Göttinger Köpfe: und ihr Wirken in die Welt [2 ed.] 9783666352140, 9783525352144


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Göttinger Köpfe: und ihr Wirken in die Welt [2 ed.]
 9783666352140, 9783525352144

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Göttingen, Stadt der Wissenschaft – die Stadt, die Wissen schafft. Wohl kaum ein anderer deutscher Ort präsentiert sich so vielfältig und prominent durch die Gelehrten, die dort gelebt, gearbeitet und in die Welt hineingewirkt haben. »Göttinger Köpfe« präsentiert eine Galerie dieser Persönlichkeiten: Karl Barth, Otto Hahn, Werner Heisenberg, Helmuth Plessner, J. Robert Oppenheimer, Minna Specht, Adam von Trott zu Solz, Carl Friedrich von Weizsäcker und viele andere werden in anschaulichen Porträts vorgestellt. Die Herausgeber Stine Marg ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Prof. Dr. Franz Walter ist Direktor des Göttinger Instituts für Demokratieforschung und einer der profiliertesten deutschen Politikwissenschaftler.

Stine Marg / Franz Walter (Hg.) Göttinger Köpfe

Göttinger Institut für

Demokratieforschung

Göttinger Köpfe und ihr Wirken in die Welt Herausgegeben von Stine Marg und Franz Walter

ISBN ISBN 978-3-525-35214-4 978-3-525-35214-4

9 783525 352144

190821_US Goettinger Koepfe_Nachauflage.indd 1

21.08.19 15:05

Göttinger Köpfe

und ihr Wirken in die Welt Herausgegeben von Stine Marg und Franz Walter

Mit 29 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. 2., durchgesehene Auflage 2019 © 2019, 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildungen (im Uhrzeigersinn): Leonard Nelson (Stadtarchiv Göttingen), Hannah Vogt (privat), J. Robert Oppenheimer (© SZ Photo 479534), Minna Specht (AdsD / Friedrich-Ebert-Stiftung), Christian Graf von Krockow (Foto: Deuerl. Buchhandlung / Stadtarchiv Göttingen) Satz: textformart, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-35214-0

Inhalt

9

Vorwort

Präger des bundesdeutschen Staatsrechts 15

Gerhard Leibholz Theoretiker des Parteienstaates von Franz Walter

21

Rudolf Smend Lehrer der Integration von Franz Walter

Deuter der Geschichte 35

Percy E. Schramm Zwischen Mediävistik und Kriegstagebuch von Stine Marg

43

Christian Graf von Krockow Geschichten vom Vergangenen von Katharina Rahlf

52

Siegfried A. Kaehler Der preußische Staat als Lebensthema von Stine Marg

59

Werner Conze Die Neubegründung der Sozialgeschichte von Michael Lühmann

65

Alfred Heuß Die Kritik am »historischen Analphabetismus« von Felix Bartenstein Inhalt

5 

Exzellenzen der »exakten Wissenschaft« 73 Amalie Emmy Noether Emmy und »ihre Jungs« von Johanna Klatt

81 Max Born Das Gewissen des Atomzeitalters von Severin Caspari

89 Otto Hahn Der atomare Fluch und Segen von Robert Lorenz

94 J. Robert Oppenheimer Der Charismatiker des Atomzeitalters von Roland Hiemann und Robert Lorenz

102 Max Planck Göttinger im Geiste von Lars Geiges

110 Carl Friedrich von Weizsäcker Vom Diktator zum Friedensphilosophen von Robert Lorenz

117 Werner Heisenberg Der frustrierte Weltenbummler von Robert Lorenz

123 Friedrich Hermann Rein Zwischen Labor und Rektorat von Stine Marg

6 

Inhalt

Interpreten von Sinn, Sein und Sollen 133 Edmund Husserl »Geben Sie Kleingeld!« von Franz Walter

142 Leonard Nelson Philosoph einer Diktatur der Vernunft von Franz Walter

148 Nicolai Hartmann Ein Bewohner des Elfenbeinturms von Danny Michelsen

155 Helmuth Plessner Der späte Soziologe von Franz Walter

162 Karl Barth »Genosse Pfarrer« und »Kirchenvater des 20. Jahrhunderts« von Jens Gmeiner

171 Edith Stein »Potenz und Akt« von Franz Walter

181 Erich Weniger »Wer links beginnt, endet liberal – und umgekehrt« von Andreas Wagner

Inhalt

7 

Grenzüberschreiter zur Politik 191 Hannah Vogt Ein ruheloses Leben von Christian Werwath

200 Adam von Trott zu Solz Der vergessene Widerstandskämpfer von Benjamin Wochnik

209 Willi Eichler Von Göttingen nach Godesberg von David Bebnowski

215 Minna Specht Erziehung zum Sozialismus von Jonas Rugenstein

220 Artur Levi Der ängstliche Elitekämpfer von Felix Butzlaff

227 Hans-Jürgen Krahl Der vagabundierende Revolutionär von Matthias Micus

238 Peter von Oertzen Studien und politische Lehrjahre in Göttingen von Philipp Kufferath

8 

Inhalt

Vorwort

Göttingen, die Universität, ihre Gelehrten  – das ist schon eine markante Symbiose, die in diesem Frühjahr ein 275-Jahre-Jubiläum feiern kann. Göttinger Stadtgeschichte ist schwerlich ohne die Namen und Lebensläufe der akademischen Mandarine zu schreiben. Schließlich stößt man bei jedem Gang durch die Stadt auf Straßenschilder und Plaketten auf die Granden der Forschung und Lehre, die zumindest eine Zeitlang in der kleinen Stadt an der Leine wirkten. Der Max-Born-Ring, die Felix-Klein-Straße, die David-Hilbert-Straße, der Platz der Göttinger Sieben sind ganz repräsentative Bezeichnungen für Wege und Orte in Göttingen. Die Autoren dieses Bandes arbeiten allesamt an einer Einrichtung dieser Universität, am Institut für Demokratieforschung. Die Historie von politischen Kulturen und Biografien bildet geradezu ein Achsenstück des Instituts. Doch war die Perspektive bislang in der Regel auf die nationale oder europäische Politik und deren prominente Repräsentanten gerichtet, nicht aber auf Vertreter des lokalen Umfeldes, nicht auf Honoratioren der eigenen Stadt. Die kommunale Heimat dürfte aller Wahrscheinlichkeit nach auch in Zukunft kein konstitutiver Schwerpunkt des Instituts werden. Aber die Lust bei uns wuchs, die Neugierde ebenso, in den fort­ laufenden Untersuchungen über Parteien und Regierungen, in den Studien über Partizipation und Bürgerproteste et al. einmal den Blick nach innen zu richten, auf die eigenen örtlichen Traditionen, auch auf benachbarte Fächer an der Göttinger Universität. Wir haben daraufhin diejenigen Göttinger Figuren ins Visier genommen, die durch ihre Forschungsleistungen nicht nur das eigene wissenschaftliche Fach bereichert, sondern auch Politik und Gesellschaft über die Grenzen Südniedersachsens hinaus wirkungsmächtig beeinflusst haben. Aus diesem Grunde sind es vorwiegend – jedoch nicht ausschließlich – Staatsrechtler, Pädagogen, Philosophen, Sozialwissenschaftler und Historiker des zwanzigsten Jahrhunderts, von denen hier erzählt wird. Die Naturwissenschaftler dürfen natürlich aus zwei Gründen nicht fehlen: Erstens, weil die besondere Reputation der Georgia Vorwort

9 

Augusta durch die ab 1933 größtenteils vertriebenen Mathema­ tiker und Physiker erst begründet wurde. Zweitens spiegelt sich in vielen Biografien eine erhellende Verflechtung von Wissenschaft und Politik wider. Die Atomwissenschaftler Otto Hahn, Werner Heisenberg oder Carl Friedrich v. Weizsäcker bieten die besten Beispiele, auch für die Ambivalenzen, die sich darin zeigen. Doch es geht nicht nur um die üblicherweise herausgehobenen Nobelpreisträger, Berühmtheiten und Vorzeigefiguren dieser Stadt. Auch an fast vergessene Persönlichkeiten soll erinnert werden. Es geht hierbei nicht um die apologetische Pflege lokaler Mythen, sondern darum, kluge, inspirierende, prägende, oft zugleich aber irrende, egozentrische, mit der Zeit sich dogmatisch ver­engende Personen der Wissenschaft lebensgeschichtlich vorzustellen und darüber ein wenig zumindest zu erklären. Dabei werden hier Karl Barth, Edmund Husserl, Rudolf Smend oder Max Planck nicht in opulenten Darstellungen ihres Lebens präsentiert, sondern mit dem Stilmittel der kleinen essayistischen Form. Es geht darum, in Gestalt von pointierten Charakteristika, knappen ­Porträtzeichnungen und individuellen Kolorationen das wissenschaftliche und politische Wirken der Personen zu illustrieren und hierbei der Frage nachzugehen, welchen Stellenwert dabei Göttingen als Stadt für sie besaß. Nicht alle, die hier beschrieben sind, haben den Großteil ihres Forscher- oder Dichterlebens in der hiesigen Universitätsstadt verbracht; für manche bedeutete sie lediglich eine Station ihrer Karriere, die andernorts ihren in würdigenden Nachrufen hernach besungenen Höhepunkt fand. Und dennoch: So sehr Göttingen einen Platz in ihrer Vita einnahm, so sehr gehören die porträtierten Figuren eben auch zur Geschichte dieser »Stadt der Wissenschaft«. Nicht zuletzt halten biografische Verläufe oft auch interessante Hinweise auf politische und stadtgeschichtliche Zusammenhänge bereit: Warum waren die einen, wie etwa Rudolf Smend, angesehene Mitglieder der international anerkannten Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, während andere, wie beispielsweise der Philosophieprofessor Leonard Nelson, für Stadt und Universität stets mehr Außen­seiter als Koryphäe blieben? Was erlebten die ersten Frauen im Studien­ betrieb der Universität, als sie Promotion und Habilitation anstrebten? Was trieb einige Gelehrte dazu, sich 1933 (zuweilen auch früher) öffentlich und denunziatorisch gegen ihre jüdischen Hoch10 

Vorwort

schulkollegen zu stellen? Wie begegneten sich diejenigen nach dem Zweiten Weltkrieg, deren Wege zwischen 1933 und 1945 denkbar gegensätzlich verlaufen waren? Die Studien, die hier vorgelegt werden, handeln schließlich von einer Zeit mehrerer politischer Systemwechsel, dem Übergang vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, dann über den Nationalsozialismus bis zur Bundesrepublik. Wie wirkten sich solche schroffen Zäsuren in den Zeitläuften auf das wissenschaftliche Werk universitärer Forscher aus, die doch allein der Wahrheit verpflichtet sein sollten, nicht den Lockungen von Ideologien, nicht dem sich wandelnden Geist gesellschaft­ licher Zeiten, nicht den Ansprüchen politischer Macht? Mit dem Buch soll einiges davon angerissen werden; es soll den Blick für Aporien in den bildungsbürgerlichen Biografien des abgründigen zwanzigsten Jahrhunderts schärfen. Es mag sich in mehreren Fällen lohnen, in einige der Lebensgeschichten ana­ lytisch tiefer einzudringen, als es hier in einem solchen Sammelband möglich ist. Natürlich, die Auswahl der Personen, über die wir in diesem Buch berichten, ist selektiv und subjektiv. Man hätte weitere hundert Porträts mit dem gleichen Recht aufnehmen können. Auszuschließen ist deshalb im Übrigen nicht, dass wir die Reihe der »Göttinger Köpfe« in Zukunft noch weiter füllen werden. Für diesen ersten Band jedenfalls haben sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Göttinger Instituts für Demokratie­ forschung ihre Helden oder Anti-Helden aussuchen können, auf die sie während ihrer Studien am Ort gestoßen sind, die sie herausgefordert und über den Tag beschäftigt haben. Gut möglich also, dass sich das weiter fortsetzt. Göttingen, Januar 2012

Vorwort

11 

Präger des bundesdeutschen Staatsrechts

Gerhard Leibholz Theoretiker des Parteienstaates von Franz Walter

Es war idyllisch. Als Gerhard Leibholz 1931 einen Ruf an die GeorgAugust-Universität Göttingen erhielt und im Oktober mit seiner Familie das neue Haus bezog, schien die Welt noch ganz in Ordnung. Leibholz wohnte, wie so viele andere Professoren der Georgia Augusta, in der Herzberger Landstraße (Nr. 55), im Villenviertel der Universitätsstadt. Das Haus lag ein ordentliches Stück von der Straße entfernt und hatte einen wunderschönen Obstgarten. Der Wein rankte sich farbig schimmernd an den Mauern hoch. Auf der südlich gelegenen Veranda pflegten sich der Hausherr und sein Schwager, Dietrich Bonhoeffer, gern zu sonnen.1 Aber im Grunde war nichts in Ordnung. Allein die Umstände der neuen Professur zeigten das an. Auf der offiziellen Berufungsliste der Fakultätsmehrheit war Leibholz nicht platziert. Leibholz, hernach einer der großen Staatsrechtler in Deutschland, schaffte es an die Göttinger Universität allein, weil der sozialdemokratische Kultusminister in Preußen, Adolf Grimme, in die Auto­ nomie der Universität eingegriffen und ihn berufen hatte.2 Das war eines der vielen Beispiele dafür, dass in der (auch gegenwärtig wieder so hoch gepriesenen) Universitätsautonomie keineswegs einzig Segen und Vernunft lag. Die Mehrheit der Professoren  – nicht nur, aber vor allem auch in Göttingen – war rechtskonservativ und deutschnational eingestellt; die Majorität der Studierenden – nicht allein, aber besonders in Göttingen – neigte längst vor Franz Walter  ■  Gerhard Leibholz

15 

1933 den Nationalsozialisten zu. Im autonomen Bereich der Universität war nicht viel Republikanismus zu finden. Leibholz war Protestant, doch jüdischer Herkunft. Das allein reichte, damit ihn in Göttingen das Gros der Exzellenzen in der Rechtswissenschaft nicht wollte. Dabei war Leibholz keineswegs ein Mann der Linken. Seine 1933 erschienene Schrift »Die Auflösung der liberalen Demokratie in Deutschland und das autoritäre Staatsbild«3 war sogar in das nationalsozialistische Schriftenverzeichnis aufgenommen worden. Schon seine Antrittsvorlesung im Jahr 1928 handelte vom italienischen Faschismus, dem er positiv die Vitalisierung des Staates attestierte und trotz dessen autoritärer Repräsentation demokratisch-volksgebundene Züge gutschrieb.4 So wenig ihn dies zu einem rechten Extremisten machte: Ein Liberaler war er, 1901 als Sohn eines jüdischen Tuchfabrikanten geboren, auch und erst recht nicht. Seine prononcierte Distanz zum Liberalismus – hier zeigten sich einige, auch sprachlich deutlich zu identifizierende Parallelen zum dreizehn Jahre älteren Carl Schmitt, den er schätzte und oft aufsuchte5 – bildete gewissermaßen den Ausgangspunkt seiner eigenen Lehre zum modernen Staatswesen im massendemokratischen Zeitalter.6 Leibholz hielt die liberal-parlamentarische Ära für abgelaufen; die Philosophie, die sie getragen hatte, für historisch überholt. In der Massendemokratie sah Leibholz keinen Platz mehr für die liberalen Honoratioren, die allein Kraft von Persönlichkeit und Qualifikation ihre parlamenta­ rische Stellung erlangt hatten und mittels ergebnisoffener Debatten diskursiv zu politischen Entscheidungen kamen. Mittlerweile habe sich das Volk in all seinen Teilen emanzipiert und in das politische Feld begeben. Dort allerdings könne es nur in Gestalt der Parteien Wirkung auf die Politik und damit auf den Staat ausüben, so Leibholz.7 Allein die Parteien seien in der Lage, die Aktivbürger zu aktionsfähigen Gruppen zu bündeln und ihren Willen gleichsam in rational plebiszitärer Form in den Staat zu transferieren. Parteien seien dabei mehr als nur Zwischen­ glieder. Sie seien die Repräsentanten des Volkswillens schlechthin, die Vollzugsinstanz des volonté général, über die sich die Identität von Volk und Staat herstelle.8 Im Parteienstaat erfüllte sich Leibholz zufolge die moderne Demokratie.9 Parteien wirkten demnach nicht nur am politischen Willensakt mit; in ihrem Binnenraum 16 

Präger des bundesdeutschen Staatsrechts

allein konnte er sich vollziehen. Im Grunde kam es in letzter Konsequenz, wie Leibholz ausführte, auf Wahlen gar nicht mehr an. Denn die Demokratie entfaltete sich eben in den Parteien oder, und auch das war denkbar, vielleicht sogar wünschenswert: in der einen und einzigen großen Volkspartei. Die Demokratie Leibholzscher Denkart sah zumindest keineswegs zwingend ein Mehrparteiensystem vor. Vor allem verabschiedete sie sich ganz vom Repräsentativmodell des liberalen Parlamentarismus. Die Partei ersetzte das Parlament. Die Volksvertreter durften sich im Parteienstaat nicht mehr als freie, dem ganzen Volk verpflichtete und dem eigenen Gewissen unterworfene Parlamentarier fühlen. Die Abgeordneten waren nur noch Beauftragte ihrer Parteien, hatten deren Willen im parlamentarischen Plenum lediglich zu artikulieren. Das Fundament dieser ausgefeilten Parteienstaatsdoktrin war bereits in den späten zwanziger Jahren gelegt. 1938 war Gerhard Leibholz schließlich zur Emigration nach England gezwungen. Aufgrund der Bemühungen des ersten Nachkriegsrektors Rudolf Smend hielt er im Sommersemester 1945 wieder Gastvorträge an der Göttinger Universität. Doch wagte Leibholz den Sprung von Oxford, wo er ein Domizil gefunden hatte, zurück nach Deutschland erst, als er ein Richteramt am neu konstituierten Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe in Aussicht gestellt bekam. Dort amtierte er von 1951 bis 1971. Zugleich lehrte er als Ordinarius in Göttingen »Politische Wissenschaften und all­ gemeine Staatslehre«. Leibholz wurde in diesen Jahren zum einflussreichsten Ausdeuter des Parteienrechts. Er verfügte dafür über ein in sich konsistentes, logisch scharf deduziertes Interpretationsmodell, das er bereits als junger Hochschullehrer vor 1933 entworfen hatte.10 Wissenschaftlich substanziell war beim Göttinger Staatsrechtler und Politikwissenschaftler auf diesem Gebiet nach 1945 nichts Neues hinzugekommen. Aber die konstituierende Wirksamkeit der Leibholz’schen Lehre entfaltete sich in den fünfziger Jahren, im ersten Jahrzehnt seiner Tätigkeit am Bundesverfassungsgericht. 1952 konstatierte das von ihm geprägte Gericht in Karlsruhe: »Heute ist jede Demokratie zwangsläufig ein Parteienstaat.«11 Und in Anlehnung an Leibholz’ grundsätzlichen Überlegungen stellten die Richter ebenfalls fest, dass die Parteien aus dem Bereich der Gesellschaft nun auch in den »Rang einer verfassungsrecht­lichen Franz Walter  ■  Gerhard Leibholz

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Institution erhoben« worden seien, ja als integraler »Bestandteil des Verfassungsaufbaus« zu gelten hätten. Erst in den sechziger Jahren ging der dominierende Einfluss von Leibholz auf die Parteienrechtsanalyse zurück. Für viele, auch wissenschaftliche Kommentatoren personifi­ zierte Leibholz gleichsam die Fehlentwicklung der deutschen Politik in Richtung eines verfestigten Parteienstaats. Verfassungsrichter wie Ernst Böckenförde, Konrad Hesse, Dieter Grimm beharrten auf einer zurückhaltenderen Auslegung des Artikels  21  GG, auf der Stellung der Parteien als »Hilfsorgane des Staates« und »Vermittlungsinstanzen« (Dieter Grimm). Sie mahnten, den Parteienstaat zurückzubilden, und reduzierten die zentrale Aufgabe der Parteien auf die Rekrutierung der politischen Eliten und die Legitimationsherstellung durch Wahlen.12 Kurzum: Von der großen phänomenologischen Konstruktion des dezidierten Antipositivisten Leibholz ist in der Staatsrechtswissenschaft nicht viel übrig geblieben. Auf dem elementaren Gebiet der Parteienfinanzierung allerdings, von der die gesellschaftlich zunehmend erschlafften Parteien sich nähren, sind die Leibholz-Axiome durchaus zur Entfaltung gekommen, wie insbesondere die Karlsruher Parteifinanzierungsurteile von 1977 und 1992 zeigten. Indes: Die Konsequenzen, die daraus entstanden, haben dem Leibholz’schen Parteienstaatsmodell die Basis entzogen. Leibholz ist damit sozusagen an Leibholz gescheitert. Denn seine ganzen Überlegungen beruhten auf der gedanklich vorausgesetzten, wurzeltiefen Einbindung der Parteien in die Lebenswelten der Bevölkerung. Nur deshalb konnten und durften Parteien als Ausdruck des Volkswillens gelten, konnten ihre Willensbildung im Staat als plebiszitäres Mandat des Souveräns beanspruchen. Man wird es wohl auf die tiefe Orientierungslosigkeit und politische Verun­ sicherung nicht weniger akademischer Staatsrechtsexperten in der Nachkriegszeit zurückführen müssen, dass Leibholz das geistige Vakuum mit seinen gegenüber jeder Empirie ganz gleichgültigen Identitätsspekulationen von Volk-Partei-Staat füllen konnte. Jedenfalls: Im gleichen Maße, wie sich die Parteien als verfassungsrechtlich legitimierte Teile der Staatlichkeit etatisierten und öffentliche Gelder bezogen, lösten sie sich vom Wurzelgrund der gesellschaftlichen Basis, auf deren Ressourcen an Beiträgen und Loyalitäten sie durch die staatlichen Zuwendungen nicht mehr an18 

Präger des bundesdeutschen Staatsrechts

gewiesen waren. Die parteistaatlichen Erfolge, deren Vater Gerhard Leibholz war, unterminierten den Legitimationskern seines gesamten Konzepts: die identitäre Vitalbeziehung zwischen Parteien und Volk. Aus der Leibholz’schen Dreieinigkeit Volk-Partei-Staat fiel die Ursprungsquelle demokratischer Parteienstaatlichkeit mehr und mehr heraus. Das Volk sah sich in den Parteien nicht verwirklicht, sondern Zug um Zug von ihnen entfremdet und abgekoppelt. Für den früheren Professor an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer, Hans Herbert von Armin, ist der Erfolg von Leibholz ein »Faszinosum«. Ihm will nicht in den Kopf gehen, wie eine »derart abwegige Doktrin« eine zeitweise beherrschende Rolle in der staatsrechtlichen Debatte einnehmen konnte. Auch der Politikwissenschaftler Peter Haungs geißelte die Lehren Leibholz’ einst als »verstiegene«, »primitive dogmatische Konstruktionen«.13 Doch Leibholz blieb ein viel geehrter Staatsrechtler. Im Protestjahr 1968 erhielt er vom Bundespräsidenten das Große Bundesverdienstkreuz. 1981, einige Monate vor seinem Tod, veranstaltete die Göttinger Universität ein großes Sym­ posium für ihn.14 Seine Kollegen feierten Leibholz minutenlang mit Standing Ovations.

Anmerkungen 1 Hierzu vgl. Sabine Leibholz-Bonhoeffer, Berufung und Emigration, in: Roderich Schmidt (Hg.), In Göttingen erlebt, Göttingen 2001, S. 63–74. 2 Hierzu vgl. Manfred H. Wiegandt, Norm und Wirklichkeit. Gerhard Leibholz (1901–1982), Baden-Baden 1995, S. 28 ff. 3 Gerhard Leibholz, Die Auflösung der liberalen Demokratie in Deutschland und das autoritäre Staatsbild, München 1933. 4 Gerhard Leibholz, Zu den Problemen des Faschistischen Verfassungsrechts, Berlin 1928; vgl. kritisch zu Leibholz: Susanne Benöhr, Das faschistische Verfassungsrecht Italiens aus der Sicht von Gerhard Leibholz. Zu den Ursprüngen der Parteienstaatslehre, Baden-Baden 1999, S. 62 ff; anders deutet dies Christoph Strohm, Theologische Ethik im Kampf gegen den Nationalsozialismus. Der Weg Dietrich Bonhoeffers mit den Juristen Hans von Dohnanyi und Gerhard Leibholz in den Widerstand, München 1989, S. 54 ff. 5 Carl Schmitt sah das Verhältnis so: »Noch mit Leibholz sehr nett gesprochen; er übernimmt alles von mir. Freute mich sehr über ihn.« Siehe die Eintragungen vom 29. März 1931 bei Carl Schmitt, Tagebücher 1930 bis 1934, Wolfgang Schuller (Hg.), Berlin 2010, S. 102. Franz Walter  ■  Gerhard Leibholz

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6 Vgl. Gerhard Leibholz, Das Wesen der Repräsentation unter besonderer Berücksichtigung des Repräsentativsystems, Berlin 1929. 7 Vgl. Gerhard Leibholz, Der Parteienstaat des Bonner Grundgesetzes, in: Recht, Staat, Wirtschaft 3 (1951), S. 99–125. 8 Vgl. Gerhard Leibholz, Die freiheitliche und egalitäre Komponente im modernen Parteienstaat, in: Heinrich Lübke u. a., Führung und Bildung in der heutigen Welt. Festschrift für Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger, Stuttgart 1964, S. 247–263. 9 Vgl. hierzu Gerhard Leibholz, Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im 20. Jahrhundert, Berlin 1966, S. 211. 10 Etwa: Peer Unruh, Erinnerungen an Gerhard Leibholz (1901–1982) – Staatsrechtler zwischen den Zeiten, in: Archiv des öffentlichen Rechts 126 (2001), S. 61–92. 11 Zit. in: Richard Stöss, Parteienstaat oder Parteiendemokratie, in: Oscar W. Gabriel u. a. (Hg.), Parteiendemokratie in Deutschland, Bonn 2001, S. ­13–36, hier S. 13. 12 Vgl. etwa Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Krise unserer Demokratie verlangt eine Rückbildung des Parteienstaates, in: Günther Nonnenmacher (Hg.), Die gespendete Macht. Parteiendemokratie in der Krise, Berlin 2000, S. 55–62. 13 Peter Haungs, Die Bundesrepublik  – ein Parteienstaat? Kritische Anmerkungen zu einem wissenschaftlichen Mythos, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 4 (1973) H. 4, S. 502–524.; ders., Bilanz zur Parteiendemokratie, in: ders. u. a. (Hg.), Parteien in der Krise?, Köln 1987, S. 90–96. 14 Vgl. Unruh, S. 61.

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Präger des bundesdeutschen Staatsrechts

Rudolf Smend Lehrer der Integration von Franz Walter

Mit ihm reden wir über einen der ganz Großen in der Geisteswissenschaft des zwanzigsten Jahrhunderts: Rudolf Smend. So jedenfalls hat man ihn gesehen; so hat man ihn vielfach gefeiert und belobigt – und das nicht nur in seinem originären Fach, der Rechtswissenschaft. Auch Politologen haben sich auf ihn bezogen, ebenso Historiker, Theologen, Philosophen. In Smend verkörperte sich, so erzählten es seine Freunde, die Einheit der Sozial- und Geisteswissenschaft. Als von Interdisziplinarität noch kaum die Rede war, habe er sie bereits, aus seiner stupenden Universalbildung heraus schöpfend, souverän und leichthändig praktiziert, vor allem: gelehrt.1 Seine Schülerschar war groß, verfügte insbesondere im ersten Vierteljahrhundert der bundesdeutschen Gesellschaft über erheblichen Einfluss.2 Horst Ehmke, der umtriebige und in dieser Funktion ungewöhnlich extrovertierte Leiter des Bundeskanzleramts unter Regierungschef Willy Brandt, gehörte dazu, auch der niedersächsische Kultusminister der frühen siebziger Jahre, Peter von Oertzen. Zur »Smend-Schule« zählten die bekannten Professoren der Rechtswissenschaft Peter Häberle und Ulrich Scheuner, die Politologen Wilhelm Hennis, Manfred Friedrich und Martin Greiffenhagen. Und dass Smend zuweilen als »Hausgott«3 des Bundesverfassungsgerichts galt, seine Lehre als »offizielle Staats­ doktrin«4 der jungen Bundesrepublik firmierte, war dem Einfluss Franz Walter  ■  Rudolf Smend

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seiner Schüler Gerhard Leibholz und Konrad Hesse, die in Karlsruhe Verfassungsrecht sprachen, zu verdanken. Seine Schüler widmeten ihm zwei weithin beachtete Festschriften zum siebzigsten und achtzigsten Geburtstag.5 Der »Dr. honoris causa« wurde Smend insgesamt viermal verliehen. Auch Verdienstkreuze aus der Monarchie – 1910 zeichnete ihn der König von Preußen mit dem Kronenorden aus – und der zweiten Republik – 1952 erhielt er vom Bundespräsidenten das Bundesverdienstkreuz – konnte er sich an sein Revers heften. Und im September 2006 bekam das Wohnhaus der Smends, Am Goldgraben 13, eine Plakette, mit welcher die Stadt Göttingen ihre besonders verdienten Bürger zu ehren pflegt. Nahezu unumstritten ist das Urteil, dass Smend zu den wirkungsmächtigsten Staats- und Verfassungsrechtlern des zwanzigsten Jahrhunderts zu rechnen ist.6 Gleichwohl: Ein quirliger und lautstark politisierender Professor war er nicht. Diejenigen, die ihn kannten, ihn in Seminaren oder zumindest Vorlesungen erlebt hatten, teilten ziemlich einhellig mit, einem eher stillen, gehemmten, zögerlichen, oft in sich gekehrt, fast öffentlichkeitsscheu auftretenden Ordinarius begegnet zu sein, dessen Publikationen nicht sehr zahlreich und dazu auffällig schmal ausfielen. Trotzdem stand er über Jahrzehnte in dem Renommee, eine »Größe« seines Fachs zu sein; etliche Rufe auf Lehrstühle verschiedener Universitäten zeugen davon, dass Respektsbekundungen dieser Art nicht allein als Ausfluss nett gemeinter Festansprachen oder dem Anlass gemäß wohlwollend gehaltener Nekrologe zu nehmen sind. Die Lebensdaten von Smend lesen sich wie aus einem Lehrbuch über Geschichte und Bedeutung des protestantischen Bürgertums für die höhere Bildung und das staatliche Recht in Deutschland. Carl Friedrich Rudolf Smend entstammte aus einer Familie mit pietistisch-calvinistischen Prägungen.7 Die Smends hatten über mehrere Jahrhunderte etliche Gelehrte der theologischen und juristischen Wissenschaften hervorgebracht. Als Professor für Theologie und orientalische Sprachen lehrte und forschte auch der Vater unseres »Göttinger Kopfes«, dessen Vorname ebenfalls Rudolf lautete. Als Sohn Rudolf im Jahr 1882 auf die Welt kam, lebte die Familie Smend noch in Basel, der Stadt des großen Kulturhistorikers Jacob Burckhardt, auch er bekanntlich Spross einer protestantischen Pfarrersfamilie. Zum Ende der achtziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts wechselte Rudolf sen. nach Göttingen, wo 22 

Präger des bundesdeutschen Staatsrechts

Rudolf jun. wenig später das königlich-humanistische Gymnasium (heute: Max-Planck-Gymnasium) besuchte. Smend war als Schüler jederzeit Primus, blieb es als Student, dann als junger Professor. Auf dem Gymnasium glänzte er in alten Sprachen, mit seiner juristischen Dissertation erwarb er, gerade 22 Jahre alt, den Preis seiner Göttinger Fakultät. Mit 26 Jahren konnte er sich in Kiel habilitieren, mit 27 Jahren erfolgte der erste Ruf auf eine außerordentliche Professur in Greifswald. Zwei Jahre später verbesserte er sich auf einen Lehrstuhl nach Tübingen. Im zweiten Jahr des Ersten Weltkrieges wechselte er an die Universität Bonn; sieben weitere Jahre später rief ihn die Universität in Berlin und die sicher produktivste Zeit im gelehrten Leben des Rudolf Smend nahm hier ihren Lauf. In Berlin ging er zudem die Ehe mit der Tochter eines Kollegen der Rechtswissenschaft ein; dort wurden seine beiden Söhne geboren, welche die Wissenschaftstradition der Smend-Familie fortsetzten.8 1935 allerdings musste Smend unter Druck des nationalsozialistischen Ministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung die Hauptstadt des Reichs verlassen und – dies zunächst durchaus wider Willen – einen Lehrstuhl in Göttingen annehmen. Dort, wo er aufgewachsen war, blieb er dann bis zu seinem Tode 1975. Sein Hauptwerk, das ihm lebenslangen Ruhm verschaffte, schrieb er in Berlin. 1928 erschien das Buch – mit 150 Seiten gewiss ebenfalls kein opulenter Wälzer  – »Verfassung und Ver­ fassungsrecht«.9 Diese Publikation war ein weiterer Fanfarenstoß gegen die alte, in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre mächtig in die Defensive geratene Staatsrechtswissenschaft der sogenannten positivistischen Richtung.10 Eine neue Generation von Staatstheoretikern – neben Smend noch Carl Schmitt, auch Hermann Heller und Erich Kaufmann – polemisierte heftig gegen die begriffsdogmatische Verharzung der überlieferten Verfassungslehre, gegen die Vorstellung eines in sich ruhenden, nachgerade statisch über alle Zeiten hinweg hinreichenden Staatsrechts. Smend, Schmitt und Heller rekurrierten stattdessen auf soziologische und politikwissenschaftliche Überlegungen, stellten das staatliche Recht in den Fluss gesellschaftlicher, kultureller und sozialer Vorgänge hinein. Nur für die Ökonomie hatten Schmitt und Smend bezeichnenderweise keine rechte Aufmerksamkeit. Indes: Eine geschlossene Phalanx bildeten die Anti-Positivisten im Methodenstreit der Franz Walter  ■  Rudolf Smend

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Staatsrechtler der zwanziger Jahre fürwahr nicht. Für den Sozialdemokraten Hermann Heller hegte Smend keinerlei Sympathie, im Gegenteil: Er zog einige Register, um Heller von einem universitären Lehrstuhl fernzuhalten.11 Weit besser kam er hingegen lange mit Carl Schmitt aus, den er mehrere Male mit Erfolg in Berufungsverfahren protegierte.12 Schmitt war oft, etwa bei Rehrücken und gutem Wein13, Gast bei den Smends; man widmete sich gegenseitig »in treuer Verehrung« Aufsätze und Bücher, besuchte gemeinsam Kunstausstellungen und Schlösser.14 Doch vertraute Schmitt seinem Tagebuch schon früh an, dass er regelrecht »Ekel« empfinde, wenn er mit Smend Zeit zu verbringen hatte. Und dieser fremdelte ebenfalls zunehmend mit jenem, vor allem natürlich nach 1933, wenngleich die Korrespondenz zwischen beiden erst Anfang der sechziger Jahre endete.15 Doch zurück zum Hauptwerk Smends, dem Ausgangspunkt für dessen anhaltende Reputation. Smend kreierte mit dieser Schrift die »Integrationslehre«. Seither fragen Sozialwissenschaftler, Politiker, Leitartikler hierzulande in Zeiten beunruhigender sozialer Fragmentierung regelmäßig besorgt nach dem Kitt, mit dem die gesellschaftlichen Fugen abgedichtet, mit dem also Integration herzustellen sei. Eben das hatte auch Smend in jenen Berliner Jahren der unruhigen Republik zu seinen Überlegungen angetrieben.16 Für den Konservativen mit Mitgliedschaft in der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) war im November 1918, wie für die meisten Bildungsbürger, eine ganze Welt zusammengebrochen, die ihnen zuvor gottgegeben erschien, die ihnen eine legitime innere Ordnung vorgegeben und Zusammengehörigkeit konstituiert hatte. Dass auch der deutsche Nationalstaat zwischen 1871 und 1918 die Gesellschaft und Politik von oben bewusst desinte­griert hatte, kam in der Rezeption dieser protestantischen Bildungsbürgerlichkeit tatsächlich nicht vor. Gleichviel: Smend erkannte, dass die neue Republik nicht aus dem Geist eines überkommenen Staatsrechts der Monarchie begründet und legitimiert werden konnte. Die Weimarer Gesellschaft, die in zum Teil blutig ausgetragene weltanschauliche und soziale Konflikte gespalten war, benötigte – Smend zufolge – Erlebnisse der Einheit, einen von allen Bürgern geteilten Sinn, der sich durchgängig in einer erlebten Gemeinschaft reproduzieren müsse. Wie Hermann H ­ eller zitierte auch Smend dafür die Formel von Ernest Renan zum Ple24 

Präger des bundesdeutschen Staatsrechts

biszit, das sich jeden Tag für den Staat zu wiederholen habe.17 Das war gewissermaßen das moderne, das Nicht-Statisch-Konservative am Konservativen Smend.18 Er band den Staat an die Gesellschaft, um die Prozesse, die sich dort immer wieder neu, möglicherweise auch ruckartig oder sprunghaft vollzogen, in sich und die Verfassungsinterpretation aufzunehmen. Die gesellschaftlichen Ströme durften das Recht, durften die Verfassung nicht unberührt lassen. Insofern wies Smends Integrationslehre in jenen Krisenjahren der Weimarer Republik durchaus plebiszitär-cäsaristische Elemente auf. Denn die Integration der Gesellschaft, durch die der Staat sich erst wirklich als Staat realisierte habe, hatte sich in der Person eines überwölbenden oder mobilisierenden Führers zu erfüllen, mochte es ein Monarch sein oder ein die Massen hinter sich sammelnder Charismatiker. Wichtig für die Integration war für Smend zudem der Erlebnischarakter19 von Gemeinschaft und Gemeinsamkeit, sei es etwa im Gleichschritt bündischer Vereinigungen oder in geordneten Demonstrationen politischer Formationen. Und die staat­liche Integration brauchte Symbole, Manifestationen und Rituale in Form von nationalen Gesängen, Feiertagen, Gedenkveranstaltungen, Fahnen und Wimpeln. Das alles zusammen bildete die berühmte – wenngleich offensichtlich begriffsunscharfe – Smendsche Faktorentrias gelungener Integration: Vergemeinschaftung über Persönlichkeit, Sachlichkeit und Funktionalität. Smend forderte die Integration von den Staatsbürgern ein; ihnen war die Aufgabe gestellt, aktiv an der Einheit von Werten und Staatsanpassung mitzuwirken.20 Der Einzelne hatte die Pflicht zur Gemeinschaft, zum Dienst am Staat, zur bereitwilligen Subordination unter den Imperativ der Geschlossenheit.21 Smends Freunde und Epigonen haben dessen Lehre immer so ausgelegt, als sei es ihm insbesondere um eine Art Verantwortungsbündnis von überzeugten Demokraten und zögerlichen Vernunftrepublikanern konservativer Provenienz wie ihn selbst gegangen. Schließlich sei Smend aus Protest gegen den radikalen antirepublikanischen Kurs von Hugenberg 1930 aus der DNVP ausgetreten.22 Danach habe Smend die Politik der Präsidial­ kabinette Brünings befürwortet, was ihn wohl als Verteidiger der schwer attackierten Republik ausweise. Indes, ein Demokrat und prononcierter Anhänger einer parlamentarischen Republik war der damalige Reichskanzler Heinrich Franz Walter  ■  Rudolf Smend

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Brüning nicht. Und insofern musste auch ein Unterstützer seiner Politik kein Verfechter einer demokratischen Gesellschaft gewesen sein. Es bestehe kein Grund, so deshalb der Würzburger Rechtsphilosoph Horst Dreier in einer höchst scharfsinnigen Analyse der Integrationslehre Smends, dessen »Konzept aus Weimarer Tagen als seine originäre oder zwingend demokratische Lehre zu interpretieren oder sie in diese Richtung schönzureden«23. Im Übrigen fällt es zumindest im zeitlichen Abstand schwer, die oft gepriesene Erneuerung der staatsrechtlichen Theorie durch die Integrationslehre Smends mit der gleichen Emphase zu belobigen, wie es vielen seiner Schüler offensichtlich noch gelang. Dass sich menschliche Assoziationen durch den Kult der Anführer, durch die Gleich­ förmigkeit von sinnstiftenden Alltagsritualen, durch Mythen, Weihetempel und Messen aller Art, auch durch  – dies fehlt im Grunde bei Smend  – drohende, inszenierte oder reale Gefahren von außen, den bösen Gegner, das Fremde zusammenschweißen, also integrieren lassen, haben große Religionen ebenso wie kleine Sekten und Konventikel verschiedener Fasson, haben auch Weltanschauungsgemeinschaften und politisch-ideologische Formationen, gewissermaßen von den Sozialdemokraten bis zur katholischen Zentrumspartei, schon vor 1928 gewusst und in Teilen virtuos praktiziert. Und der italienische Faschismus exerzierte die Integrationsfaktoren, die Smend in seinem Berliner Arbeitszimmer niederschrieb, in jenen Jahren mit seinem Duce, seinen Squadres, seinen Schwarzhemden, seinem Märtyrer- und Totenkult, seinem »Römischen Gruß«. Das hinterließ bei Smend – wie zeitgleich bei seinem späteren Göttinger Kollegen Gerhard Leibholz  – einigen Eindruck. Nicht ohne Bewunderung charakterisierte er Schriften und Lehren des italienischen Faschismus als eine »große Fundgrube«24 für das, was bei ihm als Integration bezeichnet wurde.25 Smends erbitterter Widersacher im staatstheoretischen Disput26, der bedeutende österreichische Rechtspositivist und Schöpfer der österreichischen Bundesverfassung von 1920 Hans Kelsen, wertete wohl auch deshalb den »integrierten Staat« in letztlicher Konsequenz als »faschistischen Staat«.27 In diesem Punkt sekundierte ihm sogar Carl Schmitt, der ansonsten keine sonderliche Zuneigung für den Wiener Juden verspürte: Der integrierte Staat Smends sei »der totale Staat, der nichts absolut Unpolitisches mehr kennt, der die Entpolitisierung des 19. Jahrhun26 

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derts beseitigen muss und namentlich dem Axiom der staatsfreien (unpolitischen) Wirtschaft und des wirtschaftsfreien Staates ein Ende macht«28. Schmitt liebte solche Zuspitzungen. Er wusste, wie hart er damit Gegner und Rivalen traf; und Smend – den Schmitt in seinem Tagebuch als »scheinheilig«, »hinterlistig«, »widerlich«, »gerissen« und »bösartig« bezeichnete29  – zählte schon im letzten Drittel der Weimarer Republik zu seinen Feinden, wenngleich er seine Antipathie öffentlich noch zurückhielt. Dabei übertrieb Schmitt, denn natürlich konnte charismatische, kulturell-symbolische, über kollektive Werteidentitäten hergestellte Integration auch auf Vergemeinschaftungen und politische Ordnungen hinauslaufen, die keineswegs den totalen Staat als Modell und Ziel hatten. Nur: Liberal waren solche Gesellschaften in der Regel nicht, konnten es gar nicht sein.30 In der Integrationslehre Smends bildeten Vielfalt, Pluralität, Heterogenität, gesellschaftliche Konflikte, Eigenkulturen, Verschiedenartigkeiten eigentlich Störfaktoren im Prozess der staatlichen Einheitsbildung.31 Jedenfalls: »Smend war mit seiner Lehre kein theoretischer Sekundant der Machtergreifung. Die Integrationslehre hat zwischen 1933 und 1945 keine Fortsetzung gefunden. Was bleibt, ist die Anfälligkeit für ideologischen Missbrauch.«32 Doch mit den Hitleristen ließ Smend sich nicht ein. In seinem gelehrten Refugium in Göttingen überdauerte er »nobel und würdig und ohne Kompromisse«, wie der Kelsen-Schüler und spätere marxistische Literaturwissenschaftler Hans Mayer über Smend in seinen Erinnerungen urteilte, die Jahre der braunen Diktatur.33 Ein Mann der Bekennenden Kirche war Smend gleichwohl nicht; aus dem innerprotestantischen Zwist hielt er sich während der NS-Zeit heraus, was selbst sein Freund Leibholz auf einer Gedenkfeier mit leisem Vorwurf anmerkte.34 Aber Smend war politisch unzweifelhaft unbelastet, als im Sommer 1945 die Trümmer des Nationalsozialismus weggeräumt, die zerstörten oder schwer beschädigten Institutionen rekonstruiert werden mussten. Smend wurde zum ersten Nachkriegsrektor der Göttinger Universität, die ihren Lehrbetrieb früher als alle anderen deutschen Hochschulen in Deutschland aufnahm. 1951 stand die Emeritierung Smends an; doch setzte er seine Seminartätigkeit in Kirchenrecht bis 1965 fort. Als Lehrer für Staats- und Verfassungstheorie wirkte er gar noch bis 1969 an der Jurafakultät.35 Die Zahl Franz Walter  ■  Rudolf Smend

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be­kennender Schüler blieb auch nach 1945 beachtlich hoch, der Umfang und die Menge seiner Publikationen blieben ebenso bemerkenswert bescheiden. Auch Smend war, wie ein späterer Nachfolger im Rektoratsamt, Helmuth Plessner, ein Meister der kleinen Form, ein passionierter Verfasser von Festschriftenbeiträgen. Er beherrschte eben, wie es unter seinen Studierenden durchaus respektvoll hieß, die »Kunst des gelehrten Nichtschreibens«.36 Zur beträchtlichen Verlegenheit bei den Studenten (und Kollegen) führte die exklusive Höflichkeit des »Gentleman«37 Smend ihnen gegenüber. Christian Graf von Krockow hat diese »unendliche Höflichkeit« in seinen Erinnerungen sehr plastisch dargestellt: »Bei Straßenbegegnungen entstand freilich ein Problem: Man wollte grüßen, aber Smend hatte schon den Hut abgenommen und eine Verbeugung begonnen. Beim nächsten Mal grüßte man drei Meter früher, Smend erschrak und eröffnete beim übernächsten Mal mit fünf Metern Abstand. Dieses Wechselspiel ließ sich beinahe beliebig, bis hart an die Grenze des Sichtkontaktes ausdehnen. Wohlgemerkt: Es handelte sich um den Umgang eines Siebzigjährigen – Jahrgang 1882 – mit seinen Studenten.«38

Carl Schmitt mochte der die polemische Konfrontation suchende Kronjurist des Nationalsozialismus gewesen sein, Rudolf Smend wurde zum immer höflichen, zum ausgesucht freundlichen und fraglos hochgebildeten Patron des bundesdeutschen Staatsrechts. Seine Lehrmeinung bildete zumindest eine beträchtliche Zeitlang so etwas wie das Verfassungsepos der bundesdeutschen Republik. Seine Anhänger und Freunde pflegten die Klarheit der Gedankengänge Smends zu loben, seinen »eindrucksvollen Begriffs­ realismus«,39 seine »meisterhafte Handhabung des Wortes«,40 seine »vollendete sprachliche Zucht«.41 Doch muss man solchen Zeugnissen mit Bestnoten für das Darstellungsvermögen Smends nicht vorbehaltlos folgen. Man kann es auch ganz anders sehen. Vermutlich dürfte Smend gerade aufgrund seiner breiten und tiefen Bildung stets von allerhand Zweifeln geplagt und vielleicht auch gelähmt worden sein, wenn er schnörkellose, klare Sätze zu Papier bringen wollte, denn das meiste, was dann entstand, dürfte aus der Perspektive des Universalgelehrten nie hinreichend nuan­ ciert, nie angemessen differenziert, nie in der Weise dialektisch geraten sein, wie er es sich gewünscht hätte, im Kopf wohl auch bereits entworfen hatte, aber in der anschließenden Form des 28 

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Manuskripts vor der Folie der eigenen, hochgesteckten Ansprüche ihm chronisch unzulänglich geriet. Infolgedessen schrieb Smend eher wenig. Und das, was er publizierte, war keineswegs so unmissverständlich und stringent verfasst, wie es seine Epigonen streuten.42 Im Gegenteil, die Sprache wirkte oft verquollen, flüchtete sich in raunende Andeutungen und wurde dort kryptisch und dunkel, wo kühle Präzision und unmissverständliche Begriffsschärfe nötig gewesen wären. Schließlich: Wie aktuell ist Smend? Schaut man sich die unglückliche Tektonik der europäischen Politik an, dann könnte man der gegenwärtigen Politikelite eine neue (oder erste) Lektüre der Integrationslehre Smends empfehlen.43 In der Euro­päischen Union fehlt alles, was nach Auffassung von Smend an Faktoren für eine gelungene Integration zusammenkommen muss: ein­ bindende, sammelnde und orientierende Führung, das Erlebnis einer gemeinsamen politischen Öffentlichkeit, emotionalisierende und homogenitätsstiftende Symbole für die Gemeinschaft eines europäischen Volkes. Aber kann man mit der Smend’schen Methode noch das Smend’sche Ziel erreichen? Moderne Gesellschaften sind aus gutem Grund und mit gutem Recht vielfach aufgesplittert, weltanschaulich inhomogen, durch Herkunft, Erfahrung und Einstellungen nicht identitär. Smend suchte aber nach solchen identitären »Sinnerlebnissen«, »Lebensströmen« und »gesunden Verhältnissen«, um das Individuum in die Totalität des integrierten Staates einzugliedern. Bei diesem Vorhaben störten und stören Parteien, Verbände, Interessensorganisationen, die partial handeln, statt den von Smend verlangten Dienst an der Einheit zu verrichten. Die vielen, neu aufgekommenen Bürgerbewegungen der letzten Jahre dürften dagegen bei Smend fündig werden, wenn sie ihr Misstrauen gegen den Parteien- und Verbändestaat äußern, wenn sie mittels ihrer Aktivitäten anstelle intermediärer Repräsentation eine identitäre Beziehung zwischen gesellschaftlichen Akteuren und politischen Resultaten herzustellen wünschen, wenn auch sie Politik als »plébiscite de tous les jours« begreifen.44 Aber die Gesellschaft, die diese Bewegungen nährt, ist allein eine solche, die Konflikt hervorbringt und aushält, die die Uniformität von Lebensweisen und Werteorientierungen überwunden hat, kurz: die Heterogenität, Eigensinn, ja: selbst Absonderung und Franz Walter  ■  Rudolf Smend

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Verweigerung unter den Schutz des Rechts stellt  – nicht zuletzt gegen gebieterische Ansprüche politischer Homogenisierer und den Umarmungsdruck harmonieheischender Integrationslehrmeister. Soll Demokratie in den schwierigen Koexistenzen von Konflikten und Konsens, von öffentlichen Partizipationsverlangen und stillen Privatheitsbedürfnissen, von freien Märkten und staatlichen Regelungen, von trotziger Individualität und altruistischen Solidaritäten, von anregenden Neuerungen und Halt stiftenden Kontinuitäten, von Muslimen und Christen oder Agnostikern im einundzwanzigsten Jahrhundert gelingen, dann muss man hoffen, dass einige der zentralen Integrationsfaktoren aus der Lehre von Rudolf Smend nicht mehr in dem Maße nachgefragt werden, wie dies noch und gerade in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts der Fall war. Man wird in der Vielfalt wohl lernen müssen, dass Vereinheitlichung von oben oder unten nicht Integration schafft, sondern Destruktion befördert.

Anmerkungen 1 Etwa Axel Freiherr von Campenhausen, Zum Tode von Rudolf Smend, in: Juristenzeitung 30 (1975), S.  621–625, hier S.  624; Peter Häberle, Zum Tode von Rudolf Smend, in: Neue Juristische Wochenschrift 28 (1975) H. 4, S. 1874–1875.; Konrad Hesse, In memoriam Rudolf Smend, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 20 (1975), S. 337–374, hier S. 346. 2 Vgl. Peter Badura, Staat, Recht und Verfassung in der Integrationslehre. Zum Tode von Rudolf Smend (15. Januar 1982–5. Juli 1975), in: Der Staat 16 (1977), S. 305–325. 3 Wilhelm Hennis, Integration durch Verfassung? Rudolf Smend und die Zugänge zum Verfassungsproblem nach 50 Jahren unter dem Grundgesetz, in: Juristenzeitung 54 (1999), S. 485–495, hier S. 486. 4 Robert van Ooyen, Die Integrationslehre von Rudolf Smend und das Geheimnis ihres Erfolges in Staatslehre und politischer Kunst nach 1945, in: Journal der Juristischen Zeitgeschichte (2008), H.2, S. 52–57, hier S. 55. 5 Hierzu Gerhard Leibholz, Gedenkrede auf Rudolf Smend, in: In memoriam Rudolf Smend. Gedenkfeier am 17. Januar 1976 in der Aula der Universität Göttingen, Göttingen 1976, S. 15–43, hier S. 41; Karl-Hermann Kästner, Rudolf Smend 1882–1975. Recht im Staat und in der Kirche, in: Ferdinand Elsener (Hg.), Lebensbilder der Tübinger Juristenfakultät aus Anlass des 500jährigen Bestehens der Fakultät, Tübingen 1977, S. 136–152, hier S. 151. 6 Siehe Christian Bickenbach, Rudolf Smend. Grundzüge der Integrationslehre, in: Juristische Schulung (2005), H. 7, S. 588–591.

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7 Hierzu und im Folgenden vgl. Axel Freiherr von Campenhausen, Rudolf Smend (1882–1975). Integration in zerrissener Zeit, in: Fritz Loos (Hg.), Rechtswissenschaft in Göttingen. Göttinger Juristen aus 250 Jahren, Göttingen 1978, S. 510–527; Leibholz, S. 16 ff.; Hesse, S. 338 ff.; Manfred Friedrich, Rudolf Smend, 1882–1975, in: Archiv des öffentlichen Rechts  112 (1987), H. 1, S. 1–26; Ulrich Scheuner, Rudolf Smend. Leben und Werk, in: Rechtsprobleme in Staat und Kirche. Festschrift für Rudolf Smend zum 70. Geburtstag, Göttingen 1952, S. 433–443. 8 Siehe Kästner, S. 141 ff. 9 Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, München 1928. 10 Hierzu siehe Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd.  3: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914–1945, München 1999, S. 153 ff. 11 Vgl. hierzu Claudio Franzius, Hermann Heller (1891–1833). Hermann ­Heller: Einstehen für den Staat von Weimar, in: Stefan Grundmann u. a. (Hg.), Festschrift 200 Jahre Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Geschichte, Gegenwart und Zukunft, Berlin 2010, S.  637–654, hier S. 645 ff. 12 Vgl. Reinhard Mehring, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall, München 2009, S. 129 ff. 13 Siehe die Eintragungen bei Carl Schmitt, Tagebücher 1930 bis 1934, Wolfgang Schuller in Zusammenarbeit mit Gerd Giesler (Hg.), Berlin 2010, etwa S. 197. 14 Vgl. Mehring, S. 169 und S. 203. 15 Vgl. Mehring, S. 525. 16 Siehe besonders Horst Dreier, Integration durch Verfassung? Rudolf Smend und die Grundrechtsdemokratie, in: Friedrich Hufen (Hg.), Verfassungen. Zwischen Recht und Politik. Festschrift zum 70. Geburtstag für Hans-Peter Schneider, Baden-Baden 2008, S. 70–96, hier S. 71. 17 Siehe auch Leibholz, S. 29; Bickenbach, S. 589. 18 Vgl. Ingolf Pernice, Carl Schmitt, Rudolf Smend und die europäische Integration, in: Archiv des öffentlichen Rechts Bd. 120 (1995), S. 100–120, hier S. 113 ff. 19 »Der Begriff des Erlebnisses ist zentral für Smend«, Hennis, S. 493, FN. 44. 20 Vgl. Campenhausen, S. 623. 21 Siehe auch Kästner, S. 145. 22 Siehe Marcus Llanque, Die politische Theorie der Integration: Rudolf Smend, in: André Brodocz u. a. (Hg.), Politische Theorien der Gegenwart I. Eine Einführung², Opladen 2006, S. 314–340, hier S. 316, 330. 23 Dreier, S. 78. 24 Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, Berlin 1955, S. 119–276, hier S. 219. 25 Siehe auch Llanque, S. 328 f. 26 Hans Kelsen, Der Staat als Integration, Wien 1930. 27 Vgl. hierzu besonders Stefan Korioth, »… soweit man nicht aus Wien ist oder aus Berlin« Die Smend / Kelsen-Kontroverse, in: Stanley L. Paulson u. a. (Hg.), Hans Kelsen. Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, Tübingen 2005, S. 318–332. Franz Walter  ■  Rudolf Smend

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28 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, 5.  Nachdruck der Ausgabe von 1963, Berlin 2002, S. 26. 29 Siehe die Eintragungen bei Carl Schmitt, Tagebücher 1930 bis 1934, S. 140– 145, S. 198. 30 Auch, etwas überpointiert, van Ooyen, S. 52 ff. 31 Vgl. besonders Dreier, S. 87 ff. 32 Bickenbach, S. 590. 33 Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf, Frankfurt am Main 1982, S. 147. 34 Siehe Leibholz, S. 20 f. 35 Siehe Friedrich, S. 21. 36 Christian von Krockow, Zu Gast in drei Welten. Erinnerungen, Stuttgart 2000, S. 176. 37 Leibholz, S. 39. 38 Von Krockow, S. 174. 39 Scheuner, S. 440. 40 Leibholz, S. 41. 41 Friedrich, S. 24. 42 Der Smend-Freund Hennis merkte zumindest an, dass Smend »unnötig schwierig« formuliert habe, S. 491. Siehe auch die polemischen Anmerkungen bei van Ooyen, S. 56; auch Stolleis, S. 175. 43 Siehe auch Llanque, S. 334; Pernice, S. 114 ff. 44 Vgl. Robert van Ooyen, Demokratische Partizipation statt »Integration«: Normativ-staatstheoretische Begründung eines generellen Ausländerwahlrechts. Zugleich eine Kritik an der Integrationslehre von Smend, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 13 (2003), H. 2, S. 601–627, hier S. 609 ff.

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Percy E. Schramm Zwischen Mediävistik und Kriegstagebuch von Stine Marg

Er selbst erweckte gerne den Eindruck, als litte er unter dem Regiment strenger Frauen. Percy Ernst Schramm, der Göttinger Professor für Mittlere und Neuere Geschichte, Verfasser des Kriegs­ tagebuches des Oberkommandos der Wehrmacht und Kanzler des Ordens Pour le mérite wurde noch mit sechzig Jahren – in Gegenwart seines Kollegen Christian Graf von Krockow  – von seiner Mutter mit den Worten begrüßt: »Percy, komm mal her! Wo bist du wieder gewesen? Dein Kolleg ist schon seit zwei Stunden zu Ende!«1 Schramm scheint jedoch nicht wirklich unter seinen Frauen gelitten zu haben. Zur Mutter hatte er ein außerordent­ liches Verhältnis. Ihr widmete er noch in den sechziger Jahren den zweiten Band seiner beeindruckenden Darstellung des Hamburger Bürgertums. Seine eigene Familie, die Hamburger Bürgermeister, Senatoren, Kaufleute und Juristen hervorbrachte,2 diente ihm als veranschaulichende Vorlage. Hier beschrieb er auch, wie seine Mutter sowohl in ruhigen Zeiten den Repräsentationspflichten der Schramms nachkam, als auch während der Weltkriege mit Mut, Tatkraft und Energie den Mittelpunkt der Familie bildete. Und so war es für Percy Ernst Schramm als erstgeborener und einziger Sohn nur selbstverständlich, dass er seine verwitwete Mutter nach der Bombardierung Hamburgs im Jahr 1943 bei sich aufnahm. Dennoch war in Göttingen die eigentliche Hausherrin nicht die betagte Hamburger Grande Dame. Den Mittelpunkt der Herz­ Stine Marg  ■  Percy E. Schramm

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berger Landstraße 66 bildete Ehrengard Schramm, Percys Ehefrau und Mutter seiner drei Söhne. Ehrengard war für den Professor eine unverzichtbare, da wissenschaftlich qualifizierte Arbeitskraft. Schließlich unterstützte die Historikerin, die ihr Studium nur aufgrund der Heirat mit dem aus wohlhabenden Verhältnissen stammenden Heidelberger Privatdozenten nicht zu einem formellen Ende hatte bringen können, ihren Mann intensiv bei seinen Forschungsarbeiten. Vor allem während des Zweiten Weltkrieges, den Schramm an der Front und im Führerhauptquartier verbrachte, war sie es, die in der Heimat Material sammelte, unleserliche Kladden entzifferte und sie ins Reine übertrug, Büchersendungen an Percy zusammenstellte oder Literaturverzeichnisse anlegte. Gleichzeitig schuf sie in Göttingen eine Institution, die im Laufe der Jahre nicht nur für Kollegen und hilfesuchende Menschen eine Anlaufstelle war, sondern nach 1945 geradezu ein intellektuelles Zentrum Göttingens bildete. Zu den von ihr organisierten Vorträgen und Diskussionsrunden pilgerten bis zu 140 Menschen in das obere Ostviertel.3 Nicht von ungefähr kokettierte Schramm häufiger mit seinem Schicksal, seiner tonangebenden Frau Untertan zu sein und ihr den Vortritt lassen zu müssen. Schließlich saß Ehrengard Schramm, die für ihr humanitäres Engagement in Griechenland mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde, in den fünfziger Jahren für die FDP im Göttinger Stadtrat und war von 1959 bis 1967 Mitglied des Niedersächsischen Landtages, nunmehr für die Sozialdemokratie. Somit mag es dem standesbewussten und konservativen Professor mitunter so vorgekommen sein, als werde er von seiner Frau an Bekanntheit und Einfluss übertroffen. Schramm, der in einer »traditionsgesättigten Atmosphäre«4 in einer der wohlsituiertesten Familien der Hamburger Bürgerschaft aufgewachsen war, musste sich an diese Wendung der innerfamiliären Verhältnisse erst gewöhnen. Ehrengard Schramm war eine geborene von Thadden. »Eta«, wie sie von ihren Freunden und der Familie genannt wurde, wuchs als jüngstes Kind auf dem preußischen Gut Trieglaff auf. Ihre Schwester Elisabeth von Thadden wurde als Mitglied des so­ genannten Solf-Kreises im Zuge des Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944 im September desselben Jahres hingerichtet. Eta, die in Göttingen bereits zuvor denunziert worden war, da sie noch »bei Juden kaufte«, und ihr Mann, Percy Ernst Schramm, waren somit von 36 

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der »Sippenhaft« bedroht. Spätestens zu diesem Zeitpunkt scheint sich Schramm der distanzierten Haltung seiner Frau zum nationalsozialistischen Regime angeschlossen zu haben. Doch so dachte Schramm nicht immer – im Gegenteil. Er, der wenige Tage vor Hitlers Machtergreifung in New Jersey gelandet war, benutzte seine Gastprofessur in Princeton dazu, mehrfach über die »Nationale Revolution in Deutschland« zu referieren. Er hielt Werbereden für die neue Regierung, da er den kritischen Kommentaren in den USA über Adolf Hitler etwas entgegensetzen wollte.5 Bereits bei der Reichspräsidentenwahl 1932 setzte sich Schramm als Vorsitzender des Göttinger »HindenburgAusschusses« für den greisen Amtsinhaber ein, aus der Überzeugung heraus, dass eine rechte Regierung im Gegensatz zu einer kommunistischen – gegen deren Gefahr er bereits 1919 in Hamburg als Zeitfreiwilliger gekämpft hatte  – keine Bedrohung für das deutsche Volk darstelle.6 Doch es ging Schramm längst nicht nur darum, »Schlimmeres zu verhindern«. Spätestens nach der Reichstagswahl am 5. März 1933, bei der NSDAP und DNVP zusammen 52 Prozent der Stimmen erhielten, war er euphorisch gestimmt und schrieb an seine Frau: »Die 52 % sind ein Segen; so kann niemand bei uns und besonders im Ausland etwas sagen, und das bisherige System ist wirklich mit eigenen Waffen ausgefegt. Die Bülow­platzrazzia und der Reichstagsbrand (– schade, daß nicht das ganze Monstrum, dessen Pläne schon von Lichtwark verdammt wurden –) geben ja fabelhafte Chancen.«7 Schramm, der in späteren Zeugnissen nach 1945 stets betonte, dass er seine politische Auffassung nicht zu korrigieren habe,8 gab ebenso wiederholt zu Protokoll, dass der Prozess seiner Desillusionierung mit dem Regime schließlich 1943 eingesetzt hätte. Zu diesem Zeitpunkt wurde Schramm dem Oberkommando der Wehrmacht zur Abfassung des Kriegstagebuches zugeteilt. Zuvor hatte er, der von der Möglichkeit der Freistellung vom Wehrdienst aufgrund seiner universitären Verpflichtungen keinen Gebrauch gemacht hatte und sofort bei Kriegsbeginn eingezogen worden war, bereits als »Rittmeister der Reserve« an der Ost- und Westfront gekämpft. Der als »Offizier verkleidete Universitätsprofessor«9, wie ihn Felix Hartlaub, sein historischer Sachbearbeiter und Assistent, bezeichnete, zeigte sich im Führerhauptquartier zunächst wohl »hanseatisch kühl und zurückhaltend«,10 entwickelte aber Stine Marg  ■  Percy E. Schramm

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bald einen »zyklopischen«11 Arbeitsstil. Der unmittelbaren »NaziAtmosphäre« ausgesetzt, wie man ihm später in SPIEGEL-Leserbriefen als Reaktion auf seine 1964 erschienene vierteilige »Ana­ tomie eines Diktator« vorwerfen sollte, sammelte er Lageberichte, Befehle, Aktennotizen und Gefechtsskizzen von den einzelnen Frontabschnitten, um sie chronologisch abzulegen. Das Kriegs­ tagebuch des Wehrmachtsführungsstabes sollte einerseits als Datenbasis für gegenwärtige und zukünftige Operationen dienen und andererseits als historische Quelle ein Beleg über die siegreichen Aktionen des »genialen Feldherren« Adolf Hitler darstellen. Tausende von Befehlen, Gefechtspositionen, Geländebeschreibungen, stenografische Berichte über Lagebesprechungen, Meldungen, Aktennotizen oder Geheimpapiere sammelten sich an, deren bloßes Sichten, Sortieren und Gewichten Schramm, seine zwei Assistenten und die Schreibkräfte völlig überforderten. Zunächst schien es so, als würde Rittmeister Schramm bei der Bearbeitung des Kriegstagebuches völlig versagen. Hartlaub schrieb über den Arbeitsstil seines Vorgesetzten, auf den er zunächst als »echten Wissenschaftler großen Kalibers« hohe Erwartungen gesetzt hatte, immer bitterere Briefe. Zunächst fehlten Percy nur die mangelnde Routine und die beachtliche Präzision seines Vorgängers Helmuth Greiner. Doch schon wenige Wochen später schimpfte Hartlaub, dass sein Chef der gewaltigen Aufgabe nicht gewachsen sei und ihn, Hartlaub, der selbst seine historische Dissertation vorantreiben wollte, zusätzlich für wissenschaftliche Privatrecherchen, Korrekturen und dergleichen heranziehen würde.12 Schramm nutzte Hartlaub jedoch keineswegs rücksichtslos aus, er wusste, was er an ihm hatte, schätzte dessen Zettelkasten mit Begriffen und vorangegangenen Gefechten als unerlässliche Hilfe, um in dem täglichen Wirrwarr den Überblick zu behalten. Aber auch Hartlaubs Fertigkeiten als Historiker waren für Schramm un­ersetzlich. Ohne seinen Einsatz hätte Schramm sicher nicht so viele Manuskripte während des Krieges anfertigen können. Und auch in einem weiteren Punkt lag Hartlaub mit seiner Einschätzung nicht ganz richtig. Es war nicht die Unfähigkeit Schramms, die Geschäftsvorgänge rund um das Tagebuch des Oberkommandos zu leiten, sondern die Tatsache, dass das von Greiner eingeführte System zwar umfassend war, sich aber als unübersichtlich und wenig sinnvoll für Schramms weitere Arbeit erwies. D ­ aher 38 

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entwickelte er ein logisch differenziertes Ablagesystem nach Kriegsschauplätzen und Sachgebieten, von dessen Sinnhaftigkeit er allerdings General Alfred Jodl, den Chef des Wehrmachtsführungsstabes, erst allmählich überzeugen konnte. Um einen Überblick für die Nachwelt zu erhalten, fertigte Schramm überdies auf Basis des »Rohmaterials« Ausarbeitungen an, die das Material gliederten, Unwichtiges heraussortierten, entscheidende Wendungen schilderten. In diesen Berichten achtete er auf größtmögliche Objektivität.13 Dennoch wurde ihm ab Januar 1945 untersagt, dass Kriegstagebuch auf die von ihm eingeführte Weise fortzuführen, da man an seinen Ausführungen Kritik an der obersten Führung herauslas. Die Hinrichtung seiner Schwägerin und eine erneute Denunziation Ende 1944 durch eine Göttinger NS-Dienststelle standen hiermit sicherlich im Zusammenhang. Schließlich war es Jodls Verdienst – für den Schramm später bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen als Entlastungszeuge auftrat  –, dass der Historiker im Führungsstab gehalten werden konnte und er somit im Mai 1945 unter Einsatz seines Lebens einen Großteil der Papiere zu retten vermochte. Nicht nur aufgrund der Arbeiten am Kriegstagebuch, die Schramm als Kriegsgefangener der Amerikaner und später als Herausgeber der mehrbändigen Ausgabe weiterführte, sondern auch im Zuge seiner Beschäftigung mit der Geschichte Hamburgs wandte sich Schramm mehr und mehr der Zeitgeschichte zu. Wenn Kritiker in ihren Artikeln und Rezensionen über den »Mittel­a lterhistoriker Percy E. Schramm« sprachen, war dies nicht immer nur als Berufsbezeichnung gemeint, sondern auch als eine Herabwertung. Der Mediävist möge sich vielleicht mit lateinischen Urkunden und Kaiserkrönungen auskennen, allerdings mache ihn das noch lange nicht zum Experten für die Zeitgeschichte oder gar den Nationalsozialismus. In Göttingen jedoch kümmerte dies die Hörer der Georgia Augusta offensichtlich wenig: Gerade Schramms Vorlesungen ­ über die NS-Zeit, für die er aus seinem persönlichen Erfahrungsschatz als Tagebuchführer des Oberkommandos der Wehrmacht schöpfen konnte, waren regelmäßig überfüllt. Dies war nicht nur der Anschaulichkeit seiner Veranstaltungen geschuldet, sondern auch seinen herausragenden oratorischen Fähigkeiten. Er war ein »geistreicher und belebender Unterhalter«14 und somit ein AnStine Marg  ■  Percy E. Schramm

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ziehungspunkt der Göttinger Geschichtswissenschaft seit seiner Wiederzulassung als Hochschullehrer im Wintersemester 1948/49. Dabei wollte ihn Göttingen beziehungsweise das Preußische Kultusministerium zunächst gar nicht haben. Seine Lehrstuhlbesetzung im Jahr 1929 zog sich über etliche Monate hin, da der Kultusminister und sein Ministerialdirektor den freigewordenen Lehrstuhl zunächst für die Soziologie vorsahen und auch dahingehend die Berufungsliste der Fakultät beeinflussen wollten. Das Ministerium erhoffte sich hiervon innerhalb der Philo­sophischen Fakultät eine interdisziplinäre Zusammenarbeit ähnlich wie bei den Naturwissenschaftlern, wo Mathematiker, Physiker, Chemiker und auch Philosophen die Grenzen ihrer einzelnen Fächer überwanden. Die Mitglieder der Philosophischen Fakultät einigten sich dann auf eine Liste mit Historikern, denen »entweder eine soziologische Betrachtungsweise nicht fern liege oder von denen eine Erweiterung des Gesichtskreises der Göttinger Historie über die alte abendländische Welt hinaus nach Byzanz, Ost- und Südosteuropa oder nach Übersee erwartet werden könne«.15 Auf den letzten Platz der Viererliste setzten sie den Heidelberger Privat­dozenten »Dr. Percy H.  Schramm«, dessen genauer Name ihnen offensichtlich unbekannt war. Die Mitglieder der Philosophischen Fakultät wollten natürlich keinen Soziologen, auch keinen historisch arbeitenden, da – so ihre Argumentation – die Soziologie eher bei der Nationalökonomie angegliedert sein müsse, während die Geschichtswissenschaft in Göttingen jemanden bräuchte, der die elementaren Dinge wie die Handschriftenkunde und Urkundenlehre beherrschte, weshalb also ein Mediävist erforderlich sei. Schließlich musste Professor Karl Brandi, als ehemaliger Rektor der Universität, Sprecher der deutschen Historiker und ein über die Grenzen der Weimarer Republik hinaus anerkannter Geschichtswissenschaftler, sich für die »meistversprechende jüngere Kraft« in einer Ministeraudienz für Schramm einsetzen, so dass dieser endlich im Februar 1929 seinen Ruf erhielt. Seit dem Sommersemester des gleichen Jahres wurde er ordentlicher Professor der Mittleren und Neueren Geschichte und der Historischen Hilfswissenschaften und verstärkte sogleich als dessen Direktor das Historische Seminar in Göttingen.16 Auf Percy E. Schramm wurde man in Göttingen aufmerksam, da er sich mit einer umfassenden Zusammenstellung der Kaiserbilder und deren Interpretation habilitierte. Dabei berücksichtigte 40 

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Schramm nicht nur die klassischen Darstellungen, sondern bezog auch Kunstwerke, Siegel, Handschriften und Münzen mit ein. Dieses Werk, was er später zu dem Titel »Kaiser, Rom und Renovatio« ausbauen sollte, machte ihn unmittelbar und nachhaltig über die Grenzen seines Faches hinaus bekannt, weil Schramm einerseits einen anschaulichen und packenden Erzählstil präsentierte und andererseits – Jahrzehnte vor dem »iconic turn« – anhand von Bildern den Einflussbereich der Kaiser vom neunten bis zum zwölften Jahrhundert schilderte. Noch in den sechziger Jahren präsentierte der »Augenmensch«, wie sich Schramm selbst bezeichnete, am schwarzen Brett des Historischen Seminars wöchentlich wechselnde Bilder, um die Studenten auf die verschiedensten interpretatorischen Möglichkeiten und Zusammenhänge aufmerksam zu machen. Somit ist es Schramm, der am 21. November 1970 im Alter von 76 Jahren starb, in gewisser Weise doch noch gelungen, sein eigentliches Fachgebiet, die Mediävistik, zu verlassen und über die Neuzeit und Zeitgeschichte zu arbeiten.

