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German Pages 345 Year 1997
BEATE RICKERT
Grundrechtsgeltung bei der Umsetzung europäischer Richtlinien in innerstaatliches Recht
Schrüten zum Europäischen Recht Herausgegeben von
Siegfried Magiera und Dettef Merten Band 40
Grundrechtsgeltung bei der Umsetzung europäischer Richtlinien in innerstaatliches Recht
Von Beate Rickert
Duncker & Humblot • Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Rickert, Beate:
Grundrechtsgeltung bei der Umsetzung europäischer Richtlinien in innerstaatliches Recht / von Beate Rickert. - Berlin : Duncker und Humblot, 1997 (Schriften zum europäischen Recht; Bd. 40) Zugl.: Münster (Westfalen), Univ., Diss., 1995/96 ISBN 3-428-08867-0
Alle Rechte vorbehalten
© 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 3-428-08867-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 8
Meinen Eltern und Beda
Vorwort Die Problematik des Grundrechtsschutzniveaus im Gemeinschaftsrecht erfreut sich nicht zuletzt aufgrund des Gutachtens des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften vom 28. März 1996 (Gutachten 2/94, EuZW 1996, 307 ff.) und der Diskussion um die Aufuahme eines Grundrechtskataloges in den EG-Vertrag anläßlich der Regierungskonferenz 1996, die zu "Maastricht 11" ruhren soll, besonderer Aktualität. Während die Frage des maßgeblichen Grundrechtsstandards im Falle eines Konfliktes zwischen gemeinschaftsrechtlichen und innerstaatlichen Vorgaben bislang vorwiegend im Zusammenhang mit der innerstaatlichen Anwendung unmittelbar geltender Verordnungen relevant wurde, rückte erst mit dem Beschluß der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichtes vom 12. Mai 1989 (EuGRZ 1989,339 f.) die Richtlinienproblematik in den Mittelpunkt des Interesses, ohne daß die Karlsruher Richter jedoch einen Lösungsansatz für eine solche Kollisionslage geboten hätten. Gerade im Hinblick auf einen möglichen Beitritt der jungen Demokratien ohne gefestigte Grundrechtstradition aus Ost- und Zentraleuropa ist es jedoch unverzichtbar, dem Umsetzungsgesetzgeber eine Richtschnur rur die Lösung des Konfliktes zwischen verbindlichen Richtlinienvorgaben und nationalen Grundrechten an die Hand zu geben. Zur Lösung dieser Problematik möchte die vorliegende Untersuchung einen Beitrag leisten. Die Arbeit wurde im Spätsommer 1995 abgeschlossen und im Wintersemester 1995/96 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westflilischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Schrifttum sind im wesentlichen bis Ende 1995 berücksichtigt, spätere Veröffentlichungen, soweit möglich, in den Anmerkungen nachgetragen. An dieser Stelle möchte ich mich bei allen bedanken, die zum Gelingen der Arbeit beigetragen haben. Mein besonderer Dank gilt Herrn Professor Dr. Bodo Pieroth rur die Betreuung der Ar~eit. Dank schulde ich ferner Herrn Professor Dr. Hans D. Jarass rur die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Den Herren Professoren Dr. Siegfried Magiera and Dr. Detlef Merten sei tUr die Aufnahme der Arbeit in die Reihe "Schriften zum Europäischen Recht" gedankt. Bedanken möchte ich mich ferner bei Frau Irmgard Zengeley tUr die Erstellung der Druckformatvorlage. Die Drucklegung der Arbeit wurde mit Forschungsmitteln
8
Vorwort
des Landes Nordrhein-Westfalen gefördert. Auch hierfiir sei an dieser Stelle gedankt. Mannigfaltigen Dank schulde ich nicht zuletzt Beda, der das Entstehen der Arbeit begleitet und mich in jeder Hinsicht unterstützt hat.
Edinburgh, im Sommer 1996 Beate H. Rickert
Inhaltsverzeichnis Einführung ....................................................................................................... ............ 21 Erster Teil Problemstellung
25
A. Fortschreitende gemeinschaftsrechtliche Determinierung innerstaatlichen Rechts .. 25 B. Grundrechtsstandard in der Gemeinschaftsrechtsordnung ....................................... 26
C. Sekundäres Gemeinschaftsrecht und nationale Grundrechte .................................... 28 I. Rechtsetzung durch Richtlinien ......................................................................... 29
I. Formen des sekundären Gemeinschaftsrechtes .............................................. 29 2. Die Richtlinie gemäß Art. 189 Abs. 3 EG-Vertrag ............................................. 30
11. Verfassungsbindung des Umsetzungsgesetzgebers ................................................ 32 III. Die Bedeutung der Tabakrichtlinie ......................................................................... 35 I. Grundrechtliche Bedenken gegen die Tabakrichtlinie ....................................... 37 a)VerstoßgegenArt. 12 Abs. IIArt. 14 Abs. I GG ........................................... 37 b)VerstoßgegenArt.5Abs.1 GG ..................................................................... 38 2. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes über den Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung .......... ....... ..................... ... ....... ...... ... ...... ............ 40 D. Zusammenfassung des Problemstandes .................................................................... 41
Zweiter Teil Grundrechtsstandard im Europäischen Gemeinschaftsrecht
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A. Leitlinien der Grundrechtsrechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften................. ...... ... ........ ........................... ................ ... ............ .......... ........ 44 I. Die wichtigsten Entscheidungen zur Entwicklung eines Grundrechtsschutzes durch die Rechtsprechung ....................................................................................... 45 11. Fehlende dogmatische Absicherung der Grundrechtsgewährleistungen durch den Gerichtshof ......................... ...... .... .......... ................... ................ ........... ........ .... 47 B. Vergleich einzelner Grundrechtsgewährleistungen .................................................. 52 I. Unverletzlichkeit der Wohnung .............................................................................. 52 I. Entscheidungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften zur Unverletzlichkeit der Wohnung .......................................................................... 54
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Inhaltsverzeichnis a) Entscheidung im Fall "National Panasonic" ............................................... 54 b)Entscheidung im Fall "Hoechst" ..................................................................... 55 c) Entscheidung im Fall "Dow Chemical Iberica" .............................................. 56 2. Reichweite des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechts der Unverletzlichkeit der Wohnung ....................................................................................................... 56 a)EMRK .............................................................................................................. 56 b) Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten..................... .................. ..... 59 11. Auskunftsverweigerungsrecht bei Gefahr der Selbstbezichtigung ........... ............. 60 1. Stellungnahmen in der Literatur zu der gemeinschaftsrechtlichen Gewährleistung des Auskunftsverweigerungsrechtes ..... ...................................... .......... 62 2. Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes zum Auskunftsverweigerungsrecht... ...... ............. .......... ............. ............................ ..... ......... ....... ........... 63 a) Entscheidung im Fall "Orkem" ....................................................................... 63 b)Entscheidung im Fall "Solvay" ....................................................................... 64 3. Reichweite des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechts der Aussageverweigerung ............. ............................ .... ................. ...................................... ........ 65 III. Eigentumsgarantie ................................................................................................... 67 IV. Ergebnis .................................................................. .................................... ............. 68
Dritter Teil Aktuelle Konfliktflille
69
A. Richtlinienvorschläge betreffend "gemeinsame Vorschriften filr den Erdgas- und Elektrizitätsbinnenmarkt" ....................................... ....... ..................................... ............ 69 I. Beurteilung des "Third Party Access" anhand der Eigentumsgarantie des Grundgesetzes........................................................... ............................................... 71 1. Grundrechtsfähigkeit der Energieversorgungsuntemehmen .............................. 72 2. Beeinträchtigte Eigentumspositionen ................................................................. 76 a) Verfiigungsbefugnis über das Leitungseigentum ........................................... 76 b) Investitionsschutz ............................................................................................ 76 c) Privatnützigkeit der Eigentumsverwendung ......... ........................... ............... 77 3. Eingriffsqualität ................................................................................................... 78 4. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung ................................................................ 78 a) Ziel des "Third Party Access" ......................................................................... 79 b)Geeignetheit des "Third Party Access" ...................................................... 80 aa) Eignung zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit.. ................... 80 bb)Eignung zur Gewährleistung stärkeren Wettbewerbs und daraus resultierender Preissenkungen ................... ................................... ............ 81
Inhaltsverzeichnis
11
c) Erforderlichkeit.. ................... ..................................... ............... ............. .......... 82 d) Angemessenheit......... .......................... ............................. .......... ..................... 84 5. Fazit ............................................................................................................... 85 II. Beurteilung des "Third Party Access" anhand der Eigentumsgarantie des Gemeinschaftrechtes....... ........... ............ ... ... ......... ..... ............ .............. ........ ... ... ...... 85 I. Grundrechtstahigkeit der Energieversorgungsunternehmen .......... .................... 86 2. Beeinträchtigte Eigentumspositionen .......... ........................ .............. ................. 86 3. Eingriffsqualitlit ..................... ........ ........ ... ... ... ...... ... ................ ............. ....... ........ 88 4. Verhältnismäßigkeit der Eingriffe ....................................................................... 89 a) Gemeinwohlziel ............................................................................................... 89 b) Verhältnismäßigkeit ................................ ......................... ............ ................... 90 5. Fazit ..................................................................................................................... 92 III. Wahrscheinlichkeit eines Grundrechtskonfliktes rur den Umsetzungsgesetzgeber ................................. ..................................... .............. .......... ................ 92 B. Etikettierungsrichtlinie ................................................................................................... 93 I. Verstoß gegen innerstaatliche Grundrechtsgewährleistungen...... .. ................ ........ 94 I. Vereinbarkeit mit Art. 5 Abs. I S. I I. Fall GG ................................................. 94 a) Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 S. I I. Fall GG ............................................. 95 b) Schranken der negativen Meinungsfreiheit .... .............. ............ ........ .............. 98 c) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung .... ........................ .......... ................ ..... 98 aa) Geeignetheit .............................................................................................. 98 bb) Erforderlichkeit .................... :.................................................................... 99 cc) Angemessenheit ........................................................................................ 99 2. Vereinbarkeit mit Art. 12 Abs. 1 GG ........ ........................................................ 10 1 3. Vereinbarkeit mit Art. 14 GG ............ .................... ...... ................ ..................... 102 a) Sacheigentum am Produkt............................................................................. 103 b) Schutzrecht an der Ausstattung .................................. .......... ............ ............. 104 c) Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb ........................... 106 d) Zwischenergebnis ...... .............. .................... ...... ............. ...... ......... ................ 107 4. Fazit ................................................................................................................... 107 11. Verstoß gegen Gemeinschaftsgrundrechte ............ ................ .............. ........ ......... 107 1. Rechtsfindungsquelle EMRK .................... ........................ .......... .......... ........... 108 2. Rechtsfindungsquelle gemeinsame Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ........................................................................................................ 111 3. Berücksichtigung der Gemeinschaftsziele ........................................................ 112 4. Fazit ................................................................................................................... 112 C. Ausblick ........................................................................................................................ 113
12
Inhaltsverzeichnis Vierter Teil
Lösungsansätze in der Rechtsprechung
114
A. Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften ........ ... ........... 114
B. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes.................. ........................ ...... ....... 116 I. "Solange I" ............................................................................................................. 117 I. Anwendungsvorrang nationaler Grundrechte............ ................................ ....... 117 2. Bewertung der Entscheidung ............ ...................... ............................ .............. 119
a) Demokratische Legitimation als Voraussetzung für Grundrechtseingriffe .. 120 b) Vorteile eines kodifizierten Grundrechtskataloges .......... ...... ............ ...... ..... 122 c) Adäquanz des Grundrechtsstandards .................... ........................................ 123 3. Fazit ................................................................................................................... 125 II. "Solange 11" ........................................................................................................... 125 I. Prozessuale oder materiell-rechtliche Konfliktlösung ...................................... 128 a) "Solange 11" als Grundrechtsverzicht.. .......................................................... 128 b)"Solange 11" als prozessuale Lösung ............................................................. 129 c) Eigene Bewertung ......................................................................................... 130 d)Zwischenergebnis .......................................................................................... 134 2. Prüfungsbefugnis in jedem Einzelfall? ............................................................. 134 a) Generalität der Grundrechtsverletzung ......................................................... 135 b) Grundrechte als Individualrechte .................................................................. 136 c) Eigene Bewertung ......................................................................................... 137 d)Zwischenergebnis .......................................................................................... 138 3. Fazit ................................................................................................................... 138 III. "Tabakrichtlinien"-Beschluß ................................................................................. 140 I. Bestätigung von "Solange 11" ............................................................................ 140 2. Neuorientierung der Verfassungsgerichtsrechtsprechung .. .............. ................ 142 3. Fortführung der bisherigen Rechtsprechung..................................................... 143 4. Fazit ................................................................................................................... 145 IV. "Maastricht"-Urteil ................................................................................................ 145 l. Aussagen des Urteils zum Grundrechtsbereich ........ ........ .................... ............ 146 2. Abweichungen von der bisherigen Rechtsprechung ........................................ 147 a) Abweichung vom "Eurocontrol I"-Beschluß ................................................ 148
aa) Umfassende Bindung des Gemeinschaftsrechts an deutsche Grundrechte ....................................................................................................... 149 bb) Keine Renaissance der Hypothekentheorie ............................................ 150 cc) Zwischenergebnis ................................................................................... 152
Inhaltsverzeichnis
13
b)Abweichung vom "Solange 1I"-Beschluß? ................................................... 153 c) Zwischenergebnis .......................................................................................... 154 3. Übereinstimmungen mit der bisherigen Rechtsprechung ................................. 154 a) Kooperation mit dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften ........ 154 aa) Kooperation mit dem Gerichtshof als Abkehr von "Solange 11" ........... 155 bb) Kooperation mit dem Gerichtshof als politische Lösung....................... 156 cc) Zwischenergebnis ................................................................................... 158 b)Fehlen einer materiell-rechtlichen Konkretisierung der zulässigen Grundrechtsmodifizierung ................ ....... ......... ... ... ............ ...... ............. ....... 158 4. Fazit ................................................................................................................... 160 V. Zusammenfassung der Lösungsansätze des Bundesverfassungsgerichtes ...... 161
Fünfter Teil
Lösungsansätze in der Literatur
162
A. Vorrang des Gemeinschaftsrechtes ... ......... .... .... ........ ............. ........... ................... ....... 162
I. Dispensierung von der Grundrechtsbindung ............... .... .................... ............ ..... 163 I. Umsetzung im Wege der Verfassungsdurchbrechung................... ... ........... ..... 166 2. Umsetzung erst nach vorheriger Verfassungsänderung ................................... 167 a) Verfassungsänderung als Formalakt... ..................................................... 167 b) Verfassungsänderung als Gestaltungsakt des nationalen Parlamentes.... 168 3. Bewertung der Lösungsmodelle ........................................................................ 168 a) Keine Ermächtigung zur Umsetzung grundrechtswidriger RichtIinieninhalte im Wege der Verfassungsdurchbrechung ............... .............. ...... ...... 169 b) Verpflichtung zur Anpassung der Verfassung an die Richtlinienvorgaben als Verstoß gegen das Gewaltenteilungs- und Demokratieprinzip ... ......... ... 172 c) Gestaltungsfreiheit des verfassungsändernden Gesetzgebers ....................... 176 11. Grenzen der Dispensierung von der Grundrechtsbindung ................................... 176 1. Art. 79 Abs. 3 GG ............................................................................................. 177 2. Wesensgehaltsgarantie ...................................................................................... 178 3. Verschränkung von Wesensgehaltsgarantie und Ewigkeitsgarantie .... .... ..... ... 179 4. Bewertung der dargestellten Grenzziehungen .................................................. 180 a) Ewigkeitsgarantie lediglich als unumstrittene Mindestanforderung ............ 180 b) Wesensgehalt der Grundrechtsordnung in ihrer Gesamtheit als Vernachlässigung des Individualcharakters von Grundrechten ....... ........... .... ...... ..... 183 c) Unzulässigkeit der Verschränkung von Wesensgehaltsgarantie und Ewigkeitsgarantie ............ ....... ....... ...... .... ......... ..... ............... ........ ............ ..... 183 111. Ergebnis.. ... ................... ...... ................... ...................... ....... ... ............... ................. 184
14
Inhaltsverzeichnis
B. Lösung über das Rechtsetzungsverfahren im Ministerrat.. .......................................... 185 I. Ausschließlich gemeinschaftsrechtliche Bindung des deutschen Vertreters im Rat.. ........................................................................................................................ 186
11. Grundgesetzbindung des deutschen Vertreters im Rat.. ....................................... 187 1. Relativierung der Grundrechtsbindung des deutschen Vertreters im Rat? ...... 189
a) Begrenzung der Grundrechtsbindung durch Art. 5 EG-Vertrag .................. 190 b) Umfassende Grundrechtsbindung wegen der Konzeption des Rechtsetzungsverfahrens im Rat ................................................................................. 191 c)Zwischenergebnis .......................................................................................... 196 2. Effektivität der Grundrechtsbindung im Rechtsetzungsverfahren ............ ....... 196 a) Einstimmigkeitserfordernis ........................................................................... 196 b) Mehrheitsbeschlüsse.................................................... ...................... ............ 197 aa) Luxemburger Vereinbarung ................................................................... 199 bb) Beratungsgeheimnis im Rat ....... ........ ......... ..... ....................... ........... ..... 20 I 111. Ergebnis......... ......................................................................... ............................... 202 C. Nachträgliche Kollisionsbeseitigungspflicht ............................................................... 202 D. Relativierung der Grundrechtsbindung durch Einbeziehung europäischer Gemeinwohlinteressen im Rahmen der Verhältnismäßigkeit .. ...................... ........ ..... 205 I. Kriterien des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes .................................................... 206
I. Europäische Gemeinwohlinteressen als verfassungskonformes Ziel.. ............. 206 2. Europäische Gemeinwohlinteressen als relevanter Gesichtspunkt für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit des Mittels .................... ........ .............. ......... 207 3. Zulassungsbeschränkungen für Apotheker als Beispiel ................................... 207 11. Bewertung des Lösungsansatzes durch die Literatur und eigene Bewertung ...... 208 E. Kein Vorrang indirekten Gemeinschaftsrechts ............................ ................................ 211 F. Zusammenfassung der Lösungsansätze im Schrifttum ................................................ 214 Sechster Teil
Eigener Lösungsansatz
215
A. Eindämmung des Konfliktpotentials ...... ............................................................... 215
I. Erster Ansatzpunkt: Ausuferung der Richtliniensetzung .... .................... ............. 215 1. Überforderung bei der Umsetzung .................................................................... 215
2. Konterkarierung des erstrebten Zieles.................................... ........................... 220 3. Überprüfung der Erforderlichkeit des Richtlinienerlasses ................................ 221 a) Keine ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft ............................... 221 b) Voraussetzungen des Subsidiariätsgrundsatzes ........................ ............... 223
Inhaltsverzeichnis
15
aa) Ausreichende Ziel verwirklichung auf mitgliedstaatlicher Ebene...... 223 bb) Bessere Zielverwirklichung auf Gemeinschaftsebene.......... .. ................ 225 c) Reduzierung der Richtlinienanzahl.... ................ ................ .................. ......... 225 d) Konsequenz fiir die Grundrechtsproblematik ............................................... 227 11. Zweiter Ansatzpunkt: Regelungsdichte von Richtlinien ...................................... 228 1. Keine Umsetzungsverpflichtung bei ultra vires-Handeln der Gemeinschaft ... 228
a) Wortlaut des Art. 189 Abs. 3 EG-Vertrag .................................................... 230 b) Systematische Stellung des Art. 189 Abs. 3 EG-Vertrag ............................. 233 c) Historisches Motiv fiir die Schaffung der Rechtsfigur der Richtlinie .......... 236 d) Te1eologische Auslegung.................. .......................... ......................... ......... 237 e) Fazit ............................................................................................................... 240 2. Renaissance der Problematik der zulässigen Regelungsintensität von Richtlinien ................................... ........................ ..... ......... ................................ 240 a) Auswirkungen des Subsidiaritätsprinzips ..................................................... 241 b)Mahnung des Bundesverfassungsgerichtes im "Maastricht"-Urteil.. ........... 245 c) Bestätigung des Rechtsetzungsinstrumentes Richtlinie durch den Maastrichter Vertrag ...................................................................................... 247 d)Fazit ............................................................................................................... 248 3. Anleihen an die Reform der Rahmengesetzgebungskompetenz im Grundgesetz ....................................................................................................... 248 111. Ergebnis ................................................................................................................. 250 B. Entwicklung eines grundrechtlichen Kollisionsrechtes ......................................... 251 I. Anleihen an das Internationale Privatrecht.................... ............ .............. ............. 251 1. Anwendungsvoraussetzungen des ordre public ................................................ 253
a) Erheblichkeit des Verstoßes .......................................................................... 253 b) Inlandsbeziehung .... ........... .............. ........................ .......... .............. ......... ..... 254 2. Rechtsfolge der Anwendung des ordre public .................................................. 255 a) Nichtanwendung des grundrechtswidrigen ausländischen Sachrechtes ....... 255 b)Ersatzlösungen ............................................................................................... 255 11. Übertragung auf den Konflikt zwischen EG-Richtlinien und nationalen Grundrechten... ....... ........................... ....................... ................ ............... .............. 256 1. Bedenken gegen die Übertragung...... ............ ................ .............. ................ ..... 256 a) Grundrechte als oberste Leitprinzipien jeder staatlichen Ordnung .............. 258 b)Praktische Konkordanz .................................................................................. 258 c) Ordre public als Instrument des primären Gemeinschaftsrechtes................. 260 d)"Cassis de Dijon"-Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften......... ........................................... ............... ................ .......... 261
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Inhaltsverzeichnis e) Zwischenergebnis .......................................................................................... 262 2. Vergleichbarkeit der Sachverhalte und Interessenlagen ......... .................... ...... 263 a) Grundrechtsbindung deutscher Staatsgewalt bei grenzüberschreitendem Tätigwerden ..... ....... ...... ..... .......... .... ....... ......... ........................... .... ............... 263 b) Verwerfung des Anwendungsergebnisses im konkreten FalL .................... 263 c) Einheitlichkeit der Rechtsanwendung ........................................................... 264 3. Fazit ................................................................................................................... 264 III. Folgerungen für die Umsetzungspraxis ................................................................ 265 l. Vorrang der Grundrechtsbindung gemäß Art. lAbs. 3 GG als Grundsatz..... 265
2. Vorrang der gemeinschaftsrechtlichen Bindung als Ausnahme ....................... 266 IV. Anwendung dieser Regeln auf die erörterten Kollisionsflille ............................... 266 I. Richtlinienvorschläge zur Verwirklichung des Energiebinnenmarktes ........... 267 a) Entwicklung einer Ersatzlösung für die grundrechtswidrigen Richtlinienbestimmungen................................................................................................ 267 b) Ergebniskontrolle ..................... ..................... ................................... ... .......... 272 c) Fazit ............................................................................................................... 274
2. Etikettierungsrichtlinie ...................................................................................... 274 a) Entwicklung einer Ersatzlösung für die grundrechtswidrigen Richtlinienbestimmungen ................................................................................................ 274 b) Ergebniskontrolle .............. ............... ......................... ............................ ........ 277 c) Fazit ............................................................................................................... 278 V. Ergebnis ................................................................................................................. 278 C. Gesamtergebnis.......................................... ... ... ...... ..... ....................................... ........... 278 Zusammenfassung der Ergebnisse ................... ....................................................... 280 Literaturverzeichnis .......................................... ....................................................... 289 Anhang ...................................................................................................................... 315 Stichwortverzeichnis ................................................................................................ 338
Abkürzungsverzeichnis a.A./A.A. abgedr. AblEG AfP AK ÄndV AnwBI. AöR AWD B BayVBI. BB Bd. BegrRegE ber. BFH BGB BGBI. BGH BGHZ BRDrucks. BReg. BStatG BTDrucks. BVerfG BVerfGE BZBI. DB DlHT DÖV Drucks. DVBI. EA EG EGBGB EGKS EKMR
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18 EMRK endg. EnWG EP ET EuGH EuGHMR EuGRZ EuR EuropaR EuZW EWG EWS F.A.Z. Fn. FS GemVElek-RL GemVGas-RL GG GRUR GS GVBI. GWB HdbStR HEW hrsg. Hrsg. i.d.F. JA JöR Jura JuS JZ KartellVO KOM Kp. Iit. MDR n.F. NJ NJW
Abkürzungsverzeichnis Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten v. 4.11.1950 endgültig Energiewirtschaftsgesetz Europäisches Parlament Energiewirtschaftliche Tagesfragen (Zeitschrift) Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Europäischer Gerichtshof filr Menschenrechte Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europarecht (Zeitschrift) Europarecht Europäische Zeitschrift filr Wirtschaftsrecht (Zeitschrift) Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht (Zeitschrift) Frankfurter Allgemeine Zeitung Fußnote Festschrift Vorschlag filr eine Richtlinie des Rates betreffend gemeinsame Vorschriften filr den Elektrizitätsbinnenmarkt Vorschlag filr eine Richtlinie des Rates betreffend gemeinsame Vorschriften filr den Erdgasbinnenmarkt Grundgesetz Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht (Zeitschrift) Gedächtnisschrift Gesetz- und Verordnungsblatt Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (Kartellgesetz) Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland Hamburgische Elektricitäts-Werke AG herausgegeben Herausgeber in der Fassung Juristische Arbeitsblätter (Zeitschrift) Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart (Zeitschrift) Juristische Ausbildung (Zeitschrift) Juristische Schulung (Zeitschrift) Juristenzeitung (Zeitschrift) Kartellverordnung: Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. Februar 1962. Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrages Kommissionsdokumente Kapitel litera (Buchstabe) Monatsschrift filr Deutsches Recht (Zeitschrift) neue Fassung, neue Folge Neue Justiz (Zeitschrift) Neue Juristische Wochenschrift (Zeitschrift)
Abkürzungsverzeichnis NVwZ NWVBI. RabelsZ Ratsdok. RdA Rdnr. Rdnrn. RIW RL Rs. Sig. StaatshaftungsR StaatsR Sten.Prot. stRspr. StuW SZIER TabKTHmV UVP UVPG VDEW VerwaltungsR Vorbem. VVDStRL VWD WuW WZG ZaöRV ZfA ZG ZGR ZParl. ZRP
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Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (Zeitschrift) Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter (Zeitschrift) Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Ratsdokument Recht der Arbeit (Zeitschrift) Randnummer Randnummern Recht der Internationalen Wirtschaft (Zeitschrift) Richtlinie(n) Rechtssache Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften Staatshaftungsrecht Staatsrecht Stenographisches Protokoll ständige Rechtsprechung Steuer und Wirtschaft (Zeitschrift) Schweizerische Zeitschrift für internationales und europäisches Recht Verordnung über die Kennzeichnung von Tabakerzeugnissen und über Höchstmengen von Teer im Zigarettenrauch vom 29. Oktober 1991 Umweltverträglichkeitsprufung Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprufung Vereinigung deutscher Elektrizitätswerke e.V. Verwaltungsrecht Vorbemerkung Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Vereinigte Wirtschafts-Dienste GmbH (Zeitschrift) Wirtschaft und Wettbewerb (Zeitschrift) Warenzeichengesetz Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für Arbeitsrecht Zeitschrift für Gesetzgebung Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht Zeitschrift für Parlamentsfragen Zeitschrift für Rechtspolitik
Einf"ührung Mit der Erweiterung der Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft nach dem Vertrag über die Europäische Union vom 7. Februar 1992 1 ist ein noch stärkeres Vordringen des EG-Rechts in grundrechtsrelevante Bereiche zu erwarten, damit einhergehend auch eine größere Gefahr von Grundrechtsverstößen durch gemeinschaftsrechtliche Maßnahmen. 2 Eingriffe in grundrechtlich geschützte Bereiche, die bisher allein von den Mitgliedstaaten ausgingen, gehen nunmehr von den Gemeinschaftsorganen aus. Es stellt sich die Frage, ob und gegebenenfalls inwieweit sich die betroffenen Marktbürger in diesen Fällen auf nationale Grundrechte berufen können. Die Frage nach der Tragweite nationaler Grundrechte im Rahmen gemeinschaftsrechtlicher Nonnsetzung betrim ein Problemfeld, das durch ein außergewöhnliches Maß an Emotionalität geprägt ist. Die kontroversen Diskussionen vennitteln häufig den Eindruck, es gehe nicht um die Abwägung sachlicher Argumente, sondern um "Sein oder Nichtsein" der Europäischen Gemeinschaft beziehungsweise um eine Auseinandersetzung zwischen "guten und schlechten Europäern".] So wird auch die von deutscher Seite vorgebrachte Forderung nach einem umfassenden Grundrechtsschutz der Marktbürger von einigen von vornherein als "grundgesetzliche Introvertiertheit"4, "Grundrechtstotalitarismus "5 oder als "Grundrechtsimperialismus"6 abgestempelt. 7 Daß es sich bei der Frage der Grundrechtsgeltung um ein typisch deutsches Problem handelt, 8 ist nicht weiter verwunderlich, wenn man die unterschiedlichen BGBI. 199211, S. 1253. Europäisches Parlament, Entschließung vom 18.1.1994 zum Beitritt der Europäischen GemeinschaftzurEMRK,EuGRZ 1994, 191 (192). ] Friauf, in: FriauflScholz, II (21); in diesem Sinne auch Breuer, NVwZ 1994,417 (429); Conradi, Sten.Prot. 121126, S. 10854; OssenbUhI, DVBI. 1993,629 (637); Rupp, NJW 1993,38. 4 Ipsen, S. 260; ahnIich ders., VVDStRL 23 (1966), 128 (130); so auch Tomuschat, DÖV 1990, 672 (673). 5 Tomuschat, EuR 1990,340 (342). 6 Tomuschat, EuR 1990, 340 (351); Ipsen, EuR - Beiheft I - 1991, 64 (66); vgl. auch Kirchhof, EuR - Beiheft I - 1991, II (20). 7 Kutscher, in: Grundrechtsschutz in Europa, S. 86, spricht sogar von "Grundrechtsschizophrenie". 8 Rabe, NJW 1964, 1608 (1610); Everling, in: Grundrechtsschutz in Europa, 84 (85); ders., in: 40 Jahre Grundgesetz, 167 (l71 f.); Friauf, in: FriauflScholz, II (32); Kutscher, in: Grundrechts1
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Einfllhrung
Verfassungen der Mitgliedstaaten miteinander vergleicht. Zwar enthalten sämtliche Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten mit Ausnahme des Vereinigten Königreiches von Großbritannien und Nordirland, welches überhaupt keine mit Verfassungsrang ausgestatteten schriftlichen Grundrechtsgewährleistungen kennt,9 katalogähnliche Grundrechtsgarantien, doch sind Ausmaß und Gewicht in den einzelnen Rechtsordnungen höchst unterschiedlich entwickelt. 10 Einzig in Italien ist die Grundrechtsentwicklung annähernd mit der in der Bundesrepublik zu vergleichen. 11 Doch selbst dort kann die Rechtswissenschaft nicht auf so ausgefeilte Grundrechtslehren verweisen wie die deutsche Staatsrechtswissenschaft. Da in der Bundesrepublik in den letzten vierzig Jahren eine Grundrechtsdogmatik entwickelt worden ist, welche nicht zuletzt in Anbetracht der historischen Erfahrungen das Kernstück unseres Rechtsstaates darstellt, 12 ist die besondere Grundrechtssensibilität verständlich, welche die Bundesrepublik von den übrigen Mitgliedstaaten unterscheidet. So wurde in den sechziger Jahren im Zusammenhang mit Grundrechtsfragen auf Gemeinschaftebene auch häufig von querelIes allemandes l3 gesprochen. Zu einer Zeit, in der die Akzeptanz rur die europäische Integration in der Bevölkerung stetig abnimmt, wie das erste dänische Referendum vom 2. Juni 1992 14 und die niedrige Wahlbeteiligung bei der letzten EuropawahP5 beispielhaft belegen, ist es besonders wichtig, daß die Angehörigen der Mitgliedstaaten durch die Europäisierung des Rechts nicht an Grundrechtsvolumen einbüßen. Die Begrenzung von Hoheitsbefugnissen durch Grund- und Menschenrechte des einzelnen gehört schließlich zu den herausragenden Errungenschaften des modemen Verschutz in Europa, S. 86; Pescatore, in: Grundrechtsschutz in Europa, 94 (95); EhlennannlBieber, Handbuch des Europarechts, I A 12 Rdnr. 7; Ipsen, EuR 1994, I (12). 9 Münch, in: Grundrechtsschutz in Europa, 116 (117); Hoffmann, S. I; Langguth, EuZW 1991, 393; Bemhardt, Bulletin der EG, Beilage 5176, 19 (44 f.); Schwane, EuGRZ 1986,293; ausfilhrIich hierzu KingstonlImrie, in: Grundrechte in Europa und USA, 715 (719 tf.). 10 Bleckmann, OVBI. 1978,457; Friauf, in: FriauflScholz, 11 (30). 11 Bleckmann, OVBI. 1978, 457; Friauf, in: Friauf/Scholz, 11 (31); ausfilhrlich hierzu Monaco, in: Grundrechte in Europa und USA, S. 363 ff. 12 Hoffmann, S. 8. 13 Vgl. Everling, in: Grundrechtsschutz in Europa, 84 (85); Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, S. 222. 14 49,3 % Ja-Stimmen; 50,7 % Nein-Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von 83 %. 15 Insbesondere die niedrigen Wahlbeteiligungen von 35,6 % in den Niederlanden und in Portugal; 36,2 % in Großbritannien bei der letzten Europawahl sprechen filr sich (Quelle: Forschungsgruppe Wahlen, Bericht Nr. 71 Heft Europawahl: Analyse der vierten Oirektwahl 1994); in der Bundesrepublik Deutschland lag die Wahlbeteiligung immerhin bei 60 % (Quelle: Fachserie I, Europawahl Heft 3 Wahl der Abgeordneten). Vgl. auch OppennannlClassen, NJW 1993,5(8).
Einführung
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fassungsstaates}6 Das Vorhandensein, die Beachtung von Grundrechten verleiht einem politischen System freiheitlich demokratischen Charakter. 17 Der Schutz der Grundrechte kann als der wesentliche Zweck eines Staates angesehen werden, um deretwillen er bestehen soll.18 Zwar sind die Gemeinschaften kein Staat, sondern eine "im Prozeß fortschreitender Integration stehende Gemeinschaft eigener Art",19 so üben sie dennoch wie ein Staat Hoheitsgewalt aus, welche Rechte und Pflichten für die Bürger normiert. Grundrechtsgarantien fungieren daher auch als Gradmesser für die Legitimität der Gemeinschaftsgewalt.20 Dieser Aspekt darf nicht außer acht gelassen werden, wenn es um das Problem des Grundrechtsschutzes in der Gemeinschaft geht. Zu behaupten, es handele sich um ein Scheinproblem, weil es Verletzungen von Grundrechtspositionen bislang kaum gegeben habe,21 ist zu vordergründig. Denn letztlich geht es nicht nur um die Garantie von Grundrechtsschutz im Einzelfall, sondern um die viel grundsätzlichere Frage der Legitimität der Gemeinschaftgewalt. 22 Es sollen also nicht einseitig nationale Interessen durchgesetzt, sondern vielmehr die Grundlagen der Gemeinschaft gewahrt und damit letzten Endes ein gesamteuropäischer Fortschritt erzielt werden. 23 Vor diesem Hintergrund sind auch die nachfolgende Konfliktdarstellung und der sich anschließende Lösungsversuch zu sehen. 16 Bemhardt, Bulletin der EG, Beilage 5176, 19 (25); Feger, DÖV 1987,322; vgl. auch Hilf, in: Grundrechtsschutz im europäischen Raum, 320 (338). 17 Sasse, in: Grundrechtsschutz in Europa, 51 (54); Friauf, EuR - Beiheft 1 - 1991, 50 (51); vgl. auch Hoffinann, S. 102 f.; Hilf, EuR 1991,19 (26); De Gucht, EuGRZ 1989,207 (208). 18 Hesse, Rdnr. 290 ff.; Hilf, EuR 1991, 19 (24). 19 BVerfUE 89, 155 (188 f.); BVerfUE 22, 293 (296); Pemice, NJW 1990,2409 (2411); Feger, DÖV 1987, 322; Kutscher, in: Der Grundrechtsschutz im Europäischen Gcmeinschaftsrecht, 35 (37); vgl. auch Blanke, DÖV 1993,412 (420). 20 Sasse, in: Grundrechtsschutz in Europa, 51 (52); De Gucht, EuGRZ 1989,207 (210); Bahlmann, EuR 1982, I (17); ders., in: Carstens-FS, 17 (26, 35); Schwane, EuGRZ 1986,293; Beutler, EuGRZ 1989, 185 (187 f.); Pemice, NJW 1990,2409 (2410, 2418); Langguth, EuZW 1991, 393 (394); Hoffinann, S. 96 ff., insbesondere S. 106 ff.; Friauf, EuR- Beiheft 1-1991, 50 (51 f.); Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, S. 169; Scholz, in: SteindorffFS, 1413 (1417). Bemerkenswert ist daher auch, daß im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland über die Einfilhrung eines Grundrechtskataloges nachgedacht wird; vgl. dazu etwa Koch, Zur Einfllhrung eines Grundrechtskata10ges im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Irland. 21 So offenbar Frowein, EuR - Beiheft I - 1992,63 (75); Lörcher, JuS 1993, 101l (1016); vgl. auch Schwane, in: Deringer-FS, 160 (171). 22 Ebenso Schwane, EuGRZ 1986,293; Scheuner, in: Grundrechtsschutz in Europa, 89 (90); Sasse, in: Grundrechtsschutz in Europa, 51 (53); Bahlmann, in: Carstens-FS, 17 (35). 23 So auch Scheuner, in: Grundrechtsschutz in Europa, S. 90; Pescatore, in: Grundrechtsschutz in Europa, 94 (96).
