Texte inmitten der Künste: Intermedialität in romanischen, englischen und deutschen Gedichten nach 1945 9783412217945, 9783412224127


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German Pages [516] Year 2014

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Texte inmitten der Künste: Intermedialität in romanischen, englischen und deutschen Gedichten nach 1945
 9783412217945, 9783412224127

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P I C T U R A ET P O E S I S Interd isz ip l inäre Stud ien zum Verhä ltn is von L iteratur und Kunst Heraus g e g eb en von Jo ach im Gaus Christel Meier

Ulrich Ernst .

.

Band 32

TEXTE INMITTEN DER KÜNSTE Intermedialität in romanischen, englischen und deutschen Gedichten nach 1945

VON BEATRICE NICKEL

2015 B Ö H L AU V E R L AG KÖ L N WE I M A R WI E N

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung in Ingelheim am Rhein

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Andrew Topel, CONCRetE (2010) © 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Frank Schneider, Wuppertal Satz: Punkt für Punkt • Mediendesign, Düsseldorf Druck und Bindung: Finidr, Cesky Tesin Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-22412-7

Für Justus Maximilian und Christina

Danksagung

Die vorliegende Arbeit wurde im Jahre 2012 von der Historisch-Philosophischen Fakultät der Universität Stuttgart als Habilitationsschrift angenommen. Dem Habilitationsausschuss und vor allem auch dem Dekan der Historisch-Philosophischen Fakultät, Herrn Professor Peter Scholz, möchte ich hiermit nochmals meinen tiefen Dank für einen reibungslosen Ablauf des Habilitationsverfahrens aussprechen. Während der Zeit der Entstehung der vorliegenden Arbeit hat mich eine Vielzahl von Menschen auf ganz unterschiedliche Weise unterstützt. All jenen kann ich an dieser Stelle unmöglich danken. Meinen besonderen Dank möchte ich hier stellvertretend nur einigen wenigen aussprechen. An erster Stelle möchte ich Frau Professor Carolin Fischer dafür danken, dass sie mir schon vor Jahren den Weg in die Wissenschaftsgemeinschaft gewiesen hat und mich seither immer wieder an ihren Projekten hat mitwirken lassen. Nicht nur in wissenschaftlicher Hinsicht war und ist sie mir ein großes Vorbild. Die Freude, mit der sie ihre Forschungen betreibt, und ihr außergewöhnlich großes Engagement habe ich stets sehr bewundert. Des Weiteren möchte ich Herrn Professor Ulrich Ernst danken. Seine Studien, vor allem zur visuellen Poesie und zur Intermedialität, haben die vorliegende Untersuchung zum großen Teil angeregt und befruchtet. Auch dafür, dass er meine Arbeit in die Reihe Pictura et Poesis aufgenommen hat, bin ich ihm zu großem Dank verpflichtet. Darüber hinaus danke ich der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften sehr für die Gewährung eines großzügigen Druckkostenzuschusses. Andrew Topel danke ich ganz herzlich für seine spontane Erlaubnis, eines seiner Gedichte als Umschlagabbildung verwenden zu dürfen. Herrn Professor Klaus Peter Dencker, Herrn Professor Karl Riha und Herrn Professor Eugen Gomringer danke ich für die Hilfe, die sie mir auf vielfältige Weise haben zuteilwerden lassen. Für die gute Betreuung, ihre zuverlässige Arbeit und große Geduld bin ich Frau Elena Mohr vom Böhlau Verlag zu außerordentlichem Dank verpflichtet. Zuletzt möchte ich von ganzem Herzen meinen Eltern dafür danken, dass sie mich beständig auf dem von mir gewählten Weg unterstützt haben. Meiner Mutter danke ich besonders für die vielen Stunden, die sie immer wieder für das Korrekturlesen meiner Habilitationsschrift geopfert hat. Ihren wachsamen Augen und ihrer Unermüdlichkeit ist es zu verdanken, dass zahlreiche Fehler ausgemerzt und Mängel behoben werden konnten. Mein abschließender und größter Dank gebührt meinem Vater, und zwar vor allem dafür, dass er mir den Weg in die Wissenschaft schon so früh in meiner Kindheit eröffnet und mich immer in meiner Absicht, auch zu habilitieren, bestärkt hat. Dies weiß ich umso mehr zu schätzen, als er nicht das Glück hatte, in einer Familie aufzuwachsen, in der geistige Interessen geschätzt oder gar gefördert wurden. Ihm nachzufolgen, war eine meiner stärksten Motivationen.

Inhalt

DANKSAGUNG .......................................................................................................................

7

EINLEITUNG ...........................................................................................................................

11

1. GRUNDLAGEN ..............................................................................................................

17



1.1 Allgemeine Begriffsklärung ....................................................................................... 17 1.1.1 Konkrete Poesie .......................................................................................... 17 1.1.2 Intermedialität: Zur Forschungslage ......................................................... 36 1.1.3 Intermedialität und Dichtung ................................................................... 44 1.2 Produktion und Rezeption der intermedialen Dichtung nach 1945 ................. 46 1.2.1 Wider den tradierten Textbegriff ............................................................... 46 EXKURS: ERWEITERTER SPRACH- UND TEXTBEGRIFF AUSSERHALB DER ALPHABETGEBUNDENEN POESIE ........................... 51 1.2.2 Der ,neue‘ Leser: Dekonstruktion eines Mythos .......................................... 64 1.3 Die visuelle Dichtung und das Sonett ..................................................................... 74 1.3.1 Zur graphischen Faktur des Sonetts: Von der Frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert ....................................................................................... 75 1.3.2 Visuelle Sonette nach 1945 ........................................................................ 85

2. SKRIPTURAL-PIKTURALE INTERMEDIALITÄT IN GEDICHTEN NACH 1945 ..................................................................................

103

2.1 Vorbemerkung .............................................................................................................. 103 2.2 Typogramme ................................................................................................................. 108 2.2.1 Schreibmaschinengedichte .......................................................................... 108 2.2.2 Computersatz-Gedichte ............................................................................. 127 2.3 Handschriftliche Gedichte ......................................................................................... 129 2.4 Bleisatz-Gedichte ........................................................................................................ 141 2.5 Lichtsatz-Gedichte ...................................................................................................... 153 2.6 Gedichte aus chinesischen Schriftzeichen ............................................................... 160 2.7 Poetische Collagen ...................................................................................................... 177 2.8 Poemas semióticos/códigos ................................................................................... 195 2.9 Kinematisierte Gedichte ............................................................................................ 210 2.9.1 Holopoesie .................................................................................................. 211 2.9.2 Digital remediatisierte Gedichte ................................................................ 219 3.

SKRIPTURAL-AKUSTISCHE INTERMEDIALITÄT IN GEDICHTEN NACH 1945: GRENZGÄNGE ZWISCHEN POESIE UND MUSIK ............ 3.1 Vorbemerkung .............................................................................................................. 3.2 Zur Begrifflichkeit auf dem Gebiet der poetisch-musikalischen Intermedialität .............................................................................................................

245 245 257

10



Inhalt

3.3 Individuelle Lautpoesie-Konzeptionen ................................................................... 265 3.3.1 Der lettrisme sonore ................................................................................. 265 EXKURS: ZUR NOTATION LAUTPOETISCHER TEXTE .......................... 268 3.3.2 François Dufrêne und der ultra-lettrisme .................................................. 287 3.3.3 Pierre Garnier ........................................................................................... 291 3.3.4 Henri Chopins Konzeption der poésie sonore ............................................... 294 3.3.5 Bernard Heidsiecks poésie action .............................................................. 298 3.3.6 Die concrete sound poetry Bob Cobbings ................................................. 300 3.3.7 Gerhard Rühms auditive poesie ...................................................................... 302 3.4 Notierte Lautpoesie ..................................................................................................... 305 3.4.1 Handschriftlich notierte Lautpoesie ........................................................... 305 3.4.2 Daktylographische Lautpoesie – am Beispiel dialektaler Gedichte ............ 313 3.5 Optophonetische Dichtung ...................................................................................... 320 3.5.1 Konzeption ................................................................................................ 320 3.5.2 Optophonetische Praxis .............................................................................. 323 3.6 Technische akustische Realisierungen von Lautgedichten .................................. 350 3.6.1 Analogaufnahmen ..................................................................................... 350 3.6.2 Digitale Aufnahmen .................................................................................. 359

4.   DICHTUNG IM RAUM: SKULPTUR UND ARCHITEKTUR ALS SKRIPTURALE KOMPOSITIONEN .....................................................................

367

4.1 Vorbemerkung .............................................................................................................. 367 4.2 Transparente (intermediale) Gedichtobjekte ......................................................... 370 4.3 Papierne Gedichtobjekte ............................................................................................ 377 4.4 Letterngedichtobjekte ................................................................................................ 379 4.5 Buchgedichtobjekte .................................................................................................... 395 4.6 Dichtung und Skulptur .............................................................................................. 403 4.6.1 Der menschliche Körper als Gedichtobjekt ................................................. 419 4.7 Dichtung und Architektur ......................................................................................... 427 4.7.1 Intermediale Poesie in der kultivierten Natur ........................................... 434 4.8 Ausblick: Von der Raumpoesie zur Poesie im digitalen Raum ............................ 453 4.8.1 Vorbemerkung ............................................................................................ 453 4.8.2 Digitale Gedichtanimationen .................................................................... 459 4.8.3 Hypertextuelle Dichtung ............................................................................ 463 4.8.4 Virtuelle Dichtung ..................................................................................... 468 5. SCHLUSSBETRACHTUNG ......................................................................................

478

6. LITERATURVERZEICHNIS .....................................................................................

481

6.1 Primärliteratur .............................................................................................................. 481 6.2 Sekundärliteratur ......................................................................................................... 487 6.3 Diskographie ................................................................................................................ 504 6.4 Internetquellen ............................................................................................................. 504 6.4.1 Primärliteratur .......................................................................................... 504 6.4.2 Sekundärliteratur ...................................................................................... 506 7. PERSONENREGISTER ................................................................................................ 509

Einleitung

Der Großteil der Intermedialität in der Dichtung nach 1945 besitzt einen skripturalpikturalen Charakter. Die Hauptform der intermedial konzipierten Dichtung seit 1945 ist die poetische Evaluierung und Inszenierung des piktural-skripturalen Charakters jeder Form schriftlich fixierter Poesie. Die Vorliebe für die Verknüpfung von Schrift und Bild im Bereich der Dichtung hat mindestens zwei Gründe: Zunächst ist an den kulturgeschichtlichen Kontext zu denken, nämlich an die vor allem von der Entwicklung der Massenmedien bewirkte Aufwertung der pikturalen Kommunikation.1 Besonders die technisch erzeugten Bilder (Photographie, Kino, Fernsehen etc.) gewannen zunehmend an Bedeutung. Der im Zeitalter der Massenmedien an (primär künstlich erzeugte) Bilder gewöhnte Mensch, bei dem die visuellen semiotischen Konstrukte vielfach die Wahrnehmung von Realität substituieren, ist daher mit der Rezeption einer Dichtung, die die Visualität hervorhebt, aufgrund seiner Alltagserfahrungen prinzipiell immer schon vertraut.2 Die breitflächige Durchsetzung des Visuellen im gesamtkulturellen Bereich ist primär auf die große Bedeutung, die dem visuellen Reiz im Rahmen menschlicher Kommunikationsprozesse beigemessen wird, und auf die Strategie, Informationen auf leicht einprägsame graphische Zeichen zu verknappen, zurückzuführen. Diese Strategie ist letzten Endes der Einsicht geschuldet, dass der Mensch kognitiv so ausgestattet ist, dass etwa die Hälfte der Wahrnehmungsinhalte, die er im Gehirn verarbeitet, auf visuelle Reize zurückzuführen ist. Die vorliegende Arbeit untersucht nicht nur die skriptural-pikturale poetische Intermedialität, sondern verschiedenartige Intermedialitätsformen in der Dichtung nach 1945. Die Ursachen für die Möglichkeit solcher Dichtungsarten reichen weit in die Kulturgeschichte und Anthropologie zurück und betreffen vornehmlich die zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich gestaltete Beurteilung der menschlichen Sinne. Die Sinneshierarchie hat Roland Barthes in historischer Perspektive wie folgt beschrieben: Au début de l’époque moderne, au siècle d’Ignace, un fait commence à modifier, semble-t-il, l’exercice de l’imagination : un remaniement de la hiérarchie des cinq sens. Au moyen âge, nous disent les historiens, le sens le plus affiné, le sens perceptif par excellence, celui qui établit le contact le plus riche avec le monde, c’est l’ouïe ; la vue ne vient qu’en troisième position, après le toucher. Puis il y a renversement : l’œil devient l’organe majeur de la perception (le baroque en témoignerait, qui est art de la chose vue). Ce changement a une grande importance religieuse. La primauté de l’ouïe, encore très vive au XVIe siècle, était garantie théologiquement: l’Église fonde son autorité sur la parole, la foi est audition : auditum verbi Dei, id est 1 Auch Vincenzo Accame rechtfertigte seine neue skriptural-pikturale Schrift mit den Kommunikations- und Wahrnehmungsmodi seiner Zeit: „Adesso si sta elaborando un nuovo linguaggio (un concetto di nuova scrittura) che non è d’invenzione assoluta, ma va ‘quasi’ a cercare un adeguamento alle tecniche di percezione e di comunicazione dei nostri giorni.“ Accame (1998), S. 56. 2 Vgl. McLuhan/Fiore (1996), S. 45: „The rational man in our Western culture is a visual man.“

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Einleitung

fidem ; l’oreille, l’oreille seule, dit Luther, est l’organe du Chrétien. Une contradiction risque donc d’apparaître entre la perception nouvelle, conduite par la vue, et la foi ancienne, fondée sur l’écoute.3

Nach der christlichen Lehre kam dem Gesichtssinn und deshalb allen durch die visuelle Wahrnehmung gewonnenen Erkenntnissen ein geringerer Stellenwert zu als dem Gehör, weil durch das Auge die Sünde in den Menschen dringe. In diesem Sinne liest man bei Augustinus von der zu verurteilenden „concupiscentia oculorum“4. Den kultur- und mediengeschichtlichen Hintergrund bildet hier die Dominanz des Wortes und – daraus abgeleitet – der Schrift, die vor allem für das Christentum von großer Bedeutung ist. Die Offenbarung vollzieht sich im Wesentlichen in Gestalt sprachlicher Zeichen, wenn auch im Text der Offenbarung des Johannes visuelle Eindrücke eine wichtige Rolle spielen. In der Frühen Neuzeit erfolgte demgegenüber eine grundlegende Neubewertung des Gesichtssinnes, die dazu führte, dass dieser nun die Hierarchie der Sinne anführte. Wir haben es hier mit dem Übergang „von einer ‚Epoche des Ohrs‘ zu einer ‚Epoche des Auges‘“5 zu tun. Im Zuge einer ,Dechristianisierung‘ kam es zur weiteren Aufwertung der Erkenntnis durch alle Sinne, wie sie beispielsweise von Johann Gottfried Herder im Kontext des so genannnten Laokoon-Konfliktes vertreten wurde. Vor allem betraf dies den Sehsinn. Während Lessing die Bild- und Textebene als jeweils spezifische Qualität der Aussageform betrachtete, kam es im Zuge der unterstellten Gleichrangigkeit aller Sinne im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einer sukzessiven Verstärkung der Sinnlichkeit in Form von Sichtbarkeit, als deren Ergebnis sich eine stark visuell geprägte säkulare Kultur entwickelt hat.6 Bildern wurde nun eine eigene Sinnes- und Erkenntnisqualität zugeschrieben, und die Ausschließlichkeit der Schriftlichkeit wurde preisgegeben. Verstärkt gilt dies seit dem von W.J.T. Mitchell gegen Ende des 20. Jahrhunderts im Rahmen seiner Bildtheorie proklamierten iconic oder pictorial turn.7 Dieser darf dabei nicht im Sinne einer weitgehenden Verdrängung skripturaler durch pikturale Zeichen in der modernen Kultur aufgefasst werden, sondern im Sinne der zunehmenden Bedeutung pikturaler Zeichen in der modernen Kultur und vor allem der Kommunikation. Intermedialität wird in der vorliegenden Untersuchung als ein zentraler, wenn nicht gar als der bedeutendste Aspekt dieser Dichtung aufgefasst. Aus diesem Grund wird die Dichtung nach 1945 hier durch ihre intermediale Verknüpfung mit der bildenden Kunst, Musik, Skulptur und Architektur bestimmt. Es geht darum, die Intermedialität als Charakteristikum der Dichtung nach 1945 aufzuzeigen und dabei deutlich zu machen, dass diese poetische Intermedialität sich nicht auf den visuellen Bereich einschränken lässt, auch wenn diesem der überwiegende Teil dieser Dichtung zuzuordnen ist. Die vorliegende Studie verfolgt das Ziel, einen umfassenden Blick auf die intermedialen Tendenzen und Ausprägungen der Dichtung nach 1945 zu eröffnen. Es soll gezeigt werden, dass sich Phänomene einer poetischen Intermedialität nicht nur im Bereich der 3 4 5 6 7

Barthes (1971), S. 70. Augustinus (2010), S. 164. Assmann (2006), S. 92. Vgl. Starobinski (1978). Vgl. Mitchell (1994).



Einleitung

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visuellen Dichtung, sondern mindestens in zwei weiteren Bereichen nachweisen lassen, nämlich dem der Lautdichtung und dem der Gedichtobjekte. Dies scheint insofern angebracht, als der Großteil der Forschung sich auf die visuelle Dichtung konzentriert und somit den Blick darauf verstellt, dass sich die Dichtung nach 1945 systematisch und mit erstaunlichen Ergebnissen den verschiedensten Künsten gegenüber öffnet. Dem damit einhergehenden Forschungsdesiderat nachzukommen, ist eines der primären Ziele der vorliegenden Untersuchung. Bewusst wurde im Titel der Arbeit die Zeitangabe ,nach 1945‘ statt der Bezeichnung ,Konkrete Poesie‘ gewählt, obgleich der Großteil der Dichtung nach 1945 zur Konkreten Poesie zu zählen ist. Die Wahl ist primär deshalb auf die neutrale Formulierung gefallen, um Missverständnissen vorzubeugen, die aus einer begrifflichen Unschärfe hätten erwachsen können, denn – wie so manch anderer literaturwissenschaftlicher Begriff – ist auch derjenige der Konkreten Poesie so wenig gesichert, dass er ganz unterschiedliche poetische Phänomene meinen kann und man mindestens zwischen einem Gebrauch in einem engen und einem weiten Sinn unterscheiden müsste. Daher ist es unerlässlich, zunächst den dieser Untersuchung zugrunde gelegten Begriff der Konkreten Poesie zu erläutern. Nach seiner definitorischen Klärung wird dieser Begriff in der vorliegenden Arbeit ebenfalls verwendet. Eine begriffliche Unschärfe, die es im Vorfeld zu klären gilt, besitzt auch der Schlüsselbegriff im Titel, nämlich ,Intermedialität‘. Auch dieser weist ein sehr differenziertes Verwendungsspektrum auf, so dass ihm viele unterschiedliche Phänomene subsumiert werden können. Aus einer Auseinandersetzung mit den wichtigsten Konzepten der aktuellen Intermedialitätsforschung galt es, eine Definition des Begriffes zu entwickeln, die besonders geeignet für das weite Feld der intermedialen Dichtung nach 1945 ist. Der Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Studie wird aus der Perspektive der vergleichenden Literaturwissenschaft diskutiert und analysiert, und zwar aus gutem Grund: Ein Großteil der Dichtung nach 1945 wurde von den entsprechenden Dichtern selbst als eine internationale Form der poetischen Produktion konzipiert und in zahlreichen theoretischen Texten reflektiert. Daher wäre die Beschränkung auf die Dichtung einer Nationalsprache dem Ziel, das diese Arbeit anstrebt, entgegengesetzt. Der Fokus der Untersuchung liegt auf Gedichten aus romanisch-sprachigen Ländern (u.a. Frankreich, Brasilien, Spanien, Italien und Argentinien). Um dem Anspruch der Komparatistik gerecht zu werden und den Aspekt der Globalität der intermedialen Dichtung nach 1945 hervorzuheben, werden diesen primär englisch- und deutschsprachige Gedichte zur Seite gestellt. Wann immer dies sinnvoll für die Argumentation ist, wird der hier umrissene Rahmen jedoch gesprengt. So ist es zum Beispiel mindestens an einer Stelle unumgänglich, auch intermediale Beispiele der japanischen Dichtung nach 1945 in die Studie einzubeziehen. Eine komparatistische Herangehensweise eignet sich für den Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Studie deshalb besonders gut, weil die Komparatistik so an eine ihrer – oftmals vernachlässigten – Funktionszuschreibungen erinnert wird, die, vor allem auch aufgrund der Entwicklung der Dichtung nach 1945, immer mehr an Bedeutung gewinnen sollte: Komparatistische Forschungen dürfen nicht ausschließlich dem Vergleich verschiedener Nationalliteraturen, sondern müssen zugleich dem weiten Feld

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Einleitung

der Intermedialität gewidmet sein: „Die AVL findet neben dem Vergleich der Literaturen unter supranationalem Aspekt ein weiteres Arbeitsfeld […]. War der Vergleich bisher innerliterarisch verstanden worden, so ist er nun interliterarisch und intermedial […].“8 Bereits im Jahre 1917 hat Oskar Walzel in der Berliner Abteilung der Kantgesellschaft seinen berühmten Vortrag zum Thema Wechselseitige Erhellung der Künste: ein Beitrag zur Würdigung kunstgeschichtlicher Begriffe gehalten. Es bietet sich daher an, eine bestimmte methodische und theoretische Tradition der Komparatistik als Ausgangspunkt der Intermedialitätsforschung und damit zugleich der vorliegenden Untersuchung zu wählen. Es gibt zudem in der Komparatistik eine Tradition der Erforschung der Wechselbeziehungen zwischen den Künsten. Die Arbeit ist folgendermaßen aufgebaut: Den Anfang bilden Grundlagenkapitel mit einleitenden Betrachtungen und den erforderlichen Begriffsklärungen. Auf diese folgt ein umfangreiches Kapitel über die Gedichtform des Sonetts, und zwar deshalb, weil das Sonett schon in der Frühen Neuzeit in der Tendenz jene intermedialen Verknüpfungen aufweist, die im Bereich der intermedialen Dichtung nach 1945 radikalisiert wurden. Das Sonett ist nämlich per se sowohl eine stark visuell als auch akustisch ausgerichtete poetische Textsorte.9 Zugleich zeichnet sich das Sonett durch einen hohen Grad an poetischer Lautlichkeit aus. Auf diese verweist bereits der etymologische Ursprung des Begriffes ,Sonett‘.10 Der hohe Grad an poetischer Lautlichkeit hat das Sonett für einen Formtransfer in Richtung auf die Musik besonders prädestiniert: Vor allem Sonette des Pléiade-Dichters Pierre de Ronsard wurden vielfach vertont und in der Erstpublikation zusammen mit den entsprechenden Noten veröffentlicht. Eine dritte Form der poetischen Intermedialität besteht darin, dass das Sonett  – ebenso wie die Dichtung nach 1945 – in den physikalischen Raum vorgedrungen ist. Aus der in der Frühen Neuzeit unterstellten typologischen Nähe zum Epigramm folgte konsequenterweise, dass Sonette – ebenso wie jenes – am Sockel von Denkmälern o.Ä. angebracht oder auf hölzernen panneaux publiziert wurden. Auf diese Weise antizipiert das frühneuzeitliche Sonett die Form der dritten intermedialen Verknüpfung der vorliegenden Arbeit, nämlich derjenigen, die in der Dichtung nach 1945 zwischen Dichtung und Skulptur sowie Architektur besteht. Diese räumliche Präsenz des Sonetts führte zu seiner Präsenz im öffentlichen Raum, die derjenigen vergleichbar ist, die viele Dichter nach 1945 für ihre poetischen Produktionen angestrebt haben. Primär wird das Sonett in der vorliegenden Studie unter dem Aspekt seiner Visualität untersucht. Es ist signifikant, dass so viele Sonette in der visuellen Konkreten Poesie produziert werden. Auf diese Weise kann diese Dichtung konsequent in die europäische Literaturgeschichte eingeordnet werden. Negative Urteile über die Konkrete Poesie, wie beispielsweise dasjenige von Hugo Friedrich,11 verlieren damit jegliche Legitimations8 9 10 11

Corbineau-Hoffmann (2000), S. 51. Vgl. hierzu auch Nell/Kiefer (2005), S. 1f., Nivelle (2004), S. 12ff. und Clüver (2001). Schon 1968 hat Ulrich Weisstein in seiner Einführung in die Komparatistik die „wechselseitige Erhellung der Künste“ (S. 184) als eines ihrer wichtigen Aufgabengebiete definiert. Vgl. Krüger (1990), S. 47 und Nickel (2008), S. 16ff. Vgl. Du Bellay (2001), S. 136. Friedrich (1956), S. 13: „Die sogenannte konkrete Poesie mit ihrem maschinell ausgeworfenen Wörter- und Silbenschutt kann dank ihrer Sterilität völlig außer Betracht bleiben.“



Einleitung

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grundlage. Die Traditionslinie, die aufgezeigt werden kann, soll dabei natürlich nicht implizieren, dass nicht eine fortschreitende Radikalisierung festzustellen ist. Diese erreicht ihren Höhepunkt u.a. in Pierre Garniers Gedichten, die er im Rahmen des spatialisme produziert hat. Als Ausgangspunkt aller Überlegungen zur Intermedialität in der Dichtung nach 1945 die Gattung des Sonetts zu wählen, bietet den Vorteil, dass eine konsequente Einordnung der intermedialen Dichtung in die Literaturgeschichte nicht im Rahmen der primär visuellen Dichtung, deren Traditionslinie Ulrich Ernst bis in die Antike zurückverfolgt hat,12 erfolgt, sondern gerade anhand einer Gattung, die zunächst einmal nicht der so genannten visuellen Poesie zuzurechnen ist. Das erste umfangreiche Kapitel zur intermedialen Dichtung nach 1945 untersucht deren Haupterscheinungsform, nämlich die skriptural-pikturale Dichtung. Dieses Kapitel bildet zugleich den Schwerpunkt der vorliegenden Untersuchung. Hier sind die Bereiche Dichtung und bildende Kunst intermedial miteinander verknüpft. Die Struktur dieses Kapitels, wie auch die der ihm nachfolgenden Kapitel, folgt material-medialen Aspekten. Diese Struktur geht auf die Einsicht zurück, dass sowohl die Materialität der eingesetzten Zeichen als auch deren mediale Präsentationsform maßgeblichen Einfluss auf die Sinnkonstitution hat.13 Diese Einsicht steht in der Tradition des Medientheoretikers Marshall McLuhan und seiner stark zugespitzten Formel aus Understanding Media. The extensions of man (1964): „The medium is the message.“14 Zwar mag im Bereich der in der vorliegenden Arbeit untersuchten intermedialen Dichtung nach 1945 die Entscheidung zu einer bestimmten medialen Präsentation nicht schon die ganze ästhetisch-poetische Botschaft ausmachen, in jedem Fall beeinflusst sie diese aber maßgeblich, und man kann zu Recht von einer ausgeprägten Medienabhängigkeit dieser Dichtung sprechen.15 Die Entscheidung für eine Kapitelfolge, die dem materialen und dem medialen Aspekt Rechnung trägt, steht nicht nur in Einklang mit den Thesen McLuhans, sondern auch mit den theoretischen Reflexionen der entsprechenden Dichter selbst. Beispielsweise heißt es in Pierre Garniers Standardwerk zu dem von ihm initiierten spatialisme dementsprechend: „Le moyen technique employé détermine, au moins autant que l’auteur, la forme d’une poésie.“16 Damit hängt eine weitere Konsequenz für den produzierenden Dichter zusammen, die auf die gesamte intermediale Dichtung nach 1945 zutrifft: „De mage, il devient monteur.“17 Die Auswahl der Gedichte innerhalb der einzelnen Kapitel wurde nach dem Grundsatz vorgenommen, ein möglichst breites Spektrum auf dem Gebiet der jeweiligen poetischen Intermedialität sowie einen möglichst hohen Grad an Internationalität in der Dichtung nach 1945 aufzuzeigen. 12 13 14 15 16 17

Vgl. Ernst (2002). Kliems/Raßloff/Zajac (2007), S. 9. Vgl. hierzu Scholler (2010), S. 382. Schon in den 1930er Jahren hat Walter Benjamin in seinem Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935) das veränderte Verhältnis der Künste zu den (technischen) Medien prognostiziert, vor allem mit Blick auf den Film. Garnier (1968), S. 135. Garnier (2008), S. 209. Die politische Implikation dieses Zitats soll an dieser Stelle außen vor bleiben, zumal sie in unserem Kontext nicht von Bedeutung ist.

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Einleitung

Das zweite Kapitel ist der zweithäufigsten Form der intermedialen Dichtung nach 1945 gewidmet, nämlich der intermedialen Verknüpfung von Dichtung und Musik im Medium der Lautpoesie. Auch die Struktur dieses Kapitels folgt material-medialen Kriterien. Mit diesen ersten beiden Großkapiteln sind die beiden umfangreichsten Gebiete der intermedialen Dichtung nach 1945 abgedeckt, die zugleich den beiden prinzipiellen Haupterscheinungsformen von zeichenhaft repräsentierter Sprache, nämlich Rede und Schrift, zuzuordnen sind. Den primären Untersuchungsgegenstand des letzten Kapitels dieser Arbeit stellen so genannte Gedichtobjekte dar. Hier herrscht eine intermediale Verknüpfung von Dichtung und Architektur, Skulptur oder Plastik vor. Die entsprechenden Gedichte stellen dreidimensionale Phänomene dar, die nicht mehr auf die Fläche einer Papierseite gebannt sind. Damit wirkt nicht allein die visuelle Materialität der eingesetzten Zeichen bedeutungskonstitutiv, sondern auch ihre haptische Materialität. Der Aspekt des Raumes wird in diesem Kapitel jedoch nicht ausschließlich auf den Bereich des physikalischen Raumes beschränkt, sondern umfasst zugleich den cyberspace. Zuletzt werden daher Ausblicke auf die Dichtung im digitalen Raum gegeben.

1. Grundlagen

1.1 Allgemeine Begriffsklärung 1.1.1 Konkrete Poesie Um den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit klar zu beschreiben, sind zunächst einige erläuternde Vorbemerkungen nötig. Im Folgenden werde ich auch mit dem Begriff der Konkreten Poesie operieren. Da dieser nicht eindeutig definiert ist, soll zunächst sein Bedeutungsspektrum geklärt werden. Literaturwissenschaftliche Begriffe besitzen in den seltensten Fällen eine solch definitorische Schärfe und Eindeutigkeit wie beispielsweise in den Naturwissenschaften. Dies hat seinen Grund darin, dass in Disziplinen, die sich mit kreativen Prozessen oder deren Resultaten auseinandersetzen, das dynamische Moment, das zudem in einer aleatorischen Weise wirkt, eine viel größere Rolle spielt, als es in Gegenstandsbereichen der Fall ist, die wie in den Naturwissenschaften erst beschrieben werden, nachdem experimentelle Rahmenbedingungen geschaffen wurden, die die Simulation von Sachverhalten unter reproduzierbaren Bedingungen gestatten. Auch die Bezeichnung ,Konkrete Poesie‘ besitzt keine definitorische Eindeutigkeit.18 Bei ihrer Verwendung gibt es einen relativ großen Spielraum: Die einen fassen Konkrete Poesie als eine bestimmte Art von Poesie auf, die in einem relativ kurzen Zeitraum produziert wurde, die anderen meinen damit ein bestimmtes Verfahren der Textherstellung, dem prinzipiell keine zeitlichen Grenzen gesetzt sind. In der vorliegenden Arbeit werden beide Facetten dieses Begriffes nebeneinander gebraucht, und zwar bewusst, denn so kann der Begriff in seiner Mehrdeutigkeit gezeigt werden, und nur so handelt es sich um einen praktikablen und sinnvoll einsetzbaren Begriff, mit dem man arbeiten kann, ohne sich auf eine bestimmte Epoche der Dichtung einschränken zu müssen. Der ersten – engeren – Bedeutung nach wird die Konkrete Poesie als eine internationale poetische Bewegung – in keinem Fall handelt es sich um eine (poetische) Schule – als historisch abgeschlossen betrachtet, der zweiten zufolge steht sie als Verfahren der 18

Zum ersten Mal taucht der Begriff ,Konkrete Poesie‘ in Ernest Francisco Fenollosas Studie über den ideogrammatischen Chrakter der chinesischen Schriftzeichen als Medium der Dichtung auf: „In Chinese the chief verb for ‘is’ not only means actively ‘to have’, but shows by its derivation that it expresses somethimg even more concrete, namely ‘to snatch from the moon with the hand’. [It follows the Chinese character; B.N.] Here the baldest symbol of prosaic analysis is transformed by magic into a splendid flash of concrete poetry.“ Fenollosa (1936), S. 15. Ezra Pound hat Fenollosas Aufsatz erstmals im Jahre 1915 veröffentlicht. Vgl. hierzu Seaman (1981), S. 40f. Das erste Mal in einem Manifest erscheint der Begriff ,Konkrete Poesie‘ nicht, wie oft behauptet wird, in Fahlströms Manifest för konkret poesi (1953), sondern schon sechs Jahre zuvor in Isous Introduction à une nouvelle poésie et à une nouvelle musique (1947), S. 179: „Le lettrisme aimera n’importe quelle langue (étrangère à lui) pour ce qu’elle dégage de lettrique, de sonorité inconnue, de poésie concrète.“

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Grundlagen

Produktion eines poetischen Textes im Gegensatz hierzu immer zur Verfügung. Für die Vertreter der engen Definition ist die Konkrete Poesie eine Epoche der Dichtkunst, die in den 1950er Jahren begonnen hat und bereits gegen Ende der 1960er Jahre, als die bedeutendsten Vertreter der Konkreten Poesie sich von dieser losgesagt haben und die drei großen Anthologien der Konkreten Poesie19 vorlagen, zu einem Endpunkt gelangt ist. Der prominenteste Repräsentant dieser Ansicht ist zweifelsohne Eugen Gomringer, der ja bekanntlich als ,Vater‘ der Konkreten Poesie gilt: „ich habe mich selbst schon wiederholt dahingehend geäussert, dass die konkrete poesie als kind der fünfziger jahre ein abgeschlossenes kapitel der internationalen nachkriegsliteratur sei.“20 Im Unterschied zu anderen Dichtungstendenzen gibt es für die als historisches Phänomen verstandene Konkrete Poesie eine exakte ,Geburtsstunde‘, nämlich das Jahr 1955, als sich Eugen Gomringer und Décio Pignatari in der Hochschule für Gestaltung in Ulm auf diesen Namen für die Bezeichnung des zeitgleich, jedoch unabhängig voneinander entwickelten Typus der poetischen Praxis geeinigt haben. Natürlich wurde diese Poesie schon vorher – vor allem von Gomringer und der Gruppe Noigandres – produziert, aber eben noch ohne eine einheitliche Benennung. Diese Bemerkungen dürfen und sollen den Blick nicht darauf verstellen, dass bezüglich der Anwendung des Begriffs ,Konkrete Poesie‘ für eine recht kurze Phase in der Literaturgeschichte große Verwirrung herrscht. Wie wenig klar es ist, was alles als Konkrete Poesie gewertet werden kann oder nicht, wird schon an der sehr unterschiedlichen Gedichtauswahl in den drei bedeutendsten Anthologien zur Konkreten Poesie deutlich, für die jeweils andere Auswahlkriterien zu gelten scheinen. Bei der Konkreten Poesie im historischen Sinne handelt es sich also um eine sehr heterogene Erscheinung. Ebenso wie als literaturgeschichtliches Faktum lässt sich Konkrete Poesie als ein Textherstellungsverfahren begreifen, und zwar als ein solches, das mit seinem Material ,konkret‘ umgeht: „Despite the confusion in terminology, though, there is a fundamental requirement which the various kinds of concrete poetry meet: concentration upon the physical material from which the poem or text is made.“21 Das verlässlichste Kriterium für die Zugehörigkeit eines Gedichts zur Konkreten Poesie ist demnach die Betonung der Materialität der eingesetzten Zeichen. Zunächst muss allerdings geklärt werden, was im Kontext der (historischen) Konkreten Poesie unter „physical material“ zu verstehen ist. Vorauszusetzen ist hier ein neuartiges Sprachverständnis, das nicht von der aufs Pragmatische reduzierten Form der Sprache ausgeht, jedoch auch im Alltäglichen durchaus Elemente und Erscheinungen der Sprache identifiziert, die nicht zu den pragmatischen, auf die bloße Sinnvermittlung oder -erzeugung gerichteten Funktionen der Sprache gerechnet werden können. Diesem neuartigen Sprachverständnis zufolge wird menschliche Sprache aufgefasst als jede menschliche Artikulationsform. Schon Apollinaire hat in seinem Gedicht La victoire (1917) die Suche nach einer neuen Sprache bzw. einem neuen und wesentlich erweiterten Sprachbegriff beschrieben: 19 20 21

Emmett Williams (ed.) (1967): An Anthology of Concrete Poetry, Stephen Bann (ed.) (1967): Concrete Poetry: An International Anthology und Mary Ellen Solt (ed.) (1970): Concrete Poetry: A World View. gomringer (1997), S. 86. Vgl. Buschinger (1996), S. 95ff. Solt (1970), S. 7.



Allgemeine Begriffsklärung

O bouches l’homme est à la recherche d’un nouveau langage Auquel le grammairien d’aucune langue n’aura rien à dire Et ces vieilles langues sont tellement près de mourir Que c’est vraiment par habitude et manque d’audace Qu’on les fait encore servir à la poésie Mais elles sont comme des malades sans volonté Ma foi les gens s’habitueraient vite au mutisme La mimique suffit bien au cinéma Mais entêtons-nous à parler Remuons la langue Lançons des postillons On veut de nouveaux sons de nouveaux sons de nouveaux sons On veut des consonnes sans voyelles Des consonnes qui pètent sourdement Imitez le son de la toupie Laissez pétiller un son nasal et continu Faites claquer votre langue Servez-vous du bruit sourd de celui qui mange sans civilité Le raclement aspiré du crachement ferait aussi une belle consonne Les divers pets labiaux rendraient aussi vos discours claironnants Habituez-vous à roter à volonté Et quelle lettre grave comme un son de cloche A travers nos mémoires Nous n’aimons pas assez la joie De voir les belles choses neuves O mon amie hâte-toi Crains qu’un jour un train ne t’émeuve Plus Regarde-le plus vite pour toi Ces chemins de fer qui circulent Sortiront bientôt de la vie Ils seront beaux et ridicules Deux lampes brûlent devant moi Comme deux femmes qui rient Je courbe tristement la tête Devant l’ardente moquerie Ce rire se répand Partout Parlez avec les mains faites claquer vos doigts Tapez-vous sur la joue comme sur un tambour

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O paroles Elles suivent dans la myrtaie L’Éros et l’Antéros en larmes Je suis le ciel de la cité.22

Das Schnalzen der Zunge, Essgeräusche, Gesten mit Händen und Fingern etc., all das soll der Begriff ,Sprache‘ umfassen. Hierbei handelt es sich um die „unterste Materialschicht des Sprechens“23, wobei dies nicht pejorativ zu verstehen ist, sondern der Entstehung der Sprache aus dem elementaren Motorischen Rechnung tragen soll.24 In ähnlicher Weise wie Apollinaire haben auch die Lettristen den Sprachbegriff neu definiert: Les lettres (phonème, son ou bruit) produites par la voix humaine, ses dérivés spécifiquement lettristes (modifications de la lettre, timbre ou chuchotement, par ex.) et les éléments parrallèles acceptés par l’art lettrique, qui peuvent être produits par l’homme tout entier considéré comme instrument (sifflement, claquement de doigt, de pied, etc.).25

Wenn eine Definition der Konkreten Poesie von Eugen Gomringer nun folgendermaßen lautet: „konkret dichten heisst […] bewusst mit sprachlichem material dichten“26, so ist zunächst zu fragen, ob nicht auch hier ein erweiterter Sprachbegriff vorauszusetzen ist. An anderer Stelle hat Gomringer allerdings auf dem skripturalen Aspekt der Konkreten Poesie beharrt: „unverzichtbar […] sind auf alle fälle die anteile an schrift!“27 Und auch das folgende Zitat lässt an Gomringers Festlegung der Konkreten Poesie auf das Skripturale keinen Zweifel: obgleich auch meinen reinsten konstellationen […] verschiedenartige versuche vorausgingen und ich auch heute immer wieder logistische, atomistische und grafische versuche unternehme – so dienen mir diese lediglich zur kontrolle. ich finde es klüger, am wort zu bleiben, ja sogar den üblichen durchschnittlichen wortsinn beizubehalten.28

Zugleich hat er jedoch „das material [der konkreten poesie] als summe aller zeichen“29 definiert. Im Gegensatz zu Eugen Gomringers ambivalenten Aussagen vertraten und vertreten viele andere Dichter der Konkreten Poesie dezidiert einen erweiterten Sprachbegriff, der alle Arten menschlicher Zeichen und Zeichenverwendungen und auch alle medialen Erscheinungsformen von Sprache beeinhaltet. Den ihrer Arbeit zugrunde gelegten Sprachbegriff haben Luiz Ângelo Pinto und Décio Pignatari wie folgt beschrie22 23 24 25 26 27 28 29

Abgedruckt in Apollinaire (1965), S. 310f. Zum ersten Mal erschienen ist das Gedicht in Nord-Sud no 1 (mars 1917). Hervorhebung von mir, B.N. Lentz (2000), I: S. 45. Vgl. hierzu Calvin/Bickerton (2000). Lemaître (1965), o. S. gomringer (1997), S. 32. gomringer (1997), S. 135. gomringer (1969b), S. 292. gomringer (1969b), S. 292.



Allgemeine Begriffsklärung

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ben: „Entendemos por linguagem qualquer conjunto de signos e o modo de usá-los […].“30 Ein aus einem solchen Sprachbegriff abgeleiteter erweiterter Text- und damit zugleich Gedichtbegriff wird auch in der vorliegenden Untersuchung vorausgesetzt.31 Damit beschränkt der hier vertretene Begriff der Konkreten Poesie diese nicht auf ,Sprachmaterial‘ oder ,Schriftmaterial‘ im traditionellen Sinne, sondern bietet darüber hinaus Raum für Zeichen aller beliebigen Zeichensysteme. Keinesfalls handelt es sich dabei um ein Randphänomen, wie es in Mary Ellen Solts Einleitung ihrer Anthologie nachzulesen ist: „In some cases non-linguistic material is used in place of language […].“32 Wenn Pierre Garnier, der Initiator und Hauptvertreter des spatialisme, die Konkrete Poesie wie folgt definiert: „poésie concrète: travaillant le langage-matière, créant avec lui des structures, transmettant une information d’abord esthétique“33, so muss hier der zuvor beschriebene erweiterte Sprachbegriff vorausgesetzt werden. Ansonsten wäre es wenig einsichtig, warum Pierre Garnier konkrete oder spatialistische Gedichte, die keinerlei skripturale Elemente aufweisen, verfasst und explizit als poèmes bezeichnet hat. Hier, wie in anderen entsprechenden Fällen, wird eine grundsätzliche Äquivalenz zwischen Schriftzeichen und anderen Zeichen aus dem vielfältigen Arsenal menschlicher Zeichensysteme (Piktogramme, abstrakte Graphismen, Laute etc.) unterstellt. Vor allem Schrift und Bild kommt hier eine ebenbürtige Funktion zu.34 Es versteht sich von selbst, dass einer solchen Dichtung keine konsensuelle Zustimmung vergönnt ist. Beispielsweise vertrat Käte Hamburger die sehr konservative Meinung, dass „die Form konkret-visueller Poesie nicht mehr in den Bereich der Lyrik fällt“35. Erst die Auffassung von der prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Zeichen, die auch keinem bestimmten linguistischen Code untergeordnet sind, ermöglicht die internationale Ausrichtung der Konkreten Poesie, die neben der Betonung der Zeichenmaterialität als eines ihrer wesentlichen Charakteristika gewertet werden muss: „die konkrete poesie […] ist einer der konsequentesten versuche, poesie inter- und übernational zu begründen.“36 Gomringers Auffassung folgend, hat Pierre Garnier „le passage des langues nationales à une langue supranationale […]“37 zum Ziel seiner Konkreten respektive spatialistischen Poesie erklärt. Bereits ein flüchtiger Blick in eine der drei großen Anthologien lässt an der Internationalität der Konkreten Poesie keinen Zweifel.38 Schon die ,Geburtsstunde‘ 30 31 32 33 34 35 36 37

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Pignatari/Pinto (1987), S. 159. Hervorhebung von den Autoren. Zum erweiterten Textbegriff vgl. S. 46ff. dieser Arbeit. Solt (1970), S. 7. Garnier (1968), S. 138. An anderer Stelle liest man: „poésie concrète travaillant le langage-matière libéré de toute charge représentative.“ Garnier (1968), S. 46. Volkmann (1903), S. 13 hat darauf hingewiesen, dass wir eine prinzipielle Gleichsetzung von Schrift und Bild schon bei Dante vorfinden, wenn Beatrice nämlich fordert, ihr Wort, wenn nicht geschrieben, so doch gemalt in sich zu tragen (Purgatorio XXXIII, vv. 75ff.). Hamburger (1987), S. 233. gomringer (1996), S. 9. Garnier (1968), S. 148. Zur Supranationalität gibt es ein eigenes Manifest von Pierre Garnier, nämlich Position 3 du spatialisme : Pour une poésie supranationale (1966). Ein Dokument der weltweiten Verbreitung der Konkreten Poesie stellt auch eine weitere Schrift Pierre Garniers dar: Position I Du Mouvement International (1963). Vgl. Fußnote 19 dieser Arbeit.

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Grundlagen

der Konkreten Poesie lässt sich zu Recht als „transatlantic baptism“39, nämlich durch Eugen Gomringer und Décio Pignatari, bezeichnen. In den frühen 1950er Jahren sowohl in Deutschland als auch in Brasilien entstanden, fand die Konkrete Poesie Aufnahme in fast allen europäischen Länder sowie Nordamerika und Japan. Weitere Konsequenzen aus der internationalen Ausrichtung der Konkreten Poesie sollen an dieser Stelle nur kurz erwähnt werden: Die Überschreitung von nationalen Grenzen geht mit einer solchen von Gattungen und Medien (visuelle Poesie, Lautpoesie, Gedichtobjekte u.Ä.)40 einher. Wir haben es nicht nur mit internationalen, sondern ebenfalls mit intermedialen Phänomenen zu tun. Außerdem zeichnet sich die Konkrete Poesie durch die Überwindung des Gegensatzes von Gebrauchskunst und ,hoher‘ Kunst aus.41 Wenn es nun um die konkrete Umsetzung des Zieles der Internationalität geht, so ergibt sich folgerichtig, dass ein Zeichensystem gefunden werden muss, das universal anwendbar und supranational verstehbar ist. Eugen Gomringer, der als einer der ersten für eine universale Gemeinschaftssprache und damit zugleich für die Überwindung des Gegensatzes von Kunst und Leben eintrat, hat für diese bezeichnenderweise das Modell internationaler Verkehrszeichen und Anweisungen auf Flughäfen gewählt.42 Prinzipiell ging es darum, eine Poesie ins Leben zu rufen, die unabhängig von einem bestimmten nationalen linguistischen Code verstehbar und rezipierbar ist. Das Visuell-Ideographische sollte zu einer neuen internationalen Sprache bzw. Schrift, einer „scriptura franca“43 werden. Analog gilt für die Lautpoesie, dass ein von den Nationalsprachen unabhängiger phonetischer Code das angestrebte Ziel war. Auch die Lautpoesie bildet „jenen bereich von literatur, die keiner übersetzung bedarf, die sich über alle sprachschranken hinweg unmittelbar mitteilt“44. Eugen Gomringer hat diese allgemeine Zielsetzung in Poesie als Mittel der Umweltgestaltung (1968) wie folgt ausgeführt, wobei er sich dabei auf die ,historische‘ Konkrete Poesie beschränkt hat. Diese verstand sich als [...] das ästhetische Kapitel in der Entwicklung einer universalen Gemeinschaftssprache. Sie bot das umfassende geistige Spielfeld, in dem sich [...] der Dichter als Gesetzgeber und Schiedsrichter zu sehen hatte. Unter einer Gemeinschaftssprache stellten wir uns dabei nicht eine Neuauflage von Volapük oder Esperanto vor, wie auch nicht eine einzige natürliche Sprache, so gut sich das Englische in der Praxis auch bewährt, sondern eine bewußt auf visuelle und auditive Kommunikation beruhende Einstellung zur Sprache, welche aus je39 40

41 42 43 44

Clüver (2000), S. 33. Auf den Zusammenhang von Internationalität und Intermedialität hat Ernst (1991b), S. 9 explizit hingewiesen: „So wie die Konkrete Poesie Gattungsschranken durchbricht, so hat sie auch Grenzen der Nationalliteratur überschritten und dabei weltweite Verbreitung gefunden, ja sie läßt darüber hinaus den Versuch erkennen, über den intermedialen Ansatz hinaus ein interkulturelles Konzept umzusetzen.“ Vgl. hierzu gomringer (1955), S. 19. Vgl. gomringer (1969b), S. 292: „der sinn der reduzierten sprachen ist nicht die technik der reduktion an sich, sondern die größere beweglichkeit und freiheit […] der mitteilung, die im übrigen so allgemeinverständlich wie nur möglich sei, wie anweisungen auf flughäfen oder straßenverkehrszeichen.“ Assmann (1994), S. 139. Rühm (2001), S. 236.



Allgemeine Begriffsklärung

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der bestehenden Sprache schließlich eine in Zeichen und Syntax leichtfaßliche Anwendung erlaubte.45

Für die weitere Begrifflichkeit ist folgende Präzisierung erforderlich: Sprache verfügt über mehrere Existenzformen. Vor allem ist hierbei an Rede und Schrift zu denken, daneben existieren aber noch viele weitere (z.B. Gebärdensprache, Mimik, Piktographie etc.). Mit der kategorialen Unterscheidung von Rede und Schrift folge ich nicht nur Platon,46 sondern auch der strukturalistischen Linguistik Saussurescher Prägung.47 Im Gegensatz zu diesen beiden Positionen geht es mir hier jedoch nur um die Unterscheidung und nicht um eine Bewertung von Rede und Schrift. Die Konkrete Poesie beabsichtigte, die Möglichkeit zu „unmittelbarer, polyglotter Äußerung“48 zu schaffen. Dabei sollte man nicht an eine Neuauflage von Esperanto o.Ä. denken, denn es ging vielmehr um „eine bewußt auf visuelle und auditive Kommunikation beruhende Einstellung zur Sprache“49, die die visuellen und auditiven Zeichen aus dem linguistischen Code existierender Sprache herauszulösen versuchte. Die internationale Ausrichtung der Konkreten Poesie liegt schon in ihren Prämissen begründet: So ist die Universalität der Konkreten Poesie sowohl Folge der Konkretheit ihres Materials und seiner asyntaktischen Verwendung, als auch Folge ihrer strukturgebundenen Semantik, der Auflösung des subjektiven Bezugspunkts und der daraus resultierenden Multiplizierbarkeit der Sprachelemente.50

Sowohl die Reduktion des Sprachmaterials und der gezielte Einsatz der Zeichenmaterialität als auch die Befreiung von syntaktischen Konventionen unterstützen natürlich den internationalen Status einer jeden Dichtung. Eine weitere Prämisse der Konkreten Poesie hat ihre internationale Ausrichtung erleichtert bzw. gefördert: Zum Text und der Sinnkonstitution tragen auch die visuellen Präsentationsebenen (Typographie,51 Größe, Anordnung, Farbe etc.), die sich alle über nationale Grenzen hinwegsetzen, bei. Erstaunlicherweise werden die visuellen Präsen45 46 47 48 49 50

51

Gomringer (1969a), S. 16f. V.a. Phaidros 274a–275d. Vgl. hierzu Achten-Rieske (2008), S. 43ff. und Schmitz-Emans (1997), S. 182f. Die Unterscheidung von Rede und Schrift steht Derridas Auffassung der Sprache als Schrift konträr gegenüber. Vgl. hierzu Meyer (1993), S. 15. Bentivoglio (1979), S. 185. Franzobel (1994), S. 150. Lenz (1976), S. 101. Ebenso auch Kopfermann (1974), S. XI: „Konkrete Poesie ist als internationale konzipiert: die Sprachelemente sind nicht an die Muttersprache des Autors gebunden, Reduktion und Reproduktion lassen die Kombination von Elementen verschiedener Sprachen im selben Text zu. Begründet wird das mit der Materialität […] der Vokabel und elementaren Strukturen, die in allen (oder jedenfalls den indogermanischen) Sprachen gleich sind.“ Wegweisend für eine innovative typographische Gestaltung von Gedichten war vor allem der Werbegraphiker El Lissitzky (v.a. Topographie der Typographie (1923)), der im Jahre 1922 futuristische Gedichte Majakowskis arrangiert hat. Vgl. hierzu Schenk (2000), S. 142ff.

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tationsebenen dennoch in den meisten Untersuchungen zur Konkreten Poesie nicht ausreichend berücksichtigt, so wie ja auch sonst in der Philologie Schrifttype, Auswahl des Papiers und der gesamte materiale ,Paratext‘ eines Sprachkunstwerkes üblicherweise keine Erwähnung finden.52 Stattdessen werden unzulässigerweise nach wie vor oftmals ausschließlich traditionelle literarische Analysemethoden bei der Interpretation Konkreter Poesie angewandt. Ich komme zur Begrifflichkeit zurück: In der vorliegenden Arbeit ist der Begriff ,Konkrete Poesie‘ all jenen Fällen vorbehalten, in denen eine Transparenz des Zeichengebrauchs nicht gegeben ist, sondern stattdessen die Materialität53 der jeweils eingesetzten Zeichen im Vordergrund steht, wie dies in ähnlicher Weise schon für den Futurismus und Dadaismus gilt. Konkrete Poesie ist vor allem „a revolt against the transparency of the word“54, gegen die sich prinzipiell, aber in wesentlich geringerem Maße Dichtung per se richtet.55 Für die Konkrete Poesie gilt daher: Das Zeichen verliert hier seine Transparenz mit Blick auf seine konventionelle Funktion und seinen konventionellen Sinn. Sein Material erscheint plötzlich als widerständig gegen die uns geläufigen Verfahren der Produktion und Vermittlung von Sinn. Verliert das Zeichen aber seine konventionellen Funktionen und Gebrauchsweisen, steht es zu neuer Gestaltung zur Verfügung.56

Damit einher geht eine prinzipielle Umwertung von Signifikat und Signifikant, die sich in einem „processo di progressiva perdita di valore subito dal significato verbale a vantaggio del significante […]“57 manifestiert. Konkrete Poesie steht daher für die Befreiung der Sprache (Schrift und Rede) von ihrer referentiellen Funktion, und zwar durch die Betonung der ihr inhärenten Materialität: Materiality of language is that aspect which remains resistent to an absolute subsumption into the ideality of meaning. […] To see the letter not as phoneme but as ink, and to further insist on that materiality, inevitably contests the status of language as a bearer of uncontaminated meaning.58 52 53 54 55 56

57 58

Eine der wenigen Ausnahmen stellt beispielsweise Vollert (1999) dar. In dieser Untersuchung ist ein ganzes Kapitel dem gezielten Einsatz der Typographie in der Konkreten Poesie gewidmet. Alternativ zum Begriff ,Materialität‘ wurde auch der Begriff ,Körper‘ vorgeschlagen. Vgl. Wende (2002), S. 302. Der Begriff des Körpers scheint mir – gerade mit Blick auf den Aspekt der lautlichen Materialität von Zeichen – in diesem Kontext allerdings wenig geeignet. Waldrop (1982), S. 315. Vgl. beispielsweise Mon (1959), S. 31f.: „sprechen, das sich zur poesie umkehrt, ist ein versuch, des selbstverständlichsten, das unter den komplizierten und aufreibenden arbeiten der sprache vergessen wurde, habhaft zu werden.“ krüger/ohmer (2006b), S. 10. Vgl. Schenk (2000), S. 106ff. und Groh (2000), S. 200: „La LINGUA e le PAROLE e le loro IMMAGINI non vengono utilizzate come informazione, non si trasporta nulla di leggendario, bensì la RAPPRESENTAZIONE E IL CONTENUTO.“ Hervorhebungen vom Autor. Pignotti/Stefanelli (1980), S. 143. Perloff (1991), S. 129. Vgl. auch Sheppard (2005), S. 218.



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Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, den Siegfried J. Schmidt in seinem Definitionsversuch der Konkreten Kunst im Allgemeinen und damit zugleich der Konkreten Poesie im Besonderen neben ihrem Materialcharakter benannt hat: Konkrete Poesie ist amimetisch. Ein konkretes Gedicht „ist eine realität an sich und kein gedicht über…“59, heißt es schon bei Eugen Gomringer. Es geht hier nicht um Repräsentation, sondern um die Präsentation von Zeichenmaterial: Konkrete Kunst, in welchem Medium auch immer sie verwirklicht ist, ist eine nichtmimetische, generative Kunst, die die sinnliche Wahrnehmung der sichtbaren Wirklichkeit […] aufhebt und sich auf die Thematisierung ihrer künstlerischen Mittel selbst konzentriert. […] Sie [scil. die künstlerischen Mittel; B.N.] gewinnen Selbständigkeit, sie werden entfunktionalisiert, konkretisiert.60

Die Konkrete Poesie ist hier Teil eines Prozesses, der die gesamte Kunst der Moderne betrifft, nämlich der „Entmimetisierung“61. Mit der Absage an jede mimetische Funktion geht eine weitere Eigenschaft der Konkreten Poesie einher, nämlich ihre Autoreferentialität. Auf eindringliche Weise zeugt Gomringers Gedicht est est est (1954)62 von dieser, denn es besteht ausschließlich aus drei Zeilen, in denen jeweils dreimal das Wort est erscheint. Gomringer führt hier ausschließlich die materielle Präsenz der von ihm gewählten skripturalen Zeichen vor, ohne diese in einen syntaktischen oder außersprachlichen Kontext zu stellen. Auf der Suche nach einer Definition der Konkreten Poesie kann keinesfalls der definitorischen Verknüpfung des Konkreten mit dem Konstruktiven zugestimmt werden. Eine solche Verknüpfung kann gegeben sein – zum Beispiel ist sie es bei all jenen Gedichten, die mathematischen Konstruktionsregeln folgen –, jedoch ist sie keine conditio sine qua non. Wie es beispielsweise in den theoretischen Schriften der Gruppe Noigandres wiederholt zu lesen ist, ist die konstruktivistische Textherstellung nur eine unter vielen Möglichkeiten Konkreten Dichtens. Die theoretischen Ansätze zur Konkreten Poesie sind sehr unterschiedlich und erlauben keine einheitliche Definition des Gegenstandes: „The day we know exactly what concrete poetry is will be the day we know exactly what poetry is.“63 Christina Weiss hat zwei Charakteristika der Konkreten Poesie herausgearbeitet, nämlich die konkrete Semantik und das konkrete Sehen.64 Dass die Konkrete Poesie eine besondere Rezeptionshaltung erfordert, ist ebenso naheliegend wie unbestreitbar, auch der „konkreten Semantik“ ist in diesem Zusammenhang zuzustimmen, denn selbst wenn nicht-sprachliche 59 60 61 62 63 64

gomringer (1969b), S. 281. Vgl. die letzten beiden Verse in Archibald MacLeish’ Gedicht Ars Poetica (1962): „A poem should not mean/ But be.“ Abgedruckt in MacLeish (1952), S. 41. Schmidt (1968), S. 9. Hervorhebung vom Autor. Vgl. hierzu Cobbing/Mayer (1978), S. 9: „one clear distinction can be made i.e. CONCRETE IS A NON-MIMETIC ABSTRACT = abstract minus mimesis = CONCRETE.“ Hervorhebung von den Autoren. Willems (1989), S. 159. gomringer (1969b), S. 24. Solt (1970), S. 59. Vgl. Weiss (1984), S. 116f.

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Zeichen ein konkretes Gedicht bilden, erscheinen diese dann semantisiert: „the nonlinguistic objects […] function in a manner related to the semantic character of words.“65 Die linguistische oder lexikalische Semantik wird hier lediglich durch eine Konkrete, gedichtinterne Semantik ersetzt. Anders ausgedrückt heißt dies, dass Konkrete Gedichte eine eigene Semantik aufbauen. Diese unterscheidet sich vor allem dadurch von der lexikalischen Semantik, dass sie das Produkt einer Semantisierung des Formalen ist. Die von Christina Weiss identifizierten Charakteristika der „konkreten Semantik“ und des „konkreten Sehens“ sagen allerdings nur wenig über die Besonderheiten der Konkreten Poesie aus. Ihnen sollten mindestens zwei weitere zur Seite gestellt werden: die Betonung der Zeichenmaterialität und die Zeichenreduktion. Konkrete Poesie zeichnet sich nämlich immer durch ein minimales Zeichenangebot aus. Darauf wird zurückzukommen sein, wenn es um die Rezeption dieser Dichtung geht. Um einen Eindruck des tatsächlichen Ausmaßes des Definitionsproblems zu vermitteln, betrachten wir nun einige Positionen zur Konkreten Poesie. Beispielsweise vertrat Klaus Peter Dencker in der Einleitung seiner Anfang der 1970er Jahre erschienenen Anthologie Text-Bilder. Visuelle Poesie international (1972) folgende Meinung: „Bisher gibt es noch keine allgemein gültige Definition dessen, was Konkrete Poesie […] sei.“66 Vergleichbar ernüchternd äußerte sich auch Mary Ellen Solt, für die die Bezeichnung ,Konkrete Poesie‘ zum Sammelbegriff experimenteller Poesie überhaupt geworden war: „There are now so many kinds of experimental poetry labelled ‘concrete’ that it is difficult to say what the word means.“67 Andere Dichter hatten dagegen wesentlich genauere Vorstellungen, was Konkrete Poesie sei. Bei Décio Pignatari, einem der Gründungsmitglieder der Gruppe Noigandres, heißt es: „we would say that concrete poetry results from the interaction of the verbal, from the ineluctable modality of the visible and the ineluctable modality of the audible, in a very short space of time through very short times of space.“68 Konkrete Poesie wird hier als Zusammenspiel von der verbalen, visuellen und akustischen Dimension definiert. An dieser Stelle muss auf Décio Pignatari verwiesen werden, denn Brasilien nimmt innerhalb der theoretischen Reflexionen über die Konkrete Poesie eine exponierte Position ein.69 Von großer Bedeutung ist hier vor allem der plano-piloto para poesia concreta (1958),70 zumal hier sehr konkrete Vorstellungen formuliert sind. Im Folgenden seien daher die in unserem Kontext wichtigsten Passagen zitiert und kommmentiert: poesia concreta: tensão de palavras-coisas no espaço-tempo. estrutura dinâmica: multiplicidade de movimentos concomitantes. também na música – por definiçâo, uma arte do tempo – intervém o espaço (webern e seus seguidores: boulez e stockhausen; música e electrônica); nas 65 66 67 68 69 70

Solt (1970), S. 7. Dencker (1972), S. 7f. Solt (1970), S. 7. Vgl. Brogan (1994), S. 43: „The most conspicuous result of the popularization was a widespread confusion about the term c.p. [concrete poetry] which has persisted to the present day.“ Pignatari (1982), S. 189. Vgl. hierzu die Ausführungen in Perrone (1996), S. 25f. Erstmals erschienen ist der plano-piloto para poesia concreta als Beilage der vierten Ausgabe der Zeitschrift Noigandres (1958).

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artes visuais – espaciais, por definiçâo – intervém o tempo (mondrian e a série boogie-woogie; max bill; albers e a ambivalência perceptiva; arte concreta, em geral). ideograma: apelo à comunicação não-verbal. o poema concreto comunica a sua própria estrutura: estrutura-conteúdo. o poema concreto é um objeto em e por si mesmo, não um intér­ prete de objetos exteriores e/ou sensações mais ou menos subjetivas. seu material: a palavra (som, forma visual, carga semântica). seu problema: um problema de funções-relações desse material. fatores de proximidade e semelhança, psicologia da gestalt. ritmo: força relacional. o poema concreto,usando o sistema fonético (dígitos) e uma sintaxe analógica, cria uma área lingüística específica – “verbivocovisual” – que participa das vantagens da comunicação nãoverbal,s em abdicar das virtualidades da palavra. com o poema concreto ocorre o fenômeno da metacomunicação; coincidência e simultaneidade da comunicação verbal e não-verbal, coma nota de que se trata de uma comunicação de formas, de uma estrutura-conteúdo, não da usual comunicação de mensagens. a poesia concreta visa ao mínimo múltiplo comum da linguagem […]. ao conflito de fundo-e-forma em busca de identificação,chamamos de isomorfismo. paralelamente ao isomorfismo fundo-forma, se desenvolve o isomorfismo espaço-tempo, que gera o movimento. […]

[…]

poesia concreta: uma responsabilidade integral perante a linguagem. realismo total. contra uma poesia de expressão, subjetiva e hedonística. criar problemas exatos e resolvê-los em termos de linguagem sensível. uma arte geral da palavra. o poema-produto: objeto útil.71

Nach der hier von der Gruppe Noigandres gegebenen Definition charakterisieren folgende Aspekte die Konkrete Poesie: 1. Ihr Material ist das Wort, und zwar in allen seinen Dimensionen, nämlich der semantischen, der akustischen und auch der visuellen („verbivocovisual“72). Keinesfalls wird der mögliche semantische Gehalt der Konkreten Dichtung geleugnet. Kennzeichnend ist die vollkommene Verantwortung gegenüber der Sprache (als Material). 2. Angestrebt wird die Verwendung einer objektivierten Sprache, vermieden wird das Eindringen subjektiver Momente in die Dichtung. 3. Das sprachliche Material soll so gestaltet sein, dass es den kleinsten gemeinsamen Nenner aller Sprachen enthält. 4. Die gestalterische Form der Konkreten Dichtung ist das Ideogramm. Die Fläche wird dabei als konstitutives Element eingesetzt. Das Ideogramm vermittelt seine ei71 72

Campos/Pignatari/Campos (1987), S. 156f. Dieses Konzept hat die Gruppe Noigandres von James Joyce übernommen, der den Begriff ‘verbivocovisual’ in Finnegans Wake (1939) erstmals verwendet hatte. Das Konzept einer verbivocovisuellen Dichtung nähert sich zugleich stark Pounds Erläuterungen in seinem ABC of Reading (1934) an: „I throwing the object (fixed or moving) on to the visual imagination. II inducing emotional correlations by the sound and rhythm of speech. III inducing both of the effects by stimulating the associations (intellectual or emotional) that have remained in the receiver’s consciousness in relation to the actual word or word groups employed (phanopoeia, melopoeia, logopoeia).“ Pound (1987), S. 63.

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gene Struktur und keine von dieser abgetrennte Information: „Strukturdarstellung statt Botschaftsübermittlung, Präsentation statt Repräsentation.“73 Das Ideogramm genügt sich selbst. Bezüglich des Ideogramms besteht die Tendenz zum Isomorphismus oder der Ikonizität,74 d.h. der Übereinstimmung von Form und Inhalt. „It is this concern  – the attempt to make poetic meaning isomorphic with its visual structure, with its presentational form, and its appearance on the page – which is the point of commonality between Gomringer and the Brazilian Noigandres group.“75 5. Im Ideogramm unterstützen sich verbale und non-verbale Elemente gegenseitig und sind gemeinsam am Prozess der Sinnkonstitution beteiligt. 6. Konkrete Poesie stellt einen Gebrauchsgegenstand dar.76 In einem Interview aus dem Jahre 1996 hat Haroldo de Campos zusätzlich zu den eben erläuterten Aspekten noch ein weiteres Merkmal der Konkreten Poesie genannt: „a abolição do verso“77. Konkrete Poesie wird fälschlicherweise oft auf die Vorstellung von visueller Dichtung eingschränkt, obgleich diese nur einen – wenn auch den größten – Teilbereich darstellt. Auch Max Bense hat in einer seiner Definitionen der Konkreten Poesie die Flächenanordnung der vom Dichter eingesetzten Zeichen zum gattungskonstituierenden Merkmal erhoben: „Nicht alte Syntax und semantische Determination regelt jetzt die Beziehungen der Worte, sondern eine freie Toposyntax […] tritt jetzt an ihre Stelle.“78 Dies steht in der langen Tradition, sich mit der chinesischen Schriftsprache, in der die Syntax durch das räumliche Arrangement von Schriftzeichen komponiert wird, zu beschäftigen (z.B. Gottfried Wilhelm Leibniz, Wilhelm von Humboldt, Victor Segalen, Ernest Fenollosa und Henri Michaux). In dieser Definition kommt die Konkrete Lautpoesie allerdings nicht zur Sprache. Da nimmt es wenig wunder, dass im allgemeinen Bewusstsein Konkrete Poesie oft auf den Bereich des Visuellen festgelegt wurde und noch immer wird. Für eine vollständige Erfassung der Intermedialitätsphänomene innerhalb der Konkreten Poesie müssen jedoch alle ihrer Teilbereiche berücksichtigt werden. Benses vollständige Definition lautet wie folgt: konkrete poesie: es handelt sich um eine poesie, die weder den semantischen noch den ästhetischen sinn ihrer elemente, etwa der wörter, durch die übliche bildung linear und grammatisch geordneter kontexte erzeugt, sondern dabei auf visuelle und flächige konnexe reflektiert. nicht das nacheinander der wörter im bewusstsein ist also das ursprüngliche konstruktive prinzip dieser art von poesie, sondern ihr miteinander in der wahrnehmung. das wort wird nicht in erster linie als 73 74 75 76 77 78

Raminelli (1997), S. 62. Vgl. Clüver (2008). Drucker (1996), S. 44. Vgl. hierzu gomringer (1969b), S. 291. Haroldo de Campos, zitiert nach Krüger (2005), S. 405. krüger/ohmer (2006b), S. 12.



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intentionaler bedeutungsträger verwendet, sondern mindestens darüber hinaus auch als materiales gestaltungselement, aber so, dass bedeutung und gestaltung einander wechselseitig bedingen und ausdrücken. simultanität der semantischen und ästhetischen funktion der wörter auf der grundlage gleichzeitiger ausnützung aller materialen dimensionen dieser sprachlichen elemente, die selbstverständlich auch als zerbrochene erscheinen können, in silben, laute, morpheme oder buchstaben, um die ästhetischen zustände der sprache in ihrer abhängigkeit von deren analytischen wie synthetischen möglichkeiten auszudrücken. in diesem sinne deckt erst das prinzip der konkreten poesie den materialen reichtum der sprache auf.79

Aufgrund der flächigen Anordnung der – nach Bense – sprachlichen Elemente der Konkreten Poesie spielt für diese Art der Dichtung die Simultaneität der Rezeption eine entscheidende Rolle.80 Diese unterscheidet sich natürlich stark von der traditionell sukzessiv verlaufenden Lektüre. Ebenfalls wichtig ist der Aspekt, dass das Wort bzw. das skripturale Material in der Konkreten Poesie nicht auf eine Mitteilungs- und daher Bedeutungsfunktion reduziert wird, sondern alle „materialen dimensionen dieser sprachlichen elemente“81 in den Blick genommen werden, d.h. die verbale, die vokale und die visuelle Dimension. Der Bereich des Semantischen wird daher nicht ausgeklammert, sondern dieser wird ebenfalls konkretisiert, und zwar auch dann, wenn „die sprachlichen elemente […] als zerbrochene erscheinen können“82. Die konkreten Zeichen sind dann Träger einer „spezifisch konkreten ästhetischen Botschaft“83. Sowohl die ästhetische – bzw. im vorliegenden Zitat ausschließlich die visuelle – als auch die semantische Funktion der sprachlichen Zeichen erscheint transparent: „konkrete Poesie […] als Erforschung der Materialität von Sprache, zu der optisch wahrnehmbare Form und begriffliche Potenz in gleicher Weise gehören.“84 In der soeben zitierten Definition beschränkt Max Bense die Konkrete Poesie auf die visuelle Konkrete Poesie, in einem späteren, zusammen mit Reinhard Döhl entworfenen Überblick über die Konkrete Poesie korrigiert er diese Einschränkung hin zu einer größeren Vielfältigkeit von medialen Erscheinungsformen. Hier werden nun sechs Tendenzen unterschieden, die den visuellen, den akustischen und auch den taktilen Bereich abdecken:

79 80

81 82 83 84

bense (1965b), o. S. Das Prinzip der Simultaneität hat die Dichtung von der Malerei übernommen. Die Begriffsschöpfung simultanisme geht laut Guillaume Apollinaire auf den Maler Robert Delaunay zurück. Vgl. hierzu den Artikel Simultanisme – Librettisme in Les soirées de Paris no 25 vom 15. Juni 1914. Wiederabdruck in Apollinaire (1971). Explizit auf den Bereich der Dichtung übertragen hat das Konzept des simultanisme Henri-Martin Barzun, und zwar in seinem Manifeste sur le simultanisme poétique (1914). Allerdings hat Apollinaire die Legitimität dieser Übertragung insofern angezweifelt, als er Barzuns Auffassung von Simultaneität, nämlich simultan rezitierte Gedichte, dem futuristischen Simultaneitätskonzept nach Marinetti gegenübergestellt hat. Apollinaire hat die visuelle statt der auditiven Simultaneität bevorzugt. bense (1965b), o. S. bense (1965b), o. S. Bense (1965a), S. 1240. Weiss (1984), S. 117.

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1. buchstaben = typenarrangements = buchstaben-bilder 2. zeichen = graphisches arrangement = schrift-bilder 3. serielle und permutationelle realisation = metrische und akustische poesie 4. klang = klangliches arrangement = phonetische poesie 5. stochastische und topologische poesie 6. kybernetische und materielle poesie.85

Den wohl weitesten Begriff von Konkreter Poesie hat David W. Seaman in seiner Studie über die Konkrete Poesie in Frankreich vertreten. Für ihn fallen alle Dichtungsformen, die das Wort als visuelle Form auffassen, unter Konkrete Poesie, also beispielsweise schon antike technopaignia. Zwar ist auch er sich bewusst, dass die Bewegung der Konkreten Poesie ein Kind der Nachkriegsjahre ist, aber für ihn steht es außer Frage, dass certain aspects of earlier poetry in the visual tradition can also be called ‘concrete’. Such poetry reflects a consciousness of concrete qualities and has played a role in the more or less continuous tradition leading from the origins of writing to the sort of poetry which this book is about [scil. Concrete Poetry; B.N.]. The term ‘concrete’ will thus be used, from time to time here, to refer to aspects of earlier work within the tradition.86

Konkretes Dichten ist nach dieser Definition gleichbedeutend mit einem Formbewusstsein für das eingesetzte Material. Die terminologische Unschärfe bewirkt, dass man als Leser letzten Endes darauf angewiesen ist, dass jemand – bevorzugt der Dichter oder der Herausgeber einer Anthologie – ein bestimmtes Gedicht der Konkreten Poesie zuordnet. Hier ist die Konkrete Poesie Opfer ihrer eigenen Attraktivität und Beliebtheit geworden, denn „wenn ein Prozeß in die Breite geht, verwischen sich die Ränder, die Übergänge werden fließend“87. Ist ein bestimmtes Textherstellungsverfahren gemeint, könnte man, um Missverständnisse zu vermeiden, ebenso gut statt von Konkreter von Konkretistischer Poesie sprechen.88 Zumal der erste Begriff sich aber in der Literaturwissenschaft eingebürgert hat, soll er auch hier beibehalten werden. In keinem Fall sind die Bezeichnungen ,konkret‘ und ,visuell‘ austauschbar, wie dies öfters unterstellt wurde. Beispielsweise liest man in The New Princeton Handbook of Poetic Terms (1994) folgende Definition: „Concrete poetry is visual poetry, esp. of the 1950s and 1960s [...].“89 Visuelle Poesie kann zwar der Konkreten Poesie – verstanden als 85 86 87 88

89

bense/döhl (1972), S. 168. Seaman (1981), S. 2. Schmidt (1968), S. 8. Vgl. hierzu Sauerbier (1976), S. 110: „Wenn […] statt von ‚konkreter Poesie‘ von ‚konkretistischen Texten‘ gesprochen wird, so hat das seinen Grund darin, daß die Terminologie hier nicht programmatischen, sondern deskriptiven, analytischen und kritischen Bestimmungen von ausgeführter, vollzogener Programmatik in Texten folgt […]. Der Terminus ‚konkretistisch‘ zeigt zudem das Interesse an der Haltung von Textbenutzern, von kommunizierenden Produzenten und Rezipienten zum Text an – und diese Haltung soll aus den Texten ermittelt werden.“ Brogan (1994), S. 43. Vgl. hierzu auch Higgins (1987), S. 231: „Concrete poetry: modern visual poems which are constructed out of arrays of letters such as the alphabet [...].“ Auch im Eintrag zur Kon-



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bestimmter Zeitabschnitt der Dichtungsgeschichte – angehören, dies muss aber nicht zwingend so sein. Visuelle Poesie existiert ja schon seit der Antike.90 Hier wäre zu fragen, inwiefern die Tatsache, dass jeder schriftliche Text die graphische Disposition seiner Schriftzeichen bedingt, nicht selbst schon ein Aspekt des Textes ist, der im Sinne eines konkretistischen Textverständnisses genutzt werden könnte. Dies bedeutete, dass auch antike technopaignia eine konkretistische Auffassung der graphischen Disponiertheit des schriftlichen Artefakts implizieren und daher als Elemente einer Geschichte der Konkreten Poesie in Erwägung gezogen werden müssten.91 In diesen antiken Figurengedichten trifft man im Gegensatz zu Konkreten Texten allerdings stets auf eine gewisse Übereinstimmung zwischen Textsemantik und Bildbedeutung. Der Deckungsgrad beider kann dabei unterschiedlich hoch sein. In keinem Fall ist Michel Foucault und anderen jedoch darin zuzustimmen, dass in antiken Figurengedichten stets eine „versichernde Doppelung von Textsemantik und Bildbedeutung“92 vorherrscht.93 Die Traditionslinie, die von der Antike bis zur Konkreten Poesie führt, wird an einem Beispiel aus Brasilien besonders deutlich: Von Augusto de Campos stammt ein Piktogramm in Eiform,94 das stark an das berühmte Figurengedicht des Simias von Rhodos in Form eines Eies erinnert. Dass es sich bei dieser augenscheinlichen Ähnlichkeit beider Texte um keinen Zufall handelt, hat Décio Pignatari systematisch in seinem Aufsatz Ovo Novo no velho (1960)95 dargelegt, aus dem auch die folgende Gegenüberstellung beider Gedichte entnommen ist. Selbst ein solch expliziter Rückgriff auf ein antikes Gedicht bedeutet dabei keinen Widerspruch zum Innovationsbedürfnis der Konkreten Poesie. Im Gegensatz zu Marinetti und Breton, die für ihre Vision des Futurismus respektive des Surrealismus einen völligen Neuanfang proklamiert haben, waren sich die Dichter Konkreter Poesie nach 1945 bewusst, ein Glied in einer langen Traditionsreihe zu sein. In der Selbsteinschätzung wurde dies allerdings oftmals gleichgesetzt mit dem „Erfüllungsstadium eines telelogischen Prozesses […]“96. Innovation wird hier verstanden als ein Produkt des neuartigen Umgangs mit – auch altem – Material. Statt eines Bruches mit der Tradition wurde in der Konkreten Poesie ein Fortschreiben einer Traditionslinie angestrebt.

90 91 92 93 94 95 96

kreten Poesie im Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie (2001) wird Konkrete mit visueller Poesie gleichgesetzt. Vgl. hierzu beispielsweise Ernst (2002). Vgl. Ernst (2002), S. 16: „From the technopaignia of the Hellenistic period right down to the visual mimetics of concrete poetry there is an impressive degree of continuity […].“ Penzkofer (2007), S. 194. Zum antiken Figurengedicht vgl. Ernst (1991a). Vgl. Clüver (2008), S. 25ff. Was die Frage nach der Semantik angeht, so hat Clüver dargelegt, dass „der Verweis auf eine außertextliche Realität […] in keiner Weise eingeschränkt [ist]“ (S. 25), das Gedicht aber dennoch zugleich selbstreflexiv sei. Campos/Pignatari/Campos (1987), S. 130–137, Abbildung auf S. 134. Frosch (2008), S. 40.

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Abb. 1  Simias von Rhodos, Ei, 3. Jh. v.Chr. (Rekonstruktion)

Abb. 2  Augusto de Campos, ovo novelo (1955) (Ausschnitt)

Die terminologische Unterscheidung von Konkreter und visueller Poesie wurde vor allem von Klaus Peter Dencker vertreten, so zum Beispiel im Einleitungskapitel seiner Anthologie Text-Bilder. Visuelle Poesie international (1972): Geht man […] davon aus, daß bei den Quellen der Konkreten Poesie das Sprachmaterial, der Text, Basis und dominierende Größe war und bei denen der Visuellen Poesie das figurale Gestalten mit oder durch einen Text, so läßt sich unsere Gattung ,Textbild‘ gut eingrenzen.97

Diese Unterscheidung scheint allerdings wenig überzeugend, zumal gerade in der Konkreten Poesie der Anordnung der Textelemente eine entscheidende Rolle zukommt. Auch Christina Weiss, die in der Leserhaltung ein Unterscheidungskriterium zwischen Konkreter Poesie und visueller Poesie ausmachen zu können meinte, ist daher nicht zuzustimmen: „Bei visuellen Texten basiert die Meditation auf dem spannungsgeladenen Wechselspiel zwischen Lesen und Sehen, zwischen sprachlichem und optischem Assoziieren.“98 Die intermediale Verknüpfung von Bild und Text in einem Großteil der Konkreten Poesie erfordert ja ebenfalls eine Rezeption, die zwischen Lesen und Sehen angesiedelt ist, und eine entsprechende Bereitschaft des Lesers. Am deulichsten wird der von Dencker vertretene typologische Unterschied zwischen Konkreter und visueller Poesie im folgenden Zitat, das aus diesem Grund in seiner ganzen Länge zitiert wird: Konkrete Poesie fungiert nicht nur […] als Oberbegriff, als Stilrichtung, sondern als Gattungsbezeichnung und umfasst alles, was nicht Visuelle Poesie, sound poetry usw. ist. D.h. innerhalb der Konkreten Poesie gibt es zwar die visuelle Realisation und die akustische Realisation von Texten; diese sind aber zu unterscheiden von den Arbeiten der rein Visuellen Poesie und sound poetry aufgrund der eingesetzten unterschiedlichen Qualität, Dominanz und 97 98

Dencker (1972), S. 8. In jüngster Zeit hat Dencker selbst darauf hingewiesen, dass zwischen der visuellen und der Konkreten Poesie eine Definitionsunsicherheit herrsche. Vgl. Dencker (2011), S. 10f. Weiss (1984), S. 109.

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Funktion artfremder Hilfsmittel: Anders gesagt: Die visuelle Komponente in der Konkreten Poesie ergibt sich zwangsläufig aus der dieser Poesie eigenen Organisation von Text und Buchstabenmaterial. Dabei erscheint allerdings das Endprodukt nicht als Bild, sondern als Konstellation, bei der notwendig Raum und Fläche ins Bewußtsein geraten, weil sich bisher die Lesegewohnheiten an der Linie, der Textzeile von links nach rechts orientierte, nun aber durch Kombinationsmöglichkeiten nach oben und unten, ja zu allen Seiten, das schon immer dagewesene Sehen eines Textes dem Leser erst richtig bewußt wird. Textbilder dagegen, Arbeiten der Visuellen Poesie, sind wesentlich komplexere Gebilde und daran zu erkennen, daß neben der graphischen Qualität des Buchstabenmaterials bildnerische Elemente (Farbe, Formen, Zeichnungen, Collagen usw.) als Kontrast, Spiegelung, Verzerrung oder deutliche Illustration der Semantik von verwendeten Wörtern dienen. Es entstehen hier also Textbilder, wie auf der anderen Seite in der reinen sound poetry die Wortmusik.99

Laut Dencker besteht ein Unterscheidungskriterium zwischen visueller und Konkreter Poesie darin, dass die visuelle Poesie nicht auf skripturale Elemente beschränkt sei, sondern zusätzliches Material verwende. Zugleich hat Dencker im vorliegenden Zitat darauf hingewiesen, dass der Begriff ,visuelle Poesie‘ – v.a. dadurch, dass er von der Konkreten Poesie okkupiert wurde – ,verbraucht‘ sei. Dencker hat als Alternative daher den Terminus „Textbild“ vorgeschlagen. Dieser erkläre sich daraus, dass die visuelle Poesie „noch immer gebunden an das Spiel mit der Form von Buchstaben und der Semantik von Wörtern […]“100 sei. Im Gegensatz zur Konkreten Poesie nutzt die visuelle Dichtung laut Dencker visuelle Hilfsmittel und Verfahren. An anderer Stelle hat Dencker seine „Textbilder“ als eine Fortentwicklung der Konkreten Poesie bezeichnet: „Eins scheint sich allerdings zu bestätigen […], nämlich daß die Visuelle Poesie in ihren gegenwärtigen Ausformungen auch als Weiterentwicklung der Konkreten Poesie angesehen werden kann.“101 Konkrete Poesie wäre demnach eine Vorstufe der visuellen Poesie. In dieselbe Richtung hat auch Eugen Gomringer in von der konkreten poesie zur visuellen poesie (1996) gewiesen, wenn er beide wie folgt voneinander abgegrenzt hat: „während die konkrete poesie die anschauung im wort, d.h. begrifflich, konzentriert, geht die visuelle poesie umgekehrt vor: sie macht begriffliches anschaulich. visuelle poesie illustriert.“102 Ebenso stellen für Siegfried J. Schmidt visuelle und Konkrete Poesie unterschiedliche Entwicklungsphasen der Dichtung nach 1945 dar: Seiner Meinung nach führte der Weg von der experimentellen Phase der Konkreten Dichtung über die visuelle Poesie hin zur konzeptionellen Dichtung.103 In einer seiner theoretischen Reflexionen hat Max Bense ebenfalls die prinzipielle Unterscheidung zwischen visueller und Konkreter Poesie bzw. zwischen visuellen und konkreten Texten getroffen:

99 100 101 102 103

Dencker (1972), S. 18. Hervorhebungen vom Autor. Dencker (1972), S. 19. Dencker (1972), S. 7f. Hervorhebung vom Autor. Vgl. Dencker (1997). gomringer (1996), S. 10. Erörtert wird diese Unterscheidung beispielsweise in Schmidt (1992), S. 230.

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ein ‚visueller text‘ ist ‚material‘, sofern die optischen aspekte der sprachlichen zeichen ihre verwendung als ästhetisches ‚material‘ bestimmen. hingegen wird von ‚konkreten texten‘ (oder von ‚konkreter poesie‘) gesprochen, wenn die sprachlichen elemente in ihrer triadischen funktion des verbalen, visuellen und vokalen gleichzeitig und ebenso semantisch wie ästhetisch ausgenützt werden, wenn also der text […] seine sprachliche eigenwelt mit seiner sprachlichen außenwelt identifiziert oder, wie man auch sagen kann, wenn das, was die wörter […] inhaltlich ausdrücken, im visuellen arrangement und in der vokalen wiedergabe gespiegelt ist.104

Diese Unterscheidung ist insofern schwer nachzuvollziehen, als in der Konkreten Poesie ja gerade die Materialität der verwendeten Zeichen besonders betont wird. Das widerspricht aber nicht der Tatsache, dass hier die sprachlichen Zeichen zugleich in skripturaler, visueller und vokaler Hinsicht in den Vordergrund treten. Sinnvoll wäre es, Konkrete Poesie als Oberbegriff dessen zu fassen, was alle Aspekte der Medialität eines Sprachkunstwerks mit poetischem Gewinn und Ausdruck in Szene setzt. Außerdem kann mit einigem zeitlichen Abstand der Behauptung, dass sich in der Konkreten Poesie immer das Inhaltliche „im visuellen arrangement und in der vokalen wiedergabe“ spiegele, nicht zugestimmt werden. Bei der Gruppe Noigandres läuft dies unter dem Begriff ,Isomorphismus‘, dem sich jedoch nicht alle Beispiele Konkreter Poesie zuordnen lassen. Weiter zur Begriffsverwirrung beigetragen hat der italienische Dichter Carlo Belloli, indem er die poesia visiva von der Konkreten Poesie folgendermaßen abzugrenzen suchte: Poesia visuale, dunque, non provocatoria, né evocatoria, ma istigatrice di sintesi, di indispensabilità verbale, di visualità direttamente generata e sollecitata dalle scelte semantiche. Poesia visuale che non rappresenta ma presenta. Poesia visuale che non esaurisce un argomento lessicale ma lo suggerisce. Poesia visuale epurata da situazioni semantiche occasionali, biografiche, esotiche, intrinseche, stupefatte, dal nesso, dalla polemica, dall’impegno pseudopolitico.105

Die Reduktion des Zeichenmaterials sowie die ausdrückliche Ablehnung, dieses mit dem Ziel der Repräsentation einzusetzen, sind ja gerade zentrale Aspekte der Poetik der Konkreten Poesie. Vincenzo Accame, der Bellolis Abgrenzungsversuche wohl auch als rhetorischen Gestus des Innovators aufgefasst hat, hat Belloli zu einem „indubbio precursore della poesia concreta“106 erklärt. Neben den bisher genannten gibt es weitere Parallelen zwischen der Konkreten Poesie und den poetischen Werken Bellolis: Die Wiederentdeckung des Ideogramms, die Aufwertung der Materialität der Zeichen, die sich frei im Raum verteilen sollen, sowie die Auflösung der logisch-diskursiven Syntaxstrukturen zugunsten der Fokussierung auf den visuell-bildlichen Charakter des einzelnen Wortes

104 bense (1964), S. 15. 105 Belloli (2000), S. 150. Im Gegensatz hierzu hat Groh (2000), S. 200 drei gemeinsame Merkmale der Konkreten Poesie und der poesia visiva ausgemacht: „internazionale – interverbale – intervisiva.“ 106 Accame, zitiert nach Pignotti/Stefanelli (1980), S. 123. In Giannì (1986), S. 111 wird Belloli als „l’iniziatore della poesia concreta“ bezeichnet.

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bilden Leitsätze der konkreten Dichter und stehen gleichzeitig im Mittelpunkt von Bellolis frühen Texten.107

Besonders sein zu Beginn der 1960er Jahre entwickeltes Konzept einer poesia audio­ visuale,108 in der „das Zusammenspiel von Lautgestalt, Visualität und Semantik eine wichtige Rolle spielt“109, weist unübersehbare Parallelen zur Konkreten Poesie, und zwar besonders zur verbivocovisuellen Dichtung der Gruppe Noigandres, auf. Die Abgrenzung der visuellen Dichtung gegenüber der Konkreten Poesie gestaltet sich in diesem Fall daher willkürlich und scheint vor allem dem Zweck zu dienen, die eigene Innovationsleistung zu betonen. Für Christina Weiss bezeichnet Konkretisierung immer das Verfahren einer bestimmten Sprachbehandlung, visuelle Dichtung hingegen deute nur auf den Aspekt der Intermedialität hin: „Visuelle Poesie definiert sich nicht als konkretistisches Textverfahren, sondern benennt als Terminus nur die Mischung zweier künstlerischer Medien, Text- und Bildelemente treten in einer textuellen Einheit in wechselseitige Beziehung zueinander.“110 In dieselbe Richtung weist auch die Unterscheidung des Gruppo 70: In der Konkreten Poesie erscheinen Wörter als Bilder, während die visuelle Poesie Wörter und Bilder in einen intermedialen Dialog treten lasse. Dass es jedoch auch bei diesem Abgrenzungsversuch vor allem darum geht, möglichst innovativ zu erscheinen, daran lässt der folgende Kommentar eines der Begründer des Gruppo 70, Eugenio Miccinis, kaum einen Zweifel: „In questi anni e in questo contesto culturale nasce e si sviluppa la poesia visiva, come fenomeno totalmente diverso e innovativo rispetto al concretismo […].“111 Allen Abgrenzungsbestrebungen der visuellen gegenüber der Konkreten Poesie ist insofern kritisch zu begegnen, als sie die Konkrete Poesie auf unzulässige Weise auf nur eines ihrer Wirkungsfelder einschränken, zu denen mindestens auch die Bereiche der Lautpoesie und der Gedichtobjekte zu rechnen sind. Man muss daher präziserweise von der visuellen Konkreten Poesie sprechen, um überhaupt eine gemeinsame Basis zu haben. Damit ist das Problem der Abgrenzung gelöst, denn die visuelle Poesie kann dann als Oberbegriff verstanden werden, der auch die visuelle Konkrete Poesie umfasst. Allerdings lässt sich auch so eine gewisse begriffliche Unschärfe nicht vermeiden, denn den beiden Attributen ,konkret‘ und ,visuell‘ ist gemeinsam, dass sie nicht als gesichert gelten können, sondern immer einen gewissen Grad an Willkür der Zuordnung – auf Seiten des Dichters, des Wissenschaftlers oder des Lesers – aufweisen.112 Nach diesen notwendigen Auseinandersetzungen mit den geläufigen Begrifflichkeiten, die letztendlich aufgrund ihrer zu vielfältigen Verwendung und definitorischen Offenheit zu keiner zufriedenstellenden Klärung führen konnten, verlassen wir die be107 108 109 110 111 112

Segler-Messner (2004), S. 103. Vgl. S. 322ff. dieser Arbeit. Segler-Messner (2004), S. 104. Weiss (1984), S. 121. Vgl. auch ib., S. 302f. Pignotti/Stefanelli (1980), S. 171. Vgl. hierzu Franzobel (1994), S. 145: „Daß der Begriff visuelle Poesie keineswegs als gesichert gilt, zeigt sich bereits bei den Titeln der Ausstellungen und Anthologien, die den Begriff gerne umschreiben […].“ Hervorhebung vom Autor.

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griffliche Seite und wenden uns den Prämissen für die Art von Dichtung, die den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit darstellt, zu: Erstens bedarf es einer intermedialen Verknüpfung zwischen Dichtung und Malerei oder Musik oder den Raumkünsten, und zweitens sollte die Dichtung aus der Zeit nach dem Aufkommen des Begriffs des Konkreten in der Kunst und der Poesie entstanden sein. Dies gilt, auch wenn die erste Okurrenz des Begriffs der concrete poetry von Fenollosa aus dem Jahre 1908 stammt, vorwiegend für die Dichtung nach 1945. Dabei kommt es weder darauf an, aus welchem Land der jeweilige Dichter stammt und in welcher Sprache das Gedicht verfasst ist – den Schwerpunkt bildet allerdings die romanischsprachige Dichtung –, noch darauf, ob der jeweilige Dichter sich selbst der Konkreten Poesie zurechnet oder nicht. Auf diese Weise soll ein globaler Blick auf drei intermediale Bereiche in der Dichtung nach 1945 geöffnet werden. 1.1.2 Intermedialität: Zur Forschungslage Theoretische Reflexionen über die Künste und über das Verhältnis der Künste – im Besonderen von Dichtung und Malerei – zueinander finden wir nicht erst bei den Avantgarden des 20. Jahrhunderts, sondern diese Reflexionen besitzen eine lange abendländische Tradition.113 Dabei ging es vor allem um den Rangstreit zweier Zeichensysteme (skriptural vs. piktural) und zweier Medien (Schrift vs. Bild). Die prominentesten Vertreter dieser alten Tradition sind zweifelsohne Simonides von Keos, der Plutarch zufolge die Malerei als stumme Poesie und die Poesie als sprechende Malerei bezeichnet hat, Horaz (ut pictura poesis) und natürlich Lessing, dessen Laokoon (1766) den Höhepunkt der kategorialen Trennung von Poesie und Malerei markiert. Während der italienischen Renaissance wurde die Gleichwertigkeit beider Medien postuliert oder  – wie im Kapitel zum Paragone in Leonardo da Vincis Trattato della pittura (Manuskripte ca. 1480–1516)  – die Malerei der Dichtung übergeordnet.114 Die nahe Verwandtschaft zwischen Malerei und Dichtung, die vereinzelt schon antike Künstler vertreten hatten, formulierte explizit Giovanni Paolo Lomazzi, der in seinem Tratto dell’arte della pittura (1584) die Literatur und die Malerei nicht  – wie zur damaligen Zeit üblich  – als Schwesterkünste bezeichnete, sondern als Zwillinge: „quasi nate ad un parto.“115 Für Novalis stellte die Dichtung per se ein intermediales Phänomen dar: „Die Poesie im strengeren Sinn scheint fast die Mittelkunst zwischen den bildenden und tönenden Künsten zu sein.“116 August Wilhelm Schlegel ist in seinem Dialog Die Gemählde (1799) dezidiert für die gegenseitige Annäherung beider Künste und ihre intermediale Verknüpfung eingetreten: „Und so sollte man die Künste einander nähern und Uebergänge aus einer in die andre suchen.“117 Gegen Ende des Dialogs heißt es dann über das Verhältnis der bildenden Künste zur Poesie und ihre gegenseitige Abhängigkeit: „Ohne gegenseitigen Einfluß würden sie alltäglich und knechtisch, und die Poesie zu 113 114 115 116 117

Vgl. Frank (2005). Vgl. Achermann (2011) und Schnitzler (2007), S. 21ff. Lomazzi, zitiert nach Weisstein (1992), S. 15. Novalis (1967), S. 461. Schlegel (1799), S. 49. Schlegel steht hier u.a. in der Tradition von Charles Batteux.



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einem unkörperlichen Fantom werden.“118 Es soll hier nun aber kein historischer Abriss über diese lange Kunstdebatte gegeben werden, sondern die folgenden Erörterungen werden gezielt mit Blick auf das Phänomen der Intermedialität in der Dichtung nach 1945 angestellt.119 Spätestens seit dem 20. Jahrhundert – mit bemerkenswerten Vorläufern im ausgehenden 19. Jahrhundert – kann nicht mehr von einem Wettstreit der Künste gesprochen werden. Ihr Verhältnis zueinander steht nun ganz im Zeichen der Intermedialität. Ein solcher „Paragone der Interferenz“120 oder „Crossover zwischen den Künsten“121 ist laut Daniels gerade eines der charakteristischen Merkmale der innovationsorientierten Kunst des 20. Jahrhunderts: Die Geschichte der Avantgarde-Bewegungen am Anfang des 20. Jahrhunderts ist eine Folge von ständigen Innovationen […]. Eines der wesentlichen Motive für die schnelle Entstehung neuer künstlerischer Ausdrucksformen ist die wechselseitige Beeinflussung und Überschneidung der etablierten Gattungen. Während in der Renaissance der Paragone, d.h. der Wettstreit der Künste untereinander, ein Motor ständiger Weiterentwicklung ist, so zeigt sich für die Moderne anstelle der Konkurrenz […] eine Interferenz der verschiedenen Gattungen als Auslöser für Innovationen.122

Verstärkt taucht der Begriff ,Intermedialität‘ im wissenschaftlichen Diskurs spätestens seit der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts auf.123 Für die Mitte der 1990er Jahre wurde sogar in Analogie zum linguistic turn in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und dem iconic oder pictorial turn124 am Ende des 20. Jahrhunderts ein intermedial turn festgestellt. Intermediale Phänomene gibt es aber schon sehr viel länger: Die Dichtung nach 1945 – und hier besonders die Konkrete Poesie – erscheint „geradezu als exemplarisches Modell einer theoretisch wie künstlerisch geführten intermedialen Diskussion avant la lettre […]“125. Die Dichtung nach 1945 weist deshalb so zahlreiche verschiedenartige Manifestationsformen medialer Interferenzen auf, weil sich in dieser Zeit verstärkt die 118 Schlegel (1799), S. 134. Im Gegensatz hierzu stand Goethe dem Intermedialitätsphänomen im Bereich der Künste ablehnend gegenüber: „Eines der vorzüglichsten Kennzeichen des Verfalls der Kunst ist die Vermischung der verschiedenen Arten derselben.“ Goethe (1953), S. 49. 119 Für einen ausführlichen geschichtlichen Überblick vgl. Reulecke (2002), S. 128ff. Dort wird vor allem auch die als Paragone bezeichnete, seit dem 14. Jahrhundert geführte Debatte um den Vorrang der Schwesternkünste Literatur und Malerei nachgezeichnet. 120 Goßens (2011), S. 89. 121 Goßens (2011), S. 89. 122 Daniels (1996), S. 247. 123 Adorno hat schon in den 1960er Jahren in seinem Vortrag Die Kunst und die Künste von der ,Verfransung der Künste‘ gesprochen: „In der jüngsten Entwicklung fließen die Grenzen zwischen den Kunstgattungen ineinander oder, genauer: ihre Demarkationslinien verfransen sich.“ Adorno (1967), S. 25. Diese Tendenz der modernen Kunst hat er einer starken Kritik unterzogen: „Die Verfransung der Künste ist ein falscher Untergang der Kunst. […] Solchen Unterganges ist die Kunst von sich aus nicht fähig. Darum verzehren sich aneinander die Künste.“ Adorno (1967), S. 51. Zum ParagoneDiskurs im 20. Jahrhundert vgl. Goßens (2011). 124 Vgl. hierzu beispielsweise Reulecke (2002), S. 23f. 125 Erdbeer (2001), S. 179.

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Annahme durchsetzte, dass die Wahl des Mediums und die damit einhergehende Materialität des poetischen Artefaktes maßgeblichen Anteil an der Sinnkonstitution haben. Diese Annahme antizipierte die Einsicht, die der Medientheoretiker Marshall McLuhan im Jahre 1964 auf die zugespitzte Formel gebracht hat: „the medium is the message“126. Zugleich steht sie in der Tradition des italienischen Futurismus, denn ein explizites Bewusstsein für die „apriorische dispositive Funktion technischer Medien“127 ist schon im Manifest Distruzione della sintassi (1913) auszumachen. Der italienische Futurismus beweist hier ein „frühzeitiges Gespür für den Zusammenhang zwischen Literatur und Medien“128. Im Verlaufe der vorliegenden Untersuchung wird sich zeigen, dass der italienische Futurismus vielfach einen starken Einfluss auf die intermediale Dichtung nach 1945 ausgeübt hat. Trotz oder gerade wegen seiner Beliebtheit, die vor allem Dick Higgins’ Arbeiten zu verdanken ist, haben wir es beim Begriff ,Intermedialität‘ in der Terminologie Umberto Ecos, die auch Irina Rajewsky ihrer Studie129 zugrunde legt, mit einem termine ombrello zu tun, denn ihm lässt sich keine exakte Definition zuordnen, zumal er in verschiedenen Disziplinen – und teilweise auch innerhalb einer Disziplin – unterschiedlich verwendet wird: „Intermedialität ist ein Modewort, das grundsätzlich eine begriffliche Unklarheit mit sich bringt.“130 Dies ist die Kehrseite seiner großen Popularität im wissenschaftlichen Diskurs. Die folgende Untersuchung legt Rajewskys Definition zugrunde, nach der Intermedialität „Mediengrenzen überschreitende Phänomene, die mindestens zwei konventionell als distinkt wahrgenommene Medien involvieren“131, also Hybrid- oder Mischformen, eben „media hybrids“132, beschreibt. Rajewsky unterscheidet drei Fälle von Intermedialität: Medienkombination, Medienwechsel und intermediale Bezüge. Auch wenn diese – wie jede andere – Klassifikation von Idealtypen ausgeht und daher keinen Raum für Mischformen bietet und sich schon dadurch verdächtig macht, dass sie genau drei Fälle unterscheidet, so scheint sie als nicht verabsolutiertes begriffliches Werkzeug dennoch hilfreich zu sein, wenn es darum geht, der diffusen Masse intermedialer Phänomene Herr zu werden. Bei der Dichtung nach 1945 handelt es sich nach Rajewskys Klassifikation um ein Beispiel für intermediale Bezüge, denn hier werden „Elemente und/ oder Strukturen eines anderen, konventionell als distinkt wahrgenommenen Mediums 126 127 128 129 130 131

Vgl. das gleichnamige Kapitel in McLuhan (1964), S. 7–23. Scholler (2010), S. 381. Scholler (2010), S. 381. Rajewsky (2002). Caduff/Gebhardt/Fink (2007), S. 91. Rajewsky (2002), S. 13. Eine ähnliche Definition bietet Eicher (1994), S. 11: „Der Begriff Intermedialität deutet auf mediale Brückenschläge, das Zusammenspiel verschiedener Medien. Zu denken wäre hier vor allem an Verbindungen zwischen Musik, Tanz, bildender Kunst, Sprache. […] [es] ließe sich generalisierend von kulturell kodierten Kommunikationssystemen sprechen, die sich beeinflussen, nachahmen, berühren oder gar zu einer Einheit verbinden können.“ Hervorhebung vom Autor. In der folgenden Untersuchung konzentriere ich mich auf den letzten Fall, und zwar in Form von Phänomenen, deren semiotische Einheiten unterschiedlicher Zeichencodes eine untrennbare Einheit miteinander eingehen. 132 McLuhan (1964), S. 56.



Allgemeine Begriffsklärung

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mit den eigenen, medienspezifischen Mitteln thematisiert, simuliert oder, soweit möglich, reproduziert“133. Im Falle der piktural-skripturalen Dichtung aus dem gewählten Zeitraum gestaltet sich der intermediale Bezug prinzipiell so, dass bei einem Text – in jenem erweiterten Sinne, der der intermedialen Dichtung nach 1945 zugrunde gelegt werden muss  – Verfahren angewandt werden, die aus dem Bereich der Malerei stammen, wie zum Beispiel flächige Anordnungen oder unterschiedliche Farben. Es handelt sich dabei nicht um ein Nebeneinander von Medien, sondern um ein Miteinander, um ein konstruktives Zusammenspiel verschiedener Ausdrucksmedien – Ugo Carrega hat für diesen Fall den Begriff „symbiotic writing“134 geprägt: „Ein mediales Produkt [wird] dann intermedial, wenn es das multimediale Nebeneinander […] in ein konzeptionelles Miteinander überführt […].“135 Die hier implizit benannte „indivisibility“136 ist das charakteristische Merkmal intermedialer Phänomene. Auch Wolf hat in seiner umfangreichen Studie drei Intermedialitätsformen unterschieden: Relations between a medium or a medial component of a work and a) a specific work created in another medium b) a specific genre of another medium c) another medium or medial component in general137

Die beiden ersten Formen hat Wolf des Weiteren mit dem Begriff „quasi-intertextual intermediality“138 bezeichnet. Den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung bilden Beispiele der dritten Intermedialitätsform, nämlich visuell- und akustisch-skripturale Gedichte und Gedichtobjekte, zumal diese weder mit einer bestimmten Gattung eines distinkten anderen Mediums noch mit einem bestimmten Werk, das in einem anderen Medium realisiert wurde, intermedial verknüpft sind. 133 Rajewsky (2002), S. 17. Wirth (2006), S. 31ff. unterscheidet vier Intermedialitätsstufen: „Die Nullstufe der Intermedialität ist das Thematisieren eines Mediums in einem anderen. […] Die erste Stufe von Intermedialität stellt die mediale Modulation der Konfiguration eines Zeichenverbundsystems dar. […] Intermedialität der Stufe zwei betrifft die Kopplung verschieden konfigurierter Zeichenverbundsysteme […]. Die dritte Stufe der Intermedialität ist die konzeptionelle Aufpfropfung.“ Hervorhebungen vom Autor. Die intermediale Dichtung nach 1945 gehört nach dieser Klassifikation der zweiten Stufe an. 134 Carrega (1973), S. 55. 135 Müller (1996), S. 127f. Vgl. hierzu Garnier (1987), S. 39 über die Konzeption seiner spatialen Texte: „Die Figur allein ist stumm, ist steril. […] das Wort befruchtet die Figur. Das Gedicht lebt in einer (aus einer) Zwischenzone. […] Auch der reine Begriff ist steril. Das Gedicht gewinnt Leben aus der Spannung zwischen Wort und Figur.“ In diesem Sinne hat Jochen Gerz (1980), S. 63 den Begriff ,SehText‘ definiert: „Seh-Texte sind zentaurhafte Gebilde, Texteinheiten aus Sprache und Bild, dadurch definiert, daß weder der sprachliche noch der bildliche Bestandteil eines solchen Zwittertextes ohne den anderen lebenskräftig wäre.“ 136 Vos (1997), S. 325. Auch in Frank (1992), S. 35 ist der Begriff ,Intermedialität‘ einem jeden Kunstwerk vorbehalten, „which manifests characteristics of more than one art form, drawing on various of the otherwise distinct disciplines […] to establish an indivisible hybrid“. 137 Wolf (1999a), S. 47. 138 Wolf (1999a), S. 47.

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Grundlagen

Den Hauptteil der vorliegenden Untersuchung bilden jedoch solche intermedialen Phänomene, die skripturale und pikturale Elemente vereinen. Auf diese Weise entsteht eine Kombination aus einem linear-diskursiven und einem ideographisch-synthetischen Zeichensystem (Schrift und Bild). Die Opposition von ,linear-diskursiv‘ zu ,ideographisch-synthetisch‘ ist wohl erstmals von Plotin in den Enneaden (verfasst ca. 253 bis 269) aus Anlass der Unterscheidung von alphabetischer und hieroglyphischer Schrift erörtert worden. In der Renaissance griff Pico della Mirandola diesen Gedanken wieder auf. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es dann unter Avantgardekünstlern, so auch bei Guillaume Apollinaire, umfangreiche Spuren einer Rezeption dieses Gedankens.139 Selbst Ferdinand de Saussure folgte in seinem Cours de linguistique générale (1916) bei der Analyse des Lektürevorgangs ähnlichen Ideen. Daneben soll es aber auch um die Intermedialität zwischen Dichtung und Musik und zwischen Dichtung und Skulptur oder Architektur gehen. Intermediale Verbindungen zwischen Dichtung und Skulptur verwenden dabei einige der ersten nachweisbaren Schriftträger des Menschen, wie zum Beispiel Stein, Knochen, Ton und Keramik.140 Auch die intermedialen Verknüpfungen von Dichtung und Musik, die nach 1945 entstanden sind, sind in einem langen traditionsgeschichtlichen Kontext verankert, sie gehen nämlich auf die ältesten Darbietungsformen von Lyrik als zur Lyra gesungenes Lied (z.B. als Chorgesang im antiken Drama oder im religiösen Kult) zurück, nur dass hier neben Wörtern auch Laute und Geräusche sinnkonstitutiv eingesetzt werden (können). Lautpoesie kann dabei mit einem Kreativitätspotenzial in Erscheinung treten, das bis hin zur Musik reicht.141 Diese beiden zusätzlichen Bereiche der Intermedialität haben die konkreten Dichter selbst betont. Beispielsweise hat die Gruppe Noigandres die Nähe ihrer Dichtung zu „musical as well as plastic structures“142 hervorgehoben: „the emphasis on the visual and phonic was much stronger in concrete poetry than in other movements.“143 Solche artistischen Grenzüberschreitungen lassen sich natürlich nicht mehr mit dem traditionellen Kunstbegriff vereinen, dem eine strenge Unterscheidung nach Gattungen zugrunde liegt. Die Folgen der Herausbildung von unterschiedlichsten Intermedialitätsphänomenen in den Künsten sind jedoch noch wesentlich weitreichender: Der Prozeß besitzt gegenüber den tradierten Gattungsformulierungen in Literatur und bildender Kunst ein bestimmendes Charakteristikum: er widerspricht der tradierten Trennung von Bild und Sprache, Visuellem und Verbalem, Literatur und bildender Kunst.144

Wie es die beiden Komponenten des Begriffes ,Intermedialität‘ nicht anders vermuten lassen, geht es bei diesem Konzept um eine – wie auch immer gestaltete – Interrelation 139 140 141 142

Vgl. das umfangreiche Dossier in Plotin (1991), S. 191ff. Vgl. hierzu Haarmann (2002), S. 57ff. Dies trifft zum Beispiel auf die US-amerikanische Künstlerin Laurie Anderson zu. Clüver (1981), S. 208. Vgl. Arrigo Lora-Totino (1973), S. 65: „synesthetic connections: to leave the cage of writing to enter, at your choice, those cages of painting, music, sculpture etc.“ 143 Campos (2005a), S. 170. 144 Faust (1977), S. 21.



Allgemeine Begriffsklärung

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zwischen mindestens zwei unterschiedlichen Medien. Visuelle Konkrete Poesie ist als eine Verbindung von skripturalen und pikturalen Elementen oder als eine „wechselseitige Durchdringung von Literatur und bildender Kunst“145 zweifelsohne ein intermediales Dichtungsphänomen. Hier können die skripturalen nicht von den pikturalen Elementen getrennt werden. Verwandelte man den Konjunktiv wäre in beiden Fällen in den Indikativ ist, so wäre folgender Aussage von Franz Mon uneingeschränkt zuzustimmen: „Visuelle Texte besitzen ein schwankendes, labiles Gleichgewicht: Schrift zeigt sich da, als wäre sie (auch) Bild (und sie ist es, sobald sie als Moment der Textur im ganzen erfaßt wird […]), und Bild, als wäre es (auch) Text.“146 Vor allem in neueren Publikationen ist der Aspekt der Intermedialität (der Künste im 20. Jahrhundert) oftmals untrennbar mit der Frage nach der Relevanz der Dominanzbildung verknüpft.147 Diese Frage wurde abweichend von dieser ausgeprägten Tendenz in der vorliegenden Studie völlig außer Acht gelassen, denn es wird unterstellt, dass es sich bei den verschiedenartigen intermedialen Dichtungsformen, die nach 1945 produziert werden, typologisch um solche ohne Dominanzbildung handelt. In der Terminologie von Werner Wolf haben wir es jeweils mit Beispielen einer manifesten Intermedialität zu tun.148 Diese wird vor allem dadurch gekennzeichnet, dass die Ausgangsmedien zwar erkennbar bleiben, aber zugleich zu etwas Neuem führen. Schon Marshall McLuhan hat dies als Merkmal der Medienverknüpfung erkannt: „The hybrid or the meeting of two media is a moment of truth and revelation from which new form is born.“149 Aufgrund der Negierung einer Dominanzbildung auf dem Gebiet der intermedialen Dichtung nach 1945 erweist sich auch die vorgeschlagene Differenzierung unterschiedlicher Arten der Dominanzbildung bei künstlerischen Artefakten nach „Verfertigungsprozess, Produkt und Rezeption“150 in diesem Bereich als nicht sinnvoll. Statt um die Frage der Dominanzbildung geht es in der vorliegenden Untersuchung vielmehr um die Art der intermedialen Verknüpfung, die ganz unterschiedlich gestaltet sein kann. Der Aspekt der Dominanz eines Genres oder Mediums und der damit zusammenhängende Wettstreit der Künste im Sinne des klassischen Paragone-Phänomens tritt in den Hintergrund, und die Analyse verschiedenartiger Formen der poetischen intermedialen Praxis sowie deren systematische Erfassung treten stattdessen in den Vordergrund. Nur so kann der Medienabhängigkeit der (intermedialen) Dichtung nach 1945 Rechnung getragen werden. Mit der Ablehnung einer medialen Dominanz in der intermedialen Dichtung nach 1945 geht einher, dass die vorliegende Arbeit im Unterschied zu einer aktuellen Publikation – mit Blick auf den hier untersuchten intermedialen Bereich – nicht davon ausgeht, dass „[d]er Siegeszug der Intermedialität [...] eher ein Indiz für eine Konkurrenzdynamik, der sich moderne Künstler kaum entziehen können, [sei] als ein Phänomen medialer Gleichwertigkeit“151. Dieser Theorie steht schon das Argument entgegen, dass 145 146 147 148 149 150 151

Faust (1977), S. 7. Mon (1994), S. 122. Vgl. repräsentativ für diese Tendenz Caduff/Gebhardt Fink/Keller/Schmidt (2006). Vgl. den Eintrag Intermedialität in Nünning (2001). McLuhan (1964), S. 61. Caduff/Gebhardt Fink/Keller/Schmidt (2007), S. 102. Degner/Wolf (2010), S. 11.

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Grundlagen

zahlreiche der in der Studie versammelten Dichter zugleich im Bereich der bildenden Künste (als Werbedesigner, Graphiker o.Ä.) und als Dichter tätig waren oder sind. Eine Beschäftigung mit intermedialen künstlerischen Ausdrucksformen macht eine Auseinandersetzung mit dem zugrunde gelegten Medienbegriff unabdingbar. Im Fortgang der Untersuchung wird der von Wolf formulierte Medienbegriff vorausgesetzt, und zwar primär deshalb, weil dieser so weit gefasst ist, wie es für den Umgang mit der Dichtung nach 1945 nötig ist. ,Medium‘ bezeichnet hier nicht mehr nur ein (technisches) Massenmedium, sondern ebenso menschliche Zeichensysteme. In diesem Sinne sind auch die verschiedenen Künste und Kunstgattungen als Medien aufzufassen: I propose to use a broad concept of medium: not in the restricted sense of a technical or institutional channel of communication but as a conventionally distinct means of communication or expression characterized not only by particular channels (or one channel) for the sending and receiving of messages but also by the use of one or more semiotic systems.152

Im Kontext der hier durchgeführten Begriffsklärungen bleibt noch die Frage zu erörtern, inwieweit sich die beiden Begriffe ,Intermedialität‘ und ,Intertextualität‘ entsprechen, zumal es sich in beiden Fällen jeweils um eine „intersemiotic form“153 handelt. Das Konzept der Intermedialität ist schließlich in enger Anlehnung an das Konzept der Intertextualität entstanden: „To begin, intermediality research is a logical continuation of the interest in ‘intertextuality’, which has emerged since the 1970s (intermediality is in fact often conceived as a special case of intertextuality) [...].“154 An dieser Stelle ist ein Vorgriff auf den später erläuterten erweiterten Textbegriff nötig. Dieser von den Dichtern der Lyrik nach 1945 – vor allem im Umfeld der Konkreten Poesie – zugrunde gelegte Textbegriff schließt prinzipiell alle menschlichen Zeichensysteme ein. Nach dieser Definition stehen alle Zeichen, die an der Textkonstitution beteiligt sind, gleichwertig nebeneinander. Insofern sind die beiden Begriffe ,Intermedialität‘ und ,Intertextualität‘ zunächst austauschbar, denn eine intramediale Erscheinung ist die Intertextualität nur dann, wenn man Textualität ausschließlich als verbal-skripturale Kategorie fasst. Dies widerspricht aber eben dem Textbegriff in der Dichtung nach 1945: „Es mag folgerichtig sein, bei einem erweiterten Textbegriff von Intertextualität als einer Bezeichnung der Beziehung zwischen sprachlichen und nicht-sprachlichen Zeichenkomplexen gleichermaßen zu sprechen.“155 Allerdings bleibt im Begriff ,Intertextualität‘ der Aspekt der unterschiedlichen Medien unerwähnt. Um diesen Mangel zu beheben, wurde daher auch der Begriff „intermediale 152 Wolf (1999b), S. 35. Vgl. Reither (2003), S. 24f. Auch Marshall McLuhan hat seinen Theorien einen weit gefassten Medienbegriff zugrunde gelegt, allerdings unterscheidet dieser sich insofern von Wolfs Medienbegriff, als er das Kriterium der Funktionalität, das Medien als Erweiterung des Menschen definiert, ansetzt. Daraus folgt: „Nahezu jede Erfindung und Technologie weist […] mediale Qualitäten auf und ist damit im strengen Sinne ein Medium.“ (Leschke (2003), S. 246f.) Diese funktionale Definition von Medien führt uns im Kontext unserer Untersuchung jedoch nicht weiter, weshalb ihr Wolfs Definition zugrunde gelegt wird. 153 Wolf (1999a), S. 46. 154 Wolf (1999a), S. 2f. Für den Zusammenhang zwischen Intertextualität und Intermedialität vgl. auch ib., S. 47. 155 Eicher (1994), S. 19.

Allgemeine Begriffsklärung



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Intertextualität“156 vorgeschlagen. Der Einfachheit halber und um Verwechslungen zwischen dem tradierten engen und dem neuen erweiterten Intertextualitätsbegriff vorzubeugen, wird in der vorliegenden Untersuchung der Begriff ,Intermedialität‘ verwendet. Weil es in der Dichtung nach 1945 gerade darauf ankommt, dass es sich um eine Verknüpfung unterschiedlicher Medien handelt, wurde darauf verzichtet, den ebenfalls kursierenden Begriff des Intersemiotischen zu wählen.157 Zwar treffen in inter­medialen Erscheinungen mindestens zwei unterschiedliche und voneinander unabhängige Zeichensysteme aufeinander  – beispielsweise ein skripturaler und ein pikturaler Code –, und somit ist implizit auch die Interrelation unterschiedlicher Medien mitgedacht, wie auch immer diese im speziellen Einzelfall gestaltet sein mag, aber der Begriff des Intersemiotischen setzt die Intermedialität eben nur stillschweigend voraus, statt diese explizit zu benennen. Dasselbe gilt auch für die Bezeichnungen ,intersign poetry‘ und ,texto intercódigo‘, zumal beide nur deutlich machen, dass Zeichen unterschiedlicher Zeichensysteme verwendet werden.158 Sinnvoller wäre es jedoch, gerade den Aspekt der medialen Interrelation, die zu Hybridformen führt, schon in der Begrifflichkeit deutlich hervorzuheben, wie dies für den Begriff ,Intermedialität‘ zutrifft. Möglich wäre es auch, statt von ,Intermedialität‘ von einer „medienübergreifende[n] Semiose“159 zu sprechen. Ein letzter Klärungsversuch betrifft die Abgrenzung des Begriffes ,Intermedialität‘ gegenüber dem Begriff ,Transmedialität‘, denn beide scheinen in der Forschungsliteratur mehr oder weniger willkürlich und mit gleicher Bedeutung gebraucht zu werden. Das könnte vor allem darin begründet liegen, dass der Begriff ,Transmedialität‘ auch heute noch relativ schlecht entwickelt ist.160 Rajewsky hat unter ,Transmedialität‘ „medienunspezifische Phänomene, die in verschiedensten Medien mit den dem jeweiligen Medium eigenen Mitteln ausgetragen werden können, ohne daß hierbei die Annahme eines kontaktgebenden Ursprungsmediums wichtig oder möglich ist“161, gefasst. Bei intermedialen Kunstformen hingegen ist gerade die Überschreitung von Mediengrenzen von Bedeutung, und es handelt sich dementsprechend nicht um medieninterne Erscheinungen. Im Gegensatz zu Rajewsky hat Wenz die Anwesenheit des Referenzmediums im Zielmedium als eine der notwendigen Voraussetzungen für Transmedialität erklärt.162 Erst vor wenigen Jahren wurde der Versuch einer grundlegenden terminologischen Unterscheidung unternommen, um die Begriffe ,Intermedialität‘ und ,Transmedialität‘ präziser fassen zu können: Intermedialität bezieht sich auf die Kopplung von Medien im zeichentheoretischen Sinne […], die Anspielung auf ein anderes Medium […], die vollständige Integration eines anderen Mediums […] oder die ästhetische Anlehnung an ein anderes Medium […]. Abgesehen vom 156 157 158 159 160

Hoesterey (1988), S. 191. Zu den Begriffen intersemiotic und intersemiosis vgl. Clüver (2000) und Menezes (1994), S. 4. Vgl. u.a. Menezes (1994), S. 37. Erdbeer (2001), S. 203. Im Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie aus dem Jahre 2001 taucht der Begriff ,Transmedialität‘ beispielsweise gar nicht erst auf. 161 Rajewsky (2002), S. 13. 162 Vgl. Wenz (2004).

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Grundlagen

ersten Fall geht das eine Medium jeweils im anderen auf, die Rezeption des Zielmediums verlangt nicht mehr zwingend die Gegenwart oder Kenntnis des Ausgangsmediums. […] Transmedialität fokussiert auf die gleichzeitige Anwesenheit der beteiligten Medien und steht somit im Grunde der intermedialen Kopplung nahe. Während dort der Akzent jedoch auf dem Ergebnis als vollzogener Verbindung beider Partner liegt, betont der Begriff der Transmedialität den Transfer. Gegenstand sind die beteiligten Medien im Prozess des Übergangs.163

Im Falle der Transmedialität liegt hiernach die Akzentuierung auf dem Vorgang des Medientransfers, im Falle der Intermedialität hingegen auf dem Produkt des Medientransfers. Poetischen Erzeugnissen der „Kopplung von Medien im zeichentheoretischen Sinne“164 ist die vorliegende Untersuchung zur Intermedialität in der Dichtung nach 1945 gewidmet. Die Intermedialität nach 1945 ist kein literaturinternes Phänomen, sondern es bedarf vielmehr der Einbeziehung vor allem des kultursoziologischen Kontextes. Die starke Dominanz der Intermedialität, die Dichtung und die visuellen Künste verknüpft, ist ohne Frage der Vorherrschaft des Visuellen in der heutigen Welt geschuldet (Kino, Fernsehen, Werbung etc.). Die Nutzung der jeweils aktuellen technischen Möglichkeiten zur Produktion, Präsentation und Rezeption intermedialer Gedichte hat sicher auch einen pragmatischen Grund, ermöglicht sie der Dichtung doch eine gewisse Anschlussfähigkeit an die sich zunehmend rascher entwickelnde moderne Welt und damit auch moderne Kunst und sichert so ihre Existenz. Insofern verwundert es wenig, dass wir seit Jahren die Herausbildung einer Vielzahl von intermedialen Internet-Dichtungsformen beobachten können. Dichter tragen u.a. hier „der Hegemonie der neuen Medien in unserer Welt“165 Rechnung bzw. belegen diese durch die gezielt gewählten Praktiken.

1.1.3 Intermedialität und Dichtung Der Begriff ,Intermedialität‘ taucht bislang vor allem in den Bereichen Film, Theater, Oper, happening etc. auf. Dementsprechend ist auch die Intermedialitätsforschung nach wie vor primär auf diese Felder konzentriert. Intermedialitätsphänomene treten jedoch auch in der Dichtung, und zwar nicht erst in derjenigen nach 1945, auf. Intermedialität in der Dichtung kann auch zu Annäherungen an die oben genannten Bereiche führen. Zum Beispiel weisen animierte Gedichte Ähnlichkeiten mit Videos auf, wie noch zu zeigen sein wird. In noch stärkerem Maße trifft dies für die Video- und TV-Poesie aus den 1960er und 1970er Jahren zu. Den Begriff poetry intermedia hat Dick Higgins zu Beginn der 1970er Jahre geprägt. Er hat in seinem Poster-Essay Some Poetry Intermedia (1976)166 intermediale poetische Erscheinungsformen systematisch abgebildet, und zwar in der Form, dass das Medium ,Dichtung‘ mit anderen künstlerischen Ausdrucksmedien – durch entsprechende Pfeilsymbole dargestellt  – verknüpft wurde.167 Als Ergebnis sind folgende intermediale 163 164 165 166 167

Meyer/Simanowski/Zeller (2006), S. 9f. Hervorhebungen von den Autoren. Meyer/Simanowski/Zeller (2006), S. 9f. Wolf (2010), S. 256. Vgl. S. 45 dieser Arbeit. Explizite Auseinandersetzungen mit dem Thema der poetischen Intermedialität gibt es schon im ita-



Allgemeine Begriffsklärung

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Dichtungstypen entstanden: visual poetry, video poetry, object poetry, postal poetry, concept poetry, sound poetry und action poetry. Zwar ist es positiv hervorzuheben, dass Higgings eine solche Vielzahl von Möglichkeiten intermedialer Dichtungsformen anführt, es bleibt aber dennoch ein Manko anzumerken: Some Poetry Intermedia könnte durch die Art der Darstellung den Eindruck einer starken Dominanz der Dichtung innerhalb des jeweiligen intermedialen künstlerischen Produktes erwecken, denn das Zentrum des Poster-Essay bildet der schon typographisch durch einen größeren Schriftgrad hervorgehobene Begriff „poetry“, von dem jeweils strahlenförmig die entsprechende intermediale Verknüpfung ausgeht. Insofern steht Some Poetry Intermedia der vorliegenden Studie, die davon ausgeht, dass intermediale Phänomene in der Dichtung keine Dominanzbildung aufweisen, in diesem Punkt konträr gegenüber. Im Folgenden wird es, wie bereits erwähnt, vor allem um die visual poetry in ihrer Eigenschaft als Hybrid zwischen (verbal) poetry und visual art gehen. Daneben sollen aber auch zwei weitere intermediale Dichtungstypen untersucht werden, nämlich die intermediale Kopplung von Dichtung und Musik – also sound poetry – und diejenige, die Higgins als object poetry bezeichnet hat. Letztere wird neben der intermedialen Verknüpfung von Dichtung und Skulptur durch eine solche von Dichtung und Architektur erweitert. Somit dienen drei Manifestationsformen medialer Interferenzen bzw. drei Phänomene intermedialer Grenzüberschreitungen als Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit, wobei das Hauptgewicht – analog zur poetischen Praxis – auf der intermedialen Verbindung von poetry und visual art liegt.

Abb. 3  Dick Higgins, Some Poetry Intermedia (1976)168

lienischen Futurismus und im Lettrismus. 168 Kostelanetz (1982), S. 414.

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Grundlagen

1.2 Produktion und Rezeption der intermedialen Dichtung nach 1945 1.2.1 Wider den tradierten Textbegriff Beschäftigt man sich mit der intermedialen Dichtung nach 1945, so muss zunächst grundsätzlich die Frage nach dem zugrunde gelegten Textbegriff geklärt werden. Verwendet man für die hier produzierten Artefakte nämlich den Terminus ,Dichtung‘, wird stillschweigend vorausgesetzt, dass es sich auch hierbei um Texte handelt. Es wäre ja ebenso denkbar gewesen, stattdessen einen Begriff aus der bildenden Kunst, der Musik etc. zu wählen. De facto sind die Grenzen eines Textbegriffes, der die Gesamtheit der poetischen Artefakte der intermedialen Dichtung nach 1945 umfasst, zu allen Seiten offen: Die Eigenschaft der Textualität kommt sowohl dem Stacheldraht, der ein Sonett konstituiert, zu als auch einem Räuspern und jedem anderen Laut. Dieser Textbegriff schließt daher potenziell unendlich viele Zeichensysteme ein, darunter eben auch akustische. Zum Beispiel wurde Henri Chopins poésie sonore primär dazu geschaffen, die Buchseite zu sprengen, „um jenseits der Buchstaben- oder graphischen Verschriftung als (stumme) Notation akustischer Ereignisse im Bereich der auditiven Literatur und Musik eine ‚Stimmenschrift‘ entstehen zu lassen […]“169. Es kann und soll hier nun nicht darum gehen, die Gründe für eine solche Erweiterung des Textbegriffes, die einen Bruch mit der lang tradierten Textualitätsvorstellung bedeutet, darzulegen. Ganz allgemein stehen diese im Kontext der allgemeinen Sprachkritik bzw. der „Skepsis am ,un-eigentlichen‘ Sprachgebrauch“170 und der Ablehnung einer durch eine falsche Verwendungsweise sinnentleerten Sprache, wie sie im Nachgang zum Surrealismus verbreitet war.171 Statt eine umfangreiche Ursachenforschung zu betreiben, geht es hier allein um das Ergebnis, nämlich den erweiterten Textbegriff in der (intermedialen) Dichtung nach 1945. Dieser setzt keine Einschränkung auf das skripturale Zeichensystem voraus, sondern schließt prinzipiell alle menschlichen Zeichensysteme ein. In dieser Hinsicht entspricht er dem von der modernen Semiotik vertretenen Textbegriff,172 der den Text als einen antidisziplinären Gegenstand173 auffasst. Keinesfalls geht in dieser Dichtung „der Status als Text […] verloren […], wenn die Wortebene unterschritten wird“174. Ugo Carrega hat diese umfassende Erweiterung in seinen 10 proposizioni per la poesia materica (1968) folgendermaßen beschrieben:

169 Lentz (2000), I: S. 161. 170 Erdbeer (2001), S. 182. 171 Eine prinzipielle Skepsis gegenüber der Sprache trat vereinzelt schon früher ein, nämlich bereits im 19. Jahrhundert bei Baudelaire und zu Beginn des 20. Jahrhunderts v.a. bei Marinetti und Apollinaire. 172 Vgl. Santaella (1992), S. 391ff. 173 Vgl. den Titel von Mowitt (1992): Text. The Genealogy of an Anti-Disciplinary Object. Mowitt führt hier u.a. textuelle Analysen von Film und Musik vor. Diese sind vor allem im Hinblick auf die hier vorgelegten literaturwissenschaftlichen Analysen digital remediatisierter und lautpoetischer Gedichte von Interesse. 174 Ohme (2007), S. 72.



Produktion und Rezeption

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1 tutto è linguaggio 2 non vedo quindi per ché la poesia debba continuare a servirsi soltanto di parole175

Auch Christina Weiss hat in ihrer Untersuchung zu konkreten und nach-konkreten visuellen Gedichten einen solchen Textbegriff zugrunde gelegt: „‚Text‘ muß […] gebraucht werden im allgemein semiotischen Sinn als eine kohärente Zeichenmenge beliebiger Zeichen aus beliebigen Zeichenrepertoires nach beliebigen Verknüpfungsregeln.“176 Zu diesen beliebigen Zeichenrepertoires zählen auch die für diese Arbeit relevanten aus dem visuellen, akustischen und gegenständlichen Bereich. Zumal der Großteil der intermedialen Dichtung nach 1945 dem skriptural-pikturalen Bereich entstammt, wird das Konzept des erweiterten Textbegriffes im Folgenden an diesem erläutert. Analoges gilt jedoch für die beiden anderen Bereiche. Unter Christina Weiss’ erweiterten Textualitätsbegriff fallen gleichermaßen skripturale wie pikturale Zeichen: „Auch Bilder sind Texte.“177 Dies ist jedoch nicht erst nach 1945 der Fall: Schon in den 1920er Jahren „tritt ein Impuls in die Kunstentwicklung ein, der die traditionelle, gattungsbezogene Trennung von Bild und Sprache durch neue Kunstformen aufzuheben unternimmt.“178 Der erweiterte Textbegriff in der intermedialen Dichtung nach 1945 zielt primär auf die Schaffung einer „universale[n] gemeinschaftsspache“179 bzw. einer „langue supranationale“180 oder eines „linguaggio globale“181. Der Hauptvorteil einer auf der Grundlage des erweiterten Textbegriffes geschaffenen poetischen Sprache bzw. Schrift ist ihre globale Verständlichkeit. Ein erklärtes Ziel der Konkreten Poesie war ja gerade ein solcher Internationalismus. Im Bereich der skriptural-pikturalen Dichtung sollte dieser durch den Einsatz pikturaler Zeichen gewährleistet werden. Hier stand sie u.a. auch

175 Carrega, zitiert nach Accame (1977), S. 111. 176 Weiss (1984), S. 169. Eine solche Erweiterung bricht bewusst mit dem tradierten Textbegriff, der eine strikte Trennung zwischen Text und Bild beinhaltet. Vgl. hierzu beispielsweise Titzmann (1990), S. 368: „>Text< sei […] jede Äußerung beziehungsweise jede Teiläußerung, mündlich oder schriftlich, die sich eines natürlichsprachigen Zeichensystems bedient und in einer geordneten Menge solcher Zeichen besteht, >Bild< hingegen jede Äußerung oder Teiläußerung, die sich solcher non-verbaler Zeichensysteme bedient, deren Zeichen einerseits visuell wahrnehmbar sind und nicht nur als abbildendes Notationssystem (zum Beispiel Schrift bei Sprache, Noten bei Musik) eines andersartigen Zeichensystems fungieren und deren visuell wahrnehmbare Zeichen andererseits konstant bleiben.“ 177 Mon (1994), S. 114. In dieselbe Richtung weist Nelson Goodman, wenn er in Languages of Art erklärt, dass er im Titel den Begriff ,Sprachen‘ auch durch ,Symbolsysteme‘ hätte ersetzen können bzw. sogar müssen: „‘Languages’ in my title should, strictly, be replaced by ‘symbol systems’.“ Goodman (1969), S. XIf. 178 Faust (1977), S. 30. 179 gomringer (1969b), S. 289. 180 Garnier (1968), S. 148. Vgl. ib.: „Le Spatialisme a pour but le passage des langues nationales à une langue supranationale […].“ 181 Pignotti/Stefanelli (1980), S. 172.

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Grundlagen

in der Tradition des Sinologen Fenollosa: „Such a pictorial method […] would be the ideal language of the world.“182 Poetische Belege einer solchen international verständlichen und universal anwendbaren Schriftsprache stellen beispielsweise Jiří Kolářs Analfabetogramy (Analphabetogramme) und Cvokogramy (Verrücktogramme)183 dar.

Abb. 4  Jiří Kolář, Fürstliches Verrücktogramm, Seite 54, Atom-Analphabetogramm (Zwei Verrücktogramme und ein Analphabetogramm) (1962)184

Mit beiden Sammlungen skriptographischer Texte, in denen der Dichter Verfahren einsetzt, die stark an die écriture automatique der Surrealisten erinnern, hat er der Dichtung vor- bzw. außersprachliche Bereiche erschlossen, von denen aus er Sprachkritik betreibt: Der sprachlich-lesbare Anteil der Texte kann sich in diesen geschriebenen Textgespinsten fast völlig verlieren – thematisiert wird die bildhafte Ausdrucksqualität von Schrift als Auflehnung gegen die sprachliche Reglementierung, als Protest gegen die normierte Druckschrift, die den reibungslosen Ablauf der routinierten Lektüre gewährleistet.185

Universalität ist analog auch ein Ziel der intermedialen Lautdichtung: „One of the attractions of sound poetry […] is precisely the promise of universal intelligibility.“186 Die Realisierung ist hier deshalb relativ einfach, weil diese Dichtung größtenteils Zeichen, die sich jenseits eines nationalen linguistischen Codes befinden, verwendet. 182 Fenollosa (1936), S. 31. 183 Beispiele aus beiden Sammlungen in Institut für moderne Kunst Nürnberg (1979), S. 34ff. Zu den beiden Sammlungen vgl. Winter (2006), S. 430ff. 184 Institut für moderne Kunst Nürnberg (1979), S. 36. 185 Weiss (1984), S. 196. 186 Bohn (1996), S. 174.



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Das Streben nach universalen poetischen Zeichensystemen hat sowohl für den Sprach- als auch den Kunstbegriff weitreichende Folgen: „Daß diese SPRACHE alle Künste sprechen, behauptet die Verwischung der Gattungen, und verweist damit zugleich auf die Möglichkeit einer KUNST jenseits der Künste.“187 Es sei nochmals darauf hingewiesen, dass der hier zugrunde gelegte Sprach- und damit zugleich Textbegriff als Oberbegriff für sämtliche Zeichensysteme dient. Eine solche Erweiterung des Merkmals ,Textualität‘ lässt die Grenzen der ,Wortsprache‘ weit hinter sich. Im Falle der skripturalpikturalen Dichtung haben wir es mit einer Interrelation zwischen komplexen semiotischen Einheiten zu tun: Verbal-symbolische Zeichen treffen hier auf visuell-ikonische Zeichen. Die soeben erläuterte Erweiterung des Textbegriffes und des Textualitätskonzeptes scheint mir wesentlich sinnvoller als die Unterscheidung in den (sprachlichen) Kerntext und den (graphisch-visuellen) Beitext, die beide den Übertext, in dem Inhalt und Form vereinigt sind, bilden,188 und zwar deshalb, weil die verbalen und non-verbalen Zeichen, die das Gedicht konstituieren, gleichwertig behandelt werden müssen, zumal sie gleichermaßen an der Text- und Sinnkonstitution beteiligt sind. Die Begriffe ,Kerntext‘ und ,Beitext‘ unterstellen jedoch eine Dominanz der verbalen über die non-verbalen Zeichen, die sich durch das Textmaterial nicht rechtfertigen lässt. In intermedialen Gedichten darf keine Dominanzbildung unterstellt werden, sondern es handelt sich um ein Miteinander gleichberechtigter Elemente: Der Sprache-Bild-Komplex stellt eine untrennbare Einheit dar. Der Begriff ,Seh-Text‘ eignet sich darum besonders gut als Bezeichnung dieser Form der poetischen Intermedialität.189 Seh-Texte sind räumlich-zeitliche poetische Artefakte, die Lessings kategorialer Unterscheidung in Zeit- und Raumkünste stark widersprechen. Dasselbe gilt auch für den von Franz Mon geprägten Begriff ,Textbild‘. Durch die Gleichberechtigung der verbalen und non-verbalen Elemente unterscheidet sich die skriptural-pikturale Dichtung nach 1945 beispielsweise stark vom Emblem. Hierbei handelt es sich zwar auch um eine Verbindung von skripturalen (inscriptio und subscriptio) und pikturalen (pictura) Elementen, jedoch ist ihre Verbindung so gestaltet, dass beide Anteile getrennt voneinander bestehen können. Es handelt sich beim Emblem darum nicht um eine intermediale Gattung, sondern um eine Form der Medienmischung. Strukturell führt das Emblem keine „Verschmelzung zwischen dem sprachlichen Zeichenkomplex und der visuellen Graphik [...]“190 vor. Hier kann in der Tradition Plotins eine Unterscheidung zwischen der synthetisch-simultanen ,Lektüre‘ des Bildes und der analytisch-diskursiven Lektüre alphabetisch geschriebener Texte vorgenommen werden. 187 Faust (1977), S. 211. Hervorhebungen vom Autor. 188 Vgl. Vollert (1999), S. 130. 189 Vgl. Wende (2002). Eingeführt wurde der Terminus ,Seh-Text‘ von Ferdinand Kriwet, um auf die Spannung, die in visuellen Gedichten zwischen dem Sehen und Lesen besteht, hinzuweisen. Christina Weiss (1984) hat den Terminus später sogar als Titel ihrer umfangreichen Untersuchung gewählt. Kopfermann (1974), S. 107f. hat folgende Typologie von ,Seh-Texten‘ vorgeschlagen: Schreib-Bilder, Schriftbilder, Schreib- und Schrifttexte. Die Zuordnung eines bestimmten Textes zu einer dieser Kategorien erweist sich in der Praxis allerdings als recht schwierig und hochgradig subjektiv. 190 Ernst (1991a), S. 8.

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Stellt der erweiterte – verglichen mit dem tradierten – Textbegriff eine bedeutsame Abweichung dar, so liegt er dennoch in der neuplatonischen philosophischen Tradition seit der Spätantike begründet. Hiernach ist nämlich alles Text, weil das Seiende als Schrift im Buch der Schöpfung oder der Natur angesehen werden muss: every sign, including graphic ones, may be considered as belonging to the world of language and writing. Concretists engage in a philosophical and metaphysical tradition which roots in Neoplatonic philosophy: […] the world is like a book, and each thing is like a word written in that book. Therefore, even non-verbal representations can be considered as words belonging to a hieroglyphic discourse of the world and the book of nature. All graphic representations of material beings, even if they are purely pictorial, acquire the status of Scripture.191

Ist die Entscheidung für den erläuterten erweiterten Textbegriff gefallen, so ist eine prinzipielle Differenz zwischen verbalen und non-verbalen Zeichen nicht mehr zu vertreten, denn beide bilden gemeinsam den Text des jeweiligen Gedichts. Der Unterschied zwischen beiden ist dann kein prinzipieller, sondern ein gradueller: „Damit können verbale und nicht-verbale Phänomene gemeinsam in einem ‚Text‘ betrachtet werden.“192 Die Erweiterterung des Textbegriffes führt zwangsläufig zu einer Erweiterung des Gedichtbegriffes, wie sie im folgenden Zitat Philadelpho Menezes vorgenommen hat: I propose distinguishing between the standard notion of poetry as ‘a coded articulation’ (according to this view, there would be no poetry outside the verbal code) and a second, related notion which amplifies the first to an ‘articulation of language’. This understanding of poetic language would permit the creation of poems also from non-verbal signs.193

Eine solche Definition hat zur Folge, dass in Analogie zum Textbegriff auch der Gedichtbegriff nach allen Seiten offen ist und prinzipiell Zeichen aus jedem beliebigen Zeichenrepertoire enthalten kann. Daher sind auch Gedichte denkbar, die ausschließlich aus non-verbalen Zeichen gebildet sind. Wird ein dermaßen erweiterter Gedichtbegriff vorausgesetzt, so stellt sich die Frage, ob es sich beispielsweise bei den experimentellsten Werken der Konkreten Poesie noch um Dichtung handle, gar nicht erst. Eine solche Erweiterung des Gedichtbegriffes bietet außerdem den Vorteil, dass sie sowohl konventionelle als auch experimentelle Gedichte einschließt.

191 Krüger (2005), S. 410f. 192 Weiss (1984), S. 15. 193 Menezes (1994), S. 4.

Exkurs: Erweiterter Sprach- und Textbegriff ausserhalb der alphabetgebundenen Poesie

Die  – programmatische, wenn auch nicht unproblematische  – Auffassung von einer prinzipiellen Äquivalenz der unterschiedlichsten menschlichen Zeichensysteme wurde vor allem im lettrisme vertreten, einer literarischen und künstlerischen Bewegung, deren Beginn in die unmittelbaren Nachkriegsjahre fällt und deren ,Leitung‘ Isidore Isou (1925–2007) innehatte.194 Als spezifische Ausdrucksform hat er die  – letztlich doch poetisch-künstlerische  – Technik der métagraphie, später hypergraphie (seltener auch postécriture oder superécriture) geschaffen.195 Schon die Namensgebung macht deutlich, dass hier die traditionellen Grenzen der écriture überschritten werden. HYPERGRAPHIE (anciennement métagraphie) : Ensemble de notations capable de rendre, plus exactement que toutes les anciennes pratiques fragmentaires et partielles (alphabets phonétiques, algèbre, géométrie, peinture, musique, etc…), la réalité conquise par la connaissance.196

Gleich zu Beginn des Zitats fällt eines auf: Lemaître, der Verfasser dieser Definition, hat die Bezeichnung ensemble de notations und nicht Poesie oder Bild gewählt. Diese Bezeichnung, so Seaman, „implies a graphic work which they [scil. the Letterists; B.N.] refuse to call either a printed text or a painting, since it falls between (or embraces) the two categories.“197 Damit soll nicht gesagt sein, dass die Lettristen ihre Werke nicht auch als Dichtung betrachtet haben. Auch sie haben den Begriff poème verwendet, allerdings bezog sich dieser nicht auf Dichtung im traditionellen Sinn. Beispielsweise trägt Isous theoretisches Hauptwerk den Titel Introduction à une nouvelle poésie et à une nouvelle musique (1947) und enthält Le manifeste de la poésie lettriste (1942).198 Traditionelle Dichtung sei die Lettrie laut diesem Manifest aus folgendem Grund nicht: „le lettrisme n’est pas discours, c’est-à-dire langage articulé nouveau, avec significations, règles grammaticales et raisonnement ; qu’il n’est pas poésie [...].“199 Maurice Lemaître hat hypergraphische Arbeiten, die man ebenso der visuellen Poesie zuordnen könnte, als roman, als essai oder auch als photographie bezeichnet. Eines der wichtigsten Charakteristika dieser künstlerischen Produkte ist das der Intermedialität. Die Lettristen haben ihrer hypergraphie in der Geschichte der Intermedialität eine besonders herausgehobene Stellung zugewiesen, wie Lemaître unterstrichen hat: „Pour la première fois avec le lettrisme […] PEINTRE ET POETE ne font qu’un (car le do194 195 196 197 198 199

Zur Geschichte des lettrisme vgl. Bandini (2003). Vgl. Lentz (2000), S. 438ff. Lemaître (1954), S. 154. Seaman (1981), S. 207. Vgl. hierzu auch Isou (1947), S. 189ff.: La poésie comme genre littéraire. Lemaître (1954), S. 34.

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maine est devenu le même).“200 Werden collagenartige Verfahren angewendet, wie dies bei Lemaître häufig der Fall ist,201 so fällt die hypergraphie allerdings nicht mehr in den Bereich der Intermedialität, sondern  – nach Higgins’ Klassifikation  – in den Bereich der mixed media. In jedem Fall ist es der Intention ihrer Schöpfer entgegengesetzt, die hypergraphie ausschließlich dem Bereich der Malerei zuzuordnen, wie es lange Zeit in der wissenschaftlichen Diskussion geschehen ist: „this [scil. the hypergraphics; B.N.] is more accurately an art situated half-way between painting and poetry.“202 Neben vielen Ähnlichkeiten mit der Konkreten Dichtung, gerade was die Verwendung nicht-sprachlicher Zeichen und die Bedeutung der Textfläche angeht, besteht zwischen dieser und dem Lettrismus ein wesentlicher Unterschied. In der Konkreten Poesie dient der Einsatz nicht-sprachlicher Zeichen primär der Schaffung einer Universalsprache oder einer „global anasemantic language“203, deren wichtigstes Charakteristikum die internationale Verständlichkeit sein soll. Die Lettristen hingegen hielten an der Vorstellung fest, dass Frankreich das alleinige Zentrum der Dichtung sei, von dem aus die Dichtung in die Welt hinaus diffundiere: Il n’existe réellement point d’autre poésie que la française. Les poètes étrangers ont dû passer par une filière française pour arriver. Toute la poésie contemporaine est un instant français dans le siècle. La poésie moderne française, c’est la lentille des autres poésies. […] La France, c’est la place poétique où les pays font connaissance entre eux. […] C’est la France qui a donné une technique poétique.204

In hypergraphischen Texten können neben den Buchstaben des römischen Alphabets Zeichen aller Art, darunter vor allem pikturale Elemente („des signes figuratifs ou abstraits“205), Zahlencodes und auch von den Lettristen neu erfundene Zeichen erscheinen. Ein Beispiel hierfür sind die 19 Zeichen des nouvel alphabet lettrique. Hierbei handelt es sich nicht nur um neue visuelle Zeichen, sondern auch um Laute. Betrachten wir hierzu exemplarisch die ersten fünf ,Buchstaben‘ des nouvel alphabet lettrique:206 1. A (alpha) = aspiration (forte) 2. B (beta) = expiration (forte) 3. Г (gamma) = zézaiement (sifflement entre les dents comme un son de serpent) 4. ∆ (delta) = râle 5. E (epsilon) = grognement (comme un chien prêt à aboyer)207

200 201 202 203 204

Lemaître (1954), S. 56. Hervorhebungen vom Autor. Eine Analyse repräsentativer Hypergraphien von Lemaître in Seaman (1981), S. 210ff. Seaman (1981), S. 208. Oberto (1973), S. 50. Isou (1947), S. 23. Ähnlich in Lemaître (1954), S. 55. Vgl. auch Seaman (1981), S. 201: „Isou came to Paris with the conviction that all poetry is French, and that Paris is the seat of all poetic activity.“ 205 Lemaître (1965), o. S. Vgl. Sabatier (2000), S. 274. 206 Vgl. Lentz (2000), I: S. 325. 207 Lemaître (1965), o. S.



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Alle diese lettristischen Zeichen können skripturale Zeichen auch ganz verdrängen: „While some texts consist of words interspersed with pictures, others dispense with language altogether and consist entirely of pictograms.“208 Im ersten Fall besteht eine Ähnlichkeit mit Verfahren, die in Comics oder auch in der literarischen Gattung des Rebus genutzt werden. Bedeutsam ist dabei, dass es hier zu keiner Dominanzbildung kommt, sondern alle eingesetzten Zeichen gleichwertig und sich gegenseitig ergänzend nebeneinander stehen. Nach dem Lettristen Maurice Lemaître handelt es sich um eine „scienceart de tous les moyens de communication“209. Text und Bild gehen hier eine untrennbare intermediale Verbindung ein. Betrachten wir ein konkretes lettristisches Gedichtbeispiel:210

Abb. 5  Roland Sabatier, Ritournelle (1966)

208 Bohn (1996), S. 174. Im Ultra-Lettrisme ist dies dann die Regel: „Les Ultra-Lettres sont des signes sans autre signification que de forme pure, donc non-lisibles, sinon dans le sens qu’un graphique se lit […].“ Das Zitat ist einem Beitrag entnommen, der im Jahre 1958 zwar anonym in der ultra-lettristischen Zeitschrift –grammeS erschienen ist, aber dennoch Jacques de la Villeglé zugeschrieben wurde. Hier zitiert nach Lentz (2000), I: S. 153. 209 Lemaître (1965), o. S. 210 Curtay (1974), S. 219.

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In diesem Beispiel von Roland Sabatier wird eine charakteristische Eigenheit der hypergraphie deutlich: Sie erinnert an die bislang noch immer nicht vollständig entzifferte minoische Linear A-Schrift, wie sie beispielsweise der berühmte Diskos von Phaistos (ca. 17. Jh. v. Chr.)211 zeigt:

Abb. 6  Diskos von Phaistos (ca. 17. Jh. v. Chr.)

Ein Unterschied besteht darin, dass im vorliegenden Beispiel der hypergraphie pikturale und skripturale Zeichen gleichwertig nebeneinander erscheinen. Konventionelle Schrift und Bild ergänzen sich und bilden  – in Analogie zum bereits erläuterten erweiterten Textbegriff – eine Art neue intermediale Schrift. Dass die Suche nach neuen Textelementen und Schriftzeichen im Bereich der Dichtung nicht erst im Lettrismus oder gar in der Konkreten Poesie begonnen hat, belegen u.a. die Arbeiten von Henri Michaux (1899–1984). Bezeichnend für den im 20. Jahrhundert sich intensivierenden intermedialen Zusammenhang zwischen Dichtung und Malerei, war der belgische Surrealist Michaux in beiden Bereichen tätig. Seinen Traum von einer eigenen Bildsprache bzw. Bildschrift hat er explizit formuliert: „je songe aussi

211 Abgedruckt in Adler/Ernst (31990), S. 22. Vgl. hierzu Dencker (1972), S. 9f., Dencker (2011), S. 474ff. und Haarmann (2002), S. 25f.



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à faire une langue… […] pas avec des mots, ni avec des phonèmes, ni des onomatopoées, mais avec des signes graphiques.“212

Abb. 7  Henri Michaux, ohne Titel (1927)213

Dieses Beispiel stammt aus Michaux’ erster Sammlung. Ihr Titel Alphabet (1927) signalisiert auf eindeutige Weise, dass Michaux an der Entwicklung einer Art Schrift gelegen war. Die Zeichen bilden auf dem Papier horizontale Zeilen und erwecken den Anschein „spontan hingeworfene[r] ideographische[r] Schriftzeichen“214. Wie im vorliegenden Beispiel erkennbar, besteht sie, im Gegensatz zur konventionellen Schrift, nicht aus dechiffrierbaren Zeichen. Bei dieser Schrift geht es nicht um die Vermittlung eines bestimmten semantischen Inhalts, sondern um den ästhetischen Wert der Schriftzeichen. Hier haben sich die ästhetischen Eigenqualitäten der Schrift verselbstständigt, Skripturalität ist nur noch als simulierter Gestus vorhanden.215 Die Grenze zwischen Malen und Schreiben scheint vollkommen aufgehoben. Das produzierte Werk ließe sich treffend als skripturale Malerei oder handschriftliches Bild bezeichnen.

212 213 214 215

Michaux (1979), S. 6. Vgl. hierzu Krüger (2010), S. 202–208. Michaux, zitiert nach Maulpoix/Lussy (1999), S. 38. Winter (2006), S. 440. Ähnliche Schrift-Bilder wurden in den 1970er Jahren von Annalies Klophaus, die bezeichnenderweise ebenfalls eine Personalunion der Bereiche Malerei und Literatur darstellt, produziert.

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Abb. 8  Henri Michaux, Narration (1927)216

Narration (1927) stammt aus dem Bereich der écriture automatique, und es handelt sich um eine zu einer Art Text arrangierte Aneinanderreihung skripturaler Zeichen und Strukturen. Zunächst erscheinen diese so übereinander gelagert, dass sie wenig ,lesbar‘ sind. Erst ab der vorletzten Reihe kristallisieren sich einzelne Zeichen heraus. Diese weisen dabei starke Ähnlichkeiten mit der traditionellen chinesischen Kalligraphie auf, wie dies in Michaux’ skriptographischen Arbeiten oft der Fall ist.217 Auch die visuelle Konkrete Poesie ähnelt der chinesischen Kalligraphie besonders in einem wichtigen Aspekt, nämlich der Neubewertung der weißen Fläche der Papierseite: In beiden Fällen trägt diese ebenso zur Gesamtbedeutung des jeweiligen Textes bei wie die schwarzen oder farbigen Zeichen auf dem Papier: Dans une composition calligraphique, le vide n’existe pas, il n’y a que du plein noir ou du plein blanc et chaque espace, qu’il soit noir ou blanc, doit trouver sa force. […] L’espace, en calligraphie, trouve sa valeur dans sa relation avec les lettres noires, et inversement.218

Außerdem wird Schrift in der Kalligraphie – ebenso wie in der Konkreten Poesie – primär nicht als Informations- und Kommunikationsmittel, sondern als autonomes künstlerisches Material behandelt: Der flüssige und behende Duktus wird gehemmt, ja u.U. ganz zum Stillstand gebracht, wenn die Buchstaben eine resistente Materialität annehmen. Dies geschieht etwa in der virtuosen

216 Michaux (2001), II: S. 433. Auffallende Ähnlichkeiten bestehen zwischen diesem Beispiel und Paul Klees Abstrakte Schrift (1931). Abgedruckt in Winter (2006), S. 443. 217 Zur Kalligraphie vgl. Haarmann (2002), S. 71ff. und Jean (1987), S. 162ff. 218 Jean (1987), S. 173. Dasselbe gilt nach Mukai (1991), S. 66f. auch für die japanische Kalligraphie: „When learning traditional calligraphy with brush and ink, the Japanese learn not only to write the character but also to incorporate the empty background as an additional carrier of meaning in the text […].“



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Kalligraphie der Chinesen […]. Der Text selbst wird zu einem Bild, das dem Betrachter […] nicht gestattet, kurzerhand zur Sache zu kommen.219

In beiden Fällen ist die Visualisierung von Schrift die Folge, die umso mehr in den Vordergrund tritt, als sowohl in der Kalligraphie als auch in der Konkreten Poesie die skripturalen Elemente isoliert erscheinen. Pierre Garnier nannte neben dem spatialisme ganz folgerichtig die Kalligraphie „eine der Möglichkeiten einer Sichtbarmachung des Strukturellen“220. Michaux selbst hat mehrfach betont, dass seine abstrakten kalligraphischen Werke stark durch die chinesischen Schriftzeichen beeinflusst worden sind.221 Dies liegt darin begründet, dass die chinesischen Ideogramme nach Michaux’ Auffassung eine perfekte Synthese aus Schrift- und Bildsprache darstellen. Einen kausalen Zusammenhang zwischen Dichtung und Ideographie hatte vor Michaux explizit Guillaume Apollinaire hergestellt, indem er nämlich das Ideogramm zum Grundprinzip der Schrift erhoben hat: „Dans ma poésie, je suis simplement revenu aux principes puisque l’idéogramme est le principe même de l’écriture.“222 Den ästhetischen Wert der chinesischen Schriftzeichen und deren hieraus abgeleitete Eignung als Medium der Dichtung hatte bereits Ernest Francisco Fenollosa in seiner Studie The Chinese Written Character As A Medium For Poetry (Manuskript vor 1908, Erstpublikation 1918) betont. Fenollosa vertrat darüber hinaus schon vor Michaux die Ansicht, dass die ideale Sprache keinen skripturalen, sondern einen pikturalen Charakter aufweisen sollte: „Such a pictorial method, whether the Chinese exemplified it or not, would be the ideal language of the world.“223 Bei aller Ähnlichkeit zu den chinesischen Schriftzeichen bzw. der chinesischen Kalligraphie gibt es jedoch einen wesentlichen Unterschied zwischen dieser und Michaux’ skriptographischen Arbeiten, wie beispielsweise Narration: In jener geht es darum, einen bestimmten Inhalt besonders formschön zu vermitteln.224 Der ästhetische Aspekt übernimmt dabei eine rein akzidentelle Funktion. In den Werken von Henri Michaux hingegen wird kein bestimmter Inhalt vermittelt. Die Zeichen sind vollkommen bedeutungslos und haben am Bereich der Wortsemantik keinen Anteil. Es zählt allein der ästhetische Wert der kalligraphischen Strukturen. Die hier verwendete Bildsprache realisiert Michaux’ Ideal eines „vocabulaire, d’où le verbal entièrement serait exclu“225. Dies bedeutet aber auch, dass diesen Zeichen jetzt eine ganz andere Bedeutung zugemessen 219 Assmann (1988), S. 241. 220 Gappmayr (2004), S. 157. 221 In der späteren Sammlung Idéogrammes en Chine (1975) liefert Michaux in Form einer Art Meditation eine Hommage an die chinesische Sprache und vor allem auch Schrift: „Le chinois, langue faite pour la calligraphie. – Plutôt que calligraphie, art de l’écriture.“ Michaux (2004), III: S. 833. Michaux ist nicht der einzige Künstler, auf den die chinesische Kalligraphie eine große Faszination ausgeübt hat, sondern dies ist in den 1950er Jahren keine Seltenheit. Vgl. hierzu Westgeest (1996). 222 Brief Guillaume Apollinaires an den Paris-Midi, undatiert zitiert in Paris-Midi, 22. Juli 1914. 223 Fenollosa (1936), S. 31. 224 Vgl. hierzu Peignot (1993), S. 9: „L’art du calligraphe chinois consiste à savoir établir un équilibre aussi instable que possible entre ces deux modes d’expression [scil. le texte et l’image ; B.N.].“ 225 Michaux (1979), S. 5.

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wird: Sie nehmen innerhalb der künstlerischen Produktion selbst die Funktion von Graphismen ein, die als Spuren auf die Geste des Versuchs verweisen, in Schriftzeichen zu schreiben, die dem Chinesischen ähneln, ohne jedoch chinesische Zeichen zu sein oder sein zu wollen. Sie simulieren lediglich die ästhetische Gestalt der chinesischen Ideographie, weil der Körper, der sie als graphische Spuren seiner Aktivität hervorgebracht hat, seine eigene graphische Aktivität in die Richtung dieses Modells entwickelt hat und damit dem graphischen Code der eigenen lateinischen Schrift entwichen ist. Von der Orientierung am ideogrammatischen Charakter chinesischer Schriftzeichen, „the assimilation of the Chinese signifying system“226 – jedoch ohne entzifferbare Schriftzeichen und eine kommunizierbare inhaltliche Aussage – zeugt auch das folgende Beispiel aus der Feder Henri Michaux’,227 das etwa zeitgleich mit den ersten Arbeiten der historischen Konkreten Poesie in den 1950er Jahren entstanden ist:

Abb. 9  Henri Michaux, ohne Titel (1954)

Wie Bertelé in seinem Vorwort zur Sammlung Parcours (1967), aus der dieses Beispiel entnommen ist, treffend festgestellt hat, handelt es sich bei den Texten dieser Sammlung

226 Parish (2007), S. 159. 227 Michaux (2001), III: S. 437.

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gewissermaßen um „idéogrammes personnels“228. Diese erwecken sowohl einen starken Eindruck von Bewegung als auch einen solchen von menschen- und tierartigen Formen. Beides ist ganz typisch für Michaux’ Bildsprache, für seine „langue visuelle“229. Auch das nächste Beispiel aus der Sammlung Parcours (1967) führt eine Art pikturaler Schrift vor. Auch wenn es dem Bereich der Intermedialität zwischen Schrift und Bild anzugehören scheint, hat der Herausgeber der Sammlung in seinem Vorwort keinen Zweifel an der Zuordnung zur Schrift gelassen: „Il s’agit bien ici, en effet d’une écriture“230, und zwar um eine ganz spezielle: „Écriture qui nous ramène aux sources primitives de la communication, d’un avant les mots et leur abstraction, faite pour une confidence plus directe et plus intime.“231

Abb. 10  Henri Michaux, ohne Titel (1967)232

Der Hinweis auf die primitiven Ursprünge der Kommunikation, denen sich Michaux hier annähert, bringt die Parcours-Gedichte in direkten Zusammenhang mit den antiken 228 229 230 231 232

Michaux (2001), III: S. 432. Baatsch (1993), S. 164. Michaux (2001), III: S. 432. Michaux (2001), III: S. 432. Michaux (2001), III: S. 436.

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Bilderschriften, aus denen sich im Laufe der Zeit die späteren Alphabetsysteme entwickelt haben.233 Wie die Beispiele des Lettrismus und des Malers und Dichters Henri Michaux gezeigt haben, nähern sich spätestens im 20. Jahrhundert die Künste auf unterschiedlichste Weise einander an. Unter dem Stichwort der Intermedialität ist hier in semiotischer Hinsicht vor allem der Prozess einer Versprachlichung oder Verschriftlichung der Bildkunst und einer Verbildlichung der Sprachkunst (u.a. der Dichtung) zu verzeichnen. So nimmt es wenig wunder, dass sich auch andere Künste um eine Universalsprache bemüht haben. Im Bereich des Informationsdesigns ist hier vor allem Otto Neurath zu nennen. Von ihm stammen schon aus den 1930er Jahren piktographische Zeichen,234 die eine Schrift- und Textfunktion erfüllen. Im Jahre 1936 entwickelte Neurath ein entsprechendes Visualisierungssystem, Isotype (International System of Typographic Picture Education). Im Unterschied zur Bewertung der Universalsprache durch die konkreten Dichter beharrte Neurath jedoch auf dem untergeordneten Charakter seiner interkulturellen Bildersprache: „Sie [scil. Isotype; B.N.] wurde als Hilfssprache für die Verbreitung technischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wissens geschaffen.“235 Mit Isotype können komplexe semantische Sachverhalte durch ein Symbol dargestellt werden. „At the heart of his method was a ‘visual dictionary’ containing some two thousand symbols and a companion ‘visual grammar’, which made it possible to relay information in such a way that it can be grasped pretty well immediately, in a single glance.“236 Isotype ist also aus standardisierten symbolischen Elementen aufgebaut. Der Hauptvorteil, den die entstandenen Piktogramme besitzen, ist die Internationalität, denn ihr denotativer Kern ist möglichst universal verständlich angelegt: „The signs have to be clear in themselves, without the help of words as far as possible – that is, ‘living signs’.“237 In diesem Zitat wird überdeutlich, dass in Neuraths Bildersprache Piktogramme die Funktion von Wörtern übernehmen und diese weitgehend überflüssig machen. Neurath ging es aber nicht allein um sprechende Zeichen, sondern um sprechende Zeichen auf einer wissenschaftlichen (und nicht auf einer poetischen) Grundlage. Solche piktographischen Zeichen nivellieren nicht nur nationale Grenzen, sondern überbrücken auch die Kluft zwischen gebildeten und weniger gebildeten Rezipienten. Die Folge ist eine Demokratisierung des Wissens, deren sich auch Neurath bewusst war: Die Isotype-Methode kann sehr wohl zu einem der Elemente werden, die mithelfen können, eine Zivilisation zustandezubringen, an der alle Menschen in einer gemeinsamen Kultur teilhaben können und in der die Kluft zwischen Gebildeten und Ungebildeten überbrückt sein wird.238 233 Vgl. Haarmann (2002). 234 Natürlich ist Neurath nicht der Erfinder von Piktogrammen. Zur jahrtausendealten Tradition der Piktographie vgl. Haarmann (2002), S. 15f. 235 Neurath (1991), S. 342. Vgl. hierzu auch das Kapitel Isotype as a helping language in Neurath (1980), S. 17ff. 236 Mijksenaar (1997), S. 30. 237 Neurath (1980), S. 32. 238 Neurath (1991), S. 117. Ähnlich auch in Neurath (1991), S. 645: „Der gewöhnliche Bürger sollte in



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Das folgende Beispiel,239 das fünf unterschiedliche Personentypen abbildet, belegt den stark reduzierten Charakter der Piktogramme, die in Basic by Isotype (1937) abgedruckt sind – Mann und Frau unterscheiden sich nur durch die Körperform (breite Schultern beim Mann, schlanke Taille bei der Frau) und die angedeutete typische Kleidung (Anzug oder Kleid), die durch eine Schwarz-Weiß-Opposition besonders betont wird. Die Abgrenzung von Erwachsenen gegenüber Kindern wird allein durch die unterschiedliche Größe bzw. eine leicht abgewandelte Körperhaltung (Baby) angedeutet. Trotz dieser extremen Reduktion wird die Eindeutigkeit von Isotype in diesem Beispiel auf repräsentative Weise vorgeführt:

Abb. 11  Otto Neurath, ohne Titel (1937)

Den Höhepunkt der Neurathschen Bildersprache stellt sein Werk International picture language (1936) dar, in dem er das Konzept einer globalen Kommunikation entwickelt hat. Neuraths Bestrebungen erinnern dabei stark an das Bemühen der Dichter der Konkreten Poesie um eine „universale gemeinschaftssprache“240. Für Eugen Gomringer dienten als Modelle einer solchen Universalsprache Verkehrsschilder und Hinweis- und Anweisungsschilder auf Flughäfen, für die standardisierte Piktogramme verwendet werden, um die internationale Verständlichkeit zu gewährleisten.241 Im Gegensatz zu den Dichtern der Konkreten Poesie stand bei Neurath immer der didaktische Zweck im Vordergrund. Seine Bildersprache diente primär dazu, abstrakte Tatbestände über die Methode der Bildpädagogik  – auch unter dem Namen Wiener Methode bekannt242 – den Sinneswahrnehmungen zugänglich zu machen. Der hieraus gewonnene Erkenntnisgewinn sollte von unmittelbarem gesellschaftlichen Nutzen sein. Sein Ziel: „durch den Einsatz von Bildern und Zeichen, die intuitiv verstanden werden können, entsprechende Reflexionsprozesse in Gang setzen und damit die Basis für politi-

239 240 241 242

der Lage sein, uneingeschränkt Informationen über alle Gegenstände zu erhalten, die ihn interessieren […]. Es gibt kein Gebiet, für das Humanisierung des Wissens durch das Auge nicht möglich wäre.“ Neurath (1937), S. 38. gomringer (1969b), S. 289. Vgl. Krampen (1988). Vgl. Hartmann/Bauer (22006), S. 47ff.