Anmerkungen 1 Zit. in: Christian Graf von Krockow, Erinnerungen, Zu Gast in drei Welten, Stuttgart 2000, S. 139. 2 Vgl. Percy Ernst Schramm, Neun Generationen, Dreihundert Jahre deutscher »Kulturgeschichte« im Lichte der Schicksale einer Hamburger Bürgerfamilie (1648–1948), Erster Band, Göttingen 1963, S.  5; ebd. Zweiter Band, Göttingen 1964, S. 6. 3 Zu Ehrengart Schramm vgl.: Helga Maria Kühn, Ehrengard Schramm, geborene von Thadden, in: Traudel Weber-Reich (Hg.), Des Kennenlernens werth, Bedeutende Frauen Göttingens, S. 289–302, Göttingen 2002. 4 Vgl. Percy Ernst Schramm, Neun Generationen, S. 427. 5 Vgl. Joist Grolle, Der Hamburger Percy Ernst Schramm – ein Historiker auf der Suche nach der Wirklichkeit, Hamburg 1989, S. 21–26. 6 Allgemein zum Lebenslauf von Schramm vgl. die ausführliche Biografie von David Thimme, Percy Ernst Schramm und das Mittelalter. Wandlungen eines Geschichtsbildes, Göttingen 2006. 7 Zit. in: Joist Golle, Der Hamburger Percy Ernst, S. 22. 8 Vgl. Thomas Etzemüller, Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der Westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, München 2001, S. 40. 9 Brief von Felix Hartlaub an Melita Laenebach vom 4.2.1943, abgedruckt in: Gabriele Lieselotte Ewenz (Hg.), Felix Hartlaub »in den eigenen Umriss geStine Marg  ■  Percy E. Schramm

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bannt«, Kriegsaufzeichnungen, literarische Fragmente und Briefe aus den Jahren 1939 bis 1945, Bd. 1, Göttingen 2002, S. 576 f. 10 Felix Hartlaub an Gustav Friedrich Hartlaub vom 7.3.1943, abgedruckt in: ebd., S. 590. 11 Felix Hartlaub an Gustav Friedrich Hartlaub vom 8.3.1945, abgedruckt in: ebd., S. 744. 12 Zu den Arbeiten am Kriegstagebuch vgl.: Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht (Wehrmachtführungsstab)  1940–1945, geführt von Helmuth Greiner und Percy Ernst Schramm, hg. von Percy Ernst Schramm, besonders Bd. IV, 1. Januar 1944–22. Mai 1945 von Percy Ernst Schramm, S.  1760–1822 und Ewenz, in: Gabriele Lieselotte (Hg.), Felix Hartlaub »in den eigenen Umriss gebannt«, Kriegsaufzeichnungen, literarische Fragmente und Briefe aus den Jahren 1939 bis 1945, Bd. 1 u. 2, Göttingen 2002. 13 Schramm arbeitete jedoch auch selektiv und dokumentierte so nicht die »kriegsvölkerrechtlich relevanten Aspekte des Krieges wie Kriegsgefan­ genenfragen, Partisanenkampf, Geisel- und Liquidierungsbefehle« in Jugoslawien, Italien und Griechenland. Vgl. Manfred Messerschmidt / Karl Dietrich Erdmann / Walter Bußmann / Percy Ernst Schramm. Historiker an der Front und in den Oberkommandos der Wehrmacht und des Heeres, in: Hartmut Lehmann u. a. (Hg.), Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, Bd. 1, Fächer-Milieus-Karrieren, Göttingen 2004, S. 417–443. 14 Helmut Schelsky, Rückblicke eines »Anti-Soziologen«, Opladen 1981, S. 151. 15 Norbert Kamp, Percy Ernst Schramm und die Mittelalterforschung, in: Geschichtswissenschaft in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe, in: Hartmut Boockmann / Hermann Wellenreuther (Hg.), Göttingen 1987, S.  344–363, hier S. 345. 16 Für die Vorgänge rund um das Berufungsverfahren, siehe ebd.

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Christian Graf von Krockow Geschichten vom Vergangenen von Katharina Rahlf

Nein, »Heimat« sei Göttingen für ihn nie gewesen. Auch wenn er in der Universitätsstadt fast ein halbes Jahrhundert verbracht habe, sei er mitunter immer noch ratlos gewesen, wenn ein Passant nach dem Weg fragte.1 »Heimat«, das war für Christian Graf von Krockow stets Preußen, genauer: Pommern, genauer: Hinter­ pommern. Dort war er in eine alte Adelsfamilie geboren und hatte eine standestypische Kindheit und Jugend als Gutsbesitzersohn verlebt. Diese Zeit sollte ihn prägen wie keine andere, daraus bezog er seine Identität, nicht zuletzt einen gewissen »Standes­dünkel«. Die unmittelbaren Nachbarn, die »Vorpommern«, habe er als Kind stets mit einem gewissen Argwohn, auch mit Verachtung betrachtet, gehörte dieser Landstrich doch quasi erst »seit gestern« zu Preußen.2 Selbst Jahrzehnte später fühlte er sich nie richtig zum »deutschen Bürgertum« gehörig, empfand auch dann noch in der westdeutschen Akademikerwelt der Nachkriegszeit einen »Anhauch von Fremdheit«.3 Diese Sentenzen von Krockows stehen beispielhaft für einen seiner prägnantesten Charakterzüge, illustrieren mit wenigen Worten seine Persönlichkeit: Von Krockow war zweifellos ein Mann der Vergangenheit, ein schwärmerischer Nostalgiker. Aufgewachsen in Rumbske, einem kleinen pommerschen Ort, als jüngster und etwas eigenbrötlerischer Spross der von Krockows, wurde der 1927 Geborene noch im November 1944 zur WehrKatharina Rahlf  ■  Christian Graf von Krockow

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macht eingezogen. Als 17-jähriger Soldat erlebte er die letzten Kriegsmonate. Unterdessen versank seine Heimat »im Ansturm der Rache, in Feuer und Blut«.4 So schildert von Krockow selbst, mit typischem Pathos, diesen Schlüsselmoment in seinem Leben. Dieser Zeitpunkt markierte für von Krockow die Wende von der verklärend erinnerten Kindheit hin zu einem anderen Leben in »fremder« Umgebung, den endgültigen Abschied von Jugend und Heimat. Besonders hart am eigenen Leibe traf ihn das Nachkriegselend allerdings nicht. Dank seiner weitverzweigten Familie und ihrer Kontakte fand er zwischenzeitlich Unterkunft auf einem Hof in Schleswig-Holstein. Außerdem hatte er sich ein erstaunliches Sparbuchguthaben von 832 Reichsmark »bei alten Obergefreiten mehr oder minder redlich im Dauerskat«5 erspielt; auch danach habe er noch komfortabel »von Schwarzmarktgeschäften leben und unbeschwert Feste feiern«6 können. Erst mit der Währungs­ reform habe für ihn die »wirklich schwierige Zeit« begonnen. Aber selbst das bedeutete lediglich, den exklusiveren Tennisdress gegen die günstigere Badehose tauschen zu müssen. Und auch diese Misere währte nicht allzu lange. Er profitierte von verschiedenen Vergünstigungen, die Studenten in Göttingen das Leben finanziell erleichterten, erlangte außerdem ein Stipendium von der Studienstiftung des Deutschen Volkes. Dass es ihn aber überhaupt zum Studium nach Göttingen verschlug, war keinesfalls von langer Hand geplant worden. Bevor ihn die ehrwürdige Georgia Augusta 1947 immatrikulierte, hatte er vergeblich an verschiedenen Universitäten angefragt. Die Jahre in Göttingen, zunächst als Student der Philosophie, dann als Assistent am Soziologischen Seminar und später als Professor für Politikwissenschaft an der Pädagogischen Hochschule, markieren die nächste Phase im Leben von Krockows, seine zweite »Hochzeit«, als aufstrebender, selbst- und zukunftsgewisser Wissenschaftler. Dieser Zeit widmet er in seinen autobiografischen Erinnerungen viele Seiten, schildert amüsante Anekdoten und Begegnungen mit Koryphäen der Wissenschaft. Beispielsweise habe man Percy Ernst Schramm im Café »Cron&Lanz« bei der Lektüre von Illustrierten »mit den Bildern mehr oder minder unbekleideter Mädchen«7 ertappen können, da der ca. sechzigjährige Historiker zu Hause unter dem strengen Regiment seiner uralten Mutter stand, die der44 

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lei »Freizeitbeschäftigungen« freilich nicht duldete.8 Von Krockow malt dabei eine geradezu idealtypische akademische Szenerie im Westdeutschland der Nachkriegsjahre, von ihm selbst als »glanzvolle Zeit«9 bezeichnet – zum einen ob der zahlreichen nam­haften Professoren, die es in die kleine Stadt verschlagen hatte und die ihren Zuhörern ein überaus interessantes Programm boten; zum anderen aufgrund der spezifischen Studentengeneration, die die Hörsäle bevölkerte. Bei ihnen handelte es sich zumeist wie bei Krockow selbst um Kriegsteilnehmer, die also ähnliche Erfahrungen teilten, auch der jugendlichen Naivität und Unbekümmertheit längst und zwangsweise entwachsen waren.10 Als dann diese jüngeren Kohorten später anrückten, konnte er dementsprechend wenig mit ihrem jugendlichen Gebaren anfangen. Überhaupt – und hier zeigt sich ein weiterer Wesenszug von Krockows – schien er in jungen Jahren nie besonderen Wert auf den Umgang mit Gleichaltrigen zu legen, orientierte sich meist an Älteren, Höherrangigen. Und wirklich »jung«, das war er, zumindest dem Verhalten nach, im Grunde nie. Weder für kindlichen noch für (post-)pubertären Leicht- und Blödsinn war er zu haben, schon früh sprach auch aus seinem Auftreten nicht der ungestüme Student, sondern der gesetzte, mitunter etwas ungelenke Erwachsene. In der Nachkriegszeit war die Georgia Augusta mit Studenten­ zahlen unter 5.000 Immatrikulierten noch weit entfernt vom heutigen Großbetrieb (was auch von Krockow wehmütig bemerkt, der den späteren »öden Betonburgen«11 wenig abzugewinnen vermochte).12 Das Verhältnis zwischen Studenten und Professoren sei einerseits intensiver, weil naturgemäß ganz andere Relatio­ nen herrschten, andererseits noch sehr viel stärker von klassischen Schüler-Lehrer-Hierarchien bestimmt gewesen. Diese Mischung aus Intimität und Autorität entsprach aber genau dem Krockow’schen Habitus. Idealtypisch liefe ein anregendes, erkenntnisversprechendes Seminar nach von Krockow folgendermaßen ab: Der Professor, eine allseits anerkannte Autorität, deren Ansehen sich aus fachlichem Wissen, überdurchschnittlicher Auffassungsgabe, persönlichem Interesse an seinen Studenten sowie nicht zuletzt aus moralischer Integrität speist, sammelt anschließend seine Schüler in seiner Privatwohnung um sich, wo bei Wein tiefgründige Gespräche geführt werden. Es sei »kaum zu glauben, wie muffelige, gelangweilte Studenten […] sich in wiß­begierige Katharina Rahlf  ■  Christian Graf von Krockow

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junge Leute verwandeln […]  – sofern sie nur im angemessenen Ambiente, sei es dicht gedrängt und teils auf dem Teppich gelagert, bei ›ihrem‹ Professor sein dürfen«.13 Wichtig dabei: Mehr als zwölf »Anhänger« sollten es nicht sein, das sei die »magische Grenze, die ohne Einbußen nicht überschritten«14 werden könne. Dass führende Wissenschaftler wie Schramm, Conze, Kayser oder Rein bei ihren Studenten in- und ausgegangen seien und persönliche Unterhaltungen im kleinen Kreis geführt hätten, müsse sich, so von Krockow, »im Massenbetrieb unserer Tage wohl wie eine Mär aus sehr ferner Zeit lesen«.15 Bei diesen wehmütigen Schilderungen der »guten alten Zeit« tritt neben dem Nostalgiker auch der Modernitätsskeptiker von Krockow zutage. Gleichviel, ob es der Rückblick auf die Kindheit in Pommern oder auf die ersten Göttinger Lehrjahre ist: Bei allem, was an begrüßenswerten Neuerungen auch dazugekommen sein mag, überwiegt doch in der Bilanz stets die Sehnsucht nach dem im Grunde »besseren« Vergangenen. Seine Dissertation über »Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger«, war nicht unheikel, da sie führende Koryphäen einer kritischen Analyse unterzog.16 Später wurde sie freilich als »nonkonformistischer Akt«17 gefeiert, als Tabubruch gerühmt, da es bis dato »als hochgradig unfein und störend [gegolten hatte], frühere Äußerungen eines akademischen Vertreters auf ihre Affinität zum Nationalsozialismus hin zu untersuchen«. Doktorväter waren Helmuth Plessner und Rudolf Smend, zwei prägende Autoritäten für von Krockow. Und Autorität, in ihrer »natürlichen« Form, wie er es nannte, galt ihm viel. Aber, so klagt von Krockow später in typisch schwülstigem Duktus, »wer ermißt heute noch, was es bedeutete, wenn der Mann von 85 Jahren, der weit entfernt in der Kaiserzeit aufwuchs, dem Jüngeren tief bewegt das ›Du‹ anträgt?«18 Dabei habe Plessner am Vorlesungspult nicht als Rhetoriker geglänzt; seine Stärke sei vielmehr »der Austausch im begrenzten Kreis« gewesen, in welchem er mit seinem »Gespür für das Wesentliche […] bei übrigens eher brüchigem Zitaten- und Zettelkastenwissen«19 geglänzt und seine Schüler mit provokanten »Was wäre wenn«-Fragen zum unkonventionellen Denken angestiftet habe. Doch nicht nur den Wissenschaftler Plessner bewunderte von Krockow, auch der »Schauspieler und Stimmenimitator von Rang« mit lebhafter Mimik und einem Talent zum Anekdotenerzählen ­begründeten seine Zu­ 46 

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neigung. Smend hingegen charakterisiert er als einen Mann »von unendlichem Wissen und unendlicher Höflichkeit«,20 (er grüßte immer als erster, was seine Studenten in Verlegenheit brachte).21 Auf die Frage, warum er verhältnismäßig wenige Publi­kationen vorweisen könne, habe Smend geantwortet: Um viel zu veröffentlichen, müsse man »sehr sicher sein und darf nicht zu viel wissen. Darum braucht man zum Schreiben ein Mindestmaß von Frechheit oder von Dummheit«; ihm fehle es wohl an mindestens einem von beiden. Dies mag von Krockow, der schon als Student mit dem selbstständigen Schreiben begann und sicherlich nicht unter Selbstvertrauensdefiziten litt, als Warnschuss gegolten haben, dass eine universitäre Karriere der erhofften Laufbahn als Publizist nicht unbedingt zuträglich sein könnte. Nach seiner Promotion wurde von Krockow Assistent am Soziologischen Seminar, das damals noch im Reitstallviertel am Weender Tor untergebracht war und wo die Forscher nicht selten durch Hähnekrähen in ihrer Arbeit unterbrochen wurden. Im Akademischen Viertel nebenan traf man sich nach Seminaren auf Bier oder Wein zu Diskussionen. Heute, so bemerkte er im Rückblick wehmütig und nahm dabei Anstoß an den Sanierungs­ maßnahmen vor allem der sechziger Jahre,22 gäbe es diese »anheimelnden Höhlen« nicht mehr – dabei sei doch das »Wichtigste an einer Universität […] die Kneipe nebenan«.23 Seine Promotion hatte ihn bereits Widerstände des universitären Milieus spüren lassen. Hinzu kam die Enttäuschung über die seitens der Universität »verweigerte Aufklärung, besonders des eigenen Versagens«,24 was ihre Rolle in der Zeit des National­ sozialismus betraf.25 Außerdem missfiel ihm der mit der »Gelehrsamkeit […] verschwisterte Dünkel«26 Göttingens, der die Stadt zu einem recht kargen Ort gemacht habe, an dem Geselligkeit oder gar sichtbares Gefallen an »Luxusgütern« ungern gesehen worden seien. Als er mit seinem ersten Auto – einem VW-Käfer – vorfuhr, habe er sich fragen lassen müssen, ob er denn »keine akademische Karriere« machen wolle – schließlich gingen alle anderen Akademiker zu Fuß oder fuhren Rad.27 Vorerst jedoch blieb von Krockow in Göttingen und folgte 1961 dem Ruf auf einen Lehrstuhl an die Pädagogische Hochschule. Hier betrat er in vielerlei Hinsicht Neuland. Nicht nur wurde er, der ja als Philosoph und Soziologe ausgebildet war, nun erstmals Katharina Rahlf  ■  Christian Graf von Krockow

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»auf die Schiene des Politikwissenschaftlers gesetzt«, in einem erst 1949 gegründeten Fach. Auch die PH war eine junge Institution; was sich nicht nur im zweckmäßig-modernen Stil ihres Hauptgebäudes zeigte. Auch programmatisch verbarg sich hinter der PH ein progressives Konzept. Von Erich Weniger 1946 gegründet, hatte sie die universitäre Lehrer(aus)bildung zum Ziel, mit dem deutlichen Fokus auf die Praxis, das »Pädagogische« und die Didaktik. Lehrer, Professoren und Studenten sollten über die Lehrveranstaltungen hinaus in engen Kontakt miteinander treten, daraus hervor­gehen sollte ein neuer fortschrittlicher Lehrertypus.28 Allerdings gab es hier kaum Traditionen, auf die man stolz zurückblicken konnte, keine bereits erworbenen Meriten, in deren Glanz man sich hätte sonnen können. Das Image musste also aus anderen Quellen gewonnen und poliert werden. Nicht un­w ichtig schien es daher für von Krockow, die »vielen Koryphäen« zu erwähnen, die »neben«29 ihm an niedersächsischen Hochschulen lehrten, um sich so zumindest in eine angemessene Riege ein­ zureihen. Nichtsdestotrotz bot ihm, dem »jungen und ehrgeizigen Professor, der sich zudem als Junggeselle mit Sportwagen auch manchmal umschwärmt sah«,30 die PH eine »angenehm kolle­ giale Atmosphäre«, in der er zugleich seine Eitelkeit streicheln lassen konnte. Mitte der Sechziger schließlich kehrte er den Göttinger Bildungsinstitutionen endgültig den Rücken; zuerst verschlug es ihn 1965 nach Saarbrücken, wo er allerdings die Loyalität von Uni­ versitätsleitung wie Kollegen vermisste. Wie stark ihn diese Enttäuschung traf und wie wenig er ohne Sympathien auskam, zeigt sein überspitzter Vergleich, »so ungefähr [müsse] es den plötzlich Verfemten im Jahre 1933 ergangen sein«.31 Also kehrte er dem Saarland den Rücken, ging nach Frankfurt, mitten hinein in die Tumulte des Jahres 1968. Trotz gewisser Sympathien für ihre Motive behagten ihm weder Mittel noch Auftreten der Protestierenden, die »mehr gestreikt und demonstriert als studiert«32 hätten. Ein nochmaliger Wechsel der Universität, nach Zürich, platzte, da er sich dort denunziert fühlte und kurzerhand absagte. Das war zu viel für ihn: Mit Kritik, insbesondere mit gar persön­ lichen Anwürfen, kurz: mit Verhalten, das er vermutlich als »respektlos« bezeichnet hätte, konnte er nie besonders gut umgehen, »Hochachtung« und »ehrwürdig« waren die Lieblingsvokabeln 48 

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des adeligen Gentleman. Dass solche Umgangsformen im akademischen Betrieb nicht immer gewahrt werden, dass jede sich bietende Angriffsfläche in Konkurrenzkämpfen um Mittel und Stellen genutzt wird – all dem war er schlichtweg nicht gewachsen. Im Alter von gerade einmal 42 Jahren war für von Krockow die akademische Universitätskarriere daher zu Ende und die Laufbahn des Publizisten begann. Als freier Schriftsteller hingegen konnte er sich dem gefürchteten Druck weitgehend entziehen, konnte zudem sein Talent, »Geschichten zu erzählen«,33 ohne die einengenden universitären Vorgaben und Verpflichtungen viel besser nutzen. Als Publikum hatte er dabei die breite, historisch interessierte Öffentlichkeit vor Augen und keineswegs nur die begrenzte universitäre Zunft.34 Der Schriftsteller von Krockow gelangte schnell zu Erfolg, seine Bücher verkauften sich in hohen Auflagen, er wurde zum gefragten Redner und konnte sich vor Vortragsanfragen kaum mehr retten – und bald komfortabel von den Tantiemen leben. Seine bevorzugten Themen waren die Aufklärung über das Versagen der Deutschen während der NS-Zeit, das Land seiner Kindheit und Jugend, Preußen bzw. (Hinter-)Pommern sowie »große« Persönlichkeiten der Geschichte, z. B. Churchill, Bismarck oder Friedrich der Große. Neidbegründeten Anfeindungen, bei seiner »Vielschreiberei« komme die »Wissenschaftlichkeit« zu kurz, standen jedoch zahlreiche Preise und Ehrungen für seine Werke gegenüber. Von Krockow galt bald als einer »der wenigen Autoren aus der uni­ versitären Lehre, der es verstanden habe, Zeitgeschichte und biografisches Material so darzustellen, dass jeder dazu Zugang bekommen habe«35 – als einer der großen Politologen und Historiker des zwanzigsten Jahrhunderts. Dass von Krockow eine solche Vielzahl von Themen bearbeitete, ja, vor kaum einem der »großen« Sujets des Jahrhunderts zurückschreckte, liegt vermutlich auch in seiner spezifischen Herangehensweise begründet. Er betrachtete die Dinge nicht in erster Linie als »distanzierter Beobachter« von außen, sondern verknüpfte zumeist stets persönliches und geschichtliches Geschehen miteinander.36 Bemerkenswert ist, dass Familie und Herkunft einerseits zentral für von Krockow waren, er sich vor allem über seine Abstammung aus der hinterpommerschen Adelsfamilie definierte, sich andererseits jedoch über sein eigenes Privatleben ausschwieg. Man Katharina Rahlf  ■  Christian Graf von Krockow

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weiß von einer Adoption im Jahre 1995, durch die sein damals bereits über dreißigjähriger bürgerlicher Adoptivsohn zu Alexander-Pascal Graf von Krockow avancierte. Von einer homosexuellen Beziehung war offiziell nie die Rede. Über den Werdegang des Sohnes nach dem Tod von Krockows im Jahr 2002 erfährt man Abenteuerliches, das besonders den bunteren Blättern eine willkommene Räuberpistole geboten hat.37 Natürlich sind diese Boule­ vardberichte mit einiger Skepsis zu betrachten. In jedem Fall: Von Krockow war sehr darum bemüht, einen Teil seiner Biografie nach außen abzuschirmen. Das stand in gewissem Widerspruch zu seiner üblichen Arbeitsweise, die in hohem Maße subjektive Erlebnisse und persönliche Faktoren zum Dreh- und Angelpunkt hatte. Offenbar hielt er sein hohes öffentliches Ansehen gleichwohl für fragil, befürchtete, sein Image könnte Schaden nehmen. Und vermutlich haderte er auch mit sich selbst. Denn dies hätte einen Bruch bedeutet im gepflegten Selbstbild des traditionsbewussten, durchaus konservativen und etwas hinter-der-Zeit-lebenden ­Grafen.

Anmerkungen 1 Vgl. »Ich möchte Geschichten erzählen«. Interview mit Christian Graf von Krockow in der Reihe »Erlebte Geschichten« des WDR, Sendung vom 16.03.2003, nachzuhören unter http://www.wdr5.de/sendungen/erlebtegeschichten/s/d/16.03.2003–07.05/b/ich-moechte-geschichten-erzaehlen. html [zuletzt angehört am 12.01.2012]. 2 Vgl. ebd. 3 Christian Graf von Krockow, Erinnerungen. Zu Gast in drei Welten, München 2002, S. 219. 4 Ebd., S. 107. 5 Ebd., S. 124. 6 Dieses und das folgende Zitat ebd., S. 150. 7 Ebd., S. 139. 8 Zu Percy Ernst Schramm siehe den Aufsatz von Stine Marg in diesem Band. 9 Von Krockow, S. 145. 10 Vgl. dazu auch etwa Jochen Bleicken, Schlußwort, in: Theodora Hantos /  Gustav Adolf Lehmann (Hg.), Althistorisches Kolloquium aus Anlass des 70. Geburtstages von Jochen Bleicken, Stuttgart 1998, S. 239–252, hier S. 249. 11 Von Krockow, S. 167. 12 Vgl. die Daten des Göttinger Statistischen Informationssystems unter http://www.goesis.goettingen.de/pdf/054_40.pdf [zuletzt eingesehen am 12.01.2012].

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13 Von Krockow, S. 169. 14 Ebd., S. 166. 15 Ebd. 16 Vgl. z. B. Iring Fetscher, Skepsis und Hoffnung. Zum Tod von Christian Graf von Krockow (1927–2002), in: Politische Vierteljahresschrift 43 (2002), H. 2, S. 330–333. 17 Dieses und das folgende Zitat Gerhard Kraiker, Laudatio auf Christian Graf von Krockow, in: Brücken bauen und Vertrauen schaffen. Oldenburger Universitätsreden Nr. 80, Oldenburg 1996, S. 17–28, hier S. 19. 18 Von Krockow, S. 165. 19 Ebd., S. 173. 20 Ebd., S. S. 174. 21 Zu Rudolf Smend siehe den Beitrag von Franz Walter in diesem Band. 22 Vgl. zur Umgestaltung des Reitstallviertels (woran sich sowohl konservativ begründeter Protest wie der von Krockows als der Unmut linker Gruppierungen entzündet) z. B. Dieter Gerke u. a., Göttingen … wenn das so weitergeht, Göttingen [ohne Angabe des Erscheinungsjahrs, ca. 1982], Kapitel »Das Reitstallviertel« sowie Frank Helwig u. a., Göttingen. Ereignisreiche Zeiten. Die 60er Jahre, Gudensberg-Gleichen 2000, S. 39 f. 23 Von Krockow, S. 168 f. 24 Ebd., S. 162. 25 Vgl. umfassend dazu z. B. Heinrich Becker u. a., Die Universität Göttingen im Nationalsozialismus. Das verdrängte Kapitel ihrer 250jährigen Geschichte, München 1987. 26 Von Krockow, S. 138. 27 Ebd., S. 139. 28 Vgl. umfassend zur PH Göttingen Karl Neumann (Hg.), Vierzig Jahre Päd­ agogische Hochschule Göttingen, Göttingen 1986; sowie subjektiver z. B. die Erinnerungen von Hermann Giesecke, Mein Leben ist Lernen. Erlebnisse, Erfahrungen und Interpretationen, München 2000, S. 166 ff. 29 Von Krockow, S. 191. 30 Ebd., S. 193. 31 Ebd., S. 199. 32 Ebd., S. 203. 33 Vgl. »Ich möchte Geschichten erzählen« (Radiointerview). 34 Vgl. z. B. Kraiker, S. 23 oder o.V., Christian Graf von Krockow (Nachruf), in: Die Zeit, 27.03.2002. 35 Florian Oertel, »Helden sind langweilig. Christian Graf von Krockow (Nachruf), in: Stern, 20.03.2002. 36 Vgl. z. B. Haug von Kuenheim, Es gibt dieses Land wieder, in: Die Zeit, 08.11.1991. 37 Vgl. Dennis Fengler, Adoptierter Graf von Krockow auf der Flucht, in: Hamburger Abendblatt, 02.12.2010; Eckard Gehm, »Graf Schwindel« – so erschlich er sich Millionen, in: Schleswig-Holsteinischer Zeitungsverlag, 05.12.2010.

Katharina Rahlf  ■  Christian Graf von Krockow

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Siegfried A. Kaehler Der preußische Staat als Lebensthema von Stine Marg

Obwohl Siegfried August Kaehler im Jahr 1936 den Lehrstuhl des einflussreichen Karl Brandi am Historischen Seminar der Georgia Augusta übernahm, deuteten Einige seine Ankunft in Göttingen als Strafversetzung.1 Dabei sah es auf den ersten Blick gar nicht so aus. Denn Kaehler zog in eine der schönsten Straßen der Stadt, in den Hainholzweg 62, und durfte im »vornehmsten Amtszimmer« residieren, das ihm jemals eine Universität zur Ver­ fügung gestellt hatte.2 Tatsächlich litt der 51-jährige Kaehler hier zunächst schwer an den Umständen, denn Brandi konnte als ehemaliger Rektor der Universität und Vorsitzender des deutschen Historikerverbandes im Gegensatz zum Spätberufenen nicht nur auf eine beacht­liche Karriere zurückblicken, sondern strotzte auch vor jugend­licher Schaffenskraft und Vitalität, während Kaehlers kränklicher Körper bereits von Gelbsucht und Rheumatismus gezeichnet war. Es war übrigens Kaehler selbst, der den Kontrast zwischen sich und dem lebenskräftigen Brandi in einem Brief an seinen Freund Erich Marcks bemerkte.3 Und es war in der Tat eine wiederkehrende Regelmäßigkeit im Leben von Flavus, dem Gelben, wie er sich in seiner Jugend gelegentlich nannte, dass die ihn umgebenden alten Männer in puncto Schaffenskraft, Willensstärke und Elan Kaehler überlegen waren. Seine Kindheit in Halle an der Saale, wo er 1885 geboren wurde, war geprägt von seinem fünfzig Jahre 52 

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älteren Vater, ein berühmter Professor der Theologie und strenger Erzieher, der seinen Sohn zunächst in die Staatswissenschaft trieb. Mit diesem Fach war Kaehler unglücklich und erfolglos. Schließlich erlaubte ihm sein Vater 1907, mit dem Studium der Geschichte von vorne zu beginnen. Kaehler schrieb sich in Freiburg ein und verbrachte dort mit seinen Freunden Lothar Erdmann, Walter Sohm, Erich Marcks und Hans Rothfels die glücklichste Zeit seines Lebens. Allerdings musste er auch dort die Vorlesungszeit häufig unterbrechen, um sich im Elternhaus von seinen chronischen Leiden zu erholen, während sein betagter Vater nach einer überstandenen Lungenentzündung von unerschöpflicher Arbeitskraft getrieben wurde. Auch Kaehlers sechs Geschwister, alle deutlich älter als der Nachzügler, waren mit einer guten körperlichen Konstitution ausgestattet, beendeten Schule und Studium leichthändiger als er. Sie unterstützten ihren Bruder, der knapp dreißigjährig von Friedrich Meinecke, dem Begründer der Ideengeschichte, in Freiburg promoviert wurde und 1921 die Venia Legendi für Mittlere und Neuere Geschichte in Marburg erhielt, noch lange finanziell. Selbst um seinen sechzigsten Geburtstag ­herum verfolgten ihn die jungen Alten: Als 1945/46 sein akade­ mischer Lehrer Meinecke (Jahrgang 1862), dem ausgebombten Berlin entfliehend, für einige Monate Unterkunft bei Kaehler fand und emsig dessen Arbeitszimmer mitnutzte, musste Kaehler wieder einmal das Bett hüten, um sich von einer Krebsoperation zu erholen. Sein körperliches Gebrechen zehrte nicht nur physisch an ihm, sondern forderte Kaehler, der sich schon in jungen Jahren mit Selbstmordgedanken gequält hatte, auch psychische Kräfte ab. Besonders die Distanzierung vom christlichen Elternhaus, die Ablehnung der vorgelebten inneren Frömmigkeit und die dadurch entstandene Frage nach dem Sinn des Lebens sind in den Briefen an seinen vertrauten Bruder Martin ein immer wiederkehrendes Motiv. Die tägliche Überwindung, den schmerzenden Körper in Gang zu bekommen, die ständige »Kopfmüdigkeit« und das späte Erreichen der finanziellen Selbständigkeit waren sicher auch ein Grund für seine Zurückhaltung, einen Partner an sich zu binden. Erst spät und nach einer langjährigen Verlobung mit Dagmar Lobe, die aus unerfindlichen Gründen aufgelöst wurde, heiratete Kaehler 1932 schließlich Ilse Gräfin Clairon d’Haussonville. Stine Marg  ■  Siegfried A. Kaehler

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Jedenfalls war Kaehler kein leichter Charakter, wie es Friedrich Neumann, der Rektor der Georg-August-Universität, von ­seinen Kollegen aus Halle erfahren musste, als er sich im Vorfeld der Berufung über den Historiker erkundigte.4 Da Neumann, der seit 1933 als amtierender Rektor hochschulpolitisch den Vorgaben des NS-Regimes folgte, sich gewiss keinen Renegaten ins Haus holen wollte, informierte er sich eingehend über Kaehler, der zuvor in Breslau, Halle und Jena gelehrt hatte. Der Rektor erfuhr, dass er es mit einem Antimarxisten zu tun haben würde, dem der »demokratisch gefärbte Liberalismus« nicht nur fremd war, sondern der auch bereit schien, an den neuen Aufgaben der Universität im Nationalsozialismus mitzuwirken. Vielleicht erklärt Kaehlers Präludium in Göttingen auch seinen einzigen öffentlichen Auftritt jenseits seiner universitären Verpflichtungen bis 1945. So hielt er am 30.  Januar 1937 die Rede zur »Reichsfeier« der Universität über »Wehrverfassung und Volk in Deutschland von den Freiheitskriegen bis zum Weltkriege«. Hier dankte er mit Blick auf die Besetzung des Rheinlandes ein Jahr zuvor der »unbeirrbaren Tatkraft des Führers und Reichskanzlers« und für die »Wiederherstellung der Wehrhoheit des deutschen Volkes«.5 Kaehlers akademisches Schaffen kreiste um den preußischen Staat, sein Lebensthema. Daher war er – nach Abschluss der Dissertation im ersten Kriegsjahr und einer anfänglichen Zurück­ stellung aus gesundheitlichen Gründen  – gehörig erleichtert, im Oktober 1915 als »Kriegsfreiwilliger« eingezogen und für verschiedene Fronteinsätze berücksichtig worden zu sein. Kaehler war durch und durch Monarchist, Preuße und Deutschnationaler – und empfand auch deshalb nichts als Hass für die Weimarer Republik.6 Kaehler pflegte ein breites verwandtschaftliches, freundschaftliches und berufliches Netzwerk, das sich kreuz und quer durch das akademische Bürgertum zog. Diese Verbindungen hielt er durch einen intensiven Briefwechsel aufrecht. Er verschickte und empfing mehrere Briefe täglich, an deren Diktat und Form er mitunter wochenlang feilte und in denen er eben auch jene republik­feindlichen Äußerungen verbreitete. Auch wenn mit Kaehlers Ruf nach Göttingen gewiss solche Erwartungen verbunden gewesen waren  – ein aktiver National­ sozialist war er nicht. Dies zeigen nicht nur seine Briefe, in denen er bereits im Februar 1933 die »Bemaulkorbung« der Professoren be54 

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klagte7 und sich angesichts der Umstände eine ruhige Archivstelle wünschte, anstatt als »unbrauchbarer Zeitgenosse aus­geschaltet«8 zu werden. Auf Kaehlers ambivalente Einstellung zum Hitler-Regime lassen auch die Geschehnisse um Erich Botzenhart9 schließen. Jener sollte zumindest bis 1942 den vakanten historischen Lehrstuhl in Göttingen besetzen, nach dem Wunsch von Walter Frank, ein als Präsident des »Reichsinstituts für Geschichte des Neuen Deutschlands« äußerst einflussreicher Historiker. Kaehler stemmte sich mit allen Mitteln gegen die Berufung des nichthabilitierten Botzenharts. In Briefen an den Dekan der Philosophischen Fakultät und den Rektor der Universität argumentierte er gegen Botzenhart als ersten Kandidat auf der Berufungsliste, der sich als Wissenschaftler bis dahin ausschließlich mit dem Freiherrn vom Stein beschäftigt hatte. Sein Schreiben versah er mit der barschen Bemerkung, dass Botzenhart eher Mineraloge denn Historiker sei. Kaehler  – dessen Urgroßvater im Übrigen eng mit dem Freiherrn vom Stein zusammengearbeitet hatte – war, obwohl immerhin 26 Jahre älter als Botzenhart, zu diesem Zeitpunkt in seinen wissenschaftlichen Publikationen auch nicht über die biografische Darstellung einer Person hinausgekommen. Im Zentrum seines Denkens standen Wilhelm von Humboldt und dessen Verständnis vom preußischen Staat. Im Gegensatz zu Botzenhart allerdings dilettierte Kaehler nicht auf seinem Gebiet, sondern erregte mit seiner Humboldtbiografie in den zwanziger Jahren großes Auf­ sehen. Das lag zum einen an seiner umfassenden Betrachtung, die auf der Auswertung von mehreren hundert Briefen Humboldts basierte, und zum anderen daran, dass er auch das Privatleben des Bildungsreformers beleuchtete. Kaehler »psychologisierte« unter Freudscher Anleitung, sparte auch das triebgesteuerte Liebesleben des Staatsmannes nicht aus. Dies führte zu einem – später wieder gekitteten – Bruch mit Meinecke. Jener warf Kaehler vor, »ein Götterbild ohne Not zerschlagen zu haben«, da er, statt mit dem Oberlicht zu arbeiten, das Humboldt bisher beleuchtete, die Lampe sogleich auf den Fußboden gestellt und von dort aus die Unterhose Humboldts beschrieben habe.10 Liest man die kleine Passage hierzu in dem über sechshundert Seiten starken Humboldtbuch heute, kann man die damalige Aufregung der Gelehrtenwelt nur noch bedingt nachvollziehen. Doch Kaehler, für den das historische Forschen und Darstellen auch imStine Marg  ■  Siegfried A. Kaehler

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mer ein Beitrag zum Verständnis der Gegenwart war, hat uns in einem Antwortbrief an Meinecke eine Erklärung hinterlassen: Nachdem der »ideale Humboldt« seinen Kriegserlebnissen nicht standgehalten habe, musste er das Buch »aus der Not und mit Notwendigkeit« schreiben, denn seine Generation sei vom Individualismus durch den Krieg »befreit worden«.11 Noch viele Jahre danach stand Kaehler zu seinem Humboldtwerk und vertrat weiterhin die Ansicht, welche die moderne Geschichtswissenschaft erst Jahrzehnte später zum Programm machen sollte: Eine zentrale historische Figur sei ohne die Analyse ihres Innen- und Privatlebens nicht zu verstehen. Vielleicht konnte sich Kaehler in Humboldt auch deshalb so genau einfühlen, weil auch er »furchtbar« daran litt, ein »wollüstiger Mensch zu sein«, den die »Unterdrückung des tierischen Trieblebens eine unendliche Kraft« gekostet habe.12 Neben Humboldt waren es sein Onkel Adolf Stoecker und, deutlich intensiver, Otto von Bismarck, denen sich Kaehler w ­ idmete. Doch hat er weder ein umfangreiches Werk hinterlassen, noch »schulbildend« innerhalb der Geschichtswissenschaft gewirkt. Dies mag sicherlich mit seinem Lebensthema Preußen zu tun gehabt haben, das nicht in den antipreußischen Zeitgeist passte, sowie mit seiner vehementen Ablehnung der aufkommenden Sozial­ geschichte in den fünfziger Jahren. Dennoch war Kaehler in bürgerlich-intellektuellen Kreisen eine bedeutende Figur. Nicht nur durch sein weitverzweigtes Netzwerk, sondern auch durch seine akribisch vorbereiteten Vorlesungen, in denen bis zu achthundert Hörer seine historischen »Rundumschläge« verfolgten. Jedoch wurde Kaehler auch als akademischer Lehrer seinen selbstgesteckten Ansprüchen nur bedingt gerecht, Vorlesungen mit dem Titel »Allgemeine Geschichte im Zeitalter Bismarcks« kamen selten bis zur Reichsgründung voran und die Seminare, die er weitgehend der Regie der Studenten überlies, galten als inspirationslos und ermüdend.13 Kaehler sollte die Geschichtswissenschaft in Göttingen nach Brandi übernehmen; er erhielt den Lehrstuhl, weil ihm der Ruf eines »bedeutenden, breit gebildeten, mit persönlicher Ausstrahlungskraft begabten Gelehrten« vorausgegangen war.14 Vielleicht waren es die körperlichen Leiden oder seine verhältnismäßig geringe Produktivität  – diese Erwartungen jedenfalls konnte er nicht erfüllen. 56 

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Kaehler blieb, wie beinahe alle seine Kollegen am Historischen Seminar, auch nach 1945 im Amt und wirkte in den ersten ­Jahren nicht nur durch seine Publikationen und Vorlesungen in Göttingen, sondern auch durch Fortbildungskurse für Lehrer an verschiedenen Orten in Niedersachsen. So prägte der Historiker, der bereits 1921 seine eigene Arbeit als ein Dienst an der »politischen Gegenwart«15 betrachtet hatte, auch das historische Selbstverständnis der Bundesrepublik mit. Kaehler stand zwar zu einer »Kollektivhaftung« aller Deutschen, jedoch versuchte er das »dunkle Rätsel der Geschichte«, wie er die Zeit zwischen 1939 (!) und 1945 titulierte, nicht rational zu erklären. Vielmehr reduzierte er diese Vergangenheit auf den Begriff des Verhängnisses, das durch das »denkende Verstehen« nicht mehr erfasst werden könne. Somit war es das un­ abwendbare Verhängnis und nicht die Schuld jedes Einzelnen, das ins Zentrum von Kaehlers Denken gerückt war. Das unserer Verfügung entzogene Verhängnis, so Kaehler weiter, habe auch »die schuldlosen Menschen« ergriffen, auch denjenigen, der aus »nationaler Verantwortung und in berechtigter Selbstbehauptung sich nicht in die äußere Emigration drängen ließ und fest hielt an seinem geschichtsbedingten Platz im deutschen Vaterland«. Mit dieser später an verschiedenen Orten abgedruckten und vielbeachteten Apologie leitete Kahler am 18. September 1945 seine Vorlesung über das »Zeitalter des Imperialismus« ein. Der spätere Träger des Großen Verdienstkreuzes emeritierte 1953 und verstarb im, wie er häufig schrieb, »Universitätsdorf« am 25. Januar 1963.

Anmerkungen 1 Vgl. beispielsweise Hartmut Boockmann, Ein Blick auf die Göttinger Geschichtswissenschaft (1737–1987), in: Hans-Günther Schlotter (Hg.), Geschichte der Verfassung und der Fachbereich der Georg-August-Universität zu Göttingen, Göttingen 1994, S. 121–126, hier S. 124. 2 Vgl. Kaehler an Meinecke, 29.10.1936, in: Friedrich Meinecke, Werke, Bd. 6, Hans Herzfeld u. a. (Hg.), Stuttgart 1962, S. 352–354. 3 Kaehler an Marcks, 29.03.1936, abgedruckt in: Siegfried A. Kaehler. Briefe 1900–1963, Walter Bussmannn (Hg.), Boppard 1994, S. 235. 4 Vgl. das Schreiben des Rektors der Universität Göttingen an den Rektor der Universität Halle-Wittenberg am 12. Dezember 1935, teilweise abgedruckt Stine Marg  ■  Siegfried A. Kaehler

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in: Günter Schenk / Regina Meyer, Biographische Studien über die Mit­ glieder des Professorenzirkels »Spirituskreis«, Halle 2007, S. 434 f. 5 Rede abgedruckt in: Mitteilungen des Universitätsbundes Göttingen  18 (1937) H. 2. 6 Vgl. Kaehler an Meinecke, 22.01.1919, S. 149–154, hier S. 153. 7 Vgl. Kaehler an Hermann Aubin, 22.02.1933, in: Kaehler Briefe, S. 222–224. 8 Kaehler an Gustav Adolf Rein, 03.06.1933, in: Kaehler Briefe, S. 240–242. 9 Hierzu und im Folgenden vgl. Robert P. Ericksen, Kontinuitäten Konservativer Geschichtsschreibung am Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte: Von der Weimarer Zeit über die nationalsozialistische Ära der Bundesrepublik, in: Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus, Heinrich Becker u. a. (Hg.), München 1998, S. 427–453, hier S. ­4 40–443. 10 Meinecke an Kaehler, 11.12.1927, abgedruckt in: Siegfried A. Kaehler, Wilhelm v. Humboldt und der Staat. Ein Beitrag zur Geschichte deutscher Lebensgestaltung um 1800, Göttingen² 1963, S. V. 11 Kaehler an Meinecke, 15.12.1927, Kaehler Humbold, S. VIf. 12 Vgl. Kaehler an Johannes Kramer, 30.08.1910, in: Kaehler, Briefe, S. ­123–127, hier S. 127. 13 Vgl. Anneliese Thimme, Geprägt von der Geschichte, Eine Außenseiterin, in: Erinnerungsstücke. Wege in die Vergangenheit, Rudolf Vierhaus zum 75. Geburtstag gewidmet, Hartmut Lehmann u. a. (Hg.), Wien 1997, S. ­153–223, hier S. 192–194. S. 173, 175, 192–194. 14 Vgl. Helga Grebing, Zwischen Kaiserreich und Diktatur, Göttinger Histo­ riker und ihr Beitrag zur Interpretation von Geschichte und Gesellschaft (M. Lehmann, A. O. Meyer, W. Mommsen, S. A. Kaehler), in: Geschichtswissenschaft in Göttingen, Eine Vorlesungsreihe, Göttingen 1987, S. ­204–238, hier S. 210. 15 Kaehler an Meinecke, 22.01.1919, S. 149–154, hier S. 153.

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Werner Conze Die Neubegründung der Sozialgeschichte von Michael Lühmann

Das Leben und intellektuelle Wirken von Historikern haben seit jeher einen besonderen Reiz. Denn Historiker legen ständig, bewusst und unbewusst, die Deutung der eigenen Lebensgeschichte(n) mit vor. Dies gilt ganz besonders für den hier porträtierten Werner Conze. Denn Conzes vor allem in jungen Jahren brüchige Lebensgeschichte wird begleitet von einer wissenschaftlichen Lebensleistung, die sich der Suche nach orientierenden Klammern innerhalb von Grenzen und Halt in Begriffen verschrieb. Die Zeiten, in denen Conze aufwuchs, forderten nach Ordnung, waren für den 1910 Geborenen alles andere als bruchlos. Conzes erste Begegnung mit den Aporien jener Zeit stammen aus dem Jahr 1922, als er, im Klassenzimmer sitzend, die Schüsse hörte, die Walther Rathenau das Leben kosteten. Conze reagierte auf die Halt­losigkeit der überforderten Republik, seiner Generation und bürgerlichen Herkunft durchaus typisch, mit der »Suche nach neuen politischen Leitbildern«.1 Diese sollte der Spross einer bürgerlichen und bildungsbeflissenen Familie – sein Vater war promovierter Richter, sein Großvater der in Göttingen habilitierte Althistoriker und Ausgräber des antiken Pergamon, Alexander Conze – in seinem Studium finden. Nach einem Irrweg in die Kunstgeschichte, die ihm nicht zusagte, da er »von den schönen Künsten nicht stark genug ergriffen wurde«, wandte sich der Bürgerssohn Conze 1929, 19-jährig, »aus Michael Lühmann  ■  Werner Conze

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Neigung zu politischen Studien«, dem Studium der Geschichtswissenschaften zu – auch wenn ihn diese Entscheidung zunächst wieder zurück zu seiner Familie nach Leipzig führte.2 Was Conze stärker ergriff als die Kunstgeschichte, als das Suchen des Glücks fernab der Heimatstadt, war die »politische Erregung jener Jahre um 1930 […], die Krisenjahre höchster politischer Hitze«,3 wie er 1963 in seiner Antrittsrede an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften freimütig offenbarte. Jenes Jahr also von Weltwirtschaftskrise und dem Tod Stresemanns, in dem der aufmerksame Beobachter den Anfang vom Ende wähnte: »Böser Herbst nach einem schönen Sommer, Regen und raues Wetter und obendrein in der Luft etwas Drückendes, das nicht vom Wetter herrührte. Böse Worte an den Anschlagsäulen; auf den Straßen, zum ersten Mal, kotbraune Uniformen und unerfreuliche Gesichter darüber; das Rattern und Pfeifen einer ungewohnten, schrill ordinären Marschmusik. In den Ämtern Verlegenheit, im Reichstag Lärmszenen, die Zeitungen voll von einer schleichenden, nie endenden Regierungskrise. Es war alles trüb bekannt; es roch nach 1919 oder 20.«4

So schrieb Sebastian Haffner es in seinen Erinnerungen. Und mittendrin der junge Werner Conze, der 1910er, der sich noch im selben Jahr, ganz Kind seiner bürgerlichen Herkunft, der bündischen Jugend anschloss, seinerzeit schon stark in die antiindividualistische, völkisch-deutsche Ecke abdriftend. Schließlich hatte sich in jener Altersgruppe »bereits früh ein Denken in nationalistischen und darüber hinaus in völkischen Kategorien durchgesetzt, wie sich vor allem in Universitäten zeigte«5. Und die Universität sollte Conzes politischer Lernort werden, den späteren Lebensweg begleiten und befördern. In Leipzig traf er bereits früh auf die Verbindung von Geschichte und Sozio­logie, die für den bundesrepublikanischen Historiker Conze handlungsleitend werden sollte. Aber er traf auch in Gestalt und Werk des Soziologen Hans Freyer auf die »Revolution von rechts«. Und er traf darüber hinaus, nach seinem Wechsel nach Königsberg, unter dem intellektuellen Einfluss des dortigen Denkkollektivs um Hans Rothfels stehend, auf die »Ostforschung« und auf die akademischen Anstrengungen, den deutschen »Volks-« und »Kulturboden« nach Osten zu begründen.6 So geschehen in seiner Dissertation »Hirschenhof«, auch in seiner Habilitation zu »Agrar­ 60 

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verfassung und Bevölkerung in Litauen und Weißrußland«, die sich beide ganz dem Diktum der Grenzen unterwarfen. Erst in den neunziger Jahren wurde auch wissenschaftlich thematisiert, dass Conze, Mitglied der SA und der NSDAP, sich so auch »an den Raumordnungsplänen des Nationalsozialismus in­ soweit beteiligt[e]«, als er »zur empirischen Fundierung dieser Pläne beitrug«7. Dass Conzes vereinzelte antijüdische Versatz­ stücke in Beiträgen dieser Zeit ihn zum »Vordenker der Vernichtung« machten, lässt sich so wohl nicht halten – das Thema blieb gleichwohl, so sein Biograf Eike Dunkhase, eine »Leerstelle« in seinem Werk, um die er Zeitlebens einen ausklammernden Bogen machte.8 Mit Ende des Krieges verschlug es Conze nach Niedersachsen, zunächst nach Osnabrück, bereits ein Jahr später nach Göttingen. Von hier aus versuchte er, seine wissenschaftliche Kar­riere wiederzubeleben, denn die bürgerliche Existenz versprach ihm Halt. So ergriff er, wie auch die anderen »Bürger und Politiker des west­lichen deutschen Staates […] mit Eifer die Chancen, die ihnen durch die Einfügung in das westliche System geboten wurden«9. So jedenfalls schrieb es der Historiker Conze den Deutschen 1983 ins Stammbuch und meinte damit gleichwohl auch sich selbst. Auch hier ist Conze ein paradigmatischer Vertreter seiner Generation, der über die Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs in der jungen Bundesrepublik seine politische Primärorientierung immer stärker verlor. »Bei vielen wurde die politisch-generationelle Prägung nun überformt von kulturellen und politischen Neu­ orientierungen, deren zunächst opportunistischer Charakter nicht selten in Konversion überging.«10 Ulrich Herbert bezieht sich bei dieser Deutung der Anpassung bis hin zur Verteidigung der Demokratie ganz explizit auf Werner Conze. Dennoch, der Wiedereinstieg und soziale Aufstieg mussten organisiert werden und die Bedingungen hierfür waren anfänglich ungünstig. Die einst geknüpften Verbindungen waren über das gesamte Land verstreut, der einstige Förderer Hans Rothfels haderte mit einer Rückkehr in jenes Land, dem er sich so verbunden gefühlt und welches ihn in die Emigration getrieben hatte. Dennoch gelang es Conze, wieder im akademischen Milieu Fuß zu fassen. Dass er 1946 nach Göttingen kam, lag nicht zuletzt an Michael Lühmann  ■  Werner Conze

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den exzellenten Verbindungen der Georgia Augusta zur Königs­ berger Universität. Göttingen, im Krieg kaum zerstört und als erste deutsche Universität den Lehrbetrieb wieder aufnehmend, wurde letztlich gar zum Auffangbecken einer ganzen Reihe ehemaliger »Ostforscher«.11 Die Göttinger Zeiten waren gleichwohl karge Zeiten. Zwar war das »unzerstörte und sich der Not vertriebener Gelehrter in höherem Maße als andere Hochschulen öffnende Göttingen […] nach dem Ende des Krieges für viele zum Rettungsboot geworden«12. Allerdings konnte Conze von dem knappen Lehrgeld, das er erhielt, kaum seine fünfköpfige Familie ernähren. Zeitungsaufsätze, Lexikonartikel und Vorträge hielten ihn über Wasser, auch ein Memorandum für die CIA. Conzes Perspektiven in Göttingen waren gleichwohl begrenzt. Dies lag auch an seiner wissenschaftlichen Ausrichtung, die ihn erst zu dem viel berufenen Historiker machte, als der er in Erinnerung bleiben sollte. Zunächst las Conze, anknüpfend an seine wissenschaftlichen Wurzeln, Agrar- und Siedlungsgeschichte. Doch schon bald trieb er sein wissenschaftliches Programm voran. Bereits im Sommersemester 1947 bekannte er sich mit einer Vorlesung zur »Deutschen Sozial- und Verfassungsgeschichte vom Ausgang des Mittelalters bis 1806« ganz offen zu einer stärkeren sozialgeschichtlichen Ausrichtung. Conzes Vorlesungen bildeten somit das Gegenprogramm zu einem historischen Seminar, das noch stark den Geist der alten Politikgeschichte atmete. Conzes Differenzen mit Siegfried A. Kaehler, jener las parallel zu Conze »Die große Politik von 1890–1914«, verhalfen ihm in der Professorenschaft, anders als in der Studierendenschaft, nicht zu großem Ansehen. Dabei hatte Conze bereits 1945, in einem Schreiben an den Dekan der Philosophischen Fakultät, seine Ambitionen unterstrichen: »Mein Hauptanliegen liegt in der Verbindung von politischer Geschichte und Soziologie, weniger im Sinne einer bloßen ›Wirtschafts- und Sozialgeschichte‹ als einer Verfassungsgeschichte, die das Verhältnis von Staat, Volk und Gesellschaft umfasst.«13 Conze war gar nicht an einem Konkurrenzverhältnis gelegen. Vielmehr sah er in der Sozialgeschichte als »Geschichte des Ganzen« eine Möglichkeit, die getrennten Sphären der sozialen und der politischen Geschichte, von bürgerlicher Gesellschaft und Staat, zu versöhnen.14 Conze drang, trotz sechsjähriger Bemühungen, flankiert 62 

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von programmatischen Aufsätzen, am Göttinger Seminar letztlich nicht durch. Und so ergriff er bei erster Gelegenheit die Flucht aus der Stadt. »Nicht ohne Bitterkeit«, so merkt Wolfgang Schieder in einer Würdigung von Conzes Lebenswerk an, blickte Conze später auf die Jahre in Göttingen zurück, in denen er »keinerlei finanzielle Forschungsmittel erhalten« hatte.15 Über den Umweg Münster gelangte er schließlich 1956 nach Heidelberg – dort funktionierte die Lobbyarbeit des Königsberger Denkkollektivs um den inzwischen re-emigrierten Hans Rothfels. Binnen zehn Jahren hatte man nicht nur die belastete Ostforschung entnazifiziert und deren Überleben in der Sozialgeschichte gesichert, sondern nicht zuletzt einträg­ liche Stellen geschaffen. Erst von Heidelberg aus setzte sich Conzes Programm, etwa über die gemeinsam mit Reinhart Koselleck und Otto Brunner herausgegebenen »Geschichtlichen Grundbegriffe«, durch. Was Conze dabei antrieb, war auch die Suche nach Einheit, nach Klammern, nach »haltenden Mächten«, die seinem eigenen Leben voller Brüche ebenso gerecht zu werden vermochten, wie der Vorstellung einer Gesellschaft in ständiger Bedrohung vor grenzenloser Desintegration. Conzes Bedeutung für die bundesrepublikanische Sozial­geschichte ist, auch verstanden als politischer Beitrag zur Stabilisierung der Demokratie, unbestritten. Doch bleibt sein Name weitgehend unverbunden mit dem Historischen Seminar der Universität Göttingen nach 1945, das sich  – in der Conzes Leben und Wirken prägenden Dichotomie von Tradition und Innovation16  – für die Tradition und gegen Conze entschieden hatte.

Anmerkungen 1 Jan Eike Dunkhase, Werner Conze. Ein deutscher Historiker im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010, S. 17. 2 Werner Conze, Antrittsrede, in: Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Jahrbuch 1962/63, Heidelberg, S. 54. 3 Ebd., S. 55. 4 Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914– 1933, Stuttgart 2000, S. 85. Michael Lühmann  ■  Werner Conze

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5 Ulrich Herbert, Drei politische Generationen im 20. Jahrhundert, in: Jürgen Reulecke (Hg.), Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003, S. 95–114, S. 100. 6 Vgl. hierzu Thomas Etzemüller, Kontinuität und Adaption eines Denkstils. Werner Conzes intellektueller Übertritt in die Bundesrepublik, in: Bernd Weisbrod (Hg.), Akademische Vergangenheitspolitik. Beiträge zur Wissenschaftskultur der Nachkriegszeit, Göttingen 2002, S. 123–146. 7 Thomas Etzemüller, Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, München 2001, S. 27. 8 Dunkhase, Conze, S. 50 u. S. 235–256. 9 Werner Conze, Staats- und Nationalpolitik. Kontinuitätsbruch und Neu­ beginn, in: ders. u. a. (Hg.): Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Beiträge zum Kontinuitätsproblem, Stuttgart 1983, S.  441- 467, hier S. 463. 10 Herbert, Generationen, S. 101. 11 Vgl. Kai Arne Linnemann, Das Erbe der Ostforschung. Zur Rolle Göttingens in der Geschichtswissenschaft der Nachkriegszeit, Marburg 2002. 12 Hartmut Boockmann, Ein Blick auf die Göttinger Geschichtswissenschaft (1737–1987), in: Hans-Günther Schlotter (Hg.), Die Geschichte der Verfassung und der Fachbereiche der Georg-August-Universität zu Göttingen, Göttingen 1994, S. 121–126. 13 Etzemüller, Kontinuität und Adaption, S. 128. 14 Wolfgang Schieder, Sozialgeschichte zwischen Soziologie und Geschichte. Das wissenschaftliche Lebenswerk Werner Conzes, in: Geschichte und Gesell­schaft 13 (1987), S. 244–266, hier S. 246 f. 15 Ebd., S. 244. 16 Reinhart Koselleck, Werner Conze. Tradition und Innovation, in: Histo­ rische Zeitschrift 245 (1987), S. 529–543.

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Alfred Heuß Die Kritik am »historischen Analphabetismus« von Felix Bartenstein

Von Hause aus war Alfred Heuß eigentlich Altgeschichtler. Als solcher übernahm er 1954, bis zu seiner Emeritierung 1977, den Lehrstuhl an der Göttinger Universität. Und doch verstand sich Heuß vornehmlich als »Universalhistoriker«. Geschichte und deren Erforschung und Verständnis bildeten für ihn eine »tekto­nische Einheit«.1 Um in seinem Bild zu bleiben: Eine Platte greife in die andere, nur alle Platten zusammen ergeben unsere Geschichte. Daraus hervorgehend charakterisierte er das Geschichtsbewusstsein der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft, die sich seiner Meinung nach lediglich für die Zeit des Nationalsozialismus interessierte, als »historischen Analphabetismus«.2 Die Annahme einer »Zwangsläufigkeit« der jüngeren deutschen Geschichte seit der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, die im National­ sozialismus geradezu münden musste, war für Heuß das schockierende Ergebnis eines Versagens der historischen Aufarbeitung  – insofern diese überhaupt stattgefunden habe. Die Ursächlichkeit dieses Versagens schrieb er den Kollegen seiner eigenen historischen Zunft zu: Zum einen hätten sie sich zweifelhafter, unzureichender Methoden bedient, zum anderen dadurch die nötige Aufarbeitung dieses Zeitabschnittes der deutschen Geschichte behindert. Für Heuß bedeutete die Arbeit innerhalb der historischen Wissenschaften immer ein »Ausschreiten des Weges«3 oder – in Anlehnung an Theodor Mommsens Meinung über die philologische Felix Bartenstein  ■  Alfred Heuß

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Methode  – die »rücksichtslos ehrliche, im großen wie im kleinen vor keiner Mühe scheuende, keinem Zweifel ausbiegende, keine Lücke der Überlieferung oder des eigenen Wissens übertünchende, immer sich selbst und anderen Rechenschaft ablegende Wahrheitsforschung«.4 Wahrheitsforschung interpretierte Heuß so, dass der Historiker die Wahrheit nicht schaffen dürfe, sondern vielmehr mittels einer passiven Haltung dem Gegenstand gegenüber die überlieferte Wahrheit hinzunehmen habe.5 Die Reformbemühungen der Hochschule im Speziellen und der Bildungspolitik im Allgemeinen seit den späten sechziger Jahren bedeuteten für Alfred Heuß einen scharfen Affront gegen seine Vorstellungen vom Lernen und Lehren sowie vom Umgang mit Geschichte. Seine wenig beachtete Streitschrift »Versagen und Verhängnis. Vom Ruin deutscher Geschichte und ihres Verständnisses« attackierte – mit zehn Jahren Abstand – in harschem Ton die Ergebnisse der niedersächsischen Universitätsreform zwischen 1970 und 1974: Das Bummelstudium und die gesunkenen intellektuellen Ansprüche, die sich insgesamt als mangelhaft erwiesen hätten, würden letztlich zu einer für das Geschichtsverständnis und die historische Selbsterkenntnis eines jeden Einzelnen fatalen Abwärtsspirale führen. Gehe denn nicht ein Großteil der an der Universität ausgebildeten Historiker als Lehrer an die Schule, um mit ihrer kaum hinreichenden Ausbildung noch weiteren Schaden anzurichten, den »historischen Analphabetismus« also noch weiter zu befördern? Die begangenen Fehler in Wissenschaft und Politik hätten auch, so Heuß, zu einer Abnahme des historisch gewachsenen Nationalverständnisses in der Bundesrepublik geführt. Diese Symptomatik zeigte sich für Heuß vor allem im Verzicht auf die »unter polnischer und sowjetrussischer Verwaltung stehenden Ostgebiete«. Heuß, der 1909 in der Nähe von Leipzig geboren worden war, hatte fast sein gesamtes Studium und die Anfänge seiner universitären Laufbahn in eben diesen »Ostgebieten« verbracht. Die Städte seiner Sattelzeit waren Leipzig, Königsberg und Breslau. Keineswegs revanchistisch motiviert, konnte er von Herkunft wegen die bequeme Lösung durch schlichte Abtretung nicht tolerieren. Auch daher könne seine Generation Städte wie Königsberg und Breslau ebenso wenig aufgeben wie Vertreter der jüngeren Generation Städte wie Hamburg oder München.6 66 

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Das Nicht-Reagieren weiter Teile der Bürgerschaft, die Teilnahmslosigkeit, das Sich-Bequem-Machen stießen ihn ab, ließen ihn auf Dauer vereinsamen. Doch gemahnte er wieder und wieder an die Eigenverantwortung und das historische Bewusstsein; sah er sich doch nicht nur als Professor auf einem bequemen Lehrstuhl, sondern war vor allem auch Bürger und als solcher un­ bequem, nicht schweigsam und still, seine Meinung offen kund­ tuend, engagiert und kämpferisch. Heuß erhielt mehrere Rufe an andere Universitäten, während er in Göttingen lehrte. Doch blieb er der Georgia Augusta treu und stellte sich in den siebziger Jahren den Herausforderungen der Gesellschaft. Auch innerhalb der Universität, wo der »Reak­tionär« mittlerweile vor fast leeren Rängen dozierte, seine Assistenten und er teilweise körperlich angegangen wurden, sah sich Heuß widrigster Umstände ausgesetzt. Er blieb dennoch. Noch in den ersten Jahren seiner Göttinger Lehrtätigkeit galten seine vierstündigen Vorlesungen, die weit über das Fach Geschichte hinausgingen, als »Pflicht«. Seine strikt ablehnende Haltung gegenüber der studentischen Kritik an der Hochschulbildung und sein Festhalten an den bewährten Bildungstraditionen mündeten schon früh in einem Eklat. 1968 wurde ein fünftes Mitglied für die Begutachtung einer Dissertation aus der Soziologie gesucht. Der Dekan der Philo­ sophischen Fakultät, Jürgen von Stackelberg, teilte dem Doktoranden Martin Baethge mit: »Ach, den fünften überlassen Sie man mir. Da mache ich mir einen Mordsspaß daraus. Da setz ich einen Erzreaktionär rein.« Doch dieser »Erzreaktionär« spielte seine Rolle nicht so, wie dies von Stackelberg vorgesehen hatte: »Der Kollege sieht übers Wochenende mal rein, ärgert sich furchtbar und gibt dann trotzdem seine Zustimmung«.7 Doch Zustimmung war sicherlich das Letzte, wonach Alfred Heuß der Sinn stand, denn die Thesen der Dissertation »Wirtschaftsinteressen und Bildungspolitik« waren Heuß zufolge unausgewogen formuliert und der sprachliche Duktus bediene sich eines »Vokabulars der Diffamierung«. Der Fall ging an den Fakultätsrat. Weitere Gutachten wurden eingeholt. Heuß aber blieb unbeugsam. Schließlich lehnte die engere Fakultät, die aus 31 Professoren bestand, mit einer Stimme Mehrheit die Annahme der Dissertation ab. Baethge, heute Professor für Soziologie und Präsident des Soziologischen Felix Bartenstein  ■  Alfred Heuß

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Forschungsinstituts an der Georg-August-Universität Göttingen, sah sich gezwungen, seine Arbeit an einer anderen Universität, der damaligen TU Hannover, einzureichen.8 Die Dissertationsschrift erschien in den folgenden Jahren in mehrfacher Auflage. Schon während seines Studiums in Leipzig, Tübingen und Wien beschäftigte sich Heuß eingehend mit Werk und Wirkung des Historikers und Nobelpreisträgers Theodor Mommsen. Zeit seines Arbeitslebens rieb er sich nicht nur an dessen Methoden, Thesen und Befunden, sondern lehnte sich ebenso an ihnen an – je nachdem, ob er Divergenzen oder Interferenzen zu seinen Arbeiten und Schlussfolgerungen feststellte. Dabei führte Heuß werk­immanente Dialoge oder auch Streitgespräche mit dem Vorgänger, die dessen staatsrechtliche Auslegungen stets um die Perspektive des Völkerrechts erweiterten, weshalb ihn die Universität Leipzig zum Dr. iur. promovierte. Aus dieser Arbeit ging schließlich Heuß’ wissenschaftsgeschichtliche Studie »Theodor Mommsen und das 19.  Jahrhundert« hervor. In ihr wies er auf die allgemeingültige Verbindung zwischen dem Geschichtsschreiber und seiner ihm eigenen Zeit und deren Voraussetzungen und Bedingungen für die Historiografie eingehend hin. Dieses Ergebnis bildete auch die Grundlage für seine zweite wissenschaftsgeschichtliche Biografie. Über viele Jahre hinweg – gleichermaßen in biogra­f ischer Analogie zu Theodor Mommsen – forschte er über Person und Wirken Barthold Georg Niebuhrs. Auch hier erarbeitete er sich eine intime Kenntnis der geistigen Strömungen zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, wie er dies schon in Mommsens Fall kon­sequent vollzogen hatte. Zu Heuß’ bekanntesten Werken zählen zweifelsohne sowohl seine Monumentalmonographie »Römische Geschichte« als auch die »Propyläen Weltgeschichte« in Zusammenarbeit mit Golo Mann  – beide Projekte entstanden während seiner Tätigkeit in Göttingen. Mann und Heuß hatten allerdings schon vorher Kontakt zueinander gehabt. Seit 1951 hatte Heuß als Fürsprecher Manns als Nachfolger des Historikers Otto Becker an der Universität Kiel agiert – letztlich vergebens. Beide verband aber eine tiefe Zuneigung zur erzählenden Geschichtsschreibung, wie folgender Brief verdeutlicht: »Seitdem ich Sie vor vielen Jahren durch Ihre ersten Beiträge im ›Monat‹ kennenlernte, sind Sie mir zu dem wesentlichen Zeitgenossen geworden. […] Vor allem wurde ich durch Sie in dem dunkel empfundenen Drang bestätigt, dass Geschichts68 

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wissenschaft sich adäquat nur in der Geschichtsschreibung inkarniert und daß man in diesem Stadium ihr die sogenannte ›Gelehrsamkeit‹ nicht mehr ansehen darf.«9 Aus diesem Anspruch heraus konzipierte Heuß auch seine »­Römische Geschichte«, deren erste Ausgabe 1960 im Westermann Verlag erschien. Hier verdichtete er auf 621 Seiten die »historischen Knotenpunkte« – sein großes Anliegen – im Umgang mit der antiken römischen Republik und dem späteren Imperium Romanum. Aufbauend auf seiner Interpretation der universitären Vorlesung, die eine Vorstellung des historischen Ablaufes vermittelte, widmete er sich folgerichtig ebenfalls der Darstellung der strukturellen Gestalt seines Themas, adressiert an Studenten, den gebildeten Bürger, jedoch gleichermaßen an die ganze Gesellschaft, um dem deterministischen »Verlust der Geschichte« Einhalt zu gebieten. Die »Propyläen Weltgeschichte«, die er zusammen mit Golo Mann in erster Ausgabe zwischen 1960 und 1964 zehnbändig heraus­gab, ist ebenso wie die »Römische Geschichte« dem Namen nach schon keine komplette Weltgeschichte, sondern eröffnet lediglich den Zugang zu ihr, verfasst und illustriert von vielen der einflussreichsten Wissenschaftler ihrer Zeit. Mann und Heuß erweiterten den Kreis der Mitwirkenden weit über die Geistes­ wissenschaften hinaus; auch wichtige Naturwissenschaftler zählten zu den Autoren. Heuß selber steuerte die beeindruckenden ­Kapitel über das archaische und klassische Griechenland sowie zur spätrepublikanischen Zeit bei.10 Sein Schüler und Nachfolger auf dem Lehrstuhl für Alte Geschichte der Georgia Augusta, Jochen Bleicken, beurteilte die Art des Heuß’schen Schreib- und Präsentationsstils in seinem Nachruf folgendermaßen: »Wenn seine Bücher bei den Lesern ankamen, dann wohl gerade wegen dieser Nüchternheit der Präsentation des historischen Geschehens. Denn sie verbindet durch ihre beinahe ununterbrochene Offenlegung der Begründungszusammenhänge die Darstellung mit einem unmittelbaren Verstehen und ermöglicht zugleich damit die Aneignung des Gegenstandes in einem durchaus selbständigen Zugriff.«11 Und an gleicher Stelle bemerkte er treffend, dass Alfred Heuß »der führende deutsche Althistoriker seiner Generation« und gleichzeitig »einer der markantesten Gelehrten unserer Zeit« war.12 Am 7. Februar 1995 verstarb Alfred Heuß im Alter von 85 Jahren in Göttingen. Felix Bartenstein  ■  Alfred Heuß

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Anmerkungen 1 Vgl. dazu u. a. Alfred Heuß, Römische Geschichte 1, Braunschweig 1960, XV. 2 Diesen Zustand konstatierte er schon 1959, verschärfte 1984 aber in seiner Streitschrift den Ton, beeinflusst und ermüdet durch seinen mittlerweile jahrelangen Kampf gegen die ihm entgegenschlagenden Anfeindungen aus Politik, Wissenschaft und nicht zuletzt der Studentenschaft. Vgl. Alfred Heuß, Verlust der Geschichte, Göttingen 1959; ders., Versagen und Verhängnis. Vom Ruin deutscher Geschichte und ihres Verständnisses, Berlin 1984. 3 Vgl. Alfred Heuß, Barthold Georg Niebuhrs wissenschaftliche Anfänge. Untersuchungen und Mitteilungen über die Kopenhagener Manuscripte und zur europäischen Tradition der lex agraria (loi agraire), in: Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Folge 3, 114, Göttingen 1981, S. 32; Hans-Joachim Gehrke, Alfred Heuß – ein Wissenschaftshistoriker, in: ders. (Hg.), Ansichten seines Lebenswerkes, Symposion Göttingen, 16. und 17. Mai 1996, Stuttgart 1998, S. 141–152, hier besonders S. 151. Herrn Gehrke gilt an dieser Stelle der Dank des Autoren für seine Unterstützung bei dieser Darstellung. Weiterhin arbeitet Hans-Joachim Gehrke derzeit an der Edition des Briefwechsels von Alfred Heuß. 4 Zit. in: Alfred Heuß, Theodor Mommsen und das 19. Jahrhundert, in: Veröffentlichungen der Schleswig-Holsteinischen Universitätsgesellschaft 19 (1956), S. 110. 5 Vgl. Alfred Heuß, Römische Geschichte 2, Braunschweig 1964, XIV. 6 Nach Jochen Bleicken, Nachruf auf Alfred Heuß, Göttinger Jahrbuch 1997, S. 277–287, hier S. 284. 7 Nach Prof. Dr. H. P. Bahrdt (damals der betreuende Doktorvater), in: o. V., »Sprache verschlagen«, in: Der Spiegel 31, 1968, S. 44–47, hier S. 44. 8 Vgl. ebd. 9 Alfred Heuß an Golo Mann, 21.05.1969, Verlagsarchiv Ernst Klett Verlag, Stuttgart, zit. in: Tilmann Lahme, Golo Mann. Biografie, Frankfurt 2009, S. ­210–211. Vgl. weiterhin ebd., S. 211, Anm. 126. 10 Vgl.: o.V., »Zeit aller Zeiten«, in: Der Spiegel 28, 1963, S. 64–66. 11 Jochen Bleicken, Zum Tode von Alfred Heuß, Historische Zeitschrift 262 (1996), S. 337–356, hier S. 347. 12 Ebd., S. 337.