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Einführung
Da es nicht möglich ist, die Grundrechtsproblematik im Rahmen einer Dissertation umfassend abzuhandeln, beschränkt sich die Arbeit auf einen Problemausschnitt, der im rechtswissenschaftlichen Schrifttum bislang wenig Beachtung gefunden hat, sich in der Praxis aber großer Aktualität erfreut, nämlich den Konflikt zwischen verbindlichen Richtlinienvorgaben und nationalen Grundrechten bei der Umsetzung der Richtlinien in innerstaatliches Recht. Diese Problemstellung wird im 1. Teil der Arbeit konkretisiert. Voraussetzung dafiir, daß es überhaupt zu dem Konflikt zwischen verbindlichen Richtlinienvorgaben und nationalen Grundrechten kommt, ist ein Auseinanderfallen des gemeinschaftsrechtlich gewährten Grundrechtsschutzniveaus und des innerstaatlichen Grundrechtsstandards. Daß es sich hierbei nicht nur um eine theoretische Konstellation handelt, wird im 2. Teil an verschiedenen Grundrechtsgewährleistungen und im 3. Teil anhand aktueller RichtlinienkonfliktflUle nachgewiesen. Im 4. Teil wird die Behandlung des Konfliktes durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften24 und das Bundesverfassungsgericht analysiert, wobei die neueren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes - der "Tabak"-Beschluß und das "Maastricht"-Urteil - einen besonderen Stellenwert einnehmen. Anschließend werden im 5. Teil die in der Literatur vertretenen Lösungsansätze dargestellt und bewertet. Da eine zufriedenstellende Lösung des Konfliktes zwischen den nationalen Grundrechten und verbindlichen Richtlinienvorgaben noch nicht gefunden wurde, werden im 6. Teil der Arbeit Ansätze zur Verringerung des Konfliktpotentials herausgearbeitet und Kollisionsregeln fiir die Lösung der verbleibenden Konfliktfälle entwickelt. Abgeschlossen wird die Arbeit mit einer Zusammenfassung der gefundenen Ergebnisse.
24 Nachfolgend wird der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften auch als "Gerichtshof" oder als "Europäischer Gerichtshof' bezeichnet. Eine Differenzierung zwischen dem Gerichtshof und dem Gericht erster Instanz findet nicht statt.
Erster Teil
Problemstellung A. Fortschreitende gemeinschaftsrechtIiche Determinierung innerstaatlichen Rechts Das Maß der Beeinflussung und inhaltlichen Vorprägung staatlichen Rechts durch die Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaft wird immer bedeutender. Nach Aussage Jacques Delors werden am Ende des Jahrhunderts 80 % des Wirtschafts-, Sozial- und Steuerrechts gemeinschaftsrechtlichen Ursprungs sein.) Große Teile des geltenden deutschen Rechts beruhen bereits heute auf gemeinschaftsrechtlichen Regelungen, insbesondere auf innerstaatlich unmittelbar geltenden Verordnungen und noch weitaus häufiger auf Richtlinien, die von den Mitgliedstaaten in nationales Recht umgesetzt w.erden. 2 Auf die gesamte Gesetzgebung bezogen, gehen bereits gegenwärtig 50 % der deutschen Gesetze auf europäisches Recht zurück. 3 Insbesondere Richtlinien dringen in weite Bereiche des bürgerlichen Rechts, des Handels-, Gesellschafts- und Arbeitsrechts sowie des öffentlichen Wirtschaftsrechts, des Umweltrechts und des Steuerrechts vor. 4 In dem Maße, in welchem das sich ausweitende Gemeinschaftsrecht innerstaatliches Recht überlagert, gewinnt die Frage nach dem Verhältnis von Europäischem Gemeinschaftsrecht und nationaler Verfassung wieder zunehmend an Bedeutung. Das wohl schwierigste Problem bei der Bestimmung dieses Verhältnisses liegt in der Behandlung der Frage, wie ein möglicher Konflikt zwischen sekundärem Gemeinschaftsrecht und nationalen Grundrechten zu lösen ist. 5 Ausgangspunkt für einen derartigen Konflikt ist der Umstand, daß die Gemeinschaftsorgane bei ihrer Rechtsetzung nicht solch weitreichenden Bindungen unterliegen wie die nationalen Rechtsetzungsorgane ) Rede im Europäischen Parlament am 4.7.1988, Bulletin der EG 7/8-1988, S. 124, Ziff. 2.4.21. 2 Siedentopf, DÖV 1988,981 (984); Götz, NJW 1992, 1849 (1850); Langenfeld, DÖV 1992, 955; Dänzer-Vanotti, RlW 1991,754. 3 Bangemann, in: Europa transparent, S. 5; Breuer, NVwZ 1994,417 (418). 4 Götz, NJW 1992, 1849; Dänzer-Vanotti, RlW 1991, 754. 5 Groß, Jura 1991, 575 (577); Klein, VVDStRL 50 (1991), 56 (80); Pagenkopf, NVwZ 1993, 216 (223); Lörcher, JuS 1993, 101l.
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Erster Teil: Problemstellung
bei der innerstaatlichen Durchführung des Gemeinschaftsrechtes. Insbesondere im Bereich der Grundrechtsgewährleistungen zeigen sich noch erhebliche Unterschiede zwischen den beiden Rechtsordnungen.
B. Grundrechtsstandard in der Gemeinschaftsrechtsordnung Die Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft enthalten - abgesehen von einzelnen begrenzten Ansätzen6 - keine Grundrechtsgarantien für die Gemeinschaftsbürger. Die Rechtsetzungsorgane der Gemeinschaft haben bisher ebensowenig einen gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtskatalog in Kraft gesetzt. Das Europäische Parlament hat zwar am 12. April 1989 mit seiner "Erklärung der Grundrechte und Grundfreiheiten " einen Grundrechtskatalog beschlossen, 7 doch kann es aufgrund seiner lediglich beratenden und kontrollierenden Funktion diesem Grundrechtskatalog nicht zur Geltung verhelfen. Mit einer Entschließung vom 20. November 1990 hat es die Regierungskonferenz über die Europäische Union (vergeblich) aufgefordert, diesen Grundrechtskatalog - abgesehen von geringfügigen Modifizierungen - in das Vertragswerk aufzunehmen. 8 In seiner Entschließung vom 26. April 1993 hat das Parlament ferner den Beitritt zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) gefordert, diese Forderung hat es mit einer Entschließung vom 18. Januar 1994 erneut bekräftigt,9 doch bislang ebenfalls ohne Erfolg. 1O Lediglich der Vertrag über die Europäische Union vom 7. Februar 1992 bestimmt in Art. F Abs. 2, daß die Union die Grundrechte achtet, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Überlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechtes ergeben. Dennoch hat vor allem der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften durch seine Rechtsprechung mittlerweile ein beträchtliches Niveau an Grundrechtsgewährleistungen entwickelt. Doch so fortgeschritten dieser Grundrechtsstandard bereits ist, so kann sich die Gemeinschaft trotzdem (noch) nicht
V gl. zum Beispiel Art. 6 oder Art. 119 EG-Vertrag. Abgedr. in: EuGRZ 1989,205 ff. 8 Vgl. Hilf, in: Der Schutz der Grundrechte in der Europäischen Gemeinschaft, S. 56 f. 9 EuGRZ 1994, 191 ff. 10 Zu der Frage des Beitritts der Europäischen Gemeinschaft zur EMRK siehe auch Gutachten 2/94 des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften vom 28. März 1996, EuZW 1996, 307 ff. 6
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B. Grundrechtsstandard in der Gemeinschaftsrechtsordnung
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auf eine sichere Grundrechtsdogmatik stützen. 11 Die richterliche Rechtsfortbildung erstreckt sich bislang auch noch nicht auf sämtliche in den Mitgliedstaaten garantierten Grundrechte. 12 Bedingt sind diese Defizite der europäischen Grundrechtsentwicklung durch die Grenzen des Richterrechts. Die Rechtsprechung kann immer nur punktuell und fallbezogen ansetzen. Daher sind die Grundrechtsgarantien für den einzelnen unsicher und wenig kalkulierbar. 13 Soweit die gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten enger greifen als die thematisch einschlägigen Grundrechte der Mitgliedstaaten, fUhrt die Kompetenzverlagerung auf die Europäische Gemeinschaft daher zu einer Einbuße an Grundrechtsgewährleistungen fUr die betroffenen Grundrechtsträger. Dies gilt insbesondere fUr die Grundrechtsberechtigten in der Bundesrepublik Deutschland, die mit dem in der Verfassung verankerten Grundrechtskatalog einen besonders ausgeprägten Grundrechtsschutz genießen. 14 Diese Defizite in der gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsentwicklung im Verhältnis zu dem in Deutschland verbürgten Grundrechtsstandard fUhren dazu, daß der nationale Gesetz- und Verordnungsgeber im Bereich der Grundrechte in der Regel strengeren Anforderungen unterworfen ist als die jeweiligen Gemeinschaftsorgane. 15 Da die beiden Rechtsordnungen nicht isoliert nebeneinander stehen, sondern sich in einem Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit zueinander verhalten, ist der Nährboden fUr einen Konflikt zwischen sekundärem Gemeinschaftsrecht und nationalen Grundrechtsanforderungen nach wie vor gegeben.
11 Henrichs, EuGRZ 1989,237 (243); Hilf, EuR 1991, 19 (21); ders., in: Wie Europa verfaßt sein soll, S. 62; Pagenkopf, NVwZ 1993, 216 (224); B1eckrnann, NVwZ 1993, 824 (827); Weidenfeld, in: Wie Europa verfaßt sein soll, 32 (33); Sasse, Grundrechtsschutz in Europa, 51 (58); Wittkowski, BayVBI. 1994,359 (361). 12 Hilf, in: Wie Europa verfaßt sein soll, 62 (63); Wittkowski, BayVBI. 1994, 359 (361); vgl. auch Kirchhof, EuR - Beiheft I - 1991, 19 (24). 13 Feger, DÖV 1987, 322 (331); Scholz, in: FriauflScholz, 53 (75); ders., in: Steindorff-FS, 1413 (1424); Hilf, EuR 1991,19 (21); Tomuschat, EuR 1990,340 (357); Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, S.8; Hoffinann, S. 41, Chwolik-Lanfermann, ZRP 1995, 126 (128). 14 Friauf, in: FriauflScholz, 1I (13); vgl. auch Ausftlhrungen soeben in der Einftlhrung. 15 Aber auch der umgekehrte Fall, daß Gemeinschaftsgrundrechte weiter gehen als nationale Grundrechte, ist denkbar. Beispiele hierftlr sind der Schutz des Schriftverkehrs zwischen Anwalt und Klient (EuGH Rs. 155179, Sig. 1982, 1575 fr. - AM & S) und die Gleichheit von Mann und Frau beim Zugang zur beruflichen Tätigkeit (EuGH Rs. 14/83, Sig. 1984, 1891 ff. - Von Colson).
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Erster Teil: Problemstellung
C. Sekundäres Gemeinschaftsrecht und nationale Grundrechte Die Gemeinschaft ist darauf angewiesen, daß das Gemeinschaftsrecht innerstaatlich umgesetzt und vollzogen wird. In diesem Bereich der Verzahnung beider Rechtsordnungen werden die unterschiedlichen Grundrechtsanforderungen relevant. Zwar beruhen Rechtsakte, welche die Organe der Europäischen Gemeinschaft im Rahmen der ihnen eingeräumten Kompetenzen erlassen haben, auf Gemeinschaftsgewalt und unterliegen damit nur der Bindungswirkung des Gemeinschaftsrechtes. 16 Sie sind folglich nicht am nationalen Verfassungsrecht, also auch nicht an den Grundrechten des Grundgesetzes zu messen. 17 Verstöße gegen nationale Grundrechte lassen die Wirksamkeit sekundären Gemeinschaftsrechtes somit unberührt. Indessen gehört die Umsetzung und der Vollzug des Gemeinschaftsrechtes zur nationalen Sphäre und stellt damit einen Akt deutscher Staatsgewalt dar. 18 Die gesamte deutsche Staatsgewalt unterliegt nach Art. 1 Abs. 3 GG der Bindungswirkung der Grundrechte. Art. 1 Abs. 3 GG differenziert hierbei nicht zwischen inländischem und grenzüberschreitendem Tätigwerden. Demzufolge ist die deutsche Staatsgewalt überall dort, wo sie tätig wird oder sich auswirkt, an Grundrechte gebunden. 19 Grundrechtsfreie Räume soll es nach der Verfassung nicht geben. 20 Demnach sind die jeweils zuständigen innerstaatlichen Stellen auch bei der Durchfilhrung des Gemeinschaftsrechtes grundsätzlich an die Grundrechte der Verfassung gebunden. 21 Problematisch wird dies aber im Falle des Konflikts, wenn ein EGRechtsetzungsakt die gemeinschaftsrechtlichen Bindungen einhält, insbesondere auch den Grundrechtsgewährleistungen des EG-Rechts genügt, innerstaatlich jedoch gegen Grundrechte verstößt, also verfassungswidrig ist. Aus der Sicht der national zuständigen Organe stehen sich in diesem Fall bei der Umsetzung und dem Vollzug des EG-Rechts das sekundäre Gemeinschaftsrecht und die 16 DaiglSchmidt, in: v. d. GroebenffhiesinglEhlermann, Art. 189 Rdnr. 2; Friauf, in: FriauflScholz, S. 11 f.; Nicolaysen, EuropaR I, S. 82. 17 DaiglSchmidt, in: v. d. GroebenffhiesinglEhlermann, Art. 189 Rdnr. 2; Tomuschat, in: Bonner Kommentar, Art. 24 Rdnr. 95; Randelzhofer, in: MaunzIDürig, Art. 24 Abs. I Rdnrn. 131, 146. 18 Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 180; ders., in: HdbStR, Bd. VII, § 182 Rdnr. 5; Friauf, in: FriauflScholz, 11 (12,27); Huber, AöR 116 (1991), 210 (233). 19 Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 190; Stern, StaatsR, Bd. 11111, § 72 V 5, S. 1230. 20 Stern, StaatsR, Bd. HIli, § 72 V 5, S. 1230; Friauf, in: FriauflScholz, 1I (36). 21 Randelzhofer, in: MaunzlDürig, Art. 24 Abs. I Rdnr. 135; Huber, AöR 116 (1991), 210 (233); Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 83 ff., 180, 252 f.; ders., in: HdbStR, Bd. VII, § 182 Rdnrn. 9, 30; Friauf, in: Friauf/Scholz, 11 (27, 38); Herdegen, EuGRZ 1989, 309 (311).
C. Sekundäres Gemeinschaftsrecht und nationale Grundrechte
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einschlägigen Normen des Grundgesetzes in einem unlösbar scheinenden Widerstreit gegenüber. Für sie stellt sich daher die Frage, welches Normensystem Vorrang beansprucht, das sekundäre Gemeinschaftsrecht oder die einschlägigen Normen des Grundgesetzes. I. Rechtsetzung durch Richtlinien Da weitestgehende Einigkeit besteht, daß unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht, also insbesondere EG-Verordnungen, im Kollisionsfall Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht genießt,22 stellt sich diese Frage somit insbesondere bei der Umsetzung von EG-Richtlinien in innerstaatliches Recht durch die dafür jeweils zuständigen nationalen Rechtsetzungsorgane. 23 1. Formen des sekundären Gemeinschaftsrechtes
Richtlinien sind Bestandteil des sekundären Gemeinschaftsrechtes. Dieses besteht aus den Vorschriften, welche die Organe der Gemeinschaft auf Grund der ihnen im EG-Vertrag zugewiesenen Kompetenzen erlassen. 24 Dazu gehören gemäß Art. 189 Abs. 1 EG-Vertrag Verordnungen, Richtlinien, Entscheidungen sowie Empfehlungen und Stellungnahmen. Die Kompetenz zum Erlaß von Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen ist nach Art. 189 Abs. 1 EGVertrag beim Ministerrat und bei der Kommission konzentriert. 25 Die interne Kompetenzverteilung zwischen Rat und Kommission ergibt sich aus Spezialermächtigungen und aus der allgemeinen Aufgabenverteilung in den Art. 145 und 155 EG-Vertrag. Demnach ist der Rat, der gemäß Art 146 Abs. 1 EGVertrag aus Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten besteht,26 das 22 BVerfGE 73, 339 (375); Di Fabio, NJW 1990, 947 (953); Everling, DVBI. 1985, 1201 (1203); Lutter, JZ 1992, 593 (596); Gersdorf, DVBI. 1994,674 (677). Vgl. aber auch BVerfG, NJW 1995, 950 f. und die Interpretation dieses Beschlusses durch Nettesheim, NJW 1995, 2083 f1; siehe auch VG Frankfurt, Beschluß vom 24. Oktober 1996 - I E 798/95. 23 Everling, in: 40 Jahre Grundgesetz, 167 (174); ders., in: Grundrechtsschutz in Europa, S. 84, 189; Lutter, JZ 1992,593 (596); Lörcher, JuS 1993, 1011 (1012); Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, S. 4 f.; Fuss, S. 99; Kevekordes, S. 211; Zinow, S. 180; Recknagel, in: Leitungsgebundene Energie, 57 (73 ff.). 24 Grabitz, in: GrabitzlHilf, Art. 189 Rdnr. 16; Groß, JuS 1990, 522 (524). 25 Zu den erweiterten Befugnissen des Europäischen Parlamentes im Rechtsetzungsverfahren der Europäischen Union siehe Le Nestour, Er 44 (1994), 449 ff. 26 Art. 146 EWGV ist durch den Vertrag über die Europäische Union vom 7. Februar 1992 insofern modifiziert worden, als nicht mehr nur Vertreter der Bundesregierung in den Rat entsandt werden können, sondern lediglich Ministerrang erforderlich ist. Demzufolge können auch Lan-
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Erster Teil: Problemstellung
Hauptrechtsetzungsorgan, und die Kommission ist demgegenüber vorwiegend rur die Durchflihrungsmaßnahmen legislativer Art zuständig. 27 2. Die Richtlinie gemäß Art. 189 Abs. 3 EG-Vertrag
Erläßt der Ministerrat eine Richtlinie, so ist diese gemäß Art. 189 Abs. 3 EGVertrag rur jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet ist, hinsichtlich des zu erreichenden Zieles verbindlich. Hingegen bleibt den Mitgliedstaaten die Wahl der Form und der Mittel überlassen. Es ist also Aufgabe der nationalen Rechtsordnung, die rur den Vollzug der Richtlinie geeigneten Handlungsformen zu bestimmen. So unterliegt beispielsweise der Umsetzungsakt des deutschen Gesetzgebers dem Vorbehalt des Gesetzes, wenn es um eine rur das BürgerStaat-Verhältnis wesentliche Regelung geht. 28 Bei den im Mittelpunkt der Abhandlung stehenden grundrechtsrelevanten Richtlinien bedarf es daher regelmäßig eines Transformationsaktes des Gesetzgebers. Die Richtlinie ist folglich - anders als die Verordnung - nicht unmittelbar anwendbar, sondern gibt den Mitgliedstaaten als Adressaten die Verpflichtung zur Umsetzung in innerstaatliches Recht innerhalb einer bestimmten Frist auf. Sie gilt also im Gegensatz zur Verordnung "rur" den Mitgliedstaat, an den sie gerichtet ist, und nicht "in" jedem Mitgliedstaat. 29 Erst nach einzelstaatlicher Umsetzung entfaltet sie in den Mitgliedstaaten unmittelbar normative Wirkung. 30 Der Richtlinienerlaß begründet folglich ein gestuftes Rechtsetzungsverfahren. 31 Die erste Stufe besteht in der Beschlußfassung über die Richtlinie und ihrer Adressierung an die Mitgliedstaaten. Die zweite Stufe besteht in der Anpassung des nationalen Rechtes an den Inhalt der Richtlinie. Sind beide Stufen durchschritten, so gilt die Richtlinie nicht nur "rur" den Mitgliedstaat, sondern "in" dem jeweiligen Mitgliedstaat. 32 Erst die zweite Stufe des Rechtsetzungsverfahrens berührt den Bürger in seinen Rechten und PflichtenY desminister die Bundesrepublik Deutschland im Rat vertreten. Damit wurde eine zentrale Forderung der deutschen Bundesländer erftlllt (vgl. Entschließung des Bundesrates v. 24.8.1990, BRDrucks. 550/90, Nr. 2). 27 Grabitz, in: GrabitzlHilf, Art. 189 Rdnr. 17; Siedentopf, Döv 1988, 981 (986). 28 Scherzberg, Jura 1992, 572 (576). 29 Bleckmann, EuropaR, Rdnr. 137. 30 DaigiSchmidt, in: v. d. GroebenlThiesinglEhlermann, Art. 189 Rdnr. 35 tT.; Friauf, in: Frauf/Scholz, 11 (38). 31 Nicolaysen, EuR 1989,215 (221); Götz, NJW 1992, 1849 (1852); Hilf, EuR 1993, 1 (4); Langenfeld, Döv 1992,955 (956). 32 Götz, NJW 1992, 1849, (1852). 33 Wägenbaur, ZG 1988, 303 (305).
C. Sekundäres Gemeinschaftsrecht und nationale Grundrechte
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Grund fiir die Einfiihrung des zweistufigen Gesetzgebungsverfahrens war unter anderem, daß den Mitgliedstaaten ein Spielraum fiir eigene Entscheidungen verbleiben sollte, um so dem unterschiedlichen Rechtszustand in den Mitgliedstaaten am effektivsten Rechnung zu tragen und Raum fiir die nationalen Besonderheiten zu lassen. 34 Es sollte eine Anpassung an die Verhältnisse der einzelnen Staaten ermöglicht werden. 35 Der "Idealtyp" der Richtlinie beläßt dem Mitgliedstaat also einen gewissen Umsetzungsspielraum. 36 Die Wahlfreiheit der Mitgliedstaaten hinsichtlich der "Form und Mittel" bei der Ausfiihrung der Richtlinie wird in der Praxis jedoch schon dadurch begrenzt, daß sie nur die Handlungsformen und -modalitäten wählen können, die sich zur Gewährleistung der praktischen Wirksamkeit (effet utile) der Richtlinie unter Berücksichtigung des mit ihr verfolgten Zweckes am besten eignen. 37 Darüber hinaus muß die Umsetzungsvorschrift mindestens dieselbe Normqualität aufweisen wie die Vorschriften, welche die von der Richtlinie betroffene Materie zuvor innerstaatlich regelten. 38 Ferner genügen bloße Verwaltungsanordnungen zu der Erfiillung der Umsetzungsverpflichtung nicht. 39 Weiter wird die Wahlfreiheit noch dadurch eingeschränkt, daß der Rat - und gegebenenfalls auch die Kommission - die Regelungsintensität einer Richtlinie frei bestimmen. Erfordert nach ihrer Auffassung die Funktionsflihigkeit der Gemeinschaft eine sehr detaillierte Regelung, so trifft die Richtlinie selbst Bestimmungen in der Weise, daß den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung keine Entscheidungsfreiheit mehr bleibt. 40 Angesichts der immer häufiger zu beobachtenden Detaillierung und Regelungsdichte der Richtlinien reduziert sich der Gestaltungsspielraum des
34 Bach, JZ 1990, 11 08 (1109); Siedentopf, DÖV 1988, 981 (985); DaiglSchmidt, in: v. d. GroebenffhiesinglEhlermann, Art. 189 Rdnr. 39; Kirchhof, EuR- Beiheft 1-1991,11 (21). 35 Bleckmann, EuropaR, Rdnr. 139; ders., ZParl. 1991, 572 (574); Nicolaysen, EuR 1989, 215 (221). 36 Langenfeld, DÖV 1992,955. 37 EuGH Rs. 48175, Sig. 1976,497 (517) - Royer; Rs. 300/81, Sig. 1983,449 (456); Rs. 14/83, Sig. 1984, 1891 (1906) - Von Coison; Rs. 79/83, Sig. 1984, 1921 (1939) - Tradex; Schweitzer, StaatsR III, Rdnr. 264; Wägenbaur, ZG 1988, 303 (310); Jarass, S. 52. 38 EuGH Rs. 102179, Sig. 1980, 1473 (1486); Rs. 168/85, Sig. 1986,2945 (2961); Rs. 116/86, Sig. 1988, 1323 (1338). 39 EuGH Rs. 102179, Sig. 1980, 1473 (1486); Rs. 97/81, Sig. 1982, 1819 (1833); Rs. 160/82, Sig. 1982, 4637 (4642); Rs. 300/81, Sig. 1983, 449 (456); Rs. 145/82, Sig. 1983, 711 (718); Rs. 168/85, Sig. 1986,2945 (2960 f.); Rs. 429/85, Sig. 1988,843 (852); Rs. 116/86, Sig. 1988, 1323 (1338); Rs. C-13\188, Sig. 1991, 1-825 (868); Rs. C-59/89, Sig. 1991, 1-2607 (2633 f.); Rs. 361188, Sig. 1991,1-2567 (2603 f.). 40 Groß, JuS 1990, 522 (525).
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Erster Teil: Problemstellung
nationalen Gesetzgebers daher auf ein Minimum. 41 Häufig sind die Richtlinien sogar so detailliert, daß dem Mitgliedstaat keinerlei Spielraum bei der Umsetzung mehr verbleibt. 42 Die Unterschiede in der Regelungsdichte zwischen unmittelbar wirkender Verordnung und nur mittelbare Wirkung beanspruchender Richtlinie werden daher immer stärker verwischt. 43 11. Verfassungsbindung des Umsetzungsgesetzgebers Eine derartige Praxis kann die nationalen Rechtsetzungsorgane in einen unlösbaren Konflikt verwickeln. Die Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten nämlich, das in ihr vorgegebene Ziel zu erreichen. 44 Der nationale Gesetzgeber ist bei der innerstaatlichen Umsetzung an die inhaltlichen Vorgaben der Richtlinie gebunden. Er kann also vom Entscheidungsprogramm der jeweiligen Richtlinie nicht abweichen. 45 Je detaillierter eine Richtlinie ausgestaltet ist, desto stärker ist mithin auch der inhaltliche Gestaltungsspielraum bei der Umsetzung in nationales Recht eingeschränkt. Verstößt der Inhalt einer EGRichtlinie, die mit den Gemeinschaftsgrundrechten in Einklang steht, gegen die innerstaatliche Grundrechtsordnung, kann sich der nationale Gesetzgeber daher gezwungen sehen, diesen in der Richtlinie angelegten Grundrechtsverstoß beizubehalten und ihm innerstaatliche Wirksamkeit zu verleihen. 46 Er kann somit durch eine entsprechende EG-Richtlinie verpflichtet werden, innerstaatlich verfassungswidriges Recht zu setzen.47 Ergreifen die nationalen Rechtsetzungsorgane die erforderlichen Umsetzungsmaßnahmen nämlich nicht, so begeht der Mitgliedstaat eine Vertragsverletzung, weIche die Kommission gemäß Art. 169 Abs. 2 EG-Vertrag vor dem Europäischen Gerichtshof anklagen und weIche gemäß Art. 171 Abs. 2 EG-Vertrag zur Haftung des Mitglied41 Bleckmann, ZParl. 1991,572 (574); Langenfeld, DÖV 1992,955; Friauf, in: FriaufiScholz, 11 (38); Siedentopf, DÖV 1988,981 (986); Wägenbauer, ZG 1988, 303 (318). 42 Beispielhaft kann hier das Amtsblatt Nr. L 300 vom 19.11.1984 angeftlhrt werden, in dem mehrere Rechtsangleichungsrichtlinien vom 17.11.1984 veröffentlicht sind, darunter die Richtlinie 84/526 EWG "ftlr nahtlose Gasflaschen aus unlegiertem Aluminium und Aluminiumlegierungen": Sie umfaßt 2 Seiten Text und 26 Seiten technischen Anhang! 43 Di Fabio, NJW 1990,947 (951); Friauf, in: FriaufiScholz, 11 (38 f.); Tomuschat, EuR 1990, 340 (345); Bleckmann, EuropaR, Rdnr. 159; Chwolik-Lanfermann, S. 173. 44 EuGH Rs. 80/86, Sig. 1987, 3969 (3986) - Kolpinghuis Nijmegen; Rs. 14/83 Sig. 1984, 1891 (1909) - Von Colson. 45 Scholz, NJW 1990,941 (945). 46 Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 187; Everling, in: 40 Jahre Grundgesetz, 167 (176); Scholz, in: FriaufiScholz, 53 (60). 47 Kaiser nach Niedobitek, in: Föderalismus und EG, S. 128; Scholz, in: Friaufl Scholz, 53 (60); Riegel, EuR 1976, 79 (80).
C. Sekundäres Gemeinschaftsrecht und nationale Grundrechte
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staates ruhren kann. 48 Außerdem kann er sich einem Staatshaftungsanspruch ausgesetzt sehen. 49 Die Bundesrepublik Deutschland kann sich mithin im Außenverhältnis beispielsweise nicht darauf berufen, wegen eines drohenden Grundrechtsverstoßes zur Umsetzung nicht in der Lage zu sein. 50 Spielraum, einem solchen Grundrechtsverstoß auszuweichen, besitzen die innerstaatlichen Rechtsetzungsorgane nur insoweit, als die jeweilige Richtlinie einen solchen Freiraum gewährt. Der Umsetzungs akt wirkt damit durch die Zwischenschaltung deutscher Organe, soweit die Richtlinie den nationalen Rechtsetzungsorganen einen entsprechenden Gestaltungsspielraum eröffnet, als grundrechtssichemdes Moment. Diese in Art. 189 Abs 3 EG-Vertrag angelegte Funktion der Richtlinie wird jedoch in dem Maße obsolet, wie die Mitgliedstaaten durch eine immer weiter voranschreitende Regelungsdichte der Richtlinien ihren Gestaltungsspielraum verlieren. Je dichter die Regelungsintensität einer EG-Richtlinie ist, desto größer ist folglich die Gefahr, daß nationale Gesetzgebungsorgane gemeinschaftsrechtlich verpflichtet werden, innerstaatliche Verfassungsverstöße herbeizuruhren. 51 Die Richtlinie verkörpert zwar sekundäres Gemeinschaftsrecht, welches zunächst nicht an der nationalen Verfassung zu messen ist, das zu ihrer Konkretisierung erlassene Recht ist jedoch ein Akt deutscher Staatsgewalt und nicht etwa delegierter oder entliehener Gemeinschaftsgewalt. 52 An der Beeinträchtigung von Grundrechten darf deutsche Staatsgewalt nach der umfassenden Bindungswirkung des Art. lAbs. 3 GG aber nicht mitwirken. 53 Die Grundrechtsgebundenheit darf indessen auch nicht zum Bruch der eingegangenen Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft fUhren. Zu einem solchen käme es jedoch, wenn die Maßnahme wegen der ihr immanenten Grundrechtswidrigkeit JahnIRiedel, NVwZ 1989,716 (720); Groß, JuS 1990,522 (525); Riegel, EuR 1976, 79 (80). EuGH verbundene Rs. 6/90 und 9/90, Sig. 1991,1-5357 ff. - Francovich; verbundene Rs. C46/93 und C-48/93, EuzW 1996,205 ff. - Brasserie du Pecheur/Factortame III. 50 Vgl. EuGH Rs 42/80, Sig. 1980,3635 (3640); Rs. 43/80, Sig. 1980,3643 (3648); Rs. 140/78, Slg. 1980, 3687 (3699); Rs. 44/80, Sig. 1981, 343 (347); Rs. 45/80, Sig. 1981, 353 (358); Rs. 133/80. Sig. 1981,457 (462); Rs. 171/80, Sig. 1981,465 (469 f.); Rs. 72/81, Sig. 1982, 183 (187); Rs. 73/81, Sig. 1982, 189 (193 f.); Rs. 145/82, Sig. 1983,711 (718). 51 Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 187; Scholz, in: FriauflScholz, 53 (61). 52 Everling, EuR 1990, 195 (213); Friauf, in: FriauflScholz, 11 (12); Scholz, in:.FriauflScholz, 53 (56); Bleckmann, EuropaR, Rdnr. 163; Kevekordes, S. 211; Chwolik-Lanfermann, S. 182. 53 BVerfD, EuGRZ 1989, 339 (340); Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 252 f.; Herdegen, EuGRZ 1989,309 (311); Huber, AöR 116 (1991), 210 (233); Randelzhofer, in: MaunzIDürig, Art. 24 Abs. I Rdnr. 134; Everling, in: Grundrechtsschutz in Europa, S.189. 48
49
3 Rickert
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Erster Teil: Problemstellung
als nichtig behandelt, ihre nationale AusfUhrung verweigert oder eine einseitige Aufhebung erklärt werden würde. Es gilt daher, diese "doppelte Verfassungspflicht" der deutschen Staatsorgane, einerseits die Verpflichtung, das Gemeinschaftsrecht zu respektieren, und andererseits die Unterwerfung unter das Grundgesetz, im Wege "praktischer Konkordanz" zu harmonisieren. Die Grundrechtsdiskussion, die mit dem "Solange II"-Beschluß des Bundesverfassungsgerichtes vom 22. Oktober 198654 endgültig beigelegt schien, konzentrierte sich bis dahin vorwiegend auf unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht. 55 Die Probleme, die sich bei "mittelbarer" Rechtsetzung durch die Europäische Gemeinschaft ergeben können, blieben dagegen bisher weitgehend unbeachtet. Eine Ursache hierfilr ist sicherlich, daß es bislang regelmäßig gelungen ist, durch sorgfältiges Aushandeln des Richtlinieninhaltes Konflikte mit dem Grundgesetz, die bei der innerstaatlichen Umsetzung auftreten können, zu vermeiden. 56 Beispielhaft hierftlr können die "Apothekenrichtlinien"57 angefUhrt werden, über welche so lange verhandelt wurde, bis eine mit dem "Apothekenurteil" des Bundesverfassungsgerichtes58 vereinbare Konfliktlösung gefunden war, oder die "Architektenrichtlinie"59, über die insgesamt zwölf Jahre verhandelt wurde. Auch über den grundrechtlich besonders problematischen Kommissionsvorschlag zu einem vollständigen Verbot der Werbung fUr Tabakerzeugnisse60 ist im Mai 1995 zum neunten Mal im Ministerrat beraten worden. 61
54 BVerfDE 73, 339 ff. 55 Di Fabio, NJW 1990,947 f.; Everling, in: 40 Jahre Grundgesetz, 167 (174); Ehlerrnann, EuR
- Beiheft I - 1991, 27 (29). 56 Everling, in: 40 Jahre Grundgesetz, 167 (I 74). 57 Richtlinien des Rates vom 16.9.1985 - Nr. 85/432 zur Koordinierung der Rechts- und VerwaItungsvorschriften über bestimmte pharmazeutische Tätigkeiten, AblEG Nr. L 253 v. 24.9.1985, S. 34 ff. - Nr. 85/433 über die gegenseitige Anerkennung der Diplome, PrUfungszeugnisse und sonstige Befllhigungsnachweise des Apothekers und über Maßnahmen zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des Niederlassungsrechts für bestimmte pharmazeutische Tätigkeiten, AblEG Nr. L 253 v. 24.9.1985, S. 37 ff. 58 BVerfGE 7, 377 ff. 59 Richtlinie des Rates vom 10. Juni 1985 für die gegenseitige Anerkennung der Diplome, PrUfungszeugnisse und sonstigen Befllhigungsnachweise auf dem Gebiet der Architektur und für Maßnahmen zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des Niederlassungsrechts und des Rechts auf freien Dienstleistungsverkehr, ABlEG Nr. L 223 v. 21.8.1985, S. 15 ff. Die Richtlinie geht auf einen Kommissionsvorschlag aus dem Jahre 1967 zurUck. 60 AblEG Nr. C 167 v. 17.5.1991, S. 3. 61 F.A.Z. V. 4. April 1995, Nr. 80, S. 16; vgl. auch die Ausführungen nachfolgend unter Ill.
C. Sekundäres Gemeinschaftsrecht und nationale Grundrechte
35
Angesichts der Tatsache, daß das Instrument der Richtlinie wegen der umfassenden Maßnahmen zur Rechtsvereinheitlichung nach Art. 100 EG-Vertrag immer größere Bedeutung erlangt hat, erscheint es äußerst zweifelhaft, ob derartig langwierige Verhandlungen über den Inhalt der jeweiligen Richtlinie künftig noch möglich sein werden. 62 Dies gilt um so mehr, als nach dem durch die Einheitliche Europäische Akte eingefilhrten Art. 100 a EG-Vertrag Richtlinien nicht nur einstimmig, sondern - wie vorher bereits im Berufs- und Gewerberecht nach Art. 57 EG-Vertrag - mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden können. Doch nicht nur angesichts der Richtlinienflut gewinnt das Problem der Wahrung des nationalen Grundrechtsstandards an Bedeutung. Auch jüngste Äußerungen des Bundesverfassungsgerichtes63 geben Anlaß zu der Frage, ob der aus innerstaatlicher Sicht ursprünglich durch Art. 24 Abs. 1 GG, nunmehr durch Art. 23 GG abgesicherte Vorrang des Gemeinschaftsrechtes dazu filhrt, daß die nationalen Rechtsetzungsorgane bei der Umsetzung von Richtlinien, deren umzusetzende Zielvorgaben mit den Bestimmungen des Grundrechtskataloges kollidieren, von der strikten Bindung an die Grundrechte gemäß Art. 1 Abs. 3 GG freigestellt sind.