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sche Umgestaltung schaffen.“243 Neuraths politisches Engagement war dabei demjenigen der brasilianischen Gruppe Noigandres nicht unähnlich. Gerade durch das Verfahren der pikturalen Reduktion konnte der Sozialphilosoph Neurath eine starke Politisierung von Bildern bewirken. In seinen Bildstatistiken hat er darüber hinaus Bilder mit ihrer spezifischen Transformation des Diskursiven ins Simultane verwandelt. Statistische Informationen werden hier visuell vermittelt – oder in Otto Neuraths Worten: „Statistisch erfasste Tatbestände sollen lebendig gemacht werden.“244 In Neuraths Piktogrammen können nicht nur Sachverhalte repräsentiert sein, sondern es können auch Handlungen angedeutet werden. Im nächsten Beispiel werden verschiedene Menschen in bestimmten Handlungssituationen gezeigt. Die entsprechenden Piktogramme sind zwar radikal reduziert, aber nichtsdestoweniger sind Menschen in Aktion durch ein Symbol darstellbar. Die Isotype-Methode setzt Symbole und eine visuelle Grammatik ein, „die verwendet werden kann, um in Bildern eine Geschichte zu erzählen, die fast auf den ersten Blick verstanden werden kann“245. Die Richtigkeit dieser Einschätzung soll das folgende Beispiel246 belegen:

Abb. 12  Otto Neurath, ohne Titel (1937)

243 244 245 246

Hartmann/Bauer (22006), S. 24. Neurath (1991), S. 18. Neurath (1991), S. 124. Neurath (1937), S. 71. Begleitet wird die Abbildung hier durch folgenden erläuternden Kommentar, der allerdings aufgrund der Eindeutigkeit der pikturalen Zeichen vollkommen redundant ist: „The boy is in the automobile. The boy gets out of the automobile. The boy goes from the automobile to the airplane. The boy is in the airplane.“

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Was Neurath mit Isotype im Bereich von Graphik und Informationsdesign bereits im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts entwickelt hatte, haben die Dichter der intermedialen Konkreten Poesie nach 1945 durch die Entwicklung einer globalen Universalsprache zu einem konsequenten Ende zu führen unternommen. Nicht zufällig sahen auch sie eine Ähnlichkeit zwischen ihrer poetischen Universalsprache und den chinesischen Schriftzeichen. Es handelt sich hierbei um die Aktualisierung des wenigstens seit Leibniz geträumten Traums, dass man eine universelle Schrift nach dem Modell des Chinesischen schaffen könne. Neurath war sich nicht nur der Gemeinsamkeiten seiner Bilderschrift und der chinesischen Schrift, sondern auch der Unterschiede zwischen beiden bewusst: The present writing in China and Japan is a writing in signs, and every sign is representative of a thing or an idea, etc. and not of a word or of a sound. The position of signs in a group, their form of connection, gives them a sense. When the same sign is put down more than once, the sense does not necessarily have to be given in more words. For example, signs for tree put together give the sign for wood. This comes very near to the ISOTYPE system. But the Chinese writing has to be able to put down all the words and statements of the language – this writing itself has to be a complete language, while the ISOTYPE language is only a helping language for those groups of statements which will be made clearer by pictures. This fact makes these two languages very different.247

Neuraths Visualisierungssystem kann also als Vorläufer der Konkreten Poesie gelten, aber auch im Bereich der Informationsgraphik wurden Neuraths Bestrebungen um eine international verständliche und universell anwendbare Sprache fortgeführt. Als besonders populäres, aber keinesfalls alleiniges Beispiel sei hier auf Otl Aicher hingewiesen, der in den 1970er Jahren zusammen mit Martin Krampen Zeichensysteme der visuellen Kommunikation (1977), das seither als offizieller Beginn der internationalen Piktographik angesehen wird, verfasst und die Piktogramme für die Olympischen Sommerspiele im Jahre 1972 entwickelt hat. Dieser kleine Exkurs diente dazu, zweierlei deutlich zu machen: Weder ist die Suche der Produzenten intermedialer Gedichte nach 1945 nach einer international verständlichen Universalsprache der erste Versuch dieser Art, noch ist diese Suche auf das Medium der Dichtung beschränkt. Vielmehr sollte durch Beispiele vom Anfang des 20. Jahrhunderts gezeigt werden, dass es unmittelbare Vorläufer in unterschiedlichen Bereichen und Medien gab. Der Wunsch nach einer universellen Sprache und deren Notwendigkeit lagen schon länger vor dem historischen Beginn der Konkreten Poesie in der Luft, und zwar auf internationaler Ebene. Sowohl Isotype als auch die Universalsprache(n) in der Konkreten Poesie unterscheiden sich dabei von anderen Versuchen nach dem Modell der als international konzipierten Plansprachen Volapük, Esperanto etc. Der größte Unterschied besteht darin, dass sowohl Neurath als auch die Konkretisten Sprache nicht mehr auf die Elemente der traditionellen Schriftsprache festgelegt haben, sondern den Sprachbegriff – und damit zugleich den Schriftbegriff – dahingehend geöffnet haben,

247 Neurath (1980), S. 105.

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dass die eingesetzten Zeichen nicht mehr dem bzw. einem Alphabet entstammen müssen. Dasselbe gilt für die Pionierarbeiten Henri Michaux’. Auch er hat gerade durch die Abwendung von bestehenden Alphabetsystemen eine Univeralsprache entwickelt. Dabei kamen auch piktographische Zeichen zum Einsatz. Im Gegensatz zu Neurath ging es Henri Michaux nicht darum, möglichst einfache und vor allem international verständliche Zeichen zu schaffen, sondern bei ihm spielte der Bereich des Subjektiven eine große Rolle. In Michaux’ Arbeiten ist beispielsweise der Bezug zum Chinesischen vollkommen individualistisch gestaltet. Dadurch legt er eine subjektive Dimension seiner Skriptographie frei, die aber universell verstanden werden kann, und zwar als Geste des Wollens, nach dem chinesischen Modell für Skripturalität zu schreiben. Bei Neurath hingegen ist der Universalismus durch eine Reflexion auf die universellen Gestaltungsmöglichkeiten des einzelnen Zeichens entstanden, bis ein geeignetes Vokabular gefunden werden konnte. 1.2.2 Der ,neue‘ Leser: Dekonstruktion eines Mythos Von der Produktions- kommen wir nun zur Rezeptionsseite: Intermediale poetische Erzeugnisse aus der Zeit nach 1945 erfordern selbstverständlich eine andere Art der Rezeption als beispielsweise Renaissancegedichte. Der Rezeptionsvorgang muss den Erfordernissen dieser Poesie angepasst und verändert werden. Nötig ist ein „intellektueller und spontan-produktiver Leser, der bereit und fähig ist, die wenigen angebotenen Strukturen in Kontexte erläuternder übergreifender Art zu stellen“248. In diesem Zusammenhang ist oftmals vom „neue[n] leser“249 die Rede, wodurch der Eindruck erweckt wird und auch werden soll, dass dieser sich nicht nur graduell, sondern prinzipiell vom Rezipienten traditioneller Dichtungen unterscheide. Dabei handelt es sich allerdings um einen Mythos, der einzig im Streben nach Innovation, wie es typisch für die Avantgarden des 20. Jahrhunderts ist, begründet liegt und den es partiell zu dekonstruieren gilt. Keinesfalls trifft Pierre Garniers Urteil zu: „La poésie visuelle et la poésie phonique changent la destination du ‘lecteur’. Celui-ci jusqu’alors était passif. Le poème se fermait sur lui. La poésie nouvelle exige sa collaboration […].“250 Pierre Garnier unterschlägt hier den Sachverhalt, dass der Leser von Gedichten immer am ,Erlesen‘ eines poetischen Textes und an dessen Sinnkonstitution beteiligt ist. Umberto Eco spricht in diesem Zusammenhang von „quella basilare apertura di ogni opera d’arte […]“251. Nach ihm besteht die besondere Qualität eines poetischen Textes vor allem darin, dass der Dichter die konventionalisierten Sprachregeln – Eco hat diese als „l’ordine probabilistico del linguaggio“252 bezeichnet  – bewusst verletzt und durchbricht. Auch nach Roland Barthes gehört es zu den primären Funktionen der Dichtung, gegen die konventionalisierten Regeln der Sprache vorzugehen. Dies ist also nicht nur der Dichtung nach 1945 vorbehalten. 248 249 250 251

Kopfermann (1974), S. 87. gomringer (1969b), S. 281. Garnier (1968), S. 136f. Eco (62004), S. 115. Hervorhebung vom Autor. Jochen Gerz hat die Kunst auch wegen der ihr inhärenten Ambiguität und Offenheit als zentaurhaft bezeichnet. 252 Eco (62004), S. 115.

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Die poetische Normabweichung bzw. -verletzung dient, Barthes zufolge, dabei primär dem Zweck, Bedeutungspluralität zu erzeugen. Eine durch ein Gedicht vermittelte ästhetische Botschaft ist demnach prinzipiell auf Mehrdeutigkeit angelegt. Ist dem so, so kann jeder Leser sich nach subjektiven Gesichtspunkten für die ihm am plausibelsten erscheinende(n) Bedeutung(en) entscheiden. Laut Umberto Eco zeichnet sich die ästhetische Botschaft, die ein poetischer Text übermittelt, des Weiteren gerade dadurch aus, dass sie nicht die Redundanz der Alltagskommunikation aufweist. Der spezielle Informationstyp der ästhetischen Botschaft stellt daher immer erhöhte Anforderungen an den Rezipienten: Dieser muss die Leerstellen im Text individuell auffüllen. Eco hat dies durch einen Vergleich zwischen dem längeren Text eines Liebenden, der allen konventionalisierten Wahrscheinlichkeitsregeln der Sprache folgt, und einigen Versen aus einem Gedicht Francesco Petrarcas (1304–1374), die prinzipiell denselben Sachverhalt bzw. eine vergleichbare emotionale Stimmung eines vergeblich Werbenden zum Thema haben, erläutert.253 Im ersten Fall gestaltet sich die Rezeption als ein müheloses Verstehen, das dadurch gewährleistet werden kann, dass alle wissenswerten Fakten bis ins kleinste Detail und vor allem vollkommen eindeutig ausformuliert sind und nur darauf zu warten scheinen, vom aufnahmewilligen Leser ,konsumiert‘ zu werden. Die poetische Sprache Petrarcas hingegen, die sich vor allem durch den häufigen Gebrauch von Metaphern und poetischen Bildern auszeichnet, verlangt vom Leser zahlreiche Übertragungsleistungen. Der Sinn der Verse bzw. der Sinn ,hinter‘ den Versen muss zunächst dechiffriert werden. Erschwerend kommt hinzu, dass die poetischen Gattungen, die Petrarca gewählt hat (v.a. das Sonett), zur starken verbalen Komprimierung und Reduktion zwingen. Der Akt der Entschlüsselung, den die Rezeption eines jeden Gedichts also zu einem gewissen Grade beinhaltet, ist in noch stärkerem Maße erforderlich, wenn ein Gedicht bewusst auf Ambiguität angelegt ist, wie beispielsweise ein Liebesbrief in Versen von George Sand (1804–1876) an Alfred de Musset (1810–1857): Je suis très émue de vous dire que j’ai bien compris l’autre soir que vous aviez toujours une envie folle de me faire danser. Je garde le souvenir de votre baiser et je voudrais bien que ce soit là une preuve que je puisse être aimée par vous. Je suis prête à vous montrer mon affection toute désintéressée et sans calcul, et si vous voulez me voir aussi vous dévoiler sans artifice mon âme toute nue, venez me faire une visite. Nous causerons en amis, franchement. Je vous prouverai que je suis la femme sincère, capable de vous offrir l’affection la plus profonde comme la plus étroite 253 Eco (62004), S. 115ff.

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amitié, en un mot la meilleure preuve que vous puissiez rêver, puisque votre âme est libre. Pensez que la solitude où j’habite est bien longue, bien dure et souvent difficile. Ainsi en y songeant j’ai l’âme grosse. Accourez donc vite et venez me la faire oublier par l’amour où je veux me mettre.254

Zeile für Zeile gelesen, handelt es sich um ein schönes, aber wenig originelles Liebesgedicht. Liest man jedoch nur die ungeraden Zeilen, so hat man es zwar noch immer mit einem Liebesgedicht zu tun, allerdings mit einem, das ganz offen mit obszönem Vokabular die Aspekte der körperlich vollzogenen Liebe zum Ausdruck bringt. Diese zweite Variante ist daher – im Gegensatz zur ersten – der erotischen oder pornographischen Poesie zuzurechnen. Es kann also festgehalten werden: Die ästhetische Botschaft eines Gedichts ist prinzipiell immer durch Bedeutungspluralität sowie die Reduktion auf ein Informationsminimum gekennzeichnet, wobei die Bedeutungspluralität nicht vom Dichter intendiert zu sein braucht. Jedes (poetische) Kunstwerk – und nicht erst die Dichtung nach 1945 – fordert den Rezipienten zur Eigeninitiative und Eigenleistung auf: qualsiasi opera d’arte, anche se non si consegna materialmente incompiuta, esige una risposta libera ed inventiva, se non altro perché non può venire realmente compresa se l’interprete non la reinventa in un atto di congenialità con l’autore stesso.255

Außerdem gilt: L’apertura è […] la condizione di ogni fruizione estetica e ogni forma fruibile in quanto dotata di valore estetico è ‘aperta’. Lo è […] anche quando l’artista mira a una comunicazione univoca e non ambigua.256

Das bisher Erörterte könnte den Eindruck erwecken, dass der Gebrauch des Epithetons ,neu‘ zur Charakterisierung des Lesers der Dichtung nach 1945 nicht gerechtfertigt sei, doch auch dieser Eindruck bedarf der Korrektur. Auch wenn der Rezipient von Gedichten immer an der Sinnkonstitution Anteil hat, so nimmt derjenige der Dichtung nach 1945 dennoch eine Sonderrolle ein, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Vor allem ist der Grad des individuell zu erbringenden Eigenanteils beim ,neuen‘ Leser wesentlich höher. Dies liegt daran, dass die meisten dieser Gedichte lediglich „Aufhänger für die Fantasie, Assoziationsmöglichkeiten“257 darstellen, wie Claus Bremer es formuliert hat. Interpre254 Evrard (1956), S. 58. 255 Eco (62004), S. 36. 256 Eco (62004), S. 89. Hervorhebung vom Autor. Vgl. auch Accame (1998), S. 31: „La poesia è

sempre stata il luogo specifico dell’ambiguità.“

257 Bremer (1983), S. 15.

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tatorische Offenheit ist zwar ein prinzipielles Merkmal jedes Kunstwerkes, der Grad an Offenheit kann jedoch erheblich variieren. Ist er, wie im Falle des Großteils der hier untersuchten Dichtung nach 1945, besonders stark ausgeprägt, so hat dies eine erheblich verminderte Leserlenkung zur Folge. Vor allem skriptural-pikturale Gedichte sind oftmals auf ein minimiertes Zeichenmaterial reduziert. Darum ist die Interpretation solcher Gedichte wesentlich stärker subjektiv gefärbt als diejenige konventioneller poetischer Artefakte: Ihr typographisches Arrangement und ihre Zeichenstruktur bieten die Möglichkeit zu zahlreichen unterschiedlichen Deutungen. Öyvind Fahlström hat in seinem Manifest för konkret poesi (1953) bereits darauf hingewiesen, dass die Möglichkeiten mehrerer Lesarten solcher Gedichte – Décio Pignatari hat hierfür den Begriff der totossemia geprägt – der freien Augenbewegung bei der Betrachtung von abstrakter Kunst sehr nahe kommen. Zusätzlich muss der Leser eine intellektuelle Leistung erbringen: „Die Rezeption oszilliert zwischen sinnlich-visueller Wahrnehmung und kognitiv-intellektueller Dekodierung […]“258 und widerspricht somit Lessings kategorialer Einteilung im Laokoon. Erst durch die geistige Aktivität des Lesers wird der jeweiligen Zeichenstruktur eine bestimmte Richtung gegeben. In besonderem Maße muss der Leser bei der experimentellen Dichtung aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts „analog zur Produktion […] eine re-produzierende Rezeption ausbilden“259. Nicht der Dichter gibt dem Leser eine bindende Sinndeutung seines Textes vor, sondern der Leser ist aktiv an der Sinnkonstitution beteiligt. Noch bevor Roland Barthes den Tod des Autors verkündet hat,260 haben sich solche Gedichte „gegen eine autor- und sinnzentrierte Rezeption, die den Blick auf die Polyphonie literarisch-künstlerischer Produktion verstellt“261, gerichtet. Die Rezeption kann sich dabei vor allem deshalb ungewohnt und daher schwierig gestalten, weil die poetische Umsetzung einer international verständlichen Universalsprache die Dichter zum Einsatz der unterschiedlichsten Zeichensysteme gezwungen hat. Ohne das Kapitel über den erweiterten Textbegriff zu rekapitulieren, sei nochmals darauf hingewiesen, dass für die Dichter der Nachkriegsjahre prinzipiell jedes Zeichen an der Texterzeugung beteiligt sein kann. Für den an Texte, die aus dem lateinischen Alphabet gebildet sind, gewohnten europäischen Durchschnittsleser kann dies zu einer erschwerten Rezeption führen. Aus der notwendigerweise großen Aktivität des Lesers resultiert eine der Schwierigkeiten, die sich im Umgang mit einer solchen Poesie ergeben. Da in der Dichtung nach 1945 die Anzahl der Bedeutungsmöglichkeiten im Vergleich mit der traditionellen Dichtung auf ein Vielfaches multipliziert ist, kann zu Recht behauptet werden, dass der ,neue‘ Leser eine dem Dichter gleichwertige Rolle erfüllt, er sozusagen zu einem CoProduzenten wird – oder mit den Worten Eugen Gomringers: Der Dichter „schafft […] ,denkgegenstände‘ und überläßt das assoziieren dem leser, der mitarbeiter, ja oft viel-

258 259 260 261

Achten-Rieske (2008), S. 390. Faust (1977), S. 33. Vgl. La mort de l’auteur (1968). Segler-Messner (2004), S. 113.

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leicht ,vollender‘ des gedichts wird“262. Mary Ellen Solt hat in diesem Kontext von „the new poet-reader“263 gesprochen. Dass die Rezeption der hier untersuchten Dichtung vor allem auf das Auge des betrachtenden Lesers angewiesen ist, kann kaum als Unterscheidungskriterium zur Rezeption ,traditioneller‘ Dichtung herhalten, zumal Dichtung, die auf einem Schreibuntergrund fixiert ist und nicht vorgetragen wird, prinzipiell immer mit dem Auge erfasst wird, und weil es darüber hinaus schon seit der Antike speziell visuelle Dichtungen gibt. Spätestens jedoch seit Beginn des letzten Jahrhunderts kommt dem Auge eine besonders wichtige Rolle in allen Rezeptionsprozessen zu. Yvan Goll hat dies in seinem Manifest des Surrealismus (1924) in Zusammenhang mit dem Strukturwandel in der Verfasstheit unserer Kultur und der damit einhergehenden Neubewertung der Bedeutung des Auges gebracht: „Seit 20 Jahren triumphiert das Auge. Wir sind im Jahrhundert des Films. Mehr und mehr machen wir uns durch visuelle Zeichen verständlich.“264 In einem Punkt unterscheidet sich der ,neue‘ Leser deutlich vom ,traditionellen‘ Leser: Viel öfter als dieser sieht sich der ,neue‘ Leser mit Texten konfrontiert, deren Rezeption bestimmte Operationen verlangt, die sich von der sich linear vollziehenden ,Normallektüre‘ stark unterscheiden. Dies ist beispielsweise immer dann der Fall, wenn das Gedicht nicht in der – in einer großen Anzahl von Kulturkreisen – konventionalisierten horizontalen Leserichtung arrangiert ist und somit vom linearen Satzspiegel abweicht. Beliebte Möglichkeiten des besonderen typographischen Arrangements auf einem Schreibuntergrund, die in der Dichtung nach 1945 genutzt wurden, sind die diagonale und die zirkuläre Gestaltung sowie das Umdrehen der verwendeten Buchstaben.265 Allerdings treffen wir auch auf solche typographischen Gedichtanordnungen nicht erst in der Dichtung nach 1945. Vielmehr gab es schon im 17. Jahrhundert viele poetische Techniken der „Irritation eingefahrener Lesevorgänge“266. Zum Beispiel sind aus dem 17. Jahrhundert „Gedichtformen, die sich nur durch permanente Rotation der Textfläche lektional erschließen“267, überliefert. Die zirkulären Textarrangements aus dieser Zeit können sich wiederum auf antike Techniken berufen, wie sie zum Beispiel der berühmte Diskos von Phaistos (ca. 17. Jh. v. Chr.) zeigt.268 Sowohl seine Vorder- als auch Rückseite – wobei die Zuordnung nicht gesichert ist – weist über 100 Zeichen mit graphisch reduzierten Darstellungen aus dem menschlichen, tierischen und pflanzlichen Bereich auf, die durch so genannte Feldtrenner Zeichenkomplexe bilden und spiralförmig angeordnet sind. Dass die verwendete Schrift bisher nicht entziffert werden konnte, 262 Gomringer, zitiert nach Kessler (1976), S. 108. Vgl. hierzu Clüver (2000), S. 44: „The rules of the game inhere in its structure; but the reader may be a more imaginative player than the poet who has invented them.“ 263 Solt (1970), S. 64. 264 Goll (1969), S. 186f. Zur historischen Hierarchie der Sinne und der kulturellen Umwertung des Gesichtssinns im 16. Jahrhundert vgl. Barthes (1971), S. 76f. und Assmann (2006a), S. 91ff. 265 Unter zirkulären Gedichten verstehe ich ausschließlich Gedichte, die nur durch eine rotierende Lektüre erschlossen werden können, nicht aber solche, deren linearer Text in eine Kreisform gebracht ist, wie beispielsweise in einzelnen Gedichten Pierre Garniers oder auch Augusto de Campos’. 266 Ernst (2002), S. 161. 267 Ernst (2002), S. 167. Hier auch Abdruck eines entsprechenden Gedichtes. 268 Vgl. hierzu S. 54 dieser Arbeit.



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ändert  – dank eines weit gefassten Textualitätskonzeptes  – nichts daran, dass es sich beim Diskos von Phaistos um einen Spiraltext handelt, der jedoch nicht der Konkreten Poesie zuzurechnen ist. Anfang des 20. Jahrhunderts finden wir Textdrehscheiben beispielsweise bei Tristan Tzara, Pablo Picasso und Marcel Duchamp. Im Umfeld der Konkreten Poesie hat sich dann vor allem Ferdinand Kriwet der zirkulären Komposition von Gedichten verschrieben, daneben haben beispielsweise auch Jean-François Bory,269 Mary Ellen Solt und John Furnival Textspiralen produziert. Kriwets Rundscheiben (1960) sind nur dann zu entschlüsseln, wenn der Leser sie in der Hand dem Lesefluss folgend im Uhrzeigersinn dreht.270 Durch die Notwendigkeit eines Drehens des jeweiligen Blattes, auf dem ein solches Rundgedicht abgedruckt ist, entsteht für den Leser ein „kinetisches Spielmoment“271. Das Entschlüsseln des Textes ist dabei nicht nur wegen des zirkulären Schriftsatzes, sondern auch wegen einer abwechslungsreichen typographischen Gestaltung relativ schwierig.

Abb. 13  Ferdinand Kriwet, Rundscheibe Nr. VI: Type Is Honey (1962)272

269 Borys Textspiralen erschweren die Lektüre in besonderem Maße, da innerhalb des zirkulären Arrangements einzelne Textkomponenten auch horizontal und vertikal angeordnet sind und unterschiedliche Schrifttypen vorherrschen. Abdruck eines solchen Gedichts in Wildman (1967), S. 130ff. 270 Vgl. Weiss (1984), S. 150ff. 271 Greber (2008), S. 186. 272 Kriwet (1965), S. 95. Um dem Leser die Lektüre seiner Rundscheiben zu erleichtern, hat Kriwet zu

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Ein letztes Beispiel273 für einen poetischen Spiraltext stammt von Öyvind Fahlström. Es handelt sich dabei nicht nur um ein Beispiel für eine zirkuläre Struktur, sondern auch um eines, das der Forderung der Dichter der Konkreten Poesie nach einer international verständlichen Universalsprache genügt. Fahlströms Gedicht wird nämlich ausschließlich aus pikturalen Zeichen gebildet:

Abb. 14  Öyvind Fahlström, ohne Titel (o. J.)

Insgesamt ist der Leser der Dichtung nach 1945 wesentlich stärker an der Semiose des entsprechenden Gedichts beteiligt als der Leser ,traditioneller‘ Gedichte. Die visuelle Konkrete Poesie beispielsweise fordert vom Leser differentielles S ehen gegenüber der kursorischen Lektüre des traditionell kodierten Zeichen-Materials. Konkretes S ehen heißt differentielles Lesen ; es ist das Zusammenspiel der digitalen und der analogen Rezeptionsverfahren beider Medien [scil. Text und Bild; B.N.], deren Abhebung und Aufhebung zum verbo-voco-visuellen ,Super-Icon‘ im Prozeß der reflektierten Rezeption.274 jeder einen umfangreichen Selbstkommentar verfasst. Vgl. hierzu Kriwet (1965), S. 96ff. 273 Solt (1970), S. 157. 274 Erdbeer (2001), S. 202f. Hervorhebungen vom Autor.

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Ob es sich bei der Annahme einer hochgradig reflektierten und kongenialen Rezeption um eine nicht-realisierbare Idealvorstellung handelt oder nicht, soll an dieser Stelle nicht entschieden werden. Vor allem neuartige Gedichtarten, wie z.B. holographische, animierte oder digitale Gedichte sowie auch videopoems oder hypertext poems, stellen bisher nicht dagewesene Anforderungen an den Leser.275 In den hypertext-Gedichten kommt dabei die Rolle des Lesers derjenigen des Dichters am nächsten: Die „Rezeption als Partizipation“276 wird nun ersetzt durch eine Rezeption als Interaktion. Erst im Kontext der interaktiven Medienkunst, auf die wir frühestens ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts treffen, kann zu Recht vom ,neuen‘ Leser die Rede sein: Das Gedicht wird hier „zu einer Art kollaborativem Prozess“277. Zwar gibt der Dichter auch hier einen bestimmten Rahmen vor, jedoch kann der Leser innerhalb dieses Rahmens aus meist zahlreichen alternativen Kombinationsmöglichkeiten wählen. In solchen Gedichten gilt: „the poetic text is never ‘already there’; it is not a package for but a parameter of the poetic communication process.“278 Erst der Leser gibt dem Text also eine Gestalt, wobei diese bei jedem Leser unterschiedlich ausfallen kann und wird: Damit erreicht die Lyrik im Zeitalter der Digitalmoderne eine Offenheit, welche die traditionell im Namen insbesondere der Rezeptionsästhetik postulierte Offenheit der modernen Lyrik übersteigt. Es ist hier nicht die Rede von potentiell unendlichen Auslegungen ein und desselben wahlweise dunklen oder polysemen Textes, zur Debatte stehen absolut transfugale Verse, die sich in jedem neuen Rezeptionsakt tatsächlich verändern und damit je neue Sinnkonstellationen eingehen können, die jedoch – und das ist die Kehrseite dieser Dynamik – ebenso schnell wieder verschwinden und dem Vergessen anheimfallen.279

Der Leser ist hier nicht nur an der Sinnkonstitution, sondern auch an der Textkonstitution maßgeblich beteiligt. Hypertexts sind vor allem durch diese zwingend notwendige Interaktivität des Rezipienten gekennzeichnet: The reader has to make selections in a way that is similar, albeit not identical, to the way the writer has. The reader is now presented not with one narrowed-down selection of words in strings or in graphic layouts, but with an electronic field that is a complex network with no final form.280

275 276 277 278 279 280

Vgl. zu diesen Gedichtarten das jeweils entsprechende Kapitel dieser Arbeit. Daniels (2003), S. 58. Daniels (2003), S. 60. Vos (2007), S. 201. Scholler (2010), S. 405. Kac (1996), S. 253. Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Konzept von hypertexts vgl. Glazier (2002), S. 84ff. Als eine Art poetischen Print-hypertext könnte man Mallarmés Un coup de dés (1897) bezeichnen, zumal der Leser hier selbst entscheiden muss, wie er das Gedicht lesen möchte. Natürlich ist in diesem Gedicht die Anzahl der Möglichkeiten – bedingt durch das Medium – wesentlich kleiner als bei digitalen hypertexts. Auch Queneaus Cent mille milliards de poèmes (1961) stellen ein hypertext-Gedicht avant la lettre dar.

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Eine starke interaktive Beteiligung des Lesers erfordert zum Beispiel Julien d’Abrigeons horde d’ordre et d’horreur (2002):281 Zunächst werden dem Leser hier Wörter in einer bestimmten Anordnung auf dem Bildschirm präsentiert. Unter dieser Konstellation von Wörtern erscheint folgende Erläuterung des Dichters: „pour déplacer les mots, il suffit de maintenir le clic gauche de souris sur le mot et de bouger... (please, drag and drop as you like).“282 Der Leser kann also – im Rahmen der vom Dichter vorgegebenen Regeln – beliebig in den Text eingreifen und ihm die von ihm persönlich bevorzugte Gestalt verleihen. Es handelt sich darum mehr oder weniger um ein „do-it-yourself piece“283. Was bei den Dichtern der Konkreten Poesie impliziert ist, wenn man beispielsweise bei Eugen Gomringer liest, das konkrete Gedicht sei ein „geistiges spielfeld“284 und der Dichter darin „der regelgeber“285, erscheint bei Julien d’Abrigeon unterhalb der Wortkonstellation als explizite Aufforderung an die potenziellen Leser seines Gedichts: „Faites ce que vous voulez avec ça, cela ne me regarde plus ...“286 Deutlicher könnte die Ablehnung einer autorzentrierten Rezeption kaum formuliert sein. Der Dichter erscheint hier nun als Produzent eines potenziellen poetischen Artefaktes, dessen Aktualisierung er in die Hände des Rezipienten legt. Der Rezeptionsvorgang kann auch eine körperliche Komponente enthalten. Dies war in hohem Maße beispielsweise bei David Smalls The Illuminated Manuscript (2002)287, das auf der Documenta 2002 präsentiert wurde, der Fall: Es handelte sich dabei um ein übergroßes unbedrucktes 26 Seiten umfassendes Buch. Der Text erschien erst dann, wenn der Leser, der hier zunächst zum ,Taster‘ wurde, mit seinen Fingern über die Seiten strich, denn bei jeder Berührung ging von Sensoren im Papier ein Signal zu einem Deckenprojektor aus, der dann den entsprechenden Text jeder Seite auf dem Papier erscheinen ließ. Auch schon wesentlich früher plädierten einzelne Dichter explizit für die Einbeziehung der physischen Dimension in den Rezeptionsprozess, zum Beispiel Pierre Garnier und Bernard Heidsieck. Letzterer hat sich über die Rezeption seiner als poésie action aufgefassten Lautdichtung in einem Interview aus dem Jahre 1996 folgendermaßen geäußert: Der Raum und die Dauer müssen Komponenten der Lektüre sein. Dann muß man dem Text eine Spannung, eine Energie ‚einflößen‘, die ihm erlauben werden, den Raum in Besitz zu nehmen. Die Lektüre muß physisch werden. Man muß sich den Text physisch einverleiben, um ihm genau diese Spannung und diese Energie zu geben […].288

281 282 283 284 285 286 287 288

D’Abrigeon (2002) [Internet]. D’Abrigeon (2002) [Internet]. Hervorhebungen im Original. Schaffner (2010), S. 181. Gomringer (1969a), S. 61. Gomringer (1969a), S. 61. D’Abrigeon (2002) [Internet]. Vgl. Walker (2002) [Internet]. Das Interview führte Michael Lentz am 25.1.1996 in Salzburg mit Bernard Heidsieck. Abgedruckt in Lentz (2000), I: S. 226f.



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Im Hintergrund steht hier eine Aufwertung des menschlichen Tastsinns. Diese finden wir bereits wesentlich früher in der europäischen Philosophie, vor allem bei Johann Gottfried Herder (1744–1803), der dem Tastsinn eine wichtige Erkenntnisfunktion zugeschrieben hat.289 Ein interaktives Verhalten wird auch dem Leser von holographischen Gedichten abverlangt. Auch hier entsteht der Gedichttext, für den der Dichter zuvor einen bestimmten Rahmen vorgegeben haben muss, erst durch aktive Entscheidungen des Lesers, die in diesem Fall ebenfalls primär körperlicher Natur sind, denn jede Bewegung des Betrachters verändert die Gestalt des holographischen Textes, auf den er blickt. Daher zeichnet sich die Lektüre durch einen hohen Subjektivitätsgrad aus: The writer who works with holography or hypertext must give up the idea of the reader as the ideal decoder of the text and must deal with a reader who makes very personal choices in terms of the direction, speed, distance, order, and angle he or she finds suitable to the readerly experience.290

An den Leser der Dichtung nach 1945 werden auch immer dann erhöhte Anforderungen gestellt, wenn ein Dichter ungewohnte Materialien genutzt hat. Zwar zeigt die Geschichte der Schrift, dass diese – ebenso wenig wie die Dichtung – an den Schreibuntergrund Papier gebunden ist (alternativ verwendet wurden beispielsweise Stein, Ton, Keramik u.Ä.), jedoch ist das Besondere, dass in der Dichtung nach 1945 vollkommen andere Objekte als ,Schreibuntergrund‘ dienen – Pierre Garnier beispielsweise hat wiederholt die Banalität, Flachheit und Neutralität des Traditionsmediums Papier verurteilt. Alternativ plädierte er für Gedichte auf Mauern – hier fühlt man sich zu Recht an Carlo Bellolis Testi-poemi murali (1944) erinnert –, Steinen, Fensterscheiben, festem Sand, Packpapier und alten Säcken.291 Daneben treffen wir in der Dichtung nach 1945 auf Gedichte, die Fahnen, Wäsche, Blumen, Scherben etc. verwenden. Der allgemeine Zweifel der Dichter der Konkreten Poesie an der Sprache äußert sich hier als ein prinzipielles Misstrauen gegenüber dem Papier als alleinigem Schriftträger. Die Buchform gehörte Garniers Meinung nach schon in den 1960er Jahren der Vergangenheit an: „Le temps des livres semble passé.“292 Garnier bezweckte durch die geforderte Vielfältigkeit der medialen Gedichtpräsentation auch, die Dichtung der breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen und sie eben nicht nur an eine relativ kleine Gruppe von initiés zu richten.293 289 Vgl. Zeuch (2000). 290 Kac (1998), S. 177f. 291 Vgl. Garnier, P. (1963a), S. 18: „Il n’est pas question de cantonner la poésie visuelle sur le papier qui, par sa banalité, sa platitude, son neutralisme, est un mauvais porteur. Il faudra inscrire le poème sur des murs, sur des pierres, sur des vitres, sur du sable figé, sur du papier d’emballage, sur des vieux sacs.“ 292 Garnier (1968), S. 135. Von Ferdinand Kriwet existieren zum Beispiel Textteppiche, Textsäulen, Textkuben und Textbilder. 293 Vgl. Garnier, P. (1963a), S. 20: „Différents moyens s’offrent pour faire entrer la poésie dans les villes et dans les demeures : l’affiche, les poèmes visuels en céramique, des calendriers faits de poèmes visuels, un poème visuel se poursuivant, se complétant, se détruisant de chambre en chambre, des poèmes visuels mobiles en néon, des poèmes visuels sur cartes postales, des boîtes où seront enfermés quelques

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In der Dichtung nach 1945 kann sich nicht nur der Schreibuntergrund von demjenigen früherer Gedichte unterscheiden, sondern auch die Zeichenmaterialität. So kann aus der Textfläche eines Gedichts ein dreidimensionales Gebilde entstehen. In solchen Gegenstands- oder Objektgedichten – in Pierre Garniers Terminologie handelt es sich um poèmes tactiles – treten neben die visuellen verstärkt die haptischen Bedeutungsmerkmale. Hier sind nicht mehr die Dichtung und die Malerei intermedial miteinander verknüpft, sondern die Dichtung und die dreidimensionalen Raumkünste. Einen bemerkenswerten Sondertypus von Gegenstandsgedichten, der vom Rezipienten eine vollkommen neuartige Lektüre verlangt, stellen Jiří Kolářs Duft-Gedichte dar.294 Bei diesen olfaktorischen Gedichten handelt es sich um eine weitere Variante der poetischen Grenzüberschreitung.295 Wie gezeigt werden konnte, realisiert die Dichtung nach 1945 verschiedenartige Produktionsstrategien und Herstellungsweisen, die eine Rezeption erfordern, die sich in prinzipieller Hinsicht von derjenigen ,traditioneller‘ Gedichte unterscheidet. Besonders offensichtlich ist dies in jenen Fällen, in denen Gedichte mit den jeweils neuesten technischen Medien produziert werden, wie zum Beispiel dem Laser bei der von Eduardo Kac initiierten Holopoesie oder dem Computer im Rahmen der hypertextuellen Dichtung. Diese Gedichttypen erfordern eine andere Art der Rezeption und somit zugleich eine neuartige Leserkompetenz. Primär zeichnet sich diese dadurch aus, dass der Leser maßgeblich an der Textkonstitution beteiligt ist. Im Extremfall kommt der Gedichttext ohne die Aktivität des Lesers gar nicht erst zustande. Dies ist beispielsweise bei hypertextuellen Gedichten der Fall. Insofern kann in diesem Kontext zu Recht vom ,neuen‘ Leser gesprochen werden.

1.3 Die visuelle Dichtung und das Sonett Intermediale Verknüpfungen auf dem Gebiet der Dichtung sind keine Erfindung des 20. Jahrhunderts, sie treten hier jedoch in einer auffallend großen Häufung auf und wurden vor allem den unterschiedlichsten Experimenten unterzogen. Die für diese Untersuchung maßgeblichen intermedialen Verbindungen konzentrieren sich auf die Bereiche Dichtung und Malerei, Dichtung und Musik und schließlich Dichtung und Skulptur oder Architektur. Genau diese Intermedialitätsfelder kann eine der traditionsreichsten lyrischen Gattungen, die schon im 13. Jahrhundert entwickelt wurde, ebenfalls vorweisen, nämlich das Sonett. Die in der Dichtung nach 1945 quantitativ am stärksten vertretene Form der Intermedialität ist die Verknüpfung von Bild und Schrift. Hier erfolgt nun eine Annäherung an diese von der ,traditionellen‘ Seite des Sonetts aus, und zwar mit dem Schwerpunkt auf der romanischen Sonettistik. Dieses Vorgehen bietet sich insofern an, als es sich bei mots, des tapisseries – enfin, et peut-être surtout, le cinéma […].“ 294 Vgl. Fabian (2007), S. 101. 295 Vgl. hierzu auch Italo Calvinos Sotto il sole giaguaro (1986), in dem es um die poetische

Aufwertung der verschiedensten Sinne und der von ihnen aufgenommenen Zeichen geht.



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dieser lyrischen Gattung um eine solche handelt, bei welcher der Visualität per se eine bedeutende Rolle zukommt. Eine Auseinandersetzung mit der Faktur des (frühneuzeitlichen) Sonetts lässt die intermediale Komponente der Schrift-Bild-Verknüpfungen in der Dichtung nach 1945 als eine konsequente Weiterführung einer langen Traditionslinie erscheinen. Zunächst wird dieser Zusammenhang durch eine Untersuchung des Sonetts nach 1945 aufgezeigt. 1.3.1 Zur graphischen Faktur des Sonetts: Von der Frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert Das Sonett eignet sich deshalb besonders gut als Ausgangspunkt für eine Analyse der Intermedialität in der Dichtung nach 1945, weil es im Laufe seiner Geschichte ähnliche intermediale Erscheinungsformen vorweisen kann: Das Sonett ist […] ein komparatistischer Musterfall. In der Form des Sonetts vermitteln sich dabei unterschiedliche mediale Aspekte von der Klangcharakteristik der reimgegründeten mittelalterlichen Stollenstrophe bis zur graphischen Repräsentation des modernen visuellen Gedichts.296

Die vorliegende Untersuchung konzentriert sich auf die Verbindungen von Dichtung und Malerei, von Dichtung und Musik und von Dichtung und Skulptur als intermediale Hauptformen in der Dichtung nach 1945. Eben diese intermedialen Verknüpfungen sind auch in der Sonettistik vertreten: „Sowohl die Objektivierung als Schrift wie die rezitative oder gesangliche Vorführung sorgen für mediale Präsenz […].“297 Eine Verbindung von Dichtung und Malerei ist vor allem in visuellen Sonetten, die verstärkt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstehen, gegeben. Die Verbindung von Dichtung und Musik ist schon in der Frühen Neuzeit innerhalb der Sonettistik weit verbreitet, und zwar in zweierlei Hinsicht: Erstens zeichnete sich das Sonett von Anfang an durch besondere Klangqualitäten (Reim, Assonanz, Alliteration, Rhythmus etc.) aus.298 Hier konnte man sich auf den etymologischen Ursprung des Gattungsnamens beziehen.299 Signifikanterweise hat Martin Opitz (1597–1639) in seinem Buch von der deutschen Poeterey (1624) die aus dem Niederländischen übernommene Bezeichnung „klincgeticht“300 für das Sonett verwendet. Zweitens herrscht eine weitaus stärkere Form der intermedialen Verknüpfung von Dichtung und Musik in den 296 Borgstedt (2009), S. 3. 297 Borgstedt (2009), S. 226. 298 Bereits im Jahre 1549 hat Joachim Du Bellay in La Deffence et illustration de la langue françoyse die Klangqualität und die Musikalität der Gattung hervorgehoben: „Sonne moy ces beaux Sonnetz [...].“ In Du Bellay (2001), S. 136. Hervorhebung von mir, B.N. 299 Der italienische Begriff sonetto bedeutet so viel wie Tönchen, kleiner Tonsatz. Der italienische Begriff stammt vom altokzitanischen Begriff sonet (Weise, Melodie, Lied), der seinerseits auf den lateinischen Begriff sonus zurückgeht. 300 Opitz (2002), S. 56. Einer von Opitz’ Zeitgenossen, Philipp von Zesen, bezeichnete das Sonett sogar als Kling-lied.

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Vertonungen einzelner Sonette vor: „Einen Sonderfall der frühneuzeitlichen Sonettgeschichte bildet die Vertonung von Sonetten im Rahmen der Chanson- und Madrigalmusik […].“301 Besonders Pierre de Ronsard (1524–1585) verfasste zahlreiche Sonette, die für eine musikalische Umsetzung bestimmt waren. Diese wurden nicht selten zusammen mit den entsprechenden Noten veröffentlicht. Die Sonettvertonung ist dabei ein Verfahren, das sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts erneut großer Beliebtheit erfreute. Der letzte der drei hier genannten Bereiche der Intermedialität, die Verbindung von Dichtung und Skulptur, tritt ebenfalls schon in der frühneuzeitlichen Sonettistik auf, und zwar immer dann, wenn Sonette „als öffentlich sichtbare Inschriften bei Festen an Plätzen oder Gelegenheitsarchitekturen angebracht“302 wurden. Dabei handelt es sich um ein Vorgehen, das mit der Epigrammatisierung des Sonetts, die sich besonders in der Frühen Neuzeit in Frankreich herauskristallisiert hat, zusammenhängt. Ein Beispiel für die intermediale Verknüpfung von Dichtung und Skulptur im Bereich der Sonettkunst aus dem 20. Jahrhundert ist der Sockel der Freiheitsstatue, den seit 1903 die letzten fünf Verse des Sonetts The New Colossus (1883)303 von Emma Lazarus zieren. In anderer Hinsicht hat schon August Wilhelm Schlegel den skulpturalen Aspekt des Sonetts betont, indem er das Sonett nämlich als „Textkörper“304 im Bild eines Tempels beschreibt. Dabei sollten die beiden Quartette den Seitenwänden, das erste Terzett der Hinterseite und das zweite Terzett der Frontseite entsprechen: Soll ich es durch ein Gleichnis aus der Architektur deutlicher machen, so denke man sich einen länglicht viereckigen Tempel, die zweiten Seitenwände, welche ihn einschließen, von der schlichtesten Bauart und ohne Verzierung, sind die Quartetts; die schmalere Hinterseite gleicht zwar auf gewisse Weise dem Fronton, ist aber doch am wenigsten in der Erscheinung hervorzutreten bestimmt: diese würde dem ersten Terzett entsprechen; die Vorderseite endlich krönt wie das letzte Terzett und schließt das Ganze, gibt dessen Bedeutung im Auszuge, und zeigt an den stützenden Säulen und dem deckenden Giebel die reichste architektonische Pracht, jedoch immer mit einfacher Würde.305

Scheint es sich beim Sonett zunächst um eine eindeutig definierte lyrische Gattung zu handeln – dieses Bild vermitteln jedenfalls selbst namhafte Literaturlexika306 –, so müssen Untersuchungen zum Sonett dennoch einige Vorbemerkungen vorausgehen, um diesen falschen Eindruck zu korrigieren: „Le sonnet est un genre à forme fixe : telle est 301 Borgstedt (2009), S. 262. Vgl. hierzu Krüger (2002), S. 155: „Aus der Vorstellung, dass das Sonett vor allem auch ein Klangereignis ist, resultiert eine bemerkenswerte Mediengeschichte des Sonetts […]. Die Sonette der französischen Renaissance wurden vielfach vertont und in erster Ausgabe auch gemeinsam mit ihren Noten publiziert.“ 302 Krüger (2002), S. 156. 303 Abdruck dieses Sonetts in Levin (2001), S. 153. 304 Hennigfeld (2008), S. 14. 305 Schlegel (1965), S. 192. 306 Vgl. hierzu beispielsweise den repräsentativen Artikel zum Sonett in Preminger/Brogan (1993), S. 1167, Spalte 2: „SONNET (from It. sonetto, a little sound or song). A 14-line poem normally in hendecasyllables (in It.), iambic pentameter (in Eng.), or alexandrines (in Fr.) […].“

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l’opinion reçue ; le sonnet est un protée : son histoire nous l’apprend.“307 Es muss also zunächst geklärt werden, wann einem poetischen Text das Merkmal der ,Sonetthaftigkeit‘ oder ,Sonettizität‘ zugesprochen werden kann. Beim Versuch, diese Gattung definitorisch zu fassen, bewegt man sich zwischen den beiden Polen einer idealtypischen Definition, die wohl am konsequentesten von Walter Mönch308 vertreten wurde, und einer zu allen Seiten offenen Gattungsdefinition, unter der de facto jedes Gedicht subsumiert werden kann. Um für alle poetischen Texte, denen tatsächlich der Begriff ,Sonett‘ zugeordnet wird, eine gültige Definition zu erhalten, gibt es keine Alternative zur Tautologie: Ein Sonett ist das, was ein Sonett ist. Aufgrund des schon formalen Variantenreichtums der Gattung kann es keine Minimalbestimmung des Sonetts geben: Sonette müssen weder notwendigerweise aus 14 Versen bestehen, noch eines der kanonisierten Reimschemata oder die Binnengliederung in zwei Quartette und zwei Terzette (romanisches und deutsches Standardsonett) oder in drei Quartette und ein Schlussdistichon (so genanntes Shakespearean Sonnet) aufweisen. So unbefriedigend dieser Befund auch sein mag, so wahr ist er zugleich. Diese Definition gestattet es dann auch, beispielsweise Blaise Cendrars’ Sonnets dénaturés (1923) den Sonettstatus zuzubilligen, obgleich keines dieser Sonette ein solches Merkmal besitzt, das gemeinhin als gattungskonstitutiv für das Sonett gilt. Dies mag weniger befremdlich erscheinen, wenn man bedenkt, dass schon Francesco Petrarca die Form des Sonetts hinsichtlich des Reimschemas variiert hat und auch Shakespeare nicht ausschließlich die als Shakespearean Sonnet in die Literaturgeschichte eingegangene Form verwendet, sondern mehrere Sonette verfasst hat, die nicht 14-zeilig sind309 oder deren Metrum der iambic pentameter ist. Das „Phänomen der Maskierung von Sonetten“310 lässt sich großflächig spätestens seit dem 17. Jahrhundert beobachten. Es handelt sich dabei also nicht um eine Innovationsleistung der Dichter des 20. Jahrhunderts. Auf die ungewöhnlich stark ausgeprägte Variabilität des Sonetts hat vor allem Greber zu Recht hingewiesen: Das Sonett ist nicht lediglich eine paradoxerweise stark variierte feste Form, sondern eigentlich eine un-feste Form. Weiter zugespitzt als oxymorales Postulat formuliert: die GattungsInvariante des Sonetts ist seine Varianz. Diese nicht-essentialistische Bestimmung des Sonetts besagt, daß es keine Variante gibt, die als ,eigentliche‘, ,wahre‘ oder ,richtige‘ Sonettform anzusehen wäre, nicht einmal eine, die als Urform gelten könnte, denn schon in statu nascendi wurde das Sonett variiert. Auch die weitere Gattungsevolution ist nicht als teleologische Bewegung von einer Urform zur ,erfüllten‘ Hochform und dann zu ,Verfallsformen‘ zu denken, sondern als historische Akkumulation von Varianten im ,Gedächtnis‘ der Gattung.311

307 308 309 310 311

Jost (1973), S. 67. Mönch (1955). Statt der üblichen 14 hat Sonnet 99 15 Verse, Sonnet 126 hingegen nur zwölf Verse. Greber (2008), S. 187. Greber (2002), S. 568.

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Greber hat die These von der starken Wandlungsfähigkeit des Sonetts in ihrer Argumentation dahingehend radikalisiert, dass für sie experimentelle Sonette nicht bloß ein Randphänomen der Sonettistik darstellen, sondern vielmehr zu ihrem Zentrum gehören: Für sie folgt aus dem Aspekt der Kombinatorik des Sonetts, „daß alle die Sonettformen, die als exzentrische, kuriose, experimentelle Spielformen gelten, stringent zum Gattungszentrum gehören“312. Stärker könnte der Gegensatz zum überholten normativen Verständnis eines Idealtypus dieser Gattung kaum ausfallen. Im Rahmen dieser Neubewertung erscheinen experimentelle Sonette nicht mehr als quantité négligeable und die kanonisierten Beispiele der Gattung nicht mehr als dominanter Kernbereich der Sonettistik, wie dies von der älteren Forschung postuliert wurde, sondern experimentelle Sonette werden als eine notwendige und konsequente Weiterführung der in der Form des Sonetts angelegten Möglichkeiten aufgefasst: Sie stellen „vollkommen erwartbare Inkarnationen der allgemeinen Sonettstruktur […], gesetzmäßige Modi der Sonettkombinatorik“313 dar. Dass auch heute noch die Vorstellung eines Idealtypus des Sonetts vertreten wird, davon zeugen mehrere Sonett-Monographien aus jüngerer Zeit, die beispielsweise kein einziges non-verbales Sonett enthalten.314 Interessant ist in diesem Kontext auch Grebers Beobachtung, dass gerade experimentell-visualistische Sonette an den traditionellen Merkmalen der im Laufe der Jahrhunderte kanonisierten Sonettform festhalten, nämlich der Zahl 14, die sich auf irgendeine Weise im Textmaterial manifestiert, und auch der traditionellen Aufteilung in zwei Vierer- und zwei Dreiergruppen. Greber ist allerdings darin zu widersprechen, dass diese Aufteilung ein notwendiges Merkmal des non-verbalen Sonetts sei: „Non-verbale Sonette können sich überhaupt nur durch optische Nachstellung der sonettsymbolischen 4–4–3–3-Konstellation als ‚Sonette‘ gerieren.“315 Ein Gegenbeispiel aus der Feder des portugiesischen Dichters Alberto Pimenta wird im nächsten Kapitel vorgestellt. Wenn auch nicht alle, so behalten doch aber die meisten non-verbalen Sonette, von denen viele im Kontext der Konkreten Poesie entstanden sind, diese traditionelle Binnengliederung bei: „Arbitrarität ist im Genre des visuellen Sonetts eher ungewöhnlich und selten.“316 Die Beispiele des nächsten Kapitels werden diesen Befund ebenso bestätigen wie das von Karl Riha und Barbara Ullrich verfasste Programmatische Statement, das ihren DingSonetten (1992) vorangestellt ist: Als formaler Zwang, der aus dem Überkommenen übernommen wird, fungiert lediglich das Prinzip des Vierzehnzeilers mit seiner Unterteilung in zwei Vierer- und zwei Dreierstrophen: es ist jedoch sozusagen leergelaufen und agiert nur noch als abstraktes Schema zur Präsentation jener seriellen Zeichen, die das angeschlagene Thema signalisieren.317 312 Greber (2002), S. 575. 313 Greber (2002), S. 575. 314 Stellvertretend sei auf Link (1997), Tonelli (2000), Gendre (1996) und Böhn (1999) verwiesen. Bei Böhn ist dies umso verwunderlicher, als Rihas taxidriver sonett auf dem Cover seiner Monographie abgebildet ist. 315 Greber (2002), S. 597. 316 Greber (2008), S. 188. 317 ullrich/riha (1992), o. S.



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Mit einer kaum zu überbietenden Deutlichkeit benennt Karl Riha im folgenden Beispiel318 die enge Verbindung zwischen der Form des Sonetts und der Zahl 14, die in einer überzeitlichen Perspektive am ehesten als das Minimalmerkmal des Sonetts gelten kann:

Abb. 15  Karl Riha, auch dieses sonett hat… (1994)

Dieses Sonett zeugt nicht nur von der engen Verbindung zwischen dem Merkmal ,Sonetthaftigkeit‘ und der Zahl 14, sondern auch davon, dass das Sonett eine Form ist, die es sowohl in horizontaler als auch in vertikaler Richtung zu erfassen gilt. Im vorliegenden Beispiel ist der im Titel begonnene Satz auch dieses sonett hat vierzehn zeilen zum einen in traditioneller Manier linear und Vers für Vers lesbar, wobei der Leser die pro Vers 31mal erscheinenden Buchstaben jeweils auf einen einzigen Buchstaben reduzieren muss, um eine sinnvolle Aussage zu erhalten. Zum anderen ergibt sich derselbe Satz aber auch, wenn man jeweils die durch die Buchstaben gebildeten Spalten von oben nach unten liest. Riha trägt auf diese Weise der Vorstellung vom Sonett als einer Textkonstruktion, die das Auge ansprechen, die gesehen werden soll, Rechnung. Beim Sonett handelt es sich per se um eine Gattung, deren Textarchitektur sowohl horizontal als auch vertikal erfasst werden muss. Am stärksten hiervon zeugen wohl Anagramm-Sonette.

318 Riha (1994), S. 52.

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Trotz der dahingehenden Einschränkung der oben zitierten These von Greber, dass nicht alle non-verbalen Sonette die Zahl 14 oder die interne Binnengliederung der kanonisierten Sonette aufweisen, kann ihren Schlussfolgerungen uneingeschränkt zugestimmt werden: Je unkanonischer der Text, desto kanonischer die graphische Figur – das ist das geheime Gesetz des modernen Sonettexperiments. Hier beweist sich von den Extremen des Gattungsdiskurses her die gattungskonstitutive Relevanz der Graphik: nonverbale Sonette wären gar nicht möglich, wenn das Sonett nicht eine eigenständige visuelle Qualität hätte.319

Die bisherige Akzentuierung des visuellen Aspekts mag gerade bei einer Form wie dem Sonett, das zunächst und vor allem für seine Musikälität bekannt ist, eher verwundern. Schon der etymologische Ursprung des Namens hebt die musikalischen Qualitäten dieser Gattung hervor. Bereits in der ersten Blütephase des Sonetts in der Frühen Neuzeit war man sich jedoch dieser weiteren Dimension bewusst: Das Sonett wurde auch als eine lyrische Gattung verstanden, die sich durch visuelle Qualitäten auszeichnet. Von Anfang seiner Gattungsgeschichte an handelte es sich beim Sonett um „la forme poétique la plus propre à élaborer et à discuter les questions de la visualité du texte“320. Insofern eignete sich das Sonett für die skriptural-pikturalen Intermedialitätsexperimente in der Dichtung nach 1945 besonders gut. Es kann sogar als früher Vorläufer dieser Art von Dichtung gelten. Ein Bewusstsein von der visuell-architektonischen Anlage des Sonetts existierte schon in der Frühen Neuzeit. Zum Beispiel findet man in der Poetik von Jacques Peletier du Mans aus dem Jahre 1555 folgende Erläuterungen über das Sonett: qu’il [scil. le sonnet  ; B.N.] doet étre elabourè, doet santir sa longue reconnoessance, doit resonner an tous ses vers sérieusemant : et quasi tout filosofique an concepcions. Brief, il doet étre fet comme de deus ou de troes conclusions. Car celui la amportera le pris, qui au milieu de son ecrit, contantera le Lecteur de tele sorte, qu’il samble que ce soet un achevement : puis rechargera, e couronnera son ouurage d’une fin eureuse, e dine des beautez du milieu.321

Das Sonett soll also idealtypischerweise um einen Kernbegriff oder -gedanken herum gestaltet sein, der sich in der Mitte des Gedichtes befinden soll („au milieu“). In seiner berühmten Vorlesungsreihe Geschichte über die romantische Literatur (1802/03) hat August Wilhelm Schlegel die Form des Sonetts nach mathematischen Konstruktionsregeln erklärt und den Struktureinheiten des Sonetts, den beiden Quartetten und den beiden Terzetten, jeweils geometrische Figuren zugeordnet: „So wie die Quartetts nach dem Schema des Quadrats, so lassen sich die Terzetts am bequemsten 319 Greber (2002), S. 598. Dies ist schon bei Baudelaire so: Je mehr er die Regeln durchbricht,

desto strenger wahrt er partiell die Form.

320 Krüger (1990), S. 47. 321 Peletier du Mans (1971), S. 61f. Die speziellen orthographischen Zeichen von Jacques Peletier du Mans konnten hier nicht wiedergegeben werden, es wurde aber versucht, die Orthographie möglichst stark dem Original anzunähern.



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nach dem damit kontrastierenden […] des Triangels konstruieren.“322 Auch Schlegel hat somit den visuellen Aspekt der Gattung hervorgehoben. Später hat Paul Valéry explizit die Frage nach einer Verbindung zwischen Sonettbau und Architektur formuliert: „Je me demande si, dans l’intention des inventeurs, le sens n’était, lui aussi, soumis à des conditions en rapport avec l’architecture […]“323. Als Antwort auf diese Frage ließe sich folgende Behauptung Alberto Pimentas aus einem Brief vom 11. März 1991 an Eugen Gomringer lesen: „die frage beim sonett ist eben eine der architektur.“324 Von Anfang an spielte beim Sonett der visuelle Aspekt eine wesentliche Rolle, oder anders ausgedrückt: Ein Sonett wurde immer schon zunächst aufgrund seiner graphischen Gestalt als ein solches erkannt, sei es durch die Reimkombinationen als strophenkonstituiernde Elemente und/oder die Isolierung der einzelnen ,Strophen‘ (Leerzeilen, Einrückungen o.Ä.). Treffend hat dies Greber, die das Sonett vornehmlich unter dem Aspekt der Kombinatorik untersucht hat, folgendermaßen formuliert: Das Sonett – und zwar jedes beliebige, auch klassisch-kanonische Sonett – ist ein Sehtext. Es besitzt eine waagrecht-senkrecht zu lesende Textur nicht nur in der Weise, in der jegliche Gedichtform linear-sequenziell und zugleich konstellativ-repetitiv zu lesen ist, sondern in einer durch seine kombinatorischen Spezifika verstärkten Weise: um die Sonetthaftigkeit eines Sonetts zu prüfen und seinen tektonischen Grundbau zu erfassen, tastet der Blick vertikal die Reimkombinatorik ab, um dann – Längs- und Quer-Richtung kombinierend – die Versgruppierung zu erfassen.325

Die visuelle Konkrete Poesie bzw. die skriptural-pikturalen Gedichte nach 1945 entdeckten die Fläche auf dem Papier und nutzten diese für ihre Zwecke: Das Sonett hat dies schon seit seiner Erfindung im 13. Jahrhundert getan. Darum ist es nur folgerichtig, dass Greber für das Sonett im vorliegenden Zitat den Terminus gewählt hat, den Ferdinand Kriwet für seine intermedialen Gedichte geschaffen hat: Seh-Text.326 Auch der Initiator und Hauptvertreter des spatialisme, Pierre Garnier, vertritt eine ähnliche Ansicht über das Sonett. Im folgenden Zitat hat er die visuellen Merkmale dieser Gattung hervorgehoben: Il est […] normal que le poème écrit devienne aussi une forme visuelle et que ‘sonnet’ dessine mieux dans la mémoire de l’auditeur l’image des deux quatrains suivis des deux tercets qu’un

322 Schlegel (1965), S. 189. Der katalanische Dichter Solé de Sojo hat diese Vorstellung in seinem Sonet (1918) umgesetzt, und zwar so, dass die Verse der beiden Quartette die Umrisslinien zweier Vierecke und die der beiden Terzette die Umrisslinien zweier Dreiecke bilden. 323 Valéry (1974), II: S. 1097. 324 gomringer (1996), S. 98. 325 Greber (1994), S. 68. Hervorhebung von der Autorin. Vgl. hierzu auch Greber (1994), S. 63: „Der graphisch-visuelle Aspekt: das Sonett als ein Sehtext, als ein vertikal und horizontal strukturiertes Labyrinth (graphisches Layout, Reimreihe, bouts rimés, Figurensonett).“ 326 Vgl. Weiss (1984), S. 16 und Dencker (2011), S. 28f.

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quelconque schéma acoustique. Il apparaît donc que les qualités visuelles d’un poème peuvent être différentes de ses qualités acoustiques et contribuer, elles seules, à sa beauté.327

Dass das Sonett und die Konkrete Poesie – in diesem speziellen Fall die Konstellation – näher aneinander liegen, als man zunächst annehmen könnte, bestätigt auch Eugen Gomringers künstlerischer Werdegang, der mit konventionellen Sonetten begonnen und den Dichter dann über die Konstellation in jüngster Zeit auch wieder zum konventionellen Sonett zurückgeführt hat.328 Den Befund, dass beim Sonett das Graphische von entscheidender Bedeutung ist, bestätigt bereits eine Poetik aus dem 16. Jahrhundert, nämlich der Art poetique rediuct et abrege (1554) von Claude de Boissière, in dem eine Anordnung von Linien, die mit Buchstaben und Zahlen versehen sind, als Schema des Sonetts erscheint.329 Ein weiterer Aspekt, der bei den hier angestellten Überlegungen zur Visualität des Sonetts nicht fehlen darf, ist die seit dem 16. Jahrhundert zum Topos gewordene Annahme der typologischen Nähe von Sonett und Epigramm. Denn mit der Annäherung von Sonett und Epigramm wird das Sonett als ein Sehtext einer öffentlichen Inschrift gleich aufgefasst. Von dieser typologischen Nähe zeugen eine Vielzahl von Poetiken aus dieser Zeit, wobei diese Poetiken hier weniger normativ als vielmehr deskriptiv verstanden werden müssen. Die Nähe des Sonetts zum Epigramm wurde in der Frühen Neuzeit dabei nicht in allen Ländern vertreten, sondern nur in denjenigen, in denen für das Sonett – als neue Gattung – ein großer Legitimationsbedarf bestand, wie zum Beispiel in Frankreich: Auch dabei sind die entsprechenden nationalen Unterschiede festzuhalten, denn die poetologische Zuordnung von Sonett und Epigramm ist vor allem eine Sache der französischen Poetik, während aus Italien Widerspruch zu hören ist.330

Das früheste Zeugnis dieser Art aus Frankreich stammt von Thomas Sébillet, und zwar aus seinem Art poétique françoys (1548): „Le Sonnet suit l’épigramme de bien prés, et de matiére, et de mesure : [...] Sonnet n’est autre chose que le parfait epigramme de l’Italien [...].“331 In Claude de Boissières Art poetique reduict et abrege (1554) heißt es analog: „Le Sonnet ne diffère beaucoup de l’epigramme […].“332 Auch Jacques Peletier du Mans vertrat in seiner Poetik die Ähnlichkeit von Epigramm und Sonett, auch wenn er Letzteres in der Gattungshierarchie seiner Zeit höher einstufte.333 Ebenso ließ auch Guillaume Colletet in seinem Art poetiqve (1658)334 keinen Zweifel an der typologischen Nähe zwi327 Garnier (1968), S. 56. 328 gomringer (2008). Vgl. auch den Essay von der konstellation zum sonett – das reversible experiment (2009) in gomringer (2009), S. 54–61. 329 Boissière (1972), S. 9. 330 Borgstedt (2009), S. 214. 331 Sébillet (1910), S. 115. 332 Boissière (1972), S. 9. 333 Vgl. hierzu Peletier du Mans (1971), S. 61. 334 Der vollständige Titel von Colletets Poetik lautet: L’Art poetiqve. Où il est traitté de l’Epigramme. Dv Sonnet. Dv Poeme Bvcoliqve, de l’Eglogve, de la Pastorale, et de l’Idyle. De la Poesie morale, et sententievse.

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schen Sonett und Epigramm: „Le Sonnet n’est autre chose Qu’vne Epigramme bornée d’vn certain nombre de Vers.“335 In den frühneuzeitlichen Poetiken anderer europäischer Länder machte sich hinsichtlich der Einschätzung von Sonett und Epigramm der Einfluss des französischen Beispiels bemerkbar. Als erster Autor in Spanien formulierte Fernando de Herrera in seinen Anmerkungen zur ersten Gesamtausgabe von Garcilaso de la Vega, der frühesten inoffiziellen spanischen Poetik aus dem Jahre 1580, eine Gleichsetzung dieser beiden Gattungen: Das Sonett „sirve in lugar de los epigramas […] Griegas i Latinas“336. Ebenso verkündete auch Juan Díaz Rengifo etwas später in seiner Arte poética española (1592) den epigrammatischen Charakter des Sonetts: „El Soneto [...] sirve [...] para todo aquello, que sirven los Epigramas latinos.“337 Diese Aussage ist dabei sowohl in thematischer als auch in funktionaler Hinsicht zu verstehen. In Deutschland hat August Buchner in seiner Anleitung zur deutschen Poeterey (1665) explizit die Verwandtschaft von Sonett und Epigramm vertreten, und zwar durch die Bezeichnung von Sonetten als „Art der Epigrammaten“338. In August Wilhelm Schlegels Vorlesung über das Sonett (1803/04) heißt es rund 140 Jahre später: [Das Sonett] ist eine in sich zurückgekehrte, vollständige und organisch artikulierte Form. Deswegen steht es auf dem Übergang vom Lyrischen zum Didaktischen, daher erkläre man sichs, daß es zuweilen ganz epigrammatisch wird, und werden darf […].339

In praktischer Hinsicht zeugen auch die Übersetzungsgepflogenheiten der Frühen Neuzeit, hier am Beispiel Spaniens erläutert, von der unterstellten typologischen Nähe beider Gattungen, denn Epigramme wurden oftmals in der eigenen Sprache als Sonette wiedergegeben. In Juan de Mal-Laras Filosofía vulgar (1568) erscheinen mehrfach Epigramme von Martial, allerdings nicht unter Beibehaltung der Gattung des Originals, sondern als Sonette. Ebenso hat Diego Hurtado de Mendoza Epigramme aus der Anthologia graeca (Erstdruck 1494) in Sonette übertragen. Aus der typologischen Nähe beider Gattungen ergeben sich grundlegende Konsequenzen und Möglichkeiten für das Sonett:340 Beim Epigramm handelt es sich zunächst und vor allem um eine In- oder Aufschrift, ursprünglich auf Gebäuden, Denk- oder Grabmälern etc. Das Epigramm ist – im Gegensatz zum Sonett, das verschiedene Me-

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Colletet (1970), S. 3. Herrera, zitiert nach Weinrich (1961), S. 1. Rengifo (1703), S. 95. Buchner (1966), S. 175. In Opitz’ für das deutsche 17. Jahrhundert maßgeblicher Poetik, dem Buch von der deutschen Poeterey (1624), erfolgt merkwürdigerweise keine Gleichsetzung beider Formen, sondern das Sonett und das Epigramm werden zusammen mit dem Quatrain nur unter dem Aspekt der Ausweitung des Alexandriners genannt. 339 Schlegel (1965), S. 193. 340 Die mit der Epigrammatisierung des Sonetts einhergehende Ausweitung des Themenspektrums und Pointierung der frühneuzeitlichen Sonettistik habe ich in meiner Dissertation eingehend untersucht. Siehe Nickel (2008). In der vorliegenden Untersuchung wird der Einfluss des Epigramms auf das Sonett nun ausschließlich unter dem Aspekt der Mediatisierungsform in den Blick genommen.

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diatisierungsformen kennt, – „auf prinzipielle Weise Schriftform“341. Im 15. Jahrhundert hat Leon Battista Alberti (1404–1472) in seiner Architekturtheorie festgestellt, dass das Neue der modernen Architektur vor allem in einer modernen Ornamentik bestehe, nach der vornehmlich das Epigramm oder auch das als Hieroglyphenschrift aufgefasste Emblem die Zierde eines Gebäudes vervollkommnen könnten.342 Aufgrund der sich in der Frühen Neuzeit vollziehenden Annäherung des Sonetts an das Epigramm nutzten die Sonettisten ebenfalls diese Mediatisierungsform: „Sonette wurden vielfach als öffentlich sichtbare Inschriften bei Festen an Plätzen oder Gelegenheitsarchitekturen angebracht.“343 Auch bei dieser Gattung sind also  – wie beim Epigramm – vor allem die Aspekte der Schriftlichkeit und der skriptographischen Gestaltung in den Vordergrund getreten. Das Sonett erscheint daher als ein primär schriftliches Konstrukt. Aus diesem Grund hat sich schon das frühneuzeitliche Sonett nahe an der Grenze zu einer Art von Dichtung befunden, welche die materielle Faktur von Gedichten hervorhebt, wie dies spätestens seit den 1950er Jahren und dem Aufkommen der Konkreten Poesie auf internationaler Ebene beobachtet werden kann: „Il semble que celui-ci [scil. le sonnet; B.N.] offre l’exemple du premier genre de poème non-figuratif dont les qualités visuelles aient été prises en considération.“344 Es ist daher wenig verwunderlich, dass ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auffallend viele Sonette produziert werden, und zwar sowohl aus skripturalen als auch pikturalen Zeichen.345 Besonders ist vor allem Greber der These gerecht geworden, nach der das Sonett auf den Aspekt seiner eigenen Materialität, nämlich seiner Schriftlichkeit, hinweise, als sie das Sonett im Hinblick auf seine Textur untersucht hat: „Das Sonett als textus (Gewebe, Netz, Geflecht). Poetologischer Sonettdiskurs, Textilmetaphorik und Textkonzeption.“346 Damit besteht eine enge Verbindung zwischen der visuellen Poesie und dem Sonett, die das häufige Auftreten dieser Gedichtform in diesem Bereich erklärt: Unter dem Stichwort kombinatorische Graphie könnte man das Sonett als bisher verkannte (Früh-)Form der Visuellen Poesie vorstellen. Dabei geht es keineswegs bloß um die exponierte Form des Figurensonetts vom Barock bis zur Konkreten Poesie.347

Jedes Sonett besitzt laut Greber eine „elementare Visualität“348. Man könnte hier auch von einer primären Visualität sprechen, die der Gattung per se zukommt und die in figurierten Sonetten durch eine sekundäre, nämlich die vom linearen Satzspiegel abweichende Disposition der Zeichen auf der Papierfläche, ergänzt wird. Das erste Figurenso341 342 343 344 345

Borgstedt (2009), S. 217. Vgl. Alberti (1556). Hierzu u.a. Nickel (2008), S. 16. Krüger (2002), S. 156. Krüger (1990), S. 46. Umso mehr verwundert es, dass López Hernández (1998) im Kapitel Sonetos visuales ihrer Anthologie (S. 405ff.) kein Sonett aus dem 20. Jahrhundert anführt. Ebenso erstaunlich ist es, dass Natascia Tonelli in ihrem Buch Aspetti del sonetto contemporaneo (2000) keine visuellen Sonette zum Gegenstand ihrer Untersuchung gemacht hat. 346 Greber (2002), S. 566. Hervorhebung von der Autorin. 347 Greber (2002), S. 586. Hervorhebungen von der Autorin. 348 Greber (2002), S. 587.



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nett stammt bereits aus dem 14. Jahrhundert, und zwar von Nicolò de’ Rossi.349 Hier ist ein sternenförmiges Gebilde entstanden, bei dem zunächst der traditionelle Lesevorgang der Betrachtung weichen muss. Erst in einem zweiten Schritt – oder auf den zweiten Blick  – kommt auch die skripturale Komponente des Sonetts ins Spiel, und die Entschlüsselung der inhaltlichen Aussage beginnt. Dies geschieht dabei allerdings nicht in der konventionellen horizontalen Leserichtung, sondern – den visuellen Gegebenheiten eines Sternenbildes entsprechend – in diagonalen Richtungen. Damit das Sonett gemäß den Intentionen des Autors rezipiert wird, hat dieser sicherheitshalber eine Lektüreanleitung verfasst. Unter dem Aspekt der Visualität des Sonetts sind jedoch jene Sonette wesentlich interessanter als die figurierten Beispiele dieser Gattung, bei denen auf eine besondere Anordnung des Zeichenmaterials auf dem Schreibuntergrund verzichtet wurde und die dem konventionellen linearen Satzspiegel gemäß gestaltet sind, denn hier tritt die dem Sonett eigene primäre Visualität wesentlich stärker hervor. Dies ist beispielsweise in denjenigen Sonetten der Fall, die nur aus Reimwörtern bestehen. Beispiele dieser Art stammen u.a. von Rimbaud (Album Zutique) und Ernst Jandl, der ein Sonett verfasst hat, in dem 14-mal der Begriff ,Sonett‘ erscheint.350 Jandl hat die Gattung hier auf ein minimales und absolut inhaltsleeres visuell-formales Schema reduziert. Noch stärker hebt ein unvollendetes Sonett von José-Maria Heredia mit dem Titel L’autodafé, bei dem in den Quartetten nur die Reimwörter vorhanden sind, den Aspekt des visuellen Formbewusstseins hervor.351 Auf der Grundlage dieses Sonetts lässt sich verallgemeinernd feststellen: Primär sind beim konventionellen Sonett die Spatialisation (typographische Anordnung gemäß der Binnengliederung) und die Gedichtvertikale (Reimschema) wichtig. Gerade die blancs in den beiden Quartetten richten den Blick des Lesers ganz gezielt auf den Text als Fläche, die es zu erfassen gilt. Bei visuellen Sonetten hingegen kommt es fast ausschließlich auf die Spatialisation an. Auf ein Reimschema bzw. auf eine visuelle als Analogon zu einem konventionellen Reimschema gestaltete Vertikalstruktur verzichten zahlreiche dieser Sonette ganz. 1.3.2 Visuelle Sonette nach 1945 Wie bereits im vorherigen Kapitel erläutert, inhärieren prinzipiell jedem Sonett visuelle Qualitäten, und zwar deshalb, weil es sich bei dieser lyrischen Gattung um eine horizontal-vertikale Textstruktur handelt. Darum nimmt es kaum wunder, dass das Sonett in der Dichtung der Nachkriegsjahre, in der es ja vor allem um das Bewusstmachen aller Ebenen der Materialität der verwendeten Zeichen ging, einen großen Aufschwung erfahren hat: „The first traditional form to reappear was the sonnet.“352 In diesem Kapitel soll es nun um eine ganz bestimmte Art von Sonetten gehen, nämlich um solche, die neben der primären, einem jeden Sonett zukommenden Visualität 349 350 351 352

Dieses Sonett ist beispielsweise in Ernst (1991a), S. 695 abgedruckt. sonett 2 (1974). In Jandl (1997b), II: S. 44. Abgedruckt in Scott (1985), S. 237f. Tolman (1982), S. 149.

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eine sekundäre aufweisen: Sonette aus dem Bereich der visuellen Konkreten Poesie. Solche Sonette bilden keine Randphänomene, die die Gattungsgesetze des kanonisierten Sonetts außer Kraft setzen, wie dies von der älteren Forschung (z.B. Mönch) kritisiert wurde, sondern sie gliedern sich in die jahrhundertelange Tradition der Gattung ein. Sie führen die im Sonett angelegten Möglichkeiten auf konsequente Weise fort, indem sie nämlich die in der Textarchitektur implizit enthaltenen visuellen Aspekte der Gattung explizit visualisieren.353 Eines ist dabei klar: Die Texte funktionieren nur bzw. die Intention des jeweiligen Dichters ist nur dann rekonstruierbar, wenn sie vor dem Prätext des kanonisierten Sonetts bzw. der standardisierten Sonetttypen gelesen werden. Dieser Befund bestätigt die These, dass Innovation, ganz gleich in welchem Bereich sie auftaucht, immer nur im Bewusstsein von Tradition möglich ist: Es ist offensichtlich, „daß Innovation immer nur in Auseinandersetzung mit Tradition möglich ist“354. Wie bereits erläutert, handelt es sich beim Sonett um eine Gattung, die sich auch im Umfeld der Konkreten Poesie großer Beliebtheit erfreut hat. Besonders in Brasilien florierte das Sonett spätestens seit den 1960er Jahren unter den Vertretern der poesia concreta. Es sind hier natürlich neben visuellen Sonetten auch viele entstanden, die – wenn auch teilweise nur oberflächlich – die traditionelle Sonettform wahren und ausschließlich aus skripturalen Zeichen bestehen. Solche Sonette sollen hier nun aber keine Rolle spielen. Das erste zu analysierende Beispiel stammt von dem brasilianischen Dichter Avelino de Araújo, der insofern einen guten Ausgangspunkt für die Analysen dieses Kapitels darstellt, als er ein Sonettbuch355 publiziert hat, das ausschließlich visuelle Repräsentanten der Gattung enthält. Das folgende Beispiel356 stammt allerdings nicht aus dieser Sonettsammlung:

Abb. 16  Avelino de Araújo, Soneto América Latina (1987)

353 Explizit thematisiert dies der Titel eines Sonetts von Daniel Santiago: Soneto só prá vê (1982). Dieses Sonett ist auch insofern interessant, als es die medialen Möglichkeiten des Computers vorführt. 354 Ernst (1991b), S. 24. 355 Livro de sonetos (1994). Leider war es mir trotz intensiver Bemühungen nicht möglich, dieses Sonett­ buch einzusehen. 356 Abdruck in López Fernández (2006), S. 109.



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Schon auf den ersten Blick sticht ins Auge, dass es sich um ein non-verbales Sonett handelt. Das in der literarischen Tradition über Jahrhunderte auf skripturale Zeichen beschränkte Sonettschema wurde hier ausschließlich mit pikturalen Zeichen gefüllt. Zur Form dieses Sonetts ist zu sagen, dass es zwei Quartette und zwei Terzette gibt, die kanonisierte 4–4–3–3-Struktur der Gattung also beibehalten ist. Dennoch weicht das vorliegende Sonett in einem wichtigen Aspekt vom kanonisierten Sonett ab: Die beiden Vierergruppen erscheinen erst nach den beiden Dreiergruppen. Die Anordnung der Quartette und Terzette im ,Normalsonett‘ ist genau in ihr Gegenteil verkehrt. Araújo entfernt sich mit dieser Variation allerdings weniger von literarischen Mustern, als man zunächst annehmen könnte. Auch für eine solche Anordnung gibt es nämlich eine literarische Tradition, und zwar das so genannte sonnet à rebours. Beispiele dieser Art stammen u.a. aus dem 19. Jahrhundert von Soulary und später auch von Apollinaire. In Araújos Sonett gesellt sich daher zur Innovation ebenfalls die Tradition. Betrachten wir nun die Struktur des Sonetts: Dadurch, dass Araújo die von ihm verwendeten Gabeln in ihrer jeweiligen Anzahl von Zacken so variiert, dass es zwei mit vier und zwei mit drei gibt, legt er die Annahme nahe, dass jede Zacke der vier Gabeln357 als Entsprechung eines Verses in der traditionellen Sonettform aufgefasst werden kann und soll. Die Anordnung der Quartette und Terzette ist dabei nicht das Einzige, was im Sonett umgedreht ist, sondern auch die horizontale Ausrichtung der Gabeln. Die vertikale Abweichung vom kanonisierten Sonett – und somit von der dominanten literarischen Tradition – geht einher mit einer solchen auf der horizontalen Ebene. Der traditionellen Leserichtung von links nach rechts entsprechend, wird der Leser/Betrachter eher die Ausrichtung der Zacken nach rechts erwarten. Im Sonett ist etwas aus dem Gleichgewicht geraten, hier ist etwas nicht so, wie es sein sollte. Worum es sich dabei handeln könnte, benennt der Titel: um den Hunger in Lateinamerika.358 Diesen symbolisieren auf paradigmatische Weise die leeren Gabeln, die förmlich auf Nahrung zu warten scheinen. „La imagen gráfica del poema, el tenedor vacío e invertido, presenta el tema del hambre en América Latina.“359 Es handelt sich hierbei also um eine stark sozial engagierte konkrete Dichtung bzw. Sonettkunst. Araújo neigt in seiner gesamten Dichtung zu einem solchen Engagement.360 Bevorzugt thematisiert er die Konsumgesellschaft und deren Folgen, soziale Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten, die Wirtschaftslage, aber auch das fehlende ökologische Bewusstsein u.Ä. Zum Beispiel existiert von Araújo auch ein Sonett mit dem Titel Código de barras (1997). Dieses Gedicht enthält kein einziges 357 Auch von Karl Riha existiert ein Sonett, das aus vier Gabeln besteht: gourmet-sonett. In Riha (1988), o. S. Hier besitzen ebenfalls zwei Gabeln vier und zwei weitere Gabeln drei Zacken. Unterschiede bestehen vor allem in der vertikalen Anordnung der Gabeln, in der konventionellen Reihenfolge der Quartette und Terzette und im Fehlen jeglicher Sozialkritik. Hier geht das Experimentieren mit der Form ganz im Ludistischen auf. Außerdem erinnert das Motiv der vier Gabeln an Yves de Smets Fotocollage Fork (1972). Abgedruckt in Westfälischer Kunstverein (1979), S. 132. Signifikanterweise unterscheiden sich die Gabeln bei Smet nicht hinsichtlich der Anzahl ihrer Zacken. Dies ist das neue, sonetttypische Element bei Riha und Araújo. 358 Vgl. zu einer ähnlichen Thematik auch die 1961 von Haroldo de Campos veröffentlichte Sammlung Servidão de Passagem. 359 López Fernández (2006), S. 109. 360 Vgl. López Fernández (2006), S. 108ff.

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verbales Element, sondern nur einen Barcode. Hier nimmt der Dichter das konsumgesteuerte Verhalten des modernen Menschen – natürlich nicht nur in Brasilien – kritisch in den Blick. Sein Soneto 31.03.1964 (1990)361 widmet Avelino de Araújo einem geschichtlichen Ereignis, nämlich dem durch die USA geförderten Militärputsch in Brasilien, der sich am 31. März 1964 ereignet hat und durch den der damalige brasilianische Präsident João Goulart gestürzt wurde. Die Macht übernahm unverzüglich Humberto de Alencar Castelo Branco und errichtete in seiner Regierungszeit (1964–1967) ein Militärregime. Dieses Sonett enthält ebenfalls keine skripturalen Elemente. Es versucht vielmehr, durch geschwärzte Vierecke dem durch die Zensur erzwungenen Schweigen einen visuellen Ausdruck zu verleihen:

Abb. 17  Avelino de Araújo, Soneto 31.03.1964 (1990)

Auch in diesem Sonett wahrt der Dichter in gewissem Sinne die sonetttypische Strukturierung, denn es erscheinen vier Einheiten, von denen jeweils zwei eine gleich große Fläche ausfüllen. Man könnte die Flächenpaare darum jeweils als ein visuelles Analogon zu den beiden Quartetten und Terzetten des kanonisierten Sonetts auffassen. Von einem 4–4–3–3-Schema kann nach erstem Augenschein hier noch nicht gesprochen werden, da die schwarzen Flächen in sich nicht weiter unterteilt sind. Allerdings stehen die schmalen Seiten der beiden oberen und der beiden unteren Rechtecke im Verhältnis von vier zu drei zueinander. Das bedeutet nichts anderes, als dass die Gliederung der Strophen eines Sonetts hier in die Maßzahlen geometrischer Figuren transponiert worden ist. Dort, wo traditionellerweise die Verse eines Sonetts erscheinen, sind hier allerdings nur geschwärzte Stellen zu sehen. Da der Dichter seinen Text aber definitiv der Textsorte ,Sonett‘ zugeordnet hat, ist anzunehmen, dass die geometrischen Figuren in irgendei361 Araújo (1990) [Internet].



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ner Weise textuelle Qualitäten aufweisen. Dies wird nun dadurch gesichert, dass sie für getilgten oder geschwärzten Text stehen, ein Verfahren, das auch bei anderen Dichtern der Konkreten Poesie festgestellt werden kann, wenn sie unter dem Einfluss von Zensur die Vernichtung ihrer Texte erleben mussten: Die Kunst bzw. hier die Dichtung konnte in Anbetracht des Militärputsches von 1964 nur schweigen, und danach wurde sie vom Regime durch strenge Zensurmaßnahmen zum Schweigen gebracht. Die schwarzen Balken anstelle von Versen stehen für das Verstummen des Dichters. Da bleibt dann nur ein geschwärztes Sonett, oder man zieht es – wie der katalanische Dichter Joan Brossa – vor, statt des geplanten Sonetts den ablehnenden Brief der Zensurbehörde abzudrucken.362 Die vier schwarzen Balken in Araújos Sonett erscheinen unter dieser Perspektive als vier Zensurbalken, die den ursprünglichen Text überschrieben haben. Da dieses Sonett aber aus dem Jahre 1990 stammt, kann es nur noch als ein Kommentar ex post hinsichtlich der politischen Lage des Jahres 1964 verstanden werden. Araújo inszeniert hier nur noch den Akt der Zensur, denn unter den Bedingungen der demokratischen Herrschaft des Jahres 1990 in Brasilien gab es keinen Grund mehr, Texte zu zensieren. Der Gegenstand des Sonetts ist also ein Akt, der zur Rezeption von Texten unter entsprechenden politischen Bedingungen gehören kann, nämlich die Zensurmaßnahme, die Auraújo hier als typographische Geste vorführt und zitiert. Selbstverständlich hat auch diese eine literaturgeschichtliche Dimension ohne weiteren politischen Kontext: die schwarze Seite in Laurence Sternes Roman Tristam Shandy (1759), die für den Schlaf oder den Tod steht. Hier ist aber eine semantische Dimension vorgegeben, die sich durchaus wieder mit den politischen Verhältnissen Brasiliens des Jahres 1964 trifft: Hier war gleichsam der Schlaf oder eben der Tod des freien Dichterworts dekretiert worden. Dass es sich bei Araújos Vorliebe für eine sozial und politisch engagierte Dichtung um keine Randerscheinung, sondern um ein charakteristisches Merkmal der Konkreten Poesie in Brasilien handelt, belegt die Dichtung der Noigandres-Gruppe, die bevorzugt soziale Missstände in ihrem Land anprangert: „the Brazilian Noigandres group never put aside its concern with social commitment (political engagé poems) […].“363 Vom sozialen Engagement Avelino de Araújos zeugt auf besonders eindringliche Weise das wohl bekannteste Sonett des Autors, nämlich das Apartheid Soneto (1988).364 Inhaltlich handelt es sich – wie so oft bei Araújo – um einen hochgradig politisch und sozial engagierten Text: „Temáticamente el título en relación con la imagen gráfica del poema denuncia el apartheid y visualmente se denuncia cualquier forma de represión de las libertades del individuo.“365 In diesem Sonett erscheint darüber hinaus die Ikone des Stacheldrahtes als ein international verständliches Zeichen:

362 Abgedruckt unter dem Titel Escamoteig franquista de cinc poemes in Stegmann (1987), S. 132. 363 Campos (2005b), S. 9. Hervorhebung vom Autor. Vgl. auch Pignotti/Stefanelli (1980), S. 128: „La tematica politico-sociale è […] molto presente ai poeti brasiliani […].“ Zeugnis von einer solch engagierten Dichtung legt beispielsweise die im Jahr 2003 erschienene Anthologie politischer Gedichte Haroldo de Campos’ mit dem Titel El angel izquierda de la poesía ab. 364 Abgedruckt in krüger/ohmer (2006a), S. 163. 365 López Fernández (2006), S. 108.

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Abb. 18  Avelino de Araújo, Apartheid Soneto (1988)

Hier ersetzt jeweils das Bild eines Stücks Stacheldraht die traditionellen Verse. Das Sonett behält insofern die kanonisierte Form der Gattung bei, als die 14 Stacheldrähte den 14 Versen des Standardsonetts entsprechen und das 4–4–3–3-Schema als eines der in der Tradition als für am wichtigsten befundenen Charakteristika des Sonetts eingehalten ist. Diese gattungstypische Binnengliederung erzielt Araújo jedoch nicht dadurch, dass er eines der im Laufe der Sonettgeschichte konventionalisierten Reimschemata durch visuelle Mittel abzubilden oder vielmehr diese in den Bereich des Non-Verbalen zu transponieren sucht. Er erreicht die sonetttypische Strukturierung zunächst einmal vielmehr dadurch, dass die 14 Stacheldrähte zu Gruppen von zweimal vier und zweimal drei Drähten zusammengefasst sind. Außerdem sind die Stacheldrahtanordnungen der ersten vier Drähte nicht identisch mit denjenigen der nachfolgenden vier Drähte, während die Terzette in der Struktur identisch sind. Diese feinen Unterschiede im Arrangement der Stacheln fallen zunächst kaum ins Auge, sind jedoch konstitutiv für den poetischen Formwillen, der hier zum Ausdruck kommt. Somit ergibt sich das Reimschema: abac – bbac – bac – bac. Wie bei einem aus Sprachzeichen verfertigten Sonett muss die Struktur der Verse vom Leser genauestens zur Kenntnis genommen werden, damit eine allgemeine Aussage über die Kompositionsregel des Sonetts getroffen werden kann. Die Quartette weisen also ein Maximum von Abweichung gegenüber der traditionellen Ordnung auf, während die Terzette ein durchaus gängiges Schema haben. Dieses Verfahren, poetische



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und formale Spannung zwischen Konventionalität und Innovation vorzuführen und zu erzeugen, ist spätestens seit Baudelaire in der avantgardistischen Sonettistik üblich. Dass auch dieses Sonett zwischen den komplementären Polen von Tradition und Innovation anzusiedeln ist, liegt auf der Hand. Neben dem Rekurs auf formale Eigenheiten des kanonisierten Sonetts gibt es einen weiteren konkret greifbaren Bezug zur Gattungstradition: Das Verfahren, Verse als Drähte zu imaginieren, taucht bereits in einem Sonett aus dem 19. Jahrhundert auf, nämlich in Tristan Corbières Sonnet avec la manière de s’en servir (1873). Besonders interessant ist in dieser Hinsicht das zweite Quartett, denn hier vergleicht der Dichter jeden der vier Verse mit einem Telegraphendraht und jeden Reim, der einen dieser Verse abschließt, mit dem Keramikknopf, an dem ein Telegraphendraht befestigt ist. Dies erinnert stark an die Stacheldrähte und die Stacheln in Araújos Sonett, auch wenn der politisch engagierte Kontext fehlt: Sur le railway du Pinde est la ligne, la forme ; Aux fils du télégraphe : – on en suit quatre, en long ; A chaque pieu, la rime – exemple : chloroforme – Chaque vers est un fil, et la rime un jalon. (vv. 5–8)366

Diese beiden Bilder für die Verse und die Reime sind insofern durchaus plausibel, als Verse ebenso wie Telegraphendrähte Informationen übermitteln. Und die Reime haben eine den Keramikknöpfen vergleichbare Funktion, indem sie nämlich die Verse ,zusammenhalten‘. Ein bedeutsamer Unterschied zu Araújos Sonett ergibt sich daraus, dass es sich bei Corbière nicht um Stacheldrähte, sondern um Telegraphendrähte handelt. Corbières Sonett ist im Gegensatz zu Araújos nicht einer politisch und sozialkritischen Dichtung zuzurechnen, sondern steht in der Tradition einer Dichtung, die sich der modernen Kommunikationsmittel annimmt. Vor allem seit dem 19. Jahrhundert und verstärkt mit dem Aufkommen avantgardistischer Bestrebungen im 20. Jahrhundert ist eine solche Tendenz, in der Poesie die modernen Kommunikationsmöglichkeiten zu thematisieren, zu beobachten. Als eines der prominentesten Beispiele ist hier sicherlich an Guillaume Apollinaires Lettre-Océan (1914)367 aus den Calligrammes. Poèmes de la paix et de la guerre (1913–1916) zu denken. Apollinaire thematisiert in diesem Gedicht die zu seiner Zeit neue Kommunikationsmethode des Ozeanbriefes, einer Zwischenform der postalischen Adressierung zwischen dem traditionellen Postversand und der Übermittlung durch elektrische Medien, und verarbeitet diese auf poetische Weise. Zwar nicht einem Mittel der modernen Kommunikation, aber dennoch einer modernen wissenschaftlichen Entdeckung ist auch Mary Ellen Solts weltberühmtes Moon­ shot Sonnet (1964),368 das bislang als ältestes non-verbales Sonett gilt, gewidmet, nämlich den ersten Mondaufnahmen, die um die Welt gingen. Wie schon bei den Beispielen von 366 Cros/Corbière (1970), S. 718. Hervorhebungen von mir, B.N. 367 Apollinaire (1965), S. 183ff. Erstdruck des Gedichtes in Les Soirées de Paris 25 vom 15.6.1914. 368 Solt (1970), S. 242. In der Literatur erscheint das Sonett auch unter dem Titel Moon Shot Sonnet. Das Design des Moonshot Sonnet stammt von John Furnival, der selbst konkrete Gedichte verfasst hat.

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Araújo erhalten die non-verbalen Zeichen nur durch die skripturalen Zeichen im Titel eine (relativ) eindeutige semantische Bedeutung.

Abb. 19  Mary Ellen Solt, Moonshot Sonnet (1964)

Wie Araújo in den drei vorangehenden Gedichten füllt auch Solt das in der literarischen Tradition auf Sprache angewiesene Sonettschema ausschließlich mit non-verbalen Mitteln. In diesem Fall handelt es sich ausnahmslos um Striche bzw. graphische Oberflächenmarkierungen, wie sie in der Auswertung der ersten Mondaufnahmen verwendet wurden. Ihre Anordnung entspricht dabei der traditionellen Binnengliederung des Sonetts in zwei Quartette und zwei Terzette, wobei keines der kanonisierten Reimschemata zu erkennen ist. Wie stark dieses Sonett der Tradition der Gattung verpflichtet ist, kann an einem weiteren Aspekt aufgezeigt werden, der bisher keine Rolle gespielt hat. Die Traditionsverbundenheit manifestiert sich in Mary Ellen Solts Gedicht nämlich nicht nur in der formalen Anlage, sondern ebenso auf der inhaltlichen Ebene. Das Thema des Mondes ist ja ein beliebter Gegenstand der traditionellen Sonettistik, z.B. bei Petrarca, den Sonettisten des 16. und 17. Jahrhunderts und auch den Romantikern. Nur vor diesem Hintergrund ist das Potenzial des Moonshot Sonnet erkennbar: „Nur wenn der Leser ein traditionelles Sonett mit dem lyrischen Thema Mond mit assoziiert, wird ihm die Intention der Autorin […] verständlich.“369 Zu diesem Sonett existiert ein aufschlussreicher Selbstkommentar der Dichterin, der zwar darin irrt, dass er die Mondsonette, die nach der Renaissance entstanden sind, ignoriert, aber dennoch eine interessante Stellungnahme enthält:

No one has been able to write a sonnet to the moon from the Renaissance on, and I could not do it unless I was willing to incorporate its new scientific content. The sonnet was a supranational, supralingual form like the concrete poem. ‘Moonshot Sonnet’ is both a spoof of old forms and a statement about the necessity for new ones.370

Mary Ellen Solt formuliert hier etwas, das für alle visuellen Sonette  – und nicht nur diese, sondern darüber hinaus für jedes Produkt experimentellen Dichtens  – gilt, nämlich die Verortung zwischen Tradition  – wenn hier auch ex negativo als Parodie („spoof “) – und Innovation („new ones“). Die Dichterin stellt sich sogar explizit in die Traditionslinie des Sonetts seit seiner ersten Blütephase in der Renaissance, allerdings mit der zeitgemäßen thematischen Ausrichtung auf die moderne Wissenschaft („scientific content“). Zumal sie sich der Mondfotografien bedient, die infolge der ersten Mondlandung in den Zeitungen abgedruckt wurden, kann man

369 Beyer (1975), S. 24. 370 Solt, zitiert nach Spatola (2008), S. 98.



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das Moonshot Sonnet zu Recht als ein ready-made poem bezeichnen.371 Hier folgt Mary Ellen Solt der dadaistischen Tradition, künstlerische Artefakte zu erzeugen. Dadurch, dass Solt sich im Moonshot Sonnet der Rastermarkierungen der ersten Mondaufnahmen bedient, nimmt sie eine ,Entromantisierung‘ oder ,Entzauberung‘ des Mondes vor. Sie überwindet den Mondschein als romantisches Motiv in der Dichtung und realisiert somit einen modernistischen Aufklärungsgestus, den schon Marinetti zum futuristischen Programm erhoben hat: Uccidiamo il chiaro de Luna (1909).372 Hier hat Marinetti sämtlicher sentimentaler Kunst und Literatur den Kampf angesagt. Der Mond als romantischer nächtlicher Begleiter des Menschen ist im Moonshot Sonnet auch deshalb ,entzaubert‘, weil er mithilfe einer Hochpräzionskamera abgebildet wird. Das enstandene Bild ist ein rein technisches Produkt, der Mond wird nicht mehr vom (mehr oder weniger romantisch veranlagten) Menschen wahrgenommen. Dadurch wird das Bild des Mondes zugleich reproduzierbar, wodurch die Aura des romantischen Mondscheins verschwindet. Es vollzieht sich hier, was fast 30 Jahre zuvor Walter Benjamin in seinem Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936) prognostizieren konnte: Die Erzeugung von artifiziellen Repräsentationen von Wirklichkeit durch technische Verfahren nimmt dem Kunstwerk wie dem von ihm Repräsentierten jegliche Aura. Es bleibt in unserem Beispiel ganz konkret nur der durch Apparate erzeugte Blick auf den Mond. Das oben genannte Zitat enthält noch weitere interessante Aussagen, und zwar hinsichtlich der Verbindungsglieder zwischen Sonettistik und Konkreter Poesie. Es wurde bereits ausführlich erläutert, dass sich die Form des Sonetts deshalb besonders gut für die visuelle Konkrete Poesie eignet, weil sie von Anfang an dem visuellen Aspekt Rechnung getragen hat. Mary Ellen Solt hat eine weitere Parallele in der Internationalität des Sonetts und der Konkreten Poesie gesehen. Zweifelsohne ist das Sonett nicht auf eine Nationalliteratur eingeschränkt, sondern hat sich seit seiner Erfindung in der Mitte des 13. Jahrhunderts bis zur Gegenwart zunächst im gesamten europäischen Raum und später dann in Nord- und vor allem auch Südamerika und auch Japan ausgebreitet.373 Dies ermöglicht es, hinsichtlich der Präsenz des Sonetts von einer (zumindest potenziell) internationalen Gattung zu sprechen. Und auch über den internationalen Status der Konkreten Poesie kann kein Zweifel bestehen. Konkrete Poesie ist per se ein internationales Phänomen, oder nach Eugen Gomringer: „die konkrete poesie […] ist einer der konsequentesten versuche, poesie inter- und übernational zu begründen.“374 371 Ein entsprechender Selbstkommentar der Dichterin lautet wie folgt: „Looking at the moon photographs in The New York Times, it occured to me that since the scientists’ symbols for marking off areas on the moon’s surface were presented five to a line and the lines could be added up to fourteen, a visual sonnet could be made of them.“ Solt, zitiert nach Kessler (1976), S. 253f. Dass Mary Ellen Solt fünf Markierungen pro Zeile verwendet, hängt also mit dieser wissenschaftlichen Gepflogenheit zusammen und ist keine Anspielung auf den iambic pentameter, das Traditionsmetrum des englischen Sonetts, wie dies immer wieder, gerade im Kontext der Frage nach dem Verhältnis von Tradition und Innovation in Solts Sonett, nachzulesen ist. 372 Marinetti (1968), S. 14–26. 373 Vgl. hierzu beispielsweise Jost (1973), S. 67. 374 gomringer (1996), S. 9. Vgl. auch den Ausspruch des Dichters Jonathan Williams (1929–2008): „If there is such a thing as a worldwide movement in the art of poetry, Concrete is it.“ Jonathan Williams,

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Aus dem Ziel der Internationalität ergibt sich folgerichtig, dass eine Sprache oder besser ein Zeichensystem gefunden werden muss, das universal anwendbar und supranational verstehbar ist. Statt des von Eugen Gomringer gewählten Modells internationaler Verkehrszeichen und Anweisungen auf Flughäfen bevorzugte Mary Ellen Solt für ihr Moonshot Sonnet die Rastermarkierungen des Mondes. Beide Dichter haben auf diese Weise eine Poesie geschaffen, die unabhängig von einem bestimmten linguistischen Code in nahezu allen Ländern verstehbar und rezipierbar ist. Das Visuell-Ideographische wurde zu einer neuen internationalen Sprache und eine Sonettistik, die sich ausschließlich ideographischer Zeichen bediente, damit problemlos möglich. Ein anderes Beispiel für ein non-verbales Sonett nach 1945 stammt von Barbara Ullrich und Karl Riha, nämlich das Königssonett.375 Es weist trotz aller Innovationsleistungen ein interessantes Verhältnis zur Gattungsgeschichte des Sonetts auf:

Abb. 20  Barbara Ullrich/Karl Riha, Königssonett (1992)

Das spezifische Verhältnis zur Sonetttradition besteht im Königssonett darin, dass es mehr oder weniger streng nach den Regeln des kanonisierten Meistersonetts konstruiert ist, d.h. die Innovation auf der inhaltlichen Ebene  – statt skripturaler erscheinen zitiert nach Emmett Williams (1967), S. vii. 375 Ullrich/Riha (1992), o. S. Erneut abgedruckt in Riha (1994), S. 72.



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ausschließlich pikturale Zeichen (Abbildungen von konkreten Dingen)  – korrespondiert nicht mit einer gleichermaßen starken Innovation auf der formalen, gestalterischen Ebene. Hierzu muss man zunächst wissen, dass das Meistersonett das letzte Sonett einer corona dei sonetti376 – eines Sonettenkranzes – ist. Ein solcher Sonettenkranz gilt als eine der schwierigsten Formen von Sonettzyklen. Er besteht traditionellerweise aus 14 Sonetten und dem so genannten Meistersonett. Aufgebaut ist er nach den folgenden Prinzipien: Alle Einzelsonette weisen das gleiche Metrum und Reimschema auf. Jedes der Sonette beginnt mit dem Abschlussvers des jeweils vorangehenden Sonetts. Die Einzelsonette gehen dann im Meistersonett, das den Finalvers aller 14 Sonette in unveränderter Reihenfolge enthält, auf. Ullrich und Riha haben dieses sehr strenge Aufbauprinzip etwas gelockert und abgewandelt, denn das Königssonett beendet einen Zyklus von 16 statt 14 Sonetten,377 nämlich die ding-sonette (1992), und nimmt darüber hinaus die Schlusszeilen der Einzelsonette nicht in der Reihenfolge auf, in der die Sonette im Zyklus erscheinen. Eine weitere Besonderheit besteht auch darin, dass jedes der ding-sonette aus 14 identischen Zeilen aufgebaut ist. Darum besteht das Königssonett zugleich aus der letzten und den 13 ersten Zeilen jedes der entsprechenden Sonette. Die Aufmerksamkeit von der Makrostruktur des Sonettenkranzes zur Mikrostruktur des Einzelsonetts lenkend, fällt auf, dass im Königssonett sehr stark die Zweiteiligkeit, die für Walter Mönch eines der Wesensmerkmale des Sonetts war,378 betont ist, und zwar dadurch, dass die beiden Quartette in horizontaler Richtung länger sind als die beiden Terzette, wobei die Quartette und die Terzette jeweils eine identische Länge aufweisen. Auch diesem traditionellen Charakteristikum zollt das Königssonett also Tribut. Einem vollkommen anderen Zeichensystem als die bisher erläuterten Sonette gehört das Sonnet Infinitésimal No 3379 des Lettristen Isidore Isou an:380

376 Vgl. hierzu Mönch (1955), S. 30f. 377 Im Königssonett sind die folgenden 14 Sonette verarbeitet: Trinkersonett, Glückskleesonett, Himmelssonett, Sonett für Leseratten, Glücksspielersonett, Kaffeetrinker-Sonett, Sonett für Großstadtbewohner, Sonett für Computerfreaks, Sonett für Eisenbahnfreunde, Fastfood-Esser-Sonett, Blitz- und Donnersonett, Sonett für Fische und Vögel, Maussonett, Segelschiffsonett. 378 Vgl. Mönch (1955), S. 33f. Selbst im Shakespearean Sonnet bleibt die Zweiteiligkeit gewahrt, nur die Relationen haben sich im Vergleich zum romanischen Sonett (in seinen verschiedenen Erscheinungsformen) verschoben: Nicht mehr steht dem Oktett das Sextett gegenüber, sondern die ersten zwölf Verse den letzten beiden, dem so genannten heroic couplet. 379 Curtay (1974), S. 202. 380 Zu Isous Theorie der ,neuen‘ Schrift vgl. S. 51ff. dieser Arbeit.

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Grundlagen

Abb. 21  Isidore Isou, Sonnet Infinitésimal No 3 (1958)

Hier hat sich die traditionsreiche Form des Sonetts des Zeichensystems der Mathematik bemächtigt. Dass dies im Rahmen der zunehmenden Mathematisierung der Poesie, der Konkretisierung ihres Materials und der Poetisierung der Mathematik im 20. Jahrhundert zu sehen ist, kann hier nur am Rande erwähnt werden. Wesentlich wichtiger ist jedoch, dass Isou hier einen „spannenden Schwebezustand zwischen lyrisch klassischer Vorgabe durch die Form und außersprachlichem Zeichensystem […]“381 geschaffen hat. Eine formale Analyse der „lyrisch klassischen Vorgabe“ ergibt, dass sich Isou hinsichtlich des Reimes an das Modell des englischen Standardsonetts gehalten hat: Er hat das Reimschema des Shakespearean Sonnet (abab cdcd efef gg) verwendet. Hinsichtlich der Binnenstruktur entspricht das vorliegende Sonett allerdings nicht diesem Modell, sondern dem französischen sonnet régulier (zwei Quartette und zwei Terzette). Auf diese Weise stellt Isous Komposition eine Hybridform aus zwei nationalen Typen der Gattung dar. Auch das ist allerdings nicht gänzlich neu, zumal es auch hierfür Vorläufer gibt. Beispielsweise ist hier an Sir Philip Sidney (1554–1586) zu denken, der schon in der Frühphase des Sonetts in England, nämlich seiner ersten Blüte in der elisabethanischen Zeit, zahlreiche kontinental-englische Reimschemata entwickelt hat.

381 Gappmayr (2004), S. 59.



Die visuelle Dichtung und das Sonett

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Auch im nächsten Beispiel aus Portugal, dem Soneto soma 14X (1963),382 hat sich der Dichter des mathematischen Zeichensystems bedient. In diesem Fall handelt es sich um ein reines Zifferngedicht, das an von Rechenmaschinen oder Computern generierte Zahlenkolonnen erinnert. Auf ganz besondere Weise spielt hier der numerische Aspekt des Sonetts eine Rolle:

Abb. 22  Ernesto Manuel Melo e Castro, Soneto soma 14X (1963)

Die Numerik des Sonetts spielt hier insofern eine große Rolle, als dieses Sonett erstens 14 Zeilen besitzt, und zweitens die Quersumme der ersten 13 Zeilen jeweils die Zahl 14 ergibt. Hierauf verweist der Begriff soma im Titel und bietet somit eine große Interpretationshilfe bzw. Rezeptionsanleitung. Die einzige Ausnahme von dieser Regel stellt der letzte Vers dar: Hier ergibt die Quersumme die Zahl 28 und damit zweimal die Zahl 14. Auf diese Weise hebt Melo e Castro die besondere Bedeutung des Finalverses hervor: „Observa-se ainda, que o último verso desto soneto, o verso ‘chave de ouro’ dá soma 28 (duas vezes 14), como que a querer dizer que é um verso que vale mais do que os outros.“383 Den Schlussvers besonders zu akzentuieren, ist ein Verfahren, das auch in der traditionellen Sonettistik angewendet wurde. Seit jeher wurde dem Finalvers eines Sonetts eine – seiner exponierten Position entsprechende – starke Betonung zugeteilt. Dies trifft vor allem bei Joachim Du Bellay zu. Er soll laut Guillaume Colletet (1598–1659) die „pointe d’esprit“384 in die französische Sonettistik eingeführt haben. Die Schlusspointe ist eines der Hauptmerkmale, die das Sonett mit dem Epigramm gemein hat. Stark hervorgehoben bzw. visualisert ist eine solche Finalbeschwerung – hier allerdings auf die 382 Melo e Castro (1963), S. 38. Im Jahre 2000 wurde dieses Sonett vertont, womit wir wieder bei der ursprünglichen Verbindung von Sonett und Musik wären. Auch in dieser Hinsicht erweist sich selbst dieses experimentelle Sonett als traditionsverbunden. 383 Luna (2005), S. 74. 384 Colletet (1970), Section 6, S. 32.

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Grundlagen

letzten beiden Verse bezogen – im Shakesperean Sonnet, das mit dem heroic couplet endet, das stark von den vorangehenden zwölf Versen abgesondert ist. Traditionsverbunden ist dieses portugiesische Sonett vor allem deshalb, weil die Zeilen nach der konventionellen Binnenstruktur der Gattung (außer in England) in Quartette und Terzette angeordnet sind. Darin, dass Melo e Castro pro Zeile fünf Ziffern verwendet, könnte man darüber hinaus einen Anklang an das Traditionsmetrum des Sonetts, nämlich den endecasillabo (Petrarca-Sonett), den décasyllabe (französisches Sonett) und den iambic pentameter (Shakespearean Sonnet), vermuten. Auch Alberto Pimenta hat sich in seinem wollust-chronik-sonett (1991)385 der Numerik des Sonetts angenommen. Aufgrund der unmissverständlichen Aussagen dieses Dichters über die Form des Sonetts in einem Brief an Eugen Gomringer ist dies wenig verwunderlich: „alles lässt sich mit einer zahl definieren […]: 14 eine art magische zahl […].“386

Abb. 23  Alberto Pimenta, wollust-chronik-sonett (1991)

Das vorliegende Sonett soll den Grundriss eines wohl imaginären Bordells wiedergeben. Dies legt zunächst der Titel nahe. Auch die Tatsache, dass die beiden Toiletten sich außerhalb der Zimmer befinden, begünstigt die Annahme, dass es sich um ein Bordell handeln soll. Es gibt 14 jeweils mit einer Ziffer versehene Räume. Daher bietet es sich an, von einer „optischen Vierzehnzeiligkeit“387 statt von einer metrischen zu sprechen. Das einzige skripturale Element ist die Buchstabenfolge „WC“, die zweimal auftaucht. Sie erscheint nicht an einer willkürlichen Stelle im Sonett, sondern – zusammen mit dem 385 Abgedruckt in gomringer (1996), S. 103. 386 Pimenta, zitiert nach gomringer (1996), S. 98. 387 Greber (2008), S. 187.



Die visuelle Dichtung und das Sonett

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visuellen Zeichen für eine Treppe – nach dem vierten Zimmer. Auf diese Weise sind die ersten vier Elemente zu einer Einheit zusammengefügt, so wie es im kanonisierten Sonett die ersten vier Verse sind, die das erste Quartett bilden. Auch den nächsten wichtigen Einschnitt im Standardsonett hat Pimenta gewahrt, denn die beiden Ziffern Sieben und Acht befinden sich jeweils im Grundriss eines kleineren Zimmers, wodurch sie stark vom neunten, dem größten Zimmer des gesamten Sonetts, abgetrennt werden. Dies könnte man als einen Visualisierungsversuch der traditionellen volta nach Beendigung des zweiten Quartetts auffassen. Dass auch das siebte Zimmer durch seine Gestaltung eine exponierte Stellung einnimmt, könnte damit begründet werden, dass schon im kanonisierten Sonett dem siebten Vers als – wenn auch leicht asymetrischer – Mittelachse des Sonetts eine besondere Bedeutung zugemessen wurde. Laut Peletier du Mans sollte sich beispielsweise der Kernbegriff, um den herum der Dichter das ganze Sonett entwickeln sollte, idealerweise in der Mitte des Sonetts, also in der Mitte des siebten oder des achten Verses, befinden.388 Das letzte, durchaus nicht unproblematische Beispiel, was die Klassifizierung als Sonett angeht, stammt vom ,Vater‘ der Konkreten Poesie, Eugen Gomringer, und ist wohl einer der bekanntesten Repräsentanten dieser Art von Dichtung:

Abb. 24  eugen gomringer, schweigen (1954)389

Warum könnte es sich nun aber bei dieser visuellen Konstellation – so die genaue Bezeichnung des Dichters – um ein Sonett handeln? Zunächst und vor allem deshalb, weil Eugen Gomringer sie immer wieder selbst mit diesem Gattungsbegriff versehen hat, wenn auch erst im Nachhinein.390 Es kann aber auch versucht werden, den Legitimationsbedarf ohne die Hilfe des Dichters zu decken: Rechtfertigen ließe sich die Bezeichnung ,Sonett‘ auf den ersten Blick auch damit, dass 14-mal das Wort ,schweigen‘ zu lesen ist. 388 Peletier du Mans (1971), S. 61f. Die speziellen orthographischen Zeichen von Jacques Peletier du Mans wurden nicht wiedergegeben. Dennoch wurde versucht, die Orthographie möglichst stark dem Original anzunähern. 389 gomringer (1969b), S. 27. 390 Vgl. hierzu Greber (2008), S. 185: „Die Zugehörigkeit zum Sonettgenre hat Gomringer selbst erst post factum bemerkt (was dem Argument aber keinen Abbruch tut); 83jährig erkennt der Autor in seinem Jugendwerk ein verkapptes Sonett.“ Vgl. auch gomringer (2009), S. 55: „als beispiel [für eine Konstellation] stehe das wortbild schweigen, das vierzehnmal den rahmen des in diesem fall nicht wiederzugebenden begriffs bildet, wobei durch die zahl vierzehn sich eine verkettung mit der zahl der verse des sonetts zu ergeben scheint, die aber nicht beabsichtigt war und sich höchstens durch den langjährigen umgang mit bestimmten zahlen, sei es durch die wiederholung einzelner worte oder verse, eingeprägt hatte.“

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Grundlagen

Gomringer könnte also auf die Numerik der Form rekurrieren. Er könnte hier die Zahl 14 als gattungskonstitutives Element akzeptiert haben, wie dies in der traditionellen Sonettistik getan wurde, und könnte somit in dieser Hinsicht einen traditionsverbundenen Umgang mit der Gattung gezeigt haben. Einen gegen die Tradition gerichteten Umgang mit der Gattung stellen im Gegensatz hierzu Gomringers Verzicht auf Reime bzw. der ausschließliche Einsatz von Monoreimen und mehr noch seine Gestaltung der beteiligten Elemente dar: Diese sind ja nicht nach der die Gattungstradition dominierenden Binnengliederung (zwei Vierer- und zwei Dreiergruppen) angeordnet, sondern in vier Dreier- und eine Zweiergruppe mit einer eingeschlossenen Leerstelle. Diese erscheint nicht an einer Stelle, die man mit der traditionellen volta des kanonisierten Sonetts gleichsetzen könnte, nämlich nach Abschluss des zweiten Quartetts am Ende des achten Verses, sondern schon nach der sechsten Wiederholung des Wortes ,schweigen‘. Das liegt darin begründet, dass die Leerstelle nicht nach gattungspoetologischen, sondern vornehmlich nach visuell-ästhetischen Gesichtspunkten auf der Papierfläche angeordnet ist. Sie soll ja genau in der Mitte erscheinen, auf allen Seiten eingerahmt vom skripturalen Material, um so das Schweigen darzustellen: „In ‘silencio’ Gomringer tries to invent a graphic representation of the phenomenon of silence by working with the opposition of graphic text and no text.“391 Natürlich ist das Schweigen, wie Gomringer immer wieder vorgeworfen wurde, durch eine Leerstelle nicht abbildbar, zumal das Gegenteil vom Schweigen nicht das geschriebene, sondern das gesprochene Wort ist. Gomringer hat sicher nicht die optimale Lösung, aber immerhin eine Kompromisslösung gefunden: „Was der Text nicht sagen kann, die Präsenz des Schweigens, zeigt er in der Schrift.“392 In jedem Fall hat Gomringer mit seiner Konstellation gezeigt, dass die Vorstellung von Schweigen immer nur im Kontrast zur Sprache – bzw. in der Konstellation im Kontrast zur Schrift – denkbar ist: „the poem also demonstrates that our concept of silence as blank space arises only from the surrounding words. Silence is born after writing.“393 Gemäß Gomringers Konzeption der Konstellation spielt die typographische Anordnung der Wörter auf dem Papier eine wesentliche Rolle. In seinem Manifest vom vers zur konstellation. zweck und form einer neuen dichtung (1954) heißt es hierzu: die konstellation ist die einfachste gestaltungsmöglichkeit der auf dem wort beruhenden dichtung. sie umfaßt eine gruppe von worten – wie sie eine gruppe von sternen umfaßt und zum sternbild wird. in ihr sind zwei, drei oder mehr, neben oder untereinandergesetzten worten – es werden nicht zu viele sein – eine gedanklich=stoffliche beziehung gegeben. und das ist alles!394

391 Krüger (2005), S. 408, Spalte 1. Vgl. Bohn (2005), S. 193: „The message conveyed by the text emerges from the white space in the middle of the design.“ 392 Schenk (2000), S. 181. 393 Saper (1996), S. 313. Vgl. Wende (2002), S. 309: Die Leerstelle im Zentrum „visualisiert das Schweigen, benötigt aber das optische Sprachzeichen als positive Bezugsfolie, um Kontur zu gewinnen und sich nicht im Unbestimmten zu verlieren.“ 394 gomringer (1969b), S. 280.



Die visuelle Dichtung und das Sonett

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Durch die flächenmäßige Disposition der Begriffe und der Leerstelle erscheint die der Gattung des Sonetts ohnehin inhärente Visualität als auf der Papierfläche konkretisiert. Zugleich weist schweigen eines der beliebtesten Konstruktionsprinzipien in der Konkreten Poesie auf, nämlich die Wiederholung, auch wenn eine solche – strenggenommen – nicht möglich ist. Beispielsweise wiederholt Gomringer das Wort ,schweigen‘ in seiner Konstellation 13-mal, wobei nicht klar ist, ob ein Substantiv oder ein Verb wiederholt wird.395 Auf den ersten Blick scheint es sich um identische Wörter zu handeln, jedoch unterscheiden sie sich in einem wesentlichen Aspekt voneinander, nämlich ihrer Anordnung auf der Papierfläche: „‘repetition’ means that something seems to be identical with­ out really being so. Repetition is a poetic strategy of showing things and signs in their characteristic of always being different.“396 Hierbei handelt es sich um ein philosophisches Problem, dem sich beispielsweise auch schon Nikolaus Cusanus angenommen hat. schweigen besteht, im Gegensatz zu den vorherigen Beispielen, nicht aus non-verbalen, sondern fast ausschließlich aus skripturalen Zeichen, dies allerdings nur fast, denn inmitten der Konstellation befindet sich an der Stelle, die in der Erwartung des Lesers die siebte Wiederholung des Begriffes ,schweigen‘ einnehmen müsste, nur die weiße Papierfläche. Diese Leerstelle trägt dabei ebenso zur Sinnkonstitution bei wie das eingesetzte skripturale Zeichenmaterial: Ein Leerfeld ist hier zum Wirkfeld geworden.397 Eine Stellungnahme aus Kurt Schwitters’ Thesen über Typographie (1924) kann als Erläuterung herangezogen werden: Auch die textlich negativen Teile, die nicht bedruckten Stellen des bedruckten Papiers, sind typographisch positive Werte. Typographischer Wert ist jedes Teilchen des Materials, also: Buchstabe, Wort, Textteil, Zahl, Satzzeichen, Linie, Signet, Abbildung, Zwischenraum, Gesamtraum.398

Schon Mallarmé hat gegen Ende des 19. Jahrhunderts Ähnliches formuliert: „Les ‘blancs’ en effet, assument l’importance, frappent d’abord […].“399 Anschaulich umgesetzt hat diese Einsicht später – ähnlich wie Gomringer –Timm Ulrichs in seinem Ideogramm zwischenraum (1966):400

395 Anders ist dies in den Übertragungen dieser Konstellation in andere Sprachen. In der spanischen Konstellation handelt es sich beispielsweise eindeutig um ein Substantiv: silencio. 396 Krüger (2005), S. 408, Spalte 2. 397 Vgl. hierzu Vollert (1999), S. 92. 398 Schwitters (1971), S. 180. 399 Mallarmé (2003), S. 442. Auch der Lettrist Isou war von der bedeutungskonstituierenden Funktion von Leerstellen im Text überzeugt. Vgl. Isou (1947), S. 308f.: „Concrètement, dans le travail du créateur lettrique, le silence devient élément pratique, d’un droit égal et de la même manière que la lettre.“ Hervorhebungen vom Autor. Vgl. auch Isou (1947), S. 306ff.: „La loi de la force du silence (par laquelle on fait du silence une matière à travailler).“ Hervorhebungen vom Autor. 400 Wilde/Crommlin (1971), S. 74.

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Grundlagen

Abb. 25  Timm Ulrichs, zwischenraum (1966)

Angesichts der Bedeutung der blancs, die in Rechnung gestellt werden muss, ist es fragwürdig, ob der Begriff ,Sonett‘ für die Konstellation schweigen tatsächlich angebracht ist, zumindest wenn man die Zahl 14 als Minimalkriterium der Gattung ansetzt. Zwar erscheinen hier 14 identische Wörter, aber die Konstellation besteht eben nicht aus 14, sondern aus 14 und einem Element, nämlich den 14 Wörtern und dem blanc in der exakten Mitte der Konstellation.

2. Skriptural-pikturale Intermedialität in Gedichten nach 1945

2.1 Vorbemerkung Der Großteil der intermedialen Dichtung nach 1945 basiert auf einer Verknüpfung von Schrift und Bild, und zwar durch eine gezielte Nutzung der der Schrift inhärenten visuellen Dimension für die Erzielung poetischer Wirkungen. Für eine solche Art der Dichtung kann gleichermaßen der Begriff des poetischen Skripturalismus verwendet werden, so wie ihn Krüger geprägt hat: „Das Verfahren, Texte zu erzeugen, in denen mit Verfahren der Skripturalität poetische Funktionen generiert wurden, kann man als Skripturalismus bezeichnen.“401 Als die am weitesten verbreiteten solcher skripturalen Verfahren in der Dichtung hat der Autor u.a. folgende identifiziert, von denen uns viele im Laufe dieses Kapitels wiederbegegnen werden: Fettsatz, Satz in anderer Farbe, in Majuskeln und/oder Minuskeln, Kursivierung, Handschrift, Preisgabe der Interpunktion, Preisgabe der linearen Textanordnung, Nutzung von Vertikale, Diagonale und Kreis etc., graphische Kontraktion von Wörtern, Wortverstümmelungen, Wortverlängerungen, Akrostichoi, Mesostichoi, Telestichoi, Anagramme, Nutzung von Homographien, Substitution von Schrift durch Graphik etc. etc.402

Die Vorliebe für die Verknüpfung von Schrift und Bild hat mindestens zwei Gründe: Zunächst ist an den kulturgeschichtlichen Hintergrund zu denken, nämlich an die vor allem von der Entwicklung der Massenmedien bewirkte Aufwertung der pikturalen Kommunikation.403 Besonders die technisch erzeugten Bilder (Photographie, Kino, Fernsehen etc.) gewannen in diesem Kontext zunehmend an Bedeutung. Der im Zeitalter der Massenmedien an (primär künstlich erzeugte) Bilder gewöhnte Mensch, bei dem die visuellen semiotischen Konstrukte vielfach die Wahrnehmung von Realität substituieren, ist daher mit der Rezeption einer Dichtung, welche die Visualität hervorhebt, durch seine Alltagserfahrungen prinzipiell immer schon vertraut.404 Die breitflächige Durchsetzung des Visuellen im gesamtkulturellen Bereich ist primär auf die dem visuellen Reiz beigemessene große Bedeutung (in menschlichen Kommunikationsprozessen) und die Strategie, Informationen auf graphische Zeichen, die umso einprägsamer sind, zu verknappen, zurückzuführen. 401 402 403 404

Krüger (2010), S. 169. Krüger (2010), S. 170f. Vgl. Flusser (1997), S. 69ff. Vgl. McLuhan/Fiore (1996), S. 45: „The rational man in our Western culture is a visual man.“ und Dencker (2011), S. 549f., der darauf hinweist, dass sich vor allem durch die digitalen Medien eine „dominant durch die Printmedien literarisch geprägte Kultur [...] zunehmend in eine visuelle Kultur“ verwandelt habe.

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Skriptural-pikturale Intermedialität

Lamberto Pignotti, einer der Begründer des Gruppo 70, hat dies explizit formuliert: „La poesia di quegli anni Sessanta è un fenomeno che nella società tecnologica e nella civiltà dell’immagine, che allora si svelano e alimentano dibattiti, appare a prima vista quasi familiare.“405 Ein zweiter Grund liegt in der Ausdrucksform selbst begründet, denn bei Gedichten – sieht man von Prosagedichten ab – kommt dem Visuellen, nämlich der Verteilung der Zeichen auf dem jeweiligen Schreibuntergrund, per se Bedeutung zu.406 Pierre Garnier hat aus diesem Grund die These vertreten, dass zwischen seinen spatialen Gedichten und traditionellen kein prinzipieller, sondern lediglich ein gradueller Unterschied bestehe. Spatiale Gedichte seien eine konsequente Fortführung der traditionellen Dichtung: „il s’agit d’une poésie traditionnelle mise en espace. […] il s’agit au fond de la même poésie, l’une étant plus spacieuse que l’autre, simplement.“407 Zumal der überwiegende Teil der intermedialen Dichtung nach 1945 eine Verknüpfung von skripturalen und pikturalen Zeichen oder – nach der Terminologie in Dick Higgins’ Some Poetry Intermedia – von poetry und visual art aufweist, ist im Folgenden diesem der größte Abschnitt dieser Arbeit gewidmet. Wir beschreiten damit „la vasta area d’interazione in cui parole e immagine, o, meglio, segno grafico e verbale, entrano in forte relazione.“408 Führen wir uns die poetologischen Voraussetzungen der intermedialen Dichtung nach 1945 vor Augen, so finden wir dort einen weiteren Grund für die Beliebtheit der skriptural-pikturalen Intermedialität. Zunächst und vor allem geht es in dieser Dichtung um eine Sprachreflexion. Diese Reflexion zielt dabei auch auf die materiale bzw. mediale Qualität der Schrift, d.h. primär auf den graphischen Aspekt der Schrift, den diese immer besitzt.409 Vor allem in der Dichtung nach 1945 wurde die graphische Dimension skripturaler Zeichen bewusst in den Vordergrund gerückt – mit dem Ergebnis einer ,Ikonisierung‘ der Sprache bzw. Schrift. Schriftsystemen zugehörige Zeichen besitzen per se visuelle Qualitäten, die gewöhnlich jedoch kaum bzw. nicht wahrgenommen werden (können und dürfen), und zwar zur Sicherung der Kommunikation. Auch wenn Schrift jedoch primär als Medium verstanden wird, das Inhalte vermittelt, befindet sie sich prinzipiell immer im Spannungsfeld von „Intelligibilität (Instrumentalisierung) und Materialität (Entpragmatisierung)“410. Die Lektüre eines dem tradierten Textbegriff entsprechenden Textes kann jedoch nur dann erfolgreich sein, wenn die Materialität der Schrift ignoriert und die Transparenz der skripturalen Zeichen vorausgesetzt wird. Um die klare Dominanz des Signifikats zu gewährleisten, ist es notwendig, „die allgemeine Unauffälligkeit und Bildlosigkeit der Schrift“411 zu gewährleisten. Dies ist ein wesentlicher Bestandteil der kulturellen Konditionierung eines jeden lesefähigen Menschen. Erzielt wird hier eine

405 406 407 408 409 410 411

Pignotti (2000), S. 187. Vgl. Masnata (1984), S. 219. Vgl. Masnata (1984), S. 18. Garnier (1998), S. 18. Accame (1998), S. 17. Vgl. Ehlich (2002), S. 91ff. Achten-Rieske (2008), S. 17. Assmann (2006b), S. 194.



Vorbemerkung

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Vergleichgültigung der Materialität des Zeichens; das bedeutet, daß die Gegenständlichkeit, Ortsgebundenheit oder immanente Ästhetik des Zeichenträgers zugunsten einer klar decodierbaren Nachrichtenübermittlung immer weniger ‚mitspricht‘.412

In der skriptural-pikturalen intermedialen Dichtung nach 1945 wurde der graphische Eigenwert von Schrift aus seinem Schattendasein befreit und so in den Vordergrund gerückt, dass hier Buchstaben oder Wörter „zu Bildern“413 werden. Das bedeutet jedoch nicht, dass die skripturalen Zeichen in der entsprechenden Dichtung ihre semantische Verweisfunktion vollständig verloren haben, sondern dass sie in dieser Funktion nicht ganz aufgehen. Damit haben die Dichter dieser Poesie die Unterscheidung in eine primäre Funktion von Schrift (Vermittlung von Inhalten) und in eine sekundäre Funktion (Präsentation des Bildcharakters von Buchstaben) aufgehoben. Die starke Hinwendung der Dichter nach 1945 zum Visuellen stellt, wie bereits erwähnt, keinen Bruch mit dem tradierten Medium Schrift dar, sondern ist in dessen graphischer Faktur immer schon angelegt. Skripturale Zeichen besitzen stets eine pikturale Qualität: „Dès l’invention de l’écriture la qualité visuelle est donnée à la langue.“414 In Victor Hugos Journal de 1839 heißt es dementsprechend: „Toutes les lettres ont été d’abord des signes et les signes ont d’abord été des images.“415 Trotz des Wissens um den pikturalen Ursprung der skripturalen Zeichen spielt in der traditionellen Literatur und Dichtung der materiale Aspekt von skripturalen Zeichen meistens eine zu vernachlässigende Rolle bei der Sinnkonstitution: La componente grafica della scrittura era sempre stata relegata a ruoli subalterni, e quindi rimaneva avulsa dai processi linguistici; un codice grafico della scrittura non era mai esistito se non con finalità puramente decorative e, quindi, con scarsa incidenza sulla comunicazione. 412 Assmann (1997), S. 719, Spalte 2. 413 Faust (1977), S. 9. Vgl. Assmann (2006), S. 79ff. 414 Garnier (1968), S. 56. Vgl. hierzu Assmann (1994), S. 135ff. und Mon (1994), S. 88: „Wir wissen heute, daß jede bekannte Schrift dem Stamm einer Bilderschrift entsprossen ist.“ Diese Aussage gilt zwar für den Großteil, aber nicht ausnahmslos für alle existierenden Schriften. Zum ideogrammatischen Charakter der chinesischen Schriftzeichen vgl. Fenollosa (1936). 415 Hugo (1987), S. 684. Im Folgenden erläutert Hugo die Dinghaftigkeit von Buchstaben: „A, c’est le toit, le pigeon avec sa traverse, l’arche, arx ; ou c’est l’accolade de deux amis qui s’embrassent et qui se serrent la main ; D, c’est le dos ; B, c’est le D sur le D, le dos sur le dos, la bosse ; C, c’est le croissant, c’est la lune ; E, c’est le soubassement, le pied droit, la console et l’architrave, toute l’architecture à plafond dans une seule lettre ; F, c’est la potence, la fourche, furca ; G, c’est le cor ; H, c’est la façade de l’édifice avec ses deux tours ; I, c’est la machine de guerre lançant le projectile ; J, c’est le soc et c’est la corne d’abondance ; K, c’est l’angle de réflexion égal à l’angle d’incidence, une des clefs de la géométrie ; L, c’est la jambe et le pied ; M, c’est la montagne, ou c’est le camp, les tentes accouplées ; N, c’est la porte fermée avec sa barre diagonale ; O, c’est le soleil ; P, c’est le portefaix debout avec sa charge sur le dos ; Q, c’est la croupe avec la queue ; R, c’est le repos, le portefaix appuyé sur son bâton ; S, c’est la serpent ; T, c’est le marteau ; U, c’est l’urne ; V, c’est le vase (de là vient qu’on les confond souvent) ; je viens de dire ce que c’est qu’Y ; X, ce sont les épées croisées, c’est le combat ; qui sera vainqueur ? on l’ignore ; aussi les hermétiques ont-ils pris X pour le signe du destin, les algébristes pour le signe de l’inconnu ; Z, c’est l’éclair, c’est Dieu.“ Hervorhebungen vom Autor. Aus dem pikturalen Aspekt skripturaler Zeichen hat Beringheli (1998), S. 65f. gefolgert: „Scrivere è […] anche tradurre graficamente una parola in immagine visiva.“

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Skriptural-pikturale Intermedialität

Scrivere una parola in un modo piuttosto che in un altro, con un carattere piuttosto che con un altro, ecc., non incideva sul significato. Lo spostamento dell’attenzione sul significante rimette ora in discussione tutta una concezione estetica, la quale, soprattutto per quanto riguarda la letteratura, non è mai riuscita a prescindere dal significato come unico elemento degno di attenzione.416

Eine deutliche Hinwendung zum visuellen Aspekt von Schriftzeichen ist nicht erst der Dichtung nach 1945 zu attestieren, sondern wir stoßen verstärkt bereits spätestens seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert auf diese: Schon am Ende des 19. Jahrhunderts bezieht Stéphane Mallarmé in Un coup de dés die visuelle Erscheinung der Sprache als Schrift in seine Lyrik ein. Damit ist die Grundlage geschaffen, einen Text dem Bild zu nähern. Die Buchseite erstellt eine Syntax der Fläche; das typographisch bedeutsame Wort korrespondiert mit Gestaltungsprinzipien einer anderen Kunst. Dieser Impuls, der von Mallarmé ausging, wird bis zur Gegenwart in verschiedenen Modifikationen aufgenommen.417

Besonders in der Konkreten Poesie (nach 1945) wurde die textuelle Visualität stark betont. Hier stand das „schriftbild“418 im Vordergrund: Zur Poetik der Konkreten Poesie gehört, dass der „Text als Text […] schlichter, als pictura […] kompliziert [wird]. In allen seinen Spielarten erscheint das Phänomen der Bildlichkeit mithin im Zentrum von konkreter Kunst und Dichtung“419. Durch folgende Einteilung skriptural-pikturaler Dichtungstypen wurde eine systematische Erfassung des entsprechenden mannigfaltigen Textmaterials angestrebt: Typogramme (Schreibmaschinen-, Computersatz-Gedichte), handschriftliche Gedichte, Bleisatz-Gedichte, Lichtsatz-Gedichte und als Sonderformen Collagen, Gedichte aus nicht-lateinischen Schriftzeichen, poemas semióticos/códigos und schließlich kinematisierte Gedichte (holographische Gedichte, digital remediatisierte Gedichte). Dass bei dieser Einteilung zum Teil auch das Kriterium der materialen und der damit zusammenhängenden medialen Realisierung bedeutsam war, ist kein Zufall, sondern entspricht den theoretischen Prämissen der Dichtung nach 1945. Marshall McLuhans formelhafte These „the medium is the message“ in Understanding Media (1964) trifft in besonderem Maße für die Dichter der Konkreten Poesie zu, in welcher der Einsatz technischer Hilfsmittel von entscheidender Wichtigkeit ist. Damit rückt zugleich der performative Akt der Inszenierung der Produktionsbedingungen der Textherstellung in den Vordergrund. Neben der Schreibmaschine schließt dies im Bereich der visuellen Dichtung vor allem Computer und (Film-)Kamera ein, ebenso wie im Bereich der Lautdichtung Aufnahmegeräte: „Thus tape recorders, phonograph records, television, can all contribute their own forms of poetry.“420 Beispielsweise vertrat Pierre Garnier dezidiert die These, dass 416 417 418 419 420

Accame (1977), S. 106. Schenk (2000), S. 109. Vgl. auch Butor (1964), S. 447ff. und S. 462f. gomringer (1969b), S. 282. Erdbeer (2001), S. 187. Seaman (1981), S. 238.



Vorbemerkung

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das gewählte technische Mittel mindestens ebenso sehr wie der Autor die Form eines Gedichtes bestimme: le moyen technique employé crée la poésie autant que le poète. Le magnétophone, le disque, la télévision doivent créer leur propre forme de poésie. Je le répète : le moyen technique employé détermine, au moins autant que l’auteur, la forme d’une poésie.421

In den visuellen Texten kommt daher prinzipiell auch der Typographie eine sinnkonstituierende Funktion zu, so wie dies schon vorher der Fall war, als die italienischen Futuristen die Typographie ihrer Gedichte zur Erzielung bestimmter Wirkungen instrumentalisiert haben: „typography will be strictly correlated with semantic choice and will take on an active role in the development of the poem’s general construction.“422 Allerdings waren Experimente mit der Typographie besonders in den 1950er bis 1970er Jahren eher selten. Dies hängt zum Teil mit den eingeschränkten technischen Möglichkeiten der damaligen Zeit, einen Text herzustellen, zusammen, zum Teil aber auch mit dem Grundsatz der Konkreten Poesie, eine möglichst objektiv und neutral gestaltete Dichtung zu produzieren. Dies implizierte aber in der Tradition von van Doesburgs Manifest der konkreten Malerei auch eine maximale Reduktion des Zeichenmaterials, was de facto auf die bevorzugte Wahl der serifenlosen  – und damit wohl auch traditionslosen  – Futura hinauslief. Die oben genannte Einteilung der analysierten Texte wurde im Bewusstsein gewählt, dass sie ein chronologisches Vorgehen nicht zulässt, zumal die verschiedenen medialen Präsentationsweisen sich zeitlich vielfach überschnitten haben. Die Texte erscheinen nicht in der Reihenfolge ihres jeweiligen Publikationsdatums, sondern ausschließlich nach der inneren Logik der einzelnen Kapitel. Dabei kann es insofern ein Problem mit der Chronologie geben, als natürlich nicht alle poetischen Konzepte und Vorgehensweisen zeitgleich entwickelt worden sind. In den Kapiteln erscheinen diese jedoch nebeneinander. Es geht hier also nicht darum, einen chronologischen Abriss zu zeichnen, sondern es soll ein Überblick über die intermedialen Möglichkeiten der visuellen Dichtung nach 1945 gegeben werden, um deren Vielfältigkeit vorzuführen. Die Gedichte werden primär als Einzelkompositionen betrachtet, obgleich viele  – schon aus verlegerischen Gründen – in Sammlungen erschienen sind. Deren Publikationsform (Einblattdrucke oder Texte, die ein großes Ganzes ergeben sollen) bleibt jedoch deshalb weitgehend unbeachtet, weil sie für die Analyse der intermedialen Verknüpfungen, um die es hier geht, vernachlässigt werden kann.

421 Garnier (1968), S. 135. Im vorangehenden Abschnitt heißt es dementsprechend: „Or le moyen technique employé crée la poésie autant que le poète. Le magnétophone, le disque, la télévision doivent créer leur propre forme de poésie.“ 422 Lora-Totino (1973), S. 65.

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2.2 Typogramme 2.2.1 Schreibmaschinengedichte Nicht erst die Konkrete Poesie entdeckte die Eignung der bereits im Jahre 1714 von Henry Mill zum Patent erhobenen Schreibmaschine423 für die Dichtung, aber sie verlieh der Schreibmaschine innerhalb der Dichtung einen neuen Status.424 Zugleich steigerte diese Entwicklung jene Unabhängigkeit des Dichters vom Drucker, die schon Edgar Allan Poe in seinem Essay Anastatic Printing (1845)425 vorausgesagt hatte.426 Ein wesentlicher Vorteil der daktylographischen Verschriftung besteht in dieser Hinsicht darin, „daß der direkte Zugriff des Autors möglich bleibt und spontane Zufallserscheinungen […] nicht ausgeschlossen, sondern sogar provoziert werden können“427. Der Schriftsatz des Gedichts wurde in der Konkreten Poesie zu einem konkurrierenden Element des Werkes erklärt: „On peut faire concourir à l’œuvre l’écriture du poème.“428 Das bedeutet, dass auch die Zeichen der Schreibmaschine maßgeblich an der Sinnkonstitution des Textes beteiligt sind: „The international concrete poetry movement […] gave a new impetus to typewriter experiment, and also added a new element to it: semantic content.“429 Die Attraktivität der Schreibmaschine für die Dichter Konkreter Poesie könnte darin begründet liegen, dass die Schreibmaschine dieser Art von Dichtung in mindestens zweierlei Hinsicht entgegenkommt, nämlich bezüglich der Geschwindigkeit und des relativ hohen Maßes an Objektivität, denn die Buchstabenform hängt maßgeblich vom gewählten Schreibmaschinentyp und nicht von den individuellen Ausdrucksformen eines Dichters ab, wie dies bei der handschriftlichen Darstellung der Fall ist. Der Eindruck von Objektivität und Rationalität wird bei Schreibmaschinenlettern durch ihre „distanzierte Gleichförmigkeit“430 erzielt. Von einer absoluten Objektivierung der Schrift mittels der Schreibmaschine kann jedoch insofern nicht gesprochen werden, als sie ebenfalls individuelle Ausdrucksmöglichkeiten zulässt, und zwar vor allem im Bereich der Hell-DunkelModulation: 423 Zur Geschichte der Schreibmaschine vgl. Kittler (42003), S. 270f. 424 Alan Riddell führt in seiner Anthologie beispielsweise Hendrik Nicolaas Werkman als einen der Pioniere der Schreibmaschinendichtung an. Den größten Raum nehmen in dieser Anthologie bezeichnenderweise aber die Beispiele aus dem Kontext der Konkreten Poesie ein. In der Anthologie findet sich auch eine Art Hommage an die Schreibmaschine: das Gedicht Typewriter (1974) von Gary Blake, in dem Schreibmaschinenzeichen in Form einer Schreibmaschine arrangiert sind. Abdruck des Gedichts in Riddell (1975), S. 64. 425 Online verfügbar ist der Essay unter folgendem Link der Edgar Allan Poe Society of Baltimore: http:// www.eapoe.org/works/essays/anaprt01.htm [zugegriffen am 25.11.2010]. 426 Vgl. Poe (1945), S. 230: „Authors will perceive the immense advantage of giving their own manuscripts directly to the public without the expensive interference of the type-setter […].“ Vgl. auch Butor (1968), S. 436. 427 Winter (2006), S. 222. 428 Garnier (1963), S. 20. 429 Riddell (1975), S. 12. Vgl. hierzu Buschinger (1998), S. 198: „Loin d’être neutre ou accessoire, le procédé technique d’expression et d’inscription de la matière poétique conditionne intrinsèquement cette matière poétique, sans parler, bien sûr, de sa réception.“ 430 Gappmayr (2004), S. 202.

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Der Zustand des Farbbandes und die Stärke des Fingerdrucks auf die Typenhebel einer mechanischen Schreibmaschine verleihen dem Schriftbild den typischen, je nach Schreibsystem […] unterschiedlichen Manuskriptcharakter, der dem Duktus einer individuellen Handschrift nicht unähnlich ist und mit ihr tatsächlich bestimmte psychologische Prozesse gemeinsam hat.431

Dabei handelt es sich natürlich um eine Ähnlichkeit, die große graduelle Unterschiede beinhaltet. Die Möglichkeiten zur Individualisierung, die die Schreibmaschine dem Dichter bietet, unterscheiden sich maßgeblich von denen, die die Handschrift gestattet.432 Nichtsdestoweniger bleibt festzuhalten, dass es sich bei der Behauptung, die Schreibmaschinenschrift sei dem Prinzip der absoluten Objektivität verpflichtet, um eine zu relativierende Aussage handelt. In jedem Fall kann durch die Gleichförmigkeit der mit der Schreibmaschine gedruckten Typen eine Hierarchisierung zwischen den einzelnen Zeichen leicht vermieden werden. Dass dies ein wichtiges Anliegen der meisten konkreten Dichter war, wird schon daran deutlich, dass sie die Kleinschreibung bevorzugten bzw. wie Eugen Gomringer – selbst in theoretischen Texten – ganz auf Majuskeln verzichteten. Neben einer Enthierarchisierung sollte damit eine absolute Reduktion des verwendeten Zeichenbestandes vorgeführt werden. Ihren Poèmes mécaniques (1965) stellten Pierre und Ilse Garnier ausführliche Überlegungen – auch über die Vorteile der Schreibmaschine für ihre Dichtung – voran und kamen zu folgendem Ergebnis: „L’instrument le plus approprié à la création du poème mécanique est la machine à écrire : elle permet l’objectivation, l’introduction de la vitesse dans la conception du poème, la superposition, les progressions d’intervalles, etc.“433 Objektivierung, der – wie bereits erläutert – die Schreibmaschinenschrift deutlich näher kommt als die Handschrift, und Geschwindigkeit im Sinne „eines post-futuristischen Geschwindigkeitskultes“434, visuelle Gestaltung von Gedichttexten etc., all dies entspricht wichtigen spatialistischen Prinzipien – und darüber hinaus wichtigen Prinzipien der Dichtung nach 1945. Schon im Jahre 1930 erklärte Theo van Doesburg in seinem Manifest der Konkreten Kunst: „Die Schreibmaschinenschrift ist klarer, lesbarer und schöner als die Handschrift. Wir wollen keine künstlerische Ausdrucksschrift […].“435 Alles Subjektive sollte aus der Dichtung verbannt werden, und sie sollte eine technische Perfektion aufweisen. In Übereinstimmung mit Marshall McLuhans Formel „the medium is the message“ aus Understanding Media (1964) und als Übertragung dieser Formel auf den Bereich der Dichtung erklärte Gerhard Rühm:

431 432 433 434 435

Winter (2006), S. 220. Vgl. Bolz (32008), S. 197ff. Garnier (1965a), o. S. Frosch (2008), S. 58. Zitiert nach Erdbeer (2001), S. 180. Die von Theo van Doesburg im Jahre 1917 gegründete Künstlergruppe De Stijl setzte ab den 1920er Jahren in der ,Daktyloplatiek‘ die Schreibmaschinenschrift als künstlerisches Medium ein.

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das ‚funktionelle‘ schreibmaschinengedicht erwächst aus den besonderen gegebenheiten und möglichkeiten der schreibmaschine. [...] die bewusste berücksichtigung solcher möglichkeiten wirkt zwangsläufig auf die konzeption eines textes zurück, provoziert neue formerfindungen. so kann man durchaus von einer ‚poetik der schreibmaschine‘ sprechen.436

Den zweiten Aspekt, die Geschwindigkeit, hilft die Schreibmaschine insofern zu realisieren, als durch sie der kreative mit dem produktiven Akt verschmilzt. Der Dichter wird hier selbst zum Schriftsetzer: „The typewriter […] unifies the various jobs of poetic composition and publication.“437 Was der Medientheoretiker McLuhan hier im Jahre 1964 festgestellt hat, hatten vor ihm auch die konkreten Dichter formuliert. Beispielsweise hat sich Pierre Garnier ausgiebig über die Möglichkeiten, die die Schreibmaschine einem Dichter bietet, geäußert: L’activité de la machine à écrire dans la réalisation du texte entraîne l’emploi de toutes les possibilités de cette machine, avant tout la vitesse. Introduction de la vitesse dans la création du poème. A l’extrême la conception du poème est simultanée à sa réalisation. Donc élimination presque totale de la pensée, de la réflexion, de l’inconscient, expulsion de la philosophie et de l’histoire. […] Pour l’auteur l’œuvre n’est plus le résultat d’une méditation ou d’une expérience mais d’une gesticulation. Dans l’écriture les lettres venaient par ses doigts ; sur le clavier les doigts vont chercher les lettres […]. Plaisir de la création pour la main et pour l’œil qui contrôle. Comme dans le jazz improvisation. Disparition de l’activité de synthèse […] – entrée dans l’état de genèse.438

Mithilfe der Schreibmaschine entsteht also eine Art von action poetry, bei der es weniger auf das Ergebnis als vielmehr auf den Herstellungsprozess ankommt: „der Akt des Schreibens [gehört] konstitutiv zu den Texten. Die Schreibmaschine ist hier künstlerisches Ausdrucksmittel wie der Pinsel in der bildenden Kunst.“439 Wird jedoch behauptet, die daktylographische Gestaltung garantiere die Spontaneität des poetischen Produktes, so muss diese Aussage eine Relativierung erfahren, denn wann immer das entsprechende Gedicht vom konventionalisierten Satzspiegel abweicht, wie dies in der intermedialen Dichtung nach 1945 oftmals der Fall ist, geht dem Endergebnis ein komplizierter und daher mehr oder weniger langwieriger Herstellungsprozess voraus. Dies ist immer dann der Fall, wenn die skripturalen Zeichen in einem Gedicht so auf dem Schreibuntergrund fixiert sind, dass dies nicht dem gewöhnlichen Gebrauch der Schreibmaschine entspricht. Beispiele hierfür sind all jene Gedichte, in denen die eingesetzten Zeichen nicht horizontal ausgerichtet sind. Zunächst sollen im Folgenden anhand eines Textes von Pierre und Ilse Garnier die Vorzüge der Realisierung eines Gedichts mithilfe der Schreibmaschine aufgezeigt wer436 Rühm (2001) [Internet]. 437 McLuhan (1964), S. 288. Vgl. Garnier (1968), S. 98: „C’est le poète lui-même qui devient typographe, unissant deux ‘métiers’.“ 438 Garnier (1968), S. 104f. 439 Gappmayr (2004), S. 200.



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den: cinema440 stammt aus einer relativ frühen Sammlung spatialer Gedichte der beiden Garniers, nämlich Prototypes. Textes pour une architecture (1965). Schon der Titel enthält wichtige Hinweise auf die Poetologie, die dieser Sammlung zugrunde liegt: Bei den hier abgedruckten Texten handelt es sich um Prototypen,441 also um Exemplare, die für eine spätere Reproduktion vorgesehen sind. Und der Untertitel thematisiert die Bedeutung des visuellen Aspektes und der medialen Präsentation der Gedichte der Sammlung, die für die Anbringung auf verschiedensten Bauwerken konzipiert wurden.

Abb. 26  Ilse und Pierre Garnier, cinema (1965)

Es handelt sich bei cinema um ein repräsentatives Beispiel eines kinetischen Gedichts. Skripturale Elemente verwandeln sich hier in ein scheinbar bewegtes Bild. Im Gegensatz zu vielen anderen spatialen Gedichten ist die konventionelle Leserichtung von links nach rechts und von oben nach unten beibehalten. In der ersten Textzeile – der Begriff ,Vers‘ scheint hier wenig angemessen – erscheinen sieben nahtlose Wiederholungen des Wortes cinema, aber bei der letzten Wiederholung fehlt der letzte Buchstabe. Dieser ist in die nächste Zeile verschoben. Auf das gleiche Verfahren trifft der Leser in jeder der 18 Zeilen des Gedichts: Immer erscheint das letzte cinema um einen weiteren Buchstaben verkürzt, der jeweils an den Anfang der folgenden Zeile gerückt ist. Dieses Verfahren erinnert an die im Dadaismus und Surrealismus angewandte Technik der variierenden Wiederholung. Die auf diese Weise erzielte versetzte Anordnung des Wortes cinema führt eindringlich vor Augen, dass die Wortfolge einen jeweils anderen Ort auf der Papierfläche einnimmt. Zusammen mit der Verkürzung um einen Buchstaben in jeder Zeile verdeut440 Garnier (2001), S. 53. 441 Der Begriff ,Prototyp‘ stammt aus dem Griechischen und bedeutet ursprünglich ,Urbild‘.

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lichen Pierre und Ilse Garnier mit poetischen Mitteln des 20. Jahrhunderts einen der zentralen Lehrsätze von der Antike bis zu Nikolaus Cusanus, nämlich die Erkenntnis, dass jede Wiederholung immer eine Differenz beinhalte: So geht schon die antike Kosmologie  – und die mittelalterlichen Kosmologen werden ihr darin folgen – davon aus, dass es niemals möglich ist, dass zwei Atome den gleichen Ort einnehmen werden. Für Nikolaus Cusanus ergibt sich daraus im 15. Jahrhundert der Schluß, dass alles von Differenz gekennzeichnet ist und Identität nicht möglich ist. Differenz ist damit ein ontologisches Prinzip, ihr inhäriert die Dynamik des Seienden eben wie den Zeichen, die von den Menschen für die Elemente des Seienden erzeugt werden.442

Der Begriff cinema erscheint dreimal vollständig in der betonten Initial- und Finalstellung einer Zeile. cinema ist sowohl das erste als auch das letzte Wort des Gedichts – dieses Wort bildet daher nicht nur den inhaltlichen, sondern auch den visuellen Rahmen des gesamten Textes. Wie bereits beschrieben, taucht der Begriff cinema siebenmal pro Textzeile auf. Auf diese Weise könnten die beiden Dichter auf die traditionelle Symbolik der Zahlen drei und sieben verweisen. Diese hier auszuführen, würde den Rahmen der vorliegenden Untersuchung jedoch sprengen. Die Umsetzung der „Text-Technik der verändernden Wiederholung“443 in cinema und der Einsatz einer unterschiedlichen Buchstabendichte lässt den Eindruck von hellen und dunklen Diagonalen entstehen, die regelmäßig aufeinander folgen: Das Ergebnis ist ein starker kinetischer Effekt, nämlich der Eindruck eines Flimmerns, wie es vor allem bei Schwarz-Weiß-Filmen zu beobachten ist.444 Im Gegensatz zur traditionellen Dichtung erfüllt auch der weiße Zwischenraum eine nicht zu unterschätzende Funktion. Korrekterweise sollte daher vom weißen ,Raum‘ statt ,Zwischenraum‘ gesprochen werden. Er trägt ja genauso wie die schwarzen Buchstaben zur Erzeugung der benannten kinetischen Wirkung bei: Auch die blancs stellen somit positive Werte dar, sie tragen zur Gesamtbedeutung des Textes ebenso bei wie die schwarzen Buchstaben. cinema muss daher als praktische Umsetzung einer von Mallarmé schon Ende des 19. Jahrhunderts formulierten Einsicht gelten: „Les ‘blancs’ en effet, assument l’importance, frappent d’abord […].“445 Die in Pierre Garniers Manifesten theoretisch begründete Hochschätzung des visuellen Aspektes von Dichtung – verstanden als Radikalisierung des horazischen ut pictura poesis  – weist auch dieses Gedicht auf, denn es erscheinen hier visuelle Zeichen (verschiedene Dicke der Buchstaben, Diagonalen etc.), zu denen sich kein lautliches oder rhythmisches Äquivalent denken lässt. Einmal mehr zeigt sich, dass spatiale Gedichte als ausgesprochene Sehtexte konzipiert sind. Ihnen kann man durch Vorlesen nicht gerecht 442 Krüger (2004), S. 95. 443 Krüger (2004), S. 96. 444 Was den gezielten Einsatz von mehr und weniger Druckerschwärze angeht, so erinnert cinema stark an Carlo Bellolis Gedicht acqua (1961). Hier werden auf diese Art und Weise Wellenbewegungen und Spiegelungseffekte angedeutet. Vgl. S. 323ff. dieser Arbeit. 445 Mallarmé (2003), S. 442.



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werden, denn „die Form des graphischen Zeichens [ist] zur Grundeinheit der Textgestaltung, der Text selbst zur Graphik“446 geworden. In cinema hat die graphische Anordnung keine dienende Funktion mehr, sondern entwickelt eine eigene Dynamik, sie wird selbst zum Träger der ästhetischen Botschaft. Die rechteckige Einrichtung des Textes bildet ja die Leinwand als visuelle Synekdoche für das Kino ab, auch wenn es sich hierbei nicht um eines der konventionellen Symbole für das Kino, nämlich eine Kamera oder einen Filmstreifen, handelt.447 Garnier bedient sich in cinema eines, wenn nicht gar des wichtigsten Verfahrens in der visuellen Konkreten Poesie, nämlich der Ikonisierung der Beziehung zwischen Zeichen und Objekt: „the relation of verbal signifier and its signified, ordinarily considered to be conventional and thus, in Peircean terms, symbolic, has become iconic.“448 Der Begriff cinema ist nach Charles Sanders Peirce ein symbolisches Zeichen, im Unterschied hierzu handelt es sich bei der Textgestalt um ein ikonisches Zeichen bzw. ein ikonisches Verhältnis zwischen Zeichenform und Zeicheninhalt. Im Gedicht wurde bewusst die Arbitrarität von Sprache unterlaufen, und zwar durch die Präsentation der Entsprechung von skripturalen Zeichen und dem Referenten: die graphische Einrichtung des Textes leistet […] etwas, was die einzelnen Sprachzeichen, da sie symbolisch sind, gar nicht leisten können: Sie zeigen, daß der Zusammenhang zwischen Form und Inhalt kein willkürlicher […] ist.449

Setzt man cinema nun systematisch in Verhältnis zur Poetologie des Spatialismus, so wie sie sich in Pierre Garniers Manifesten darstellt, ergibt sich folgender Befund, allerdings im Bewusstsein, dass nach Pierre Garnier gilt: „il est évidemment absurde de traiter, comme le font certains, les théories poétiques […] comme s’il s’agissait de théories scientifiques. Le tout, théorie et pratique est une tension vers…“450. Zunächst ist von erheblicher Bedeutung, dass sowohl der Titel des Gedichts als auch das Textkorpus vom Begriff cinema und nicht cinéma gebildet werden. Dieser kleine Unterschied ist deshalb so wichtig, weil er Garniers Forderung nach internationaler Verständlichkeit gerecht wird. Signifikanterweise zitiert ein Großteil der Sekundärliteratur den Titel des Gedichts falsch, nämlich als französischen Begriff. Dahinter offenbart sich die falsche Voraussetzung, dass ein französisches Dichterehepaar seinem Gedicht einen ebenfalls französischen Titel geben müsse. Dabei wird allerdings missachtet, dass der Spatialismus nach Pierre Garnier gegen eine Nationaldichtung gerichtet ist und die poetische Supranationalität anstrebt. cinema wird der Forderung nach Supranationalität jedoch nur bedingt gerecht, denn der Begriff cinema stammt ja lediglich aus einer Sprache, aber eben nicht aus dem Französischen, sondern aus der ,Weltsprache‘ Englisch. Die Einsprachigkeit des 446 Bode (2001), S. 157. In den 1960er Jahren hat Michel Butor auf die Visualität und die Materialität der Seite hingewiesen. Vgl. hierzu das Kapitel Le livre comme objet in Butor (1964), S. 450–566. 447 Einen Filmstreifen bildet zum Beispiel Ernst Jandl in seinem thematisch vergleichbaren Gedicht film (1964) nach. Abdruck des Gedichts in Jandl (1985), I: S. 364. Vgl. hierzu Dencker (2009), S. 197. 448 Clüver (1998), S. 22. 449 Bode (2001), S. 149. 450 Edeline (1981), S. 85.

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Gedichts cinema bedeutet dabei weder einen Widerspruch zwischen Theorie und Praxis, noch zeugt sie von einer Inkonsistenz. Eine plausible Erklärung für diese Entscheidung besteht nämlich darin, dass das Schriftbild den Eindruck eines Flimmerns erzeugen soll, dieser Eindruck aber nur dann erzielt werden kann, wenn die Wörter, die das Textkorpus bilden, absolut übereinstimmen. Für die Erzeugung eines solchen kinetischen Effekts ist es außerdem wichtig, dass alle Buchstaben des Textbildes die exakt gleiche Größe aufweisen. Schon deshalb eignete sich die Schreibmaschine besonders gut für die Produktion dieses Gedichts. Handschriftlich oder mit der Computertypographie wäre ein vergleichbares Ergebnis, wenn überhaupt, nur mit sehr viel mehr Aufwand zu erzielen. Entsprechend Garniers programmatischen Äußerungen herrscht im Gedicht – neben einer absoluten Reduktion  – die Isolierung eines Wortes vor, im gesamten Textkorpus wiederholt Garnier ja immer denselben Begriff.451 Damit das Wort seine volle Wirkung entfalten kann, muss es nach Garniers Meinung isoliert werden. Nur auf diese Weise wird es nicht in seiner semantischen Kraft durch „die einschränkende Determination eines Kontextes“452 reduziert. Zu Recht fühlt man sich an dieser Stelle an Marinettis parole in libertà erinnert. Auch Garnier vertrat die These, dass das Wort seine ganze Bedeutungsfülle nur in der Vereinzelung erreichen kann.453 Mit Pathos forderte er die Befreiung des Wortes aus dem Satz: „Libérez les mots. Respectez les mots. Ne les rendez pas esclaves des phrases.“454 Oberstes Ziel war dabei, das Wort als Gegenstand („mot objet“455) und Selbstzweck zu begreifen. Deshalb betonte die spatiale Poesie die Materialität von Sprach- und Textzeichen: „Le mot est une matière.“456 Auch in cinema ersetzt die visuelle Anordnung die  – nach dem konventionellen Verständnis des Begriffes – fehlende Syntax: „On perçoit immédiatement l’enjeu de ce remplacement de la chronosyntaxe (celle qui s’exerce au fil du temps de la lecture linéaire) par des syntaxes spatiales.“457 Die nach den Regeln der konventionellen Grammatik nicht anders als Oxymoron zu bezeichnende syntaxe spatiale ist insofern eine treffende Bezeichnung, als sie verdeutlicht, dass auch Texte wie cinema syntaktische Strukturen aufweisen. Solch eine „toposyntaxe“458 des spatialen Gedichts erfordert eine ,Lektüre‘ der besonderen Art, die auch eine Betrachtung – ähnlich der eines Bildes – beinhalten sollte. In cinema kommt dem visuellen und dem verbalen Code nämlich gleiches Gewicht zu. Ein Gedicht wie cinema wird nicht mehr auf konventionelle Weise Wort für Wort gelesen, sondern als Gesamteindruck wahrgenommen: „Le poème visuel ne se ‘lit’ pas. On 451 Vgl. Garnier (1968), S. 130: „Les mots doivent être vus.“ Die Bedeutung und daraus folgende Hochschätzung des Wortes erklärt Garnier auch aus dessen Ursprung, dieser soll nämlich in Analogie zum Johannes-Evangelium göttlich sein: „Les mots n’ont pas été inventés par les hommes. Ils nous ont été donnés comme les mains, les astres.“ Garnier (1968), S. 132. 452 Weinrich (1971), S. 111. 453 Vorbild war Garnier dabei – wie so vielen anderen Dichtern nach 1945 – die isolierende Struktur der chinesischen Sprache – im Gegensatz zu den indogermanischen Sprachen. 454 Garnier (1968), S. 131. 455 Garnier (1968), S. 133. 456 Garnier (1968), S. 130. 457 Edeline (1981), S. 8. 458 Robert (1987), S. 62.



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se laisse ‘impressionner’ par la figure générale du poème, puis par chaque mot perçu globalement au hasard.“459 Die Wichtigkeit der visuellen Dimension wird in diesem Gedicht dadurch belegt, dass die Gestalt des Textarrangements wahrgenommen wird, noch bevor der Leser die Semantik des Wortes begriffen hat. Zunächst stellt der Text nichts anderes als ein Zusammenspiel von schwarzen Buchstaben und weißem Papier dar. cinema könnte deshalb ebenso auch von einem Rezipienten, der dem Englischen nicht mächtig ist, rezipiert werden. Es entspricht somit, wie bereits erläutert, den Forderungen nach poetischer Supranationalität. Für den sprachkundigen Leser stellt sich das Gedicht als ein Zusammenwirken der Semantik des Begriffes cinema und der typographischen Anordnung als Rechteck, das die Gestalt der Kinoleinwand nachbildet, dar. Dabei ließe sich eine Bedeutungsebene denken, die aus dieser Darstellung mehr als eine bloße Tautologie macht: In cinema stimmen Text- und Bildbedeutung vollkommen überein, spiegeln sich und evozieren in dieser Selbstbezogenheit den Gegenstand des Gedichtes, denn das Kino zeigt über die illusionierenden Spiegelungen auf der Leinwand immer auch sich selbst: Es ist nichts anderes als Kino. Andererseits führt das Spiegelprinzip zum Titel der Sammlung Prototypes zurück. […] In beiden Fällen, der prototypischen und der cineastischen Spiegelung, stellt das Gedicht die Frage nach dem mimetischen Verhältnis von Text, Bild und Realität und nach der Relation von Urbild und Abbild. Es öffnet einen platonischen Horizont, der die geschlossene Oberfläche des Wortraumes ‚cinéma‘ [sic.] sprengt […].460

Führte schon cinema bezüglich der eingesetzten skripturalen Elemente eine Reduktion vor, so ließ sich diese noch erheblich steigern, und zwar in Letterngedichten, die sich in der Dichtung nach 1945 großer Beliebtheit erfreuen, und zwar nicht nur im Lettrismus. In diesen Texten gilt dann: „Aqui, literalmente, a letra é o poema!“461 In Le manifeste de la poésie lettriste fordert Isidore Isou schon im Jahre 1942 die Freisetzung von Buchstaben aus Wörtern: „Commence la destruction des mots pour les lettres. […] Il s’agit de faire comprendre que les lettres ont une autre destination que les mots. Défera les mots en leurs lettres.“462 Die Letterngedichte wurden dabei bevorzugt mit der Schreibmaschine produziert. Solche Letterntexte stellen nach Christina Weiss die erste Stufe zum Seh-Text dar: „Der Materialfetischismus konkretistischen Arbeitens mit Sprache kann als erster Schritt vom ‚konkreten‘ Text zum Seh-Text gelten: Bilder aus Sprachelementen entstehen.“463 Und über den intermedialen Aspekt von Letterntexten heißt es: „Buchstabenfetischis459 Garnier (1968), S. 136. 460 Garnier (2001), S. 16. Auch der hier zitierte Herausgeber erliegt dem Irrtum bezüglich des vermeintlich französischen Titelwortes. 461 Aguiar (1994), S. 4. Vgl. hierzu Mon (1967), o. S. An anderer Stelle äußerte sich Mon wie folgt über die Bedeutung von Letterntexten für die Dichtung: „Die entscheidende Hinwendung zum Einzelbuchstaben […] kennzeichnet einen Angelpunkt der Poesie, die unser Jahrhundert durchzieht.“ Mon (1994), S. 115. 462 Isou (1947), S. 15. 463 Weiss (1984), S. 176.

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mus und Typoaktionen sind die sparsamsten Varianten der Sprache-Bild-Korrelationen in Sehtexten.“464 Im Medium des Buchstabens ist ja bereits ein visueller Aspekt enthalten, nämlich das Graphische der Schrift.465 Vor allem in den 1950er und 1960er Jahren, also in der Hochphase der Konkreten Poesie, wurden viele Buchstabengedichte produziert:466 „Gerade der Buchstabe nun soll im ,konkreten‘ Text kompensatorisch zu sich selbst erlöst werden.“467 Erreicht wurde dies dadurch, dass die Dichter den Eigenwert des Buchstabens durch die Betonung seiner Materialität vorführten: „Lettres visibles et sonores et lisibles [...] elles tournent, se dispersent, se rassemblent, s’intensifient.“468 Neben sprachkritischen Aspekten muss in diesem Zusammenhang auf eine weitere Dimension von Letterntexten hingewiesen werden: Diese können ebenso Mittel eines politischen Protests sein, der sich gegen repressive Maßnahmen eines diktatorischen Regimes richtet, die eine freie schriftliche und/oder mündliche Äußerung unterbinden. Als Repräsentant einer solchen ,lettristischen‘ Protestdichtung ist der Uruguayer Dichter Clemente Padín zu nennen, der mit entsprechenden asemantischen poetischen LetternProduktionen ausgedrückt hat, dass der Dichter nichts mehr sagen darf. Eine ähnliche Wirkung können solche Gedichte erzielen, die die politische Zensur persiflieren, indem sie einen teilweise oder vollständig geschwärzten skripturalen Text präsentieren.469 Dass auch in der Konkreten Poesie zahlreiche Letterntexte produziert wurden, liegt vor allem daran, dass eines ihrer generellen Ziele die Befreiung des Wortes aus dem Satz war. Eine starke Vorbildfunktion erfüllten hier Marinettis parole in libertà, aber auch Apollinaires Calligrammes.470 Die Isolierung des Wortes war kein Selbstzweck, sondern diente der Befreiung der Sprache aus ihrer bloßen Repräsentationsfunktion: „Die Konkrete Poesie entzieht der Sprache ihre übliche Beschreibungs- und Mitteilungsfunktion, um sie zu ‚konkretisieren‘, d.h. um die Sprache auf ihre konkreten Bestandteile und Grundlagen sowie auf deren materielle Eigenschaften und Funktionen zu reduzieren.“471 Konkrete Dichter haben sich damit dem normalen Sprachfluss widersetzt. In den folgenden Beispielen findet nun mit derselben Absicht die Befreiung des Buchstabens aus dem Wort statt. In den entsprechenden Gedichten sind einzelne Buchstaben zu einer Art Lesefläche arrangiert. Dieses Verfahren richtet sich dabei gegen das Einsperren der einzelnen Lettern in Buchstabenkombinationen, nämlich Wörtern. Hier könnte sich 464 Weiss (1984), S. 181. 465 Vgl. Faust (1977), S. 13. 466 Eine Neubesinnung auf den formalen Eigenwert des Buchstabens findet auch schon viel früher statt, zum Beispiel bei André Breton und Kurt Schwitters, die diesen jeweils als graphisches Material vorführten. Laut Döhl (1992), S. 168 lässt sich schon in den 1920er Jahren „eine bewußte Reduktion auf das Alphabet, dessen Auffassung als eines materialen Ensembles vorgegebener graphischer bzw. konstruierbarer graphischer Formen die Neubesinnung auf den formalen Eigenwert des Buchstabens beobachten.“ 467 Schmitz-Emans (1997), S. 182. 468 Garnier (1965a), o. S. 469 Vgl. hierzu vor allem S. 88f. und S. 399ff. dieser Arbeit. 470 Dies trifft vor allem für Il pleut zu, denn hier wird die Auflösung des Satzes zugunsten der sich auf der Seite frei bewegenden Wörter vorgeführt. 471 Lenz (1976), S. 7. Der Befreiungsakt der Sprache kann dabei mehr oder weniger radikale Formen annehmen. Vgl. beispielsweise Martino Obertos „off-language for language anarchy“. In Oberto (1973), S. 51.



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zunächst die Frage stellen, ob eine solche Isolierung legitim sei, und zwar in Analogie zu entsprechenden Zweifeln, die in Bezug auf den ,konkreten‘ Umgang mit dem Wort geäußert wurden: „Sprache kommt phänomenologisch primär vor in Texten. Isolierte Wörter haben streng genommen keine Bedeutung; erst in Texten gibt ihnen der Sprecher eine Bedeutung.“472 Allerdings scheint es absurd, den semantischen Wert eines Wortes bestreiten zu wollen. Ebenso wenig wie Wörtern kann Buchstaben durch den Vorgang einer Isolierung der gesamte semantische Wert genommen werden. Das folgende Letterngedicht stammt vom Herausgeber einer der drei großen Anthologien der Konkreten Poesie, nämlich von Emmett Williams.473 Es handelt sich dabei um einen Repräsentanten der durch Louis Aragons Suicide (1921) ins Leben gerufenen Gattung des Alphabetgedichts:474

Abb. 27  Emmett Williams, Meditation no. 2 (1958)

Der Titel, den Williams gewählt hat, ist insofern sehr aussagekräftig, als er die Art der intendierten Rezeption vorgibt: die Meditation. Auch Pierre Garnier hat wiederholt betont, dass die Lektüre seiner Gedichte einer Meditation ähneln müsse: „nous remplaçons la lecture par la contemplation de l’objet Mot.“475 Garnier hat damit zugleich auf die 472 Schmidt (1974), S. 82. 473 Peignot (1993), S. 233. 474 Vgl. Weiss (1984), S. 32: „‚Suicide‘ betitelt ein Alphabetgedicht, eines der ersten dieser inzwischen fast zur literarischen Tradition gewordenen Reihe.“ Für weitere Alphabetgedichte vgl. Mayer (1978). 475 Garnier (1963), S. 23.

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pikturale Erscheinungsform seiner Texte und auf das irrationale Moment der erwünschten Rezeption aufmerksam gemacht. Williams’ Gedicht weist eine starke Ähnlichkeit zu einem Mandala auf, das traditionellerweise stark zur Meditation einlädt. Ein mandalaähnlicher Eindruck entsteht vor allem durch das klar markierte Zentrum und die sich um dieses befindenden Buch­ stabendiagonalen. Auch hier gibt es Parallelen zu Pierre Garnier: „on pourrait dire qu’il [scil. Pierre Garnier; B.N.] a créé une sorte de Mandala non pictural mais langagier, un Logo-Mandala.“476 Im vorliegenden Gedicht bildet der kleingeschriebene Buchstabe a die exakte Mitte des Textarrangements, die durch die umgebende weiße Papierfläche klar als solche markiert ist. Die exponierte Position dieses Buchstabens erinnert an die besondere Bedeutung des Alpha. In diesem Sinne bildet das a im Gedicht den Anfangspunkt, von dem alles Weitere auszugehen scheint. Um das a sind alle anderen Buchstaben des Alphabets – auch als Minuskeln – nach einem relativ komplizierten Ordnungsprinzip angeordnet, das an mathematische Konstruktionsweisen denken lässt. Das oberste Gebot, dem Williams’ Text folgt, ist das der Geometrie: Um den ersten Buchstaben des Alphabets sind die folgenden in aufsteigender Reihenfolge bis zum 13. Buchstaben (m) rautenförmig angeordnet. Hinzu kommt, dass die aus Buchstaben gebildeten Spalten das Alphabet rückwärts ablaufen, beginnend beim z. Dieses erscheint in allen vier Ecken, zusammen mit dem a in der Mitte des Gedichts rahmen beide als Anfang und Ende das Gedicht ein und bilden sozusagen sein Gerüst. Die Buchstabenkette läuft sowohl in den vertikalen als auch horizontalen Richtungen immer genau bis zur Mitte des Alphabets (m), dann läuft sie das Alphabet vorwärts weiter. Auf diese Weise entsteht eine komplementäre Bewegung. Insgesamt entsteht das Gedicht durch zwei Achsenspiegelungen, und zwar in horizontaler und vertikaler Richtung. Das Wichtige an diesem Textarrangement ist ohne jeden Zweifel, dass es die Bildung von Wörtern verhindert. Es geht hier ausschließlich um die Vorführung des Eigenwertes von Einzelbuchstaben. In der Dichtung nach 1945 wurden nicht nur viele Letterngedichte produziert, die Buchstaben, wenn auch aus dem Zusammenhalt des Wortes gerissen, dennoch als lesbare Bestandteile von Schrift vorführen, sondern auch viele Gedichte, die gewollt die Unlesbarkeit von Buchstaben als Schriftträger vorführen: Man könnte den verschwindenden Text, die verschwindende Schrift als ein zentrales Thema der konkreten Poesie betrachten. […] Lesbares verschwindet auch oft in dem Sinne, daß es in Unlesbares überführt wird. […] Insgesamt kann es als ein maßgebliches Anliegen einschlägiger Dichtung gelten, die Schrift, das Lesbare in einem Prozeß des Verschwindens darzustellen: des physischen Verschwindens […] wie des Verschwindens als Schrift (der Absorption des Lesbaren durch unlesbare Struktur).477

Oft erscheint daher nur eine Schriftspur (Noch-nicht- oder Nicht-mehr-Schrift). Diese kann dabei so weit reduziert sein, dass Skripturalität in Pikturalität umschlägt, sich also 476 Edeline (1981), S. 49. Auch Haroldo de Campos verfasste poemandalas und Eugen Gomringer legte im Jahre 1983 ein Konkretes Gedicht mit dem Titel schema für mandala vor. 477 Schmitz-Emans (1997), S. 206. Hervorhebungen von der Autorin.

