugleich eine Tendenz zur Trivialisierung ein (z.B. Night Thoughts Among the Tombs, 1753).267 Die Kunst der meditativen Selbstbeobachtung wurde immer mehr zum empfindsam verklärten Alltagsgeschehen (vgl. z.B. The Contemplatist, 1762).268 Die kontemplative Todesmeditation in Lehrdichtung war jedoch so beliebt, „that it not only moved beyond its religious origins and into the realm of popular literature: it also transgressed geographical boundaries, gaining a foothold on American soil and inspiring some of America’s earliest poets.“269
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Vgl. ebd., Night the First, S. 3. Vgl. Anonym: Night Thoughts Among the Tombs. In Blank Verse. With a Poem on the Last Day. London 1753. 268 Vgl. John Cunningham: The Contemplatist: A Night Piece. London 1762. Der Friedhof bei Nacht soll zur Betrachtung der Sterblichkeit anregen. Insofern handelt es sich um einen Rückschritt zur plakativeren Friedhofsdichtung. 269 Van Leeuwen: Funeral Sermons and Graveyard Poetry (wie Anm. 17), S. 367. Vgl. z.B. Thomas Godfrey: A Night–Piece (1758); John Trumbull: Elegy on the Death of Buckingham
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In diesem Transformationsprozess orientierte sich die religiöse Literatur stärker an Emotionen und Wirkung, als dies zuvor geschah. Die Topoi der Schauerliteratur wurden insbesondere in der trivialen Todesmeditation Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelt und in einer Ästhetik der gemischten Empfindungen etabliert. In dieser Tradition lassen sich auch die Vorboten der ossianischen Idylle wie moosbedeckte Grabsteine und der Wanderer in nebligen Tälern finden. Obwohl die späteren erbaulichen Texte in Anlehnung an Edward Youngs Night Thoughts zur pathetischen Trivialisierung der Melancholie neigen, haben sie doch die gleiche Nähe zur psychologischen Perspektive, die Stimmungsbilder unter religiösen Assoziationen bietet.
St. John (1771). Van Leeuwen arbeitet daran, die Verbreitung der graveyard poetry in den amerikanischen Kolonien zu untersuchen.
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2 Die empfindsame Melancholie in der sakralen deutschen Literatur 2.1 Friedrich Klopstock und ein ‚geistlicher Sensualismus‘ Kein anderer deutscher Dichter des 18. Jahrhunderts hat sich so intensiv mit Edward Youngs Night Thoughts und der darin empfohlenen sanften Melancholie beschäftigt wie Friedrich Klopstock. Vergleichbar mit anderen Lesern seiner Generation nutzte er diesen Text in häufiger Re-Lektüre als Stimulans für wehmütige Empfindungen und versuchte damit seine Empfindungsfähigkeit zu erweitern bzw. nach dem zeitgenössischen Kultivierungsprogramm religiöser Melancholie zu formen. Durch die allmählich einsetzende Funktionalisierung des Textes zur Stimulation wehmütiger Emotionen entwickelte sich die sanfte Melancholie gesellschaftlich zu einem verbreiteten Geschmacksphänomen, das schließlich in satirischen Schriften von Anakreontikern wie Jacobi parodiert wurde. In Jacobis Nachtgedanken, an Gleim aus dem Jahr 1769 wird die Evozierung sanfter Melancholie am Beispiel Youngs als überhandnehmende Modeerscheinung und launische Beschäftigung gegen Langeweile beschrieben.1 Auch für den semi-säkularen Prozess, der zu dieser Kritik führte, gibt Friedrich Klopstock ein gutes Beispiel ab. Die ehemals religiöse Motivation zur sanften Melancholie trat hinter ihre empfindsame Bedeutung als Emotionserfahrung zurück. Allein eine gemischte Empfindung zu pflegen wurde zur religiösen oder moralischen Handlung. Friedrich Klopstocks Auseinandersetzung mit der sanften Melancholie von ihren Anfängen in den 1740er bis zur theoretischen Vertiefung ihrer Verwendung in den 1750er Jahren wird in diesem Kapitel dargelegt. Die wichtige Bedeutung Klopstocks für das Verständnis einer sanften Melancholie in literarischen Kreisen wird sich auch in den folgenden Generationen abbilden (z.B. in seinem Einfluss auf den Hainbund). In Klopstocks Phase der Bardendichtung begleitet sie seine Ossian-Rezeption. Klopstock waren die Night Thoughts seit etwa 1748 bekannt. Dies belegt die Tatsache, dass er seinen Studienfreund Cramer bat, ihm Stellen der Night Thoughts zu übersetzen und so zugänglich zu machen.2 Klopstock hatte durch sein Studium 1
2
Vgl. Johann Georg Jacobi: Nachtgedanken. An Gleim. In: Ders.: Sämmtliche Werke. 8 Bde. Bd. 1. Zürich 1807, S. 93–105, hier Fußnote S. 93: „Im Jahre 1769 wurde ich an dem Stifte des H. Bonifacius und Mauritius in Halberstadt als Canonicus aufgenommen, und mußte, damit doch etwas von der ehemaligen, unter den Röm. Catholischen Stiftsherren üblichen Noviziate beybehalten würde, zwey Nächte in der Kirche, oder vielmehr in der daran gebauten Capitel-Stube schlafen. Hier erinnerte mich die einsame Zelle an die, zu jener Zeit häufigen unglücklichen Nachahmer von Young; und um mir den Abend zu verkürzen, warf ich auf das Papier, was die Laune des Augenblicks mir eingab.“ Vgl. Friedrich Gottlieb Klopstock: Brief an J.A. Cramer. In: Ders.: Werke und Briefe. 37 Bde. Hg. v. Adolf Beck u. Horst Gronemeyer. Bd. 1: Briefe 1738−1750. Hg. v. Horst Gronemeyer. Berlin, New York 1979, S. 8–10, hier S. 9f.: „Ich sehe lauter elysische Felder um mich! Schi-
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in Leipzig und den dortigen Kontakt zu Ebert vermutlich schon seit 1746 Kenntnis von Youngs Werk. Zeitgleich mit dem Beginn seiner Freundschaft mit Meta Moller versuchte sich er sich an eigenen Übersetzungen der Night Thoughts.3 Zu diesem Zweck bemühte er sich darum, Englisch zu erlernen,4 wohl nicht zuletzt, um mit Young in einen Briefwechsel treten zu können. Briefwechsel mit Edward Young und seinem Verleger, Samuel Richardson, bestanden nachweislich von 1757 bis 1761. In einem Brief an Ebert berichtete Klopstock im Oktober 1757, dass Young von ihm gehört habe, seinen Messias durch eine Übersetzung kenne und hoffe, ihn persönlich zu treffen.5 Von Young erhielt Klopstock tröstende Worte zum Tod seiner Frau6 und mehrfaches Lob für seine Dichtung.7 Die Verehrung des anglikanischen Pfarrers ging so weit, dass Klopstock ihn einen Propheten nannte8 und in seiner Schrift Von der heiligen Poesie als genialen, religiösen Dichter zu einem Vorbild erhob: „Youngs Nächte sind vielleicht das einzige Werk der höhern Poesie, welches verdiente, gar keine Fehler zu haben. Wenn wir ihm nehmen, was er als Christ sagt, so bleibt uns Sokrates übrig. Aber wie weit ist der
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cken sie mir doch einige von Gisekens und Schlegels letzten Briefen. Man liest doch gern in den Papieren seiner verstorbenen Freunde. Schicken Sie mir auch einige übersetzte Stellen aus den Nachtgedanken. Ich bitte bey der zärtlichen Thräne, die ein Frauenzimmer dabey vergießen wird. […] auch bey der Freude bitte ich Sie, die ich bey diesen Tränen empfinden werde.“ In der Silvesternacht 1751/1752 arbeitet Klopstock, der kaum Englisch verstehen konnte, daran, die „letzten Stücke“ der Nachtgedanken zu übersetzen und berichtete Meta von seinen Versuchen. Vgl. ebd., Brief Klopstocks an Meta Moller am 1.1.1752, S. 105. Am 14. März 1752 schrieb Klopstock an Meta Moller: „Ich hatte einen starken Posttag, u die Zeit war eher, als ichs geglaubt hatte, vorbey, u unter andern war es Young, (aus dem ich izt Englisch zu lernen angefangen habe,) an den ich schrieb, u der also große Schuld mit hatte.“ Ebd., Brief Klopstocks an Meta Moller am 14.3.1752, S. 127–129, hier S. 127. Ebd., Brief Klopstocks an Johann Arnold Ebert am 19.10.1757, S. 441f.: „Ich habe ihm einen Brief an Young mitgegeben. Denn ich muß Ihnen sagen, daß ich die Freude habe Youngen nicht ganz unbekannt zu sein. Er hat einige Fragmente ich weis nicht von welcher Ubersezung des Mess[ias, K.B.] gesehen. Ein Freund von mir [Hohorten], […] war vorigen Winter in England […]. Dieser hat mir […] geschrieben, daß Young gewünscht hätte, daß ich möchte nach England kommen können.“ Einige der Ausdrücke gemischter Empfindungen im Messias (vgl. z.B. „Freudigbang“) wurden von Ebert auf Youngs Night Thoughts zurückgeführt. Vgl. Johann Arnold Ebert: Kommentar. In: Edward Young: Dr. Eduard Young’s Klagen, oder Nachtgedanken über Leben, Tod und Unsterblichkeit. 5 Bde. Bd. 1. Braunschweig 1760, S. 412. Edward Young: Brief Youngs an Klopstock am 04.02.1759. In: Friedrich Gottlieb Klopstock: Werke und Briefe: historisch-kritische Ausgabe. 37 Bde. Hg. v. Adolf Beck und Horst Gronemeyer. Abt. Briefe. Bd. 4: Briefe 1759−1766. Hg. v. Helmut Riege. Berlin, New York 2003, S. 6. Nach einer Übersetzung Klopstocks: „Ich kann meine Feder nicht weglegen, ohne Ihnen zu sagen, wie viel mein Herz bey Ihrem sehr sehr grossen Verlust empfindet. […] Gott, der Allmächtige, stärke Sie nach seiner großen Barmherzigkeit, mit vielen, vielen andern Segen.“ Ebd., Brief Youngs an Klopstock am 12.04.1761, S. 108f.: „I love your Faith and Virtue, I admire your Genius, I deplore your loss, I pity your distress, I pray for your prosperity, and shall be ever proud of your comments.“ Friedrich Gottlieb Klopstock: Brief Klopstocks an Meta am 22.12.1751. In: Meta Klopstock: Es sind wunderliche Dinger, meine Briefe. Meta Klopstocks Briefwechsel mit Friedrich Gottlieb Klopstock und mit ihren Freunden. 1751−1758. Hg. v. Franziska und Herrmann Tiemann. München 1980, S. 100.
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Christ über Sokrates erhaben!“9 Johann Arnold Ebert unterstrich in seinen Erinnerungen, dass die Night Thoughts für Klopstock eine Quelle dichterischer Inspiration waren und betonte besonders, dass sie ihm dazu dienten, sich in eine wehmütige Stimmung zu versetzen.10 Inwiefern Klopstock diesen Impuls für seine Dichtung und Dichtungstheorie mit Blick auf die sanfte Melancholie modifizierte, soll im Folgenden dargelegt werden. Sowohl in Klopstocks schriftstellerischen Arbeiten als auch in seinen Beziehungen traten zwischen den 1740er und 1750er Jahren immer wieder Verbindungslinien zur Dichtung Youngs auf. Die Night Thoughts begleiteten seine frühe unglückliche Liebe zu Marie Sophia Schmidt, die spätere Ehe mit Meta Moller, den Tod der Ehefrau und auch den der Freunde. Da Klopstocks Englischkenntnisse nicht ausreichend waren, bemühte er sich bei Erscheinen der ersten deutschsprachigen Übersetzung Johann Arnold Eberts, möglichst bald eine Ausgabe seiner Nachtgedanken zu erhalten.11 Die Night Thoughts waren für ihn daher ab 1751 maßgeblich durch die Übersetzung des Freundes Ebert geprägt. Klopstocks Vertrautheit mit den Texten Edward Youngs wird in dreierlei Hinsicht mit einer kultivierten Lust an Melancholie sowie anhand dreierlei Textsorten untersucht. In den frühen Oden Klopstocks fördert die religiöse und sanfte Melancholie das Erhabenheitserlebnis, das die versagten irdischen Freuden ersetzen soll. Der Liebhaber Friedrich Klopstock erklärte in einem zärtlich inszenierten Briefwechsel mit Hilfe seiner wehmütigen Empfindung seine Liebe. Schließlich entwickelt sich ein dichtungs- und zugleich emotionstheoretisches Konzept der inspirierenden und emotionskultivierenden Wehmut in seinen theoretischen Schriften. Die sanfte Melancholie wurde ihm, wie Ebert in seinem Night ThoughtsKommentar 1760 erläuterte, zum Ideal religiös-erhabener Lyrik. Anhand dieser drei Materialquellen (Oden, Briefe und theoretische Schriften) soll nachgewiesen werden, dass Klopstock die Kultivierung der sanften Melancholie sowohl in gesellschaftlicher Ausprägung als auch als poetologische Variante vertraut war. An seinem Beispiel zeigt sich, dass Kunst, Gesellschaft und Religion durch die Kultivierung sanfter Melancholie miteinander in enge Verbindung traten. Mit Beginn der 1750er war diese zu einem zärtlichen Verhaltensideal geworden,
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Ders.: Von der heiligen Poesie. In: Ders.: Der Messias. Gesang I–III. Text des Erstdrucks von 1748. Studienausgabe. Hg. v. Elisabeth Höpker-Herberg. Stuttgart 2000, S. 114–126, hier S. 118. Vgl. Johann Arnold Ebert: Vermischte Gedichte und Episteln. 2 Bde. Theil 1. Hamburg 1789, S. 298: „Indessen erinnere ich mich, daß mir Klostock, während der Zeit, da er noch mit seinem unsterblichen Werke beschäfftigt war, einmahl sagte, er pflege sich zuweilen nicht allein durch das Lesen der Psalmen und der Propheten, sondern auch durch die Youngischen Nachtgedanken, zu seiner Arbeit anzufeuern und zu begeistern.“ Friedrich Gottlieb Klopstock: Klopstock an Meta im Brief vom 22.09.1751. In: Meta Klopstock: Es sind wunderliche Dinger (wie Anm. 8), S. 71–73, hier S. 73: „Wenn ich Sie damit bemühen darf, so ersuche ich Sie, Bohnen in meinem Namen sagen zu lassen, daß er mir die Folge der Uebersezten Nachtgedanken, wenn sie heraus ist, mit der Post schicke.“
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das auf religiösen Meditationstechniken fußte. In gesellschaftlichen Beziehungen wie auch in Klopstocks Dichtungstheorie spielte die Empathie bei der gemeinsamen Erfahrung leidvollen Schmerzes eine die Sinne und Beziehungen vervollkommnende Rolle. Darüber hinaus war sie Stimulans für religiöse Erhabenheitsempfindungen, die Klopstock stärker als sein englisches Vorbild in den Kontext der Freundschafts- und Liebeslyrik einbettete.
2.1.1 Sehnsuchtsvolle Melancholie in den frühen Oden Klopstocks Bey Young, u bey allen Heiligen! Ich kann Ihnen izt nichts weiter sagen, als daß ich Sie unaussprechlich liebe.12
Mitte des 18. Jahrhunderts war es ästhetisch ansprechend und religiös vertretbar, den eigenen Tod und in der Folge die Auferstehung zu visionieren. Allerdings wurden in der Kommunikation dieser religiös motivierten Visionen bald auch weitere, bis dahin private und untergeordnete Leidenschaften wie etwa zurückgewiesene Liebe oder der Besitzanspruch auf eine bereits vergebene Frau geäußert. Klopstocks Oden an Fanny zeigen eine solche religiöse Versicherung starker Empfindungen unter dem Primat der sanften Melancholie, die die Sehnsüchte des Individuums religiös begründet zu einem wehmütigen Erhabenheitserlebnis aufwertet. Der christliche Kontext, in dem alle ‚guten‘ Empfindungen von der göttlichen Natur gegeben werden, verleiht dem Liebesbegehren des zurückgewiesenen Verliebten einen moralischen Anspruch (vgl. z.B. An Gott). Klopstock ermöglichte mit den frühen Oden eine Liebeslyrik, die die bisherigen literarischen Konventionen überschritt, indem er mit Hilfe der kontemplativen elegischen Dichtung die unerfüllte Liebessehnsucht und die christliche Todesthematik miteinander verband. Das sprechende Subjekt schildert darin seine Vision von einer Vereinigung in einem Jenseits, die das irdische Scheitern der Liebe aufhebt.13 Klopstock bildete in seinen Oden Todesphantasien des Liebenden ab, um die unglückliche Liebe parallel zum christlichen Passions- bzw. Todesthema zu führen und die religiöse Kultivierung sanfter Melancholie auf die Liebesthematik zu übertragen. Eine spätere Engführung dieses Unternehmens zeigt Goethes Werther und dessen quasi-sakrale Leidensgeschichte (vgl Kapitel 4.1). Das Muster der religiösen Emotionalisierungs12 13
Ebd., Brief von Klopstock an Meta am 01.05.1752, S. 145–147, hier S. 146. Vgl. Helmut Pape: Klopstock. „Die Sprache des Herzens“ neu entdeckt. Die Befreiung des Lesers aus seiner emotionalen Unmündigkeit. Idee und Wirklichkeit dichterischer Existenz um 1750. Frankfurt Main u.a. 1998, S. 121: „Wenn man davon ausgeht, daß der Leser im allgemeinen von einem ‚Liebesgedicht‘ eine Ausstrahlung erwartet, die das Ziel hat, die Zuneigung eines geliebten Menschen zu gewinnen, diese zu steigern und zu verinnerlichen […] oder auch etwa ihren Verlust zu beklagen, so erhebt sich die Frage, ob Klopstock sich überhaupt in diesen eher traditionell vorgezeichneten Bahnen bewegen wollte.“
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strategie, die auf persönliche Erniedrigung (in diesem Fall durch die Ablehnung der Geliebten) ein Erhabenheitserlebnis folgen lässt, kommt auch in Klopstocks Oden zum Tragen. Nur wird in diesem Fall das Erhabenheitserlebnis nicht durch göttliche Gnade freigesetzt, sondern durch den Analogieschluss des lyrischen Ichs (unerfüllte Liebe/früher Tod = göttliche Prüfung) ermöglicht. Der auf Erden unglücklich Verliebte sieht sich nach dem Tod als entschädigt an und die noch im Leben irrende Frau wird ihm bestätigend zugeführt. Der Verlust und die Zurückweisung werden in den Oden zu göttlichen, dem Tod ebenbürtigen Prüfungen, die an die religiösen Todesphantasien Edward Youngs angelehnt sind. Helmut Pape bestätigt diesen thematischen Einfluss Youngs auf Klopstocks frühe Liebeslyrik: „Von größter Wirkung auf Klopstock […] waren jedoch die Night-Thoughts […] Diese Impressionen, vor allem die Vorstellung von der Begrenztheit irdischen Glücks und der Bedrohung durch den Tod, überschatteten Klopstocks Liebe zu Fanny. Die Oden, die diese unglückliche Liebe besingen, sind vielfach erfüllt von Todesvisionen“.14 Die Frauennamen, mit denen Klopstock die weiblichen Figuren in seinen Oden benannte, implizieren das Scheitern der irdischen Beziehung, um das liebende lyrische Ich in die Lage der Prüfung zu setzen. Bei Fanny15 und Clarissa16 handelt es sich um literarische Figuren, deren Liebesleben unter keinem guten Stern steht. Die Figur der Geliebten ist in den Oden mit einem möglichen Verlust, dem Schicksal ihrer fiktionalen Vorbilder verbunden. Zudem suchte Klopstock wie Young gezielt nach Analogien zwischen literarischer Figur und erlebtem Schicksal, um seiner Dichtung Authentizität bzw. Werbewirksamkeit zu verleihen (z.B. gab er seine unglückliche Liebe zu Maria Sophia Schmidt bekannt, als seine Oden An Fanny erschienen). Klopstocks Hinweise auf seine Cousine und seinen Freund, ihren Bruder, sind in den frühen Oden deutlich erkennbar und von einem ihm nahestehenden Publikum verstanden worden.17 Die frühen Oden der 1740er Jahre weisen Klopstock als einen Kenner der elegischen englischen Dichtung aus. Mehrmals lobt er darin die Dichterin Elizabeth Singer-Rowe, die für ihre religiös-melancholische Lyrik bekannt wurde. Vor allem ihr Werk Friendship in Death (1728) hatte einen prägenden Eindruck auf ihn. Wie bei Singer-Rowe ist auch bei ihm die Freundschafts- und Liebesthematik mit Tod 14 15 16 17
Ebd., S. 118f. Nach Fanny Goodwill in Henry Fieldings Roman: The History and the Adventures of Joseph Andrews (1742). Hg. v. Douglas Brooks-Davies. Überarb. v. Thomas Keymer. Oxford 1999. Benannt nach Clarissa Harlowe in Samuel Richardsons Roman: Clarissa: or the History of a Young Lady (1748). Hg. v. Angus Ross. London 2004. Vgl. dazu Pape: Klopstock. „Die Sprache des Herzens“ (wie Anm. 13), S. 190: „Klopstocks Beziehung zu seiner Kusine waren auf dem besten Wege, zu einer Sache des allgemeinen Interesses zu werden. Sogar ein Brief Fannys wurde im Magdeburger Klopstock-Kreis verlesen. […] Vor Klopstock sollte zwar die Verlesung des Fanny-Briefes geheimgehalten werden, andererseits schien er eine gewisse Genugtuung zu empfinden, wenn neugierige Verehrerinnen ihn bestürmten, Einzelheiten seiner unglücklichen Liebesbeziehung zu offenbaren.“
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und Trauer verbunden. Die Häufigkeit mit der diese Verbindung in Dichtung und Briefen (nicht nur bei Klopstock) auftaucht, lässt die Annahme zu, dass es sich Mitte des Jahrhunderts um einen etablierten Melancholiegestus handelte, der als Gefühlscode für intensive Freundschaft und Liebe fungierte. Luise Gottsched berichtete 1755 etwa in einem Brief an ihre Freundin Dorothee von Runckel, das Lesen der Night Thoughts habe sie zuerst sehr traurig, dann sehr glücklich gemacht und dieses Empfinden bestätige die gemeinsame, tiefe Verbundenheit.18 In Klopstocks literarischem Beispiel, der Ode Die künftige Geliebte (1747), teilt das lyrische Ich nur allein seiner ‚Traumfrau‘ zu Ehren seine vertraulichen Tränen mit.19 In der Ode An Fanny handelt es sich um eine Todesvision, in der das zurückgewiesene lyrische Ich seinen zukünftigen Anspruch nach dem gemeinsamen Tod in der Auferstehung ausmalt. Sie zeigt ein lyrisches Ich, das seine Unverstandenheit thematisiert, weil es seine Liebe bis in den Tod verfolgen muss, darin aber auch einen traurig-süßen Genuss findet. Der christliche Auferstehungsgedanke wird zum Trost des verschmähten Geliebten im Jenseits, in dem sich zeige, dass das Paar einander versprochen sei. Das lyrische Ich impliziert mit seiner Darstellung, dass die Zurückweisung des Gegenübers nur eine irdische Verblendung sein könne. Die Gewissheit dieser Sichtweise begründet es mit seinen starken Gefühlen. Die Perspektive der Geliebten wird dabei ausgeblendet.20 Die Stärke der eigenen Gefühle als Beweis des persönlichen Standpunktes anzugeben wird zur autonomen Haltung ausgeweitet, die Werther später wiederholt. Dass die starken Gefühle überhaupt in einer solchen sprachlichen Form ihren Ausdruck finden, ist Klopstocks Verdienst. „Daurend[es, K.B.] Verlangen“21 des biegsamen Herzens wird vom lyrischen Ich in melancholischer Stimmung dargestellt. Sehnsucht und Begierde nach einer noch fernen Frau kommen dabei zum Ausdruck.22 Die „unbe18
19 20
21 22
Vgl. Luise Gottsched: Nr. 157. Brief an D. v. Runckel. Leipzig, 29.01.1755. In: Dies.: Luise Gottsched – mit der Feder in der Hand. Briefe aus den Jahren 1730 bis 1762. Hg. v. Inka Kording. Darmstadt 1999, S. 229f.: „[S]ie haben mir die Nachtgedanken vom Young so angepriesen, daß ich mich, ohngeachtet meiner Neigung zur Melancholie […] doch überwunden […] und diese gelesen habe. Ich finde lauter Nahrung für meine Traurigkeit darinnen. […] Sind dies nicht traurige Wahrheiten? […] Diese Stellen haben mich […] mein Glück doppelt bemerken lassen. Ja, liebste Freundin, ich habe in Ihnen die Glückseligkeit gefunden, die den Engländer angefeuert hat, so vortreflich von ihr zu singen. Diese Betrachtungen […] haben mein ganzes Herz in Bewegung gesetzt. Kurz, ich lebe nur für Sie, um Sie zu lieben, und mein ganzes künftiges Leben aller Freude und allem Schmerze, aller Zufriedenheit und aller tödlichen Unruhe, kurz alle Empfindungen zu überlassen, die die Begleiterinnen dieser göttlichen Leidenschaft sind. […] Ich lebe und sterbe Ihre ganz eigene Freundin.“ Friedrich Gottlieb Klopstock: Die künftige Geliebte. In: Ders.: Oden. Auswahl und Nachwort von Karl Ludwig Schneider. Stuttgart 1999, S. 4–7. Vgl. Pape: Klopstock. „Die Sprache des Herzens“ (wie Anm. 13), S. 148: „Diese von Klopstock vorausgesetzte, literaturautonome, egozentrisch-männliche Rollenverteilung berücksichtigt nicht die innere Einstellung der Geliebten: ihre Aussicht auf Nachruhm und Unsterblichkeit wird als Wert absolut gesetzt.“ Friedrich Gottlieb Klopstock: Die künftige Geliebte. In: Ders.: Oden (wie Anm. 19), S. 4. Vgl. ebd., S. 4f.: „Oft um Mitternacht streckt sich mein zitternder Arm aus, / Und umfasset ein Bild, ach das deine vielleicht!“; „Du, die meine Begier stark und unsterblich verlangt!“
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singbare Lust“ wird zum „süßen“, „begeisternden“ Schauer.23 Der Empfindungsreichtum der Liebe wird in Die künftige Geliebte wagemutig mit dem für Tugend verglichen und soll diesen noch übersteigen.24 Doch im Gegensatz zum Werther sind die Gefühle in Klopstocks Oden noch immer religiös sanktioniert und die Vision vom unglücklichen Tod kehrt diese in eine göttliche Prüfung um. Die religiöse Sicherheit hatte jedoch Folgen für das Selbstverständnis des frommen Empfindenden. In den frühen Oden Klopstocks entsteht dadurch ein deutliches Übergewicht auf Seiten einer Ich-zentrierten Trauer („Wenn einst ich todt bin, wenn mein Gebein zu Staub’ / Ist eingesunken, wenn du, mein Auge, nun / Lang’ über meines Lebens Schicksal, / Brechend im Tode, nun ausgeweint hast“25). Die Empfindungen des lyrischen Ichs stehen im Vordergrund, die Angebetete erscheint als entferntes Objekt. Die religiöse Gewissheit des lyrischen Ichs macht aus der Hypothese des gemeinsamen Weiterlebens in einem Jenseits einen zukünftigen Sachverhalt. „Ach wenn du dann auch einen beglückteren / Als mich geliebt hast“, wendet sich das lyrische Ich an Fanny, dann werde ein Tag folgen, an dem beide auferstehen und ihre Seelen, von Natur aus füreinander bestimmt, seien vereint.26 Die religiöse Überzeugung von einer gerecht machenden Auferstehung, die eigene Gefühle bestätigt, überschattet die irdische Ablehnung der Dame. Ungeachtet welche Widrigkeiten den Sprecher von seinem irdischen Glück abhalten, ist das lyrische Ich auf ein Jenseits gerichtet, mit der Gewissheit, der irdische Schmerz werde mit überirdischem Glück belohnt. Die Freuden des lyrischen Ichs werden durch die irdischen Hindernisse gesteigert. Es ruft die schwermutvolle Liebe herbei, um seinen späteren Triumph zu vergrößern: „Komt, unaussprechlich süße Freuden! / So unaussprechlich, als jetzt mein Schmerz ist. // Rinn unterdeß, o Leben. Sie komt gewiß / Die Stunde, die uns nach der Zypresse ruft! / Ihr andern, seyd der schwermuthvollen / Liebe geweiht! Und umwölkt und dunkel!“27 Der erfolgreichere Nebenbuhler wird durch die Legitimation der eigenen Melancholie übertrumpft; der Tod soll ihm Fanny zuführen. Der durch Gefühlserlebnisse bestärkte Glaube an eine Gerechtigkeit und Endgültigkeit der Sehnsüchte durch den Tod befestigt auch die starken Gefühle des lyrischen Ichs für die unerreicht gebliebene Frau. Diese Konstellation von Zurückweisung und Gerechtigkeit durch den Tod wird sich noch einige Male in Klopstocks Dichtung wiederholen. In diese Reihe gehört zeitlich und thematisch auch Der Abschied (1748).28 Diese Ode formuliert den tröstenden Gedanken an die eigene Auferstehung. Darin ist erneut die Phantasie vom eigenen Tod enthalten, hier allerdings plastischer als 23 24 25 26 27 28
Vgl. ebd., S. 5. Vgl. ebd., S. 6. Ebd., An Fanny, S. 11f., hier S. 11 Ebd. Ebd., S. 12. Ebd., Der Abschied, S. 12–17.
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Gespräch mit dem Bruder der Geliebten dargestellt: Das lyrische Ich klagt, dass dessen Schwester seine Liebe nicht erwidert und stirbt. Die Figur des Bruders wird zum Vermittler zwischen lyrischem Ich und der Geliebten. Die Hoffnung, dass diese durch den eigenen Tod umgestimmt wird, dominiert die Szene. Eine Klage über ihre Zurückweisung wird gegenüber dem Bruder ausgesprochen, ist indirekt aber an die Geliebte gerichtet: „Wenn du [die Geliebte, K.B.] entschlafend über dir sehen wirst / Den stillen Eingang zu den Unsterblichen“,29 dann werde das lyrische Ich lange zuvor gestorben sein. Seinen Tod will es der Geliebten durch den Bruder ausmalen lassen. In einer freundschaftlich-empfindsamen Geste will das lyrische Ich dessen Brust berühren, seine Hand halten und visioniert, den Dichterhimmel von Pope und Addison zu sehen.30 Die Todesidylle eines empfindsam Sterbenden wird derart generiert. Es wird deutlich, dass die Idee von der Erhabenheit des unsterblichen Menschen zu einer irdischen Genugtuung umfunktioniert und auf den Fall der unglücklichen Liebe übertragen wird. Das Sprechen in Hypothesen impliziert den Umstand, dass der Tod des lyrischen Ichs noch nicht eingetreten ist und die Heimlichkeit, die die Ode suggerieren möchte, nicht durch den Botengang des Bruders unterbrochen wird. Die trennende Zeit auf Erden wird als die notwendige, traurig-schöne Situation beschrieben, die dem Erhabenheitsgefühl vorausgeht: „Ach, schöne Stunden! traurige schöne Zeit, / mir immer heilig, die ich mit dir gelebt!“31 Alles in diesem Abschied ist eine Aufforderung zur Untermauerung dieser Stunden. Das lyrische Ich wünscht sich, diese sanfte Melancholie bis über den Tod hinaus empfinden zu können, wenn der Bruder der Schwester vom Sterbenden berichtet: „Geh, wenn ich todt bin, lächelnd, so wie ich starb, / Zu deiner Schwester; schweige vom Traurenden; / Sag ihr, daß sterbend ich von ihr noch / Also gesprochen, mit heitrem Blicke“.32 Von der Angebeteten wird eine mitleidige Empathie erwartet, die sie gemäß dem empfindsamen Kultivierungsprogramm als tugendsam auszeichnet: „Du müsstest weinen Thränen der Menschlichkeit, / Viele theure Thänen, wenn du die Dulder siehst, / Die vor dir leiden, durch dich müsse / Deinen Gespielinnen sichtbar werden // Die heilige Tugend.“33 Das lyrische Ich wendet seine unglückliche Liebe und ihre Erfüllung im Jenseits zu einem Exempel für die Gesellschaft. Die sanfte Melancholie wird zum gesellschaftlich akzeptierten Ideal erhoben und zur Nachahmung empfohlen. Die Ode kann so als eine irdische Selbstbeseligung des lyrischen Ichs verstanden werden. Die Vereinigung von Geliebter und lyrischem Ich vollzieht sich auf der Ebene der vermeintlich gemeinsamen Emotionen: „Dann müss’ ein Schauer von dem Unendlichen, / Ein sanftes Beben derer, die Gott nun sehn, / Ein süßer Schauer jenes Lebens / Über dich kommen, und dir die Seele // Ganz überströ29 30 31 32 33
Ebd., S. 12. Ebd., S. 13. Ebd., S. 14. Ebd., S. 15. Ebd.
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men.“34 Schließlich treten beide gemeinsam vor Gott. Die irdische Konstellation von Anbetung und Ablehnung hat sich mittels des empfindsamen Leidenswegs für das lyrische Ich gewandelt. Die religiöse Prüfung wird mit der Gleichschaltung der Gefühle desselben und seiner Geliebten vor Gott belohnt. Auch im eigenen Tod soll sich die Geliebte seiner in Wehmut erinnern: „Wenn ich vor dir so werde gestorben seyn, / O meine Fanny, und du auch sterben willst; / Wie wirst du deines todten Freundes / Dich in der ernsteren Stund’ erinnern?“35 Ihre Gefühle sollen von der gleichen Wehmut geprägt sein, die er empfindet.36 In diesem Liebesbekenntnis und der gemeinsam geteilten Melancholie wünscht das lyrische Ich ihr einen angenehmen Tod: „Stirb sanft! o, die ich mit so unaussprechlicher / Empfindung liebte! Schlummr’ in die Ewigkeit.“37 Jegliche Distanz zum Todesgedanken fehlt. Das lyrische Ich bedient sich einer Idee vom ewigen Leben, die es selbst zufriedenstellt. Der jungen Frau einen schönen Tod zu wünschen, auch wenn dieser sich durch nichts andeutet, steht in der Liebeslyrik Klopstocks für eine zärtliche Geste. Die Fiktion einer wehmütig trauernden Geliebten ist zudem entschädigender Genuss versagter Freude. Empfindsamer Liebeskummer bedeckt sich in dieser Ode mit dem Bild einer pathetischen Todestrauer. In der ersten bekannten Ode an Cidli, Die todte Clarissa (1751),38 verbindet das lyrische Ich erneut Liebesprojektionen und Todesphantasie, indem es die Bewunderung für die sterbende Richardson-Heldin der Figur Cidli ans Herz legt.39 Dies setzt voraus, dass Richardsons Clarissa und ihr Beispiel an Tugend im Tod hinlänglich bekannt sind. Die Anspielungen der Ode auf ihren ‚würdigen‘ Tod stellen eine Interpretation des Romans dar. Die wohlhabende Tochter Clarissa folgt einem ihrer Verehrer, Lovelace, heimlich aus dem Haus ihrer Eltern, wird von ihm verschleppt, vergewaltigt und stirbt schließlich von ihrer Familie verstoßen. Clarissa, abgesehen vom Titel mit keinem Wort weiter erwähnt, ist allegorisch als die Blume zu verstehen, deren Schönheit für die Erde zu groß ist: „Blume, du stehst verpflanzet, wo du blühest, / Werth, in dieser Beschattung nicht zu wachsen, / Werth, schnell weg zu blühen, der Blumen Edens Beßte Gespielin!“40 Sollte die Blume stürzen, werde sie noch schöner sein; man werde sie bewundern, „[a]ber 34 35 36 37 38 39
40
Ebd., S. 16. Ebd. Ebd., S. 17. Ebd. Friedrich Gottlieb Klopstock: Die todte Clarissa. In: Ders.: Ausgewählte Werke. Hg. v. Karl August Schleiden. München 1965, S. 61f. Aus seinen Briefen ist ersichtlich, dass Klopstock seine spätere Frau Meta nach dieser Romanfigur Clärchen oder Clary nannte. Meta Klopstock, der diese Cidli-Oden gewidmet sind, teilt mit Klopstock die Begeisterung für Richardsons bekanntesten Roman. Vgl. Meta Klopstock: Brief von Meta an Klopstock vom 27.02.1752. In: Dies.: Es sind wunderliche Dinger, meine Briefe (wie Anm. 8), S. 131f.: „Ich danke Ihnen für die Ode an Clarissa. Ich habe sie gewiß recht sehr geliebkoset. Sie sagen, Sie wissen sie auswendig. Was dünkt Ihnen: Ich weis auch schon ein Paar Strophen, ohne daß ich das selbst gemerkt habe.“ Klopstock: Die todte Clarissa. In: Ders.: Ausgewählte Werke (wie Anm. 38), S. 61.
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durch Thränen“.41 Erst im Zerbrechen oder mit der Beendigung ihres Daseins gibt die Blume ihre vollkommene Schönheit preis. Der Verlust lässt ihren Wert vollständig erkennen. In der Übertragung bedeutet dies, dass der Tod der Geliebten ihre wahre Schönheit aufdeckt. Die Gewalt, die der Blume bzw. Frau angetan wird, wird in der Ode nicht weiter reflektiert, sondern bleibt ein unterschwelliges Motiv. Erst im Tod ist sie die perfekte Frau. Philippe Ariès weist in der Geschichte des Todes am Beispiel de Sades darauf hin, dass die erotische Anziehung einer toten Gestalt in der Literatur durchaus bekannt war und eine neue Annäherung von Eros und Thanatos im 18. Jahrhundert begleitete.42 Das lyrische Ich legt der Cidli dieses Exempel nahe, um ihr das Ideal gebrochener Schönheit und die empathische Trauer darüber zu verdeutlichen. Sie soll sich wie Clarissa in das Heer in Sympathie verwandter Seelen einreihen. An Cidli ergeht eine Aufforderung zum melancholischen Nachvollzug: „Samle Zypressen, daß des Trauerlaubes / Kränz’ ich winde, du dann auf diese Kränze / Mitgeweinte Thränen zur ernsten Feyer / Schwesterlich weinest!“43 Im geteilten Nachvollzug der Trauer um Clarissa liegt ein verbindendes Moment zwischen lyrischem Ich und Cidli. Was als Allegorie beginnt, endet in dieser Ode als melancholisches Liebesband zwischen beiden. Der Nachvollzug erhebt und adelt die Empfindungen Cidlis. Das gemeinsame Genießen einer Clarissa-Lektüre, das Schwelgen in dieser Fiktion, entspricht nicht nur dem postulierten Wunsch nach einer Empfindsamkeitsschulung zu einer besseren Seele, sondern auch der Schaffung eines traurigsehnsüchtigen Empfindungsrahmens, der dem Paar Gemeinsamkeiten verleiht. In Klopstocks wenig späteren Freundschaftsoden sind Todesphantasien ebenfalls nicht ungewöhnlich. Sie treten vor allem dann auf, wenn wie in den beiden vorgestellten Oden kein realer Todesfall vorliegt. Daran zeigt sich, dass Freundschaftsbekundungen und Anerkennung für Klopstock ebenfalls durch Todesszenarien kommuniziert werden konnten. Die Verbindung zwischen den Freunden ist die geteilte Empfindung oder die Versicherung tiefster Empfindungsfähigkeit. Der Freundschaft wurde am besten Ausdruck verliehen, indem man den möglichen Verlust des Anderen und seine Empfindungen darüber thematisierte. An Johann Arnold Ebert richtete sich zum Beispiel die Ode An Ebert von 1748. Sie schildert das Versprechen einer ewigen Freundschaft und das sichere Ende ihrer irdischen Zeit durch den Tod. Ganz unvermittelt kommt dem lyrischen Ich ein Gedanke vom möglichen Tod der Freunde: „Ebert, mich scheucht ein trüber Gedanke vom blinkenden Weine / Tief in die Melancholey! […] / Ebert! Sind sie nun alle dahin! deckt unsere Freunde / Alle die heilige Gruft; / Und sind wir, zween Einsame, dann von allen noch übrig!“44 Die Überwältigung des lyrischen
41 42 43 44
Ebd. Vgl. Philippe Ariès: Die Geschichte des Todes. München 1985, S. 482–485. Klopstock: Die todte Clarissa. In: Ders.: Ausgewählte Werke (wie Anm. 38), S. 62. Klopstock: An Ebert (1748). In: Ders.: Klopstocks Oden (wie Anm. 19), S. 41–43, hier S. 41.
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Ichs kommt in seinem Erstaunen zum Ausdruck. Sein Traum nimmt weitere Gestalt an: „Ach, in schweigender Nacht, ging mir die Todtenerscheinung, / Unsre Freunde, vorbey! / Ach in schweigender Nacht erblickt’ ich die offnen Gräber, / Und der Unsterblichen Schaar!“45 Das Grab wird als stimulierendes Motiv sanfter Wehmut aufgerufen. Es folgt eine Aufzählung der gemeinsamen Freunde Eberts und Klopstocks: der „zärtliche“ Nikolaus Dietrich Giseke, der „redliche“ Johann Andreas Cramer, seine Verlobte Johanna Elisabeth Radick (die einzige, die 1748 bereits gestorben war), Gottlieb Wilhelm Rabener, Gellert, Johann Andreas Rothe, Johann Adolf Schlegel, Christian Schmidt und Friedrich von Hagedorn.46 Die Aufzählung liest sich wie ein Nachruf zärtlicher Freundschaften, die dadurch jedoch erst bestärkt werden sollten. Sterbe dann auch einer von ihnen, bleibe das lyrische Ich allein zurück. Es konstruiert den Tod aller Freunde und stellt sich damit als verlassen dar. Niemand könne diese Freunde ersetzen: „Bin dann ich der Einsame, bin allein auf der Erde.“47 Die vom Altruismus geprägte Freundschaft erklärt sich in dieser Ode am stärksten durch die selbstbeobachteten Gefühle. Der Text kulminiert in einer Phantasie von der Bestattung eines Freundes, an dessen Grab das lyrische Ich steht: Es will die finsteren Gedanken abwehren und muss verstummen, weil es sie nicht mehr fassen kann. Damit wird angedeutet, dass der Todesfall nicht nur mit Hoffnung und Freude auf eine Ewigkeit belegt ist, sondern auch Ängste hervorruft und über die menschliche Fassenskraft hinausgehen kann. Neben die Geste einer hypothetischen Trauer um den Verstorbenen als Freundschaftsbekundung treten nun auch Äußerungen tiefster Erschütterung. Die religiöse Versicherung, der Tod könne zum christlichen Triumph umgedeutet werden, wankt erkennbar aufgrund erstarkender Gefühle von Verlassenheit und Angst. Diese Anzeichen von Distanz zum Todesthema verstärken sich jedoch erst nach Meta Klopstocks Tod (1758) in Klopstocks Dichtung. Noch begeistert von den Versen Edward Youngs widmete Klopstock schließlich auch ihm eine anerkennende Ode. An Young drückt die Empfindungen für den englischen Dichter als Vorbild aus. Gleichzeitig scheint es so, als fordere sie den Tod des damals fast 70-Jährigen, um die Night Thoughts erfüllt zu sehen: „Stirb, prophetischer Greis, stirb! Denn dein Palmenzweig / Sproßte lang schon empor; daß sie dir rinne, steht / Schon die freudige Thräne / In dem Auge der Himlischen.“48 Klopstock folgerte aus den Night Thoughts, ihr Autor müsse eine Erfüllung darin finden, diese Erde zu verlassen. Fast wirft das lyrische Ich ihm vor, noch am Leben zu sein: „Du verweilst noch? und hast hoch an die Wolken hin /
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Ebd., S. 42. Vgl. ebd. Ebd. Klopstock: An Young. In: Ders.: Oden. Mit Unterstützung des Klopstockvereines zu Quedlinburg. Hg. v. Franz Muncker und Jaro Pawel. Stuttgart 1889, S. 107f., hier S. 108. Die Ode wurde zwischen 1751 und 1752 verfasst und erschien 1753 zum ersten Mal.
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Schon dein Denkmal gebaut!“49 Diese furchtlose Haltung vor dem Tod drückt die Ode ebenfalls aus, wenn sie dem alten Engländer einen baldigen Tod wünscht. Eine Gleichberechtigung dieser Lyrik mit der biblischen Offenbarung, wie sie Klopstock in seiner Schrift Von der heiligen Poesie erläuterte, schrieb er seinem Vorbild Young zu.50 Endlich fühle der Freigeist Lorenzo (das Alter Ego der Night Thoughts) die Wirkung der Lyrik Youngs: Denn die geheiligten, / Ernsten, festlichen Nächte / Wacht der Freigeist mit dir, und fühlts, // Daß dein tiefer Gesang drohend des Weltgerichts, / Prophezeyung ihm singt! fühlts, was die Weisheit will, / Wenn sie von der Posaune / Spricht, der Todtenerweckerin!51
Nochmals beteuert das lyrische Ich die Lehre, die ihm Young vermittelt habe, wenn es sich exklamatorisch wiederholt: „Stirb! du hast mich gelehrt, dass mir der Name Tod, / Wie der Jubel ertönt, den ein Gerechter singt.“52 Besser tot als lebendig erfüllte Young die gewünschte Rolle in Klopstocks Denken. Auch ein briefliches Geständnis Klopstocks, dass er sich Young schon mehrmals tot vorgestellt habe, deutet darauf hin.53 Überhaupt spielt die Vorstellung vom Tod in den frühen Oden eine weitaus größere Rolle als die Wirklichkeit selbst. Er wird als schön und angenehm vermittelt. Durch arrangierte wehmütige Gefühle, die Adaption religiöser Emotionalisierungsstrategien englischer Lyrik in Kombination mit Liebes- und Freundschaftsthemen erzielten die Oden zudem ihre Beliebtheit beim zeitgenössischen Publikum. Die Texte, die erst nach dem Tod Metas (1758) geschrieben wurden, belegen, dass die biographischen Begegnungen mit dem Tod die Vorliebe für wehmütige Todesphantasien Klopstocks beendeten. Die Natur und die sie auslösenden Gedanken und Gefühle rückten immer mehr ins Auge des Betrachters. Die stereotypen Todesphantasien werden durch emotionsspiegelnde Naturbilder ersetzt. So kombinierte Klopstock in seiner Ode Die frühen Gräber (1764) das landschaftliche Erlebnis einer Mondnacht mit dem Anblick der Gräber der Freunde. Elemente ossianischer Dichtung wie die mondbeschienene Natur, das Moos und der Blick des Hinterbliebenen versammeln sich in diesen Oden. Die Wehmut über den Tod der Freunde wird von einer Zufriedenheit mit dem Leben begleitet, die den frühen Oden noch fehlt: „O wie war glücklich ich, als ich noch mit euch / Sahe sich röthen den Tag, schimmern die Nacht.“54 Eine betontere Naturdarstellung und gemäßigte Empfindungen lassen die Szene weniger pathetisch, dafür authentischer 49 50 51 52 53
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Ebd. Vgl. ebd. Youngs Dichtung wird mit dem Buch der Offenbarung verglichen, wenn es heißt, er habe von der letzten Posaune als einer Totenerweckerin gesprochen. Ebd. Ebd. Klopstock: Brief Klopstocks an Ebert am 19.10.1757. In: Meta Klopstock: Es sind wunderliche Dinger, meine Briefe (wie Anm. 8), S. 441f.: „Ich stellte mir immer vor Young könnte schon todt seyn.“ Klopstock: Die frühen Gräber (1764). In: Oden (wie Anm. 19), S. 75.
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erscheinen als aus Klopstocks frühen Oden bekannt.55 Diesem späteren Stadium ging aber noch eine ausführlichere Beschäftigung mit der sanften Melancholie als Mittel dichterischer Inspiration und persönlicher Erhabenheitserlebnisse in den 1750er Jahren voraus, die im Folgenden betrachtet werden soll.
2.1.2 Wehmütige Todesbilder als unterhaltsame und dichterische Anregungen Wie viele seiner Zeitgenossen las auch Klopstock die Night Thoughts als einen Text, der den Leser wiederholt in wehmütige Stimmung versetzen konnte. Mit ihrer Lektüre war eine Erwartung an das Eintreten eines Gefühls verbunden, das die eigene Empfindungsfähigkeit am besten spüren ließ. Die Briefe, die Meta Moller und Friedrich Klopstock austauschten, zeugen von dieser Möglichkeit, die eigene Empfindungstiefe durch sanfte Melancholie ausdrücken und erfahren zu können. Dass diese Briefe in jener Hinsicht ein großes Inszenierungspotential enthalten, erläuterte bereits Tanja Reinlein in ihrer Analyse empfindsamer Briefe.56 Dies ist zu bedenken, wenn man die Inszenierung einer ästhetischen Lust an Trauer bzw. den Melancholie-Code in den Briefen herausstellen will. Die sanfte Melancholie, von der Klopstock und seine Braut sich schrieben, stand stellvertretend für die Sehnsüchte des Paares, die Empfindungstiefe des eigenen Gefühls und bildete nicht zuletzt den subversiven Code sexueller Begierden für den Anderen. Die erste intensive Beschäftigung Klopstocks mit den Night Thoughts fällt zusammen mit dem frühen Kontakt zu seiner späteren Ehefrau Meta. Zu Anfang der 1750er Jahre verband Klopstock daher mit ihrer Lektüre vor allem die Gedanken an die in der Ferne lebende geliebte Meta: „Itz eben hab ich im Propheten Young gelesen, u das macht, daß ich an meine Moller schreibe. Denn ich dachte sehr oft an meine tugendhafte Moller, da ich im Young las.“57 Die Liebe zur entfernten Frau und die moralische Perfektionierung seiner selbst durch melancholische Empfindungen überlagerten sich. Dies stand aber in keinem Widerspruch zueinander, da ihm auch die Liebe zu Meta eine tugendhafte Empfindung war, die der göttlichen Natur des Menschen entspreche. Meta Moller wird zu diesem Zweck idealisiert und zu einem Abbild des sittsamen Mädchens. Es sind die sehnsüchtigen Gedanken an geliebte Menschen, die Klopstock mit der Lektüre Youngs assoziierte,
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Weitere Oden, die wehmütig, aber nicht verherrlichend den Tod beklagen, sind ebd., Die Sommernacht (1766), S. 76; Das Wiedersehen (1797). S. 124f.; Die Erinnerung. An Ebert nach seinem Tode (1795), S. 122. Tanja Reinlein: Der Tod als literarische Darbietung. Zum Briefwechsel zwischen M. Moller und F.G. Klopstock. In: Dies.: Der Brief als Medium der Empfindsamkeit. Erschriebene Identitäten und Inszenierungspotentiale. Würzburg 2003, S. 227–231. Klopstock: Klopstock an Meta am 22.12.1751. In: Meta Klopstock: Es sind wunderliche Dinger, meine Briefe (wie Anm. 8), S. 100f.
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wie die Briefe erkennen lassen. Ein Brief vom Dezember 1751, in dem er bekundet, bei der Lektüre der Night Thoughts an Meta denken zu müssen, belegt ebenfalls, dass er die Todesmeditation der Night Thoughts, die Young als sanft, bescheiden, melancholisch, schön und weiblich umschrieb,58 mit Meta in Verbindung brachte. Die Verniedlichung und Idealisierung ihrer Person kommt in diesem Zitat besonders zum Ausdruck: Soll ich Ihnen die Stelle sagen, wo ich zuerst an sie dachte? ‚Sanft, bescheiden, melancholisch, schön, u weiblich‘ O die süße Stelle! Das letzte Wort wiederholt die vier ersten […] u das zwar auf eine so süsse Art, daß sie es so stark nicht empfinden können, als ich, weil Sie ein Mädchen sind. Nicht so? ich habe recht, daß sie es nicht so empfinden können, wie ich?59
Das schöne Sterben der Night Thoughts und die mit ihm verbundene religiöse Trauer waren die Punkte, die Klopstock an die sehnsüchtig geliebte Frau denken ließen. Er sah die im Werk schon angelegte Tendenz, Liebe und Tod miteinander in Verbindung zu bringen.60 Das Zitat thematisiert zudem die Frage nach der Empfindungsfähigkeit der Geschlechter. Zum einen beantwortet Klopstock seine Frage selbst und nennt den Mann als den Empfindungsfähigeren, zum anderen gehört diese Frage zum Teil des inszenierten, empfindsamen Liebesspiels zwischen Klopstock und Meta. In ihm geht es darum, sich der Empathie des Anderen zu versichern. Er bittet sie um einen Nachweis, dass sie mit ihm fühlen könne. Es ist ein Wettspiel, das die mögliche Steigerung der Empfindungen andeuten soll: „[I]ch [fordere, K.B.] Sie auf, mir zu sagen, was ich alles dabey gedacht habe? […] Geben Sie mir ein gleiches Wort auf, das Sie auch besser empfinden können, als ich.“61 Von den geheimen Gefühlen des Anderen zu erfahren, bleibt bis heute ein Bedürfnis romantischer Liebe. Klopstocks Empfindungsspiel verläuft zwischen den Polen eines verliebten Scherzes und der ernsthaften Verbindung zur Melancholie der Todesmeditation: „Für sanft ein Mäulchen! für bescheiden, eins; für melancholisch (o das allerliebste Brittische Wort!) für melancholisch zwey, auf iedes Aug eins! für schön? Ich dächte für schön, Mollern, einen Kuß! Und für weiblich? Ja! – – – für – – – weiblich? … ach, Mollern, ich habe Sie erstaunlich lieb!“62 Der
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Vgl. Young: 3. Nacht. In: Ders.: Nachtgedanken über Leben, Tod und Unsterblichkeit. Übers. v. Johann Arnold Ebert. Braunschweig 1751, S. 69. Klopstock: Klopstock an Meta am 22.12.1751. In: Meta Klopstock: Es sind wunderliche Dinger, meine Briefe (wie Anm. 8), S. 100f. Vgl. Ariès: Der Schutzwall gegen die Natur hat zwei schwache Punkte: die Liebe und den Tod. In: Ders.: Geschichte des Todes (wie Anm. 42), S. 500–503, hier S. 500: „Aber tief im Unbewussten hat sich im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert etwas Verwirrendes abgespielt: Dort haben sich, ganz im Imaginären, Liebe und Tod einander genähert, bis sich ihre äußere Erscheinung verwischte. […] Von der Mitte des achtzehnten Jahrhhunderts wird ein gefährlicher wilder Kontinent ahnbar, der tatsächlich aufgetaucht ist und auf diese Weise ins allgemeine Bewusstsein aufsteigen ließ, was bis dahin sorgfältig verdrängt worden war.“ Klopstock: Brief Klopstocks an Meta. 22.12.1751. In: Meta Klopstock: Es sind wunderliche Dinger, meine Briefe (wie Anm. 8), S. 100f. Ebd.
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private Brautbrief belegt, dass für Klopstock zärtliche Sinnlichkeit und die melancholische Todesmeditation nahe beieinanderlagen. Es sind gleichermaßen die bei der Lektüre erlebten kontemplativen Empfindungen wie die sinnlichen Sehnsüchte, die beim Gedanken an Meta auftreten. Klopstock betont die bei Young bereits zaghaft angelegten körperlichen Komponenten einer sanften Melancholie. Der Frau wird dabei die eher passive, in Schönheit und Bescheidenheit duldende Rolle zugeschrieben, die Meta Moller in ihren Briefen ebenso spielerisch einnimmt. Mit der Reihe der Adjektive von sanft über bescheiden zu melancholisch und schön steigert Klopstock auch die erotischen Andeutungen. Mit „Mäulchen“ sind im 18. Jahrhundert in der naiven Sprache des Brautbriefes noch Küsschen gemeint. Zärtliches Verhalten und ein Höchstmaß an Empathie musste in der ansonsten begegnungsarmen Liebelei durch die Kommunikation gemeinsamer Erlebnisse von Kunst und Religion ihren Ausdruck finden. Die im Spiel und durch Lektüre gesteigerte Empfindungsfähigkeit und das Empfinden der erhabensten Gefühle, zu denen die sanfte Wehmut gehörte, waren für Klopstock maßgebliche Voraussetzungen der Liebe und der Religion. Das eigene Schreiben stellte Friedrich Klopstock ebenfalls ins Zeichen wehmütiger Empfindungen, wenn er Meta berichtete: „Meine Oden, die geliebten traurigen Oden, von denen Sie mir einmal sagten, daß sie Sie am meisten für mich eingenommen hätten, gehören Ihnen mehr zu, als ich Ihnen sagen darf. Wenn Sie wüsten, meine Moller, wie mir mein Herz zittert, u wie sehr ich Ihr Klopstock bin.“63 Der zurückhaltende Stil des Brautbriefes belegt erneut, dass Klopstock die Liebesthematik poetologisch und gesellschaftlich mit Trauerelementen verbunden sah, zugleich aber die Braut als Naive und Schwächere vor zu starken Gefühlen und Eindrücken zu schützen glaubte. In den frühen Oden und auch in seinen Briefen an Meta werden Emotionen wie Zuneigung und Sehnsucht durch Inszenierungen von Trauer und Tod vermittelt oder dadurch verstärkend angeregt. Die Leichenbetrachtung der dänischen Königin, deren Tod Klopstock in Kopenhagen miterlebte, verband er mit bekräftigenden Liebesbekenntnissen an Meta. Die Vorstellung, er selbst könne bald versterben, riss ihn zu pathetischen Visionen hin, die seine Empfindungen für sie bekräftigen sollten: Ich habe sie nun auch im Sarge gesehen [die dänische Königin, K.B.], u neben Ihr den Prinzen, […]. Ich muß hier aufhören. Es ist zu traurig − Dürfte ich Sie wohl, wenn ich bey Ihnen wäre, mit dieser stillen, zärtlichen Thräne ansehen, meine Mollern? − Ach, wie lange ist es noch hin, eh Sie diesen Brief empfangen […] Wenn ich sterbe, sollen Sie Ihre Briefe heilig aufbewahrt, u von mir noch versiegelt, wieder haben, […]! O, wenn Sie es, wie ich fühlten, wie sehr ich Ihr Klopstock bin.64
Der junge Klopstock beschäftigte sich mit der hypothetischen Situation seines eigenen Todes und einem vielfältigen Szenario an Ereignissen, die darauf folgen 63 64
Ebd., S. 101. Ebd., Brief Klopstocks an Meta vom 01.01.1752, S. 106.
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sollen. Entbehrung und unvermeidliche Distanz zum geliebten Gegenüber sind die vorbereitenden Themen seiner empfindsamen Liebesschwüre. Während der Verlobungsphase und Ehe mit Meta versicherte Klopstock sich noch häufiger der Fortdauer der Empathie in ihrer Beziehung (auch über den Tod hinaus). Weitere Briefe belegen z.B., dass er positive Gedanken und Hoffnungen immer wieder mit traurigen Assoziationen in Verbindung zu bringen suchte, um die Stärke seiner Empfindungen hervorzuheben. Im folgenden Zitat wird zudem deutlich, dass es sich bei diesem Verhalten um eine Inszenierung handelte, die sich zur Lebenswirklichkeit wie eine Übertreibung verhielt: „O Cläry, wie sehr bist du für mich gemacht, Du schönes Herz! […] So viel Glückseligkeit hier. Gewiß, Young war manchmal zu traurig, Du weißt, wie wenig ich meyne, wenn ich unsern Young tadle. Vielleicht giebt er mir recht, wenn er auf die Bitte meiner Ode, mein Genius geworden ist.“65 Aus der Imagination von gesteigerten Gefühlen und starken Kontrasten sollten die Inspiration und der Enthusiasmus für Kunst und Leben gewonnen werden. In einem Brief an Meta Moller erklärte Klopstock die besonderen Empfindungen, die die Gedanken an Youngs Tod verursachten, näher: „Mich schaudert Clärchen. Wie wenn diese und noch größere Seelen mir jetzt nahe wären! Es war mir angenehmer Ueberfall dieser Schauer.“66 Der Tod Youngs und die geistige Nähe zu seinem Vorbild evozierten in ihm eine gemischte Empfindung, die er als angenehm und zugleich traurig darstellte. Offenbar unterstützen diese erwünschten Gefühle seine Pläne und ließen aus dem angenehmen Schauer eine Quelle für weitere Ideen werden. So wurde die ehemals rituelle Todesmeditation von ihm in einen privaten Rahmen unter stark ästhetischen Vorzeichen verlegt. Der vermeintlich tote Young67 sollte ihn inspiriert haben: Erscheine mir schöne Seele! erscheine mir. Ich muß diesem Gedanken ein Bischen nachhängen. Er ist viel zu süß. Er soll mir mindestens so erscheinen, wie Du mir oft erschienst, wenn meine Seele Dich mit allen ihren Gedanken denkt. – – – Komm, komm, bester Mann! Erzähle, wie ist es jenseits der Gräber! […] – – Und Du weißt schon so viel mehr, Du fühlst schon so viel mehr Glücklicher! o dein Grab ist noch so frisch […] Geh denn, weil ich so viel noch nicht wissen, so viel noch nicht fühlen darf, geh denn wieder.68
Mit der Geste der Überwältigung weist Klopstock in diesem Brief an Meta Moller dramatisch das Wissen des Toten zurück. Ein letztes Geheimnis, dessen Reiz die Visionen ausmachen, musste derart bestehen bleiben. Seiner Braut versicherte er, was dieses Kapitel darstellen möchte: Die Anrufung des Todes, die schönen Gedanken daran sind ihm künstlerische Anregungen geworden und nicht länger allein als Wege zur Gotteserkenntniss funktionalisiert. Die Emotionalisierungstechniken 65 66 67 68
Ebd., Brief Klopstocks an Meta vom 29.10.1752, S. 210f., hier S. 210. Ebd., S. 210. Edward Young starb erst im Jahr 1765 und damit 13 Jahre nach diesem Brief. Meta Klopstock: Brief Klopstocks an Meta am 29.10.1752. In: Dies.: Es sind wunderliche Dinger, meine Briefe (wie Anm. 8), S. 210f.
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dienten Klopstock nun zu individuellen Emotionserfahrungen, die nicht allein religiös motiviert waren. Paradox ist dabei, dass Klopstock sich als Akteur eines Trauerkults zeigt, dem es bei der Beschwörung des Toten um die größte, sinnliche Erfahrbarkeit des Lebens ging, die sittlich statthaft war. Diese Vermischung von Leben und Tod ist erneut durch seinen Vergleich der Erscheinung einer Geliebten mit der des toten Young markiert. Die in dieser Passage des Briefes verwendeten Bilder eines schönen Todes und der Bereicherung durch ihn sollten Meta Moller ihr gegenüber offenbarte tiefste Gefühlsregungen signalisieren. Ein früherer Brief Metas verdeutlicht, dass auch sie in ihren Briefen an die Grenzen des allgemein anerkannten Verhaltens trete, da sie mit Klopstock über den Tod spreche, wohl wissend, dass sie als junge Frau in der Gesellschaft nicht an solche Themen rühren solle.69 Das freimütige Verständigen über Todesvisionen trat neben Erklärungen von Sehnsucht zum Gegenüber und Liebe für den jeweils anderen. In ihrer subjektiv empfundenen Einsamkeit wurden beide zu sentimentalen Vorstellungen vom Tod des Gegenübers verleitet und lieferten sich damit verknüpft empfindsame Liebesbeweise: Wenn Sie sich vorstellen könnten, was ich alles empfand, als ich nach Ihrem Brief noch ein Paar Stunden im Bette blieb. Ich hielt Ihren lieben Brief lange, lange auf meinen nassen Augen u: dieses war mir sehr süß. […] Ich ließ nicht nur einige wenige zärtliche Thränen fallen, […] nein, mein liebster Freund, ich weinte recht viel. Daß Sie Ihren Brief damit schließen, ich sollte meine Briefe wieder haben wenn Sie sterben, o daß ist mir jetzt ganz unerträglich! […] Wenn Sie sterben was frage ich dann nach allem noch … Nein, daß läßt Gott mich nicht erleben!70
Mit einem solchen Bericht der empfindsamen Rührung beantwortete Meta das Todesszenario Klopstocks. Da sie die Gedanken an eine mögliche Trennung besonders rührten, versuchte sie mit der Nacherzählung ihrer Empfindungen dem Geliebten ihre emotionale Verbundenheit zu kommunizieren: Diese Geste der Empathie entwickelte sich zu einem etablierten Liebesspiel des 18. Jahrhunderts, das, wie die empfindsame Kultur glauben machte, über viele andere Freuden hinausging. Das morbide Liebes- und Frömmigkeitsgebaren des jungen Klopstock ließ eine Verbindung von Todesvisionen mit seinen Schwärmereien für Meta Moller ohne Weiteres zu. Wohl auch, weil die wehmütige Stimmung zu einem guten Teil zum sprachlichen Code wurde, der nur selten an tatsächlich traurige Ereignisse gebunden war. Die Leidenschaft der religiösen Verzückung wurde auf die Liebe zur Frau übertragbar. Selbst im Krankheitsfall schreckte Klopstock nicht vor der 69
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Ebd., Brief Metas an Klopstock am 22.12.1751, S. 101f.: „Ich gestehe es Klopstock, wenn ich eine Mannsperson wäre, so würde ich selbst darüber lachen, wenn ein Mädchen, die doch […] an nichts anders denken sollte, als wie sie eine artige Puppe für das andere Geschlecht abgeben könne, sich aus diesem Charakter heraus wage, u: mit Personen, die nur mit ihnen spielen wollen, vom Tode spräche. […] jetzt, da ich ein Mädchen bin, finde ich es doch nicht so sehr lächerlich, […] Ich weis wol, daß es gegen alle Regeln der Höflichkeit ist, mit jemand von seinem Tode zu sprechen, aber ich dachte, mit Ihnen könne man dieses thun.“ Ebd., Meta an Klopstock am 07.01.1752, S. 107f.
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Verbindung von Tod und Lust zurück, wenn er an die erkrankte Meta im scherzhaften Ton schrieb: Haben Sie denn so große Lust zu sterben, daß sie fürchten, mich nicht wieder zu sehen? Wenn Sie dazu Lust haben, so hab ich sie auch; u ich versichere Sie aufs heiligste, wir wollen einander bald wieder sehen. Aber ich muß vor ihrem Tode Ihr Bildniß noch einmal sehen, oder ich sterbe nicht vergnügt genug, oder ich glaube, daß Sie nicht haben wollen, daß ich zu Ihnen kommen soll. Müssen denn Sterbende so rachsüchtig seyn?71
Dies ist ein extremes Beispiel für Klopstocks sinnliche Todesvisionen, den Verlust der religiösen Ernsthaftigkeit und die Nutzbarmachung des Todes für einen amourösen und sexualisierten Kontext. Meta erinnerte Klopstock an die christliche Demut, die der Tod hervorrufen müsse. Daher enthält ihr Brief auch eine sehnsüchtige Äußerung über eine Verbesserung durch selbigen: „Ein baldiger Tod ist zwar mein beständiger Wunsch. Ich weis aber wol daß er dennoch nicht allemal kömmt, wenn unser Schicksal uns gleich dazu bringet ihn zu wünschen.“72 Ihre Antwort deutet darauf hin, dass die Einbindung des Todes in ein erotisches Liebeswerben nicht vollkommen von einer christlichen Moralvorstellung getrennt zu sehen war. Die Zuneigung des Paares drückte sich jedoch in ihren Briefen in gegenseitigen Versicherungen einer sublimierten Freude am christlichen Tod aus. Dieses Verhalten war eine empfindsame Geste, die nicht nur Zuneigungen transportieren sollte, sondern auch die eigenen Empfindungen als moralisch rein aufwertete. Diese erprobte Kultivierung der traurigen Empfindungen als Ausdruck schönster Momente, ihre gesuchte Steigerung zu Erhabenheitsgefühlen präsentierte Klopstock schließlich als den Schlüssel zu seinem literaturtheoretischen Konzept einer Heiligen Poesie, die, obwohl (oder eben weil) sie eine Dichtung im Zeichen religiöser Offenbarung sein wollte, bewusst wirkungsästhetische Kalkulation vom Dichter verlangte.
2.1.3 Göttliches Empfinden. Die Heilige Poesie als eine Vertiefung emotionalen Selbst-Erlebens In Gedanken über die Natur der Poesie schrieb Friedrich Klopstock 1759: „Die tiefsten Geheimnisse der Poesie liegen in der Aktion, in welche sie unsre Seele setzt.“73 Ihr Wesen bestehe darin, „ daß sie […] eine gewisse Anzahl von Gegenständen, die wir kennen, […] von einer Seite zeig[e], welche die vornehmsten Kräfte unsrer Seele in einem so hohen Grade beschäftig[e], dass eine auf die andre wirk[e], und dadurch die ganze Seele in Bewegung setzt[e].“74 Die Prosa-Schriften 71 72 73 74
Ebd., Klopstock an Meta am 06.11.1752, S. 88. Ebd., Meta an Klopstock am 12.11.1751, S. 89. Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie. In: Ders.: Ausgewählte Werke (wie Anm. 38), S. 992–996, hier S. 992. Ebd.
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Von der heiligen Poesie75 und Die beste Art über Gott zu denken76 decken diese „geheimnisvolle“ Aktion der Literatur als eine leserorientierte Emotionalisierungsstrategie auf, die klar religiös motiviert war. Wie eine Gegenüberstellung der beiden Texte dokumentiert, verstand Klopstock eine kalkulierbare Irrationalität der Empfindungen als zentralen Teil seiner Poetik. In diesen Texten verband er Grundlagen einer an Einfühlungsvermögen orientierten Poetik und einer gefühlsgeleiteten, undogmatischen Religiosität.77 Seine religiöse Begeisterung nahm dabei keine bestimmte theologische Ausrichtung ein. Die theologische Motivation Klopstocks, die die Hintergründe seines Dichtungs- und Religionsverständnisses erhellen kann, leitete sich nicht von einer bestimmten Glaubensrichtung ab. Vermutlich handelte es sich um überwiegend neologische Anteile, die auf orthodoxem Protestantismus und pietistischen Glaubenselementen basierten.78 Wie ein Briefwechsel mit Bodmer nachweist, kannte Klopstock seit 1748 Pseudo-Longins Schrift Über das Erhabene.79 Seine literaturtheoretischen Überlegungen lassen sich nicht zuletzt von Bodmers Gefallen am englischen Sensualismus und Johann Georg Sulzers Ideen von erkenntnistragenden Empfindungen herleiten. Mit Bodmer und Sulzer traf Klopstock 1750 auf seiner Reise in die Schweiz zusammen. Die Heilige Poesie sollte wie ein Spiegel Emotionen abbilden und sie im Gegenüber auslösen. Sie ist die lyrische Ausdeutung der durch die Offenbarung vorgegebenen, biblischen Grundrisse. Dabei erbringt die Poesie eine Leistung für die Religion: Der Autor wählt die Literatur, um mit ihr als Werkzeug kognitive wie emotive Kräfte des Menschen zu erreichen. Die Rede ist von einer Seelentechnik, die die Gotteserkenntnis zum Ziel haben solle. Da Schreiben und Lesen in einen Kreislauf der religiösen Empfindungen eingebunden sind, kann sich der Autor eine Art Kettenreaktion, eine sich selbst beschleunigende Empfindung, zunutze machen, ausgelöst durch das Zeigen emotionsgebundener Bilder. Im Wechsel löst Literatur religiöse Empfindungen aus oder ebensolche lösen Literatur aus. Der Verfasser Heiliger Poesie nimmt die geistlich inspirierten Sinne in Anspruch, um ein sinnlich erlebtes Christentum zu fördern. Im religiösen Gedanken zeichnet sich 75 76
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Von der heiligen Poesie wurde während einer Überarbeitungsphase für die zweite Ausgabe des Messias in Kopenhagen geschrieben und erschien 1755 als Vorrede zu den Gesängen I–V. Von der besten Art über Gott zu denken erschien zuerst im Jahr 1758 im Nordischen Aufseher, bevor Klopstock den Text mit den Schriften seiner Frau 1759 veröffentlichte. Friedrich G. Klopstock: Von der besten Art über Gott zu denken. In: Ders.: Klopstocks sämmtliche Werke. 13 Bde. Bd. 11: Hinterlassene Schriften von Margareta Klopstock. Leipzig 1823, S. 207–216. Vgl. Dietmar Till: „Der Gräber Todesacht ist nun nicht mehr! erwacht!“ Pietismus, Neologie und Empfindsamkeit in Klopstocks Bearbeitung von Nicolais „Wächterlied“. In: Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch der Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte 13 (2001), S. 70–102. Vgl. ebd., S. 93. Vgl. Klopstock an Bodmer am 2. Dezember 1748. In: Ders.: Briefe 1738–1750 (wie Anm. 2), S. 26–31, hier S. 30: „Ihren Entwurf vom Erhabenen habe ich schon ehmals gelesen. Mein Verlangen, das ich Ihnen entdeckt habe, ist auf eine weitere Ausführung dieses mehr als longinischen Entwurfs gegangen.“
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ein anthropologischer ab: Der Mensch ist ein sinnlich begabtes Wesen und seine irrationalen Fähigkeiten führen zu lehrreichen Erfahrungen. Wie schon Johann Andreas Cramer im Nordischen Aufseher (1758) anregte, sollte die Religion zu einer Leidenschaft der Seele werden: Wenn die Wahrheiten unsrer göttlichen Religion sowohl in ihrer Schönheit, als in ihrer mächtigen Stärke empfunden werden sollen: So ist es an einer bloß deutlichen Vorstellung davon nicht genug; es gehört mehr dazu, als eine kalte Betrachtung derselben; man muß bis zur Begeisterung davon gerührt werden können; es muß nicht allein der Verstand; es muß auch das Herz mit seinen Bewegungen ein Christ seyn. Dieses geschieht, wenn bey uns die Religion, so zu sagen, eine Leidenschaft wird. In der Leidenschaft werden alle Kräfte der menschlichen Seele erschüttert; im Verstande drängen sich Gedanken auf Gedanken; die Vorstellungen von dem Gegenstande, welcher die Leidenschaft erweckt, wechseln in einer erstaunlichen Geschwindigkeit mit einander ab; der Geist kann sich von demselben nicht losreißen; […] alle Begierden des Herzens werden beschäfftigt; alle seine mannigfaltigen Bewegungen erwachen.80
Die Religion könne auf diese Art nicht nur den Geist „aufklären“, sondern auch Willen und Leidenschaften bessern.81 Klaus Bohnen nennt es eine „Theologie der Sinnenfreude“,82 wie sie Klopstock schon bei Edward Young vorfand und in seinen Werken umzusetzen versuchte. Von Young lernte Klopstock gegen Ende der 1740er Jahre welche poetische Freude das Missvergnügen machen könne,83 bevor er seine Erkenntnisse in einem theoretischen Konzept festgehalten habe. Das Resultat einer Lektüre von Heiliger Poesie soll ein „In-Bewegung-Setzen“84 der Sinne sein. Dabei ging Klopstock wie schon Sulzer von einem animistischen Modell der Empfindungen aus, dessen Saiten die Informationen der Sinne zur Seele hin und umgekehrt zurück kommunizierten. Inbegriffen in diese religiös sanktionierte85 Aktivierung der Sinne war für die Empfindung einer sanften Melancholie eine Dynamik der geistlichen Erniedrigung und Erhöhung, die dem Leser die Bandbreite seiner Empfindungen verdeutlichte. Die beiden Schritte der Emotionalisierungsstrategie auf dem Weg zur gemischten Empfindung kommen an dieser Stelle zum 80 81 82
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Johann Andreas Cramer: [zu Edward Young] 13. Stück. In: Der nordische Aufseher. Bd. 1. Hg. v. Ders. Kopenhangen u. Leipzig 1760, S. 158. Vgl. ebd., S. 159. Klaus Bohnen: Der Kopenhagener Kreis und der Nordische Aufseher. In: Klaus Bohnen u. Sven-Aage Jørgensen (Hg.): Der dänische Gesamtstaat. Kopenhagen, Kiel, Altona. Tübingen 1992, S. 161–179. Vgl. Gerhard Sauder: Der zärtliche Klopstock. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Friedrich Gottlieb Klopstock. München 1981, S. 59–69, hier S. 64: „Doch bleiben Klopstock und seine Freunde nicht bei […] Hagedorn stehen – sie lernen durch Young kennen, welche poetischen Freuden auch das Mißvergnügen bereiten kann. Klopstock hat gerade dazu ein System des Weinens und der Tränen geschaffen.“ Vgl. Winfried Menninghaus: Klopstocks Poetik der schnellen ‚Bewegung‘. In: Ders. (Hg.): Friedrich Gottlieb Klopstock, Gedanken über die Natur der Poesie. Dichtungstheoretische Schriften. Frankfurt am Main 1989, S. 259–361. Vgl. Bohnen: Der Kopenhagener Kreis und der Nordische Aufseher (wie Anm. 82), S. 171: „Wie Sinnenfreude (zur Zeit des Aufsehers gedacht) noch immer ihrer theologischen Legitimation bedarf, so die poetische Einbildungskraft ihrer moralischen Begründung.“
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wiederholten Male zur Sprache. Der eben noch dem Tode mit Haut und Haaren preisgegebene Mensch empfindet nun umfassende Freude über seine Errettung. Klopstock und sein Freund Cramer sahen in Young den literarischen Gewährsmann ihrer eignen Ideen, so Klaus Bohnen: „Youngs Klagen […] entwerfen eine poetisierende Leidens- und Erlösungstheologie, die – wie Cramer bemerkt – die ‚Kräfte des Nachdenkens‘ ebenso herausfordert wie die Empfindungsfähigkeit der ‚Schönheit der Dichtkunst‘.“86 Bei der Wahrnehmung von Stimmungen und Gefühlsregungen blieb es; rein somatische Regungen wurden nicht angesprochen. Diese Mischung von Verstand und Empfindung kam Klopstock gelegen, passte sie doch perfekt in das religiöse Umfeld des Kopenhagener Kreises, angesiedelt zwischen Pietismus und Orthodoxie, in dem er sich ab 1751 nach seiner Übersiedlung nach Dänemark befand. Young bot nicht nur den zweckmäßigen Kompromiss, sondern beflügelte auch die Möglichkeiten des religiösen Dichtens. Diese Inspiration ging in die poetologische Haltung des Nordischen Aufsehers ein, die auf einer gemaßregelten Aufwertung sinnlicher Erfahrungen gründete. Klaus Bohnen schrieb, damit öffne „sich der Weg für ein aktives Christentum, dem es im Bewusstsein von der ‚Würde und Größe‘ des Menschen darum gehen [müsse, K.B.], die religiösen Stimulantien in menschliche Gefühlsenergien umzusetzen.“87 Theologisch wurde eine Freude an Aisthetischem zwar legitimiert, die auch eine sinnliche Aktivierung des Menschen fördern konnte,88 sie war aber sicher nicht rein sensualistisch gedacht. Klopstock versuchte allerdings das Wesen einer Poesie zu bestimmen, die erkenntnistragende Gefühle erregen könnte. Da die ideale erhabene Empfindung, wie die Night Thoughts schildern, durch eine Freude an der Trauer gefördert sei, suchte Klopstock weitestgehend gemischte Empfindungen.89 Sie müssten den Leser anleiten, im Angesicht der menschlichen Sterblichkeit, erhaben von sich zu denken, eine Schönheit oder Größe der Seele erkennen zu wollen und daraus Schlüsse auf die Existenz Gottes zu ziehen. Ebenso wie Young setzte Klopstock dazu eine Regulierbarkeit der Empfindung voraus. In Stufen solle sich diese zur Spitze eines idealen Fühlens steigern, das über ein Selbst hinausgehe, eben zur Empfindung religiöser Erhabenheit. Am Beispiel der Friedhofslyrik erläuterte Klopstock, wie der Modell-Autor Schmerz und Wehmut allmählich wachsen lasse. Diese schrittweise Vorbereitung führte Young vor Augen, wenn sein lyrisches Ich vom eigenen Schmerz zum Anblick des Todes Dritter kam und schließlich ein Höhepunkt erreicht war, indem es die Perfektion der
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Ebd., S. 167. Ebd., S. 169. Ebd. Vgl. Sauder: Der zärtliche Klopstock (wie Anm. 83), S. 64: „Doch bleiben Klopstock und seine Freunde nicht bei der Rezeption Hagedorns stehen – sie lernen durch Young kennen, welche poetischen Freuden auch das Mißvergnügen bereiten kann. Klopstock hat gerade dazu ein System des Weinens und der Tränen geschaffen.“
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Schöpfung, ihre Steigerung in einer göttlichen Ewigkeit, ausmalte. Klopstock formulierte seine Übertragung in folgender Weise: Diesen stummen, erstaunungsvollen Schmerz will ich hervorbringen! Ich muß meine Hörer nach und nach mit wehmütigen Bildern umgeben. Ich muß sie vorher an gewisse Wahrheiten erinnern, die ihre Seele für diesen letzten großen Eindruck aufschliessen. Wenn sie eine Weile bey Gräbern, die noch mit Blumen bedeckt waren, vorübergegangen sind, dann sollen sie, noch schnell genug, an die tiefe, todtenvolle Gruft kommen. Führte ich sie auf einmal dahin, so würden sie mehr betäubt werden, als fühlen.90
Über den Anblick der fremden Gräber zum eigenen Grab zu gelangen, ist ein in der Friedhofsliteratur oft begangener Weg. Im Vergleich zu den Night Thoughts führt in ihnen der Weg vom Tod des Anderen zum eigenen. Der Endzweck ist auch hier das Fühlen eines unumstößlichen Endpunktes, zuvor jedoch die Bereitmachung der Seele für einen solchen Eindruck. Nicht als problematisch, sondern als wünschenswert führte Klopstock an, dass die Reaktion des Lesers Verstand, Einbildungskraft oder Willen übersteige. Vielmehr solle durch das Hervorrufen dieser vielfätigen Reaktionen „eine [sich sammelnde, K.B.] Kraft der Seele“ erregt werden.91 Aus dem Wirrwarr der verschiedenen, starken Empfindungen solle eine erhellende Emotion folgen. Zudem fordere ein religiöser Inhalt das Genie, denn nur ein solches kenne die Stufen der Empfindungen und erreiche das Erhabene, wie Pseudo-Longin betonte.92 Klopstock postulierte nach antikem Vorbild den originellen wie kalkulierenden Dichter, der neben allem intuitiv richtigen Handeln nicht den handwerklichen Zugang zum Schaffensprozess verliere. Die Emotionalisierungsstrategie wird als natürlich gegebene und daher unverfälschbare, nicht aber als simple Methode beschrieben. Der Modell-Leser hatte nun die Freiheit, einen weiteren Spielraum der Interpretation zu betreten: Seine Wahrnehmung wurde Teil religiöser Erkenntnis. Zugleich waren Manipulationen am Leser zulässig, denn ihr Zweck folgte einer natürlichen Ausrichtung auf das moralisch Schöne. Die religiöse Kunst konnte dabei nicht verlieren, da sie für Klopstock immer authentisch und nicht zu korrumpieren war. Bemerkenswert ist, dass Klopstock nicht von einer moralischen Integrität, sondern von einer Schönheit spricht, deren ästhetischer Wert auf einer Geschmacks- oder Empfindungsebene individuell zu erkennen sei. Bei der Perfektionierung des Lesers ging es um Empfindungssteigerung und -vertiefung des Selbsterlebens, die die spirituelle Wahrnehmung des Einzelnen durch Kunst erweitere. Lyrik war für ihn die geeignete Gattung, da sie ein hohes Erregungspotential besitze, durch das Verstand und Einbildungskraft in einen wechselseitigen Dynamisierungsprozess gezogen würden.
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Klopstock: Von der heiligen Poesie. In: Ders.: Der Messias. Gesang I–III. Hg. v. Elisabeth Höpker-Herberg. Stuttgart 2000, S. 114–126, hier S. 120f. Ebd., S. 119. Vgl. ebd., S. 117.