III. Die Bedeutung der "Tabakrichtlinie" Ein markantes Beispiel mit derartigem grundrechtlichen Konfliktstoff, weiches den äußeren Anlaß filr die in letzter Zeit erhobenen Forderungen nach Verstärkung des Grundrechtsschutzes darstellte, liegt in den Richtlinienentwürfen der Europäischen Gemeinschaft zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Etikettierung von Tabakerzeugnissen und über die Werbung filr Tabakerzeugnisse durch Presse und Plakate in der Form vom 19. Mai 1989. Motiviert waren diese Entwürfe zum einen durch die gravierenden Unterschiede zwischen den Werbevorschriften filr Tabakerzeugnisse in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft. 64 Diese reichten von einem vollständigen Verbot in Italien und Portugal65 bis zu einer frei gestaltbaren Werbung, die lediglich mit Warnungen vor dem Rauchen versehen sein mußte, in Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, Dänemark, Großbritannien, Irland
Everling, in: 40 Jahre Grundgesetz, 167 (174 f.). BVerfG, EuGRZ 1989, 339 f.; BVerfGE 89, 155 (174 f.); vgl. auch BVerfG, NJW 1995,950 f. 64 Zapka, RIW 1990, 132. 65 Frankreich und Spanien waren dabei, eines einzufllhren. 62
63
36
Erster Teil: Problemstellung
und den Niederlanden. 66 Da diese verzerrten Wettbewerbsbedingungen67 der Zielsetzung der Gemeinschaft, der Errichtung eines gemeinsamen Marktes nach Art. 8 a (nunmehr Art. 7 a), 100, 100 a EG-Vertrag, widersprachen, bestand zum einen die Notwendigkeit von Harmonisierungsmaßnahmen. Zum anderen sollten Maßnahmen zum Schutze der Gesundheit der Bürger der Gemeinschaft getroffen werden, wobei sich der Rat ausdrücklich68 auf das Aktionsprogramm der Europäischen Gemeinschaft gegen den Krebs69 vom 7. Juli 1986 berief. Dort wurde als vorrangiges Ziel der Kampf gegen den übermäßigen Tabakkonsum festgelegt. Die erstgenannte Richtlinie, die Richtlinie des Rates vom 13. November 1989 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Etikettierung von Tabakerzeugnissen ("Etikettierungsrichtlinie"), wurde am 13. November 1989 verabschiedeCo und war bis Ende 1991 in nationales Recht umzusetzen. Dies ist in der Bundesrepublik durch die Verordnung über die Kennzeichnung von Tabakerzeugnissen und Höchstmengen von Teer im Zigarettenrauch (TabKTHmV) vom 29. Oktober 1991 geschehen. 71 Der Vorschlag für eine Richtlinie des Rates betreffend die Presse- und Plakatwerbung für Tabakerzeugnisse ("Werberichtlinie")72 wurde vom Rat am 3. Dezember 1990 abgelehnt. Nach Art. 4 Abs. 1 der Etikettierungsrichtlinie, müssen alle Verpackungen von Tabakerzeugnissen auf der am ehesten ins Auge fallenden Seite in der jeweiligen Landessprache den Aufdruck tragen: "Rauchen/Tabak geflihrdet die Gesundheit". Auf der anderen Breitseite müssen gemäß Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie alternierend spezifische Warnungen nach Maßgabe einer nationalen Liste erscheinen. In dieser Liste führt jeder Mitgliedstaat Warnhinweise aus den im Anhang zu der Richtlinie73 aufgeführten Vorgaben auf. Obligatorisch sind hierbei die Warnhinweise "Rauchen verursacht Krebs" und "Rauchen 66 Nicolaysen, EuR 1989,215 (217); Zapka, RlW 1990, 132 (133); Kevekordes, S. 15 Fn. 13. Ausfllhrlich zu den aktuellsten gesetzgeberischen Aktivitäten der einzelnen Mitgliedstaaten im Bereich der Tabakwerbung: Stein, in: Grabitz-GS, S. 777 f. 67 Nicht vorschriftsmäßig etikettierten Erzeugnissen konnte die Einfuhr verwehrt werden; die abschreckenden Aufdrucke benachteiligten die Produkte gegenüber nicht gekennzeichneten, ebenso waren die Hersteller aus den Ländern mit Werbeverboten im Wettbewerb benachteiligt. 68 AblEG Nr. L 359 v. 8.12.1989, S. I; vgl. Anhang I. 69 AblEG Nr. C 184 v. 23.7.1986, S. 19. 70 ABlEG Nr. L 359 v. 8.12.1989, S. I ff.; vgl. Anhang I. 71 BGBI. I, S. 2053; vgl. Anhang 2. 72 ABlEG Nr. C 124 v. 19.5.1989, S. 5 ff.; vgl. auch die Anmerkung hierzu soeben unter I. Teil C.II. 73 ABlEG Nr. L 359 v. 8.12.1989, S. 4; vgl. Anhang I.
c. Sekundäres Gemeinschaftsrecht und nationale Grundrechte
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verursacht Herz- und Gefiißkrankheiten".74 Andere Vennerke, wie zum Beispiel "Rauchen fuhrt zu tödlichen Krankheiten" und "Rauchen ist tödlich", können nach dem Ennessen des jeweiligen nationalen Gesetz- und Verordnungsgebers in die entsprechende Liste aufgenommen werden. Anders als die letztendlich am 13. November 1989 verabschiedete Richtlinie, die es gemäß Art. 4 Abs. 3 in das Ennessen der Mitgliedstaaten stellt, ob bei den Warnhinweisen angegeben wird, von welcher Stelle sie ausgehen,75 fehlte es in dem Entwurf an einer vergleichbaren Regelung. Dieser sah vielmehr vor, den Vertrieb von Tabakwaren und die Werbung für diese Artikel an von den Herstellern selbst zu publizierende Warnungen zu binden. 1. Grundrechtliche Bedenken gegen die Tabakrichtlinie
Gegen den Richtlinienentwurf in der Fonn vom 18. April 1989 beziehungsweise gegen eine entsprechende innerstaatliche Umsetzungsvorschrift wurde vorgebracht, daß die Warnhinweise mit den Grundsätzen des verfassungsrechtlich garantierten Rechtes auf Wirtschaftswerbung und dem Grundrecht auf negative Meinungsäußerungsfreiheit gern. Art. 5 Abs. 1 GG nicht vereinbar seien. 76
a) Verstoß gegen Art. I2 Abs. I/Art. 14 Abs. I GG Die Wirtschaftswerbung stelle einen elementaren Bestandteil der untern ehmerischen Wirtschaftsbetätigung dar, die sowohl im Recht auf Gewerbefreiheit gemäß Art. 12 Abs. 1 GG als auch im Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb gemäß Art. 14 Abs. 1 GG garantiert sei. Da die Werbern aßnahmen der Zigarettenhersteller zudem auf der Verwendung von Warenzeichen basierten, intensiviere sich der grundrechtliche Schutz solcher Werbernaßnahmen gemäß Art. 14 Abs. 1 GG noch, weil Warenzeichen vennögenswerte Rechte seien, die unmittelbar dem Schutz der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie unterfallen. 77 74 Vgl. § 3 Abs. I TabKTHmV (Anhang 2). 75 Vgl. Anhang I. 76 Kloepfer, S. 19 ff.; ErberichiFranke, in: Bleckmann-FS, 55 (62 ff.); Scholz, NJW 1990,
941 f.; ders., in: FriauflScholz, 53 (64 ff.); Zapka, RIW 1990, 132 (137 ff.); KirchhofIFrick, AfP 1991,677 ff.; Merten, EuR- Beiheft 1-1991,41 (42); wohl auch Pagenkopf, NVwZ 1993,216 (224). 77 Scholz, in: FriauflScholz, 53 (64).
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Erster Teil: Problemstellung
Dieser Schutz würde aber nicht schrankenlos gewährt. Die Wirtschaftswerbung unterliege den allgemeinen Schrankenvorbehalten. Im Gewährleistungsbereich des Art. 12 Abs. 1 GG betreffe die Etikettierungsregelung nicht die Freiheit der Berufswahl, sondern die Freiheit der Berufsausübung. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes 78 wäre eine Einschränkung der Wirtschaftswerbung demnach zulässig, wenn sie einem legitimen Gemeinwohlinteresse dienen und den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes genügen würde. Entsprechendes gelte für Art. 14 Abs. 1 GG, soweit die Tabakregelung eine Inhaltsbestimmung darstelle. 79 Der Schutz der Volksgesundheit, welcher in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG sogar eine verfassungsrechtliche Grundlage finde, stelle zwar ein entsprechendes Gemeinwohlinteresse dar, jedoch seien die in der EG-Richtlinie vorgegebenen Warnhinweise beziehungsweise eine diese vollziehende innerstaatliche Rechtsnorm nicht mit den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vereinbar. Sie seien zwar objektiv geeignet, dem Gesundheitsschutz und damit einem Schutzgut im Sinne des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu dienen. 80 Mit den Warnhinweisen werde das Maß des Zumutbaren jedoch erheblich überschritten. Verhältnismäßig könne allenfalls eine Werbebeschränkung nach dem Vorbild der früher in der Bundesrepublik gegebenen Rechtslage sein, die sich auf einen (nicht vom Produzenten abzugebenden) allgemeinen Warnhinweis, daß Rauchen die Gesundheit gefährde, beschränkte. Daß Rauchen aber Krebs oder Herz- und Gefiißkrankheiten verursache, sei nicht belegbar und verkehre das Recht der freien Werbung daher gleichsam ins Gegenteil. Folglich verstoße der Richtlinieninhalt gegen das Grundrecht der freien Wirtschaftswerbung. b) Verstoß gegen Art. 5 Abs. J GG
Entsprechendes gelte für das Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 GG. Soweit Werbeaussagen den Gehalt von Meinungsäußerungen hätten, unterstehe die unternehmerische Werbefreiheit auch dem Schutz von Art. 5 Abs. I GG. Komme werblichen Aussagen nämlich sinnvermittelnder Charakter zu, so etwa wenn für die Güte einer Ware mit inhaltlichen Darlegungen geworben werde, sei BVertUE 7, 377 tr. - Apothekenurteil. Scholz, in: FriauflScholz, 53 (65 f.); Stewing, RlW 1993, 185 (186). 80 Zapka, RlW 1990, 132 (136), stellt bereits die Geeignetheit in Frage, indem er darauf verweist, daß in Ländern ohne Tabakwerbung der Zigarettenkonsum im gleichen Ausmaß gestiegen sei wie in Ländern, in denen eine Tabakwerbung gestattet ist. Außerdem belegten Studien, daß variierende Werbeausgaben keinen merklichen Einfluß auf das Konsumniveau ausübten. 78
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C. Sekundäres Gemeinschaftsrecht und nationale Grundrechte
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zwischen Werbung filr eine bestimmte "Idee" und Werbung filr bestimmte "Produkte" kein Unterschied gegeben. Daß die Wirtschaftswerbung zu kommerziellen Zwecken betrieben werde, sei unerheblich, weil es auf die Qualität einer Äußerung im Rahmen des Grundrechtes aus Art. 5 Abs. 1 GG nicht ankomme. Dieses schütze als notwendiges Korrelat der positiven Meinungsäußerungsfreiheit auch die negative Meinungsäußerungsfreiheit. Entsprechende Zwänge, eine bestimmte Meinung zu äußern, widersprächen mithin dem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 GG. Dies gelte insbesondere dann, wenn man dazu verpflichtet werde, eine fremde Meinung - hier der staatlichen Behörden - so zu äußern, daß sie als eigene zugeordnet werde. Zudem dürfe niemand gezwungen werden, filr eine von ihm nicht filr richtig gehaltene Meinung verantwortlich zu zeichnen.8\ Die fakultative Aussage, daß Rauchen zum Tode führe, sei wissenschaftlich nicht nachweisbar. Den Produzenten und Vertreibern von Tabakprodukten werde damit die Pflicht zu einer unwahren Aussage auferlegt. Gleiches gelte rur die obligatorischen Warnhinweise. Denn selbst wenn das Rauchen das Risiko einer Krebs- oder Herzgefäßerkrankung erhöhe, so könne doch die defmitive Kausalität in der in dem Entwurf vorgeschriebenen Form nicht festgestellt werden. Schließlich weise die Wissenschaft übereinstimmend darauf hin, daß der Eintritt derartiger Krankheiten auf eine Vielzahl von Einflußfaktoren zurückzufilhren sei, von denen möglicherweise einer der übermäßige Tabakkonsum sei. 82 Dieser Eingriff in die negative Meinungsäußerungsfreiheit sei auch nicht durch die Schranke der allgemeinen Gesetze im Sinne von Art. 5 Abs. 2 GG gedeckt, weil die Pflicht, wissenschaftlich nicht begrOndbare Aussagen zu treffen, einen gezielten Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit darstelle und daher nicht die Qualität eines allgemeinen Gesetzes im Sinne von Art. 5 Abs. 2 GG aufweise. Die Tabakregelung sei demnach mit den Grundrechten aus Art. 12 Abs. l/Art. 14 Abs. 1 GG und Art. 5 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren. Entsprechendes würde demzufolge auch filr eine nationale Ausfllhrungsregelung zu dieser Richtlinie gelten. 83
81 Zapka, RIW 1990, 132 (137); Scholz, in: FriauflScholz, 53 (67 f.); ders., NJW 1990,941 f.; Merten, EuR - Beiheft I - 1991,41 (42). 82 Scholz, NJW 1990,941 f.; ders., in: FriauflScholz, 53 (67 f.); KirchhofIFrick, AfP 1991,677 (680); ErberichlFranke, in: Bleckmann-FS, 55 (63); Kevekordes, S. 116 ff.; Zapka, RIW 1990, 132 (135); ausftlhrlich hierzu ders., RIW 1990,814 (815 ff.). 83 Zapka, RIW 1990, 132 (137 f.); ders., RIW 1990,814 (818 ff.); Scholz, in: FriauflScholz, 53 (69); KirchhofIFrick, AfP 1991, 677 (678 ff.); ErberichlFranke, in: Bleckmann-FS, 55 (65), die allerdings nur einen Verstoß gegen Art. 5 GG annehmen. Vgl. auch Kevekordes, S. 119.
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Erster Teil: Problemstellung
Nach diesem Ansatz hätte es, wäre die Richtlinie in der Form vom 18. April 1989 verabschiedet worden 84, somit keine Möglichkeit gegeben, der gemeinschaftsrechtlichen Verflichtung zur Umsetzung des Richtlinieninhaltes in deutsches Recht nachzukommen, ohne dabei die genannten Grundrechte der Tabakhersteller und -vertreiber zu verletzen. Demzufolge wäre der nationale Gesetz- und Verordnungsgeber durch die Tabakrichtlinie dazu bestimmt worden, innerstaatlich grundrechtswidriges Recht zu setzen. 2. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes über den Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung
Die Kritik gipfelte in dem von einigen betroffenen Zigarettenherstellern beim Bundesverfassungsgericht gestellten Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung ("Tabak"-Beschluß). Der Bundesregierung sollte aufgegeben werden, im Ministerrat der Gemeinschaft gegen den Richtlinienentwurf zur Etikettierung von Tabakprodukten zu stimmen und sich auch gegenüber den anderen Mitgliedstaaten für die Ablehnung dieser Richtlinie einzusetzen. Die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichtes lehnte den Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung mit Beschluß vom 12. Mai 1989 ab, da die beabsichtigte Verfassungsbeschwerde unzulässig wäre. Die Zustimmung der Bundesregierung zu dem gemeinsamen Standpunkt des Rates gemäß Art. 149 Abs. 2 Buchstabe a) EG-Vertrag85 stelle für die Antragsteller "keinen unmittelbar belastenden Hoheitsakt" dar. Die Mitwirkungshandlung des deutschen Vertreters im Rat sei kein Akt öffentlicher Gewalt gegenüber den Antragstellern, sondern trage zum Entstehen einer Richtlinie bei, die erst nach Inkrafttreten und innerstaatlicher Umsetzung eine Beschwer der Antragsteller begründe. Die Etikettierungsrichtlinie verpflichte die Mitgliedstaaten zwar zur nationalen Umsetzung, eröffne dabei aber einen erheblichen Gestaltungsspielraum. Die Frage, ob bei der Umsetzung im Rahmen des von der Richtlinie eingeräumten Gestaltungsspielraumes Grundrechte verletzt werden, betreffe den Antragsteller allerdings unmittelbar, weil der nationale Gesetzgeber "bei der Umsetzung an die Vorgaben des Grundgesetzes gebunden" sei. 86 Offen 84 Offen bleibt bei Scholz, ob die geäußerte Kritik gleichermaßen rur die letztendlich verabschiedete Richtlinie gelten soll; anders Kirchhof/Frick, Atp 1991,677 ff., die auch den deutschen Umsetzungsakt rur verfassungswidrig erachten; ebenso Erberich/Franke, in: Bleckmann-FS, S. 55 ff. 85 Aufgehoben durch Titel 11, Ziff. 45 des Vertrages fiber die Europäische Union v. 7. Februar 1992. Siehe jetzt Art. 189 a und 189 c neu EG-Vertrag. 86 BVerfG, EuGRZ 1989,339 (340).
D. Zusammenfassung des Problemstandes
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bleibt hierbei, ob eine solche Bindung lediglich bei der Ausnutzung des von der Richtlinie eingeräumten Gestaltungsspielraumes bestehen soll oder auch im Hinblick auf den von der Richtlinie zwingend vorgegebenen Regelungsgehalt. Das Bundesverfassungsgericht gibt jedenfalls mit seiner abschließenden Aussage in der Entscheidungsbegründung zu erkennen, daß die Problematik des Verhältnisses zwischen sekundärem Gemeinschaftsrecht und nationalen Grundrechten im Falle mittelbarer Rechtsetzung einer möglichen Neuorientierung beziehungsweise Erweiterung der Rechtsprechung bedarf: "Soweit die Richtlinie den Grundrechtsstandard des Gemeinschaftsrechtes verletzen sollte, gewährt der Europäische Gerichtshof Rechtsschutz. Wenn auf diesem Wege der vom Grundgesetz als unabdingbar gebotene Grundrechtsstandard nicht verwirklicht werden sollte, kann auch das Bundesverfassungsgericht angerufen werden."8? Dieses verfassungsgerichtliche Verfahren belegt, daß der oben aufgeworfenen Fragestellung nicht nur theoretische Bedeutung zukommt. Unabhängig davon, ob die geltend gemachten Grundrechtsverstöße im Ergebnis auch auf die letztlich verabschiedete Richtlinie zutreffen,88 hat sich die Gefahr, daß nationale Rechtsetzungsorgane durch eine EG-Richtlinie gemeinschaftsrechtlich verpflichtet werden, innerstaatlich verfassungswidriges Recht zu setzen, im Falle der Tabakrichtlinie konkretisiert. Das Bundesverfassungsgericht klärt mit seiner Entscheidungsbegründung die Frage nach der Reichweite der Grundgesetzbindung des Umsetzungsgesetzgebers zwar nicht abschließend, macht aber deutlich, daß es zu einem Konflikt zwischen gemeinschaftsrechtlicher und verfassungsrechtlicher Bindung kommen kann, wenn die betreffende Richtlinie zwar gemeinschaftsrechtskonform ist, also dem Grundrechtsstandard des Gemeinschaftsrechtes entspricht, dem nationalen Grundrechtsstandard jedoch nicht genügt.
D. Zusammenfassung des Problemstandes Der dargestellte Konflikt wirft die Frage auf, ob die rür unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht in der "Solange II"-Entscheidung89 entwickelten Grundsätze auch auf die Umsetzung von Richtlinien zu übertragen sind. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Richtlinie - anders als die keiner Umsetzung 8? BVerfG, EuGRZ 1989,339 (340). 88 Vgl. dazu die nachfolgenden Ausführungen unter 3. Teil B. 89 BVerfGE 73, 339 ff.
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Erster Teil: Problemstellung
mehr bedürfende Verordnung - durch den Umsetzungsakt deutscher Staatsgewalt, die grundsätzlich nach Art. 1 Abs. 3 GG an den Grundrechtskatalog der Verfassung gebunden ist, einem grundrechtssichernden "Filter" unterworfen ist. Der nationale Gesetz- und Verordnungsgeber ist hierbei jedenfalls soweit an die Grundrechte gebunden, als ihm die Richtlinie einen Ennessensspielraum zur grundrechtskonfonnen Umsetzung läßt. Kernfrage ist, ob dies auch dann gilt, wenn der von der Richtlinie vorgegebene Regelungsinhalt einen solchen Gestaltungsspielraum nicht einräumt. Einerseits kann der auf Art. 24 Abs. 1 GG begründete und durch Art. 23 Abs. 1 GG n.F. in Verbindung mit dem Zustimmungsgesetz zum E(W)G-Vertrag konkretisierte Vorrang des Gemeinschaftsrechtes nicht dazu fUhren, den Umsetzungsgesetzgeber völlig von der Bindung der Grundrechte nach Art. 1 Abs. 3 GG freizustellen. Eine strikte Grundrechtskonfonnität, wie sie Art. 1 Abs. 3 GG fUr jedes Tätigwerden mit reinem Inlandsbezug verlangt, kann andererseits fUr die nationalen Um setzungsakte ebenfalls nicht gefordert werden, um die gemeinschaftsrechtlichen Bindungen nicht in Frage zu stellen. Dieser Konflikt verlangt eine Hannonisierung der beiden kollidierenden Pflichten im Wege "praktischer Konkordanz". Letztendlich spitzt sich die Problematik damit auf die Frage nach der Tragweite des Art. 1 Abs. 3 GG bei der Umsetzung von EG-Richtlinien in der Bundesrepublik Deutschland zu.
Zweiter Teil
Grundrechtsstandard im Europäischen Gemeinschaftsrecht Die aufgeworfene Fragestellung fordert geradezu zu einem Vergleich des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsstandards mit den GrundrechtsverbÜTgungen des Grundgesetzes heraus. Nur wenn die Grundrechtsgewährleistungen auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene tatsächlich hinter den nationalen Grundrechtsgarantien zurückbleiben, kann es zu dem dargestellten Konflikt zwischen gemeinschaftsrechtlicher und verfassungsrechtlicher Bindung des Umsetzungsgesetzgebers kommen. Sollten die Grundrechtsgarantien im Gemeinschaftsrecht derart ausgefeilt sein, daß eine Richtlinie immer, wenn sie gemeinschaftsrechtlich grundrechtskonform ist, gleichzeitig auch den nationalen Grundrechtsanforderungen genügt, weil der Grundrechtsstandard beider Rechtsordnungen identisch ist, wäre die aufgeworfene Fragestellung obsolet. Doch mehrere Beispiele aus der Vergangenheit deuten auf Gegenteiliges hin: Angefilhrt werden können hier unter anderem der Schutz der Geschäftsräume, das Aussageverweigerungsrecht im Falle der Gefahr einer Selbstbezichtigung, das Eigentumsgrundrecht sowie die Kontroverse um die negative Meinungsäußerungsfreiheit im Bereich der Tabaketikettierung. 1 In jüngster Vergangenheit sind ferner der Datenschutz2 und der abgestimmte Schutz des Asylrechts3 Gegenstand heftiger Diskussionen gewesen. 4 Um das Potential ftir einen möglichen Konflikt im Bereich der Grundrechte bestimmen zu können, ist daher zunächst der Grundrechtsstandard im Recht der Europäischen Gemeinschaft zu beleuchten.
Vgl. hierzu die nachfolgenden Ausftlhrungen unter 2. Teil B. beziehungsweise 3. Teil. Ausftlhrlich hierzu RUpke, ZRP 1995, 185 ff.; Wurst, JuS 1991,448 ff.; Mähring, EuR 1991, 369 ff. 3 Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, S. 233; Herdegen, EuGRZ 1989, 309 (310). 4 Hilf, EuR 1991, 19 (21); ders., in: Der Schutz der Grundrechte in der Europäischen Gemeinschaft, 56 (58). 1
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Zweiter Teil: Grundrechtsstandard im Europäischen Gemeinschaftsrecht
A. Leitlinien der Grundrechtsrechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften Nicht erst seit dem "Solange"-Beschluß des Bundesverfassungsgerichtes S gehört es zum Allgemeingut, daß die europäischen Gemeinschaftsverträge nicht in gleicher Weise wie das Grundgesetz über einen geschriebenen Katalog von Grundrechten verrugen. 6 Grund für die Grundrechtsdefizite in den Gemeinschaftsverträgen ist der Umstand, daß die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft in den Gründungsjahren keine hoheitsähnlichen Kompetenzen zubilligen wollten und daher auch nur sehr eingeschränkt grundrechtsrelevante Maßnahmen der Gemeinschaftsgewalt erwarteten. 7 Darüber hinaus waren die Mitgliedstaaten untereinander hinsichtlich vieler Positionen im Rahmen des Grundrechtsschutzes uneinig und der Abschluß der Verträge sollte nicht durch Meinungsverschiedenheiten in Grundrechtsfragen belastet oder gar gefährdet werden. 8 Aufgrund dieser ursprünglich einmal sehr eingeschränkten Kompetenzzuweisung an die Europäische Gemeinschaft wurde häufig geltend gemacht, bei der Bewertung des Grundrechtsstandards in der Gemeinschaft sei zu berücksichtigen, daß die klassischen Grundrechtsprobleme, welche die politische Gesellschaft eines Staates prägen, im Zuständigkeitsbereich der Gemeinschaft kaum auftreten könnten. 9 Nach und nach hat die Praxis aber gezeigt, daß diese ursprüngliche Einschätzung nicht mehr haltbar ist. Mit zunehmender Hoheitsgewalt haben sich auch die Bereiche der möglichen Rechtseinschränkungen vergrößert. 1O Zwar betrifft der Schwerpunkt grundrechtsrelevanter Eingriffe nach wie vor wirtschaftliche Sachverhalte, dennoch werden zunehmend auch die klassischen Grundrechtsbereiche relevant. 11 Beispielhaft kann hier der Fall BVerfGE 37, 271 ff. Vgl. Ausfilhrungen soeben unter I. Teil B. 7 Vgl. Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 43; Hilf, in: Der Schutz der Grundrechte in der Europäischen Gemeinschaft, 56 (58). 8 Hilf, in: Wie Europa verfaßt sein soll, S. 62 f.; ders., EuR 1991, 19 (21); ders., in: Der Schutz der Grundrechte in der Europäischen Gemeinschaft, 56 (58); EhlermannlBieber, Handbuch des Europäischen Rechts, I A 12 Rdnr. 9; Beutler, Rdnr. 5; Chwolik-Lanfermann, S. 42 f. 9 Bemhardt, Bulletin der EG, Beilage 5176, 19 (46 0; Ipsen, S. 721; v. Meibom, DVBI. 1969, 437; Pescatore, in: Grundrechtsschutz in Europa, 64 (74); Kutscher, in: Grundrechtsschutz in Europa, S. 86 f.; Schwarze, EuGRZ 1986,293; ders., in: Deringer-FS, 160 (165). 10 Bemhardt, Bulletin der EG, Beilage 5176, 19 (25); Hilf, EuR 1991, 19 (20 f.); Europäisches Parlament, Entschließung vom 18.1.1994 zum Beitritt der Europäischen Gemeinschaft zur . EMRK, EuGRZ 1994, 191 (192). 11 Hilf, in: Grundrechtsschutz in Europa, S. 83; Schwarze, EuGRZ 1986, 293 (299); Streinz, Bundesverfassungsgerichtliche Kontrolle, S. 17; Chwolik-Lanfermann, S. 38 f. 5
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A. Die Grundrechtsrechtsprechung des EuGH
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Prais l2 angeführt werden: Eine jüdische Bürgerin, die sich bei der Europäischen Gemeinschaft um eine Stelle als Übersetzerin beworben hatte, bekam einen Vorstellungstermin zugeteilt, der auf einen jüdischen Feiertag fiel. Das Begehren der Bewerberin, den Termin zu verschieben, wies die Gemeinschaft zurück und stellte ihr den Ausschluß von dem weiteren Bewerbungsverfahren für den Fall der Nichteinhaltung des Termins in Aussicht. Dieser Fall dokumentiert - stellvertretend fUr viele andere _13, daß auch höchstpersönliche Grundrechte wie die Glaubens- und Gewissensfreiheit Gegenstand gemeinschaftsrechtlicher Regelungen sind. Dringt die Gemeinschaft aber immer weiter in diese klassischen Grundrechtsbereiche vor, ist ein effektiver Grundrechtsschutz unabdingbar. 14 Die mangelnde Berücksichtigung einzelner Grundrechte in den Gemeinschaftsverträgen - von einzelnen Ausnahmen wie beispielsweise Art. 6 oder Art. 119 EG-Vertrag abgesehen - fUhrte zu der Suche nach Ersatzlösungen. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften hat sich aufgrund seiner Verantwortung fUr die "Wahrung des Rechts"15 dieser Aufgabe angenommen und versucht, einen gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutz zu etablieren. Eine ausfUhrliehe Darstellung der hinreichend bekannten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zum Grundrechtsschutz ist an dieser Stelle nicht erforderlich. 16 Es sollen vielmehr nur die wichtigsten Leitlinien kurz zusammengestellt werden.
I. Die wichtigsten Entscheidungen zur Entwicklung eines Grundrechtsschutzes durch die Rechtsprechung Ursprünglich stand der Gerichtshof dem Schutz der Grundrechte in der Gemeinschaft ablehnend gegenüber. In den Urteilen in den Rechtssachen Stork l ?
EuGH Rs. 130/75, Sig. 1976, 1589 ff. - Prais. Vgl. beispielsweise EuGH Rs. 267/83, Sig. 1985, 567 ff. - Diatta. 14 So auch das Europäische Parlament, Entschließung vom 18.1.1994 zum Beitritt der Europäischen Gemeinschaft zur EMRK, EuGRZ 1994, 191 (192). 15 Vgl. Art. 164 EG-Vertrag. 16 Vgl. dazu etwa die Darstellungen bei Feger, DÖV 1987, 322 ff.; Rengeling, DVBI. 1982, 140 ff.; ders., Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft; Schwarze, EuGRZ 1986, 293 ff.; Lenz, EuGRZ 1993, 585 ff.; EhlermanniBieber, Handbuch des Europäischen Rechts, IA 12 Rdnr. 13 ff. I? EuGH Rs. 1158, Sig. 1958/59,43 ff. - StorkIHohe Behörde. 12
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Zweiter Teil: Grundrechtsstandard im Europäischen Gemeinschaftsrecht
und Ruhrkohlenverkaufsgesellschaften l8 ignorierte er die Grundrechtsfragen, indern er darauf hinwies, es gehöre nicht zu seinen Aufgaben, die Rechtmäßigkeit von Akten der Gemeinschaftsorgane anhand nationaler Grundrechte zu überprüfen. 19 Erst 1969 zeichnete sich infolge der anhaltenden öffentlichen Diskussion vor allem in der Bundesrepublik Deutschland ein Wandel ab. Den Wendepunkt in der Rechtsprechung markierte das berühmte Stauder-Urteil vorn 12. November 196920 . In dieser Entscheidung stellte der Gerichtshof erstmalig fest, daß zu den allgemeinen Grundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung, deren Wahrung er zu sichern habe, auch die Grundrechte der Person gehören. 21 Wenig später im Fall Internationale Handelsgesellschaft22 präzisierte der Gerichtshof diesen Ansatz dann. Hier nahm er erstmals die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als Ausgangspunkt filr die Grundrechtsgewährleistung auf Gemeinschaftsebene. Der Gerichtshof ließ sich bei der Entwicklung dieses Ansatzes von dem Gedanken leiten, daß die Staaten das, was sie innerstaatlich anerkennen, auch im zwischenstaatlichen Bereich akzeptieren würden. Demnach sollten die mitgliedstaatlichen Grundrechte im Gemeinschaftsrecht aber keineswegs unmittelbar gelten, sondern nur als Hinweise dienen, die der Gerichtshof gegebenenfalls aufgreifen werde. 23 Gleichzeitig wies er auch auf die Notwendigkeit hin, daß sich die Grundrechte in Struktur und Ziele der Gemeinschaft einfügen müßten. 24 Im Nold-Urteil 25 - kurz vor der "Solange I"-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes machte der Europäische Gerichtshof sodann noch einmal deutlich, daß er "keine Maßnahmen als rechtens anerkennen (könne), die unvereinbar sind mit den von den Verfassungen dieser Staaten anerkannten und geschützten Grundrechten". Darüber hinaus erweiterte er in dieser Entscheidung, die wenige Tage nach dem Beitritt Frankreichs zur EMRK erging,26 die filr den Grundrechtsschutz maßgeblichen Rechtsquellen auf die EMRK,21 Auf diese Weise wurde 18 EuGH verbundene Rs. 36/59, 37/59, 38/59 und 40/59, Sig. 1960, 885 ff. - Ruhrkohlenverkaufsgesellschaften. 19 EuGH Rs. 1/58, Slg.l958/59, 43 (63 f.) - Stork/Hohe Behörde; verbundene Rs. 36/59, 37/59, 38/59 und 40/59, Sig. 1960, 885 (920 f.) - Ruhrkohlenverkaufsgesellschaften. 20 EuGH Rs. 29/69, Sig. 1969, 419 ff. - Stauder/Stadt Ulm. 21 EuGH Rs. 29/69, Sig. 1969,419 (425) - Stauder/Stadt Ulm. 22 EuGH Rs. 11170, Sig. 1970, 1125 ff. - Internationale Handelsgesellschaft. 23 Vg!. z.B. EuGH Rs. C-260/89, Sig. 1991,1-2925 (2963 f.) - ERT; Feger, DÖV 1987,322 (328); Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, S. 184 f.; Lenz, EuGRZ 1993, 585 (586). 24 EuGH Rs. 11170, Sig. 1970, 1125 (1135) - Internationale Handelsgesellschaft. 25 EuGH Rs. 4173, Sig. 1974,491 (507) - Nold. 26Vg!. Schwane, EuGRZ 1986,293 (294). 27 BGB!. 195211, S. 685 ff.
A. Die Grundrechtsrechtsprechung des EuGH
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der materielle Inhalt der EMRK als Maßstab rur die Rechtsmäßigkeit des Handelns der Gemeinschaftsorgane in das Gemeinschaftsrecht einbezogen. Im Fall Hauer28 aus dem Jahre 1979 bestätigte der Europäische Gerichtshof die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und die internationalen Verträge über den Schutz der Menschenrechte als maßgebliche Rechtsquellen filr die Entwicklung gemeinschaftsrechtlicher Grundrechte. Mit den dargestellten Urteilen waren die Fundamente filr die Grundrechtsrechtsprechung des Gerichtshofes gelegt. Methodisch kamen keine wesentlichen Neuerungen mehr hinzu. In allen weiteren grundrechtsrelevanten Entscheidungen nahm der Gerichtshof nur noch auf diese Formel Bezug.29 Fortentwicklungen der Rechtsprechung betrafen lediglich die Präzisierung einzelner Grundrechtsgarantien. Mit der Aufnahme des Art. F Abs. 2 in den EU-Vertrag ist diese Rechtsprechung des Gerichtshofes schließlich kodifiziert worden: "Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben." Eine über die bisherige Rechtsprechung hinausgehende Konkretisierung des Grundrechtsschutzes ist mit dieser Vorschrift allerdings nicht gewonnen. 30 Insbesondere resultiert aus der Bezugnahme auf die EMRK keine förmliche Bindung an deren GewährleistungenY Diese kann nur (und sollte) durch einen Beitritt erzielt werden. 32
11. Fehlende dogmatische Absicherung der Grundrechtsgewlhrleistungen durch den Gerichtshof Obwohl der vom Gerichtshof auf der Grundlage der eben dargestellten Rechtsprechung entwickelte Grundrechtsschutz höchste Anerkennung verdient, wird die Gewährleistung allein durch die Rechtsprechung als unbefriedigend EuGH Rs. 44/79, Sig. 1979,3727 (3744 f.) - Hauer. Vgl. z.B. EuGH Rs. 136/79, Sig. 1980,2033 (2057) - National Panasonic. 30 So auch Pieper, in: Bleckmann-FS, 197 (209); Chwolik-Lanfermann, ZRP 1995, 126 (127). 31 Ablehnend auch Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, S. 175, 185; Chwolik-Lanfermann, S. 61 ff.; Pieper, in: Bleckmann-FS, 197 (209); Schröder, DVBI. 1994, 316 (323); a.A. offenbarv. SimsoniSchwarze, Europäische Integration und Grundgesetz, S. 28. 32 Hierzu siehe Gutachten 2/94 des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften vom 28. März 1996, EuZW 1996, 307 ff. 28
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Zweiter Teil: Grundrechtsstandard im Europäischen Gemeinschaftsrecht
empfunden. 33 Zunächst liegt es in der Natur der Sache, daß der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften die Grundrechtsentwicklung nur dann vorantreiben kann, wenn ihm eine Grundrechtsstreitigkeit unterbreitet wird. Dies wirkt sich insofern nachteilig auf den Entwicklungsprozeß der gemeinschaftsrechtlichen Grundrechte aus, als er dadurch eine lange Zeit in Anspruch nimmt. So hat es beispielsweise schon zehn Jahre gedauert, bis sich der Gerichtshof zu der Grundrechtsproblematik als solcher überhaupt bekannt hat. 34 Darüber hinaus kann die Rechtsprechung immer nur Einzelfallgerechtigkeit bieten und nicht ein geschlossenes System dogmatischer Herleitung. 35 Dies gilt um so mehr, als die Methode des Gerichtshofes bei der Entwicklung der Grundrechte durch wenig Transparenz und Stringenz gekennzeichnet ist. 36 Daraus resultiert wiederum eine unerträgliche Rechtsunsicherheit für die betroffenen Bürger. 37 Die fehlende Normbereichsfestlegung durch den "europäischen Verfassungsgeber" macht es für den Betroffenen unkalkulierbar, ob der Gerichtshof ein bestimmtes Verhalten überhaupt als grundrechtsrelevant anerkennen wird. Mittlerweile sind zwar schon eine ganze Reihe von Grundrechten Gegenstand von Entscheidungen des Gerichtshofes gewesen, dennoch existiert zu einigen Grundrechten noch keine konkretisierende Rechtsprechung. So hat der Europäische Gerichtshof beispielsweise zur "Freiheit der Person" noch nicht Stellung bezogen. 38 Gleiches gilt für das Grundrecht der Versammlungsfreiheit. Ebenso fehlen Ausführungen zur Kunstfreiheit, obwohl dieses Grundrecht mit zunehmender Ausweitung der europäischen Kulturgemeinschaft enorm an Bedeutung gewinnen dürfte. 39 Schließlich liegt auch zu dem Bereich "Wissenschaft, Forschung und Lehre" keine Rechtsprechung vor. Zukünftig dürften hier insbesondere Fragen der Forschung und Technologie relevant werden. 40 In diesen Bereichen ist zwar nicht zwangsläufig mit einem Grundrechtsdefizit zu rechnen, dennoch 33 Hilf, in: Wie Europa verfaßt sein soll, 62 (63); ders., EuR 1991, 19 (21); Bleckmann, NVwZ 1993, 824 (827); Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 384; Scho1z, in: FriauflScho1z, 53 (75); Feger, DÖV 1987,322 (332); Tomuschat, EuR 1990,340 (356 f.). 34 Vgl. Ausfilhrungen soeben unter 2. Teil A. 1. 35 Vgl. dazu etwa BVerfGE 73, 339 ff.; Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, S. 168; KirchhofIFrick, AlP 1991,677 (682); Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 65; Scho1z, in: FriauflScholz, 53 (75). 36 Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 384; Sasse, in: Grundrechtsschutz in Europa, 51 (57). Oas gesteht auch Frowein, EuR - Beiheft 1 - 1992, 63 (75), zu. 37 So auch Feger, DÖV 1987,322 (332); Rengeling, OVBI. 1982, 140 (144); Oe Gucht, EuGRZ 1989,207 (209); Hilf, EuR 1991,19 (21); Bleckmann, NVwZ 1993,824 (827). 38 Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, S. 73. 39 Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, S. 95; ausftlhrlich hierzu Häberle, in: Grundrechtsschutz im nationalen und internationalen Recht, S. 41 ff. 40 Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, S. 97.