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eine „desemantizzazione della parola“478 ereignet, und der Leser nur mehr mit unlesbaren graphischen Phänomenen konfrontiert wird. In diesen Fällen geht „die Verweigerung jeglicher Bedeutungskonstitution über die Leser-Anstrengung bei der Suche nach ‚Inhalt‘ um in die Reflexion über sprachliche Zeichen, sprachliche Abläufe“479. Eine Reduktion bis zur Unlesbarkeit findet man besonders häufig bei Franz Mon, beispielsweise im Mortuarium für zwei Alphabete (1970):480 Hier wird ein Ausgangstext (51 Namen und die Aussage „ist tot“ in elf Sprachen) immer stärker überlagert, bis er schließlich nicht mehr zu entziffern ist. Der Leser wird hier primär zum „Buchstabensucher“481. Eine solche Rezeption erfordern beispielsweise auch Emilio Isgròs Cancellatura-Texte aus den 1960er Jahren.482 Hier hatte der Dichter im Akt einer gewollten ,Selbstzensur‘ Texte mit schwarzen Streichungen so bearbeitet, dass von den beteiligten Wörtern nur noch einzelne Buchstaben sichtbar waren. Dies führte nicht nur zu einer erheblichen Störung, sondern zu einer Unterbrechung des gewöhnlichen Sprach- bzw. Schriftflusses.483 Ein ähnlicher Versuch stammt aus jüngster Zeit, nämlich die Poèmes Express (2007) von Lucien Suel. Hier sind hunderte von Gedichten durch die Streichung von Wörtern eines Romans entstanden. Die inszenierte Auflösung von Schriftzeichen verweist verstärkt auf ihre Materialität und übt deshalb implizit immer Kritik an einem Umgang mit der Sprache, der sie ihres Eigenwertes beraubt, weil Sprache ganz hinter der Mitteilungs- und Kommunikationsfunktion verschwindet. In den Texten, die Buchstaben im Prozess des Verschwindens vorführen, steht deren optischer Wert im Vordergund: Wo dieser Befreiungsprozeß über die Zersplitterung des Wortes zum Wortfragment, zum Buchstaben zur Nur-noch-Sprachspur läuft, verschiebt sich die Funktion des Sprachelements vom Träger linguistisch-semiotischer Valenzen zum Träger ikonischer Valenzen, rückt der optische Reiz in den Vordergrund […].“484

Explizit benannte Adriano Spatola dies im Titel seines Textes Iconoscrittura (1987).485 „Bedeutungsentzug durch Häufung“486 ist das Thema von Claus Bremers Gedicht lesbares in unlesbares übersetzen (1970):487

478 479 480 481 482 483 484 485 486 487

Pignotti/Stefanelli (1980), S. 148. Weiss (1984), S. 89f. Abgedruckt in Mon (1978), S. 40ff. Vollert (1999), S. 138. Abdruck eines Beispieltextes in Hapkemeyer (1988), S. 49. Vgl. auch Pignotti/Stefanelli (1980), S. 152. Die Methode, in einem Gedicht statt skripturaler Zeichen schwarze Balken zu verwenden, erinnert stark an Man Rays Dadaistisches Lautgedicht ohne Worte (1924), nur dass hier eben ganz auf skripturale Elemente verzichtet wird. Weiss (1984), S. 89f. Hapkemeyer (1988), S. 69. Weiss (1984), S. 90. gomringer (2001), S. 29.

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Skriptural-pikturale Intermedialität

Abb. 28  Claus Bremer, lesbares in unlesbares übersetzen (1970)

Es handelt sich hierbei um ein Textarrangement aus vier unterschiedlich langen Zeilen, wobei die erste den titelgebenden Deklarativsatz lesbares in unlesbares übersetzen enthält, dessen inhaltliche Aussage in den folgenden drei Zeilen vorgeführt wird. Im gesamten Gedicht ist dabei die konventionelle Links-nach-Rechts-Leserichtung beibehalten. Der Prozess des Übersetzens von Lesbarem in Unlesbares gestaltet sich wie folgt: In der zweiten Zeile – wie auch in der dritten und vierten Zeile – ist nur die Position des Verbums ,übersetzen‘ identisch mit der in der Anfangszeile. Die anderen drei Wörter sind so nach rechts verschoben, dass das Verbum ,übersetzen‘ vom Begriff ,unlesbares‘ überschrieben ist. Das ist deshalb so problemlos möglich, weil beide dieselbe Buchstabenanzahl und – dank der Schreibmaschine – auch dieselbe Buchstabenbreite aufweisen. Auf diese Weise erscheint ein aus zwei übereinander geschriebenen Wörtern entstandener Fettdruck. Die beiden Wörter sind dabei noch relativ leicht zu entziffern. In der dritten Zeile erscheint das übersetzen wieder an derselben Stelle wie zuvor, die beiden Wörter ,lesbares‘ und ,in‘ hingegen erscheinen noch weiter nach rechts versetzt. Auch hier wird ‚übersetzen‘ überschrieben, und zwar von diesen beiden Wörtern. Der erste Buchstabe von ‚lesbares‘ steht vor dem ersten Buchstaben von ‚übersetzen‘, so dass beide erkennbar bleiben, und die in den ersten beiden Zeilen vorgegebene Leerstelle zwischen ‚lesbares‘ und ‚in‘ mit dem achten Buchstaben (z) in ‚übersetzen‘ zusammenfällt. In der letzten Zeile ist der Begriff ,lesbares‘ noch weiter nach rechts verschoben und überlagert ab dem dritten Buchstaben in ‚übersetzen‘ dieses Verb. Ebenso wie übersetzen behält in der Schlusszeile auch das ‚in‘ seine Position bei. Auf diese Weise werden die beiden letzten Buchstaben in ‚übersetzen‘ zweifach überschrieben. Das auf diese Weise entstandene Endprodukt ist dann tatsächlich mehr oder weniger unlesbar geworden. Hierbei kommt Bremer die Schreibmaschinentypographie unterstützend entgegen, denn die Serifen sorgen dafür, dass das Unlesbare durch das Medium Schrift augenscheinlicher konkretisiert wird. An dieser Stelle tritt verstärkt die visuelle Qualität der Buchstabenüberlagerungen hervor, und es stellt sich zu Recht die Frage, ob es sich überhaupt noch um skripturale Zeichen handle oder nicht. In diesem Gedicht besteht keine Beziehung zum außersprachlichen Bereich. Seine Bedeutung konstituiert sich vielmehr ausschließlich durch das eingesetzte schriftliche Material. Diese Bedeutung zeichnet sich dabei durch eine Ambiguität aus, denn je nach Betonung kann das Verb ,übersetzen‘ zwei unterschiedliche Bedeutungen annehmen: Erstens bezeichnet es den Prozess, dass Wörter auf dem Papier verschoben werden. Dies führt der Text auf selbstreferentielle Art und Weise vor. Zweitens kann ,übersetzen‘ aber auch im Sinne einer translatio aufgefasst werden, die etwas Lesbares in etwas Unlesbares verwandelt. Beide Bedeutungen stimmen im Ergebnis überein: Wörter sind in un- bzw. nicht-lesbare Gebilde überführt worden.



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Im folgenden Gedicht488 hat der Autor versucht, die meisten Buchstaben dadurch unkenntlich zu machen, dass sie jeweils von einem anderen Buchstaben überlagert werden. Im Gegensatz zu Bremers Textbeispiel sind hier keine Wörter zu entziffern, aber relativ leicht zu erahnen:

Abb. 29  Diter Rot, ohne Titel (1958)

Hier sind nur einzelne Buchstaben (o, l, i, v, e und t) zu erkennen, und zwar dann, wenn diese nicht von anderen überschrieben sind. Diese wenigen Buchstaben genügen jedoch, um den Begriff ,olivetti‘ erahnen zu lassen, auch wenn er kein einziges Mal im Text erscheint. Bremer legt durch die Verteilung der entzifferbaren Buchstaben eine Spur, welcher der aktive Leser folgen muss. In der Anthologie von Emmett Williams erscheint unter dem Gedicht folgender Kommentar des Autors: „Advertising my typewriter.“489 Sollte der Leser nicht von selbst auf den Begriff ,olivetti‘ gekommen sein, so dürfte nun kein Zweifel mehr daran bestehen, dass Bremer in seinem Text auf die gleichnamige spanische Firma anspielt, die bezeichnenderweise für ihre Schreibmaschinen berühmt war. Unter Berücksichtigung des Selbstkommentars liegt daher die Vermutung nahe, dass es sich bei Bremers Gedicht um eine Art Werbung für dieses Unternehmen handelt, und zwar sowohl durch die konkrete Namensnennung als auch die Möglichkeit, dass es mit einem Modell der Firma olivetti produziert worden sein könnte. Eine große Nähe zwischen Konkreter Poesie und Werbung kann in vielen Gedichten beobachtet werden:490 Wie der Dadaismus vertrat auch die Konkrete Poesie „die Vorstellung, dass ein Gedicht so wirksam sein soll wie ein 488 Williams (1967), o. S. 489 Williams (1967), o. S. 490 Beispiele in Dencker (1972), S. 167ff. Auch die poesia visiva hat sich – mit den unterschiedlichsten Intentionen – oft der Werbung angenähert. Vgl. Pignotti (2005), S. 19ff.

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Werbeslogan“491. Damit geht einher, dass die Gedichte nicht mehr für eine kleine elitäre Gruppe, sondern für die breite Öffentlichkeit produziert wurden. In Bremers Gedicht kann insofern nicht von einer vollkommenen Bedeutungsverweigerung gesprochen werden, als es zwar nur eine Bedeutungsspur legt, diese aber trotzdem nur schwer übersehen bzw. überlesen werden kann. Im Gegensatz zu lesbares in unlesbares übersetzen besteht in diesem Beispiel durch den angedeuteten Hinweis auf den Firmennammen eines real existierenden Unternehmens ein außersprachlicher Bezug. Nichtsdestoweniger kommt eine weitere Dimension hinzu: Dadurch, dass die meisten der verwendeten Buchstaben mit anderen überschrieben sind, erzeugt Bremer ein Bewusstsein für die visuelle Gestalt der Einzelbuchstaben, und zugleich könnte erneut die Arbitrarität der Zeichenzuordnung angedeutet sein. Schreibmaschinengedichte können selbstverständlich auch aus ganzen Wörtern bestehen, wie der nächste Beispieltext492 von Enrique Uribe bezeugt. In Mary Ellen Solts Anthologie ist zu diesem folgender Kommentar abgedruckt: „‘todo o nada’ […] is the kind of poem that loses everything in translation, for it is a sound poem. Its meaning is its ‘music’, which is ‘all’ and/or ‘nothing’.“493

Abb. 30  Enrique Uribe, ohne Titel (o. J.)

491 Krüger (2004), S. 91. Vgl. auch Krüger (2008), S. 15. Ob die Annäherung von der Dichtung an die Werbung tatsächlich als „a kind of dead end“ (Perloff (1994), S. 119) aufzufassen ist, sei dahingestellt. Die Werbeindustrie verpflichtete in der Hochphase der Konkreten Poesie jedenfalls entsprechende Dichter für ihre Zwecke. Paradebeispiele sind hier Eugen Gomringer, der viele Warenhauskataloge u.Ä. gestaltet hat, und Décio Pignatari, der in São Paulo eine Werbeagentur gegründet hat. Eine besonders hohe Übereinstimmung zwischen Poesie und Werbung besteht in videopoems, weil sie stark an Werbespots erinnern können. 492 Solt (1970), S. 196. 493 Solt (1970), S. 43.



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Solt ist darin zuzustimmen, dass dieses Gedicht auffallend hohe Klangqualitäten besitzt. Dadurch, dass hier ausschließlich Wörter mit einer, zwei oder drei Silben erscheinen, erweckt der Text fast den Eindruck einer rhythmischen Beschwörungsformel, deren Intensität im Mittelteil durch die erste Verwendung des einzigen dreisilbigen Wortes stark gesteigert ist. Bei diesem dreisilbigen Wort handelt es sich nicht zufällig um den Begriff ,música‘, vielmehr benennt Uribe hier auf der skripturalen Ebene die Wichtigkeit der lautlichen Dimension seines Textes. Es handelt sich darum um einen stark selbstreferentiellen Text. Würden die Bemerkungen zu diesem Gedicht an dieser Stelle enden, so wäre es kaum einsichtig, warum es Aufnahme in dieses Kapitel zu intermedialen visuellen Gedichten gefunden hat. Es handelt sich aber nicht nur um ein sound poem, sondern auch um ein visuelles Gedicht. Die den Text konstituierenden Wörter erscheinen ja nicht im gewöhnlichen linearen Satzspiegel, sondern sind räumlich verteilt auf der Papierfläche angeordnet. Aus diesem Grund weist das Gedicht eine besondere Form der Intermedialität auf. Diese besteht nicht – wie in den meisten Fällen – zwischen zwei, sondern zwischen drei Medientypen: Literatur, Musik und Malerei. Aufgrund dieser Konstellation unterscheidet es sich vom Prototyp des visuellen Gedichts, das nicht vorgelesen werden kann. Uribes Gedicht muss sowohl gelesen als auch betrachtet werden, um alle Bedeutungsdimensionen erfassen zu können. Kommen wir zur Konstruktionsweise: Die Wörter sind in zwei Spalten zu jeweils drei Gruppen von sieben und zweimal fünf Wörtern angeordnet. Dies erinnert zunächst an die Einteilung in Strophen in traditionellen Gedichten. Die Leerstellen nach jeder ,Strophe‘ bewirken sowohl eine Denk- als auch Sprechpause. Uribe verteilt die fünf Wörter ,todo‘, ,nada‘, ,música‘, ,o‘ und ,y‘ so auf der Papierfläche, dass jede Kombination nur einmal vorkommt, d.h., jede Zeile, die sich aus den beiden Spalten ergibt, wird nicht wiederholt. Den Anfang macht dabei der gebräuchliche Ausspruch „todo o nada“, der in der zweiten ,Strophe‘ dann ganz unvermittelt mit dem Begriff ,música‘ in Verbindung gebracht wird. Der anfängliche Ausspruch „todo o nada“ erscheint am Ende des Textes transformiert zu „todo y nada“. Auf diese Weise scheint Uribe die Annahme nahelegen zu wollen, dass ,música‘ als Begriff und Phänomen simultan alles und nichts umfasst. Die visuelle Ebene entspricht insofern der lautlichen, als die statische Anordnung der Wörter die lautliche Monotonie ebenso abbildet wie die vergrößerte Silbenzahl die Rhythmusbeschleunigung. Ebenso gut würde sich für die sich scheinbar unendlich fortsetzende Wortreihe zweifelsohne auch eine zirkuläre Anordnung des skripturalen Materials eignen. Alles andere als die architektonische Strenge von Uribes Gedicht weist das nun zu analysierende von Edgar Braga auf. Hier erscheinen Wörter in einer scheinbar zufälligen Anordnung auf dem Papier, wobei jedoch eine horizontale Ausrichtung der Wörter beibehalten ist, um die ,Lektüre‘ nicht noch zusätzlich zu erschweren:

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Abb. 31  Edgar Braga, ohne Titel (1965)494

Mit einiger Mühe sind die vier portugiesischen Begriffe ,limite‘, ,ôlho‘, ,eu‘, ,poema‘ und ,do‘ (Kompositum aus der Präposition ,de‘ und dem Artikel ,o‘) zu erkennen. Die größte Häufigkeit weist dabei der Begriff ,limite‘ auf. Zumal die drei verbleibenden Substantive alle männlichen Geschlechts sind, liegt es nahe, ,limite‘ auf sie alle zu beziehen. Dies erscheint auch deshalb sinnvoll, weil an der Spitze des Textes der Begriff ,limite‘ von den anderen isoliert erscheint und durch die Präposition ,do‘ mit ihnen verbunden wird. Somit ergäben sich die drei Zusammensetzungen: limite+do+ôlho, limite+do+eu, limite+do+poema. Ebenso wie die Grenzen des Bewusstseins und des Auges sind auch diejenigen des Gedichts verschwommen und somit nicht eindeutig zu bestimmen. Der Text ist zu allen Seiten offen und scheint sich im Innern und an den Rändern aufzulösen. Dieser Eindruck entsteht deshalb, weil die Druckerschwärze stark variiert. Im extremsten Fall sind die Wörter gar nicht mehr zu entziffern. Auch hierbei handelt es sich um die Ausnutzung einer der Möglichkeiten, die die Schreibmaschine dem Dichter bietet: Entweder bedingt durch unterschiedlich stark abgenutzte Farbbänder oder unterschiedlich starke Anschläge können hier relativ unkompliziert unterschiedliche Farbintensitäten erzielt werden. 494 Williams (1967), o. S.



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Der Auflösungsprozess der Wörter entspricht auf der Rezeptionsseite einem infiniten Interpretationsvorgang, der charakteristisch für die Konkrete Poesie ist. Diese hat Gedichte erzeugt, die nie in sich geschlossene Systeme sind: Sie setzen vielmehr beim Rezipienten Reflexions- und Erkenntnisprozesse in Gang. Je spärlicher dabei die eingesetzten Zeichen sind, desto größer ist die zu erbringende geistige Leistung. In jedem Fall verbleiben solche Gedichte immer im Modus der Potenzialität, der „sprachlich konstituierte Sinn [erscheint] als reine Möglichkeit“495. Die interpretatorische Offenheit, die prinzipiell jedes Gedicht aufweist, wurde von der Konkreten Poesie zu einem wesentlichen Charakteristikum erhoben. Pierre Garniers Selbstkommentar in der Anthologie Le Spatialisme en chemins (1990) zum folgenden Gedicht lautet folgendermaßen: „Un tableau constitué du mot lys. Le nom lui-même suggère une parfaite blancheur. Une espèce de vitrail où la seule ombre est celle de l’écriture.“496

Abb. 32  Pierre Garnier, lys (1965)

Diese zunächst etwas lapidar erscheinenden Sätze enthalten wichtige Hinweise für die Rezeption dieses ,Textes‘. Den Begriff an dieser Stelle in Anführungszeichen zu setzen, 495 Schmidt (1969), S. 327. 496 Garnier (1990), o. S.

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ist deshalb angebracht, weil Pierre Garnier im oben genannten Zitat nicht – wie gewöhnlich – den Terminus ,poème‘ verwendet, sondern stattdessen den Terminus ,tableau‘ gewählt hat. lys stellt also den Versuch dar, mit poetischen Mitteln ein Bild zu erzeugen. Im Ergebnis liegt ein ganz praktisches Beispiel für Intermedialität vor. Der Dichter macht ja selbst darauf aufmerksam, dass sein Bild nur aus einem einzigen Wort hergestellt ist. Er konkretisiert im Folgenden den pikturalen Charakter von lys noch weiter, denn es handelt sich nicht um ein beliebiges tableau, sondern um „une espèce de vitrail“, also um ein Kirchenfenster. Viele seiner Gedichte weisen Ähnlichkeiten zu solchen Fenstern auf: „Pierre Garniers Werk erinnert an die Tradition der Glasfenster […] gotischer Kathedralen in Frankreich, Chartres oder auch an die Kathedrale von Amiens, in deren Nähe Ilse und Pierre Garnier wohnen.“497 An dieser Stelle ist an den Titel der Sammlung, dem dieser ,Text‘ entnommen ist, zu erinnern: Prototypes / Textes pour une architecture. Diese Gedichte sind also explizit dazu bestimmt, an Gebäuden oder vielleicht sogar in Kirchen angebracht zu werden. Darum handelt es sich streng genommen weniger um tableaux als um architektonische Texte. Garnier selbst hat dies wie folgt beschrieben: „Collaboration poète-architecte rendue possible par la suppression de l’inscription qui sollicitait la lecture et rompait l’espace.“498 Worauf es hier besonders ankommt, ist der Begriff inscription, denn für den vorliegenden Fall heißt dies, dass der Begriff lys nicht die Funktion einer Inschrift erfüllt. Das bedeutet wiederum, dass dieser Begriff nicht als Erklärung des tableau dient, sondern sich „Schrift und Raum gegenseitig bedingen. Das Wort lys ist […] ein raumimmanentes Element“499. Betrachtet man lys näher, so stellt man fest, dass Pierre Garnier mit dem dreibuchstabigen Wortmaterial ein Rechteck erzeugt hat, dem durch eine bestimmte Anordnung der Buchstaben l, y und s zwei Lilien eingeschrieben sind. Das vorliegende Gedicht stellt für Pierre Garnier nicht nur wegen seiner typographischen Gestaltung, die augenscheinlich die im Titel benannte Blume zweifach nachbildet, ein Bild dar, sondern auch wegen des Verweises auf die Suggestionskraft des Wortes lys. Obgleich der ,Text‘ in gewöhnlichem Schreibmaschinenschwarz gedruckt ist, wird laut Garnier der Eindruck einer parfaite blancheur erzeugt, die für eine Lilie charakteristisch ist. Auf diese Weise kommt ein neuer Aspekt der intermedialen Verknüpfung zwischen Wortdichtung und Malerei hinzu, nämlich der der impliziten Farbgebung. Durch die Nachbildung der beiden Lilien im ,Textinnern‘ entstehen weitere Bedeutungsebenen. Mit dem Begriff lys ruft Pierre Garnier vor allem zwei Bedeutungskontexte auf: die christliche Ikonographie und die Heraldik. In der christlichen Ikonographie, auf die Garnier in seinem Selbstkommentar durch den Begriff vitrail implizit verwiesen hat, dient die Lilie als Symbol der Unschuld, Reinheit und Jungfräulichkeit – vor allem im Kontext der Marienverehrung –, aber auch als Symbol der Gnade und Gottesehrfurcht. Die weiße Lilie verkörpert daneben zusammen mit der roten Rose die beiden Hauptfarben der Schönheit. In der Heraldik spielt die stark stilisierte Lilie besonders in Frankreich eine wichtige Rolle: „Die Lilie als Symbol der reinen Muttergottes war das 497 Gappmayr (2004), S. 135. 498 Garnier (2008), S. 209. Vgl. Gappmayr (2004), S. 134: „Die harmonische Durchdringung von Text und architektonischem Raum ist […] Thema dieser Werkgruppe.“ 499 Gappmayr (2004), S. 135.



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Hauptemblem der Könige von Frankreich.“500 Garnier stellt sich somit in eine christliche und eine speziell französische Tradition des Liliensymbols. Eine weitere Bedeutungsebene entsteht dadurch, dass die weiße Lilie ein weit verbreitetes Symbol für Licht darstellt. Dies ist deshalb konsistent, weil lys für ein Kirchenfenster konzipiert wurde, das Sonnenlicht, das in die Kirche eindringen würde, also durch die Glasscheibe bzw. genauer die Schrift und das Textarrangement brechen würde. Auf diese Weise würde das Licht dann tatsächlich in Form zweier Lilien auf der gegenüberliegenden Wand erscheinen. Weisen auch viele der poetischen Produktionen Pierre Garniers einen zur Meditation einladenden Charakter auf, so gilt dies für lys in besonderem Maße: „Der meditative, fast mystische Charakter des Werkes wird sichtbar in der Wechselbeziehung zwischen architektonischem Raum und der transparenten Schrift als Lichtfilter und Trennung zwischen Außen- und Innenraum.“501 2.2.2 Computersatz-Gedichte Eine Fortführung der Tradition von Schreibmaschinengedichten bei gleichzeitiger Nutzung eines neuen Mediums, wie es für die Konkrete Poesie charakteristisch ist, stellen mit Computerschreibprogrammen hergestellte Gedichte dar. Hier gelten grundsätzlich alle allgemeinen Aussagen, die über die Merkmale und Vorzüge der Schreibmaschine bereits formuliert wurden. Auch wenn beide Formen der Textherstellung große Parallelen zueinander aufweisen, gibt es dennoch zumindest einen prinzipiellen Unterschied: Im Gegensatz zur Schreibmaschine stellt der Computer dem Dichter eine große Auswahl an Schrifttypen bereit. Anders als beim Bleisatz, der auch noch Gegenstand der Untersuchung sein wird, bleibt hier die Personalunion von Dichter und Texthersteller bestehen, denn auch hier benötigt man keinen professionellen Setzer. Aufgrund der eingeschränkten Möglichkeiten der Schreibmaschine hinsichtlich der Schrifttypen waren bei diesem Textherstellungsverfahren keine Experimente mit der Typographie möglich. Im Gegensatz hierzu ermöglichten Computerschreibprogramme die Exploration auch dieser Ebene des Textes. Bei einer Dichtung, wie derjenigen nach 1945, in der es um die Betonung der textuellen Materialität ging, hätte dies als ein prinzipieller Vorteil des neuen Mediums gewertet werden können. Jedoch widersprach er einer wesentlichen Forderung, nämlich derjenigen nach einer weitgehend objektivierten Dichtung. So waren besonders in den 1950er bis 1970er Jahren Experimente mit der Typographie recht selten. Beispielsweise verwendete die Gruppe Noigandres in ihren poetischen Produktionen fast ausschließlich die serifenlose Schriftart Futura, und zwar als Fettdruck. Allgemein bevorzugten die Dichter Konkreter Poesie Groteskschriften, zumal diese serifenlos sind und aus diesem Grund dem konkretistischen Grundsatz, den Eigenwert der skripturalen Zeichen hervorzuheben, entgegenkommen: „Groteskschriften scheinen wie geschaffen für das Anliegen der Konkreten Poesie, die Zeichen voneinander zu lösen, den Einzelelementen mehr Gewicht zu verleihen und den Zeichenträger zu präsentieren.“502 500 Neubecker (1980), S. 122. 501 Gappmayr (2004), S. 135. 502 Vollert (1999), S. 75.

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Neuere Beispiele für die Exploration der Typographie als zusätzliche Bedeutungsebene und zusätzliches Ausdrucksmittel stammen u.a. von Benjamin Gomez. Einige Gedichte dieser Art können auf seiner Website unter der Rubrik Typographie abgerufen werden.503 Dabei ist eines klar: Je mehr sich die Typographie von der üblichen Präsentation von Gedichten entfernt, desto mehr rückt ihr visueller Wert in den Vordergrund, desto größer ist die Ähnlichkeit mit einem Bild und desto mehr wird der Lesevorgang entautomatisiert. Auch die Typographie-Gedichte der Argentinierin Ana Maria Uribe sind examples of the change of the conventional function of signs: letters fulfil the tasks of images. […] The dominant function of letters, to be building-blocks of words and thus particles carrying semantic meaning, is undermined: they are deployed for their visual dimension only, in an iconic fashion.504

Der ikonische Charakter der verwendeten Zeichen führt in den beiden folgenden Gedichtbeispielen dazu, dass Bewegungen wie durch eine Momentaufnahme festgehalten erscheinen. Hier haben wir es mit einem Verfahren zu tun, das demjenigen in den computeranimierten Gedichten, von denen noch die Rede sein wird, konträr entgegensteht: In Uribes Texten wurde ein kinetischer Vorgang in ein statisches Textbild transformiert. Prinzipiell nutzte Uribe in ihren Tipoemas505 eine weitere Möglichkeit der Bedeutungskonstitution, nämlich die Semantisierungsebene des Tons. Jedes der Gedichte wird im Hintergrund durch das typische Geräusch des mittels der skripturalen Zeichen Dargestellten untermalt. Im Fall eines Wasserfall-Gedichts bedeutet dies, dass der Rezipient lautes Wasserrauschen hört, im Falle eines Bowling-Gedichts dementsprechend das Rollen einer Bowlingkugel auf der Bowlingbahn. Die lautliche Ebene suggeriert daher jeweils eine Bewegung, die auf der visuellen Ebene nicht wiedergegeben wird. Dynamische Darstellungsmodi treffen hier auf statische und treten in ein spannungsvolles Verhältnis zueinander. Beide Gedichte weisen eine typographische Besonderheit auf, nämlich den inversen oder negativen Druck, also weiße Schrift auf schwarzem Grund. Dadurch kommt nicht der äußere Umriss des jeweils gewählten skripturalen Zeichens zur Geltung, sondern: „The inner forms […] [scil. of the signs; B.N.] become the dominant pattern […].“506 Der inverse Druck erfüllt vornehmlich zwei Funktionen: Er entfremdet und vergegenwärtigt zugleich die Zeichengestalt, die erst durch einen genaueren Blick erkannt werden kann. Die im positiven Druck als leer und unbedruckt beurteilten Zwischenräume treten als Objekte hervor und machen so auf ihre eigene Existenz aufmerksam. Auf diese Weise kann die Materialität der Zeichen in besonderem Maße hervorgehoben werden.507

503 504 505 506 507

Gomez (2004–2008) [Internet]. Schaffner (2006) [Internet]. Uribe (1968b) [Internet]. Dair (1967), S. 24. Uribe (1968b) [Internet].



Handschriftliche Gedichte

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2.3 Handschriftliche Gedichte Nach der Erläuterung der Vorzüge, die der Einsatz der Schreibmaschine oder des Computers für die Konkrete Poesie bedeutete, mag es zunächst widersprüchlich erscheinen, dass auch handschriftliche Gedichte im Umfeld der Konkreten Poesie entstanden sind.508 Solche Gedichte widersprechen zunächst natürlich einem wesentlichen Grundsatz der Konkreten Poesie, nämlich dem Streben nach einer objektiven Darstellung. Außerdem stehen sie dem „medialen Fortschrittsdenken“509, von dem die Dichtung nach 1945 im Allgemeinen zeugt, konträr gegenüber. Zwar sind handschriftliche Gedichte erheblich seltener als solche mit Schreibmaschinen-, Computer-, Drucker- oder Photosatzschriften, nichtsdestoweniger handelt es sich nicht um eine quantité négligeable. Beispielsweise Pierre Garnier verfasste mehrere Sammlungen solcher Texte. Die Lettristen haben sogar fast ausschließlich handschriftliche Gedichte produziert. Aus diesem Grund wurde ihnen mehrfach der Vorwurf einer „mediale[n] Antiquiertheit“510 gemacht, u.a. von Henri Chopin. Als poetischer Vorläufer für die Entscheidung, bei der Gedichtproduktion auf zeitgemäße Techniken zu verzichten und Gedichte stattdessen handschriftlich zu realisieren, muss Apollinaire genannt werden. Betrachten wir zum Beispiel seine Calligrammes. Poèmes de la paix et de la guerre (1913–1916). In dieser Sammlung finden sich sechs teilweise oder ausschließlich handschriftlich gestaltete Gedichte, darunter das folgende:511

Abb. 33  Guillaume Apollinaire, La mandoline l’œillet et le bambou (1914)

508 Zu Recht hat Witte (2005), S. 384 auf den „Kult der Handschrift“ im russischen Futurismus hingewiesen. 509 Lentz (2000), I: S. 244. 510 Lentz (2000), I: S. 447. 511 Apollinaire (1965), S. 209. Für eine ausführliche Interpretation dieses Gedichtes vgl. Davies (1981).

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Skriptural-pikturale Intermedialität

Mit Blick auf die hier untersuchte intermediale Dichtung nach 1945 stellt sich dennoch die Frage, wie der Widerspruch zwischen dem Ziel einer objektivierten Dichtung und einer hochgradig subjektiven Ausdrucksform wie der Handschrift, die „il massimo grado di soggettività“512 im Bereich der poetischen Produktion darstellt, aufgelöst werden kann. Es muss allerdings betont werden, dass für viele Dichter der Konkreten Poesie dieser Widerspruch nicht aufgelöst werden konnte. Beispielsweise existiert von der Gruppe Noigandres kein einziges handschriftlich verfasstes Gedicht. Auch Eugen Gomringer lehnte die Handschrift für die Konkrete Poesie ab, und zwar deshalb, weil diese für ihn der Internationalität der Konkreten Poesie entgegenstand: „Ich bin […] dafür, dass sobald man in internationalen Kontakt eintritt, was wir ja mit der Konkreten Poesie […] wollten, dass man da von der Handschrift lässt und sie nicht übernimmt.“513 Betrachten wir nun die denkbaren Vorzüge der handschriftlichen Fixierung von Gedichten gegenüber anderen Möglichkeiten: Zwar ist die Handschrift der Schreibmaschinenschrift hinsichtlich des Grades an Objektivität, Regelmäßigkeit und Nüchternheit unterlegen, dafür ermöglicht sie aber eine noch schnellere und unkompliziertere Verschriftlichung des Gedankens: „Die Handschrift bleibt immer unmittelbarster Ausdruck des Schreibenden.“514 Zugleich bleibt aber das unlösbare Paradox, dass es in der Konkreten Poesie darum ging, eine möglichst objektivierte Dichtung zu schaffen. Dafür muss der Dichter hinter dem von ihm produzierten Text verschwinden. In Pierre Garniers Konzept des Spatialismus erscheint der Dichter daher nicht mehr als Inspirierter, sondern als Produzent und Handwerker: „Le poète n’est plus l’inspiré, il est le constructeur : pour lui l’esthétique rejoint la technique.“515 Das soeben erläuterte Paradox vermag auch Gappmayr mit ihrem Erklärungsversuch nicht zu lösen: Weshalb verwendet Pierre Garnier also die psychologisch konnotierte Handschrift für seine spatialistischen Texte? Dies mag zum einen mit der poetischen Tradition in Frankreich zu tun haben. Garnier bezeichnet seine Texte immer als poèmes. Er sieht sich als französischen Dichter, der dem Poetischen mit den neuen sprachlichen und formalen Mitteln des Spatialismus nachgeht. Das Lyrische ist für ihn kein Widerspruch zu einem radikal neuen Konzept dessen, was Dichtung in den 60er Jahren in Frankreich sein kann. Das Handschriftliche befreit den

512 Pignotti/Stefanelli (1980), S. 160. 513 Gomringer/Krüger (2010), S. 39. 514 Gappmayr (2004), S. 202. Der enge Zusammenhang zwischen Gedanken und schriftlicher Fixierung war für Vincenzo Accame ausschlaggebend bei seiner Entscheidung für die Handschrift: „m’interessa la scrittura manuale ovvero il rapporto esistente tra il gesto di scrivere e l’ogetto scritto che è di tipo mentale […]; m’interessa particolamente il passagio dalla fase mentale del pensiero alla scrittura sul foglio di carta. […] il pensiero si traduce in un segno grafico.“ Accame (1998), S. 58f. Vgl. hierzu auch Ugo Carregas Gedicht La mano liberata (1978), in dem ein direkter Zusammenhang zwischen La Mente und La Mano hergestellt wird, und Ana Hatherlys Mapas da imaginação e da memória (1972). 515 Garnier (1968), S. 12.

Handschriftliche Gedichte



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Dichter von seiner Anonymität. Die Handschrift umgeht auf subtile Weise die Distanziertheit und Unnahbarkeit einer objektivierten Sprache.516

Der Vorzug, den Pierre Garnier vor allem in seinen späteren Werken der handschriftlichen Realisierung gibt, lässt sich auch anders begründen: Durch die Individualität der jeweiligen Handschrift wird die Materialität der Schrift besonders hervorgehoben. Es gehören ja nicht alle Buchstaben einem einzigen Schrifttypus an, wie dies bei der Schreibmaschine der Fall ist. Somit kommen handschriftliche Texte dem primären Ziel der Konkreten Poesie – der Konkretisierung des eingesetzten Materials – nach. Handschriftliche Gedichte stellen damit „eine Reaktion gegen den stereotypen Konservierungsmechanismus der gedruckten Sprache“517 dar. Der Lesevorgang gestaltet sich hier als ein (mehr oder weniger mühevolles) Entziffern. Dies beinhaltet eine implizite Sprach- bzw. Schriftkritik: Die Handschrift lässt sich deuten „als Auflehnung gegen die sprachliche Reglementierung, als Protest gegen die normierte Druckschrift, die den reibungslosen Ablauf der routinierten Lektüre gewährleistet“518. Durch die erschwerte ,Lektüre‘ – eine handschriftliche Poesie widersetzt sich zwar der flüssigen Lektüre, unterbindet diese jedoch nicht prinzipiell – wird die Aufmerksamkeit des Lesers unweigerlich auf den materialen Aspekt der handschriftlichen Zeichen gelenkt. Außerdem steht dem handschriftlich arbeitenden Dichter ein größeres Zeichenrepertoire zur Verfügung, denn er ist ja nicht – wie bei der Schreibmaschine – auf Buchstaben, Interpunktionszeichen, Ziffern oder einige wenige Sonderzeichen beschränkt. Eine letzte Eigenschaft der Handschrift ist im Rahmen einer intermedialen Dichtung von besonders großer Bedeutung: Weit mehr noch als die konventionalisierte Schrift nähert sich die Handschrift einer pikturalen Darstellung, oder anders ausgedrückt: Jede Handschrift basiert auf tradierten Bildelementen. Die im Folgenden vorgestellten Beispiele lassen sich daher zu Recht als Schrift-Bilder bezeichnen. Nicht zuletzt auch hierin dürfte die Attraktivität einer handschriftlichen Fixierung für einzelne – wie gesagt nicht alle – Dichter der Konkreten Poesie bestanden haben: Die Handschrift ist das Zwischenfeld zwischen Sprache [sic. Schrift; B.N.] und Bild, wo sich beide Ausdrucksmedien zu gleichen Teilen treffen. Die Individualität der schreibnerischen Gestaltung konventionalisierter Sprachzeichen [sic. Schriftzeichen; B.N.] trägt immer bildnerisch-expressiven Charakter […]. […] Die handschriftlich grafische Fixierung der Worte ist die reinste und engste Mischform zwischen Sprache [sic. Schrift; B.N.] und Bild […].519

Wie bereits vorweggenommen, stammen mehrere Sammlungen handschriftlicher Texte von Pierre Garnier. Drei im Folgenden analysierte Beispiele sind den Poèmes géomé516 517 518 519

Gappmayr (2004), S. 202. Vgl. auch Spatola (2008), S. 68f. Franzobel (1994), S. 171. Weiss (1984), S. 196. Weiss (1984), S. 191. Vgl. hierzu auch Hapkemeyer (1988), S. 10: „Mit den von Hand gesetzten Schriftzeichen erfolgt eine erste Annäherung in Richtung auf die Zeichnung bzw. die jenseits der Sprache liegenden Texte, die am anderen Ende der Skala stehen.“

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Skriptural-pikturale Intermedialität

triques (1986) entnommen. Sie alle weisen ein gemeinsames Merkmal auf: „Die geometrischen Gedichte verbinden kurze Untertitel mit einfachsten […] geometrischen Figuren – Rechtecken, Quadraten, Kuben oder Geraden.“520 Die größte Schwierigkeit, die diese Gedichte dem Rezipienten bereiten, und die größte Herausforderung, die sie damit zugleich für ihn darstellen, bestehen darin, die geometrischen Figuren in Verbindung zu den skripturalen Elementen zu setzen. Ob Penzkofers Urteil, das davon ausgeht, dass „die Untertitel als fragwürdige ‚subscriptiones‘ [suggerieren], was die ‚pictura‘ nicht einlöst“521, zugestimmt werden kann, wird sich später zeigen. Zunächst scheint es mir allerdings illegitim zu sein, im Hinblick auf die Poèmes géométriques die Begriffe subscriptio – wenn auch einer fragwürdigen – und pictura zu verwenden, zumal es sich dabei um eine Übertragung der Terminologie aus dem Bereich der Emblematik auf spatialistische Texte handelt, obwohl beide sich prinzipiell unterscheiden: Ein Emblem weist (idealtypischerweise) eine Dreiteilung in inscriptio, pictura und subscriptio auf, wobei die inscriptio und die subscriptio dem Bereich der Skripturalität angehören und die pictura dem der Pikturalität. Zwischen verbalen und visuellen Anteilen besteht dabei ein Kausalzusammenhang: Die inscriptio gibt in manchen Fällen nur eine Beschreibung des Abgebildeten, häufiger eine aus dem Bilde abgeleitete Devise oder knappe Sentenz, eine sprichworthafte Feststellung oder ein lakonisches Postulat. Unter der pictura schließlich erscheint die subscriptio, die das im Bilde Dargestellte erklärt und auslegt und aus dieser Bildbedeutung häufig eine allgemeine Lebensweisheit oder Verhaltensregel zieht: zumeist ein Epigramm von unterschiedlicher Länge, an dessen Stelle in manchen Emblembüchern aber auch ein Prosatext von größerem Umfang tritt.522

Pierre Garniers Untertitel in den Poèmes géométriques weisen im Unterschied zur subscriptio im Emblem keinen explizierenden Charakter auf, sondern stellen Denkanstöße dar, die als kleine Hilfestellung bei der subjektiven Lektüre eines jeden Rezipienten zu werten sind. Auf diese Weise ist die Leserlenkung jedoch minimiert. Insofern ist es durchaus konsequent, dass den in der größtenteils kommentierten Anthologie Le Spatialisme en chemins (1990) abgedruckten Beispielgedichten aus den Poèmes géométriques kein Selbstkommentar des Autors hinzugefügt wurde. Der erste Text,523 der hier analysiert werden soll, zeigt ein Rechteck, das durch eine Linie in zwei ungleiche Teile geteilt ist:

520 521 522 523

Penzkofer (2007), S. 211. Penzkofer (2007), S. 211. Schöne (31993), S. 19. Garnier (1986), o. S.

Handschriftliche Gedichte



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Abb. 34  Pierre Garnier, arbre avec idée d’arbre (1986)

Zunächst fällt auf, dass alle Linien in diesem Gedicht ohne Lineal gezogen und die skripturalen Elemente handschriftlich realisiert wurden. Pierre Garnier ging es anscheinend darum, weder eine Schreibmaschine noch ein Lineal als Hilfsmittel bei der Produktion dieses Textes zu verwenden. Dadurch erscheint der „Dichter von seiner Anonymität“524 befreit, und seine subjektive Ausdrucksweise wird vorgeführt. Auch in diesem Gedicht stellt sich die Frage nach dem Verhältnis der geometrischen zu den schriftlichen Anteilen. Zunächst ist jedoch klar, dass Pierre Garnier mit dem Begriff „idée“ im Untertitel dieses Textes implizit auf die platonische Ideenlehre verweist, die im Höhlen-, Sonnen- und Liliengleichnis erläutert wird. Nach dieser Lehre haben die Gegenstände der Sinnenwelt (in diesem Fall ein Baum) im Verhältnis von Abbild zu Urbild an der Ideenwelt (in diesem Fall der Idee des Baumes) teil. Konkret auf den vorliegenden Text angewandt hieße das, dass der Baum erst und nur durch seine méthexis an der Idee des Baumes ins wahre Sein überführt wird. Garniers Text stellt aber nicht einfach eine mit spatialistischen Mitteln realisierte Illustration der platonischen Ideenlehre dar, sondern problematisiert diese zugleich  – wenn auch auf implizite Art und Weise. Erstens ist die noetische Welt der Ideen nach der platonischen Lehre der sinnlich wahrnehmbaren Welt vorgeordnet  – bei Garnier erscheint der Begriff „arbre“ aber vor der „idée d’arbre“ –, und zweitens entspricht nach dieser Lehre das Verhältnis von Gegenstand zu Idee demjenigen von Nachbildung zu Urbild. In Garniers Gedicht ist das kleine Rechteck jedoch vertikal angeordnet und das große horizontal, wodurch beide sich augenscheinlich voneinander unterscheiden. Außerdem gehen hier die Idee und der Gegenstand in einer Einheit (großes Rechteck) auf, während in der platonischen Lehre die Ideen, die natürlich unsichtbar und nur durch den Verstand zu schauen sind, über der Sinnenwelt stehen, weil sie sich von dieser kategorial unterscheiden.

524 Gappmayr (2004), S. 202.

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Skriptural-pikturale Intermedialität

Schon die Analyse dieses Gedichtes lässt keinen Zweifel an Penzkofers Einschätzung: „Die poésie spatiale wird zur Reflexions- und Meditationskunst, die sich auf eine abgründige kulturelle Tiefe bezieht.“525 Dieser Befund wird durch das folgende Gedicht526 weiter bestätigt:

Abb. 35  Pierre Garnier, l’eau pense (1986)

Hier ist eine gebogene Linie mit den Wörtern „l’eau pense“ unterschrieben. Auf diese Weise semantisiert Garnier die ansonsten asemantische Linie und auch den sie umgebenden weißen Raum und verleiht ihnen dadurch eine Art eigene Sprache. Die nichtsprachlichen Elemente werden so neben ihrer geometrischen Form zu Sinnangeboten für den Rezipienten: „Der Text ‚L’eau pense‘ verändert nicht die visuelle Realität der Linie, aber er verleiht ihr einen Kontext.“527 Die gebogene Linie erscheint konkretisiert als Wasseroberfläche und der Raum zwischen dieser Linie und den schriftlichen Elementen als das Wasser unter dieser, das Garnier mit dem Begriff ,eau‘ explizit benennt. Im Gedicht lassen sich drei komplementäre Komponenten ausmachen: „Die Linie als visuelle Manifestation des Raumes, der Begriff des Wassers als gedankliche Realität einer spezifischen Oberfläche, Farbe und Materialitä sowie der Begriff des Denkens.“528 Dass Garnier dem Wasser ungewöhnlicherweise eine spezifisch menschliche Eigenschaft, nämlich die Fähigkeit des Denkens, zuordnet, eröffnet dem Leser einen großen Interpretationsspielraum, wobei sich die subjektive Interpretation – angeregt durch die explizite Thematisierung des Wassers – erneut als eine Art Meditation gestalten wird: Das denkende Wasser erscheint in diesem Text ja als „Moment der Stille“529. Die absolute Reduktion in diesem Gedicht auf eine Linie und drei bzw. zwei Wörter stellt die Realisierung einer von Garniers primären Zielsetzungen dar: „Je pense à une 525 526 527 528 529

Penzkofer (2007), S. 211. Garnier (1986), o. S. Gappmayr (2004), S. 261. Gappmayr (2004), S. 262. Gappmayr (2004), S. 262.



Handschriftliche Gedichte

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poésie de signes qui permettrait à l’esprit de retrouver son activité.“530 Erst die Reduktion auf ein Minimum an Zeichenmaterial fordert den Leser zur maximalen Aktivität und Eigenleistung heraus. Abgeschlossen werden soll die Reihe der Beispielgedichte aus den Poèmes géométriques mit einem Text, der der Sprachreflexion gewidmet ist, und zwar nicht auf einer philosophisch abstrakten Ebene, sondern einer anschaulich konkreten:

Abb. 36  Pierre Garnier, le mot „et“ (1986)

Wieder haben wir es mit dem Zusammenwirken  – oder besser Aufeinandertreffen  – zweier unterschiedlicher Zeichensysteme zu tun: In diesem Gedicht ist wieder ein geometrisches Element (eine unterbrochene Linie bzw. konkreter der Ausschnitt einer Geraden, die an einer Stelle unterbrochen ist) mit skripturalen Elementen („le mot ‘et‘“) verknüpft, und erneut erfährt das geometrische Element durch die textlichen Anteile eine Semantisierung oder Konkretisierung, denn durch die mittige Anordnung des Untertitels legt Pierre Garnier die Annahme nahe, es handle sich bei der weißen Lücke in der horizontalen Linie um eine Visualisierung der Konjunktion ,et‘. Hierdurch verleitet Garnier zu einer Reflexion über die Bedeutung dieser Konjunktion. Sie und ihre visuelle Entsprechung stimmen vor allem in einem Punkt überein: „Das und ist semantisch gewissermaßen unsichtbar“531 – ebenso wie die Linie an der Stelle der Unterbrechung. Im gewöhnlichen Sprachgebrauch dient ,et‘ im Rahmen einer Beiordnung als Verbindungsglied zwischen zwei Elementen. In dieser Funktion geht es vollkommen auf, im Gegensatz hierzu wird es als Wort – sei es in semantischer oder materialer Hinsicht – kaum oder gar nicht wahrgenommen. Normalerweise liegt das Interesse auf Seiten der Aufzählungselemente, nicht aber auf deren grammatikalischer Verknüpfung. Pierre 530 Garnier (1986), o. S. 531 Gappmayr (2004), S. 198.

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Skriptural-pikturale Intermedialität

Garnier macht in seinem Gedicht gerade auf den Eigenwert des kleinen Wörtchens ,et‘ aufmerksam, und zwar sowohl im Untertitel durch die explizite Nennung als auch im oberen Teil, denn wäre da nicht die Verbindung durch das ,et‘, so würden aus dem unterbrochenen, gegen die Unendlichkeit strebenden Ausschnitt einer Geraden plötzlich zwei unterschiedlich lange Linien werden, die in gewissem Abstand horizontal nebeneinander angeordnet sind. Mithilfe des erweiterten Textbegriffes können wir die Gerade als einen Satz deuten. Ihre Horizontalität korrespondiert mit der Linearität eines Satzes. Auf diese Weise könnte der Dichter implizit darauf aufmerksam machen, dass die Konjunktion ,et‘ in ihrer Bedeutung für das Zustandekommen einer erfolgreichen Kommunikation nicht unterschätzt werden sollte: „Und hat semantisch gesehen eine wichtige Funktion, es steht für Aneinanderreihung.“532 Erst diese Konjunktion ermöglicht es, zwei Elemente als Einheit verbunden auszusprechen und zu denken. Analog erscheinen die beiden Teilstücke der Linie dem Rezipienten durch ,et‘ verbunden. In allen drei Beispielen aus den Poèmes géométriques wirken Sprache und Bild auf die Art und Weise zusammen, dass die schriftlichen Elemente die Bedeutung der an sich sinnfreien geometrischen Elemente dahingehend ändern, dass sie diese überhaupt erst semiotisch aufladen und damit zugleich konkretisieren. Eine Semantisierung oder Konkretisierung findet auch im nächsten Beispiel aus der Feder Pierre Garniers statt:

Abb. 37  Pierre Garnier, ohne Titel (2003)

532 Gappmayr (2004), S. 198.



Handschriftliche Gedichte

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In diesem Gedicht werden Wellenbewegungen durch die Anordnung von handgezeichneten Punkten auf der Papierseite, die Ähnlichkeiten zu zwei Sinuskurven aufweist, und den sprachlichen Indikator „LES VAGUES“ angedeutet. Das Thema der Wellen – ebenso wie das des Meeres – ist ein häufiges Motiv in Pierre Garniers poetischem Werk. Im vorliegenden Text tritt Garniers Konzept einer Syntax der Fläche, einer Toposyntax, deutlich hervor. Die Methode, durch Punkte Gegenstände abzubilden, erinnert stark an Malbücher für Kinder, in denen Punkte durch Linien verbunden werden müssen, um Bilder zu erzeugen. Der sprachliche Indikator könnte den Betrachter dazu verleiten, in der Anordnung der Punkte nur Wellenbewegungen zu erkennen, jedoch besteht in diesem Text eine bedeutsame Ambiguität: Die Anordnung der Punkte lässt sich nämlich nicht nur als eine Nachbildung von Wellen deuten, sondern auch als zwei deckungsgleiche (leicht unregelmäßige) Rauten. In diesem Fall würde dieses Gedicht einen Anklang an das Verfahren, das Pierre Garnier bereits in den Poèmes géométriques (1986) eingesetzt hat, enthalten: Einfache geometrische Figuren werden mit einfachen skripturalen Elementen unterschrieben und partizipieren auf diese Weise an der Ebene der Semantik. Im Falle der beiden rautenähnlichen Figuren wäre das Verhältnis zwischen Bild und Text dergestalt, dass zwischen beiden keine Verbindungsglieder zu bestehen scheinen. Auf diese Weise könnte Garnier implizit die Frage nach dem Verhältnis von Bild und Text stellen ebenso wie durch die Ambiguität die Frage nach dem Verhältnis von Wahrnehmung und Realität. Zu deuten sein könnte dies als eine – vor allem von Jochen Gerz zur Perfektion gesteigerte – „Verweigerung der Bilder an die Betrachtung […]: [als] eine deutliche Absage an den Mechanismus von Abbildung und Wiedererkennung im Kommunikationsprozeß zwischen Bild und Betrachter.“533 Das vorliegende Beispiel verdeutlicht, wie weit die Reduktion des Zeichenmaterials im Spatialismus getrieben werden kann: Das Gedicht besteht ja lediglich aus acht Punkten und zwei Wörtern. Was die skripturalen Zeichen betrifft, so könnte es zunächst befremdlich wirken, dass hier ausschließlich Majuskeln erscheinen, während in der Konkreten Poesie allgemein die Kleinschreibung – vor allem von Eugen Gomringer für seine Konstellationen  – stark bevorzugt wurde. Im Ergebnis stimmen beide Vorgehensweisen jedoch in wichtigen Punkten überein, denn solange die Groß- oder Kleinschreibung konsequent durchgehalten wird, erfolgt eine Reduktion des Zeichenmaterials, worauf es schließlich maßgeblich ankommt. Außerdem wird in beiden Fällen jede Hierarchisierung – sowohl zwischen Wörtern als auch innerhalb von Wörtern – vermieden. Stattdessen stehen im vorliegenden Gedicht die verschiedenen Elemente (bestimmter Artikel und Substantiv) gleichwertig nebeneinander. Ebenso besteht in diesem Text auch keine Hierarchisierung zwischen den pikturalen und den skripturalen Zeichen, die gleichermaßen an der Sinnkonstitution beteiligt sind. Neben Pierre Garnier hat auch der Italiener Vincenzo Accame zahlreiche handschriftliche Gedichte verfasst. Accame „inizia a percorrere la via dell’illeggibile, asseg­ nando un nuovo ruolo alla scrittura verbo-visuale attraverso un nuovo modo di concepire 533 Weiss (1984), S. 160.

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Skriptural-pikturale Intermedialität

la ‘manualità del segno’“534. Nach Weiss repräsentiert sein Werk sogar die „größte Variationsbreite von Schrift-Arbeiten“535. Auch auf theoretischem Wege hat sich Accame – anders als Pierre Garnier – ausführlich mit der handschriftlichen poetischen Produktion auseinandergesetzt: bellezza, libertà, piacere di svolgere tutte le varianti personali della scrittura a mano […] mille varianti e mille libertà spaziali di orientare le catene di segni in ordine ascendente o descendente, e anche di sovrapporle, di utilizzare gli intervalli, i margini, entrano in gioco, fra l’altro, le differenze di inchiostri e di strumenti scritturali: penne più sottili o più grosse, con i conseguenti effetti sul ductus: tutti i piaceri estetici della scrittura nella sua materialità finalmente ostentati, e la legge del taglione applicata su chi ha dominato fino a ieri, sul significato: non proprio abolito, ma almeno rimosso, indefinitamente allontanato.536

Die Vorzüge, die Accame hier der Handschrift gegenüber anderen Arten der schriftlichen Fixierung zuschreibt, sind zunächst ihr ästhetischer Wert und die absolute Freiheit, die sie dem Künstler gestattet. Außerdem ermögliche sie unzählige Variationsmöglichkeiten sowohl hinsichtlich der individuellen Ausprägung als auch hinsichtlich der Flächennutzung auf dem Papier. Zum Schluss nennt Accame einen wesentlichen Vorteil der Handschrift, der mir auch bei Garnier entscheidend zu sein scheint: In der Fixierung von Texten mittels der Handschrift tritt die Materialität von Schrift in den Vordergrund und damit zugleich das Signifikat, die Inhaltsseite des Zeichens, in den Hintergrund. Im folgenden Beispiel537 aus der Feder Accames ist dies besonders offensichtlich, denn bei der hier vorgeführten ,Handschrift‘ handelt es sich zunächst um frei erfundene asemantische pseudo-skripturale Elemente, die der Dichter jedoch auf unterschiedliche Weise semantisiert. Nichtsdestoweniger steht der ästhetische Wert dieser Zeichen, ihre pikturale Ausdrucksqualität, im Vordergrund. Abb. 38  Vincenzo Accame, récit (1976)

534 535 536 537

Accame (1998), S. 9. Weiss (1984), S. 196. Barilli (1977), S. 13. Accame (1976), S. 77.



Handschriftliche Gedichte

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Zunächst sieht sich der Leser/Betrachter hier einem Durcheinander von Zeichen, die trotz ihrer Nicht-Lesbarkeit an Schrift erinnern, sowie einigen wenigen maschinengeschriebenen Wörtern und Wortfragmenten gegenüber. Am treffendsten ließe sich dieses Phänomen wohl mit dem von Accame selbst geprägten Begriff der „scrittura visuale“538 bezeichnen. Die handschriftlichen Zeichen erwecken aus mehreren Gründen den Eindruck von Schrift: Das liegt zum einen an der Zusammenfügung einzelner Zeichen zu Zeichenkomplexen, die graphische Äquivalente zu Wörtern darzustellen scheinen, und zum anderen an ihrer Anordnung auf der Papierseite. Man kann dies zu Recht als einen „gestischen Text“539 und ein „linguaggio figurale“540 bzw. genauer eine scrittura figurale auffassen, der sich – ebenso wie Martino Obertos off-language-Texte541 – der gewöhnlichen Beschreibungs- und Mitteilungsfunktion von Schrift widersetzt. Die Textur der handschriftlichen Zeichen löst sich nicht einfach zur diskursiven Mitteilung auf. Der schriftähnliche Eindruck wird von Accame durch zwei weitere Aspekte begünstigt bzw. verstärkt, nämlich den Titel „récit“, der einen mittels Schrift realisierten Diskurs erwarten lässt, und die mit der Schreibmaschine getippten Wörter und Wortfragmente (beispielsweise „era come“, „in successione“, „ancora una introspezione“ etc.), die jedoch im mittleren und im unteren Teil aufgrund von Überlagerungen nicht lesbar sind. Auch Accame nutzt also ein bereits erläutertes beliebtes Verfahren der Konkreten Poesie, nämlich die Überführung eines Textes in die Unlesbarkeit. Auch hier haben wir es mit einer „Verweigerung des Textes an die Lesbarkeit“542 zu tun. Auch die entzifferbaren skripturalen Elemente lassen sich nicht einfach zu einem sinnvollen récit zusammenfügen, sondern der Rezipient muss diesen für sich „kontemplativ-subjektiv erschließen“543 – eben in Form einer introspezione. Dieser Begriff nimmt nicht ohne Grund eine zentrale Position im Text ein. Der Diskurs entsteht also aus einer Kombination der Wortsemantik mit der subjektiv aufgespürten ,Semantik‘ der schriftähnlichen graphischen Zeichen und ist sowohl skripturaler als auch visueller Diskurs. Accame bleibt so einer seiner grundsätzlichen Zielsetzungen treu, indem er nämlich lesbare mit nicht-lesbaren Zeichen vereint: „Il significato del mio lavoro va cercato tra ciò che è leggibile e ciò che non è leggibile“544 – heißt es in seinem Manifesto della Nuova Scrittura (1975). Ähnlich wie Garnier in den Poèmes géométriques kombinierte auch Jochen Gerz in seinem Gedicht wort545 ein skripturales mit einem einfachen geometrischen Element:

538 539 540 541 542 543 544 545

Accame (1998), S. 15. Vgl. Nickel (2011b), S. 85ff. Weiss (1984), S. 196. Accame (1998), S. 10. Abdruck mehrerer Gedichte in Giannì (1986), S. 53f. Weiss (1984), S. 160. Weiss (1984), S. 197. Accame (1998), S. 36. Gerz (1973), S. 54.

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Skriptural-pikturale Intermedialität

Abb. 39  Jochen Gerz, wort (1973)

Mit auf ein absolutes Minimum reduzierten Mitteln kam Jochen Gerz in diesem Text einem der Hauptanliegen der Konkreten Poesie nach, es handelt sich nämlich um „eine Minimalform der Sprachreflexion: das Wort als Mittel des Ausdrucks durch Sprache“546. Das Gedicht besteht nur aus dem Begriff „wort“ und einer handschriftlich – und dementsprechend ungerade gezogenen – Linie. Der Begriff, der zunächst völlig isoliert aus jedem syntaktischen Kontext auf der Papierseite erscheint, erinnert stark an die futuristische Forderung nach den parole in libertà, und zwar nicht nur wegen der Isolierung des Wortes. Den italienischen Futuristen um Marinetti ging es ja nicht nur um Herauslösung des einzelnen Wortes aus einem syntaktischen Kontext, sondern auch um eine Hervorhebung des einzelnen Wortes durch den Einsatz unterschiedlicher Schrifttypen und -größen, wodurch dem Wort ein stark emotionaler Wert verliehen werden sollte. Natürlich stellt der isolierende Umgang mit Wörtern eine besondere Herausforderung für den Leser dar, der, „so wie er es durch den alltäglichen Sprachgebrauch kennt, einen größeren Kontext sucht, sei es ein Satzgefüge oder ein außersprachlicher Sinnzusammenhang“547 – beides sucht er in wort vergeblich. Gerz hat für seinen Text nicht eine nüchterne Darstellung mittels Schreibmaschine, sondern die Handschrift gewählt. Auf diese Weise konnte er besonders effektiv auf die Materialität des Begriffes „wort“ aufmerksam machen. Hinzu kommt die autoreflexive Funktion dieses Begriffes: Das aus jedem sprachlichen Zusammenhang gelöste „wort“ in Gerz’ Gedicht verweist auf keine außersprachliche Realität, sondern ausschließlich auf sich selbst. Die übliche Repräsentationsfunktion skripturaler Zeichen wurde hier von einer Präsentationsfunktion verdrängt. Verstärkt wird dies dadurch, dass sich unter dem Begriff „wort“ eine horizontale Linie befindet, die diesen zu unterstreichen scheint, auch wenn sie die Länge des Begriffes zu beiden Seiten überschreitet. Die ,Überlänge‘ der Linie könnte auf eine weitere sprachimmanente Bedeutungsdimension verweisen: Die horizontale Linienführung könnte ein visuelles Pendant der Linearität von Schrift darstellen. Insofern erschiene der Begriff „wort“ in Gerz’ Gedicht dann doch nicht vollkommen isoliert. In jedem Fall wäre somit implizit auf eine der wichtigsten Bedingungen für das

546 Weiss (1984), S. 155. 547 Gappmayr (2004), S. 205.



Bleisatz-Gedichte

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Funktionieren schriftlicher und natürlich auch sprachlicher Kommunikation verwiesen, nämlich die Linearität von Schrift und Gedankengang. Neben bzw. auch zusätzlich zum Gebrauch der Handschrift nutzte Gerz in seinen Gedichten ein weiteres Verfahren, um die Materialität der eingesetzten Schriftzeichen hervorzuheben, nämlich die Spiegelschrift.548 In diesem Fall ist der Leser dann noch mehr mit der Entzifferung des Textes beschäftigt als in handschriftlichen Gedichten, die sich – je nach Ausprägung der individuellen Handschrift – immer auch im Spannungsfeld zwischen Lesbarkeit und Unleserlichkeit befinden. Laut Jochen Gerz zügele die Spiegelschrift „die Geilheit der Worte, gelesen zu werden“549. Der Lesevorgang muss sich hier weitgehend entautomatisiert gestalten, und das gewohnte Referenzsystem des Rezipienten ist wortwörtlich durcheinander gebracht, hier wird bewusst gegen die Lesegewohnheiten der Rezipienten gearbeitet: „le système de référence habituel est bouleversé.“550 Das liegt nicht zuletzt auch daran, dass durch die Spiegelschrift der visuelle Wert, den Schrift per se besitzt, erheblich gesteigert werden kann, indem sie Schrift in ihrer Pikturalität vorführt:551 Schrift „ist in starkem Maße auch ,Bild‘, wobei der bildhafte Charakter durch die linksläufige Schreibweise hervorgehoben wird. Nicht-lesbare Schrift wirkt fremdartig, herausfordernd.“552 Letzteres muss allerdings dahingehend korrigiert werden, dass Spiegelschrift – ebenso wie herkömmliche Schrift – prinzipiell lesbar ist, der Entzifferungsprozess sich hier nur erheblich schwieriger und darum langwieriger gestaltet.

2.4 Bleisatz-Gedichte Hauptsächlich erfolgte die drucktechnische Umsetzung poetischer Produkte nach 1945 in drucktechnischer Hinsicht mittels des Bleisatzes, der auf dem durch Johannes Gutenberg entwickelten Druck mit beweglichen Lettern basiert. Die unterschiedlichen Bleisatzarten oder Satztechniken brauchen hier nicht erläutert zu werden. An dieser Stelle ist vor allem wichtig, dass sich die Bleisatztexte in einer wesentlichen Hinsicht sowohl von den bisher vorgestellten Schreibmaschinen- und Computertexten als auch von den danach in den Blick genommenen handschriftlichen Texten unterscheiden: Sie setzen eine grundsätzliche Trennung des kreativen Schöpfungsaktes und der materialen drucktechnischen Realisierung voraus. Der Dichter benötigt hierfür notwendigerweise einen Setzer. Somit gehen die Aspekte der Geschwindigkeit und der Unmittelbarkeit verloren. Außerdem büßt ein Dichter, der sich für den Bleisatz entschieden hat, einiges

548 Viele Beispiele für den Einsatz der Spiegelschrift in Gerz (1976) und Gerz (1980). Auch von Vincenzo Accame stammen spiegelschriftliche Gedichte. Eines von ihnen trägt bezeichnenderweise den Titel Specchio (1974). Abdruck des Gedichts in Accame (1998), o. S. 549 Gerz, in Haenlein (1978), S. 17. 550 Garnier (1968), S. 23. 551 Besonders viele solcher handschriftlichen Bilder stammen beispielsweise von Vincenzo Accame und Gerhard Rühm. 552 Weiss (1984), S. 160.

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Skriptural-pikturale Intermedialität

an Dynamik seines Textarrangements ein. Hiervon wird die Rede sein, wenn es um eine Alternative zum Bleisatz, nämlich den Lichtsatz, geht. Wie bereits bei den Schreibmaschinentexten ausgeführt, ging es den Dichtern Konkreter Poesie nicht nur um den Befreiungsakt des Wortes, sondern prinzipiell jedes eingesetzten Zeichens, welchem Zeichensystem es auch immer entstammen mochte. Nach dem Wort war zunächst der Buchstabe das Objekt der Faszination. Auch im Bleisatz entstanden daher zahlreiche Letterntexte. Besonders eindringlich ist der Befreiungsakt des Einzelbuchstabens immer dann, wenn der Buchstabe verändert erscheint, wie beispielsweise in A Poster-Poem (1965)553 von Aram Saroyan. Der Titel wurde vom Dichter natürlich nicht willkürlich gewählt, sondern entspricht einer allgemeinen Tendenz, die Clüver zu Recht wie folgt beschrieben hat: „in the Concrete phase the poem had a tendency to leave the page. It became a poster, a billboard text, was found on sidewalks or on huge inflated pillows.“554 Den konkreten Dichtern war ja prinzipiell an einer Überwindung des Buches als Medium und Repräsentationsform ihrer Dichtung gelegen. Ihre Gedichte sollten der breiten Öffentlichkeit vorgeführt werden. In dieser Hinsicht zeigt sich die Konkrete Poesie stark vom Dadaismus beeinflusst.555

Abb. 40  Aram Saroyan, A Poster-Poem (1965)

Der kleingeschriebene Buchstabe m – dies entspricht einer bereits erläuterten Vorliebe der konkreten Dichter – erscheint hier leicht verfremdet. Dadurch ist ein aufmerksames Betrachten nötig, ein genaues Hinschauen. Das war ja gerade eines der Ziele der Konkreten Poesie. Der Leser wird hier den Buchstaben m unterstellen, an den rechts ein weiterer Bogen angehängt ist. Die Verfremdung genügt also nicht, um den bekannten Buchstaben unkenntlich zu machen, sie reicht aber dennoch aus, um die Zeichenfunktion, nämlich 553 Williams (1967), o. S. 554 Clüver (2000), S. 49. Auch Pierre Garnier trägt dieser Tendenz in der folgenden Sammlung Rechnung: Prototypes. Textes pour une architecture (1965). Viele poster-poems sind auch in Noigandres 4 (1958) abgedruckt. Die poster-poems in der Dichtung nach 1945 stehen in der Tradition der poèmes affiches der Avantgarden (z.B. bei Blaise Cendrars und Raoul Hausmann). Besonders viele Postergedichte stammen von Ferdinand Kriwet. Zwei sind in Solts Anthologie abgedruckt: Visual Text XIV und Publit: Poem Painting 43. In Solt (1970), S. 127f. 555 Vgl. Krüger (2004), S. 91.



Bleisatz-Gedichte

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Buchstabe des lateinischen Alphabets zu sein, erheblich zu stören. Der Buchstabe hat sich durch die Erweiterung um eine Bogenlinie in ein zunächst asemantisches pikturales Zeichen verwandelt, das eine große Ähnlichkeit zu einem Buchstaben des lateinischen Alphabets aufweist. Daraus wird notwendigerweise eine Irritation des Lesers resultieren, die zu einer Hinterfragung des Bekannten und bis dato Nicht-Hinterfragten führt. Das Poster-Poem zielt somit auf die Einsicht in die Willkür bezüglich Buchstabenkonventionen: „Die Beziehung zwischen der Materialität von Zeichenträgern und der abstrakten Zeichenfunktion wird hier im Grenzbereich zwischen Schrift und Bild getestet […].“556 In einer weiter gefassten Perspektive könnte das Gedicht auch auf die Abhängigkeit des Menschen von konventionalisierten Zeichen hinweisen, die er dazu braucht, um sich in der Welt zurechtzufinden. Bei Saroyan wird der Buchstabe bzw. ein buchstabenähnliches Zeichen als ein architektonisches Gebilde vorgeführt, das bestimmte Assoziationen nahelegt: „Der zusätzliche Bogen, der fette Schnitt und die extremen Serifen führen zu einer Ähnlichkeit mit einem Säulengang oder mit Kirchenfenstern.“557 Vor allem die Wahl der Antiqua-Schrift begünstigt diese Assoziationen. Auffallend ist diese Wahl deshalb, weil die konkreten Dichter bei weitem Groteskschriften, also serifenlose Schrifttypen, bevorzugt haben.558 Wie bereits erläutert, strebten die meisten Dichter der Konkreten Poesie ja nach einer möglichst objektiven und nüchternen typographischen Präsentation ihrer Gedichte. Mag man auch die durch die Typographie begünstigten Assoziationen mit Säulengängen oder Kirchenfenstern als zu spekulativ zurückweisen, so fällt dennoch auf, dass das Gebilde im Vergleich mit dem Buchstaben m durch die zusätzliche Bogenlinie quadratisch geworden ist. Es handelt sich dabei nicht nur um die in der Konkreten Poesie bevorzugte geometrische Form, sondern auch um eine in sich abgeschlossene Form. Letzterer Aspekt könnte darauf verweisen, dass Saroyens quadratischer ,Buchstabe‘ sich regelrecht dagegen zu wehren scheint, in eine Buchstabenkombination eingezwängt zu werden. Das neu entstandene Gebilde besitzt zweifelsfrei den Status einer selbstgenügsamen Entität, und zwar gerade wegen der extremen Reduktion, die im Gedicht vorherrscht und die auch hier einen großen Interpretationsspielraum bewirkt: „Despite (or perhaps because of ) its minimalist aesthetic, it is marvelously evocative.“559 Die Materialität der Zeichen spielt auch im nächsten Gedicht von Luigi Ferro, dem iconogram (1971),560 eine wesentliche Rolle. Hier erfolgt eine Art Bedeutungsverweigerung, denn auf dem Papier ist nur noch eine Sprachspur (Noch-nicht- oder Nicht-mehrSprache) vorzufinden. Wie bereits erläutert, war das Motiv der Auflösung von Schrift in der Konkreten Poesie sehr beliebt: „Man könnte den verschwindenden Text, die verschwindende Schrift als ein zentrales Thema der konkreten Poesie betrachten.“561 In Ferros Gedicht schlägt die Leseranstrengung bei der Suche nach einer skriptural vermittelten Aussage in eine Reflexion über Schriftzeichen und skripturale Kommuni556 557 558 559 560 561

Vollert (1999), S. 164. Vollert (1999), S. 68. Vgl. Vollert (1999), S. 73ff. Bohn (2005), S. 190. Abgedruckt in Klankteksten, konkrete poezie, visuele teksten (1970), o. S. Schmitz-Emans (1997), S. 206. Hervorhebung von der Autorin.

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kation um, denn hier ist die präsentierte Schrift – bis auf einige wenige Buchstaben – auch mit größter Mühe nicht mehr entzifferbar.562 Hier gehen Buchstaben ganz in ihrer ästhetischen Funktion auf, während ihre semantische Funktion gegen null tendiert: „Die Buchstaben werden mittels ihrer Gestalt und Formgebung als bildliche Mittel genutzt und präsentiert, nicht mehr als Zeichen mit einer Funktion im Schriftsystem.“563

Abb. 41  Luigi Ferro, iconogram (1971)

Das Entscheidende an Ferros Text ist dabei, dass der Leser trotz größter Anstrengungen keine Aussage herausarbeiten kann. Die Spuren, die der Dichter legt, reichen zwar aus, um beim Rezipienten den Eindruck von Skripturalität zu erzeugen, aber nicht, um die lesbaren Anteile einer Wortsemantik einzugliedern. Darüber hinaus handelt es sich um eine plakatähnliche Darbietungsform. Daher könnte eine mögliche Sinndeutung so lauten, dass besonders in den Massenmedien und der Öffentlichkeit die Sprache ihren Eigenwert verliert, indem sie ihrer Materialität beraubt wird. Die Sprache verschwindet hier ganz hinter der Mitteilungs- und Kommunikationsfunktion, mit anderen Worten: Es findet ein Missbrauch der Sprache statt. Darum präsentiert Ferro im vorliegenden Beispiel ausschließlich den materiell visuellen Aspekt der sich auflösenden Schriftzeichen. Nach Heißenbüttel sollen solche Gedichte schockartig deutlich machen, daß Sinn und Bedeutung, die einem geschriebenen oder gedruckten Text beigelegt werden, im Grunde in einer teils konventionellen, teils subjektiven Assoziationstätigkeit bestehen, die mit der Materialität dieser Schriftzeichen nur fragwürdig verbunden sind.564 Ist das Streben nach poetischer Universalität und internationaler Verständlichkeit schon in den zahlreichen Letterntexten, die nach 1945 entstanden sind, feststellbar, so ist dies 562 Vgl. hierzu auch die poetischen Arbeiten Franz Mons’ und Ignazio Gómez de Liaños. 563 Vollert (1999), S. 145. 564 Zitiert nach Weisstein (1992), S. 168f.



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in Zahlen-/Zifferngedichten ungleich stärker realisiert. Der gemeinsame Nenner von Buchstaben und Ziffern ist dabei der pikturale Ursprung, den eben auch Ziffern besitzen: „Dans le monde précolombien ce sont les nombres qui sont des figures.“565 Ziffern konnten nach der Konzeption der Dichter der Konkreten Poesie – ebenso wie Buchstaben – an der Textherstellung beteiligt sein. Ein praktisches Zeugnis hiervon legt ein Gedicht von Maurizio Spatola ab.566 Dieses spielt schon im Titel l as a language (o. J.) mit der nahezu identischen Gestalt der mit der Schreibmaschine geschriebenen Minuskel l und der Ziffer 1. Beide, der Buchstabe und die Ziffer, werden hier als gleichwertige Elemente der Sprache bzw. Schrift gedeutet. Das ganze Gedicht besteht aus einer Wiederholung des Buchstabens bzw. der Ziffer, wobei der Text als dieser Buchstabe bzw. diese Ziffer arrangiert ist. Auch in Richard Kostelanetz’ Gedicht Autobiography (o. J.)567 werden Ziffern und Buchstaben als austauschbar präsentiert, denn hier erscheint keine einzige Letter, sondern ausschließlich Ziffern. Diese bilden in der ersten Zeile des Gedichts Kostelanetz’ Geburtsdatum: 5 14 1940. Zumal Ziffern und Zahlen, wie bereits erwähnt, ein hohes Universalitätspotenzial besitzen, nimmt es wenig wunder, dass Pierre Garnier im Rahmen seiner Bemühungen um eine „langue supranationale“568 im Jahre 1988 die Poèmes en chiffres publiziert hat.569 Anders als der Titel vielleicht erwarten lässt, enthält diese Sammlung fast keine reinen Zifferngedichte, sondern vor allem Texte, die aus einer Verbindung von Ziffern und Wörtern oder Ziffern und einfachen geometrischen Elementen gebildet sind. Hinsichtlich des Status seiner Poèmes en chiffres, vor allem was deren Traditionsverbundenheit betrifft, existiert ein Selbstkommentar des Dichters, den er den Poèmes en chiffres vorangestellt hat: „Il y eut jadis les poèmes en prose. Voici des poèmes en chiffres. Ils sont pour moi un aboutissement […].“570 Diese drei Sätze sind aus poetologischer Sicht höchst interessant, denn sie enthalten eine wesentliche Aussage über Pierre Garniers Verständnis seiner spatialen Gedichte: Der Unterschied zur traditionellen Dichtung ist für ihn kein prinzipieller, sondern lediglich ein gradueller. Er sieht seine Texte als eine Art Fortführung der traditionellen Dichtung: Il s’agit là avant tout des deux catégories poétiques, je voudrais préciser que pour moi il n’y a aucun clivage, aucune rupture entre la poésie linéaire et la poésie spatiale. […] il s’agit d’une poésie traditionelle mise en espace. […] il me semble que chez moi il y a une communauté de mots, d’idées poétiques, d’atmosphères lyriques entre la poésie 565 Peignot (1993), S. 36. Vgl. Haarmann (2002), S. 15 und Aicher/Krampen (1977), S. 38. Den pikturalen Ursprung von Ziffern führt auch Tom Ockerses Gedicht La roue des chiffres vor Augen. Es handelt sich hierbei um eine poetische Geschichte der Ziffern von ihren Anfängen bis ins Computerzeitalter. Abdruck des Textes in Typoésie (1993), S. 327. 566 Abdruck des Gedichts in Wildman (1967), S. 80f. 567 Abdruck des Gedichts in Erlhoff/Holeczek (1980), S. 104. 568 Garnier (1968), S. 148. 569 Zifferngedichte verfasste schon Kurt Schwitters. Diese bestehen entweder aus Zahlwörtern oder Ziffern. Vgl. hierzu Ernst (1991b), S. 18. Und auch im Lettrismus wurden Ziffern- und Zahlengedichte produziert. 570 Garnier (1988), S. 3.

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linéaire et la poésie spatiale, il s’agit, au fond, de la même poésie, l’une étant plus spacieuse que l’autre, simplement.571 Wenn es darum geht, die Traditionsverbundenheit der Poèmes en chiffres aufzuzeigen, so muss zunächst daran erinnert werden, dass die Synthese von Mathematik und Dichtung bei Garnier nicht neu ist. Sie wird zu Recht vor allem mit der Romantik in Verbindung gebracht. Als Paradebeispiel kann Novalis herangezogen werden, der seine Notizen zu Sprache und Dichtung in Form von mathematischen Formeln vorgetragen haben soll. Auch laut Pierre Garnier soll der Dichter wie ein Mathematiker vorgehen: „Les poètes doivent procéder comme les mathématiciens.“572 In einem besonders starken Maße ist diese Forderung natürlich in solchen Gedichten umgesetzt, die mathematische Zeichen enthalten. Hierin liegt nun auch der Hauptunterschied zwischen den Poèmes en chiffres und der früheren mit der Mathematik verbundenen Dichtung: Traditionellerweise besteht die Verbindung zwischen Dichtung und Mathematik auf der Ebene der Metrik, der Versanzahl oder der Textherstellung – man denke nur an Poe, der in The Philosophy of Composition (1846) gefordert hat, ein Gedicht solle wie ein mathematischer Lehrsatz konstruiert sein. In Garniers Gedichten herrscht jedoch eine Verbindung ganz anderer Art vor: In den Poèmes en chiffres ist diese wesentlich konkreter und anschaulicher gestaltet, denn sie resultiert aus dem unmittelbaren Nebeneinander von Ziffern und Begriffen. Das Ergebnis ist dann tatsächlich eine Mathematisierung der Dichtung und/oder Poetisierung der Mathematik, wie sie von den Avantgarden der Moderne schon lange vor dem Spatialismus gefordert wurde. Betrachten wir nun ein Beispielgedicht573 aus den Poèmes en chiffres:

Abb. 42  Pierre Garnier, Triangle et carré (1988)

571 Garnier (1998), S. 17. Tatsächlich hat Pierre Garnier neben seinen spatialistischen immer auch traditionelle Gedichte verfasst, darunter sogar relativ regelmäßige Sonette, beispielsweise Quatre poèmes pour Ilse (1953). Die aktuellsten Sonette von Pierre Garnier sind in der Sammlung Poèmes – Gedichte (2006) enthalten. 572 Garnier (1968), S. 16. Auch Marinetti empfahl dem Dichter in seinem Manifesto tecnico della letteratura futurista (1912) neben musikalischen Zeichen den Gebrauch mathematischer Zeichen, und zwar als Alternative zu Interpunktionszeichen. 573 Garnier (1988), S. 17.



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Triangle et carré führt die Beziehung und Spannung zwischen sprachlichen und nichtsprachlichen Zeichen, die eben aus dem Bereich der Mathematik stammen, vor. Über einen ähnlichen Text hat Pierre Garnier einmal geschrieben: „Das Gedicht entsteht aus der Collage zweier Zeichensysteme, die nicht verwandt sind (die Collage der Zeichensysteme = Collage zweier Bedeutungssysteme: aus dem mathematisch-geometrischen Bereich und aus dem Wortbereich).“574 Der Begriff ,Dreieck‘ impliziert drei gerade Linien, die sich in drei Punkten so schneiden, dass die Winkelsumme 180 Grad ergibt, und der Begriff ,Quadrat‘ vier gleich lange Linien, die im rechten Winkel zueinander angeordnet sind. Von dem Wert der Ziffern wird durch den sprachlichen Ausdruck auf die geometrische Form geschlossen. Die beiden Begriffe ,triangle‘ und ,carré‘ dienen jeweils als sprachliche Indikatoren, die den Ziffern eine konkrete Gestalt verleihen und sie damit für den menschlichen Verstand vorstellbar machen. Gaby Gappmayr hat dies folgendermaßen ausgedrückt: „Nur durch den sprachlichen Ausdruck wird aus der reinen Zahl ein geometrischer Körper [sic. eine geometrische Figur; B.N.]. Der mathematische Kontext wird hier von der Sprache bestimmt.“575 Eine Eigenschaft der beiden Formen, nämlich die Anzahl der Ecken, genügt, um in der Vorstellung des Betrachters die entsprechende Form (Dreieck oder Quadrat) entstehen zu lassen. Allerdings konkretisiert Pierre Garnier in seinem Gedicht in verbaler Hinsicht weder das Dreieck noch das Quadrat hinsichtlich Größe, Farbe, Anordnung auf der Fläche o.Ä., so dass sich bei jedem Rezipienten eine individuell verschiedene, hochgradig subjektive Vorstellung bilden muss bzw. müsste, wenn da nicht noch die visuelle Ebene ins Spiel käme. Mag es auch nicht jedem auf den ersten Blick auffallen, so tauchen Quadrat und Dreieck nicht nur als Begriffe und Zahlenverhältnisse im Gedicht auf, sondern auch als geometrische Figuren, wenn auch nur als gedankliche Realität. Um das Dreieck zu erkennen, muss der Leser in Gedanken den ersten Buchstaben des Begriffs ,triangle‘ mit der Ziffer 3 und diese zugleich mit dem letzten Buchstaben des Begriffs ,carré‘ verbinden. Auf diese Weise erhält man ein rechtwinkliges Dreieck. Das noch fehlende Quadrat entsteht dadurch, dass man die beiden Katheten des Dreiecks verlängert und dann eine Gerade durch die Ziffer 4 zieht. Beide schneiden sich so in einem Punkt, dass erneut ein rechter Winkel vorherrscht. Wenn man nun noch eine Parallele zur Kathete, die aus „triangle et carré“ gebildet wird, zieht und sich diese mit der verbleibenden Kathete schneiden lässt, so erhält man – im Rahmen der Messgenauigkeit – ein Quadrat. Da das Dreieck diesem Quadrat eingeschrieben ist, bekommt die ,Unterschrift‘ „triangle et carré“ den Sinn, dass die Linie, die aus diesen drei Wörtern gebildet wird, zugleich eine Dreiecksseite und Teil einer Umrisslinie des Quadrats darstellt. All diese Zusammenhänge sind jedoch nur der Möglichkeit nach im Gedicht angelegt, die Überführung dieser bloßen Möglichkeit in die Aktualität ist eine Leistung, die der Leser kraft seines Vorstellungsvermögens erbringen muss. Wie im Spatialismus üblich, weist das Gedicht eine extreme Knappheit an Informationen auf – im bewussten Gegensatz zum Informationsüberfluss im sozialen Raum, auf 574 Garnier (1987), S. 39. 575 Gappmayr (2004), S. 265.

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den Garnier in seinen theoretischen Texten wiederholt hingewiesen hat, und im – laut Eugen Gomringer – bewussten Gegensatz zum „breiten redestrom der nichtkonkreten dichtung“576. Bezüglich der Reduktion stößt man bei Pierre Garnier auf das folgende Zitat: „Ästhetische Information wird nicht durch Redundanz hervorgerufen, nicht durch den Ballast. Äußerste Beschränkung, Kunst der minimalsten Mittel.“577 Die im Gedicht eingesetzten Mittel reichen nichtsdestoweniger aus, um die weiße Fläche des Papiers zu einfachen geometrischen Figuren in der Ebene zu konkretisieren. Spannung zwischen sprachlichen und nicht-sprachlichen Zeichen entsteht in diesem Gedicht dadurch, dass der Begriff ,triangle‘ vor dem Begriff ,carré‘ erscheint, die Ziffer vier jedoch links über der Ziffer drei steht. Auf diese Weise wird der Rezipient auf die Frage nach der Übereinstimmung von einer Ziffer und deren sprachlichem Ausdruck gestoßen, oder noch deutlicher formuliert: Triangle et carré könnte „ästhetisch-simultan die Bedingungen und Grenzen der Vertextung von Information überhaupt […]“578 reflektieren. Dieser metasprachliche Deutungsansatz scheint mir durchaus legitim. Ebenfalls denkbar wäre es, dass Pierre Garnier in diesem Gedicht die gewohnte Leserichtung von links oben nach rechts unten in ihr Gegenteil verkehrt hat – so wie in vielen seiner spatialen Gedichte. Beim nächsten Gedichtbeispiel579 von Eugen Gomringer erscheint die Ziffer isoliert auf dem Weiß der Papierfläche:

Abb. 43  eugen gomringer, ohne Titel (1969)

576 577 578 579

gomringer (1969b), S. 292. Garnier (1994) [Internet]. Schmidt (1969), S. 327. gomringer (1969b), S. 48. Das Gedicht ist das erste eines Gedichtpaares. Im anderen Gedicht wird die römische Ziffer vier (IV) als komplementäre Ergänzung zu diesem Gedicht aus der arabischen (4) gebildet.



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Die völlige Isolation der Ziffer bewirkt einen absoluten „Nullkontext“580. Das widerspricht dem alltäglichen Gebrauch, denn hier wird eine Ziffer ja entweder mit einem Begriff (Preis, Mengenangabe etc.) oder mit mathematischen Operationszeichen (Plus-, Minus-, Gleichheitszeichen etc.) und einer weiteren Ziffer verbunden, steht aber nie alleine. In Analogie zur Kritik am alltäglichen Umgang mit der Sprache, nämlich deren Funktionaliserung, Mechanisierung und Konventionalisierung, könnte dieses Gedicht auf eine Kritik an der Funktionalisierung von Ziffern zielen. In Gomringers Text erscheint die Ziffer 4 darum isoliert. Sie stellt eine Entität dar, deren Materialität Gomringer dadurch betont, dass die arabische Ziffer aus ihren römischen Entsprechungen gebildet wird. Außerdem treffen zwei Zeichensysteme aufeinander, nämlich in Gestalt der arabischen und römischen Ziffern. Dies wirft die Frage nach dem arbiträren Charakter der Benennung auf, und das schon hier, obwohl wir uns noch im außersprachlichen Bereich der Ziffern befinden. Das Zeichen (die Ziffer 4) ist in diesem Text absolut kontextlos. Hieraus folgt eine wichtige Möglichkeit der Konkreten Poesie: Durch die Reduktion auf ein Minimum „entstehen […] zahllose neue Kontexte und mit ihnen Inhalte“581. Es sei nochmals auf die aktive Rolle des Lesers bzw. Betrachters hingewiesen, der den fehlenden Kontext individuell auffüllen muss. Somit ist der Rezipient maßgeblich am produktiven Schöpfungsakt des Gedichts beteiligt. Die Ziffer ist im Gedicht ein potenzieller Bedeutungsträger, aber es besteht eben keine im Voraus festgelegte Sinnzuschreibung. Man könnte beispielsweise durchaus an die biblische Zahlensymbolik denken. In diesem Kontext dient die Vier als Symbol der vier Himmelsrichtungen, der vier Paradiesflüsse und der Anzahl der Evangelien im Neuen Testament. Daneben könnte man aber auch an die vier Jahreszeiten denken. Eine weitere Bedeutungsdimension erschließt sich durch Gomringers Interesse für die Mystik: Hier symbolisiert die Vier die vier Elemente (Erde, Feuer, Wasser, Luft). Der Vier hat auch Pierre Garnier in seinen Poèmes en chiffres ein Gedicht gewidmet.582 Wieder handelt es sich um die inszenierte Konfrontation zweier Zeichensysteme im Medium eines Gedichts, und zwar unter Ausnutzung der Papierfläche. Erneut stehen sich Ziffern und skripturale Elemente bzw. ein skripturales Element, der bestimmte Artikel le, gegenüber. Am oberen Rand erscheint eine Reihe, bestehend aus den Ziffern 1, 2, 3, 1 und 5. Die Vier bleibt bewusst ausgespart. Sie erscheint am unteren Rand des Textes, dafür weist Garnier ihr durch den bestimmten Artikel besondere Bedeutung zu: le 4. Die Absenz der Vier in der Reihe findet ihr visuelles Analogon in der großen unbedruckten weißen Fläche zwischen den Ziffern und der ,Gedichtunterschrift‘.

580 Weiss (1984), S. 105. 581 Vollert (1999), S. 55. Vgl. Webster (2005), S. 147: „By a reduction of means, it [scil. the concrete poem; B.N.] achieves an expansion of possible readings […].“ 582 Garnier (1988), S. 77.

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Abb. 44  Pierre Garnier, ohne Titel (1988)

Betrachtet man die Ziffernfolge, so fällt schon auf den ersten Blick auf, dass die Eins die Vier ersetzt. Dies mag darin begründet liegen, dass beide einen starken Symbolwert besitzen. Eine weitere Gattung in der Dichtung nach 1945 steht im Kontext der Universalitätsansprüche der Konkreten Poesie, nämlich Interpunktionsgedichte. In Analogie zu Letterngedichten betrifft der Akt der Isolierung hier nicht mehr das Wort, sondern eine kleinere Einheit des Schriftsystems. In den entsprechenden Gedichten erfolgt jeweils eine Herauslösung von Satzzeichen aus einem syntaktischen Zusammenhang, wobei diese Zeichen eine Toposyntax bilden. Hatte Marinetti in seinem Manifesto tecnico della letteratura futurista (1912) noch die Abschaffung der Zeichensetzung gefordert, so wandten sich viele der Dichter nach 1945 nicht von den Zeichen als solchen ab, sondern lediglich von deren Instrumentalisierung, Funktionaliserung, Mechanisierung und auch Konventionalisierung im Schriftgebrauch und der schriftlichen Kommunikation. In den Interpunktionstexten aus dem Umfeld der Konkreten Poesie werden diese Zeichen als selbstständig vorgeführt.583 Wir sind im Gegensatz hierzu gewohnt, Interpunktionszeichen im Satz als untergeordnete Elemente zu betrachten. Sie werden ja nicht unmittelbar, an sich wahrgenommen, sondern nur mittelbar, durch ihre Funktion bezüglich der Intentionalität, die sie einem Satz verleihen. Hier herrscht eine starke Do583 Besonders viele Interpunktionstexte stammen von Pierre Garnier. Vgl. hierzu Noireau (1987).



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minanz der jeweiligen Zeichenfunktion vor. Diese Dominanz zu beseitigen, war eines der Ziele in der Konkreten Poesie: „Les signes de ponctuation sont à considérer dans leur valeur. Il ne faut pas seulement les voir mais les lire profondément […].“584 Die Dichter der Konkreten Poesie unterscheiden sich in dieser Auffassung stark von Ludwig Wittgenstein, dessen Einfluss auf die Konkrete Poesie im Allgemeinen ohnehin überschätzt wird.585 Wittgenstein hat beispielsweise explizit darauf hingewiesen, dass und wie sehr das Ausrufezeichen die Bedeutung eines Wortes beeinflusst: „Denken wir allein an die Ausrufe. Mit ihren ganz verschiedenen Funktionen. Wasser! Fort! Au! Hilfe! Schön! Nicht!“586 In den Interpunktionsgedichten aus der Zeit nach 1945 erscheinen die Zeichen aus einem solchen sprachlichen Kontext gelöst und wurden somit zugleich ihrer Hauptfunktion in der zwischenmenschlichen Kommunikation beraubt. Statt einer verbalen Absicht untergeordnet zu sein, besitzen die Interpunktionszeichen eine Art eigene Sprache, die sich jedoch weder mit einer Standardgrammatik erfassen lässt noch notwendigerweise der konventionalisierten Linearität von Schrift folgt. In den meisten Fällen herrscht stattdessen eine simultane Syntax der Bildfläche – eine Toposyntax – vor. Eine besondere Stellung unter den Interpunktionszeichen nimmt dabei der Punkt ein. Das dürfte zumindest teilweise darin begründet liegen, dass er eine intermediale Verwendung aufweisen kann (Literatur und Malerei) und sich somit für die intermedial ausgerichtete Dichtung nach 1945 hervorragend eignete. Ein Beispiel der Gattung des Interpunktionsgedichts stammt aus Fernando Aguiars Minimal Poems (1994),587 und zwar bezeichnenderweise aus der Abteilung Punctuations:

Abb. 45  Fernando Aguiar, ohne Titel (1992)

Hier sind Interpunktionszeichen aus jedem syntaktischen Kontext gelöst. Beim Zeichen für ,und‘ (&) ist dies umso ungewöhnlicher, als es ja gerade die Aufgabe hat, eine Verbindung zwischen zwei Elementen herzustellen. Hierin wird für gewöhnlich die einzige 584 585 586 587

Garnier (1978), o. S. Vgl. Buschinger (1996), S. 240ff., Haas (1990), S. 33–48 und S. 111–132 und Nickel (2011a). Wittgenstein (1984), S. 252. Aguiar (1994), S. 32

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Funktion und damit zugleich ,Daseinsberechtigung‘ dieser Konjunktion gesehen. Hinter dieser Funktion verschwindet das Zeichen üblicherweise ganz. Im vorliegenden Gedicht gibt es allerdings nichts, was verbunden werden könnte. Das Zeichen ist einfach nur da, um zu sein. Seine einzige Funktion ist daher die Selbstreferentialität und nicht die Zusammenführung von zwei Begriffen. Wie schon Garnier in le mot ‘et’ wendet sich Aguiar in seinem Text gegen die Funktionalisierung der Konjunktion ,und‘ und damit zugleich implizit gegen den konventionalisierten Sprachgebrauch. Stattdessen wird das standardisierte Zeichen für die Konjunktion ,und‘ in seiner Materialität vorgeführt, und zwar vor allem durch die visuelle Hervorhebung, die der Fettdruck bewirkt. Auf die Assoziation von Schrifttypen und den Atmosphärenwert sei hier nur am Rande hingewiesen.588 Die Existenz und die Materialität des &-Zeichens scheinen auch dadurch verstärkt zu werden, dass ein Ausrufezeichen auf ihm ruht. Dieses erweckt den Eindruck, dass dem Dasein des &-Zeichens Nachdruck verliehen werden soll. Beide Interpunktionszeichen (& und !) erfüllen also keine Funktion in einem syntaktischen Zusammenhang, sondern nur in der Relation zueinander. Auch im folgenden Gedicht589 wird die größtmögliche Autonomie der eingesetzten Interpunktionszeichen und damit zugleich ihr jenseits aller Skripturalität liegender pikturaler Charakter vor Augen geführt:

Abb. 46  Pierre Garnier, ohne Titel (1978)

Hier sind Zeichen wieder selbstständig geworden. Dem Rezipienten bleibt gar nichts anderes übrig, als Garniers Aufforderung zu folgen: „Les signes de ponctuation sont à considérer dans leur valeur.“590 Aus diesem Grund sind die Ausrufezeichen im Gedicht aus einem sprachlichen Kontext gelöst und damit zugleich ihrer Hauptfunktion in der Alltagskommunikation beraubt. Statt einer sprachlichen Absicht untergeordnet zu sein, besitzen die Interpunktionszeichen hier eine Art eigene Sprache. Ein Unterschied besteht vor allem darin, dass hier nun keine Linearität, sondern eine simultane Syntax der Bildfläche vorherrscht. 588 Vgl. Ovink (1938). Zur Bedeutung der Typographie in der Konkreten Poesie vgl. Solt (1970), S. 61ff. 589 Garnier (1978), o. S. 590 Garnier (1978), o. S.



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Die drei Ausrufezeichen im Gedicht deuten eine abwärts gerichtete Bewegung an, die ein Gegengewicht zur ruhig fließenden horizontalen Linie darstellt. Beide ergänzen sich aber auch, denn die Linie ist an einer Stelle unterbrochen, und den leeren Raum füllen die drei Ausrufezeichen aus: Der Eindruck von Ruhe korrespondiert daher mit dem einer dynamischen Bewegung. Auf diese Weise erzielt Garnier eine Spannung zwischen den beteiligten Elementen. Mithilfe des der vorliegenden Untersuchung zugrunde gelegten erweiterten Textbegriffes lässt sich die horizontale Linie als Satz oder zumindest als angedeuteter Schreibgestus auffassen. Garnier könnte mit der Horizontalität der Linie auf die Linearität von Schrift verweisen. Die Ausrufezeichen könnten dementsprechend für kommunikative Handlungen stehen. Auf diese Weise würde eine pragmatische Kommunikationssituation entstehen, der die Ausrufezeichen ein großes Maß an Dramatik verleihen würden, ohne dass diese Kommunikationssituation jedoch explizit würde oder eine konkrete Füllung erführe. Garniers Gedicht führt nicht den Inhalt der Kommunikation vor, sondern nur die prinzipielle Möglichkeit einer solchen, und verweist hierfür auf die notwendigen Minimalbedingungen für eine erfolgreiche Kommunikation und deren grundlegende Prinzipien.

2.5 Lichtsatz-Gedichte Wie bereits eingangs erläutert, kommt in der Dichtung nach 1945 auch der technischen Seite der poetischen Produktion eine wichtige Bedeutung zu. Sie muss als ein sinnkonstituierendes Element im poetischen Werk erkannt und verstanden werden, um dieser Art von Dichtung überhaupt gerecht werden zu können. Eine Alternative zur hauptsächlich verwandten drucktechnischen Methode des Bleisatzes stellte der Lichtsatz dar. Vor allem im deutschsprachigen Bereich kam es hier zu bemerkenswerten Versuchen, im Rahmen derer Klaus Burkhardt und der von ihm entwickelte Schrifttypus coldtypestructures eine Vorreiterrolle erfüllten. Der Hauptvorteil des erst in den 1950er Jahren entwickelten Lichtsatzes gegenüber dem traditionsreichen Bleisatz besteht in der Möglichkeit, die zu druckenden Buchstaben dynamisch zu gestalten, beispielsweise durch Spiegelungen oder das Ineinandersetzen von Lettern. Dass dabei die pikturale Qualität von Buchstaben erheblich mehr in den Vordergrund tritt als bei traditionellen Druckverfahren, wird die Analyse der Beispielgedichte vor Augen führen. Der Lichtsatz versetzte den Dichter in die Lage, neue Montagemöglichkeiten zu erproben. Die zusätzlichen Möglichkeiten des Lichtsatzes hat Reinhard Döhl wie folgt beschrieben: anders als beim traditionellen bleisatz, bei dem die abstände der buchstaben durch den kegel und das sogenannte ‚fleisch‘ des buchstabens vorgegeben sind, ist beim lichtsatz der buchstabenabstand beliebig bis zur übereinanderbelichtung variierbar. die so entstehenden textflächen lassen sich als teilflächen seiten- und spiegelverkehrt montieren, wobei die aus einer in der regel dreifachen spiegelung entstehende textfläche wiederum als teilfläche nach allen seiten ad libitum gespiegelt werden könnte. in der praxis beschränkt man sich statt einer auf-

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wendigeren dreifachspiegelung auf eine zweifache spiegelung und eine seitenrichtig/seitenverkehrte montage auf dem leuchttisch.591

Beispiele von mithilfe des Lichtsatzes realisierten intermedialen Verknüpfungen in der Dichtung nach 1945 werden im Folgenden aus der in der edition rot erschienenen Sammlung poem structures in the looking glass (1969) vorgestellt und erläutert. Die Texte dieser Sammlung unterliegen einer im Nachwort eindeutig definierten poetologischen Absicht: „verstanden werden sollen die abgebildeten textflächen lediglich als vorschläge möglicher veränderbarer und superisierbarer schrift-bild-strukturen, als mögliche ästhetische muster bzw. modelle.“592 Tatsächlich erinnern viele der folgenden Beispiele mehr an ornamentale Strukturen als an Texte im traditionellen Sinn. Die eingesetzten Zeichen, Buchstaben, sind weitgehend ihrer pragmatischen Funktion, nämlich Teil des lateinischen Alphabets zu sein, entledigt und stattdessen in einen rein ästhetischen Kontext gestellt. Dementsprechend dienen sie nicht als Zeichen einer skripturalen Kommunikation, sondern der Übermittlung einer ästhetischen Botschaft, die vornehmlich auf einer pikturalen Kommunikation basiert.

Abb. 47  Klaus Burkhardt, alphabet 1 (1969)

Dieses Beispiel illustriert recht deutlich, wie ein poetischer Text als ästhetisches Muster oder Modell wirken kann. Noch lange bevor der Betrachter erkennt, dass er einen Buchstabentext vor sich hat, wird er das ihm Dargebotene zunächst als eine ornamentale Struktur wahrnehmen, und zwar als Gesamteindruck, wie dies auch Pierre Garnier für die Rezeption seiner spatialistischen Gedichte prophezeit bzw. gehofft hat: „On se laisse 591 burkhardt/döhl (1969), o. S. 592 burkhardt/döhl (1969), o. S.



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‘impressionner’ par la figure générale du poème, puis par chaque mot perçu globalement au hasard.“593 Nachdem auch das vorliegende Gebilde den Betrachter zuerst als Ganzes ,beeindruckt‘ hat, muss die Detailarbeit beginnen, und zwar in Form einer Entzifferung der ornamentalen Strukturen. Deren kleinste Einheiten entpuppen sich schnell als die 26 Buchstaben des lateinischen Alphabets. Es gibt eine durch das Weiß des Papiers deutlich markierte Mitte, um die herum der Buchstabe A viermal als Majuskel erscheint. An dieser Stelle tritt aufgrund der vertikalen Achsensymmetrie dieses Buchstabens nur ein Konstruktionsprinzip dieses Lichtsatztextes zutage, nämlich die horizontale Achsenspiegelung. Dass neben dieser auch eine vertikale Achsenspieglung an der Gestaltung des Textes beteiligt gewesen ist, kann man erst dann feststellen, wenn man sich an einem weiteren Buchstaben (z.B. dem B) orientiert. In jedem Fall entsteht der Eindruck von Buchstabendiagonalen, die aufgrund der unterschiedlichen Breite der einzelnen Lettern teilweise eher an Wellen als an Linien erinnern. Dies bewirkt ein Verschwimmen des Gesamtbildes vor den Augen des Betrachters und verleiht dem Text eine gewisse Dynamik. Die Diagonalen laufen in der linken Hälfte in der Mitte links zusammen und analog in der rechten Hälfte in der Mitte rechts. Entlang der beiden Spiegelachsen erscheinen die 26 Buchstaben in der Reihenfolge des Alphabets, also zunächst von A bis Z, dann von B bis A etc. und schließlich von Z bis Y. Bemerkenswert ist dabei, dass Burkhardt die Buchstaben in alphabet 1 vollkommen entsemantisiert hat. Sie sind zum essentiellen Bestandteil einer ornamentalen Struktur umfunktioniert worden, in der nicht ihr semantisches Potenzial, sondern nur ihr ästhetischer Wert von Bedeutung ist. So wie bei längerer Betrachtung das ,Gedichtbild‘ langsam zu verschwimmen beginnt, so hat Klaus Burkhardt die Semantik der Buchstaben zum Verschwimmen bzw. Verschwinden gebracht, indem er die Buchstaben zu visuellen Zeichen transformiert hat. Insofern ist es mehr als fraglich, ob sich solch ein Gebilde noch als eine schrift-bildstruktur bezeichnen lässt, denn der Schrift-Anteil besteht nur darin, dass es sich bei Buchstaben um skripturale Zeichen handelt, die im vorliegenden Beispiel aber eben vollkommen auf ihre pikturale Qualität reduziert wurden. Abb. 48  Reinhard Döhl, peterchens mondfahrt (1969) Betrachten wir ein zweites Beispiel: peterchens 594 mondfahrt (1969). In diesem Lichtsatzgedicht von Reinhard Döhl ist das zugrunde gelegte verbale Material leicht entzifferbar als peterchens 593 Garnier (1968), S. 136. 594 burkhardt/döhl (1969), o. S.

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mondfahrt. Döhl ruft im Rezipienten damit sofort die Erinnerung an das gleichnamige Märchen (UA 1912) von Gerdt von Bassewitz auf. Das verbal-skripturale Material ist im vorliegenden Gedicht von Döhl entsprechend der Wortanzahl stark zweigeteilt arrangiert. Im Ganzen könnte es sich bei der Disposition der Buchstaben auf der Papierfläche sowohl um die Nachbildung einer Rakete (zur Realisierung der Mondfahrt) als auch eines Hauses (Peterchens Elternhaus?) handeln. Interpretatorische Offenheit ist ja ein wesentliches Merkmal der Konkreten Poesie. Das Textarrangement erinnert stark an den Typus des Umrissgedichts, der in Nachahmung antiker Vorgänger (z.B. Beil, Ei und Flügel des Simias von Rhodos) vor allem im Barock florierte. Der Gesamtumriss in Döhls Text ist in zwei Teile untergliedert: Der obere Teil, der aus dem Genitiv des Diminutivs ,peterchen‘ gebildet ist, ist in Form eines Dreiecks angeordnet. Der zweite Teil hingegen ist als Quadrat gestaltet, und zwar aus dem Begriff ,mondfahrt‘. Beide Teile weisen prinzipiell das identische Herstellungsverfahren auf, das sich die spezifischen Möglichkeiten des Lichtsatzes zunutze macht. Beide Teile sind nämlich das Produkt einer vertikalen Achsenspiegelung, wobei auf der jeweils rechten Seite die konventionelle Leserichtung von links nach rechts beibehalten ist und auf der linken dementsprechend die spiegelverkehrte Variante des entsprechenden Wortes erscheint. Die Linksschreibung bewirkt dabei einen Verfremdungseffekt, der der Entautomatisierung des Lektürevorganges dient. Döhl hat nun nicht nur die beiden Wörter ,peterchens‘ und ,mondfahrt‘ gespiegelt, sondern im oberen Teil des Textes (Dreieck) das Wort ,peterchens‘ nach einer strengen Regel variiert, ebenso wie im unteren Teil (Quadrat) das Wort ,mondfahrt‘. Das Quadrat ist dadurch entstanden, dass der Begriff ,mondfahrt‘ in jeder neuen Zeile um einen Buchstaben nach rechts bzw. aufgrund der Spiegelung zugleich nach links verschoben ist, so dass der anfängliche Begriff ,mondfahrt‘ schließlich zu „tmondfah“ transponiert erscheint. Diese Verfahrensweise lässt beim Betrachter den Eindruck von Buchstaben-Diagonalen, die sich jeweils oben schneiden, entstehen. Die aufwärts gerichteten Diagonalen könnten eine aufsteigende Bewegung andeuten, die wiederum auf die mit dem Begriff ,mondfahrt‘ assoziierte Aufwärtsbewegung verweisen könnte. Insofern handelt es sich um eine starke „visualisierung von information“595. Das Dreieck im oberen Teil des Textes weist eine ähnliche Konstruktionsweise auf: Die Basis bildet rechts von der Spiegelachse der Begriff ,peterchens‘, der auf der linken Seite spiegelverkehrt erscheint. Mit jeder nach oben folgenden Zeile wird dieser Begriff sowohl links als auch rechts um einen Buchstaben verkürzt, bis auf beiden Seiten an der Spitze des Dreiecks nur noch der Buchstabe p übrig geblieben ist. Wenn man nun den Blick von der formalen Struktur dieses Textes hin zur inhaltlichen lenkt bzw. beide Ebenen miteinander verbindet, so lassen sich interessante Beobachtungen über Döhls Dichtungsverständnis gewinnen, die sich generell auf die Konkrete Poesie übertragen lassen. Um nochmals auf die Umrissform zu sprechen zu kommen: Es scheint sich hier entweder um eine Rakete oder ein Haus zu handeln. Der Bezug zwischen einem Haus und dem Märchen als Prätext dieses Gedichts liegt klar auf der Hand, denn Peterchen befindet sich vor seiner Mondfahrt schlafend im Haus seiner Eltern. In dieser Hinsicht erfüllt die graphische Gestaltung der Wörter eine tautologi595 Weiss (1984), S. 150.



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sche Funktion, die u.a. an vergleichbare Versuche Apollinaires in seinen Calligrammes erinnert. Eine Rakete kommt hingegen im Märchen nicht vor. Peterchen macht sich hier nämlich fliegend wie ein Vogel auf den Weg zum Mond, wo er dann mittels einer Mondkanone auf den Mondberg geschossen wird. Die Abweichung vom Originaltext in Döhls Gedicht ist sicherlich einer realgeschichtlichen Erfahrung gewidmet, nämlich den ersten Mondlandungen seit 1969. Was sich hieraus im Hinblick auf Döhls Dichtungsverständnis bzw. allgemeiner auf dasjenige der Konkreten Poesie ableiten lässt, ist deren Tendenz, die Dichtung der Wissenschaft (im Besonderen der Mathematik) anzunähern und die moderne Wissenschaft als einen dichtungswürdigen Gegenstand in das thematische Repertoire der Poesie aufzunehmen. Deutlich formuliert hat diese Tendenz Mary Ellen Solt in ihrem Sonett über den Mond, dem Moonshot Sonnet: „No one has been able to write a sonnet to the moon from the Renaissance on, and I could not do it unless I was willing to incorporate its new scientific content.“596 Was das Schrift-Bild-Verhältnis in diesem Gedicht anbelangt, so bestehen große Unterschiede zu Burkhardts alphabet 1: Burckhardt hat in seinem Gedicht die Entsemantisierung vorgeführt. Damit einher ging die Transformation von Buchstaben zu Bildern bzw. ornamentalen Strukturen, die ausschließlich eine ästhetische Funktion erfüllen. Im Gegensatz hierzu treten in Döhls Gedicht die semantische und die visuell-ästhetische Dimension in einen Dialog miteinander. Eine intermediale Ähnlichkeit mit einem Bild wird hier dadurch erzeugt, dass skripturale Elemente, nämlich zwei Wörter und Variationen dieser zwei Wörter, nicht – dem traditionellen Satzspiegel entsprechend – zeilenweise angeordnet wurden, sondern den Umriss einer (wenn auch nicht eindeutig bestimmbaren) Form nachbilden. Das nächste Gedicht597 weist hingegen wieder die für die poem structures charakteristische ornamentale Struktur auf:

Abb. 49  Klaus Burkhardt, y (1969)

596 Zitiert nach Spatola (2008), S. 98. Hervorhebung von mir, B.N. 597 burkhardt/döhl (1969), o. S.

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Skriptural-pikturale Intermedialität

Bei diesem Gedicht handelt es sich um einen monolettristischen Text oder einen Einbuchstabentext; und zwar um einen, dessen einziger Textbaustein der vorletzte Buchstabe des lateinischen Alphabets ist. Dieser ist auf der Papierfläche rautenförmig angeordnet. Die Rautenstruktur ist dabei das Produkt einer horizontalen Achsenspiegelung und womöglich auch einer vertikalen Achsenspiegelung, die sich aufgrund der symmetrischen Gestalt des Buchstabens Y nicht mit Sicherheit nachweisen lässt bzw. derer es aufgrund dieser Gestalt nicht bedarf: In der unteren Hälfte der Raute erscheint der Buchstabe Y in seiner konventionalisierten ,Normalstellung‘, nämlich nach oben hin geöffnet. Im oberen Teil hingegen ist diese Anordnung durch die Spiegelung in ihr Gegenteil verkehrt, so dass der Buchstabe auf dem Kopf steht. Bleibt noch die Spiegelachse: Dieser Text stellt insofern eine Besonderheit unter den mit dem Lichtsatz produzierten poetischen Texten dar, als er die für diese Satztechnik charakteristische Möglichkeit der Spiegelung explizit in Szene setzt. Die Spiegelachse ist hier nämlich besonders markiert, zumal hier eine Reihe umgedrehter Buchstaben auf eine der konventionellen Leserichtung folgende Buchstabenreihe trifft. Durch die Überlagerung entsteht der Eindruck, es handle sich in der Mitte des Textes nicht um den Buchstaben Y, sondern um die Majuskel X. Damit betreibt Burkhardt implizit zwar nicht die für die Dichter der Konkreten Poesie typische Sprachkritik, aber eine Art Buchstabenkritik bzw. -reflexion. Implizit stellt sich die Frage, nach der Identität des Buchstabens Y bzw. seine Differenzqualität gegenüber anderen Buchstaben des lateinischen Alphabets – in diesem Fall dem X. Klaus Burkhardts Entscheidung für den Buchstaben Y ist natürlich nicht willkürlich gefallen. Schließlich handelt es sich bei diesem doch um einen in der deutschen Sprache relativ selten vorkommenden Buchstaben. Am Beispiel gerade dieses Buchstabens lässt sich die visuelle Qualität von Buchstaben besonders deutlich aufzeigen. Burkhardt führt in seinem Gedicht die Materialität des Y als asemantisches Zeichen vor und betont damit zugleich den pikturalen Charakter dieses Buchstabens, der natürlich repräsentativ für die restlichen 25 Buchstaben des lateinischen Alphabets steht. Außerdem stellt das Gedicht ein eindrucksvolles Beispiel für die Bestrebung der konkreten Dichter dar, Buchstaben aus jedem sie einengenden semantischen Kontext zu lösen, der sich ergibt, wenn Buchstaben aufeinander treffen und Wörter bilden. Das nächste Lichtsatz-Gedicht598 ist nach demselben Prinzip wie das eben analysierte gestaltet – Spiegelung(en) und rautenförmige Anordnung auf der Seite –, nur dass es sich dieses Mal nicht um Buchstaben, sondern um Ziffern handelt. Auch dieser Text ist durch eine doppelte Achsenspiegelung entstanden. Prinzipiell besteht er aus zwei in Dreiecksform angeordneten Ziffernreihen, die an einer horizontalen Achse gespiegelt wurden. Das untere Dreieck steht daher auf dem Kopf. Beide Dreiecke sind aus den Ziffern 1 bis 9 gebildet, und zwar so, dass sie im oberen Dreieck in aufsteigender Reihenfolge reihenweise erscheinen und im unteren dementsprechend in absteigender Reihenfolge. Jede Reihe ist dabei nur einer Ziffer gewidmet. Beide Dreiecke sind zusätzlich in sich gespiegelt, und zwar entlang einer vertikalen Spiegelachse. Auf diese Weise ist die linke Hälfte des oberen Dreiecks spiegelverkehrt, und die rechte Hälfte des unteren Dreiecks steht auf dem Kopf und ist zusätzlich ebenfalls spiegelverkehrt. 598 burkhardt/döhl (1969), o. S.



Lichtsatz-Gedichte

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Abb. 50  Klaus Burkhardt, 1 2 3 4 5 6 7 8 9 (1969)

Im Gegensatz zu Burkhardts Gedichten y und alphabet 1, die durch die Entscheidung für den Lichtsatz eine prinzipielle Ähnlichkeit mit dem vorliegenden Gedicht aufweisen, kommt hier nun dem semantischen Aspekt eine wesentlich größere Bedeutung zu. Anders ausgedrückt: Zunächst asemantische Ziffern erfahren durch eine spezielle Anordnung eine Semantisierung. Dies scheint vor allem in zwei Fällen so zu sein, nämlich bei der Zwei und der Neun. Es sticht sofort ins Auge, dass die vertikal gespiegelte Zwei zusammen mit ihrem spiegelverkehrten Pendant eine auf einer Art Sockel stehende Herzform bildet. Nimmt man nun noch die erste Reihe des Textes hinzu, so könnte hier eine der romantischsten Ideen der Menschheit abgebildet sein: Zwei Individuen verschmelzen durch die verbindende Kraft der Liebe zu einer neuen Einheit. Diese hat nicht, wie von Platon beschrieben, eine Kugelgestalt, sondern es erscheint hier das wohl populärste und älteste Symbol der Liebe, nämlich ein Herz.599 Die Neun erfährt insofern eine Semantisierung – ob nun zufällig oder gewollt, ist auch an dieser Stelle unerheblich –, als sie und ihr horizontal gespiegeltes Gegenüber die Spiegelachse bilden und somit ineinander verschlungen erscheinen. Nicht nur verweist sie damit auf das Publikationsdatum der Sammlung  – die Neun sieht ja aus wie eine auf dem Kopf stehende Sechs –, sondern auch auf eine gängige Sexualpraktik (,Neunundsechziger‘-Stellung). Somit wäre in diesem Lichtsatztext das Phänomen der Liebe umfassend dargestellt, nämlich sowohl als geistige als auch körperliche Vereinigung  – und das, obwohl wir uns im nicht-sprachlichen Bereich der Ziffern befinden. Deren Semantisierung erfolgt in beiden Fällen aufgrund der visuellen Form der jeweiligen Ziffer.

599 Vorgänger der heute üblichen Herzform lassen sich schon im 3. Jahrhundert v. Chr. nachweisen.

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Skriptural-pikturale Intermedialität

2.6 Gedichte aus chinesischen Schriftzeichen Im Exkurskapitel über den erweiterten Sprach- und Textbegriff wurde bereits darauf hingewiesen, dass nicht erst die Dichtung nach 1945 die prinzipielle Eignung des chinesischen Schriftzeichensystems für die poetische Produktion entdeckt hat. Vielmehr bedeutete die Integration des chinesischen Schriftzeichensystems in die Dichtung nach 1945 die großflächige materielle Realisierung dessen, was schon lange vorher theoretisch reflektiert (z.B. Ernest Fenollosa) und vereinzelt praktisch erprobt (z.B. Henri Michaux) worden war. Für eine Dichtung wie die Konkrete Poesie, deren eines Hauptanliegen die Schaffung einer nicht-skripturalen Universalsprache war, lag der besondere Reiz der chinesischen Schriftzeichen im ideogrammatischen Charakter, der mit diesen assoziiert wurde. Ein solches Zeichensystem schien sich per se für eine intermedial ausgerichtete Dichtung wie die Konkrete Poesie, die v.a. die Nähe zur Malerei suchte, besonders gut zu eignen. Bei der chinesischen Schrift handelt es sich ja um eine „écriture idéographique qui semble à nos yeux dériver de la peinture […]“600. Zwar ist nur ein verhältnismäßig kleiner Anteil der heutigen chinesischen Schriftzeichen – und damit zugleich der japanischen (Kanji-) Schrift601 – als piktographisch einzustufen,602 nichtsdestoweniger lässt sich aber aus diesen Sinnzeichen die jeweilige Etymologie wesentlich leichter ableiten, als dies bei den westlichen Alphabetschriften der Fall ist.603 Den chinesischen Schriftzeichen sind oftmals „bildhafte Elemente inhärent […], die aktiviert und mithilfe bestimmter graphischer Techniken optisch umgesetzt werden können“604. Dadurch lässt sich die ideogrammatische Funktion des Schriftzeichens aufdecken, wobei die ursprüngliche Ideographie auch kritisch hinterfragt werden kann. Dies ist in zahlreichen japanischen Beispielen der Konkreten Poesie der Fall. Die Folge sind Neu- und Umdeutungen der chinesischen Schriftzeichen, so dass es für diese Gedichte mindestens zwei unterschiedliche Lesarten gibt, nämlich eine japanische und eine sinojapanische. Ein weiterer Vorteil der chinesischen Sinnschriftzeichen bestand für die Dichter Konkreter Poesie darin, dass diese eine Schrift begünstigen, die einen stark isolierenden Charakter besitzt. Dies übte auf viele Dichter der Konkreten Poesie, die ja „von der Vereinzelung, der isolierten Präsentation möglichst weniger Sprachzeichen […]“605 lebte, einen großen Reiz aus. Die Isolation der Schriftzeichen bewirkt deren prinzipielle

600 Barthes (1993), S. 12. Hervorhebung von mir, B.N. 601 Vgl. Pörtner (2002). 602 May (1975), S. 297 zufolge liegt der Anteil der piktographischen Zeichen an der Gesamtmenge der chinesischen Sinnzeichen, die in Japan Verwendung finden, bei weniger als drei Prozent: „Für die jetzige Form der chinesischen Schriftzeichen in Japan und ihren Gebrauch in modernen Texten bleiben nicht mehr als jene 50–100 Zeichen (unter 2500–3000 weitester Verbreitung), die beim Normalbenutzer direkte bildliche oder ideographische Vorstellungen hervorrufen können.“ 603 In keinem Fall ist die Etymologie bei allen chinesischen Schriftzeichen deutlich erkennbar, wie noch Ernest Fenollosa (1936), S. 25 fälschlicherweise angenommen hatte: „In this Chinese shows its advantage. Its etymology is constantly visible.“ 604 May (1975), S. 304f. 605 May (1975), S. 299.



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Gleichwertigkeit, auf die es in der Konkreten Poesie – in der Tradition des italienischen Futurismus – ebenfalls ankam. Außerdem sind bei den chinesischen Sinnschriftzeichen immer auch die Struktur der Schriftzeichen und ihre Verteilung auf der Fläche wichtig. Hierin besteht wohl die größte Gemeinsamkeit mit der Dichtung nach 1945, die zwar nicht ausschließlich, aber vor allem visuelle Dichtung war. Dies alleine könnte schon die Vorbildfunktion der chinesischen Sinnschriftzeichen für diese Dichtung erklären. Den ästhetischen Wert der chinesischen Schriftzeichen und deren hieraus abgeleitete Eignung als Medium der Dichtung hatte bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts Ernest Francisco Fenollosa in The Chinese Written Character As A Medium For Poetry (Manuskript vor 1908, Erstpublikation 1918) hervorgehoben: I believe that the Chinese written language has not only absorbed the poetic substance of nature […], but has, through its very pictorial visibility, been able to retain its original creative poetry with far more vigor and vividness than any phonetic tongue.606

Auch wenn er den „piktographischen und allgemein ideographischen Gehalt der chinesischen Schrift […]“607 wesentlich zu hoch einschätzte, so übte er dennoch einen großen Einfluss auf nachfolgende Dichter aus, und zwar zunächst auf Ezra Pound, der Fenollosas Manuskript veröffentlicht und in der Tradition von Fenollosa den Imagismus begründet hat, und später auf die Dichter der Konkreten Poesie.608 Die namentliche Erwähnung Fenollosas in zahlreichen theoretischen Texten zur Konkreten Poesie belegt dies. Fenollosa hatte die Ansicht vertreten, dass die ideale Sprache keinen skripturalen, sondern einen pikturalen Charakter aufweisen sollte: „Such a pictorial method, whether the Chinese exemplified it or not, would be the ideal language of the world.“609 In der Tradition einer solchen Ansicht stand auch Eugen Gomringer, der klare Vorstellungen von einer an der Struktur der chinesischen Schriftzeichen orientierten Universalsprache formuliert hat, und zwar u.a. im Rahmen seiner 23 punkte zum problem «dichtung und gesellschaft» (1958): 15. modell der neuen universalen gemeinschaftssprache: sprachtypologisch: isolierende sprache, möglichst wenig flektierend. morphologisch und syntaktisch: einfache elemente, den wichtigsten gebräuchlichen wortsprachen gemeinsam angehörend, werden nach eindeutigen syntaktischen regeln zusammengestellt (durchdringung der wortsprachen mit symbolischer logik). psychologisch-soziologisch: mitteilungscharakter, dialogisch, verwendung von objektivierten formen, die gleiche oder ähnliche reaktionen hervorrufen, ähnlich den internationalen verkehrszeichen. individuelle formen dienen als speicher. semantisch: auf der ebene des sich 606 Fenollosa (1936), S. 24. 607 May (1975), S. 295. 608 Ähnlich wie Fenollosa bewertete auch Otto Neurath die Kanji-Schriftzeichen. Vgl. beispielsweise Neurath (1980), S. 105: „The present writing in China and Japan is a writing in signs, and every sign is representative of a thing or an idea, etc. [...].“ 609 Fenollosa (1936), S. 31.

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bildenden gemeinschaftserlebnisses universalen ausmaßes werden gleiche ereignisse gleich bezeichnet. 16. eine universale gemeinschaftliche sprachauffassung ist ausdruck einer universalen kultur. […] 18. dichtung kann heute den kern der zukünftigen universalen gemeinschaftssprache bilden.610

Gomringers Positionen zeigen, dass in den Nachkriegsjahren wieder einmal das Chinesische als das Paradigma einer universell gültigen Sprache im Raume stand. Nachdem Leibniz im 17. Jahrhundert aus sprachphilosophischen Überlegungen heraus das Chinesische als das Modell einer universalen Schriftsprache favorisiert hatte, war Fenollosa zu Beginn des 20. Jahrhunderts davon überzeugt, dass das Chinesische aufgrund seines isolierenden Charakters imstande sei, zu einer aus europäischer Sicht ungekannten Konkretisierung in der Dichtung beizutragen: Ein einzelnes Symbol werde hier „a splendid flash of concrete poetry“611. Stand Eugen Gomringer, der ja selbst den Traktat von Fenollosa übersetzt und herausgegeben hat,612 in dieser Tradition, so beherrschte dieses Bewusstsein etwa zeitgleich auch das Denken der Gruppe Noigandres, wie die folgende Stelle aus dem plano-piloto para poesia concreta (1958) belegt: a poesia concreta visa ao mínimo múltiplo comum da linguagem, daí a sua tendência à substantivação e à verbificação: ‘a moeda concreta da fala’ (sapir). daí suas afinidades com as chamadas ‘línguas isolantes’ (chinês): quanto menos gramática exterior possui a língua chinesa, tanto mais gramática interior lhe é inerente (humboldt via cassirer). o chinês oferece um exemplo de sintaxe puramente relacional baseada exclusivamente na ordem das palavras (ver fenollosa, sapir e cassirer).613

Der isolierende Charakter der chinesischen Schriftsprache lässt der Verteilung der skripturalen Elemente auf der Fläche immer schon eine gewisse Bedeutung zukommen. Diese wurde von den Dichtern der Konkreten Poesie erkannt und im Sinne der eigenen Poetik gesteigert. Die führende Gruppe Konkreter Poesie in Japan, ASA (Association for Study of Arts), die 1965 von Seiichi Niikuni und Yasuo Fujitomi gegründet worden war, vertrat in ihrem Manifest aus dem Jahre 1973 auffallend ähnliche Auffassungen wie die Vertreter der Konkreten Poesie in der westlichen Welt. Diese wurden durch die Verwendung der Kanji-Sinnschriftzeichen begünstigt (v.a. die Punkte 3, 4, 6, 10 und 11). Insgesamt umfasst das Manifest 15 Punkte, die stark an Eugen Gomringer und an der Gruppe Noigandres orientiert sind: 1. Ein Gedicht ist an und für sich ein Ding. 3. Ein Gedicht soll eine Betonung aufs Design legen. 610 611 612 613

gomringer (1969b), S. 289f. Fenollosa (1936), S. 15. Das chinesische Schriftzeichen als poetisches Medium (1972). Campos/Pignatari/Campos (1987), S. 157.

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4. Ein Gedicht soll auf Schöpfung der spracheigenen Schönheit gerichtet sein. 5. Poesie soll übernational sein. 6. Poesie soll auf eine organische Beziehung zwischen Struktur und Funktion der Sprache gerichtet sein. 7. Ein Gedicht soll ein visuell-akustisch-semantisches Wesen sein. 10. Ein Gedicht ist eine Kommunikationsweise des augenblicklichen Verstehens. 11. Ein Gedicht soll der Natur einer ideographischen oder hieroglyphischen Schrift entsprechen.614

Auch Pierre Garnier folgte den Auffassungen der frühen konkreten Dichter über die Eignung chinesischer Schriftzeichen im Sinne einer international verständlichen und universal anwendbaren Sprache bzw. Schriftsprache für die Dichtung. In den im Jahre 1966 zusammen mit Seiichi Niikuni verfassten Poèmes franco-japonais erscheint – wie in den meisten japanischen Beispielen der Konkreten Poesie – Kanji, so die Bezeichnung für die chinesischen Schriftzeichen, die die japanische Schrift verwendet. Sie realisiert im Gegensatz zur japanischen Silbenschrift Kana keine grammatikalischen Morpheme.615 Die Poèmes franco-japonais sind das erste poetische Zeugnis einer europäisch-japanischen Zusammenarbeit: Cette première tentative de rapprocher, de joindre et de rendre indissociables dans une même œuvre les langues japonaise et française ne pouvait être faite que dans le cadre du Spatialisme et de la poésie expérimentale qui considèrent la langue comme une matière que le poète met en œuvre.616

Die Gedichte dieser Sammlung zeugen sowohl von der Überzeugung eines hohen ästhetischen Wertes der Kanji-Schriftzeichen, die sie für die Konkrete Dichtung prädestiniert, als auch deren hieraus folgenden auch jenseits nationaler linguistischer Codes bestehenden universalen Charakter. So nimmt es wenig wunder, dass der Sammlung ein entsprechendes manifestähnliches Vorwort vorangestellt ist: Position 3 du spatialisme : pour une poésie supranationale (1966). Die Schaffung einer supranationalen (Schrift-) Sprache setzte nach Garnier und Niikuni vor allem Folgendes voraus: Le poète crée dans chaque langue […] des cristaux linguistiques, avec les informations esthétiques que peut fournir, sur l’aile linguistique la plus vaste, la langue considérée. Par cette création d’objets linguistiques, par le travail objectif des langues considérées comme matière, le poète dépouille ces langues d’un contenu sentimental ou historique, expressionniste ou psychique. Seules subsistent les structures, c’est-à-dire une esthétique. Ainsi les poètes « démythifient » la langue […].617

614 615 616 617

Zitiert nach Kamimura (1986), S. 45. Erläuterungen zur japanischen Schrift in Mukai (1991), S. 65f. Garnier (2008), S. 238. Garnier (1968), S. 148.

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Allen geschichtlichen und sentimentalen Gehaltes entledigt, sollte die aus kristallinen linguistischen Elementen gebildete suprantionale Sprache keine ihr aufoktroyierten Inhalte, sondern nur ihre eigenen Strukturen kommunizieren. Hieraus resultierten weitreichende Konsequenzen: „Le Spatialisme a pour but le passage des langues nationales à une langue supranationale et à des œuvres qui ne sont plus traduisibles mais transmissibles sur une aire linguistique de plus en plus étendue.“618 Die Préface hat damit die Möglichkeiten für eine japanisch-französische poetische Kooperation benannt.

Abb. 51  Pierre Garnier und Seiichi Niikuni, ohne Titel (1966)

In Le Spatialisme en chemins (1990) haben Ilse und Pierre Garnier diesem Gedicht619 folgende Erläuterungen vorangestellt: Ciel et feu – avec cette concentration du feu en un lieu (le soleil ?) – le ciel est un labyrinthe, un mandala, au centre une issue blanche vers l’origine – celle du monde ? – et des chemins en carré. On suit dans le ciel – représenté par un carré – les constellations des lettres occidentales et des signes japonais : c’était là la première tentative d’unir en une œuvre le français et le japonais. Si les signes occidentaux tracent une image géométrisée, donc rationelle malgré la liberté de l’exécution, les signes japonais détruisent cet équilibre en se massant en un lieu décentré, sensible et vivant.620

In diesem Gedicht durchdringen und überlagern sich teilweise der französische Begriff ,ciel‘ und das chinesische Schriftzeichen für Feuer. Beide entstammen zwei vollkommen unabhängigen Zeichensystemen, die als aufs Engste miteinander verbunden präsentiert werden. Der Begriff ,ciel‘ dominiert das Bild, denn seine Verteilung auf dem Papier nimmt 618 Garnier (1968), S. 148. Hervorhebung im Original. 619 Garnier (2008), S. 254. 620 Garnier (1990), S. 43.



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wesentlich mehr Fläche in Anspruch als diejenige des chinesischen Sinnschriftzeichens. Die Anordnung des französischen Wortes lässt Umrisse von konzentrischen Quadraten erkennen, die jedoch immer wieder von weißen Stellen unterbrochen sind. Zwar spielt das Quadrat – vor allem als bevorzugtes Publikationsformat – in der Konkreten Poesie eine bedeutende Rolle, jedoch könnte die Wahl für das Quadrat im vorliegenden Fall darüber hinaus einen weiteren Grund haben, nämlich die intendierte Verbindung des Französischen mit dem Japanischen auf der visuellen Ebene. Das Quadrat ist nämlich die Form, nach der alle chinesischen Schriftzeichen konstruiert sind.621 Schon an dieser Stelle ereignet sich  – auf den ersten Blick erkennbar  – „das Zusammentreffen des Französischen und Japanischen […] unmittelbar über die optisch-strukturelle Ebene und nicht über den Umweg und die Diskursivität des Semantischen“622. Andererseits zerstört die Anordnung der chinesischen Schriftzeichen den soeben erläuterten Eindruck von Quadraten, denn sie sind nach keinem erkennbaren Ordnungsprinzip auf der Papierfläche verteilt. Was sofort auffällt, und was auch von Pierre und Ilse Garnier in ihrem Selbstkommentar als Erstes thematisiert wird, ist die auffallende Konzentration des chinesischen Zeichens für Feuer in der unteren rechten Hälfte des Textes. In deren Mitte sind die chinesischen Schriftzeichen so übereinander und auch über die französischen Buchstaben und Buchstabenfragmente gelagert, dass alle Zeichen nicht mehr zu entziffern sind. Dies ist die einzige Stelle im Text, an der die beiden Schriftsysteme gewissermaßen miteinander verschmolzen sind. Sonst haben Garnier und Niikuni gerade die Verschmelzung beider vermieden, denn es ging ihnen ja um die poetische Inszenierung der „optisch-strukturelle[n] Durchdringung der beiden Systeme“623. Diese setzt notwendigerweise die Heterogenität des Zeichenmaterials voraus. Ober- und unterhalb dieses Ballungszentrums des chinesischen Sinnschriftzeichens erscheint dieses vereinzelt auf den weißen Flächen zwischen den mit Buchstaben c, i, e oder l bedruckten Stellen. Auf diese Weise bevölkert dieses wie Funken den Himmel. Wie dieses Gedicht besitzen auch die anderen des Zyklus keinen deskriptiven oder narrativen Charakter. Roland Barthes Charakterisierung des Haiku könnte man daher auf die Poèmes franco-japonais übertragen. Ebenso wie das Haiku ist jedes Gedicht der Sammlung „contre-descriptif, dans la mesure où tout état de la chose est immédiatement, obstinément, victorieusement converti en une essence fragile d’apparition […].“624 Wesentlich stärker als das soeben analysierte Gedicht ist das nächste Beispiel625 ikonisch gestaltet. Nur durch eine Betrachtung wird man sich das visuelle Gebilde, das sich einem da auf der Papierseite darbietet, jedoch kaum erklären können. Erst durch die sich mehr oder weniger schwierig gestaltende Entzifferung erfährt es eine Semantisierung und damit zugleich eine Konkretisierung. 621 Vgl. May (1975), S. 300: „Alle Zeichen passen genau in ein gedachtes Quadrat, das innerhalb einer Schriftgröße für das einfachste wie für das komplizierteste Zeichen gleich ist.“ Der Lettrist Lemaître hat diese Konstruktionsweise für die Buchstaben seines alphabet Lemaître amélioré (1953) übernommen: Auch diese lassen sich einem imaginären Quadrat einschreiben. 622 Gappmayr (2004), S. 160. 623 Gappmayr (2004), S. 157. 624 Barthes (1993), S. 102. 625 Garnier (2008), S. 248.

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Abb. 52  Pierre Garnier und Seiichi Niikuni, ohne Titel (1966)

Entziffert werden können hier zwei Buchstaben des lateinischen Alphabets, nämlich c und o. Diese scheinen sich an mehreren Stellen vor den Augen des Betrachters aufzulösen, was die ,Lektüre‘ dieses Textes zusätzlich erschwert. Unter Berücksichtigung der visuellen Gestaltung des Textes auf der Papierseite wird der Leser geneigt sein, die beiden erkennbaren Buchstaben durch einen dritten zu ergänzen, um so den französischen Begriff cocon zu erhalten. Auch in diesem poème franco-japonais finden sich neben den Buchstaben des lateinischen Alphabets chinesische Sinnschriftzeichen. Im Gegensatz zu den Buchstaben lassen sich diese jedoch nicht entziffern, zumal hier jeweils mehrere Zeichen übereinander gelagert sind. Wichtiger als deren Entzifferung ist in diesem Text jedoch der Umstand, dass sich zwei unterschiedliche Zeichensysteme gegenseitig durchdringen. Es geht den beiden Dichtern Garnier und Niikuni weniger um die genaue Semantik der verwendeten Zeichen – auch die Buchstaben des französischen Begriffes sind nicht immer leicht zu erkennen  – als vielmehr um deren Zusammenspiel auf der visuellen Ebene, das schließlich relativ unweigerlich zum Eindruck eines Kokons führt. Die Nicht-Lesbarkeit der chinesischen Schriftzeichen und die teilweise verblassten Buchstaben des lateinischen Alphabets könnten auf der visuellen Ebene auf die Struktur eines fein gesponnenen Kokons verweisen. Auch die vielen weißen Flächen zwischen den bedruckten Stellen könnten auf die leicht zerreißbare Struktur eines Kokons hinweisen. In jedem Fall besitzen die verwendeten Zeichen einen stark ikonischen Charakter.

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Das Thema des nächsten Textes aus den Poèmes franco-japonais626 ist das Meer, dem sich Pierre Garnier in vielen seiner poetischen Produktionen gewidmet hat:

Abb. 53  Pierre Garnier und Seiichi Niikuni, ohne Titel (1966)

Auch in diesem Gedicht erscheinen die französischen Elemente mehr oder weniger bruchstückhaft. Der Begriff ,mer‘ taucht kein einziges Mal auf, dafür aber die an seiner Bildung beteiligten Buchstaben. Diese sind entweder ganz oder fragmentarisch abgedruckt, und zwar so, dass jeweils der Buchstabe m über dem Buchstaben e und dieser über dem Buchstaben r steht – und das scheinbar ad infinitum. Die Entzifferung der Buchstaben fällt auch dort, wo sich deren Druckerschwärze aufzulösen scheint, nicht schwer. Sind die drei Buchstaben und ihre vertikale Disposition auf der Fläche des Papiers erst erkannt, liegt es relativ nahe, dass der Leser den Begriff ,mer‘ bildet. Begünstigt wird dieses Vorgehen dadurch, dass die Buchstaben in gebogenen Streifen angeordnet sind, und zwar so, dass die Biegung jeweils am oberen und unteren Rand sehr viel stärker ausfällt. Dies erinnert an die typische Vorstellung von Wellen und deren Bewegungen. Wären da nicht noch die chinesischen Schriftzeichen für Tempel, die zwischen den Buchstaben des lateinischen Alphabets erscheinen, so könnte eine Analyse dieses spatialistischen Textes an dieser Stelle enden. Es erscheinen aber eben noch chinesische 626 Garnier (2008), S. 249.

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Schriftzeichen. Diese sind so verteilt, dass sie die mit der Anordnung der lateinischen Buchstaben angedeuteten ruhigen Wellenbewegungen zu stören scheinen, denn sie sind auf horizontalen Parallelen angeordnet. Die Dynamik der Wellen bildet einen starken Gegensatz zur Statik des Bauwerkes. „Den harmonischen Wellenbewegungen, in denen der Begriff ,mer‘ mitschwingt, stehen die in statischer Linearität angeordneten Schriftzeichen für Tempel gegenüber.“627 Eine Gemeinsamkeit zwischen den zum Begriff ,mer‘ verbundenen Buchstaben des lateinischen Alphabets und den chinesischen Sinnschriftzeichen besteht darin, dass beide die Papierfläche in der Vorstellung des Lesers in einen Raum verwandeln, in dem die skripturalen Zeichen jeweils einen bestimmten Ort zugewiesen bekommen zu haben scheinen. Weitere Parallelen bestehen darin, dass die beiden Begriffe ,Meer‘ und ,Tempel‘ – zumindest im poetischen Werk Pierre Garniers – eine religiöse Dimension beinhalten und „Manifestationen des Archaischen“628 benennen. Betrachten wir nun ein Gedicht,629 das Seiichi Niikuni allein verfasst hat und das immer wieder mit Apollinaires Il pleut630 aus seinen Calligrammes (1918) verglichen wird:631

Abb. 54  Seiichi Niikuni, rain (1966)

627 Gappmayr (2004), S. 160. 628 Gappmayr (2004), S. 160. 629 Niikuni (1979), o. S. Auch abrufbar unter folgendem Link: http://www.nmao.go.jp/english/niikuni/ works/win01.html [zugegriffen am 16.12.2009]. Hier, wie im Folgenden bei allen anderen Beispielen japanischer Konkreter Poesie, wird, falls ein Titel existiert, dieser in englischer Sprache angegeben. 630 Abdruck von Il pleut in Apollinaire (1965), S. 203. 631 Vgl. beispielsweise Mukai (1991). Das Thema des Regens besitzt in der Dichtung eine lange Tradition, die von der Antike bis ins 21. Jahrhundert reicht. Eine Analyse des bekannten Gedichtes La pioggia nel pineto (1902) von Gabriele D’Annunzio in Scholler (2009), S. 204ff.



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Dieses ,Regengedicht‘ ist ein berühmtes Beispiel für einen für Niikuni charakteristischen Gedichttyp, nämlich das grid poem. In all seinen Gedichten dieser Art sind die chinesischen Schriftzeichen Kanji in Form eines Rastergitters angeordnet. Der vorliegende Text weist eine kaum zu überbietende Reduktion auf: Ganze 455mal erscheint ein Zeichen, das aus vier kleinen Partikeln besteht, und einmal erscheint eine Variation dieses Zeichens. Gerade das zahlenmäßig so unterlegene Zeichen ist dabei von großer Bedeutung für die Sinnkonstitution des Textes, und zwar deshalb, weil es die große Masse der anderen Zeichen semantisch eindeutig auflädt. Bei diesem nur singulär auftretenden Zeichen handelt es sich um das chinesische Schriftzeichen für Regen, auf dessen hieroglyphischen Ursprung zu Recht hingewiesen wurde.632 Dies hat im Wesentlichen zwei Auswirkungen auf die innerhalb des Rastergitters verteilten kleinen Partikel: Sie werden kontextbedingt mit dem System der chinesischen Schriftzeichen in Verbindung gebracht, und sie bekommen die Konnotation von Regentropfen, denen sie optisch ähneln. Diese Konnotation wird dadurch verstärkt, dass sie schräg auf der Papierfläche angeordnet sind. Die Partikel verweisen somit sowohl auf das skripturale Zeichen, an dessen Bildung sie maßgeblich beteiligt sind, als auch auf das außertextuelle Phänomen des Regens: „Als Zeichen erscheinen sie in einem Schwebezustand zwischen konstitutiv für das sprachliche Zeichen und inhaltlich konnotierter bildlicher Ebene desselben Zeichens.“633 Im Gegensatz zu vielen anderen Beispielen japanischer Konkreter Poesie stellt dieses Gedicht die Ideographie der chinesischen Schriftzeichen weder in Frage, noch hinterfragt es sie. Niikuni hat im vorliegenden Gedicht im Gegensatz hierzu gerade den ideographischen Ursprung des chinesischen Schriftzeichens für den Begriff ,Regen‘ erhellt und die mögliche ursprüngliche Bildung dieses Zeichens in Szene gesetzt: „The surpris­ ing manner in which the author decomposes and then reconstructs this character bril­ liantly recalls to life its original hieroglyphic nature, nearly forgotten in everyday use.“634 Dadurch, dass das einzige chinesische Schriftzeichen erst ganz unten im Text erscheint, wird besondere Aufmerksamkeit auf den materialen Aspekt dieses Schriftzeichens gelegt, denn zunächst nimmt der Rezipient ja nur die aus diesem herausgelösten Partikel wahr, die in einer Ähnlichkeitsbeziehung zu Regentropfen stehen. Auf diese Weise hat Niikuni vorgeführt, wie im Chinesischen ursprünglich „die optisch-semantische Qualität eines Wortes die Auswahl des Zeichens“635 bestimmt hat. Zugleich liegt die Konnotation mit auf dem Boden auftreffendem Regen nahe.

632 Vgl. Mukai (1991), S. 61. 633 Gappmayr (2004), S. 155. 634 Mukai (1991), S. 61. Vgl. hierzu May (1975), S. 304f.: „Eine Reaktualisierung eines ursprünglichen Bildes unternimmt Niikuni in seinem Text Regen, indem er die erkennbaren, die eigentlich anschaulichen Elemente des Zeichens herauslöst, es also auf seine nicht arbiträren Teile reduziert; der Rest des Zeichens wird nicht isoliert dargestellt, da er in seiner heutigen Gestalt keine bildlichen Assoziationen mehr wecken kann. Die so herausgelösten Elemente sind lautlich nicht mehr realisierbar […], sie repräsentieren nicht mehr Sprache, sie ‚besagen‘ nichts mehr, können nur noch zeigen.“ 635 Gappmayr (2004), S. 155.

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Das nächste Gedicht,636 ebenfalls von Niikuni, macht sich die Ähnlichkeit zweier chinesischer Schriftzeichen zunutze, wie dies in der japanischen Konkreten Poesie relativ häufig der Fall ist. Im vorliegenden Fall ist die Ähnlichkeit der Zeichen nicht willkürlich gewählt, sondern durch die Zugehörigkeit der beiden korrespondierenden Begriffe (Fluss und Sandbank) zu einer gemeinsamen Isotopieebene und die damit einhergehende semantische Nähe zu rechtfertigen. Auf die große Ähnlichkeit der beiden Schriftzeichen wird der Leser durch die Konjunktion ,oder‘ im Titel hingewiesen. Zunächst wäre ein ,und‘ ja näher liegend gewesen.

Abb. 55  Seiichi Niikuni, river or sandbank (1966)

Auch dieser Text ist als Rechteck gestaltet, das mehr oder weniger an die quadratische Grundform aller chinesischen Sinnschriftzeichen erinnert. Von daher schwingt hier von Anfang an eine Reflexion über die Bildung der chinesischen Schriftzeichen mit, noch ehe man das Gedicht näher betrachtet. Verstärkt wird eine solche Reflexion hier dadurch, dass Niikuni zwei Schriftzeichen (Kanji für Fluss und Sandbank) verwendet hat, die eine große visuelle Ähnlichkeit aufweisen. Beide unterscheiden sich lediglich durch die Hinzufügung von drei kleinen diagonal angeordneten Strichen beim Zeichen für Sandbank. 636 Niikuni (1979), o. S. Auch abrufbar unter folgendem Link: http://www.nmao.go.jp/english/niikuni/works/win02.html [zugegriffen am 16.12.2009].



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Auf diese Weise gelingt es der Kanji-Schrift, die räumliche Nähe, die beide Begriffe in der Realität zueinander haben, in die Ebene der Skripturalität zu transponieren. Betrachten wir nun die beiden Zeichen näher: Wie für viele andere Sinnschriftzeichen gilt auch für diese, dass ihnen „bildhafte Elemente inhärent sind“637. Die den beiden Zeichen zugrunde liegenden drei kurzen Linien bilden vor allem dadurch, dass die erste von ihnen leicht gebogen ist, einen ebenfalls leicht gewundenen Flusslauf umrisshaft nach. Die skripturalen Zeichen verweisen durch ihre visuelle Gestalt also selbst auf die visuelle Gestalt des außersprachlichen Referenzpartners, den der jeweils zugeordnete Begriff benennt. Im Falle der drei hinzugefügten Linien beim zweiten Zeichen (Sandbank) bewirkt deren Druckerschwärze den Eindruck einer Verdichtung, die eine Sandbank im Vergleich mit einem Fluss aufweist. Um chinesische Schriftzeichen bzw. um ein einziges chinesisches Schriftzeichen geht es auch in flame (1985)638 von Ryojiro Yamanaka. Dieses Gedicht weist die bereits erläuterte beliebte Methode der Dichter Konkreter Poesie auf, das eingesetzte Zeichenmaterial einem inszenierten Auflösungsprozess zu unterziehen, den Text mehr oder weniger verschwinden zu lassen, um dem Leser so die Materialität der beteiligten Zeichen eindringlich vor Augen zu führen. In Yamanakas Gedicht kommt der Impuls speziell der Dichter japanischer Konkreter Poesie, die Bildung der chinesischen Schriftzeichen in Szene zu setzen, hinzu.

Abb. 56  Ryojiro Yamanaka, flame (1985)

Es fällt sofort auf, dass dieses Gedicht – im Gegensatz zu den vorangegangenen Beispielen – nicht als Quadrat oder Rechteck gestaltet ist. Dies hängt mit seiner Thematik zu-

637 May (1975), S. 305. 638 Abgedruckt in aktuelle konkrete und visuelle poesie aus japan (1986), S. 27.

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sammen, der eine solch strenge Anordnung zuwiderlaufen würde, wie gleich ersichtlich werden wird. Yamanaka hat in seinem Text – ebenso wie Niikuni in river or sandbank – zwei chinesische Sinnschriftzeichen verwendet, und zwar das für Feuer (unten) und das für Flamme (oben). Auch sie weisen eine große visuelle Übereinstimmung auf. Diese beiden Zeichen sind nicht einfach auf der Papierfläche verteilt, sondern es wird im Text ein Prozess abgebildet, der drei Phasen durchläuft: Zunächst erscheinen rechts unten vier Feuer-Zeichen, im Mittelteil hingegen sieht der Leser sich mit überdimensional groß gestalteten schwarzen Balken und anderen relativ undefinierbaren Formen konfrontiert, die schließlich, oben rechts und links, in zwei Flammen-Zeichen auslaufen. Hier wird vorgeführt, wie sich das Zeichen für Feuer auflöst, und zwar deshalb, weil dies an ein reales Feuer erinnert, dass eben nicht eine bestimmte Struktur aufweist, sondern in dem nur das unkontrollierte Züngeln einzelner Flammen zu erkennen ist. An ein solches Flammenszenario erinnert die Verteilung der großen und dicken Zeichen auf der Papierfläche im Mittelteil des Gedichts. Und ganz konkret benannt ist dies in den Zeichen für Flamme im oberen Teil. Der Text geht über die rein sprachliche Reflexion – die Reflexion über die Bildung chinesischer Schriftzeichen – bei weitem hinaus, denn er macht auch deutlich, dass Feuer als solches nicht existiert bzw. für den Beobachter nur in Form von Flammen zu erkennen ist. Der Begriff ,Feuer‘ benennt daher ein Abstraktum, das über seine konkreten Bestandteile definiert wird. Auch das letzte zu analysierende Beispiel für japanische Konkrete Poesie639 nutzt für das Arrangement der Zeichen nicht die quadratische Grundstruktur der chinesischen Sinnschriftzeichen. Hier haben wir es stattdessen mit einer zirkulären Disposition skripturaler Zeichen zu tun, die, versteht man den Titel als Interpretationshilfe, den zyklischen Prozess von Leben und Sterben repräsentieren soll:

Abb. 57  Chima Sunada, living and death, o. J.

639 Klonsky (1975), S. 278.



Gedichte aus chinesischen Schriftzeichen

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Insgesamt 43-mal erscheint im vorliegenden Kreisgedicht das chinesische Sinnschriftzeichen für Leben und nur einmal dasjenige für Tod. Zunächst und vor allem macht dieser Text eines deutlich: Leben und Tod gehören untrennbar zusammen und ergeben gemeinsam den Kreis als die vollkommenste aller geometrischen Formen. Im Gegensatz zu anderen zyklisch arrangierten Gedichten aus dem Umfeld der Konkreten Poesie – nicht nur in Japan – ist an jedem beliebigen Punkt der Kreislinie die konventionelle horizontale Ausrichtung der Kanji-Schriftzeichen gewahrt. Auf diese Weise erleichtert Chima Sunada den Lesern seines Gedichts natürlich dessen Lektüre erheblich. Zumal die Position des Zeichens für Tod ambivalent bleiben muss  – es kann sich sowohl um den Anfang als auch das Ende der Kreislinie handeln –, kann das Leben sich auf das Leben nach der Geburt und/oder auf das Leben nach dem Tode beziehen. Die Struktur des Textes lässt beide Möglichkeiten zu. Die auf diese Weise suggerierte Vorstellung von einem ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen erinnert stark an analoge Vorstellungen in den östlichen Religionen (Hinduismus, Buddhismus und Jainismus), in denen dieser Zyklus des Seins mit dem Begriff Samsara bezeichnet wird. Betrachten wir abschließend zwei Gedichte, die vorführen, wie Buchstaben des lateinischen Alphabets zu chinesischen Schriftzeichen oder zumindest chinesischen Schriftzeichen nachgebildeten Zeichen transformiert werden können. Das erste Beispiel640 stammt von einem der Gründungsmitglieder der Gruppe Noigandres:

Abb. 58  Décio Pignatari, LIFE (1958)

Es handelt sich um eine Sequenz von sechs ,Letternbildern‘, die eine unterschiedliche Anzahl skripturaler Zeichen aufweisen. Die ersten vier ,Letternbilder‘ zeigen jeweils eine Majuskel des Titelbegriffes „LIFE“. Diese erscheinen dabei nicht in der richtigen Reihenfolge, sondern auf ein I folgt ein L, dann erscheint ein F und schließlich ein E. Nur dieses nimmt daher die korrekte Position im Begriff ein. Entscheidend für die Reihenfolge der Majuskeln im Gedicht war nicht ihre Reihenfolge im Begriff, sondern ihre materiale Komplexität. Daher beginnt Pignatari seine Buchstabenfolge mit der einfachsten Majuskel des lateinischen Alphabets, nämlich dem I. 640 Abgedruckt in Williams (1967), o. S.

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Abb. 59 Chinesisches Schriftzeichen aus LIFE (1958)

Skriptural-pikturale Intermedialität

Auf die vier Buchstaben folgt ein Zeichen, das besondere Aufmerksamkeit verdient, und abgeschlossen wird die Sequenz durch den vollständigen Begriff „LIFE“. Kehren wir zum skripturalen Zeichen auf dem fünften ,Bild‘ zurück und betrachten es im Detail. Dieses Zeichen wird primär dadurch charakterisiert, dass es an zwei Zeichensystemen partizipiert, nämlich dem lateinischen Alphabet und dem chinesischen Schriftsystem. Diese doppelte Zugehörigkeit erklärt sich folgendermaßen: Einerseits ergibt sich das vorliegende Zeichen durch eine teilweise vertikale Achsenspiegelung und eine Überlagerung der vier den Begriff „LIFE“ bildenden Majuskeln, und andererseits stellt das Zeichen das chinesische Schriftzeichen für den Begriff ,Sonne‘ dar. Dies ist insofern kohärent, als die Sonne allgemein als Quelle des Lebens gilt. In einem Kommentar von Haroldo de Campos zu LIFE heißt es dementsprechend: The progression of the letters corresponds to the progression of their traces. […] With four traces we have a nucleus, where all letters are condensed and resumed. By a coincidence, this nucleus is also the Chinese ideogram for sun (jih; Japanese hi), the vital principle.641

In gewisser Weise ähnelt das folgende Gedicht642 von Eugen Gomringer Décio Pignataris LIFE. Zunächst fällt auf, dass der Dichter in seinem Gedicht nur die fünf Vokale verwendet hat, die er dabei nicht in der traditionellen Reihung anführt (a, e, i, o, u). Ebenso sticht hervor, dass diese jeweils als Majuskel erscheinen. In Anbetracht dessen, dass Gomringer seit Jahrzehnten sowohl seine theoretischen Texte als auch seine Gedichte ausschließlich in Minuskeln verfasst, kann die Bezugnahme in IUAEO auf Pignataris wesentlich älteres LIFE mit großer Sicherheit angenommen werden. Führt Pignataris Gedicht vor Augen, wie Buchstaben des lateinischen Alphabets in ein chinesisches Schriftzeichen verwandelt werden, so Abb. 60  eugen gomringer, finden wir einen ähnlichen Vorgang auch im vorliegenden IUAEO (2005) Gedicht: Die Vokale U, A, E, O erscheinen vertikal aneinander gereiht und werden durch eine langgezogene vertikale Linie, die dem I entspricht, halbiert. Auf diese Weise sind Zeichen entstanden, die visuell stark an chinesische Schriftzeichen erinnern, deren Identifizierung sich allerdings wesentlich schwieriger gestaltet als in Pignataris LIFE. 641 Williams (1967), o. S. 642 gomringer (2005), o. S.



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Klaus Peter Dencker hat sich bereit erklärt, eine (spontane) Analyse vorzunehmen. Diese soll hier nun wiedergegeben werden: in dieser figur ergeben sich nun mehr oder weniger deutliche verbindungen zu chinesischen schriftzeichen. die chinesischen schriftzeichen haben in der regel im japanischen immer zwei lesungen, eine chinesische und eine japanische und in der regel immer mehrere bedeutungen. die verbindung zum chinesischen schriftzeichen ist besonders deutlich beim ersten vokal U. das chinesische schriftzeichen lautet: = SAN (chin.), yama (jap.) = der berg dass hier eine ganz deutliche verbindung angenommen werden kann, ergibt sich aus der tatsache, dass das wesentliche dieses chinesischen zeichens der verlängerte mittelstrich ist, der in gomringers figur erkennbar ist. der strich durch das A könnte ebenfalls auf ein chinesisches zeichen deuten: = EN (chin.) = Kreis, (auch yen = bezeichnung für die japanische währung) ist das zeichen ungenauer getroffen, weil das chinesische zeichen nur den kurzen mithier

telstrich besitzt und die beiden senkrechten striche länger sind (d. h. insgesamt kein quadrat ergeben).

noch schwieriger wird es beim E. mit good will könnte man sagen, dass hier zwei zeichen zusammengesetzt sind:

= NICHI, JITSU (chin.), hi (jap.) = der tag, die sonne

= SAN (chin.), mi, mitsu (jap.) = drei man findet oft das zeichen für sonne deutlich mehr in der nähe eines quadrats, allerdings besteht das zeichen für 3 aus unterschiedlich langen strichen. der strich durch das O lässt sich wieder einfacher zuordnen. das chinesische zeichen lautet: = CHU (chin.), naka (jap.) = in der mitte, innerhalb

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aber es könnte, ohne mittelstrich betrachtet, in diesem fall auch eine lesung geben: = KO, KU (chin.), kuchi (jap.) = der mund nun ist das chinesische und japanische eine strukturelle sprache, d. h., die verbindung von zwei oder mehr zeichen ergibt wieder neue begriffe. ich habe die vermutung, dass diese arbeit von gomringer in dieser richtung nicht weiter interpretierbar ist, ohne dass ich dies überprüft habe, was eine längere recherche benötigt […].643

Auch ohne eine eingehende Analyse der von Gomringer eingesetzten Zeichen bleibt ein Hinweis auf die chinesischen Sinnschriftzeichen offensichtlich. Somit steht auch dieses Gedicht im Kontext der Ersetzung des lateinischen Alphabets durch die chinesische Schrift. Abschließend soll an dieser Stelle Josef Linschingers Übertragung von Eugen Gomringers Stundenbuch (1965) nicht übergangen werden.644 Hier nun zum Vergleich Gomringers Originaltext und Linschingers japanische Variante des ersten Gedichtes des Stundenbuches:

Abb. 61  eugen gomringer, das stundenbuch (1965), I, 1 [links] josef linschinger, das stundenbuch (1965), I, 1 in Kanji [rechts]

643 Mail vom 3.12.2010 an die Verfasserin der vorliegenden Arbeit. 644 gomringer/linschinger (2005).



Poetische Collagen

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Über Linschingers Übertragung des Stundenbuches heißt es im von Gomringer verfassten Nachwort zu dieser neuen Ausgabe: nachdem das stundenbuch als fünfsprachige ausgabe seit längerer zeit bekannt ist, tritt nun noch eine übersetzung ins japanische hinzu. keine andere sprache hat bisher so sehr gefehlt wie diese. denn japan hat mir viel gegeben. besonders zur zeit der konzeption des stundenbuches war mein interesse an den werken des zen-meisters sengai gefördert worden.645

Hier wird noch einmal die wichtige Rolle der japanischen Schrift und damit zugleich der chinesischen Schriftzeichen in der Konkreten Poesie, die vor allem auf ihren isolierenden und mehr oder weniger stark ausgeprägten ideogrammatischen Charakter zurückzuführen ist, deutlich.

2.7 Poetische Collagen Einen sehr hohen Grad an Intermedialität in der Dichtung nach 1945 weisen poetische Collagen oder Montagen auf.646 Diese zeugen primär vom Einfluss des Futurismus, Dadaismus und Surrealismus. Es geht im Folgenden ausschließlich um poetische Collagen oder Montagen und nicht um solche aus dem Bereich der Kunst – auch wenn die Grenzen in diesem Bereich fließend und die Zuordnungen daher nicht immer eindeutig zu treffen sind – und auch nicht um die Collage als „eine grundhaltung künstlerischen arbeitens […], die die ganze moderne durchzieht“647. Die beiden Begriffe poetische ,Collage‘ und ,Montage‘ werden im Folgenden für all jene Phänomene verwendet, die separate skripturale und pikturale Elemente zu einer neuen Schrift-Bild-Kombination vereinen, wobei jedoch keine Verschmelzung beider stattfindet, sondern die Heterogenität als konstitutives Merkmal bestehen bleibt. Diese Definition schließt so genannte reine Schrift-Collagen aus, die lediglich unterschiedliche Typographien aufweisen. Die folgende Definition scheint mir für einen ersten Zugang geeignet zu sein, zumal sie die Heterogenität der Bestandteile hervorhebt: Montage/Collage (frz. monter: aufbauen, zusammensetzen; coller: kleben), die Begriffe bezeichnen zunächst generell den technischen Prozeß des Zusammenfügens und seine Produkte. […] Im engeren Sinne bezeichnet die M. […] wie auch die C. […] ästhetische Verfahren und Werke, die aus urspr. separaten Teilen unterschiedlicher Herkunft etwas Neues zusammensetzen. Eine solche spezifisch ästhetische Definition verlangt, daß die Partikel unvermittelt zusammengefügt sind, heterogen bleiben und als erkennbare Bruchstücke inhomogen wirken.648

645 gomringer/linschinger (2005), S. 128. 646 Adorno hat in Die Kunst und die Künste (1966) das Montage- und Collageprinzip als „Urphänomen der Verfransung [der Künste]“ bezeichnet. Vgl. hierzu Adorno (1977), S. 450. 647 mon (1968a), S. 13. 648 Nünning (2001), S. 453.

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Wenn Christina Weiss „jede Form der Vereinigung heterogener Materialien zu einer Texteinheit“649 als Collage definiert, so widerspricht dies nicht dem Aspekt der Heterogenität des verarbeiteten Materials, denn der Begriff ,Texteinheit‘ lässt durchaus zu, dass die einzelnen Bestandteile als solche erkennbar bleiben. Die hieraus resultierende Komplexität stellt eines der Hauptmerkmale dieser Kunstform dar. Nach Klaus Peter Denckers Definition der visuellen Poesie zu urteilen, könnte die Collage geradezu der Inbegriff dieser Art von Dichtung sein. Der Einsatz der – wie er sie nennt – bildnerischen Elemente macht für ihn den grundlegenden Unterschied zwischen Konkreter und visueller Poesie aus: Arbeiten der Visuellen Poesie (ich habe für mich den Begriff gewählt) sind wesentlich komplexere Gebilde und daran zu erkennen, daß neben der graphischen Qualität des Buchstabenmaterials bildnerische Elemente (Farbe, Formen, Zeichnungen, Collagen usw.) als Kontrast, Spiegelung, Verzerrung oder deutliche Illustration der Semantik von verwendeten Wörtern dienen.650

Collagetechniken finden wir in der Dichtung nicht erst nach 1945, sondern schon wesentlich früher, v.a. im Futurismus, im Surrealismus und im Dadaismus, und zwar besonders bei Raoul Hausmann, der bevorzugt Photomontagen geschaffen hat.651 Nach 1945 hat im deutschsprachigen Raum v.a. Franz Mon Collagen geschaffen, und zwar deshalb, weil die Collage sein „bevorzugtes künstlerisches Mittel auf der Suche nach dem Urzustand der Schrift“652 war. Um die Phänomene Schrift und Schriftlichkeit geht es auch im folgenden Beispiel.653 Vor der Analyse dieses Textes werden wir jedoch zunächst Mons Beschreibung der Leistung, die der Rezipient seiner Collage erbringen muss, betrachten müssen: erst die aktivität des lesers bringt den text zustande. während gewöhnlich die intention eines vorgegebenen sinnes die auswahl und ordnung des sprachmaterials steuert, wird hier ein sinnbezug erst nachträglich vom leser hergestellt. dazu befähigen uns die latenten sinnwünsche, die durch die eigene kraft vielleicht nicht erfüllbare sinnerwartung, der sich das offene sinnmuster eines solchen textes zur individuellen ausfüllung anbietet.654

„Latente Sinnwünsche“ und ein „offenes Sinnmuster“ erfordern die „Aktivität des Lesers“, um das Sinnangebot individuell zu füllen und damit zugleich das bloße Sinnangebot zu einem konkret fassbaren Sinn zu transformieren. Der Dichter baut einen solchen ja nur der Möglichkeit nach in seinen jeweiligen Text ein. Franz Mons Beschreibung geht dabei weit über die bloße Beschreibung der Rezeption seiner Collage hinaus, indem sie auf geradezu paradigmatische Weise die Forderung nach einem aktiven Leser formuliert, 649 650 651 652 653 654

Weiss (1984), S. 206. Dencker (1997), S. 174f. mon (1968b), S. 50. Gappmayr (2004), S. 97. Zitiert nach Dencker (1972), S. 81. mon (1968b), S. 50.



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die die gesamte Konkrete Poesie durchzieht und für alle ihre Gedichtformen  – nicht nur für Collagen – gilt. Dass Franz Mon im oben genannten Zitat außerdem seine Collage als einen Text bezeichnet hat, belegt, dass auch hier ein stark erweiterter Textbegriff wirksam wurde. Betrachten wir nun die bereits angekündigte Collage:

Abb. 62  Franz Mon, ohne Titel (1965)

In dieser Collage dient das Photo einer Schreibmaschine als Grundfläche, die sich in einem entsprechenden Koffer befindet und mit Zeitungsfetzen unterschiedlichster Art und Herkunft (Tageszeitung, Magazin o.Ä.) beklebt ist. Der Schriftzug „DOUBLE OFFER!“, der sich an der oberen Innenseite des Schreibmaschinenkoffers befindet, deutet darauf hin, dass es sich um eine Werbeanzeige für ein bestimmtes Schreibmaschinenmodell handeln könnte. Dieselbe Funktion erfüllt auch der Garantieaufkleber in der unteren rechten Ecke der Collage. Hier scheint Mon – wie die meisten anderen Dichter Konkreter Poesie auch – den goût de la réclame der Dadaisten übernommen zu haben.655 Dieser Gestus erinnert dabei stark an Rots olivetti-Gedicht.656

655 Vgl. Krüger (2004), S. 91. 656 Vgl. S. 121f. dieser Arbeit.

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Mit der Schreibmaschine ist ein Motiv thematisiert, dass – wie bereits ausgeführt – für die Konkrete Poesie von großer Bedeutung war. Die Schreibmaschine war ja das primäre technische Hilfsmittel zur Realisierung von Gedichten, ohne dessen Existenz es einen Großteil der Konkreten Poesie nicht geben würde.657 Mon verweist mit dem Photo der Schreibmaschine somit auf einen wesentlichen Aspekt der Herstellung Konkreter Poesie. Aus diesem Grund erhält das vorliegende Gedicht einen medienreflexiven Charakter. Das gilt auch in anderer Hinsicht, denn nicht nur die Schreibmaschine als technische Voraussetzung für die Konkrete Poesie, sondern auch deren primäres Material, nämlich die Schrift, bildet den Gegenstand dieser Collage. Die Wörter auf den Zeitungsfetzen sind bewusst so gestaltet, dass sie nicht oder nur schwer lesbar sind. Fast alle hat Mon auf dem Kopf stehend und abgerissen aufgeklebt, so dass eine Entzifferung nur in den seltensten Fällen möglich ist. Die vollständig erkennbaren Wörter sind: „you“, „get“, „shave“ und „keep“, die insgesamt alle ebenfalls mehr oder weniger auf einen Werbetext schließen lassen. Insofern kann hier kaum von der Inhomogenität des skripturalen Materials die Rede sein. Es stimmt mit Mons Konzept der Collage überein, dass er in der vorliegenden nicht nur Wörter aus Zeitungen verwendet hat, sondern auch Abbildungen, neben der einer Schreibmaschine beispielsweise die eines Frauenkopfes und die zweier nicht genau identifizierbarer Maschinen. Diese werden von Schriftfetzen teilweise überlagert. Auf diese Weise hat Mon eine enge Verbindung der skripturalen mit den pikturalen Elementen der Collage suggeriert, deren Ergebnis die prinzipielle Gleichwertigkeit beider Komponenten ist. Genau diese Gleichwertigkeit von Zeichen unterschiedlicher Zeichensysteme hat ihren theoretischen Niederschlag im erweiterten Textbegriff der Konkreten Poesie gefunden, dem Mon in seiner Collage Rechnung getragen hat. Was die skripturalen Zeichen angeht, so ging es Mon augenscheinlich nicht darum, diese zum Zwecke einer gelungenen schriftlichen Kommunikation zu verwenden, sondern darum, dem Leser ihre Materialität vor Augen zu führen. Mon hat dazu fast alle Wörter und Buchstaben deformiert, indem er nämlich mit Schriftzeichen bedruckte Seiten per Hand zerrissen hat. Durch den fragmentarischen Charakter der präsentierten Schrift konnte Mon den visuellen Aspekt der verwendeten Buchstaben besonders hervorheben. Dies bewirkte automatisch eine Störung der üblicherweise als primäre Funktionen von Schrift beurteilten Aufgaben. Die Buchstabenbruchstücke bewirken nämlich, dass das Bild […] prozesshaft [bleibt], spontan und unwiederholbar, was die Grundfunktion der Schrift als dauerhafte Fixierung des gesprochenen Wortes durchbricht und sie so vom Charakter des bloßen Vermittelns von Inhalten und Bedeutungen befreit.658

Auf diese Weise besteht in der Collage eine Spannung zwischen der gewöhnlichen Wortsemantik, der visuellen Gestalt der Buchstaben und dem semantischen Wert der pikturalen Zeichen, die alle zusammen den Text dieser Collage bilden. Mon hat dies wie folgt zusammengefasst: 657 Vgl. hierzu das Kapitel zu daktylographischen Gedichten. 658 Gappmayr (2004), S. 97.