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Dass Verstand und Empfindung in diesem Prozess oftmals vereint gedacht wurden, zeigt der Text Die beste Art über Gott zu denken.93 Er präsentiert auf der höchsten Stufe des Denkens eine Mischform von Gedanke und Gefühl.94 Klopstock nahm an, dass kognitive Leistungen das Bild von Gott ebenso prägen wie Empfindungen. So sollte Gott in einer Mischung aus Gedanke und Empfindung vergegenwärtigt werden können.95 Da analytisches Denken nicht ausreiche,96 sei die beste Art, Gott zu denken, ein Ideal, das bisher nur Henoch (Genesis 5) mit dem Ergebnis der Entrückung erreicht zu haben scheine. Religiosität, angelegt als natürliche Eigenschaft des menschlichen Empfindens, geht in der Figur des Henoch in einen körperlichen bzw. schließlich entkörperlichten Zustand über. Eine bessere Erfahrung des religiösen Gegenstandes ist dem Körper nicht möglich, denn Körper und Geist kommen an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Die Grenze der menschlichen Wahrnehmung wird zugleich als ihre höchste Stufe angesehen, auf der religiöse Erfahrungen gemacht werden können. Diese Situation kann Klopstock am Ende der Schrift nur in einem Gedicht andeuten, da sich der Zustand Henochs nicht anders beschreiben lässt als in der Form größter Empfindungsäußerung – in Lyrik. Die Entrückung Henochs macht für Klopstock sein Mischwesen und seine Unerreichbarkeit aus. Alle Gedanken und Gefühle finden gleichzeitig statt. Ihre Intensität ist bis zum Äußersten gesteigert.97 Die Unaussprechlichkeit, ein Ausdruck des Staunens, begleitet die höchste Bewusstwerdung. Die so gemachten Erkenntnisse sind nicht mehr kommunizierbar.98 Henoch, von dem die Bibel lediglich berichtet, dass er aufgrund seines Glaubens entrückt wurde und damit der einzig bekannte Entrückte der jüdischen Geschichte ist, muss folglich entrückt werden?99 Diese oberste Stufe, Gott zu denken, greift auf alle Sinne zurück, um erfahren zu können, was die Erfüllung von Gottes Zusagen an den Menschen bedeutet.100 Henoch überschreitet im Bewusstsein seiner Unsterblichkeit seine irdischen Grenzen. 93 94 95 96 97
Klopstock: Von der besten Art über Gott zu denken (wie Anm. 76), S. 207–216. Vgl. ebd., S. 208. Vgl. ebd., S. 208f. Vgl. ebd., S. 210. Vgl. ebd., S. 214: „Die Erreichung der obersten Stufe in dieser letzten Art über Gott zu denken, ist ein Zustand der Seele, da in ihr so viele Gedanken und Empfindungen auf Einmal und mit einer solchen Stärke wirken, dass, was alsdann in ihr vorgeht, durch jede Beschreibung verlieren würde.“ 98 Vgl. ebd.: „Wofern man im Stande wäre, […] aus dem Gedränge dieser schnell fortgesetzten Gedanken, dieser Gedanken von so genauen Bestimmungen, einige mit Kaltsinn herauszunehmen, und sie in kurze Sätze zu bringen; was für neue Wahrheiten von Gott würden oft darunter seyn!“ 99 Vgl. Genesis 5, 18–24. In: Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Stuttgart 1985, S. 7. 100 Vgl. Klopstock: Von der besten Art über Gott zu denken (wie Anm. 93), S. 213f.: „Sich der obersten Stufe nähern, nenne ich, wenn die ganze Seele von dem, den sie denkt, […] so erfüllt ist, dass alle ihre übrigen Kräfte von der Anstrengung ihres Denkens in eine solche Bewegung gebracht sind, dass sie zugleich und zu einem Endzweck wirken; […]; wenn […] das, was wir
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Deutlich wird in den theoretischen Schriften, dass Klopstock Anthropologie, Religion und Kunst als Teile eines harmonischen Ganzen sah, das durch Schöpfung und Offenbarung miteinander in Einklang stehe. Alles unterliege einer dominanten, „männlichen“ Gesundheit, die eine Poetik der kalkulierbaren Irrationalität funktionieren lasse.101 Der Spielraum einer gewissen Interpretierbarkeit, also einer individuellen Ausformung von Religiosität, findet sich bei Young wie bei Klopstock: Religion wird durch Selbstwahrnehmung gefördert und praktiziert, sie erwächst nicht allein aus Dogmen oder Institutionen. Die vornehmliche Wirkung bestimmter Bilder (von Gräbern oder toten Geliebten) legitimiert zu ihrem Gebrauch in religiöser Dichtung. In der Heiligen Poesie gehen Ästhetik und Moral eine Beziehung ein, die es der Kunst erlaubt, ihre Ausdrucksformen freier zu wählen, da ihr die moralische Grundlage per Definition schon eigen ist. Poetisch realisierbar ist, zumindest zu einem gewissen Teil, was durch Empfindungen die moralische Absicht zu erfüllen scheint. Eine Tendenz empfindsamer Dichtung bestand somit darin, dass die sich formierende Ästhetik der Empfindsamkeit und die sich allmählich von der Religion emanzipierende Moral ein Abhängigkeitsverhältnis miteinander eingingen, indem die Ästhetik die sittlichen Regeln bis zu einem gewissen Grad auswählen durfte. Erlaubt war, was ästhetisch die gewünschten Empfindungen lieferte. Kunst wie der Messias legt dar, dass die Offenbarung in Literatur poetisierbar sein sollte und Emotionen auslösen konnte, damit ein den Menschen ganz umfassender, natürlich gegebener Umgang mit religiöser Andacht gepflegt werden könne. Für diesen neuen Religionsbegriff spielte die sanfte Melancholie die Rolle einer Vermittlungsinstanz, da sie noch traditionelle Techniken der Todesmeditation begleitete und zugleich in einem ästhetisch gelagerten Religionskonzept anwendbar wurde.
2.2 Der Christ in der Einsamkeit: Melancholische Erlebnisse in der natürlichen und geoffenbarten Religion Vergleicht man die englische und deutsche Erbauungsliteratur Mitte des 18. Jahrhunderts, stellt man fest, dass die Beliebtheit der meditativen Formen in beiden Sprachen erhalten geblieben ist. Mit dieser Popularität der meditativen Introspektion trat aber zugleich eine Tendenz zur Trivialisierung ein.102 Die religiöse Praxis der meditativen Selbstbeobachtung wurde immer mehr zum empfindsam ästhetisierten und durch Kunst angeleiteten Alltagsgeschehen (vgl. z.B. The Contempladenken, durch Worte auszudrücken, die Sprache zu wenige und schwache Worte dazu haben würde; wenn wir […] eine Liebe vereinigen, die mit völliger Zuversicht glaubt, dass wir Gott lieben können, und dass wir ihn lieben dürfen.“ 101 Vgl. ebd., S. 122. 102 Vgl. Anonym: Night Thoughts Among the Tombs. In Blank Verse. With a Poem on the Last Day. London 1753.
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tist, 1762).103 In dieser Phase orientierte sich die religiöse Literatur beider Sprachen zunehmend an Emotionen und deren Wirkung. Die erbaulichen Texte in Anlehnung an Edward Youngs Night Thoughts neigen zur pathetischen Trivialisierung der Melancholie. Sie zeichnen sich auch durch die Nähe zur psychologischen Perspektive aus. Als deutschsprachige Beispiele der Verwendung sanfter Melancholie in religiöser Erbauung sollen im Folgenden ausgewählte Werke von Martin Crugot, Christian C. Sturm und Karl Friedrich Bahrdt betrachtet werden. Mitte des 18. Jahrhunderts verfassten diese Autoren in Anlehnung aneinander drei Erbauungswerke, die in Variationen das Thema des Christen in der selbstgewählten Einsamkeit behandeln. Diese Texte werden nicht nur herangezogen, weil sie den zeitgenössischen Umgang mit Trauervisionen und der Evokation von Melancholie in Bezug zu englischen Vorbildern beinhalten, sondern sie dokumentieren außerdem die Inanspruchnahme sanfter Melancholie sowohl für geoffenbarte wie natürliche Religion. In diesem Vergleich wird deutlich, dass das Konzept religiöser Melancholie als persönliche Empfindung von Offenbarung ein progressives und demokratisierendes Potential hatte, das von seinen Gegnern einerseits vehement bekämpft, andererseits auch für orthodoxe Offenbarungskonzepte beansprucht wurde. Durch die Verwendung introspektiver und affektorientierter Methoden etablierte sich ein popularisierendes Element in der Erbauungsliteratur, die in diesen Fällen zumeist von religiöser Melancholie dominiert wurde. Die religiöse Ästhetik sanfter Melancholie entwickelte sich zum säkular akzeptierten und weit verbreiteten Literaturphänomen, wie die beiden Werke Christian Sturms zeigen. In den Werken von Crugot, Sturm und Bahrdt wurde eine poetologische Debatte in der Rezeption der kontemplativen englischen Dichtung (speziell der Night Thoughts Youngs) geführt, in der die angemessenste Form erbaulicher Literatur in Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Offenbarungskonzepten bestimmt werden sollte. Nachdem Martin Crugot 1756 sein Prosawerk Der Christ in der Einsamkeit veröffentlicht hatte, verfassten im Anschluss an dessen Erfolg die jungen Theologen Sturm und Bahrdt kritische Bearbeitungen dieser Schrift. Sie warfen Crugot Socinianismus104 vor und veröffentlichten selbst neue Christen in der Einsamkeit nach ihren orthodoxen beziehungsweise pietistisch gefärbten Idealen. Die hervorgehobene Einsamkeit des Erzählenden verortet die literarische Figur in allen drei 103 104
Vgl. John Cunningham: The Contemplatist. A Night Piece. London 1762. Der Sozianismus ist eine antitrinitarische Bewegung, die sich im 16. und 17. Jahrhundert in Europa ausbreitete. Benannt ist sie nach ihrem italienischen Vertreter Fausto Socini (1539– 1604). Die Anhänger wurden auch die „polnischen Brüder“ genannt. Sie waren gegen das Trinitätsdogma und für eine rationalistische Bibelauslegung, für humanistische Toleranz und die Zurückweisung aller christlichen Konfessionen. Der Socinanismus gilt als Vorläufer des Deismus oder Rationalismus. Sein Zentrum war die polnische Stadt Raków.
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Werken traditionell an der Quelle zur Erkenntnis, mit dem Unterschied, dass diese bei Crugot allein aus der Person selbst gewonnen wird. Die drei enorm divergierenden religiösen Menschen- bzw. Gottesbilder des empfindsamen Pietismus, des Socianismus und der Orthodoxie funktionalisieren gemischte Empfindungen in den Werken jeweils unterschiedlich. Die aus der gemischten Empfindung folgende Erlösungsfreude steht im thematischen Mittelpunkt aller dichtungstheoretischen und theologischen Diskussionen, die sich in den Vorworten und Anhängen, den Fußnoten und Kommentaren finden lassen. Da es letztlich um die Frage ging, welchen Weg der Offenbarung die Religion wähle, wurden Verstand und Empfindungen immer wieder gegeneinander abgewogen. Welchen Stellenwert die religiöse Melancholie dabei einnahm, musste präziser differenziert werden. Eine positive Melancholie wurde in diesem literarischen Streit um die wahre Erbauungsliteratur sowohl von den orthodox bis pietistisch argumentierenden Anhängern der offenbarten Religion befürwortet wie auch vom rationalistisch/socianistisch geprägten Martin Crugot empfohlen. Alle drei Autoren gingen dabei auf englische Dichter kontemplativer Erbauungsliteratur wie Edward Young und James Hervey ein. In Anlehnung an diese Vorbilder machten sie sich die sanfte Melancholie in unterschiedlicher Qualität zunutze: Die stärker ästhetisierte Literatur Crugots verfuhr so individuell gefühlsgeleitet wie Young, die christlich orthodoxe Variante Bahrdts hingegen kombinierte die stark emotional einbindende Melancholie mit der Autorität biblischer Inhalte. Sturms recht eigene, empfindsam-pietistische Ausführung des Themas integrierte die positive Melancholie in Verhaltens- und Erziehungsideale frommer Frauen. Anhand eines Vergleichs erhellt sich, inwiefern die genannten Autoren religiöse Melancholie in ihren Texten zum Verständnis ihrer Offenbarungswege funktionalisierten. Dabei wird ersichtlich, dass die sanfte Melancholie im Kontext der jeweiligen Funktionalisierung zu einer Psychologisierung und Individualisierung von Offenbarungserlebnissen unter zunehmend ästhetischen Vorzeichen beitragen konnte bzw. dies nicht tun sollte.
2.2.1 Empfindungen als subjektivistischer Offenbarungszugang bei Martin Crugot Durch sein Verweben von introspektiver Figurendarstellung und gleichzeitiger Fürsprache für den Rationalismus bewegte sich Martin Crugots Christ in der Einsamkeit an den Grenzen von Religionskritik und traditioneller Erbauungsschrift. Seine Prosa verband rationale Weltbeschreibung und affektive Selbstwahrnehmung zur religiösen Offenbarungssuche, die vom Individuum ausgehend ge-
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führt wird. Die sanfte Melancholie, bei Crugot mit „traurige Ahndungen“ und „ängstliche Unruhe“ umschrieben,105 ist darin Teil des eigens kultivierten und individuell geführten Meditationsprozesses. Im Unterschied zu Youngs Night Thoughts sind seine religiösen Gedanken noch stärker auf die emotionalen und kognitiven Kräfte des Erzählers gegründet, der die „Quelle der Seligkeit“ allein in sich selbst finde und dazu sein Herz in abendlicher Meditation schule.106 Die Melancholie der Figur wird als eine „fühlbare Dunkelheit“107 vermittelt, in der sich die Seele nur selbst fühle. In dieser Finsternis solle sie sich kennenlernen. Crugots Kritiker befürchteten, das Erbauungswerk lasse eine Ethik auf rein individueller Basis zu, die letztlich auf kirchliche Autoritäten verzichten könne. Die natürliche Tugend ohne religiöses Fundament gefährde den christlichen Glauben. Die deutsche Abneigung gegenüber deistischen Gedanken, wie sie Crugot zugeschrieben wurden, beweist sich im Vergleich mit England als weitaus radikaler. Tatsächlich gründet Crugots Schrift die Erbauung des Einzelnen nicht auf der Reformulierung biblischer Aussagen, sondern auf einem Selbststudium persönlicher Gefühle und Verstandesleistungen. Seine Literatur hat große Parallelen zur socinianistischen Lehre, die eine rationalistische Theologie und überkonfessionelle Religiosität auszeichnete. Crugots Christ in der Einsamkeit erschien im Jahr 1756.108 Der Text erschließt sich als eine Anleitung zur kontemplativen Melancholie, die eine Wegbereitung zur glaubensrelevanten, individuellen Persönlichkeitsfindung sei. Der Einsatz von sanfter Melancholie ist bei Martin Crugot anschaulich in eine progressive religiöse Ästhetik eingebettet, die sich von christlicher Dogmenvermittlung entfernt und das skeptische Individuum als Betrachter in den Mittelpunkt stellt. Melancholie selbst wird nicht als solche benannt, jedoch wird der traditionelle Prozess einer traurigen Erniedrigung des Sterblichen und ihr Umschlagen in erhabene Empfindungen abgebildet.109 Während der Abendgedanken verfällt der Erzähler z.B. zunächst in Unruhe über sein mögliches Sterben, erkennt dann die paradoxe Affinität zu diesen traurigen Gedanken, die ihn den Tod wünschen lässt, um schließlich durch diese intensive Selbstwahrnehmung eine „ungewöhnliche Heiterkeit“ zu entwickeln, die die Deutung des Todes als Gewinn erbracht habe.110 Martin Crugot (1725–1790) wurde in eine Hugenottenfamilie geboren.111 Schon in seinem zweiten Lebensjahr wurde er Vollwaise. Ein Bremer Bürger ermöglichte ihm das Studium der Philosophie, Mathematik, Geschichte und Theo105 Martin Crugot: Der Christ in der Einsamkeit. Breslau 1756, S. 24. 106 Vgl. ebd., S. 65 und S. 135. 107 Vgl. ebd., S. 69. 108 Die ersten sieben Auflagen erschienen bei Johann Jacob Korn in Breslau von 1756 bis 1762. 109 Vgl. Crugot: Der Christ in der Einsamkeit (wie Anm. 105), S. 22: „Meine Niedrigkeit soll dich 110 111
erhöhen. Und dieser Gedanke soll mich itzt schon zu dir erheben.“ Vgl. ebd., Abendgedanken, S. 24–33. Vgl. Carl Hermann Manchot: Martin Crugot, der ältere Dichter der unüberwindlichen Flotte Schillers. Urkundlich nachgewiesen von C.H. Manchot. Mit einem Bildnisse. Bremen 1886.
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logie.112 1746 ging er als Prediger nach Herford bei Bielefeld. Ein Jahr später nahm er ein Angebot aus Schlesien an, wo er beim Fürsten Schönaich-Carolath, im heutigen polnischen Siedlisko, das Amt des Hofpredigers übernahm. Mit einer Unterbrechung von wenigen Jahren lebte Crugot bis zu seinem Tod als Kanzelredner in Carolath.113 Einen Ruf an die Universität Halle musste er aus gesundheitlichen Gründen ablehnen.114 „Siedlisk“, wie der polnische Ort Carolath in Walchs Kompendium der Religionsstreitigkeiten genannt wird, sei im 17. Jahrhundert eine Hochburg der Socinianer gewesen.115 Es bleibt Spekulation, ob er dort zu Anfang der 1750er Jahre die Night Thoughts kennenlernte.116 Die einfache Gelegenheitsschrift, die Crugot zu verfassen plante, wurde durch die Unterstützung der Gräfin Carolath und des preußischen Ministers Johann Heinrich von Carmer, gefördert. Das häufig rezensierte Werk erlangte schnelle Bekanntheit unter den Zeitgenossen. Crugots assoziatives Schreiben, die Todesbetrachtungen zum Thema, die Unterweisung der Empfindungen und die nächtlichen Gedankengänge weisen Parallelen zu den Night Thoughts auf. Bis zum Erscheinungsjahr des Christen in der Einsamkeit 1756 waren diese in der dritten Auflage der Übersetzung Eberts veröffentlicht worden und hatten einen bemerkenswerten Bekanntheitsgrad erreicht, der auch Crugot nicht entgangen sein dürfte. In den Schlesischen Berichten von gelehrten Sachen brachte ein zeitgenössischer Kritiker ihn 1756 in einen direkten Vergleich mit Edward Young: „Der Verfasser denkt als ein starker und gründlicher Philosoph und schreibt als ein deutscher Young, und was das vornehmste ist als ein Mann, dessen Herz mit den edelsten Gesinnungen der Gottseligkeit erfüllt ist.“117 Das Attribut „Philosoph“ und die Rede von „Tugenden“ statt religiösen 112 113
Vgl. ebd., S. 45. Die Angaben zu seiner Person gehen zurück auf Notizen Crugots: Autobiographischer Abriss von Martin Crugot selbst verfasst im Jahr 1774. In: Karl Konrad Streit (Hg.): Schlesische Provinzial-Blätter. Bd. XII. Breslau 1790, S. 283–288; siehe auch Johann Georg Meusel: Crugot, (Martin). In: Ders. (Hg.): Lexikon der vom Jahr 1750 bis 1800 verstorbenen Teutschen Schriftsteller. Bd. 2. Leipzig 1803, S. 243f..; Karl Konrad Streit: Art. Crugot, (Martin). In: Ders. (Hg.): Streits Alphabetisches Verzeichnis aller im Jahr 1774 in Schlesien lebender Schriftsteller. Breslau 1776, S. 26f.; Friedrich Schlichtegroll: 5. Sept. Martin Crugot, Fürstl. Schönaich-Carolathischer Hofprediger zu Carolath. In: Ders.: Nekrolog auf das Jahr 1790. Bd. 2. Gotha 1791, S. 243–248; Christian Gotthilf Salzmann: Art. Martin Crugot. In: Ders. (Hg.): Denkwürdigkeiten aus dem Leben ausgezeichneter Teutschen des 18. Jahrhunderts. Schnepfenthal 1802, S. 461. 114 Vgl. Crugot: Autobiographischer Abriss. In: Schlesische Provinzial-Blätter (wie Anm. 113), S. 286. 115 Vgl. Johann Georg Walch: Religions-Streitigkeiten außer der Evangelisch-lutherischen Kirche. Bd. IV. Stuttgart 1985, S. 259. 116 Vgl. Manchot: Martin Crugot (wie Anm. 111), S. 30: „Daß Martin Crugot den englischen Dichter Addison kannte, ist ziemlich wahrscheinlich zu machen aus derselben kleinen Schrift, die seinen deutschen Patriotismus und seine prophetische Verehrung Friedrich’s II. enthüllt.“; vgl. ebd., S. 47: „[Er war, K.B.] ein Kenner und Verehrer der älteren und der neueren, der inund ausländischen Literatur.“ 117 Anonym: Rez. Christ in der Einsamkeit. In: Compendium Historiae Litterariae Novissimae Oder Erlangische Gelehrte Anmerkungen und Nachrichten Auf das Jahr 1757, S. 322.
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„Überzeugungen“ merken bereits an, dass es sich für damalige Verhältnisse um keine konventionelle Erbauungsschrift handelte, sondern um eine theologisch deviante und insofern provokative Literatur.118 Auch der deutsche Übersetzer der Night Thoughts, Johann Arnold Ebert, bestätigte die Parallelen beider Werke in seinem Kommentar zu den Nachtgedanken von 1760.119 Irrationale Gefühle wurden in das autonome Erbauungskonzept in Form von melancholischen Empfindungen eingebunden. Wohl nicht zuletzt aus diesem Grund stieß der Christ in der Einsamkeit auf Aufmerksamkeit bei deutschen Lesern. Johann Caspar Lavater etwa verteidigte mit großem Einsatz dieses von ihm geliebte Erbauungsbuch gegen die orthodoxen Angriffe Karl Friedrich Bahrdts.120 Von 1756 bis 1779 erschien es allein in Breslau in neun Auflagen sowie in zwei französischen Übersetzungen in Amsterdam und Berlin. Crugot selbst sah sich nicht imstande, eine Fortsetzung davon zu erstellen. Dies rührte daher, dass ihm der Plan des Werkes, das er zuerst nicht veröffentlichen wollte, schon 1774 als „fehlerhaft“ erschien, weil es voraussetzte, dass die natürliche Religion zur geoffenbarten führe.121
2.2.1.1 Emotionsgeleitete Selbstschulung Lob wurde Crugot durch einige der zeitgenössischen Rezensenten zuteil, die von einer ergreifenden Wirkung seiner Sprache schrieben: „Diese Betrachtungen sind nicht allein gründlich und die Frucht eines weit sehenden Verstandes, sondern sie sind auch zugleich in einem solchen poetischen Feuer ausgedrückt, daß sie aus keinem ungerührten Herzen können gegossen sein und jedermann rühren müssen, der sie durchgehet.“122 Das Lob der Originalität bezieht sich besonders auf die Mischung von verstandesgemäßer und emotionsgeleiteter Betrachtung. Gottsched verglich Crugot 1757 mit einem Genie, wie es bisher nur das Ausland kenne.123 Crugot verband die genaue Beobachtung von Emotionen mit deren Einbindung in ein humoralpathologisches Menschenbild. Beispielweise schildert er, wie die Säfte 118
Vgl. Manchot, Carl Hermann: Art. Crugot, Martin. In: Historische Kommission bei der Bayrischen Akademie der Wissenschaften (Hg.): Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 4. Leipzig 1876, S. 626. Der Christ in der Einsamkeit bestehe aus zwölf ursprünglich nicht zur Veröffentlichung bestimmten Betrachtungen, die Crugot auf Bitte der Fürstin von Carolath nach einem mit der Vernunft übereinstimmenden Erbauungsbuch geschrieben habe. 119 Ebert: Kommentar. In: Edward Young: Dr. Young’s Klagen (wie Anm. 5), S. 176. 120 Vgl. Johann Caspar Lavater: Zwey Briefe an Herrn Magister Carl Friedrich Bahrdt, betreffend seinen verbesserten Christen in der Einsamkeit, geschrieben im Jahr 1763. In: Ders.: Lavaters Sämtliche kleinere Prosaische Schriften vom Jahr 1763–1783. Bd. 3: Briefe. Winterthur 1785, S. 1–92. 121 Vgl. Crugot: Autobiographischer Abriss. In: Schlesische Provinzial-Blätter (wie Anm. 113), S. 286f. 122 Anonym: Breßlau. In: Neue Zeitungen von gelehrten Sachen auf das Jahr 1757. No. XVII. Februar, Leipzig 1757, S. 149f., hier S. 149. 123 Johann Christoph Gottsched: Rez. Der Christ in der Einsamkeit. In: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit. Nr. 2. Leipzig 1757, S. 152f., hier S. 152.
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des Gehirns einen Geist absonderten, der durch Kanäle geleitet bis zur Seele dringe. Diese ‚Werkstatt der Gedanken‘ wird so ihrer mystischen Verklärung enthoben und zu einem Werkzeug emotionaler Erkenntnisse.124 Die Prosa Crugots ist in weiten Teilen vergleichbar mit den zeitgenössischen deutschen Übersetzungen der Night Thoughts in rhythmischer Prosa, die ebenfalls über die Parallelismen und Metaphern der biblischen Sprache verfügt.125 Im Unterschied zu Young und dessen Übersetzer Ebert formulierte Crugot jedoch weniger pathetisch und orientierte sich an der psychologisch motivierten Gedankenabfolge eines skeptischen Betrachters. Der Gebrauch physikotheologischer Argumentation in seinem Werk ist Teil des Anspruchs auf einen letztlich vernunftkonformen Glauben. Dem Leser wird die Zweckmäßigkeit der Natur als Gottes Schöpfung anhand alltäglicher Beispiele vor Augen geführt. Crugots Erzähler rekurriert gezielt auf alltägliche Erlebnisse (wie z.B. Schlaf oder den Sonnenuntergang) und macht im Vergleich mit diesen allgemein bekannten Vorgängen den Zugang zum emotional gemachten Offenbarungserlebnis einfacher. Die aktuellen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse sollen die Kompatibilität von Glauben an eine Auferstehung in einem rationalen Wissen von Welt untermauern.126 Schon die Anlage des Werkes lässt erkennen, dass die Vernunft allein keine Offenbarungserkenntnis erwirken könne. Passagen, die sich dem Verstand und andere, die sich dem Empfinden zuwenden, folgen aufeinander. Die zwölf Stücke teilen sich derart auf, dass sie einmal Argumentationen für die Güte und Macht eines Schöpfergottes enthalten, ein anderes Mal situative Stimmungsbilder des denkenden Erzählers bilden, in denen er seinen Assoziationen freien Lauf lässt. Geplant sind die einzelnen Kapitel als kurze Andachten für den Privathaushalt. Wechselweise las man so Erläuterungen der göttlichen Allmacht oder emotional ausgestaltete Gedankenspiele eines zwischen Zweifel und Einsicht schwankenden Einsamen. Entgegen der Vorstellungen seiner Kritiker nimmt das Prinzip der Selbstschulung einen großen Raum bei Crugot ein. Die Gedanken an den Tod bilden den größten Teil des Schulungsversuchs. Mit einem ins Jenseits gerichteten Blick konzentriert sich das Individuum auf seine gegenwärtige, religiöse Bildung: „Eure
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Vgl. Crugot: Der Christ in der Einsamkeit (wie Anm. 105), S. 59. Ebd., S. 25: „Hier ist die Morgenröthe meines Daseyns. Jenseits des Todes ist der volle Tag. Hier ist der Zustand der Kindheit. Dort der Stand des reiferen Alters.“ 126 Vgl. ebd., S. 55f.: „Der Körper des geringsten […] Thieres, mit welch einer unbegreiflichen Kunst ist er nicht gebauet? zwischen den flüssigen und festen Theilen, aus welchen er besteht, ist ein gehöriges Verhältniß. […] Die Canäle, in welchen sich seine flüssigen Säfte bewegen, sind mit nicht weniger Kunst, als diejenigen, gebauet, welche das neugierige Auge des Zergliederers in dem menschlichen Körper bewundert. Seine Fäserchen haben ihre genau abgemessene Federkraft. Mehr oder weniger angespannt, als sie wirklich sind, würden sie dem Thiere unnütz seyn.“
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vielleicht kaum erstarrten Leichen sollen meine Lehrer seyn.“127 Der Christ in der Einsamkeit erweitert den traditionellen Gedanken der Selbstschulung in erbaulicher Literatur, denn Crugot formulierte, dass jeder sich selbst einen Glauben lehren könne: „Die ewige Weisheit würdiget mich, mein Lehrer zu werden; und ich fühle das große Glück des Vorzuges, ihr Schüler zu seyn.“128 Die Betonung der gottgegebenen Fähigkeiten des Menschen erhebt diesen gleichermaßen über irdische Institutionen. Die socinianistischen Tendenzen des Werkes, die auch sein großer Bewunderer Johann Caspar Lavater erkannte,129 liegen darin, dass dem einzelnen Laien bei Crugot weitgehende Kompetenzen zugeschrieben werden: „Ich habe näher zur Quelle selbst. Was euch Weisen und Klugen verborgen ist, kann auch ein Unmündiger aus dem deutlichen Worte der Offenbarung lernen.“130 Diese provokante Formulierung unterstrich die Forderungen nach religiöser Autonomie durch Selbsterfahrung, zugleich zog sie die Kritik von Anhängern konventioneller Offenbarungsbegriffe vehement auf sich.
2.2.1.2 Gott als ein Ermöglicher dieser Selbstschulung Dem Bild vom mündigen Menschen steht ein ebenso positives Gottesbild gegenüber, das weder Bahrdt noch Sturm zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichungen teilten. Gott wird in Crugots Werk nicht nur als väterlich und gnädig131 dargestellt, seinem Wesen entspreche auch die Größe der menschlichen Erkenntnisleistungen. Die Fähigkeit zur erhabenen Empfindung bildet zudem eine wesentliche Grundlage für Crugots Dichtungskonzeption, wenn aus dem dargestellten Prozess der Kontemplation Glaube entstehen soll: „Zu was für erhabenen Empfindungen ist doch der Mensch aufgeleget? Er hat die reichste Quelle der Seligkeit in sich selbst. Sein Schöpfer hat sie in ihn geleget.“132 Diese Bewertung der menschlichen Seelenkräfte hat ihre Parallele in den Night Thoughts, denn auch dort geben die Seelenkräfte eine Vorahnung auf die göttlichen Anlagen des Menschen: „Mensch! kenne dich selbst; dies ist der Mittelpunkt aller Weisheit. […] Der Stral der dunklen Vernunft kann euch dort schon Wunder zeigen; welch ein erhabner Inhalt! was für herrliche Fähigkeiten!“133 Die emotionale und vernunftmäßige Mündigkeit ermöglichet die Erbauung anhand von sanfter Melancholie bei Young und Crugot. Die Radikalität eines unabhängigen Gläubigen, mit der Crugots Erzähler spricht, fehlt Youngs
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Vgl. ebd., S. 14. Ebd., S. 64. Lavater: Zwey Briefe an Herrn Magister Carl Friedrich Bahrdt (wie Anm. 120), S. 5. Crugot: Der Christ in der Einsamkeit (wie Anm. 105), S. 65. Ebd., S. 134f.: „Du bist es, der mich durch alle Versuchungen des heutigen Tages unverletzt geführet hat! Deine väterliche Huld hat mich so sicher geleitet!“ 132 Ebd., S. 135. 133 Young: 4. Nacht. In: Ders.: Klagen, oder, Nachtgedanken (wie Anm. 58), S. 118.
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lyrischem Ich allerdings vollkommen, wenn es bei ihm heißt: „[W]as such ich den Schöpfer außer mir, welchen ich mit mäßiger Aufmerksamkeit in mir selbst antreffen kann? Ich empfinde. Ich denke. Ich bin mir meiner, und anderer Dinge außer mir, bewußt.“134 Die Seele regiere den Körper mit der Macht eines Gottes.135 Im Analogieschluss bedeutet dies für den Erzähler, daß er Gott fühlen könne, wie er sich selbst fühle.136
2.2.1.3 Introspektive Wahrnehmung: Ein Widerstreit im Menschen Immer wieder fordert Crugots Erzähler die Vereinigung der gedanklichen und emotionalen Leistungen. Er zeigt sich zwischen Empfindungen und Gedanken zerrissen. Beide aber müssten durch Offenbarung in Einklang gebracht werden. Statt wie Young diesen Widerstreit zwischen dem lyrischen Ich und einem Antagonisten austragen zu lassen, entwickelt Crugot eine Abfolge von Rede und Gegenrede durch den Erzähler: „Ist mein Daseyn ein Werk der allmächtigen Güte, so kann die Vernichtung unmöglich mein letztes Ziel seyn; so muß die Veränderung, welche im Tode mit mir vorgeht, eine Verbesserung für mich seyn. Aber vieleicht finde ich meinen hiesigen Aufenthalt so angenehm, daß ich mich nach keiner Veränderung sehne, bey welcher ich diesen verlieren muß?“137 Deutlicher als im predigenden Stil Youngs treten bei Crugot Anzeichen von Psychologisierung der zentralen Erzählerfigur hervor. Im Gegensatz zu anderen kontemplativen Schriften benennt Crugot einen Widerspruch von menschlicher Todesfurcht und einer Glückseligkeit im Tod: „Ich finde es unnatürlich, ihn [den Tod, K.B.] nicht zu wünschen. Indessen kann ich mir ihn nicht nahe denken, ohne bestürzt zu werden. Was für Widersprüche in mir selber! Ich will glücklich seyn. Nach den Begriffen, welche ich vom Tode habe, kann ich nur durch ihn vollkommen glücklich werden.“138 In dieser Weise bemüht sich der Text um eine Harmonie von ‚natürlichen‘ Neigungen und gegenwärtigen Wissensbegriffen sowie Offenbarungsgeschehen. Das religiöse Kultivierungsprogramm, sanfte Melancholie zum natürlichen Ausdruck dieses Dualismus zu machen, unterstützt diesen Versuch ästhetisch. Durch die innere Zerrissenheit des Menschen zwischen Vernunft und Emotionen, auf die schon in den Night Thoughts hingewiesen wurde,139 entsteht ein Wechselspiel von Bestürzung und 134 135 136
Crugot: Der Christ in der Einsamkeit (wie Anm. 105), S. 3. Vgl. ebd., S. 5. Vgl. ebd., S. 6: „Ich fühle die Gewissheit des Daseyns meines Schöpfers auf eben die Art, wie ich die Gewissheit meines eigenen Daseyns empfinde.“ 137 Ebd., S. 26. 138 Ebd. 139 Young: 1. Nacht. In: Ders.: Klagen, oder Nachtgedanken (wie Anm. 58), S. 9: „Wie taumelt die Vernunft! O was für ein Wunderwerk für den Menschen ist der Mensch! triumphierend voller Angst! […] Wechselwiese entzückt und unruhig!“
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Besänftigung, das als Voraussetzung der Wirkung von sanfter Melancholie angelegt ist. Das Erstaunen des Nachdenkenden und Fühlenden wird dabei nicht durch eine gänzliche Durchdringung eines Offenbarungsgeheimnisses aufgehoben.
2.2.1.4 Atmosphärische Rahmung Der Schrecken des Erzählers über die Vorahnungen des eigenen Todes lassen ängstliche Unruhe in ihm aufkommen. Nicht nur melancholische Kontemplation, sondern auch Schrecken und Ängste begleiten beim Erzähler Crugots den Weg zu religiösen Betrachtungen. Im Gegensatz zu Young benennt Crugot die Ängste, die mit dem Gedanken an den Tod auftreten. Doch auch bei ihm folgen den dargelegten Zweifeln ausnahmslos die Reflexion und eine Form der religiösen Selbstbeseligung. Typisch für diese Einbettungen eines inneren Prozesses sind die atmosphärischen Einleitungen, die auch in der vergleichbaren englischen Literatur verwendet werden. Johann Arnold Ebert weist sie als die Besonderheit von Youngs Lehrdichtung aus: „Er eröffnet uns die feyerlichste Scene, wo sich sogleich eine Handlung anhebt, die ihrer würdig ist, und die durch die Zeit und die Umstände noch eine besondere Feyerlichkeit erhält.“140 Die ersten Textpassagen evozieren die Stimmung eines beendeten oder beginnenden Tages, um eine der Kontemplation angemessene Umgebung zu schaffen. Die Einsamkeit biete die Stille, die freiem Denken nützlich werde.141 Die Abendgedanken bei Sonnenuntergang werden beispielsweise zu einer Vorahnung des eigenen Todes: Abermal ist von meinen Tagen ein Tag dahin. Um so viele Schritte, als derselbe Augenblicke gehabt, bin ich der Ewigkeit näher gekommen. Vielleicht ist dieses gar der letzte, welchen ich in dieser Welt zu leben habe. Die herannahende Nacht heißet mich die Geschäffte des Lebens beschließen.142
Jedes Stück des Werkes wird mit einem solchen situativen Eingang umrissen. Die praktische Nutzung durch den Leser kann zu ebendiesen Gelegenheiten (wie Sonnenuntergang oder Aufgang) erfolgen. Der beliebteste Zeitrahmen in diesem Verfahren ist auch bei Crugot die Nacht. Die nötige Kontemplation in der Einsamkeit ist dort am leichtesten gegeben. Die nächtlichen Gedanken sind die Höhepunkte der Selbstschulung: Die Verknüpfung der Seele mit der Körperwelt ist fast gänzlich unterbrochen, da Licht und Schall, ihre vornehmsten Werkzeuge, schlafen. Sie ist allein. […] Von einer fühlbaren Dunkelheit umgeben, fühlet sie nur sich, und sich in einer Einöde. […] Welch ein natürliches Bild
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Ebert: Kommentar. In: Young: Klagen, oder Nachtgedanken (wie Anm. 5), S. 8. Vgl. Crugot: Der Christ in der Einsamkeit (wie Anm. 105), S. 132: „Ich bin allein. Nichts hindert mich, frey zu denken, für mich zu denken.“ 142 Ebd., 4. Stück: Abendgedanken, S. 24–33, hier S. 24.
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des Todes? […] In der Nacht ist die Welt für uns todt. […] Unfähig zu empfinden, […] erwartet die schlafende Seele […] den mächtigen Ton der göttlichen Posaune.143
Erst die Selbstunterweisung bei Nacht durchbricht diesen dem Tod ähnlichen Zustand. Während die Natur nach jedem Tag eine Ruhepause mache, ruhe der Mensch im Tod bis zur Auferstehung. Diese Parallele, die in der kontemplativen Literatur melancholischen Zuschnitts häufig gesehen wurde, führt dazu, dass in der Nacht die menschliche Seele, um deren Fortbestand es allein geht, über ihre Trennung von dieser Natur am besten nachdenken könne.144 So ist es dann auch möglich, dass die Nacht dem Tod aus der religiösen Perspektive vorzuziehen ist: „Nacht! Sey mir willkommen! Von deinen Stunden will ich einen bessern Gebrauch machen, als ich von denen des Tages gethan habe. Deine Finsterniß soll meine Seele erleuchten.“145 In dieser Umkehrung wird der Tag zum Traum und die Nacht zur wirklichen Lebenszeit, deren Erscheinen wie bei Young mit dem Treffen der Geliebten verglichen wird.146 Dieses Bild suggeriert die Sehnsucht nach dem Eintreten der Nacht, unterschwellig aber auch nach dem Eintreten des Todes.
2.2.1.5 Die selbstgewählte Einsamkeit: ein Zeichen der Autonomie Der wesentliche, zeitgenössische Kritikpunkt an Crugots Offenbarungsidee war die Konzentration der religiösen Überzeugung auf das isolierte Individuum. So finden sich immer wieder Stellen, an denen die stark reflektierende Figur ihre Einsamkeit und damit ihre Autonomie betont: „Ich bin allein. Nichts hindert mich, frey zu denken, für mich zu denken, und ungestört allen Vorstellungen nachzuhängen, welchen sich zu überlassen meine Seele für gut findet. Wie reizend angenehm ist doch die sanfte Stille der Einsamkeit?“147 Die Isolation als bester Ort für Selbstfindung und Gotteserkenntnis riskierte aber in den Augen der Kritiker die Irrlehre. Es fehle die Richtschnur an christlicher Lehre, vor allem nach christozentrischer Ausrichtung. Dass allein die Einsamkeit eine Schule der Tugend148 sein könne, 143 144
Ebd., S. 69. Ebd.: „Die Nacht der Natur läßt doch der Seele noch die Kraft, wirksam zu seyn; und ihre Stille locket sie, es auf eine für sie selbst nützlichere Art zu seyn, als es ihr das Geräusch des Tages verstattet. Sie veranlaßt sie, über sich selbst nachzudenken.“ 145 Ebd., S. 70; vgl. dazu Young: 4. Nacht. In: Ders.: Klagen, oder Nachtgedanken (wie Anm. 58), S. 103: „Begeistre mich, o Nacht! mit allen deinen ertönenden Sphären!“ 146 Crugot: Der Christ in der Einsamkeit (wie Anm. 105), S. 73: „Meine liebreiche Freundinn, die holdselige Nacht, wecket mich auf, und störet diesen für meine Ruhe gefährlichen Traum.“; vgl. Young: 3. Nacht. In: Ders.: Klagen, oder Nachtgedanken (wie Anm. 58), S. 66: „[S]o genau, wie sich zärtliche Liebhaber in dem beschwornen Augenblick einfinden, halte ich, zur bestimmten Stunde, meine bestellte Zusammenkunft mit meinem Jammer.“ 147 Crugot: Der Christ in der Einsamkeit (wie Anm. 105), S. 132. 148 Ebd., S. 133: „Wahre Freuden kann allein die Einsamkeit gewähren. Sie ist die Schule der Tugend. Sie streuet den Samen der Weisheit aus, welcher in dem gesellschaftlichen Leben zu Tugend reifet […]. In der Einsamkeit lehret und lernet die Seele sich selbst.“
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sprach dem selbstständigen Erfahren von Werten einen zu hohen Anspruch in den Augen der Zeitgenossen zu. Die Produktivität von Einsamkeit, wie sie zu Anfang des 18. Jahrhunderts Shaftesbury diskutierte,149 fördert bei Crugot den konkreten Hinweis auf die zentrale Rolle des Menschen in einem Offenbarungskonzept. Bei Bahrdt und Sturm wird der Mensch als passiv Empfindender zum Objekt, dem die Offenbarung supranaturalistisch gewährt wird. Durch diese Tendenz der kontemplativen Literatur zu einer erbaulichen Privatheit und deren Weiterreichen in z.B. Literatur, wie von Crugot angestoßen, deutet sich eine sukzessive Loslösung von der Institution Kirche und eine Privatisierung des Glaubens an, in der der Begriff der Einsamkeit im 18. Jahrhundert eine maßgebliche Rolle spielte.
2.2.1.6 Melancholie als Wegbereiterin eines prozesshaften Glaubens Die sanfte Melancholie ist auch bei Crugot die Anstoßgeberin eines introspektiven Erkenntnisprozesses, der ohne eine solche affektive Komponente nicht auskommen würde, weil die Leidenschaften der Vernunft noch im Weg stünden. Daher lässt Crugot seinen Erzähler sagen: „Ja! Ich fühle mich. Dieses ist die wahre Quelle meiner Unschlüssigkeit und meiner Zweifel. Mein Verstand ist von der Zukunft überzeugt. […] Aber das Herz widersetzet sich. In ihm halten die Leidenschaften einen Rath.“150 Bevor eine Offenbarung eintreten kann, muss dieser Widerstreit ausgefochten sein. Dazu dient die sanfte Melancholie. Sie hat die Kraft, die erhabene Empfindung zu fördern und sie vereint in ihrer Mischform die widerstreitenden Elemente von Freude und Leiden. Der Verstand hat nach Crugot seinen elementaren Anteil an der Offenbarung natürlicher Religion, weil der Mensch sich seinen Erkenntnissen nicht verschließen könne. Jedoch vermag nicht allein der rationale Vernunftschluss zu überzeugen, sondern die Qualität der Empfindungen, die der Mensch bei einem solchen habe: „So wenig ein Mensch, der gesunde Augen hat, sich enthalten kann, das Sonnenlicht zu empfinden; eben so wenig kann ein Mensch, der eine gesunde Vernunft hat, sich enthalten, die Stärke der Beweise zu empfinden, welche alle Dinge […] von dem Daseyn eines Schöpfers uns vor Augen legen.“151 Mit der Stärke der Empfindungen ist eine beweiskräftige Empfindung, die erhabene, gemeint. In ihr hebe sich der weltliche Widerspruch auf und der Mensch erkenne sich im harmonischen Einklang mit einer durchdachten Schöpfung.
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Vgl. dazu Mark-Georg Dehrmann: Produktive Einsamkeit. Studien zu Gottfried Arnold, Shaftesbury, Johann Georg Zimmermann, Jacob Hermann Obereit und Christoph Martin Wieland. Hannover 2002, S. 56. 150 Crugot: Der Christ in der Einsamkeit (wie Anm. 105), S. 27. 151 Ebd., S. 1f.
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Wie die Night Thoughts appelliert auch Crugot an die Vernunft des Menschen und an seine Gefühle.152 Young und Crugot sahen Vernunft und Emotion in einem natürlichen Wechselspiel, das es bei einem Stand der Ausgeglichenheit für die Religion zu nutzen gelte.153 Die sanfte Melancholie katalysiere und befördere diesen Streit. Am Ende des notwendigen innerlichen Prozesses solle das erhabene Gefühl, eine Gottesschau im Menschen selbst, als Auflösung der Zerrissenheit zwischen Verstand und Gefühl stehen. Crugots Erzähler kommt zu dem Schluss, dass Gott gedacht werden und dass er ihn als Menschen erfassen könne. Dieses Erfassen ist nicht als rein rationale Erfahrung vorgesehen, sondern in ihr schwingt immer die empfindende, irrationale Komponente mit, die unter das Denken eines Göttlichen subsumiert wird: „Ich denke dich! den Richter aller Welt, und dereinst auch meinen Richter! […] Ich denke diesen ernsten Gedanken! […] Ich denke ihn mit heiliger, mit hoffnungsvoller Freude.“154 Noch vor Klopstocks Schrift Von der besten Art über Gott zu denken (1758) ist bei Crugot somit die Rede davon, dass man Gott in einer melancholischen Selbstbeobachtung denken könne.155 Diese Hervorhebung einer Menschenähnlichkeit Gottes stößt auf größte Widerstände bei den Kritikern des Werkes. In Martin Crugots Umgang mit sanfter Melancholie zeigt sich eine vernunftgeleitete Emotionalität, die auf der Grundlage natürlicher Religion dem skeptischen Individuum die Möglichkeit zu einem prozesshaften, nicht statischen Offenbarungserlebnis gewährt. Das bis zum Tod immer neu gemachte Erhabenheitserlebnis durch die Stimulation sanfter Melancholie bringt in seiner Mischform den Zwiespalt von Wissen und Fühlen zum Ausdruck, der der Komplexität der Seelenkräfte gerecht werden soll.
2.2.2 Sturms Trivialisierung der religiösen Melancholie für Ungebildete Mit dem 21-jährigen Augsburger Christian C. Sturm156 widmete sich 1761 ein weiterer Autor diesem Werktitel und beanspruchte für sich, den „wahren“ Christen
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Vgl. Young: 4. Nacht. In: Ders.: Klagen, oder, Nachtgedanken (wie Anm. 58), S. 130: „O hochheilige Vernunft! Quelle und Seele alles dessen, was auf Erden […] ruhmwürdig ist! […] Die höher getriebene Vernunft ist Glaube.“ 153 Crugot: Der Christ in der Einsamkeit (wie Anm. 105), S. 27. 154 Ebd., S. 135. 155 Vgl. Klopstock: Von der besten Art über Gott zu denken (wie Anm. 76), S. 207–216. 156 Christopher Christian Sturm: Der wahre Christ in der Einsamkeit. Es sey ferne von mir rühmen, denn allein von Jesu dem Gekreuzigten. Neue verbesserte und sehr vermehrte Auflage. Halle im Magdeburgischen 1763.
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in der Einsamkeit geschrieben zu haben.157 Schon im Untertitel seiner Bearbeitung (Es sey ferne von mir rühmen, denn allein von Jesu dem Gekreuzigten) nahm er die zentrale Rolle des Menschen im Offenbarungsprozess zurück und setzte Jesus an dessen Stelle. Sturm stand in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts für einen aufgeklärten Moralismus. Als Kanzelredner entwickelte er sich später zum „Naturprediger“, der für einen „verständigen Supernaturalismus“ unter einem stark rationalistischen Beigeschmack eintrat.158 Vor diese Entwicklung sind jedoch jene hier besprochenen Werke einzuordnen, in denen Sturm gezielt gegen rationalistische Tendenzen vorging. Sein Werk ist zunächst grundlegende Kritik an Crugots Veröffentlichung. Darin beklagte er, dass man bei Erbauungsliteratur vor allem an wenig gebildete Leser denken müsse. Zum anderen bemühte er sich, Martin Crugots Text als theologisch falsch und gefährlich zu deklarieren. Die selbst gemachten Erhabenheitserlebnisse von göttlicher Seele und Schöpfung, wie sie Crugots Erzähler schildert, werden bei Sturm deutlich relativiert. Die sanfte Melancholie wird in weiten Teilen zum literarischen Versatzstück einer populär gewordenen, ebenso kontemplativ gedachten Empfindsamkeitskultur religiöser Prägung. Sie stellt ein Regulativ emotionaler Unausgewogenheit dar, kein Selbststudium. Sturm (1740–1786), Student der Theologie, wurde in Jena 1761 zum Magister der Philosophie ernannt. In Halle arbeitete er von 1763 an als Lehrer am Pädagogium. Ab 1765 war er dort Prediger an der Marktkirche. In seine Zeit in Jena und Halle fallen die beiden literarischen Reaktionen auf Crugots Text: Der wahre Christ in der Einsamkeit und Frauenzimmer in der Einsamkeit.159 Es ist anzunehmen, dass Karl Friedrich Bahrdt die Texte Sturms durch die Nähe der Erscheinungsorte Leipzig und Halle bekannt waren. Die Popularität der Schrift Crugots dürfte dazu beigetragen haben, dass Sturm und Bahrdt in einer solch vehementen Weise und in der Hoffnung auf ähnliche Bekanntheit reagierten. Sturm folgt im formalen Aufbau den Stücken Crugots, allerdings verfasste er (im Gegensatz zu Bahrdt) unter Titeln wie Abendgedanken oder Gedanken bey der Mitternacht vollständig eigene Texte. Außerdem weitete er das Spektrum der Kapitel auf biblische Szenen des Neuen Testaments aus, die mit Jesu Passion in Verbindung stehen und ihn darin als einen einsamen Andächtigen verklären (vgl. z.B. Die einsamen Stunden Jesu, Die einsamen Stunden Jesu am Oelberge). Damit 157
Zur Person Sturms siehe Johann Georg Meusel: Art. Sturm (Christoph Christian). In: Ders.: Lexikon der vom Jahr 1750 bis 1800 verstorbenen teutschen Schriftsteller. Bd. 13. Leipzig 1813, S. 518–523; Heinrich Döring (Hg.): Die deutschen Kanzelredner des 18. und 19. Jahrhunderts. Neustadt an der Orla 1830, S. 495–501; Hans Schröder: Art. Christopher C. Sturm. In: Lexicon der hamburgischen Schriftsteller bis zu Gegenwart. Hg. v. Verein für hamburgische Geschichte. Bd. VII . Hamburg 1879, Nr. 3979. 158 Vgl. Paul Tschackert: Christopher Christian Sturm. In: Allgemeine deutsche Biographie von 1875 bis 1912. Hg. v. der historischen Commission der Königlichen Akademie der Wissenschaften. Bd. 37. Leipzig 1894, S. 4f., hier S. 4. 159 Christopher Christian Sturm: Das Frauenzimmer in der Einsamkeit. Halle 1763/1765/1768/1780.
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tendierte Sturm zur christologischen Deutung empfindsam-pietistischer Prägung und weniger zur virtuosen Seelenschau. Im Zentrum seiner Ausführungen stehen der Tod und das ewige Leben. Sturm war Kenner der kontemplativen englischen Lyrik und ergänzte seine Schrift zudem um Stücke wie Empfindungen bey den Gräbern oder Hervey im Tode. Sein Umgang mit diesen Vorbildern deutet darauf hin, dass es sich nach 1760 schon um eine literarisch etablierte und ausreichend verbreitete Gepflogenheit in der religiösen Literatur handelte, wenn Todesbetrachtungen mit einer empfindsamen Seelenschau verknüpft wurden. Bemerkenswert ist, dass die sanfte Melancholie des Christen in einem stark ästhetisch arrangierten Rahmen vorkommt und dennoch mit einer christologischen Ausrichtung verbunden ist. Dies führt zur merkwürdigen Trivialisierung bzw. Psychologisierung eines empfindsamen Jesus und dessen vermeintlicher Gefühlsregungen. Immer wieder werden religiöse Gedanken unter bestimmten Befindlichkeiten geschildert (Empfindungn beym Creuze Jesu; Empfindungen an einem Frühlingsmorgen oder Empfindungen beym Donnerwetter).160 Anhand dieser Texte wird deutlich, wie populär die kontemplative Meditation der religiösen Empfindungen geworden war und wie Autoren sich der meditativ-empfindsamen Stilistik bewusst bedienten. Wenn Sturm einen Brief des sterbenden Vaters einschob, der den Sohn nach seinem Tod erreicht, machte er außerdem Anleihen beim ebenfalls beliebten Subgenre der Briefe von Verstorbenen an ihre Hinterbliebenen.161 Mit diesen Mitteln bot er dem Publikum eine am zeitgenössischen Geschmack orientierte und geschlechterbezogene Hauslektüre. Crugots Offenbarungsbegriff, der sich hinter literarischen Techniken verberge, wird dabei gezielt angegriffen: Ein grosser Theil der Sterblichen setzt in der Verfolgung und Geringschätzung der geoffenbarten Religion seine Ehre. Man wendet alle Hülfsmittel an, welche die Redekunst und eine ausschweifende Einbildungskraft an die Hand giebt, um den vorgesetzten Endzweck gewisser erreichen zu können. Zu dieser Gattung der Menschen kan mit allem Grund der Verfasser des Christen in der Einsamkeit gerechnet werden. Der starke Abgang dieser Schrift hat bewiesen, wie leicht sich die Menschen durch blendende Vorstellungen, durch rednerische Ausdrücke und feurige Gedanken betrügen lassen.162
Zugleich aber wendet auch Sturm die verbreiteten erzählerischen Techniken (z.B. assoziative Gedankenspiele) und Empfindungsdarstellungen an, die er Crugot vorwarf. Als einen Befürworter seiner Haltung zitiert er Young, in dessen Interesse es ebenfalls liege, an den Verstand und an die Empfindungen der Leser zu appellieren.163 Crugot erschien ihm dagegen als rein rationalistisch und nicht als Ver160
Vgl. ders.: Inhaltsverzeichnis. In: Ders.: Der wahre Christ in der Einsamkeit. Halle 1763, S. XLVIIf. 161 Vgl. ebd., S. 11–26. 162 Ebd., Widmungsschrift, S. 5–8, hier S. 6f. 163 Ebd., Vorrede S. IX-XIV, hier S. X: „Ja, ich bin versichert, sie werden den Worten eines grauen und geistvollen Theologen, des D. Youngs, Beyfall geben, wenn er mehr als eine bloß
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treter der geoffenbarten Religion. Er nannte ihn einen Socinianer und beschimpfte ihn damit als einen Häretiker. Dem einfach gebildeten Leser erschließe sich der wahre Sinn seiner Worte nicht. Die offenbarte Religion, wie Sturm sie selbst vertrete, werde in Deutschland unter dem Deckmantel des Witzes angegriffen. Den Hugenotten Crugot verglich er dabei unter negativen Vorzeichen mit Voltaire, Rousseau oder D’Argens.164 Statt der französischen, vermeintlich rein atheistischen Opposition wende er sich lieber einer „englischen Klarheit“ zu, die er unter anderem bei Young zu finden glaubte. Dass Crugot und Young den Anspruch, Emotion und Verstand zu bewegen, verfolgten, ist bereits aufgezeigt worden. Sturm habe ebenso die verstandesgemäße Vorstellungskraft und Begeisterung des Lesers wecken wollen. Religion müsse erfahrbar gemacht werden: „Ich suchte nicht bloß eine deutliche Vorstellung unserer göttlichen Religion bey meinen Lesern zu erwecken: sondern mein Wunsch war, sie biß zur Begeisterung zu rühren und ihnen ihren allerheiligsten Glauben nach seiner wahren innerlichen Schönheit vor Augen zu mahlen.“165 Mit dem Begriff der Rührung ist bei Sturm allerdings nicht der innere, autonome Erkenntnisprozess gemeint, den Crugot anstrebte, sondern eine eher passive Form der Ergriffenheit, die von außen vermittels eines empfindsamen Kultivierungskonzepts erwirkt würde bzw. göttlicher Initiative bedürfe. Sein Plädoyer für die Schilderung seelischer Befindlichkeiten bei der Betrachtung religiöser Mysterien ist eindeutig. Schließlich verlange diese Zeit der Verwirrung über die wahre Offenbarung der Religion verschiedene, brauchbare Wege, die dem jeweiligen Leser angemessen seien.166 Schriften, die sich in artifizieller Sprache der Religion näherten, seien intellektuellen Lesern vorbehalten. Sturm verstand seine Arbeit als eine Nutzbarmachung der introspektiven Seelenschau für weniger Gebildete. In der Abwehr verdeckt blasphemischer Schriften müsse der Christ die Techniken der zeitgenössischen Literatur durchschauen und
deutliche Vorstellung der in der heiligen Schrift enthaltenen Wahrheiten fordert: wenn er seine Mitchristen auffordert, nicht nur den Verstand, sondern auch dem Herzen durch die heiligen Lehren der Religion unsers heilvollen Mittlers Nahrung zu verschaffen.“ 164 Ebd., S. XI: „Unsere Zeiten sind zum Schaden der christlichen Religion an solchen Schriften fruchtbar, die unter dem Kleide einer starken Beredsamkeit, unter einer erhitzten Schreibart die feindseligsten Anfälle gegen die geoffenbarte Religion wagen. Voltaire, Rousseau, D’Argens und einige von ihren Nachahmern unter den Deutschen gefallen der Welt durch den Witz ihrer Schriften, wenn sie gleich offenbare Spötter der heiligen Schrift sind.“ 165 Ebd., S. Xf. 166 Ebd., S. XIIf.: „Es ist wahr, Schriften, die in der Sprache der Empfindungen geschrieben sind, können nicht allen Lesern gleich brauchbar seyn. Young und Hervey, wenn sie verstanden werden wollen, erfordern sehr erleuchtete und geübte Leser. Aber es ist billig, diese Schriften deswegen zu verwerfen, weil sie nicht vom Pöbel mit merklichem Nutzen gelesen werden können? Wäre es nicht unverantwortlich, die Psalmen Davids […] deswegen ungelesen zu lassen, weil ein großer Theil mit der erhabensten Schreibart ausgedrückt ist? Der itzige Zustand des Reiches Jesu erfordert verschiedene Bemühungen.“
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diese beherrschen.167 Vorbilder, die die schöne Wissenschaft mit der Verbreitung der Religion vereinten, waren ihm Klopstock und Michaelis.168 Der Vorrede fügte Sturm einige Gedanken über den Christen in der Einsamkeit [nach Crugot] hinzu.169 Hier zitiert er kurze Passagen aus dessen Text und kommentiert sie mit Bibelzitaten. In seiner Polemik gibt sich Sturm über die Diskrepanz zwischen seinen Erwartungen an Crugots Text und dem deistischen Inhalt überrascht. Crugot habe viele Leser durch eine formale Tarnung angelockt, die er nun retten möchte. Für gelehrte Leser, die Crugots Täuschung entdecken könnten, habe er, Sturm, sein Werk nicht geschrieben.170 Der Vorstellung vom relativ ungebildeten Leser kommt auch Sturms zweiter Text entgegen, den er mit Das Frauenzimmer in der Einsamkeit betitelte.171 In plakativer Weise gibt dieses kleine Werk Aufschlüsse über sein Bild der christlichen Frau im Umgang mit empfindsamer Trauer, der ihr zugeschriebenen emotionalen Welt und sozialen sowie religiösen Kompetenzen. Darin empfiehlt Sturm jungen Frauen, ihre einsamen Stunden mit Gedanken an den Tod zu verbringen.172 Das stark empfindsam geprägte Kultivierungsprogramm richtet sich gezielt an ein weibliches Publikum, das mit sanfter Melancholie seine Tugenden schulen sollte. Als eine empfohlene Lektüre für die Leserin nennt er die Dichterin Elisabeth Singer-Rowe.173 Auch James Herveys Tod wird in einem eigenen Kapitel als ein angelsächsisches Beispiel vorbildlichen Sterbens angeführt.174 Der demütige Tod, ein bekanntes Exempel der christlichen Literatur, wurde zu einem literarisch kolpor-
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Ebd., S. XIIIf.: „Da die Feinde der christlichen Lehre die Beredsamkeit zur Bestreitung der Wahrheiten des Christenthums anwenden: so muß ein Christ diesen Theil der schönen Wissenschaften zu heiligen, und dadurch die Schönheit seines Glaubens gegen die ungegründeten Einbildungen der Verächter zu retten suchen.“ 168 Ebd., S. XIV. 169 Vgl. ebd., 1. Kapitel: Gedanken über den Christen in der Einsamkeit, S. XV–XLVI. 170 Ebd., S. XVI: „Ich glaubte in diesem Buch einen Christen zu finden, der sich in der Einsamkeit mit Jesus und seiner Religion beschäftigt. […] allein ich fand einen Freygeist, der die Einsamkeit dazu anwendet, um die Kraft der Religion Jesu zu vernichten. Die äussere Einrichtung dieses Buches hat so viele Leser an sich gelocket, daß ich befürchte ihre Unwissenheit möchte sie der Gefahr aussetzen, durch das schleichende und oftmals verborgene Gift […] angesteckt […] zu werden. Dieser Gattung der Leser zu Hülfe zu kommen, habe ich mich entschlossen, meine Gedanken […] zu eröfnen. Für gelehrte Leser sind sie nicht geschrieben.“ 171 Christopher C. Sturm: Das Frauenzimmer in der Einsamkeit. Neue, verbesserte und vermehrte Auflage. Halle 1765. 172 Ebd., Vorrede, S. IIIf., hier S. IV. 173 Vgl. ebd., 1. Stück. Die Jungfrau, S. 1–36, hier S. 10: „Doch England schenkte mir kürzlich eine Liebhaberin. – O du Schmuck deines Geschlechts, vortrefliche Rouwe [sic], so oft ich auf dein Grabmahl blicke, rollt eine Freudenthräne von meinem Antlitz, und ich segne die Asche, die bald zu einem Seraph aufblühen wird.“ 174 Ebd., 20. Stück: Hervey im Tode, S. 140–144, hier S. 140: „Das Sterbebette ist eine Schule der Weisheit. Hier erst lernen wir Wahrheiten, die wir in der Schule der Weisheit vergebens suchten. […] Unter allen Nachrichten meiner sterbenden Mitpilgrimme war mir der Tod des unsterblichen Hervey besonderes merkwürdig.“
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tierten, ästhetisch aufgewerteten Ereignis, das es empfindsam nachzufühlen galt.175 Nicht biblische Inhalte sollten wiedererinnert, sondern eine spezifische Stimmung, die sanfte Melancholie, sollte verinnerlicht werden. Sturm hatte die zeitgenössische Breitenwirkung der religiösen Melancholie in empfindsamer Ästhetik erkannt und versuchte, Frauen diese Melancholie auf triviale und populäre Weise näher zu bringen. Beispielsweise wird die sanfte Melancholie beim musischen Studium am Klavier gefordert: Steige hinab o Muse, in melancholische Töne verhüllt, in die Thäler der Verwesung! Singe das Glück der Todten Gottes! und erfülle weit umher die Gefilde des Todes mit deinen Gesängen! […] Singe ihnen von dem Glück ihrer Asche, dass der Erlöser lebe, der ihre zerstreuten Gebeine versammeln und ihre vermoderte Knochen verjüngen werde.176
Sturms Buch gibt dabei nicht nur Anleitungen zur Kultivierung der sanften Melancholie in den damals überwiegend weiblich dominierten Bereichen von Erziehung, Bildung und Haushaltung; es evoziert auch angenehmen Schauer. Die Frau sollte dazu animiert werden, die morbiden Phantasien zu ihrem höchsten Kunst- und Frömmigkeitsideal zu machen: „O Saiten, wie trüb, wie schröcklich sind eure Töne, wenn ihr mir Grab und Tod singet! Aber tönet mir nur diese gesegneten Schröcken; sie machen meine Tage heiterer, als die Jubel der Unvernunft.“177 Um sicher zu gehen, dass Frauen nicht frohere Stimmungen bevorzugen, wird der Verzicht auf leichte Muse ausdrücklich betont.178 Auch in anderen Lebensbereichen wie Kindeserziehung, Frauenfreundschaften und Heirat hält Sturm an der sanften Melancholie fest. Für die damals nicht seltene Situation des Kindstods bringt er sogar einen Vergleich mit Richardsons Clarissa. Der Tod eines Kindes müsse Frauen nicht verzweifeln lassen, wenn man das Kind idealerweise zum Sterben erzogen habe.179 Die Freundschaft, einer der höchsten empfindsamen Werte, wird unter dem weiblichen Publikum durch Visionen des Todes und eines gemeinsamen Grabes bekräftigt. In freundschaftlicher Verbundenheit soll der Tod gemeinsam „empfunden“ werden.180 Der Traum vom betrauerten Tod der Freundin 175
Vgl. ebd., S. 141: „Am dritten October 1758 erschien bey diesem frommen Knecht Gottes [Hervey, K.B.] der Vorbote des Todes. Er wurde von einer Schwäche befallen, die ihn ausser Stand setzte, aus dem Bette zu bleiben.“ 176 Ebd., 4. Stück. Empfindungen eines Frauenzimmers beym Clavier, S. 73–77, hier S. 76f. 177 Ebd., S. 77. 178 Ebd., S. 74: „Anakreon, deine betäubenden Melodien sollen nie meine Seele einschläfern. Gott ist mein Lied!“ 179 Ebd., 3. Stück. Die Mutter. Betrachtungen einer Mutter bey dem Tode einer frommen Tochter, S. 61–66, hier S. 61: „Ja, seyd mir gegrüsset, ihr stillen Toden Gottes! […] Ich weine nicht länger bey dem Grabe meiner Tochter. Ich freue mich, dass es Gott gefallen, sie aus einem Staube zu einem Seraph zu schaffen. Ich habe den Endzweck meiner Erziehung erreichet. Ich erzog meine Clarisse zum Tode.“ 180 Ebd., 1. Stück. Die Jungfrau, S. 1–36, hier S. 34f.: „Und wenn uns einst der Tod beschleichen und in schwesterlicher Umarmung finden wird, so wollen wir ihm Trotz bieten […]: Komme, du holder Diener Gottes, süßer Wohltäter frommer Freundschaft, drücke deinen Pfeil auf uns ab. Doch beyde Brüste musst du durchbohren. Vereint wollten wir in dein finsteres Behältniß
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findet sich ebenfalls. Die tote Jungfrau wird zur Braut Christi, die im Grab auf ihre Hochzeit wartet und deren Schicksal erstrebenswert sei.181 Sturm umreißt die Grenze, an der die religiös-empfindsame Ästhetik der in sanfter Melancholie bewegten Seele zum trivialisierten, hausgebräuchlichen Allgemeingut wird. Dabei bleibt er klar an der Betonung der Auferstehung und Erlöserrolle Christi orientiert, die mit pietistisch gefärbten Begriffen wie dem „Blutbräutigam“ ausgestaltet wird.182 Der Blick des todesfreudigen Gläubigen gilt allein dem Erlöser, der diese Todesbilder möglich und erträglich gemacht habe: „Dank sey dir, daß ich ohne Grauen hinab in das Grab schauen kann, welches mir durch dich zu einer stillen Ruhekammer geworden ist! Dank sey dir, daß der Tag, der meine morschen Glieder einer längern Verwesung entreißt, mir ein Tag des Jubels werden soll!“183 Der Schrecken, der trotz aller Gewissheit des Glaubens zurückkehren könne, wird auch bei Sturm behandelt. Im Rahmen von nächtlichen Betrachtungen unter Weinen und grauenerregenden Phantasien wird er als ein Weg zur Heilung benannt.184 Aber auch hier folgen Schrecken und Beseligung einander im gewohnten Muster. Erst die aufwühlende Kraft des Schreckens mache die Empfänglichkeit für eine Offenbarung möglich. Was der kontemplativen englischen Dichtung an schaurigen Todesbildern entliehen wurde, steht bei Sturm im eindeutigen Kontext der Erlösung in ein ewiges Leben: Ihr melancholischen Todtengebilde, öde einsame Wohnungen entkörperter Geister, in euren stillen, friedsamen Gegenden schleicht der Wanderer dahin, der sich dem lauten Getöse einer jauchzenden Welt entreisset, und sich der sanften Umarmung kühler Gräber überlässt. […] Je
steigen, und in schwesterlicher Gemeinschaft deine Ruhe empfinden. – Ja, meine süsse Freundin, eine Minute soll unsere Augen verschliessen, ein Grab soll unsere Körper bedecken.“ 181 Ebd., S. 35: „Dann, wenn eine tugendhafte Schöne vor unserm unterirdischen Brautzimmer vorbey wandeln, und die Ueberschrift unseres Grabes lesen wird, dann wird sie unsere Gebeine segnen, sich ein gleiches Grabmal wünschen, und dann mit den Worten von unserer Stätte eilen: Ruhet sanft.“ 182 Ebd., 1. Stück: Der Erlöser, S. 1–26, hier S. 2: „O! wie anmuthreich, wie gesegnet werden mir die Stunden dahin schleichen, die ich so reichem Wucher ausgekauft habe! An sie will ich einst gedenken, wenn die letzte Minute meines Lebens herbey geeilet; sie will ich segnen, wenn ich nahe beym Gefühl meiner Unsterblichkeit, nahe dem Rande des Grabes, den letzten Athem ziehe: ihrer will ich gedenken, wenn einst die Posaune meinen vermoderten Körper aus seinem finstern Behältnisse ruft! Versammelt euch, ihr Freunde des Creutzes meines Blutbräutigams!“ 183 Ebd., S. 4. 184 Ebd., 4. Stück: Gedanken bei der Mitternacht, S. 37–40, hier S. 37: „Ich will mir die einsame Stille der Mitternacht zu Nutze machen. Die Betrachtung, unter welcher mir viele Tage unbeweint verstrichen, werden auch die mitternächtlichen Stunden, an welche wir sonst nicht ohne Grauen denken, zu heilvollen Augenblicken machen. Aber in der That, ein Schauer überfällt mich. Dieser Theil der Nacht scheint seiner Natur nach die unangenehmsten Schröckenbilder zu unterhalten.“
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näher ich dem Staube komme, desto mehr nähere ich mich der englischen Klarheit, die aus dem Staube hervorstrahlen soll.185
In der Gräberbeschreibung selbst liegt das Kippbild vom melancholischen Anblick und dessen Umkehrung in eine versöhnliche Todesidylle begründet. Dieser perspektivische Vorzeichenwechsel von Tod und Leben ist der kontemplativen Todesmeditation entnommen. Der einsame Wanderer sieht hinter den schrecklichen Bildern zugleich die Zuversicht: „Aber ich trete mit heiterm, unbewölktem Angesicht auf dem Staube meiner Brüder einher, und beneide ihr Glück.“186 In die Betrachtung der Grabhügel fügt sich die Erkenntnis einer prophezeiten, noch unsichtbaren Schönheit des Todes. Dieser Verwandlungsprozess vollzieht sich analog zur Verwandlung des Toten in den Unsterblichen: „Du schwacher Ueberrest der Sterblichkeit, sey hier in der Stille mein Lehrer. […] Aus dieser Asche blühet ein Engel Gottes hervor.“187 Die sanfte Melancholie fordert auch bei Sturm das Erhabenheitserlebnis, das den Perspektivwechsel möglich macht. Sie soll vor allem zu diesem Endzweck kultiviert werden: „Besuche oft die melancholische Stille dieser Gefilde, sie werden deine getreuesten und seligsten Lehrer des Todes und der Unsterblichkeit seyn.“188 Christian Sturm versucht in beiden Erbauungsschriften die Notwendigkeit der sanften Melancholie weniger Gebildeten verständlich zu machen. Nach antideistischen Kriterien verwendet er die bereits populären empfindsamen Betrachtungen, um alle lebensweltlichen Bereiche mit einer sanften Melancholie zu unterlegen. In religiöser Erbauung rückt diese dabei immer weiter in den Bereich des Privaten und der Erziehung in Familien. Trotz der starken Gefühlsbetonung wird sein Erbauungsbegriff auf die Vermittlung von konventionellen Lehrsätzen zurückgeworfen, die einer empfindsam-religiösen Ästhetik entsprechen, aber keine eigene Dynamik mehr besitzen. Das treibende Moment einer einmal entfachten Subjektivität geht Sturm verloren. Im Vergleich dazu gelingt es Crugot, ein umfassendes Menschenbild in sein Offenbarungskonzept zu integrieren und dies in einer religiösen Ästhetik der kontemplativen Melancholie umzusetzen.
2.2.3 Die orthodoxe Inanspruchnahme biblischer Trauer Karl Friedrich Bahrdt (1741−1792) war Repetent seines Vaters und Theologieprofessors in Leipzig, als er dort auf „das höllische Produkt des preußisschen Naturalisten“, Crugots Christ in der Einsamkeit, aufmerksam wurde.189 In der Konse185 186 187 188 189
Ebd., 11. Stück: Empfindungen bey den Gräbern, S. 85–91, hier S. 84f. Ebd., S. 85. Ebd., S. 87. Ebd., S. 89f. Manchot: Martin Crugot (wie Anm. 111), S. 21.
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quenz verfasste er 1761 eine Bearbeitung des Werkes. Um in der Öffentlichkeit Gehör zu finden, bemühte sich der junge Bahrdt um eine aufsehenerregende kritische Publikation. Seine Reaktion auf Crugots Werk zeugt von seiner damals noch orthodoxen Haltung. Die Gegenschrift Der wahre Christ in der Einsamkeit enthält größtenteils den Originaltext Crugots und fügt Kommentare, Bibelworte, Gebete und Gedanken Bahrdts hinzu. Die christologische Ausrichtung ist eindeutig. Auch Bahrdt versuchte Crugots Text so zu verändern, dass er Jesus’ Rolle als göttlichen Erlöser und nicht seine Menschlichkeit betonte.190 Ferner äußerte er den Vorwurf, Crugot nenne Jesus nur als ein Muster an Tugend, nicht aber als deren unerreichbares Ideal.191 Interessanterweise machte sich Bahrdt ebenfalls Young durch Zitate zum Gewährsmann seiner Bearbeitung, obwohl dieser ebenso wenig wie Martin Crugot ein konkretes Christus-Bild in den Night Thoughts entwickelte. In einem ausführlichen Vorwort führt Bahrdt die Gründe an, die es notwendig erscheinen ließen, diese ‚Verbesserung‘ zu erstellen. So fällt zum Teil Lob auf Crugots Werk, denn sein literarisches Talent wird ihm zwar zuerkannt, seine Ausführungen werden aber als „Leichtsinnigkeit und Kaltsinn“ verworfen: Der Christ in der Einsamkeit […] hat mir allezeit geschienen, die Frucht von einem sehr glücklichen Genie zu seyn. […] Ein Mann von seinen Fähigkeiten würde vielleicht zum Bau der Kirche viel beigetragen haben, wenn er dieselben mit mehrerm Eifer auf die Untersuchung der Wahrheiten der christlichen Religion gewendet hätte.192
Bahrdt vermisste das eindeutige Bekenntnis Crugots zu christlichen Lehren, stattdessen empfand er seine Betonung der Autonomie des Individuums als Verleugnung der Notwendigkeit einer göttlichen Gnade. Die Kritik des Werkes gilt den Menschen, die sich von „sinnlichen Gegenständen“ täuschen lassen: [D]enen muß der Zaum, den ihnen die Religion, und auch sogar die Vernunft, wenn sie recht gebraucht wird, anlegen, unerträglich seyn. Da es also einem jeden leicht ist, seine Vernunft zu betäuben, und sich wider die Stimme der Natur zu verhärten; wie leicht muß es nicht seyn, die Religion aus den Herzen zu verbannen?193
Die Andeutungen, Vernunft und Gefühl seien bei Crugot nicht im rechten Einklang, setzen sich fort. Barhdt bemühte sich den Zaum, den dieser zu zertrennen versuchte, neu anzulegen. Entgegen der Haltung Crugots, der alle Seelenkräfte des Menschen als Hinweise auf Offenbarung verstand, argumentierte Bahrdt, dass die innere Kraft der Vernunft das außerhalb des Menschen liegende Mysterium des Glaubens nicht erfassen könne. Dazu bedürfe es eines göttlichen Wunders und des
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Vgl. Karl Friedrich Bahrdt: Der Christ in der Einsamkeit. 2 Bde. Leipzig 1763. Ebd., Der Abend, Bd. 2. 12. Stück, S. 173–190, hier S. 190. Ebd., Vorrede, Bd.1, S. 1–18, hier S. 1. Ebd., S. 2.
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unbedingten Gehorsams unter einen Glauben.194 Der Diskrepanz von Vernunft und Glauben wollte Bahrdt entgegenwirken und die Rolle des Übernatürlichen, die Macht Gottes über den Verstandesmenschen, betonen. Wer sich dieser Rolle nicht bewusst sei, werden nach Bahrdt ein Freigeist, ein Deist, genannt.195 Mit einem Zitat aus Youngs Night Thoughts, die ebenso für eine offenbarte Religion plädieren, wendete sich Bahrdt gegen eine „freigeistliche“ Haltung.196 Wie sein Zeitgenosse Sturm verglich er Crugot mit den französischen Aufklärern. Die Furcht vor dem Deismus begleitete die Angst vor dem gänzlichen Verlust der Religion, der durch eine übermässige Betonung der sinnlichen Lust eintreten werde.197 Die Religion werde von „Naturforschern“ wie Crugot beschimpft. Schlimmer noch als der offene Deismus sei sein Versteck unter literarischen Stilmitteln, wie sie von „Romanchristen“ verbreitet würden. Die abenteuerlichen Schilderungen der Literatur würden die christliche Seelenruhe stören.198 Eine übertriebene Sensibilisierung des Gemüts sei Zeitverschwendung und obendrein gefährlich. Eine Tugend ohne Gott, eine natürliche Tugend, laufe Gefahr nicht praktiziert zu werden: Eben so [großmüthig, K.B.] sind in der That eine recht große Menge unserer Christen, [… bei] Schilderungen einer philosophischen Tugend, wie eine Clarisse, eine Pamela oder der Christ in der Einsamkeit sie vorträgt […] Werden sie aber deswegen in der That, diese Tugenden ausüben? [FN: ‚Aber der Christ in der Einsamkeit ist [gefährlicher als diese Romane, K.B.] deswe194
Ebd., S. 2f.: „Die Vernunft ist in uns. […] Hingegen die Religion ist ausser uns. Die Vernunft ist nur ein schwaches Werkzeug für sie. Sie entlehnt nur wenige Sätze aus ihrem Lehrgebäude. Ihre meisten Wahrheiten verlangen bloß Glauben, und Gefangennehmung der Vernunft unter dem Gehorsam desselben. Sie muß uns durch einen übernatürlichen Beistand beigebracht werden. […] Sie schreibt Gesetzte vor, die wir von Jugend auf, zu brechen uns fest entschlossen haben.“ 195 Ebd., S. 4: „Mich deucht, dieses ist die richtigste Erklärung des Wortes Freygeist, welches heut zu Tage gar viele as einen Ehrentitel ansehen, durch den sie sich von der gemeinen Sorte von Menschen unterscheiden.“ 196 Ebd., S. 5: „Ich kann hier ohnmöglich eine vortrefliche Stelle eines der größten Dichter unberührt lassen, der sich über den Unsinn des Freygeists, welcher das Lösegeld eines göttlichen Mittlers für unnöthig hält, also erkläret: – Nichts also wird der Ewige von unsern Ungläubigen geschildert […] sie verstümmeln seine Größe […] Siehe Youngs Nachtgedanken in der 4ten Nacht, V. 225–235. nach der Übersetzung des Herrn Prof. Eberts.“ 197 Ebd., S. 7: „Man kann aus dem allen einen richtigen Erfahrungssatz als eine Schlussfolge ziehen, daß nämlich zu der Zeit da die Menschen am meisten den Lüsten des Fleisches ergeben sind, auch die meisten Freygeister seyn müssen, weil die Befriedigung der Leidenschaften mit keiner Religion besser besteht, als bei der Religion des Freygeistes. […] Ich will nicht sagen, daß der Verfasser des Christen in der Einsamkeit ein so böses […] Herz habe. […] Allein ich will gleich beweisen, daß wenigstens sein Buch noch gefährlicher ist, als die Schriften eines Voltaire, oder eines Edelmanns.“ 198 Ebd., S. 13: „Ich gebe ihnen deswegen diesen Namen, weil sie eine Tugend ausüben, die in denen noch etwan erträglichen Romanen geschildert wird. Ich erinnere mich aus den vergangenen Jahren meines Lebens einer Zeit, wo ich in meinem Gemüthe fast ähnliche Wirkungen empfand, wie viele Christen bei Lesung solcher Bücher empfinden, wie der Christ in der Einsamkeit. Ohngefähr in meinem achten oder zehnten Jahre gerieth ich bisweilen heimlich über solche Bücher, in denen abendtheuerliche Begebenheiten erdichteter Helden erzählet werden. Da weiß ich, wie mein Geblüt oft gewallt hat.“
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gen, weil er eine christliche Tugend verspricht, und dem Leser nur die natürliche kennen lernt.‘]199
So wirkte der Christ in der Einsamkeit auf Bahrdt wie ein zeitgenössischer Roman ohne christlichen Impetus, der dennoch den Leser glauben mache, es sei ein christliches Erbauungsbuch. Dabei werde in eklatanter Weise die Rolle Jesu als Mittler zwischen Gott und Mensch unterschlagen.200 Die Kritik an Crugots Text setzte Bahrdt in eigenen Beifügungen und Erläuterungen zwischen dessen Worte. Der ursprüngliche Text wurde damit vollkommen gebrochen und die Individualität und Progressivität des Werkes gänzlich getilgt. Zitate für den zu bedenkenden Tod entnahm Bahrdt den Night Thoughts,201 doch das Thema des Todes wurde stärker als Schrecken geboten, um die Notwendigkeit des Erlösers zu betonen.202 Das Bild des Menschen als Werkzeug ersetzt das eines eigenständigen Schöpfers nach göttlichem Vorbild.203 Nach Ermahnungen in drastischeren Bildern folgt auch hier die Beseligung, die bis in den Schlaf wirken kann: O wie selig, wie entzückend ist nicht das Bewusstseyn der göttlichen Liebe! Wie freudig führt nicht der Christ seine ermatteten Glieder hin zum Lager der Ruhe! Mitten in den bangen Finsternissen, die ihn umgeben, fürchtet er nichts; von Gott bewacht, von Engeln beschützt. […] So liegt der Christ mit ruhiger Miene, schläft, oder träumt reizende Bilder: indem er auch schlafend an Gott denkt.204
Die Passivität des Schlafes bleibt das Aktionsniveau des Menschen in Bahrdts kritischer Bearbeitung. Mit Hilfe biblischer Zitate begründete er den Vorzug der bewussten Trauer gegenüber der Freude. Lavater, der sich gegen Bahrdts Bearbeitung in einem öffentlichen Brief wandte, beschimpfte dessen Vorhaben als „Orthodoxie in Schwulst verhüllt“.205 Die religiöse Melancholie wurde in Bahrdts Bearbeitung im Kontext eines orthodoxen Offenbarungsbegriffs zurückgefordert. Dazu wurde z.B. in einem gesonderten Kapitel der Tod der Stunde der Geburt vorangestellt: Die Vorzüge des Todes vor dem Tage der Geburt.206 Das von Bahrdt eingefügte Stück, das keine Entsprechung bei Crugot findet, basiert rein auf biblischen Zitaten. Er beruft sich darin auf Salomo in Prediger 7, 2–3: „Es ist besser, in ein Haus zu gehen, wo man trauert, als in ein Haus, wo man feiert; […] Trauern ist besser als Lachen.“207 Diese 199 200
Ebd., S. 14. Vgl. ebd., S. 15. 201 Vgl. ebd., 4. Stück. Abendgedanken, S. 61–78, hier S. 64. Die Fußnote enthält ein YoungZitat aus den Nachtgedanken. 1. Nacht. Verse 374–381 zum Thema der sicheren Sterblichkeit. 202 Vgl. ebd., S. 65. 203 Vgl. ebd., S. 70. 204 Vgl. ebd., S. 77f. 205 Lavater: Zwey Briefe an Herrn Magister Carl Friedrich Bahrdt (wie Anm. 120), S. 7. 206 Vgl. Bahrdt: 5. Stück. Die Vorzüge des Todes vor dem Tage der Geburt. Bd. 1. In: Ders.: Der Christ in der Einsamkeit (wie Anm. 190), S. 259–310. 207 Vgl. dazu Prediger 7, 2–4. In: Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Stuttgart 1985, S. 653.