A. Die Grundrechtsrechtsprechung des EuGH
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besteht für die Marktbürger hinsichtlich solcher Sachverhalte die Ungewißheit, ob der Gerichtshof diese Grundrechte überhaupt schützen wird, von der Frage der inhaltlichen Ausgestaltung einmal ganz abgesehen. 41 Aber selbst wenn die gemeinschaftsrechtliche Anerkennung eines Grundrechts geklärt ist, bleibt die Unsicherheit hinsichtlich der inhaltlichen Ausgestaltung der jeweiligen Gewährleistung, insbesondere hinsichtlich der Grenzen von Schutzbereich und Schranken. Als Grundlage zu ihrer Bestimmung dienen dem Gerichtshof die EMRK und die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten. 42 Letztere werden durch wertende Rechtsvergleichung unter BerüCksichtigung der spezifischen Gemeinschaftsinteressen gewonnen. 43 Da den verschiedenen nationalen Rechtsordnungen höchst unterschiedliche Grundrechtsverständnisse zugrundeliegen,44 stellt sich hier die Frage des Schutzniveaus. Soll sich die gemeinschaftsrechtliche Gewährleistung in diesen Fällen auf den kleinsten Nenner beschränken oder soll der Gerichtshof dem Maximierungsgebot folgen, nach dem jeweils auf den im Rahmen der Rechtsvergleichung feststellbaren weitesten Freiheitsraum abzustellen ist?4S Wenn der Europäische Gerichtshof im Nold-Urteil bekräftigt, "keine Maßnahmen als rechtens anzuerkennen, die unvereinbar sind mit den von den Verfassungen dieser Staaten anerkannten und geschützten Grundrechten"46, so deutet das auf eine Orientierung am Maximalstandard hinY In dieser Absolutheit hat sich der Gerichtshof in seiner weiteren Rechtsprechung jedoch nicht an diesen Standard gehalten. 48 Auch die Einschränkungsmöglichkeiten der EMRK hat er nicht
41 Vgl. hierzu auch BVerfGE 73, 339 (383); Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, S. 165. 42 Vgl. Ausfilhrungen soeben unter 2. Teil A. I. 43 EuGH Rs. 155/79, Sig. 1982, 1575 (1610 f.) - AM & S; Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, S. 224; Pemice, NJW 1990, 2409 (2414); Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 400. 44 Siehe Einfilhrung. 4S Ress/Ukrow, EuGRZ 1990, 499 (503); KirchhoflFrick, AfP 1991, 677 (682); Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, S. 168. 46 EuGH Rs. 4/73, Sig. 1974,491 (507) - Nold. 47 So auch BVerfGE 73, 339 (385); ebenso deutet auch Kutscher, in: Der Grundrechtsschutz im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 35 (46), die Aussage des Gerichtshofes; Feger, DÖV 1987,322 (329); Chwolik-Lanfermann, S. 56; Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 401, allerdings auf die Schutzbereichsgewährleistungen beschränkt. Der Gedanke des Maximalstandards ist auch in Art. 27 der EP-Erklärung über die Grundrechte und Grundfreiheiten zu finden (vgl. Fn. 7 im I. Teil). 48 Vgl. beispielsweise die Ausfilhrungen nachfolgend unter 2. Teil B. 1.; siehe auch Pemice, NJW 1990,2409 (2414); Friauf, in: FriauflScholz, 11 (14); Henrichs, EuGRZ 1989,237 (243). 4 Rickert
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Zweiter Teil: Grundrechtsstandard im Europäischen Gemeinschaftsrecht
immer als unbedingten Mindeststandard akzeptiert,49 obwohl sich die Konvention selbst, wie sich Art. 17 entnehmen läßt, als nicht unterschreitbare minimalste Gewährleistung begreift. 50 Daher ist es sehr fraglich, ob das in der Gemeinschaft im Wege der richterrechtlichen Ausgestaltung erreichte Schutzniveau dem der nationalen Rechtsordnung, namentlich dem des Grundgesetzes, entspricht. 5 I Eine Analyse der Urteile des Gerichtshofes verdeutlicht ferner, daß auf eine präzise Unterscheidung zwischen dem Schutzbereich und der Frage der zulässigen Einschränkung des jeweiligen Normbereiches weitestgehend verzichtet wird. Der Gerichtshof beschränkt seine AusfUhrungen häufig darauf, festzustellen, das jeweilige Grundrecht sei "nicht verletzt". 52 Sollte aber ausnahmsweise eine Differenzierung zwischen Schutzbereich und Schranken vorgenommen werden, erschöpfen sich die AusfUhrungen zum Normbereich in der Regel darin, die in Frage kommenden Grundrechte ohne nähere Normbereichskonkretisierung zugrundezulegenY Nur in den Fällen, in denen eine nähere Erläuterung zur Schutzbereichsbegrenzung unvermeidbar gewesen ist, finden sich über bloße Feststellungen hinausgehende AusfUhrungen, so beispielsweise bei dem Recht auf Vertraulichkeit zwischen Anwalt und Mandant. 54 Auch die Bestimmung der Grundrechtsschranken unterliegt - gemessen am nationalen Standard - erheblichen Bedenken. Während das Grundgesetz Grundrechtsbeschränkungen durch verfassungsimmanente Schranken nur gestattet, wenn eine Abwägung ergibt, daß andere Verfassungs güter im Einzelfall höherrangig sind als das jeweils betroffene Grundrecht, läßt der Gerichtshof Grundrechtseinschränkungen mit dem Hinweis auf die "soziale oder gesellschaftliche Funkti-
49 Schwarze, EuGRZ 1986,293 (299); Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, S. 166,212; vgl. auch Bleckmann, NVwZ 1993,824 (827), der die Anwendung der EMRK durch den Gerichtshof auch nicht immer rur konsequent erachtet. 50 Darauf weist auch Bleckmann, Die Bindung der Europäischen Gemeinschaft an die Europäische Menschenrechtskonvention, S. 159, hin. 51 So auch Bleckmann, Die Bindung der Europäischen Gemeinschaft an die Europäische Menschenrechtskonvention, S. 159; Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, S.168. 52 Vgl. z.B. EuGH verbundene Rs. 63 und 147/84, Sig. 1985,2857 (2882 Rdnr. 23) - Finsider; vgl. auch Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 67; Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, S. 213. 53 Vgl. EuGH Rs. 29/69, Sig. 1969,419 (425) - Stauder; Rs. 130/75, Sig. 1976, 1589 (1598 f.) - Prais; Rs. 149/77, Sig. 1978, 1365 (1379) - Defrenne. Das kritisiert auch Bleckmann, NVwZ 1993, 824 (827). 54 EuGHRs. 155/79,Slg.1982, 1575(1610ff.)-AM&S.
A. Die Grundrechtsrechtsprechung des EuGH
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on", das "öffentliche Interesse" oder das "Allgemeininteresse" durchgehen. 55 Das gilt auch dann, wenn dieses "Interesse" keine Verankerung in den Gemeinschaftsverträgen erflihrt. Anders als im deutschen Recht, wo fiskalische Erwägungen kein Grundrechtseingriffe rechtfertigendes Allgemeinwohlinteresse begründen können, hat der Europäische Gerichtshof auch das Haushaltsinteresse der Gemeinschaft schon zu der Rechtfertigung von grundrechtsrelevanten Maßnahmen herangezogen. 56 Integrationsinteressen werden folglich über den wirksamen Schutz des einzelnen gestellt. Ein solch formelhaftes Vorgehen trägt ebenfalls nicht zu der Entwicklung einer sicheren, für den Bürger transparenten Grundrechtsdogmatik bei. Zusammenfassend kann an dieser Stelle folglich festgehalten werden, daß die gemeinschaftsrechtliche Grundrechtsdogmatik noch nicht hinreichend entwikkelt ist, 57 um dem Bürger die gemeinschaftsrechtlichen Grundrechte sichtbar und den Schutz damit berechenbar zu machen. Da ein Staat nur dann rechtsstaatlichen Anforderungen genügt, wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, und die Europäische Gemeinschaft zunehmend in gleicher Weise regelnd auf den Bürger einwirkt wie die Hoheitsgewalt eines Staates, ist diese Lücke in der Grundrechtsdogmatik dringend zu schließen. 58 Nach dem gegenwärtigen Stand der Rechtsprechung zum Grundrechtsschutz kann jedenfalls nicht ausgeschlossen werden, daß das innerstaatliche Schutzniveau im Einzelfall unterschritten wird.
55 Ygl. beispielsweise EuGH Rs. 44179, Sig. 1979,3727 (3746) - Hauer; verbundene Rs. 41, 121 und 796179, Slg. 1980, 1979 ff. - Testa; EuGH Rs. C-306/93, EuZW 1995, 109 ff., insbesondere Leitsatz 2 - SMW Winzersekt; kritisch zur grundrechtsbeschränkenden Handhabung des Allgemeininteresses auch Schilling, EuZW 1991, 310 (311 f.); Nettesheim, EuZW 1995, 106 (107); Epiney, SZIER 1995, 135 (170); vgl. auch Bleckmann, NYwZ 1993,824 (827). 56Ygl. EuGH verbundene Rs. C-143/88 und C-92/89, Sig. 1991 1-415 (545 ff., insbesondere 549) - Zuckerfabriken. 57 Gersdorf, AöR 119 (1994), 400 ff., weist darauf hin, daß jenseits des status negativus, also der Abwehrfunktion der Grundrechte, Ausftlhrungen des Europäischen Gerichtshofes noch gänzlich fehlen; andeutungsweise auch Nettesheim, EuZW 1995, 106 (108). 58 Zu der Forderung nach Schaffung eines Grundrechtskataloges vgl. Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, S. 168 ff., 210; De Gucht, EuGRZ 1989,207 ff.; Hilf, EuR 1991, 19 ff.; ders., in: Der Schutz der Grundrechte in der Europäischen Gemeinschaft, S. 56 ff.; Langguth, EuZW 1991,393 (394); Bah1mann, in: Carstens-FS, 17 (32 ff.). Selbstredend wUrde auch ein Grundrechtskatalog nicht völlige Abhilfe schaffen, da auch bei Yorliegen eines Kataloges konkretisierende Rechtsprechung unentbehrlich ist. 4'
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Zweiter Teil: Grundrechtsstandard im Europäischen Gemeinschaftsrecht
B. Vergleich einzelner Grundrechtsgewährleistungen Dieses Ergebnis wird bestätigt, wenn man die Ausprägungen einzelner Grundrechtsgewährleistungen miteinander vergleicht. Da es den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, umfassend auf die einzelnen Grundrechtsgewährleistungen des Gemeinschaftsrechtes einzugehen,59 sollen einige Grundrechte exemplarisch herausgegriffen werden, um zu dokumentieren, daß eine Diskrepanz zwischen der Reichweite des gemeinschaftsrechtlichen und des nationalen Grundrechtsschutzniveaus im Einzelfall nach wie vor besteht.
I. Unverletzlichkeit der Wohnung Insbesondere die EWG-Kartellverordnung, Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. Februar 1962, Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrages,60 bietet hierzu Anschauungsmaterial. Diese Verordnung sollte es der Kommission ermöglichen, die Beachtung der Wettbewerbsregeln im Gemeinsamen Markt zu überwachen und damit Verstöße gegen Art. 85 und 86 EWG- beziehungsweise nunmehr EG-Vertrag vermeiden helfen. Art. 14 Abs. 1 und Abs. 3 EWG-Kartellverordnung61 ermächtigen die Kommission zur Vornahme von sämtlichen erforderlichen Nachprüfungen in Geschäftsräumen von Unternehmen und Unternehmensvereinigungen durch sofort vollziehbare Entscheidung. Demnach sind die beauftragten Kommissionsbediensteten befugt, unangemeldet die Bücher und sonstige Geschäftsunterlagen zu prüfen, Abschriften und Auszüge aus Büchern und Geschäftsunterlagen zu fertigen, an Ort und Stelle mündliche Erklärungen anzufordern und alle Räumlichkeiten, Grundstücke und Transportmittel der betroffenen Unternehmen zu betreten. Gemäß Art. 14 Abs. 2 und Abs. 3 der Verordnung sind diese Nachprüfungen unter Vorlage eines schriftlichen Prüfungsantrages oder aufgrund einer Duldungsentscheidung der Kommission vorzunehmen. Eine richterliche Anordnung setzt Art. 14 der Verordnung nicht voraus. Nach Abs. 2 S. 2 ist lediglich die zuständige nationale Behörde zu unterrichten und gemäß Abs. 4 auch anzuhören. Nach Art. 14 Abs. 5 können schließlich die Bediensteten der jeweils innerstaatlich zuständigen Behörde zur Unterstützung herangezogen werden; gemäß Abs. 6 ist diese Unterstützung sogar notwendig, wenn sich ein Unter59 Vgl. hierzu beispielsweise die Abhandlung von Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft. 60 AblEG Nr. 13 v. 21.2.1962, S. 204 ff. 61 Vgl. Anhang 3.
B. Vergleich einzelner Grundrechtsgewährleistungen
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nehmen einer angeordneten Nachprüfung widersetzt. Diese Kontrollen sollen der Gemeinschaft ermöglichen, wettbewerbswidrige Praktiken zu verhindern und Beweismittel zur Ahndung von Verstößen zu beschaffen. Die genannten Nachprüfungsbefugnisse sind aber tatbestandlich nicht eindeutig gefaßt. Es fehlt vor allem an einer klaren tatbestandlichen Abgrenzung zum Rechtsbegriff der Durchsuchung, wie ihn das Grundgesetz in Art. 13 Abs. 2 verwendet. Die Kommission selbst legt die in der Verordnung verwendete Formulierung "Nachprüfung" so aus, daß es sich hierbei um einen Oberbegriff handelt, welcher auch Durchsuchungen im Sinne des Grundgesetzes mitumfaßt. 62 Sie sieht sich demnach befugt, Durchsuchungen von Geschäftsräumen durchzuführen, ohne daß es einer richterlichen Anordnung bedarf. Das innerstaatlich in Art. 13 GG verankerte Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung umfaßt neben dem Schutz der Wohnung im engeren Sinne auch Arbeits-, Betriebs- und Geschäftsräume, sofern die genannten Räumlichkeiten nicht für die Öffentlichkeit zugänglich sind. 63 Begründet wird die Einbeziehung von Geschäftsräumen in die Schutzbereichsgewährleistung im nationalen Recht mit dem Schutzzweck des Grundrechtes. Dieser besteht in der Achtung der Privatsphäre des Bürgers und steht damit in engem Zusammenhang mit der freien Entfaltung der Persönlichkeit. 64 Die berufliche Tätigkeit des einzelnen stellt einen Teil der Persönlichkeitsentfaltung dar, ihr kommt deshalb innerhalb der individuellen Lebensgestaltung des einzelnen ein besonders hoher Stellenwert zu. Daher ist es nur konsequent, den räumlichen Bereich, in welchem sich die Arbeit vorwiegend vollzieht, ebenfalls dem Schutz des Art. 13 GG zu unterstellen. Hierbei darf jedoch nicht außer acht gelassen werden, daß das Schutzbedürfnis dieser Räume unterschiedlich groß ist. Anders als die nicht allgemein zugänglichen Räume dienen dem Zutritt für jedermann offenstehende Geschäfts-, insbesondere Laden- und Verkaufsräume, nicht dazu, in ihnen Vorgehendes nach außen abzuschirmen; sie sind vielmehr gerade zur Aufnahme sozialer Kontakte bestimmt. 65 Der Inhaber entläßt sie gleichsam aus seiner 62 EuGH verbundene Rs. 46/87 und 227/88, Sig. 1989,2859 (2869) - Hoechst; Claudi, S. 69; Pemice, NJW 1990,2409 (2410); Kulka, DB 1989,2115 (2116), Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 450; Pemice, in: GrabitziHilf, nach Art. 87, Art. 14 Verordnung Nr. 17 Rdnr. 22; Winterfeld, RlW 1981, 801 (804); Kreis, RlW 1981,281 (291); Amold, EuRBeiheft I - 1995, 7 (17). 63 BVerfGE 32, 54 (68 f1, insbesondere 75 f.); 42, 212 (219 ff.); 44, 353 (371); 76, 83 (88); PierothiSchlink, Rdnr. 941. 64 BVerfGE 32, 54 (71 ff.). 65 BVerfGE 32, 54 (75 f.); Maunz, in: MaunziDUrig, Art. 13 Rdnm. 3 c, 4; Kamburoglou/Pirrwitz, RlW 1990,263 (270); Kunig, in: v. MUnchiKunig, Art. 13 Rdnm. 11, 37 ff., der auch diese Räumlichkeiten dem Schutz des Art. 13 Abs. I GG unterstellt und erst im Rahmen der
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Zweiter Teil: Grundrechtsstandard im Europäischen Gemeinschaftsrecht
Privatsphäre. Daher genießen sie für die Zeit ihrer öffentlichen Zugänglichkeit auch nicht den Schutz des Art. 13 GG. Soweit Geschäftsräume aber dem Schutzbereich des Grundrechtes unterfallen, sind Durchsuchungen gern. Art. 13 Abs. 2 GG nur zulässig, wenn sie auf einer richterlichen Anordnung beruhen. Etwas anderes gilt nur dann, wenn Gefahr im Verzug vorliegt. Es ist daher fraglich, ob der Vollzug der EWG-Kartellverordnung mit diesen innerstaatlichen Grundrechtsanforderungen vereinbar ist. 1. Entscheidungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften zur Unverletzlichkeit der Wohnung
Entsprechende Zweifel hatten das Europäische Parlament seinerzeit veranlaßt, die Aufnahme eines Richtervorbehaltes in die Kartellverordnung anzuregen. 66 Das Europäische Parlament setzte sich mit diesem Bestreben jedoch nicht durch. Dies hatte wiederum zur Folge, daß die Verordnung zum Gegenstand mehrerer wettbewerbsrechtlicher Klagen wurde,67 in denen ihre Instrumente auf dem Prüfstand standen.68 a) Entscheidung im Fall "National Panasonic" Im Fall "National Panasonic" hatte ein Unternehmen Klage gegen die Kommission mit dem Antrag erhoben, eine auf Art. 14 der Kartellverordnung Nr. 17 gestützte Nachprüfungsentscheidung der Kommission aufzuheben und der Kommission die Verwendung der im Rahmen dieser Nachprüfung erlangten Informationen zu untersagen. Der Gerichthof wies diese erste Klage mit der Begründung ab, daß die Nachprüfungen der Kommissionsbeamten in den Räumen der Klägerin keinen Verstoß gegen Art. 8 EMRK69 darstellten. 70 Nach dessen Abs. 1 hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Hierbei ließ der Europäische Gerichtshof offen, ob Geschäftsräume überhaupt dem Schutzbereich des Eingriffsprufung zwischen allgemein zugänglichen und nicht öffentlich zugänglichen Räumlichkeiten differenziert. 66 EP-Sitzungsprotokoll1961/62 Nr. 57, S. 29 f. (Nr. 121). 67 EuGH Rs. 136179, Sig. 1980, 2033 ff. - National Panasonic; verbundene Rs. 46/87 und 227/88, Sig. 1989,2859 ff. - Hoechst; EuGH verbundene Rs. C-97, 98 und 99/87, EuZW 1991, 248 ff. - Dow Chemical Iberica. 68 Lenz, EuGRZ 1993,585 (588). 69 Vgl. Anhang 5. 70 EuGH Rs. 136179, Sig. 1980,2033 (2056 fT.) - National Panasonic.
B. Vergleich einzelner Grundrechtsgewährleistungen
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Wohnungsrechtes unterfallen, in jedem Falle sei der Eingriff von den Schranken dieser Gewährleistung gedeckt, da die Ausübung der der Kommission in Art. 14 der Verordnung übertragenen Befugnisse der Aufrechterhaltung der vom Vertrage vorgesehenen Wettbewerbsordnung diene. Art. 8 Abs. 2 EMRK, der die Voraussetzungen rur einen Eingriff in diese Gewährleistung normiert, sehe einen Richtervorbehalt nicht vor. 71 Eine Auseinandersetzung mit der Grundrechtsproblematik über den Standard der EMRK hinaus erfolgte in dieser Entscheidung nicht. b) Entscheidung im Fall "Hoechst"
In einem späteren Urteil zu diesem Themenkreis, in der HoechstEntscheidung vom 21. September 198972, ging der Gerichtshof dann aber ausdrücklich auf die Frage ein, inwieweit das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung gemeinschaftsrechtlich garantiert wird. In diesem Verfahren beriefen sich die Kläger nämlich ebenfalls auf das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung, um das Betreten von Geschäftsräumen zu verhindern. In dieser Entscheidung stellte der Gerichtshof fest, daß das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung als ein dem Recht der Mitgliedstaaten gemeinsamer Grundsatz zwar rur Privatwohnungen natürlicher Personen anzuerkennen sei, nicht aber rur Unternehmen, weil die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in bezug auf Art und Umfang des Schutzes von Geschäftsräumen gegen behördliche Eingriffe nicht unerhebliche Unterschiede aufwiesen. Etwas anderes lasse sich auch nicht aus Art. 8 EMRK ableiten, der lediglich die freie Entfaltung der Persönlichkeit umfasse, nicht aber den Schutz von Geschäftsräumen. 73 Mit dieser Entscheidung hat der Europäische Gerichtshof die Geschäftsräume von Unternehmen aus dem Schutzbereich des Grundrechtes ausgeschlossen. Hinsichtlich der Eingriffsbefugnisse spricht der Gerichtshof davon, daß die jeweiligen "Nachprüfungen sehr weit gehen können". In der weiteren Urteilsbegründung stellt der Gerichtshof dann ein breites Feld von Eingriffsbefugnissen dar, ohne jedoch eine klar umgrenzte Definition der Eingriffsbefugnisse zu liefern. 74
EuGH Rs. 136/79, Slg. 1980,2033 (2057 Rdnr. 19 f.) - National Panasonic. EuGH verbundene Rs. 46/87 und 227/88, Sig. 1989,2859 ff. - Hoechst. 73 EuGH verbundene Rs. 46/87 und 227/88, Sig. 1989,2859 (2924 Rdnm. 17-19) - Hoechst. 74 Das kritisiert zu Recht auch Scholz, WUW 1990, 99 (100). 71
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Zweiter Teil: Grundrechtsstandard im Europäischen Gemeinschaftsrecht
c) Entscheidung im Fall "Dow Chemical lberica"
Mit der Entscheidung vom 17. Oktober 198975 bestätigte der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften diesen Standpunkt noch einmal: "Zu den Erfordernissen, die sich aus dem von den Klägerinnen geltend gemachten Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung und der Achtung des Privatlebens ergeben, ist festzustellen, daß ein solches Recht in der Gemeinschaftsrechtsordnung als ein dem Recht der Mitgliedstaaten gemeinsamer Grundsatz zwar rur die Privatwohnung natürlicher Personen anzuerkennen ist, nicht aber rur Unternehmen, da die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in bezug auf Art und Umfang des Schutzes von Geschäftsräumen gegen behördliche Eingriffe nicht unerhebliche Unterschiede aufweisen ... ". 2. Reichweite des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechts der Unverletzlichkeit der Wohnung
Soweit die Ausruhrungen des Gerichtshofes den Schutz von Privatwohnungen betreffen, verdienen sie uneingeschränkte Zustimmung. In allen Verfassungen der Mitgliedstaaten fmden sich Gewährleistungen der Unverletzlichkeit der Wohnung. 76 Daher ist es nur konsequent, wenn auch auf Gemeinschaftsebene der Schutz der Privatwohnung als Kembereich der privaten Intimssphäre garantiert wird. Anders verhält es sich mit dem Schutz von Geschäftsräumen. Der Gerichtshof hat Geschäftsräume nicht in die Schutzbereichsgewährleistung miteinbezogen. Er stützt seine ablehnende Argumentation einerseits auf die Rechtsfindungsquelle EMRK und andererseits auf die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten. Beide Ansätze vermögen nicht zu überzeugen. a)EMRK
Die Ablehnung des Schutzes von Geschäftsräumen durch Art. 8 Abs. 1 EMRK wird zum einen damit begründet, der Schutzbereich dieser Norm umfasse nur die freie Entfaltung der Persönlichkeit und lasse sich daher nicht auf Geschäftsräume ausdehnen. Zum anderen beruft sich der Gerichtshof auf das EuGH verbundene Rs. C-97, 98 und 99/87, EuZW 1991, 248 (249) - Dow Chemical Iberica. Vgl. Ress/Ukrow, EuZW 1990,499 (502); Claudi, S. 422; Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, S. 114 f.; ausfllhrlich Dallmann, S. 72 ff. 75
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B. Vergleich einzelner Grundrechtsgewährleistungen
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Fehlen einer diesbezüglichen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes rur Menschenrechte. 77 Schutzzweck des Art. 8 EMRK ist es zwar, die freie Entfaltung der Persönlichkeit zu gewährleisten, die Beschränkung des Schutzbereiches auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit schließt aber die Einbeziehung von Geschäftsräumen in die Schutzbereichsgewährleistung nicht von vornherein aus. Die freie Entfaltung der Persönlichkeit vollzieht sich außer im privaten Wohnungsbereich gleichermaßen im Bereich der beruflichen Betätigung. Daher müssen konsequenterweise auch Geschäftsräume als Bestandteil der beruflichen Persönlichkeitsentfaltung von Art. 8 EMRK mitumfaßt werden. 78 Diese Ansicht wird dadurch bekräftigt, daß häufig eine klare Trennung zwischen beruflichen und privaten Tätigkeiten nicht möglich ist. 79 Berufs- oder geschäftsbezogene Tätigkeiten können außerdem durchaus auch in der Privatwohnung einer Person betrieben werden, während andererseits in Büro- und Geschäftsräumen auch andere Tätigkeiten vorgenommen werden können. Darüber hinaus spricht auch die systematische Auslegung rur die Einbeziehung von Geschäftsräumen in die Schutzbereichsgewährleistung. Durch verschiedene Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ist nämlich bereits geklärt worden, daß der durch Art. 8 EMRK geschützte "Briefverkehr" private und geschäftliche Korrespondenz gleichermaßen umfaßt. 80 Wenn aber das eine Schutzobjekt des Art. 8 EMRK weit ausgelegt und nicht auf die engere persönliche Sphäre beschränkt wird, so ist kein Grund ersichtlich, warum bei dem Schutzobjekt "Wohnung" plötzlich eine Unterscheidung zwischen rein privater und geschäftlicher Nutzung vorgenommen werden sollte. Schließlich sprechen filr ein weites Verständnis des Schutzbereiches des Art. 8 EMRK auch die damit korrespondierend weit gefaßten Eingriffsbefugnisse des Abs. 2.· Eine entsprechende Argumentation wird im innerstaatlichen Recht herangezogen, um zu begründen, daß Art. 2 Abs. I GG weit gefaßt werden und die Handlungsfreiheit im umfassenden Sinne schützen müsse. BI Da die Struktur der Gewährleistungen in der EMRK mit der der nationalen Grundrechte vergleichbar ist, in beiden Fällen wird auf Schutzbereichs- und Schrankenbestimmungen zurückgegriffen, kann dieser Gedanke auch auf Art. 8 EMRK übertragen werEuGH verbundene Rs. 46/87 und 227/88, Sig. 1989,2859 (2924) - Hoechst. So auch Scholz, WuW 1990,99 (107); Ress/Ukrow, EuZW 1990,499 (504); Breitenmoser, S. 258 ff.; Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, S. 122; Moser, S. 200; Köhler, S. 41. 79 EuGHMR, EuGRZ 1993,65 (66) - Niemitz. 80 EuGHMR, EuGRZ 1993,65 (67) - Niemitz; EuGHMR AlI52 (1989), 21 (26 f.) - Chappell. 8\ Vgl. Pieroth/Schlink, Rdnr. 420; Kunig, in: v. MUnch/Kunig, Art. 2 Rdnr. 22. 77 78
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Zweiter Teil: Grundrechtsstandard im Europäischen Gemeinschaftsrecht
den. Nachdem die Einbeziehung von Geschäftsräumen in den Schutzbereich des Art. 8 EMRK bereits in der Literatur eine breite Zustimmung fand,82 hat auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte diese Auffassung in seiner Entscheidung vom 16. Dezember 1992 ausdrücklich bestätigt. 83 Als Zwischenergebnis ist somit festzuhalten, daß die vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften vorgenommene Auslegung des Art. 8 EMRK nicht stichhaltig ist. Auch der Hinweis des Gerichtshofes, zu der Frage der Erstreckung des Art. 8 EMRK auf Geschäftsräume liege noch keine Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vor, ist von vornherein unerheblich. Zwar ist es richtig, daß sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zu dem Zeitpunkt mit dieser Fragestellung noch nicht auseinandergesetzt hatte. Dieser Umstand könnte aber die Ablehnung der Einbeziehung von Geschäftsräumen in den gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutz nur dann rechtfertigen, wenn die Rechtsprechung des Gerichtshofes für Menschenrechte diesbezüglich eine Bindungswirkung gegenüber der Europäischen Union statuieren würde. Der Rechtsprechung des Gerichtshofes für Menschenrechte kommt aber eine derartige präjudizielle Bedeutung nicht zu, weil die Europäische Union der EMRK (noch 84) nicht beigetreten ist. 85 Im übrigen hat sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in der oben erwähnten Entscheidung für eine Einbeziehung von Geschäftsräumen in den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK ausgesprochen. 86 Darüber hinaus ist der Argumentation des Gerichtshofes entgegenzuhalten, daß sich andere Fälle anfiihren lassen, in denen zwar schon Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ergangen waren, sich der Gerichtshof aber nicht durch diese Entscheidungen
82 Moser, S. 200; Köhler, S. 41; Breitenmoser, S. 258 ff.; Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, S. 122; Ress/Ukrow, EuZW 1990, 499 (503 f.); a.A. Frowein, in: FroweinlPeukert, Art. 8 Rdnr. 27, allerdings ohne jegliche Begründung. Lt. Dal1mann, S. 109 Fn. 532, hat Frowein seine Auffassung in einem unveröffentlichten Gutachten im Aufuage der Hoechst-AG, S. 15 f., auch geändert. 83 EuGHMR, EuGRZ 1993,65 (66 f.) - Niemitz. 84 Die Kommission hat den Rat am 30.10.1990 gebeten, ihr die Genehmigung zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zu erteilen, Bulletin der EG 10-1990, S. 69, Ziff. 1.3.218. Siehe auch Gutachten 2/94 des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften vom 28. März 1996, EuZW 1996, 307 ff. 85 Vgl. Streinz, EuropaR, Rdnr. 220; ResslUkrow, EuZW 1990,499 (504); Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, S. 175, 185; Bemhardt, Bulletin der EG, Beilage 5176, 19 (51). 86 EuGHMR, EuGRZ 1993,65 (66 f.) - Niemitz.
B. Vergleich einzelner Grundrechtsgewährleistungen
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gebunden ruhlte und von der Vorgabe des Gerichtshofes rur Menschenrechte abgewichen ist. 87 Wenn sich aber in der Literatur die Stimmen derer mehren, welche die Einbindung der Garantien der EMRK in die Grundrechtsrechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften als tragendes Argument rur einen ausreichenden Grundrechtsstandard im Gemeinschaftsrecht betrachten,88 läßt das dargestellte Beispiel zweifeln, ob der Grundrechtsschutz auf Gemeinschaftsebene nicht zugunsten von Integrationsinteressen vernachlässigt wird. b) Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten
Ebenso kritisch ist zu bewerten, daß der Gerichtshof die Verfassungslage in den Mitgliedstaaten in seiner Entscheidung nicht hinreichend gewürdigt hat. Zwar weisen die Rechtsordnungen der einzelnen Mitgliedstaaten hinsichtlich Art und Umfang tatsächlich Unterschiede beim Schutz von Geschäftsräumen auf, was schon ein Vergleich des Grundgesetzes mit der niederländischen Verfassung belegt. Während der grundgesetzliche Wohnungsbegriffweit ausgelegt wird, umfaßt der Begriff der Wohnung in der niederländischen Verfassung nur die Wohnung im engeren Sinne, schließt also Geschäftsräume nicht mit ein. 89 Doch wird in zahlreichen anderen Mitgliedstaaten das Wohnungsrecht auch auf den Schutz der Geschäftsräume ausgedehnt. 9O Außer der Bundesrepublik beziehen Dänemark, Spanien, Frankreich, Griechenland, Großbritannien und Italien Geschäftsräume in die Schutzbereichsgewährleistung mit ein. 91 Rechtlichen Bedenken begegnet es somit, wenn der Europäische Gerichtshof allein mit dieser Begründung die Einbeziehung von Geschäftsräumen in den Sch4tzbereich der Unverletzlichkeit der Wohnung auf Gemeinschaftsrechtsebene ablehnt. Diese Vorgehensweise läuft dann auf Gewährleistung eines Minima/standards statt auf eine Optimierung des Grundrechtsschutzes auf Gemeinschaftsebene hinaus. 92 Eine Minimallösung, die auf den kleinsten gemeinsamen 87 EuGH verbundene Rs. 60 und 61/84, Sig. 1985, 2605 fI. - Cinetheque; vgl. auch die diesbezügliche Kritik von Schwarze, EuGRZ 1986,293 (298 f.); Ress/Ukrow, EuZW 1990,499 (501); andeutungsweise auch Bleckmann, NVwZ 1993, 824 (827). Siehe auch die diesbezüglichen BefUrchtungen des Europäischen Parlamentes, EuGRZ 1994, 191 (192). 88 Frowein, EuR - Beiheft 1 - 1992, 63 (75); Schwarze, in: Deringer-FS, 160 (173). 89 Oallmann, S. 87. 90 Kulka, OB 1989,2115 (2116); Scholz, WUW 1990,99 (107). 91 Kulka, OB 1989,2115 (2116); Oallmann, S. 72 fI. 92 Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, S. 121; Ress/Ukrow, EuZW 1990,499 (502).