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Exzellenzen der »exakten Wissenschaft«

Amalie Emmy Noether Emmy und »ihre Jungs« von Johanna Klatt

Man stelle sich eine Gruppe junger männlicher Studenten vor, die mit angespannten Fingern ihre Griffel umklammern, während sie konzentriert und nach vorne gebeugt versuchen, jedem Wort zu folgen, das am Tafelbild gesprochen wird. Sie sind hochkonzentriert. Ist das nicht irgendwie ungewöhnlich für junge Studenten? Hätte man vor einhundert Jahren durch einen Türspalt in Emmy Noethers1 Vorlesungen geschaut, – denn ihr gehören die Lippen, an denen die Zuhörer gerade so inständig kleben –, hätte man zunächst einmal verwundert gestutzt. Es sind nicht viele, die sich hier im kleinen Hörsaal der Göttinger Fakultät für Mathematik zusammengefunden haben. Doch die förmlich greifbare Wissbegierde, die die hier Anwesenden auszeichnet, erscheint einzigartig. »Noether-Knaben«2 oder »Trabanten«3 werden sie genannt. Sonderlinge ihres Fachbereiches gewissermaßen, die versuchen, den komplizierten und leicht verworrenen Formulierungen einer Dozentin zu folgen, der vor Lebhaftigkeit von Minute zu Minute mehr Strähnen aus ihrem einstmals festgezurrten Dutt entkommen.4 Und das war keine Leichtigkeit, waren Noethers Vorlesungen auch umstritten und galten als durchaus anforderungsreich.5 »Die kleine, treue Hörerschar, meistens bestehend aus einigen fortgeschrittenen Studenten und häufig ebenso vielen Dozenten und auswärtigen Gästen, mußte sich ungeheuer anstrengen, um mitzukommen«, erinnerte Johanna Klatt  ■  Amalie Emmy Noether

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sich Bartel van der Waerden einige Jahre später;6 denn Noether trug fast nie fertige Theorien vor, sondern meistens solche, die auch im Entstehen begriffen waren.7 Ungewöhnlich und gegen den Strom des damaligen Wissenschaftstrends war ihre gesamte Herangehensweise an die Mathematik, eher mit Begriffen statt mit Formeln zu arbeiten. Doch dies erklärt vielleicht, warum sich spätestens in den zwanziger Jahren in Göttingen nicht nur eine freundschaftliche Gemeinschaft von Studenten und jungen Doktoranden rund um die fröhlich-lebenslustige Dame versammelte, sondern hier sogar eine ganz eigene Denkschule8 entstand. Und so kam es, dass, wenn einmal ein neuer, ja »fremder« Student einen Stuhl in den hinteren Reihen der Noether-Vorlesungen einnahm und versuchte, den wirren Gedankengängen dieser Dozentin zu folgen, er recht bald seine Hefte zuklappte und den Rückzug antrat. Schließlich wusste nicht jeder etwas mit den abstrakten Formulierungen Emmy Noethers anzufangen. In solchen Momenten hörte man es dann aus den vorderen Reihen gehässig murmeln: »Der Feind ist geschlagen, er hat das Feld geräumt.«9 Die NoetherGemeinschaft war eine eingeschworene Schar, was ihr schließlich auch den Stempel des Außenseitertums aufprägte, welches sie wiederum innerlich zusammenschweißte. Emmy selbst war das Außenseiter-Dasein gewohnt. Als eine von zwei Hörerinnen unter fast tausend männlichen Studenten hatte sie an der Universität ihrer Geburtsstadt Erlangen zunächst hospitiert.10 Dann, im Oktober 1904 nach einer bayerischen Gesetzesänderung, die dies nun gestattete, begann sie als einzige Frau neben 56 männlichen Kommilitonen das Mathematikstudium.11 Im Anschluss an eine typisch mädchenadäquate Ausbildung, von der Haushaltsführung, über Klavierstunden bis hin zur Lehr­befähigung für die Fächer Französisch und Englisch, hatte sie sich schließlich entschlossen, einen Weg einzuschlagen, den sowohl ihr Vater, ein Professor für Mathematik, wie auch ihr Bruder Fritz bereits beschritten hatten: In die universitäre Mathematik zu gehen und damit in ein zu diesem Zeitpunkt noch rein männlich dominiertes Milieu. Hierin machte sie sich recht bald einen Namen, denn es lag nicht an der persönlichen Beziehung zu ihrem Vater,12 dass schließlich, zu Beginn des Ersten Weltkrieges, die beiden mathematischen Ausnahmegestalten ihrer Zeit, Felix Klein und David Hilbert, Emmy einluden, zu ihnen ins naturwissen74 

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schaftliche Mekka nach Göttingen zu kommen. Es war Emmys mathematisches Talent, das sie – obwohl eine Frau – so außerordentlich interessant für die Forscher machte. Jahre später schon schien Kleins und Hilberts Rechnung für den Standort Göttingen aufgegangen zu sein. In der Tat wurde Emmy Noether, trotz aller Schwierigkeiten und Einschränkungen, denen sie sich ihres Geschlechts wegen ausgesetzt sah, in den folgenden Jahren zum »Kristallisationskern«13 der Göttinger Mathematik. Sie sollte mit der sogenannten »Begrifflichen Mathematik«14 und einer wissenschaftlichen Heran­gehensweise nicht nur in die Wissenschaftsgeschichte eingehen, sondern diese auch maßgeblich prägen und verändern. Ironie der Geschichte: Vielleicht erklärt sich gerade deren Entstehen aus dem einzigartigen biografischen Werdegang, den Emmy vorzuweisen hatte. Denn, war es ihr zwar jahrein-jahraus eine formelle Einschränkung gewesen, eine Frau zu sein, so profitierte sie, anders als ihre männlichen Kollegen, gerade von der multi­ disziplinären Ausbildung, die sie – zum Teil nur widerwillig – absolviert hatte. Als junges Mädchen hatte man sie nicht nur im Klavierspielen, Hemdensticken und Kragensteifen, sondern ebenso in zahlreichen Sprachen und linguistischen Grundlagen ausgebildet. Ihre vor-universitäre Ausbildung im Sprachlichen und Musischen konnte sie in den nachfolgenden Jahren innerlich mit einer klassisch mathematischen Ausbildung an den Universitäten in Erlangen sowie Göttingen verbinden. Schließlich waren es gerade die Unkonventionalität und Schrankenlosigkeit ihres Denkens, die das Entstehen der »begrifflichen Mathematik« begünstigten. Ihr besonderer fachlicher Ansatz erklärt wiederum die enge Beziehung zwischen Emmy und »ihren Jungs«: Nur durch den Rückgriff auf Sprache und Begrifflichkeiten war es ihr möglich, stundenlang über mathematische Probleme, Theoreme und Rätsel zu diskutieren, sich gegenseitig zu inspirieren und gemeinsam Lösungen zu »knacken«. Dabei war es Emmy Noether zunächst gar nicht gestattet gewesen, eigenständig Vorlesungen zu halten, da sie nicht über die Venia Legendi, also die Lehrberechtigung, verfügte. Da es ihr als Frau nach preußischem Erlass des Jahres 1908 nicht gestattet war zu habilitieren,15 war sie jahrelang gezwungen, unter dem Namen ihres nimmermüden persönlichen wie politischen Fürsprechers David Hilbert zu dozieren. Aus der historischen PerJohanna Klatt  ■  Amalie Emmy Noether

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spektive betrachtet sind demnach gerade die Verhandlungen um ihre Person und ihre – später von keinem Geringeren als Albert Einstein unterstützten16  – Anträge auf eine Habilitationsberechtigung von größter Wichtigkeit. Nach jahrelangem Ringen, hitzigen Auseinandersetzungen zwischen den Fakultäten und mehrmaligen Verfahren wurde Emmy Noether nach Ende des Ersten Weltkrieges doch noch die formelle Habilitationsgenehmigung zugestanden. Als erste Frau in Deutschland habilitierte sie sich schließlich im Jahre 1919 über »Invariante Variationsprobleme«. Mit ihrer eher unauffälligen und zurückhaltenden Art hatte sie damit in der Praxis die Rechte von Frauen an deutschen Univer­ sitäten maßgeblich erweitert. Doch weil die Universität im Grunde zu derlei weitreichenden Zugeständnissen nicht bereit war, stößt man beim Durch­blättern des Noether’schen Lebenslaufes immer wieder auf Betonungen des Absonderlichen, des Einzelfalles. Eine Unterstreichung der Singularität und Unvergleichlichkeit ihrer Leistungen sollte in den hitzigen Diskussionen zwischen verschiedenen Fakultäten der Universität Göttingen dafür sorgen, dass mit einer Ausnahme­ genehmigung für Frau Noether möglichst nicht allen Frauen und weiblichen Dozentinnen Tür und Tor zu den Universitäten ge­ öffnet würden, damit diese den soldatischen Weltkriegsheim­ kehrern nicht die Plätze wegnähmen17 oder gar in den Fakultätsräten säßen.18 Diejenige, um die sich die Debatte derweil drehte, blieb währenddessen leise. Emmy Noether agierte alles andere als »der Natur nach rebellisch«, wie ihr Kollege Hermann Weyl im Nachhinein zu berichten wusste.19 Vielmehr wurden die zentralen Entscheidungen und politischen Debatten über ihre Person bis zuletzt über ihren Kopf hinweg gefochten  – und entschieden. Noether blieb die »eifrige und stille Arbeiterin auf dem Felde ihres Berufes«,20 als welche sie in einem Antrag der mathematisch-natur­ wissenschaftlichen Abteilung im Jahr 1915 beschrieben wurde. Sie trug persönliche politische Überzeugungen, über die sie durchaus verfügte – so galt sie beispielsweise als überzeugte Pazifistin21 –, nur selten in die Öffentlichkeit, u. a., weil ihre Neigung zur Mathematik ihr alle politischen Streitigkeiten vergleichsweise unbedeutend erscheinen ließ. Ihre Zurückhaltung hatte womöglich auch Kalkül: Nur durch ein eher ruhiges, »unproblematisches« Ver­ 76 

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halten brachte sie diejenigen, die für sie fochten, nicht zusätzlich in Bedrängnis. Zudem kennzeichnete Emmys Charakter eine Mentalität des Sich-Arrangierens. Abzulesen war das an ihrem äußeren Auftreten, das zu ihren Lebzeiten wie nach ihrem Tod immer wieder zum Thema wurde. »Die Leute sagten, sie sähe aus wie eine fette, einfache, laute Waschfrau mit klobiger Kleidung und dicken Brillengläsern«, rekapituliert Margaret Tent eine Beschreibung, die natürlich gänzlich die Essenz dieser bemerkenswerten Frau verfehlt.22 Auch ihr Lebensstil in Göttingen war äußerst bescheiden, bisweilen »studentisch«. Überdies legte ­Noether kaum den hierarchisch begründeten Habitus einer Professorin, Dozentin oder in irgendeiner Weise Höhergestellten an den Tag, zeigte kaum hierarchisches Verhalten geschweige denn professorale Allüren. Vielleicht, weil sie aus dem Erlanger Elternhaus ohnehin einfache Verhältnisse gewohnt war.23 Es schien ihr auch wenig auszumachen, dass die Universität Göttingen sie jahrelang kaum bis gar nicht bezahlte und dass sie erst 1923, mit 41 Jahren, einen geringfügig vergüteten Lehrauftrag erhielt. Als Noether sich aufgrund ihrer jüdischen Abstammung im Jahre 1933 unter den ersten sechs Göttinger Universitätsprofessoren befand, die von den Nationalsozialisten zwangsbeurlaubt wurden,24 reichten zwar zwölf ihrer Schüler eine Petition für sie ein,25 doch in diesem Fall konnten auch die Noether-Knaben keine Hilfestellung leisten. Ihr Leitstern zwangsemigrierte in die Vereinigten Staaten, an das gleichfalls renommierte Bryn Mawr ­College in Pennsylvania. Dort, vor ausschließlich weiblichen Studierenden und in englischer Sprache, funktionierte die »Noether-Schule« dann nicht mehr auf dieselbe Weise wie noch in Göttingen. Emmy verfiel inmitten ihrer Vorlesungen immer wieder ins Deutsche;26 das sprachlich vereinende Band der Kommunikation über die Mathematik konnte unter diesen Umständen nicht auf die gleiche Art funktionieren. Zudem schien Emmy, trotz aller Diskriminierungen und Schwierigkeiten, die man ihr in den letzten Jahren in Göttingen bereitet hatte, an der Stadt zu hängen. 1934 kam sie noch einmal kurz zurück in ihre Wahlheimat, wo sie ihre Zelte schließlich nur sehr widerwillig und erst dann abbrach, als es wirklich unumgänglich schien.27 Johanna Klatt  ■  Amalie Emmy Noether

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Früh, und im Grunde noch auf dem Höhepunkt ihrer wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit, erlag Emmy Noether schließlich in den USA den Nachwirkungen einer Krebsoperation. Der Schock, den ihr frühes Ableben verursachte, saß nicht nur bei den »Noether-Jungs« tief, sondern in der gesamten Wissenschafts­ gemeinschaft. Doch weder in ihrer Heimatstadt Erlangen noch in Göttingen scheint man bis in die späten siebziger Jahre hinein so recht begriffen zu haben,28 welch einzigartige Koryphäe mit Emmy Noether hier ihr zu Hause gefunden hatte. Und dies, obwohl sie sich augenscheinlich gerade mit Göttingen stark verbunden fühlte.29 Nicht nur hängt die Göttinger Gedenktafel, mit der in der niedersächsischen Universitätsstadt traditionell den eigenen historischen Größen gedacht wird, offenkundig an der falschen Hauswand.30 Auch der kleine Weg, welcher ihren Namen zur Würdigung trägt, ist so winzig, dass ihr Name sich selbst mit einer Lupe auf kaum einem Stadtplan entziffern lässt.31 All dies, so resümiert ihre Biografin Cordula Tollmien, lässt sich kaum mit den wissenschaftlichen und persönlichen Ehren vergleichen, die Emmy N ­ oether nach nicht einmal zwei Jahren Aufenthalt in den Vereinigten Staaten zuteil wurde.32 Doch Emmy Noether selbst hätte darüber vermutlich achselzuckend und grinsend hinweggesehen und sich statt mit der­ artigen Nebensächlichkeiten doch lieber mit der nächsten mathe­ matischen Kniffligkeit beschäftigt, vielleicht beim intensiven Gespräch mit ein paar ihrer jungen Doktoranden am bewaldeten Stadtrand von Göttingen. So in etwa müssen wir sie uns vorstellen. Und so würde sie der Nachwelt vermutlich auch in Erinnerung bleiben wollen.

Anmerkungen 1 Eigentlich lautete ihr vollständiger, jedoch kaum gebrauchter Geburtsname Amalie Emmy Noether. 2 Vgl. Mechthild Koreuber / Renate Tobies, Emmy Noether. Begründerin einer mathematischen Schule, in: Deutsche Mathematiker-VereinigungMitteilungen 3 (2002), S. 8–21. 3 Auguste Dick, Emmy Noether. 1882–1935, Elemente der Mathematik: Beiheft 13, Kurze Mathematiker-Biografien, Basel 1970, S. 21. 4 Diese Anekdote überliefert Dick, S. 17 f.

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5 Radbruch beschreibt, Noether habe dabei mit ihren Vorlesungen die Universitätsidee Wilhelm von Humboldts »in absoluter Vollkommenheit realisiert«, in: Knut Radbruch, Emmy Noether. Mathematikerin mit hellem Blick in dunkler Zeit, Erlanger Universitätsreden 71 (2008) 3. Folge, online verfügbar unter: http://www.uni-erlangen.de/einrichtungen/presse/publika tionen/erlanger-universitaetsreden/71_unirede_radbruch.pdf [zuletzt eingesehen am: 10.11.2011], hier S. 11. 6 B. L. Van der Waerden, Nachruf auf Emmy Noether, in: Franz Lemmermeyer u. a. (Hg.), Helmut Hasse und Emmy Noether. Die Korrespondenz 1925–1935, Göttingen 2006, als Onlinedokument verfügbar unter: http:// webdoc.sub.gwdg.de/univerlag/2006/hasse_noether_web.pdf [zuletzt eingesehen am: 10.11.2011], S. 15–22, hier S. 19. 7 Ebd. 8 Zum Begriff der Denkschule bezogen auf Emmy Noether vgl. Koreuber /  Tobies. 9 Dick, S. 18. 10 Siehe Cordula Tollmien, »Sind wir doch der Meinung, daß ein weiblicher Kopf nur ganz ausnahmsweise in der Mathematik schöpferisch tätig sein kann…« Emmy Noether 1882–1935. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Habilitation von Frauen an der Universität Göttingen, in: Göttinger Jahrbuch 38 (1990), S. 153–219, hier S. 155. 11 Siehe Dick, S. 8. 12 Vgl. ebd., S. 13. 13 Cordula Tollmien / Matthias Manthey, Juden in Göttingen, in: Erich Böhme u. a. (Hg.), Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt, Bd 3, Göttingen 1999, S. 675–760, hier S. 385. 14 Die Bezeichnung prägte Alexandroff in seinem Nachruf auf Noether von 1935, nachzulesen in: Koreuber / Tobies, S. 12. Später wurde diese Zugangsweise zur Mathematik auch »strukturell« genannt, vgl. S. 14. 15 Näheres zu dem Erlass vom 29.5.1908 findet sich bei Tollmien, Emmy Noether 1882–1935, S. 165 ff. 16 Vgl. hierzu Tollmien, Emmy Noether 1882–1935, S. 181 f. sowie: Reinhard Siegmund-Schultze, Einsteins Nachruf auf Emmy Noether in der New York Times 1935, in: MDMV 15 (2007) 4, S. 221–227. 17 Zu dieser Begründung einer ablehnenden Haltung in der Frage rund um den Habilitationsantrag Emmy Noethers vgl. die Argumentation des Astronomen Johannes Hartmann, abgedruckt in: Tollmien, Emmy ­Noether 1882–1935, S.  173 f. Zu den verstärkten Schwierigkeiten für Frauen an den Universitäten dieser Zeit vgl. zudem Detlef Busse, Engagement oder Rückzug? Göttinger Naturwissenschaften im Ersten Weltkrieg, Schriften zur Göttinger Universitätsgeschichte, Bd. 1, Göttingen 2008, insb. S. 72 ff. 18 Mit der Habilitationszulassung wäre »ferner auch die Zulassung von Frauen zu den weiteren Stufen der akademischen Laufbahn, zum Ordinariat, folglich zum Mitglied von Fakultät und Senat im Prinzip entschieden«, sorgte man sich im Sondervotum gegen die Habilitation von Emmy Noether, abgedruckt in Tollmien, Emmy Noether 1882–1935, S.  172 ff., hier S. 173. Johanna Klatt  ■  Amalie Emmy Noether

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19 »Hermann Weyl […] betonte in seinem Nachruf auf Emmy Noether, daß es nichts ›rebellious in her nature‹ gegeben habe […]«, Tollmien, Emmy ­Noether 1882–1935, S. 157. 20 Antrag der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Abteilung der Philosophischen Fakultät Göttingen beim Minister für geistliche und Unterrichtsangelegenheiten vom 26.11.1915, abgedruckt in: Tollmien 1990, S.  163 f., hier S. 164. 21 Vgl. Cordula Tollmien, Emmy Noether. »Die größte Mathematikerin, die jemals gelebt hat«, in: Traudel Weber-Reich (Hg.), »Des Kennenlernens werth«. Bedeutende Frauen Göttingens, Göttingen 2002, S.  227–260, hier S. 241. 22 Vgl. Margaret B. W. Tent, Emmy Noether. The Mother of Modern Algebra, Wellesley 2008, S. 78. 23 Vgl. Dick, S. 6. 24 Ein Abdruck der »Beurlaubung« findet sich bei Hans Joachim Dahms, Die Universität Göttingen 1918 bis 1989. Vom »Goldenen Zeitalter« der Zwanziger Jahre bis zur »Verwaltung des Mangels« in der Gegenwart, in: Erich Böhme u. a. (Hg.), Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt. Bd 3; Göttingen 1999, S. 395–456, hier S. 413. 25 Vgl. Tollmien, Emmy Noether 1882–1935, S. 208 f. 26 Vgl. Erol Barbut, The life and work of Emmy Noether, in (Schriftenreihe): Mathematics notes from Washington State University 44 (2001) 2, S. 7–10, hier S. 8. 27 Noch im Jahr 1935 hatte Emmy Noether wohl gehofft, den nächsten Sommer wieder in Göttingen verbringen zu können. Vgl. Tollmien, Emmy ­Noether 1882–1935, S. 218, die sich hier auf Olga Taussky beruft. 28 Vgl. die Kritik von Cordula Tollmien, Öffentliche Würdigung von Emmy Noether in Göttingen, Eigene Homepage der Autorin, online verfügbar unter: http://www.tollmien.com [zuletzt eingesehen am 10.11.2011]. 29 Vgl. u. a. Siegmund-Schultze, S. 226. 30 Nach Tollmien, Emmy Noether 1882–1935, S. 207 hatte Noether drei Göttinger Adressen: 1922: Düsterer Eichenweg 18, 1922–1932: Düsterer Eichenweg  2, 1932–1933, Stegemühlenweg 51. An der letztgenannten hängt die Ehrentafel, wenngleich Noether die längste Zeit in einer studentischen Verbindung im Friedländerweg gewohnt hatte. Aus dieser wurde sie allerdings 1932 vermutlich aufgrund ihrer jüdischen Abstammung vertrieben; eine für die Göttinger Verwaltung – so die implizite Vermutung Tollmiens – womöglich zu heikle Geschichte, um an diesem Gebäude eine Ehrentafel zu montieren. Man hatte sich 1977 für die wohl einfachste Lösung entschieden. Cordula Tollmien, Öffentliche Würdigung von Emmy Noether in Göttingen, http://www.tollmien.com [zuletzt eingesehen am 10.11.2011]. 31 Vgl. ebd. 32 Bei Tent geht sie beispielsweise als nicht weniger als die »greatest female mathematician the world has ever known and the mother of modern ­ ­abstract algebra« in die Geschichte ein, Tent, S.  159. Vgl. des Weiteren beispielsweise die Noether-Lecture der Associationfor Woman in Mathe­ matics, die bereits seit den achtziger Jahren besteht.

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Exzellenzen der »exakten Wissenschaft«

Max Born Das Gewissen des Atomzeitalters von Severin Caspari

»Klein und öde«1 erschien Max Born die Stadt am Harzrand, in die es ihn 1904 als jungen Studenten verschlug. Göttingen, das klang für ihn so ähnlich wie Tübingen. Und umso enttäuschter war Born, im Atlas die Stadt im »trüben Norden«2 nahe Hannover zu finden. Zweifellos war er Anderes, Großstädtisches gewohnt. In seiner Heimatstadt Breslau hatte er stets das reichhaltige Kulturangebot genossen. So lauschte er in der örtlichen Konzertkammer den Größen der Musikwelt Europas wie dem Geiger Pablo de Sarasate oder dem Komponisten Gustav Mahler.3 Bei Studienaufenthalten in Heidelberg und Zürich hatte Born zudem die Berge und Natur lieben gelernt. Göttingen bot dagegen weder besondere kulturelle Freuden, noch konnte es gegen die Pracht des Gebirges bestehen. Doch die Stadt hatte etwas zu bieten, das auch Born bald in seinen Bann zog: die Wissenschaft. Die Mathematik und bald auch die Physik weckten in ihm die Leidenschaft des Forschens und Entdeckens. Und immer dann, wenn der spätere Nobelpreisträger und Professor für theoretische Physik glaubte, die Stadt nun endlich hinter sich lassen zu können, geriet er erneut in ihren Sog. Max Born sollte immer wieder nach Göttingen zurückkehren. Max Born, Jahrgang 1882, wuchs in Breslau auf. Seine Mutter stammte aus einer wohlhabenden Industriellenfamilie, während der Vater eher aus mittelständischen Verhältnissen kam und als Arzt an einem Institut für medizinische Forschung arbeitete.4 Severin Caspari  ■  Max Born

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Nach dem frühen Tod seiner Mutter – Max Born war gerade einmal dreieinhalb Jahre alt  – übernahm Großmutter Kauffmann die Erziehung für ihn und seine jüngere Schwester Käthe. Täglich fuhr sie mit einer Kutsche vor das Haus der Borns vor und gab den wechselnden Kinderfrauen ihre Anweisungen. Ihre Sorge galt dabei vor allem dem kleinen Max, der ein kränklicher Junge war und häufig unter Asthmaanfällen litt. Born beschrieb sich in der Rückschau selbst als »zartes Kind«5, das in der Schule den Kontakt zu anderen Kindern mied. Die jüdische Herkunft der Familie spielte in der Erziehung der Kinder keine Rolle. Die Borns besuchten weder die Synagoge, noch richteten sie sich nach den jüdischen Gesetzen und Feiertagen – stattdessen feierten sie das Weihnachtsfest. Nur solange es verpflichtend war, nahm Born auf dem Gymnasium am jüdischen Religionsunterricht teil. Born war noch keine 18 Jahre alt, als auch sein Vater verstarb. Der Tod des zweiten Eltern­teils hinterließ in ihm eine große Leere und verstärkte seine Schüchternheit und Zurückgezogenheit gegenüber der Außen­welt noch zusätzlich.6 Nach bestandenem Abitur besuchte Born an den Universitäten Breslau, Heidelberg, Zürich und München Veranstaltungen in Experimentalphysik, Chemie, Zoologie, allgemeiner Philosophie, ­Logik, Astronomie und Mathematik. Sein Interesse an Mathematik führte ihn schließlich nach Göttingen. Dass Born dort schon bald in den Dunstkreis einer Gruppe der größten Mathematiker jener Zeit geraten sollte, war keine Selbstverständlichkeit, hatte er doch auch Jahre später nichts von seiner Schüchternheit verloren. Die Clique der »Bonzen« um Hermann Minkowski, David ­Hilbert, Felix Klein und Carl Runge hatte der mathematischen Fakultät Göttingens zu großem Ansehen verholfen.7 Auf regelmäßigen Spaziergängen zum Hainberg besprachen sie die brennenden Fragen der Mathematik. Sie umgab eine einschüchternde Aura höchster Intellektualität. Es war denn auch eher ein stiller Akt, mit dem Born die Aufmerksamkeit dieser Geistesgrößen auf sich lenkte. Gleich zu Beginn des Semesters war Hilbert auf der Suche nach einem Studenten, der eine schriftliche Ausarbeitung von seinen Vorlesungen anfertigen sollte. Borns Manuskript übertraf nach Ansicht Hilberts die seiner Kommilitonen und so machte er Born zu seiner wissenschaftlichen Hilfskraft. Dieser zeigte sich glücklich, mit einem der »mächtigsten Hirne jener Zeit«8 zusammen­ 82 

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arbeiten zu können. Hilbert schätzte in Born jedoch nicht nur den sorgfältigen Protokollanten, sondern erkannte in ihm gleicher­ maßen einen wertvollen Diskussionspartner in Fragen der Mathematik. Außerdem mochte er Born und sorgte dafür, dass sich bei gemeinsamen Ausflügen zur Burgruine Plesse die Bekanntschaft auch mit anderen »Bonzen« wie Minkowski intensivierte. Ohnehin arbeitete Hilbert stets darauf hin, die Grenzen der Etikette, die zu dieser Zeit wie eine Mauer zwischen Professoren und Studenten stand, zu verwischen. Er lud seine Studenten in seinen Garten ein, wo sie bei gemeinsamen Essen über Naturwissenschaft, Mathe­ matik und auch über Politik sprachen. In dieser lockeren Atmosphäre hoffte Hilbert, die Kreativität der Studenten anzuregen – eine Methode, auf die auch Born später in seiner Zeit als Professor zurückgreifen sollte. Dennoch wollte Born Göttingen nach seiner Promotion im Jahr 1906 verlassen: »Ich hatte die Stadt ziemlich satt und beschloss, nie mehr zurückzukehren«9. Doch dieser Schwur hielt nicht lange vor, denn schon bald geriet Born erneut in den Sog der Göttinger Wissenschaft. In den frühen Tagen der Relativitätstheorie Albert Einsteins begann auch er, sich mit diesem Thema verstärkt ausein­ anderzusetzen. Als er sich einmal in einem Brief mit einem Haufen Fragen an seinen ehemaligen Lehrer Minkowski wandte, lud dieser ihn unvermittelt nach Göttingen ein, um gemeinsam nach den Antworten zu forschen.10 So kehrte Born nach Göttingen zurück und erhielt bald darauf im Sommer 1909 die Zulassung als Privatdozent. Mitgerissen von der Pionierzeit der Quantenphysik war er nun fest entschlossen, Professor auf dem Gebiet der theoretischen Physik zu werden und begann seine Habilitationsschrift über die Starrheit des Elektrons. Auch abseits der Wissenschaft wurden es für Born glückliche Jahre, voller Freundschaften und Geselligkeit. Zusammen mit seinem Freund und Kollegen Theodor von Karman und zwei Studenten bezog er 1912 ein Haus in der Dahlmannstraße 17.  Aus der Hausgemeinschaft von »El Bokarebo«  – eine Wortschöpfung aus den Initialen seiner Bewohner  – entwickelte sich eine illustre Runde, die häufig Einladungen aussprach und so ihren Kreis noch erweiterte.11 Sie führten faszinierende Diskussionen und trugen zu Geburtstagen heitere, selbst geschriebene Gedichte vor. In dieser Zeit lernte Born auch seine spätere Frau Hedwig Ehrenberg  – genannt Hedi  – kennen. Hedi war in Severin Caspari  ■  Max Born

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Göttingen aufgewachsen. Ihr Vater, Professor für Versicherungsrecht in Leipzig, war Jude, hatte sich aber vor der Hochzeit evangelisch taufen lassen.12 Borns zukünftige Schwiegermutter erwartete von ihm dasselbe. Born wollte sich jedoch weder taufen lassen, noch gab er dem Wunsch seiner Schwiegermutter nach, eine feierliche Hochzeit in einer der Göttinger Kirchen zu halten. Am Ende musste die Trauung im August 1913 »halb-religiös« im Garten von Borns Schwester Käthe in Grünau stattfinden. Das frisch verheiratete Paar zog in eine Parterrewohnung am Weißen Stein 4 und sah der Geburt seiner ersten Tochter Irene entgegen. Die Unbekümmertheit fand jedoch mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs ein rasches Ende. Am 2.  August 1914, dem ersten Hochzeitstag der Borns, marschierten Soldaten auf Göttingens Straßen – begleitet von fahnenschwenkenden Menschenmassen. Der Erste Weltkrieg wurde für Born zum einschneidenden Erlebnis und prägte seine Einstellung gegenüber Krieg und Gewalt ganz entscheidend. Schon sein Vater hatte ihm eindrücklich von den Schrecken des deutsch-französischen Krieges 1870/71 erzählt und ihm geschildert, wie er sich als Rädchen im Getriebe der großen Militärmaschine gefühlt habe.13 Die »gleiche Ernied­rigung menschlicher Würde«14 empfand auch Born, als er nach seinem Studium als junger Rekrut in Reih und Glied stehen musste. Sein Asthma rettete ihn schließlich mehrmals vor dem Militärdienst. Gleichwohl sah sich Born als Patriot und war anfangs von der Richtigkeit des Krieges überzeugt, der offenbar sein Vaterland bedrohte. Viele Naturwissenschaftler widmeten sich zu dieser Zeit der Erforschung militärischer Waffen – so auch Born, der an der Entwicklung von Schallmessverfahren beteiligt war, die den Einschlagzeitpunkt von Geschossen ermitteln sollten. Als jedoch der Chemiker Fritz Haber im Jahr 1915 Born einlud, an der Entwicklung chemischen Kriegsgeräts mitzuarbeiten, lehnte dieser empört ab. Später sollte er den Gaskrieg als eine »entscheidende moralische Niederlage der Menschheit«15 beschreiben. Je länger der Krieg andauerte, desto mehr begann Born an dem Sinn des Krieges zu zweifeln. Born, der zwischenzeitlich eine Professur in Berlin bekommen hatte, führte nächtelang Gespräche mit Hedi über das Dilemma zwischen der Sinnlosigkeit des Krieges und der Pflicht des Bürgers gegenüber dessen Vaterland. Wenn seine Frau genug von dem Thema hatte, ging Born in die Berliner Wohnung Albert 84 

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Einsteins, mit dem die Familie befreundet war. Einsteins offener Pazifismus färbte zunehmend auf Born ab und bestärkte ihn in seinen antimilitaristischen Ansichten.16 Erst nach dem Ende des Ersten Weltkriegs konnte Born seine Aufmerksamkeit wieder auf die Physik richten. Nachdem er Lehrstühle in Breslau, Berlin und Frankfurt bekleidet hatte, erhielt er Anfang der zwanziger Jahre einen Ruf aus Göttingen. Wieder stand Born vor der alten Frage: Wollte er in die Provinz zurückkehren und das kulturelle Leben, diesmal der Stadt Frankfurt, in der er sich mit Frau und den mittlerweile zwei Töchtern bereits gut eingelebt hatte, aufgeben? Das Angebot aus Göttingen war außerordentlich gut, doch war die Entscheidung längst nicht mehr eine rein sachliche. Es war eine große Ehre für Born, an seine Alma ­Mater zurückzukehren und dort eine führende Rolle in der Physik zu übernehmen. Am Ende gab er Göttingen gegenüber Frankfurt den Vorzug. Hier fanden im Sommer 1922 auch die »BohrFestspiele« statt: der Begründer der Quantentheorie, der Däne Niels Bohr, hielt eine zweiwöchige Vorlesungsreihe an der Georgia ­Augusta ab. Dieses Ereignis inspirierte auch Born, der zusammen mit seinen Assistenten Werner Heisenberg und Pascual Jordan die »Rätsel der Quantenphysik«17 zu lösen versuchte. Gemeinsam begründeten sie die Quantenmechanik. Es sollten Borns beste Jahre in Göttingen auf dem Gebiet der Wissenschaft werden.18 Der Aufstieg der Nationalsozialisten in Deutschland veränderte alles. Anfang des Jahres 1933 wehten an den Fachwerkhäusern der Göttinger Altstadt Hakenkreuzfahnen. Menschenmassen feierten mit einem Fackelzug die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler. Den zunehmenden Antisemitismus bekamen auch die Borns zu spüren. Nachts schrillte das Telefon und aus dem Hörer brüllte eine Stimme: »Juden raus, Juda verrecke«.19 Auch seine Kinder bekamen in der Schule den Hass zu spüren. Unerträglich wurde die Lage für Born schließlich nach seiner Zwangsbeurlaubung durch die Göttinger Universität.20 Er litt unter den Anfeindungen der Studenten, noch mehr aber darunter, dass viele seiner Kollegen den Gerüchten, die über ihn verbreitet wurden, glaubten und fast keiner etwas zu seiner Beurlaubung gesagt hatte. Schließlich entschloss sich die Familie schweren Herzens zur Emigration: »Alles, was ich in zwölf Jahren harter Arbeit in Göttingen aufgebaut hatte, war vernichtet. Es kam mir wie das Ende der Welt vor«.21 Born ging Severin Caspari  ■  Max Born

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ins Exil nach Schottland, wo er ab 1936 eine Professur an der Universität Edinburgh bekam und 1939 britischer Staatsbürger wurde. Die Schrecken des Zweiten Weltkriegs belasteten ihn schwer. Er litt unter den Nachrichten von Freunden und Familie, die im Krieg umgekommen oder von den Nazis ermordet wurden. Er war deshalb davon überzeugt, dass Hitler besiegt werden müsse, und er war sich darüber im Klaren, dass dies nur mit militärischen Mitteln möglich sein würde. Er dachte sogar selbst über die Entwicklung neuer Waffen für den Kriegseinsatz nach, doch die britische Regierung wollte von seinen Erfindungen nichts wissen, da er kein geborener Brite war. Doch gleichzeitig erschreckte ihn der Luftkrieg der Alliierten, bei dem ganze Städte in Schutt und Asche gelegt wurden: »Die Idee, Hitler zu stürzen, indem man Frauen und Kinder tötete und ihre Heime zerstörte, erschien mir absurd und abscheulich«.22 Gegen Ende des Krieges litt Born unter Depres­ sionen und musste krankgeschrieben werden. Nach dem Krieg wollte Born allerdings von einer Kollektivschuld der Deutschen nichts wissen: »Ich denke es gibt keine Massen-Verantwortlichkeit in einem höheren Sinne, nur Individua – ich habe genug anständige Deutsche getroffen, vielleicht klein an der Zahl, aber echt«,23 schrieb er 1950 an seinen Freund Albert Einstein. Diese Haltung mag einer der Gründe für Borns Rückkehr nach Deutschland gewesen sein. Für Einstein war dies eine Rückkehr ins »Land der Massenmörder«, für Born dagegen eine Rückkehr in ein Land, das für ihn immer noch Heimat bedeutete. Er empfand ein »unüberwindliches Heimweh nach der deutschen Sprache und Landschaft«,24 wohingegen Schottland trotz seiner Dankbarkeit gegenüber dem Land für Born Fremdheit bedeutete. Am Ende spielten jedoch auch finanzielle Erwägungen eine Rolle: Born konnte nur mit einem Wohnsitz in der Bundes­republik eine deutsche Pension beziehen. So gab es auch ein Wiedersehen mit Göttingen, das ihm anlässlich der Eintausend-Jahr-Feier der Stadt die Ehrenbürgerwürde verlieh. Bald darauf, 1953, zog Born mit seiner Frau in den beschaulichen Kurort Bad Pyrmont. Einen ruhigen Lebensabend verlebte Born, entgegen seiner Ankündigung, auf seinem Alterswohnsitz jedoch nicht.25 Stattdessen fand er in der Verstrickung von Naturwissenschaft und Krieg, deren Zeuge er in zwei verheerenden Weltkriegen geworden war und die ihren vorläufigen Abschluss in dem Abwurf der Atombombe 86 

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auf Japan gefunden hatte, sein neues Lebensthema. In Buchveröffentlichungen, Zeitungsartikeln und Radiobeiträgen trat Born zunehmend als Friedensaktivist und Verantwortungsmahner auf.26 Die späte Anerkennung durch den Nobelpreis im Jahr 1954 verschaffte ihm die hierzu notwendige Aufmerksamkeit. Auch sich selbst machte Born Vorwürfe, da einige seiner besten Schüler aus Göttingen, darunter Oppenheimer, Teller und Fermi, am Bau der Atombombe beteiligt gewesen waren: »Es ist wohl mein Fehler gewesen, wenn sie von mir nur Methoden der Forschung und nichts weiter gelernt haben. […] Nun ist durch ihre Klugheit die Menschheit in eine fast verzweifelte Lage geraten.«27 Born war auch einer der 18 Göttinger Professoren, die am 12. April 1957 in der sogenannten »Göttinger Erklärung« öffentlich den Verzicht der Adenauer-Regierung auf die Herstellung von Atomwaffen forderten.28 Am Ende seines Lebens war er davon überzeugt, dass nur der Pazifismus die Menschheit vor dem Untergang bewahren könne. Am Schluss der Mainauer Kundgebung, die er 1955 zusammen mit anderen Naturwissenschaftlern verfasste, heißt es: »Alle Nationen müssen zu der Entscheidung kommen, freiwillig auf die Gewalt als letztes Mittel der Politik zu verzichten. Sind sie nicht dazu bereit, so werden sie aufhören zu existieren.« Born starb am 5. Januar 1970 in Göttingen und wurde auf dem Stadtfriedhof beigesetzt.

Anmerkungen 1 Max Born, Mein Leben. Die Erinnerungen des Nobelpreisträgers, München 1975, S. 125. 2 Max Born, Göttinger Erinnerungen, in: ders. u. a. (Hg.), Der Luxus des Gewissens. Erlebnisse und Einsichten im Atomzeitalter, München 1969, S. 13. 3 Vgl. Nancy T. Greenspan, Max Born. Baumeister der Quantenwelt, München 2006, S. 24–27. 4 Vgl. ebd., S. 6. 5 Born, Mein Leben, S. 31. 6 Vgl. Greenspan, S. 19 f. 7 Vgl. ebd., S. 27. 8 Born, Mein Leben, S. 127. 9 Ebd., S. 159. 10 Vgl. Greenspan, S. 45. 11 Vgl. Born, Mein Leben, S. 213 u. Greenspan, S. 56. 12 Vgl. Greenspan, S. 62. Severin Caspari  ■  Max Born

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13 Vgl. ebd., S. 39. 14 Born, Mein Leben, S. 166. 15 Max Born, Die Hoffnung auf Einsicht aller Menschen in die Größe der atomaren Gefährdung, in: ders. u. a. (Hg.), Der Luxus des Gewissens., S. 187. 16 Vgl. Greenspan, S. 79. 17 Pascual Jordan, Begegnungen, Oldenburg 1971, S. 44. 18 Vgl. Arne Schirrmacher, Dreier Männer Arbeit in der frühen Bundes­ republik. Max Born, Werner Heisenberg und Pascual Jordan als politische Grenzgänger, Berlin 2005, S. 1. 19 Born, Mein Leben, S. 339. 20 Vgl. Greenspan, S. 188. 21 Ebd., S. 340. 22 Ebd., S. 353. 23 Zit. in: ebd., S. 267. 24 Born, Mein Leben, S. 377. 25 Vgl. Schirrmacher, S. 9. 26 Vgl. Robert Lorenz, Der Protest der Physiker. Die »Göttinger Erklärung« von 1957, Bielefeld 2011, S. 288. 27 Max Born, Ich trete ein für Aufklärung, in: Der Spiegel, 24.04.1957. 28 Zur Göttinger Erklärung vgl. Lorenz, S. 7–8.

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Otto Hahn Der atomare Fluch und Segen von Robert Lorenz

Die Göttinger sind stolz auf Otto Hahn. Ein Otto-Hahn-Gymnasium, eine Otto-Hahn-Straße, ein Unternehmen namens »Otto Hahn Studios« gibt es dort und die Universität führt ihn in ihrer 44 Persönlichkeiten zählenden Liste des »Göttinger Nobelpreiswunders« auf. Dies ist verständlich, zählt Hahn doch zu den größten Kernphysikern der Geschichte: Er spürte etliche chemische Elemente auf und war der erste Präsident der Max-Planck-Gesellschaft. Sein Ruf gründet sich aber vor allem auf die Ent­deckung der Kernspaltung 1938, für die er rückwirkend für das Jahr 1944 nach dem Zweiten Weltkrieg den Nobelpreis erhielt. In so gut wie jeder über Hahn verfassten Schrift lässt sich ehrerbietig nachlesen, dass er mit dieser revolutionären Beobachtung die Pforte zum Atomzeitalter aufgestoßen habe, für viele daher als dessen »­Vater«1 gilt. Dabei datiert keine einzige bedeutsame Forschungsleistung aus seiner Zeit in Göttingen. Auch sonst hatte er bis 1945 nichts mit der südniedersächsischen Universitätsstadt zu tun. Der 1879 in Frankfurt am Main geborene Hahn studierte in Marburg und München Chemie, promovierte kurz darauf 1901 in Marburg, im Sommer 1907 habilitierte er sich in Berlin.2 In den zwanziger Jahren stieg er zum wissenschaftlichen Kopf des innerhalb von Fachkreisen weltbekannten Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie in Berlin-Dahlem auf. Befreit von universitären Lehrverpflichtungen Robert Lorenz  ■  Otto Hahn

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und ausgestattet mit einem passablen Laboratorium, betrieb der gründliche Experimentator in unmittelbarer Nachbarschaft zu Max Planck und Albert Einstein Weltspitzenforschung. ­Weniger Originalität als Akkuratesse und Durchhaltevermögen waren seine Stärken, mit denen er dem faszinierenden Atom etliche Geheimnisse entlockte.3 1928 avancierte er zum Direktor seiner Wirkungsstätte, die damals ein pulsierender Ort wissbegieriger Forscher war. 1938 änderte sich für Hahn alles: Gemeinsam mit seinem Assis­ tenten Fritz Straßmann spaltete er den Kern eines Uranatoms  – damals ein Vorgang revolutionären Ausmaßes, denn die Kernspaltung setzte Energie frei, was die Phantasie der Forscher beflügelte. Es verhieß ungeahnte Möglichkeiten wie den Bau eines Atom­ reaktors oder gar einer Atombombe. Besonders Letztere war heikel, versprach diese doch ihrem Besitzer durch ihre Zerstörungskraft grenzenlose Macht. Dies bereitete Hahn Unbehagen:4 In seinem Institut arbeiteten einige Wissenschaftler, die mit dem NS-Regime sympathisierten. Er selbst sah in der nationalsozialistischen Diktatur eine Gefahr für das Ansehen der deutschen Wissenschaft und befürchtete, dass die Machenschaften des Regimes seine Forschungsarbeiten beeinträchtigen könnten. Schließlich waren wichtige Köpfe rassistisch vertrieben worden, so seine geschätzte Kollegin Lise Meitner. Und unter keinen Umständen gedachte Hahn, einem Mann wie Adolf Hitler den Weg zur Atombombe zu weisen. Er wollte, dass sich die Welt mit den hilfreichen, nicht den destruktiven Potenzialen von Atomkraft befasste. Doch Hahn konnte aufatmen: Die meisten der deutschen Kernphysiker gelangten um das Jahr 1940 zu dem Schluss, dass mit den begrenzten Ressourcen des Deutschen Reichs ein Atomwaffenprojekt schlichtweg nicht zu stemmen war. Sie konzentrierten ihre Forschungsanstrengungen daher auf die Konstruktion eines »Uranbrenners«, mit dem sie nukleare Energie zu er­zeugen suchten. Sie erreichten, dass die Behörden dieses Unterfangen als kriegswichtige Arbeit einstuften. Dadurch konnten viele Wissenschaftler vor dem Risiko des Soldatentods an den Fronten des Zweiten Weltkriegs bewahrt werden.5 Nach dem Ende des Krieges brachte ein Kommando der Alliierten Hahn und einige seiner Kollegen nach Farm Hall.6 In dem englischen Provinznest bewohnten sie als faktische Gefangene komfortabel eine Villa, während ihre 90 

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Angehörigen in der zerstörten Heimat den Widrigkeiten der unmittelbaren Nachkriegszeit trotzen mussten. Dabei observierten alliierte Offiziere die Wissenschaftler heimlich, um an Informa­ tionen zum deutschen Atomprogramm zu gelangen. 1945 kehrte Hahn nach Deutschland zurück, die Briten quartierten ihn in Göttingen ein, dem intakt gebliebenen Standort einer altehrwürdigen Universität  – Göttingen war während des Krieges weitestgehend von den Bomben der Alliierten verschont geblieben. Die Briten hatten mit Hahn ein Arrangement getroffen: Sie stellten der westdeutschen Wissenschaft in Aussicht, bald wieder Atomforschung betreiben zu können – denn diese untersagte das alliierte Besatzungsstatut zunächst noch.7 Im Gegenzug sollte Hahn versichern, dass er und seine Kollegen unter keinen Umständen militärische Forschungsvorhaben verfolgen würden. Des­wegen sollte er auch die im deutschen Wissenschaftsbereich mächtige Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, die auf Druck der Alliierten kurzerhand in Max-Planck-Gesellschaft umgetauft wurde, als Präsident leiten. Die Zentrale dieser Wissenschaftsgroßorganisation nahm zusammen mit einigen ihrer Institute ihren Sitz in Göttingen ein. Auf diese Weise, einem historischen Zufall geschuldet, stand Göttingen in den Anfangsjahren der Bonner Republik plötzlich im Mittelpunkt des Wissenschaftsmanagements. Von dort aus versuchten Hahn sowie der gleichfalls dort forschende Kernphysiker Werner Heisenberg die Geschicke ihrer Profession zu lenken. Sein persönliches Anliegen, als ein Nestor der Nuklearwissenschaft für eine medizinisch und wirtschaftlich nützliche, keineswegs aber eine militärisch verwendbare Technologie verantwortlich zu sein, und sein Bestreben, die deutsche Atomforschung nach dem Rückschlag infolge von Krieg und Nachkriegszeit wieder an die Welt­ spitze zurückzuführen, politisierten Hahn in jener Zeit.8 Wann immer sich die Gelegenheit bot, in Interviews, Vorträgen oder Schriften, betonte er die segensreichen Verheißungen atomarer Stoffe und verdammte die militärische Nutzung als waghalsigen Missbrauch durch Politiker und Generäle.9 Auf der einen Seite standen die förderungswürdigen Aspekte des Atoms: heilsame Strahlenbehandlung des menschlichen Körpers, Stromerzeugung, möglicherweise sogar atomgetriebene Kraftfahrzeuge; auf der anderen fanden sich todbringende Atomsprengköpfe. Hahn nutzte Robert Lorenz  ■  Otto Hahn

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seinen Prominentenstatus, den er als Nobelpreisträger genoss, um politische Appelle auszusenden. Von Göttingen aus schickte Hahn im April 1957 die von ihm und siebzehn seiner Kollegen unterzeichnete »Göttinger Erklärung« an die Presse, welche die Bundesregierung mahnte, auf den Besitz eines eigenen Atomwaffen­ arsenals zu verzichten. In Göttingen lebte während der fünfziger und sechziger Jahre also nicht der wissenschaftliche, sondern vielmehr der politische Otto Hahn. Dort verstarb er auch, am 28. Juli 1968. Sowohl Göttingen, wo er seinen Lebensabend verbrachte, als auch Frankfurt am Main, wo er zu Kaisers Zeiten das Licht der Welt erblickt hatte, identifizieren sich mit der Persönlichkeit Otto Hahn. So wartet auch die südhessische Metropole mit dem Standardrepertoire stolzer Erinnerung auf: eine Otto-Hahn-Schule, ein Otto-Hahn-Platz, ein Otto-Hahn-Preis.

Anmerkungen 1 Siehe z. B. Georg Feulner u. a., Naturwissenschaften. Daten, Fakten, Ereignisse und Personen, München 2008, S. 206; Dieter Hoffmann, Im Schatten des Kollegen, in: Die Zeit, 21.06.1996. 2 Zum Werdegang vgl. Ernst H.  Berninger, Otto Hahn in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1974, S. 7, S. 17 u. S. 44; Klaus Hoffmann, Forschung und Verantwortung. Otto Hahn. Konflikte eines Wissenschaftlers, Frankfurt 2005, S. 25 f. u. S. 55 f. 3 Vgl. Berninger, Hahn, S. 15 u. S. 50; Hoffmann, Forschung und Verantwortung, S.  96; Lise Meitner, Zur Entwicklung der Radiochemie. Otto Hahn zum 50jährigen Doktor-Jubiläum, in: Angewandte Chemie, 64 (1952), H. 1, S. 1–4. 4 Vgl. hier und folgend Ruth Lewin Sime, Otto Hahn und die Max-Planck-Gesellschaft. Zwischen Vergangenheit und Erinnerung, Berlin 2004, S. ­23–28; Carl Friedrich von Weizsäcker, Wege in der Gefahr. Eine Studie über Wirtschaft, Gesellschaft und Kriegsverhütung, München 1976, S. 203. 5 Vgl. Armin Hermann, Wie die Wissenschaft ihre Unschuld verlor. Macht und Mißbrauch der Forscher, Stuttgart 1982, S.  191; Wolfgang D. Müller, Geschichte der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland. Anfänge und Weichenstellungen, Stuttgart 1990, S. 553. 6 Zu den Vorgängen dort vgl. Dieter Hoffmann (Hg.), Operation Epsilon. Die Farm-Hall-Protokolle oder Die Angst der Alliierten vor der deutschen Atombombe, Berlin 1993. 7 Vgl. dazu Otto Gerhard Oexle, Hahn, Heisenberg und die anderen. Anmerkungen zu ›Kopenhagen‹, ›Farm Hall‹ und ›Göttingen‹, Berlin 2003,

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S. ­30–34; Thomas Stamm, Zwischen Staat und Selbstverwaltung. Die deutsche Forschung im Wiederaufbau 1945–1965, Köln 1981, S. 57 ff. 8 Vgl. Klaus Hentschel, Die Mentalität deutscher Physiker in der frühen Nachkriegszeit (1945–1949), Heidelberg 2005, S. 167; Robert Lorenz, Protest der Physiker. Die »Göttinger Erklärung« von 1957, Bielefeld 2011, S. 177 ff. u. S. 329 ff. 9 Siehe beispielhaft Otto Hahn, Cobalt 60. Gefahr oder Segen für die Menschheit?, Göttingen 1955; ders., Zur Geschichte der Uranspaltung und den aus dieser Entwicklung entspringenden Konsequenzen, in: Die Naturwissenschaften, 46 (1959), H. 5, S. 158–163.

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J. Robert Oppenheimer Der Charismatiker des Atomzeitalters von Roland Hiemann und Robert Lorenz

Theodor Heuss betrachtete Göttingen einst als »eine kleine Stadt, durch die aber die Ströme der Welt gehen«1. Der Lebensweg des Nuklearphysikers J. Robert Oppenheimer glich einem solchen Strom, der durch das damalige Zentrum der Naturwissenschaften floss: Er war einer der Pioniere der Quantenphysik und leitete im Zweiten Weltkrieg das amerikanische Atomwaffenprojekt. Das machte ihn zum Begründer eines extremen Zeitalters, in dem Atomenergie sowohl Vernichtung als auch Erlösung verhieß.2 1904 in eine wohlhabende, liberale New Yorker Familie geboren, verlebte Robert Oppenheimer eine sorgenfreie Kindheit und Jugend. Über das behütete Familienleben der Oppenheimers äußerte sich Robert später sogar etwas verstimmt, da es ihm die Möglichkeit geraubt habe, »jemals ein Lausbub zu sein«. Und in der Tat war Oppenheimer nicht wie andere Kinder, scheute die wilden Spielereien seiner Altersgenossen, tat sich vielmehr mit Strebsamkeit, Wissenshunger und Lerneifer als Klassenprimus in der Schule hervor. Zu jener Zeit stellte er bereits sein naturwissenschaftliches Talent unter Beweis, als er in der dritten Klasse Privat­ unterricht von einem Chemielehrer erhielt. Platon und Homer las er im griechischen Original  – in seinen eigenen Worten war Oppenheimer ein »grässlich guter Junge«,3 der allerdings auch die erbarmungslosen Hänseleien und Demütigungen seiner Mit­ schüler zu ertragen hatte. 94 

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Oppenheimer war strebsam, hochintelligent und in vielerlei Hinsicht wissbegierig und talentiert, zu engen Beziehungen und Freundschaften aber – trotz guten Aussehens und Esprits – kaum fähig, im sozialen Leben ebenso unbeholfen wie unreif. Diese beiden Wesensstränge sollten sich auch in Oppenheimers »verlängerter Adoleszenz«4 weiter ausprägen – und bald schon schwer neurotische Züge annehmen. Im September 1922 begann er sein Bachelorstudium in den Fächern Physik, klassische Philologie und Chemie an der Elite­ universität in Harvard. Seinen Kommilitonen war der 19-Jährige auch hier bald haushoch überlegen; dass er drei Jahre später sein Studium mit »summa cum laude« abschloss, mochte wohl kaum jemanden überrascht haben. Während sich sein naturwissenschaftliches Talent vorzüglich entwickelte, war Oppenheimer in sozialer Hinsicht zunehmend frustriert: »Ich war immer äußerst unzufrieden. Ziemlich unsensibel gegen andere Menschen, und den Realitäten dieser Welt gegenüber verhielt ich mich ziemlich arrogant.«5 Gleichaltrigen Freunden, die heirateten oder Kinder bekamen, begegnete er mit Neid und Missgunst, aber auch mit Bewunderung. Seinen Schwermut brachte er in Gedichten zum Ausdruck, die vorwiegend von Traurigkeit und Einsamkeit handelten. Und auch seinen Mitmenschen – manche hielten ihn für gänzlich »verrückt« – blieb das Depressive in Oppenheimers Wesen nicht verborgen. Oppenheimer hatte sich entschlossen, der Chemie wie auch den USA den Rücken zu kehren, als er im Herbst 1925 eine Forschungsstelle im Bereich der experimentellen Physik am Cavendish Laboratory im englischen Cambridge annahm. Es mag seiner inneren Anspannung und Verwirrtheit zusätzlich Auftrieb verliehen haben, dass er keine rechte Freude an der praktischen Labor­arbeit fand, sich vielmehr von Niels Bohrs theoretischer Physik und von der gerade erst begründeten Quantenmechanik Max Borns und Werner Heisenbergs angezogen fühlte, die in Europa gerade eine »heiße Zeit« erlebte.6 Panische Angst vor dem Scheitern, sogar Selbstmordgedanken kamen auf, sein schizophrener Geisteszustand drohte zu eskalieren: Den Studienleiter des Labors versuchte er der Legende nach mit einem vergifteten Apfel zur Strecke zu bringen. Mutter Ella schickte ihren Sohn daraufhin zu einem angesehenen Psychiater nach Paris, der mit dem verstörRoland Hiemann und Robert Lorenz  ■  J. Robert Oppenheimer

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ten Oppenheimer nichts Besseres anzufangen wusste, als ihm eine Frau und eine »Kur mit Aphrodisiaka«7 zu empfehlen. Doch die Zukunft versprach Besserung. Weder ein Psychiater noch eine Frau sollten Oppenheimer die erhoffte Erlösung bringen. Es war wohl die Lektüre von Marcel Prousts Roman »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«, ein »existentieller Text, der zu seiner aufgewühlten Seele sprach«.8 Wie auf einen Schlag fühlte er sich nicht mehr allein und nun auch fähig, emotionale Bindungen einzugehen. Das sollte Oppenheimer schon sehr bald unter Beweis stellen und auch seinen Durchbruch als Wissenschaftler feiern – dies nicht irgendwo und irgendwann, sondern im europäischen Herzen der theoretischen Physik auf dem Höhepunkt der Quantenrevolution. Nach Göttingen war der erst 22-Jährige auf Einladung Max Borns gekommen, um an dessen weltweit renommiertem Insti­ tut für Theoretische Physik zu promovieren.9 Oppenheimer war schier begeistert von Göttingen. An einen Freund schrieb er: »Göttingen würde Dir gefallen, glaube ich […] Die Naturwissenschaften sind hier viel besser als in Cambridge, & im Ganzen vermutlich besser als irgendwo sonst.«10 Er studierte und arbeitete mit namhaften Physikern wie den Nobelpreisträgern Heisenberg und James Franck oder den etwa gleichaltrigen Pascual Jordan und Paul Dirac. Hier konnte er sich mit den Größen seines Faches messen – und sich gleichsam von der breiteren Masse seiner Kommilitonen durch die ihm eigene Großspurigkeit und Exzentrik, die von seinem Doktorvater Born wohlwollend toleriert wurde,11 abgrenzen. In diesem Umfeld fühlte er sich jedenfalls sichtlich wohl und stürzte sich in die Arbeit. In nur wenigen Monaten veröffentlichte er ganze sieben quantentheoretische Fachaufsätze von teils bahnbrechender Bedeutung und fertigte seine Dissertation über die »Quantentheorie kontinuierlicher ­Spektren« an, die mit Auszeichnung überzeugte. Doch nicht nur das: In der Kleinstadt an der Leine fand Oppenheimer auch rasch sozialen Anschluss, knüpfte einige dauerhafte Freundschaften und machte sogar erste ernsthafte Bekanntschaft mit dem weiblichen Geschlecht. »In nur neun Monaten«, so Oppenheimers Biografen Kai Bird und Martin ­Sherwin, »hatte er beides erreicht: akademischen Erfolg und ein neues Selbstwertgefühl«.12 Während seiner Zeit in Deutschland hatte es der junge Nachwuchsphysiker innerhalb der Quantenmechanik bereits zu einem 96 

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weltweit bekannten Namen gebracht. Oppenheimers weiterer Weg sollte dem keineswegs Abbruch tun, im Gegenteil. Er behielt seine beachtliche wissenschaftliche Produktivität bei und nahm, nach einer weiteren Forschungsreise durch Europa, Lehraufträge in Pasadena am California Institute of Technology (Caltech) und an der Universität in Berkeley an. »Oppie« – wie er von Kollegen nun genannt wurde  – erhoffte sich, seinen in Göttingen begonnenen Weg weiterzugehen, dem »Gefängnis seiner selbst« endgültig zu entkommen.13 Das schien ihm tatsächlich zu gelingen. Unter den Studenten, die ihm bald wie Jünger folgten, errang der Dozent mit seiner liturgischen Vortragsweise und wissenschaftlichen Genialität schnell große Popularität. Seinen Lebensstil gestaltete er nun deutlich genussvoller: Er fuhr einen Sportwagen, rauchte Kette, beherrschte die Brahmanen-Sprache Sanskrit, lud seine Studenten zu Dinner und Martinis ein und wusste mit seinem hageren Äußeren und charmanten Auftreten mittlerweile auch Frauen zu im­ponieren.14 Und doch ging Oppenheimers erratisches Temperament weiterhin mit ihm durch; mit seinen hohen An­sprüchen, seiner Ungeduld und bis zum beißenden Spott reichenden Überheblichkeit trat er gerade den »durchschnittlichen Physikern« nicht selten persönlich auf den Schlips. 1939 war für Oppenheimer ein wichtiges, vielleicht einschneidendes Jahr: Er lernte seine spätere Ehefrau Katherine »Kitty« Harrison kennen und legte seine wichtigste wissenschaftliche, heute noch einflussreiche Abhandlung über die Entstehung s­chwarzer Löcher vor. Zu jener Zeit war ihm auch die Möglichkeit bewusst geworden, die gerade von Otto Hahn und Fritz Straßmann in Berlin ausgelöste Kernspaltung für den Bau einer Atombombe zu verwenden. Doch erst zwei Jahre später entschied US-Präsident Roosevelt im Wettlauf mit dem deutschen NS-Regime, die naturwissenschaftliche Atomforschung in den Dienst dieser »Wunderwaffe« zu stellen. Im ganzen Land wurden nun Atomphysiker für das »geheime Projekt« rekrutiert; um Quantenmeister Oppen­ heimer gab es dabei selbstredend kein Herumkommen. Nachdem er mit Hans Bethe, Edward Teller und anderen erstklassigen Nuklearwissenschaftlern der US-Regierung erste Berechnungen über die »kritische Masse« für eine militärisch nutzbare Kettenreaktion vorgelegt hatte, wurde Oppenheimer Ende Oktober 1942 auserkoren, die wissenschaftliche Leitung des sogenannten »Manhattan«Roland Hiemann und Robert Lorenz  ■  J. Robert Oppenheimer

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Projekts in Los Alamos zu übernehmen. Zweifel, ob er dafür der Richtige war, bestanden durchaus: Oppenheimer, im Gegensatz zu vielen seiner Mitstreiter kein Nobelpreisträger, verfügte noch nicht über die notwendige Organisations- und Verwaltungserfahrung, war zwar ein ausgezeichneter Theoretiker, aber kein Experimentalphysiker. Zudem weckte er mit seinen mehr oder weniger offenkundigen Sympathien für den Kommunismus während der dreißiger Jahre Vorbehalte gegenüber seiner politischen Loyalität. Erstere Zweifel vermochte er früh zu zerstreuen, die an seiner politischen Haltung indes nicht. Wie sich zeigte, war Oppenheimer in der Tat der richtige Mann am richtigen Ort.15 Beseelt von der monumentalen Mission, einen herausragenden Beitrag zum Gewinn des Krieges zu leisten und die Atombombe unbedingt vor den Nationalsozialisten zu ent­ wickeln, widmete er sich mit großem Tatendrang und Willensstärke einer für ihn vollkommen neuen Herausforderung. Der Erfolgsdruck war enorm. Oppenheimer zeigte unerwartetes Organisationstalent, indem er die vielen verschiedenen Forschungsarbeiten und Labore integrierte und seine meist noch sehr jungen Mitarbeiter durch natürliche Autorität und eine charismatische Aura zu Höchstleistungen anstiftete. Wie einige von ihnen später berichteten, wandelte sich ihr Chef damals von einem arroganten Exzentriker, der wenig Sinn für die »irdischen Dinge« der Forschung übrig gehabt hatte, zu einem effizienten Projektleiter, der zu koordinieren, zu motivieren und zu führen verstand. Und dennoch: Solange Oppenheimer im Dienst der US-Regierung stand, konnte er die Sicherheitsbedenken der Geheimdienste an seiner politischen Zuverlässigkeit nie ausräumen. Zusammen mit seinen vielen Bekannten aus KP-Kreisen, darunter sein Bruder Frank, wurde er die gesamte Zeit über rund um die Uhr observiert. Am 16. Juli 1945 wurde den Wissenschaftlern in der Wüste von New Mexico das »erschreckende« Ergebnis ihrer Arbeit vor Augen geführt: »Trinity«, die erste Atombombe, wurde erfolgreich ge­ zündet. »Viele Jungs, die noch nicht erwachsen sind, werden ihr das Leben verdanken«, glaubte Oppenheimer diesen gewaltigen Fortschritt der Menschheitsgeschichte rechtfertigen zu können. Wie etliche seiner Weggefährten war er noch zu jener Zeit der Ansicht, dass die verheerende Zerstörungskraft der Bombe eine abschreckende Wirkung haben und dadurch weitere Kriege verhin98 

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dern würde. Als Wissenschaftler habe man sich ohnehin aus der Diskussion über die politischen und ethischen Aspekte der Atomrüstung und deren Konsequenzen herauszuhalten.16 Die Atombombenangriffe auf Hiroshima und Nagasaki sollten schließlich nicht nur Robert Oppenheimer, sondern auch viele seiner Mitstreiter zu einem raschen moralischen Sinneswandel leiten.17 Der Chef des »Manhattan«-Projektes musste sich nun eingestehen, »Blut an den Händen zu haben«, er war innerlich zerrüttet und durchein­ ander, erneut plagten ihn Depressionen, hatte er doch die Folgen und den Missbrauch des technologischen Fortschritts, in dessen Dienst er sich blindlings gestellt hatte, offenbar völlig falsch eingeschätzt. Als »Vater der Atombombe« hatte Oppenheimer jedenfalls Ruhm und Ehre erlangt und war mit einem Schlag zur Ikone des heraufziehenden Atomzeitalters geworden. Sein Konterfei zierte das Time Magazine, Fernsehauftritte und Rundfunkvorträge folgten in großer Zahl. In Washington war er nun eine herausragende Persönlichkeit des Establishments mit einer politisch einfluss­ reichen Stimme; in die sensibelsten Staatsgeheimnisse blieb er als Berater der Atomenergiekommission (AEC) weiterhin eingeweiht. Und Oppenheimer war eitel und selbstbewusst genug, seine Popu­larität und die Nähe zur Macht zu genießen und im Zeichen seines Schuldbewusstseins einzusetzen. Er warnte die TrumanRegierung in den folgenden Jahren mehrfach vor den menschheitsvernichtenden Folgen eines atomaren Wettrüstens mit der Sowjetunion und forderte die internationale Kontrolle der Atomtechnik. Auch für seine eigene Arbeit, die er als Leiter des weltweit renommierten Institute for Advanced Studies (IAS) in Princeton seit 1947 fortsetzte, zog er Konsequenzen. Denn in der Erkenntnis, dass die Naturwissenschaften die Geisteswissenschaften dringend brauchten, um die Auswirkungen ihrer Entdeckungen besser zu verstehen, lud er nicht nur Physiker und Mathematiker an das IAS ein, sondern auch Sozialphilosophen, Historiker oder Literaturwissenschaftler.18 Als IAS-Direktor war Oppenheimer Albert Einstein nach­gefolgt und auf dem Olymp der Naturwissenschaften endgültig angekommen. Einzig der Nobelpreis fehlte noch (den er nie bekommen sollte). Doch auf die Niederungen alltäglicher Wissenschaften und physikalischer Berechnungen mochte er sich nicht mehr herabRoland Hiemann und Robert Lorenz  ■  J. Robert Oppenheimer

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lassen, nach 1950 veröffentlichte er keinen einzigen fachwissenschaftlichen Aufsatz mehr. Als wahrlich fatal wirkte sich aus, dass er seinen Ruhm als Schutzschild vor politischen Anfeindungen verstand, in die er seit den frühen fünfziger Jahren mehr und mehr geraten war. Seine Eitelkeit und demütigende Hochnäsigkeit, mit der er ihm unterlegenen Wissenschaftskollegen oft begegnet war, erwies sich als keine geeignete Umgangsform mit einflussreichen Politikern oder Geschäftsleuten. Zudem äußerte er nun offene Kritik an der Atompolitik seiner Regierung. So geriet er bald tief in den Strudel der Kommunistenhatz des FBI und verlor – nach den heute legendären Kongressanhörungen – schließlich seinen exklusiven Status als Geheimnisträger. Er wurde öffentlich gedemütigt. Erst 1963 würdigte das Weiße Haus seine Verdienste für die Wissenschaft offiziell mit dem Enrico-Fermi-Preis. Wenige Jahre später, im Jahr 1967, musste Robert Oppenheimer den Preis für seinen exzessiven Tabakkonsum bezahlen und erlag dem Kehlkopfkrebs.