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These fügt sich in das religiöse Kultivierungsprogramm der kontemplativen englischen Literatur: richtiges Trauern verbessere die Tugend. „Durch Trauren […] wird das Herz gebessert, darum ist das Herz des Weisen im Klagehause, und das Herz des Narren im Hause der Freuden.“208 Bahrdt bekräftigt diese Erläuterung durch zahlreiche weitere biblische Anleihen (vgl. Phil. 2, 12 „Die göttliche Traurigkeit wirket eine Reue zur Seligkeit, die niemand gereuet“).209 Laurence Sterne, der 1760 ebenfalls zu Prediger 7, 2ff eine Predigt bezüglich des richtigen Maßes an Trauer veröffentlichte, unterstrich im Gegensatz zu Bahrdt die Reflexion des Trauernden, die sich bei einer solchen Gelegenheit biete und betonte, dass nicht gemeint sei, der Mensch solle sein Leben kopfhängend verbringen.210 Bahrdts Deutung fehlt diese selbstbefleißigende Note. Als eine wahre Ausnahme übte Bahrdt Kritik an der sonst so oft gesuchten Einsamkeit, denn der Christ könne seine Freuden auch in der Welt genießen, wenn er nur immerzu an Jesus denke. Er konkretisierte seine Vorstellung von einem richtigen Gebrauch der Einsamkeit: „In der Einsamkeit lehrt und lernet die Seele sich selbst, in dem sie da zu den Füssen der himmlischen Weisheit sitzet, und, von allen fremden Gegenständen entfernt, das selige Vergnügen genießet, das Licht in dem Lichte Gottes zu sehen.“211 In diesem einsamen Selbstgespräch aber bleibt Bahrdts Erzähler demütig und schüchtern.212 Das negative Menschenbild Bahrdts wird durch ein vernichtendes Urteil unterstrichen: Denn unser Herz ist so böse und verderbt, daß wir nicht zu einem einzigen guten Gedanken fähig sind, geschweige, daß wir im Stande seyn sollten, alles das in uns hervorzubringen, was die wahre Ruhe des Gewissens befördern kann. Wie unbiblisch denkt also mein Gegner, wenn er noch hinzusetzt: Seine Zufriedenheit hängt nicht weiter von Dingen auser ihm ab, als er selbst es will.213
Im Gegensatz zu einer solchen generellen Verderbtheit des Menschen verband Young und Crugot ein weitaus positiveres Menschenbild: „Mensch, liebe dich selbst. Hierinn allein sind freyhandelnde Wesen nicht frey.“214 Ein wesentlicher 208
Vgl. Bahrdt: 5. Stück. Die Vorzüge des Todes vor dem Tage der Geburt. Bd. 1. In: Ders.: Der Christ in der Einsamkeit (wie Anm. 190), S. 260. 209 Vgl. ebd., S. 260: „Die Opfer, die Gott gefallen, sind ein geängsteter Geist, ein geängstetes und zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verachten. [Ps. 51, 19] „Schaffet eure Seligkeit mit Furcht und Zittern. [Phil. 2, 12]“ 210 Vgl. Laurence Sterne: The House of Feasting and the House of Mourning Described. In: Ders.: A Sentimental Journey and other Writings. Hg. v. Ian Jack und Tim Parnell. Oxford 2003, S. 183–189, hier S. 189. Ohne Reflexion sei Trauer sinnlos. 211 Bahrdt: Der Abend. 2. Bd. 12. Stück. In: Ders.: Der Christ in der Einsamkeit (wie Anm. 190), S. 173–190, hier S. 178. 212 Ebd., S. 179: „Es ist zwar alles unvollkommen und verwerflich, was heute von mir gedacht, geredet, oder vollbracht worden. Und so genau auch in mein Herz auf deine heiligen Befehle Achtung gab, so sorgfältig ich alle meine Schritte bemerkte, […] so wenig habe ich doch bei dir, o Heiliger! damit verdient und erworben.“ 213 Ebd., S. 185. 214 Young: 7. Nacht. In: Ders.: Klagen, oder, Nachtgedanken (wie Anm. 58), S. 252.
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Grundgedanke dieser Aussage ist die These, dass ein Erhabenheitserlebnis, welches eine unsterbliche Seele erkennen lasse, nur auf dieser Basis zum Zuge kommen könne, während der Mensch nach Bahrdts Ausführungen allein Schrecken und Besänftigung erfahren kann. Edward Young erläuterte seine These diesbezüglich mehrfach: „Je tiefer wir uns in den Menschen hinabsenken, desto deutlicher sehen wir ihm von der Hand des Himmels das Siegel der Unsterblichkeit eingedrückt.“215 Karl Friedrich Bahrdts Version des Christen in der Einsamkeit zeigt, dass sein reaktionärer Schritt zur Unmündigkeit des Menschen das ästhetische und umfassende Kultivierungsprogramm der sanften Melancholie nicht billigte, weil ihm die Voraussetzungen entzogen wurden. Er nannte zwar die biblischen und englischsprachigen Referenzen für einen moralisch kultivierenden Nutzen der Trauer, aber er führte die Individualisierung des religiösen Gefühls nicht weiter. Die Melancholie verlor bei ihm ihre dynamische ästhetische Komponente und wurde wieder zur furchterregenden Drohgebärde einer konventionalisierten Erbauungstechnik. Die sanfte Melancholie als die beliebteste Form subjektiver Offenbarungserlebnisse Mitte des 18. Jahrhunderts beweist sich bei Crugot und Sturm als ein alle Erkenntnisfähigkeiten umfassender und individueller Religionszugang. Ihre Voraussetzungen waren bis zu diesem Zeitpunkt die Psychologisierung und Autonomie des religiösen Menschen, die durch einen Verzicht auf dogmatische Eingriffe in Religionserlebnisse untermauert wurden.
2.3 Ein Kontrapunkt: Die Hässlichkeit der Schönheit in Schubarts Todesgesängen Um eine möglichst differenzierte Schilderung einer Codierung von religiöser Melancholie im 18. Jahrhundert zu bieten, muss auch die weniger erfolgreiche und doch traditionell ins 17. Jahrhundert zurückweisende Facette der furchterregenden Melancholie zur Sprache kommen. Dazu habe ich Christian F.D. Schubarts Todesgesänge von 1767 ausgewählt. Seine Todesgesänge sind keine repräsentativen Sterbelieder, die eine milde und ästhetisch aufgewertete Melancholie religiöser Herkunft bieten. Das Gegenteil ist trotz der späteren Entwicklung des Autors zum sozialkritischen Vertreter der unterdrückten Bevölkerung der Fall. Der in empfindsamer Gesellschaftskultur geschulte, junge und strebsame Schubart verfasst 1767 diese zutiefst bitteren Lieder mit Blick auf ländliche Kirchengemeinden, die sie zu Begräbnissen und als private Erbauung nutzen sollten. Durch sein Beispiel in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird deutlich, dass die empfindsame Variante der religiösen Melancholie einer gebildeten und wohlhabenden Gesellschaft vorbehalten war, während die Mehrheit der Landbevölkerung von den Ver215
Ebd., S. 256.
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fassern der orthodoxen Erbauungsliteratur mit religiöser Schwermut konfrontiert wurde. Statt den Schrecken des Todes durch einen ästhetischen und normativen Perspektivwechsel in eine Schönheit des Todes zu verwandeln, ihn damit zu mildern, präsentieren Schubarts Todesgesänge drastische Schreckensbilder vom mordenden Sterbenden, der dennoch zu ehren statt zu fürchten ist. Weiterhin beispielhaft für diese Aufteilung der Bevölkerung in emotional unterschiedlich mündige Klassen sind die verschiedenen Ausführungen von Betrachtungssärglein im 18. Jahrhundert, die für die Landbevölkerung einen skelettierten Leichnam in einem schlichten Holzsarg zeigen, während die exklusiveren bürgerlichen oder adligen Varianten blasse aber durchaus schöne Frauenleichen in reich verzierten Schmucksärgen aus Metall oder Holz beinhalten.216 Um den markanten Unterschied zwischen ästhetisierter Melancholie und religiöser Schwermut älterer Provenienz zu unterstreichen, zudem aber auch ihre Gleichzeitigkeit noch innerhalb der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu betonen, soll hier der Gegensatz von Schubarts empfindsamen Vorbildern und seiner frühen orthodoxen Literatur beschrieben werden. Dabei werden an diesem Negativbeispiel die von Schubart angenommenen Voraussetzungen einer Verwendung sanfter Melancholie unter ästhetischen Gesichtspunkten besonders deutlich. Schubarts barock anmutende Variante der religiösen Trauer, die den historischen Vorläufern des 17. Jahrhunderts näher steht, ist zum Teil der Praxis seines Predigerberufs geschuldet, den er zur Entstehungszeit ausübte. Sein Anliegen, Todesgesänge für den Gebrauch in der Gemeinde zu verfassen, ist praxisorientiert und auf die gesellschaftliche Schicht der Landbevölkerung zugeschnitten, deren Lebensumstände in den Liedern aufgegriffen werden. Die persönlichen, empfindsamen Züge Schubarts und sein Hang zur literarischen Selbstinszenierung, der in seinen Briefen zutage tritt, finden sich in den Todesgesängen nicht. Das strenge religiöse Kultivierungsprogramm, das sich von dem empfindsamen Programm in einem Mangel an Individualitätsbestreben und massiven Todesängsten unterscheidet, steht scheinbar in einem eklatanten Widerspruch zu Schubarts eigener Person, erklärt sich aber aus der Differenz von unverstandenem Intellektuellen und ‚naiver‘ Landbevölkerung, wie dieser sie zu erleben glaubte. Die Popularität und Verbreitung der Todesgesänge erfuhr der noch relativ unbekannte Autor mit Freude.217 Größtenteils seien sie gut auf-
216
Vgl. Museum für Sepulkralkultur (Hg.): Vergänglichkeit für die Westentasche. Miniatursärge und Betrachtungssärglein. Ausstellungskatalog. Kassel 2005, S. 43 (ein Holzsärglein um 1680 mit anatomischem Lehrmodell einer schwangeren Frau) sowie ebd. S. 27 (ein Holzsärglein mit einer hölzernen, verwesenden Leiche). 217 Vgl. Christian Friedrich Daniel Schubart: Nr. 63 an Christian Gottfried Böckh in Esslingen. Geislingen am 10. Juni 1767. In: Ders.: Briefwechsel. 3 Bde. Hg. v. Bern Breitenbruch. Bd. 1. Konstanz 2006, S. 118–120, hier S. 119f.: „In der Erlanger Zeitung sind meine Schrifften gelobt und gescholten […] Mehrere Kritiken werden Sie schon selbst lesen; aber immer etwas finden, das mir ein Bisschen Genie zuspricht. Lieb sollte es mir seyn, wann Sie meine Todes-
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genommen und auch in Schubarts Gemeinde gelesen worden.218 Neben den von ihm beklagten illegalen Nachdrucken in Reutlingen und der Schweiz wurden die Lieder in Augsburg und Ulm bis 1790 fünfmal „zum Besten des gemeinen Mannes“ aufgelegt.219
2.3.1 Der empfindsame Intellektuelle auf dem Land Während Schubart ein begeisterter Leser Wielands und Klopstocks war, wich seine eigene literarische Produktion stark in Inhalt und Form von seinen Vorbildern ab. In der Liste seiner Lieblingslektüre nannte er schon 1763 Youngs Nachtgedanken sowie Crugots Christ in der Einsamkeit.220 Die derart ästhetisch durch etablierte Bilder und Sprachformeln bekannt gewordene, sanfte Melancholie war ihm daher sicher nicht fremd. Mit Wieland, den er ebenfalls sehr schätzte, hielt er Briefkontakt und sah ihn im Vergleich mit Milton, Klopstock und Young. In ihm glaubte er einen Geistesverwandten zu finden.221 Vor allem die Literatur, die sich der Religion verschrieb und erhabene Empfindungen auslösen wollte, favorisierte er. Zu seiner Lieblingslektüre zählte er neben den beliebtesten deutschen Autoren auch angelsächsische Dichter und Philosophen.222 Er lobte Wieland, Klopstock, Milton und Young als neuere Dichter, die die volle Spannweite der „erhabensten und der Unsterblichkeit würdigsten Gedanken“ ausgeschöpft hätten.223 An ihnen schätzte er, dass sie ihm ihre Empfindungen gesänge, die das Glük oder Unglük gehabt haben, in der Schweiz und in Reutlingen nachgedrukt zu werden, besser bekandt machte.“ 218 Ders.: Leben und Gesinnung. Stuttgart 1839, S. 76: „Diese Genesung, und meine öfteren Dienste auf dem Gottesacker […] ermunterten mich, Todesgesänge zu schreiben. Ich that es mit meiner gewöhnlich leidigen Eilfertigkeit, und gab sie 1767 heraus. Sie wurden größtentheils gut aufgenommen, zum Theil in Liedersammlungen eingerückt, auch von gemeinen Leuten gelesen und mehrmalen aufgelegt.“ 219 Vgl. z.B. ders.: Todesgesänge. Zum Besten des gemeinen Mannes veranstaltete Ausgabe. Augsburg 1778. (2-mal 1767, 1778, 1788 und 1790). 220 Vgl. ders.: Nr. 19. An Christian Böckh in Esslingen. 23. Juli 1763. In: Ders.: Briefwechsel (wie Anm. 217), Bd. 1. S. 29–32. 221 Vgl. David Friedrich Strauß (Hg.): Schubarts Leben in seinen Briefen. 2 Bde. Bd. 1. Berlin 1849, S. 48f.: „Wie im vorigen Zeitraum an Haug, so wagt sich Schubart jetzt, im Suchen nach literarischen Verbindungen, ungleich höher hinauf – an Wieland. Nicht nur Landsmannschaft und Nachbarschaft veranlassten ihn hierzu, sondern auch seiner dichterischen Tendenzen nach fand er sich durch den damaligen Wieland […] angesprochen. [… Er] glaubte in dem Verfasser der Empfindungen des Christen einen Geistes-, nicht blos einen Zunftverwandten zu begrüßen.“ 222 Vgl. Schubart: Schubarts Leben und Gesinnungen (wie Anm. 218), S. 71. „Meine Lieblinge, die ich fast niemals weglegte, waren Klopstok, Bodmer, Ossian, Shakespeare, Geßner, Young, Gerstenberg, Gleim als Grenadier, Utz und Karschin; […] Winkelmann, Mendelssohn, Lessing, Klotz, Herder, Hume, Flögel, Abbt waren meine Prosenmuster und die Kunstrichter, die ich allen andern weit vorzog.“ 223 Vgl. ders.: Nr. 26. An Christoph Martin Wieland in Biberach. Geislingen, den 4. oder 20ten Juni 1764. In: Briefwechsel (wie Anm 217). Bd. 1, S. 40–43, hier S. 41.
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sagten, dass sie einen affektiven wie quasi-persönlichen Zugang zur religiösen Literatur vermittelten. Zwischen Religion und Dichtung sah Schubart daher eine gesetzmäßige Verbindung, in der die Bewegtheit durch Emotionen eine wesentliche Rolle spielte. Mit einer Emotionalisierung in den Todesgesängen eifere er Gellert, Cramer und Klopstock nach.224 Zwar gab Schubart später zu, von diesem Idealzustand in Geißlingen weit entfernt gewesen zu sein, dennoch strebe er ihn an. Er bekannte sich dazu, die Ergriffenheit des Lesers, letztlich auch seine eigene Rührung, literarisch erzeugen zu wollen.225 Sein Ziel sei es, als Autor und Leser eine Erweiterung des religiösen Bewusstseins zu erreichen („In dem Augenblick erweitert sich meine Seele“226). Das Denken trete hinter religiös gebildete Empathie zurück. Die literarischen Mittel, die Schubart jedoch anwandte und auch seine theologischen Hintergründe sind von seinen Vorbildern sehr verschieden. Im Vergleich zu seiner Dichtung ist es daher interessant, dass er in Briefen die zärtlichen Umgangsformen empfindsamer Freundschaften pflegte, die empfindsame Seelenschau aber trotz allgemeiner Mode nicht in seine Werke einfließen ließ. Wieland bat er in einem Brief mit ihm in religiösen Todesvisionen schwärmen zu dürfen. Gemäß der empfindsamen Idee einer Freundschaft empathisch verbundener Personen wollte Schubart mit einer solch religiös-melancholischen Empfindungsbekundung eine Beziehung zu Wieland aufbauen. Getrieben von Verehrung bat er ihn z.B., die räumliche und zeitliche Trennung durch ein gemeinsames Gefühl überwindend, einige Augenblicke in der „süßen Entzückung“ beim Gedanken an den Tod Christi mit ihm verweilen zu dürfen. Wieder ist die auserwählte Emotion, die die sich noch unbekannten Männer verbinden sollte, religiöse Melancholie, hier gemildert zu einer ästhetisch ansprechenden Wehmut. Was ihn mit Wieland verbinde, so Schubart im Brief an selbigen, sei die Fähigkeit zu humanistischer Empathie, die beide als künstlerisch fähige Menschen kennzeichne.227 Obwohl die empfindsame Ästhetik, die diese Empathie begleitet, Schubart sehr vertraut war, weisen sich seine Todesgesänge zum Gebrauch in der Gemeinde durch eine eher barocke Ästhetik aus, die mit der Verwesung des Körpers droht. Klopstock, Milton oder Young, deren Literatur für die Entwicklung eines ‚religiösen
224
Vgl. ders.: Vorrede. In: Todesgesänge. Ulm 1767, o.S.: „Da die Theorie der Kirchengesänge noch von keinem Kunstrichter in ihr gehöriges Licht gesetzt worden; so mag man es einstweilen erlauben, sich nach den besten Mustern zu bilden, die wir in dieser Gattung von Gedichten haben. Die Welt kennt die geistlichen Lieder eines Gellerts, Cramers und Klopstocks, […] Ich habe mich demnach bemüht, zu dem steilen Pfade dieser großen Männer empor zu klimmen, um der Würde der gewählten Materie – wenigstens einigermaßen, zu entsprechen.“ 225 Ders.: Nr. 26. An Christoph Martin Wieland in Biberach. Geislingen, den 4. oder 20ten Juni 1764. In: Briefwechsel (wie Anm. 217). Bd. 1, S. 40–43, hier S. 41. 226 Ebd., S. 41. 227 Vgl. ebd.: „Lassen Sie mich noch einige Augenblicke in dieser süßen Entzückung, und stören Sie mich nicht durch den Vorwurf einer zu weit getriebenen Kühnheit, denn ich bin ein Mensch und Sie sind ein Freund des Menschen.“
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Gefühls‘ und sprachliche Innovation steht, erreichte er aber bei Weitem nicht, wie eine zeitgenössische Rezension in der Allgemeinen deutschen Bibliothek bestätigte.228 Seine Todesgesänge boten abstoßende Grabes- und Todesbilder, scheiterten aber dennoch nicht auf dem Buchmarkt als Erbauungslektüre für den „gemeinen Mann“.
2.3.2 Theorie und religiöse Praxis Aus erkenntnistheoretischer Sicht wusste Schubart, dass die zeitgenössische Philosophie sich um eine Theorie der Empfindungen bemühte. Der aufklärerische Empfindungsdiskurs ging nicht an ihm vorbei, vor allem mit seinen Auswirkungen auf die Deutung und Erfahrung von Offenbarung. Mendelssohns Schriften229 waren ihm ebenso bekannt wie Shaftesburys und Humes Philosophie.230 In dieser Auswahl zeigt sich ein skeptisches Interesse Schubarts, doch seine orthodoxe Ausrichtung in theologischen Fragen überwog dieses 1767 bei Weitem. Zwar war er gezwungen, Theologie zu studieren und der Kirche gegenüber verhielt er sich wenig loyal, doch bis zum Ende seines Lebens verband ihn eine exzentrische Religiosität mit der ungeliebten Institution. Häufig haderte Schubart mit Glaubensfragen und scheute bis zu seiner Inhaftierung auch keine Konflikte mit seinen Arbeitgebern, doch seinem zunehmend rebellischen Auftreten haftete immer ein eigentümlicher Glaube an.231 In seinen Briefen berichtete er seiner Meinung nach von der Rolle der Empfindungen in Religion. Er kannte die theologischen Reformer seiner Zeit, die um eine weniger autoritäre Religionspraxis bemüht waren. Schubart begriff sich jedoch als 228
Vgl. Friedrich Germanus Lüdke: [Artikel] Todesgesänge. In: Friedrich Nicolai (Hg.): Allgemeine deutsche Bibliothek. Bd. 12. 2. St. Berlin und Stettin 1770, S. 214–216. 229 Vgl. Schubart: Nr. 28* An Christian Gottfried Böckh in Esslingen. Geislingen den 3. Juli 1764. In: Ders.: Briefwechsel (wie Anm. 217). Bd. 1, S. 46–50, hier S. 47: „Die Theorie der schönen Künste und der angenehmen und unangenehmen Empfindungen wird von unseren philosophischen Deutschen ungemein cultivirt. Allein man denket schneller und empfindet schneller, als man den modum sensationum erklärt. Der Berliner […] Mendelssohn hat 2 philosophische Abhandlungen herausgegeben, die voll tiefsinniger Untersuchungen sind.“ 230 Vgl. ebd., Nr. 43. An Christian Böckh in Esslingen. Geisslingen den 6. Juni 1766, S. 74–76, hier S. 75: „Einen allgemeinen Begriff davon von dem Geiste unserer Nation abzuziehen; so ist es gewiß iezo Shaftesburische Philosophie, Oekonomie ohne Anwendung und schöne Wissenschaft.“; ebd., Nr. 68. An Christian Ulrich Wagner in Ulm. 14. November 1767. Geislingen, S. 126f., hier S. 127: „Meinen Hume will ich bald erwarten und vor den Ossian leiste – so bald ichs weiß – gute Bezahlung und hiermit Gott befohlen.“ 231 Vgl. ders.: Leben und Gesinnung (wie Anm. 218), S. 81f.: „Ich stieß mich zuerst an der Person Jesu, den ich […] für keinen Gott, sondern für einen Mittler, wie Moses, und für einen frommen Lehrer hielt; doch setzte ich ihn weit über Sokrates […] und alle […] Weise hinaus; – und da mir über diese Sache kein näheres Licht aufging – den wie sollte sich der Geist Gottes in eine so trüben Seele spiegeln; – so glaubte ich vollkommen Recht zu haben, zweifelte weiter, sah nach und nach alle Artikel des Glaubens für verdächtig an, […] und glaubte beinahe, das ganze Glück des Menschen bestehe darinn – frei rasen zu dürfen.“
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Verteidiger der Orthodoxie, denn er konnte sich mit den Thesen der Neologie nicht kritiklos anfreunden. Die Religion müsse wie in Martin Crugots Christ in der Einsamkeit gegen zu viel „neue Mode“ bewahrt und verteidigt werden.232 Er nannte Spalding, Dietrich, Ernesti, Semler und Teller Modetheologen, die nicht imstande seien, einen Menschen auf dem Totenbett zu begleiten.233 Deutlich wird der immer gegenwärtige Aspekt der lebensweltlichen Praktikabilität in Schubarts Denken wie auch der Unterschied zwischen der von ihm rezipierten Theorie und dem erlebten Alltag in der Gemeinde. Schubart unterschied bewusst zwischen einem kognitiven Zugang zur Religion, vermittelt durch Gelehrte, oder einem emotionalen Zugang über Poesie und Kirchenlied. Er selbst hatte als gebildeter Mensch die Wahl zwischen beidem: „Wenn ich denken will, so lese ich obige Theologen; will ich aber empfinden, warm empfinden, was Gott und Religion sei, so ist mir ein herzliches Verslein aus einem alten Kirchenliede tausendmal schäzbarer als der rastlos rollende Schwung eines modernen Rhetors“.234 Da Schubart denkend sowie empfindend Religion erfassen könne, war es ihm nach empfindsamem Ideal möglich, in Sympathie mit einem Freund die Offenbarung als einen Genuss zu erleben.235 Dem Ungebildeten blieb dieser kultivierte, genussreiche Zugang verschlossen. Für seine ländlichen Kirchgänger entwickelte er mit Blick auf das affektive Einfühlen in die Religion eine stark visuelle Lyrik, die sich an älterer Erbauungsliteratur orientiert; statt einem Genuss bot sie Ängste und Schrecken. Die Schilderung von Empfindungen und ihr Auslösen blieben seinem Religionsverständnis nach jedoch ausnahmslos wichtig. Die Todesgesänge mit ihrer Bestimmung als Gemeindelieder am Grab gerieten Schubart im Vergleich zu den bereits genannten Texten von Crugot oder Young finster und autoritär, weil sie dem Individuum wenig Freiheit zur Reflexion und Eigeninitiative lassen. Die assoziativen Gedankenspiele Crugots haben dort keinen Platz. Zweifel werden in Schreckensbildern erstickt. Die Analyse der Lieder zeigt, dass Schubart vor allem Bildung und Besitz zur Voraussetzung einer ästhetisch operierenden Religionslehre machte, die seinen Modell-Lesern gleichermaßen fehlten. Die Freiheit zu einer durch ästhetisch ansprechende Bilder und Formeln 232
Ders.: Nr. 61. An Christian Gottfried Böckh in Esslingen. 14. Mai 1767. In: Briefwechsel (wie Anm. 217). Bd. 1, S. 111–116, hier S. 114: „[A]ch in der Religion! […] Die feine Welt, Bassedow, Teller, Crugott, Dietrich, Spalding und wer kann sie zählen? Ziehen wieder unsere alte Orthodoxie zu Felde, ziehen, wie schlaue Kundschaffter unsere Semmlers und Ernestis auf ihre Seite und steken mit ihrem Geiste alles an […]. Die Vertheidiger der Religion sind polternde Orthodoxen, die an statt, die Religion zu verteidigen, sich mit ihrer elenden epanorthothischen Kanzelspreche bei allen Vernünfftigen zum Gelächter machen.“ 233 Vgl. ebd., Nr. 48. An Christian Gottfried Böckh in Esslingen. Geislingen, denn 22. Juli 1766, S. 85f., hier S. 85. 234 Ebd., S. 85. 235 Ebd., S. 85f.: „Gut denken und gut empfinden, und beedes einem gleichgestimmen Freunde mittheilen können; […] aber ach von dem denkenden Auge eines Freundes zum gestirnten Himmel emporschauen und – Gott sehen und empfinden, nur dieß, guter, empfindsamer Schwager, nur dieß namenlose, entzükende Ding heiße ich – das Leben geniesen.“
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gewährten Religionserfahrung sprach er mit seinen Liedern der Landgemeinde, zu der er sich selbst nicht zählte, ab. Deutlicher als alle Positivbeispiele belegt Schubarts Liedersammlung, dass das Verständnis und die Praxis sanfter Melancholie nur bestimmten Menschengruppen vorbehalten war: den kulturellen Eliten einer zumindest bürgerlichen Gesellschaft. Aus diesem Grund spielte Armut in Schubarts Sterbeliedern eine große, fast zynische Rolle. Sie erleichtere es, auf das Leben zu verzichten. In Der Tod eines Armen236 entwirft er z.B. das Bild eines Bettlers, dessen Armut ihm einen Tod bereitet, der nicht durch die üblichen kulturellen Staffagen begleitet ist, sondern naturnah erscheint („Kein Leichenpomp starrt um ihn her“). Wie auch in anderen Liedern wählt Schubart einen einfachen, mit Hobelspänen ausgelegten Sarg. Keine unehrlichen Tränen („erkaufte Tränen“) werden um ihn vergossen, doch im Sterben werde Freude über den Armen kommen. Das lyrische Ich wünscht das erfrischende Grab herbei, damit es ihn endlich bedecke. Die Welt, so ein unzulänglicher Trost, werde ihn nicht vergessen müssen, da sie es schon vorher getan habe. Die Ungerechtigkeit der Armut bleibt jedoch unverändert und wird nicht vergolten, während allein der Tod sich seiner annehme: „Bald wird euch mitleidsvoll das Grab / Mit warmen Flügeln decken.“
2.3.3 Ein Misanthrop in Geißlingen Als Schubart die Todesgesänge schrieb, lebte er bereits in Geißlingen, wo er einen Lehrauftrag angenommen hatte. Der Niederschrift der Sterbelieder gingen unmittelbar persönliche Schicksalsschläge voraus, da Schubarts Sohn Johann Jakob im Sommer 1766 starb237 und er selbst eine schwere Erkrankung im Sommer und Herbst 1766 erlitt.238 In seinen Briefen klagte er vermehrt über seine Lage.239 Lite-
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Ders.: Der Tod eines Armen. In: Ders.: Todesgesänge (wie Anm. 224), S. 209–212. Vgl. ders.: Nr. 47*. An Christian Gottfried Böckh. Geislingen, den 16. Juli 1766. In: Briefwechsel (wie Anm. 217). Bd. 1, S. 83. 238 Vgl. ebd., Nr. 51. An Christian Gottfried Böckh in Esslingen. Geislingen, am 21. Oktober 1766, S. 91f., hier S. 91: „Ich habe einen Herbst gehabt, an den ich noch lange denken werde. […] sehe alle Freuden vor mir fliehen, gehe an der Krüke und habe keinen Trost als – meine Thränen. […] Jetzt empfinde ich allmählige Erleichterung in meinen Gliedern, habe etwas Appetit zum Essen, und komme nach und nach wieder zu Kräfften.“ 239 Vgl. ebd., Nr. 52. An Balthasar Haug in Ludwigsburg. Geislingen am 25. Oktober 1766, S. 92–96, hier S. 93f. „Meine Krankheit, die mich schon vor die Thore des Todes geführt hat, und die nun schon die vierte Woche, wiewohl mit einem guten Anscheine der Besserung, fortdauert, hat einen solchen Eindruck auf mein Temperament gemacht, dass ich – wie ein Käuzlein in verwüsteten Stätten – nur immer klagen, und Töne der Wehmuth und des Schmerzes in die Mitternacht ausheulen möchte.“
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ratur, die ihm besonderen Trost zugesprochen habe, seien die Nachtgedanken in der Übersetzung Eberts gewesen.240 Die Alltagserfahrungen in Geißlingen waren geprägt von den zahlreichen Anforderungen an einen Lehrer und Aushilfspfarrer. Schubart verstand sich jedoch als junger Intellektueller, den es nach mehr Wissen und höheren Anforderungen drängte. Seine Briefe spiegeln ein Bemühen um die Vereinbarkeit seines Wissensdurstes mit den mühevollen Arbeitsaufgaben: Sonderlich musste ich in Kuchen […] beinahe beständig des […] kranken Pfarrers Stelle vertreten […]. Meine Pflicht erforderte es, auf den Gottesäckern bei Leichen der Kinder und Erwachsenen öfters zu parentiren, welchs mir meist so gut gelang, […] All diese Geschäfte entfremdeten mich doch so wenig von den Wissenschaften, daß ich in meinem Leben nie fleißiger studierte, als in Geißlingen.241
Die Diskrepanz von Bildungsanspruch und Unterforderung markiert die Unterscheidung, die Schubart zwischen sich und der Geißlinger Landbevölkerung machte. Der Versuch einer erfolgreichen Autorschaft stellt seinen Wunsch nach Anerkennung und Befreiung aus dieser ungeliebten Situation dar. Auf dem Land litt Schubart nicht nur unter der Arbeitslast, die ihm aufgebürdet wurde, sondern er fühlte sich unverstanden und erniedrigt. Dies führte zu depressiven Verstimmungen, die er als Melancholie bezeichnete.242 Das Selbstbild, das er dabei in seinen Briefen verbreitete, ist Teil seiner persönlichen Inszenierung als unverstandener Intellektueller. Einen Brief an Christian Böckh unterzeichnete er mit „Timon von Athen“ und gab sich darin als übelgelaunter Misanthrop. Aus dieser Perspektive betrachtet, erscheinen die Todesgesänge wie das Werk eines rachsüchtigen Menschenfeinds. Schubart war es bewusst, dass seine Todesgesänge besonders düster wirkten, doch pflegte er nach Timon von Athen die Eremitenrolle in Geißlingen.243 Er erinnerte daran, dass es die Notwendigkeit für solche Kompo-
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Vgl. ebd., Nr. 53. An Andreas Wolbach in Ulm. Geislingen am 26. Oktober 1766, S. 96f., hier S. 97: „Wissen Sie, worauf ich meine Hoffnung gründe? – In der 7benten Nacht der Youngischen Klagen, nach der großen Ausgabe, die ich mir erst angeschafft habe, S. 159, in der Anmerkung zum 916. Verß, stehen die tröstlichen Worte: ‚Auf eben dies Weise nennt unser Klopstok in einem noch ungedrukten Gesange der Messiade die begrabenen Todten: ‚Saat von Gott gesäet, dem Tage der Garben zu reifen‘.‘ “ 241 Ders.: Schubart’s Leben und Gesinnungen (wie Anm. 218), S. 70. 242 Vgl. ders.: Nr. 38*. An Christian Gottfried Böckh in Esslingen. Geislingen den 26. März 1766. In: Ders.: Briefwechsel (wie Anm. 217). Bd. 1, S. 65–67, hier S. 66: „Jezo, da meine Geschäffte immer drükender, und mein Einkommen immer schlechter wird; […] iezo, wo die Wuth der Pfaffen mich von der Kanzel verdrängt, […] Mein ganzer Karakter verändert sich! […] Liebe zum Leben ein Wunsch des Todes, die Freude der Musen ekler Gram, ieden Scherz wischt die bleierne Hand der Traurigkeit aus der Seele weg, und die Melancholie sinkt diker als egiptische Finsterniß auf meinen Geist herab.“ 243 Vgl. ebd., Nr. 55. An Balthasar Haug in Ludwigsburg. 7. Februar 1767, S. 99f., hier S. 99.: „Ich lebe indessen noch immer, wie ein Eremit. Lese, mache Reflexionen, schreibe zuweilen etwas und lerne die Welt verachten. Meine Todesgesänge werden Sie belehren, wie schwarz colorirt alle Gemählde sind, die ich aufstelle.“
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sitionen gegeben habe, da es an Gebrauchstexten bei Sterbefällen gemangelt habe.244 Schon kurz nach dem erfolgreichen Erscheinen der Todesgesänge beklagte sich Schubart, ein armer, kranker Mensch zu sein, dem sein Freund Christian Böckh den baldigen Tod wünschen solle.245 Die in den Todesgesängen geforderte Weltabkehr fiel ihm schwer. Eine seelische Erkrankung hindere ihn an religiös reiner Empfindung. Die schwarze Melancholie lasse ihn tausendfache Tode sterben, weil er in seiner Einsamkeit immer wieder den Tod fürchte.246 Dieses trübe Selbstbild wird jedoch noch im selben Brief relativiert und als Inszenierung deklariert, indem Schubart gesteht, dass er nur „humorisiere“ und in einem „Nachteulenton“ klage.247 Jenes letzte Beispiel belegt wiederum, dass Schubart den Sprachcode literarisch inszenierter Melancholie für die verschiedensten Zwecke (Freundschaftsbekundung, Selbstmitleid, religiöse Erziehung anderer) beherrschte, ihn aber nicht allen gleichermaßen zubilligte.
2.3.4 Religiöse Kultivierung am Grabesrand Die Sterbelieder der Sammlung unterteilen sich in zwei Kategorien: die Lieder der bereits Bekehrten und die Lieder derer, die noch innerhalb der dargestellten Todesbetrachtung zur Umkehr kommen müssen. In allen Liedern findet sich der Aufruf zur Kontemplation des Todes und der stetigen Wachsamkeit im Leben. Für jedes Lied wählte Schubart unterschiedliche Todesszenarien aus, um es bestimmten Gelegenheiten anpassen zu können. Es ergeben sich so Sterbelieder, die bei kirchlichen Festen, dem Geburtstag, der Hochzeit oder zu Jahreszeiten gesungen werden
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Vgl. ders.: Sämmtliche Gedichte von Christian Daniel Schubart. Neue verbesserte Auflage. 3 Bde. Frankfurt am Main 1829. Bd. 1. Vorbericht zur ersten Ausgabe im Mai 1785, S. III–X, hier S. VIII–IX: „Da meine Todesgesänge von mir in der brausenden Jugend niedergeschrieben wurden, so mußten wohl die frommen Empfindungen, die sanften, himmelahnenden Christusgefühle unter einer Lava poetischer Floskeln nicht selten ersticken. Und doch sind diese Lieder nicht ohne Segen geblieben. […] Ich habe also ihre Verbesserung um so williger übernommen, als es uns noch immer an einem Vorrathe guter, auf gewisse individuelle Umstände gerichteter Sterbelieder fehlt. Wenigstens sollen sie einige Lücken füllen.“ 245 Vgl. ders.: Nr. 70. An Christian Böckh in Esslingen. Geislingen den 22. November 1767. In: Ders.: Briefwechsel (wie Anm. 217). Bd. 1, S. 128–130, hier S. 129f.: „Kurz, ich bin hülflos, und soll auch hülflos sterben. Wann nicht ein Gott die Ursache meines Elends auswurzelt, so bin ich verlohren. Arm, verachtet, verlassen, unbeweint sterben, das ist hart! […] Bedaure mich und wünsche mir den Tod. Ein Wunsch, den dir dein Herz abnöthigen sollte.“ 246 Vgl. ebd. Nr. 81. An Herrn Christian Böckh in Esslingen. 1. und 2. Juni 1768 aus Geislingen, S. 140–142, hier S. 140: „Möchte mir doch Gott den Glauben eines einfältigen Bäuerleins geben, der betet, arbeitet, mit Wenigem zufrieden ist, und mit Gelassenheit die Stunde erwartet, in welcher ihn Gott von seinem Pfluge abfordert. […] Scharfe Blike in die Zukunft vergällen uns das Leben und machen uns zu bebenden Skeleten, die einsiedlerisch in ihrer Clause sitzen und eines tausendfachen Todes sterben, weil sie tausendmal daran gedenken.“ 247 Vgl. ebd., S. 140.
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können. Im Gegensatz zur individuellen Todeslyrik der englischen Tradition nutzte Schubart biblische Figuren, deren Tod zum Exempel genommen wurde (Jakob, Mose, Hiob, Elias, Hiskia etc). Die Besonderheit der Lieder im Vergleich mit der kontemplativen Lyrik der sanften Melancholie besteht darin, dass sich hier ein umgekehrter Perspektivwechsel, eine Ästhetisierung des Hässlichen vollzieht. Während etwa bei Young das Sterben Attribute von Schönheit und Triumph bekommt, wird das Sterben bei Schubart zu einem hässlichen Gewaltakt. Die Emotionen des Rezipienten sollen durch abstoßende Bilder geweckt werden. Die Qualität des erhabenen Sich-seligfühlens fehlt der religiösen und finsteren Melancholie der Todesgesänge. In seiner Vorrede zu den Todesgesängen erwähnt Schubart, dass er sein Publikum nicht mit sanften Worten, sondern mit drastischen Bildern erschüttern will. Die Lehren der Kirche sollen von seinen affektgeladenen Bildern übertönt werden: „Laut sing’ ich, dass die Gräber beben, / Mit dickem Todtenstaub umgeben, / Von Ewigkeit, Tod und Gericht, / Mit unentfärbtem Gesicht. / Mein Lied ertönt in Eure Lehren, / stark, dass es Felsenseelen hören, / Und brausend, wie der Sturmwind droht.“248 Als aufrüttelnde Betrachtungen des Todes geben die Lieder Anlass zur Kontemplation, damit die Sängerinnen und Sänger mit Freude sterben lernen. Ein trauriges Betrachten des Todes lag sehr wohl im Interesse des Autors,249 jedoch nicht eine im Individuum gegründete Erhabenheitsempfindung. In Einklang mit seinen Erfahrungen bei Predigten und Bestattungen entwickelte Schubart ein religiöses Kultivierungsprogramm, das zwischen gesellschaftlichen Klassen trennte und auf einem affektiven Zugang zur Religion beruhte. Die zukünftigen Sängerinnen und Sänger sollten von Rührung und Wehmut bewegt werden. Die größte emotionale Wirkung auf den Menschen habe zu diesem Zweck das Grab: „Und gewiß, keine Kanzel, kein Rednerstuhl […] ist so geschickt, den Zuhörern die höchstwichtigsten Wahrheiten mit Nachdruck ins Herz zu sprechen, als ein Grab. Nie stund ich auf einem Todtenhügel, ohne im Innersten das traurige Loos der Sterblichkeit zu fühlen; und mit solchen Empfindungen gelang es mir meistens, meine Zuhörer zu rühren.“250 Von der Wirkung seiner Texte überzeugt, versuchte Schubart ebenso Empfindungen von Schrecken und Demut auszulösen. Allerdings wählte er dabei Grabes- und Todesbilder, die stark vom kontemplativen, ästhetisierten Ideal der Literatur Mitte des 18. Jahrhunderts abweichen. Das Grab wird zur kühlen Zelle, in der der Verwesungsvorgang fortschreite. Der Tod ist plastisch und mit allen Sinnen wahrnehmbar: „[I]ch sehe die todvolle Wange
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Ders.: Vorrede. In: Todesgesänge (wie Anm. 224), o.S. Vgl. ebd.: „Ich bin zufrieden, wann hier und dar Ein Christ, mit einer Thräne im Auge, zum Himmel hinauffsicht, und den warmen Seufzer heraufseufzt: Herr, lehre mich bedenken, daß ich sterben muß, auf daß ich klug werde.“ 250 Ders.: Leben und Gesinnung (wie Anm. 218), S. 70.
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des Mittlers und höre die ganze Natur gleich einem Sterbenden röcheln.“251 Leiden und Schmerzen werden in den Todesgesängen im Vergleich zu den beispielsweise englischen Todesbildern eines triumphalen Sterbens nicht ausgespart. Die finstere religiöse Melancholie ist auch in dieser erbaulichen Betrachtung die kathartische Phase, die den Menschen auf den bevorstehenden Tod vorbereitet sowie das Stellvertreter-Leiden Gottes nachvollziehen lässt: Welche Wonn’ und Seligkeit / schafft die stille Leidenszeit! / Sie entreißt uns dem Getümmel, / Lüpft den Vorhang von dem Himmel. / Leiden, wie der Mittler leiden / Wollen wir, zu Gott gekehrt, / Sterben wollen wir mit Freuden, / Weil sein Tod uns sterben lehrt.252
Dabei löst diese Form der Melancholie kein Erhabenheitserlebnis aus, das dem Menschen Trost und Genuss spendet. Unsterblichkeit und Gottesebenbildlichkeit werden bei Schubart nicht erwähnt. Stattdessen wird das Sterben in kontrastreichen Bildern zu einem gewaltsamen und hässlichen Akt, der alles irdisch Schöne als eigentlich hässlich bewertet. Das Lied Jairus Tochter etwa wendet sich an junge Frauen, die sich den Tod im Wochenbett vergegenwärtigen sollen.253 Unvermittelt beginnt es mit dem indirekten Appell an die Leserin: „Ich denke heut an meinen Tod!“ und schildert die damit verbundenen, körperlichen Reaktionen: „Wie beben meine Glieder!“. Der gewaltsame Tod werde auch sie darnieder mähen. Das Sterben der Todesgesänge ist von einer Passivität gekennzeichnet, die den Menschen als Opfer und Erdulder zeigt. Der bewegungslose Zustand der Leichen und ihre Hilflosigkeit werden durch verschränkte Füße und Hände angedeutet. Die welkenden Hände können das in sie gesteckte Kreuz nicht mehr halten. Der eigene Körper, hier von außen durch die Tote selbst betrachtet, ist zu einem fremden Körper geworden. Wie das Kind im Bauch der werdenden Mutter geborgen war, so findet sich das lyrische Ich im Grab wieder. Dort aber nagen die Würmer an ihm und nisten in seinen Augen. Das Gefühl der Geborgenheit wird zu Ekel gewendet. Ein unerschöpflicher Zyklus von Leben und Tod liegt diesem Vergleich zugrunde. In einigen besonders ausgefeilten Betrachtungssärglein der Zeit finden sich Miniaturen von Wöchnerinnen, deren nackte Leiber geöffnet werden können, um darin das wachsende Kind freizulegen.254 Dieser anatomische Blick wird von Schubart aber durch einen noch verbreiteteren Anblick der Verwesung ersetzt, der in den handflächengroßen Betrachtungssärglein durch zahlreiches Getier, das durch die verwesende Leiche kriecht, ausgestaltet wurde.255 251
Ders.: Nr. 26. An Christoph Martin Wieland in Biberach Geislingen, den 4. oder 20ten Juni 1764. In: Ders.: Briefwechsel (wie Anm. 217). Bd. 1, S. 40–43, hier S. 40. 252 Ders.: I. Um Salbung des Heiligen Geistes. In: Sämmtliche Gedichte von Christian Daniel Schubart. Bd. 1. Frankfurt am Main 1787, S. 107–111, hier S. 111. 253 Vgl. ders.: Jairus Tochter. In: Ders.: Sämmtliche Gedichte (wie Anm. 244), Bd. 1. S. 219–221. 254 Vgl. Vergänglichkeit für die Westentasche (wie Anm. 216), S. 43. 255 Eine tote Jungfrau und eine Wöchnerin hatten gemein, dass sie beide in weißen Särgen bestattet wurden. Die Wöchnerin wurde allerdings auch als gefährliche Wiedergängerin gefürchtet.
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Auch im Lied Der Tod einer jungen Christinn256 soll sich die Hässlichkeit des irdisch Schönen offenbaren. Eine entstellte Leiche, die im Kontrast zur ehemaligen Schönheit der Frau steht, wird darin geschildert. Der Tod, ein unausweichlicher Verfall der Natur, überführt die körperliche Masse in einen neuen Zustand. Der erbauliche Aspekt dieser rabiaten Verwandlung offenbart sich erst am Ende des Liedes, als eine Metamorphose der Seele zu einem engelsgleichen Wesen abgebildet wird. Die Frau wird zu einer Braut des Mittlers. Statt nach unten ins Grab ist der Blick des lyrischen Ichs nun auf den Himmel gerichtet. Dass die Hässlichkeit des Sterbens bewusst gewählt wurde, zeigt die biblische Paraphrase des Buches Hiob, die Schubart als Lied entwickelte. Hiob, der ein eher abschreckendes Beispiel des Leidens abgibt, ist aus diesem Grund weniger häufig im Umkreis der sanften Melancholie zu finden. Schubart aber schöpft diese Hässlichkeit vollkommen aus. Hiobs Leiden ist so unerträglich, dass er es vor Anderen verbergen will („Mein Körper starrt von Eiterbeulen, / Und Würmer nisten in der Haut.“257). Er versteht sich als Scheusal, das in der Dunkelheit bleiben möchte. Heilung verspricht erst der Tod. In Ein Gebet auf dem Gottesacker258 entwirft Schubart ein Verhältnis von Tod und Mensch, das sich ebenfalls von den Texten der sanften Melancholie unterscheidet. Der Tod regiert in seinem Thronsaal, dem Gottesacker, über den Menschen, doch statt Prunk und Reichtum sieht man Verfall und Hässlichkeit. Weniger assoziativ als in englischen Friedhofsdichtungen, dafür deutlich plakativer, fällt der Blick des lyrischen Ichs auf Einzelteile der Skelette („halbgebrochnen Füße“259). Das Individuum, das die vermittels gemischter Empfindungen angeregte sanfte Melancholie für sein Kultivierungsprogramm benötigt, liegt hier in Ruinen am Boden. Alle Subjektivität und positive Perspektive wird vernichtet. Durch den Mangel an Introspektion erscheint die Wende zur Todesbejahung in Schubarts Liedern psychologisch schlecht motiviert. Und trotz der eingetretenen Todesbejahung bleibt das Todesbild abstoßend. Schubarts ausgewählte Metaphorik kann den Meeresstrudel, mit dem er den Friedhofserdboden vergleicht, nicht glaubhaft zu einem „kummerlosen und schützenden Hain“260 wenden.
2.3.5 Makabre Erbauung: Menschenfresser und Epidemien Der epidemische Charakter des Todesgedankens wird in Schubarts Liedern sehr häufig betont. Die Todesgedanken zu allen Jahreszeiten stehen dabei als Naturge256
Vgl. Schubart: Tod einer jungen Christinn. In: Ders.: Todesgesänge (wie Anm. 224), S. 160– 163. 257 Ebd., Hiobs Klage und Trost, S. 245–250, hier S. 247. 258 Ebd., Ein Gebet auf dem Gottesacker, S. 317–328. 259 Ebd., S. 322. 260 Ebd., S. 328.
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walt in einer engen Verbindung zum biologischen Wandel der Landschaft. Die Vorstellung des Zerfalls weitet sich vom Mikrokosmos Mensch auf die Natur aus, denn, das lyrische Ich erblickt in den Frühlingsboten Zeichen eines göttlichen Befehls zum Sterben, wie die Todesgedanken im Frühling261 verdeutlichen. Die Idylle wird unvermittelt durch Grabgedanken unterbrochen, die wie Schwerter schneidend seien: „Wo die Pracht / des Frühlings lacht / Auf dem Schauplatz von Vergnügen / Sollen Todte liegen?“ Nach dieser rhetorischen Zäsur kippt die idyllische Landschaft zu einem Gräberfeld. In allen so harmlosen natürlichen Schönheiten findet sich plötzlich ein menschenfressender Trieb der Pflanzen, der die Natur entsetzlich werden lässt. Die Menschenfresser-Metapher wird als großes Tabu gewählt, mit dem sich Abscheu und Entsetzen wecken lassen. Besonders bizarr wird sie dadurch, dass sie mit kleinen Blumen und aufblühendem Grün verbunden wird: „Blume hier, / Wer konnte dir / Die Tyrannenfreiheit schenken, / Menschenblut zu trinken?“ Das Grün der Haine lebe von der Nahrung, die die Leichen im Boden ihnen geben: „Sterbe ich, / So werden sich / Auch von meinen todten Resten, / Junge Blumen mästen.“262 Das Leben der Natur bediene sich an der Vitalität der Menschen und das abscheuliche Geheimnis der Schönheit sei es, dass sie sich vom Tod ernähre. Versöhnlich soll der Gedanke stimmen, dass Gott der Initiator dieses merkwürdigen Verhältnisses zwischen Mensch und Natur sei und aus dem Tod des Körpers blühende Landschaft entstünde. Halbtoten gleich ruhten die derart angefressenen Leichen unter der Erde und warteten auf den Jüngsten Tag. In Todesgedanken im Winter liegen die Toten sogar als Bedrohung des Lebens unter der Erde. Wie Seuchengift, so das Lied, ist der Todesgedanke omnipräsent. Dieser Vergleich weckt die zeitgenössischen Assoziationen zu den gefürchteten Gasen, die von Kirchhöfen ausgehen sollten. Die Winterluft sei verpestet. Ansteckung und Krankheit seien aufrüttelnde Anzeichen der epidemischen Verbreitung dieser Beobachtungen: „Rede, Mensch! was ächzt der Boden / Unter deinen Schritten laut? / Etwa, weil es ihm vor Todten, / Vor verschlungnen Leichen graut? / […] Schwelen von der Seuchen Gifte / Auch die dünnen Winterlüfte?“263 Wieder erinnern die verschiedenen materiellen Zustände an die Metamorphose des menschlichen Stoffes, die im Sterben und Tod bis zur Auferstehung durchlaufen werden muss. Im Gegensatz zur ästhetischen Melancholie empfindsamer Ausrichtung, die mit ihrem irdischen Erhabenheitserlebnis die Seligkeit des Menschen schon zu Lebzeiten vorspiegelt, verhilft die Inszenierung der religiösen Melancholie Schubarts zu einer Ausgestaltung des Grab-Daseins, der Phase der Wartezeit zwischen Tod und Auferstehung. In diese Phase bis zum Jüngsten Gericht gehört das angemessene Trauern der Hinterbliebenen. Dieses weist Schubart in einigen Liedern als gemä261 Ebd., Todesgedanken im Frühling. S. 32–39. 262 Ebd., S. 37. 263 Ebd., Todesgedanken im Winter, S. 49–53, hier
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ßigt und endlich aus. In der Klage des Christen um Freunde264 und Der Leichenzug265 deutet Schubart auf eine angemessene Trauer hin. Das Begräbnis als Ort des Trauerns ist ein wichtiger Teil des religiösen Kultivierungsprogramms, das den Umgang mit dem Tod erklärt, indem Begräbnisrituale eingehalten werden sollen. Von diesem Ritual bzw. der richtigen Trauer hänge die spätere Lebenstüchtigkeit respektive Vitalität der Hinterbliebenen ab. Das einzige Beispiel für eine empfindsam aufgewertete Melancholie bietet letztlich das Lied Todesgedanken in einer Winternacht. Die sanfte Melancholie wird im Lied aber bald wieder gebrochen.266 Schönheit und Erhabenheit kommen hier zum ersten Mal zur Melancholie hinzu. Die nächtliche Natur ist wie so häufig der Auslöser erhabener Gedanken und der Spiegel der inneren Bilder. Eine Winternacht, die Einsamkeit vermittelt, lässt die Gedanken leichter werden und die Stimme der Natur vernehmen. Aus der armseligen Behausung schaut das lyrische Ich in den Sternenhimmel hinauf. Der angenehme Anblick hauche „den tugendhaften Schmerz der Grabgedanken“ ins Herz: Du sanfter Mond, wie gießest du / Der hohen Andacht Zunder, Zufriedenheit und Seelenruh, / In meine Brust herunter! / Erhabne Schwermuth spricht / Dein blasses Angesicht / Aus Wolken, wie aus einem Flor, / Der Unschuld Angesicht, hervor.267
Das lyrische Ich wird von diesem Erhabenheitseindruck zum eigenen Tod geführt. Damit verbunden fürchtet es allerdings den Verzicht solcher erhabener Empfindungen und stürzt unvermittelt in tiefe Melancholie. Der „Grabgedanke“268 stürzt den zuvor ruhenden Körper in Tumult und lässt diesen letzten möglichen Verlust der eigenen erhabenen Empfindungen zum Dilemma werden. Die Schönheit der Natur wird mit dem Anblick des Mondes als Totenschädel aufgehoben. Erst im Gebet kann das lyrische Ich wieder Ruhe finden.269 In diesem letzten Beispiel präsentiert sich der schmale Grad zwischen ästhetisch positiv gewendeter Trauer in religiöser Melancholie und ihrer älteren, dogmatisch vermittelten Schwester in finsterer Melancholie. Schubart entschied für seine Leserschaft, dass sie besser für die letzte Version geeignet sei, weil er ihnen die Fähigkeiten zur erhabenen Empfindung und damit die Möglichkeit zur Erbauung daraus absprach.
264 Ebd., Klage des Christen um Freunde, S. 281–291. 265 Ebd., Der Leichenzug, S. 313–316. 266 Vgl. ebd., Todesgedanken in einer Winternacht, S. 54–59. 267 Ebd., S. 55. 268 Vgl. ebd., S. 56. 269 Vgl. ebd., S. 59
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3 Sympathetische Melancholie im schottischen Kunstepos und ihre deutsche Rezeption 3.1 The Poems of Ossian. Die Ästhetisierung eines religiösen Kultivierungsprogramms zugunsten sympathetischer Melancholie „There is something wonderfully tender and of a milder melancholy in the recollections of old men when looking, […] on the scenes of their younger days. […] Ossian expresses the feeling simply tho’ boldly in two Gaelic words, the joy of grief, which McPherson has softened down to the construction of a sentiment: ‚the memory of joys that are past, pleasant and mournful to the soul‘.“1 Henry Mackenzie, der Autor des Man of Feeling (1771), beschreibt hier in seinen Worten die Entwicklung der sanften Melancholie, wie sie durch James Macpherson beeinflusst wurde. Das ehemals komplexe und erzieherische Kultivierungsprogramm der religiösen Melancholie wurde durch ihn zu einem sprichwörtlichen Gefühlsmotiv geformt. In der Rezeption durch Mackenzie oder durch deutsche Autoren wie Herder und Stolberg wurde dieser Ästhetisierungsprozess, der im Ossian bereits angelegt ist, später weiter verfolgt. Die Formel steht damit für einen „Selbstgenuss, der sich stark von ethischen Implikationen emanzipiert hat.“2 In diesem Kapitel soll erörtert werden, in welcher Weise die sanfte Melancholie diesen Ästhetisierungs- bzw. Säkularisierungsprozess durchlief und was genau mit der Formulierung „joy of grief“ über die ossianische Figurenwelt ausgedrückt werden sollte. Die ossianische Epik findet man nicht nur zwischen schottischer Nationaldichtung und dem Kunstepos des 18. Jahrhunderts angesiedelt, sondern auch an einer wichtigen rezeptionsgeschichtlichen Schlüsselstelle zwischen der britischen religiös-elegischen Dichtung, dem Schwärmertum des deutschen Sturm und Drang und den Sehnsuchtsneigungen der Romantik. Ihre Bedeutung für deutsche Autoren wie Herder, Goethe und Klopstock im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ist hoch einzuschätzen. Die in jener Epik wiederzufindende sanfte Melancholie entwickelt sich in der empfindsamen Ästhetik nach 1760 von einem religiösen Instrument der Erziehung zu einem ebenso gezielt verwendeten Gefühlsphänomen, das durch den Einfluss von Kunst Moral und Tugenden ausbilden könne. Die ossianischen Helden stellen unmittelbar die Ideale der keltischen Gesellschaft dar, mittelbar weist sie ihre sanfte Melancholie als tugendhaft aus. Zugleich sind durch diese Generationen von Kelten miteinander sympathetisch3 verbunden. Die Ossian-Epen sind 1 2
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Henry Mackenzie: The Anecdotes and Egotism of Henry Mackenzie 1745−1831. With an introduction by Harold William Thompson. Oxford 1827, S. 246. Wolf Gerhard Schmidt: „Homer des Nordens“ und „Mutter der Romantik“. James Macphersons Ossian und seine Rezeption in der deutschsprachigen Literatur. 4 Bde. Bd. 1. Berlin 2003, S. 349. Vgl. ebd., Bd. 2, S. 651. Die sympathetische Rezeption fordere den emotionalen Nachvollzug des Dargestellten.
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auf diesem Weg ein wichtiger englischsprachiger Transformator des religiösen Kultivierungsprogramms zu einem sich in der Säkularisierung befindenden, hier besonders politisch motivierten Kultivierungsprogramm. The Poems of Ossian sind die Bearbeitung keltischer Stoffe durch James Macpherson (1736−1796) unter Einbeziehung vieler bekannter literarischer Werke zu einem Nationalepos der Schotten, das der zeitgenössischen Kultur- und Geschichtserwartungen an schottische Historie entsprach. Ihr Autor hatte es im Auftrag eines Edinburgher Gelehrtenkreises verfasst, um den von den Engländern diskriminierten Schotten ein Nationalepos zu schenken, das den ästhetischen und moralphilosophischen Erwartungen der Zeitgenossen entgegenkam. Daher stellen sich die keltischen Krieger als eine empfindsame, stetig in Wehmut und von Sehnsüchten klagende Gesellschaft dar, die kunstvolle Trauer zum wesentlichen Teil ihrer kulturellen Identität macht. Die angenehme Melancholie wurde durch Ossian zu einem vermeintlichen Kulturideal der heidnischen Kelten stilisiert und galt als ein Beleg ihrer genialischen, aber vom Vergessen bedrohten Dichtung. Die zuletzt 1745 in blutigen Kämpfen ausgefochtene Auseinandersetzung zwischen Schotten und Engländern verlagerte sich mit der Veröffentlichung und Debatte um Ossian ins Literarische. In einer Fußnote seiner Dissertation der ossianischen Gesänge betont z.B. Hugh Blair die Schlüsselrolle der keltischen Barden in den vergangenen Kriegen mit England. Schon König Edward I. habe die walisischen Barden, die derselben Tradition wie die Iren und Schotten entstammten, aufgrund ihres Einflusses in der Bevölkerung töten lassen.4 Das Epos sollte an den Reichtum der keltischen Kultur erinnern und an die Gemeinsamkeiten, die Schotten, Iren und Waliser teilen. Es schuf eine Verbindung der keltischen Kulturkreise, die durch die Lieder Ossians an eine zu Unrecht unterdrückte kulturelle Kraft erinnert wurden. Der große Erfolg des Werkes beim Publikum innerhalb Europas erklärt sich daraus, dass miteinander korrespondierende zeitgenössische Ansprüche aus Ästhetik, Moral und Geschichtsempfinden im Ossian befriedigt werden – wie beispielsweise Edmund Burkes Ideen von einer ästhetischen Lust am Leiden oder die moraltheoretisch sich verfestigende Annahme, der empfindsame Mensch sei moralisch gut und perfektioniere sich in sozialen und musischen Aufgaben. Ein besonderes Charakteristikum des Werkes ist Macphersons Verzicht auf eine göttliche Instanz, der man etwa mit melancholischen Gefühlen huldigen könnte. Auf die keltische Götterwelt, die zur vermeintlichen Entstehungszeit (im 3. Jh. n. Chr.) eine große Rolle gespielt haben muss, verzichtete Macpherson bewusst und ließ die Krieger nach deren Tod unter wehmütigem Gesang in eine Nachwelt aus Sagen eingehen. Statt Götter preisen die elegischen Lieder das heroische Kriegertum und damit die untergehende Dynastie. Die sanfte Melancholie ehrte in der 4
Vgl. Hugh Blair: A Critical Dissertation on the Poems of Ossian, the Son of Fingal. London 1763, Fußnote S. 15.
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Rezeption des Textes die verloren gegangene, ‚natürliche‘ Kultur und nicht eine metaphysische Idee. Das pathetische Heldentum ist aber auch hier wie im christlichen Sinne mit der Fähigkeit zum versöhnten Sterben verbunden. Erst die melancholischen Gesänge, die Ossian seinen Ahnen nachsendet, lassen diese in Frieden in das Totenreich einziehen. Der blinde Barde Ossian bot dem Publikum des 18. Jahrhunderts ein Schwelgen in der beliebten sanften Melancholie, einen vorwiegend ästhetischen Genuss von Wehmut, der nur mittelbar ohne kultivierenden Auftrag erscheint. Die Tendenz zur Säkularisierung, der a-historische Verzicht auf ein göttliches Prinzip, wurde von einer formalen Weiterverwendung des ehemals religiösen Kultivierungskonzepts unter ästhetisch empfindsamen Vorzeichen begleitet. Die kontemplative, empathische Lektüretechnik der religiösen Literatur, den deutschen Lesern nicht nur durch Edward Young, sondern auch Klopstock und Ebert bekannt, wurde seiner Form nach auf die Lektüre Ossians übertragen. Mit der Einladung zum kontemplativen Nachvollzug des Todes in sanfter Melancholie wurde Ossian als ein affektorientierter Text gelesen, der vermeintlich ursprüngliche Erhabenheitserlebnisse hervorbringen könne und in dem die sagenhafte Vergangenheit eine transzendente Dimension ersetzt hatte. Mit der kontemplativen englischen Literatur teilte Ossian auch die Gefühlsschau der Figuren, die Form der pathetischen Klage, Todesvisionen, biblischen Sprachduktus und das Ideal der gemäßigten Trauer. Selbst die beliebten Bilder der religiösen Imaginationstechniken wie moosbedeckte Grabsteine, nächtliche Landschaften und Nebel finden sich hier wieder. Die Empfindung von sanfter Melancholie, die alle Figuren einschließlich Ossian gemeinsam haben, ist die überzeitliche, emotionale Verbindung der Helden Ossians in deren Gesängen. Die keltische Welt wird durch die erinnernde Sagentradition innerhalb des Werkes zu einer sich selbst neu erfindenden Kulturgesellschaft. Parallel spiegelte sich diese Kulturgesellschaft der originär Empfindsamen in den Lesern wieder, die das überzeitliche Element der perfektionierenden Melancholie in ihr Leben zu übersetzen versuchten. Da das Schreiben und Erscheinen Ossians durch Macpherson im Kontext schottisch-englischer Auseinandersetzungen um kulturelle und politische Überlegenheit stand, implizierte die im Werk übernommene Kultivierungsstrategie durch sanfte Melancholie nicht nur die Tugendbildung anhand von Affektregulierung, sondern auch die Stiftung einer nationalen Identität auf Grundlage der als überlegen geltenden, gemäßigten Melancholie. Zum moralischen Kultivierungsauftrag trat ein politischer hinzu, der im Epos nicht explizit gemacht werden konnte und am stärksten durch die begleitenden Texte Hugh Blairs und die anschließende öffentliche Debatte erkennbar wurde. Der beobachtbare Säkularisierungsprozess vollzieht sich im Ossian formal als ein produktiver Anklang an religiöse Evokationen sanfter Melancholie, die aber normativ keinem übersinnlichen Erweckungserlebnis folgen, sondern im betroffenen Individuum verharren und dort affektregulierende Wirkung haben, eine identi162
tätsstiftende Kraft der Erinnerung wecken. In diesem Sinne sind die Gedichte Ossians keine vollkommen säkularen Texte, da sie erst im intertextuellen Kontrast zur religiösen Lyrik ihr volles Potential entwickeln. Die soziale Nähe, die Ossians Krieger während der Evokationen sanfter Melancholie herstellen können, ersetzt jedoch inhaltlich die religiöse Gemeinschaft. Innerhalb des Werkes entdeckte Wolf Gerhard Schmidt eine beachtenswerte Entwicklung im Verständnis der „joy of grief“. Bei Fingal sei sie noch „soziales Stimulans“. Bis zu Ossian habe sie einen „poetischen Autonomierungsprozess“ durchlaufen und dies vor Macphersons „Ästhetik der Ambivalenz“ getan.5 Die Gemeinschaft, die die Hofgesellschaft um Fingal im Zeichen der Melancholie feierte, ist für Ossian nur noch durch eine Selbstaffektion rekonstruierbar. Die Transformation der sanften Melancholie innerhalb des 18. Jahrhunderts vom pädagogischen Mittel zum ästhetischen Erlebnis erklärt Schmidt auch auf diese Wandlung der sympathetischen Melancholie Ossians übertragbar: [W]ie das zunächst wirkungsästhetisch definierte Phänomen des Erhabenen im Verlauf seiner Rezeptionsgeschichte moralische Implikationen gewinnt, so besitzt auch die gesellschaftlich bestimmte joy of grief bereits bei Macpherson eine poetische Stoßrichtung. Dies geschieht […] durch Transgression des ethischen Diskurses. Ist der Akt des Erinnerns bei Fingal vorwiegend Mittel zum sozialen Zweck, so oszillieren Ossians Vergangenheitsevokationen zwischen ethischer Teleologie und ästhetischer Autonomie.6
Weil Ossian als letzter Barde allein zurückbleibt und keine Gesellschaft mehr mit seinen melancholischen Gesängen zu Tugend und Moral anhalten kann, hat die sanfte Melancholie für ihn vielmehr den Charakter der Erinnerungsbekräftigung und geschichtlichen Aufrechterhaltung der Vergangenheit. Unter diese verklärte Form der Erinnerung fällt zunehmend auch die Erinnerung an die kollektiv genossene sanfte Melancholie, die in der Retroperspektive stets mehr ästhetisiert wird. Sie verliert den Vorrang als moralisches Lehrmittel und entwickelt sich innerhalb Ossians zum Ausdruck sehnsuchtsvollen Verlustes, der eine politische Funktion, die Einigung keltischer Kultur unter einem Emotionsphänomen, bedienen soll. Die miteinander genossene Melancholie der ossianischen Gesänge formte die Zuhörer an Fingals Hof zu einer Gemeinschaft. Thomas Anz wies auf diese Wirkung genossener literarischer Trauer als gemeinschaftsstiftende Kraft bereits hin, führte sie aber zunächst auf einzelne Paare zurück, nicht – wie in diesem Fall beabsichtigt – auf ganze Stämme und Kulturkreise.7 Im Folgenden soll es um die dem Werk eigenen Strukturen gehen und um ihre intertextuellen Verweise auf vorausgegangene Quellen eines an Prominenz gewinnenden archaischen Kunstempfindens und Lebensgefühls. Zuvor werden zum bes-
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Schmidt: „Homer des Nordens“ und „Mutter der Romantik“ (wie Anm. 2). Bd. 1, S. 127f. Ebd., S. 128. Vgl. Thomas Anz: Freuden aus Leiden. Aspekte der Lust an literarischer Trauer. In: Wolfram Maurer u. Joachim Pfeiffer (Hg.): Trauer. Würzburg 2003, S. 71–82, hier S. 77.
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seren Verständnis einige Informationen über seine Entstehung und deutschsprachige Verbreitung vorausgeschickt, die erkennen lassen, dass die Produktionsund Rezeptionsbedingungen einen gewaltigen Anteil am damaligen wie heutigen Öffentlichkeitsbild bzw. Textverständnis des Werkes haben.
3.1.1 Die Veröffentlichungen Ossians in Großbritannien und Deutschland Einen vollständigen Überblick über die ersten Teil- und Gesamtveröffentlichungen des Werkes in Großbritannien und im deutschsprachigen Raum zu geben, ist an dieser Stelle weder möglich noch notwendig.8 Allerdings ist das Wissen von der Veröffentlichung Ossians durch Macpherson, der Kommentierung durch den Edinburgher Professor für Rhetorik, Hugh Blair, sowie die deutschen Bemühungen um solche Begleittexte von Bedeutung, um das Auftreten der ossianischen Epik insgesamt beurteilen zu können. Für eine Analyse liefern sie wichtige Informationen zur Konzeption des Gesamtkunstwerkes. Einige Hinweise für die Verbreitung des Textes in den betreffenden Regionen seien für einen Einstieg in die ausführliche Diskussion allerdings an dieser Stelle gegeben. James Macpherson begann die Reihe seiner Ossian-Veröffentlichungen mit zwei Fragmenten, die 1760 im Gentleman’s Magazine erschienen.9 Zunächst habe man ihn nach eigener Aussage dazu drängen müssen, seine Kenntnis der keltischen Stoffe und der gälischen Sprache für die Bereitstellung der Fragmente zu verwenden, dann aber habe der überraschende britische Publikumserfolg den Liebhabern der derart neu entdeckten keltischen Dichtungstradition Recht gegeben. Ihnen folgte die Fragmente-Sammlung der ossianischen Gedichte als Buchausgabe im gleichen Jahr in Edinburgh.10 In Deutschland erschienen die ersten Fragmente in englischer Sprache relativ unbeachtet im Bremischen Magazin des Jahres 1762.11 Die erste deutsche Gesamtausgabe der Fragmente in Prosa durch Johann Andreas Engelbrecht im Jahr 1764 brachte keinen nennenswerten Erfolg.12 Die beiden 8 9
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Vgl. Schmidt: Der Beginn der deutschen „Ossianomanie“. In: Ders.: „Homer des Nordens“ und „Mutter der Romantik“ (wie Anm. 2). Bd. 1, S. 487–501. Vgl. Two Fragments of Antient Poetry collected in the Highlands of Scotland, and translated from Gallic or Erse Language. In: The Gentleman’s Magazine, and Historical Chronicle 30 (1760), S. 287f. Vgl. James Macpherson: Fragments of Ancient Poetry, Collected in the Highlands of Scotland, and Translated from Galic or Erse Language. Edinburgh 1760. Vgl. ders.: Zwey Fragmente der alten Dichtkunst von den Hochländern in Schottland, aus der alten Gallischen oder Ersischen Sprache übersetzet. In: Bremisches Magazin zur Ausbreitung der Wissenschaften, Künste und Tugend, Von einigen Liebhabern derselben mehrentheils aus den englischen Monatsschriften gesammlet und herausgegeben. Bd. 5. St. 2. Bremen, Leipzig 1762, S. 448–452. Vgl. ders.: Fragmente der alten Hochschottländischen Dichtkunst, nebst einigen andern Gedichten Oßians, eines Schottischen Barden; aus dem Englischen übersetzt. Hamburg 1764.
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umfangreicheren epischen Stücke Fingal und Temora erschienen zunächst getrennt voneinander in Großbritannien und enthielten Teile der bereits veröffentlichten Fragmente.13 Erich Raspe, Professor der Altertümer in Kassel, veröffentlichte einen deutschsprachigen Auszug aus Fingal im Hannoverischen Magazin im Jahr 1763, bevor Albrecht Wittenberg 1764 eine Gesamtübersetzung Fingals wagte.14 Diese erschien in Prosa und enthielt neben der Vorrede des Übersetzers auch Macphersons Vorwort und die erste deutsche Ausgabe der Blairschen Dissertation. Die erste englische Gesamtausgabe der ossianischen Gesänge wurde von Macpherson 1765 veröffentlicht und von Hugh Blairs Dissertation (1763–1765) kommentierend begleitet.15 Raspe, Wittenberg und Albrecht von Haller war die Dissertation Blairs, die die Authentizität, Bedeutung und Ästhetik des Textgebildes diskutiert, bereits bekannt, bevor Felix Weiße ihre Lektüre beim deutschen Publikum durch eine der wichtigsten zeitgenössischen Ossian-Rezensionen förderte.16 Immer wieder spielten die von Blair vorgebrachten Argumente zur Authentizität und Qualität des Ossian in der deutschen Rezeption eine gewichtige Rolle. Offenbar hingen die Schönheit und der Wert des Kunstwerkes unmittelbar mit seiner Authentizität als Nationalepos zusammen. Der Österreicher Michael Denis lieferte in den Jahren 1768/69 die deutsche Übersetzung der englischen Komplettausgabe von 1765 und trug somit wesentlich zu ihrer Verbreitung bei. Er ist sicher neben Goethe und Herder einer der wichtigsten deutschsprachigen Ossian-Übersetzer.17 Weitere deutschsprachige Künstler wie etwa Bürger und Lenz sollten Teilübersetzungen des Ossian anfertigen oder Bearbeitungen des Stoffs erstellen. Denis war der Übersetzer, der dem Stichwort „joy of grief“ das deutschsprachige Pendant, „Wonne der Wehmut“, zur Seite stellte.18
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Vgl. Fingal, an Ancient Epic Poem, in Six Books: Together With Several other Poems, Composed by Ossian the Son of Fingal. Translated from the Galic Language by James Macpherson. London 1762; Temora, an Ancient Epic Poem, in Eight Books: Together With Several Other Poems, Composed by Ossian, the Son of Fingal. Translated from the Galic Language by James Macpherson. London 1763. Vgl. Erich Raspe: Nachricht von den Gedichten des Oßsian, eines alten schottischen Barden, nebst einigen Anmerkungen über das Althertum derselben. In: Hannoverisches Magazin. 92. St. Hannover 1763, S. 1457–1470; James Macpherson: Fingal, ein Helden-Gedicht, in sechs Büchern, von Ossian, einem alten schottischen Barden. Nebst verschiedenen andern Gedichten von eben demselben. Prosaübersetzung von Albrecht Wittenberg. Hamburg, Leipzig 1764. Vgl. The Works of Ossian, the Son of Fingal. In two volumes. Translated from the Galic language by James Macpherson. The third edition. To which is subjoined a critical dissertation on the poems of Ossian. By Hugh Blair. London 1765. Felix Weiße: [Rezension] The Works of Ossian. In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste. Bd. 2. St. 2. Leipzig 1766, S. 245–261 und Bd. 3. St. 1, S. 13–38. Vgl. Die Gedichte Ossians eines alten celtischen Dichters. Aus dem Englischen übersetzt von Michael Denis. Wien 1768. Vgl. ebd., Carricthura, S. 79: „Die Wonne der Wehmut ist mir behaglich, und gleich dem sänfteren Regen im Lenze, welcher die Zweige der Eichen erweichet.“
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James Macpherson überarbeitete die Dichtung und veröffentlichte 1773 eine weitere Ausgabe mit The Poems of Ossian.19 Um eine Einheit des Werkes herzustellen, habe Macpherson laut Larry Stewart diese Ausgabe am Auftreten des Leitmotivs „joy of grief“ ausgerichtet: „The new structure, by placing the poems to ‚form a kind of regular history of the age to which they relate‘ […], supplies a framework in which the poetry as a whole becomes in one sense, a single tale providing the joy of grief.“20 Damit werde das Werk zu einer finalen, literarischen Klage über das, was verloren und für immer vorbei zu sein scheine, „a last attempt to find joy in reliving and retelling the events of the past.“21 Tatsächlich bildet die „joy of grief“ ein zentrales Moment in der Verknüpfung der einzelnen Sagen- und Dichtungsfragmente. In Deutschland versuchten Goethe und Merck, den noch immer schwer zugänglichen Ossian populärer zu machen. Ihre englische Ausgabe erlebte drei Auflagen und erschien zwischen 1773 und 1777.22 Vor allem im 18. Jahrhundert bildete sie die Grundlage der englischen Ossian-Lektüre im deutschsprachigen Raum neben einem englischsprachigen Lesebuch für Anfänger, das zwischen 1784 und 1794 erschien.23 Mit dem Erfolg des Werther (1774) erweiterte sich der Bekanntheitsgrad Ossians nochmals. Zwei zusätzliche Gesamtübersetzungen von Edmond de Harold (1775) und Johann Willhelm Petersen (1782) folgten, in denen beide „joy of grief“ durchgängig als „Wonne der Wehmut“ übersetzten.24 Die britische Veröffentlichung der Texte wurde von einem in der Presse ausgefochtenen Literaturstreit begleitet, an dem der bekannte englische Autor und Literaturkritiker Samuel Johnson beteiligt war, was dazu führte, dass man der Echtheit der Dichtung mit einer eigens eingerichteten Highland-Kommission nachging oder, wie Johnson 1773, persönlich die Highlands durchstreifte auf der Suche nach Belegen für Macphersons Quellen. Der Ruf schottischer Kultur und Wissenschaft, angefochten durch die scharfe Kritik Johnsons, stand auf dem Spiel. Die Suche nach Macphersons Überlieferungen wurde erst 1805 im vermeintlich unpartei-
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Vgl. The Poems of Ossian. Translated by James Macpherson. 2 Bde. A New Edition, Carefully Corrected, and Greatly Improved. London 1773. Larry L. Stewart: Ossian, Burke, and the ‚Joy of Grief‘. In: English Language Notes XV (1977), S. 29–32, hier S. 31. Ebd., S. 31. Vgl. Works of Ossian. Hg. v. Johann Heinrich Merck und Johann Wolfgang Goethe. 4 Bde. Bd. 1. Darmstadt 1773. Bd. 2. Ebd. 1774. Bd. 3. Frankfurt, Leipzig 1777. Bd. 4. Ebd. 1777 (1777 erscheinen nochmals alle vier Teile in zwei Bänden). Vgl. Johann Balbach (Hg.): The Tales of Ossian for Use and Entertainment. Ein Lesebuch für Anfänger im Englischen. Mit beigefügten historischen und lokalen Erläuterungen, nebst angehängten Phraseologien, und einigen grammatischen Anmerkungen. Nürnberg 1784. Vgl. Die Gedichte Ossian’s eines alten celtischen Helden und Barden. Übersetzung von Edmond de Harold. 3 Bde. Düsseldorf 1775; Die Gedichte Ossians neuverteutschet. Prosaübersetzung von Johann Wilhelm Petersen. Tübingen 1782.
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ischen Highland Report25 durch Henry Mackenzie26 veröffentlicht. Kritiker Ossians und Macphersons Kreis kamen darin zu Wort, doch die eindeutige Aufklärung einer Herkunft eindeutiger Quellen blieb aus.
3.1.2 Macphersons Adaption keltischer Stoffe anhand empfindsamer Ideale Jede Interpretation des Ossian muss sich mit dem eigentümlichen Charakter des Kunstwerks auseinandersetzen, um zu klären, welcher Art von Text man gegenübersteht, nicht nur weil das Werk zuerst fragmentarisch und dann mehrfach überarbeitet in zwei Epen – sowie durch eine Dissertation kommentiert – erschien. Gerade aufgrund der neueren Forschungsbestrebungen, den Ossian als eine freie Übersetzung zu begreifen, ist diese Einordnung der Textgestalt angebracht.27 Ossian, der am Hof des Königs Fingal lebte, besingt rückblickend die Kriegszüge und gewaltsamen Auseinandersetzungen seiner Vergangenheit. In einzelnen Liedern und epischen Gedichten erinnert sich die Hofgesellschaft um Fingal und später der zurückbleibende Ossian allein der heldenhaften Taten seiner Ahnen. Ihr Sterben und der Untergang der besungenen Gesellschaft wird mit Wehmut betrachtet. Ein ästhetischer Genuss von Melancholie durch diese Liedvorträge stellt eine wichtige Gemeinschaftserfahrung an Fingals Hof dar. Für den zurückbleibenden Barden wird sie zu einem identifkatorischen Erinnerungsmechanismus. In Großbritannien war Macpherson schon zu Lebzeiten wiederholt unter Druck geraten, die Echtheit seiner Übersetzungen zu beweisen. Die Zweifel an seiner Arbeit konnte Macpherson nie aus dem Weg räumen. Heute weiß man, dass er regelrecht beauftragt wurde, ein solches Epos zu beschaffen.28 Inwiefern also der Vorwurf des Betrugs an ihn (allein) gerichtet werden müsste, ist zweifelhaft. Macpherson äußerte sich in der letzten von ihm bearbeiteten Ausgabe 1773 zu seinem persönlichen Übersetzungsverständnis, indem er den Betrugsvorwürfen entgegenkam und eine sehr freie Übersetzung einräumte, die aber dem wahren Kunstwerk nicht schaden könne:
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Vgl. Henry Mackenzie: Report of the Commitee of the Highland Society of Scotland. Appointed to Inquire into the Nature and Authenticity of the Poems of Ossian. Hg. v. Royal Highland and Agricultural Society. Edinburgh 1805. Vgl. Susan Manning: Henry Mackenzie’s Report on Ossian. Cultural Authority in Transition. In: Modern Language Quaterly 68 (2007), S. 517–539. Vgl. dazu Ehrhard Bahr: Unerschlossene Intertextualität: Macphersons ‚Ossian‘ und Goethes ‚Werther‘. In: Goethe Jahrbuch 124 (2007), S. 178–188. Vgl. Susan Manning: Henry Mackenzie’s Report on Ossian (wie Anm. 26), S. 519. Die ästhetischen und rhetorischen Debatten zwischen Autoren wie Adam Smith, David Hume, Hugh Blair, John Home und Adam Ferguson haben das geistige Umfeld gebildet, in dem Macpherson den Ossian geschrieben habe. Sie waren „some of the instigators [Anstifter, Übers. K.B.] and supporters of Macpherson’s project“.
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Genuine poetry, like gold, loses little, when properly transfused; but when a composition cannot bear the test of a literal version, it is a counterfeit which ought not to pass current. The operation must, however, be performed with skilful hands. A translator, who cannot equal his original, is incapable of expressing its beauties.29
Es wird offensichtlich, dass sich James Macpherson zunehmend als der Mann verstand, der die wertvolle Dichtungstradition seiner Heimat bewahrte und zugänglich für eine neue Generation von Menschen machen konnte, die längst kein Gälisch mehr verstand – wie übrigens viele, die der ‚Echtheit‘ der Dichtung auf der Spur waren. Insofern fand er in der Figur des Ossian eine Art Alter Ego: Beide zählten zu den wenigen Verbliebenen, die die traditionellen Stoffe ihres Volkes noch erzählen konnten. Howard Gaskill, moderner Herausgeber Ossians, betont Macphersons Umgang mit Quellen als trickreiche und gekonnte Selektion zwischen historischen Quellen und Fiktion: In his use of his authentic sources he is of course selective, ruthlessly pruning anything suggestive of humour, ribaldry, superstition, anachronism, or indeed Irish origin. He exploits a large gap in Scottish prehistory, to conjure up, Tolkien-like, a fantasy third-century Gaelic world with its own customs, traditions, and genealogies. And in order to underline the significance of his text as both a literary and historical document, he supplies it with an extensive editorial apparatus of learned dissertations and scholarly footnotes.30
Für meine Ausführungen möchte ich Ossian als eine Komposition Macphersons verstehen, die zwar auf Stoffen der keltischen Sagen beruht und auf eine Ähnlichkeit zu bestehenden Originalen achtet, jedoch auch völlig quellenunabhängige Passagen enthält. Darstellungsweise und Akzente der Dichtungen sind allein auf James Macpherson als dessen Transformator ins 18. Jahrhundert zurückzuführen, auch wenn Fußnoten, kritische Abhandlungen und Vorworte sich erkennbar bemühen, die Authentizität des Werkes als Original-Dichtung eines keltischen Barden nachzuweisen. Wolf Gerhard Schmidt nimmt an, dass es sich nicht um eine böswillige Täuschung, sondern um die „poetische Wiederbelebung“ eines „für immer verlorenen Urtextes“ gehandelt habe.31 Das Werk trete als ein Konglomerat aus Übersetzung, Adaption und Neudichtung auf.32 Doch Macpherson weist seine Autorschaft zeitlebens zurück und hält die Fiktion vom Barden Ossian aufrecht. The Poems of Ossian, die Macpherson wiederholt überarbeitete und veröffentlichte, sollten im Folgenden als eine Schöpfung des 18. Jahrhunderts betrachtet werden, um deren Bedeutung und Relevanz für damalige Leser angemessen erläutern zu können. Insgesamt gesehen bietet das Werk durch seine intertextuellen Bezüge zu Werken der jüngeren Literaturgeschichte Großbritanniens, epischen Vorbildern und selbst der 29 30 31 32
James Macpherson: Preface to The Poems of Ossian (1773). In: The Poems of Ossian and Related Works. Hg. v. Howard Gaskill. Edinburgh 1996, S. 409–412, hier S. 412. Howard Gaskill: Introduction. In: Ders. (Hg.): Ossian revisited. Edinburgh 1991, S. 6. Schmidt: „Homer des Nordens“ und „Mutter der Romantik“ (wie Anm. 2). Bd. 1, S. 250. Vgl. ebd., S. 89.
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Bibel einen Reichtum an Interferenzen, die verlorengingen oder unbewertet bleiben müssten, hielte man es für eine weitgehende Übersetzung keltischer Stoffe.
3.1.3 Macphersons frühe Dichtung und die Sprache religiöser Lyrik Schon Macphersons dichterisches Frühwerk ist unter anderem an den Autoren der graveyard school orientiert.33 Thematisch und formal fand Macpherson dort seine ersten Anregungen. Vor allem seine Stücke Death und The Hunter gehen auf diese Entwicklung zurück, erhielten jedoch keine große Publikumsresonanz.34 Die Landschaft Ossians gleicht einer Gräberlandschaft, an deren Sammlung von bemoosten Steinen man den Untergang des Königsgeschlechts ablesen kann. Auch sie deutet auf eine Nähe zur vorangegangenen Friedhofsszenerie der kontemplativen englischen Literatur. James Macpherson blieb in dieser Zeit noch weitgehend klassizistischen Formen verhaftet. Wolf Gerhard Schmidt folgert daraus über Macphersons Entwicklung zum Autor des Ossian, die alten Themen hätten im „Verlaufe eines Autonomierungsprozesses zur Transgression der klassizistischen Formen geführt“ und damit die Dichtung Ossians erst möglich gemacht.35 Die beschriebene Loslösung von klassizistischen Formen ist sicher im Umgang mit keltischen Stoffen (mit der Absicht, eine sich etablierende Nationaldichtung zu stützen) angebracht gewesen, wenn nicht vielmehr notwendig, um die Illusion eines archetypischen Originalwerkes aufrecht zu erhalten. In gewisser Weise, so Schmidt, habe man diese Stilveränderung des Schotten einem Missverständnis zu verdanken. In seinem Frühwerk zeige sich Macphersons Irrtum, die Dichter der graveyard school fehlinterpretiert zu haben: „Wie viele andere europäische Schriftsteller missversteht auch Macpherson die melancholische Grabesstimmung dieser Werke, in denen der christliche Glaube, anders als in den Poems of Ossian, noch immer Totalitätsfunktion besitzt.“36 Viel näher liegt jedoch die Vermutung, dass Macpherson, der in Aberdeen und Edinburgh Theologie studiert hatte, den christlichen Impetus der älteren Dichtung sehr wohl wie viele seiner Zeitgenossen erkannte, ihn aber in der ossianischen Phase seiner Dichtung nicht mehr benötigte und sogar als störend empfand. Dagegen benutzte er die durch die frühere Lehrdichtung entwickelten Darstellungsmuster und Emotionalisierungstechniken für seine Arbeiten.