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in den textflächen verschwimmt die grenze zum bildnerisch grafischen daher wächst den techniken der textherstellung besonderes gewicht zu mechanische oder fototechnische überlagerung der schriftelemente zerrissen zerschneiden zerknäulen und pressen collagieren bewirken die destruktion des gegebenen schriftmaterials bzw. die konstruktion neuer textformen659

Der in der Collage neu entstandene komplexe Text ist dabei signifikanterweise durch das Zerstören von Texten – in Form von Zeitungsartikeln o.Ä. –, die dem tradierten Textbegriff entsprechen, hergestellt worden. Dies versinnbildlicht auf paradigmatische Weise den notwendigen Bruch der Dichter der Konkreten Poesie mit überholten Textualitätskonzepten auf der Suche nach dem erweiterten Textbegriff, der ihren poetischen Werken zugrunde liegt. Gedichtcollagen wurden bevorzugt auch im Rahmen der poesia visiva660 in Italien – v.a. dem Gruppo 70 – produziert.661 Das Verfahren der poema-collage kam den poetischen Zielsetzungen der poesia visiva in mehreren Aspekten entgegen: Zunächst und vor allem handelt es sich bei der Collage um ein Paradebeispiel für die intermediale Verknüpfung skripturaler und pikturaler Zeichen. Dies entspricht insofern der Poetik der poesia visiva, als die entsprechenden Dichter sie als „una scrittura verbo-visiva, intermediale, sinestetica [...]“662 verstanden haben, deren eigenster Bereich „l’ampio contesto sinestetico e plurisensoriale“663 sei. Die poesia visiva war von Anfang an auf Intermedialität angelegt, nicht zuletzt auch im Sinne der Schaffung eines linguaggio globale.664 Damit einher ging die Notwendigkeit der poetischen Verarbeitung unterschiedlichster Zeichencodes, vor allem aber solcher skripturaler und pikturaler Art. Es ist eine Dichtung entstanden, die sowohl unterschiedliche Sinne des Lesers/Betrachters anspricht als sich auch einer eindeutigen Sinnfestlegung entzieht. Die Collagen der poesia visiva richten sich implizit immer gegen „dei messaggi unidimensionali“665. Des Weiteren kam die Collage den poetologischen Absichten der poesia visiva insofern entgegen, als hier alltägliches Zeichenmaterial verwendet werden konnte. Wie in der pop art stammte das verarbeitete Material aus der Alltagskultur, v.a. aus den Massenmedien und der Werbung. Es handelte sich bei der Wahl dieses Materials nicht um einen poetischen Selbstzweck, sondern es ging in der poesia visiva dezidiert um eine Zusammenführung der Bereiche Leben und Kunst. Am deutlichsten drückt dies wohl der Titel 659 Mon (1967), o. S. 660 Die Hauptschaffensphase der poesia visiva fällt in die 1960er und 1970er Jahre. Vgl. d’Ambrosio (1988), S. 11ff. 661 Pignotti/Stefanelli (1980), S. 177. 662 Pignotti (1990), S. 28. 663 Pignotti (1990), S. 46. 664 Vgl. Pignotti/Stefanelli (1980), S. 172–177. 665 Pignotti (1990), S. 41.

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aus, den Eugenio Miccini, eines der Gründungsmitglieder des Gruppo 70, einer Serie von Collagen gegeben hat: Poetry gets into Life (1975). Die entsprechenden italienischen Dichter vertraten die Meinung, dass diese beiden Bereiche im alltäglichen Leben strikt voneinander getrennt seien. Die Zusammenführung von Kunst und Leben sollte dabei nicht nur durch die Wahl des Zeichenmaterials (Ausschnitte aus Massenmedien etc.), sondern auch durch die Präsenz des Dichters in seinem poetischen Artefakt gelingen. In den Collagen Pignottis erscheint daher bevorzugt – oft neben anderen handschriftlichen Zeichen – an prominenter Stelle und farblich hervorgehoben seine Signatur. Werden Alltagsmaterialien verwendet, so geschieht dies nicht mit der Absicht, eine unreflektierte Spiegelung der Wirklichkeit zu schaffen, sondern als kritischer Kommentar zu dieser oder aber zumindest einzelner ihrer Bereiche. Hierin liegt das kritische Potenzial: „[La poesia visiva] non ignora la propria civiltà ma la nega, la ‘strana’.“666 Das Ergebnis ist ein Verfremdungseffekt im Sinne der russischen Formalisten, der hier wie dort dazu dient, Wahrnehmungsakte zu entautomatisieren, um einen kritischen Blick auf das Wahrgenommene zu bewirken. Die künstlerische Verfremdung und Bearbeitung des vorgefundenen Materials gibt dem Betrachter die Möglichkeit, aus seiner Rolle als passiver Konsument auszubrechen, indem er sich der Mechanismen ideologischer Infiltrierung durch die Massenmedien bewusst wird. Der Entlarvung der medialen Trivialisierung individueller Lebenswirklichkeit korrespondiert dabei die Entdeckung neuer Imaginations- und Handlungsspielräume, in denen sich das Ungesagte bzw. das Vergessene artikuliert.667

Gerade dadurch, dass Zeichen unterschiedlichster Systeme in den Collagen der poesia visiva zusammengeführt wurden, haben die Einzelzeichen „eine Bereicherung bzw. eine Wiederbelebung ihrer im Gebrauch abgeschliffenen Aussagekraft“668 erhalten. Alltägliches sollte durch die Rezeption von Collagen einer Reflexion unterzogen werden: „Die Objekte der Konsumwelt, die Ikonografie der Massenkultur und damit auch die ‚Sprache‘ der Massenmedien, der Werbung, der Verpackung, finden Eingang in die Kunst als direkte kritische Bezugnahme auf die Alltagswelt.“669 Vornehmlich die Sprache der Massenmedien diente als Zeichenspender für poetische Collagen, und zwar mit dem Ziel, sie als trivial und klischeehaft zu entlarven.670 Daneben haben die Dichter der poesia visiva die Zeichen für ihre Collagen prinzipiell auch allen anderen Bereichen entnommen, in denen Zeichen durch einen automatisierten und instrumentalisierten Gebrauch ihrer Materialität und ihres Eigenwertes beraubt wurden. Eugenio Miccini und Lamberto Pignotti haben ihre Dichtung beispielsweise auch als poesia tecnologica bezeichnet, „fondata sull impiego 666 667 668 669

Miccini/Perfetti, zitiert nach Giannì (1986), S. 65. Segler-Messner (2004), S. 111. Weiss (1984), S. 231. Weiss (1984), S. 227. Vgl. Pignotti (1990), S. 41: „Il ‘nuovo’ si prospetta invece come possibilità di articolare diversamente, in una grammatica orientata sinesteticamente, i segni della realtà che ci permea e include, riscattandoli dall’indifferenza quotidiana, dall’usura comunicativa, dall’omogeneizzazione del ‘discorso confezionato’.“ 670 Vgl. das Kapitel L’invadenza dei mass-media in Giannì (1986), S. 69–73.



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di moduli e di materiali tratti da linguaggi tecnologici (pubblicità, giornalismo, moda, burocrazia, commercio ecc.) dirottati dal loro uso normale e riscattati esteticamente.“671 Damit sich die kritische Potenz der poesia visiva großflächig entfalten konnte, wurden andere mediale Präsentationsformen als die Buchpublikation gesucht, die die entsprechende Dichtung durch eine gezielte Integration ins Alltagsleben einer großen Öffentlichkeit zugänglich machen konnten. Ähnlich wie die Dichter der Konkreten Poesie, allen voran Eugen Gomringer672 und Pierre Garnier, strebten auch die Dichter der poesia visiva die Präsentation ihrer Gedichte auf Mauern, Plakatwänden etc. und auch in Zeitschriften an: „Se il pubblico non cerca la poesia, la poesia deve cercare il pubblico.“673 Die folgende Collage674 aus Pignottis Serie Visibile invisibile inszeniert die Suche nach einer breiten Öffentlichkeit mithilfe der bekannten Wahrnehmungs- und Darstellungsmodi der Werbung. Bei Miccini liest man entsprechend: „Noi poeti visivi abbiamo puntato in basso, in quella lingua effettivamente parlata dalle masse, nostra fonte di ispirazione, nostro lessico e nostro oggetto di riscatto.“675

Abb. 63  Lamberto Pignotti, Visibile invisibile (1982)

Diese Collage besteht zunächst aus einer Photographie, die eine Frau zeigt. Ihr Gesicht ist nicht zu erkennen, weil sie dort größere Mengen von Wasser treffen. Die Bewegung, wie das Wasser von oben auf diese Frau hereinbricht, ist im Photo festgehalten. Ihre Gestik lässt dabei keine Rückschlüsse darüber zu, ob sie das Wasser freudig empfängt oder 671 Miccini (1972), S. 27. 672 Vgl. v.a. Gomringer (1969a): Poesie als Mittel der Umweltgestaltung. 673 Pignotti (1990), S. 89. Ähnliches hatte Carlo Belloli schon in seiner Introduzione teorica ai testi-poemi murali (1944) formuliert. Zum Streben der Dichter der poesia visiva nach einer neuen Öffentlichkeit vgl. Weiss (1984), S. 235. 674 Pignotti (2005), S. 168. Abgedruckt auch in Carrega (1988), S. 265. 675 Miccini (2000), S. 38.

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abzuwehren sucht. Auf der Photographie dieses weiblichen Körpers sind drei skripturale Bereiche auszumachen: Rechts oben erscheint in fettgedruckten Majuskeln der Begriff ,bellezza‘, links darunter die handschriftliche Signatur des Dichters sowohl in Druck- als auch in Schreibschrift und schließlich etwas tiefer die Begriffe ,visibile‘ und ,invisibile‘, die ebenfalls in Druck- und in Schreibschrift gestaltet sind. Außerdem bestehen sowohl Vor- und Nachname des Dichters als auch diese beiden Begriffe aus roten und schwarzen Buchstaben. Die pikturalen und die skripturalen Elemente interagieren miteinander und kommentieren sich gegenseitig. Die Schönheit („bellezza“) der auf dem Photo abgebildeten Frau ist an den Stellen, die nicht vom Wasser getroffen werden, sichtbar und erkennbar, die Schönheit ihres Gesichtes hingegen ist aufgrund des Wasserschwalles für den Betrachter der Collage unsichtbar oder zumindest nur der Möglichkeit nach vorhanden. Die Begriffe ,visibile‘ und ,invisibile‘ sind typographisch stark voneinander abgesetzt, denn für den ersten hat Pignotti – scheinbar als typographisches Analogon zur Sichtbarkeit, die der Begriff benennt – rote Großbuchstaben in Druckschrift gewählt, für den zweiten im deutlichen Kontrast hierzu schwarze Kleinbuchstaben in Schreibschrift, die auf die Unsichtbarkeit, für die der Begriff ,invisibile‘ steht, verweisen könnten. Gemeinsam ist beiden Begriffen, dass sie handschriftlich auf das Photo geschrieben wurden. Die typographische Gestaltung dieser beiden Begriffe taucht doppelt gespiegelt noch einmal in der Collage auf, nämlich in der Signatur des Dichters. Die Gestaltung des zweiten Begriffes („invisibile“) weist der erste Teil, nämlich der Vorname, auf, jedoch mit einer Ausnahme, die eine doppelte Spiegelung bedeutet: Die Schreibschriftbuchstaben sind im Vornamen nicht schwarz, sondern rot gestaltet. Entsprechend erscheint der Nachname des Dichters in der speziellen Typographie des ersten Begriffes („visibile“), nur dass der Nachname aus schwarzen Druckbuchstaben gebildet ist. Auf diese Weise könnte Pignotti andeuten, dass er in der Collage sowohl sichtbar als auch unsichtbar ist: Sichtbar ist er deshalb, weil er die vorliegende Collage geschaffen hat, und unsichtbar aus dem Grund, dass ihre Rezeption unabhängig von ihm als bloßem Produzenten dieses poetischen Artefaktes mit darin enthaltenen Sinnangeboten ablaufen muss. Im Gegensatz zu den Dichtern der Konkreten Poesie, die um eine möglichst objektive Dichtung bemüht waren, in der der Dichter nach der Produktion des jeweiligen Gedichts in diesem nicht mehr präsent ist, verweist die handschriftliche Signatur in Pignottis Collage zumindest „auf die Spur eines Subjekts, das dieses Ensemble arrangiert hat und ebenso der paradoxen Simultaneität von Sehen [und vor allem auch Gesehen-Werden] und Verschwinden preisgegeben ist wie die weibliche Figur“676. In der nächsten Collage,677 die uns später noch als poema semiótico begegnen wird, erscheinen Bild und Schrift in einer noch engeren und prinzipielleren Verknüpfung als in Mons und Pignottis Collage:

676 Segler-Messner (2004), S. 112. 677 Solt (1970), S. 175.



Poetische Collagen

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Abb. 64  Jean-François Bory, femme (1968)

Es wurde bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass die chinesischen Schriftzeichen auf die Dichter Konkreter Poesie eine besondere Faszination ausgeübt haben. Hatte Ernest Fenellosa bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Eignung der chinesischen Sprache für poetische Zwecke konstatiert, so haben die Dichter der Nachkriegszeit diese Eignung vielfach vorgeführt, wie in diesem Fall Jean-François Bory. Das vorliegende Beispiel lässt sich mindestens zwei Typen Konkreter Poesie zuordnen, nämlich der Collage und dem poema semiótico, das in einem eigenen Kapitel noch genauer erläutert wird. An dieser Stelle sei nur so viel festgehalten: Es handelt sich beim vorliegenden Beispiel deshalb um ein poema semiótico, weil eine Art chave léxica den Bildteil ergänzt. Das skripturale Zeichen erläutert hier das pikturale Zeichen. In diesem Fall handelt es sich jedoch nicht um eine vom Dichter willkürlich gewählte Zuordnung, wie dies für die meisten poemas semióticos gilt, sondern um eine Übersetzung des chinesischen Schriftzeichens in die französische Sprache. Zugleich kann Borys Text dem Typus der Collage zugerechnet werden, dies allerdings nicht ohne eine Einschränkung. Zwar überlagern sich hier zwei Zeichencodes collagenartig, aber beide bilden eine neue textuelle Einheit. Der für Collagen typische Tatbestand der Heterogenität ist hier also nicht gegeben. Dies ist insofern nicht der Fall, als der Text aus dem chinesischen Schriftzeichen für Frau gebildet wird, in dessen Form das Schwarz-Weiß-Bild eines nackten Frauenoberkörpers geschnitten worden ist.678 Zumal

678 Vgl. Clüver (1989), S. 84ff.

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Skriptural-pikturale Intermedialität

dies der einzige Bestandteil der vorliegenden poetischen Collage ist, handelt es sich um einen hochgradig minimalistisch gestalteten Repräsentanten dieser Gattung. Vom politischen Engagement der brasilianischen konkreten Dichter  – v.a. der Gruppe Noigandres  – war bereits die Rede. Ein solches findet man selbstverständlich auch in Collagen. Die folgende kommentiert das Wirtschaftsverhalten der USA bzw. den Status des US-Dollars als internationale Leitwährung:679

Abb. 65  Décio Pignatari, One Dollar (1963)

Die Absicht dieser Collage wird nur dann nachvollziehbar, wenn man sie dem lebensweltlichen Objekt gegenüberstellt, das augenscheinlich als Vorbild gedient hat, nämlich der US–1-Dollar-Banknote. Pignataris Collage erweist sich somit als ein ready-made: Für die Technik der Collage – sowohl in der Kunst als auch der Literatur – ist charakteristisch, dass die entsprechenden Künstler Objekte aus der Alltagsrealität verarbeiten: „Jedes Sediment der Realität ist prinzipiell als Fundstück für die Collage verwendbar.“680 Auf diese Weise kann eine intensive Auseinandersetzung mit den jeweiligen lebensweltlichen Verhältnissen stattfinden. Kunst wird in solchen Fällen per se zum Kommentar der Wirklichkeit. Dieser Kommentar kann relativ leicht von einem impliziten, der immer gegeben ist, wenn objets trouvés verarbeitet werden, in einen expliziten verwandelt werden. Die vorliegende Collage führt dies eindringlich vor Augen. Décio Pignatari hat als Vorlage für seine Collage zwar die US–1-Dollar-Note verwendet, jedoch nicht, ohne diese zu verändern: Bei einem Vergleich beider Scheine sticht sofort ins Auge, dass dort, wo in der Originalbanknote – und übrigens auch in Andy Warhols Bleistiftzeichnung mit dem Titel One Dollar (1962) – der Kopf George Washingtons (1732–1799, Amtszeit 1789–1797) abgebildet ist, in Pignataris Version ein Jesuskopf mit Dornenkrone und leidendem Gesichtsausdruck erscheint. Somit ruft Pignatari natürlich gleich eine Reihe von Assoziationen hervor, wie beispielsweise die Kreuzigung und die vorausgehenden Demütigungen, die Jesus erleiden musste. Der berühmte und gefeierte erste Präsident der USA wurde durch das Bild eines unschul679 Pignatari (1986), o. S. Im Original ist Pignataris ,Banknote‘ ca. 38 cm lang und 16 cm breit und somit natürlich wesentlich größer als die US–1-Dollar-Note. Die Übergröße könnte auf die Größe der USA – in geographischer und machtpolitischer Hinsicht – hinweisen. 680 Weiss (1984), S. 206.



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dig leidenden Menschen ersetzt. Im Original von Pignataris Text befindet sich auf der Rückseite der Satz Cr$isto é a solução. Dieser skripturale Zusatz wird für gewöhnlich in der Sekundärliteratur jedoch übergangen, und das, obwohl er insofern bedeutsam ist, als hier nochmals die auf der Vorderseite durch pikturale Mittel hergestellte Verbindung zwischen Jesus und der Währung – durch Einfügen des Dollarzeichens in den Namen Cristo – bestätigt und zugleich Jesus als Lösung des hier implizierten Problembereichs bezeichnet wird. Beim Rezipienten wird durch die Vorderseite des Textes dabei der Eindruck erzeugt, Jesus sei eine Universallösung für durch den US-amerikanischen Dollar bedingte Wirtschafts- und Finanzschieflagen. Aus einer gattungsorientierten Perspektive betrachtet, rückt Pignataris Text durch den rückseitigen Zusatz „Cr$isto é a solução“ in die Nähe der literarischen Gattung des Emblems: Der Titel One Dollar könnte der inscriptio, die ,Banknote‘ der pictura und die Wörter auf der Rückseite der subscriptio entsprechen. Durch die Ersetzung Washingtons durch Jesus könnte Pignatari Folgendes suggerieren: Der Dollar könnte symbolisch für das wirtschaftliche Verhalten der USA stehen, das dazu beiträgt, dass die schuldlos Verarmten dieser Welt immer ärmer werden. Statt an die glorreichen Erfolge des ehemaligen Präsidenten könnte Pignataris Banknote an die Schattenseite der US-amerikanischen Ökonomie erinnern. Bis auf die Abbildung in der Mitte entspricht Pignataris Collage bis ins kleinste Detail der Originalbanknote. Auf diese Weise kommt dieser Abweichung umso größeres Gewicht zu. Alle Schriftzüge stimmen sowohl hinsichtlich der relativen Schriftgröße als auch hinsichtlich der Typographie mit dem Original überein. Auch die Seriennummer entspricht durch die Kombination von Buchstaben und Wörtern der Vorlage. Zwei Details in Pignataris Text stellen zwar keine Abweichungen dar, verweisen aber dennoch darauf, dass es sich um die künstlerische Verarbeitung eines lebensweltlichen Objektes handelt: Erstens erscheint vor der Ziffernfolge der Seriennummer der Buchstabe B. Dieser steht zunächst für eine der zwölf US-amerikanischen Federal Reserve Banks, nämlich der Federal Reserve Bank of New York, aber unter Berücksichtung der Herkunft Pignataris könnte er eben zugleich auf Brasilien hinweisen, selbst wenn das offizielle Kfz-Kennzeichen Brasiliens nicht B, sondern BR ist. Zweitens erscheint rechts unter dem Bild von Jesu Gesicht SERIES 1963, womit Pignatari das Publikationsjahr der Collage im Text selbst verankert hat. Schrift und Bild stehen in Pignataris Collage deshalb in einem spannungsvollen Verhältnis zueinander, weil alles Skripturale aufgrund der weitgehend originalgetreuen Wiedergabe der Banknote (Zahlen, Schriftzüge etc.) beim Rezipienten das Bild Washingtons erwarten lässt. Diese Erwartung löst der Text aber eben nicht ein. Die Aufnahme des folgenden Beispiels in eine Untersuchung zur Intermedialität in der Dichtung nach 1945 könnte insofern problematisch erscheinen, weil sich hier zunächst die Frage aufdrängen könnte, wieso es sich dabei um ein intermediales Phänomen handeln solle. Hier ist die intermediale Verknüpfung von bildlichen und textlichen Anteilen wesentlich subtiler gestaltet als in den bisherigen Textphänomenen. Ermöglicht wird diese nur durch den erweiterten Textbegriff in der Konkreten Poesie, der ja Zeichen verschiedenartigster Systeme umfasst. Als Konsequenz ergibt sich für Augusto de

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Campos’ ôlho por ôlho (1964),681 dass die verwendeten Bilder eine skripturalen Zeichen gleichwertige Textfunktion erfüllen: Sie werden zu Textbausteinen. Der Rezipient muss daher in der Lage sein, „to decipher the linguistic code in which graphic signs are substituted for written language“682. Außerdem hat Augusto de Campos für ôlho por ôlho verschiedene Techniken, die ursprünglich aus der Malerei stammen, übernommen. Diese werden an geeigneter Stelle erläutert werden.

Abb. 66  Augusto de Campos, ôlho por ôlho (1964)

Augusto de Campos hat diesem Visualgedicht die Bezeichnung popcreto gegeben. In diesem Neologismus klingt implizit eine enge Verbindung zwischen Pop-Art und Konkreter Poesie an, eine Verbindung, die sich im vorliegenden Fall vor allem in der plakatähnlichen Darbietungsform und der Herkunft des verwendeten Materials äußert. Meine Ausführungen beginnen mit dem hervorstechendsten Merkmal, nämlich dem Motiv des Auges. Augusto de Campos stellt in der Wahl dieses Gegenstandes keine Ausnahmeerscheinung dar, denn aus dem Umfeld der Konkreten Poesie existieren viele 681 Campos (1964) [Internet]. Auch in Solt (1970), S. 98. Zu diesem popcreto existiert eine poetische Hommage, und zwar von Toshihiko Shimizu. Abgedruckt in aktuelle konkrete und visuelle poesie aus japan (1986), S. 10. 682 Krüger (2005), S. 411. Vgl. auch Perrone (1996), S. 53.



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Gedichte, die auf irgendeine Art und Weise Augen thematisieren.683 In Anbetracht der theoretischen Äußerungen der Konkreten ist dies folgerichtig, denn Konkrete Poesie fordert ja zum Sehen auf, und zwar im Sinne einer unverstellten, entautomatisierten Wahrnehmung: Konkrete Poesie „will eine Schule des Sehens […] sein“684. Somit thematisieren solche Gedichte einen wesentlichen Aspekt der Rezeption von Konkreter Poesie. Bei ôlho por ôlho handelt es sich um eine farbige Bildcollage. Der Einsatz von Farben ist ein Verfahren, das auch mit dem Ziel der internationalen Verständlichkeit einer universalen Poesie effektiv eingesetzt werden kann. Zumal die Verwendung von Farben leider mit erheblichen Kosten verbunden war bzw. ist, mussten die Dichter der Konkreten Poesie relativ schnell Abstand von dieser Möglichkeit nehmen – so auch Augusto de Campos, dessen poetische Farbexperimente nur vereinzelt geblieben sind bzw. bleiben konnten. Da Campos im vorliegenden Beispiel keine verbalen Elemente verwendet hat, ist die Grenze zwischen bildender Kunst und Dichtung besonders schwer zu ziehen. Photos685 aus Magazinen sind hier pyramidenförmig angeordnet. Diese Form kann als Anspielung auf den Turmbau bzw. auf den Turm von Babel (Genesis 11, 1–9) – und damit ein biblisches Motiv – gedeutet werden.686 An der oberen Spitze der Pyramide erscheinen Verkehrszeichen (Achtung und Richtungsanweisungen). Darunter befinden sich Bilder von Augen (v.a. von Frauen und Tieren und aus einem Comic), vereinzelt auch Abbildungen von Mündern und Fingernägeln.687 Ich komme auf die mögliche biblische Auslegung zurück, auf die bereits der Titel ôlho por ôlho verweist, indem er nämlich auf die alttestamentliche Formel „Auge um Auge…“688 anspielt. Am konsequentesten vertritt Krüger eine biblische Interpretation und führt diese im Detail vor. Das Achtungsdreieck an der Spitze der ,Photopyramide‘ deutet er als Symbol Gottes (als Trinität) in der christlichen Ikonographie.689 Die runden Verkehrszeichen in der zweiten ,Zeile‘ könnten im Sinne der Kohärenz Ideogramme des Auges, das in der barocken Emblematik im Gottesdreieck erscheint, bilden. Augusto de Campos könnte in seinem popcreto diese Traditionen aufgenommen und sie in einen modernen und zeitgemäßen Kontext gestellt haben. Im Folgenden wird das Augenmotiv fortgeführt. Auffallend ist dabei, dass hier nur weibliche Augen erscheinen. In der dritten ,Zeile‘ gesellt sich diesen ein weiblicher Mund hinzu.

683 Ein ôlho por ôlho relativ ähnliches Augengedicht stammt von Jiří Kolář, und zwar aus demselben Jahr. In Kolář (1979), S. 55. Er verwendet ebenfalls Photos von Augen, jedoch hat er statt der Viereck- die Kreisform gewählt, wodurch er eine größere Übereinstimmung zwischen Form und Inhalt erzielt. Vgl. Winter (2006), S. 511. 684 Schmitz-Emans (1997), S. 213. Vgl. Funkhouser (2007a) [Internet]. 685 Vgl. Barthes’ Konzept der Photographie als einer besonderen Art des ,Schreibens‘. 686 Dass es sich beim Turmbau zu Babel um ein beliebtes Thema der Sprachreflexion, wie die Konkrete Poesie sie betreibt, handelt, darauf sei hier nur kurz hingewiesen. 687 In der neunten ,Zeile‘ von unten erscheint ganz rechts ein Bild, das nicht eindeutig erkennbar ist. Es könnte sich dabei um ein männliches Gesicht handeln. 688 Diese Formel erscheint je einmal im Bundesbuch (2. Buch Mose 22–24), dem Heiligkeitsgesetz (3. Buch Mose 17–26) und dem deuteronomischen Gesetz (5. Buch Mose 12–26). 689 Vgl. Krüger (2005), S. 411.

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Die Anordnung der Abbildungen und Photographien in diesem popcreto als Pyramide entspricht der Form des ersten Verkehrsschildes an deren Spitze: „The triangular shape of the poem is a continuation of the triangle in the first line, indicating that the first sign or first word of a text generates the rest of the text and has an impact on the whole.“690 Was die Perspektive angeht, so entsteht der Eindruck, die Bilder am Rumpf der Pyramide befinden sich ganz in der Nähe des Betrachters und die Verkehrsschilder an deren Spitze weit von ihm entfernt. Die Perspektivtechnik ist dabei ein Verfahren, das Campos aus der Malerei übernommen hat. Zum Einsatz von Verkehrsschildern bleibt zu ergänzen, dass Augusto de Campos diese nicht willkürlich, sondern in Anlehnung an eine theoretische Überlegung Eugen Gomringers zur Universalität der Dichtung gewählt hat. Gomringers Konzeption einer universalen Gemeinschaftssprache war ja u.a. am Modell internationaler Verkehrszeichen orientiert.691 Die Bilder der weiblichen Augen und vor allem auch der rote Fingernagel und der rotgeschminkte Mund, die beide als Symbole der Sündhaftigkeit der dekadenten Frau schlechthin gelten, könnten als Bestätigung eines hedonistischen Lebens- und auch Liebeskonzeptes dienen – dies umso mehr, als eine solch hedonistisch-erotisierte Haltung als typisch brasilianisches Lebensgefühl gilt. Insofern könnte im Gedicht eine Gegengeschichte zur Sündengeschichte von Babel impliziert sein, die sich durch eine Diversifikation der Möglichkeiten der menschlichen Lust und Lustbefriedigung auszeichnet. Es wäre ebenso denkbar, dass im Gedicht nicht nur auf die Seite des Sehens, sondern auch auf die komplementäre Seite des Gesehen-Werdens angespielt wird. Die vielen Photos von Augen könnten an die Allgegenwart der kontrollierenden Blicke erinnern, denen der heutige Mensch ständig ausgesetzt ist. Als extremste Form des permanenten Beobachtetwerdens denke man nur an das Fernsehformat Big Brother, dessen internationaler Erfolg nach wie vor ungebrochen ist. Zumal die verwendeten Photos modernen Massenmedien, nämlich HochglanzMagazinen, entnommen sind, rücken diese Medien in den Blickpunkt des Interesses. Es könnte der Schluss gezogen werden, dass gerade hier ein genaues Hinsehen nötig und angeraten wäre. Dieser Schluss könnte, muss aber nicht notwendigerweise gezogen werden, denn die interpretatorische Offenheit ist ja gerade ein wesentliches Charakteristikum dieser Art von Poesie, in der es keine festen Sinnzuschreibungen gibt. Nichtsdestoweniger würde diese Interpretation in jene Richtung der Kritik der konkreten Dichter am Umgang der modernen Massenmedien mit der Sprache bzw. deren Missbrauch der Sprache weisen. Die Sprachkritik ist ja eines der Hauptanliegen Konkreten Dichtens gewesen. Würde es in dieser Hinsicht auch eine Übereinstimmung mit den theoretischen Prämissen der Konkreten Poesie geben, so besteht in anderer Hinsicht eine eklatante Abweichung von ihnen: Aufgrund der Verwendung von Photos aus Magazinen widerspricht dieses popcreto dem Grundsatz der Konkreten Poesie, auf nichts außerhalb des Textmaterials Liegendes zu verweisen. Statt Selbstreflexivität finden wir hier zahlreiche Verweise auf Außersprachliches.Nichtsdestoweniger steht ôlho por ôlho paradigmatisch 690 Krüger (2005), S. 411. 691 Vgl. gomringer (1969b), S. 292.



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für die Entwicklung eines internationalen Zeichensystems in der Konkreten Poesie, das in diesem Fall pikturaler Natur ist. Auf diese Weise kann eine Aufhebung der Sprachverwirrung stattfinden, auf welche die denkbare Anspielung auf den Turmbau zu Babel verweisen könnte. Das im popcreto präsentierte internationale Zeichensystem überschreibt und negiert damit den biblischen Mythos. Welch große Bedeutung dem Auge in der Konkreten Poesie als primärem Wahrnehmungsorgan zugeschrieben wurde, belegt auch die folgende Collage692 von Shimizu Toshihiko:

Abb. 67  Shimizu Toshihiko, Augenpoesie (1969)

Die vorliegende Collage besteht prinzipiell aus drei Zeichensystemen: Buchstaben des lateinischen Alphabets, Kanji-Schriftzeichen und Photos. Von Klaus Peter Dencker wurde sie bezeichnenderweise als visuelles Gedicht bezeichnet, zumal sie seine diesbezüglichen Kriterien alle erfüllt: In ihr interagieren bildnerische Elemente (Farbe, Formen, Abbildungen usw.) mit skripturalen Zeichen. In welcher Weise dies geschieht, wird noch zu klären sein. Des Weiteren fällt eine Dreiteilung auf: Auf der linken Seite befinden sich fast nur Wörter, die aus dem lateinischen Alphabet gebildet sind, daneben erscheinen Photos 692 Obier (1978), o. S.

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von Gesichtern und vor allem von Augen, und schließlich finden sich auf der rechten Seite unterschiedliche Photoausschnitte, die hauptsächlich mit chinesischen Schriftzeichen, in wenigen Fällen aber auch mit Buchstabenkomplexen des lateinischen Alphabets überschrieben oder überklebt sind. Die beiden ersten Spalten zeugen von einer Ordnung, die in der dritten Spalte von einem Chaos verdrängt wurde. In der ersten Spalte erscheint der Begriff ,eye‘ oder zumindest einzelne Komponenten dieses Begriffs, wie beispielsweise der überdimensional große Buchstabe e oben und unten links. Toshihiko hat hier fünf unterschiedliche typographische Gestaltungen gewählt. Auf diese Weise wird die materiale Seite dieser Buchstabenkombination besonders stark hervorgehoben. In der nächsten Spalte befinden sich Photos von Augen und Gesichtern, wobei auch bei diesen die Augen besonders hervorstechen. Die erste und die zweite Spalte korrespondieren insofern stark miteinander, als die zweite die ,Übersetzung‘ der skripturalen Zeichen (der Wiederholung des Begriffes ,eye‘) in pikturale Zeichen (Photos von menschlichen Gesichtern und Augen) darstellt. Die abgebildeten Augen sind in fünf Fällen geöffnet und in zwei geschlossen. Es scheint sich zugleich um einen Aufruf zu handeln, die Augen zu öffnen, und um eine Warnung, sie nicht zu schließen. Wovor, thematisiert die dritte und letzte Spalte, in der vor allem Photos von Gewaltszenen abgebildet sind, die mit Schriftzeichen und wenigen Wörtern (z.B. „violence“) überschrieben sind. Gewalt findet hier durch die chaotische Anordnung der Elemente auch auf der Ebene des Herstellungsprozesses der Collage statt. Form und Inhalt korrespondieren daher aufs Engste miteinander. Die chinesischen Schriftzeichen im mittleren Bereich der dritten Spalte bedeuten in japanischer Lesung beispielsweise ,Blut‘, ,gestorben‘, ,schrecklich‘ und ,nackt‘ und nehmen so die Abbildungen auf der skripturalen Ebene wieder auf. Die Bilder zeigen ja u.a. nackte Menschen und auch Leichenteile. Daneben taucht auch das Zeichen für den Begriff ,Geschichte‘ auf, und zwar in unmittelbarer Nähe der beiden Flaggen oben rechts. Auch diese Collage ist politisch aufgeladen. Es werden zwar zunächst kontextlose Gewalthandlungen in Form von Photos vorgeführt, diesen wird aber dadurch ein bestimmter geschichtlicher Rahmen verliehen, dass an der Spitze der dritten Spalte die Flagge der Vereinigten Staaten von Amerika, der Star-Spangled Banner, erscheint, der die japanische Flagge überdeckt. Dies kann als Anspielung auf die Besetzung Japans durch die USA und die wirtschaftliche Dominanz Amerikas gedeutet werden. Wie dies bereits gezeigt werden konnte, ist das Prinzip der Collagen oft damit verbunden, dass der Bereich des Alltagslebens als Materialspender dient. Dem Rezipienten Vertrautes wird in neue Kontexte gestellt, und dadurch werden neue Zusammenhänge geschaffen, um eine bestimmte Botschaft zu transportieren. Die durchgeführte Verfremdung der Elemente ist jedoch auf Entschlüsselung angelegt. Diese muss auf reflexivem Wege geschehen, nachdem die Collage zunächst mittels der Augen wahrgenommen wurde. Erschwert wird die Entschlüsselung dadurch, dass die Collage prinzipiell von der Heterogenität der eingesetzten Materialien lebt, die zu einer Texteinheit verschmelzen: Juxtaposition von Elementen, von Wörtern, Sprachteilen, Bildern, Bildfetzen, die als Fragmente der Realität, als vorgefundene Teile eines bestehenden Kontextes aus diesem heraus-

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gelöst und in den neuen Zusammenhang der künstlerischen Präsentation gebracht werden. Collage im weitesten Sinne bedeutet also Zitat, bedeutet Montage zitierter Realitätsteile.693

Als Zitat bieten sich natürlich auch Zeitungsartikel und Schlagzeilen an. Dies führt das folgende Beispiel694 aus Spanien vor:

Abb. 68  Ocarte, ohne Titel (o. J.)

Zunächst und vor allem wird in dieser Collage der Zusammenprall zweier Zeichensysteme inszeniert. Die skripturalen Anteile entstammen Zeitungen oder auch Zeitschriften, die pikturalen Anteile beschränken sich auf die Abbildung des obersten Teils eines männlichen Körpers, der eine bestimmte Haltung angenommen hat, und drei Pfeilen. Betrachten wir zunächst die skripturalen Textteile, die – ähnlich wie Sonnenstrahlen – auf den Kopf des abgebildeten Mannes zulaufen. Bei allen scheint es sich um Zeitungstexte zu handeln, wobei diejenigen, die Schlagzeilen entstammen könnten, sich durch die konsequente Verwendung von Majuskeln von den anderen unterscheiden. Ocartes Vorgehen hat Franz Mon als grundlegend für die Textcollage beschrieben: „das sprachmaterial, das für textcollagen verwendet wird, stammt immer aus gesellschaftlichem gemeinbesitz und ist im umlauf gewesen. es kann sich dabei um wörtliche zitate aus reden, zeitungen, büchern, verordnungen usw. handeln.“695 Diese Schlagzeilen benennen die Motive, die auch in den anderen Satzfetzen thematisert werden, nämlich Tod und Revolution: „los insurrectos dominan la calle“, „MIENTRAS LOS HOMBRES MORIAN“, „TRAGICOS FINALES“. Zumal Ocartes Text auf den Anfang der 1960er Jahre datiert werden muss, liegt der konkrete geschichtliche 693 Weiss (1984), S. 206. 694 Solt (1970), S. 197. 695 mon (1968b), S. 53.

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Kontext klar auf der Hand: der sich seit diesen Jahren formierende starke Widerstand gegen die Diktatur Francos. Auch die anderen Nachrichtenfetzen setzen das Thema von Unruhen fort, denen dabei fast der Kriegsstatus zugeschrieben wird („poco menos que la guerra“). Diesen steht das – folgt man dem Uhrzeigersinn – letzte Nachrichtenfragment konträr gegenüber, zumal hier der Frieden als positives Gegenstück des Krieges thematisiert wird: „orden, los únicos sostenes de la paz. Su presencia es acogida por los partidarios.“ Trotz andauernder Unruhen liegt der Frieden schon als greifbar in der Luft. Ocartes Text endet mit diesem kleinen Hoffnungsschimmer. Kommen wir nun zur Intermedialität dieses Textes: Die soeben zitierten strahlenförmig angeordneten Nachrichtenfetzen sind so angeordnet, dass sie alle auf das Bild eines Mannes, der dem Äußeren nach zu urteilen ein Spanier sein könnte, bzw. ganz konkret auf dessen Kopf treffen. Die Haltung des Mannes und sein Gesichtsausdruck deuten auf Schmerzen hin. Er hat die Hände schützend auf seine Ohren gelegt, so als wolle er den feindlichen Einfall der Nachrichtenflut verhindern. Hier sind Worte wohl tatsächlich zu Waffen geworden. Seine Augen hält der Mann auf dem Bild dabei unter großem Kraftaufwand geschlossen, was die vertikale Falte auf seiner Stirn verrät. Nicht nur seine Ohren, sondern auch seine Augen hält er vor dem, was auf ihn einströmt, verschlossen. Ocarte zeigt in seiner Collage „a man bombarded by phrases in the mass media of communication – magazines, newspapers – which suggest the imminence of war and revolution, until his head is ready to split and he can make no sense of it.“696 Zwischen den Nachrichtenfetzen erscheinen einzelne Buchstaben, ein Ausrufezeichen und drei Pfeile. Alle diese Zeichen scheinen zunächst willkürlich angeordnet worden zu sein und so auf die Hilflosigkeit des abgebildeten Mannes gegenüber dem Nachrichtensturm und der hieraus resultierenden Ratlosigkeit zu verweisen. Jedoch lassen sich im Buchstabenchaos einzelne Wörter entziffern, wie zum Beispiel „ARP“, „ZARA“, „eLP“, „PAZ“ und „Y“. Bei dem zuletzt genannten Buchstaben handelt es sich um das spanische Wort für und. Der Begriff ,paz‘ spricht wohl für sich selbst. Angemerkt werden muss in diesem Zusammenhang, dass die typographische Gestaltung dieses Begriffes die nur sehr vage Hoffnung auf Frieden, die die letzte Nachricht zum Gegenstand hat, widerspiegelt. Das Wort ,paz‘ erscheint nicht nur spiegelverkehrt, sondern auch mit einer Unterbrechung durch einen Pfeil nach dem ersten Buchstaben. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass der Frieden in weiter Ferne liegt. Daneben liest man die Buchstabenfolge „eLP“, nach der das einzige Ausrufezeichen in Ocartes Text erscheint. Unter Berücksichtigung der spanischen Aussprache des Buchstabens h, der nämlich nicht gesprochen wird, erinnert diese Buchstabenfolge an das englische Wort für Hilfe (,help‘). Da das Englische spätestens seit der Nachkriegszeit die internationale lingua franca ist, könnte es sich hierbei um einen getarnten internationalen Aufruf zur Hilfe und Unterstützung handeln, dem durch das Ausrufezeichen Nachdruck verliehen wird. Blieben noch die beiden Buchstabenzusammenstellungen „ARP“ und „ZARA“. Im Kontext eines poetischen Werkes wie dem vorliegenden kann ARP nicht anders gedeutet werden als der Name eines Begründers des Dadaismus, nämlich Hans Arp. Diese Annahme kann dadurch bekräftigt werden, dass die Collage – auch unter Zuhilfenahme von Zeitungs696 Solt (1970), S. 44.



Poemas semióticos/códigos

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fetzen  – zu den bevorzugten künstlerischen Verfahrensweisen im Dadaismus zählte. Darum ist es auch nicht abwegig, sich durch „ZARA“ an den Mitbegründer des Dadaismus, Tristan Tzara, erinnert zu fühlen, zumindest in phonetischer Hinsicht, auch wenn Ocartes Collage, was die Buchstabenanordnungen betrifft, nicht dem Zufalls­prinzip der Dadaisten folgt. Zwischen den Buchstaben erscheinen drei Pfeile, deren Spitze vom Kopf des Mannes wegzeigt. Anders als Mary Ellen Solt bin ich nicht der Meinung, dass die Pfeile in alle Richtungen weisen und somit letztendlich „in no direction“697. Sie zeigen nicht in alle Richtungen, sondern ganz eindeutig immer vom Kopf des Mannes weg. Auf diese Weise könnte Ocarte suggerieren, dass der soeben analysierte scheinbare Buchstabenwirrwarr zwischen den strahlenförmig angeordneten Nachrichtenfetzen dem Bewusstsein des abgebildeten Mannes entspringt, und zwar als eine Art positives Gegenbild zu Tod, Revolution und Krieg, das die von außen kommenden Nachrichten dominiert. In diesem positiven Gegenbild spielt durch die oben erläuterten Assoziationen mit dem Dadaismus auch die Kunst eine Rolle.

2.8 Poemas semióticos/códigos Eine besondere Art der Intermedialität herrscht im poema semiótico oder poema código vor. Das Adjektiv código stellt insofern eine geeignete Bezeichnung dar, als bei diesem Gedichttypus ein Akt der ,Entzifferung‘ von geometrischen Formen bzw. einer Syntax, die durch die Semantisierung von geometrischen Formen impliziert ist, erforderlich ist. Nichtsdestoweniger ziehe ich den Terminus semiótico vor, zumal dieser häufiger verwendet wird. Charakteristisch für das poema semiótico ist die Zweiteilung in einen Bildteil, der zumeist aus einfachen geometrischen Elementen besteht, und eine diesen Bildteil ergänzende chave léxica, die die graphischen Zeichen mittels sprachlicher Elemente semantisch auflädt: Le PS [scil. le poème sémiotique; B.N.] se présente comme un texte composite à deux zones. L’une est une chave léxica ou lexical key qui est une sorte de glossaire très réduit où deux ou plusieurs petites figures graphiques sont disposées en colonne, avec en vis-à-vis leur équivalent linguistique tel que décidé par l’auteur. […] La seconde zone, qui constitue l’œuvre dite, ne met plus en œuvre que les graphismes, toujours très simples et géométriques, à base de lignes, de carrés, de triangles et de cercles le plus souvent.698

Graphische und sprachliche Elemente stehen dabei in keinem Äquivalenzverhältnis zueinander. Die Zuordnung ist vollkommen arbiträr und beruht allein auf der Entscheidung des jeweiligen Dichters: „All illustrations consisted in an interplay of geometric

697 Solt (1970), S. 44. 698 Edeline (1998), S. 152. Vgl. auch Aguilar (2005), S. 106ff.

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Skriptural-pikturale Intermedialität

shapes, and these shapes were given new meanings [...] by means of a lexical key.“699 Die Zweiteilung mag zunächst an die bimediale Gattung des Emblems erinnern, unterscheidet sich von dieser aber in einem wesentlichen Aspekt. Anders als im Emblem gehen Bild- und Textteil im poema semiótico nämlich eine untrennbare Einheit miteinander ein: Dieser Gedichttyp reicht „beyond the word-image opposition“700. Während im Emblem die pictura auch ohne Hinzunahme der subscriptio eine Bedeutung hat und deshalb unabhängig von dieser bestehen kann, ja die subscriptio die Bedeutung der pictura im idealtypischen Fall lediglich sprachlich erörtert, ist dies im poema semiótico nicht der Fall. Hier partizipieren die pikturalen Elemente erst durch die skripturalen Zeichen an der Ebene der Semantik. Es gilt aber auch der entgegengesetzte Vorgang: Die Wörter partizipieren durch die graphischen Elemente an der visuellen Ebene. Auf diese Weise entsteht eine „interaction entre les deux codes“701. Darüber hinaus erinnert die Vorgehensweise an rebusartige Verfahren702 und an den ideogrammatischen Charakter von chinesischen Schriftzeichen.703 Auf den zuletzt genannten Zusammenhang haben Pignatari und Pinto in ihrem Manifest zum poema semiótico, Nova linguagem, nova poesia (1964), explizit hingewiesen.704 Aus einer semiotischen Perspektive heraus betrachtet, ist das in der chave léxica verwendete Wort das skripturale Pendant zum visuellen Zeichen. Der Verweis auf die Semiotik ist an dieser Stelle nicht willkürlich erfolgt, sondern liegt darin begründet, dass Pignatari und Pinto in ihrem Manifest selbst darauf hingewiesen haben, dass das poema semiótico vor dem Hintergrund der Hinwendung der Gruppe Noigandres zur von Charles Sanders Peirce begründeten modernen Semiotik und ihrer umfangreichen Rezeption durch Charles William Morris gesehen werden muss: Para o que pretendemos dizer, torna-se necessária, antes de mais nada, a exposição sucinta de alguns conceitos fundamentais da Semiótica, ou Teoria dos Signos, fundada pelo filósofo e matemático norte-americano Charles Sanders Peirce, e desenvolvida posteriormente por Charles W. Morris.705

Im poema semiótico weisen das skripturale und das pikturale Zeichen das Verhältnis einer gegenseitigen Entsprechung, in der sich der im plano-piloto para poesia concreta geforderte „isomorfismo“706 realisiert und konkretisiert, auf. Zugleich tritt zur Korrespondenz 699 700 701 702 703 704 705 706

Clüver (1998), S. 32. Clüver (1998), S. 39. Edeline (1998), S. 154. Vom traditionellen Rebus unterscheidet sich das poema semiótico vor allem dadurch, dass es sprachliche Elemente nicht durch pikturale Zeichen ersetzt, sondern beide vorführt. Zum Rebus vgl. Dencker (2011), S. 484ff. Edeline (1998), S. 155 bezeichnet das poema semiótico als „idéogramme mou“, zumal die Zuordnung vom verbalen zum graphischen Zeichen sich als vollkommen arbiträr erweist. Vgl. Pignatari/Pinto (1987), S. 161. Pignatari/Pinto (1987), S. 59. Vgl. hierzu das Kapitel Die semiotische Perspektive in Vollert (1999), S. 24ff. Campos/Pignatari/Campos (1987), S. 157. Zur Bedeutung des Chinesischen für die Dichtung nach 1945 vgl. Pignatari (1982), S. 189.



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zwischen Signifikat und visuellem Zeichen die Übereinstimmung mit dem lautlichen Ausdruck. Hier ist tatsächlich eine Dreidimensionalität erreicht, die sich mit dem Stichwort „verbivocovisual“707 beschreiben lässt. Beim poema semiótico handelt es sich um ein praktisches Beispiel für den in der Dichtung nach 1945 zugrunde gelegten erweiterten Textbegriff, der prinzipiell alle Zeichen aller menschlichen Zeichensysteme umfasst. Die graphischen bzw. geometrischen Zeichen stehen gleichwertig neben den skripturalen Zeichen und sind diesen nicht untergeordnet. Mehr noch: Beide hängen in starkem Maße voneinander ab, denn erst durch ihr Zusammenspiel wird das Gedicht konstituiert. Zwar könnte man zunächst eine Dominanz der skripturalen Elemente annehmen, zumal diese ja die graphischen Elemente semantisieren, aber zugleich sind die sprachlichen Elemente auch auf die graphischen angewiesen, um im Gedicht eine – wenn auch nur rudimentär gegebene und vom Leser zu erzeugende – syntaktische Aussage zu bilden. Weder die sprachlichen noch die visuellen Zeichen können dies alleine erreichen. Wie die beiden berühmtesten Vertreter, Luiz Ângelo Pinto und Décio Pignatari,708 explizit geäußert haben, steht dieser neue Gedichttypus, das poema semiótico, im Kontext der Bemühungen um eine neue Sprache, die gemäß des plano-piloto einen internationalen Charakter aufweisen sollte: „O problema de novos conteúdos está ligado directamente ao problema de criação de novas formas lingüísticas, novas linguagens.“709 Der Internationalismus sollte hier vor allem durch eine extreme Reduktion gewährleistet werden. Wie die ausgewählten Beispiele zeigen werden, gehören die in der chave léxica genannten Wörter fast immer einer Wortklasse an, und fast immer wird einem graphischen Element jeweils nur ein Wort zugeordnet. Meistens bilden die in der chave léxica genannten Wörter dabei Gegensatzpaare. Der Leser wird hier mit einem extrem reduzierten Sinnangebot konfrontiert, das er auffüllen und individuell gestalten muss. Im Aufsatz Nova linguagem, nova poesia folgen auf den theoretischen Teil zahlreiche Beispiele für poemas semióticos, und zwar von Décio Pignatari, Luiz Ângelo Pinto und Ronaldo Azeredo, allerdings ohne jeden erläuternden Kommentar. Die Gedichte sollen für sich sprechen, und vom Leser wird erwartet, dass er sie alleine entschlüsseln kann. Nichtsdestoweniger sollen im Folgenden drei der insgesamt sieben Beispiele kommentiert werden. Zunächst bedarf es jedoch noch einer Vorbemerkung: Die in Nova linguagem, nova poesia angeführten Beispielgedichte widersprechen in einem wesentlichen Punkt den theoretischen Äußerungen in Pignataris und Pintos Manifest zum poema semiótico, denn diese Beispielgedichte sind nach wie vor dem Prinzip der Linearität verpflichtet, statt dieses aufzugeben. In den dem Manifest folgenden poemas semióticos wird jedoch ein Prozess vorgeführt, der sich linear entfaltet. Oftmals wird dieser Prozess durch eine vertikale Anordnung der graphischen Elemente abgebildet. Ein solches Gedicht besitzt „un point de départ, à partir duquel il [scil. le poème; B.N.] se déroula linéairement“710. 707 Campos/Pignatari/Campos (1987), S. 157. 708 Décio Pignatari erklärte in einem im Jahre 1964 gegebenen Interview, dass Wlademir Dias-Pinto schon zwei Jahre vor ihm und Luiz Ângelo Pinto poemas semióticos verfasst hätte. 709 Pignatari/Pinto (1987), S. 160. 710 Edeline (1998), S. 152.

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Das heißt natürlich nicht, dass ein semiotisches Gedicht notwendigerweise nur einen linearen Ablauf vorführen muss. Es gibt ebenso Beispiele dafür, dass mehrere Prozesse parallel linear ablaufen und dann gegebenenfalls in einem gemeinsamen Zielpunkt zusammenströmen. Und es heißt des Weiteren nicht, dass der Leser sich einzig mit dem Konzept der Linearität konfrontiert sieht, denn hinzu kommt die flächige Anordnung der Elemente. Es besteht also eine „double convention spatio-temporelle“711. Beim folgenden Gedicht712 handelt es sich um einen prototypischen Repräsentanten des poema semiótico:

Abb. 69  Luiz Ângelo Pinto, ohne Titel (1964)

Die chave léxica besteht aus zwei Wörtern derselben Wortklasse, die in einem Kontrastverhältnis zueinander stehen, nämlich „sim“ und „não“, Pinto stellt also eine Bejahung einer Verneinung gegenüber. Im brasilianischen Portugiesisch entsprechen sich die beiden Partikeln hinsichtlich der Buchstabenanzahl. Diesem Umstand wird Pinto in seinem Gedicht insofern gerecht, als sich bei ihm die visuellen Zeichen für beide weitgehend entsprechen. Im Falle der positiven Partikel ,sim‘ handelt es sich dabei um ein Quadrat, an dessen linke Seite ein nach links weisendes gleichschenkliges Dreieck grenzt. Diese Kombination erinnert durchaus an ein Pfeilsymbol. Das visuelle Zeichen für die negative Partikel ,não‘ ergibt sich durch eine Achsenspiegelung an der freien vertikalen Seite des Quadrats im Zeichen für ,sim‘. Auf diese Weise ist ein Quadrat mit einem angrenzenden nach rechts weisenden Dreieck entstanden, oder anders gesagt: ein nach rechts gerichtetes Pfeilsymbol. Schon durch die Wahl dieser visuellen Pendants für Bejahung 711 Edeline (1998), S. 158. 712 Pignatari/Pinto (1987), S. 165.



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und Verneinung deutet der Dichter auf die enge Verwandtschaft beider kommunikativer Handlungen hin. Über eine Zu- und Absage entscheiden hier nicht Welten, sondern lediglich die Ausrichtung einer Pfeilspitze. Zwischen ,ja‘ und ,nein‘ besteht demnach keine prinzipielle, sondern eine graduelle Differenz. Die Verwandtschaft beider entwickelt und verstärkt der Dichter im Bildteil dieses poema semiótico. Prototypisch ist dieses Gedicht auch dadurch, dass die bildhaften Elemente übereinander angeordnet sind und auf diese Weise die bereits ausgeführte Prozesshaftigkeit realisiert ist. Der Prozess entwickelt sich in fünf Schritten, die eine sukzessive Annäherung beider bildhafter Symbole beinhalten: Zunächst erscheinen die Zeichen für ,sim‘ und ,não‘ an der obersten Stelle des Gedichts versetzt übereinander, dann nebeneinander und danach so übereinander gelagert, dass sich die Quadrate beider Zeichen überschneiden. Aus diesem Grund ist nur ein Quadrat sichtbar, an dessen beiden Querseiten ein Dreieck angelagert ist, dessen Spitze jeweils nach außen weist. Auf der vorletzten ,Entwicklungsstufe‘ bestehen – ebenso wie in der letzten – zwei Möglichkeiten, die jedoch beide auf die nahe Verwandtschaft von Bejahung und Verneinung hinweisen: Entweder handelt es sich um die Aneinanderlagerung der beiden Dreiecke zu einem Quadrat oder um die ursprüngliche Figur des Quadrats in den beiden visuellen Zeichenentsprechungen. Die erste Alternative wird deshalb ermöglicht, weil das Quadrat im Zeichen für ,ja‘ und ,nein‘ sich aus den beiden Dreiecken bilden lässt. Augenscheinlich war Pinto um Einfachheit bemüht, denn jedes der Zeichen lässt sich aus drei deckungsgleichen Dreiecken bilden. Dass hier erneut die Drei erscheint, die bereits in der Buchstabentrias ,sim‘ bzw. ,não‘ auftaucht, ist sicher kein Zufall, sondern könnte auf die auf Einfachheit bedachte Konstruktionsweise Pintos verweisen. Auf der vierten Stufe erscheint das Quadrat um 45° im Vergleich zu seiner Ausgangsposition gedreht, in der letzten Phase des hier nachgezeichneten Prozesses ist diese wieder erreicht. Zusammenfassend lässt sich die Abfolge in diesem poema semiótica wie folgt beschreiben: Die beiden Zeichen für ,sim‘ und ,não‘, die ausschließlich durch das Prinzip der Arbitrarität mit dem Bedeutungsinhalt verbunden sind, nähern sich immer mehr einander an, überlagern sich und verlieren schließlich ihre Differenzqualität, die durch die spiegelverkehrten Dreiecke angedeutet ist, um in der Gemeinsamkeit, dem Quadrat, aufzugehen: Ein Ja kann sich demnach unter Umständen als ein Nein erweisen und umgekehrt. Ähnlich aufgebaut ist auch das nächste poema semiótico,713 das ebenfalls von Luiz Ângelo Pinto stammt (Abb. 70). Wie die chave léxica deutlich macht, werden hier nicht die neutralen Partikeln ,sim‘ und ,não‘ einander gegenübergestellt, sondern die Begriffe ,macho‘ und ,fêmea‘. Hier bildet also das männliche Prinzip den Kontrast zum weiblichen. Die beiden visuellen Entsprechungen sind nun nicht zweiteilig, sondern nur einteilig: Ein nach rechts weisendes gleichschenkliges Dreieck dient als visuelles Pendant für den Begriff ,macho‘ und ein nach links weisendes für den Begriff ,fêmea‘. Im Bildteil des Gedichts werden dann die unterschiedlichsten Verknüpfungsmöglichkeiten der Zeichen für die beiden Begriffe durchgespielt, wobei durch zahlreiche Drehungen und

713 Pignatari/Pinto (1987), S. 166.

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Abb. 70  Luiz Ângelo Pinto, ohne Titel (1964)

Abb. 71  Décio Pignatari, ohne Titel (1964)

Spiegelungen nicht mehr zu entscheiden ist, wo es sich um das männliche und wo um das weibliche Prinzip handelt. Beide bilden zuletzt eine Einheit. Das letzte Beispielgedicht714 aus dem Manifest Nova linguagem, nova poesia stellt insofern eine Besonderheit dar, als es wesentlich komplexer ist als die anderen dort aufgeführten poemas semióticos (Abb. 71). Zunächst fällt auf, dass zwei der drei Einträge in der chave léxica aus mehr als einem Wort bestehen. Zwar verwendet auch Pignatari einfache geometrische Formen, aber diesen werden in zwei Fällen komplexere sprachliche Einheiten zugeordnet: Ein schwarzer Kreis dient als visuelle Entsprechung für den wohl berühmtesten brasilianischen Fußballspieler, nämlich Edson Arantes do Nascimento (*1940), genannt Pelé. Aus diesem Grund liegt es nahe, den vom Himmelsglobus in der brasilianischen Fahne hergeleiteten Kreis auch als einen Ball aufzufassen, der seinerseits mit dem Fußball assoziiert werden kann. Dies ist vor allem deshalb möglich, weil der Fußball – vor der Einführung des aus weiß-schwarzen Ledersechsecken konstruierten, so genannten Fernsehballs – traditionellerweise aus dunkelbraunem Leder gefertigt wurde. Die schwarze Farbe könnte darüber hinaus auf die dunkle Hautfarbe des Afrobrasilianers Pelé hinweisen. Der Kreis als Repräsentation des Himmelsglobus wie des Fußballs, aber auch als unendliche Reduktion und Abstraktion von der Person Pelé, verweist simultan auf diese Sachverhalte, die jedoch immer als Einheiten vorgestellt werden. Die Kugel ist traditionellerweise das Symbol der unteilbaren Einheit, was ebenso für den Punkt gilt, der als Reduktion und Abstraktion der Kugel verstanden werden kann. Der Raute hingegen, die nicht diese einfache semantische Struktur aufweist, sondern wegen ihrer vier Seiten oder Ecken eine komplexere besitzt, hat Décio Pignatari einen mehrteiligen lexikalischen Komplex zugeordnet: „a pátria é a familia (com televisão) 714 Pignatari/Pinto (1987), S. 164.



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amplificada“. Selbstverständlich handelt es sich hier um eine vollkommen arbiträre Zuordnung, doch begründet sie sich genau in den von Pignatari erkannten Veränderungen in der Sozialstruktur der brasilianischen Gesellschaft, wie sie sich seit der Einführung des Fernsehens im Jahre 1950 (zunächst nur in São Paulo und in Rio de Janeiro, hier als TV Tupí) in Funktion der veränderten Kommunikationsverhältnisse ergeben hat. Auch beim letzten geometrischen Zeichen besteht eine starke Diskrepanz zwischen seiner Einfachheit und der Mehrteiligkeit des zugeordneten sprachlichen Materials: Ein horizontales Rechteck – vielleicht ein Fußballfeld – entspricht hier der Aussage „no fim dá certo“ (in etwa: Ende gut, alles gut). Bevor die syntaktische Struktur dieses semiotischen Gedichts nachgezeichnet werden soll, muss eines deutlich gemacht werden: Jeden Brasilianer erinnern ein Kreis, eine Raute und ein Rechteck zunächst an die eigene Nationalflagge, die natürlich auch bei Fußballspielen der Nationalmannschaft im Stadion nicht fehlen darf. Daraus ergibt sich für das Gedicht eine politische Implikation, die jedoch niemals explizit gemacht wird. Die brasilianische Flagge erscheint ja nicht im Text, sondern sie wird in ihre graphischen Elemente zerlegt, und diese werden neu kombiniert. Gerade das bewusste Aussparen der Nationalflagge lässt diese Implikation jedoch umso deutlicher in den Vordergrund treten. Im Kontext der Noigandres-Gruppe ist eine Politisierung – auch bzw. gerade – von visueller Poesie keine Seltenheit: „the Brazilian Noigandres group never put aside its concern with social commitment (political engagé poems) […].“715 Eine politische Dimension ist in diesem poema semiótico in Anbetracht der politischen Lage Brasiliens zu seiner Entstehungszeit besonders wahrscheinlich: „Is it a coincidence that the poem was created soon after the ‘revolution’ that brought a military dictatorship?“716 Verfolgen wir also zunächst das Gedankenspiel mit der brasilianischen Flagge. Diese soll ja zunächst und vor allem die Einheit der brasilianischen Nation symbolisieren. Fehlt die Flagge, obwohl ihre Komponenten verwendet werden, so deutet dies auf eine grundlegende Skepsis an dieser Einheit und auch an den beiden emblematischen Begriffen der Inschrift, ,ordem‘ und ,progresso‘, hin. Die Abwesenheit dieser Begriffe gerade nach der Errichtung der Militärdiktatur entspricht einer Strategie des inszenierten Schweigens über politische und soziale Zustände, für die keine Worte mehr zu finden sind, so die implizite Botschaft des aus der Flagge getilgten Textes. Gleich zu Beginn dieses poema semiótico erfolgt die stärkste Anspielung auf die brasilianische Flagge, zumal hier die größte Ähnlichkeit zwischen den eingesetzten Formen und ihr vorherrscht. Der signifikanteste Unterschied besteht jedoch darin, dass sich der einzelne Kreis, der in der Flagge innerhalb der Raute erscheint, im Gedicht vervielfacht hat und sich nicht inner-, sondern außerhalb der Raute, aber innerhalb des Rechtecks befindet. Der eine berühmte Pelé erscheint hier multipliziert. Diese Grundkonstellation wird im Verlauf des Gedichts in sechs Schritten so transformiert, dass schließlich keine Ähnlichkeit mehr zwischen dem Bild auf dem Blatt und der Flagge besteht: „the text does not result in the (re-)constitution of the flag, but in its deformation.“717 Diese 715 Campos (2005), S. 9. 716 Clüver (1998), S. 37. 717 Clüver (1998), S. 37.

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Deformation, nämlich die letzte Verknüpfung der Zeichen, soll nun genauer betrachtet werden. Ohnehin durch die Funktion als Abschluss des Gedichts privilegiert, hebt Pignatari diese Anordnung darüber hinaus auf mehrfache Weise von den restlichen ab und lässt ihr so eine besondere Bedeutung zukommen. Zunächst fällt auf, dass zwei der drei geometrischen Formen eine Veränderung erfahren haben: Sowohl die Raute als auch das Rechteck haben die Gestalt eines Quadrats angenommen. Insofern weist dieses poema semiótico, obgleich es aus der Anfangszeit dieser Gattung stammt, bereits Ähnlichkeiten mit dem später entwickelten poema processo auf. Doch die Präsentation der Abfolge von Zuständen eines Textes hat bei Décio Pignatari Tradition: Schon die Transformation des Werbetextes Beba Coca Cola zu Babe Cloaca aus dem Jahre 1957 weist diesen Aspekt des Prozessualen auf. Im vorliegenden poema semiótico taucht die Grundform des Quadrats gleich viermal auf, was die hier gedachte Vorführung der Prozesshaftigkeit unterstreicht. Mit der Transformation der Raute und des Rechtecks zu einem Quadrat ist durch ein einfaches Verfahren die weitgehende Abkehr von jeder Ähnlichkeit mit der brasilianischen Flagge erreicht. In dieser Transformation oder auch Deformation jedoch „a sign of stagnation that resembles a prison“718 erkennen zu wollen, kann durch das Textmaterial nicht gerechtfertigt werden. Stagnation herrscht hier natürlich insofern vor, als die Entwicklung, die das Gedicht nachzeichnet, nun zu ihrem Endpunkt gekommen ist, doch das Ergebnis ähnelt eher einem Mandala, d.h. einem visuellen Dispositiv, das jeder Betrachter nach seinen eigenen Möglichkeiten ausdeuten kann. Das Prozesshafte wird hier in die Vielzahl der möglichen Interpretationsvorgänge an die Rezipienten delegiert. Alle bisher erläuterten Beispiele waren dem Prinzip der linearen Entfaltung eines semiotischen Paradigmas und damit der Prozesshaftigkeit verpflichtet, für die Gattung des poema semiótico ist eine lineare Entwicklung jedoch nicht zwingend. Ein Gedicht von Ian Hamilton Finlay719 veranschaulicht eine Alternative zur linearen Entwicklung im poema semiótico, und zwar insofern es keinen Prozess abbildet.720 Statt mit einer linearen Entwicklung haben wir es mit statischen ,Bildern‘ oder Strukturen zu tun. Ebenso wie die bereits erläuterten poemas semióticos weist auch Finlays Gedicht eine vollkommen arbiträr erscheinende Zuordnung von den im lexical key aufgeführten visuellen Zeichen und Wörtern auf: Eine horizontale Linie dient als visuelle Entsprechung des Meeres und eine diagonale als visuelle Entsprechung des Landes.

718 Clüver (1998), S. 37. 719 Finlay (1997), S. 18. 720 Ein zweites Beispiel stellt femme (1968) von Jean-François Bory dar. Da dies bereits unter einem anderen Gesichtspunkt untersucht wurde, wird im vorliegenden Kapitel auf eine Interpretation verzichtet. Einige Anmerkungen mögen hier genügen: Borys Gedicht stellt insofern ein besonders interessantes intermediales Phänomen dar, als Bory die Photographie einer nackten weiblichen Brust in die Form des chinesischen Schriftzeichens für den Begriff ,Frau‘ gebracht hat. Es handelt sich deshalb um eine Ausnahmeerscheinung unter den poèmes sémiotiques, da es sich hierbei eindeutig um einen Form-Inhalt-Isomorphismus handelt. Für gewöhnlich ist die Verbindung zwischen den im lexical key aufgeführten visuellen Zeichen und den Wörtern jedoch vollkommen arbiträr.



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Abb. 72  Ian Hamilton Finlay, ohne Titel (1967)

Im vorliegenden Gedicht herrscht augenscheinlich keine Übereinstimmung zwischen dem visuellen und dem sprachlichen Zeichen vor: In beiden Fällen handelt es sich jeweils um eine Linie, die nur eine unterschiedliche Ausrichtung (horizontal bzw. diagonal) aufweist. Nichtsdestoweniger besteht auch in diesem Gedicht eine Verbindung mit der Ausdrucksebene, denn Finlay setzt gezielt Farben als zusätzliche Semantisierungsebene ein: Die sechs horizontalen Linien, die das Meer repräsentieren, sind im Original blau wie das Wasser und die sieben diagonalen Linien, die das Land repräsentieren, braun wie die Erde. Durch das Übereinanderlagern der horizontalen und diagonalen Linien entsteht eine Art Netz oder Gewebe, das an Finlays Worte erinnert: „Land and Sea are the Warp and Woof of the World.“721 Dadurch, dass dieses Gewebe eine statische Struktur darstellt, herrscht auch in diesem Gedicht statt Linearität Simultaneität vor. Das wohl komplexeste poema semiótico stammt von Mary Ellen Solt und trägt den Titel Marriage (1975). Es umfasst acht Themenschwerpunkte, zu denen Solt jeweils einen eigenen lexical key entworfen hat: Pairings (I), Conjugations (II), Family (III), Home (IV), Relationships (V), Moods (VI), Dimensions (VII) und Conclusions (VIII). Im Bildteil des Gedichts erscheinen zweimal vier aneinander grenzende Quadrate (tables I-IV und tables V-VIII). Wegen der Komplexität dieses ,Zeichenungetüms‘ hat Clüver Marriage als ein „semiotic web“722 bezeichnet. Dieses im Einzelnen zu dechiffrieren, kann und soll hier nicht angestrebt werden. Ebenso wenig soll es um eine qualitative Beurteilung, sondern ausschließlich um die Analyse der semiotischen Struktur eines repräsentativen Ausschnittes gehen. Die pikturalen Zeichen, die Solt mithilfe verbaler Zeichen semantisiert, stammen aus den unterschiedlichsten Bereichen: „its employment of signs derived from so many conventional systems representing so many areas of human activity and knowledge links the private with the universal via a semiotic universe of signs.“723 Auf die Mannigfaltigkeit des Ursprungs der verwendeten Zeichen weist Solt im langen Untertitel ihres Gedichts 721 Zitiert nach Edeline (1998), S. 161. 722 Clüver (1998), S. 32. 723 Clüver (1998), S. 32.

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selbst hin: A code poem derived from the universal language of signs and symbols used from primitive times to the present day: the alphabet, astrology, astronomy, botany, chemistry, commerce, engineering, mathematics, medicine, meteorology, music, physics, punctuation, runes, zoology &c. Solt thematisiert hier eine inszenierte Geschichte der Zeichen und verwendet in Marriage sich chronologisch ablösende Zeichen- und Symbolsysteme aus den unterschiedlichsten Bereichen des menschlichen Lebens nebeneinander. Auf diese Weise führt sie einerseits deren überzeitliche Gültigkeit vor, und andererseits zeigt sie auf implizite Weise, dass aus semiotischer Sicht alle Zeichen- und Symbolsysteme (beispielsweise germanische Runen und Zeichen aus dem Bereich der Botanik) gleichwertig sind. Dazu trägt auch bei, dass sie diese nicht in der bzw. einer chronologischen Folge benennt, sondern sie dem Alphabet nach geordnet hat. Exemplarisch seien im Folgenden Tables I und II vorgeführt:

Abb. 73  Mary Ellen Solt, Tables I und II [Ausschnitt aus Marriage (1975)]

Abb. 74  Mary Ellen Solt, Lexical key zu den Teilen I (Pairings) und II (Conjugations) [Ausschnitt aus Marriage (1975)]

Als außergewöhnlich komplex erweist sich dieses semiotische Gedicht oder – wie es im Titel heißt – code poem nicht nur aufgrund der Mannigfaltigkeit und Vielzahl der verwendeten Zeichen, sondern auch deshalb, weil einzelnen Zeichen mehrere Begriffe zugeordnet sind (zum Beispiel: „∆ female wisdom godhead element: fire“ oder „O female new moon unborn child God“). Durch die Zeichenkomplexität sind die Übergänge zwischen Gedicht und Bild besonders fließend, vor allem herrscht der Eindruck einer mandalaähnlichen Struktur vor. Dieser Eindruck wird dadurch erheblich verstärkt, dass sich die Entzifferung dieses semantischen Gedichts aufgrund der Zeichenkomplexität – ähnlich wie die Betrachtung eines Mandalas – in eine langwierige Reflexion verwandelt. Außerdem ist der Grad an Intermedialität so hoch, dass eine einwandfreie Trennung der beteiligten Komponenten nicht möglich ist. Die Zuordnung zur Dichtung beruht allein auf dem Willen Mary Solts, der seinen Ausdruck im Begriff code poem im Untertitel gefunden hat.



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Wendet man sich dem Gedicht näher zu, so stellt man fest, dass es – wie der Titel es nicht anders erwarten lässt, aber entgegen der bisher behandelten poemas semióticos – einem der ältesten und beliebtesten Themen der Dichtung gewidmet ist, nämlich der Liebe. Diese Isotopieebene bestimmt nicht nur die Auswahl der sprachlichen Elemente im lexical key, sondern ist schon auf den ersten Blick dadurch im Gedicht präsent, dass die Einzelbuchstaben des Begriffs LOVE die beiden rautenartigen Zeichenformationen der Tables I und II einrahmen, und zwar zuerst im und dann gegen den Uhrzeigersinn. Außerdem ist das Liebesmotiv natürlich ganz explizit durch das Herzsymbol ins Gedicht eingeschrieben. Tables I und II präsentieren die ersten beiden Etappen zu einer erfolgreichen Hochzeit und Ehe. Solt bewegt sich dabei immer auf einer ganz allgemeinen Ebene und bezieht sich nicht auf eine bestimmte Frau oder einen bestimmten Mann. Von Anfang an ist beim Thema Liebe die körperliche Dimension mitgedacht. Dies belegen beispielsweise die beiden Titel pairings und conjugations. Außerdem taucht sehr oft der Stern auf, dessen eine Bedeutung laut lexical key die fünf Sinne sind. Die Liebe soll von den beteiligten Partnern also ganzkörperlich empfunden werden. Trotzdem spielt auch der religiöse Aspekt eine Rolle, und die Liebe erscheint auch als etwas, das von der göttlichen Macht sanktioniert wurde. Table I steht ganz unter dem Zeichen der Sonne als Symbol der Quelle allen Lebens. Das entsprechende Zeichen befindet sich genau im Mittelpunkt der ersten Raute. Ausgehend vom Großbuchstaben L (für love) erscheinen zwei Diagonalen, die beide aus Zeichen bestehen, die sich jeweils konträr zueinander verhalten (zum Beispiel „male“ vs. „female“, „active male element“ vs. „passive female element“). Der untere Teil der Raute zeigt zwar noch immer die Differenz zwischen Mann und Frau, der Hauptakzent liegt hier aber nun auf der in der Schöpfung durch Gott begründeten Gemeinsamkeit der Geschlechter, die überhaupt erst deren –auch körperlich verstandene – Vereinigung ermöglicht. Vor allem diese ist das Thema von table II (conjugations). Den Mittelpunkt der zweiten Raute bildet das Symbol für Ceres, die Göttin der Fruchtbarkeit. Auf diese Weise ist die Richtung von Anfang an klar vorgegeben. Analog zur ersten Raute erscheint auch an der Spitze der zweiten der Großbuchstabe L. Dass dieser für nichts anderes als für den Begriff Love steht, daran lässt das Herzsymbol direkt unter dem L keinen Zweifel. Diese Liebe wird zunächst als natürlich beschrieben. Im Fortgang macht Solt einige Anleihen an die Liebeskonzeption der wohl berühmtesten Liebesdichtung überhaupt, nämlich die der Petrarkisten. In dieser zweiten Raute von Marriage erscheint die Liebe nämlich in ihrer Wiederholung und Wiederholbarkeit, was an das stetige Werben des Liebenden in der petrarkistischen Lyrik erinnert, das verwendete Symbol für „resistance“ könnte als die traditionelle Kälte und Ablehnung der Frau gedeutet werden, außerdem nutzt Solt die Feuerthematik („degrees of heat warmth“), die sich – wie seit jeher in der Liebeslyrik – auch im Petrarkismus großer Beliebtheit erfreut, und wir finden im Gedicht auch ein typisches Motiv aus der traditionellen Liebesdichtung, nämlich den Mond. Hier werden Mond- und Liebesphasen in Beziehung zueinander gesetzt. Der wohl wichtigste Unterschied zwischen Solts Gedicht und der petrarkistischen Liebeslyrik besteht im Ergebnis. Bei Solt gipfelt die Liebe zwischen Mann und Frau nämlich in der körperlichen Vereinigung beider, die zur

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Schwangerschaft der Frau führt und so letztendlich über die Beteiligung und – so darf geschlossen werden – auch Befriedigung der fünf menschlichen Sinne zum vollkommenen Glück („happy homecoming“). Im Petrarkismus hingegen ist die Distanz zwischen Mann und Frau unabdingbar, was natürlich zur Folge hat, dass jeder körperliche Kontakt von vornherein ausgeschlossen sein muss. Betrachten wir nun eine parodistische Variante des poema semiótico, und zwar Ian Hamilton Finlays Semi-idiotic poem (1967):724

Abb. 75  Ian Hamilton Finlay, Semi-idiotic poem (1967)

Abb. 76  Ronaldo Azeredo, ohne Titel (1964) 725

Zunächst deutet der Titel auf die parodistische Absicht des Dichters hin, sie ist aber darüber hinaus im gesamten Text nachweisbar. Für die Darstellungsform, die Finlay für sein semiotic poem gewählt hat und die ja nicht der ,Normalform‘ dieses Gedichttypus entspricht, gibt es eine Vorlage von Ronaldo Azeredo (Abb. 76). Diese ist als eines der Beispielgedichte in Nova linguagem, nova poesia aufgeführt. Auch Azeredo hat statt der traditionellen vertikalen Anordnung der Zeichen eine 5x5 Matrix gewählt.

724 Williams (1967), o. S. Das Semi-idiotic poem (1967) weist eine gewisse Ähnlichkeit zu den in einigen deutschen Zeitschriften seit den 1960er Jahren regelmäßig veröffentlichten Symbolrätseln auf. Hier müssen Symbole (seltener auch Buchstaben) so durch Ziffern ersetzt werden, dass mathematisch korrekte Gleichungen entstehen. Finlays Titel könnte sich vor diesem Hintergrund als kritischer Kommentar zur fragwürdigen Intelligenzleistung erweisen, die erbracht werden muss, um die jeweiligen Gleichungen zu rekonstruieren. 725 Pignatari/Pinto (1987), S. 169. Zu diesem poema semiótico vgl. Nickel (2010), S. 142ff.



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Dieses poema semiótico besteht aus zwei einfachen Zeichen, denen jeweils ein einzelner Begriff zugeordnet ist: Ein weißes Quadrat steht für Arbeit und ein schwarzes für Erstarrung oder Trägheit. Anders als bei den bisher vorgestellten poemas semióticos hat Azeredo in der chave léxica keine portugiesischen Begriffe, sondern lateinische (,labor‘ und ,torpor‘) verwendet. Auf diese Weise könnte er zum einen auf die sprachgeschichtlichen Wurzeln des Portugiesischen und zum anderen auf die überzeitliche Gültigkeit der impliziten Aussage seines Gedichts hinweisen. Scheint es zunächst so zu sein, dass sich die Begriffe ,labor‘ und ,torpor‘ konträr gegenüberstehen, so stellt Azeredo im Bildteil des Gedichts eine enge Verbindung zwischen beiden her, denn das weiße Quadrat erscheint – im Gegensatz zum schwarzen – kaum in unveränderter Form. Vielmehr überlagert Azeredo es oftmals mit dem schwarzen, so dass beide Quadrate zu Dreiecken transformiert erscheinen. Dreimal abstrahiert der Dichter die schwarze Farbe von der Quadratform und setzt schwarze Striche auf das weiße Quadrat. An diesen Stellen wird die klare Linie und Regelmäßigkeit der geometrischen Formen durch einen Einbruch von Unordnung unterbrochen. In weiteren drei Fällen erscheint ein in der Größe variiertes schwarzes Quadrat in einem weißen Quadrat. All diese Abweichungen befinden sich entweder am oberen oder unteren Rand des Gedichts. Ein wesentlicher Unterschied zwischen diesem und Finlays Gedicht sticht sofort ins Auge: Azeredo ordnet – wie für diesen Gedichttyp üblich – einer einfachen geometrischen Form jeweils ein einzelnes Wort zu, wobei die Wörter derselben Wortklasse entstammen, wie dies im poema semiótico häufig der Fall ist. In Finlays Gedicht hingegen entsprechen jeweils zwei Wörter einem visuellen Zeichen. Betrachtet man die verwendeten Wörter genauer, so stellt man fest, dass Finlay pro Zeichen zwei vollkommen unterschiedliche Wörter wählt, die außer einer visuellen Ähnlichkeit keine weiteren gemeinsamen Merkmale aufweisen. Zum Beispiel hat er einem weißen Kreis die beiden Begriffe ,buttonhole‘ und ,flower‘ zugeordnet und einem schwarzen Kreis die beiden Begriffe ,funnel‘ und ,cloud‘. Die zwei verbleibenden geometrischen Formen sind komplexer gestaltet, das Verfahren ist aber dasselbe: Ein nach oben geöffneter Halbkreis mit einer kurzen Linie darin dient als visuelle Entsprechung der Begriffe ,ancor‘ und ,umbrella‘ und zwei sich im rechten Winkel schneidende kurze Linien als visuelle Entsprechung für ,windmill‘ und ,cancel‘. Um nochmals auf die Ähnlichkeit zwischen dem visuellen Zeichen und der Gestalt des sprachlichen Zeichens zu sprechen zu kommen: Gerade in diesem Aspekt besteht eine wesentliche Abweichung vom prototypischen poema semiótico, wie es von Pignatari und Pinto vorgegeben wurde. Hier wurde bewusst auf eine Ähnlichkeitsbeziehung, einen Form-Inhalt-Isomorphismus, zwischen der äußeren Gestalt der jeweiligen Sache, die ein Begriff benennt, und dem als dessen visuelle Entsprechung gewählten Zeichen verzichtet. Die Zuordnung war hier fast immer arbiträr gestaltet. Das liegt natürlich auch daran, dass bevorzugt möglichst einfache geometrische Formen einer Semantisierung unterzogen wurden. Beim poema semiótico von Azeredo kommt es vor allem darauf an, die verwendeten visuellen Zeichen mithilfe der chave léxica zu semantisieren. Dieser Vorgang ist in Finlays parodistischem Gedicht durch bestimmte Vorgehensweisen unterbunden: Erstens steht die Doppelbelegung der Formen einer eindeutigen Semantisierung entgegen. Diese

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Doppelbelegung ist dabei so gestaltet, dass es sich nicht um synonyme Alternativvorschläge handelt (‚buttonhole‘ oder ‚flower‘ etc.), sondern beide Begriffe beim Erscheinen des jeweiligen visuellen Zeichens simultan mitgedacht werden sollen („buttonhole and flower“ etc.). Diese Forderung übersteigt natürlich die Vorstellungskraft eines jeden Lesers und führt die Semantisierung im ,normalen‘ poema semiótico ad absurdum. Demselben Zweck dient auch die Verwendung von geometrischen Formen (schwarzes und weißes Quadrat und schwarzes und weißes Dreieck), die im lexical key nicht auftauchen und darum auch keine Erläuterung erfahren. So wird verhindert, dass der Leser aus dem Gedicht eine sinnvolle Aussage ableiten kann. Vorgewarnt durch den Titel wird dieser wenig enttäuscht sein, sich vielleicht nur fragen, wieso hier ein semi-idiotic poem und nicht gar ein idiotic poem angekündigt wird. Abschließend sei exemplarisch auf eine Weiterentwicklung des poema semiótico hingewiesen, nämlich das so genannte poema processo. Francis Edeline hat zu Recht darauf hingewiesen, dass das poema processo aus dem poema semiótico hervorgegangen ist („héritier direct du poème sémiotique […]“726).Im Gegensatz zum poema semiótico zeichnet sich das poema processo dadurch aus, dass hier keine sprachlichen Elemente zur Erläuterung der graphischen Zeichen Verwendung finden. So auch im nun zu kommentierenden Gedicht727:

Abb. 77  Álvaro de Sá, 12x9 (1967)

Wie im idealtypischen poema processo sind auch im vorliegenden Gedicht keine sprachlichen Anteile zu finden, dafür neun Quadrate, beginnend mit einem weißen Quadrat und endend mit einem schwarzen. Durch Blasen, Dreiecke und Pfeile wird eine bestimmte Leserichtung vorgegeben, nämlich zunächst die traditionelle von links nach rechts und 726 Edeline (1998), S. 149. Vgl. Edeline (1998), S. 152: „Le poème-processus pour sa part se présente de façon identique au PS [scil. poème sémiotique ; B.N.] sinon que la clé lexicale est absente.“ Im poèmeprocessus ist der einzige sprachliche Anteil normalerweise im Titel gegeben, nicht einmal das ist allerdings zwingend. Vgl. hierzu Pignatari/Pinto (1987) und Perrone (1996), S. 64. 727 Zit. n. Edeline (1998), S. 164.



Poemas semióticos/códigos

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von oben nach unten. In der zweiten ,Zeile‘ wird diese traditionelle horizontale Leserichtung in ihr Gegenteil verkehrt: Die Augen des Lesers werden von rechts nach links geleitet, während sie in der dritten ,Zeile‘ wieder von links nach rechts geleitet werden. Dieses Arrangement entspricht der archaischsten Verwendung des Alphabets, das ja ursprünglich im ,Ochsengang‘, im Boustrophedon, Zeile für Zeile vor- und rückläufig auf den Schreibuntergrund angebracht wurde, zitiert also eine der ältesten Verwendungsweisen von Schrift überhaupt. Dadurch aber wird dieses Konstrukt als ein schriftförmiges denotiert. Die von der Konkreten Poesie im Allgemeinen beschworene Simultaneität der Rezeption wurde hier zugunsten einer zeitlichen Abfolge abgelehnt. Das entspricht der Prozesshaftigkeit, die ein poema processo als solches präsentiert. Interessanterweise erinnern die eingesetzten Blasen an die Sprechblasen in Comics, obgleich im Gedicht gerade nichts mitgeteilt wird. Es handelt sich hierbei um eine Art „wordless cartoon“728. Das Gedicht präsentiert also einen unausgesprochenen Gedanken – oder anders ausgedrückt: „signifiers deprived of signifieds, or signs without object.“729 Nichtsdestoweniger ist zweifelsohne ein Redegestus graphisch repräsentiert. Man könnte noch weitergehen: Die Sprechblase dient im Comic als graphischer Repräsentant der skripturalen Kommunikation, und selbst wenn nichts mehr mitgeteilt wird und die Sprechblase ,leer‘ bleibt, so können wir sie doch wenigstens als die graphisch repräsentierte Geste des Sprechens oder des Sprechen-Wollens identifizieren. Diese wird jedoch gerade aufgrund ihrer Unausgefülltheit zu einem international verständlichen Zeichen, das unabhängig vom linguistischen Code die Intention zur Kommunikation anzeigt. Die Sprechblasen des Cartoons bezeichnen zugleich den Ort, an dem sich üblicherweise Schrift befindet. Um nochmals die Analogie zum Comic zu vertiefen: Hier sind Blasen die konventionellen Zeichen für das Denken, die Dreiecke für einen Sprechakt und der Pfeil dient ganz allgemein als ein Transformationszeichen. Die genaue Struktur des Gedichts gestaltet sich also wie folgt: Alles beginnt mit einem konventionalisierten Zeichen für die Repräsentation einer sprachlichen Handlung (Übergang vom ersten zum zweiten Quadrat). Dieser ikonisch inszenierte Sprechakt wird nachfolgend einer gedanklichen Verarbeitung unterzogen (Übergang vom zweiten zum dritten Quadrat) und mündet in einem neuen Ausgangspunkt (viertes Quadrat), wobei der Wechsel durch den Pfeil angedeutet wird. Behalten wir die Analogie zum Comic bei, so könnte hier an einen Personenwechsel innerhalb eines Gespräches gedacht werden. Der Gedanke der ersten ,Zeile‘ transformiert sich und ist Anlass zur nächsten sprachlichen Handlung. Analog zur ersten ,Zeile‘ – nur eben in umgekehrter ,Leserichtung‘ von rechts nach links – mündet in der zweiten ,Zeile‘ eine sprachliche Handlung, die nicht identisch mit der ersten ist, wie die veränderte Struktur des Quadrats verdeutlicht, hier wieder in eine gedankliche Handlung, die sich ebenfalls von der ersten unterscheidet. In der dritten ,Zeile‘ wiederholt sich die Transformation eines neuen sprachlichen Aktes in einen gedanklichen, und zwar –

728 Perrone (1996), S. 64. 729 Menezes (1994), S. 83.

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wie in der ersten ,Zeile‘ – wieder in der in einem Großteil der Welt konventionalisierten Leserichtung von links nach rechts. Somit wechseln sich potenzielle sprachliche und gedankliche Handlungen ab bzw. gehen ineinander über. Das poema processo liefert auf diese Weise eine konkrete Form der Modellbildung kommunikativen Handelns: Der Gedanke transformiert sich und ist Anlass für die nächste Rede, die nicht mit der ersten identisch ist. Auf diese Weise wechseln sich Verbalisierung und Reflexion regelmäßig ab, so wie es idealerweise in einer Gesprächssituation, an die durch die Analogie zum Comic zu denken ist, sein sollte. Neben diesen semantischen Implikationen führt Álvaro de Sá in seinem Gedicht außerdem vor, wie die Strukturen innerhalb eines Quadrats in denjenigen des jeweils folgenden Quadrats transformiert erscheinen, bis der Prozess in der Druckerschwärze des letzten Quadrats zu einem Ende gelangt. Somit erzeugt der Dichter einen starken kinetischen Effekt. Gezeigt wird eine kontinuierliche Veränderung von einem Anfangshin zu einem Endzustand: Die abgebildeten Quadrate „are represented by a sequential ‘process’ […]“730. Information, wie sie vom ersten Quadrat repräsentiert wird, hat sich auf diesem Wege der Transformation innerhalb einer Kette kommunikativer Handlungen in eine andere Information verwandelt. Dieses poéma semiótico erscheint damit als eine mögliche, mit ikonischen Mitteln erzeugte Simulation des Kommunikationsvorganges und damit der Semiosen, die sich in ihm vollziehen. Daten werden, so eine denkbare theoretisch reflektierte Ebene dieses Gedichts, nicht unverändert von einem Relais der Kommunikation zu einem anderen weitergereicht, sondern sie unterliegen als Bestandteile des realen Lebens beständiger Veränderung, und in dieser Veränderung erfassen wir die Realität des tatsächlichen Lebensprozesses.

2.9 Kinematisierte Gedichte Die auf Visualität zielende Intermedialität blieb in der Dichtung nach 1945 nicht auf die statische Darstellung eines – auf welchen Schreibuntergrund auch immer – gedruckten Textes beschränkt, sondern es gab auch Versuche, die Darstellung zu dynamisieren, um so eine zusätzliche Ausdrucksmöglichkeit zu erschließen. Im Folgenden sollen zwei Möglichkeiten der Dynamisierung von Gedichten vorgestellt werden, nämlich die holographische Poesie und die Computeranimation von Gedichten. Beide lassen sich dem Begriff new media poetry zuordnen, den ich – im Gegensatz zu anderen – im engeren Sinne als Dichtung, deren Realisierung ausschließlich auf die Neuen Medien angewiesen ist, fasse.731 Die Nutzung der Holographie und des Computers für poetische Zwecke ist dabei aus dem Dichtungsverständnis im Umfeld 730 Menezes (1994), S. 83. 731 Im weiteren Sinne fasst beispielsweise Glazier (2002), S. 138 den Begriff ,new media poetries‘, und zwar als alle Dichtungsformen, die nicht an das traditionelle Medium ,Buch‘ gebunden sind: „The term ‘New Media Poetries’ refers to poetries that do not employ the medium of the book […]: this includes hologram pieces, works in programmable media, and video or non-print works.“ Vgl. auch Kac (2007), S. 7.



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der Konkreten Poesie ableitbar, denn hier galt es als Grundsatz, die Möglichkeiten eines neuen Mediums unmittelbar für die poetische Produktion nutzbar zu machen. Bei allen Unterschieden, die zwischen der Holographie und der Computeranimation bestehen und auf die später einzugehen sein wird, besitzen beide eine Gemeinsamkeit, die sie stark von den bisher erläuterten Dichtungsarten nach 1945 abgrenzt: Das dem Leser präsentierte Textmaterial erscheint nicht statisch, sondern als dynamischer Prozess. Eine solche Kinetisierung bedeutet natürlich eine Herausforderung an den zugrunde gelegten Textbegriff bzw. eine erneute Erweiterung des ohnehin schon erweiterten Textualitätskonzeptes. Es genügt nicht mehr, alle Zeichensysteme als potenzielle Zeichenspender anzuerkennen, sondern Text und Textlichkeit müssen – unabhängig davon, woher die sie konstituierenden Zeichen stammen – das Prinzip der Bewegung einschließen. 2.9.1 Holopoesie Holographische Gedichte werden sowohl in theoretischer als auch praktischer Hinsicht vor allem mit dem Namen Eduardo Kac verbunden. Auch die folgende Definition stammt von ihm: „A holographic poem, or holopoem, is a poem conceived, made and displayed holographically.“732 Zunächst muss daher geklärt werden, worum es sich bei der Holographie handelt, und ein kurzer Blick auf ihre Mediengeschichte geworfen werden, bevor konkrete Gedichtbeispiele erläutert werden. Ende der 1940er Jahre legte der ungarische Ingenieur und Physiker Dénes Gábor im Rahmen von Forschungen, die eine Verbesserung des Auflösungsvermögens der damaligen Elektronenmikroskope zum Ziel hatten, den theoretischen Grundstein für die holographische Methode. Die ersten brauchbaren Hologramme stammen erst aus den 1960er Jahren, als der erste Laser zur Verfügung stand. Im Jahre 1968 wurde das Weißlichthologramm entwickelt, das mittels jeder Lichtquelle betrachtet werden konnte.733 Gegenstand des öffentlichen Interesses wurde die Holographie in den 1960er und 1970er Jahren. So erhielt Gábor für seine Erfindung und Entwicklung der holographischen Methode im Jahre 1971 den Nobelpreis für Physik. Im Jahre 1980 wurde dann in Paris das Musée de l’Holographie gegründet, und zwar explizit pour promouvoir l’holographie jusqu’alors inconnue du grand public français. Le Musée s’est fixé comme missions essentielles : l’information, la formation, la présentation des collections et l’organisation d’expositions tant en France qu’à l’étranger.734

Die Besonderheit der Holographie liegt darin begründet, dass sie – im Gegensatz zu früheren Techniken, wie beispielsweise der Photographie – dreidimensionale Abbildungen von Objekten ermöglicht, und zwar am effektivsten durch den Einsatz von Laserlicht: 732 Kac (1996), S. 252. Diese Definition hat Kac (1996), S. 248 jedoch dahingehend eingeschränkt, dass für ihn nur solche Texte als holographische Gedichte gelten, die ausschließlich für dieses Medium geschaffen wurden: „I do not consider holographic poems those holograms that record or reproduce verbal material already successfully realized in other form or media.“ 733 Zur Geschichte der Holographie vgl. Dencker (2011), S. 166ff. und Reither (2003), S. 85. 734 http://museeholographie.com/holoFR.htm [zugegriffen am 31.12.2009].

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„La imagen holográfica no sólo transmite las características visuales de los objetos sino, también, su espacialidad.“735 Insofern das holographische Gedicht die Möglichkeit bietet, der Dichtung Dreidimensionalität zu verleihen, verweist es auf die dritte Form poetischer Intermedialität, nämlich auf diejenige zwischen Dichtung und Architektur oder Skulptur, ohne jedoch die jene charakterisierende statische Konstruktion aufzuweisen. Dort ist Dichtung dann tatsächlich als dreidimensionales Objekt greifbar. Die ersten poetischen Versuche mit der holographischen Methode wurden Ende der 1970er Jahre unternommen.736 Eine gewisse Breitenwirkung erzielten holo­graphische Gedichte in den 1980er Jahren, und zwar vor allem durch Eduardo Kac. Er war bzw. ist bis auf den heutigen Tag der Hauptvertreter dieser Art von Dichtung. Der Begriff holopoetry wurde im Jahre 1983 von ihm geprägt und damals wie folgt definiert: „Holopoetry is defined by unstable spaces, immateriality, four-dimensionality, interactivity, movement, relative perception, and related concepts.“737 Die erste öffentliche Ausstellung von holopoemas fand bereits im Jahre 1985 im Museum of Image and Sound in São Paulo statt. Eine Weiterentwicklung der hier der Öffentlichkeit zugänglich gemachten frühen holographischen Gedichte stellen solche dar, die mithilfe des Computers hergestellt werden: computer holopoems oder digital holopoems. Erste Beispiele dieser Art stammen aus dem Jahre 1989, und zwar ebenfalls von Eduardo Kac.738 Holographische Gedichte stellen in mehrfacher Hinsicht neue und somit zugleich erhöhte Anforderungen an den Leser. Um dies erläutern zu können, kehre ich zur eingangs zitierten Definition von Eduardo Kac zurück und gebe diese nun in voller Länge wieder: A holographic poem, or holopoem, is a poem conceived, made and displayed holographically. This means, first of all, that such a poem is organized in an immaterial three-dimensional space, with complex non-linear temporal characteristics, and that even as the reader or viewer observes it, it changes and gives rise to new meanings. Thus as the viewer reads the poem he or she constantly modifies the text. As distinguished from traditional visual poetry, it seeks to express dynamically the discontinuity of thought; in other words, the perception of a holopoem takes place neither linearly nor simultaneously but rather through fragments seen at random by the observer, depending on the observer’s position relative to the poem. Perception in space of colors, volumes, degrees of transparency, changes in form, relative positions of

735 Padín (1997), S. 5. Für die technischen Details vgl. Kasper/Feller (2001) und Funkhouser (2007b), S. 265ff. 736 Das erste holographische Gedicht stammt meines Wissens von Richard Kostelanetz und trägt bezeichnenderweise den Titel On Holography (1978). Schon im Jahre 1973 hat François Le Lionnais die Anwendung der Holographie im Bereich der Dichtung theoretisch durchgespielt: „Les principes de l’holographie pourraient servir à représenter des poèmes en images aériennes dans l’espace. Lorsque le lecteur bougerait la tête il pourrait voir des mots ou des phrases qui lui étaient cachés auparavant.“ Le Lionnais (1973), S. 290. 737 Kac (1996), S. 252. 738 Das erste Gedicht dieser Art trägt den Titel Multiple (1989). Zu Kacs computer holopoems vgl. Kac (1991), S. 234ff.

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letters and words, animation, and the appearance and disappearance of forms is inseparable from the syntactic and semantic perception of the text.739

Zunächst und vor allem besteht eine Schwierigkeit für den Leser eines holographischen Textes darin, dass ihm kein unveränderliches Korpus präsentiert wird, sondern der Text sich verändert, sobald der Leser seine eigene Position und damit zugleich seinen Blickwinkel auf den Text verändert. Kac hat für die in holographischen Texten verwendeten skripturalen Zeichen daher den Begriff fluid signs geprägt: „A fluid sign is essentially a verbal sign that changes its overall visual configuration in time, therefore escaping the constancy of meaning a printed sign would have.“740 Aufgrund der Bewegung der verwendeten Zeichen kann bei holographischen Gedichten von einer Art Kinetisierung des Konzeptes der Textualität gesprochen werden. Diese Kinetisierung ist nicht autonom, sondern vollkommen abhängig von der körperlichen Materialität des Lesers und seiner Position in Relation zum Text. Insofern hat sich die Rolle des Lesers stark gewandelt: „Das vormals statische Material der Signifikanten wird beweglich, und seine Bewegung erfolgt in Abhängigkeit von der physischen Präsenz des Rezipienten. Der Körper wird daher selbst zu einem Signifikanten des Werkes neben anderen, die ihn mitqualifizieren.“741 Was die Rezeption angeht, so unterscheiden sich nicht nur die Texte, die unterschiedliche Leser wahrnehmen, sondern auch die Texte, die ein einzelner Leser zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten innerhalb der vom Autor festgelegten viewing zone erkennt. Im Unterschied zur bisher behandelten gedruckten visuellen Konkreten Poesie vermitteln holographisch präsentierte Texte den Eindruck einer „inestabilidad textual“742, wodurch sie per se immer die Unmöglichkeit fester Strukturen vorführen. Dementsprechend wird die ,topographische‘ Syntax der in den bisherigen Kapiteln vorgestellten Beispiele in holographischen Gedichten durch eine ,animierte‘ oder dynamisierte Syntax ersetzt.743 Auf diese Weise muss der Leser eine höchst aktive bzw. eine interaktive Rolle einnehmen: Von ihm wird nicht nur die Interpretation eines gegebenen Textes gefordert, sondern zusätzlich auch die Herstellung dieses Textes, dessen Dynamik bis zu einem bestimmten Grad seiner Kontrolle unterliegt: The writer who works with holography or hypertext must give up the idea of the reader as the ideal decoder of the text and must deal with a reader who makes very personal choices in terms of the direction, speed, distance, order, and angle he or she finds suitable to the readerly experience.744

Das holographische Gedicht liegt nie in einer endgültigen Form, die allein von der Entscheidung des Dichters abhängt, vor, sondern es ist dynamischen Prozessen unterzogen, 739 740 741 742 743 744

Kac (1996), S. 252. Hervorhebung vom Autor. Kac (1996), S. 251. Block (1997), S. 192. Vilariño Picos (2006), S. 110. Der Begriff animated syntax wurde von Eduardo Kac geprägt. Vgl. beispielsweise Kac (1998), S. 169. Kac (1998), S. 177f.

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auf die der Leser  – in einem vom Dichter vorgegebenen Spielraum  – Einfluss hat. In solchen Gedichten wird die Instabilität von Textlichkeit vorgeführt. Dies erfordert eine grundsätzlich andere Rezeptionshaltung als bei aller Printpoesie, mag sie auch noch so experimentell sein. Der Leser muss bei holographischen Gedichten jeweils sehr viel aktiver bzw. interaktiv werden. Zwar hat schon Derrida zu Recht darauf hingewiesen, dass kein Autor vollständige Macht über seine Texte habe, zumal er niemals die Kontrolle über interne Widersprüche, Konnotationen etc. erlangen könne,745 jedoch entsteht auf Seiten des Lesers durch die fest vorgegebene und unveränderliche Position der Textelemente und -strukturen der Eindruck einer völligen Kontrolle des Autors über das von ihm geschaffene Textmaterial. Zugleich entsteht beim Leser der Eindruck der absoluten Verlässlichkeit des Textes. Holographische Gedichte führen Gedichttexte und damit zugleich Sprache im Gegensatz hierzu als instabil und perspektivabhängig vor. Laut Kac stellt die holographische Methode das ideale Medium dar, um die charakteristische Dynamik von Sprache bzw. Sprachprozessen und die Flüchtigkeit von Wörtern abzubilden. Dieser Dynamik könne weder die Fixierung skripturaler Zeichen auf der zweidimensionalen Papierseite noch die Statik dreidimensionaler Gedichtobjekte gerecht werden: It was clear that I had to work with a new medium, beyond the page and the object, a new medium that would still allow for the private experience of reading a poem. My conclusion was that the solution might lie somewhere between the two-dimensional surface and the threedimensional volume in thin air.746

Die Instabilität des Textes, der, sobald der Leser sich bewegt, Transformationen erfährt, führt zu „in-between meanings“747, die eine einheitliche Interpretation unterbinden. Diese Transformationen sind dabei reversibel, so dass der holographische Text eine ganz eigene Zeitkonzeption entwickelt, die nicht der alltäglichen Zeiterfahrung des Lesers entspricht. Las referencias temporales y espaciales cambian obligatoriamente y la contingencia también alcanza a estas dos coordenadas, de modo que el tiempo se suspende, se vuelve acrónico y el espacio (la izquierda y la derecha, arriba y abajo) se modifica de manera ininterrumpida.748

Holographische Texte sind darum nicht nur nicht-linear, sondern auch nicht-chronologisch gestaltet. Insofern unterscheiden sie sich zwar stark von der traditionellen Dichtung, nicht aber vom Großteil der intermedialen visuellen Dichtung nach 1945: „In contrast to traditional poetry, holopoems have neither a beginning, a middle, nor an end.“749 Bei holographischen Texten erfolgt die Lektüre nicht ,an einem Stück‘, sondern sie setzt sich aus der Lektüre einzelner Wahrnehmungssequenzen oder „beobachtbarer 745 746 747 748 749

Vgl. Derrida (1967), S. 58f. Kac (1991), S. 247. Kac (1991), S. 233. Vilariño Picos (2006), S. 110. Bohn (2000), S. 287.

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Textzustände“750 zusammen. Dabei kommt der Zeit eine wichtige Bedeutung zu, denn jede einzelne ,Texterfahrung‘ des Lesers findet ja zu einem bestimmten Zeitpunkt statt. Darum handelt es sich bei holographischen Gedichten um räumlich-zeitliche poetische Artefakte, die Lessings kategorialer Unterscheidung in Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766) in Zeitkunst (Dichtung) und Raumkunst (Malerei) grundsätzlich widersprechen. Gerade die Phasen der „in-between meanings“751 erweisen sich in intermedialer Hinsicht als besonders interessant, denn hier kann oftmals keine eindeutige Zuordnung der wahrnehmbaren holographischen Zeichen zum skripturalen oder pikturalen Bereich vorgenommen werden. Eduardo Kac hat unter anderem diesen Sachverhalt explizit als Vorteil der Holopoesie gegenüber anderen Dichtungsarten benannt: The differences between the holopoem and other kinds of experimental poetry are marked by a set of characteristics that work together to destabilize the text, to plunge it into its specificity as written as opposed to graphic representation, to create a syntax based on fleeting transformations and discrete leaps.752

Prinzipiell andersartig – im Vergleich zur Rezeption der bisher vorgeführten intermedialen Gedichte – ist diejenige von holographischen Gedichten auch deshalb, weil sie eine vollkommen andere Art des Sehens und damit natürlich zugleich der Lektüre erfordert. Zumal holographische Gedichte dreidimensional gestaltet sind, ist eine ebensolche Lektüre unvermeidlich. Allerdings erfordern holographische Texte über das dreidimensionale Sehen hinaus ein binokulares, d.h., jedes Auge des Betrachters eines holographischen Textes nimmt ein anderes Bild wahr. Zur Sinnkonstitution tragen neben der Semantik der veränderlichen skripturalen Elemente ebenfalls Form, Farbe, Größe, Ort u.Ä. im holographischen Raum bei, wobei diese, nachdem der jeweilige Dichter einmal die Randbedingungen geschaffen hat, nicht mehr seiner Kontrolle unterliegen. Auf ein weiteres prinzipielles Charakteristikum der holographischen Poesie, das ebenfalls spezielle Anforderungen an den Leser stellt, ist Kac im oben genannten Zitat nicht eingegangen, nämlich darauf, dass es sich bei ihr um ein Paradebeispiel für Intermedialität handelt. An anderer Stelle hat sich Kac hierzu unmissverständlich geäußert: „I use holography and computer holography to blur the frontier between words and images […].“753 Betrachten wir nun ein Textbeispiel:

750 751 752 753

Bauer (2007), S. 32. Kac (1991), S. 233. Kac (2007), S. 9. Kac (1998), S. 169. Vgl. auch Kac (1986), S. 25: „The development of holopoetry as a hybrid poetic language is an interdisciplinary project, for it deals with a hybridism of genres (visual and verbal mixing) and of structure (syntax and pictorial space) that wants to coordinate the infinite possibilities of the word-image, written with the revolutionary spatial focalization of holography.“

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Abb. 78  Eduardo Kac, CHAOS (1986)754

Dieser holographische Text verbindet Neontechniken mit holographischen Techniken. Der Titel verweist implizit auf den Einfluss der Chaos-Theorie, den Kac in seinen theoretischen Texten mehrfach betont hat.755 Die skripturalen Zeichen reflektieren in drei Neonfarben vor den Augen des Lesers. Auf diese Weise wird deren Materialität besonders stark hervorgehoben. Zugleich entsteht durch die changierenden Farbeffekte ein Eindruck von Flüchtigkeit. Dieser verweist in Kacs holographischen Gedichten immer auf die Suche des Lesers nach einem Sinn, der ebenso wenig greifbar und stabil ist wie die Farben des Gedichts. Im vorliegenden Beispiel erscheinen drei der Buchstaben, die den Begriff ,CHAOS‘ bilden, nämlich C, H und A, ohne jede erkennbare Ordnung im holo­graphischen Raum verteilt. Das entstandene Bild ist pseudoskopisch und widerspricht somit der alltäglichen Seh-Erfahrung des Lesers. Dies erschwert natürlich die Wahrnehmung der Zeichen. Hinzu kommt, dass in diesem Beispiel die Metamorphosen, denen die Zeichen – veranlasst durch Standortwechsel des Lesers – unterzogen sind, insofern reversibel sind, als die drei Buchstaben C, H und A in abstrakte nicht-interpretierbare Farbeindrücke verwandelt werden und umgekehrt wieder in die entsprechenden Buchstaben. Im Gegensatz zu dieser konstanten Präsenz erscheinen die fehlenden beiden Buchstaben des Begriffes 754 Kac (1993) [Internet]. 755 Kac (1991), S. 236.



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,CHAOS‘, nämlich S und O, immer nur kurz im Raum und verschwinden vollkommen unvermittelt wieder. Wenn sie sichtbar sind, so ergeben sie das Akronym ,SOS‘. Dadurch ist der durch den Titelbegriff vorgegebene Interpretationsrahmen erheblich erweitert und lässt dem Rezipienten einen großen Spielraum bei der individuellen Sinnbildung. Der nächste Text756 ist ein Beispiel für ein computergeneriertes holographisches Gedicht:

Abb. 79  Eduardo Kac, SOUVENIR D’ANDROMEDA (1990)

Dieses holographische Gedicht führt vor, wie sich der zunächst in den Raum gebannte Begriff ,LIMBO‘ durch eine Bewegung des Lesers zu drehen beginnt, bis er schließlich zu explodieren scheint. Nach der ,Explosion‘ des Buchstabenarrangements erscheinen unspezifizierte graphische Formen im Raum. Diese Transformation ist von Kac als reversibler Prozess gestaltet. Der Vorgang der Explosion ist dabei durch den Begriff ,LIMBO‘ motiviert, wenn man von der wohl am weitesten verbreiteten Bedeutung, nämlich dem aus der Karibik stammenden Tanz, absieht und eine weitere Bedeutung des Begriffes bedenkt: „The word LIMBO connotes ‘oblivion’, ‘suspension’ and ‘nothingness’ in several languages – meanings which are enhanced by the visual process of fragmentation.“757 Auch die religiöse Bedeutung der Vorhölle, die der Begriff in zahlreichen Sprachen – beispielsweise im Englischen, Portugiesischen und Spanischen – besitzt, passt mit dem im und durch den Text inszenierten Prozess der Zersplitterung (eines Wortes und von Buchstaben) in kleinste Bestandteile zusammen. Es handelt sich hier um das Phänomen, das die Gruppe Noigandres mit dem Begriff „isomorfismo“758 bezeichnet hat. Durch den Zersetzungsprozess eines Begriffes in weder lesbare noch interpretierbare Zeichen hat Kac die Materialität der von ihm eingesetzten skripturalen Zeichen vorgeführt. Er hat somit ein beliebtes Verfahren der Dichter gedruckter Konkreter Poesie in den Bereich der holographischen Poesie überführt. Dadurch, dass die holographische 756 Kac (1993) [Internet]. 757 Kac (1991), S. 235. 758 Campos/Pignatari/Campos (1987), S. 156f.

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Methode Kac die Möglichkeit bot, die Auflösung von Buchstaben prozessural darzustellen, und der Leser somit zum Beobachter dieses Prozesses wird, konnte er den materialen Aspekt von Buchstaben und Buchstabenkonfigurationen wesentlich eindringlicher darstellen, als dies in einem Printgedicht möglich gewesen wäre. Hätte man hier dieselbe Absicht wie Kac im vorliegenden Gedicht verfolgt, so hätte man, statt die Transformation der skripturalen Zeichen vor den Augen des Lesers ablaufen zu lassen, nur den Zustand vor der Zersetzung, einzelne Momentaufnahmen während des Prozesses und den finalen Zustand zeigen können. Das letzte Gedicht, das ich im Kontext der Holographie vorstellen möchte, ist ein Beispiel für ein computergeneriertes holographisches Gedicht. Es stammt von Augusto de Campos. Auf dessen Website sind unter der Rubrik hologramas nur dieses und ein weiteres holographisches Gedicht, nämlich mudacor (1985), und eine Abbildung, die den Prototyp von poema-bomba (1987) zusammen mit dem Dichter zeigt, abrufbar. Auch wenn Augusto de Campos weitere Gedichte dieser Art produziert hat, so belegt dies doch, dass der holographischen Methode in seinem poetischen Schaffen ein wesentlich geringerer Stellenwert zukommt als in demjenigen Eduardo Kacs. Bei diesen beiden Texten handelt es sich im Gegensatz zu den Bearbeitungen von rever (1984) und risco (1984), die mithilfe eines Lasers produziert wurden, um computergenerierte Hologramme.

Abb. 80  Augusto de Campos, poema-bomba (1987)759

Auch im vorliegenden Gedicht scheint eine Explosion stattzufinden. So wie eine Bombe nach ihrer Zündung explodiert, bewegen sich die Buchstaben des Titelwortes poemabomba explosionsartig in Richtung auf den Betrachter. Im Gegensatz zu Eduardo Kacs Gedicht SOUVENIR D’ANDROMEDA (1990) präsentiert das vorliegende Gedicht keine bis ins Letzte konsequent durchgeführte Buchstabenexplosion, sondern zeigt stattdessen nur die Zersplitterung eines Begriffes in die beteiligten Buchstaben. Eine Zersplitterung dieser in kleinste Bruchstücke wird dem Leser hier nicht vorgeführt. Nichtsdestoweniger wird auch in Augusto de Campos’ holographischem Gedicht durch die

759 Campos (1987b) [Internet].



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Bewegung des den Text betrachtenden Lesers „Bewegung in die Schriftzeichen […]“760 gebracht. Sowohl diese Eigenbewegung als auch die Farbe der skripturalen Zeichen heben dabei ihre Materialität und damit zugleich ihren Eigenwert hervor. 2.9.2 Digital remediatisierte Gedichte Zunächst bedarf es an dieser Stelle einer Klarstellung: Im Folgenden soll es nicht um jede Art von computeranimierten Gedichten oder videopoems761 gehen, sondern nur um solche, denen ein zuvor erzeugtes Printgedicht zugrunde liegt, die also ins digitale Medium überführt wurden. In den meisten hier vorgestellten Beispielen stammen die Textanimationen und die zugrunde liegenden gedruckten Texte von ein und demselben Dichter. Sie stellen darum Belege „für die personelle Kontinuität der Experimente Konkreter Poesie in den analogen und digitalen Medien“762 dar. Bei den hier vorgestellten Gedichten handelt es sich nicht um Produkte der so genannten digitalen Poesie, die speziell aus den Möglichkeiten des digitalen Mediums geboren wurde und die Spezifika des Computers ausnutzt: „Als originäre Literatur des Computermediums unterscheidet sie [scil. die digitale Literatur; B.N.] sich von der digitalisierten Literatur des Medienwechsels durch den ästhetischen Einsatz der technischen Eigenheiten des Mediums.“763 Beispiele für digitale Poesie sind u.a. Philippe Bootz’ algorithmische Texte764 oder interaktive hypertext poems,765 wie Benjamin Gomez’ digitale Konkrete Poesie. In beiden Fällen besteht die Besonderheit der Textpräsentation mithilfe des Computers darin, dass jede Lektüre sich einmalig gestaltet. Im Unterschied hierzu ist die Lektüre von computeranimierten Gedichten leicht wiederholbar. Auch ist die Rolle des Lesers eine andere, denn hier bedarf es nicht oder nur sehr beschränkt der interaktiven Mitarbeit. In den überwiegenden Fällen hat dieser keine Entscheidungsfreiheit und kein Mitspracherecht beim Ablauf des Textes, sondern er nimmt eine ähnliche Rolle ein wie bei den gedruckten Basistexten. Von dieser traditionellen Art der Lektüre von Printgedichten, die je nach individueller Gestaltung des jeweiligen Gedichts (visuell Konkrete Poesie, traditionelle Poesie etc.) schon sehr unterschiedlich ausfallen kann, unterscheidet sich die Rezeption der hier präsentierten Texte vor allem dadurch, dass dem Leser kein statischer, sondern ein animierter Textkorpus dargeboten wird. Deshalb spielt hier nun auch verstärkt der Faktor Zeit eine entscheidende Rolle bei der Rezeption: Zeit wirkt hier bedeutungsgenerierend. Der Unterschied setzt jedoch noch früher an, denn zunächst muss der Rezipient willig sein, auch animierte Gedichte als Gedichte anzuer760 Krüger (2004), S. 98. 761 Zum Konzept des videopoem vgl. Melo e Castro (2007). Zum Verfahren der Gedichtanimation vgl. Thomson (1998) und zum Phänomen ,Videokunst‘ allgemein vgl. Bordini (1995). 762 Simanowski (2005) [Internet]. 763 Bauer (2006), S. 83. Der prinzipielle Zusammenhang zwischen Konkreter und digitaler Poesie ist nachzulesen in Schaffner (2007), S. 177ff. Für eine ausführliche Diskussion der Terminologie und Typologie digitaler Literatur vgl. Simanowski (2001) und für einen generellen Überblick über Computer-Kunst vgl. Goodman (1987) sowie Reither (2003). 764 Vgl. Bootz (2007a). 765 Zur Hypertextpoesie vgl. Reither (2003), S. 111ff.

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kennen und ihnen somit die Eigenschaft der Textlichkeit bzw. den Status der Textualität zuzusprechen. Dies setzt notwendigerweise die Bereitschaft voraus, den ohnehin schon erweiterten Textbegriff, auf dem alle in dieser Untersuchung analysierten Gedichte basieren, erneut zu erweitern, so dass er nicht nur alle beliebigen Zeichensysteme umfasst, sondern auch alle beliebigen Zeichensysteme in einem kinetischen Zustand. Benötigt wird daher „a new consciousness of textuality“766. Mehr noch als bei holographischen Gedichten haben wir es hier nicht mehr nur mit der Vorführung einer visuellen, sondern einer kinetischen Textualität zu tun. Die Animation von Konkreter Poesie weist dabei große Ähnlichkeiten mit anderen poetischen Formen auf: „Diese Form der Kinetisierung Konkreter Poesie [erinnert] an die Textfilme bzw. Video- und TV-Poesie Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre […].“767 Damit reihen sich diese animierten Gedichte in die Traditionslinie der Verbindung von Literatur und Film, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts, mit besonderer Intensität aber ab der Jahrhundertmitte erforscht wurde.768 Hier wurden überhaupt erst die Grundsteine für die Intermedialitätsforschung als eigenen Forschungsbereich gelegt: Die ›Väter‹ dieses Forschungszweigs sind Filmtheoretiker wie Bela Balázs und André Bazin, Autoren wie Alfred Döblin oder Bertolt Brecht, Kulturtheoretiker wie Walter Benjamin sowie Wissenschaftler unterschiedlichster Forschungsbereiche, die sich in den 40er bis 60er Jahren speziell dem Verhältnis von Literatur und Film widmeten.769

Die beiden Pole der Verbindung von Literatur und Film, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts herausgebildet haben, sind filmische Schreibweisen in literarischen Werken und deren Verfilmung. In beiden Fällen handelt es sich nach Rajewskys Klassifikation um das Phänomen des „Medienwechsels“770: Die Qualität des Intermedialen betrifft hier den Produktionsprozeß des medialen Produkts, also den Prozeß der Transformation eines medienspezifisch fixierten Prä›textes‹ bzw. ›Text‹substrats in ein anderes Medium, d.h. aus einem semiotischen System in ein anderes.771

Dasselbe gilt auch für die computergenerierten Gedichtanimationen, die hier vorgestellt werden sollen. Bei ihnen handelt es sich ja mehr oder weniger um Verfilmungen. Die Dichtung konnte sich genau zu dem Zeitpunkt dem Film und filmischen Verfahrensweisen annähern, als in der Literatur immer stärkere Interdependenzen zwischen den beiden 766 Portela (2006) [Internet]. 767 Simanowski (2005) [Internet]. Vgl. etwa Klaus-Peter Denckers Experimente mit TV-Poesie Anfang der 1970er Jahre sowie Timm Ulrichs’ 3-Sekunden-Filmgedicht kino/ikon (1969). Der Portugiese Ernesto de Melo e Castro hat ebenfalls bereits 1969 Filmpoeme produziert. Vgl. Block (2001) [Internet], Anmerkung 4. 768 Zum Verhältnis von Literatur und Film vgl. Dencker (2011), S. 104ff. 769 Rajewsky (2002), S. 8. Zu den Interdependenzen zwischen Literatur und Film vgl. Rajewsky (2002), S. 29ff. und Albersmeier (1995), S. 235ff. 770 Rajewsky (2002), S. 16. 771 Rajewsky (2002), S. 16.



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Medien Schrift und Film auftraten und Dichter zugleich bestrebt waren, ihre Texte nicht mehr nur auf traditionelle Weise durch Papier o.Ä. zu mediatisieren, sondern auch andere ,Schreibuntergründe‘ als Zeichenträger einzusetzen. Beispielsweise Pierre Garnier hat diesbezüglich ausführliche Medienreflexionen betrieben. Auch in diesem Bereich bewegten sich die konkreten Dichter auf den Spuren des italienischen Futurismus, denn im Manifest La cinematografia futurista (1916) ist die Ersetzung des Traditionsmediums Buch durch digitale Medien schon antizipiert: Il libro, statico compagno dei sedentari, dei nostalgici e dei neutralisti, non può divertire né esaltare le nuove generazioni futuriste ebbre di dinamismo rivoluzionario e bellicoso. Il cinematografo futurista acutizzerà, svilupperà la sensibilità, velocizzerà l'immaginazione creatrice, darà all’intelligenza un prodigioso senso di simultaneità e di onnipresenza. Occorre liberare il cinematografo come mezzo di espressione per farne lo strumento ideale di una nuova arte immensamente più vasta e più agile di tutte quelle esistenti.772

Die Vorstellungen, die in diesem futuristischen Manifest über kinematographische Gedichte formuliert sind, entsprechen insofern den Computeranimationen von Gedichten, denen dieses Kapitel gewidmet ist, als hier auch ein Printgedicht als Vorlage der Kinetisierung dient. Unterschiedlich ist jedoch die Zielsetzung, die im Falle der Futuristen einer Desavouierung literarischer bzw. poetischer Traditionen gleichkam: Poemi, discorsi e poesie cinematografati. […] Ridicolizzeremo […] le opere dei poeti passatisti, trasformando col massimo vantaggio del pubblico le poesie più nostalgicamente monotone e piagnucolose in spettacoli violenti, eccitanti ed esilarantissimi.773

Der entscheidende Schritt, den die Annäherung der Dichtung auf den Film zuzugehen ermöglichte, war der von einem statischen Textualitätsbegriff hin zu einer Animierung und Kinetisierung von Texten. Zumal in vielen Beispielen der gedruckten Konkreten Poesie Bewegungen angedeutet sind, ohne sie aufgrund der hier noch vorherrschenden statischen Textkonstruktion jedoch ausgeführt vorführen zu können, lag eine Kinetisierung relativ nahe: „der Schritt von den statischen Texten zu kinetischen Umsetzungen [ist] relativ klein […].“774 Dies trifft umso mehr zu, wenn man eine Überlegung Eugen Gomringers berücksichtigt, der den Blick vom Einzelgedicht auf das Gedichtbuch gelenkt hat und diesem eine kinetische Qualität zuschreibt. Das folgende Zitat bezieht sich auf die – im Vergleich mit dem einzelnen Printgedicht – zusätzlichen Möglichkeiten des Gedichtbuches: eine der wichtigsten [scil. Möglichkeiten des Gedichtbuches; B.N.] dürfte die sein, daß das buchblatt und entsprechend die bewegung des umblätterns, als zäsur, als blickwechsel, eine ganz bestimmte, kalkulierbare rolle spielt. ein gedicht kann aufgefächert dargestellt werden, 772 Grisi (1990), S. 79f. Hervorhebungen im Original. 773 Grisi (1990), S. 84f. Hervorhebungen im Original. 774 Dencker (2009), S. 197. Analoge Überlegungen zur poesia visiva in Segler-Messner (2004).

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inhaltlichen zäsuren entsprechen reale, objekthafte  – der inneren zeit eines gedichtes entspricht ein gewisser zeitablauf körperlicher bewegung.775

Insofern die Bewegung hier durch eine körperliche Bewegung des Lesers ausgelöst wird, unterscheidet sich diese Art der Kinetisierung jedoch grundlegend von derjenigen in Computeranimationen. Betrachten wir nun den Aspekt des Raumes, den die Animationen von Konkreter Poesie zumeist stark betonen. Portela sieht hierin eine Gemeinsamkeit mit der Konkreten Poesie (am Beispiel Melo e Castros und Augusto de Campos’), die diese für die digitale Remediatisierung geradezu prädestiniere: „The seamless way in which Melo e Castro and Augusto de Campos have transposed many of their works of the 1960s and 1970s into the digital medium suggests that there may be continuity between concrete space and digital space.“776 Allerdings kam in der Konkreten Poesie aus den 1960er und 1970er Jahren nicht dem Raum, sondern der Fläche große Bedeutung zu. Erst neue Medien (Laser in der Holographie, Computer bei Animationen etc.) machten diese Fläche als dreidimensionalen Raum darstellbar. In den Gedichtanimationen Konkreter Poesie erscheint Textualität nicht nur bewegt, sondern sie kann auch mit Farbe und Ton präsentiert werden. Dies ist allerdings keine notwendige Voraussetzung dieser Art von Dichtung, sondern eine Möglichkeit, zusätzliche Semantisierungsebenen – im visuellen und auditiven Bereich – zu nutzen. Die Computeranimation von Gedichten bietet jedenfalls die technischen Möglichkeiten, der Forderung der Gruppe Noigandres nach einer verbivocovisuellen und damit zugleich einer hochgradig intermedialen Dichtung nachzukommen. Hierauf hat Augusto de Campos ausdrücklich hingewiesen: The virtual movement of the printed word, the typogram, is giving way to the real movement of the computerized word, the videogram, and to the typography of the electronic era. From static to cinematic poetry, which, combined with computerized sound resources, can raise the verbivocovisual structures preconceived by CP to their most complete materialization. In this moment of transition […] poetry can leave saturation and impasse for unanticipated flights into the beyond-the-looking glass of video, and depart on a broad inter- or multi-media voyage.777

Die Beschränkung auf solche Computeranimationen scheint mir deshalb sinnvoll zu sein, weil gerade durch die Gegenüberstellung von gedrucktem und computeranimiertem Text die zusätzlichen Möglichkeiten dieser Art der Gedichtpräsentation und deren Aussagepotenzial deutlich hervortreten. Wichtig ist erneut der performative Aspekt: Inszeniert wird hier, dass all jene, die den Computer zu bedienen verstehen, das digital remediatisierte Gedicht rezipieren können. Durch den Vergleich zwischen diesem und der gedruckten Variante des jeweiligen Gedichtes wird dem Leser „the transition 775 gomringer (1969b), S. 295. 776 Portela (2006) [Internet]. 777 Greene (1992) [Internet].



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between static paper page and kinetic computer display“778 vor Augen geführt und die Entscheidung des jeweiligen Dichters für das neue Medium nachvollziehbar gemacht. Denn eines liegt klar auf der Hand: „Die Literatur im neuen Medium [scil. im Computer; B.N.] [vermag] die traditionellen, bekannten Mechanismen der Printliteratur auf ihre ganz eigene Art zu überbieten […].“779 In Bezug auf computergenerierte Gedichtanimationen ist mit „überbieten“ keinesfalls gemeint, dass sie prinzipiell höher zu schätzen seien, sondern vielmehr, dass sie die Möglichkeit haben, Aspekte, die in der Printversion des jeweiligen Gedichts nur angedeutet wurden, dem Leser vollständig und ausdrücklich vorzuführen. Das kann dazu führen, dass die Eigenleistung des Lesers bei der Semiose reduziert bis teilweise sogar minimiert wird: „sometimes they [scil. animated versions of printed poems; B.N.] provide a poorer viewing/reading experience than the paper original.“780 Um dieser entgegenzuwirken, können die spezifischen Möglichkeiten des digitalen Mediums als zusätzliche bedeutungskonstituierende Faktoren genutzt werden: zum Beispiel Farben, eine dreidimensionale Darstellung, Soundeffekte, Musik etc. Bei Animationen von Printgedichten handelt es sich um die ersten Beispiele der Videopoesie. Die bisher letzte Entwicklungsstufe hinsichtlich der Animation von Printgedichten stellt Tiago Gomez Rodrigues’ Film Concretus (2002) dar. In diesem etwa sechsminütigen Film wurden digitale Animationen von fünf Ideogrammen in die Handlung eingebaut, nämlich tontura von E.M. de Melo e Castro, arranhisso von Salette Tavares sowie cascata, cubo und esfera von Tiago Gomez Rodrigues selbst. Von ihm stammt auch der digitale Soundtrack. Dass die in diesem Kapitel thematisierten Animationen von Gedichten zunächst verstärkt im Umfeld der Konkreten Poesie entstanden sind, belegt einmal mehr die prinzipielle Grundabsicht der entsprechenden Dichter, stets neue Medien für ihre Zwecke, und das heißt: für die Gedichtproduktion und -präsentation, zu nutzen. Solche Gedichtanimationen sind ja das Ergebnis von „the adoption of electronic media by concrete poets“781. Als die technischen Möglichkeiten dies zuließen, also ab Beginn der 1980er Jahre, haben vor allem die brasilianischen konkreten Dichter den Computer für Remediatisierungen von Printgedichten ins digitale Medium genutzt. Augusto de Campos hat für die hierbei entstandenen Animationen den Begriff clip-poemas geprägt. Einige solcher Gedichte sind auf seiner persönlichen Website frei zugänglich. Das erste hier zu erläuternde Beispiel stammt in Form der Printversion aus dem Jahre 1983 (bzw. 1994782) und in Form des clip-poema aus dem Jahre 2000.

778 779 780 781 782

Portela (2006) [Internet]. Bauer (2007), S. 20. Portela (2006) [Internet]. Portela (2006) [Internet]. 1983 verfasst, erschien sos erst elf Jahre später in Buchform.

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Abb. 81  Augusto de Campos, sos (1983)783

Das Textarrangement der gedruckten Fassung erinnert an die Bahnen eines Sonnensystems. Diese Bahnen werden durch Begriffe und Buchstaben gebildet, die sich auf sieben konzentrischen Kreisen um einen Mittelpunkt, nämlich das Titelwort sos, herum befinden. Die Zahl könnte dabei sowohl auf die antike Vorstellung von den sieben Sphären als auch auf die bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein angenommene Anzahl aller existierenden Planeten verweisen.784 Die Dichte der skripturalen Elemente nimmt dabei von innen nach außen ab. Wie dies für die Konkrete Poesie typisch ist, gestaltet sich die Rezeption für den Leser vor allem deshalb schwierig, weil weder der Anfang noch das Ende und somit keine Leserichtung vom Dichter vorgegeben sind. Jeder Leser kann bzw. muss daher selbst entscheiden, auf welche Weise er das Gedicht für sich erschließen möchte. Denkbar sind prinzipiell sowohl die Richtungen von innen nach außen als auch umgekehrt und eine dem Uhrzeigersinn folgende oder ihm entgegengesetzte Lektüre, die durch den spiegelverkehrten Buchstaben R an prominenter Stelle angezeigt ist, sowie alle nur denkbaren Mischformen. Doch der spiegelverkehrte Buchstabe R entspricht zugleich dem kyrillischen Я (ausgesprochen: „ja“), das wiederum zugleich das Pronomen der ersten Person Singular, also „ich“ im Russischen darstellt. Betrachten wir nun die gegenüberliegende Seite von sos, so lesen wir dort „yo“, also spanisch „ich“, unten lesen wir das italienische „io“ und oben lateinisch „ego“. In den Räumen dazwischen befinden sich weitere Pronomina der 1. Person Singular. Hier wird keine Leserichtung determiniert, es sei denn, man könnte chronologisch mit dem ältesten Wort, dem lateinischen ego beginnen und dann über die Lektürerichtung frei entscheiden.

783 Campos (1994), S. 27. 784 Neptun als achter und äußerster Planet im Sonnensystem wurde erst im Jahre 1846 entdeckt.



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Der Eindruck von Kreisbahnen entsteht, wie eingangs beschrieben, durch eine entsprechende Anordnung von Wörtern und einzelnen Buchstaben auf der Papierseite. Bei den verwendeten Wörtern handelt es sich vor allem um Personalpronomina der ersten Person Singular. Diese werden durch solche, die der Isotopieebene Dunkelheit angehören, Präpositionen, Adverbien und konjugierte Verbformen ergänzt. Der äußerste konzentrische Kreis, der natürlich eine stark exponierte Stellung in der Konstellation einnimmt, wird durch das Personalpronomen der ersten Person Singular in acht Sprachen gebildet. Dies ist der einzige Kreis, der durch Mehrsprachigkeit dem Gedicht einen internationalen und auch universalen Rahmen verleiht. Dieser spiegelt in gewissem Sinne den Eindruck, dass die Struktur des Gedichts an die Struktur des Sonnensystems erinnert. Der von außen gezählt zweite Kreis enthält das Wort sós. Klanglich entspricht dies zwar dem Titelwort, jedoch bewirkt der Akzent eine bedeutsame semantische Differenz. Sós entspricht im Portugiesischen nämlich dem Plural des Adverbs só (dt. allein). Die hier benannte Einsamkeit, die aufgrund der Nähe zwischen dem Adverb und dem englischen Personalpronomen I auf dem äußersten Kreis als ein Zustand des Ich gekennzeichnet ist, entspricht auf der gestalterischen Ebene der Isolation der Wörter auf den Kreisbahnen, die erst zum Mittelpunkt hin abnimmt, um schließlich im akronymen Hilferuf sos zu enden. Es handelt sich hierbei um eine „diagrammatic reflection upon human solitude […]“785. Zugleich verdichten sich die Personalpronomina der ersten Person Singular zum Kollektiv wir (nós). Dieses stellt sich die Frage, was es nach (após) einem nicht konkretisierten Ereignis tun wird (faremos). Es könnte sich dabei um die Evokation einer Katastrophe von globaler oder sogar kosmischer Tragweite handeln. Die Assoziation mit den Bahnen eines Sonnensystems begünstigt diese Annahme, jedoch ist sie nicht zwingend. Dass es sich um die Aktivierung der Semantik einer Katastrophe  – welcher Art auch immer – handeln könnte, legt der international gestaltete Hilferuf im Titel (sos) nahe. Dies ist für die Konkrete Poesie nach brasilianischem Konzept vor allem auch deshalb so wichtig, weil mit dem Akronym SOS tatsächlich erstmals in der Geschichte ein für jedes Land und jede Kultur verbindliches Zeichen etabliert wurde, das hier gleichsam als Nucleus einer zukünftig zu etablierenden Universalsprache aufgefasst werden kann. Als isomorph erweist sich dieser Text auch deshalb, weil die beiden Wörter noite und anoitece der Isotopieebene der Dunkelheit angehören und diese Dunkelheit durch den inversen Druck, weiße Schrift auf schwarzem Grund, abgebildet ist. Darüber hinaus ist diese Drucktechnik in der Opposition der direkt übereinander gedruckten Begriffe sol und notte versinnbildlicht. Betrachten wir nun die Flash-Animation786 von sos aus dem Jahre 2000. Ihr zeitlicher Ablauf soll dabei anhand chronologischer Stills wiedergeben werden:

785 Portela (2006) [Internet]. 786 Campos (1983) [Internet].

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Skriptural-pikturale Intermedialität Abb. 82–87

Diese Computeranimation unterscheidet sich zunächst dadurch von der ihr zugrunde gelegten Printversion, dass hier Farbe, Bewegung und Ton als zusätzliche Semantisierungsebenen zum Einsatz kommen. Im Gegensatz zum gedruckten Text besteht hier keine Schwarz-Weiß-Opposition zwischen den skripturalen Elementen und ihrem Schreibuntergrund, sondern gelbe Wörter und Buchstaben erscheinen auf einer weiterhin schwarzen Fläche. Der Kontrast zwischen Dunkelheit („noite“) und Helligkeit („sol“) sticht so noch stärker ins Auge.



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Das Textmaterial wird dem Leser hier nicht mehr als statisches Gebilde mit einem finalen Arrangement wie in sos aus dem Jahre 1983 präsentiert, sondern der Text erfährt eine Dynamisierung. Hier kommt nun dem Faktor Zeit eine wichtige Bedeutung zu. Es gibt nicht mehr ein Textbild, sondern verschiedenartige Textbilder, die der Leser jeweils zu einem bestimmten Zeitpunkt wahrnimmt. „The simultaneity of the spatially organized page has been broken down by cinematic temporality.“787 Mit der Kinetisierung des Textes geht einher, dass der Leser in seiner Entscheidungsfreiheit bei der Sinnkonstitution des Gedichts eingeschränkt wird. Der Autor hingegen betreibt verstärkt die Leserlenkung. War der Leser bei der Printversion noch frei, für sich einen Anfangspunkt des Textes zu wählen, denn die Konstellation der Wörter und Buchstaben gab keinen solchen vor, so ist der Beginn in der digitalisierten Fassung eindeutig bestimmt. Außerdem ist nur ein Eingreifen in den auf dem Bildschirm ablaufenden Textprozess möglich: Einmal gestartet, läuft die Animation bis zu ihrem Ende, es sei denn, der Rezipient beendet sie vorzeitig durch einen Mausklick auf die Taste fechar. Zunächst erscheinen nur einzelne Buchstaben, die sukzessive zu Wörtern komplettiert werden, und zwar mit Geräuschen untermalt, die vom Rezipienten nicht genau zugeordnet werden können. Ihre Funktion besteht vornehmlich darin, den Eindruck von Unruhe und Gefahr zu vermitteln. Der Leser wird hier Zeuge von Sprachbildungsprozessen, die natürlich im Kontext der allgemeinen Sprachkritik der konkreten Dichter gesehen werden müssen. Wenn dieser Vorgang sein Ende erreicht hat, so hat der Leser exakt die Anordnung vor Augen, die auch in der Printversion besteht. Das gedruckte Gedicht dient als „script or notation for ist digital re-mediation“788. Damit ist die Computeranimation aber bei weitem noch nicht an ihrem Ende angelangt, denn die Konstellation wird ein zweites Mal gebildet. Nun ist es der äußerste Kreis, der sukzessive aus seinen einzelnen Wörtern gebildet wird. Nacheinander erscheinen die verschiedensprachigen Personalpronomen der ersten Person Singular, und zwar mit der Stimme Augusto de Campos’ aus dem off, die vor der – wie bereits beschrieben – undefinierbaren Geräuschkulisse das jeweils neu erscheinende Wort oder den Buchstaben vorliest. Auf diese Weise bilden die visuelle und die akustische Dimension nicht  – wie in vielen Animationen Konkreter Poesie – separate Einheiten, ohne miteinander verbunden zu sein. Hier nun hat der Dichter dem Leser den Beginn vorgeschrieben und ihn so der Möglichkeit einer individuellen und beliebigen Lektüre beraubt. Ist die erste Kreisbahn vollendet, so beginnt sie, sich zu drehen. Dies verstärkt – verglichen mit der Printversion – erheblich den Eindruck von Planetenbahnen. Die übrigen Kreisbahnen werden von außen nach innen auf dieselbe Weise gebildet wie die äußerste. Auch hier liest Augusto de Campos jeweils das auf dem Bildschirm erscheinende Wort oder den auf dem Bildschirm erscheinenden Buchstaben laut vor, während die bedrohlich wirkenden Geräusche im Hintergrund zu hören sind. Die sieben Kreisbahnen drehen sich nicht alle in derselben Richtung, sondern teilweise im und teilweise gegen den Uhrzeigersinn. Dies erzeugt einen chaotischen Eindruck , der auditiv dadurch verstärkt wird, dass die vorgelesenen Wörter sich teilweise 787 Portela (2006) [Internet]. 788 Portela (2006) [Internet].

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durch Echoeffekte überlagern. Auch wenn nicht jeder Rezipient von dem, was ihm da visuell und auditiv präsentiert wird, Kopfschmerzen bekommen dürfte, so wird wohl niemand das Dargebotene als angenehm empfinden. Genau dieser Eindruck soll dem Rezipienten aber eben vermittelt werden. Es geht in der Animation ja darum, einen Zustand der Entropie vorzuführen. Erscheinen die sieben Kreisbahnen vollständig auf dem Bildschirm, so bewegt sich der in der Mitte angeordnete Begriff „sos“ auf den Betrachter zu und nimmt dabei an Größe immer mehr zu: Der Hilferuf scheint zunehmend dringlicher zu werden. Außerdem entsteht hier verstärkt der Eindruck von Räumlichkeit bzw. kosmischen Dimensionen. Schließlich ist auf dem Bildschirm nur noch das o oder die Null erkennbar. Hier ist nun der Zustand einer absoluten Leere erreicht. Simultan zur Bewegung des Begriffes sos in Richtung des Betrachters bewegt sich die Kreisbahnen-Wortkonstellation weg von ihm, so dass auch hier ein starker Eindruck von Räumlichkeit erzeugt wird. Schließlich sind in der Ferne nur noch einzelne Partikel der Konstellation zu erkennen, und sowohl die menschliche Stimme als auch die Geräuschkulisse verstummen schlagartig. Damit herrschen plötzlich die Ruhe und das Schweigen („silencio“), die in der Konstellation den Hilferuf („sos“) umgeben. Wie gezeigt werden konnte, verwirklicht die Computeranimation die Forderung der Gruppe Noigandres nach verbi-voco-visuellen Gedichten insofern besonders gut, als hier neben der Wortsemantik die optische und die lautliche Dimension maßgeblich an der Sinnkonstitution beteiligt sind: – o poema concreto ou ideograma passa a ser um campo relacional de funções. o núcleo poético é posto em evidencia não mais pelo encadeamento sucessivo e linear de versos, mas por um sistema de relações e equilíbrios entre quaisquer parses do poema. – funções-relações gráfico-fonéticas (“fatores de proximidade e semelhança”) e o uso substantivo do espaço como elemento de composição entretêm uma dialética simultânea de olho e fôlego, que, aliada à síntese ideogrâmica do significado, cria uma totalidade sensível “verbivocovisual”, de modo a justapor palavras e experiência num estreito colamento fenomenológico, antes impossível.789

Außerdem setzt die digitale Remediatisierung von Gedichten das bereits im plano-piloto enthaltene Konzept einer dynamischen Dichtung durch tatsächliche Bewegungen um: „poesia concreta: […]. estrutura dinâmica. multiplicidade de movimentos con­co­ mitantes.“790 Das nächste Beispiel stammt von Ronaldo Azeredo. Die gedruckte Fassung von velocidade stammt aus dem Jahre 1957 und die Animation aus dem Jahre 2007. Letztere ist Teil eines größeren Projekts unter der Leitung von Christian Caselli gewesen: Cinco poemas concretos (2007).791 Bei den fünf konkreten Gedichten handelt es sich um José Lino Grunewalds cinco (1964), Ronaldo Azeredos velocidade (1957), Augusto de Cam789 Campos (1956) [Internet]. 790 Campos/Pignatari/Campos (1987), S. 156. 791 Abrufbar unter: http://www.youtube.com/watch?v=gbzSHD0D_gw [zugegriffen am 19.01.2010].



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pos’ cidade (1963), E.M. de Melo e Castros pêndulo (1961/62) und Décio Pignataris o organismo (1960). Die Printversion von velocidade (1957)792 ist folgendermaßen gestaltet:

Abb. 88  Ronaldo Azeredo, velocidade (1957)

Der Titel lässt keinen Zweifel daran, dass Azeredo in seinem Text an der poetischen Umsetzung des Konzeptes der Geschwindigkeit gelegen war. Mit dem Versuch, Geschwindigkeit auf der Papierfläche mimetisch abzubilden, steht Azeredo in der Tradition der italienischen Futuristen, die Entsprechendes schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts unternommen haben. Der große Unterschied besteht jedoch darin, dass die Futuristen dies auf ikonische Weise durch die Abbildung verschiedener Symbole für Geschwindigkeit erzielen zu können glaubten: „The Futurist tried to paint motion. It was an iconic motion, imitative of reality, like, for example, Cesare Simonetti’s ‘Treno in corsa’, which has the shape of a projectile.“793 Azeredo hingegen hat seinem Text nicht die Form eines Gegenstandes gegeben, der allgemein mit Geschwindigkeit assoziiert wird, sondern bei ihm entwickelt sich das Konzept der Geschwindigkeit aus dem Textarrangement selbst. Dieses ist so gestaltet, dass zehn zehnspaltige Zeilen mit Buchstaben gefüllt sind. Die erste Zeile besteht ausschließlich aus dem Buchstaben V. Schon hier fällt eine Besonderheit auf: Azeredo hat nur Majuskeln verwendet, obgleich die konkreten Dichter bei weitem Minuskeln bevorzugt haben. Azeredos Wahl könnte zweifach begründet sein: Die meisten konkreten Texte enthalten ja deshalb nur Minuskeln, weil so eine 50%ige Reduktion des Zeichenbestandes der Buchstaben erzielt werden kann. Durch seine Wahl führt Azeredo vor, dass der gleiche Grad an Reduktion auch durch die ausschließliche Verwendung von Majuskeln 792 Williams (1967), o. S. 793 Haroldo de Campos, zitiert nach Williams (1967), o. S.

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zu erreichen ist. Außerdem könnte Azeredo mithilfe der Majuskeln – in der Nachfolge Marinettis  – die Bedeutung der neuen Schönheit der Geschwindigkeit hervorheben. Auch die Wahl einer Antiqua-Schrift mit stark ausgeprägten Serifen widerspricht der Praxis der konkreten Dichter und besonders der Gruppe Noigandres, die alle serifenlose Schrifttypen präferiert haben. Im vorliegenden Gedicht lässt sich die ausgefallene Wahl dadurch begründen, dass die Typographie eine zusätzliche Semantisierungsebene darstellt:794 „Hier [scil. in Azeredos velocidade; B.N.] sind die Serifen stark ausgeprägt, was die Richtung und die Geradlinigkeit der Bewegung des auf den Leser zueilenden Worts unterstützt […].“795 Ab der zweiten Zeile rückt die Reihe der zehn Vs um eine Spalte nach links. Die freie Spalte nimmt der Reihe nach einer der Buchstaben des Begriffes ,velocidade‘ ein. In der zehnten und letzten Zeile ist dieser dann vollständig lesbar, und zwar sowohl horizontal als auch vertikal. Geschwindigkeit wird in diesem Beispiel nicht nur durch die angedeutete Bewegung der Buchstaben abgebildet, sondern auch mithilfe der lautlichen Ebene. Jeder, der schon einmal ein Formel–1-Rennen gesehen und vor allem gehört hat, wird dies bestätigen können: „The line of Vs imitates the sound of something moving […].“796 Diese lautliche Dimension von Geschwindigkeit wurde in der entsprechenden Gedichtanimation aus dem Jahre 2007797 nicht genutzt (Abb. 89–94). Im Fall von velocidade kann insofern aber von einer Überlegenheit der Animation im Vergleich mit dem Printgedicht gesprochen werden, als hier ja tatsächlich Zeit und damit zugleich Geschwindigkeit eine Rolle spielen. Statt Simultaneität herrscht hier Sukzessivität vor. In der Animation bestand die Möglichkeit, hohe Geschwindigkeit durch schnelle Bewegungen der Buchstaben über den Bildschirm abzubilden. Auch Geschwindigkeitsänderungen ließen sich hier problemlos darstellen. Die Animation beginnt beispielsweise damit, dass der isolierte Buchstabe V in großen Abständen in vertikaler Richtung am rechten Rand über den Bildschirm läuft, so als befände er sich auf ein Band geschrieben. Mit fortschreitender Zeit werden die Abstände zwischen den einzelnen identischen Buchstaben zunehmend kleiner, denn auf diese Weise entsteht der Eindruck einer starken Beschleunigung. Dieser Eindruck wird auch durch die lautliche Ebene verstärkt: Die Musik wird zunehmend schneller und lauter. Sowohl auf der visuellen als auch auf der akustischen Ebene findet ein crescendo statt. Dieses nimmt immer mehr zu, und plötzlich erscheint nicht mehr nur eine Reihe von Vs, die über den Bildschirm läuft, sondern zehn. Auf diese Weise wird der Eindruck von Geschwindigkeit erheblich intensiviert. Nach und nach erscheint dann vor den Augen des Rezipienten das Wort ,velocidade‘, und zwar – wie in der Printvorlage – von rechts kommend und pro Zeile jeweils um einen Buchstaben nach links verschoben, bis in der zehnten Zeile der Begriff dann vollständig erscheint. 794 Hier wird einmal mehr die Unzuverlässigkeit des Internets deutlich, denn in ihm kursieren velocidadeVersionen mit serifenlosen Schrifttypen. 795 Vollert (1999), S. 69. 796 Krüger (2005), S. 409. 797 Abrufbar ist diese Animation von velocidade unter: http://www.youtube.com/watch?v=gbzSHD0D_ gw [zugegriffen am 19.01.2010].



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Abb. 89–94

An dieser Stelle endet die Vorlage der gedruckten Fassung. Da Geschwindigkeit nicht notwendigerweise eine hohe Geschwindigkeit meint, lässt sie sich nicht nur durch eine Beschleunigung, sondern auch durch eine Verlangsamung darstellen. Dementsprechend ist der oben beschriebene Prozess in der Animation als ein reversibler präsentiert: Sobald die zehn Spalten mit den Buchstaben des Begriffs ,velocidade‘ gefüllt sind, rückt dieser Begriff pro Zeile um einen Buchstaben nach rechts aus dem Textrahmen. An die frei gewordene Stelle rückt jeweils ein V. Dieser Vorgang wird mehrfach wiederholt, wobei der Rezipient aufgrund der hohen Geschwindigkeit, mit der die Zeilen sich über den Bildschirm bewegen, vornehmlich abwechselnd den Buchstaben V und den Begriff ,velocidade‘ und dazwischen Buchstabendiagonalen wahrnimmt. Völlig unvermittelt erscheint dann ein vollkommen schwarzer Bildschirm, und ebenso unvermitelt stoppt die musikalische Begleitung. Natürlich handelt es sich dabei nicht um ein technisches Problem, was der Beobachter zunächst annehmen könnte. Ein solches wird im Folgenden aber inszeniert, denn entsprechende Geräusche und das Aufflackern des Bildschirms, auf dem sich zehn mal zehn Vs befinden, sollen einen Kurzschluss andeuten, der durch eine zu hohe Geschwindigkeit ausgelöst worden sein könnte.

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Nach einer kurzen Pause, in der erneut der Bildschirm ganz schwarz ist, geht es mit der Animation des nächsten Gedichts weiter: Augusto de Campos’ cidade (1963). Das hätte mit Azeredos Gedicht nichts zu tun, wenn es nicht so wäre, dass am Ende der cidade-Animation nochmals beide miteinander verknüpft präsentiert würden. Im letzten Videostandbild ist dies festgehalten: Es sind gerade noch die beiden letzten Buchstaben des Begriffs cidade zu erkennen, und zwar vor dem Hintergrund von zehnspaltigen Zeilen, die aus lauter Vs gebildet sind. An dieser Stelle wird das Konzept der Geschwindigkeit ganz konkret verortet, nämlich in der Stadt. cidade wird nämlich von velocidade eingerahmt. Auf diese Weise wird eine enge Verbindung zwischen beiden Begriffen hergestellt. Eine solche besteht ja auch schon darin, dass cidade als Silbenformation in velocidade auftaucht. Die Animation legt durch ihre Präsentation der beiden Gedichte des Weiteren eine semantische Nähe nahe: Die moderne Stadt wird durch Geschwindigkeit geprägt (schnelle Autos, schnelle Begegnungen, schnelle Geschäfte etc.). Schon im 19. Jahrhundert hat Charles Baudelaire bemerkt, dass in der modernen Großstadt v.a. das Prinzip der Flüchtigkeit herrscht (vgl. z.B. À une passante aus Les Fleurs du Mal (1857)). Das nächste Beispiel zeugt von der bereits beschriebenen Nähe, die in zahlreichen Gedichten der Konkreten Poesie zur Werbung festgestellt werden kann und die ein Erbe des Dadaismus und Surrealismus darstellt.798 Es handelt sich um Décio Pignataris bekanntes beba coca cola:

Abb. 95  Décio Pignatari, beba coca cola (1958)799

Pignataris Gedicht basiert auf dem weltbekannten Werbeslogan der Coca-Cola Company: drink coca cola (beba coca cola).800 Dieser erscheint unverändert in der obersten 798 Vgl. Krüger (2004), S. 91f. und Tolman (1982), S. 161f. 799 Pignatari (1958) [Internet]. Auch in Solt (1970), S. 108, hier allerdings in Schwarz-Weiß. 800 Später hat auch Hilde Domin diesen Werbeslogan in ein Gedicht aufgenommen. Im Gegensatz zu



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Zeile. Auch die weiße Schrift auf rotem Grund verstärkt die Assoziation mit der Reklame dieser Marke, zumal hier genau diese Darstellung gewählt wurde und sich im Laufe der Zeit zum Markenzeichen von Coca-Cola entwickelt hat. Was zunächst den Eindruck von Werbung erweckt, erweist sich bei genauerem Hinsehen als „anti-advertising“801, und zwar durch gezielte Vokalpermutationen und Buchstabenvertauschungen, wobei alle Wörter – bis auf das Schlusswort cloaca – jeweils aus vier Buchstaben bestehen: „l’originario slogan pubblicitario si trasforma progressivamente, per mezzi di semplici sostituzioni di vocali […], in una spietata satira contro uno dei più noti ed emblematici prodotti statunitensi.“802 Die Vertauschungen der Buchstaben heben die Materialität der verwendeten Wörter besonders stark hervor, zumal ihre ,Einzelteile‘ hier als beliebig vertauschbar präsentiert werden. Innerhalb seines Gedichts entwirft Pignatari ein Netz von Paronomasien, dessen verbale Kerne „beba“ und „coca“ sind. Durch die hiermit einhergehende „Veränderung der Wörter mit den lautlichen und optischen Ähnlichkeiten [werden] inhaltliche Analogien aufgebaut“803. Die vorherrschende große phonetische Übereinstimmung entsteht daraus, dass der Imperativ „beba“ (dt. trinke) zu „babe“ (dt. ugs. sabbere) und „coca“ zu „caco“ (Scherbe) transformiert oder transponiert werden. Schließlich hat Pignatari die beiden Wörter „cola“ und „caco“ in „cloaca“ (Kloake) verwandelt. Hierzu musste lediglich das l in „cola“ um eine Stelle nach links verrückt und die Silbe ,co‘ in „caco“ beseitigt werden. Bezeichnenderweise erscheint der Begriff ,cloaca‘ direkt unter den beiden Begriffen, und zwar so, dass er dieselbe Breite aufweist. Dies deutet auf die Synthese beider zu diesem neuen Begriff hin. Nur ein Begriff bleibt von den Buchstabenpermutationen ausgenommen, nämlich ,cola‘. Dieser weist insofern eine Ambiguität auf, als er sowohl für die Getränkemarke steht als auch Leim bedeutet. Die zweite Bedeutung wird durch die angedeuteten zerbrochenen Flaschen des Getränkes begünstigt. Die Paronomasien bewirken eine Abwertung von Coca-Cola, die im Begriff ,cloaca‘ ihren unschönen Höhepunkt findet. Angelegt ist eine mögliche Abwertung dabei schon im Eigennamen der Marke, denn im Portugiesischen stehen die Begriffe ,coca‘ und ,cola‘ nicht – wie im Deutschen – ausschließlich für die Getränkemarke, sondern besitzen jeweils zusätzlich eine andere Bedeutung: ,coca‘ steht ebenso für Kokain und ,cola‘ für Leim. Aus semiotischer Sicht stellen Pignataris Wortveränderungen einen grundlegenden Wandel der Zeichenqualität dar. Die ähnlich klingenden Wörter werden dem Namen der Getränkemarke nicht zufällig zugeordnet, sondern weil sie Merkmale oder Assoziationen benennen, die der Marke implizit unterstellt werden: „To use Peircean terms, an arbitrary symbol (a word) is transformed into an icon by manipulating similarities among various words.“804

801 802 803 804

Pignataris Gedicht weist dieses jedoch keine scharfe Sozialkritik auf. Sie drückt mit dem Werbespruch die erwünschte hohe Publikumswirksamkeit von experimenteller Poesie aus und fordert ein Gedicht „unabweisbar / als rufe es / »Trink Coca-Cola«“. Domin (122008), S. 335. Krüger (2005), S. 409. Ähnliche Verfahren gibt es auch in der poesia visiva. Pignotti hat hierfür den Begriff „contropubblicità“ geprägt, z.B. in Pignotti (2000), S. 188. Pignotti/Stefanelli (1980), S. 128. Lenz (1976), S. 76. Webster (1995), S. 149.

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Das skripturale Material ist hier so angeordnet, dass drei voneinander isolierte Einheiten auszumachen sind: Die erste ist ein schmaler Textblock, die zweite ein unvollständiges Quadrat und die dritte ein einzelner Begriff („cloaca“), der dadurch eine besonders starke Betonung erfährt: „‘cloaca’ stands spatially […] apart […], acting as a one-word synthesis of an unmistakeable meaning.“805 Vom anfänglichen enthusiastischen Aufruf „beba coca cola“ ist am Ende des Gedichts nichts mehr zu spüren. Das zunächst wertneutrale Getränk erfährt hier eine Transformation, die kaum negativer sein könnte, nämlich zu Kloake. Im Gesamtbild ergeben die drei Einheiten wieder ein unvollständiges oder auch defektes Quadrat. Zugleich lässt sich die flächenmäßige Anordnung der Wörter auf der Papierseite auch als drei Spalten oder Säulen auffassen, wobei der Abstand zwischen der ersten und zweiten wesentlich größer ist als derjenige zwischen der zweiten und dritten, die darüber hinaus ein gemeinsames ,Fundament‘ haben: den Begriff ,cloaca‘. Der kleinere Abstand und die gemeinsame Basis lassen sich vor allem damit sinnvoll begründen, dass an der Spitze dieser beiden Spalten der Produktname erscheint. Dieser Interpretationsansatz bietet den Vorteil, dass er dreimal die Form der Coca-Cola-Flaschen in der Textgestalt erkennt und zugleich einen Hinweis auf die sozialkritische Dimension des Gedichts enthält. Zunächst scheint es so, als sei die Produzentenseite (vgl. den Imperativ „beba“) von der Konsumentenseite, die das Produkt kauft („coca cola“), getrennt. Diese Annahme erweist sich jedoch als trügerisch, denn die letzten beiden Begriffe in der ersten Spalte („caco“, „cola“) entstammen der vierten Zeile der zweiten und dritten Spalte. Dies erweckt den Eindruck, dass diese Zeile einfach in die erste Spalte verschoben wurde. Das wiederum negiert die zunächst angenommene strikte Trennung von Produzent und Konsument und lässt Schlüsse über die hier enthaltene Kritik zu: The sides are interchangeable; those who drink are no better than those who manipulate them into drinking. The two sides are but different transpositions of one pattern: socially as well as linguistically. And this last point is made by coupling transposition inside the word with transposition in the spatial arrangement.806

Was Pignatari im vorliegenden Gedicht mithilfe der erläuterten phonetischen Operationen kritisiert, ist „die Überfremdung [der brasilianischen] mit [der] US-Kultur“807, die nicht nur als Zwangsmaßnahme Amerikas, sondern auch als Fehlhaltung Brasiliens interpretiert wird. Das Gedicht erweist sich damit nicht nur als kritischer Kommentar zur imperialistischen Politik der USA, die durch das typisch US-amerikanische Getränk symbolisiert wird, sondern formuliert vielmehr eine weitaus umfassendere, generelle Ablehnung: „The political message of the poem is obvious: Pignatari is using the brand name Coca-Cola as a symbol of a lifestyle of which he does not approve for Brazil.“808 Eine ähnliche Intention hat auch Mirella Bentivoglio mit ihrem Gedicht Il cuore della consu805 806 807 808

Webster (1995), S. 150. Waldrop (1982), S. 319. Vgl. Perloff (1991), S. 117f. Kessler (1976), S. 152. Krüger (2005), S. 409. Vgl. Krüger (2008), S. 15f.



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matrice ubbidiente (1975)809 verfolgt. In diesem Text erscheint der Anfangsbuchstabe des Getränks verdoppelt und zu einer Herzform arrangiert. Den weißen Innenteil der Herzform füllt der Schriftzug „oca“, der – wie die Majuskel C – in der typischen roten Farbe und Typographie der US-amerikanischen Firma gestaltet ist, aus. Es herrscht hier eine Äquivalenz zwischen Wort und Bild, die einer satirisch-kritischen Dimension nicht ermangelt. Wie bereits erläutert, besitzen auch viele Gedichte der Gruppe Noigandres – zumindest aus der Anfangszeit – ein kritisches Potenzial, das zumeist einem dezidiert politischen Engagement entsprungen ist, so dass Pignataris Text keine singuläre Ausnahme darstellt.810 Beim folgenden Beispiel handelt es sich zwar nicht um eine computergenerierte FlashAnimation, sondern um ein Schmalfilm-Format (Super 8), nichtsdestoweniger wurde es in dieses Kapitel aufgenommen, zumal an ihm weitere wesentliche Möglichkeiten aufgezeigt werden können, die die Kinetisierung von Textbildern bieten. Der Gedicht-Film811 von Pignataris beba coca cola stimmt hinsichtlich des skripturalen Materials exakt mit der Printversion überein, nur dass dieses eben nicht simultan, sondern sukzessive präsentiert wird. Erneut sollen Stills einen Eindruck vermitteln:

Abb. 96–99

Dieser Schmalfilm unterscheidet sich im Wesentlichen  – neben der Sukzessivität der Präsentation – durch zwei Aspekte von der ihr zugrunde liegenden Printversion: Auf der auditiven Ebene wurden hier eine musikalische Untermalung, eine Art Chor und 809 Abdruck des Textes in Pignotti (2005), S. 69. 810 Hierin unterscheidet sich die Konkrete Poesie aus Brasilien stark von der Konkreten Poesie in den meisten anderen Ländern der Welt. Schon Kessler (1976), S. 152 stellte fest: „Die konkrete Dichtung in Brasilien [ist] eine eigene Tradition geblieben […], die, als hervorstechendstes Merkmal (höchstens mit tschechischen Autoren vergleichbar), die wohl einzige wirklich sozial und politisch engagierte konkrete Dichtung […] hervorgebracht hat.“ 811 Abrufbar unter: http://www.youtube.com/watch?v=JrKG0xfPLj0&NR=1 [zugegriffen am 22.01.2010].

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ein menschliches Geräusch hinzugefügt und auf der visuellen der weiße wellenförmige Balken, der auf dem Etikett einer jeden Coca-Cola-Flasche zu sehen ist. Dieses neue visuelle Element – zusammen mit dem ohnehin genannten Markennamen – macht die Stoßrichtung der Kritik in Pignataris Gedicht eindeutig. Darüber hinaus entspricht übrigens auch die für den Schmalfilm gewählte rote Farbe mehr dem Original als die im Printgedicht verwendete. Wie in der Analyse des gedruckten Gedichts hervorgehoben, spielt schon hier die lautliche Ebene eine große Rolle. Im Schmalfilm konnte dies dadurch intensiviert werden, dass der Rezipient Zeuge eines Chors wird, dessen einzelne Stimmen zwar jeweils nur einen Begriff vorsingen, sich dabei aber überlagern, so dass kein harmonisch-melodischer Eindruck erzeugt wird. Harmonie, die dem Thema natürlich unangemessen wäre, wird vor allem auch dadurch verhindert, dass die Stimmen so gar nicht zusammenpassen. Kam dem Schlusswort schon in der Druckversion eine besondere Betonung zu, so ist diese in der Animation erheblich gesteigert, denn in dem Moment, in dem auf dem Bildschirm der Begriff ,cloaca‘ erscheint, hört man das laute Rülpsen eines Mannes. Dadurch erfolgt eine noch stärkere Abwertung des US-amerikanischen Getränks. Computeranimierte Konkrete Poesie finden wir nicht nur im Werk der Gruppe Noigandres, sondern auch in demjenigen Avelino de Araújos. Einige seiner animierten Gedichte sind auf seiner persönlichen Homepage zugänglich, und zwar unter der Rubrik imagens.812 Hier findet man nicht nur animierte, sondern auch Print-Gedichte. Dies wirft ein aussagekräftiges Licht auf die Willkür bzw. Unsicherheit der Zuordnung solch istspntermedialer Gedichte, denen die vorliegende Arbeit gewidmet ist, zur Dichtung oder Malerei. Araújos künstlerische Produkte, die er selbst als imagens bezeichnet hat, fasse ich im Folgenden mithilfe des eingangs erläuterten erweiterten Textbegriffes prinzipiell jedoch als Gedichte auf. Neben Augusto de Campos813 hat auch Avelino de Araújo ein Konkretes ,Stadtgedicht‘ produziert:

Abb. 100  Avelino de Araújo, CITY (1998)814

In diesem Gedicht wurden zwei charakteristische Merkmale der modernen Großstadt poetisch umgesetzt, nämlich die Größe und der ohrenbetäubende Lärm. Die überdimensionale Größe der Stadt (vielleicht Natals, der Hauptstadt des Bundesstaats Rio 812 Araújo (1979–2002) [Internet]. 813 cidade (1963). Seit 1987 prangt das Gedicht an den Ausstellungsgebäuden der Biennale von São Paulo. Eine entsprechende Photographie ist im Internet verfügbar: Campos (1987a) [Internet]. Vgl. hierzu S. 244 und S. 429f. dieser Arbeit. 814 Araújo (1998) [Internet].



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Grande do Norte, in der Araújo seit vielen Jahren lebt?) erscheint im vorliegenden Gedicht wie in einer Momentaufnahme eingefangen in der perspektivischen Darstellung des Begriffs CITY, der sich in scheinbar maximaler Ausdehnung hin zu einem entfernten Fluchtpunkt bewegt. Die ersten drei – natürlich größten – Buchstaben des Begriffes kommen dabei nur einmal vor, wogegen der letzte Buchstabe in unendlicher Wiederholung auftaucht. Große Bedeutung kommt dabei der visuellen Gestalt der Buchstaben zu. Dadurch, dass der Dichter den Begriff CITY gewählt hat, um eine Stadt abzubilden, erscheinen die Buchstaben – bezeichnenderweise Majuskeln im Fettdruck – als architektonische Gebilde. Im Gedicht werden Buchstaben nicht nur mit Bildern, sondern auch räumlichen Gegenständen in Verbindung gebracht, ohne dabei selbst dreidimensional gestaltet zu sein. Die Andeutung von räumlicher Tiefe genügt schon. Verstärkt wird dieser Eindruck von Buchstabenarchitekturen durch die Reihe, die aus dem letzten Buchstaben des Begriffes gebildet wird. Im Gegensatz zu den ersten beiden Buchstaben, die voneinander isoliert auf der Papierfläche angeordnet sind, fügen sich die Buchstaben hier nahtlos aneinander. Auf diese Weise könnten jeweils zwei zusammenhängende Buchstaben auf ikonische Weise ein Haus mit einem Spitzdach nachbilden (YY). Araújo machte sich so die ursprüngliche Pikturalität der Buchstaben – natürlich nicht nur des lateinischen Alphabets – zunutze. Auf diese Weise tritt zugleich stark die Materialität dieser Zeichen in den Vordergrund. Mit der Wiederholung des Y komme ich zum zweiten hier thematisierten Aspekt der modernen Großstadt, nämlich dem hohen Geräuschpegel. Dieser wird durch den hohen Ton, der sich ergibt, wenn der Leser den Begriff CITY laut ausspricht und dabei beim Y verweilt, angedeutet. Zumindest ist dieser Ton ebenso unangenehm und wenig zu ertragen wie die konstante Geräuschkulisse auf den Straßen der meisten Großstädte. In der Animation dieses Gedichts aus dem Jahre 2003815 intensivierte und vereindeutigte Araújo Aspekte, die mehr oder weniger implizit schon in der Druckfassung von CITY enthalten waren:

Abb. 101–102

Der Dichter nutzte nicht mehr nur die Dimensionen der Tiefe und Höhe, um die Größe einer Stadt abzubilden, sondern ergänzend auch diejenige der Breite. Hier erscheint zweimal – links und rechts – der Begriff CITY. Im Unterschied zur Simultaneität der 815 Araújo (2003) [Internet].

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gedruckten Version des Gedichts wird die Animation durch sich sukzessiv entfaltende Textualitätsprozesse ausgezeichnet. Hier sieht der Betrachter den Begriff CITY zweimal in die Tiefe des virtuellen Raumes laufen, bis sich beide Buchstabenstränge in einem gemeinsamen Fluchtpunkt treffen. Auch hier erscheinen die ersten drei Buchstaben des Begriffs jeweils nur einmal, der letzte hingegen in einer unendlichen Wiederholung. Araújo konnte hier durch die technischen Möglichkeiten des digitalen Mediums eine weitere Bedeutungsdimension in den Text einbauen: Die Animation führt nicht mehr nur die Größe einer modernen Großstadt vor, sondern auch das rasche Wachstum, das eine solche Stadt erlebt. Zumal der Begriff CITY hier doppelt erscheint, und die Implikation der Wiederholung des Buchstabens Y als Reihenhäuser weiterhin besteht, ließe sich an eine breite Straße denken, die auf beiden Seiten mit Häusern bebaut ist. Zur Lärm-Implikation in der gedruckten Version des Gedichts, die durch die Repetition des letzten Buchstabens des Begriffes city erzeugt wird, kommt in der Animation ein im Hintergrund zu hörendes unangenehmes Geräusch hinzu, das analog zur Wiederholung des Buchstabens Y vor allem aus extrem hohen Tönen besteht. Auch hierbei handelt es sich um eine Intensivierung der im Druckgedicht bereits angelegten Wirkungsabsicht des Dichters. Das nachfolgende Beispiel für die Animation Konkreter Poesie unterscheidet sich insofern von den bisher vorgestellten, als das Printgedicht und die Computeranimation nicht von demselben Künstler stammen. Nichtsdestoweniger lassen sich anhand eines Vergleichs beider die zusätzlichen Möglichkeiten des digitalen Mediums erläutern. Beim Printgedicht handelt es sich um ein in keiner Anthologie zur Konkreten Poesie fehlendes Gedicht, nämlich um Reinhard Döhls Apfel mit Wurm (1965),816 und bei der Animation um Johannes Auers worm applepie for doehl (1997).817 Betrachten wir nun zuerst Döhls Gedicht:

Abb. 103  Reinhard Döhl, Apfel mit Wurm (1965)

816 Abgedruckt in Williams (1967), o. S. 817 Auer (1997) [Internet].



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Zunächst einmal weist das Gedicht eine sehr hohe visuelle Qualität auf – Döhl hatte es zunächst für die Bildseite einer Postkarte entworfen. Die Konstruktionsweise des Gedichts ist schnell erklärt: Eine vereinfachte Apfelform ist mit dem unzählige Male wiederholten Begriff ,Apfel‘, und zwar aneinandergereiht in horizontalen Linien, die vertikal übereinander angeordnet sind, und – kaum sichtbar unten rechts – dem einmal auftauchenden Begriff ,Wurm‘ gefüllt. In ihm liegt natürlich die Pointe dieses Gedichts oder – wie Thomas Kopfermann es bezeichnet hat – der „etwas billige Witz des Ganzen […]“818. Es handelt sich um ein poetisches Piktogramm. Ob sich das vorliegende Gedicht daher mit dem Grundsatz der Konkreten Poesie der Selbstreflexivität, nämlich auf nichts Außersprachliches zu verweisen, vereinbaren lässt oder nicht – Christina Weiss hat dies bezweifelt819 –, spielt für unseren Vergleich mit der entsprechenden Animation keine Rolle. Der betrachtende Leser dieses Gedichts wird sich zunächst an eine ihm sicherlich aus eigener Erfahrung vertraute Szene erinnert fühlen: Der Apfel, den man verzehren möchte und den man zu disem Zweck halbiert hat, ist wurmbefallen. Jedoch geht dies weder aus dem Gedicht selbst noch aus seinem Titel mit eindeutiger Gewissheit hervor. Denkbar sind mindestens drei Varianten: Der Wurm befindet sich im Innern eines Apfels oder auf dessen Schale oder unter vielen Äpfeln. So sehr das vorliegende Gedicht zunächst jenes tautologische Verhältnis von Form und Inhalt aufzuweisen scheint, das wir beispielsweise in Figurengedichten vorfinden, bedarf es hier einer genaueren Betrachtung. Diese fehlt bei Kopfermann, wenn er das Gedicht als „primitivere Variante einer rein formalen Tautologie“820 bezeichnet hat. Als problematisch erweist sich vor allem die vielfache Wiederholung des Begriffes ,Apfel‘, durch die der Umriss eines Apfels erzeugt wird. Ahn Mun-Yeong hat dies ausführlich erläutert: Wenn auch die Bedeutung der Wörter ‚Apfel‘, die in der Flächenkomposition zum waagrecht und senkrecht aufeinander folgenden Muster tendieren, die runde Form dementsprechend als eine Apfelform bestimmen mag, bleibt das semantische Verhältnis zwischen den einzelnen Wörtern und der damit gebildeten Form ambivalent, und zwar aus dem schlichten Grund der Inkongruenz der Zahl, nämlich der Mehrzahl der inhaltbildenden Wörter gegenüber der Einzahl der Form als der Summe der einzelnen Wörter. Was für ein Witz ist dieses Ergebnis, daß aus so viel ‚Apfel‘ keine Äpfel, sondern nur eine apfelförmige Gestalt entsteht! Wenn diese eine Form des Apfels für jeden anderen ‚Apfel‘ steht und damit ernst gemeint sein soll, geht dieser Apfel-Text im ganzen vom bloßen Piktogramm zum poetischen Ideogramm über, das die einzelnen Schriften versammelnd einen Sammelbegriff zeigt.821

818 Kopfermann (1981), S. 24. 819 Für eine ausführliche Darlegung dieses Problems, das Weiss zufolge prinzipiell bei Piktogrammen besteht, vgl. Weiss (1984), S. 127ff. 820 Kopfermann (1981), S. 25. 821 Mun-Yeong (1971) [Internet].