Anmerkungen 1 Heuss 1951 zit. in: Walter Nissen, Göttingen gestern und heute. Eine Sammlung von Zeugnissen zur Stadt- und Universitätsgeschichte, Göttingen 1972, S. 108 (Dok. 163). 2 Siehe u. a. Bernd Stöver, Der Kalte Krieg 1947–1991. Geschichte eines radikalen Zeitalters, München 2007, S. 200–205 3 Kai Bird / Martin J. Sherwin, J. Robert Oppenheimer. Die Biografie, Berlin 2010, S. 32. 4 Ebd., S. 62. 5 Zit. in: ebd., S. 48. 6 Vgl. u. a. Werner Heisenberg, Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik, München 2006, S. 74–100; Manjit Kumar, Quanten. Einstein, Bohr und die große Debatte über das Wesen der Wirklichkeit, Berlin 2011. 7 Bird / Sherwin, S. 58. 8 Ebd., S. 63. 9 Oppenheimer wohnte in der Villa eines Arztes in der Geismarlandstraße 1. Es mag die Ironie der Geschichte sein, dass der spätere »Vater der Atombombe« sein Domizil in direkter Nähe zum heutigen Hiroshimaplatz hatte. Vgl. Jörn Barke, »Vater der Atombombe wohnte am Hiroshimaplatz«, in: Göttinger Tageblatt, 05.08.2011, URL: http://www.goettinger-tageblatt.de/ Nachrichten/Goettingen/Dossiers/Goettinger-Zeitreise/Vater-der-Atom bombe-wohnte-am-Hiroshimaplatz [eingesehen am 22.11.2011].

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10 Zit. in: Bird / Sherwin, S. 68. 11 Vgl. Nancy T. Greenspan, Max Born. Baumeister der Quantenwelt. Eine Biografie, Heidelberg 2008, S.  154 ff.; Abraham Pais / Robert P. Crease, J. Robert Oppenheimer. A Life, Oxford 2006, S. 11. 12 Ebd., S. 79. 13 Ebd., S. 82. 14 Ebd., S. 106. 15 Vgl. dazu u. a. Richard Rhodes, Robert Oppenheimer, King of the Hill, in: Cynthia C. Kelly (Hg.), Oppenheimer and the Manhattan Project. Insights into J. Robert Oppenheimer, »Father of the Atomic Bomb«, New Jersey 2006, S. 15–23. 16 Vgl. Bird / Sherwin, S. 283. 17 Vgl. dazu u. a. Christian Forstner, Für eine öffentliche Kontrolle der Atomforschung: Die Federation of American Scientists, in: Ulrich Bartosch u. a. (Hg.), Verantwortung von Wissenschaft und Forschung in einer globalisierten Welt. Forschen – Erkennen – Handeln, Berlin 2011, S. 257–263; Jost Herbig, Kettenreaktion. Das Drama der Atomphysiker, München / Wien 1976, S.  281 f.; Carl Friedrich von Weizsäcker, Der bedrohte Friede. Politische Aufsätze 1945–1981, München 1984, S. 184. 18 Vgl. Bird / Sherwin, S. 372.

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Max Planck Göttinger im Geiste von Lars Geiges

Mit einem Jeep kam Max Planck nach Göttingen. Sie waren die gut zweihundert Kilometer durch das zerbombte »Großdeutsche Reich« gefahren, das es nun nicht mehr gab. Von Rogätz an der Elbe, wo Planck mit seiner Frau Marga die letzten beiden Kriegsjahre verbracht hatte, in die weitgehend unzerstörte Universitätsstadt. Planck, mittlerweile 87-jährig, war ein alter Mann. Es war der 16.  Mai 1945, als sie Göttingen erreichten. Am Steuer des Jeeps saß ein Amerikaner, der Astronom Gerard P. Kuiper. Er war nach Rogätz nahe Magdeburg aufgebrochen, um Planck abzuholen. Die beiden waren befreundete Kollegen. Vermutlich fuhr er aber auch los, um den Welt-Physiker und Nobelpreisträger aus dem sowje­tischen Einflussgebiet in den Westen zu überführen – eine Auftragsarbeit der US-Geheimdienste, die so­genannte »­A lsos-Mission«.1 In Göttingen angekommen kam Max Planck bei seiner Nichte unter, bei Hildegard Seidel im Haus in der Merkelstraße  12, im schönen Ostviertel. Doch seine Bleibe war karg: zwei kleine Zimmer, kaum Essen, es war kalt und Planck schmerzten die Gelenke, eine chronische Arthrose. Wer heute in den Briefen seiner Ehefrau liest, erkennt dennoch: Die Plancks waren sehr froh, in dieser Zeit in Göttingen sein zu dürfen.2 Mehr noch als das: Nur wenige Monate später lobte Planck die Stadt auffällig überschwänglich. Göttingen sei ihm »Zufluchtsort«, sagte er in einem Gespräch mit dem 102 

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Nordwestdeutschen Rundfunk.3 Hier habe er eine geistige Welt gefunden, die er sonst nirgends mehr finden würde, schwärmte er, denn alles habe sich verändert. Für ihn stehe fest: »Göttingen ist eigentlich meine geistige Heimat.« Eine schöne Wendung, gewiss, wohl aber auch eine Über­ höhung. Planck wurde 1858 in Kiel geboren. Er wuchs auf und studierte in München. Er forschte und lehrte sein Leben lang vor allem in Berlin. Dem konservativen Familienmensch mag der Gedanke gefallen haben, seine letzten Jahre in der Geburtsstadt seines Vaters zu verbringen. Dass er überhaupt in die Leinestadt kam, war aber auch dem Zufall geschuldet, einigen alten Verbindungen – und eben einer Jeep-Fahrt hierhin. Göttinger war er jedenfalls nicht. Beinahe auf den Tag genau zwei Jahre nach seinem Radio­ interview starb Max Planck, am 4. Oktober 1947. Bei seiner Trauerfeier war die Albani-Kirche voll besetzt. Man nahm im großen Stil Abschied. Planck wurde auf dem Stadtfriedhof beigesetzt. 2006, zum 125-jährigen Bestehen des Friedhofes, wurde das »NobelRondell« errichtet, das an ihn sowie an andere Göttinger Nobelpreisträger erinnert. Zudem ist das Gymnasium am Theaterplatz nach ihm benannt und es gibt heute vier Max-Planck-Institute in der Stadt. Sein Name gehört folglich fest zum Stadtbild. Göttingen ist stolz auf Planck. Das sind sie aber auch in Kiel, München und Berlin. Planck schmückt – und das ist verständlich, denn er revolutionierte die Physik. Er stürzte bisher Dagewesenes, stellte ein Weltbild auf den Kopf, öffnete seinem Fach das Tor in ein bisher unbekanntes Erkenntnisgebäude, das nur dank seiner Forschung Wissenschaftler nach ihm ausleuchten konnten. Planck hat in seiner Theorie über Wärmestrahlung nachgewiesen, dass Energie nicht kontinuierlich fließt, sondern in winzigen Paketen, zu deren Berechnung er die Größe namens »h« erfand. Wie sich später herausstellte, war »h« eine Naturkonstante, ein kaum fassbar kleines Wirkungsquantum, das beispielsweise von einer Fahrradglühbirne in einer einzigen Sekunde vier Quintilliarden Mal erreicht wird. Und mit »h« hatte Planck bewiesen, dass das bis dahin in der unsichtbaren Welt der Atome als unverrückbar geltende Gesetz von Ursache und Wirkung seine Gültigkeit verloren hatte. Dabei war Planck kein wissenschaftlicher Revoluzzer. Er konnte zunächst selbst nicht glauben, was er da herausgefunden hatte. Er Lars Geiges  ■  Max Planck

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tat sich schwer, haderte, prüfte seine Formeln wieder und wieder und musste dennoch einsehen, dass seine Beschreibungen korrekt waren. Es musste so sein. Die Ergebnisse waren unumstößlich. 1900 stellte er sie vor. Die Quantenphysik war begründet. Den Nobelpreis dafür erhielt Planck 1918. Dabei war es nicht selbstverständlich, dass Max Planck Physiker wurde. Er war ein vielseitiger, ausgezeichneter Schüler. Auf dem Münchener MaximiliansGymnasium galt er als Liebling seiner Lehrer und Mitschüler, als »klarer, logischer Kopf«, der »etwas Rechtes« zu werden versprach.4 Regelmäßig erhielt er den Schulpreis in Religionslehre. Auch die Sprachen interessierten ihn, was zur Familie passte, die mehrheitlich aus Theologen, Philologen und Juristen bestand. Planck sagte später einmal: »Ich bin wohl der Einzige, der aus der Art gesprungen ist«5, denn die Musik schien seine eigentliche Bestimmung zu sein. Planck war ein Naturtalent, ein Hochbegabter. Er besaß das absolute Gehör, spielte Klavier, Orgel, Cello und Zither, sang in den Knabenchören der großen Oratorien. Er komponierte Lieder für Theaterstücke, die in bürgerlichen Kreisen befreundeter Familien zum Gefallen der eigenen Eltern aufgeführt wurden. Während des Studiums war er Mitglied im Akademischen Gesangverein, deren Chormeister, Komponist und Solist. Und in den Gottesdiensten seiner Studienkirche spielte er zeitweise Orgel. Es waren Mozart, Bach und Beethoven, die ihn inspirierten – ganz besonders mochte er allerdings die Musik von Schubert und Brahms. Sie waren ihm Ausgleich und Entspannung, das Musizieren eine unverzichtbare Erholung. Wobei die Musik keinesfalls nur um ihrer selbst Willen ausgeübt wurde: Planck betrieb sie ernst und anspruchsvoll.6 Mit der Genauigkeit eines Wissenschaftlers saß er bis ins hohe Alter jeden Nachmittag exakt eine Stunde am Klavier, ein fester wie unverrückbarer Bestandteil eines jeden Arbeitstages. Hinzu kamen die Abendgesellschaften. Planck war ausgesprochen gastfreundlich, ein aufgeschlossener Familienmensch, der gern zu sich einlud. Mit den Physiker-Kollegen Otto Hahn, ­Gustav Hertz und Wilhelm Westphal sang er gemeinsam in einem Chor. Sie nannten sich der »Heisere Fasan«. Planck spielte mit Albert Einstein (Violine)  und Sohn Erwin Planck (Cello) und bat zudem immer wieder namhafte Musiker zu sich. An solchen Abenden verband sich für Planck alles von Bedeutung: Wissenschaft, 104 

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Musik, Familie. Die Grenzen verschwammen. Es waren symbiotische Abende. Plancks Karriere verlief rasch: Physikstudium, Promotion, Habilitation, 1885 Berufung an die Kieler Universität. Er war da gerade einmal 27 Jahre alt. An manchen Stellen halfen Kontakte des Vaters. Johann Julius Wilhelm Planck war ein angesehener Jura­ professor. Gleichwohl stand Plancks Ausnahmekönnen nie infrage. 1887 heiratete er Marie Merck, Tochter des Münchner Bankiers Heinrich Johann Merck. Die beiden bekamen vier Kinder: Sohn Karl, die Zwillingstöchter Emma und Grete und Sohn Erwin. 1889 wurde Planck an die Friedrich-Wilhelms-Universität nach Berlin berufen. Wenig später folgte die Aufnahme in die Preu­ ßische Akademie der Wissenschaften, eine der bekanntesten Wissenschaftsadressen Europas. Planck zog mit seiner Familie in ein Haus an der Wangenheimstraße in Grunewald. Ein Villenviertel, in welchem Gelehrte wie der Historiker Hans Delbrück, der Theologe Adolf von Harnack und der Mediziner Karl Bonhoeffer lebten, mit denen er sich anfreundete. Er fühlte sich wohl in diesem Milieu der Denker. Spätestens zu dieser Zeit war Planck endgültig in der wissenschaft­ lichen Elite angekommen.7 Er sollte von da an immer ein Forscher von Weltruhm bleiben, doch änderten sich nun die Umstände auf eine kaum vorstellbare Weise, denn in nur zehn Jahren starben seine erste Ehefrau Marie 1909, sowie drei der vier Kinder: die Töchter Grete (1917) und Emma (1919) starben bei der Geburt ihres jeweils ersten Kindes, sein Sohn Karl fiel 1916 vor Verdun – ein unfassbarer Verlust. Hinzu kamen die »Tage des nationalen Unglücks«, wie Planck damals sagte: die Kapitulation des Kaiser­ reiches, der Bedeutungszerfall der deutschen Wissenschaft nach dem Krieg und die Novemberrevolution. Planck litt. Für ihn brachen Selbstverständlichkeiten zusammen. Dabei hatte er im Sommer 1914 wie so viele andere die deutsche Mobilmachung freudig begrüßt. »Welch herrliche Zeit ist es, die wir erleben«, schrieb er seinem Schwager. Er beschwor während einer Universitätsfeier das »sich nun wendende Blatt der Welt­geschichte« und, »dass es um Gut und Blut, um die Ehre und vielleicht um die Existenz des Vaterlandes gehen« würde.8 Zudem gehörte Planck zu den Unterzeichnern des »Aufrufs an die Kulturwelt«, gedacht als ein Signal an den Feind im Ausland. Seine BotLars Geiges  ■  Max Planck

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schaft: Die deutsche Bildungselite steht unverbrüchlich zu ihrem Militär.9 Auch wenn sich Plancks Töne rasch mäßigten: Ein Demokrat war er nicht. Planck war deutschnational, ein staatstreuer Monarchist, ein Reaktionär, ein Mann der Pflicht und Ordnung. Er trat 1919 in Stresemanns Deutsche Volkspartei ein, unterstützte ihr Programm, auch wenn er das allgemeine Wahlrecht nur zähneknirschend akzeptierte. Er war sich sicher, Politik könne man, genauso wie die Wissenschaft, nur mit Sachverstand behandeln. Und den besäßen die Massen schlichtweg nicht.10 Gleichzeitig begann für Planck eine Zeit des Wiederaufbaus. Seine Überzeugung, wonach die deutsche Wissenschaft Welt­ geltung besitze, trieb ihn an. Bereits während des Krieges hatte er alles darangesetzt, persönliche internationale Kontakte nicht abreißen zu lassen und auch im Inland keine Forscher zu verlieren. Beispielsweise verhinderte er eine Initiative zum Ausschluss von Akademie-Mitgliedern aus den »Feindländern«, denn für Planck galt: Wissenschaftler waren Kulturträger. Sie seien allein der Wahrheitssuche verpflichtet, gänzlich unpolitisch und un­ parteiisch, was sie wiederum vom politischen Geschehen enthob. Davon war er zutiefst überzeugt. Es prägte sein Handeln. Eine Weltschau, die zwangsläufig zu Konflikten führen musste. Planck, der wortmächtige Wissenschaftsorganisator, wurde 1926 emeritiert, behielt aber etliche universitäre Verpflichtungen. 1930 wurde er Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, bekam damit noch mehr Verantwortung, auch politische. Und im Mai 1933 sprach er bei Adolf Hitler vor. Wenn es stimmt, was Planck 1947 – genau 14 Jahre später – über seine Audienz in der Reichskanzlei berichtete, dann hatte Hitler Planck barsch abgewatscht.11 Er nannte ihn einen »armen Wirrkopf« und schmiss ihn wütend hinaus. Planck hatte sich für den Verbleib des renommierten Chemienobelpreisträgers Fritz Haber am Institut starkgemacht. Haber war Jude, der im Zuge des »Arierparagraphen« gehen sollte. Doch Planck hatte keine Chance. Entnervt kündigte Haber, einst Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg und ausgewiesener Giftgasexperte, trotz aller Bemühungen Plancks wenige Wochen später von sich aus und ging in den Ruhestand. Planck war verzweifelt. Er sorgte sich um die Qualität der deutschen Forschung. Brillante Köpfe verließen Berlin. Zuvor hatte er schon Albert Einstein nahelegen 106 

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müssen, die Akademie von sich aus zu verlassen. Einstein, auch jüdischen Glaubens, hatte vom Ausland aus gegen »die Akte brutaler Gewalt und Bedrückung«12 in Deutschland protestiert. Er hoffte auf Unterstützung von Planck, seinem Freund und Mentor. Doch der lehnte eine sofortige Rückkehr wegen des »Fall Einsteins« aus seinem Urlaub in Italien ab. Auch weil Planck fortblieb, war Einstein unhaltbar geworden. Er musste Berlin verlassen. Wenige Wochen später lobte Planck Einsteins Bedeutung. Er müsse dies sagen, erklärte Planck, damit die Nachwelt nicht auf den Gedanken komme, »dass die akademischen Fachkollegen nicht im Stande waren, seine [Einsteins, d.V.] Bedeutung für die Wissenschaft voll zu begreifen«.13 Dies öffentlich zu sagen, war ihm wichtig. Am Institut kam es nun vermehrt zu Angriffen nationalsozialistischer Mitarbeiter auf Juden, die Planck diplomatisch zu lösen versuchte. Er setzte darauf, die Nazi-Beschlüsse nur halbherzig umzusetzen. Er versuchte, auf Zeit zu spielen, verschleppte, ver­zögerte, auch bei der Durchsetzung des »Beamtengesetzes«. Vor allem aber leistete er Hilfe im Einzelfall, wofür er selbst immer wieder angefeindet wurde. Planck intervenierte für Spitzenforscher wie den Biochemiker Carl Neuberg, für seine langjährige ­Assistentin Lise Meitner und den Physiologen und Nobelpreisträger Otto Meyerhof sowie auch für andere Mitarbeiter. Die Resultate waren stets dürftig: Aufschub, Zeitgewinn, Verzögerung. Mehr nicht. Die »Gleichschaltung« funktionierte. Offenen Wider­ stand lehnte Planck indes ab. Er war ausdrücklich gegen Protestschreiben, wie sie Otto Hahn im Sommer 1933 vorgeschlagen hatte. Planck dazu: »Wenn heute 30 Professoren aufstehen […], dann kommen morgen 150 Personen, die sich mit Hitler solidarisch erklären, weil sie die Stellen haben wollen.«14 Kein Nazi, aber auch keine Auflehnung: Es bleibt der Eindruck, dass Plancks Solidarität auf das Fach begrenzt war. Damit steht er gewiss stell­ vertretend für das Versagen deutscher Eliten insgesamt. Erschüttert nahm Planck von der Verhaftung seines Sohnes Kenntnis. Erwin Planck war – anders als sein Vater – im Widerstand aktiv. Er soll am Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 beteiligt gewesen sein. Tatsächlich stand sein Name auf Carl Friedrich Goerdelers Liste von Anhängern, die nach einem erfolgreichen Umsturz Ämter übernehmen könnten. Es darf als wahrscheinlich gelten, dass Vater Max vieles wusste und billigte. Vater und Sohn Lars Geiges  ■  Max Planck

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standen sich sehr nahe, gingen regelmäßig wandern und schrieben einander. Max Planck war zu dieser Zeit als eine Art »Wander­ prediger«15 unterwegs, hielt gut besuchte Vorträge u. a. über Religion und Naturwissenschaft. Seine Akademie war da längst auf das »Führerprinzip« umgestellt. Die flehenden Gnadengesuche des Vaters an Hitler und Himmler waren vergeblich. Die Nazis töteten Erwin Planck am 23.  Januar 1945 in Berlin-Plötzensee. In einem Brief schrieb Max Planck an seinen Freund und Kollegen Arnold Sommerfeld, dass man ihn »seines nächsten und besten Freundes beraubt« habe. Der Schmerz sei nicht mit Worten auszudrücken. Und er fügte hinzu: »Ich ringe nur um die Kraft, mein zukünftiges Leben durch gewissenhafte Arbeit sinnvoll zu gestalten.« Sein Haus im Grunewald war da längst ausgebombt und Planck bereits auf der Flucht.

Anmerkungen 1 Vgl. Dieter Hoffmann, Max Planck. Die Entstehung der modernen Physik, München 2008, S. 106. 2 Vgl. ebd., S. 107 f. 3 Vgl. Heino Landrock, Gespräch mit Geheimrat Max Planck, NWDR, 05.10.1945. Das Radiogespräch im Originalton ist online nachzuhören in der Mediathek des NDR unter http://www.ndr.de/land_leute/norddeutsche_ geschichte/maxplanck4.html [zuletzt eingesehen am 24.11.2011]. 4 Zit. in: Hoffmann, S. 10. 5 Max Planck, Selbstdarstellung, 1942, Audio-CD-Beilage, in: Lorenz Friedrich Beck (Hg.), Max Planck und die Max-Planck-Gesellschaft. Zum 150.  Geburtstag am 23. April 2008 aus den Quellen zusammengestellt, Berlin 2008. 6 Vgl. Lorenz Friedrich Beck, Max Planck im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: ders., 2008, S. 22. 7 Zu Plancks wissenschaftsorganisatorischer Tätigkeit Dirk Ullmann, Max Planck als Wissenschaftsorganisator im Spiegel der archivalischen Über­ lieferung, in: Physikalische Blätter 53 (1997), S. 107 f. 8 Hoffmann, S. 71. 9 Ob Planck das Papier persönlich unterzeichnete, jemanden damit beauftragte oder er gar nichts von der Unterzeichnung und dem Inhalt des Aufrufs wusste, ist in der Forschung umstritten. Dazu vgl. Beck, Max Planck im Kaiserreich, S. 29. 10 Vgl. Astrid von Pufendorf, Die Plancks. Eine Familie zwischen Patriotismus und Widerstand, Berlin 2007, S. 161. 11 Es gibt in der Forschung einen Streit über den Wert der Quelle. Planck hatte 1947 einen Bericht über das Treffen mit Hitler verfasst und in den »Physi­

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kalischen Blättern« veröffentlicht. Der Artikel hatte lange Zeit als Beleg seines Widerstands gegolten. Forscher kritisieren ihn wegen des zeitlichen Abstands und wegen des hohen Alters des Autors beim Verfassen – Planck war 89 Jahre alt – als höchst subjektiv. Dazu Eckart Henning, Max Planck im »Dritten Reich«, in: Beck, 2008, S. 37 f. 12 Zit. in: Hoffmann, S. 86. 13 Henning, S. 43. 14 Ebd., S. 41. 15 John L. Heilbron, Max Planck. Ein Leben für die Wissenschaft 1858–1957, Stuttgart 1988, S. 185.

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Carl Friedrich von Weizsäcker Vom Diktator zum Friedensphilosophen von Robert Lorenz

Vom Physiker zum Philosophen, das ist nicht gerade ein konventioneller Werdegang eines Gelehrten. Doch es war der Weg, den Carl Friedrich von Weizsäcker ging. Die Unstetigkeit des Freiherrn hatte eine entscheidende Quelle: sein Ehrgeiz. Jahrzehntelang befand sich der Sprössling einer der bedeutendsten Familien Deutschlands auf der Suche nach einem Metier, in dem er eine Spitzenposition einnehmen, gewissermaßen zum Star avancieren konnte. Es sollte allerdings bis in die siebziger Jahre dauern, als er endlich eine geeignete Nische fand und besetzte. Alles begann in »Piklön«.1 So nannte von Weizsäcker eine komplexe Fantasiewelt, die er im zarten Knabenalter kreiert hatte, um dort mit Freunden und Familienmitgliedern Politik zu spielen. So gesehen erscheint es geradezu logisch, dass die Welt ihn als »Friedensphilosophen«2 kannte, als er im April 2007 im Alter von 94 Jahren verstarb. Der ältere Bruder des früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zählt unzweifelhaft zu den honorabelsten Köpfen der deutschen Nachkriegsgeschichte. Doch bis dahin hatte er einen langen Weg beschreiten müssen – durch die Weimarer Republik, das »Dritte Reich« und schließlich die Bonner Republik. Dabei begann er seine berufliche Karriere als Physiker, er lehrte in späteren Phasen seines Lebens aber auch Astronomie und Philosophie – stets als Professor. Wie erklärt sich diese beeindruckende, zugleich verworrene Laufbahn? 110 

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Jener Charakter, den der junge Carl Friedrich in Piklön mimte, trug nach der Auffassung seines Vaters, dem deutschen Spitzendiplomaten Ernst von Weizsäcker, Wesenszüge des italienischen Diktators Benito Mussolini. Kaum, dass er dem Grundschul­a lter entwachsen war, vertiefte er sich in die Literatur und blätterte in wissenschaftlichen Fachzeitschriften.3 Ergriffen las er im Alter von elf Jahren die Bergpredigt, drei Jahre zuvor hatte er sich bereits von den Geheimnissen des Himmelsfirmaments faszinieren lassen. Innerlich sehnte er sich während seiner Kinder- und Jugendjahre danach, wie sein Vorbild Augustus in autokratischer Herrschaft der heftig zerstrittenen Welt eine Ordnung zu geben und Frieden über sie zu bringen. In von Weizsäcker paarten sich überdurchschnittliche Intelligenz und ein gesunder Ehrgeiz, woraus ein selbstbewusstes Statusstreben erwuchs. Richtungsweisende Bedeutung für von Weizsäckers zukünftige Karriere hatte ein Zusammentreffen mit Werner Heisenberg, seinerzeit einer der verheißungsvollsten Nachwuchsphysiker am Vorabend des Atomzeitalters, das wenig später mit der Entwicklung der Quantenmechanik, der Spaltung des Atomkerns, schließlich der Atombombe über die Menschheit hereinbrechen sollte. Heisenberg lockte von Weizsäcker mit der Aussicht auf eine große Karriere in der Physik,4 die sich damals, in den zwanziger Jahren, durch geniale Protagonisten wie Albert Einstein oder Niels Bohr in einer Sturm- und Drangzeit befand. Eine bahnbrechende Entdeckung jagte die andere.5 Ganz zweifellos ließ sich dabei trefflich Karriere machen. Und so kam es auch: Von Weizsäcker stieg rasant auf, promovierte 1933 bei Heisenberg, habilitierte sich drei Jahre später im Alter von 24 Jahren.6 Wissenschaftliche Arbeit fand er anschließend nicht etwa in den niederen Rängen der Universität, sondern an elitären Kaiser-Wilhelm- bzw. Max-Planck-Instituten, allzeit umgeben von weltbekannten Nobelpreisträgern und heißblütigen Nachwuchsforschern. Doch war dies zugleich ein Problem. Von Weizsäcker bemerkte schnell, dass er in solch einem konkurrenzträchtigen Umfeld, unter der Ägide unerreichbarer Überväter wie Heisenberg oder mindestens ebenbürtiger Mitschüler wie Karl Wirtz, nicht weit kommen, nicht zur Spitze seiner Profession aufzuschließen im Stande sein würde.7 Zwar zählte man auch ihn schnell zur Phy­ sikerelite, handelte man seinen Namen bisweilen sogar für den Robert Lorenz  ■  Carl Friedrich von Weizsäcker

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Nobelpreis. Doch schien er aus dem Schatten seiner Kollegen nicht heraus­treten zu können. Er ahnte wohl, dass sein Talent niemals an den mathematischen Genius Heisenbergs heranreichen würde. Dann jedoch eilte ihm, unbewusst und zufällig, Otto Hahn zur Hilfe. Der emsige Chemieprofessor spaltete 1938 an seinem Experimentaltisch erstmals in der Menschheitsgeschichte einen Atomkern. Damit lag auch der Bau einer Atombombe nicht mehr in allzu weiter Ferne. Von Weizsäcker witterte darin eine poli­tische Zäsur, besaß eine solche Waffe doch theoretisch die Zerstörungs­k raft, um die gesamte menschliche Spezies auszu­ löschen. Im Gefolge Heisen­bergs nahm von Weizsäcker während des Krieges am deutschen Atomforschungsprogramm teil,8 das sich an der Entwicklung eines »Uranbrenners«, eines energieerzeugenden Reaktors, versuchte. Dadurch verfügte er stets über die neuesten Informationen der Atomtechnologie. Die Kriegsjahre verbrachte er an der Reichsuniversität Straßburg, an der er Astronomie lehrte. Längst aber konzentrierte er sich auf die politischen Konsequenzen von Atombomben. Statt an Heisenbergs Seite am Uranbrenner zu tüfteln, durchdachte er die weltpolitische Problematik nuklearer Sprengkörper. Mit Kollegen und Freunden diskutierte er darüber, machte sich Gedanken, wie die Menschheit mit einer Situation zurechtkommen könnte, in der militärisch aggressive Staaten über ein derart unvorstellbares Vernichtungspotenzial verfügten. Im August 1945 sah sich die Weltöffentlichkeit schließlich mit den schrecklichen Folgen von militärisch gebrauchter Atom­energie konfrontiert, die sich finster in der Zerstörung der japa­nischen Großstädte Hiroshima und Nagasaki offenbarte. Die schockierenden Bilder dieser tragischen Ereignisse deuteten an, welch existenzielle Bedrohung sich hinter der Verbreitung von Kernwaffen verbarg. Und auch die Sowjetunion stand kurz davor, zur Atommacht aufzusteigen. Dies war von Weizsäckers Chance. Im Zeitalter der Atombombe benötigte die Welt Modi der friedlichen Koexistenz; denn ein Atomkrieg drohte mit allumfassender Vernichtung von Flora und Fauna zu enden. Im Unterschied zu vielen seiner Kollegen dachte von Weizsäcker darüber nach, wie man mit dem Problem der nuklearen Proliferation umgehen könnte. Weltpolitische Entspannungs- und Abrüstungskonzepte – das waren jene Kom112 

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plexitäten, die ihn nun begeisterten, seinen politischen und philosophischen Geist anregten und mit denen er sich in Zukunft professionell auseinanderzusetzen gedachte. Die Kernphysik bot ihm keine Aufstiegsmöglichkeiten mehr, dafür jedoch eine geeignete Wissensbasis für das auserkorene Themenfeld. Als Atomphysiker war er Insider und Experte, als Vertrauter Heisenbergs, mit dem er 1946 von den Briten nach Göttingen gebracht worden war, hatte er sein Ohr weiterhin an den aktuellen Entwicklungen der Atomforschung. Seine Grundthese war zugleich die Rechtfertigung für sein Handeln: Der Naturwissenschaftler trage nunmehr eine unleugbare politische Ver­ antwortung, den Umgang mit seinen Forschungsergebnissen zu kontrollieren, sie aufgrund ihrer Tragweite nicht ohne Weiteres den machtorientierten, mitunter skrupellosen Politikern und Militärs zu überlassen.9 Wissenschaftler, so folgerte er, müssten daher in die Politik eingreifen, die dort getroffenen Entscheidungen mit Skepsis überprüfen und gegebenenfalls Widerstand leisten. Allerdings fehlte ihm noch ein konkreter Anknüpfungspunkt, eine Gelegenheit, als Experte für die Atombombenfrage in Er­ scheinung zu treten und sich damit eine berufliche Grundlage zu schaffen. Seine politische Machtlosigkeit setzte ihm stark zu. Schon zu Zeiten der NS-Diktatur hatte er sich mit der Hoffnung getragen, als Inhaber machtgebietenden Wissens könne er dem »Führer« Adolf Hitler gegenübertreten und ihm politische Entscheidungen aufzwingen. Nach dem Krieg suchte er in Göttingen  – im Rahmen eines Gremiums zu Universitätsreformen  – Gestaltungskraft zu entfalten. All seine vergeblichen Versuche trieben ihn an den Rand einer Depression.10 In den fünfziger Jahren befand er sich bereits in seinem fünften Lebensjahrzehnt, ohne einen spektakulären Erfolg verbucht zu haben – die Zeit drängte. Derweil verließ er Göttingen, da er auf einen Lehrstuhl für Philo­ sophie in Hamburg berufen worden war. In der südniedersäch­ sischen Universitätsstadt hatte er nicht zu seinem Glück gefunden, blieb dort erfolglos und manches Mal entmutigt. Im April 1957 bot sich ihm schließlich eine Gelegenheit, die er mit Entschlossenheit ergriff. Bundeskanzler Konrad Adenauer hatte in einer Presseerklärung Atomwaffen als eine schlichte »Weiterentwicklung der Artillerie« bezeichnet  – eine erschreckende Verharmlosung. Von Weizsäcker trommelte einige seiner KolleRobert Lorenz  ■  Carl Friedrich von Weizsäcker

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gen zusammen, ließ diese einen im Wesentlichen von seiner Feder verfassten Text unterzeichnen und übermittelte ihn an Zeitungsredaktionen und Nachrichtenagenturen.11 Darin warnten insgesamt 18 Professoren der Kernphysik vor den Folgen der atomaren Waffenverbreitung und forderten eine vollständige Abstinenz der Bundesrepublik im Umgang mit nuklearen Sprengkörpern: keine Herstellung, kein Besitz, keine Verwendung. Die »Göttinger Erklärung« profitierte von der damaligen Situation; im Herbst stand die dritte Bundestagswahl bevor, es war Wahlkampf, die Gemüter erhitzt, und die ereignisarmen Osterfeiertage machten die sensationsorientierten Journalisten empfänglich für von Weizsäckers politische Aktion, die sich überdies auf so prominente Namen wie die vier Nobelpreisträger Max von Laue, Werner Heisenberg, Otto Hahn und Max Born stützen konnte. Als Initiator, Mitunterzeichner und Wortführer war von Weizsäcker schlagartig ein gefragter Mann.12 Adenauer lud ihn zu einer Aussprache ins Kanzleramt. Binnen kürzester Zeit verhalf ihm die Manifestation zu Prominenz, mehrte seine Reputation als gedankenschwerer Atomwaffenphilosoph und wies ihn als kenntnisreichen Fachmann aus. Die Evangelische Kirche holte sich bei ihm Rat; Reporter der »Zeit« suchten ihn zu Hause auf und verfassten ein Porträt über ihn; sein Konterfei zierte die Titelseite des »Spiegel«; seine Vorträge und Vorlesungen waren urplötzlich über­laufen. In den folgenden Jahren profilierte er sich weiter und übersetzte den flüchtigen Erfolg in eine verstetigte Karriere. Anfangs fertigte er in der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) Studien an, die sich vornehmlich mit der Verhütung eines apoka­lyptischen Atomkriegs befassten. Währenddessen scharte er eine kleine Zahl von gleichgesinnten Schülern um sich, mit denen er bald eine hochproduktive Gruppe bildete. Hervorragend in der Max-Planck-Gesellschaft vernetzt, schuf diese ihm schließlich 1970 ein eigenes Institut, das Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt, das fortan in einer Villa am Starnberger See residierte.13 Dort, nicht in Göttingen, hatte er seine besten Jahre, inmitten der »Weltinnenpolitik«, wie er sein Forschungsfeld selbst nannte. Als MPI-Direktor etablierte sich von Weizsäcker endgültig als führender Friedensforscher. Mit seinem Wirken in Wissenschaft und Politik erwarb er sich lexikalische Bedeutung. Als er 2007 verstarb, 114 

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trauerte die Öffentlichkeit um den »letzten universal gebildeten Gelehrten im deutschen Sprachraum«,14 den »Mystiker der europäischen Geistesgeschichte«.15

Anmerkungen 1 Vgl. Arne Schirrmacher, Wiederaufbau ohne Wiederkehr. Die Physik in Deutschland nach 1945 und die historiographische Problematik des Remigrationskonzepts, Arbeitspapier des Münchner Zentrums für Wissenschafts- und Technikgeschichte, 2005, S.  7 f.; Ulrich Völklein, Die Weiz­ säckers. Macht und Moral  – Porträt einer deutschen Familie, München 2004, S.  221 f.; Carl Friedrich von Weizsäcker, Der Garten des Menschlichen. Beiträge zur geschichtlichen Anthropologie, München 1977, S. 564 f.; ders., Wahrnehmung der Neuzeit, München 1983, S. 338 ff.; ders., Bewusstseinswandel, München 1988, S. 344. 2 Siehe z. B. Matthias Schulz, Der Zauberlehrling, in: Der Spiegel, 15.03.2010. 3 Zur Kindheit und Jugend vgl. Michael Drieschner, Carl Friedrich von Weizsäcker. Eine Einführung, Wiesbaden 2005, S.  22 ff.; von Weizsäcker, Bewusstseinswandel, S. 44 u. S. 344 f.; Völklein, S. 222 f. 4 Vgl. Völklein, S. 229. 5 Vgl. dazu Manjit Kumar, Quanten. Einstein, Bohr und die große Debatte über das Wesen der Wirklichkeit, Berlin 2011. 6 Vgl. Helmut Rechenberg, Vom Atomkern zum kosmischen Wirbel, in: Physik Journal (2002), H. 6, S. 59–61. 7 Vgl. Robert Lorenz, Protest der Physiker. Die »Göttinger Erklärung« von 1957, Bielefeld 2011, S. 267 f. 8 Zu von Weizsäckers Tätigkeit während des Zweiten Weltkriegs vgl. KlausFranke / Matthias Schulz, »Ich gebe zu, ich war verrückt« (Interview mit Carl Friedrich von Weizsäcker), in: Der Spiegel, 22.04.1991; Dieter Hattrup, Carl Friedrich von Weizsäcker. Physiker und Philosoph, Darmstadt 2004, S.  169; Jost Herbig, Kettenreaktion. Das Drama der Atomphysiker, München 1976, S.  98 f. u. S.  129 f.; Götz Neuneck, Von Haigerloch, über Farm Hall und die Göttinger Erklärung nach Starnberg. Die Arbeiten Carl Friedrich von Weizsäckers zur Kriegsverhütung, Atombewaffnung und Rüstungskontrolle, in: ders. u. a. (Hg.), Zur Geschichte der Pugwash-Bewegung in Deutschland. Symposium der deutschen Pugwash-Gruppe im HarnackHaus Berlin, 24. Februar 2006, Berlin 2007, S. 63–73, hier S. 66; Carl Friedrich von Weizsäcker, Wege in der Gefahr. Eine Studie über Wirtschaft, Gesellschaft und Kriegsverhütung, München 1976, S. 204. 9 Vgl. von Weizsäcker, Wege in der Gefahr, S. 204; ders., Der bedrohte Friede. Politische Aufsätze 1945–1981, München 1984, S. 182. 10 Vgl. von Weizsäcker, Bewusstseinswandel, S. 360 f. 11 Rudolf Heinrich / Hans-Reinhard Bachmann, Walther Gerlach. Physiker – Lehrer  – Organisator. Dokumente aus seinem Nachlaß, München 1989, Robert Lorenz  ■  Carl Friedrich von Weizsäcker

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S. 141 sowie ebd. Brief Gerlach an Brill vom 24.10.1977, Dokument Nr. 237, S.  147; Herbig, S.  465; Konrad Lindner, Carl Friedrich von Weizsäckers Wanderung ins Atomzeitalter. Ein dialogisches Selbstporträt, Paderborn 2002, S. 114–119; Hans Karl Rupp, Außerparlamentarische Opposition in der Ära Adenauer. Der Kampf gegen die Atombewaffnung in den fünfziger Jahren. Eine Studie zur innenpolitischen Entwicklung in der BRD, Köln 1980, S. 77 f. 12 Zum folgenden vgl. Lorenz, S. 277–281. 13 Vgl. hierzu Ariane Leendertz, Die pragmatische Wende. Die Max-PlanckGesellschaft und die Sozialwissenschaften 1975–1985, Göttingen 2011. 14 Manfred Lindinger, Synthesen eines Jahrhundertmannes, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.04.2007. 15 Klaus Podak, Ein aufgeklärter Mystiker, in: Süddeutsche Zeitung, 30.04.2007.

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Werner Heisenberg Der frustrierte Weltenbummler von Robert Lorenz

Wissenschaft und Politik  – diese beiden Berufs- und Tätigkeits­ felder werden gemeinhin als völlig unterschiedliche Sphären begriffen. In der Politik, so eine gängige Meinung, gehe es um Macht, Intrigen und Privilegien. In der Wissenschaft herrsche indessen ein anderes Ethos vor, das sich der Suche nach Wahrheit, nach Erkenntnisgewinn, dem Weg zu neuem Wissen verschrieben habe. In der Politik sei vieles irrational, wohingegen die Wissenschaft strenger Rationalität unterworfen sei. Der berühmte Kernphysiker Werner Heisenberg, dessen Geburtstag sich 2011 zum 110. Mal jährte und der zwischen 1946 und 1958 in Göttingen lebte, forschte und lehrte, bewegte sich an der Schwelle zwischen diesen beiden Gebieten. Dabei verhielt er sich mitunter sehr politisch, stets durchsetzungsstark und zielstrebig. Doch eigentlich präsentiert sich Heisenberg dem historischen Beobachter als ein Vertreter der Wissenschaft par excellence.1 Am 5.  Dezember 1901 in Würzburg geboren, wuchs er in München auf, wo er das elitäre Maximiliansgymnasium besuchte. Nach seinem Abitur absolvierte er eine akademische Turbokarriere: Im Alter von 21 Jahren war er 1923 promoviert, ein Jahr später hatte er sich habilitiert. Anschließend lehrte und forschte er inmitten der pulsierenden Kernphysikzentren jener Zeit: Göttingen, Kopenhagen, Leipzig und Berlin. Binnen kurzer Zeit avancierte er mit gerade einmal 26 Jahren zum jüngsten Lehrstuhlinhaber im DeutRobert Lorenz  ■  Werner Heisenberg

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schen Reich – immer der Beste, stets der Schnellste. Bereits 1932 ließ ihm die Wissenschaftswelt die honorigste ihrer Auszeichnungen zuteilwerden: den Nobelpreis für Physik. Mit seinen Formeln und Theorien gehörte Heisenberg schon in jungen Jahren zu den Urvätern der Quantenmechanik, welche die moderne Physik revolutionierte. Heisenberg war ein geradezu fanatischer Denker und Forscher.2 In seinem Genius paarten sich Fleiß und Konzentrationsfähigkeit, die ihm zu Höchstleistungen verhalfen. Kaum eine Sekunde verging an einem Heisenberg’schen Arbeitstag, an dem seine Gedanken nicht um das Atom kreisten. Wenn er dabei war, scheinbar unauflösliche Probleme zu lösen, war er von Freude und Glück erfüllt. Seine Frau Elisabeth jedenfalls musste sich damit arrangieren, dass ihr Mann in mancher Nacht schweißgebadet aufschreckte, weil ihm die naturwissenschaftlichen Gedanken wieder einmal den Schlaf geraubt hatten. Jedenfalls: Allen Erfolgen zum Trotz wollte Heisenberg forschen, immer weiter forschen. Sein »Kerngebiet« war seit Ende der dreißiger Jahre die atomare Energiegewinnung – damals der letzte Schrei der Naturwissenschaften. Während des Zweiten Weltkriegs konzentrierte er sich unablässig auf das Ziel, einen »Uranbrenner« zum Laufen zu bringen – eine Art prähistorischer Atomreaktor. Doch in den letzten Kriegs­tagen des Jahres 1945 scheiterten seine Versuche  – zu seinem Glück, denn vermutlich wäre seine Konstruktion explodiert und hätte ihn zusammen mit seinen Mitarbeitern in den Tod gerissen. Heisenberg aber entsprach trotz der genannten Marotten und seiner Genialität nie dem verbreiteten Stereotyp des selbstvergessenen, im Elfenbeinturm abgeschotteten Wissenschaftlers. Vielmehr zeigte er etliche Qualitäten, die auch zum Instrumentarium eines versierten Politikers gehören. So wusste er Rivalen  – zumeist ähnlich genial veranlagte Denker – geschickt zu sabo­tieren und konsequent aus dem Weg zu räumen. Während des Zweiten Weltkriegs nutzte er seinen Einfluss, um eine konkurrierende Forschungsgruppe des Kernphysikers Kurt Diebner daran zu hindern, die wissenschaftliche Leitung im deutschen Atomprojekt zu erlangen. Durch eine Intrige stürzte er Diebner von der Spitze des Berliner Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik und wurde selbst Direktor.3 Auch suchte er knappe Rohstoffe wie Uran von Diebner fernzuhalten; dass dieser eine Reaktorkonstruktion ausgetüftelt 118 

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hatte, die Heisenbergs Modell überlegen war, interessierte dabei nicht. In den fünfziger Jahren nutzte Heisenberg dann seine Führungspositionen in diversen Gremien und Forschungsorganisationen, um sich begabte Konkurrenten vom Leibe zu halten – und natürlich musste auch Diebner wieder büßen, der unter dem Einfluss Heisenbergs nie zu einer Professur kommen sollte. Außerdem wusste sich Heisenberg stets machtvolle Verbündete zu suchen. Im Dritten Reich wandte er sich an den »ReichsführerSS« Heinrich Himmler, um sich gegen Diffamierungen nationalsozialistisch gesinnter Wissenschaftler zur Wehr zu setzen.4 Doch ihren Höhepunkt erreichte seine wissenschaftspolitische Karriere erst in den fünfziger Jahren. Die britischen Besatzungsbehörden hatten Heisenberg nach Göttingen beordert – eine zunächst glückliche Fügung, war die niedersächsische Univer­sitätsstadt doch im Gegensatz zu den meisten anderen urbanen Gebieten vom Bombenkrieg weitgehend verschont, waren die Universitätsgebäude größtenteils unzerstört geblieben und bot sich hier ein für jene Zeit annehmliches Lebensumfeld. Dennoch befanden sich Heisen­ berg und seine andernorts gelandeten Kollegen damals in einer misslichen Situation: Viele ihrer einstigen Forschungsstätten lagen in Trümmern, obendrein betrieb man experimentelle Kernphysik inzwischen mit gigantischen Anlagen, deren Beschaffung und Betrieb Millionensummen verschlangen. Also wandte sich Heisenberg an den Regierungschef der neuen Republik, Konrad Adenauer. In kurzer Zeit avancierte er von Göttingen aus zum Chefberater des neuen Kanzlers in wissenschaftlichen Fragen.5 In seinem Haus in der Merkelstraße 18 schmiedete er Pläne für die Zukunft der westdeutschen Wissenschaft. Eine ganze Zeitlang waren die beiden ein ideales Gespann: Heisenberg, der angesehene und famose Experte, und Adenauer, der beschlagene Politiker und Machtträger. Und beide profitierten voneinander: Der Kanzler konnte seine forschungspolitischen Maßnahmen mit dem Rat Heisenbergs rechtfertigen, der Wissenschaftler auf die politische Unterstützung Adenauers hoffen. Denn der Kanzler stellte dem ambitionierten Kernphysiker ein Forschungszentrum in Aussicht. Heisenberg schwebte eine Großanlage vor, wie seine US-amerikanischen und britischen Kollegen wollte er »big science« betreiben – am liebsten in München, seiner Heimatstadt.6 Doch jäh kam alles anders. Adenauer entschied 1955 Robert Lorenz  ■  Werner Heisenberg

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gegen Heisenbergs Willen, siedelte das Zentrum bei Karlsruhe an, fernab der bajuwarischen Bergidylle, um Baden-Württemberg und vor allem der württembergischen CDU einen politischen Gefallen zu erweisen. Heisenberg lehnte daraufhin die wissenschaftliche Leitung des neuen Kernforschungszentrums ab und ging mit seinem Göttinger Institut nach München. Außerdem blieb die finanzielle Unterstützung des Bundes weit hinter Heisenbergs Erwartungen zurück. Der Kanzler und sein Finanzminister sparten in den Jahren der Wiederbewaffnung nämlich nicht für Laboratorien und Teilchenbeschleuniger, sondern für Kasernen und Panzer.7 Der einige Jahre lang beiderseits lukrative Austausch funktionierte nun nicht mehr. Heisenberg war der Politik verdrossen, hatte kein Verständnis für Adenauers politischen Kalküle und Manöver. Nun allerdings zeigten sich die politischen Qualitäten des Physikers: Heisenberg begann, die Politik der Bundesregierung bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu verunglimpfen: in Interviews, Artikeln, Reden.8 Allerorten ließ er verlautbaren, wie nachteilhaft die Wissenschaftspolitik des Kanzlers und seines Kabinetts doch für die Entwicklung des Landes sei. Darüber hinaus nahm er im Bundestag zu einer fraktionsübergreifenden Parlamentsgruppe Kontakt auf, die er für kontroverse Debatten mit reichlichen Argumenten gegen die Regierungspolitik versorgte. Kurzum: Heisenberg suchte Politik zu machen, ohne sich selbst in die Politik zu begeben, sich um die Organisation demokratischer Mehr­heiten zu scheren oder sich der Kritik der Öffentlichkeit auszusetzen. Durch persönlichen Kontakt zu entscheidungsrelevanten Personen strebte er jenseits regulärer Pfade nach Einfluss, diskreditierte politische Gegner, organisierte sich eine parlamentarische »­pressure group«. Ein reiner, gänzlich seinem Forschungsmaterial gewidmeter Wissenschaftler war er somit keineswegs. Doch wie sooft bei politischen Quer- oder Beinaheeinsteigern stärkte der Wandel zwischen den beiden Welten nicht das gegenseitige Verständnis, sondern verhärtete Vorurteile oder rief sogar Verständnislosigkeit hervor. Für Heisenberg war die Politik mitsamt ihren Protagonisten unbegreiflich behäbig, schwer verständlich, zu »objektiv« richtigen Entscheidungen nahezu unfähig. Andersherum zeigte sich Adenauer über die politischen Interventionen des Experten Heisenberg verärgert, betrachtete diesen als einen weltfernen Naivling.9 Jedenfalls: Beide waren Repräsentan120 

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ten zweier Welten, die sich in mancher Verhaltensweise zwar ähnelten, sich aber schon nach kurzer Zeit entfremdet hatten. Keiner von beiden wollte sich auf die Charakteristika, Vernunftvorstellungen und Marotten des anderen und dessen Metier einlassen. Die Gewohnheiten und Logiken beider Herkunftsbereiche, das jeweilige Streben, die vertrauten Muster auch im anderen Gebiet anzuwenden, verhinderten gegenseitiges Verständnis und vertieften das beiderseitige Misstrauen. Sein Hang zu wissenschaftlicher Rationalität sowie seine Vorliebe für die autoritäre Entscheidung hatten zur Folge, dass Heisenberg von der Politik frustriert war. Ende der fünfziger Jahre verließ der Nobelpreisträger Göttingen, in das er schließlich nur auf Geheiß der Briten gekommen war und aus dem er während seiner Jahre dort stets hatte weg­ gehen wollen.10 Es zog ihn in seine bayerische Heimat. In München fand er zudem bessere Forschungsbedingungen vor – durch seine Entscheidung verlor Göttingen daraufhin das renommierte Max-Planck-Institut für Physik, das wohl aufgrund von Heisenbergs Sehnsucht nach alpiner Idylle seither seinen Standort in München hat.

Anmerkungen 1 Zum Folgenden vgl. Ernst Peter Fischer, Werner Heisenberg. Das selbst­ vergessene Genie, München 2002, S. 92; Armin Hermann, Werner Heisen­ berg mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 2007, S.  12 f.; Gabriele Metzler, Kernphysik und Politik. Werner Heisenberg in der Wissenschafts- und Zeitgeschichte. Ein Forschungsbericht, in: Historisches Jahrbuch 115 (1995), S. 208–222, hier S. 210. 2 Zu diesem Absatz siehe Elisabeth Heisenberg, Das politische Leben eines Unpolitischen. Erinnerungen an Werner Heisenberg, München 1980, S. 23, S. 44 ff. u. S. 106 ff. 3 Vgl. vgl. Dieter Hattrup, Carl Friedrich von Weizsäcker. Physiker und Philo­soph, Darmstadt 2004, S. 31 ff. u. S. 39; Jost Herbig, Kettenreaktion. Das Drama der Atomphysiker, München 1976, S.  129 f.; Carl Friedrich von Weizsäcker, Farm Hall und das deutsche Uranprojekt. Ein Gespräch, in: Dieter Hoffmann (Hg.), Operation Epsilon. Die Farm-Hall-Protokolle oder Die Angst der Alliierten vor der deutschen Atombombe, Berlin 1993, S. ­331–360, hier S. 332, S. 350 u. S. 342–346. 4 Vgl. Notker Hammerstein, Die Deutsche Forschungsgemeinschaft in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Wissenschaftspolitik in RepuRobert Lorenz  ■  Werner Heisenberg

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blik und Diktatur 1920–1945, München 1999, S. 336–342; Mark Walter Heisenberg, Das Schicksal eines Physikers im NS-Staat, in: Kultur & Technik (1995), H. 4, S. 28. 5 Vgl. Armin Hermann, Werner Heisenberg. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg 1994, 97 f.; Joachim Radkau, Der atomare Ursprung derv Forschungspolitik des Bundes, in: Peter Weingart u. a. (Hg.): Das Wissensministerium. Ein halbes Jahrhundertforschungs- und Bildungspolitik in Deutschland, Weilerswist 2006, S. 33–63, hier S. 37. 6 Zum Folgenden Hermann L. Jordan: Großforschung in der BRD – Probleme der Institutionalisierung. Mobilität und Kontrolle, in: Günter Küppers u. a. (Hg.), Wissenschaft zwischen autonomer Entwicklung und Planung – Wissenschaftliche und politische Alternativen am Beispiel der Physik, Bielefeld 1981, S. 179–200, hier S. 182; Brief Heisenberg an Gerlach vom 20.06.1949, in: Walther Gerlach, Walther Gerlach (1889–1979). Eine Auswahl aus seinen Schriften und Briefen, Hans-Reinhard Bachmann u. a. (Hg.), Berlin u. a. 1989, S. 237; Rolf-Jürgen Gleitsmann, Im Widerstreit der Meinungen: Zur Kontroverse um die Standortfindung für eine deutsche Reaktorstation (1950–1955). Ein Beitrag zur Gründungsgeschichte des Kernforschungszentrums Karlsruhe und zu einem Kapitel deutscher Kernenergiegeschichte, Stuttgart 1986, S. 12 f.; Hermann, S. 108. 7 Vgl. Peter Marschner, Die Argumentation in der Kontroverse um den sogenannten »Juliusturm«, Dissertation, Marburg 1964, S. 93; Wilhelm Pagels, Der »Juliusturm«. Eine politologische Fallstudie zum Verhältnis von Ökonomie, Politik und Recht in der Bundesrepublik, Dissertation, Hamburg 1979, S. 59 f. 8 Siehe zu diesem Aspekt u. a. Peter Fischer, Atomenergie und staatliches Interesse: Die Anfänge der Atompolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1955, Baden-Baden 1994, S.  242–246; Werner Heisenberg, Gesammelte Werke. Collected Works, Walter Blum (Hg.), Bd. 5, München 1989, S. 162–175. 9 Siehe Brief Adenauer an Heuss vom 17.04.1957, abgedruckt in: Rudolf Morsey, Konrad Adenauer. Briefe 1955–1957, Berlin 1998, S. 319. 10 Vgl. Gleitsmann; Werner Heisenberg, Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik, München 1976, S.  257; Arne Schirrmacher, Wiederaufbau ohne Wiederkehr. Die Physik in Deutschland nach 1945 und die historiographisch Problematik des Remigrationskonzepts, Arbeits­ papier des Münchner Zentrums für Wissenschafts- und Technikgeschichte (2005), S. 3 ff.

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Friedrich Hermann Rein Zwischen Labor und Rektorat von Stine Marg

Später rühmte sich die Georgia Augusta mit Friedrich Hermann Rein, doch als sie ihn 1931 rief, war er nur zweite Wahl. Ursprünglich sollten der Mediziner Richard Wagner beziehungsweise der spätere Nobelpreisträger für Medizin, Walter Rudolf Hess, den Lehrstuhl für Physiologie erhalten – beide lehnten jedoch ab.1 Das war auch kein Wunder, schließlich war das Institut für Physiologie am Wilhelmsplatz in einem miserablen Zustand. Es fehlte ein WC, im Hörsaal waren zu wenige Stühle, das Gebäude musste noch mit Feueröfen beheizt werden, was die Arbeit im Labor, in dem mit Gasen und Ether hantierte wurde, beinahe lebensgefährlich machte. Ein Tieroperationsraum war nicht vorhanden – und somit der Physiologe eines wichtigen Experimentierfeldes beraubt. Kaum jemand von Rang und Namen hätte freiwillig ein derart abgewirtschaftetes Institut übernommen. Rein indes, gerade einmal 34 Jahre alt und ohne ordentlichen Lehrstuhl, nahm den Ruf nach Göttingen zu Beginn des Sommer­ semesters 1932 an. Die Verhandlungen mit der Universität waren rasch abgeschlossen. Sicher auch, weil allen Beteiligten klar war, dass man in die Physiologie investieren musste. Rein forderte eine bauliche Überholung des Hauses, Tierställe und einen Raum für Tieroperationen. Letzteren finanzierte die Rockefeller-Stiftung auf Betreiben von Rein, weil der Universität das Geld ausgegangen war.2 Stine Marg  ■  Friedrich Hermann Rein

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Doch Rein war nicht nur eine Wahl aus der Not heraus – und schon gar keine schlechte für die Medizinische Fakultät. Denn der junge Professor galt als der kommende Mann in der Physiologie und war der Fachwelt bereits durch seine mitreißenden Vorträge, die er stets durch praktische Demonstrationen anreicherte, bekannt.3 Rein wurde 1898 in Mitwitz geboren, einer Ansammlung von 150 Häusern in Oberfranken. Hier lernte er – wo­ möglich unter Anleitung seines Vaters, einem Forstbeamten – die Natur und deren Veränderungen genauestens zu beobachten. Gewisse Begabun­gen musste Rein schon früh gezeigt haben, da ihn seine Eltern im Alter von zehn Jahren auf das neunzig Kilo­meter entfernte humanistische Gymnasium in Schweinfurt schickten. Nach dem Abitur meldete sich Rein freiwillig als Marine­f lieger und studierte von 1919 bis 1923 in Würzburg und München Medizin. Es folgten rasch die Promotion, 1924 bei Max von Frey, und die Habilitation, 1926 bei Paul Hoffmann in Freiburg, wo er mit 31 Jahren zum außerplanmäßigen Professor ernannt wurde. Der ehrgeizige Rein galt als hervorragender Mediziner und Naturwissenschaftler, der überdies handwerklich begabt war – eine wichtige Voraussetzung für einen Physiologen, der die Versuchsanordnungen häufig selbst bauen musste, denn nur durch neuartige Messverfahren und -geräte oder einen bisher unüblichen Aufbau des Experiments können unbekannte kausale Zusammenhänge im menschlichen Organismus aufgedeckt werden. Reins Arbeitsgebiet in den ersten Jahren waren die auf dem Effekt der Elektroosmose basierenden Fließkräfte in Gefäßen und Geweben. In den späten zwanziger Jahren wurde er weltweit durch die ThermoStromuhr bekannt, die es erstmals ermöglichte, an ungeöffneten Gefäßen die Durchblutung an mehreren Stellen des Organismus gleichzeitig zu verfolgen. Seiner Grundlagenforschung ist die Analyse der Durchblutungsregulation des menschlichen Organismus zu verdanken und somit die Entwicklung eines neuen Bildes des gesamten Kreislaufs, welches heute für die moderne internistische und chirurgische Therapie unerlässlich ist.4 Rein entpuppte sich nicht nur aufgrund seiner wissenschaftlichen Arbeiten als Glücksfall für die Medizinische Fakultät der Universität Göttingen, sondern auch wegen seiner Fähigkeiten in der, wie man es heute sagen würde, Drittmittelakquise. So 124 

Exzellenzen der »exakten Wissenschaft«

stellte beispielsweise die Rockefeller-Stiftung im Laufe der dreißiger Jahre ihrem ehemaligen Stipendiaten mehrmals Mittel für die experimentelle Arbeit zur Verfügung, auch zahlreiche private Stifter ließen sich von Rein für die Aufstockung der immer wieder ausgehenden Etatmittel gewinnen. Schließlich überzeugte Rein – auch durch wiederholte Androhungen, Göttingen zu verlassen  – den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (auch als eine Art Jubiläumsgabe für den 200. Geburtstag der Universität), 770.000 Reichsmark für den Neubau und die Einrichtung eines Physiologischen Instituts bereitzustellen.5 Dieser 1938 errichtete Neubau, Ecke Humboldtallee / Kreuzberg­ ring6 gelegen, offenbarte Reins planerisches Geschick. In kürzester Zeit entwarf er mit erstaunlicher Weitsicht, nüchterner Rationa­lität und großer Sorgfalt ein Gebäude, welches sich seinen Bedürfnissen als experimentell forschender Physiologe anpasste, aber auch die Interessen der technischen Assistenten, der wissenschaftlichen Mitarbeiter und der lernenden Studenten miteinbezog. Rein ordnete das Gebäude streng funktional und verzichtete auf jeg­liche repräsentative Elemente, da »Repräsentation« eines wissenschaftlichen Instituts durch seine Leistungsfähigkeit und nicht durch seine Architektur besorgt werden solle. Er setzte negative Erfahrungen mit dem alten Gebäude in völlig neue Lösungen um; so waren die Tierställe mit den Versuchshunden im Zentrum Göttingens ein stetes Ärgernis und Auslöser für Anzeigen wegen Ruhe­störung. Rein konzipierte im Neubau die Zwinger und den Auslaufbereich auf dem Dach des Hauses und ließ die Tierställe mit schallreflektierenden Schrägplatten verkleiden. So wurde einerseits der Schall über die Häuser der Anwohner und arbeitenden Wissenschaftler geleitet und andererseits die Hunde nicht mehr zum Bellen provoziert. Gleichzeitig bezog Rein auch medizinisch-physikalische Kenntnisse in die Planung des Institutsneubaus mit ein. Der große, für zweihundert Personen ausgelegte Hörsaal bekam nicht nur eine moderne freie Experimentierfläche, Verdunkelungsmöglichkeiten, Projektionsflächen und stufenlos regulierbares Licht, sondern auch eine steuerbare Luftzirkulation, wobei frische vorgeheizte Luft an der Vorderseite des Hörsaals einge­blasen und hinter der letzten Stuhlreihe abgesaugt wurde. So konnte Raum gespart werden, ohne dass die Luft bei voller Besetzung nach einer kurzen Zeit verbraucht war. Stine Marg  ■  Friedrich Hermann Rein

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Die eigentliche Besonderheit des Hauses, das »Speziallaboratorium«, war im Keller verborgen. Dort wurde auf einem großen erschütterungsfreien Betonsockel eine Unterdruck-Kälte-Kammer installiert, in der bereits Monate vor der offiziellen Einweihung Versuche durchgeführt worden waren. Die Physiologie, die mit Reins Übernahme des Lehrauftrages für die »Luftfahrtmedizin« auch den Beinahmen »Luftfahrtmedizinisches Forschungsinstitut des RLM, Abt. Luftfahrtphysiolog. Forschung, Göttingen« erhielt, bekam nicht nur eine der wenigen Universitätsneubauten in Göttingen während des Nationalsozialismus. Sie wurde überdies mit einer Unterdruckkammer ausgestattet, von der schließlich 1945 nur zwanzig Exemplare im gesamten Reichsgebiet existierten.7 Welche Versuche genau in der angeblich ab 1940 nicht mehr in Betrieb genommenen Kammer durchgeführt wurden, lässt sich kaum noch rekonstruieren, da die zugehörigen Unterlagen, wie so häufig, nicht auffindbar sind beziehungsweise vernichtet wurden. Vermutlich sind dieser Experimentierstation auch weitere Drittmittelflüsse an Rein zu verdanken: Es kam ständig Geld aus dem Reichsluftfahrtministerium, von der Deutschen Industriebank und vom »Reichsmarschall des Großdeutschen Reiches und Präsident des Reichsforschungsrates«, also von Hermann Göring direkt. Jahre später sollte Rein, der 1952 einen Ruf an das Max-PlanckInstitut für Medizinische Forschung in Heidelberg annahm, seinen Weggang aus Göttingen in einem längeren Schreiben an den niedersächsischen Kultusminister Richard Voigt begründen: Ihn habe die »zum Ausdruck gebrachte Mißachtung der wissenschaftlichen Tätigkeit im Rahmen der Universität seitens der vorgesetzten Behörde […] schwer deprimiert« und er sei gleichzeitig die chronische Unterfinanzierung seines Instituts und somit die Notwendigkeit zur Einwerbung zusätzlicher Mittel leid. Während wie gesagt die Arbeiten in der Druckkammer zwischen 1938 und 1945 durch die Veröffentlichungen der Göttinger Physiologen in dieser Zeit nur noch bedingt rekonstruierbar sind, gilt es in der Forschungsliteratur mittlerweile als belegt, dass sich Rein und ein großer Teil seiner wissenschaftlichen Assistenten der Mitwisserschaft schuldig machten. Durch ihre Teilnahme etwa auf der Tagung des Sanitätsinspekteurs der Luftwaffe über »Seenot und Winternot« in Nürnberg am 26./27. Oktober 1942 konnten ihnen die Taten der KZ-Lagerärzte nicht verborgen geblieben 126 

Exzellenzen der »exakten Wissenschaft«

sein: Professor Ernst Holzlöhner (Kiel) referierte dort vor knapp einhundert Ärzten über die grausamen Menschenversuche im KZDachau unter der Leitung von Sigmund Rascher. Obwohl Holzlöhner die Dinge auf der Tagung nicht konkret aussprach, muss Sachkundigen wie Rein zweifelsohne klar gewesen sein, dass die vorgetragenen »Erkenntnisse« nicht aus Beobachtungen an zufällig gefundenen Unfallopfern gewonnen worden waren, sondern aus sadistischen Experimenten an Menschen, die durch einen erzwungenen Aufenthalt im kalten Wasser oder in einer Druck­ kammer zu Tode gefoltert worden war.8 Für Rein stand diese Mitwisserschaft offensichtlich nicht im Widerspruch zu seinem Berufsethos als Mediziner. Der nach 1945 als Prorektor und von 1946 bis 1948 als Rektor der Georgia ­Augusta amtierende Mediziner verurteilte infolge des Nürnberger Ärzteprozesses die »niederträchtigen Verbrechen« in »Himmlers Konzentrationslagern« als den »verbrecherischen Akt eines Besessenen«.9 Mit den Medizinverbrechen hingegen hätten die Mehrzahl der Ärzte und die »wahren Wissenschaftler«, zu denen er natürlich sich und seine Göttinger Kollegen zählte, nichts zu tun gehabt. In seiner Interpretation waren »ordentliche Wissenschaftler« keine Nationalsozialisten und hätten nichts mit den Lagerärzten aus den KZs gemein, die Rein als »Sonderlinge« abtat.10 Da ist es denn nur folgerichtig, dass Alexander Mitscherlich, einer der Herausgeber der Dokumentensammlung zum Nürnberger Ärzteprozess, in der vielbeachteten Göttinger Universitäts-Zeitung im sogenannten »Dokumentenstreit« danach fragte, wie denn diese Sonderlinge ihre persönlichen Abartigkeiten innerhalb der von Rein vertretenen »wahren Wissenschaft« ausleben konnten.11 Zudem verteidigte Rein kurz vor dem Antritt seines Rektorats die Berufung des Rasseforschers Fritz Lenz zuungunsten von Karl Saller. Lenz war ein überzeugter Nationalsozialist, Mitglied im »Sachverständigenbeirat für Bevölkerungspolitik und Rassenpflege« und seit 1933 ordentlicher Professor für Eugenik in Berlin, nach 1945 in den Augen von Rein ein »Flüchtlingsprofessor«. Saller hingegen vertrieb man 1935 aus Göttingen, weil er die NSRassenlehre nicht mitvertrat. Rein war es, der Saller mitteilte, dass für jenen eine Lehrberechtigung nicht erteilt werden könne und er doch seine beruflichen Möglichkeiten als Direktor eines Stuttgarter Krankenhauses nutzen möge.12 Stine Marg  ■  Friedrich Hermann Rein

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Für Rein, dessen Rolle als »Oberkriegsarzt und beratender Physiologe bei der Luftwaffe« noch einer genauen Untersuchung bedarf, war es einfacher gewesen, keine Opfer des NS-Regimes in seine Fakultät zu holen. So gelang es ihm und seinen Assistenten zunächst stillschweigend, ihre Mitwisserschaft an den furcht­baren Menschenexperimenten unter den Teppich zu kehren und die treue Arbeit an der »wahren Wissenschaft« in den Vordergrund zu stellen – ganz im Sinne eines »Moratoriums der Mandarine«.13 Rein konnte seine Stelle am Max-Planck-Institut in Heidelberg, wo er sich frei von bürokratischen und dozierenden Verpflichtungen einzig der »zweckfreien Forschung« widmen wollte, jedoch nicht mehr annehmen. Er verstarb am 14. Mai 1953 im Alter von 55 Jahren in Göttingen, an einem genetisch bedingten Bluthochdruckleiden, an dessen Ursachen und Bekämpfung der Physiologe bis zum Schluss gearbeitet hatte.