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Zweiter Teil: Grundrechtsstandard im Europäischen Gemeinschaftsrecht
Nenner abstellt, fUhrt aber zwangsläufig zu einer Verringerung des Grundrechtsschutzes gemessen am Maßstab des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz. 93 Somit läßt sich abschließend feststellen, daß der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften den Schutz von Geschäftsräumen grundrechtlich nicht gleichermaßen garantiert wie den Schutz von Wohnungen im engeren Sinne. Die Reichweite des Schutzes der Unverletzlichkeit der Wohnung auf Gemeinschaftsebene bleibt daher hinter dem nationalen Grundrechtsschutz zurück. 94 Der Schutz von Geschäftsräumen ist folglich ein Beispiel fUr das Auseinanderklaffen von nationalem und gemeinschaftsrechtlichem Grundrechtsstandard. 11. Auskunftsverweigerungsrecht bei Gefahr der Selbstbezichtigung
Art. 14 ist nicht die einzige Bestimmung der Kartellverordnung Nr. 17, die Anlaß zu Zweifeln hinsichtlich der Grundrechtskonformität gibt. Auch Art. 11 Abs. 4 der Verordnung95 , der eine Auskunftsverptlichtung von Unternehmern oder Vorstandsmitgliedern begründet, ohne den betroffenen Personen ein Auskunftsverweigerungsrecht fUr bestimmte Konstellationen einzuräumen, muß in diesem Zusammenhang genannt werden. Das Europäische Parlament hatte bei den Beratungen der EWG-Kartellverordnung verlangt, ein Auskunftsverweigerungsrecht der vertretungsbefugten Organe fUr den Fall einzufUgen, daß das betroffene Unternehmen oder sie selbst durch die jeweilige Auskunft der Gefahr der Strafverfolgung ausgesetzt würden. 96 Der Rat lehnte diese Forderung mit der wenig überzeugenden Begründung ab, es bedürfe aufgrund der verschiedenen nationalen Rechtsordnungen zunächst einer eingehenden Untersuchung. 97 Diese Untersuchung steht bis heute noch aus. 93 Däubler, in: Der Schutz der Grundrechte in der Europäischen Gemeinschaft, 27 (28 f.); Seibert, EuGRZ 1975,316; Feger, DÖV 1987,322 (329). 94 ResslUkrow, EuZW 1990,499 (505); Pemice, NJW 1990,2409 (2414); Scholz, WuW 1990, 99 (l05); vgl. auch Everling, in: Grundrechtsschutz in Europa, S. 188; auch Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, S. 121, deutet an, daß dieses Urteil geeignet sei, eine "gewisse Skepsis gegenüber dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor staatlichem Recht zu bekräftigen". Vgl. auch Randelzhofer, in: MaunzlDUrig, Art. 24 Abs. 1 Rdnr. 149, der zwar von dem Vorliegen einer "Gefllhrdungslage" spricht, eine Verletzung des Wesensgehaltes des Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung aber verneint. 95 Vgl. Anhang 3. 96 EP-Sitzungsdokument 1961/62 Nr. 57, S. 29 f. (Nr. 121). 97 Vgl. Schumacher, WuW 1962,475; Hermanns, S. 137; Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 453; Sedemund, in: Europäisches VerwaltungsR, 45 (48); Dörinkel, AWD 1966,422 (423).
B. Vergleich einzelner Grundrechtsgewährleistungen
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Bei der Verabschiedung der EWG-Kartellverordnung gab die Bundesregierung zu Protokoll, daß nach deutscher Rechtsauffassung ein Aussageverweigerungsrecht als allgemeiner Rechtsgrundsatz selbstverständlich sei,98 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes ist das Aussageverweigerungsrecht elementarer Ausfluß der rechtsstaatlichen Achtung der Menschenwürde. 99 Ein Beschuldigter darf nicht verpflichtet werden, als Werkzeug zu der Überführung seiner selbst benutzt zu werden. loo Der Zwang zur Selbstbezichtigung verletzt mithin die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde. Dieser Grundsatz ist als notwendiger Bestandteil eines fairen Verfahrens 101 nicht lediglich auf das Strafverfahren, sondern auf sämtliche Verfahren anzuwenden. 102 Das Bundesverfassungsgericht verweist in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf das in § 46 Abs. 5 GWBI03 normierte Aussageverweigerungsrecht für den Fall der Selbstbezichtigung, 104 das in den Gesetzesberatungen für rechtsstaatlich unverzichtbar erklärt worden war. 105 Ist das Auskunftsverweigerungsrecht aber Ausfluß der Menschenwürde, so stellt jede Beeinträchtigung dieses Rechts gleichzeitig auch eine Verletzung dar, weil der Schutz der Menschenwürde absolut ist. Relativierungen dieser Gewährleistung sind unzulässig. Als von der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG umfaßtes Schutzgut wird die Menschenwürde in jedem Falle auch von der Integrationsschranke des Art. 23 GG umfaßt und ist damit auch gemeinschaftsrechtlich bedingten Relativierungen unzugänglich. I06 Es drängt sich demzufolge die Frage auf, ob der Umstand, daß das Aussageverweigerungsrecht in der Kartellverordnung nicht geregelt ist, dazu fuhrt, daß eine Person durch staatlichen Zwang zu einer Selbstbezichtigung veraniaßt werden kann. Demnach würde - gemeinschaftsrechtlich determiniert - die Möglichkeit eines Verstoßes gegen die Menschenwürde eröffnet.
98 Vgl. Sedemund, EuR 1973, 306 (320); ders., in: Europäisches VerwaltungsR, 45 (58); Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 453. 99 BVerfGE 38, 105 (113); 56, 37 (43); Kunig, in: v. Münch/Kunig, Art. I Rdnr.36. 100 BVerfGE 38, 105 (113); 55, 144 (150); 56, 37 (43 f.); vgl. auch BVerfGE 27, I (6); 33, 367 (374). 101 BGHSt 25, 325 (330). 102 BVerfGE 56, 37 (45). 103 BGBI. 1974 I, S. 869. 104 BVerfGE 56, 37 (46). 105 BTDrucks. 2/3644, S. 33 zu § 38 des Entwurfs. I06Claudi, S. 510 f.; Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 455.
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Zweiter Teil: Grundrechtsstandard im Europäischen Gemeinschaftsrecht 1. Stellungnahmen in der Literatur zu der gemeinschaftsrechtlichen
Gewährleistung des Auskunftsverweigerungsrechtes
Da die Verletzung des Auskunftsverweigerungsrechtes lange Zeit nicht gegenüber der Kommission oder dem Gerichtshof geltend gemacht wurde, beschränkten sich die diesbezüglichen Auseinandersetzungen zunächst auf das Schrifttum. Dort wurde häufig angeführt, Art. 14 Abs. I KartellVO spreche zwar ganz allgemein von einer Auskunftspflicht der Unternehmen und Unternehmensvereinigungen, diese Vorschrift sei aber insofern einschränkend auszulegen, als Unternehmer, die wegen eines Wettbewerbsverstoßes persönlich mit einer Sanktion belegt werden könnten, nicht zur Aussage gezwungen werden dürften. 107 Dem eines Wettbewerbsverstoßes persönlich bezichtigten Unternehmer müsse das Recht der Aussageverweigerung zugebilligt werden, weil eine Ermächtigung, ihn zu einer Selbstbezichtigung zu verpflichten und diese als Grundlage der gegen ihn persönlich zu verhängenden Sanktion zu verwerten, in der Tat einen Verstoß gegen die Menschenwürde darstelle. Das Grundrecht der Menschenwürde verbiete allerdings nicht den Aussagezwang gegenüber Personen, die sich selbst nicht der Gefahr aussetzten, persönlich mit Sanktionen belegt zu werden. Der Zwang zur Aussage, dem beispielsweise nicht aussagebereite Organinhaber eines in der Form einer juristischen Person betriebenen Unternehmens bei der Verfolgung von Wettbewerbswidrigkeiten unterworfen werden, sei mit dem Grundrecht der Menschenwürde durchaus vereinbar. Da sich die zu erwartende Sanktion gegen das Unternehmen und nicht gegen den Organinhaber persönlich richte, bestehe die Gefahr der Selbstbezichtigung schließlich nicht. 108 Damit fehle es an dem den Schutz des Auskunftsverweigerungsrechtes allein rechtfertigenden Gewissenskonflikt des Betroffenen. Den gesetzlichen Vertretern eines in der Form einer juristischen Person betriebenen Unternehmens stehe als nicht unmittelbar von der Sanktion bedrohten Personen ein Aussageverweigerungsrecht mithin nicht zu. Diese Meinung läßt allerdings unberücksichtigt, daß genau die Konfliktsituation, vor der das Aussageverweigerungsrecht den Betroffenen bewahren will, auch bei den vertretungsberechtigten Organen einer juristischen Person auftreten kann. Denn der Konflikt liegt nicht allein in der Gefahr, mit einer Sanktion belegt zu werden, also in einem materiellen Nachteil- der in der Tat 107 Claudi, S. 512; Dörinkel, AWD 1966, 422 (423); Pemice, in: Grabitz, nach Art. 87, Kartell-
va, Vorbem., Rdnr. 34 der Vorauflage.
108Claudi, S. 510 f.; Pemice, in: Grabitz, nach Art. 87, KarteIlVO, Vorbem., Rdnr. 34 der Vorauflage.
B. Vergleich einzelner Grundrechtsgewährleistungen
63
nur den persönlich haftenden Unternehmer, nicht aber die Organe der juristischen Person trirn -, sondern vielmehr auch darin, sich zum Werkzeug der Überfilhrung seiner selbst machen zu müssen. Dieser Konflikt stellt sich fllr die filr das Unternehmen handelnden natürlichen Personen aber gleichermaßen. 109 Daß die Differenzierung zwischen persönlich haftenden Unternehmern und vertretungsberechtigten Organen von in der Form einer juristischen Person betriebenen Unternehmen hinsichtlich des Aussageverweigerungsrechtes nicht stichhaltig ist, bestätigt auch der eindeutige Wortlaut des Art. 11 Abs. 4 der Verordnung Nr. 17. 110 Diese Vorschrift stellt ausdrUcklich klar, daß die zur Vertretung berufenen Personen bei juristischen Personen und die Inhaber der Unternehmen gleichermaßen der Auskunftspflicht gegenüber der Kommission unterliegen. Mit der Gleichstellung hinsichtlich der Pflichten muß aber auch eine Gleichstellung hinsichtlich der Rechte korrespondieren. Indem die Kartellverordnung ein Aussageverweigerungsrecht nicht vorsieht, mißachtet sie somit eine elementare Grundrechtsposition des Grundgesetzes. 111 2. Entscheidungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften zum Auskunftsverweigerungsrecht
Schließlich mußte sich auch der Gerichtshof mit der Frage befassen, ob sich aus der fehlenden Normierung eines Aussageverweigerungsrechtes in der Verordnung Nr. 17 zwangsläufig ergibt, daß ein solches Recht im Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft nicht besteht. a) Entscheidung im Fall "Orkem"
Im Fall "Orkem" vom 18. Oktober 1989 wandte sich das klagende Unternehmen unter anderem gegen ein auf Art. 11 der Verordnung Nr. 17 gestütztes Auskunftsverlangen der Kommission und berief sich dabei auf das Recht der Auskunftsverweigerung. 112 Der Europäische Gerichtshof sah ein entsprechendes Aussageverweigerungsrecht weder in den Rechtsordnungen der Mitgliedauch Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 455. Anhang 3. 111 So im Ergebnis offenbar auch Sedemund, in: Europäisches VerwaltungsR, 45 (58); ders., EuR 1973, 306 (320 f.); Winterfeld, RIW 1981, 801 (805); Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 456; grundrechtliche Bedenken klingen auch bei Kirchhof, EuR Beiheft 1- 1991, 11 (20), an. 112 EuGH Rs. 374/87, Sig. 1989,3283 ff. - Orkem. 109 So
110 Vgl.
64
Zweiter Teil: Grundrechtsstandard im Europäischen Gemeinschaftsrecht
staaten noch in der EMRK verankert. Zwar würden sämtliche mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen ein Aussageverweigerungsrecht natürlicher Personen im Rahmen von StrafVerfahren anerkennen, doch gäbe es keinen entsprechenden allgemeinen Grundsatz, wonach juristische Personen in bezug auf Zuwiderhandlungen wirtschaftlicher Art ihre Aussage verweigern könnten. Auch aus Art. 6 EMRK lasse sich ein solches Recht nicht herleiten. \13 Dennoch erkannte der Gerichtshof das Recht auf Eigenverteidigung als zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechtes gehörend an. 114 Er stellte ferner fest, daß dieses Recht auch schon im Stadium der ersten Ermittlungen gelte, weil anderenfalls eine effektive Selbstverteidigung nicht möglich wäre. Die Kommission sei demnach zwar befugt, die jeweiligen Unternehmen umfassend zur Auskunftserteilung heranzuziehen, doch dürfe dies nicht zu einer Beeinträchtigung der Verteidigungsrechte der betroffenen Unternehmen führen. Folglich könne die Kommission die betroffenen Unternehmen nicht verpflichten, einen ihnen zur Last gelegten Normenverstoß zuzugeben. Andererseits seien die Kommissionsbediensteten aber im Falle des Verdachts kartellrechtswidriger Preisabsprachen befugt, von den betroffenen Unternehmen zumindest Angaben darüber zu verlangen, welche weiteren Unternehmen an entsprechenden Vereinbarungen beteiligt waren. Zulässig seien sogar Fragen nach Fakten über Initiativen und das Inkrafttreten von Preisabsprachen (zum Beispiel Daten, Häufigkeit usw.). Nicht umfaßt von der Ermächtigung des Art. 11 der Verordnung seien lediglich Fragen nach konkreten (eigenen) Initiativen für die Preisabsprachen und entsprechenden Beschlüssen, da eine derartige Auskunft im Einzelfall einer Selbstbezichtigung gleichkommen könne. 115 b) Entscheidung im Fall "Solvay"
Eine identische Begründung lieferte der Gerichtshof in der Parallelentscheidung in der Rechtssache Solvay & Ci" gegen die Kommission vom 18. Oktober 1989. Auch hier billigte er der Kommission zu, im Rahmen eines Auskunftsbegehrens nach Art. 11 der Verordnung Nr. 17 aUe erforderlichen Auskünfte zu verlangen. Dies gelte auch dann, wenn die erlangten Angaben dazu verwendet werden könnten, den Beweis für ein wettbewerbswidriges Verhalten des betreffenden Unternehmens zu erbringen. Eine Beeinträchtigung der Verteidigungs113 EuGH Rs. 374/87, Slg. 1989,3283 (3350) - Orkem. 114EuGH Rs. 374/87, Slg. 1989,3283 (3351) - Orkem; a.A. noch Kreis, RIW 1981,281 (285 f.). 115 EuGH Rs. 374/87, Slg. 1989,3283 (3351 f.) - Orkem.
B. Vergleich einzelner Grundrechtsgewährleistungen
65
rechte des Unternehmens sei allerdings nicht gestattet. Daher dürfe die Kommission ein Unternehmen nicht verpflichten, Antworten zu erteilen, durch die es eine eigene Wettbewerbswidrigkeit eingestehen müßte} 16 3. Reichweite des gemeinschaftsrechtIichen Grundrechts der Aussageverweigerung
Ein derartiges Vorgehen des Gerichtshofes wirft zunächst die ganz grundsätzliche Frage nach der Befugnis der Rechtsprechung zu einer einschränkenden Auslegung der Verordnung auf. Schließlich wurde bei den Beratungen der Verordnung im Rat - wie bereits angesprochen 117 - die Aufnahme einer Regelung hinsichtlich des Auskunftsverweigerungsrechtes ausdrücklich abgelehnt. Die ablehnende Haltung des Rates kann aber nur so verstanden werden, daß gänzlich auf ein Auskunftsverweigerungsrecht verzichtet werden sollte. Demnach sollte selbst der persönlich haftende Unternehmer nicht von seiner Aussagepflicht freigestellt werden können. Läßt sich aber der Wille des Nonngebers mit dieser Eindeutigkeit ennitteln, ist schon zweifelhaft, ob fUr eine entsprechende Auslegung der Vorschrift durch die Rechtsprechung überhaupt noch Raum ist. Schließlich obliegt dem Gerichtshof gemäß Art. 164 EG-Vertrag lediglich die Wahrung des Rechts, wie es ihm von den Rechtsetzungsorganen vorgegeben wird. Aber selbst wenn man sich über diese nicht von der Hand zu weisenden Zweifel mit der Begründung hinwegsetzt, weil sich die Absicht des Rates, ein Auskunftsverweigerungsrecht auszuschließen, nicht ausdrücklich in einer Vorschrift der Verordnung konkretisiert habe, stehe die ursprüngliche Auffassung des Rates einer einschränkenden Auslegung der Auskunftsverpflichtung nicht entgegen,118 bleibt die Frage nach der Reichweite des Schutzes vor einer Selbstbezichtigung durch den Gerichtshof. Wenn die ablehnende Haltung des Gerichtshofes gegenüber der Herleitung eines Auskunftsverweigerungsrechtes aus den Rechtsennittlungsquellen EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten auch nicht stichhaltig ist, weil der Europäische Gerichtshof rur Menschrechte in zwei Urteilen festgestellt hat, daß Art. 6 Abs. 1 EMRK das Recht auf ein faires Verfahren schütze, welches ein Auskunftsverweigerungsrecht und den Schutz
116 EuGH Rs. 27/88, Slg. 1989, 3355 (3356) - Solvay & EuGH Rs. C-60/92, EuZW 1993, 766 f. - Postbank. 117 Vgl. Ausftlhrungen soeben unter 2. Teil B.II. I18Vgl. z.B. Claudi, S. 512.
S Rickert
cie .
Noch einmal bestätigt durch
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Zweiter Teil: Grundrechtsstandard im Europäischen Gemeinschaftsrecht
vor dem Zwang zur Selbstbezichtigung umfasse, so ist es dennoch zu begrüßen, daß der Gerichtshof das Recht der Auskunftsverweigerung überhaupt anerkennt. Art. 6 Abs. 1 EMRK gelte dabei nicht nur für Strafverfahren im engeren Sinne, sondern in jedem Verfahren, das auf die Vorlage von Unterlagen abziele und in dessen Verlauf Zwangsgeld oder ähnliches verhängt werden könne}19 Demzufolge können die betroffenen Unternehmen nicht zu umfassenden Geständnissen über die Beteiligung an entsprechenden Preisabsprachen herangezogen werden. Allerdings billigt der Gerichtshof der Kommission dennoch weitreichende Befugnisse zu, wenn er beispielsweise im Falle des Verdachts wettbewerbswidriger Preisabsprachen die Frage danach gestattet, welche Unternehmen an bestimmten Besprechungen teilgenommen hätten oder wie häufig Preisabsprachen getroffen worden seien. 120 Demnach können die Unternehmen trotzdem in nicht unerheblichem Umfang verpflichtet werden, sich selbst zu belasten. 121 Schließlich kann eine diesbezügliche Faktenkenntnis nur bei Unternehmen gegeben sein, die an entsprechenden normwidrigen Preisabsprachen beteiligt gewesen sind. Für den Einzelfall bedeutet dies, daß es letztlich von der Fragestellung der Kommission abhängt, ob ein Unternehmen die Aussage verweigern darf oder nicht. Bei entsprechendem Formulierungsgeschick der Kommissionsbediensteten können sich Unternehmen verpflichtet sehen, die Ermittlungstätigkeit der Kommission auch durch selbstbelastende Aussagen unterstützen zu müssen. Eine derartige Praxis fUhrt zu einer Verwässerung der Grenzen des Auskunftsverweigerungsrechtes bei der Gefahr der Selbstbezichtigung, was unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten äußerst bedenklich ist. Mit dem innerstaatlich aus dem Grundrecht der Menschenwürde abgeleiteten Verbot der Selbstbezichtigungspflicht ist dieses Vorgehen jedenfalls nicht vereinbar. l22 Das Aussageverweigerungsrecht stellt folglich ein weiteres elementares Grundrecht dar, welches im Gemeinschaftsrecht nicht gleichermaßen garantiert wird wie im nationalen Recht.
119EuGHMR AJ256 (1991), 334 (407); AJ284 (1993), 338 (476); ausftlhrlich hierzu FrommellFUger, StuW 1995, 58 t1 Vgl. auch die ausftlhrlichen Darlegungen der Kiligerin, in: EuGH Rs. 374/87, Sig. 1989,3283 (3294 ff.) - Orkem; siehe auch Sedemund, EuR 8 (1973), 306 (321). 120 EuGH Rs. 374/87, Sig. 1989,3283 (3352) - Orkem. 121 Zu diesem Ergebnis gelangt auch Scholz, WuW 1990,99 (104). 122 So auch Scholz, WuW 1990,99 (104).
B. Vergleich einzelner Grundrechtsgewährleistungen
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111. Eigentumsgarantie
Auch die Eigentumsgarantie kann in diesem Zusammenhang angefilhrt werden. Wenn sich der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften auch im wesentlichen auf der Linie der innerstaatlichen Eigentumsgewährleistung bewegt,123 so geben doch einige Entscheidungen Anlaß zu Zweifeln, ob er in jeder Hinsicht einen hinreichenden Eigentumsschutz garantiert. Dies gilt insbesondere filr die Zu lässigkeit von entschädigungs losen Eigentumsverlusten als Folge gemeinschaftsrechtlicher Wirtschaftslenkungsmaßnahmen. Beispielhaft können hier Quotenregelungen bei der Stahlerzeugung angeftlhrt werden. 124 So rügte ein griechisches Stahlunternehmen, daß die allgemeine Entscheidung Nr. 1831/811EGKS der Kommission zur EintUhrung eines Überwachungssystems und eines neuen Systems von Produktionsquoten tUr bestimmte Erzeugnisse filr die Unternehmen der Stahlindustrie vom 24. Juni 1981 125 zu seinem sicheren Konkurs filhre und damit sein Eigentumsgrundrecht verletze. 126 In diesem Fall stellte der Europäische Gerichtshof fest, es könne "die Tatsache, daß die durch die wirtschaftliche Lage gebotenen Produktionsbeschränkungen die Rentabilität und die Substanz bestimmter Unternehmen beeinträchtigen können, nicht als ein Verstoß gegen das Eigentumsrecht betrachtet werden" .127 Ist diese Äußerung des Gerichtshofes dahingehend zu werten, daß er sich damit auf den Standpunkt stellt, der teilweise oder vollständige Entzug von Eigentumspositionen sei als entschädigungslos hinzunehmende Inhalts- und Schrankenbestimmung zu qualifizieren, so wäre das mit der Eigentumsgewährleistung des Grundgesetzes nicht vereinbar. Wenn die Intention des Gesetzgebers darauf gerichtet ist, konkrete Eigentumspositionen zu entziehen, liegt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes immer eine entschädigungspflichtige Enteigung vor. 128 Selbst wenn das Urteil dahingehend zu deuten ist, daß der Gerichtshof den Totalentzug "richtigerweise" als Enteignung betrachtet, stellt dies einen Verstoß gegen die Eigentumsgewährleistung nach dem Grundgesetz dar. Werden nämlich einzelne Eigentumspositionen vollständig entzogen, so fordert die deutsche Verfassung in Art. 14 Abs. 3 GG die 123 Vgl. ausftlhrlich hierzu Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 408. 124 Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 108 f., 463 f.; vgl. auch Ren-
geling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, S. 47 f. 125 ABlEG Nr. L 180 v. 1.7.1981, S. I. 126 EuGH Rs. 258/81, Sig. 1982,4261 (4270) - Metallurgiki Halyps. 127 EuGH Rs. 258/81, Sig. 1982,4261 (4280) - Metallurgiki Halyps. 128 BVerfGE 52, 1 (27); 56, 249 (260); 58, 300 (330 f.); 70, 191 (199 f.); (280 ff.); 79,174 (191). 5"
72, 66 (76);
74, 264
68
Zweiter Teil: Grundrechtsstandard im Europäischen Gemeinschaftsrecht
Gewährung einer Entschädigung. Diesbezüglich fehlen erläuternde Ausfilhrungen des Gerichtshofes, die eine eindeutige Bestimmung seines Standpunktes zulassen. Zumindest ist in diesem Fall nicht ausgeschlossen, daß der Gerichtshof dem Betroffenen trotz Totalentzugs seines Eigentums eine Entschädigung verweigert. Eine klare Richtung rür den grundrechtlichen Eigentumsschutz bietet die Rechtsprechung des Gerichtshofes jedenfalls zur Zeit (noch) nicht. 129 Es besteht also Ungewißheit, ob der gemeinschaftsrechtliche Eigentumsschutz dem des Grundgesetzes entspricht. IV. Ergebnis Zieht man an dieser Stelle eine Bilanz, so offenbaren die dargestellten Entscheidungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften ein materielles Grundrechtsdefizit des europäischen Gemeinschaftsrechtes im Vergleich zu den nationalen Grundrechtsgewährleistungen. Der Schutz von Geschäftsräumen, das Auskunftsverweigerungsrecht bei Gefahr einer Selbstbezichtigung und die Entschädigungspflicht bei Enteignungen gehören aber zu den Erfordernissen, welche die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland als unverzichtbare und wesentliche Bestandteile prägen. Die Darstellung könnte mit zahlreichen anderen Beispielen fortgesetzt werden, um zu belegen, daß Differenzen im Standard der Grundrechtsgewährleistungen nach wie vor gegeben sind. Diese Übersicht steckt das Feld gemeinschaftsrechtlich problematischer Grundrechtsbereiche keineswegs abschließend ab, macht aber deutlich, daß der Idealzustand, eines deckungsgleichen Grundrechtsstandards tatsächlich noch nicht erreicht wird. Wie das Bundesverfassungsgericht selbst in "Solange11"130 feststellt, entspricht der Grundrechtsstandard auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene nur "im wesentlichen" den Grundrechtsgewährleistungen des Grundgesetzes. Es bestehen nach wie vor Unterschiede, die den gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsstandard als lückenhaft und schwächer ausweisen.
129 Kritisch auch Tomuschat, EuR 1990,340 (357); ders., in: Eigentumsgarantie und Umweltschutz, 47 (58 f,); Thiel, JuS 1991,274 (281); Schilling, EUZW 1991,310 ff.; Schröder, Verwirklichung des Elektrizitätsbinnenmarktes, S. 45; ders., in: Leitungsgebundene Energie, 79 (81). 130 BVerfGE 73, 339 (378).
Dritter Teil
Aktuelle Kontliktfälle Da im Mittelpunkt der Untersuchung das Auseinanderfallen des gemeinschaftsrechtlichen und des nationalen Grundrechtsstandards bei Richtlinien steht, sollen exemplarisch zwei Richtlinien aus unterschiedlichen Regelungsbereichen herausgegriffen werden, die bereits zu der Kollision zwischen der gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtung zur Umsetzung von Richtlinien in innerstaatliches Recht und der Grundrechtsbindung des Umsetzungsgesetzgebers gemäß Art. lAbs. 3 GG geführt haben beziehungsweise in naher Zukunft fUhren könnten und daher die Dringlichkeit der Entwicklung einer Konfliktlösung deutlich machen.
A. Richtlinienvorschläge betreffend "gemeinsame Vorschriften für den Erdgas- und Elektrizitätsbinnenmarkt"
Das Kommissionsdokument zur Vollendung des "Binnenmarktes fiir Energie"· bereitete insbesondere die Durchsetzung der im folgenden näher zu betrachtenden Vorschläge fl1r zwei Richtlinien des Rates betreffend gemeinsame Vorschriften fiir den Elektrizitäts- beziehungsweise den Erdgasbinnenmarkt vor. 2 Beide Richtlinienvorschläge verfolgen unter anderem den sogenannten "Third Party Access", die Einfiihrung des Zugangs Dritter zum Netz. Der in den Vorhaben angelegte Netzzugang Dritter stellt im Gesamtkonzept der Richtlinienvorhaben einen elementaren Baustein zur Herstellung eines wettbewerbskonformen Binnenmarktes im Bereich der Elektrizitäts- und Gaswirtschaft dar. Dadurch soll erreicht werden, daß auch andere Stromverbraucher und -erzeuger beziehungsweise Gasverbraucher und -erzeuger Zugang zu den Übertragungs- und Verteilernetzen erhalten. Die Leitungsunternehmen sollen nämlich verpflichtet werden, gegen angemessene Vergütung dritten Unternehmen den Zugang zu ihrem Netz zu eröffnen, sofern Übertragungs- oder Verteilungskapazität verfilgbar ist. Über den Zugang zu • Kommissionsbericht zum "Binnenmarkt rur Energie", KOM (88), 238 endg. v. 2.5.1988. Vorschlag rur eine Richtlinie betreffend gemeinsame Vorschriften rur den Elektrizitätsbinnenmarkt (GemVElek-RL), AblEG Nr. C 65 v. 14.3.1992, S. 4 ff., bzw. Vorschlag rur eine Richtlinie betreffend gemeinsame Vorschriften rur den Erdgasbinnenmarkt (GemVGas-RL), AblEG Nr. C 65 v. 14.3.1992, S. 14 ff. 2
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Dritter Teil: Aktuelle KonflikWUle
fremden Netzen sollen also Leitungssysteme, welche durch private Investitionen geschaffen wurden, konkurrierenden Unternehmen zur Verfilgung gestellt werden, damit diese in Wettbewerb mit dem Leitungsunternehmen treten könnenund zwar um Kunden, die bisher von dem Leitungseigentümer beliefert worden sind und zu deren Versorgung er die Netze überhaupt nur errichtet hat. Auch wenn im Einzelfall eine Abweisung des Durchleitungsbegehrens möglich ist und die Durchleitung nicht unentgeltlich erfolgen soll, treten die Auswirkungen dieser Regelung deutlich zutage. Die bisherigen Netzeigentümer verlieren auf diese Weise ihre ausschließliche Nutzungsmöglichkeit und Dispositionsbefugnis über die von ihnen mit erheblichem Investitionsaufwand erbauten und betriebenen Netze. Der Vorteil dieses Modells für den Konsumenten soll darin bestehen, sich für den günstigsten Energieanbieter entscheiden zu können. Durch diesen Regelungsschwerpunkt der Richtlinienvorschläge werden die Energieversorgungsunternehmen - abgesehen von Eingriffen in die Berufsfreiheit - massiv in ihren Eigentumspositionen betroffen. Aber auch andere Regelungen der bei den Richtlinienvorschläge weisen ganz erhebliche Grundrechtsproblematiken auf, die sich nicht auf die Gewährleistung des Eigentumsschutzes beschränken, sondern auch den Schutz der Berufsfreiheit betreffen.) Da die betroffenen Energieversorgungsunternehmen sogleich nach Bekanntwerden der Richtlinienvorhaben entsprechende Bedenken geltend machten, 4 legte die Kommission am ll. Februar 1994 zwar geänderte Versionen der Richtlinienvorschläge vor,5 welche auch unter Berücksichtigung der von Expertenseite vorgetragenen grundrechtlichen Bedenken zustandegekommen waren, doch wurden diese Vorschläge am l. Juni 1995 durch den EG-Ministerrat zumindest teilweise wieder verworfen und ein neuer Regelungsversuch wurde eingeleitet. 6 Daher wird nachfolgend der ursprüngliche Kommissionsvorschlag zugrundegelegt, der auch Gegenstand der öffentlichen Diskussion ist und den Reformvor-
) Vgl. hierzu die ausfiIhrlichen Darstellungen bei ScholzJLanger, S. 257 fr.; dies., ET 42 (1992),851 (856); SchUtte, ET 42 (1992), 258 (260 f.); Zinow, S. 146 fr.; VDEW-Stellungnahme vom 15.7.1991 ("FUr Europäische Kooperation - Gegen Zwangsregulierung durch BrUssel"), S. 2, 4; vgl. auch v. Burchard, EuZW 1992,693 (696 f.). 4 Vgl. F.A.Z v. 22. Mai 1992, Nr. 119, S. 17; Handelsblatt v. 22. Mai 1992, S. I; VWD Information v. 21. Mai 1992; siehe auch Fehling, AöR 121 (1996),59 ff. 5 AblEG Nr. C 123 v. 4.5.94, S. 26 ff. beziehungsweise AblEG Nr. C 123 v. 4.5.94, S. I ff. Ausfilhrlicher hierzu Fehling, AöR 121 (1996),59 ff. 6 Vgl. Handelsblatt v. I. Juni 1995, S. 2; unveröffentlichte Schlußfolgerungen des Rates in der Energieratssitzung vom 1.6.1995, VDEW, Kp. 6.6.1995 (Übersetzung aus dem Französischen); siehe auch ET 45 (1995), 467.
A. "Gemeinsame Vorschriften ftlr den Erdgas- und Elektrizitätsbinnenmarkt"
71
schlag der Bundesregierung zur Neuordnung des innerstaatlichen Wettbewerbsrechtes auf dem Energiesektor7 maßgeblich beeinflußt hat. 8 Da es den Rahmen der Arbeit sprengen würde, die mit dem "Third Party Access" verbundenen Grundrechtsprobleme umfassend abzuhandeln, beschränken sich die nachfolgenden Ausftihrungen auf die Überprüfung des Zugangs Dritter zum Netz am Maßstab der Eigentumsgarantie. 9 Die beiden leitungsgebundenen Energien Elektrizität und Gas weisen weitgehende Parallelen in der Handhabung auf, so daß beide zusammen abgehandelt werden können. Im folgenden werden die Bestimmungen der Richtlinienvorschläge zunächst am Maßstab der bundesdeutschen Eigentumsgarantie überprüft, im Anschluß daran am gemeinschaftsrechtlichen Schutzniveau. I. Beurteilung des "Third Party Access" anhand der Eigentumsgarantie des Grundgesetzes Die zentralen Bestimmungen der Richtlinienvorhaben, welche die Verpflichtung zur Bereitstellung von Leitungskapazitäten ftir zugangsberechtigte Dritte festlegen, sind Art. 7, 14 und 21 der Gern VElek-RL und Art. 12 und 19 der GemVGas-RL.1O Danach können Durchleitungsinteressenten bei den betreffenden Leitungsunternehmen einen Antrag auf eine Vereinbarung über den Anschluß an das Netz und/oder die Benutzung des Netzes oder der Speicheranlagen stellen. Auf einen solchen Antrag hin hat das Leitungsunternehmen eine entsprechende Vereinbarung vorzuschlagen, wobei es die Ablehnung eines solchen Antrages nur darauf stützen kann, die beantragte Nutzung stelle die Erftillung vorgeschriebener Verpflichtungen oder eingegangener Verbindlichkeiten in Frage. 11 Diese Regelung greift vehement in das Eigentum der betroffenen Energieversorgungsunternehmen ein. Voraussetzung daftir, daß sie die7 Vgl. ausftlhrlich hierzu Langer, ET 44 (1994),158 ff.; Kuhnt, in: Deregulierung und Regulierung, 81 (97 ff.). Zu dem Entwurf eines Energiewirtschaftsgesetzes (EnWG) siehe auch NJWWochenspiegel, NJW 1996 Heft 20, S. XXXVII. 8 Zu dem Reformvorschlag der Bundesregierung sind ebenfalls verfassungsrechtliche Bedenken vorgetragen worden; vgl. Langer, ET 44 (1994),158 ff. 9 Auch die Frage, ob die Richtlinienvorschläge sich noch im Rahmen der den Gemeinschaftsorganen eingeräumten Kompetenzen bewegen oder bereits eine KompetenzUberschreitung darstellen, hat eine grundrechtliche Dimension, die hier aber aus RaumgTUnden ausgeklammert wird. Vgl. ausfilhrlich hierzu die Nachweise in Fn. 3 sowie Schröder, Verwirklichung des Elektrizitätsbinnenmarktes, S. 28 ff. 10 Vgl. Anhang 4. 11 Vgl. Art. 14 Abs. 2 und Art. 21 Abs. 2 der GemVElek-RL beziehungsweise Art. 12 Abs. 2 und Art. 19 Abs. 2 der GemVGas-RL (Anhang 4).
72
Dritter Teil: Aktuelle KonfliktflilIe
sen Eingriff unter Berufung auf Art. 14 GG abwehren können, ist allerdings, daß sie überhaupt Träger dieses Grundrechtes sein können. l. Grundrechtsfähigkeit der Energieversorgungsunternehmen
Als von der Durchleitungspflicht betroffene Unternehmen kommen Verbundunternehmen, Regionalverteiler und große industrielle Sonderabnehmer in Betracht. 12 Alle diese Unternehmen - mit Ausnahme der inzwischen voll privatisierten VEBA AG - sind in der privatrechtlichen Rechtsform einer Aktiengesellschaft organisiert, wobei die öffentliche Hand an sämtlichen der Unternehmen Anteile in unterschiedlichem Umfang hält. J3 Juristische Personen des Privatrechts sind nach einhelliger Auffassung grundsätzlich gemäß Art. 19 Abs. 3 GG grundrechtsfähig. 14 Problematisch ist jedoch, ob dies auch rur die hier betroffenen sogenannten gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen gilt, weil hier nicht - wie im "Normalfall" - lediglich Private Eingriffe des Staates abwehren, sondern auch die öffentliche Hand aufgrund ihrer Beteiligung an den Unternehmen selbst betroffen ist. Das Bundesverfassungsgericht hat zu dieser Problematik erstmals in seiner Entscheidung vom 16. Mai 1989 15 Stellung genommen. In diesem Beschluß hat das Gericht eine Verfassungsbeschwerde der Hamburgischen ElectricitätsWerke AG (HEW), die sich zu etwa 72 % in öffentlicher Hand befindet und daher ein typisches Beispiel eines gemischt-wirtschaftlichen Unternehmens darstellt, wegen fehlender Grundrechtsfähigkeit nicht zur Entscheidung angenommen. Grundrechte seien in erster Linie individuelle Rechte, die den Schutz gefährdeter Bereiche menschlicher Freiheit zum Gegenstand hätten. 16 Daher dienten sie vorrangig dem Schutz natürlicher Personen gegen Eingriffe der staatlichen Gewalt. Juristische Personen als Grundrechtsträger anzusehen, sei folglich nur gerechtfertigt, wenn der "Durchgriff' auf die dahinter stehenden privaten natürlichen Personen es verlange. 17 Hiervon ausgehend, schloß das Gericht in seiner früheren Rechtsprechung, daß juristische Personen des öf12 Arndt, RIW 1989, Beilage 7, I (3); Schweitzer, Der grenzüberschreitende Stromverbund in Europa, S. 19 f. J3 Zinow, S. 90. 14 StRspr. des BVerfGE: vgl. nur BVerfGE 22, 380 (383); 23, 153 (163); 57,220 (240); 70, 138 (160); 75,192 (196); Stern, StaatsR, Bd. II1/I, § 71 II12 a, S. 1100 ff. 15NJW 1990, 1783. 16 So bereits BVerfUE 50, 290 (337); 61, 82 (100 f.). 17 BVerfGE 21,362 (369); 61, 82 (101); 68,193 (205 f.); BVerfG, NJW 1995,582 (583).