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Vgl. ebd., S. 66. Vgl. ebd., S. 66f.: „Insbesondere die beiden frühesten (Death und The Hunter) stehen in der Tradition von Thomas Parnells Night Piece (1722), Edward Youngs Night Thoughts (1742−1745), Robert Blairs The Grave (1743), James Herveys Meditations among the Tombs (1746) und Thomas Grays Elegy written in a Country Church-Yard (1750–1768).“; vgl. zur frühen Lyrik Macphersons auch Thomas Bailey Saunders: The Life and Letters of James Macpherson. London 1894, S. 43–51. Ebd., S. 66. Ebd., S. 67.
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James Macpherson entschied sich bewusst dagegen, den Einfluss höherer Mächte im Ossian darzustellen. Losgelöst von Unsterblichkeit und göttlichem Zorn leben die keltischen Helden mit dem Tod. An die gewohnte Stelle der Transzendenz rückt im Ossian die ästhetische Erfahrung von Kunst bzw. das gemeinsame Erfahren von Empfindungen. Macpherson selbst hat in einer begleitenden Abhandlung vermerkt, dass es sich in den Stücken um keine offiziell anerkannte Religion handelt. Er hielt dies für einen wesentlichen qualitativen Unterschied zu Homer, von dem er sich zwar zu distanzieren vorgab, auf dessen Autorität er aber immer wieder (unfreiwillig) zurückgeworfen wurde: Had the poet brought down gods, as often as Homer hath done, to assist his heroes, his work had not consisted of eulogiums on men, but of hymns to superior beings. Those who write in the Gaelic language seldom mention religion in their profane poetry.37
Der Verzicht auf die Götterwelt verankert das Gute im Ossian in den Taten und den Charaktereigenschaften der Menschen. Seelenbildung und Schicksal hängen nicht von einem göttlichen Plan ab. Diese Autonomie der Figuren im Ossian stärkt ihre Individualität und wurde von einigen Zeitgenossen, wie z.B. Melchiore Cesarotti,38 Macphersons Übersetzer in Italien, sehr bewundert. Im Ossian klingen jedoch auch wirkungsästhetisch die vorhergehenden kontemplativen Melancholie-Erlebnisse der religiösen Grabes- und Nachtdichter an. Hugh Blair, Macphersons wissenschaftlicher Kommentator des Epos, belegt wohl auch aus diesem Grund die von ihm im Werk wahrgenommenen Erhabenheitserlebnisse immer wieder mit biblischen Vergleichen. Fiona Stafford sieht folgerichtig Gemeinsamkeiten zwischen dem Erhabenen im Ossian und religiöser Erhabenheit, die eine Reaktion auf den zunehmenden Skeptizismus der Aufklärung sei.39 Malcolm Laing, ein schottischer Historiker und akribischer Herausgeber des Ossian im 18. Jahrhundert, der sich in seiner Textausgabe sehr bemühte, alle möglichen intertextuellen Referenzen aufzuzeigen, bewunderte besonders die Art und Weise, in der Macpherson die Bilder und Sprache James Thomsons und Edward 37
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James Macpherson: A Dissertation Concerning the Aera of Ossian. In: Ders.: The Poems of Ossian. A New Edition, Carefully Corrected and Greatly Improved. 2 Bde. Bd. 2. London 1773, S. 213–231, hier S. 220. Vgl. Melchiore Cesarotti: Poesie di Ossian, figlio di Fingal, antico poeta Celtico, ultimamente scoperte, e tradotte in prosa Inglese da Jacopo Macpherson, e da quella trasportate in verso Italiano dall’ Ab. Melchior Cesarotti, con varie annotazioni de’ due traduttori. 2 Bde. Padua 1763. Fiona Stafford: The Response to Ossian. In: Dies.: The Sublime Savage: A Study of James Macpherson and the Poems of Ossian. Edinburgh 1988, S. 163–180, hier S. 174: „Blair quotes from the poetical books of the Bible to demonstrate that the sublime originates in the grandeur of God in exactly the same way as he quotes from Fingal. […] Although it would be absurd to suggest that the Ossianic poems were some sort of substitute for God, the overwhelming emotions sought by readers of Fingal certainly had something in common with religious enthusiasm. The vogue of Ossian can be seen as part of a subconscious reaction against the scepticism of David Hume and the French philosophes, which seemed to threaten the traditional frame works of belief.“
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Youngs oder antiker Vorlagen eingearbeitet habe.40 Young und Thomson, deren elegische Dichtung für das 18. Jahrhundert Maßstäbe gesetzt hatte, waren Vorbilder des noch jungen Macpherson, der zu Beginn seiner Arbeit am Ossian erst 24 Jahre alt war. Alexander Gillies schrieb von einer regelrechten Verkörperung der körperlosen Klage Youngs durch den Schotten. Er setze Youngs kontemplative Melancholie in Figuren um, was wiederum die These einer Entwicklung der sanften Melancholie zu einem identitätsstiftenden Kulturideal in Erinnerung ruft. Gillies beobachtete den Umstand, dass im Ossian eine Topologie und Stimmungsbilder zu finden seien, die eine Verkörperung dessen darstellten, was Young in den Night Thoughts bereits begonnen habe: Bei Ossian waren nicht nur Äußerlichkeiten, sondern die innere Stimmung des Problems zu finden. Die grandiose, rührende Atmosphäre, Wüste, Einsamkeit, dunkle Wälder mit niedergeschlagenen Bäumen, verfallene Ruinen mit Gräbern, […] alles war in der Landschaft vertreten, in welcher ein klagender, einsamer Alter wie eine Neugestaltung des beinahe legendenhaft gewordenen Young wandelte, und selbst die Unsterblichkeit erwartend in begeisterten Sehertönen seine Söhne und seinen Vater beweinte und verewigte. Der Barde schien […] eine Verkörperung der Youngschen Idee der nächtlichen lunarischen Eingebung zu sein.41
Wo Edward Young ein lyrisches Ich aus der nächtlichen Unruhe seiner Trauer erzählen ließ, entwickelte Macpherson mit Ossian eine Figur, die in ihrer ganzen Existenz mit der Rolle des Trauernden und Vergänglichen verbunden ist, jedoch nicht, wie Gillies dachte, auf Unsterblichkeit warte. Wo der Christ in der metaphorischen Nacht Todesgedanken in Unsterblichkeitserfahrungen oder irdische Erhabenheitserlebnisse umwandelte, sieht sich der blinde Barde an eine verlorene Vergangenheit erinnert. Wie sehr die pathetische Sprache Ossians allerdings an biblische Texte anschließt, belegt der paradoxe Versuch zweier deutscher Rezensenten des frühen 19. Jahrhunderts, sprachliche Beziehungen der Schotten zu jüdischen Seefahrern herzustellen, um die zahlreichen biblischen Sprach- und Bildanleihen im Ossian erklären zu können.42 Die Elegien des 18. Jahrhunderts oder Youngs Night Thoughts zeugen nur von der jüngeren Geschichte der literarischen Form der
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Vgl. John Dwyer: The Melancholy Savage. In: Ossian revisited (wie Anm. 30), S. 164–206, hier S. 165: „Even as a mature and critical scholar, he [M. Laing, K.B.] could still admire the ingenuity with which Macpherson refined the images of James Thomson. (The Seasons) and Edward Young (Night Thoughts), or the ways in which he adapted classical imagery and situations to the scenery and inhabitants of the Scottish Highlands. Moreover, he believed that it was a national tragedy that […] Macpherson had stooped to servile imitation and pondering to popular taste.“ Alexander Gillies: Herder und Ossian. Berlin 1933, S. 52f. Vgl. Johann Caspar Velthusen: Merklicher Einfluß portugiesischer und spanischer Juden, Chaldäer und Hebräer, in Begleitung phönizischer Seefahrer, auf den Anbau Hibernien und des langen Strichs der schottischen Matroseninseln, auf die feinere Bildung des Barden Ossian, und auf die älteste, ursprünglich sehr fromme, ächtschottische Freimaurerey. Leipzig 1807; Wilhelm Nicolaus Freudentheil: Ossian und die Hebräischen Dichter. In: Johann Gottfried Dyck u. Georg Schaz (Hg.): Charaktere der vornehmsten Dichter aller Nationen, nebst kritischen und historischen Abhandlungen. Leipzig 1808, S. 384–414.
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Klage, die bis ins Alte Testament ihre Vorgänger hat. Experimentell erscheint im Ossian die ästhetische Lust an einer Klage, die nicht eine Unsterblichkeit oder göttliche Macht erwähnen muss, welche diese legitimiert. Die Evokation der Klage ersetzt den epischen Musenanruf im Ossian. Durch Anleihen an den damals klassischen Kanon der Weltliteratur erstellte Macpherson gekonnt ein äußerst beliebtes und erfolgreiches „Textmosaik“.43 Dass er dabei sehr selektiv und gezielt fragmentarisch operierte, steigerte den Erfolg des Werkes zudem. John Dwyer vermutet sogar, dass Tristram Shandys Veröffentlichung im Jahr 1759 (in dem Macpherson seine erste Ossian-Ausgabe vorbereitete) dem ebenfalls fragmentarischen Ossian zur Beliebtheit verholfen habe.44 Wie Wolf Gerhard Schmidt bemerkt, stammen Macphersons Anleihen aus sehr „divergenten Texten“ wie „der King James Bible, den homerischen Epen, Vergils Aenais, Miltons Il Penseroso und Paradise Lost, Blairs Grave, Youngs Night Thoughts, Grays Elegy und Homes Douglas.“45 Miltons Lyrik diente bereits den britischen Autoren kontemplativer Erbauungsliteratur zum Vorbild für die Evozierung zur sanfter Melancholie. Aber auch in vielen weiteren prägenden englischsprachigen Werken des Jahrhunderts, den bürgerlichen Romanen von Fielding und Richardson sowie den moralischen Wochenschriften, waren die gemischten, häufig religiösen Empfindungen eine feste, allseits bekannte Einrichtung, deren Lektüregewohnheiten sich leicht auf Ossian applizieren ließen.46
3.1.4 Sympathetische Melancholie und religiöses Kultivierungsprogramm Während das ossianische Epos die schottische Kultur durch Erinnerung stärken sollte, hatte die kontemplative Literatur der religiösen Melancholie die Aufgabe, Leben durch Bekehrung zu retten. Das bereits vorgestellte Kultivierungsprogramm, das zur kontemplativen Melancholie anhielt, hatte eine metaphysische Ausrichtung; diese fehlt jedoch im Ossian. Aus jenem Grund findet sich dort auch kein explizit didaktischer Appell an den Leser. Während die religiöse Lyrik und Er-
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Schmidt: „Homer des Nordens“ und „Mutter der Romantik“ (wie Anm. 2). Bd 1, S. 80. Vgl. Dwyer: The Melancholy Savage (wie Anm. 40), S. 184. Schmidt: „Homer des Nordens“ und „Mutter der Romantik“ (wie Anm. 2). Bd. 1, S. 168. Vgl. ebd., S. 129: „Darüber hinaus werden in den Romanen von Richardson und Fielding vermischte Empfindungen genossen, und auch bei Milton, Young, Thomson und Gessner besitzen die pleasures of melancholy topischen Charakter. Selbst Burke verweist in seiner Abhandlung – Ossian antizipierend – auf die angenehme Erfahrung von ‚melancholy reflections‘ über das Schicksal von Freunden. Dasselbe gilt für James Beattie, Hugh Blair und Henry Mackenzie, die sich für die Kultivierung einer gentle melancholy aussprechen, weil man auf diese Weise frei von störender Leidenschaft mit dem eigenen Inneren korrespondieren könne. […] die melancholische Grundstimmung soll den Einzelnen via Empfindung zu einem altruistisch fundierten Nachdenken anregen.“
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bauungsliteratur klare Stellung zur christlichen Religion bot, konnte es nur die mittelbare Hauptaufgabe des Epos sein, an keltische Geschichte zu erinnern. Sein ‚erbaulicher Auftrag‘ war vielmehr ein indirekter. In der Auseinandersetzung zwischen schottischer und englischer Kultur konnte das Epos die Identität des keltischen Volkes lebendig halten und eine geschlossene, mit festen Werten und einer unverrückbaren Sozialordnung versehene Gesellschaft visionieren. Im Gegensatz zur erbaulichen Literatur werden die Figuren im Ossian zwar ihren Emotionen nach porträtiert, die Konsequenz ihres melancholischen Fühlens führt jedoch zu keiner religiösen Erbauung. Stattdessen perfektioniert der Nachvollzug einer sanften Melancholie Tugenden und nähert sich dem geforderten natürlichen Kunstempfinden der verlorenen Vergangenheit an. Das Mitte des 18. Jahrhunderts schon fest in der empfindsamen Lesekultur verankerte einfühlende Lesen machte einen rigiden dogmatischen Schritt unnötig. Die auf einer Präsentations- und Thematisierungsebene auftretende sanfte Melancholie ließ den Leser die kontemplative Lektüre anwenden, die er bereits eingeübt hatte. Die Stilmittel, die die sanfte Melancholie begleiten, sind die empfindsame Gefühlsschau der Figuren, ihre introspektive Auseinandersetzung mit der Welt, zahlreiche Motive, über die schon die kontemplative Todesmeditation verfügte (Nacht, Grab, Moos) und die Eremitenfigur, die mit Einsamkeit und Tod der anderen zu leben lernt. Ein Nachvollzug der dargestellten Emotionen geschah im Idealfall so automatisch wie die Rückschlüsse, die das Publikum aus der sanften Melancholie auf das Wesen und die Lebensweise der keltischen Helden ziehen musste. Die dem dominanten Emotionscode unterlegte Lehre der Perfektionierung lautete: Wer sanfter Melancholie den Vorzug gibt, ist mitfühlend, gesellschaftsfähig und musisch feinfühlig. Die empfindsame Idealvorstellung eines Highlanders wurde so durch eine kulturell geprägte Figur, den melancholischen und künstlerisch versierten Eremiten installiert. Patrick Graham schrieb in der Verteidigung der ossianischen Gedichte, ebendiese angenehme Melancholie mache den Typus des natürlich unverfälschten Highlanders aus, der erhabene Empfindungen sehr wohl kenne.47 Mit Ossian vollzog sich ein Säkularisierungsprozess der sanften Melancholie, die aber ohne ihr Gegenüber, die in der Lesekultur verankerte meditative Melancholie, nicht zu erfüllen gewesen wäre. Das Publikum erkannte die Merkmale der Literatur, die zum Nachvollzug sanfter Melancholie unter einem Kultivierungsprogramm eingeladen hatten. Dazu war die implizite Gegenüberstellung zur erbau-
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Vgl. Patrick Graham: Essay on The Authenticity of the Poems of Ossian. In Which the Objections of Malcolm Laing are Particularly Considered and Refuted. Edinburgh 1807, S. 28f.: „His imagination, tinged with pleasing melancholy, finds society in the passing breeze, and he beholds the airy forms of his fathers descending in the skirts of the cloud. […] Such is, at this day, the tone of mind which characterizes the Highlander, who has not lost the distinctive marks of his race by commerce with strangers; and such, too, is the picture which has been drawn by Ossian. Nor need we be altogether surprised at the sublimity of sentiment, and generosity of manners.“
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lichen Lektüre nötig. Das mehrschrittige Kontemplationsprogramm der religiösen Texte wurde auf eine sich immer wieder selbst erweckende und sich selbst genügende Melancholieform begrenzt, die keinen erbaulichen Wandel im erzählenden Individuum hervorbrachte. Während die meditative Erbauungsliteratur auf dem Weg zur Bekehrung einen Perspektivwechsel vollzieht, bleibt dieser Prozess im Ossian aus. Die Klage über verlorene Vergangenheit ist der eigentliche Zweck der sanften Melancholie. Sie erhält die Klage aufrecht und somit die nur emotional noch erfahrbare Vergangenheit. Auch ist der Tod des Kelten nicht schrecklich oder gar zu fürchten. Als Ende eines heldenhaften Lebens verspricht er den Zugang zu Ruhm und Gedenken. Der tote Kelte durchläuft keine Metamorphose, doch das melancholische Heldengedenken bringt seine Persönlichkeit wieder in die Erinnerung der Hinterbliebenen. So potenziert das Wegsterben der Helden und die immer neu besungene Erinnerung daran das melancholische Leiden, wie dieses selbst die sich auflösende Dynastie in Form einer kollektiven Empfindung erhält. Formal ist dies durch mehrere miteinander mittels Melancholie korrespondierender Zeitebenen und einzelner Lieder im Ossian umgesetzt. Zwei Zeitebenen sind besonders markant: Auf einer umrahmenden, späteren Ebene spricht Ossian an die Gräber seiner Ahnen gestützt: It is night; and I am alone, forlorn on the hill of storms. The wind is heard in the mountain. The torrent shrieks down the rock. No hut receives me from the rain; forlorn on the hill of winds. […] I sit in my grief. I wait for morning in my tears. Rear the tomb, ye friends of the dead; but close it not till I come.48
Als nachdenklicher Eremit ist der Barde vergleichbar dem lyrischen Ich der Night Thoughts. Ossian hat, neben der Geliebten seines toten Sohnes, als einziger die anderen Helden überlebt. Rückblickend erzählt er von den Kriegszügen Fingals und den Liedern, die vorgetragen wurden. Diese zweite Zeitebene gibt Aufschluss über das Leben der besungenen Kelten, bleibt aber schemenhaft in der Vergangenheit. Die mehreren aufeinander in Liedern bezugnehmenden Handlungsebenen sind durch die sanfte Melancholie verbunden, die zu allen Zeiten emotionales Ideal der Gesellschaft ist. Eine im Zerfall befindliche Dynastie kann mit der Hilfe der sympathetischen Melancholieerfahrung an die glorreichen Zeiten anknüpfen. Wie in den zuvor besprochenen religiösen Texten nimmt die sanfte Melancholie die Rolle eines produktionsästhetischen und rezeptionsästhetischen Zustandes ein, der bevorzugte Werte kultivieren soll: Beispielsweise wird sie in der Vergangenheit durch Gesang hervorgerufen und von einer zuhörenden Figur empfunden, ebenso wie Ossian diesen Vortrag in seiner Gegenwart besingt und selbst Melancholie
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James Macpherson: Fragment No. X. In: Ders.: The Poems of Ossian and Related Works (wie Anm. 29), S. 21.
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fühlt. Die Referenzen der Figuren auf die Melancholie zu allen Zeiten der Geschichte Fingals potenzieren ihren Wirkungsgrad als Identitätsstifterin und Kulturträgerin. An die Stelle der metaphysischen Botschaft in religiöser Literatur tritt die Botschaft von der in Emotionen verbundenen Gemeinschaft der Kelten. Ein Beispiel jenes Geflechts aus sympathetischer Melancholie ist das Lied von Connal und Crimora, die durch den Tod voneinander getrennt werden. Während des dialogischen Vortrags ihres traurigen Schicksals vor dem König werden die einfühlsamen Reaktionen der Gäste gezeigt: And did they return no more? said Utha’s bursting sigh. […] Her steps were lonely, and her soul was sad for Connal. Was he not young and lovely; like the beam of the setting sun? Ullin saw the virgin’s tear, and took the softly-trembling harp: the song was lovely, but sad, and silence was in Carric-thura.49
Die dargestellte Szene verursacht die melancholische Freude, welche der Kreis der Hörer erwartet hat: ein früher Tod eines Helden, die Verzweiflung der jungen Geliebten. Die Hinterbliebenen reflektieren nicht wie die religiösen Hinterbliebenen über den Tod oder spekulieren über transzendente Erklärungsmöglichkeiten für ihr weiteres Schicksal. An diese reflexive Stelle der religiösen Literatur setzt das ossianische Epos vielmehr den Kommentar der Ereignisse durch Ossian selbst, der darauf ebenfalls nur mit Melancholie antwortet. Auf einer dritten, in der Gegenwart liegenden Ebene erinnert Ossian den Liedvortrag, in der der blinde Barde die Grabsteine des verstorbenen Paares fühlen kann. Seine melancholische Stimmung, die mit der Umgebung korrespondiert, schließt ihn an die höfische Vergangenheit an: Earth here incloses the loveliest pair on the hill. The grass grows between the stones of the tomb; I often sit in the mournful shade. The wind sighs through the grass; their memory rushes on my mind. Undisturbed you now sleep together; in the tomb of the mountain you rest alone.50
Eine weitere sympathetische Verknüpfung zur Vergangenheit wird hergestellt, wenn Ossian, in die Vergangenheit schweifend, mit der Beschreibung einer Figur endet, die sich an diesem Liedvortrag erfreuen wollte: „And soft be your rest, said Utha […]. I will remember you with tears, and my secret song shall rise; […]. Then shall ye come on my soul, with all your lovely grief.“51 Indem die Erinnerung melancholischer Freude überzeitlich kultiviert wird, bleibt auch die Geschichte und damit die Identität des keltischen Stammes erhalten. Das Epos bildet daher in vielen Einzelbeispielen selbst ab, was seine Aufgabe in der schottischen Kulturgesellschaft des 18. Jahrhunderts sein konnte.
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Ders.: Carric-Thura: A Poem. In: Ders.: The Poems of Ossian (wie Anm. 37). Bd. 1, S. 53–73, hier S. 70f. Ebd., S. 72. Ebd.
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3.1.5 Der Begriff „joy of grief“ sowie die Funktionen sanfter Melancholie im Kunstepos Die sanfte Melancholie wurde durch ein religiöses Kultivierungsprogramm in der Lehrdichtung prominent, indem ihre Autoren auf religionskritische Impulse des Deismus und moralphilosophische Tendenzen reagierten. Die philosophische Debatte um den moralischen Nutzen von gemischten Empfindungen war in England schon im 17. Jahrhundert durch Thomas Hobbes losgetreten worden.52 Die Moral-Sense-Theorien der angelsächsischen Philosophen und Literaten unterstützten durch ihren lebhaften Disput über nützliche Empfindungen (z.B. zwischen Shaftesbury und Mandeville), dass sich ein Empfindungsphänomen wie die sanfte Melancholie und ihre literarische Präsentation gesellschaftlich etablieren konnte und kontemplatives Leiden zur moralischen Besserung führen sollte. James Macpherson machte die sanfte Melancholie zum Leitmotiv seines Epos und berief sich auf eine in der lesenden Gesellschaft des 18. Jahrhunderts bereits etablierte Perfektionierungstechnik unter zunehmend empfindsamer Prägung. Zugleich harmonierte die sanfte Melancholie mit dem Bild vom Untergang der keltischen Kultur, die sich im Ossian selbst besingt. Macpherson untermauerte mit der Wahl, dem Nationalepos einen elegischen Grundton zu verleihen, das Bild vom melancholischen (schönen und zugleich wilden) Kelten in Europa.53 Der in der Entstehungszeit Ossians aktuellste philosophische Text, der ein Erhabenheitserlebnis auf der Grundlage gemischter Empfindungen wie einem „pleasing woe“ als möglich erachtete, ist Edmund Burkes 1757 erschienene Schrift A Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful. Die von Macpherson ausgewählte Phrase „joy of grief“ hat inhaltliche Ähnlichkeiten mit Burkes Formulierungen der „pleasing woe“ oder seinem Kapitel zu Vermischung von „joy and pain“.54 Als erster machte Larry L. Stewart auf diese Verwandtschaft der Begriffe von „joy“ und „grief“ bei Burke und Ossian aufmerksam. Während die Germanistik trotz ihrer schlagwortartigen Verwendung dieser Phrase in deutscher Literatur und Forschung lange keine richtige Auskunft über seine eigentliche Herkunft geben konnte, sie sogar (und das wohl nicht ohne Grund) 52 53
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Vgl. Carsten Zelle: Joy of grief. Über das Vergnügen am Traurigsein. In: Duitse kroniek 40 1/2 (1990), S. 3–29, hier S. 8. Vgl. Graham: Essay on The Authenticity of the Poems of Ossian (wie Anm. 47), S. 172f.: „Here I may be permitted to remark, that the Highlanders are distinguished, to this day, by the shrewdness of their observations […] The prevalent colouring of these maxims, and observations, is a certain pleasing melancholy, fostered probably by the sublimity, mixed with gloominess, of the scenery with which they are conversant, together with the frequency of disasters occurring to individuals, from accident, or from the inclemency of the elements.“ Vgl. dazu Edmund Burke: Philosophische Untersuchungen über den Ursprung unsrer Begriffe vom Erhabenen und Schönen. Übers. von Christian Grave. Mit einer Einleitung von Manfred Kuehn. Bristol 2001. Darin: Erster Theil, zweyter Abschnitt: Vergnügen und Schmerz, S. 39– 42; dritter Abschnitt: Unterschied zwischen dem aufgehobenen Schmerze, und dem positiven Vergnügen, S. 42–45; fünfter Abschnitt: Freude und Betrübniß, S. 48–50.
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Youngs Night Thoughts zuwies, schrieb Stewart bereits 1977, dass Burkes Schrift den philosophischen Hintergrund zu Macphersons Verwendung des Begriffs „joy of grief“ erbracht habe: „Macpherson uses the phrase almost precisely as Burke defines the relationship between joy and grief; and the poems of Ossian as a whole appeal to the emotion designated by that relationship.“55 Dabei betonte Stewart ebenfalls, dass Burke wie Macpherson nicht nur eine Mischung der beiden konträren Empfindungen von Glück und Traurigkeit mit der Verbindung von „joy“ und „grief“ bezeichnen wollten, sondern eine Form des Gefühls, das aus der Wiedererinnerung und Neubelebung der für immer verlorenen Vergangenheit bestehe.56 In der keltischen Welt Ossians sei es die Rolle des Barden, ebendiesen Vorgang ins Leben zu rufen und ein solches Empfinden möglich zu machen, indem man die Geschichten der toten Helden und Liebespaare erinnernd wiederhole. Es liegt nahe zu vermuten, dass James Macpherson die Inhalte der vorhandenen Stoffe und seine eigenen Zugaben nach diesen von Burke postulierten Vorstellungen einer perfekten Ästhetik des Kunstwerkes bearbeitete. Einen definitiven Beweis gibt es dafür nicht.57 Die Aufgabe des Kommentars durch Hugh Blair war es, die zeitgenössischen Ideale von Dichtung und Ästhetik immer wieder glaubhaft an den vermeintlich keltischen Autor Ossian zu binden. Dies tat er auch mit der „joy of grief“. Blair, zur Zeit Macphersons Dozent für Rhetorik und Literatur an der Universität von Edinburgh, bestätigte die identitätsstiftende Aufgabe des Leitmotivs „joy of grief“, indem er bemerkte, dass diese kultivierende Form der sanften Melancholie das Charakteristikum des Kunstgeschmacks in Ossians Zeit gewesen sei: To give the joy of grief generally signifies to raise the strain of grave and soft musick; and finely characterises the taste of Ossian’s age and country in those days. When the songs of bards were the great delight of heroes, the tragic muse was held in chief honour; gallant actions, and virtuous sufferings were the chosen themes; preferably to that light and trifling strain of poetry and music, which promotes light and trifling manners, and serves to emasculate the mind.58
Mit Blairs Kommentar zum Ossian lassen sich noch viele weitere zeitgenössische Erwartungen an das schottische Nationalepos und ein darin mitschwingendes Ver-
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Stewart: Ossian, Burke, and the ‚Joy of Grief‘ (wie Anm. 20), S. 30. Vgl. ebd. Vgl. John Vladimir Price: Ossian and the Canon in the Scottish Enlightenment. In: Ossian revisited (wie Anm. 30), S. 109–128, hier S. 112f.: „Intellectual history could be nicely codified if one were able to prove that Macpherson had in fact read Burke and had then reconstructed his source material in a way that would make the Fragments of Ancient Poetry, Fingal, and Temora appeal in concrete terms to those readers who had responded enthusiastically to Burke’s abstract discussion of the sublime. There is no concrete evidence to prove that Macpherson did read Burke, though he may have learned of Burke’s theories from Blair. As is well known, the reviews in the Annal Register, which Burke edited at the time, in 1760 of the Fragments and Fingal in 1761 drew attention to the work’s ‚sublime‘ features.“ Blair: A Critical Dissertation (wie Anm. 4), S. 50.
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ständnis der sanften Melancholie entdecken. Seine Auslegung des Ossian bewegte auch die deutsche Rezeption in nicht unerheblichem Maß. Malcolm Laing (1762–1818), ein schottischer Historiker mit Zweifeln an Ossians Echtheit, vermutet, die literarischen Anregungen zur Formel „joy of grief“ seien durch Popes Übersetzungen der homerischen Epen im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts ins Englische gekommen.59 Auch der schottische Geistliche Patrick Graham, der Laing zu widerlegen versuchte, nahm an, dass diese Formel von James Macpherson persönlich entwickelt wurde.60 Laing habe Recht, wenn er behaupte, die Formel sei zu „refined” für Ossian. Sie könne nur von Macpherson selbst stammen. Vollkommen abwegig ist auch diese Annahme nicht, beruft sich doch auch Hugh Blairs Dissertation zur Definition dieser Phrase auf zwei Stellen aus Homers Dichtung: The ‚joy of grief‘ is one of Ossian’s remarkable expressions, several times repeated. If any one shall think that it needs to be justified by a precedent, he may find it twice used by Homer; in the Iliad, when Achilles is visited by the ghost of Patroclos; and in the Odyssey, when Ulysses meets his mother in the shades. On both these occasions, the heroes, melted with tenderness, lament their not having it in their power to throw their arms round the ghost, ‚that we might‘, they say, ‚in a mutual embrace, enjoy the delight of grief‘.61
Es ist offenkundig, dass die Antike die sanfte Melancholie sehr wohl kannte und sie in den Werken Homers ausdrücklich erwünscht wird.62 Wie Wolf Gerhard Schmidt anmerkte, wollte sich James Macpherson nicht zu einer direkten Bezugnahme auf die pathetische Melancholie in Ilias und Odyssee hinreißen lassen (obwohl Hugh Blair die Homer-Zitate einbrachte). Der Grund mag die ethischpolitische Zielsetzung, der Erhalt eines eigenständigen Schottland-Epos, gewesen sein.63 Allerdings bleibt das zeitgenössische Bild Homers als antike Referenz für Originalität im Hintergrund bestehen und ist Macpherson schon vor dem Verfassen
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Vgl. The Poems of Ossian. Containing the Poetical Works of James Macpherson, with Notes and Illustrations by Malcolm Laing. Oxford 1805, S. 542. Vgl. Graham: Essay on The Authenticity of the Poems of Ossian (wie Anm. 47), S. 375. Blair: A Critical Dissertation (wie Anm. 4), S. 49f. Vgl. Homer: The Illiad of Homer. Translated by Alexander Pope. 6 Bde. Bd. 6. 23. Buch. London 1715–1720, S. 1703, Vers 108: „Afford at least that melancholy joy“; ders.: The Odyssey of Homer. Transl. by Alexander Pope. 2. Bde. Bd 1. 11. Buch. New York 1822, S. 228, Vers 256: „To great a bliss to weep within her arms?“ Pope übersetzt: „that we may delight ourselves with sorrow“; in der deutschen Übersetzung der Ilias nach Voss heisst es im 23. Gesang. Vers 14, S. 261: „Thetis erregte des grams wehmütige sehnsucht“; ebd. S. 265, Vers 108: „Sprachs, und allen erregt’ er des grams wehmütige sehnsucht“. Vgl. Johann Heinrich Voss: Homers Illias. 5. verb. Auflage. Stuttgart u. Tübingen 1821. Siehe Schmidt.: „Homer des Nordens“ und „Mutter der Romantik“ (wie Anm. 2). Bd. 1, S. 125: „Solche Übereinstimmungen ändern jedoch nichts an den unterschiedlichen Strategien von Burke, Blair und Macpherson. Während die beiden ersten Homer als vollgültige Legitimationsinstanz zitierten, geht Macpherson auf diese Parallele nicht ein, um vor dem Hintergrund ethisch-politischer Strategeme die Autonomie des empfindsamen Diskurses bei Ossian zu profilieren.“
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des Ossian bekannt.64 Er selbst veröffentlichte eine eigene Ilias-Übersetzung 1773.65 Meines Erachtens ist die vorausgegangene religiöse und ästhetische Kultivierung sanfter Melancholie in Großbritannien so stark, dass es diesen Verweis auf Homer nicht mehr brauchte – er hätte im Gegenteil, wie auch Schmidt argumentiert, zu einem Nachteil werden können.66 Um die Originalität des empfindsamen keltischen Helden und damit die Verwurzelung der empfindsamen Kultur in keltischer Geschichte zu belegen, mussten die Anmerkungen und Fußnoten der Textausgaben immer wieder auf die Bestätigung einer Original-Poesie ausgerichtet sein. Es benötige, so Blair, die Formel „joy of grief“, nicht die Referenz zur Autorität eines Homer, da sie für sich selbst genommen ein vollkommen natürlicher Ausdruck sanfter Melancholie sei: „But in truth the expression stands in need of no defence from authority, for it is a natural and just expression; and conveys a clear idea of that gratification, which a virtuous heart often feels in the indulgence of a tender melancholy.“67 Argumentativ führte Blair zum Beweis an, dass die sanfte Melancholie als natürliche und originäre Empfindung jedem authentisch Fühlenden als solche einleuchte. Er unterstützt damit meine These, dass die sanfte Melancholie sich im kulturellen Bewusstsein der Leser nach 1750 fest als literarisch ausgestaltetes Emotionsphänomen eingeschrieben hatte, ohne weiterer philologischer Referenzen zu bedürfen. Ihrer Bedeutung nach sei die „joy of grief“ als Teil von „Ossians Poetik des Vergangenen“ 68 zu verstehen, indem in der epischen Dichtung durch diesen oxymorischen Ausdruck immer wieder die Inkompatibilität von Idee und Wirklichkeit, von Ossians Traumwelt und ihrer Zerbrechlichkeit, betont werde, so Wolf Gerhard Schmidt. Er weist allerdings darauf hin, dass Burke, Macpherson und Blair divergierende Vorstellungen von diesem Begriff gehabt hätten. Burke, der zwischen Erhabenheit und Schönheit trenne, spalte damit gleichzeitig den ästhetischen Diskurs vom ethischen.69 Schönheit sei eine soziale Komponente, Erhabenes bereichere allein das Individuum. Macpherson rekurriere mit „joy of grief“ sowohl auf 64
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Vgl. ebd., S. 70. James Macpherson studierte am Marischal College, an dem Professor Thomas Blackwell lehrte, der mit An Inquiry into the Life and Writings of Homer (1735) ein Studie zur Dichtung Homers veröffentlicht hatte. Vgl. Homer: The Iliad of Homer. Translated by James Macpherson. 2 Bde. London 1773. Darin übersetzte er die Stellen einer Trauer um Patroclus: Ebd. 2. Bd. Book 23, S. 356: „Thetis, o’er their mournful souls, waked all the regret of her grief.“; S. 360: „Let us indulge ourselves with woe.“ Vgl. Schmidt: „Homer des Nordens“ und „Mutter der Romantik“ (wie Anm. 2), S. 125f.: „Ein Verweis auf die oft als barbarisch bezeichneten Helden Homers wäre in diesem Zusammenhang kontraproduktiv gewesen. Macpherson verfolgt […] eine doppelte Strategie. Zum einen dient ihm der Klassikerrekurs als Beweis für die ästhetische Qualität Ossians, zum anderen darf die Betonung der Intertextualität mit Blick auf die künstlerische Eigenständigkeit des Werks auch nicht übertrieben werden. Im Sinne des von mir vertretenen Autorbegriffs nimmt Macpherson hier durch die strategische Selektion diskursive Veränderungen vor.“ Blair: A Critical Dissertation (wie Anm. 4), S. 50. Schmidt: „Homer des Nordens“ und „Mutter der Romantik“ (wie Anm. 2). Bd. 1, S. 159. Vgl. ebd., S. 126.
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soziale als auch auf subjektive Motive.70 Dem möchte ich entgegensetzen, dass das Erhabene meines Erachtens schon in Youngs Night Thoughts eine wichtige moralische und damit soziale Funktion erfüllen kann, da es das Subjekt über sein Wesen aufklärt. So solipsistisch wie die Night Thoughts erscheinen, sind sie doch als Unterweisung eines Subjekts im Kollektiv gedacht. Der Wandel der religiösen Melancholie zur stärker poetischen Melancholie in Ossians Gesängen bringt zwar unmittelbar eine Subjektivierung des Gefühls, doch es wirkt gesellschaftlich und nicht zuletzt politisch als gemeinnütziges Korrektiv. Was bei Young noch fester Bestandteil einer religiösen Perfektionierungsidee war, wird in Macphersons Ossian durch seine Verschlagwortung zu einem empfindsamen Motiv der Literatur verdichtet. Die Ambivalenz von ungeliebter Gegenwart und verlorener, glorreicher Vergangenheit wird in Hugh Blairs Dissertation betont.71 Eine Forschung zur OssianRezeption muss bedenken, dass Blair wie auch der fiktive keltische Barde zwischen zwei Welten schwebten. Neben die Fiktion der keltischen Sagenwelt treten die Projektionen des 18. Jahrhunderts. Die sanfte Melancholie ist ein solches überzeitliches, verbindendes Element der Erzählung, das sowohl an Fingals Hof kultiviert wird als auch Ossians Gesänge über diese Zeit charakterisiert und zuletzt den Bogen zu Blairs Zeitgenossen schlägt, indem sie als ästhetische Kategorie die Rezeption Ossians begleitet. Die „famous ‚joy of grief‘“ sei bei weitem nicht die einzige „double-barrelled critical category“, so Steve Rizza, die im Zuge der Ossian-Interpretation auf zeitgenössische Verhältnisse übertragen werden könne.72 Weitere Beispiele solcher überzeitlichen Merkmale seien Ossians kultivierter Pessimismus, sein sentimentaler Stoizismus und die Vermischung des Heroischen mit dem Elegischen. Im Ossian spiegelt sich aus diesem Grund mehr geistesgeschichtliche Nähe zur Ästhetik und Anthropologie der Empfindsamkeit und Vorromantik als eigentliche keltische Geschichte wieder.73 Neben die nationale Bedeutung der sanften Melancholie als Erinnerungsmechanismus an vergangenes Heldentum tritt in modifizierter Weise die Aufgabe, moralische Schulung zu stimulieren. John Dwyer bestimmte die sanfte Melancholie im Ossian als das kulturell geprägte Empfindungsphänomen des 18. Jahrhunderts, das Leidenschaften mäßige und soziale Strukturen beeinflusse, indem es eine emotive Identifikation auslöse, die auch den Leser in ernsthafte moralische Gedankengänge einbinde:
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Vgl. ebd., S. 127. Siehe Steve Rizza: A Bulky and Foolish Treatise? Hugh Blair’s Critical Dissertation reconsidered. In: Ossian Revisited (wie Anm. 30), S. 129–146. Ebd., S. 143. Vgl. Stewart: Ossian, Burke, and the ‚Joy of Grief‘ (wie Anm. 20), S. 31.
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Moral melancholy was a precise ethical tool. Its purpose was neither self-indulgence nor a retreat from the active duties of life. It was a literary device for cooling the often overheated human ego and stimulating a reflection which was simultaneously social and ethical.74
Indem der keltische Held diese Affektregulierung durch Melancholie einübt, nähert er sich wieder dem natürlichen Ideal, das in der Ossian umgebenden Natur bereits zu finden ist. Diese vermeintlich der Natur angepasste Regulierung macht es möglich, dass Empathie und Kummer im idealen Maß bleiben und die sanfte Melancholie sicher genossen werden kann, ohne zu einer krankhaften Bedrohung zu werden. Die gemäßigte Melancholie im Ossian lässt eine hohe Affinität der Figuren zu Leiden und Sterben zu, indem sie diese als heldenhaft und nicht als todessehnsüchtig markiert. Sie erleben ihre Leidenschaften in einem idealen Mittelmaß und unterscheiden sich so von den „little men“, einer Generation von Menschen, die ihre Taten nicht nachahmen können.75 Ruhmreiches Verhalten ist nicht nur heldenhafter Tod, sondern auch im Kollektiv gepflegte Trauer. Vor allem die männlichen Helden begehren beides: „They look with wonder on my son: They admire the strength of his arm. They mark the joy of his father’s eyes; they long for an equal fame. And ye shall have your fame, O sons of streamy Morven!“76 Von Frauen wird, sollten sie nicht dem Geliebten freiwillig nachsterben, im Todesfall ebenfalls sympathetische Trauer verlangt. Ein sterbender Held fordert sie ein: „Give, lovely maid, to me thy tears. I have seen the tombs of all my friends.“77 Sympathetische und melancholische Empfindungen bestimmen Beziehungen und Geschichte der ossianischen Welt. Die Leser des 18. Jahrhundert, wie etwa Herder und Goethe, schätzten die Gesänge von getrennten Liebespaaren und Kriegszügen wegen dieser sympathetisch genossenen Melancholie, die unter dem Stichwort „joy of grief“ oder „Wonne der Wehmut“ aufgerufen werden konnte. Offensichtlich ist die „joy of grief“, der eine bis in die Antike reichende Tradition der sanften Melancholie vorausgeht, an einer empfindsamen Ästhetik des 18. Jahrhunderts orientiert und steht nicht zuletzt durch die Moral-Sense-Theoretiker in Beziehung zu den kulturellen Realisationen moralphilosophischer Ideen der Zeit. Macht man sich diese Bearbeitungsstrategie James Macphersons bewusst, lassen sich seine persönlichen, künstlerischen Fähigkeiten, die der Täuschungsvorwurf verdeckt, umso mehr schätzen. Mit Larry Stewart und Wolf Gerhard Schmidt darf man vermuten, dass die Ossian-Ausgabe von 1773 eine Entwicklung der sanften Melancholie bot, wie sie beispielhaft für das 18. Jahrhundert ist. Die 74 75
76 77
Dwyer: The Melancholy Savage (wie Anm. 40), S. 181. Vgl. Macpherson: Berrathon: A Poem. In: Ders.: The Poems of Ossian (wie Anm. 37). Bd. 2, S. 193–209, hier S. 205: „The sons of little men shall behold me, and admire the stature of the chiefs of old. They shall creep to their caves, and looks to the sky with fear; for my steps shall be in the clouds, and darkness shall roll on my side.“ Ebd., The War of Inis-Thona: A Poem. Bd. 1, S. 193–202, hier S. 202. Ebd., Fingal: An Ancient Epic Poem. Bd. 1, S. 281–299, hier S. 295.
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sanfte Melancholie durchläuft unter dem Stichwort „joy of grief“ im Ossian eine Veränderung vom emotiven Mittel im Sozialisierungsprozess zum Kunstideal einer verschwindenden Erinnerungskultur. Diese Transformation eines religiösen Gefühlsphänomens zu einem ästhetischen Motiv ist auf die Entwicklung zeitgenössischer Literatur Macphersons bestens übertragbar.
3.1.6 Kollektive Melancholie wird zum individuellen Genuss Der in dieser Form zelebrierte Ahnenkult im Ossian stiftet die Erinnerung an eine, wenn auch sagenumwobene, Vergangenheit der Schotten. Die kultische Gemeinschaftspflege, wie sie Ossian und seine Vorfahren betreiben, zielt darauf ab, das einzelne Individuum in der Gruppe zu verorten, die eigene Identität aus der Gemeinschaft abzuleiten. Dieser traditionelle Gedanke wird jedoch zerstört, wenn Ossian allein zurückbleibt und sich nur noch aus der Sagenwelt und Erinnerung ein ‚wir‘ konstruieren kann. Insofern zeigt sich im Ossian der Umbruch von einer kollektiv erinnernden Kulturgesellschaft zu einer Individualgesellschaft, die dort aus Not geboren wird. Der eklatante Umbruch spiegelt zudem die Erfahrungen des Autors Macpherson, der eine keltische Gesellschaft nur aus Phantasie, Sagenstoffen und Erinnerungen konstruieren konnte. Literarische wie historische Beispiele belegen, dass man Ossian nicht nur für sich allein las und genoss, sondern dieses Erlebnis oft auch mit einer ‚herzensverwandten‘ Person teilte. Da die „joy of grief“ zu allen Zeiten Grundton der ossianischen Lieder ist, kann sie bei allen Gelegenheiten die Tugenden und affektiven Fähigkeiten des Menschen verbessern. Bei freudigen Festen werden traurige Themen ebenso besungen wie im Umkreis von Totengedenken und Krieg. Zunächst schildern die ossianischen Gesänge den Einsatz der sanften Melancholie als kollektives Erlebnis. In ihrer mäßigenden Wirkung nutzt man sie als gesellschaftliche Beruhigung bei öffentlichen Anlässen: The feast is spread. The harp is heard; and joy is in the hall. But it was a joy covering a sigh, that darkly dwelt in every breast. It was like the faint beam of the moon spread in a cloud in heaven. At length the music ceased, and the aged king of Croma spoke; he spoke without a tear, but the sigh swelled in the midst of his voice.78
Die Mäßigung der Affekte zu einer gemischten Empfindung versetzt das anwesende Volk in eine würdevolle Haltung, wie sie auch das hohe Mittelalter als Affektregulierung kannte. In musikalischer Form mildert sie die Trauer des Hinterbliebenen. So lässt sich der Geliebte Oi-thonas, die geschändet auf einer Insel stirbt, von der „joy of grief“ zu einer positiven Erinnerung ihrer Person leiten: „The mournful warrior raised her tomb. He came to Morven; we saw the darkness of his soul. 78
Ebd., Croma: a Poem. Bd. 1, S. 127–140, hier S. 130.
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Ossian took the harp in the praise of Oi-thona. The brightness of the face of Gaul returned. But his sigh rose, at times, in the midst of his friends.“79 Auf die umstehenden Zuhörer und den Sänger übt die sanfte Melancholie eine mäßigende Wirkung aus. Insofern ist sie die aus den Night Thoughts bekannte Strategie der Trauernden, eine im Leben angewandte Formel emotionaler Disziplinierung oder Trauerarbeit, die aus starker Trauer erträglichen und würdevollen Kummer macht. König Fingal beauftragt seinen Barden, die sanfte Melancholie als Wohltat einem Trauernden zukommen zu lassen.80 Sie kann Trost und Ehrerbietung im Rahmen einer Todesbotschaft sein: ‚Lift thy sails, O Althos, towards the echoing groves of my land. Tell the chief, that his son fell with fame; that my sword did not shun the fight. Tell him I fell in the midst of thousands. Let the joy of his grief be great.‘81
Ihre mildernde Wirkung bewahrt die Seele vor weiterem Schaden, wie Ossian Malvina belehrt: „Pleasant is thy song in Ossian’s ear, […] thy song is lovely. It is lovely, O Malvina, but it melts the soul. There is a joy of grief when peace dwells in the breast of the sad. But sorrow wastes the mournful […] and their days are few.“82 Das Wirken der sanften Melancholie geht aber über die Mäßigung des Kummers hinaus. Neben dieser beruhigenden Wirkung kennt die ossianische Gesellschaft auch die Erfrischung durch sanfte Melancholie. Sie bringt die Motivation, die die Krieger laut Fingal für den Kampf brauchen. Als solche wird sie vom kriegsbereiten König zur mentalen Erneuerung seiner Truppen gefordert: Voices of echoing Cona! he said, O bards of other times! Ye, on whose souls of the blue hosts of our fathers rise! strike the harp in my hall; and let Fingal hear the song. Pleasant is the joy of grief! it is like the shower of spring, when it softens the branch of the oak, and the young leaf lifts its green head. Sing on, O bards, tomorrrow we lift the sail. My blue course is through the ocean, to Carric-thura’s walls; the mossy walls of Sarno, where Comála dwelt.83
Der Gesang soll die Gemütslage der Kämpfer beeinflussen, wie sie sich der König für ihre Reise nach Karrikthura wünscht. Epidemisch greift die pathetisch vorgetragene sanfte Melancholie um sich und stiftet junge Krieger zum Kampf an, um später mit der gleichen sympathetischen Trauer durch ihre Väter bedacht zu werden.84 Auch hier schließt sich wieder die Potenzierung der Empathie durch Ossian 79 80
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Ebd., Oithona: a Poem, S. 115–123, hier S. 123. Vgl. ebd., Fingal. Book V, S. 301–316, hier S. 303: „‚Sons of distant Morven‘, said Fingal, ‚guard the king of Lochlin. He is strong as his thousand waves. His hand is thaught to war. His race is of the times of old. Gaul, thou first of my heroes; Ossian king of songs, attend the friend of Agandecca, and raise to joy his grief.‘“. Ebd., Dar-Thula: a Poem, S. 351–374, hier S. 369. Ebd., Croma: a Poem, S. 127–140, hier S. 128. Ebd., Carric-Thura: A Poem, S. 53–73, hier S. 54. Ebd., Lathmon: a Poem, S. 333–352, hier S. 341: „‚Son of Morni‘, I replied and strode before him on the heath, ‚our fathers shall praise our valour, when they mourn our fall. A beam of gladness shall rise on their souls, when their eyes are full of tears.‘“
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an, der aus der Gegenwart die Empfindungen weinend erinnert.85 Es bleibt der Interpretation überlassen, den Untergang der Dynastie Fingals als ein Scheitern der dargestellten Todesbereitschaft zu verstehen. Dies aber haben die zeitgenössischen Rezensenten, ähnlich dem verklärten deutschen Verständnis vom Nibelungenlied, nicht getan. Die sanfte Melancholie erleichtert den keltischen Barden die Erinnerung an die Vergangenheit, indem sie sie sentimental verklärt. Die Kultur Ossians widmet sich in allen Teilen, vor allem in ihren Gesängen, dem Heldengedenken, das die Barden zu erfüllen versuchen. Während die Melancholie der Religiösen durch den imaginierten Blick in die eigene Zukunft entstand, entwickelt sich die Melancholie im Ossian immer aus einem Blick in die Vergangenheit. Daher ist sie stetig mit Erinnerung assoziiert: „He retired, in the sound of his song; […] The music was like the memory of joys that are past, pleasant and mournful to the soul. The ghosts of departed bards heard it from Slimora’s side. Soft sounds spread along the wood, and the silent valley’s of night rejoice.“86 So wird die Vergangenheit in einem sympathetischen Emotionsphänomen für ein Kollektiv nutzbar gemacht, damit kulturelles Bewusstsein entstehen kann. Die „joy of grief“ wird das Medium im menschlichen Bedürfnis nach gemeinsam erinnerter Vergangenheit.87 Die reichlich verbreitete Neigung zur melancholischen Stimmung der ossianischen Helden wird durch sympathetische Erinnerung in Form von kunstvollen Vorträgen stilistisch ästhetisiert und so gemildert: Sad is the sound of Swaran’s voice, said Carril of other times: […] Sad to himself alone, said the blue-eyed son of Semo. But, Carril, raise thy voice on high, and tell the deeds of other times. Send thou the night away in song; and give the joy of grief. […] And lovely are the songs of woe that are heard on Albion’s rocks; when the noise of the chase is over, and the streams of Cona answer to the voice of Ossian.88
Es ist die Aufgabe des Barden diese kulturelle Erinnerung immer neu zu initiieren. Im Fall Ossians fehlt aber das fiktionale Publikum. Ossians Melancholie muss sich demnach selbst genügen. Er wird zum letzten Hüter der „joy of grief“: „Son of Alpin, strike the string. Is there ought of joy in the harp? Pour it then, on the soul of Ossian: it is folded in mist. – I hear thee, O bard, in my night. But cease the
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Ebd., S. 342. Ebd., Death of Cuthullin, S. 375–390, hier S. 381. Vgl. Jerome McGann: The Poetics of Sensibility. A Revolution in Literary Style. Oxford 1996, S. 35: „This capacity according to Macpherson’s text, is not brought to a primitive order by a saving act of civilization […], it is already a fundamental feature of the original human condition. Indeed, every act of remembrance suffers a slight retrogression (loss and fragmentation of memory), and the ‚progress of society‘ devolves slowly but surely from that state of cultivation when memorial acts […] obliterate all distinction between past and present.“ Macpherson: Fingal. Book I. In: Ders.: The Poems of Ossian (wie Anm. 37). Bd. 1, S. 217– 242, hier S. 238.
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lightly-trembling sound. The joy of grief belongs to Ossian, amidst his dark-brown years.“89 Aber auch dem Einzelnen bringt die fiktional erweckte Melancholie Gefühle der Freude. Es verleiht daher die Vision vom eigenen Tod oder dem der Geliebten einem Sänger angenehme Gefühle. Besonders hoch zu ermessen ist die wehmütige Freude über die Trauer der Geliebten am eigenen Grab, eine Sicht, die Werther übernehmen wird. So handelt es sich bei der „joy of grief“ nicht ausschließlich um begründbare Trauer, sondern häufiger um künstlich arrangierte Trauervisionen aus fiktiven Todesvorstellungen. Diese eigennützige Komponente der ansonsten altruistischen Welt Ossians tritt auffällig hervor. Das vermeintlich letzte Gespräch von Shilric und Vinvela handelt von einer solchen Todesvorstellung: Shilric: If fall I must in the field, raise high my grave, Vinelva. Grey stones, and heaped-up earth, shall mark me to future times. When the hunter shall sit by the mound, and produce his food at noon, ‚Some warrior rests here‘, he will say; and my fame shall live in his praise. Remember me, Vinvela, when low on earth I lie! Vinvela: Yes! – I will remember thee – indeed my Shilric will fail. What shall I do, my love! When thou art gone forever? Through these hills I will go at noon: I will go through the silent heath. There I will see the place of thy rest, returning from the chace. Indeed, my Shilric will fall; but I will remember him.90
Der melancholische Genuss entsteht aus der Vorstellung, die Geliebte müsse am Grab Shilrics stehen. Darin schwingt eine paradoxe und egoistische Motivation, die über den Tod hinaus noch lustvollen Gewinn aus dem selbst nie erlebbaren Grabesanblick schlägt. Auch der König imaginiert den Tod des Sohnes begleitet von positiver Melancholie.91 Die Vorstellung der Geliebten oder Dritter am unbekannten Grab des Helden versetzt den darüber noch Sinnierenden in melancholische Verzückung. Den Zuhörern solcher Geschichten ist die Vorstellung von einem schnellen Tod und das Leiden der Hinterbliebenen ein Grund zum wehmütigen Gedenken, das von einer Freude gesteigert wird. Diese Gleichzeitigkeit von Melancholie als kollektiv genossenes Erlebnis und einer Form der individuellen Selbsterfahrung ist noch typisch für die Entstehungszeit Ossians. Mit dem Beginn der 1770er Jahre jedoch nimmt die Bedeutung der individuell erfahrenen Melan-
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Ebd., Bd. 2. Temora. Book VII, S. 139–156, hier S. 155. Ders.: Fragment I. Shilric, Vinvela. In: The Poems of Ossian and Related Works (wie Anm. 29), S. 7f., hier S. 8. Ders.: Temora: An Epic Poem. Book 1. In: The Poems of Ossian (wie Anm. 37). Bd. 2, S. 1– 28, hier S. 17f.: „‚Fallest thou, son of my fame! Shall I never see thee, Oscar! When others hear of their sons; shall I not hear of thee? The moss is on thy four grey stones. The mournful wind is there. The battle shall be fought without thee […] When the warrior returns from battles, and tells of other lands; ‚I have seen a tomb‘, he will say, ‚by the roaring stream, the dark dwelling of a chief. He fell by car-borne Oscar, the first of moral men,‘ I, perhaps, shall hear his voice. A beam of joy will rise in my soul.‘“
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cholie wesentlich zu. Individualisierungsprozesse begannen Gruppendisziplin und die Bedeutung von Gemeinschaften zu überbieten. James Macphersons Ossian erfüllt in der Entwicklung des religiösen Leidens zu einem sympathetischen und später individuellen Melancholie-Erlebnis die Rolle eines wichtigen Transformators. Durch die Säkularisierungs- und Ästhetisierungsprozesse des Werkes wird die kontemplative Technik der Betrachtung sanfter Melancholie auf eine vermeintlich historische, politisch brisante Fiktion übertragen. Ihr sympathetisches Netzwerk angenehmer Melancholie wäre nicht ohne Referenzen zur vorausgegangenen religiösen Lyrik für den zeitgenössischen Leser derart plastisch verständlich gewesen. Macpherson war die religiös ausgerichtete Emotionalisierungsstrategie des Gefühlsphänomens sanfter Melancholie aus dieser Literatur bekannt. Er unterzog es innerhalb seines Werkes einem Säkularisierungsprozess, der dazu führte, dass die sanfte Melancholie zu einem ästhetischen, selbstreferentiellen Leitmotiv des Textes wurde. Die Entwicklung selbiger von einem Instrument religiöser Erziehung über ein Kultur und identitätsstiftendes Phänomen bei Fingal bis zu einer individuellen Selbsterfahrung ist im Ossian ablesbar und spiegelt die ganze Breite der Transformation sanfter Melancholie in der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Die kollektive Bedeutung der wie auch immer erzieherischen Melancholie trat allmählich hinter ihren individuellen, wertfreien Genuss zurück.
3.2 Die empathische Lektüre Ossians in Deutschland „Je länger ein Lied dauern soll, desto sinnlicher müssen diese Seelenerwecker seyn, daß sie der Macht der Zeit und den Veränderungen der Jahrhunderte trotzen“,92 schreibt Herder 1773 unter anderem über die poetologische Qualität Ossians. Es seien Lieder eines alten, ungebildetenVolkes, deren sinnlicher Vortrag in keiner Übersetzung auch nur annähernd übertragen werden könne. Ossians Empfindungen zeugten von der Freiheit und Lebendigkeit der Kelten, die von der eigenen verbildeten, wissenschaftlichen Denkweise weit entfernt sei. Mit diesem Zitat kündigt sich bereits an, was die sanfte Melancholie ossianischer Herkunft dem deutschsprachigen Leser bis zum Ende des Jahrhunderts bedeutete. Sie wurde zum Ausdruck origineller Emotionalität, Lebendigkeit und Freiheit. Ihr nachzuspüren war ein großes Bedürfnis und schien zugleich in Gänze unmöglich. Selbst in diesem Mangel an totaler Reproduzierbarkeit lag ein Reiz der ossianischen Melancholie. Die Kultivierung sanfter Melancholie in religiöser Kontemplation bereitete in deutschsprachigen Ländern dieses Verständnis ossianischer Melancholie vor. 92
Johann Gottfried Herder: I. Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker. In: Ders.: Von Deutscher Art und Kunst. Einige fliegende Blätter. Hamburg 1773, S. 5–35, hier S. 12.
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Wie in diesem Kapitel zu zeigen sein wird, wurde die religiös eingeübte und damit kultische Imagination melancholisch machender Visionen auf die Lektüre Ossians übertragen. Da die sanfte Melancholie ossianischer Prägung sowohl für sympathetischen als auch individuellen Genuss stand, knüpften deutschsprachige Autoren und Leser Erwartungen an sie, die die Gesellschaft wie auch das Individuum gleichermaßen betrafen. In politischer Ausrichtung wurde Ossians Melancholie zum Beispiel wiederholt für ein Kollektiv funktionalisiert, aus poetologischer Sicht diente sie der Erregung des Einzelnen oder der Genialität des Kunstschaffenden. Es wird ausgeführt werden, wie Ossian, obwohl das Epos Säkularisierungsund Ästhetisierungstendenzen aufweist, einen pseudo-sakralen Status als ‚Seelenerwecker‘ unter den beliebten Texten erreichte. Wolf Gerhard Schmidt spricht von einer „pseudo-religiösen Idolatrie“, die besonders von Mitgliedern des Göttinger Hains wie Friedrich Stolberg und Johann Voß ausging.93 Als wesentlicher Beleg mag gelten, dass Zeitgenossen immer wieder Vergleiche zur religiösen Literatur anstellten, Ossian wirkungsästhetisch mit Begriffen umschrieben, die zuvor stark religiös konnotiert waren und die Lektüren der Night Thoughts und des Ossian in einem Atemzug nannten. In der produktiven Rezeption gibt Klopstock das beste Beispiel dafür, dass seine Begeisterung für die Night Thoughts ungebremst in die für ossianische Bardendichtung überging und seine Oden aus beiden Quellen schöpfen. Johann Gottfried Herder betrachtete Ossian wie einen sakralen Text, der nur mit Einfühlung verstanden werden könne.94 Je nach Interpretation diente diese quasi-sakrale Seelenbewegung durch Ossians Melancholie der Rekonstruktion von germanischer Gemeinschaft oder dem Lektüreerlebnis des Einzelnen. Sprachlich erinnerte Ossian seine ersten Leser früh an die biblische Prosa des Alten Testaments. Albrecht von Haller berichtete beispielsweise in der Zeitschrift Göttinger Gelehrte Anzeigen, Ossians Schreibart sei nach biblischer Manier. Auch eine „gelinde Schwermut“ sei überall im Werk zu finden. Haller hegte 1765 jedoch keinen Zweifel an der Echtheit der Texte.95 Den aus Frankreich zu ihm gedrungenen Verdacht einer Fälschung lehnte er ab. Bishin reiht sich zu den Gegenständen des Textes – die Trauer an Gräbern oder über vergangene Tage –die ossianische Wehmut in die Tradition kontemplativer christlicher Dichtung. Formell beobachtete man – verstärkt seit Robert Lowths Vorlesungen über die Poetik der Bibel – schon seit einiger Zeit die Wirkung biblischer Stilmittel auf die Rhetorik der Neuzeit. Es begann im Umfeld der ossianischen Veröffentlichungen eine rege Aus-
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Schmidt: „Homer des Nordens“ und „Mutter der Romantik“ (wie Anm. 2). Bd. 2, S. 597. Ebd., S. 658. Vgl. Albrecht von Haller: [anonyme Rezension] Fingal an Antient epic poem with other Poesies by Ossian son of Fingal translated from the Gallic language by James Macpherson, bey Beckat und Defendt 1763. In: Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen. Bd. 1, St. 17. London 1765, S. 129–131, hier S. 129f.; ders.: [Rezension] Works of Ossian the son of Fingal translated by James Macpherson 1765. In: Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen. Bd. 2, St. 142. Göttingen 1767, S. 1132–1134 und St. 143, S. 1137–1140.
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einandersetzung mit der Bibel als Kunstgegenstand im Vergleich zu Ossians Prosa. Der Übergang von biblischer Prosa zur erbaulichen oder schöngeistigen Literatur war dichter, als wir ihn uns heute vorstellen können. Dass man den Ossian sakraler Literatur ebenbürtig hielt, dokumentiert nicht zuletzt Herders Gegenüberstellung von Hiob und Ossian in seinem Versuch einer literaturgeschichtlichen Darstellung hebräischer Dichtung 1782/1783. Viele der deutschen Literaten und Leser schätzten am Ossian einen rauschhaften Genuss sanfter Melancholie, den sie während der Lektüre erlebten. Im Gegensatz zur religiös geführten Emotionalisierung durch Melancholie, die zu bestimmten metaphysischen Erkenntnissen führen sollte, übergaben sich die Leser Ossians einer Melancholie ohne offensichtlich dogmatischen Grundton und einer scheinbar wertfreien, ‚naturbelassenen‘ Gefühlswelt, die originell erschien. Besondere Betonung fand immer wieder die zweckfreie und abenteuerlustige Einfühlung in den Text, die das irrationale Moment allen vernunftgeleiteten Lektüren vorzog. Um das verlockende Stadium des empfindsamen Genusses zu erreichen, wurde die Vorspiegelung, die die Veröffentlichungen Ossians als Originale aus dem Keltischen darstellten, bewusst oder unbewusst gerne in Kauf genommen. Der quasi-sakrale Status, der durch Anbetungsphänomene und Vergleiche mit religiösen Texten untermauert wurde, machte die Echtheitsfrage zu einer Form des Sakrilegs. Anhand der in diesem Kapitel näher ausgeführten deutschen Rezeption ossianischer Melancholie zwischen 1763 und 1775 zeigt sich, dass die ‚Wonne der Wehmut‘ als Emotionscode mit vielen Themen vereinbar war und somit in diversen Richtungen funktionalisiert werden konnte. Ihr bereits ästhetisch ausgefeiltes Auftreten im Ossian als Bestandteil eines künstlerisch angeregten Emotionalisierungsprozesses eröffnete geradezu viele Möglichkeiten, neue Normierungen an die bekannte Perfektionierung kontemplativer Natur zu binden. Daher ließ sich das literarische Motiv, zu dem es mit der Formel ‚joy of grief‘ oder ‚Wonne der Wehmut‘ destilliert worden war, gut in Kontexten wie Kunsttheorie, Nationalempfinden und Tugendbildung bis hin zum Freundschafts- und Liebesbeweis verwenden. Nicht umsonst wurden alle diese Themen bereits mit der Kommentierung Ossians durch Hugh Blair angesprochen, der mit seiner begleitenden Dissertation die Rezeption des Werkes maßgeblich prägte. Das in den deutschsprachigen Quellen belegte Verständnis ossianischer Freude an Trauer wurde mit zahlreichen Diskursen der Zeit verbunden, d.h. die Lust an Trauer wurde in unterschiedlicher Weise funktionalisiert. Diese Möglichkeit, die Ossian dem Publikum eröffnete, beweist, wie zentral die Gefühlslage für das Verständnis des Textes war und mit welcher historischen Aktualität er auf seine Leser traf. Diskutiert man die Gefühlskultur Ossians als Teil der Kultur des 18. Jahrhunderts, tritt der elegische Grundton in einen Komplex relevanter Strömungen, die hier vorab angedeutet werden: Die für Schottland bedeutsame Nationaldichtung, wie sie Ossian ohne Zweifel darstellt, fungierte als kulturelle Identitätsstiftung 188
unter englischer Vorherrschaft und als Gegenentwurf zu Texten der klassischen Antike. Die zeitgenössische deutsche Auseinandersetzung berührte ihrerseits den politisch-nationalen Diskurs, indem sie eine vergangene Idealwelt in Kontrast zur Gegenwart setzte und sich zugleich um die Geschichte bzw. Legitimation ihrer Moderne bemühte. In Ossian wuchs Homer ein Rivale um den Status des Originalgenies heran. Die Empfindungen, die der Barde bei seinen Lesern erregte und die er mit ihnen offenbar teilen konnte, waren die wesentlichen Merkmale im Vergleich zum Griechen Homer. Der nämlich besaß ausdrücklich nichts von der sittlichen Gefühlsfähigkeit des Kelten. Die Aktualität dieser Eigenschaft für einen moralischen Menschen stand in Verbindung mit den Anforderungen der (schottischen) Moralphilosophie. Das Frauen- und Jugendbild der Zeit erhellt sich im Vergleich mit den Vorstellungen von einer zärtlichen Seele, die der sanften Melancholie verbunden war. Aber auch im Bereich des deutschen Pietismus schlug die von Ossian bestärkte Gefühlsstruktur bekannte Klänge an (z.B. die Freude an Wunden, Jesus als Schmerzensmann). Der Blut- und Wundenkult des Pietismus gelangte darüber hinaus in nationale Denkmuster.96 In Abgrenzung zu rein religiösen Texten hatte sich Macphersons Werk einer ästhetischen Form dieser Leiden genähert und verzichtete auf die Frage nach dem Sinn des Leidens. In der Jugendbewegung der Empfindsamkeit traf die ‚Wonne der Wehmut‘ auf enthusiasmierte Leser, die bewusst das Lesen und Nachempfinden der elegischen Gefühle zu einem Kult erhoben. Altruistische wie egoistische Momente der Kunsterfahrung standen im Umgang mit Ossian in stetigem Wechsel miteinander. Für die Debatten der Literaturkritiker lieferte die sanfte Melancholie im Ossian einigen Stoff zur Auseinandersetzung mit Schwärmertum und dem Zweck emphatischer Lektüre. An dieser Stelle kann ich nur kurz skizzieren, welchen Zeitraum der umfangreichen Ossian-Rezeption dieses Kapitel mit dem Fokus auf die Jahre zwischen 1763 und 1775 gewählt hat. Eine sehr umfassende und gute Übersicht über die deutsche Rezeption im 18. Jahrhundert bietet Wolf Gerhard Schmidt; an ihr habe ich mich weitestgehend orientiert.97 Die Frühphase der Rezeption (von den ersten Rezensionen 1763 bis zur Gründung des Göttinger Hains 1772) steht im Umkreis von Autoren, die dem Original rhetorisch stark verhaftet bleiben. Schmidt urteilt, sie entwickelten für eigene Produktionen wenig Innovatives, aber schöpften aus Ossians Motivrepertoire.98 Ich möchte dagegen betonen, wie Klopstock, der Graf von Gerstenberg oder der Übersetzer Michael Denis auch in der frühen Rezeption die sanfte Melancholie Ossians als natürliches Freiheitsempfinden für sich fruchtbar machten. Ihre Bardendichtung will das sentimental-melancholische Wesen einer Nationaldichtung ausloten, eine spezifisch deutsche Literatur der Vergangen-
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Vgl. Gerhard Kaiser: Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland. Ein Betrag zum Problem der Säkularisation. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1973. Vgl. Schmidt: „Homer des Nordens“ und „Mutter der Romantik“ (wie Anm. 2), Bd. 1 u. Bd. 2. Vgl. ebd., Bd. 1, S. 487.
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heit neu erfinden. In einer weniger politischen Hauptphase (circa 1772 bis 1790) sind es vor allem der Göttinger Hain mit Bürger und von Stolberg, aber auch Herder, Goethe, Lenz sowie später Moritz und Schiller, die Anregungen für ethische oder ästhetische Fragen im Ossian fanden. In diesem Kreis, besonders unter den jungen Enthusiasten des Sturm und Drang, begegnet man der stärksten Öffnung für die Erscheinung der ästhetischen Melancholie. Schiller entwickelte in dieser Zeit etwa die Vorstellung von der „süßen Wehmut“ des sentimentalischen Dichters.99 Übersetzungen wurden angefertigt, eigene Werke in Anlehnung an Ossian verfasst oder – wie im Fall Goethes – bereits über die Erfahrungen mit der Lektüre gearbeitet. Neben Goethe (in Straßburg um 1771) übersetzte auch Lenz 1775 Ossian ins Deutsche.100 Goethe sandte dessen Übersetzung an Jacobi, der sie in seiner Frauenzeitschrift Iris verwendete. Die dritte Phase der Rezeption reichte als Spätphase von circa 1790 bis hinein ins 20. Jahrhundert. Für dieses Kapitel soll ein Blick auf die Jahre zwischen 1763 und 1775 genügen, um bis zu Goethes und Moritz’ fiktionalen Lektüreerfahrungen und Interpretationen einer ossianischen Melancholie im Werther und Anton Reiser einen nachvollziehbaren Anschluss zu schaffen.
3.2.1 Die Zweifel an der Echtheit: Ein Sakrileg Nicht nur Johann Gottfried Herder wollte den seit 1770 virulenten Vorwurf der Fälschung Macphersons lange Zeit nicht hinnehmen – auch einige andere deutschsprachige Autoren ließen die Frage der Authentizität in den Hintergrund treten. Stattdessen wurde mehrheitlich das künstlerische Profil des vermeintlichen Barden Ossian erstellt, um derart einem Vertreter des literarischen Nordens näher zu kommen. Die Erwartungen an einen schottischen Nationalepiker stiegen mit den wie auch immer begründeten Hoffnungen auf seine Echtheit. Die Rezeption der Briten und Iren unterschied sich dabei von der des deutschsprachigen Publikums. Bereits in den frühen 1760er Jahren erschienen die ersten satirischen Schriften und Kritiken zu Ossian im englischsprachigen Raum.101 Hugh Blairs Vorwort zu den
99
Vgl. ebd., Bd. 2: Naiv, sentimentalisch oder ideal? Zur Präsenz, Funktion und Klassifizierung der „Poems of Ossian“ in Schillers Dichtung und Ästhetik, S. 847–872. 100 Lenz verwandte die Übersetzung „Lieder [bzw. Freude, K.B.] der Schmerzen“ statt „Wonne der Wehmut“. Vgl. Jakob Michael Reinhold Lenz: Fingal, ein alt Gedicht von Ossian 1775−1776. In: Iris. Vierteljahresschrift für Frauenzimmer. Bd. 3. 3. St. Düsseldorf 1775, S. 113–134, hier S. 131: „Aber, Carril, erhebe deine Stimme, und rufe mir her die Thaten der Vergangenheit. Schicke die Nacht in Liedern fort, gieb mir die Freude der Schmerzen. Manche Helden, manche Mädchen der Liebe haben gelebt in Innisfäl. Und süß sind die Lieder der Schmerzen, die um Albions Felsen ertönen.“ 101 Vgl. Dafydd Moore: The Reception of the Poems of Ossian in England and Scotland. In: Howard Gaskill (Hg.): The Reception of Ossian in Europe. Bristol 2004, S. 21–39, hier S. 24f: Macdonald, Donald: Three Beautiful and Significant Passages Omitted by the Translator of Fingal by Donald MacDonald (1762); John Wilkes: The Poetry of Professors (1762);
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Fragmenten von 1760 entfachte den Konflikt. In den 1770er Jahren setzten William Duff und Samuel Johnson die herbe Kritik am Ossian in ihren Schriften fort.102 Der von der Highland Society in Auftrag gegebene Report über die Funde möglicher Quellen Macphersons in den Highlands von 1805 schloss die Spekulationen nicht wirklich ab, ernüchterte jedoch die Diskussion. Zugleich erschienen in Großbritannien ebenso wie in den deutschsprachigen Ländern Bearbeitungen Ossians während der 1770er und 1780er Jahre.103 In Deutschland blieb man in der Frage der Echtheit weitestgehend verhalten. Rudolf Tombo schrieb, dass es für lange Zeit als „bad form for a German critic to doubt the authenticity of the poems“ angesehen wurde.104 Ein Briefwechsel zwischen Klotz und Denis, dem bekanntesten Übersetzer des Ossian, belegt dies. Im Jahr 1769 schrieb der Hallenser Philologe Christian Adolf Klotz an den OssianÜbersetzer Denis in Wien: „Aufrichtig unter uns geredet (denn dem Publico mag ich, darf ich es nicht sagen) ich kann mich immer noch nicht überreden, dass diese Gedichte völlig ächt wären.“105 Ebenso leise argwöhnend antwortete ihm Denis: „Dieses will ich Ihnen, werthester Freund! So vertrauet haben, wie Sie mir Ihren Zweifel über Ossians völlige Ächtheit vertrauen. Ich hatte ihn auch, diesen Zweifel; allein D. Blairs Abhandlung und Macphersons Betheurungen haben mich ziemlich beruhiget.“106 Wer sich offen zu dem Verdacht aussprach, Ossian sei gefälscht, riskierte den Vorwurf der Parteinahme für England, denn längst war auch diese Frage zu einem Politikum geworden. Friedrich Leopold von Stolberg etwa erklärte Emilia Schimmelmann in einem Brief vom 25. September 1776, Samuel Johnson habe seine Reise in die Highlands allein unternommen, um seinen Hass Anonym: Gisbal: a Hyperborean Tale (1762); Charles Churchill: The Prophecy of Famine (1763). Vgl. ebd. William Duff: Critical Observations on the Writings of the Most Original Geniuses in Poetry. Being a Sequel to the Essay on Original Genius (1770); Samuel Johnson: Journey to the Western Islands of Scotland (1775). Johnson zweifelte an der mündlichen Überlieferungen. Er war vehement gegen einen cultural nationalism der Schotten. 103 Vgl. Moore: The Reception of the Poems of Ossian (wie Anm. 101), S. 24f.: z.B. Ewan Cameron: Fingal (1777); Richard Hole: Arthur (1789); William Bowles: Fourteen Sonnets (1789); John Wodrow: Fingal Versified (1771). 104 Rudolf Tombo: Ossian in Germany. Bibliography. General survey, Ossian’s Influence upon Klopstock and the Bards. New York 1901, S. 73. 105 Christian Adolf Klotz: Brief vom 6. Juli 1769. In: Michael’s Denis Literarischer Nachlass. 2 Bde. Hg. v. Joseph Friedrich Freyherrn von Retzer. Bd. 2. Wien 1801, S. 169f., hier S. 169. „Mein Unglaube rührt daher, weil ich, bey Gelegenheit der Ausgabe der Kriegslieder des Tyrtäus, die alten Nordischen Gedichte fleisig gelesen habe. Lese sich sie, wie sie Saxo Grammaticus in seiner Geschichte, oder neuerlich Herr Mallet uns vorlegen, so haben sie mit dem Ossianischen viel Gleichheit, allein desto weniger mit den andern, unveränderten, Liedern, die auch aus den barbarischen, wörtlichen, aber treuen, lateinischen Übersetzungen kenne. Letztere sind viel rauer, weniger kunstreich, mehr mit Wiederholungen beladen, auch wohl reicher und fürchterlicher an schrecklichen Bildern, als jene.“ 106 Michael Denis: Brief vom 8.12.1769. Ebd., S. 170–173, hier S. 172. „Dennoch mag wohl an den Übergängen, an den Verbindungen der Stücke hin und wieder eine neure Hand polieret haben.“ 102
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auf die Schotten mit ‚Beweisen‘ zu untermauern.107 Aus Sicht des 19. Jahrhunderts ging James Macpherson als einer der kühnsten Fälscher in das Gedächtnis deutschsprachiger Leser ein.108 Ein anonymer Kritiker des 19. Jahrhunderts ernannte Macpherson nicht nur zum gerissensten Fälscher, sondern auch zum Talent, das eine ganze Schule gegründet habe, indem es einen Barden zum Nachahmer Miltons, Shakespeares, Youngs und der Bibel gemacht habe.109 Selbst bedeutende Männer hätten sich vor Ossian, dem falschen Götterbild, wie vor einem Götzen niedergeworfen und ihn angebetet.110
3.2.2 Das Lesen: Ein Rausch der Empfindungen Johann Gottfried Herder berichtete über seine erste Ossian-Lektüre, dass sie ein sinnliches und melancholisch machendes Ereignis gewesen sei, das pathetische Bilder inmitten des ansonsten normalen Alltags hervorrufen konnte: „Ich schwärmte auf jenen dürren Hügeln, ich verlohr mich in jenen Wildnissen von heiligen Schauern auf dem Meer, in Schlachtgefilden, in einsamen Gräber. Die Harfe Ossian goß ‚sanfte‘ Dämmerung um meinen Blick, in meine Seele.“111 Dieser Rausch wurde zum Kennzeichen ossianischer Erst- und Re-Lektüre über viele Jahrzehnte hinweg. Die Lektüre Ossians schuf eine Traumwelt, deren melancholische Bilder und Stimmungen von Leserinnen und Lesern gerne erinnert und wieder erlebt wurden. Um diesen Eindruck noch zu verstärken, suchte Herder, ähnlich den meditierenden Einsamen, die passenden Gelegenheiten. In Briefwechsel über Ossian (1773) hielt er fest, dass er während einer Schiffsreise 1770 vor Den Haag auf eine Sandbank auflief und während dieser Situation, der Naturgewalt hilflos ausgeliefert und dennoch Beobachter seiner Lage, Ossian mehr ideal erfahren als gelesen habe. Er stellt diesen Moment in einen Kontrast zur gewöhnlichen Lektüre eingebunden in profane Alltagsgeschäfte. Er, Herder, habe die Sicherheit des Sofas verlassen, um sich mental wie körperlich den Naturgewalten zu übergeben und so für einige Zeit in der Schwebe („zwischen Abgrund und Himmel schwebend“)
107
Vgl. Friedrich Leopold Stolberg: An Emilia Schimmelmann am 25.09.1776. In: Ders.: Briefe. Hg. v. Jürgen Behrens. Neumünster 1966, S. 83f., hier S. 84. 108 Vgl. TALVJ [d.i. Therese A.L. Robinson]: Die Unächtheit der Lieder Ossians und des Macperhson’schen Ossians insbesondere. Leipzig 1840. 109 Anonym: Ueber Alter und Aechtheit der Handschriften und Bücher vor und nach Erfindung der Buchdruckkunst. Erste Erörterung. In: Heinrich Müller Malten (Hg.): Bibliothek der Neuesten Weltkunde. Geschichtliche Uebersicht denkwürdiger Ereignisse der Gegenwart und Vergangenheit bei allen Völkern der Erde, in ihrem politischen, religiösen, wissenschaftlichen, literarischen und sittlichen Leben. Bd. 2. Teil 5. Aarau 1836, S. 101–125, hier S. 103f. 110 Vgl. ebd., S. 104. 111 Johann Gottfried Herder: Entwurf zum Aufsatz Homer und Oßian, Söhne der Zeit. In: Ders.: Sämmtliche Werke. Hg. v. Bernhard Suphan. 32 Bde. Bd. 18. Berlin 1883, S. 462–464, hier S. 464.
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erhabene Empfindungen zu erlangen. Statt durch ein rationales Verstehen müsse Ossian sympathetisch fern jeder Zweckrationalität rezipiert werden: Ossian zuerst, habe ich in Situationen gelesen, wo ihn die meisten, immer in bürgerlichen Geschäften, und Sitten und Vergnügen zerstreute Leser, als bloß amusante, abgebrochene Lectüre, kaum lesen können. […] Auf Einmal aus Geschäften, Tumult und Rangespossen der bürgerlichen Welt, aus dem Lehnstuhl des Gelehrten und vom weichen Sopha der Gesellschaften auf einmal weggeworfen, […] über einem Brette, auf offenem allweiten Meere, […] zwischen Abgrund und Himmel schwebend, […] – nun die Lieder und Taten der alten Skalden in der Hand, ganz die Seele damit erfüllet, an den Orten, da sie geschahen. […] und Ossians Lieder Wehmut sangen, […] da lassen sich Skalden und Barden anders lesen, als neben dem Katheder des Professors. […] Und das Gefühl der Nacht ist noch in mir, da ich auf scheiterndem Schiffe, […] mit Meer bespült, und mit Mitternachtwind umschauert, Fingal las.112
Bedrohung und Entzücken schufen die Mischung des scheinbar natürlich gegebenen Erhabenen, die der Bestürzung und Beseligung religiöser Todesmeditationen ähnelte. Jedoch ohne moralisch begrenzende Reglementierung blieb von der Erinnerung nur eine Emotion, das Gefühl einer Stimmung, die bei der Lektüre vorherrschte. Dass besonders gemischte Empfindung für das Gelingen einer solchen rauschhaften Begeisterung geeignet waren, wusste Herder schon in Über die neuere deutsche Literatur (1767) zu berichten. Am Beispiel der unglücklichen Liebe, wie sie im Ossian ausschließlich vorkommt, schrieb er über die Qualität einer solchen gemischten Empfindung, dass keine andere an sie heranreiche. Vielmehr stimuliere die sanfte Melancholie unglücklicher Liebe zu neuen Handlungen: Kein Mißvergnügen [ist, K.B.] uns so angenehm, als die verliebte Traurigkeit. Wenn ein andrer Schmerz bis zum Verdruß, ein andrer Verlust bis zur Verzweiflung, […] ein andrer Schrecken bis zum Entsetzlichen, ein andrer Unwille bis zum Ekel übergeht: so unterhält uns der verliebte Schmerz noch mit Annehmlichkeit: der verliebte Verlust macht uns nicht untröstlich: der verliebte Zorn ist ein kleines Wölkchen in der Morgenröthe, der verliebte Schrecken läßt uns die Zunge zu sprechen, und die Hand zu schreiben frei.113
Das Geheimnis der gemischten Empfindung liege in ihrer Sicherheit vor ernsthaften Konsequenzen: „Wenn ja die Thränen fließen: so mögen sie milde fließen, und wenn Seufzer gehört werden: so mögen sie uns zum sanften Mitleid stimmen, und nicht zur Bangigkeit quälen.“114 Die damit verfolgte Perfektionierungsstrategie ist einfach: Sollten Ursachen und Konsequenzen den Betroffenen nicht unmittelbar berühren, kann die gemischte Empfindung darüber als ein Vergnügen genossen
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Johann Gottfried Herder: Briefwechsel über Ossian (1773). In: Ders.: Johann Gottfried Herders Werke in 10 Bänden. Bd. 2.: Herders Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767−1781. Hg. v. Gunther E. Grimm. Frankfurt am Main 1993, S. 447–497, hier S. 456f. 113 Johann Gottfried Herder: Dritte Sammlung von Fragmenten. In: Ders.: Sämtliche Werke. 33 Bde. Hg. v. Bernhard Suphan. Bd. 1. Hildesheim 1967, S. 357–531, hier S. 487, Anmerkungen. 114 Ebd., S. 488.