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Betrachtet man die Form des Apfels genauer, so fällt auf, dass jeweils an der Umrisslinie der Begriff ,Apfel‘ deformiert erscheint. Dies bezeugt einerseits den Vorrang der graphischen Form vor dem semantischen Inhalt und andererseits, dass jeder visuelle und damit zugleich semantische Verlust, den das skripturale Zeichen erleidet, mit einem Gewinn auf Seiten der Form einhergeht, und zwar so, dass die Form immer eindeutiger als die eines Apfels zu erkennen ist. Zumal die Konkrete Poesie – und mit ihr Reinhard Döhl – von der Linguistik beeinflusst wurden, lässt sich an dieser Stelle ein Rekurs auf die Sprachwissenschaft durchaus rechtfertigen. Aus der Perspektive der Linguistik betrachtet, treibt der Apfel-Text die linguistische Einsicht von Saussure, daß die Verbindung von signifié und signifiant ursprünglich arbiträr sei, auf poetische Weise auf die Spitze. Mit anderen Worten wird die Arbitrarität des Bezeichnens eines Gegenstandes durch eine bestimmte Bezeichnung in die Beliebigkeit der semantischen Funktion des schriftlichen Zeichens je nach dem Raumverhältnis in einem Text übertragen.822

Kommen wir nun – vor der Folie von Döhls Gedicht – zu Auers Animation worm applepie for doehl (1997). Zur Veranschaulichung dienen erneut Stills:

Abb. 104–106

Am Anfang entspricht die Animation – bis auf einen Aspekt – der Druckvorlage. Wieder sieht der Leser einen Apfel, in den vielfach der Begriff ,Apfel‘ und einmal der Begriff ,Wurm‘ eingeschrieben ist. Im Gegensatz zum Printgedicht sind die skripturalen Elemente jedoch nicht alle schwarz, sondern der Begriff ,Wurm‘ ist in roter Farbe gestaltet. Auf diese Weise sticht dieser ,Fremdkörper‘ wesentlich stärker hervor, als dies bei Döhl der Fall ist. Wie leicht könnte man dort den Wurm übersehen, wenn er nicht im Titel benannt wäre. Die farbliche Hervorhebung in Auers Animation bereitet den Rezipienten auf die veränderte Rolle des Wurmes bzw. des Begriffes ,Wurm‘ vor. Er ist nun nämlich nicht mehr passiv und an eine bestimmte Stelle im textuellen Innenleben des Apfels gebannt, sondern ,frisst‘ sich durch dieses hindurch. Dass dies auf recht unbeholfene Weise geschieht, macht deutlich, dass es hier nicht um eine mimetische Wiedergabe und somit 822 Mun-Yeong (1971) [Internet].



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um die Inszenierung einer Abbildfunktion geht, die einer der Konkreten Poesie gemäßen Sprachbehandlung tatsächlich konträr gegenüberstehen würde. Während die Buchstabenkette Wurm sich durch den Buchstabenapfel ,frisst‘ (hierauf verweist der Titel), nämlich die verbalen Elemente auslöscht, wird sie zunehmend größer, und der Apfel immer kleiner, bis schließlich nichts mehr von ihm übrig geblieben ist: „Der Wurm frisst sich durch die Frucht und tilgt mit den sprachlichen Signifikanten auch den visuellen […].“823 Damit verschwindet zugleich ein Bild – zunächst handelt es sich ja um den Umriss eines Apfels – durch Schrift. Ist der Apfel ganz aufgefressen, schrumpft der überdimensional groß gewordene Begriff ,Wurm‘ plötzlich auf seine anfängliche Größe zusammen, es erscheint erneut ein unversehrter Apfel auf dem Bildschirm, und – wie von einem Magneten angezogen – bewegt sich die Wurm-Buchstabenkette zu ihrer Ausgangsposition im Textarrangement des Apfels zurück. Der soeben beschriebene Vorgang ist also als ein reversibler inszeniert. Auf diese Weise wird erneut jeder Abbildsemantik vorgebeugt, denn schließlich ist das Auffressen eines Apfels durch einen Wurm in der Realität kein umkehrbarer Prozess. Diese Erklärung scheint mir einleuchtender zu sein als die von Simanowski gegebene: „Da die digitale Technologie keinen Begriff des Endes und des Todes hat, kann der Wurm den Apfel immer wieder neu essen.“824 Im Unterschied zur gedruckten Vorlage, in der der ambige Titel – wie bereits erläutert – die Position des Wurmes im Unklaren lässt, ist seine Position in der Animation eindeutig festgelegt: Zunächst befindet er sich im Innern des Apfels, frisst sich durch dieses hindurch und bewegt sich auch über die Schale des Apfels. Die Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten ist hier nun der Eindeutigkeit gewichen. Was bei den bisher analysierten Animationen galt, nämlich dass kein Eingreifen des Rezipienten möglich ist, gilt für worm applepie for doehl nur bedingt. Zwar ist auch hier kein Eingreifen in den Ablauf möglich, wenn die Animation einmal gestartet wurde und der Wurm sich seinen Weg durch das Innere des Apfels bahnt, aber der Rezipient hat die Möglichkeit, diesen Vorgang vorzeitig zu beenden und einen neuen zu starten. Durch einen Mausklick auf den Befehl „moreapple“ links und rechts unter dem Apfel dreht sich die Frucht oder entfernt sich vom und nähert sich abwechselnd dem Betrachter. In beiden Fällen ist – als Variation von Döhls Gedicht – nicht der Begriff ,Wurm‘ im Apfel zu sehen. Die beiden folgenden Standbilder (großer und kleiner Apfel) zeigen die Bewegung des Apfels, die durch einen Mausklick auf den links stehenden Befehl „moreapple“ ausgelöst werden kann:

823 Simanowski (2005) [Internet]. 824 Simanowski (2005) [Internet].

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Skriptural-pikturale Intermedialität Abb. 107–108

Das letzte Standbild zeigt die Bewegung des Apfels, die durch einen Mausklick auf den rechts stehenden Befehl „moreapple“ ausgelöst werden kann:

Abb. 109

Die Interaktivität des Lesers besteht hier darin, dass er aus drei alternativen Abläufen, die allerdings zuvor vom Dichter festgelegt wurden, wählen kann. Nichtsdestoweniger ist die Möglichkeit des Lesers, aktiv zu werden, in der Animation im Vergleich zur Druckversion des Gedichts erheblich gesteigert. Durch diese Möglichkeit unterscheidet sich applepie for doehl stark von den zuvor erläuterten Gedichtanimationen. In ihnen ging es nicht darum, den Leser interaktiv einzubeziehen, sondern einzig um die Kinetisierung von Textelementen. Abschließend soll der Blick auf ein Gedicht gerichtet werden, das als Inbegriff der poetischen Remediatisierung, die über die digital vollzogene hinausgeht, gelten kann: cidade von Augusto de Campos. Damit tritt zugleich der Aspekt der „medialen Textinzenierung“825 in den Vordergrund. Dass gerade dieses Gedicht in die unterschiedlichsten Medien transformiert wurde, mag in seiner Thematik begründet liegen, denn die (Groß-)Stadt wird seit jeher als Ort der Modernität und somit zugleich Brutstätte aller Innovationen und Neuerungen verstanden. Die traditionsverbundenste Variante von cidade, die Druckversion, stammt bereits aus dem Jahre 1963. Sie stellt den Ursprungstext für die Übertragung in andere Medien dar. Betrachten wir zunächst sie bzw. das sie konstituierende skripturale Material: Es handelt sich hierbei um einzelne Silben oder Wortfetzen, die in Zusammenhang mit einer modernen Metropole stehen, und zwar in zweifacher Hinsicht, nämlich inhaltlich und formal. Augusto de Campos hat für sein Gedicht ausschließlich Begriffe, die mit dem Suffix cidade [dt. Stadt] enden, gewählt und diese dann bis zum letzten Wort unterschlagen. Der Rezipient liest und hört also beispielsweise zu Beginn des Gedichtes nicht 825 Scholler (2010), S. 398.



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den Begriff atrocidade [dt. Gräueltat], sondern lediglich die verstümmelte und asemantische Silbenfolge atro, an die sich lückenlos die nächste verstümmelte Silbenfolge reiht, und so weiter, bis das Gedicht mit cidade endet. Durch dieses Verfahren erscheinen alle Begriffe aufs Engste mit dem Wort cidade verbunden. So viel zur onomasiologischen Verbindung mit der Stadt. Auf der semantischen Ebene stehen die Begriffe insofern in Zusammenhang mit einer modernen Metropole, als sie allesamt typische städtische Erscheinungen und Tatsachen benennen. Augusto de Campos hat ein „Wortungetüm geschaffen, welches alle nominalisierbaren Eigenschaften des städtischen Lebens in einer ungetrennten Verkettung vorführt“826: atrocaducapacaustiduplielastifeliferofugahistoriloqualubrimenmultipliorganiperiodiplastipublirapareciprorustisagasimplitenaveloveravivaunivoracidade827

Die erste Transposition des cidade-Textes, und zwar ins digitale Medium, stellt seine ,Übersetzung‘ in ein frühes Speichermedium des Computers, nämlich den Lochstreifen, dar.828 Diese Version stammt aus dem Jahre 1975 und zeugt einmal mehr vom Willen – besonders der Gruppe Noigandres –, die Produktion (und Rezeption) ihrer Gedichte dem jeweils neuesten Stand der Kommunikationstechnik anzugleichen. Zugleich manifestiert sich in dieser Version die Annahme einer Äquivalenz zwischen der Lochstreifensprache des Computers und der menschlichen Schriftsprache, wobei die Lochstreifensprache durch ihre stark ausgeprägte Reduktion und Pikturalität den primären Grundsätzen der Dichtung nach 1945 besonders entgegenkommt. Eine weitere digitale Remediatisierung, deren Rezeption die Installation des FlashPlayer auf dem Computer und seine Anwendung unbedingt voraussetzt, wurde im Jahre 1999 geschaffen.829 Es handelt sich in Augusto de Campos’ Terminologie um ein clip-poema, das dadurch gekennzeichnet wird, dass sein originärer Publikationsort das Internet ist, dass es farbig gestaltet ist und dass bei ihm auch die auditive Ebene bedeutungsgenerierend wirkt, zumal Augusto de Campos das verbale Material der schriftlichen Gedichtfassung eingesprochen hat. Hier haben wir es mit einer Dichtung zu tun, die den Cyberspace erobert hat, und damit zugleich mit einer Dichtung, die untrennbar mit dem digitalen Medium ,Computer‘ verbunden ist. Damit repräsentiert diese FlashAnimation eine generelle Ausrichtung der Konkreten Poesie: Die konkrete Poesie hat hier die technologische Herausforderung des Internets angenommen und sich selbst auf dem aktuellsten Stand der Informationstechnologie bewährt. Diese Texte sind voll und ganz an das Medium des Internets respektive des Computers gebunden, der diese Daten ausliest.830

826 Krüger (2004), S. 91. 827 Im Original bilden alle Silbenfolgen eine einzige überlange Buchstabenkette. Diese konnte hier leider nicht wiedergegeben werden. 828 Campos (1975) [Internet]. Vgl. Krüger (2004), S. 92. 829 Campos (1999) [Internet]. 830 Krüger (2004), S. 99.

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Skriptural-pikturale Intermedialität

Diese Feststellung trifft auch für die bereits angesprochene kinästhetische Variante von cidade, die Teil der Cinco poemas concretos (2007)831 ist, vollkommen zu. In dieser Gedicht-Animation ist das Konzept ,Stadt‘ – wie bereits im Kontext der Analyse der Animation von Ronaldo Azeredos velocidade (1957) erwähnt – durch seine einrahmende Stellung vornehmlich mit dem Prinzip der (hohen) Geschwindigkeit verbunden. In der Druckfassung von cidade war die Silbenfolge „velo“, die zusammen mit „cidade“ den Begriff „velocidade“ ergibt, lediglich eine unter vielen anderen, zumal es ja gerade darum ging, den Facettenreichtum der modernen Großstadt zu erfassen. In einer weiteren und der letzten hier kommentierten Transposition in ein anderes Präsentationsmedium als die traditionelle Papierseite wird die Verbindung mit dem Thema ,Stadt‘ nicht nur auf der lexikalischen Ebene, sondern auch durch den Publikationsort hergestellt. Die Rede ist von jener Version von cidade, die Augusto de Campos und Julio Plaza in überdimensional großen Buchstaben im Jahre 1987 an den Ausstellungsgebäuden der Biennale von São Paulo angebracht haben: cidadecitycité (1987).832 Hier haben wir es nicht mehr nur mit einem Gedicht über, sondern über und zugleich in der Großstadt zu tun, bzw. genauer mit einem Gedicht, das in der städtischen Architektur seinen Platz gefunden hat. Damit steht dieses Gedicht in der langen Tradition epigrammatischer Gedichte im öffentlichen Raum der Stadt.833

831 Abrufbar unter: http://www.youtube.com/watch?v=gbzSHD0D_gw [zugegriffen am 19.01.2010]. 832 Vgl. hierzu S. 429f. dieser Arbeit. 833 Mehr dazu in den einleitenden Betrachtungen zu Beginn des vierten Kapitels dieser Arbeit.

3.  Skriptural-akustische Intermedialität in Gedichten nach 1945: Grenzgänge zwischen Poesie und Musik

3.1 Vorbemerkung Die beiden prinzipiellen Erscheinungsformen menschlicher Sprache,834 Schrift und Rede, decken die beiden primären Intermedialitätsfelder in der Dichtung nach 1945 ab: die skriptural-pikturale Intermedialität (visuelle Poesie) und die skriptural-akustische Intermedialität (Lautpoesie835): Die Unterscheidung von Sprache in Rede und Schrift führt „in letzter konsequenz zur etablierung einer rein auditiven und einer rein visuellen poesie […]“836. Im Unterschied zur visuellen Poesie, die im Vergleich zur Lautpoesie quantitativ stark überwiegt und welche die schrifteigene visuelle Qualität betont, nutzt diese die lautliche Dimension von gesprochener Sprache. Das Ergebnis ist eine intermediale Verknüpfung und Annäherung von Poesie und Musik.837 Keinesfalls handelt es sich bei der Lautdichtung um eine „truly ‘multi-media’ artform“838, wie man bei Wendt und Ruppenthal zunächst nachlesen kann, bevor auch sie an späterer Stelle der Lautdichtung den Status einer „intermedia art“839 zuerkannt haben. Balzac hat in Des Artistes (1830) für diese Art von Dichtung einen Begriff geprägt, der den intermedialen Aspekt besonders hervorhebt, nämlich „musique verbale“840. Welche Terminologie auch immer verwendet wird, es bleibt unbestritten, dass Lautgedichte repräsentative Beispiele für die poetische Intermedialität zwischen Dichtung und Musik sind: „Sie sind kein Zwitter aus Sprache und Musik, sie sind beides, Sprache und Musik […].“841 Auch diese Form der intermedialen Dichtung taucht nicht erst in der Zeit nach 1945 auf, sondern hat prominente Vorläufer: Stéphane Mallarmé, Guillaume Apollinaire und 834 Außen vor bleiben hier Gestik, Mimik, Gebärdensprache etc. 835 Im Bereich der skriptural-akustischen Intermedialität in der Dichtung nach 1945 herrscht eine große Begriffsvielfalt vor. Ich verwende nachfolgend ausschließlich die synonym eingesetzten Begriffe ,Lautpoesie‘ und ,Lautdichtung‘. Der Begriff ,Lautgedicht‘ geht auf Hugo Ball zurück. Vgl. den Eintrag zum 23. Juni 1916 in seinem Tagebuch Die Flucht aus der Zeit: „Ich habe eine neue Gattung von Versen gefunden, Verse ohne Worte oder Lautgedichte […].“ Ball (1992), S. 105f. Vgl. hierzu Riha (1980), S. 178f. Im Gegensatz zu Ball grenze ich den Begriff ,Lautgedicht‘ nicht auf Gedichte ohne Worte ein, sondern öffne diesen auch für verbalsemantische Gedichte. 836 Rühm (2001), S. 217. Vgl. Scholz (1989), I: S. 236. 837 Auf die prinzipiellen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Dichtung und Musik, was für gewöhnlich auf eine Gegenüberstellung von Sprache und Tönen oder Geräuschen hinausläuft, soll hier nicht eingegangen werden. Entsprechende Erörterungen in Lentz (2000), II: S. 903ff. und Wolf (1999a), S. 11ff. 838 Wendt/Ruppenthal (1980), S. 249. 839 Wendt/Ruppenthal (1980), S. 250. 840 Balzac (1910), S. 142. 841 Scholz (1992), S. 64.

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die Dadaisten (v.a. Hugo Ball und Raoul Hausmann). Es handelt sich hier also in etwa um dieselben Vorläufer unter den Avantgarden, auf die sich auch die intermediale visuelle Dichtung beruft. Mallarmés Un coup de dés (1897) ist nicht nur ein visuelles Phänomen, sondern weist, wie es in der Préface nachzulesen ist, auch Ähnlichkeiten zu einer Partitur und damit zur Musik auf: Ajouter que de cet emploi à nu de la pensée avec retraits, prolongements, fuites, ou son dessin même, résulte, pour qui veut lire à haute voix, une partition. La différence des caractères d’imprimerie entre le motif prépondérant, un secondaire et d’adjacents, dicte son importance à l’émission orale et la portée, moyenne, en haut, en bas de page, notera que monte ou descend l’intonation. [...] Leur réunion [scil. la réunion du vers libre et du poème en prose; B.N.] s’accomplit sous une influence, je sais, étrangère, celle de la Musique entendue au concert [...].842

An anderer Stelle im Vorwort zu Un coup de dés vergleicht Mallarmé sein Gedicht explizit mit einer Sinfonie.843 Wie gesagt, Un coup de dés lässt sich – trotz der Anspielung auf eine partition musicale – nicht nur dem intermedialen Bereich der Lautdichtung zuordnen, sondern muss zugleich dem Bereich der intermedialen Verknüpfung von Dichtung und Malerei zugerechnet werden: „De plus, dans le Coup de dés, le rapport à la musique, redoublé de celui à la peinture – avec les illustrations attendues d’Odilon Redon – évoque cet art total, cette utopie esthétique théorisée au premier chef par Richard Wagner.“844 Apollinaire kann insofern als einer der Vorläufer der Lautdichtung nach 1945 gelten, als er – nach einigen Gedichteinspielungen auf Schallplatte im Jahre 1913 – die Gattung des poème-disque programmatisch erfunden und in seinem Gedicht La victoire (1917) deutlich hervorgehoben hat, dass Laute für ihn genauso zum Material der Dichtung zählen wie skripturale Zeichen.845 In L’esprit nouveau et les poètes (1918) hat Apollinaire außerdem explizit auf den Übergang von Gedichten vom Medium ,Buch‘ zum Medium ,Schallplatte‘ hingewiesen: „on peut prévoir le jour où le phonographe et le cinéma étant devenus les seules formes d’impression en usage, les poètes auront une liberté inconnue jusqu’à présent.“846 Damit hat Apollinaire ein wesentliches Charakteristikum der intermedialen Lautdichtung nach 1945 antizipiert, denn ebenso wie ihr visuell-skripturales Pendant zeichnet sie sich durch die Abhängigkeit von neuen Medien, in diesem Fall im Bereich der (Elektro-)Akustik (beispielsweise Schallplatte, Musikkassette, Compact Disc etc.), aus bzw. durch die Nutzung der in diesem Bereich jeweils neuen Medien. Auch hier erfüllen die eingesetzten Medien keine bloße Hilfsfunktion, sondern haben Anteil an der Sinnkonstitution und sind sowohl im Prozess der Gedichtproduktion als auch im komplementären Prozess der Rezeption unerlässlich. 842 843 844 845 846

Mallarmé (2003), S. 442. Vgl. Bernard (1959) und Albrecht (2004) [Internet]. Vgl. Mallarmé (2003), S. 443. Albrecht (2004) [Internet]. Vgl. S. 18ff. dieser Arbeit. Apollinaire (1918), S. 386.



Vorbemerkung

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Die intermediale Verknüpfung von Dichtung und Musik hat ähnlich weit reichende Folgen wie diejenige von Dichtung und bildender Kunst: „também na música – por definição, uma arte do tempo – intervém o espaço […].“847 In beiden Fällen haben wir es mit einem bewussten Einsatz der Materialität von Dichtung zu tun, und zwar im ersten Fall mit der visuell-graphischen (Zeichenform), im zweiten hingegen mit der akustischlautlichen Materialität (Zeichenklang). Dem Sonderfall der so genannten optophonetischen Gedichte, die diese beiden Aspekte miteinander verknüpfen, indem sie sowohl visuell als auch akustisch gestaltet sind, ist ein gesondertes Unterkapitel gewidmet.848 Hier sind die Grenzen zur visuellen Dichtung besonders fließend. Ein markantes Beispiel mag dies belegen. Es handelt sich dabei um folgendes bekannte Gedicht von Man Ray aus dem Jahre 1924:

Abb. 110  Man Ray, Poème optique (1924)

847 Campos/Pignatari/Campos (1987), S. 156. 848 Den Begriff ,optophonetische‘ Poesie hat Raoul Hausmann geprägt – präziser müsste man in seinem Fall von lettristisch-optophonetischer Poesie sprechen. Zur poetischen Optophonetik vgl. die entsprechende Notiz in Hausmann (31980), S. 46f.: „Ja, man muß nur Ideen haben und auch gleich entschlossen sein, sie auszuführen […]. Das war wirklich eine Sache, die die Herren Dichter […] erstaunen mußte! Große sichtbare Lettern, also lettristische Gedichte, ja noch mehr, ich sagte mir gleich optophonetisch! Verschiedene Größen zu verschiedener Betonung! Konsonanten und Vokale, das krächzt und jodelt sehr gut! Natürlich, diese Buchstabenplakatgedichte mußten gesungen werden! DA! DADA!“ Vgl. auch Riha (1996).

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Es soll hier nun nicht um eine Interpretation gehen,849 sondern ausschließlich um den Aspekt der Grenzverwischung zwischen visueller und akustischer Poesie, den das vorliegende Gedicht insofern repräsentiert, als ihm zwei alternative Titel zugeschrieben werden: Poème optique und Dada phonetic poem without words. Was diese beiden Titel explizit benennen, ist in vielen Lautgedichten implizit vorausgesetzt, so dass die Zuordnung im Einzelfall recht willkürlich erscheinen mag. Den Hintergrund bildet hier ein historischer Paradigmenwechsel, für den bereits der Name Eustache Deschamps repräsentativ stehen mag: In seinem Art de dictier (1392) lässt er keinen Zweifel daran, dass auch Dichtung Musik sei. „Den Zusammenhang von Musik und Sprachkunst stellt Deschamps her, indem er beide als verschiedene Typen von Musik definiert; die eine, die mit Tönen operierende, ist die musique artificiele und die andere die musique naturele […].“850 Wird die Dichtung auf diese Weise als eine Form der Musik aufgefasst, so bedeutet das zugleich, dass nicht ihre skripturalen Qualitäten, sondern ausschließlich ihre Klangqualitäten von Bedeutung sind. Es ist vor diesem Hintergrund nur konsequent, dass Deschamps die Dichtung als ein rein mündliches Phänomen definiert, das an die Darbietungsform des Vortrags gebunden ist. Der grundlegende Unterschied zwischen Ton- und Sprachkunst als zwei Erscheinungsformen von Musik ist für Deschamps derjenige zwischen einer für jedermann erlernbaren Tätigkeit und einer angeborenen Fähigkeit, die nicht erlernt werden kann. Et est a scavoir que nous avons deux musiques, don’t l’une est artificiele et l’autre est naturele. L’artificiele est celle dont dessus est faicte mencion ; et est appellee artificiele de son art, car par ses vj notes, qui sont appellees us, re, my, fa, sol, la, l’en puet aprandre a chanter, acorder, doubler, quintoier, tiercoier, tenir, deschanter, par figure de notes, par clefs et par lignes, le plus rude homme du monde, ou au moins tant faire que suppose ore qu’il n’eust pas la voix habile pour chanter ou bien acorder, scaroit il et pourroit congnoistre les accors ou discors avecques tout l’art d’icelle science, par laquelle et les notes dessus dictes, l’en accorde et donne l’en son divers aux aciers, aux fers, aux boys et aux metaulx, par diverses infusions interposees d’estain, de plomb, d’arain et de cuivre, si comme il puet apparoir es sons des cloches mises en divers orloges, lequels par le touchement des marteaulx donnent sons acordables selon les dictes vj notes, proferans les sequences et autres choses des chans de saincte eglise. Et ainsi puet estre entendu des autres instrumens des voix comme rebebes, guiternes, vielles et psalterions, par la diversite des tailles, la nature des cordes et le touchement des doiz et des fleutes et haulx instrumens semblables, avecques le vent de la bouche qui baillie leur est. L’autre musique est appellee naturele pour ce qu’elle ne puet estre aprinse a nul, se son propre couraige naturelment ne s’i applique, et est une musique de bouche en proferant paroules metrifiees […].851

849 Für eine Erörterung der interpretatorischen Offenheit von Man Rays Gedicht vgl. White (2007), S. 130f. und Wehle (2010), S. 65f. 850 Krüger (2002), S. 53. 851 Deschamps (1994), S. 60ff. Vgl. hierzu Krüger (2002), S. 52ff.

Vorbemerkung



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Die Lautpoesie erfährt in der Zeit nach 1945, und zwar vor allem im Kontext der Konkreten Poesie, einen großen Aufschwung.852 Da die Begrifflichkeit in diesem Bereich – ebenso wie in demjenigen der visuellen Poesie – nicht gesichert ist, bedarf es zunächst einer begrifflichen Klarstellung: Im Folgenden wird all jene Lautdichtung als ,konkret‘ gefasst, die durch einen konkreten Umgang mit dem eingesetzten lautlichen Zeichenmaterial charakterisiert wird, d.h. diejenige Dichtung, welche die lautlich-materiale Dimension von Zeichen (unterschiedlichsten Ursprungs) sinnkonstitutiv einsetzt. In Bezug auf skripturales Zeichenmaterial bedeutet dies: „jeder vokal und jeder konsonant hat seinen besonderen ausdruckswert. das bedeutet, diese ausdruckswerte können als autonome gestaltungsmittel uneingeschränkt zueinander in beziehung gesetzt werden.“853 Eine Einschränkung der Konkreten Poesie auf den visuellen Bereich, die bis zum heutigen Tag hartnäckig vertreten wird, erscheint mir deshalb wenig sinnvoll bzw. nicht haltbar, denn es ist nicht ersichtlich, weshalb ein ,konkreter‘ Umgang mit dem eingesetzten Zeichenmaterial ausschließlich die visuelle Dimension betreffen dürfen sollte. Der Aufschwung der Lautpoesie in der Zeit nach 1945 und vor allem im Kontext der Konkreten Poesie hing primär mit zwei Zielsetzungen der Konkreten Poesie zusammen, für deren Realisierung das Konzept ,Lautpoesie‘ besonders prädestiniert war und ist. Dabei handelt es sich erstens um das Bestreben, die Poesie in die breite Öffentlichkeit zu bringen und nicht ausschließlich auf das Traditionsmedium Buch zu beschränken: „Son objectif commun [scil. de la poésie sonore; B.N.] […] a été et reste son désir farouche de rendre le texte ‘public’.“854 Visuelle Poesie im Stadtbild und öffentliche LautpoesiePerformances sind zwei der vielen Möglichkeiten, der Dichtung einen neuen großen Adressatenkreis zu verschaffen und eine Popularisierung zu erzielen.855 Die Lautdichtung bietet darüber hinaus den Vorteil, dass sie, sobald sie akustisch vermittelt wird, unmittelbarer und stärker auf den Rezipienten wirken kann als ausschließlich visuell präsentierte Poesie. Dieser Beobachtung entspricht folgende Erfahrung Henri Chopins, von der er in einem von Vincent Barras geführten Interview berichtet hat: Quant à moi, j’ai très vite ressenti que l’écriture était insuffisante ; elle ne faisait que constater les états d’âme, mais était incapable de restituer le monde sensoriel, que l’on rencontre davantage dans la musique. Il fallait trouver une alliance entre la poésie et la musique.856

Die hier benannte Allianz konnte im Medium der Lautdichtung realisiert werden. Chopins Aussage erfährt durch den Medientheoretiker Marshall McLuhan eine Bestätigung. Dieser vertrat die Ansicht, dass der akustische Raum dem visuellen in vielerlei Hinsicht überlegen sei: „Until writing was invented, men lived in acoustic space: boundless, directionless, horizonless, in the dark of the mind, in the world of emotion, by primordial intuition […].“857 Dadurch, dass das Ohr – im Gegensatz zum Auge – keinen bestimm852 853 854 855 856 857

Vgl. Gomringer (1969a), S. 25. Riha (1980), S. 232. Heidsieck (1981), S. 23. Vgl. Donguy (1985), S. 74. Barras (1992b), S. 129. McLuhan/Fiore (1996), S. 48.

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Skriptural-akustische Intermedialität

ten Fokalisierungspunkt ermögliche, würden Klänge den Menschen allseitig umgeben. Nach McLuhan befand sich die – zu seiner Zeit stark visuell orientierte – Gesellschaft auf dem Weg zurück zum Primat des Akustischen: „We are back in acoustic space.“858 Dies bedeutete für ihn eine Rückkehr zum Zustand der menschlichen Frühgeschichte: „Primitive and pre-alphabet people integrate time and space as one and live in an acoustic, horizonless, boundless, olfactory space, rather than in visual space.“859 Die bis heute unaufhaltsam fortschreitende Ausbreitung der visuellen Medien mag McLuhans Prognose zwar widersprechen, angesichts der allgegenwärtigen ,musikalischen Umweltverschmutzung‘, der der heutige Mensch ausgesetzt ist, hat sie sich jedoch keinesfalls als vollkommen unzutreffend erwiesen. Der zweite maßgebliche Grund für den Aufschwung der Lautdichtung im Umfeld der Konkreten Poesie hing mit deren Auseinandersetzung mit dem Phänomen ,Sprache‘ zusammen. An dieser Stelle ist nochmals darauf hinzuweisen, dass die Dichter der Konkreten Poesie die Haltung einer Sprachskepsis oder -kritik eingenommen haben. Die Möglichkeit, in der Lautdichtung Sprache in ihre Einzelkomponenten zu zerlegen und so den automatisierten Sprachfluss zu stören oder sogar zu unterbinden, hat maßgeblich zur Beliebtheit der Lautpoesie beigetragen. Der politisch-poetische Hintergrund dessen war die schon vom Surrealismus übernommene Kritik an der automatisierten Sprachverwendung, die immer wieder nur zur semiotischen Rekonstruktion der herrschenden Verhältnisse führen konnte.860 Auch schon vor 1945 lässt sich der Zusammenhang von Lautdichtung und der Auseinandersetzung mit der Sprache aufzeigen. Manifest wird dieser vor allem darin, dass die ersten öffentlich vorgetragenen Lautgedichte von Hugo Ball (1916) und Raoul Hausmann (1918) zeitlich mit den Anfängen der Linguistik zusammenfallen, nämlich mit der Publikation von Ferdinand de Saussures Cours de linguistique générale (1916). Der Nexus zwischen der Auseinandersetzung mit dem Phänomen Sprache in der Konkreten Poesie und dem Aufschwung der Lautdichtung liegt des Weiteren in einer primären Zielsetzung der Konkreten Poesie begründet, die auch schon im Bereich der skriptural-pikturalen Dichtung von Bedeutung war, nämlich der intendierten Schaffung einer Universalsprache bzw. -schrift: Lautpoesie „peut […] transgresser la frontière […] des langues“861. Analog zu einer – zumindest der Idee nach – auf international verständlichen Zeichen basierenden primär pikturalen Universalschrift lässt sich im intermedialen Bereich der Lautdichtung an eine Universalsprache denken, die jenseits aller nationalen linguistischen Codes anzusiedeln wäre. Selbst wo in der Lautdichtung nationalsprachliche Elemente eingesetzt werden, wäre denkbar, auch diesen einen supranationalen Status zuzuerkennen, der durch eine entsprechende gestische Untermalung während einer Live-Performance noch gesteigert werden könnte. In diesem Falle unterstützt die visuelle Dimension der Präsentation die akustische Dimen858 McLuhan/Fiore (1996), S. 63. 859 McLuhan/Fiore (1996), S. 57. Vgl. McLuhan/Fiore (1996), S. 44: „The dominant organ of sensory and social orientation in pre-alphabet societies was the ear – ‘hearing was believing.’ The phonetic alphabet forced the magic world of the ear to yield to the neutral world of the eye. Man was given an eye for an ear.“ 860 Zum Zusammenhang zwischen Sprachverwendung und Weltbild vgl. Whorf (292007). 861 Heidsieck (1981), S. 23.



Vorbemerkung

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sion des Lautgedichtes: „Ce que l’on constate, c’est que la poésie sonore peut se donner devant un public qui ne comprend pas la langue de celui qui est en train de la lire […].“862 Die intermediale Verknüpfung von Dichtung und Musik werde ich, wie schon diejenige im Kapitel zur skriptural-visuellen Intermedialität, aus einer ausschließlich literaturwissenschaftlichen Perspektive in den Blick nehmen und des Weiteren weder im Sinne einer Vertonung von Poesie auffassen noch in der Form, dass Dichtung auf ein konkretes Musikstück rekurriert. Auch fasse ich Gedichte, die nachträglich eine musikalische Untermalung erfahren haben, wie beispielsweise die bereits analysierten digital remediatisierten Gedichte, nicht als Lautgedichte, zumal diese in den meisten Fällen nicht inter-, sondern bimedial gestaltet sind. Das Ergebnis ist keine intermediale Verknüpfung, sondern ein mixed media-Phänomen. Dies hat zur Folge, dass die poetischen von den musikalischen Elementen getrennt werden können, und beide gesondert dennoch weiter bestehen. Konzentriert sich die Intermedialitätsforschung im Bereich der Dichtung nach 1945 vor allem auf das Gebiet der visuellen Dichtung, so könnte dies den Umstand verschleiern, dass auch die Lautdichtung in dieser Zeit einen starken Aufschwung erfährt, dies vor allem im Kontext einer besseren Verfügbarkeit von Aufnahmetechniken, wie sie das Magnetophon zur Verfügung stellte. Paradoxerweise sind entsprechende Untersuchungen zur Lautdichtung nach 1945 eher rar.863 Wird das Phänomen der Lautdichtung zu einer poetischen Innovation der Dichtung des 20. Jahrhunderts erklärt, so wird ein sehr eng gefasster Begriff vorausgesetzt. Lautdichtung wird dann definiert als eine Form von Dichtung, die die lautliche Materialität des verwendeten Zeichenmaterials bewusst einsetzt, ohne dabei notwendigerweise den Bereich der Semantik zu berühren und vor allem ohne primär onomatopoetisch gestaltet sein zu müssen. Allerdings handelt es sich selbst bei der so definierten Lautdichtung nicht um eine Innovation des 20. Jahrhunderts. Vielmehr radikalisieren die entsprechenden Dichter hier Tendenzen, die in der Versdichtung per se vorhanden sind. Auch ohne auf die russischen Formalisten (v.a. auf Juri Tynjanow) rekurrieren zu müssen, lässt sich festhalten, dass Klang und Rhythmus die Dominanten jeder Lyrik sind. Auch der Verzicht auf die lexikalische Semantik ist kein Novum in der Lautdichtung des 20. Jahrhunderts. Neben anderen hat Clemens Brentano entsprechende Gedichte verfasst. Überhaupt stellt die Musikalisierung der Dichtung eines der Grundtheoreme der Romantik dar. Kommen wir zum Aspekt der Onomatopöie zurück. Lautdichtung und Onomatopöie schließen sich keinesfalls von vornherein aus, wie Scholz behauptet hat: „Onomatopöie [verzichtet] entgegen der Lautpoesie intentionell nicht auf den Objektbezug des Sprachzeichens […] und [lässt] nur in einzelnen Fällen […] doch diesen Objektbezug vergessen […].“864 Diese prinzipielle Unterscheidung basiert auf Scholz’ – aufgrund der 862 Barras (1992a), S. 143. 863 Die aktuellste und zugleich umfassendste Untersuchung zur Lautdichtung nach 1945 hat Michael Lentz im Jahre 2000 vorgelegt. Seine Arbeit ist meines Erachtens jedoch zu stark auf den Lettrismus fokussiert, um den Ansprüchen an eine kritisch-dokumentarische Bestandsaufnahme, so der Untertitel der Studie, tatsächlich gerecht werden zu können. 864 Scholz (1989), I: S. 27.

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Skriptural-akustische Intermedialität

Vielfalt der internationalen Lautpoesie nicht haltbarer – Entscheidung, Lautpoesie – in der Tradition Hugo Balls – per definitionem vom Bereich der Semantik auszuschließen.865 Wann immer sich Lautdichtung aus verbal-skripturalen Zeichensystemen speist, partizipiert sie – mehr oder weniger – an der semantischen Ebene dieser Zeichen, im Einzelfall möglicherweise ausschließlich über Assoziationen. Und auch bei der ausschließlichen Verwendung von non-verbalem Material ist zu prüfen, inwieweit auch hier eine semantische Dimension vorherrscht. Wie bereits im Einleitungskapitel erläutert, bauen auch Lautgedichte eine eigene Semantik auf, die von der lexikalischen Semantik unterschieden werden muss. In diesem Kontext wurde auch der Terminus ,Para-Semantik‘ vorgeschlagen: Indem sich Lautgedichte sprachlichen Materials bedienen, können sie sich also von der Tendenz, etwas zu bezeichnen, nicht gänzlich freihalten. Allerdings ist hier nicht die übliche Semantik sprachlicher Äußerungen gemeint, sondern eine Verweisungsmöglichkeit, die sich provisorisch mit einem Begriff wie „Para-Semantik“ beschreiben ließe.866

Selbst als provisorische Bezeichnung scheint mir der Terminus ,Para-Semantik‘ hier wenig geeignet, zumal er eine Wertung impliziert, die keinesfalls gerechtfertigt ist. Ich ziehe daher stattdessen den altbewährten Begriff ,Semantik‘ vor, und zwar im Bewusstsein, dass die lexikalische Semantik und die gedichtinterne Semantik zwei Erscheinungsformen eines Phänomens sind, d.h., es gibt eine Semantik vor und nach dem jeweiligen Gedicht und eine innerhalb des Gedichtes. So durchlässig die Grenzen zwischen Dichtung und Musik im Medium der Lautdichtung auch sein mögen, in den meisten Fällen lässt sich der Aspekt der Semantik als Unterscheidungskriterium ansetzen: One thing that sound poetry is not is music. Of course it has a musical aspect – a strong one. But if one compares typical sound poetry pieces with typical musical ones, music is usually the presentation or activization of space and time by means of the occurrences of sound. This is the nature of the most traditional Mozart piano pieces or Irish unaccompanied airs as of the most innovative John Cage musical inventions. But any poetry relates space, time, and sound to experience. Thus sound poetry points in a different direction, being inherently concerned with communication and its means, linguistic and/or phatic. It implies subject matter […]. even when some particular work is wholly nonsemantic […], the nonsemantic becomes a sort of negative semantics – one is conscious of the very absence of words […]. […] the creation or perception of a work as sound poetry has to do with questions of meaning and experience which are not essentially musical.867 865 Zur Asemantik der Lautgedichte von Hugo Ball heißt es in Riha (1980), S. 188: „Dem PremiereVortrag seiner Lautgedichte am 23.6.1916 schickte Ball ‚einige programmatische Worte‘ – eine Art Miniatur-Manifest – voraus. Er verzichtete […] ‚mit dieser Art Klanggedichte in Bausch und Bogen auf die durch den Journalismus verdorbene und unmöglich gewordene Sprache‘, ziehe sich ‚in die innerste Alchimie des Wortes zurück‘ und bewahre so ‚der Dichtung ihren letzten heiligsten Bezirk‘.“ 866 Scheffer (1978), S. 231. 867 Higgins (1984), S. 51. Hervorhebung vom Autor.



Vorbemerkung

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Selbst wenn Lautdichtung auf sprachliches Zeichenmaterial verzichtet und sich somit als nicht-semantisch erweist, partizipiert sie laut Dick Higgins an der Ebene der Semantik bzw. der Negativ-Semantik. Möchte man den Terminus „negative semantics“ nicht bemühen, so lässt sich die semantische Funktion nicht als conditio sine qua non für die Bezeichnung ,Lautgedicht‘ ansetzen, weil ein Lautgedicht ja eben nicht per se sprachliches Zeichenmaterial aufweisen muss. Der Begriff ,Lautdichtung‘ lässt sich auch so weit fassen, dass sich ihm alle (traditionellen) Formen von Dichtung subsumieren lassen, deren Material skripturalen Zeichensystemen entstammt, denn in einem jeden solchen Gedicht kommt der Klangebene immer eine wichtige Bedeutung zu. Es geht hier niemals nur um die Übermittlung von Informationen, sondern immer zugleich um die Art der Vermittlung. Insofern erfüllt auch das Medium Klang immer eine wichtige Funktion. Dasselbe gilt auch für den Rhythmus von Dichtung, der ja gerade einen wesentlichen Unterschied zur ungebundenen Form von Rede und Schrift darstellt. Besonders für die russischen Formalisten bilden der Rhythmus und der Klang eines Gedichtes die Dominanten. Die soeben erläuterte Definition von Lautdichtung schließt jedoch so viele Gedichte ein, dass mit ihr kein sinnvolles Arbeiten möglich ist. Aus diesem Grund werde ich im Folgenden meinen Untersuchungen nicht diesen Begriff zugrunde legen. Nicht zuletzt könnte die Lautdichtung auch eine Rückkehr zu den oralen Ursprüngen von lyrischer Dichtung bedeuten: „Après tout, des milliers d’années inconnues furent orales, pourquoi conserver cinq siècles écrits, surtout que nous avons de redoutables véhicules, et des joyaux sonores incomparables.“868 Schließlich wurden Gedichte zunächst – begleitet von einer Lyra – im Rahmen eines öffentlichen Gesanges präsentiert.869 In dieser Vortragsweise waren die Dimensionen des Klanges und der Lautlichkeit dann sogar noch wesentlich wichtiger als die Ebene der Verschriftung. Auch in anderer Hinsicht bestand schon in der Antike eine enge Verbindung oder Abhängigkeit zwischen Dichtung und Musik, wie der Lettrist Isidore Isou herausgestellt hat: „L’exemple le plus frappant de la dépendance de la musique à la poésie est son écriture. Chez les Grecs, on notait les sons par les lettres, comme les mots.“870 Dieses Zitat verweist auf eine Kernproblematik im Bereich der Lautdichtung, nämlich die Art der Notation.871 Diese wird an entsprechender Stelle ausführlich zu erörtern sein. Nach 1945 hat sich im intermedialen Bereich der Lautpoesie eine Entwicklung vollzogen, die Chopin programmatisch als ‚éclater la page‘ bezeichnete: Die (Buch-) Seite ‚sprengen‘, um jenseits der Buchstaben- oder graphischen Verschriftung als (stumme) Notation akustischer 868 Chopin (1992), S. 22. Vgl. Roubaud (2009) und Heidsieck (1981), S. 17: „La poésie a oublié la mémoire même de sa ‘musicalité’ d’origine.“ Ebenso Wolf (1999a), S. 3: „Among the relationships between literature and other media or arts the link with music is especially old.“ 869 Vgl. beispielsweise Edwards (2002). 870 Isou (1947), S. 124. Hervorhebungen vom Autor. 871 Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, dass sich schon Kurt Schwitters anlässlich seiner Sonate in Urlauten (1922–1932) mit dem Problem der Notation auseinandergesetzt hat. Er wollte sie in einer Notenschrift fixieren. Vgl. Schenk (2000), S. 134f.

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Skriptural-akustische Intermedialität

Ereignisse im Bereich der auditiven Literatur und Musik eine multiple ‚Stimmenschrift‘ entstehen zu lassen […].872

Für diese „Stimmenschrift“ hat Meyer den Begriff der ,Graphophonie‘ eingeführt: „In der Graphophonie ist die traditionell begriffliche Differenz zwischen Stimme und Schrift aufgehoben; Graphophonie ist Stimme und ihre Schrift.“873 Das Konzept der Graphophonie steht somit auf paradigmatische Weise für ein „Denken der akustischen Kunst als akustische Schrift“874. Auch für diesen Bereich der Intermedialität in der Dichtung nach 1945 musste eine sinnvolle Auswahl getroffen und auch eine Systematik entwickelt werden, um die Masse an produzierter Lautpoesie nach 1945 fassen zu können. In Anlehnung an das Kapitel zur skriptural-pikturalen Intermedialität ist auch in diesem Kapitel nach theoretischen Begriffsreflexionen ein Ordnungsprinzip gewählt worden, das der medialen und materialen Präsentationsform von Lautgedichten Rechnung trägt. In der vorliegenden Untersuchung werden zunächst – aus leicht nachvollziehbaren Gründen – solche Gedichte betrachtet, die in ,schriftlich‘ fixierter Form vorliegen. Daneben bilden jedoch auch solche Lautgedichte den Untersuchungsgegenstand, die ausschließlich akustisch realisiert wurden, und zwar sowohl durch elektroakustische (z.B. Tonband, Mikrophon) als auch elektronische Medien (z.B. Vocoder, Synthesizer, Computer). Auf diese Weise können drei Großbereiche der Lautdichtung abgedeckt werden. Als Speichermedien haben wir es hier in Form einer Notation mit dem Traditionsmedium Papier zu tun, daneben mit dem Tonbandgerät und schließlich dem digitalen Medium. Auf den Bereich der LivePerformance wurde aus darstellerischen Gründen bewusst verzichtet. Um Wiederholungen zu vermeiden, werden im Folgenden diejenigen Gedichte, die zwar auch unter dem lautlichen Aspekt zu analysieren wären, aber schon primär unter dem visuellen Aspekt analysiert wurden, nicht mehr thematisiert. Zur Lautpoesie zähle ich ausdrücklich auch notierte – d.h. auf Papier fixierte – Texte und nicht nur solche, die für den mündlichen Vortrag oder die Aufnahme konzipiert sind. Der von Scholz im folgenden Zitat formulierten Problematik ist daher nicht zuzustimmen: „Noch heute ist die Problematik virulent, inwieweit graphische Vorlagen [...] zu Lautgedichten gerechnet werden können. Fernerhin ist die Grenze der in Partituren gefassten Lautpoesie zur Notation heutiger Vokalmusik fließend.“875 Selbstverständlich ist im Bereich der Lautdichtung die Grenze nicht nur zur Vokalmusik, sondern zur Musik im Allgemeinen und zur Konkreten Musik im Besonderen hin offen.876 Insbesondere zeigt sich dies am Beispiel von Hans G Helms’ Fa:m’ Ahniesgwow (1959). Wir haben es hier mit einem gedruckten Text aus vorzutragender Sprache zu tun, der große 872 873 874 875 876

Lentz (2000), I: S. 31. Meyer (1993), S. 32. Meyer (1993), S. 29. Scholz (1989), I: S. 17. Ruppenthal (1975), S. 6f.: „The parameters that the artists working in this medium [scil. sound poetry; B.N.] deal with are similar to those which a composer of music will manipulate in a composition – the basic parameters of any sonic occurence: pitch, dynamics, density or texture, temporality or duration, and spatiality.“

Vorbemerkung



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Ähnlichkeiten zu einem Musikstück aufweist. Zu Recht wurde Fa:m’ Ahniesgwow als „musikliterarisches“877 Werk bezeichnet. Auf Ähnliches treffen wir auch im Werk von John Cage. Analoges gilt im Bereich der visuellen Dichtung für die Grenze zur bildenden Kunst. Besonders deutlich wird die Einsicht in die typologische Nähe von Musik und Lautdichtung im folgenden Kommentar von Lily Greenham, die auf der LP Internationale Sprachexperimente der 50/60er Jahre (1970) Lautgedichte in acht verschiedenen Sprachen eingesprochen hat. Immer wenn ein Rezipient der gesprochenen Sprache nicht mächtig sei, sei es ratsam to listen to the texts as some kind of ‘pieces of music’ […] and to distinguish the respective colour-ranges of the languages in question, when the listener so perceives sound-modulations of the to him foreign languages and of the human voice, he will discover that the texts project sufficient structural and phonetic fascination to rouse his interest, independent of an understanding of their semantic content.878

Die Annäherung von Musik und Dichtung im Medium der Lautpoesie879 stellt insofern kein Zuordnungsproblem dar, als es eine Prämisse vorauszusetzen gilt: Ein Lautgedicht ist jedes Gedicht, das der entsprechende Dichter als Lautgedicht bezeichnet hat. Die Zuordnung zu Musik oder Lautpoesie kann dabei im Extremfall vollkommen willkürlich erscheinen bzw. erfolgen, denn ein eindeutiges Unterscheidungsmerkmal existiert nicht: „Eux [scil. les musiciens; B.N.] parlent de musique, nous [scil. les poètes sonores; B.N.] parlons de poésie sonore.“880 Es kann daher nicht Ziel der vorliegenden Untersuchung sein, normative Kriterien aufzustellen, um die Musik von der Dichtung zu unterscheiden. Ausschlaggebend für die Aufnahme in dieses Kapitel ist neben der Erfüllung von Grundprämissen die klassifizierende Vorgabe des jeweiligen Dichters. Dieses Vorgehen ist deshalb sinnvoll, weil die beiden Kunstformen Musik und Dichtung sich prinzipiell nicht „aufgrund ihrer pragmatisch-kommunikativen Zweckgerichtetheit […]“881 voneinander unterscheiden lassen. Die folgenden Ausführungen des Lautdichters Bernard Heidsieck ließen sich als Anstoß für meine Vorgehensweise lesen: Disons pour simplifier qu’est apparue entre la poésie et la musique – entre certaines recherches poétiques et certaines aventures musicales récentes – une sorte de no man’s land où l’on ne sait plus très bien qui est quoi. […] Le paradoxe voulant, par ricochet, que cette dernière [scil. la musique; B.N.] vienne mainte­ nant, en sens inverse, puiser délibérément dans le territoire de la poésie sonore. Dans celui de la voix, bien sûr, non pas au niveau du chant, mais du dire, de la simple diction, ou du souffle, aussi, les œuvres en résultant, à la limite interchangeables, étant qualifiées de musique, par les musiciens, et de poésie sonore par les poètes. […] 877 878 879 880 881

Borio (1993), S. 41. Zu Fa:m’ Ahniesgwow vgl. auch Adorno (1974). Greenham, zitiert nach Clüver (2002), S. 169. Viele Lautpoeten sind oder waren signifikanterweise zugleich im musikalischen Bereich tätig. Barras (1992a), S. 146. Lentz (2000), II: S. 904.

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Cessons de catégoriser! De l’air ! De l’air ! […] Musique ? Poésie ? Un faux problème ! Par excellence… […] !882

Weder eine Abgrenzung der Lautpoesie gegenüber der Musik noch eine Definition von Lautpoesie, die eine eindeutige Zuordnung aller Einzelphänomene ermöglichte, ist daher zu leisten. Versuche dieser Art sind von vornherein zum Scheitern verurteilt.883 Auch wenn Menezes dies glauben machen möchte, lässt sich kein prinzipieller Unterschied zwischen Lautpoesie und (Konkreter oder elektronischer) Musik ausmachen. Ihm zufolge benötigt man jedoch a new distinction between poetry and music, a distinction not any more based on the codes (poetry is the art of the word, music is the art of sounds), but a separation of the methods and ends involved in the use of these codes: Sound poetry, latu sensu, would have as its method the experimentation with sound aspects of the verbal code of daily speech, of traditional declamation, and of poetry set to music, using the phonetic work of the historical vanguards as its historical point of reference, and for its goals the creation of sound complexes intended to communicate conceptual games that may take the place of verbal signifieds of the traditional text […]; concrete and electronic music would have as its method the organization of any sound, including those of verbal origin, primarily with the goal of its euphonic propagation (even though what comes to be conceived as euphony has changed with every music of the 20th century) – and the very production of euphony may lead to conceptual elaboration in order to be realized.884

Menezes’ kategoriale Abgrenzung von Lautpoesie gegenüber Musik hinsichtlich Methode und Wirkabsicht erweist sich alleine schon deshalb als unzureichend, weil sich Lautpoesie nicht auf das verbale Zeichensystem reduzieren lässt. Zahlreiche Lautdichter haben in ihren Werken auch unterschiedlichste Geräusche und Klänge aus dem nonverbalen und asemantischen Bereich (Schreie, Atemgeräusche, Straßenlärm, Umweltgeräusche, Musik etc.) verarbeitet. Beispielsweise Bernard Heidsieck hat bevorzugt den soundscape der Großstadt in seinen lautpoetischen Produktionen in Szene gesetzt.885 Damit befand er sich natürlich in der Tradition der italienischen Futuristen. Zumal Lautgedichte nicht notwendigerweise nur als akustische Ereignisse präsentiert werden müssen, sondern auch in irgendeiner Form ,verschriftet‘ bzw. auf einem Schreibuntergrund fixiert sein können, ist auch eine Auseinandersetzung mit den prinzipiellen 882 Heidsieck (1981), S. 19ff. 883 Vgl. Scholz (1989), I: S. 17: „Es ist notwendig, eine Trennungslinie zu ziehen, um Sprachliches von Nichtsprachlichem zu scheiden – so schwierig dies definitorisch sein mag – und um der Literaturwissenschaft ihr Aufgabengebiet und ihren Kompetenzbereich zu umgrenzen.“ 884 Menezes, zitiert nach Clüver (2002), S. 174. 885 Für Näheres zum Konzept ,soundscape‘ vgl. Schafer (1977).



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Notationsmöglichkeiten unerlässlich. Vor allem die beiden Lettristen Isidore Isou und Maurice Lemaître haben sich eingehend mit dieser Problematik beschäftigt. Ihre Konzeptionen werden an entsprechender Stelle darum besonders ausführlich erörtert werden. Natürlich ist die Lautdichtung nach 1945, die den Untersuchungsgegenstand des vorliegenden Kapitels bildet, nicht zu denken ohne die jahrtausendelange Tradition der Lautdichtung vor 1945, es soll im Folgenden aber dennoch keine kritische Aufarbeitung der internationalen Geschichte der Lautpoesie vor 1945 erfolgen. Entsprechende Studien sind bereits mehrfach vorgelegt worden.886 Es herrscht heute allgemein Konsens darüber, dass vor allem die Lautdichtungen der italienischen und russischen Futuristen sowie der Dadaisten den größten Einfluss auf die Lautdichtung nach 1945 ausgeübt haben. Auch kann und soll es hier nicht darum gehen, die Vorformen des Phänomens ,Lautpoesie‘, über die in der einschlägigen Forschung ebenfalls weitgehend Konsens besteht, zu erörtern.887 Sind Annäherungen an diese Vorformen in einem Lautgedicht, das zur Analyse ausgewählt wurde, besonders augenfällig, werden diese im Rahmen der Interpretation erläutert.

3.2 Zur Begrifflichkeit auf dem Gebiet der poetisch-musikalischen Intermedialität Hinsichtlich der Begrifflichkeit auf diesem Gebiet der poetischen Intermedialität besteht zunächst das Problem einer uneinheitlichen, von subjektiven Vorlieben gekennzeichneten Vorgehensweise. Für den Bereich der Lautdichtung gibt es nämlich weder ein einheitliches Konzept noch verbindliche Begriffe. Noch nicht einmal der Gegenstandsbereich ist eindeutig zu definieren. Im folgenden Zitat geht dies schon daraus hervor, dass die Begriffe ,Lautpoesie‘ und ,Lautmusik‘ synonym verwendet werden: Es „ist […] vorauszusetzen, daß Lautposie/-musik keine historisch abgeschlossene und über einen historischen Prototyp zu definierende Form akustischer Kunst ist. Das Bezugsfeld Lautpoesie/-musik ist offenzuhalten“888. Lautdichtung ist primär dadurch gekennzeichnet, dass sie hochgradig vom individuellen Willen und der singulären Dichtungsauffassung des entsprechenden Autors abhängt: „Sound poets are highly individualistic […].“889 Aus diesem Grund ist es unerlässlich, im Folgenden die spezifischen Termini und Konzeptionen einzelner Lautdichter zu präsentieren und gegebenenfalls einander gegenüberzustellen. Dies geschieht in der Gewissheit, dass dabei keine Vollständigkeit erreicht werden kann. Eine solche ist daher nicht das Ziel der Ausführungen. Im Interpretationsteil werden dann nicht nur die Dichter berücksichtigt, deren lautpoetische Konzepte zuvor erläutert wurden. Das liegt 886 Vgl. Lentz (2000) und Scholz (1989). Für einen kursorischen Überblick vgl. Garnier (1968), S. 69ff. und Perloff (2009). 887 Als Vorformen oder Vorstufen der Lautpoesie sind in Scholz (1989), I: S. 23ff. angeführt: Lautdeutung, Lautmalerei, Lautsymbolik, künstliche Sprachen, Verballhornungen, Zaubersprüche, Abzählverse, Sprechübungssysteme (u.a. Zungenbrecher), Refrain, Scat-Vocals, Melisma, Mantra. 888 Lentz (2000), I: S. 22. 889 Wendt (1985), S. 11.

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einerseits daran, dass natürlich nicht jeder Lautpoet eine eigene Konzeption entwickelt hat, und andererseits daran, dass im Rahmen der Präsentation unterschiedlicher lautpoetischer Konzeptionen nach 1945 keine Vollständigkeit erzielt werden kann. Im Interpretationsteil geht es aber eben darum, ein möglichst umfassendes Bild der Lautdichtung nach 1945 zu geben. Die auffallende Individualität von Lautdichtern und ihren Dichtungsauffassungen äußert sich auch darin, dass sie sehr oft die akustische Realisation selbst durchgeführt oder aber teilweise sehr genaue Anweisungen für diese gegeben haben. Das folgende Beispiel von Alvin Lucier, nämlich I am sitting in a room – for voice and electromagnetic tape (1970), kann diese zweite Möglichkeit auf paradigmatische Weise illustrieren: Necessary equipment: 1 microphone 2 tape recorders amplifier 1 loudspeaker Choose a room the musical qualities of which you would like to evoke. Attach the microphone to the input of tape recorder #1. To the output of tape recorder #2 attach the amplifier and loudspeaker. Use the following text or any other text of any length. […] Record your voice on tape through the microphone attached to tape recorder #1. Rewind the tape to its beginning, transfer it to tape recorder #2, play it back into the room through the loudspeaker and record a second generation of the original recorded statement through the microphone attached to tape recorder #1. Rewind the second generation to its beginning and splice it onto the end of the original recorded statement on tape recorder #2. Play the second generation only back into the room through the loudspeaker and record a third generation of the original recorded statement through the microphone attached to tape recorder #1. Continue this process through many generations. All the generations spliced together in chronological order make a tape composition the length of which is determined by the length of the original statement and the number of generations recorded. Make versions in which one recorded statement is recycled through many rooms. Make versions using one or more speakers of different languages in different rooms. Make versions in which, for each generation, the microphone is moved to different parts of the room or rooms. Make versions that can be performed in real time.890

Zunächst manifestiert sich der Aspekt der Individualität im Bereich der Lautdichtung jedoch in der terminologischen Vielfalt. Dichtungen, die ich unter dem Oberbegriff 890 Kostelanetz (1980), S. 109.



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,Lautpoesie/Lautdichtung‘891 fasse, werden auf unterschiedlichste Weise benannt: sound poetry (Bob Cobbing), poésie sonore oder poésie électronique (Henri Chopin), poésie action (Bernard Heidsieck), poesia sonora (Arrigo Lora-Totino), text-sound (Richard Kostelanetz), poésie phonétique und phonique (Pierre Garnier), akustische Poesie (Reinhard Döhl) etc.892 Diese individuellen Bezeichnungen werde ich im Folgenden den weitgehend neutralen und synonym eingesetzten Begriffen ,Lautpoesie‘ und ,Lautdichtung‘ subsumieren.893 Diese benennen nach der hier zugrunde gelegten Definition Gedichte, die die klangliche Materialität des verwendeten Zeichenmaterials ästhetisch funktionalisieren und poetisch nutzen, und zwar ohne notwendigerweise auf die Einbeziehung der Ebene der lexikalischen Semantik zu verzichten: Ideally, the term ‘sound poetry’ would describe poetry which emphasized acoustical properties rather than the meaning of words, i.e. the conventional relationship between sound and semantics in poetry would be reversed and the connotations would accentuate the poem’s sonic, rather than semantic, qualities.894

Eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Bezeichnungen wäre nicht erforderlich, wenn es sich hier ausschließlich um eine Frage der Begrifflichkeit handeln würde. Jedoch divergieren nicht nur die Bezeichnungen mehr oder weniger stark, sondern mit ihnen zugleich die zugrunde gelegten Konzeptionen. Schon aus der Bezeichnung geht teilweise die Schwerpunktsetzung des entsprechenden Dichters deutlich hervor. Im Gegensatz zur im vorangehenden Kapitel analysierten visuellen Konkreten Dichtung existieren auf dem Gebiet der akustischen Konkreten Poesie nach 1945 eine Vielzahl unterschiedlicher theoretisch reflektierter Konzeptionen, von denen die wichtigsten und elaboriertesten im Folgenden einer kritischen Auseinandersetzung unterzogen werden. In keinem Fall kann Bob Cobbings Urteil über die Begriffspluralität auf dem Gebiet der Lautdichtung zugestimmt werden: „What is important is what is done, not what it is called.“895 Vielmehr bleibt festzuhalten, dass die Namenswahl in Einklang steht mit dem jeweiligen poetischen Konzept.

891 Die Begriffe ,Lautpoesie‘ und ,Lautdichtung‘ entsprechen damit dem von Dencker (2011) gewählten Oberbegriff ,Akustische Poesie‘. 892 Für einen (nicht vollständigen) ersten Überblick über die Begriffsvielfalt im Bereich der Lautdichtung vgl. das Kapitel Neologistisch-individuelle Genrebezeichnungen. ‚Schlüsselwerke‘. Lautgedicht als individuelle Genrebezeichnung nach 1945 in Lentz (2000), I: S. 194ff. 893 Die Wahl der Termini ,Lautdichtung/Lautpoesie‘ als Oberbegriffe widerspricht dabei Döhls Auffassung, in der die ,akustische Poesie‘ den Oberbegriff darstellt, dem auch die Lautpoesie unterzuordnen sei: „Der Terminus akustische Poesie subsumiert […] alle möglichen Bezeichnungen wie ‚Verse ohne Worte‘, ‚Lautgedicht‘, ‚Poèmes phonétiques‘, ‚Poésie phonétique‘, ‚Poésie phonique‘, ‚Zaumnyj jazyk‘ usw.“ Döhl (o. J.) [Internet]. 894 Wendt (1985), S. 11. 895 Cobbing (1978), S. 59. Ebenso wenig hat Arrigo Lora-Totino den konzeptionellen Differenzen, die sich auch in der Namensgebung manifestieren, Rechnung getragen: „Sound poetry, therefore. Though as to the term, there is no universal consensus. […] But the name does not matter for the terms are equivalent.“ Arrigo Lora-Totino (1993), S. 17.

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Besonders deutlich manifestiert sich die Verschiedenartigkeit der Konzeptionen hinsichtlich des Merkmals der Asemantizität, das viele Lautgedichte aufweisen. Da dieses Merkmal jedoch nicht alle Lautgedichte besitzen, kann es nicht als conditio sine qua non der Lautdichtung gelten: „Die Kategorisierung asemantisch […] kann weder für die französische poésie sonore eines Chopin durchgängig geltend gemacht werden noch z.B. für die sound poetry Cobbings oder die poesia sonora Arrigo Lora-Totinos.“896 Sicherlich spielt in der Lautdichtung, wenn verbales Material verwendet wird, allgemein die akustische Dimension dieses Zeichenmaterials eine wichtigere Rolle als die Semantik – besonders deutlich manifestiert sich dies beispielsweise in der von Kostelanetz geprägten Bezeichnung text-sound897 –, nichtsdestoweniger darf auch diese Ebene nicht prinzipiell ausgeschlossen werden, wie dies in Scholz’ Definition von Lautdichtung der Fall ist: Unter Lautdichtung verstehen wir eine Dichtung, die auf das Wort und den Satz als Bedeutungsträger verzichtet und in der methodischen, eigengesetzlichen, nach subjektiven Ausdrucksabsichten vorgehenden Addition/Komposition von mittels der Artikulationsorgane produzierten Sprachlauten (Laute, Lautfolgen, Lautgruppen) ästhetische Gebilde (Lauttexte, Lautgedichte) gestaltet, die der akustischen Realisation seitens des Dichters (Lesung, Tonaufzeichnung) bedürfen.898

Zwar mag Scholz’ Definition auf einen großen Teil der Lautdichtung anwendbar sein, jedoch wird sie der Forderung nach Allgemeingültigkeit, der sie als zulässige Definition standhalten müsste, nicht gerecht. Die dieser Untersuchung zugrunde gelegte Auffassung von Lautdichtung setzt daher weder den Ausschluss von Wort und Satz noch eine akustische Realisation durch den jeweiligen Dichter voraus. Die vorliegende Arbeit kann zwar keine gültige Definition von Lautpoesie liefern, arbeitet einer solchen jedoch entgegen, und zwar vor allem durch den Ausschluss bestehender Definitionen. Auf diese Weise kann ex negativo umrissen werden, was den Bereich der Lautpoesie bildet. Eine Definition von Lautpoesie, die eine eindeutige Zuordnung aller Einzelphänomene ermöglicht, ist nicht das Ziel dieser Untersuchung, zumal eine solche weder sinnvoll noch machbar ist. Bestrebungen dieser Art sind von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil sie immer nur einen Teilbereich der produzierten Lautdichtung abdecken können. Weisen Lautgedichte das Merkmal der lexikalischen Asemantizität auf, so ist eine gewisse Nähe zum Jazzgesang, und zwar im Besonderen den so genannten scat oder bopvocals nicht zu übersehen:899 „Es handelt sich dabei um sinnlose Silben, die der Jazz-Vo896 Lentz (2000), I: S. 40. 897 Vgl. Donguy (1985), S. 25: „Le terme text-sound caractérise le langage dont la cohérence se base plus sur le son que sur la syntaxe ou la sémantique.“ 898 Scholz (1989), I: S. 19. Ähnlich auch in Scholz (1992), S. 63. Scholz’ Definition ähnelt sehr stark der Definition Döhls, in der er Lautpoesie beschrieben hat als „eine Poesie, die auf das Wort und den Satz als Bedeutungsträger (weitgehend) verzichtet und in der methodischen und/oder zufälligen Addition von Lauten, Lautfolgen und Lautgruppen ästhetische Gebilde hervorbringt, die der akustischen Realisation bedürfen“. Döhl (o. J.) [Internet]. Laut Döhl umfasst der Terminus ,akustische Poesie‘ Phänomene wie „Verse ohne Worte“, „Lautgedichte“, „poésie phonétique“, „poésie phonique“, „Zaumnyj jazyk“ usw. 899 Eine Studie, die die enge Verwandtschaft von Lautdichtung und Jazzgesang systematisch erforscht hat,



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kalist an Stelle von Texten dem Gesang unterlegt. Diese Übung geht bis in die zwanziger Jahre zurück, Louis Armstrong dürfte einer der ersten gewesen sein, die sie einführten.“900 Daneben kann diese Art der Lautdichtung eine mehr oder weniger große Ähnlichkeit zur ,Musik‘ Laurie Andersons aufweisen, oder anders formuliert: Im Falle Laurie Andersons ist die Grenze zwischen Lautdichtung und Musik nicht mehr zu ziehen. Ihre künstlerischen Produktionen müssen – wie beispielsweise auch diejenigen John Cages – als diese konventionelle Grenze überschreitende Phänomene aufgefasst werden.901 Insgesamt ist die Lautpoesie eine noch heterogenere Erscheinung als die visuelle Poesie, und zwar nicht erst nach 1945.902 Die Gedichte, die unter dem Begriff ,Lautdichtung‘ gehandelt werden, besitzen lediglich ein einziges gemeinsames Merkmal, nämlich den materialen Umgang mit der akustischen Dimension der eingesetzten Zeichen, welchem Zeichensystem sie auch entstammen mögen, denn – wie bereits erläutert – ist eine Beschränkung auf den Bereich der Verbalsprache nicht zulässig. Die folgende generelle Aussage besitzt darum nur dann Gültigkeit, wenn man den Begriff ,Sprache‘ so weit fasst, dass er de facto alle akustischen Zeichen umfassen kann, wobei allerdings zu fragen wäre, inwieweit dies zu tun sinnvoll ist: „All sound concrete poetry attempts to delve into the sonic value of language, sometimes in conjunction with semantical meaning, sometimes as an exercise in exploring sounds per se.“903 Besitzt ein Lautgedicht auch eine semantische Dimension, so bleibt zu untersuchen, ob diese ausschließlich durch die akustische Ebene erzielt wird, oder ob nicht noch weitere textinterne Ebenen (Typographie, Anordnung, Farbe etc.) an der Sinnkonstitution beteiligt sind, wenn eine Notation des Gedichtes vorliegt. Um zumindest einen ersten Eindruck von der Vielfalt der Lautpoesie zu vermitteln, wird im Folgenden Dick Higgins’ Taxonomie lautpoetischer Werke wiedergegeben. Bei dieser handelt es sich jedoch lediglich um eine Grobeinteilung, die eine nahezu unerschöpfliche Anzahl an Differenzierungen zuließe bzw. erforderte: 1. In our taxonomy [...] works in an artificial or non-existent language will be the first class of modern sound poems. 2. A second class comprises works in which the joy or other significance of the work lies in the interplay between the semantically meaningful lines or elements and those which are probably nonsense. 3. A third class might be called ‘phatic poems’, poems in which semantic meaning, if any, is subordinate to expression of intonation, thus yielding a new emotional meaning which is liegt bisher jedoch nicht vor. 900 Riha (1980), S. 201. 901 Vgl. Duckworth (1999), S. 368ff. und Naumann (1993). 902 Vgl. den als Plural formulierten Titel des von Barras und Zurbrugg im Jahre 1992 herausgegebenen Bandes: Poésies sonores. 903 David (1973), S. 33. Vgl. Wendt/Ruppenthal (1980), S. 248: „Sound poetry can be described as an artform in which the physical and sonic aspects of language are subjected to artistic manipulations.“ Ebenso im entsprechenden Eintrag von Dick Higgins in Preminger/Brogan (1993), S. 63: „when sound for its own sake becomes the principal expressive medium, sometimes even at the expense of lexical sense, then it becomes meaningful to describe a work as sound poetry.“

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relatively remote from any semiotic significance on the part of words which happen to be included. 4. Poems without written texts constitute a fourth class. They may have a rough schema or notation that is akin to a graphic musical one (and there are those who regard a magnetic tape as a sort of notation), or there may be some general rules, written out like those of a game, which, if followed, will produce a performance of the work [...]. A very large portion of the recorded literature of sound poetry, especially in Europe, is of this type, presumably because of the inherent close connection between such works and audio recording as an industry. 5. The fifth class is the notated sound poem [...]. By ‘notation’ here I am referring to the normative sort of musical notation, in which there is some kind of correspondence be­ tween space, time, word and sound and some form of graphic or textual indicator of these elements. Some of these notations closely resemble musical notations and have elaborate scores [...].904

Analog zur visuellen Konkreten Poesie gilt auch für die Konkrete Lautdichtung, dass sie im Rahmen der Gedichtproduktion bevorzugt die neuesten Medien einsetzt und deren Nutzung immer dann, wenn das entsprechende Lautgedicht nicht schriftlich o.ä. fixiert in Form einer Notation vorliegt, auch zur Gedichtrezeption fordert. Die Geschichte der Lautpoesie ist untrennbar mit der Entwicklungsgeschichte akustischer und elektroakustischer Medien verbunden: „La poésie sonore est une conséquence des outils nouveaux et des media nouveaux : le magnétophone, le studio de musique électronique, le microsillon, la radiophonie, offerts aux poètes et aux musiciens.“905 Die Entwicklung der Lautpoesie muss dabei nicht nur in einen sehr engen Zusammenhang mit technischen Innovationen auf Seiten der Speicher- und Verbreitungsmedien (LPs, MCs, CDs etc.), sondern ebenso auf Seiten der Produktionsmedien (zunächst v.a. verbesserte Mikrophone906) gebracht werden. Wie eng Technik und Lautpoesie miteinander verbunden sind, wird auch daraus ersichtlich, dass einzelne Lautpoeten (z.B. Henri Chopin und Larry Wendt) selbst elektroakustische Geräte nach ihren eigenen Vorstellungen und für ihre spezifischen Zwecke konstruiert haben: „Building digital devices for artistic purposes has become a not-so-uncommon practice […].“907 904 Higgins (1980) [Internet]. 905 Chopin (1979), S. 123. Vgl. Heidsieck (1981), S. 23: „Associée […] à son origine, au magnétophone – au cours des années 50 – nouveau médium de travail et de communication, elle [scil. la poésie sonore; B.N.] s’est appropriée aussi, depuis lors, la quasi totalité des nouveaux moyens électro-acoustiques.“ 906 Die Bedeutung dieser neuen Medien haben die entsprechenden Dichter sowohl in theoretischen als auch in poetischen Texten explizit thematisiert. Vgl. beispielsweise Charles Levendoskys Microphone Poet. Abgedruckt in Kostelanetz (1980), S. 132. Als benötigtes ,Material‘ ist hier Folgendes aufgelistet. Signifikanterweise nehmen dabei die menschlichen ,Anteile‘ erst die letzten Stellen ein: „1 quadraphonic speaker system, 1 locator mixer, 2 electronic filter systems, 1 stopwatch, 1 omni-directional microphone, 1 uni-directional microphone, 1 poet with five minutes of poetry or he may read from a publicity brochure, etc., 2 media men dressed in black on stage (they may be dancers), 1 media man at filter/mixer system.“ 907 Wendt (1985), S. 16. Vgl. die detaillierte Beschreibung des von Wendt konstruierten digital sampling synthesizer in Wendt (1985), S. 22 (Appendix A).



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War zunächst nur eine Aufnahme mit dem Tonbandgerät möglich (ca. ab 1950), so „führte [später] fast zwangsläufig ein direkter weg ins tonstudio […]“908. Die hier produzierten synthetischen Lautgedichte, die auf Tonträgern  – zunächst auf LPs, in den 1960er Jahren dann auf MCs, die unabhängig von Studioeinrichtungen genutzt werden konnten, ab Mitte der 1980er Jahre dann auf CDs – fixiert wurden, benötigten ein Abspielgerät, um rezipiert werden zu können. Insofern führt die Nutzung neuer technischer Möglichkeiten bei der Rezeption zu einer entsprechenden Abhängigkeit. Für diese Art von Lautdichtung hat Gerhard Rühm in den 1960er Jahren die Bezeichnung ,radiophone Poesie‘ geprägt. Im Hinblick auf den intermedialen Status von Lautdichtung spielt die Aneignung neuer akustischer und elektroakustischer Techniken eine bedeutende Rolle, denn eine wichtige Konsequenz der durch diese ermöglichten Manipulation des Lautmaterials durch den Dichter war, „that it began to dissolve the seemingly stable boundaries be­ tween language and music. Composers used linguistic material, authors employed principles of musical composition“909. Besonders die Grenzen zwischen der Lautdichtung nach 1945 und der vor allem mit dem Namen Pierre Schaeffer verbundenen musique concrète910 sind fließend. Lentz hat als die wichtigsten Grundtechniken, die der musique concrète und der Lautdichtung gemeinsam sind bzw. sein können – dies ist keinesfalls zwingend, auch wenn Lentz versäumt hat, dies deutlich zu machen –, folgende genannt: Geräusch- bzw. Klangmontage und -collage von vorher aufgenommenem Material (z.B. von vorgefundenen musikalischen Klängen, menschlichen Geräuschen und Umweltgeräuschen), Superposition, Verzögerung (Echo, Rückkopplung), Filtern des Klangspektrums und Bandschleife.911 Ebenso wie in der musique concrète spielt die Aufnahme mittels Tonbandgerät bzw. vor den 1950er Jahren die (Direktschnitt-)Aufnahme auf Schallplatte auch in einem Großteil der Lautdichtung nach 1945 eine wesentliche Rolle. Nicht zufällig hat Chopin für seine poésie sonore auch die Bezeichnung poésie électronique gewählt. Diese bildet eine Analogie zur – wenn auch kontrovers diskutierten, so dennoch gebräuchlichen – Benennung der musique concrète als musique électronique. Dass in der musique concrète bevorzugt Alltagsgeräusche verarbeitet wurden,912 erinnert stark an Bernard Heidsiecks Lautdichtungen, die auch – neben menschlich erzeugten Tönen und Geräuschen – ebensolche aufweisen, vor allem aber an Pierre Schaeffers musique concrète. Ebenso hat auch Arthur Pétronio das Konzept der verbophonie in seinem Manifeste verbophonique (1953) entwickelt, in dem es heißt: „Il y a des bruits qui appellent des mots, ou, si l’on veut, qui suggèrent des mots. Ce qui prouve que le bruit est antécédent

908 rühm (2001), S. 218. 909 Clüver (2002), S. 173. Vgl. Heidsieck (1981), S. 19: „En utilisant le magnétophone, ou tous moyens électro-acoustiques, la poésie sonore parait, d’évidence, pénétrer dans le territoire de la musique qui a recours aux mêmes pratiques.“ 910 Einen ersten Zugang zur musique concrète ermöglicht Schaeffer (21973). 911 Lentz (2000), I: S. 145. 912 Vgl. beispielsweise Pierre Schaeffers Études de bruits (1948). Schon der Titel verweist stark auf Luigi Russolos futuristisches Manifest L’arte dei rumori (1913) und damit auf den italienischen Bruitismus.

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au mot. […] Le seul dénominateur commun entre la musique et le langage c’est le bruitson.“913 Der Variantenreichtum innerhalb der Lautdichtung insgesamt und innerhalb der individuellen Konzeptionen einzelner Lautdichter muss maßgeblich vor dem Hintergrund der technischen Innovationen gesehen werden. War zunächst nur eine schriftliche Fixierung oder eine in Echtzeit ablaufende Live-Performance möglich, so wurde diese Möglichkeit zu Beginn der 1950er Jahre zunächst durch die Möglichkeit einer Aufnahme durch ein Tonbandgerät und später durch elektroakustische Apparaturen ergänzt. Die Lautdichtung ist somit Zeuge einer medialen Weiterentwicklung der menschlichen Stimme, über das Speichermedium des Tonbandgerätes bis hin zu elektroakustischen digitalen Medien: „Its realization began solely in live performance, expanded into the tape medium, and now its presentations may include not only both of these forms but also electric acoustic instrumentation.“914 Was Henri Chopin in seiner History of Recorded Sound915 für die Zukunft der Lautdichtung prognostiziert hat, ist seit langem – auch im Bereich der Lautdichtung  – Wirklichkeit geworden: „recording systems in digital format […].“916 Zumal das Tonbandgerät zuerst auf relativ leicht handhabbare Weise eine Präsentation von Lautgedichten, die nicht der physischen Präsenz des Dichters oder eines anderen Sprechers bedurfte, ermöglichte, kommt ihm eine besondere Bedeutung im Bereich der Lautpoesie zu. Wie zuvor durch die Aufnahme auf Schallplatten war diese auch durch Nutzung des Tonbandgerätes zu Beginn der 1950er Jahre917 nicht mehr ausschließlich ein Echtzeit-Genre. Der weitaus größte Vorteil des Tonbandgerätes lag jedoch unbestreitbar in den – wenn auch nach heutigem Maßstab als relativ eingeschränkt zu beurteilenden – Möglichkeiten, Stimmen und Geräusche technisch zu manipulieren, nämlich durch Schnitte, Superpositionen, Montagen, Beschleunigungen oder Verlangsamungen der Abspielgeschwindigkeiten: Strangely enough, the invention of the tape-recorder has given the poet back his voice. For, by listening to their voices on the tape-recorder, with its ability to amplify, slow down and speed up voice vibrations, poets have been able to analyse and then immensely improve their vocal resources. Where the tape-recorder leads, the human voice can follow.918 913 914 915 916 917

Pétronio (1984), S. 5. Wendt/Ruppenthal (1980), S. 250. Chopin (1979), S. 13ff. Chopin (1979), S. 40. Es herrscht heute Konsens darüber, dass François Dufrêne im Jahre 1953 als erster Lautpoet zur Aufnahme ein Tonbandgerät verwendet hat. 918 Cobbing (1982), S. 386. Ebenso auch Garnier (1968), S. 41: „ce qui aujourd’hui favorise son développement [scil. le développement de la poésie phonétique; B.N.] c’est l’apparition d’un instrument remarquable : le magnétophone ; l’impossible d’hier devient le possible d’aujourd’hui : la connaissance exacte et approfondie de sa langue par le poète lui-même, l’étude directe aux différentes vitesses, aux différents tons, les montages, les superpositions, les perspectives soniques, donc la création de paysages linguistiques, la possibilité pour le poète d’enregistrer son émotion, enfin les multiples attraits soudain découverts d’une œuvre poétique créée exclusivement pour l’oreille.“ Vgl. auch Donguy (1985), S. 76: Das Tonbandgerät kann „par la manipulation des mots enregistrés, [...] devenir un instrument privilé-



Individuelle Lautpoesie-Konzeptionen

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Wie im Bereich der zunächst untersuchten skriptural-pikturalen Dichtung divergiert die mediale Präsentation auch im Bereich der Lautdichtung stark. Auch hier besteht die Möglichkeit, technische Innovationen zu nutzen, jedoch ist dies im Bereich der Lautdichtung ebenso wenig zwingend wie in demjenigen der visuellen Dichtung. Hieraus folgen zwei prinzipielle Entwicklungslinien der Lautpoesie: Two lines of development in concrete sound poetry seem to be complementary. One, the at­ tempt to come to terms with scientific and technological development in order to enable man to continue to be at home in his world, the humanisation of the machine, the marrying of human warmth to the coldness of much electronically generated sound. The other, the return to the primitive, to incantation and ritual, to the coming together again of music and poetry, the amalgamation with movement and dance, the growth of the voice to its full physical powers again as part of the body, the body as language.919

3.3 Individuelle Lautpoesie-Konzeptionen 3.3.1 Der lettrisme sonore Zumal der Lettrismus auch auf dem Gebiet der Lautdichtung keine homogene Erscheinung war, ist es im Folgenden notwendig, die unterschiedlichen Konzeptionen seiner beiden Hauptvertreter, Isidore Isou und Maurice Lemaître, gesondert zu betrachten. Zunächst soll allerdings ein allgemeiner Einblick in die lettristische Lautpoesie gegeben werden. Eine beträchtliche Anzahl von Lautgedichten aus der Zeit nach 1945 wurde im Lettrismus produziert. Zwar geht dies aus dem Titel von Isidore Isous manifestartiger Introduction à une nouvelle poésie et à une nouvelle musique (1947) nicht hervor, jedoch kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Bereiche Dichtung und Musik für Isou nicht notwendigerweise voneinander getrennt sein mussten, sondern intermedial miteinander verknüpft werden konnten: „De cette synthèse entre la musique et la poésie, on forme un art nouveau [scil. la lettrie; B.N.] […].“920 Das bedeutet zugleich, dass weder Musik zu Dichtung noch Dichtung zu Musik transformiert wird. Ohnehin vertraten die Lettristen die Meinung, eine gänzlich neue Kunst geschaffen zu haben, die sich mit tradierten Begriffen, wie beispielsweise ,Poesie‘ oder ,Musik‘, nicht fassen ließe. Dass Isou und die anderen Lettristen dennoch diese Begriffe verwendet haben, stellt eine der vielen Inkonsequenzen des Lettrismus dar und lässt sich wohl nur damit rechtfertigen, dass traditionsreiche Begriffe hier mit neuen, lettristischen Bedeutungen aufgefüllt wurden, ohne diesen Vorgang jedoch für den Rezipienten transparent zu machen.

gié de recherches. Triturations, mixages, cut-ups, peuvent mener à de nouvelles saisies tant du réel que de l’imaginaire“. 919 Cobbing (1982), S. 390f. 920 Isou (1947), S. 265.

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Skriptural-akustische Intermedialität

Isou hat in diesem Sinne in seiner Introduction eine „die Musik überwindende Poesie als neue Rezitationskunst […]“921 angekündigt.922 Zwar hat Isou eine Linie von Claude Debussy bis zu sich selbst nachgezeichnet, jedoch hat er zugleich die Unterschiede zwischen Debussys Kompositionen und dem lettrisme sonore, der „tend à remplacer com­ plètement les notes par les lettres“923, herausgestellt. Ein weiterer Unterschied besteht laut Isou in der Schaffung neuer Ausdrucksmöglichkeiten, und zwar durch „la création de nouveaux instruments qui sauront émettre les lettres […]“924. Erst der Lettrismus hat Isou zufolge Lautdichtung im eigentlichen Sinne hervorbringen können, und zwar deshalb, weil der Dichtung bewusst eine Melodie gegeben worden sei und durch die Schaffung neuer Buchstaben925 zugleich neue Klänge und Töne entstanden seien, die dem lettristischen Lautdichter zur freien Verfügung standen: „Par le lettrisme, la poésie atteint complètement la musique dans ses idées, dans son matériel, dans ses buts […].“926 Wie so oft hat Isou auch an dieser Stelle die entsprechende vorangegangene Tradition völlig ausgeblendet, um den bzw. seinen Lettrismus in einem möglichst innovativen Lichte erscheinen zu lassen. Was die Frage nach dem Merkmal der Semantizität lettristischer lautpoetischer Produktionen angeht, so muss diese positiv beantwortet werden: Der lettrisme sonore ist keinesfalls ein asemantisches Phänomen. Wenigstens zwei gewichtige Gründe machen dies einsichtig: Erstens besitzen lettristische Lautgedichte in der Regel einen Titel, der das eingesetzte Zeichenmaterial semantisch auflädt und dazu geeignet ist, die Rezeption mehr oder weniger stark zu lenken. Zweitens blieb die lettristische Lautdichtung „nicht zuletzt auch hinsichtlich ihrer prosodischen Merkmale der ‚Stimmenführung‘ stets an (alltags)kommunikativen Sprachmustern, sprechhandlungs-simulativen Lautgesten und Intonationsverläufen orientiert […]“927. Ein weiterer gemeinsamer Nenner lettristischer Lautdichtungen besteht im vollkommenen Verzicht auf eine „ästhetische Funktionalisierung elektroakustischer Medien wie z.B. Schallplatte oder Tonbandgerät […]“928. Kamen diese oder ähnliche Medien zum Einsatz, dann ausschließlich als technische Hilfsmittel der Fixierung und nicht als Zeugnis einer bewussten ästhetischen Funktionalisierung des entsprechenden Mediums. Nach McLuhan hat dies dennoch immer Auswirkungen auf den Inhalt des entsprechenden Lautgedichtes. Eine Erörterung, ob Isou oder McLuhan Recht zu geben sei, ist an dieser Stelle insofern nicht erforderlich, als es hier ausschließlich darum geht, Isous technische Innovationsfeindlichkeit aufzuzeigen.929 Elektroakustische Aufzeichnungen 921 922 923 924 925 926 927 928 929

Lentz (2000), I: S. 291. Vgl. das Kapitel La poésie doit vaincre la musique dans son matériel in Isou (1947), S. 208ff. Isou (1947), S. 221. Hervorhebungen vom Autor. Isou (1947), S. 221. Hervorhebungen vom Autor. Gemeint ist das von Isou geschaffene Nouvel alphabet lettrique, das zunächst 19 Zeichen umfasste und später auf über 150 Zeichen erweitert wurde. Abdruck der 19 Zeichen in Isou (1947), S. 314 und des erweiterten Zeichenbestandes in Lentz (2000), II: S. 956ff. Isou (1947), S. 200. Lentz (2000), I: S. 457. Lentz (2000), I: S. 291. Die Ablehnung innovativer technischer Verfahren im Bereich der Lautdichtung geht im Lettrismus mit der Rückkehr zu einem traditionellen Formenkanon (Ode, Sonett etc.) einher.



Individuelle Lautpoesie-Konzeptionen

267

lettristischer Lautdichtungen gibt es nur sehr wenige. Lettristische Lautgedichte sind daher prinzipiell an eine (wie auch immer gestaltete) Notation gebunden. Diese kann eine mehr oder weniger große Ähnlichkeit mit musikalischen Partituren aufweisen. Vor allem als Kritik an dieser Vorgehensweise der visuellen Fixierung von Lautgedichten entwickelte sich der ultra-lettrisme, dessen Konzeptionen anhand des lautpoetischen Werkes von Dufrêne an entsprechender Stelle erläutert werden.930 Zu Recht kann man hier eine „Medienkonkurrenz zwischen dem Aufschreibesystem der Literatur und technischen Medien“931 konstatieren. Aufgrund der Notwendigkeit einer ,schriftlichen‘ Fixierung war für die Lettristen die Frage nach der Art der Notation ihrer Lautpoesie von erheblicher Bedeutung. Mit ihr haben sich vor allem Isou und Lemaître, der zweite ausführlicher als der erste, auseinandergesetzt, und zwar mit unterschiedlichen Ergebnissen. Schon aus diesem Grund ist ersichtlich, dass es zu keinem Zeitpunkt ein einheitliches lettristisches Notationssystem gab: „De fait, il n’y a jamais eu de sistème de notation coérent chez les lètristes.“932 Beide Entwürfe, der von Isou und derjenige von Lemaître, sollen im Folgenden erläutert werden. Aufgrund der intensiven Auseinandersetzung im Lettrismus mit der Frage nach einer angemessenen Notation von Lautgedichten und seinen unterschiedlichen Lösungsvorschlägen nimmt er auf diesem Gebiet tatsächlich eine besondere Stellung ein, die in gewissem Sinne Isous Streben nach Innovation nachkommt: The early acoustic poetry of the Italian and Russian Futurists and the Dadaists made use of alterations in typography to indicate acoustical interpretations. These notations were limited generally to such things as using letter size to indicate dynamic range, spaces to indicate pauses, boldness for emphasis, falling letters for falling pitches, etc. Many of the visual aspects were meant to be interpreted subjectively. [...] Since the Lettrists’ work, other formal experiments in sound-poetry notation have been attempted.933

Vor allem den Grad an Subjektivität der früheren Aufzeichnungen lautpoetischer Werke sollten die lettristischen ,Notationssysteme‘ minimieren bzw. – falls möglich – sogar ausschalten. Am Beispiel von Isous und Lemaîtres Notationsvorgaben wird auch dies in den nächsten beiden Unterkapiteln diskutiert und erläutert werden. Zunächst werden jedoch die prinzipiellen alternativen Transkriptionsmöglichkeiten von Lautgedichten nach 1945 aufgezeigt.

930 Vgl. S. 287ff. dieser Arbeit. 931 Schenk (2000), S. 351. 932 Lemaître (1955), S. 24. Hier und in allen nachfolgenden Zitaten aus verschiedenen Werken Lemaîtres wird die eigenwillige Originalorthographie des Autors wiedergegeben. 933 Wendt (1985), S. 12.

Exkurs: Zur Notation lautpoetischer Texte

Die Notation von Lautgedichten wirft zunächst die Frage auf, wie das Verhältnis von schriftlich fixiertem Text zu akustischer Realisation zu bewerten sei. Dabei spielt es prinzipiell keine Rolle, ob die akustische Realisation sich als ein einfaches Vortragen des Textes oder als tontechnisch stark bearbeitete Studioaufnahme erweist, oder ob als Medium ausschließlich die menschlichen Stimmorgane oder zusätzlich nicht vom menschlichen Körper erzeugte Geräusche und Töne Verwendung gefunden haben. Schon im ersten Manifest der Lautpoesie, Raoul Hausmanns Manifest von der Gesetzmäßigkeit des Lautes (1919), findet sich eine Lautgedichtpartitur, die Karl Riha folgendermaßen beschrieben hat: In welcher Weise die drucktechnischen Möglichkeiten des Versal- und Sperrdrucks, vertikale versus horizontale Anordnung und überhaupt eine graphische Komposition, die nur bedingt auf dem Zeilenschema des Gedichts beruht, eingesetzt werden, um – in der Art einer Notenpartitur – unterschiedliche Tonlängen und Tonintensitäten festzuhalten, zeigt das Textbeispiel, mit dem das Manifest schließt [...].934

Diese Partitur935 sah folgendermaßen aus:

Abb. 111  Raoul Hausmann, ohne Titel (1919)

934 Riha (1980), S. 200. 935 Hausmann (31980), S. 33.

Individuelle Lautpoesie-Konzeptionen



269

In der aktuellen Forschung besteht Konsens über den Primat der akustischen Darbietung vor der visuell-skripturalen Präsentation von Lautgedichten: Stehen der Forschung auch verschiedene Notationsformen zur Verfügung (Partituren, Texte, grafische oder stichwortartige Entwürfe etc.), die akustische Realisation kann in der Andersartigkeit mehr oder weniger subsidärer Sprachen nicht hinreichend erfasst werden. Akustische Texte, ihre Stimmen wie ihre Schrift, kommen erst als hörbares Werk zu sich als eigenständige ästhetische Form.936

Der Notation wird so der Status einer bloßen Vorlage zugeschrieben, die ihre Daseinsberechtigung ausschließlich durch ihre Hilfsfunktion für die akustische Realisierung erhält. Hier wird – vorschnell – die Einsicht zugrunde gelegt, dass sich Lautdichter immer wieder gegen die Gutenberg-Ära ausgesprochen und eine Rückkehr der Oralität im Bereich der Poesie gefordert haben.937 Gegen eine solche Auffassung ist einzuwenden, dass verschiedene Lautpoeten sich eingehend damit beschäftigt haben, (mehr oder weniger) elaborierte Notationsverfahren für lautpoetische Texte zu entwickeln. Würde es sich dabei bloß um als sekundär zu betrachtende Vorlagen handeln, so wäre dieser Aufwand unverhältnismäßig hoch gewesen. Die entsprechenden Lautpoeten hätten schließlich auch auf jede Form der Verschriftlichung ihrer Gedichte verzichten können. Beispielsweise hat Bernard Heidsieck Lautgedichte produziert, die nie in schriftlicher, sondern ausschließlich in akustischer Form festgehalten wurden: „Ma pratique du mag­ nétophone, lors de l’enregistrement de mes textes à base de sémantique, les rend après coup, intranscriptibles […].“938 Es muss daher zumindest bedacht werden, dass auch im Falle einer Notation von Lautgedichten – nach Marshall McLuhan – schon das Medium die Botschaft ist bzw. diese stark beeinflusst. Es wäre daher denkbar und sinnvoll, den schriftlich fixierten Text und die akustische Realisation als zwei medial unterschiedlich gestaltete Varianten eines Lautgedichtes aufzufassen. Dies gilt umso mehr, wenn die Notation vom konventionellen Satzspiegel abweicht und/oder typographische Besonderheiten aufweist, wie dies in allen so genannten optophonetischen Gedichten der Fall ist. Hierauf wird zurückzukommen sein.939 Wie Lentz zu Recht festgestellt hat, fehlt bisher noch immer eine systematische Erfassung und Auswertung lautpoetischer Transkriptionsweisen: Denkbar wäre – zu analogen Arbeiten in der Musikwissenschaft  – eine „als Bestandsaufnahme lautpoetischer Notationsverfahren und -symbole bzw. Partituren quasianthologisch konzipierte Studie zum Schriftbild der Lautpoesie […]“940. Eine erste Klassifizierung visueller Notationsformen, die nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, hat Lentz in seiner Studie zur Lautpoesie und Lautmusik nach 1945 vorgelegt: – alphabetische Buchstabenschrift –  typographisch-‚optophonetische‘ Notation (Buchstabengradation, Fettdruck u.a.) 936 937 938 939 940

Meyer (1993), S. 33. Vgl. beispielsweise Heidsieck (1981), S. 17f. Heidsieck (1981), S. 20. Vgl. hierzu S. 320ff. dieser Arbeit. Lentz (2000), II: S. 833.

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Skriptural-akustische Intermedialität

–  phonetische Lautschrift –  Typoaktionen: Buchstabenfragmentierungen, ‚Vibrationstexte‘, pikturale Buchstabenkonfigurationen, Schriftperturbationen, ‚Schrift-Dissoziationen‘, buchstabenzentrierte Dekompositionen (z.T. Typewriter-Poems) –  erweiterte Buchstabenverschriftung (supplementäre Zeichen) –  (Schrift-)Materialsubstitutionen –  ‚Figurationen‘ (Drucke mit Tusche, Photomontagen, Schrift‚erfindungen‘)941

Dass es sich bei dieser Klassifikation um eine idealtypische Darstellung handelt, macht die lautpoetische Notationspraxis nach 1945 überdeutlich, denn hier findet man viele Mischformen aus den von Lentz benannten verschiedenen Notationsarten. Betrachten wir nun ein konkretes Beispiel, das von Ernst Jandl stammt. Zunächst bedarf es jedoch einer kleinen Vorbemerkung: Jandl hat in der künstliche Baum (1970) eine Untergliederung in visuelle gedichte, lese- und sprechgedichte und lautgedichte vorgenommen. Die vorletzte Kategorie unterscheidet sich vor allem dadurch von der letzten, dass ihr Zeichenmaterial ausschließlich das Wort ist. Im Unterschied hierzu weisen Jandls lautgedichte daneben auch isolierte Buchstaben und nicht-skripturale Zeichen, wie zum Beispiel Wellenlinien, Striche, Punkte etc., auf. Aus diesem Grund können die lautgedichte eine große Ähnlichkeit mit musikalischen Partituren haben, wobei die von Jandl eingesetzten Zeichen als Anweisungen für die Art des Vortrags zu verstehen wären. Dies ist auch im folgenden Beispiel942 der Fall. Legt man Lentz’ Klassifikation zugrunde, so stellt diese Notation insofern einen Hybrid dar, als sowohl Wörter und Buchstaben als auch supplementäre Zeichen auszumachen sind:

Abb. 112  Ernst Jandl, ohne Titel (1970)

941 Lentz (2000), II: S. 837. 942 Jandl (1997a), S. 128.

Individuelle Lautpoesie-Konzeptionen



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Diese typographische Lautgedicht-Notation oder -Partitur wird zu „a score for sonorization, produced on the typewriter, with the non-letter marks apparently serving to indicate duration, dynamics, intensity, change of pitch level, mode of performance“943. Auch Hans G Helms’ Fa:m’ Ahniesgwow (1959) enthält daktylographische Partituren. Diese zeichnen sich primär durch einen hohen Grad an Komplexität und Vielstimmigkeit aus. Dies veranschaulicht schon der folgende kleine Ausschnitt944 und der seinen ersten Zeilen korrespondierende Auszug aus dem entsprechenden Synchronisationsplan zur Struktur:945

Abb. 113  Hans G Helms, Fa:m’ Ahniesgwow (1959), I, 1 [Auszug]

943 Clüver (2002), S. 170. 944 Helms (1959), o. S. 945 Helms (1959), o. S.

272

Skriptural-akustische Intermedialität Abb. 114  Hans G Helms, Fa:m’ Ahniesgwow (1959), Synchronisationsplan zur Struktur I, 1 [Auszug]

Lautpoetische Partituren müssen nicht daktylographisch verschriftet sein, sondern können auch handschriftlich gestaltet sein. Zum Beispiel belegt dies die folgende Notation,946 die von Ernst Jandl stammt. Um die Vortragsweise eindeutiger vorzugeben und so den Interpretationsspielraum zu reduzieren, herrscht hier ein enges Zusammenspiel zwischen den non-skripturalen Zeichen (Haken, Wellenlinien, Spiralen) und den skripturalen Zeichen (Abkürzungen und Erläuterungen in Klammern) vor (Abb. 115). Ein zweites handschriftliches Beispiel947 für eine lautpoetische Notation stammt von einem der Hauptvertreter der Konkreten Poesie in Italien, nämlich Arrigo Lora-Totino. Es stellt den Zusammenhang zwischen Lautpoesie und Musik sowohl auf der visuellen als auch der begrifflichen Ebene deutlich heraus:

946 Abgedruckt in Scholz/Engeler (2002), S. 233. 947 Abgedruckt in Scholz/Engeler (2002), S. 308.

Individuelle Lautpoesie-Konzeptionen



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Abb. 115 Ernst Jandl, innerlich (1975)

Abb. 116  Arrigo Lora-Totino, tempo 3 (sfuggendo) (1977)

Es gibt zahlreiche solcher lautpoetischen Notationsbeispiele, in denen Elemente aus musikalischen Notationen neben skripturalen Zeichen verwendet sind. In solchen Fällen wurde die Bedeutung der musikalischen Elemente nicht immer vorausgesetzt, sondern teilweise auch erläutert. Zum Beispiel hat Toby Lurie seinen Lautgedichten Color Im-

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Skriptural-akustische Intermedialität

provisation for three voices, Color Improvisation # 2 und Innocence 948 eine Chart of musical values949, die als erläuternder Kommentar dient, vorangestellt. Hier hat Lurie auch den Zweck der von ihm gewählten Art der Notation formuliert: „Most of the poems [...] are scored with musical notations. This is for the purpose of expressing the colors, rhythms and dynamics of language.“950 In funktionaler Hinsicht hat Lentz folgende sieben Notationstypen unterschieden: –  konzeptionelle Verschriftung –  deskriptive Notation –  hinweisende Notation –  Animationsnotation –  Versuche der graphisch-ikonischen Determinierung von Stellungen der (beweglichen) Artikulatoren –  Versuche der graphisch-ikonischen Determinierung prosodischer Merkmale –  ‚musikalische‘ Notation mit partieller Übernahme des konventionellen Notationssystems (Fünf-Linien-System, Takteinteilung, metronomische Zählzeit...)951

Für mehr als eine erste Orientierung und Grobeinteilung kann diese Klassifikation allerdings nicht dienen. Wie schon bei der Auflistung visueller Notationsformen fehlt auch hier die Berücksichtigung von Zwischen- und Übergangsformen. Vor allem wäre es auch nötig, nicht nur sieben Kategorien zu benennen, sondern diese inhaltlich zu präzisieren. Beispielsweise ist wenig ersichtlich, weshalb eine „hinweisende Notation“ prinzipiell von einer „Animationsnotation“ zu unterscheiden sein soll. Letztere zeichnet sich nach allgemeinem Verständnis ja gerade dadurch aus, dass sie Anhaltspunkte für die Vortragsweise oder Art der Performance enthält. Trotz aller angebrachten Kritik konnten Lentz’ Kategorisierungsvorschläge – denn als solche sollten sie verstanden werden – eines deutlich machen: Im Bereich der Lautpoesie besteht eine Vielzahl von Notationsmöglichkeiten, wobei Lautgedichte – wie bereits erläutert – nicht notwendigerweise notiert sein müssen. Im Kontext der Notationspraxis im Bereich zwischen Dichtung und Musik bzw. im Bereich der intermedialen Verknüpfung beider Künste muss ebenfalls auf den Schönberg- und Duchamp-Schüler John Cage hingewiesen werden, der selbst Lautpoesie produziert hat.952 Cage vereint in seiner Produktion Dichtung und Musik und kann daher als Repräsentant dieses intermedialen Feldes gelten, auch wenn die systematische Aufarbeitung seines lautpoetischen Werkes noch immer ein Forschungsdesiderat darstellt:

948 949 950 951 952

Abdruck der drei Gedichte in Kostelanetz (1980), S. 392ff. Abgedruckt in Kostelanetz (1980), S. 390f. Luri, in Kostelanetz (1980), S. 390. Lentz (2000), II: S. 837. Vgl. beispielsweise seine lautpoetischen Arbeiten zu James Joyces Finnegans Wake (1939), die ab 1942 entstanden sind. Cages präferierte poetische Form war dabei das Mesostichon. Besonders viele poetische Texte dieser Art enthalten die Sammlungen M (1972) und Empty Words (1980). Vgl. Patterson (2002), S. 88ff.



Individuelle Lautpoesie-Konzeptionen

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„Ultimately, then, as in the case of his musical works, Cage’s prose and poetic writings deserve and should command our most ardent scholarly and artistic attention.“953 Die Verbindung von poetischer und musikalischer Komposition im Werk von John Cage lässt sich auch in zahlreichen seiner Partituren nachweisen, die Ähnlichkeiten zu denjenigen der Lautpoeten nach 1945 aufweisen. Einige Beispiele können dies veranschaulichen:

Abb. 117  John Cage, Williams Mix (1952)954

Bei Williams Mix handelt es sich um Cages erste Produktion für das Tonband, das eben auch viele der Lautpoeten nach 1945 – allen voran Henri Chopin – eingesetzt haben. Genauer haben wir es mit einer Tonband-Collage zu tun, in der sechs Tonspuren übereinander gelagert sind. Über die oben abgebildete Partitur heißt es in einem Selbstkommentar des Autors: This is a score (192 pages) for making music on magnetic tape. Each page has two systems comprising eight lines each. These eight lines are eight tracks of tape and they are pictured full-size so that the score constitutes a pattern for the cutting of tape and its splicing. All recorded sounds are placed in six categories […]. Approximately 600 recordings are necessary to make a version of this piece.955

Eine weitere Partitur von John Cage,956 nämlich diejenige zu Water Music aus dem Jahre 1952, verdeutlicht, dass eine intermediale Verknüpfung nicht allein auf Dichtung und Musik beschränkt sein muss, sondern ebenfalls den Bereich der bildenden Künste mit einschließen kann. Im folgenden Beispiel besteht diese zusätzliche intermediale Komponente vor allem in der kalligraphischen Gestaltung. Dabei handelt es sich nicht um einen singulären Fall, denn viele von Cages Partituren weisen eine solche auf: Zahlreiche von „Cage’s scores had […] been miracles of calligraphic beauty […]“957. Wie bereits aus953 Patterson (2002), S. 99. Signifikanterweise ist John Cage in Lentz’ umfangreicher Studie zur Lautpoesie und Lautmusik nach 1945 aus dem Jahre 2000 nicht mit einem eigenen Kapitel vertreten. 954 Cage (1952) [Internet]. 955 Cage (1962), S. 41. Vgl. Bernstein (2002), S. 203ff. 956 Abdruck der Partitur in Nicholls (2002), S. 104. 957 Nicholls (2002), S. 104.

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Skriptural-akustische Intermedialität

geführt, haben sich auch viele Dichter intermedialer Poesie nach 1945 der Kalligraphie bemächtigt. Hier nun die angekündigte Partitur:

Abb. 118  John Cage, Water Music (1952)

Von den vielfältigen Notationsmöglichkeiten der Lautdichtung nach 1945 werden im Folgenden zunächst zwei näher erläutert, und zwar aus dem Kontext des lettrisme. 3.3.1.1 Isidore Isous Notation lautpoetischer Texte Mit dem „problème de l’écriture nouvelle dans la musique“958 hat sich Isidore Isou eigenen Aussagen zufolge deshalb beschäftigt, weil die bisherigen Notationspraktiken seinen Ansprüchen nicht genügen konnten, und zwar primär aus dem Grund, dass statt Lettern 958 Isou (1947), S. 224. Es handelt sich hierbei um den Titel eines Unterkapitels des sechsten Kapitels der Introduction: La création musicale du lettrisme. Isou (1947), S. 222–230.



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Noten verwendet wurden: „L’écriture musicale, étant insuffisante et inemployable, sera changée par un nouveau formulaire des lettres. Ainsi la musique reprend son vieil alphabet musical qui ne connaissait pas des signes spéciaux.“959 Bestätigt sah sich Isou dabei vor allem dadurch, dass Notationen in ihrer Anfangsphase keine Noten, sondern ausschließlich Buchstaben enthalten hatten. Durch die erneute Verwendung von Buchstaben statt Notenzeichen konnte der lettrisme sonore also zu den Anfängen der musikalischen Notation zurückschreiten. In Isous Introduction sind folgende zehn „lois techniques de la Lettrie“960 formuliert: 1. La loi de la répétition de la lettre (par laquelle les éléments peuvent être répétés selon les nécessités de l’harmonie sonore.) 2. La loi des consonnes et des voyelles (par laquelle on réalise une hiérarchie pratique essentielle parmi les lettres.) 3. La loi de la succession normale de l’alphabet (par laquelle on trouve une habitude innée capable d’offrir une sensibilité esthétique.) 4. La loi de la fixation significative (par laquelle chaque lettre sera parée d’une role [sic; B.N.] déterminant et actif dans le système total.) 5. La loi des groupes lettriques (par laquelle un groupe de lettres en soi peut donner un autre effet que celui de ses composants.) 6. La loi des mots caractéristiques (qui spécifie la limite de l’emploi des mots parmi les lettres.) 7. La loi des rimes intérieures (par laquelle on enrichit et on enveloppe un poème.) 8. La loi de la force du silence (par laquelle on fait du silence une matière à travailler.) 9. Sur les lois nouvelles de l’écriture (par lesquelles on est obligé d’écrire différemment, avec toutes les possibilités qui peuvent découler de cette condition.) 10. La loi des nouvelles lettres (par laquelle on analyse le travail du créateur dans ce terrain inconnu pour l’ouïe et l’écriture.)961

In Anbetracht der lettristischen Grundsätze poetischer Produktion ist es wenig überraschend, dass Isou sowohl die Buchstaben des lateinischen Alphabets als auch die neuen des alphabet lettrique zum zu verwendenden Zeichenmaterial erklärt hat. Einer Kommentierung bedarf zunächst vor allem das sechste ,Gesetz‘, denn dieses scheint im Widerspruch zu einem der wichtigsten Grundsätze der lettristischen Poetik zu stehen: „Le mot doit être brisé pour ses lettres.“962 Dieser Widerspruch existiert jedoch insofern nicht, als der Begriff ,mot‘ in der Bezeichnung dieses ,Gesetzes‘ nicht den Wortbegriff im gewöhnlichen Sprachgebrauch meint, sondern eine Umformung des Wortes impliziert. Folgende Erläuterung aus dem entsprechenden ,Gesetzestext‘ verdeutlicht dies:

959 Isou (1947), S. 227. 960 Isou (1947), S. 295. Hervorhebungen vom Autor. 961 Isou (1947), S. 295ff. Hervorhebungen vom Autor. Zu Isous zehn ,Gesetzen‘ vgl. Lentz (2000), I: S. 297ff. 962 Isou (1947), S. 37.

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une parole employée concrètement dans un poème lettriste apparaît mélangée pour la recherche de sa musicalité ; on accentue un nombre de ses lettres, en les répétant, en les reprenant, au détriment d’autres, perdues. Le verbe parvient ainsi transformé, acquiert sa véritable attribution qui est lettrique, perd tout sens national et rigide pour devenir son origine et sa primitivité […].963

Mit der hier beschriebenen Steigerung der Musikalität des Wortes geht eine Reduzierung der Eigenschaft der Semantizität untrennbar einher: „C’est le mot comme morceau sonore et non comme morceau significatif qui nous intéresse.“964 Ebenso wie für die Werke des lettrisme sonore gilt diese Aussage für jede konkretistisch gestaltete Lautdichtung nach 1945. Auch das vorletzte von Isous ,Gesetzen‘ bedarf erläuternder Worte, zumal aus seiner Bezeichnung der hier verhandelte Gegenstand nicht klar hervorgeht. Die benannten „lois nouvelles de l’écriture“ beziehen sich hauptsächlich auf den Bereich der Orthographie und der Typographie. Isou hat zwei Alternativen für das Problem der Orthographie thematisiert, von denen im Lettrismus die zweite gewählt wurde: La [scil. l’orthographie; B.N.] faire disparaître complètement, pour la remplacer d’une façon inconnue ou seulement la modifier dans la mesure du besoin, en essayant de la forger progressivement jusqu’à la superposition correcte avec la nécessité des œuvres. On adopte provisoirement le deuxième principe, non seulement pour la commodité du lecteur […], mais aussi parce qu’il s’agit d’expérimenter les diverses chances offertes par l’inédit, de mesurer sa pesanteur dans une balance employée communément. Les signes orthographiques qu’on a essayé de détruire si souvent dans le ciselant sans réussir, acquièrent une nouvelle signification, un autre emploi et, avec le temps, des facultés inconnues.965

Die typographische Präsentation von Buchstaben sollte laut Isou folgenden Grundsätzen folgen, die an ähnliche Verfahren im italienischen Futurismus erinnern: On emploiera les majuscules pour accentuer les paragraphes à crier et à hurler (celles détachées au milieu pour conditionner une atmosphère spécifique) et les lettres minuscules pour les instants de tranquillité, d’intimité, de calme, de convergence murmurée et transparente.966

Die visuelle Dimension der typographischen Gestaltung sollte also vollkommen in den Dienst der Klanglichkeit gestellt und dieser somit untergeordnet werden. Auch wenn der Titel von Isous Manifest, Introduction à une nouvelle poésie et à une nouvelle musique (1947), dies suggeriert, werden Dichtung und Musik nicht ausschließlich isoliert voneinander betrachtet, sondern ihre gegenseitige Verknüpfung wird im intermedialen Bereich der Lautdichtung implizit vorausgesetzt. Dies ist schon daran er963 964 965 966

Isou (1947), S. 304f. Hervorhebungen vom Autor. Isou (1947), S. 304. Hervorhebungen vom Autor. Isou (1947), S. 310f. Isou (1947), S. 311f.

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sichtlich, dass Isou Fachtermini aus dem Bereich der Musikwissenschaft neben solchen aus dem Bereich der Literaturwissenschaft verwendet. Wie bereits erwähnt, ist eines der hervorstechendsten Merkmale der Isouschen Lautgedichte der völlige Verzicht auf die künstlerische Aneignung technischer Innovationen. Im Kontext der Lautdichtung nach 1945 bedeutet dies vor allem den Verzicht auf die Aufnahme mittels Tonbandgerät. Hierin unterscheidet sich Isou stark von seinen Dichterkollegen im Bereich der Lautpoesie nach 1945, die fast alle das Tonbandgerät, als es zu Beginn der 1950er Jahre allgemein zugänglich wurde, unmittelbar für ihre lautpoetischen Produktionen eingesetzt haben. Pierre Garniers folgende Beurteilung kann als repräsentativ für eine ganze Generation von Lautdichtern gelten: „Le magnétophone rend possible ce qui était impossible hier : mettre en valeur et exploiter toutes les ressources des langages.“967 Isou hingegen hat das Tonbandgerät und andere akustische/elektroakustische Medien prinzipiell abgelehnt. Es existieren von Isou zwar dennoch ein paar wenige auf Tonträger ,gebannte‘ Lautgedichte, diese zeichnen sich aber durch eine „rein dokumentarische Funktionalisierung von elektroakustischen Medien wie Tonband und Schallplatte [...]“968 aus. Isous anachronistische Haltung gegenüber technischen Innovationen beschränkte sich nicht nur auf die Ablehnung der Aufzeichnung mittels des Tonbandgerätes, sondern auch dagegen, Klänge maschinell zu erzeugen. Auch auf dem Gebiet der poetischen Produktion stand Isou dem technischen Fortschritt im Bereich der Elektroakustik, den zahlreiche Lautpoeten nach 1945 für sich zu nutzen wussten, konträr gegenüber. Ausschließlich die Möglichkeiten des menschlichen Körpers zur Lauterzeugung bzw.  – konkreter  – des menschlichen Mundes sollten in der Lautpoesie Isouscher Prägung genutzt werden. Isou vertrat eine „vokale Ästhetik der allein von der menschlichen Stimme erzeugten Klänge und Geräusche [...]“969. Der Lettrismus erwies sich somit als „l’appauvrissement des outils mécaniques“970, der vor allem gegen die futuristische Technikbegeisterung  – hier im Bereich der lautpoetischen Produktion und ihrer Speicherung – gerichtet war.971 Kehren wir zur Notationsproblematik zurück: Insgesamt fällt auf, dass Isou, auch wenn er zweifellos einen anderen Eindruck erwecken wollte, keine präzisen Vorgaben für die schriftliche Fixierung von Lautgedichten formuliert hat. Hinzu kommt, dass die Begriffe, die er verwendet hat, fast alle einen großen Bedeutungshof besitzen und folglich einen ebenso großen Interpretationsspielraum zulassen, so dass die Rezeption sich als hochgradig subjektiv erweist: On a pu reprocher à Isidore Isou le manque de précision et de rigueur de son système de notation. Après tous, les arguments que lui-même avance pour critiquer l’efficacité des mots se retournent ici contre lui. Les termes auxquels il a recours pour indiquer les nuances ou les 967 968 969 970 971

Garnier (1968), S. 69. Lentz (2000), I: S. 476. Lentz (2000), I: S. 337. Isou (1947), S. 235f. Die futuristische ,Maschinenästhetik‘ manifestiert sich beispielsweise in Luigi Russolos L’arte dei rumori (1913). Diese stellt ein Manifest des so genannten italienischen Bruitismus dar.

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bruits sont, comme le sont tous les mots, schématiques et simplificateurs. N’existe-t-il pas de nombreuses façons différentes d’être sauvage, ou de grogner, d’éternuer, de siffler, de claquer la langue ? Qu’est ce qu’un ton calme, ou majestueux, ou victorieux ?972

Auch die hier formulierten Mängel der Isouschen Notation versuchte Lemaître mit seinem sehr viel besser ausgearbeiteten Notationssystem zu beheben. Bevor dieses jedoch erläutert wird, soll ein konkretes Beispiel einer lautpoetischen Notation aus der Feder Isous seine Vorschläge visualisieren helfen. Es handelt sich um das Gedicht Calvaire973 aus den 10 poèmes graves (1947), die der Introduction angefügt sind:

Abb. 119  Isidore Isou, Calvaire (1947)

Zunächst und vor allem fällt auf, dass das Gedicht sowohl Handschrift als auch Maschinenschrift enthält. Die handschriftlichen Anteile dienen primär dazu, die Buchstaben des nouvel alphabet lettrique dem Gedicht einzuschreiben. In einer Art Glossar unterhalb des Gedichttextes werden diese Buchstaben erläutert bzw. das jeweilige akustische Pendant angeführt: „gémissement“, „aspiration“, „expiration“, „crachat“ und „râle“. 972 Frontier (1992), S. 343. Hervorhebungen vom Autor. 973 Isou (1947), S. 333.

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3.3.1.2 Maurice Lemaîtres Sistème de Notasion pour les Lètries (1955) Innovationen entstehen in den meisten Fällen aus – zum Teil sicher auch nur subjektiv empfundenen – Missständen. Dies gilt auch für die lettristischen Neuerungsleistungen auf dem Gebiet der Notationspraxis: Ebenso wie Isous notationstechnische Grundsätze im Bereich der Lautdichtung als Reaktion auf die bisher als mangelhaft aufgefassten Notationen aufzufassen sind, stellt Lemaîtres Notationssystem eine Reaktion auf Isous – seiner Meinung nach – verbesserungsbedürftige Notationsregeln dar. Diesen hat Lemaître ein eigenes „elaboriertes Notationsmodell“974 entgegengesetzt. Dadurch wird einmal mehr deutlich, dass „sich im Rahmen des Entwurfs der buchstabenverschrifteten lettristischen Poesie [...] notationstechnische Fragestellungen als ein zentrales produktionsästhetisches Problem darstellen“975. Bevor Lemaîtres systematisches Notationssystem im Einzelnen dargestellt und erläutert wird und damit zugleich seine Abweichungen von Isous notationstechnischen Praktiken in den Blick genommen werden, soll eine Gemeinsamkeit beider Konzeptionen hervorgehoben werden: Sowohl Isou als auch Lemaître haben eine schriftliche Fixierung mittels Handschrift akzeptiert. Im lautpoetischen Werk Lemaîtres stehen diese handschriftlichen Partituren gleichberechtigt neben daktylographischen Partituren, zum Teil sogar zu ein und demselben Gedicht. Wie gesagt, Lemaîtres Sistème de Notasion pour les Lètries ist primär dem Bewusstsein der Verbesserungswürdigkeit der Transkriptionsregeln Isous geschuldet. Folgerichtig hat Lemaître in seinem Bilan lettriste (1955) erkannt, dass zunächst eine Auseinandersetzung mit diesen erfolgen müsse, bevor ihnen ein positives Gegenstück entgegengesetzt werden könne: „Le but de çe livre étant de palier çète carençe, d’ofrir aus compositeurs de lètries un socle fisique solide pour des euvres plus larjes, il importe d’analiser tout d’abord les tentatives préçédantes du domaine […].“976 Lemaîtres fünf konkrete Kritikpunkte an Isous Notation sind: 1. 2. 3. 4. 5.

„Manque de notation claire des consones et des voyèles“.977 „Manque de notation du ritme et des silençes. Absançe de notation dans le contrepoint.“978 „Manque de notation de la durée d’émission des lètres ou groupes de lètres.“979 „Confusion dans la notation des lètres nouvèles.“980 „Absançe totale de notation des amplitudes (énerjies) des sonorités émises.“981

Diese Kritikpunkte ließen laut Lemaître nur eine Schlussfolgerung zu: „On voit, par çes exemples, le caos qui règne dans la notation isouiène.“982 Diese Schlussfolgerung hat die Konsequenz nach sich gezogen, dass Lemaître die bei Isou reklamierten Mängel in sei974 975 976 977 978 979 980 981 982

Lentz (2000), II: S. 851. Lentz (2000), II: S. 844f. Lemaître (1955), S. 25. Lemaître (1955), S. 25. Lemaître (1955), S. 27. Lemaître (1955), S. 29. Lemaître (1955), S. 29f. Lemaître (1955), S. 31. Lemaître (1955), S. 31.

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nem Notationssystem zu beheben beabsichtigt hat. Im Kapitel Comment transcrire une lètrie983 hat Lemaître folgende grundsätzliche Regeln, die einen direkten Bezug zu den zuvor genannten Kritikpunkten an Isous Transkriptionsgesetzen aufweisen, aufgestellt und erörtert: 1. „Consones et voyèles“984: In lettristischen Lautgedichten solle das Internationale phonetische Alphabet (IPA) verwendet werden, und zwar vor allem zur Sicherung des internationalen Status dieser Dichtung. Lemaître hat wiederholt darauf hingewiesen, dass er als Erster das IPA für die Lautdichtung empfohlen habe: „Je suis le premier à avoir préconisé l’Alphabet Phonétique International par un souci relatif de précision [...].“985 Falls ein Dichter auf Phoneme stoße, die im IPA nicht vorkämen, solle er für diese neue Zeichen erfinden. 2. „Lètres nouvèles“986: Diese basieren auf dem nouvel alphabet lettrique, das sich in Isous Introduction findet, jedoch hat Lemaître diesem die neuen Buchstaben, die Dufrêne verwendet hat, hinzugefügt. 3. „Lètres lemaîtriènes“987: Hierbei handelt es sich um sechs neue Zeichen, die Lemaître als Ergänzung des lettristischen Alphabets entwickelt hat, und zwar: 50 = rot. Si le rot a été utilisé par çertains lètristes, il n’a jamais reçu de notation. 51 = chuchotement (lètre pouvant être employé come facteur). 52 = cordes vocales ouvertes. 53 = cordes vocales fermées. 54 = baillement. 55 = reniflement.988

4. „Notation du ritme“989: Im Gegensatz zu Isou war Lemaître bestrebt, den Faktor ,Zeit‘ bzw. ,Dauer‘ in der Transkription deutlich zu machen, auch unter Zuhilfenahme musikalischer Termini (adagio, presto etc.). 5. „Notation de l’énerjie (amplitude) des lètres émises“990: Lemaître hat die Ansicht vertreten, dass auch die Art des Vortrags eindeutig vorgegeben werden müsse. Hierzu hat er bewusst in Analogie zum Notensystem in der Musik991 (fünf Notenlinien und vier Linienzwischenräume) – nicht zufällig hat er immer wieder den Begriff ,partition‘ für die Transkription seiner lettristischen Lautgedichte verwendet – präzise Notationsvorgaben gemacht. Die zukünftigen lettristischen Lautpoeten sollen ebenfalls vier Linienzwischenräume benutzen und sie folgendermaßen füllen: 983 984 985 986 987 988 989 990 991

Lemaître (1955), S. 41. Lemaître (1955), S. 41. Interview mit Maurice Lemaître vom 15. Juli 1997. Abgedruckt in Lentz (2000), II: S. 1076. Lemaître (1955), S. 44. Lemaître (1955), S. 46. Lemaître (1955), S. 46. Lemaître (1955), S. 46. Lemaître (1955), S. 48. Vgl. Lemaître (1955), S. 48: „La portée lètrique devient alors analogue à la portée musicale [...].“

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Dans le premier interligne seront inscrites les lètres (fonèmes) destinées à être dites avec la forçe normale d’émission du sujet (conversation). Dans le premier et le second assemblés, et dans le premier et le troisième assemblés sera inscrit le même simbole fonétique, grossi 2 ou 3 fois de volume, mais ne perdant pas son caractère. [...] Le dernier interligne sera réservé pour les chifres mètant en facteurs un ou plusieurs fonèmes (qui seront inclus alors entre guillemets), ainsi que pour toutes les autres indications d’expression.992



Während der erste Zwischenraum die Stärke eines Gesprächs vorgebe, bestimmten die beiden folgenden die Stärken zwei und drei, und der letzte Zwischenraum sei den lettristischen Chiffren vorbehalten. Statt Majuskeln und Minuskeln sollen unterschiedlich große Buchstaben Aufschluss über die Stärke der Betonung geben. Dieser Vorschlag erinnert stark an ähnliche Vorgehensweisen im italienischen Futurismus. 6. „Autres signes de notation“993: Auch der Hiatus und die Stille bzw. Pause sollen transkribiert werden. Betrachten wir nach der theoretischen Erörterung von Lemaîtres Notationssystem nun ein praktisches Anschauungsbeispiel, in dem die typologische Nähe der lettrie sonore lemaîtrienne zur musikalischen Partitur besonders deutlich hervortritt:

Abb. 120  Maurice Lemaître, Sistème de notasion : Signes (1955)994

992 Lemaître (1955), S. 48f. 993 Lemaître (1955), S. 49. 994 Lemaître (1955), S. 57.

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Es ist Lemaître zu konzedieren, dass sein Notationssystem im Vergleich mit Isous wesentlich elaborierter war: „Le sistème a l’avantaje d’être clair, préçis et d’éviter le plus possible les surcharjes inutiles, tout en tenant comte des néçessités urjantes de la notation.“995 Eine der wichtigsten Erweiterungen des Isouschen System besteht vor allem darin, dass die Transkriptionsmethode Lemaîtres es ermöglicht, Dauer durch Buchstaben abzubilden. Auch auf das zu verwendende Zeichenmaterial ist Lemaître detailliert eingegangen: Purifier, ou plutôt préciser l’éventail des signes plastiques employés est donc la première tâche du lettriste, s’il veut augmenter sa richesse de transcription. Il le peut: a) soit en nettoyant son alphabet national (prendre un seul signe pour la consonne ‘S’, par exemple). b) soit en acceptant l’alphabet phonétique international, et ses divers signes diacritiques de précision, comme un tremplin de notation exacte. Pour ma part, en ce qui concerne les phonèmes français et étrangers que j’ai utilisés, j’ai accepté les deux solutions conjointement, en créant par la même occasion un alphabet machine à écrire commode à utiliser [...] : §) un alphabet national français nettoyé, qui affecte à chaque phonème un symbole plastique distinct et un seul. Ex: s pour le son ‘s’, ch pour les son ‘ch’, etc. &) un certain nombre de phonèmes étrangers que j’ai employés, ‘nettoyés’ de la même manière. Ex: aîn, toujours le même, qu’il soit pris en arabe ou en hébreu. La forme de ces symboles elle-même, est tantôt l’écriture latine, selon l’alphabet machine que j’ai constitué, à la fois pour transcrire les phonèmes qui n’ont pas de lettre spécifique en français (on, eu, an, ch, gn, etc.) et ceux qui, étrangers, n’ont pas d’écriture latine convenable, tantôt les formes de l’alphabet phonétique international, et ses signes diacritiques. Pour les deux systèmes, j’ai aussi accepté une écriture manuscrite.996

Wie gesagt, Lemaître hat explizit sowohl die Schreibmaschinenschrift als auch die Handschrift in lautpoetischen Notationen zugelassen. Repräsentativ sei dies mit der folgenden Abbildung, die die Notationsalternativen für die Vokale – neben den hand- und maschinenschriftlichen auch die hypergraphischen – aufzeigt, belegt:

995 Lemaître (1955), S. 51. 996 Lemaître, zitiert nach Lentz (2000), II: S. 854. Hervorhebungen von Lemaître.



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Abb. 121  Maurice Lemaître, Gamme restreinte Lemaître : Voyelles (1965)997

Im Unterschied zu Isous Partituren sahen Lemaîtres nicht nur die menschlichen Stimmerzeugungsorgane als Realisationsmedium vor, sondern schlossen prinzipiell auch eine instrumentale Begleitung mit ein.998 Dennoch war Lemaître bestrebt, alle Artikulationsmöglichkeiten des menschlichen Körpers für die lautpoetische Produktion zu nutzen. Einen Überblick über Lemaîtres entsprechenden Systematisierungsversuch nach dem Kriterium der Artikulationsorgane des Menschen gibt die folgende Abbildung:

997 Lemaître (1965), o. S. 998 Vgl. Lentz (2000), II: S. 856.

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Abb. 122  Maurice Lemaître, Essai de classement articulatoire de la gamme phonétique intégrale (1965)999

999 Lemaître (1965), o. S.



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Eine weitere Abweichung vom Isouschen Notationssystem, mit der ich die Erörterungen über Lemaîtres sistème de notasion beenden möchte, besteht darin, dass Lemaître technische Innovationen nicht prinzipiell vom Produktionsprozess lautpoetischer Werke ausgeschlossen hat. Anders als Isou war er sich der Vorteile der Nutzung zeitgenössischer tontechnischer Möglichkeiten bewusst: „Les possibilités stéréofoniques et le nouveau microfone ionique (sans membrane) rendront bientôt çes enrejistrements très proches de la perfection acoustique.“1000 So hat Lemaître prinzipiell zwei Notationsmodi unterschieden, nämlich die akustische und die visuelle Notation.1001 3.3.2 François Dufrêne und der ultra-lettrisme Über das Gründungsdatum des ultra-lettrisme besteht zwar kein Konsens – die Angaben reichen von 1952 bis 1958 –, dafür ist man sich aber über Dufrênes Motivation, dem lettrisme Isouscher Prägung den Rücken zu kehren, einig: Dufrêne wollte nicht, wie von Isou vorgegeben, bei der lautpoetischen Produktion auf technische Innovationen verzichten, sondern diese vielmehr dazu nutzen, um neue lautpoetische Ausdrucksformen zu schaffen. Dies sollte durch eine Ästhetisierung des technischen Mediums gelingen. Die Gründung des ultra-lettrisme und die damit einhergehende Abspaltung vom lettrisme richtete sich also primär gegen dessen Technikfeindlichkeit1002 oder – präziser – gegen die Ablehnung der Lettristen, das Tonbandgerät ästhetisch zu funktionalisieren, statt es nur als ,Hilfsmedium‘ im Rahmen der akustischen Fixierung aufzufassen. Die größte Differenz zwischen dem ultra-lettrisme und dem lettrisme ist daher produktionsästhetischer und konzeptioneller Natur: Jeune lettriste depuis quelques années, il [scil. François Dufrêne; B.N.] a rompu avec le mouve­ ment [scil. le mouvement lettriste; B.N.] en 1952 considérant que tous ces nouveaux signes pour exprimer des bruits de bouche divers étaient ridicules alors qu’il pouvait les enregistrer directement et spontanément au magnétophone.1003

Bezeichnenderweise galt Dufrêne den meisten Lautpoeten als der erste unter ihnen, der sich das Tonbandgerät zunutze gemacht und somit die Ära der tape-poetry eingeläutet hat. Dufrêne schien die Nutzung des Tonbandgerätes für seine lautpoetischen Kompositionen vor allem dafür geeignet, die intermediale Verknüpfung zwischen Musik und Dichtung in diesem Bereich des künstlerischen Schaffens voranzutreiben: „Mit Hilfe 1000 Lemaître (1955), S. 52. Das Zitat ist mit einer Fußnote versehen, in der Lemaître erläutert, dass das Ionenmikrophon erstmals im Jahre 1955 konstruiert wurde. 1001 Vgl. Lemaître (1965), o. S.: „Les lettries sonores peuvent être notées de deux façons : A) soit par des procédés d’enregistrement SONORES […]. B) soit par des procédés d’enregistrement VISUELS […].“ Hervorhebungen vom Autor. 1002 Wendt (1993), S. 65: „Isidore Isou and Maurice Lemaître […] have almost totally disregarded the use of the tape recorder in their work and have continued to propagate traditional lettrist composition.“ Hier wäre allerdings eine differenzierte Abstufung zwischen Isou und Lemaître nötig. 1003 Interview mit Bernard Heidsieck vom 25. Januar 1996. Abgedruckt in Lentz (2000), II: S. 1068. Neben Dufrêne verließen auch zwei seiner engsten Freunde, nämlich Gil J. Wolman und Louis Brau, den lettrisme, um sich dem ultra-lettrisme anzuschließen.

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des Tonbandgerätes gelang es mir dann, schnell zu einer Art ‚konkreter Vokalmusik‘ vorzustoßen.“1004 Dufrênes Kritik an den lettristischen Verschriftungsmethoden hat sich vor allem auch gegen das nouvel alphabet lettrique gerichtet, gegen das er sich mehrfach, und zwar auch auf polemische Weise, geäußert hat: Ce lexique des lettres nouvelles se ‘montre’ aujourd’hui à 161 signes. Leur inéptie éclate, comme le système, à leur seule énumération. Qu’au no. 121, ‘claque de la main incurvée sur la fesse’, on n’ait pas cru bon de spécifier de laquelle il s’agissait, est tragique : ce lexique est-il conçu pour les seuls mono-pyges ? Le coup de pied aux fesses ni la gifle ne figurent dans ce lexique mais le ‘bruit’ de masturbation (127), celui de copulation devant (128) et par arrière (129) (sans sons vocaux).1005

Wie bereits deutlich gemacht werden konnte, war die Frage der Notation im Lettrismus von großer Bedeutung und wurde deshalb vielfach diskutiert und auf unterschiedliche Weise beantwortet. Dufrêne hingegen hat ab Anfang der 1950er Jahre konsequent auf jede nicht-akustische Fixierung seiner Lautgedichte verzichtet und sie unmittelbar auf ein Tonbandgerät aufgenommen. Mit der Instrumentalisierung des Tonbandgerätes ging im Bereich der Lautpoesie ein „Paradigmenwechsel durch Medienwechsel“1006 einher. Significantly, those Lettriste poets who used recording technology most creatively, as a means for both recording and orchestrating live improvisations – such as François Dufrêne and Gil Wolman – finally left the Lettriste movement in order to found Ultra-Lettrisme, and in Dufrêne’s case, in order to work among the more loosely grouped poets associated with sound poetry.1007

Der kategoriale Unterschied, den Dufrêne zwischen Bild und Klang unterstellt, bzw. die inszenierte Autonomie von Schrift und Rede als die beiden primären Erscheinungsformen von Sprache manifestiert sich auch in seinem kinetographischen Gedicht J’interroge et j’invective (1951).1008 Dieses Gedicht und der Sonderstatus, den es Dufrêne im Kontext moderner Lyrik (v.a. von Mallarmé und Apollinaire) sichert, lassen sich wie folgt beschreiben: Zwar ist die Betonung des Eigenwerts der Schrift gegenüber der Rede Gemeingut avantgardistischer Positionen, doch Dufrêne geht weiter. Wir lesen als Untertitelung einen Text, der wenigstens partiell keinesfalls identisch ist mit dem vorgetragenen Text. Auf der anderen

1004 Interview mit François Dufrêne vom 17. Mai 1972. Abgedruckt in Lentz (2000), I: S. 521. 1005 Dufrêne (1973), S. 57. 1006 Lentz (2000), I: S. 527. 1007 Henri Chopin, zitiert nach Lentz (2000), I: S. 511. 1008 Dufrênes Gedicht wurde im Rahmen von Isidore Isous Film Traité de bave et d’éternité im Jahre 1951 während der Filmfestspiele in Cannes gezeigt. Vgl. Krüger (2010), S. 188.



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Seite hören wir mehr Text, als wir lesen können, denn nicht alle Passagen sind so einwandfrei untertitelt, dass wir alle Schrift umstandslos und eindeutig entziffern können.1009

Dufrênes lautpoetisches Hauptwerk sind die Crirythmes1010 (1953–1982). Die Lautgedichte dieser Sammlung enthalten kein verbales Zeichenmaterial, sondern bestehen ausschließlich aus menschlichen Schreien, und zwar in den unterschiedlichsten Ausprägungsformen: „le SOUFFLE seul fonde le poème – rythme et cri, le cri, contenu contenu, jusqu’ici, du poème ; de joie, d’amour, d’angoisse, d’horreur, de haine, mais cri.“1011 Die Crirythmes repräsentieren auf paradigmatische Weise den Bruch mit dem Lettrismus, denn diesen Lautgedichten liegt keine Notation zugrunde. Hat Dufrêne die ersten Crirythmes zunächst live vor Publikum vorgetragen, so handelte es sich spätestens bei den ab 1963 produzierten Crirythmes um „genuine Tonbandkompositionen“1012. Dabei ist Dufrênes zunehmende Experimentierfreudigkeit hinsichtlich der ästhetischen Möglichkeiten, die das Tonbandgerät bietet, nicht zu übersehen. Nach und nach erprobte Dufrêne „the more creative aspects of the tape-recorder“1013. Diese Erprobung beinhaltete vornehmlich die Technik der Superposition, die auch Henri Chopin vielfach angewandt hat.1014 Bei noch späteren Crirythmes hat Dufrêne die Aufnahme- und Verfremdungsmöglichkeiten eines Tonstudios genutzt. Als die grundsätzlichen Gestaltungsmerkmale der Crirythmes hat Lentz die folgenden ausgemacht: Kontrastkomposition, quasikontrapunktische Stimmenführungen, collagenhafte Einbeziehung von akustischen objets trouvés (z.B. das Geräusch einer Hupe etc.) und Panoramaeffekte.1015 Das hervorstechendste Merkmal der Crirythmes ist jedoch Dufrênes unkonventionelle Exploration der Möglichkeit, mit dem menschlichen Körper Geräusche zu produzieren: Gerade non-verbale Äußerungen des Menschen (Räuspern, Husten, Schluchzen, Wimmern, Stöhnen, Flüstern, Schreien, Ein- und Ausatmen etc.) gewannen in seiner Lautdichtung an Bedeutung: Im Gegensatz zu Chopin hat Dufrêne sich dabei darauf beschränkt, diese Geräusche von außen aufzuzeichnen und nicht von innen, wie z.B. durch das Einführen von Mikrophonen in den menschlichen Körper, das Henri Chopin betrieben hat. Nichtsdestoweniger schöpfen Dufrênes Lautkompositionen das Geräuschpotenzial des menschlichen Körpers nahezu aus: „Die lautpoetische Enttabuisierung und somit Instrumentalisierung des ‚total sound-producing potential of man‘ wurde [...] von Dufrêne [...] virtuos vorangetrieben.“1016 Wie bereits erläutert, hat Dufrêne für seine Crirythmes keine lautpoetischen Partituren entworfen. Damit hat er seiner Ablehnung jeglicher Form von visueller Partitur – sei es auf der Grundlage der Buchstaben des lateinischen Alphabets oder eines beliebigen 1009 Krüger (2010), S. 189. 1010 Darauf, dass es sich beim Titel Crirythmes um eine Reminiszenz an Pierre Albert-Birots Poèmes à crier et à danser (1916–1919) handelt, wurde bereits mehrfach hingewiesen. 1011 Dufrêne (1966), S. 968. Hervorhebung vom Autor. 1012 Lentz (2000), I: S. 519. Vgl. Cobbing (1982), S. 385f. 1013 Cobbing (1982), S. 386. 1014 Wendt (1985), S. 12. 1015 Vgl. Lentz (2000), I: S. 539. 1016 Lentz (2000), I: S. 539.

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alternativen Zeichensystems –, die ja schließlich einer der Hauptgründe für die Abwendung vom Lettrismus war, Ausdruck verliehen. In der Frage nach einer angemessenen Notation seiner Lautgedichte ist Dufrênes Entscheidung vielmehr zugunsten der „ultralettristischen ‚akustischen Notation‘ direkt auf Tonband“1017 ausgefallen. Über die Notation seiner Crirythmes hat sich Dufrêne in diesem Sinne folgendermaßen geäußert: en 1953 je décidai de tourner le dos, résolument, à tout alphabet, quelque ‘nouveau’ qu’il fût, à toute notation, à toute partition […]. Je ne vois pas en quoi un cri noté est susceptible d’intéresser supérieurement l’enfant, la femme ou l’homme. Je ne pense pas qu’enrichir l’alphabet au service de la poésie lettriste de quelques douzaines de lettres nouvelles, de quelques milliers, soit d’une importance véritable pour une CRIation de transes intranscriptibles. Montrer qu’A ni Z ne sont, par écrit, ce qu’ils sont par le cri (et de moins en moins si l’on ECOUTE la complication progressive des derniers ‘poèmes’ lettristes) ; montrer que chaque syllabe exigerait une notation particulière et valable une fois seulement (ce qui est absurde) […]. Devant l’excédante terre en friche du crirythme, on ne songe qu’à tout ce qu’elle va pouvoir DONNER A ENTENDRE par, enfin, des bouches de chaleur.1018

Hier hat Dufrêne Meyers Konzept der Graphophonie antizipiert, denn seine Ausführungen entsprechen Meyers ,akustischer Notation‘, die diesem Konzept zugrunde liegt: „In der Graphophonie ist die traditionell begriffliche Differenz zwischen Stimme und Schrift aufgehoben; Graphophonie ist Stimme und ihre Schrift.“1019 Damit einher geht der Primat, den Dufrêne der akustischen Realisation gegenüber der visuellen Notation gegeben hat. Auch Meyer ist für diesen Primat eingetreten: Stehen der Forschung auch verschiedene Notationsformen zur Verfügung (Partituren, Texte, grafische oder stichwortartige Entwürfe etc.), die akustische Realisation kann in der Andersartigkeit mehr oder weniger subsidiärer Sprache nicht hinreichend erfaßt werden. Akustische Texte, ihre Stimmen wie ihre Schrift, kommen erst als hörbares Werk zu sich selbst als eigenständige ästhetische Form.1020

Den intermedialen Zusammenhang zwischen Dichtung und Musik in seiner Lautdichtung hat Dufrêne insofern explizit benannt, als er die Crirythmes auch als musique concrète vocale bezeichnet hat. Dufrêne hat hier das Prädikat ,konkret‘ im Sinne der vorliegenden Untersuchung verwendet, nämlich als den bewussten Materialeinsatz des Zeichenbestandes, und zwar in visueller, akustischer oder taktiler Hinsicht. Zu Recht hat Lentz festgestellt, dass der ultra-lettrisme zu einem Paradigmenwechsel in der Lautdichtung geführt hat. Im Folgenden werden die wichtigsten Punkte aus seinem Stichwortkatalog zu den Innovationen in der lautpoetischen Produktion des ultralettrisme, als dessen Ikone Dufrêne gelten kann, aufgeführt: 1017 Lentz (2000), I: S. 520. 1018 Dufrêne (1973), S. 56f. Hervorhebungen vom Autor. 1019 Meyer (1993), S. 32. 1020 Meyer (1993), S. 33.



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– Entgrenzung des kodierten und somit restringierten Zeichenrepertoires durch eine Transformation der Buchstabenverschriftung in eine akustische Notation der Stimme. – ‚Repertoire‘ des Ultra-Lettrismus: das ‚total sound-producing potential of man‘ [...]. – Die Stimme als zentraler Bestandteil von phonetischer bzw. Lautpoesie tritt in den Vordergrund des produktions- wie rezeptionsästhetischen Interesses. – Extensives Spiel mit An- und Abglitt, Glottisverschluß, nonverbal-paralinguistischen Signalen (z.B. Räuspern, Husten, Schluchzen, Wimmern, Stöhnen), stilisiert-emotionalem oder automatisiert-emotionalem oder rhythmisch-repetitiv strukturiertem Ein- und Ausatmen, stimmdynamischen Kontrasten (Flüstern, Schreien) in Artikulationskontinua gegenüber ihrem eher distinktiv-‚punktuellen‘ Gebrauch/Einsatz im ‚lettrisme sonore‘. – Paradigmenwechsel durch Medienwechsel (Instrumentalisierung des Tonbandgerätes) [...]. – (Re-)Integration von Verbalsemantik bei gleichzeitiger Aufhebung des lettristischen Versifikationsprinzips. – Demonstration von Sprachwerdung [...]. – Einbeziehung von Vorgefertigtem und Heterogenem: Soundcollagen auch durch Überlagerung von Lautartikulationen mit nonverbalen Schallquellen, wie z.B. Ausschnitten aus Musikstücken [...].1021

3.3.3 Pierre Garnier Auch Pierre Garniers Konzeption zufolge handelt es sich bei Lautdichtung um eine intermediale Kunstform, die Dichtung und Musik miteinander verknüpft. Ebenso wie seine Frau Ilse Garnier, von der das folgende Zitat stammt, hat er dabei die Meinung vertreten, dass Lautdichtung kategorial vom rein musikalischen Bereich sowie reinen Geräuschen unterschieden werden müsse, um deren Eigenständigkeit zu sichern: „Pour éviter de dériver soit vers la musique concrète, soit vers la frange des bruits il convient de définir le domaine linguistique aussi rigoureusement que possible.“1022 Nötig sei also eine Beschränkung auf verbales Material und – damit zusammenhängend – auf den Vorgang des Sprechens: La définition la plus simple et la plus claire consiste à dire qu’il s’agit du domaine du ‘parler’ (par opposition à la musique et au chant), c’est-à-dire du résultat de processus compliqués auxquels prennent part le cerveau, les poumons, le souffle, les organes vocaux, les vibrations, les articulations, les voyelles, la cavité buccale, langue, palais, dents, les consonnes.1023

Hierin unterscheiden sich beide Garniers stark von anderen zeitgleichen Lautpoeten, die neben sprachlichem Material auch Geräusche nicht-menschlichen Ursprungs (z.B. 1021 Lentz (2000), I: S. 527f. 1022 Garnier, I. (1963), S. 54. Vgl. Garnier (1968), S. 69: „La poésie phonétique, dans son ensemble, est l’exploitation poétique de tous les éléments du mot ou de la phrase, en dehors de toute convention.“ 1023 Garnier, I. (1963), S. 54.

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den Lärm der Großstadt) eingesetzt haben. In Anbetracht des erweiterten Textbegriffes gefährdet ein solches Vorgehen ja keineswegs den Status von Lautdichtung als Dichtung. In Spatialisme et poésie concrète (1968) hat Pierre Garnier, was den Bereich der Lautdichtung angeht, klare definitorische Vorstellungen vertreten. Es erscheinen hier zwei prinzipielle Ausprägungen, die hinsichtlich des Kriteriums der Semantik bzw. Asemantik unterschieden werden können: poésie phonique : poème composé directement sur bande magnétique, le mot et les phrases étant pris comme objets et centres d’énergie auditive ; poésie phonétique : fondée sur les phonèmes, corps sonores du langage et d’une façon générale sur tous les sons émis par les organes vocaux de l’homme, travaillés au magnétophone et tendant à la création d’un espace sonore.1024

An anderer Stelle hat Pierre Garnier diese beiden ,Spielarten‘ der Lautpoesie analog wie folgt definiert: poésie phonique  : composition directe sur bande magnétique donc objectivation par l’intermédiaire de la technique. poésie phonétique fondée sur les phonèmes, corps sonores du langage et d’une façon générale sur tous les sons émis par les organes vocaux de l’homme et travaillés au magnétophone.1025

Sowohl die poésie phonique, deren Material das Wort ist, als auch die poésie phonétique, deren Material einzelne Phoneme und prinzipiell alle Geräusche sind, die die menschlichen Stimmorgane hervorbringen können, entsprechen somit weitgehend der Art von Dichtung, die Chopin mit dem Terminus poésie sonore oder poésie électronique bezeichnet hat. Auch Chopin hat seine Lautdichtung größtenteils mittels Tonbandgerät aufgezeichnet. Wie Marshall McLuhan hat auch Pierre Garnier dabei die These vertreten, dass der Einsatz eines solchen technischen Mediums prinzipiell immer andere Ausdrucksmöglichkeiten einschließt als die Realisierung eines Gedichtes in einem anderen Medium: „le moyen technique employé détermine, au moins autant que l’auteur, la forme d’une poésie. L’emploi du magnétophone transforme radicalement la forme de la poésie, donc son contenu.“1026 Im Gegensatz zu Chopin hat Pierre Garnier – ebenso wie seine Frau Ilse Garnier – jedoch davor gewarnt, das Tonbandgerät exzessiv zu verwenden, und zwar deshalb, weil sonst der Status als Lautdichtung gefährdet sei. In dieser müsse nämlich prinzipiell der Vorgang des menschlichen Sprechens erkennbar bleiben: Le magnétophone, dont les possibilités techniques permettent la création du poème phonétique, doit être utilisé avec prudence ; en effet, un danger menace l’auteur : rendre la languematière méconnaissable, soit par un travail de superpositions nombreuses et donc de détério-

1024 Garnier (1968), S. 139. Hervorhebungen von mir, B.N. 1025 Garnier (1968), S. 46. Hervorhebungen von mir, B.N. 1026 Vgl. Garnier (1968), S. 135.



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ration, soit par une variation des vitesses qui métamorphose la langue en une suite de bruits et de sons qui, même s’ils sont inouïs encore, n’ont plus rien de commun avec le parler.1027

Liegt ein poème phonique in Form einer Notation vor, so ist es laut Pierre Garnier die Aufgabe des Rezipienten, Sorge für die akustische Realisation zu tragen: „C’est au ‘lecteur’ de la [scil. la poésie phonique; B.N.] réciter à un auditoire ou de l’enregistrer sur son magnétophone.“1028 Die unmittelbare Aufnahme auf das Tonbandgerät hat Pierre Garnier mit dem Vorgang verglichen, wenn ein Maler direkt auf eine Leinwand zeichnet.1029 Wie auch Bob Cobbing, der dies explizit geäußert hat,1030 vertrat Pierre Garnier in Spatialisme et poésie concrète hinsichtlich des Tonbandgerätes die These, dass dieses der menschlichen Stimme ganz neue, bisher ungeahnte Möglichkeiten eröffnen könne oder – mit anderen Worten –: Der Mensch bedürfe der Technik, um das ganze Potenzial seiner Stimme ausschöpfen zu können: „Les différentes poésies magnétophoniques réveillent et suscitent les possibilités qui sommeillaient dans la gorge humaine, le mot apparaît alors comme un élément stable sur une lave en fusion, l’homme retrouve une totalité qui lui échappait.“1031 In diesem Zitat sind diese neuen Möglichkeiten auf verbal-akustisches Material beschränkt. In den oben genannten Definitionen der beiden Ausprägungen der Lautdichtung ist das einzusetzende Zeichenmaterial im Rahmen der poésie phonétique um asemantische Geräusche der menschlichen Stimmorgane ergänzt. Der Leser spatialistischer Gedichte muss prinzipiell immer eine aktive Haltung einnehmen, eine besonders große Mitwirkung des Rezipienten erfordert jedoch Garniers Konzeption zufolge die poésie phonique, deren akustische Realisation in den Händen des Rezipienten liegt, falls das entsprechende Lautgedicht ausschließlich in Form einer verschrifteten Notation vorliegt.1032 Komplementär zu den beiden Formen der Lautdichtung, der poésie phonique und der poésie phonétique, hat Pierre Garnier das lautpoetische Konzept der sonie entwickelt. Definiert hat er diese als „une œuvre faite avec les sons émis par l’homme, souffles compris […] et travaillée sur bande magnétique“1033. Das primäre Material der sonie ist der menschliche Atem. Aus diesem Grund hat Pierre Garnier ein Manifest mit entsprechendem Titel publiziert: Souffle Manifeste (1963). Die wichtigsten Gedanken dieses Manifestes finden wir in den im Folgenden zitierten Paragraphen fünf und neun: J’appelle poésie la connaissance du souffle car c’est l’épuisement de l’univers pour l’univers. […]

1027 Garnier, I. (1963), S. 54. 1028 Garnier (2008), I: S. 85. 1029 Vgl. Chopin (1979), S. 153. 1030 Vgl. S. 300 dieser Arbeit. 1031 Garnier (1968), S. 44. Vgl. auch Ilse Garnier, in ib., S. 69: „Le magnétophone rend possible ce qui était impossible hier : mettre en valeur et exploiter toutes les ressources des langages.“ 1032 Vgl. Garnier (1968), S. 137. 1033 Garnier, P. (1963b), S. 36.

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J’ai débarrassé la poésie des phrases, des mots, des articulations. Je l’ai agrandie jusqu’au souffle. A partir de ce souffle je puis réinventer une langue, des sons vont naître, des articulations, des mots, des ensembles nouveaux qui ne seront plus des phrases fondées sur la trinité indoeuropéenne : sujet-verbe-complément […].1034

Die sonie ist also so konzipiert, dass sie eine Alternativsprache zu den bestehenden Nationalsprachen bereitstellt. Diese kann selbstverständlich dem Anspruch auf Universalität und supranationale Verständlichkeit genügen, den ein Großteil der Dichtung nach 1945 für sich erhoben hat. 3.3.4 Henri Chopins Konzeption der poésie sonore Für eine vollkommen andere Konzeption von Lautdichtung als diejenige, die Isou und Lemaître vertreten haben, dafür aber für eine, die derjenigen Dufrênes hinsichtlich des innovativen Einsatzes von akustischen/elektroakustischen Medien und der Auffassung des Menschen als Geräuschquelle ähnelt, steht der Name Henri Chopin. Chopin ist vor allem in dreierlei Hinsicht eine wichtige Figur in der Geschichte der internationalen (primär elektronischen) Lautpoesie: Erstens hat er die Zeitschrift OU herausgegeben, die erste ihrer Art, die in ihrem Lieferumfang nämlich auch Aufnahmen lautpoetischer Produktionen auf Schallplatte enthielt.1035 Chopin hat damit maßgeblichen Anteil an der Verbreitung der internationalen Lautdichtung gehabt. Zweitens hat Chopin mit Poésie sonore internationale (1979)1036 erstmals die Lautpoesie als internationales Phänomen erfasst und kommentiert. Dieses Verdienst kann Chopin nicht abgesprochen werden, auch wenn seine Anthologie zahlreiche kritische Reaktionen ausgelöst hat.1037 Unter anderem wurde ihm vorgeworfen, seine Darstellung folge ausschließlich subjektiven Auswahlkriterien. Und drittens war Chopin einer der ersten Lautpoeten, die sich der modernen Technik bedient haben, um ihre Lautgedichte zu produzieren. Dass dies Anfang der 1950er Jahre und somit zu einer Zeit geschehen ist, als sich Analoges in der Musik vollzogen hat, macht einmal mehr die enge Verwandtschaft beider künstlerischer Formen menschlicher Ausdrucksmöglichkeiten deutlich: „Chopin et ses collègues conduisaient la poésie à une nouvelle ère électronique, un groupe de Parisiens, autour de Pierre Schaeffer à la R.T.F., réalisait la même chose pour la musique. La coïncidence est importante.“1038 Chopin hat für seine lautpoetischen Produktionen bevorzugt die Bezeichnung poésie sonore1039 verwendet. Diese ist zunächst und vor allem dadurch charakterisiert, dass sie akustischer oder elektroakustischer Medien, und zwar sowohl zur Produktion als auch 1034 Garnier, P. (1963b), S. 38. 1035 Vgl. Chopin (1993a), S. 57. 1036 Zu Poésie sonore internationale gehörten zwei Audiocassetten mit lautpoetischen Werken von u.a. Dufrêne, Giorno, Heidsieck, Jandl, Lora-Totino, Mon, Rühm, Seuphor, de Vree, Wendt und Chopin selbst. 1037 Vgl. Lentz (2000), I: S. 548ff. 1038 Chopin (1979), S. 123. 1039 Chopin hat für seine Lautgedichte auch den Begriff audio-poèmes verwendet.



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zur Rezeption, bedarf. Haben sich die Lettristen im Bereich der Lautdichtung auf den menschlichen Körper und seine Möglichkeiten der akustischen Artikulation beschränkt, so hat Chopin seit Anfang der 1950er Jahre das Tonbandgerät ästhetisch funktionalisiert und seiner Lautdichtung durch dieses neue Ausdrucksdimensionen erschlossen, aber nicht nur ihr, sondern zugleich der menschlichen Stimme, dem primären Medium seiner damaligen lautpoetischen Produktionen: Dans les audio-poèmes d’Henri Chopin, les langages transformés par le magnétophone, par les différentes vitesses, travaillés, mécanisés, structurés, s’organisent en vastes ensembles divers et riches qui sont finalement des structures, des énergies presques pures.1040

In der Person Henri Chopins herrscht eine Personalunion von Dichtung und Musik vor, denn – wenn auch nur zeitweise – übte er zugleich den Beruf des Dichters und des Sängers aus.1041 Sicher auch vor diesem biographischen Hintergrund ist die enge Verbindung zu sehen, die Chopin zwischen Musik und Dichtung unterstellt hat: „For me it is absolutely natural to find the music together with the poetry.“1042 Um seine eigene Lautdichtung von anderen Dichtungen, die ebenfalls unter diesem Begriff subsumiert wurden, obgleich sie von der Lautdichtung im Sinne Chopins kategorial zu trennen gewesen wären, abzugrenzen, hat er eine eindeutige definitorische Unterscheidung zwischen seiner poésie sonore und der poésie phonétique (z.B. der Lettristen) vorgenommen: Cette confrontation du poème phonétique et du poème sonore nous engage à préciser : Oral (du lat. os, oris, bouche). Transmis de bouche en bouche. Tradition orale : fait de vive voix  : déposition orale. (Nous connaîtrons ce phénomène au travers de John Giorno, PaulArmand Gette, Michèle Métail, etc.). Phonétique (gardons ce titre au sens restreint des poètes dadaïstes et lettristes) : Phonétique articulatoire (en contraste) : partie de la phonétique qui a pour objet d’analyser les sons réalisés au moyen de la parole et de reconnaître le mode de production de ces sons. Sonore (nous avons pris ce mot, au sens où nous nous sommes ‘multipliés’ avec nos moyens techniques). En phonétique : se dit de tout phénomène par l’articulation duquel les cordes vocales entrent en vibrations.1043

In seinem Open letter to aphonic musicians (1967) hat Chopin zusätzlich das hervorstechendste Merkmal der poésie sonore, das sie nach seiner Definition stark von der poésie phonétique unterscheidet, benannt: Die poésie sonore benötige das Tonbandgerät: This sound poetry finds its sources of language and, by the use of electro-magnetics, owes almost nothing to any aesthetic or historical system of poetry. 1040 Garnier (1968), S. 50. Vgl. auch ib., S. 82: „Henri Chopin, lui, parvient à exprimer l’essence même de la langue et à en ‘extraire’ les structures sonores jusqu’alors inouïes.“ 1041 Zu Chopins musikalischen Ambitionen vgl. Wendt (1993), S. 77. 1042 Henri Chopin, zitiert nach Wendt (1993), S. 68. 1043 Chopin (1979), S. 43f. Hervorhebungen vom Autor.

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It is made by the sound of the voice and recovers orality which, with the use of the taperecorder, is quite different from what we might imagine with the simple use of words alone, which means, without this machine, sound poetry as I publish it in OU would not exist, as no human diction, however clever or skillful, could produce it alone. Sound poetry is a new form of art, in which the linguistic resources are unfolded in all their richness with the aid of a single instrument – or a multi-instrument – the mouth, which is a discerning resonator, capable of offering us several sounds simultaneously as long as these sounds are not restricted by the letter, the phoneme, or by a precise or specific word.1044

Zumal Chopin die poésie sonore als eine Poesie konzipiert hat, die die Aufzeichnung mit dem Tonbandgerät voraussetzt, beschreibt die von ihm synonym verwendete Bezeichnung poésie électronique wesentlich besser das dominante Charakteristikum dieser Art von Lautdichtung. Das Merkmal, tape-poetry zu sein, unterscheidet Chopins entsprechende Dichtung prinzipiell von den Echtzeit-Lautgedichten (beispielsweise Isous oder Lemaîtres). Zusätzlich hat Chopin drei Ausprägungen der poésie sonore unterschieden, die entweder ausschließlich die Stimme oder aber auch technisch oder menschlich erzeugte Geräusche (Schlagen, Klopfen, Einführen des Mikrophons in die Speiseröhre1045 etc.) vorführen.1046 Im Falle der dritten Gruppe kommt vor allem mithilfe des menschlichen Körpers hervorgebrachten Geräuschen eine besondere Bedeutung zu: „le langage du corps de­ vient la principale matière de la construction poétique.“1047 Chopin hat den menschlichen Körper sogar primär als Fabrik („the immense complex factory of a body“1048), die dazu fähig sei, die unterschiedlichsten Geräusche zu erzeugen, interpretiert.1049 Viele Lautgedichte tragen daher entsprechende Titel, die den Rezipienten darauf vorbereiten, wo die eingesetzten ,Geräuschquellen‘ zu verorten sind: Le corps, Mes bronches, Le bruit du sang etc. Chopin ist einer der Lautdichter nach 1945, der den menschlichen Körper am radikalsten als akustischen Zeichenspender für seine lautpoetischen Produktionen genutzt hat, beispielsweise hat er Mikrophone in den Mund und Rachenraum eingeführt. Das Mikrophon hat er mehrfach als ein Mikroskop beschrieben, mit dem er die Geheimnisse des menschlichen Körpers erforschen wolle: weitere möglichkeiten erschliesst henri chopin durch die exzessive verwendung des mikrophons, mit dem er diverse verfremdungseffekte erzeugt, indem er es mit den lippen berührt, in den mund steckt, ja sogar verschluckt, um innengeräusche nach aussen zu projizieren. die 1044 Chopin (1993b), S. 58. 1045 Vgl. den Titel des am 11. Januar 2008 im Tagesspiegel erschienenen Artikels von Gregor Dotzauer: Henri Chopin – Kommunizierende Speiseröhren. Abrufbar unter: http://www.tagesspiegel.de/kultur/ kommunizierende-speiseroehren/1138268.html [zugegriffen am 01.08.2010]. 1046 Vgl. Lentz (2000), I: S. 161f. 1047 Chopin (1979), S. 123. 1048 Chopin (1968), S. 82. 1049 Vgl. Barras (1992b), S. 128: „On sait aujourd’hui que les tessitures vocales ne sont plus une histoire de la bouche seulement, qu’il y a l’œsophage, toute la respiration de cette rumeur qu’est le corps, une rumeur incessée, continue, et qu’on pourrait capter avec des micro-sondes à l’intérieur du corps – c’est une véritable usine toujours en activité.“



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denaturierung der menschlichen stimme durch den gebrauch technischer geräte […] wird auf solche weise sinnfällig thematisiert.1050

In dieser Hinsicht ähnelt ihm am ehesten noch Franz Mon, nach dessen Definition die Artikulation, der zentrale Begriff in Mons Lautpoesie-Konzeption, „lautphysiologisch die Ausgliederung der Sprachlaute durch die Organe zwischen Lippen und Kehlkopf, die zusammenfassend als Ansatzrohr bezeichnet werden [...]“1051, ist. Im lautpoetischen Gesamtwerk Chopins ist eine zunehmende Präferenz der dritten Gruppe auszumachen: Weisen seine frühen Lautgedichte noch ausschließlich linguistisches Zeichenmaterial auf, so bestehen spätere vor allem aus technisch manipulierten Geräuschen – vornehmlich mittels Mikrophon und Tonbandgerät. Im starken Kontrast zur ablehnenden Haltung der lettristischen Lautpoeten gegenüber technischen Innovationen hat Chopin diese – in der Tradition der Technikbegeisterung der italienischen Futuristen unter der Leitung Marinettis  – maßgeblich am Produktionsprozess seiner Lautgedichte beteiligt: „nous sommes, après tout, partie prenante d’une civilization technocratique, et nous devons l’utiliser.“1052 Der primäre Grund hierfür war die Höherschätzung der Tonbandaufnahme gegenüber der schriftlichen Fixierung lautpoetischer Werke: „Once I began recording my poetry, I found writing very inadequate. I wanted to modify the values of the word in order to enter the domain of the recording.“1053 Auch in seinem Short extract about my working method using my voice, without any words or letters; only my voice and of course my mouth are used (1994) hat Chopin seinen Verzicht auf eine schriftlich fixierte Vorlage für seine lautpoetischen Performances hervorgehoben: To make an example that I know well, since it is about my work, it is now thirty years that I do not write any scores before assembling an audio-poem. It is just by heart and using only my memory that I conceive the expressions of my body. Basically through my mouth with its breathing etc., which become my only solid score. There, I discover a world without limits, from prattles to phonic lacerations. All this happens on, and with the help of, a Revox tape machine, with the addition of sound effects like echoes, changes of speed, larsen effects, until the final editing through sound collages.1054

Chopins Enthusiasmus für tontechnische Möglichkeiten beschränkte sich dabei vor allem auf das Mikrophon und das Tonbandgerät, digitale Aufnahmetechniken hat er sich nicht angeeignet. Chopins lautpoetische Aufnahmen zeichnen sich dabei durch einen sehr individuellen und innovativen – oder unkonventionellen und exzessiven – Umgang mit dem Tonbandgerät aus. Larry Wendt hat diesen einmal wie folgt beschrieben: 1050 Rühm (2001), S. 235. 1051 Mon (1994), S. 246. 1052 Chopin (1979), S. 123. An anderer Stelle (S. 41) hat Chopin den phonetischen Dichtern ihren bewussten Verzicht auf das Tonbandgerät als anachronistisches Fehlverhalten vorgeworfen: „Pour nous [scil. les poètes sonores; B.N.], tous les poètes phonétiques […] sont comparables à des acteurs du cinéma muet, ces grands acteurs n’ayant su ou pu s’adapter au cinéma parlant.“ 1053 Interview mit Henri Chopin, zitiert nach Lentz (2000), I: S. 551. 1054 Chopin (1994) [Internet].

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Chopin […] stuck matchsticks in the erase heads of his old worn out second-hand tape recorder, poked his fingers in and out of the tape path, and otherwise molested the machine to produce his multilayered poésie sonore pieces. Rather than studying the methods de­veloped on professional machines he found unique solutions to compositional problems on very bas­ic equipment. […] Through his bricolage methods he duplicated several techniques which had previously been done on more expensive equipment. When his old tape recorder was no longer functional, it took him some time before he could get the sounds he wanted from his brand new replacement.1055

Schon früh hat Chopin sich die Technik der Superposition angeeignet, d.h., er hat verschiedene Töne und Klänge im Rahmen seiner Aufnahmen überlagert. Das Ergebnis war „le fait simultané des événements“1056, und zwar von akustischen Ereignissen. Die Superposition von akustischem Material stellt gewissermaßen ein Pendant zu allen visuellen Gedichten dar, die sich dem Rezipienten ebenfalls als ein simultan wahrzunehmender Text präsentieren und daher nicht linear, sondern als Gesamteindruck rezipiert werden müssen: „On se laisse ‘impressionner’ par la figure générale du poème […].“1057 3.3.5 Bernard Heidsiecks poésie action Auf dem weiten Feld der Lautdichtung nach 1945 wird der Name Bernard Heidsick vor allem mit dem Begriff poésie action in Verbindung gebracht. Diesen hat er Mitte der 1950er Jahre für seine Lautdichtung eingeführt. In diesem Begriff manifestiert sich Heidsiecks Überzeugung, dass Lautdichtung mit dem Akt der poetischen Aufführung untrennbar verbunden sei, ja diesem sogar der Primat vor der Notation zugesprochen werden müsse: „La part de l’action […] devient alors prépondérante. Loin d’être un simple ornement, une simple mise en valeur de la lecture, elle est un des éléments constitutifs du poème.“1058 Dies schließt keineswegs aus, dass auch Heidsieck Lautpoesie zunächst als tape-Genre aufgefasst hat. Die Live-Performance ergänzt die mit einer Tonband-Aufnahme fixierten Lautgedichte vielmehr auf unterschiedlichste Weise: La relation de ma lecture publique avec celle préexistante sur la bande et qui est retransmise par les enceintes, varie, elle aussi, d’un texte à l’autre. Il peut y avoir dialogue, rixe, simple superposition, affrontements, complémentarité, antagonismes, partage ou simple visualisation : en tout état de cause, échange ou corps-à-corps.1059

Im Falle von Heidsiecks poésie action sind daher drei Phasen zu unterscheiden: erstens die fixierende Notation, zweitens die Aufnahme und drittens die Performance. Das Durchlaufen dieser drei Phasen kann einige Zeit in Anspruch nehmen, wie Heidsiecks willkür1055 Wendt (1985), S. 16f. 1056 Chopin (1979), S. 123. 1057 Garnier (1968), S. 136. 1058 Frontier (1992), S. 347. Hervorhebung vom Autor. 1059 Heidsieck, zitiert nach Donguy (1985), S. 77.



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lich herausgegriffene Gedichtsammlung Derviche Le Robert (begonnen 1978, beendet 1985) belegt. Es sei nochmals explizit darauf hingewiesen, dass Heidsieck – im Gegensatz zu beispielsweise Isou – offen für Innovationen auf dem Gebiet der Tontechnik war, und zwar deshalb, weil er sich der prinzipiellen Möglichkeiten dieser für das primäre Medium der Lautdichtung, die menschliche Stimme, bewusst war: „the quest […] is to find out what unknown aspects of the voice can be captured by electro-acoustics […].“1060 Denn, auch wenn Heidsieck Umweltgeräusche (v.a. aus einem städtischen Umfeld) in seine Lautgedichte hat einfließen lassen, so bildet die wichtigste ,Geräuschquelle‘ doch die menschliche Stimme bzw. ganz konkret seine eigene Stimme, die sich bis heute primär dadurch auszeichnet, ganz unterschiedliche Klangfarben1061 annehmen zu können. Im Gegensatz zu Henri Chopin, der – wie gezeigt – konzeptionell eine Identifikation der poésie sonore und der poésie électronique vorgenommen hat, die darauf zurückzuführen ist, dass die entsprechenden Lautgedichte prinzipiell mit dem Tonbandgerät aufgezeichnet wurden, führte Heidsieck das Konzept der poésie action, d.h. einer Lautdichtung, die in Echtzeit präsentiert wird, ein. Existierte bei ihm eine visuelle Notation, dann nimmt diese – nach der Klassifikation von Lentz – den Charakter einer „Animationsnotation“1062 an. In diesem Fall ist die akustische Realisation der schriftlichen Fixierung tatsächlich vor- bzw. übergeordnet. Heidsieck hat dies wiederholt explizit geäußert: La page, lorsqu’elle subsiste, n’est alors que simple partition, élément de référence, ou tremplin, mais elle peut même, à la limite, bien entendue, disparaître. La poésie sonore, dite ou enregistrée, permet ainsi, retrouve les pouvoirs de la spontanéité et de l’improvisation, capte à nouveau le bénéfice du hasard.1063

Das Zitat enthält nicht nur eine Bewertung der schriftlichen Notation von Lautgedichten, sondern auch eine Aussage über die Terminologie im Bereich der Lautdichtung: Der Begriff poésie sonore bezeichnet nach Heidsieck sowohl das Echtzeit-Genre als auch das Tonband-Genre. Im Unterschied hierzu hat Chopin diesen Begriff ausschließlich Tonband-Gedichten vorbehalten. Heidsiecks Begriff ist daher erheblich weiter gefasst. Heidsieck hat dem Text in Animationsnotationen eine eindeutige Funktion zugeordnet: „le texte écrit est une simple partition qui demande à être jouée.“1064 Den Primat erlangt somit die akustische Realisation und damit zugleich – nach Heidsiecks Verständnis – die poetische Aktion. Heidsieck hat Anfang der 1960er Jahre einen weiteren Begriff geprägt, nämlich denjenigen des poème-partition. Auf ähnliche Weise, wie dies in der von Kostelanetz geprägten Bezeichnung für Lautdichtung, nämlich im Begriff text-sound, der Fall ist, betont dieser die intermediale Verknüpfung von Dichtung und Musik im Medium der Lautdichtung. Wie der aus dem Bereich der Musik entliehene Begriff der Partitur nicht anders erwarten 1060 Wendt (1985), S. 13. 1061 Vgl. Chopin (1979), S. 103. 1062 Lentz (2000), II: S. 837. 1063 Heidsieck (1978), o. S. 1064 Frontier (1992), S. 346. Hervorhebung vom Autor. Vgl. Wendt (1985), S. 13: „For […] Bernard Heidsieck the text is a reference point or ‘a jumping-off ’ ground […].“

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lässt, enthalten auch die Notationen der poèmes-partitions – nach dem Modell musikalischer Partituren – präzise Anweisungen für den (in diesem Fall mündlichen) Vortrag: „Poèmes-partitions, où, par la mise en page, étaient indiqués les intensités, les tempos, alors qu’il commençait à s’habituer à lire en public.“1065 In konzeptioneller Hinsicht unterscheidet sich Heidsieck dadurch vom Großteil der Lautpoeten nach 1945 (z.B. auch Henri Chopin), dass er anders als diese, die ihre Lautdichtung als eine Möglichkeit der Internationalisierung von Dichtung begriffen und dementsprechend konzipiert haben, seine lautpoetische poésie action von Anfang an als einen Versuch verstanden hat, die französische Sprache zu bereichern, und zwar auf unterschiedlichste Weise: „Le ‘processus de déconstruction’, mais aussi de (re)construction vient, d’après Heidsieck, enrichir le français.“1066 Seine Lautpoesie weist daher einen stark nationalen Charakter auf. Heidsiecks Lautgedichte bestehen fast ausschließlich aus Material, das dem französischen Zeichenbestand entnommen ist. Die meisten anderen Lautpoeten nach 1945 haben einen solchen nationalen Charakter strikt abgelehnt und ihre Produktionen dementsprechend dem Ziel einer Universalsprache angenähert. Insofern muss Heidsiecks lautpoetische Praxis in dieser Hinsicht als anachronistisch gelten. 3.3.6 Die concrete sound poetry Bob Cobbings Bob Cobbing war einer der ersten Pioniere der englischen Lautpoesie oder sound poetry nach 1945.1067 Seine Konzeption ähnelt insofern derjenigen Henri Chopins, als auch seine lautpoetischen akustischen Realisationen sich durch einen hochgradig innovativen Umgang mit Aufnahmegeräten auszeichnen. Vor allem die Möglichkeiten des Tonbandgerätes hat Cobbing auf unterschiedlichste Weise genutzt, u.a. Verzerrungen, Superpositionen, Rückkopplungseffekte. Auch bei ihm bildeten die Aspekte des Experimentierens und der Exploration neuer akustischer und elektroakustischer Möglichkeiten einen wesentlichen Bestandteil der poetologischen Voraussetzungen dieser Art von Dichtung: „Ours is a machine civilization  – poetry and the machine must somehow meet, the machine must be pressed into the service of man’s need for structuring and expressing experience.“1068 Cobbings Lautpoesie unterscheidet sich insofern von den bisher erläuterten Konzeptionen, als er das Publikum in seine lautpoetischen Werke einbezogen hat. Wie Bernard Heidsieck hat er die Lautpoesie als eine Form von poésie action aufgefasst, im Gegensatz zu Heidsieck hat er die daraus abgeleitete aktive Rolle jedoch nicht ausschließlich dem Dichter zugeschrieben. Dies führte zu einem neuen Poesiekonzept, in dem das Publikum eine dem Dichter annähernd vergleichbare Rolle einnimmt. Wie schon der von Cobbing zur Bezeichnung seiner lautpoetischen Werke gewählte Begriff, nämlich concrete sound poetry, belegt, hat er seine Lautdichtung als eine Form 1065 Donguy (1985), S. 79. 1066 Chopin (1979), S. 103. 1067 Wie u.a. Lentz zu Recht festgestellt hat, wurde in England – v.a. im Vergleich mit Frankreich, Deutschland und Österreich – im 20. Jahrhundert erst relativ spät Lautpoesie produziert. Vgl. Lentz (2000), II: S. 627ff. 1068 Prawer (1969), S. 70f.