Anmerkungen 1 Vgl. Christiane Borschel, Das Physiologische Institut der Universität Göttingen 1840 bis zur Gegenwart, ungedruckte Unaugural-Dissertation des Fachbereichs Medizin der Georg-August-Universität zu Göttingen, 1987, S. 331. 2 Vgl. ebd. 3 Siehe Jürgen Aschoff, Friedrich Hermann Rein, in: Mitteilungen aus der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften Göttingen (1953), H. 7, S. 6–10, hier S. 8. 4 Vgl. Reiner Thomssen, Friedrich Hermann Rein, in: Göttinger Gelehrte, Die Akademie der Wissenschaften zu Göttingen in Bildnissen und Würdigungen 1751–2001, Göttingen 2001, S. 442. 5 Vgl. Hermann Rein, Das neue Physiologische Institut der Georg-AugustUniversität, in: Universitätsbund Göttingen Mitteilungen 10 (1940) 2, S. ­15–34. Die Schilderung über den Institutsneubau basiert im Folgenden auf diesen Angaben. 6 1938 noch Ecke Kirchweg / Ludendorffring. 7 Siehe Ulrich Beushausen u. a., Die Medizinische Fakultät im Dritten Reich, in: Heinrich Becker u. a. (Hg.), Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus, München² 1998, S. 183–286, hier S. 237. 8 Vgl. Ernst Klee, Auschwitz, Die NS-Medizin und ihre Opfer, Frankfurt³ 1997, S. 235–238; Beushausen, Die Medizinische Fakultät, S. 237–240; Alexander Mitscherlich u. a. (Hg.), Medizin ohne Menschlichkeit – Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses, Frankfurt, 2004, S. 57 f.

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Exzellenzen der »exakten Wissenschaft«

9 Friedrich Hermann Rein, Wissenschaft und Unmenschlichkeit. Bemerkungen zu drei charakteristischen Veröffentlichungen, in: Göttinger Universitäts-Zeitung 3 (1947), H. 17/18, S. 2–3 10 Friedrich Hermann Rein, »Entnazifizierung« und Wissenschaft, Eine Stellungnahme auf Befragung, in: Göttinger Universitäts-Zeitung 1 (1945), H. 1, S. 6–9. 11 Alexander Mitscherlich, Mitscherlich antwortet, unmenschliche Wissenschaft, in: Göttinger Universitäts-Zeitung, 3 (1947) H. 17, 18, S. 6–7. 12 Vgl. Anikò Szabó, Vertreibung, Rückkehr, Wiedergutmachung. Göttinger Hochschullehrer im Schatten des Nationalsozialismus, Göttingen 2000, S. 193. 13 Vgl. Bernd Weisbrod, Zur Selbstentnazifizierung der Wissenschaft in der Nachkriegszeit, in: Hartmut Lehmann (Hg.), Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, Bd. 2: Leitbegriffe – Deutungsmuster – Paradigmenkämpfe  – Erfahrungen und Transformationen im Exil, Göttingen 2004, S. 259–279.

Stine Marg  ■  Friedrich Hermann Rein

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Interpreten von Sinn, Sein und Sollen

Edmund Husserl »Geben Sie Kleingeld!« von Franz Walter

Nein, mit offenen Armen empfingen sie ihn nicht, als er am 14.  September 1901 an die Georgia Augusta kam und bald als der größte Philosoph seiner Zeit galt. Edmund Husserl musste der Göttinger Universität gleichsam von der Politik aufgedrängt werden. Dabei ging es allein um eine außerordentliche Pro­fessur. Aber die Philosophische Fakultät wollte ihn partout nicht in ihren Reihen wissen. Insbesondere die Schüler des im 19.  Jahrhundert berühmten Metaphysikers Rudolf Hermann Lotze, die Professoren Georg Elias Müller und Julius Baumann, stemmten sich gegen Husserl und seine neue Art des Philosophierens.1 Als das Preußische Ministerium ihn gar fünf Jahre später zum Ordinarius in Göttingen ernennen wollte, formulierten Müller und Baumann abermals eine schroff ablehnende Stellungnahme, der sich die Fakultät anschloss: Husserl verfüge weder über wissenschaftliche Bedeutung, noch zeige er überhaupt Begabung für sein Fach. Insbesondere Müller stichelte unentwegt in seinen Vorlesungen gegen den Kollegen, dessen Ideen ihm ganz abstrus erschienen.2 Aber Müller selbst trug im Hörsaal der­ maßen langweilig und ermüdend vor, dass sich auch seine originären Schüler neugierig Richtung Husserl wandten. Dessen Aus­ strahlung hatte sich bis Berlin, bis zur Preußischen Regierung herumgesprochen, sodass sich der Minister über die Hochschul­ autonomie hinwegsetzte und Husserl am 28.  Juni 1906 zum Franz Walter  ■  Edmund Husserl

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ordent­lichen Professor der Philosophie an der Georg-August-Universität berief. Zu dem Zeitpunkt war Edmund Husserl bereits 47 Jahre alt. Es war also ein langer, steiniger Weg, den er zurücklegen musste, bis er das große Ziel universitärer Forscher und Lehrer, den eigenen Lehrstuhl mithin, erreicht hatte. Husserl gehörte nicht zu den großen Köpfen, deren Genie bereits in der Schulzeit für alle Welt deutlich erkennbar war. Seine Heimat war Mähren, wo er im April 1859 in dem Städtchen Proßnitz als Sohn eines jüdischen, aber in Glaubensdingen eher laschen Tuchhändlers geboren wurde. Sein mährisches Idiom behielt Husserl bis zu seinem Lebensende.3 Auf dem Gymnasium in Olmütz gehörte er regelmäßig zu den schlechtesten Schülern, denen die alljährliche Versetzung nur mit knapper Not gelang.4 Ehrgeiz zeigte er keinen. Das Abitur, das er ablegte, soll die schlechteste Reifeprüfung der ganzen Klasse gewesen sein. Der Philosoph Hans Jonas, 44 Jahre jünger als Husserl, bestätigte in seinen Erinnerungen, dass diesem in seiner mährischen Heimat und Familie kein guter Ruf anhing. Jonas war in New York anlässlich eines Empfangs auf den Germanisten Ludwig Kahn gestoßen, ebenfalls ein Mähre und dazu Großneffe von Husserl, dem er aber selbst nie begegnet war. In der Proßnitzer Familie sei stets vom »verrückten Onkel Edmund« die Rede gewesen, so Kahn, von dem man »im Übrigen nie etwas gehalten« habe.5 Aus seiner mährischen Heimat verabschiedete Husserl sich gleich nach dem Abitur. Zunächst studierte er Astrologie, Physik und Mathematik in Leipzig, dann konzentrierte er sich auf die Studien der Mathematik an den Universitäten in Berlin und Wien. Doch stieß er in Wien auf den Philosophen Franz Brentano, der ihm den künftigen Weg der Philosophie wies. Husserl habilitierte »über den Begriff der Zahl« 1887 in Halle, wo er 14 lange Jahre mit drei kleinen Kindern und nur durch ein schmales Stipendium der Preußischen Regierung unterstützt als Privatdozent zu über­ dauern hatte. Das waren harte Jahre für ihn und seine Familie. Die materiellen Engpässe drückten; die eigenen Studien kamen nur zäh voran; ein reputierlicher Ruf auf einen Lehrstuhl unterblieb vorerst. Der Privatdozent für Philosophie litt unter fortwährenden Depressionen.6 Ehefrau Malvine zog als Lehre aus den prekären Jahren in Halle, ihren Kindern die professionelle Philosophiere­ rei zu verbieten. 134 

Interpreten von Sinn, Sein und Sollen

Als das neue Jahrhundert begann, wurde alles anders  – für ­dmund Husserl, für seine Familie, für die Philosophie in E Deutschland. 1900 erschienen Husserls »Logische Untersuchungen«, an denen er etliche Jahre auch unter inneren seelischen Qualen herumgegrübelt und um jede Formulierung gerungen hatte.7 Doch bedeutete das Werk den Durchbruch für Husserl. Es machte ihn gleichsam über Nacht berühmt, traf wie ein Hammerschlag die Tradition der Zunft. Husserls Untersuchungen richteten sich gegen die Psychologisiererei, die in der Philosophie zum Ausgang des 19. Jahrhunderts immer mehr an Terrain gewonnen hatte. Sie wandten sich aber ebenfalls und generell gegen den spekulativen Charakter der Großweltanschauung des Jahrhunderts, das gerade zu Ende gegangen war, als Husserl seine neue »phänomenolo­ gische« Sicht präsentierte. Die Perspektive, aus der man die Dinge betrachten sollte, war dezidiert realistisch gefasst, frei von subjektiven Vorannahmen, auf Distanz zu jeder Form des Relativismus. Husserl, der studierte Mathematiker, wollte die Philosophie wieder in den Rang einer strengen Wissenschaft heben.8 Der philo­ sophische Betrachter hatte daher die Phänomene zu sehen, wie sie von ihrer inneren Natur her sich darboten; er hatte seine Schau ohne ideologische Vorannahmen, ohne die Voraussetzungen von Konstruktionen und Modellen zu bewältigen. »Die wahre Methode«, so Husserl, »folgt der Natur der zu erforschenden Sachen, nicht aber unseren Vorurteilen und Vorbildern«.9 Dieser neue phänomenologische Realismus elektrisierte in jenen Anfangsjahren des zwanzigsten Jahrhunderts eine ganze Generation junger Philosophiestudenten und Doktoranden, nicht nur in Deutschland. Wer begabt war und es sich leisten konnte, pilgerte damals nach Göttingen, um beim »Meister« – der an seiner eigenen Fakultät und Universität weiterhin keineswegs wohl­ gelitten war – vorstellig zu werden, um das Privileg zu erlangen, sich Husserl-Schüler nennen zu dürfen. Als außerordentlicher Professor wohnte Husserl noch in der Wöhlerstraße, dann baute er sich, nach den Vorstellungen seiner Ehefrau, ein Haus im Hohen Weg 7, dem heutigen Hermann-Föge-Weg. Die Begabtesten seiner Schüler, darunter Balten, Griechen, Polen, konnten zuweilen mit einer Einladung zum sonntäglichen Mittagessen in die Villa Husserl rechnen. Im Anschluss daran ging es noch ins Arbeitszimmer des Professors im Obergeschoss, wo sich dieser auf der einen Seite Franz Walter  ■  Edmund Husserl

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seines  – bald legendär gewordenen  – Ledersofas niederließ, um den geladenen Studierenden auf der anderen Seite des Möbelstücks zu platzieren. Dann setzte das philosophische Gespräch ein.10 Die Generalformel davon lautete: »Zurück zu den Sachen selbst!«.11 Aber was war die Sache selbst? Es war (und ist) nicht einfach, klare Antworten auf diese Frage aus den Schriften H ­ usserls herauszukristallisieren. Husserl hat ein wahres Konvolut von Publikationen und Manuskripten hinterlassen. Seine Abhandlungen sind übervoll an Details, die durchbrochen werden von nicht leicht zugänglichen, da denkbar spröde formulierten Abstraktionen. Auch lässt sich schwerlich behaupten, dass Husserl seine Kernbegriffe unmissverständlich definiert und gebraucht hätte.12 Vielmehr wirken seine Aussagen flirrend, dem operativen Gebrauch entgleitend, obwohl Husserl doch so viel auf Genauigkeit und strenge Wissenschaft hielt. Aber viele große philosophische Schulen faszinierten in ihren Anfängen gerade dadurch, dass ihre Sprache, in der die Botschaft transportiert wurde, eigentümlich blieb, schwer erschließbar für den »Durchschnitt« war, etwas Geheimnisvolles insinuierte, durch Besonderheit lockte, um die elitäre Gemeinschaft von Meistern und Meisterschülern zu begründen. Den Sachen selbst kam man eher in den Lehrveranstaltungen von Husserl näher. Aufwendig vorbereitete und breit gefasste Referate hatte er von seinen Studenten nicht hören wollen.13 Die Seminare waren als Gespräche organisiert und die Gegenstände, die sondiert werden sollten, entstammten dem Alltag, schienen auf den ersten Blick banal. Doch ging es darum, diesen Blick zu schärfen. Und so hatten die Studierenden auszuführen, was sie sahen, wenn ein Tintenfass vor ihnen stand oder eine Streichholzschachtel auf dem Pult lag.14 Und immer wieder wurden sie vom Meister angehalten, die Sachen ohne Scheuklappen zu mustern, um an die Phänomene keine vorgefassten Meinungen heranzutragen. Fiel die Schilderung eines Studenten zu pittoresk aus, schwang in den Deutungen zu viel Pathos oder Norm mit, dann folgte unmittelbar die bei seinen Schülern noch nach Jahrzehnten als sprichwörtlich mitgeteilte Mahnung: »Geben Sie Kleingeld!«15 Für Disziplin im Lehrbetrieb sorgte Ehefrau Malvine. Sie war regelmäßig anwesend und verfolgte mit Argusaugen, wer aufmerksam den Ausführungen des Gatten folgte, wer mitschrieb, wer sich beteiligte. Diejenigen, die ihr missfielen, hatten es nicht 136 

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leicht mit Frau Husserl. Sie konnte sehr ungnädig werden, sehr maliziös, sehr barsch mit ihrer harten Stimme.16 Husserl brauchte sie, denn er war gewissermaßen die Inkarnation des hilflosen, lebensuntüchtigen, in sich gekehrten, zerstreuten Professors, der un­ entwegt von Selbstzweifeln gepeinigt war, mit der Qualität seiner Manuskripte chronisch haderte, von Ambitionen wie von Ängsten malträtiert wurde. Er ging ganz in seiner Arbeit auf. Um Vergnügungen und Geselligkeiten machte er einen großen Bogen. Allein in seiner Familie, in seiner altfränkisch eingerichteten Wohnung fand er Behaglichkeit und dort besonders beim Tabakkonsum, dem er sich exzessiv hingab. In politischen Fragen war er ganz naiv und ebenso verblüffend unbedarft wie die Mehrheit seiner professoralen Kollegen. Karl Jaspers, 1903 noch Medizinstudent in Göttingen, später berühmter Ordinarius für Philosophie in Heidelberg, erkannte bei Husserl »etwas Kleinbürgerliches, etwas Enges«. »Kraft und Größe« oder »Noblesse« mochte er dem 23 Jahre älteren Phänomenologen nicht attestieren.17 Auffällig war schon, dass Husserl zwar als einer der bedeutendsten philosophischen Anreger des 20. Jahrhunderts galt, dass er durch seine Schriften auf herausragende Denker wie Jean-Paul Sartre und Theodor W. Adorno höchst einflussreich nachwirkte, dass er aber seine je zeitgenössische Schülerschar überwiegend nicht allzu lange hielt, sie viel mehr bemerkenswert schnell enttäuschte. Etliche seiner Jünger, die ihm zu Beginn der persönlichen Bekanntschaft noch in glühender Verehrung zugeneigt waren, lösten sich nach Jahren von ihm, schufen eigene Schulen, löckten mit Häresien oder Orthodoxien trotzig wider den Stachel des früheren Lehrers und Meisters. In Göttingen setzte dieser Prozess bereits, wenngleich zunächst nur vorsichtig und allmählich, ab 1905 ein. Zu diesem Zeitpunkt begann allerdings Husserl auch, seine Phänomenologie neu zu modellieren. Acht Jahre danach fand die Revision oder Fort­ entwicklung ihren Niederschlag im zweiten großen Opus von ­Edmund Husserl, den »Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie«.18 Als das Werk 1913 erschien, reagierte die erste Schüler-Generation je nach Temperament entweder tieftraurig oder wütend erzürnt.19 Die Orthodoxie der Pioniergemeinde pflegt eben Abweichungen nicht zu dulden. Die Jünger der Urgemeinde hatten sich berufen gefühlt, den Franz Walter  ■  Edmund Husserl

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Husserl’schen »Realismus« in die Welt der Ungläubigen zu tragen. Doch nun wandte sich der Religionsstifter selbst von seiner ursprünglichen Botschaft ab. Er suchte nach Transzendenz, wo er vorher »zurück zu den Sachen« gepredigt hatte. Der große Realist war in den Idea­lismus zurückgefallen, in die neukantianische Konvention. So murmelten sich diejenigen zu, die doch allein wegen H ­ usserl nach Göttingen gekommen waren und sich nun im Stich gelassen fühlten. Infolgedessen verselbstständigte sich die Schülerschaft vom Meister. Der Hohepriester des klassischen Husserlianismus war Adolf Reinach, seit 1909 Privatdozent an der Philosophischen Fakultät in Göttingen. Ihm wurden glänzende Lehrbefähigungen zugeschrieben; sein Unterrichtsstil galt als weitaus anschaulicher, auch diskursiver als der des mitunter pedantischen Monologisten Husserl.20 Und die Doktoranden und Exaministen am HusserlLehrstuhl bewunderten Reinach bald kaum weniger als den berühmten Ordinarius selbst. Man traf sich wöchentlich in der neu konstituierten »Philosophischen Gesellschaft«, im Hause eines jungen Gutsbesitzers, der aus reiner Passion den philosophischen Austausch in seine Stube holte.21 Leicht nahm Husserl es nicht, dass seine Zöglinge sich nach und nach, mehr und mehr von ihm entfernten. Die Depressionen, die ihm schon in seiner Privatdozentenzeit in Halle das Leben schwer und dunkel gemacht hatten, kehrten zurück. Sie verstärkten sich, als der Erste Weltkrieg auch in seine Familie, in seine Schülerschaft hineinbrach. Sein jüngster Sohn fiel vor Verdun, der ältere erlitt Verwundungen. Und Adolf Reinach, der Eleve der neuen Phänomenologie schlechthin, fand den Tod an der Front, gerade 33 Jahre alt, im November 1917. Husserl trug schwer an diesen Schlägen. Dabei erlebte Husserl in dieser Zeit einen kräftigen Karriereschub. Anfang 1916 erhielt er, der so lange auf eine ordentliche Professur hatte warten müssen und dazu nur durch Regierungs­oktroi gekommen war, einen Ruf an die Universität Freiburg, auf den hoch angesehenen Lehrstuhl, den zuvor der Neukantianer Heinrich Rickert besetzt hatte. In der ersten Hälfte der zwanziger Jahre war Husserl ein Star seiner Zunft, ein Aushängeschild der Freiburger Universität. Die ambitionierten Studierenden der Philo­ sophie – unter ihnen Hannah Arendt und Karl Löwith – zog es in 138 

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den Breisgau, um bei Husserl zu hören.22 Indes, großen Eindruck hinterließ der Phänomenologe nicht mehr auf diese Studenten­ kohorte. Er schien sich überlebt zu haben, ging in seinen Vorlesungen alle Probleme auf die gleiche Weise an; so jedenfalls erinnerte es der bald von Husserl gelangweilte Hans Jonas.23 Spätestens 1927 war Husserl in dieser Generation von Philo­ sophiestudenten eine Figur von gestern.24 Der Mann der Stunde dagegen war der Autor von »Sein und Zeit«, der Marburger Professor Martin Heidegger.25 Bis dahin galt Heidegger als Muster­ schüler von Husserl, dem er von 1919 bis 1923 als Assistent am Lehrstuhl zur Seite gestanden hatte. 1923 hatte Heidegger nicht zuletzt durch die Protektion Husserls die außerordentliche Professur in Marburg erhalten. Und im Herbst 1928 folgte Heidegger Husserl nach dessen Emeritierung auf den Lehrstuhl in Freiburg. Husserl hatte sich vehement für seinen früheren Assistenten und Schüler stark gemacht. An Heinrich Rickert, seinen Vorgänger, schrieb er seinerzeit über Heidegger: »Es ist in Deutschland niemand, der so die Herzen der Jugend zu sich hinreißt. Und dabei eine reine, völlig selbstlose Persönlichkeit, so ganz den großen S­ achen hingegeben.«26 Husserl hatte kaum bemerkt, wie sich Heidegger, dessen Existenzialphilosophie am Ausgang der Weimarer Republik zur Modeströmung im geistigen Leben Deutschlands wurde, in »Sein und Zeit« von ihm und der Phänomenologie bereits entfernt hatte.27 Schließlich hatte Heidegger sein Buch Husserl »in Verehrung und Freundschaft zugeeignet«28, was den fast siebzigjährigen Be­ gründer der Phänomenologie gewiss geschmeichelt haben dürfte. Wenige Monate, nachdem Heidegger sein neues universitäres Amt in Freiburg übernommen hatte, stellte er den persönlichen Umgang mit Husserl ein.29 Viele Schüler hatte Husserl am Ende nicht mehr. Schon Ende der 1920er Jahre wirkte er wie ein Anachronismus, auch äußerlich, da er immer noch den langen Kinnbart trug, der mit dem Ende der Monarchen in Deutschland und Österreich aus den Gesichtern der modernen Männer verschwunden war. Husserl ahnte selbst, dass ihm allein die Rolle des gutmütigen, alt gewordenen Opas der Philo­sophie geblieben war. Wer das Neue, Aufregende, Provozierende, bislang Ungedachte in der Philosophie suchte, suchte nicht mehr bei Husserl. Auch im Politischen gewann der Mode­ Franz Walter  ■  Edmund Husserl

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philosoph, den er selbst genährt hatte, das böse Spiel. Heidegger trat 1933 als Rektor und frisches Mitglied der NSDAP an die Spitze der Freiburger Universität. Edmund Husserl, der sich gemeinsam mit seiner Frau vor der Hochzeit hatte evangelisch taufen lassen, verlor aufgrund seiner jüdischen Herkunft die Lehrbefugnis. Der Abstieg setzte ein, als sein Protegé die Universität leitete. Hannah Arendt, in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre Geliebte ­Heideggers, nannte ihn deshalb später einen »Mörder« Husserls.30 In der Tat war Husserl in den letzten Lebensjahren ein gebrochener, gewiss auch verbitterter, jedenfalls tief pessimistischer Mann. In seinem Spätwerk, kurz vor seinem Tod, meldete er entschiedenen Zweifel an, ob die moderne Wissenschaft den Menschen in ihren Lebenswelten und bei ihren Fragen noch von Nutzen sein könnte.31 Husserl starb am 27. April 1938. Sein früherer Schüler, Assistent und Lehrstuhlnachfolger blieb dem Begräbnis fern.

Anmerkungen 1 Hierzu und insgesamt grundlegend für die vorliegende Abhandlung vgl. Verena Mayer, Edmund Husserl, München 2009, S. 25 ff. 2 Zu Müller vgl. Czeslaw Glombik, Husserl und die Polen, Würzburg 2011, S. 103 f., 139. 3 Husserls anfänglicher Student, der spätere Professor für Philosophie Leonard Nelson, störte sich an diesem Dialekt: »Husserl ist ein schlechter Päd­agoge. Sein Sprechen wirkt im Colleg unangenehm, er spricht ganz langsam und breit seinen böhmischen Dialekt und redet überhaupt nur in Austriazis­men, so wie er auch schreibt.« (Brief L. Nelson an G. Hessenberg vom 13.11.1903, zit. in: Holger Franke, Leonard Nelson. Ein biographischer Beitrag unter besonderer Berücksichtigung seiner rechts- und staatsphilosophischen Arbeiten, Ammersbek bei Hamburg 1991, S. 65). 4 Vgl. Karl Schumann, Malvine Husserls »Skizze eines Lebensbildes von E. Husserl«, in: Husserl Studies 5 (1988), S. 105–125, hier S. 110. 5 Zit. in: Hans Jonas, Erinnerungen, Frankfurt a. M. 2005, S. 86. 6 Vgl. Mayer, S. 22. 7 Edmund Husserl, Logische Untersuchungen I–III. Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, Tübingen 1993. 8 Vgl. auch Hans-Martin Schönherr-Mann, Hannah Arendt. Wahrheit, Macht, Moral, München 2006, S. 154. 9 Edmund Husserl, Aufsätze und Vorträge (1911–1921), Thomas Nenon u. a. (Hg.), Reihe Husserliana, Bd. XXV, Dordrecht 1987, S. 26. 10 Vgl. etwa Edith Stein, Studentin in Göttingen, in: Roderich Schmidt (Hg.), In Göttingen erlebt, Göttingen 2001, S. 19–31, hier S. 29.

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11 Siehe Peter Prechtl, Edmund Husserl zur Einführung, Hamburg 2002, S. 23. 12 Vgl. ebd., S. 7 ff. 13 Vgl. Glombik, S. 145. 14 Siehe die Besprechung des Buchs von Verena Mayer »Edmund Husserl« durch Hans-Martin Schönherr-Mann im Deutschlandfunk, 02.04.2009 (http://www.dradio.de/dlf/sendungen/buechermarkt/943629/) [eingesehen am 04.01.2012]. 15 Siehe Karl Löwith, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933, Neu­ ausgabe, Stuttgart 2007, S. 28. 16 Vgl. Schumann, S. 107. 17 Zit. in: »Ratlos war ich«, in: Der Spiegel 16 (1977), S. 191. 18 Edmund Husserl, Idee zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Allgemeine Einführung in die Phänomenologie, Tübingen 1993. 19 Edmund Husserl, auf: Das Portal zur katholischen Geisteswelt (http://www. kath-info.de/husserl.html). 20 Siehe Glombik, S. 30, 142. 21 Vgl. ebd., S. 28. 22 Hierzu vgl. auch Jonas, S. 80; Löwith, S. 28. 23 Vgl. Jonas, S. 82, S. 433. 24 Vgl. auch Mayer, S. 11. 25 Hierzu etwa Alfred Denker, Unterwegs in Sein und Zeit, Stuttgart 2011, S. 95. 26 Zit. in: Antonia Grunenberg, Hannah Arendt und Martin Heidegger. Geschichte einer Liebe, München 2008, S. 128. 27 Vgl. Prechtl, S. 15. 28 Zit. in: Grunenberg, S. 118. 29 Siehe Mayer, S. 30 f. 30 Siehe Grunenberg, S. 264 f.; auch Holger Zaborowski, Eine Frage von Irre und Schuld? – Martin Heidegger und der Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2010, S. 390 ff. 31 Edmund Husserl, Die Krise der europäischen Wissenschaften und die ­transzendentale Phänomenologie, Hamburg 1996.

Franz Walter  ■  Edmund Husserl

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Leonard Nelson Philosoph einer Diktatur der Vernunft von Franz Walter

Göttingen, Nikolausberger Weg 61. Hier, in einem Haus mit schönen Glasveranden, lebte (später mit einigen seiner Schüler) von 1906 bis 1927 der Professor der Philosophie Leonard Nelson. Geboren wurde er im Sommer 1882 in der Nähe des Berliner Alexanderplatzes. Der Philosoph Moses Mendelssohn und der Komponist Felix Mendelssohn-Bartholdy zählten zu seinen Vorfahren. Im Hause der wohlhabenden jüdischen Eltern Nelsons ging es sehr weltbürgerlich zu; regelmäßige Salonabende waren Usus. Man gehörte zu den emanzipierten Juden Berlins; Sohn Leonard wurde fünf Jahre nach seiner Geburt getauft. Von früh an war er von Krankheiten geplagt. Schon während seiner Schulzeit machte ihm chronische Schlaflosigkeit schwer zu schaffen. Geräusche aller Art peinigten ihn ebenso, wie ihm zyklisches Heufieber im Frühjahr zur Last fiel; schließlich kamen noch Probleme mit dem Herz hinzu. Auf der Schule und in der Nachbarschaft galt er als Sonderling, der sich lieber schweigend abkapselte als fröhlich zu gesellen. Doch aus seinem Leiden und seiner Introvertiertheit holte er sich, so wurde vermutet, den Antrieb zur außergewöhnlichen intellektuellen Arbeit.1 Rigorosität wurde zum Elixier der Biografie Nelsons. Sich selbst und allen anderen verlangte er strenge Logik sowie eine strikte Rationalität der Gedanken und Gesprächsführung ab. Wer hierbei nicht mithalten konnte, hatte mit Nelsons ätzender Polemik 142 

Interpreten von Sinn, Sein und Sollen

zu rechnen. So ging auch seine Ehe, die er 1907 schloss, bereits nach drei Jahren in die Brüche, da seine Ehefrau mit der Härte seiner Rationalitätsforderungen nicht zurecht kam. An der Göttinger Universität, der Nelson seit 1903 angehörte, machte er sich mit seiner hochfahrenden Rechthaberei etliche Feinde, mit Ausnahme allerdings der Mathematiker, allen voran David Hilbert und ­Felix Klein, die von seiner unspekulativen Art der Philosophie be­ eindruckt waren und ihn in seiner Hochschulkarriere energisch zu fördern versuchten. Leicht war das nicht, weil Nelson auch zu taktischer Mäßigung partout nicht bereit war. So vermochte er erst im dritten Anlauf sein Promotionsverfahren erfolgreich abzuschließen. Und erst mit seiner zweiten Habilitationsschrift re­üssierte er in der Fakultät. Eine außerordentliche Professur erlangte er ebenfalls erst nach zähen Kämpfen und vielen Niederlagen im Sommer 1919 – so gehörte Edmund Husserl zu seinen Gegnern, den Nelson seinerseits als mystischen Schwätzer abtat und wegen dessen breiten böhmischen Dialekts nicht ertragen konnte. Auch die Studentenschaft spaltete Nelson. Die einen hassten ihn (und seine Schüler) regelrecht wegen des überzogenen Anspruchs und apodiktischen Auftritts. Die anderen – vom späteren Nobelpreisträger Max Born als »Käuze und Sonderlinge«2 in Erinnerung behalten – lagen ihm nahezu zu Füßen, verhielten sich wie gläubige Jünger eines heilsstiftenden Gurus. Die Fachkollegen im Deutschen Reich rümpften dagegen mehrheitlich die Nase, wenn die Rede auf den Göttinger Dozenten kam. Denn Nelson hatte in seinen Hauptwerken, die »Kritik der praktischen Vernunft« und das »System der philosophischen Rechtslehre und Politik« ganz auf Belege und Fußnoten verzichtet. Er war sein eigener Meister. Wie viele Linksintellektuelle der Weimarer Republik hatte auch Leonard Nelson während des Ersten Weltkrieges zur Arbeiterbewegung gefunden. Die Hinwendung zur sozialistischen Arbeiterbewegung geschah allerdings nicht wegen Irritationen an der eigenen Idee oder aus Begeisterung für die neu entdeckte marxistisch-sozialistische Weltanschauung, sondern erfolgte – dies war keine Seltenheit bei den jungsozialistischen Akademikern – unter dem Eindruck der Enttäuschung über das Versagen der eigenen Herkunftsgruppe. Die Arbeiterbewegung, besonders die Arbeiterjugendbewegung als ihr noch unverdorbe­ner, formbarer und idea­ listischer Teil war somit ein neuer Hoffnungsträger für die RealiFranz Walter  ■  Leonard Nelson

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sierung dessen, wozu sich die Schicht der Gebildeten als unwürdig und unfähig erwiesen hatte. 1917 trat Nelson deshalb der USPD bei und gründete etwa zur gleichen Zeit mit einigen seiner Schüler, zumeist Göttinger Studenten und frühere Mitglieder der Freideutschen Jugend, den Internatio­nalen Jugend-Bund (IJB), eine kleine Erziehungs- und Gesinnungsgemeinschaft, von der, wie Nelson hoffte, dereinst eine Erneuerung der sozialistischen Arbeiterbewegung ausgehen sollte.3 Anders als der klassische Marxismus definierte Nelson den Sozialismus als Verwirk­lichung eines ethischen, aus dem Rechtsideal hergeleiteten Postulats.4 Das subjektive Vermögen der Erkenntnis objektiven Rechts konnte nach Nelson allerdings nur Resultat eines systematischen Erziehungs- und Ausleseprozesses sein, der sich vor allem im Lager der Jugend zu vollziehen hätte, da die Jugend im Gegen­satz zu der in fatalistischen Ideologien verhangenen älteren Generation noch an das »Recht« glaubte.5 Eine solche unter strenger Auslese in geschlossenen, fest organisierten Gemeinschaften stattfindende Erziehung trage, so Nelson, zur »mora­ lischen Festigung und Ausbildung weniger, geistig und körperlich gesunder Menschen zu politischen Führern«6 bei, die sich, sobald die Gelegenheit komme, zur Partei des Rechts entweder autonom oder als Kerntruppe innerhalb einer der bestehenden Parteien konstituieren würden. Wie diese »Partei der Vernunft« keineswegs nach Maßstab des Majoritätsprinzips funktionieren könnte, so hatte es nach Auffassung Nelsons auch das Ziel der Machteroberung dieser Partei zu sein, den demokratischen Staat in einen Rechtsstaat zu transformieren.7 Eine Mehrheitsentscheidung darüber, was als Recht zu gelten habe, lehnte Nelson entschieden ab, da er das Recht nicht der Verfügung zufälliger oder willkürlicher Mehrheiten, sondern einzig der »Vernunft« überantworten wollte: »Wollen wir Gerechtigkeit im Staat, so müssen wir uns der Regentschaft des für dieses Amt hinreichend Gebildeten und Rechts­ führenden unterwerfen.«8 Im Internationalen Jugend-Bund, dessen rund dreihundert Mitglieder9 nach kurzen Episoden in der USPD und KPD, seit 1922 in der SPD organisiert waren, ohne zunächst großes Auffal­len zu erregen, sollten sich die von Nelson entwickelten strengen Prinzipien der Er­ziehung und Führerauslese drastisch abbilden und tagtäglich durchgehal­ten werden. Der IJB begriff sich mithin als 144 

Interpreten von Sinn, Sein und Sollen

die Keimform einer »Partei der Vernunft«, als eine Gesinnungsgemeinschaft, die durch Anspannung und Disziplinierung aller geistigen und moralischen Kräfte in jedem Moment des konkreten Verhaltens den Postulaten der sozialistischen Gesellschaft zu entsprechen versuchte. Schon die Grün­dungsgruppe, der studen­tische Zirkel in Göttingen, die sich regelmäßig in Nelsons Haus traf, unterlag strikten Bedingungen, denen sich jeder Einzelne unbe­dingt unterzuordnen hatte: absolut pünktliches Erscheinen, regelmäßiger Besuch der Sitzungen, Pflicht zur Abfassung von Protokollen und zu lautem und deutlichem Sprechen. Persönliche oder familiäre Motive für eine einmalige Absenz vom Sitzungs­termin ließ Nelson nicht gelten und schloss den Fernbleibenden sofort aus der Gruppe aus. Man verglich den IJB zeitgenössisch gerne mit einem jesui­ tischen Orden, und in gewisser Weise traf dies den Nagel auf den Kopf, zumal Nelson selbst seiner Bewunderung für die »im­ ponierende Organisationskunst«10 der Jesuiten Ausdruck gab. Die hierarchische Struktur, ein geheimnisumwittertes Binnensystem von klösterlicher Erziehung, Unterricht und Mission, die harten Prüfungs- und Aufnahmebedingungen und die Ängste vor »weltlich-sündhaften« Einflüssen, so präsentierte sich für die Außenstehenden auch der IJB. Das »Kloster« des Internationalen Jugend-Bundes war die »Walkemühle«, ein Landerziehungsheim in der Nähe des kleinen hessischen Städtchens Melsungen. In Lehrgängen, die sich bis zu drei Jahren erstreckten, spielte sich dort ein großer Teil der Führerausbildung ab, die auch »Autosuggestionsübungen, Atemübungen, Schweigeübungen, Fastenübungen, Geduldsübungen, Übungen im Gedankenabweisen, zur Spannung der Aufmerksamkeit und Körperübungen«11 umschloss. Die »jesuitische« Aura und Hermetik verhinderten im Übrigen, dass Bertrand Russell und Karl R. Popper im IJB mitwirkten, was N ­ elson angestrebt hatte. Poppers »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde« ging gar in ihrem Ursprung auf dessen Auseinandersetzung mit den Nelsonianern zurück.12 Aber immerhin: Für den Freundesrat des IJB gewann Nelson keinen Geringeren als Albert Einstein. In seinem Haus mussten seine Schüler »pünktlich auf die Minute«13 zu den Mahlzeiten erscheinen. Der bulgarische Student Zeko Torbov, später als Professor Pionier der Kantforschung in seinem Heimatland, war in den frühen zwanziger Jahren wähFranz Walter  ■  Leonard Nelson

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rend seines Studiums in Göttingen unter Nelsons Einfluss geraten und durfte ab 1925 in dessen Haus zusammen mit anderen Schülern wohnen. Der Bulgare tat sich zunächst schwer mit der Pedanterie der Regeln, die in der Wohngemeinschaft herrschten: »Ich konnte nicht verstehen, was so schlimm daran war, wenn man nicht pünktlich auf die Minute zum Essen kam oder wenn man sich ein wenig zu den Versammlungen oder der Kursarbeit verspätete.« Doch dann begriff er: »Erst nach längerer Zeit […] begann mir klar zu werden, wie sehr die Pünktlichkeit mit der Achtung und Selbstachtung der Menschen verbunden ist.« Ihm sei ein­ sichtig geworden, »dass diese so einfache Hausordnung nicht nur der Zweckmäßigkeit halber geschaffen worden war, sondern auch wegen Forderungen rechtlicher und ethischer Natur, die verpflichteten, die Rechte der anderen zu achten«.14 Dass Nelson auf Nachlässigkeiten und Aufweichungen derart gereizt, mitunter hysterisch reagierte, konnte auch deshalb nicht verwundern; denn der Internationale Jugend-Bund bedeutete für ihn mehr als eine mögliche Form des politischen Engagements in den Stunden seiner Freizeit. Der IJB war nicht weniger als die Nagel­probe für die Richtigkeit und Praktikabilität seiner Philo­ sophie. Hätten die Mitglieder dort die hohen Anforderungen nicht durchgehalten, dann wäre auch das Ideensystem Nelsons desavouiert worden. Mit dem IJB stand und fiel Nelsons gesam­tes Lebenswerk; bei einem Scheitern des Bundes konnte er sich nicht einfach in sein Studierzimmer zurückziehen. Doch starb Nelson früh, im Jahr 1927. Zu gesellschaftlichem und politisch beträchtlichem Einfluss kamen seine Schüler erst nach 1945 in der Sozialdemokratie, in den Gewerkschaften und im pädagogischen Bereich.

Anmerkungen 1 Vgl. hierzu und im folgenden Holger Franke, Leonard Nelson. Ein biographischer Beitrag unter besonderer Berücksichtigung seiner rechts- und staatsphilosophischen Arbeiten, Ammersbek bei Hamburg 1991, S. 51 ff. 2 Max Born, Mein Leben. Die Erinnerungen des Nobelpreisträgers, München 1975, S. 143 ff. 3 Vgl. Werner Link, Die Geschichte des Internationalen Jugendbundes (IJB) und des Internationalen sozialistischen Kampfbundes (ISK), Marburg 1964, S. 39 ff.; Karl-Heinz Klär, Zwei Nelson-Bünde. Internationaler Jugend-Bund

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Interpreten von Sinn, Sein und Sollen

(IJB) und Internationaler-Sozialistischer Kampf-Bund (ISK) im Lichte neuer Quellen, in: Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (1982), H.  3, S.  310–360; ­Susanne Miller, Leonard Nelson – ein revolutionärer Revisionist, in: Neue Gesellschaft 27 (1982), H. 6, S. 582–584; dies., Kritische Philosophie als Herausforderung zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus, in: Bernhard Heidtmann u. a., Antifaschismus oder Niederlagen beweisen nichts, als dass wir wenige sind, Köln 1983, S. 53–67. 4 Vgl. auch Udo Vorholt, Die politische Theorie Leonard Nelsons. Eine Fallstudie zum Verhältnis von philosophisch-politischer Theorie und konkretpolitischer Praxis, Baden-Baden 1998, S. 48 ff. 5 Vgl. Leonard Nelson, Gesammelte Schriften in neun Bänden, Peter Bernays u. a. (Hg.), Hamburg 1972, Bd. 9, S. 347 f. 6 Ebd., S. 347, 349. 7 Vgl. ebd., S. 410. 8 Ebd., S. 395. 9 Vgl. Franke, S. 154. 10 Ebd., S. 154. 11 Ebd., S. 157. 12 Siehe ebd., S. 163 f. 13 Zeko Torbov, Erinnerungen an Leonard Nelson 1925–1927, Nikolay Milkov (Hg.), Hildesheim 2005, S. 45. 14 Ebd., S. 42 f.

Franz Walter  ■  Leonard Nelson

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Nicolai Hartmann Ein Bewohner des Elfenbeinturms von Danny Michelsen

Nicolai Hartmann war bereits 63 Jahre alt, als er im September 1945 dem Ruf auf einen Lehrstuhl der Universität Göttingen folgte. Die Philosophische Fakultät hatte in ihrem Berufungs­ vorschlag auf die Auflistung anderer Kandidaten verzichtet, mit der Begründung, dass es im Deutschland der unmittelbaren Nachkriegszeit neben Heidegger, der seine Lehrerlaubnis nach einem Entnazifizierungsverfahren verloren hatte, keinen Philosophen gäbe, »der Hartmann gleichwertig wäre«. Man erlaubte sich daher, »ihn unico loco vorzuschlagen«.1 Der so überschwänglich Gelobte nahm dieses Angebot dankbar an, war doch die Zukunft der im sowjetischen Sektor gelegenen Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität, wo Hartmann seit 1931 lehrte, mehr als ungewiss. Noch kurz vor Kriegsende hatte er im Berliner Zentrum  – pflicht­ bewusst, wie seine Studierenden ihn von jeher kannten  – Vorlesungen gehalten, bis Fliegerbomben seine Seminarräume zerstörten und auch die S-Bahn nicht mehr fuhr. Hartmann, der das Großstadtleben hasste und sich deshalb mit seiner Gattin Ida im ruhigen Babelsberg niedergelassen hatte, war fortan von der umkämpften Hauptstadt abgeschnitten und musste seine Lehrtätigkeit zwangsläufig einstellen.2 Während draußen die Flakgeschütze donnerten und der Hunger grassierte, nutzte Hartmann die freigewordene Zeit, um mit der Niederschrift seiner monumentalen »Ästhetik« zu beginnen und über seine persönliche Zukunft nach148 

Interpreten von Sinn, Sein und Sollen

zudenken: Eine Emeritierung kam noch nicht infrage, doch sein Arbeitgeber, der preußische Staat, existierte de facto nicht mehr; die in Trümmern liegende Universität war bis auf Weiteres geschlossen und noch war nicht ganz klar, welchen Machthabern sie nach ihrer Wiedereröffnung unterstehen würde. Gegenüber Vertrauten hatte Hartmann während der Berliner Jahre häufig den Wunsch geäußert, sein Lebenswerk in einer kleinen Universitätsstadt vollenden zu wollen.3 Da kam der Ruf aus Göttingen gerade recht. Die Georgia Augusta konnte am 17.  September 1945 als erste deutsche Universität ihren Lehrbetrieb wieder aufnehmen. Im Gegensatz zu umliegenden Metropolen wie Hannover und Kassel war die Stadt weitgehend unzerstört geblieben  – umso desolater war der geistige Zustand des Philosophischen Seminars der Universität, dessen Nachkriegsblüte unter der kurzen Ära seines neuen Direktors Nicolai Hartmann erst noch bevorstand. In den dreißiger Jahren waren die beiden führenden Göttinger Philosophieprofessoren, Georg Misch und der Husserl-Schüler Moritz Geiger, auf der Grundlage der Nürnberger Rassegesetze zwangsemeritiert worden; auf Mischs Lehrstuhl hatte man mit Hans Heyse einen dem NS-Regime auf das Engste verbundenen, intellektuell wenig originellen Neoplatoniker berufen.4 Nach der Entlassung Heyses durch die britische Militärregierung im Juli 1945 ergab sich die Chance zu einem raschen Neuanfang. Denn Hartmann, der auf politische Stellungnahmen zeitlebens weitgehend verzichtete und dessen in Göttingen entstandene »Einführung in die Philosophie« nicht ein Wort über politische Theorie oder Geschichtsphilosophie enthielt, hatte in Bezug auf sein Verhältnis zur nationalsozialistischen Regierung einen ganz anderen Gelehrtentypus dargestellt als Heyse und natürlich Hartmanns großer Antipode auf dem Gebiet der Ontologie, Martin Heidegger. Seine Haltung während der NS-Zeit mit dem ohnehin vagen Begriff der »inneren Emigration« zu beschreiben, ist jedoch nicht unproblematisch. Während die einen in den universalistischen Implikationen seiner Wertethik und anhand Hartmanns versteckter Kritik an biologistischen Argumentationen »unverkennbare Distanzierungen von der NS-Ideologie« erkennen,5 messen andere Autoren formalen Tatsachen wie Hartmanns Unterzeichnung des 1934 im »Völkischen Beobachter« abgedruckten WahlDanny Michelsen  ■  Nicolai Hartmann

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aufrufs »Deutsche Wissenschaftler hinter Adolf Hitler« größeres Gewicht bei.6 Hartmann war sicher kein überzeugter National­ sozialist, war nie Parteimitglied gewesen. Nach Aussagen seiner Gattin hatte er jedoch, anfangs zumindest, das Wirtschaftsprogramm der NSAP zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit begrüßt, die er bereits in den Zwanzigern als das drängendste Problem des Landes definiert hatte.7 Ein solches Nutzendenken, auf das man in der Hartmann’schen Biografie mitunter stößt, mutet bei der Lektüre der 1925 erschienenen »Ethik« befremdlich an. Betont Hartmann doch im Ein­ verständnis mit Kants Pflichtethik und gegen utilitaristische Konzepte, dass das Gute an sich gut sei und nicht erst als Mittel zu etwas seine sittliche Qualität erhalte. Die jüdische Psychologin Ruth Cohn, die in den dreißiger Jahren bei Hartmann studierte, berichtet, wie tief enttäuscht sie darüber war, dass die von ihrem Lehrer vertretene Wertethik diesen zu keiner Reaktion drängte, als SA-Männer einige ihrer Kommilitonen aus Hartmanns Vorlesung zerrten und verprügelten.8 Man kann eigentlich nicht behaupten, dass Hartmann im Einverständnis mit seiner Lehre weggesehen hat. Zwar wird gelegentlich bemängelt, dass seine Ethik, die ein ideales »Ansichsein« sittlicher Werte als »reines WertApriori« postuliert,9 keineswegs so antirelativistisch ist, wie sie vorgibt.10 Denn die Werte, die »dem Subjekt als dem Wertenden gegenüber Absolutheit« haben, sind zwar im Bewusstsein jedes Menschen ursprünglich enthalten, müssen jedoch erst durch »­Gefühlsakte« als solche erkannt oder besser: empfunden werden.11 Hier tritt der intuitionistische Charakter dieser Ethik hervor, aber das Argument, die faschistischen Werte würden nach dieser Lehre ebenfalls absolut werden, sobald die Menschen sich vom Glauben an den Führer beseelt fühlen, hielte den Ausführungen Hartmanns nicht stand. Denn nach ihm seien alle Menschen, die nicht zu den ursprünglichen Werten gelangen  – Hartmann nennt u. a. Gerechtigkeit, Weisheit, Nächstenliebe  – als sittlich unreif anzusehen.12 Nach einem Hinweis darauf, dass Hartmann den Nazis rückblickend solche »Werttäuschungen« attestiert hätte, sucht man indes vergebens.13 Als ihm ein zum Kriegsdienst ein­ berufener Student vom Genozid an der Ostfront erzählte und nach seiner Meinung fragte, soll Hartmann geantwortet haben, dieses Problem sei ihm »viel zu speziell!«14 Der Gelehrte im Elfenbein150 

Interpreten von Sinn, Sein und Sollen

turm – auf Hartmann passt die alte Metapher noch immer mit erstaunlicher Präzision. Wie immer man Hartmanns Verhalten vor dem Hintergrund seiner eigenen praktischen Philosophie insgesamt bewerten mag: Gerade seine Tugendlehre spiegelt seine Lebensweise zum Teil sehr deutlich wider. Etwa wenn er auf die »ethische Armut des Asketen« schimpft, der die Affekte als »Wurzel des emotionalen Lebens« verleugnet, gleichzeitig aber die »innere Schönheit des charakterlich durchgebildeten und gefestigten Menschen« lobt, der das »Unmaß« hedonistischen und asketischen Daseins durch Selbstbeherrschung überwindet.15 Hartmann, dessen hagere und kleinwüchsige Physiognomie, dessen unermüdliches Publizieren, dessen Ernst und kühle Distanziertheit gegenüber Schülern und Kollegen als äußere Zeichen strenger Selbstdisziplin gedeutet wurden,16 war durchaus ein gefühlvoller Mensch. Seine Ablehnung »leidenschaftlichen Denkens« wie das N ­ ietzsches oder ­Kierkegaards zugunsten einer dezidiert »wissenschaftlichen« Philosophie17 und sein nüchterner, für einen Philosophen seiner Generation überraschend klarer Schreibstil täuschen leicht darüber hinweg, dass der in Riga geborene Baltendeutsche ein leidenschaftlicher Kenner russischer Poesie und begeisterter Kinobesucher war.18 Unnötigen Luxus hingegen verabscheute er, und sein Tagesablauf war vollkommen auf das Ziel ausgerichtet, der Nachwelt ein ebenso originäres wie lückenloses Lehrgebäude zu hinterlassen, ohne aber seine akademischen Pflichten in irgendeiner Weise zu vernachlässigen. Er stand erst gegen Mittag auf, um von seinem in der gutbürgerlich geprägten Göttinger Oststadt gelegenen Haus im Hainholzweg  64 den Stadtwall hinunter zum großen Hörsaal in der Lotzestraße zu gelangen und dort seine Lehrpflichten wahrzunehmen. Erst in der Nacht begann er mit der eigentlichen Schreib­ arbeit, die er meist gegen fünf Uhr morgens beendete. In Marburg, wo Hartmann von 1920 bis 1925 seine erste Professur erhalten hatte und wo es zu einem direkten Aufeinandertreffen mit dem nicht minder emsigen Heidegger gekommen war, hatten die Studierenden für das seltsam kühle Verhältnis ihrer Lehrer eine einfache Erklärung angeführt: Danach konnte Hartmann mit dem Frühaufsteher Heidegger schon deshalb nichts anfangen, weil sein Kollege in den späten Abendstunden, da er selbst erst richtig wach wurde, für gewöhnlich zu Bett ging, um sich am nächsten Tag in Danny Michelsen  ■  Nicolai Hartmann

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aller Frühe an die Arbeit zu machen, wenn Hartmann sich gerade zur Ruhe begab. So wurde das Bonmot von der »philosophia ­perennis«, der »ewigen Philosophie« in Marburg, geboren.19 Aber die Differenzen der beiden Denker waren eben nicht auf die Lebensweise beschränkt. Bei ihren Bemühungen, eine neue Seinslehre zu begründen, nahmen sie einander vornehmlich als Rivalen wahr. So wandte sich Hartmann entschieden gegen die von Heidegger als Grundfrage der Ontologie formulierte Frage nach dem »Sinn von Sein«, da er in diesem Ansatz eine unzureichende »Relativität des Seienden auf den Menschen« ver­mutete.20 Auch Heidegger polemisierte in seinem Hauptwerk Sein und Zeit gegen seinen Kollegen, von dem er meinte, dass er »dem Niveau der von ihm exponierten Problematik« nicht gerecht werde.21 Wenngleich Hartmanns Schüler schon damals scharenweise in die Seminare des ungleich charismatischeren Heidegger überliefen und obwohl er keine eigene Schule mit treu ergebenen Anhängern begründete, stand sein Ruhm dem seines Rivalen in nichts nach. Seine Werke wurden bereits zu Lebzeiten in diverse Sprachen übersetzt, die 1921 erschienene »Metaphysik der Erkenntnis« wurde als ein »Durchbruch zum Realismus«22 gefeiert, als ein »Weg ins Freie«23, hinaus aus den spekulativen Verirrungen ­idealistischer Metaphysik. Mit diesem Buch hatte Hartmann seine endgültige Emanzipation von der Marburger Schule vollzogen, die von seinen ehemaligen Lehrern Paul Natorp und Herman Cohen aufgebaut worden war und deren extrem idealistischen Positionen er in seiner Studienzeit durchaus nahegestanden hatte. Gleich­ zeitig bildete es den Grundstein für sein Projekt einer »kritischrealistischen Ontologie«, die auf religiös-transzendente Elemente verzichtet und eine »natürliche Einstellung auf den Gegenstand«, eine vom Alltagsbewusstsein geleitete induktive Methodik vertritt.24 Das Ziel ist die Beschreibung der »realen Welt«, die Hartmann aus vier »Seinsschichten« aufgebaut sieht, von denen jede wiederum eigene »Fundamentalkategorien« aufweist.25 Es ist vor allem diese »Schichtenontologie«, die Hartmann einen Platz in der Philo­sophiegeschichte gesichert hat, wenngleich er im Laufe seines akademischen Lebens zu einer Vielzahl anderer Disziplinen forschte: Außer zur Ethik konnte er vielbeachtete Schriften zur Erkenntnistheorie und zur Philosophie des Geistes vorlegen; zudem arbeitete er in Göttingen emsig an den noch aus Berlin mit152 

Interpreten von Sinn, Sein und Sollen

gebrachten Manuskripten zur »Philosophie der Natur«, die kurz vor seinem tödlichen Schlaganfall im Oktober 1950 erschien, sowie zur »Ästhetik«, die erst drei Jahre später postum veröffentlicht wurde. Vielleicht bietet gerade die Tatsache, dass Hartmann eines der thematisch umfassendsten philosophischen Werke des 20.  Jahrhunderts hinterließ, zugleich eine Erklärung dafür, dass sein Name außerhalb von Philosophieseminaren heute weitestgehend unbekannt ist, dass er »zwar seine Epoche bestimmt, aber nicht – wie Heidegger  – Epoche gemacht hat«.26 Gelegentlich wird von seinen Kritikern bemängelt, dass seine Überlegungen »an keiner Stelle zu einem abgeschlossenen System« geführt und »Lösungen von bloß hypothetischer Gewissheit« angeboten hätten.27 Auch die Divergenz zwischen Hartmanns Anspruch, eine empirisch geerdete Ontologie zu entwerfen, und seinem Bestreben, naturwissenschaftliche Resultate aufgrund eigener Befunde zum Wesen des Seins anzuzweifeln, war seiner Rezeption sicher nicht förderlich. In der »Philosophie der Natur« etwa, die sich zugleich als Abschluss von Hartmanns vierbändiger Arbeit zur Ontologie versteht und als solche die beiden untersten Seinsschichten behandelt, gelangte er über eine Analyse von Raum, Zeit und Kosmos zu einer Kritik der Relativitätstheorie und Quantenphysik, die ihn unter Vertretern moderner Physik und Wissenschaftsphilosophie völlig isolierte.28 Es mag daher nicht überraschen, dass der Einzelgänger Hartmann seinen Kollegen Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker vom Göttinger Max-Planck-Institut für Physik bis zu seinem Tod aus dem Wege ging.29

Anmerkungen 1 Günther Patzig, Nicolai Hartmanns Göttinger Zeit (1945–1950), in: Symposium zum Gedenken an Nicolai Hartmann (1882–1950), Göttingen 1982, S. 9–12. 2 Vgl. Wolfgang Harich, Nicolai Hartmann. Leben, Werk, Wirkung, Würzburg 2000, S. 30. 3 Robert Heiß, Nicolai Hartmann, in: ders. u. a. (Hg.), Nicolai Hartmann. Der Denker und sein Werk. 1952, S. 15–28, hier S. 23. 4 Vgl. Hans-Joachim Dahms, Aufstieg und Ende der Lebensphilosophie. Das philosophische Seminar der Universität Göttingen zwischen 1917 und 1950, Danny Michelsen  ■  Nicolai Hartmann

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in: Heinrich Becker u. a. (Hg.), Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus, München 1998, S. 287–317, hier S. 303 f. 5 Vgl. Martin Morgenstern, Nicolai Hartmann zur Einführung, Hamburg 1997, S. 25. 6 Vgl. Gerhard Danzer, Nicolai Hartmann, in: ders., Wer sind wir? Anthro­ pologie im 20. Jahrhundert. Ideen und Theorien für die Formel des Menschen, Berlin 2011, S.  45–58, hier S.  48. Haug erkennt darüber hinaus eine geistige Annäherung Hartmanns an den Nationalsozialismus in dessen Rede auf dem 12. Deutschen Philosophenkongress, die er im Oktober 1933 hielt: vgl. Wolfgang F. Haug, Nicolai Hartmanns Neuordnung von Wert und Sinn, in: ders. (Hg.), Deutsche Philosophen 1933. Hamburg 1989, S. 159–187. 7 Vgl. Morgenstern, Nicolai Hartmann, S. 26. 8 Vgl. Gerhard Danzer, Nicolai Hartmann, S. 48. 9 Nicolai Hartmann, Ethik, Berlin 1949, S. 116, 149. 10 Vgl. z. B. Morgenstern, Nicolai Hartmann, S.  129 f.; Haug, Nicolai Hartmanns Neuordnung von Wert und Sinn, S. 179. 11 Nicolai Hartmann, Ethik, S. 148 f. 12 Ebd., S. 156 ff. 13 Zum Begriff der »Werttäuschung« vgl. ebd.; zur mangelhaften Quellenlage in Bezug auf Hartmanns politische Anschauungen vgl. Morgenstern, Nicolai Hartmann, S. 26. 14 Vgl. Harich, Nicolai Hartmann, S. 26. 15 Hartmann, Ethik, S. 436 f. 16 Vgl. Patzig, Nicolai Hartmanns Göttinger Zeit, S. 10. 17 Vgl. Heiß, Nicolai Hartmann, S. 24. 18 Vgl. Morgenstern, Nicolai Hartmann, S. 21. 19 Vgl. ebd., S. 21 f.; Patzig, Nicolai Hartmanns Göttinger Zeit, S. 10. 20 Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie. Berlin 1965, S. 40. 21 Martin Heidegger, Sein und Zeit. Tübingen 1963, S. 208. 22 Johannes B. Lotz, Zwei Wege der Ontologie – Nicolai Hartmann und Martin Heidegger, in: Alois J. Buch (Hg.), Nicolai Hartmann 1882–1982, Bonn 1982, S. 208. 23 Heiß, Nicolai Hartmann, S. 17. 24 Vgl. Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, Berlin 1965, S. 46 ff. 25 für einen Überblick vgl. Hartmanns Selbstdarstellung in: Werner Ziegenfuss (Hg.), Philosophen-Lexikon. Berlin 1949, S. 454–471, hier S. 455 ff. 26 Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831–1933, Frankfurt 1983, S. 259. (Hervorhebung im Original) 27 Vgl. Hans-Michael Baumgarten, Unbedingtheit und Selbstbestimmung. Zum Verhältnis von Autonomie der Person und Autonomie der Werte in Nicolai Hartmanns Ethik, in: Symposium zum Gedenken an Nicolai Hartmann (1882–1950), S. 40–53, hier S. 40. 28 Vgl. dazu Morgenstern, Nicolai Hartmann, S. 94 f., 99 f. 29 Vgl. Harich, Nicolai Hartmann, S. 32.

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Interpreten von Sinn, Sein und Sollen

Helmuth Plessner Der späte Soziologe von Franz Walter

Es war vielleicht das Stadtgespräch schlechthin im Göttinger Sommer 1952: das neue Haus in der Herzberger Landstraße 97. Nicht wenige Göttinger Bürger unternahmen in diesen Wochen ihren sonntäglichen Spaziergang in das Ostviertel, um nah am Wald den fast etwas versteckt gelegenen Neubau näher in Augenschein zu nehmen. Dergleichen hatte die Stadt bislang kaum gesehen. Ein alleinstehender Professor, aus der niederländischen Emigration nach Göttingen gekommen, hatte sich noch im Alter von sechzig Jahren ein Haus bauen lassen. Mit dem Plan für sein neues Heim hatte er eine Frau betraut, die Architektin Lucy Hillebrand, vor 1933 Mitglied im Deutschen Werkbund und Zugehörige der Architektenavantgarde der zwanziger Jahre, die nach klaren Linien und ornamentfreien Gradlinigkeiten bei ihren Bauvorhaben strebte. Lucy Hillebrand warb für das »große Einfache«, entwarf ihre Pläne insbesondere für Jugendherbergen, Schulen, später Jugendzentren.1 Aber nun, im Jahr 1952, errichtete sie dem Professor Helmuth Plessner einen »Junggesellenbungalow«, der sich rundum als »Professorenhaus«, als eine ideale Stätte der »geistigen Arbeit« präsentierte, wie es im »Merian«-Heft über Göttingen im gleichen Jahr hieß.2 Alles war auf die geistige Arbeit hin konzipiert, auch auf die Interaktion einer größeren Gruppe intellektueller Diskutanten in einer zweigeschossig angelegten Halle. Der Bibliothek war Franz Walter  ■  Helmuth Plessner

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ebenfalls angemessen Raum gegeben worden. Dagegen herrschte in den Zimmern, die allein dem Schlaf, der Körperreinigung und der Nahrungsaufnahme dienten, eine erhebliche Enge. Im Übrigen war das Haus offen, entbehrte in höherem Maße als sonst üblich der Türen, auch der verspielten Accessoires oder gar der üppigen Dekorationen. Eine Ausnahme bildeten die »Beckmanns« an den Wänden, welche die Gäste beschauen durften und gewiss bewundern sollten.3 Auch wenn Plessner einige Monate nach dem Einzug Frau Monika Tintelnot heiratete – für eine möglicherweise gar wachsende Familie war das Haus nicht gedacht. Nachwuchs stellte sich auch nicht ein. Jedenfalls: 1952 wurde in der Stadt viel geredet und gelästert über die kühl-moderne Heimstätte des im Jahr zuvor vom holländischen Groningen nach Göttingen übergesiedelten Professors.4 Die NS-Jahre lagen kaum zurück. Die Erfahrung von Boom und Wohlstand stand erst noch bevor. Das gebildete Bürgertum, das gerade in Göttingen in großen Teilen dem Nationalsozialismus zugeneigt gewesen war und sich oft Kollegen jüdischer Herkunft gegenüber nach 1933 besonders schäbig verhalten hatte, haderte seit dem Frühjahr 1945 mit dem anfänglichen Reputationsverlust, auch mit den materiellen Einbußen. In dieser Stimmung5 neidete der eine oder andere Professor dem Emigranten, welcher der Man­ darine der Stadt allein durch sein Dasein ein steter Stachel im Verdrängungsbemühen war, sein aufsehenerregendes Eigenheim in Göttingens bester Wohnlage. 38 Jahre zuvor hatte Helmuth Plessner zum ersten Mal Göttinger Boden betreten. Damals, im Juli 1914, logierte er im Gebhards Hotel.6 Er wollte bei Edmund Husserl studieren, dem Star der nachwachsenden Generation von Studierenden der Philosophie in den Ausgangsjahren der wilhelminischen Epoche. Die Phänomenologie, die Husserl lehrte, erschien Plessner und seinen Alters­ genossen als eine Art Revolte gegen die Tradition innerhalb der Philosophie und versprach, frischen Wind in das dürre Epigonentum der Zunft hineinzubringen. Vom Hotel aus machte sich Plessner mit Zylinder und feinem Gehrock auf zu den Füßen des Rohns, wo Husserl mit seiner Familie in einer mit Zacken und Türmen drapierten Villa residierte. Der »Meister«, wie ihn seine Schüler hinterrücks etikettierten, nahm Plessner in seinen Kreis auf. Und dieser blieb in Göttingen, bis Husserl – dessen Neigung zum 156 

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Monolog Plessner doch recht bald schon als durchaus störend, als für die eigene Fortentwicklung wenig förderlich empfand – 1916 nach Freiburg wechselte. Plessner folgte Husserl, der ihm nie unumstrittener »Meister« geworden war, allerdings nicht, sondern ging nach Erlangen, wo er Ende des Jahres vom Kantianer Paul Hensel promoviert wurde. Vor seiner Göttinger Episode hatte Plessner seine Studienzeit in Heidelberg verbracht, hatte noch den Glanz der Familie Weber miterlebt. Denn Plessner gehörte mit 21 Jahren zu den privilegierten Jungakademikern, die 1913 an den Sonntagnachmittagen zur Teilnahme am Jour fixe von Marianne und Max Weber geladen worden waren.7 Plessner, der im Wesentlichen Zoologie studiert hatte, gehörte nicht zu den signifikanten Stars der Runde. Diese Stellung hatte sich vielmehr Georg Lukács erobert, gar mehr noch Ernst Bloch, der – wie sich Plessner oft ein wenig säuerlich erinnerte – in der Wohnung der Webers die großen Reden schwang. Auch dürfte Plessner Blochs Schwarmgeisterei nicht recht goutiert haben. Dafür war der junge Plessner zu sehr Naturwissenschaftler. Die Zoologie stand bei ihm am Anfang; hinzu kam darauf die Philosophie, dann die Soziologie – mit dem Versuch, all diese heterogenen Elemente zu verknüpfen, um so das klassische Schisma der Wissenschaft in Natur- und Geisteswissenschaft aufzuheben. Das war ein anspruchsvolles Programm; und im kleinen Kreis machte Plessner auch keinen Hehl daraus, dass ihn der Ehrgeiz leitete, zum Hegel des zwanzigsten Jahrhunderts zu werden. Sein produktivstes Jahrzehnt waren fraglos die zwanziger Jahre. Hier entstanden seine beachtlichsten Werke. Aber eine glück­liche Dekade wurde es nicht für ihn. Seine Habilitation erfolgte im Jahr 1920 in Köln. Auch machte er sich einen Namen als Exponent der »Philosophischen Anthropologie«. Aber die rechte Anerkennung blieb ihm versagt. Sein Rivale, der zwölf Jahre jüngere Arnold Gehlen, zog mehr Interesse auf sich, sein Lehrer Max ­Scheler bezichtigte Plessner gar des Plagiats. Und dann war da noch der weithin bewunderte Denker aus dem badischen Meßkirch, Martin Heidegger also, dessen »Sein und Zeit« alles überstrahlte bzw. in den Schatten stellte, was sonst noch aus dem Spektrum der universitären Philosophie in der zweiten Hälfte der Weimarer Jahre entstand. So blieb Plessner ein mittelloser Privatdozent an der von Konrad Adenauer protegierten Kölner Hochschule. Seine Franz Walter  ■  Helmuth Plessner

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Bücher schrieb er, mangels Geld für eine »Bude« in Köln auch während der Semesterferien, durchweg in Wiesbaden, im Hause der Eltern.8 Aufsehen erregte seine 1924 erschienene Schrift »Grenzen der Gemeinschaft«, mit der er den Mythos und Radikalismus des Gemeinschaftskults der Jugendbewegung und der politischen Flügelformationen jener Jahre heftig attackierte.9 Der Drang zur Gemeinschaft zerstöre die Individualität, die Würde des Einzelnen, argumentierte er. Als Hauptwerk Plessners galt das vier Jahre später erschienene Buch »Die Stufen des Organischen und der Mensch«. Mit seinen Werken, die zwischen der Historie, der Soziologie, der Philosophie und der Anthropologie oszillierten, wollte er der Fragmentierung und Spezialisierung der modernen Wissenschaft entgegentreten. Kritisch wandte er sich dabei gegen den Verfolg von Gesetzmäßigkeiten in der wissenschaftlichen Analyse und Argumentation. Seine Philosophie adelte demgegenüber die Skepsis, gerade auch im Kontrast zum Glücksversprechen deterministisch begründeter Zukunftsentwürfe.10 Als Plessner 1933 Deutschland verlassen musste, weil sein Vater jüdischer Herkunft war, und über die Türkei 1936 in das niederländische Groningen kam, machte er diesen Punkt noch stärker, da er die eugenische Programmatik und Praxis der Nationalsozialisten geißelte, seine Einwände im Folgenden zu einer weitflächigen Kritik an den modernen Bauplänen am Menschen ausdehnte: »Deshalb gilt es, der ständig rücksichtsloser werdenden Anmaßung der Politiker, Ökonomen, Ärzte, in Sachen Sterilisation, Eugenik, Rassenpolitik, Menschenzüchtung, das heißt dem Können des Menschen, sein Schicksal zu spielen, eine Schranke zu setzen. Der Mensch ist durch sein Können eine Bedrohung seiner Zukunft geworden, weil er sein Können nur durch Mehrkönnen überwinden wird, aber keine Gewähr dafür besteht, dass nicht die Menschheit unterdessen auf der Strecke bleibt. Hier zeigt sich der eigentliche Zweck der philosophischen Anthropologie, das Können des Menschen durch grenzenlose Einschränkung des Wissens um seine Unergründlichkeit und Unsicherheit gegen den Quellenbereich seiner Zukunft einzuschränken, um zum Glauben an den Menschen wieder Platz zu bekommen.«11

Dabei war Plessner zum Ende der Weimarer Republik selbst ebenfalls in die Nähe der radikalen Rechten geraten. Mit Carl Schmitt verband ihn Einiges. Gelegentlich frühstückte man miteinander, aß zu Mittag und verstand sich vortrefflich.12 Schmitt gefielen die 158 

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Schriften von Plessner. Dieser wiederum nutzte Schmitts Definition des Politischen und der Souveränität.13 1933 indes trennten sich ihre Wege; und sie führten hernach  – trotz eines Vorstoßes von Carl Schmitt – nicht mehr zueinander. Im niederländischen Exil entstand Plessners »Das Schicksal des Deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche«, das den interessierten Deutschen mehrheitlich erst seit den späten fünfziger Jahren, nun unter dem bald in Akademiegesprächen gern rezitierten Titel »Die verspätete Nation« bekannt wurde. Zu diesem Zeitpunkt lehrte Plessner bereits seit acht Jahren an der Georg-August-Universität in Göttingen. Allerdings hatte er keine Professur für Philosophie erhalten, was ihn unzweifelhaft schmerzte. Man hatte Plessner auf einen neu etablierten Lehrstuhl für Soziologie berufen. Viele Ordinarien gab es seinerzeit noch nicht in der Soziologie, die als vermeintlicher Import der Siegermächte von den Vertretern der Traditionsfächer scheel angesehen wurde. Insgesamt waren es 1950 gerade sechs Lehrstuhlinhaber in der ganzen Bundesrepublik.14 Plessner baute das Fach in Göttingen allmählich auf. Zunächst hauste das Seminar für Sozio­logie unter den Dächern des alten Reitstalls der Universität. Ein großes Opus gelang Plessner nicht mehr in seiner Göttinger Zeit, da er endlich das begehrte universitäre Amt und die Präsidentschaften in den Gesellschaften für Soziologie und für Philosophie erlangte. Es blieb bei »politischen Gelegenheitsschriften«, wie sein chronischer Widersacher Helmut Schelsky bissig kommentierte.15 Plessners Freunde bezeichneten diesen hingegen wohlwollend als einen »Meister der kleinen Form«16. Zwischenzeitlich vertrat Plessner den für ein Jahr in den USA weilenden Theodor W. Adorno im Frankfurter Institut für Sozialforschung, schloss dort eine Art »Vernunftehe« – wie er sich selbst ausdrückte  – mit Max Horkheimer.17 Wie dieser, so entwickelte sich auch Plessner mehr zu einer Art Wissenschaftsmanager, der gute Kontakte zur neuen Volkswagenstiftung unterhielt, was die Zuwendungen von Wolfsburg nach Göttingen für die Soziologie auch auf Weiteres begünstigte.18 Mit Plessner begann, was die Soziologie in dieser Stadt seither charakterisierte: Man betrieb So­ zialforschung, empirisch, tatsachenorientiert, wie ihr Gründungsvater gerne ausführte; man mochte aber auch befinden: kleinteilig, ohne aufregende Perspektiven und Inspirationen. Ein Zentrum inFranz Walter  ■  Helmuth Plessner

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tellektuell ausstrahlender gesellschaftlicher Zeitdiagnostik wurde die Soziologie an der Georgia Augusta nicht. Schon die erste große Studie, die Plessner nach Göttingen geholt und mit et­lichen Mitarbeitern und üppiger Förderungssumme durchgeführt hatte, versandete in der Bedeutungslosigkeit.19 Es ging um wissenschaftliche Karrieren; dafür hatte man weiträumige Befragungen unternommen, die Ergebnisse in drei Bänden kompiliert. Aber als die Bücher herauskamen, war die Personalentwicklung an den Universitäten längst über den sozialforscherischen Befund und die soziologische Prognostik hinweggegangen. 1960/61 stand Plessner als Rektor an der Spitze der Göttinger Universität. Schon zuvor hatte er Seminare in und um Göttingen angeregt, »die interessierte Menschen aus allen sozialen Schichten unter Anleitung akademischer Lehrkräfte mit den wissenschaftlichen Methoden und Forschungsergebnissen ihres Interessengebietes vertraut machen«20 sollten. Das stieß zunächst auf Argwohn und Reserve im Chor der Professoren, aber fand bald auch über Göttingen hinaus Anerkennung, gar Nachahmung an anderen universitären Standorten, wenngleich ohne nachhaltige Wirkung. 1962 lief die Göttinger Universitätslaufbahn für Plessner ab. Er wurde emeritiert, bekam aber im Anschluss gleich die erste Theodor-Heuss-Professur an der New School for Social Research in New York. Doch länger als ein Jahr mochte er dort nicht bleiben; es missfiel ihm, Wissenschaft in der ihm letztlich fremden eng­lischen Sprache zu betreiben. Es zog die Plessners dann an den Zürichsee. Als die Krankheiten und Gebrechlichkeit sich mehrten, kehrte das Paar nach Göttingen zurück in den Wohnstift Göttingen-Grone. Hier starb Plessner 1985 im Alter von 92 Jahren. Seine Urne wurde nicht in Deutschland, sondern in der Schweiz, am Zürich­see bestattet.