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werden und ein Gleichgewicht des Affekthaushaltes erreichen, das die eigenen Fertigkeiten verbessert. Wie in Klopstocks Briefen an Meta Moller entwickelte Herder in seinen Briefen an die spätere Ehefrau Caroline Flachsland die sanfte Melancholie als Beweis seiner zärtlich-sehnsuchtsvollen Empfindungen für sie. Doch während Klopstock seiner Braut in naiv-sentimentalem Ton religiöse Demut und Todesphantasien beschrieb, sah Herder in Ossians Melancholie ein Zeichen origineller, durchaus lebhafter Naturerfahrung. Sympathetische Verbindungen knüpften im realen Leben wie im Ossian das Band zwischen zeitlich oder räumlich getrennten Personen. In einem Brief Herders an Caroline Flachsland stellte er selbst den Bezug der ossianischen Dichtung zur erbaulichen Lektüre dar und unterstrich den Unterschied, den er zwischen dem Genuss Ossians und der erbaulichen Lektüre machte. Die ‚nachempfindende‘ Lektüre der Autoren Klopstock und Geßner, die beide bekanntermaßen der religiösen Melancholie anhingen, zeichne Carolines Charakter als „hold und schön“ aus. Gleichzeitig aber sei das eine „holde Schwachheit“, die bekannte „Liebe unseres Jahrhunderts“, die zwar anmutig, aber weiter nichts Neues sei.115 Dagegen empfehle er ihr die „Liebe in den alten schottischen Bardenliedern“: „[N]ur in ihnen ist sie die ganze Zartheit und Süßigkeit, und Anmuth, und Adel und Stärke, und die feine Reinigkeit der Sitten, die uns ganz einnimmt, uns aber doch nie zu etwas mehr, als Menschen macht.“116 Statt den Menschen in Bildern sanfter Melancholie zu einem übersinnlichen Wesen zu machen, errichte Ossian eine Autonomie des Menschen, die ihn noch stärker empfinden lasse. In einer Zukunftsvision teilte Herder seine Freude über die gemeinsamen, empfindsamen Leseerlebnisse mit, bei denen seine Gegenwart Caroline hilfreicher sein werde als beim relativ abenteuerlosen Klopstock. Herder lud Caroline Flachsland mit Ossian zu einem (amourösen) Abenteuer ein, das seiner Vision vom Paradies näher kam als Klopstocks Fiktionen: „Aber das fühle ich noch stets, mein Eden ist mehr eine alte Celtische Hütte auf einem rauhen Gebürge, zwischen Frost und Sturm und Nebel; als mir Geßner und Klopstock ihr süßes Eden in Orient, ihren Himmel und ihr Paradies mahlen können.“117 Geßner und Klopstock standen ihm für die ältere, religiöse Idyllendichtung, deren idealisierte Menschendarstellung und darin gebettete Gottesbilder für Herder nicht zu der Glaubwürdigkeit gelangten, die er im Ossian zu finden glaubte. Die Lebendigkeit der keltischen Krieger kombiniert mit ihren empfindsamen Eigenschaften ergab für ihn ein zeitgemäßeres Menschenbild
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Johann Gottfried Herder: Brief an Caroline Flachsland am 28.10.1770. Nr. 110. In: Ders.: Briefe. Gesamtausgabe 1763–1803. 17 Bde. Bd. 1: April 1763−April 1771. Bearbeitet von Wilhelm Dobbek und Günter Arnold. Hg. v. Karl-Heinz Hahn. Weimar 1977, S. 268–272, hier S. 270. 116 Ebd., S. 270. 117 Ebd.
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und eine intensivere Leidenschaftlichkeit. Diese Lektüreerfahrung wollte er mit seiner „gefühlvollen“118 Freundin Caroline teilen. Gemeinsame empathische Lektüre war mit Beginn ihrer Bekanntschaft ihre liebste Beschäftigung.119 Sie ermögliche die gemeinsame Herzensbildung: „Wir wollen die Natur und die Güte des Herzens gemeinschaftlich lieben lernen, und immer unser Herz verschönern, als wenn wir zusammen läsen.“120 Die Empfehlung melancholischer Empfindungen blieb dabei ein Charakteristikum der Werbung Herders um Caroline.121 Die frühe Trennung von der noch fast unbekannten Geliebten wurde ihm in der Erinnerung zu einer „Wonne der Wehmut“: „Noch unmittelbar im Augenblick des Abschieds eine himmlische, selige Viertheilstunde, in der alle Ihre Tugenden, […] und die ganze Wonne der Wehmut sprachen […]. Und noch jetzt […] sitze ich da […] um mit meiner Phantasie noch einmal die weiche, liebe Thräne aus Ihrem Auge zu küßen.“122 Mit einer „Thräne innigster Melancholie“ empfiehlt Herder sich, Carolines tugendhafte Empfindungen anhand von Literatur zu schulen.123 Wie Herder, so zog es auch den jungen Friedrich Leopold von Stolberg zur Ossian-Lektüre in die Natur. Stolberg, der ebenfalls die sanfte Melancholie, die der Text für ihn evozierte, besonders schätzte, sowie seine beiden Reisebegleiter (sein Bruder Christian von Stolberg und Christian Heinrich von Haugwitz) suchten sich ihre idyllischen Lese-Plätze in der Schweiz 1775 gezielt für diese naturverbundene Lektüre aus, die ihnen Werther schon vorgeführt hatte.124 Homer und Ossian wurden gleichermaßen als die Texte unverbildeter Original-Genies gelesen, die dem Naturschauspiel, das sich während der Lektüre bot, angemessen waren. Stolbergs Beispiel erklärt ebenso, dass es die Idee einer natürlichen und originellen sanften Melancholie war, die die Leser anspornte, diese bei der eigenen Lektüre nachzuempfinden bzw. überhaupt erst empfinden zu können. Auf diese Weise war Ossian
118
Johann Gottfried Herder: Brief Herders an Caroline Flachsland am 25.08.1770. Nr. 83. Ebd., S. 188–191, hier S. 188–190. 119 Vgl. ebd., S. 190: „Da wir nachher im Brunnenwalde zusammen lasen und fühlten.“ 120 Ebd. 121 Vgl. Johann Gottfried Herder: Herders Brief an Caroline Flachsland am 27.08.1770. Nr. 84. Ebd., S. 191f., hier S. 191: „Auch das traurige Vergnügen des Abschieds selbst ist, vortrefliche Freundin, uns nicht zu Theil geworden, wie ichs wünschte.“ 122 Johann Gottfried Herder: Herders Briefe an Caroline Flachsland am 30.08.1770. Nr. 88. Ebd., S. 197–200, hier S. 197. 123 Vgl. ebd., S. 198. 124 Vgl. Stolberg: 11.–13. Juni 1775 an Henriette von Bernstorff. In: Ders.: Briefe (wie Anm. 107), S. 47–49, hier S. 49: „An einem Bergufer hab’ ich mir in der Höhe eine Höhle ausgeefunden, wo ich mir gegen über einen hohen mit Tannen bedeckten Berg habe […] Ein Moosstück ist mein Sitz, und eine Tanne, deren Stamm sich unten krumm biegt, mein Fußschemel. Da will ich oft, müde vom Gehen und Steigen, sitzen, die Gegend bewundern und im Homer lesen. Denn nur die Bibel, Homer und Ossian gehen mit uns auf’s Land. Haugwitz hat sich schon einen Platz gefunden, von welchem er wunder erzählt; mein Bruder sucht und wählt noch.“
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zu einem Dokument und aktiv gebrauchten Instrument empfindsamer Emotionsphänomene geworden. Das rauschhafte Erlebnis des 26-jährigen Herder auf See gab 1779 auch der Schreinergeselle Matthias Hermann Dühn aus Hamburg in seiner Dichtung Ueber Ossian wieder. Ein naturverbundener und empfindsamer Charakter erreiche mit seiner Hilfe erhabene Gedanken und Gefühle. Dühn ‚verstand‘ Ossian seiner Auffassung nach affektiv und ohne intellektuelle Voraussetzungen. Die „Wonne der Wehmut“ lasse nicht nur den irrenden Geist höhere Sphären blicken, sondern auch jeden einzelnen Nerv im Körper erschauern.125 Der Text ermögliche es dem zeitgenössischen Leser, durch eine empathische Lektüre die Lebendigkeit der unverbildeten Vorfahren leibhaftig zu spüren. Ossian wurde damit zum Kultobjekt mehrerer Generationen,126 denn fast ein Jahrzehnt später war der junge Friedrich Hölderlin ebenso von diesem Rausch der Lektüre befallen, als er Immanuel Nast schrieb, er habe einen Text entdeckt, der ihm bei jeder Lektüre erneut sanfte Melancholie verschaffe: Eine Neuigkeit! eine […] herzerquickende Neuigkeit! Ich habe den Ossian […] Homers großen Nebenbuhler hab’ ich in den Händen. Den mußt Du lesen, Freund – da werden Dir Deine Thäler lauter Konathäler […] Dich wird so ein süßes wehmütiges Gefühl anwandeln – Du mußt ihn lesen […] Er muß mit nach Nürtingen in die Vakanz, da les’ ich ihn so lang, bis ich ihn halb auswendig kann.127
Der ebenfalls 17-jährige Novalis gab etwas später seiner Begeisterung für den Barden Ausdruck in Form einer Ode („Heil dir, Ossian! / Heil dir Sänger von Colma! / Siehe mir bebt in weinender Entzückung / Der Tränen freudigste / An der seidenen Jugendwimper“128). Das Jugendphänomen der Begeisterung hielt sich ungewöhnliche 40 Jahre aufrecht und kann auch noch am Beispiel von Hölderlins Hyperion (1797/8) beobachtet werden, in dem die sanfte Melancholie unter der ossianischen Formel „Wonne der Wehmut“ die Liebe zur schönen Diotima begleitet.129 In herausragender Weise steht die gemischte Empfindung hier aber auch für
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Mathias Herrmann Dühn: Ueber Ossian. An Herrn Dahlberg 1779. In: Die Schreibtafel (1779), S. 92–97, hier S. 92: „So unsterblicher Barde! / Ergötzest du mich / jeden, der liebt die schöne Natur, / Der Freu’ an ernsten, festlich-hohen Gedanken / Hat; fähig ist zu fühlen // Die Wonne der Wehmuth, wenn im rauschenden Hain, / Denkend er irrt, und in höh’re Sphären / Mit muth’gem Flug sich schwingt, daß der Entzückung Schauer / Durch jede Nerve ihm bebt.“ 126 Vgl. Schmidt: „Homer des Nordens“ und „Mutter der Romantik“. Bd. 1 (wie Anm. 2), S. 469. 127 Friedrich Hölderlin: Brief an Immanuel Nast Frühjahr 1787. In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe. 3 Bde. Bd. 3: Die Briefe, Briefe an Hölderlin, Dokumente. Hg. v. Jochen Schmidt. Frankfurt am Main 1992, S. 20f., hier S. 20. 128 Novalis/Georg Friedrich von Hardenberg: An Ossian (Fragment 1789). In: Ders: Briefe und Werke. Hg. v Ewald Wasmuth. Bd. 2. Berlin 1943, S. 222f., hier S. 222. 129 Vgl. Friedrich Hölderlin: Hyperion oder der Eremit in Griechenland. Stuttgart 1998, S. 60: „Diotima und ich gerieten voraus, vertieft, mir traten oft Tränen der Wonne ins Auge, über das Heilige, das so anspruchslos zur Seite mir ging.“; ebd., S. 52: „Ich liebe dies Griechenland überall! Es trägt die Farbe meines Herzens. Wohin man siehet, liegt eine Freude begraben.“
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die alle Lebensbereiche umspannende Sehnsucht des Hyperion nach dem idealisierten Griechenland.
3.2.3 Funktionalisierungen sanfter Melancholie zwischen 1765 und 1775 In weiten Teilen lassen sich die poetologischen Wunschvorstellungen Blairs oder Herders, die ihre Interpretationen Ossians aufweisen, auch auf die Bildung eines Nationalverständnisses übertragen. Nicht nur ästhetisch-poetische und ethischpraktische Diskurse der Zeit waren eng verknüpft, sondern Texte wie das schottische Nationalepos fügten diesem Geflecht auch eine politisch-kulturelle Ebene hinzu. Auffällig ist hier, dass Ossian von deutschsprachigen Rezensenten immer auch mit Blick auf ihre Gegenwart interpretiert wurde und doch seltener als Text der Zeit, aus der er vorgab, zu stammen. Die sanfte Melancholie des keltischen Barden sollte ebenso Bestandteil der germanischen Nationaldichtung und Teil des genialischen Wesens eines Nationaldichters sein. Die vermeintliche natürliche Verbundenheit des Barden zur affektregulierenden und poetisch stimulierenden Melancholie, die Blair postulierte, konnte mit gleichem Recht für die deutsche Nationaldichtung gefordert werden. Die besondere Lebendigkeit der Gefühle in der Ur-Dichtung der Kelten wurde zum Ideal nordischer (bzw. germanischer) Dichtung. Die Gefühlsstärke, die Ossian und seine Krieger in Gesängen und Taten immer wieder betonten, sollte ebenso ein Teil der germanischen Identität sein, die aus wenigen Überlieferungen und Visionen der Zeitgenossen rekonstruiert werden musste. In einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker (1773) begeistert sich Herder für die Stärke der Empfindungen des Barden. Zugleich entlastet er Macpherson, indem er betont, die Gegenwart sei zu verweichlicht, um diesen Text hervorzubringen: „So etwas kann Macpherson unmöglich gedichtet haben, so etwas läßt sich in unserm Jahrhunderte nicht dichten!“130 Als Erklärung betrachtet Herder seine Wahrnehmung der Gegenwart: „Freilich sind unsre Seelen heut zu Tage durch lange Generationen und Erziehung von Jugend auf anders gebildet. Wir sehen und fühlen kaum mehr, sondern denken und grübeln nur, wir dichten nicht über und in lebendiger Welt, im Sturm […] solcher Empfindungen.“131 Immer wieder klang in der Argumentation für Ossians Melancholie eine unverfälschte Lebendigkeit menschlichen Empfindens jenseits zivilisierter Gesellschaften an. An diese Leidenschaftlichkeit solle Ossian in produktiver Weise erinnern.
130 131
Herder: Briefwechsel über Ossian (1773). In: Ders.: Herders Schriften zur Ästhetik und Literatur (wie Anm. 112), S. 447–497, hier S. 448. Ebd., S. 474.
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Sympathetische Empfindungen wie die gemeinsam genossene sanfte Melancholie der Kelten im Ossian waren einsetzbar in den Versuchen, eine deutschgermanische Identität über gemeinsame kulturelle Phänomene zu schaffen. Die sympathetische Lust am Leiden, die den Ossian durchzieht, stand im 18. Jahrhundert in einem Spannungsfeld zwischen nationalem Geschichtsrekurs, Genieästhetik und Sozialkritik. Sie sollte die gemeinsame Erinnerung an ein verlorenes kulturelles Erbe begleiten, den Dichter der Neuzeit auf seine genialen Vorfahren hinweisen und die nationale Identität auf kollektiven Gefühlsphänomenen gründen, die über Ländergrenzen und Regierungsformen hinausgingen. Wie später Herder in seinem Shakespeare-Aufsatz, kam man zu der Überzeugung, dass das Klima die Vorliebe der Schotten für Melancholie hervorgebracht habe und daher die Empfindungen, wie sie im Ossian gezeigt werden, vollkommen authentisch und auf natürliche Weise mit dem Wetter der Region zusammenhingen. Schon bei Erscheinen der ersten Gesamtübersetzung durch Michael Denis schrieb ein Rezensent für die Bibliothek der schönen Wissenschaften: Ueberhaupt ist es ein characteristischer Zug des Oßians im Schmerze Wonne zu fühlen; und eine süße Melancholie athmet immer des Barden weichgeschafne Seele. Diese besondere Eigenthümlichkeit dürfte vielleicht viel Stoff in der Gegend selbst gefunden haben, die Oßian bewohnte. […] Das düstre, wolkigte, nebelichte Clima des Oßians nährte die süsse Traurigkeit, in die er verliebt war, und seine Gedichte so sehr originell machet.132
Viele Auseinandersetzungen mit der Melancholie als spezifisch ‚englische Krankheit‘ taten ihr Übriges, um diese populäre These weiter zu entwickeln. Neben Schottlandreiseberichten prägte Ossian die deutschen Schottlandbilder seiner Zeit und man verband ihn mit spezifischen Stimmungsbildern, Landschaftserfahrungen oder Themenbereichen (vgl. Herders Idee einer zukünftigen Schottlandreise oder Brentanos Interpretation von Caspar D. Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer). Im Anschluss daran begannen deutsche Dichter das eigene ‚kulturelle Klima‘ zu ergründen und derart eine Nationalliteratur zu schaffen. Das Ergebnis trat in Form von Bardendichtung der 1760er Jahre durch Autoren wie Michael Denis, Gerstenberg oder Klopstock auf, die zu diesem Zweck eigene Barden-Namen entwickelten, um sich in solche zu verwandeln. Eine kuriose Wendung nahm das sublimierte Leiden der ossianischen Helden, als deren Adaption in deutscher Bardendichtung mit dem sehr plastischen Blutund Wundenkult des Pietismus in Verbindung gebracht wurde. Die genossene Melancholie Ossians und seiner Krieger war aufgrund der religiösen Tradition schöner Leiden anschlussfähig an den in der deutschen Bardendichtung ästhetisch transformierten Blut- und Wundenkult. Dies beweist erneut, wie eng die ästhetische Darstellung sanfter Melancholie an religiöse Motive gebunden war. Die ers132
Anonym: [Rezension] Die Gedichte Ossians eines alten celtischen Dichters. In: Christian Adolf Klotz (Hg.): Deutsche Bibliothek der schönen Wissenschaften. Bd. 4, St. 15. Halle 1769, S. 531–548, hier S. 536.
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ten deutschen Barden bedauerten im Gewand ihrer Vorbilder den Verlust einer solchen Bardenkultur in Deutschland und widmeten ihre Texte dem keltischen Vorbild. Wie Gerhard Kaiser dargelegt hat, gab es eine klare Verbindung zwischen dem religiösen Schwärmertum des Pietismus und patriotischer Euphorie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.133 In diesen Prozess hinein wirkte die Lektüre des Ossian, der ein heldenhaftes Kriegertum bot. Die Spiritualisierung des Patriotismus, die mit dieser Kombination eintrat, ist vergleichbar mit einer Verinnerlichung einer Vaterlandsidee. Identifikations- und Wahrnehmungsprozesse sollten über kodierte, kollektive Empfindungen vermittelt werden. Kaiser argumentierte, es handle sich damit um eine Ausflucht aus dem praktisch verstellten Weg der politischen Einheit Deutschlands.134 Die lyrisch-epische Bardendichtung durch Klopstock, Gerstenberg und Denis versammelte sich hinter einer Idee des Barden, die der Auserwähltheit der Propheten in gewisser Weise nahe kommt. Die dabei auftretenden historischen Unsicherheiten stellten kein Problem dar, denn Werke wie Klopstocks Hermannstrilogie verlangten keine historische Treue. Als Schüler Klopstocks folgten in einer zweiten Welle die Dichter des Göttinger Hains. Während die rein religiöse Wundensymbolik bei Pietisten wie Zinzendorf Mitte des Jahrhunderts noch erotische Züge angenommen hatte, entwickelte sich unter den Barden daraus eine martialische Märtyrerdichtung, die auf die Kenntnis und Begeisterung des Publikums für Opferdienste bzw. den Opfertod Jesu bauen konnte.135 Das „masochistische Leidverlangen“136 der Pietisten überlagerte sich mit Ossians ästhetisiertem Leiden in Klopstocks Dichtung, in dessen Messias sich ebenso klare Spuren dieser Märtyrerfigur im Mittler finden. Gerstenbergs Gedichte eines Skalden (1766), Klopstocks Der Jüngling, Thuiskon und Hermann (1767) bzw. Hermannsschlacht (1769) zeugen von solchen literarischen Versuchen eine germanische Vergangenheit unter neuzeitlichen ästhetischen, politischen und quasi-religiösen Gesichtspunkten zu gestalten. Die sanfte Melancholie wurde zu ihrem wichtigsten wirkungs- und produktionsästhetischen Phänomen. Klopstocks Figur des Hermann kann als ein Versuch deutscher Gegenkonzeption zum Ossian gelesen werden. Er entwickelte eine Heldengestalt, die er als ebenso authentisch verstand.137 Im Unterschied zur ossianischen Dichtung gehen Klopstocks Helden nach ihrem Tod in die Walhalla ein; sie benötigen nicht den feierlichen Gesang, den Ossian betont. Dennoch ist die Rolle des Barden bei Klopstock ausgeprägt, nach germanischem Vorbild führen die Barden die Krieger unter Schlachtgesängen in den Kampf. Wesentlich martialischer als im Ossian ist die Ausrichtung der Krieger auf Tod und Blut. Nicht selten ist hier die Rede vom 133 134 135 136 137
Vgl. Gerhard Kaiser: Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland (1973), S. 46. Vgl. ebd., S. 49. Vgl. ebd., S. 127. Vgl. ebd., S. 130. Vgl. Sandro Jung: The Reception of Ossian in Klopstock’s Hermanns Schlacht. In: The Reception of Ossian in Europe (wie Anm. 101), S. 143–155, hier S. 144.
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„schönen Töten in der Schlacht“ und dem „schönen Tod“.138 Doch Ossian und Herrmann teilen die Klage über den Verlust der Freunde. Ohne schwere Verluste schien der Sieg in beiden Fällen von geringerem Wert zu sein. Klopstock geht soweit, die Textgestalt Ossians zu imitieren und den keltischen Barden zuletzt persönlich auftreten zu lassen. Der entscheidende Unterschied liegt in der Ausrichtung der Personen auf deren Todeswunsch. Während Macpherson seine Helden in einem permanenten Todeswunsch leben ließ, legte Klopstock den germanischen Helden einen Zweck ihres Sterbens nahe: „the liberty of the Cheruscan people“.139 Im Gegensatz zu Macpherson gab die deutsche Bardendichtung der Funktionalisierung sanfter Melancholie eine offensivere politische Ausrichtung. Die Bardendichtung Kretschmanns,140 Eschenburgs141 und Denis’ adaptierte Ossian als ein letztes greifbares Denkmal bardischer Kultur, das für deutsche Interessen verwendet werden konnte.142 Obwohl diese Bardendichtung von Herder und anderen kritisiert wurde, blieb das Genre nicht zuletzt aus politischen Gründen bis ins 19. Jahrhundert hinein beliebt (vgl. Freiligraths Balladen). Bezeichnenderweise diente eine künstlich angelegte, aus Versatzstücken arrangierte Geschichte Schottlands (bzw. des ‚germanischen‘ Nordens) zur nationalen Identitätsstiftung und zum Vorbild von verlorener Natürlichkeit. Unumstößliches Bindeglied in dieser lose konstruierten, an historischen Fakten armen Vorstellung war die Idee einer gemeinsam genossenen Melancholie. Die Trauer des Barden Klopstock oder Denis blieb eine ästhetische Trauer um eine verlorene Utopie. In einer poetologischen Ausrichtung hatte die Lektüre Ossians in deutschsprachigen Ländern nicht unerhebliche Wirkung auf die Vorstellungen von erhabener, ursprünglicher Literatur der Vorfahren. Autoren und Kritiker bemühten sich am Vorbild Ossians eine neue Literatur zu entwickeln, die den empfindsammelancholischen mit dem erhaben-ästhetischen Diskurs der Zeit verband.143 Nicht der fragmentarische Charakter des Werkes oder seine archaisch anmutende Sprache wirkten besonders stark fort, sondern Ossians Vorliebe für die „joy of grief“. Die sentimentale Erinnerung an vergangene Freude in sanfter Melancholie wurde zu einem Charakteristikum Ossians, das die Zeitgenossen als wahrhaft erhaben und poetologisch ideal erachteten. Nicht selten jedoch wurden dafür keine kunsttheoretischen Argumente gebraucht, sondern eine wirkungsästhetisch gedachte,
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Vgl. ebd., S. 151. Ebd., S. 155. Vgl. Karl Friedrich Kretschmann: Der Gesang Ringulph’s des Barden. Leipzig 1769. Vgl. Johann Joachim Eschenburg: Comala. Ein dramatisches Gedicht. Braunschweig 1769. Harro Zimmermann: Freiheit und Geschichte. Friedrich Gottlieb Klopstock als historischer Dichter und Denker. Heidelberg 1987, S. 182. 143 Vgl. Schmidt: „Homer des Nordens“ und „Mutter der Romantik“. Bd. 2 (wie Anm. 4), S. 660f.: „die Ossianrezeption, die sich gerade durch die Vernetzung des empfindsammelancholischen mit dem erhaben-genieästhetischen Diskurs auszeichnet und damit zu einem wesentlichen Faktor für die Konstituierung der neuen literarischen Tendenz wird.“
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Wahrheit der Empfindungen‘ sollte dessen Status als geniale Komposition der keltischen Geschichte untermauern. Das Kapitel 3.1 hat aufgezeigt, inwiefern die Kommentierung des Ossian durch Hugh Blair um die Etablierung eines schottischen Originalgenies bemüht war. Er verband auch Ossians Genie mit der Darstellung des Erhabenen.144 Diese Bestrebungen trafen in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts mit der deutschen Geniedebatte zusammen. In Großbritannien war Edward Young schon 1759 mit einem Aufsatz über die Originalwerke auf unverbildete Genialität eingegangen, der bereits 1760 in Leipzig in deutscher Sprache erschien und die Ideen des Sturm und Drang beflügelte.145 William Duff folgte 1767 mit einem Essay on Original Genius, der Ossian als ein frühes Beispiel des Genies aufführt.146 Der genius, zuvor als geistige Fähigkeit einer Person verstanden, verselbstständigte sich mehr und mehr zum Idealtyp der Autorschaft und trat mit seinen Charakteristika in enge Verbindung zu nationalen Diskursen. Goethe, Herder und Lenz sahen das Genie als autonom von äußeren Einflüssen. In ihrer Diskussion über seine Eigenschaften wurde Ossian beispielhaft für nordeuropäische Autoren als Genie geführt. Sensibilität und Leidenschaftlichkeit, Lebendigkeit, natürliche Authentizität und Freiheit so wie Ossian sie vertrat, wurden durch ihn als Eigenschaften des Genies belebt. Anschließend an das antike Ideal des gemäßigt melancholischen Genies fand sich diese traditionelle Anforderung auch im Ossian erfüllt. Ossians Leidenschaften bleiben in einem harmonischen Mittelmaß: „Ossian himself, appears to have been endowed by nature with an exquisite sensibility of heart; prone to that tender melancholy which is so often an attendant of great genius.“147 Die Einflüsse Ossians auf die Genie- und Poetikdebatte innerhalb des 18. Jahrhunderts reichten weit. Besondere Merkmale des Genies Ossian belebten die Diskussion um seine Genialität. Zum einen war er kein christlicher Autor, was zum Teil die Begeisterung der Zeitgenossen mäßigte, im Umkehrschluss besaß seine ästhetische Melancholie dadurch aber auch eine besondere, kraftvolle Autonomie, die seine Persönlichkeit vor ein übergeordnetes metaphysisches Weltbild rückte. Ossian wurde außerdem, z.B. im Werther, als leidendes und damit tragisches Genie rezipiert.148 Die Mühelosigkeit des regellosen Schaffens war zudem ein Merk-
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Vgl. Blair: A Critical Dissertation (wie Anm. 2), S. 63: „The sublime ist not confined to sentiment alone. It belongs to description also. […] [It, K.B.] imports such ideas as presented to the mind, as raise it to an uncommon degree of elevation, and fill it with admiration and astonishment. This is the highest effect of […] poetry: And to produce this effect, requires a genius.“ 145 Vgl. Edward Young: Conjectures on Original Composition: In a Letter to the Author of Sir Charles Grandison. London 1759; ders.: Gedanken über die Original-Werke. In einem Schreiben des D. Young an den Verfasser des Grandison. Leipzig 1760. 146 Vgl. William Duff: Essay on Original Genius; and ist Various Modes of Exertion in Philosophy and the Fine Arts, Particularly in Poetry. London 1767. 147 Blair: A Critical Dissertation (wie Anm. 4), S. 15. 148 Vgl. Schmidt: „Homer des Nordens“ und „Mutter der Romantik“. Bd. 1 (wie Anm. 2), S. 323.
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mal des Genialen, konnte es sich doch so von der handwerklich mühevollen Dichtung absetzen. Schnell reihte sich Ossian in die Gruppe der Originalgenies ein, indem er als archaischer Dichter den Menschen in seiner unverfälschten Natürlichkeit und im Hinblick auf seine ureigensten Gefühlsregungen zu beschreiben bzw. erreichen vermochte. Noch hinzutretende Merkmale des Genies Ossian waren seine Natürlichkeit und Glaubwürdigkeit als fühlender Mensch. Immer wieder wurde er in der Rezeption als Beispiel des ungebrochenen, natürlich empfindenden Urmenschen dargestellt, dessen Zustand für immer verloren sein sollte. Daraus aber ergab sich für die Kritik auch der Eindruck einer wahren Erhabenheit, eines tieferen Fühlens von melancholischer Schönheit und einer ungekünstelten Harmonie, von denen das Werk als ein Relikt zeuge. Dem Leser des 18. Jahrhunderts eröffnete dieser vermeintliche Verlust im Vergleich zur erlebten Gegenwart eine weitere Ebene melancholischer Reflexion. Die sich aus diesen Eindrücken entwickelnde Theorie vom gefühlvollen UrGenie hatte nicht geringe Überschneidungen mit moralphilosophischen Diskursen, die die kultivierenden gemischten Empfindungen als Mittel zur Tugendbildung verstanden. Evident wird, wie eng ästhetische und ethische Diskurse Mitte des 18. Jahrhunderts beieinanderlagen. Homer mit seiner vergleichsweise deskriptiven, oft als emotional teilnahmslos beschriebenen Dichtung konnte Ossian als Exempel für moralische Kultivierung nicht übertreffen. Diesen Überlegungen nach war das gefühlvolle Genie ein erzieherisches Vorbild moralischen Fühlens und Handelns. Schillers Begriff von sentimentalerhabener Dichtung basiert zu einem gewissen Teil auf dem Bild vom ebenso gefühlvollen Barden, einem elegischen Dichter, der „süße Wehmut“ zu schaffen vermag. Wolf Gerhard Schmidt beschrieb die sanfte Melancholie als spezifisches Charakteristikum des elegischen Dichters nach Schiller: [T]he elegiac poet […] evokes a mixed emotion resulting from his mediating position as a poet. For he has always to deal with contrasting ideas and sensations, with reality as a limit and the idea as the infinite […] Therefore, modern authors feel attached to lost nature with ‚süße Wehmut‘ (sweet nostalgia/melancholy) […] A look at the aesthetic performation of the term suggests that this is only one among Schiller’s many paraphrases of the Ossianic ‚joy of grief‘.149
Im Gegensatz zum antiken Griechen hänge der neuere Dichter mit „süßer Wehmut“ als einem „moralischen Gefühl“ an der Natur.150 Eine der ersten Rezensionen zu Ossian schrieb Christian Felix Weiße 1766 für die Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste. Sie gilt als 149
Wolf Gerhard Schmidt: „Menschlichschön“ und „kolossalisch“: The Discursive Function of Ossian in Schiller’s Poetry and Aesthetics. In: The Reception of Ossian in Europe (wie Anm. 101), S. 176–197, hier S. 192. 150 Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung. Hg. v. Klaus L. Berghahn. Stuttgart 2005, S. 25.
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richtungsweisend für die frühe Rezeption. Weiße entdeckte, dass die sanfte Melancholie sich als gemischte Empfindung sehr gut in die Stilmittel des Ossian einfüge, da das Werk sich durch Kontrastierungstechniken auszeichne. Als eine der herausragenden Eigenschaften Ossians nannte er die Fähigkeit, zwei konträre Dinge miteinander in Beziehung zu setzen und somit einen verstärkenden Effekt zu erzielen: Sehr oft werden zwey Objekte in ein Gleichniß gebracht, die im eigentlichsten Verstande keine Aehnlichkeit mit einander haben, als in so fern sie in der Seele gewisse übereinstimmende Ideen hervorbringen, so daß die Erinnerung des einen den Eindruck des andern belebt und erhöhet. Eine Probe wird aus dem Ossian gegeben, wo das Vergnügen, mit dem ein alter Mann auf die Tage seiner Jugend zurücke sieht, mit der Schönheit eines feinen Abends verglichen wird: die ganze Aehnlichkeit liegt in der Wirkung einer stillen und ruhigen Freude.151
Die erwähnte stille und durch eine Kontrastierung erreichte Freude führt zuletzt auf die sanfte Form der Melancholie als übergreifende Textstrategie zurück. Aus elementaren Kontrasten schöpfe der Text seine Wirkungskraft: „Der Contrast, den Ossian häufig zwischen seinem vorigen und itzigen Zustande machet, verbreitet über seine Gedichte eine gewisses Feyerlichkeit, die auf jedes Herz einen Eindruck machet.“152 Dennoch ergebe sich bei all den Gegensätzen eine Harmonie und damit Vollkommenheit, da Ossian darauf achte, alle Vergleiche am strategisch passenden Ort zu führen: „Die Hauptregel in Absicht auf die poetischen Gleichnisse ist, daß sie am gehörigen Orte stehen, wenn die Seele sie zu empfinden geschickt ist, nicht in der Mitte einer stürmischen Leidenschaft.“153 Dieses Arrangement gelinge Ossian Weiße zufolge aufgrund seiner Genialität und nicht durch das Befolgen von Regeln. Das Erhabene finde sich so nur in den völlig unkultivierten „wilden Scenen der Natur, mitten unter Felsen, Strömen, Wirbelwinden und Schlachten“.154 Folgen wir Weiße, so hindere keine Künstlichkeit den Blick des Lesers auf die UrDichtung, die sich über zeitgenössische Kunstformen erhebe. Der von Herder geforderte Volkston der Vorzeit schien entdeckt. Die sanfte Melancholie nahm darin die Stelle eines künstlerisch aktivierenden, moralisch erziehenden Urgefühls ein, das besonders das Genie in hohem Maße empfinde. Durch die Ästhetisierung der sanften Melancholie als wirkungsästhetisches Produkt ossianischer Gesänge wurde ihre ethische Funktion immer häufiger in den Hintergrund gedrängt. In der Rezeption Ossians entwickelte sich das literarische Motiv der ‚joy of grief‘ in deutschsprachigen Ländern zu einer Formel, die die Tradition kontemplativer religiöser Todesmeditation in ihr kulturelles Erbe mit einschließen wie auch die autonomen Erhabenheitserfahrungen Ossians betonen konnte. Literaten bedienten sich ihrer jedoch zunehmend, um ein kontemplativ-ele151
Christian Felix Weiße: [Rezension] The Works of Ossian. In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste. Bd. 3. Erstes Stück. Leipzig 1766, S. 13–38, hier S. 27. 152 Ebd., S. 37. 153 Ebd., S. 28. 154 Ebd., S. 33f.
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gisches Empfindungsphänomen zu evozieren, dessen Erlangung sich von bisherigen wirkungsästhetischen Strategien entfernte oder um das Verfahren der Evozierung zu verkürzen. Schon Stichworte wie z.B. „Klopstock“ eröffneten einen empfindsamen Gefühlskontext und weckten literarische Assoziationen.155 Die Nennung des empfindsamen Stichworts genügte, um sympathetische Empfindungen zwischen Menschen zu entwickeln. Jedes Wort mehr hätte das Individuum in seinen neu gewonnenen Freiheiten eingeschränkt. Diese Entwicklung, die in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts anbrach, benötigte als Voraussetzung die Ästhetisierung der religiösen Kontemplationstechnik sanfter Melancholie zu einem für sich genommen wertfreien Gefühlsgenuss sowie das (ehemals religiöse) technische Wissen um die Evozierung und Bändigung einer schwarzen Melancholie. In der produktiven Rezeption nahmen zahlreiche Autoren ossianische Stilmittel und Strukturelemente auf und orientierten sich bewusst an dessen elegischer Lyrik oder wählten die Formel ‚Wonne der Wehmut‘ als eine intertextuelle Referenz ihres Werkes. Das empfindsame Motiv wurde mit Inhalten wie dem der Freundschaft, der zurückgewiesenen Liebe oder als Stimulans individueller Selbsterfahrung verbunden. Der Rückgriff auf religiöse Kontemplationstechniken geschah zum Teil unreflektiert, andere kombinierten die ossianischen Motive einer natürlichen Melancholie gezielt mit ihren religiösen Darstellungen. Die ossianischen Naturbilder und die Melancholie des heidnischen Barden wurden problemlos in religiöse oder moralisch unterweisende Deutungen der Melancholie eingepasst. Das lyrische Ich erhielt durch diese Neuerung mehr Freiheit im Ausdruck emotionaler Befindlichkeiten, eine höhere Wahrnehmung für Bilder aus der Natur und zum Teil politische Blickrichtungen. War die religiöse Kontemplation bis zur Mitte des Jahrhunderts eng an ihre dogmatischen Hintergründe gebunden, brach mit Ossian diese Verkettung endgültig auf und ermöglichte den Ausdruck pantheistisch anmutender Melancholie-Erfahrungen. Die Verknüpfungen ossianischer Motive mit sanfter Melancholie in deutschsprachiger Literatur zwischen 1765 und 1775 waren zahlreich. Klopstock schrieb mit Selma und Selmar (1766)156 eine Ode, die die religiösen Todesvisionen Liebender, wie sie im Frühwerk vorkommen, mit ossianischen Figuren verbindet und er formte die Ode Auf meine Freunde zur Bardendichtung Wingolf (1767).157 Der empfindsame Wert der Freundschaft wurde so in keltische Szenerien gesetzt und durch die sanfte Melancholie hervorgehoben. Goethe fügte eine selbst übersetzte 155
Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. Hg. v. Waltraud Wiethölter. Fassung A. Frankfurt am Main 1994, S. 52. 156 Friedrich Gottlieb Klopstock: Selma und Selmar. In: Ders.: Oden. Hg. v. Paul Merker. 2 Bde. Bd. 1. Leipzig 1913, S. 253. Ein Dialog zwischen ossianisch anmutenden Liebenden, die sich in Todesvisionen ihrer Liebe versichern. Beachtenswert ist die Verklärung des Todes: „Theilt’ ich nur mit dir die Gefahr zu sterben; Würd’, ich Glückliche, weinen?“ 157 Klopstock bearbeitete eine Freundschaftsode aus dem Jahr 1747 zu einer Ode in sechs Liedern, in denen er Ossian und seine keltische Welt preist sowie diese seinem Freund und Young-Übersetzer Ebert anempfiehlt.
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Ossian-Passage in Die Leiden des jungen Werther ein und begann 1775 ein Gedicht mit dem Titel Wonne der Wehmut158 als ein poetisches Lob auf die sanfte Melancholie in unerfüllter Liebe. Die Ästhetisierung schönen, sympathetischen Leidens in deutscher Literatur reichte mit Hölderlin und Novalis bis weit über die Jahrhundertwende hinaus und bereicherte die Romantik maßgeblich. Einer der ersten, der in der produktiven Rezeption den Anschluss von religiös kultivierter Melancholie zur ästhetischen Melancholie der zweiten Jahrhunderthälfte versuchte, ist Friedrich Klopstock. In seinen Oden findet man zwischen 1764 und 1767 die ersten ossianischen Textverweise, denn vermutlich kannte er Ossian nicht vor 1764. Es habe, so schreibt Wolf Gerhard Schmidt, sogar einen verschollenen Briefwechsel zwischen Klopstock und Macpherson seit 1768 gegeben.159 In seiner Ode Die frühen Gräber (1764) entwirft Klopstock eine Landschaft, in der das einsame lyrische Ich die bemoosten Gräber der Freunde beklagt.160 Die evozierte Stimmung, eine sanfte Melancholie, deutet auf eine privat-religiöse Erbauung hin. Der Gräberanblick erinnert noch an die religiöse Todesmeditation, aber im Zentrum steht das feierliche Gedenken der Freundschaften. Der Trennungsschmerz wird von einer Versöhnung mit dem nächtlichen Naturerlebnis gemildert, nicht durch eine metaphysische Wahrheit. Gleiches gilt für die Ode Die Sommernacht (1766), in der Klopstock die Sinneswahrnehmungen in der angenehmen Sommernacht dem Verlust der Geliebten gegenüberstellt. Ihr Tod wird als ein präsentes emotionales Erlebnis erinnert, während das Grab der Geliebten nur noch als Gedanke in der Distanz zu erkennen ist.161 Die melancholische Erinnerung an sympathetische Erlebnisse verbindet ähnlich wie im Ossian die Lebenden mit den Toten: „Ich genoß einst, o ihr Todten, es mit euch! / Wie umwehten uns der Duft und die Kühlung, / Wie verschönert warst von dem Monde, / Du o schöne Natur!“162 Die sanfte Melancholie hatte nach 1764 auch bei Klopstock den rein christlichen Impetus als didaktisches Mittel verloren und spricht für eine dogmenfreie, empfindsame Gefühlsbildung. Ihre Verortung als altes Naturgefühl entbindet sie von zeitgenössischen religiösen Lehrmeinungen. In Klopstocks Der Hügel, und der Hain (1767) treffen Barde, Poet und Dichter aufeinander. Der Poet der Antike wirbt mit dem Barden um die Bevorzugung durch den zeitgenössischen Dichter. Dieser entscheidet sich für den keltischen Barden, dessen Erkennungsmerkmale Todesstimmen, alte Gräber und eine Schattenwelt sind, die als literarische Motive ebenfalls der religiösen Todesmeditation 158
Johann Wolfgang von Goethe: Wonne der Wehmut. In: Ders.: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hg. v. Hendrik Birus und Friedmar Apel. Abt. 1. Bd. 1: Gedichte 1756−1795. Hg. v. Karl Eibl. Frankfurt am Main 1987, S. 175. 159 Vgl. Schmidt: „Homer des Nordens“ und „Mutter der Romantik“. Bd. 1 (wie Anm. 2), S. 514. Klopstock habe darin um Informationen über gälische Versmaße gebeten. 160 Friedrich Gottlieb Klopstock: Die frühen Gräber. In: Ders.: Oden. Auswahl und Nachwort von Karl Ludwig Schneider. Stuttgart 1999, S. 75. 161 Ebd., Die Sommernacht, S. 76. 162 Ebd.
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zuzuschreiben sind. Die Nationaldichtung, die Klopstock in dieser Ode thematisiert, wird durch elegische Gesänge und die Klage um ihr Vergessen gekennzeichnet. Die sanfte Melancholie, die jene neu zu etablierende Dichtung begleite, hat dafür einen stärker politisch-kulturellen Hintergrund bekommen. Wie andere Barden der Zeit entnahm Klopstock der Kommentierung Ossians die Vorstellung, sanfte Melancholie sei die produktionsästhetische und wirkungsästhetische Stimmung nationaler (germanischer) Literatur. Mit der Bardendichtung wurde sie motivisch und strategisch in die fiktionale Konstruktion einer idealen Vergangenheit eingebettet. Schmidt weist in seinem Abschnitt zu Klopstocks Ossian-Rezeption darauf hin, dass es nicht bei allen ossianischen Versatzstücken, die dieser in seiner Lyrik verwendete, klar zu entscheiden ist, ob sie von Young oder von Macpherson inspiriert worden sind.163 Meines Erachtens beweist dies die Vermischung beider literarischer Rezeptionen bei Klopstock zu einem neuen Verständnis von ästhetischer Melancholie. In welcher Funktion das kulturelle Phänomen angenehmer Melancholie stark gemacht wurde, hing vom Interpreten ab, der die gewünschte Emotionalisierungsstrategie abrief. Noch in einer späten Ode der Jahrhundertwende findet sich bei Klopstock eine Reminiszenz an Ossians „Wonne der Wehmut“ in einem klar religiösen Kontext, wenn das lyrische Ich, vom Segen der sterbenden Greisin ergriffen, diesen in der ‚Wonne und der Wehmut‘ entgegennimmt.164 Johann Heinrich Voss gehörte zu den Anhängern des Göttinger Hainbunds, der die sanfte Melancholie nach ossianischen Motiven in einen religiösen Kontext versetzte: „Einsam wandelten wir jeder den stillsten Gang / Sahn aufsteigen den Mond, schwinden das Abendroth, / Voll süsschwärmender Wehmut, / Dachten Tod und Unsterblichkeit.“165 Voss war die religiöse Todesmeditation und die mit ihr gepriesene Wirkung der Melancholie bestens vertraut. Aus seinen Gedichten Das Begräbnis oder Penseroso lässt sich ablesen,166 wie er die Seele erhebende und zugleich Affekte mäßigende Wirkungen in seiner Literatur eingebunden sah. Voss kommentierte, mit Penseroso habe er versucht, die „falsch religiöse, fast mönchische Schwärmerei in filosofische umzustimmen“, „weg aus dem religious dim in den Sonnenschein des Allgütigen.“167 Diese Anfänge einer Transformation
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Vgl. Schmidt: „Homer des Nordens“ und „Mutter der Romantik“. Bd. 1 (wie Anm 2), S. 506. Klopstock: Der Segen. In: Ders.: Oden (wie Anm. 160), S. 127f., hier S. 128. 165 Vgl. Johann Heinrich Voss: Um Mitternacht. An Selma. In: Sämmtliche Gedichte von Johann Heinrich Voss. 3 Bde. Bd. 3: Oden und Elegien. Königsberg 1802, S. 78–82, hier S. 81. 166 Vgl. Johann Heinrich Voss: Das Begräbnis. Nach dem Englischen. In: Ders.: ebd. Bd. 2: Idyllen. Königsberg 1795, S. 236–238, hier S. 237: „sanft klagend schwebt der Geist / Die Stimm’ […] / Entzückt nun reisst / Den trunknen Geist / Die Jubelharmonie empor.“; ebd., Penseroso, S. 280–294, hier S. 283: „Gern irr’ ich deinem süssen Ach / mit bewegter Seele nach.“ 167 Johann Heinrich Voss: Brief an Johann Martin Miller am 25.09.1791. In: Ders.: Briefe von Johann Heinrich Voss. Hg. v. Abraham Voß. 4 Bde. Bd. 2. Halberstadt 1830, S. 122–124, hier S. 122.
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religiöser Techniken in Idyllen- und Erlebnisdichtung findet man auch bei seinem Freund Ludwig Hölty, der seine Lyrik gänzlich der Muse Melancholie unterstellte. Als ein Anhänger Klopstocks im Göttinger Hainbund und Kenner der zeitgenössischen englischen Dichtung sowie der Philosophie Shaftesburys mag es nicht verwundern, dass sich Ludwig Hölty einer Literatur verschrieb, die Empfindungen von Vergänglichkeit zu einem ihrer vorrangigen Themen machte. Ossian hatte er vermutlich im englischen Original gelesen, das er sich aus der Göttinger Bibliothek durch Charlotte von Einems Vater besorgen ließ.168 In einem relativ kurzen Zeitraum (1771–1776) schrieb er bis zu seinem frühen Tod eine Reihe von Gedichten, die seine Haltung zur sanften Melancholie verdeutlichen. Sie stellt sich in seiner Lyrik als Motor literarischen Schaffens sowie als ein Mittel zur empfindsamen Persönlichkeitserfahrung unter christlicher Schirmherrschaft dar. Hölty verband dabei wie Klopstock die Tradition der religiösen Melancholie mit einer ästhetisch aufgewerteten Melancholie, wie er sie unter anderem im Ossian kennengelernt hatte. Auch hier ist nicht immer zwischen einem Einfluss Ossians oder religiöser Melancholie zu trennen. Eindeutig aber steht Hölty stärker in der Tradition der englischen Grabes- und Nachtdichtung als in der Ossians.169 Obwohl die intertextuellen Verweise mehr auf die englische Tradition sanfter Melancholie nach Gray, Thomson und Young hindeuten, findet sich in Höltys Lyrik eine Tendenz zur Zuschreibung sanfter Melancholie zur natürlichen Idylle wie sie erst mit Gray (vgl. Kapitel 1.1.8) und Macpherson nach 1750 verbreitet worden ist. Wolf Gerhard Schmidt hält Höltys Ossian-Rezeption für rein topisch.170 Die Referenzen zu Ossian wiesen keine „transgressive Bedeutung“ auf.171 Dem möchte ich anhand zweier Beispiele entgegensetzen, dass ossianische Elemente zur ästhetischen Neubewertung sanfter Melancholie in der Literatur Höltys beigetragen haben und so den religiösen Diskurs der moralisch erziehenden Melancholie in einen ästhetisch-empfindsamen Kontext setzten. Die Hingabe seines lyrischen Ichs zur sanften Melancholie ereignet sich in seinen Gedichten gezielt und genussvoll. Das Ziel ist die ästhetische Auskostung eines scheinbar leidvollen Daseins oder dessen Illusion zugunsten tieferer Empfindungen und damit endlich auch moralischer Verbesserung. Höltys Lyrik konzentriert sich in hohem Maße auf die Evozierung und Schilderung sanfter Melancholie. Wie Thomas Gray nutzte er das Genre der Friedhofspoesie, gestaltete die ländliche Idylle aber weiter aus. Ludwig Völkers biographisch orientierte These geht sogar davon aus, dass Hölty sich die
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Vgl. Ludwig Heinrich Hölty: Brief Höltys an Charlotte von Einem am 3. April 1775. In: Ders.: Ludwig Heinrich Hölty. Gesammelte Werke und Briefe. Kritische Studienausgabe. Hg. v. Walter Hettche. Göttingen 1998, S. 380. 169 Vgl. Schmidt: „Homer des Nordens“ und „Mutter der Romantik“. Bd. 2 (wie Anm. 2), S. 601. 170 Vgl. ebd., S. 602. 171 Vgl. ebd., S. 603.
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Hingabe an die ‚süße melancholische Schwärmerei‘ zum Zentrum seiner lyrischen Existenz gemacht habe, damit er lebenswirkliche Defizite kompensiere. Er kenne „die Hingabe […] an den poetisch-empfindsamen Genuß der ‚süßen Schwermuth‘, […] in der alles aufs Sanfte, Weiche, Elegische abgestimmt [sei, K.B.] und die darum auch keinen Gegensatz, sondern nur eine andere Spielart zur ‚Freude‘ bild[e]. Als ‚Mutter der Betrachtung‘ eröffn[e] diese Melancholie Räume der Phantasie und Reflexion, in denen das empfindsame Ich sich entfalt[e].172
Die affektive Entwicklung im moralischen Rahmen steht hinter Höltys wie auch Klopstocks Wahl sanfter Melancholie. Diese Wahl ist jedoch keine ästhetisch autonome, weil sie die Legitimation und Kontrolle dieser hinter sich weiß, sich auf deren tradierten Bilderfundus bezieht und christliche Autorität nicht anzweifelt. Die Evokation sanfter Melancholie nach ehemals religiösen Imaginationstechniken in Höltys oder Grays Elegien ist aber zu einem ästhetischen Rollenspiel des Melancholikers geworden, das eigene Persönlichkeitsbildung und gleichzeitig göttliches Wirken erfahrbar machen kann. Am deutlichsten wird dies durch zwei komplementäre Elegien. In seiner Studienzeit in Göttingen schrieb Hölty zwei Elegien nach dem Vorbild von Thomas Grays Elegy Written in a Country-Churchyard. Der Elegie auf einen Stadtkirchhof (1771) stellte er die Elegie auf einen Dorfkirchhof (1771) gegenüber. Beide vervollständigen einander und heben die gezielte Suche nach elegischer Stimmung in der Szenerie von Friedhöfen hervor. Dieses Ritual wird später von der Figur Reisers im Anton Reiser aufgenommen (vgl. Kapitel 4.2.3). Die Elegien stimmen darin überein, dass die geschilderte Situation der Kontemplation im Einklang mit der Umgebung des lyrischen Ichs steht.173 Der religiösen Imaginationstechnik folgend, werden Gegenstände der Trauer, die gesamte Friedhofskulisse, abgeschritten, um die „Wonne der Wehmut“ evozieren zu können. Die in beiden Elegien erwähnte Figur des toten Dichterjünglings ist nicht auf das lyrische Ich selbst bezogen, sondern vielmehr auf das Ideal des elegischen Haindichters, dessen Vollendung sich im Tod selbst findet.174 Der tote, melancholisch beklagte Haindichter ist – auch nach ossianischem Gestus – der beste Haindichter. Der anakreontischen Naturbetrachtung im Frühling wird ernste Kontemplation vorgezogen. Die dargestellte Jahreszeit dient in der Anlage der Elegie als Kontrast zur bevorzugten, kontemplativen Trauer, die der Aufbruchsstimmung des Frühlings widerspricht. Die Elegie auf einen Stadtkirchhof beginnt daher mit dieser 172
Ludwig Völker: Traumbilder der Melancholie: Hölty. In: Ders.: Muse Melancholie. Therapeutikum Poesie. Studien zum Melancholie-Problem in der deutschen Lyrik von Hölty bis Benn. München 1978, S. 30–47, hier S. 30. 173 Vgl. ebd., S. 38. 174 Vgl. ebd.: „konzentriert sich hier die Betrachtung auf einen bestimmten Toten, der als ‚Liebling der Kamönen‘ und als ‚guter Hainwandler‘ so ausführlich beschrieben wird, dass seine Funktion als Stellvertreter des reflektierenden Ichs ohne weiters einleuchtet. Die bekannte Tatsache, daß Melancholiker sich in ihren Wahnvorstellungen oft für gestorben halten, erscheint hier als ein Ausdruck meditativer Selbstreflexion.“
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fröhlichen Alternative, die das lyrische Ich verwirft: Sie zeigt die Möglichkeit eines Spaziergangs voller Freude.175 Der Abendstern ist aufgegangen und die erblühende Natur lädt ein, der Stadt zu entfliehen. Beobachtet wird ein junges Paar. Der „bunte Stutzer“ biete dem Mädchen keinen sicheren Halt, kommentiert das lyrische Ich. Sie erinnern an zwei umherflatternde Schmetterlinge. Diese Lebensweise soll sich als trügerisch herausstellen. Sie erscheint dem lyrischen Ich unangemessen im Vergleich zu „anderen Scenen“, die ihre Einladung vorausschicken. Es zieht das lyrische Ich zur Grotte, „wo die Schwermuth lauschet, der Betrachtung Mutter“.176 Die „Grotte“ deutet ebenso wie „Scenen“ darauf hin, dass es sich um die Entscheidung für eine bewusste, im 18. Jahrhundert schon kulturell aufgeladene Inszenierung handelt, die das lyrische Ich verfolgt. Sein Anspruch ist ein ernster; es favorisiert die „Muse, die der Bahre folgt“. Die Todesmeditation wird dem unbeschwerten Genuss vorgezogen. Das imaginierte Bild eines abendlichen Leichenzugs zum Friedhof schließt in seiner Plastizität an Schubarts Todesgesänge an.177 Es ergeht die Aufforderung an den Leser, ebenso feierlich auf dem Kirchhof zu wandeln. Soweit ruft Hölty das bekannte religiöse Kultivierungsprogramm als tradierte Inszenierung ab. Vanitas- und memento-mori-Thematik finden sich ebenfalls ein. Die irdische Schönheit wird mit Symbolen der Vergänglichkeit kontrastiert.178 Blühendes und Verwesung stehen einander gegenüber. In petrarkistischer Manier tritt die Schöne vereinzelt in ihre Körperteile auf. Als pars pro toto welken Rosenwangen und fächerschwingende Hände dahin. Weltlicher Genuss in seiner Begrenzung steht im Mittelpunkt der Verbildlichung. Der Vorwurf der Ignoranz wird laut, wenn der Mensch allein nach materiellen Reichtümern blickt. Die Erkenntnis eines baldigen Sterbens fehle den Weltmenschen. Anklagend statt klagend ist daher zunächst der Ton dieser Elegie, die auf die Versäumnisse des Weltmenschen hinweist. Dies wiederholt sich in der Parallele zum kurzlebigen Schmetterling, der in Unkenntnis größerer Zusammenhänge sein Leben durchflattere. Mit dem Schmetterling ist der „Stutzer“ des Eingangs gemeint, dessen tägliche Beschäftigung sich in den Niederungen des damals nicht allzu angesehenen Romans ereignet. Das Lauern des Todes droht hinter dieser Darstellung des sorglosen Menschen im „Todesschlummer“.179 Den Blick auf den Friedhof gewandt, durchstreift das lyrische Ich die Grabhügel. Es entspinnt sich ein Szenario bunt gemischter Toter: Wassertrinker liegen bei Weinliebhabern, Dumme bei Talentierten, Reiche bei Armen und nicht zuletzt Anhänger der Freude bei Schwermütigen. Mit diesem 175
Hölty: Elegie auf einen Stadtkirchhof. In: Ders.: Gesammelte Werke und Briefe (wie Anm. 168), S. 55–58. Ebd., S. 55. Ebd. Ebd.: „Weile bey den goldnen Mausoläen, / Bey den Aschenkrügen, / Die den Vorhang vor die bunte Scene / Dieses Lebens ziehen.” 179 Ebd., S. 56. 176 177 178
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Kippen ins Sentimentale minimiert sich auch die Strenge der Aufforderung zur Friedhofsbetrachtung. Das vielfältige Kabinett Toter impliziert die Frage, inwiefern eine Moral aus der Anklage der Elegie zu lesen ist, wenn doch im Tod leichte und schwere Muse beieinander liegen. Eine Antwort, die sich bietet, ist die, dass Höltys Elegie sich in letzter Konsequenz nicht vollkommen ernst nimmt. Sie enttarnt vielmehr ihren Inszenierungscharakter. Das empfindsame Rollenspiel des lyrischen Ichs als eines melancholischen Friedhofsbesuchers hat selbstironische Züge und kann zur Zeit des Sturm und Drang nicht mehr mit der religiösen Ernsthaftigkeit durchgehalten werden, die noch 30 Jahre zuvor galt. Mit der Ankunft am Grab des toten Hainwandlers ist die symbolische Pilgerwanderung zum Idol des lyrischen Ichs erfüllt. Es folgt die Beschreibung des Verstorbenen, der wie Ossian bei Anbruch der Dämmerung musizierte und im Einklang mit der Natur stand. Der tote Hainwandler ist dem lyrischen Ich einen Schritt voraus. Sie finden jedoch zueinander, indem das lyrische Ich und der Tote gleiche Anblicke, gleiche Empfindungen genossen haben. Sympathetische, elegische Empfindungen schließen erneut den Kreislauf zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Mit der Adaption Thomas Grays erinnert Hölty an das Grab des talentierten Unbekannten, dessen „keimende Talente / Nie zur Reife kamen“.180 Eine Hilfe zur Evozierung dieser Melancholie sind die Eindrücke, die die Natur bietet. Der Schein des Mondes verdichtet Erlebnis und Vergangenheit in einem kalten Licht. Wirklichkeit und Illusion verschwimmen zu wehmütigen Stimmungsbildern im diffusen Licht. Mit diesen Dämmerungszuständen rekurriere Hölty am deutlichsten auf Macpherson.181 Es sind auch diese Dämmerungsbilder, welche die Entwicklung von der religiösen Kontemplation zu einer ästhetisch autonomen Illusion unterstützen. Noch im gleichen Jahr schreibt Hölty die Elegie auf einen Dorfkirchhof. Oberflächlich spielt sie den Kontrast Stadt zu Land aus. Wie schon zuvor setzt die Beschreibung des Friedhofs mit einer abendlichen Szene im Frühling ein. Der Frühlingstag ist es, der weinend zu Grabe geläutet wird. Zu dieser Begräbnisstimmung wandelt das lyrische Ich in eine zunehmende Dunkelheit hinein. Die erblühte Landschaft ist nur noch schemenhaft zu erkennen und der Mond erhellt durch Wolkenlücken den Anblick. Hölty operiert mit dem Begriff der Szene und dem Blick des anonymen Wanderers, welcher ebenfalls ein ossianisches Motiv darstellt. Die Anfänge beider Elegien lassen damit die Tradition der kontemplativen, englischen Todesmeditation anklingen, indem sie einen atmosphärischen Einstieg zu schaffen bemüht sind. Parallel zu Ossians Nebelmeeren wird die Welt wieder in einem kalten und diffusen Licht wahrgenommen. Das akustische Zeichen der Glocken deutet auf Ab180 181
Ebd., S. 52. Vgl. Schmidt: „Homer des Nordens“ und „Mutter der Romantik“ (wie Anm. 2). Bd. 2, S. 602.
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schied und Trauer. Schemenhaft sind die Pflanzen des Frühlings zu erkennen. Die Szene ist nicht nach naturkundlichen Prämissen abgebildet, sondern entspricht den ästhetischen Ansprüchen ossianischer Trauerlandschaft. Allein auffällig ist die Linde als Gewächs des Dorfkirchhofs, die symbolisch als Baum der Liebe das Liebesthema der Elegie ankündigt. Wieder bereiten Imaginationstechniken die gewünschte Empfindung vor. Der Anblick bestimmter Bilder soll eine Stimmung evozieren: „Scene, welche vor mir lieget, gieße / Wehmuth mir zum Busen!“182 Zur kontemplativen Haltung gesellt sich eine körperlich-erotische Dimension: Süße Ruhe habe ihre Arme um des Landmanns Urne geschlungen. Mit Anklängen an ein nächtliches Rendezvous unter der Linde schildert das lyrische Ich den Anblick des Landfriedhofs. Die Eigenschaften eines locus amoenus in dieser Szenerie werden konterkariert durch eine bunte Vielzahl von Leichenhügeln. Ein Farbenspiel entsteht aus gelben Blumen, roten Bändern und glänzendem Flittergold. Zu diesen Farbelementen lässt sich sagen, dass Ulrike Neurath-Sippel das Auftreten der Totenkrone in Höltys Lyrik analysierte und feststellte, dass bei diesem der Grabschmuck wie der Totenkranz eine wichtige „Projektionsfläche für große Sehnsuchts- und Empfindsamkeitsgefühle“ biete.183 Mehrfach wird dieser Grabschmuck bei ihm genannt. Die Totenkrone galt als ein im Tode gewidmetes Brautzeichen, das den Ledigen- oder Virginitätsstatus der Toten und eine himmlische Hochzeit andeutete. In seinem Zeichen verband sich schöne Hoffnung mit traurigem Ereignis. Ebenso verhält es sich mit dem überall reich blühenden, gelben Wermutkraut in seinen Elegien, das zu den Symbolen der Trauer und Bitterkeit zählte. Unter den beschriebenen Kreuzen liegen ein Junge und ein Mädchen schlafend im Grab. Dort spinnt sich die Illustration des Friedhofs als spätes Rendezvous weiter. Darüber hinaus werden sentimentale Beispiele von Kindergräbern und trauernden Müttern häuslichen Idyllen von Kindern mit ihren Vätern gegenübergestellt. Wie im Ossian malt das lyrische Ich das Schicksal der Grabbewohner aus und verbindet so sich selbst, Figuren der Vergangenheit und Rezipienten in einer sympathetischen, melancholischen Empfindung. Die noch immer religiösen Zeichen sanfter Melancholie und menschlicher Unsterblichkeit werden bei Hölty und seinen Zeitgenossen jedoch allmählich mit weltlichen Themen wie Freundschaft, Liebe oder der Selbsterfahrung in sanfter Melancholie überschrieben.
182
Hölty: Elegie auf einen Dorfkirchhof. In: Ders.: Gesammelte Werke und Briefe (wie Anm. 168), S. 50–52, hier S. 50. 183 Ulrike Neurath-Sippel: „Und lehn an ihren Todtenkranz die bleichgehärmte Wange“ – Totenkranz und -krone in romantischer Lyrik und Epik. In: Wolfgang Neumann (Hg.): Totenhochzeit mit Kranz und Krone. Kassel 2007, S. 299–304, hier S. 301.
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3.2.4 Ausblick und Rückblick einer „Wonne der Wehmut“ bei Jung-Stilling Dass Ossians Sprache und Fühlen sich in den religiösen Diskurs mühelos zurückführen ließ, zeigt Jung-Stillings Adaption des Begriffs „Wonne der Wehmut“ in seiner pietistischen Autobiografie. Johann Heinrich Jung wurde 1740 geboren. Seine Lebensgeschichte folgt klassisch der pietistischen Idee, die im Leben verwobene göttliche Vorsehung dem Leser vor Augen zu führen.184 Der erste Band Heinrich Stillings Jugend. Eine wahrhafte Geschichte wurde 1777 von Goethe herausgegeben. In den nächsten Jahren folgten weitere Bände, bis der Autor 1817 verstarb. Darüber hinaus war Jung-Stilling Herausgeber von Erbauungsschriften und stand im Zentrum des orthodoxen Pietismus. Seine Autobiografie berichtet in der dritten Person von ihm und seinen Mitmenschen. Damit schuf Stilling eine wesentliche Distanz zu Ereignissen und Menschen, die ihm bei der Deutung mancher Vorfälle zur analytischen Hilfe wurde. Wie überhaupt Seelenschau und Traurigkeit vor Gott eine pietistische Pflichtübung darstellten, erfüllt die literarische Formel Ossians in Jung-Stillings Werk zudem den Platzhalter für eine in der autobiografischen Fiktion ästhetisch aufgeladene Melancholie religiöser Provenienz. Obwohl die Autobiografie erst nach 1775 erschien, berichtet sie von melancholischen Erlebnissen unter dem Stichwort „Wonne der Wehmut“ vor Ossian. Wie auch der Erzähler des Anton Reiser nach ihm, deutete Jung-Stilling bestimmte Ereignisse seines Lebens als Erfahrungen ebendieser. Sie findet sich in dieser religiösen Autobiografie als literarisches Motiv ohne weitere ossianische Markierungen und als Topos gefühlvollen Verhaltens. Die religiöse Melancholie der Vergangenheit ist durch die Ästhetisierungsprozesse der Empfindsamkeit und Konventionalisierung von Empfindungserlebnissen bis zu Stillings Werk zu einem stark pluralisitischen Phänomen geworden, das selbst in pietistischen Kreisen nicht mehr allein über dogmatisch sanktionierte Wege zu erreichen war. Stillings Verwendung der Formel in seiner Lebensgeschichte, die in weiten Teilen noch vor der Prägung der Formel stattfand, gibt ihr neue Bedeutungsinhalte. Die Mutter Stillings, in der Figur Dortchens verkörpert, sucht die elegische Empfindung nicht in Erbauungsbüchern, sondern ganz bewusst in Naturbeobachtungen. Mit dem Vater teilt sie diese Leidenschaft. Die Erzählung ihres Todes ist ein Höhepunkt in Jung-Stillings Autobiografie, nicht nur als Lebenseinschnitt, sondern auch als ein in der Distanz sublimierter Vorgang. Die Mutter, Johanna Dorothea Jung, starb 1742, als Stilling noch ein Kleinkind war. Nach dem klassischen Vorbild pietistischer Lebensläufe erzählt nun auch hier in gewisser Weise 184
Vgl. Heinrich Jung-Stilling: Johann Heinrich Jung’s, genannt Stilling Lebensgeschichte, oder dessen Jugend, Jünglingsjahre, Wanderschaft, Lehrjahre, Häusliches Leben und Alter. Heidelberg 1855.
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ein Hinterbliebener den beispielhaften Sterbeweg des Gläubigen, doch kann Stilling an den historischen Vorgang keine genauen Erinnerungen haben. Die Autobiografie erfüllt einerseits eine religiöse Konvention, übertritt aber in der literarischen Ausgestaltung, ihrer Ästhetisierung als schönes Sterben, die Grenze zum Roman. Vergleichbar mit Edward Youngs Forderungen nach einem religiösen Todesbewusstsein, lebt die Mutter den Gedanken an den baldigen Tod in melancholischen Verzückungen aus. Der Übergang vom angststillenden Sedativum zum sinnestäuschenden Opiat ist in der Darstellung fließend: Vor und nach verfiel Dortchen in eine sanfte Schwermuth. Sie hatte an nichts in der Welt Vergnügen mehr, aber auch an keinem Theile Verdruß. Sie genoß beständig die Wonne der Wehmuth, und ihr zartes Herz schien sich ganz in Thränen zu verwandeln, in Thränen ohne Harm und Kummer. Gieng die Sonne schön auf, so weinte sie, und betrachtete sie tiefsinnig; sprach auch wohl zuweilen: Wie schön muß der seyn, der sie gemacht hat! Gieng sie unter, so weinte sie. Da gehet der tröstliche Freund wieder von uns, sagte sie dann oft, und sehnte sich weit weg in den Wald, zur Zeit der Dämmerung. Nichts aber war ihr rührender, als der Mond; sie fühlte dann was unaussprechliches.185
Die religiöse Melancholie der Mutter reiht sich in die ihr angenehmen Erfahrungen des Tages ein. Sie wird durch aisthetische Erlebnisse in der Natur ausgelöst, nicht mehr durch gezieltes Visionieren. Auffällig ist an Stillings Text die beobachtende Distanz, die der Erzähler bereits zu seiner ‚mondsüchtigen‘ Mutter eingenommen hat. Die ehemals kollektive Erfahrbarkeit religiöser Wahrheiten ist einer subjektiven Erfahrung von Glauben gewichen, die mit der natürlichen Melancholie Ossians die Autonomie des Individuums gemein hat. Stilling interpretiert sie aus der Distanz bereits als eine Form der Selbstkasteiung, die in der Erinnerung mystische Züge angenommen hat. Die Sehnsucht nach einem Tröster, wie ihn die Mutter in der Sonne gespiegelt glaubt, und dessen Abwesenheit führt zu einer lebensbestimmenden Melancholie der Eltern, die der Erzähler mit verhaltenem Argwohn wiedergibt, drückt sich doch in ihr die Gottessuche des frommen Pietisten am stärksten aus. Der Vater wird als der zärtliche Freund der Mutter geschildert, der ihre Empfindungen zu teilen versucht.186 Die morbide Gestalt der Mutter wird vom Vater verehrt. Die Figuren Dortchen und Wilhelm werden in ihren Empfindungen und Stimmungen anschaulich porträtiert. Ihr Seelenleben ist erstaunlich detailliert ausgemalt. Vor ihrem Tod empfindet Dortchen gemeinsam mit Willhelm noch einmal die „Wonne der Wehmut“ bei einem Abendspaziergang. Nach religiöser Interpretation antizipieren beide damit ihren Tod und genießen die Hoffnung auf ein ewiges Leben. In der ästhetischen Tradition, die in Jung-Stillings Autobiografie 185
Johann Heinrich Jung-Stilling: Lebensgeschichte. Vollst. Ausgabe, mit Anmerkungen hg. v. Gustav Adolf Benrath. Darmstadt 1976. Darin: Heinrich Stillings Jugend, S. 1–80, hier S. 30. 186 Ebd., S. 30: „Wilhelm begleitete sie fast immer […]. Sie hatten beide etwas ähnliches in ihrem Charakter. Sie hätten die ganze Welt voll Menschen missen können, nur eins das andere nicht; dennoch empfanden sie jedes Elend und jeden Druck des Nebenmenschen.“
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mehr und mehr an Boden gewinnt, teilen sie eine sympathetische Empfindung, die ihre Identität als Paar bestärkt. Dann aber schlägt die sanfte Melancholie in eine tödliche Empfindung um, die den Körper der Frau gefangen nimmt: „Wie sie den Wald hinab gingen, durchdrang ein tödtlicher Schauer Dortchens ganzen Leib. Sie zitterte von einer kalten Empfindung, […]. Sie verfiel in ein hitziges Fieber.“187 Als Vorbotin des Todes erfüllt die sanfte Melancholie in religiöser Hinsicht ihre traditionelle Rolle. Die Mutter stirbt bald darauf im Beisein ihres Mannes.188 Die Krankheit wird als göttlicher Wille verstanden, gegen den keine Behandlung oder ein Genesungswillen treten. Der Erzähler bezeichnet den Tod als erhofft, ebenso plötzlich, schmerzvoll und unabwendbar. Er kommt zunächst in Form eines Gefühls, nicht als Krankheit oder Bedrohung. In der Darstellung der sterbenden Mutter (sie haucht dem Vater ihren letzten Atemzug entgegen) liegt nun eine spannungsvolle Ambivalenz von Lust und Trauer, intensiver Körperlichkeit und Vergänglichkeit, die für einen pietistischen Lebensbericht ungewöhnlich erscheinen mag. Jung-Stilling ist offenbar das ungeschriebene aber weithin anerkannte Gesetz zur Mäßigung starker Affekte in seiner Zeit bekannt. Den Tod seiner eigenen Frau berichtet der Erzähler als eine Geschichte der Affektregulierung, die von Schwermut in sanfte Melancholie umschlägt. Rationale Schritte der Affektkontrolle gelingen der Figur Stilling nicht. Zweckmäßigkeit wird als Strategie beim Tod der eigenen Frau verworfen: „Nach Christinen Tod suchte nun Stilling seine einsame Lebensart zweckmäßig einzurichten […]. Als er aber seine Kinder weggebracht hatte, […] so fiel alles Leiden mit unaussprechlich wehmüthiger Empfindung auf ihn zurück, […] so daß er sich kaum trösten konnte.“189 Seine Wehmut verwandelt den Anblick der Welt in ein Leichenfeld: „[W]enn er zum Fenster hinaus in die entblätterte Natur blickte, so wars ihm, als wenn er ganz einsam unter Leichen wandelte, und nichts als Tod um sich her sähe, mit einem Wort: seine Wehmuth war nicht zu beschreiben.“190 Die Autobiografie legt nahe, dass der Christ ohne die Kontrolle über seine Empfindungen in eine Sinnkrise zu verfallen droht. JungStilling malt aus, wie sich die starken Emotionen die Oberhand verschaffen wollen. Die Rettung bringt erst das Gebet. Göttliche Vorsehung, so die implizierte Botschaft, nimmt den Leidensdruck und minimiert die Leidenschaften. Als bald darauf ein Student bei Stilling einziehen will, mäßigen sich seine Empfindungen: „Nun ging alles wieder seinen ungehinderten muntern Gang fort; Stilling war zwar noch immer wehmüthig, allein es war Wonne der Wehmut, in welcher er sich wohl befand.“191
187 188 189 190 191
Ebd., S. 36. Ebd. Ebd., Heinrich Stillings häusliches Leben, S. 289–441, hier S. 394. Ebd., S. 394. Ebd., S. 396.
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Jung-Stilling hat die ossianische Gefühlsformel nach Denis Übersetzung für autobiografische Rückblicke verwendet, um die Unterschiede zwischen einer sittlichen Wehmut, die Gott gefalle, und einer herzzerreißenden Trauer, die Zweifel aufkommen lässt, zu beschreiben. Man kann am Beispiel seines Werkes ablesen, inwiefern die ästhetische Prominenz der sanften Melancholie im Umfeld von Todesdarstellungen dem zeitgenössischen Publikum vertraut war und auch die oxymorische Formel Ossians in einen religiös-aisthetischen Kontext integrierbar war. In Jung-Stillings Autobiografie werden die religiösen Hintergründe der Melancholie und mit ihrer zunehmenden Evokation in natürlicher bzw. idyllischer Umgebung miteinander verbunden.
3.2.5 Tugend- und Charakterbildung durch die natürliche Melancholie In Fragen der Tugendbildung und Moral diente Ossian als literarisches Werk den erzieherischen Vorstellungen einiger Zeitgenossen. So sollte die schottische Literatur bei der Charakterbildung junger Frauen eingesetzt werden, deren Gemüter von der sanften Melancholie Ossians auf zukünftige Aufgaben vorbereitet werden könnten. Die Leidensfähigkeit, die die Figur Ossian repräsentiert, müsse auf die Leser übertragbar sein. Außerdem verbessere Ossian die Empathie seines Publikums und mäßige zu starke Leidenschaften. Nicht nur Werte wie Freundschaft, Leidensfähigkeit und Treue, die Ossian lobend besingt, sondern auch die Empfindungsdarstellungen des Werkes beeindruckten die Leser des 18. Jahrhunderts. Felix Weiße hielt es für eine von Ossians stärksten Seiten, die Herzen der Leser zu bewegen und eine sittliche Erzählung zu bieten. Ossian sei vorbildlich empathiefähig: „Ueberhaupt, wenn stark zu fühlen und natürlich zu beschreiben, die zwo Hauptingredienzien eines poetischen Genies sind: so muß man gestehen, daß Ossian dieses im hohen Grade besitzt.192 Leserinnen und Leser lade er, so noch ein anonymer Rezensent aus dem Jahr 1783, zum Nachvollzug seiner elementaren Erlebnisse ein: „Reden […], unaufhörliche Erinnerungen an Zeit, Vergänglichkeit, Tod, Zustand nach dem Tode – alles Gedanken, wobey dem Leser Thränen in die Augen treten, die er iedoch gerne weint – wen das alles nicht rührte, der müßte nicht zu rühren seyn.“193 Die vorrangige Empfindung, die man mit ihm teile, sei die sanfte Melancholie: Es ist wahr, fast immer möchte man mit Ossian weinen, immer fordert er unsre Thränen, aber wir geben sie ihm gerne – wer wollte nicht mit ihm weinen? – Ist nicht ein stilles Vergnügen 192
Christian Felix Weiße: [Rezension] The Works of Ossian. In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste. Bd. 3. Erstes Stück. Leipzig 1766, S. 13–38, hier S. 38. 193 Anonym: Homer und Ossian. In: Christian Gottfried von Lilienfeld (Hg.): Vermischte Aufsätze zum Nachdenken und zur Unterhaltung. 2 Bde. Erster Theil. Dessau, Leipzig 1783, S. 3– 14, hier S. 11.
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mit sanftem Schmerze vermischt – Ossian nennt es die Wonne der Wehmuth – die angenehmste Empfindung, die man sich nur wünschen kann? – Ossian erregt diese Empfindung beständig, sie ist fast die einzige, die man hat, wenn man ihn liest.194
Wie die Empfindung von Erhabenem, so könne auch die sanfte Melancholie Ossians die Vorstellungskraft des Lesers und seine emotionalen Erlebnisse bereichern. Gerade Frauen kam mit dieser Behandlung durch Literatur keine intellektuelle, sondern eine emotional ausgerichtete ‚Erziehung‘ zu. Passend zu erziehungstheoretischen Idealen der Zeit wurde die sanfte Melancholie literarischer Herkunft zu einem Erziehungsmittel in der Frauenbildung. Sie verhelfe der Frau zur Perfektionierung ihres Charakters. Man(n) unterstellte dem Kunsteops, es habe charakterbildende Absichten. Wie schon zuvor mit Hilfe von Erbauungsschriften und Wochenzeitschriften Charaktere geformt werden sollten, so erreichte Ossian nun als Belletristik den deutschsprachigen Haushalt und wurde als ein Text umworben, der die Gemüter zum Positiven erregen sollte. Die Herausgeber Johann Georg Jacobi und Wilhelm Heinse wandten sich mit gesonderten Auszügen des Werkes an Frauen. Sie insbesondere sollten gefühlsbetont sein, ihre Charaktere fremd bestimmt, ihre Fähigkeiten, „deutsche Kinder“ zu erziehen, ausgeprägt werden. Die Seele der Frau könne durch Ossian bereinigt werden, um leichter und neu zu empfinden. Das Lesen dieses Werkes kam einem Sensibilisieren des Gemütes gleich, das man sich selbst verordnen konnte. Da durch die Lektüre des Werthers die Bekanntheit von Ossian befördert wurde, nahm auch sein Ruf als emotionalisierender Text zu. An diesen Erfolg wollten Heinse und Jacobi anknüpfen, als sie den Ossian als Frauenlektüre empfahlen: Die Uebersetzungen aus dem Ossian in Werthers Leiden haben den mehrsten Leserinnen vorzügliche Freude gemacht. […] Wohl ihnen, wenn er den Ton ihres Herzens trift! Immer werden seine starken Gesänge voll Wahrheit und Natur unserm verzärtelten Zeitalter einen heilsamen Wink, und unsern Müttern Anlaß geben, aus ihren Kindern deutsche Männer und deutsche Mädchen zu bilden.195
Das Wesen der potentiellen Mütter sollte elegisch gestimmt und die ästhetische Melancholie als private Perfektionierung etabliert werden. Das damit abgebildete Erziehungskonzept für eine deutsche Frau enthielt offenbar einen nicht zu geringen Anteil an idealisierter Leidensbereitschaft und Naturverbundenheit. In Sophie von La Roches Geschichte des Fräulein von Sternheim dient z.B. die sanfte Melancholie englischer Provinienz ebenfalls zur empfindsamen Prägung der weiblichen
194 195
Ebd., S. 11. Johann Georg Jacobi: Ossian fürs Frauenzimmer. In: Iris. Vierteljahresschrift für Frauenzimmer. Düsseldorf 1775. Bd. 3. St. 3, S. 113–134; Bd. 4. St. 2, S. 57–72; 1776. Bd. 5. St. 2, S. 87–107; Bd. 6. St. 2, S. 335–353.; Bd. 7. St. 2, S. 563–580; Bd. 8. St. 1, S. 812–830, hier 1775. Bd. 3. St. 3, S. 113.
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Protagonisten, deren Vorzüge dadurch stärker hervorgehoben seien und deren musische Talente gefördert würden.196 Während Denken als die Aufgabe des Mannes verstanden wurde,197 sollten die Frauen in Empfindungen geschult werden. Dies erkläre sich schon aus der Physiognomie der beiden Geschlechter, so Johann August Eberhard, denn der zartere Nervenbau der Frau sei zu lebhafteren Empfindungen bestimmt.198 Um die Frau zu schützen, müsse sie aber auch von zuviel Leiden ferngehalten werden. Ganz anders sah das Wilhelm Heinse, der Ossian für die Frauenzimmer-Bibliothek empfahl.199 Wenn eine junge Dame ihr Blut in Wallung bringen wolle, und das sei nötig, um zärtlich und nachfühlend zu sein, dann sei dies genau die richtige Lektüre. Mit ihm könne man die Wege zum Herzen öffnen: „In Empfindungen besteht die Glückseeligkeit unsers Lebens; und deren Quellen liegen im Herzen verborgen. Das muß mit Furcht und Schrecken, mit heftigen Gefühlen durchrissen werden, wenn die Adern darinn entstehn, sich eröfnen sollen, woraus die Empfindungen fliessen.“200 Schön zu sehen ist in dieser Erklärung die mechanistische Vorstellung des körperlich verstopften Menschen, dessen Blut erneut in Wallung gebracht werden muss. Dieser Vorgang sei allerdings mit einem Schmerz verbunden, den man nicht fürchten dürfe: Erschrecken Sie nicht, meine zärtlichen Damen; wenn dieß auch ein wenig schmerzlich ist, so rinnt doch zugleich aus diesem Schmerz eine warme Wonne, die in der That uns glücklicher macht, als das lauterste Vergnügen. Gewiß haben Sie auch dergleichen Schmerzen empfunden. Und wie erhöhen sie die Menschheit?201
Unnötig zu erwähnen, dass die Idee der Erhebung durch Leiden an eine religiöse Tradition anknüpft. Nach Heinses mechanistischer Deutung des Körpers wirkt das Leiden wie ein leicht schmerzhafter Aderlass, der die Adern, die Wege der Blutsäfte und damit Empfindungen, erweitere. Die Erklärung für eine solche Behandlung der Frauen findet sich laut Heinse im gegenwärtigen Verzicht auf eine rege Einbildungskraft. (Nach-)Empfindung und Vorstellungskraft müsse der Frau wieder anerzogen werden, indem man durch 196
Vgl. Sophie von La Roche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Hg. v. Barbara BeckerCantarino. Stuttgart 2003, S. 278: „Vielleicht hat mich der Hauch der sanften Schwermut getroffen, welche die besten Seelen der britischen Welt beherrscht, und die lebhaften Farben des Charakters wie mit einem feinen Duft überzieht. Ich habe meine Laute und meine Stimme wieder hervorgesucht.“ 197 Vgl. Johann August Eberhard: Ueber den Werth der Empfindsamkeit besonders in Rücksicht auf die Romane. Nebst einer Nachschrift über den sittlichen Werth der Empfindsamkeit. Halle 1786, S. 10: „Denken ist Bestimmung des Mannes, wozu er sich schon als Jüngling vorbereiten soll, und wodurch er sich […] einigermaßen vom weiblichen Geschlechte unterscheidet. Tief in seinem Innersten lebt ein gewisses dunkles Gefühl von dieser Bestimmung.“ 198 Vgl. ebd., S. 36f. 199 Wilhelm Heinse: Frauenzimmer-Bibliothek 1774. In: Iris. Vierteljahresschrift für Frauenzimmer. Bd. 1. St. 3. Düsseldorf 1774, S. 53–77. 200 Ebd., S. 60f. 201 Ebd., S. 61.
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Phantasie ersetze und trainiere, was die Gegenwart ihr an Sensibilität genommen habe: „Wir können den Geist in den Dingen nicht mehr empfinden; man hat uns in unsrer Kindheit das urmenschliche Gefühl abgenommen; […] Und was ist die Ursache davon? Wir leben in Mauren [sic], und empfinden nur in der Einbildung, was außer ihnen ist; die Oberfläche davon und nicht das Wesen, wie die feurigste Phantasie allein nichts anders kann.“202 Rückgewonnene Empathie soll die Frauen zum Kern der Dinge zurückführen. Wie schon zuvor bei Herder tritt hier die These von der allzu rational operierenden Bildung in den Vordergrund. 30 Jahre später schien das Konzept von Heinse und Jacobi aufgegangen zu sein, als Karoline von Gründerrode ihre Erfahrungen mit Ossian als eine kraftvolle Inspiration ihrer Empfindungsfähigkeit beschrieb, die aber nicht lange anhalte: Vor einiger Zeit gelang es mir, mich in eine schöne erhabne Phantasiewelt zu schwingen, in Ossians halbdunkle Zauberwelt; aber die seligen Träume zerfließen; sie kommen mir vor wie Liebestränke, sie betäuben, exaltieren und verrauchen dann, das ist das Elend und die Erbärmlichkeit aller unserer Gefühle; […] Ein pygmäisches Zeitalter, ein pygmäisches Geschlecht spielt jetzt, recht gut nach seiner Art.203
Die Klagen über die Gegenwart gehörten zu jeder Zeit zur Lektüre der OssianLeser. Nie konnten die Zeitgenossen, weder 1765 noch 1801, an die Ideale der starken ossianischen Krieger heranreichen. Darin lag eine weitere Funktion der sanften Melancholie angesichts unerreichbarer Ideale, sie garantierte in gewisser Weise eine Zufriedenheit mit der eigenen Kritik und Unzulänglichkeit.