A. "Gemeinsame Vorschriften ftlr den Erdgas- und Elektrizitätsbinnenmarkt"
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fentlichen Rechts, soweit sie öffentliche Aufgaben wahrnehmen, grundsätzlich nicht Träger VOn Grundrechten sein können. 18 Denn hinter diesen stünden nicht natürliche Personen, sondern stets der Staat. Entsprechend sei auch eine juristische Person des Privatrechts, wenn sie beispielsweise öffentliche Aufgaben der Daseinsvorsorge wahrnehme, nicht grundrechtsfllhig. 19 Die bloße Wahl einer anderen Organisationsfonn könne schließlich kein anderes Ergebnis hinsichtlich der Grundrechtsfllhigkeit begründen. Diese Grundsätze hat das Gericht nunmehr auf gemischt-wirtschaftliche Unternehmen übertragen, indem es festgestellt hat, daß die Energieversorgung zu den typischen Aufgaben der öffentlichen Daseinsvorsorge zähle und auch bei einer nur 72%igen Beteiligung der öffentlichen Hand VOn einer privatrechtlichen Selbständigkeit nahezu nichts übrigbleibe. 20 Die Ablehnung der Grundrechtsfllhigkeit des betroffenen gemischtwirtschaftlichen Unternehmens hat eine vehemente Kritik des Schrifttums und verschiedenste Interpretationen hervorgerufen. 21 Auch für die hier relevante Durchleitungsfrage haben die Aussagen der Karlsruher Richter unterschiedliche Deutungen erfahren. So hat Lukes bereits vor der HEW-Entscheidung aus der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung den Schluß gezogen, Energieversorgungsunternehmen mit Beteiligungen VOn Gebietskörperschaften könnten sich generell nicht auf das Eigentumsgrundrecht berufen;22 hingegen deutet Arndt die Entscheidung dahingehend, daß sich die Unternehmen hinsichtlich des Netzzugangs Dritter auf die Grundrechte berufen könnten, weil hier nicht die öffentliche Energieversorgung als Bestandteil der Daseinsvorsorge im Vordergrund stünde, sondern vielmehr wettbewerbsrechtliche Aspekte relevant seien. 23 Diesen Wertungen im Schrifttum ist schon zu entnehmen, daß eine eindeutige Interpretation der Entscheidung des Verfassungsgerichtes nicht möglich ist. Insbesondere ist nicht klar, ob das Gericht eine Differenzierung nach dem Umfang der öffentlichen Beteiligung vornehmen will, wenn es ausdrücklich darauf abstellt, die öffentliche Hand sei in dem hier entschiedenen Fall zu 72 % betei-
18
So schon BVerfDE 21, 362 (369 f.); 61, 82 (100 ff.); 68, 193 (205 f.).
19 Vgl. BVerfDE 61,82 (103 f.); 68,193 (207 f., 212); 70,1 (15 ff.). 20 BVerfD, NJW 1990, 1783. 21 Pieroth, NWVBI. 1992, 85 (86 ff.); Kühne, JZ 1990, 335 f.; Schmidt-Aßmann,
Beilage 34,1 (6 ff.); Koppensteiner, NJW 1990,3105 ff. 22 OB 1989,2057 (2060 f.). 23 RIW 1989, Beilage 7, 1 (28).
BB 1990,
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Dritter Teil: Aktuelle Konfliktfalle
ligt. 24 Einem solchen Ansatz ist entgegenzuhalten, daß eine prozentuale Beteiligung allein noch keine Auskunft über die Machtverteilung in einem Unternehmen gewährt, diese vielmehr von der sonstigen Zusammensetzung des Kapitals sowie anderen Faktoren abhängig ist. 25 Im übrigen ist es rur Außenstehende häufig unmöglich, die Machtstruktur eines Unternehmens zu überblicken. 26 Ein Beispiel rur die Unzulänglichkeit dieser Kriterien ist das RWE, wo private Eigner zwar die Kapitalmehrheit halten, die öffentliche Hand jedoch die Stimmrechtsmehrheit innehat. Eine Differenzierung nach der konkreten Unternehmensstruktur, also nach Anteilen der öffentlichen Hand oder etwa nach der Anzahl der beteiligten natürlichen Personen, ist daher nicht praktikabel. Mithin ist eine Lösung vorzuziehen, die mehr Rechtssicherheit zuläßt. Anknüpfend an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes27 erscheint es daher nur möglich, das Vorliegen der Grundrechtsflihigkeit davon abhängig zu machen, ob eine grundrechts typische Gejährdungslage gegeben ist. Dabei macht das Bundesverfassungsgericht allerdings folgende Prämisse: Wenn es an einem personalen Substrat fehle, sei eine grundrechtstypische Gefährdungslage von vornherein ausgeschlossen. Da aber hinter einem gemischtwirtschaftlichen Unternehmen hinsichtlich des Anteils, der sich nicht in öffentlicher Hand befindet, immer natürliche Personen stehen, ist immer auch ein personales Substrat gegeben, so daß die Grundrechtsflihigkeit gemischtwirtschaftlicher Unternehmen konsequenterweise allein schon aus diesem Grunde bejaht werden müßte. Ansonsten würde denjenigen natürlichen Personen, die an einem Unternehmen beteiligt sind, welches sich anteilig in der Hand des Staates befindet, der Grundrechtsschutz im Verhältnis zu Anteilseignern von Unternehmen, an denen die öffentliche Hand nicht beteiligt ist, gleichheitswidrig vorenthalten. 28 Darüber hinaus stellt es einen Widerspruch in sich dar, einerseits die grundrechtstypische Gefährdungslage von dem Erfordernis eines personalen Substrats abhängig zu machen, andererseits aber die Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen des Privatrechts, an denen die öffentliche Hand nicht beteiligt ist, zu bejahen. Schließlich widerspricht es der 24 So Maser, S. 159 f.; in diese Richtung auch Badura, OÖV 1990,353 (354), der die Grundrechtsfllhigkeit bei einer Mehrheitsbeteiligung der öffentlichen Hand verneint. 25 So auch Brenner, BB 1962,727 (729); Zinow, S. 98; Emmerich, S. 92. 26 Vgl. auch Bettermann, in: Hirsch-FS, 1 (9 f.); Klein, Die Teilnahme des Staates, S. 34 ff.; v. Mutius, in: Bonner Kommentar, Art. 19 Abs. 3 Rdnr. 147; Koppensteiner, NJW 1990, 3105 (3109); Schmidt-Aßmann, BB 1990, Beilage 34,1 (10 f.). 27 BVerfGE 45,63 (79); 61, 82 (103 f., 105). 28 Vgl. auch Bleckmann, Grundrechte, S. 100 f.; Koppensteiner, NJW 1990,3105 (3109); KUhne, JZ 1990,335 (336); Ehlers, S. 85.
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Rechtsfigur der juristischen Person gerade, auf die hinter ihr stehenden natürlichen Personen abzustellen, da sie selbständig am Rechtsverkehr teilnimmt. Auch das Grundgesetz begründet für juristische Personen in Art. 19 Abs. 3 GG eine eigenständige Grundrechtsberechtigung und geht damit über den Schutz natürlicher Personen hinaus. 29 Unterstützend kann eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes angeführt werden, wonach Stiftungen, die als rechtsfähig organisierte Vermögen kein personales Substrat aufweisen, grundrechtsberechtigt sind. 3D Festzuhalten ist somit, daß eine grundrechtstypische Gefährdungslage nicht zwingend ein sogenanntes personales Substrat voraussetzt, dieses bei gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen aber gegeben ist. Von einer grundrechtstypischen Gefährdungslage kann gesprochen werden, wenn kein Unterschied zu der Tätigkeit privater Zusammenschlüsse besteht und es daher gleichermaßen gilt, staatliche Eingriffe in den jeweiligen Freiheitsbereich abzuwehren. Das betreffende Unternehmen muß dem Staat als rechtlich selbständiges Rechtssubjekt gegenübertreten und darf ihm gegenüber nicht weisungsabhängig sein. 31 Nimmt ein gemischt-wirtschaftliches Unternehmen als eines unter vielen am Wettbewerb teil, tritt .es wie jede andere juristische Person des Privatrechts auf. Es ist im Rahmen seiner Tätigkeit gleichermaßen den grundrechtstypischen Gefiihrdungslagen durch die Gemeinschaftsgewalt bei der Verwirklichung des Binnenmarktes beziehungsweise durch den innerstaatlichen Umsetzungsgesetzgeber ausgesetzt und muß auch in der Lage sein, diese Gefährdungen abzuwehren. Folglich muß es sich wie jede andere juristische Person des Privatrechts in dieser Situation auch auf Grundrechte berufen können. Etwas anderes gilt nur dann, wenn sich der Staat des Unternehmens als wirtschaftspolitisches Lenkungsinstrument bedient. 32 Im Ergebnis ist daher festzuhalten: Sofern gemischt-wirtschaftliche Unternehmen wie jedes andere Unternehmen am Wettbewerb teilnehmen und in gleicher Weise dem geltenden Recht unterworfen sind, muß ihnen auch die Fähigkeit zugestanden werden, sich auf Art. 14 GG berufen zu können. Daher können sich auch die vom "Third Party Access" betroffenen Energieversorgungsunternehmen auf ihr Eigentumsgrundrecht aus Art. 14 GG berufen.
Pieroth, NWVBI. 1992, 85 (86). BVerwGE 40, 347 (348 f.). 31 Vgl. auch Pieroth, NWVBI. 1992,85 (88). 32 Vgl. auch Emmerich, S. 91 ff.; Schröder, in: Leitungsgebundene Energie, 79 (83); Scholz1 Langer, S. 134. 29
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Dritter Teil: Aktuelle Konfliktfälle
2. Beeinträchtigte Eigentumspositionen
Der "Third Party Access" berührt drei verschiedene Bereiche des Eigentumsrechtes der Versorgungsunternehmen: die Verfügungsbefugnis über das Leitungseigentum, den Schutz bereits getätigter Investitionen und die Privatniltzigkeit der Eigentumsverwendung. 33 a) Verfügungsbefugnis über das Leitungseigentum
Zum Eigentum im Sinne von Art. 14 GG gehören alle vermögenswerten privatrechtlichen Rechte und Güter, - insbesondere das bürgerlich-rechtliche Sacheigentum. 34 Kernbestandteil der Eigentumsgarantie ist die Zuordnung dieser Rechte zu einem Rechtsträger und die damit einhergehende Verfügungsbefugnis des Eigentümers über sein Eigentum. 35 Die Leitungen des europäischen Energieverbundsystems stehen als Ergebnis unternehmerischer Betätigung im Eigentum der entsprechenden Unternehmen. In das Recht der Eigentümer, über die Nutzung ihrer Netze - insbesondere über freie Kapazitäten - zu verfügen, wird eingegriffen, wenn ihnen die Durchleitung von Gas beziehungsweise Strom zugunsten Dritter über eigene Netze aufgezwungen wird. b) Investitionsschutz
Darüber hinaus erfaßt die Eigentumsgarantie zwar nicht zu erwartende zukünftige Erwerbschancen und -aussichten,36 ihr Schutz erstreckt sich aber auf bereits getätigte Investitionen. 37 Auch aus diesen Investitionen resultierende und rechtlich bereits gesicherte Anwartschaften werden erfaßt. 38 Die Frage des eigentumsrechtIichen Investitionsschutzes wird insbesondere bei der Gasversorgung relevant, weil es dort im Vergleich zum Elektrizitätsbereich erheblich
J3 ScholzILanger, S. 270; dies., ET 42 (1992), 851 (856); Schröder, in: Leitungsgebundene Energie, 79 (84 f.); ders., Verwirklichung des Elektrizitätsbinnenmarktes, S. 59 ff. 34 Kimminich, in: Bonner Kommentar, Art. 14 Rdnr. 30 ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 14 Rdnr. 7; Papier, in: MaunzlDürig, Art. 14 Rdnr. 8. 35 StRspr.: vgl. BVerfGE 31, 229 (240); 37, 132 (140); 42,263 (294); 50,290 (339); 53,257 (290); 55, 249 (257); 58, 300 (345); 68, 361 (367 f.); 79, 292 (303); 81, 29 (34); 82, 6 (16); 83, 201 (208 f.). 36 BVerfGE 51, 193 (222). 37 ScholzILanger, S. 275; Papier, in: MaunzlDürig, Art. 14 Rdnr. 99. 38 Papier, in: MaunzIDürig, Art. 14 Rdnm. 99, 190; Kimminich, in: Bonner Kommentar, Art. 14 Rdnm. 31, 84 ff.
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weniger Anbieter gibt und sämtliche Gaslieferungen auf der Basis langfristiger Verträge erfolgen,l9 in denen sich die Abnehmer zu bestimmten Abnahmemengen und Preisen fest verpflichten müssen. Die Gaserzeuger müssen auf solche langfristigen Verträge bestehen, um die erheblichen Explorations- und Erschließungskosten decken zu können. 4o Aufgrund der langfristigen Verträge ist der Absatz der vertraglich vereinbarten Menge über einen langen Zeitraum gesichert und damit gleichzeitig auch das finanzielle Risiko bei der Erweiterung des Leitungsnetzes kalkulierbar. Um die Amortisation der Investitionen berechnen zu können, werden in den Verträgen bestimmte Mindestabnahmemengen zu Fixpreisen vereinbart, die unabhängig von der tatsächlich abgenommenen Menge sind. Der Abnehmer sichert sich andererseits durch diese langfristigen Verträge wiederum seine Energieversorgung. 41 Im Zuge des Netzzugangs Dritter verlieren die Lieferanten ihre eigenen Abnehmer, weil mit dem durchgeleiteten Gas oder Strom Abnehmer versorgt werden, die bislang vom Leitungseigentümer beliefert wurden, oder weil die bisherigen Abnehmer nunmehr als Konkurrenten auf den Markt drängen und die für sie langfristig veranschlagte Kapazität nicht mehr genutzt werden kann. Wenn aber aufgrund der Durchleitungspflichten Abnehmer abwandern, lassen sich die Fixkostenbelastungen nicht mehr vollständig auf die Abnehmer überwälzen, was wiederum die Finanzkraft der Unternehmen beeinträchtigt. Die getätigten Investitionen werden dann als rechtlich gesicherte Anwartschaften entwertet. 42 Die Entwertung dieser typischerweise langfristigen Bindungen der Unternehmen stellt einen Eingriff in den Schutz getätigter Investitionen als Bestandteil der Eigentumsgarantie dar. c) Privatnützigkeit der Eigentumsverwendung
Das Eigentum soll ferner Grundlage privater Initiative und dem eigenverantwortlichen privaten Interesse von Nutzen seinY Die Interessen der betroffenen Energieversorgungsunternehmen haben in den mit ihren Abnehmern geschlos-
39
40
Eckert, in: Der komplexe Langzeitvertrag, S. 171 f1 Steindorff, RIW 1989, Beilage I, I (3); Eckert, in: Der komplexe Langzeitvertrag, 171
(173 f.). . 41 Scholz/Langer, S. 276. 42 Amdt, RIW 1989, Beilage 7, I (25); Scholz/Langer, S. 277 f.; Schröder, in: Leitungsgebundene Energie, 79 (85); Baur/Gläser, Er 42 (1992),146 (147). 43 BVerfDE 31, 229 (240); 37, 132 (140); 50, 290 (339); 52, I (30); 53, 257 (290); 83, 201 (209); Hesse, Rdnr. 444; Papier, in: Maunz/Dürig, Art. 14 Rdnr. 274.
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Dritter Teil: Aktuelle Konfliktfälle
senen Langzeitverträgen ihren Niederschlag gefunden. Der "Third Party Access" greift in die durch die bestehenen Leistungsaustauschverträge der Unternehmen definierte Privatnützigkeit der Eigentumsverwendung ein, indem er eine Abwanderung der Abnehmer der Leitungsunternehmen hervorruft. Müssen die Netzeigentümer nämlich als Folge der durch die Abwanderung frei werdenden Kapazitäten ihre Leitungen Wettbewerbskonkurrenten zur Verfilgung stellen und wird ihr Eigentum damit von Konkurrenten in Dienst genommen, so wird die Privatnützigkeit des Eigentums durch den Zugang Dritter zum Netz in Fremdnützigkeit umdefmiert. 3. Eingriffsqualität
Da das Grundgesetz je nach Qualität des Eingriffes unterschiedliche Anforderungen an die Zulässigkeit von Eingriffen in das Eigentumsgrundrecht stellt, ist zu bestimmen, ob es sich bei dem "Third Party Access" um eine Enteignung im Sinne von Art. 14 Abs. 3 GG oder um eine Inhalts- und Schrankenbestimmung im Sinne von Art. 14 Abs. 1 S. 2 in Verbindung mit Abs. 2 GG handelt. Eine Enteignung liegt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes vor, wenn der staatliche Zugriff auf das Eigentum einzelner auf die teilweise oder vollständige Entziehung konkreter subjektiver Eigentumspositionen gerichtet ist. 44 Da das Eigentum an den Netzanlagen in den Händen der Energieversorgungsuntemehmen erhalten bleibt, wird ein solcher Entzug durch den Zugang Dritter zum Netz nicht begründet. Eine Enteignung liegt folglich nicht vor; vielmehr ist die Duldung der Durchleitung Ausdruck einer Inhalts- und Schrankenbestimmung. 4. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Damit ist aber noch nichts über deren rechtliche Zulässigkeit gesagt. Bei den Richtlinieninhalten müßte es sich um eine verhältnismäßige Konkretisierung des Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG in Verbindung mit Abs. 2 handeln.
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BVerfGE 52, I (27); 72, 66 (76).
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a) Ziel des "Third Party Access"
Die Märkte der Strom- und Gasversorgung weisen einen hohen Konzentrationsgrad auf. In sämtlichen Mitgliedstaaten der Union befinden sich die Leitungssysteme in den Händen einiger weniger Unternehmen, wobei der Grad der Konzentration in den übrigen Mitgliedstaaten noch wesentlich höher ist als in der Bundesrepublik Deutschland. 45 Die Durchleitung soll als Mittel gegen die Abschottung der nationalen Märkte dienen und auch die nationalen Monopolstrukturen aufbrechen. Der direkte Wettbewerb zwischen Energieversorgungsunternehmen um die Belieferung von Großkunden und Weiterverteilern soll erreicht werden. Den Nachfragern soll auf diese Weise der Zugang zu neuen Quellen erschlossen werden. Verbraucher und Anbieter sollen in die Lage versetzt werden, Anbieter und Abnehmer frei zu wählen. Die hierdurch hervorgerufene Intensivierung des Wettbewerbs unter den Anbietem soll wiederum positive Rückwirkung auf das Preisniveau zugunsten der Verbraucher mit sich bringen. 46 Auch wenn das Grundgesetz wirtschaftspolitisch neutral ist,47 ist es dem Staat unbenommen, sich rur marktwirtschaftliche Strukturen einzusetzen. Die Richtlinienvorhaben verfolgen insoweit also eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Zielsetzung. Das gilt auch für das darüber hinaus angestrebte Ziel der Versorgungssicherheit. Denn neben dem Ziel des ungehinderten Wettbewerbs soll auch die Sicherheit der Energiebeschaffung im Gemeinsamen Markt gewährleistet werden. 48 Die Sicherheit der Energieversorgung stellt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes ein Gemeinschaftsgut höchsten Ranges dar. 49 Sowohl die angestrebte Wettbewerbsintensivierung auf dem Energiesektor als auch die Sicherstellung der Versorgung der Verbraucher stellen folglich verfassungsrechtlich zulässige Zielsetzungen dar.
45 Schmidhuber, in: Der EG-Binnenmarkt für Energie, 9 (16); Stewing, EuR 1993, 41 (44); Gröner, in: Die Gaswirtschaft im Binnenmarkt, 99 (147). 46 Vgl. ErwägungsgrUnde 2 und 10 der GemVElek-RL, ABlEG Nr. C 65 v. 24.2.1992, S. 4 ff., beziehungsweise ErwägungsgrUnde 2 und 10 der GemVGas-RL, ABlEG Nr. C 65 v. 24.2.1992, S. 14 ff.; siehe auch KOM (89) 336 endg. - SYN 207 v. 29.9.1989, S. 13 f.; Steindorff, RIW 1989, Beilage 1,1 (5 f.). 47 Grundlegend hierzu BVerKiE 4, 7 (17 f.). 48 Vgl. Erwägungsgrund 2 der GemVElek-RL beziehungsweise Erwägungsgrund 2 der GemVGas-RL. 49 BVerKiE 30, 292 (323 f.).
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Dritter Teil: Aktuelle Konfliktfälle
b) Geeignetheit des "Third Party Access"
Doch schon bei der Prüfung, inwieweit sich diese Zielsetzungen mittels der Durchleitung realisieren lassen, ergeben sich Zweifel an der Verhältnismäßigkeit. Dies gilt sowohl für die angestrebte Versorgungssicherheit als auch für das geplante Ziel des stärkeren Wettbewerbs auf dem Energiesektor. aa) Eignung zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit Die großen Unternehmen - insbesondere in der Gaswirtschaft - sichern ihren Bezug durch langfristige Verträge, was auch den Interessen der Lieferanten entspricht. 50 Die aus diesen langfristigen Vertragsverhältnissen resultierende Versorgungssicherheit könnte bei Einführung des Durchleitungswettbewerbs ins Wanken geraten. Zum einen setzen langfristige Verträge feststehende Abnahmepflichten voraus. Solche Verpflichtungen kann aber ein Unternehmen, welches zur Duldung des Netzzugangs Dritter gezwungen ist, kaum eingehen, weil die Bereitschaft und die Fähigkeit der durchleitungspflichtigen Unternehmen, Energieverbrauch und -beschaffung langfristig aufeinander abzustimmen, durch den "Third Party Access" beeinträchtigt wird. 51 Sie haben nämlich keinen Einfluß auf die Laufzeit der zwischen den über ihre Netze durchleitenden Unternehmen und deren Abnehmern geschlossenen Verträge. Zum anderen wird sich kein Versorgungsunternehmen auf langfristige Abnahmeverpflichtungen gegenüber einem Unternehmen einlassen wollen, welches selbst durchleitet, also als Konkurrent am Markt auftritt. Die hierdurch bedingte Schwächung des Investitionsvolumens der durchleitungspflichtigen Unternehmen führt gleichzeitig zu einer Lähmung des weiteren Ausbaus der Leitungssysteme. 52 Damit würden die Grundlagen, die zur Zeit die Sicherheit der Versorgung garantieren, in Frage gestellt. Es ist folglich äußerst zweifelhaft, ob die Pflicht zur Duldung der Durchleitung das Ziel der Versorgungssicherheit zu gewährleisten vermag. Eher das Gegenteil steht zu befürchten. 53 Die Verwirklichung von mehr Wettbewerb auf dem Energiesektor geht somit zu Lasten der Versorgungssicherheit. Vgl. Ausfilhrungen soeben unter 3. Teil A. I. 2. b). Mestmäcker, in: Die Gaswirtschaft im Binnenmarkt, 7 (68). 52 Vgl. auch Ausfilhrungen sogleich unter 3. Teil A. I. 4. cl. 53 So auch Amdt, RIW 1989, Beilage 7, I (25); Schlitte, ET 42 (1992), 258 (261); Steindorff, RIW 1989, Beilage I, I (6); Gröner, in: Die Gaswirtschaft im Binnenmarkt, 99 (151 0; v. Burchard, EuZW 1992,693 (696); Mestmäcker, in: Die Gaswirtschaft im Binnenmarkt, 7 (68); VDEW Stellungnahme vom 14.1 1.1991 ("Für europäische Integration - Gegen Zwangsregulierung durch BrUssel"), S. 5. 50
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Die Versorgungssicherheit vennag daher nicht, als rechtfertigende Zielsetzung Eingriffe in das Eigentum der Energieversorger zu legitimieren. bb) Eignung zur Gewährleistung stärkeren Wettbewerbs und daraus resultierender Preissenkungen Entsprechendes gilt für die Zielsetzung, den Wettbewerb auf dem Energiesektor zu verstärken und dadurch eine Senkung der Preise zu bewirken. Das Netzzugangsrecht kommt nur für Großabnehmer in Betracht, weil bestimmte Mindestabnahmemengen Voraussetzung für den Durchleitungsanspruch sind. 54 Damit werden die Wettbewerbsbedingungen nur für die Energieversorgungsunternehmen verbessert, die ohnehin wegen großer Abnahmemengen schon das Privileg besonders günstiger Tarife genießen. Für die übrigen Abnehmer verteuern sich die Preise hingegen, weil die betroffenen Leitungsunternehmen die aus dem "Third Party Access" resultierende Erhöhung der Fixkostenbelastung wegen der Abwanderung eigener lukrativer Abnehmer und den damit einhergehenden Überkapazitäten auf sie überwälzen. Statt der geplanten Preissenkung ist folglich für das Gros der Abnehmer eher mit einer Preiserhöhung zu rechnen. 55 Auch für die von der Durchleitungspflicht betroffenen Energieversorgungsunternehmen verschlechtert sich die Wettbewerbssituation, da sie sich bei gleichbleibenden Vorhaltekosten einer erhöhten Fixkostenbelastung aufgrund der Abwanderung eigener Abnehmer gegenübergestellt sehen und über freie Kapazitäten nicht mehr vorausschauend disponieren können. Dadurch wird die Finanzkraft geschwächt, was wiederum die Gefahr einer zusätzlichen Einbuße an Wettbewerbsfähigkeit der durchleitungspflichtigen Versorger im Vergleich zu den begünstigten Großunternehmern darstellt. Daraus kann dann wiederum eine weitere Abwanderung des Abnehmerkreises resultieren. Wird folglich der Eingriff in die Eigentumspositionen mit dem Erfordernis eines allgemeinen Wettbewerbs im Bereich der Energiewirtschaft gerechtfertigt, so wird in die Interessen der betroffenen Unternehmen ohne sachlichen Grund eingegriffen. Denn durch die Durchleitungsmöglichkeit wird lediglich die Wettbewerbsposition der ohnehin schon privilegierten Unternehmen geför54 Vgl. Art. 7 Abs. 2 der GemVElek-RL beziehungsweise Art. 6 Abs. 2 der GemVGas-RL (Anhang 4). 55 Schütte, ET 42 (1992), 258 (261); Amdt, RIW 1989, Beilage 7, 1 (5); Baur/Gläser, ET 42 (1992),146 (147); v. Burchard, EuZW 1992,693 (696).
6 Rickert
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Dritter Teil: Aktuelle Konfliktfälle
dert, während sich die Stellung der durchleitungspflichtigen Unternehmen und der Verbraucher verschlechtert, was letztendlich zu einer noch größeren Verzerrung der Wettbewerbssituation fUhren dürfte, als sie vorher bestanden hat. 56 Der Durchleitungszwang fUhrt folglich nicht zu einer Wettbewerbssituation, die der freien Marktwirtschaft entspricht. Die durch die Richtlinienvorschläge bedingten Eingriffe in die Grundrechtsposition der betroffenen Energieversorgungsunternehmen aus Art. 14 GG sind somit nicht durch die Ziele des Allgemeinwohls, nämlich die Schaffung eines allgemeinen Wettbewerbs und die angestrebte Versorgungssicherheit, zu rechtfertigen. c) Erforderlichkeit
Darüber hinaus bestehen hinsichtlich der Erforderlichkeit des Eingriffs Bedenken. Im Rahmen der Erforderlichkeit ist zu berücksichtigen, daß die SteIlung eines Eigentümers durch nichts - von einem Totalentzug abgesehen stärker beeinträchtigt werden kann als durch die Rechtspflicht, eigene Leistungen dem Wettbewerbskonkurrenten zur Verfügung stellen zu müssen und ihm auf dem Wege zu einer besseren Wettbewerbsposition zu verhelfen oder ihm sogar erst die Möglichkeit zu eröffnen, in Konkurrenz zu den betroffenen Unternehmen zu tretenY Ein so schwerwiegender Eingriff in die Gundrechtsposition der Energieversorgungsunternehmen ist nur dann erforderlich, wenn kein milderes Mittel zur VerfUgung steht, um die angestrebten Ziele zu erreichen. Wurde soeben festgestellt, daß die Erzielung eines totalen Wettbewerbs im Bereich der Energiewirtschaft unter gleichzeitiger Beibehaltung einer sicheren Versorgung aller Abnehmer nicht möglich ist, weil stärkere Wettbewerbsstrukturen immer Einschränkungen bei der Versorgungssicherheit bedeuten, ist auch bei der Suche nach alternativen Handlungsmöglichkeiten zu berücksichtigen, daß ein Komprorniß zwischen den widerstreitenden Zielsetzungen gefunden werden muß. Statt des Durchleitungszwanges wäre eine Regelung denkbar, die nur die mißbräuchliche Verweigerung der Durchleitung Dritter unterbindet. Mißbräuchliches Verhalten kann mit Mitteln der Wettbewerbsaufsicht geahndet
Gröner, in: Die Gaswirtschaft im Binnenmarkt, 99 (147 f.). HUfferlIpsenfTettinger, S. 230; ScholzlLanger, ET 42 (1992), 851 (852); Schröder, in: Leitungsgebundene Energie, 79 (89); Baur/Gläser, ET 42 (1992), 146 (147). 56 57
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werden. 58 Ob die Verweigerung der Durchleitung gegenüber einem Konkurrenten mißbräuchlich wäre, hinge dann von zahlreichen verschiedenen Faktoren ab, wie beispielsweise der Zumutbarkeit der Verweisung auf den Bau eigener Leitungen und der Beziehung zwischen dem "dritten" Unternehmen und dem Leitungseigentümer. Im Gegensatz zum "Third Party Access" wäre dabei grundsätzlich von der Dispositionsfreiheit der Energieversorgungsunternehmen auszugehen und Eingriffe in die geschützten Eigentumspositionen wären nur aufgrund von Einzelabwägungen zur Sicherung der Energieversorgung gestattet. 59 Eine Wettbewerbsaufsicht in Form von Mißbrauchskontrollen stellt somit ein erheblich schonenderes Mittel dar, welches aber ebenfalls zum Wettbewerb in der Energiewirtschaft beizutragen vermag. Auch das Ziel der Versorgungssicherheit könnte durch ein weniger eingriffsintensives Mittel effektiver erreicht werden. Statt der Einräumung des Netzzugangsrechtes für Dritte könnte man den Konkurrenten auch auf den Bau eigener Leitungen zur Belieferung seiner Kunden verweisen, wozu die betreffenden Unternehmen wirtschaftlich auch in der Lage wären. 60 Voraussetzung hierfür wäre allerdings, die Kriterien für die Genehmigung des Leitungsbaus zu liberalisieren und den gleichen Zugang zu den Energieabnehmern in allen EGMitgliedstaaten zu gewährleisten. Das Arbeitsdokument der Kommission verlangt den Ausbau des bestehenden Leitungsnetzes sogar ausdrücklich. 61 Zum Ausbau der Netze tragen aber gerade die Unternehmen massiv bei, die von der Duldung der Durchleitung Dritter betroffen wären. Denn durchleitungspflichtig können nur die Unternehmen sein, die über freie Kapazitäten verfügen. Das ist wiederum am ehesten bei Unternehmen der Fall, die ihre Kapazitäten vorausschauend erweitern. Wenn diese Unternehmen aber hinsichtlich der neuen Leitungen als Durchleitungspflichtige zugunsten der Konkurrenten in Anspruch genommen werden, so hat das eine langfristige Lähmung des weiteren Netzausbaus zur Folge, wird doch - wie oben dargestellt - ihr Investitionsvolumen erheblich geschwächt. Mithin trägt eine Wettbewerbsaufsicht in Form von Mißbrauchskontrollen auch effektiver zu der Verwirklichung des Ausbaus
58 Kühne, in: Leitungsgebundene Energie, 105 (112 f.); Steindorff, RIW 1989, Beilage I, I (10); Wirtschaftsminister Rexrodt schlägt die Schaffung einer selbständigen europäischen Wettbewerbsbehörde vor, F.A.Z. v. 31. Mai 1995, Nr. 125, S. 15. 59 Kühne, in: Leitungsgebundene Energie, lOS (1120. 60 So jedenfalls die Einschätzung Steindorffs, RIW 1989, Beilage I, I (7). 61 Vgl. auch Erwägungsgrund 7 und Art. 9 Abs. 3 der GemVElek-RL, ABlEG Nr. C 65 v. 24.2.1992, 4 (9), beziehungsweise Erwägungsgrund 7 und Art. 8 Abs.2 der GemVGas-RL, ABlEG Nr. C 65 v. 24.2.1992,14 (18).
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der Leitungssysteme als Voraussetzung für die Gewährleistung von Versorgungssicherheit bei als der "Third Party Access". Zusammenfassend ist daher festzuhalten: Es mangelt an der Erforderlichkeit des "Third Party Access", weil als milderes Mittel zur Erreichung der Versorgungssicherheit der konkurrierende Leitungsbau gefördert werden könnte. Das hätte langfristig positive Rückwirkung auf die Sicherheit der Energieversorgung und wäre somit auch effektiver als der Netzzugang Dritter. 62 Auch die geplante Wettbewerbsentzerrung kann durch Mißbrauchskontrollen, wie sie beispielsweise das deutsche Recht vorsieht, effektiver erreicht werden als durch den "Third Party Access" und der damit einhergehende Eingriff in Eigentumspositionen wäre erheblich schonender als der in den Richtlinienvorhaben vorgesehene. d) Angemessenheit
Schließlich ist auch die Angemessenheit des Eigentumseingriffes abzulehnen. Die Überlassung von Eigentum zur Nutzung durch Dritte betrifft den elementarsten Bereich der menschlichen Handlungsfreiheit in bezug auf das Eigentum. 63 Dies ergibt sich schon aus der verfassungsrechtlichen Wertung, daß die Zurverrugungstellung von Eigentum zugunsten Dritter regelmäßig durch einen entschädigungspflichtigen Enteigungsakt im Sinne von Art. 14 Abs. 3 GG bewirkt wird. Um derart weitreichende Eingriffe in die Eigentumspositionen rechtfertigen zu können, müssen schwerwiegende Gründe ins Feld geführt werden. 64 Die Legitimierung durch die Herbeiruhrung eines allgemeinen Wettbewerbs auf dem Energiesektor hat sich soeben als nicht stichhaltig erwiesen. Zu denken wäre noch an die Herbeiruhrung eines partiellen Wettbewerbs zugunsten der von der Durchleitungspflicht profitierenden Unternehmen. Zwar müssen die von der Durchleitungspflicht betroffenen Energieversorgungsunternehmen aufgrund der großen Bedeutung der Energieversorgung rur die Allgemeinheit Eigentumsbeschränkungen im Hinblick auf die sozialen Bindungen des Eigentums hinnehmen. Allerdings reicht dies nur so weit, als das Allgemeininteresse So im Ergebnis auch Steindorff, R1W 1989, Beilage 1, 1 (5 ff.). Vgl. Fn. 57. 64 Vgl. BVerfDE 42,263 (294 f.). 62 63
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diese Beschränkungen zu rechtfertigen vennag. Da die Allgemeinheit in Fonn der Masse der Abnehmer lediglich von den negativen Auswirkungen der Durchleitung betroffen wird, nämlich mit Preiserhöhungen fiir die Abnahme von Energie zu rechnen hat, kann die Sozialptlichtigkeit des Eigentums nicht herangezogen werden, um den Eingriff zu rechtfertigen. Die relativ geringfiigigen positiven Auswirkungen auf den Wettbewerb alleine genügen nicht, um die Zurverfügungstellung von Eigentumspositionen an die Konkurrenz zu rechtfertigen, weil ohnehin nur Großabnehmer mit einer schon günstigen Marktposition davon profitieren, was langfristig eine noch intensivere Wettbewerbsverzerrung bedeuten würde. Daran ändert auch die Entrichtung eines Nutzungsentgeltes fiir die Leitungssysteme nichts, zumal zwar die Bereitstellung der Leitungen für Dritte und die Erbringung technischer Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Durchleitung finanziell kompensiert werden können, nicht aber die Entwertung rechtlich gesicherter Anwartschaften auf Amortisation und die Beeinträchtigung der Wettbewerbsfahigkeit der Unternehmen. Im übrigen gewährleistet Art. 14 GG vorrangig den Bestand und nicht lediglich den Wert des Eigentums. 65 Diese Wertung muß auch hier berücksichtigt werden. 5. Fazit
Die Bewertung der Richtlinienvorhaben anhand der grundgesetzlichen Eigentumsgarantie führt zu dem Ergebnis, daß sich die entstandenen Nachteile fiir die betroffenen Energieversorgungsunternehmen verfassungsrechtlich nicht rechtfertigen lassen. Das im Falle der Verabschiedung der beiden Richtlinien im Ministerrat ergehende deutsche Umsetzungsgesetz würde mithin gegen Art. 14 GG verstoßen. 11. Beurteilung des "Third Party Access" an hand der Eigentumsgarantie des Gemeinschaftrechtes Es verbleibt zu prüfen, ob auch der gemeinschaftsrechtliche Eigentumsschutz zu der Grundrechtswidrigkeit der Richtlinienvorhaben fiihrt.