Anmerkungen 1 Siehe http://www.werkbundnord.de/nordlicht.php?nordlicht_id=8&nord_ start=10. [eingesehen am 09.01.2012]. 2 Vgl. Albrecht Bürkle, Das Haus des Professors, in: Merian 6 (1953), H. 1, S. 41. 3 Siehe auch Rudolf Smend, Zwischen Mose und Karl Barth, Tübingen 2009, S. 66.

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4 Hierzu und im Folgenden insgesamt vgl. Carola Dietze, Nachgeholtes Leben. Helmuth Plessner 1892–1985, Göttingen 2006, S. 365 ff. 5 Zu dieser Stimmung vgl. auch Dietrich Goldschmidt, Geleitwort, in: Jürgen Friedrich u. a. (Hg.), Unter offenem Horizont, Frankfurt a.M.1995, S. ­11–17, hier S. 12. 6 Vgl. Helmuth Plessner o.T., in: Ludwig J. Pongratz (Hg.), Philosophie in Selbstdarstellungen, Hamburg 1975, S. 269–307. 7 Siehe den Rückblick von Helmuth Plessner, In Heidelberg 1913, in: René ­König u. a. (Hg.), Max Weber zum Gedächtnis, Köln 1963, S. 30–34. 8 Hierzu vgl. Monika Plessner, Die Argonauten auf Long Island, Berlin 1995, S. 39. 9 Siehe vor allem Kai Haucke, Plessners »Grenzen der Gemeinschaft«. Eine Kritik des deutschen Idealismus, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie  48 (2000), S.  237–264; Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Lebens­versuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a.M.1994, S. 75 ff. 10 Vgl. Richard Breun, Helmuth Plessner, in: Julian Nida-Rümelin (Hg.), Philosophie der Gegenwart. In Einzeldarstellungen, Stuttgart 1991, S. 448–445. 11 Zit. in: Andreas Kuhlmann, Souverän im Ausdruck. Helmuth Plessner und die »neue Anthropologie«, in: Merkur 45 (1991), S. 691–702, hier S. 695. 12 Siehe die Eintragungen bei Carl Schmitt, Tagebücher 1930 bis 1934, Wolfgang Schuller in Zusammenarbeit mit Gerd Giesler (Hg.), Berlin 2010, S. 37 ff., 104, 147, 439 ff. 13 Vgl. auch Norbert Axel Richter, Unversöhnliche Verschränkung. Theoriebeziehungen zwischen Carl Schmitt und Helmuth Plessner, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 49 (2001), H. 5, S. 783–799. 14 Hierzu vgl. Heinz Bude, Die Charismatiker des Anfangs. Helmuth Plessner, René König, Theodor W. Adorno und Helmut Schelsky als Gründer einer Soziologie in Deutschland, in: Günter Burkart u. a. (Hg.), Lebenszeiten. Erkundungen zur Soziologie der Generationen, Opladen 2002, S.  407–419, S. 408. 15 Zit. in: Helmut Schelsky, Rückblicke eines »Anti-Soziologen«, Opladen 1981, S. 137. 16 Zit. in: Christoph Dejung, Helmuth Plessner. Ein deutscher Philosoph zwischen Kaiserreich und Bonner Republik, Zürich 2003, S. 433. 17 Hierzu vgl. Monika Plessner, Die Argonauten, S. 70. 18 Vgl. auch Schelsky, Rückblicke eines »Anti-Soziologen«, S. 140. 19 Siehe ebd., S. 438. 20 Klaus Düwel u. a. (Hg.), Volkshochschule Göttingen 1948, Göttingen 1988, S. 101.

Franz Walter  ■  Helmuth Plessner

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Karl Barth »Genosse Pfarrer« und »Kirchenvater des 20. Jahrhunderts« von Jens Gmeiner

Wirklich wohlwollend äußerte sich Karl Barth nicht über seine deutschen Professorenkollegen in Göttingen, als er im Jahre 1921 einen Lehrstuhl an der hiesigen theologischen Fakultät annahm. Zu konservativ und nationalistisch schien dem Schweizer Theologen und Sozialdemokraten Barth die Professorenschaft, deren Angehörige nach seinen Angaben »noch alle auf Schwarz-WeißRot schworen und auf den Kaiser und auf Bismarck usf.«1 Karl Barth lehrte zwar nur vier Jahre, von 1921 bis 1925 in Göttingen; aber auch während seiner Göttinger Zeit schwamm Barth, wie in seinem ganzen Leben, gegen den Strom der Zeit, predigte und agierte gegen den politischen Konservatismus, hinterfragte kritisch die herrschenden Maximen der Theologie und Politik. Karl Barths Leben und Wirken waren und sind für viele noch immer eine intellektuelle Herausforderung, für manche wohl auch eine Zumutung, weil er früh schockierte, aufrüttelte und politische sowie theologische Themen neu durchdachte. Sein Kommentar zum Römerbrief, der im Jahr 1917 fertiggestellt wurde, schaffte all das. Das Werk polarisierte und trennte theologisch Christus und das Reich Gottes von allen menschlichen Ideologien und Ent­ würfen. Barth begründete damit die »Wort-Gottes-Theologie«2. Zuallererst war Karl Barth Theologe und dann Politiker, weil er seine politischen Prinzipien aus der Mitte des Evangeliums  – 162 

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von Jesus Christus – ableitete: »Genosse Pfarrer« nannten ihn die Gemeindemitglieder seiner ersten Pfarramtsstelle im Aargau im Norden der Schweiz. Später dann bezeichneten ihn manche evan­ gelische Kreise aufgrund seiner theologischen Gesamtleistung als »Kirchenvater des zwanzigsten Jahrhunderts«. Und wahrlich ist das 20. Jahrhundert ohne das intellektuelle und moralische Wirken dieses Politikers und Theologen nicht denkbar. Geboren wurde Karl Barth am 10. Mai 1886 in Basel als Sohn eines evangelisch-reformierten Theologen und Pfarrers. Der junge Barth wuchs in Bern auf, da sein Vater dort als Dozent an der Universität Dogmatik lehrte. Für die Schule konnte sich Karl Barth nicht wirklich begeistern, was auch in seiner Rede anlässlich seines Abiturs Thema war. Barth nahm schon in jungen Jahren kein Blatt vor den Mund und forderte während seiner Studienzeit in Bern von seiner Studentenverbindung »Zofingia« soziales En­gagement für die Schwächsten der Gesellschaft. Zugleich lernte er aufgrund mehrfacher Studienwechsel, unter anderem nach Berlin, Tübingen und Marburg, alle vorherrschenden theologischen Richtungen kennen und traf auf die profiliertesten Vertreter dieser Schulen. In Berlin stieß Barth auf den berühmten Adolf von Harnack, in Tübingen auf Adolf Schlatter und in Marburg, der damaligen Hochburg der liberalen Theologie, auf Wilhelm Herrmann. Dieser sollte neben Rudolf Bultmann, wohl einer seiner bekanntesten Schüler, auch Karl Barth in seinem theologischen Denken prägen. Weit bedeutender für Barth wurde aber die Annäherung an die religiös-soziale Bewegung in der Schweiz, die vor allem von den Schweizer Theologen Leonhard Ragaz und Hermann Kutter sowie dem württembergischen Pfarrer und späteren SPD-Landtagsabgeordneten Christoph Blumhardt3 getragen wurde. Trotz Sympathien und Engagements in den religiös-sozialen Kreisen konnte sich Karl Barth jedoch nicht voll und ganz mit dieser Richtung identifizieren.4 Nach seinem Examen wurde Barth 1909 Vikar und dann Hilfsgeistlicher in einer deutschsprachigen Gemeinde in Genf. Ab 1911 übernahm er ein Pfarramt in der Bauern- und Arbeitergemeinde Safenwil. Es begann eine schwere und zugleich prägende Zeit für den jungen Pfarrer. Barth eckte bei den Fabrikanten im Ort an, weil er die Konfirmandenstunden erhöhte, obwohl die jungen Konfirmanden nach Ansicht mancher Fabrikbetreiber lieber mehr Jens Gmeiner  ■  Karl Barth

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arbeiten sollten.5 Nebenbei hielt er Vorträge im Arbeiter­verein und gründete eine Gewerkschaft, um den Arbeitern eine geeinte Stimme zu geben. Barth war sich schon früh bewusst, dass den unterdrückten Arbeitern in seiner Gemeinde nicht geholfen war, wenn er nur von Barmherzigkeit erfüllt Suppen austeilte. Der eigen­w illige junge Pfarrer begann daher, die Arbeiter sozialdemokratisch zu schulen, sie über ihre Rechte aufzuklären, und führt ihnen vor Augen, dass der Kampf für soziale Gerechtigkeit lohnenswert war.6 Zugleich setzte er sich auch für die besonders unterdrückten Frauen in seiner Gemeinde ein und organisierte mit ihnen einen Streik.7 1915 trat Barth dann der Schweizer Sozial­demokratie bei – zu dieser Zeit ein unglaublicher Schritt in der ländlichen Bauerngemeinde im Aargau, wo der Eintritt in die Sozialdemokratie einer Revolution gleichkam. Karl Barth vollzog diesen Schritt gerade deshalb, weil er an der Haltung der euro­päischen Sozialdemokratie zum Ersten Weltkrieg zweifelte. Er zeigte sich jetzt – und das ist charakteristisch für Barth – in ihrer dunkelsten Stunde solidarisch mit der Partei.8 Und er tat es im Glauben daran, dass seine ehemaligen theologischen Lehrer, die er einst bewundert hatte, mit ihrer Unterstützung der Kriegspolitik Kaiser Wilhelms II. falsch lagen. An diesem »ethischen Ver­sagen« wurde evident, so urteilte Barth damals, »dass auch ihre exegetischen und dogmatischen Voraussetzungen nicht in Ordnung sein könnten«.9 Barth begehrte in der Folgezeit des Ersten Weltkrieges nicht nur gegen die politischen Entwicklungen auf, sondern beschritt auch theologisch völlig neue Wege. Den Römerbrief des Paulus legte er auf Basis seiner »Wort-Gottes-Theologie« aus, die ein Erkennen Gottes auf menschlichen, rationalen Erkenntnissen ablehnte. »Gott ist Gott« oder noch genauer »Gott definiert sich selbst« wurden zu Schlagworten dieser theologischen Richtung. Nicht mehr das Selbstbewusstsein des Menschen und seine Vorstellungen von Gott stehen demnach im Zentrum der Barth’schen Exegese, sondern die Gottheit Gottes. Mit seinem Kommentar zum Römerbrief vollzog Barth erneut, nun aber theologisch, einen radikalen Bruch mit den religiös-liberalen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts. Er brach aber auch mit den innerweltlichen Erlösungsgedanken des Pazifismus und Sozialismus, weil diese Ideologien nach Auffassung Barths dem menschlichen rationalen Charakter entspringen: »Pazifismus und Sozialdemokratie vertreten nicht das Reich Got164 

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tes, sondern in neuen Formen das alte Reich des Menschen … Die Kritik und der Protest …, die sie dem Verlauf der Weltentwicklung entgegenschleudern, sind innerweltlich, kommen aus der Not, nicht aus der Hilfe heraus.«10 1921 erhielt der Arbeiterpfarrer Barth schließlich, ohne jemals promoviert oder habilitiert zu haben, einen Ruf an den neu eingerichteten Lehrstuhl für reformatorische Theologie in Göttingen.11 Und auch hier eckte Barth an. Als evangelisch-reformierter Theologe und Sozialdemokrat musste er sich nicht nur gegen die nationalistischen Nachwehen in der Göttinger Professorenschaft behaupten, sondern auch gegen die lutherische Omni­präsenz in der Universitätsstadt. Der Göttinger Universitätsprofessor Carl Stange ließ den reformierten Theologen Barth dies deutlich spüren, als er sagte, dass »die reformierte Kirche […] in Hannover nicht mehr als eine[r] Millennium-Sekte«12 gliche. Spöttisch bezeichnete ihn die akademische Elite aufgrund seines fehlenden universitären Stallgeruchs als »Herr Pfarrer«. Mit Nachdruck arbeitete sich der »ewige Student« Barth daher akribisch in theologische Frage­ stellungen ein, meist bis spät in die Nacht, und versuchte die reformierten Bekenntnisschriften sowie Reformatoren seiner Heimat, Calvin und Zwingli, an die lutherischen Studierenden zu bringen.13 Besonders interessiert zeigte er sich in den Anfangs­ jahren am Schweizer Reformator Ulrich Zwingli, dessen reformierte Theologie in der lutherischen Studierendenschaft wie ein Fremdstoff aufgenommen wurde.14 Gegen vielerlei Widrigkeiten und Widerstände der lutherischen Professorenschaft gewöhnte sich Barth aber langsam im Göttinger Universitätsbetrieb ein. Er wohnte in Göttingen im Nikolaus­ berger Weg 66 und hatte keinen geringeren als den liberal-sozialistischen Philosophen Leonard Nelson zum Nachbarn.15 Als die Franzosen 1923 das Ruhrgebiet besetzen, erfuhr Karl Barth persönlich vor Ort in Göttingen, wie der Nationalismus und Chauvinismus in der Professorenschaft wieder entflammt wurde. In ablehnender Haltung führte Barth dazu aus: »Die deutschen Professoren sind wirklich wahre Meister darin, Brutalitäten geistreich, sittlich und christlich zu begründen.«16 Barths Kritik re­sultiert u. a. auch aus dem Erbe der reformierten Theologie, die viel deut­ licher als der damalige lutherische obrigkeitshörige Protestantismus ein Recht auf Widerstand gegen die Obrigkeit ausgebildet Jens Gmeiner  ■  Karl Barth

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hatte. Die Mehrzahl der protestantischen Theologen war damals autoritär und deutschnational ausgerichtet und agierte offen gegen Demokratie und Republik.17 Gleichwohl hielt sich Barth in seinen politischen Aktivitäten zurück, gerade weil er Schweizer Staatsbürger war und sich fühlbar als Ausländer im Deutschland der Weimarer Republik vorkam.18 Die Zeit in Göttingen sollte Barth jedoch später als eine intellektuell und menschlich anregende ­Periode bezeichnen, die seine theologische Forschung und Lehre gefördert habe: »Was ich in Safenwil entbehrte, die Rede und Gegenrede nicht nur mit Büchern, sondern mit Menschen, das habe ich nun in Göttingen in Fülle«19 vorgefunden. Gleichwohl endete seine Lehrtätigkeit in Göttingen bereits nach vier Jahren und Barth nahm einen Ruf nach Münster für Dogmatik und neutestamentliche Exegese an. Während seiner Zeit in Münster erhielt er 1926 auch die deutsche Staatsbürgerschaft. Wiederum vier Jahre später wechselte Barth an die Universität Bonn, wo er wohlwollend von der Professorenschaft aufgenommen wurde und mit seinen theologischen Schriften eine hohe Reputation genoss.20 Dort umgab ihn eine große Schülerschar, zu der u. a. auch der Theologe und Sozialist Helmut Gollwitzer gehörte. Aus Protest gegen die fortwährende Nationalisierung und Radikalisierung in der deutschen Politik trat Barth 1931 auch in die SPD ein. Gerade jetzt musste er gegen den braunen Terror wieder seine Stimme erheben. Eine Stimme, die in der nationalsozialistischen Euphorie unterzugehen drohte. Persönlich führte Karl Barth schon damals ein völlig un­ konventionelles Leben. Obwohl er seit 1913 mit Nelly verheiratet war und mit ihr fünf Kinder bekommen hatte, lernte er 1924 Charlotte (Lollo) von Kirschbaum kennen und schätzen. Die junge Frau begleitete ihn nach Münster, arbeitete sich schnell in theo­ logische Fragestellungen ein und wurde eine unerlässliche persön­ liche und intellektuelle Stütze für ihn. Er führte eine Art offene Dreiecks­beziehung mit seiner Frau und Lollo, die bald beim Ehepaar Barth einzog. Wieder schwamm auch hier Barth gegen den Strom der Zeit, musste speziell als Theologe Anfeindungen und Kritik ertragen, auch wenn er weiterhin am Ideal und der Ausschließlichkeit der Ehe festhielt – dieses Ideal für sich aber als nicht umsetzbar ansah.21 Die Zeit in Bonn sollte den Theologen und Politiker Barth aber166 

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mals vor schwere Herausforderungen stellen. Der Kirchenkampf und der Widerstand in der evangelischen Kirche gegen den Nationalsozialismus hatten begonnen. Barth engagierte sich zusammen mit Martin Niemöller und Dietrich Bonhoeffer in der Bekennenden Kirche und war Mitverfasser der sechs Barmer Thesen.22 Darin heißt es: »Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.« Die Erklärung richtete sich nicht nur gegen die ideologische Vermischung von Staat und Kirche, sondern auch gegen die vorherrschende lutherische Zwei-Reiche-Lehre, die postulierte, dass der geistliche und weltliche Bereich streng voneinander getrennt werden müssten. Barth konnte und wollte die zwiespältige Rolle der evangelischen Kirche nicht mittragen, die in großen Teilen der NS-Diktatur hörig war und ihr Wirken nur auf den geist­ lichen Bereich ausrichtete. Mit der Barmer Erklärung von 1934 umriss Karl Barth als einer der wichtigsten Wegbereiter bereits die Grundzüge des sich langsam entwickelnden Selbstverständnisses der Kirche nach 1945: »[…] dass die Kirche nicht nur einen Verkündungsauftrag, sondern auch einen gesellschaftsdiakonischen Auftrag hat, der politische Verantwortung und kritische Mit­ arbeit an der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung einschließt.«23 Schon früh warnte Barth davor, die politischen Irrlehren der Nationalsozialisten und deren »Führer« Adolf Hitler als Ersatzgötter anzubeten. Vergeblich plädierte er für ein brüderliches Verhältnis zwischen Juden und Christen. Im Sommer 1935 wurde seine Lehrtätigkeit in Deutschland unvermittelt beendet, die einst in Göttingen begonnen hatte. Als unbequemer und eigenständiger Geist war Karl Barth im »gleichgeschalteten« Nazi-Deutschland nun zur Persona non grata geworden. So kehrte er schließlich zurück nach Basel und lehrte dort weiter außerplanmäßig an der Universität. Ab 1938 durfte Barth in Deutschland nicht mehr publizieren und ein Verbot seiner Schriften wurde verhängt. Nichtsdestotrotz kämpft er auch in der neutralen Schweiz aktiv gegen den Nationalsozialismus, was in seinem Heimatland nicht überall begrüßt wurde. Seinem Credo blieb er dennoch treu: »Es gibt Freiheit nur, wo sie und indem sie gelebt wird.« Jens Gmeiner  ■  Karl Barth

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In der Nachkriegszeit schwamm Karl Barth erneut gegen den Strom der Zeit. Er rief zur Solidarität mit den besiegten Deutschen auf und war erschüttert von der Zerstörungswut des Zweiten Weltkrieges, die manchem seiner früheren Schüler das Leben gekostet hatte. Barth reiste gerade jetzt wieder nach Bonn, in die Stadt seiner Vertreibung, um dort zwei Semester als Gastdozent beim »geistigen« Aufbau eines neuen Deutschland zu helfen. Dafür verzichtete er sogar auf die Übernahme des Rektorats der Basler Universität.24 Zudem engagierte er sich in der aufkommenden ökumenischen Bewegung und versuchte, zwischen den Block­ parteien zu vermitteln. Der wiedererlangte Friede müsse mit aller Aufopferung gesichert werden, so war er überzeugt. Daher stellte sich Barth auch gegen die Aufrüstungspläne der AdenauerRegierung.25 Der Theologe und Politiker Barth wurde weltweit geachtet und geschätzt, sein Wort besaß internationales Gewicht, gerade weil er provozierte, aufrüttelte und gegen die »alternativlosen Wahrheiten« beider politischen Blöcke agierte, gegen alle Widerstände der Zeit. Die klare Opposition Karl Barths gegen die Atomrüstung und die Wiederbewaffnung Deutschlands in der Nachkriegszeit verschärfte gleichwohl die innerkirchlichen Spannungen und sorgte auch für Kritik am Kurs des Schweizer Theologen. Das langjährige Mitglied der Synode der Evange­ lischen Kirche in Deutschland, Ludwig Raiser, beurteilte das theologisch begründete Wirken Karl Barths und seiner Mitstreiter in der Nachkriegszeit gegen die Wiederaufrüstung Deutschlands differenziert kritisch, als er ausführte: »Der sittliche Ernst der Männer, die diese theologische und kirchenpolitische Gruppe anführen, verdient unsere hohe Achtung. Aber es wäre mir jedenfalls oft sehr viel wohler, wenn ich die politischen Forderungen, für die sie eintreten, nicht theologisch, sondern schlicht politisch begründet sähe, nach den Regeln, die nun einmal in Gottes Reich zur Linken gelten.«26 Wer heute in Göttingen Theologie studiert, wird nicht am Lehrstuhl für reformatorische Theologie vorbeikommen, der erstmals von Karl Barth besetzt wurde. Zudem befindet sich in Göttingen seit dem Jahr 1986 die Karl-Barth-Forschungsstelle, die sich zum Ziel gesetzt hat, bei der wissenschaftlichen Bearbeitung der Gesamtausgabe von Karl Barths Werken zu helfen. Neben seiner theologischen Gesamtleistung, in der besonders die »Kirchliche 168 

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Dogmatik« herausragt, war Barth aber vor allem ein kritischer und hochpolitischer Geist, dessen Wirken weitläufig auf eine Demokratisierung Europas abzielte. Sein Mitwirken in der Bekennenden Kirche, der Widerstand gegen den Nationalsozialismus und seine Abrüstungs- sowie Versöhnungspolitik zwischen Ost und West stellten wohl die deutlichsten Zeichen dafür dar. Er schwebe, wie Barth es einmal sinngemäß formulierte, als Theologe nicht über der Erde, sondern stehe fest auf ihr mit all den politischen und gesellschaftlichen Fragen, die sich daraus ergeben würden. Woher nahm der Mensch Barth seine immense Kraft und Motivation, immer wieder gegen die Mächte und Machtvollen seiner Zeit anzukämpfen? Mitte November 1968, knapp einen Monat vor seinem Tod, trat Karl Barth nochmal im Schweizer Rundfunk in der Reihe »Musik für einen Gast« auf und sprach über sein Leben. Darin resümierte er: »Das letzte Wort, das ich als Theologe und auch als Politiker zu sagen habe, ist nicht ein Begriff wie Gnade; sondern ist ein Name: Jesus Christus. Er ist die Gnade, und er ist das Letzte, jenseits von Welt und Kirche und auch von Theologie. […] Um was ich mich in meinem langen Leben bemüht habe, war in zunehmenden Maße, diesen Namen hervorzuheben und zu sagen: dort! Es ist in keinem Namen Heil, als in diesem Namen. Dort ist denn auch die Gnade. Dort ist auch der Antrieb zur Arbeit, zum Kampf, auch der Antrieb zur Gemeinschaft, zum Mitmenschen. Dort ist alles, was ich in meinem Leben in Schwachheit und in Torheit probiert habe. Aber dort ist’s.«27

Anmerkungen 1 Zit. In: Eberhard Busch, Karl Barths Lebenslauf. Nach seinen Briefen und autobiographischen Texten, München 1975, S. 161. 2 Die Wort-Gottes-Theologie wird auch als Dialektische Theologie bezeichnet und bricht mit der rationalen liberalen Theologie in der Gestalt, dass sie ein menschliches Erkennen Gottes ablehnt. Die Dialektik besteht nach Barth darin, dass man von Gott reden soll und es doch nicht kann. Gott definiert sich danach selbst und spricht durch seine Offenbarung zu den Menschen. Barth betont somit besonders ausdrücklich die Transzendenz Gottes. 3 Martin Stober hat in seiner Dissertation dabei die Betonung stärker auf den württembergischen Pietismus und die evangelikale Theologie Christoph Blumhardts gerichtet, die gleichwohl in ihren chiliastischen VorstellunJens Gmeiner  ■  Karl Barth

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gen das »Reich Gottes« im Diesseits anstrebte. Vgl. Martin Stober, Christoph Friederich Blumhardt d. J. zwischen Pietismus und Sozialismus, Gießen 1998. 4 Vgl. Busch, Barths Lebenslauf, S. 90. 5 Vgl. ebd., S. 77. 6 Vgl. Eberhard Busch, Karl Barths letzter Assistent, im Gespräch mit dem Autor am 28.06.2011. 7 Vgl. ebd. 8 Vgl. Busch, Barths Lebenslauf, S. 94. 9 Zit. in: ebd., S. 93. 10 Zit. in: ebd., S. 113. 11 Vgl. hier vor allem Eberhard Busch, Die Anfänge des Theologen Karl Barth in seinen Göttinger Jahren, Göttingen 1987. 12 Zit. nach Busch, Barths Lebenslauf, S. 146. 13 Vgl. hierzu ausführlich Matthias Freudenberg, Karl Barth und die reformierte Theologie. Die Auseinandersetzung mit Calvin, Zwingli und den reformierten Bekenntnisschriften während seiner Göttinger Lehrtätigkeit, Neukirchen-Vluyn 1997. 14 Vgl. Matthias Freudenberg, »… und Zwingli vor mir wie eine überhängende Wand« Karl Barths Wahrnehmung der Theologie Huldrych Zwinglis in seiner Göttinger Vorlesung von 1922/23, in: Zwingliana 33 (2006), S. 5–27, hier S. 7. 15 Vgl. Busch, Barths Lebenslauf, S. 139. 16 Zit. in: ebd., S. 161. 17 Vgl. Martin Honecker, Profile – Krisen – Perspektiven. Zur Lage des Protestantismus, in: Evangelischer Bund (Hg.), Bensheimer Hefte 80, Göttingen 1997, S. 130 f. 18 Vgl. Busch, Barths Lebenslauf, S. 162. 19 Zit. in: ebd., S. 145. 20 Vgl. ebd., S. 213. 21 Vgl. sehr prägnant zur Beziehung von Karl Barth und Charlotte von Kirschbaum, Rolf-Joachim Erler, Karl Barths Dreieck. Was Charlotte von Kirschbaum für Leben und Werk des Theologen bedeutete, in: Zeitzeichen 11 (2008), online abrufbar unter http://zeitzeichen.net/no_cache/archiv/religionkirche-theologie/charlotte-kirschbaum-und-karl-barth/?sword_list[0]= karl&sword_list[1]=barth, [12. Dezember 2011]. 22 Vgl. Eberhard Busch, im Gespräch mit dem Autor am 28.06.2011. 23 Thomas Breuer / Manfred L. Pirner, Kirche und Nationalsozialismus, in: Rainer Lachmann u. a. (Hg.), Kirchengeschichtliche Grundthemen. Historisch – systematisch – didaktisch, Göttingen 2003, S. 298–323, hier S. 315. 24 Vgl. Busch, Barths Lebenslauf, S. 345. 25 Vgl. Daniel Cornu, Karl Barth und die Politik. Widerspruch und Freiheit, übers. aus dem Französischen von D. Rudolf Pfisterer, Wuppertal 1969, S. 111. 26 Zit. in: Johannes Wallmann, Kirchengeschichte Deutschlands seit der Reformation, Tübingen 2006, S. 285. 27 Zitiert nach Busch, 1975, S. 514.

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Interpreten von Sinn, Sein und Sollen

Edith Stein »Potenz und Akt« von Franz Walter

»Was man will, das kann man.«1 Wieder und wieder wurde diese Maxime Edith Stein (und ihren Geschwistern) von der Mutter eingeschärft. Der Spruch begleitete Edith Stein ein ganzes Leben lang, war Elixier für eine enorme Disziplin, war Ausgangsort allerdings ebenso von vielen Depressionen, war gewiss Treibstoff auch ihrer Konversion zum Katholizismus  – zum Entsetzen der jüdischen Mutter. Es dürfte nicht viele Personen gegeben haben, in denen sich Glück und Fortschritt des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts mit den Zivilisationsbrüchen und Barbareien dieser Zeit so komplex spiegelten, weit mehr noch: sich schmerzvoll ausdrückten. Edith Stein war jüdischer Herkunft, geboren am 12. Oktober 1891, am Jom Kippur, dem Tag der Versöhnung, groß geworden in den Ritualen des jüdischen Glaubens, löste sich davon, empfand dies als Emanzipation.2 Sie gehörte zur ersten Generation von Frauen, die an Universitäten studieren durften. Sie wirkte vor dem Ersten Weltkrieg in der Bewegung für das Frauenwahlrecht mit, schloss sich nach dem Krieg der linksliberalen DDP an; dazwischen gelang ihr eine glänzende Promotion. Aber dann brach die säkulare Emanzipation ab. Alle Habilitationsversuche scheiterten, weil sie eine Frau war. Einen geliebten Mann, der mit ihrer intellektuellen Eigenständigkeit zurechtgekommen wäre, suchte sie vergebens. Der rationalistische Protestantismus half ihr nicht bei der Suche nach dem letzten Sinn. Sie ging ins Kloster, Franz Walter  ■  Edith Stein

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wurde dort von den nationalsozialistischen Schergen aufgespürt und in die Gaskammern nach Auschwitz geschickt. Zusammen: ein jüdisches, ein preußisches, ein deutsches Frauenleben, eine erfolgreiche, eine zerstörte Biografie, geformt durch den Bildungs­ protestantismus, erfüllt letztlich – wenngleich nie komplett – von katholischer Mystik, mit einem erkennbar inneren roten Faden bei ebenso manifesten Ungeradlinigkeiten und Transformationen in der eigenen Vita und stärker noch: in den politisch-kulturellen Zeitumständen jener Jahrzehnte. Bruch und Spannung – das charakterisierte auch die Zeit Edith Steins in Göttingen. Ihr erstes Semester, im Sommer 1913, verlief vom ersten Tag an beschwingt und heiter. Sie war 21 Jahre, kam am 17. April am Göttinger Bahnhof an, empfangen von ihrem Cousin, dem Mathematiker Richard Courant. Der brachte sie in ihre neue Studentenwohnung in der Langen-Geismar-Straße 2, wohin sich einige Tage später noch eine Freundin aus Breslau hinzu­gesellte. Die beiden unternahmen etliche Ausflüge, an den Wochenenden auch lange Wanderungen, was sie von den alteingesessenen Göttingern unterschied. Zumindest erinnerte Edith Stein dies so: »Schöne Parkanlagen führen vom Stadtrand hinauf und gehen in den Göttinger Wald über. Den kann man den ganzen Tag durchlaufen, ohne an ein Ende zu kommen; meist auch, ohne einem Menschen zu begegnen. Die Göttinger machen keine weiten Märsche. Wenn wir am Sonntag erst nachmittags ausgingen, dann sahen wir sie in großen Scharen hinaus­ ziehen. Aber ihr Ziel war nur eine der beiden großen Kaffeestationen, die auf halber Höhe in angemessener Entfernung voneinander an jenem langgestreckten Hügel lagen: der Rohns und der Kehr.«

Auch die Sparsamkeit des Göttinger Bildungsbürgertums hatte sich Edith Stein noch für Jahrzehnte eingeprägt. Die Bürgersleute »waren alle mit großen Kuchenpaketen beladen. […] Die Sitte, den Kuchen aus der Stadt mitzunehmen, hatte zur Folge, dass man draußen in den Gasthäusern keinen bekam.«3 Doch der Grund, weshalb es Edith Stein nach Göttingen verschlagen hatte, war die Phänomenologie, genauer: die Lehre des Philosophen Edmund Husserl. Dessen »Logische Untersuchungen« hatte sie bereits in Breslau gelesen; seither war sie fasziniert davon. Und in dem Maße, in dem sie enttäuscht über ihre Pro­ fessoren an der Universität der Heimatstadt war, in dem Maße 172 

Interpreten von Sinn, Sein und Sollen

reifte ihr Entschluss, den Studienort zu wechseln, sich also in Göttingen zu immatrikulieren. Da man ihr gesagt hatte, dass der Weg zu Husserl am besten über dessen Assistenten Adolf Reinach führe, suchte sie bereits am zweiten Tag ihrer neuen Göttinger Ansässigkeit den Steinsgraben 28 auf, damals das letzte Haus in der Straße und Domizil des Ehepaars Reinach. Adolf Reinach, mit dem sie bis zu dessen frühen Tod an der Front im Jahr 1917 nahe befreundet war, empfing sie von der ersten Sekunde an mit großer Herzlichkeit, nahm sie zusammen mit seiner jungen Frau unter seine Fittiche und öffnete ihr den Zugang zum »Meister«, zu ­Edmund Husserl mithin.4 »Das liebe, alte Göttingen«, so begegnete ihr die Universitätsstadt im Sommer 1913; so hielt Edith Stein es in ihrer Autobiografie fest.5 Der Göttinger Winter 1913/14 aber wurde fürchterlich. Das lag nicht an der Stadt, nicht an der Witterung, nicht an den dunklen Tagen. Es lag an Edith Stein selbst, an ihren rigiden Ansprüchen gegen sich, gewiss auch an der steten inneren Stimme: »Was man will, das kann man.« Aber Stein konnte in den November– De­zember Tagen 1913 nicht mehr. Sie hatte sich zuvor, zu Beginn des Semesters, ein neues Zimmer suchen müssen, nun in der vom Stadtkern stärker entlegenen Schillerstraße, da ihre Breslauer Freundin nicht wieder nach Göttingen zurückkehren mochte. Edith war jetzt allein. Ihr fehlte die Begleiterin bei Fahrten und Wanderungen ins Umland. Sie hatte niemanden, mit dem sie zuweilen herumalbern, reden, gemeinsam essen gehen konnte.6 So blieb den ganzen langen Tag einzig die Arbeit, einsam und ohne jeden Ausgleich. Edith Stein stand morgens um sechs Uhr auf. Und sie las. Sie las beim Frühstück, sie las beim Mittagessen, sie las beim Abendbrot. Bis tief in die Nacht. Wenn sie schlief, was ihr zunehmend weniger gelang, wachte sie oft jäh auf, notierte sich rasch die Gedanken, die ihr im Traum gekommen waren. Dafür hatte sie eigens zuvor schon Papier und Stift auf ihren Nachttisch platziert.7 Danach fiel ihr es erst recht schwer, noch einmal in den Schlaf zu finden, »desto wirbeliger wurde es in meinem Kopf«8, wie sie klagte. Edith Stein las, sie exzerpierte, sie hielt Ideen fest, aber es fügte sich nicht zu einem Manuskript. Doch eben das wollte sie erzwingen. Sie hatte sich das Staatsexamen und die Dissertation zugleich vorgenommen – »was man will, das kann man« – und damit weit Franz Walter  ■  Edith Stein

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übernommen. Das Blatt für die Niederschrift der Abschlussarbeit blieb weiß, füllte sich trotz aller anstrengenden Arbeit nicht. Edith Stein konnte nicht, obwohl und gerade weil sie doch so unbedingt wollte. Sie schubste sich dadurch selbst in tiefe Depressionen, in düstere Stimmungen des trostlosen Selbstzweifels, der haltlosen Leere und schieren Aussichtslosigkeit. Sie verlor körperlich drastisch an Gewicht, wünschte sich den Tod: »Ich konnte nicht mehr über die Straße gehen, ohne zu wünschen, dass ein Wagen über mich hinwegführe. Und wenn ich einen Ausflug machte, dann hoffte ich, dass ich abstürzen und nicht lebendig zurückkommen würde.«9 Aus dem Tief holte sie erst Adolf Reinach mit dem einfachen, aber in der Regel höchst wirkungsvollen Ratschlag, zunächst einfach loszuschreiben, ohne sich stets bei jedem Satz durch über­ zogene selbstkritische Maßstäbe zu quälen und dadurch zu paralysieren. Stein lockerte sich tatsächlich, schrieb an den nächsten Tagen munter Seite für Seite, verzichtete darauf, sich selbst durch überfordernde Zielsetzung weiterhin zu geißeln. Reinach erkannte schnell, dass gerade auf diese Weise das Opus von Stein die Qua­ lität gewann, die es durch den herrischen Imperativ an das Ich, mittels kompromissloser Willenskraft unbedingt können zu müssen, nicht zu erreichen vermochte. Edith Stein tat, wenn sie sich derart massiv unter Druck setzte, was sie von ihrer Mutter Auguste gelernt hatte. Und die Mutter hatte der Tochter eine Verhaltensregel weitergegeben, welche sie selbst spätestens seit den 1890er Jahren leitete, wahrscheinlich wohl auch leiten musste. Auguste hatte elf Kinder geboren, Edith war das jüngste. Ihr Mann, ein Holzhändler, starb an einem Hitzschlag im Juli 1893, als die jüngste Tochter nicht einmal zwei Jahre alt war. Auguste Stein, geborene Courant, sah sich gezwungen, ohne große Vorkenntnisse das Geschäft weiterzuführen, um ihre große Familie durchzubringen und um den meisten ihrer Kinder – von denen vier früh starben – den Besuch einer höheren Schule zu ermöglichen. Was blieb ihr übrig, als das Motto »Was man will, das kann man« zum geflügelten Wort im Alltag der Familie Stein zu machen? Tochter Edith war offenkundig das Lieblingskind. Und dieses Kind verinnerlichte früh den extremen Leistungswillen seiner Mutter. Edith Stein war in der Schule bis zum Abitur regelmäßig 174 

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die Jahrgangsbeste. Fünf Jahre nach dem Zeugnis der Hochschulreife wurde sie von Edmund Husserl am 3. August 1916 in Freiburg zum »Problem der Einfühlung« promoviert.10 Die Note: summa cum laude. Und Husserl, der bewunderte »Meister«, der verehrte Lehrer, der berühmte Begründer der Phänomenologie, machte sie, die zu den wenigen Frauen überhaupt an den deutschen Universitäten jener Zeit gehörte, zu seiner Assistentin. Stein schilderte das später als einen höchst beglückenden Moment, da Husserl sich freudig zu einer Zusammenarbeit bekannte. Sie empfand es wie eine Art Vermählung. Doch wieder wurde es keine glückliche Zeit. Husserl gebrauchte seine wissenschaftliche Assistentin mehr als Hilfskraft denn als eigenständige Mitarbeiterin. Der Lohn, den Edith Stein erhielt, war denkbar gering; ihre Arbeitsaufgabe dafür umso schwieriger. Husserl, ein sehr unsystematisch agierender Philosoph, verfasste bei jeder Gelegenheit schwer lesbar stenografierte Notizzettel, die kreuz und quer herumlagen, die ohne Struktur zusammengepackt waren.11 Edith Stein sollte die Anmerkungen auf den Zettelchen entziffern, sie ordnen und nach und nach zu einer möglichen Aufsatz- oder Buchpublikation bündeln. Stein ging wie immer akribisch ans Werk, war aber bald vollkommen erschöpft, ertrug auch die ermüdenden Monologe und fahrigen Launen ihres Meisters nicht mehr, verlor erneut etliche Kilo an Körpergewicht, stand die Arbeit nur durch extremen Zigaretten- und Kaffeekonsum durch. Nach 14 Monaten Husserl-Assistenz war sie fix und fertig; im F ­ ebruar 1918 kündigte sie den Assistentenvertrag. Die beiden schieden nicht in offenem Groll. Aber Stein haderte kurz danach schon damit, dass alle Gesuche auf ein Habilitationsverfahren, ob in Freiburg, in Göttingen, in Kiel oder Hamburg, auch dann noch, als die Republik das Kaiserreich ablöste, ohne Erfolg blieben.12 Husserl konnte sich nicht durchringen, eine Frau an seiner Universität zur Habilitation zu verhelfen. Sein ganzes Wohlwollen richtete sich jetzt auf einen jungen Mann aus dem oberschwäbischen Meßkirch, der die Assistentenstelle von Edith Stein übernahm: Martin Heidegger.13 Die Jahre zwischen 1917 und 1921 waren leidvoll für Edith Stein. Sie verliebte sich in der Zeit zwei Mal in Kommilitonen und Husserl-Schüler, den Polen Roman Ingarden und den Sachsen Hans Lipps, alle zwei später Professoren der Philosophie. Doch Franz Walter  ■  Edith Stein

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keiner der beiden Männer vermochte die Liebe zurückzugeben, zu erwidern.14 Als Edith Stein dreißig Jahre alt war, gab sie offensichtlich die Suche nach einem Mann, nach dem Erlebnis der Sexualität auf.15 Sie zog einen Schlussstrich und sie spürte, dass sie zu diesem frühen Zeitpunkt ebenfalls schon an die Grenze ihrer beruflichen Möglichkeiten gestoßen war. Sie war nach Reinachs Tod zwar unbestritten die Meisterschülerin des alten Göttinger HusserlKreises, hielt diesen, als dessen Mitglieder nach dem Weggang des großen Lehrers 1916 Richtung Freiburg in alle Welt sich zer­ streuten, durch Korrespondenzen und gelegentliche Treffen weiter zusammen. Aber die Professur war Edith Stein als Frau – noch dazu jüdischer Herkunft – versperrt. Es ging nicht recht weiter, es existierte keine erreichbare nächste Stufe des wissenschaftlichen Berufsfortkommens mehr für sie. Das schleuderte Edith Stein in den Abgrund seelischer Leere. Denn in diesem Rhythmus war bisher ihr Leben verlaufen: Sie suchte wieder und wieder die enorme Anspannung einer schwierigen Aufgabe, denn das trug sie zunächst wie eine Welle in die Sphäre der Euphorie – bis die Anspannung sie überwältigte, sich zur Überforderung auswuchs und sie herunterriss, in die Nacht der Depressionen.16 Das war der konstante Zyklus ihres Lebens bisher. Und je stärker die depressiven Phasen ausfielen, desto verzweifelter suchte sie nach Sinn, nach dem Warum, dem Wozu, dem Wohin, nach dem eigentlichen Grund des Seins. So näherte sie sich, die als 15-Jährige dem jüdischen Glauben abgeschworen hatte, der Religion wieder an, nun aber dem Christentum, vor allem dem Katholizismus. Am Ende des schlimmen Göttinger Winters 1913/14 ging bereits von der Begegnung mit dem Phänomenologen Max Scheler ein Schub in Richtung katho­ lische Kirche aus. Der Weltkrieg stärkte diese Tendenz. Edith Stein selbst hat ihre Konversion zum Katholizismus auf ein Initialerlebnis zurückgeführt, das seither in der Literatur oft wieder­ gegeben wurde.17 Stein weilte im Juni 1921 im Haus ihrer Freundin ­Hedwig Conrad-Martius, ebenfalls eine Schülerin von Husserl, in Bad Bergzabern und griff abends in der Bibliothek der Gastgeberin zum autobiografischen Buch der großen spanischen Mystikerin Teresa von Ávila »Vida«. Das sollte zum Erweckungsmoment geworden sein. Jetzt hatte sich Edith Stein zur Taufe entschlossen, die dann am 1. Januar 1922 am gleichen Ort erfolgte. 176 

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Doch war der Weg zur Taufe gewiss ein Prozess, der länger angedauert hatte. Andererseits  – und das war in diesem Fall doch bezeichnend für die inneren Nöte von Edith Stein – war die Entscheidung für die katholische Kirche nicht Ausfluss gründlicher Lektüre und sorgfältiger Reflexion der katholischen Theologie. Nicht Bücher, nicht Schriften, nicht theoretische Systeme, nicht schon wieder eine Kopfanstrengung, nicht eine individuelle und selbstverantwortlich gewählte Leistungsvorgabe konnten ihr in der Verzweiflung der frühen zwanziger Jahre helfen, sondern allein das Gegenteil: Spiritualität statt Rationalität, Hingabe statt Kontrollansprüche, Glaube statt Zweifel, Teil  in Gottes Plan zu sein, anstelle den Ort in der Gesellschaft stets aus eigenen Kräften und Entscheidungen finden zu müssen. Dies war gewisser­maßen die klassische Ausgangslage und Voraussetzung für die Bereitschaft zum Sprung ins Mysterium, den Geistesmenschen dann wagen, wenn ihre Psyche gegen die Kälte des intellektuellen Erwartungs- und Leistungsdrucks rebelliert. Edith Stein selbst hat diese, ihre Erfahrung pointiert wiedergegeben: »Es gibt einen Zustand des Ruhens in Gott, der völligen Entspannung aller geistigen Tätigkeit, in dem man keinerlei Pläne macht, keine Entschlüsse fasst und erst recht nicht handelt, sondern alles Künftige dem göttlichen Willen anheimstellt, sich gänzlich dem Schicksal überlässt. Dieser Zustand ist mir etwa zuteil geworden, nachdem ein Erlebnis, das meine Kräfte überstieg, meine geistige Lebenskraft völlig aufgezerrt und mich aller Aktivität beraubt hat. Das Ruhen in Gott ist gegenüber dem Versagen der Aktivität aus Mangel an Lebenskraft etwas völlig Neues und Eigenartiges. Jenes war Totenstille. An ihre Stelle tritt nun das Gefühl des Geborgenseins, des aller Sorge und Verantwortung und Verpflichtung zum Handeln Enthobenseins. Und indem ich mich diesem Gefühl hingebe, beginnt nach und nach neues Leben mich zu erfüllen und mich – ohne alle willentliche Anspannung – zu neuer Betätigung zu treiben.«18

Indes, Edith Stein konnte nicht ohne Anspannung leben, konnte jedenfalls nicht allein durch das Sakrament der Taufe zu einem ganz neuen Menschen werden. Natürlich hatte sie eben das versucht, war insofern ihren strengen Imperativen der vor-katho­ lischen Zeit durchaus treu geblieben. Denn Stein reichte es nicht, nur eine katholische Christin zu sein wie Millionen anderer im Land. Auch hier strebte sie wieder das Ganze, das Extreme und Unbedingte an: das Kloster. Ihr Ziel war seit der Taufe der Karmel, Franz Walter  ■  Edith Stein

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ein Leben als Nonne in gänzlicher Abgeschiedenheit von der säkularen Welt, nur der Meditation und der innerklösterlichen Arbeit ergeben.19 Aber dazu musste man hinreichend vorbereitet sein, Prüfungen bestanden haben. Statt des Karmels fand Edith Stein zunächst eine Herberge in einem Dominikanerinnenkloster mit angeschlossenen Lyzeum und Lehrerinnenseminar in Speyer.20 Sie unterrichtete tagsüber Deutsch und Geschichte, des Nachts betete sie oft stundenlang in der Klosterkirche.21 Ab 1928 unternahm sie Vortragsreisen als Referentin für Frauenfragen, wurde in diesen Spätjahren der Weimarer Republik zu einer der bekann­testen, ja bedeutendsten Frauen im deutschen Katholizismus.22 Die alte Sehnsucht nach der Habilitation regte sich jetzt ebenfalls wieder. Die Anspannung war also keineswegs gänzlich gewichen. ­Ostern 1931 verließ sie Speyer, arbeitete erneut an einer Habilitations­ schrift unter dem Titel »Potenz und Akt«.23 Es war der Versuch einer katholischen Philosophie, es war das Bemühen, Thomas von Aquin über Husserls Phänomenologie neu zu öffnen, den christ­ lichen Glauben mit nüchterner Erkenntnis, die Spiritualität mit der Vernunft zu verknüpfen.24 Edith Stein hatte, dem thomischaristotelischen Vorbild gemäß, das »Sein« in zwei Schichten zerlegt, in »Potenz« und »Akt«. Die Potenz barg die Möglichkeiten des Seins, im Akt drückte sich die verwirklichte Möglichkeit aus. Zur erfüllten Person wird der Mensch, wenn er als Subjekt dieser Möglichkeitswerdung des Seins auftritt, die Potenz in den Akt überträgt und realisiert.25 Doch wieder scheiterte der Habilitationsversuch bereits im Vorfeld, da abermals keiner der Fakultäten, bei denen Edith Stein vorsprach, ein Verfahren eröffnen wollte. 1932 erhielt Stein gleichwohl einen Ruf auf eine Dozentenstelle des Deutschen Instituts für wissenschaftliche Pädagogik in Münster. Doch im Jahr darauf, als die Nationalsozialisten das Land beherrschten, verlor sie bereits das gerade angetretene neue Amt. Dafür fand sie nun, im Oktober 1933, den Zugang zum Karmel St. Joseph in Köln-Lindenthal. Im April 1934 wurde sie eingekleidet; ein Jahr später legte sie das Ordensgelübde ab.26 Im Unterschied zu den übrigen Nonnen aber dispensierte sie der Provinzialobere von einigen Ordensregeln, gab ihr vielmehr Weisung, die wissenschaftliche Arbeit weiter voran­ zutreiben, erlaubte ihr auch Korrespondenzen mit der Außen178 

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welt. So entstand aus »Potenz und Akt« 1936 das voluminöse Opus »Endliches und ewiges Sein«, allgemein als das Hauptwerk Edith Steins bezeichnet.27 Diese bemühte sich bis 1938 um eine Publikation ihrer Schrift, jedoch vergebens: Ihre jüdische Herkunft erlaubte keine Veröffentlichung im NS-Staat. Das war bald auch die geringste Sorge von Edith Stein, da sie in Deutschland ihres Lebens nicht mehr sicher sein konnte. 1938 siedelte sie in den holländischen Karmel nach Echt über. Doch im Mai 1940 marschierte die deutsche Wehrmacht in die Niederlande ein; und bald begann auch hier die Verfolgung und Deportation der Juden. Am 2. August 1942 tauchte die SS im Karmel auf, nahm Edith Stein (und ihre Schwester) mit, verfrachtete sie nach Auschwitz, wo sie sieben Tage später im Gas ihr Leben ließ.28 Drei weitere Geschwister wurden ebenfalls Opfer des nationalsozialis­ tischen Genozids. Papst Johannes Paul II. sprach Teresia Benedicta a Cruce, wie Edith Stein sich als Nonne im Karmel genannt hatte, am 11. Oktober 1998 heilig.29

Anmerkungen 1 Zit. in: Apropos Edith Stein. Mit einem Essay von Ursula Hillmann, Frankfurt 1995, S. 24. 2 Zur Biografie vgl. etwa Elisabeth Endres, Edith Stein. Christliche Philo­ sophin und jüdische Märtyrerin. Erweiterte Taschenbuchausgabe, München [u. a.] 1998; Hilda C. Graef, Edith Stein. Versuch einer Biografie, Frankfurt a. M. 1958; Cordula Koepcke, Edith Stein. Ein Leben, Würzburg 1991; Heinrich Mussinghoff, Edith Stein. Eine Kurzbiografie, Leutesdorf 1998; Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Unerbittliches Licht. Edith Stein. Philosophie, Mystik, Leben, Mainz 1991. 3 Edith Stein, Studentin in Göttingen, in: Roderich Schmidt (Hrsg.), In Göttingen erlebt, Göttingen 2001, S. 19–31, hier S. 24. 4 Vgl. Apropos Edith Stein, S. 21. 5 Siehe hierzu auch Marianne Zingel (Bearb.), Edith Stein. Studentin in Göttingen: 1913–1916. Ausstellung zum 100. Geburtstag, 07.10.–28.10.1991, Göttinger Bibliotheksschriften, Bd. 1, Göttingen 1993, S. 6. 6 Vgl. ebd., S. 23. 7 Vgl. hierzu und im Folgenden besonders Andreas Uwe Müller / Maria Amata Neyer, Edith Stein. Das Leben einer ungewöhnlichen Frau, Zürich 1998, S. 76. 8 Zit. in: Christian Feldmann, Edith Stein, Reinbek 2004, S. 25. Franz Walter  ■  Edith Stein

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9 Zit. in: Reiner Wimmer, Vier jüdische Philosophinnen. Rosa Luxemburg, Simone Weil, Edith Stein und Hannah Arendt, Leipzig 1996, S. 234. 10 Edith Stein, Zum Problem der Einfühlung (Reprint der Originalausgabe von 1917), München 1980. 11 Vgl. Apropos Edith Stein, S. 31. 12 Siehe Wimmer, S. 249. 13 Hierzu vgl. auch Wolfdietrich von Kloeden, Das Lebensbild der Edith Stein, in: ders./Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Edith Stein, Berlin 2009, S. 11–34, hier S. 19. 14 Vgl. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Edith Stein (1891–1942). Bürgerin Jerusalems in Babylon, in: Hans-Rüdiger Schwab (Hg.), Eigensinn und Bindung. Katholische deutsche Intellektuelle im 20.  Jahrhundert, Kevelaer 2009, S. 235–250, hier S. 238; Feldmann, S. 49 ff. 15 Vgl. Apropos Edith Stein, S. 37. 16 Sehr deutlich bei Müller / Neyer, S. 51, 88, 92. 17 Unter vielen etwa Francisco Javier Sancho Fermín, Die menschliche und geistige Umgebung Edith Steins. Erster Teil: Von 1891 bis 1921, in: José ­Sánchez de Murillo u. a. (Hg.), Aufgang. Jahrbuch für Denken, Dichten, Musik, Bd. 4: Eros, Schlaf, Tod, Stuttgart 2007, S. 447–466, hier S. 466. 18 Zit. in: Feldmann, S. 52 f. 19 Zu den Karmeliten vgl. http://www.karmelitenorden.de/karmelcms/karmel gen/karmelgemeinschaft.html. 20 Siehe hierzu Edith Stein zum Gedenken. Ausstellungskatalog und Erinnerungen an Edith Stein. Herausgegeben vom Kloster St. Magdalena, Speyer. Geleitwort von Bischof Dr. Anton Schlembach, Speyer 1987. 21 Siehe etwa Wimmer, S. 263 ff. 22 Als Schrift siehe etwa Edith Stein, Das Ethos der Frauenberufe, Augsburg 1931; dies., Die Frau in Ehe und Beruf. Bildungsfragen heute, Freiburg 1962. 23 Edith Stein, Potenz und Akt. Studien zu einer Philosophie des Seins, Freiburg 2005. 24 Vgl. von Kloeden, S. 22 f. 25 Siehe auch Feldmann, S. 77 ff. 26 Vgl. Edith Stein zum Gedenken, S. 17. 27 Edith Stein, Endliches und ewiges Sein. Versuch eines Aufstiegs zum Sinn des Seins, Freiburg 1986. 28 Vgl. von Kloeden, S. 30. 29 Vgl. Gerl-Falkovitz, S. 247.

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Erich Weniger »Wer links beginnt, endet liberal – und umgekehrt«1 von Andreas Wagner

Als der Göttinger Pädagogikprofessor Erich Weniger, einer der herausragenden Vertreter der Reform- und geisteswissenschaft­ lichen Pädagogik, aufgrund »politischer Unzuverlässigkeit« im Jahr 1933 seine Professur durch die Nationalsozialisten verlor, schien noch nicht absehbar, dass der Erziehungswissenschaftler nach 1945 beinahe nahtlos an seinen einstigen akademischen Werde­gang würde anknüpfen können. Mehr noch, trotz seiner Tätigkeit als »Wehrmachtspädagoge«2 und der Tatsache, dass er sich vom Nationalsozialismus keineswegs strikt distanziert hatte, baute Weniger bereits 1945 die Pädagogische Hochschule Göttingen auf und folgte ab 1949 seinem Mentor Herman Nohl als ordentlicher Professor der Pädagogik an die Georg-August-Universität Göttingen. Weniger wuchs als das älteste von sechs Pfarrerskindern in einem lutherisch-protestantischen Elternhaus auf, aus dessen Beengtheit er nicht nur wegen des frühen Todes der Mutter heraustreten wollte. Er vermochte der Lehre der christlichen Er­ weckungsbewegung, der sein Vater anhing, nichts abzugewinnen, sondern geriet in den Bann seines Lehrers Hans Freytag, der mit der Schulklasse Wanderungen im Weserbergland und Ruderfahrten auf Donau, Rhein und Elbe unternahm. Im Geiste dieser befreienden Ausflüge kam Weniger auch mit der Jugendbewegung in Kontakt,3 die ihn zunächst zur Mitgliedschaft in der nichtAndreas Wagner  ■  Erich Weniger

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schlagenden Verbindung Nicaria und später auch zum Treffen der Freideutschen Jugend auf Burg Hanstein und dem anschließenden Meißnerfest führen sollte. Für Weniger kam das Treffen einer »rauschhaften Offenbarung«4 gleich, die von durchdringender Geschlossenheit und Begeisterungsfähigkeit geprägt war. Wenige Monate später meldete sich der damals 19-jährige Geschichtsstudent bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges freiwillig zur Artillerie an die Westfront und beteiligte sich dann 1919 in Berlin als Offizier an Kämpfen der Reichswehr gegen die Spartakisten. Die Erfahrungen in der Armee führten Weniger zur grundsätzlichen Auseinandersetzung mit Soldatentum, Krieg, Militär – und der pazifistischen Pädagogik. Doch nicht erst Erich Weniger befasste sich mit der pädagogischen Begründbarkeit militärischer Vorgänge. Bereits vorher hatten Wilhelm von Humboldt oder Herman Nohl ihre Gedanken über die pädagogische Tragweite der militärischen Ausbildung, der Herausbildung von Führern durch das Militär oder dem generellen Bildungsgehalt in der Armee niedergeschrieben5 – Themen, die Weniger in den kommenden Jahren ebenso beschäftigen sollten. Nach seiner Rückkehr und erfolgreichen Promotion und Habi­ litation folgten akademische Stationen in Kiel, Frankfurt und Göttingen, wo Weniger sich vom Historiker zum Vertreter der Päd­ agogik wandelte, deren fachliche Selbständigkeit als universitäre Disziplin er fortan zu etablieren bestrebt war. Obwohl Weniger zunächst 1933 als Professor in Frankfurt entlassen worden war, wurde er später als Studienrat wieder ein­gesetzt. Trotz oder gerade aufgrund dieses Einschnitts entschied er sich 1935 für einen Eintritt in die Wehrmacht und begleitete diese ab 1940 sogar als NS-Führungsoffizier zu Forschungszwecken in die Niederlande, die Sowjetunion und nach Frankreich. In den expandierenden Strukturen der damaligen Wehrmacht bestanden für den Wirkungskreis Wenigers sehr gute Voraussetzungen.6 Nach seinen persön­lichen, lebensgeschichtlichen Umbrüchen wie der »christlichen Abnabelung« in früher Jugend, dem Eintritt in die Armee und der Zuwendung zur Geschichte beziehungsweise zur Geschichtsdidaktik war der Schritt, sich mit dem Nationalsozialismus einzulassen, der wohl größte Bruch in Wenigers Lebens.7 Wenigers Wechsel zur Wehrmacht erscheint biografisch zunächst linear.8 Als »Erzieher der Erzieher«9 sann er gerade dort auf 182 

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Beschäftigung, wo er seine Vorstellung vom »Heer des Volkes«10 beziehungsweise von einer pädagogischen Bildung der Offiziere zu verwirklichen imstande sah. Außerdem waren es in der Zeit fehlender Lehrtätigkeit gerade seine Vorträge und Bücher zur Militärpädagogik, die bei dem ihm vertrauten Publikum der Armee und Offiziere auf positive Resonanz stießen. Die Rückkehr zur Wehrmacht schrieb insofern – allen moralischen und politischen Fragen zum Trotz – Wenigers akzeptierten und idealisierten Fronterfahrungen während des Ersten Weltkriegs weiter. Wenigers übersteigerte soldatisch-romantisierende Sichtweise, nach der »Volksbildung«11 ihren Ausgangspunkt in einem »kriegerischen Akt« nehmen müsse, dürfte entscheidend dazu beigetragen haben, dass seine Beschäftigung trotz fehlender expliziter Bejahung des Faschismus möglich war. Nach 1945 vermied es Weniger  – wie so viele andere seiner Generation auch –, sein eigenes Verhältnis zur nationalsozialistischen Diktatur zu hinterfragen, und das, obwohl die Vermeidung von Kooperation und Vereinnahmung, die offene Praxis von Kritik oder Wiederstand seinem genuinen pädago­ gischen Konzept eigentlich inhärent war. Trotz seiner Tätigkeit als »Wehrmachtspädagoge« wurde Weniger bereits im Sommer 1945 Direktor der Pädagogischen Hochschule in Göttingen und kehrte wenig später ganz an die GeorgAugust-Universität zurück. Als Herausgeber der Zeitschrift »Das Argument«, als Mitherausgeber bei der führenden »Zeitschrift für Pädagogik« sowie in zahlreichen Planungsgremien und Ausschüssen bewies Weniger eine so ausgeprägte Bereitschaft zu Teilnahme und Mitwirkung, dass ihm nachgesagt wurde, er kenne beinahe jeden Pädagogen in Deutschland von gewisser Bedeutung.12 Aufgrund seiner Bekanntheit, seinem energischen Auftreten und seiner ungebrochenen akademischen Reputation wurde Weniger auch in der Frage der Wiederbewaffnung und des Aufbaus der Bundeswehr als Experte herangezogen. Er wurde Mitglied des für die Einstellung höherer Offiziere zuständigen Personalgutachterausschusses und war an der Konzeption der »Inneren Führung« der Bundeswehr beteiligt. In Göttingen kam Weniger durch Herman Nohl zu den philo­ sophischen Ansätzen Wilhelm Diltheys, die die Grundlage für die »Geisteswissenschaftliche Pädagogik« bilden sollten. Letztere stützt sich auf eine rein situative Gültigkeit pädagogischer TheoAndreas Wagner  ■  Erich Weniger

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rien, die gewissermaßen abhängig von »Geschichtlichkeit«13 sind. In dem Konzept sollte sich der Lehrende in den Lernenden hineinversetzen, um das Verstehen der Lerninhalte mittels eines hermeneutischen Zirkels stärken zu können. Vor allem die Göttinger Nohl und Weniger sowie später Wolfgang Klafki prägten diesen bildungstheoretischen Ansatz, der als »Göttinger Schule« bezeichnet worden ist. Darin spielt die Allgemeinbildung eine entscheidende Rolle, da sie – im Gegensatz zur damalig vorherrschenden Sicht – zur Entwicklung und Reifung von »geistigen Kräften«14 besonders beitrage. Als Vertreter der geisteswissenschaftlichen Pädagogik forderte vor allem Weniger eine Pädagogik, die historische und systema­ tische Einflüsse berücksichtigt. Die Fachrichtung sah er als »Anwalt der Freiheit, der Mündigkeit und der Selbstbestimmung des jungen Menschen«15. Für Weniger ging die politische Bildung vom Kinde aus, das »all seine schöpferischen Kräfte entfalten«16 solle. Ziel könne es laut Weniger nicht sein, möglichst viele Daten und Fakten in einen Schüler hineinzupressen. Im Vordergrund der Bildungsarbeit habe vielmehr die Herausbildung einer »Persönlichkeit« zu stehen. Damit befähige man den Menschen, eine eigenständige, selbst entscheidende Person zu werden. Insofern stellte die Hochschule für Weniger auch einen Ort dar, an dem das »Dienen für alle Schichten des Volkes« und dessen »Vorbereitung für politische Mitverantwortung«17 erlernt werden sollte. Der Pädagoge als das lebendige Vorbild der Schüler  – für Weniger eine Grundvoraussetzung seines erziehungswissenschaft­ lichen Anspruchs. Geradezu essentiell war dabei die »Betonung der gesellschaftswissenschaftlichen Komponente«18 der Erziehungswissenschaften, die sich der Vermittlung und Verwebung von »Wissenschaft, Gesellschaft und Politik«19 zuwenden solle. Einem Postulat Jürgen Habermas’ folgend müsse »Pädagogik auf ihre Weise die Wissenschaft zu Ende […] denken«.20 Trotz dieser pädagogischen Grundsätze spielte die Betrachtung seiner eigenen Vergangenheit in der Nachkriegszeit eine unter­ geordnete Rolle. Bei der Entnazifizierung wurde Weniger in einem langen Verfahren als »Entlasteter« beurteilt. In jüngerer Vergangenheit erschienen jedoch Publikationen, die sich mit Wenigers Veröffentlichungen während des Nationalsozialismus beschäftigen.21 Dabei ergibt sich ein zutiefst »nationalistisches, konserva184 

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tives, autoritätsgläubiges, unkritisch-mystisches und soldatisch«22 geprägtes und streng konservatives Bild. Antisemitische oder rassistische Äußerungen verfasste Weniger zwar nicht, stattdessen war das Militär seit seiner Jugend stets Ort leistungsorientierter Prüfungen, bewundernswerter Selbstbestätigung und hierar­ chischer Ordnung. Eindeutig: Wenigers Kennzeichen war die Hingabe an ein »mythisch überhöhtes Militär«23. Als Dozent und hochschuldidaktischer Vermittler pflegte Weniger einen ganz eigenen Stil des Geschichtenerzählens, wodurch er sich dem Schüler nähern konnte und diesen zur Deutung etwa geschichtlicher Vorgänge befähigte. Er eröffnete Seminare zumeist mit provokanten Diskussionseinleitungen, empfand Polemik als »Bedürfnis«24 und verfügte nicht nur didaktisch über eine »kämpferische Mentalität«25. Der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Klafki beschrieb ihn einst als eine Person mit »protestantischem Eigensinn im Sinne einer bürgerlichen, verweltlichten Attitüde, verbunden mit staatskonservativen Vorstellungen«26. Dabei pflegte Weniger im Beruflichen wie im Privaten eine »vorgegebene Ordnungsstruktur«27, die sich streng am Leistungsprinzip orientierte. Obwohl er als »soldatisch zurückhaltender« und distanzierter Wissenschaftler beschrieben wurde, dem das gedämpfte Licht in der Bibliothek zum Schutz der Bücher mehr zu bedeuten schien als der emotionale Kontakt zur Familie, war er umso fürsorglicher und hilfsbereiter bei der Betreuung seiner Schüler und Studenten. In der täglichen Erziehungsarbeit sah der »politische Pädagoge«28 dabei stets den Dualismus von pädagogischem und politischem Verantwortungsbewusstsein. Bildung war in Wenigers Konzept das Fundament von politischer Beteiligung. Darin war eine gewisse »Mentalitätsstruktur«29 Voraussetzung für eine gelungene Demokratie. So unnahbar und ernst Weniger in seinem universitären Wirken war, so unnahbar war er auch im familiären Umfeld. In der kinderlos gebliebenen Ehe übernahm seine Frau Elisabeth die Rolle der fürsorglichen und hilfsbereiten Instanz, galt als »Seele der Familie«. Die Nachbarskinder fanden zum distanzierten Wissenschaftler Weniger dennoch ihren ganz eigenen Zugang: Aufgrund seines ernsten Äußeren und seiner großen Statur nannten ihn die Kinder ehrfürchtig »Muskel-Erich«. Andreas Wagner  ■  Erich Weniger

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Anmerkungen 1 So Weniger gegenüber Dietrich Hoffmann. Hoffmann sieht darin die Verkörperung von Wenigers »Suche nach der richtigen Haltung«, die ihn politisch zuletzt bis zur Sozialdemokratie führte. Siehe dazu Dietrich Hoffmann, Die These von der Wendung Wenigers von der traditionellen zur kritischen Erziehungswissenschaft, in: Karl Neumann (Hg.), Erich W ­ eniger, Leben und Werk, Göttingen 1987, S. 21–35, hier S. 29. 2 Karl Neumann, Erich Weniger, Erziehungswirklichkeit und pädagogische Autonomie, in: Dietrich Hoffmann (Hg.), Pädagogik an der Georg-AugustUniversität Göttingen, Eine Vorlesungsreihe, Göttingen 1987, S.  139–161, hier S.  140 sowie weiterführend S.  158 f; vgl. dazu auch Barbara Siemsen, Der andere Weniger. Eine Untersuchung zu Erich Wenigers kaum beachteten Schriften, Frankfurt am Main 1995, S. 314. 3 Vgl. Bernhard Schwenk, Erich Weniger, Leben und Werk. In: Ilse Dahmer u.a (Hg.), Geisteswissenschaftliche Pädagogik am Ausgang ihrer Epoche. Erich Weniger, Weinheim 1968, S. 1–33, hier S. 6 f. 4 Erich Weniger, Der hohe Meißner, in: Göttinger Universitätszeitung (1946), 09.10.1946. 5 Vgl. Uwe Hartmann, Erich Wenigers Militärpädagogik und ihre ak­ tuelle Rezeption innerhalb der Erziehungswissenschaft, Hamburg 2006, S. 7 ff. 6 Vgl. ebd., S. 18 f. 7 Vgl. Bernd Mütter, Identitätsbildung, Identitätsrevision in Deutschland. Das Beispiel des geisteswissenschaftlichen Konzepts der Erwachsenenbildung (Erich Weniger), Oldenburg 1993, S. 6 f. 8 Davon losgelöst mögen Wenigers deutlich positive Position generell zur Armee bzw. seine offen geäußerte Faszination für das Soldatische stehen, die seine Bildungskonzepte nachhaltig beeinflussten. Vgl. dazu auch Schwenk, S. 25. 9 Ebd., S. 19. 10 Ebd. 11 Ebd., S. 18 f. 12 Vgl. ebd., S. 23. 13 Vgl. dazu Christoph Wulf, Theorien und Konzepte der Erziehungswissenschaft, München 1983, S. 16 f. 14 Peter Hubwieser, Didaktik der Informatik. Grundlagen, Konzepte, Beispiele, Berlin 2007, S. 25. 15 Wolfgang Klafki, Erziehungswissenschaft als kritisch-konstruktive Theo­ rie. Hermeneutik – Empirie – Ideologiekritik, in: Zeitschrift für Pädagogik, 1971 (17), S. 351–385, hier S. 383. 16 Erich Weniger, Die Pädagogik in ihrem Selbstverständnis heute, in: Erich Weniger (Hg.), Die Eigenständigkeit der Erziehung in Theorie und Praxis, Weinheim 1950, S. 166 f., zit. in: Jürgen Oelkers, Einige Notizen zum Erziehungsverständnis bei Nohl und Weniger im Vergleich zur Reformpädagogik, in: Karl Neumann (Hg.), Erich Weniger. Leben und Werk, Göttingen 1987, S. 37–49, hier S. 39.