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der Konkreten Poesie betrachtet. Damit hat er sich explizit gegen die weit verbreitete Ansicht gerichtet, Konkrete Poesie sei ausschließlich im Bereich der visuellen Dichtung anzusiedeln. Im Unterschied hierzu hat Cobbing eine Konzeption der Konkreten Poesie vertreten, die der in dieser Studie zugrunde gelegten entspricht und eben nicht auf den visuellen Bereich beschränkt ist. Was Cobbings Notationspraxis angeht, so ist zunächst festzustellen, dass er die schriftliche Fixierung seiner Lautgedichte als Animationsnotationen oder als „Song Signals“1069 verstanden hat. In einem Selbstkommentar zu den Gedichten seiner Sammlung Three Poems for Voice and Movement (1974) heißt es dementsprechend: They were the first of my poems in which the notation was directly conceived as a signal to the body as well as to the voice. The poems have been danced from the score as well as being performed by a choir of voices, or by a single voice and instruments (flute, percussion, etc.).1070

Auch Cobbings Lautpoesie war also nicht ausschließlich für die menschliche Stimme konzipiert, sondern teilweise auch für eine Instrumentalbegleitung. Eine konzeptionelle Besonderheit von Cobbings lautpoetischen Partituren besteht darin, dass er skripturale Zeichen teilweise durch Lippen- oder Fingerabdrücke ersetzt hat. Diese Spuren des menschlichen Körpers erfüllen dabei insofern die Funktion eines Substituts, als Cobbing sie so eingesetzt hat, dass der Eindruck eines Schreibgestus entsteht, wie dies beispielsweise im folgenden lip-print1071 aus Cobbings Sammlung The Five Vowels (1974) der Fall ist:

Abb. 123  Bob Cobbing, details from U (1974)

1069 Lentz (2000), II: S. 877. 1070 Cobbing (1974), S. 33. 1071 Cobbing, zitiert nach Lentz (2000), II: S. 882.

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Skriptural-akustische Intermedialität

Dieses Gedicht ist dem Buchstaben U gewidmet, der durch die Form von Lippen nachgebildet ist. Zugleich beinhalten die Abdrücke von Lippen, die ja am Prozess der menschlichen Sprach- oder Lauterzeugung maßgeblich beteiligt sind, einen Hinweis auf die auditive Seite von gedruckten Buchstaben und somit Schrift: „This text is built up from the imprint of lips on a page, the physical impressions of the sound being made.“1072 Obgleich Cobbings lautpoetische Notationen Ähnlichkeiten mit musikalischen Partituren aufweisen, unterscheiden sie sich doch prinzipiell zunächst dadurch von diesen, dass sie keine musikalischen Parameter wie Tempo, Klangfarbe, Tonhöhe, Lautstärke etc. enthalten. 3.3.7 Gerhard Rühms auditive poesie Zunächst verkörpert auch Rühm in seiner Funktion als ausgebildeter Konzertpianist, Komponist und Dichter die Personalunion von Dichtung und Musik, die bevorzugt im intermedialen Bereich der Lautpoesie ihren künstlerischen Ausdruck findet. Im Vergleich mit den bisher erläuterten Konzeptionen hat Gerhard Rühm den Begriff ,Lautdichtung‘ sehr eng gefasst, zumindest in der reinsten Form dieses Begriffes: was ich unter reiner lautdichtung verstehe, könnte ein vergleich von gegenständlicher mit ungegenständlicher kunst veranschaulichen. lautdichtung entspricht etwa dem, was man als ungegenständliche kunst bezeichnet, weil sie auf begriffe generell verzichtet.1073

Rühm zufolge verwendet die Lautdichtung ausschließlich Klänge und Töne, die unterhalb der Wortebene anzusiedeln sind. Das Material ,Wort‘ wollte der Dichter in seine kleinsten Bestandteile zerlegt wissen: „man sollte [...] in der lautdichtung nicht mehr mit pseudowörtern oder silben arbeiten, sondern vom einzellaut als letzter elementarer einheit ausgehen.“1074 Lautdichtung unterscheide sich in dieser Hinsicht stark von Klangdichtung, die auch mit Wörtern arbeiten könne. Außerdem sah Rühm Lautdichtung auf das von der menschlichen Stimme erzeugbare Klangmaterial beschränkt. Nicht durch den menschlichen Körper erzeugte Töne und Geräusche waren so von vornherein ausgeschlossen. Wie die bereits vorgestellten und kommentierten Lautpoeten hat auch Gerhard Rühm im großen und unbestimmten Bereich der Lautdichtung eine eigene Begrifflichkeit geprägt. Für ihn stellte die Lautdichtung eine mögliche Ausprägung der auditiven poesie neben anderen dar: ich unterscheide zwischen tonbandtexten und sprechtexten für eine oder mehrere personen, die man auch als konzertante texte bezeichnen könnte. dazu gibt es noch eine dritte gruppe, die gleichsam einen übergang zum musikalischen bereich darstellt. zu nennen wären da bei-

1072 Sheppard (2005), S. 222. 1073 Interview mit Gerhard Rühm vom 1. Mai 1995. Abgedruckt in Lentz (2000), II: S. 1126. 1074 Interview mit Gerhard Rühm vom 1. Mai 1995. Abgedruckt in Lentz (2000), II: S. 1127.



Individuelle Lautpoesie-Konzeptionen

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spielsweise meine vokalstücke foetus und the gentleness of rain was in the wind […], die man ebenso gut als lautdichtung wie als musik auffassen kann.1075

Rühms Konzeption der auditiven poesie beinhaltet also sowohl Echtzeitgedichte, nämlich Sprechtexte, die für den Vortrag vor einem Publikum bestimmt sind, als auch Studiogedichte, und zwar Tonbandtexte,1076 die dies eben gerade nicht sind. In On Auditive Poetry (1977) hat Rühm explizit auf die Analogie bezüglich der Gattungsbezeichnungen ,auditive‘ und ,visuelle‘ Poesie hingewiesen und einen elaborierten Entwurf der auditiven poesie geliefert: With the term ‘auditive poetry’ – by analogous with ‘visual poetry’ – I am attempting to define as an overall collective concept all those poetic products in which the sound of language and its articulation are conscious elements in the composition, constituent components of the text. [...] For ‘auditive poetry’ in the narrower sense [...] we [...] need a further criterion to justify the introduction of this term as a new poetic genre. It is my contention that an auditive text has to communicate information beyond its integral language sound which can only be received by the acoustic realization of the text, which is not to go as far as talking of a musical score. [...] Pure sound poetry, the type of poetry that uses vocal expression not in the limited and – when they are not onomatopoetic – arbitrary combinations in which it denotes concepts, emanates primarily from this movement of expression in language. Sound poetry meanwhile forms its own autonomous sphere within ‘auditive poetry’; it could be said to be ‘auditive poetry’ in its purest form.1077

Dieses Zitat macht einmal mehr deutlich, wie individuell die inhaltliche Füllung des Begriffes ,Lautdichtung‘ sich gestalten kann: In dem Sinne, in dem Rühm hier nämlich den Begriff auditive poesie verwendet hat, und zwar als Art von Dichtung, in der der klanglichen Seite von Sprache oder – genauer gefasst – von menschlicher Artikulation eine sinnkonstituierende Funktion zukommt, wird in der vorliegenden Untersuchung als Sammelbegriff der Terminus ,Lautdichtung‘ eingesetzt. Hinsichtlich der Funktion seiner Notationen von Lautgedichten hat Rühm klare Vorstellungen vertreten: „die schriflichen notate waren für mich nur anhaltspunkte zum vortrag […].“1078 Die schriftliche Fixierung erfüllte im Vergleich mit der akustischen Realisation also nur eine untergeordnete Hilfsfunktion. Es bleibt abschließend noch zu erwähnen, dass Rühm in seinen „Animationsnotation[en]“1079 eine konventionelle Buchstabenverschriftung gewählt hat. Dabei existieren von ihm auch handschriftlich fixierte Lautgedichtnotationen, wie das folgende Beispiel1080 belegt: 1075 Interview mit Gerhard Rühm vom 1. Mai 1995. Abgedruckt in Lentz (2000), II: S. 1121. 1076 Schon bevor es möglich war, Lautgedichte mit dem Tonbandgerät aufzuzeichnen, hat Rühm Aufnahmen seiner akustischen Gedichte produziert, und zwar mit dem Drahtmagnetophon. 1077 Rühm (1993a), S. 73. 1078 Interview mit Gerhard Rühm vom 1. Mai 1995. Abgedruckt in Lentz (2000), II: S. 1128. 1079 Lentz (2000), II: S. 837. 1080 Rühm (1992), S. 116.

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Skriptural-akustische Intermedialität

Abb. 124  Gerhard Rühm, leselied (1986)

Diese lautpoetische Partitur belegt einmal mehr die charakteristische Nähe zwischen Musik und Poesie im Bereich der Lautdichtung. Hier manifestiert sich diese zunächst und vor allem in der materialen Präsentationsform, denn wie u.a. auch Lemaître hat Rühm konventionelles Notenpapier mit den charakteristischen fünf Notenlinien als Schreibuntergrund gewählt. Schon hieraus lässt sich die Bezeichnung leselied legitimieren: „poesie und musik (wenn hier auch nur als musikalische notation) durchdringen einander aufs engste und bilden eine ,höhere‘ einheit.“1081 Unter diesen Umständen ist es wenig verwunderlich, dass Rühm das vorliegende Gedicht der Reihe textlieder zu seiner „visuellen musik“1082 gezählt hat. Die Zuordnung eines konkreten Lautgedichtes zu Musik oder Dichtung unterliegt ja immer mehr oder weniger ausschließlich der Entscheidung des jeweiligen Dichters. 1081 Rühm (1992), S. 123. 1082 Rühm (1992), S. 111.

Notierte Lautpoesie



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3.4 Notierte Lautpoesie 3.4.1 Handschriftlich notierte Lautpoesie Wie im Bereich der skriptural-visuellen Poesie nach 1945 existieren auch im Rahmen der Lautpoesie Gedichte, die handschriftlich fixiert sind. Auf die Gründe für eine solche Wahl, die zunächst im Widerspruch zu den Grundsätzen der Dichtung nach 1945 (vor allem der Konkreten Poesie) zu stehen scheint, wurde im Kontext der handschriftlichen Gedichte im Kapitel zur skriptural-visuellen poetischen Intermedialität hingewiesen. Darum kann auf eine erneute Erörterung der retrograden „Resurrektion der Handschrift im ‚Zeitalter der technischen (Re-)-Produzierbarkeit von Kunst‘“1083 an dieser Stelle verzichtet werden. Zumal die Lettristen, wie bereits erläutert, nicht die Technikbegeisterung anderer zeitgleicher (Laut-)Dichter geteilt haben, haben sie es nicht nur unterlassen, ihre lautpoetischen Werke mit akustischen oder elektroakustischen Geräten aufzuzeichnen, sondern sie haben auch handschriftliche Notationen erzeugt. Im Folgenden werden darum zunächst lautpoetische Texte von Isidore Isou und Maurice Lemaître in den Blick genommen. Das erste Beispielgedicht1084 stammt von Isou:

Abb. 125–126  Isidore Isou, Swing (1947)

1083 Lentz (2000), I: S. 447. 1084 Isou (1947), S. 352f.

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Skriptural-akustische Intermedialität

Hier ist der intermediale Status insofern deutlich hervorgehoben, als der Titelbegriff aus dem Bereich der Musik stammt: Swing. Dieser Terminus bezeichnet hier sowohl eine Musikrichtung, die sich Ende der 1920er Jahren aus dem Jazz entwickelt hat und die populärste seiner unterschiedlichen Stilausprägungen war, als auch einen fließenden Rhythmus, der ein Hauptelement des Jazz darstellt, und zuletzt auch einen Tanzstil, der zur entsprechenden Musikrichtung Swing getanzt wurde. Musikgeschichtlich ist der Swing vor allem aus zwei Gründen bedeutsam: Erstens zeugt er von den Bemühungen, dem Jazz zu größerer Popularität zu verhelfen, und zwar durch publikumswirksame Zugeständnisse. Die Absicht, diese Kunstform nicht nur an eine elitäre Gruppe, sondern an die breite Öffentlichkeit zu richten, ähnelt durchaus entsprechenden Bestrebungen im Bereich der Dichtung nach 1945, auf die in der vorliegenden Untersuchung bereits mehrfach hingewiesen wurde. Zweitens ist der Swing deshalb in musikgeschichtlicher Hinsicht bedeutsam, weil mit ihm die Entstehung der Big Band untrennbar verbunden ist. Isous Lautgedicht spiegelt diesen Umstand insofern wider, als es für zwei Bass-Stimmen, zwei Tenor-Stimmen und vier Sopran-Stimmen konzipiert ist. Die Anzahl der Stimmlagen entspricht dabei der gebräuchlichsten Anzahl an Sektionen in einer Big Band (rhythm-section, reed-section und brass-section). Der von Isou über den Notenlinien eingetragene 2/4-Takt zählt darüber hinaus zu den am häufigsten verwendeten Schemata im Swing. Das vorliegende Gedicht weist mehrere Buchstaben des nouvel alphabet lettrique auf, die die unterschiedlichsten Möglichkeiten des menschlichen Körpers zur Hervorbringung von Geräuschen benennen: Zungenschnalzen, Knattern, Pfeifen, Furzen, Niesen, Ein- und Ausatmen, Schluckauf, Schnarchen, Ächzen, Röcheln, Hüsteln und Küssen. Beim nächsten Lautgedicht, I wonna go home, mister! (1955)1085 von Maurice Lemaître, haben wir es statt mit einem ,verbalen‘ Swing mit einem ,verbalen‘ Blues zu tun (Abb. 127–128). Es handelt sich hierbei erneut um ein (mehr oder weniger) musikalisch notiertes Lautgedicht, und zwar auf traditionellem Notenpapier. Lemaître hat sein Gedicht mit Blues pour solo, chœur et batterie überschrieben. Trotz der vom Dichter gewählten Bezeichnung als Blues weist das vorliegende Lautgedicht nicht das konventionelle Blues-Schema auf, denn es lässt sich kein Zwölftakt-Grundschema ausmachen. Im Standard-Blues (12Bar Blues) hingegen wird ein solches aus den Akkordfolgen der I. Stufe (Tonika), der IV. Stufe (Subdominante) und der V. Stufe (Dominante) gebildet: Auf vier Takte Tonika folgen zwei Takte Subdominante und Tonika, ein Takt Dominante, ein Takt Subdominante und schließlich zwei Takte Tonika. Insofern eine solche Abfolge in I wonna go home, mister! nicht besteht, kann hier nicht vom „Vorhaben eines Formtransfers“1086 gesprochen werden, die Struktur des traditionellen Blues wird im Medium dieses Lautgedichtes nicht „als musikalische ‚Hüllform‘ phonetisch umgesetzt [...]“1087. Vielmehr weckt der ,Untertitel‘ Erwartungen, die das Gedicht in struktureller Hinsicht nicht erfüllt. 1085 Lemaître (1955), o. S. Eine daktylographische Fassung des Gedichtes in Lemaître (1965), o. S. 1086 Lentz (2000), I: S. 485. 1087 Lentz (2000), I: S. 485.

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Abb. 127–128  Maurice Lemaître, I wonna go home, mister! (1955)

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Skriptural-akustische Intermedialität

Im vorliegenden Lautgedicht treffen zwei unterschiedliche Zeichensysteme aufeinander, nämlich ein skripturales und ein notationelles. Neben Buchstaben wird das Gedicht aus Viertel-, Achtel- und Sechzehntelnotenwerten und weiteren Zeichen aus der konventionellen Kompositionslehre (Akzentuierungen, Pausen etc.) gebildet. Das skripturale Material weist eine bedeutsame Zweiteilung auf, wobei wir es größtenteils nicht mit den Buchstaben des lateinischen Alphabets, sondern mit denjenigen des International Phonetic Alphabet (IPA)1088 zu tun haben. Ausschließlich die Anweisungen Lemaîtres für die akustische Realisierung – und somit gewissermaßen die Elemente des Paratextes – werden aus Buchstaben des lateinischen Alphabets gebildet. Ebenso wie der Titel erinnern auch die Zeichen des Internationalen Phonetischen Alphabets an den nordamerikanischen Ursprung des Blues in afroamerikanischen Kreisen am Ende des 19. bzw. zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Betrachten wir nun ein andersartiges Lautgedicht,1089 das ebenfalls von Maurice Lemaître stammt:

Abb. 129  Maurice Lemaître, Valse hypérgraphique (1965)

Die Valse hypérgraphique [sic; B.N.] unterscheidet sich insofern von den bisher analysierten Lautgedichten, als hier keine skripturalen Zeichen erscheinen, sondern  – wie gleich im Titel angekündigt (hypérgraphique) – ausschließlich pikturale Zeichen. Das lettristische Konzept der superécriture oder hypergraphie wurde bereits im Kapitel zur skriptographischen Dichtung erörtert.1090 Lemaîtres Wahl von rein pikturalem Zeichen-

1088 Über das International Phonetic Alphabet informiert die Website der International Phonetic Associa­ tion: http://www.langsci.ucl.ac.uk/ipa/diacritics.html [zugegriffen am 17.07.2010]. 1089 Lemaître (1965), o. S. 1090 Vgl. S. 51ff. dieser Arbeit.

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material hat dabei eine weitreichende Konsequenz: Die Valse hypérgraphique verweigert sich vollkommen einer akustischen Realisierung. Eine intermediale Verknüpfung mit dem musikalischen Bereich wird im vorliegenden Beispiel vor allem dadurch inszeniert, dass Lemaître die pikturalen Zeichen auf angedeuteten Notenlinien eingetragen hat. Außerdem dient der Titel als entsprechender Indikator: Dieser enthält neben dem den Text als lettristisches Werk ausgebenden Adjektiv (hypérgraphique) einen Terminus aus dem Bereich der Musik, der den Text einer genau definierten Gattung von Musikstück und entsprechendem Tanz (valse) zuordnet. Zumal hier das traditionelle Notensystem nur angedeutet ist, und zwar dadurch, dass sowohl die erste als auch die letzte der fünf Notenlinien und interne Taktstriche erscheinen, jedoch, wie bereits erläutert, keine skripturalen Zeichen verwendet wurden, ist hier sowohl der Bereich der Dichtung als auch derjenige der Musik nur in Form eines hinweisenden Gestus präsent. Die ausschließliche Verwendung pikturaler statt skripturaler Zeichen führt dazu, dass in diesem Lautgedicht zusätzlich zur genannten intermedialen Verknüpfung auch eine solche zwischen Schrift und Bild, der das erste Kapitel dieser Arbeit gewidmet ist, besteht. In diesem Kapitel zur skriptographischen Dichtung wurde auch das Konzept des erweiterten Textbegriffes eingehend erläutert, so dass an dieser Stelle nicht mehr diskutiert zu werden braucht, ob bzw. warum den eingesetzten pikturalen Zeichen der Status der Textlichkeit zuzusprechen sei. Dasselbe gilt auch für das nächste Beispiel,1091 das ebenfalls aus der Feder Maurice Lemaîtres stammt. In diesem erscheinen jedoch keine pikturalen Zeichen als Substitute für skripturales Zeichenmaterial, sondern Zeichen der von den Lettristen entwickelten écriture infinitésimale:

Abb. 130  Maurice Lemaître, Valse infinitésimale (1965)

1091 Lemaître (1965), o. S.

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Skriptural-akustische Intermedialität

Wie in der zuletzt analysierten valse konstituiert auch das vorliegende Lautgedicht ausschließlich asemantisches Zeichenmaterial. Es wird noch stärker als Walzer inszeniert als jenes, und zwar durch die Angabe des typischen Dreiviertel-Walzer-Taktes oberhalb der Notenlinien. Außerdem sind hier nicht nur die beiden äußeren, sondern alle fünf Linien des traditionellen Notensystems gezeichnet, so dass wir es nicht mehr bloß mit einer diesbezüglichen Andeutung zu tun haben. Des Weiteren wird der intermediale Zusammenhang mit der Musik durch die Verwendung von Pausenzeichen verstärkt und zuletzt auch dadurch, dass einige der eingesetzten Zeichen Ähnlichkeit mit den gebräuchlisten Notenschlüsseln, nämlich dem Violin- und dem Bass-Schlüssel, aufweisen. Das nächste Lautgedicht1092  – es stammt von Gerhard Rühm  – wurde bereits im Kapitel zu den notationstechnischen Möglichkeiten der Lautdichtung nach 1945 angeführt, und zwar als Beispiel für eine handschriftliche Notation.1093 Dieses Lautgedicht wurde von Rühm als leselied betitelt und damit zugleich explizit als intermediale Form zu erkennen gegeben. Auch Rühm hat als Schreibuntergrund nicht ,neutrales‘ Papier, sondern Notenpapier gewählt. Auf und teilweise über bzw. unter und zwischen den traditionellen fünf Notenlinien erscheinen skripturale Zeichen und unterschiedlich stark übereinander gezeichnete Striche, wodurch stärker oder schwächer geschwärzte Stellen auf dem Papier erzeugt werden. Das Gedicht besteht aus acht Notenzeilen, über die sich zwei syntaktische Einheiten ziehen. Diesen wird durch die ausschließliche Verwendung von Majuskeln besonderes Gewicht verliehen. Die erste syntaktische Einheit erstreckt sich über die ersten vier Zeilen („VERGISS MICH!“) und die zweite dementsprechend über die letzten vier („DEINE GEDANKEN HALTEN MICH WACH“). Beide stimmen daher hinsichtlich der Anzahl an ,betroffenen‘ Notenlinien überein. Ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden syntaktischen Einheiten besteht jedoch darin, dass die erste eine Notenzeile enthält, auf der keine skripturalen Zeichen, sondern nur schwarze Striche erscheinen. Diese Notenzeile könnte als eine visuelle Entsprechung des in der ersten Notenzeile thematisierten Vergessens gedeutet werden („VERGISS MICH!“). Der zweite Satz („DEINE GEDANKEN HALTEN MICH WACH“) bildet eine Art Erläuterung dieses Imperativs bzw. nennt eine Konsequenz des Nichtvergessens auf Seiten des apostrophierten Du, und zwar eine Konsequenz für das lyrische Ich. Außerdem unterscheiden sich beide syntaktischen Komplexe hinsichtlich des grammatikalischen Modus: Einer Aufforderung im ersten Teil steht eine Affirmation im zweiten Teil gegenüber. Während der Imperativ explizit durch ein Ausrufezeichen markiert ist, fehlt der Aussage ein entsprechendes Interpunktionszeichen. Statt eines Punktes folgen auf das letzte Wort Zeichen, die Noten anzudeuten scheinen. Auf diese Weise wird der im Titel implizierte intermediale Zusammenhang zwischen Literatur und Musik im vorliegenden Lautgedicht nochmals auf der Ebene der Visualität der Zeichen hervorgehoben. Als implizite Sprachreflexion kann in diesem Lautgedicht der Umstand gedeutet werden, dass der Übergang zwischen Nicht-Sprache (Noch-Nicht- oder Nicht-Mehr1092 Rühm (1992), S. 123. 1093 Vgl. hierzu S. 304 dieser Arbeit.



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Sprache) als ein fließender inszeniert ist. Besonders deutlich zeigt sich dies in der ersten, dritten und achten Notenzeile, in denen der erste Buchstabe des entsprechenden Wortes jeweils nahtlos aus den nicht-skripturalen asemantischen schwarzen Strichen hervorgeht. Wie das soeben analysierte Lautgedicht aus der Feder Gerhard Rühms wurde auch innerlich (1975)1094 von Ernst Jandl schon im Kapitel zu den Lautgedicht-Notationen angeführt.1095 Hier erfolgt nun seine weitere Kommentierung. Zunächst fällt auf, dass Jandl nicht das konventionelle Notensystem – bestehend aus fünf Notenlinien –, sondern sieben isolierte Linien als ,Schreibbasis‘ für sein Gedicht gewählt hat. Aus diesem Grund fällt die Assoziation mit einer musikalischen Partitur sehr viel schwächer aus als in anderen Beispielgedichten, die die konventionelle Anzahl an Notenlinien beinhalten. Wie viele andere Lautgedichte, die in dieser Arbeit interpretiert wurden, hätte auch das vorliegende Beispiel den optophonetischen Gedichten zugeordnet werden können. Primär sollte es im Rahmen dieses Kapitels jedoch unter dem Aspekt der Handschriftlichkeit analysiert werden. Optophonetisch ist das Gedicht deshalb, weil hier die visuelle Gestaltung die akustische Realisierung vorgibt. Besonders deutlich ist dies bei der zweiten und vierten Linie, auf der größere Spiralen – nach der Peirceschen Zeichentheorie fast schon auf ikonische Weise – für ein Aufblähen der Wangen stehen bzw. dafür, dass „Tempo und Heftigkeit“ zunehmen, wie es explizit in der Parenthese geschrieben steht. Wenn es um den Inhalt dieses Lautgedichtes geht, so bleibt zunächst festzuhalten, dass alle skripturalen Zeichen ausschließlich Anweisungen des Dichters darstellen, wobei diese – bis auf eine Ausnahme unter der zweiten Linie („ds., ohne Augen“) – jeweils in Klammern gesetzt sind (z.B. „Wangen blähen sich auf “). Der eigentliche Text des Gedichtes wird aus non-skripturalen Zeichen und Buchstaben gebildet, wobei Letztere in der Legende am oberen rechten Rand des Gedichtes erläutert werden. Damit ist klar, dass die non-skripturalen Zeichen oberhalb der Buchstaben keinen Selbstzweck darstellen, sondern für menschliche Atemprozesse stehen. Auch der Titel (innerlich) legt es nahe, an Atemprozesse zu denken, die aufgrund des Zusatzes „mit geschlossenem Mund“ als im Körperinnern ablaufende Vorgänge zu erkennen sind. Insofern ist es durchaus konsequent von Jandl, dass der Text dieses Lautgedichtes keinen einzigen Laut enthält. Insgesamt weist das vorliegende Lautgedicht eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Emblem auf, zumal es – vorausgesetzt, wir betrachten die Legende als Paratext – eine Dreiteilung besitzt: Auf den Titel folgen die sieben Linien (mit und ohne Zeichen darauf und teilweise den skripturalen Zeichen unterhalb der Linien) und schließlich der Untertitel. Dies weist eine gewisse Analogie zur inscriptio, der pictura und der subscriptio im idealtypischen Emblem nach Schöne auf.1096 Betrachten wir nun den Untertitel genauer: Er besteht aus den fünf Wörtern „ein beitrag zur neuen innerlichkeit“. Hier hat sich Jandl auf eine Richtung in der deutschen Literatur der 1970er Jahre bezogen, für die Marcel Reich-Ranicki den Begriff der ,Neuen Subjektivität‘ bzw. der ,Neuen Innerlichkeit‘ geprägt hat. Die hier dominierende introspektive Ausrichtung stand in starkem Kon1094 Abgedruckt in Scholz/Engeler (2002), S. 308. 1095 Vgl. hierzu S. 273 dieser Arbeit. 1096 Vgl. Schöne (31993), S. 19f.

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trast zur vorangehenden politisch engagierten Literatur, die vor allem im Kontext der 68er-Bewegung entstanden war. Vor diesem Hintergrund kann Jandls Gedicht nur als ironischer Kommentar gelesen werden. Stand in den Werken der ,Neuen Innerlichkeit‘ das Innerliche im Sinne einer auf Gefühle und Selbsterfahrung des Subjekts ausgerichteten Schreibweise im Mittelpunkt, so hat Jandl die Innerlichkeit sozusagen wörtlich interpretiert, nämlich als das Körperinnere, in das er durch die poetische Abbildung menschlicher Atemvorgänge Einblicke ermöglicht. Insofern ist sein „beitrag zur neuen innerlichkeit“ als ironisch aufzufassen. Das folgende Lautgedicht1097 von Tom Johnson, das den Abschluss dieses Kapitels bildet, hat wieder sehr große Ähnlichkeit mit einer musikalischen Partitur, und zwar deshalb, weil ein Großteil der eingesetzten Zeichen solchen aus dem Bereich der musikalischen Notation entspricht oder zumindest stark an diese erinnert:

Abb. 131  Tom Johnson, Gbda (1976)

Der Eindruck einer musikalischen Partitur wird vor allem durch die Zeichen über den Buchstaben, die an Viertel- und Sechzehntelnotenzeichen erinnern, die Haltebögen und die Akzentzeichen erzeugt. Darüber hinaus macht schon der Titel der Sammlung, der dieses Gedicht entnommen ist, auf den intermedialen Zusammenhang zwischen Dichtung und Musik aufmerksam: Secret Songs (1976). Zum vorliegenden Lautgedicht existiert folgender Selbstkommentar des Dichters, der den zunächst willkürlich erscheinenden Buchstabenanordnungen in den drei Zeilen des Gedichtes eine intentionale Folgerichtigkeit verleiht: Gbda, like many forms of music, involves improvisation and does not lend itself to detailed notation. A fairly satisfactory score can be presented, however, by defining the little language used, and then describing the general procedure for performing the piece. To learn the language, practice running the three consonants together as Slavs do, in all the possible pairs, ending with open «ah» sounds. gba gda bga bda dga dba Then work with «syllables» having three consonants. gbga gbda gdga gdba bgba bgda bdba bdga dgda dgba dbda dbga 1097 Abgedruckt in Kostelanetz (1980), S. 169.



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A number of longer combinations can also be pronounced quite fluently with practice. gdgdgdgdba bdbdbdbdga gdbagdbagdbagdbagdba bdgabdgabdgabdgabdga gbdba bdbdga bdgdba gdbdga etc. […].1098

In diesem Selbstkommentar des Dichters wird dem handschriftlich notierten Lautgedicht explizit die Funktion einer Partitur für die akustische Realisation zugeschrieben. In diesem Fall erfüllt das Lautgedicht gegenüber dieser also eine sekundäre Funktion. Es handelt sich dabei jedoch ausschließlich um eine subjektive Entscheidung des Dichters, die keinesfalls generalisiert werden darf, d.h., lautpoetische Notationen dürfen nicht prinzipiell als der jeweiligen akustischen Realisierung untergeordnet betrachtet werden, sie müssen nicht  – wie bereits erläutert  – per se lediglich eine Hilfsfunktion erfüllen, sondern können ebenso gut eine jener gleichwertige Funktion ausüben, und zwar als alternative Version des entsprechenden Lautgedichtes. Der Selbstkommentar zum vorliegenden Gedicht, dessen erster Teil oben wiedergegeben wurde, endet mit genauen Anweisungen des Dichters für die akustische Umsetzung. Diese wird an dieser Stelle jedoch übergangen, zumal es hier ausschließlich um den Aspekt der handschriftlichen Notation von Lautgedichten geht. 3.4.2 Daktylographische Lautpoesie – am Beispiel dialektaler Gedichte In diesem Kapitel zu den lautpoetischen Schreibmaschinengedichten wurde eine bestimmte Gruppe von Lautgedichten, nämlich Dialektgedichte, herausgegriffen, weil sich anhand dieser zwei wesentliche Aspekte des Großteils der Poesie nach 1945 aufzeigen lassen: erstens der Grundsatz, technische Medien für die poetische Realisierung zu nutzen, und zweitens das Interesse an der Sprache in all ihren (schriflichen und mündlichen) Ausprägungen. Auch bei den Dialektgedichten, die nach 1945 entstanden sind, handelt es sich nicht um eine creatio ex nihilo. Vielmehr ähneln sie mehr oder weniger stark tradierten früheren populären Gattungen der Lautdichtung, nämlich denjenigen, deren skripturales Material Kunst- oder Geheimsprachen entstammt. Auf solche Lautgedichte treffen wir u.a. in der Romantik (z.B. in den Sprachen Phantasiechinesisch und Phantasiehottentottisch), aber ebenso auch im russischen Futurismus, in dem für asemantische lautpoetische Gedichte dieser Art der Begriff ,zaumnyj‘ geprägt wurde, womit zugleich eine „übersinnsprache“1099 gemeint war.1100 Auch Oskar Pastior hat eine Kunst- oder Privatsprache entwickelt, nämlich das ,Krimgotische‘.1101 Dialektale Gedichte weisen deshalb eine typologische Nähe zu diesen Arten von Gedichten auf, weil sie all jenen Lesern, die des jeweiligen Dialektes nicht mächtig sind, wie eine private Kunstsprache oder 1098 Abgedruckt in Kostelanetz (1980), S. 168. 1099 Rühm (2001), S. 230. 1100 Vgl. das Kapitel Geheimsprachen, Literaturrätsel, Kunstsprachen in Scholz/Engeler (2002), S. 95ff. 1101 Vgl. Scholz (1992), S. 79ff.

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„pseudosprache“1102 des jeweiligen Dichters erscheinen können oder – falls der Dialekt sehr stark von der Standardsprache abweicht – sogar müssen. Es kann auch bei der Lektüre von Dialektgedichten der Eindruck entstehen, das es sich um verbales Material handelt, das zwar aus Wörtern gebildet zu sein scheint, bei dem der ursprüngliche Wortsinn jedoch nicht mehr zu erkennen ist. Das Ergebnis ist dann dasselbe: Dem unkundigen Leser wird der semantische Gehalt der eingesetzten Wörter verborgen bleiben. Natürlich bestehen hier graduelle Unterschiede, denn im Gegensatz zu Kunst- und Geheimsprachen sind Dialekte dem Hochdeutschen mehr oder weniger stark verwandt, so dass sich die Dechiffrierung im Einzelfall als relativ leicht erweisen kann. Außerdem handelt es sich beim verbalen Zeichenmaterial in Dialektgedichten immer um einen imaginären Dialekt, denn die Verschriftlichung eines originär mündlichen Phänomens muss immer eine Abweichung vom ,Original‘ beinhalten. Die Überführung der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit im Rahmen eines Lautgedichtes zeugt prinzipiell immer von einem gewissen Grad an Willkür des Dichters. Erschwerend kommt hinzu, dass jeder Dialekt einem wesentlich schnelleren Wandel unterliegt als die jeweils standardisierte Schriftsprache eines Landes. Nach Eugen Gomringer handelt es sich beim Dialektgedicht  – ebenso wie beim Ideogramm, Palindrom, Typogramm, Piktogramm, Raumgedicht und bei der Konstellation – um eine der „gebräuchlichsten formen der konkreten poesie“1103. Über das Dialektgedicht hat er hier Folgendes geäußert: auf ihren entdeckungsreisen durch die welt aus sprache entdeckte die konkrete poesie auch (wieder) den dialekt, und zwar den gesprochenen wie den geschriebenen. gemäss konkretem sprachverständnis, das sich nur bei geringen sprachmengen meditativ entfalten kann, hält sich die konkrete poesie auch beim dialekt vorwiegend an jeweils typische laute oder schreibweisen, die sie entweder als ideogramm oder als konstellation vorstellt. dem vorzug, altem sprachmaterial einer meist kleinen sprachgemeinschaft neu zu begegnen, steht der nachteil des nicht-verstandenwerdens gegenüber, der jedoch durch die für die konkrete poesie charakteristische wahl weniger elemente relativiert wird. mit der durch ihre wiederentdeckung ausgelösten schwemme von mundartdichtung identifiziert sich die konkrete poesie nicht.1104

Wie Gomringer selbst bemerkt hat, weisen Dialektgedichte den „nachteil des nichtverstandenwerdens“1105 auf. Dieser steht in größtmöglichem Kontrast zum Streben der konkreten Dichter nach einer international verständlichen und universal anwendbaren Sprache,1106 die eine „cross-cultural communication“1107 ermöglichen sollte. Hierauf wurde – vor allem auch im Kontext der Verwendung pikturaler Zeichen – schon mehr1102 Rühm (2001), S. 225. 1103 Vgl. den Titel eines Aufsatzes von Eugen Gomringer: charakteristika der gebräuchlisten formen der konkreten poesie (datiert 1986). Abgedruckt in gomringer (1988), S. 123ff. 1104 gomringer (1988), S. 127. 1105 gomringer (1988), S. 127. 1106 Vgl. beispielsweise den Aufsatz die konkrete poesie als übernationale sprache (1964) in gomringer (1988), S. 49ff. 1107 Wendt/Ruppenthal (1980), S. 249.



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fach hingewiesen. Denkbar wäre es, diese Beobachtung dahin gehend zu relativieren, dass Dialektgedichte unter Umständen gar nicht konzipiert sind, um ,verstanden‘ zu werden. Es wäre ja möglich, dass es weniger um die Übermittlung eines semantischen Inhalts geht als darum, die Eigenheiten des jeweils nachgeahmten Dialektes zu präsentieren. Das hieße, dass in solchen Gedichten „keine Wortbedeutung, also keine Semantik, […] von der Konkretheit, der spezifischen Sinnlichkeit des Dialekts ablenkt“1108. Das wiederum entspräche den Grundsätzen der Konkreten Poesie und der ihr zugrunde gelegten Sprachauffassung. Das kann und soll nicht heißen, dass dialektale Lautgedichte per se vom Bereich der Semantik ausgeschlossen sind. Dies gilt für diese ebenso wenig wie für Lautgedichte im Allgemeinen. Eine Partizipation an der semantischen Ebene ist hier vor allem „über Assoziationen, die der Leser beim Lesen des dialektalen Lautgedichtes hat“1109, möglich. Auch Pierre Garnier hat die Frage, ob eine dialektale Dichtung prinzipiell dem Streben nach einer poetischen Universalsprache widerspreche, in seiner Vorbemerkung zu seiner Sammlung Ozieux (1966) unmissverständlich verneint, und zwar aus folgendem Grund: „Le tri que fait le poète spatialiste fait ressortir les structures et dégage de leur langue les informations esthétiques.“1110 Die in solchen Gedichten kommunizierten ästhetischen Informationen weisen weit über ihren dialektalen Verwendungsrahmen hinaus und stehen somit nicht im Konflikt mit einer angestrebten Universalsprache. Ebenfalls den Grundprinzipien der Konkreten Poesie entspricht der Klangreichtum in dialektalen Ausdrucksweisen, wie Gerhard Rühm explizit erklärt hat: wir [scil. Rühm, Artmann und Achleitner; B.N.] haben den dialekt für die moderne dichtung entdeckt. was uns am dialekt interessiert, ist vor allem sein lautlicher reichtum (besonders im wienerischen), der für jede aussage die typischen nuancen findet. selbst ein einziges wort kann in verschiedenen tönungen auftreten, also individualisiert sein […], während in der ‚schriftsprache‘ – der dialekt ist eine ‚gesprochene sprache‘ – jedes wort objektiviert und starr erscheint.1111

Außerdem ging es in der Dichtung nach 1945 ja primär um die Exploration aller Dimensionen von Sprache und Schrift bzw. aller Dimensionen der menschlichen Ausdrucksfähigkeit. Insofern hätte es sich als Inkonsequenz erwiesen, den Aspekt des Dialektalen prinzipiell von der poetischen Produktion auszuschließen: Dass sich die Dichter der Konkreten Poesie auch des Dialekts als einer Sonderform sprachlichen Materials annahmen und eine neue, nun nicht mehr der Kuhwärme des Provinziell-Idyllischen verpflichtete, sondern von experimentellen poetischen Verfahren her konzipierte Dialektdichtung inaugurierten, gehört zu ihrem Programm der Expeditionen in alle Bereiche der Sprache.1112 1108 Drews (1983), S. 146. Hervorhebung vom Autor. 1109 Drews (1983), S. 145. 1110 Garnier (2008), I: S. 255. 1111 Rühm (21969), S. 7. 1112 Drews (1983), S. 146. Vgl. Gomringer (1969a), S. 17: Die Konkrete Poesie strebte „eine bewußt auf

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Im Folgenden sollen Dialektgedichte von Gerhard Rühm, Friedrich Achleitner, der als Hauptvertreter der Gattung des Dialektgedichtes nach 1945 gilt und der – wie Rühm auch – zur Wiener Gruppe zählt, und Eugen Gomringer in den Blick genommen werden. In diesem Kapitel hätten ebenfalls Pierre Garniers poèmes dialectaux, nämlich seine picardischen Gedichte (u.a. Ozieux, 1966 und Ozieux 2, 1976) besprochen werden können.1113 Zumal diese jedoch im Kapitel zur optophonetischen Poesie analysiert werden, werden sie, um Wiederholungen zu vermeiden, hier übergangen. Das folgende Beispiel von Gerhard Rühm1114 stammt aus seiner Sammlung gedichte im wiener dialekt (1954–1958). Es basiert auf der variationsreichen Konjugation des Verbums ,sagen‘, und zwar im Wiener Dialekt:

Abb. 132  Gerhard Rühm, ohne Titel (o. J.)

visuelle und auditive Kommunikation beruhende Einstellung zur Sprache [an], welche aus jeder bestehenden Sprache schließlich eine in Zeichen und Syntax leichtfaßliche Anwendung erlaubte. Die sich schließlich ergebende Sprache konnte von den verschiedensten Seiten her gespeist werden, nicht zuletzt auch von Elementen der Mundarten, denen sich Konkrete Dichter instinktiv und bewußt schon früh zuwandten.“ 1113 Außerdem im picardischen Dialekt geschrieben sind folgende Sammlungen von Pierre Garnier: Poèmes spatiaux picards (1966), Chés Cabotans (1978) und Ech Catieu d’Pinkigni (2003). Zu Pierre Garniers picardischen Gedichtsammlungen vgl. Eloy (1998) und Pouliquen (1998). 1114 Rühm (1970), S. 79.



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Durch die Aneinanderreihung von häufig eingesetzten Plattitüden macht Rühm auf deren Sinnentleerung aufmerksam. Zwar sind die Aussagen jeweils grammatikalisch korrekt, jedoch zugleich jenseits jeder Sinnhaftigkeit angesiedelt. Damit entspricht der Status der Wörter vollkommen asemantischen Lautfolgen, die von einem Begriffsinhalt losgelöst sind. Dadurch rückt die Spezifik des Wiener Dialekts deutlich hervor, denn „keine Wortbedeutung, also keine Semantik [...] [lenkt] hier von der Konkretheit, der spezifischen Sinnlichkeit des Dialekts ab [...]“1115. Das vorliegende Gedicht erweist sich mehr oder weniger als Versuch der poetischen Umsetzung der bekannten Redewendung „Viel Lärm um nichts“. Vor allem durch tautologische Aussagen nach dem mehrfach abgewandelten Grundmuster ich sage das, was ich sage wird diese Wirkung erzielt. Rühm hat in seinem Gedicht die Ankündigungen eines Sprechaktes aneinandergereiht, ohne jedoch den Inhalt der Rede zu benennen. Damit wird der Sprechakt selbst infrage gestellt, und in einer weiter gefassten Perspektive führt das Gedicht damit vor, wie Sprache, und zwar sowohl schriftliche als auch mündliche (vgl. das Verbum ,sagen‘), zur bloßen Leerform oder materialen Hülle ohne Inhalt werden kann, und zwar – die Plattitüden deuten darauf hin – durch einen zu häufigen und unreflektierten Gebrauch, zu dem die dialektale Ausdrucksweise möglicherweise besonders verleitet. In poetologischer Hinsicht lässt sich das Gedicht als die Formulierung eines Grundprinzips der Konkreten Poesie auffassen, der es ja eben nicht um die Repräsentation und Vermittlung von Inhalten, sondern primär um die Präsentation der Zeichen, die in ihrer (visuellen und/oder akustischen) Materialität in Szene gesetzt werden, geht. Wesentlich mehr gegen die klanglichen Eigenheiten speziell des Wiener Idioms als dieses ist das folgende Gedicht1116 (Abb. 133) gerichtet, und zwar konkret gegen die von Nicht-Wienern häufig als übertrieben beurteilte Freundlichkeit, die oft als Unaufrichtigkeit ausgelegt wird. Aus diesem Grund ist Drews Beurteilung des kritischen Potenzials von Rühms Dialektdichtung zumindest im Hinblick auf das vorliegende Gedicht prinzipiell zuzustimmen: Rühms Dialektgedichte sind kritisch gemeint, denn sie suggerieren „Klangbild und Tonfall des Wiener Dialekts […] und [sollen] darin etwas von der teils raunzig gedehnten, teils eruptiven Ausdrucksweise des Wieners vermitteln“1117. Auch von Eugen Gomringer stammen Dialektgedichte, allerdings sehr viel weniger als von Achleitner und Rühm und auch keine im Wiener Dialekt. Er hat – entsprechend seines nationalen Ursprungs  – stattdessen schweizerdeutsche Lautgedichte verfertigt. Das folgende Beispiel1118 (Abb. 134) zeichnet sich vor allem durch drei wesentliche Grundsätze konkretistischer Gestaltung aus, nämlich Reduktion, Repetition und Permutation.

1115 Drews (1983), S. 146. 1116 Rühm (1970), S. 141. 1117 Scholz (1992), S. 66. 1118 gomringer (1969b), S. 132.

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Abb. 133  Gerhard Rühm, ohne Titel (o. J.)

Abb. 134  eugen gomringer, nimm mi (o. J.)

1119 gomringer (1988), S. 127.

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Auch wenn es sich dabei um den Selbstkommentar zu einem anderen seiner schweizerdeutschen Dialektgedichte handelt, so gilt die folgende Aussage doch auch für das vorliegende Gedicht: „der versuch einer beschreibung, was schweizer art sei, wird bewusst im dialekt vorgenommen. durch die der konkreten poesie eigene konzentration auf wenige wörter, die abgewandelt und wiederholt werden, tritt eine sinnverfestigung ein.“1119 Betrachten wir nun den Aufbau des vorliegenden Gedichtes: Wir haben es mit neun Doppelzeilen zu tun, die nur in zwei Fällen eine Verneinung aufweisen. In den anderen Zeilen erscheinen entweder Aufforderungen oder Affirmationen. Alle Doppelzeilen besitzen ein gemeinsames Merkmal: Sie enthalten eine konjugierte Form des Verbums ,nehmen‘, und zwar in der Schweizer Variante des Standarddeutschen, wodurch ein Netz von Personenkonstellationen gesponnen wird. Eingeleitet wird dieses mit der wiederholten Aufforderung „nimm mi“. Hier fällt eine Besonderheit auf, die dieses Gedicht vom Großteil der Konkreten Poesie – nicht nur aus der Feder Eugen Gomringers – unterscheidet: Es erscheint ein lyrisches Ich. Eine solche Gestaltung wurde in der Konkreten Poesie deshalb vermieden, weil man so den Grundsatz einer objektiven Dichtung gefährdet sah. Es sollte ja auf alles Subjektive verzichtet werden. Im vorliegenden Gedicht jedoch ist ein lyrisches Ich auszumachen, das seinen Imperativ an ein nicht benanntes Du richtet. In der zweiten Doppelzeile ist dieser Imperativ zur Affirmation transformiert, die dem Vorgang des Nehmens auf Seiten des lyrischen Ich Ausdruck verleiht. Im Folgenden tritt zur bisher etablierten Zweierkonstellation eine dritte Person hinzu: „nimm i si“. Auch diese bleibt unspezifiziert, sie wird lediglich durch die Reduktion auf das vollkommen nüchterne Pronomen der dritten Person Singular benannt. Es folgt eine weitere Aufforderung, die sich wieder an ein Du richtet, das nun statt des lyrischen Ich diese dritte Person nehmen soll. Im weiteren Verlauf des Gedichtes werden zwei Alternativen durchgespielt: Falls das Du sie nimmt, dann nimmt das lyrische Ich sie nicht, und für den Fall, dass das lyrische Ich sie nimmt, dann nimmt sein Gegenüber sie nicht. In der vorletzten Einheit erscheint plötzlich ein anderes ,Objekt‘



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des Nehmens, nämlich das Du, und zwar in Form eines das Verhalten des lyrischen Ich reflektierenden Aussagesatzes, der natürlich auch eine Wiederholung erfährt: „i nimm di“. Diese unerwartete Wendung wird auch dadurch hervorgehoben, dass hier erstmals nicht mehr eine konjugierte Form des Verbums ,nehmen‘ die Initialposition einnimmt. Die Pointe des Gedichtes besteht nun darin, dass sich erneut ein Personenwechsel vollzieht, der nun – in Abwandlung des ersten – das Subjekt des Nehmens betrifft: Nun ist sie es, die das lyrische Ich nimmt, wie die abschließende Feststellung deutlich macht: „si nimmt mi“. Innerhalb des Gedichtes werden auch lautliche Varianten des schweizerdeutschen Dialektes vorgeführt, nämlich zwei schweizerdeutsche Entsprechungen für das Pronomen ,sie‘: „si“ und „sii“, wobei Letztere dem Pronomen größeren Nachdruck verleiht. Insgesamt besitzt dieses Gedicht eine hohe klangliche Qualität, die dem Prinzip der variierenden Wiederholung geschuldet ist. Diese erzeugt jedoch noch eine weitere Wirkung: Durch die vielfache Abwandlung eines Grundmusters erinnert das Gedicht an das Prinzip eines Zungenbrechers. Das ist natürlich kein Zufall, sondern liegt darin begründet, dass Zungenbrecher eine prinzipielle Affinität zur Lautdichtung aufweisen.1120 Zungenbrecher basieren – wie Gomringers Text – auf dem „Gegeneinandersetzen von differenten Lautkombinationen mit Klangassonanzen“1121. Im Gedicht betrifft dies primär die eingesetzten Pronomina. Das folgende Lautgedicht1122 von Friedrich Achleitner hat Eugen Gomringer in charakteristika der gebräuchlisten formen der konkreten poesie (1986)1123 als repräsentatives Beispiel für die Gattung des konkreten Dialektgedichtes angeführt. Als repräsentativ kann dieses Gedicht deshalb aufgefasst werden, weil es einerseits eine große Reduktion des Zeichenbestandes aufweist und andererseits nach ästhetischen Gesichtspunkten auf der Papierfläche verteilt ist. Gebildet ist das Gedicht aus drei typischen Ausrufen im Wiener Dialekt, die entweder einem Gefühl des Erstaunens oder der Entrüstung oder auch des Ärgers Ausdruck verleihen können: „jessas“ (dt. Jesus), „daifö“ (dt. Teufel), „haggod“ (dt. Herrgott). Diese drei Begriffe bzw. Namen sind so auf der Papierfläche angeordnet, dass sie jeweils mit einigem Abstand zueinander übereinander stehen. Die ersten beiden erscheinen dabei jeweils zweimal, der letzte hingegen Abb. 135 Friedrich nur einmal. Auf diese Weise erfährt dieser – durch seine exponierte Achleitner, ohne Titel (o. J.) Finalstellung ohnehin hervorgehobene – Begriff eine besonders starke Betonung, die sich aus dem besonderen Status Gottes im christlichen Glauben ableitet. Zugleich erinnert die Anzahl der Begriffe an die Trinität Gottes. Durch die vom normalen Satzspiegel abweichende Anordnung der Wörter auf der Papierfläche rückt zugleich die Materialität der skripturalen Zeichen in den Blick. Zum 1120 Vgl. das Kapitel Abzählverse, Zungenbrecher, Kindersprache in Scholz/Engeler (2002), S. 31ff. und das Kapitel Die Vorformen der Lautpoesie in Scholz (1989), I: S. 21–83. 1121 Scholz (1992), S. 65. 1122 achleitner (1970), S. 116. Abgedruckt auch in gomringer (1988), S. 127. 1123 gomringer (1988), S. 123–132.

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Skriptural-akustische Intermedialität

Beispiel sticht ins Auge, dass der erste und der letzte Begriff eine identische Buchstabenanzahl aufweisen, wogegen der mittlere Begriff aus einem Buchstaben weniger gebildet wird. Die zahlenmäßige Übereinstimmung des ersten und letzten Begriffes legt eine semantische Nähe beider nahe, die sich natürlich primär in der Vater-Sohn-Relation äußert. Der Teufel hingegen unterscheidet sich in der traditionellen Vorstellung stark von beiden, was im Gedicht auf die beschriebene Weise typographisch hervorgehoben ist. Auch wenn der Aspekt der Materialität hier – wie in der Konkreten Poesie im Allgemeinen – eine Rolle spielt, so scheint Eugen Gomringer diesen in seinem Kommentar zu Achleitners Gedicht stark überzubewerten: die drei wörter aus dem wiener dialekt sind zwar alltagsgebrauch, doch durch die schriftliche form und die anordnung nach konkret-konstellativer weise ist ihre wirkung neuartig und erstaunlich: die bekannten wörter stellen sich als unübliche buchstabenkombinationen dar. es kann erwartet werden, dass jedoch gerade deshalb der sinn der wörter neu ins bewusstsein dringt.1124

Es ist weder so offensichtlich, wie Gomringer dies dargestellt hat, dass die Anordnung der Wörter zu einer neuartigen Wirkung führt, noch, dass sie sich als unübliche Buchstabenkombinationen darstellen. Im Falle dieses kurzen Kommentars, der als Erläuterung dienen sollte, erweist sich Gomringers knapper Stil, der mit dem konkretistischen Grundsatz der Reduktion übereinstimmt, ohne Frage als Nachteil.

3.5 Optophonetische Dichtung 3.5.1 Konzeption Optophonetische oder audiovisuelle Gedichte zeichnen sich dadurch aus, dass ihre visuellen Präsentationsebenen (Schriftart, Schriftgröße, Farbe etc.) Hinweise auf die akustische Realisation enthalten. Der wichtigste, da einflussreichste Vorläufer der optophonetischen Poesie nach 1945 ist der italienische Futurismus, zumal schon hier die typographische Gestaltung als Spiegel der akustischen Dimension dient bzw. diese substituiert. Typographische Hervorhebungen enthalten in den futuristischen Gedichten dabei vor allem Hinweise auf die vom Dichter intendierte Betonung und Lautstärke. Ganz allgemein lassen sich optophonetische oder audiovisuelle Gedichte wie folgt definieren: Als audiovisuell kann […] im Bereich der phonetischen oder Lautpoesie jede Form eines visuellsyntaktisch organisierten Gedichtes gelten, dessen ‚typovisuelle‘ oder allgemein graphästhetischen Gestaltungsfaktoren hinsichtlich der akustischen Realisation von notationstechnischer Relevanz […] sein können.1125 1124 gomringer (1988), S. 127. 1125 Lentz (2000), I: S. 207.



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Es darf vorausgesetzt werden, dass dies immer dann der Fall ist, wenn erstens die visuelle Präsentation des Gedichtes vom gewöhnlichen Satzspiegel für Gedichte (einheitliche und unauffällige Typographie, Einteilung in Verse etc.) abweicht, beispielsweise durch den Einsatz unterschiedlicher Typographien und einer besonderen Disposition auf der Papierfläche, und zweitens das Gedicht für den Vortrag bestimmt ist. Damit ist von vornherein ein Großteil der Dichtung nach 1945 vom Bereich der optophonetischen Poesie ausgeschlossen, denn hier sind viele Gedichte produziert worden, die zwar auf unterschiedlichste Weise die visuelle Dimension des eingesetzten Zeichenmaterials betonen, sich aber der akustischen Dimension insofern verschließen, als sie nicht akustisch – durch die menschliche Stimme oder aber mithilfe akustischer und/oder elektroakustischer Medien – realisiert werden können. Dies trifft beispielsweise auf all jene Gedichte zu, die mit der Spiegelschrift arbeiten, oder solche, bei denen die Anordnung der Zeichen zu bestimmten Formen auf dem Schreibuntergrund eine sinnkonstituierende Funktion erfüllt. Solche Gedichte sind im Gegensatz zu optophonetischen Gedichten „a purely visual and spatial affair […]“1126. Im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit, nämlich die Intermedialität in der Dichtung nach 1945, stellen optophonetische Gedichte insofern ein besonders interessantes Analyseobjekt dar, als sie per se sowohl mit der bildenden Kunst als auch mit der Musik intermedial verknüpft sind: In diesen Gedichten ist eine „wechselseitige Beziehung zwischen akustischen und optischen materialen Eigenschaften von Sprache, zwischen Klang- und Bildebene [...]“1127 angelegt. In der Terminologie Josef Anton Riedls entsprächen optophonetische Gedichte ,optischen Lautgedichten‘, denn bei diesen handelt es sich um Zeichnungen in Farbe oder Schwarzweiß, die Riedl als „Musik zum Sehen“1128 definiert hat. Zu unterscheiden ist diese Art von Lautgedichten von den ,vokalen Lautgedichten‘ (Sprechstücken) und den ,instrumentalen Lautgedichten‘ (für Instrumente). Beim folgenden Beispiel1129 handelt es sich um ein optisches Lautgedicht oder – in der Terminologie Denckers – um eine „musikalische Grafik“1130:

Abb. 136  Josef Anton Riedl, ohne Titel (1960)

1126 Clüver (2002), S. 167. 1127 Scholz/Engeler (2002), S. 20. 1128 Lentz (2000), I: S. 223. Zu Riedls optischen Lautgedichten vgl. Lentz (1996), S. 53ff. 1129 Abdruck des Gedichtes in Lentz (2000), II: S. 770. 1130 So der Titel des Kapitels in Dencker (2011), S. 56ff. Ein Kapitel zur „Musikalische[n] Graphik“ (S. 79–82) finden wir ebenfalls in Karkoschka (1966).

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Eine – wenn auch vertikal verlaufende – handschriftlich gezogene Linie, die unterschiedlich stark gebogen ist, lässt den Eindruck eines Schreibgestus entstehen. Darüber hinaus erinnern die schwarzen Verdichtungen oben, in der Mitte und unten an Noten, wodurch die Assoziation mit Musik nahegelegt wird. Es wurde mehrfach ein Zusammenhang zwischen der Form dieses optischen Lautgedichtes – so wie derjenigen vieler anderer optischer Lautgedichte aus der Feder Riedls  – und Lautstärkekurven, auf die man beispielsweise im Kontext der elektronischen Musik stößt, gesehen. Dieser Nexus wurde jedoch – zu Recht – angezweifelt oder sogar negiert: Riedl geht es nicht im Entferntesten um eine Musik-Schrift, sondern eher um geschriebene Musik. Die ‚Optischen Lautgedichte‘ sind nicht grenzüberschreitende Notation, die […] zu einer tönenden Realisierung auffordern würde. […] Die Gestaltungen in den ‚Optischen Lautgedichten‘ wollen selbst Musik sein, die Riedl erdacht und zeichnend gespielt hat.1131

Bei audiovisuellen Texten handelt es sich um Paradebeispiele der poetischen Intermedialität „for they are constituted by two or more sign systems in such a way that the visual, musical, verbal […] aspects of their signs are inseparable and indissoluble“1132. Besonders in der Konkreten Poesie wurden zahlreiche optophonetische Gedichte produziert, denn diese kommen dem hier angestrebten Ideal einer verbivocovisuellen Dichtung am nächsten. Der wohl bekannteste Repräsentant des poetischen Prinzips der Optophonetik ist Carlo Belloli, der im Jahre 1959 das Konzept der audiovisualizzazione für den Band Textes audio-visuelles entworfen hat.1133 Ausschlaggebend für die Entwicklung dieses Konzeptes war Belloli zufolge das Streben nach einer „visual evaluation in semantic structure, a development entirely of spiritual quality in that it represents the unified relationship of word, sound and visuality […]“1134. Belloli kann jedoch keinesfalls als Begründer audiovisueller oder optophonetischer Poesie gelten, denn schon lange vor ihm hat sich Raoul Hausmann mit dieser Art von Dichtung – auch in theoretischer Hinsicht – beschäftigt. In seinem Artikel Optophonétique aus dem Jahre 1922 hat er Folgendes programmatisch ausgeführt: „Le but que nous voulons atteindre, consiste à parvenir à un état primordial nouveau, à une nouvelle présence. Les éléments du langage et de la vue surgissent devant nous d’une manière nouvelle.“1135 Ziel seiner optophonetischen Poesie war es, die verschiedenen Lautqualitäten, zu denen die menschliche Stimme in der Lage ist, optisch abzubilden, und zwar mithilfe typographischer Mittel:1136 1131 Hirsch (1994), S. 254f. 1132 Clüver (2002), S. 166. 1133 Vgl. Segler-Messner (2004), S. 104 und Solt (1970), S. 39. 1134 Solt (1970), S. 39. 1135 Hausmann, zitiert nach Chopin (1979), S. 52. Zum ersten Mal wurde Optophonétique in der Zeitschrift MA publiziert. Zu Hausmanns optophonetischer Poesie vgl. Koch (1994), S. 84f. und S. 103f. Etwa zeitgleich mit Hausmann hat Theo van Doesburg das Konzept der Optophonetik entdeckt, dies allerdings unter dem Titel Letterklankbeelden (1921). Abdruck in De Stijl 4/no. 11 (1921). Abrufbar unter: http://sdrc.lib.uiowa.edu/dada/De_ Stijl/011/index.htm [zugegriffen am 14.06.2010]. 1136 Vgl. Riha (1989). Auch Marshall McLuhan hat darauf hingewiesen, dass die typographische Gestaltung in vielen Bereichen eine akustische Dimension besitzt: „The NEWSPAPER layout provides



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Große sichtbare Lettern, also lettristische Gedichte, ja noch mehr, ich sagte mir gleich optophonetisch! Verschiedene Größen zu verschiedener Betonung! Konsonanten und Vokale, das krächzt und jodelt sehr gut! Natürlich, diese Buchstabenplakatgedichte mußten gesungen werden! DA! DADA!1137

Hier wurde explizit gefordert, dass die Typographie in notationsfunktionaler Hinsicht eingesetzt und genutzt werde, das Ergebnis sollte eine Art musikalische Partitur sein. Hausmann scheint Meyers Konzept der Graphophonie zu antizipieren. Natürlich befindet sich Hausmann mit seiner Konzeption der optophonetischen Poesie auch in der Traditionslinie der Avantgarden des 20. Jahrhunderts, vor allem Marinettis:1138 Chaque valeur dans un tel poème [scil. un poème optophonétique; B.N.] se manifeste d’ellemême et obtient une valeur sonore, selon que l’on traite les lettres, les sons, les amassements de consonnes-voyelles par une déclamation plus haute ou plus basse. Pour exprimer cela typographiquement, j’avais choisi des lettres plus ou moins grandes ou plus ou moins maigres ou grasses, leur donnant ainsi le caractère d’une écriture musicale.1139

Hausmanns Konzeption der optophonetischen Poesie beinhaltet dabei nicht explizit ein Analogieverhältnis zwischen den optischen und den akustischen Zeichen. Im Gegensatz hierzu hat Kurt Schwitters in seinen Anregungen zur Erlangung einer Systemschrift (1927) ausdrücklich die Übereinstimmung beider gefordert: Wie auch immer die zu vermittelnde, zu übersetzende Sprache ist, die Schrift muß optophonetisch sein, wenn sie systematisch gestaltet sein will. Systemschrift verlangt, daß das ganze Bild der Schrift dem ganzen Klang der Sprache entspricht.1140

Nach diesen theoretischen Erörterungen soll der Blick im Folgenden auf einzelne Beispiele der optophonetischen Poesie nach 1945 gerichtet werden. 3.5.2 Optophonetische Praxis Das erste Beispiel1141 für die visuell-akustische Intermedialität der optophonetischen Poesie stammt von Carlo Belloli, der – wie bereits erläutert – gegen Ende der 1950er Jahre den Begriff der audiovisualizzazione geprägt hat.1142 Als ein Hinweis darauf, dass in diesem gedruckten Gedicht sowohl der optischen als auch der lautlichen Ebene eine große more variety of AUDITORY effects from typography than the ordinary book page does.“ McLuhan/ Fiore (1996), S. 117. Hervorhebungen von den Autoren. 1137 Hausmann (31980), S. 47. Zitat auch abgedruckt in Riha (1980), S. 198f. 1138 Auf Marinettis Vorbildfunktion hat Hausmann selbst explizit hingewiesen. Vgl. Hausmann (1958), S. 59. 1139 Hausmann (1958), S. 59. 1140 Schwitters, zitiert nach Schenk (2000), S. 136. 1141 Williams (1967), o. S. 1142 Vgl. Spatola (2008), S. 48ff. und Solt (1970), S. 37.

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Bedeutung zukommt, kann gewertet werden, dass im Internet mehrere Versionen des Gedichtes kursieren, die digital remediatisiert und mit einer Begleitmusik versehen wurden, zum Beispiel von Paolo Vignati.1143 Was hier durch Musik und eine kinematisierte Typographie explizit in den Vordergrund gerückt wurde, ist in der Printversion implizit bzw. potenziell enthalten, und zwar durch eine optophonetische Gestaltung.

Abb. 137  Carlo Belloli, acqua (1961)

Zunächst und vor allem fällt auf, dass das Gedicht dreigeteilt ist: Der erste Teil ganz oben wird durch die Wiederholung des Begriffes „acqua“ gebildet, wobei dieser immer fett gedruckt ist. Der dritte Teil ganz unten ist im Unterschied hierzu im Normaldruck gestaltet, reiht aber – ebenso wie der erste Teil – den Begriff „acqua“ aneinander. Der zweite, mittlere Teil stellt in typographischer Hinsicht eine Kombination aus dem ersten und dem dritten Teil dar, und zwar insofern, als Belloli hier sowohl den Fett- als auch den Normaldruck verwendet hat. Hinsichtlich des erscheinenden linguistischen Materials kontrastiert er jedoch sowohl mit dem ersten als auch dem dritten Teil, denn hier erscheint nicht nur der Begriff „acqua“, sondern neben diesem stößt man auf viele andere Wörter, die unterschiedlichen Wortklassen angehören und die unter anderem auch 1143 Abrufbar unter folgendem Link: http://www.youtube.com/watch?v=1vCYky9DXGw [zugegriffen am 13.06.2010].



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dem menschlichen Bereich entspringen. Bei näherer Betrachtung ist dieser zweite Teil nicht homogen, sondern lässt sich in zwei Hälften untergliedern: In der oberen Hälfte erscheint der fett gedruckte Begriff „acqua“ nach bzw. vor drei Substantiven im Normaldruck, die teilweise von einem unbestimmten Artikel oder der Konjunktion e begleitet werden. In der unteren Hälfte hingegen ist diese typographische Gestaltung in ihr genaues Gegenteil verkehrt: „Der untere Teil reflektiert den oberen in spiegelbildlicher Verkehrung, d.h., nun sind die Substantivfolgen fett und ‚acqua‘ mager gedruckt.“1144 Dies gilt bis auf eine Ausnahme, nämlich die Substantivgruppe „uomini acqua nave“, in der der Begriff „acqua“ ebenfalls fett gedruckt erscheint. Durch diese Abweichung von der offensichtlichen Konstruktionsregel dieses unteren Teiles wird besondere Aufmerksamkeit auf diese drei betroffenen Begriffe gelenkt. Dies kann damit begründet werden, dass sie den Nukleus des Gedichtes bilden, denn hier wird sein Hauptgegenstand, das Wasser, mit dem Bereich des Menschen und dem der Objekte verbunden, und zwar im Rahmen einer harmonischen Koexistenz und Koinzidenz. Somit enthält diese Substantivgruppe in konzentriertester Form den Grundgedanken des Gedichtes, denn in ihm wird die „Interdependenz von Natur, Mensch und Objektwelt […] in unterschiedlichen Variationen durchgespielt, die alle die Vision eines harmonischen kosmischen Miteinanders umkreisen“1145. Der untere Teil des mittleren Gedichtteils spiegelt den oberen jedoch nicht nur hinsichtlich der Typographie, sondern auch hinsichtlich der Anordnung der Wörter, die hier exakt in umgekehrter Reihenfolge erscheinen. Der Übergang des ersten Teils in den zweiten lässt sich eindeutig lokalisieren: Er befindet sich nach den ersten drei und vor den letzten drei Begriffen der folgenden Konstruktion: „palma sole voci voci sole palma“. Diese Substantivkombination ist insofern charakteristisch für das Gedicht, als hier die Bereiche Natur („palma“, „sole“) und Mensch („voci“) miteinander verbunden werden. Der Mittelteil des Gedichtes stellt daher ein Bindeglied zwischen den beiden anderen Teilen von acqua dar. Dieser Eindruck wird auf der typographischen Ebene durch den abwechselnden Einsatz von Fett- und Normaldruck verstärkt. Der zweite Teil ist daher weniger als „Spiegelachse, die es [scil. das audiovisuelle Gedicht acqua; B.N.] in zwei Teile gliedert“1146, aufzufassen als vielmehr als Synthese der beiden anderen Teile des Gedichtes. Eine Spiegelachse trennt, er jedoch verbindet. Außerdem wird eine Spiegelachse ausschließlich durch ihre Funktion bestimmt, hinter der der Aspekt ihrer eigenen Materialität verschwindet, bzw. ihre Materialität wird angesichts des Primats ihrer Funktion transparent. Im Mittelteil hingegen wird die Materialität des Zeichenmaterials durch die bereits erläuterten typographischen Besonderheiten stark hervorgehoben. Betrachten wir nun die Wortwahl im Mittelteil, der sich dadurch von den beiden einrahmenden Teilen unterscheidet, dass hier nicht nur der Begriff „acqua“ wiederholt wird: Die von Belloli für den Mittelteil gewählten Begriffe entstammen entweder – so wie der den Titel gebende Begriff „acqua“ – dem Bereich der Natur (z.B. „mare“, „cielo“, „fiume“, „sole“, „nubi“, „pioggia“), wobei diese, dem Titel des Gedichtes entsprechend, 1144 Segler-Messner (2004), S. 105. 1145 Segler-Messner (2004), S. 105. 1146 Segler-Messner (2004), S. 105. Vgl. Solt (1970), S. 39f.

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besonders häufig der Isotopieebene ,Wasser‘ angehören oder dem Bereich des Menschen (z.B. „voce“, „mano“, „bocca“, „bimbo“, „donna“, „uomo“) und schließlich, wenn auch seltener, dem Bereich der materiellen Dinge, wobei auch hier die Isotopieebene ,Wasser‘ dominiert (z.B. „pozzo“, „barca“, „nave“). Was die eingesetzten Wortklassen angeht, so handelt es sich fast ausschließlich um Substantive, daneben erscheinen aber auch Wörter, die sowohl substantivisch als auch adjektivisch gebraucht werden können (z.B. „verticale“, „volto“, „cristallo“), unbestimmte Artikel, die Konjunktion e und zwei Adjektive („incolore“ und „transparente“). Diesen beiden Adjektiven fällt eine besondere Bedeutung zu, und zwar in mehrfacher Hinsicht: Zunächst sind sie die einzigen Repräsentanten dieser Wortklasse. Ihre Bedeutsamkeit wird zusätzlich dadurch gesteigert, dass sie privilegierte Positionen innerhalb der Architektur des Gedichtes einnehmen, sie leiten nämlich den ersten Teil des Mittelteils ein und schließen dessen zweiten Teil ab. Sie erscheinen – in der Kombination mit dem Begriff „colore“ – also direkt nach der vielfachen Wiederholung des fett gedruckten Begriffes „acqua“ und vor der ebenso vielfachen Wiederholung desselben Begriffes im Normaldruck. Dies könnte sich damit erklären lassen, dass sowohl „incolore“ als auch „transparente“ eine Eigenschaft des Wassers benennen. Diese beiden Adjektive umrahmen dabei den mit ihnen kontrastierenden Begriff „colore“. Das könnte darauf verweisen, dass Wasser, das eigentlich durchsichtig ist, dem Betrachter manchmal farbig erscheint, z.B. wenn er ins Meer blickt und dieses als blau oder türkis wahrnimmt. Kommen wir nun zur akustischen Dimension des vorliegenden Gedichtes: Die vielfache Wiederholung des den Titel gebenden Begriffes „acqua“ erzeugt, wenn die Begriffe laut nacheinander ausgesprochen werden, den Eindruck eines gleichförmigen Dahinfließens, so wie es typisch für Wasser ist. Dieses audiovisuelle Gedicht bildet jedoch nicht nur auf der lautlichen Ebene eine charakteristische Eigenschaft von Wasser nach, sondern auch auf der optischen, denn der Wechsel zwischen Fett- und Normaldruck im ersten und dritten Teil könnte darauf hinweisen, dass Wasser an sich transparent ist, aber, wie bereits erläutert, dennoch als farbig wahrgenommen wird. Die Materialität von Wörtern im Normaldruck wird ja für gewöhnlich nicht gesehen, zumal es sich hierbei um die standardmäßige Präsentation skripturaler Zeichen handelt, d.h., diese Zeichen erscheinen hinsichtlich ihrer Materialität als ,transparent‘ und werden ausschließlich über ihre Zeichenfunktion definiert. Im Mittelteil, der sowohl im Fett- als auch Normaldruck gestaltet ist, könnten die charakteristischen Wellenbewegungen von Wasser im Meer, auf das das eingesetzte Wortmaterial (z.B. „mare“) mehrfach verweist, nachgebildet sein. Der hier vorherrschende typographische Wechsel könnte darüber hinaus noch eine erkenntnistheoretische Funktion erfüllen: Es entsteht zugleich „der Eindruck einer plötzlichen Erleuchtung, der sich bei der Betrachtung von ‚acqua‘ ergibt. Das, was zuvor durch die Omnipräsenz des Wassers unsichtbar blieb, steigt an die Oberfläche und gewinnt an Kontur.“1147 Für den Bereich der optophonetischen Poesie hat Eugen Gomringer – in auffallender Analogie zu Bellolis Konzept der audiovisualizzazione – den Begriff der audio-visuellen Konstellation geprägt. In Worte sind Schatten (1969) erscheinen solche audio-visuellen 1147 Segler-Messner (2004), S. 105.

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nach den rein visuellen Konstellationen. Quantitativ überwiegen sie stark gegenüber den visuellen Konstellationen dieser Sammlung. Im Folgenden werden drei von ihnen analysiert. Das erste hier zu erläuternde Beispiel trägt den Titel baum kind hund haus (1969):1148

Abb. 138  eugen gomringer, baum kind hund haus (1969)

Der Titel dieser minimalistischen Konstellation beinhaltet alle Begriffe, die das Gedicht konstituieren, und zwar in der Reihenfolge ihres ersten Erscheinens. Die letzte Zeile des Gedichtes nimmt diese dann wieder auf. Diese viergliedrige Substantivreihung stellt daher sowohl die Überschrift als auch eine Art Konklusion des vorliegenden Gedichtes dar. Der Teil zwischen Titel und Schlusszeile ist folgendermaßen gestaltet: Es gibt vier Komplexe, die jeweils aus drei Substantiven bestehen. Dabei sind diese auf zwei Zeilen verteilt, wobei jeweils der erste und zweite Begriff, die immer direkt übereinander stehen, identisch sind. Die damit einhergehende Wiederholung auf engstem Raum bewirkt eine musikalische Wirkung, die zugleich monoton erscheint. Dadurch, dass nach der Wiederholung des ersten Begriffes ein neuer Begriff aus dem Titel folgt, kommt dieser musikalische Fluss abrupt zu einem Ende. Der dritte Begriff erfährt auf diese Weise, und weil er ohnehin die privilegierte Finalposition der dreiteiligen Substantivreihe einnimmt, eine starke Betonung. Somit ergibt sich das folgende Schema: a/a+b, b/b+c, c/c+d, d/ d+a. Das viermalige Auftreten einer solchen Dreierkonfiguration verleiht dem Gedicht eine starke Rhythmisierung. Die stärkste Klangwirkung erzielt Gomringer dabei in der dritten ,Strophe‘, nämlich durch die Alliteration („hund hund haus“). Alle Begriffe erscheinen jeweils dreimal, und zwar nach folgender Regel: Der letzte Begriff einer ,Strophe‘ entspricht den ersten beiden der nachfolgenden ,Strophe‘. Auf diese Weise entsteht der Eindruck, ein Dreierblock ziehe den jeweils folgenden heran. Außerdem gehört das Prinzip der Wiederholung zu den beliebtesten Techniken Gomringers, das darüber hinaus natürlich auch seit jeher in der Lautpoesie viel verwendet wird. Im vorliegenden Gedicht wird durch die spezielle Art der Substantivwiederholung ein ewiger Kreislauf angedeutet, denn der letzte Begriff der letzten Substantiv-Dreiergruppe 1148 gomringer (1969b), S. 56.

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entspricht demjenigen, der die erste eröffnet („baum“), bzw. es würde ein Kreislauf angedeutet werden, wäre da nicht die finale Zeile, die nicht dieser Konstruktionsregel folgt. Das Gedicht besteht zwar nur aus isolierten Wörtern, nichtsdestoweniger lassen sich diese als Spuren eines narrativen Substrats lesen. Denkbar wäre beispielsweise die folgende Situation: Ein Kind spielt mit einem Hund neben oder unter einem Baum, der sich in unmittelbarer Nähe zu einem Haus befindet. Die Wiederholbarkeit dieser Situation entspricht der zirkulären Struktur des Gedichtes, die einen unendlichen Kreislauf nahe zu legen scheint. In einer auf ein Minimum reduzierten Form hat Eugen Gomringer in dieser Konstellation eine Harmonie zwischen Flora („baum“), Fauna („hund“), Mensch („kind“) und Dingwelt („haus“) suggeriert. Die nächste audio-visuelle Konstellation Gomringers1149 erinnert in ihrer Konstruktionsweise zunächst mehr oder weniger an die weltberühmte Zeile aus Gertrude Steins Sacred Emily (1913): „Rose is a rose is a rose is a rose.“

Abb. 139  eugen gomringer, der einfache weg (1969)

Was zunächst eine gewisse Ähnlichkeit mit dem zitierten Vers aus Sacred Emily aufweisen mag, erweist sich bei näherer Betrachtung als prinzipiell ungleich: Während in Steins Vers dreimal drei identische Wörter wiederholt werden („is a rose“), werden in Gomringers Konstellation zwei unterschiedliche dreigliedrige Wortfolgen wiederholt, und zwar regelmäßig abwechselnd: „der einfache weg“ und „einfach der weg“. Verbunden sind diese beiden Gruppen durch die faktische Existenzerklärung „ist“. Ausgezeichnet als lautpoetisches Werk wird diese audio-visuelle Konstellation erstens durch die formelhafte Wiederkehr der konjugierten Verbform ,ist‘, die den Charakter einer Beschwörungsformel annimmt, und zweitens durch die Permutation, die – zusammen mit der Tilgung des letzten Buchstabens des Adjektivs ,einfache‘ und somit seiner Umbildung zur Partikel ,einfach‘ – die zweite Wortfolge aus der ersten hervorgehen lässt. Die zunächst kaum wahrnehmbare Operation der Tilgung eines einzigen Buchstabens hat dennoch eine große Wirkung, denn sie führt dazu, dass aus einer Qualitätsbeschreibung eines Weges – es handelt sich um den einfachen und nicht den schweren – 1149 gomringer (1969b), S. 88.



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eine Partikel zur Verstärkung der Aussage wird. Über den einfachen Weg lässt sich nichts anderes mit Sicherheit formulieren als die Tautologie, dass er ein Weg ist. Auf diese Weise könnte Gomringer zu verstehen geben, dass – zumindest der Möglichkeit nach – prinzipiell jeder Weg ein einfacher sein könnte. Das zöge die Konsequenz nach sich, dass sich jede Suche nach dem vermeintlich einzigen einfachen Weg als vollkommen sinnlos erweisen würde und müsste. Das letzte Beispiel1150 für eine audio-visuelle Konstellation aus der Feder Eugen Gomringers, das hier vorgestellt werden soll, führt ein alternatives Konstruktionsprinzip vor. Auch dieses Beispiel weist – wie die zuvor analysierten – die besonders für Gomringer charakteristische Reduktion auf einen minimalen Zeichenbestand auf:

Abb. 140  eugen gomringer, vielleicht (1969)

Auch diese Konstellation folgt einer leicht auszumachenden Konstruktionsregel: Es erscheinen viermal vier Wörter, wobei diese jeweils zu Zweiergruppen übereinander angeordnet sind. Zwischen den vier Komplexen herrschen große Abstände, so dass auch hier der Eindruck entsteht, es handle sich um Strophen. Jede ist dabei so konstruiert, dass auf das Titelwort „vielleicht“ ein Substantiv folgt („baum“, „vogel“, „frühling“ oder „worte“) und diese Anordnung in der zweiten Zeile in ihr genaues Gegenteil verkehrt ist. Diese chiastische Anordnung erscheint insgesamt viermal. Bis auf eine bedeutsame Ausnahme, nämlich den Begriff „worte“, der signifikanterweise der letzte der vier Begriffe ist, entstammen alle erscheinenden Begriffe der Isotopieebene der Natur bzw. der Natur im Frühling, der in der dritten ,Strophe‘ explizit genannt wird. Signifikanterweise sticht diese dritte ,Strophe‘ durch ihre Länge heraus: Sie scheint die beiden vorangehenden kürzeren ,Strophen‘ zu umfassen, so wie der Begriff „Frühling“ die Begriffe „Baum“ und „Vogel“ implizit beinhaltet. 1150 gomringer (1969b), S. 90.

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Betrachten wir nun die zuvor angekündigte Ausnahme. Diese stellt die letzte ,Strophe‘ dar, denn der Begriff „worte“ gehört nicht der Isotopieebene des Frühlings in der Natur an. Darüber hinaus unterscheidet er sich auch dadurch von den zuvor eingesetzten Begriffen, dass er eine Pluralform darstellt, während die anderen jeweils Singularformen sind. In dieser finalen ,Strophe‘ ist der mit „vielleicht“ ausgedrückte Zweifel, der umso stärker wiegt, als er – wie in den vorangehenden ,Strophen‘ auch – in Form eines Chiasmus zweifach erscheint, auf den Wortbereich übertragen. Hierbei handelt es sich um den ureigensten Bereich der Dichtung, wodurch Gomringer seiner Konstellation zuletzt eine poetologische Dimension eingeschrieben hat. Der Zweifel am Wort könnte sich dabei auf die in der Nachkriegsdichtung – vor allem in der Konkreten Poesie – betriebene Sprachskepsis beziehen und den Status des Wortes infrage stellen. In jedem Fall handelt es sich um eine Reflexion über Wörter, die aufgrund der Abweichung vom traditionellen Satzspiegel für Gedichte auch die materielle Dimension mit einbezieht. Unter dem Titel expressionen und reihungen findet man bei Gerhard Rühm folgendes ebenfalls optophonetisch gestaltetes Lautgedicht:1151

Abb. 141  Gerhard Rühm, ohne Titel (1952/53)

Im Gegensatz zu den bisher analysierten optophonetischen Gedichten ist das vorliegende nicht aus Wörtern zusammengesetzt, sondern besteht – in lettristischer Manier – aus Buchstabenketten oder gar isolierten Buchstaben. Deren Abfolge scheint keiner Regel zu folgen, sondern rein willkürlich zu sein. Außerdem scheint ihre Verteilung auf der Papierseite nicht in der Tradition der Umrissgedichte (beispielsweise des Barock) oder der Calligrammes Apollinaires einen bestimmten Gegenstand abzubilden, der im Normalfall auf der inhaltlichen Ebene evoziert wird. Im vorliegenden Fall wäre dies schon deshalb nicht möglich, weil das Textkorpus nicht aus Begriffen gebildet wird, die durch 1151 Rühm (1970), S. 12.



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eine figürlich-abbildende Textpräsentation auf tautologische Weise gespiegelt werden könnten. Was die Gestaltung von Rühms Gedicht angeht, so stechen zwei gegenläufige Konstruktionsprinzipien ins Auge: horizontale Buchstabenaneinanderreihungen und eine leicht gekrümmte Diagonale, die sich daraus ergibt, dass jeweils ein Buchstabe schräg über einem anderen erscheint. Die Buchstaben sind so auf der Fläche angeordnet, dass sowohl an oberster als auch an unterster Stelle ein isolierter Buchstabe erscheint (b und g), und zwar – so wie alle im Gedicht auftauchenden Buchstaben – als Minuskel. Auch hier war wohl der Wille zur Reduktion ausschlagend. In der zweiten Zeile des Gedichtes stehen dann schon zwei Buchstaben, wobei diese identisch sind. Darauf folgt wieder eine Zeile, die aus nur einem Buchstaben gebildet wird, und zwar aus dem Buchstaben p, der durch eine horizontale Achsenspiegelung des b, mit dem das Gedicht einsetzt, entstanden ist. Darauf folgt eine Zeile, die aus drei Buchstaben und damit der im Vergleich zur zweiten Zeile des Gedichtes um einen Buchstaben gesteigerten Anzahl besteht. Als Nächstes erscheint erneut der erste Buchstabe des Gedichtes, auf den eine Reihe aus einer dreimaligen Wiederholung des Buchstabens w folgt. Erneut wurde die Buchstabenanzahl der letzten vorausgehenden Buchstabenreihung (vierte Zeile) um eins gesteigert. Es folgen zwei Zeilen, die jeweils aus nur einem Buchstaben gebildet werden, wobei beide sich und den ersten Buchstaben spiegeln (d und p). Ab dieser Zeile folgen auf eine horizontale Reihe aus identischen Buchstaben jeweils zwei Zeilen aus jeweils einem Buchstaben bzw. in der viertletzten Zeile aus zwei Buchstaben. Diese zwei Buchstaben erscheinen in der Textarchitektur davor bereits diagonal übereinander, und zwar in unmittelbarer Nähe. Den Abschluss des Gedichtes bilden zwei Zeilen aus dem jeweils einmal vorkommenden Buchstaben g. Das letzte g füllt dabei dieselbe Position aus wie der erste Buchstabe des Gedichtes. Wie bereits erläutert, beinhaltet die Textkonstruktion keine Begriffe. Nichtsdestoweniger laden auch die einzelnen Buchstaben zu Assoziationen ein – dies vor allem dadurch, dass die oben beschriebene Buchstabenarchitektur von Rühm am linken Rand der Papierseite angeordnet wurde, so dass der Eindruck entstehen kann, es handle sich um die Hälfte einer Figur. Diese ähnelt beispielsweise einem Baum, wobei diese Assoziation durch die alliterative Verbindung des ersten Buchstabens mit dem Begriff ,Baum‘ verstärkt wird. Verfolgt man diese Assoziation weiter, so lassen sich auch die anderen Buchstaben mit Begriffen in Verbindung bringen, die dem Begriff ,Baum‘ verwandt sind. Rühm hat dieses Gedicht der Kategorie ,Lautgedicht‘ zugeordnet, allerdings widersetzt sich das Textmaterial – im Gegensatz zu den bisherigen optophonetischen Gedichten – der akustischen Realisation in Form eines mündlichen Vortrages o.Ä. Das liegt nicht nur daran, dass Rühm nur Einzellettern verwendet, sondern vor allem auch daran, dass das Gedicht keine Vokale enthält. Die akustischen Qualitäten des vorliegenden Textes beschränken sich daher auf das Wissen um eine Wiederholung von Buchstaben, die prinzipiell seit jeher zu den beliebtesten Verfahren der Lautpoesie zählt. Ebenfalls unter der Kategorie ,Lautgedicht‘ findet sich bei Rühm noch ein weitaus reduzierterer Text:1152 1152 Rühm (1970), S. 25. Lentz (2000), I: S. 771 hat Rühms atemgedicht als „Reduktionsmodell I“ inter-

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Abb. 142  Gerhard Rühm, atemgedicht (1954)

Analog zu denjenigen Lautpoeten, die – wie beispielsweise Dufrêne in seinen Crirythmes – den Vorgang des menschlichen Atmens in akustischen Realisationen lautpoetisch umgesetzt haben, hat Rühm mit dem vorliegenden Gedicht ein visuelles Pendant zu diesem Vorgang geschaffen.1153 Dieses weist allerdings nicht die notationstechnische Elaboriertheit eines Lemaître auf, der – ebenso wie Isou – den unterschiedlichen Möglichkeiten des menschlichen Atmens große Bedeutung beigemessen hat. Rühm hat den Prozess des Ein- und Ausatmens auf eine reduzierte Weise, die kaum minimalistischer gestaltet sein könnte, abgebildet, nämlich ausschließlich durch die zehnmalige Verwendung der Minuskel h. Diese zehn Buchstaben sind übereinander angeordnet, und zwar von oben nach unten in einer Vierer-, einer Zweier-, einer Dreiergruppe und zuletzt als Einzelbuchstabe. Wäre da nicht der Titel (atemgedicht) und der erläuternde Zusatz in der Parenthese („ein- und ausatmen:“), so würde wohl kein Leser die intendierte Bedeutung des Gedichtes als Aufforderung zur Aktion erfassen.1154 Es ist jedoch nicht klar, wann der Buchstabe ein Einatmen und wann er ein Ausatmen suggerieren soll. Es existiert eine andere Version dieses Gedichtes, in der hinter jedem der vertikal angeordneten Buchstaben h in Klammern abwechselnd der Zusatz „einatmen“ oder „ausatmen“ erscheint. Dieser regelmäßige Wechsel wird erst ab der vorletzten Wiederholung des Buchstabens unterbrochen, denn hier folgt auf ihn eine Klammer mit folgendem Inhalt: „einatmen und den atem gespannt anhalten“: „Die auch visuell zu vermittelnde modellhaft-didaktische Dramaturgie des Atemvorgangs kulminiert in einem sich pointiert kathartisch lösenden pretiert. 1153 Zum Typus des Atemgedichts vgl. das Kapitel Le jeu de la voix hors des mots in Prigent (2001), S. 58–61. 1154 Zu Recht hat Lentz (2000), I: S. 771 das Gedicht als „notierte deskriptive Handlungsanweisung“ beschrieben.

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sprichwörtlichen Atemstillstand.“1155 Nach der letzten Wiederholung löst sich die hier benannte Spannung dann wie folgt auf: „erlöst ausatmen“. Dies könnte in der vorliegenden Version insofern suggeriert sein, als die große Leerstelle zwischen dem vorletzten Buchstaben den Vorgang des Atemanhaltens visualisieren könnte. Zwischen den drei Buchstabengruppen sowie der letzten und dem Einzelbuchstaben herrscht jeweils ein Abstand, wobei dieser im letzten Fall mehr als doppelt so groß ist wie in den vorangehenden zwei Fällen. Muss den Leerstellen in der visuellen Konkreten Poesie ebenso viel Bedeutung zugemessen werden wie den gedruckten Zeichen, so erfüllen die Leerstellen auch in Rühms Lautgedicht eine bestimmte Funktion: Sie weisen auf die Abwesenheit von skriptural notierten akustischen Zeichen hin. Die blancs im Text sind die Stellen, die das Lautgedicht (nach einer traditionellen Auffassung vom Gedichtbegriff ) enthalten könnte. Dadurch, dass der Text diese gerade nicht vorführt, impliziert er, dass schon der menschliche Atmungsvorgang als Lautgedicht aufzufassen sei, und zwar – im Gegensatz zu Dufrêne, Chopin u.a. – zunächst auf der visuellen Ebene. Auch im spatialisme trifft man auf optophonetische Gedichte. Das erste hier gewählte Beispiel1156 stammt aus Pierre Garniers Sammlung Minipoèmes pour enfants (1967). Es kann als Zeugnis der Bestrebungen des spatialisme – ebenso wie der Konkreten Poesie –, der Dichtung zu größerer Popularität zu verhelfen, gewertet werden, und zwar in diesem Fall deshalb, weil es speziell an Kinder gerichtet ist:

Abb. 143  Pierre Garnier, Chanson spatiale (1967)

Die vertikale Anordnung der skripturalen Zeichen in Garniers Gedicht erinnert zunächst an den unmittelbar zuvor analysierten Text von Rühm, jedoch hat Pierre Garnier 1155 Lentz (2000), II: S. 771. 1156 Garnier (2008), I: S. 269.

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keine Einzelbuchstaben verwendet, sondern zwei- und dreigliedrige Buchstabenkombinationen und an unterster Stelle den Begriff ,cosmos‘. Die verschiedenen Kombinationen und dieser Begriff sind dadurch verbunden, dass alle aneinander gereihten Buchstaben im Begriff ,cosmos‘ enthalten sind. Dieser erscheint daher bis zur letzten Zeile des Gedichtes bruchstückhaft und erst in der Schlusszeile komplett. In den zuerst zu lesenden Buchstabenkombinationen sind dabei nicht alle Buchstaben des Begriffes ,cosmos‘ enthalten, sondern lediglich die Buchstaben s und o, die in diesem Begriff jeweils zweimal vorkommen. Diese permutieren von Zeile zu Zeile, bis sie im Begriff ,cosmos‘ ihre endgültige feste Position gefunden haben. Ähnlich wie in Augusto de Campos’ Text sos (1983)1157 nimmt auch in Garniers Buchstabenkonstellation das Akronym sos eine prominente Stelle bzw. prominente Stellen – in der vierten und siebten Zeile – ein, denn es taucht zweimal, und zwar direkt übereinander, auf. Der mit diesem Akronym assoziierte internationale Hilferuf verweist auch hier auf eine nicht konkretisierte Katastrophe, die – angeregt durch den Begriff ,cosmos‘ – kosmische Ausmaße besitzen könnte. Die sich oberhalb des Begriffes in der untersten Zeile des Gedichtes befindenden Buchstabenkombinationen sind zwar – bis auf die Ausnahme des Akronyms sos und des Substantivs os – in der französischen Sprache semantisch nicht belegt, dafür aber im Spanischen. Das französische Substantiv „os“ (Singular: Knochen, Plural: Gebeine) könnte auf Tote hinweisen, was mit dem Hilferuf „sos“ assoziiert werden könnte. Das spanische Subjektpronomen der zweiten Person Plural („os“) könnte ebenfalls mit dem Hilferuf assoziiert werden. Die Buchstabenfolge „os“ eröffnet das Gedicht und erscheint noch mehrfach im Textverlauf, was sich kohärent der Assoziation des Hilferufes sos anschließt, als dessen Adressat durch das Pronomen eine nicht spezifizierte Gruppe (z.B. die Leserschaft) gekennzeichnet sein könnte. Des Weiteren handelt es sich bei der Buchstabentrias „oso“ um den spanischen Begriff für Bär. Dieser lässt sich insofern der durch den Begriff ,cosmos‘ vorgegebenen Isotopieebene eingliedern, als hier an zwei populäre Sternbilder des Nordhimmels zu denken ist: den Großen und den Kleinen Bären (Ursa Major und Ursa Minor). Nicht zufällig hat Garnier den Begriff „oso“ zweimal verwendet. Wie viele Lautpoeten seiner Zeit hat auch Pierre Garnier einen Begriff aus der Musik verwendet, und zwar an prominenter Stelle, nämlich im Titel: chanson. Der zweite hier genannte Begriff bezieht sich nicht – wie der erste – auf die Gattung, der das Gedicht damit zugeordnet wird, sondern auf die Konstruktionsweise: spatiale. Der Titel bereitet den Leser also einerseits auf die musikalischen Qualitäten des Gedichtes vor und andererseits darauf, dass der Satzspiegel von demjenigen traditioneller Gedichte abweicht. Mit anderen Worten: Der Titel lässt eine optophonetische Gestaltung erwarten. Abschließend soll ein Blick auf solche optophonetischen Gedichte Pierre Garniers gerichtet werden, die ein gemeinsames Merkmal aufweisen, obgleich sie unterschiedlichen Sammlungen entnommen sind: Sie alle ahmen Vogelstimmen nach. Damit steht Garnier in einer langen Tradition im Bereich der Lautdichtung, nämlich derjenigen, die sich der lautgestalterischen Imitation von Tierstimmen verschrieben hat: „Eine spezi1157 Vgl. S. 223ff. dieser Arbeit.



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fische Form der Lautmalerei finden wir in den vielen Tierstimmenimitationen […].“1158 Hierbei nahmen seit jeher Vogelstimmen eine zentrale Rolle ein.1159 Diese wurden in zahlreichen Lautgedichten auf onomatopoetische Weise abgebildet. Diese Tradition beginnt bei Aristophanes1160 und zieht sich über die Lautdichtung unmittelbar nach 1945 bis zum heutigen Tag hin.1161 In der internationalen Geschichte der Lautdichtung sind mehrere Hochphasen der Vogelstimmen-Imitationen auszumachen, nämlich das Mittelalter (z.B. Oswald von Wolkenstein), das 17. Jahrhundert (z.B. Mario Bettini), das 18. Jahrhundert (z.B. Johann Matthäus Bechstein) und das 20. Jahrhundert (z.B. Francis Jammes, Guillaume Apollinaire, Kurt Schwitters, Hugo Ball, Raoul Hausmann, Öyvind Fahlström, Pierre Garnier).1162 Bob Cobbing hat die Vogelstimmen-Imitation sogar programmatisch zu einem Motto der concrete sound poetry erhoben: „We aspire to Bird Song.“1163 Die Vogelstimmen-Imitation muss im Kontext des Strebens der Dichter der Konkreten Poesie nach einer international verständlichen und universal anwendbaren Sprache gesehen werden. Damit schließen sich die Konkreten Dichter einer langen Tradition an. Den Aspekt der universalen Verständlichkeit des Vogelgesanges, der ihn prinzipiell von den menschlichen Sprachen unterscheidet, hebt schon das folgende Gedicht von Friedrich Rückert aus dem Jahre 1856 hervor: Die Nachtigall im Busch der Wiese Singt noch, wie einst im Paradiese, Verständlich jedem Sinn und Ohr; Seitdem der Menschenzunge Lallen In so viel Sprachen ist zerfallen, Daß sich nicht mehr versteht ihr Chor.1164

Der Mythos vom ursprünglichen Zusammenhang von Dichtung und Vogelstimmen hat in der Literatur eine lange Tradition. Hier wäre einmal auf den mittelalterlichen Mythos von Francesco d’Assisi zu verweisen, dem man ja nachsagte, dass er im Stande gewesen sei, mit den Vögeln zu kommunizieren. Daneben gibt es auch entsprechende theoretisch-poetologische Äußerungen. Über den Nexus von Dichtkunst und Vogelstimmen im Rahmen einer auf dem Nachahmungsprinzip basierenden Poetik informiert beispielsweise Gottsched in Versuch 1158 Scholz (1992), S. 69. 1159 Vgl. Riha (1995), S. 92f. und Hausmann (1978), o. S. 1160 Aristophanes (1869), S. 34f. Vgl. Riha (1995), S. 97. 1161 Vogelruf-Imitationen finden wir auch in der Zaoum-Dichtung der russischen Futuristen (v.a. in der Dichtung Khlebnikovs und Kamienskys) und zumindest entsprechende Assoziationen auch im Dadaismus. Vgl. Riha (1995), S. 110f. 1162 Vgl. Scholz (1989), I: S. 31f. und Rühm (2001), S. 218. Der Ornithologe Johann Matthäus Bechstein hat seiner Naturgeschichte der Hof- und Stubenvögel (1795) u.a. ein Gedicht angefügt, das den charakteristischen Ruf einer Nachtigall nachahmt, und zwar ohne die Verwendung von Begriffen. Abdruck des Gedichtes in Scholz/Engeler (2002), S. 139. 1163 Cobbing (1969) [Internet]. 1164 Rückert (1956), V: S. 331.

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einer critischen Dichtkunst (1730), und zwar im Kapitel Vom Ursprunge und Wachs­thume der Poesie überhaupt.1165 Die Annahme, Dichtung könnte ihren Ursprung in Vogelstimmen haben, könnte dadurch eine Bestätigung erfahren, dass die Linguistik primitive Sprachen entdeckt hat, die sich von Vogelstimmen ableiten lassen sollen.1166 Von besonderem Interesse wird die Vorstellung von einer funktionslosen poetischen Artikulation durch den Gesang des Vogels in einem symbolistischen Gedicht wie Le poète et l’oiseau (1899) von Francis Jammes. Hier fragt der Dichter den Vogel nach dem Sinn seines Tuns, worauf ihm der Vogel nur eine Antwort im Sinne der l’art-pour-l’artÄsthetik gibt, denn er singe aus reiner Lebensfreude. Der von Francis Jammes in Szene gesetzte Vogelgesang besteht aus einem ,T‘ und mehreren kleinen ,i‘s. Bemerkenswerterweise zitiert Guillaume Apollinaire, der sich zu diesem Zeitpunkt bereits auf dem Wege zur Konzeption einer innovativen poetischen Sprache befand, welche neue Wörter aus der Klangqualität der modernen Welt generieren sollte, genau diese Gedichtzeile in seinem Roman Le poète assassiné (1916). Dies freilich nicht, ohne den Text im Zitat zu modifizieren und seinem ersten Rezipienten, nämlich dem im Text auftauchenden Maler namens Oiseau du Bénin (dieser steht für den Picasso in seiner Auseinandersetzung mit afrikanischer Plastik), vorzuführen. Dieser identifiziert diesen Text sofort als Plagiat von „Fr.nc.s J.mm.s“1167 und deckt damit die Ästhetik und Produktivität des Plagiats auf, das sich sehr gut in Apollinaires Ästhetik der produktiven imitatio einpasst. Diese Auseinandersetzung mit der Funktion der Vogelstimme passt konzeptionell sehr gut zu der von Apollinaire in der Folgezeit entwickelten Programmatik, nach der die verschiedensten, die menschliche Sprache begleitenden Geräusche des Sprachapparates, wie das Schnalzen, das Zischen, das Fauchen etc., als Bestandteil einer neuen poetischen Sprache eingesetzt werden können: Dies sind die Positionen aus einem der letzten Gedichte Guillaume Apollinaires.1168 Die poetische Vogelstimmen-Imitation verfügt primär deshalb über eine starke Präsenz in der Lautdichtung nach 1945, weil auch sie sich dem allumfassenden Thema der Sprachkritik – und somit dem treibenden Motor dieser Dichtung – eingliedern lässt: Die Wahl der Vogelsprache lässt sich zugleich als „Kritik am verrotteten Sprachzustand der Zeit [scil. der Nachkriegszeit; B.N.]“1169 auffassen. Die Tierstimmen-Imitation ist ein Verfahren, das die Lautpoesie aus der Musik übernommen hat.1170 Le chant des oiseaux (1528) von Clément Jannequin ist nur ein Beispiel für den Versuch eines Komponisten, Vogelstimmen bzw. den charakteristischen Ruf von bestimmten Vögeln nachzuahmen.1171 In beiden Bereichen, der Lautdichtung und der 1165 Vgl. hierzu v.a. Gottsched (1973), S. 115f. 1166 Vgl. Hausmann (1978), o. S. Vom allgemeinen Interesse an und der Faszination von Vogelstimmen zeugen auch die Versuche, die Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts unternommen haben, um Vogelstimmen in eine Art wissenschaftlicher Notation zu transkribieren. 1167 Apollinaire (1977), S. 258. 1168 Vgl. hierzu S. 18ff. dieser Arbeit. 1169 Riha (1995), S. 115. 1170 Vgl. den Eintrag Vogelgesang in Honegger/Massenkeil (1987), VIII: S. 300f. 1171 Ein musikalisches Beispiel für eine komplizierte Form der Vogelstimmen-Imitation stammt von Leopold Mozart, dem Vater von Wolfgang Amadeus Mozart: Sinfonia Berchtholdgadensis a violino I, II, basso, Schnarre, Guckuck, Nacht-Eule, Trompete und Trommel, Cimbelstern, Wachtel oder auch Kin-



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Lautmusik, ist dabei zu unterscheiden zwischen der Imitation nur einer oder mehrerer Vogelstimmen und der Verwendung von non-verbalem onomatopoetischen und verbalem Zeichenmaterial. Der Unterschied zwischen den beiden zuletzt genannten Möglichkeiten soll zunächst anhand zweier Gedichte von Pierre Garnier aufgezeigt werden, die beide dem Grünspecht (frz. pivert oder pic-vert) gewidmet sind. Das erste1172 der beiden Beispiele stammt aus der Sammlung Ozieux 2 (1976) und ist onomatopoetisch gestaltet, ohne semantisch aufgeladene Wörter zu beinhalten:

Abb. 144  Pierre Garnier, pivert (1976)

Das Textarrangement ist als Rechteck gestaltet, wobei dieses aus vier vertikalen Textblöcken gebildet wird, die jeweils fünfmal die Buchstaben-Unterstrich-Kombination „pic_bou“ enthalten. Diese vier Textblöcke sind in regelmäßigen Abständen auf der Papierseite angeordnet. Die auf diese Weise entstehenden unbedruckten Zwischenräume könnten dabei auf das charakteristische Element von Vögeln hinweisen: Luft. Bei einer Rezeption, die vom Titel absieht, ist allerdings nicht klar, dass das Gedicht den Ruf eines Vogels nachahmt. Der Titel, der den Vogelnamen enthält, erfüllt daher die Funktion eines sprachlichen Indikators, der die Silben ,pic‘ und ,bou‘ als die poetische Inszenierung des Rufes eines Grünspechtes zu erkennen gibt. Der charakteristische Ruf dieses Vogels wird dadurch lautpoetisch abgebildet, dass die beiden Silben ,pic‘ und ,bou‘ durch einen Unterstrich eng miteinander verbunden werden und die weißen Zwischenräume zwischen den Textblöcken jeweils Pausen bewirken. Dabei ist nicht zu entscheiden, ob es sich um einen öfters rufenden Grünspecht oder aber eine große Anzahl von Grünspechten handelt. Das Textmaterial lässt diese beiden Möglichkeiten gleichermaßen zu. Denkbar wäre es jedenfalls, dass jeder Ruf einem anderen Vogel zugeordnet wird. In diesem Fall könnte die Konstellation der skripturalen Zeichen auf dem Papier an die – wenn auch als zu geordnet dargestellte  – Flugformation eines Vogelschwarmes von Grünspechten erinnern. Das zweite Beispiel,1173 das ebenfalls dem Grünspecht gewidmet ist, stammt aus Pierre Garniers Gedichtsammlung Ozieux (1966), die ausschließlich picardische Gedichte enthält. Die Frage, ob eine solch dialektale Dichtung prinzipiell dem Streben dersinfonie. 1172 Garnier (2009), II: o. S. 1173 Garnier (2008), I: S. 257.

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nach einer poetischen Universalsprache widerspricht, hat Pierre Garnier im Vorwort zu dieser Sammlung eindeutig verneint: „Le tri que fait le poète spatialiste fait ressortir les structures et dégage de leur langue les informations esthétiques.“1174 Diese ästhetischen Informationen weisen weit über den dialektalen Verwendungsrahmen hinaus und stehen somit nicht im Konflikt mit einer angestrebten Universalsprache. Die Gedichte dieser Sammlung basieren vor allem „sur l’information esthétique – acoustique ou visuelle – de certains noms d’oiseaux“1175. Das folgende Gedicht1176 setzt dabei die ästhetische Information des Vogelnamens Pik Bou (pivert) (dt. Grünspecht) in Szene. Es weist im Gegensatz zum soeben analysierten Gedicht keine statisch-monotone streng geometrische Textkonstruktion auf, sondern die Anordnung der skripturalen Zeichen auf dem Papier ist dynamisch gestaltet:

Abb. 145  Pierre Garnier, Pik Bou (pivert) (1966)

Hier erscheinen nun nicht nur zwei, sondern wesentlich mehr Silben und auch ein Begriff, nämlich „arbe“, der mehrfach wiederholt wird. Es bleibt dabei insofern die durch die Titelwörter vorgegebene Isotopieebene gewahrt, als es sich hierbei um einen picardischen Begriff1177 für ,Baum‘ handelt, der zum primären Lebensraum von Vögeln zählt. Flora und Fauna erscheinen auf diese Weise eng miteinander verknüpft. Zu denken wäre hier beispielsweise an einen Wald, in dem sich zahlreiche Grünspechte befinden. Zugleich bringt Pierre Garnier durch diesen Begriff lokales Sprachkolorit in sein Gedicht 1174 Garnier (2008), I: S. 255. 1175 Garnier (2008), I: S. 256. 1176 Garnier (2008), I: S. 257. 1177 ,arbe‘ ist neben ,ape‘ eine der beiden picardischen Formen für den französischen Begriff ,arbre‘.



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und markiert die picardische Region, von der aus er das Gedicht verstanden wissen möchte. Bei „arbe“ handelt es sich um den einzigen Begriff im Gedicht, der durch diese Exklusivität natürlich eine besonders starke Betonung erfährt. Ansonsten erscheinen ausschließlich neologistische Buchstabenkonstellationen, die aus dem picardischen Namen des Vogels (pik bou) und seiner französischen Entsprechung (pivert) abgeleitet sind. Es ging Pierre Garnier offensichtlich nicht darum, über Buchstabenpermutationen o.Ä. semantische Assoziationen aufzubauen, sondern vielmehr darum, dem Namen des im Titel evozierten Vogels und damit zugleich seinem charakteristischen Ruf in der Klangstruktur des Textes Omnipräsenz zu verleihen. Es handelt sich dabei um ein Beispiel für die poetische Präsentation der akustischen ästhetischen Infomation eines Vogelnamens, die Garnier neben der visuellen im Vorwort der Sammlung angekündigt hat. Dadurch, dass der Dichter sowohl den pikardischen Namen des Vogels als auch seine französische Entsprechung lautpoetisch verarbeitet hat, hat er zugleich auf die enge Verbindung zwischen dem Picardischen und dem Französischen hingewiesen. Auch darauf wird der Leser schon im Vorwort vorbereitet, wenn es nämlich heißt, dass die Ozieux-Gedichte ebenfalls „sur l’imprégnation français-picard, picard-français“1178 basierten. Durch die Silbenzerlegungen des Vogelnamens und die an ihm durchgeführten Buchstabenpermutationen hat Garnier – aus linguistischer Perspektive betrachtet – auch darauf aufmerksam gemacht, dass im Falle des Vogelnamens kein arbiträrer Zusammenhang zwischen dem Begriff und der ihm korrespondierenden ,Sache‘ besteht, sondern dass der Begriff, in diesem Fall der Vogelname, sich unmittelbar aus dem Ruf des Grünspechtes ableitet. Damit hat Pierre Garnier einen Wandel der Zeichenqualität inszeniert, denn das Gedicht unterstellt – semiotisch gesprochen – in lautlicher Hinsicht ein ikonisches Verhältnis: Der spezifische Ruf des Grünspechtes und sein Name sind über ein (nicht erläutertes) Ähnlichkeitsverhätnis miteinander verbunden. Es würde sich weder um ein spatialistisches noch um ein optophonetisches Gedicht handeln, wenn nicht auch der visuellen Dimension eine gesteigerte Bedeutung zukäme. Zunächst fällt auf, dass hier – im Gegensatz zum vorangegangenen Grünspecht-Gedicht aus der Feder Pierre Garniers – keine monotone, da höchst regelmäßige, Anordnung der beteiligten skripturalen Elemente zu verzeichnen ist. Die Silben und Wörter ergeben eine Kreisform, wobei deren oberer und unterer Teil sich durch eine große Dichte der schwarzen skripturalen Zeichen auf dem weißen Papieruntergrund vom Mittelteil des Gedichtes unterscheiden, der wesentlich mehr blancs aufweist. Zugleich und gegenläufig zur Abnahme der skripturalen Zeichen in diesem Mittelteil nimmt die Häufigkeit des Begriffes ,arbe‘ hier stark zu. Auf diese Weise konnte Garnier weitgehend sicherstellen, dass dieser Begriff von jedem Leser wahrgenommen wird, denn im oberen und unteren Teil kann er aufgrund der Buchstabendichte und der starken Dominanz von Silben, die aus dem Vogelnamen abgeleitet sind, leicht übersehen werden. Verglichen mit dem Textarrangement des vorangehenden Gedichtes, weckt das vorliegende insgesamt wesentlich stärker die Assoziation eines Vogelschwarmes.

1178 Garnier (2008), I: S. 256.

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Skriptural-akustische Intermedialität

Im Gegensatz zum soeben analysierten Gedicht spielt im folgenden Beispiel,1179 das ebenfalls der Sammlung Ozieux (1966) entnommen ist, die visuelle Dimension eine erheblich wichtigere Rolle als die akustische, beispielsweise basiert das Gedicht nicht auf einer lautpoetischen Verarbeitung des charakteristischen Rufes des auf der begrifflichen Ebene evozierten Vogels:

Abb. 146  Pierre Garnier, Ob (épervier) (1966)

Des Weiteren unterscheidet sich dieses Gedicht vom vorangehenden dadurch, dass der Titel hier nun eine untergeordnete Funktion erfüllt, denn im Gedicht selbst erfolgt eine vielfache Wiederholung des Titelwortes, nämlich ob (dt. Sperber). Hierbei handelt es sich um die picardische Bezeichnung für den französischen Vogelnamen épervier, den der Titel ebenfalls enthält. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass die französische Entsprechung des picardischen Vogelnamens nur im Titel, nicht jedoch im Gedicht auftaucht. Wie bereits angekündigt, erfüllt die visuelle Dimension in diesem Text eine wichtige Funktion, und zwar insofern, als seine Gestaltung den auf der semantischen Ebene thematisierten Sperber abbilden könnte. Die drei zusammenhängenden Dreiecke, die durch die Wiederholung des Begriffes ,ob‘ gebildet werden, lassen sich als die beiden Flügel und den Schwanz eines solchen Vogels auffassen, natürlich im Zustand der absoluten Reduktion, die ja ein wesentliches Charakteristikum der konkretistischen Gestaltung ist. Im Sinne der interpretatorischen Kohärenz ließe sich das vierte, isolierte WortDreieck als Kopf des Sperbers deuten. Dass die Spitze des Dreiecks nach unten zeigt und die es konstituierenden Begriffe dementsprechend ,auf dem Kopf ‘ stehen, könnte darauf verweisen, dass der Sperber auf Beutefang ist und gerade unter sich potenzielle Nahrung ausgemacht und deshalb seinen Kopf nach unten gerichtet hat. Eine solche 1179 Garnier (2008), I: S. 263.



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Interpretation wird insofern nahegelegt, als der Sperber in Europa zu den bekanntesten Greifvögel-Arten zählt. Diese Deutung unterstellte auch diesem Gedicht ein ikonisches Verhältnis, und zwar im visuellen Bereich: Das Textarrangement auf der Papierseite entspricht dem Begriff (Vogelnamen). Wie eingangs geschildert, hat Pierre Garnier in diesem Gedicht nicht den typischen Ruf des Sperbers imitiert. Dies findet darin eine lebensweltliche Entsprechung, dass dieser Vogel – verglichen mit anderen Repräsentanten der Gattung ,Greifvogel‘ – sehr selten ruft. Ein letztes Beispiel1180 für die Garniersche ,Vogelpoesie‘ präsentiert auf paradigmatische Weise die Möglichkeiten der optophonetischen Gestaltung eines Gedichtes:

Abb. 147  Pierre Garnier, chouette (1976)

Im vorliegenden Beispiel wird einmal der Ruf des im Titel benannten Vogels nachgeahmt, wobei dieses onomatopoetische Gedicht der Eule nachgeahmt ist. Es ist dabei wieder nicht zu entscheiden, ob es sich um den Ruf einer Eule oder die Rufe vieler Eulen handelt. In dieser Hinsicht ist auch hier keine eindeutige Interpretation möglich. Hinsichtlich der streng geometrischen Anordnung der Zeichen auf der Papierfläche erinnert das Gedicht an das Grünspecht-Gedicht aus der Sammlung Ozieux 2. Im vorliegenden Beispiel erscheinen in drei übereinander angeordneten Zeilen jeweils vier identische Zeichenkomplexe. Diese bestehen jeweils aus drei Zeichenkombinationen, die folgende Bestandteile enthalten: die Silbe ,ca‘, einen Schrägstrich und an dessen oberem Ende die Silbe ,oin‘. Der Eindruck einer strengen ,Textgeometrie‘ wird dadurch erzeugt, dass alle Schrägstriche parallel zueinander sind. Im vorliegenden Text besteht nicht nur durch die Anordnung aller Zeichenkomplexe, die den typischen Ruf der Eule imitieren, eine enge intermediale Verknüpfung zwischen der visuellen und der akustischen Ebene, sondern auch dadurch, dass die einzelnen Zeichenkomplexe Ähnlichkeiten mit Noten aufweisen. Auf diese Weise thematisiert das Gedicht implizit die Intermedialität von Dichtung und Musik im Bereich der Lautpoesie.

1180 Garnier (2009), II: o. S.

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Skriptural-akustische Intermedialität

Das nächste Beispiel1181 stammt von Bob Cobbing. Noch wesentlich stärker als die bisher analysierten optophonetischen Gedichte hebt es den Lautcharakter von skripturalen Zeichen, nämlich Buchstaben, hervor:

Abb. 148  Bob Cobbing, faũnd sãund pouẽm (1970)

Wie schon anhand des Titels ersichtlich wird, handelt es sich um ein Gedicht, das der Phonetik gewidmet ist oder – anders ausgedrückt – um ein phonetisches Gedicht im wörtlichsten aller Sinne. Im Prinzip hat Cobbing in seinem Gedicht den hohen Grad an Aussprachewillkür, die die englische Sprache gegenüber vielen anderen Sprachen (z.B. aus dem Bereich der Romania) besitzt, vorgeführt. Sein Ausgangsmaterial ist der Begriff ,glas‘. Dieser erscheint insgesamt 33-mal im Gedicht. Diese ,Schnapszahl‘ lässt Vermutungen über einen entsprechenden Inhalt des Glases zu. Es handelt sich nicht um identische Wiederholungen, denn der Vokal a im Begriff ,glas‘ wird auf ganz unterschiedliche Weise verschriftlicht. Dies ist deshalb möglich, weil Cobbing die Lautschriftzeichen des Internationalen Phonetischen Alphabets (IPA) dazu verwendet hat, die unterschiedlichen Aussprachemöglichkeiten dieses Vokals im Englischen, die der Begriff ,glas‘ zulässt, zu notieren. Die Variantenvielfalt geht dabei sowohl auf die Ausspracheeigenheiten des British English gegenüber dem American English zurück als auch auf regionale bzw. dialektale Nuancierungen. 1181 Cobbing (1970), o. S.



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Der mit diesem großen Spektrum an korrekten Aussprachen eines Begriffes einhergehenden Verunsicherung des jeweiligen Sprechers hat Cobbing ebenfalls in seinem Gedicht Rechnung getragen, und zwar durch die Schlusspointe. Zugleich könnte sie auf den alkoholischen Inhalt des Glases hinweisen. Die – in jedem Fall witzige – Pointe des Gedichtes besteht darin, dass auf die vielfache Wiederholung des Begriffes ,glas‘ unvermittelt das Substantiv oder das Verb ,tumble‘ erscheint, bei dem ebenfalls der Vokal a als Zeichen des Internationalen Phonetischen Alphabets wiedergegeben ist, und zwar als Zeichen des standardisierten British English. Das Gedicht besteht jedoch nicht nur aus einer vertikalen Reihung des Begriffes ,glas‘, die schließlich in ,tumble‘ mündet, sondern auch aus handschriftlichen Zeichen, die links neben und über dieser Wortspalte zu sehen sind. Neben dem Titel des Gedichtes handelt es sich dabei um eine dicke wellenförmige schwarze Linie und um die Majuskel A, die an deren Ende erscheint. Diese wellenförmige Linie scheint als visuelles Pendant zu den phonetischen Varianten des Vokals a innerhalb des von Cobbing gewählten Begriffes angelegt zu sein. Wesentlich interessanter ist jedoch die Majuskel am unteren linken Rand des Textrahmens. Zunächst bleibt festzuhalten, dass dieser einzelne Buchstabe des lateinischen Alphabets einer Vielzahl von phonetischen Umsetzungen gegenübersteht. Cobbing könnte damit auf die Armut des verschrifteten lateinischen Alphabets gegenüber der phonetischen Realisierung verweisen. Hier wäre zugleich eine poetologische Dimension impliziert: Die verschriftete Notation dieses optophonetischen Gedichtes dient lediglich als Notation für die akustische Umsetzung, nämlich den lauten Vortrag, und ist diesem prinzipiell unterlegen. Betrachten wir nun Cobbings Wortwahl: Natürlich ist der Begriff ,glas‘ nicht willkürlich gewählt. Er könnte vielmehr auf die mithilfe des Internationalen Phonetischen Alphabets transparent gemachte Aussprachevielfalt des Vokals a, zugleich aber auch auf die ungewisse Aussprache eines Begriffes, der ausschließlich visuell, nämlich als Formation skripturaler Zeichen auf einem Papieruntergrund vorliegt, verweisen. Den Abschluss dieses Kapitels zur optophonetischen Dichtung nach 1945 soll die Sammlung poetamenos (1953)1182 von Augusto de Campos bilden. Diese umfasst sechs Liebesgedichte an die (zum damaligen Zeitpunkt noch) zukünftige Frau des Dichters, Lygia Azeredo.1183 Bei diesen Gedichten handelt es sich um die ersten Beispiele der Konkreten Poesie in Brasilien.1184 Hier besteht eine besonders enge Verbindung mit der Musik, denn es ist eine konkrete musikalische Vorlage auszumachen. Dies geht aus Augusto de Campos’ programmatischer Vorbemerkung1185 zu poetamenos unmissverständlich hervor:

1182 Campos (1979), S. 63ff. 1183 Ihr Name stand Pate für den Titel des dritten Gedichtes der Sammlung, nämlich lygia fingers. 1184 Vgl. Clüver (1981), S. 386 und Bessa (2009), S. 222. 1185 Campos (1979), S. 65.

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Skriptural-akustische Intermedialität

Abb. 149  Augusto de Campos, poetamenos (1953)

Hier hat Augusto de Campos explizit auf den speziellen intermedialen Zusammenhang zwischen seinen Gedichten und der Musik (nach dem Modell Anton von Weberns) hingewiesen: Musikalische Instrumente sind ersetzt durch Sätze, Wörter, Silben und Buchstaben, wobei deren Tonfarben ein graphisch-phonetisches (eben ein optophonetisches) oder ideogrammatisches Thema ergeben. Des Weiteren sind die sechs Gedichte aus poetamenos für den mündlichen Vortrag konzipiert, in dem menschliche Stimmen im Rahmen einer „polyphonic recitation“1186 als unterschiedliche Tonfarben eingesetzt werden sollen, und zwar (fast) so wie die Instrumente in Weberns Klangfarbenmelodien.1187 Die Vorbemerkung stimmt den Leser also darauf ein, dass es sich bei den folgenden sechs Gedichten der Sammlung um eine Transposition von Anton von Weberns Konzept der Klangfarbenmelodie handelt, nämlich „the translation of Webern’s musical language into poetic terms, thus creating something close to an acoustic image“1188. Das poetische Ergebnis ließe sich ebenso als „image of voice“1189 beschreiben. Anton von We1186 Clüver (1981), S. 394. Vgl. auch Ohmer (2008), S. 89. 1187 Erstmals aufgeführt wurden die poetamenos im Jahre 1955 in der Teatro Arena in São Paulo. Jeweils ein Sprecher hat dabei den Text einer Farbe vorgetragen, während das entsprechende Gedicht auf eine große Leinwand im Hintergrund projiziert wurde. Vgl. Reither (2003), S. 101f., v.a. auch zur digitalen Remediatisierung der poetamenos. 1188 Bessa (2009), S. 226. Vgl. auch Aguilar (2005), S. 288. 1189 Bessa (2007) [Internet].



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bern wurde hier nicht zufällig von Augusto de Campos gewählt, denn die Gruppe Noigandres hat ihn in ihren theoretischen Texten wiederholt als einen ihrer einflussreichsten Vorläufer genannt. Beispielsweise werden im plano-pilota para poesia concreta (1958) – und somit dem maßgeblichen Manifest der Gruppe – explizit „webern e seus seguidores: boulez e stockhausen […]“1190 genannt. Die Gedichte der Sammlung poetamenos wurden noch vor der Publikation öffentlich aufgeführt, und zwar mit unterschiedlichen Stimmen. Diese mehrstimmige Anlage ist in der gedruckten Fassung in der Form präsent, dass Augusto de Campos für jede Stimme eine andere Druckfarbe gewählt hat.1191 In diesem Sinne hat Augusto de Campos beispielsweise zum zweifarbig gestalteten Gedicht eis os amantes, dem vorletzten Gedicht der Sammlung, angemerkt: „texto previsto para 2 vozes-cores, masculina e feminina.“1192 In den Gedichten werden auch einzelne Begriffe auf verschiedene Sprecher verteilt, was die Mehrfarbigkeit einzelner Begriffe deutlich macht. Die Farbgebung ist in den sechs Gedichten wie folgt gestaltet: poetamenos: gelb und violett paraiso pudendo: rot, blau, grün und gelb lygia fingers: rot, blau, grün, gelb und violett nossos dias como cimento: violett, rot, grün und gelb eis os amantes: blau und orange dias dias dias: grün, rot, blau und gelb. Das letzte Gedicht unterscheidet sich insofern von den anderen, als es nicht ausschließlich Minuskeln, sondern zur typographischen Hervorhebung vereinzelt auch Majuskeln aufweist. Der optophonetische Status der Sammlung steht außer Frage, denn jedes der Gedichte der Sammlung lässt sich bezeichnen als „composição de elementos básicos da linguagem, organizados ótico-acusticamente [...]“1193. Der Begriff ,composição‘, den Pignatari in dieser Beschreibung verwendet hat, zeugt von der Nähe der Gedichte zur Musik. Die Gedichte weisen aber eben auch eine starke visuelle Qualität auf „bringing to the forefront issues concerning the inter-connectedness of sight and sound“1194. Ganz konkret verschriftlichen und verbildlichen die poetamenos menschliche Stimmen. Exemplarisch soll dies anhand des dritten Gedichtes der Sammlung, nämlich lygia fingers,1195 aufgezeigt werden.

1190 Campos/Pignatari/Campos (1987), S. 156. 1191 Ähnliches hat schon Raoul Hausmann unternommen, als er 1927 eine Maschine entwickelt hat, die Farben in Musik und umgekehrt umwandeln konnte. 1192 Campos/Pignatari/Campos (1987), S. 22. 1193 Campos/Pignatari/Campos (1987), S. 53. 1194 Clüver (1981), S. 386. 1195 Campos (1953c) [Internet]. Abdruck des Gedichtes in Campos (1979), S. 71.

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Skriptural-akustische Intermedialität

Abb. 150  Augusto de Campos, lygia fingers (1953)

Zunächst ist festzuhalten, dass dieses Gedicht einen sehr engen Bezug zu einem konkreten Beispiel von Anton von Weberns Klangfarbenmelodie besitzt. Hierauf hat Augusto de Campos in einem programmatischen Gedicht aus dem Jahre 1974 ausdrücklich hingewiesen: „lygia fingers follows almost literally the initial part of the Quartet.“1196 Bei diesem Quartett handelt es sich um Anton von Weberns Quartett für Violine, Klarinette, Tenorsaxophon und Klavier, op. 22 (1930). Trotz oder vielleicht gerade wegen seiner Einzigartigkeit – vor allem hinsichtlich der Besetzung –, die Alban Berg in einem Brief vom 19. August 1932 hervorgehoben hat, zählt das Quartett zu den weniger häufig gespielten Stücken Anton von Weberns: Ja, dieses Quartett ist ein Wunderwerk. Was mich vor allem verblüffte: die Originalität. Man kann ruhig behaupten, daß es auf der ganzen Welt der Musikproduktion nichts gibt, was nur annähernd einen solchen Grad, eine solche 100%igkeit der Originalität erreicht.1197

Claus Clüver hat anhand der ersten fünf Takte des Quartetts detailliert dargelegt, inwiefern es sich bei lygia fingers um ein poetisches Pendant von Weberns Klangfarbenmelodie handelt.1198 Seine Analyse soll an dieser Stelle nicht wiedergegeben werden. Clüvers ansonsten hervorragende und sehr detailreiche Analyse weist ein erhebliches Manko auf: Er verweist zwar auf die „horizontal, vertical, and diagonal connections“1199, liest und interpretiert das Gedicht jedoch Zeile um Zeile und missachtet somit die zusätzliche 1196 Augusto de Campos, zitiert nach Clüver (1981), S. 390. 1197 Berg, zitiert nach Moldenhauer (1980), S. 112. 1198 Vgl. Clüver (1981), S. 390ff. 1199 Clüver (1981), S. 392.



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Möglichkeit einer vertikalen Lektüre bzw. einer solchen, die in vertikaler Richtung den farblichen Übereinstimmungen Rechnung trägt. Das Gedicht setzt mit dem Namen „lygia“ ein, den – wie bereits erläutert – Augusto de Campos’ Frau trägt.1200 Dieser Name ist in roter Farbe gedruckt. Ansonsten weist die typographische Gestaltung keine Besonderheiten auf, denn, wie bei allen anderen Wörtern und Silben in diesem Gedicht, handelt es sich um Minuskeln in einer fett gedruckten Futura-Schrift. Das nächste skripturale Element ist grün gestaltet. Es handelt sich um die portugiesische Verbform der 3. Person Singular „finge“, (dt. täuscht vor). Zusammen mit der ersten Buchstabenkombination der nächsten Zeile („rs“) lässt sich diese konjugierte Verbform zur englischen Pluralform fingers komplettieren. Dies ist insofern angezeigt, als diese Kombination ebenfalls grün gestaltet ist. Somit wird die Aussage „lygia finge“ zum Titel des Gedichtes (lygia fingers), und zwar dadurch, dass das portugiesische Verb in das englische Substantiv verwandelt und diesem der Frauenname vorangestellt wird. Auch das nächste skripturale Element in der zweiten Zeile, der spanische Infinitiv ,ser‘ (dt. sein), ist in grüner Farbe geschrieben. Schon in der ersten Zeile wird deutlich, dass auch dieses Gedicht ein Charakteristikum der Sammlung aufweist, nämlich die Mehrsprachigkeit: „The material has been drawn from, or refers to, the semantic codes of as many as five languages [...].“1201 Diese Mehrsprachigkeit verweist dabei auf das Streben der Dichter der Konkreten Poesie nach einer international verständlichen und anwendbaren Universalsprache. In der dritten Zeile erscheint zum ersten Mal ein Wort, das zweifarbig gestaltet ist, nämlich das sowohl im Portugiesischen als auch im Englischen und in vielen anderen Sprachen (zum Beispiel im Französischen und Deutschen) existierende Adjektiv ,digital‘, das aufgrund seines etymologischen Ursprungs (lat. digitus m.: der Finger) ebenfalls auf den Begriff ,Finger‘ hindeutet. Die im Namen „lygia“ enthaltenen Buchstaben i und g sind – wie dieser – in roter Farbe abgedruckt, wohingegen die übrigen zwei die grüne Farbe des zweiten Motivs aufweisen. Diese Zweifarbigkeit spiegelt das Zusammenspiel zweier Instrumente in Weberns Quartett wider: „The simultaneous presence of both colors in one word corresponds to the simultaneous sounding of saxophone and violin [...].“1202 Die nächste Zeile weist eine neologistische Konstruktion auf, die auf die griechischen Wörter „daktylos“, „graphein“, das lateinische „illa“ und das portugiesische „dedo“, das wiederum das Finger-Motiv aufnimmt, zurückgeht. Es handelt sich hierbei um ein portmanteau-Wort nach dem Modell Lewis Carrolls. Dieses Verfahren haben die Dichter der Gruppe Noigandres oft angewandt. Im folgenden Zitat hat es Décio Pignatari unternommen, diese neue Art der Wortbildung zu erläutern, und dabei auch explizit auf ihre Eignung für die Konkrete Poesie hingewiesen. Er hat portmanteau-Wortbildungen hier sogar zu den gestalterischen Grundprinzipien konkretistischen Dichtens gezählt: 1200 Der Name Lygia taucht in mehreren Gedichten Augusto de Campos’ auf, zum Beispiel in o poeta ex pulmões (1951). Abgedruckt in Campos (1979), S. 60ff. 1201 Clüver (1981), S. 387. 1202 Clüver (1981), S. 390.

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„A palavra portmanteau [...] é uma nova unidade qualitativa, resultante da justaposição de duas ou mais palavras […]. Pequena paisagem verbivocovisual ou pequena paisagem ideogrâmica.“1203 In der nächsten Zeile von lygia fingers erfolgt die bedeutsame Transformation Lygias zu einem Luchs („lynxs“), und zwar verstärkt durch eine Wiederholung, die zugleich der lateinischen Bezeichnung des Eurasischen Luchses bzw. des Nordluchses entspricht (lynx lynx). Eine solche Transformation ist insofern angezeigt, als die beiden Begriffe ,lygia‘ und ,lynx‘ in der Textarchitektur genau übereinander stehen. In der Folge erscheinen nur solche Buchstaben in roter Farbe, die in einem der Begriffe oder gar beiden enthalten sind. Das von „lynx lynx“ räumlich weit entfernte Adverb „assim“ ergibt mit dem drei Zeilen weiter unten stehenden „seja“ eine assertorische Aussage: so ist es. Die Zusammenführung dieser beiden Wörter wird erneut durch die farbliche Übereinstimmung (lila Farbe) nahe gelegt. Dieser Aussage wird insofern eine zeitliche Dimension hinzugefügt, als auch die Wörter „quando“ (italienisch) und „lange“ (deutsch) und weiter unten „la sera“ (italienisch) lilafarben gedruckt sind. Auf diese Weise wird die Frage danach, wann etwas so ist, mit der Durabilität des Zustandes und der Festlegung auf den Abend verbunden. Vor dem Hintergrund, dass es sich bei poetamenos um Liebeslyrik handelt, ist bei aller interpretatorischen Offenheit des vorliegenden Gedichtes wahrscheinlich, dass es hier um die leibseelische Erfüllung der Liebe geht. Das lateinische Adjektiv „felix“ in der Mitte der Wortkonstellation deutet ebenfalls auf eine solche hin. Die Vereinigung der Liebenden wird im vorletzten Gedicht von poetamenos, nämlich in eis os amantes, dann explizit thematisiert. In den beiden Zwischenzeilen werden erstmals Familienverhältnisse benannt: „mãe“ (dt. Mutter) und „figlia“ (dt. Tochter). In der drittletzten Zeile finden wir des Weiteren den italienischen Begriff für ,Schwester‘ („sorella“). Erneut hat Augusto de Campos hier Begriffe aus verschiedenen Sprachen, nämlich dem Portugiesischen und dem Italienischen, gewählt. Diese werden durch das lateinische Adjektiv ,felix‘ ergänzt. Mit dem Kunstwort „felyna“ könnte nochmals auf die Verwandlung Lygias in einen Luchs angespielt sein, denn der Begriff weist eine hohe Ähnlichkeit mit der femininen Form des italienischen ,felino‘ (dt. Katzen…, katzenartig) auf. In diesen beiden Zeilen, die sich in der Mitte des Gedichtes befinden, erscheint erstmals und einzig gelbe Farbe, und zwar in der Wortfolge: „mãe“, „com“, „me“ und „sim“. Als narratives Substrat dieser Sequenz wäre daran zu denken, dass Lygias Mutter ihre Erlaubnis für die Beziehung ihrer Tochter mit dem lyrischen Ich, das hier zum ersten und zugleich letzten Mal auftaucht („me“), gibt. Dem entspräche auch, dass „figlia“ ab dem zweiten Buchstaben in der Farbe des lygia-Motivs (rot) gehalten ist. In den beiden ersten Silben der viert- und drittletzten Zeile („ly“ und „gia“) könnte die Rücktransformation des Luchses in die ursprüngliche Frau angedeutet sein, denn auch diese beiden erscheinen in der Textarchitektur exakt untereinander. Bleibt noch die blaue Farbsequenz zu erläutern: Im Gegensatz zu den anderen Farben handelt es sich hier lediglich um eine einzige Silbe, nämlich so. Diese taucht in den 1203 Campos/Pignatari/Campos (1987), S. 89.



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Kombinationen „so lange“ und „so only lonely“ sowie als Silbenbestandteil im Begriff „sorella“ und isoliert auf. Auf diese Weise partizipiert diese Buchstabenkombination an drei bzw. vier Sprachen, wenn man das isolierte „so“ als Anspielung auf das portugiesische Adjektiv ,só‘ (dt. allein, nur) deutet. Beide Bedeutungen im Deutschen werden in der vorletzten Zeile noch einmal aufgenommen („only“, „lonely“). Hier wird die Liebe zwischen Lygia und dem lyrischen Ich einerseits um den Aspekt der Exklusivität, die aufgrund der Farbgebung Lygia zu betreffen scheint („only“), und den Aspekt der Einsamkeit („lonely“) ergänzt. Auch hier impliziert die Farbgebung und die diese bedingende Silbenwahl („ly“ als Bestandteil des Namens ,Lygia‘), dass Lygia von einer solchen betroffen ist. Betrachten wir abschließend ein vollkommen anders geartetes optophonetisches Gedicht1204 von Andrew Topel:

Abb. 151  andrew topel, ohne Titel (2011)

Die Sammlung, der dieses Beispiel entnommen ist, nämlich SOUNDLESS (2011), hat Andrew Topel im Untertitel wie folgt beschrieben: „A collection of visual scores to be heard with the eyes“. Ebenso hat der Dichter die Rezeption der Gedichte dieser Sammlung als „listening experience“1205 bezeichnet. In konzeptioneller Hinsicht unterscheidet 1204 topel (2011), o. S. 1205 Persönliche Widmung Andrew Topels an die Verfasserin der vorliegenden Arbeit.

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sich das vorliegende Beispiel für optophonetische Dichtung von allen vorangehenden Repräsentanten dieser Gattung insofern, als der akustische Charakter hier nicht auf der Klanglichkeit von Sprache oder menschlich hervorgebrachten Lauten basiert. Beschreiben wir, um dies zu veranschaulichen, was wir sehen: Es handelt sich um eine Art Collage, die Buchstaben unterschiedlicher Größe, Farbe und Typographie und Teile einer oder auch mehrerer Partituren bilden. Die Notenzeilen sind dabei sternförmig auf der runden Scheibe, auf der sich die Buchstaben befinden, angeordnet. Das Arrangement erinnert leicht an eine Uhr, mehr noch aber natürlich an Kriwets Rundscheiben. Im Gegensatz zu diesen haben wir es im vorliegenden Beispiel aber eben nicht mit zu Wörtern kombinierten Buchstaben zu tun, sondern – bis auf einige wenige Ausnahmen, wie beispielsweise „yo“ und „es“, die darauf hindeuten, dass die skripturalen Zeichen einem spanischsprachigen Text entstammen – um isolierte Lettern. Wie es der Untertitel der Sammlung andeutet, ist der Aspekt der Klanglichkeit im vorliegenden Beispiel auf die visuelle Ebene beschränkt, bzw. die visuelle Ebene beinhaltet Hinweise auf eine Klanglichkeit, die sich im Mentalen vollzieht (vgl. den Titel SOUNDLESS). Angeregt wird der entsprechende Eindruck von lautlichen Qualitäten durch die kunstvoll arrangierten Ausschnitte, die musikalische Notenlinien und Noten zeigen.

3.6 Technische akustische Realisierungen von Lautgedichten 3.6.1 Analogaufnahmen 3.6.1.1 Allgemeines Wie bereits in der Vorbemerkung ausgeführt, ist die Geschichte der Lautdichtung nach 1945 untrennbar mit der Entwicklung technischer Aufnahme- und Speichermedien verbunden. Die erste technische Innovation, die auf dem Gebiet der akustischen Fixierung von Lautgedichten von maßgeblicher Bedeutung war, war das Tonbandgerät. Im Gegensatz zu der (Direktschnitt-)Aufnahme auf Schallplatte, die vor 1950 eine Möglichkeit der akustischen Speicherung von Lautgedichten darstellte, konnten mit dem Tonbandgerät die aufgezeichneten Geräusche, Stimmen und Klänge vielfach manipuliert werden: Zum Beispiel wurde es (ohne großen Aufwand und technisches Know-how) möglich, die Aufnahmen zu schneiden und einzelne Tonbandspuren zu überlagern oder auch Hallund Echoeffekte zu erzeugen. Henri Chopin hat diese innovativen Möglichkeiten folgendermaßen erläutert: Sie nehmen ein Zweispurband. Auf die erste Spur nehmen Sie irgendetwas auf, ein Thema. Dann nehmen Sie auf der zweiten Spur dasselbe noch einmal auf, nur starten Sie diesmal eine halbe Sekunde später. Sie schaffen dadurch Echoverhältnisse; und wenn Sie jetzt sowohl auf der einen wie auch auf der anderen Spur Spezialechos machen, entstehen auf den beiden ursprünglichen Aufnahmen zusätzliche Tonereignisse. Und wenn Sie, nachdem Sie diese beiden zusammengespielt haben, danach noch einen Nachhall draufgeben, schaffen Sie noch an-



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dere, zusätzliche Tonquellen – alles aus derselben Aufnahme, aus demselben ursprünglichen Thema heraus.1206

Außerdem konnten mithilfe des Tonbandgerätes auf relativ einfache Weise Geschwindigkeitsänderungen (Verlangsamungen und Beschleunigungen) durchgeführt und aufgezeichnet werden, so dass sich die Lautpoesie zunehmend von ihrem ursprünglichen Status als Echtzeit-Genre entfernt hat. Die in der Einleitung zur vorliegenden Studie diskutierte Frage, ob die Wahl des Mediums Einfluss auf die Botschaft – in diesem Fall die ästhetische Botschaft, die intermediale Gedichte vermitteln – habe, muss in diesem Fall mit besonderer Eindringlichkeit bejaht werden. Die großflächige Nutzung des Tonbandgerätes auf dem Gebiet der Lautdichtung nach 1945 hängt nicht nur damit zusammen, dass die entsprechenden Dichter stets neue Medien und neu geschaffene technische Möglichkeiten für die Gedichtproduktion und auch Gedichtrezeption eingesetzt haben, sondern liegt gleichermaßen in der Einsicht begründet, dass das Tonbandgerät es ermöglichte, wichtige Einblicke in das primäre Instrument bzw. in den primären Zeichenspender vieler Lautgedichte aus dieser Zeit, nämlich die menschliche Stimme, zu erhalten. Das folgende Zitat, das genau dieser Einsicht Ausdruck verleiht, stammt vom concrete sound poet Bob Cobbing: Strangely enough, the invention of the tape-recorder has given the poet back his voice. For, by listening to their voices on the tape-recorder, with its ability to amplify, slow down and speed up voice vibrations, poets have been able to analyse and then immensely improve their vocal resources. Where the tape-recorder leads, the human voice can follow.1207

Analoges hat auch Pierre Garnier in den 1960er Jahren geäußert: ce qui aujourd’hui favorise son développement [scil. le développement de la poésie phonétique; B.N.] c’est l’apparition d’un instrument remarquable : le magnétophone ; l’impossible d’hier devient le possible d’aujourd’hui : la connaissance exacte et approfondie de sa langue par le poète lui-même, l’étude directe aux différentes vitesses, aux différents tons, les montages, les superpositions, les perspectives soniques, donc la création de paysages linguistiques, la possibilité pour le poète d’enregistrer son émotion, enfin les multiples attraits soudain découverts d’une œuvre poétique créée exclusivement pour l’oreille.1208

3.6.1.2 Tape-Gedichte Zunächst werden hier zwei Gedichte von Henri Chopin analysiert, weil seine individuelle Konzeption von Lautdichtung – wie bereits erläutert – untrennbar mit dem Tonbandgerät verbunden ist.1209 1206 Henri Chopin im Gespräch mit Christian Ide Hintze aus dem Jahre 1983, zitiert nach Lentz (2000), I: S. 556. 1207 Cobbing (1982), S. 386. 1208 Garnier (1968), S. 41. 1209 Nicht nur Dichter beziehen das Tonbandgerät frühzeitig in ihre Produktion ein, sondern auch Prosa-

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Das erste Lautgedicht trägt den Titel 2500, les Grenouilles d’Aristophane (1967).1210 Der Titel von Chopins Gedicht ist damit stark dem Prinzip der Intertextualität verpflichtet, denn sein zweiter Teil verweist auf eine Komödie des Aristophanes, nämlich Die Frösche (Bátrachoi) (405 v. Chr.).1211 Dieser intertextuelle Zusammenhang ist nicht willkürlich gewählt, sondern könnte insofern eine poetologische Dimension enthalten, als er implizieren könnte, dass das hier zu analysierende 2500, les Grenouilles d’Aristophane – als Repräsentant der Lautdichtung nach 1945 – nicht Teil einer Dichtungstradition ist, die erst nach 1945 eingesetzt hat, sondern dass diese Tradition antiken Ursprungs ist. Es handelt sich dabei um eine Auffassung, die auch in neueren Beiträgen zur KonkretismusForschung vertreten wird. Zum Beispiel verweisen Ohmer und Krüger in der Einleitung zu ihrer Materialsammlung zur Konkreten Poesie explizit auf Ovid, der ebenfalls schon ,konkret‘ gedichtet habe: Bei Ovid wird der Text über das Quaken der zu Fröschen verwandelten lykischen Bauern plötzlich selbst zu einem lautmalerischen Gequake, welches aus den Worten plötzlich unbekannte Dimensionen freisetzt: ‚Quamvis sunt [sic.] sub aqua, sub aqua maledicere temptant.‘1212

Es sei an dieser Stelle, aus Anlass des Zitats, nochmals hervorgehoben, dass Lautpoesie keinen onomatopoetischen Charakter besitzen muss. Dies ist eine Möglichkeit, die auch nach 1945 genutzt wird, um poetisch konkret mit dem akustischen Zeichenmaterial umzugehen, aber es handelt sich dabei keinesfalls um die einzige Möglichkeit. Entgegen Scholz’ Meinung kann Lautdichtung auch nach 1945 noch lautmalerisch gestaltet sein, muss dies aber nicht.1213 Betrachten wir nun Chopins 2500, les Grenouilles d’Aristophane. Das Gedicht weist eine Gesamtlänge von 4'29'' auf. Es beginnt nicht medias in res, sondern mit einer Art Introduktion, und zwar in Form einer Widmung, die eine Frauenstimme spricht. Der Adressat dieser Widmung ist allerdings nicht zu ermitteln. Darauf folgt eine längere Lautsequenz, die das Quaken von Fröschen nachzuahmen scheint, und zwar im Medium einer Männerstimme. Es kommt dabei zu Stimmenüberlagerungen, wobei nicht eindeutig zu erkennen ist, ob es sich dabei immer um dieselbe männliche Stimme handelt oder nicht. In jedem Fall entstehen durch diese Superpositionen Echoeffekte, die beim Zuhörer zugleich den Eindruck eines ,Froschchores‘ erwecken. Dass es sich um eine Vielzahl von Fröschen handelt, darauf bereitet ja schon der Plural im Titel vor. Zwischen dem Quaken von Fröschen sind schrille Laute zu vernehmen, die an Schreie oder Vogelrufe erinnern. Auffallend ist schon hier eine ausgeprägte Manipulation der Abspielgeschwindigkeit, und zwar in Form einer starken Beschleunigung, die gleichermaßen zu Manipulationen der Tonhöhen und zu Verzerrungen führt. Aus diesem crescendo des Quakens und Schreiens gehen zunehmend deutlicher wahrnehmbare Wörter hervor. Es dauert autoren. Repräsentativ sei an dieser Stelle auf Samuel Becketts Krapp’s Last Tape (1958) verwiesen. 1210 Chopin (1967) [Internet]. 1211 Aristophanes hat nicht nur auf Frösche, sondern auch auf andere Tiere gedichtet. U.a. stammen von ihm auch die Stücke Die Vögel (Ornithes) (414 v. Chr.) und Die Wespen (Sphekes) (422 v. Chr.). 1212 krüger/ohmer (2006b), S. 10. Das Ovid-Zitat stammt aus den Metamorphosen, liber sextus, v. 376. 1213 Vgl. Scholz (1989), I: S. 27.



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einige Sekunden, bis der Bereich der Sprache aus Richtung desjenigen der Noch-Nichtoder aber Nicht-Mehr-Sprache, dem die asemantischen Quak- und Schreilaute entstammen, erreicht ist. Schließlich gehen aus dem Stimmengewirr die französischen Wörter „si“ und „non“ hervor, die ein Mann mehrfach hektisch hintereinander artikuliert. Kurz darauf scheint ebenfalls eine (oder dieselbe) Männerstimme den Takt vorzugeben, denn sie zählt, und zwar in verschiedenen Sprachen: zunächst auf Französisch, dann auf Italienisch und wenig später auch auf Englisch. Der linguistische Bereich des Französischen, der durch den Titel und auch die französischsprachige Widmung vorgegeben zu sein scheint, wird hier nun zugunsten eines inszenierten Internationalismus verlassen. Das deckt sich mit Henri Chopins prinzipieller Bestrebung, die poésie sonore als eine poésie sonore internationale zu begründen. Nach den verschiedensprachigen Zahlenreihen treten erneut die asemantischen schrillen Laute, die stark an Vogelrufe erinnern, in den Vordergrund, dies allerdings nur für wenige Sekunden, bis noch einmal eine aufsteigende Zahlenreihe laut artikuliert wird. Dieses Mal hört man eine Frauenstimme, die auf Spanisch zählt, wobei die Zahlen wesentlich höhere Werte besitzen als bei den vorigen Zahlenreihen. Dazu spricht eine Männerstimme wieder in regelmäßigem Wechsel die französischen Wörter für Zustimmung („si“) und Ablehnung („non“) aus. Im Folgenden wird der Zuhörer dieses Lautgedichtes mit Lauten konfrontiert, die wie das Quaken von Fröschen klingen, die sich unterhalb der Wasseroberfläche befinden. Im Hintergrund bleiben dabei weiterhin die hohen beißenden Laute zu hören. Ein neuer Fiepton setzt ein, und plötzlich beginnt eine männliche Stimme, auf Französisch zu zählen. Dieses Zählen wird durch ein Pfeifen unterbrochen, und das Lautgedicht bricht plötzlich ab. Auch das zweite tape-poem stammt – wie bereits angekündigt – von Henri Chopin. Es handelt sich dabei um das Lautgedicht Espaces et gestes (1959)1214 mit einer Länge von 5'27''. Der Titel scheint dabei bereits die McLuhansche These eines „acoustic space“1215 vorwegzunehmen. Dieser ist laut Marshall McLuhan deshalb dem visuellen Raum vorzuziehen, weil er „boundless, directionless, horizonless, in the dark of the mind, in the world of emotion, by primordial intuition […]“1216 ist. Der Eindruck eines akustischen Raumes bzw. akustischer Räume entsteht in Chopins Lautgedicht vor allem durch Echoeffekte, die in räumlicher Hinsicht als Tiefe empfunden werden. Das vorliegende Gedicht ist insofern auf einem relativ hohen Stand der damaligen Aufnahmetechnik, als es mehrspurige Sprach- und Lautaufnahmen sowie zahlreiche Superpositionen aufweist. Hinzu kommen Manipulationen der Abspielgeschwindigkeiten, die zu Manipulationen der Tonhöhen und auch Verzerrungen führen, und stark ausgeprägte Echoeffekte. Espaces et gestes setzt mit Geräuschen ein, die wie Sturm oder starker Wind klingen. Ab ca. 0'29'' nehmen diese Geräusche an Lautstärke und Intensität dergestalt zu, dass 1214 Chopin (1959) [Internet]. Die Notation von Espaces et gestes wurde im Jahre 1962 in der Zeitschrift Cinquième Saison (No. 17) publiziert. 1215 McLuhan/Fiore (1996), S. 45. 1216 McLuhan/Fiore (1996), S. 45.

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der Höreindruck entsteht, der Sturm sei Vorbote eines Gewitters gewesen, das sich nun zusammengebraut und durch Blitze und Donner entladen habe. Dieses Gewitter dauert allerdings nur sehr kurz, und danach ist wieder ein Rauschen, das an eine leichte Brise erinnert, zu bemerken. Im Vergleich zum Anfangsgeräusch ist die Lautstärke stark vermindert. Es könnte sich daher sozusagen um die Ruhe nicht – dem Sprichwort entsprechend – vor, sondern nach dem Sturm bzw. Gewitter handeln. Im Folgenden wird das Rauschen wieder lauter und scheint sich dabei aus dem Hinter- in den Vordergrund verschoben zu haben. Ein wichtiger Einschnitt findet ab 1'31'' statt, und zwar dadurch, dass hier nun eine menschliche Interaktion wahrnehmbar wird. Bis dorthin ist nicht eindeutig zu erkennen, ob die Laute menschlichen Ursprungs sind, bzw. genauer, ob der menschliche Körper die Geräuschquelle ist. Dadurch, dass hier nun unzweifelhaft eine menschliche Stimme zu hören ist, wird nahegelegt, rückwirkend alle bisherigen Laute dem menschlichen Körper zuzuschreiben. Zumindest kann dies nicht ausgeschlossen werden. Insofern könnte sich das vorliegende Lautgedicht als ein In-Szene-Setzen verschiedener Möglichkeiten des menschlichen Körpers, asemantische Laute hervorzubringen, auffassen lassen. Vorgeführt wird hier das „sound-producing potential of man“1217. Der Titelbegriff gestes wäre dann im Sinne von ,Lautgesten‘ zu interpretieren. Bei dem an dieser Stelle artikulierten verbalen Zeichenmaterial handelt es sich entweder um das französische Wort ,dans‘ oder aber zumindest um etwas, das diesem sehr stark ähnelt. Diese Präposition zu erkennen, ließe sich insofern konsistent der bisherigen Interpretation des Lautgedichtes eingliedern, als sie ja auf eine räumliche Dimension verweist. Eine solche wird dadurch verstärkt, dass ausgeprägte Echoeffekte eine Tiefenbzw. Raumwirkung herbeiführen und im Hintergrund ein Geräusch zu hören ist, das wie ein Nebelhorn klingt. Von Anfang an zeichnet sich die Tonbandaufnahme dieses Lautgedichtes durch ein lautes Rauschen im Hintergrund aus, das charakteristisch für das Tonbandgerät ist. Im Falle des vorliegenden Gedichtes wird dieses technische ,Störgeräusch‘ durch die Assoziationen der anderen wahrnehmbaren Geräusche mit Sturm, Wind und Gewitter semantisch aufgeladen, insofern es sich ebenfalls der hier vorgegebenen Isotopieebene zuordnen lässt. Hier erfährt McLuhans Theorie der Übereinstimmung zwischen Medium und Botschaft („The medium is the message“, 1964) eine Bestätigung: Espaces et gestes ist untrennbar mit dem Medium des Tonbandgerätes verbunden und nutzt sogar eine die Tonqualität der Aufnahme vermindernde Eigenheit dieses Mediums auf produktive – nämlich sinngenerierende – Weise. Damit ist dieses Lautgedicht vor allem eines: ein Repräsentant der tape-poetry. Im Internet erscheint auf der UbuWeb Sound-Seite unter dem Titel des Gedichtes folgender aussagekräftiger Kommentar: The original work, made in stereo, lasted 22 minutes, but a large part of the original tape was effaced by accident and this is all that is left. It was first presented at Galerie Mesure in Paris in 1960 as a confrontation with the Ur sonata of Kurt Schwitters (1923–28). The aim was to show the difference between the phonetic poem with an elementary structure and the more 1217 Cobbing (1982), S. 386.



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complex sound poem using electronics and the ability of the tape recorder to slow down, speed up and super-impose layers of vocal sound […].1218

Von 2'35'' bis 2'47'' wird das technisch bedingte Rauschen bei der Aufnahme so stark, dass fast kein andereres Geräusch zu hören ist. Damit wird sowohl Aufmerksamkeit auf das technische Medium gelenkt als auch Spannung erzeugt, denn der Zuhörer wartet intuitiv auf das nächste Klangereignis. Nach dieser Episode sind menschliche Laute zunächst leise im Hintergrund wahrnehmbar, bevor sie im Folgenden sukzessive an Lautstärke zunehmen. Diese Laute wird der Rezipient dieses Lautgedichtes zunächst keiner bestimmten Situation zuordnen können. Ab ca. 3'12'' gewinnt das verbale Zeichenmaterial konstant an Kontur und Präzision und mündet schließlich in einem  – scheinbar dem Französischen nachgebildeten – Kunstwort, das eine Männerstimme, und zwar die des Dichters, artikuliert, nämlich „oleil“. Dieses erfährt im Folgenden eine mehrfache Wiederholung. Auf diese Weise kann eine starke Rhythmisierung erzielt werden – dies vor allem auch deshalb, weil das Wort nicht auf herkömmliche Weise gesprochen, sondern fast schon gesungen wird. Dieser musikalische Eindruck wird auch dadurch verstärkt, dass im Hintergrund ein Geräusch zu hören ist, das – ähnlich wie auf einem Ruderboot oder einer Galeere – einen bestimmten Takt vorzugeben scheint. Zugleich entsteht durch diese Begleitung der monotonen Wiederholung die starke Assoziation einer Maschine. Auch an dieser Stelle hat Chopin die technischen Möglichkeiten des von ihm gewählten Aufnahmemediums genutzt, und zwar in Form von Echoeffekten und einem ausgeprägten Nachhall, bei dem es sich um einen Federhall oder um ein im Hallraum erzeugtes Phänomen handeln kann. Digitale Effektprozessoren standen Chopin ja noch nicht zur Verfügung. Die wiederholte Artikulation des (Kunst-)Begriffes „oleil“ wird zunächst durch einen markanten Lautstärkewechsel geprägt: Plötzlich wird die Aufnahme sehr viel lauter, und zwar ohne ein Eingreifen des Rezipienten. Auch das Hintergrundgeräusch wird nun lauter, wobei es sich aus dem Hintergrund in den Vordergrund gedrängt zu haben scheint. Zugleich kommt eine dritte Lautebene hinzu: Eine männliche Stimme äußert etwas, was dem französischen linguistischen Code zu entstammen scheint, jedoch sind aufgrund des Lautgewirrs keine einzelnen Wörter zu identifizieren. Ab ca. 3'30'' hat diese dritte Lautebene, die sich zunächst im Hintergrund abgespielt hat, die beiden anderen vollständig verdrängt. Dieselbe Männerstimme wie zuvor artikuliert nun französische Wörter, die eindeutig als solche zu erkennen sind, und zwar zuerst das Wort „soleil“. Damit erfährt rückwirkend der Höreindruck eine Bestätigung, dass es sich bei den anfänglichen Geräuschen um ein Unwetter handelt. Nachdem dieses aufgehört hat, könnte nun eine Aufheiterung mit Sonnenschein angedeutet sein. Insofern ist hier die Isotopieebene des Wetters gewahrt. Beim zweiten Wort, das die Männerstimme artikuliert, handelt es sich um den französischen Begriff „corps“. An diesem führt Chopin das Verfahren der Silbendissoziation vor, und zwar folgendermaßen: „corps-corpsco-co-corps“. Auf diese Weise wird ein musikalischer Eindruck erzeugt. Zugleich erinnert diese Artikulationsweise an ein Stottern oder aber an einen Mikrophontest. Diese 1218 Abrufbar unter: http://www.ubu.com/sound/question.html [zugegriffen am 10.08.2010].

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beiden Assoziationen verbinden die beiden wesentlichen Komponenten der poésie sonore Henri Chopins, die ja, wie bereits erläutert, das Mikrophon auf innovative Weise einsetzt, um den menschlichen Körper lautpoetisch zu erkunden. Der Begriff ,corps‘ benennt dabei den menschlichen Körper als die Quelle der bislang wahrgenommenen Geräusche und Laute. Nach diesem verbalen Interludium ist mehrere Sekunden lang nur ein hallendes Geräusch zu hören, das starke Ähnlichkeit mit einem Nebelhorn besitzt. Es handelt sich um dasselbe Geräusch, das schon in der „oleil“-Sequenz im Hintergrund zu hören war. Über dieses wird erneut eine Wortsequenz gelagert, die aus einer abwechslungsreichen Wiederholung der folgenden verbalen Elemente, die alliterativ miteinander verbunden sind, besteht: „soleil“ (dt. Sonne) und „saute“ (dt. Wechsel). Beide werden u.a. auch chiastisch miteinander verschränkt, wodurch die sich ständig wandelnden und bewegenden Luftwirbel (Sturm, Gewitter) akustisch nachgestellt sein könnten. Im Hintergrund bzw. auf einer anderen Spur sind dabei der Hall und Gewittergeräusche zu hören. Schließlich wird der Rezipient Zeuge einer Superposition von „soleil“, „saute“ und „corps“. Hier erfolgt nun eine enge Verbindung von Mikro- und Makrokosmos, die auf eben jene Analogievorstellung zurückgeht, die in Europa vor allem in der Frühen Neuzeit vorherrschte.1219 Es folgt die Repetition der Begriffe „soleil“, „saute“ und „terre“, wobei der zuletzt genannte Begriff den des menschlichen Körpers ersetzt. Durch die Wiederholung entstehen starke Echoeffekte. Ab ca. 4'21'' ist dann völlig unvermittelt ein hoher Pfeifton bzw. ein entsprechendes Kreischen zu hören. Hierbei nimmt die Lautstärke beständig zu, bis schließlich eine erhebliche Störung der Tonbandaufnahme stattzufinden scheint (ca. 4'33''–4'37''). Es handelt sich dabei natürlich nur um die akustische Inszenierung einer Störung, denn eine weitere Aufnahme wird nicht verhindert, wie dies bei einem tatsächlichen technischen Problem der Fall sein müsste. Ab 4'38'' ist ein leises Rauschen zu hören, das demjenigen, das kurz nach Beginn des Gedichtes wahrzunehmen war, stark ähnelt. Damit entsteht der Eindruck einer Repetition und einer zirkulären Struktur, die nicht zuletzt auch an das Phänomen erinnert, wenn eine Schallplatte einen Sprung hat. Espaces et gestes besitzt jedoch einen deutlich markierten Schluss, der sich stark vom bisher gehörten leisen Rauschen unterscheidet, und zwar in Form eines leisen Sirenengeräusches oder gedämpfter Schreie mehrerer Stimmen oder einer mehrfach überlagerten Stimme. Auch an dieser Stelle ist die Anzahl der beteiligten Personen anhand der Tonbandaufnahme nicht auszumachen. In jedem Fall steht dieser betonte Schluss dem Eindruck einer zirkulären Struktur konträr gegenüber. Kommen wir nun zu einem Beispiel von Karl Riha, und zwar dem Lautgedicht in Silben.1220 Mit einer Länge von nur 33 Sekunden handelt es sich um ein relativ kurzes Lautgedicht. Betrachten wir zunächst den Titel dieses Lautgedichtes. Im Gegensatz zum überwiegenden Großteil von Gedichtüberschriften stellt er keinen semantischen Indikator zur Rezeptionslenkung dar, sondern er thematisiert auf selbstreflexive Weise 1219 Vgl. hierzu Nickel (2009), S. 189. 1220 Scholz (1987), Track 10 [CD].

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das Herstellungsverfahren des Gedichtes. Er bereitet den Zuhörer darauf vor, dass er ausschließlich mit Silben statt mit Wörtern konfrontiert werden wird. Damit stellt sich Riha ganz eindeutig in die Tradition des dadaistischen Silbengedichtes.1221 Hier nun zunächst der bzw. ein Versuch einer Transkription vom Lautgedicht in Silben, das Karl Riha selbst vorträgt: 0'00'' – 0'11'': 0'11'' – 0'13'': 0'13'' – 0'21'': 0'21'' – 0'23'': 0'23'' – 0'33'':

füsszick wangkitts tottpüpp löcknell sickfan jönzitz farrick tennhell Stille hutzpuff putzgeck pitzwitz zickjirre katzduck futzleck jilletatz wattirr Stille piffpaff fipphopp raffjack fallhomm meskall lollpopp zimball fantomm

Das Lautgedicht zerfällt in drei etwa gleich lange Teile, die durch zwei deutlich markierte Pausen voneinander getrennt werden. Diese beiden Einschnitte weisen exakt die gleiche Länge auf. Auch wenn es sich nur um eine Aneinanderreihung von einzelnen Silben handelt – der Titel des Lautgedichtes lässt keinen Zweifel daran –, so hat Karl Riha sich rhetorischer Mittel der traditionellen Verskunst bedient, und zwar vor allem Assonanzen (mit einer auffallend hohen Rekurrenz im zweiten Teil) und Endreimen (mit einer auffallend hohen Rekurrenz im dritten Teil). Jeweils zwei Silben sind zu einer Lauteinheit verbunden. Diese Lauteinheiten zeichnen sich primär dadurch aus, dass sie keinen existierenden Wörtern der deutschen – oder einer beliebigen anderen – Sprache entsprechen. Vielmehr führt der Dichter gerade neue Silbenkombinationen vor, bei denen es eben nicht um die Zeichenbedeutung, sondern ausschließlich um deren Klang geht. Die Vorführung des Klanges von verschiedenartigsten Silben oder Silbenkombinationen steht so sehr im Mittelpunkt, dass der Einsatz akustischer und elektroakustischer Medien auf ein Minimum reduziert ist. Im Gegensatz zu Chopin hat Riha keine Manipulationen des Tonbandgerätes vorgenommen, wie etwa solche der Abspielgeschwindigkeit, und wir finden auch kein Echo oder Delay. Wir haben es mit einer einspurigen Lautaufnahme zu tun. Offensichtlich hatte Riha bei der akustischen Realisierung vom Lautgedicht in Silben nicht die Exploration der technischen Möglichkeiten auf dem Gebiet der Lautpoesie im Auge, sondern ausschließlich die Exploration der lautlichen Qualitäten der (deutschen) Sprache, die zu diesem Zweck auf die Minimaleinheiten einzelner Phoneme reduziert wurde. Noch stärker reduziert ist François Dufrênes Crirythme pour Bob Cobbing (1970),1222 und zwar – in Übereinstimmung mit dem Titel und dem Konzept der Crirythmes – unter vollständigem Verzicht auf verbales Zeichenmaterial. Dufrêne führt hier die artikulatorischen Fähigkeiten des Menschen jenseits der Sprache bzw. der Rede vor, und zwar durch Schreie unterschiedlichster Art: „le SOUFFLE seul fonde le poème – rythme et cri, le cri, contenu contenu, jusqu’ici, du poème ; de joie, d’amour, d’angoisse, d’horreur,

1221 Vgl. Riha (1979) und Eisenhuber (2006). 1222 Dufrêne (1970) [Internet].

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de haine, mais cri.“1223 Das Gedicht erweist sich damit als Ergebnis einer Exploration der non-verbalen Ausdrucksmöglichkeiten des Menschen, die mithilfe des Tonbandgerätes fixiert sind. Bevor wir zur Analyse von Crirythme pour Bob Cobbing kommen, zunächst einige Erläuterungen zu Dufrênes Konzeption der Crirythmes, die er seit Mitte der 1950er Jahre akustisch realisiert hat. Beim vorliegenden handelt es sich um den letzten Crirythme des Dichters. Die Crirythmes sind nicht nur – wie alle lautpoetischen Produktionen – Repräsentanten einer Form von poetischer Intermedialität, sondern Dufrêne hat diese auch explizit benannt, und zwar durch die Bezeichnung als musique concrète vocale. Wie bereits im Eingangskapitel ausgeführt, sind sowohl die Crirythmes als auch der Name François Dufrêne mit dem ultra-lettrisme untrennbar verbunden. Von der diesen charakterisierenden Technikbegeisterung, die sich natürlich primär gegen den lettrisme Isouscher Prägung richtet, zeugt auch das vorliegende Beispiel, denn auch in diesem wurde das Tonbandgerät ästhetisch funktionalisiert. Ebenso wie in seinen anderen Cri­ rythmes hat Dufrêne auch in diesem vor allem die Möglichkeiten des Menschen bzw. des menschlichen Körpers zur Lauterzeugung instrumentalisiert. Dufrênes konzeptioneller Ablehnung einer – wie auch immer gearteten – Verschriftlichung von Lautgedichten entsprechend, ist auch Crirythme pour Bob Cobbing das spontane Ergebnis der Aufnahme einer Live-Performance, die der Dichter selbst veranstaltet hat, oder zumindest als ein solches spontanes Ergebnis inszeniert. Wir haben es hier mit einem repräsentativen Beispiel für eine „ultra-lettristische ‚akustische Notation‘ direkt auf Tonband“1224 zu tun. Im Gegensatz zur überwiegenden Mehrzahl der Crirythmes handelt es sich beim vorliegenden Gedicht um eine zweispurige Lautaufnahme. Ebenso wie diese weist es keine Manipulationen der Abspielgeschwindigkeiten (Beschleunigung oder Verlangsamung) auf.1225 Hierin besteht einer der Hauptunterschiede zwischen Dufrênes und Chopins lautpoetischen akustischen Realisierungen. Dementsprechend liest man im Kommentar zu diesem Lautgedicht auf UbuWeb Sound: „All exist on tape as exact representations of live performances.“1226 Im Gegensatz zu vielen anderen Gedichten der Crirythmes weist Crirythme pour Bob Cobbing keine collagenhafte Einbeziehung von akustischen objets trouvés auf. Die für die Sammlung typischen Panoramaeffekte lassen sich im Unterschied dazu auch hier nachweisen.1227 Ebenso typisch für Dufrênes Crirythmes ist die Technik der Superposition, die auch im vorliegenden Beispiel zum Einsatz gekommen ist, und zwar teilweise in Form komplexer Überlagerungen der beiden Tonspuren.1228 Kommen wir nun zur Detailanalyse: Die Gesamtlänge von Crirythme pour Bob Cobbing beträgt 5'15". Wie gesagt, setzt sich das Zeichenmaterial dieses Gedichtes ausschließlich aus non-verbalen Elementen zusammen. Zu Beginn sind Geräusche zu hören, die an 1223 Dufrêne (1966), S. 968. Hervorhebung vom Autor. 1224 Lentz (2000), I: S. 520. 1225 Entgegen Dufrênes eigenen Aussagen weisen mehrere Gedichte seiner Crirythmes Beschleunigungen der Abspielgeschwindigkeit auf. Vgl. Lentz (2000), I: S. 539. 1226 Abrufbar unter: http://www.ubu.com/sound/question.html [zugegriffen am 28.08.2010]. 1227 Vgl. Lentz (2000), I: S. 539. 1228 Vgl. Wendt (1985), S. 12.