3.2.6 Kritik an der sanften Melancholie Nicht alle Zeitgenossen erlebten Ossians Illusion von der ungebremsten und urtümlichen Melancholie jedoch als eine unverfängliche Empfindung. „Man weinte, wußte nicht warum“, schrieb Johann Georg Jacobi 1772.204 Mit der Distanz zum Publikumserfolg wuchs die Kritik an einer Melancholie ohne kontrollierendes Maß oder Sinn. Der sympathetischen Melancholie Ossians fehle die sittliche Grenze, die das ehemalige religiöse Kultivierungsprogramm besessen habe. Ein Leipziger Rezensent des frühen 19. Jahrhunderts schrieb, das Streben nach einem Unendlichen könne die hilfreiche Korrektur der Vernunft nicht ersetzen. Man komme mit Ossian vor „lauter Sehnen nicht zum Seyn“, in dem schließlich alles wahre Leben liege:
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Ebd., S. 72. Karoline von Gründerrode: Brief vom 21.10.1801 an Gunda Brentano. In: Dies.: Ich sende dir ein zärtliches Pfand. Die Briefe der Karoline von Gründerrode. Hg. und mit einer Einleitung versehen von Birgit Weißenborn. Frankfurt am Main 1992, S. 81f., hier S. 82. 204 Johann Georg Jacobi: Die Dichter. Eine Oper, gespielt in der Unterwelt. In: Ders.: Sämmtliche Werke. Bd. 2. Zürich 1807, S. 49–65, hier S. 53.
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Was soll man vollends sagen, wenn […] Jung, das vorherrschende Gefühl der Schwermuth für unzertrennlich achtet von der wahren Genialität? […] Unstreitig, […] dass eine solche Ansicht der wahren Idee der Sittlichkeit […] ermangele, indem sie das Gefühl nicht in seine höhere Einheit mit der Vernunft aufzulösen, mithin in seine sittliche Würde zu erheben vermag, in welcher es eben erst Genialität ist, dass also dieses Gefühl der Schwermuth, diese Befangenheit des Wesens in der Einseitigkeit, wo nicht der Genialität geradezu entgegengesetzt, doch höchstens ein nicht zu vereinzelnder und für das wesentliche auszugebender Moment derselben sey. Es hilft dabey nichts, von einem sehnsuchtsvollen Streben der Menschheit nach dem Unendlichen zu sprechen; eben dies Sprechen vom Unendlichen und dies Unendliche selbst ist nur der Ausdruck unsrer in der Krankheit des Formalismus zerflatternden und zerstäubenden Zeit.205
Aus Sehnsucht allein könne nichts Neues entstehen. Der Anspruch der Sittlichkeit an das Genie blieb trotz seiner Autonomie bestehen und sanfte Melancholie allein konnte keine Genialität beanspruchen. Der Schritt darüber hinaus glitt in die Sentimentalität, deren Einseitigkeit von Kritikern des Ossian ins Feld geführt wurde. Somit galten für Ossian, dessen Empfindungsfähigkeit im Zentrum stand, noch immer die humanistischen als auch christlichen Bewertungsmaßstäbe des 18. Jahrhunderts. Die Vernunft als Regulativ und richtungsweisend für Visionen oder Gefühle war nicht vollends zu suspendieren. Häufigste Kritik an der sanften Melancholie ist daher die Entfremdung des Lesers von der Lebenswirklichkeit, die rauschhafte Zustände annehmen könne. Ästhetische Empfindungen entfremdeten den Mann von seiner Aufgabe zu denken.206 Johann August Eberhard fürchtete, der Mensch könne unter einem zuviel an schwärmerischer Melancholie untätig und krank werden.207 Die empfindlichen Nervenknoten der Brust würden zu stark beeinflusst und durch sie die Eingeweide in ihren Funktionen gestört.208 Überdosiert und ungerichtet werde die ehemalige Perfektionierungshilfe zur Droge. Je nach Charakter und Lebensumständen des Lesers oder Kritikers war mit einer unterschiedlichen Verträglichkeit dieser Empfindung zu rechnen: „So kann denn, wem die Götter noch eine frische Natur verliehen, die in kränkelnder Emp205
Anonym: [Rezension] Die Gedichte von Ossian, dem Sohne Fingals. In: Neue Leipziger Literaturzeitung. Bd. 3. St. 85, Leipzig 1808, S. 1345–1357, hier S. 1351f. 206 Vgl. Eberhard: Ueber den Werth der Empfindsamkeit (wie Anm. 197), S. 10. 207 Vgl. ebd., S. 125: „Diese Neigung zu einer gefahrlosen Unthätigkeit wird noch durch die Natur der Empfindungen verstärkt, womit sich der Empfindsame am liebsten nährt. Das sind die ihm so süssen Schauder eines sanften Grams und einer nachsinnenden Schwermuth. Um diese ungestört zu geniessen, sucht er die Einsamkeit, und um ihnen Nahrung zu geben, ließt er unglücksvolle Abentheuer, lustwandelt unter den Gräbern, und ergötzt sich an den Scenen der Nacht, die höchstens durch den schwachen Schein des friedsamen Mondes erhellet sind.“ 208 Vgl. ebd., S. 130: „Unter allen Leidenschaften sind keine der körperlichen Gesundheit verderblicher, als die wehmüthigen und niedergeschlagenen. Vermöge ihrer starken Wirkungen auf die Nervenknoten der Brust, bringen sie die Lebensbewegungen in Unordnung, indem die Erschütterungen dieser Nervenknoten sich den Eingeweiden mittheilen, und sie zu gewaltsamen Verzuckungen disponieren, die desto furchtbarer sind, je weniger sie den Befehlen des Willens gehorchen, und je mehr dadurch ihre zur Erhaltung des Lebens gehörigen Verrichtungen gestört werden.“
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findeley sich nicht verzehren mag, keineswegs es rührend, sondern nur lächerlich finden, wenn diese jammernden Helden von eignen, oder auch Andrer tempi passati mit Klagen und Thränen erzählen, oder sich erzählen lassen.“209 Die Empfindungsfreude im Überschuss werde zur „Empfindeley“.210 Neben Ossian wurden Youngs Nachtgedanken zum Referenztext für trübsinnige Melancholie, in Wagners Kindermörderin (1776) zum Zeichen von depressiven Anfällen und Pessimismus.211 Herder berichtete kurz vor der Jahrhundertwende rückblickend von den negativen Seiten der elegischen Dichtung, die er ehemals an seine Verlobte weiterempfohlen hatte: „Ich gebe es zu, daß Ossian mißbraucht werden kann, nicht nur, wenn man ohne seine Empfindung seine Töne nachsinget, sondern auch, wenn man seinen wehmüthigen Gefühlen sich zu einsam überläßt, und sich mit erliegender Ohnmacht an seinen Bildern, an seinen süßen Wolkentrost labet.“212 Die zuvor von Herder eingeforderte, „frei schwebende“ Ossian-Lektüre wurde von ihm im Alter zurückgenommen. Dem subjektiven Sänger Ossian, der er im Gegensatz zum objektiven Erzähler Homer sei, solle man sich nicht ohnmächtig überlassen: „Bei Ossian geht alles von der Harfe der Empfindung, aus dem Gemüt des Sängers aus; um ihn sind seine Hörer versammelt, und er teilt ihnen sein Innerstes mit.“213 Seinem Sohn warf Herder die Ossian-Verfallenheit sogar als Charakterschwäche vor.214 Aus seinem ehemaligen Heldenepos wurde Herder eine potentiell gefährliche Idyllen- und Traumwelt. Die Erkenntnis, dass es sich bei Ossian nicht um eine Original-Dichtung handelte, trug wohl nicht wenig zu dieser Desillusionierung bei. Um aus diesem Dilemma noch einen Profit zu ziehen, machte August Wilhelm Schlegel den ironischen Vorschlag, man könne den Ossian und dessen Melancholie präventiv zu einem Impfstoff umfunktionieren, der gezielt unter Jugendlichen zum Einsatz kommen solle, die ansonsten unkontrolliert dem Phänomen anheim209 210 211
Anonym: [Rezension] Die Gedichte von Ossian, dem Sohne Fingals (1808), S. 1354. Ebd., S. 1355. Vgl. Heinrich L. Wagner: Die Kindermörderin. 3. Akt. Heilbronn 1883, S. 37. Die vergewaltigte und schwangere Bürgerstochter Evchen leidet darunter, ein uneheliches Kind zur Welt zu bringen. Schließlich tötet sie den Säugling. In dieser prekären Situation hat sie Youngs Night Thoughts zur Lieblingslektüre erkoren. 212 Johann Gottfried Herder: Homer und Ossian. 1795. In: Ders.: Werke in 10 Bänden. Bd. 8: Schriften zur Literatur und Philosophie 1792−1800. Hg. v. Hans Dietrich Irmscher. Frankfurt am Main 1998, S. 71–87, hier S. 83. 213 Ebd., S. 78. 214 Johann Gottfried Herder: Brief am 25. April 1799 an Siegmund August Wolfgang Herder. In: Ders.: Briefe (wie Anm. 115). Bd. 8: Januar 1799 bis November 1803. Bearbeitet von Wilhelm Dobbek und Günther Arnold. Weimar 1984, S. 52–54, hier S. 52: „Den Henker! ich habe mich anders anstrengen müßen und muß mich anstrengen, Nacht u. Tag; es ist mir ein Schimpf, Söhne in die Welt gesetzt zu haben, die träumen.“; „Was ist das für eine schlaffe, unkräftige, Charakterlose Hand! was für eine schlaffe Vorstellungsart, in der Du schreibest! Du weißt, wie ich das verfluchte Idyllen- u. Ossianische Traumwesen, Deine sanft zerfließenden Luftgespenster gehaßt, u. in Dir bekämpft habe.“
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fallen könnten. Die Eigenschaft des Impfstoffes, Immunität durch eine aktive Immunisierung zu schaffen, lag nach Schlegels Vorstellung im Ossian selbst. Für diesen erkannte er eine gesteigerte Empfänglichkeit unter Jugendlichen, die wie bei einer Kinderkrankheit alle einmal der schwärmerischen Melancholie verfallen müssten.215 Die empathische Lektüre, die Herder Mitte der 1770er Jahre gefordert hatte, war als naiv-jugendlicher Zugang zum Ossian über 20 Jahre bevorzugt worden. Nun, da sie sich einigen Kritikern nicht als eine unvermeidliche Stufe der Lektüreerfahrungen darstellte, sollte man sie, wenn sie schon nicht zu bestimmten Erkenntnissen führe, doch wenigstens als Impfstoff präventiv nutzen. Noch Heinrich Heine verankerte die Leidenschaft für ossianische Melancholie in der studentischen Jugendkultur, indem er diese als einen Fall der Sinnestäuschung in seiner Harzreise (1826) beschrieb. Zwei Hallenser Ossian-Adepten stehen dabei stellvertretend für jene, deren Wahrnehmung der Umwelt durch Trugbilder des Ossian vernebelt werde.216 Die Studenten kehren auf der Wanderschaft in einer Gaststätte auf dem Brocken ein. Unter dem Genuss einer Menge Rotweins beklagen sie pathetisch den Tod einer Bekannten in ossianischem Wortlauf: Sie sprachen leise, mit sehnsuchtbebender Stimme, und es waren traurige Geschichten, aus denen ein wunderschmerzlicher Ton hervorklang. ‚Die Lore ist jetzt auch tot!‘, sagte der eine und seufzte, und nach einer Pause erzählte er von einem halleschen Mädchen, das in einen Studenten verliebt war, und als dieser Halle verließ, mit niemand mehr sprach, und Tag und Nacht weinte, und immer den Kanarienvogel betrachtete, den der Geliebte ihr einst geschenkt hatte. ‚Der Vogel starb, und bald darauf ist auch die Lore gestorben!‘, so schloß die Erzählung, und beide Jünglinge schwiegen wieder und seufzten […] Endlich sprach [einer der beiden, K.B.] – ‚Meine Seele ist traurig! Komm mit hinaus in die dunkle Nacht! Einatmen will ich den Hauch der Wolken und die Strahlen des Mondes. Genosse meiner Wehmut! ich liebe dich, deine Worte tönen wie Rohrgeflüster, wie gleitende Ströme, sie tönen wider in meiner Brust, aber meine Seele ist traurig!‘
Nicht nur im Gegensatz vom lapidaren Tod des Kanarienvogels zum Tod eines Mädchens besteht die Komik der Situation, sondern auch in der offensichtlich hochgradig infektiösen, zu unbrauchbaren Mitmenschen degradierenden, sentimentalen Trauer. Übertroffen wird dies nur noch durch die – wie ihre Verwendung durch Heine zeigt – zum Kitsch verkommenen Passagen aus Ossians Rhetorik und Bilderfundus. In einem Nebenraum des Gasthauses bauen sich die beiden jungen Männer statt vor einem Fenster später vor einem geöffneten Kleiderschrank auf 215
August Wilhelm Schlegel: Bürger. 1800. In: Ders.: Sämmtliche Werke. Hg. v. Eduard Böcking. 16 Bde. Bd. 8. Leipzig 1846, S. 64–141, hier S. 135: „Indessen stände von diesem empfindsamen, […] zusammengeborgten, modernen Machwerk, […] dennoch vielleicht ein Gebrauch zu machen. Da, wie es scheint, in unserm Zeitalter jeder poetische Jüngling die sentimentale Melancholie einmal zu überstehen hat, so schlage ich vor, wie man jetzt statt der Kinderblattern mit den Kuhpocken abkömmt, sie künftig mit dem Ossian einzuimpfen, das Uebel wird auf diese Art am unschädlichsten und am wenigsten anhaltend sein.“ 216 Heinrich Heine: Die Harzreise. In: Ders: Heines Werke in zehn Bänden. Hg. v. Oskar Walzel. Bd. 4. Leipzig 1912, S. 64f.
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und deklamieren sehnsüchtig aus Ossian. Die Episode endet damit, dass ihr Vortrag schließlich abgebrochen wird, weil sie ein betrunkener Student in den Schrank hineinwirft und absperrt. Im Schrank glauben sie sich bereits tot infolge eines Sturzes vom Berg und beenden ihren Wandertag mit einer ersten realistischen Einschätzung ihrer Lage nach Ossian beziehungsweise nach Werther, der dieses ossianische Zitat ebenfalls für sich adaptierte: „Morgen wird der Wanderer kommen, kommen der mich sah in meiner Schönheit, ringsum wird sein Auge im Felde mich suchen, und wird mich nicht finden.“217 Offenbar war das Ossian-Zitat in Goethes Werther, das dort zweimal zentral verwendet wird, noch zur Zeit Heines Hinweis auf die überladen theatralische Identifikation mit Ossian. Ungeschminkt erklärt die Satire auf enthusiasmierte Ossian-Leser (und auch Werther-Figuren), dass denen, die die sanfte Melancholie inszenierten, die Lebenstüchtigkeit fehle, um Fakten zu erkennen und sich gegen die prosaischen Raufbolde zur Wehr zu setzen. Die Verklärung der Vergangenheit und Gegenwart ist ihnen ein wohl gepflegtes Mittel geworden, um der Welt zwar zu entgehen und unter den profansten Dingen von Heldenmut zu schwärmen. Unter dem kritischen und satirisch-übertreibenden Blick Heines werden sie aber durch den Genuss selbstreferentieller, synthetischer Melancholie zu Witzfiguren ihrer Zeit. Eine nostalgische Wunschwelt, die ein Scheitern immer still und notwendig mitdenke, halte Gemüter, die nach ossianischem Heldenruhm streben, in subjektiven Traum- und Nebelwelten gefangen. Jean Paul hatte schon vor der Jahrhundertwende über die Literaten geurteilt, die sich der sanften Melancholie verschrieben und allmählich zu zahlreich geworden waren: Endlich komm’ ich auf die Dichter, die von Thränen leben, wie der Fisch von Wasser: auf die Schneemännchen, die, wider den Lauf der Natur, am Tage von dem äusseren Froste erstarren und zu Nachts im Mondstrahl vor Hitze zerschmelzen. Ich kann sie in meiner Lobschrift nicht übergehen, weil sie sich, in der neulichen Thränensündflut Deutschlands, durch ihre Stimme als Frösche und durch ihre Flossfedern als Fische sehr thätig bewiesen haben.218
Über diese „Schneemännchen“, schrieb er weiter, sei nicht viel zu sagen, da sie mit dem Tränenwasser, das sie erzeugten, zugleich verschwunden seien. Es stimmt, dass das vorwiegend literarische Phänomen der schönen Melancholie als Modeerscheinung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts allmählich in Vergessenheit geriet, doch es ist ebenso wahr, dass die Froschlaute und Flossenbewegungen dieser Gruppierung einen enormen Einfluss auf die kulturelle Entwicklung des 18. Jahrhunderts hatten bzw. romantische Charakteristika vorbereiteten. Ihre liebste Empfindung, die „Wonne der Wehmut“, war eine ästhetische Lust an Trauer, die eng-
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Diese Passage aus Berrathon übersetzte Goethe für seinen Ossian-Einschub im Werther. Vgl. Goethe: Die Leiden des jungen Werthers (wie Anm. 155), S. 172 und S. 244. 218 Jean Paul: Lob der Dummheit. In: Ders.: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Abt. 2. Bd. 1: Ausgearbeitete Schriften 1779−1782. Hg. v. Eduard Behrend. Weimar, Berlin 1928, S. 292–347, hier S. 338.
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lische und deutsche Leser sowie Literaten ab der Mitte des 18. Jahrhunderts gleichermaßen beschäftigte. Viele der heute kanonisierten deutschen Autoren wie Wieland,219 Herder, Schiller220 und Goethe begannen ihre frühen literarischen Auseinandersetzungen als solche „Schneemännchen“.
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Vgl. Wielands Briefe von Verstorbenen an hinterlassene Freunde (1753) und Ode an Serena (1753) 220 Vgl. z.B. Schillers Eine Leichenphantasie (1780) und Elegie auf den Tod eines Jünglings (1782).
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Zu einer Autonomie der Gefühle
4.1 „Gott! ich bin strafbar, daß ich auch jetzt noch eine Seligkeit fühle“. Werther und die Radikalität der Leidenschaften „Trocknet nicht, trocknet nicht, / Thränen der ewigen Liebe! / Ach, nur dem halbgetrockneten Auge / Wie öde, wie tot die Welt ihm erscheint! / Trocknet nicht, trocknet nicht, / Thränen unglücklicher Liebe!“,1 heißt es in Goethes einstrophigem Gedicht Wonne der Wehmut aus dem Jahr 1775. Unter dem gleichnamigen Stichwort greift es die Erhaltung einer schmerzhaften Erinnerung auf, durch deren Blickwinkel die Welt besonders liebenswert erscheine. Erst die gemischte Empfindung als Erinnerung an eine starke Leidenschaft („ewige Liebe“), mache das Leben lebenswert. Diese Haltung entspricht so gar nicht der Figur des Werther in Goethes Briefroman, der in der melancholischen Erinnerung an seine Liebe zu Lotte die Welt zu hassen beginnt. Der wesentliche Unterschied besteht in der empfindsamen Affektkontrolle, die mit der „Wonne der Wehmut“ bisher verbunden war und deren nun vehementer Negation durch die Figur Werthers. Wie Johann Wolfgang von Goethe mit der Balance empfindsamer Emotionshaushalte im Roman bricht und warum er dies vermutlich tut, soll am Beispiel der sanften Melancholie im Werther erläutert werden. Werther als ein melancholischer „Widergänger“2 zitiert eine lange literarische Tradition der Melancholie. Seine Empfindungs- und Erlebniswelt rekurriert immer wieder auf elegische Vorlagen. Goethe fügt seinem Briefroman durch das indirekte und direkte Zitieren melancholischer Tradition eine reflexive Ebene hinzu, die Werther im Konflikt mit einer empfindsamen Gefühlskultur zeigt, deren Teil er zunächst selbst ist. Auch das bewusste Situieren des Textes im empfindsamen Genre des Briefromans wird durch Werthers Radikalisierung empfindsamer Maximen konfliktreich und mehrdeutig. Schon zu Anfang des Romans kündigt sich an, dass ein übergeordnetes Thema und die Ursache der Leiden Werthers nicht allein die unglückliche Liebe zu einer Frau ist, sondern dass es um eine recht kopflose Befreiung aus einer ungeliebten Situation geht („Wie froh bin ich, dass ich weg bin!“).3 In Dichtung und Wahrheit erklärt Goethe die Fluchtbewegung rückblickend als charakteristisch für diese Zeit: 1
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Johann Wolfgang von Goethe: Wonne der Wehmut. In: Ders.: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hg. v. Hendrik Birus und Friedmar Apel. Abt. 1. Bd. 1: Gedichte 1756−1795. Hg. v. Karl Eibl. Frankfurt am Main 1987, S. 175. Vgl. Jörg Löffler: Unlesbarkeit. Melancholie und Schrift bei Goethe. Berlin 2005, S. 91: „Die intertextuellen Pflugspuren werden tiefer und verflochtener, lassen ich aber am Leitfaden der Melancholie immer noch zusammenhalten. Auf der Bühne der Texte, ‚am Ende einer langen Gedächtniskette‘, hat Werther seinen Auftritt als melancholischer Widergänger vorgegebener Figurationen.“ Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. Hg. v. Waltraud Wiethölter. Fassung A. Frankfurt am Main 1994, S. 10.
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[V]on unbefriedigten Leidenschaften gepeinigt, von außen zu bedeutenden Handlungen keineswegs angeregt, in der einzigen Aussicht, uns in einem schleppenden, geistlosen, bürgerlichen Leben hinhalten zu müssen, befreundete man sich, in unmutigem Übermut, mit dem Gedanken, das Leben, wenn es einem nicht mehr anstehe, nach eignem Belieben allenfalls verlassen zu können und half sich damit über die Unbilden und Langeweile der Tage notdürftig genug hin.4
Der Roman selbst beschreibt eine solche Fluchtbewegung des Protagonisten, der an keinem Ort seinen Frieden findet. So wie Werther schon in den ersten Briefen halb auf der Flucht, halb auf der Suche nach seinem Glück ist, so ist er auch noch flüchtend und suchend bis zu seinem Selbstmord. Seine Briefe stellen einen jungen Mann vor, der sich in seiner glücklichen Entwicklung vor allem durch gesellschaftliche Zwänge behindert sieht. Viele seiner Kräfte könne er deshalb nicht frei entwickeln, sie müssten stattdessen verborgen werden.5 Seine Flucht führt ihn aufs Land, in die Natur, vermeintlich fort von rationaler Geschäftigkeit und ökonomischen Interessen.6 Die künstlerischen Versuche, die er dabei unternimmt, sind als Ausdruckssuche und Sinneserfahrung zu verstehen, die Werther aber nicht als Künstler oder Hochbegabten auszeichnen. Schon der zweite Satz im ersten Brief konkretisiert die Problematik, unter der Werther symptomatisch für seine Zeit leidet. „Bester Freund, was ist das Herz des Menschen!“,7 schreibt er und lässt damit die irrationale Kraft anklingen, der er alles unterstellt, die ihm aber unverständlich bleibt. Die bisher empfindsame Strategie, Emotionen als wegweisend zu betrachten, wird Werther, der das Herz zum absoluten Gesetzgeber gemacht, zum Verhängnis. Im Konflikt mit den moralischen Grenzen seiner Zeit werden ihm starke Empfindungen zu unbändigen Leidenschaften, die ihn aus der Gesellschaft vertreiben, statt ihn darin zu integrieren. Dass dieses Schicksal bereits seinen Lauf genommen hat, bevor er Lotte kennenlernt, zeigt sich an den weiteren Bemerkungen des ersten Briefes. Er wolle selbstmitleidigen Klagen abschwören und in die Zukunft statt in die Vergangenheit schauen. Eine rückwärtsgewandte, pessimistische Lebenshaltung prägt Werther offensichtlich schon geraume Zeit vor seiner Anreise in Wahlheim. Diese wie zufällig zu Anfang angedeutete Problematik einer Diskrepanz von Empfindung und Welt bleibt bis zuletzt dominant und bestimmt Werthers Interpretation des Geschehens um ihn. Eine wesentliche Entwicklung innerhalb der Handlung besteht darin, dass er das empfindsame Kultivierungsprogramm der Leidenschaften (besonders der sanften Melancholie) in voller Konsequenz radikalisiert. 4
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Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hg. v. Dieter Borchmeyer. Bd. 14. Abt. 1. 3. Teil. Buch 13. Hg. v. Klaus Detlef Müller. Frankfurt 1986, S. 634. Vgl. Goethe: Werther. Fassung A (wie Anm. 3), S. 20. Werther bringt in seinen Briefen noch weitere Male sein Gefühl einer Gefangenschaft zum Ausdruck. Vgl. ebd., S. 130 (auf Galeere leben); S. 136 (wie im Käfig sein); S. 134 (als eine Marionette geführt werden); S. 110 (wie ein wildes Pferd zu Schanden geritten werden). Ebd., S. 10.
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Durch intertextuelle Verweise werden die Traditionen einer Kultivierung von Melancholie zur moralischen Perfektionierung und ihre Ästhetisierung schließlich im Werther noch einmal neu zusammengeführt und kritisch betrachtet. So spielt Goethe durch die Anlage des Romans bewusst mit der eingeübten empathischen Lektüre der Empfindsamkeit und führt den Leser durch sie zugleich an die Grenzen der zeitgenössischen Moral. Bisher blieben alle Formen der sanften Melancholie in einem moralisch-christlichen Rahmen situierbar, nun aber wird dieser gesprengt bzw. herausgefordert. Bis hin zu Ossian war empfindsame Melancholie moralisch vereinbar mit christlichem Glauben. Werthers Selbstmord ist dagegen eine gesteigerte Radikalität der Todesbejahung, die selbst Macpherson für seine ossianischen Krieger ausgeschlossen hatte. Schon die Vorrede des Romans („laß das Büchlein deinen Freund seyn“)8 und die in den Briefen geschilderte Handlung zeigen das Zitat empfindsamer Konventionen und zugleich ihre Problematisierung. Dies geschieht am deutlichsten, indem die sakralen Wurzeln des empfindsamen Kultivierungsprogramms zwar rhetorisch wiederbelebt, inhaltlich aber zur Auslastung des Empfindungsprimats genutzt werden („Gott! ich bin strafbar, daß ich auch jetzt noch eine Seligkeit fühle“).9 Werther teilt mit vielen seiner Zeitgenossen eine Begeisterung für empfindsame Emotionalisierungen, denen er sich gerne aussetzt. Er erkennt das Potential dieser Emotionalisierungen, die ihm zu gesteigerter Selbsterfahrung und autonomen Gefühlen verhelfen können, und übertritt zugleich die selbstschützenden, konventionellen Barrieren der kulturellen Perfektionierungsstrategie. Als Provokateur fühlt er sich dazu getrieben, in seiner Umgebung durch normabweichendes Verhalten Verwunderung zu stiften und etablierte bürgerliche Verhaltensformen zu hinterfragen. Missverstanden zu werden, bekennt er, sei dabei sein Schicksal.10 Immer wieder stoßen Werther und das Primat der wegweisenden Leidenschaften an ihre Grenzen: Die Liebe zu einer von ihm begehrten Frau wird ihm im Voraus verboten; seine kindliche Impulsivität lässt die Umstehenden mit Argwohn auf ihn blicken. Als gesellschaftskritischen Revolutionär kann man ihn zwar nicht bezeichnen, doch seine rousseausche Vorliebe für die Natürlichkeit der Kinder beschreibt seine Vorstellung eines stark emotional geleiteten, stetig hinterfragenden und wenig konventionell gebremsten Lebens. Seine Gefühle beharrlich erforschend, glaubt er bis zuletzt daran, dass den ‚wahren‘ Gefühlen Gerechtigkeit widerfahren müsse.11 Werther wird zum Rebell im eigenen Leben und drückt in diesem Widerstreit mehr Individualität und Persönlichkeit aus, als das viele Romanfiguren des 18. Jahrhunderts vor ihm getan haben. Da sich keine Harmonie zwischen seinen Leidenschaften und der äußeren Welt herstellen lassen will, er
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Ebd. Ebd., S. 196. Vgl. ebd., S. 20. Ebd., S. 160.
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aber konsequent auf seiner Berechtigung, Lotte lieben zu können, besteht, will Werther seinen Selbstmord als Befreiung von dieser ‚falschen‘ Welt ausführen. Sein Umgang mit empfindsamer Seelenschau ist dann tatsächlich revolutionär und zugleich umstritten. Die Progressivität und Anziehungskraft des Romans besteht bis heute vor allem in der Autonomie der individuellen Gefühle, die keiner gesellschaftlichen oder moralischen Konvention untergeordnet werden. Von dieser Warte aus sind Werthers Briefe nicht als die Dokumentation einer Krankheitsgeschichte12 zu betrachten, sondern als das bewusste, radikale Ausagieren einer erstarkenden Individualität, die durch die empfindsame Seelenschau maßgeblich unterstützt wurde, deren Regulative sie aber hinter sich zurücklässt.
4.1.1 Werthers Vertrautheit mit empfindsamen Konventionen und deren Problematisierung Um Werthers Umgang mit dem empfindsamen Kulturprogramm zu erläutern, ist es nötig, seine Vertrautheit damit zu erkennen. Zum Beispiel bringen ihm konventionelle Emotionalisierungstechniken Lotte zusätzlich näher, da auch sie empfindsame Literatur rezipiert. Die intertextuellen Verweise auf ebenjene stellen Werther als ihren Rezipienten dar und machen ihn zugleich zu einem ‚eingeweihten‘ Empfindsamen. Der sympathetische Genuss sanfter Melancholie verbindet eine inoffizielle, quasi-religiöse Lesergemeinschaft, zu der Werther auch Lotte zählt. Das Erleben von Trost durch fiktionale Texte der Empfindsamkeit, wie es das Vorwort des Romans ankündigt, schaffe in der Gemeinschaft der Lesenden Katja Mellmann zufolge para-religiöse Ausdrucks- und Selbstverständnisformen.13 Die sympathetisch Empfindenden treten in einen idealen Kreis von leidenschaftlich ‚Erweckten‘. Die quasi-religiösen Formulierungen belegen den sakralen Status, dem man unter Zeitgenossen einer empfindsamen Kulturgesellschaft und ihren (häufig literarischen) Kultobjekten zusprach. Die ausgewählten Attribute eines empfindsamen Melancholikers etablieren Werther als Zugehörigen in der literarischen „(Fan)-Gemeinde“, die seit 1765 den
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Vgl. Horst Flaschka: Goethes Werther. Werkkontextuelle Deskription und Analyse. München 1987, S. 263. Vgl. Katja Mellmann: Das Buch als Freund – der Freund als Zeugnis. Zur Entstehung eines neuen Paradigmas für Literaturrezeption und persönliche Beziehungen, mit einer Hypothese zur Erstrezeption von Goethes Werther. In: Hans-Edwin Friedrich, Fotis Jannidis u. Marianne Willems (Hg.): Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert. Tübingen 2006, S. 201–240, hier S. 235: „Das Gewahrwerden des tröstenden Consensus bei der Lektüre ist zunächst ein subjektiver Befund, der sich auf ein emotionales Erlebnis gründet. Wo dieser Befund nach außen sichtbar gemacht, virtuelle Gemeinschaft real praktiziert werden soll, ergeben sich zwangsläufig parareligiöse (‚kultische‘) Äußerungen – das offenbar einzige vorhandene Repertoire an intersubjektiv semantisierten Anschlusshandlungen für starke („religiöse“) Gefühle.“
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Ossian zu einem ihrer „Kult“-Texte erkoren hatte.14 Die Kennzeichnung als Melancholiker verschafft Werther Anerkennung unter Gleichgesinnten, da die empfindsame Melancholie an Gräbern und Ruinen zu einem gesellschaftlich etablierten Phänomen geworden war.15 Somit war die vieldiskutierte „Wertherwirkung“ kein neu entstandenes Jugendphänomen, sondern die Spitze eines Prozesses, der mit dem empathischen und identifikatorischen Lesen der Empfindsamkeit vor einigen Jahrzehnten begonnen hatte. Goethe verstand sich darin, seinen jugendlichen Helden in dieser para-religiösen Literaturgemeinde unterzubringen und ihm selbst – unter anderem mit Hilfe der vorausgegangenen melancholischen Tradition – einen solchen Kult-Status zu verleihen. Es ist berechtigt zu vermuten, dass Goethe eine empathische, zugleich grenzgängige und partiell widerständige Lektüre des Werthers durch die Betonung autonomer Leidenschaften intendiert hatte.16 Die empathischen, quasi-religiösen Lektüren, die Werther seinerseits betreibt, wurden durch die zeitgenössischen Lektüren des Textes selbst weitergeführt oder kritisch hinterfragt. Im Gegensatz zu Martin Andree gehe ich davon aus, dass schon das Vorwort den Leser durch seine ambige Einleitung vor die Wahl stellt, den Hinweis auf die empathische Lektüre ernst zu nehmen oder sie – aufgrund der Perspektivbrechung durch den Herausgeber – kritisch zu beurteilen.17 Horst Flaschka hat eine Aufzählung der empfindsamen Funktionalisierungen im Werther erstellt, die belegen soll, dass der Text diese gezielt verwendet: Seelenschau, Präformierung des Lesers in der Vorrede, Appell zur sittlichen Nutzung, Kommunikation in Blicken, gemeinsame Seelenräume, Tränen sowie pietistische Formelsprache.18 Auch ohne diese Liste in Beispielen abzuarbeiten, ist dem Leser deutlich, dass der Roman jene literarischen Konventionen aufgreift. Im Folgenden soll erläutert werden, dass er dies aber mit einer ambivalenten Färbung tut, die den Rezipienten signalisiert, dass Werther der empfindsame Emotionscode zwar be14
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Vgl. Johannes Anderegg: Werther und Ossian. In: Ulla Fix u. Hans Wellmann (Hg.): Stile, Stilprägung, Stilgeschichte. Göttingen 1997, S. 121–133, hier S. 123. Wie ein Artikel in den Göttingische Anzeigen von Gelehrten Sachen aus dem Jahr 1765 belege, habe der Glaube an die Echtheit Ossians missionarische Züge gehabt. Ebd., S. 129. Vgl. ebd., S. 126. Goethe karikiert diese Mode in seinem Stück Triumph der Empfindsamkeit, in dem die Königen Mandandane im Mondschein spazieren geht, an Wasserfällen schlummert und weitläufige Unterredungen mit Nachtigallen habe. Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Triumph der Empfindsamkeit. In: Ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. 21 Bde. Hg. v. Karl Richter. Bd. 2: Erstes Weimarer Jahrzehnt 1775−1786. Hg. v. Hartmut Reinhardt. 1. Akt. München 1987, S. 165–212, hier S. 171. Vgl. Mellmann: Das Buch als Freund − der Freund als Zeugnis (wie Anm. 13), S. 219: Goethe habe ein Werther-Fieber intendiert. Vgl. Martin Andree: Wenn Texte töten. Über Werther, Medienwirkung und Mediengewalt. München 2006, S. 87: „Es wird also deutlich, daß der Text rekursiv eine klar umrissene Konfiguration der Emphase inszeniert und deren Parameter miteinander vernetzt, ebenso wie der Leser fast dazu gezwungen wird, diese ‚Textstrukturen’ […] nachgerade zu seinem eigenen, ebenso obsessiven Lektüreprogramm zu machen.“ Flaschka: Goethes Werther. Werkkontextuelle Deskription und Analyse (wie Anm. 12), S. 162f.
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kannt ist, er aber zur Problematisierung eines Gegenstandes herangezogen wird, der den Moralkodex der Zeit übertritt: die Autonomie starker, jedoch zeitgenössisch unmoralischer Gefühle. Schon vor seiner Bekanntschaft mit Lotte pflegte Werther empfindsame Konventionen, die ihm als Ausdruck unverbildeter Natürlichkeit erscheinen. In einem nach empfindsamem Geschmack „einfachen“, „mit dem fühlenden Herzen“ angelegten Garten habe er einsame Tränen vergossen.19 Diese häufig in empfindsamer Literatur dargestellte Gepflogenheit in künstlich angelegten Grotten und Lauben zu sitzen, um zu weinen, ist 1774 kein originelles persönliches Erlebnis mehr, wie man Goethes Triumph der Empfindsamkeit (1775) entnehmen kann.20 Mit der süßen Melancholie, die keinen lebenswirklichen Grund kennt, ist Werther bereits so vertraut, dass er zugibt, sein Freund habe darunter leiden müssen.21 Offensichtlich sind Werther die mäßigenden Ziele empfindsamer Emotionalisierungsstrategien bewusst, doch er manipuliert sie, um seine Leidenschaften nicht bremsen zu müssen.22 Ebenso schnell wie Werther Trauer empfinden kann, erfreut er sich auch plötzlich überschwänglich an der Natur.23 Freude und Schmerz liegen für ihn dicht beieinander. Schon in einem der ersten Briefe bestätigt er sich, dass seine Leidenschaften in keinem Gleichklang seien.24 Zahlreiche Gefühlsschwankungen und Gefühlsausbrüche merken Werthers Unausgeglichenheit an, der er sich immer öfter überlässt und die Lotte an ihm tadelt. Der empfindsamen Idealfigur wäre es um einen Ausgleich dieser Schwankungen gegangen, Werther aber verstärkt sie entgegen der Empfehlungen seiner Freunde. Von seinen Kenntnissen in der Stimulation von Stimmungen und Leidenschaften macht er direkten und häufigen Gebrauch. Er spielt mit den empfindsamen Konventionen und nimmt doch ihren Leitsatz, die Herrschaft des Herzens, ernst. An vielen Punkten wird deutlich, dass Werther nicht nur auf einzelne empathisch verstandene Texte rekurriert, sondern mit seiner Sprache, seinen Deutungen oder Beschreibungen von Landschaft eine empfindsame Kulturtradition zitiert und seine Lebenswirklichkeit damit oftmals überblendet. Immer wieder zieht es ihn an Orte, die die beliebten gemischten Empfindungen hervorrufen, wie beispielsweise der Brunnen, der etwas „schauerliches“ und doch „anzügliches“ habe.25 Ähnlich dem schwärmerischen Prinzen in Triumph der Empfindsamkeit sucht Werther den „Ef19 20
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Goethe: Werther. Fassung A (wie Anm. 3), S. 12–14. Hervorgehoben wird dies durch Goethes humoristische Darstellung einer Reiselaube des schwärmerischen Prinzen in Triumph der Empfindsamkeit. Vgl. ders.: Triumph der Empfindsamkeit. 2. Akt (wie Anm. 15), S. 175f. Die „wohltemperierte“ Laube, die aus einem Reisekoffer entsteht, imitiert eine Gartenlaube im Mondschein. Goethe: Werther. Fassung A (wie Anm. 3), S. 16. Ebd.: „Auch halt ich mein Herz wie ein krankes Kind, all sein Wille wird ihm gestattet. Sag das nicht weiter, es giebt Leute, die mir’s verübeln würden.“ Ebd. Ebd. Ebd.
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fekt“ von Anblicken.26 Gezielt werden Erlebnisse von ihm erdacht und Szenarien entwickelt,27 die starke Empfindungen hervorrufen. Die einzige Außenstehende, der er Anteil an diesen Versuchen gibt, ist Lotte, da er mit ihr durch sympathetische Empfindungen korrespondiert. Es sind ebendiese sympathetischen Empfindungen, die Lotte und Werther zunächst einander näher bringen, bis sie schließlich auch körperliche Berührungen und Blicke teilen. Sie sind es auch, die schließlich zum Gefühlsausbruch nach der Ossian-Lektüre führen und Werthers Kontrolle über seinen Körper vergessen machen. An diesen Stellen erklärt der Roman, wie empfindsamer SympathieAustausch zum Katalysator ungebändigter Leidenschaften werden kann. Immer wieder betont Werther die Fähigkeit des Mitfühlens als Qualität eines empfindsamen Menschen. Lotte ist seine ideale Mit-Fühlerin („weil sie an mir fühlte, daß ich sie verstund.“)28. Die gemeinsame Klopstock-Lektüre schafft die erste sympathetische Empfindung zwischen den beiden, die sich als melancholische Stimmung in Anlehnung an Klopstocks Ode Die Frühlingsfeier entwickelt.29 Das gemeinsame Erlebnis des vorbeiziehenden Gewitters fasst Lotte in ihren Klopstock-Seufzer, der für beide das Naturschauspiel mit dessen sentimental-erhabener Stimmung überblendet („Und ich weine? Vergieb, vergieb / Auch diese Träne dem Endlichen“).30 Sogar vor seiner Bekanntschaft mit Lotte habe er einen „geheimen, sympathetischen Zug“ empfunden, als er die Allee, in der er Lotte später treffen würde, betrat.31 Der Sympathie-Effekt ist daher (wie auch im Ossian) zeit- und raumlos gedacht. Auf geheimnisvolle Art besteht er, ohne dass Werther dem Menschen zuvor begegnet ist. Die Sympathie ist oft das einzige Bindemittel der quasi-religiösen, empfindsamen Gemeinde.32 Werthers Briefe kontrastieren immer wieder die natürlichen Empfindungen, die er sich selbst zuschreibt, sowie eine rational abgeklärte Handlung, für die Albert und andere stehen. Während die empfindsame Konvention darauf zielt, den Em26
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Vgl. ders.: Triumph der Empfindsamkeit. 2. Akt (wie Anm. 15), S. 178. Der Diener Merkulo lehrt die Hofdamen das „Kunstwort“ Effekt beim Anblick von Sonne, Felsen oder Wasser zu gebrauchen. Man denke an seine Zeichnung der beiden Kinder, die er für eine „wohlgeordnete“ und doch von ihm nicht konstruierte Abbildung ergeben habe, weil er allein der Natur gefolgt sei. Ebd., S. 28. Ebd., S. 44. Ebd., S. 52. Friedrich Gottlieb Klopstock: Die Frühlingsfeyer (1759/71). In: Ders.: Oden. Auswahl und Nachwort von Karl Ludwig Schneider. Stuttgart 1999, S. 59–67, hier S. 61. Goethe: Werther. Fassung A (wie Anm. 3), S. 116. Vgl. Andree: Wenn Texte töten (wie Anm. 17), S. 91: „Aber diese Subjekt-Sympathie ist Teil einer übergreifenden, vorgeordneten Sympathie, die in der Episteme der Divination das Band bezeichnet, welches alle Dinge der Welt miteinander verbindet. Auch Werther glaubt an diese weltimmanente Anziehungskraft. […] Bei Anwendung dieser divinatorischen Lektüre verwandelt sich die Medialität des Texts, das Medium erhält einen Mehrwert, die Lektüre fabriziert eine Sympathie zwischen dem Leser, den Figuren des Textes und der Natur. Der Text ist plötzlich ‚mehr als nur ein Text‘.“
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pfindenden zu einem braven und gesellschaftlich etablierten Menschen zu machen, verurteilt Werther diese sich selbst mäßigenden Charaktere. Albert ist ihm der Typ des „wissenschaftlichen Gärtners“,33 der ihn langweilt. Den belehrenden Hofmeistern und braven (Ehe-) Männern will er sein Verhalten und Denken entgegensetzen. In Form eines Gleichnisses erklärt er sich entschieden für die unvernünftige Liebe und unvernünftige Kunst, die durch keine rationalen Bedenken begrenzt werden. Maßhalten sei in beiden Bereichen tödlich.34 Ebendieses ist aber eine der wichtigsten empfindsamen Spielregeln. Werther ist sich dessen sehr wohl bewusst und benennt die Gefahr, die die von ihm ungebremste Leidenschaft für Philister und brave Männer bedeuten würde.35 Neben dem Vorwurf der Kleinmütigkeit gegenüber ihnen entwickelt sich bereits das Bild vom leidenschaftlichen Liebhaber, der Alberts Ehe mit Lotte bedroht. Dieser Gegensatz von Maß haltender Besonnenheit und leidenschaftlichem Temperament setzt sich im Werk unter anderem fort, wenn die beiden Brüder Lottes Hand beim Abschied auf zwei Arten küssen: der ältere zärtlich, der jüngere heftig und leichtsinnig.36 Statt zuerst der Gesellschaft dienlich oder ein moralisches Vorbild sein zu können, möchte Werther seine eigenen Leidenschaften erfüllt sehen.37 Die ihm vergleichsweise nur mittelmäßig erscheinenden Gewinne eines empfindsamen Kultivierungsprogramms lehnt er dagegen ab. Solch ein egoistischer Zug ist im Altruismus der Empfindsamkeit nicht vorgesehen. Statt Werther ist vielmehr Lotte die ideale Empfindsame des Romans. Während Werther seinen Leidenschaften unabhängig zu folgen versucht, unterdrückt sie ihre Ängste und Wünsche mit Blick auf ihre soziale Rolle. Durch Zwang, wie der Herausgeber mehrfach betont, passt sie sich der Gesellschaft und den Erwartungen an sie an.38 Albert und Lotte repräsentieren, so Martin Andree in seiner medienwissenschaftlichen Interpretation, eine „instrumentelle Lektüre“ von Ereignissen, während Werther für die empathische Lektüre des Lebens steht.39
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Vgl. Goethe: Werther. Fassung A (wie Anm. 3), S. 12 u. S. 35. Ebd., S. 28. Vgl. ebd.: „da wohnen die gelassenen Kerls auf beyden Seiten des Ufers, denen ihre Gartenhäuschen […] zu Grunde gehen würden, und die daher in Zeiten mit dämmen und ableiten der künftig drohenden Gefahr [überflutenden Genies, K.B.] abzuwehren wissen.” Vgl. ebd., S. 42. Vgl. ebd., S. 80. Vgl. ebd., S. 244: „Ein Strohm von Thränen, der aus Lottens Augen brach und ihrem gepreßten Herzen Luft machte“; ebd., S. 258: „man zwang sich, man redete, man erzählte, man vergaß sich.“ Vgl. Andree: Wenn Texte töten (wie Anm. 17), S. 76: „Im folgenden soll am Beispiel von Goethes Werther gezeigt werden, wie ein Text im Verlauf der Lektüre eine spezifische Version dieser Unterscheidung ‚empathisch‘ versus ‚instrumentell‘ konstruiert und dabei den Leser und das Lesen selbst programmiert.“ Auf der fiktionalen Ebene werden zwei Kommunikationsmodelle durch Werther und Albrecht vorgestellt. Der Held ist das Basismodell der Emphase, sein Gegenspieler ist dagegen nüchtern und sachlich instrumentell.
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Die Identitätssuche und der Wunsch Werthers nach Befreiung liegen schon zu Anfang des Romans vor. Jedoch wird aus der Befreiung, die im Leben stattfinden soll, immer öfter ein Wunsch nach einer Befreiung vom Leben. Werther sucht Auswege aus ihm unerträglichen Situationen und diskutiert schließlich lebhaft mit sich selbst um die Entscheidung zum Selbstmord. Seine Selbstwahrnehmung ist nicht mehr mit der ihn umgebenden Welt in Einklang zu bringen. Vom Herausgeber wird der Selbstmord später als die „von jeher“ dominante „Lieblingsidee“ des „armen Jungen“ umschrieben, die sich in seiner Seele herausgeformt habe.40 Werthers Lebensgeschichte, wie sie der Herausgeber erzählt, wird mit dieser Bemerkung zu einer Geschichte der Lebensabkehr gedeutet, verdrängt damit jedoch auch die Momente exaltierter Freude am kleinsten Organismus, die seine Briefe belegen. Maßgeblich für die Emanzipation Werthers von einem empfindsam reglementierten Umgang mit Emotionen ist jedoch dies: In seiner Figur schildert der Roman in herausragender Weise eine empfindsam geschulte Person, die durch ihre Beobachtungen persönlicher Leidenschaften zum autonomen Individuum werden möchte, statt in ein gesellschaftliches Konzept einzugehen und nach diesem Emotionen zu verhandeln. Ein markantes Beispiel für diese Entwicklung ist wiederum der Tod. Ganz entgegen der empfindsamen Manier, den Tod als einen Prüfstein moralischer Größe zu betrachten, bekennt Werther seine Verwirrung, die in ihm angesichts des Todes auftritt. Er zeigt sich unfähig und ist unwillig, den Tod mit den Ritualen zu bewältigen, die seine Mitmenschen erlernt haben. Der Tod einer älteren Freundin hat ihn gleichermaßen beeindruckt und verwirrt. Das Erlebnis ihrer Bestattung begleitet ihn und kehrt mit den Vorstellungen vom eigenen Tod zurück. Aus dieser Erfahrung formuliert er sein Unverständnis für das Sterben: Sterben! Was heißt das? Sieh wir träumen, wenn wir vom Tode reden. Ich hab manchen sterben sehen, aber so eingeschränkt ist die Menschheit, daß sie für ihres Daseins Anfang und Ende keinen Sinn hat. […] Nein, Lotte, nein – Wie kann ich vergehen, wie kannst du vergehen, wir sind ja! Vergehen […] das ist wieder ein Wort! ein leerer Schall für mein Herz. Sterben! Grab! Ich verstehe die Worte nicht!41
Was im Kontext der erbaulichen Todesmeditation zunächst als Schwäche erscheint und nicht der möglichen Tröster-Funktion des Vorwortes entspricht, belegt die eigentliche Emanzipation und damit Stärke Werthers, unbefriedigten, zwiespältigen Emotionen einen Ausdruck zu verleihen. Statt wie andere die Erbgeschäfte pragmatisch zu erledigen, nimmt er die Irritationen seines Seelenlebens wahr. Angesichts des Todes entwickelt er eine zugegeben melancholische Strategie: „Wer aber in seiner Demuth erkennt, wo das alles hinausläuft, […] der ist still und bildet seine Welt aus sich selbst, und ist auch glücklich, weil er ein Mensch ist. Und dann, so eingeschränkt er auch immer ist, hält er doch immer im Herzen das 40 41
Goethe: Werther. Fassung A (wie Anm. 3), S. 208–210. Ebd., S. 248.
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süsse Gefühl von Freyheit, und dass er diesen Kerker verlassen kann, wann er will.“42 Die größte Freiheit besteht für Werther schließlich in der Wahrnehmung seiner eigenen Empfindungen respektive Menschlichkeit und einer erfühlten Einschätzung, dieser selbst ein Ende setzen zu können.
4.1.2 Das Ausmessen der Extremzustände Die empfindsame Melancholie Werthers und seine Empfänglichkeit für starke Emotionen kippen im Verlauf der Handlung immer mehr in (Auto-)Aggressionen und selbstreferentielles Leiden um. Die sanfte Melancholie entwickelt sich zur ausgewachsenen Depression. Als ein gemeinsames Leben mit Lotte verloren scheint, kehren sich ehemals positive Begriffe in Werthers größte Peiniger um. Die Quelle der empfindsamen Glückseligkeit wird zur Quelle seines Elends.43 Die unglückliche Liebe ist immer mehr ein quälender Akt statt eine „Wonne der Wehmut“. Lotte mutmaßt sogar, dass es der Umstand sei, sie nicht haben zu können, der sie ihm so reizend mache.44 Die Qual begleitet fortan Werthers glücklichste Momente. Trotz seiner Talente plagt er sich beruflich, schiebt die Schuld daran aber seinen Freunden zu.45 Die Natur, die ihn im Sommer noch begeisterte, wird ihm zu einem „unerträglichen Peiniger“, „einem quälenden Geiste“, der ihn verfolgt.46 Der Schauplatz des Lebens verwandelt sich zu einem Abgrund des „ewig offenen Grabes.“47 War das Grab in der empfindsamen Melancholie noch beliebtes Stimulans, wird es Werther zur Metapher der Resignation. Wiederholt klingen die drastischen Bilder der orthodoxen Todesmeditation an, wie sie in Schubarts Todesgesängen zu finden sind: [D]a alles vorübergeht, da alles mit der Wetterschnelle vorüber rollt, […] ach in dem Strom fortgerissen, untergetaucht und an Felsen zerschmettert wird. Da ist kein Augenblik, der nicht dich verzehrte und die deinigen um dich her, […] da du nicht ein Zerstöhrer bist, seyn mußt. […] Ich sehe nichts, als ein ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheuer.48
Werther begreift sich nicht nur als Opfer des Todes, sondern sieht sich selbst auch als Totbringenden. Er verwendet die drastischen Bilder dieser melancholischen Argumentation, kommt aber nicht zu einer erbaulichen Auflösung. Schließlich
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Ebd., S. 24. Ebd., S. 104. Ebd., S. 220: „Ich fürcht, ich fürchte es ist nur die Unmöglichkeit mich zu besizzen, die Ihnen diesen Wunsch so reizend macht.“ Vgl. ebd., S. 140: „Ich hab einen Verdruß gehabt, der mich von hier wegtreiben wird, ich knirsche mit den Zähnen! Teufel! Er ist nicht zu ersesszen, und ihr seyd doch allein schuld daran, die ihr mich sporntet und triebt und quältet.“ Ebd., S. 104. Ebd., S. 106. Ebd., S. 107f.
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erduldet er den Tod nicht länger als eine fremde Macht, sondern das Sterben soll Teil seines eigenen Potentials werden. Auch vor anderen Menschen macht der extreme Pessimismus nicht Halt: Sie erscheinen ihm plötzlich hässlich; ein Arbeitgeber wird ihm lästig; Albert wünscht er, wenn auch zaghaft, den Tod.49 Zugleich genießt er das Mitleid, das andere, vor allem Lotte, mit ihm haben müssten.50 Seinen Körper, der durch das Begehren Lottes leidet, setzt er Schmerzen aus, die ihm durch ablenkende Anstrengung Erleichterung verschafften: „Einen gähen Berg zu klettern, ist dann meine Freude, durch einen unwegsamen Wald einen Pfad durchzuarbeiten, durch die Hekken die mich verlezzen, durch die Dornen die mich zerreisen. Da wird mir’s etwas besser.“51 Den Körper unterjochend, vergleicht er seine Situation mit der Selbstpeinigung des Märtyrers: „Die einsame Wohnung einer Zelle, das härne Gewand und der Stachelgürtel, wären Labsale, nach denen meine Seele schmachtet.“52 Sein aufrichtiges Martyrium, die Leiden an seinen Leidenschaften, soll offenkundig werden. Lotte bemerkt einen Teil dieser gegen sich selbst gerichteten Angriffe und erklärt Werther für krank. Seine „Lieblingsgerichte“ (ihr Singen, ihre Nähe) widerstünden ihm. Die „alte, himmelsüsse Melodie“ ihres Gesanges ersticke sein Herz. Um sich von der Last seiner Leidenschaften zu befreien, will er sich mit einem Messer eine Ader in die Freiheit öffnen.53 Bereits im ersten Sommer mit Lotte berichtet er von Momenten, in denen er sich gerne eine Kugel in den Kopf geschossen hätte.54 Bevor er zu Lotte und Albert zurückkehrt, erwähnt er die Möglichkeit, an einem Krieg teilnehmen zu können, doch auch diese Selbstvernichtung wird verworfen.55 Eine Idee gewinnt an Gestalt, in der er ein Opfer für Lotte bringen möchte.56 Der ehemals religiöse Gedanke, im selbstauferlegten, melancholischen Leiden mehr über christliche Offenbarung zu erfahren, wird mit dieser Denkfigur destruiert. An die Stelle der transzendenten Erfahrung tritt das private Liebesopfer. Im Anschluss an diese für viele zeitgenössische Leser blasphemisch anmutende Untreue gegenüber empfindsamer Moral kehrt Werther im Abschiedsbrief an Lotte in konventionelle Bilder zurück, wie sie aus Klopstocks Lyrik stammen könnten: 49 50
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Ebd., S. 158. Ebd., S. 182: „Sie fühlt, was ich dulde. Heut ist mir ihr Blik tief durch’s Herz gedrungen. […] Ein weit herrlicherer Blik würkte auf mich, voll Ausdruck des innigsten Antheils des süßesten Mitleidens.“ Ebd., S. 112. Vgl. ebd., S. 114. Vgl. ebd., S. 146: „wenn ich Blut sähe“. Ebd., S. 78. 16. Juli 1771: „Kein Wort von der Zauberkraft der alten Musik ist mir unwahrscheinlich […] wie sie ihn anzubringen weis, oft zur Zeit, wo ich mir eine Kugel vor’n Kopf schiessen möchte.“ Ebd., S. 154. Ebd., S. 224: „Ich will sterben! [mehrfach wiederholt, K.B.] – Es ist nicht Verzweiflung, es ist Gewissheit, daß ich ausgetragen habe, und daß ich mich opfere für Dich, ja Lotte, warum sollt ich’s verschweigen: eins von uns dreyen muß hinweg, und das will ich seyn.“
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Wenn du hinauf steigst auf den Berg, an einem schönen Sommerabende, dann erinnere Dich meiner, wie ich so oft das Thal herauf kam, und dann blikke nach dem Kirchhofe hinüber nach meinem Grabe, wie der Wind das hohe Gras im Schein der sinkenden Sonne, hin und her wiegt. – Ich war ruhig da ich anfing, und nun wein ich wie ein Kind.57
Auch wenn diese empfindsamen Bilder der Gräberbetrachtung die zuvor genannten radikalen Leidenschaften wieder in bekannte Bahnen zu lenken scheinen, so geschieht dies doch nur temporär und oberflächlich. Die Entscheidung zur Gewalt gegen sich selbst ist längst gefallen und sie gebe ihm, so Werther, erst ein Gefühl der Ruhe.58 Mit der Zerissenheit des Protagonisten zwischen Bildern empfindsamer Selbstbesänftigung und wilder Verzweiflung bietet der Roman dem zeitgenössischen Leser einen ungewohnt tiefen Einblick in die Möglichkeiten der Seelenschau. Werther quält sich bis zuletzt damit, was der Tod zu bedeuten habe. Trotz indirekter Ankündigungen und der Planung des Selbstmordes ist es ein stark emotional aufgewühlter Akt, der dem empfindsamen Perfektionierungsgedanken widerspricht.59 Vielmehr erscheint er aus dieser Perspektive als eine Selbstaufgabe und Pflichtverleugnung. Im undatierten und nicht versandten Brief an Wilhelm finden sich nach wie vor Zweifel an seinem Vorhaben: „Den Vorhang aufzuheben und dahinter zu treten, das ist’s all! Und warum das Zaudern und Zagen? – Weil man nicht weis, wie’s dahinter aussieht? – und man nicht zurückkehrt?“60 Vergleichbar mit Hamlets Selbstmordmonolog schreckt Werther vor den unbekannten Konsequenzen seiner Tat zurück.61 Doch den Entschluss zum Selbstmord beschleunigt schließlich die gemeinsame Ossian-Lesung mit Lotte. Die Worte, die Werther ihr gegenüber nicht ausspricht, formuliert Ossians letzte Klage im Berrathon. Sie kündigt den Tod „des Helden“ und zugleich die erhoffte Sehnsucht nach einem Wiedersehen an. Auf der Grundlage der gemeinsamen empathischen Lektüre fasst Werther einen Entschluss, der seinem Empfinden Ausdruck verleihen soll. In seiner Radikalität agiert er die fatalistische Schicksalsergebenheit des Ossian aus, ohne dabei auf die Erhaltung eines Selbst zu achten.
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Ebd., S. 224. Ebd., S. 226: „O wie wohl ist mir’s, daß ich entschlossen bin.“ Vgl. Flaschka: Goethes Werther (wie Anm. 12), S. 124. Werther begehe seinen Selbstmord in einer rationalen Abgeklärtheit im Vergleich zum vorhergehenden Verhalten. Goethe: Werther. Fassung A (wie Anm. 3), S. 210. Vgl. William Shakespeare: Hamlet. Hg. v. T.J.B. Spencer. Mit einer Einleitung von Anne Barton. 3. Akt, 1. Szene. London 1996, S. 124: „the dread of something after death, / The undiscovered country, from whose bourn / No traveller returns, puzzles the will.“
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4.1.3 „Vater, den ich nicht kenne“. Die weltliche Passionsgeschichte Werthers Der empfindsame Melancholie-Kult wird nicht nur von Werther, sondern auch durch die einleitenden Herausgeberworte zu seiner pseudo-religiösen Passionsgeschichte entwickelt. Über die gesammelten Briefe heißt es, sie sollen den trösten, der mit Werther mitfühlen könne oder sein Schicksal teile. In Anlehnung an Erbauungsliteratur und die Bibel62 stilisiert die Vorrede die Briefesammlung zum Tröster der Lesenden und zur Exempel-Literatur für Charakter und Geist.63 Das Buch als Freund ist aber noch mehr; es wird ein persönlicher Kommunikationspartner.64 Es überbietet damit die Leistungen, die eine informative Lektüre hätte erbringen können. Zugleich ist es ein widersprüchlicher und eigenwilliger Text, der dem Leser zur Freundschaft vorgelegt wird. Der Inhalt der Briefe steht in einem gewissen Spannungsverhältnis zur Vorrede. Diverse Rezeptionszeugnisse beweisen, dass Werther sowohl mit Misstrauen als auch vollkommen identifikatorisch gelesen wurde. Beide Lektüren sind durch den Text begründbar und machen ihn dadurch mehr als interessant. Schließlich lädt die ‚Berichterstattung‘ des Herausgebers am Ende der Sammlung zum Bruch mit einer rein identifikatorischen Lektüre ein. Der Roman weicht in signifikanten Punkten von der empfindsamen Seelenschau im Dienst der Moral ab, die der Leser erwarten könnte. Goethes Werther ist keine erbauliche Empfindsamkeitsliteratur, obwohl er ihre Formen und Sprache für seine Zwecke adaptiert, da er das empfindsame Moralsystem vehement in Frage stellt. Die Vorrede des Herausgebers ist eine Einladung zu einer kritischen Lektüre, die ihre Vorzüge aus der Spannung von empfindsam legitimierter Seelenschau und zeitgenössisch unmoralischen Inhalten erhält. Das Buch als ein in der Lektüre belebter Freund leistet ein ambivalentes und damit auch anspruchsvolles Kommunikat. Trost kann und will der Werther im herkömmlichen Sinn sicher nicht spenden. Vielmehr regt er das empfindsame Zitat sanfter Melancholie in empathischer Lektüre weiter an und erzeugt zeitgleich Skrupel bei aufmerksamen Leserinnen und Lesern.65 In der ‚weltlichen Passionsgeschichte‘ ist Werther Gott, Jesus und Glaubender in einem. Er stirbt für das Primat der Leidenschaften, an welches er glaubt. Er setzt 62
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Vgl. dazu Herbert Schöffler: Die Leiden des jungen Werther. Ihr geistesgeschichtlicher Hintergrund. Frankfurt am Main 1938; Hermann Zabel: Goethes ‚Werther‘ – eine weltliche Passionsgeschichte? In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 24 (1972), S. 57–69. Besonders häufig finden sich Anklänge an das Johannes-Evangelium. Vgl. Goethe: Werther. Fassung A (wie Anm. 3), S. 10: „Ihr könnt seinem Geist und seinem Charakter eure Bewunderung und Liebe, und seinem Schicksaale eure Thränen nicht versagen. Und du, gute Seele, die du eben den Drang fühlst wie er, schöpfe Trost aus seinem Leiden, und laß das Büchlein deinen Freund seyn.“ Vgl. Mellmann: Das Buch als Freund – der Freund als Zeugnis (wie Anm. 13), S. 201. Ein besonderer Reiz des Romans besteht auch darin, diesen Skrupel als Spannung anregende Wahrnehmung von Gefahr zu deuten, die dem Leser drohen könnte.
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den Leidenschaften unter seinen Freunden ein unübersehbares Zeichen und er verpflichtet sich selbst diesen Schritt im Glauben an seine Richtigkeit zu gehen. Werther versteht sich als Heilsuchender, der an seinen Geburtsort wie ein Pilger reist.66 Die ganz eigene Form der Privatreligion, die er in dieser Pilgerschaft entwickelt, stimmt mit dem Primat der Empfindungen überein und ist auf Werten wie Toleranz und Individualität gegründet. Die unerfüllte Liebe zu Lotte ist in dieser Privatreligion ein Katalysator der bereits im ersten Brief anklingenden Problematik eines Missverhältnisses von Leidenschaften und erlebter Welt. Liebe als größte, positiv verstandene Leidenschaft und vermeintliche Perfektionierung durch ein vollkommenes Gegenüber beschleunigt Werthers persönliche Passionsgeschichte. Gegenstände, die von Lotte kommen, verehrt er wie Reliquien. Religiöse Erbauung finde er in der Nähe Lottes. Seine Heilige habe ihm anfangs die Ausgeglichenheit, die seine Seele suche, verschafft.67 Dies ist eine Auszeichnung, die er auch seiner toten älteren Freundin zuschreibt und ein Anzeichen dafür, dass Werther seine emotionale Stabilität nicht allein sich selbst, sondern anderen verdanken will. Schon früh erkennt er, dass die „tobende, endlose Leidenschaft“ für Lotte ihn um sich selbst betrügt,68 doch er durchbricht seine Sakralisierung der Liebe zu ihr nicht, denn nur sie bete er an, die Welt erkläre sich ihm nur durch seine Gefühle ihr gegenüber.69 Vor einer Blume von ihr habe er die halbe Nacht gekniet. Aber der Trost, den diese Reliquien spenden, hält nicht lange an. An einigen Stellen der Briefe kommen kurze, kritische Gedanken Werthers hervor, die er schließlich in tiefer Melancholie versinken lässt: „Aber ach! diese Eindrükke gingen vorüber, wie das Gefühl der Gnade seines Gottes allmählig wieder aus der Seele des Gläubigen weicht, die ihm mit ganzer Himmelsfülle im heiligen sichtbaren Zeichen gegeben ward.“70 Der Vergleich der Liebe zu Lotte mit einem vergänglichen Offenbarungserlebnis beinhaltet die Kritik an der konventionellen Erbauung. Die Freude des Anhängers ideeller Liebe sei genauso kurz wie die eines Anhängers metaphysischer Wahrheiten. Werther benennt die von ihm erlebten Grenzen ideeller (und damit empfindsamer) Liebeskonzepte wie konventioneller Heilsversprechen der Religion. Indem die Liebe zu Lotte weitere Konflikte mit der umgebenden Gesellschaft verschärft, verdeutlicht diese unglückliche doch starke Leidenschaft Werthers Kritikpunkte. Stetig radikalisiert sich sein Umgang mit empfindsamen Emotionalisierungstechniken unter beständiger Sakralisierung der eigenen Gefühle.
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Goethe: Werther. Fassung A (wie Anm. 3), S. 152: „Ein Pilger im heiligen Lande trifft nicht so viel Stäten religiöser Erinnerung, und seine Seele ist schwerlich so voll heiliger Bewegung.“ Ebd., S. 78: „Alle Begier schweigt in ihrer Gegenwart […] es ist als wenn die Seele sich mir in allen Nerven umkehrte. […] Und alle die Irrungen und Finsterniß meiner Seele zerstreuet sich, und ich athme wieder freyer.“ Ebd., S. 112. Vgl. ebd. Ebd., S. 250
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Im Unterschied zum empfindsamen Idealtypus erklärt sich Werther als Skeptiker und Religionsfremder. Er äußert vehemente Zweifel an überirdischen Kräften, glaubt jedoch an ein Wiedersehen nach dem Tod. Reste von Gottvertrauen zerstöre die Lebenserfahrung. In seinem Religionspessimismus wird ihm die Welt zu einer Qual, die man ausleiden müsse.71 Ein stark masochistischer Zug charakterisiert Werthers Religionskritik und erinnert an pietistische Leidensfrömmigkeit. Der Glaubende müsse sich selbst peinigen, um die Ängste seiner Seele zu lindern.72 Konventionelle Religion erscheint ihm für seinen Fall ungeeignet und als reine Vertröstung.73 Nur im Zeichen seiner eigenen Toleranzansprüche wünscht er seinen Hinterbliebenen (Albert/seiner Mutter) Gottes Segen74 und respektiert die religiösen Rituale seiner Umgebung. Für sich selbst konstruiert er ein nach seinen Bedürfnissen wechselhaftes Gottesbild, zu dem er die Figur des verlorenen Sohns einnimmt, der vom (unbekannten) Vater in Toleranz und Mitleid aufgenommen werde.75 Gott könne seinen Selbstmord nicht verurteilen, weil er doch seinen ureigentlichen Bedürfnissen entspreche. Der Vater wolle ihn für sich behalten, wie es ihm sein Herz sage.76 Werthers Gottesbild ist nicht über die ganze Handlung hinweg eindeutig bestimmbar oder aktiv. Vielmehr setzt er es wie die empfindsamen Verhaltensmuster nach persönlichen Motiven ein: Zum Beispiel notiert er in den letzten Passagen seines Abschiedsbriefs einen Gebetsanruf, indem er Gott für seinen Beistand in diesem Vorhaben dankt. Für damalige Verhältnisse ein eher ketzerischer Zug. Zugleich erinnert ihn der Sternenhimmel an die heilige Lotte.77 Werthers Privatreligion orientiert sich situativ an seinen emotionalen und argumentativen Bedürfnissen. In dieser Subjektivierung der Religion artikuliert sich besonders stark Werthers Kritik an den Defiziten des empfindsamen Perfektionierungsgedankens, der dem Menschen „Übermenschliches“ abfordere. Indem Werther sich mit Jesus vergleicht, der die Verlassenheit von Gott beklagen dürfe, verlangt er auch für sich das Recht, Zweifel und Angst vor dem Tod zu äußern.78 Zugleich ist die Stilisierung seines Selbstmordes analog zur Passion Christi der Versuch einer pathetischen Überhöhung seines Vorhabens. Die Formulierung „Vaters, den ich nicht kenne“, weist in aller Kürze auf die Ambivalenz der Sakralisierung seiner Leiden hin. Jedoch ist in diesem Bild nicht Werther der Abtrünnige, sondern Gott habe ihn 71 72 73 74 75 76 77
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Vgl. ebd., S. 180. Vgl. ebd., S. 190. Ebd., S. 180. Vgl. ebd., S. 260 u. S. 258. Vgl. ebd., S. 190. Vgl. ebd., S. 180. Ebd., S. 260: „Alles ist so still um mich her, und so ruhig meine Seele, ich danke dir Gott, der du diesen letzten Augenblikken diese Wärme, diese Kraft schenkst. […] Der Ewige trägt euch [die Sterne, K.B.] an seinem Herzen, und mich. […] und hab ich nicht gleich einem Kinde, ungenügsam allerley Kleinigkeiten zu mir gerissen, die du Heilige berührt hattest!“ Vgl. ebd., S. 180–182.
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verlassen.79 In seinem Klagen artikuliert Werther ein vages Bedürfnis nach Transzendenz, dass die konventionellen Formen der Religion nicht erfüllen können, denn die erlebt er als Gottes gleichmütiges Schweigen.80 Wie in der Struktur der sanften Melancholie, die Lust- und Unlustgefühle kombiniert, sind auch in Werthers Privatreligion Freude und Leid elementar miteinander verbunden. In der heiligen Liebe zu Lotte ist die Zuneigung mit Selbstpeinigung kombiniert. Für die Brisanz des Romans sorgt, dass Werther neben der ‚heiligen‘ Komponente, die die empfindsamen Helden der älteren Literatur allein beschreiben, auch die ihn erschreckende, ‚sündige‘ Liebe für Lotte kennt und nicht verdrängen will. In seinem letzten Brief an Wilhelm gesteht er ihm, dass er nachts einen erotischen Traum von Lotte gehabt habe.81 Mit dieser Information übertrifft Werther die empfindsamen Helden an artikulierter Phantasie und Offenheit über körperliche Bedürfnisse bei Weitem, auch wenn sein erotischer Handlungsspielraum bis zum letzten Zusammentreffen mit Lotte nicht wesentlich weiter reicht. Die Erinnerungen an diesen Traum, die er sich mit „glühender Freude“ zurückruft, ist strafbar und zugleich „Seligkeit“.82 Diese anregende Ambivalenz der Gefühle ist ein Erlebnis gemischter Empfindungen, das Werther gezielt nach empfindsamen Vorbildern in seinem Privatverfahren kultiviert. In einer progressiven Engführung von (körperlicher) Sünde und empfindsamer Leidenschaftslegitimation liegt ein wesentliches Merkmal des Romans. Im Gegensatz zur verniedlichten und naiven Liebe, die Klopstock etwa in seinen Briefen an Meta durch „Mäulchen“ bekundet (vgl. Kapitel 2.1.2), weist Goethes Werther offen auf die elementar körperlichen und in zeitgenössischen Augen ‚unseligen‘ Aspekte der Liebe zu Lotte hin. Sein körperliches Verlangen, das nicht allein mit seinem erotischen Traum erkennbar wird, antwortet auf Lichtenbergs Polemik, der empfindsame Held sei ein „Herz mit einem Hodensack“.83 Die Figur Werthers entdeckt dem Publikum, dass auch zu jeder empfindsamen Liebesvorstellung ein Mensch mit körperlichen Bedürfnissen gehört. Goethes Darstellung des Konflikts zwischen gesellschaftlichen Normen und Werthers persönlichem Verlangen spiegelt die These wieder, dass das Intime in der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts für den modernen Betrachter unter codierten Verhaltensweisen und deren Brüchen zutage tritt.84 Erst die Widerstände, auf die Werther im 79 80 81 82 83
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Vgl. ebd., S. 190: „[…] und nun sein Angesicht von mir gewendet hat.“ Vgl. ebd. Ebd., S. 196. Vgl. ebd. Vgl. Georg Friedrich Lichtenberg: Sudelbücher. F. 1776−1780. In: Ders.: Schriften und Briefe. 4 Bde. Hg. v. Franz H. Mautner. Bd. 1: Sudelbücher. Fragmente. Fabeln. Verse. Frankfurt am Main 1983, S. 65–528, hier S. 288: „Wenn eine Generation den Menschen aus unsern empfindamen Schriften restituieren sollte, so werden sie glauben, es sei ein Herz mir Testikeln gewesen. Ein Herz mit einem Hodensack.“ Vgl. Philippe Ariès u. Georges Duby: Refugien der Intimität. In: Dies. (Hg.): Geschichte des privaten Lebens. 5 Bde. Bd. 3: Von der Renaissance zur Aufklärung. Frankfurt am Main 1991,
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empfindsamen Verhaltenscode trifft, lassen ihn in Briefen an Wilhelm seine intimen Wünsche äußern. In einigen Passagen der Briefe wird deutlich, dass Werther nicht vergessen werden will. Die Briefsammlung suggeriert, dass die Deutung des Romans als Manifestation eines solchen Schicksals beurteilende Erinnerung wecken soll. Wohlwissend, dass sein Selbstmord ihn aus der Reihe der frommen Christen nimmt, müsse die Erinnerung an ihn die „Priester und Leviten“ von den „Samaritern“ trennen.85 Eine urteilende Nachwelt teilt sich derart in moralische Konventionalisten und wenige widerständige Alternative auf. Seinen Grabstein stellt Werther sich als ein Mahnmal am Weg vor, an welchem sich entscheidet, welchen dieser Charaktere der Vorübergehende habe. Das Verständnis für seinen Selbstmord trennt die Gesetzestreuen und Orthodoxen unter den Lesern von den Toleranten und Mitfühlenden. Noch einmal erklärt sich mit diesem Bild, dass die Figur des Werther auf eine Ethik der Toleranz jenseits vom Dogma abhebt, die jedem selbst zu beurteilen zusteht.
4.1.4 Intertextuelle Kontrastierung: Klopstocks Oden in Werthers Briefen Die Zitate empfindsam rezipierter Literatur in Goethes Werther unterstützen die Kontrastierung zwischen zuvor legitimer Grenzerfahrung von sanfter Melancholie und unbegrenztem Liebesleiden. Beispielsweise wird eine düstere Allee im Mondschein zur konventionellen Inszenierung sanfter Melancholie durch Werther ausgestaltet. Dort empfindet er „Seligkeit und Schmerz.“86 Ebenso wie in den bekannten Todesmeditationen der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts hat er sich eine halbe Stunde vor dem anvisierten Treffen mit Lotte und Albert in „schmachtend süßen Gedanken“ von Abscheiden und Wiedersehen gewiegt.87 Seine Schilderungen dieses Erlebnisses können sich sowohl auf das bevorstehende, reale Verabschieden von Lotte und Albert beziehen als auch eine intertextuelle Andeutung der (quasireligiös aufgeladenen) Todesthematik bedeuten, die im Hintergrund auf ihren Abruf wartet. Jörg Löffler spricht von der Inszenierung eines Naturtheaters, das
85
86 87
S. 213–268, hier S. 213: „In den alten Gesellschaften ist das Intime niemals eine beobachtete Tatsache. Es muß hinter codierten Verhaltensweisen und Worten aufgespürt, aus Orten und Objekten, in denen sich Gefühle und Empfindungen verkörperten, rekonstruiert werden. Um jene Stätten zu erkunden […] bedarf es des archäologischen Blicks.“ Goethe: Werther. Fassung A (wie Anm. 3), S. 262: „Ich will frommen Christen nicht zumuthen, ihren Körper neben einem armen Unglücklichen niederzulegen. Ach ich wollte, ihr begrübt mich am Wege, oder im einsamen Thale, daß Priester und Levite vor dem bezeichnenden Steine sich segnend vorübergingen, und der Samariter eine Thräne weinte.“ Ebd., S. 116. Vgl. ebd.
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Werther zum Abschied arrangiert.88 Das Szenario hat viele Anteile der bekannten Kulisse einer Todesmeditation im nächtlichen Garten.89 Die mondbeschienene Szene erinnere, so Löffler, an die Requisiten der graveyard poetry und sei daher eng mit den tröstlich-schmerzlichen Reflexionen des Todes verbunden.90 Goethe weckt in dieser Szene durch Naturbeschreibungen und das sanft-melancholische Stimmungsbild des Protagonisten nicht nur die kulturelle Erinnerung an religiöse Todesmeditation, die dann auch im Gespräch zwischen Lotte und Werther eintritt.91 Es ist auffallend, dass er darüber hinaus auch den Bogen zur empfindsamen Literatur schlägt, um noch weitere Bedeutungsebenen anzulegen. Denn gleichzeitig klingen Klopstocks Oden in Lottes Fragen über den Tod an. Die Klopstock-Leserin Lotte erklärt zum Beispiel, dass sie nie im Mondschein spazieren gehe, ohne „ihrer Verstorbenen“ zu gedenken.92 In Friedrich Klopstocks Ode Die Sommernacht (1766) wird ein solcher Spaziergang im Mondschein mit den Gedanken an die tote Geliebte beschrieben.93 Lotte fragt weiter, ob Werther glaube, dass sie sich nach dem Tod wiedersehen werden. Obwohl sie an dieser Stelle ihre Mutter meint, die sie wiedersehen will, wird durch die intertextuellen Hinweise auf Klopstocks frühe Oden die Bedeutung verstärkt, dass ein Wiedersehen zwischen Werther und Lotte gemeint sein könne. Die Ode An Fanny (1746) bekräftigt dieses Wiedersehen zweier Menschen, die sich vor ihrem Tod nicht lieben konnten.94 In quasi-religiösem Enthusiasmus, wie er realiter aus Klopstocks Oden spricht, erzählt Werther von der Erweckung und Erschütterung durch Lottes Reden, doch das Ergebnis des Abends ist noch tiefere Sehnsucht und Verzweiflung. Im Gespräch um die Mutter geht es für Werther auch immer um die Liebe zu Lotte und seine Trennung von ihr. Die Anzeichen für Werthers Sakralisierung seiner Liebe werden 88 89
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Vgl. Löffler: Unlesbarkeit. Melancholie und Schrift bei Goethe (wie Anm. 2), S. 71. Goethe lässt in Triumph der Empfindsamkeit diese empfindsame Kulisse durch den Kammerdiener zusammenfassen: „Einsiedler in Löchern, Schäfer im Grünen, / Moscheen und Türme mit Kabinetten, / Von Moose sehr unbequeme Betten, / Obelisken, Labyrinthe, Triumphbögen, Arkaden, […] Gräber, ob wir gleich niemanden begraben, / Man muß alles zum Ganzen haben.“ Ders.: Triumph der Empfindsamkeit. 4. Akt (wie Anm. 15), S. 188. Vgl. Löffler: Unlesbarkeit. Melancholie und Schrift bei Goethe (wie Anm. 2), S. 72. Vgl. ebd., S. 72f.: „Die moralische Umdeutung zur tugendhaften Entsagung, die in der pietistischen Formel anklingt, hat aber nicht einmal für den Absatz Bestand, den sie einleitet. Er endet nämlich mit einer radikal-melancholischen Figur der Absenz. […] Als das Paar […] den Schauplatz verlässt, bleibt Werther allein zurück und überlässt sich nach ‚joy of grief‘, Erschütterung und Erweckung einer bloß noch gestisch ausgedrückten unrettbaren Verzweiflung.“ Goethe: Werther. Fassung A (wie Anm. 3), S. 116–118: „Niemals geh ich im Mondenlichte spazieren, niemals daß mir nicht der Gedanken an meine Verstorbene begegnete, daß nicht das Gefühl von Tod, von Zukunft über mich käme. Wir werden seyn, […] aber Werther, sollten wir uns wieder finden? und wieder erkennen?“ Vgl. Klopstock: Die Sommernacht. In: Ders.: Oden (wie Anm. 30), S. 76: „Wenn der Schimmer von dem Monde nun herab / In die Wälder sich ergießt […] // So umschatten mich Gedanken an das Grab / Der Geliebten, und ich seh in dem Walde / Nur es dämmern, und es weht mir / Von der Blüthe nicht her.“ Vgl. ebd., S. 11f.
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in diesem Gespräch besonders deutlich. Seine quasi-religiösen Versicherungen ihr gegenüber sind von leidenschaftlichem Begehren begleitet, das durch die Intertextualität zu den Klopstock-Oden manifestiert wird. Wie die vorhergehenden Kapitel zeigen, ist es im 18. Jahrhundert nicht ungewöhnlich, sondern erbaulich und Zeichen der Frömmigkeit, wenn man das eigene Grab imaginiert. Werther setzt dieses Imaginieren (ähnlich wie Goethes Zeitgenossen, die sich Gräber zum Probeliegen im Garten errichten ließen) radikal um, indem er seinen Tod tatsächlich plant und inszeniert. Dabei genießt er die Melancholie, die er bei den Gedanken an sein eigenes Grab hat und er wünscht sich nach ossianischer Manier bei den von ihm geliebten Menschen in Erinnerung zu bleiben (den Kindern, Passanten am Grab sowie bei Lotte).95 Sein Verhalten fällt jedoch aus dem herkömmlichen Rahmen, da die Evozierung von sanfter Melancholie zwar im religiös/moralischen Kontext legitim war, sie aber nur zur moralischen Perfektionierung und nicht zur Stimulation unmoralischer Wünsche verwendet werden sollte. Mit den Grabesvisionen96 in seinem Abschiedsbrief werden Klopstocks Oden, in denen die unerfüllte Liebe im Jenseits durch göttliche Hand erlöst wird, noch einmal im Roman lebendig. Werthers Versuche, seine Liebe mit Jenseitsprojektionen zu heiligen, sind keine neuartige „Kopplung von Eros und Religiosität“, die unbekannt wäre. Im Gegenteil ist dieser „erotisierte Himmel“97 Werthers ein Rückgriff auf empfindsam gefeierte Klopstock-Lektüren, deren empathisches Verständnis er mit Lotte teilt. Die sakralisierte Liebe zu Lotte harmoniert sehr gut mit dem intertextuellen Bezug zu Klopstocks Oden. In diesen haben Liebe und die Geliebte einen ebenso heiligen Status. Während Klopstocks Lyrik noch als Form sinnlicher Religionserfahrung zu deuten ist und die Liebe zur Frau dem christlichen Unsterblichkeitsverständnis unterstellt bleibt, ist diese Interpretation bei Werther nicht mehr möglich. Seine sakralisierte Liebe gehorcht eigenen Religionsbegriffen. Der Kuss Lottes habe ihn die Wirkung des heiligen Feuers ihrer Lippen spüren lassen. Werthers Liebe ist weitaus sensualistischer und individueller gedacht, als sie in Klopstocks religiöser Poesie möglich gewesen wäre. Obwohl körperliche Lust als sündige Komponente seiner Liebe zu Lotte verstanden wird (z.B. als er sie um Vergebung 95 96
97
Goethe: Werther. Fassung A (wie Anm. 3), S. 262. In Millers Siegwart, der ebenfalls solche Grabvisionen der sehnsüchtig Liebenden enthält, sind diese Bilder ebenfalls auf die religiöse Todesmeditation in Lyrik zurückzuführen. Vgl. Johann Miller: Siegwart. Eine Klostergeschichte. Frankfurt am Main 1802, S. 158f.: „Heut hatt’ ich einen frohen Tag, mein Auserwählter! Denn heut floßen meine Thränen mehr als jemahls, und da war mein Herz so leicht und ruhig. Ein Grab hab ich aufs Papier gezeichnet, wie ich oft thu, und ein Grabmahl, und aufs Grabmahl meinen Nahmen. Ein Cypressenwäldchen steht ums Grab herum; still und melancholisch und an einem halbverdorrten Bäumlein steht ein Jüngling.“ Vgl. dazu Flaschka: Goethes Werther (wie Anm. 12), S. 231. Werthers Liebeserfüllung in Jenseitsprojektionen zu kompensieren sei pathogen.