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Interpreten von Sinn, Sein und Sollen

17 Erich Weniger, Die Eigenständigkeit der Erziehung in Theorie und Praxis, Weinheim 1953, S. 339. Die Erziehung der Schüler blieb für Weniger immer eine »politische Erziehung«. Vgl. dazu Schwenk, S. 27. 18 Neumann, Erziehungswirklichkeit und pädagogische Autonomie, S. 151. 19 Helmut Gassen, Geisteswissenschaftliche Pädagogik auf dem Wege zu kritischer Theorie. Studien zur Pädagogik Erich Wenigers, Weinheim 1978, S. 8. 20 Jürgen Habermas, Pädagogischer »Optimismus« vor Gericht einer pessimistischen Anthropologie, in: ders. (Hg.), Arbeit, Erkenntnis, Fortschritt. Aufsätze 1945–1970, Amsterdam 1970, S. 181–218, hier S. 200 f. 21 Beispielhaft vgl. Barbara Siemsen, Der andere Weniger, sowie Benjamin Ortmeyer, Mythos und Pathos statt Logos und Ethos. Zu den Publikationen führender Erziehungswissenschaftler in der NS-Zeit: Eduard Spranger, Herman Nohl, Erich Weniger und Peter Petersen, Weinheim 2010, hier besonders S. 61 ff. 22 Barbara Siemsen, S. 312 f. 23 Ebd., S. 312. 24 Wilhelm Flitner / Ulrich Herrmann, Im Gespräch, in: Hans Bernhard Kaufmann (Hg.), Kontinuität und Traditionsbrüche in der Pädagogik, Münster 1987, S. 1–23, hier S. 2. 25 Karl Neumann, Bericht über das Symposium »Erich Weniger, Leben und Werk« vom 31. Oktober bis 2. November 1986 in Gifhorn und Steinhorst, in: Karl Neumann (Hg.), Erich Weniger. Leben und Werk, Göttingen 1987, S. 7–19, hier S. 12. 26 Ebd., S. 14. 27 Vgl. Johannes Weinberg, Protestantischer Eigensinn und demokratischer Konsensusbedarf im Denken Erich Wenigers, in: Karl Neumann (Hg.), Erich Weniger, S. 51–64, hier S. 59. 28 Neumann, Bericht über das Symposium »Erich Weniger, Leben und Werk«, S. 14. 29 Ebd., S. 15.

Andreas Wagner  ■  Erich Weniger

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Grenzüberschreiter zur Politik

Hannah Vogt Ein ruheloses Leben von Christian Werwath

Auf den ersten Blick wirkt das Leben von Hannah Vogt un­stetig und richtungslos: Sie war früh in der KPD aktiv, mit 23 Jahren wurde sie als politisch Inhaftierte in das Konzentrationslager Moringen gebracht. Nach ihrer Entlassung absolvierte sie eine Ausbildung zur Krankenschwester, bevor sie 1945 in Göttingen im Fach Volkswirtschaft promovierte. Anschließend war Hannah Vogt Referentin in der hessischen Landeszentrale für politische Bildung. Zudem wurde sie Autorin eines Bestsellers über die Frage der deutschen Schuld. Die Stadt Göttingen ernannte sie nach über zwanzig Jahren Ratsarbeit, zunächst in der FDP-Fraktion und dann für die SPD, zur Ehrenbürgerin. Für ihren unermüdlichen Einsatz erhielt Hannah Vogt das Bundesverdienstkreuz. Ihre Lebensstationen erscheinen rätselhaft. Was war der Kitt ihres wechselvollen Lebens, existiert vielleicht ein roter Faden? Hannah Vogt wurde 1910 in Berlin-Charlottenburg geboren. Im Alter von neun Jahren verließ sie mit ihrer Mutter Emma, einer Fabrikantentochter aus Gütersloh, sowie ihrem Vater Wilhelm die preußische Metropole und zog nach Göttingen. Der promovierte Bibliotheksrat Wilhelm Vogt hatte eine Stelle an der hiesigen Georg-August-Universität angenommen. Die Vogts bewohnten ein Haus im Hainholzweg 25 in ruhiger Lage, nahe den Schillerwiesen. Viel hat sich im Laufe der letzten Jahrzehnte dort nicht ver­ändert. Noch immer hinterlassen die in der Nachbarschaft ­stehenden Christian Werwath  ■  Hannah Vogt

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Villen mit großen Gärten, exklusivem Wohnraum mit hohen Decken und kleinen Erkern den Eindruck großbürgerlicher Besitzverhältnisse. Im Hause ihrer Eltern konnte Vogt bereits als Kind den gut ausgestatteten Bücherschrank nutzen, um ihren Wissensdurst zu stillen. Das Abitur auf dem Oberlyzeum, dem heutigen Hainberg-Gymnasium, bestand sie 1929 mit Auszeichnung.1 Schon damals zählte dieses Gymnasium zu den angesehensten Schulen der Stadt. Fragt man heute ehemalige Schüler, berichten diese von einer bildungsbürgerlichen Atmosphäre, die durch die Familien des wohlhabenden Göttinger Ostviertels geprägt worden sei. Disziplin, Wissen, und Erziehung galten hier stets als über­ geordnete Ziele. In diesem Umfeld fühlte sich Vogt bereits in der Schulzeit zum Internationalen Jugend-Bund (IJB) sowie zum Internationalen Sozialistischen Kampf-Bund (ISK) hingezogen. In den in und um Göttingen existierenden Kaderschmieden wurde straffe Funktio­ närsschulung betrieben.2 Hier herrschten ganz ähnliche Bedingungen, wie sie Hannah Vogt in ihrem jungen Leben bereits früh erfahren hatte: Disziplin, Wissensvermittlung und Organisation. Was könnte sie also darüber hinaus angezogen haben? Vielleicht war es der Reiz der anderen Art der Abgrenzung, die beim IJB und ISK vorherrschte. Während Hannah Vogt bei ihren Eltern lernte, durch eigene Leistung und ein locker gespanntes Netzwerk meist auf sich selbst gestellt voranzukommen, bildeten die »radikalen« Jugendlichen  – viele davon selbst aus dem bürgerlichen Milieu stammend – eine von außen betrachtet festgefügte Gemeinschaft. Anfangs setzte sie sich daher lediglich mit den politisch-programmatischen Überzeugungen des IJB sowie des ISK auseinander,3 bevor sie schließlich  – wohl auch aufgrund einer »besonderen Freundschaft zu einem engagierten KPD’ler«4  – während ihres Studiums der KPD beitrat. Dabei wandte sich Vogt mit jugendlicher »Radikalität«5 dem Kommunismus zu und hatte sich alsbald gänzlich der Parteiarbeit verschrieben: Sie verteilte Flugblätter auf dem Göttinger Marktplatz und organisierte Parteiveranstaltungen mit (Berg-)Arbeitern aus dem Harz. Hannah Vogt wollte aufklären und aufrütteln. Mit ihrem schriftstellerischen Talent und ihrer Wortgewandtheit warnte sie eindringlich vor den Gefahren der nationalsozialistischen Ideologie. Noch 1979 schrieb sie zum Thema rechtsradikale 192 

Grenzüberschreiter zur Politik

Propaganda: »Wir können nicht tatenlos zusehen – das heißt: jeder einzelne muß in seinem Lebensbereich […] aufklärend wirken, für die Wahrheit eintreten, dem Grundwert der Humanität Respekt verschaffen.«6 Die Aufklärung war zeit ihres Lebens zu einer handlungsleitenden Maxime geworden. Vogts frühes politisches Engagement löste bei ihren Eltern Unbehagen aus. Nicht nur, weil die Mitgliedschaft in der KPD in den großbürgerlichen Kreisen, in denen die Familie verkehrte, einen Makel darstellte, sondern auch, weil sich zu jener Zeit die Universitätsstadt bereits zu einer der frühen Hochburgen der NSDAP entwickelt hatte. Das gestaltete die Arbeit der Kommunisten vor Ort gefährlich. Nur einen Monat nach der Machtergreifung Hitlers wurde Vogt per Haftbefehl im Kreis Osterode gesucht und wegen Anstiftung zum Hochverrat verhaftet. Im Alter von 23 Jahren brachte man sie in das Konzentrationslager Moringen.7 Dort erhielt sie von ihrem Vater folgende Zeilen, die einen tiefen Einblick in die Familienverhältnisse der Vogts geben: »Meine liebe Hannah! […] Ob Du im Gefängnis bist oder sonst wo, ändert nichts daran, daß wir Deine Eltern sind und bleiben und daß Du so lange wir leben bei uns eine Zuflucht findest. Aber Du musst nun tragen, was Du Dir mit vollem Bewusstsein aufgeladen hast und für Deine Idee u. Glauben leiden. Vielleicht gibt Dir dieses Bewußtsein eine gewisse Kraft. Ich möchte es sehr wünschen. Es wird lange dauern, bis Du wieder frei kommst, aber dann rate ich Dir aufs Dringendste, Dein Studium zu beenden, und Deinen Doktor zu machen. Der Kommunismus wird bei uns auf Jahre hinaus vollkommen matt gesetzt sein. Ich kann das von meinem Standpunkt aus auch nur begrüßen, wenn ich auch Methoden mit denen man vorgeht verwerfe. […] Das Bewußtsein, daß wir z.Zt. nicht mehr in einem Rechtsstaat leben, sondern eine Diktatur haben, dass es keine Pressefreiheit mehr gibt, […] daß wir höchstwahrscheinlich einer ganz unerträglichen Kultur-Bevormundung entgegengehen, dieses Bewußtsein schnürt mir fast die Kehle zu […]. Es ist mir in diesen Tagen so recht klar geworden, wie tief ich mit meinem ganzen Wesen im liberal-demokra­ tischen verankert bin.«8

Was als jugendlicher Protest begann und seine Sicherheit darin fand, stets in die Familie zurückkehren zu können, wurde plötzlich zur echten Überlebensprobe. Ihrem Aktionismus wurde durch Freiheitsberaubung ein jähes Ende gesetzt. Mit etwa hundertzwanzig bis hundertvierzig anderen Frauen erlebte Vogt D ­ emütigungen und Bestrafungen durch die Lagerbesatzung.9 Christian Werwath  ■  Hannah Vogt

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»Die Frauen wurden zusammengepfercht in einem Raum, auf harten Holzbänken ohne Lehne den ganzen Tag sitzend. In diesem Tagesraum spielte sich alles ab: essen, waschen, anziehen, arbeiten. […] Die Frauen durften nur leise miteinander sprechen, Reden von Nazi-Größen mussten angehört werden, bei Hymnen mussten sie sich erheben, es wurde der ›Völkische Beobachter‹ vorgelesen. […] Auf dem Dachboden schliefen die Frauen in kalten Betten. Hier gab es keinen Ofen.«10

Ihr intensiver Schriftverkehr mit der Familie und Freunden unterlag der Zensur der Lageraufsicht. Dennoch lässt sich im Zeitverlauf herauslesen, wie ihr politischer Wille nach und nach an der Einsamkeit und den Haftbedingungen zerbrach. Hannah Vogt wurde vorsichtiger, nachdenklicher und ängstlicher. Als sie im Zuge der »Weihnachtsamnestie«11 von Hermann Göring im Dezember 1933 entlassen wurde, kam sie wieder bei ihren Eltern unter. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges lebte sie in innerer Emigration. Die Angst, ein zweites Mal verhaftet zu werden, war von nun an ihr ständiger Begleiter. Sie vermied es, aufzufallen und begann eine Ausbildung zur Krankenschwester. Ihren politischen Wider­ stand gab sie völlig auf und brach mit ihrem früheren Umfeld. Nach neunjähriger Studienunterbrechung und einem Gnaden­ gesuch konnte sie 1942 nur mit großer Unterstützung ihrer Eltern in Marburg das Studium der Volkswirtschaft wieder aufnehmen. 1945 kehrte Hannah Vogt zur Promotion an die wiedereröffnete Universität Göttingen zurück. Das Kriegsende wurde zu einem bedeutenden Wendepunkt in ihrem Leben. Sie vermerkte in ihrem Tagebuch: »Dies Inselhafte unserer [Göttinger] Existenz, dieser Wohlstand, diese Unversehrtheit – sie verpflichten.«12 Vogt war im Gegensatz zu ihren Jugendjahren zu einer Beobachterin ihrer Umgebung geworden, was sich vor allem in ihrer Arbeit als freie Journalistin widerspiegelte. Doch beließ sie es nicht beim Schreiben, sondern nutzte die neu gewonnenen Freiheiten der aufkeimenden Demokratie, um sich erneut politisch und gesellschaftlich einzubringen. Das tat sie in der Göttinger Nothilfe für Kriegsleidende. Mit der Zeit entwickelte sie sich in diesem Umfeld zu einer Schlüsselfigur im Kontakt zwischen den wohlhabenderen Göttinger Bürgern und den zuständigen (Militär-)Behörden. Zu ihren Aufgaben gehörte die Organisation von Lebensmitteln, Schlachtvieh, Wohnraum für Flüchtlinge, Medikamenten und weiteren Notwendig­keiten des täglichen Lebens. Diese aus der 194 

Grenzüberschreiter zur Politik

Nachkriegsgeschichte Göttingens nicht mehr wegzudenkende Arbeit der Göttinger Nothilfe »ist unter anderem mit dem Namen der späteren Ratsherrin Hannah Vogt verknüpft«13. Doch wollte sich Hannah Vogt zusätzlich auch wieder an politisch hervorgehobener Stelle engagieren. Während ihres inneren Exils hatte sie offenbar nichts von ihrem Willen und Tatendrang verloren. Ganz im Gegenteil, sie schien aus der jahrelangen Zurückgezogenheit Kraft zu schöpfen, wollte sich in die junge Demokratie mit Verve einbringen. Sie trat 1948 in die Göttinger FDP ein, die sich, im Gegensatz zum nationalkonservativen Landesverband, an den christlich-liberalen Ideen Friedrich Naumanns orientierte.14 Schon in ihrer Promotionsschrift hatte sie sich intensiv mit Naumanns Vorstellungen und Ideen befasst. Die Liberalen waren in Göttingen nach dem Krieg die mit Abstand stärkste Kraft und stellten die meisten Ratsmitglieder. Auch deshalb gelang Hannah Vogt recht schnell in der kleinen Partei der Aufstieg. Sie setzte sich in der klar männerdominierten FDP durch und saß bereits ein Jahr nach ihrem Beitritt als Nachrückerin im Stadtrat. Eine Direktwahl verpasste sie trotz ihres breit aufgestellten Netzwerkes nur knapp. Doch die freidemokratische Partei veränderte auch in Göttingen nach und nach ihr Gesicht, sie wurde von rechts unterwandert.15 Zunehmend klafften zwischen Vogt und ihrer Partei große Lücken, vor allem im Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Vehement protestierte sie gegen den freidemokratischen Vorschlag, Wilhelm Sievers, einst hochrangiges Mitglied der NSDAP und der SS, zum neuen Oberstadtdirektor zu wählen. Sie stellte sich schließlich gegen die eigene Fraktion und verhinderte so die Ernennung. Dadurch geriet sie in den Folgejahren in einen fortwährenden Zwist mit der Parteispitze, obgleich ihr 1952 die Direktwahl in den Göttinger Stadtrat gelang. Doch war sie von nun an innerhalb der Partei weitgehend isoliert und drang mit ihren Ideen nicht mehr durch. Hannah Vogt hatte zu jener Zeit das Glück, von einem ihrer Bekannten, dem hessischen Kultusminister Arno Hennig, nach Wiesbaden gerufen zu werden. Der ehemalige Göttinger Bundes­ tagsabgeordnete hatte ihr schriftstellerisches Talent erkannt und bat sie, als Referentin in der hessischen Landeszentrale für Heimatdienst16 zu arbeiten. Im Bereich der politischen Bildung und ausgestattet mit weitgehenden Freiheiten und Kompetenzen konnte Christian Werwath  ■  Hannah Vogt

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sich Hannah Vogt entfalten. Anknüpfend an ihre Jugendzeit setzte sie sich kritisch mit der mangelnden Aufarbeitung des Nationalsozialismus auseinander. Eine ganze Reihe von Büchern und Aufsätzen, die immer wieder mit zum Teil deutlich hervorstechenden persönlichen Ansichten versehen sind, zeugen davon. 1961 veröffentlichte sie gar einen Bestseller mit dem Titel »Schuld oder Verhängnis? 12 Fragen an Deutschlands jüngste Vergangenheit«, der eine Auflage von über 500.000 Exemplaren erreichte. In dieser Phase ihres Wirkens beschäftigte sich Hannah Vogt ausführlich mit ihrer eigenen Vergangenheit. Ihr Bestseller ist ein interessantes Beispiel dafür, mit welcher Intensität sie sich der Aufklärung widmete. Treffend kommentierte die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, wie »hinter vorbildlicher Sachlichkeit […] die innere Beteiligung an den Fragen zu spüren« ist, »deren Beantwortung den Lesern nach gründlicher Unterrichtung schließlich überlassen wird.«17 Vogts langjährige und intensive Beschäftigung mit der historischen Schuld ließe sich auch als ein Hinweis darauf deuten, wie sie ihre innere Emigration unter den Bedingungen der ständigen Gefahr um Leib und Leben empfunden hat – als bedrückend, vielleicht sogar als verräterisch. So liest sich Hannah Vogts Buch »Schuld oder Verhängnis?« aufgrund seiner nüchternen Sachlichkeit wie ein Beitrag zur (Rechts- und Demokratie-) Erziehung der Jugend, der es zugleich auch gewidmet ist. Während eines Vortrags erklärte Vogt: »Wir glauben nicht, dass wir die Vergangenheit bewältigen können. Wir müssen sie in unser Leben aufnehmen, statt sie zu verdrängen, und wir müssen die Jugend davon in Kenntnis setzen.«18 Nachdem ihr Förderer Hennig 1959 seinen Ministerposten verloren hatte, kehrte Hannah Vogt einige Jahre später nach Göt­ tingen zurück, um es noch einmal mit der aktiven Politik zu versuchen. Zwischenzeitlich war sie aus der FDP ausgetreten und 1962 in die SPD eingetreten. In Göttingen fand sie gänzlich andere politische Verhältnisse vor: Die Göttinger SPD löste zur Kommunalwahl 1964 den Bürgerblock aus FDP und CDU als dominierende Kraft ab. Nur zwei Jahre später saß erstmals seit 1948 wieder ein sozialdemokratischer Oberbürgermeister der Verwaltung und dem Rat vor. Nach anfänglichen Schwierigkeiten – die FDP haderte mit ihrem kontinuierlichen Machtverlust und quälte sich einige Zeit lang mit innerparteilichen Flügelkämpfen zwischen der 196 

Grenzüberschreiter zur Politik

alten nationalliberalen Garde und den nachwachsenden sozial­ liberal orientierten Jungdemokraten – veränderten Frei- und So­ zialdemokraten die Stadt in den Sechzigern und Siebzigern »in ganz erheblichem Ausmaß«19. Hannah Vogt avancierte zur treibenden Kraft der Ratsfraktion. Sie widmete sich in erster Linie dem gesellschaftlichen Engagement, vorrangig der Jugend. Viel Zeit verbrachte sie daher in Schulen und versuchte, Aufklärung zu betreiben. Bis heute rühmen einige Kollegen vor allem ihre schriftstellerischen Fähigkeiten. Die Anträge im Rat waren schwungvoll formuliert und mit emotionalem Verständnis für die Sache geschrieben. Vogt fügte sich intellektuell und menschlich nahtlos ein in eine erfolgreiche Kohorte Göttinger Sozialdemokraten. Im Jahr 1955 errang der spätere Professor und Landesminister Peter von Oertzen im hart umkämpften Umfeld ein Landtagsmandat, vier Jahre später übergab dieser nach seinem Wechsel an die Hochschule in Hannover die Kandidatur an seine politische Ziehtochter Ehrengard Schramm, die nun in den Landtag einzog. Ehrengard Schramm und Hannah Vogt einte nicht nur die gemeinsame freidemokratische Vergangenheit. Beide waren aus Unmut über den Rechtsruck aus der FDP aus- und in die SPD eingetreten.20 Ihre Freundschaft ging über die gemeinsam verfolgten politischen Ziele hinaus.21 Hannah Vogt gehörte zum intellektuell elitären Führungskreis der Göttinger SPD, ohne den elitären Anspruch öffentlich zu verkörpern. Auf diese Weise gehörte sie 1967 zum Kreis derjenigen, die sich innerparteilich um eine Landtagskandidatur bewarben. Jedoch scheiterten ihre Versuche, vom Stadtrat in den Landtag zu wechseln. Peter von Oertzen kehrte nach zwei Legislaturperioden zurück und gewann auf Anhieb die interne Auseinandersetzung. Von Oertzen war direkter, härter im Ton und im Umgang, ein offensiver und rhetorisch geschulter Redner. Die Stärken von ­Hannah Vogt indes lagen nicht in der Ausübung von Macht. Sie liebte das gesellige Gespräch, die respektvolle Debatte. Im innerparteilichen Rennen um sichere Mehrheiten sind solche Eigenschaften weniger gefragt, vor allem, wenn es um den Kampf um öffentliche Ämter geht. Doch sie war in der Stadt bekannt und zur festen Säule sozialliberaler Kommunalpolitik avanciert. Daher sollte Hannah Vogt als Oberbürgermeisterin in Göttingen nominiert werden. Allerdings hatte ihr die mit der SPD koalierende Christian Werwath  ■  Hannah Vogt

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FDP die Sievers-Angelegenheit und den Parteiwechsel nicht verziehen. So blieb Vogt letztlich die Ratsarbeit, die sie trotz der Niederlagen und Zurückweisungen, nach Auskunft ehemaliger Ratsmitglieder, inhaltlich und gesellschaftlich weiterhin sehr engagiert betrieb und ernst nahm. Im späten Lebensalter fand Hannah Vogt wieder intensiver zu ihrer Lebensaufgabe, zur Aufklärung über die Verbrechen des National­sozialismus zurück. Das KZ Moringen war bis in die achtziger Jahre ein grauer Fleck in der geschichtlichen Aufarbeitung geblieben. Vogt wollte das ändern. Mit Erfolg: 1993 wurde in Moringen gegen anfangs noch zahlreiche Widerstände eine KZGedenkstätte gegründet. Abermals also erinnerte sie sich an ihre eigene Geschichte, um diese Erfahrungen mit den Nachkriegsgenerationen zu teilen. Im Februar 1994 starb Hannah Vogt in Göttingen. Es war ihr bereits in jungen Jahren ein beständiges Anliegen gewesen, für den Schutz und Aufbau der Demokratie einzustehen – dafür nahm sie viele Umwege, Schwierigkeiten, ja sogar Repressionen in Kauf. Ihr Leben wirkte nicht nur ruhelos – das war es auch. Hannah Vogt suchte stets neue Wege, um vor dem zu warnen, was sie erleben und erfahren musste.

Anmerkungen 1 Vgl. Ute Hinze / Bettina Kratz-Ritter, Hannah Vogt. Göttinger Ratsfrau und Ehrenbürgerin, Göttingen 2006, S. 2 ff. 2 Vgl. Fritz Eberhard, Erfahrungsberichte. Bin ich ein Schüler von Leonhard Nelson?, in: Bernd Sösemann (Hg.): Fritz Eberhard. Rückblicke auf Bio­ grafie und Werk, Stuttgart 2001, S. 30–73, hier S. 33. 3 Eine Mitgliedschaft beim ISK bzw. IJB ist nicht bekannt. 4 Interview mit Stefan Vogt am 23.11.2011. 5 Zit. in: Hinze / Kratz-Ritter, S. 2. 6 Hannah Vogt, Rechtsradikale Propaganda in der Bundesrepublik – Themen und Chancen; im Internet abrufbar unter URL: http://www.ekd.de/ezw/ dateien/EZWINF77.pdf [zuletzt eingesehen am 10.06.2011]. 7 Vgl. Hans Hesse, Das frühe KZ Moringen (April – November 1933). »… ein an sich interessanter psychologischer Versuch…«, Moringen 2003, S. 122. 8 Zit. in: Hans Hesse, Hoffnung ist ein ewiges Begräbnis. Briefe von Hannah Vogt aus dem Gerichtsgefängnis Osterode und dem KZ Moringen 1933, Bremen 1998, S. 44.

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9 Vgl. Jane Caplan, Gabriele Herz, »Schutzhaft« im Frauen-Konzentrationslager Moringen 1936–1937, in: Gisela Bock (Hg.), Genozid und Geschlecht. Jüdische Frauen im nationalsozialistischen Lagersystem, Frankfurt 2005, S. 22–44, hier S. 25. 10 Hans Hesse, Das Frauen-KZ Moringen 1933–1938, Hürth 2002, S. 204 f. 11 Hermann Göring ordnete eine Weihnachtsamnestie an, in deren Rahmen rund 5.000 politische Häftlinge entlassen wurden. Hintergrund war die gefestigte Stellung der NSDAP im Staat. Hierzu und zu den Briefen aus dem KZ von Hannah Vogt vgl. Hans Hesse, Hoffnung ist ein ewiges Begräbnis. 12 Zit. in: Michaela Böttcher, »Was am folgenden Morgen beginnt, ist ein neues Kapitel«, in: Maren Büttner u. a. (Hg.), Alltagsleben nach 1945. Die Nachkriegszeit am Beispiel der Stadt Göttingen, Göttingen 2010, S. 11–31, hier S. 17. 13 Wiebke Thadden, Die Stadt Göttingen unter britischer Militärverwaltung 1945–1947, in: Rudolf von Thadden (Hg.), Göttingen: Von der preußischen Mittelstadt zur südniedersächsischen Großstadt, Göttingen 1999, S. ­275–291, hier S. 280. 14 Der damalige Oberbürgermeister Hermann Föge (FDP) gehörte der sozialliberalen Strömung an. Vgl. Klaus Wettig, Spurensuche und Fundstücke. Göttinger Geschichten, Göttingen 2007, S. 124 ff. 15 Vgl. Heinz-Georg Marten, Die unterwanderte FDP. Politischer Liberalismus in Niedersachsen, Göttingen 1978. 16 Später Landeszentrale für politische Bildung. 17 Brigitte Beer, Hilfsmittel für den politischen Unterricht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.09.1962. 18 Vgl. o. V., Wie steht unsere Jugend zur Judenfrage? Israelische Frauen diskutieren Erziehungsprobleme, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.08.1968. 19 Günter J. Trittel, Göttingens Entwicklung seit 1948, in: von Thadden, S. 291–356, hier S. 323. 20 Hans Joachim Dahms, Die Universität Göttingen, 1918 bis 1989, in: von Thadden, S. 395–456, hier S. 438. 21 Vgl. Hinze / Kratz-Ritter, S. 21.

Christian Werwath  ■  Hannah Vogt

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Adam von Trott zu Solz Der vergessene Widerstandskämpfer von Benjamin Wochnik

Das NS-Regime war bekanntlich charakterisiert von Unterdrückung, Willkür und Mord. Gestützt wurde es von vielen Deutschen, ob aus Überzeugung oder aus Angst, selbst zum Opfer staatlichen Terrors zu werden. Nur wenige fanden den Mut, sich aktiv und organisiert im Widerstand gegen Hitler und die Nationalsozialisten zu stellen. Jene, die mutig für Freiheit und Gerechtigkeit einstanden, waren sich der Gefahren bewusst. Knapp ein Jahr vor Kriegsende bezahlte ein junger Deutscher seinen Mut mit dem Leben. Er war einer jener, die sich für Freiheit einsetzten und dennoch in Vergessenheit gerieten: Adam von Trott zu Solz. Der deutsche Widerstand rekrutierte sich aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten und Bereichen  – Politik, Adel, Kirche, Studenten-, Arbeiterschaft und Militär.1 In der kollektiven deutschen Erinnerungskultur sind jedoch nur wenige stellvertretend für den Widerstand verankert, wie die Geschwister Scholl oder Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Der deutsche Widerstand hatte jedoch weitaus mehr Gesichter, als in der öffentlichen Wahrnehmung präsent sind. Allein konnten die wenigen prominenten Opponenten der Diktatur nicht agieren, sie waren angewiesen auf Gleichgesinnte, Verbündete, Unterstützer und loyale Netzwerke. Adam von Trott zu Solz gehörte zu den Personen des Widerstands, die der breiten Öffentlichkeit nicht bekannt sind, die gleich200 

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wohl zu den zentralen Widerstandsakteuren zählten. Trott agierte im Hintergrund als außenpolitischer Netzwerker. Er war Mitglied des Kreisauer Kreises um Helmuth James Graf von Moltke und avancierte später zu Stauffenbergs wichtigstem außenpolitischen Berater und Vertrauten.2 Er bildete die Schnittstelle zwischen dem deutschen Widerstand um Stauffenberg und den Kontaktpersonen der Alliierten und warb bei den ausländischen Gegnern des Dritten Reiches um Unterstützung für die deutsche Widerstands­ bewegung.3 Trott wurde am 9. August 1909 in Potsdam geboren und von einem englischen Kindermädchen bis zum Ausbruch des E ­ rsten Weltkrieges aufgezogen. Sein Vater August von Trott zu Solz und seine Mutter Eleonore von Schweinitz entstammten einfluss­ reichen Diplomaten- und Politikerfamilien.4 Nachdem Trotts Vater im Jahr 1917 als Preußischer Kultusminister zurückgetreten war und in Hessen-Nassau das Oberpräsidium übernommen hatte, besuchte Adam seit 1923 das Gymnasium im provinziellen Hannoversch Münden. Nach dem Erlangen der Hochschulreife begann er 1927 ein Jurastudium – ganz in der Tradition seiner Familie – und entschied sich vorerst für die Ludwig-Maximilians-Universität München. Das gesellschaftliche wie politische Leben der bayerischen Metropole beeindruckte den jungen Trott. In jener Zeit hörte er erstmals eine von Hitlers aufrührerischen Reden. Der 17-Jähirge beschrieb Hitler in einem Brief an seine Mutter als Redekünstler, der es verstünde, das naive Publikum in seinen Bann zu ziehen.5 Doch sein früh ausgeprägtes und sensibles politisches Gespür bewahrte ihn davor, sich von Hitlers populistischer Hetzerei vereinnahmen zu lassen. Nach nur einem Semester in München kehrte er in vertraute Gefilde zurück und setzte sein Studium an der Georg-AugustUniversität in Göttingen fort. Trott entschied sich, wie schon sein Vater, dem Corps Saxonia zu Göttingen beizutreten. Dies sollte seinem Studentenleben Organisation und Struktur geben. Das erste Jahr wohnte er im Verbindungshaus am Theaterplatz 5. Hier herrschte ein streng hierarchisches und durchorganisiertes Corpsleben. Doch seine aufgeschlossene und charmante Art öffnete ihm sämtliche Türen; und Trott integrierte sich, gleich wo er lebte, innerhalb kurzer Zeit.6 Er arrangierte sich mit den zeitintensiven Corpstraditionen, haderte dennoch mit ihnen, da seine persönBenjamin Wochnik  ■  Adam von Trott zu Solz

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lichen Neigungen stets ins Hintertreffen gerieten. So tauschte er seine Unterkunft im Sommer 1928 gegen ein Mietzimmer samt Bewirtung in der Oberen Karspüle 20 ein. Hier genoss er einen viel größeren Freiraum, um seinen privaten Interessen – der eng­ lischen Sprache und der Literatur – nachzugehen. Zu den gewinnbringenden Seiten seiner Göttinger Corpszeit zählten eher wertvolle Kontakte denn sportliche Ertüchtigungen. Neben einigen Corpsbrüdern, die später in gewichtigen Positionen arbeiteten, lernte er den »alten Herrn« Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg kennen und schätzen. Beide verband alsbald eine vertrauensvolle Basis, deren wahrer Wert sich in den folgenden Jahren herausstellen sollte. Denn von Schulenburg engagierte sich, wie Trott, Anfang der vierziger Jahre im Kreisauer Kreis und gehörte später auch zu den Verschwörern des 20. Juli.7 Trotts Studienzeit war geprägt von internationalen Treffen und Studienaufenthalten. In Genf, Liverpool und Oxford knüpfte er Kontakte und schloss Freundschaften, die ihm später für seine Aktivität im deutschen Widerstand nützlich sein sollten.8 Ab 1930 war seine Zeit des Reisens vorerst vorbei und Trott bereitete sich in Göttingen intensiv auf sein juristisches Examen vor. In dieser anstrengenden Lernzeit traf er Alexander Werth, ein Kommi­litone aus dem Institut seines zukünftigen Doktorvaters. Die beiden jungen Männer lernten gemeinsam für das anstehende Referendarexamen und es entstand ein enger Freundschaftsbund. Auch Werths loyale Freundschaft sollte zehn Jahre später eine neue Qualität bekommen. Trott holte ihn als Mitarbeiter ins Auswärtige Amt und integrierte Werth in die Widerstandsgruppe innerhalb des Amtes.9 Politisch hatte sich Trott bereits in den dreißiger Jahren positioniert. Er sympathisierte mit sozialistischen Studentengruppen. Trotz seiner adligen Herkunft und Sozialisation erschien ihm der Sozialismus als ernsthafte politische Alternative. Trott ließ sich nicht von externem Druck einengen, weder politisch noch ideo­ logisch. Seine weltoffene und progressive Art bewahrte ihn vor jeglichen extremistischen Versuchungen. Seinen Überzeugungen konsequent folgend, wählte Trott bei der Reichstagswahl 1930 die SPD.10 Die allgemeine nationalsozialistische Hysterie konnte den reflektiert und kritisch denkenden Trott nicht mitreißen, obgleich er in Zukunft aufgrund seines per202 

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sönlichen Standpunktes berufliche und private Nachteile fürchten musste. In einem Briefwechsel gab sich sein Vater über das politische Bekenntnis seines Sohnes besorgt und bemerkte: »Adam dürfe sich nicht wundern, in den Kreisen, die wir die unsrigen zu nennen gewohnt sind, auf Spott und Feindschaft zu stoßen beim Vertreten dieser politischen Überzeugungen.«11 Im Winter 1930 legte Trott am Oberlandesgericht in Celle sein Referendarexamen ab. Er blieb Göttingen treu und begann alsbald mit dem Schreiben seiner Doktorarbeit im Bereich Völkerrecht. Professor Herbert Kraus, Begründer des Instituts für Völkerrecht an der Universität Göttingen und Gegner der Nationalsozialisten, war zu jener Zeit Trotts Doktorvater.12 Im Juli 1931 krönte Trott sein Studium an der Georgia Augusta mit einer sehr gut benoteten Dissertation über »Hegels Staatsphilosophie und das interna­ tionale Recht«.13 Ende 1932 veröffentlichte der Göttinger Verlag Vandenhoeck & Ruprecht Trotts Doktorarbeit.14 Parallel zu seiner Doktorwürde erhielt er von der renommierten Rhodes-Stiftung ein Stipendium für das Balliol College der Universität Oxford.15 Im Oktober 1931 verließ er Deutschland Richtung England, das zu seiner zweiten Heimat werden sollte. Denn die kommenden zwei Jahre in Oxford ließen Trott nachhaltig menschlich wie intellektuell reifen. Enge Freundschaften zu englischen Kommilitonen entstanden, die den jungen Kosmopoliten beeinflussten und stärkten.16 Die Zeit in Oxford komplettierte Trotts internationale Sozialisation. Den Grundstein dieser Entwicklung hatten in frühen Jahren seine Mutter, sein englisches Kindermädchen sowie Trotts zahlreiche Auslandsreisen gelegt. Fortan dachte er in europäischen, nicht in nationalen, geschweige denn in nationalsozialistischen Dimensionen. England bot Trott einen geistigen und kritischen Freiraum, der in Deutschland zu schwinden begann. Er nutzte die Oxforder Studentenklubs, um den Briten die Gefahren der nationalsozialistischen Partei zu erläutern. Trott ließ keinen Zweifel zu, dass er in Opposition zur NSDAP stand. In politischen Debatten kritisierte er die stetig an Einfluss gewinnenden Nationalsozialisten und deren Ideologie.17 Neben schriftlichen Quellen bestehen auch zahlreiche Aus­ sagen britischer Freunde und Bekannter, bei denen Trott kein Blatt vor den Mund nahm. Richard Crossman, ein Freund, Schatz­ Benjamin Wochnik  ■  Adam von Trott zu Solz

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meister des German Club und Dozent am New College der Universität in Oxford, beschrieb Trotts politische Haltung wie folgt: »Trott habe die Nationalsozialisten als Verbrecher betrachtet, nicht etwa weil sie den Versailler Friedensvertrag ablehnten und ein Großdeutsches Reich proklamierten, sondern weil die Methoden, mit denen sie diese Ziele zu erreichen suchten, für die deutsche Ehre eine Schande seien. Er habe nie den englisch-französischen, d. h. antideutschen, Standpunkt unterstützt, sondern es vielmehr als seine Pflicht angesehen, die westlichen Demokratien davon zu überzeugen, daß es im Interesse ihrer eigenen Sicherheit liege, ein vereintes Europa zu schaffen, in welchem ein vereintes und von der nationalsozialistischen Gefahr befreites Deutschland seinen rechten Platz einnehmen könne.«18

Als im Januar 1933 Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde, ahnte Trott das katastrophale Unheil, das auf Europa und Deutschland zukommen würde.19 Seinem Vater schrieb er kurz darauf aus Oxford: »Der Dienst an den Rechten des einzelnen – des ›Menschen‹, wie die Naturrechtler sagen  – im Zusammenhang und im Konflikt mit all den äußerlichen Ordnungen und Hindernissen ist mir ungleich wichtiger als der Dienst am ›Staat‹, der zur Willkür geworden ist.«20 Die Ideologie und Expansionspläne der Nationalsozialisten missfielen Trott demnach von Anbeginn. Seine Vision einer friedlichen Zukunft sah Deutschland integriert, inmitten eines friedlichen Bundes europäischer Staaten und nicht als bedrohlichen Aggressor. Nach der Machtübernahme der NSDAP befand sich Trott fortan im Zwiespalt zu seinem Vaterland – »die tiefe Liebe zu Deutschland mit der unbeugsamen Feindschaft dem Nationalsozialismus gegenüber«21. Insbesondere der menschenverachtende Antisemitismus und die wiederkehrenden Pogrome schockierten Trott zutiefst.22 In den Jahren 1933 bis 1939 unternahm er wiederholt Studienreisen ins Ausland, um der beklemmenden und abstoßenden politischen Realität in Deutschland zu entkommen. Auf diesen Reisen fühlte er sich stets verpflichtet, den Menschen das andere, oppositionell denkende Deutschland darzustellen und als eine Art Botschafter zwischen den Fronten zu agieren. 1938 fällte er schließlich den Entschluss, nach Deutschland zurückzukehren und den Nationalsozialismus von innen her zu bekämpfen. Die Option der Emigration schlug er damit aus.23 Zurück in Deutschland schloss Trott einige Monate vor Weltkriegsbeginn sein Assessorexamen ab, das ihm neben seinen per204 

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sönlichen Kontakten den Weg ins Auswärtige Amt ebnete.24 Am 1. Juli 1940 trat Trott der NSDAP bei. Diesen Schritt vollzog er jedoch nicht aus Loyalität und Sympathie gegenüber dem Regime, sondern als ideologische Tarnung im Kampf gegen die Nationalsozialisten.25 Parallel zum Parteibeitritt übertrug ihm das Auswärtige Amt das neue Referat »Inf. X: Ländergruppe U. S. A., Ferner Osten«. Seine berufliche Stellung erlaubte es ihm nun, Gleich­ gesinnte, wie seinen Göttinger Kommilitonen und Freund Alexander Werth, in seinem Referat zu gruppieren. Seine von Amts­ wegen offiziellen Auslandsreisen unter der Hakenkreuzflagge nutzte er, um sie in den Dienst des Widerstands zu stellen.26 Trotts Verhalten blieb von einer konspirativen Gruppierung nicht unbemerkt. Der Kreisauer Kreis, initiiert von Helmuth James Graf von Moltke und Peter Graf Yorck von Wartenburg, nahm Kontakt zu ihm auf. Trotts Verbindungen zu britischen und amerikanischen Regierungskreisen sowie seine Kontakte zu internationalen Organisationen machten ihn für die Kreisauer interessant.27 Neben seinen Kontakten hatte Trott noch ein weiteres Ass im Ärmel: seine Empathie und soziale Kompetenz. Franz ­Josef Furtwängler, Vertrauter und Mitarbeiter von Trott im Auswärtigen Amt, beschrieb seine Fähigkeiten treffend: »Das ›Umbiegen‹ von Vorgesetzten und Gegnern, selbst den gefährlichsten, war seine diplomatische Spezialität. Mit seiner fast weiblichen Einfühlungsgabe vermochte er die Gedankengänge des Partners zu erfassen und seine Worte auf dessen Redeweise abzustimmen. […] Es war ein künstlicher Genuß zuzuhören, wenn er einem Staatssekretär, der zugleich Nazihäuptling war, einen Entschluss suggerierte, bei dem der andere das Gefühl hatte, sich trotz entgegengesetzter Anregungen zu einer eigenen, ganz originellen Entscheidung durchgerungen zu haben. Nur so war es möglich, daß er im Dritten Reich jahrelang Dienstreisen unternehmen und dabei seine eigenen, auf den Sturz des Regimes gerichteten Ziele verfolgen konnte, ohne einen begründbaren Verdacht zu erregen.«28

Im September 1940 nahm er erstmals an einem Treffen des Kreisauer Kreises teil und wurde aufgrund seiner Sprach- und Länderkenntnisse bald dessen außenpolitisches Sprachrohr. Mit dem Beitritt in den Kreisauer Kreis gab es für Trott keinen Weg zurück. Nun war er vollends in den organisierten Widerstand verstrickt. Trotts Plan schien zunächst aufzugehen – er konnte den faschistischen Leviathan von innen her bekämpfen und gleichzeitig im Benjamin Wochnik  ■  Adam von Trott zu Solz

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Ausland für die Unterstützung des deutschen Widerstands werben. Ab 1942 unternahm er zahlreiche Auslandsreisen im Dienste des Auswärtigen Amtes, stets mit oppositionellen Denkschriften seiner konspirativen Mitstreiter im Gepäck.29 Sein Doppel­ leben, vermeintlicher Gesandter des NS-Regimes und doch Widerstandsaktivist zu sein, sowie die ständigen Ablehnungen seiner Unterstützungsanfragen von alliierter Seite zermürbten Trott.30 Es war ein »Kampf gegen Windmühlen«, das Paradox des Widerstandskampfes. Seine tarnende Loyalität dem Dritten Reich gegenüber erzeugte seitens der Alliierten mehr Miss- als Vertrauen. Selbst Trotts riskante Kontaktaufnahmen und brisante Informationen änderten wenig an diesem verheerenden Missverständnis. Die Alliierten fürchteten, dass hinter seinem Engagement Spionage stecken könnte.31 Trotz diverser Rückschläge ließ er sich nicht beirren und engagierte sich weiterhin unter Lebensgefahr für die Ziele des Widerstands.32 Nachdem Stauffenberg 1943 Kontakt zur Kreisauer Widerstandsgruppe aufgenommen hatte und deren Führungskopf Moltke Anfang 1944 von der Gestapo verhaftet worden war, erhielten die Umsturzpläne eine energischere Dynamik und radikalere Richtung: Hitler sollte getötet werden.33 In den letzten Tagen vor dem Attentat auf Hitler traf sich Trott mehrere Male mit Stauffenberg in Berlin, um letzte Beratungen zu führen. Trott bestärkte Stauffenberg in seinem Attentatsplan, da er glaubte, dass allein ein sicht­bares und unmissverständliches Zeichen des deutschen Widerstands die Alliierten bewegen würde, ihre Dialogbereitschaft wieder aufzunehmen.34 Das Attentat scheiterte noch am Abend des 20. Juli. Somit endeten auch alle Hoffnungen, sich von Hitler befreien und den Krieg vorzeitig beenden zu können. Hitlers Henker richteten in den folgenden Wochen die Mehrheit der Widerstandskämpfer hin. Der »Außenminister« des Widerstands, Adam von Trott zu Solz, wurde vom Präsidenten des Volksgerichtshofs Roland Freisler zum Tode durch den Strang verurteilt. Trotz Folter und verbaler Erniedrigungen durch Freisler verriet Trott keine lebenden Mitwisser. Er behielt seine Würde.35 Am 26. August 1944 starb er im Alter von nur 35 Jahren in der Hinrichtungsstätte Berlin-Plötzensee. Trott hinterließ seine Frau Clarita und zwei Töchter. »Es wäre kein Opfer, aus dem eine kräftige neue Saat keimen könnte, wenn Gott nur müde alte Männer zu sich rufen würde.«36 206 

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Anmerkungen 1 Für einen detaillierten Überblick der verschiedenen Widerstandsgruppen zwischen 1933 bis 1945 siehe: Peter Steinbach / Johannes Tuchel (Hg.), Wider­ stand gegen die nationalsozialistische Diktatur 1933–1945, Bonn 2004. 2 Vgl. Peter Steinbach, Der 20.  Juli 1944. Gesichter des Widerstands, München 2004, S. 203. 3 Vgl. Tobias Hoh: Widerstand und Internationale Beziehungen, Marburg 2003, S. 54 ff. 4 Vgl. Benigna von Krusenstjern: »daß es Sinn hat zu sterben – gelebt zu haben«. Adam von Trott zu Solz. 1909–1944, Göttingen 2009, S. 11 ff. 5 Vgl. Henry O. Malone, Adam von Trott zu Solz. Werdegang eines Verschwörers 1909–1938, Berlin 1986, S. 28. 6 Vgl. Christopher Sykes, Adam von Trott zu Solz. Eine deutsche Tragödie, Düsseldorf 1969, S. 34 f. 7 Vgl. Biografien: Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg, in: Gedenkstätte Deutscher Widerstand, abrufbar unter http://www.gdw-berlin.de/bio/aus gabe_mit.php?id=78, [zuletzt eingesehen am 05.09.2011]. 8 Zu Trotts engen und loyalen Freunden zählte David Astor, späterer Verleger der Zeitung »The Observer«. Astor unterstützte Trotts konspirative Widerstandsarbeit in Großbritannien und verhalf ihm zu einflussreichen gesellschaftspolitischen Kontakten. Siehe unter: Astor and the Observer, 09.12.2001, in: The Observer, abrufbar unter: http://www.guardian.co.uk/ theobserver/2001/dec/09/features.review67?INTCMP=SRCH [zuletzt eingesehen am 02.11.2011]. 9 Vgl. Malone, Henry o.: Adam von Trott zu Solz. Werdegang eines Verschwörers 1909–1938, Berlin 1986, S. 45 f. 10 Vgl. ebd., S. 47. 11 Clarita von Trott zu Solz, Adam von Trott zu Solz. Eine Lebensbeschreibung, Berlin 1994, S. 49. 12 Vgl. ebd., S. 52. 13 Vgl. Henric L.Wuermeling, Doppelspiel. Adam von Trott zu Solz im Widerstand gegen Hitler, München 2004, S. 28. 14 Vgl. von Trott zu Solz, Adam von Trott zu Solz, S. 53. 15 Vgl. Adam von Trott zu Solz wurde 2009 von der renommierten Rhodes-Stiftung geehrt. Siehe dazu: http://www.rhodeshouse.ox.ac.uk/page/german -rhodes-scholars-honoured-at-oxford-european-reunion-, aufgerufen am 06.07.2011 [zuletzt eingesehen am 02.11.2011]. 16 Vgl. von Trott zu Solz, Adam von Trott zu Solz, S. 54 ff. 17 Als Beleg für seine mutigen Äußerungen dient ein Briefwechsel zwischen ihm und seiner Mutter im November 1931. Vgl. von Trott zu Solz, Adam von Trott zu Solz, S. 59. 18 Malone, Adam von Trott zu Solz, S. 61. 19 Ein enger Freund Trotts, C. E. Collins, beschreibt in einem Brief von 1933 unter anderem: »[W]hen he read in an evening paper in the Junior Common Room at Balliol that Hitler had become Chancellor, he knew at once that a Benjamin Wochnik  ■  Adam von Trott zu Solz

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terrible disaster had befallen his country«. Zit. in: von Trott zu Solz, Adam von Trott zu Solz, S. 60. 20 Wuermeling, Doppelspiel, S. 72 f. 21 von Trott zu Solz, Adam von Trott zu Solz, S. 123. 22 Vgl. Schott, Andreas: Adam von Trott zu Solz: Jurist im Widerstand, Paderborn 2001, S. 122. 23 Sein Vorhaben teilte er 1938 seinem Freund und Vertrautem David Astor in einem Brief mit. Vgl. Joachim Fest, Staatsstreich. Der lange Weg zum 20. Juli, Berlin 1994, S. 83. 24 Vgl. Malone, Adam von Trott zu Solz, S. 43 f. 25 Vgl. von Krusenstjern »daß es Sinn hat zu sterben – gelebt zu haben«, S. 411. 26 Vgl. Eckart Conze / Norbert Frei u. a., Das Amt und die Vergangenheit, München 2010, S. 298. 27 Vgl. Joachim Fest, Staatsstreich, S. 158. 28 Zit. in: Andreas Schott, Adam von Trott zu Solz, S. 133. 29 Vgl. Marion Gräfin Dönhoff, Um der Ehre willen. Erinnerungen an die Freunde vom 20. Juli, Berlin 1994, S. 166 f.; Peter Hoffmann, Widerstand. Staatsstreich. Attentat. Der Kampf der Opposition gegen Hitler, München 1979, S. 283 ff. 30 Vgl. Joachim Fest, Spiel mit hohem Einsatz. Über Adam von Trott, in: Vierteljahreszeitschrift für Zeitgeschichte (1998), H. 1, S. 13 f. 31 Vgl. Fest, Staatsstreich, S. 212. 32 Vgl. Conze, Das Amt, S. 303. 33 Vgl. Günter Brakelmann, Der Kreisauer Kreis, in: Peter Steinbach u. a. (Hg.) Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur 1933–1945, Bonn 2004, S. 372 f. 34 Vgl. Klemens von Klemperer, Adam von Trott zu Solz – Patriot und Weltbürger, in: ders. (Hg.), Für Deutschland. Die Männer des 20. Juli, Frankfurt 1993, S. 321 f. 35 Vgl. von Krusenstjern, »daß es Sinn hat zu sterben  – gelebt zu haben«, S. 513 ff. 36 Harald Poelchau, Gefängnispfarrer und selbst Widerstandskämpfer, übermittelte Trotts Ehefrau, die sich in sogenannter Sippenhaft befand, die Todesnachricht ihres Mannes. Poelchau versuchte durch diesen Zuspruch Trotts bespielhaften Widerstandskampf einzuordnen. Siehe in: Steinbach, Gesichter des Widerstands, S. 205.

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Willi Eichler Von Göttingen nach Godesberg von David Bebnowski

Das 1959 verabschiedete Godesberger Programm gilt als Voraussetzung für die Öffnung der Sozialdemokratie und für deren Wahlerfolge in den kommenden Jahrzehnten. Die sechs Jahre zuvor eingesetzte Programmkommission leitete Willi Eichler, der schließlich federführend bei der Ausarbeitung des Programmentwurfs sein sollte.1 Eichler selbst war erst kurz nach dem Krieg Mitglied der SPD geworden, stieg jedoch während der fünfziger Jahre zu deren Chefideologen auf. Dabei war all das überhaupt nicht selbstverständlich, denn Eichler hatte seine politische Prägung im antidemokratischen Internationalen Jugendbund (IJB) in Göttingen erfahren, der vom Philosophen Leonard Nelson gegründet worden war und dessen Unterstützer ab 1925 aus der SPD aus­ geschlossen wurden.2 Tatsächlich war schon Eichlers Weg zum IJB ungewöhnlich gewesen, denn er unterschied sich in seiner Herkunft markant von anderen Jungsozialisten der Weimarer Zeit, die häufig Kinder gestandener Aktivisten der Arbeiterbewegung waren.3 Als Kind eines Postbeamten und eines Dienstmädchens kam er am 7. Januar 1896 in Berlin in ärmlichen Verhältnissen zur Welt. Die Politik spielte in seinem Elternhaus nur eine geringe Rolle. Als drittes von sechs Kindern geboren, trug Eichler mit Gelegenheitsarbeiten zum Familienunterhalt bei. Nach dem Besuch der Volksschule verbesserte auch die anschließende Lehre in einem Bekleidungsgeschäft David Bebnowski  ■  Willi Eichler

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seine materielle Situation kaum. Eine Ehe kam für ihn wegen seiner unsicheren Lage nicht in Frage.4 Wenn auch zu seinen Generationsgenossen Unterschiede in der Herkunft bestanden, erfolgte die eigentliche politische Prägung auf zu jener Zeit ganz charakteristische Weise  – mit Ausbruch und im Laufe des Ersten Weltkrieges. Überhaupt ähnelte Eichler in seinem Handeln dann doch vielen anderen Vertretern seiner Generation: Bei ihm und anderen Jungsozialisten der Weimarer Zeit lassen sich ein ausgeprägter Wissensdurst erkennen sowie intellektuelle Umtriebigkeit und – als besonders hervortretendes Merkmal – die Suche nach einer neuen geistigen Orientierung. Die desillusionierende Erfahrung des Krieges brachte bei ihnen die offiziell vertretene marxistische Parteidoktrin der Sozialdemokratie ins Wanken.5 Jedoch war Eichlers Bedarf nach Erklärungen selbst im Bereich der Jungsozialisten ein besonders fundamentaler, denn er gelangte mit dem IJB, der einem Jesuitenorden6 glich, in einen ganz besonders radikalen Zusammenschluss. Radikal dabei war nicht so sehr das politische Handlungsideal, das stets in die ethisch-moralische Reformierbarkeit der Politik vertraute, sondern7 – die Lebensführung der IJBler: Man verlangte Vegetarismus, Alkoholabstinenz und später gar das Zölibat. Abgeleitet wurde all dies aus der Philosophie Nelsons, der den IJB komplett auf seine autoritäre Führung zuschnitt und Abweichungen unerbittlich bestrafte. Die diesem Lebenswandel zugrunde gelegte Philosophie Nelsons kann als kantianische Wendung des Sozialismus begriffen werden, Wahrheit durch strikt rationalistische Erklärungen gesucht. Um das Sein zu verändern, müsse sich das Handeln stets am Sollen ausrichten, ohne dabei Dogmen zu produzieren. Entsprechend lehnten Nelson und der IJB auch die Demokratie ab, da sie die Masse als Souverän voraussetzte, die in dieser Form schlicht nicht existiere. Gerade weil sich der IJB trotz der Bezugnahme auf Kant in einer marxistischen Sozialismustradition verortete, lehnte er den deterministischen Marxismus, der in der SPD vorherrschte, ab.8 Durch die Organisation und asketischen Verhaltensregeln des Bundes entwickelten seine Mitglieder ein durchaus erwünschtes Bewusstsein davon, die Elite der Arbeiterbewegung zu repräsentieren. Aus heutiger Perspektive wirkt die Maxime des Bundes, vor allem aber die Schärfe seiner Forderungen, befremdlich. Aber 210 

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Eichler identifizierte sich in jenen Jahren voll und ganz mit ihnen und gelangte durch die Lektüre der Schriften Leonard Nelsons in Kontakt mit dem IJB. Auf Empfehlung eines früheren Lehrers kam er schließlich 1921 erstmalig nach Göttingen. Ein Jahr später siedelte er nach Adelshausen über, das in unmittelbarer Nähe des Ausbildungszentrums des Nelsonbundes, der Walkemühle in Melsungen, lag. Innerhalb des IJB stieg Eichler schnell auf und diente Nelson ab 1924 als Privatsekretär. Zeitgleich erfolgte der Umzug nach Göttingen, in die Zentrale des IJB im Nikolaus­ berger Weg  67, in der die Mitglieder gemeinsam wohnten. Bei alledem schien sich Eichler nicht nur komplett mit Nelsons Idealen zu identifizieren, sondern glich sich auch charakterlich seinem Vorbild und Mentor an. Laut einer früheren Mitstreiterin äußerte der selbstbewusste, aber zu Bitterkeit und Pessimismus neigende und sich abkapselnde Eichler häufig beißende persönliche Kritik an seinen Mitstreitern. Mit der Adaption der Nelson’schen Verhaltensweisen bemühte sich Eichler vielleicht auch, einen Makel in seiner eigenen Biografie auszugleichen. Denn aufgrund seiner Herkunft hatte der begabte Mann nie studiert.9 Dementsprechend könnte er einen besonderen Zwang zum Nachweis seiner Fähigkeiten empfunden haben, der ihn auch die kritische Distanz zum Lehrer verlieren und einen erheblichen Ehrgeiz ent­ wickeln ließ. Die Nelsonbündler waren seit 1923 obligatorische Mitglieder der SPD, versuchten jedoch die Partei nach links zu ziehen. Dies gelang ihnen u. a. in Göttingen. Als Folge kam es 1925 zum Unvereinbarkeitsbeschluss. Umgehend gründeten Nelson und E ­ ichler einen neuen Zusammenschluss, den Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK). Die Infrastruktur des IJB wurde hierfür beibehalten, jedoch nahm die Organisation nun den Charakter einer Partei an. Wohl enttäuscht von der starren Haltung der SPD, unterstützten die Nelsonianer bei Wahlen die Kandidaten der KPD. Als wichtigsten Schritt für den ISK bezeichnete Eichler die von Göttingen aus erfolgende Herausgabe der Zeitschrift »isk«, in der er selbst in nahezu jedem Heft Leitartikel verfasste. Hier traten zum ersten Mal sein journalistisches Talent und sein eindrucksvolles Sprachgefühl zum Vorschein, beides sollte er in den kommenden Jahren in einer kaum zu überblickenden Masse an Ver­ öffentlichungen präsentieren.10 David Bebnowski  ■  Willi Eichler

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Im Oktober 1927 verstarb Nelson. In der Folge avancierte ­ ichler zum inoffiziellen Leiter des ISK11 und erklärte bald die E Stärkung der Gruppe nach innen, das »Anspannen der Parteisehne«, zum vordringlichen Ziel. Der Präsenz Nelsons beraubt, steigerte Eichler die Ansprüche an die Mitglieder abermals und ließ eine unerbittliche Härte walten. Der ISK verlor zwar bald ein Drittel seiner Mitglieder, trat nun aber tatsächlich geschlossener auf. Eichler selbst nahm sich von den Maßnahmen nicht aus und stürzte sich in die Arbeit, er wurde so betriebsam, dass auch bei ihm – wie damals bei Nelson – Schlaflosigkeit einsetzte. Besorgte politische Freunde verwies er allerdings darauf, sich in der Arbeit zu »sammeln« und zu entspannen.12 Und genau hierin bestand die Grundlage für seine spätere heraus­ gehobene Position innerhalb der Sozialdemokratie: Das als unvorstellbar hoch beschriebene Arbeitspensum lieferte eben auch die Grundlage für die Masse an Publikationen und Aktionen. Überhaupt konnten die vor Arbeitseifer strotzenden ISK-Mit­ glieder nach dem Zweiten Weltkrieg beträchtlichen Einfluss entwickeln.13 Gänzlich unvorstellbar erscheint aus heutiger Sicht, dass der ISK mit nur wenigen Monaten Vorbereitungszeit seit Jahres­beginn 1932 eine eigene Tageszeitung, »Der Funke«, herausgab. Mit Aufnahme dieses Projekts, durch das der Charakter des ISK herausgestellt und die internationale Verständigung befördert werden sollten, siedelte der ISK nach Berlin über. Anders als SPD und KPD machte sich der ISK keinerlei Illusionen über den Nationalsozialismus und unterstützte über den Funken schließlich auch das Werben für eine Einheitsfront zwischen den sozialistischen Kräften der Weimarer Republik, um dem Faschismus Einhalt zu gebieten. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden sowohl der ISK als auch der Funke verboten, Eichler flüchtete zunächst ins französische Exil, gelangte daraufhin 1938 nach London. Bei alledem wurden die Infrastruktur des ISK weiter genutzt. Auch im Ausland wurde im Sinne der Herstellung einer Gegen­ öffentlichkeit auf publizistische Tätigkeiten gesetzt und ISK-Gruppen in verschiedenen Ländern gegründet. Eichler selbst übernahm die Koordination zwischen einzelnen Exilantengruppen. Dass sein rigoroser Anspruch an den Charakter seiner Mitstreiter nicht geringer geworden war, zeigte sich in seiner Haltung gegenüber seinen Genossen in den USA, über die er formulierte, dass »das 212 

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Menschenmaterial der Emigration zum Teil  schlechter [ist] als das in England.«14 Wiederum trat Eichler als Herausgeber unterschiedlicher Zeitschriften der Exilanten insbesondere in Groß­ britannien hervor. Dort lernte er auch seine spätere Frau kennen, die 19 Jahre jüngere Historikerin Susanne Miller. Im Londoner Exil setzte durch einen regen Austausch mit anderen verfolgten Sozialisten, darunter Kurt Schumacher, allmählich auch ein Umdenken bei Eichler ein. Er öffnete sich für die Demokratie und pragmatischere Positionen. Gleichwohl verabschiedete er sich nicht von den Ansprüchen des ISK, sondern versuchte nach Kriegsende, mit der neuen Publikation »Geist und Tat« abermals die alten Ziele und Leitvorstellungen zu erörtern und hierdurch Mitstreiter zu gewinnen. Nach der Rückkehr nach Deutschland übernahm Eichler zunächst die Leitung der »Rheinischen Zeitung« und arbeitete mit Elan in der Kölner SPD. Ehe er 1953 in den Parteivorstand aufrückte und dort mit der Ausarbeitung des Godes­berger Programms betraut wurde, vertrat er die Partei sowohl im ersten nordrhein-westfälischen Landtag wie auch im neu konstituierten Bundestag. Blickt man auf den politischen Weg Eichlers, lässt sich ohne Übertreibung sagen, dass Göttingen, die Heimstätte des ISK, auch ein Geburtsort der bundesrepublikanischen SPD ist, denn spätestens über das Godesberger Programm entwickelten die Anschauungen Nelsons und Eichlers erheblichen Einfluss auf die Partei. Dabei geschah allerdings genau das, wovor einige der Mitglieder des Nelsonbundes zuvor gewarnt hatten: Die »subjektivistische« Maxime, mit der man auf die eigene Vernunft, die elitäre Gesinnung der Mitglieder und das Vertrauen auf die individuelle Stärke setzte, führte nicht zur Befreiung der gesamten Arbeiterklasse, sondern wurde in der marktwirtschaftlichen Demokratie zum individuellen Aufstieg genutzt. Diese Entwicklung ist nicht ohne Ironie, denn ausgerechnet in der hierdurch entstandenen SPD als Partei der Bildungsaufsteiger scheint auch der Typus des intellektuellen, weltanschaulich fest gebundenen und immer noch bündnisfähigen Politikers, wie es Willi Eichler war, auf der Strecke geblieben zu sein.

David Bebnowski  ■  Willi Eichler

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Anmerkungen 1 Vgl. Peter Lösche / Franz Walter, Die SPD. Klassenpartei  – Volkspartei  – Quotenpartei, Darmstadt 1992, S. 110 ff. 2 Zu Leonard Nelson vgl. den Beitrag von Franz Walter in diesem Band. 3 Vgl. Franz Walter, »Republik, das ist nicht viel« – Partei und Jugend in der Krise des Weimarer Sozialismus, Bielefeld 2011, S. 19 f. 4 Zur Herkunft Eichlers vgl. insgesamt: Sabine Lemke-Müller, Ethischer Sozialismus und soziale Demokratie, Bonn 1988, S. 41 ff. 5 Vgl. zu diesem Abschnitt insgesamt: Walter, Republik. 6 Vgl. ebd., S. 129. 7 Vgl. Willi Eichler, Zufälle und Druckfehler, in: Internationaler Sozialistischer Kampfbund 1 (1932), Bd. 1, S. 4–11. 8 Siehe die erste Ausgabe des isk aus dem Januar 1926. 9 Vgl. Lemke-Müller, S. 45 u. 55 f. 10 Vgl. zur Übersicht Heiner Lindner, »Um etwas zu erreichen, muss man sich etwas vornehmen, von dem man glaubt, dass es unmöglich sei« – Der Internationale Sozialistische Kampf-Bund (ISK) und seine Publikationen, Bonn 2006. 11 Minna Specht, Leiterin des Erziehungsheims Walkemühle, oblag die offizielle Leitung. 12 Vgl. Lemke-Müller, S. 60 ff., auch Lindner, S. 245. 13 Vgl. Walter, Republik, S. 133. 14 Lindner, S. 61.

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Grenzüberschreiter zur Politik

Minna Specht Erziehung zum Sozialismus von Jonas Rugenstein

Im Jahr 1912 befand sich Minna Specht in einer persönlichen Krise. Ihre Gefühlslage, die sie selbst als »hilflos und hoffnungslos«1 beschrieb, manifestierte sich in einem physischen Leiden. Die damals 32-jährige Lehrerin schien unter einer Sinnkrise zu leiden, die mit dem Eindruck der wissenschaftlichen Unzulänglichkeit und dem Wunsch nach persönlicher Vervollkommnung zusammenhing. Trotz abgeschlossenem Studium der Geschichte, Geografie und Philosophie wurde sie immer noch von dem Gefühl getrieben, zu tiefergehender Erkenntnis kommen zu wollen, einen eigenen politischen Standpunkt zu entwickeln und eine exakte Wissenschaft zu erlernen. Dieser Wunsch führte Minna Specht ein zweites Mal – sie hatte auch ihr erstes Studium hier absolviert  – nach Göttingen, um Mathematik zu studieren. Rück­ blickend wird sie diesen zweiten Aufenthalt folgendermaßen beurteilen: »Die eigentliche Lehrzeit sollte erst beginnen, die erst dann in die Tiefe geht, wenn nicht die Talente sich entfalten, sondern wenn die Überzeugung über den Sinn des eigenen Daseins und über die gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen wir leben, Gestalt gewinnen.«2 Der erneute Aufbruch nach Göttingen verweist auf einen wichtigen Wesenszug Minna Spechts: Stets war sie getrieben von dem Wunsch, sich weiterzuentwickeln und besser zu werden. Diese ständige Suche war verbunden mit Zielstrebigkeit und Durch­ Jonas Rugenstein  ■  Minna Specht

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setzungsvermögen. Auf viele Menschen, die ihr begegneten, übte die zierliche Frau mit der festen Stimme einen bleibenden Eindruck aus.3 Ohne diese besonderen Eigenschaften wäre sie vielleicht dem Weg ihrer Geschwister gefolgt und hätte ihr bürgerliches Leben weitergeführt. Ein Leben, wie sie es während ihrer unbeschwerten Kindheit in Reinbek bei Hamburg, die lediglich vom frühen Unfalltod ihres Vaters überschattet wurde, kennengelernt hatte. So aber ging sie, die jüngste von sieben Töchtern, einen anderen Weg und verschrieb sich der Erziehung. Mit der Enge und der formalen Art der staatlichen Erziehungseinrichtungen konnte sie sich nie anfreunden. Nach dem Probeunterricht in einer Klosterschule in Hamburg, den sie als so unerträglich empfand, dass sie sich von ihm befreien ließ, stand für sie fest, dass sie nie an einer staatlichen Regelschule unterrichten wollte. Die Lust am Lehren entdeckte sie erst, als sie an einer privaten Töchterschule den Unterricht nach ihren eigenen Vorstellungen gestalten durfte.4 Das Studium der Mathematik schloss Minna Specht 1914 mit »sehr gut« ab und machte noch im selben Jahr die Bekanntschaft mit dem Philosophen und Privatdozenten Leonard Nelson, der ihren weiteren Lebensweg verändern sollte.5 Nelson verkörperte genau das, was Minna Specht gesucht hatte: den Anspruch auf exakte Wissenschaft und einen hiermit aufs engste verbundenen fundierten politischen Standpunkt. Zwischen beiden entwickelte sich in den folgenden Jahren eine enge Beziehung, die über das gemeinsame Arbeiten hinausging. Nelson war Vertreter einer ethischen Variante des Sozialismus. In Abgrenzung zum klassischen Marxismus, aber auch zur Weimarer Demokratie, plädierte Nelson für einen Aufbau der Gesellschaft gemäß den objektiven und allgemeingültigen Regeln der Vernunft. Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit waren nach Nelson objektive Grundsätze für die menschliche Gemeinschaft, die für jeden Menschen einsichtig aus der Vernunft hervor­gehen würden.6 So war Nelson der Ansicht, dass die Umsetzung des vernunftgeleiteten Sozialismus von einer kleinen, durch spezielle Erziehung zur Erkenntnis der objektiven Prinzipien befähigten Gruppe junger Menschen geschehen solle. Der Schlüssel zur gesellschaftlichen Veränderung war demnach die Erziehung. Der Aufgabe, eben diese Elite vernunftgeleiteter, tüchtiger und revolutionärer junger Menschen auszubilden, verschrieb sich 216 

Grenzüberschreiter zur Politik

Minna Specht in den folgenden Jahren. Hierzu gründete sie 1917 zusammen mit Leonard Nelson den »Internationalen Jugendbund« (IJB), dessen engerem Führungskreis sie angehörte. Dieser Kreis wohnte und arbeitete gemeinsam in Nelsons Haus im Nikolausberger Weg 61. Die Mitglieder der Lebens- und Arbeitsgemeinschaft unterlagen dabei den strengen Regeln ihres Vor­ sitzenden Nelson. Disziplin, Pünktlichkeit, Enthaltsamkeit gegenüber Fleisch, Alkohol und Nikotin ebenso wie die Einhaltung des Zölibats bildeten die von Nelson aus der Theorie abgeleiteten und konsequent in der Praxis angewandten Grundregeln des Zusammenlebens. Minna Specht fungierte dabei als ausgleichendes Gegengewicht zu Nelsons Disziplin.7 Minna Specht war nicht nur eine der Hauptpersonen innerhalb des IJB, sondern gründete ebenfalls zusammen mit Nelson die Philosophisch-Politische Akademie, an der die theoretischen Über­ legungen für die politische Tätigkeit weiter vertieft werden sollten. Minna Specht war in ihren Göttinger Jahren vielfältig enga­giert. Sie arbeitete in der USPD mit, war Mitglied des so­zialistischdissidentischen Lehrer-Kampfbundes und des Verbandes für Frei­ denkertum und Feuerbestattung. Wichtiger Schwerpunkt war neben ihrer Erziehungsarbeit für den Sozialismus das Engagement für die Jugendweihe und der Einsatz gegen den Einfluss der Kirche. Außerdem setzte sie sich für die Frauen- und Friedens­bewegung ein.8 Als der IJB 1925 aus der SPD, an die er ursprünglich angebunden war, ausgeschlossen wurde, wandelte sich der Jugendbund in eine eigenständige Partei, den »Internationalen Sozialistischen Kampfbund« (ISK). Neben Nelson, der als unangefochtener Vorsitzender der Partei fungierte, teilte sich Minna Specht zusammen mit dem späteren SPD-Vorstandsmitglied Willi Eichler und dem bulgarischen Philosophen Zeko Torbov den Vorstand. Als Nelson im Jahre 1927 im Alter von 45 Jahren verstarb, trat Minna Specht seine Nachfolge als Leiterin der Philosophischen Akademie an und erhielt hierdurch weitreichenden Einfluss auf den ISK. Die Hauptwirkungsstätte von Minna Specht lag jedoch ab 1924 nicht mehr in Göttingen, sondern in dem Landerziehungsheim Walkemühle bei Melsungen. In dieser kleinen reformpädago­ gischen, stark von der Landschulbewegung beeinflussten Einrichtung sollte der Nachwuchs für den ISK, die neuen Vernunft­ sozialisten, ausgebildet werden. Unter der Leitung von Minna Jonas Rugenstein  ■  Minna Specht

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Specht wurden, neben einer eigenen Abteilung für Grundschulkinder, ungefähr dreißig junge Erwachsene, die vornehmlich aus Arbeiterhaushalten stammten, in dreijährigen Kursen für die praktische politische Arbeit ausgebildet. Die Ausbildung verlief dabei nach den gleichen strengen Regeln wie das Zusammenleben in Göttingen und bestand aus einem breit gefächerten theore­ tischen Teil und aus praktischen, handwerklichen Aufgaben.9 Als die Bedrohung durch den Nationalsozialismus wuchs, wurde die Erwachsenenabteilung der Schule 1931 geschlossen, um alle Kräfte auf die antifaschistische Arbeit zu konzentrieren. Minna Specht zog nach Berlin, um an der ISK-Zeitung »Der Funke« mitzuwirken und für die Einheitsfront – ein Zusammenwirken von Sozialdemokraten und Kommunisten gegen den Faschismus – zu werben. Erfolglos setzte sich Specht für den Erhalt der Walkemühle ein, die 1933 von der SA endgültig geschlossen wurde. Anders als viele ihrer Genossinnen und Genossen ging Minna Specht nicht in den aktiven Widerstand, sondern setzte ihre pädagogische Arbeit ab 1933 im dänischen und ab 1938 im englischen Exil fort.10 Gestärkt von der politischen Beständigkeit und Disziplin der Zeit in Göttingen, gelang es ihr trotz widrigster Umstände, immer wieder als Erzieherin tätig zu werden. In Däne­ mark gründete sie ein kleines Landschulheim für Kinder deutscher Antifaschisten und Emigranten. In England setzte sie sich im German Educational Reconstruction Committee, einem Projekt verschiedener sozialistischer Organisationen, mit der Frage auseinander, wie die Erziehung der Kinder in Deutschland nach dem Nationalsozialismus ablaufen könnte. In dieser Zeit verfasste sie ihr wohl bedeutendstes Werk: »Gesinnungswandel. Die Er­ziehung der deutschen Jugend nach dem Weltkrieg.«11 Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kehrte sie nach Deutschland zurück und engagierte sich im Wiederaufbau des durch den Nationalsozialismus zerstörten Landes. Die Charakterstärke und Tatkraft, die maßgeblich während ihrer Zeit in Göttingen geprägt worden waren, wirkten dabei immer noch nach. Von der unbedingten Einhaltung disziplinierender Regeln, der asketischen Strenge und auch der konsequenten Kritik an der Kirche entfernte sie sich jedoch immer mehr.12 Ziel ihrer Arbeit wurde die Erziehung einer weltoffenen und demokratischen Jugend, von 1946 bis 1951 als Leiterin der Odenwaldschule und ab 1952 bei der UNESCO. 218 

Grenzüberschreiter zur Politik

Die letzten Jahre verbrachte Minna Specht in der Nähe von ­ remen. Auch dort blieben die engen Verbindungen aus Göttingen B lebendig. Die ehemalige ISK-Genossin Grete Hermann begleitete und pflegte Minna Specht bis zu ihrem Tod am 3. Februar 1961.