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solche eines Säuglings erinnern. Dieser Isotopieebene lassen sich auch problemlos die im Folgenden wahrnehmbaren Schmatz- und Sauggeräusche eingliedern. Zwischen diesen sind laute Atemgeräusche, die bis zum schnellen Hecheln reichen, zu hören. Ab 0'23" erfolgt eine Modulation der Stimme in den extrem hohen Bereich, und zwar in Form von sirenenähnlichen Schreien, die teilweise die Assoziation mit dem Pfeifen eines Wasserkochers hervorrufen. Diese Schreie sind auf beiden Spuren aufgenommen, aber zeitversetzt. Dadurch wird ein Eindruck von Räumlichkeit erzeugt, den Dufrêne mittels eines Panoramareglers verstärkt hat. Dieser bewirkt einen markanten Rechts-links-Effekt, so dass die Schreie aus unterschiedlichen Richtungen zu kommen scheinen. Die Aufnahme der Schreie ist gekennzeichnet durch Lautstärkeveränderungen, plötzliches Abbrechen und erneutes Einsetzen. Ab ca. 1'00" werden die Schreie extrem laut, so dass sich das akustisch Dargebotene zu ohrenbetäubenden Geräuschen entwickelt. Bis ca. 1'16" findet ein crescendo der Schreie statt, das in der vollkommenen Stille mündet. Diese währt allerdings nur sehr kurz, und ganz unvermittelt setzen die Schreie wieder ein. Erhebliche Lautstärkeschwankungen sorgen dabei für deutlich wahrnehmbare Raumwirkungen. Diese Lautstärkeschwankungen gehen einher mit einem accelerierenden Artikulieren, das hier eine technisch erzeugte Beschleunigung ersetzt. Ab 1'55" ist ein Schnäuzen oder Prusten zu vernehmen, das ab 2'00" durch einen Schrei auf der zweiten Spur ergänzt wird. Ab 2'09" sind wieder ausschließlich Schreie zu hören, wobei Dufrêne diese in den etwas tieferen Bereich moduliert hat. Wenig später (ab ca. 2'15") ist die Stimme wieder in den sehr hohen Bereich moduliert. Zwischen den einzelnen Schreien sind Schmatz- und Atemgeräusche zu hören. Das Sirenengeheul nimmt beständig an Intensität und Lautstärke zu und wird schließlich erneut unangenehm laut. Etwa eine Minute vor dem Ende dieses Lautgedichtes kulminieren die sirenenartigen Schreie in einem Geräusch, das die Assoziation mit einer Bombenexplosion weckt. Ab 4'51" sind sehr hohe Schreie zu hören, die sich Vogelrufen annähern. Damit stellt Dufrêne Crirythme pour Bob Cobbing in die lange lautpoetische Traditionslinie der Vogelstimmen-Imitation, die bereits erläutert wurde.1229 Schließlich gehen die Vogelrufe in laute Schmatzgeräusche über und ganz zum Schluss in eine Art Löwengebrüll. Unvermittelt brechen alle Geräusche dann ab, und es herrscht Stille. 3.6.2 Digitale Aufnahmen Der Weg der Lautpoesie nach 1945 führte folgerichtig von analogen zu digitalen Aufnahmen und damit zugleich vom Tonbandgerät hin zu hochkomplexen elektroakustischen Geräten, die eines Tonstudios bedurften. Hier konnten synthetische Lautgedichte produziert werden, die zunächst auf LPs und MCs und später dann auf CDs fixiert wurden. Den Anfang dieses Kapitels soll ein kurzes (1'56'') und gerade deshalb eindrucksvolles Gedicht des Brasilianers Philadelpho Menezes, nämlich Poema não música (1998)1230 machen. Dieses Lautgedicht wurde deshalb für eine solch exponierte Stellung ausge1229 Vgl. S. 334ff. dieser Arbeit. 1230 Menezes (1998) [Internet]. Zum ersten Mal veröffentlicht wurde dieses Lautgedicht auf der von Philadelpho Menezes im Jahre 1998 veröffentlichten CD Sound Poetry Today: An International Anthology.

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wählt, weil es einmal mehr die Frage nach dem intermedialen Status von Lautdichtung – zwischen Poesie und Musik – beleuchtet, die ja den Hintergrund aller Überlegungen innerhalb dieses Kapitels darstellt. Betrachten wir zunächst den Titel: Poema não música, d.h., hier wird das folgende künstlerische Produkt als Gedicht und nicht als Musikstück angekündigt. Zwar besteht in der Lautdichtung immer eine intermediale Verknüpfung zwischen Dichtung und Musik, wobei diese ganz unterschiedlich gestaltet sein kann, aber dennoch dürfte es den einen oder anderen Rezipienten wundern, warum der Titel des vorliegenden Lautgedichtes explizit darauf hinweist, dass es sich nicht um Musik handelt. Warum dies nötig ist, wird klar, sobald man die Aufnahme abspielen lässt: Sofort ertönt ein bekanntes Musikstück, nämlich Mozarts Sinfonie Nr. 40 in g-moll (KV 550), allerdings nicht ausschließlich, sondern begleitet von einer menschlichen Stimme. Wir haben es hier mit einem Beginn in media res zu tun, der sogleich die beiden Hauptkomponenten des Lautgedichtes vorstellt: die Musik und die menschliche Stimme. Beide vereinen sich nicht so miteinander, dass ein harmonischer Wohlklang entsteht, sondern das Ergebnis ist eine eher als unangenehm empfundene Kakophonie. Das liegt primär daran, dass die menschliche bzw. – konkreter – die männliche Stimme die Musik nicht dezent begleitet, wie es beispielsweise durch ein melodisches Summen hätte geschehen können. Statt zu summen, grölt und schreit die männliche Stimme (des Dichters selbst) vielmehr vor sich hin. Zwar scheint die Lautstärke des Grölens sich an den Vorgaben der Sinfonie zu orientieren, jedoch setzt die menschliche Stimme die Lautstärkeänderungen zeitversetzt – verfrüht oder verspätet – um, so dass kein Wohlklang entstehen kann. Ein solcher wird auch dadurch verhindert, dass das Grölen ca. ab der neunten Sekunde durch ein lautes Klatschen mit den Händen ergänzt wird, das mehr zu einer brasilianischen Samba als einer Sinfonie der Wiener Klassik passt. Dieser Eindruck wird auch dadurch verstärkt, dass etwa ab der 30. Sekunde im Hintergrund weitere menschliche Stimmen auszumachen sind. Diese artikulieren Rufe, die die männliche Stimme im Vordergrund und das Klatschen anzufeuern scheinen. Zu identifizieren sind die Rufe jedoch nicht. Mit diesem, seinem ,Publikum‘ tritt der Dichter kurzzeitig (1'34'' bis 1'44'') in eine Art von Dialog. Bei dem, was er während dieser zehn Sekunden artikuliert, scheint es sich um Wörter zu handeln, allerdings sind diese nicht erkennbar, weil sie zu stark von der Musik übertönt werden. Es ist noch nicht einmal mit Sicherheit zu sagen, dass es sich dabei um portugiesische Wörter handelt, was allerdings sehr wahrscheinlich ist. Diese bewusst offen gestaltete linguistische Zuordnung des akustischen Zeichenmaterials hebt den internationalen Status des Lautgedichtes hervor. Durch die inszenierte Interaktion des Dichters mit seinen Zuhörern kann der Eindruck einer Performance erheblich gesteigert werden. Ganz zum Schluss schließen sich die verschiedenen Stimmen den asemantischen Rufen der männlichen ,Solostimme‘ an, und das Gedicht endet ebenso abrupt, wie es begonnen hat. Insgesamt wird im Rahmen dieser lautpoetischen Performance eine starke Diskrepanz zwischen dem musikalischen Prätext (Mozarts Sinfonie) und den im Gedicht zu vernehmenden menschlichen Ausdrucksmöglichkeiten (Grölen und Rufen eines Mannes und Händeklatschen) geschaffen. Die originär lautpoetischen Elemente, die menschliche Stimme und das von einem Menschen erzeugte Klatschgeräusch, konterkarieren



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gewissermaßen die Musik. Nichtsdestoweniger bilden erst beide zusammen den Text dieses Lautgedichtes. Kommen wir nochmals zum musikalischen Prätext zurück: Wie gesagt, es handelt sich dabei um eine bekannte Sinfonie der Wiener Klassik. In dieser Zeit ist die Gattung ,Sinfonie‘ noch als Stück für Orchester ohne Solisten und vor allem durch den Verzicht auf Gesangstimmen definiert.1231 Menezes kommt diesen Vorgaben insofern nach, als er in seinem Lautgedicht, in dem die Gattung der Sinfonie ja eine zentrale Rolle spielt, fast ausschließlich darauf verzichtet, Wörter zu artikulieren, und die menschliche Stimme stattdessen als eine Art Instrument zur Hervorbringung von Lauten einsetzt. Eine mögliche Deutung dieses Lautgedichtes könnte nun so aussehen, dass im Medium der Lautpoesie Dichtung und Musik zwar eine enge intermediale Verbindung miteinander eingehen, beide aber dennoch eigenständig fortbestehen: Die Elemente, die eindeutig der Dichtung zuzuordnen sind, weil sie mehr oder weniger dem verbalen Bereich entstammen (Grölen, Klatschen und Rufen), sind an der musikalischen ,Begleitung‘ orientiert, bilden mit ihr aber eben keine harmonische Einheit, sondern gehen mit dieser eine kakophone Verbindung ein. Schon der Titel benennt die Dialektik zwischen der Eigenständigkeit der beiden Künste ,Dichtung‘ und ,Musik‘ und ihrer Ähnlichkeit, denn bestünde eine solche nicht, müsste der Dichter nicht darauf aufmerksam machen, dass es sich bei der vorliegenden Produktion um eine (laut)poetische und keine musikalische handelt: Poema não música. Diese Eigenständigkeit impliziert zugleich eine kategoriale bzw. gattungsmäßige Trennung beider. Zugleich wird eine solche strikte Trennung durch das Gedicht selbst in Frage gestellt, denn die menschliche Stimme bildet mehr oder weniger die Sinfonie nach bzw. setzt ihre Lautstärkeänderungen um, wenn auch – wie beschrieben – zeitversetzt. Insofern bietet auch dieses Gedicht einen großen Interpretationsspielraum. Besonders durch den fast ausschließlichen Verzicht auf verbales Material besteht die Möglichkeit einer polysemantischen Deutung. Das nächste zu analysierende Beispiel trägt den Titel It’s Your World (o. J.)1232 und stammt vom US-amerikanischen Lautdichter Karl Young. Mit einer Gesamtlänge von 2'05'' ist es nur unwesentlich länger als das soeben analysierte Poema não música (o. J.) von Philadelpho Menezes. Im Unterschied zu diesem und vielen anderen Lautgedichten aus der Zeit nach 1945 wird es jedoch ausschließlich aus verbalen Elementen gebildet, die allerdings stark technisch manipuliert sind. Das gesamte Lautgedicht besteht aus der Wiederholung von vier Wörtern, die eine Männerstimme artikuliert. Bei diesen vier Wörtern handelt es sich ausschließlich um solche, die der englischen Sprache entstammen, und zwar um „window“, „world“, „ear“ und „go“. Die männliche Stimme ist dabei so verzerrt, dass sie eher einer Roboterstimme als der eines Menschen gleicht. Jedenfalls klingt das Ergebnis recht blechern. Dies verstärkt sich etwa ab der Hälfte des Lautgedichtes (1'02''), wenn nämlich sukzessive alle Begriffe mit Echoeffekten versehen werden. Auf diese Weise tritt zunehmend deutlicher hervor, dass dieses Lautgedicht ein

1231 Vgl. Gruber/Schmidt (2006). Erst seit Ludwig van Beethovens neunter Sinfonie gehört auch der Einsatz von Gesangstimmen zur gängigen ,Sinfonie-Praxis‘. Vgl. Kloiber (21976). 1232 Young (o. J.) [Internet].

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elektroakustisches Erzeugnis darstellt, das ohne die entsprechenden technischen Voraussetzungen nicht hätte geschaffen werden können. Betrachten wir nun die eingesetzten Wörter: Zunächst fällt auf, dass die ersten drei („window“, „world“ und „ear“) derselben Wortklasse angehören, wohingegen das letzte („go“) sich als Verb von den vorangehenden Substantiven stark unterscheidet. Dieses Verb, das ja auch schon durch seine privilegierte Finalstellung eine besonders starke Betonung erfährt, beinhaltet insofern eine bedeutsame Ambiguität, als es sich dabei sowohl um einen Infinitiv als auch einen Imperativ handeln kann. Im Fall des Imperativs tauchte hier die zweite Person Singular auf, die im Titel im Possessivpronomen ,your‘ benannt ist. Zwischen den ersten drei Begriffen kann eine enge Verbindung konstruiert bzw. entdeckt werden: Ein Fenster ermöglicht den Blick auf bzw. in die Welt, und wenn es geöffnet ist, besteht die Möglichkeit, diese zunächst und vor allem als ein Klangerlebnis wahrzunehmen, das die unterschiedlichsten akustischen Ereignisse in sich vereint. Man denke hier bloß an den soundscape einer Stadt.1233 Durch die Wiederholung monotoner Wortfolgen, die sich ausschließlich durch ihre technische Präsentation voneinander unterscheiden, rückt das vorliegende Lautgedicht in die Nähe einer Beschwörungsformel. Dies ist sicher kein bloßer Zufall, sondern bildet einen Anklang an Vorformen der Lautdichtung. Als solche hat schon Scholz Zaubersprüche und Beschwörungsformeln ausgemacht.1234 Wie bereits ausführlich erläutert, ist die Dichtung nach 1945 vor allem dadurch gekennzeichnet, dass in ihr eine intensive Auseinandersetzung mit der Sprache stattfindet, und zwar vor allem in materialer Hinsicht, d.h., Sprache wird hier als verbivocovisuelles Phänomen aufgefasst und als ein solches verschiedentlich in Szene gesetzt. Das ist auch im folgenden Lautgedicht von Arrigo Lora-Totino der Fall. Es trägt bezeichnenderweise den Titel La Lingua.1235 Es handelt sich bei diesem um das fünfte Gedicht der Sammlung Fonemi (2001). Sowohl der Titel des Lautgedichtes als auch derjenige der Sammlung spiegelt das Interesse Lora-Totinos – wie der meisten Dichter nach 1945 – an der Linguistik wider. Zudem weist der Titel der Sammlung darauf hin, dass es bei den folgenden Gedichten um die Sprache nicht in ihrer verschriftlichten, sondern in ihrer mündlichen Variante, um die Rede, geht. Bei Phonemen handelt es sich ja nach allgemein linguistischem Verständnis um die Klasse aller Laute, die in einer gesprochenen Sprache eine distinktive Funktion erfüllen.1236 Das vorliegende Gedicht wird insofern der Doppelbedeutung des italienischen Begriffes ,lingua‘ (dt. Sprache und Zunge) gerecht, als es sowohl Rede als Medium und Produkt menschlicher Kommunikation als auch Rede im Entstehungsprozess vorführt. Dies geschieht auf folgende Weise: In den insgesamt 3'39'' von La Lingua wird der Zuhörer Zeuge davon, dass eine männliche Stimme einen Text vorliest oder auswendig artikuliert. Allerdings sind die einzelnen Bestandteile dieses Textes nicht zu ermitteln, weil der Lesefluss durch häufige Schnitte massiv gestört bzw. schon im Entstehen voll1233 Vgl. hierzu Schafer (1977). 1234 Vgl. Scholz (1989), I: S. 67ff. und auch das Kapitel Gebete, Zaubersprüche, Glossolalie in Scholz/Engeler (2002), S. 57ff. 1235 Lora-Totino (2001) [Internet]. 1236 Vgl. hierzu Stein (32010), S. 18ff.



Technische akustische Realisierungen

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kommen unterbunden wird. Damit ist zugleich die Möglichkeit einer Rezeption, die auf eine linguistische Analyse des akustischen Materials ausgerichtet ist, von vornherein ausgeschaltet. Aus den akustischen Zeichen fragmentalen Charakters lässt sich zwar kein zusammenhängender Text bilden, jedoch lassen sie aufgrund ihres Klanges die Annahme als recht wahrscheinlich erscheinen, dass es sich um eine Aneinanderreihung italienischer Wörter handelt. Diese Annahme wird auch durch den Titel begünstigt. Die Schnitte erfolgen deshalb in so regelmäßigen Abständen, weil der Dichter sich bei der Aufnahme des Lautgedichtes die entsprechenden technischen Hilfsmittel zunutze gemacht hat. Der folgende Selbstkommentar Arrigo Lora-Totinos, der sich auf eine Sammlung mit dem Titel Fonemi (1966) bezieht, nichtsdestoweniger aber auch für das vorliegende Lautgedicht zutrifft, erläutert dies: In sostanza, filtravo un testo che precedentemente avevo registrato su nastro, attraverso un filtro elettronico che si chiama generatore ad impulsi. Questo filtro taglia l’evento sonoro in frammenti la cui durata può essere prestabilita, cioè il frammento può essere brevissimo o meno breve. In tal modo evidenziavo le componenti fonematiche della voce mentre parla.1237

Ein kohärenter Text lässt sich nicht nur deshalb nicht erzeugen, weil Arrigo Lora-Totino die Technik des Schnittes exzessiv anwendet, sondern auch deswegen, weil zwei Stimmen überlagert werden. In beiden Fällen handelt es sich um die Stimme desselben männlichen Sprechers, nämlich des Dichters selbst. Beide Bandspuren sind nicht identisch, stimmen jedoch in der Fragmentarisierung des linguistischen Materials überein, so dass sich aus beiden keine Aussage herauskristallisiert. Sprache erscheint hier vollkommen verfremdet. Sprache bzw. – genauer – Rede wird in La Lingua bruchstückhaft vorgeführt. Dadurch ist sie vollständig ihrer Repräsentationsfunktion enthoben. Sie verweist auf nichts, dass außerhalb ihrer selbst liegt, sondern sie wird hier in ihrer akustischen Vielfalt vorgeführt. Durch den bewussten Verzicht auf die Partizipation an der Ebene der Wortsemantik weist das eingesetzte Zeichenmaterial große Ähnlichkeit zu jenen Zeichen auf, die in der Musik Verwendung finden. Auch hier ist primär die Klangqualität von Bedeutung. Verstärkt wird dies in Arrigo Lora-Totinos Lautgedicht dadurch, dass nicht einmal der Titel eine bestimmte Richtung für die semantische Kontextualisierung des Inhaltes des Gedichtes enthält. Mit dem Begriff ,lingua‘, der ausschließlich vom entsprechenden bestimmten Artikel begleitet wird, ist ein Abstraktum benannt, das lediglich Rückschlüsse auf die Herkunft des das Textkorpus des Gedichtes bildenden Zeichenmaterials zulässt: Es stammt aus dem Bereich der italienischen Sprache. Mehr lässt sich aus ihm allerdings nicht ableiten. Sprachliche Zeichen bzw. sprachliche Zeichenfragmente werden hier also losgelöst von einem Begriffsinhalt vorgeführt, dem signifié ist kein entsprechender signifiant zugeordnet. Damit wird die Saussuresche Zeichenlehre in ihrem Kern angegriffen. Den Abschluss dieses Kapitels soll ein Lautgedicht von Warren Burt bilden, zumal hier der Einsatz elektroakustischer Medien besonders deutlich hervortritt. Wir sind hier an einem Punkt in der Geschichte der Lautdichtung angelangt, an dem der größtmögli1237 Interview mit Arrigo Lora-Totino vom 14. November 1996. Abgedruckt in Lentz (2000), II: S. 1079.

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Skriptural-akustische Intermedialität

che Abstand zu den Ursprüngen dieser Art von Dichtung erreicht ist, und zwar deshalb, weil Burt sich vollkommen vom Ursprungsmedium, nämlich der menschlichen Stimme, entfernt hat. Zu diesem Lautgedicht, das den Titel Pythagorean extract chant (2000)1238 trägt, existiert sowohl ein erläuternder Selbstkommentar des Dichters als auch  – supplementär zur akustischen Realisation durch Warren Burt selbst – eine Partitur. Betrachten wir zunächst, bevor beide wiedergegeben werden, den Titel des Gedichtes: Pythagorean extract chant. Er bereitet insofern auf das Lautgedicht vor, als er die Quelle des Zeichenmaterials angibt: Es stammt von Pythagoras, wobei jedoch im Unklaren bleibt, aus welcher seiner Schriften der hier bearbeitete Text stammt. Dass dieses griechisch-antike Textmaterial eine starke Verfremdung erfährt, geht aus dem Titel ebenfalls nicht hervor. Des Weiteren hebt auch der Titel dieses Gedichtes die typologische Nähe zwischen Lautpoesie und Musik durch die Übertragung eines Begriffes aus der Musik (chant) in den lautpoetischen Bereich hervor. Dieser Begriff verfügt über eine relativ abwechslungsreiche Begriffsgeschichte. Heute wird er vor allem mit dem deutschen Terminus ,Choral‘ wiedergegeben. So sehr der Begriff ,Choral‘ in der Musikwissenschaft auch einen Bedeutungswandel erfahren hat, wird er doch immer der geistlichen Musik zugeordnet. Burts Wahl des Pythagoras erweist sich auch in dieser Hinsicht insofern als nicht zufällig, als Pythagoras ebenfalls als Verkünder religiöser Lehren und Begründer einer religiös-philosophischen Tradition in die abendländische Geschichte eingegangen ist. Darüber hinaus spielt Pythagoras im Bereich der Musik eine nicht zu unterschätzende Rolle, denn auf ihn soll die mathematisch betriebene Analyse der Musik – und das heißt vor allem die musikalische Zahlenlehre und die Harmonielehre – zurückgehen. Kommen wir nun vom Titel zum das Gedicht begleitenden Selbstkommentar des Dichters. Zu Beginn des Selbstkommentares ist ein Untertitel benannt (Sound Poem for Computer Voices and Harp Samples), der deutlich macht, dass es sich bei Pythagorean extract chant um ein Lautgedicht für Computerstimmen handelt. Diese sind vom Anfang bis zum Ende des Lautgedichtes und somit für knapp über zwei Minuten (2'02") vor dem Hintergrund einer einfachen und monoton klingenden Harfenbegleitung zu hören. Bewusst hat Burt diese Instrumentalbegleitung einfach gestaltet, denn so lenkt nichts von den computergenerierten Stimmen im Vordergrund ab. Allerdings sind während der ersten zehn Sekunden ausschließlich die Harfenharmonien zu hören, und zwar E-, A- und B-Akkorde. Hierbei handelt es sich um eine Transposition der pythagoreischen Tetraktys in die moderne Musiklehre. Dieses galt den Pythagoreern als Kern der Weltharmonie und spielte daher in ihrer Musiklehre eine zentrale Rolle. Im Selbstkommentar des Dichters ist außerdem auch die literarische Quelle, der antike Prätext, konkret benannt: Es handelt sich um den Anfang von Lysis’ Die Goldenen Verse des Pythagoras, und zwar in einer englischen Übersetzung aus dem Jahre 1916. Das vorliegende Lautgedicht setzt mit einer harmonischen Harfenmusik ein. Ab 0'11" sind neben dieser zwei blecherne und verzerrte Computerstimmen zu hören. Diese tragen auf eine hochgradig verfremdetete Art und Weise die ersten Verse dieses Werkes

1238 Scholz/Engeler (2002), Track 16 [CD].



Technische akustische Realisierungen

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vor. Über Burts Methode der Verfremdung gibt sein Selbstkommentar1239 zu Pythagorean extract chant Aufschluss. Im Folgenden wird dieser in verkürzter Länge wiedergegeben:

Abb. 152  Warren Burt, Commentary to Pythagorean extract chant (2000) [Auszug]

Wie bereits erläutert, gilt Pythagoras als Begründer der mathematisch betriebenen Analyse der Musik. Die Wahl eines seiner lyrischen Texte als verbales Ausgangsmaterial für das vorliegende Lautgedicht erweist sich daher deshalb als nicht willkürlich oder zufällig, weil es selbst das Produkt zahlreicher strenger Operationen am Zeichenmaterial ist. Man ist versucht, auch dies als mathematische Methode zu fassen. Das Ergebnis und die Endstufe aller Operationen am Zeichenmaterial führt die schriftliche Variante des Gedichtes1240 in ihrer Funktion als Partitur vor Augen:

1239 Burt, in Scholz/Engeler (2002), S. 414. 1240 Abgedruckt in Scholz/Engeler (2002), S. 415.

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Skriptural-pikturale Intermedialität

Abb. 153  Warren Burt, Pythagorean extract chant (2000)

Pythagorean extract chant markiert hinsichtlich des medialen Einsatzes die bisher letzte Entwicklungsstufe der Lautpoesie, nämlich eine Dichtung, die ausschließlich mithilfe des Computers generiert werden kann und zugleich eines elektroakustischen Abspielgerätes bedarf. War die Dichtung ursprünglich an den mündlichen Vortrag gebunden, so hat sich das vorliegende Lautgedicht ganz von dieser anfänglichen Tradition gelöst, denn es lässt sich gerade nicht mehr durch die menschliche Stimme akustisch realisieren. Damit scheidet zugleich auch eine – in der Geschichte der Lautpoesie bevorzugt durch den Dichter selbst durchgeführte – Live-Performance aus.

4.   Dichtung im Raum: Skulptur und Architektur als skripturale Kompositionen

4.1 Vorbemerkung In Analogie zu den beiden anderen bereits erörterten poetischen Intermedialitätsformen – der skriptural-visuellen und der skriptural-akustischen Intermedialität – herrscht in der Dichtung nach 1945 auch eine solche zwischen der Dichtung und Raumkünsten, wie zum Beispiel der Architektur, der Skulptur und der Plastik, vor. Das flächige Gedicht ist hier zum Gedichtobjekt1241 geworden. Die Verbindungen der Konkreten Poesie mit der Architektur hat Eugen Gomringer explizit hervorgehoben. Seiner Meinung nach möchte sie eine art literatur sein, die mit dem literaturbetrieb weniger zu tun hat als mit den entwicklungen auf den gebieten der architektur, der malerei und der plastik, der produktgestaltung, der industriellen organistion, mit entwicklungen, denen ein kritisches, doch positiv entschiedenes denken zugrunde liegt.1242

Ebenso wie jene erfüllt auch diese Art der poetischen Intermedialität nach 1945 primär zwei Funktionen: Erstens diente sie den entsprechenden Dichtern als Medium einer intensiv geführten Sprachreflexion und/oder -kritik, und zweitens sollte durch sie der Dichtung ein neuer großer Rezipientenkreis erschlossen werden, und zwar durch eine starke öffentliche Präsenz. Die Dichtung sollte und konnte so vom Medium ,Buch‘ losgelöst werden. Blieb die Dichtung in der zunächst analysierten skriptural-visuellen Dichtung auf die Fläche und in der danach in den Blick genommenen skriptural-akustischen Dichtung auf die Fläche (in Form einer Notation) und/oder den akustischen Raum (als akustische Realisierung) begrenzt, so eroberte die mit Raumkünsten (v.a. Plastik, Architektur, Skulptur) intermedial verknüpfte Dichtung den physikalischen Raum. Dadurch wird Dichtung zum dreidimensionalen Phänomen – zum Gedichtobjekt – und zugleich eine völlig neuartige Art der Rezeption möglich bzw. erforderlich: Dichtung muss nicht mehr nur gelesen, betrachtet oder gehört werden, sondern eine angemessene und umfassende Rezeption muss auch dem haptischen Aspekt der Dichtung Rechnung tragen. Diese Form der poetischen Intermedialität hat vor allem einen maßgeblichen Vorläufer, nämlich das von André Breton entwickelte poème-objet.1243 Auch wenn der Binde1241 Hier und im Folgenden ziehe ich den Begriff ,Gedichtobjekt‘ dem im Deutschen hochgradig ambigen des ,Objektgedichtes‘ vor. Bei diesem kann es sich sowohl um ein plastisches Gedicht handeln, das gegebenenfalls einen Gebrauchsgegenstand enthält, als auch um ein (mehr oder weniger) traditionell gestaltetes Gedicht über einen bestimmten Gegenstand. 1242 gomringer (1969b), S. 293. 1243 Das poème-objet steht in der Tradition der litolatte-Bücher Marinettis. Vgl. hierzu Blum (1996), S.

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Dichtung im Raum

strich dies zunächst vermuten lassen könnte, handelt es sich bei dieser Gattung nicht um ein mixed-media-Phänomen, sondern um eine intermediale Kunstform. Die deutsche Entsprechung des Terminus, nämlich der Begriff ,Gedichtobjekt‘, hebt den intermedialen Aspekt auf der lexikalischen Ebene wesentlich besser hervor. Es liegt hier eine intermediale Verknüpfung von Dichtung und Dingwelt vor, wobei die eingesetzten Gegenstände vornehmlich aus dem Bereich des alltäglichen Lebens stammen. Insofern besitzen auch die poèmes-objets André Bretons jenen Charakter eines Gebrauchsgegenstandes, den auch die entsprechenden intermedialen Gedichte aus der Zeit nach 1945 aufweisen. In Crise de l’objet (1936)1244 hat Breton seine intermediale Innovation folgendermaßen beschrieben: „Le poème-objet est une composition qui tend à combiner les ressources de la poésie et de la plastique et à spéculer sur leur pouvoir d’exaltation réciproque.“1245 Ein Jahr zuvor hatte er das poème-objet in Situation surréaliste de l’objet (1935) definiert als „l’expérience qui consiste à incorporer à un poème des objets usuels ou autres, plus exactement à composer un poème dans lequel des éléments visuels trouvent place entre les mots sans jamais faire double emploi avec eux“1246. Im Jahre 1942 hat Breton dem poème-objet in diesem Sinne explizit das Charakteristikum zugeordnet de faire jouer, dans un même espace (qui dès lors devient lui-même hybride et métamorphique : textuel-plastique) des ‘mots’ avec des ‘éléments visuels’. De transformer – simultanément et réversiblement – le spectateur en lecteur et le lecteur en spectateur. Tourniquets optiques, obligeant l’œil à lire là où il croyait voir, à voir où il croyait lire, ces pratiques constituent autant de transgressions des frontières et des hiérarchies […].1247

In der soeben zitierten Definition des poème-objet, die dieser intermedialen oder hybriden Kunstform als angemessene Art der Rezeption sowohl ein Lesen als auch Betrachten zuordnet, bleibt eine wesentliche Eigenschaft des poème-objet und damit zugleich ein ihm entsprechender Aspekt der Rezeption unberücksichtigt, nämlich seine „composition spatiale“1248. Ebenso wie die Gedichtobjekte nach 1945 ist auch das poème-objet dreidimensional gestaltet, so dass auch der haptische Aspekt von Bedeutung ist. Eine der Sache gerecht werdende Rezeption muss daher neben dem visuellen auch dem taktilen Aspekt Rechnung tragen. Zu Recht wurde explizit auf die Bedeutung der materialen Dimension des poème-objet hingewiesen: Dans le poème-objet bretonien (qui, en contre-partie, n’exploite jamais les virtualités figurales, la visibilité de la lettre ou du mot), c’est l’objet lui-même, dans sa concrétude brute – sa forme 197f. Strikt zu trennen ist das poème-objet vom objet-poème, einem Gedicht über einen konkreten Gegenstand. Als das Entstehungsdatum des surrealistischen poème-objet hat Breton das Jahr 1929 angegeben (vgl. Breton (1991), S. 8). Einen weniger starken Einfluss hat das dadaistische Ready-made auf entsprechende intermediale Gedichte nach 1945 ausgeübt. 1244 Erstmals erschienen ist Crise de l’objet in Cahiers d’Art no 1–2 (1936). 1245 Breton (1991), S. 8. Auch in Breton (1965), S. 365. 1246 Breton (1972), S. 137. Vgl. Dumas (2007). 1247 Breton, zitiert nach Mourier-Casile (2006) [Internet]. 1248 Mourier-Casile (2006) [Internet]. Vgl. Duplessis (1953), S. 48f.

Vorbemerkung



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visible, certes, mais aussi sa matière palpable, manipulable – qui fait irruption, dans son irréductible étrangeté.1249

Stellvertretend für die Vielzahl von poèmes-objets, die von André Breton stammen, sei hier das konkrete Beispiel1250 vor Augen geführt, das der Autor in Du poème-objet (1936) als Beispiel für diese Gattung angeführt und mit einem ausführlichen Kommentar seiner einzelnen Komponenten versehen hat.

Abb. 154  André Breton, Portrait de l’acteur A. B. (1941)

Ebenso wie im poème-objet kommt dem materialen Aspekt von Sprache bzw. Schrift auch in den hier thematisierten intermedialen Gedichten eine große Bedeutung an der Sinnkonstitution zu. Angestrebt war hier wie dort eine „konstruktive Neuentdeckung des materialen Charakters der Sprache“1251 bzw. der Schrift. In Poesie als Mittel der Umweltgestaltung (1969) hat Eugen Gomringer explizit auf die Möglichkeit des modernen Dichters, Sprache bzw. skripturale Zeichen zu materialisieren, hingewiesen und ihn aufgrund dieser Möglichkeit neben den Architekten, Maler, Designer etc. in die Reihe der 1249 Mourier-Casile (2006) [Internet]. 1250 Breton (1965), S. 367. 1251 Weiss (1984), S. 62.

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Dichtung im Raum

maßgeblichen Gestalter der modernen Welt gestellt: „Um am Bau der modernen Welt mittun und im Team der übrigen Gestalter verstanden werden zu können, bot sich das Visualisieren der Sprache an.“1252 Die Materialisierung von textkonstituierenden Zeichen und ihre damit zusammenhängende ,Verräumlichung‘’ führt zugleich dazu, dass die Dichtung in den Raum, verstanden als den öffentlichen Raum, dringt. Wie die bereits ausführlich erörterten Formen der poetischen Intermedialität nach 1945 strebte auch diejenige, der dieses Kapitel gewidmet ist, nach einer massiven Vergrößerung des Rezipientenkreises.1253 Dichtung sollte nicht mehr ausschließlich auf die mehr oder weniger kleine Gruppe derjenigen beschränkt sein, die willig waren, Bücher zu konsumieren, sondern sich prinzipiell an alle richten. Diesem Anspruch konnten Gedichte auf Häuserwänden1254 oder Gedichtobjekte in besonderem Maße gerecht werden. Neben anderen hat Carlo Belloli dem Streben nach einem neuen Rezipientenkreis explizit Ausdruck verliehen: „Se il pubblico non cerca la poesia, la poesia deve cercare il pubblico.“1255 Viele der im Folgenden präsentierten intermedialen Gedichte ließen sich mehreren Unterkapiteln zuordnen. Um jedoch Wiederholungen zu vermeiden, wird auch in den Unterkapiteln dieses Kapitels zur poetischen Intermedialität nach 1945 auf bereits unter anderen Aspekten interpretierte Beispiele nicht mehr eingegangen, sondern lediglich auf sie verwiesen. Die Zuordnung der Beispielgedichte erweist sich damit als hochgradig subjektiv, Objektivität war hier jedoch nicht angestrebt.

4.2 Transparente (intermediale) Gedichtobjekte Im intermedialen Bereich des Gedichtobjektes oder auch des Gedichtkörpers nach 1945 ist zunächst Carlo Belloli zu nennen. Er hat im Jahre 1951 die Corpi di poesia produziert. Hierbei handelt es sich um Gedichtobjekte, die so gestaltet sind, dass skripturales Zeichenmaterial in transparente Körper, wie zum Beispiel Pyramiden, Kuben und Polyeder, eingeschrieben ist.1256 Die Corpi di poesia zeugen auf besonders eindringliche Weise von Bellolis Streben, die Dichtung vom Medium ,Buch‘ zu autonomisieren und damit zugleich die gattungsmäßige Trennung von Dichtung und plastischen Künsten aufzuheben: Mit den Corpi di poesia, Arrangements von Wortobjekten in synthetischen oder transparenten Substanzen wie Pyramiden, Kuben oder Polygonen versucht er [scil. Belloli; B.N.] die traditionelle Trennung von Kunst und Poesie zu überschreiten, um semantische und semiotische Strukturen miteinander zu verbinden. Die Seite des Buches allein reicht seiner Meinung nicht 1252 Gomringer (1969a), S. 12. 1253 Zum Aspekt der öffentlichen Präsentation von Gedichten vgl. das Kapitel Texte im öffentlichen Raum in Dencker (2011), S. 779ff. 1254 Vgl. zum Beispiel Carlo Bellolis Testi-poemi murali (1944) und Pierre Garniers Prototypes. Textes pour une architecture (1965). 1255 Pignotti (1946), S. 89. 1256 Zu den Corpi di poesia vgl. Weiss (1984), S. 60ff. und Solt (1970), S. 38ff.



Transparente (intermediale) Gedichtobjekte

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aus, da der Dichter seine Kreativität nicht auf eine vorgegebene Fläche beschränken kann. Belloli sieht im Poeten einen modernen Architekten, der dreidimensionale Gestaltungsräume zu erobern und die Poesie als konstitutiven Bestandteil der urbanen Massengesellschaft zu integrieren sucht.1257

Das den Corpi di poesia zugrunde gelegte Konzept hat Belloli wie folgt umrissen: „Poesia visuale come spettacolo visivo di percezione globale, ultramobile, spaziocondizionante.“1258 Durch die ,Verräumlichung‘ des Textes tritt seine Materialität hervor bzw. wird sie zum bedeutungsgenerierenden und -tragenden Element des Textes. Zumal es sich bei dem von Belloli eingesetzten Zeichenmaterial vornehmlich um ein skripturales handelt, erlebt der Leser eine „unmittelbare, fast körperhafte Begegnung mit der Sprache als Objekt“1259. Den Corpi di poesia hat Belloli einleitende Bemerkungen vorangestellt, von denen die wesentlichen an dieser Stelle zitiert seien: the poet of today becomes a semantic architect systematically seeking a new space medium, an open site which is to be found neither in the library nor on the wall. for the poetry of ideas, for symbolical, technological and other forms of poetry, we have substituted a poetry of simple words whose semantic structure is capable of integration with a corresponding semiotic structure in space: the poetry body [...]. a poetry body is an object composed of words set free, not fixed in space: visual words, in that they can be read, they become qualitatively visual because of the multisensory feelings that they evoke […]. anonymous, silent, almost invisible poetry bodies: words set free in a transparent medium [...].1260

Die erste Bemerkung richtet sich dabei natürlich auch gegen Bellolis eigene Testi-poemi murali (1944), denn auch diese waren ja auf die Fläche begrenzt und haben noch nicht den Raum für die Dichtung erschlossen und weisen daher auch noch nicht die „semiotic structure in space“ auf, die die Corpi di poesia besitzen. Die von Belloli zuletzt gegebene Definition charakterisiert seine Corpi di poesia als eine Dichtung, deren Grundbaustein das Wort ist. Es geht hier um eine Präsentation seiner Materialität, die vor allem dadurch gewährleistet werden soll, dass Wörter unterschiedlichen transparenten Körpern eingeschrieben sind. Diese transparente Umgebung symbolisiert dabei auf paradigmatische Weise die Loslösung oder Befreiung des Wortes aus jedem syntaktischen Zusammenhang, die schon die italienischen Futuristen gefordert hatten (parole in libertà). Bei Belloli ist dies wörtlich umgesetzt, und zwar durch den Eindruck eines freien Schwebens einzelner Wörter im Raum, der durch die Transparenz des ,Trägermediums‘ erzielt wird. Dies gilt gleichermaßen für Ugo Carregas Gedichtobjekt tempo/spazio (1971),1261 das augenscheinlich stark nach dem Modell von Bellolis Corpi di poesia gestaltet ist: 1257 Segler-Messner (2004), S. 104. 1258 Giannì (1986), S. 113. 1259 Weiss (1984), S. 62. 1260 Belloli, zitiert nach Solt (1970), S. 38. 1261 Carrega (1988), S. 179.

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Dichtung im Raum

Abb. 155  Ugo Carrega, tempo/spazio (1971)

Dieses Gedichtobjekt besteht aus drei gläsernen Würfeln unterschiedlicher Größe, wobei jeweils der kleinere in den nächstgrößeren gestellt wurde. Der äußerste und damit zugleich größte Würfel weist einzelne Wörter auf. Auch Carrega hat die Transparenz des gewählten Materials (Glas) genutzt, um die Dichtung aus der Fläche in den Raum zu transponieren. Zum Verfahren, skripturales Material auf Glaswürfeln anzubringen, ist zu sagen, dass Carrega sich einer Technik bedient hat, die zum Zeitpunkt der Entstehung von tempo/ spazio zu den modernsten Beschriftungstechniken zählte. Gemeint ist hier das Bekleben (v.a. nichtbedruckbarer Medien) mit von der Firma Letraset entwickelten Klebebuchstaben, die sich prinzipiell auf jeder ebenen Fläche anbringen lassen, und zwar ohne sichtbare Klebstoffspuren zu hinterlassen. Betrachten wir nun das skripturale Material, das Carrega auf diese Weise auf Glas angebracht hat, genauer. Zunächst bleibt festzuhalten, dass es sich ausschließlich um vollständige Wörter, nämlich vier Substantive, die der italienischen Sprache entstammen, handelt. Einem dieser vier Substantive ist jeweils eine der vier vertikalen Seitenflächen des Würfels vorbehalten: Auf der Frontfläche erscheint in vielfacher Wiederholung „spazio“, auf der angrenzenden linken Seitenfläche „mano“, auf der gegenüberliegenden Seitenfläche „mente“ und auf der rückseitigen Fläche „tempo“. Die Disposition der identischen Begriffe auf der jeweiligen Glasfläche weist dabei keine einheitliche Struktur auf, was schon daran liegt, dass die Begriffe eine unterschiedliche Häufigkeit aufweisen. Die weitaus höchste Erscheinungsfrequenz besitzt der Begriff „spazio“, der ohnehin schon eine privilegierte Position (Frontfläche) einnimmt. Damit ist er auch der einzige der vier Begriffe, der – zumindest in den Fällen, in denen er nicht kopfüber präsentiert wird – problemlos lesbar ist. Bei allen anderen Begriffen wird die Lektüre durch den Blickwinkel und/oder die Spiegelschrift erschwert. Die Sonderstellung des Begriffes „spazio“ könnte vor allem darin begründet liegen, dass Carrega dem Konzept des Raumes eine



Transparente (intermediale) Gedichtobjekte

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besonders große Bedeutung beigemessen hat. Von dieser zeugt schon die Wahl der Form: Schließlich hätte Carrega statt eines Gedichtobjektes ein Gedicht zum Thema „tempo/ spazio“ produzieren können. Durch das Verfahren, Buchstaben aufzukleben, konnte Carrega auf einfache Weise Wörter gegenseitig überlagern. Solche Überlagerungen, die sich bezeichnenderweise vor allem auf der dem Begriff „spazio“ vorbehaltenen Frontfläche des Würfels befinden, dienen vornehmlich dazu, Raumstrukturen anzudeuten. Zusätzlich erzeugen durch den Einfall von Licht verursachte Spiegeleffekte einen Eindruck von Tiefe. Kehren wir zur Verteilung der vier Begriffe auf einer der vier Seitenflächen des größten Glaswürfels zurück: Es ist offensichtlich, dass sich zwei Begriffspaare ausmachen lassen, nämlich „spazio“ – „tempo“ und „mano“ – „mente“. Es stehen sich hier nicht nur Begriffe, sondern auch die mit ihnen benannten Konzepte gegenüber. Diese Gestaltung bietet die Möglichkeit zahlreicher unterschiedlicher Interpretationen. Die Anordnung der Begriffe auf jeweils gegenüberliegenden Würfelflächen muss dabei keine Opposition suggerieren. Beispielsweise könnte Carrega auch andeuten, dass sein Gedichtobjekt sowohl ein raum-zeitliches als auch körperlich-geistiges Phänomen darstellt. tempo/spazio könnte dann als Kritik und Korrektur von Lessings kategorialer Trennung von Zeit- und Raumkünsten im Laokoon gelesen werden. Der körperlich-geistige Aspekt müsste dabei nicht auf den Akt der Produktion (Herstellung und konzeptionelle Planung) beschränkt werden, denn auch die Rezeption betrifft sowohl den Körper – im Rahmen der Exploration der haptischen Dimension des Gedichtobjektes – als auch den Geist – im Rahmen der Lektüre und Interpretation der skripturalen Zeichen. Kommen wir von transparentem Glas nun zu transparenter Folie, die mit skripturalem Zeichenmaterial versehen ist:

Abb. 156  Joan Brossa, Ruixat de lletres (1994)1262

1262 Brossa (2004), S. 54. Auch in Fernando (1994).

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Dichtung im Raum

Bei Brossas Ruixat de lletres handelt es sich um eine große transparente Plane, die mit Buchstaben des lateinischen Alphabets bedruckt und über das Drahtgestell eines Regenschirmes gelegt ist. Dieses Drahtgestell eines aufgespannten Regenschirmes und ein entsprechender Holzstab mit Griff verleihen der Konstruktion Stabilität. Lassen wir uns bei der Interpretation zunächst vom Titel leiten: Die beiden Schlüsselbegriffe entstammen dem Katalanischen: „ruixat“ (dt. Regenschauer, Schauer) und „lletres“ (dt. Buchstaben). Die transparente Plane scheint daher dazu zu dienen, die skripturalen Regentropfen-Substitute aufzufangen. Zugleich könnte die Plane eine poetologische Funktion erfüllen, ihre Transparenz könnte nämlich diejenige der Sprache, wann immer sie nach der Sprachauffassung der Dichter nach 1945 falsch eingesetzt wird, reflektieren. Gegen diese Transparenz der Sprache ist Brossas Gedichtobjekt insofern gerichtet, als sich die schwarze Farbe der Buchstaben auf der durchsichtigen Plane dieser Transparenz widersetzt. Die Implikation, dass Buchstaben vom Himmel fallen, könnte in die Richtung Pierre Garniers zielen, der den ,himmlischen‘ bzw. göttlichen Ursprung des Wortes im Rahmen der Schöpfung verkündet hat: „Les mots n’ont pas été inventés par les hommes. Ils nous ont été donnés comme les mains, les astres.“1263 Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, dass Brossa mit der Einzelletter gearbeitet und Pierre Garnier hier eine Aussage über das Wort gemacht hat. Brossas Gedichtobjekt erinnert an einen weiteren berühmten Vorläufer der intermedialen Dichter nach 1945, nämlich Apollinaires Il pleut (1918) aus den Calligrammes. Apollinaire hat jedoch im Unterschied zu Brossa vollständige Wörter – statt isolierter Buchstaben – verwendet.1264 Auch hat der Dichter der Calligrammes Regen durch eine sehr geordnete vertikale Disposition der entsprechenden Wörter in zwei diagonal verlaufenden Spalten abzubilden unternommen, während Brossas Ruixat de lletres eine solch geordnete Verteilung der Buchstaben nicht aufweist. Hierin unterscheidet es sich ebenfalls stark von dem bereits analysierten grid poem zum Thema ,Regen‘, das Seiichi Niikuni in den chinesischen Schriftzeichen Kanji verfasst hat.1265 Ebenso wie das verbale Material in diesem Regen-Gedicht und in Il pleut erscheint auch das skripturale Material im vorliegenden Gedichtobjekt auf einer Schreibfläche: Statt um Papier handelt es sich dabei eben nur um transparente Folie. Dies führt vor allem dazu, dass der Eindruck von Räumlichkeit entsteht, denn die Buchstaben scheinen sich frei schwebend im Raum des Gedichtkörpers zu bewegen. Auch das vorliegende Gedichtobjekt mit dem Titel Textkörper präsentiert skripturale Zeichen auf einem transparenten Material. In diesem Fall handelt es sich um gewöhnliches Glas.1266

1263 Garnier (1968), S. 132. 1264 Vgl. Wehle (2010), S. 54f. 1265 Vgl. hierzu S. 168f. dieser Arbeit. 1266 Schuldt hat auch Textkörper aus Marmor produziert, auf die er mit schwarzer Ölfarbe englische Texte geschrieben hat. Abdruck einer kleinen Auswahl in Erlhoff/Holeczek (1980), S. 152. Vgl. hierzu auch Dencker (2011), S. 276f.



Transparente (intermediale) Gedichtobjekte

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Abb. 157 Schuldt, Textkörper (1965)1267

Bei dem durchsichtigen Körper, auf dem das schwarze skripturale Material erscheint, handelt es sich um eine kurze Röhre mit einem Durchmesser von 15 Zentimetern. Damit hängt zusammen, dass der Text des Gedichtobjektes als Ganzes – ähnlich wie bei holopoems – durch die Bewegung des Lesers entsteht: „Die Bewegung lenkt den Text, oder das Interesse, die Reihen der Wörter [...] zu verfolgen, steuert die Hand.“1268 In jedem Fall bedarf der Textkörper der körperlichen Aktivität des Rezipienten. Betrachten wir nun das skripturale Material, bzw. betrachten wir die entsprechenden Passagen in Schuldts Selbstkommentar zum vorliegenden Textkörper: Auf einer Glasröhre, deren Länge und Durchmesser jeweils etwa eine Handspanne betragen, stehen zwei Texte. [...] Die Zeilen, alle parallel, stehen paarweise eng beieinander. Zwischen den Paaren ist jeweils ein Abstand freigelassen, der etwas weiter ist als die Höhe eines Zeilenpaares. Wenn man von außen auf die Röhre blickt, läßt sich jeweils die obere Zeile lesen. Sie gehört zu dem Text A. Die darunter liegende Zeile (Text B) ist spiegelverkehrt angeordnet, sie wird erst nach einer halben Umdrehung durch die Lücke zwischen den Zeilenpaaren auf der gegenüberliegenden Rohrwandung lesbar. Dort ist dann die dabeistehende (aber nicht dazugehörende) Zeile des Textes A spiegelverkehrt, also aus dem Verkehr gezogen. Die beim 1267 Abgedruckt in Erlhoff/Holeczek (1980), S. 153. 1268 Schuldt (1980), S. 17.

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Dichtung im Raum

Schreiben als zueinandergehörige Kombination verfaßten Zeilen wurden bei der Herstellung um eine halbe Umdrehung gegeneinander versetzt, damit sie beim Lesen zueinander kommen. Die spiegelverkehrte Schrift ist ein flächiges oder graphisches Mittel, die gegenüberliegende Rohrwandung ist ein räumliches Element, die Durchsichtigkeit ist eine Materialeigenschaft des Glases. Gemeinsam bewirken die drei Mittel die Verschränkung der beiden Texte ineinander. Beide Texte stehen auf derselben Schicht (einer dicken Fläche) und werden aus derselben Blickrichtung wahrgenommen. Das ist eine graphische, unkörperliche Anordnung wie auf dem Papier. Daher wird auch wie bei dem Lesen auf Papier die Textfolge nicht mit einer Bewegung des Handgelenkes bestimmt, sondern dadurch, wohin man den Blick richtet. Die Umwandlung der Spiegelschrift in eine lesbare (das Aufheben der Blockierung) wird aber durch die Gestalt des Körpers besorgt.1269

Zwar soll die Autorität des Künstlers nicht in Frage gestellt werden, sein Selbstkommentar bedarf aber dennoch einer Kommentierung: Erstens ist es schlechterdings nicht nachzuvollziehen, dass ein Text in Spiegelschrift „aus dem Verkehr gezogen“ ist. Die Lektüre ist in diesem Fall nicht unmöglich, sondern lediglich erschwert: Lesbar bleibt der entsprechende Text weiterhin. Auf dieser Einsicht basieren ja gerade die zahlreichen Gedichte in Spiegelschrift aus der Zeit nach 1945, auf die an entsprechender Stelle bereits eingegangen wurde.1270 Durch eine entautomatisierte Lektüre sollte hier ein Anstoß zur Sprachreflexion gegeben werden. Als ein solcher lässt sich auch die Spiegelschrift im vorliegenden Textkörper auffassen. In diesem Kontext ist eine Ergänzung des oben zitierten Selbstkommentars nötig, denn die „Umwandlung der Spiegelschrift in eine lesbare (das Aufheben der Blockierung) wird [...]“ nicht allein „durch die Gestalt des Körpers besorgt [...]“, sondern gleichermaßen durch eine entsprechende körperliche Bewegung des jeweiligen Rezipienten. Auf diese Weise erfährt der Text eine Dynamisierung, die mit der unveränderlichen Anordnung aller skripturalen Zeichen auf dem Glaskörper kontrastiert. Festzustellen ist darum ein „Widerspiel von Starrheit und Beweglichkeit“1271. Der Rezeptionsvorgang umfasst gleichermaßen Lesen und Bewegen. Zweitens ist die Aussage, dass es sich um eine „graphische, unkörperliche Anordnung wie auf dem Papier“ handle, fraglich, denn – im Gegensatz zur Papierseite – ist die Glasfläche nicht eben, sondern überall gekrümmt. Mit dieser Krümmung geht zugleich einher, dass immer der Eindruck von Dreidimensionalität entsteht, auch wenn dieser aufgrund des relativ geringen Krümmungsgrades vergleichsweise schwach sein dürfte. Betrachten wir nun das eingesetzte skripturale Zeichenmaterial: Wie Schuldt es beschrieben hat, handelt es sich um zwei Texte, dies allerdings nur unter einer Voraussetzung: Der Begriff ,Text‘ darf nicht als eine syntaktisch konsistente Einheit aufgefasst werden. Keiner der beiden Texte im vorliegenden Textkörper weist nämlich eine solche auf. Der eine stellt eine Aneinanderreihung von jeweils drei Wörtern dar, die einem einfachen Prinzip folgt: Substantiv + Artikel (Genitiv) + Substantiv. Der zweite unterscheidet sich insofern vom ersten Text, als er pro Zeile jeweils vier Wörter aufweist. Auch 1269 Schuldt (1980), S. 20. 1270 Vgl. S. 141 dieser Arbeit. 1271 Schuldt (1980), S. 18.

Papierne Gedichtobjekte



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diese sind nach einer einfachen Regel konstruiert: Adjektiv + Substantiv + Verb + Substantiv. Zwischen beiden Texten lässt sich keine Hierarchie bestimmen, zumal beide – je nach Drehrichtung  – als spiegelverkehrt erscheinen. Auch innerhalb des skripturalen Materials ist keine Hierarchisierung festzustellen, denn Schuldt hat – in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der intermedialen Dichtung nach 1945  – ausschließlich Majuskeln verwendet. Außerdem besteht zwischen den beiden Texten keine logische Verbindung des entsprechenden Wortmaterials. Verbunden werden sie ausschließlich auf der visuellen Ebene, nämlich durch ihre Anordnung auf dem Glaskörper. Des Weiteren besitzen beide Texte weder einen Anfang noch ein Ende, denn sie stellen ja gerade keine syntaktischen Einheiten dar. Als Schreibuntergrund eignet sich hier in besonderer Weise eine Röhre, die ebenfalls weder einen Anfangs- noch Endpunkt aufweist. Jeder Leser darf bzw. muss individuell entscheiden, an welcher Stelle er mit der Lektüre beginnt. Der jeweilige vorübergehende ,Schluss‘, denn prinzipiell ermöglicht die Text-Röhre einen infiniten Kreislauf, ergibt sich dann zwangsläufig von selbst. Abschließend sei darauf hingewiesen, dass auch John Cage transparente Gedichtobjekte produziert hat, nämlich die so genannten Plexigrams. Diese bestehen aus acht Einzelobjekten und gehören insgesamt zu Cages Projekt Not Wanting to Say Anything About Marcel (1969). Bei den acht Objekten handelt es sich jeweils um eine Konstruktion aus acht Plexiglas-Wänden, die entweder mit Buchstaben, Wörtern, Bildern oder Wort- oder Bildfragmenten bedruckt sind. Alle diese werden – der Wortbildung Plexigram gemäß – also als skripturale Zeichen aufgefasst. Von den vorangegangenen Beispielen unterscheiden sich die Plexigrams primär dadurch, dass ihre Produktion primär dem Prinzip des Zufalls gefolgt ist: To compose the Plexigrams, Cage used chance operations to determine whether words found in the Random House dictionary should be fragmented before appearing in the art, and whether they should change into images. If images were asked for, Cage used the dictionary illustration if there was one. Otherwise, he selected the picture by using chance operations on images from the New York Public Library Picture Collection of the World. Every operation in Cage’s work process was discrete, with coin throwing for each tiny step.1272

4.3 Papierne Gedichtobjekte Wohl kaum eine Sammlung repräsentiert die Verbindung von Gedichtobjekten oder Gedichtkörpern mit dem traditionellsten aller Medien der Dichtung, nämlich Papier, besser als Augusto de Campos’ poemóbiles (1968/74).1273 Die Gedichte dieser Sammlung basieren auf dem Prinzip, dass durch das teilweise Zusammenklappen von zwei Buchseiten dreidimensionale Objekte entstehen, und zwar deshalb, weil das Papier auf eine bestimmte Weise zurechtgeschnitten wurde. Es handelt sich daher um eine ausgespro1272 Brown (2002), S. 112. 1273 Campos (1968/1974) [Internet].

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Dichtung im Raum

chene „poesia de participação“1274. Das Verfahren erinnert stark an jene Kinderbücher, bei denen durch das Aufschlagen von Seiten wie durch Zauberhand Schlösser, Tiere usw. sichtbar werden. Prinzipielle Unterschiede zu Campos’ poemóbiles bestehen darin, dass die Gedichtobjekte seiner Sammlung durch ein Zuschlagen statt durch ein Aufschlagen entstehen und diese keinen bestimmten Gegenständen nachgebildet sind, sondern es sich jeweils um abstrakte, mehr oder weniger komplexe Formen handelt. Dies stimmt mit der von der Gruppe Noigandres praktizierten Annäherung der Dichtung an die Mathematik und damit auch an die Geometrie überein.1275 Einen Eindruck der Plastizität der Gedichtobjekte kann die folgende Abbildung,1276 die eines der poemóbiles geschlossen und geöffnet zeigt, vermitteln:

Abb. 158

Was die Rezeption der poemóbiles angeht, so entstehen diese Gedichtobjekte – wie bereits ausgeführt – erst durch eine Bewegung des Lesers, der die jeweiligen Papierseiten durch ein Umblättern in den richtigen Winkel zueinander bringt. Die Rezeption setzt in diesem Fall also unbedingt die Aktivität des Lesers voraus. Erneut ist die im Kontext der Dichtung nach 1945 (fast) ausnahmslos erforderte aktive Rolle des Lesers nicht auf den Interpretationsakt beschränkt, sondern schon bei der Textgenerierung unerlässlich. Auch die poemóbiles gehören damit der „arte interativa“1277 an. Anders als andere bereits vorgestellte Formen interaktiver intermedialer Dichtung nach 1945 (zum Beispiel 1274 Plaza (2000), S. 21. 1275 Vgl. Haroldo de Campos’ Da Fenomenologia da Composição à Matemática da Composição in Campos/ Pignatari/Campos (1987), S. 96–98. Auch Pierre Garnier hat seiner Dichtung eine „utilisation des progressions mathématiques“ bescheinigt. Garnier (1968), S. 104. 1276 Die poemóbiles sind im Internet auf Augusto de Campos’ Homepage abrufbar: http://www2.uol.com. br/augustodecampos/05_02.htm [zugegriffen am 28.12.2010]. 1277 Plaza (2000), S. 9.



Letterngedichtobjekte

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holographische Gedichte) nutzen die poemóbiles jedoch nicht die Neuen Medien oder technische Innovationen auf dem Gebiet der Kommunikationsmedien. Der von Augusto de Campos gewählte Titel für seine Sammlung stellt eine neologistische Kontamination des Begriffes ,poema‘ (dt. Gedicht) und des Adjektives ,móbil‘ (dt. beweglich), jeweils im Plural, dar. Somit verweist der Titel auf den transformatorischen Charakter der Gedichte der Sammlung: Zweidimensionales Papier wird in dreidimensionale Gedichtobjekte verwandelt. Die hier zutage tretende dynamische Gedichtkonzeption bildet gewissermaßen eine der Vorstufen digital remediatisierter Gedichte.1278

4.4 Letterngedichtobjekte Analog zu den Vorgehensweisen in der skriptural-pikturalen Dichtung nach 1945  – vor allem im Umfeld des lettrisme  – entzündete sich auch in diesem intermedialen Bereich die Sprachkritik und der damit einhergehende Anstoß zur Sprachreflexion am kleinsten Element der Sprache bzw. der Schrift, nämlich am Buchstaben. Antonin Artauds Forderung wurde auch hier in die Tat umgesetzt: „Se servir de la parole dans un sens concret et spatial.“1279 Zusätzlich zu zahlreichen visuellen Letterngedichten finden wir in dieser Zeit viele Letterngedichtobjekte. In diesen ist die Materialisation skripturaler Zeichen noch erheblich stärker ausgeprägt bzw. wesentlich weiter getrieben als in jenen, zumal hier nicht nur der visuelle, sondern auch der taktile Aspekt bedeutungskonstitutiv funktionalisiert werden kann. Sprache wird hier augenscheinlich zum Objekt und zur „erleb- und ertastbaren Materie“1280. Die Tendenz zur Materialisation und zur mit dieser korrespondierenden Verräumlichung von Buchstaben als den kleinsten Einheiten der Sprache bzw. Schrift soll im Rahmen dieser Untersuchung vor allem anhand der intermedialen poetischen Produktionen zweier Dichter vorgeführt werden: Mirella Bentivoglio und Joan Brossa. Die folgenden beiden Abbildungen1281 zeigen große Lettern aus Holz, die Mirella Bentivoglio zu zwei unterschiedlichen Buchstaben-Skulpturen zusammengefügt hat. Beide bestehen ausschließlich aus der Majuskel E, die – wie bereits erwähnt – aus Holz hergestellt wurde. Dadurch erinnern diese Buchstaben-Skulpturen stark an jene Holzbausteine, mit denen Kinder früher fast ausschließlich gespielt haben.

1278 Vgl. S. 219ff. dieser Arbeit. 1279 Artaud, zitiert nach Garnier (1968), S. 7. Garnier hat dieses Motto bezeichnenderweise seinem Spatialisme et poésie concrète (1968) vorangestellt. 1280 Weiss (1984), S. 238. 1281 Abgedruckt in Westfälischer Kunstverein (1979), S. 20f.

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Dichtung im Raum

Abb. 159–160  Mirella Bentivoglio, E/vocazione (1978) (2 Tafeln)

Die beiden Buchstaben-Skulpturen zeichnen sich dadurch aus, dass zur Konkretisierung des Buchstabens als Element potentieller sprachlicher Aussage, als entfunktionalisierte Sprache, die Konkretisierung des Buchstabens als greifbares, taktil wahrnehmbares Objekt hinzu[kommt]: Baustein für Sprache als Zeichen und von der Sprache emanzipierter Gegenstand mit bestimmter Material- und Formqualität.1282

Hier erscheint Sprache bzw. Schrift nicht mehr – in futuristischer und vor allem auch lettristischer Tradition  – im Rahmen flächiger Gedichte in Einzelbuchstaben zerlegt, sondern diese Einzelbuchstaben werden als dreidimensionale Objekte, deren Material klar als Holz erkennbar ist, präsentiert. Betrachten wir nach diesen allgemeineren theoretischen Vorüberlegungen nun genauer die Buchstaben-Skulpturen auf den beiden Abbildungen. Die erste besteht aus vier 1282 Weiss (1984), S. 238.



Letterngedichtobjekte

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Komplexen, die wie folgt auf einer mit einem schwarzen Stoff überzogenen Holzplatte angeordnet sind: links oben befindet sich der vollständige Buchstabe E, auf den in einigem Abstand ein zu einem F umgestalteter Buchstabe E folgt, wobei der fehlende Teil an der unteren rechten Ecke der Holzplatte angebracht wurde. Links unten ist die Längsseite eines ebenfalls defekten Buchstabens zu sehen. Auch wenn dies nicht eindeutig zu erkennen ist, liegt die Vermutung nahe, dass auch dieser zu seinem Folgebuchstaben, dem F, transformiert wurde, zumal auch hier ein kleinerer Querbalken entfernt wurde. In diesem Fall hat Bentivoglio diesen auf der rückwärtigen Längsseite des Buchstabens angebracht. Im Zentrum der Holzplatte befindet sich ein Rechteck, das aus 20 Es besteht. Die Basis dieses Rechtecks bilden zwei parallele Reihen aus jeweils fünf entsprechenden Majuskeln, in die fünf weitere spiegelverkehrte Majuskeln verkeilt sind. Auf diese Weise verbindet sich eine flächige mit einer dreidimensionalen Gestaltung. Aus dieser ersten Buchstaben-Skulptur lassen sich primär zwei Implikationen ableiten: Erstens handelt es sich bei Lettern um die elementaren Bausteine der Sprache bzw. Schrift  – insofern ist die Assoziation mit Holzklötzchen durchaus berechtigt –, und zweitens dürfen diese nicht abgetrennt von ihrem materialen Charakter betrachtet werden. Letzteren hat Bentivoglio vor allem dadurch betont, dass rechts oben und links und rechts unten jeweils eine Majuskel in Einzelteile zerlegt erscheint. Auf diese Weise werden sowohl die Konstruktionsweise und die Materialität des kompletten Buchstabens (links oben) offen gelegt als auch die strukturelle Ähnlichkeit der im lateinischen Alphabet aufeinander folgenden Buchstaben E und F hervorgehoben. Das Gedichtobjekt auf der zweiten Abbildung kontrastiert schon auf den ersten Blick stark mit demjenigen auf der ersten Abbildung, denn hier steht eine Vielzahl von identischen hölzernen Majuskeln den drei in der ersten Buch-Skulptur gegenüber. Außerdem ist der Buchstabe E hier kaum noch zu identifizieren. Die zweite Buch-Skulptur erweckt mehr oder weniger stark den Eindruck eines Labyrinthes. Dieser Eindruck entsteht dadurch, dass die hölzernen Buchstaben aufeinander getürmt und ineinander gesteckt wurden. Sprachkritische Implikationen könnten insofern enthalten sein, als sich auch die Sprache als ein Labyrinth auffassen ließe, durch das man erfolgreich hindurchfinden muss, um eine gelungene Kommunikation zu erzielen. Auch hier erscheint der Buchstabe E – ebenso wie in der ersten Buchstaben-Skulptur – in semantischer Hinsicht vollkommen entfunktionalisiert. Die einzelne Letter ist hier nun Teilkomponente eines zunächst asemantischen Strukturgefüges. Auf diese Weise sind dem interpretatorischen Spielraum jedoch zugleich keine Grenzen gesetzt bzw. von Seiten Bentivoglios sind diesem keine Grenzen vorgegeben. Setzen wir nun die beiden Abbildungen in Beziehung zum Titel: E/vocazione. Durch die Dissoziation des ersten Buchstabens von der Buchstabenformation und den ihr entgegengesetzten Vorgang der Verbindung dieser beiden Elemente erhalten wir drei selbstständige verbale Einheiten in italienischer Sprache: „E“ (und), „vocazione“ (Anrede (ling.), Berufung) sowie „Evocazione“ (Beschwörung). Die Konjunktion legt dabei gerade jene plurivoke Deutung des Titels nahe, der durch die oben beschriebenen beiden konträren Verfahren Rechnung getragen wurde. Der Begriff „vocazione“ könnte die Appellstruktur, die Bentivoglios Gedichtobjekt für den Leser bzw. Betrachter darstellt, artikulieren. Denn, wie beim Großteil der intermedialen Dichtung nach 1945, muss der

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Dichtung im Raum

Leser eine aktive Rezeption vollführen. Der Begriff „Evocazione“ könnte sich einerseits auf den Beschwörungscharakter beziehen, der einem tatsächlichen Labyrinth zugeordnet werden kann, und andererseits auf die durch die vielfache Wiederholung einer einzigen Majuskel beim Leser eintretende Wirkung. Betrachten wir nun ein Letternobjekt1283 des katalanischen Dichters und Künstlers Joan Brossa.1284 Es handelt sich dabei um eines der zahlreichen Gedichte, die Brossa dem ersten Buchstaben des lateinischen Alphabets gewidmet hat. Dies mag vor allem darin begründet liegen, dass das A zwar zunächst nur einer der Buchstaben des Alphabets ist, dieses aufgrund seiner exponierten Stellung aber zugleich symbolisieren könnte.

Abb. 161  Joan Brossa, Labor (1978)

Das Wollknäuel in der oberen linken Ecke der Abbildung und die beiden Stricknadeln machen deutlich, dass die Majuskel A das Produkt einer handwerklichen Tätigkeit ist, nämlich des Strickens. Wie im vorangegangenen Beispiel tritt auch hier die Materialität eines Buchstabens deutlich hervor, allerdings besteht ein Unterschied darin, dass das eingesetzte Material im vorliegenden Fall nicht Holz, sondern Wolle und damit zugleich ein weiches Material ist. Dieser Unterschied mag auf den ersten Blick nebensächlich erscheinen, erweist sich jedoch insofern als nicht unerheblich, als er einige poetologische Implikationen beinhaltet oder aber zumindest zulässt: Das weiche und damit zugleich mehr oder weniger biegsame Material ermöglicht es, den Buchstaben zu formen, was wiederum darauf verweisen könnte, dass Lettern – als Repräsentanten von Schrift – in viele unterschiedliche Formen gebracht werden bzw. verschiedenartigste Funktionen erfüllen können, von denen auch einige einem Missbrauch gleichkommen können. 1283 Brossa (2004), S. 108. 1284 Zu Joan Brossas Werk im Allgemeinen vgl. Stegmann (1988) und zum intermedialen Aspekt seiner Gedichte vgl. Stegmann (2002).



Letterngedichtobjekte

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Der Titelbegriff „Labor“ könnte sich gleichermaßen auf die konkrete Arbeit des Strickens als auch auf die von Brossa und vielen anderen seiner Dichterkollegen geleistete Arbeit am Sprachmaterial beziehen. Die Stoff-Metaphorik verfügt im Kontext der Textgenerierung über eine sehr lange Tradition.1285 Auf diese könnte Brossa mit seinem Buchstabenobjekt verweisen. Innovativ ist seine Umsetzung dieser traditionsreichen Metaphorik dabei insofern, als er sie nicht – wie üblich – auf den Vorgang der Texterzeugung, sondern auf denjenigen der Buchstabenproduktion bezieht. Eine weitere Implikation der Analogiebeziehung zwischen dem Stricken und der Arbeit an der Sprache bzw. Schrift – womit natürlich das Dichten eingeschlossen ist – könnte in der Annahme bestehen, dass es sich bei beiden Aktivitäten um bewusst vollzogene Tätigkeiten handelt. Dies würde sich dann gegen jenen unreflektierten Sprach- und Schriftgebrauch richten, den die Dichter nach 1945 bekämpfen wollten. Legen wir die poetologischen Prinzipien dieser Dichter zugrunde, so besteht eine weitere Ähnlichkeit zwischen dem Stricken und der Gedichtproduktion darin, dass es sich in beiden Fällen um handwerkliche Tätigkeiten handelt. Im Gegensatz zum Surrealismus, der eine unbewusst verlaufende écriture automatique proklamierte, hat sich nach 1945 eine Rückkehr zur Auffassung der Dichtung als erlernbare techné deutlich abgezeichnet. Wie Joan Brossa in Labor hat auch Claes Oldenburg Letterngedichtobjekte aus weichen Materialien geschaffen, darunter zum Beispiel das folgende intermediale Gedicht:1286

Abb. 162  Claes Oldenburg, Alphabet/Good Humour (1975)

1285 Vgl. hierzu Krüger (2003), S. 302ff. und Greber (2002): Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie. Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik. 1286 Sauerbier (1980), S. 39. Auf Analoges treffen wir für Zahlen schon erheblich früher in Claes Oldenburgs Weicher Kalender für den Monat August (1962). Ebenfalls abgedruckt in Sauerbier (1980), S. 39.

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Werden Lettern als die kleinsten Bestandteile von Sprache bzw. Schrift hier als weiche Objekte präsentiert, so könnte dies vor allem zwei Assoziationen implizieren: Erstens könnte Oldenburg auf die Formbarkeit von Sprache und Schrift anspielen. Diese ermöglicht es, beide an die jeweiligen Bedürfnisse des Sprechers bzw. Schreibenden anzupassen, bei bestimmten Wörtern bestimmte Konnotationen mitfließen zu lassen oder eben auch  – so die Erfahrung der Dichtergeneration nach 1945  – Sprache und Schrift für ideologische Zielsetzungen einzusetzen. Zweitens liegt eine Assoziation, die linguistische und phonetische Merkmale von Sprache und Schrift betrifft, nahe: die weiche, knautschige Softqualität von Claes Oldenburgs Buchstabenobjekten […] [provoziert] Assoziationen auch über Qualitäten des Sprachgebrauchs, dem – in bezug auf Wortwahl wie Aussprache – im übertragenen Sinn ebenfalls Eigenschaften wie ‚hart‘ oder ‚weich‘ zugeordnet werden können.1287

In jedem Fall führt Oldenburg in Alphabet/Good Humour dem Rezipienten Buchstaben als materiale Objekte vor Augen und macht sie für ihn als solche greif- und erlebbar. In vielen seiner zahlreichen Letternobjekte hat sich Joan Brossa der pikturalen Gestalt von Buchstaben – und hier mit einer auffallenden Häufigkeit derjenigen der Majuskel A – angenommen.1288 Die Form des jeweils gewählten Buchstabens hat er in den unterschiedlichsten Objekten wiederentdeckt bzw. die Form der verschiedenartigsten Objekte in der Gestalt von Buchstaben. Wie es einst Eric Gill in seinem wegweisenden Essay on Typography (1931) formuliert hat: „Letters are things, not pictures of things.“1289 Brossa hat dabei oftmals in den Titeln der entsprechenden Gedichtobjekte die jeweilige – mehr oder weniger offensichtliche – Analogie zwischen Gegenstand und Buchstabe benannt. Zwei repräsentative Beispiele können dieses Verfahren illustrieren. Im ersten Fall1290 hat Brossa eine Ähnlichkeit zwischen der Majuskel A und der Gestalt von Flügelpaaren, der durch die grammatikalische Struktur im Titel (A + de + Substantiv) explizit Ausdruck verliehen wird, in Szene gesetzt:

Abb. 163  Joan Brossa A d’ales (1990)

1287 Weiss (1984), S. 238. 1288 Schon Victor Hugo hat in seinem Journal de 1839 die Dinghaftigkeit von Buchstaben erläutert. Vgl. hierzu Fußnote 415 dieser Arbeit. 1289 Gill (1993), S. 23. 1290 Brossa (2004), S. 109.



Letterngedichtobjekte

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Beim zweiten hier gewählten Beispiel1291 handelt es sich um ein Letterngedichtobjekt, das die visuelle Ähnlichkeit zwischen der Majuskel A und dem Segel einer Barke vorführt. Ebenso wie im ersten Beispiel mit den Flügelpaaren wird auch hier der Buchstabe zum Objekt, und zwar so, dass er aus jedem semantischen oder syntaktischen Kontext gelöstet erscheint. Signifikanterweise stellt die Majuskel in beiden Abbildungen der Gedichtobjekte das einzige skripturale Zeichen dar. Im vorliegenden Fall handelt es sich nach der Klassifizierung Brossas um ein so genanntes poema urbano,1292 also um ein Gedicht, das in der städtischen Landschaft seinen Platz gefunden hat, und zwar ganz konkret im Parc Catalunya in Sabadell:

Abb. 164  Joan Brossa, A de barca (1996)

Auch die nächste Abbildung zeigt ein der poesia urbana zugehöriges Gedichtobjekt, bzw. die nächsten beiden Abbildungen1293 zeigen zwei der poesia urbana zugehörige Gedicht1291 Brossa (2004), S. 115. 1292 In der Terminologie Brossas sind damit nicht jene Gedichte gemeint, die dem Thema ,Stadt‘ gewidmet sind, sondern ausschließlich solche plastischen Gedichte, die für das Aufstellen an einem bestimmten Ort in einer bestimmten Stadt (v.a. in Barcelona) konzipiert wurden. Auf der Homepage des Dichters können unter folgendem Link weitere Repräsentanten der poesia urbana abgerufen werden: http:// www.joanbrossa.org/obra/brossa_obra_escultura.htm [zugegriffen am 07.11.2010]. 1293 Brossa (2004), S. 113 (I) und S. 112 (III). Das zweite Gedicht des Triptychons ist auf S. 128 abge-

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objekte. Zumal diese einen zeitlichen Ablauf abbilden, könnten sie mit einigem Recht als plastische Entsprechungen des poema proceso aufgefasst werden. Es handelt sich um den ersten und dritten Teil eines Gedichtobjekt-,Triptychons‘.

Abb. 165  Joan Brossa, Poema visual en tres temps (1984) (I) [ Joan Brossa rechts im Bild, stehend]

Abb. 166  Joan Brossa, Poema visual en tres temps (1984) (III) [ Joan Brossa in der Mitte des Bildes, sitzend]

druckt.



Letterngedichtobjekte

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Zunächst ein Wort zur im Titel benannten Gattungszugehörigkeit: Die Bezeichnung poema visual hat Joan Brossa hier sehr eigenwillig verwendet, denn es handelt sich jeweils nicht um visuelle Gedichte,1294 die eine flächige Darstellung aufweisen, sondern um Gedichtobjekte, die stattdessen plastisch gestaltet sind, bzw. ganz konkret um Beispiele der poesia urbana.1295 Nachgezeichnet ist auf den drei Gedichtobjekten des ,Triptychons‘ ein bestimmter ,Weg‘ der Majuskel A: „Naixement – camí amb pauses i entonacions – i destruccio“1296, so die Erläuterung zu den Abbildungen auf Joan Brossas persönlicher Homepage. Dieser Kommentar macht deutlich, dass wir Zeuge einer negativ verlaufenden Entwicklung von der Geburt bis zur Zerstörung werden. ,Opfer‘ dieses Prozesses ist die Letter A. Auch im vorliegenden Fall ist der Interpretationsspielraum zu den unterschiedlichsten Seiten offen, auch hier wird dem Leser „offenes sprachliches Material“1297 präsentiert, jedoch werden bestimmte Implikationen und Assoziationen nahe gelegt oder begünstigt. Zunächst könnte Brossa hier das – bevorzugt von den Dichtern nach 1945 – betriebene Verfahren der Sprachzerlegung als Mittel der Sprachskepsis oder Sprachkritik widerspiegeln. Zugleich könnte die Majuskel A insofern über sich selbst hinausweisen, als sie allgemein als Symbol für einen Beginn steht. Damit könnte Brossas Poema visual en tres temps den frühneuzeitlichen vanitas-Gedanken aufnehmen und auf die Vergänglichkeit alles Irdischen verweisen. Diese Annahme bietet sich insofern an, als dieser Gedanke auch in der Dichtung der Frühen Neuzeit bevorzugt anhand der Ruinenthematik verhandelt wurde.1298 Auch dies wäre ein Beweis dafür, dass sich die Dichter nach 1945 vom futuristischen und surrealistischen Diktum einer creatio ex nihil losgesagt haben. Ein wesentlicher Unterschied zur frühneuzeitlichen Dichtung, die teilweise in Form epigrammatischer Inschriften an Häuserwänden, Statuen u.Ä. angebracht wurde, besteht darin, dass das skripturale Zeichen, das Brossa gewählt hat, nämlich die Majuskel A, nicht einem anderen Objekt (Stein etc.) eingeschrieben ist, sondern sie selbst das Objekt ist, das am Ende eines Zerstörungsprozesses in seiner materialen Gestalt präsentiert wird. Ein gemeinsames Merkmal mit der frühneuzeitlichen Epigraphik in der Stadt ist der Aspekt der öffentlichen Präsentation. Den Gedichtobjekten ist gemein, dass sie einen isolierten Buchstaben oder die Bruchstücke eines isolierten Buchstabens beinhalten. Dass die Herauslösung eines Buchstabens aus einem semantischen und/oder syntaktischen Kontext in der Dichtung nach 1945 ein beliebtes Mittel der Sprachkritik ist, und zwar nicht nur im Umfeld des lettrisme, darauf wurde bereits hingewiesen. Brossas Gedichtobjekt-,Triptychon‘ bietet in diesem Kontext einer weiteren Implikation Raum: Zwar erscheint ein Buchstabe ohne weitere skriptu1294 Ein visuelles Gedicht, das diese Bezeichnung zu Recht trägt und das die Zerstörung der Majuskel A – allerdings als statischen Zustand – zeigt, ist in Brossa (1997), S. 54 abgebildet. 1295 Die drei Gedichtobjekte befinden sich seit dem Jahre 1984 im Velòdrom de la Vall d’Hebron d’Horta in Barcelona. 1296 http://www.joanbrossa.org/obra/urbans/velodrom.htm [zugegriffen am 07.11.2010]. 1297 Weiss (1984), S. 238. 1298 Eines der wohl berühmtesten Beispiele aus dieser Zeit stammt vom Pléiade-Dichter Joachim Du Bellay: Le premier livre des antiquitez de Rome: contenant une générale description de sa grandeur et comme une déploration de sa ruine; Plus Un songe ou vision sur le mesme subject (1558).

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rale Zeichen, dafür wird der Buchstabe aber von Bäumen umgeben. Brossa könnte hier mit der Doppelbedeutung des Begriffes ,Blatt‘ als Teil eines Baumes und als Papierseite spielen. Insofern ersetzten und kompensierten die abgebildeten Bäume den fehlenden Kontext eines Textes und in einer weiteren Perspektive eines Buches. Brossas Gedichtobjekt-,Triptychon‘ Poema visual en tres temps unterscheidet sich in einem wesentlichen Aspekt von den bisher in diesem Kapitel erläuterten Beispieltexten, und zwar hinsichtlich der räumlichen Ausmaße. Die tatsächliche Größe wird vor allem dadurch erkennbar, dass Joan Brossa – stellvertretend für einen durchschnittlich großen Menschen – auf den Photos als Referenz erscheint. Vor allem die Abbildung des letzten Gedichtobjektes des ,Triptychons‘ macht deutlich, dass ein skripturales Zeichen hier zum greifbaren Objekt geworden ist. Dies muss als Anstoß zur Sprachreflexion verstanden werden, wobei ein solcher schon immer dann gegeben ist, wenn Sprache zum plastischen Gegenstand, dessen Materialität prinzipiell auch stets von Bedeutung ist, gemacht wird: Das Betrachten von Sprache als Skulptur, das Hantieren mit beschriebenen Objekten, das Herumlaufen um Leseblöcke oder das Umgebensein von einem mit geschriebener [...] Sprache gefüllten Raum weckt die Sensibilität für das tägliche Zusammentreffen mit Sprache in der vom Menschen geprägten Umwelt.1299

Diese Intention, den Leser zu einer grundsätzlichen Sprachreflexion, die immer auch eine Schriftreflexion impliziert, zu veranlassen, scheint mir erheblich bedeutender als die Absicht des Dichters, Sprache bzw. Schrift im Medium seines ,Triptychons‘ ein Denkmal zu setzen, auch wenn dies selbstverständlich zutrifft. Der Schrift ein Denkmal gesetzt und zugleich die Intermedialität der in diesem Kapitel behandelten Dichtung materialiter vor Augen geführt hat Josef Bauer im folgenden Beispiel:1300

Abb. 167  Josef Bauer, Taktile Poesie (o. J.)

1299 Weiss (1984), S. 238. 1300 Abgedruckt in Sauerbier (1980), S. 39.



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Schon der Titel Taktile Poesie rückt den intermedialen Status des vorliegenden Gedichtobjektes in den Vordergrund. Der Rezipient erhält schon hier den Hinweis, dass seine Lektüre sich von derjenigen auf traditionelle Weise verschrifteter Gedichte in prinzipieller Hinsicht unterscheiden muss. Damit einhergeht, dass auch die Produktion wesentlich von derjenigen traditioneller Dichtung abweicht. Betrachten wir das vorliegende Gedichtobjekt nun genauer: Wir sehen die Majuskel T, die aus einem festen Material – möglicherweise Holz – gefertigt wurde. Sie könnte auf das erste Titelwort („Taktile“) verweisen und auf diese Weise nochmals den bestimmten intermedialen Status des Gedichtobjektes betonen. Um diese Majuskel, die isoliert im Raum steht, ist in der unteren Hälfte ein weißes Material geschlungen. Es handelt sich dabei um eine modellierbare Materie, wie beispielsweise Gips. In der weißen Masse sind Abdrücke zu erkennen, die darauf schließen lassen, dass eine menschliche Hand das Gedichtobjekt an dieser Stelle angefasst bzw. umfasst hat. Dies könnte als Hinweis darauf verstanden werden, wie die Rezeption dieses Gedichtobjektes sich zu vollziehen hat, den das Gedichtobjekt selbst inszeniert. Insofern haben wir es hier mit einem selbstreflexiven Beispiel intermedialer Dichtung zu tun, dessen Titel und Gestaltung die Art der Rezeption vorgeben. Betrachten wir nun ein vollkommen anders gestaltetes Gedichtobjekt,1301 das einerseits ein ready made darstellt und andererseits auch der action poetry zuzurechnen ist, zumal es als eine Art happening inszeniert ist:

Abb. 168  christian ludwig attersee, attersee’s dichtende pflanzenfettmargarine (butterbrotgedichte) (1965)

1301 Abgedruckt in weiermair (1976), o. S.

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Zunächst und vor allem unterscheidet sich das vorliegende Beispiel dadurch von den bisher besprochenen, dass es aus Lebensmitteln hergestellt ist: aus Brot, Margarine und verzehrbaren Lettern. Attersee steht hier ohne Frage in der Tradition der so genannten Eat Art, die Daniel Spoerri zu Beginn der 1960er Jahre initiiert hat.1302 Hier wurden erstmals Lebensmittel zum materialen Gegenstand von Kunst. Besonders inspiriert zu seinen butterbrotgedichten haben könnten Attersee von Spoerri geschaffene Brotteig-Objekte und Diter Rots ,Kunstwürste‘, zu deren Produktion dieser Seiten ausgewählter literarischer Werke – beispielsweise Günter Grass’ Die Blechtrommel (1959) – zerkleinert, mit Gelatine, Fett und Kräutern versehen und schließlich Naturdärme mit der so entstandenen Masse gefüllt hat. Einfluss auf Attersee dürfte auch Joseph Beuys’ künstlerisches Schaffen gehabt haben, und zwar insofern Beuys bevorzugt Fett als Material eingesetzt hat. Der maßgebliche Unterschied zu diesen Repräsentanten der Eat Art besteht darin, dass der Rezipient das Gedichtobjekt erst ins Leben ruft und seine Gestalt verändert. In einem Selbstkommentar hat Attersee diesen Aspekt folgendermaßen beschrieben: in butter- oder margarineziegeln sind gleichmäßig große, schwarze, genießbare buchstaben eingemengt. Durch streichen von butterbroten entstehen buchstabenkonstellationen, die durch das essen der butterbrote von biß zu biß ihre sprachlichen und optischen beziehungen verändern.1303

Weder die Zubereitung des Butterbrotes noch der anschließende Verzehr erfüllen einen künstlerischen Selbstzweck, sondern dienen dazu, Buchstabenkombinationen auf aleatorische Weise zu erzeugen und sukzessive zu verändern. Dadurch, dass der Rezipient die Materialität skripturaler Zeichen, in diesem Fall diejenige von Majuskeln, durch sein körperliches Eingreifen selbst einem optischen Wandel unterziehen kann, wird ihm diese besonders eindringlich vor Augen geführt. Neben dieser im Bereich der Sprache anzusiedelnden Zielsetzung von Attersees Gedichtobjekt lassen sich weitere grundsätzliche Absichten der hier behandelten intermedialen Dichtung nach 1945 nachweisen: Zunächst wird in attersee’s dichtende pflanzenfettmargarine wie so oft implizit die Frage nach der Abgrenzung von Kunst und Leben gestellt. Damit einher geht die – vor allem in der Tradition des Dadaismus stehende – Zielsetzung, beide Bereiche einander anzunähern, und des Weiteren die Frage nach dem Kunstbegriff. Zugleich zeigt das vorliegende Gedichtobjekt implizit die dem Leser traditionell zugeordnete Rezeptionshaltung als überholt. In diesem Fall ist die Bezeichnung ,neuer‘ Leser zweifellos gerechtfertigt, denn die Rezeption beinhaltet einen aktiven körperlichen Einsatz des Rezipienten. Mit einigem Recht lässt sich Attersees Gedichtobjekt auch als Parodie auffassen, und zwar auf eine sich selbst zu ernst nehmende Dichtung. Um dies belegen zu können, genügt ein Blick auf den Titel: attersee’s dichtende pflanzenfettmargarine. Explizit schafft hier weder der Künstler noch der Rezipient das poetische Werk, sondern das Pflanzenfett. Ein noch dichtungsunwürdigerer Akteur lässt sich wohl kaum finden. 1302 Die Vorläufer der Eat Art können an dieser Stelle vernachlässigt werden. Für den Zusammenhang zwischen der Cucina Futurista und der Eat Art vgl. Novero (2010). 1303 weiermair (1976), o. S.

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Daneben scheint mir ein weiterer Aspekt von Bedeutung zu sein: Es muss vorausgesetzt werden, dass Attersee nicht willkürlich das Material ,Brot‘ gewählt hat. Schließlich gibt es eine Vielzahl denkbarer Alternativen, auf die man die mit Lettern angereicherte Margarine hätte streichen lassen können. Attersee könnte deshalb Brot gewählt haben, weil dieses in vielen Kulturkreisen einen hohen symbolischen Wert besitzt. Unter anderem aus der biblischen Überlieferung gespeist, hat sich das Brot als eines der populärsten Symbole des Lebens durchgesetzt. Zahlreiche entsprechende Redewendungen und traditionelle rituelle Handlungen belegen dies. Brot steht also für die materielle Lebensgrundlage des Menschen, die dessen physikalische Gesundheit maßgeblich gewährleistet. Die in attersee’s dichtende pflanzenfettmargarine präsentierte Kombination von Brot und Buchstaben könnte daher eine Implikation enthalten, auf die Joseph Beuys in einem anderen Kontext hingewiesen hat, und zwar in einem Selbstkommentar zu Zwei Fräulein mit leuchtendem Brot (1966), in dem Beuys erklärt hat, warum das Brot leuchte: Ja, das ist abgekürzt gesagt, ein direkter Hinweis auf die Geistigkeit von Materie. Das Brot, also eine Substanz, die die elementarste Substanz für die menschliche Ernährung darstellt, hat in dem Wort vom leuchtenden Brot die Bedeutung, dass es seinen Ursprung im Geistigen hat, also dass der Mensch sich nicht vom Brot allein ernährt, sondern vom Geist.1304

Übertragen wir dies auf attersee’s dichtende pflanzenfettmargarine, so bedeutet dies, dass der Mensch zum Leben nicht nur körperlich, sondern auch geistig versorgt und gespeist werden muss. Die der Margarine beigemengten Lettern verweisen auf den Bereich der Sprache, der wiederum untrennbar mit dem Bereich des Geistigen verbunden ist – die Frage, ob ein Denken ohne Sprache möglich sei oder nicht, beschäftigt seit jeher die Sprachphilosophie. Zusammenfassend ließe sich auf einen biblischen Satz verweisen, auf den bereits Beuys angespielt hat, ohne jedoch den für uns entscheidenden zweiten Teil des Satzes korrekt wiederzugeben. Ohne den dritten Teil, der Gott benennt, handelt es sich bei diesem Zitat um eine Art Quintessenz des Atterseeschen Gedichtobjektes: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt“ (Mt 4,4). Betrachten wir nun einige typographische Skulpturen von Ebon Heath aus jüngster Zeit. Er verkörpert das für die Dichtung nach 1945 charakteristische Wesensmerkmal der Intermedialität – so wie viele andere Dichter aus dieser Zeit auch – schon dadurch, dass er als ausgebildeter Graphiker zahlreiche Gedichte produziert hat. Im Kontext dieses Kapitels sind vor allem seine Typographic Mobiles (2008) von Interesse. Bei diesen handelt es sich, wie der Titel nicht anders erwarten lässt, um aus Buchstaben und Wörtern bestehende Mobiles. Die Buchstaben wurden per Laser Cut aus Acryl gefertigt. Wie es für die Dichtung nach 1945 charakteristisch ist, hat also auch Ebon Heath modernste Techniken zur Produktion seiner Gedichtobjekte genutzt. Heath hat diese typographischen Skulpturen nicht nur produziert, sondern das ihnen zugrunde liegende Konzept auch theoretisch reflektiert. Das folgende Zitat hebt die Konzeption der Typographic Mobiles hervor: Primär tragen diese der Materialität skripturaler Zeichen Rechnung. Daneben weist ihre Gestaltung Ähnlichkeiten mit der 1304 Beuys (1966) [Internet].

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Dichtung im Raum

futuristischen und dadaistischen Vorgehensweise auf, Anweisungen für den mündlichen Vortrag durch visuelle Parameter (wie zum Beispiel Größe und Fettdruck) abzubilden. Auch in Mallarmés Un coup de dés dient die typographische Gestaltung als Anweisung für den mündlichen Vortrag: The structures are a physical representation of our language as object. This ‘visual noise’ permeates all aspects of modern culture, especially urban living. From the signs, billboards, stores, and t-shirts that yell with type for attention as you walk down any high street. All the audio and verbal noise, from music we plug our ears with to the din of countless conversations, screams and whispers. With new media of texting, online, and transmitted technology there is even invisible noise silent to the eye surrounding us all. It is this cozy womb of information, data, or chorus of cacophony that my mobiles hope to represent as well as reveal. Making the invisible visible.1305

So wichtig der Aspekt einer Verbindung, die die Typographic Mobiles zwischen dem akustischen und dem visuellen Bereich herstellen, auch sein mag, geht aus Ebon Heaths Reflexionen über seine typographischen Skulpturen doch eindeutig hervor, dass er mit diesen hauptsächlich die Befreiung des Buchstabens und des Wortes in lettristischer und futuristischer Manier erzielen wollte. Der folgende Selbstkommentar liest sich fast wie ein Manifest dieser beiden Bewegungen oder auch wie ein diese beerbendes Manifest der Konkreten Poesie aus ihren besten Zeiten: This visual journey began as a love affair with letters and a question: how do we fuse our typographic language with the physicality of our body language? I want our type to jump, scream, whisper and dance, versus lay flat, dead and dormant, to be used and discarded with no concern for its intricate beauty of form, function, and meaning. We use type daily yet rarely appreciate the form of a letter. By liberating type from the confines of the page we not only free the words to express the content in a new dimension of scale, volume, and movement, but also force the reader to become a viewer. This process reveals the form of our letters while creating a new relationship to our language in our ability to feel versus only read the content.1306

Statt der Reduktion der Schrift auf eine Informationsübermittlung soll ein Bewusstsein für die materiale Dimension skripturaler Zeichen erzielt werden. Außerdem strebt Heath eine ganzkörperliche Rezeption von Dichtung bzw. ihre Rezeption mit allen Sinnen an. Diese steht der traditionellen Lektüre konträr gegenüber. Vor allem Pierre Garnier hat diese Gedanken schon rund 40 Jahre zuvor formuliert.1307 Darüber hinaus sind die Typographic Mobiles so konstruiert, dass die sie bildenden skripturalen Zeichen frei beweglich sind. Die Typographic Mobiles lassen sich zu Recht als „bewegte Textträger“1308 bezeichnen. Nach dem Prinzip eines traditionellen Mobiles 1305 Mitsios (2009) [Internet]. 1306 Mitsios (2009) [Internet]. 1307 Vgl. beispielsweise Garnier (1968), S. 22. 1308 Sauerbier (1980), S. 43.

Letterngedichtobjekte



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sind sie an dünnen Fäden (in diesem Fall aus Draht) befestigt. Auf diese Weise repräsentieren sie die Dynamik von Sprache und Schrift, die beide einem ständigen Wandel unterzogen sind. Hierauf wurde im Kontext holographischer Gedichte, die ebenfalls den flüchtigen Charakter skripturaler Zeichen in Szene setzen, bereits ausführlich hingewiesen.1309 Verglichen mit holographischen Gedichten besitzen die Typographic Mobiles jedoch einen wesentlich gefestigteren Status als taktil wahrzunehmende dreidimensionale Gedichtobjekte. Dieser wird durch die Beweglichkeit der sie konstituierenden Zeichen noch verstärkt. Einige repräsentative Beispiele1310 können dies illustrieren. Deren tatsächliche Größe lässt sich anhand der folgenden Abbildungen leider nur erahnen, auch wenn diese erheblichen Anteil daran hat, dass Buchstaben hier als Körper wahrgenommen werden. Darüber hinaus steht die Entscheidung, an dieser Stelle Abbildungen einzufügen, im Widerspruch zur Konzeption der Typographic Mobiles, zumal diese sich ja gerade der Zweidimensionalität widersetzen. Ebon Heath hat darum wiederholt darauf hingewiesen, dass Ausstellungskataloge u.Ä. nicht der geeignete Darstellungsmodus seiner typographischen Skulpturen seien, dieser Publikationsform – mangels Alternativen – jedoch vielfach zugestimmt. Aus diesem Grund scheinen mir auch die folgenden Abbildungen einzelner Typographic Mobiles eine ausreichende Legitimation zu besitzen:

Abb. 169 und Abb. 170  Ebon Heath, Typographic Mobiles (2008) [Auswahl]

Betrachten wir abschließend ein intermediales Gedichtobjekt, das insofern einen metapoetischen und selbstreflexiven Charakter besitzt, als es jenen Begriff der Konkreten Dichtung illustriert, der der vorliegenden Untersuchung zugrunde liegt: 1309 Vgl. S. 212f. dieser Arbeit. 1310 Heath (2011) [Internet].

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Abb. 171  andrew topel, CONCRetE (2010)1311

Zumal Topel hier Majuskeln und Minuskeln auf einer Ansammlung von kleineren und größeren Steinen platziert hat, tritt ihr Materialcharakter besonders in den Vordergrund. Die Assoziation einer Analogie liegt nahe: So wie Steine als Baumaterial dienen, so auch Lettern. Der Materialcharakter von Buchstaben wird dadurch verstärkt, dass die Lettern den Begriff ,concrete‘ bilden, der in diesem Zusammenhang natürlich auf die Konkrete Poesie verweist. Der Begriff ist nicht einheitlich in Majuskeln oder Minuskeln geschrieben, wie dies – im Sinne einer möglichst großen Reduktion des Zeichenbestandes – bevorzugt in der Konkreten Poesie praktiziert wurde. Im vorliegenden Beispiel hingegen sind der vorvorletzte und der vorletzte Buchstabe als Minuskel gestaltet. Auf diese Weise richten sich der Blick und die Aufmerksamkeit des Lesers unweigerlich besonders auf die Buchstabenkombination „et“. Sie erfährt hier deshalb eine solch privilegierte Stellung, weil es sich bei dieser Buchstabenkombination um die lateinische und französische Konjunktion für das deutsche ,und‘ handelt. Die verbindende Funktion, die diese Konjunktion in syntaktischer Hinsicht erfüllt, lässt sich im Kontext des vorliegenden Gedichtobjektes sowohl darauf beziehen, dass sie die beiden Teile des Begriffes ,concrete‘ („CONCR“ und „E“) miteinander verbindet als auch die Lettern mit den Steinen und damit – in einer weiteren Perspektive – die Bereiche Dichtung und Natur. Schließlich weist die Konjunktion auf das Produkt einer intermedialen Verknüpfung hin. 1311 topel (2010), o. S.

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4.5 Buchgedichtobjekte Im Rahmen der in diesem Kapitel thematisierten poetischen Intermedialität nach 1945 eignet sich neben der Letter auch das Buch als plastisches Medium oder mediale Präsentation einer grundlegenden Sprachskepsis und -kritik und damit zugleich als Anstoß zur Sprachreflexion. Auch das Buch lässt sich als Material, das poetisch verfremdet werden kann, auffassen.1312 Es nimmt darum wenig wunder, dass in der Dichtung nach 1945 – und besonders ab den 1960er Jahren – zahlreiche so genannte Buchobjekte bzw. Buchgedichtobjekte geschaffen werden. Das ureigenste Symbol der ,Gutenberg-Galaxis‘, das Medium ,Buch‘, begegnet uns hier auf unterschiedlichste Weise (poetisch) verfremdet und damit zugleich entfunktionalisiert, so wie es eines der primären Ziele der in der Dichtung nach 1945 durchgeführten Sprachkritik war. Im Rahmen dieser Verfremdungsprozesse tritt – analog zu den entsprechenden Verfahren, die an der einzelnen Letter angewendet werden können – die Materialität des Zeichenmaterials, also in diesem Fall des Buches, deutlich hervor. Was hier hauptsächlich interessiert, das Buch thematisiert als Sprachträger, konzentriert sich vor allem um die Verweigerung bis zur Zerstörung der Sachaussage oder die offene, verbalisierte Thematisierung des Buches als ‚Inhalts‘-Träger. Die haptisch-taktil wahrnehmbaren Eigenschaften, das Material, Farbe und Formgebung sind entscheidende Faktoren bei der Sinnkonstitution des Buchobjekttextes. Statt von ihm unabhängige Sachinformationen mitzuteilen, zeigt das Buch sich selbst als Kunstwerk, thematisiert seine Objekteigenschaften und seine Funktion, ist also ebenso entfunktionalisiert, d.h. konkretisiert wie der aus dem sprachlichen Textgefüge isolierte Buchstabe oder das Wort.1313

Die poetische Bearbeitung oder Umgestaltung von Büchern kann prinzipiell zwei Ziele verfolgen, von denen sich das eine treffend mit dem Stichwort ,Resignation‘ und das andere mit dem Stichwort ,Selbstbehauptung‘ beschreiben ließe: Die Bücher, gegen die sich die künstlerische Aggression richtet, zeugen [...] auch von der Ohnmacht des Mediums, den es gefährdenden Kräften Widerstand zu leisten – sei es gegen massive (staatliche) Kontrolle, sei es gegen den zunehmenden Einsatz elektronischer Medien oder gegen Ignoranz und Analphabetismus.1314

Im Hintergrund der poetischen Bearbeitung des Mediums ,Buch‘ steht prinzipiell die Frage nach der Bedeutung des Buches bzw. seiner Funktionalität bzw. Funktionszuschreibung im Kontext zunächst der Herausbildung und schließlich der Dominanz der Neuen Medien. Somit thematisieren Gedichtobjekte, deren Material das Buch ist, per se (mehr oder weniger explizit) das sich zunehmend stärker herausbildende Konkurrenzverhältnis beider Medientypen. 1312 Vgl. Butor (1964). 1313 Weiss (1984), S. 247. 1314 Moldehn (1996), S. 97f.

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Künstlerisch verfremdete Bücher können zum visuellen Ausdruck eines prinzipiellen Ungenügens an der reinen Funktionalisierung dieses Mediums werden: Als aggressive oder reflexive Reaktion auf die Überfülle von Information durch Bücher läßt sich die Zerstörung von Buchinhalt, von Sachmitteilung tragenden Buchseiten verstehen.1315

Betrachten wir ein erstes Beispiel:1316

Abb. 172  Hubertus Gojowczyk, Buch mit aufgekratzten Seiten (1971)

Hier erscheint das Buch als traditioneller Schriftträger vollkommen verfremdet und verzerrt: Das Buch auf der vorliegenden Abbildung dient nicht mehr ausschließlich dazu, skripturalen Zeichen als Schreibuntergrund zu dienen und damit zugleich Informationen zu transportieren, sondern es wird dem Betrachter seine Materialität, und zwar in visueller und taktiler Hinsicht, vor Augen geführt: Die Papierseite erfüllt hier keine bloße ,Hilfsfunktion‘ in einem sich schriftlich vollziehenden Kommunikationsprozess, sondern sie ist durch ein künstlerisches Verfahren (das ,Aufkratzen‘ des Papiers) selbst zum Kunstobjekt geworden. Auf symbolische Weise könnte die Arbeit am Material des Buches die Arbeit des Dichters am Sprachmaterial repräsentieren. Festzustellen ist in 1315 Weiss (1984), S. 247. 1316 Gojowczyk (2008), S. 12.



Buchgedichtobjekte

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jedem Fall eine „Abspaltung des Inhalts (Schrift) von der Buchform“1317. Timm Ulrichs hat dies wie folgt beschrieben: „Durch die sogenannten neuen Medien sind die tradierte Schriftsprache und das Buch davon entlastet, alleinige ‚Container‘ von Information zu sein; damit sind sie zwar noch lange nicht überflüssig, aber doch frei für neue Sichtweisen und Handhabungen.“1318 An dieser Stelle bietet es sich an, auf ein weiteres Verfahren der Buchverfremdung im Rahmen der intermedialen Dichtung nach 1945 hinzuweisen: die Verbrennung. Vor allem im Roman des 19. und 20. Jahrhunderts treffen wir auf diese Thematik: Selbst wenn das Feuer längst nicht mehr als die größte Gefahr für Bücher und Bibliotheken gilt, so haben sich die ‚verbrannten Bücher’ doch als literarischer und künstlerischer Topos entfaltet. Werke allein des 19. und 20. Jahrhunderts, in denen Bücher in Flammen aufgehen, dürften eine umfangreiche Anthologie bilden.1319

Daneben spielt die Buchverbrennung in der Aktionskunst nach 1945 eine große Rolle. Auch in der Dichtung nach 1945 – zum Teil sicher auch in der Nachfolge des futuristischen Aufrufes zur Zerstörung tradierter Kunst und Literatur – finden wir jedoch das Thema der Verbrennung skripturalen Materials, und zwar bevorzugt skripturalen Materials, das zum Buch organisiert ist. Ähnlich wie die Imitation oder Parodie von Zensurmaßnahmen in Gedichtobjekten kann auch die Präsentation verbrannter Bücher in diesem Medium eine bewusste Bezugnahme auf eine (inszenierte) staatliche Kunstzerstörung darstellen. Dies muss vor dem Hintergrund der These vom Ende des Buchzeitalters gesehen und gelesen werden. Zugleich bietet der Tatbestand des Verbrennens von skripturalem Material in Buchform eine weitere Möglichkeit: Das Feuer ist „prädestiniert, das Unbehagen in der Kultur zu formulieren und auf den sprichwörtlichen Phönix hoffen zu lassen“1320. Gedichtobjekte, die verbrannte Bücher in Szene setzen, weisen prinzipiell ein spannungsvolles Verhältnis zwischen diesen beiden Polen auf. Entsprechende Gedichtobjekte dienen daher immer als Anstoß zur Reflexion über das Traditionsmedium ,Buch‘ und zeugen niemals von bloßer Zerstörungswut, wo auch immer sich diese herleiten mag. Die Inszenierung einer Buchzerstörung kann auch so weit reichen, dass die Struktur eines Buches, wie im folgenden Beispiel, nur noch rudimentär vorhanden ist:

1317 Wierschowski (1993), S. 16. 1318 Ulrichs, zitiert nach Wierschowski (1993), S. 88. 1319 Moldehn (1996), S. 101. Vgl. Draxler (1987), S. 167. 1320 Moldehn (1996), S. 110.

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Abb. 173  Hubertus Gojowczyk, Rest eines Buches (1968)1321

Hier ist die Schrift und damit zugleich der mit ihr verbundene Bedeutungsinhalt vollständig vom Medium ,Buch‘ getrennt worden. Schrift ist nur in negativer Form, durch ihr Fehlen vorhanden. Paradoxerweise sorgt gerade diese Absenz für eine umso stärkere Präsenz der skripturalen Zeichen im Bewusstsein des Lesers und könnte ihn dadurch zu einer Art Sprachreflexion veranlassen. Ebenso wie die materiale Beschaffenheit von Buchstaben lässt sich auch diejenige von Büchern und Buchseiten poetisch in Szene setzen, wie das folgende Beispiel1322 belegt:

Abb. 174  Paolo Albani, Antica sottoscrittura (1993)

1321 Gojowczyk (2008), Frontispiz. 1322 Abgedruckt in Wierschowski (1993), S. 41.



Buchgedichtobjekte

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Antica sottoscrittura ist ein Buch, dessen Schriftbild, auch wenn die skripturalen Zeichen im Einzelnen nicht zu erkennen sind, vor allem durch seine zweispaltige Anordnung auf der Papierseite es nahe legt, dass es sich um ein altes Buch handelt. Diese Annahme erfährt auch durch den Titel eine Bestätigung. Die rechte Seite des aufgeschlagenen Buches besitzt insofern eine markante Besonderheit, als die beiden Textblöcke auf ihr Stellen unterschiedlicher Form aufweisen, an denen statt Buchstaben Teile eines Wollfadens zu sehen sind. Vor allem durch das Nomen im Titel („sottoscrittura“) entsteht hier der Eindruck, dass diese Stellen aus der Buchseite ausgeschnitten worden sind und so den den Text unterlaufenden Wollfaden freigelegt und damit an die Oberfläche gebracht haben. Albani scheint mit diesem Buchobjekt auf die traditionsreiche Metapher der textilen Verfasstheit eines Textes zu verweisen, gibt ihr aber eine neue Wendung. Antica sottoscrittura unterstellt nämlich nicht nur eine Analogie zwischen einem Stoffgewebe und einem Text, sondern suggeriert die Annahme, dass das Gewebe oder – genauer – der Wollfaden selbst als Text aufzufassen und zu lesen sei. Präsentiert wird das Gewirr aus wollenem Faden, das sich unter dem skripturalen Text befindet, als eine zweite Form von Text, die zwar nicht mit der ersten identisch ist, diese aber ersetzen kann. Dies belegen die ausgeschnittenen Stellen, und zwar insofern, als sie sich dem zweispaltigen Textarrangement fügen, anstatt es zu zerstören, was ja auch denkbar gewesen wäre. Dies entspricht wiederum dem neuen Textbegriff in der Dichtung nach 1945, dem zufolge das Kriterium für ,Textualität‘ kein bestimmtes Zeichenrepertoire voraussetzt. Aus der Zeit nach 1945 stammen auch viele Buchobjekte, die ebenfalls vom Traditionsmedium ,Buch‘ ausgehen, es aber in anderer Hinsicht künstlerisch verändern und damit immer zugleich verfremden. Gemeint sind hier solche Werke, die eine Zensur in Szene setzen.1323 Es liegt in der Natur der Sache, dass in diesem Bereich der Dichtung nach 1945 von einem erheblich stärkeren Impuls einer grundsätzlichen Sprachkritik ausgegangen werden muss. Manifest wird diese Sprachkritik hier immer in der Auslöschung skripturaler Zeichen. Ein besonders eindringlich gestaltetes Beispiel1324 von Gerhard Rühm kann dies illustrieren (Abb. 175). Wie der Titel es nicht anders erwarten lässt, handelt es sich beim vorliegenden Beispiel um ein Buch, dessen aufgeschlagene Seiten fast vollständig übermalt worden sind, und zwar mit schwarzer Farbe. Das Buch ist ein Lyrikband. Allerdings ist dies auf der obigen Abbildung nur schwer zu erkennen. Bei der Betrachtung aus nächster Nähe von Übermaltes Buch sind die geschwärzten skripturalen Zeichen nach wie vor lesbar, die Rezeption erfordert allerdings einiges an Mühe. Auch ist anhand des Satzspiegels, den Gerhard Rühm durch eine schwarze Umrandung stark hervorgehoben hat, erkennbar, dass es sich bei den betroffenen Texten um Gedichte handelt.

1323 Ein flächiges Gedicht bzw. Sonett von Avelino de Araújo zum Thema ,Zensur‘ wurde bereits vorgestellt. Vgl. S. 88f. dieser Arbeit. 1324 Moldehn (1996), S. 99.

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Abb. 175  Gerhard Rühm, Übermaltes Buch (1962)

Übermaltes Buch stellt ebenso eine Persiflage der politischen Zensur dar wie Avelino de Araújos Soneto 31.03.1964 (1990). Das Schwärzen von geschriebenen Wörtern stellt ein wörtliches Zitat von Zensur dar. Im Unterschied zu Araújos Sonett, in denen schwarze Zensurbalken skripturale Zeichen ersetzen, überdeckt die schwarze Farbe diese im vorliegenden Gedichtobjekt. Gemeinsam ist beiden jedoch, dass das gängige Verfahren der politischen Zensur durch eine augenscheinlich exzessive Anwendung ad absurdum geführt und somit der Lächerlichkeit preisgegeben wird. In Rühms Gedichtobjekt wird diese Wirkung vor allem dadurch hervorgerufen, dass lediglich zwei Stellen auf den zwei Buchseiten nicht von der Zensur getilgt worden sind: „löst sich auf “ (links oben) und „verweht“ (rechts in der Mitte). Beide kommentieren auf einer Meta-Ebene „den [durch die Schwärzung erzeugten] nebulösen, changierenden Charakter der Blätter“1325. Dass die geschwärzten Wörter in Übermaltes Buch weiterhin lesbar sind, obwohl die schwarze Farbe „in wörtlichem Sinne zu dick“1326 aufgetragen wurde, kann als versteckter Hinweis darauf aufgefasst werden, dass auch die strengsten Zensurmaßnahmen nicht verhindern können, dass die von ihr betroffenen Inhalte dennoch den Weg in die Öffentlichkeit finden. Beispielsweise hat die Entwicklung des französischen Literaturmarktes im 18. Jahrhundert – im Jahre 1701 wurde erneut die Zensur eingeführt – gezeigt, wie einfach aufklärerisches Gedankengut trotz des offiziellen Verbotes von staatlicher Seite verbreitet werden konnte, nämlich durch eine Publikation im näheren Ausland (Niederlande, Schweiz etc.).

1325 Moldehn (1996), S. 98. 1326 Moldehn (1996), S. 98.



Buchgedichtobjekte

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Betrachten wir abschließend zwei Buchgedichtobjekte von Brian Dettmer, denen gemeinsam ist, dass ihr Ausgangsmaterial, nämlich Bücher, fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt wurde. Das Erste1327 hat Dettmer aus der im Jahre 1873 erschienenen Anthologie Modern Painters gefertigt. Spätestens mit Blick auf diese filigrane Arbeit gilt im wörtlichen Sinne, dass es sich bei der Dichtung um ein Handwerk und eine Kunstfertigkeit, eben um eine erlernbare techné, handelt.

Abb. 176  Brian Dettmer, Modern Painters (1873) (2008)

Im vorliegenden Beispiel wurden Buchseiten zunächst so zurechtgeschnitten, dass ein starker Eindruck von Räumlichkeit entsteht. Darüber hinaus sind im vorderen Teil dieses Buchgedichtobjektes Gegenstände nicht nur abgebildet – wie in der Anthologie –, sondern sie wurden ausgeschnitten und sind so als Körper wahrnehmbar. Insgesamt weist Modern Painters (1873) damit Ähnlichkeiten zu jenen Büchern für Kleinkinder, die in der ersten Lernphase der Schulung des Tastsinnes dienen, auf. Alle Buchgedichtobjekte thematisieren implizit immer die mediale Präsentation von Dichtung bzw. – allgemeiner formuliert – von Schrift, und zwar nach der Erfindung des Buchdruckes. Natürlich ist nicht dies erst der Beginn der Geschichte der Schrift und der schriftlich fixierten Dichtung. Aus diesem Bewusstsein heraus haben Dichter nach 1945 neben Buchgedichtobjekten ebenfalls Objekte geschaffen, die frühere Formen der Verschriftlichung präsentieren. Damit thematisieren sie von vorneherein die mediale Präsentation von Schrift und im Besonderen von schriftlich fixierter Dichtung. Wir haben es hier mit einer der mannigfaltigen Möglichkeiten der Medienreflexion zu tun, die in der intermedialen Dichtung nach 1945 vorgeführt werden. Betrachten wir nun abschließend ein Gedichtobjekt1328 von Konrad Balder Schäuffelen, das aus drei Schrifttafeln besteht: 1327 Dettmer (2011) [Internet]. 1328 Schäuffelen (1977), S. 44.

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Dichtung im Raum

Abb. 177–178  Konrad Balder Schäuffelen, im.sar (1967)

Der Gebrauch von Schrifttafeln ist uns vor allem aus dem Bereich des kultischen Schrifttums vertraut. Älteste Beispiele sind mehrere tausend Jahre alt. Diese unterscheiden sich natürlich insofern stark von Konrad Balder Schäuffelens Schrifttafeln, als ihre Inschriften nicht aus Buchstaben des lateinischen Alphabets gefertigt sind. Das vorliegende Gedichtobjekt besteht aus drei Tontafeln unterschiedlicher Höhe und Breite und mit unterschiedlich großem Schriftanteil. Am kleinsten ist dieser bei der ersten Schrifttafel und am größten bei der dritten und letzten. Auf der ersten Schrifttafel finden wir Fragen, die die Bedeutung des Grundverbums ,lösen‘ und drei seiner Komposita thematisiert (,auflösen‘, ,einlösen‘ und ,ablösen‘): „WIE LÖST MICH AUF“, „WAS LÖST MICH EIN“, „WER LÖST MICH AB“, „WANN LÖST MICH er“. Auch wenn es sich um Fragen handelt, hat Schäuffelen keine mit einem Fragezeichen abgeschlossen, so wie er auch auf den beiden anderen Schrifttafeln auf die Verwendung von Interpunktionszeichen vollkommen verzichtet hat. Die Struktur der ersten drei Fragen ist jeweils identisch: Fragepronomen + LÖST + MICH + Präfix des Verbums ,lösen‘ („AUF“, „EIN“ und „AB“). Von diesem Grundmuster weicht nur die vierte Frage ab, und zwar in der Hinsicht, dass hier statt eines entsprechenden Präfixes das Personalpronomen „er“ erscheint. Diesem kommt in mehrfacher Hinsicht eine Sonderstellung zu: Erstens ist es das einzige Personalpronomen der dritten Person Singular in den vier Textzeilen, zweitens nimmt es die Finalposition ein und drittens ist es das einzige Wort, das in Minuskeln geschrieben ist. Auf wen sich dieses Pronomen bezieht, lässt der Text zwar offen, denkbar wäre – gerade im Kontext der religiösen Schrifttafeln – beispielsweise Gott oder Christus. In der christlichen Tradition treffen wir oftmals auf die Verwendung des Personalpronomens der dritten Person Singular als Ersetzung der Begriffe ,Gott‘ oder ,Christus‘. Allerdings werden diese dann gewöhnlich groß geschrieben. Dadurch erfahren sie eine besondere Hervorhebung. Eine solche erfährt das Pronomen „er“ auf der vorliegenden ersten Schrifttafel gerade durch die Gestaltung in Minuskeln, denn alle anderen Wörter bestehen ausschließlich aus Majuskeln. Insofern wurde hier durch das entgegengesetzte Verfahren dieselbe Wirkung erzielt. Den religiösen Kontext, den die erste Schrifttafel eröffnen könnte, könnte die zweite Tafel intensivieren, denn die letzte Schriftzeile enthält den Begriff „sintflut“, der im Ge-



Dichtung und Skulptur

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gensatz zum fast ausschließlichen Einsatz von Majuskeln auf der ersten Schrifttafel  – ebenso wie alle anderen Wörter auf dieser zweiten Schrifttafel – in Minuskeln geschrieben ist. Es ist dabei auffallend, dass alle Wörter auf der zweiten Schrifttafel sehr schlecht zu entziffern sind. Sie wenden auf diese Weise in gewissem Sinne den (Auf-/Ein-/Ab-) Lösungsprozess, den die erste Tafel auf das lyrische Ich bezieht („MICH“), auf die Sprache an. Es handelt sich dabei um ein in der Dichtung nach 1945 beliebtes Verfahren, um einer grundlegenden Sprachskepsis und -kritik Ausdruck zu verleihen. Kommen wir nun zur Entzifferung der dritten Schrifttafel, die sich als erheblich einfacher erweist als die der zweiten. Wir lesen hier mehrfach den Namen „gilgamesch“. Es liegt daher die Annahme nahe, dass Schäuffelen auf diese Schrifttafel einen Auszug des Textes des Gilgamesch-Epos in fragmentarischer Form gedruckt hat. Bei diesem Text handelt es sich um eine der ältesten  – wenn auch unvollständig  – schriftlich überlieferten Dichtungen. Insgesamt zwölf Tontafeln, wobei der Gesamtumfang des Werkes bisher nicht eindeutig rekonstruiert werden konnte, liegen der Forschung heute als das Gilgamesch-Epos vor. Zumal hier gegen Ende von einer Flutkatastrophe berichtet wird, könnte sich auch der auf die zweite Schrifttafel gedruckte Text auf dieses Epos beziehen und muss nicht notwendigerweise nur im Kontext der Bibel angesiedelt werden. Der biblische Horizont bleibt jedoch auch in diesem Fall bestehen, denn es ist bekannt, dass das Gilgamesch-Epos zahlreiche Vorlagen biblischer Motive  – darunter auch das der Sintflut und das der Arche Noah – enthält. In jedem Fall hat Konrad Balder Schäuffelen in seinem Gedichtobjekt einen intertextuellen Verweis auf einen Jahrtausende zurückliegenden Text geschaffen, der im Medium der Schrifttafeln einen nicht anders als adäquat zu bezeichnenden Ausdruck gefunden hat. Insofern wird der Schreibuntergrund hier maßgeblich zum sinnkonstituierenden Element.

4.6 Dichtung und Skulptur Die Dichtung nach 1945 steht in diesem intermedialen poetischen Bereich stark in der Tradition des Dadaismus und des Surrealismus  – vor allem in der Tradition des von André Breton entwickelten und bereits in der Einleitung zu diesem Kapitel erläuterten poème-objet.1329 Dichtung und Skulptur oder Plastik wurden natürlich auch schon vor Beginn des 20. Jahrhunderts miteinander verbunden, der wesentliche Unterschied liegt jedoch in der Art und Weise dieser Verbindung: Dichtung dient hier weder als skripturale Zierde noch als (enkomiastischer) Kommentar zu einer bestimmten Skulptur, sondern sie ist vielmehr das Produkt einer intermedialen Verknüpfung beider Kunstformen oder semiotischer Systeme. Insofern unterscheidet sie sich stark von früheren ,Skulpturgedichten‘.1330 Noch stärker unterscheiden sich die in diesem Kapitel versammelten intermedial mit Körpern verbundenen Gedichte von älteren Versuchen, Dichtung mithilfe einer Metaphorik geo1329 Vgl. hierzu S. 369f. dieser Arbeit. 1330 Diese Bezeichnung verwende ich analog zur Definition des Begriffes ‘Bildgedicht’ als ein Gedicht über ein bestimmtes Gemälde. Vgl. hierzu Kranz (1992).

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metrischer Körper zu beschreiben, wie dies beispielsweise August Wilhelm Schlegel in seinen Betrachtungen über das Sonett vorgeführt hat.1331 Besonders viele die beiden künstlerischen Ausdrucksformen Dichtung und Skulptur intermedial verbindende Gedichte oder  – treffender  – Gedichtobjekte stammen von Joan Brossa. Gemeinsam ist diesen, dass in ihnen Alltagsgegenstände verfremdet wurden, die so gestaltet sind, dass sie sich in irgendeiner Weise auf die Sprache beziehen und eine große interpretatorische Offenheit besitzen: Brossa „bietet keine Konsumkunst, sondern fordert den Leser zur Mitschöpfung heraus“1332. Vor allem hinsichtlich des Gebrauches von Alltagsgegenständen bzw. von industriell gefertigten Objekten, die im Alltag Verwendung finden, steht Brossa augenscheinlich in der Tradition Marcel Duchamps – nicht nur die Theaterstücke des Katalanen weisen starke Anklänge an Dadaismus und Surrealismus auf:1333 Marcel Duchamp hat schon 1913 den industriell gefertigten Gegenstand, das Gebrauchsobjekt aus dem Kontext seiner Verwendung gelöst und als Readymade mit der ihm spezifischen Ästhetik in einer Sinnverschiebung zum Kunstgegenstand erklärt. Joan Brossa greift auf diesen Akt der Befreiung des Gegenstandes aus seinem Funktionszusammenhang zurück.1334

Die Beziehung von Brossas Gedichtobjekten zur (katalanischen) Sprache kann ganz unterschiedlich gestaltet sein, zum Beispiel nimmt Brossa ein Wortspiel, eine Metapher o.Ä. zum Ausgangspunkt seiner Gedichtobjekte.1335 In diesen Fällen stellen die Gedichtobjekte dann so etwas wie die Materialisationen dieser sprachlichen Phänomene dar. Betrachten wir ein erstes Beispiel1336 des Katalanen, um diese allgemeinen Aussagen durch konkretes Anschauungsmaterial zu belegen:

Abb. 179  Joan Brossa, Poema (1967)

1331 Vgl. Schlegel (1965), S. 192. Vgl. hierzu S. 76 sowie S. 428 dieser Arbeit. 1332 Brossa (1988), o. S. 1333 Vgl. Palomer (1994), S. 118. Mehrfach hat Joan Brossa sich selbst als Nachfolger der Surrealisten bezeichnet, natürlich primär im Hinblick auf seine Stücke. 1334 Brossa (1998), S. 9. 1335 Vgl. Palomer (1994), S. 118. 1336 Brossa (1998), S. 45.



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Es handelt sich hierbei um eine Glühbirne, auf der in Majuskeln der Begriff „POEMA“ geschrieben steht. Wie so oft bei Brossa liegt die intermediale Verknüpfung der skripturalen Zeichen mit dem gewählten Gegenstand in der sprachlichen Ebene begründet: Brossa „schreibt POEMA auf eine Glühbirne, das bekannte Symbol dafür, daß jemandem ‚ein Licht aufgeht‘“1337. Relativ nahe liegend ist die Anwendung dieser Metapher auf den Bereich der Literatur deshalb, weil die Epoche der Aufklärung (frz. Les Lumières, engl. Enlightenment) ja gerade auf ihr bzw. darauf basiert, dass Literatur der Wissensvermittlung und dem damit einhergehenden Erkenntnisgewinn dienen könne. Natürlich ist hier primär nicht an Dichtung zu denken: Die Autoren der Aufklärung waren der Dichtung wenig zugeneigt, was sich in der geringen Quantität entsprechender poetischer Produkte nachweislich niedergeschlagen hat. Ob Brossas Gedichtobjekt dahin gehend interpretiert wird, dass gerade die Dichtung die durch die Glühbirne symbolisierte Erleuchtung des Verstandes – und damit ganz konkret auch das Licht gegen die ,Dunkelheit‘ des Franco-Regimes – bewirken könne, oder es – im Gegensatz hierzu – als ironischer Kommentar über den Erkenntniszuwachs durch Dichtung aufgefasst wird, bleibt jedem Leser überlassen und hängt einzig von seiner subjektiven Deutung ab. Hinzu kommt, dass im Falle einer handelsüblichen Glühbirne die Verbindung zwischen Dichtung und Licht relativ leicht hergestellt werden kann, und zwar durch ein Paar Operationen am Sprachmaterial, die die Begriffe POEMA und OSRAM ineinander umformen. Beim folgenden Gedichtobjekt1338 ist ein interpretatorischer Spielraum zwar auch gegeben, jedoch erweist dieser sich hier als vergleichsweise klein. Das liegt vor allem daran, dass der Titel eine interpretationslenkende Funktion erfüllt:

Abb. 180  Joan Brossa, Burocràcia (1967)

1337 Brossa (1988), o. S. 1338 Brossa (1998), S. 46.

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Interpretations- bzw. rezeptionsleitend ist der Titel insofern, als er das Blatt eines Baumes mit einem Blatt Papier in Verbindung bringt. Damit spielt Brossa auf die Verwendung des Begriffes ,Blatt‘ für zwei völlig wesensfremde Dinge an, die nicht mehr als die Eigenschaft, sehr flach zu sein, gemein haben. Daher muss Brossa im Titel auf den zweiten, übertragenen Gebrauch des Begriffes ,Blatt‘ hinweisen. Der Titelbegriff und das Papierblatt weisen insofern eine Verbindung auf, als Papier – bevorzugt angehäuft zu Papierund Aktenbergen – als ein Symbol der Bürokratie gelten kann. Auch in diesem Gedicht bleibt die Schlussfolgerung, die aus diesem Vorgehen gezogen werden kann, offen. Es ist möglich, Brossas Gedichtobjekt als Sprachkritik aufzufassen. In diesem Fall ließe es sich als Kommentar zur mehr oder weniger arbiträren Zuordnung eines Begriffes zu einem Gegenstand lesen. Diese Interpretation ist allerdings keineswegs zwingend, auch wenn die folgende sehr einseitige Analyse dies glauben machen könnte: En el Poema objecte de 1967, ridiculiza el acto de unir con un clip hojas de árbol como si fuesen hojas de papel. El hecho de utilizar la misma palabra en dos sentidos diferentes es una paranomasia divertida; el poeta juega aquí con dos objetos diferentes unidos por un objeto común y por un error léxico que los acerca.1339

Nimmt man eine solch sprachkritische Intention des Autors nicht an, so ließe sich Burocràcia auch als spielerischer Kommentar zu einem linguistischen Sachverhalt lesen, der jedes kritischen Gestus entbehrt. Die Annahme einer sprachkritischen Ausrichtung von Brossas Gedichtobjekt wird jedoch dadurch nahe gelegt, dass Brossa zwei Ahornblätter übereinander angeordnet hat, und zwar mithilfe von Heftklammern, die gewöhnlich dazu benutzt werden, einzelne Papiere zusammenzufügen. Die beiden Ahornblätter sind so arrangiert, dass sie fast deckungsgleich sind. Dass es sich um zwei Blätter handelt, ist primär an den zwei Blattstielen erkennbar, zumal diese absichtlich nicht exakt übereinander erscheinen. Brossa könnte dadurch andeuten, dass namensgleiche Dinge sich ebenso sehr ähneln sollten oder vielleicht sogar müssten, wie dies bei den beiden fast identischen Ahornblättern der Fall ist. Ein skriptural-skulpturales Gedicht stellt auch Konrad Balder Schäuffelens Little Big Bang (1976)1340 dar. Es zeugt einmal mehr vom zentralen Gedanken in Schäuffelens Poetologie, der darin besteht, die materiale Beschaffenheit von Sprache in den Vordergrund zu rücken, und zwar sowohl in ihrer schriftlichen als auch lautlichen Erscheinungsform.1341

1339 Palomer (1994), S. 117. 1340 Schäuffelen (1976), S. 44. 1341 Sehr deutlich kommt diese auf der Materialität der Schrift basierende Konzeption von Dichtung im Titel einer Gedichtsammlung Konrad Balder Schäuffelens zum Ausdruck: sprache ist fuer wahr ein koerper (1976).

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Abb. 181  Konrad Balder Schäuffelen, Little Big Bang (1976)

Little Big Bang erscheint in sprache ist fuer wahr ein koerper (1976) im Kapitel Sprachobjekte. In diesem Fall darf dies als Synonym für ,Gedichtobjekt‘ aufgefasst werden. Es handelt sich bei diesem Gedichtobjekt um eine Kugel, die aus Majuskeln und Zahlen gebildet wird. Diese sind aus Teig gefertigt. Sie scheinen willkürlich angeordnet zu sein, bzw. ihre Anordnung scheint allein dem Prinzip des Zufalls geschuldet zu sein. Aus der Kugel ragt auf der linken Seite ein länglicher Gegenstand heraus. Dieser weckt – trotz der untypischen Kugelgestalt – die Assoziation mit dem Zünder einer Handgranate. Die Assoziation mit Munition wird durch den Kommentar, mit dem Schäuffelen Little Big Bang versehen hat, verstärkt: „Dies ist kein Kunstwerk Dies ist eine echte Petarde“1342

Bei einer Petarde handelt es sich um eine zu früheren Zeiten zum Sprengen von Toren, Türen u.Ä. eingesetzte mit Schwarzpulver gefüllte Halbkugel aus Gusseisen. Von einer solchen Petarde weicht Schäuffelens Gedichtobjekt in visueller Hinsicht stark ab. Dennoch hat er bewusst den Begriff „Petarde“ genannt. Auf diese Weise könnte er zum einen auf die sprachliche Vermitteltheit aller Dinge und die Diskrepanz zwischen skripturalen Zeichen und dem durch sie Bezeichneten verweisen, und zum anderen könnte er dadurch einen Anstoß dazu liefern, den Kunstbegriff zu reflektieren, indem ihm der Echtheitsbegriff gegenübergestellt wird. Ähnlich wie René Magritte in vielen seiner Bilder könnte Schäuffelen hier die Beziehung zwischen einem Objekt (Buchstaben-Zahlen-Kugel), seiner Bezeichnung („Petarde“) und seiner skripturalen Repräsentation thematisieren bzw. – konkreter – durch ihre offensichtliche Nichtübereinstimmung problematisieren.1343 Hier wie dort wird der Rezipient dazu gezwungen, sich über den Realitätsbegriff 1342 Schäuffelen (1976), S. 44. 1343 Das berühmteste Bild dieser Art ist zweifelsohne Magrittes La trahison des images (1929). Vgl. hierzu

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(„Dies ist eine echte Petrarde“1344) hinsichtlich eines Objektes Gedanken zu machen. Im Falle von Schäuffelens Little Big Bang ist der entsprechende Anstoß umso stärker, als das Gedichtobjekt von dem üblicherweise mit dem Begriff ,Petarde‘ bezeichneten Ding abweicht. In Magrittes La trahison des images (1929) erscheint unter der Abbildung einer Pfeife im Gegensatz hierzu der Zusatz: „Ceci n’est pas une pipe.“ Einen wesentlich geringeren ernsten Gehalt weist das nächste Beispiel1345 für eine intermediale Verknüpfung von Dichtung und Skulptur auf. Es stammt ebenfalls von Konrad Balder Schäuffelen:

Abb. 182  Konrad Balder Schäuffelen, Schiller mit Sprechblase (1973)

Dieses Gedichtobjekt zeigt eine kleine Statue des großen deutschen Dichters Friedrich von Schiller (1759–1805), die ihn in einer Pose, die anzeigt, dass er spricht, in weißem Marmor festgehalten hat. Im Gegensatz zur Gestik und Mimik des Sprechens, die der Bildhauer durch die Statue mehr oder weniger originalgetreu wiedergeben konnte, war ihm dies im Falle der artikulierten Wörter nicht möglich. Dies gilt selbstredend auch für das Medium des Gedichtobjektes. Nichtsdestoweniger hat Konrad Balder SchäuffeFoucault (1973). 1344 Hervorhebung von mir, B.N. 1345 Schäuffelen (1976), S. 94.



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len einen Weg gefunden, um auch den Inhalt der Rede des Dichterfürsten abzubilden: Der Statue ist ein Kondom, das eine Vielzahl einzelner Buchstaben enthält, über den Kopf gespannt. Das Kondom erweist sich damit als die im Titel benannte „Sprechblase“. Dieser Begriff weckt sofort die Assoziation mit einem Comic, wodurch die Figur des Dichterfürsten die ganze Ernsthaftigkeit, die ihm normalerweise zugesprochen wird, verliert. Im offensichtlich vorherrschenden Spannungsgefüge zwischen einer Statue Schillers und einem gewöhnlichen Kondom besteht die Hauptwirkung des Gedichtobjektes. Eine derartige Präsentation Schillers wirft die Frage auf, inwieweit der hier Modell gestanden habenden Gestalt noch Respekt entgegengebracht werden kann oder sollte. Durch die Verwendung eines Kondoms als ,Auffangbecken‘ für die einzelnen Buchstaben setzt Schäuffelen einen komischen Akzent, der dem Rezipienten zudem einen weiten interpretatorischen Spielraum eröffnet. Relativ nahe liegend ist der Gedanke der Ambiguität der Fruchtbarkeit: Einerseits deutet das Kondom diese in biologischer Hinsicht an, und andererseits lässt die große Anzahl von Buchstaben Rückschlüsse auf die rhetorische Produktivität des Redners zu. Ob seine Worte sich im Nachhinein als fruchtbar erweisen, lässt das Gedichtobjekt vollkommen offen. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung war schon mehrfach die Rede vom Zusammenhang zwischen Kunst und technischem Hilfsmittel, der die Dichtung nach 1945 charakterisiert. Von diesem Zusammenhang zeugt auch das folgende Gedichtobjekt1346 von Timm Ulrichs:

Abb. 183  Timm Ulrichs, Das literarische Gesamtwerk (1968)

1346 Abgedruckt in Erlhoff/Holeczek (1980), S. 167.

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Die beiden wesentlichen Bestandteile des Gedichtobjektes sind ein abgespultes Schreibmaschinenfarbband und ein Plexiglaskasten. An dessen Rückwand hat Timm Ulrichs die beiden Spulen, die in einer Schreibmaschine dafür sorgen, dass das Farbband abgerollt wird, befestigt. Auf beiden Spulen ist kein Farbband aufgerollt, sondern jeweils nur das Anfangs- oder Endstück des Bandes angebracht. Das gesamte Farbband, das sich zwischen diesen beiden Stücken befindet, liegt als ungeordneter Haufen auf dem Boden des Plexiglaskastens. So viel zur visuellen Beschreibung des Gedichtobjektes. Trotz oder gerade wegen der augenscheinlichen Einfachheit der Konstruktion beinhaltet das Gedichtobjekt zahlreiche Assoziationen und Interpretationsmöglichkeiten. Zunächst könnte Ulrichs implizieren, dass das neue zeitgenössische Schreibgerät des Dichters nach 1945 nicht mehr die Feder oder der Stift, sondern die Schreibmaschine ist. Somit deutete das vorliegende Gedichtobjekt auf die enge Verbindung zwischen dem technischen Hilfsmittel und dem poetischen Werk hin. Hier ist das Medium nicht die Botschaft, wie McLuhan es proklamiert hat, sondern das Farbband als pars pro toto der Schreibmaschine stellt in seiner Funktion als Realisierungsmedium von Dichtung selbst das Kunstwerk dar. Betrachten wir im Kontext der hier vertretenen Technikabhängigkeit der Dichtung nach 1945 den Titel von Ulrichs’ Gedichtobjekt genauer: Das literarische Gesamtwerk. Der Begriff „Gesamtwerk“ impliziert, dass die Schreibmaschine die notwendige Voraussetzung für die literarische Produktion darstellt und eine solche ohne sie nicht denkbar ist. Auch viele poetische Produktionen von Ian Hamilton Finlay fallen in den intermedialen Bereich von Dichtung und Skulptur. In der Tradition des ready made poem eines Marcel Duchamp, in der bereits ein Teil von Joan Brossas poetischer Produktion angesiedelt wurde, hat auch Ian Hamilton Finlay den industriell gefertigten Gegenstand poetisch bearbeitet. Charakteristisch für diese Art intermedialer Gedichte von Finlay ist, dass die eingesetzten Objekte vornehmlich aus dem Bereich der Schifffahrt stammen. Überhaupt dominiert das Thema des Meeres  – auch und vor allem im Kontrast zum Land – Finlays künstlerisches Gesamtwerk.1347 Auch das folgende Beispiel1348 bildet keine Ausnahme zu Finlays Vorliebe, denn es zeigt intermedial inszenierte Gedichte, deren ,Schreibuntergrund‘ zwölf Schiffsglocken darstellen. Die vorliegende Abbildung zeigt drei von diesen:

1347 Vgl. Lubbock (2002) zur Ausstellung Ian Hamilton Finlay – Maritime Works vom 23. März bis 30. Juni 2002 in Tate St Ives (Cornwall). 1348 Abgedruckt in Lubbock (2002), S. 27.



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Abb. 184  Ian Hamilton Finlay, Twelve Ship Bells (One Word Poems) (2002) [mit John Andrew] [Ausschnitt]

Finlays Entscheidung, genau zwölf Schiffsglocken mit one word poems zu beschriften, ist natürlich keine zufällige, sondern könnte in der weit gefächerten Symbolbedeutung dieser Zahl begründet liegen. Die Zwölf galt schon in der Antike als kosmische Zahl der Vollkommenheit und wurde aus diesem Grund für heilig gehalten. In der griechischen Mythologie stoßen wir auf zwölf Götter und zwölf Titanen, Herakles hatte – ebenso wie Gilgamesch – zwölf Aufgaben zu bewältigen. Auch im Christentum taucht die Zahl Zwölf vielfach auf: Sie symbolisiert die Verbindung Gottes als Trinität mit der durch die Zahl Vier repräsentierten Welt, das Himmlische Jerusalem ist nach Maßgabe der Zahl Zwölf konstruiert worden und hat beispielsweise zwölf Tore, zwölf Jünger sind Jesus gefolgt, das Volk Israel besteht aus zwölf Stämmen, um nur die prominentesten aller Beispiele zu nennen. Auch in Märchen und Volkssagen trifft man sehr oft auf die Zahl Zwölf. Daneben besitzt die symbolische Bedeutung dieser Zahl auch kosmische Dimensionen: Eine Umkreisung der Erde um die Sonne dauert zwölf Monate, ein Tag besteht aus zweimal zwölf Stunden, zwölf Tierkreiszeichen befinden sich am Firmament etc. Somit spannt sich über Finlays Gedichtobjekt ein weites Netz von Konnotationen, die aus traditioneller Numerik gespeist werden. Der Interpretationsspielraum erweist sich daher als besonders groß. In jedem Fall ist das Thema ,Zeit‘ in Twelve Ship Bells sehr präsent: einerseits durch die bereits genannten Konnotationen mit der Anzahl der Tages- und Nachtstunden sowie den Monaten eines Jahres und andererseits durch die Wahl von Schiffsglocken. Diese dienen seit ihrer Einführung dazu, die Besatzung eines Schiffes über den Beginn und das Ende ihrer Wachschichten und damit über die aktuelle Zeit zu informieren. Die Zeitübermittlung durch Schiffsglockenschläge entspricht dabei nicht derjenigen an Land, denn auf See erfolgt pro halbe Stunde ein Glockenschlag („Glasen“). Bedenkt man, dass in der Praxis gewöhnlich für jedes Schiff eine individuelle Schiffsglocke aus Messing o.Ä. gefertigt wird, mag es verwundern, dass Finlay zwölf baugleiche Modelle nebeneinander gefügt hat. Diese werden allerdings durch die ihnen eingeschriebenen skripturalen Zeichen individualisiert:

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Abb. 185  Ian Hamilton Finlay, Twelve Ship Bells (One Word Poems) (2002) [mit John Andrew] [Ausschnitt]1349

In Anbetracht der Fülle an Wörtern scheint der Klammerinhalt nach dem Titel Twelve Ship Bells, nämlich „One Word Poems“, unangemessen zu sein. Doch klären wir zunächst die Details: Wir haben es hier mit einer Aneinanderreihung von zwölf Zeilen zu tun. Der Plural „poems“ macht deutlich, dass diese nicht ein Gedicht mit zwölf Versen bilden, sondern im Gegensatz hierzu autonom sind und jeweils ein eigenständiges Gedicht bilden. Die zwölf „One Word Poems“ bestehen jeweils aus drei Zeichenkomplexen: Der erste variiert zwischen einem und mehreren Wörtern, der zweite besteht aus einem Gedankenstrich und der dritte aus einem einzigen Wort, das in einem Fall (drittes one word poem) ein Kompositum aus einem Männernamen und einem Substantiv darstellt. Beim dritten Zeichenkomplex könnte es sich jeweils um den Namen eines Schiffes handeln. Dies entspräche insofern einer nautischen Praxis, als es üblich ist, dass der Name des Schiffes auf seiner Schiffsglocke erscheint. Jedoch muss es sich nicht notwendigerweise bei den Begriffen um Schiffsnamen handeln. Betrachten wir nun die übereinander stehenden Wörter genauer. Zahlenmäßig entstammen sie überwiegend dem nautischen Bereich: „Wake“ (dt. Sog), „Catamaran“ (dt. Katamaran), „Cosalt“ (Name einer Firma für Schiffsprodukte), „Strake“ (dt. Plankengang), „Bilge“ (dt. Kielraum). Daneben begegnen uns Begriffe, die mit der Schifffahrt verbunden sind: „Ocean“, „Cloud“, „Crate“. Das gilt auch für den Begriff „Bouy“, der zunächst der Name eines Marne Départements ist. Zugleich liegt im Kontext der anderen nautischen Begriffe die anagrammatische Trans-

1349 Abgedruckt in Lubbock (2002), S. 26.



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formation dieses Begriffes zu „Buoy“ (dt. Boje) und damit auf einen für die Schifffahrt unverzichtbaren Gegenstand sehr nahe. Was in den zwölf one word poems den Komplex vor dem Gedankenstrich angeht, so lässt sich hier keine Dominanz der Isotopieebene der Schifffahrt und der Nautik feststellen. Nichtsdestoweniger entstammen einzelne Begriffe diesen Feldern: „Folk Boat“ benennt den bestimmten Typ eines kleinen Segelschiffes, „Iroko“ den Handelsnamen eines besonders wetterfesten Holzes, das u.a. für den Schiffsbau genutzt wird, und „Red Lead“ ein witterungsbeständiges Anstrichmittel (auch für Schiffe). Die übrigen Wörter dieses ersten Zeichenkomplexes entstammen den unterschiedlichsten Bereichen, und ihre Kombination scheint primär aleatorischer Natur zu sein, denn ein Ordnungsprinzip ist nicht auszumachen. Auch scheinen die zwölf ersten Zeichenkomplexe zufällig mit den entsprechenden dritten verbunden zu sein. Kommen wir zu Finlays Bezeichnung der zwölf Zeilen als one word poems zurück: Sie wird aufgrund der Wortfülle in jeder Zeile als unpassend erscheinen. Gerade deshalb bewirkt sie aber etwas im Leser, das Finlay ohne den erläuternden Zusatz one word nicht erzielen könnte: Der Rezipient muss sich zunächst Gedanken darüber machen, was das Gedicht ist bzw. sein könnte. Dies ist ein weiterer Aspekt des in der Dichtung nach 1945 vertretenen Konzeptes des aktiven Lesers, denn schließlich ist oftmals nicht zu entscheiden, ob es sich um ein Gedicht oder ein Bild oder ein Musikstück etc. handelt. Im vorliegenden Fall könnte auch problematisiert werden, ob es ein Gedicht, das nur aus einem einzigen Wort besteht, überhaupt geben kann. Die Vielzahl von Wörtern könnte dann dahingehend interpretiert werden, dass das Konzept ,Gedicht‘ notwendigerweise an die Kombination mehrerer Wörter gebunden ist. In jedem Fall besitzt Finlays Twelve Ship Bells eine (mehr oder weniger) implizite poetologische Dimension. Eine solche weist der folgende intermediale Gedichtkörper1350 nur sehr bedingt auf. Dominanter sind hier ein sprachreflektierender Charakter und die für Finlay typische Meeresthematik:

Abb. 186  Ian Hamilton Finlay, Sails/Waves (1975) [mit Keith Bailey]

1350 Abgedruckt in Lubbock (2002), S. 47.

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Wir sehen hier einen rechteckigen Marmorblock, in den verschiedene skripturale und pikturale Zeichen eingehauen sind, nämlich auf der größeren Fläche der in Majuskeln geschriebene Begriff „WAVES“ und eine horizontale wellenförmige Linie und auf der kleineren Fläche der Begriff „SAILS“ und eine vertikale wellenförmige Linie. Die beiden Linien könnten als visuelle Entsprechung der ihnen beigeordneten Begriffe interpretiert werden, also als Wellen und Segel im Wind. Zumal sich die beiden Linien fast vollkommen entsprechen, stellt das vorliegende Gedichtobjekt in diesem Fall die Frage nach der Repräsentation oder konventionellen Darstellung einer Sache und damit zugleich nach der Übereinstimmung zwischen signifiant und signifié. Da Erstere fast identisch miteinander sind, müsste dies auch für die bezeichneten Gegenstände gelten. Dies ist jedoch nicht der Fall, Wellen und Segel weisen lediglich zwei gemeinsame Merkmale auf: „both things are maritime, both show the effect of wind-pressure.“1351 Kategorial unterscheiden sich beide jedoch darin, dass Wellen naturhaften Ursprungs sind, während der Mensch Segel produziert, die dann allerdings eine Verbindung zwischen dem Menschen und der Natur herstellen: Sie können ihre Aufgabe nur erfüllen, wenn sie mithilfe des Windes das entsprechende Boot vorantreiben: Das vorliegende Gedichtobjekt „concerns human dealings with nature, and nature’s otherness“1352. Insgesamt könnte Sails/Waves als Kommentar zur Arbitrarität der Zuordnung eines Signifikanten zu einem Signifikat gelesen werden, und zwar konkret im Kontext des Meeres und der Schifffahrt. Auch das folgende Gedichtobjekt1353 ist dem Thema ,Meer‘ bzw. – konkreter – dem Thema ,Schifffahrt‘ gewidmet, auch wenn dies auf den ersten Blick nicht ersichtlich ist:

Abb. 187  Ian Hamilton Finlay, 3 Blue Lemons (1998) [mit Jo Hinks]

1351 Lubbock (2002), S. 15. 1352 Lubbock (2002), S. 16. 1353 Abgedruckt in Lubbock (2002), S. 37.



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Wie die Abbildung leider nicht erkennen lässt, der Titel aber explizit benennt, beinhaltet das vorliegende Gedichtobjekt drei blaue Zitronen. Diese befinden sich in einer weißen Keramikschale und sind dabei so arrangiert, dass ihre jeweilige Beschriftung lesbar ist. Auf jeder der Zitronen erscheinen einzelne Buchstaben (zwei oder drei) und Ziffern (ebenfalls zwei oder drei). Für denjenigen Rezipienten, der sich mit der Schifffahrt nicht auskennt, mögen diese Beschriftungen willkürliche Zeichenkombinationen darstellen, der kundige Rezipient jedoch wird sie als Anspielungen auf die Welt der Schifffahrt erkennen. Die Buchstabenkombinationen erinnern nämlich stark an die Abkürzungen, die der internationale Hafencode vorgibt, zum Beispiel könnten die beiden Buchstaben BF auf den Hafen von Banff (Schottland) verweisen. Die Zahlenkombinationen könnten in diesem Sinne auf die Liegeplätze von Booten verweisen. Ob es sich dabei um tatsächlich vergebene Nummern handelt oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Auf diese Weise fördert Finlay Assoziationen mit Schiffen, die im Gedichtobjekt allerdings nur in Form skripturaler Zeichen, nämlich als Signifikanten, vorhanden sind. Dies lässt eine weit über das konkrete Gedichtobjekt hinausgehende, die allgemeine Existenz des menschlichen Lebens betreffende Interpretation zu, die die traditionsreiche Metapher des Lebens als Schifffahrt aufnimmt: Die Buchstabenkürzel „and numbers mark an absence. When the ‘signified’ is a boat, this carries more than a semiotic tingle. Absence at sea – the boat that hasn’t returned, that’s waited for – is life and death. What’s found here is maybe lost also.“1354 Die im Gedichtobjekt suggerierte Verbindung zwischen Zitronen und Schiffen impliziert zugleich eine solche zwischen Land und Meer oder auch Garten/Plantage und Ozean. Der Nexus von Flora und Ozean besteht im Alltag beispielsweise in der Namensgebung vieler Schiffe, die nach Blumen o.Ä. benannt sind.1355 Diese Verbindung hat Finlay auf der visuellen Ebene dadurch verstärkt, dass die aus Pappmaché gefertigten Zitronen nicht – wie ihre realen Vorlagen – gelb, sondern blau gestaltet sind. Einerseits hebt Finlay dadurch die anti-mimetische Ausrichtung seiner poetischen Produktion hervor, und andererseits unterstützt er durch seine Farbwahl jene Assoziation mit dem Meer, die schon durch die Buchstaben und Zahlen nahe gelegt wird. Noch wesentlich präsenter als in 3 Blue Lemons ist die Boots-Thematik im folgenden, ebenfalls von Ian Hamilton Finlay stammenden Beispiel1356 (Abb. 188). Im entsprechenden Katalog zur Ausstellung Ian Hamilton Finlay  – Maritime Works vom 23. März bis 30. Juni 2002 in Tate St Ives (Cornwall) wird Dinghy als „clinker-built boat and poem“1357 beschrieben. Insofern haben wir es hier mit einer prinzipiell anderen Form poetischer Intermedialität zu tun als in den bisher in diesem Kapitel erläuterten Beispielen. Dem Titel und der soeben zitierten Beschreibung gemäß sehen wir das verkleinerte Modell eines Beibootes mit Klinkerbeplankung mit einer Länge von 42 cm, das bis auf kleinste Details einem Originalbeiboot nachempfunden ist. An der Wand hinter diesem

1354 Lubbock (2002), S. 13. 1355 Vgl. Lubbock (2002), S. 14. 1356 Abgedruckt in Lubbock (2002), S. 21. 1357 Lubbock (2002), S. 83.

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Modellboot befindet sich ein siebenzeiliges Gedicht, dessen visuelle Gestaltung stark vom gewöhnlichen Satzspiegel für Gedichte abweicht.

Abb. 188  Ian Hamilton Finlay, Dinghy (1996)

Aufgrund der offensichtlichen medialen Zweiteilung („clinker-built boat and poem“1358) muss zunächst die Frage geklärt werden, ob es sich bei Dinghy um ein intermediales oder um ein multimediales poetisches Phänomen handelt. Nach der eingangs gegebenen Definition kann ihm nur dann ein intermedialer Status zugeschrieben werden, wenn es sich um eine notwendige wesensmäßige Verknüpfung mindestens zweier unterschiedlicher Medien handelt. Zumal das Modell des Beibootes nach wie vor das Modell eines Beibootes bliebe, wenn man das Gedicht an der Wand hinter ihm entfernte, und dasselbe für das Gedicht gelten würde, trennte man es vom Modell, könnte argumentiert werden, dass Dinghy ein multimediales Kunstwerk darstellt. Hier soll nun aufgezeigt werden, warum es sich dennoch um ein intermediales Gedicht oder Gedichtobjekt handeln könnte. Betrachten wir dazu das skripturale Zeichenmaterial genauer:

1358 Lubbock (2002), S. 83. Hervorhebung von mir, B.N.



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Abb. 189  Ian Hamilton Finlay, Dinghy (1996) [Ausschnitt]1359

Zunächst ein Wort zur Farbgebung, die in der obigen Schwarz-Weiß-Abbildung nicht adäquat wiederzugeben war: Im Original sind alle Zahlen in blauer Farbe und alle übrigen Wörter in roter Farbe gehalten. Daher ist die siebte und damit zugleich letzte Zeile als einzige einfarbig, nämlich rot. Die ersten sechs Zeilen des Gedichtes bestehen jeweils aus einer Zahl, die pro Vers um eins zunimmt, und einem Substantiv sowie schließlich einem Verb (present tense, dritte Person Singular). Der finale Vers hingegen enthält anstatt einer Zahl zwei zusammengesetzte Adjektive, die die Konstruktionsweise des Beibootes näher erläutern. Der letzte Begriff, „sailing dinghy“ (v. 7), schließt alle in den Versen eins bis sechs genannten Begriffe in sich ein. Diese entstammen ausnahmslos dem Bereich der Schifffahrt und des Schiffbaus und beschreiben konkrete Merkmale und Eigenheiten des im Vordergrund befindlichen Modells eines Beibootes: „In Dinghy it’s no vague sailing that’s evoked, but the particulars of a boat’s making and operation, the parts that have been put together and that work together.“1360 Insofern besteht hier eine tautologische Verknüpfung zwischen Text und Objekt. Andererseits haben wir es mit einem kleinen Beiboot auf der Galerie eines Museums zu tun. Es erfüllt daher eine rein dekorative Funktion in einer Umgebung, in der kein Boot seinem eigentlichen Zweck gemäß eingesetzt werden kann. Die sechs Verben im Gedicht benennen im Unterschied hierzu Handlungen und Ereignisse, die immer mit Booten zu tun haben. Dabei ist jedoch nicht eindeutig zu bestimmen, wer oder was aktiv wird. Es scheint sich in den sechs Versen aber zweifelsohne um verschiedene Instanzen zu 1359 Abgedruckt in Lubbock (2002), S. 20. 1360 Lubbock (2002), S. 8.

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handeln, im dritten Vers beispielsweise um den Wind auf See und im fünften um einen Seemann. Die vom Rezipienten hier zu erbringende Interpretationsleistung spiegelt die angedeutete Dynamik auf einem Boot: „The poem imitates the boat’s working by hav­ ing the reader ‘work’ each of its verbs.“1361 Zugleich sind im Gedicht jene dynamischen Prozesse und Handlungen benannt, an denen das Modell-Beiboot nicht partizipiert. Daher bleibt festzuhalten, dass es erst durch den Text auf der Wand hinter ihm in ein Boot in Aktion verwandelt wird, und zwar durch die Einbildungskraft des Rezipienten: „With the wall-text alone, the imagination is free to go to sea in a boat“1362, wobei mit „ein Boot“ das ausgestellte Beiboot gemeint ist. Insgesamt kann das gegenständliche Zeichenmaterial, das Modell-Beiboot, somit als Antizipation und als das Produkt einer medialen Transformation des skripturalen Zeichenmaterials beschrieben werden. Aus diesem Grund lässt sich auch Dinghy dem Bereich der intermedialen Dichtung nach 1945 zuordnen. Abschließend und zugleich als Bindeglied zum nächsten größeren Kapitel, nämlich demjenigen zur intermedialen Verknüpfung von Dichtung und Architektur, soll nun der Blick auf ein Gedichtobjekt1363 von Jean-François Bory gerichtet werden:

Abb. 190  Jean-François Bory, Bibliothèque (1971)

Ein Bindeglied zum Kapitel Dichtung und Architektur stellt Borys Gedichtobjekt insofern dar, als Dichtung und Architektur schon hier miteinander verbunden sind, denn in Bibliothèque sind Bücher – möglicherweise Lyrikausgaben – auf einem Regalbrett so arrangiert, dass ihre Anordnung an die Miniaturausgabe eines altertümlichen Gebäude1361 Lubbock (2002), S. 9. 1362 Lubbock (2002), S. 10. 1363 Abgedruckt in Erlhoff/Holeczek (1980), S. 36.



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komplexes erinnert. In Anbetracht des Titels liegt die Annahme nahe, dass es sich dabei um eine Bibliothek handelt. Das Gedichtobjekt besteht nun aber nicht nur aus Büchern, die zur Nachbildung eines Gebäudes formiert sind, sondern aus einem weiteren Element, das zunächst nicht zu den Büchern zu passen scheint, nämlich einem Vogel. Dieser befindet sich in dem von drei Büchern gebildeten linken Seitenflügel des Gebäudes. Dadurch, dass der Vogel starr auf dem Rücken liegt und die Beine in die Höhe streckt, wird er als ein totes Tier in Szene gesetzt. Ob es sich um einen ausgestopften Vogel oder um ein Exemplar aus Stoff und Plastik handelt, lässt sich anhand der vorliegenden Abbildung des Gedichtobjektes nicht entscheiden. In jedem Fall scheint der Vogel zunächst ein die Harmonie der Bücher störendes Element darzustellen. Unbestritten besteht ein großes Spannungsgefälle zwischen den sorgsam angeordneten Büchern und dem toten Vogel, jedoch besitzen beide eine gemeinsame Eigenschaft, die sich aus der mehrdeutigen Verwendung des Adjektivs ,tot‘ ergibt. Auf den Vogel trifft dies in biologischer Hinsicht zu, auf die Bücher in einer metaphorischen Übertragung: Sie bestehen aus ,toten‘ Buchstaben, d.h. aus Zeichen, die niemals die Lebendigkeit des durch sie wiedergegebenen Erlebten abbilden können, und sie können ,totes‘ Wissen vermitteln, das keinen Bezug zur jeweiligen Lebenswirklichkeit des Rezipienten aufweist. Insofern Borys Gedichtobjekt, das zunächst an ein Werk von Kinderhänden erinnern mag, diesen ambivalenten Gebrauch eines Wortes gewissermaßen in Szene setzt, besitzt auch dieses eine sprachkritische Dimension bzw. beinhaltet den Anstoß zu einer Sprachreflexion. Dies ist umso bemerkenswerter, als das Gedichtobjekt selbst  – sieht man von den ohnehin unleserlichen Titeln auf den Buchrücken ab – keine skripturalen Zeichen enthält. 4.6.1 Der menschliche Körper als Gedichtobjekt Wie bereits ausgiebig erörtert, besteht eine wesentliche Zielsetzung der in der vorliegenden Arbeit untersuchten intermedialen Dichtung nach 1945 darin, die Bereiche Leben und Kunst miteinander zu verbinden und dadurch einander anzunähern. Diese Zielsetzung lässt sich besonders gut realisieren, wenn Dichtung mit etwas intermedial verknüpft wird, das das menschliche Leben unmittelbarer betrifft als alles andere, nämlich mit dem menschlichen Körper.1364 Geht es um den menschlichen Körper in der Kunst, so handelt es sich per se um einen interdisziplinär und intermedial präsentierten Gegenstand. Zeugt die Dichtung nach 1945 von einem starken Interesse am menschlichen Körper, so stellt sie keinesfalls eine Ausnahme dar, sondern steht im Kontext dessen, was als „Wiederkehr des Körpers“1365 in den Künsten bezeichnet wurde. Damit einher geht eine Überwindung der abendländischen Tradition einer dualistischen Anthropologie, die bezüglich des Menschen eine 1364 Auch wenn in den folgenden Beispielen Menschen Teile intermedialer Gedichte darstellen, behalte ich den Begriff ,Gedichtobjekt‘ bei. Dies scheint mir insofern nicht die menschliche Würde anzugreifen, als der menschliche Körper in diesen Gedichten vom entsprechenden Dichter zum Kunstwerk gemacht wurde und so die in diesen Gedichten herrschende Gleichwertigkeit zwischen Mensch und Gegenstand wiedergegeben werden kann. 1365 Kamper/Wulf (1982). Vgl. Assmann (2006), S. 117 und Schneede (2002).

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kategoriale Trennung zwischen Geist und Leib voraussetzt. Prominente Vertreter dieser Anthropologie sind beispielsweise Platon, Augustinus und Descartes. Ein weiterer Bereich der Kunst, in dem – neben der Dichtung – Darstellungen des menschlichen Körpers häufig anzutreffen sind, ist die Bildhauerei: Im Bereich der figürlichen Skulptur stellt der menschliche Körper seit der Antike1366 das primäre Objekt dar. Darstellungen des menschlichen Körpers können dabei ganz unterschiedlichen Zielsetzungen folgen. Diese sind primär zwischen zwei Polen, die zwei unterschiedliche Diskurse eröffnen, anzusiedeln, nämlich dem ästhetischen und dem naturwissenschaftlichen.1367 Beispiele für Darstellungen des ersten Typus finden sich vor allem auch in der Aktkunst. Des Weiteren haben Künstler menschliche Körper auch als Mittel der Gesellschaftskritik eingesetzt. Dies trifft seit den 1960er Jahren beispielsweise auf Valie Export und Cindy Sherman zu. Daneben spielt die Körperkunst (als Pantomime, Tanz, Körperbemalungen unterschiedlichster Art1368 usw.) seit jeher in vielen menschlichen Kulturen eine wichtige Rolle. Tätowierungen und Bodypiercings sind nur zwei der heutzutage weit verbreiteten Formen der Body Art. Diesen Aspekt finden wir auch in dem hier vorgestellten Bereich der intermedialen Dichtung nach 1945, wie anhand mehrerer entsprechender menschlicher Gedichtobjekte gezeigt werden wird. Vor allem durch die künstlerische Verknüpfung von Mensch und Ding führen diese und alle anderen Gedichtobjekte dieses Kapitels die dem menschlichen Körper eigene Materialität vor. Wie im Kontext dieses Kapitels nicht anders zu erwarten, unterscheidet sich das folgende ,Gedichtobjekt‘1369 in einer wesentlichen Hinsicht von den bisher analysierten, und zwar darin, dass hier nicht ausschließlich (leblose) Objekte präsentiert werden, sondern ein Mensch – nämlich Timm Ulrichs und somit der Urheber des vorliegenden Gedichtobjektes selbst – Teil der Komposition ist. Hier ist der auf einem Sessel, der barocke Züge besitzt, sitzende Mensch zu einem Element des Gedichtobjektes, zu dem auch der Sessel zählt, geworden. Beides hat Ulrichs Abb. 191  Timm Ulrichs, Erstes lebendes Kunstwerk (1965) „als Exponat in eine Vitrine“1370 gesetzt. Der 1366 Vgl. Thommen (2007). 1367 Medizinisch-naturwissenschaftliche skulpturale Darstellungen des menschlichen Körpers stammen vor allem aus der Zeit der Aufklärung. 1368 Vgl. dazu Misch-Kunert (2007). 1369 Abgedruckt in Sauerbier (1980), S. 61. 1370 Daniels (2003), S. 32.



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Mensch nimmt hier die Rolle eines Objektes ein und ist zugleich zum Text geworden. Notwendige Voraussetzung hierfür ist das Zugrundelegen des erweiterten Textbegriffes. Einmal mehr wird deutlich, dass dieser dem traditionellen Textbegriff vollkommen gegenüberstehen kann. Insofern wäre im vorliegenden Fall das Adjektiv ,neu‘ treffender als ,erweitert‘, wenn es um die Beschreibung der Verfasstheit des anzulegenden Textbegriffes geht. Das vorliegende Gedichtobjekt stellt aber nicht nur – wie alle intermediale Dichtung nach 1945 – den tradierten Textbegriff auf den Prüfstand, sondern auch den althergebrachten Kunstbegriff, und zwar ganz explizit durch den Titelbegriff „Kunstwerk“. Timm Ulrichs hat ein Kunstwerk – in unserem Fall ein intermediales Gedicht – damit augenscheinlich nicht mehr als ein vom Menschen artifiziell hergestelltes Objekt definiert. Auch im nun folgenden Beispiel1371 wird der menschliche Körper als eine der materialen Komponenten eines intermedialen Gedichtes inszeniert:

Abb. 192  christian ludwig attersee, attersee’s prothesenalphabet (1966)

Der Abbildung des Gedichtobjektes ist ein Text beigegeben, der eine deutliche Nähe zur Werbung aufweist. Eine solche besitzen, wie schon im Kapitel zur visuell-skripturalen poetischen Intermedialität ausgeführt wurde, viele Gedichte aus der Zeit nach 1945. Attersees Werbetext für sein prothesenalphabet lautet folgendermaßen: 1371 Abgedruckt in weiermair (1976), o. S.

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26 modeprothesen für ein- und zweibeinige. attersee’s buchstabenprothesen geben ihren beinen die sicherheit, etwas besonderes zu sein. prothesen zum ertrinken und cocktailmixen. für den besuch von konditoreien, zum staubsaugen und nußknacken. ein zweistündiger wettlauf der ganzen familie mit attersee’s buchstabenprothesen um das eigene campingzelt ist der unvergeßliche höhepunkt eines ferienaufenthaltes. beinamputierte mannequins tragen attersee’s buchstabenprothesen. mit attersee’s prothesenalphabet wird jeder tag zum sonntag.1372

Natürlich handelt es sich hierbei nicht um einen als ernst einzustufenden Text, sondern vielmehr um eine Parodie gängiger Strategien der Werbeindustrie, vor allem des hyperbolischen Anpreisens des betreffenden Produktes. In attersee’s prothesenalphabet gehen der menschliche Körper und die dreidimensional gestaltete Majuskel A eine nicht anders als intensiv zu bezeichnende Verbindung ein, denn Letztere dient in der Funktion einer Prothese (siehe Titel) als Verlängerung des menschlichen Körpers bzw. ersetzt in dieser Funktion einen Teil des menschlichen Körpers. Es handelt sich dabei um einen solchen Teil, den der Mensch notwendigerweise braucht, um eines seiner charakteristischen Merkmale aufzuweisen, nämlich den aufrechten Gang, durch den er sich unter anderem von den meisten Tieren unterscheidet. Da die Majuskel-Prothese auf den Bereich der Sprache bzw. Schrift verweist, ließe sich das vorliegende Gedichtobjekt als Aussage über die lebenswichtige Funktion von Sprache und Schrift für den Menschen deuten. Auch durch sie unterscheidet sich der Mensch maßgeblich vom Tier. Das nächste menschliche Gedichtobjekt1373 ließe sich als eine Erscheinungsform des an anderer Stelle bereits erläuterten Typus des poema proceso1374 beschreiben, denn die entsprechenden vier Photos zeigen – ähnlich dem Prinzip eines Daumenkinos – einen dynamischen Prozess. Zugleich haben wir es mit einer Form von Körperkunst zu tun, in der die menschliche Haut mit – in diesem Fall skripAbb. 193  peter weibel, augen-gedicht (1963) turalen – Zeichen versehen ist. 1372 Abgedruckt in weiermair (1976), o. S. 1373 Abgedruckt in weiermair (1976), o. S. 1374 Vgl. hierzu S. 208ff. dieser Arbeit.



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Jedes der vier Photos zeigt denselben Ausschnitt aus einem männlichen Gesicht: die beiden Augen, die Augenbrauen und den Ansatz der Nase. Den Mittelpunkt der Abbildungen bilden, wie der Titel augen-gedicht nicht anders erwarten lässt, die beiden Augen. Welche Bedeutung dem Sehsinn im Kontext der intermedialen Dichtung nach 1945, die vor allem eine visuell zu rezipierende Dichtung ist, zugesprochen werden muss, wurde bereits im Kapitel zur visuell-skripturalen Dichtung ausgeführt.1375 Es ist deshalb wenig verwunderlich, dass aus dieser Zeit viele Gedichte stammen, die in irgendeiner Art und Weise dem Thema ,Auge‘ gewidmet sind. Auch hierauf wurde bereits hingewiesen. Die vier Photos zeigen zwar jeweils denselben Gesichtsausschnitt, unterscheiden sich jedoch in der wesentlichen Hinsicht, dass die auf ihnen abgebildeten Augenpaare niemals identisch sind. Auf der ersten Abbildung ist das vom Betrachter aus gesehene linke Auge geschlossen und das rechte geöffnet, und auf dem linken Augenlid steht der Begriff ,Nacht‘ geschrieben. Auf der zweiten Abbildung sind beide Augen geschlossen, wobei auf dem linken Augenlid nach wie vor der in Majuskeln geschriebene Begriff ,Nacht‘ und auf dem rechten Augenlid der Begriff ,Tag‘ erscheint. Die dritte Abbildung stimmt fast vollständig mit der ihr vorangehenden überein, nur dass das linke Auge hier nun nicht mehr ganz geschlossen, sondern halb geöffnet ist, so dass der Begriff ,Nacht‘ bereits erkennbar ist. Die auf den ersten drei Bildern vorgeführte Tag-Nacht-Opposition löst sich auf dem letzten Photo insofern auf, als hier als einziger Begriff ,Schlaf ‘ erscheint, und zwar auf dem geschlossenen linken Auge, während das rechte ebenfalls geschlossen ist, auf dessen Augenlid im Unterschied zur linken Seite jedoch kein skripturales Zeichen geschrieben steht. In dieser Hinsicht gleicht das letzte Photo dem ersten in der Reihe, denn auch dort ist das rechte Auge unbeschriftet. Im Unterschied zum linken Augenlid auf dem Abschlussbild trägt dasjenige auf dem Anfangsbild jedoch den Begriff ,Nacht‘. Dieser gehört allerdings derselben Isotopieebene an wie ,Schlaf ‘. Wollten wir die Augenstellung als lineare Reife beschreiben, so erhielten wir folgendes Ergebnis: geschlossen – offen, geschlossen – geschlossen, offen – geschlossen, geschlossen – geschlossen. Damit wird der Eindruck suggeriert, dass ein irreversibler Endpunkt erreicht sei. Kommen wir nun zu einem menschlichen Gedichtobjekt, in dem der beteiligte poetisierte menschliche Körper als Träger der verschiedenartigsten skripturalen Zeichen in Szene gesetzt wird.1376 Der Grad an Bedeckung der Haut durch diese Zeichen überschreitet dabei das übliche Maß im Rahmen (ritueller) Körperbemalungen bei weitem (Abb. 194). Das vorliegende intermediale Gedichtobjekt steht im Kontext von Parmiggianis Beschäftigung mit der Bedeutung und Gestalt von Zeichen und auch im Kontext seiner Produktion intermedialer Kunstobjekte. Von Letzterer zeugt zum Beispiel auch sein Libro di albicocche (1969), das so entworfen ist, dass es nicht auf übliche Weise gelesen, sondern stattdessen während der ,Lektüre‘ berührt, geschmeckt und gerochen werden muss. Auch hat er mit seinen Tavole di scrittura und Papiro analfabetico Beispiele einer pikturalen Universalsprache vorgelegt. In Deiscrizione nun wird uns ein menschlicher Körper präsentiert, dessen Haut vollständig mit Zeichen bedeckt ist, bei denen es 1375 Vgl. hierzu auch den Titel von Christina Weiss’ Studie: Seh-Texte. Zur Erweiterung des Textbegriffes in konkreten und nach-konkreten visuellen Texten. 1376 Abgedruckt in Sauerbier (1980), S. 63.