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bittet),98 ist sie doch Teil der sakralen Handlungen Werthers. In ihrem Kuss habe er die ganze Himmelswonne geschmeckt. Die Sünde habe Lebensbalsam und Kraft in sein Herz gesaugt.99 Werther deutet in seinem Abschiedsbrief auch seinen Selbstmord als quasireligiöse Handlung. Wie in Klopstocks Der Abschied (1748) werde er „voransterben“ und sie ihm folgen. Die Ode zeigt den sterbenden, unglücklichen Liebhaber, der im Jenseits auf sein Glück mit der Geliebten hofft.100 Wie das lyrische Ich der Ode will auch Werther im Himmel über das Unrecht, das ihm widerfahren ist, getröstet werden. Sein Leid werde dort auf Verständnis stoßen. Der „erotisierte Himmel“, in dem das Paar wieder aufeinander treffen wird, ist nach empfindsamem Zitat gebildet. Motivisch wie auch sprachlich nähert sich Werther hier den Klopstock-Oden an.101 Doch das melancholische Sich-selbst-fühlen und ein Sichgerecht-empfinden ist in seinem Fall noch brisanter als in den gemeinhin positiv rezipierten Oden, da das lyrische Ich seine Empfindungen dort religiös sanktioniert versteht. Es liegt daher nahe, dass Goethe seine widerspenstige Figur Werther in der empfindsam-religiösen Sprache Klopstocks sprechen lässt, um seinen Bruch mit den Normen ebendieser Religiosität zu betonen. Überdies werden für zeitgenössische Leser unmoralische Gedanken und Empfindungen wie Selbstmord, Ehebruch und Mord in quasi-religiösen Bildern kommuniziert. Die empfindsame Akzeptanz sanfter Melancholie und deren Ästhetisierung bringen somit weitaus autonomere und weniger altruistische Emotionen zum Vorschein. Werthers Zweifel am Glauben und sein Zuwiderhandeln gegen christliche Normen werden durch seine anfangs konforme Melancholie in sakraler Rhetorik artikulierbar. Er selbst erschrickt angesichts der Diskrepanz, die sich plötzlich zwischen der versicherten Aufrichtigkeit seiner Gefühle und der christlichen Außenwelt herstellt: „Gott! ich bin strafbar, daß ich auch jetzt noch eine Seligkeit fühle“.102 Die empfindsame Argumentation, intensive Gefühle zu erforschen und zu kultivieren, unterstützt nun, durch einen offen beobachtenden Menschen kommuniziert, die Sehnsüchte nach unehelicher Sexualität, der Freiheit zum Selbstmord oder extremen Gefühlen wie Hass. Unkonventionelle Gedanken, ungezügelte negative Leidenschaften werden durch Goethes Kunstgriff Bestandteile eines in provokanter Weise nachdenklich erbaulichen Werkes.
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Goethe: Werther. Fassung A (wie Anm. 3), S. 250. Vgl. ebd. Vgl. Klopstock: Der Abschied. In: Ders.: Oden (wie Anm. 30), S. 12–17. Goethe: Werther. Fassung A (wie Anm. 3), S. 250. Ebd., S. 196.
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4.1.5
Ein archaisches Naturgefühl ersetzt synthetische Gefühle
In Goethes Werther finden sich direkt und indirekt einige Ossian-Zitate; jedoch muss immer mit bedacht werden, dass Ossian selbst wiederum eine Fülle intertextueller Verweise vor allem englischer Melancholie-Tradition des 18. Jahrhunderts beinhaltet. Diese facettenreiche Intertextualität des Werkes schwingt auch in Werthers Zitaten der Ossian-Passagen mit. So lässt sich zwar, wie Wolf Gerhard Schmidt erklärt, nicht wirklich nachweisen, welche Stellen im Werther eventuell auf frühere Texte der Grabes- und Nachtliteratur deuten könnten, jedoch muss Interpreten bewusst sein, dass auch diese Zitate nur in einer größeren Tradition stehen.103 Peter Skrine hat die Bedeutung der ossianischen Muster relativiert und einige Stellen den Night Thoughts zugewiesen,104 da Goethe beide englische Erfolgstexte positiver Melancholie schon früh im Original kannte: „Ossian mag in Werthers Herzen den Homer verdrängt haben, doch ist diese angstvolle Besessenheit nicht vom distanzierten, wenn auch wehmütigen Ossian, sondern vielmehr von Young abzuleiten.“105 Für diese These spricht unter anderem, dass Youngs lyrisches Ich tatsächlich der leidenschaftlichen Impulsivität Werthers näher kommt als die Resignation des Barden Ossian.106 Dennoch ist eine solche Trennung von möglichen Einflüssen, schon aufgrund der dargelegten gemeinsamen Traditionslinie, nicht eindeutig zu machen. Den Lesern des 18. Jahrhunderts war dies ebenso bewusst wie Goethe, der den Ossian in Dichtung und Wahrheit als den Höhepunkt der englisch-melancholischen Literatur nach Young und Gray sah.107 Feststellbar ist aber, dass die Tendenzen zur Ästhetisierung und Autonomie der sanften Melancholie in Macphersons Ossian auch im Werther erkennbar werden, 103
Schmidt arbeitet allein die Dominanz Ossians im Werther heraus und hält andere Quellen für sekundär. Vgl. Wolf Gerhard Schmidt: „Homer des Nordens“ und „Mutter der Romantik“. James Macphersons Ossian und seine Rezeption in der deutschspachrigen Literatur. 4 Bde. Bd. 2. Berlin 2003, S. 732: „Darüber hinaus enthält Macphersons intertextuelle ‚Collage‘ ihrerseits Übernahmen aus Edward Young – ganz zu schweigen von dem frühen Gedicht Death. […] die von Skrine postulierte […] Young-Intertextualität [erweist sich, K.B.] als sekundär gegenüber den Ossianreferenzen.“ 104 Vgl. z.B. Goethe: Werther. Fassung A (wie Anm. 3), S. 194. (8.12.1772): „[I]ch bin in einem Zustande, in dem jene Unglücklichen gewesen sein müssen, von denen man glaubt, sie würden von einem bösen Geiste umher getrieben. Manchmal ergreift’s mich; es ist nicht Angst, nicht Begier – es ist ein inneres unbekanntes Toben, das meine Brust zu zerreißen droht, das mir die Gurgel zupresst! Wehe! wehe! und dann schweife ich umher in den furchtbaren nächtlichen Szenen dieser menschenfeindlichen Jahreszeit.“ 105 Peter Skrine: „Die Nacht schuf tausend Ungeheuer“. Zur Klagen- und Nachtgedankenthematik im deutschen und britischen Sturm und Drang. In: Bodo Plachta u. Winfried Woesler (Hg.): Sturm und Drang. Geistiger Aufbruch 1770 bis 1790 im Spiegel der Literatur. Tübingen 1997, S. 1–56, hier S. 42. 106 Ein Umstand der verwirren mag, wenn man bedenkt, dass Edward Young die Night Thoughts im Alter von 59 Jahren begann und James Macpherson 34 war, als er mit Ossian bekannt wurde. 107 Vgl. Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. 3. Teil. Buch 13. (wie Anm. 4), S. 629–635.
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der für den Anfang der 1770er Jahre auch als deutsches Lektürebeispiel des Ossian gelesen werden kann. Goethes direkte und indirekte Zitate des Werkes rufen die sanfte Melancholie als natürliche, unverbildete Stimmung auf und fügen Werther damit weitere Deutungsebenen hinzu. Mit Ossian erhält die positive Melancholie einen Status als originelle und archaische Kraft, der sich Werther bestens anschließen konnte. Goethes Protagonist schwärmt nicht für die religiöse Melancholie der Night Thoughts, sondern er findet seine Vorstellungen von ästhetischer und originärer Melancholie in keltischen Gesängen. Während die religiöse Melancholie noch mit einem appellativen Charakter an den Leser herangetragen wurde, stellt es das schottische Epos dem geneigten Leser frei, eine empathische Rezeption zu betreiben. Mit der Wahl des Ossian wird für Werther die religiöse und vermeintlich allzu synthetisch konstruierte Melancholie durch eine scheinbar dem natürlichen Fühlen nähere Melancholieform ersetzt. Die Lektüre Ossians habe dem Publikum den Eindruck vermittelt, sanfte Melancholie sei die natürliche Verfasstheit des Menschen, so auch Johannes Anderegg.108 Die empathische Lektüre, welche die deutsche Rezeption weitgehend forderte, werfe keine Fragen über den Inhalt Ossians auf, sondern widme sich allein ihrer Wirkung als Klage.109 Anderegg resümiert, dass der Inhalt der OssianPassagen aus diesem Grund auch keine Aussage für die Interpretation des Werthers treffe.110 So einfach lässt sich die Ossian-Lektüre im Werther allerdings nicht zur Seite schieben, denn gerade der Voraussetzungsreichtum, der den heutigen Leser diese Stellen überblättern lässt, beweist, wie stark der Kontext des Ossian im und für Werther wirken konnte. Insofern liest Werther Lotte nicht einen beliebigen, empfindsam rezipierten Text vor, sondern einen zeitgenössisch-deutschen Kult-Text ästhetischer Melancholie, den er selbst übersetzt hatte. Ossians Klagen erzählen von sympathetischen Empfindungen, die Zeitalter und Tod überstehen. Derart bieten die Erzählungen von vereinender Melancholie eine fiktionale Lösung für die Empfindungen Werthers, die er in der Gegenwart nicht artikulieren kann. Da in einigen der ossianischen Gesänge von der Tötung eines Rivalen die Rede ist, hält Erhard Bahr sie für inhaltliche Parallelen zur Werther-Handlung und Allusionen auf dessen zeitweilige Gedanken, Albert oder Lotte zu töten.111 Diese Interpretation erscheint abwegig, weil Ossian nicht in erster Linie von Eifersucht und Rache handelt, sondern von der elegischen Klage aus Sicht des Verlierenden erzählt. Die Lektüre erklärt Werther zu einem eingeweihten Kenner der subjektiven Melancholie Ossians. Er wird zum Sympathisanten unter den empathischen Ossian-Lesern seiner Zeit und erhält damit wiederum Sympathien. Das melancholi-
108 109 110 111
Vgl. Anderegg: Werther und Ossian (wie Anm. 14), S. 128. Ebd., S. 130. Vgl. ebd., S. 131. Vgl. Erhard Bahr: Unerschlossene Intertextualität: Macperhsons ‚Ossian‘ und Goethes ‚Werther‘. In: Goethe Jahrbuch 124 (2007), S. 178–188, hier S. 183.
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sche Selbstfühlen und Mitfühlen jenseits dogmatischer Reglementierung, für das Ossian steht, wird auch von Werther in aller Freiheit genossen. Ossian und Lotte erfahren wohl gleichermaßen Werthers Verehrung.112 Die Bemerkung über die Wertschätzung beider führt die mit ihnen verbundenen Leidenschaften (für die Frau und für archaische Literatur/Gefühlsbilder) zusammen. Mit dieser Engführung wird auch die Liebe zu Lotte als ein ungetrübtes Urgefühl bewertet, das elementare Bedeutung für das Leben des Protagonisten hat. Werther liest schon im ersten Jahr im Ossian, macht ihn aber erst im zweiten Jahr zu einer Deutungsinstanz seiner Umwelt. In ossianischer Sprache beschreibt er die Natur, die ihn umgibt. Nach seinem Vorbild gestaltet er seine nächtlichen Ausflüge.113 Passend zur Ossian-Stilisierung steht auch hier am Ende immer der Blick auf das Grab oder den Tod. Ossians Nebelwelten eignen sich hervorragend zur melancholischen Selbststilisierung, die voller Klagen und Selbstpeinigung auf den Tod zulaufen muss. Wie Ossian saugt Werther „immer neue schmerzlich glühende Freuden“ in der „kraftlosen Gegenwart der Schatten seiner Abgeschiedenen“ auf.114 Analog dazu ist die ossianische Liebe immer eine intensive, qualvoll leidende. Werthers Brief vom 12. Oktober schwankt zwischen der Lektürebegeisterung für Ossian und seiner melancholischen Selbstbeobachtung. Der Tod des Helden wird in ästhetisch vorgeformter Weise von Werther angedeutet. Er idealisiert an dieser Stelle seinen Tod zur heldenhaften Erlösung.115 Diese Todesvisionen vom schönen Sterben gleichen jedoch nicht der Schilderung von Werthers Sterben, der mit einer Kopfwunde zwölf Stunden mit dem Tod ringt. Die Gegenüberstellung gibt einen Hinweis darauf, dass Ossian nicht gradlinig in Werthers Leben übersetzt werden kann, sondern dass dieser die idealisierte sanfte Melancholie Ossians und dessen Todesbilder radikalisiert wahrnimmt. Ein Beispiel dafür können die schaurig-erhabenen Naturbilder sein, mit denen Werther die Gewalt der Natur zu einem Spiegel seines Innersten werden lässt. Werther sucht dabei gezielt die bedrohlich wirkende Natur im Sturm auf: „Ein fürchterliches Schauspiel. Vom Fels herunter die wühlenden Fluthen in dem Mondlichte wirbeln sehen, über Aekker und Wiesen und Hekken und alles, und das weite Thal hinauf und hinab eine stürmende See im Sausen des Windes.“116 Ähnlich den ästhetischen Theorien Edmund Burkes über erhabene Schauspiele beobachtet Werther die Naturgewalt. Dessen mäßigende Distanz zum Geschehen
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Goethe: Werther. Fassung A (wie Anm. 3), S. 75. Vgl. ebd., S. 114: „[…] und wenn der hohe Vollmond über mir steht, im einsamen Walde auf einem krumgewachsenen Baum mich sezze“. 114 Ebd., S. 172. 115 Vgl. ebd.: „[I]ch möchte gleich einem edlen Waffenträger das Schwerd ziehen und meinen Fürsten von der zükkenden Quaal des langsam absterbenden Lebens auf einmal befreyen, und dem befreyten Halbgott meine Seele nachsenden.” 116 Ebd., S. 194.
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droht er aber zu überschreiten und sein Leben diesem Sturm zu übergeben: „Und wenn der Mond wieder hervortrat […], da überfiel mich ein Schauer, und wieder ein Sehnen! Ach! Mit offenen Armen stand ich gegen den Abgrund, und athmete hinab! hinab, und verlohr mich in der Wonne, all meine Quaalen all mein Leiden da hinab zu stürmen, dahin zu brausen wie die Wellen.“117 Im Gegensatz dazu hätte der ossianische Held Melancholie aus der Vorstellung gewonnen, ohne seine Geliebte weiterleben zu müssen. Für eine sympathetische Lektüre mit Lotte beginnt Werther den Ossian zu übersetzten, denn dieser beweist ihm, dass bestimmte Empfindungen über den gewaltsamen Tod hinaus die Identität eines Helden bestehen lassen. Die Lektüre-Szene des Ossian im Werther wird auktorial und nicht durch Werthers Perspektive vermittelt. Sie ist im Vergleich mit anderen Szenen die längste erzählte Zeit und zugleich die längste Erzählzeit des Romans. Sie beginnt als ein unerwarteter Besuch Werthers bei Lotte. Diese wirft Werther Wortbruch vor und er leugnet trotzig, je sein Wort gegeben zu haben.118 Dies trifft im übertragenen Sinn auch auf seine Liebe zu, die er ihr bisher nicht ausgesprochen hat. Lotte fürchtet um die Ruhe beider und sieht sich als die Schuldige. Sie folgt dem empfindsamen, bürgerlichen Moralverdikt, indem sie Ruhe für das Beste hält. Mit weiterer Gesellschaft will sie auch Werther an bürgerliche Konventionen binden. Als diese ausbleibt, kommt Lotte und nicht Werther auf die Idee, aus dem Ossian zu lesen. Offensichtlich erwartet sie auch dadurch eine Form der Beruhigung. Die Übersetzungen besitzt sie schon länger (ein Liebespfand, das auch Goethe und Herder ihren Geliebten überbracht haben).119 Für diese Übersetzungen, die Werthers ‚Handschrift‘ tragen sollen, hat Goethe die eigenen Übersetzungen der Passagen umgeschrieben: Er hat sie empfindsamer gemacht, als Macpherson die Sprache Ossians selbst verstanden hat.120 Dass zwei Liebende einander ihre Zuneigung durch die Lektüre wehmütig machender Texte offenbaren, ist an den Beispielen Friedrich Klopstocks und Meta Mollers, Herders und Caroline Flachslands bis zum späteren Siegwart-Roman121 (1776) belegbar. In diesem Fall aber lädt Ossian Werther nicht zu gemäßigter Melancholie ein, sondern seine Lesart entfacht in ihm die Verzweiflung seiner unerwiderten und unbefriedigten Leidenschaften.
117
Goethe: Werther. Fassung A (wie Anm. 3), S. 194. Vgl. ebd., S. 230: „Ich habe nichts versprochen, war seine Antwort.“ Herder sandte Caroline Flachsland drei Auszüge aus Ossian im Herbst 1770 und Goethe ließ Friederike Brion im Herbst 1771 seine ersten Ossian-Übersetzungen zukommen. 120 Vgl. Schmidt: „Homer des Nordens“ und „Mutter der Romantik“ Bd. 2 (wie Anm. 103), S. 742. Für Werther enthält Goethes Ossian-Übersetzung noch mehr Inversionen, weil Werther diese geliebt habe. Goethe kürze Macphersons Prosa und schaffe in ihr eine elegisch-lyrische Grundstimmung im Gegensatz zur Emphase Macphersons. 121 Vgl. Johann Miller: Siegwart. Zweiter Theil (wie Anm. 96), S. 19: „Er [Kronhelm, K.B.] legte seine Hand in die ihrige [Therese]. Lesen Sie doch wieder die Stelle von Semida und Cidli! sagte sie; sie ist gar zu rührend, und ich liebe das Wehmüthige so sehr.“ 118 119
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Allein die Berührung der Texte lässt Werther erschauern und rührt ihn zu Tränen. Weinend beginnt er neben Lotte sitzend zu lesen. Im Vergleich zu den wenigen zwischen Lotte und Werther gewechselten Worten vor und nach der Lesung, haben die beiden Ossian-Passagen eine beachtliche Länge. Sie setzen an die Stelle von prosaischen Erklärungen und Geständnissen den Vortrag elegischer Dichtung, deren sympathetisches Erleben vermeintlich originäre Ur-Gefühle kommuniziert. Werther beginnt den Vortrag mit den Songs of Selma, in denen den Kriegern um Fingal traurige Gesänge vorgetragen werden und die von sympathetischen Empfindungen handeln, die die Helden mit der Vergangenheit einen.122 In einer der vorgetragenen Passagen wird ausdrücklich betont, dass die melancholische Klage die Seele schmelzen und ergötzen, aber keinen elendigen Jammer schaffen soll.123 Es sind Lieder von Verlusten geliebter Menschen, die Werther Lotte vorträgt. Im Lied von Colma und Salgar klingt die nächtliche Szenerie an, in die sich Werther nach diesem gemeinsamen Abend mit weit mehr als ossianischer Wehmut flüchten wird.124 Ebenso wie Werther, der den Tod der Freundin nicht verstehen kann, weiß auch Colma nicht, wohin die Seelen ihrer Verstorbenen zur Ruhe gegangen sind. Die ossianische Figur bringt seine emotionale Desorientierung in dieser Nacht zum Ausdruck. Colmas Warten auf die Auskunft über den ungewissen Verleib ihrer Geliebten kann als eine Anspielung auf Lottes späteres Warten auf Werthers Schicksal gelesen werden. Die Lektüre hat somit intratextuelle Referenzen zur Handlung, die zurück und voraus in den Text verweisen. Werther unterbricht seinen Vortrag, weil er Lotte weinen sieht.125 Nicht er, sondern sie verliert zuerst die Kontrolle über sich. Ihr „gepresstes Herz“ befreie sich.126 Der Erzähler erklärt, dass sie die gleichen Empfindungen teilen und sich mit den Figuren Ossians identifizieren: „[S]ie fühlten ihr eigenes Elend in dem Schiksal der Edlen, fühlten es zusammen, und ihre Thränen vereinigten sie.“127 Die Beispiele der ossianischen Helden führen dem unglücklichen Paar in gewisser Weise ihre Notlage vor Augen. Die Literatur lässt gemeinsame Trauer über einen Umstand zu, der besser nicht offen beklagt werden kann. Das sympathetische Fühlen der Trauer initiiert durch Ossians Klagen übertrifft jede alltägliche Kommunikation von Gefühlen und überhöht diese stilistisch. Eine aufschlussreiche Parallele zu dieser Stelle findet sich in Millers Siegwart, als dieser seiner geliebten Marianne, mit der er noch kein Wort gewechselt hat, seine Gefühle ihr gegenüber im Ausdruck der sanften Melancholie durch ein stellvertretendes Violinkonzert zu vermitteln sucht:
122 123 124 125 126 127
Goethe: Werther. Fassung A (wie Anm. 3), S. 232. Ebd., S. 240. Ebd., S. 234. Ebd., S. 244. Ebd. Ebd.
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Auf einmahl sank er im Adagio, in den tiefsten Klageton herab. Seine Violine sprach. […] Sein ganzes Spiel war die rührendste Klage und das wehmüthigste Selbstgespräch. Sein eigenes liebeskrankes Herz schien es zu halten. […] jeder hielt den Athem an sich. […] Marianne saß in tiefster Wehmuth da, senkte ihr thränenvolles Auge zur Erde, blickte schmachtend wieder auf, und war vor heftiger Empfindung blaß. Dann warf sie einen Blick, aus dem die ganze Seele sah, auf Siegwart; er fing ihn auf, stieg in einem Lauf bis auf die höchste Höhe, daß die Seele mit hinauf stieg und staunte; senkte sich herab, und preßte aus jeder Brust ein Ach! voll Schmerz und Bewunderung.128
Wie in diesem Beispiel sympathetischer Melancholie drückt sich auch in Werthers Ossian-Vortrag eine unterschwellige, sehr stark körperlich geprägte Anziehung beider Geschlechter aus, die in dieser kodierten und sublimierten Form trotzdem das Publikum mittels einer Stellvertreterlösung durch Kunst erreichte. Nach diesen Zugeständnissen Lottes steigert sich auch die körperliche Nähe, die Werther zu ihr sucht, denn seine Lippen berühren nicht mehr nur die Hand, sondern auch ihre Arme. Sie fühle Schmerz und Anteilnahme, so der Erzähler.129 Lotte flüchtet aus dieser Situation ein zweites Mal in die Lektüre. Werther steuert nun offensiver die literarische Ersatz-Kommunikation, indem er eine andere Textstelle, Berrathon, den Todesgesang des Barden, auswählt. Mit dieser Passage zitiert Werther nun auch sich selbst im Brief vom 12. Oktober 1772. Dort hatte er seine Todessehnsüchte mit den Worten Ossians formuliert.130 Die intertextuellen Verweise erschaffen ein fiktionales Leben und Planen Werthers zwischen den Zeilen des Subtextes. Schon nach drei Sätzen beendet er das Zitat und diesmal fällt er vor Lotte nieder. Diese erahnt seinen Todeswunsch.131 Wieder ist die körperliche Reaktion verstärkt, da Lotte, deren Sinne „sich verwirrten“, sich nun wehmütig weiter zu Werther hinbeugt und seine Hände an ihre Brust drückt. Sie lässt auch eine Berührung der Wangen und die Umarmung zu. Werther, der sich in keinem Wort Lotte gegenüber offenbart hat, sondern nur durch literarische Zitate und Blicke zu ihr gesprochen hat, küsst sie „wütend“. Er entpuppt sich nicht als der konventionell zärtliche Liebhaber, sondern verleiht diesem ersten Kuss leidenschaftliches Begehren. Auf die Annäherung Lottes antwortet er mit einem Übergriff, der an Leidenschaft und Körperlichkeit die zulässigen Konventionen etwa eines Millerschen Klosterromans übertrifft. Lotte reagiert ablehnend, gespalten zwischen Liebe und Zorn. Die Worte, die eigentlich Werther hätte sagen wollen, wirft sie ihm drohend vor: „Sie sehen mich nicht wieder.“132 Goethe baut nach dieser literarisch motivierten, schließlich handgreiflich eskalierenden Handlung ein retardierendes Moment ein, indem Werther in einer ungewöhnlichen Haltung am Boden liegt. Als er sich 128 129 130 131
Vgl. Miller: Siegwart (wie Anm. 96), S. 238f. Ebd. Goethe: Werther. Fassung A (wie Anm. 3), S. 244. Vgl. ebd., S. 244. Vgl. ebd., S. 246: „[I]hr schien eine Ahndung des schröklichen Vorhabens durch die Seele zu fliegen.“ 132 Vgl. ebd.
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von Lotte entfernt, steigert der Roman die ossianischen Naturbilder nochmals, indem sich Werther der Nacht und dem Schneeregen aussetzt.133 Diese Wanderung wird nicht explizit erzählt, sondern nur in Verwunderung über seine Rückkehr erschlossen. Die Lücke in der Erzählung lässt dem Leser den Freiraum, die Phantasie seiner folgenden Verzweiflung zu ergänzen. Wiederholt zeigt sich darin eine Stärke des Textes, die emotionale Bewegung von Figuren nicht plakativ zu berichten, sondern dem Leser interpretatorische Freiräume zu lassen. Die ausführlichen Ossian-Zitate haben stellvertretend für eine Aussprache zwischen Werther und Lotte den gleichen assoziativen Charakter wie Lottes „Klopstock“-Ausruf. Statt erklärender oder verwirrender Worte werden sympathetische Gefühle kommuniziert, die schon aus gemeinsamer Lektüre bekannt sind und von denen man sich sympathetisches Verständnis erhofft. Wolf Gerhard Schmidt vertritt die These, dass die Ossian-Passagen im Werther dazu gedient haben, den Selbstmord als bisher geächtete Idee ästhetisch zu legitimieren.134 Dagegen spricht jedoch, dass die deutsche Ossian-Rezeption immer in den Grenzen anerkannter Moral geblieben ist. Ossians autonomes Potential wird zwar genutzt, aber erst die Übersteigerung in Werthers „lebendiger Interpretation“ zeichnet den Selbstmord als annehmbar aus. Werthers Selbstmord als solcher ist nicht ästhetisch aufgewertet, sondern allein sein Leiden auf dem Weg dorthin.135 Der eigentliche Selbstmord, fast nüchtern erzählt, steht im klaren Kontrast zur Leidensgeschichte. Die Kraft dazu entsteht erst aus der Übersteigerung bzw. Radikalisierung der Gefühle, die Ossian evoziert. Werther schafft durch die eingeschobenen Ossian-Zitate eine Distanz zur Selbstinszenierung,136 wie Schmidt es formuliert. Es kommt durch seine Lektüre zur Herstellung einer „neuen Form von Authentizität“137 im Werther, die allein von der subjektiven Wahrnehmung des Protagonisten abhängt. Aufgrund der gesellschaftlichen Ablehnung seiner Empfindungen kann er aber keine gewünschte Existenz etablieren, die toleriert werden würde. In der Rezeption, die sich durch die Herausgeberworte aufgefordert sieht, stellt der Roman die Frage, ob er nicht neben seiner destruierenden Kritik an empfindsamer Bürgerlichkeit auch Potentiale für eine tolerante und humanistische Weltwahrnehmung liefert, die sich maßgeblich durch die in ihm neu benannten Empfindungserlebnisse begründet. 133
Vgl. ebd. Vgl. Schmidt: „Homer des Nordens“ und „Mutter der Romantik“ (wie Anm. 103). Bd. 2, S. 760: „Die Legitimation des Selbstmordes […] unterliegt jedoch im Verlauf des 2. Buches Veränderungen, an deren Genese die Lektüre Ossians […] maßgeblich Anteil hat. Indem Goethe unterschiedliche Aspekte des ästhetischen Diskurses vernetzt (Subjektivismus, Empfindsamkeit und Erinnerung), gelingt es ihm, anhand von Macphersons Dichtung Phänomene wie Ekstase und Entsagung, Identifikation und Sublimierung poetisch zu vermitteln.“ 135 Vgl. ebd., S. 764. Werthers Selbstmord sei poetische und moralische Ästhetisierung einer Identität, die sich in Gegenwart und Diesseits nicht konstituieren konnte. 136 Vgl. ebd., S. 772. 137 Vgl. ebd., S. 777. 134
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4.2 Anton Reisers Bildung eines Selbstgefühls Im letzten Teil der Studie soll am Beispiel des psychologischen Romans Anton Reiser von Karl Philipp Moritz betrachtet werden, welche Potentiale die Beobachtung eigener (negativer) Emotionen für das Individuum freisetzte. Die Figur Reiser wird zu diesem Zweck als Lehrling seiner Emotionen verstanden, an dessen Beispiel die Vorzüge und auch Schwierigkeiten einer emotionalen Selbstschulung, wie sie Moritz’ minutiös vorführt, abgebildet wurden. Die Fort- und Rückschritte, die Reiser während der erzählten Zeit macht, stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit seinen Fähigkeiten, die eigenen Emotionen zu deuten und mit den kulturellen (religiösen) Emotionscodes der Zeit bewusst umzugehen. Dazu ist es wichtig, zu erkennen, welche Formen von (zunächst religiösen) Emotionalisierungstechniken bzw. quietistischen ‚Emotionsvernichtungen‘ Reiser in seiner Kindheit, der ersten Phase der Handlung, begegnet und was er daraus macht. Die zweite Phase berichtet vom heranwachsenden Anton, der durch literarische und rhetorische Emotionalisierungstechniken lernt und sie für sich nutzt. In der dritten Phase, die den Studenten und reisenden Anton begleitet, werden die Techniken der Emotionalisierung bewusster reflektiert und ihre Hintergründe beleuchtet. Alle drei Phasen sollen im Folgenden anhand der fiktionalen Evozierung von Melancholie analysiert und verglichen werden. Dabei wird erkennbar, dass auch der Erzähler Reisers Entwicklung als eine fortschreitende Emanzipation durch ein Seelenstudium der (negativen) Emotionen interpretiert. Mit anderen Worten: Reisers mühsames Beobachten melancholischer Stimmungen verhilft ihm zu Selbstachtung und damit schließlich zu erstarkendem Selbstbewusstsein. Zahlreiche Hinweise des Textes ernennen die Melancholie zur dominanten Gefühlsstruktur in Reisers Geschichte. In der Wahrnehmung seiner Mitschüler ist Anton der Typ des ‚Melancholicus‘.138 Auch der Erzähler konstatiert, das Kind habe erlernt, dass es eine seiner größten Fähigkeiten sei, den melancholischen Typ zu imitieren: „Das war ihm unmöglich zu glauben, daß er immer so, wie jetzt, würde verkannt, und vernachlässigt werden. […] Eine gewisse schwermütige melancholische Miene, die er zu dem Ende annahm, glaubte er, würde am ersten diese Aufmerksamkeit erregen.“139 Wie hier, so träumt sich das Kind Anton und später der jugendliche Reiser zum Genuss und der Aufmerksamkeit anderer in eine melancholische Parallelwelt, die das eigene Dilemma nur um ästhetische Motive übertrifft: Er sieht sich als künstlerisch talentierten Melancholiker, als einen Studenten auf der Flucht, als einen verkannten Schauspieler am Theater. Seine Traumwelt ist immer öfter nicht mehr von der Realität zu trennen. Reiser, durch
138
Vgl. Karl Philipp Moritz: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. In: Ders: Moritz Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde. Hg. v. Heide Holmer und Albert Meier. Frankfurt am Main 1999, S. 85–518, hier S. 301. 139 Ebd., S. 152.
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äußere Umstände zur Askese gezwungen, vergleicht seine Zeit beim Hutmacher rückblickend mit einem Tempeldienst, besucht Friedhöfe und wird vielfach mit Tod und Krankheit konfrontiert. Dabei adaptiert er nicht nur die Sprache140 bzw. Literatur der (religiösen) Melancholietradition, sondern auch die empfindsam kultivierten Verhaltensweisen des intellektuellen Melancholikers. Die Melancholie, die der Text beschreibt, ist zu einem guten Teil nicht nur eine Förderung derselben durch Lektüre oder Religion, sondern auch eine durch soziale bzw. materielle Umstände erzwungene Nutzbarmachung des gesellschaftlich anerkannten melancholischen Gefühlscodes.141 Die sozialen Umstände, die Reisers Kindheit und Jugend entscheidend prägen, sind im Vergleich zu seinen quasi-religiösen Strategien die Katalysatoren des einmal bestärkten Verhaltens. Der Text weist immer wieder darauf hin, dass die Neigung Anton Reisers zur Melancholie keine körperliche Disposition sei, sondern von seinen Lebensumständen, vor allem seiner Erziehung abhänge. Soziale Gegebenheiten wie die Freitische, die er erhält, erscheinen vielleicht unwichtig, aber „dergleichen klein scheinende Umstände [seien, K.B.] es eben, die das Leben ausmach[t]en, und auf die Gemütsbeschaffenheit eines Menschen den stärksten Einfluß hätten“,142 so der Erzähler. Die Religion wird dabei zumindest in den Anfängen der Erzählung ebenso stark bewertet wie die familiären Einflüsse. Ein wesentlicher Faktor in dieser Verkettung der Umstände ist der, dass Antons Wille zur geistigen Entwicklung gesellschaftlich gebremst werde,143 während die religiösen Einflüsse ihn zur permanenten Selbsterfahrung bzw. Selbstvernichtung antrieben. Ein durch quietistische „Selbsttötung“ anerzogener Mangel an Selbstbewusstsein ermögliche es den äußeren Einflüssen, derart stark auf Reiser zu wirken.144 Die sozial- und religionskritischen Beobachtungen des Erzählers deuten das Kind Anton als einen Menschen, der seine Unterdrückung emotional spürt und diese Beschränkungen als seelisch belastend erfährt,145 aber sein Leiden, ange-
140
Vgl. Lothar Müller: Die Erziehung der Gefühle im 18. Jahrhundert. Kanzel, Buch und Bühne in Karl Philipp Moritz’ ‚Anton Reiser‘ (1785−1790). In: Der Deutschunterricht (1996). Bd. 2, S. 5–20, hier S. 14. 141 Vgl. Alo Allkemper: Ästhetische Lösungen. Studien zu Karl Philipp Moritz. München 1990, S. 142: „Moritz bestätigt durch seine gesellschaftliche Analyse der Melancholie, deren soziale Bedingungen sich metaphysisch verlängern, die These von der wechselseitigen Vermitteltheit von Melancholie und Gesellschaft.“ 142 Moritz: Anton Reiser (wie Anm. 138), S. 206. 143 Vgl. ebd., S. 268: „Ohne indes eine Ahndungskraft bei ihm vorauszusetzen, ließ sich seine Schwermut sehr natürlich erklären – wenn man erwägt, daß seine Einbildungskraft jeden engsten Kreis, seines eigentlichen wirklichen Daseins, worin er nun wieder versetzt werden sollte, schnell durchlief.“ 144 Ebd., S. 91: „Unter diesen Umständen wurde Anton geboren, und von ihm kann man mit Wahrheit sagen, daß er von der Wiege an unterdrückt ward.“ 145 Vgl. ebd., S. 400: „Im Grunde war es das Gefühl, der durch bürgerliche Verhältnisse unterdrückten Menschheit, das sich seiner hierbei bemächtigte, und ihm das Leben verhaßt machte.“
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spornt durch religiöse Normen und Techniken, zunächst mit phantastischen Reisen kompensiert. Im Gegensatz zum Werther, dessen Bewertung explizit in die Hände des Lesers übergeben wird, zieht der Erzähler des psychologischen Romans sein Fazit unmittelbar aus dem Verhalten und den Empfindungen des Protagonisten. Dabei wird der Versuch Reisers, sich eine ästhetische Leidensgeschichte nach dem Vorbild Werthers oder Siegwarts zu schaffen, destruiert. Der Erzähler, der Reisers Entwicklung chronologisch darbieten möchte,146 führt dessen Beweggründe in jeder Episode in seelenkundlicher Weise auf soziologische und psychologische Ursachen in dessen Lebensgeschichte zurück. Auch nach interpretatorischen Sinneinheiten werden Episoden der Kindheit oder Jugend Reisers zusammengefügt,147 um einen bestimmten Aspekt zu beleuchten. Zum Beispiel listet der Erzähler die liebsten Phantasien des Kindes und des Jugendlichen auf, um seine Tagträume in den Grenzen der zeitgenössischen Seelenkunde zu erläutern und Beweggründe für bestimmte religiöse Phantasien zu bieten.148 Dem Leser werden durch den wissenschaftlichen Blick des Erzählers der „prosaische Untergrund des Tränenkults, die tötendste Langeweile, das elende Leben, was er noch fortschleppte und die immerwährenden Kopfschmerzen sichtbar“.149 Immer wieder wird dabei auf die äußeren Umstände hingewiesen, in denen der junge Anton ausgebeutet oder vernachlässigt wird. Die Kritik des Erzählers an der religiösen und empfindsamen Verschleierung von Benachteiligung und Diskriminierung wird als unmittelbare Deutung von dessen Seelenleben bekundet. Mit der Absicht, die Psyche des Heranwachsenden nicht nur zu porträtieren, sondern auch ihre Entwicklung an äußeren Bedingungen zu erklären, berichtet der Erzähler für seine Zeit sehr detailliert und genau aus dem Leben eines Kindes und Jugendlichen. Bemerkenswert ist dabei, dass die von Reiser gepflegte melancholische Kompensation den Vorzug einer emotionalen Selbstschulung bietet, die der Erzähler auf einer höheren Ebene vorausschauend kommentiert. Nicht Anton Reiser selbst, der bis zuletzt auf der Suche ist, sondern der Erzähler fasst die Entwicklung des Protagonisten an melancholischen Emotionserlebnissen als eine mühsame Bewusstwerdung einer notwendigen Selbstachtung und Selbstliebe: „[E]r erwog nicht, daß Selbstachtung, welche sich damals bei ihm nur noch auf die Achtung anderer Menschen gründen konnte, die Basis der Tugend ist – und daß ohne diese das schönste Gebäude seiner Phantasie sehr bald wieder zusammenstürzen mußte.“150
146 147 148 149
Vgl. ebd., S. 114. Vgl. ebd., S. 192. Vgl. ebd., S. 164f. Lothar Müller: Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis. Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser. Frankfurt am Main 1987, S. 339. 150 Moritz: Anton Reiser (wie Anm. 138), S. 283.
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Der Erzähler will Reisers Verhalten im melancholischen Rollenspiel erklären, indem er psychologische und soziale Begründungen anführt. Die Ursachenforschung des moralischen Arztes legt die Adaptionen der zeitgenössischen Melancholie-Kultivierung dar und kritisiert ihre Risiken ausgiebig, erwähnt aber auch die förderlichen Momente der Gefühlsschau. Statt einer klaren Dichotomie von guten und schlechten Empfindungen führt der Roman ihre Ambiguität und Wechselhaftigkeit an. Reiser soll nicht lernen, frei von Ängsten oder Melancholie zu sein, sondern seine Empfindungen richtig zu deuten. Der Erzähler erfüllt zwei weitere wichtige Funktionen des von ihm bezeichneten „psychologischen Romans“. Dies geschieht zum einen, indem er am Exempel Reiser die hohe Bedeutung einer Seelenschau des Individuums151 beweist, zum anderen, indem er vom Einzelfall auf pädagogische und seelenkundliche Probleme kommt, die die Freiheit und das Verständnis von Kindern und Heranwachsenden in seiner Gesellschaft anbelangen. Reisers soziale Umstände und religiöse Erfahrungen, die einen Ausdruck in seinem Seelenleben finden, werden durch den Kommentar des Erzählers „Lehrern und Pädagogen“ ins Bewusstsein gerufen.152 Maßgebliche Kritik übt er aber auch an Formen des Glaubens, die Reiser in lethargischem Mitleid verharren lassen oder ihn zu abergläubischen Ideen anregen. Abergläubisches Verhalten, wie den Schatten der Gartenmauer als Todesboten zu beobachten, wird erläutert und abgelehnt.153 Dem Erzähler liegt daran, alle Formen der Betäubung, wie z.B. auch Reisers Theaterliebe, zu entlarven und einen bewussten Umgang mit Emotionalisierungstechniken bzw. Emotionen zu fordern. So veranschaulicht der Text Reisers Kultivierung sanfter Melancholie aus religiösen und ästhetischen Motiven. Die Ästhetisierung von Melancholie in der Literatur, wie sie Anton Reiser nicht als Erster adaptiert, nennt Hans Jürgen Schings eine „ästhetische Scheinidylle“.154 Dass die Vertröstung in ästhetische Ausflüchte Reiser nicht vollends befriedigen kann, zeigt das immer weiter wachsende Bedürfnis nach emotionaler Empfindungsbeschleunigung und dem bleibenden Wunsch nach Anerkennung durch die Menschen um ihn herum. Doch Fortschritte Antons offenbaren sich, wenn er sich immer mehr der (empfindsamen) Emotionalisierungen bemächtigt und ein ihm oftmals allein verbleibendes Entwicklungsfeld, seine Empfindungswelt, erhellt. Ein deutliches Zeichen dafür ist der Umstand, dass ein negativer Melancholiebegriff einer sanften Melancholie gegenübergestellt wird. Die schwarze oder tiefe Melancholie, wie sie der Erzähler nennt, tritt zumeist in Momenten sozialer Erniedrigung auf. Als „Seelenlähmung“ ist sie eine kalte und starre Melancholie, die keinen Fortschritt erlaubt. Enttäuschungen wie beispielsweise die Absage des 151 152 153 154
Vgl. ebd., S. 86: um „[dem Menschen, K.B.] sein individuelles Dasein wichtiger zu machen.“ Vgl. ebd., S. 257. Vgl. ebd., S. 250. Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur. Stuttgart 1977, S. 251.
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Theaters und Kränkungen machen Reiser zutiefst melancholisch.155 Der Kommentar des Erzählers unterstreicht, dass der Verdruss, den Reiser dann spüre, grob und niedrig sei, „auch nicht der mindeste Grad von einer sanften Melancholie“ darin liege.156 In diesen Momenten werde sein Lebensüberdruss bis zu Selbstmordneigungen getrieben, die selbst als die gemischte Empfindung von Lebensbegierde und Todessehnsucht auftreten: „Oft stand er bei diesen Spaziergängen am Ufer der Leine, lehnte sich in die reißende Flut hinüber, indes die wunderbare Begier zu atmen mit der Verzweiflung kämpfte, und mit schrecklicher Gewalt seinen überhängenden Körper wieder zurückbog.“157 Schwarze Melancholie kann aber auch von religiöser Furcht ausgehen, wie sie die Todespredigt des Pastors Paulmann auslöst. Diese Passage klärt schon recht früh, dass Anton Reiser kein Todessehnsüchtiger ist, sondern die Freude am Leben bei ihm die Oberhand behält. Der Tod bleibt eines seiner zentralen Lebensthemen. Seine Bedeutung ist Reiser im Gegensatz zu seinem religiösen Umfeld unklar („ein Bild seines fortdauernden unaufgelösten schrecklichen Zweifels“),158 bis zum zehnten Lebensjahr aber auch verstörend angenehm.159 Reiser helfen keine konventionellen „Beruhigungsgründe“, die Fragen zum Tod beantworten könnten, daher schlagen sanfte Empfindungen immer wieder in „schwarze Melancholie“ um. Doch auch in dieser Not wende sich die Melancholie zuletzt in eine „qualvolle Wonne“.160 Der Erzähler glaubt, dass Reiser aufgrund von „unzähligen Kränkungen und Demütigungen“ ein Gemüt erhalten habe, das bei bester Freude sogleich schwarze Melancholie hinzudenken müsse: „Sobald sich auch sein Ausdruck dahin lenkte, wurde er natürlich und wahr.“161 Wie konnte es zu diesem Hang zur Melancholie kommen und was kann der Protagonist Reiser daraus Positives gewinnen? Dazu sollen nun die drei Phasen seiner emotionalen Bewusstwerdung gegenübergestellt werden.
4.2.1 „Zuweilen sang er seine Empfindungen, in Recitativen, von seiner eignen Melodie“: Adaptionen religiöser Emotionalisierungstechniken Anton Reiser wächst in einem quietistischen Elternhaus auf, in dem die Schriften der Madame Guyon gelesen werden. Noch bevor der Protagonist oder seine Eltern vorgestellt werden, beginnt die Erzählung mit den Hinweisen auf diese religiöse 155 156 157 158 159 160 161
Vgl. Moritz: Anton Reiser (wie Anm. 138), S. 392. Vgl. ebd., S. 493. Ebd., S. 283. Ebd., S. 348. Vgl. ebd., S. 113. Vgl. ebd., S. 366. Ebd.
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Gruppierung, die sich mit der „gänzlichen Ertötung und Vernichtung aller, auch der sanften und zärtlichen Leidenschaften“162 beschäftigte. Das „Ausgehen aus sich selbst“,163 durch das „innere Gebet“ und strenge Selbstbeobachtung gepflegt, führt beim Kind Anton (und wahrscheinlich auch bei allen anderen Anhängern dieser Glaubensrichtung) zum Gegenteil: einer ruhelosen Wahrnehmung aller „unerwünschten“ Leidenschaften. Statt zur Auflösung aller persönlichen Belange zu kommen, zeigt sich bei Anton Reiser die Konzentration auf eigene Empfindungen und Wünsche. Vor allem der Vater bringt ihm Religiosität als eine „Sache des Ehrgeizes“ nahe.164 Die Schritte auf dem Weg zur gänzlichen Selbsttötung werden als zwingende Erfolge gefeiert. Bleiben sie aus, hat der Glaubende versagt, ist der Teufel über das Kind Anton gekommen. Schon früh nimmt sich Reiser dieses Wettstreits an und verliert im Verlauf der Handlung nie wirklich die absurde Neigung zum Wettbewerb bei transzendentalen Erlebnissen. Anton bilde sich sogar wechselnde Seelenzustände ein, um von seinen quietistischen Vorbildern Aufmerksamkeit zu erlangen.165 Dazu adaptiert er die Zeichen und Verhaltensweisen der quietistischen Frömmigkeit, ihr wirklicher Sinn aber entzieht sich ihm: „Sonst sah er nicht viel von Frömmigkeit, obgleich er immer viel davon reden hörte, […] und [seine Mutter vergaß niemals, K.B.], ehe er einschlief, das Zeichen des Kreuzes über ihn zu machen.“166 Besonders die emotionalisierende Wirkung der Lieder der Madame Guyon, die doch das Gegenteil bewirken sollten, macht auf Anton einen so großen Eindruck, dass er sie auswendig lernt: „Wirklich hatten die Gesänge […] so viel Seelenschmelzendes, eine so unnachahmliche Zärtlichkeit im Ausdrucke, […] und so viel unwiderstehlich Anziehendes für eine weiche Seele.“167 Als Kind beginnt Anton derart die religiösen Konventionen seiner Eltern zu nutzen.168 Während er lernt, diese Techniken zu seinen eigenen Zwecken zu verwenden, entfernt er sich unbewusst von den religiösen Inhalten, ohne sie zu heucheln.169 Allerdings zeigt der Fortgang der Handlung, dass Reiser nur wenig Kontrolle über die Emotionalisierungstechniken besitzt, sondern weiter seinen eigenen oder den Manipulationen anderer unterliegt. Zwar ist eine vollkommene Befreiung von diesen Techniken wie von Emotionen selbst nicht möglich, man kann jedoch ein Bewusstsein für sie und die eigenen Empfindungen erlangen.
162 Ebd., S. 90. 163 Ebd., S. 88. 164 Vgl. ebd., S. 97. Ein Buch wird dem Kind geschenkt, das diesen Ehrgeiz vermittelt. 165 Vgl. ebd., S. 136. 166 Ebd., S. 98. 167 Ebd. 168 Vgl. Allkemper: Ästhetische Lösungen (wie Anm. 141), S. 114. Auch Allkemper interpretiert,
169
Reiser benutze sie als kompensatorische Empfindungsquelle, die seinem traurigen Leben einen Genuss biete. Vgl. ebd., S. 87.
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Anton prüft sich nach pietistischer Technik auf seine Vorsätze. Beispielhaft ist seine erste Selbstprüfung mit neun Jahren. Er befindet, dass es noch Zeit sei, ein frommer Mensch zu werden, er müsse nun aber an seiner aktiven Bekehrung arbeiten. Beim Vorsatz zur Bekehrung und der strengen Selbstbeobachtung, die ihn zum ersten Mal vollkommen erschüttert, bleibt es.170 Wichtiger als der religiöse Fortschritt wird Anton der Erhalt bzw. die Wiederkehr dieser ersten Erschütterung. Die Suche nach solchen Sensationen schließt zumindest für das Kind auch körperliche Stimulation nicht aus. Er sticht sich etwa mit Nadeln, um die Schmerzen religiöser Märtyrer nachzuempfinden. Da der Glaube des Vaters die Freude an einer Auflösung im Tod zum legitimen Gedanken macht, führt Reiser diese Vision vom schönen Sterben als abendliches Ritual ein, das vom Erzähler mit dem Ausdruck „wollüstige Empfindungen“ näher spezifiziert wird.171 Erkennbar ist damit wieder die quasi-erotische und unter Zeitgenossen ‚sündige‘ Facette der Funktionalisierung religiöser Techniken durch Reiser und Werther. Die Melancholie ihrer gesteckten (moralischen) Grenzen zu entbinden ist dabei zugleich Tabu-Bruch und Mittel progressiven Selbst-Empfindens. Mit den ersten kindlichen Erfahrungen von Niedergeschlagenheit wendet sich Reiser keinem Verhalten zu, das ihn ermuntern könnte, sondern er adaptiert die quietistische Frömmigkeitspraxis seines Vaters zum eigenen pessimistischen Trost am Leiden, der in paradoxer Weise Freude aus der Vernichtung allen Daseins zieht.172 Anton reizt daran vor allem ihre Wirkung auf seine Empfindungen. So trainiert er im Fall von Enttäuschungen, sich mit schwermütiger Freude zu belohnen, statt Wut oder Initiative zu entwickeln.173 Da die Enttäuschungen, wie der Erzähler mehrfach schildert, zahlreich sind (seine Krankheit, die Armut und das Unverständnis der Eltern174 etc.), bieten sich viele Möglichkeiten, sich der wehmütigen Freude schon im Vorfeld zu überlassen. Was Anton auch tut, wenn er weiß, dass etwa sein Fuß verbunden werden soll. Dieses erste Muster der Konfliktbewältigung setzt sich beim Jugendlichen fort, als er seine Ausbeutung vom Hutmacher als Dienst in einem Tempel verstehen will.175 Er deutet diesen Missbrauch als quasi-religiöse ‚Aufopferung‘ und generiert aus der Vision ein ästhetisches Vergnügen, das ihm die allein glücklich machende Rührung verschafft.176 Auch hier 170 171 172
Vgl. Moritz: Anton Reiser (wie Anm. 138), S. 97. Vgl. ebd., S.105f. Vgl. ebd., S. 98: „Oft tröstete er sich in einsamen Stunden, wo es sich von aller Welt verlassen glaubte, durch ein solches Lied vom seligen Ausgehen aus sich selber, und der süßen Vernichtung vor dem Urquelle des Daseins.“ 173 Vgl. ebd., S. 99f.: „Allein auch jene schwermutsvolle tränenreiche Freude behielt immer etwas Anziehendes für ihn, und er überließ sich ihr, indem er die Guionschen Lieder las, so oft ihm ein Wunsch fehlgeschlagen war, oder ihm etwas trauriges bevorstand, als wenn er z.B. vorher wußte, daß sein Fuß verbunden, und die Wunde mit Höllenstein bestrichen werden sollte.“ 174 Vgl. ebd., S. 93. 175 Vgl. ebd., S. 129. 176 Vgl. ebd., S. 143: „Zuweilen sang er seine Empfindungen, in Recitativen, von seiner eignen Melodie. Und wenn er sich besonders von der Arbeit ermüdet, seine Kräfte erschöpft, und von
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wertet der Erzähler, dass Anton zumindest die Phantasie zu Hilfe komme.177 Dies erweist sich als tragische Scheinlösung, denn für Anton endet die Leidenszeit beim Hutmacher mit einem Selbstmordversuch, der den Bruch mit Lobenstein endgültig besiegelt.178 Aus eigener Erfahrung kann Karl Philipp Moritz in dieser HutmacherEpisode den quietistischen Jargon und seine unbarmherzige Lehre als menschenverachtend und ausbeutend enttarnen.179 Der psychologische Roman deckt zudem auf, dass allein eine phantastische Flucht dem Menschen aus diesen religiös sanktionieren Qualen nicht helfen kann. Die Figur des alten Mannes, dem Reiser zunächst aufrichtig und mit Stolz seinen Wissensfortschritt vorlegt, dient in der Erzählung als eine Überprüfungsinstanz religiöser Überzeugungen, an der deutlich wird, wie Reiser zwischen frommem Wunsch und Selbstbetrug schwankt. Als er aus der Privatschule genommen wird, beginnt eine missmutige Phase des Trotzes, in der er gezielt gegen den ehemaligen Vorsatz, ein frommer Mensch zu werden, handelt. Er empfindet zum ersten Mal keine Andacht mehr und spielt dem alten Mann „fromme Mienen“ vor. Dies ist ein Fall, in dem Reiser wiederholt zu seinem Nutzen („um sich bei diesem Manne in Achtung zu erhalten“) konventionell anerkanntes Verhalten adaptiert.180 Er gewinnt sogar Freude daran, seinen Betrug gelingen zu sehen. So wie Anton seine persönlichen Empfindungen in eigenen Melodien über die traditionellen Rezitative legt,181 so frei kann er auch religiöse Emotionalisierungstechniken verwenden. Der Erzähler präsentiert ihn als einen Jungen, der „die verschiedenen Systeme“, die christliche Religion und Literatur, die auf seine Seele einen solchen Eindruck machten, „so gut er konnte, in seinem Kopfe zu vereinigen, […] und die heidnische Welt mit der christlichen zusammen zu schmelzen“182 versucht. Anton erlernt religiöse Rituale mit der Absicht, sich angenehme Wehmut zu evozieren und seine durch Literatur bereicherte Phantasie zu verweben. Dazu übertritt er mit elf Jahren auch bewusst die Regeln seines Elternhauses und nimmt „verbotene Lektüre“ zu Hilfe.183 Die Gottesdienste, die Reiser besucht, werden ihm zu ästhetischen Erlebnissen, in denen er seine Emotionalisierungstechniken verfeinert und zum ersten Mal die
seiner Lage gedrückt fühlte, mochte er sich am liebsten in religiösen Schwärmereien, von Aufopferung, gänzlicher Hingebung, u.s.w. verlieren, und der Ausdruck Opferaltar war ihm vorzüglich rührend, so daß er diesen in alle die kleinen Lieder und Recitativen von seiner Erfindung mit einwebte.“ 177 Vgl. ebd., S. 129. 178 Ebd., S. 169. 179 Vgl. Christof Wingertszahn: Anton Reiser und die ‚Michelein‘. Neue Funde zum Quietismus im 18. Jahrhundert. Hannover 2002, S. 33. 180 Vgl. Moritz: Anton Reiser (wie Anm. 138), S. 122f. 181 Vgl. ebd., S. 143. 182 Vgl. ebd., S. 103. 183 Vgl. ebd., S. 108.
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Erfahrung von sympathetischen Empfindungen macht.184 In der Kirche erlebt er „rührendes Pathos“, das religiöse Melancholie hervorruft. Zugleich reflektiert er, dass es sich um eine mediale Technik handelt, die die Zuhörer manipuliert. Jene Techniken will Reiser selbst erlernen.185 Seine emotionale Empfindlichkeit wird dort, in der Sprache des Erzählers, neu aufgeladen. Lothar Müller spricht vom Auftritt des Predigers als „Elektrisiermaschine“.186 Die Erfahrung von sympathetischer Empfindung, die sich bisher nur selten eingestellt hat, wird zu einem Wunsch Reisers. Manche Prediger, die er als Rhetoriker schätzt, werden zu seinem Vorbild,187 denn gerne möchte er selbst diese ekstatische Wirkung bei seinen Zuhörern auslösen. Die Mutter und seine Brüder sind die ersten Zuhörer bzw. Versuchsobjekte seiner improvisierten Predigten und Auftritte. Anton erinnert sich bei seinem ersten Abendmahl an die Bilder, die ihm der Garnisonsküster von einer „richtigen Erschütterung“ zur Buße vorgeführt hat.188 Es handelt sich um eine Form des Schrecklich-Erhabenen, das angenehme Empfindungen mit Schrecken und Furcht verbindet. Der junge Küster habe wie er ein Vergnügen daran, seine Zuhörer so zu erschüttern, damit sie wonnevolle Tränen auspressen.189 Er genießt die „unglaubliche Wirkung“, „wenn jedes Mal die Empfindung einen neuen elektrischen Schlag erhielt, wodurch sie bis zum höchsten Grade verstärkt wurde.“190 Wehmut wird als positives Gefühl im religiösen Kontext beschrieben, das ihm Erlebnisse von Erhabenheit biete. Wenn Pastor Paulmann von der Höhe der Vernunft spricht, evozieren Erhabenheitsbilder, die das Kind vom Kirchturm, der Glocke oder dem hohen Chor hat, eine Sehnsucht in Reiser. Die Vernunft als rührende Emotion zu erleben, war für einen empfindsamen Emotionsbegriff der Zeit kein Widerspruch (vgl. Klopstock in Kapitel 2.1.3). Reiser aber erfährt gemäß seiner Wahrnehmung der Predigt als Gefühlsbeschleuniger diesen Vorgang nicht mehr sakral wie Klopstock, sondern der Erzähler verleiht ihm einen fasziniert beobachtenden Blick auf eine Gefühlsmechanik. 184
Vgl. ebd., S. 149: „Alles zerschmolz nun in Wehmut und Tränen – Der Refrain bei jedem Perioden tat eine unglaubliche Wirkung – es war, als wenn jedes Mal die Empfindung einen neue elektrischen Schlag erhielt, wodurch sie bis zum höchsten Grade verstärkt wurde. – Selbst die zuletzt erfolgende Erschöpfung, […] trug zu der allgemeinen um sich greifenden Rührung bei, die diese Predigt verursachte; da war kein Kind, das nicht sympathetisch mitgeseufzt und mitgeweint hätte.“ 185 Vgl. ebd., S. 178: „Das rührende Pathos, womit diese Rede wirklich gehalten wurde, machte auf Antons Herz einen unauslöschlichen Eindruck, und er wünschte sich keine größere Glückseligkeit, als einmal auch vor einer solchen Menge von Menschen, die alle mit ihm weinten, eine solche Abschiedsrede halten zu können.“ 186 Vgl. Müller: Die Erziehung der Gefühle im 18. Jahrhundert (wie Anm. 140), S. 8f. 187 Vgl. Moritz: Anton Reiser (wie Anm. 138), S. 144: „Nichts war für Anton reizender, als der Anblick eines öffentlichen Redners, der das Herz von Tausenden in seiner Hand hat.“ 188 Vgl. ebd., S. 190. 189 Vgl. ebd.: „[E]r empfand dann wieder das Vergnügen, seine Zuhörer, so erschüttert zu haben, welches ihm wonnevolle Tränen auspresste, die den ganzen Auftritt, […] noch feierlicher machte.“ 190 Ebd., S. 149.
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Dass er als Kind jedoch keinen bewussten Umgang mit diesen Emotionalisierungstechniken erreichen kann, beweisen die Einschüchterungen durch den Hutmacher Lobenstein, die Reiser in einer ängstlichen Abhängigkeit von Erniedrigungsritualen halten. Er ist auf eine Todesangst fixiert, die ihn mehrfach täglich beten lässt. Der Erzähler kommentiert, die religiöse Schwärmerei, in die er verfällt, werde „weggebetet“: „So heilt oft eine Schwärmerei, eine Tollheit die andere.“191 Der ‚religiöse Aberglaube‘ der Reisers frühe Kindheit geprägt habe, mache ihn zum Leidenden unter seiner Einbildungskraft.192 Diese Leiden sind abhängig von Reisers bewusster Kontrolle über die Emotionalisierungstechniken, denn zuweilen stellt die Einbildungskraft eine Erleichterung seiner Leiden her: „Er wiegte sich oft so sehr in die süßen Empfindungen von dem Schutz eines höheren Wesens ein, daß er Regen und Frost und Schnee vergaß, die sich in der ihn umgebenden Luft, wie in einem Bette sanft zu ruhen schien.“193 Die gemischte Empfindung einer sanften Melancholie nimmt bei diesen ausgesuchten Gefühlen die prominenteste Rolle ein. Das Kind Anton kennt das Gefühl der Wehmut von klein an, er hat es sich sehr genau eingeprägt. Zuerst erscheint es in Auseinandersetzungen mit den streitenden Eltern. Bei Erlebnissen von Ausgrenzung oder Erniedrigung, also im sozialen Kontext, spricht der Erzähler von einer Wehmut. Diese wird als eine stark religiös gefärbte, negative Wehmut beschrieben, die die Ablehnung kompensieren soll. Der Erzähler betont, dass das Kind sich wehmütig an Einzelerlebnisse erinnere (die Lateinschule, kindliche Vorsätze, verlorene Freunde sowie die Zurücksetzungen durch seine Eltern). Mehrfach wird darauf hingewiesen, wie das Kind sich ebenfalls an „sonderbaren wehmütigen und doch angenehmen Empfindungen“ erfreue.194 Die frühe Wehmut, die Reiser als Kind bei der Lektüre empfindet, beschämt ihn aber auch. Vor seinen Eltern verbirgt er daher seine Rührung. Der künstlich erzeugte Schmerzensgenuss ist ihm peinlich.195 Solche gemischten Empfindungen werden jedoch auch dann beschrieben, wenn Anton seine begrenzte Macht im Spiel erlebt und den Aufbau und die Zerstörung einer Papierstadt genießt. Das kindliche Spiel deutet bereits an, wie sich die Wehmut Reisers gleichermaßen zur Erfahrung der eigenen Fähigkeiten nutzen lassen kann. In diesem Sinn befördert die sanfte Melancholie Antons Ideenreichtum und Selbsterfahrungsschatz, obwohl er seine zahlreichen Träume nur allmählich entwickelt bzw. diese scheitern. 191 192 193 194
Ebd., S. 156. Vgl. ebd., S. 156f. Ebd., S. 250. Vgl. ebd., S. 104: „Mit einer Art von wehmütiger Freude las er nun, wenn Helden fielen, es schmerzte ihn zwar, aber doch deuchte ihm, sie mussten fallen. […] Wenn er dann seine Augen wieder öffnete, so sah er die schreckliche Zerstörung, hier lag ein Held und dort einer auf dem Boden hingestreckt, und oft erblickte er mit einer sonderbaren wehmütigen und doch angenehmen Empfindung sich selbst unter den Gefallenen.“ 195 Vgl. ebd., S. 271.
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Der Erzähler nennt diese frühe Liebe Antons zu einer melancholischen Empfindung die „joy of grief“. Sie begleitet Reiser und verschafft ihm den sonst entbehrten hohen Genuss. Im Gegensatz zum Mangel ist diese frühe Fähigkeit zur Bildung einer spezifischen Melancholie in Fülle vorhanden: „Das war wieder the Joy of Grief, die Wonne der Tränen, die ihm von Kindheit auf im vollen Maße zuteil ward, wenn er auch alle übrigen Freuden des Lebens entbehren mußte.“196 Mit der Formel wird eine „sonderbare Art von Wehmut“ spezifiziert. Sie entstehe, wenn das „Gefühl von Ausdehnung und Einschränkung unseres Wesens“ in einem Moment zusammengedrängt sei.197 Der Erzähler beschreibt sie als eine Stimmung, die zum eigentlichen Charakteristikum des Kindes geworden sei („bei so etwas war er in seinem Elemente“). Besonders die Predigten veranlassen ihn, die „Wonne der Tränen / joy of grief“ zu fühlen. Bemerkenswert ist, dass die ossianische, weltliche Formel durch den Erzähler im kirchlichen wie auch im sozialen Kontext angewandt wird. Die englischen Worte sollen die deutschen präzisieren. Es handle sich um eine angenehme Erschütterung der Seele, die bei Anton allen anderen Lebensgenuss übersteige. Die gemischte Empfindung entspricht formal dem Zweischritt von Erniedrigung und Selbst-Beseligung auf dem Weg zur religiösen Melancholie bei Edward Young oder Friedrich Gottlieb Klopstock. Allkemper führt diese Kombination von Erniedrigung und Erhöhung auf die soziale Situation Reisers zurück. Aus einem „schwarzen Hohngelächter“ desselben und seinem „Lebensüberdruß“ ergebe sie eine Empfindung, die durch metaphysische Deutungen überhöht werde.198 Es liegt jedoch viel näher, dass Anton Reiser den ästhetisierten Leidensgenuss Ossians mit dem Vorteil adaptieren konnte, dass seine quietistischen Hintergründe damit bestens harmonierten bzw. diese kultivierte, religiöse Leidensfreude in einem früherem Stadium gefördert hatten. Noch bevor das Kind seine soziale Armut im Vergleich mit der Außenwelt wahrnahm, erfuhr es im Elternhaus eine religiöse Prägung, die die gemischte Empfindung des Leidensgenusses ideengeschichtlich vorgab. Der Erzähler verwendet bewusst einen Begriff, der den Zeitgenossen eine Bestimmung dieser Emotion als säkularisierte Form der religiösen Wehmut geben soll. Offenbar besaß „joy of grief“ für Moritz diese Konnotation, da er sie für sich allein sprechen lässt: „Dies war wiederum the Joy of grief (die Wonne der Tränen) wohin von Kindheit an sein Herz ging.“199 Gezielt wird mehrfach die englische 196 Vgl. ebd. 197 Vgl. ebd., S. 333. 198 Vgl. Allkemper: Ästhetische
Lösungen (wie Anm. 141), S. 140: „Moritz hat die beiden Momente der Melancholie, die ‚Wonne‘, mit der er dem ‚schwarzen Hohngelächter‘ zustimmt, und die Erfahrung grundsätzlicher Ausweglosigkeit und Verzweiflung, die im ‚Lebensüberdruß‘ endet, zusammengefasst. Diese Zusammenfassung legitimiert sich dadurch, dass beide Momente Reaktionen darstellen auf eine gesellschaftliche Desintegration, die überhöht wird durch metaphysische Nichtigkeit.“ 199 Moritz: Anton Reiser (wie Anm. 138), S. 368.
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Phrase verwendet, die die Zeitgenossen allein mit Ossian verbinden konnten. Die Wiederholung der Formel „joy of grief“, die vor ihrer deutschen Entsprechung genannt wird, weist auf ihre Bedeutung für die Interpretation hin. Sie wird zudem mit indexikalischen Markern hervorgehoben. Reisers Entwicklung und Lektüreverhalten wird durch sie in Anlehnung an die Autonomietendenzen Ossians als eine Schulung sich emanzipierender Emotionen vorgeführt. Howard Gaskill und Wolf Gerhard Schmidt halten die englische Formulierung während der erzählten Zeit für relativ unmarkiert im deutschsprachigen Kulturraum.200 Allerdings dürfte dies für die Zeit nach dem Beginn der Niederschrift ab 1782 nicht gelten. Moritz verwendet zwar einen Begriff, den der Jugendliche oder das Kind Anton nicht kannte (da Moritz Ossian erst spät kennenlernt, spielt er für den jungen Anton Reiser als Lektüre noch keine Rolle), der aber dem Erzähler als reflektierender Instanz zugeordnet werden kann. Er verwendet diese Formel ohne weitere Referenzen, da sie dem deutschsprachigen Publikum bekannt sein müsste oder da es für sie keinen besseren (deutschen) Ausdruck gab. Die Tatsache, dass „joy of grief“ auch im religiösen Kontext angewendet wird, lässt annehmen, dass der Erzähler die Phrase als Melancholieform auffasst, die beide Systeme, Religion und Literatur, betreffen kann. Sie ist ein Ausdruck für deren Vermischung durch die Figur Reiser. Dieser These liegt eine Deutung des Ossian zugrunde, wie sie in Kapitel 3.1 erläutert wird. Die ossianische „joy of grief“ ist hier bereits als eine Melancholie kodiert, die von einer prominenten empfindsamen Kultivierungstechnik des 18. Jahrhunderts als Optimum orgineller, autonomer und quasi-religiöser Erhabenheitsvorbereitungen anerkannt wird. Mit dieser Markierung der Empfindung Reisers als ästhetisch wertvoller Melancholie unterstreicht der Erzähler, dass seine Wehmut schon in Kindertagen nur noch eine transformierte Form der religiösen Melancholie sein könne. Wie Goethe wählt Moritz die Referenz zu Ossian, um den Generationswechsel positiv konnotierter Melancholie von Anfang an deutlich zu machen. Es ist daher sehr unwahrscheinlich, dass Moritz die Melancholie der Night Thoughts missverstanden habe.201 Sie basiert auf einem im 18. Jahrhundert weithin bekannten religiösen Emotionalisierungsverfahren. Das Werk wird im Anton Reiser als eine Lektürephase in der Herausbildung ästhetischer Melancholie des Helden genannt, die sehr schnell von der zeitlich näheren Ästhetisierung der Leiden in Goethes Werther abgelöst wird. Das religiöse Konzept der erbaulichen Melancho200
Vgl. Howard Gaskill: The „joy of grief“: Moritz and Ossian. In: Colloquia Germanica. Internationale Zeitschrift für Germanistik 28.2 (1995), S. 101–125, hier S. 115; Schmidt: „Homer des Nordens“ und „Mutter der Romantik“ (wie Anm. 103). Bd. 2, S. 830: Moritz habe Ossian vor allem im englischen Original gelesen, das erst nach 1777 aber vor der Niederschrift seit 1782/83 kennengelernt. 201 Vgl. Schmidt: „Homer des Nordens“ und „Mutter der Romantik“. Bd. 2 (wie Anm. 103), S. 832: „Wie viele andere europäische Schriftsteller (unter ihnen auch Macpherson) missversteht Moritz die keineswegs durchgängige Melancholie der Nachtgedanken, hinter der − anders als in den Poems of Ossian – noch immer die Hoffnung auf eine göttliche Transzendenz steht.“
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lie ist Reiser dennoch sehr wohl bekannt und, wie schon gezeigt, anschlussfähig an die ästhetische Kultivierung der Melancholie. Insofern hat Wolf Gerhard Schmidt nur eingeschränkt Recht, wenn er erklärt, die Funktion der Ossian-Referenzen in Form des Stichwortes „joy of grief“ sei ohne die poetische Differenz zu Youngs Night Thoughts nicht zu verstehen.202 Tatsächlich handelt es sich nicht um einen Gegensatz von „wahrer Empfindsamkeit (tender melancholy)“, die mit Ossian zu assoziieren sei, und „selbstzerstörerischer Emotionalität (overpowering grief)“ nach Young,203 sondern um einen Hinweis auf die evolutionäre Entwicklung des einen aus dem anderen. Aus dieser Wahrnehmung einer Transformation von Emotionalisierungstechniken bei Moritz erklärt sich die Verwendung der Phrase „joy of grief“. Bei der „joy of grief“ handelt es sich für Reiser um ein Selbstfühlen in gemischter Empfindung, das von keiner anderen Empfindung übertroffen werden kann. Insofern hat sie einen persönlichkeitskonstituierenden Effekt für die Entwicklung des Protagonisten. Wie Thomas Weitin bemerkt, verschwinden der Protagonist und seine Bedürfnisse hinter der dominanten Codierung von Individualität, den empfindsamen Konventionen vermeintlich „wahrer“ und „moralischer Empfindungen“,204 doch die gemischte Empfindung entschädige Reiser für seinen „Lebensverlust“: „Allein in dieser Empfindung ist [er, K.B.] emotional bei sich selbst, ihr allein kann er sich lustvoll hingeben.“205 Sie genießt im Vergleich zu anderen Freuden und Gefühlen darüber hinaus zumindest äußerlich eine moralische Legitimation unter seinen Mitmenschen. Während die „joy of grief“ eine Beschleunigung der persönlichen Empfindungsfähigkeit ist, führt der Erzähler als Kontrast zu ihr den Begriff der „Seelenlähmung“ ein. Sie ist der unerwünschte Gegenpol, der eintritt, wenn Anton in Armut und Demütigung verhaftet bleibt.206 Diese Gegenüberstellung unterliegt der älteren mechanistischen Idee, dass die Seele in Beschäftigung sein will, um sich gut zu fühlen. Die Seelenlähmung ist eine geistige Vernichtung, die das Selbstvertrauen beschädigt.207 Seit seiner Kindheit besteht dieses Empfinden einer Seelenlähmung im Kontrast zur Seelenbeschleunigung in der „joy of grief“.208 Auf negative Erfahrungen reagiert Reiser durch seelische und körperliche Erstarrung.
202 203
Vgl. ebd., S. 831. Vgl. ebd. 204 Vgl. Thomas Weitin: Tagebuch und Personalausweis. Zur Codierung von Individualität im ‚Anton Reiser‘. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 125 (2006), S. 481–498, hier S. 498. 205 Allkemper: Ästhetische Lösungen (wie Anm. 141), S. 144f. 206 Vgl. Moritz: Anton Reiser (wie Anm. 138), S. 264. Als Dummer beschimpft, lähmt dies Antons Seele. 207 Vgl. ebd., S. 226: „Man fühlt sich in einem solchen Augenblick gleichsam wie vernichtet, und gäbe sein Leben darum, sich vor aller Welt verbergen zu können. – Das Selbstzutrauen, welches der moralischen Tätigkeit so nötig ist, als das Atemholen der körperlichen Bewegung, erhält einen so gewaltigen Stoß, daß es ihm schwer hält, sich wieder zu erholen.“ 208 Vgl. ebd., S. 402.
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Eindeutig spricht sich der psychologische Roman mit dieser Beobachtung für die positiven Einflüsse einer Seelenbewegung aus und wertet die Erstarrung als Bildungsstillstand.
4.2.2 Die formale Verwendung religiöser Emotionalisierungstechniken Die Freude an der Schwermut wird Reiser zu einem gewohnten Verhalten, das er auch in besseren Zeiten nicht ablegen will. Sie steht in keinem Widerspruch zu den guten Erfahrungen, die er macht: [Er behielt, K.B.] noch immer eine schwermütige Laune bei, woran er nun einmal besonderes Behagen fand; und selbst an dem Tage, da ihm die unerwartete Ehre der öffentlichen Kritik seiner Gedichte widerfahren war, ging er den Nachmittag einsam und schwermütig, bei dem trüben und regnigten Wetter in der Stadt umher – und wollte am Abend zu Philipp Reiser gehen, um diesem sein Glück zu sagen.209
Die melancholisch machenden Emotionalisierungstechniken, die Reiser schon in seiner Kindheit kennenlernt, werden durch ihn in seinen späteren Gedichten wie auch in seinem Verhalten zu einer ästhetischen Aufwertung der sanften Melancholie genutzt. Diese Transformation ist, mit einem Blick auf die vorausgegangenen Kapitel, nicht neu, aber Karl Philipp Moritz ist der erste, der sie aus dieser analytischen Perspektive genauer betrachtet. Ferner macht der Erzähler dem Leser durch das mögliche Scheitern Reisers bewusst, dass es keine einfache Kategorisierung oder Verdrängung von Empfindungen geben kann, zugleich bildet der Text damit den zeitgenössisch aktuellsten Wissensstand über Empfindungshaushalte ab. Anton prägt sich die Erniedrigung und Zurückweisung durch seine Mitmenschen ein. Die quietistische Idee der Auflösung des Selbst raubt ihm Räume zur Entfaltung seiner Persönlichkeit. Daraus resultiert auch die Nebenwirkung, dass er in glücklichen Momenten keine Zufriedenheit empfinden kann. Eines seiner Gedichte über die Zufriedenheit wird daher zwangsläufig zu einer Klage über die eigenen Leiden. Der Erzähler berichtet: „[S]o erwachte doch am Ende wieder seine schwarze Melancholie – und er beschloß die Reihe der sanften Empfindungen […] mit […] Ausdrücken der Verzweiflung.“210 In Momenten, die der Freude überlassen sein sollten (z.B. die Rede zu Ehren der Königin), empfindet er Trauer.211 Antons Emotionshaushalt ist, wie der Erzähler ihm mehrfach attestiert, gestört. Ihm fehle zur Bildung seiner Persönlichkeit ein „gewisses Selbstzutrauen“,212 das
209 210 211 212
Ebd., S. 350. Ebd., S. 366. Vgl. ebd., S. 361. Vgl. ebd., S. 199.
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er nur aus eigenen Erfahrungen bilden könne. Ohne „Selbstachtung“ blieben seine Phantasien fragile Kartenhäuser.213 Insofern ist Reiser zwingend ein Schüler seiner Empfindungen, dem die Melancholie nahegelegt wird, um durch sie entwicklungsfördernde Emotionsbeobachtungen zu machen. Die sanfte Melancholie, die als Gefühlsverstärkerin auftritt, eignet sich dazu unter gewissen Bedingungen, die lähmende schwarze Melancholie hingegen nicht. Als Jugendlicher beginnt Reiser mühsam, die sanfte Melancholie zu seinem Vorteil zu machen und seine negativen oder mangelnden Lebenserfahrungen mit ihr zu kompensieren. Doch trotz des Wunsches nach Anerkennung droht der wenig geachtete Jugendliche zunächst an Freitischen durch schwarze Melancholie zu einem sozialen Außenseiter zu werden.214 Die „unbeschreibliche Wehmut“, die er an den Freitischen seiner Spender empfindet, zeigt eine kritische Perspektive auf Armut, indem sie verdeutlicht, wie diese als soziale Ausgrenzung und Erniedrigung funktioniert. Die schwarze Melancholie über soziale Missstände (z.B. ein Mangel an Wäsche und Schuhen) macht Reiser depressiv und zu einem schlechten Gesellschafter. Er zieht sich aus der Gesellschaft zurück, schweigt über Ungerechtigkeit und kann mit anderen nicht zufriedenstellend kommunizieren. Seine Begeisterung für die eigenen Gefühle droht zu einem egoistischen Zirkel zu werden, den kein anderer durchbrechen will oder kann. Die Empathie, die Stärke des Empfindsamen, nutzt Anton ausgiebig für seine eigenen emotionalen Erregungen und droht damit zu scheitern. Die reine Adaption melancholisch machender Emotionalisierungstechniken zu ihrem Selbstzweck veranlasst den Erzähler zu dem Urteil, bei Anton handle es sich um einen Hypochondristen und nicht um einen genuinen Melancholiker: So war Anton nun in seinem dreizehnten Jahre, durch die besondre Führung, die ihm die göttliche Gnade, durch die auserwählten Werkzeuge hatte angedeihen lassen, ein völliger Hypochondrist geworden, von dem man im eigentlichen Verstande sagen konnte, daß er in jedem Augenblick lebend starb.215
Zugleich belegt das Zitat, dass in dieser Neigung auch sein Talent enthalten sei, welches sich Reiser zunutze machen könnte. Diese besondere Sensibilität des Protagonisten für Empfindungen gilt es in seine Stärke umzusetzen. Karl Philipp Moritz’ Werdegang zum Erfahrungsseelenkundler dokumentiert dies im übertragenen Sinn. Der Bericht von Reisers Entwicklung hebt besonders die Literatur und das Theater als die Quellen hervor, an denen Reiser seine Empfindungen studiert und zu deuten übt. Wie zu zeigen sein wird, entwickelt er sich nicht zu einem Hypochonder aufgrund der Literatur, die er liest, sondern weil ihn seine religiöse
213 214 215
Vgl. ebd., S. 283. Vgl. Müller: Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis (wie Anm. 149), S. 340. Vgl. Moritz: Anton Reiser (wie Anm. 138), S. 158.
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Prägung zur melancholischen Identifikation mit Leidenden und zur gesteigerten Selbstbeobachtung verleitet. Lothar Müller hat die Unterschiede zwischen Hypochondristen und Melancholikern genauer erläutert und den Hypochondristen zu einer Neuerscheinung des 18. Jahrhunderts ernannt, die im Gegensatz zum Melancholiker nicht am Leben selbst leide, sondern an einer zu lebhaften Einbildungskraft.216 Der Hypochondrist überstrapaziert die empfindsame Perfektionierungsidee, indem er die Beobachtung seines Inneren vor deren Zwecke stellt. Er ist nicht somatisch krank zu nennen, sondern einfach ein Dilettant, während der wahre (humoralpathologisch gesehene) Melancholiker tiefsinnigen Gedanken nachhänge. Dem Dilettanten werde aus diesem Grund auch nicht die Sphäre des Erhabenen zuteil, die die Melancholie-Tradition im Zeichen des Saturns einschließe.217 Der Hypochondrist muss auf die ruhmvollen Seiten des Melancholiker-Daseins verzichten. Sein (Fehl-) Verhalten macht ihn zum Lächerlichen und Naiven. Der Jugendliche Anton besitzt sowohl melancholische als auch hypochondrische Züge. Er führt die für das Jahrhundert typische Entwicklung des religiösen Melancholikers zum empfindsamen Hypochondristen exemplarisch vor. Als Hypochondrist stillt Reiser sein Bedürfnis nach gesteigerter Einbildungskraft mit Lektüre. Diese findet er in den neuen Leihbibliotheken, wo Anton sich in Fülle wie ein Morgenländer an Opium bediene.218 Der psychologische Roman betont die Gefahr einer seelischen Erkrankung, die vom imaginierten, hypochondrischen Leiden ausgehe. Die persönliche Neigung, die konditionierte Abhängigkeit von der synthetischen Erschaffung melancholischen Leidens, kann Reiser nur schwerlich unterdrücken.219 Zugleich bietet sie ihm Hilfe im Entwicklungsprozess des ansonsten benachteiligten jungen Mannes. An Reisers Beispiel werde Lothar Müller zufolge deutlich, dass der Hypochondrist am historischen Schnittpunkt zweier symbolischer Ordnungen, der Religion und der Literatur, stehe.220 Es sind die Transformationsprozesse (Ästhetisierung, Säkularisierung und Autonomisierung), die in beiden Systemen stattfinden und die den Hypochondristen in dieser Form hervorbringen. Da die Melancholie ihren originären Status als Temperament verloren hat und zum gesellschaftlichen Phänomen, einer Frage des Geschmacks geworden ist, kann sie auch laienhaft adaptiert werden. Sich als Empfindsamer sanfter Melancholie hinzugeben, wird zu einem gepflegten Verhaltensideal, einem noch konventionell akzeptierten Habitus. Reiser lebt eine solche Entwicklung vom religiösen Melancholiker zum selbstgewählten, empfindsamen Hypochonder vor. Er spiegelt dem Leser diese Transfor-
216 Vgl. Müller: Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis 217 Vgl. ebd. 218 Vgl. Moritz: Anton Reiser (wie Anm. 138), S. 255. 219 Vgl. ebd., S. 489. 220 Vgl. Müller: Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis
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(wie Anm. 140), S. 91.
(wie Anm. 149), S. 101.
mationsprozesse deutlich an seinem immer freizügiger werdenden Umgang mit Emotionen und deren Quellen wider. Reiser beginne der religiösen Ordnung zu entwachsen, ohne dabei in der anderen sein „Gleichgewicht der Ideen“ wahren zu können, so Müller.221 Dem rückblickenden Anton werde die kindliche Frömmigkeit zu einem Stoff, dem er sich mit der Struktur ästhetischer Identifikation nähere.222 Der Jugendliche erweitert diese Techniken nur, um sie als Stimulans seiner Kunstproduktion und Empfindungserlebnisse zu verwenden. Damit ist Reiser der „symbolischen Ordnung der religiösen Selbstdeutung“ früh entwachsen. Der Vergleich zwischen dem „Seelendrama des Religionisten“ und der „Lektüre des profanen Lesers“ beginnt schon in der Kindheit.223 Die Lektüren des Kindes wie die des Jugendlichen weisen auf den Wandel von ihrer religiösen Funktion zu ästhetischem Leseinteresse hin.224 Die Inhalte, die dabei verhandelt werden, sind Reiser oft gleichgültig oder nicht nachvollziehbar. Auf die Evokation von Stimmungen kommt es ihm allerdings sehr an. Aus der Seelenbildung des melancholischen Kultivierungsprogramms der Jahrhundertmitte wird eine Geschmacksbildung und emotionale „Elektrisiermaschine“.225 Ehemals religiöse Emotionalisierungstechniken werden in neue ästhetische Erlebnisse eingebunden. Karl Philipp Moritz problematisiert im Anton Reiser diesen Prozess der Ästhetisierung und zeigt ihre Umsetzungen in Reisers Gedichten bzw. ihre Tragweite für die individuelle Persönlichkeitsfindung.226 Entgegen Lothar Müller möchte ich allerdings betonen, dass es dem psychologischen Roman nicht allein darum geht, von den (emotionalen) Unsicherheiten des Protagonisten zu berichten, sondern auch Reisers Weg aus dieser Instabilität durch die Bewusstwerdung seiner selbst anhand von Emotionen wie Melancholie anzuzeigen. Dass die Erzählung nicht in einem gänzlichen Erfolg für Anton Reiser endet, stellt diese Sichtweise meines Erachtens nicht in Frage. Wenn der Erzähler resümiert, Reiser habe in seiner Jugend begonnen, unter Poesie zu leiden227 und er habe „Anfälle von Poesie“ gehabt,228 dann ist damit doch eigentlich gemeint, dass er an Literatur leidet, weil sie ihm etwas aufzeigt, „was bei vielen Menschen ihr ganzes Leben hindurch, ihnen selbst unbewusst, und im Dunkeln verborgen bleibt, weil sie Scheu tragen, bis auf den Grund und die Quelle
221 Vgl.
ebd., S. 101.
222 Vgl. ebd., S. 239. 223 Vgl. Müller: Die
Erziehung der Gefühle im 18. Jahrhundert (wie Anm. 140), S. 12: „Der Roman findet schon in der Kindheit des Helden Motive für seine zentrale analytische Operation: er findet Gefühle und Empfindungen als Effekte ästhetischer Strategien, die er als solche markieren kann.“ 224 Vgl. ders.: Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis (wie Anm. 149), S. 326. 225 Vgl. ders.: Die Erziehung der Gefühle im 18. Jahrhundert (wie Anm. 140), S. 8f. 226 Vgl. ders.: Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis (wie Anm. 149), S. 240. 227 Vgl. Moritz: Anton Reiser (wie Anm. 138), S. 496. 228 Vgl. ebd., S. 509.