Anmerkungen 1 Aufzeichnungen Minna Spechts, zit. in: Irmgard Heydorn, Minna Specht. Ein Leben im Dienst der Erziehung des Menschen, in: Monika Lehmann u. a. (Hg.), Aufklärung als Lernprozeß. Festschrift für Hildegard FeidelMertz, Frankfurt 1992, S. 138–149, hier S. 141. 2 Minna Specht, Minna Specht über sich selbst, in: Helmut Becker u. a. (Hg.): Erziehung und Politik. Minna Specht zu ihrem 80. Geburtstag, Frankfurt 1960, S. 369–374, hier S. 371. 3 Vgl. beispielhaft Zeko Torbov, Erinnerungen an Leonard Nelson 1925–1927. Herausgegeben, neu übersetzt und mit einer Einleitung von Nikolay Milkov, Hildesheim 2005, S. 51. 4 Vgl. Specht, S. 370. 5 Vgl. Inge Hansen-Schaberg, Minna Specht. »Lehrjahre« in Göttingen, in: Traudel Weber-Reich, »Des Kennenlernens werth«. Bedeutende Frauen Göttingens, Göttingen 1993, S. 212–226, hier S. 216. 6 Vgl. Franz Walter, »Republik, das ist nicht viel«. Parteien und Jugend in der Krise des Weimarer Sozialismus, Bielefeld 2011, S. 127. 7 Holger Frauke, Leonard Nelson. Ein biographischer Beitrag unter besonderer Berücksichtigung seiner rechts und staatspolitischer Arbeiten, Hamburg 1991, S. 193. 8 Vgl. Hansen-Schaberg, Specht, S. 218 ff. 9 Vgl. Frauke, Nelson, S. 192 ff. 10 Vgl. Elisabeth Harder-Gersdorff, Minna Specht. Sozialismus als Lebensaufgabe, in: Ilse Brehmer (Hg.), Mütterlichkeit als Profession. Lebensläufe deutscher Pädagoginnen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, Pfaffenweiler 1990, S. 165–174, hier S. 170. 11 Vgl. Hansen-Schaberg, Specht, S. 225. 12 Trude Emmerich, »Das war Minna, oder besser: so sah ich sie«, in: Berichte aus der Odenwaldschule, 15 (1993), S. 37–46, hier S. 41.

Jonas Rugenstein  ■  Minna Specht

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Artur Levi Der ängstliche Elitekämpfer von Felix Butzlaff

Als am 24. April 1973 im Göttinger Stadtrat die Abstimmung zum neuen Oberbürgermeister und seinem Stellvertreter vorüber war, gab es ein höchst bemerkenswertes Ergebnis. Von nun an fanden ein Oberbürgermeister und sein Vize als Repräsentanten der Stadt zusammen, für die eine Kooperation zwei Jahrzehnte zuvor noch undenkbar gewesen wäre. Mit Artur Levi war der langjährige Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten im Göttinger Stadtrat zum neuen Stadtoberhaupt gewählt. Doch Artur Levi war nicht nur als Angehöriger einer vermeintlichen sozialistischen Elite im Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK) im Londoner Exil politisch und sozialdemokratisch sozialisiert worden, sondern er war auch Jude – für einen öffentlichen Funktionsträger in der Bundesrepublik der siebziger Jahre und besonders im protestan­ tischen Göttingen mehr als ungewöhnlich. Denn Göttingen hatte sich stets schwergetan, seine eigene nationalsozialistische Vergangenheit aufzuarbeiten. Allzu deutlich und frisch war die Erinnerung, dass Göttingen früh und umfassend nationalsozialistisch gewählt hatte, dass Universität, Politik, Wirtschaft und lokales Bürgertum bis in viele Winkel im System des Dritten Reiches miteinander verwoben gewesen waren. Nach Kriegsende verschwanden diese Amts- und Würdenträger natürlich nicht einfach aus dem öffentlichen Leben. Stattdessen wurde die FDP zum Sammlungsort für die Übriggebliebenen des unter220 

Grenzüberschreiter zur Politik

gegangenen Regimes und zugleich zur dominierenden Partei der Göttinger Kommunalpolitik der fünfziger und sechziger Jahre.1 Mit dieser FDP nun suchte die SPD 1973 zu koalieren und wählte als stellvertretenden Bürgermeister Gottfried Jungmichel vom Koalitionspartner mit ins Amt. Der »braune Gottfried«, wie er von den Jungsozialisten spöttisch genannt wurde, war ein emeritierter Medizinprofessor, der schon weit vor 1933 offen für den Nationalsozialismus eingetreten, Mitglied der SA gewesen war und sich zwischen 1938 und 1945 als Leiter der Göttinger Rechtsmedizin mit Publikationen über »Rassenhygiene« und »Blutgruppen« einen Namen gemacht hatte. Diese Vergangenheit machte ihm nach 1945 nur kurzzeitig zu schaffen: 1952 wurde seine Suspendierung vom Hochschuldienst aufgehoben und bereits 1956 wurde er für die Freien Demokraten für zehn Jahre selbst Oberbürgermeister der Stadt. Das historische Gedächtnis vergaß rasch.2 Diese beiden höchst gegensätzlichen Personen, Jungmichel und Levi, wurden also in fraktioneller Einmütigkeit im Frühjahr 1973, knapp dreißig Jahre nach Kriegsende, zu den obersten Repräsentanten Göttingens gewählt und sparten nicht mit Lob füreinander: Jungmichels bisherige Kommunalpolitik und Amtsführung sei als besonders positiv und verlässlich hervorzuheben, so Levi über seinen Stellvertreter im »Göttinger Tageblatt« nach seiner Wahl.3 Doch nicht nur das: Kaum vier Jahre später, im April 1977, trug der jüdische Oberbürgermeister dem ehemaligen SA-Mann die Ehren­ bürgerschaft der Stadt an. Taugt Göttingen also als Beispiel für besonders »gelungene« Versöhnungs- und Bewältigungsarbeit, nach der die Gräuel der Vergangenheit ruhen und die aufgerissenen Wunden wieder gekittet werden konnten? Levi hatte bis dato andere Erfahrungen gemacht. Als 14-jähriger Sohn einer wohlhabenden jüdischen Familie des Münchner Bürgertums war er von seinen Eltern 1938 nach London in die Emigration geschickt worden. Eigentlich für ein ­Studium prädestiniert, musste Artur Levi nun eine Lehre absolvieren und als Feinmechaniker arbeiten. In London kam er bei seiner vorausgeschickten Schwester unter.4 Hier lernte er auch Emmi Gleinig kennen, die eben dort als Haushälterin arbeitete und den jungen Levi in die Welt des Internationalen Sozialis­tischen Kampfbundes einführte – seine Verbindung nach Göttingen. Felix Butzlaff  ■  Artur Levi

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Der ISK war als eine Art sozialistische Eliteschule vom Göttinger Philosophen Leonard Nelson gegründet worden mit dem Ziel, durch eine verschworene Kadergemeinschaft, durch Diskussion, Schulung und Selbstdisziplin und durch die stete sokratische Abwägung aller Argumente »bessere« Menschen heranzubilden und zu Führern für eine sozialistische Zukunft werden zu lassen. Dazu gehörte auch die strikte Ablehnung von Alkohol, Fleisch, der bürgerlichen Ehe ebenso wie der Religion. In London saß ein Großteil der ins Exil gegangenen ISKler Abend um Abend zusammen. Die ISK-Gemeinde wurde dem jungen Levi zur Ersatzfamilie und ihr Leiter Willi Eichler zum »väterlichen Freund«.5 Hier fand er zum ersten Mal so etwas wieder wie Aufnahme, Geborgenheit und Solidarität. So streng die Schulung der ISK-Anwärter in den zwanziger Jahren in Deutschland noch gewesen war – Kontakt zur Familie war abzubrechen, Gehorsam gegenüber den ISK-Autoritäten ebenso unabdingbar wie der sofortige Kirchenaustritt –, im London der frühen vierziger Jahre machten alle Beteiligten einen Entwicklungsprozess durch, der die Härte und Abkapselung der selbst­ berufenen sozialistischen Elite aufweichte. Der nach Leonard Nelsons Tod zum Leiter aufgestiegene Eichler führte die Gruppe wieder an die Exilorganisation der deutschen SPD heran, zu der einst viele Nelson-Anhänger gehört hatten und welche die Nelsonianer in den zwanziger Jahren aus der Partei ausgeschlossen hatte. Unter dem Eindruck des Exils und den Erfahrungen im demokratischen Großbritannien sowie der Machtlosigkeit, mit der sie dem Nazi-Regime in ihrer deutschen Heimat gegenübergestanden hatten, freundete sich der ISK Stück für Stück auch mit dem Prinzip einer Mehrheitsdemokratie an, welches mit dem hierar­ chischen Ideal einer führerzentrierten Kleingemeinschaft nicht immer in Einklang zu bringen war.6 Hier fügte sich Levi gut ein. Er engagierte sich im Betriebsrat seiner Fabrik, knüpfte Kontakte auch zur deutschen Exilgewerkschaftsorganisation, trat gar der englischen Labour-Partei bei und wurde 1944 nach drei Jahren Schulung und Bewährung in langen Diskussionsrunden als vollwertiges ISK-Mitglied aufgenommen. Nach dem Krieg bat ihn die Familie, seinen Brüdern nach Nordamerika nachzufolgen. Doch der ISK hatte anderes mit ihm vor; nun gelte es dorthin zu gehen, wo er am meisten gebraucht 222 

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werde, appellierte Eichler an Levis Verantwortungsgefühl.7 Und schon aus London wurde das Netzwerk aktiviert, welches in unmittelbaren Nachkriegsjahren noch überaus gut trug. Levi bekam eine Stelle als gewerkschaftlicher Jugendsekretär in Göttingen vermittelt und kam im Haus der ISK-Familie von Fritz Körber im Nikolausberger Weg 67 unter, wo er auch sein gesamtes rest­liches Leben verbringen sollte. Dieses sich hinter hohen Büschen duckende Haus wurde seine »Insel« und sein »Zuhause«8 in der fremden Stadt. Er erlebte dieses Göttingen also zunächst keineswegs als einen Ort, der ihn besonders herzlich willkommen hieß, im Gegenteil: Göttingen habe er in diesen Jahren als eine zutiefst reaktionäre Stadt wahrgenommen. Bei freien Wahlen in der Nachkriegszeit, so schätzte Levi noch im Rückblick Ende der achtziger Jahre, »wären die Nazis möglicherweise mit über 50 % wiedergewählt worden«9. Zwar kam Levi als Gewerkschaftsjugendsekretär tagtäglich mit ehemaligen HJ-Jungen in Kontakt, in Betrieben, auf Gewerkschaftsveranstaltungen und Seminaren. Und mit diesen scheint er auch kaum Schwierigkeiten gehabt zu haben, denn hier war er in seinem Element: Als ISKler war ihm Bildung stets ein zentraler Faktor hin zu gesellschaftlichem Fortschritt. Der Lernprozess, den es bei den einzelnen Menschen hin zu einer Demokratie zu erreichen gelte, das Aufklären und Einsicht zu erreichen, war Levi wichtig, um »überhaupt eine andere Gesellschaft zu erwirken«10. Zudem hatte gerade die jüngere Generation nichts kennengelernt außer den zusammengebrochenen Nationalsozialismus, sie sehnte sich nach Halt und Orientierung. Mit ihnen organisierte er Wochenend­schulungen, Seminare, Tagungen und vermochte es, sie als »Kümmerer« für sich einzunehmen. Der älteren Generation der Göttinger begegnet er aber misstrauischer. Levi erfuhr auch viel Gegenwind. Betriebe wandten sich von der Gewerkschaft ab, weil diese mit Levi einen jüdischen Funktionär beschäftigte, oder verweigerten jegliche Mit­ arbeit. Auch bei Betriebsbesuchen wurde er des Öfteren mit diesen Vorbehalten ganz unverhohlen konfrontiert. Und auch die Stimmung in der Göttinger Öffentlichkeit blieb über lange Jahre ambivalent: Noch anlässlich seiner Amtseinführung 1973 schrieb das »Göttinger Tageblatt« in einem Porträt über Levi beschönigend von den »politischen Verhältnissen«, die ihn gezwungen Felix Butzlaff  ■  Artur Levi

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­ ätten, »nach England zu emigrieren und seine Ausbildung dort h abzuschließen«.11 Obwohl Levi als ISKler der Religion ferngeblieben war, nie offensiv als Jude auftrat, blieb ihm sein Nachname in Göttingen eine unauslöschbare Visitenkarte. Er reagierte in diesen Situationen stets zurückhaltend und vorsichtig, ging Konflikten aus dem Weg. Andere sprangen für ihn ein. Die Arbeit der Jugendorganisation für die Gewerkschaft blieb Levi nicht genug. Das Pädagogische, der Bildungsanspruch der Nelsonianischen Lehre trieb ihn an. Nachdem er sich eingehend über die politische Vergangenheit des Lehrkörpers erkundigt hatte, studierte er an der Pädagogischen Hochschule und ging in den Schuldienst an der Göttinger Albert-Schweitzer-Schule.12 Die angestrebte Einheit von wissenschaftlicher Pädagogik und der praktischen Demokratievermittlung drängte ihn aber auch hier weiter. Levi bewarb sich nach neun Jahren Schulpraxis für einen Assistentenposten am neu gegründeten Lehrstuhl für Politikwissenschaft an der Pädagogischen Hochschule in Göttingen, auf den kurz zuvor Christian Graf von Krockow berufen worden war. Diesem fehlten die für die Lehrerbildung hilfreichen Unterrichts­ erfahrungen ebenso wie Grundlagen in der Didaktik der Sozialund Gemeinschaftskunde, und so war er froh, einen schulerfahrenen Mann wie Levi für den Lehrstuhl zu gewinnen.13 In dieser Kombination aus grundsätzlichem Nachdenken über und Vermitteln von Demokratie und Politik sowie im alltäglichen Kontakt mit werdenden Lehrern ging Artur Levi auf.14 Hier fand er auch einen Kontrapunkt, der sein zunehmendes Engagement in der Kommunalpolitik ergänzte. Jedenfalls blieb er auch als Fraktionsvorsitzender der Sozialdemokraten im Rat wie als Oberbürgermeister stets der Lehre an der Hochschule verpflichtet, gab Seminare, die Theorie und Praxis der Demokratie zu verbinden suchten. Denn auch der Sozialdemokratie war Levi treu geblieben. Göttingen war in den Nachkriegsjahren ein Sammelort für ISK-Veteranen geworden, gerade die Göttinger Gewerkschaften, aber eben auch die sozialdemokratischen Organisationen. Das nelsonianische Netzwerk existierte noch, es gab regelmäßige Tagungen, man blieb in Kontakt miteinander. Und die Sozialdemokraten profitierten von diesem Engagement beim Aufbau der Nachkriegs-SPD. Die ISKler waren den »gewöhnlichen« SPD-Funktionären an Organisations- und Diskussionserfahrung weit voraus. Zwar machte 224 

Grenzüberschreiter zur Politik

sie dies nicht unbedingt beliebt in den Göttinger Ortsvereinen, aber hilfreich waren ihre Fähigkeiten durchaus. Die Göttinger Sozialdemokratie versuchte früher und schneller als in anderen Großstädten Deutschlands, ihr Wählerspektrum über das Weimarer Arbeitermilieu hin zu einer breiteren ge­sellschaftlichen Repräsentation zu erweitern.15 Als Universitäts­ stadt, zudem noch überfüllt mit Flüchtlingen, boten sich dafür gute Voraussetzungen. Levi konnte man 1956 zu einer Listenkandidatur für den Rat überreden und trug ihm sogleich den Fraktions­vorsitz an. Hier galt er als umsichtiger und austarierender Kopf, immer bedacht – nah an seiner Nelson-Prägung –, alle Seiten zu hören und den Kern einer Angelegenheit rational herauszustreichen. Konfliktscheu war er aber auch hier, ließ seine Gewerkschaftskollegen und ISK-Brüder interne Rangeleien und Streits austragen. Überhaupt war er niemand, der mit Drang und Kraft zu neuen Ufern und Ämtern strebte, im Gegenteil. Zu groß waren bei ihm die Ängste und Zweifel, als Jude in politischen Positionen an­ gefeindet und nicht akzeptiert zu werden. »Ein Jude kann in dieser Stadt kein Oberbürgermeister werden«, wird er – einer Nominierung noch abwehrend gegenüberstehend  – von Klaus Wettig zitiert.16 Sein Antritt für die Oberbürgermeisterwahl kam auch nur unter sanftem innerparteilichen Druck zu Stande, weil zwei zuvor ins Auge gefasste Kandidaten abgesprungen waren. Und getreu der ISK-Sozialisation manövrierte er auch durch seine Amtsjahre: Stets sollten alle Parteien gehört, alle Argumente ausgetauscht und dann möglichst rational und konsensual entschieden werden. Am liebsten waren ihm die Stadtprojekte zur Völkerverständigung, die Partnerschaft etwa mit dem polnischen Torún, welche auf seine Initiative zurückgeht.17 Aus Querelen hielt er sich raus, scheute inner- wie außerparteiliche Konflikte. So blieb er ein Oberbürgermeister, der keinem wehtat. Dem der Aufbau der Demokratie, die Schulung der heranwachsenden Generationen ein ernsthaftes Anliegen war, der aber als Kommunalpolitiker für die Stadt Göttingen keine weichenstellenden Entscheidungen traf. Dazu gehörte allerdings auch, dass er Lokalpolitikern mit Nazi-Vergangenheit eine Lern- und Läuterungs­ fähigkeit zubilligte, den Kontakt mit ihnen nicht scheute. Geprägt von der Nelsonianischen Gedankenwelt nahm er als Jude die AufFelix Butzlaff  ■  Artur Levi

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gabe der Demokratiefestigung in Deutschland außerordentlich ernst, so ernst, dass bald sogar eine Ehrenmedaille für den »braunen Gottfried« denk- und machbar wurde.

Anmerkungen 1 Vgl. Klaus Wettig, Spurensuche und Fundstücke, Göttingen 2007, S. 125. 2 Vgl. dazu o. V., Gottfried Jungmichel, Dieses Weiberzeug, in: Der Spiegel, 12.06.1963. 3 Vgl. o.V., Artur Levi, Bin eben ein anderer Typ, in: Göttinger Tageblatt, 10.05.1973. 4 Vgl. dazu Kornelia Duwe / Uta Schäfer, »Damals herrschte nicht Temperatur Null, sondern minus 30 Grad«, in: dies. (Hg.), Göttingen ohne Gänseliesel. Texte und Bilder zur Stadtgeschichte, Gudensberg-Gleichen 1988, S.  238–243; sowie Dietrich Hoffmann, Politische und pädagogische Verantwortung – oder wie Vernunft praktisch wird, in: Ehrenpromotion Artur Levi, akademischer Festakt im Fachbereich Erziehungswissenschaften am 31.01.1992, Göttingen 1992, S. 11–25. 5 Vgl. Hoffmann, Verantwortung. 6 Vgl. Ingeborg Nahnsen, Artur Levi. Ehrenbürger. Rede bei der Verleihung des Ehrenbürgerrechts am 23.11.1993, in: Göttinger Jahrbuch 41 (1993), S. 302–305. 7 Vgl. ebd. 8 So Levi selbst in Duwe / Schäfer, Göttingen. 9 Vgl. ebd., S. 238. 10 Vgl. ebd., S. 243. 11 Vgl. o. V., Er beugte sich der Parteidisziplin, in: Göttinger Tageblatt, 25.04.1973. 12 Vgl. Nahnsen, Levi. 13 Vgl. Christian Graf von Krockow, Erinnerungen. Zu Gast in drei Welten, Stuttgart 2002, S. 192 f. 14 Siehe auch Levis Erwiderung auf die Laudatio von Horst Knus anlässlich Levis Ehrenpromotion, Ehrenpromotion Artur Levi, akademischer Festakt im Fachbereich Erziehungswissenschaften am 31.01.1992, Göttingen 1992, S. 30 f. 15 Vgl. hierzu Klaus Wettig (Hg.), 1873–2003. 130 Jahre Sozialdemokratie in Göttingen, Göttingen 2003, S. 75. 16 So Klaus Wettig im Interview mit dem Verfasser am 29.08.2011. 17 Vgl. hierzu Levis Erwiderung auf die Laudatio von Horst Knus anlässlich seiner Ehrenpromotion.

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Grenzüberschreiter zur Politik

Hans-Jürgen Krahl Der vagabundierende Revolutionär von Matthias Micus

Warum Krahl? Welche Berechtigung gibt es, in einem Buch über »Göttinger Köpfe« einen Text über den »Cheftheoretiker« des So­zialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) zu schreiben? Zweifellos war er für die radikal linken Studenten der späten sechziger Jahre ein »Kopf«, ohne jede Frage auch hatte er eine Zeitlang in Göttingen gelebt. Doch beschränkte sich sein Aufenthalt in Göttingen auf zwei kurze Jahre. Krahl traf mit zwanzig Jahren in der südniedersächsischen Universitätsstadt ein und zog mit 22 Jahren weg, er begann hier sein Studium. Frisch gebackene Gymnasiasten aber sind keine Köpfe, sie sind Suchende, die sich in einem ihnen noch völlig fremden Wissenschaftsfeld unsicher und anfangs ziellos vortasten. Wirkung entfaltete, Bekanntheit erlangte Krahl denn auch erst in seiner Frankfurter Zeit, die sich an die Göttinger Jahre anschloss und in der sich der Student in den bekannten Studentenführer verwandelte. Insofern ist zunächst eher zweifelhaft, ob bei Krahl berechtigt von einem »Göttinger Kopf« gesprochen werden kann. Freilich scheint es überhaupt ein Kennzeichen von Krahl zu sein, dass etliche Unsicherheiten über sein Leben bestehen, dass Legenden über ihn kolportiert werden und Mythen ihn umwittern. Virtuos vermochte Krahl Märchen zu erzählen, wortreich malte er seine Herkunft, Kindheit und seinen Werdegang in den phantastischsten Farben und bewegte sich mit traumwand­lerischer SicherMatthias Micus  ■  Hans-Jürgen Krahl

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heit im Schattenreich zwischen Fiktion und Realität. Erhalten geblieben sind etwa seine »Angaben zur Person«, die er im Jahr 1969 vor Gericht machte. Demnach entstammte er einem deutschnationalen Milieu, das sich – angeblich – um die reaktionäre Deutsche Partei geschart habe, in dem die Verbrechen des Nationalsozialismus verharmlost und völkische Rituale gepflegt worden seien. Über seinen eigenen politischen Werdegang berichtete Krahl, dieser habe ihn vom rechtsradikalen Ludendorff-Bund nach einem »enormen Schritt an Aufklärung« zur CDU und ihrer Jugendorganisation, der Jungen Union, geführt. Erst über den weiteren Umweg der Mitgliedschaft in einer schlagenden Verbindung, aus der er nach einem »antiautoritären Aufstand gegen einen Alten Herrn« herausgeworfen worden wäre, sei er dann zum Sozialis­ tischen Deutschen Studentenbund gekommen.1 Fragte man ihn nach seiner Abstammung, dann prahlte er gerne, dem Adelsgeschlecht der Grafen von Hardenberg zu entstammen, also ein Nachfahre von Novalis zu sein. Erzählte ein Genosse von einer Atlantiküberquerung als Messesteward, dann konterte Krahl schon einmal mit seiner eigenen zweijährigen Marinezeit bei der Handelsschifffahrt im Vollzug der Kapitäns­ laufbahn.2 Aufforderungen von Genossen aus dem SDS, die vorgeblich in seinem Besitz befindliche gräfliche Abstammungsurkunde mitzubringen, lehnte Krahl freilich mit Hinweis auf deren Kost­barkeit beharrlich ab. Mit den von Hardenbergs verband Krahl daher wohl allenfalls eine Großmutter, die einst auf einem der Güter der Adelsfamilie beschäftigt gewesen war.3 Überhaupt: Seine Eltern wiesen keineswegs schillernde Biografien auf, sondern waren gewöhn­ liche Angestellte. Gänzlich unspektakulär war auch das weitere Leben des Vaters. Im Dritten Reich gehörte er zwar nicht dem Widerstand an, war aber auch kein übermäßig begeisterter Anhänger des Regimes, nationalsozialistisch vorbelastet war er jedenfalls nicht. Insgesamt kann mit Blick auf Krahls Elternhaus, Schule und Umfeld keine Rede von völkisch-reaktionärem Geist sein. Krahls Eltern waren vielmehr liberal, den Kontakt zu ihrem Sohn hielten sie auch in dessen radikaler Phase ununterbrochen aufrecht. Krahl besuchte sie auch hin und wieder, wurde dabei sogar regelmäßig von SDS-Genossen begleitet, wogegen sich die Eltern offensichtlich nicht wehrten. Stattdessen unterstützten sie ihn die gesamten 228 

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sechziger Jahre hindurch finanziell und empfingen selbst nach seinem frühen Tod gelegentlich die ehemaligen Freunde des Sohnes aus gemeinsamen Studentenrevolutionszeiten. Das Alfelder Gymnasium, das Krahl besuchte, war eine Reformschule, ähnlich liberal wie das Elternhaus war folglich auch der Lehrkörper, sodass nach Aussage früherer Schulfreunde Krahl mit seiner rechten politischen Gesinnung mitnichten eine selbstverständliche Mehrheitsmeinung vertreten habe, sondern ganz im Gegenteil eine vielbeachtete Ausnahme gewesen sei.4 Alfeld schließlich war kein weltabgewandtes Kaff hinterwäldlerischer Provinzlinge. Stattdessen handelte es sich bei der Stadt um eine traditionelle sozialdemokratische Hochburg, die schon im Kaiser­ reich als »rotes Alfeld« verschrien war, woran sich zu Krahls Lebzeiten wenig geändert hatte, und die als wichtiger niedersächsischer Industriestandort auch eine mächtige Gewerkschaftsbewegung beherbergte.5 Übergeht man die schreckliche und für sein Leben einschneidende, aber auf einen unglücklichen Zufall zurückzuführende Tatsache, dass er als Einjähriger im Frühjahr 1944 bei einem Fliegerangriff verwundet wurde und das rechte Auge verlor, waren Krahls Herkunft und Werdegang vollkommen durchschnittlich: Als Sohn zweier Angestellter in Sarstedt geboren, besuchte er zunächst in seiner Heimatstadt die Grundschule, wechselte von dort auf die Mittelschule und bald auf das Hildesheimer Scharnhorst-Gymnasium, blieb in der achten Klasse sitzen, wechselte wegen eines Umzuges der Eltern nach Alfeld erneut die Schule und machte schließlich auf dem dortigen Gymnasium im Jahr 1963 das Abitur. Der Verdacht liegt insofern nahe, dass Krahl, indem er sich in eine prominente Ahnenreihe hinein imaginierte und seine Jugend um phantastische Erlebnisse anreicherte, sich Gleichaltrigen interessant machen wollte. Wahrscheinlich weil er hoffte, so Freunde gewinnen zu können. Denn entgegen dem Image des einsamen Wolfes suchte Krahl durchaus die Anbindung an Gemeinschaften, eine Suche, die den jungen mit dem erwachsenen Krahl verbindet und sich über alle ideologischen Ortswechsel hinweg erhalten sollte. Es gibt daher praktisch keine Phase in seinem Leben, in der er sich nicht einer oder mehreren Organisationen anschloss. Nachdem er in seiner Jugend – zumindest laut eigener, wenn auch nicht verifizierbarer Matthias Micus  ■  Hans-Jürgen Krahl

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Aussage – verschiedenen rechten Bünden angehört und 1961 einen Ortsverband der Jungen Union gegründet hatte, trat er 1963 zu Beginn seines Studiums der Landsmannschaft Verdensia Göttingen bei. Bereits im Sommer 1964 – also ebenfalls noch in seiner Göttinger Zeit und nicht, wie vielfach angenommen, erst in Frankfurt – wurde er außerdem Mitglied und sogleich stellvertretender Vorsitzender des Göttinger SDS.6 Diesseits aller Unterschiede, die den 1961 wegen Linksabweichung aus der SPD ausgeschlossenen SDS bereits 1964 von einer schlagenden Verbindung wie der Verdensia trennten, wiesen sie als Kollektive doch ähnliche Merkmale auf, vor allem eine starke Gruppenidentität in Form exklu­siver Kleidungs-, Sprach- und Verhaltensmuster sowie ein selbst­sicheres Überlegenheitsgefühl gegenüber ihren Umwelten. Und so suchte Krahl denn auch in beiden Zusammenschlüssen dasselbe: Solidarität. Jedenfalls: Wie die allermeisten Heranwachsenden, so suchte auch Krahl Freundschaften und Geborgenheit. All das suchte er vielleicht sogar intensiver als andere, war es ihm doch immer besonders schwergefallen, Kontakte zu knüpfen. Da war zum einen der – auch in kosmetischer Hinsicht – gravierende Makel der Einäugigkeit, sodann im Kindheitsalter langwierige Krankheiten und wiederholte Schul- und Ortswechsel. Später war seine Homosexualität im SDS ein Anlass regelmäßiger Tuscheleien und für viele seiner Genossen ein Grund, den Kontakt zu ihm so gut es ging zu meiden. Krahl, das bestätigen auch heute noch alte Weggefährten, war hochgradig neurotisch und eigentlich ein Fall für einen Therapeuten. In seiner Bindungssuche bestätigte Krahl einen Satz Max Horkheimers, der einmal gesagt hatte, dass innere Unsicherheit nach einem Kollektiv verlange, als dessen Teil  sich der Einzelne stark fühlen könne.7 Indem nun aber seine Annäherungsversuche beständig zurückgewiesen wurden und er die ersehnte Gemeinschaft nicht fand, legte sich Krahl andererseits den Schutzpanzer des schrul­ligen Einzelgängers zu. Er kultivierte sein exzentrisches Außenseitertum, den »Gestus des Outsiders«, wie Gerd Koenen es nennt, unter anderem durch seine diametrale Abweichung von sämt­lichen konformistischen Insignien des typischen SDS-Rebellen. Anstelle langer Haare, eines unrasierten Kinns und der ganzen modisch gepflegten Zerlumptheit kennzeichnete Krahl – die Haare kurz und gescheitelt, die Brille randlos und die Anzüge abgetragen  – »die 230 

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delikate Hässlichkeit des späten Konfirmanden«8. Wo seine Genossen Joints rauchten und Chianti tranken, bevorzugte er Lüttje Lagen aus Bier und Doppelkorn, stimmte trunken das »Niedersachsenlied« an oder drückte auf der Jukebox »Mama« von Heintje. Krahls bewusste Verweigerung der Normen und Konven­tionen seines zunächst Alfelder und später studentenbewegten Um­feldes konnte abstoßende Formen annehmen  – etwa wenn er in Gesellschaft unaufgefordert sein Glasauge herausnahm und es demonstrativ herumzeigte. Charakteristischer aber war für ihn eine großspurige Überheblichkeit gegenüber seinen Mitmenschen, in der sich frustrierte Bindungswünsche mit dem Bewusstsein intellektueller Überlegenheit, eines besseren Gedächtnisses, einer rascheren Auffassungsgabe und einer höheren Intelligenz mischten. Dies, die »großartige, elitäre Absonderung gegenüber dem Gros dieser deutschen Nachkriegsgesellschaft«9, war im Übrigen schon ein Zentralmotiv für Krahls Kulturkritik von rechts im sozial­demokratisch imprägnierten Alfeld der fünfziger und frühen sechziger Jahre gewesen. Beides, die Gemeinschaftssuche und die Außenseiterrolle, verbinden sich paradigmatisch in der Figur des »Tramps«, der ohne feste Adresse mal hier und mal dort unterkommt, nie allein ist und doch nirgendwo dazugehört. Das Vagabundenleben, welches Krahl in seiner späten Frankfurter Zeit führte, da er keine eigene Wohnung besaß und sich bei wechselnden SDS-Genossen einquartierte, war ihm insofern regelrecht auf den Leib geschneidert. Ohnehin war Krahl ein Zerrissener. Oder, in den Worten von Theodor W. Adorno: Das wesentliche Merkmal seiner Identität war die »Unidentität«. Adorno meinte damit, dass der Krahl in seinen Seminaren ein ganz anderer gewesen sei, als der auf den Vollversammlungen hinter den Mikrofonen, und dass er erlebt habe, wie Krahl ihn bei einer Podiumsdiskussion frontal attackieren konnte und ihn im nächsten Augenblick, unmittelbar nach dem Ende der Veranstaltung, bat, ihm seinen Auftritt nicht übel­ zunehmen, die Polemik sei nicht persönlich gemeint, sondern »bloß politisch« gewesen.10 Diese Unidentität ließ sich auch jenseits der Politik beobachten. Auf der einen Seite konnte Krahl die Hygiene in einem Maße vernachlässigen, dass ihm ein gestörtes Verhältnis zum eigenen Körper nachgesagt wurde und er – ungewaschen, übelriechend, nachlässig gekleidet – ein desperates Bild Matthias Micus  ■  Hans-Jürgen Krahl

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abgegeben haben muss. Andererseits ist die Geschichte von einem Restaurantbesuch überliefert, bei dem er sich Hasenbraten bestellte, der nicht in der richtigen Weise gespickt war und den er mit großer Geste zurückgehen ließ, indem er den Ober zitierte und das Essen »mit einem unendlich hochmütigen Gesicht«11 reklamierte. Vor diesem Hintergrund verwundert die zunächst paradox anmutende Tatsache letztlich nicht, dass ausgerechnet der Einzel­ gänger Krahl in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre zum führenden Organisationstheoretiker im SDS wurde. Schließlich war für Krahl das »Problem der Organisation als Problem revolutionärer Existenz«12 ein höchst persönliches. Er versprach sich vom SDS offensichtlich auch eine persönliche Stabilisierung, bei einem Zusammenbruch der Bewegungsstruktur befürchtete er De­moralisierung, Selbstzerstörung und Asozialität.13 Im Wissen um seine eigene Haltlosigkeit, so scheint es, begann Krahl wie kaum ein anderer, »völlig in der Bewegung und von der Bewegung zu leben, bis er die Züge eines Bewegungstramps trug, eines amphibischen Kopffüßlers, der bei politischer Ebbe in jeder Hinsicht auf dem Trockenen saß«14. Die Studentenbewegung gab Krahl insofern Halt. In mehr­ facher Hinsicht war er allerdings seinerseits auch der Prototyp des 68ers, mehr noch als der Dandy Cohn-Bendit oder der in seinen Überzeugungen unbeirrbare Familienmensch Dutschke. Bei Krahl zeigte sich in konzentrierter Form, was für die 68er allgemein galt: ihr mangelnder Realitätsbezug, eine verquere Weltwahrnehmung und, so noch einmal Gerd Koenen, »anhaltende soziale Bodenlosigkeit«. Und gleichfalls war Krahl in seiner Unbehaustheit die Personifikation des studentischen Rebellen der späten sechziger Jahre. In der Gemeinschaftsideologie der 68er äußerte sich allgemein – d. h. nicht nur bei Krahl, bei diesem aber besonders  – eine Angst vor den Unwägbarkeiten der Freiheit, eine Sehnsucht nach Stationärem, nach Gemeinschaft und gläubigem Kollektivismus, die in einer immer komplexeren und undurchschaubareren Welt durch den »Rückzug in eine sorgfältig ab­gegrenzte Zone von Gleichen unter Gleichen«15 zu befriedigen versucht wurde. Einem bestimmten Flügel innerhalb des SDS ist er dagegen sehr viel weniger klar zuzuschreiben als beispielsweise Dutschke. Wohl sehen viele in Krahl einen Exponenten der antiauto­ritären 232 

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Richtung.16 Als Beleg wird oftmals sein »Organisationsreferat« genannt, das er gemeinsam mit Dutschke verfasst und auf der XXII.  Delegiertenkonferenz des SDS 1967 vorgestellt hatte. Dessen Beschluss gilt allgemein als Ausdruck der innerverbandlichen Vormacht des antiautoritären Flügels. Doch überraschte das temporäre Bündnis von Dutschke und Krahl selbst die eigenen Leute, sprich: die Frankfurter und Berliner Delegierten der SDS-Konferenz. Und während Dutschke unzweifelhaft bis zum Attentat 1968 der Exponent der Antiautoritären schlechthin war, fühlte sich Krahl nie so richtig einer Flügelgruppe zugehörig, befand er sich eigentlich durchweg auf der Suche. 1969 im Übrigen mehr denn je, da er sich mit alten Freunden überwarf und sich nun auch in Frankfurt zunehmend isoliert sah. Dadurch war Krahl geistig immer unabhängig. Was nicht bedeutet, dass er im eigentlichen Sinne auch originell war. Einen Großteil seines posthum veröffentlichten Buches »Konstitution und Klassenkampf« machen Exzerpte aus. Kennzeichnend für Krahl – wie abermals für die 68er insgesamt – war insofern der bisweilen fieberhafte Versuch, sich in historische Gestalten hineinzuversetzen, sich in diesen zu spiegeln und zu überlegen, was wohl Lenin, Korsch und Lukács in bestimmten Situationen gedacht, gesagt oder gemacht hätten. Hier kamen Krahl seine herausragenden imitativen Fähigkeiten zugute. Innerhalb weniger Wochen konnte er die Denkfiguren, Gesten und rhetorischen Stilelemente seiner Professoren verinnerlichen und nahezu perfekt wiedergeben. Sein blendendes Gedächtnis setzte ihn bei Genossen, die es nicht fertigbrachten, seitenlang Marx‹ Kapital auswendig aufzusagen, immer dem unterschwelligen Verdacht und der Kritik aus, bloß Ge­lerntes, Einstudiertes wiederzukäuen. Doch war eben diese Begabung Krahls mutmaßlich einer der Gründe für die besonderen Sympathien, die ihm von Adorno entgegengebracht wurden, der eine Schwäche für Referate und Wortmeldungen hatte, die sich seines Vokabulars bedienten, seine Begrifflichkeiten gebrauchten und seine Diktion kopierten.17 Keine Frage: Theodor W. Adorno war Krahls intellektueller Leitstern. Seinetwegen war er nach Frankfurt gekommen, seine Theorie und Sprache internalisierte er. Adornos Nähe und Anerkennung suchte er jahrelang, eigentlich bis zum Schluss, noch über das Zerwürfnis am Jahreswechsel 1968/69 hinaus. Die wechsel­ Matthias Micus  ■  Hans-Jürgen Krahl

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seitige Wertschätzung zwischen dem Studentenführer und dem Protagonisten der Kritischen Theorie  – auch Adorno schätzte Krahl und betrachtete ihn als einen seiner begabtesten Schüler – war durchaus folgerichtig. Denn Krahl gilt nicht zufällig bis heute als der Cheftheoretiker der Bewegung. Er war lange an der praktischen Politik völlig desinteressiert und galt in seiner Göttinger Zeit als reiner Theoretiker, der durch seine fundierte philoso­phische Bildung und sein fulminantes Gedächtnis imponierte. Direkten Aktionen zog er seinen Schreibtisch vor, wo er, der Fremdwortfetischist, verschwurbelte Theoriegebäude erbaute.18 Vor diesem Hintergrund wirkt die rasant wachsende Verhärtung im Zuge der von Krahl angeführten Besetzung und der von Adorno mitbeschlossenen polizeilichen Räumung des Instituts für Sozialforschung verblüffend. Mehrere Motive müssen hierbei zur Erklärung von Krahls Verhalten herangezogen werden. Wenn er Anfang 1969 auf Konfrontation zu seinem alten Lehrer ging, der für ihn phasenweise gar Züge einer intellektuellen Vaterfigur angenommen hatte, und wenn der blasse Theoretiker jetzt den virilen Aktivisten gab, dann auch deshalb, weil er durch eine Strategie der Konfliktverschärfung den sich nach dem Mobilisierungs­ höhepunkt im Mai 1968 ab der zweiten Hälfte dieses Jahres immer klarer abzeichnenden Niedergang des SDS durch Demonstrationen, Happenings und Mobilisierungskampagnen aufzuhalten versuchte. Gleichzeitig besaßen gezielt begangene Gesetzesbrüche für Krahl, der nun immer in vorderster Linie mit dabei war, den Vorzug, dass Verhaftungen, Anklagen, Gerichtsverfahren auch zur persönlichen Solidarisierung der Genossen mit ihm führten und seine bereits erwähnte wachsende Isolation im Frankfurter SDS vorübergehend vergessen machten. Und schließlich bietet die zunehmend einseitige Parteinahme von Krahl wie auch von Adorno  – des Ersteren für den be­ gründungsfreien Aktivismus, des Letzteren für eine gänzlich praxisfeindliche Theorie  – ein Lehrstück für die gegenseitige Abstoßung und Radikalisierung von Personen und Meinungen im Konflikt. Immer schon hatte Krahl bei aller Theorielastigkeit eine voluntaristische Seite gezeigt, hatte er daran geglaubt, dass alles erreicht werden könne  – vom wissenschaftlichen Standardwerk bis zum aktiven Umsturz der bestehenden politischen Ordnung –, wenn der Wille nur ausreichend unbändig sei. Insofern war ein 234 

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moderater Konflikt des jungen Krahl mit dem alten A ­ dorno schon länger in unterschiedlichen Temperamenten und Erfahrungsschätzen angelegt gewesen. Die Radikalität der Auseinandersetzungen des Jahres 1969 zwischen beiden lässt sich aber für Krahl nur erklären, wenn man die oben genannten Motivationen mit­ berücksichtigt. Krahls Göttinger Bekannte wunderten sich daher über seine Rolle im Konflikt mit Adorno und darüber, dass der vormalige Student der Georgia Augusta, der ihnen schüchtern und zurückhaltend erschienen war, plötzlich ein radikaler Wortführer und Aufpeitscher geworden sein sollte. Die Göttinger Zeit nahm den späteren Krahl insofern nicht vorweg. Wohl aber waren die Jahre in Göttingen so etwas wie eine Inkubationszeit für Krahl, besser vielleicht noch: seine Übergangs- oder Verpuppungszeit. In Göttingen bereitete sich das Spätere vor, hier legte Krahl mit ungeheurem Arbeits- und Leseeifer das Fundament für den SDS-Cheftheoretiker. Im Kleinen, in den Seminaren, bei Referaten konnte er sich bereits in Szene setzen, Kommilitonen beeindrucken und gleichfalls die Lehrenden. In Göttingen spielten dabei die Seminare jene Rolle, die in Frankfurt der Kneipe »Zum Ludwig« an der Bockenheimer Warte zukam: Krahl erprobte hier Thesen, testete seine oratorische Wirkung und gewann durch gelungene Auftritte an Prestige unter den Studierenden. Krahls Lieblingsort in Göttingen war das Seminar von Hermann Wein über Hegelsche Dialektik, das in einem Hörsaal im beschaulichen Botanischen Garten stattfand. Die Göttinger Jahre zeigten ferner auch schon die Probleme Krahls in Gruppen und mit Gleichaltrigen. Voraussetzung für einen Eintritt in den SDS waren im Jahr 1964 noch eine schrift­ liche Bewerbung und ein anschließender Bewerbungsvortrag zu den Beweggründen des Beitritts. Krahl hielt einen spektakulären einstündigen Monolog, in dem er ohne Notizen die gesamte Philo­sophiegeschichte durcharbeitete. Weil er Krahl unterstellte, ein philosophiegeschichtliches Werk im Vorfeld auswendig gelernt und das Gelernte hernach einfach aufgesagt zu haben, plädierte ein SDSler gegen eine sofortige Aufnahme Krahls und für eine vor­ geschaltete einjährige Warte- bzw. Bewährungszeit. Zwar setzte er sich damit nicht durch, einstimmig fiel das Votum für Krahl aber gleichwohl nicht aus.19 Matthias Micus  ■  Hans-Jürgen Krahl

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Auch Krahls Bindungs- und Gemeinschaftsbedürfnis zeigte sich bereits in Göttingen – an den Eintritten in die Landsmannschaft Verdensia sowie den SDS –, ebenso offenbarte sich der Tagträumer und Märchenerzähler. Bedenkt man abschließend Krahls in Göttingen gezeigte Weltfremdheit und Aktivitätsscheu, zieht man desgleichen die von alten Bekannten bestätigte Vorliebe für die reine Theorie heran, so erlaubt die Göttinger Episode des Hans-Jürgen Krahl eine neue Beurteilung des Frankfurter Aktivisten, wie er sich in den Jahren von 1968 bis zu seinem frühen Tod bei einem Autounfall im Februar 1970 zeigte. Insofern bleibt es zwar dabei: Krahl ist eher kein »Göttinger Kopf«. Aber un­ zweifelhaft war er in Göttingen seinerzeit ein Kopf im Werden.

Anmerkungen 1 Hans-Jürgen Krahl, Angaben zur Person, in: ders., Konstitution und Klassenkampf. Zur historischen Dialektik von bürgerlicher Emanzipation und proletarischer Revolution, Frankfurt 2008 (Orig. 1971), S. 19–31. 2 Vgl. hierzu Interview mit Norbert Saßmannshausen, geführt am 03.01.2012; Helmut Reinicke, Retrograde Ausfahrt, in: Digger Journal, H. 4. 3 Vgl. Gerd Koenen, Der transzendental Obdachlose – Hans-Jürgen Krahl, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 11 (2008), H. 3, S. 5–22, hier S. 7 4 Vgl. hierzu Interview mit Norbert Saßmannshausen, geführt am 03.01.2012. 5 Vgl. Gerhard Kraus, Alfeld in Geschichte und Gegenwart, Hildesheim 2002. 6 Vgl. Fred Kickhefel, Der Chefideologe, in: Frankfurter Rundschau, 12.05.2004. 7 Vgl. Wolfgang Kraushaar, Die Wiederkehr der Traumata im Versuch sie zu bearbeiten, in: ders. (Hg.), Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail 1946 bis 1995, Bd.  3, Frankfurt 1998, S. 179 ff. 8 Koenen, hier S. 5 f. 9 Ebd., S. 7. 10 Vgl. Jan Philipp Reemtsma, »Domine, conserva nos in pace« – Versuch, ein Endspiel zu verstehen, in: Theodor W. Adorno Archiv (Hg.), Frankfurter Adorno Blätter VI, München 2000, S. 11–41, hier S. 22. 11 Gerhard Zwerenz, Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond, Frankfurt 1973, S. 294. 12 Rudi Dutschke / Hans-Jürgen Krahl, Organisationsreferat auf der XXII. Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes am 5.  Sep­tember 1967, in: Diskus  – Frankfurter Studentenzeitung 30 (1980), H. 1/2, S. 6–9, hier S. 9. 13 Vgl. Lorenz Jäger, Adorno. Eine politische Biografie, München 2003, S. ­281–285.

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14 Koenen, Der transzendental Obdachlose, S. 16 ff. 15 Götz Aly, Unser Kampf. 1968 – ein irritierter Blick zurück, Frankfurt 2008, S. 187. 16 Vgl. hierzu und im Folgenden Tilman P. Fichter / Siegward Lönnendonker, Kleine Geschichte des SDS. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund von Helmut Schmidt bis Rudi Dutschke, Essen 42007. 17 Vgl. Interview mit Heinz Brüggemann, geführt am 09.01.2012. 18 Vgl. hierzu Günter Grass, Mein Jahrhundert, Göttingen 1999; Detlev Claussen, Hans-Jürgen Krahl  – Ein philosophisch-politisches Profil, in: http:// www.krahl-seiten.de/claussen.pdf [zuletzt eingesehen am 17.12.2011]. 19 Vgl. Interview mit Heinz Brüggemann, geführt am 09.01.2012.

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Peter von Oertzen Studien und politische Lehrjahre in Göttingen von Philipp Kufferath

Eine Welle der bildungsbürgerlichen Empörung wogt im Früh­ sommer 1955 durch Deutschland, als der niedersächsische Ministerpräsident Heinrich Hellwege im Rahmen der Kabinetts­ bildung Leonhard Schlüter zum Kultusminister ernennen will. Den Anstoß zum Protest geben die Göttinger: Der Senat der Georg-August-Universität und ihr Rektor Emil Woermann legen die akademischen Ehrenämter nieder, der AStA ruft zum Vorlesungsboykott auf und organisiert einen Fackelzug. Gleichzeitig kommentieren auch andere Universitäten, studentische Vertretungen, Parteien und überregionale Medien dieses Ereignis der niedersächsischen Landespolitik. Die Wahl des Kandidaten ist nämlich äußerst umstritten: Schlüter ist in Göttingen nicht bloß als strammer Vertreter des rechten Flügels der FDP, sondern auch als Ver­ leger nationalistischer Autoren und Lobbyist der »amtsverdrängten« (d. h. nationalsozialistischen) Professoren bekannt.1 Im Landtag begründet der frisch gewählte dreißigjährige Politikwissenschaftler Dr. Peter von Oertzen aus Göttingen in seiner ersten Rede die ablehnende Haltung der SPD gegenüber Schlüter. Er schildert in einem selbstbewussten Beitrag, gespickt mit Zitaten und Anspielungen, die Göttinger Erfahrungen mit Schlüter, berichtet von offenen Strafverfahren und Wahlkampfauftritten mit Reichskriegsflagge und Marschmusik. Zu diesem Zeitpunkt ist Schlüter allerdings bereits zurückgetreten, der entschiedene Pro238 

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test der Göttinger zeitigte Wirkung. Es wird auch zunächst einmal der einzige exponierte Auftritt von Oertzens im Parlament bleiben. Dabei war Peter von Oertzen in den Wirren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eher unfreiwillig in Göttingen gelandet, und auch seine politische Position hatte sich in den folgenden zehn Jahren erst in längeren Suchbewegungen gefestigt. Als Wehrmachtsoffizier geriet er verwundet in amerikanische Kriegsgefangenschaft, wurde nach Hessen gebracht. Nach seiner Entlassung im November 1945 gab es für ihn kein Durchkommen in seine Heimatstadt Berlin. Stattdessen erreichte der 21-Jährige das niedersächsische Wendland, wo er sich auf dem Gut seiner Stief­ mutter bei Lüchow von den Entbehrungen und Verwundungen des Krieges erholte. Zwei Einsätze an der Ostfront hinterließen bleibende physische Schäden, aber auch sein bisheriges Weltbild war nach der Kriegsniederlage brüchig geworden: Er war zwar immer noch von nationalsozialistischen Ideen geprägt, suchte aber in den nächsten Monaten durch intensive Lektüre, Diskussionen und Leserbriefe Erklärungen und Wegweiser.2 Da die Universität im nahe gelegenen Göttingen als erste Hochschule bereits zum Wintersemester 1945/46 wieder den Betrieb aufgenommen hatte, stand bald sein Entschluss, hier mit dem Studium zu beginnen. Doch dafür musste Peter von Oertzen zunächst in Uelzen eine weitere Abiturprüfung ablegen, da sein Notabitur von 1942 nicht zum Studium berechtigte. Schließlich konnte er sich im November 1946 für ein Studium von Geschichte und Philosophie (anfangs auch noch Deutsch) an der Georgia ­Augusta immatrikulieren. Später verlagerte sich sein Schwerpunkt auf Staatsrecht und Soziologie. Peter von Oertzen fasste diese ungewöhnliche Fächerhäufung einmal so zusammen: »Als Philosophie-Beflissener öffentlich legitimiert, Geschichte tatsächlich studierend, promovierte ich über ein juristisches Thema als Soziologe, in einem Fach also, das ich niemals eigentlich studiert hatte.«3 Später sollte er dann sogar noch Professor für Politik­w issenschaft werden. Doch die Studienbedingungen waren zunächst denkbar schlecht. Auch wenn Göttingen von alliierten Bomben weitgehend verschont geblieben war, waren die Verwerfungen der Nachkriegszeit auch hier allgegenwärtig. Vor allem die Wohnungsnot und Philipp Kufferath  ■  Peter von Oertzen

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der Mangel an Lebensmitteln beeinträchtigten das Leben der Studenten. Viele der ersten Nachkriegsstudenten waren durch eigene Kriegserfahrungen gezeichnet und saßen mit ihren abgewetzten und umgefärbten Militärmänteln in den ungeheizten Hörsälen.4 Peter von Oertzen fand zwar ein einfaches Zimmer zur Untermiete in der Calsowstraße, besaß jedoch sonst fast nichts und lebte zunächst vom Verkauf seiner Zigarettenmarken. Später konnte er als einer der ersten in die neugegründete akademische Burse in der Goßlerstraße einziehen. Wie viele Angehörige seiner ernüchterten Generation, platzte er förmlich vor Bildungshunger. Bereits in seiner Jugend hatte der bildungsbürgerliche Haushalt seiner alleinerziehenden Mutter in Berlin-Charlottenburg einen umfangreichen Buchkanon geboten, auf den er sich eifrig stürzte. Sogar während der dreijährigen Militärzeit hatte er, soweit möglich, stets ein Buch zur Hand. In den ersten Semestern belegte er zahlreiche Veranstaltungen in Philo­sophie und Geschichte, teilweise bis zu vierzig Wochenstunden pro Semester. Besonders die historischen Seminare von Werner Conze regten ihn zum Nachdenken und Widerspruch an und bei Hermann Bollnow erhielt er eine Einführung in das historische Denken von Karl Marx. Ab 1948 schrieb er neben dem Studium Rezensionen und kurze Artikel für die »Göttinger Universitäts-Zeitung« (ab 1949 »Deutsche Universitätszeitung«) einem gemeinsamen Projekt von Professoren und Studenten, das sich zahlreichen allgemeinpolitischen und innerwissenschaftlichen Themen zuwandte und als Selbst­ verständigungsorgan der ersten Studentengeneration nach dem Krieg große Resonanz erzielte.5 In seiner politischen Positionsfindung prägten ihn darüber hinaus in diesen Jahren vor allem die »Frankfurter Hefte«, eine populäre kulturpolitische Zeitschrift, die von den linken Katholiken Walter Dirks und Eugen Kogon herausgegeben wurde.6 Außergewöhnlich waren auch seine politische Neugierde und sein rhetorisches Talent. Gleich nach der Immatrikulation im November 1946 suchte er das örtliche SPD-Büro auf und registrierte sich als Mitglied. Dort erfuhr er, dass am Abend die Gründungsversammlung eines Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) geplant war. Der SDS, zu dieser Zeit noch ein politisch äußerst heterogener Verband mit vielen Kriegsteilnehmern, war 240 

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in den nächsten Jahren der Mittelpunkt seiner Aktivitäten. Er vertrat die Göttinger Gruppe bei überregionalen Delegiertentreffen, beim Vorsitz für die britische Zone ließ er jedoch Helmut Schmidt den Vortritt.7 Beim Göttinger SDS lernte er nicht nur Wilhelm Hennis und Horst Ehmke kennen, die später wissenschaftliche und poli­tische Karriere machten, sondern auch seine Frau, Ursula ­Siebrecht, Tochter eines bekannten Hannoveraner Architekten. Sie heirateten 1950 und zogen bald darauf zusammen. In den nächsten Jahren bekamen die beiden zwei Töchter. Eine lokale Aktion, an der Peter von Oertzen beteiligt war, machte 1952 Schlagzeilen. Als in Göttingen die erste Auf­f ührung des Films »Hanna Amon« im »Central«-Kino in der Barfüßerstraße anstand, organisierten der SDS und die Bewohner der Burse eine Störaktion. Der Regisseur, Veit Harlan, hatte sich mit dem Film »Jud Süß« in den Dienst der nationalsozialistischen Propaganda gestellt. Die Proteste vor dem Kino wurden heftig attackiert, es kam zu antisemitischen Beschimpfungen und gewaltsamen Auseinandersetzungen mit Korporierten und ehemaligen SS-Mitgliedern. Ehmke wurde von ihnen durch die Stadt gejagt. Wenige Tage später erklärten sich 48 Professoren mit den Protesten gegen Veit Harlan solidarisch, auch in anderen Städten kam es zu ähnlichen Aktionen.8 Gemeinsam mit Hennis und Ehmke besuchte von Oertzen auch das Oberseminar des Staatsrechtlers Rudolf Smend, wo die drei schnell zur tonangebenden Fraktion avancierten. Aber auch der aus der Emigration zurückgekehrte Philosoph und Soziologe Helmuth Plessner entwickelte eine Anziehung auf von Oertzen. Das Fach Soziologie war bis dahin in Göttingen nicht vertreten. 1951 entschloss sich von Oertzen gar, eine soziologische Arbeit über die Entwicklung des Staatsrechts als Dissertation aufzunehmen. Smend und Plessner waren die Betreuer.9 Als die Promotion 1953 abgeschlossen war, befand sich ­Peter von Oertzen in einem schwierigen Suchprozess. In den nächsten Jahren ging er verschiedene Wege parallel, und war dadurch zahlreichen Spannungen und Rollenkonflikten ausgesetzt. An der Universität Göttingen bekam er am neugegründeten Soziolo­gischen Institut, das im ehemaligen Reitstall der Universität (das Gebäude wird später abgerissen wurde, heute steht dort das »Carré«) untergebracht war, bei Helmuth Plessner zunächst eine Stelle in einem Philipp Kufferath  ■  Peter von Oertzen

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Forschungsprojekt über die Lage der deutschen Hochschullehrer. Hier arbeitete er unter anderem mit Dietrich Goldschmidt, Christian von Ferber und Christian Graf von Krockow zusammen: »alle aus der Bahn geratene Existenzen und Außenseiter«10. So richtig konnte er sich mit der kleinteiligen empirischen Forschung jedoch nicht identifizieren. Er war zwar genau, aber nur sporadisch anwesend, bestritt in dieser Zeit vielmehr seinen Wahlkampf als Direktkandidat für die SPD in Göttingen, den er 1955 gegen Hermann Föge (FDP) überraschend und äußerst knapp gewann. Außerdem knüpfte er überregionale Kontakte zu Linkssozialisten verschiedener Richtungen und gab mit ihnen ab 1954 eine randständige und einfach produzierte Zeitschrift, die »Sozialistische Politik«, heraus. Hier schrieb er zunächst unter Pseudonym, um seinen Status in der SPD nicht zu gefährden.11 Mittlerweile verortete er sich auf dem äußersten linken Flügel der Partei, vor allem der Northeimer SPD-Abgeordnete Erich Gerlach hatte großen Einfluss auf ihn. Der gerade einmal Dreißigjährige war nun Landtagsabgeordneter, Zeitschriftenherausgeber und Teilzeitwissenschaftler. Trotzdem musste die junge Familie von Oertzen ständig improvisieren. Die Aufwandsentschädigungen eines Landtagsabgeordneten waren in dieser Zeit noch denkbar gering und genügten kaum für die vierköpfige Familie. Gelegentliche Forschungsaufträge und Vortragshonorare boten kein geregeltes Einkommen, oft waren sie auf Zuwendungen aus dem Hause Siebrecht angewiesen. Um seine wissenschaftliche Laufbahn voranzubringen, verbrachte er viel Zeit in der Bibliothek des Landtages und arbeitete dort an seiner Habilitation. Zugleich exponierte er sich aber auch im Richtungsstreit der SPD der fünfziger Jahre und versucht vergeblich gemeinsam mit politischen Verbündeten, eine Alternative zum Godes­ berger Programm zu entwickeln.12 1959 schied er wieder aus dem Landtag aus, da die damalige Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät ihn als Abgeordneten der SPD nicht habilitieren wollte. In den nächsten Jahren widmete er sich verstärkt seiner Studie über die Betriebsräte in der Revolution von 1918/19. Nach den langwierigen Schwierigkeiten über den Zuschnitt der Arbeit und die Auswahl der Gutachter wurde er schließlich 1962 erfolgreich habilitiert.13 In der Folge arbeitete er als wissenschaftlicher Assistent bei 242 

Grenzüberschreiter zur Politik

Gerhard Leibholz am Institut für Allgemeine Staatsrechtslehre und Politische Wissenschaft. Er bewarb sich jedoch auch bei zahlreichen pädagogischen Hochschulen auf eine Professur im noch jungen Fach Politikwissenschaft. 1963 erfolgte dann der Ruf an die Pädagogische Hochschule Hannover. Zunächst pendelte er noch nach Hannover und erfüllte auch weiterhin seine Lehraufträge in Göttingen. Nach einem Jahr zog die Familie jedoch ganz nach Hannover, wo er auch den Rest seines Lebens wohnte und arbeitete. Die Verbindung nach Göttingen blieb für ihn aber bestehen. 1967 trat er dort wiederum als Direktkandidat an und zog erneut in den Landtag ein, wo er bis 1982 als Göttinger Abgeordneter verblieb. Größere Bekanntheit erreichte Peter von Oertzen erst nach seiner Göttinger Zeit, als Kultusminister in Niedersachsen in den bewegten Jahren nach 1968. Der Ausbau der Univer­sität in Hannover, Neugründungen der Universitäten in Oldenburg und Osnabrück, dazu Schulreformen wie die Einführung der Orientierungsstufe und die Stärkung der integrierten Gesamtschulen markieren die wichtigsten Errungenschaften seiner vierjährigen Amtszeit. Überlagert wurden diese bildungspolitischen Vorstöße in der zeitgenössischen Wahrnehmung jedoch durch polarisierte politische Konfliktlinien: Die Umsetzung des sogenannten Radikalenerlasses sowie die behutsame Einführung von Elementen paritätischer Mitbestimmung an den Universitäten zogen von verschiedenen Seiten Kritik auf sich. Als Vertreter der linken Strömungen und mächtiger Bezirksvorsitzender von Hannover wurde von Oertzen 1973 in den Parteivorstand der SPD gewählt. Eine weitere Parteikarriere verhinderte er jedoch auch selbst. Ämter wie z. B. im SPD-Präsidium oder als Kandidat zum Ministerpräsidenten lehnte er ab, er fühlte sich seinen politischen Prinzipien und einer wissenschaftlichen Arbeitsweise verpflichtet. Dank seiner politischen Integrität und seiner analytischen Schärfe gelang es ihm lange, den turbulenten und unbequemen linken Parteiflügel zu integrieren, er war dabei jedoch immer wieder Anfeindungen von links und rechts ausgesetzt. Der Juso-Vorsitzende Gerhard Schröder stieg auch dank von Oertzens Protektion innerhalb der Partei auf, trat zunächst 1983 dessen Nachfolge als Bezirksvorsitzender an. Dass ausgerechnet Schröder später als Bundeskanzler mit der Agenda 2010 an zentralen Prinzipien rüttelte, für die von Oertzen Zeit seines Lebens einstand, Philipp Kufferath  ■  Peter von Oertzen

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musste umso schmerzhafter wiegen. Weil zur gleichen Zeit zudem auch noch mit Sigmar Gabriel ein sozialdemokratischer Ministerpräsident in Niedersachsen die Bildungsreformen der Siebziger teilweise wieder rückgängig machte, trat Peter von Oertzen 2005 nach fast sechzig Jahren aus der SPD aus. Einen demokratischen Sozialismus, der sich gegen jede Form des Stalinismus abgrenzt, so wie Peter von Oertzen ihn in seiner langen politischen Laufbahn auf den unterschiedlichsten Feldern zu stärken versuchte und der in der Ära Brandt seine Hochphase erlebt hatte, sah er zum Ende seines Lebens (er starb 2008) wieder zurückgeworfen auf kleinere Initiativen innerhalb der neu sortierten politischen Landschaft.14

Anmerkungen 1 Vgl. Oliver Schael, Die Grenzen der akademischen Vergangenheitspolitik. Der Verband der nicht-amtierenden (amtsverdrängten) Hochschullehrer und die Göttinger Universität, in: Bernd Weisbrod (Hg.), Akademische Vergangenheitspolitik. Beiträge zur Wissenschaftskultur der Nachkriegszeit, Göttingen 2002, S. 53–72; Heinz-Georg Marten, Der niedersächsische Ministersturz. Protest und Widerstand der Georg-August-Universität Göttingen gegen den Kultusminister Schlüter im Jahre 1955, Göttingen 1987. 2 Vgl. Interviewtranskript Max Reinhardt mit Peter von Oertzen (2003). Vgl. auch Max Reinhardt, Aufstieg und Krise der SPD. Flügel und Repräsentanten einer pluralistischen Volkspartei, Baden-Baden 2011, S. 233–282. 3 Carola Dietze, Dokumentation: »Nach siebzehnjähriger Abwesenheit…« Das Blaubuch. Ein Dokument über die Anfänge der Soziologie in Göttingen nach 1945 unter Helmuth Plessner, in: Jahrbuch für Soziologiegeschichte 1997/1998 (2001), S. 243–300, hier S. 288. 4 Vgl. Waldemar Krönig / Klaus-Dieter Müller, Nachkriegssemester. Studium in Kriegs- und Nachkriegszeit, Stuttgart 1990; Maren Büttner u. a. (Hg.), Alltagsleben nach 1945. Die Nachkriegszeit am Beispiel der Stadt Göttingen, Göttingen 2010. 5 Vgl. Dietrich Goldschmidt, Als Redakteur bei der Göttinger Universitäts-Zeitung. Erinnerungen 1945 bis 1949, in: Das Argument 37 (1993), S. ­207–222. 6 Vgl. Martin Stankowski, Linkskatholizismus nach 1945. Die Presse oppositioneller Katholiken in der Auseinandersetzung für eine demokratische und sozialistische Gesellschaft, Köln 1974, S. 66–136. 7 Vgl. Willy Albrecht, Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS). Vom parteikonformen Studentenverband zum Repräsentanten der Neuen Linken, Bonn 1994, S. 68 ff. 8 Vgl. Andreas Brieger, Protestieren muss (wieder) gelernt sein, in: Büttner u. a. (Hg.), Alltagsleben, S. 279–295, hier S. 283.

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Grenzüberschreiter zur Politik

9 Die Arbeit wurde erst zwanzig Jahre später veröffentlicht: Peter von Oertzen, Die soziale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus, Frankfurt am Main 1974. 10 Christian von Krockow, »Arbeitsfreude« – Über die Anfänge der Soziologie in Göttingen, in: Reinhard P. Nippert u. a. (Hg.), Kritik und Engagement. Soziologie als Anwendungswissenschaft. Festschrift für Christian von Ferber zum 65. Geburtstag, München 1991, S. 5–11, hier S. 7. 11 Vgl. Gregor Kritidis, Linkssozialistische Opposition in der Ära Adenauer. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Hannover 2008, S. 235–284. 12 Vgl. Helga Grebing, Ideengeschichte des Sozialismus in Deutschland. Teil II, in: dies. (Hg.), Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland. Sozialismus – Katholische Soziallehre – Protestantische Sozialethik. Ein Handbuch, Wiesbaden 2005, S.  353.596, hier S.  449 ff.; Julia Angster, Konsens­ kapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB, München 2003, S. 417 ff. 13 Vgl. Peter von Oertzen, Betriebsräte in der Novemberrevolution. Eine politikwissenschaftliche Untersuchung über Ideengehalt und Struktur der betrieblichen und wirtschaftlichen Arbeiterräte in der Revolution 1918/19, Düsseldorf 1963. 14 Vgl. bilanzierend aus Sicht von Freunden und Verbündeten u. a. diverse Beiträge in: Wolfgang Jüttner u. a. (Hg.), Politik für die Sozialdemokratie. Erinnerung an Peter von Oertzen, Berlin 2009; Loccumer Initiative kritischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (Hg.), Zur Funktion des linken Intellektuellen – heute. In memoriam Peter von Oertzen, Hannover 2009; Jürgen Seifert u. a. (Hg.), Soziale oder sozialistische Demokratie? Beiträge zur Geschichte der Linken und der Bundesrepublik. Freundesgabe für Peter von Oertzen zum 65. Geburtstag, Marburg 1989.

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Bildnachweis

15, 21, 35, 59, 73, 81, 89,102, 117, 123, 133, 142, 148, 155, 162, 181, 220, 238: Stadtarchiv Göttingen 43: Foto: Deuerl. Buchhandlung / Stadtarchiv Göttingen 52: Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Nachlass Kaehler 59: Foto: H. Kusch / Stadtarchiv Göttingen 65: Althistorisches Seminar 94: © SZ Photo 479534 110: Foto: Fritz Paul / Stadtarchiv Göttingen 171, 209, 215, 227: AdsD / Friedrich-Ebert-Stiftung 191: privat 200: © bpk Bild 50105998 / N.N.

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