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Abb. 194  Claudio Parmiggiani, Deiscrizione (1972)

sich um Keilschrift, Hieroglyphen, Ideogramme, alchemistische Symbole o.Ä. handeln könnte. Die Haltung der abgebildeten Person erinnert stark an die traditionelle Pose von ägyptischen Schreibern, wie sie zahlreiche Statuen zeigen. Auf dem Schoß der Person in Deiscrizione befindet sich ein Gegenstand, bei dem es sich um ein Brett oder eine Tafel handeln könnte. Entscheidend ist, dass dieser Gegenstand vollkommen weiß ist. In Anbetracht dessen, dass der menschliche Körper, der diesen Gegenstand auf seinen Knien hält, über und über mit skripturalen Zeichen versehen ist, bedeutet die Farbe Weiß in diesem Fall zunächst und vor allem ,unbeschrieben‘. Daraus ergibt sich, dass Parmiggiani die traditionellen Funktionen in ihr Gegenteil verkehrt hat: Der menschliche Körper ist zum Schreibuntergrund geworden, während ein üblicher Schreibuntergrund (Brett, Tafel o.Ä.) keine skripturalen Zeichen aufweist. Damit bezieht Parmiggiani implizit Stellung zum erweiterten Textbegriff, der der intermedialen Dichtung nach 1945 zugrunde gelegt wird, denn hier wird – im wörtlichen Sinne – ein Textkörper bzw. ein Körper mit und letztendlich als Text präsentiert. Widmen wir uns nun abschließend dem Titel: Deiscrizione. Es handelt sich dabei um einen von Parmiggiani gebildeten Neologismus, der zunächst und vor allem an den italienischen Begriff ,descrizione‘ erinnert. Vorgeführt wird im vorliegenden Gedichtobjekt ja eine Beschreibung im wörtlichen Sinne, nämlich als Beschriftung eines menschlichen Körpers und nicht eine Beschreibung im übertragenen Sinne als Schilderung oder Dar-

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stellung in gesprochener oder geschriebener Form. Nun lautet der Titel aber eben nicht Descrizione, sondern Deiscrizione. Aus diesem Grund liegt es nahe, den Titelbegriff in zwei Teile aufzuspalten, um weitere Deutungsmöglichkeiten zu erhalten: dei und iscrizione. Beginnen wir mit dem zweiten Teil, bei dem es sich um das italienische Wort für Aufschrift, Beschriftung o.Ä. handelt und der somit die Position der skripturalen Zeichen auf der menschlichen Haut benennt, die die Abbildung zeigt. Die erste Silbe stellt sowohl das Kompositum aus der italienischen Präposition ,di‘ und dem italienischen Artikel ,i‘ (m. pl.) als auch die Pluralform des Begriffes ,dio‘ (dt. Gott) dar. Beides könnte implizit die Frage nach dem Ursprung der Beschriftung des menschlichen Körpers und dem Ursprung der auf ihm erscheinenden Zeichen stellen. Ein solcher Verweis auf den metaphysischen Bereich ist jedenfalls nicht auszuschließen. Den Abschluss dieses Kapitels soll ein menschliches Gedichtobjekt1377 von Clemente Padín, das sich von den vorangehenden vor allem durch die explizit politische Ausrichtung unterscheidet, bilden. Das sich hier manifestierende politische Engagement muss im Kontext des Gesamtwerkes von Padín gesehen werden. Dieses wird nämlich – ähnlich der Konkreten Poesie der Gruppe Noigandres – von dezidierten Stellungnahmen zur politischen Lage im eigenen Land, in diesem Fall in Uruguay, durchzogen.

Abb. 195–196  Clemente Padín, PAZ = PAN (2001) [Montevideo, Uruguay]

Wie beim bereits analysierten Beispiel von Peter Weibel handelt es sich auch im vorliegenden Fall um ein animiertes menschliches Gedichtobjekt. In PAZ = PAN erscheint der menschliche Körper (Padíns) transformiert zu einer reduzierten Form des ersten Buchstabens des lateinischen Alphabets. Zusammen mit den jeweils beiden leblosen Lettern P und Z/N bildet er so nacheinander die beiden Begriffe PAZ und PAN. Die Animation basiert dabei auf folgendem Printgedicht1378 von Clemente Padín:

1377 Padín (2001) [Internet]. 1378 Padín (1980) [Internet].

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Abb. 197  Clemente Padín, PAZ = PAN (1980)

Beide Versionen des Gedichtes gleichen sich darin, dass der Begriff PAN vor PAZ erscheint, der Titel diesen jedoch erst an zweiter Stelle nennt. Auf diese Weise stellt Padín einen engen Zusammenhang zwischen diesen beiden Begriffen her, wobei der Eindruck entsteht, sie seien sogar austauschbar. Die Implikation dieses Austauschprozesses liegt in der ökonomischen und politischen Situation des Landes begründet: Seit den 1960er Jahren ist es Uruguay nicht gelungen, eine massive Wirtschaftskrise zu überwinden, was dazu geführt hat, dass selbst heute noch etwa 23 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben müssen. Außerdem wurde im Jahre 1973 die demokratische Verfassung des Landes außer Kraft gesetzt und ein Militärregime errichtet. Der weit verbreitete Hunger und guerillaähnliche Zustände lassen Brot („PAN“) und Frieden („PAZ“) als positive Gegenbilder zur Realität im eigenen Land erscheinen. Padíns Gedicht erhält so einen Appellcharakter. Beide Begriffe bilden insofern eine Einheit, als sowohl eine gerechte Verteilung des Reichtums oder zumindest der Nahrungsmittel, die der Begriff ,Brot‘ symbolisiert, die Kriminalität und den kriegsähnlichen Zustand beenden helfen könnte, als auch Frieden dazu führen könnte, der Bevölkerung den Zugang zu Lebensmitteln zu erleichtern.



Dichtung und Architektur

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4.7 Dichtung und Architektur Die Dichtung, die in diesem intermedialen Feld angesiedelt ist, ist primär auf eine wesentliche Absicht der Dichter nach 1945 zurückzuführen, nämlich diejenige, ihre Dichtung der breiten Öffentlichkeit zu präsentieren. Hierin folgte die intermediale Dichtung nach 1945 dem Dadaismus: Sie erbt vom Dadaismus die Vorstellung, dass ein Gedicht so wirksam sein soll, wie ein Reklameslogan. Der dadaistische goût de la réclame begründet ein neues Verhältnis der Poesie zur Öffentlichkeit: Poesie wird nicht mehr unter Ausschluß der Öffentlichkeit oder für eine Gruppe von initiés geschaffen, sondern ihr Artikulationsort ist die moderne Öffentlichkeit, die vor allem vom städtischen Leben konstituiert wird.1379

Da liegt es nahe, Dichtungen an Gebäuden o.Ä. anzubringen. Ähnlich sind Dichter – entsprechende antike Vorgehensweisen nachahmend – vor allem in der Frühen Neuzeit vorgegangen, wenn sie Epigramme u.ä. an der Fassade öffentlicher Bauwerke platziert haben. Die Dichter nach 1945 haben Gedichte aber – im Unterschied zu diesen – eben nicht nur in Form öffentlicher Inschriften mit der Architektur verknüpft, sondern zahlreiche andere Möglichkeiten genutzt, um intermediale Verknüpfungen zwischen Dichtung und Architektur zu erzielen. Strikt zu trennen ist diese Form poetischer Intermedialität vom so genannten ,Architekturgedicht‘.1380 Von diesem gibt es mehrere Ausprägungen, die jedoch alle gemein haben, dass sie – im Gegensatz zu den hier verhandelten intermedialen Gedichtobjekten – zweidimensional gestaltet sind: Erstens kann es sich beim Architekturgedicht – in Analogie zum Bildgedicht – um ein Gedicht handeln, das ein bestimmtes Bauwerk zum Gegenstand hat. Zweitens kann es „als Figurengedicht das Bauwerk thematisieren und zugleich in seinen Umrissen abbilden“1381. Von diesen beiden Formen lässt sich eine dritte Variante des Architekturgedichtes unterscheiden: „Es [scil. das Architekturgedicht; B.N.] kann [...] auch in seinen äußeren Umrissen Architekturformen bilden, die keiner Vorlage folgen, die aber als Metapher notwendiger Bestandteil des Gedichts sind.“1382 Zeichnen sich die Architektur und Dichtung intermedial verknüpfenden Gedichtobjekte gerade durch ihren dreidimensionalen Charakter aus, so bleiben die drei benannten tradierten Formen des Architekturgedichtes der Fläche verhaftet. Auf die hieraus resultierende Diskrepanz zwischen dem entsprechenden Bauwerk und dem zweidimensionalen Gedicht wurde – repräsentativ für den zweiten und dritten Typus des Architekturgedichtes  – zu Recht hingewiesen: „Wenn [...] dreidimensionale Architektur in einem Figurengedicht typographisch-optisch durch eine aus Schrift gebildete Fläche 1379 Krüger (2004), S. 91. 1380 Vgl. Kranz (1988) und Greber (2004). 1381 Dencker (2011), S. 632. Dencker nennt als Paradebeispiel für solche in Gedichten visuell nachgebildeten Bauwerke den Eiffelturm und führt zahlreiche poetische Belege an. 1382 Dencker (2011), S. 633. Zu Recht weist Dencker hier auf die besondere Beliebtheit von Ehrenmalen und -pforten, Triumphbögen, Säulen und Pyramiden hin.

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nachgeahmt wird, geht eine Dimension verloren.“1383 Dasselbe gilt natürlich auch für den ersten Typus des Architekturgedichtes, der dem traditionellen Satzspiegel folgt. Dreidimensionale Verbindungen von Architektur und Dichtung finden wir nicht erst in der Dichtung nach 1945, sondern schon im Umfeld der italienischen Futuristen.1384 Stark unterscheiden sich die in diesem Kapitel versammelten intermedial mit der Architektur verknüpften Gedichte von früheren Versuchen, Dichtung und Architektur auf der metaphorischen Ebene miteinander zu verbinden. Ein solches Beispiel hat August Wilhelm Schlegel in seinen Betrachtungen über die italienische Poesie dort geliefert, wo er das Sonett mit einem Bauwerk verglichen hat: Soll ich es durch ein Gleichnis aus der Architektur deutlicher machen, so denke man sich einen länglicht viereckigen Tempel, die zweiten Seitenwände, welche ihn einschließen, von der schlichtesten Bauart und ohne Verzierung, sind die Quartetts; die schmalere Hinterseite gleicht zwar auf gewisse Weise dem Fronton, ist aber doch am wenigsten in der Erscheinung hervorzutreten bestimmt: diese würde dem ersten Terzett entsprechen; die Vorderseite endlich krönt wie das letzte Terzett und schließt das Ganze, gibt dessen Bedeutung im Auszuge, und zeigt an den stützenden Säulen und dem deckenden Giebel die reichste architektonische Pracht, jedoch immer mit einfacher Würde.1385

Was hier ausschließlich auf der metaphorischen Ebene miteinander verknüpft ist, nämlich Dichtung und Architektur, ist in der Zeit nach 1945 bevorzugt im städtischen Raum Realität geworden. Vor allem die Dichter der poesia visiva haben es sich zum Ziel gesetzt, ihre Dichtung im städtischen Raum zu etablieren. Bellolis Testi poemi murali (1944)1386 sind nur eines unter vielen Beispielen für diese Tendenz, die vor allem zweierlei zur Folge hatte: erstens das Erreichen einer großen Rezipientenzahl und zweitens die Annäherung der Dichtung an das alltägliche Leben. Letzteres illustriert Eugenio Miccinis L’Arte della Vita (1980)1387 auf paradigmatische Weise, auch wenn dieses Gedicht insofern eine Besonderheit darstellt, als es sich um das Produkt der Bearbeitung des Photos eines Bauwerkes mit Inschrift und nicht um ein tatsächlich existierendes intermediales Gedicht handelt. Wie bereits erwähnt, suggeriert das vorliegende Gedicht die Verbindung von Dichtung und Leben bzw. die Annäherung der Dichtung an das Leben. Die Abbildung des Gedichtes zeigt uns den Teil eines Gebäudes, auf dem eine Inschrift angebracht ist. Diese Inschrift besteht aus vier kurzen Zeilen, von denen die erste und die dritte geschwärzt wurden. Durch diese Versanzahl stellt Miccini sein Gedicht in die Tradition der Inschrift bei Leon Battista Alberti (1404–1472). Die nicht geschwärzten Wörter, die übrigens ausschließlich Majuskeln enthalten, entsprechen dem Titel des Gedichtes: „L’ARTE DELLA VITA“. Hier ist noch nichts über die Verbindung von Dichtung und Leben aus1383 Vgl. Kranz (1988), S. 16. 1384 Vgl. Dencker (2011), S. 636. Ein Beispiel stellt Fortunato Deperos Progetto per un Padiglione pubblicitario (1928) dar. Abgedruckt in Lista (1984), S. 126. 1385 Schlegel (1965), S. 192. 1386 Vgl. Ernst (1999), S. 299. 1387 Abgedruckt in Erlhoff/Holeczek (1980), S. 115.



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Abb. 198  Eugenio Miccini, L’Arte della Vita (1980)

gesagt. Diese Verbindung ergibt sich erst, wenn auch die geschwärzten Wörter mitgelesen werden. Dass eine solche Rezeption von Miccini erwünscht ist, ist daraus ersichtlich, dass die beiden entsprechenden Zeilen der Inschrift nur so leicht geschwärzt sind, dass sie – wenn auch mit großer Mühe – noch immer lesbar sind. Damit verweigern sie sich zugleich einem automatisierten Lesevorgang, dem die Dichtung nach 1945 ja entgegenwirken wollte. Die vollständige Inschrift lautet folgendermaßen: „onorate l’arte che é vita della vita“. Kunst und damit zugleich auch Dichtung ließe sich damit als eine Art von potenziertem Leben beschreiben. Damit hätten wir es zugleich mit einer Verkehrung des aristotelischen mimesis-Gedankens zu tun: Kunst ahmte nicht das Leben nach, sondern dieses die Kunst. Nun ist die (in diesem Fall unvollständige) Tilgung skripturaler Zeichen durch schwarze horizontale Linien kein wertneutrales Vorgehen, sondern die gebräuchliche Maßnahme der politischen Buchzensur. Miccinis L’Arte della Vita ist damit – neben vielen anderen Beispielen in der Dichtung nach 1945  – auch als Kommentar zur Praxis der Zensur zu lesen. Dass bei ihm die geschwärzten Textpassagen nach wie vor vom Betrachter entziffert werden können, könnte so interpretiert werden, dass jede Zensur ihr Ziel, bestimmte skriptural vermittelte Inhalte vollständig auszulöschen, letztlich niemals erreichen kann. Von der doppelten Verbindung von Dichtung und Stadt sowie Dichtung und Architektur zeugt ebenfalls ein Gedicht von Augusto de Campos, das er zusammen mit Julio Plaza im Jahre 1987 an den Ausstellungsgebäuden der Biennale von São Paulo an-

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gebracht hat.1388 Die Verbindung mit dem Thema Stadt wird hier nicht nur durch den Publikationsort hergestellt, sondern besteht auch auf der lexikalischen Ebene, denn das skripturale Material in cidade lässt sich folgendermaßen beschreiben: Es handelt sich hierbei um einzelne Silben oder Wortfetzen, die in Zusammenhang mit einer modernen Metropole stehen, und zwar in zweifacher Hinsicht, nämlich inhaltlich und formal: Augusto de Campos hat für sein Gedicht ausschließlich Begriffe, die mit der Silbenfolge cidade [dt. Stadt] enden, gewählt und diese dann bis zum letzten Wort unterschlagen. Der Rezipient liest und hört also beispielsweise zu Beginn von cidadecitycité nicht den Begriff atrocidade [dt. Gräueltat], sondern lediglich die verstümmelte und bedeutungslose Silbenfolge atro, an die sich lückenlos die nächste verstümmelte Silbenfolge reiht, und so weiter, bis das Gedicht mit cidade endet. Durch dieses Verfahren erscheinen alle Begriffe aufs Engste mit dem Wort cidade verbunden. So viel zur formalen Verbindung mit der Stadt. Auf der inhaltlichen Ebene stehen die Begriffe insofern in Zusammenhang mit einer modernen Metropole, als sie allesamt typische städtische Erscheinungen und Tatsachen benennen. Campos hat ein „Wortungetüm geschaffen, welches alle nominalisierbaren Eigenschaften des städtischen Lebens in einer ungetrennten Verkettung vorführt“1389: atrocaducapacaustiduplielastifeliferofugahistoriloqualubrimendmultipliorganiperiodiplastipublirapareciprorustisagasimplitenaveloveravivaunivoracidade

Das in überdimensional großen Buchstaben1390 an den Ausstellungsgebäuden der Biennale von São Paulo angebrachte Gedicht geht darüber hinaus eine noch sehr viel intensiver gestaltete Verbindung mit der Stadt São Paulo ein: Hier haben wir es nicht mehr nur mit einem Gedicht über, sondern über und zugleich in der Großstadt zu tun bzw. – genauer – mit einem Gedicht, das in der städtischen Architektur seinen Platz gefunden hat. Von der (vornehmlich frühneuzeitlichen) öffentlichen Epigraphik unterscheidet sich das soeben besprochene Beispiel vor allem dadurch, dass es sich um keine poetische Inschrift an einem Gebäude o.Ä. handelt, sondern wir es mit einem intermedialen Gedicht, nämlich einem sich aus skripturalen Zeichen zusammensetzenden Gedichtobjekt oder Gedichtkörper zu tun haben, das bzw. der – statt auf – vor einer Gebäudefassade angebracht ist. Dadurch, dass sich die Gebäudefassade und das cidade-Gedichtobjekt farblich stark voneinander unterscheiden, rückt darüber hinaus die Materialität der eingesetzten Zeichen in den Vordergrund. Damit kommt ihm als Gedichtobjekt ein gänzlich anderer Status zu als der traditionellen öffentlichen Epigraphik, die primär der Zierde eines Gebäudes diente.

1388 Campos (1987a) [Internet]. Die Printversion von cidade stammt aus dem Jahre 1963. 1389 Krüger (2004), S. 91. 1390 Die tatsächliche Schriftgröße lässt sich erahnen, wenn man die Buchstaben mit der Größe des Dichters (rechts unten im Bild) vergleicht.



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Eine ebenfalls prominente Stelle im Stadtbild nehmen auch die folgenden drei Letterngedichtobjekte von Joan Brossa ein. Sie alle zählen zur poesia urbana des Katalanen:

Abb. 199 Joan Brossa, A de cinema (1998)1391 Abb. 200 Joan Brossa, Alfabet jeràrquic (1994)1392 Abb. 201  Joan Brossa, ohne Titel (1986)1393 Intervenció exterior a la Fundació Joan Miró (Barcelona)

Diese drei Beispiele zeigen Dichtung und Architektur jeweils auf unterschiedliche Weise intermedial miteinander verknüpft: Im ersten Fall erfüllt die Majuskel A die Funktion einer Statue o.Ä., die hoch oben auf einer Marmorsäule prangt. Im zweiten Beispiel zieren die fünf Vokale des lateinischen Alphabets – jeweils als Majuskel – die Frontseite des Rathauses von Barcelona. Die Hierarchie der traditionellen Vokalreihe ist dabei dadurch visualisiert, dass die Lettern einer abwärtsgerichteten Linie folgend an der Gebäudefassade angebracht wurden. Das letzte Beispiel führt schließlich eine vollkommen anders gestaltete intermediale Verknüpfung von Dichtung und Architektur vor, die ebenfalls eine Verschmelzung beider beinhaltet. Wir sehen aus der Vogelperspektive die im Jahre 1975 gegründete Fundació Joan Miró in Barcelona. Auf der Abbildung ist zu erkennen, dass sich über eine der Gebäudefrontseiten und das Dach hinweg die Majuskel A bis in den Innenhof erstreckt. Dies bewirkt natürlich eine sehr ungewöhnliche Perspektivierung dieses Buchstabens, die wiederum der unkonventionellen Kunst Joan Mirós zu entsprechen scheint. 1391 Brossa (2004), S. 117. 1392 Fernando (1994), S. 59. Es handelt sich hierbei um Brossas Alfabet jeràrquic, das ausschließlich die Vokale des lateinischen Alphabets präsentiert. 1393 Brossa (2004), S. 110.

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Auch von Ian Hamilton Finlay finden sich Gedichte in architektonischer Umgebung. Die folgende Abbildung1394 zeigt einen von ihm gestalteten Brückenpfeiler:

Abb. 202  Ian Hamilton Finlay, Bridge Column (1990) [Broomielaw, Glasgow, Schottland]

Einer persönlichen Vorliebe entsprechend, hat Finlay einen bekannten antiken Text gewählt, aus dem er zunächst einen kleinen Auszug im Original und danach in einer englischen Übersetzung zitiert. Bei diesem Text handelt es sich um Platons Politeia. Die Wahl dieses Textes entspricht Finlays Vorliebe für die griechisch-antike Philosophie und Literatur, die in zahlreichen seiner poetischen Produktionen manifest wird.1395 Der englische Text, der die drei letzten Zeilen der Inschrift auf dem Brückenpfeiler einnimmt, lautet folgendermaßen: „ALL GREATNESS STANDS FIRM IN THE STORM“. Diese englische Übersetzung basiert auf Heideggers eigensinniger deutscher Neubearbeitung der Politeia und entbehrt daher der Ambiguitäten des griechischen Originals.1396 Diese sollen darum an dieser Stelle unberücksichtigt bleiben. Wichtig ist hingegen, dass Finlay einen Satz, der bei Platon auf die polis bezogen ist, einer Säule aus grauem Granit eingeschrieben hat, die aufgrund ihrer isolierten Lage dem Konzept der polis geradezu 1394 Abgedruckt in Felix/Simig (1995), o. S. 1395 Vgl. beispielsweise Lubbock (2002), S. 5f. 1396 Vgl. Felix/Simig (1995), o. S.



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entgegengesetzt ist. Das gilt auch, obwohl im näheren Umkreis der abgebildeten Säule noch sieben weitere dieser Art zu finden sind. Alle stehen jedoch mehr oder weniger isoliert für sich. Dies ist dem Umstand zu verdanken, dass sie die Überreste einer Brücke darstellen, die in den 1950er Jahren abgerissen wurde. Zwei dieser Säulen hat Finlay mit derselben Inschrift versehen, wobei auf der einen zuerst der griechische Text und dann die englische Übersetzung und auf der anderen zuerst die englische Übersetzung und dann das griechische Original erscheinen. Die Standfestigkeit bzw. Standhaftigkeit im Sturm stellt eine Metapher für den allgemeinen Gedanken der vanitas dar. Dass Finlay Platons Satz über die Vergänglichkeit in die beschriebenen Granitpfeiler gehauen hat, lässt mehrere Implikationen zu: Zum einen können diese jene der Vergänglichkeit alles Irdischen trotzende Beständigkeit repräsentieren, und zwar nicht nur, weil diese per se der Materie ,Stein‘ zukommt, sondern vor allem deshalb, weil sie die Überreste der einstigen Brücke über den Clyde darstellen. Da es sich aber nicht allein um Brückensäulen handelt, sondern um intermediale Dichtung, ist zugleich auch eine poetologische Dimension der Aussage denkbar: Auch wenn die Brücke, die die verbliebenen Säulen in Erinnerung rufen, längst zerstört ist, bleibt die Dichtung – hier in intermedialem Gewand – weiter bestehen. Dies entspräche weitgehend dem von Seneca überlieferten Ausspruch: „ars longa, vita brevis.“1397 Nicht im Wasser, die Wasserthematik – in Form der Meeresthematik – aber nichtsdestoweniger beibehaltend, präsentiert sich das folgende intermediale Gedicht,1398 das ebenfalls von Ian Hamilton Finlay stammt:

Abb. 203  Ian Hamilton Finlay, WAVE/ROCK (1989) [Harris Museum and Art Gallery, Preston, Lancashire, England]

1397 Vgl. De brevitate vitae, Buch 1, 1. 1398 Abgedruckt in Felix/Simig (1995), o. S.

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Dichtung im Raum

Die obige Abbildung zeigt einen Steinblock, dem Finlay die Begriffe „WAVE“ und „ROCK“ eingeschrieben hat. Zunächst stellen beide Begriffe eine Art Antithese dar, und zwar eine der im poetischen Werk Finlays am häufigsten anzutreffende: Mit einer Welle assoziiert man das Flüchtige, Nicht-Fassbare sowie das Meer und mit einem Felsen das Beständige, Harte und das Land. Damit stehen sich zwei voneinander kategorial getrennte ,Existenzformen‘ gegenüber. Dadurch, dass die beiden Begriffe jedoch nahtlos ineinander übergehen und darüber hinaus beide in Majuskeln gestaltet sind, könnte angedeutet sein, dass diese Opposition aufgehoben werden kann – zumindest dann, wenn beide Begriffe gleichermaßen als Formation skripturaler Zeichen in Stein gehauen sind. Damit wären wir wieder beim Thema des zeitüberdauernden Charakters der Kunst bzw. in diesem Fall der Dichtung, der es ermöglicht, eine sich per se beständig bewegende Welle festzuhalten. Zugleich könnte Finlay durch den nahtlosen Übergang zwischen beiden Begriffen das Bild eines von Wellen umspülten Felsens andeuten. Auf der begrifflichen Ebene spiegelt das Wort „ROCK“ das Material, nämlich den Steinblock, auf dem es erscheint. Zudem erinnert die Gestalt des Steinblockes im Eingangsbereich des Museums mehr oder weniger an einen kleinen Felsen, der sich aus dem Meer erhebt. Dieses ist dabei durch den Begriff „WAVE“ präsent. 4.7.1 Intermediale Poesie in der kultivierten Natur Ein Aspekt, den die intermediale Verknüpfung von Dichtung und Skulptur oder Architektur beinhalten kann und den wir in der Dichtung nach 1945 relativ häufig antreffen, ist die Verbindung von Dichtung und Natur, um die es nun gehen soll. Gedacht werden muss hier vor allem an Dichtungen in Gärten und (privaten oder öffentlichen) Parks, Friedhöfen u.Ä. und somit an Dichtungen in einer vom Menschen kultivierten und überschaubaren Natur.1399 Nichtsdestoweniger beschreiten wir hier den Bereich „inter artes et naturam“1400. Es handelt sich aber dennoch bei beidem – der Dichtung und der Natur – um menschliche Artefakte. ,Naturdichtungen‘, deren Hauptform in der Zeit die ,Gartendichtungen‘ darstellen, begegnen uns in dem dieser Arbeit zugrunde gelegten Untersuchungszeitraum in mannigfaltiger Form, am häufigsten jedoch als Inschriften (bevorzugt in Steinen oder Bäumen) und als Gedichtobjekte, die Texte – dem erweiterten Begriff nach – und Gegenstände auf innovative Weise intermedial miteinander verknüpfen. Als Untergrund können hier „Plaketten und Tafeln, Stelen und Zaunübertritte, Bänke, Brücken, Säulenbasen oder Kapitelle, Urnen und ihrer mehr [...]“1401 dienen. Gedichte in Gärten oder anderen natürlichen Kontexten zu platzieren, ist dabei nicht als Novum der Dichtung 1399 Ginge es in diesem Kapitel nicht explizit um intermediale Dichtungen in Gärten, so müssten hier weitere Sammlungen genannt werden, zum Beispiel Le jardin japonais 1 (1978) und der Folgeband Le jardin japonais 2 (1978) von Pierre Garnier. Diese bleiben jedoch der Fläche verhaftet und nutzen das Phänomen ,Garten‘ – speziell den Typus des japanischen Gartens – ausschließlich in konzeptioneller und struktureller Hinsicht. Dasselbe gilt auch für Ilse Garniers Gärten der Kindheit (2008). 1400 So der Titel einer vom 30. April bis zum 28. Juni 1987 vom Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris veranstalteten Ausstellung von Werken Ian Hamilton Finlays. 1401 Simig (2010), o. S.



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nach 1945 zu werten. Zum Beispiel hat das Motiv des Hirten oder Schäfers, der für seine Geliebte ein Gedicht in eine Baumrinde ritzt, eine jahrtausendelange literarische Tradition. Zahlreiche Belege hierfür lassen sich vor allem in den frühneuzeitlichen Pastoralromanen finden. Und bei diesem Motiv handelt es sich nur um eines der vielen ,traditionellen‘ poetischen Beispiele für die Verknüpfung der Konzepte ,Dichtung‘ und ,Natur‘. Neu an der ,Gartendichtung‘ nach 1945 ist primär der Aspekt der Intermedialität: Treffen wir hier auf einen Baum mit einer Inschrift, so bildet nicht mehr die Inschrift allein das Gedicht und der Baum dient nicht als bloßer Schreibuntergrund, sondern das Gedicht ist das intermediale Produkt der Verknüpfung beider. In diesem Sinne hat der bei weitem produktivste Dichter-Gärtner aus der Zeit nach 1945, nämlich Ian Hamilton Finlay, über eine seiner zahlreichen ,Gartendichtungen‘ Folgendes geäußert: „Conven­ tional poetry is about its subject. Here, the birch trees – leaves, bark, light, shadows – become part of the poem […]“1402 – ebenso wie die auf den an den Bäumen angebrachten Tafeln erscheinenden skripturalen Zeichen. Die Dichtung nach 1945 ist dem Thema ,Park‘ und ,Garten‘ auffallend stark zugeneigt.1403 Die Erklärung erschließt sich aus einem der Ziele dieser Dichtung: Den entsprechenden Dichtern ging es unter anderem darum, ihre Dichtungen dem Leben anzunähern. Dies finden wir explizit in theoretischen Schriften (v.a. der Dichter der poesia visiva und der Konkreten Poesie) formuliert, worauf im Rahmen dieser Arbeit bereits mehrfach hingewiesen wurde. In diesem Kontext wurden Gedichte aus der Fläche des Traditionsmediums ,Buch‘ in den dreidimensionalen Raum transponiert. Dieser Operation zugrunde gelegt werden muss dabei immer ein stark erweiterter Textbegriff, der eben auch Phänomene aus Skulptur, Architektur u.Ä. einschließt: Wir stoßen hier beispielsweise auf Gedichte auf Mauern, Gebäudewänden, in öffentlichen Parks und auch in Gärten, und dies in mannigfaltigen intermedialen Erscheinungsformen (z.B. als speziell gestaltete Inschriften, poetische ,Skulpturen‘ etc.). Dadurch wurde der Dichtung zugleich ein neuer Rezipientenkreis, nämlich die breite, zumindest der Idee nach an allen Seiten durchlässige Öffentlichkeit erschlossen. Ähnlich wie im Dadaismus sollte die Dichtung nach 1945 schließlich nicht mehr an eine kleine hermetisch abgeschlossene Gruppe von ,Eingeweihten‘ gerichtet sein, sondern prinzipiell jedem leicht zugänglich sein. Dichtungen im Kontext eines Gartens, eines Parks o.Ä. zielen – ebenso wie diejenigen an anderen (öffentlichen) Orten in der Stadt – auf eine starke Sensibilisierung „für das tägliche Zusammentreffen mit Sprache in der vom Menschen geprägten Umwelt“1404. Für die Gedichtpräsentation ist die (mehr oder weniger öffentliche) Natur (Park, Garten etc.) des Weiteren aus einem rezeptionsästhetischen Grund besonders prädestiniert, und zwar weil die Rezeption dieser Dichtung sich vielfach als eine Art Meditation gestalten sollte – zumindest nach der Konzeption des jeweiligen Dichters – und ein Park

1402 Finlay (1987), o. S. 1403 Auch viele intermediale Gedichte von Joan Brossa, die zu seiner poesia urbana zählen, sind im Grünen (meistens in öffentlichen Parks) zu finden. Zumal diese jedoch bereits unter anderen Aspekten analysiert wurden, werden sie in diesem Kapitel nicht noch einmal angeführt. 1404 Weiss (1984), S. 238.

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oder Garten sich besonders für Meditationen eignen kann. Vor allem die japanischen Zengärten belegen dies.1405 Im Bereich der ,Gartendichtung‘ ist zunächst und vor allem auf Ian Hamilton Finlay hinzuweisen, zumal er zwei Gärten (Little Sparta, Dunsyre und Fleur de l’Air, Provence)1406 eigens geschaffen und eine Vielzahl existierender Gärten mit poetischen Kreationen unterschiedlichster Art versehen hat. Oftmals handelt es sich bei seinen intermedialen Gartendichtungen um Inschriften auf physischen Objekten, die sowohl organischer als auch anorganischer Natur sein können. Diese Art Dichtung beinhaltet eine grundsätzliche Anerkennung und Würdigung der Ursprünge visueller Poesie: „Viele von Finlays Gedicht-Objekten greifen auf die epigraphischen Mittel zurück, welche die Entstehung der visuellen Poesie im Altertum entscheidend mitbestimmten.“1407 Auch seine beiden Gartenanlagen Little Sparta und Fleur de l’Air als umfangreiche intermediale Kunstobjekte stehen in einer langen Traditionsreihe: Hier verbinden sich mit absoluter Konsequenz Gartenbau, Plastik, Inschriften- und Objektpoesie. Die von den Dichtern des 17. Jahrhunderts in ihren Schäferspielen erträumte Vereinigung von visueller Poesie und Natur, von Bukolik und Figurengedicht, wird in der modernen Form eines konkreten Gartens verwirklicht.1408

Die folgende Abbildung1409 zeigt ein Gedichtobjekt, das sich in der Parkanlage der University of Kent im Südosten Englands befindet:

Abb. 204  Ian Hamilton Finlay, The Canterbury Sundial (1972) [mit Michael Harvey] [Canterbury, England, University of Kent]

1405 Es ist natürlich kein Zufall, dass Pierre Garnier zwei Sammlungen spatialistischer Gedichte veröffentlicht hat, deren Titel diese eng mit dem Modell des japanischen Gartens verbindet: Le jardin japonais 1 (1978) und Le jardin japonais 2 (1978). 1406 Vgl. Simig (2004) und Simig (2010). 1407 Adler/Ernst (1987), S. 306. 1408 Adler/Ernst (1987), S. 306. 1409 Abgedruckt in Felix/Simig (1995), o. S.



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The Canterbury Sundial stellt zum einen eine der vielen von Ian Hamilton Finlay gestalteten Sonnenuhren dar. Diese Art intermedialer Dichtung dem Thema der Zeit zu widmen, liegt insofern nahe, als in jedem Garten Zeit durch den Wechsel der Jahreszeiten und die Wachstumsrhythmen von Flora und Fauna besonders präsent ist. Zum anderen gehört The Canterbury Sundial demjenigen Teil von Finlays Werk an, der den Themen ,Land‘ und ,Meer‘ vorbehalten ist. Dies liegt nicht in der Natur der Sache, nämlich der Sonnenuhr selbst, begründet, sondern in deren individueller Inschrift: SEA – LAND/. Diese Inschrift erscheint auf der (von vorne aus betrachtet) rechten Seite einer steinernen Platte eines Tisches, dessen beide tragenden Seitenflächen ebenfalls aus Stein gefertigt wurden. Auf der linken Seite der Tischplatte befindet sich eine eingravierte Sonnenuhr, deren Gnomen ein metallener Stab darstellt. Dementsprechend handelt es sich um eine Sonnenuhr mit horizontalem Zifferblatt. Richten wir das Hauptaugenmerk nun aber zunächst auf die Zeichen der Inschrift. Hier stellt sich die Frage, was beide Striche, der Gedankenstrich und der Schrägstrich, zu bedeuten haben bzw. bedeuten könnten. In beiden Fällen besteht die Ambiguität, dass der jeweilige Strich sowohl eine Trennung als auch eine Verbindung von zwei Begriffen, im vorliegenden Fall von „SEA“ und „LAND“, bewirken kann. Beide deuten somit auf das spannungsvolle Verhältnis, das Finlay in seinen entsprechenden Arbeiten zwischen Land und Meer erzeugt, die jeweils eine „gewaltige konnotative Reichweite“1410 aufweisen. Zurück zum Zifferblatt der Sonnenuhr: Die gebogenen und geraden Linien erinnern an geographische Längen- und Breitengrade. Diese könnten eine Verbindung von Land und Meer implizieren, denn zu Lande, vor allem aber im Rahmen der Nautik spielen diese auf dem Meer eine wichtige Rolle zur Orientierung. Diese Assoziation steht im spannungsgeladenen Verhältnis zur Sonnenuhr, zumal es sich bei dieser um eine weitgehend überholte Methode der Zeitbestimmung handelt. Außerdem erinnert das Arrangement der Sonnenuhr an Netze, wodurch wiederum Land und Meer miteinander verbunden würden: „Die Linien auf der Tafel sind netzförmig und könnten [...] an die Netze erinnern, mit denen man zu Lande und zu Wasser nach Nahrung jagt.“1411 Eine weitere mögliche Verbindung von Land und Meer, die das Zifferblatt der vorliegenden Sonnenuhr andeuten könnte, ergibt sich unter Zuhilfenahme eines früheren Gedichtes Finlays.1412 Es handelt sich dabei um das folgende, bereits im entsprechenden Kapitel analysierte semiotische Gedicht.1413 Die gebogenen und geraden Linien, die das Zifferblatt der Sonnenuhr bilden, könnten Abstraktionen oder Verzerrungen der im lexi­ cal key angegebenen Zeichen für die Begriffe „sea“ und „land“ sein. Noch augenschein1410 Simig (2010), o. S. 1411 Felix/Simig (1995), o. S. 1412 Finlay (1997), S. 18. 1413 Vgl. S. 206ff. dieser Arbeit.

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licher ist der Bezug auf dieses frühere Gedicht in der Inschrift: Der Gedanken- und der Schrägstrich besitzen nämlich nicht nur eine zugleich trennende und eine Einheit stiftende Funktion, sondern stellen ebenso die visuellen Entsprechungen jeweils eines der beiden Begriffe dar, wobei das Zeichen für Land diagonal gespiegelt erscheint. Nur so konnte es allerdings zugleich die Funktion als Interpunktionszeichen erfüllen und damit – in Analogie zum über ihn gesetzten Gedankenstrich – das Verhältnis von Meer und Land als ein hochgradig ambiges gestalten. Dass in der Inschrift das semantische Material mit den asemantischen Zeichen übereinstimmt, erweckt dabei den Eindruck, als sollten hier Meer und Land einander gegenübergestellt werden. Auch wenn dies auf den ersten Blick nicht ersichtlich ist, handelt es sich auch beim folgenden Beispiel um die Abbildung einer Sonnenuhr.1414 Auch sie befindet sich in einem Garten:

Abb. 205  Ian Hamilton Finlay, EARTH AIR FIRE WATER TIME (1976) [mit Keith Bailey] [Privater Garten, Yorkshire, England]

Dieses Mal handelt es sich um einen seltenen Typus, nämlich die so genannte anteboreum-Sonnenuhr. Zuerst verzeichnet und beschrieben ist diese in Vitruvs umfangreicher Schrift De Architectura libri decem (o. J.). Es handelt sich dabei um eine Halbkugel, die eine Öffnung aufweist. Fällt Licht durch diese Öffnung, zeigt dieses die Stunde an. Der Hauptunterschied zur gewöhnlichen Sonnenuhr besteht darin, dass hier anhand des direkten Sonnenlichtes und nicht anhand seines Schattens die Zeitbestimmung erfolgt. Finlays Sonnenuhr unterscheidet sich vor allem dadurch vom rar gewordenen Typus des anteboreum, dass die Halbkugel nicht frei steht, sondern in einen abgeschrägten Steinblock eingehauen ist. Das gibt ihm die Möglichkeit, der Halbkugel der Sonnenuhr eine Inschrift hinzuzufügen. Diese lautet folgendermaßen: „EARTH AIR FIRE WATER TIME“. Bei den ersten vier Begriffen handelt es sich dabei um die Komponenten der (ausführlich bei Empedokles erörterten) Vier-Elementen-Lehre. Nach dieser gab es vier 1414 Abgedruckt in Felix/Simig (1995), o. S.



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Grundelemente, und zwar Feuer, Wasser, Luft und Erde. Schon auf den ersten Blick fällt auf, dass Finlay die traditionelle Reihenfolge dieser Elemente verändert hat. Begründet mag diese variatio des tradierten Themas damit werden, dass so „Earth“ und „Water“ und somit Begriffe, die mit Land und Meer konnotiert werden, direkt übereinander erscheinen. Auf diese Weise kann Finlay das zwar – wie in der Analyse von The Canterbury Sundial hervorgehoben – ambige, aber nichtsdestoweniger enge Verhältnis beider graphisch abbilden. Nun reiht Finlay nicht nur die vier Begriffe der traditionellen Vier-ElementenLehre aneinander, sondern fügt diesen einen weiteren Begriff hinzu: „TIME“. Mit diesem Begriff benennt der Dichter in seinem dreidimensionalen Gedichtobjekt explizit die in der Sonnenuhr implizit enthaltene ,vierte‘ Dimension, nämlich die Zeit. Zu Recht wurde darauf hingewiesen, dass schon Empedokles die vier Elemente als untrennbar mit der Zeit verbunden gesehen hat: „Feuer und Wasser und Erde und die grenzenlose Höhe der Luft [...] sind gleich und genießen der Reihe nach den Vorzug im Laufe der Zeit.“1415 In poetologischer Hinsicht könnte der in Stein gemeißelte Begriff „TIME“ darüber hinaus die Durabilität von Dichtung bzw. ihren der irdischen Vergänglichkeit trotzenden Charakter hervorheben – nach dem Motto: „ars longa, vita brevis“. Somit verwiese Finlay nicht nur auf den die Zeit überdauernden Charakter des als Schreibuntergrund dienenden Steines, sondern zugleich der skripturalen Zeichen im Medium der Dichtung. Diese metapoetische Dimension ergibt sich dabei vor allem in Analogie zum von Horaz verkündeten „exegi monumentum aere perennius“1416. Das folgende intermediale Gedichtobjekt1417 stammt ebenfalls von Ian Hamilton Finlay und befindet sich in der Parkanlage des Alten Schlosses in Grevenbroich in Nordrhein-Westfalen. Es stellt eine der neun Gedichtobjekte dar, die Finlay für die im Jahre 1995 von der Stadt Grevenbroich ausgerichtete Landesgartenschau geschaffen hat:

Abb. 206  Ian Hamilton Finlay, ohne Titel (1995) [mit Peter Kellock und Richard Holliday] [Schlosspark, Grevenbroich, Deutschland]

1415 Empedokles, zitiert nach Felix/Simig (1995), o. S. 1416 Liber tertius, Ode 30, v. 1. In Horaz (1960), S. 176. 1417 Abgedruckt in Felix/Simig (1995), o. S.

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Die obige Abbildung zeigt eine Pyramide aus Stein, auf deren Frontfläche in einem Quadrat in der Mitte die durch einen Bindestrich verbundenen Zahlen 1774 und 1840 erscheinen. Der – zumindest in unserem Kulturkreis – daran gewöhnte Betrachter, maximal vierstellige Ziffernfolgen, die durch einen Strich verbunden sind, als die Angabe eines bestimmten Zeitraumes zu interpretieren, wird auch die Zahlen im vorliegenden Beispiel als Jahreszahlen deuten. Doch betrachten wir zunächst das die Pyramide bildende Material: Es handelt sich hierbei um einen hellen Stein – vielleicht Marmor. Bezeichnenderweise wurde Finlays Pyramide nicht aus einem Steinblock gefertigt, sondern besteht aus zahlreichen zurechtgehauenen Steinen. Wie in vielen Printgedichten aus der Zeit nach 1945 wird so auch in diesem Gedichtobjekt das Verfahren seiner Herstellung offen gelegt und dadurch für den Rezipienten nachvollziehbar. Kommen wir nun zur Inschrift zurück. Die beiden Jahreszahlen erinnern als subscriptiones auf einem steinernen Körper an die Angabe der Lebensdaten eines Verstorbenen auf einem Grabstein. Im Unterschied zu Finlays Steinpyramide erscheint auf einem Grabstein – bis auf wenige Ausnahmen – ebenfalls der Name des Verstorbenen, auf den sich das Geburts- und Sterbejahr beziehen. Genau diese essentielle Information gibt Finlay uns nicht und eröffnet somit einen scheinbar sehr großen und damit zugleich äußert subjektiv auszufüllenden Interpretationsspielraum. Was wohl kaum ein Betrachter der Pyramide spontan wissen dürfte, eine gezielte Suche im Internet jedoch schnell ans Licht bringt: Die Jahreszahlen 1774 und 1840 benennen Geburts- und Todesjahr Caspar David Friedrichs. Sein Name könnte daher derjenige sein, den der Betrachter auf der Pyramide über den genannten Lebensdaten vermisst. Dieser berühmte Maler der deutschen Früh-Aufklärung eignet sich ja insofern besonders gut als Adressat von Finlays Werk, als dass seine Bilder bevorzugt Natur- und Landschaftsdarstellungen zum Thema haben, wobei Caspar David Friedrich der Natur einen symbolischen Charakter zuschreibt. Dies könnte Finlay für die intendierte Rezeption seines Gedichtobjektes nutzen, denn ebenso wie die Natur in Caspar David Friedrichs Bildern eine über sich selbst hinausweisende Dimension besitzt, so weisen auch die Jahreszahlen auf der Pyramide über sich selbst hinaus. Das heißt, sie erschöpfen sich nicht darin, die Lebensdaten eines bekannten Malers darzustellen, sondern sie eröffnen ein weites Konnotationsfeld. Ein kleiner Ausschnitt aus diesem könnte folgendermaßen beschrieben werden: „Der Zeitraum 1774–1840 umfaßt das Leben von Coleridge, Fichte, Hegel, Hölderlin, Schelling, Schiller und der beiden Schlegels: das definiert eine Ära; ferner könnten wir noch zwei französische Revolutionen notieren: eine Tragödie und eine Farce.“1418 Daran könnte sich die Frage anschließen, ob es sich bei Finlays Gedichtobjekt um ein Denk- oder ein Mahnmal handelt. Gerade die Assoziation der Französischen Revolution und ihrer blutigen Folgen liegt dadurch nahe, dass der Pyramide traditionellerweise eine bedeutende Rolle im Totenkult zukommt. Finlays Steinpyramide könnte daher auch als Warnung aufgefasst werden, eine solch gewaltsame Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht noch einmal stattfinden zu lassen: „beide Daten [sind] in gewisser Weise mit dem Eindruck beladen, daß ein solches Zeitalter wieder heranbrechen könnte. Wie Nietzsche

1418 Felix/Simig (1995), o. S.



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sagt: wo es Gräber gibt, gibt es auch Auferstehungen.“1419 Dabei handelt es sich – wie bereits erläutert – um nur eine der zahlreichen möglichen Interpretationen von Finlays Steinpyramide im Schosspark Grevenbroich. Finlay hat nicht nur in öffentlichen Parkanlagen, sondern auch in Privatgärten gewirkt, wie das folgende Beispiel1420 belegt:

Abb. 207  Ian Hamilton Finlay, The Virgin Wood (1984) [mit Alexander Stoddart] [Villa Celle, Pistoia, Italien]

Das auf der obigen Abbildung gezeigte von Finlay gestaltete Gedichtobjekt findet sich im Olivenhain der Villa Celle in der Nähe der Stadt Pistoia in Italien. Es handelt sich um einen Korb mit Zitronen, die noch ihre Blätter tragen. Gefertigt ist es aus matter Bronze. Der Standort des Gedichtobjektes ist so gewählt, dass es sich ideal in die natürliche bzw. vom Menschen kultivierte Umgebung einfügt: Ebenso wie der Olivenhain repräsentiert der Korb Zitronen eine landwirtschaftliche Arbeit des Menschen, und zwar eine solche, die dem Mittelmeerraum seit Jahrtausenden eigen ist. Aus diesem Grund ließe sich der Korb Zitronen zu Recht als Konkretisierung der Agrikultur dieses geographischen Raumes beschreiben. Nicht nur in dieser Hinsicht eröffnet das Gedichtobjekt eine weit zurückreichende zeitliche Perspektive, sondern noch durch zwei weitere Aspekte. 1419 Felix/Simig (1995), o. S. 1420 Abgedruckt in Felix/Simig (1995), o. S.

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Erstens verweist das eingesetzte Material, nämlich Bronze, auf eine zeitliche Dimension, denn dieses Metall ist „gleichzeitig altertümlich und dauerhaft“1421. Zweitens ist der Korb Zitronen Teil mehrerer Gedichtobjekte, die Finlay für den Olivenhain der Villa Celle entworfen hat und die deutliche Anklänge an und starke intertextuelle Bezüge zu Vergils und Hesiods Schriften aufweisen. In diesem literarischen Kontext liegt es nahe, die Zitronen im Korb als Anspielung auf die von Vergil besungenen Zitronen zu interpretieren.1422 Bestärkt wird dies dadurch, dass Finlay in seinen poetischen Arbeiten dazu neigt, intertextuelle Bezüge zu antiken Autoren herzustellen.1423 Bezüge zur Literatur lassen sich auch in allgemeinerer Hinsicht auffinden, denn der fruchtgefüllte Korb erinnert an die Metapher der Lesefrüchte, die unter anderem im deutschen Barock Verwendung gefunden hat. Seinem bronzenen Zitronenkorb hat Finlay zwei Sentenzen eingeschrieben: „IL SILENZIO DOPO IL CHIACCHIERIO“ (oberer Korbrand) und „L’ASTRINGENZA È DOLCE“ (unterer Korbrand). Benennt der erste Ausspruch eine zentrale Eigenschaft des Olivenhains als räumlichen Kontext des Gedichtobjektes, nämlich die Stille, so ist der zweite einer Qualität der im Korb befindlichen Früchte, ihrem bittersüßen Geschmack, gewidmet. Der Begriff der Stille verweist zugleich auf den von Finlay erwünschten meditativen Charakter der Rezeption dieses Gedichtobjektes. Das folgende Gedicht1424 ergänzt das bereits analysierte CONCRetE.1425 Beide stammen aus Topels Sammlung CONCRETE (2010).

Abb. 208  andrew topel, ohne Titel (2010)

1421 Felix/Simig (1995), o. S. 1422 Vergil hat davon berichtet, dass die bittere Frucht mit dem unangenehmen Nachgeschmack ein wirksames Heilmittel gegen Vergiftungen sei, und zwar in den Versen 126 bis 130 des zweiten Buches der Georgica: „Medien trägt Pomeranzen voll saueren Saftes und langem/ Nachgeschmack, mit Heilkraft beglückt. Wenn wütende Hexen/ giftigen Trank einst gebraucht – sie mischten murmelnd und fluchend/ Kräuter und Sprüche dazu – dann hilft Pomeranze am besten,/ denn es vertreibt ihr Saft das schwarze Gift aus den Gliedern.“ Vergil (61995), S. 86. 1423 Vgl. Simig (2010), o. S. 1424 topel (2010), o. S. 1425 Vgl. hierzu S. 394 dieser Arbeit.



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Noch wesentlich stärker, als dies im im Kapitel zu den Letterngedichtobjekten präsentierten CONCRetE der Fall ist, tritt im vorliegenden Beispiel die Verbindung von Dichtung und Natur in den Vordergrund: Lettern – sowohl Majuskeln als auch Minuskeln – sind hier so angeordnet, dass sie aus Gras entstanden zu sein scheinen. Dabei handelt es sich nicht um Gras an einem beliebigen Ort, sondern gewissermaßen an der Schnittstelle zwischen Natur und Kultur, denn das betroffene Gras hat sich einen Weg durch Betonplatten gebahnt. Genau entlang der so entstandenen Risse befinden sich die meisten Lettern, die übrigens so verteilt sind, dass keine Wörter entstehen. Wörter oder gar Sätze scheinen hier ebenso gesprengt worden zu sein wie die abgebildeten Betonplatten. Im Folgenden soll der Blick auf eine weitere Gartendichtung gerichtet werden, die sich insofern von den bisherigen unterscheidet, als sie ein Printgedicht zur Vorlage hat. Es handelt sich daher um eine Form von Remediatisierung, allerdings eben nicht um eine digitale Remediatisierung, die  – wie bereits ausgeführt  – in der Dichtung nach 1945 häufig anzutreffen ist. In unserem Fall haben wir es nun mit der Transposition eines Printgedichtes in das Medium eines Gedichtobjektes zu tun, und zwar in zwei Schritten: erstens in die Form eines maßstabsgetreuen Modells und zweitens in das Gedichtobjekt im Garten. Hier zunächst die Printversion1426:

Abb. 209  Fernando Aguiar, Soneto Ecológico (1985)

Wie auf den ersten Blick ersichtlich ist, handelt es sich um ein Sonett, das (mehr oder weniger) traditionellen Mustern folgend gestaltet ist  – vorausgesetzt natürlich, man erkennt die Baumpiktogramme als Substitute für skripturale Zeichen an: Unter dieser Bedingung weist das Soneto Ecológico das Reimschema abab cdcd efe fef auf. Somit zählt es – nach der tradierten Sonettklassifikation – zu den so genannten sonnets licencieux, die im zweiten Quartett zwei neue Reime besitzen. Außerdem hat Aguiar die Einteilung in zwei Quartette und zwei Terzette gewahrt, und man könnte die Füllung jedes Verses 1426 Aguiar (1985) [Internet].

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mit fünf Bäumen als eine Anspielung auf eines der Traditionsmetren des Sonetts (vers commun, endecasillabo, endecasílabo, iambic pentameter etc.) interpretieren. Wie schon vorweggenommen, diente dieses Sonett als Vorlage für die Gestaltung eines intermedialen Gedichtobjektes innerhalb einer Grünanlage. Den ersten Schritt auf dem Weg zur Transposition des Soneto Ecológico in Gartenpoesie stellte das folgende maßstabsgetreue Modell1427 dar:

Abb. 210  Modell der intermedialen Variante des Soneto Ecológico (2005)

Abgeschlossen werden konnte das Projekt der Transposition des Sonetts in ein Gedichtobjekt einer Grünanlage im Jahre 2007. Die feierliche Inauguration fand am 21. März dieses Jahres statt. Bemerkenswert ist dabei, dass dieses intermediale Sonett überhaupt erst die entsprechende Grünanlage generiert hat, denn nur die Fläche des Sonetts bildet diese Anlage. Mit anderen Worten: Das sonettistische Gedichtobjekt befindet sich  – streng genommen – nicht in einem Garten oder Park, sondern es bildet überhaupt erst diese Grünlandschaft. In jedem Fall konnte das Soneto Ecológico in dieser Form der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, und zwar unter Beteiligung der breiten Öffentlichkeit, denn eingepflanzt wurden die Bäume von zahlreichen Helfern. Hier hat der Begriff des aktiven Lesers eine völlig neue Bedeutungsdimension angenommen: Der Rezeption geht mehr oder weniger harte körperliche Arbeit voraus, um überhaupt erst die Bedingungen für die Möglichkeit des Entstehens des Gedichtes zu schaffen. Der Vorgabe des ursprünglichen Soneto Ecológico folgend, besteht das intermediale Gartengedicht(objekt) aus 14 x 5 Bäumen, also insgesamt 70 Bäumen. Die traditionelle Unterteilung der 14 Verse des Sonetts in zwei Quartette und zwei Terzette wurde dadurch visuell wiedergegeben, dass es sich um vier rechteckige Rasenstücke handelt, die durch kleine Wege, an deren Rändern sich Bänke befinden, die zum Verweilen einladen, voneinander abgetrennt wurden und deren einzelne Längen das sonetttypische Verhältnis 4 : 3 aufweisen. In einem Kommentar hat Aguiar sein Soneto Ecológico folgendermaßen beschrieben: Éste es un poema ambiental constituido por 70 árboles dispuestos en 14 filas de cinco árboles cada una, configurando la estructura de un soneto. Y con la ‘rima’ dada por el género de los 1427 Abbildung in Espinosa (2007) [Internet].



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árboles. El SONETO ECOLÓGICO, que es también un parque junto a un nuevo barrio residencial, en Matosinhos, una ciudad en el norte de Portugal, tiene 110 metros de fondo por 36 metros de ancho, y es un soneto vivo, que respira y crece permanentemente, y que se va modificando visualmente de acuerdo a las estaciones del año.1428

Den zuletzt von Aguiar genannten Aspekt gilt es näher auszuführen: Zumal dieses Gartengedicht aus lebendigen Organismen,1429 nämlich Bäumen, gebildet wird, ist es einem stetigen Wandel unterzogen. Im Gegensatz zu allen bisherigen intermedialen Gedichtbeispielen dieses Kapitels besitzt es keine definitive Gestalt, sondern es gibt immer nur eine Gestalt zu einem bestimmten Moment. Hier sind die Dichtung und die Natur die innigste mögliche Verbindung miteinander eingegangen, denn beide hängen existenziell voneinander ab: Einerseits wird die natürliche Umgebung erst durch das Gedichtobjekt gebildet, und andererseits hängt dieses vollkommen von der (jahreszeitlichen) Entwicklung der beteiligten Bäume  – in Abhängigkeit von den jeweiligen Umweltbedingungen – ab. Damit ist es nicht der Dichter, der letztendlich die Form seines poetischen Werkes bestimmt. Die hier vorgeführte enge Verbindung zwischen Dichtung und Natur wirft die Frage auf, inwieweit Dichtung eine aktive Rolle im Umweltschutz einnehmen könnte. Auf eine entsprechende Frage hat Aguiar in einem Interview aus dem Jahre 2007 folgende Antwort gegeben: Si el arte sirve para cualquier cosa (hay un poeta brasileño que afirma que la poesía –felizmente– no sirve para nada), será para alertar conciencia, tanto sobre los problemas sociales como para las cuestiones ambientales y ecológicas. Hay innumerables y gravísimos problemas sociales, y las cuestiones relacionadas con nuestro eco-sistema no paran de agravarse y ya comenzamos a sentir eso en la piel, con la alteración del clima en todo el mundo, con el aumento de la sequía en unos países y de las inundaciones en otros. Infelizmente, todo eso se tiende a agravar, con el progresivo deshielo de los polos que acontece cada vez más rápidamente. Si ni el arte ni la literatura pueden resolver esos problemas, al menos pueden ayudar a despertar las conciencias y hacer que la opinión pública internacional presione cada vez más a los políticos de todo el mundo – que están siempre más preocupados con otras cuestiones – a enfrentar estos problemas y a tener el coraje de resolverlos, o por lo menos de minimizarlos.

Erneut zeigt sich, dass auch intermediale Dichtung nach 1945 Zwecken dienen und Absichten verfolgen kann, die außerhalb ihrer selbst bzw. außerhalb des Bereiches der Sprache und Schrift liegen. Im vorliegenden Fall kann sie zumindest versuchen, ein allgemeines ökologisches Bewusstsein zu fördern. Aus diesem Grund befinden sich in der poetischen Grünanlage in Matosinhos Tafeln, welche die das sonettistische Gartengedicht bildenden Bäume erklären. 1428 Interview mit Fernando Aguiar im November 2007. Espinosa (2007) [Internet]. Vgl. Dencker (2011), S. 820. 1429 Aguiar hat hier ein Beispiel der von Eduardo Kac entworfenen Biopoetry geliefert. Vgl. Kac (2004).

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Schrift und Natur finden wir aufs Engste in Josef Bauers ,Baumgedicht‘1430 miteinander verbunden. Die Bezeichnung ,Baumgedicht‘ ist im vorliegenden Fall in zweifacher Hinsicht angebracht: Erstens hat Bauer die vier Majuskeln B, A, U, M so angeordnet, dass der Begriff ,Baum‘ entsteht, und zweitens sind diese Lettern auf einem tatsächlichen Baum angebracht. Das skripturale Material benennt damit seinen ,Schreibuntergrund‘:

Abb. 211  Josef Bauer, ohne Titel (o. J.)

Die Wahl eines Baumes als Schreibuntergrund zeigt gewisse Anklänge an traditionelle Dichtung, die auf Papier realisiert ist, denn schließlich wird dieses aus Holz produziert. Jedoch steht das vorliegende Beispiel den Charakteristika traditioneller Dichtung in der wesentlichen Hinsicht entgegen, dass die konventionelle Schreib- und damit zugleich die – zumindest im Kulturkreis, dem der Dichter entstammt – konventionalisierte Leserichtung von links nach rechts und von oben nach unten zu einer vertikalen Anordnung von Buchstaben umgestaltet ist, die darüber hinaus von unten nach oben zu lesen sind. Die hier zu leistende Blickrichtung des Lesers ähnelt stark derjenigen des Betrachters eines Baumes, die sich vom wurzelnahen Stamm bis zur Baumkrone bewegt. Zumal Bauer dem Rezipienten seines Werkes die Idee eines ,Baumes‘ nicht nur in Form des Objektes ,Baum‘ vor Augen führt, sondern auch durch die Präsentation der entsprechenden begrifflichen Entsprechung, könnte man sich an eine Passage aus Pierre Garniers Manifeste pour une poésie nouvelle, visuelle et phonique (1962) erinnert fühlen: „Le mot est la partie visible de l’idée comme le tronc et le feuillage sont les parties visibles de l’arbre. Les racines, les idées vivent en dessous.“1431

1430 Abgedruckt in Sauerbier (1980), S. 39. 1431 Garnier (1968), S. 133.



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Im folgenden Beispiel1432 besteht ebenfalls eine enge Verbindung zwischen skripturalen Zeichen und einem Baum, allerdings ist dieses skripturale Material nicht zu einem Begriff formiert, sondern im vorbegrifflichen Zustand der Einzelletter belassen.

Abb. 212  Ernst Buchwalder, ohne Titel (o. J.)

Gegenstände an einen Baum zu hängen, kennen wir vor allem in Form des vorweihnachtlichen Brauches des Christbaumschmückens, nur dass es sich bei den dort eingesetzten Gegenständen um mannigfaltigen Christbaumschmuck und keine Buchstaben und beim geschmückten Baum traditionellerweise um eine Tanne und keinen Laubbaum handelt. Gerade dadurch gestattet der vorliegende ,Letterngedichtobjekt-Baum‘ jedoch die Assoziation mit zwei biblischen Bäumen, die sich im Paradies befinden sollen, nämlich dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse und dem Baum des Lebens (Gen.). Insofern ließe sich für die Interpretation ein philosophischer Horizont eröffnen: Es könnte hier die Frage thematisiert sein, ob Schrift und darüber hinaus Sprache im Allgemeinen eine Wahrheitsfunktion zugeordnet werden kann. Dies legitimierte dann die Assoziation mit dem biblischen Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Analog lässt sich für die Assoziation mit dem Baum des Lebens festhalten, dass Buchwalder mit dem 1432 Abgedruckt in Sauerbier (1980), S. 40.

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vorliegenden naturhaften Gedichtobjekt die Annahme zur Disposition stellen könnte, dass die Wirklichkeit durch Sprache erzeugt werde.1433 Unter Berücksichtigung des sprachphilosophischen Gehaltes, den viele der nach 1945 produzierten intermedialen Gedichte aufweisen, ist dies eine denkbare Interpretation. In beiden Fällen – dem Baum der Erkenntnis und dem Baum des Lebens – handelte es sich um die sinnliche Präsentation einer sprachtheoretischen Fragestellung. Dass die Wahl im vorliegenden Fall auf einen Laubbaum gefallen ist, mag darin begründet liegen, dass dieser den Vorteil bietet, die objekthafte Materialität der Buchstaben viel stärker betonen zu können, als dies mit einem Nadelbaum möglich wäre. Der Grund besteht darin, dass die am Laubbaum angebrachten Buchstaben offensichtlich seine Blätter ersetzen bzw. ergänzen, denn der Baum besitzt ja auch diese. Buchwalder spielt hier zweifelsohne auf die Ambiguität des Begriffes ,Blatt‘ an, nämlich als Blatt eines Baumes und als Papierblatt. Diese Ambiguität finden wir in mehreren intermedialen Gedichten aus der Zeit nach 1945 in Szene gesetzt, und zwar aus dem Grund, dass durch sie relativ leicht eine Verbindung zwischen den Bereichen ,Dichtung‘ und ,Natur‘ gestiftet werden kann.1434 Das in der Dichtung nach 1945 geradezu charakteristische Merkmal der Reduktion des Zeichenbestandes auf ein Minimum ist im vorliegenden Beispiel dadurch in gewissem Sinne hintergangen, dass Buchwalder sowohl Minuskeln als auch Majuskeln präsentiert. Als reduktionistisch erweist es sich jedoch insofern, als wir keine Begriffe oder andere semantisierte Zeichenkomplexe, wie beispielsweise populäre Akronyme, vorfinden. Betrachten wir nun ein Beispiel1435 von Timm Ulrichs für die poetische und intermediale Verknüpfung von Dichtung und Natur. Dieses findet sich zwar in keinem Garten, aber dennoch in einer vom Menschen gestalteten Kunstlandschaft par excellence, nämlich auf einem Friedhof. Weitere Beispiele für intermediale Friedhofs-Dichtung hat vor allem Ian Hamilton Finlay produziert. Halten wir zunächst den wesentlichen Unterschied zwischen einem handelsüblichen Grabstein und Timm Ulrichs Kunstgrabstein fest: Unter dem Namen erscheint im vorliegenden Beispiel lediglich ein Datum, nämlich Timm Ulrichs’ Geburtsdatum, jedoch mit einem Kreuz davor, während normalerweise vor dem Geburtsdatum ein Sternchen und vor dem Todesdatum ein Kreuz steht. Stellen wir dazu zunächst einige Überlegungen zum Ort des Gedichtobjektes an. Wie gesagt, es befindet sich auf einem Friedhof. Warum ein solcher sich besonders gut als Ort für Dichtungen – und Kunst im Allgemeinen – eignet, hat Timm Ulrichs im folgenden Selbstkommentar explizit thematisiert:

1433 Vgl. hierzu beispielsweise Paul Watzlawicks Wie wirklich ist die Wirklichkeit – Wahn, Täuschung, Verstehen (1976). 1434 Auf die Bedeutung dieser Verbindung in der Dichtung nach 1945 wurde vor allem zu Beginn des vorliegenden Kapitels bereits ausführlich hingewiesen. 1435 Abgedruckt in Sauerbier (1980), S. 188.



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Abb. 213  Timm Ulrichs, Grabstein „Denken Sie immer daran, mich zu vergessen, Timm Ulrichs“ (1969)

zum guten Ton gehört auch heute noch in den Hallen der Kunst ein ‚angemessenes‘, zurückhaltendes Verhalten, ein allenfalls gedämpftes Sprechen oder besser nur Flüstern – gerade so, wie es auf Friedhöfen zur Pflicht wird. Kurz: Angesichts von Gräbern verhält man sich so, wie man sich’s als Künstler vor seinen Arbeiten nur wünschen kann. ‚Denkmals-Kunst‘: dieser Begriff erscheint, so gesehen, durchaus als pleonastisch.1436

Durch das Kreuz vor seinem Geburtsdatum drückt Ulrichs diesen Umstand piktural auf humorvoll-ironische Weise aus. Zur Ähnlichkeit der Haltung eines Kunstbetrachters und eines Friedhofbesuchers kommt eine Parallele zwischen der Dichtung und einem Grabstein, und zwar durch einen auf der Hand liegenden intertextuellen Verweis. Werden die Begriffe ,Dichtung‘ und ,Stein‘ in Verbindung miteinander gebracht, dann ist der horazische Topos vom „monumentum aere perennius“1437 nicht weit. Damit wären wir beim – vor allem auch in der Dichtung der Frühen Neuzeit beliebten – Motiv des zeitüberdauernden Charakters der Kunst, welcher der Vergänglichkeit alles Irdischen konträr gegenübersteht und sich gerade aus dem auf diese zurückgehenden vanitas-Be1436 Ulrichs (1980), S. 189. 1437 Horaz (1960), Carminum liber III, 30, S. 176.

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wusstsein ergibt. Egal, ob Pierre de Ronsard, William Shakespeare oder Lope de Vega, alle großen und auch viele der kleinen Dichter der Frühen Neuzeit hatten die erklärte Absicht, sich durch ihre Gedichte zu verewigen – frei nach dem Motto: „ars longa, vita brevis“. Dass ein Dichter sich zu Lebzeiten selbst einen Nachruf oder eben eine Grabinschrift verfasst, kennen wir beispielsweise von Paul Fleming (Herrn Pauli Flemingi der Med. Doct. Grabschrift, so er ihm selbst gemacht in Hamburg, den XXIIX. Tag des Merzen MDCXL auf seinem Todbette, drei Tage vor seinem seligen Absterben) und François Villon (Le grand testament, 1459). Originell ist Timm Ulrichs poetischer Grabstein insofern, als er sich durch die Wahl einer humorvollen Inschrift „über den Ernst des Lebens und den Todernst des Todes [...]“1438 hinwegsetzt. Schließlich drückt auch die in sich widersprüchliche Aufforderung an den Betrachter „Denken Sie immer daran, mich zu vergessen!“ das Bestreben, der Vergänglichkeit zu entgehen, in humorvoll-ironischer Weise aus. Davon, dass die (intermediale) Dichtung nach 1945 prinzipiell als eine solche konzipiert ist, die sich an die breite Öffentlichkeit richtet, zeugt das nun zu erläuternde Beispiel – ebenso wie das Soneto Ecológico – in besonderem Maße. Dieses Gedichtobjekt findet sich zwar nicht in einem Garten oder Park, aber dennoch in einem vom Menschen kultivierten Teil der Natur, nämlich auf dem Rundweg um einen See. Die Rede ist von Eugen Gomringers Stundenbuch (1965),1439 das seit dem Jahr 2004 als Inschrift von 14 Marmorstelen das Gebiet um den Weißenstädter See (Fichtelgebirge) ziert.1440 Wir haben es hier mit einer und zugleich der umfangreichsten Transposition des Stundenbuches zu tun, das mittlerweile in sechs Sprachen, darunter auch Kanji, und auch in die CodeSchrift ,übersetzt‘ wurde.1441 Diese dritte Transposition ist deshalb die umfangreichste, weil sie das Stundenbuch zum Gedichtobjekt transformiert hat, während die beiden anderen Transpositionen – wie der Ausgangstext – der Papierfläche verhaften geblieben sind. Mit den Gedicht-Stelen ist der Dichter Konkreter Poesie tatsächlich an der Gestaltung der Alltagswelt beteiligt, wie es Eugen Gomringer im Jahre 1969 in Poesie als Mittel der Umweltgestaltung gefordert hat.1442 Dass die Stadt Weißensee auf ihrer Homepage mit dem Slogan „Poesie um den See“ wirbt, belegt die Publikumswirksamkeit von Dichtung ebenso wie der Eintrag, der im Artikel zum Weißenstädter See auf Wikipedia1443 nachzulesen ist und der direkt auf denjenigen zu seiner touristischen Nutzung folgt. Auf der Homepage des Kulturatlas Oberfranken heißt es über das Projekt: 1438 Ulrichs (1980), S. 191. 1439 gomringer (1969b), S. 215–273. 1440 Am 10. Juli 2004 wurde die letzte Stele eingeweiht. 1441 Das Stundenbuch in Kanji- und Code-Schrift ist aus der Zusammenarbeit von Eugen Gomringer und Josef Linschinger hervorgegangen. gomringer/linschinger (2005). 1442 Vgl. besonders Gomringer (1969a), S. 12. 1443 Der entsprechende Artikel auf Wikipedia lautet wie folgt: „Ein 3,8 Kilometer langer geteerter Poesiepfad umrundet den See. Vierzehn Stelen aus den verschiedenen Gesteinsarten des Fichtelgebirges mit eingemeißelten Gedichten säumen seit dem Jahr 2004 den Rundweg. Auf den Stelen befinden sich Texte aus dem Stundenbuch von Eugen Gomringer, die mit ihrer konkreten Poesie einen Stationenweg bilden, der zur Meditation einlädt.

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Auch Willi Seiler, ehemaliger Lehrer an der Staatlichen Fachschule für Steinbearbeitung in Wunsiedel, hat den Granit für viele seiner Werke bearbeitet. Angetan von den Gedichten Eugen Gomringers, des Begründers der Konkreten Poesie, hat Seiler einige davon in Granit ausgeführt und in Ausstellungen gezeigt. Aber erst 1999 mit der Förderung durch die Laura und Franz Leupoldt-Stiftung sowie mit Hilfe weiterer Stifter konnte Seiler die Realisierung seiner Idee ‚Stelen am Weißenstädter See‘ Schritt für Schritt in die Tat umsetzen: Auf 14 hohen Granitstelen, die in unterschiedlichen Abständen am Ufer des Weißenstädter Sees aufgestellt sind, wurde ein außergewöhnliches Gedichtbuch von Eugen Gomringer – Das Stundenbuch – verewigt.1444

Durch die zahlreichen Hinweise – auch an prominenter Stelle – im Internet präsentiert sich das Projekt der Poesie um den See als ein internationales, das potenziell allen über einen Internetanschluss verfügenden Menschen zugänglich ist. Das Internet richtet sich als eines der immateriellen Symbole der Globalität ja per se an die Weltöffentlichkeit. Da verwundert es dann auch wenig, dass das Projekt von zahlreichen lokalen Unternehmern und einer Stiftung (Laura und Franz Leupoldt-Stiftung Weißenstadt), die selbstverständlich alle an jeder möglichen Stelle genannt werden, gefördert wurde. Die 14 Stelen wurden aus zehn unterschiedlichen Gesteinsarten (Kösseine-Granit, Waldstein-Granit, Wunsiedler-Marmor, Redwitzit, Zufurt-Granit, Epprechtstein-Granit, Fuchsbau-Granit, Reinersreuther-Granit, Selber-Granit und Ochsenkopf-Lamprophyr) gefertigt. Das jeweils eingesetzte Gestein wird auf jeder Stele namentlich genannt. Versteht sich die Konkrete Poesie als eine solche, die die Materialität des eingesetzten Zeichenmaterials hervorhebt, so gilt dies im vorliegenden Fall auch in der Hinsicht, dass die Stelen aus verschiedenen Gesteinsarten ein Bewusstsein für die bedeutende Rolle des Fichtelgebirges in der Steingewinnung und -verarbeitung vermitteln. Insofern erfüllen sie auch eine regionalpatriotische Funktion.

Entsprechend den 24 Stunden eines Tages setzt sich das Stundenbuch von Eugen Gomringer aus 24 Wörtern und dem Gegensatzpaar dein – mein zusammen. Die 22. Stunde enthält zum Beispiel den folgenden Text: DEIN SCHWEIGEN MEIN GEDICHT DEIN SCHWEIGEN MEIN TRAUM DEIN SCHWEIGEN MEINE STUNDE

Die Finanzierung übernahmen Sponsoren sowie die Laura-und-Franz-Leopold [sic.]-Stiftung Weißenstadt, die Stelen gestaltete Willi Seiler aus Wunsiedel, und die Natursteinarbeiten führte das Granitwerk Ludwig Popp aus Schurbach aus.“ Nachzulesen unter folgendem Link: http://de.wikipedia.org/ wiki/Wei%C3%9Fenst%C3%A4dter_See#Das_Stundenbuch_von_ Eugen_Gomringer [zugegriffen am 20.02.2011]. 1444 http://www.kulturatlas-oberfranken.de/xist4c/web/Poesie-um-den-See_id_1187_.htm [zugegriffen am 18.02.2011].

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Der Titelbegriff ,Stundenbuch‘ ruft die Tradition des Gebets- und Andachtsbuches für das Stundengebet in der Katholischen Kirche auf. Früheste Beispiele dieser Gattung stammen bereits aus dem 13. Jahrhundert. Dadurch, dass Gomringer seine Gedichte in die Tradition des geistlichen Stundenbuches stellt, kommt er einem zentralen Aspekt seiner Poetologie nach, nämlich der angestrebten Annäherung der beiden Bereiche Dichtung und Leben: „durch den Begriff des Stundenbuches [werden] die vorliegenden Texte [scil. Eugen Gomringers Stundenbuch; B.N.] hinübergeführt [...] in einen gewissen Gebrauchswert für das tägliche Leben.“1445 Das Konzept des Stundenbuches in Gomringers Gedichten variiert insofern die katholische Tradition, als es aus dem rein religiösen Anwendungsfeld des traditionellen Stundenbuches gelöst präsentiert wird. Nichtsdestoweniger sollen sie zur Meditation einladen und anregen. Dieser Aspekt wird dabei dadurch erheblich verstärkt, dass die 14 Stelen mit Gomringers Stundenbuch nicht an einer Stelle um den See gruppiert sind, sondern mit einigem Abstand voneinander, der vornehmlich dazu genutzt werden könnte, sich das gerade Gelesene meditativ nochmals zu vergegenwärtigen, bevor man sich der nächsten Stele und damit dem nächsten Text aus dem Stundenbuch nähert. Auf diese Weise bilden die 14 Stelen „einen Stationenweg, der zur Meditation einlädt“1446 – dies gleichsam auch deshalb, weil sich die Stelen harmonisch in das Gesamtbild ihrer natürlichen Umgebung einfügen, wie die folgende Abbildung1447 zeigt:

Abb. 214

Durch ihre Präsentation auf den Stelen um den Weißenstädter See wird der in den Printgedichten des Stundenbuches angelegte meditative Charakter in den Raum verlagert. Die Stelen können die Meditation insofern unterstützen, als sie auf den den Rundweg 1445 Gössmann (2006), o. S. 1446 Gomringer (2006), o. S. 1447 Gomringer (2006), o. S.



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abschreitenden Leser eine ähnliche Wirkung wie Gedenktafeln ausüben können. So erfüllten sie dann eine Art materieller Erinnerung zum aktiven Innehalten.

4.8 Ausblick: Von der Raumpoesie zur Poesie im digitalen Raum1448 4.8.1 Vorbemerkung Geht es, so wie im vorliegenden Kapitel, um intermediale Dichtungen im Raum, so darf abschließend ein Aspekt nicht unerwähnt bleiben: Neben dem hier schon erläuterten Phänomen der Dichtung im physikalischen Raum und den bereits im vorigen Kapitel thematisierten Gedichten im akustischen Raum kann auch der digitale Raum für die Produktion, Präsentation und Rezeption intermedialer Gedichte genutzt werden.1449 Der primäre kulturgeschichtliche Kontext für diesen Bereich intermedialer Gedichte ist der allgemeine „Aufbruch in die Welt der Hypermedien“1450, der sich spätestens seit den 1990er Jahren verstärkt vollzieht. Die Bedeutung des Raumes im Bereich der digitalen Dichtung hebt schon der erste Satz in Glaziers Manifesto for Digital Poetics (2002) hervor: „Poetry has entered the electronic space.“1451 Die Vorteile, die der digitale Raum der Dichtung bietet, hat neben anderen der argentinische Dichter Ladislao Pablo Györi reflektiert: El mundo digital (computarizado, por lo tanto sintético), que difiere profundamente de cual­ quier realización física, real o analógica, excediendo las limitaciones de éstas y las categorías habituales de la experiencia, basa su preeminencia en el carácter matemático o numérico de los elementos que acoge y en la posibilidad de fijar abiertamente correlaciones entre el espacio, los objetos y sujetos virtuales, como jamás lo ha permitido ningún otro medio.1452

In unserem Kontext beinhaltet der Raumbegriff zwei unterschiedliche Aspekte, die beide von einem spatial turn zeugen und miteinander kombiniert werden können, aber nicht müssen: erstens das Internet als cyberspace und zweitens den mithilfe von Virtual Reality Systems (VR Systems) simulierten Raum. Hinsichtlich der Kombination beider Aspekte lassen sich länderspezifische Unterschiede feststellen: Während in den USA oder in Frankreich die computerbasierte Kunst und Literatur sich zunächst unabhängig vom Internet entwickelte, hat in Deutschland erst mit der Entstehung des

1448 Ich verwende in diesem Kontext im Gegensatz zu anderen – wie z.B. Heilbach (2004) – das Adjektiv ,digital‘ statt ,elektronisch‘. 1449 Zu den ,Raummetaphern‘ für das Internet (v.a. cyberspace, digitale Stadt, telepolis, globales Dorf ) vgl. Scholler (2011). 1450 Bolz (32008), S. 201. 1451 Glazier (2002), S. 31. 1452 Györi (1995), S. 128. Hervorhebungen vom Autor.

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WWW eine breitere Akzeptanz des Computers als ästhetisches Medium eingesetzt. Heute spielen sich die meisten deutschsprachigen computerbasierten Aktivitäten im Netz ab.1453

Die digitale Dichtung ist insofern ein Kind ihrer Zeit, als sie zunächst und vor allem ein Ergebnis jener medialen Revolution ist, die sich verstärkt etwa seit Beginn der 1970er Jahre vollzogen und das Ende der von Marshall McLuhan attestierten Gutenberg-Galaxie1454 bestätigt hat: Während Verlage über Absatzschwierigkeiten der ohnehin nur geringen Auflagen für Poesie klagen, erfreuen sich CD- und DVD-Produktionen, Poetryfilme und vor allem Liveauftritte von Dichterinnen und Dichtern wachsender Beliebtheit und erreichen an einem Abend nicht selten mehr Rezipienten, als ein Lyrikband Käufer findet. Vor unseren Augen vollzieht sich im Bereich der Poesie ein medialer Ausdifferenzierungsprozess, der nicht nur die Produktionsformen von Lyrik verändert, sondern auch deren mediale An- und Einbindung.1455

In besonderem Maße lässt sich in diesem Bereich die prinzipielle Medienabhängigkeit von Poesie nachweisen. Im Hintergrund einer jeden Untersuchung zu computergenerierter Dichtung steht die Einsicht, dass „[d]ie Technisierung des Wortes […] zu Veränderungen im Denken – und Dichten“1456 und damit zugleich zu anderen Rezeptionsmodi führt. Hierauf wird vor allem im Kapitel zur hypertextuellen Dichtung zurückzukommen sein. Digitale Poesie steht nicht nur für den Aspekt der Medienabhängigkeit von Dichtung, sondern auch für jenen der Medienreflexion, den in einem unterschiedlichen Grade alle im Rahmen der vorliegenden Untersuchung analysierten Gedichte und Gedichttypen aufweisen. Digitale Dichtung ist immer auch eine Dichtung, die sich in impliziter oder expliziter Form mit den poetischen Möglichkeiten des Kommunikationsmediums Computer auseinandersetzt.1457 Ein weiteres allgemeines Merkmal, das auf alle Repräsentanten der digitalen Dichtung – mögen diese auch noch so unterschiedlich sein – zutrifft, ist an dieser Stelle erwähnenswert: Die digitale Dichtung vereint – im Unterschied zu allen in den vorangehenden Kapiteln erläuterten Beispielen analoger intermedialer Dichtungen  – die von Charles Percy Snow in den 1950er Jahren beschworenen zwei Kulturen:1458 „literature appears within the program of experiment as a part of the technically and medially coined world which is at the same time recursively observed from a literary angle.“1459 Erstmals konnte die Zusammenführung der zwei Kulturen im Bereich der computergenerierten 1453 Block/Heibach/Wenz (2004), S. 18. 1454 Vgl. The Gutenberg Galaxy: The Making of Typographic Man (1962). McLuhan war übrigens ein großer Anhänger des Computers, zumal dieser für ihn eine Art Universalmedium war, das alle anderen Medien in sich aufnehmen kann. Insofern stellte der Computer für McLuhan die perfekte Ausweitung der menschlichen Sinne dar. Vgl. hierzu beispielsweise Laws of Media (1988). 1455 Wohlfahrt (2004), S. 6. 1456 Scholler (2010), S. 382. 1457 Vgl. Heibach (2001), S. 191 1458 Vgl. The Two Cultures And a Second Look (1963). 1459 Block (2007), S. 241.



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Dichtung im Jahre 1959 erzielt werden, als der Großrechner Zuse Z 22 stochastische Texte produziert hat.1460 Hier wurde die technische Maschine – in diesem Fall der Computer – nicht nur als Speichermedium eingesetzt, sondern als Produzent des Gedichtes, der dieses nach bestimmten Regeln erschafft. Nicht zufällig sind die ersten Beispiele für die digitale Dichtung auf die Steuerung aleatorischer Verfahren zurückzuführen, sondern vielmehr deshalb, weil diese den „Anschluss an traditionelle Lyrikkonzepte“1461 vor allem der Avantgarde ermöglichte. Es sei an dieser Stelle kurz an das erinnert, was wir bereits bei den digitalen Remediatisierungen feststellen konnten: Erst durch das digitale Medium können die beiden Aspekte ,Raum‘ und ,Zeit‘ sinnkonstitutiv eingesetzt werden. In diesem Sinne lautet die sechste von Friedrich W. Blocks Acht poetologischen Thesen zur digitalen Poesie (2001) wie folgt: „Digitale Poesie erweitert das Spektrum der poetischen Gestaltung von Raum und Zeit.“1462 Wie eingangs ausgeführt, meint der Begriff ,Raum‘ sowohl den digitalen oder auch virtuellen Raum als auch den cyberspace. Die Aufnahme der digitalen Poesie in eine Untersuchung zur intermedialen Dichtung nach 1945 lässt sich schon dadurch legitimieren, dass durch die Verwendung eines Binärcodes im Computer prinzipiell alle visuell zu rezipierenden Zeichen – also auch alle skripturalen Zeichen – einen pikturalen Charakter besitzen, wenn auch zu einem unterschiedlichen Grad. Für Scholler stellt die Plurimedialität eines der kennzeichnenden Merkmale digitaler Dichtung dar.1463 Hinzu kommt, dass mittels des Computers Verfahren der intermedialen Dichtungsformen, die in den vorangehenden Kapiteln erläutert wurden, intensiviert und perfektioniert werden konnten. Digitale Dichtung ist ein hochgradig intermediales Phänomen. Im visuellen Bereich ist es noch weniger als bei entsprechenden Printgedichten zu entscheiden, ob es sich um Dichtung oder bildende Kunst handelt:1464 Computerpoesie hat die bereits in der Druckdichtung auftretende Vermischung und Verschmelzung von unterschiedlichen Zeichensystemen übernommen und potenziert. Typographischen Texten auf physikalischen Trägermedien wie Papier oder Leinwand konnte […] nur durch die Einführung zusätzlicher Zeichen (z.B. Pfeile) oder durch eine spezielle räumliche Verteilung der Buchstaben Dynamik verliehen werden […]. Im Computer dagegen kann der Buchstabe direkt bewegt werden, über die Bildfläche wandern, sich vom graphischen Buchstaben zum Bild verwandeln und wieder zurück transformieren, sich auflösen oder nachträglich erst erscheinen, seine Geschwindigkeit verlangsamen oder zur Unleserlichkeit beschleunigen.1465

1460 Theo Lutz, Stochastische Texte (1959). Vgl. hierzu Schaffner (2006), S. 9 [Internet]. 1461 Reither (2003), S. 83. 1462 Block (2001) [Internet]. 1463 Vgl. Scholler (2010), S. 404. 1464 Vgl. Block/Heibach/Wenz (2004), S. 20: „Eine klare Entscheidung, ob es sich bei digitaler Poesie nun im traditionellen Sinn um Literatur oder um bildende Kunst handelt, lässt sich [...] kaum treffen und wäre ästhetisch auch kein Gewinn.“ 1465 Reither (2003), S. 225f.

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Digitale Dichtung lässt sich auch mit dem Begriff New Media Poetry fassen.1466 Diese hat Block umfangreich mithilfe der folgenden sechs Kriterien beschrieben, die diese Art der Dichtung von früheren (auch intermedialen) Dichtungsformen unterscheiden, und zwar sowohl hinsichtlich der spezifischen Produktions- und Präsentations- als auch der Rezeptionsmodi: –  The mechanical, algorithmic generation of texts (supporting or complete) –  Electronic linkage (in the computer, on Intranet or Internet) of fragments and files of the same or also different media types –  Multi- or non-linearity of both text structure and individual reading matter derived from the electronic linkage –  Multimediality and animation of texts in the broadest sense if required –  Interactivity as a ‘dialog’ between machine (hard and software) and user as a (dependent on the programming) reversible or irreversible intervention into the display or database text, as a telematic communication between different protagonists on the computer network –  The shift or even de-differentiation of traditional action roles such as author, reader, editor.1467

Ebenso wie alle bisher untersuchten prinzipiellen intermedialen Dichtungsarten weist auch die digitale Dichtung ein großes Spektrum an konkreten Erscheinungsformen auf, die unmöglich alle erfasst werden können. Um einen ersten Überblick über die mannigfaltige Produktion in diesem Bereich zu gewinnen, bietet sich folgende Einteilung, die die Klassifikation von Reither leicht variiert, an.1468 Die Unterscheidung von fünf Typen basiert sowohl auf dem Kriterium der Produktionsweise als auch auf dem der mit dieser korrespondierenden Rezeption: 1. Digitale Holopoesie 2. Animierte intermediale Poesie1469 3. Durch Poesiemaschinen generierte Poesie 4. Hyperpoesie 5. Virtuelle Poesie Digitale Dichtung unterscheidet sich nicht nur von früheren analogen Dichtungsformen, sondern ist auch strikt von der digitalisierten Dichtung zu trennen.1470 Es geht hier um die Abgrenzung zu Printgedichten, die nachträglich mit dem Medium Computer verbunden wurden, beispielsweise indem sie im Internet veröffentlicht wurden. In diesen Fällen handelt es sich nicht um digitale, sondern um digitalisierte Poesie, denn digitale 1466 Daneben werden auch die Begriffe ,Electronic Poetry‘ und ,Cyberpoetry‘ als Synonyme für den Begriff ,digitale Dichtung‘ verwendet. 1467 Block (2007), S. 231. 1468 Vgl. Reither (2003), S. 84ff. 1469 Im Gegensatz zu Reither ziehe ich den Begriff der intermedialen Dichtung demjenigen der Multimediapoesie vor. Vgl. hierzu das Einleitungskapitel dieser Arbeit. 1470 Zum Unterschied digitalisierter und digitaler Dichtung bzw. Literatur vgl. Simanowski (2005) [Internet].



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Poesie entsteht nicht durch einen Medienwechsel aus einem analogen Medium (Papier) in ein digitales Medium (Computer): „Grundbedingung für das Prädikat ‚Digitale Literatur‘ ist der schöpferische Umgang mit den Spezifika des Mediums. Das digitale Trägermedium allein ist nicht dafür ausschlaggebend.“1471 Zur digitalen Dichtung zählen daher ausschließlich poetische Texte, die nicht etwa deshalb im Computer zu sehen sind, weil sie als Drucktexte entstanden und anschließend in ein Textverarbeitungsprogramm übertragen wurden, sondern deren Herstellung auf der Grundlage der besonderen Eigenschaften des Computers selbst basiert. Es handelt sich [...] um hybride, multimediale Texte zwischen Schrift und Bild und Ton, die weder auf Papier ausgedruckt werden können noch ohne den Computer [...] rezipierbar sind.1472

Dass der Einsatz dieses technischen Mediums letztendlich in der Tradition des italienischen Futurismus und anderer experimenteller Dichtungen der Avantgarde (z.B. Oulipo) anzusiedeln ist bzw. eine konsequente Fortführung darstellt, darauf wurde zu Recht vielfach hingewiesen.1473 Digitale Dichtung stellt keinen Bruch mit avantgardistischen Dichtungstraditionen dar, sondern vielmehr ihre Potenzierung unter Nutzung der Möglichkeiten des neuen Mediums. Insofern kann eine „Kontinuität der innovativen Praxis [ausgemacht werden], die direkt ins digitale Medium führt“1474. Aus diesem Grund ist sie auch in der Lage, die fundamentalen Grundsätze, die der Dichtung nach 1945 zugrunde liegen, in einem bisher ungekannten Maße zu realisieren. Zu denken ist dabei vor allem an die Betonung der Materialität der eingesetzten Zeichen, die bevorzugte Visualität und gegebenenfalls auch Räumlichkeit von Gedichten, die mediale Selbstreflexivität, die zentrale Forderung nach einem aktiven Rezipienten und einer möglichst breiten Öffentlichkeit. Denken wir an das Internet, so umfasst dieses zumindest potenziell die Weltöffentlichkeit.1475 Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, dass die digitale Dichtung vor allem die Traditionen der experimentellen Dichtung im visuellen Bereich fortschreibt.1476 Es lässt sich zeigen, wie „two of the main concerns of concrete poets – the poetics of space and 1471 Bauer (2007), S. 18. 1472 Reither (2003), S. 83. 1473 Vgl. Scholler (2010), S. 381 und S. 387ff., Reither (2003), S. 118–162, Heibach (2004), das Kapitel Affiliation or The Birth of Digital Poetry in the Spirit of Poetic Experimentation in Block (2007), S. 231–235 sowie Schaffner (2010), S. 190f. Schaffner hebt sehr stark die Vorreiterrolle des italienischen Futurismus für die digitale Dichtung hervor. 1474 Glazier (2004), S. 72. 1475 Vgl. Block (1997), S. 187: Die Theorien zu digitalen Gedichten „reformulieren bezüglich der textuellen Möglichkeiten und Auswirkungen des Computermediums ständig Positionen der modernen Avantgarden, des literarischen Experiments, insbesondere auch der visuellen Poesie. […] Als grundsätzliche Aspekte werden unter anderem die Explizierung von Räumlichkeit und Visualität, die Intermedialität, die Konzeption eines aktiven Lesers als zweiter Autor und die Selbstreflexivität im Gebrauch von Hypertexten betont – Auffassungen wie sie spezifisch für Seh-Texte und den Umgang mit ihnen herausgestellt wurden […]“. 1476 Vgl. Schaffner (2006) [Internet] und Schaffner (2010).

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the exploration of the concrete materiality of the medium – translate into the digital domain.“1477 Es führt hier ein direkter Weg von der Papierfläche oder aber dem physikalischen oder akustischen Raum in den digitalen Raum. Die wichtigsten Verbreitungsmedien digitaler Poesie in Frankreich sind die Magazine alire, DOC(K)S, LÔÔP.1478 Im deutschsprachigen Raum ist hier das Online-Journal dichtung digital zu erwähnen.1479 Hinzu kommen zahlreiche Seiten im Internet, wobei das Electronic Poetry Center (EPC) und Ubuweb zu den prominentesten Vertretern zählen.1480 Auffallend ist die wichtige Rolle, die Frankreich im Bereich der digitalen Dichtung einnimmt, und zwar sowohl in Theorie als auch Praxis. Auf die Vorreiterrolle von Oulipo wird im Kapitel zur hypertextuellen Dichtung noch zurückzukommen sein.1481 Nach Frankreich ist auch Deutschland im Kontext der digitalen Dichtung erwähnenswert, denn die ersten computergenerierten Gedichte wurden Ende der 1950er Jahre im Stuttgarter Kreis um Max Bense produziert, und zwar von Theo Lutz: Stochastische Texte (1959).1482 Die Anfänge der digitalen Dichtung reichen daher bis in die 1950er Jahre zurück, ihre Hochphase erfährt diese Art der Dichtung jedoch erst ab Ende der 1980er Jahre. Nicht zufällig ist das Anfangsstadium der digitalen Dichtung durch Experimente im Bereich des aleatorischen Dichtens geprägt, sondern vielmehr deshalb, weil dies keinen Bruch mit älteren Dichtungskonzeptionen bedeutete, sondern deren Fortführung und Radikalisierung unter den Bedingungen des neuen Mediums ,Computer‘: „In den Anfängen der Computerdichtung bot vor allem die Möglichkeit zur Steuerung aleatorischer Prozesse Anreiz zu Experimenten, da hier ein Anschluss an traditionelle Lyrikkonzepte gegeben war.“1483 Bevor wir zu verschiedenen Ausprägungen der digitalen Dichtung kommen, hier noch eine allgemeine Betrachtung zu ihrer Rezeption, die sich in mancherlei Hinsicht von derjenigen aller vorangehenden intermedialen Gedichtformen unterscheidet: Zunächst und vor allem liegt dies darin begründet, dass sie ohne den Computer nicht stattfinden kann. Daraus ergeben sich alle weiteren Unterschiede. Werden Gedichte im digitalen Raum produziert, so muss die Rezeption dem Aspekt dieser virtuellen Räumlichkeit gerecht werden: „a three-dimensional text [...] requires an adaptive flexibility that we might even call a new mode of reading, a ‘deep reading’.“1484 Sind digitale Gedichte dem Prinzip der Interaktivität verpflichtet, so ergeben sich daraus weitere Konsequenzen für die Rezeption: Erstens muss der Leser in einem bisher nicht gekannten Maße das Gedicht erschaffen bzw. vollenden, und zweitens sind dann die Grenzen zwischen Dichtung und Spiel nicht mehr voneinander zu trennen. Eugen Gomringer hat dies schon in den 1960er Jahren über das Konkrete Gedicht geschrieben: „es dient dem 1477 Schaffner (2010), S. 179. 1478 Vgl. Scholler (2003), S. 395ff. und Bauer (2007), S. 22f. 1479 In den USA werden digitale Gedichte vornehmlich in The Little Magazine publiziert. 1480 Vgl. Funkhouser (2007), S. 199ff. 1481 Block/Heibach/Wenz (2004), S. 18. 1482 Vgl. hierzu Schaffner (2006), S. 9 [Internet]. 1483 Reither (2003), S. 83. 1484 Raley (2006), S. 1 [Internet].



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heutigen menschen durch seinen objektiven spiel-charakter, und der dichter dient ihm durch seine besondere begabung zu dieser spieltätigkeit. er ist der kenner der spiel- und sprachregeln, der erfinder neuer formeln.“1485 Im Folgenden wird kein vollständiger Abriss der digitalen Poesie angestrebt, sondern es werden diejenigen Ausprägungen in den Blick genommen, die einen besonders hohen Grad an Weiterentwicklung experimenteller Dichtungstraditionen aufweisen: computergenerierte Gedichtanimationen und die hypertextuelle sowie die virtuelle Dichtung. Diese werden jeweils anhand ausgewählter Beispielgedichte illustriert und erläutert. Verzichtet wird in der Darstellung auf computergenerierte Lautgedichte, die sich bereits im Kapitel zur Lautdichtung finden, und auch auf computergenerierte holographische Gedichte, die schon im Kapitel zur Holopoesie Gegenstand der Untersuchung waren. 4.8.2 Digitale Gedichtanimationen Streng genommen kommt auch dieser Typus computergenerierter Gedichte in der bisherigen Darstellung schon vor, nämlich in Form digitalisierter Remediatisierungen.1486 Im Unterschied zu den dort erläuterten Beispielanimationen liegt denjenigen im vorliegenden Kapitel jedoch kein Printgedicht zugrunde. Es gilt aber nach wie vor, dass digitale Gedichtanimationen eine große Ähnlichkeit zum Film aufweisen. Die kulturgeschichtlichen Hintergründe für diese Annäherung wurden bereits ausführlich erläutert. An dieser Stelle mag es genügen, nochmals darauf hinzuweisen, dass aus gutem Grund die Dichtung verstärkt dem Film angenähert wurde – erste Beispiele dieses Gedichttypus lassen sich ab Mitte der 1960er Jahre nachweisen –, denn „in der Mediengeschichte gilt die Erfindung des Films als entscheidende Zäsur“1487. Neben dem Begriff der digitalen Gedichtanimation lässt sich ebenfalls die Bezeichnung ,kinetische Computergedichte‘ verwenden. Diese weist den Vorteil auf, dass sie die Aspekte der Dynamik und Bewegung, die diese Art von Dichtung charakterisieren und sie von Printgedichten unterscheiden, besonders hervorhebt. Die Konzepte ,Dichtung‘ und ,Bewegung‘ miteinander zu verknüpfen, hat die Dichtung nach 1945 vor allem vom italienischen Futurismus Marinettischer Prägung übernommen und dahingehend weiterentwickelt, dass der Aspekt der Bewegung nicht auf die Möglichkeiten der Printdichtung beschränkt bleibt. Schon im plano-piloto para poesia concreta (1958) lesen wir von der Verknüpfung von Dichtung und Bewegung: o isomorfismo, num primeiro momento da pragmática poética concreta , tende à fisiognomia, a um movimento imitativo do real (motion); predomina a forma orgânica e a fenomenologia 1485 gomringer (1969b), S. 280 und Block/Heibach/Wenz (2004), S. 28. 1486 Vgl. hierzu S. 219ff. dieser Arbeit. 1487 Scholler (2010), S. 404. Vgl. Großklaus (1995), S. 31: „Diese Wahrnehmung von Geschwindigkeit und Simultaneität der Geschehnisflüsse versuchten Poeten ebenso wie die futuristischen Maler [...] zu übersetzen in den ästhetischen ‚Dynamismus‘ ihrer Texte und Bilder [...]. Sowohl die literarischen Texte als auch das gemalte Bild aber konnten das metropolitane Zeitgefühl [...] nur annähernd verbalisieren bzw. visualisieren. Erst dem Film gelingt die adäquate Abbildung von Bewegung und Geschwindigkeit [...].“

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da composição. num estágio mais avançado, o isomorfismo tende a resolver-se em puro movimento estrutural (movement); neste fase, predomina a forma geométrica e a matemática da composição (racionalismo sensível).1488

Gedichtanimationen bieten im Gegensatz zu Printgedichten den entscheidenden Vorteil, dass sie zeitliche Abläufe abbilden können. Sie gestatten es damit, „das komplementäre Verhältnis von Zeit und Raum spezifisch zu gestalten“1489. Damit einher geht eine noch stärkere Negierung von Lessings kategorialer Unterscheidung von Raum- und Zeitkünsten, als sie in der analogen intermedialen Dichtung nach 1945 vorherrscht. Betrachten wir das erste Beispiel:1490

Abb. 215  André Vallias, Nous n’avons pas compris Descartes (1991) [Still]

Auf der Homepage des Dichters lässt sich folgender Kommentar zu Nous n’avons pas compris Descartes1491 aufrufen, der hier aufgrund seiner Wichtigkeit und seiner relativen Kürze vollständig zitiert wird: Nous n’avons pas compris Descartes (1991), de André Vallias, aponta para a década que consagrou o uso de softwares de imagem e tornou corriqueiras as animações geradas em computador. 1488 Campos/Pignatari/Campos (1987), S. 157. Hervorhebungen im Original. 1489 Block (1997), S. 192. 1490 Vallias (1991) [Internet]. 1491 Bei diesem Titel handelt es sich um einen Auszug aus Stéphane Mallarmés Notes (1869).



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É evidente o apelo estético desses recursos. No poema citado aparecem figuras típicas da produção computacional. A de cima sugere o espaço plano, enquanto que as corcovas representadas na de baixo manifestam dois centros de curvatura. O espaço achatado é pressuposto da geometria de Euclides-Descartes, mas caracteriza igualmente a de Minkowski, arcabouço da relatividade restrita de Einstein. O espaço-tempo curvo se associa à outra relatividade, a geral, teoria de gravitação que prevê o arqueamento nas proximidades da matéria, sendo tão mais intenso quanto maior for a densidade. O cogito cartesiano assevera o salto do pensamento abstrato à existência. Do substrato mental ao material. Vallias propõe também um salto: da planura deserta da página para o planar recurvo que desenha a materialidade do poema. Este existe porque existe a página, a tela do computador, a mente. A curvatura, expressão gráfica do signo criativo, é forma-conteúdo, é matéria-energia, tal como na gravitação einsteiniana. A folha quadriculada e lisa magicamente se transmuda num tapete voador ondeante. Efeito da in(ter)venção humana, conseqüência da vida. O artista pensa. Ergo, existe a arte.1492

Zunächst hebt der Kommentar den Status von Nous n’avons pas compris Descartes als computergeneriertes Gedicht hervor, d.h., die Animation hätte ohne die Möglichkeiten des digitalen Mediums nicht produziert werden können. Außerdem macht der Kommentar zweierlei deutlich, das prinzipiell für jede Ausprägung digitaler Poesie gilt: Erstens bildet sie eine Synthese der „zwei Kulturen“. Dies gilt für das vorliegende Beispiel nicht nur im Hinblick auf die Produktionsweise, sondern auch bezüglich der thematischen Ebene, die der Titel vorgibt und die Animation fortführt: Der Name Descartes lässt keinen Zweifel daran, dass die beiden Kurven, die die untere Animation zeigt, auf Descartes’ Geometrie verweisen sollen. Vallias selbst hat darauf hingewiesen, dass seine Computeranimationen letztendlich in der Tradition von Descartes’ analytischer Geometrie stehen: I perceived what a mighty feat it was on Descartes’ part to have created an interface between the discrete universe of algebra and the continuous world of geometry, thus establishing a basis for what, in the end, was to be the computational graphics which I was using myself.1493

Mit der Funktion, die von Snow ausgemachten „zwei Kulturen“ zu verbinden, hängt im Falle digitaler Gedichtanimationen der Aspekt der intermedialen Verknüpfung unterschiedlicher Zeichensysteme zusammen. Für den intermedialen Status seiner computergenerierten Gedichtanimationen hat Vallias eine spezifische Begrifflichkeit gewählt, die er im folgenden Zitat erläutert hat: Graphic and numerical elements, colour and text, to a greater or lesser degree add up to a network of reciprocities which will provide the field of meaning for the whole. It is this dynamic and syncretic complex which I call by the name of Diagram – from Greek di-, ‘through’ + graphein, ‘to write’.1494 1492 Campos (o. J.) [Internet]. 1493 Vallias (2007), S. 87. 1494 Vallias (2007), S. 87. Hervorhebungen vom Autor. Vgl. Block (1997), S. 194: „Mit dem Begriff des Diagramms zielt Vallias auf die hybride Verknüpfung unterschiedlichster Codes, die im Computer möglich wird.“

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Zweitens tritt in Nous n’avons pas compris Descartes – wie in jedem computergenerierten Gedicht  – die Materialität der das Gedicht konstituierenden Zeichen und damit zugleich des Gedichtes („a materialidade do poema“) in den Vordergrund. Betrachten wir die Animation genauer, so können wir aus ihr wichtige Aussagen über Vallias’ Dichtungskonzeption ableiten: Im oberen Teil befindet sich eine rechteckige Fläche, die mit relativ kleinen ,Planquadraten‘ versehen und welcher der Begriff „page“ zugeordnet ist. Diese bildet das Anfangsbild der Animation. Der untere Teil hingegen entsteht erst nach einigen Sekunden vor den Augen des Betrachters. Von rechts beginnend wird dieses Blatt nach und nach entfaltet, allerdings weist es zwei Krümmungen auf, welche die Fläche in ein dreidimensionales Objekt verwandeln. Ist dieser Prozess an seinem Endpunkt angelangt, so erscheint über diesem gewölbten Objekt der Begriff „poem“. Zuletzt sehen wir auf dem Bildschirm dann den Titel der Animation, und zwar – ebenso wie die beiden zuvor erschienenen Begriffe – in englischer Sprache: „We have not understood Descartes“. Durch seine Anordnung rechts über dem zugeordneten signifié wird der Begriff „poem“ dem Begriff „page“, der sich links über der Abbildung des Blattes befindet, gegenübergestellt. Die Computeranimation thematisiert auf diese Weise implizit das Verhältnis von „page“ zu „poem“. Dadurch rücken zwei Kontraste in den Vordergrund: Statik versus Dynamik und Fläche versus Raum. Diese beiden Kontraste könnten in einem einzigen zusammengefasst werden, und zwar in jenem, der zwischen der traditionellen Dichtung und der New Media Poetry besteht. Zu Recht lässt sich die Animation daher als „meta-poem“1495 bezeichnen. Der neuen räumlichen Dichtung korrespondiert auf der Seite der Rezeption eine „leitura gráfica“1496. Betrachten wir als zweites Beispiel für digitale Gedichtanimationen Ana María Uribes Gimnasia-Stücke aus der Sammlung Anipoemas (1998), die sie als animiertes Analogon zu ihren Tipoemas (1968) produziert hat. Es handelt sich insgesamt um drei Animationen. Diese weisen zunächst das gemeinsame Merkmal auf, dass sie Buchstaben ihrer primären linguistischen Funktion, nämlich als Bestandteile von Wörtern, beraubt präsentieren, und stattdessen ausschließlich deren graphische Gestalt in Szene setzen: „Here, letters fulfil the tasks of images.“1497 Damit geht ein weiteres gemeinsames Merkmal einher: Die Lettern werden unterschiedlichen Transformationen unterzogen, die zugleich den Eindruck erwecken, dass die Lettern selbst Bewegungen ausführen. Dieser Eindruck wird durch den Titel der Animationen stark begünstigt, denn dieser scheint zu implizieren, dass die Lettern Turnübungen vollführen. Verfolgen wir nun, wie diese im Einzelnen aussehen. In Gimnasia 11498 erscheint zunächst achtmal die gleiche Majuskel, und zwar folgendermaßen arrangiert: Drei Exemplare befinden sich oben auf einer imaginären horizontalen Linie, zwei in der Mitte und drei unten. Die Ausgangsletter I wird sukzessive zu den Lettern T, Y, V und schließlich X transformiert, dazu sind elektronisch erzeugte 1495 Vallias (2007), S. 87. 1496 Montejo Navas (2006) [Internet]. 1497 Schaffner (2010), S. 181. 1498 Uribe (1998a) [Internet].

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Geräusche zu vernehmen, die an die Geräusche in frühen Computer-Tennisspielen erinnern und sich vor allem durch den monotonen Wechsel zweier unterschiedlicher Geräusche auszeichnen. Beim ersten könnte es sich um ein Schlagen und beim zweiten um ein Aufprallen eines Balles oder eines ähnlichen Gegenstandes handeln. In Gimnasia 21499 werden von oben nach unten zwei Majuskeln L zu Z, drei Majuskeln P zu R und schließlich zwei Majuskeln W zu M. Untermalt werden diese Transformationen durch ähnliche technisch erzeugte Geräusche wie in Gimnasia 1. Auch hier sind die beiden unterschiedlichen Geräusche im Moment der Transformation und Rücktransformation zu hören. In Gimnasia 31500 ist die Letternanzahl im Vergleich zur vorangehenden Animation erneut um eins verringert. Es handelt sich hier also um sechs Lettern, die wieder dynamischen Prozessen unterzogen werden. Die sechs identischen Majuskeln sind pyramidenartig übereinander angeordnet: Die Basis bilden drei Majuskeln, darüber erscheinen zwei, und die Spitze bildet die letzte Majuskel. Zu Beginn handelt es sich bei der Majuskel um den Buchstaben P. Während der Animation wird dieser abwechselnd in ein R und wieder zurück in den Ausgangszustand transformiert. Diese Dynamik wird auf der akustischen Ebene, wie bei Gimnasia 1 und Gimnasia 2, durch elektronisch erzeugte Klänge unterstrichen. Allerdings sind die beiden Geräusche höher als in den beiden anderen Animationen, und sie hallen auch stärker und länger nach. Nichtsdestoweniger stimmen auch diese exakt mit der Dynamik auf der visuellen Ebene überein. 4.8.3 Hypertextuelle Dichtung Hypertext-Gedichte werden seit den 1980er Jahren produziert. Am bekanntesten dürften in diesem Bereich die Gedichte von Philippe Bootz und Jim Rosenberg sein. Ohne uns in Begriffsdefinitionen zu verlieren, die mehr zur Verwirrung als zur Klärung beitragen, sei darauf hingewiesen, dass das Konzept der hypertextuellen Dichtung weniger homogen ist, als man möglicherweise zunächst annehmen könnte. Vielmehr lassen sich auf diesem Feld unterschiedliche Typen ausmachen. Von Jim Rosenberg stammt beispielweise folgende Klassifikation, die allerdings nur eine hochgradig subjektive Einteilung darstellt: „hypertext of arbitrary structure, spatial hypertexts, set-based hypertexts, and knowledge-structuring hypertexts.“1501 Mag diese Einteilung dem Kriterium der Objektivität auch nicht genügen, so macht sie dennoch deutlich, dass hypertextuelle Gedichte sich weder hinsichtlich ihrer Produktion noch hinsichtlich ihrer Rezeption gleichen müssen. Hypertext poem ist eben nicht gleich hypertext poem. Der hypertextuellen Dichtung, der dieses Kapitel vorbehalten ist, liegt die Definition des Phänomens hypertext zugrunde, die Jakob Nielson in Hypertext and Hypermedia (1990) entwickelt hat:

1499 Uribe (1998b) [Internet]. 1500 Uribe (1998c) [Internet]. 1501 Pequeño Glazier (2002), S. 86.

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Hypertext is nonsequential; there is no single order that determines the sequence in which the text is to be read. Hypertext presents several different options to the readers, and the individual reader determines which of them to follow at the time of reading the text. This means that the author of the text has set up a number of alternatives for readers to explore rather than a single stream of information.1502

Nielsons Definition ist zwar eine Definition unter vielen, allerdings handelt es sich hierbei um eine, die sich in unserem Kontext als sehr praktikabel und brauchbar erweist. Vor allem impliziert sie keine Beschränkung auf Prosatexte, wie dies oftmals der Fall ist, sondern ist gleichermaßen auf Gedichte anwendbar. Hypertextuelle Dichtung ist – wie viele andere bereits vorgestellte Typen intermedialer Dichtung aus der Zeit nach 1945 – ebenfalls stark an Innovationen im Bereich der technischen Medien gebunden. Auch hier handelt es sich um „technotextes [...], c’est-àdire des textes qui se penchent sur leurs conditions techniques d’existence“1503. Eine wichtige Erfindung für diesen Typus intermedialer Dichtung ist die von Apple im Jahre 1987 auf den Markt gebrachte HyperCard.1504 Signifikanterweise fand in diesem Jahr auch die erste internationale Tagung zum Thema ,Hypertext‘ – natürlich nicht nur, aber auch im Bereich der Dichtung – statt. Die technische Innovation, die die Entwicklung der Hyperpoesie am stärksten beeinflusst hat, ist zweifelsohne die Erfindung des Internets und seine allgemeine Nutzung. War die hyperpoetry zuvor ausschließlich offline möglich, so konnte sie ab diesem Zeitpunkt die Vorteile des Internets für sich nutzen.1505 Geht es im Bereich der hypertextuellen Dichtung um die Relation von Innovation zu Tradition, so muss zunächst darauf aufmerksam gemacht werden, dass das Verhältnis von hypertextueller Darstellung zur Dichtung einen ambigen Charakter besitzt. Einerseits scheint die Form des Hypertextes ungeeignet für die Dichtung, zumindest wenn man traditionelle Dichtungskonzeptionen zugrunde legt: Wenn man eines der allgemeinen Kriterien zur Definition von Poesie heranzieht, dann ist es gerade die Kürze und Knappheit der Texte [...], die sie als Form oder Gattung auszeichnet. Linkstrukturen jedoch, wie man sie aus Hypertexten kennt, organisieren große Textmengen, um möglichst viele Zusatzinformationen zusammenzustellen (Informationstexte) oder die narrative Struktur möglichst vielschichtig zu gestalten (literarische Erzähltexte/Hyperfiction).1506

Andererseits sind im Bereich der Printdichtung Vorläufer auszumachen, die konsequent in die Richtung der Hyperpoesie weisen. Das wohl bekannteste Beispiel sind Raymond 1502 Nielson (2002), S. 2. Hervorhebungen vom Autor. 1503 Bootz (2005) [Internet]. 1504 Zu dieser und weiteren technologischen Bedingungen der hypertextuellen Dichtung vgl. Funkhouser (2007), S. 152ff. 1505 Einzug in die Dichtung hat das Internet etwa Mitte der 1990er Jahre gehalten. 1506 Reither (2003), S. 111. Ebenso Block (1997), S. 190: „Lyrik beziehungsweise Poesie sind bislang relativ selten im hypertextuellen Medium vertreten, möglicherweise, weil es eher Großformen anspricht, für die es sinnvoller anwendbar zu sein scheint als für ein kurzes Gedicht, das in einer Lexia Platz findet und ebensogut auf einer Papierseite gedruckt sein könnte.“



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Queneaus Cent mille milliards de poèmes (1961).1507 Schon einige kurze Bemerkungen können verdeutlichen, warum diese sich als Prototyp des kombinatorischen Gedichtes in besonderem Maße zur Hypertextadaption eignen:1508 Eine solche syntagmatische Potentialität das Werks […] ist in der Linearität des Printmediums nicht ohne weiteres möglich. Das Aufbrechen der Zweidimensionalität der Seite kann nur durch einen […] Kniff, die kammartige Auffächerung der Seiten in Versstreifen, erreicht werden. Für derlei Variationen und Mammutkalkulationen ist der Computer prädestiniert […].1509

In digitalen Hypertextadaptionen dieser Sonette Queneaus stellt der Leser sich das einzelne Gedicht entweder durch eine gezielte Wahl aus der Liste aller Verse selbst zusammen, oder das Gedicht entsteht durch die Aktivierung eines Zufallsgenerators, den der Leser startet, auf den er danach aber keinen Einfluss mehr ausüben kann. Im zuletzt genannten Fall beschreiten wir den Bereich der Dichtung mittels Poesiemaschinen. In jedem Fall nähern sich bei der Rezeption hypertextueller Gedichte die Funktionszuschreibungen des Dichters und des Lesers und damit die Aspekte der Produktion und Rezeption einander mehr an als in den meisten anderen Gedichtarten, die den Gegenstand dieser Untersuchung gebildet haben. In den hypertext poems muss der Leser durch die bewusste Wahl von Links oder Vergleichbarem (wie zum Beispiel so genannten hotspots) zum Co-Produzenten des Gedichtes werden.1510 Der Aspekt der Interaktivität ist daher das wesentliche Charakteristikum der Rezeption von hypertextuellen Gedichten. Es gibt wohl kaum einen anderen Typus digitaler Dichtung, in dem die „interaktive[n] Potentiale des Trägermediums Computer“1511 stärker genutzt werden, als in diesem Feld intermedialer Dichtung nach 1945. Individuelle Entscheidungen des jeweiligen Lesers oder Users führen hier zur Generierung eines Gedichttextes, der hochgradig subjektiv gestaltet ist und einmalig sein kann. Wir haben es daher mit einem hohen Grad an Offenheit zu tun: Damit erreicht die Lyrik im Zeitalter der Digitalmoderne eine Offenheit, welche die traditionell im Namen insbesondere der Rezeptionsästhetik postulierte Offenheit der modernen Lyrik übersteigt. Es ist hier nicht die Rede von potentiell unendlichen Auslegungen ein und desselben wahlweise dunklen oder polysemen Textes, zur Debatte stehen absolut transfugale Verse, die sich in jedem neuen Rezeptionsakt tatsächlich verändern und damit je neue Sinn-

1507 Quenaus Cent mille milliards de poèmes stehen ihrerseits wiederum in der Tradition der carmina infinita, die im Barock verfasst wurden. Für beide Fälle gilt, dass eine erschöpfende Lektüre die Dauer eines menschlichen Lebens bei Weitem übersteigen würde. Hierauf hat Queneau in einer Vorbemerkung zu seiner Sammlung explizit hingewiesen. 1508 Vgl. Scholler (2010), S. 387ff. Abdruck eines Stills aus Tibor Papps digitaler Version der Cent mille milliards de poèmes aus dem Jahr 1989 in Scholler (2010), S. 388. 1509 Bauer (2007), S. 25. 1510 Vgl. das Kapitel The Reader-As-Writer’s Activity Structure in Rosenberg (1996) [Internet]. 1511 Scholler (2010), S. 404.

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konstellationen eingehen können, die jedoch – und das ist die Kehrseite dieser Dynamik – ebenso schnell wieder verschwinden und dem Vergessen anheimfallen.1512

Ob es sich um eine einmalige Lektüre handelt, hängt maßgeblich von der Anzahl der Kombinationsmöglichkeiten ab, die der Dichter dem Leser zur Verfügung stellt. Um die Nichtwiederherstellbarkeit („reading is choosing, closing a door in order to move forward“1513) bestimmter hypertextueller Gedichte zu beschreiben, böte sich die Verwendung des von Philippe Bootz für seine algorithmische Dichtung1514 geschaffenen Begriffs des unique-reading poem an: Based on irreversibility, unique-reading poems do not reset when the reader switches off his/ her computer. A unique reading poem’s final state is only realized once for a given reader and this final result is replicated indefinitely in the next readings. The reader, however, can never reset or cancel any of his actions.1515

Hinter dem dynamischen Charakter von unique-reading poems bzw. ihrer Rezeption steht eine bestimmte Gedichtkonzeption, die dem Aspekt der Textgenese eine besonders wichtige Bedeutung zuschreibt – gemäß dem Motto: Ein Gedicht ist nicht, sondern wird gemacht. Dieser Entstehungsprozess, der in der zweiten Phase der Produktion auf bewussten Entscheidungen des Lesers beruht, zeichnet die Rezeption eines uniquereading poem aus. Die erste Produktionsphase ist dem Dichter vorbehalten und dient ihm dazu, den Rahmen zu schaffen, damit der Leser das bzw. ein Gedicht aus dem Modus der Möglichkeit in den der Wirklicheit überführen kann, wobei diese Aktualisierung ausschließlich subjektiven Kriterien folgt. The unique-reading poem can be compared to a living organism which grows according to the reader’s actions. But unlike a living structure, it becomes static when all conditions are fulfilled, its state similar to that of any printed text. Behind this characteristic emerges the confrontation between a vision of literary work as a defined object or sign (particularly vivid in literature) and a conception of literature as a continuous generation process: permanent in its functioning but only readable through its relative and transitory states. I call this kind of work ‘procedural work’.1516

Aufgrund der Einmaligkeit und des flüchtigen Charakters von hypertextuellen Gedichten sind diese – im Gegensatz zu den meisten anderen Dichtungsarten – schwer zu fassen. Das Zeichenmaterial hypertextueller Gedichte entstammt dem skripturalen Bereich. Einerseits lassen diese Gedichte sich als eine Form der non-linearen Dichtung beschreiben. Insofern führen sie dem Leser zugleich die Non-Linearität von Schrift vor. Damit 1512 Scholler (2010), S. 405. 1513 Bootz (2007b), S. 67. 1514 Paradebeispiel für diesen Gedichttypus ist Bootz’ Gedicht Passage (2004). Vgl. hierzu Scholler (2010), S. 400f. und Bootz (2007). 1515 Bootz (2007b), S. 67. 1516 Bootz (2007b), S. 68.



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geht natürlich auch einher, dass das Gedicht sich durch Non-Linearität auszeichnet, und zwar durch die freien Wahlmöglichkeiten des Lesers hinsichtlich seiner individuellen Gedichtgestaltung: In einem Hypertext [...] kann der Leser durch aktivierte Zeichen oder Felder ohne Umschweife zum Zielpunkt und wieder zurück oder aber zu einem anderen, neuen Ziel gelangen, wodurch ein nicht-linearer, netzartiger Text entsteht, der seit der Erfindung des world wide web den gesamten Globus umspannt.1517

Andererseits könnte man hypertextuellen Gedichten statt des Kriteriums der Non-Linearität alternativ das der Polylinearität zuordnen. Dies lässt sich anhand des Beispiels eines hypertextuellen Gedichtes von Jim Rosenberg belegen. Es handelt sich dabei um einen Repräsentanten von Rosenbergs so genannten Intergrams. Diese unterscheiden sich insofern vom ,Standard-Hypertextpoem‘, als sie keine Links aufweisen, sondern versteckte ,hot-spots‘, die durch einen Mausklick aktiviert werden können und dann eine neue Textschicht freilegen. Infolgedessen entstehen Überlagerungen skripturaler Zeichen und damit im wörtlichen Sinne mehrschichtige Texte.1518 Die folgende Abbildung1519 zeigt ein willkürlich gewähltes Standbild aus Intergram 9:

Abb. 216  Jim Rosenberg, Intergram 9 (1991) [Ausschnitt]

Zwei der drei abgebildeten Rechtecke weisen das Merkmal der Simultaneität auf, während das letzte Rechteck der Linearität verpflichtet ist. Dies hat zur Folge, dass der skripturale Inhalt der beiden ersten Rechtecke nicht oder nur sehr eingeschränkt zu entziffern 1517 Scholler (2010), S. 385. 1518 Vgl. Rosenberg (2002) [Internet] und Rosenberg (2004) [Internet]. 1519 Rosenberg (1994) [Internet].

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ist, während derjenige des dritten Rechtecks vollständig lesbar ist. Auf die Möglichkeit, durch die Überlagerungen skripturaler Zeichen in Printgedichten Lesbares in Unlesbares1520 zu überführen und die damit einhergehende  – mehr oder weniger stark ausgeprägte – Sprachkritik, wurde bereits ausführlich hingewiesen. Im vorliegenden Fall haben wir es mit einer Realisierung dieser Möglichkeit im digitalen Raum zu tun. Lesbares erscheint hier neben Unlesbarem. Hieraus ergeben sich folgende Konsequenzen: Mit der sehr dichten und paradoxen Verbindung von Simultaneität und Sequentialität ermöglicht Rosenberg, zwischen Lesen und Betrachten tatsächlich ständig zu ›oszillieren‹ [...] und umgekehrt – ein Hin und Her zwischen ›looking at and looking through‹ [...], das die Prozesse des Lesens wie auch des Sehens bzw. die Semiose explizit werden läßt.1521

Die Anwendung des poetischen Verfahrens der Zeichenüberlagerung in einem computergenerierten Gedicht kann nicht nur als Schriftkritik gewertet werden, sondern lässt sich auch als Aussage über die Gattung des hypertextuellen Gedichtes lesen, denn es könnte damit „die Reisemetaphorik in der Poetik des Hypertextes und die Orientierung des Benutzers mit der Frage, wo man sich im Writing Space befinde, wenn man nirgendwo hingehe […]“1522, torpediert werden. Intergram 9 könnte daher die üblicherweise in hypertextuellen Gedichten vorherrschende Linearität – auch wenn deren konkrete Gestalt arbiträren Entscheidungen des Lesers unterliegt – implizit in Frage stellen. 4.8.4 Virtuelle Dichtung Mit der virtuellen Dichtung beschreiten wir – im Gegensatz zur hypertextuellen Dichtung – einen Bereich, in dem der Leser nicht notwendigerweise interaktiv zu werden braucht. Repräsentanten der so genannten Virtual Poetry sind bis heute vergleichsweise rar, und einige theoretisch erfasste Verfahrensweisen konnten bislang noch nicht realisiert werden. Auch stehen umfassende wissenschaftliche Untersuchungen bisher aus.1523 Dichter der Virtual Poetry lassen sich vor allem in Argentinien finden.1524 Hauptvertreter dieses poetischen Genres ist nach wie vor Ladislao Pablo Györi. Auf ihn wird zurückzukommen sein. Die virtuelle Poesie ist vor allem eines, nämlich das Produkt einer Zeit, in der das menschliche Leben in allen Bereichen vornehmlich durch den Einsatz des Computers bestimmt wird: Virtual poetry would have to be a precise answer from the field of poetical creation to a digitalized world that already referred us in an almost permanent way to Internet, telepresence, nanotechnology, computed animation, cyberspace, etc.1525 1520 Vgl. den Titel eines Gedichtes von Claus Bremer. Siehe hierzu S. 119f. dieser Arbeit. 1521 Block (1997), S. 191f. Hervorhebung vom Autor. 1522 Block (1997), S. 190f. 1523 Das Kapitel zur virtuellen Poesie umfasst auch in Reither (2003) nur wenige Seiten (S. 90–95). 1524 Entwickelt wurde die Virtual Poetry im Umfeld der Gruppe TEVAT (Time, Space, Life, Art, Technology). Vgl. hierzu Györi (2001) [Internet]. 1525 Györi (2001) ][Internet].



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Nicht nur mit den entsprechenden technologischen Innovationen ist die virtuelle Dichtung untrennbar verbunden, sondern auch mit der modernen Linguistik und Semiotik, maßgeblich repräsentiert durch die Werke von José E. García Mayoraz. Besonders Györi hat wiederholt auf diesen Zusammenhang hingewiesen.1526 Damit wären wir wieder bei einem primären Charakteristikum der intermedialen Dichtung nach 1945, nämlich der sinnkonstitutiven Funktion des eingesetzten Zeichenmaterials. Bislang ist die virtuelle Poesie ausschließlich am Computer über ein Virtual Reality Modeling Language (VRML)-Programm navigierbar und kann nicht, wie letztendlich von den beteiligten Dichtern beabsichtigt, mit dem gesamten menschlichen Körper rezipiert werden: „The intention is to take the reader into a virtual reality system, so that he/she will perceive the work into an interactive digital 3D space, inside of which the poems react according to the user manipulations and evolutions.“1527 Im Gegensatz zum vorangegangenen Dichtungstypus, nämlich der hypertextuellen Dichtung, ist die Interaktivität des Lesers keine notwendige Voraussetzung für die Rezeption der virtuellen Dichtung. Dies werden die gewählten Beispiele verdeutlichen. Handelt es sich jedoch um ein interaktives virtuelles Gedicht, erfordert dies eine ganz spezifische Rezeptionshaltung, die sich stark von der Rezeption traditioneller und auch derjenigen aller bisher aufgezeigten experimentellen Dichtungsformen unterscheidet: Im VR-System befindet sich der Leser mit Datenhelm und Datenhandschuhen in einem simulierten Raum (dem virtuellen des Helms) und einem realen Raum (dem Ort, an dem er tatsächlich physisch anwesend ist). Der Leser steht also keinem Text gegenüber, sondern ist umgeben von ihm und kann ihn sogar mit seinen Händen ‚begreifen‘ bzw. manipulieren.1528

Zu Recht fühlt man sich in dieser Hinsicht an intermediale Gedichtobjekte erinnert, vor allem an solche, die an öffentlichen Orten in der Stadt (Plätzen, Parks etc.) aufgestellt sind und die angefasst und/oder begangen werden können. Das Paradebeispiel einer solchen Dichtung stellt die poesia urbana des Katalanen Joan Brossa dar.1529 Die Rezeption ist in beiden Fällen ähnlich, nur dass wir es einmal mit intermedialen Gedichtobjekten im physikalischen Raum und einmal mit solchen im virtuellen Raum zu tun haben. Die Dichter einer solch intermedialen virtuellen Dichtung stehen nicht nur in dieser Tradition, sondern ebenso in einer sehr viel älteren, die bis in die Antike reicht. Die Metaphorik des Textraumes finden wir u.a. auch bei Clemens von Alexandria: Nach seiner Vorstellung ist sein Text, den er ja als ‚Teppich‘ (Stromateis) bezeichnet, zugleich zu verstehen wie ein vom Leser begehbarer Garten. Der Text erscheint damit in der Form des 1526 Das Manifest der Gruppe TEVAT wurde bezeichnenderweise sowohl von García Mayoraz als auch von Györi unterzeichnet. Abrufbar ist das Manifest unter folgendem Link: http://ludion. com.ar/archivos/articulo/24-02–11_manifiesto-tevat.pdf [zugegriffen am 20.05.2011]. Vom engen Zusammenhang zwischen Semiotik und Virtual Poetry zeugt auch die detaillierte Analyse, die García Mayoraz (1995) zu Gyula Kosices virtuellem Gedicht Primer Agua (1995) vorgelegt hat. 1527 Györi (1996), S. 163. 1528 Reither (2003), S. 84. 1529 Vgl. hierzu S. 385ff. dieser Arbeit.

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Dichtung im Raum

Gartens als ein virtueller Raum, den der Leser beschreitet und aus dem er sich greift, was ihm beliebt.1530

Der maßgebliche Unterschied zwischen den Vorläufern und der virtual poetry besteht darin, dass hier zum ersten Mal eine „Interaktion zwischen [dem menschlichen] Körper und [der] Datenwelt“1531 stattfindet. Virtuelle Dichtung produziert seit Mitte der 1990er Jahre vor allem Ladislao Pablo Györi. So wie die holographische Dichtung primär mit dem Namen Eduardo Kac verbunden ist, gilt dies im Falle der virtuellen Poesie für den Namen dieses Dichters. Györi hat zunächst VU–3D-Software für seine poetischen Produktionen genutzt, die er in dem Moment durch VRML (Virtual Reality Markup Language) ersetzt hat, als die technischen Voraussetzungen hierfür gegeben waren. Seine Virtual Poetry stellt für Györi eine Weiterentwicklung der Printpoesie dar, wie aus dem folgenden Zitat abzuleiten ist. Man vermisst in diesem Kontext den Hinweis auf bereits vor der Virtual Poetry existierende Dichtungsformen, die nicht an die Papierseite gebunden sind. Das gesamte vorliegende Kapitel ist poetischen Beispielen dieser Art gewidmet, und auch diejenigen des vorangehenden Kapitels zur Lautpoesie waren teilweise nicht auf der Papierfläche, sondern ausschließlich im akustischen Raum zu verorten. Nichtsdestoweniger hier nun das angekündigte Zitat: The VPD [scil. the Virtual Poetry Domain; B.N.] is a substitutive field for the traditional printed page. The printed page only establishes a superficial and static contact; it is very restricted in relation to the requirements of large versatility and global artificiality that also dominate contemporary poetic production, and which will dominate those of the future.1532

Einer Definition Györis zufolge handelt es sich bei der virtuellen Dichtung um „a new kind of poetry [...] that exists only in electronic space and computer networks. This new poetry is interactive, animated, hyper-linked and navigational.“1533 Detaillierter hat Györi virtuelle Gedichte an anderer Stelle folgendermaßen beschrieben: Virtual Poems or Vpoems are interactive digital entities, capable of: 1. taking part in or being generated within a virtual world (here called ‘Virtual Poetry Domain’ or VPD) through software or routines (for the development of virtual reality applications and real-time explorations) which confer diverse possibilities for manipulation, navigation, behavior and alternative properties (in the presence of environmental con­ straints and interactions), such as evolution, sound emission, animated morphing, etc.; 2. being experienced by means of partially or fully immersive interface devices (vpoems support ‘walkthroughs’ and ‘flybys’

1530 Krüger (2003), S. 297. 1531 Daniels (2003), S. 73. 1532 Györi (1996), S. 162f. Vgl. Funkhouser (2007), S. 173. 1533 Györi (1996), S. 158. Vgl. Padín (1997), S. 6ff.



Ausblick

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3. assuming an aesthetic dimension (in accordance with the semiotic and entropic concept of information), not reducing themselves to a simple phenomenon of communication (like a pure data stream); and 4. being defined as hypertext structures (circulation of open and multiple digital information) but principally producing hyperdiscourses (with a strong semantic non-linearity).1534

Betrachten wir nun zunächst ein virtuelles Gedicht von Ladislao Pablo Györi, und zwar das ca. 4'13" lange Vpoem 14.1535 In diesem Gedicht führt Györi die „Implementierung typographischer Zeichen in den virtuellen Raum [...]“1536 vor. Wir haben es hier mit einem Beispiel der nicht die Interaktivität des Lesers erfordernden virtuellen Poesie zu tun. Der Leser kann nicht aktiv den Ablauf des Gedichts steuern, wenn er es einmal gestartet hat. Eingreifen kann er – neben dem gewollten Abbruch – nur in einer Hinsicht: Durch das Anklicken der Pause-Taste wird das Gedicht unterbrochen. Die folgenden Abbildungen zeigen Stills, die der Chronologie von Vpoem 14 folgen:

Abb. 217  Ladislao Pablo Györi, Vpoem 14 (1996) [Still] Abb. 218  Ladislao Pablo Györi, Vpoem 14 (1996) [Still]

1534 Györi (2007), S. 162. Für weitere komplementäre Definitionen von Györi vgl. ib. (1995). 1535 Györi (1996) [Internet]. 1536 Reither (2003), S. 90.

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Dichtung im Raum

Abb. 219  Ladislao Pablo Györi, Vpoem 14 (1996) [Still]

Vpoem 14 nutzt neben der visuellen Dimension auch die akustische, denn die Bewegungen der skripturalen Zeichen auf dem Bildschirm hat Györi durch unterschiedliche Geräusche und Klänge unterstrichen. Dieses Vorgehen ist nicht notwendigerweise mit dem Konzept der Virtual Poetry verbunden, bietet sich aber insofern an, als die Akustik den Eindruck von Räumlichkeit, der ja erzeugt werden soll, unterstützen kann. Schon Marshall McLuhan hat explizit vom „acoustic space“1537 gesprochen. Es soll im Folgenden nicht darum gehen, Vpoem14 detailliert zu analysieren oder die digitalen Simulationstechniken,1538 die der Realisierung dieses Gedichts zugrunde liegen, zu erörtern, sondern vielmehr darum, einen Einblick in die – selbstverständlich variantenreiche – Gattung des virtuellen Gedichtes zu geben. Eine genaue Interpretation ist auch insofern ausgeschlossen, als Vpoem 14 zur Veranschaulichung von Györis Konzept der Virtual Poetry aus dem Kontext der Gruppe aller Vpoems herausgelöst wurde. Im Zusammenspiel beinhalten diese eine Reihe non-linearer Bedeutungspotenziale. Die erste Abbildung zeigt einen linear zu rezipierenden Text, der dem standardisierten Satzspiegel entspricht und dessen Quelle angegeben ist: Es handelt sich offensichtlich um einen Ausschnitt aus einem Artikel von Adam Mckeown, der im Juli 1995 1537 McLuhan/Fiore (1996), S. 48. 1538 Vgl. hierzu Györi (2001) [Internet].



Ausblick

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in der US-amerikanischen Zeitschrift Intimacy publiziert wurde. Diese Zeitschrift ist thematisch auf die experimentelle Dichtung und Kunst fokussiert. Der Ausschnitt bzw. die letzte in ihm gestellte Frage stellt gewissermaßen die Rechtfertigung des auf ihn folgenden virtuellen Gedichts dar: „Is there any way you could respond to/interpret these themes in order to produce some virtual works?“1539 Um welche Themen es sich dabei handelt, hat der Leser zuvor im oberen Teil des Ausschnitts erfahren. Hier hat der Autor ein Zitat des französischen Schriftstellers Georges Bataille eingefügt, das aus dessen Programm der von ihm initiierten Gruppe Acéphale1540 stammt. Wikipedia stellt folgende Informationen über diese Gruppe bereit: Acéphale [...] ist der Name einer von dem französischen Schriftsteller Georges Bataille 1936 ins Leben gerufenen Geheimgesellschaft, an der unter anderem Jacques Lacan und Walter Benjamin teilnahmen. Außerdem ist Acéphale der Titel einer 1936 von Bataille, Pierre Klossowski und André Masson gegründeten Zeitschrift, die sich um eine ‚Wiedergutmachung an Nietzsche‘ bemühte und der öffentliche Ausläufer des Collège de Sociologie war. Die Zeitschrift diente vor allem dazu, Nietzsche gegen die von seiner Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche und anderen begünstigte und forcierte Anbindung des Werkes an die Nationalsozialisten zu retten. Die Organisation Acéphale hielt – wie die jüngst von Marina Galletti zusammengetragenen Dokumente belegen – ihre Treffen streng geheim und verstand sich als spirituell-okkulte, aber weltliche und antireligiöse Organisation, in der – unter anderem bei nächtlichen Treffen in Wäldern – mythische und orgiastische Riten abgehalten wurden. Bataille forderte einmal sogar bei einem dieser nächtlichen und mit Schwefeldampf inszenierten Rituale seine eigene Opferung zum Tode; dieses Anliegen wurde ihm von den übrigen Mitgliedern jedoch verwehrt [...]. Der Name Acéphale (‚ohne Haupt‘) unterstrich den antiautoritären und antifaschistischen Charakter der Organisation. Bataille ging es nach eigenem Bekunden um die Schaffung eines progressiven Gegenmythos zur regressiven Mythologie des Nationalsozialismus. Der Gründung von Acéphale ging die von Bataille und dem surrealistischen Dichter André Breton angeführte Gruppe Contre-Attaque voraus, eine gegen den Nationalsozialismus gerichtete Kampfgemeinschaft.1541

Die im Zitat, das Mckeown dem Programm der Gruppe Acéphale entnommen hat, auftauchenden Schlüsselbegriffe „destruction“ und „decomposition“ beziehen sich im Original auf den Bereich der Gesellschaftsordnung/en: Bestehende hierarchische Strukturen gilt es laut Bataille zu zerstören, um neue Gesellschaften ohne Oberhäupter zu bilden. Györi hat diese Vorgänge in Vpoem 14 auf den Bereich der Sprache übertragen, und zwar in zweifacher Hinsicht: erstens auf der inhaltlichen Ebene (vgl. „steadiness“, „damage“, „disperse“, „cracks“, „atomizing“ etc.) und zweitens auf der Ebene der Textverfertigung, denn dieses virtuelle Gedicht führt die Zerstörung und Neuanordnung sprachlicher 1539 Hervorhebungen von mir, B.N. 1540 Über die Gruppe Acéphale informieren Bischof (2010) und Moebius (2006). 1541 Abrufbar unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Ac%C3%A9phale [zugegriffen am 05.03.2011].

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Dichtung im Raum

Strukturen vor. Diese Neuanordnung wird explizit im (virtuellen) Raum inszeniert, so dass beim Leser der Eindruck eines „arrangement which extends largely on 3D virtual space, assuring, therefore, a structural diversity, appreciable during a ‘flyby’“1542 entsteht. Betrachten wir nun das virtuelle Gedicht Primer Agua (1994)1543 von Gyula Kosice. Die folgenden drei Abbildungen zeigen repräsentative Stills, deren Reihenfolge ebenfalls der Chronologie dieses Gedichts entspricht:

Abb. 220–222  Gyula Kosice, Primer Agua (1995) [Stills]

Wie die virtuelle Dichtung von Ladislao Pablo Györi oder von Dichtern aus seinem direkten Umfeld weist signifikanterweise auch die Gestaltung von Primer Agua eine große Nähe zu den Arbeiten des Semiotikers José E. García Mayoraz auf. In dessen Aufsatz La crítica de arte en el ciberespacio (1995) heißt es explizit: El poema Primer Agua del célebre artista contemporáneo Gyula Kosice me dio la oportunidad […] de mostrar digitalmente el comportamiento de los Campos Semánticos Vectoriales – teoría plasmada in mi libro Entropía/Lenguajes de 1989 y confirmada posteriormente por los trabajos en ANS (Sistemas de Neuronas Artificiales) realizados por Hinton, Plaut y Shallice en sus estudion sobre lenguaje en el cerebro.1544

Am offensichtlichsten ist der Zusammenhang zwischen virtueller Dichtung und Semantik sowie (Computer-)Linguistik auf der ersten der drei Abbildungen aus Primer Agua, die im Rahmen einer Vektordarstellung drei semantische Felder des im Gedicht präsentierten Zeichenbestandes zeigt. Auf den beiden nachfolgenden Abbildungen sind Teile zweier syntaktischer Zeichenkomplexe zu sehen, die in der Animation vor den Augen des Rezipienten miteinander konkurrieren, dabei jedoch demselben semantischen Feld entstammen: „porque la gota es una miríada oblicua“ und „KOSICE discurso de agua“. Kommen wir abschließend zu einem vollkommen andersartigen virtuellen Gedicht, nämlich Legible City von Jeffrey Shaw und Dirk Groeneveld. Dieses Gedicht unterscheidet sich insofern von den vorangehenden, als es ein hohes Maß an Interaktivität des Lesers notwendigerweise erfordert.1545 Interaktiv kann der Leser in den vorangegangenen 1542 Györi (2001) [Internet]. 1543 Die folgenden Stills sind Mayoraz (1995) [Internet] entnommen. 1544 Mayoraz (1995) [Internet]. 1545 Das Konzept einer 3D-Interaktion, das Legible City vorführt, ähnelt stark demjenigen in Jeffrey Shaws Installation The Virtual Museum (1991). Vgl. Daniels (2003), S. 72.

Ausblick



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Beispielen von Györi und Kosice nur in der Hinsicht werden, dass er die Animation unterbrechen oder beenden kann, falls man dies tatsächlich als Eingriffsmöglichkeit werten möchte. Die Rezeption von Legible City erfordert insofern eine starke körperliche Aktivität des Lesers, als er auf einem stationären Fahrrad vor einer Videoleinwand sitzt, die eine Stadt zeigt, die – statt aus Häusern o.Ä. – ausschließlich aus dreidimensionalen Buchstaben besteht. Jeffrey Shaw und Dirk Groeneveld haben drei unterschiedliche Versionen von Legible City produziert, denen jeweils eine real existierende Stadt als Modell zugrunde liegt, nämlich Manhattan, Amsterdam und Karlsruhe. Mithilfe der Pedale und des Lenkers kann der Leser durch die Straßen der jeweiligen virtuellen Stadt navigieren und dabei auch seine Geschwindigkeit der persönlichen Vorliebe entsprechend variieren. Auf diese Weise kann er beliebige Texte erstellen, die Lektüre gestaltet sich dementsprechend hochgradig subjektiv. Im vorliegenden Fall ist die Aktivität, die ja das dominante Merkmal des ,neuen‘ Lesers darstellt, nicht auf den intellektuellen Bereich beschränkt, sondern betrifft ebenfalls den körperlichen Bereich. Der Grad an physikalischer Partizipation des Lesers ist dabei noch höher als bei der holographischen Poesie.1546 Die Rezeption von Legible City beinhaltet, dass das vormals statische Material der Signifikanten [...] beweglich [wird], und seine Bewegung [...] in Abhängigkeit von der physischen Präsenz des Rezipienten [erfolgt]. Der Körper wird daher selbst zu einem Signifikanten des Werkes […].1547

Im Unterschied zu den bisherigen digitalen Animationen tritt bzw. fährt der Leser in Legible City – zumindest imaginär – in den virtuellen Raum der entsprechenden Stadt ein und kann sich in ihm relativ frei bewegen. Damit geht einher, dass „die Differenz zwischen virtuellem und physischem Raum, zwischen Materialität und Immaterialität [...] markiert [...]“1548 wird. Außerdem ist in diesem intermedialen Gedicht keine Grenze mehr zwischen Spiel und Kunst zu ziehen. Die Verbindung von Spiel und Dichtung finden wir schon bei Eugen Gomringer, jedoch stellt für ihn die Konstellation ein rein „geistiges spielfeld“1549 dar. In Legible City manifestiert sich der spielerische Charakter nicht (nur) auf einer geistigen Ebene, sondern auch in konkreten Handlungen des Lesers. Die folgende Abbildung soll den Ausführungen jenes Maß an Anschaulichkeit verleihen, das durch ein Standbild zu erzielen ist:

1546 Vgl. S. 211ff. dieser Arbeit. 1547 Block (1997), S. 196. 1548 Block (1997), S. 198. 1549 gomringer (1969b), S. 61.

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Abb. 223  Jeffrey Shaw/Dirk Groeneveld, Legible City (1989–1991) [Still]

Dass es sich bei Legible City um eine Stadt ausschließlich aus Buchstaben handelt, verweist stark auf die lange Tradition der so genannten loci-Methode als Teil der antiken Mnemotechnik und auf die gebräuchliche Metapher des Textes als Stadt.1550 Zugleich erinnert Legible City daran, dass der heutige Mensch – zumindest in Großstädten – permanent von skripturalen Zeichen und Zeichenkomplexen umgeben ist. Diesem Umstand hat auch David Knoebel mit seiner Sammlung Click Poetry: Words in Space aus dem Jahr 2001 Rechnung getragen. Im Vorwort zu seiner Sammlung hat er diesen Aspekt explizit thematisiert: We live surrounded by words. They lie discarded on wrappers beneath our feet. They adhere to windows at eye level and to billboards high above. We perceive these words in no particular order. They are part of life’s jumble, unlikely to yield beauty or truth. But what if they did? What if we could walk among the words of novels and poems? What if we wrote with words in space?1551

Für Legible City und das diesem intermedialen virtuellen Gedicht zugrunde liegende Konzept gibt es ein konkretes zeitgenössisches Modell, nämlich die Cybernetic Land­ scapes (1971–1973) von Aaron Marcus. Fakt ist,

1550 Vgl. beispielsweise Wittgenstein (1984), S. 245, Philosophische Untersuchungen 18: „Unsere Sprache kann man ansehen als eine alte Stadt: Ein Gewinkel von Gäßchen und Plätzen, alten und neuen Häusern und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten […].“ 1551 Knoebel (2001) [Internet].



Ausblick

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daß bereits Ende der sechziger Jahre Aaron Marcus wohl als erster überhaupt mit interaktiven Bildschirmtexten und grafischen Interfaces, die einen dreidimensionalen Raum simulieren, künstlerisch experimentiert hat. Seine Cybernetic Landscapes (1971ff.) erlauben dem Benutzer, per Joystick und Tastatur virtuell durch eine Landschaft zu wandern, die typographische bzw. textuelle Elemente enthält.1552

Die Technik, mittels derer die Produktion der Cybernetic Landscapes möglich wurde, hat ihr Schöpfer Aaron Marcus in einem Kommentar aus dem Jahre 1975 folgendermaßen erläutert: At the Computer Graphics Laboratory at Princeton University, I have developed a series of cybernetic landscapes utilizing programs in Fortran for a PDP–10 digital computer and an Evans and Southerland LDS–1 interactive computer graphics display system. The cathode ray tube device permits images in stereo and color as well as two-dimensional pictures which can be altered smoothly and instantaneously.1553

Im Kontext der Diskussion um den ,neuen‘ Leser wird gewöhnlich seine  – gemessen am Leser traditioneller Gedichte – extrem hohe Aktivität als das wesentliche Charakteristikum gehandelt. Das Beispiel von Legible City zeigt, dass diese Aktivität sowohl körperlicher als auch intellektueller Natur sein kann. Dabei hängt die zweite Form der Rezeption von der ersten ab, denn erst durch den körperlichen Einsatz entstehen Texte, die dann interpretiert werden können. Dieses Prinzip erinnert an zwei andere bereits erläuterte Dichtungstypen, nämlich die holographische und die hypertextuelle Dichtung. In diesen beiden Fällen ist die notwendige körperliche Dimension allerdings wesentlich geringer als bei Legible City, denn weder die Blickwinkelveränderung bei der holographischen Dichtung noch der Mausklick bei der hypertextuellen Dichtung ist mit dem Fahrradfahren im vorliegenden Fall zu vergleichen. Nichtsdestoweniger findet die Rezeption in allen drei Fällen nicht ausschließlich im intellektuellen, sondern zunächst im materiell-körperlichen Bereich statt.

1552 Block (1997), S. 197. Vgl. Block/Heibach/Wenz (2004), S. 14. 1553 Marcus (1975) [Internet]. Vgl. Marcus (1976), S. 14f.

5. Schlussbetrachtung

Auf Intermedialitätsphänomene treffen wir in den Künsten nicht erst gegen Ende der 1990er Jahre, wie dies oft behauptet wird, sondern schon erheblich früher. Der Aspekt der intermedialen Verknüpfung, der auf vollkommen unterschiedliche Weise gestaltet sein kann, ist eines, wenn nicht gar das charakteristische Merkmal der modernen Künste oder – als Folge ihrer „Verfransung“1554 nach Adorno – der modernen Kunst überhaupt. Dies trifft auch für den Bereich der Literatur zu. Den repräsentativen Anfang dieser starken Tendenz bilden hier zweifelsohne die Avantgarden am Ende des 19. Jahrhunderts (Stéphane Mallarmé u.a.) und zu Beginn des 20. Jahrhunderts (z.B. Futurismus, Surrealismus und Dadaismus). Die moderne Dichtung stellt in dieser Hinsicht keine Ausnahme innerhalb der Domäne der Literatur dar: Auch Gedichte weisen oftmals eine intermediale Ausrichtung auf. Ziel der vorliegenden Arbeit war es, die sich in der Dichtung nach 1945 manifestierenden Intermedialitätsformen, d.h. die unterschiedlichen Ausprägungen intermedialer Verknüpfungen, systematisch zu erfassen und zu untersuchen. Dieses Bestreben ist der Einsicht geschuldet, dass intermediale Gedichte in der Zeit nach 1945 kein Randphänomen darstellen, sondern einen erheblichen Teil der poetischen Produktion ausmachen. Die Kehrseite dieser großen Beliebtheit stellt naturgemäß die Notwendigkeit, eine Auswahl treffen zu müssen, dar. Darüber hinaus ergibt sich aus ihr auch die Problematik einer Systematisierung der poetischen Phänomene. Da der Versuch, Vollständigkeit zu erzielen, von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, wurde er im Rahmen dieser Arbeit gar nicht erst unternommen. Statt Vollständigkeit sollte ein repräsentativer Querschnitt der intermedialen Dichtung bzw. der intermedialen Dichtungsformen aus der Zeit nach 1945 bis heute vermittelt werden. Dieser lässt das tatsächliche Ausmaß der poetischen Intermedialitätsphänomene aus diesem Zeitraum zumindest erahnen. Das Feld der intermedialen Dichtung nach 1945 ist prinzipiell zu allen Seiten offen, oder anders ausgedrückt: In dieser Zeit verbreitet sich das Bewusstsein einer prinzipiellen Anschlussfähigkeit der Dichtung an die anderen Künste.1555 In der Folge sind die mannigfaltigsten poetischen Produkte entstanden. Aus diesem Grund musste im Rahmen der vorliegenden Arbeit eine sinnvolle Auswahl getroffen werden. Sie ist konzentriert auf die poetische Intermedialität im visuellen Bereich (skriptural-pikturale Intermedialität, Kapitel 2), im auditiven Bereich (skriptural-akustische Intermedialität, Kapitel 3) sowie im intermedialen Bereich der Verknüpfung von Dichtung und Skulptur oder Architektur (Kapitel 4) und schließlich – als Ausblick – im digitalen Raum (Kapitel 4).

1554 Adorno (1977), S. 432. Adorno hat diese Idee in seinem Vortrag mit dem Titel Die Kunst und die Künste, den er im Jahr 1966 in der Akademie der Künste in Berlin gehalten hat, entwickelt. 1555 Die Dichtung ist somit ein repräsentativer Vertreter jener „Promiskuität“, die Adorno den Kunstgattungen zugeschrieben hat. Adorno (1977), S. 435.



Schlussbetrachtung

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Die entscheidende Motivation zur Abfassung der vorliegenden Arbeit und zugleich ihre wissenschaftliche Berechtigung erklären sich daraus, dass bisherige Studien zur intermedialen Dichtung des 20. Jahrhunderts, und hier im Besonderen zur so genannten Konkreten Poesie, fast ausschließlich auf den Bereich der skriptural-visuellen Dichtung beschränkt sind und so fälschlicherweise den Eindruck vermitteln, intermediale Gedichte seien lediglich hier anzutreffen. Nur vereinzelt finden sich auch Arbeiten zum intermedialen Phänomen des Lautgedichtes nach 1945.1556 Dabei handelt es sich bei diesen beiden Bereichen nur um zwei Teilaspekte der poetischen Intermedialität, keinesfalls erschöpft sich diese in ihnen. Bislang fehlte jedoch eine umfassende Studie zu den intermedialen Phänomenen in der Dichtung nach 1945, die deren tatsächliche Bandbreite aufzeigt. Diesem Forschungsdesiderat ist die vorliegende Arbeit nachgekommen. Intermedialitätsphänomene in der Dichtung nach 1945 lassen sich nicht isoliert – gewissermaßen ,dichtungsintern‘ – betrachten, sondern müssen immer im Kontext der anderen Künste sowie mit Blick auf die gesamtkulturellen und vor allem auch mediengeschichtlichen Entwicklungen ihrer Zeit betrachtet werden. Aus diesem Grund werden die Gedichtanalysen in der vorliegenden Untersuchung von entsprechend ausführlichen Erörterungen begleitet, die diese Dichtung als ,Kind ihrer Zeit‘ – natürlich unter Berücksichtigung des Einflusses wichtiger Vorläufer  – zu erkennen geben. Intermediale Gedichte aus der Zeit nach 1945 bewegen sich immer im Spannungsfeld von Innovation und Tradition, bzw. ihr Innovationspotenzial ist zum großen Teil einem innovativen Umgang mit bereits existierenden Tendenzen und Mustern geschuldet. Im Gegensatz zu den literarischen Avantgarden desavouieren die entsprechenden Dichter aus der Zeit nach 1945 ihre Vorläufer nicht, sondern heben deren Vorreiterrolle hervor. Es geht hier natürlich auch darum, die eigene intermediale Dichtung durch die Nennung prominenter Namen aufzuwerten. Bis heute hat diese Art von Dichtung ja das Problem einer relativ geringen öffentlichen Akzeptanz. Nicht selten wird auch heute noch ihr künstlerischer Wert in Frage oder sogar in Abrede gestellt. Das liegt vor allem auch daran, dass sie oftmals den Rahmen des akademischen Diskurses und seiner institutionellen Möglichkeiten sprengt. Neben den Aspekten der Tradition und Innovation kommt demjenigen der Medienabhängigkeit und dem mit diesem eng zusammenhängenden Aspekt der Medienreflexion eine gewichtige Rolle zu. Mit einigem Recht lässt sich die intermediale Dichtung nach 1945 als eine praktische Bestätigung des McLuhanschen Theorems „The Medium is the Message“ aus Understanding Media. The extensions of man (1964) auffassen. Gerecht werden kann man der intermedialen Dichtung nach 1945 nur dann, wenn man sie als „Medienpoesie“1557 begreift. Intermediale Gedichte reflektieren immer auch – in impliziter oder expliziter Form – ihre Gemachtheit bzw. die ihr zugrunde liegenden Produktionsverfahren, die aufgrund der prinzipiellen Technikbegeisterung der entsprechenden Dichter, die in der Tradition des italienischen Futurismus steht, vor allem auch technische Innovationen beinhalten. Dies trifft auf keine intermedialen Gedichte mehr zu 1556 Eine der umfangreichsten und aktuellsten Arbeiten zum Thema ,Lautpoesie‘ stellt die zweibändige Studie von Michael Lentz, die im Jahr 2000 publiziert wurde, dar. 1557 So der Titel von Schenk (2000).

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Schlussbetrachtung

als auf diejenigen, die in Lateinamerika (zum Beispiel von den Mitgliedern der Gruppe Noigandres, Eduardo Kac oder Ladislao Pablo Györi) produziert wurden und werden. Auch wenn intermediale Verknüpfungen sich in der Dichtung nicht erst nach 1945 nachweisen lassen, so setzt die vorliegende Arbeit dennoch mit diesem Jahr ein, und zwar nicht nur wegen der bereits erwähnten Notwendigkeit, aufgrund der existierenden Materialfülle eine Eingrenzung vornehmen zu müssen. Die zeitliche Eingrenzung ist vielmehr deshalb bewusst gewählt, weil sich die sich nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges ausbreitende prinzipielle Sprachskepsis oder Sprachkritik im Bereich der Dichtung verstärkt in der Suche nach alternativen poetischen Ausdrucksformen neben der traditionellen Verschriftlichung auf Papier, die stets an bestimmte nationalsprachige linguistische Codes gebunden ist, geäußert hat. In der Zeit nach 1945 tritt das Phänomen der Intermedialität aus diesem Grund erstmals verstärkt und großflächig auf. Aufgrund der sich in intermedialen Gedichten manifestierenden Suche nach einer Universalsprache im Sinne einer langue supranationale (Pierre Garnier) oder einer universalen Gemeinschaftssprache (Eugen Gomringer) werden sie dem Anspruch auf internationale Verständlichkeit per se weitaus gerechter als auf traditionelle Weise verschriftlichte Gedichte. Poetische Intermedialität ist daher prinzipiell immer untrennbar mit dem Konzept der Internationalität oder Globalität verbunden. Diese haben zahlreiche der Konkreten Dichter explizit zum historischen Hintergrund ihrer poetischen Programmatik erklärt. Damit leisten intermediale Gedichte auch einen kleinen Beitrag zu dem sich zunehmend schneller vollziehenden Prozess der Globalisierung, dessen Zeuge wir alle in den unterschiedlichsten Bereichen sind. Die Globalisierung und die globalisierte Kommunikation bringen es mit sich, dass international kompatible Zeichen produziert und rezipiert werden. Dies betrifft vor allem den Bereich der Produkt- und Massenkommunikation. Hier könnte es Aufgabe der Sprachkunst sein, die globalisierte Kommunikation im Sinne ästhetischer Kriterien umzugestalten und die entstandenen Kommunikationsstrukturen zu nutzen. In diesem Sinne wäre es Aufgabe der Konkreten Poesie, in die Gestaltung der globalen Semiosphäre einzugreifen und damit auf eine ihrer ursprünglichen Funktionen zurückzukommen, nämlich ein „Mittel zur Umweltgestaltung“1558 zu sein.

1558 Vgl. den Titel von Gomringer (1969a).

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7. Personenregister

Accame, Vincenzo 11, 34, 47, 104, 106, 130, 137–139, 141, 481, 487 Achleitner, Friedrich 315–320, 481 Adorno, Theodor Wiesengrund 37, 177, 255, 478, 481 Aguiar, Fernando 115, 151, 152, 443–445, 481, 504 Aicher, Otl 63, 145, 481 Albani, Paolo 398, 399 Alberti, Leon Battista 84, 428, 481 Anderson, Laurie 40, 261 Apollinaire, Guillaume 18–20, 29, 40, 46, 57, 87, 91, 116, 129, 157, 168, 245, 246, 288, 330, 335, 336, 374, 481 Aragon, Louis 117 Araújo, Avelino de 86–92, 236–239, 399, 504 Aristophanes 335, 352, 481 Arp, Hans 194 Artaud, Antonin 379 Attersee, Christian Ludwig 389–391, 421, 422 Auer, Johannes 238 Augustinus, Aurelius 12, 420, 481 Azeredo, Ronaldo 197, 206, 207, 228–232, 244 Ball, Hugo 245, 246, 250, 252, 335, 481 Balzac, Honoré de 245, 481 Barthes, Roland 11, 12, 64, 65, 67, 160, 165, 189, 488 Bassewitz, Gerdt von 156 Baudelaire, Charles 46, 80, 91, 232 Bauer, Josef 388, 446 Bellay, Joachim Du 14, 75, 97, 387, 483 Belloli, Carlo 34, 35, 73, 112, 183, 322–326, 370, 371, 428, 488 Benjamin, Walter 15, 93, 220, 473, 482 Bense, Max 28–30, 33, 34, 388, 458, 482, 488 Bentivoglio, Mirella 23, 234, 379–381, 488 Beuys, Joseph 390, 391, 504 Block, Friedrich W. 213, 220, 455–461, 464, 468, 475, 477, 489, 506 Boissière, Claude de 82, 482

Bootz, Philippe 219, 463–466, 489, 506 Bory, Jean-François 69, 185, 418–419 Braga, Edgar 123, 124 Bremer, Claus 66, 119–122, 482 Breton, André 31, 116, 367–369, 403, 473, 482 Brossa, Joan 89, 373, 374, 379, 382–388, 404–406, 410, 431, 435, 469, 482 Buchner, August 83, 482 Buchwalder, Ernst 447, 448 Burkhardt, Klaus 153–159, 482 Burt, Warren 363–366 Butor, Michel 106, 108, 113, 395, 482, 490 Cage, John 252, 255, 261, 274–276, 377, 482, 504 Campos, Augusto de 27, 31, 32, 68, 188–190, 218, 222–228, 232, 236, 242–244, 334, 343–348, 377–379, 429, 430, 482, 504, 505 Campos, Haroldo de 28, 87, 89, 118, 174, 229, 378, 482 Carrega, Ugo 39, 46, 47, 130, 183, 371–373, 482, 490 Carroll, Lewis 374 Cendrars, Blaise 77, 142 Chopin, Henri 46, 129, 249, 253, 259, 260, 262–264, 275, 288, 289, 292–300, 322, 333, 350–358, 488, 490, 505 Cobbing, Bob 25, 259, 260, 264, 265, 289, 293, 300–305, 342, 343, 351, 354, 357, 482, 491, 506 Colletet, Guillaume 82, 83, 97, 482 Corbière, Tristan 91 Cusanus, Nicolaus 101, 112 D’Abrigeon, Julien 72, 505 Dencker, Klaus Peter 26, 32, 33, 103, 121, 175, 178, 191, 221, 259, 321, 370, 427, 482, 491 Derrida, Jacques 23, 214, 482 Deschamps, Eustache 248, 483 Dettmer, Brian 401, 505 Díaz Rengifo, Juan 83, 483

510

Personenregister

Doesburg, Theo van 107, 109, 322 Döhl, Reinhard 29, 30, 116, 153–158, 238– 241, 259, 260, 482, 488, 507 Dufrêne, François 264, 267, 282, 287–290, 294, 332, 333, 357–359, 492, 505 Eco, Umberto 38, 64–67, 483 Edeline, Francis 113, 118, 195–198, 208, 492 Empedokles 438, 439 Ernst, Ulrich 15, 22, 49, 68, 86, 492 Fahlström, Öyvind 17, 67, 70, 335 Fenollosa, Ernest Francisco 17, 28, 36, 48, 57, 105, 160–162, 483 Ferro, Luigi 143, 144 Finlay, Ian Hamilton 202, 203, 206, 207, 410– 417, 432–442, 448, 483, 485, 487, 501 Fleming, Paul 450 Friedrich, Caspar David 440 Friedrich, Hugo 14, 493 Fujitomi, Yasuo 162 Furnival, John 69, 91 Gábor, Dénes 211 Garnier, Ilse 109–112, 126, 146, 165, 291– 293, 434, 483, 507 Garnier, Pierre 15, 21, 57, 64, 68, 73–76, 81, 104, 106, 109–113, 117, 118, 125–138, 142, 145–154, 163–168, 183, 221, 259, 279, 291–294, 315, 316, 333–341, 351, 374, 434, 436, 446, 480, 483 Gerz, Jochen 39, 64, 137, 139–141, 483, 484 Gill, Eric 384, 493 Gojowczyk, Hubertus 396, 398, 484 Goll, Yvan 68, 484 Gomez, Benjamin 128, 219, 505 Gomez Rodrigues, Tiago 223 Gomringer, Eugen 18, 20–25, 28, 33, 61, 64, 67, 68, 72, 81, 82, 93, 94, 98, 99–101, 106, 118, 130, 137, 148, 149, 161, 162, 174–177, 183, 190, 221, 314–320, 326–330, 367, 369, 450–452, 458, 475, 480, 484 Goodman, Nelson 47, 484, 493 Gottsched, Johann Christoph 335, 336, 484 Greenham, Lily 255 Groeneveld, Dirk 474–476 Grünewald, José Lino 228 Györi, Ladislao Pablo 453, 468–475, 480, 494, 505, 507

Hamburger, Käte 21 Hausmann, Raoul 142, 178, 246, 247, 250, 268, 322, 335, 345, 484 Heath, Ebon 391–393, 505 Heidsieck, Bernard 72, 249, 253, 255, 256, 259, 263, 269, 287, 298–300, 494 Heißenbüttel, Helmut 144 Helms, Hans G 254, 271, 272, 484 Herder, Johann Gottfried 12, 73 Heredia, José Maria 85 Herrera, Fernando de 83 Higgins, Dick 38, 44, 45, 52, 104, 252, 253, 261, 494 Horatius Flaccus, Quintus 36, 112, 439, 449, 484 Hugo, Victor 105, 384, 484 Hurtado de Mendoza, Juan 83 Isgròs, Emilio 119 Isou, Isidore 17, 51, 52, 95, 96, 101, 115, 253, 257, 265–267, 276–281–285, 287, 294, 296, 299, 305, 306, 332, 358, 485 Jammes, Francis 335, 336 Jandl, Ernst 85, 113, 270, 272, 273, 294, 311, 312, 485 Jannequin, Clément 336 Johnson, Tom 312 Joyce, James 27, 274 Kac, Eduardo 71, 73, 74, 210–218, 445, 470, 480, 495, 505 Knoebel, David 476, 505 Kolář, Jiří 48, 74, 189, 492 Kosice, Gyula 469, 474, 475 Kostelanetz, Richard 45, 145, 212, 260, 299, 495 Krampen, Martin 63, 481, 495 Kriwet, Ferdinand 49, 69, 70, 73, 81, 142, 350, 485 Lazarus, Emma 76 Leibniz, Gottfried Wilhelm 28, 63, 162 Lemaître, Maurice 20, 51–53, 165, 257, 265, 281–287, 294, 304, 305–309, 332, 485 Leonardo da Vinci 36, 53 Lessing, Gotthold Ephraim 12, 36, 49, 67, 215, 373, 460 Linschinger, Josef 176, 177, 450, 484 Lomazzi, Giovanni Paolo 36



Personenregister

Lora-Totino, Arrigo 40, 107, 259, 260, 272, 273, 294, 362, 363, 496 Lucier, Alvin 258, 496 Lurie, Toby 273, 274, 496 Lutz, Theo 455, 458 Magritte, René 407, 408 Mallarmé, Stéphane 71, 101, 106, 112, 245, 246, 288, 392, 458, 460, 478, 485 Man Ray (eigentlich Emmanuel Rudnitzky) 119, 247, 248 Marcus, Aaron 476, 477, 497, 507 Marinetti, Filippo Tommaso 29, 31, 46, 93, 114, 116, 140, 146, 150, 230, 297, 323, 367, 459 Mayer, Hansjörg 25, 485 McLuhan, Herbert Marshall 38, 41, 42, 103, 106, 109, 110, 249, 250, 266, 269, 292, 322, 353, 354, 410, 454, 472, 479, 497 Melo e Castro, Ernesto Manuel de 97, 98, 219, 220, 222, 223, 229, 485 Menezes, Philadelpho 50, 209, 210, 256, 359, 361, 485, 497, 504, 506 Meyer, Petra Maria 254, 290, 323, 497 Miccini, Eugenio 35, 182, 183, 428, 429, 485, 497 Michaux, Henri 28, 54–60, 64, 160, 485 Mitchell, William John Thomas 12, 497 Mon, Franz 24, 41, 44, 47, 49, 115, 119, 144, 178, 179–181, 184, 193, 294, 297, 485, 497 Morris, Charles William 196 Musset, Alfred de 65, 483 Neurath, Otto 60–64, 161, 485 Nielson, Jakob 463, 464, 498 Niikuni, Seiichi 162–172, 374, 485, 506 Novalis 36, 146, 486 Oberto, Martino 52, 116, 139, 498 Ocarte 193–195 Oldenburg, Claes 383, 384 Opitz, Martin 75, 83, 486 Ovidius Naso, Publius 352 Padín, Clemente 116, 212, 425, 426, 498, 506 Parmiggiani, Claudio 423, 424 Pastior, Oskar 313 Peirce, Charles Sanders 113, 196, 233, 311 Peletier du Mans, Jacques 80, 82, 99, 486 Pétronio, Arthur 263, 264, 499

511

Petrarca, Francesco 65, 77, 92, 98 Pico della Mirandola 40 Pignatari, Décio 18, 20–22, 26, 31, 67, 122, 173, 174, 186, 187, 196–202, 206–208, 229, 232–236, 345, 347, 482, 486, 499, 506 Pignotti, Lamberto 24, 35, 47, 89, 104, 119, 121, 130, 181–184, 233, 235, 370, 482, 499 Pimenta, Alberto 78, 81, 98, 99 Pinto, Luiz Ângelo 20, 21, 196–200, 206– 208, 486 Platon 23, 159, 420, 432, 433 Plaza, Julio 244, 429, 499, 505 Plotin 40, 49, 486 Poe, Edgar Allan 108 Pound, Ezra 17, 27, 161, 483, 486 Queneau, Raymond 71, 465 Riedl, Josef Anton 321, 322 Riha, Karl 78, 79, 87, 94, 95, 245, 247, 252, 261, 268, 356, 357, 486, 487, 500 Rimbaud, Arthur 85 Ronsard, Pierre de 14, 76, 450 Rossi, Nicolò de 85 Rosenberg, Jim 463, 465, 467, 468, 508 Rot, Diter 121, 390 Rückert, Friedrich 335, 486 Rühm, Gerhard 109, 110, 141, 263, 294, 302–304, 310, 311, 313–318, 330–333, 399, 400, 486, 500, 508 Ruppenthal, Stephen Cranston 245, 254, 261, 264, 314, 500 Sá, Àlvaro de 208–210 Sabatier, Roland 52–54, 500 Sand, George 65 Saroyan, Aram 142, 143 Saussure, Ferdinand de 23, 40, 240, 250, 363 Schaeffer, Pierre 263, 294, 500 Schäuffelen, Konrad Balder 401–403, 406– 409, 486 Schlegel, August Wilhelm 36, 37, 76, 80, 81, 83, 404, 428, 440, 486 Schmidt, Siegfried J. 25, 33, 117, 125, 148, 481, 501 Scholz, Christian 245, 251, 254, 257, 260, 319, 335, 352, 362, 364, 365, 486, 501, 504

512

Personenregister

Schuldt 374–377, 487 Schwitters, Kurt 101, 116, 145, 253, 323, 335, 354 Seaman, David W. 17, 30, 51, 106, 501 Sébillet, Thomas 82, 487 Segalen, Victor 28 Shakespeare, William 77, 95, 96, 98, 450 Shaw, Jeffrey 474–476 Sidney, Sir Philip 96 Simias von Rhodos 31, 32, 156 Simonides von Keos 36 Small, David 72, 508 Snow, Charles Percy 454, 461 Solt, Mary Ellen 18, 21, 25, 26, 68, 69, 91–94, 122, 142, 152, 157, 188, 195, 203–205, 487, 502 Spatola, Adriano 119, 487 Sterne, Laurence 89 Stein, Gertrude 328 Topel, Andrew 349, 394, 442, 487 Toshihiko, Shimizu 188, 191, 192

Tzara, Tristan 69, 195 Ullrich, Barbara 78, 94, 95, 487 Ulrichs, Timm 101, 102, 220, 397, 409, 410, 420, 421, 448–450, 487 Uribe, Ana María 128, 462, 463, 506 Uribe, Enrique 122, 123 Valéry, Paul 81, 487 Vallias, André 460–462, 502, 506 Vega, Garcilaso de la 83 Humboldt, Wilhelm von 28, 162 Webern, Anton von 26, 344–347 Walzel, Oskar 14 Warhol, Andy 186 Weibel, Peter 422, 425 Wendt, Larry 245, 257, 259, 262, 267, 287, 294, 297–300, 503 Williams, Emmett 18, 117, 121, 487 Wittgenstein, Ludwig 151, 476, 487 Wolf, Werner 39, 41, 42 Yamanaka, Ryojiro 171, 172 Young, Karl 361, 506

SPR ACHE IM TECHNISCHEN ZEITALTER HERAUSGEGEBEN VON THOMAS GEIGER, JOACHIM SARTORIUS UND NORBERT MILLER

„Sprache im technischen Zeitalter“ ist eine der bedeutendsten und traditionsreichsten deutschsprachigen Literaturzeitschriften. Seit Walter Höllerer sie 1961 ins Leben rief, ist „SpritZ“ ein „Zentralort der Selbstverständigung zeitgenössischer Literatur“ ( J. Kalka). Viermal jährlich vermittelt sie mit literarischen Texten und Essays und anspruchsvollen Fotografien einen Überblick über das literarische und kulturelle Geschehen der Gegenwart. HEFT 211, JG. 52, 3 (2014)

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