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BVerfGE 24, 367 (400 f.); 38,175 (181,184 f.); 46, 325 (334); 51,193 (220); 58, 300 (323).
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Dritter Teil: Aktuelle Konfliktfälle 1. Grundrechtsfähigkeit der Energieversorgungsunternehmen
Anders als im nationalen Recht ist im Gemeinschaftsrecht unproblematisch von der Grundrechtsberechtigung der Energieversorgungsunternehmen, gleichgültig in welcher Organisationsform sie auftreten, auszugehen. Dies läßt sich schon dem EG-Vertrag selbst entnehmen: Art. 58 Abs. 2 EG-Vertrag räumt beispielsweise die Niederlassungsfreiheit juristischen Personen des privaten und des öffentlichen Rechts gleichermaßen ein, es sei denn, sie verfolgen keinen Erwerbszweck. Entsprechendes gilt über Art. 66 EG-Vertrag auch filr die Dienstleistungsfreiheit. Ebenso beziehen auch die Wettbewerbsvorschriften der Art. 85 ff. über Art. 90 EG-Vertrag ausdrücklich öffentliche Unternehmen mit ein und stellen wiederum nur auf die wirtschaftliche Tätigkeit ab. 66 Folglich ist nicht die Rechtsform, sondern die Teilnahme am Wirtschaftsverkehr maßgeblich filr die Einbeziehung in den grundrechtlichen Status. Grundrechtsschutz muß dem Unternehmen zustehen, welches - gleichgültig ob juristische Person des privaten oder öffentlichen Rechts - nach den Vorschriften des Binnenmarktes am Wirtschaftsleben teilnimmt und daher grundrechtlichen Geflihrdungslagen ausgesetzt ist. Demgemäß muß es auch hinsichtlich der wirtschaftsbezogenen Grundrechte grundrechtsfähig sein. Wenn somit selbst ausschließlich öffentlich-rechtlich organisierte Energieversorgungsunternehmen grundrechtsfahig sind, so muß dies erst recht filr gemischt-wirtschaftliche Unternehmen gelten. 67 Da die Tätigkeit der Energieversorgungsunternehmen künftig an den gemeinschaftsrechtlichen Wettbewerbsvorschriften ausgerichtet werden soll, müssen sie auch in die Lage versetzt werden, grundrechtserhebliche Eingriffe in das Eigentum des Unternehmens abzuwehren. Ihre Grundrechtsflihigkeit ist somit - wie auch nach nationalem Verfassungsrecht - zu bejahen. 2. Beeinträchtigte Eigentumspositionen
Die Bestimmung, welche schutzwürdigen Eigentumspositionen durch den Netzzugang Dritter betroffen sind, wird dadurch erschwert, daß eine Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften zum SchutzbeVgl. EuGH Rs. C-4I190, Sig. 1991 1-1979 (2016 f.) - Höfner/Macroton. Im Ergebnis ebenso Schröder, in: Leitungsgebundene Energie, 79 (83); ders., Verwirklichung des Elektrizitätsbinnenmarktes, S. 46 f1; Scholz/Langer, S. 244 f1; Tettinger, in: BömerFS, 625 (638 f.); vgl. auch Bleckmann, EuropaR, Rdnr. 454. Siehe aber auch Jarass, Europäisches Energierecht, S. 95 ff. 66 67
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reich der Eigentumsgarantie nur sehr rudimentär vorhanden ist. 68 Daher ist eine zuverlässige Prognose, wie der Gerichtshof hinsichtlich der betroffenen Eigentumspositionen der Energieversorgungsunternehmen im Falle eines entsprechenden Verfahrens differenzieren würde, nicht möglich. 69 Würdigt man die im Rahmen der Erörterung des nationalen Eigentumsschutzes aufgezeigten Aspekte im Lichte der bisherigen Eigentumsrechtsprechung des Gerichtshofes,70 so kann davon ausgegangen werden, daß zur Eigentumsgarantie jedenfalls die Möglichkeit gehört, das Eigentum nach eigener Disposition zu nutzen. Folglich wird zumindest die Verftigungsbefugnis der Energieversorgungsunternehmen über die Leitungssysteme erfaßt. Indessen ist die Privatnützigkeit des Eigentums bislang nicht Gegenstand der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes gewesen. Der Gerichtshof hat bisher immer nur auf die gesellschaftliche und soziale Funktion des Eigentums als Schranke dieses Grundrechts abgestellt, also gleichsam auf das Gegenstück der PrivatnützigkeiCI Daher erscheint es wahrscheinlich, daß er die Umwidmung der Privatnützigkeit der Eigentumsverwendung durch die Durchleitungspflicht in Fremdnützigkeit zugunsten der Konkurrenten nicht separat würdigen, sondern als Bestandteil der Nutzungsbefugnis des Eigentümers behandeln würde. 72 Demgegenüber ist der Schutz bereits getätigter Investitionen vom Europäischen Gerichtshof bereits als grundrechtsflihige Position anerkannt worden.13 Dennoch läßt sich nicht zuverlässig vorhersagen, ob der Gerichtshof im Falle der Beurteilung des Zugangs Dritter zum Netz zu einem Eingriff in dieses Schutzgut gelangen würde, wenn man seine weiteren Aussagen in der Rechtssache Wachauf14 miteinbezieht. In dieser Entscheidung stellte der Gerichtshof fest, "daß eine gemeinschaftsrechtliche Regelung, die dazu fUhren würde, daß der Pächter nach Ablauf des Pachtverhältnisses entschädigungslos um die Früchte seiner Arbeit und der von ihm in dem verpachteten Betrieb vorgenommenen Investition gebracht würde, mit den Erfordernissen des Grundrechtsschutzes in der Gemeinschaftsrechtsordnung unvereinbar wäre".7S Schließlich sollen die 68 Vgl. EuGH Rs. 4173, Sig. 1974,491 (507 f.) - Nold; Rs. 44179, Sig. 1979,3727 (3745 ff.)Hauer; verbundene Rs. 41, 121 und 796179, Sig. 1980, 1979 (1996 f.) - Testa. 69 So auch Schröder, in: Leitungsgebundene Energie, 79 (84, 102). 70 Vgl. auch Ausfilhrungen oben unter 2. Teil B.III. 71 EuGH Rs. 4173, Sig. 1974,491 (507 f.) - Nold; Rs. 44179, Sig. 1979,3727 (3746 f.) - Hauer; Rs. 265/87, Sig. 1989,2237 (2268) - Schräder; Rs. 5/88, Sig. 1989,2609 (2639) - Wachauf. 72 Ebenso Schröder, Verwirklichung des Elektrizitätsbinnenmarktes, S. 60. 73 Vgl. EuGH Rs. 265/87, Sig. 1989,2237 (2268) - Schräder; siehe auch EuGH Rs. 5/88, Sig. 1989,2609 (2639) - Wachauf. 74 EuGH Rs. 5/88, Sig. 1989,2609 fT. - Wachauf. 7S EuGH Rs. 5/88, Sig. 1989,2609 (2639 Rdnr. 19) - Wachauf.
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Dritter Teil: Aktuelle Konfliktfälle
durchleitungspflichtigen Unternehmen von den Netzbenutzern ein am Investitionsaufwand orientiertes Nutzungsentgeld fordern können, so daß die Unternehmen wirtschaftlich betrachtet nicht um die Erträge ihrer Investitionen gebracht würden. Als Fazit ergibt sich somit, daß eine Entscheidung des Gerichtshofes hinsichtlich der Privatnützigkeit des Eigentums und des Schutzes bereits getätigter Investitionen nicht zuverlässig prognostizierbar ist, jedoch davon auszugehen ist, daß er einen Eingriff in die Nutzungsbefugnis der Leitungsunternehmen bejahen würde. 3. Eingriffsqualität
Auch für die Bestimmung, ob es sich bei der Durchleitungspflicht um einen Eigentumsentzug im Sinne einer Enteignung oder um eine Eigentumsbeschränkung handelt, hat die bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofes keine eindeutigen Zuordnungskriterien entwickelt,76 Dem Fall Hauer ist zu entnehmen, daß der Europäische Gerichtshof eine Enteigung annimmt, wenn dem betroffenen Eigentümer keine eigene Verfügungs befugnis mehr verbleibt und anderweitige Nutzungen seines Eigentums ausgeschlossen sind. 77 Da ein Entzug des Netzeigentums zu Lasten der Versorgungsunternehmen nicht vorliegt, ist bei Zugrundelegung dieses Maßstabes eine Enteignung nicht gegeben. Das Abstellen auf das Kriterium der anderweitigen Nutzung ist hier allerdings problematisch, weil sich der vorliegende Fall insofern von der Rechtssache Hauer unterscheidet, als hier ohnehin keine anderweitigen Nutzungen der Leitungen in Betracht kommen. Aufgrund fehlender sonstiger Konkretisierungen hinsichtlich der Qualifizierung eigentumsrechtlicher Eingriffe ist es daher nicht möglich, eine abschließende Einordnung vorzunehmen. Wahrscheinlich ist aber, daß der Gerichtshof den Eingriff in das Eigentum unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit abhandeln würde. Diese Annahme wird der weiteren Prüfung zugrundegelegt.
Vgl. AusfUhrungen soeben unter 2. Teil B. 111. EuGH Rs. 44/79, Sig. 1979,3727 (3746) - Hauer; vgl. auch EuGH Rs. 116/82, Sig. 1986, 2519 (2545) - Kommission/Deutschland. 76 77
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4. Verhältnismäßigkeit der Eingriffe
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften sind Eingriffe in Eigentumspositionen dann gerechtfertigt, wenn sie dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Gemeinschaft entsprechen und im Hinblick auf diesen verfolgten Zweck nicht unverhältnismäßig sind. 78 a) Gemeinwohlziel
Der Eingriff in die EigentümersteIlung der Energieversorgungsunternehmen muß also durch Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt sein. Die bei Art. 14 GG dargestellten Gemeinwohlziele lassen sich auf die Gemeinschaftsgewalt insgesamt übertragen, weil es in erster Linie um die Verwirklichung gesamteuropäischer Ziele geht. 79 Demnach kann auch im Gemeinschaftsrecht ein hinreichendes Gemeinwohlziel nicht dargetan werden, das die mit dem Netzzugang Dritter einhergehende Eigentumsbeschränkung rechtfertigen könnte. Dennoch kann nicht ausgeschlossen werden, daß der Gerichshof zu dem gegenteiligen Ergebnis gelangen würde, indem er beispielsweise darauf abstellt, die vertikale Integration der Energieversorgungsunternehmen deute auf eine Marktbeherrschung hin. Vertikal integrierte Energieversorgungsunternehmen sind diejenigen, welche zwei oder mehrere Funktionen gleichzeitig wahrnehmen, also Erzeugung, Übertragung und/oder Verteilung von Elektrizität80 beziehungsweise Produktion, Fernleitung und/oder Verteilung von Erdgas. 81 Mit dieser Unternehmensstruktur wird nämlich die Möglichkeit marktunabhängigen Verhaltens assoziiert. 82 Sieht der Europäische Gerichtshof in dem "Third Party Access" die Möglichkeit, diese Strukturen zu beseitigen, so kann er die Gemeinwohldienlichkeit allein damit begründen. Darüber hinaus darf nicht übersehen werden, daß der Gerichtshof dem Ministerrat grundsätzlich eine großzügige Einschätzungsprärogative bei der binnenmarktsrelevanten Rechtsangleichung zubilligt und dessen Prognosen keiner Kontrolle unterzieht83 und es allein aus diesem Grund nicht unwahrscheinlich ist, daß er die Einschätzung der Kom78 Vgl. EuGH Rs. 265/87, Slg. 1989,2237 (2268) - Schräder; Rs. 5/88, Slg. 1989,2609 (2639) - Wachauf. 79 Vgl. Ausftlhrungen soeben unter 3. Teil A. I. 4. a). 80 Vgl. Art. 2 Ziffer 17 der GemVElek·RL, ABlEG Nr. C 65 v. 24.2.1992, 4 (6). 81 Vgl. Art. 2 Ziffer 17 der GemVGas-RL, ABlEG Nr. C 65 v. 24.2.1992, 14 (16). 82 Schröter, in: v. d. GroebenffhiesingiEhlermann, Art. 86 Rdnr. 89; Schröder, in: Leitungsgehundene Energie, 79 (88); ders., Verwirklichung des Elektrizitätsbinnenmarktes, S. 65. 83 So jUngst wieder in EuGH Rs. C-306/93, EuZW 1995, 109 (110 f.) - SMW Winzersekt.
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Dritter Teil: Aktuelle KonfliktflilIe
mission beziehungsweise des Rates übernehmen würde, ohne ihre sachliche Richtigkeit in Frage zu stellen. 84 Als Zwischenergebnis ist folglich festzuhalten, daß ein Gemeinwohlzweck, welcher die im "Third Party Access" liegende Eigentumsbeeinträchtigung rechtfertigen könnte, nicht ersichtlich ist. Dennoch kann nicht ausgeschlossen werden, daß der Gerichtshof trotzdem zu einer Gemeinwohldienlichkeit des Netzzugangs Dritter gelangen würde. b) Verhältnismäßigkeit
Bejaht der Gerichtshof die Gemeinwohldienlichkeit des "Third Party Access", so muß er aber die Verhältnismäßigkeit des Eigentumseingriffes in Frage stellen. Diesbezüglich kann ebenfalls auf die zu Art. 14 GG gemachten Ausführungen verwiesen werden, so daß die Verhältnismäßigkeit des Eingriffes in die Eigentumsgarantie an sich auch abzulehnen wäre. 85 Aber auch hier ist zu berücksichtigen, daß der Gerichtshof dem Ministerrat einen Einschätzungsspielraum zubilligen wird und infolgedessen nicht abzusehen ist, zu welchen Ergebnissen der Gerichthof gelangen würde. Dies gilt um so mehr, als aufgrund einer fehlenden abgesicherten Dogmatik des Europäischen Gerichtshofes zu Eigentumseingriffen eine zuverlässige Prognose seiner Rechtsprechung nicht möglich ist. 86 Der Gerichtshof hat ßingriffe des Gemeinschaftsgesetzgebers noch nie als Verletzung des Eigentumsgrundrechtes bewertet und aus diesem Grund auch die Grenzen, die der Regelungsbefugnis der gemeinschaftsrechtlichen Rechtsetzungsorgane bei eigentumsrelevanten Maßnahmen gezogen sind, bislang noch nicht herausgearbeitet. 87 Ein weiterer Aspekt bietet Anlaß zu Zweifeln, ob der Gerichtshof im vorliegenden Fall tatsächlich zu einem Verstoß gegen das Eigentumsrecht der betroffenen Unternehmen gelangen würde. In seiner Rechtsprechung zu den gewerblichen Schutz- und Patentrechten hat der Gerichtshof stets zwischen 84 Darauf weist auch Schröder, in: Leitungsgebundene Energie, 79 (88 ff.), hin; ders., Verwirklichung des Elektrizitätsbinnenmarktes, S. 65. Sehr kritisch zu dieser Vorgehensweise des Europäischen Gerichtshofes auch Nettesheim, EuZW 1995, 106 (\07); Epiney, SZIER 1995, 135 (170). 85 Vgl. Ausfilhrungen soeben unter 3. Teil A. I. 4. 86 Auch Everling, in: EWG-Binnenmarkt filr Elektrizität" 132 (151), weist daraufhin, daß die Beurteilung der Durchleitung durch den Gerichtshof nicht kalkulierbar ist. 87 Kritisch hierzu auch Tomuschat, in: Eigentumsgarantie und Umweltschutz, 47 (58); Schröder, Verwirklichung des Elektrizitätsbinnenmarktes, S. 45.
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dem Innehaben und der Ausübung dieser Rechte differenziert. 88 Die Innehabung dürfe zwar nicht beeinträchtigt oder gar verboten werden, wohl aber deren Ausübung, wenn die Ziele des Vertrages - wie die Beseitigung der unerwünschten Abschottung nationaler Märkte - dies verlangten. Ein Schutzrecht ist dem Inhaber ebenso wie das Eigentum an den Versorgungsnetzen dem Energieversorgungsunternehmen nach Art eines Ausschließlichkeitsrechtes zugeordnet. In beiden Fällen wird als Rechtfertigung für den Eigentumseingriff die Schaffung eines europaweiten Wettbewerbs herangezogen. Insofern ist es nicht unwahrscheinlich, daß der Gerichtshof seine bisherige Rechtsprechung zu den Patent- und Schutzrechten auf den vorliegenden Fall übertragen würde. 89 Demnach dürfte zwar das Innehaben der Eigentumsposition an den Leitungssysternen nicht beeinträchtigt werden, die Regelung des Ausnutzendürfens würde aber der Gemeinschaft obliegen. Da die beiden Richtlinienvorschläge das Innehaben der Eigentümerposition unberührt lassen und nur deren Ausnutzung regeln, liegt es nahe, daß der Gerichtshof aufgrund der Übertragung dieser Grundsätze zur Grundrechtskonformität der Richtlinienvorhaben gelangen würde. 90 Noch eine weitere Entscheidung des Gerichtshofes gibt Anlaß zu Befurchtungen in diese Richtung: In dem Fall ist der Hersteller bestimmter chemischer Grundstoffe für verpflichtet erachtet worden, diese Stoffe einem Konkurrenten zur Verfügung zu stellen, sogar dann, wenn er mit ihm hinsichtlich der Endprodukte in einem unmittelbaren Wettbewerb steht. 91 Überträgt man diese Wertung auf den vorliegenden Fall, so müßten die Energieversorgungsunternehmen den Zugang Dritter zu dem eigenen Netz dulden, obwohl damit Konkurrenten unterstützt und die eigene Wettbewerbsposition verschlechtert wird. Mithin kann trotz einer ähnlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung des Gerichtshofes wie im nationalen Recht nicht ausgeschlossen werden, daß er den schwerwiegenden Eingriff in das Eigentum der betroffenen Energieversorger fur gerechtfertigt erachten würde. 88 Vgl. EuGH Rs. 24/67, Slg. 1968,85 (113) - Parke, DavislProbel, Reese u.a.; Rs. 40170, Slg. 1971,69 (82 Rdnr. 5) - SirenalEda u.a.; Rs. 192173, Sig. 1974,731 (744 f.) - Hag; kritisch zu dieser Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften Rupp, NJW 1976, 993 (996). 89 Davon gehen auch Lukes, in: Leitungsgebundene Energie, 101 (102), und Stewing, EuR 1993, 41 (56), aus. 90 So auch Stewing, EuR 1993,41 (56). 91 EuGH verbundene Rs. 6 und 7173, Slg. 1974,223 ff. - Chemioterapico Italiano und Comerci al SolventsIKommission; worauf auch Lukes, in: Leitungsgebundene Energie, 101 (102), verweist.
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Dritter Teil: Aktuelle Konfliktfiille
5. Fazit
Im Ergebnis ist also festzuhalten, daß der "Third Party Access" keine verhältnismäßige Konkretisierung des gemeinschaftsrechtlichen Eigentumsbegriffes darstellt,92 aber aufgrund der fehlenden Kalkulierbarkeit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes nicht ausgeschlossen werden kann, daß er einen Verstoß gegen das Eigentum der Energieversorgungsunternehmen verneinen würde. 93 Dies gilt um so mehr, als er in der Vergangenheit stets bemüht war, den Gemeinschaftszielen zur Durchsetzung zu verhelfen. Schließlich hat er immer betont, die Grundrechtsgewährleistungen des Gemeinschaftsrechtes würden auch durch die Ziele der Gemeinschaft begrenzt. 94 Somit kann ein Auseinanderfallen des europäischen und des nationalen Grundrechtsschutzniveaus nicht nur nicht ausgeschlossen werden, sondern dürfte sogar naheliegen. IH. Wahrscheinlichkeit eines Grundrechtskonfliktes für den Umsetzungsgesetzgeber Darüber hinaus ist es wenig wahrscheinlich, daß der Gerichtshof vor der innerstaatlichen Umsetzung der Richtlinien Gelegenheit haben würde, über deren Grundrechtskonformität beziehungsweise -widrigkeit zu befmden. Die betroffenen Unternehmen werden nämlich die festgestellten Eigentumsverletzungen durch die Richtlinien vor dem Gerichtshof kaum geltend machen können: Eine Nichtigkeitsklage gemäß Art. 173 Abs. 4 EG-Vertrag würde schließlich zunächst verlangen, daß die Richtlinie einer Entscheidung im Sinne dieser Vorschrift gleichgestellt würde. 95 Der Gerichtshof hat sich zu der Möglichkeit einer Nichtigkeitsklage gegen eine Richtlinie noch nicht abschließend geäußert. Selbst wenn die Tatsache, daß er die Möglichkeit der Anwendung von Art. 173 Abs. 4 EG-Vertrag auf Richtlinien in einer aktuellen Entscheidung nicht kategorisch ausgeschlossen hat,96 auf eine Gleichstellung hinweisen sollte, wäre weiterhin erforderlich, daß die Richtlinien die klagenden Unternehmen indivi92
ten.
Die gegenteilige Auffassung wird von Jarass, Europäisches Energierecht, S. 106 ff., vertre-
93 Beftlrchtungen dahingehend äußern auch Stewing, EuR 1993, 41 (58); Schröder, in: Leitungsgebundene Energie, 79 (97). 94 Vgl. nur EuGH Rs. 11170, Sig. 1970, 1125 (1135) -Internationale Handelsgesellschaft; siehe auch Ausftlhrungen oben unter 2. Teil. 95Vgl. hierzu v. Burchard, EuR 1991, 140 (160 ff.); vgl. auch nachfolgend unter 6. Teil A. 11. I. b). . 96 EuGH Rs. T -99/94, EuZW 1995, 254 f. - Associati6n Espanola; Rs. C 298/89, Sig. 1983, I - 3605 ff. - Gibraltar.
B. Etikettierungsrichtlinie
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duell betreffen. Nach der bisherigen Rechtsprechung wäre dies nur bei namentlicher Nennung in der Richtlinie der Fall97 oder wenn eine vergleichbare Individualisierung der Unternehmen auszumachen wäre. 98 Daß die betroffenen Energieversorgungsunternehmen abstrakt zwar möglicherweise benannt werden können, ändert nichts an der fehlenden Individualisierbarkeit in der Richtlinie. Schließlich ist auch das Kriterium der unmittelbaren Betroffenheit vorliegend nicht erfüllt, weil die Richtlinien erst nach innerstaatlicher Umsetzung die Eigentumsrechte der Unternehmen beeinträchtigen. Selbst wenn die prozessualen Hürden hinsichtlich der Geltendmachung der Eigentumsverletzungen vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften überwunden werden könnten oder gar die Bundesrepublik Deutschland auf Veranlassung des deutschen Umsetzungsgesetzgebers gemäß Art. 173 Abs. 2 EG-Vertrag Klage erheben würde, wäre es nach dem eben Gesagten fraglich, ob der Gerichtshof zu einem Verstoß gegen die Eigentumsgarantie - ganz zu schweigen von dem hier nicht erörterten, aber ebenfalls zu bejahenden Verstoß gegen die Berufsfreiheit99 - gelangen würde. Da ein (erfolgreiches) Vorgehen gegen die Richtlinien vor der Umsetzung somit unwahrscheinlich ist, wird im Falle der Verabschiedung der beiden Richtlinien die Frage akut, wie der Konflikt zwischen der gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtung zur innerstaatlichen Implementation grundrechtswidrigen Richtlinienrechtes und der Bindung an die Grundrechtsordnung des Grundgesetzes zu lösen ist.
B. Etikettierungsrichtlinie Da die Problematik der Grundrechtrechtsgeltung bei der Umsetzung von Richtlinien in innerstaatliches Recht erst durch den Streit um die Tabakrichtlinien 100 zum aktuellen Diskussionsthema avancierte, soll an dieser Stelle nicht offen gelassen werden, ob in dem konkreten Fall grundrechtswidrige gemeinschaftsrechtliche Vorgaben den nationalen Umsetzungsgesetzgeber veraniaßt
97 Die Erdgastransit-Richtlinie des Rates, AblEG Nr. L 147 v. 12.6.1991, S. 37 ff., enthält in ihrem Anhang (S. 40) eine Liste mit den betroffenen Gasversorgungsunternehmen. Entsprechendes gilt fiir die Elektrizitätstransit-Richtlinie, AblEG Nr. L 313 v. 13.11.1990, S. 30 ff. 98 EuGH Rs. C-309/89, Sig. 1994,1-1853 ff. - Codomui. 99 Vgl. Fn. 3 in diesem Teil. 100 Zugrundegelegt wird die Richtlinie in der Fassung vom 13.11.1 989 (vgl. Anhang 1). Durch die Richtlinie 92/41 EWG des Rates vom 15. Mai 1992, ABlEG Nr. L 158 v. 11.6.1992, S. 30 ff., ist der Anwendungsbereich der Richtlinie auch auf andere Tabakerzeugnisse erstreckt worden, die bislang nicht unter die Definitionen der Richtlinie subsumierbar waren.
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Dritter Teil: Aktuelle Konfliktfälle
haben, innerstaatlich verfassungswidriges Recht zu setzen. 101 Darüber hinaus soll geklärt werden, ob eine entsprechende Grundrechtswidrigkeit auch erfolgversprechend vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften gerügt werden könnte. Denn nur wenn der durch den Gerichtshof gewährleistete Grundrechtsstandard kürzer greift als der innerstaatliche Grundrechtsschutz, kann diese Richtlinie als Präzedenzfall herangezogen werden, um zu dokumentieren, daß der Inhalt einer Richtlinie zwar gemeinschaftsrechtlich grundrechtskonform sein kann, während sie hingegen den innerstaatlichen Grundrechtsanforderungen nicht genügt, und sich der nationale Gesetz- und Verordnungsgeber damit vor den Konflikt zwischen der in Art. 1 Abs. 3 GG normierten verfassungsrechtlichen Bindung einerseits und der Gemeinschaftsrechtsbindung andererseits gestellt sieht.
I. Verstoß gegen innerstaatliche Grundrechtsgewährleistungen Wie bereits angesprochen,102 bestehen Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit der Etikettierungsrichtlinie beziehungsweise des innerstaatlichen Umsetzungsaktes l03 mit den Grundrechten der Hersteller und Vertreiber aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 1. Fall, Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 GG.I04 1. Vereinbarkeit mit Art. 5 Abs. 1 S. 1 1. Fall GG
Besonders vehement diskutiert wurde und wird auch nach innerstaatlicher Umsetzung der Richtlinie noch die Frage der Vereinbarkeit der Richtlinie mit dem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 S. I 1. Fall GG, insbesondere mit der negativen Meinungsfreiheit. 105
101 Das Bundesverfassungsgericht entscheidet hierüber voraussichtlich 1997. 102 Vgl. Ausfilhrungen unter I. Teil C. III. I. 103 Vgl. Fn. 72 im 1. Teil; siehe auch Anhang 2. 104 Diskutiert wird darüber hinaus auch ein Eingriff in die negative Informationsfreiheit der
Marktbürger gemäß Art. 5 Abs. 1 S. 1 2. Fall GG; vgl. Erberich/Franke, in: B1eckmann-FS, 55 (62); ausführlich hierzu Kloepfer, S. 58 fI.; Kevekordes, S. 119 f. Die ebenfalls grundrechtsrelevante Frage, ob die Richtlinie kompetenzwidrig erlassen wurde, wird aus Raumgründen ausgeklammert. 105 Merten, EuR- Beiheft 1 - 1991,41 (42); Zapka, RIW 1990, 132 (137); KirchhofIFrick, AfP 1990,677 (678 fI.); Erberich/Franke, in: Bleckmann-FS, 55 (63); Scholz, in: FriauflScholz, 53 (67 0; Everling, EuR 1990, 195 (205 fI.); Pemice, NJW 1990,2409 (2410).
B. Etikettierungsrichtlinie
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a) Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 S. 1 1. Fall GG
Die in Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG garantierte Meinungsäußerungsfreiheit umfaßt Werturteile jeder Art. 106 Ebenso werden damit im Zusammenhang stehende Tatsachenmitteilungen geschützt, sofern sie durch Elemente der Stellungnahme, des Darurhaltens oder des Meinens geprägt sind. 107 In diesen Fällen ist die Mitteilung von Tatsachen nämlich Voraussetzung für die Bildung von Meinungen. I08 Die Motive, die der einzelne Teilnehmer am Kommunikationsprozeß mit seiner Äußerung verfolgt, sind dabei unerheblich. lo9 Daher genießen auch werbliche Aussagen den Schutz des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG.1I0 Nicht umfaßt werden hingegen reine Tatsachenmitteilungen, die mit Meinungsbildung nichts zu tun haben. 111 Eine Äußerung stellt eine solche Tatsachenmitteilung dar, wenn der Gehalt der Äußerung einer objektiven Klärung und Nachprüfung zugänglich ist und dem Beweis offensteht, 112 wie es beispielsweise bei Fakten, Daten oder statistischen Angaben der Fall ist. 11J Soweit die Etikettierungsrichtlinie die Pflicht zur Angabe von Teer- und Nikotingehalt normiert, handelt es sich um wissenschaftlich erwiesene Angaben, die als solche nicht mehr meinungsbildend wirken. Ihnen kommt somit Tatsachenqualität zu. Entsprechendes gilt rur den objektiv zutreffenden, auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierenden Warnhinweis "Rauchen gefahrdet die Gesundheit". Insoweit ist Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG folglich nicht betroffen. Anders verhält es sich jedoch mit den obligatorischen Wamhinweisen "Rauchen verursacht Krebs", "Rauchen verursacht Herz- und Gefäßkrankheiten" und dem fakultativen Hinweis "Rauchen ist tödlich". Auf den ersten Blick erwecken diese Warnhinweise zwar den Anschein einer monokausal gesicherten Aussage, also der Tatsache, daß Rauchen zwingend zu Krebs, Herz- und BVerfGE 7,198 (210); 33, I (140; 61, I (7). 33, I (14); 61, I (80; 65, I (41); 71,162 (179). 108 BVerfGE 30, 337 (352); 65, I (41); 71, 162 (179). I09Wendt, in: v. MünchlKunig, Art. 5 Rdnr. 11; Scholz, in: FriaufiScholz, 53 (65); Merten, DÖV 1990, 761 (764); Degenhart, in: Bonner Kommentar, Art. 5 Abs. 1,2 Rdnr.43; FriaufIHöfling, AfP 1985,249 (253 f.). 110 Ausdrücklich offengelassen vom BVerfU, NJW 1994,3342 f.; vgl. auch BVerfGE 71, 162 (175). Bejahend FriaufIHöfling, AfP 1985,249 ff.; Starck, in: v. MangoldtIKlein/Starck, Art. 5 Abs. 1, 2 Rdnr. 18; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 5 Rdnr.2; Hoffmann-Riem, in: AK, Art. 5 Abs. I, 2 Rdnr. 33; zu Recht auch Scholz, in: Friauf/Scholz, 53 (65); Zapka, RlW 1990, 132 (138). 111 BVerfGE 65, I (41); Hoffmann-Riem, in: AK, Art. 5 Abs. 1,2 Rdnr. 21. 112 Wenzel, S. 96. 113 Vgl. BVerfUE 65, I (40 ff.); Merten, DÖV 1990, 761 (762); Jarass, in: Jarass/ Pieroth, Art. 5 Rdnr. 2. 106
107 BVerfGE
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Dritter Teil: Aktuelle Konfliktfälle
Gefäßkrankheiten und zum Tode fuhrt. Jedoch ist ihr Wahrheitsgehalt nur zum Teil zutreffend. Rauchen erhöht erwiesenennaßen lediglich die Wahrscheinlichkeit einer Krebserkrankung. Selbst wenn das Rauchen die Krebsgefahr und die Wahrscheinlichkeit von Herz- und Gefäßkrankheiten deutlich steigert, so kann die definitive Kausalität, wie sie in den Warnungen zum Ausdruck kommt, nicht nachgewiesen werden. Die Wissenschaft ist sich einig, daß der Eintritt derartiger Krankheiten auf einer Vielzahl von Einflußfaktoren basieren kann, von denen möglicherweise einer übennäßiger Tabakkonsum ist. Ebenso ist die Aussage, Rauchen fUhre zwangsläufig zum Tode, wissenschaftlich nicht haltbar. Die Warnungen dienen daher auch nicht lediglich der sachlichen Infonnation des Verbrauchers, vielmehr soll mit diesen überzogenen Hinweisen beim Adressaten eine bestimmte Einstellung erzeugt und ein bestimmtes Verhalten motiviert werden. 114 Der Verbraucher soll gleichsam "wachgerüttelt" werden. Die Hinweise sind somit aufgrund ihrer wertenden Elemente als Meinungsäußerungen zu qualifizieren. Nach seinem Wortlaut garantiert Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG lediglich das Recht, "seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten". Den Herstellern wird mit der Etikettierungsrichtlinie jedoch nicht die Äußerung einer bestimmten Meinung untersagt, sie werden im Gegenteil verpflichtet, eine bestimmte Äußerung zu tätigen. Das Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit umfaßt aber neben der positiven Gewährleistung gleichennaßen das Recht, eine Meinung nicht äußern zu müssen und zu einer bestimmten Frage schweigen zu dürfen (sogenannte negative Meinungsfreiheit).115 Danach darf niemand gezwungen werden, eine bestimmte Meinung zu äußern, die er nicht äußern will beziehungsweise zu der er sich nicht zu bekennen vennag. 116 Stünde es dem Bürger nämlich nicht frei, ob er eine Meinung äußert, würde die Freiheit der Meinungsäußerung ganz erheblich an Wert einbüßen. 1I7 Demnach liegt ein Eingriff in die negative Meinungsfreiheit vor, wenn jemand gezwungen wird,
114S0 zu Recht Kloepfer, S. 22; KirchhofiFrick, AfP 1991,677 (679); ErberichlFranke, in: B1eckmann-FS, 55 (64). 115 BVerfGE 65, I (40 f.); Merten, DÖV 1990, 761; Pieroth/Schlink, Rdnr. 612; Bleckmann, Grundrechte, S. 678; Wendt, in: v. MünchIKunig, Art. 5 Rdnr. 18; Hoffinann-Riem, in: AK, Art. 5 Abs. 1,2 Rdnr. 24; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 5 Rdnr. 4; Schmidt-Jortzig, in: HdbStR, Bd. VI, § 141 Rdnr. 27; Herzog, in: MaunzIDürig, Art. 5 Abs.I," Rdnr. 40 . 116 BVerfGE 65, 1 (40 f.); Herzog, in: MaunzlDürig, Art. 5 Abs. I, " Rdnr. 40; Wendt, in: v. MünchIKunig, Art. 5 Rdnr. 18; Starck, in: v. MangoldtlKleinlStarck, Art. 5 Abs. 1, 2 Rdnr. 12; Merten, EuR - Beiheft 1- 1991,41 (42); Schmidt-Jortzig, in: HdbStR, Bd. VI, § 141 Rdnr.27. 117 Zu der Herleitung der negativen Meinungsäußerungsfreiheit ausfilhrlich Kloepfer, S. 23 ff.