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ihrer unangenehmen Empfindungen zurückzugehen.“229 Die Literatur, die seine Neigung zur Melancholie fördert, wird ihm zu einem Katalysator seiner ‚verborgenen‘ Empfindungen, die es nach Meinung des Erzählers zu bemerken gilt. Der psychologische Roman führt dem Leser diese Entwicklung in ihren Anfängen vor Augen, berichtet aber nicht von ihrer (unmöglichen) Vollendung. Mit der Betonung dieser Leiden durch Poesie unterstreicht der Erzähler nochmals, dass er so viele Berichte von Antons Lektüreverhalten gegeben habe, um diese als genaue Darstellungen seines „inneren und äußern“230 Zustandes zu bieten. Antons Seele hänge an einer Lektüre, die ihm seine Seele bei jedem Lesen gebe.231 Die Literatur sei es, die Reisers „Vorgefühle“ wecke, ihn bisher noch zu „dunklen Vorstellungen von etwas“ anleitet.232 Ähnlich zwiespältig verhält es sich mit Reisers Vorliebe für das Theater. Auch dieses besucht er mit großer Freude. Es ist wie die Literatur für Reiser eine Erweiterung der religiösen Emotionalisierungstechniken, wenn es etwa heißt, dass „das Karthäuserkloster mit seinen hohen Mauern“ plötzlich in den Hintergrund tritt und durch eine „Kulisse mit den Lichtern“ (gemeint ist eine Bühne in Erfurt) verdrängt werden kann.233 Der Erzähler nennt es eine weitere „Betäubung seines inneren Schmerzes, und keine Heilung derselben.“234 Aber nach jedem Theaterbesuch erwacht die Erinnerung an die Demütigungen wieder umso lebhafter. Auch in diesem Fall ist das Schauspiel nicht das Mittel zur Heilung, sondern ein Katalysator seiner Empfindungen, der im Kontrast zur Realität seine Wirkung entfaltet. Beim Anblick der Zwillinge (1776) Friedrich Maximilian von Klingers etwa wird er in seinen „innersten Empfindungen“ berührt und erinnert sich der Augenblicke, in denen er selbst voller Verzweiflung war.235 Diese Erschütterung geht soweit, dass Anton seine starken Empfindungen vor Publikum öffentlich machen möchte und das Scheitern dieses Verlangens ihn zutiefst betrübt.236 Anton wird vom Wunsch getrieben das „wirklich [zu, K.B.] machen“, was bis dahin durch seine Theaterund Lektüreerfahrungen „in seiner Phantasie reif geworden war.“237 Die Beobachtungen, die Reiser an sich gemacht hat, sollen einen Ausdruck bekommen. Unmissverständlich spricht der Erzähler Reiser nun auch jedes Talent zum Dichter oder Schauspieler ab, jedoch weist er mit seiner Interpretation von dessen Leiden durch Poesie darauf hin, dass diese Antons Mangel an Selbstwertgefühlen immer aufs Neue offenbaren: „Wenn nun je der Reiz des Poetischen bei einem Menschen mit seinem Leben und seinen Schicksalen kontrastierte, so war es bei 229 230 231 232 233 234 235 236 237
Ebd., S. 496. Ebd. Ebd., S. 337. Ebd., S. 496f. Ebd., S. 481. Ebd., S. 270. Ebd., S. 379. Vgl. ebd., S. 392f. Ebd., S. 393.
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Reisern, der von seiner Kindheit an in einer Sphäre war, die ihn bis zum Staube niederdrückte, und wo er bis zum Poetischen zu gelangen, immer erst eine Stufe der Menschenbildung überspringen mußte.“238 Mit Hilfe der Literatur gelingt es Reiser, seine „schlummernden“ und ungenutzten Empfindungen, wie „Dankbarkeit“, „Großmut“ sowie „edle Entschlossenheit“, zu aktivieren und sein „schrumpfendes“ Herz zu erweitern.239 Der Beginn seiner eigenständigen Lektüre wird daher als „Zuflucht“240 bezeichnet, die er zur Literatur nimmt. Die „idealische Romanen- und Komödienwelt“241 eröffnet ihm neue Perspektiven. Aus Werken, die über die quietistischen Lehren des Vaters hinausgehen, kann Anton seinen Fundus an Emotionalisierungstechniken und die Phantasie anregenden Stoffen erweitern. Dieser Wandel markiert die Schwelle, die die Figur Reiser aus dem System der Religion in die Literatur nimmt. Er erfährt sie auch wie einen Systemwechsel, der alle kognitiven und emotiven Sinne beschleunigt. Die Lektüre der Night Thoughts wird dabei fast beiläufig erwähnt. Er liest sie wie viele seiner Zeitgenossen als christliche Lehrdichtung, die nach 1770 ihre größte Beliebtheit beim deutschen Publikum verloren hatte. Die Dichtung führt dem jungen Leser die ihm bekannte religiöse Melancholie in weniger orthodoxem, aber zu damaligem Zeitpunkt rhetorisch innovativem Stil vor Augen. Das Werk sei ein Spiegel seiner Seele gewesen, kommentiert der Erzähler; Anton Reiser sieht seine Empfindungen darin bestätigt. Er vertieft seine eigenen Melancholie-Transformationen mit Hilfe der Night Thougths und verfeinert durch sie den Ausdruck seiner empfindsamen Melancholie.242 Er lernt aus ihnen einmal mehr, die Sterblichkeit zu einem der bewegendsten Stoffe seiner emotionalen Selbstbeschäftigung zu machen.243 Edward Young allerdings wird bald überholt. Wie auch bei historischen Persönlichkeiten dieser Zeit, Goethe oder Herder beispielsweise, werden die Night Thoughts im Sturm und Drang von einem progressiveren Umgang mit Melancholie abgelöst. Während die religiösen Techniken der Selbstaffektion mit neuen Lesestoffen bereichert werden, wird auch das religiöse Leben Reisers literarisiert. Als der Greis zum Beispiel den jugendlichen Reiser noch einmal zu seinem religiösen Entwicklungsstand befragt und ihn ermahnt, neben dem Studium das Gebet nicht zu vergessen, wirft sich Reiser auf die Knie und betet mit ihm.244 Der Besuch dokumentiert Reisers Schwanken zwischen frommer Ergriffenheit und Selbstbetrug, wenn er mit Wehmut an seine kindlichen Empfindungen bei religiöser Entzückung denkt. Anton will in diesen Zustand der Naivität zurückkehren, unterschätzt aber 238 Ebd., S. 497f. 239 Ebd., S. 238. 240 Ebd., S. 261. 241 Ebd., S. 290. 242 Vgl. ebd., S. 305. 243 Vgl. ebd., S. 306. 244 Vgl. ebd., S. 235.
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seine Bereitschaft zu religiösen Überzeugungen. Der Erzähler bewertet dieses Verlangen Reisers als eine Einbildung der frommen Seele. Sie befinde sich in einer „romanhaften Handlung“ von Trennung und Nähe zu Gott. Reiser sehe sich als Figur in einem fiktiven Konflikt mit diesem. Die pathetische Vorstellung vom Dasein eines literarischen Helden gebe dem Frommen eine erhabene Empfindung, die die Seelengeister nicht lähme, sondern ermuntere.245 Der quasi-religiöse Konflikt Antons wird vom Erzähler als eine Form der ästhetischen Fehlorientierung bewertet. Jedoch bietet ihm diese emotionale Erschütterung wie so oft neue Einbildungskraft. Der scheinbare Neubeginn religiöser Ernsthaftigkeit ist oberflächlich, denn „mit dem eigentlichen Fromm sein oder dem beständigen Denken an Gott wollte es demohngeachtet nicht mehr recht fort.“246 Die Motivation, die Anton aus seiner Einbildungskraft schöpft, ist größer als sein Wille zum Gebet. Die Lektüre der Bibel und quietistische Phantasie wird ihm zu einem quasi-körperlichen Genuss, den er sich selbst bereitet, jedoch keine Erbauung im konventionellen Sinn. Auch der Tod des befreundeten Greises ist ihm eine Erzählung, an der er sich entzückt. Die religiösen Begriffe Gott, Tod oder Erbauung ersetzt Anton allmählich durch literarische: Roman, Drama oder Poesie. Ebenso verhält es sich mit der gesellschaftlichen Kultivierung von Melancholie im Dienst der Moral. Das empfindsame Perfektionierungsprogramm durch Melancholie ist dem Jugendlichen bekannt. Er träumt sich, wenn er eine neue Phantasie von sich verfolgt, moralisch in die Pflicht genommen.247 Jedoch genießt Reiser in diesem Fall die emotionale Erregung, statt daraus eine Veränderung seines Verhaltens abzuleiten. Anton lernt allmählich anhand der empfindsamen Emotionscodes, seine Persönlichkeit zu formulieren. Wolf Gerhard Schmidt, der nicht nur in der Wertherund Shakespeare-Lektüre Reisers, sondern auch in dessen melancholischem Selbstgenuss eine Stärkung seiner Identität sieht, weist ebenso auf die ossianischen Motive des Erzählers hin.248 Während Interpreten wie Georges-Arthur Goldschmidt und Alo Allkemper die „joy of grief“ als mimetischen Schutzmechanismus249 und „Rettungsversuch“250 aus den Fesseln der Religion und somit als eine „Scheinlösung“251 betrachten, versteht auch Schmidt die Stimmung des Protagonisten als das Resultat menschlicher Autonomie, da Leidensgenuss das Leiden überwindba245 Vgl.
ebd., S. 235f.
246 Ebd., S. 236. 247 Vgl. ebd., S.
282: „Er kam an einem schönen Abend von einem einsamen Spaziergange […] und der Anblick der Natur hatte sein Herz zu sanften Empfindungen geschmolzen, daß er viele Tränen vergoß, und sich in der Stille gelobte, von nun an der Tugend ewig treu zu sein!“ 248 Vgl. Schmidt: „Homer des Nordens“ und „Mutter der Romantik“ (wie Anm. 103). Bd. 2, S. 843. 249 Vgl. Georges-Arthur Goldschmidt: Die beflügelte Wahrnehmung des Leidens. Zu Karl Philipp Moritz’ Roman ‚Anton Reiser‘. In: Text und Kritik 118/199 (1993), S. 4–34, hier S. 26. 250 Vgl. Allkemper: Ästhetische Lösungen (wie Anm. 141), S. 193. 251 Vgl. ebd., S. 142.
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rer mache.252 Die ästhetische Melancholie steigere das Selbstwertgefühl Reisers und könne ihn, bei besseren sozialen Umständen, fordern. In Anlehnung an die Autonomie-Tendenzen im Ossian sei der Ausdruck „joy of grief“ im Anton Reiser ein Zeichen des Totalitätsverlusts und zugleich eine Erinnerung daran, dass ein Vollkommenes rekonstruiert werden müsse.253 Dazu gehört auch die lange Phase der Kontrollversuche religiöser und gesellschaftlicher Erwartungen, die Reiser nicht erfolgreich abschließt, sondern die ihn über die erzählte Zeit hinaus beschäftigen wird. Die Identität Reisers stärkt sich am bewussten Umgang mit Emotionalisierungstechniken, nicht jedoch an ihrem unreflektierten, autonomen Genuss. Der Erzähler weist darauf hin, dass in der sanften Melancholie und ihrem Ideenreichtum eine Bereicherung für die Entwicklung Reisers liege: „Indem er ganze Tage lang seinen melancholischen Gedanken nachhing, nährte sich seine Einbildungskraft unvermerkt mit großen Bildern, welche sich erst ein Jahr nachher allmählich zu entwickeln anfingen.“254 Nicht bevor sich Reisers Vernunft im Heranwachsen gestärkt habe, könne er der Schwärmerei Grenzen setzen und seine Einbildungskraft richtig gebrauchen.255 Aus den Phantasien seien schließlich Meditationen geworden, die Reisers philosophisches Denken begünstigten. Mit dem Beginn des Tagebuchschreibens unternimmt dieser einen weiteren Entwicklungsschritt, der dem Leser und schließlich ihm selbst offenlegt, wie sich seine Phantasiewelt von der Realität scheidet. Wieder urteilt der Erzähler, der Junge müsse erst noch eine andere „Aufmerksamkeit auf sich selbst“ erreichen.256 Mit Shakespeare beginnt eine neue Leseära, die Young übertrifft: „[W]elch neue Welt eröffnete sich nun auf einmal wieder für seine Denk- und Empfindungskraft!“257 Shakespeares Dramen lenken Reiser zum ersten Mal von seinem privaten Horizont ab und schaffen eine Freude, die über seinen Belangen steht. Der Erzähler fügt an, selbst seine Neigung zur Melancholie habe damit eine höhere Qualität erhalten. Die Melancholie werde verfeinert, indem sie selbstlos wird: „[Ü]ber seine äußeren Verhältnisse lernte er sich auf eine edlere Art hinwegsetzten – selbst bei seiner Melancholie nahm seine Phantasie einen höheren Schwung.“258 Mit Shakespeare verbessert Reiser, so die Deutung des Erzählers, die Kontrolle über seinen Gefühlshaushalt und lernt zugleich, sich „über seine äußern Verhältnisse“ hinwegzusetzen: „Nachdem er den Shakespeare, und so wie er ihn gelesen hatte, war er schon kein gemeiner und alltäglicher Mensche mehr – es dauerte auch nun nicht mehr lange, so arbeitete sich sein Geist unter allen seinen äußern
252
Vgl. Schmidt: „Homer des Nordens“ und „Mutter der Romantik“ (wie Anm. 103). Bd. 2, S. 835. 253 Vgl. ebd., S. 836. 254 Vgl. Moritz: Anton Reiser (wie Anm. 138), S. 283. 255 Vgl. ebd., S. 300. 256 Ebd., S. 294. 257 Ebd., S. 310f. 258 Ebd., S. 311.
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drückenden Verhältnissen […] empor.“259 In der Entwicklung der Emotionalisierungstechniken sanfter Melancholie ist Shakespeare ein weiterer Schritt, der Reiser stilistisch belehrt: „Daher wurden seine Klagen edler als vorher.“260 Mit der Hilfe von Shakespeare und Werther sei es möglich, das Selbst von allen irdischen Sorgen befreit zu erfahren und zu genießen: „Indes fühlte er sich durch die Lektüre des Werthers, ebenso wie durch den Shakespeare, so oft er ihn las, über alle seine Verhältnisse erhaben. […] Was Wunder also, dass seine ganze Seele nach einer Lektüre hing, die ihm, so oft er sie kostete, sich selbst wiedergab!“261 Die Distanz zum eigenen Leiden bringt Anton zuerst sich, die Freude darüber und auch soziale Kontakte zurück. Diese ästhetische Schulung seiner Empfindungen anhand von Lektüre mache Reiser geistig freier. Die gemischte Empfindung, die Anton bei der Lektüre etwa von Romanen erlebt, ist als ein positives Gefühl markiert, das er als eine Ausdehnung und Einschränkung im gleichen Moment erfährt. Dem schließe sich eine sonderbare Art von Wehmut an. Wie kein anderer Autor hat Moritz diesen Mechanismus der sanften Melancholie umschrieben und, um ihn zu zelebrieren, zur herausragendsten Fähigkeit seiner Titelfigur gemacht. Reiser erfährt darin sich selbst und erreicht zugleich in emotionaler Weise die Grenzen seiner Selbsterfahrung. Anton kommt schließlich zur Werther-Lektüre, die in der Entwicklung aller bisher durch ihn herangezogenen Melancholie-Lektüren den letzten Schritt im Roman einnimmt. Werther kündigt die bis zum Zeitpunkt der Lektüre modernste Auseinandersetzung mit autonomen Empfindungen an. Doch in den Augen des Erzählers begeht er eine Fehllektüre des Textes.262 Er entscheidet sich für ein identifikatorisches Lesen, das die Vorrede zu wünschen scheint. Reiser kann die Emanzipation von empfindsamer Melancholie noch nicht vollziehen und hält Werthers Empfindungen für kompatibel bzw. deckungsgleich mit seinen eigenen. Das Buch ersetzt ihm einen empfindsamen Freund.263 Es seien auch hier die Empfindungen, die der Text vermittle, die ihn besonders angesprochen hätten. Allerdings ist Reiser Werthers Liebe zu Lotte gleichgültig bis weitgehend unverständlich.264 Wieder wird, wie zu Anfang in der erbaulichen Lektüre, der Text mehrfach gelesen und zu
259 Ebd., S. 312. 260 Vgl. ebd., S.
312: „[D]ie Lektüre von Youngs Nachtgedanken hatte dies zwar auch schon gewissermaßen bewirkt, aber durch den Shakespeare wurden auch Youngs Nachtgedanken verdrängt – der Shakespeare knüpfte zwischen Philipp Reisern und Anton Reisern das lose Band der Freundschaft fester.“ 261 Ebd., S. 337. 262 Die Erzählung vom Scheitern eines Werther-Dramas auf der Bühne, den komischen Versuchen des Schauspielers, sich das Leben zu nehmen, markiert die identifikatorische Werther-Lektüre als eine Fehllektüre und zeigt die Distanz des Erzählers zur empfindsamen Verklärung des Romangeschehens. Die Episode weist ferner auf die schmale Grenze des pathetischen Leidens (bei Reiser und Werther) zur Farce hin. 263 Vgl. ebd., S. 336. 264 Vgl. ebd., S. 335.
272
einer „Bibel der Melancholie“ stilisiert.265 Die Form des Romans und seine medialen Möglichkeiten als emotionalisierender Text übertreffen die Einzelheiten der erzählten Handlung deutlich. In Goethes Werther findet Reiser eine literarische Auseinandersetzung mit der Autonomie der Leidenschaften, bevorzugt einer Leidenschaft der Melancholie, sowie die freizügige Funktionalisierung von ehemals religiösen Emotionalisierungstechniken. Das bedingungslose Fühlen, dem sich Werther verschreibt, das Leben als Traum, ist eine Liebeserklärung an die eigenen Empfindungen, die auch er teilen kann. Darüber hinaus wird in Goethes Werther die Legitimation unmoralischer, starker Gefühle diskutiert, die Reiser und dessen freie Funktionalisierung von tradierten Emotionalisierungstechniken betrifft. Das Erscheinen des Siegwart-Romans,266 der aus der Sicht des Werther-Lesers die Melancholie noch einmal in die Grenzen empfindsamer Moral zurückführen will, wird im Roman zu einer Episode, die angibt, dass Reiser zwar die Anforderungen an eine empathische Lektüre kennt und sie gerne vollziehen möchte, doch nicht mehr hinter die Erfahrungen der Werther-Lektüre zurücktreten kann.267 Allerdings liefert der Roman einen Ausdruck für Reisers Verhalten, der oft bei seinen Spaziergängen „siegwartisiere“, indem er die melancholische Verfassung durch bestimmte Techniken zu evozieren suche. Wie Siegwart lockt Anton unter anderem der Anblick des Klosters, das ihm ein Sinnbild seiner Wehmut wird. Siegwarts Geschichte enthält in Versatzstücken die Emotionalisierungstechniken, die Reiser bereits bekannt sind, bzw. Siegwarts Leben, den Tod der Geschwister und das Sehnen nach einem Wiedersehen nach dem Tod entsprechen Reisers Erfahrungen.268 Der Roman vermittelt diesem ein weiteres jugendliches Vorbild des schwärmerischen Empfindsamen, der sich in religiösen Vorstellungen ergeht und seine Wehmut anhand von Kunstgegenständen und Betrachtungen gezielt herbeiführt. Dass Reiser sich bei der Siegwart-Lektüre besonders langweilt, spricht dafür, dass er in ihm nichts Neues findet und Siegwarts Schwärmen für religiös verklärte Melancholie keinen neuerlichen Anreiz mehr bietet. 265 266
Vgl. Müller: Die Erziehung der Gefühle im 18. Jahrhundert (wie Anm. 140), S. 14. Vgl. ebd., S. 388 „[S]o pflege er oft des Abends im Mondschein hinauszugehen, und auch wohl mit unter ein wenig zu siegwartisieren, ohne doch den Siegwart gelesen zu haben, der erst ein Jahr nachher erschien.“ 267 Während Werther sich das Leben nimmt, geht der unglückliche Siegwart ins Kloster. 268 Vgl. Miller: Siegwart (wie Anm. 96), S. 11f.: „Oft lag er an der Quelle, die durch Tropfstein und Moos und niederhängendes Gras am Berg herabmurmelte; da fühlte er ein ungewohntes Sehnen und eine nie empfundene Wehmuth in der Seele; mit glänzenden Augen ging er weg, drückte jeden Bauernjungen, der ihm begegnete, die Hand stärker […]. Oft ging er an das Grab seiner Mutter […] und weinte da. […] Noch lieber hörte er die Nachtigall des Abends, wann die Blumen und die Aepfelblühten süßer düfteten, und alles stille war, und der Mond herabsah. […] Da dachte er oft an seinen Bruder, der vor vier Jahren gestorben war, […], da vergaß er oft sich und die ganze Welt […] wo er wehmüthig saß und nichts sprach. Nach dem Abendessen lag er wieder unter seinem Kammerfenster, hörte bis um Mitternacht der Nachtigall zu […] und träumte sich im Schlaf in paradiesische Gegenden zu seinem Bruder.“
273
4.2.3 „Ein schönes Nachtstück“ und die Klimax des Romans in der Todesbetrachtung Neben der Lektüre werden der Anblick der Natur und Spaziergänge bei Mondschein zu den Gelegenheiten, bei denen Reiser melancholische Gefühle am besten evozieren kann. Sein Verhalten dokumentiert das Empfindsamkeitsphänomen der melancholischen Selbstbetrachtung in einsamer Natur. Häufiges Thema ist dabei der Tod und ein mögliches Sein danach. Wie Lothar Müller bestätigt, ist die Häufigkeit, mit der das memento-mori-Motiv im Roman auftaucht, ein Indikator dafür, dass die Bedrohung des Lebens durch den Tod zu einem elementaren Thema für Reiser geworden ist. Zugleich lasse sich durch das Schweigen des Erzählers über eine mögliche Lösung dieser Bedrohung zeigen, dass die Problematik des Todes Erzähler, Figur und Autor am stärksten miteinander verbinde: „Die gedankliche Bewegung, die vom memento-mori ausgehend das denkende Ich in sich selbst stabilisiert, [sei, K.B.] das Urmodell der ‚Resignation‘ im Moritzschen Sinn.“269 Die Konzentration auf die Todesbetrachtung und ihre Emotionalisierungstechniken verbinden Moritz’ Anton Reiser mit der kontemplativen Todesmeditation. Während in der religiösen Lyrik der Totalitätsanspruch der welterklärenden Religion noch gegeben war, hat er sich bis zu Reisers Lektüreerlebnissen im Teenageralter verflüchtigt. Das Problem des Todes, seine zwiespältige Faszination und die Literatur darüber bestehen dennoch weiter. Die Religiosität der Eltern, die früh gestorbene Schwester und die Krankheiten im Kindesalter haben ihr Übriges zum Todesbegriff Reisers getan. Die Todesbilder, die zur Sprache kommen, sind aus diesem Grund nicht allein durch intertextuelle Bezüge zu Ossian oder Young gegeben, sondern verweisen auf eine lange Tradition der älteren Todesmeditation.270 Auch ist die Verbindung von Todeserlebnissen und Melancholie in Literatur keine allein ossianische Qualität.271 Reiser, der mehrfach mit dem Tod konfrontiert wird, muss einen Umgang mit dieser unbekannten Größe finden, ohne dabei auf die Erklärungs- und Verhaltensstrategien der Eltern und der ihn umgebenden Gesellschaft zurückzugreifen.272 Das 269 Vgl. Müller: Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis (wie Anm. 149), S. 270 Vgl. Schmidt: „Homer des Nordens“ und „Mutter der Romantik“ (wie Anm.
296. 103). Bd. 2, S. 840. Die Erfahrungen von Tod und Einsamkeit im Anton Reiser seien vorwiegend ossianisch textualisiert. 271 Vgl. ebd., S. 841. Schmidt sieht eine wesentliche Parallele zwischen Ossian und Moritz in der Gemeinsamkeit von Todeserlebnissen und Melancholie. 272 Vgl. Allkemper: Ästhetische Lösungen (wie Anm. 141), S. 93: „Das Fazit ist: die positiven religiösen Antworten sind für Moritz keine Mehr, doch die Fragen bestehen verwandelt weiter; um das Bild Marx’ zu gebrauchen: ‚Die Kritik hat die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt, nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche.“ Moritz trägt die phantasielose, trostlose Kette, sie macht ihm zu schaffen, er formuliert Ansätze, sie abzuwerfen, aber er tut es theoretisch und praktisch nicht. Die Gründe dafür, politisch-soziale, individuelle sind zahlreich, vielleicht ist einer auch die unbestimmte Ahnung, die über die ‚gebrochene Blume‘ hinausreicht.“
274
nächtliche Friedhofserlebnis, das er vor seinem Entschluss zum Schauspielerdasein hat, stellt den Protagonisten symbolisch in die Tradition der Todesmeditation und konfrontiert ihn mit dem Verlust der religiösen Orientierung. Das Traumerlebnis, zu welchem Reiser diese Wanderung wird, ist der erzählerische Höhepunkt des Romans, indem Traum und Phantasie, Todesangst und Aufbruch ins Leben, Orientierung und Orientierungslosigkeit sich für Anton vermischen. Der Ausgang der Episode illustriert außerdem, dass Reiser sich noch immer auf der Schwelle zwischen einer alten Ordnung der melancholischen Todesmeditation (der nebelumwobenen Nacht) und einer neuen Zielsetzung (dem anbrechenden Tag) befindet. Zwei Raben haben Reiser gegen Abend auf den Kirchhof eines Dorfes geführt. Sie sind die ersten Indikatoren dafür, dass die folgende Szene eine eigene allegorische Dimension besitzt. Reiser ist auf der Flucht vor dem Spott seiner Mitschüler. Der Friedhof entspricht den kleinen, verwinkelten Friedhöfen der älteren Friedhofsliteratur. Er gehört mit seiner unansehnlichen Kirche und den überwucherten Gräbern einer älteren Ordnung an.273 Der Erzähler bezeichnet die Szenerie später als „schönes Nachtstück“, analog zu den literarischen Nachtstücken der kontemplativen und melancholischen Literatur (vgl. A Night-Piece on Death von Thomas Parnell). Im Rückblick wird klar, dass Reiser dieses Erlebnis nicht nur ästhetisch als literarisches Nachtstück eingeordnet hat, sondern die religiösen Techniken damit auch durchschaut und überwindet. Während dieser Friedhof mit dem „Winzigen und Kleinen“ von Reiser assoziiert wird, steht ihm später eine große und weite Friedhofsmauer vor Augen. Das Motiv der Weite und Enge wird an dieser Stelle wieder aufgenommen, mit dem der Erzähler zuvor bereits Reisers Neigung zur gemischten Empfindung erklärt hatte. Der alte Friedhof ist Ausdruck des einengenden Todes im „dumpfen Sarg“. Alle Phantasien Reisers laufen plötzlich auf diesen Fluchtpunkt zu. Die Sprache des Erzählers nähert sich der erlebten Rede an und bildet die Gedanken Reisers ab: „[D]as Ende aller Dings schien ihm in solche eine Spitze hinauszulaufen – der enge dumpfe Sarg war das letzte – hierhinter war nun nichts mehr – hier war die zugenagelte Bretterwand – die jedem Sterblichen den fernern Blick versagt“.274 Vor Anton stellt sich die „zugenagelte Bretterwand“275 seiner phantastischen Bühne auf, für deren Hintergrund er keine Erklärung hat. Zum ersten Mal befällt ihn ein starkes Gefühl, das der Melancholie ebenbürtig ist und diese verdrängen kann: Er empfindet Ekel, der ihn vom Kirchhof vertreibt. Statt einer religiösen Beseligung in Gedanken vom ewigen Leben fühlt Reiser bei diesem allegorischen Anblick der Friedhofsliteratur abstoßenden Ekel. Übertragen auf seine kindlichen Erfahrungen mit der Todesmeditation flüchtet Reiser bewusst vor dem Schrecken, den eine solche Konzentration auf Vernich273 Vgl. 274 Vgl. 275 Vgl.
Moritz: Anton Reiser (wie Anm. 138), S. 403. ebd., S. 404. ebd.
275
tung und Vergänglichkeit haben kann. Der Friedhof als Ort der empfindsamen Idylle oder der wehmütigen Verklärung des Todes ist mit dieser Flucht aufgehoben. Aus der bedrängenden Vorstellung vom Winzigen und Kleinen, die die religiösen Vorgänger in einer erhabenen Vorstellung vom ewigen Leben aufgelöst hatten, kann sich Anton Reiser durch den Anblick der Gräber nicht befreien.276 Die von ihm lange kultivierte empfindsame Todesmeditation wird plötzlich in kurzen, präzisen Gedanken des Protagonisten, wie in einer plötzlichen Erhellung seiner Seele, abgelehnt: Das Grab ist das enge Haus, der Sarg ist eine Wohnung, still, kühl, und klein – Kleinheit erweckt Leerheit, Leerheit erweckt Traurigkeit – Traurigkeit ist der Vernichtung Anfang – unendliche Leere ist Vernichtung. – Reiser empfand auf dem kleinen Kirchhofe die Schrecken der Vernichtung.277
Zum ersten Mal wendet sich Reiser gegen die Vernichtung und Tötung seiner Persönlichkeit, macht einen gedanklichen und dann einen aktiven Rettungsversuch, indem er flüchtet. Der Erzähler kommentiert, dass nun plötzlich aller Lebensüberdruss bei ihm verschwunden sei. Seine Seele soll neue Ideen hervorbringen, damit seine Identität gerettet werden kann.278 Schon das freie Wandern im Korn bei Mitternacht erfüllt ihn danach mit Freude.279 Reiser gelangt in der Morgendämmerung zu einer hohen und langen Friedhofsmauer, die ihm diesmal den Weg in den Kirchhof versperrt und die Möglichkeit zur (geographischen) Orientierung bietet.280 Er gelangt aus der surrealen Welt zurück nach Hannover. Die Nachtwanderung habe eine Veränderung in seinem Gedankensystem hervorgebracht.281 Beispielsweise beginnt er auf seinen späteren Wanderungen seine Entschlüsse mit einem „Selbstgefühl“282 durchzusetzen. Ein solches Erlebnis führt nicht stringent zu einer vollkommenen Lebensumwandlung, aber es wird zu einer hilfreichen Etappe in der psychologischen Entwicklung des Anton Reiser. Der Umgang mit empfindsam kultivierter Melancholie weist Reiser gegen Ende des 18. Jahrhunderts als einen Heranwachsenden aus, der durch die Transformationstendenzen der Zeit in Form von Autonomie im Umgang mit Emotionen und Säkularisierung von Erhabenheitserlebnissen seine Fähigkeiten entwickelt. 276
Vgl. ebd.: „Das Dorf mit dem Kirchhofe war ihm ein Anblick das Schreckens, so lange er es noch hinter sich sahe – auf dem Kirchhofe war ihm ein sonderbarer Schrecken angewandelt – was er so oft gewünscht hatte, schien ihm gewährt zu werden, das Grab schien seine Beute zu fordern, und noch stets, so wie er flohe, hinter ihm seinen Schlund zu eröffnen. […] Was ihm aber auf dem Kirchhofe den Gedanken des Todes so schrecklich machte, war die Vorstellung des Kleinen.“ 277 Vgl. ebd., S. 405. 278 Vgl. ebd. 279 Vgl. ebd., S. 405f. 280 Vgl. ebd., S. 406. 281 Vgl. ebd., S. 407. 282 Ebd., S. 457.
276
Dass Anton sich von einer schwärmerischen Melancholie ebenso wie von einer religiösen Melancholie emanzipieren muss, bedeutet nicht das gänzliche Scheitern des empfindsamen Menschen- und Emotionskonzepts, sondern dessen Überholung durch einen progressiven Seelenkundler des Sturm und Drang. Die Entwicklung des melancholischen Emotionscodes unter den Gesichtspunkten der Säkularisierung von Emotionalsierungstechniken, der Ästhetisierung von Erlebnissen und der Autonomisierung des eigenen Fühlens verhilft dem Individuum zu neuen Erlebniswelten, Ausdrucksformen des Innerlichen, relativer Selbstbestimmung, Freiheit und besonders der Legitimation von unkonventionellen Gefühlen.
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Zusammenfassung Diese Studie fragte nach der Gestalt und „zu rettenden Produktivität“1 von Melancholie in englischer und deutscher Literatur des 18. Jahrhunderts. Sie belegte, dass Melancholie nicht per se als Krankheit oder Dummheit abgelehnt wurde, die es medizinisch, psychologisch oder gesellschaftlich zu bekämpfen galt, sondern dass sie auch als positiv verstandenes Emotionsphänomen über Jahrzehnte hinweg Einfluss auf die verschiedensten Lebensbereiche des Menschen nahm. In Religion, Literatur, Landschaftsgestaltung, bildender Kunst oder in der Erziehung konnte die sanfte Melancholie, die Lust an Trauer, eine perfektionierende und erfahrungserweiternde Rolle einnehmen. Sie kam der Stärkung des Individuums zugute, dem durch sanfte Melancholie neue persönliche Erfahrungen ermöglicht wurden, welche wiederum selbst an Bedeutung gewannen. Die „Wonne der Wehmut“ zu empfinden erhielt den Status einer für Charakter und Fähigkeiten wirkungsmächtigen Wahrnehmung der persönlichen Empfindungen, die wie nie zuvor zum Gesamtbild des aufgeklärten Menschen gehörten. Die Untersuchung dokumentierte die Transformation einer religiös perfektionierenden Emotionalisierungsstrategie zu einem ästhetischen Phänomen und schließlich literarischen Topos emotionalen Autonomiestrebens. Die Erfahrung einer sanften Melancholie stand damit für die Subjektivierung und Individualisierung des menschlichen Erlebens im 18. Jahrhundert. Sie war nicht, wie Wolfram Mauser in einem vorläufigen Resümee der Melancholieforschung erklärte, allein der tragische Ausdruck einer „Handlungshemmung“.2 Zwar sprach sich Mauser auch für einen weniger machtpolitisch als subjektivistisch motivierten Zusammenhang von Melancholie und gestärkter Ich-Konstitution aus, doch er interpretierte sie als Ausdruck und Folge einer Resignation persönlicher Autonomiebestrebungen im Absolutismus. Demgegenüber habe ich den Aspekt der produktiven melancholia generosa betont und die sanfte Melancholie als Beweis der kontinuierlichen, eben nicht resignativen Tendenz einer Individualisierung des ästhetischen, religiösen und privaten Erlebens aufgezeigt. Die gemäßigte Melancholie war nicht der Hemmschuh einer Entwicklung von Individualisierung und Subjektivierung im 18. Jahrhundert, sondern ihr Brennstoff.3 1 2
3
Hartmut Böhme: Kritik der Melancholie und Melancholie der Kritik. In: Ders.: Natur und Subjekt. Frankfurt am Main 1988, S. 258. Vgl. Wolfram Mauser: Melancholieforschung des 18. Jahrhunderts zwischen Ikonographie und Ideologiekritik. Auseinandersetzungen mit den bisherigen Ergebnissen und Thesen zu einem Neuansatz. In: Lessing-Yearbook 13 (1991), S. 273. Der Bürger könne die Widerstände, auf die er in seiner Entwicklung treffe, nicht abbauen und werde melancholisch. Melancholie wird daher eine „Handlungshemmung“ genannt. Hartmut Böhme spricht von einem „wesentlichen Paradox“, dass aus der Geschichte der Melancholie zu lernen sei. Melancholie habe seit der Renaissance nichts mehr mit der klagenden Resignation und handlungshemmenden Apathie zu tun. Der Melancholiker halte sich in Distanz zur gesellschaftlichen Praxis, aber er sei produktiv. Vgl. Böhme: Kritik der Melancholie und Melancholie der Kritik (wie Anm. 1), S. 272.
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Eine gesteigerte Beschäftigung mit Rationalitätsstandards im 18. Jahrhundert verursachte eine gleichzeitige Aufmerksamkeit für Erkenntnis- und Erfahrungsprozesse, die sich der Vernunft entzogen und auch weiterhin entziehen würden. Zu nennen sind vor allem die ‚dunklen‘ Bereiche zwischenmenschlicher Beziehungen, seelischer Befindlichkeiten und religiöser oder ästhetischer Erfahrungen. In diesen Feldern erwünschter oder notwendiger ‚Un-Vernunft‘ konnte die gemischte Empfindung als ein ästhetisiertes und damit konventionell in einer kulturellen Gemeinschaft geteiltes Erfahrungsmuster die Grauzonen, die sich jedem Einzelnen stellten, benennen und weiter erschließen helfen. Mit der sanften Melancholie als einer traditionell inspirierenden und doch grenzgängigen Empfindung gaben Literaten und Theologen Phänomenen wie der Offenbarung einer Religion, dem Sterben eines geliebten Menschen, der Faszination für das eigene Leiden sowie dem anderer einen literarischen Code. Er half, diese Phänomene vermittels eines empirischsubjektivistischen Ansatzes zu verhandeln und zu deuten. In dieser Weise überschrieben Literaten wie Edward Young, Friedrich Klopstock und James Macpherson die zuvor religiös-dogmatischen Erklärungsmuster durch individuelle Emotionserlebnisse. Mit Hilfe sanfter Melancholie wurde die Deutungshoheit wichtiger Ereignisse wie Tod und Offenbarung in die Hände des fühlenden Individuums gegeben. Auch gesellschaftliche oder politische Themen wie Schottlands Widerstand gegen eine englische Vorherrschaft, die aus machtstrategischen oder moralischen Gründen nicht mit rationalen Argumenten in der Öffentlichkeit zu benennen waren, wurden stattdessen im Feld aisthetischer bzw. ästhetischer Wahrnehmungen angesprochen. Mittels der sanften Melancholie, die aus diesem Blickwinkel eine entwicklungs- und erfahrungsstrategische Ausweichbewegung ins Emotionale war, sprach z.B. ein sehnsüchtig Liebender seine Wünsche nach einer zukünftigen Vereinigung mit der Geliebten (in einem Jenseits, vgl. Klopstocks Oden) aus. In einer sozialkritischen Dimension war sie die Unzufriedenheit des Fühlenden mit der Rationalisierung seiner Umwelt, der Standardisierung von Erlebnissen in vernunftgemäße Kategorien. Der literarische Code sanfter Melancholie fungierte als ein ästhetischer Platzhalter für Phänomene, die auf einer rationalen Ebene nicht fassbar waren oder sein sollten. Dieser Vorgang ist mit Novalis’ späterem Wunsch nach einem Romantisieren der Welt vergleichbar,4 blieb aber noch über die Mitte des 18. Jahrhunderts hinaus streng an den sittlichen Regeln der Gesellschaft orientiert. Die sanfte Melancholie trug unter anderem dazu bei, dem Gewöhnlichen (hier Alltäglichen und Intimen) ein geheimnisvolles Ansehen, dem Endlichen (dem Sterben) einen unendlichen Schein (zurück) zu geben. Die produktive Melancholie eignete sich gut zu dieser vielfältigen Ausweichbewegung einiger Diskurse ins Sinnliche, war sie doch schon seit der Antike eine 4
Vgl. Friedrich von Hardenberg: Fragment 105. In: Ders.: Novalis Schriften. Das philosophische Werk in vier Bänden. Hg. v. Richard Samuel. Bd. 2. Stuttgart 1960, S. 545.
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tradierte sinnliche Erfahrungsquelle wichtiger Erkenntnisse. Eine wesentliche Neuerung allerdings stellte der Umstand dar, dass man sie nun verstärkt sympathetisch empfinden konnte, nicht nur, weil es für sie einen literarisch entwickelten Code gab, sondern weil die sanfte Melancholie im Gegensatz zur schwarzen auch sozialisierende bzw. kultivierende Qualitäten haben sollte. Dem nicht allein rational Verhandelbaren wurde mit der Aufwertung sympathetischen Austauschs durch selbige eine Berechtigung und hohe Bedeutung zugesprochen. Als Teil der Kommunikation etablierte das sympathetische Fühlen sanfter Melancholie einen oft tränenreichen, empathischen Weg der Verständigung. Im Verlauf ihrer literarischen Ästhetisierung durch Autoren wie Klopstock oder Macpherson wurde die sanfte Melancholie in verschiedenen Kontexten funktionalisierbar. Weil ihr Emotionscode an unterschiedliche Diskurse (Sterben, Lieben, Nation oder Erziehung) angepasst wurde, entfaltete sie sich zu einem diskursübergreifenden Phänomen, das als Ausdruck guten Geschmacks bald den Status einer verbreiteten kulturellen Gepflogenheit erhielt. Selbst das Reisen orientierte sich an Zielen melancholischer Kontemplation. Sternes Sentimental Journey (1768) ist in parodistischer Weise eine Dokumentation davon, dass man nicht ein Reiseziel, sondern die emotionalen Befindlichkeiten des Reisenden verfolgte. Das Bekennen zur sanften Melancholie ist zum Habitus des empfindsamen Menschen geworden. Frauen wie Männer begeisterten sich für sie und wählten sie als Höflichkeitsgeste in Freundschaftsbeziehungen. Durch dieses Verhalten entstand die Möglichkeit, Privatem und Intimem einen kodierten Ausdruck zu geben. Geschah zunächst die Mitteilung von seelischen Befindlichkeiten und leidenschaftlichen Wünschen nach einem moralisch sanktionierten Code (vgl. Klopstocks Brautbriefe an Meta Moller), so gab diese Übung doch den Weg für autonomere Empfindungsmitteilungen frei (vgl. z.B. Werthers Briefe). Das kulturell verbreitete Phänomen der sanften Melancholie wurde dabei sowohl von einer Säkularisierung von Glaubensinhalten als auch von einer Sakralisierung von Lebensinhalten (z.B. der Literatur durch Klopstock) gefördert. Beispielsweise ging die Unsterblichkeitsthematik aus ihrem dogmatischen Kontext in eine ästhetische Idee künstlerischer Schaffenskraft über. Im Gegenzug wurden ehemals handwerkliche Prozesse von künstlerischem Arbeiten und dessen alltägliche Rezeption in quasi-sakrale Handlungen umgedeutet. Die Night Thoughts Youngs zu lesen war in Johann Arnold Eberts oder Friedrich Klopstocks Augen ein quasi-sakraler Akt. Hinter der Lust an literarischer Trauer stand Thomas Anz zufolge daher nicht nur eine Lust, sondern eine Mischung unterschiedlicher und im Verlauf der literarischen Phantasietätigkeit variierender Lüste.5 Die ersten englischsprachigen Bei5
Vgl. Thomas Anz: Freuden aus Leiden. Aspekte der Lust an literarischer Trauer. In: Wolfram Maurer u. Joachim Pfeiffer (Hg.): Trauer. Würzburg 2003, S. 82.
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spieltexte dieser Arbeit stehen für eine Lust an spirituellen und ästhetischen Erfahrungen in und durch Literatur. Die sanfte Melancholie entwickelte sich aber, wie die Werke Klopstocks und Höltys zeigen, zunehmend zu einer Lust am Selbst. Schon im ‚empfindsamen‘ Stadium der Lust an Trauer konnte sie grenzwertige Erfahrungen wie die Verzückung beim Gedanken an einen gemeinsamen Tod einschließen. Angetrieben durch die Lust an extremen Selbsterfahrungen wurde die sanfte Melancholie aus ihren mäßigenden Reglementierungen befreit und radikalisiert. Goethe und Moritz zeigen in ihren literarischen Werken, wie eine ungebändigte Lust an Trauer die bisher verschwiegenen Untiefen der Seele entdecken und ausmessen helfen konnte. Die Geschichte der sanften Melancholie ist beispielhaft für einen besonders wirkungsvollen Transformationsprozess des 18. Jahrhunderts. Da sie zunächst unter der Legitimität religiöser Moral und den bekannten Emotionalisierungstechniken der Erbauung geführt wurde, konnte sie eine subversive Aufklärung über Sinne und Sinnlichkeit vermitteln, was anders nur schwer und in dieser Breitenwirkung hätte geschehen können. Die sanfte Melancholie gab dem ‚religiösen bzw. moralischen Gefühl‘ ein prominentes und anerkanntes Erscheinungsbild, das dazu beitrug, der aufkommenden Rationalismuskritik eine gesellschaftlich verbreitete Praxis intuitiver Erfahrungsprozesse zur Seite zu stellen. Religiös-empfindsame Verhaltensregeln, die Kontrolle des Affekthaushaltes nach christlichen Normen, bestimmten weitgehend Kunst und Gesellschaft. Die didaktische Poesie beanspruchte Mitteilbarkeit von Emotionen und tat dies auf stilistisch hohem Niveau. Als didaktisches Instrument wurde sanfte Melancholie in Literatur eingesetzt, die sich vor allem der antiken Odenform und der hebräischen Psalmensprache bediente. Texte dieser kontemplativen Melancholie konnte nur schreiben, wer eine klassische Bildung erhalten hatte und mit protestantischer Meditation vertraut war. In ihnen ging es um das Evozieren und Imaginieren von sakralen Räumen und religiösen Sterblichkeitserfahrungen. Illusionen von Laienhaftigkeit und die Betonung der Sinne als Erfahrungsquelle zeichneten diese Lyrik der Superlative aus. Appellativ wurde zur Nachahmung der geschilderten Erfahrungen eingeladen, um die Selbstwahrnehmung des Lesers zu schulen. Youngs Night Thoughts waren den Zeitgenossen das Optimum dieser Dichtung. In einer Kontroverse zwischen rationalistischer Theologie und deistischen Tendenzen entschied sich Young für die sanfte Melancholie als Mittel einer Psychotheologie, die den Unsterblichkeitsgedanken zentral setzt. Darüber hinaus gelang es ihm, sie als Publikationsstrategie zu verwenden, die ihm als Autor europaweit ein breites Interesse einbrachte. Bereits mit Thomas Gray zeichnete sich eine Veränderung in den Formationsregeln des literarischen Codes sanfter Melancholie ab, da in der Betonung der Topoi das Gewicht nun von sakralen Räumen zu Naturwahrnehmungen wechselte. Mildere Kontraste wurden gewählt und die ernste religiöse Melancholie zu einer empfindsamen Wehmut herabgestimmt. Während in England zumeist triviale 281
Imitationen der religiösen Melancholie nach Young folgten, leistete die deutschsprachige Rezeption einen erfolgreichen Transfer durch Variationen des Codes sanfter Melancholie ins Private oder Naturverbundene. Die gemischten Empfindungen, die nicht nur ein Mehr an emotionaler Erregung versprachen, sondern auch Ausdrücke bisher unausgesprochener Phantasien, wurden ihrerseits noch in einem moralischen Kontrollsystem gehalten. Immerhin aber sahen sich Autoren wie Young und Klopstock bereit, den kulturellen Eliten der Gesellschaft, den Gebildeten und religiös Gefestigten den Zugang zu einem nicht vollkommen kontrollierbaren Emotionsphänomen zu öffnen und den Menschen in seiner Widersprüchlichkeit und auch aisthetischen Komplexität zu würdigen. Die Einführung der sanften Melancholie in literarische Erbauungskonzepte war eine Antwort auf die verstärkte Forderung nach der Einbindung von Laien und emotionaler Originalität in Erbauung, die wiederum nur denen gewährt wurde, die bereits über eine vermeintlich ausreichende Vorbildung verfügten. Klopstocks frühe Oden eröffneten ebenso wie die Thomas Grays die Transformation melancholischer Lyrik in Erlebnis- und Naturdichtung nach 1750. Naturmotive ersetzten traditionell religiöse Bilder. Aus religiöser Melancholie wurde eine selbstbeseligende Kraft, die sich das schöpferische lyrische Ich zusprach. Der didaktische Impetus wurde zu einem fakultativen Nachvollziehen und der Subjektivität der sanften Melancholie gaben die Oden weiteren Spielraum. In Klopstocks ‚geistigem Sensualismus‘ wurde der bedürftige Körper zum ersten Mal in seinem Verhältnis zum noch immer höherwertigen Geist bzw. der Seele angedeutet. Als zärtliches Verhaltensideal um 1750 konnte das gemeinsame Fühlen sanfter Melancholie Sehnsucht und Liebe für das Gegenüber zum Ausdruck bringen. Formal bedienten sich Klopstocks Oden der hohen Stillage, aber auch die Prosa empfindsamer Briefe konnte den Code sanfter Melancholie zitieren bzw. wird in Klopstocks Theorie einer „heiligen Poesie“ der literarische Mechanismus der religiösen Emotionalisierungsstrategie sanfter Melancholie im Dienst eines göttlichen Empfindens detailgenau analysiert. Es bleibt unbeantwortet, wie bei dieser technischen Durchdringung von Emotionalisierungsstrategien und ihrer Wirkung ein menschliches Vertrauen in die (göttliche) Authentizität von Empfindungen aufrechterhalten werden konnte. Die sanfte Melancholie zu fühlen, sie deuten zu können, blieb ein Privileg der mittleren und höheren Gesellschaftsschichten. Erbauliche deutsche Prosa nach 1750 belegt, dass in Abhängigkeit von Stand und theologischer Ausrichtungen ein emotives Kultivierungsprogramms eingesetzt oder verworfen wurde. Erneut ist ein vermehrtes Auftreten von appellativen Strukturen, die die Leser zur vermeintlich richtigen Dosis Melancholie anhalten wollen, erkennbar. Die Aufklärung über Empfindungen und damit der Zugang zu Texten sanfter Melancholie wurden denjenigen verwehrt, die einen Mangel an Bildung aufwiesen (z.B. die Landbevölkerung), die die rhetorischen Techniken eines Textes nicht verstehen würden (sogenannte „Romanchristen“) oder die die Autorität der Kirchen anzweifelten (ein 282
Vorwurf der Orthodoxen). Damit zeigt sich, dass die sanfte Melancholie nicht so egalitär wirkte, wie vielleicht angenommen. Den unteren Schichten wurde weiterhin in barocker Manier die Vergänglichkeit der Schönheit und die Hässlichkeit des Todes vergegenwärtigt (vgl. Schubarts Todesgesänge). Mit Ossian wurde schließlich der Wunsch nach natürlichen, nicht reglementierten, unverbildeten Empfindungen laut. Seine Melancholie wurde als eine naturnahe, ‚echte‘ Empfindung des frühen Menschen gedeutet. Die Wahl des Epos geschah nicht zufällig, auch hier finden sich hohe Stillage und formale Ähnlichkeiten mit der älteren englischen Lyrik. Das Epos war die Erbauungsliteratur einer keltischen Gemeinschaft. Von ihm ging ein Erinnerungsappell an die ehemals keltischen Bevölkerungsteile aus, die gemeinsame Identität nicht zu vergessen. Seine Einbettung in die schottisch-englischen Auseinandersetzungen ließ das emotive Kultivierungsprogramm in politische Dienste treten. Die Darstellung der Melancholie als überzeitliches Instrument der sympathetischen Verständigung diente dem keltischen Geschichtsmythos. Zu beachten ist der weitgehende Verzicht auf transzendente Begriffe im Epos, wohingegen die Techniken und Topoi des Codes sanfter Melancholie aus religiösen Texten erneut auftauchen. In hoher pathetischer Stillage, unter Exklamationen und Parallelismen, schickt sich die Sprache des Epos an, das kulturelle Phänomen sympathetischer Melancholie in der Urgeschichte der keltischen Stämme zu verorten. Die Hauptphase der deutschen Rezeption Ossians favorisiert eine ethische wie auch ästhetische Interpretation des Textes. In der Produktion und Rezeption etablierte sich die „joy of grief“ zu einem Garanten origineller und genialer Dichtung. An ihrem Beispiel zeigt sich, wie die sittliche Reglementierung der Empfindungen allmählich durch eine (vermeintlich) der Natur überlassenen emotionalen Balance ersetzt wurde. Aus der kollektiven Anwendung sanfter Melancholie in moralischen und religiösen Erziehungs- und Reglementierungskonzepten wurde nach 1760 mit Hilfe der im Ossian säkularisierten und ästhetisierten Melancholie ein zunehmend individueller Genuss. Macphersons Bearbeitung des Themas Melancholie hatte ihr schließlich das literarische Kürzel „joy of grief“ gegeben. Nicht im Zeichen einer göttlichen Vollkommenheit, sondern im jenem der allmächtigen Natur berechtigte sie die einzelne Person zu einem rauschhaften Genuss ohne Zweckrationalität und produktive Ergebnisse. Aber auch die Rückführung des nun ossianisch geprägten Codes in religiöse Kontexte (z.B. durch Jung-Stilling) war möglich und den Lesern der Zeit keineswegs unverständlich. Wie schon im Fall der Night Thoughts fiel auch die Rezeption Ossians in Großbritannien insgesamt weit kritischer aus, während der Transfer in einen deutschsprachigen Kulturkreis ein innovatives Potential der sympathetischen Melancholie freilegte. Goethes Werther demonstriert, wie man im Anschluss an Ossian aus den Reglementierungen der Affekthaushalte auszubrechen versuchte. Die sprachlichen Codes der religiösen und ossianischen Melancholie gegenüberstellend, beschreibt Werther seine eigenen Erfahrungen, die doch in keiner Weise mit der Disziplinie283
rung von Emotionen in Einklang zu bringen sind. Er stellt einen Kontrast der starken Leidenschaften zu konventionell sanktionierten Gefühlszuständen her. Das emotive Kultivierungsprogramm wird in seinen Briefen vorgeführt, enttarnt und gebrochen. Der somit geschärfte Blick auf das Seelenleben des Individuums gab auch seine emotionale Autonomie bekannt. Der zärtliche Ausdruck des etablierten Melancholie-Codes wird dem Protagonisten zu einer engen und plötzlich in unangenehmer Weise anstachelnden Reglementierung seines Gefühlsausdrucks. Die ehemals die Passionsliteratur begleitende Evozierung eines nachempfindenden und synthetischen Leidens wird damit nicht nur Werther sondern auch dem Leser ein bis zum Zerbersten gespanntes Bildarsenal einer darunter pochenden Leidenschaft. Am Beispiel Anton Reisers wird deutlich, dass die Emanzipation der Gefühle aus dem Korsett der verschiedenartig instrumentalisierten und festgelegten Emotionalisierungsstrategien eine Emanzipation des Menschen bedeutete. Reisers Beschäftigung mit sanfter Melancholie ermöglicht ihm neue ästhetische und aisthetische Blickwinkel. Das Phänomen der sanften Melancholie verhalf zu einer Aufmerksamkeit für aisthetische Unregelmäßigkeiten, aus der Potentiale nicht nur für Kunst, wie z.B. im Falle des psychologischen Romans, und Erfahrungsseelenkunde erwuchsen. Im Gegensatz zu Goethes Werther zeigt Moritz die Möglichkeit eines Lernprozesses auf, der sich an eigenen Lektüreerfahrungen orientiert. Stellvertretend für die Leser des 18. Jahrhunderts rekapituliert Anton Reiser die Formationsstufen eines literarischen Codes sanfter Melancholie und überholt auf der Handlungsebene das vanitas-Motiv der Friedhofsliteratur, um seinen eigenen Deutungen von Empfindungen und Außenwelt zu folgen. Der Roman fungiert hier als die Erfindung einer Metasprache im Vergleich zu den oftmals idealisierenden Gattungen Lyrik und Epos. Die formale Distanz der Lyrik zum Alltag stand der freien Rede des Romans gegenüber. Der Roman überraschte mit der detailreichen Ansicht des Phänomens in fiktionalen Alltagssituationen und der Darstellung einer literarischen Kommunikation von Melancholie. Die ausgewählten Texte suggerieren die Qualität eines Zeitzeugen für emotive Kultivierung und ihrer Probleme. Sie thematisieren emotive Bildungswege von Bewusstsein und Teilhabe an Gesellschaft, wobei sie je unterschiedliche Illusionen von Objektivität entwickeln. Die strukturelle Verknappung von Lyrik und Epik wird in ihnen zitiert und in Prosa-Paraphrasen ausgedeutet (vgl. Ossian-Zitat, div. LektüreVorgänge). Für die Entwicklung des kulturellen Phänomens sanfter Melancholie bedeutet dies, dass auch jenes in seiner Funktionalität interpretiert wurde. Erkennbar ist die Notwendigkeit, Emotionalisierungsstrategien zu beachten und zielgerichtet zu gebrauchen. Das durch Ossian prominent gewordene archaische Naturgefühl soll alle synthetischen Formen der Neuzeit ersetzen. Der chronologische Aufbau der Untersuchung war selektiv an der Transformationslinie des Phänomens sanfter Melancholie orientiert. Es ist kein Geheimnis, dass der Kulturtransfer zwischen englisch- und deutschsprachiger Literatur Mitte des 18. Jahrhunderts eine Dominanz des englischen Kulturkreises aufwies. Die 284
Idee, sanfte Melancholie in Lyrik prominent zu machen, war daher aus deutschsprachiger Sicht ein englischer Import. Die Variationen der deutschen Werke darüber sind aber als eigenständige, vollwertige Beiträge von Literatur in einem strukturell andersartigen Kulturkreis zu beachten.6 Die Transferwege des Phänomens sanfter Melancholie sind neben den im 18. Jahrhundert stark vertretenen protestantischen Kirchen7 und ihren Angestellten auch wissenschaftlich arbeitende Übersetzer und Kommentatoren wie Johann Arnold Ebert und Hugh Blair oder der noch schriftstellerisch am Beginn seiner Karriere stehende Friedrich Gottlieb Klopstock. Adlige Hobbyliteraten wie die Grafen v. Stolberg, humanistisch gebildete Frauen wie Elizabeth Carter sowie auch pietistisch geprägte ‚self-made men‘ wie Jung-Stilling und Moritz beteiligen sich an der kulturellen Adaption des Phänomens. Seine Verbreitung erweist sich weniger institutionell gebunden als mit individuellen Rezeptions- und Transformationsprozessen verwoben. Noch stärker zu untersuchen ist, inwiefern die interkulturelle Adaption des Phänomens in Deutschland auf ähnliche oder gemeinsame Wissensbestände und Verbreitungsbedingungen zurückgriff, wie die für England dargelegten. Sicher ist, dass der englische Buchmarkt und das ihn begleitende Pressewesen eine größere und schnellere Verbreitung zuließen, als dies im regional stark unterschiedlichen Deutschland der Fall war. Dass Geschmack und bürgerliche Etikette in England auf einer größeren Ebene zum Auswahlkriterium bei der Lektüre geworden waren, lässt auf ein verändertes Publikum nach 1740 schließen, das sich von einem noch weitgehend erbaulich lesenden deutschsprachigen Publikum mit beschränkterer Auswahl unterschied. Ebenso ist davon auszugehen, dass die überwiegend protestantischen Leser beider Kulturkreise ähnliche Lektüreerfahrungen mit religiöser Meditation gemacht hatten, die es ihnen ermöglichten, die abstrakte Kontemplation von Unsterblichkeit bzw. des Selbst in einem imaginativen Raum zu gestalten. Spekulativ sind bis zu einem gewissen Grad die Gründe, aus denen ebenjenes Phänomen besonderen Anklang fand und was den Selektionsprozess von deutsch6
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Insofern teile ich zwar Paul van Tieghems Annahme, dass eine erste Welle vorromantischer Poesie durch Frankreich und England dominiert wurde, während deutsche Autoren im Kulturtransfer erst später Adaptionen der Texte anfertigten. Da die Veränderung von Formationsregeln der Kunst nun einmal deren Kreativität ausmacht, sehe ich darin keine Geringschätzung der deutschsprachigen Texte nach 1760. Vgl. Paul van Tieghem: Le Préromantisme. Études d’Histoire Littéraire Européenne. 3 Bde. Bd. 1. Paris 1948, S. 71: „Comme cela s’est produit si souvent, le rôle de l’Allemagne a été ici en grande partie de repenser et de creuser des idées venues de France et d’Angleterre ; mais elle a eu le bonheur de posséder, avec un esprit aussi riche et aussi hardi que Herder, un grand nombre de jeunes poètes que ne demandaient qu’à appliquer les idées nouvelles, et dont deux étaient des hommes de génie.“ Die Kirchen und ihre Funktionsträger seien das vielleicht wirkungsmächtigste Transfersystem der europäischen Frühneuzeit, das erst im 19. Jahrhundert hinter andere Systeme wie die Diplomatie zurücktrat. Vgl. dazu Thomas Fuchs u. Sven Trakulhun: Kulturtransfer in der Frühen Neuzeit. Europa und die Welt. In: Dies. (Hg.): Das eine Europa und die Vielfalt der Kulturen. Kulturtransfer in Europa 1500–1850. Berlin 2003, S. 7–24, hier S. 22.
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sprachiger Seite begleitete. Mit welchen kulturellen Angeboten konkurrierte das Phänomen sanfter Melancholie und welche wurden an seiner Stelle in den Hintergrund gerückt? Dies sind makrokulturelle Selektionen, die nicht leicht zu isolieren sind. Eine besondere Rolle in dieser Frage mag Frankreich spielen, denn selten ist ein kultureller Transfer ausschließlich bipolar zu sehen. Der Einfluss Frankreichs oder anderer europäischer Länder musste aus rein pragmatischen Gründen unbeachtet bleiben, ein Blick aber in die frühen komparativen Arbeiten Paul van Tieghems kann darüber Auskunft geben, dass Texte wie Youngs Night Thoughts und Macphersons Ossian in Frankreich zwar ähnlich, wenn auch weniger stark rezipiert wurden, insgesamt gesehen die mit ihnen verbundene Idee einer vorromantischen Poesie aber eine anti-französische Bewegung war.8 Tieghem resümierte beispielsweise, dass die Idee, das Schöne verstehe sich allein durch Gefühl, im cartesianisch geprägten Frankreich nicht denselben Anklang finden konnte wie in der „sentimentalité débordante et larmoyante“ Deutschlands.9 Generell ist zu vermuten, dass es in weiten Teilen ästhetische Aspekte waren, die das bereits anglophile Interesse an sanfter Melancholie auch in deutschsprachigen Ländern steigerten. Ebenso sind emotionale und affektive Faktoren bei der Selektion im Kulturtransfer nicht zu unterschätzen. Offensichtlich fügte sich die kontemplative „Wonne der Wehmut“ sehr gut in das emotional geprägte Einstellungsmuster zur sensualistisch orientierten englischen Literatur ein. Aus zeitgenössischer Sicht nennt Goethe zunächst mentalitätsgeschichtliche Gründe für eine durch englische Literatur inspirierte Lust an Trauer in Dichtung und Wahrheit:10 Ohne zu erkennen, dass es sich bei den meisten englischen Autoren um „Menschenhasser“11 gehandelt habe, die ihr politisches System hervorbringe, seien die deutschen Leser je nach Gemütsart dieser düsteren Literatur gefolgt. Ein weiterer wesentlicher Grund sei der Einfluss Shakespeares gewesen, dessen
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Vgl. Tieghem: Le Préromantisme (wie Anm. 6). Bd. 1, S. 32: „Si la vraie poésie doit éviter l’imitation exagérée des anciens, la superstition des règles, l’idolâtrie du goût et de l’esprit français, il est d’autres sources auxquelles elle doit puiser. C’est d’abord la nature.“ Vgl. ebd., S. 58f.: „En France, quelques-uns hasardent la théorie que le beau s’obtient par le sentiment et non par l’analyse ; mais cette théorie est difficile à faire accepter aux écrivains français, raisonneurs de tempérament et cartésiens d’éducation; la poésie reste à cet égard très en retard sur le roman. En Allemagne, le sentiment et même la sentimentalité débordante et larmoyante sont le trait dominant, d’abord de Klopstock, puis du Göttinger Bund en 1771– 1775, enfin du Sturm und Drang (1773) son contemporain.“ Er führt an, der „Engländer“ müsse über seine „bedeutungsvolle Welt“ früh in Ernsthaftigkeit verfallen, die auch den deutschen Lesern eigen sei. Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: Ders.: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hg. v. Dieter Borchmeyer. Bd. 14. Abt. 1. 3. Teil. Buch 13. Hg. v. Klaus Detlef Müller. Frankfurt 1986, S. 631: „Ernsthaft ist auch der Deutsche, und so war ihm die englische Poesie höchst gemäß und, weil sie sich aus einem höheren Zustande herschrieb, imposant. Man findet in ihr durchaus einen großen, tüchtigen, weltgeübten Verstand, ein tiefes, zartes Gemüt, ein vortreffliches Wollen, ein leidenschaftliches Wirken.“ Ebd., S. 632.
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Hamlet die Melancholie-Rezeption unter jungen Männern bestärkt habe.12 Dass diese Faszination für den Prototypen des melancholischen Jünglings, Hamlet, besonders in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts, also innerhalb der zweiten Transformationsphase sanfter Melancholie, entwickelt wurde, belegte bereits Fritz Brüggemann.13 Im Rezeptionsprozess erkennt man, dass alle Mittel der produktiven Rezeption innerhalb der Transformation sanfter Melancholie ausgeschöpft wurden. Ihre Quellen sind wichtige Bestandteile meiner Analyse gewesen: Übertragungen und Nachahmungen (z.B. durch Crugot und Bahrdt), Kommentare (z.B. durch Blair und Ebert) sowie kulturelle Adaptionen in Lyrik und Prosa (z.B. durch Klopstock, Hölty, Gray und Goethe o. Moritz). Insgesamt gesehen lässt sich die Prominenz und Transformation des Phänomens am deutlichsten an der Lyrik beider Sprachen in der Mitte des Jahrhunderts ablesen. Mikrokulturell betrachtet habe ich daher auf der Textebene die Semantiken der ausgewählten Oden, Elegien und Meditationen, Briefe und Traktate sowie die sich mit ihnen entwickelnden Lektüreformen aufgeführt. Erkennbar ist, dass sich im Laufe der Etablierung eines Codes sanfter Melancholie eine geschmacksorientierte und eskapistische Lektüreform herausbildete, die den Leser geradezu auffordert, Geheimnisse und dunkle Sehnsüchte zu entwickeln. Als weiteres Ergebnis lässt sich festhalten, dass im Besonderen zwei literarische Impulse, Youngs Night Thoughts und Macphersons Ossian, den Transferprozess angeregt haben und sich in beiden Ländern nach ihrem Entstehungszeitraum sowohl triviale Imitationen als auch kreative Adaptionen finden lassen, die den Code sanfter Melancholie bereicherten. Als kreative Zeiträume sind damit circa 1745–1755 und 1760–1775 zu nennen. Deutlich wird, dass die Phasen erhöhter Kreativität, die Paul van Tieghem für die Entwicklung einer vorromantischen Poesie nennt, jenen Hochphasen sanfter Melancholie immer etwas nachgelagert auftreten.14 Dieser Umstand mag als Bestätigung meiner grundlegenden These gelten, dass diese produktive Auswirkungen gehabt habe.
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Vgl. ebd., S. 633: „Genug, jene oben im allgemeinen erwähnten, ernsten und die menschliche Natur untergrabenden Gedichte waren die Lieblinge, die wir uns vor allen andern aussuchten, der eine, nach seiner Gemütsart, die leichtere, elegische Trauer, der andere die schwer lastende, alles aufgebende Verzweiflung suchend. Sonderbar genug bestärkte unser Vater und Lehrer Shakespeare, der so reine Heiterkeit zu verbreiten weiß, selbst diesen Unwillen. Hamlet und seine Monologen blieben Gespenster, die durch alle jungen Gemüter ihren Spuk trieben.“ Vgl. Fritz Brüggemann (Hg.): Die Aufnahme Shakespeares auf der Bühne der Aufklärung in den sechziger und siebziger Jahren. Leipzig 1937. Hamlet ist in der deutschen Bearbeitung von Friedrich Ludwig Schröder zuerst 1776 in Hamburg mit großem Erfolg aufgeführt worden. Vgl. Tieghem: Le Préromantisme (wie Anm. 6). Bd. 1, S. 70: „La plupart de ces témoignages, en négligeant ceux, tout à fait isolés, des précurseurs, se rapportent aux années 1755–1759 et 1770–1774 ; un autre groupe moins important se rencontre à la fin du siècle, de 1790 à 1795. La première époque, capitale dans l’histoire des idées préromantiques, est surtout franco-
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Im Anschluss ergeben sich oftmals epigonale Phasen, in denen wie im Fall Werthers und Siegwarts die gemachten Lektüreerlebnisse wiederum literarisch interpretiert wurden. Das dritte Kapitel der Untersuchung argumentiert, dass die beiden Impuls-Texte Youngs und Macphersons in einem eindeutigen Bezugsgeflecht miteinander standen und die sanfte Melancholie in ihnen einen eigenwilligen aber doch konsekutiven Transformationsprozess durchlaufen hat. Es sollte klar geworden sein, dass in den produktiven Phasen der kulturellen Adaption entscheidende Formationsregeln in der Struktur eines Codes der sanften Melancholie verändert und ihnen neue Bedeutungsspielräume zugeschrieben wurden. Auch ist mir wichtig zu betonen, dass mit diesen Prozessen der kulturellen Adaptionen und damit Transformationen eines bereits kodierten Kulturwissens schöpferische Kreativität formell beschrieben wird, ohne die Leistungen eines Künstlers und Autors zu schmälern. Leider und glücklicherweise gelingt ein solches Vorhaben immer nur näherungsweise. Schließlich bleibt festzuhalten, dass die sanfte Melancholie im 18. Jahrhundert maßgeblich Perfektionierungsstrategie und Selbsterfahrungsquelle des Individuums war. Im Laufe ihrer Geschichte wurde sie vor allem durch Literaten und Philosophen aus dem religiösen Kontext in den moralisch-empfindsamen bzw. ästhetischen Diskurs übertragen. Das System der religiösen Gemeinschaft entwickelte die Emotionalisierungstechniken, in denen die sanfte Melancholie ein göttliches Werkzeug war. Die moralphilosophische Durchdringung dieses religiösen Weltbildes, in dem nun die gemeinsame Basis keine transzendente Macht, sondern ein menschliches Vermögen, die Sympathie, war, führte dazu, dass Perfektionierung und Selbsterfahrung als Aufgaben des Menschen weiter Bestand hatten, aber die Empfindungen in diesem Prozess eine neue Qualität annahmen. Die göttliche Autorität wurde durch diejenige der individuellen Gefühle ersetzt. Dem Individuum verhalf die sanfte Melancholie zu einer aisthetischen und ästhetischen Emanzipationsbewegung. Ihre Entwicklung im 18. Jahrhundert legt dar, wie eine selbstbezügliche Einbildungskraft und ästhetisch kodierte Gefühle das individuelle Dasein neu zu konstituieren begannen. Das perfektionierende Mittel sanfter Melancholie unterstützte den großen Bedeutungszuwachs von subjektiv gemachten Erfahrungen und der Entwicklung eines emotiven, für politische Teilhabe nicht minder relevanten (Selbst-)Bewusstseins.
anglaise. […] Avec Herder nous entrons dans le second moment où s’accumulent les faits et les témoignages: 1770–1774 ; ils est plus spécifiquement allemand.“
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Personenregister Abbt, Thomas 148 Adam, Wolfgang 12 Akenside, Mark 83 Allkemper, Alo 252, 256, 261, 263, 270, 274 Anderegg, Johannes 228, 245 Andree, Martin 228, 231 Anz, Thomas 19f, 22–24, 93, 163, 280 Aquin, Thomas von 29, 70 Aristoteles 25, 36 Ariès, Philippe 29, 40, 86, 93, 108, 112, 239 Athanasiou, Athena 21 Auerochs, Bernd 28, 87 Axelsson, Karl 45 Bahr, Ehrhard 167, 245 Bahrdt, Karl Friedrich 31, 123, 127, 129, 133, 135, 141–145, 287 Balbach, Johann 166 Barnouw, Jeffrey 27, 46 Barnstorff, Johannes 66 Becker, Wilhelm-Gottlieb 13, 217 Begemann, Christian 28, 82 Benzenhöfer, Udo 3 Berend, Eduard 14 Berger, Renate 1 Bernstorff, Henriette von 195 Blackmore, Rirchard 43 Blackwell, Thomas 179 Blair, Hugh 47, 161, 164f., 167, 170, 172, 177–180, 188, 197, 201, 285, 287 Blair, Robert 34, 53f., 69, 84 Bliss, Isabel 67, 69, 72, 75 Böckh, Christian Gottfried 147f., 150– 154 Bodmer, Johann Jakob 117, 148 Bogen, Cornelia 3, 21 Böhme, Hartmut 2, 278 Bohnen, Klaus 118f. Boileau, Nicolas 26
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Borchmeyer, Dieter 15, 31, 64, 225, 286 Bowles, William 191 Boyer, Jean-Baptiste de (Marquis d'Argens) 137 Brady, Emily 5f. Breuer, Ulrich 4, 7 Bronfen, Elisabeth 1 Burke, Edmund 26f., 47, 166, 172, 176–180 Butlar, Adrian von 61 Cameron, Ewan 191 Canguilhem, Georges 17 Carmer, Johann Heinrich von 126 Carter, Elizabeth 30, 35f., 44, 48f., 52f., 56, 58, 60, 285 Caruso, Marcelo 9 Cesarotti, Melchiore 170 Cheyne, George 4 Chignell, Andrew 26, 28 Churchill, Charles 191 Clair, Jean 4 Costelloe, Timothy M. 26f. Cramer, Johann Andreas 67f., 99, 109, 118f., 149 Crugot, Martin 31, 122–138, 141–146, 151, 287 Csengei, Ildiko 23 Cunningham, John 59f., 97, 123 Damrau, Peter 49–52 Defoe, Daniel 52 Dehrmann, Mark-Georg 14, 133 Denis, Michael 165, 189, 191, 198– 200, 215 Dennis, John 27, 36f., 43, 46f., 54, 83f. Denton, Thomas 68 Dickie, George 12 Döring, Heinrich 135 Dubos, Jean-Baptiste 82 Duff, William 191, 201 Dühn, Matthias Hermann 196
Dumézil, Georges 17 Dwyer, John 171f., 180f. Eberhard, Johann August 78, 217, 219 Ebert, Johann Arnold 6, 47, 67, 82–84, 86, 91, 95, 100f., 108, 110–112, 127f., 131, 162, 204, 285, 287 Einem, Charlotte von 207 Ernesti, Johann August 151 Eschenburg, Johann Joachim 200 Espagne, Michael 16 Fairchild, Hoxie Neale 25, 34, 39, 43, 49, 61 Ferguson, Adam 61, 167 Ficino, Marsilio 2, 25, 36, 55 Fielding, Henry 172 Flachsland, Caroline 194f., 247 Flaschka, Horst 227f., 235, 242 Folta, Kristian 23 Forster, Harold 66, 73 Foucault, Michel 17f. Freudentheil, Wilhelm Nicolaus 171 Frevert, Ute 8f., 21 Gaskill, Howard 64f., 168, 190, 262 Gastrell, Francis 73, 75, 79f. Gellert, Christian Fürchtegott 25, 109, 149 Gillies, Alexander 171 Giseke, Nikolaus Dietrich 109 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 12, 99, 148 Godfrey, Thomas 97 Goethe, Johann Wolfgang von 2f., 31, 64f., 69, 160, 165–167, 181, 190, 201, 204f., 212, 222–250, 262, 269, 281, 286f. Goldschmidt, Georges-Arthur 270 Gottsched, Johann Christoph 127 Gottsched, Luise 104 Grabbe, Christian Dietrich Graham, Patrick 173, 176, 178 Gray, Thomas 56, 59, 61f., 83f., 207, 244, 281, 287 Gregory, Jeremy 19
Große, Wilhelm 34 Gründerrode, Karoline von 218 Guntermann, Isabelle 4f. Haapala, Arto 5f. Haefner, Gerhard 34, 68 Hagedorn, Friedrich von 109, 118 Hall, Joseph 37–40, 88 Hall, Mary S. 95 Hallacher, Anja 21 Haller, Albrecht von 165, 187 Halling, Torsten 3 Halteman, Matthew C. 26, 28 Hamann, Johann Georg 2 Hanreich, Georg 59 Hantzaroula, Pothiti 21 Harbsmeier, Martin 24 Hardenberg, Friedrich von 66, 196, 279 Harold, Edmond de 66, 73, 160, 166 Haug, Balthasar 148, 152f. Haugwitz, Christian Heinrich von 195 Heine, Heinrich 14f., 221 Heinse, Wilhelm 216–218 Herder, Johann Gottfried 27, 49, 148, 160, 165, 171, 181, 186f., 190, 192–198, 200f., 203, 218, 220f., 223, 247, 269, 285, 288 Herding, Klaus 21 Hervey, James 30, 43–45, 48, 53f., 56, 59–61, 124, 136–139 Hill, Aaron 42f., 48 Hirschfeld, Christian Cay Lorenz 13 Hitzer, Bettina 9 Hobbes, Thomas 176 Hohenhausen, Elise von 81 Hohmann, Joachim 4 Hole, Richard 191 Hölderlin, Johann C. Friedrich 66, 196, 205 Holm-Hadulla, Rainer M. 3 Hölty, Ludwig 7, 207–211, 287 Home, John 167 Horaz 36, 52, 54 Huber, Martin 22f. Hume, David 76, 148, 150, 167, 170 Hutcheson, Francis 76 315
Ingram, Allan 3 Irlam, Shaun 84 Jacobi, Johann Georg 99, 190, 216, 218 Jahr, Silke 21 Jehl, Rainer 3 Johnson, Samuel 27, 49, 166, 191 Jost, Erdmut 16, 27f. Jung, Sandro 12, 199 Jung-Stilling, Heinrich 212–215, 283, 285 Kaiser, Gerhard 189, 199 Kant, Immanuel 26f., 46 Kasten, Ingrid 20f. Kelly, Gary 7, 52 Kind, John 64 Klibansky, Raymond 1, 6, 10, 33, 36, 61 Klopstock, Friedrich 2, 13, 30, 38, 47, 49f., 65, 99–121, 205, 279 Klopstock, Meta 65, 100f., 107, 110– 112, 114, 116 Klotz, Christian Adolf 191, 198 Koroliov, Sonja 24 Kretschmann, Karl Friedrich 200 Kristeva, Julia 3f. La Roche, Sophie von 27, 217 Laing, Malcolm 170f., 173, 178 Lavater, Johann Caspar 127, 129, 144 Leeuwen, Evert Jan van 38, 70, 97f. Lenz, Jakob Michael Reinhold 165, 190, 201 Lepenies, Wolf 4, 6f. Lessing, Gotthold Ephraim 2, 148, 278 Lichtenberg, Georg Friedrich 239 Liessmann, Konrad Paul 5, 10, 15 Loquai, Franz 7 Lowth, Robert 27, 37, 47, 54, 95 Loyola, Ignatius von 37 Lund, Mary Ann 3 Luther, Martin 29, 70 Löffler, Jörg 224, 240f. Lüdke, Friedrich Germanus 150 Lüsebrink, Hans-Jürgen 16 316
MacDonald, Donald 190 Mackenzie, Henry 160, 167, 172 Macpherson, James 2, 31, 160–185, 186f., 192, 197, 200, 205–207, 210, 226, 244, 247, 262, 279f. Manchot, Carl Hermann 125–127, 141 Manning, Susan 167 Mattenklott, Gert 6 Mauser, Wolfgang 2f., 7, 93, 278 McGann, Jerome 184 Meier, Georg Friedrich 251 Meise, Helga 4 Mellmann, Katja 22, 227f., 236 Mendelssohn, Moses 10, 27, 148, 150 Menninghaus, Winfried 118 Merck, Johann Heinrich 166 Meusel, Johann Georg 126, 135 Meyer-Sickendiek, Burkhard 22 Michaelis, Johann Benjamin 65, 138 Miller, Johann Martin 1, 87, 206, 242, 247, 249, 273 Milton, John 11, 36, 68, 95, 148f., 172 Möckel, Sebastian 24 Monk, Samuel H. 45 Moore, Dafydd 190f. Moritz, Karl Philipp 11, 32, 39, 65, 86, 190, 251–277, 281, 284f., 287 Morris, David 45, 47, 84f. Möser, Justus 63 Müller, Ernst 29, 75 Müller, Lothar 252f., 259, 266f., 274 Munns, Nathanael 59 Nicole, Pierre 34, 41 Norris, John 36 North, Michael 16 Obereit, Jacob Hermann 14, 133 Odell, Daniel W. 75 Ohly, Friedrich 14 Panofsky, Erwin 1, 6, 10, 33, 36, 61 Pape, Helmut 102–104 Parisot, Eric 12 Parnell, Thomas 34, 54, 145, 275 Pascal, Blaise 34, 51, 86, 95
Paster, Gail Kern 23 Patey, Douglas Lane 75f. Paul, Jean 14f., 222 Peper, Jürgen 25 Petersen, Johann Wilhelm 166 Pfeiffer, Joachim 3, 20, 93, 163, 280 Pietzcker, Carl 3 Ponzi, Mauro 3 Pope, Alexander 13, 73, 75–78, 106, 178 Port, Ulrich 22, 41 Price, John Vladimir 177 Pseudo-Aristoteles 25, 36 Rabener, Gottlieb Wilhelm 109 Radden, Jennifer 3 Radick, Johanna Elisabeth 109 Ramler, Karl Wilhelm 13 Raspe, Erich 165 Reinlein, Tanja 111 Richardson, Samuel 43, 49, 51, 71, 100, 107, 172 Rivers, Isabel 76 Rizza, Steve 180 Robinson, Jenefer 24, 192 Rochefoucault, François 95 Roeck, Bernd 11 Rohrschneider, Michael 16f. Rothe, Johann Andreas 109 Rousseau, Jean-Jacques 137 Runckel, Dorothee von 104 Sauder, Gerhard 8, 11, 118f. Saunders, Thomas Bailey 169 Saxl, Fritz 1, 6, 10, 33, 36, 61 Schelling, Friedrich 66 Schiewer, Gesine Lenore 22f. Schimmelmann, Emilia 191f. Schings, Hans-Jürgen 2, 6f., 254 Schlegel, August Wilhelm 220f. Schlegel, Johann Adolf 109 Schlichtegroll, Friedrich 126 Schmale, Wolfgang 16 Schmidt, Christian 109 Schmidt, Maria Sophia 101, 103
Schmidt, Wolf Gerhard 160, 163, 168f., 172, 178f., 181, 187, 189, 196, 200–202, 205–207, 210, 244, 247, 250, 262f., 270, 274 Schmidt-Biggemann, Wilhelm 21 Schneider, Ulrich Johannes 18, 104, 205, 230 Schnyder, Mireille 20 Schöffler, Herbert 35f., 236 Schorch, Grit 27 Schönborn, Sibylle 25 Schreiner, Julia 17 Schröder, Hans 135, 287 Schubart, Christian Friedrich Daniel 146–159 Seltenreich, Karl Christian 4 Semler, Johann Salomo 151 Shaftesbury, Anthony Earl of 8–11, 14, 27, 51, 76–79, 83, 90f., 133, 150, 176, 207 Shakespeare, William 15, 148, 198, 235, 270–272, 287 Sieber, Andreas 3 Sill, Geoffrey 23 Singer-Rowe, Elizabeth 30, 34f., 41, 49–52, 75, 103, 138 Skrine, Peter 244 Smith, Adam 167 Socini, Fausto 123 Spalding, Johann Joachim 151 Spenser, Edmund 23, 36 Stadie-Lindner, Babette 40 Stafford, Fiona 170 Steiger, Johann Anselm 3, 23f. Stephan, Inge 1 Sterne, Laurence 145, 238 Stewart, Larry L. 166, 176f., 180f. Stöckmann, Ernst 9, 24 Stolberg, Christian von 195, 285 Stolberg, Friedrich Leopold von 187, 191f., 195, 285 Sträter, Udo 37 Strauß, David Friedrich 148 Streit, Karl Konrad 126 Stumpfhaus, Bernhard 21 Sturm, Christopher Christian 134f. 317
Sulzer, Johann Georg 10, 117f. Teller, Wilhelm Abraham 151 Temple, Elizabeth 72 Temple, Henry 72 Thomas, Walter 43 Tickell, Thomas 72 Tieghem, Paul van 54, 68, 285–287 Till, Dietmar 26, 28, 117 Tilmouth, Christopher 23 Tombo, Rudolf 191 Trevor, Douglas 6 Trumbull, John 97 Tschackert, Paul 135 Uhlig, Ingo 21 Valk, Thorsten 3 Vaught, Jennifer 23 Velthusen, Johann Caspar 171 Viehöver, Vera 25 Völker, Ludwig 7, 186, 197, 208 Voltaire (François-Marie Arouet) 137, 143 Voss, Johann Heinrich 178, 206 Wagner, Heinrich L. 4, 17, 150, 220 Wagner-Egelhaaf, Martina 4, 17 Wald-Fuhrmann, Melanie 3 Warburton, William 68 Warton, Joseph 57 Warton, Thomas 30, 53f., 56f. Watanabe-O'Kelly, Helen 7 Watts, Isaac 43, 49 Weidner, Daniel 19 Weitin, Thomas 263 Wellek, René 14 Weiße, Christian Felix 165, 202f., 215 Werner, Michael 16, 63 Wetherall Dickson, Leigh 3 Whitburn, Merill D. 95 Wicker, Cecil Vivian 75 Wieland, Christoph Martin 14, 49, 133, 148f., 156, 223 Wingertszahn, Christof 258 Winko, Simone 19f., 22, 67 318
Wittstock, Antje 3 Wodianka, Stephanie 26 Wodrow, John 191 Wolbach, Andreas 153 Wolf, Philipp 37, 60 Wulfleff, Patrick 21 Wunderlich, Ulrike 12, 40, 61 Yannakopoulos, Kostas 21 Young, Edward 2, 6, 13, 30, 34, 37f., 43, 47, 49–51, 53f., 56, 63–98, 99f., 102–104, 109–115, 118f., 122, 124, 126–132, 134, 136f., 142, 144–146, 148f., 151, 155, 162, 171f., 180, 201, 204, 206f., 244, 261, 263, 269, 271, 274, 279, 281f. Zabel, Hermann 236 Zelle, Carsten 89, 176 Zimmermann, Harro 200 Zimmermann, Johann Georg 133 Zimmermann, Reinhard 13f. Zinzendorf, Nikolaus Ludwig von 199