B. Etikettierungsrichtlinie
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eine fremde Meinung als seine eigene wiederzugeben. 118 Der ursprüngliche Kommissionsentwurf sah zwar vor, den Warnhinweisen keine Urheberangabe hinzufilgen zu dürfen,119 aufIntervention des deutschen Abgesandten im Ministerrat wurde die Richtlinie dann aber dahingehend geändert, jedem Mitgliedstaat im Rahmen der Umsetzung anheimzustellen, ob die Warnhinweise mit dem Zusatz "Die EG-Gesundheitsminister: ... " versehen werden. In dem deutschen Umsetzungsakt zu der Etikettierungsrichtlinie wurde von dieser in Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht, den Urheber der Warnung auf der Zigarettenpackung anzugeben. 120 Insofern ist jedem Verbraucher klar, daß nicht der Produzent Urheber der Warnung vor seinem eigenen Produkt ist. Die diesbezüglich von einigen Seiten vorgetragene Kritik, niemand dürfe gezwungen werden, fur eine von ihm fllr unzutreffend erachtete Meinung verantwortlich zu zeichnen,121 ist mithin hinfallig. Zu klären ist aber, ob die negative Meinungsfreiheit auch dann betroffen ist, wenn der Adressat einer Meinung ohne weiteres erkennt, daß die Meinung nicht von dem sich Äußernden herrührt. Der Schutzbereich der negativen Meinungsfreiheit erschöpft sich nicht in dem Verbot, einem anderen eine fremde Meinung als eigene unterzuschieben, und dem damit verbundenen Identifikationszwang. Wenn der Staat den Bürger nämlich nicht verpflichten darf, seine eigene Meinung zu offenbaren, so ist es erst recht ausgeschlossen, ihm die Äußerung einer fremden - möglicherweise der eigenen zuwiderlaufenden Meinung staatlich zu oktroyieren. 122 Die negative Meinungsfreiheit umfaßt als Spiegelbild der positiven Gewährleistung gleichermaßen das Recht, eine eigene Meinung für sich zu behalten, wie auch das Recht, eine fremde Meinung zu verschweigen. Das gilt auch fllr den Fall der ausdrücklichen Benennung des Urhebers der Meinung. Da die negative Meinungsäußerungsfreiheit also auch vor der Pflicht zu der Verbreitung fremder Meinungen schützt, ist der Schutzbereich der Meinungsfreiheit durch die Verpflichtung der Unternehmen, die Meinung der EG-Gesundheitsminister zu verbreiten, betroffen. 118Merten, DÖV 1990,761 (766); ders. nach Niedobitek, in: Föderalismus und EG, S. 131; Pieroth/Schlink, Rdnr. 612. 119 Vgl. Ausfllhrungen unter 1. Teil C. III. 120Vgl. Anhang 1. 121 Zapka, RlW 1990, 132 (137); Scholz, in: Friauf/Scholz, 53 (67 f.); ders., NJW 1990,941 f.; siehe auch oben unter 1. Teil C. III. 1. 122 Hoffinann-Riem, in: AK, Art. 5 Abs. 1,2 Rdnr. 20; Merten, DÖV 1990,761 (767 f.); ders., EuR- Beiheft 1-1991, S. 41 f.; Schmidt-Jortzig, in: HdbStR, Bd. VI, § 141 Rdnr. 21; zu Recht also Kloepfer, S. 27; Kevekordes, S. 113 f.; Kirchhof/Frick, AfP 1991,677 (679); Zapka, RlW 1990, 132 (137); siehe auch Pierothl Schlink, Rdnr. 613. 7 Rickert
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Dritter Teil: Aktuelle KonfliktflilIe
b) Schranken der negativen Meinungsfreiheit Die Meinungsäußerungsfreiheit steht gern. Art. 5 Abs. 2 GG unter dem Vorbehalt der allgemeinen Gesetze. Allgemeine Gesetze sind Nonnen, die sich nicht gegen eine bestimmte Meinung als solche richten, sondern vielmehr dem Schutze eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsgutes dienen. 123 Die Etikettierungsrichtlinie will aber nicht eine bestimmte Meinung verbieten, sondern eine bestimmte Meinung gebieten. Würde man die Definition des allgemeinen Gesetzes entsprechend für die negative Meinungsäußerungsfreiheit anpassen, so wäre ein allgemeines Gesetz nur dann gegeben, wenn die jeweilige Nonn nicht die Äußerung einer bestimmten Meinung gebietet. 124 Demnach wäre der deutsche Umsetzungsakt kein allgemeines Gesetz im Sinne von Art. 5 Abs. 2 GG, weil den Produzenten gerade die Pflicht auferlegt wird, bestimmte Meinungen zu äußern. Diese Definition des allgemeinen Gesetzes greift aber zu kurz. Dient ein Gesetz dem Schutze eines bestimmten Gemeinschaftswertes, der gegenüber der Betätigung der Meinungsäußerungsfreiheit Vorrang hat, gilt eine solche Vorschrift ebenfalls als allgemeines Gesetz im Sinne von Art. 5 Abs. 2 GG.125 c) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Demnach ist eine Abwägung unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zwischen dem mit der Etikettierungsrichtlinie beziehungsweise dem entsprechenden Umsetzungsakt intendierten Gesundheitsschutz und der Meinungsfreiheit der Produzenten und Vertreiber im Lichte der Bedeutung dieses Grundrechtes erforderlich. aa) Geeignetheit Schon hinsichtlich der Geeignetheit der Maßnahme, das angestrebte Ziel zu verwirklichen, bestehen Bedenken. Zwar findet das Ziel des Umsetzungsaktes, der Gesundheitsschutz, in Art. 2 Abs. 2 GG eine verfassungsrechtliche Verankerung,126 doch ob durch die Aufdrucke auf den Zigarettenschachteln das 123 BVerfGE 7,198 (209 f.); 57,250 (268); 59,231 (263 f.); 62, 230 (243 f.); 71,162 (175). 124 So zutreffend K10epfer, S. 35; Scho1z, in: FriauflScholz, 53 (68); Merten, EuR - Beiheft 1 1991,41 (42); KirchhoflFrick, AfP 1991,677 (679). 125 BVerfGE 7,198 (209 f.); KirchhofIFrick, AfP 1991,677 (679). 126Vgl. auch BVerfGE 7, 377 (414 f.).
B. Etikettierungsrichtlinie
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Rauchverhalten der Bevölkerung wirklich nachhaltig beeinflußt wird, ist zweifelhaft. Hierbei handelt es sich um eine tatsächliche Frage. Es existieren keinerlei Statistiken, die als Beleg dafür herangezogen werden können, daß Warnungen einen positiven Einfluß auf das Rauchverhalten nehmen können. Vielmehr lassen sich eher Angaben darüber anführen, daß Werbeverbote keinerlei Auswirkungen auf das Konsumverhalten zeigen. So dokumentieren die bisherigen Statistiken aus Ländern, in denen ein Werbeverbot besteht, daß Werbeverbote nicht zu einer Verringerung des Tabakkonsums führen. 127 In Italien besteht beispielsweise seit 1962 ein Werbeverbot für Zigaretten, dennoch ist der Verbrauch stetig gestiegen. Entsprechendes konnte in der Vergangenheit in den osteuropäischen Ländern festgestellt werden, wo gar keine Zigarettenwerbung zu finden war. Sachverständigengutachten haben ferner ergeben, daß variierende Werbeausgaben keinen Einfluß auf das Konsumverhalten des Verbrauchers zeigen. 128 Wenn aber werbende Aussagen keinerlei Auswirkungen auf das Konsumverhalten von Rauchern mit sich bringen, kann auch nicht davon ausgegangen werden, daß die mahnenden Hinweise auf den Packungen den Verbrauch beeinflussen. Im übrigen sind dem passionierten Raucher und auch dem Durchschnittskonsumenten die Gesundheitsgefahren des Rauchens durchaus bekannt, daher erfüllen die Warnhinweise allenfalls die Funktion des "InErinnerung-Bringens" 129. Andererseits kann aber auch nicht von vornherein ausgeschlossen werden, daß einige Verbraucher durch die Hinweise auf den Packungen von weiterem Tabakkonsum abgehalten werden. Außerdem ist in den Ländern, die Zigarettenwerbung verbieten, der Anteil der Filter- und Leichtzigaretten am gesamten Zigarettenkonsum erheblich höher als in den Ländern, in denen die Zigarettenwerbung freigegeben ist. Geht man davon aus, daß die Warnhinweise eine entsprechende Wirkung zeigen, ist der Umsetzungsakt zumindest in der Lage, das gesetzgeberische Ziel des Gesundheitsschutzes zu fördern. Dem Gesetzgeber steht insoweit ein erheblicher Beurteilungsspielraum zu. I3O Da die Aufdrucke auf den Zigarettenschachteln nicht evident untauglich sind, das Rauchverhalten der Bevölkerung zu beein127Ygl. F.A.Z. v. 4. April 1995, Nr. 80, S. 16; Zapka, RIW 1990, 132 (136); KirchhoflFrick, AfP 1991,677 (679). 128 Ygl. die Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage von mehreren Abgeordneten zu den Auswirkungen des Konsums von Zigaretten vom 9.5.1974: Es wird ausdrücklich festgestellt, daß sich "keine zuverlässigen und eindeutigen Aussagen derart machen [lassen], daß ein direkter Zusammenhang zwischen dem Umfang der Werbung und der Höhe des Zigarettenkonsums besteht", BTDrucks. 7/2070, S. 11 f. So auch Zapka, RIW 1990, 132 (136). Bedenken klingen auch bei Kevekordes, S. 78 fI., an. 129 So zutreffend KirchhoflFrick, AfP 1991,677 (679); ähnlich Kevekordes, S. 116. I3OYgl. BYerfGE 30, 292 (317); 39, 210 (226); BVerfG, NJW 1986, 1241 (1242). 7*
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Dritter Teil: Aktuelle Konfliktfalle
fiussen, ist die Maßnahme trotz der dargelegten Bedenken wegen der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers als geeignet zu betrachten. bb) Erforderlichkeit Noch zweifelhafter ist aber, ob die Etikettierung auch erforderlich ist. Schließlich könnte eine Reduzierung des Tabakkonsums wesentlich effektiver durch andere staatliche Aufklärungsarbeit erreicht werden, 13l weil die Warnhinweise auf den Zigarettenpackungen nur den Verbraucher erreichen, der sich die Tabakwaren bereits gekauft hat und damit zum Verbrauch fest entschlossen ist und sich ohnehin nicht mehr durch entsprechende Warnungen abschrecken läßt. Demgegenüber könnten Aufklärungskampagnen schon in der vorgeschalteten Phase ansetzen und damit bereits die Kaufentscheidung hindern. Da sich das Ziel somit (sogar noch erheblich effektiver) ohne Eingriff in die negative Meinungsäußerungsfreiheit von Vertreibern und Produzenten verwirklichen läßt, ist das in der Richtlinie angelegte Vorgehen nicht erforderlich. cc) Angemessenheit Auch bei der Überprüfung der Angemessenheit der Regelung offenbart sich deren Verfassungswidrigkeit. Dem Gesundheitsschutz steht der relativ einschneidende Eingriff in die negative Meinungsäußerungsfreiheit durch die Verpflichtung gegenüber, das eigene Produkt mit Warnungen vor dem Produkt selbst zu versehen. Letzten Endes läuft die Verpflichtung zum Aufdruck der Wamhinweise damit quasi auf eine "Negativ-Reklame"132 rur das eigene Produkt hinaus. Dieser Eingriff wiegt um so schwerer, als sich die Wamhinweise "Rauchen verursacht Krebs" oder "Herz- und Gefiißkrankheiten" oder "Rauchen ist tödlich" in dieser monokausalen Einfachheit - wie festgestellt- 133 nicht halten lassen. Der Konsum von Tabakprodukten kann ein Faktor von vielen im Falle des Auftretens von Gesundheitsschädigungen sein, muß aber nicht zwingend die proklamierten Folgen zeitigen. Mit der Normierung der Pflicht, - entgegen der eigenen Meinung - diese zum Teil unwahren, zum Teil nicht nachweisbaren Aussagen des Staates zu verbreiten, wird intensiver in die Meinungsäußerungsfreiheit eingegriffen als es durch das geschützte Rechtsgut So auch KirchhoflFrick, AfP 1991,677 (680). S. 29. 133 Vgl. Ausftlhrungen unter 3. Teil B. I. I. a). 131
132 Kloepfer,
B. Etikettierungsrichtlinie
\01
gerechtfertigt ist. Hinzu kommt, daß die Warnhinweise vornehmlich die Gesundheit derer schützen sollen, die sich bewußt und freiwillig der Gefährdung ihrer Gesundheit aussetzen. Die Freiheit zu Rauchen ist aber Bestandteil der allgemeinen Handlungsfreiheit, welche ihrerseits wiederum in Art. 2 Abs. 1 GG vor staatlichen Eingriffen geschützt ist. Auch der selbstgefährdende Charakter dieser Freiheitsbetätigung vermag hieran nicht zu ändern, weil eine Selbstgefährdung nur dann staatliches Eingreifen rechtfertigt, wenn sie auf mangelnde Einsichtsfähigkeit zurückzuführen ist. 134 Da die negativen Begleiterscheinungen des Rauchens mittlerweile zum Allgemeingut gehören, ist dies vorliegend nicht der Fall. Im Ergebnis läßt sich somit festhalten, daß es auch an der gebotenen Angemessenheit des Eingriffes mangelt. Da zumindest die Warnhinweise "Rauchen verursacht Krebs" und "Rauchen verursacht Herz- und Gefäßkrankheiten" obligatorisch sind, ist im Ergebnis also festzustellen, daß die Etikettierungsrichtlinie und die entsprechende deutsche Transformation in § 3 Abs. 1 der TabKTHm V nicht mit dem Grundrecht der negativen Meinungsäußerungsfreiheit vereinbar sind. 135 2. Vereinbarkeit mit Art. 12 Abs. 1 GG
Ebenso bestehen Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit mit Art. 12 Abs. 1 GG. Das Grundrecht der Berufsfreiheit schützt unter anderem die Erwerbszwecken dienende freie unternehmerische Betätigung,136 deren wesentlicher Bestandteil die aktive Teilnahme am Wettbewerb ist. 1J7 Unter Wettbewerbsfreiheit in diesem Sinne ist dabei nicht nur der Schutz vor Bevorzugung oder Benachteiligung einzelner Unternehmen zu verstehen, sondern auch die Freiheit vor staatlicher Behinderung bei der wettbewerbsrechtlichen Betätigung. 138 Natürliche und juristische Personen werden gleichermaßen von dieser Gewährleistung umfaßt. 139 Der Berufung auf Art. 12 GG steht also nicht entgegen, daß es sich bei einigen der an der Produktion und am Vertrieb von Tabakprodukten beteiligten Unternehmen um juristische Personen handelt. Indem die 134 Vgl. Bleckmann, RdA 1988, 332 (335); Hermes, S. 199, 228 f.; Stewing, RlW 1993, 185 (186). 135 Die in der Literatur geltend gemachte Kritik ist folglich berechtigt; vgl. Fn. 77 im 1. Teil. 136 BVerwGE 71,183 (189); Gubelt, in: v. Münch/Kunig, Art. 12 Rdnr. 18. 137BVerfDE 32, 311 (317); 46, 120 (137); BVerwGE 71, 183 (189); PierothlSchlink, Rdnr.880. 138Vgl. BVerfDE 32, 311 (317); 46,120 (137 f.); Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 12 Rdnr. 14. 139 BVerfDE 21, 261 (266); 30, 292 (312); 50,290 (363); Gubelt, in: v. Münch! Kunig, Art. 12 Rdnr. 6; Breuer, in: HdbStR, Bd. VI, § 147 Rdnr. 23; Scholz, in: MaunzlDürig, Art. 12 Rdnr. 98.
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Dritter Teil: Aktuelle Konfliktfälle
Umsetzungsvorschrift zu der Etikettierungsrichtlinie nur noch das Inverkehrbringen von Tabakprodukten gestattet, die mit entsprechenden Warnhinweisen versehen sind, greift der Umsetzungsgesetzgeber in diese Grundrechtsgewährleistung ein. Da es sich bei der hiermit normierten Verpflichtung um Bestimmungen über die Herstellung und den Vertrieb von Tabakprodukten, mithin um Berufsausübungsregelungen handelt,140 ist dieser Eingriff nach der Dreistufentheorie des Bundesverfassungsgerichtes l41 nur gerechtfertigt, wenn vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls ihn zweckmäßig erscheinen lassen und die Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gewahrt sind. Insoweit kann auf die oben gemachten Ausführungen verwiesen werden: Der Gesundheitsschutz stellt zwar grundsätzlich ein verfassungskonformes gesetzgeberisches Motiv dar, doch ist eine zur Verwirklichung dieses Zieles normierte Pflicht zur Produktkennzeichnung mit Wamhinweisen nicht verhältnismäßig, wenn die einzelnen Warnungen in der konkreten Form wissenschaftlich nicht haltbar sind und die geschützten Personen sich freiwillig der Gefährdung ihrer Gesundheit aussetzen. 142 Folglich verstößt der Richtlinieninhalt auch gegen das Grundrecht des Art. 12 Abs. 1 GG. 3. Vereinbarkeit mit Art. 14 GG
Bei der Frage, ob durch die innerstaatliche Umsetzung der Richtlinie gegen das Eigentumsgrundrecht aus Art. 14 GG verstoßen wurde, ist zwischen verschiedenen Aspekten zu differenzieren: dem Eigentum am Produkt, dem Schutzrecht an der Ausstattung und dem eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb.
140Wie hier Kevekordes, S. 111. Unzufreffend daher Kirchhof/Frick, AfP 1991,677 (681), die von einer Berufswahlregelung ausgehen, weil mit den Wamhinweisen "final der Beruf des Tabakproduzenten oder -händlers behindert oder gar beendet" werden solle. Diese Argumentation ist aber insofern nicht stichhaltig, als die Intention des Normgebers auf den Gesundheitsschutz und den Abbau von Handelshemmnissen gerichtet ist, vgl. AusfUhrungen unter I. Teil C. 111. und soeben unter 3. Teil B. \. I. c) aa). 141 BVerfGE 7, 377 (397 ff., insbesondere 404 ff.). 142 Vgl. AusfUhrungen soeben unter 3. Teil \. I. c). cc).
B. Etikettierungsrichtlinie
\03
a) Sacheigentum am Produkt Gemäß Art. 4 Abs. 4 der Etikettierungsrichtlinie beziehungsweise gemäß § 6 TabKTHm V müssen die Warnhinweise mindestens 4 % der Fläche auf den Frontseiten der Zigarettenpackungen einnehmen. Mit dieser Kennzeichnungspflicht werden konkrete Eigentumspositionen der Produzenten und Vertreiber von Tabakprodukten an der jeweiligen Packung in Anspruch genommen. 143 Da hierdurch die Dispositionsbefugnisse des Eigentümers verkürzt werden, kommt dieser Maßnahme auch Eingriffsqualität ZU. I44 Das Eigentum an der jeweiligen Zigarettenpackung ist bereits mit dem "Entstehen" wenn auch nicht vollständig entzogen, so aber doch mit der Verpflichtung zur Kennzeichnung mit Warnhinweisen unterworfen. Folglich handelt es sich hierbei um eine Inhalts- und Schrankenbestimmung im Sinne von Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG.145 Auch Inhalts- und Schrankenbestimmungen sind nur dann verfassungsrechtlich zulässig, wenn sie den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes entsprechen. Die Einschränkung der Eigentümerbefugnisse muß zur Erreichung des angestrebten Zieles geeignet und notwendig sein, sie darf ferner nicht übermäßig belastend und deshalb unzumutbar sein. 146 Ziel der Inanspruchnahme der Fläche auf den Zigarettenpackungen ist es, dem Verbraucher die Warnhinweise zugänglich zu machen, um auf die Risiken des Rauchens hinzuweisen. Zur Verwirklichung dieses Zweckes genügt eine Schriftgröße, welche die Warnhinweise erkennbar macht. Eine über die Lesbarkeit hinausgehende Schriftgröße sprengt den Rahmen des Erforderlichen, da ein milderes Mittel zur Zielverwirklichung zur Verfügung steht, nämlich die Inanspruchnahme einer kleineren Fläche. Es kommen zumindest Zweifel auf, ob nicht eine kleinere Schrift und damit einhergehend eine kleinere Fläche auf den Zigarettenpackungen genügt hätte, um den Verbrauchern die Warnungen nahezubringen, und damit vorliegend die Grenze des Erforderlichen bereits überschritten ist. Dies gilt um so mehr, als sich gemäß Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie der Prozentsatz der in Anspruch genommenen Fläche bei Ländern mit zwei Amtssprachen auf 6% und bei Ländern mit drei Amtssprachen auf 8 % erhöht. Außerdem ist es in das Ermessen der Mitgliedstaaten gestellt, vorzuschreiben, daß die Angabe des Teer- und Nikotingehaltes sowie die Warnhinweise jeweils mehr als 4 % der entsprechenden Fläche einnehmen; Art. 3 Abs. 3 und Art. 4 143 So auch Kloepfer, S. 48; ErberichIFranke, in: Bleckmann-FS, 55 (62). 144 Vgl. Pieroth/Schlink, Rdnr. 987; Bleckmann, Grundrechte, S. 926 ff. 145 Vgl. BVerfUE 58, 137 (144). 146Vgl. BVerfUE 21,150 (ISS); 52, I (29 f.).
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Dritter Teil: Aktuelle Konfliktfälle
Abs. 4 der Richtlinie normieren also nur eine Untergrenze. 147 Da diese Bedenken aber nur gegenüber der Richtlinie selbst, nicht aber gegenüber dem deutschen Transformationsakt durchgreifen, ist wegen der diesbezüglichen Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers die Erforderlichkeit der Regelung zu bejahen. Etwas anderes gilt jedoch für die Angemessenheit: Hier gelten entsprechende Überlegungen, wie sie zuvor im Rahmen der Prüfung der Vereinbarkeit mit Art. 5 Abs. I S. 1 GG angestellt wurden. 148 Demnach können die wissenschaftlich nicht haltbaren und zum Teil sogar unwahren Hinweise - auch wenn sie dem überragend wichtigen Rechtsgut des Gesundheitsschutzes zu dienen bestimmt sind - den Eingriff in das Sacheigentum der Tabakwarenproduzenten nicht rechtfertigen.
b) Schutzrecht an der Ausstattung Der Schutzbereich des Art. 14 GG umfaßt neben dem Sacheigentum auch rechtmäßig eingetragene und aufrechterhaltene Warenzeichen,149 wie sie in § 15 WZGISO beschrieben sind. Miteinbezogen in den Schutzbereich wird auch der sogenannte Ausstattungsschutz lSI , weil es sich hierbei um ein vermögenswertes subjektives Recht handelt, welches dem Berechtigten ebenso ausschließlich wie das Sacheigentum zur privaten Nutzung und zur eigenen Verfügung zugeordnet ist. ls2 Die Ausstattung in diesem Sinne umfaßt alles, was die Aufmachung, Gestaltung und Etikettierung eines Produktes betrifft. Dazu gehört die Art und Weise, in welcher der Unternehmer seine Waren am Markt präsentiert, um sie von den Produkten anderer Unternehmen abzugrenzen. ls3 Hierzu zählen auch Verpackungen, sofern sie für das jeweilige Produkt als 147 EuGH Rs. C-222/9I, EuZW 1993,640 (641) - Philip Morris; Rs. C-1II92, EuZW 1993,642 (643) - Rothmans International Tobacco. 148 Vg\. Ausfilhrungen soeben unter 3. Teil B. I. I. c). 149 BVerffiE 51, 193 (216 f.); Bryde, in: v. Münch/Kunig, Art. 14 Rdnr. 17; Lerche, S. 23; Papier, in: MaunzIDürig, Art. 14 Rdnr. 189; Rittstieg, in: AK, Art. 14/15 Rdnr. 110; PierothlSchlink, Rdnr.971. 1so Das Warenzeichengesetz (WZG) ist nunmehr durch das Gesetz zur Reform des Markenrechts und zur Umsetzung der Ersten Richtlinie 89/104/EWG des Rates vom 21. Dezember 1988 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Marken (Markenrechtsreformgesetz), BGB\. 1994 I, 3082 (ber. in BGBI. 1995 I, 156), ersetzt worden, welches am I. Januar 1995 in Kraft getreten ist. 151 Vgl. § 25 WZG. 152 BVerffiE 78, 58 (71 ff.); Busse/Starck, § 25 Rdnr. I; Bryde, in: v. Münch/Kunig, Art. 14 Rdnr.I7. 153 Busse/Starck, § 25 Rdnr. 8; Althammer, § 25 Rdnr. 2; vgl. auch BGH, GRUR 1964, 454 (455).
B. Etikettierungsrichtlinie
105
charakteristisch betrachtet werden. Wird also eine bestimmte Verpackung von dem jeweiligen Konsumentenkreis einem bestimmten Produkt zugeordnet, so unterfällt die Verpackung dem Schutz des Ausstattungsrechtes. 154 Daß die starke MarktsteIlung der etablierten Zigarettenmarken maßgeblich auf deren Ausstattung, insbesondere auf die Gestaltung der Frontseiten mit bestimmten Farben und einem bestimmten Design, zurückzufllhren ist, bedarf keiner weiteren Erörterung. Man denke nur an die Zigarettenmarke, auf deren Packungen ein Dromedar mit zwei Pyramiden und einer Palmengruppe im Hintergrund abgebildet ist. Durch die Wamhinweise auf den Zigarettenpackungen, die je 4 % der Vorder- und Rückseite ausfllllen müssen, werden zwar nicht Eigentumspositionen vollständig entzogen. Art. 14 GG schützt aber nicht nur vor dem vollständigen Entzug der Nutzungsmöglichkeit des Ausstattungsrechtes, sondern auch vor Eingriffen in die Nutzungsmöglichkeiten durch nicht unerhebliche Eingriffe in das ästhetische Erscheinungsbild des Produktes. Da sich der optische Eindruck der Zigarettenverpackungen durch die Größe der fllr die Warnungen in Anspruch genommenen Fläche insgesamt verändert und die Hinweise dabei so dominierend sind, daß der Erkennungswert der Packung insgesamt betroffen ist,155 wird die Nutzungsbefugnis der Tabakindustrie eingeschränkt. Ein Eingriff in den Schutzbereich des Ausstattungsrechtes liegt somit vor. Die Frage der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung dieser Grundrechtsbeeinträchtigung ist hier aber anders zu beurteilen als beim Eingriff in das Eigentum am Produkt als solches. 156 Zwar bestehen auch hier Bedenken hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit des Eingriffes in die Verpackungsausstattung, weil Art. 4 Abs. 4 S. 3 der Richtlinie beziehungsweise § 6 Abs. 1 S. 4 TabKTHm V verlangt, daß die Warnungen in fetten Buchstaben und auf kontrastierendem Hintergrund erscheinen. Jedoch ist weder eine genaue Plazierung, noch die Farbe der Schrift und des Hintergrundes vorgegeben. Daher ist eine Gestaltung möglich, welche die Warnhinweise in das vorhandene Design der Schachtel integriert. Eine das optische Erscheinungsbild besonders intensiv beeinträchtigende Maßnahme liegt mithin nicht vor. Etwas anderes mag in Ländern mit zwei oder drei Amtssprachen geiten, weil die Aufdrucke dort gemäß Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie mindestens 6 beziehungsweise 8% der Breitseite einer
154 Busse/Starck, § 25 Rdnr. 11; Althammer, § 25 Rdnr. 10. 155 So zu Recht Kloepfer, S. 50; a.A. Kevekordes, S. 151 ff. 156 Vgl. Ausführungen soeben unter 3. Teil. B. I. 3. a).
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Dritter Teil: Aktuelle Konfliktfalle
Zigarettenpackung einnehmen müssen, was zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Gestaltungsfreiheit führt. Da es der Zigarettenproduzent infolge des ihm nach der TabKTHrnV eingeräumten bedeutenden Gestaltungsfreiraumes selbst in der Hand hat, durch möglichst geschickte Gestaltung des Designs seiner Ware den Eingriff abzufedern, und es sich bei dem intendierten Schutz der Marktbürger vor den mit dem Rauchen verbundenen Gesundheitsrisiken um ein überragend wichtiges Gemeinwohlinteresse handelt, ist der Eingriff in das Ausstattungsrecht der betroffenen Unternehmen gerechtfertigt. Die deutsche Umsetzungsbestimmung stellt insoweit folglich eine verhältnismäßige Konkretisierung des Art. 14 Abs. 1 S.2 in Verbindung mit Art. 14 Abs. 2 GG dar. c) Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb
Schließlich ist noch zu klären, ob das Recht arn eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb durch den Inhalt der Etikettierungsrichtlinie beziehungsweise der TabKTHmV unzulässig beeinträchtigt wird. Erkennt man das Recht arn eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb ebenfalls als Schutzgut des Art. 14 GG an,157 so darf dieses Recht jedoch nicht grenzenlos gewährt werden, um nicht einer Verwässerung der Gewährleistung Vorschub zu leisten. Geschützt ist nur der vorhandene Bestand, bloße Erwerbschancen arn Markt werden nicht von dieser Gewährleistung erfaßt. \S8 Etwas anderes gilt nur dann, wenn die hoheitliche Beeinträchtigung der Marktposition zu einer existenziellen Bedrohung des Unternehmens führt. 159 Die Warnhinweise sollen künftige Kaufentscheidungen der Verbraucher dahingehend beeinflussen, daß der Konsument von dem Erwerb der Tabakprodukte Abstand nimmt, das heißt, der zukünftige Absatz der Zigarettenhersteller zurückgeht. Ob die Warnungen auf den Zigarettenpackungen tatsächlich eine solche Wirkung entfalten, ist - wie oben bereits angesprochen 160 - bislang statistisch nicht belegbar. Jedenfalls ist mit sehr großer Wahrscheinlichkeit 157 Das BVerfG stellt dies in seiner neueren Rechtsprechung in Frage, vgl. BVerfGE 51, 193 (221 f.); 58, 300 (353); 66, 116 (145); 68, 193 (222 f.); ablehnend auch Rittstieg, in: AK, Art. 14/15 Rdnr. 99 f. 158 BVerfGE 68, 193 (222); 74, 129 (148); 77, 84 (118); Ossenbühl, StaatshaftungsR, S. 137 f.; Papier, in: MaunzIDürig, Art. 14 Rdnr. 99; Kimminich, in: ~onner Kommentar, Art. 14 Rdnr. 84; PierothlSchlink, Rdnm. 972, 979. 159 Lerche, S. 27.
I60Vgl. Ausfilhrungen unter 3. Teil B. I. I. c) aa).
B. Etikettierungsrichtlinie
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davon auszugehen, daß ein eventueller Absatzrückgang kein substanzbedrohendes Ausmaß annehmen wird. Da künftige Umsatzeinbußen lediglich bloße Erwerbschancen und keine Eigentumsposition im Sinne des Art. 14 GG betreffen, scheidet diesbezüglich ein Verstoß gegen das Eigentumsgrundrecht ebenfalls aus. 161 d) Zwischenergebnis
Die Pflicht, die Zigarettenpackungen mit Warnungen vor dem Rauchen zu versehen, verletzt das Grundrecht der Tabakwarenhersteller und -vertreiber aus Art. 14 GG folglich unter dem Gesichtspunkt der Inanspruchnahme der Fläche auf den Zigarettenpackungen, nicht aber unter den Aspekten des Schutzrechtes an der Ausstattung und des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebes. 4. Fazit
Zusammenfassend ist festzuhalten, daß die Etikettierungsrichtlinie gegen die Grundrechte der Tabakwarenproduzenten und -verteiber aus Art. 5 Abs. I S. 1 GG, Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 GG verstößt, weil die Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht gewahrt werden. Entsprechendes gilt für den nationalen Umsetzungsakt zu der Richtlinie. Die Etikettierungsrichtlinie ist folglich ein Beispiel dafür, daß der Umsetzungsgesetzgeber durch grundrechtswidrige EG-Richtlinien veranlaßt werden kann, innerstaatlich verfassungswidriges Recht zu setzen. 11. Verstoß gegen Gemeinschaftsgrundrechte Offen geblieben ist bislang noch, ob die Etikettierungsrichtlinie mit gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsgewährleistungen in Einklang steht. Nur wenn die Etikettierungsrichtlinie den gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsgewährleistungen entspricht, kann sie als Präzedenzfall für den Konflikt zwischen gemeinschaftsrechtlicher und nationaler Bindung des Umsetzungsgesetzgebers herangezogen werden. Denn nur wenn das der Fall ist, besteht Veranlassung, nach einer Lösung des Konfliktes zwischen gemeinschaftsrechtlichem und
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A.A. offenbar Kloepfer, S. 56.
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Dritter Teil: Aktuelle Konfliktfälle
innerstaatlichem Grundrechtsstandard zu suchen, weil der Grundrechtswidrigkeit dann auf Gemeinschaftsebene nicht abgeholfen werden könnte. 162 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes und gemäß Art. F Abs. 2 des EU-Vertrages werden im Recht der Europäischen Union die Grundrechte geschützt, wie sie sich aus der EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten herleiten lassen. 163 Daher ist die Etikettierungsrichtlinie auf ihre Vereinbarkeit mit diesen beiden Grundrechtsquellen zu überprüfen.
1. Rechtsfindungsquelle EMRK Zunächst ist die Richtlinie anhand des Maßstabes, den die EMRK setzt, zu beurteilen, weil sich der Gerichtshof im wesentlichen an den Vorgaben der Menschenrechtskonvention und an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes rur Menschenrechte orientiert. Demnach wird filr das Feld der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit und insoweit auch rur die Wirtschaftswerbung trotz einiger Ungenauigkeiten in der dogmatischen Herleitung l64 im Ergebnis ein in etwa vergleichbarer Grundrechtsschutz zu erwarten sein. 165 Hinsichtlich der negativen Meinungsfreiheit läßt sich Entsprechendes nicht ohne weiteres feststellen: Diesbezüglich kommt ein Rückgriff auf Art. 10 EMRK in Betracht,l66 wonach die "Freiheit der Meinung" und die Freiheit "zum Empfang 162 Die Etikettierungsrichtlinie ist zwar schon Gegenstand zweier Verfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften gewesen; diese hatten aber nicht die Frage der Grundrechtskonformität der Regelungen zum Gegenstand, sondern vielmehr die Vereinbarkeit nationaler (italienischer und britischer) Umsetzungsbestimmungen mit den Vorgaben der Richtlinie; vgl. EuGH Rs. C-222/91, EuZW 1993, 640 ff. - Philip Morris; Rs. C-1lI92 EuZW 1993, 642 f. Rothmanns International Tobacco; vgl. Fn. 147. 163 Vgl. Ausfilhrungen unter 2. Teil. 164Vgl. insbesondere die Kritik von Rupp, NJW 1976,993 (995 ff.), zu der Herleitung des Warenzeichenrechts; Rupp gelangt zu dem Ergebnis, ein Vergleich der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften zum Warenzeichenrecht mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes offenbare einen defizitären Eigentumsschutz im Gemeinschaftsrecht. Vgl. hierzu auch Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtssschutz, S. 409. 165 Vgl. EuGH Rs. 4173, Sig. 1974, 491 ff. - Nold; Rs. 44179, Sig. 1979, 3727 ff. - Hauer; EuGH Rs. 215/84, Sig. 1986,2897 ff. - Procureur de la Republique/Hericotte (in dieser Entscheidung ging es um Vorschriften der Weinetikettierung); das gesteht auch Scholz, NJW 1990, 941 (944), zu. Bedenken diesbezüglich äußern Pagenkopf, NVwZ 1993,223 (224), und Stewing, RIW 1993,185 (187). Ausfilhrlich hierzu Kevekordes, S. 193 ff. 166Vgl. EuGH verbundene Rs. 43 und 63/82, Sig. 1984, 19 (62) - Vlaarnse BoekwezenIKommission; 1984, 19 (62); EuGH, EuGRZ 1992, 64 (66 Rdnr. 23); EuGH Rs. C-148/91, EuZW 1993, 251 (252 Rdnr. 9 f.) - Verenigung Veronica Omroep Organisatie/Commissariaat voor de Media.
B. Etikettierungsrichtlinie
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und zur Mitteilung von Nachrichten und Ideen ohne Eingriffe öffentlicher Behörden und ohne Rücksicht auf Landesgrenzen" geschützt wird. 167 Der Unterschied im Wortlaut dieser Vorschrift zu dem des Art. 5 Abs. I S. 1 GG schlägt sich weitestgehend nicht in der Reichweite des Schutzbereiches nieder. So umfaßt die Meinungsäußerungsfreiheit des Art. 10 EMRK sämtliche Äuße-
rungen ohne Anschauung ihres Inhaltes. 168 Folglich werden - wie nach dem Grundgesetz - auch kommerziell motivierte Äußerungen geschützt. 169 Dies entspricht auch der Einschätzung der Kommission, die in ihrem Grünbuch "Fernsehen ohne Grenzen" ausführt, Art. 10 EMRK gewährleiste "die Freiheit der Äußerung grundsätzlich auch in Form von Werbemitteilungen kommerziellen Charakters" .170 Nicht vorhersehbar ist jedoch, ob der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften auch die negative Meinungsäußerungsfreiheit von Art. 10 EMRK umfaßt sieht. l71 Zwar ist die Meinungsfreiheit, insbesondere unter Bezugnahme auf Art. 10 EMRK, bereits Gegenstand mehrerer Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes gewesen,172 dennoch fehlt es an einer umfassenden Auseinandersetzung mit diesem Grundrecht. 173 Da bislang auch noch keine Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zur
negativen Meinungsäußerungsfreiheit vorliegen,174 ist es nicht ausgeschlossen, daß nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemein167Ygl. Anhang 5. 168 EuGHMR, EuGRZ 1986,497 ff.; Laeuchli Bosshard, S. 18; Engel, AfP 1994, 1 (2). 169 Offengelassen vom EuGHMR, EuGRZ 1985, 170 (172) - Barthold. Bejahend: EKMR, NJW 1992,963 f.; Bullinger nach NowaklRosenmayr/Schwaighofer, EuGRZ 1986,232 f.; Frowein, in: FroweinlPeukert, Art. 10 Rdnr. 9; Klein, AfP 1994,9 (13); Kloepfer, S. 44; Lerche, S. 58; RengeIing, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, S. 177; Schwartz, in: Entwicklungsperspektiven der Europäischen Gemeinschaft, 121 (143); a.A. Ragaz, S. 52. 170 Fernsehen ohne Grenzen, GrUnbuch über die Errichtung des Gemeinsamen Marktes ftlr den Rundfunk, insbesondere über Satellit und Kabel, KOM (84) 300 endg., S. 265; vgl. auch S. 129 f., 169 ff., 178 f. 171 Stewing, RlW 1993, 185 (187); Scholz, in: FriaufiScholz, 53 (101); ders., NJW 1990,941 (944); Laeuchli Bosshard, S. 15, und Gornig, S. 142, gehen davon aus, daß Art. 10 EMRK auch das Recht, von einer Äußerung abzusehen, umfaßt. Sie differenzieren dabei allerdings nicht zwischen dem Recht, eine eigene Meinung zu verschweigen, und dem Recht, eine fremde Meinung nicht äußern zu müssen. 172 EuGH Rs. 352/85, Sig. 1988,2085 (2136) - Bond van Adverteerders/Niederlande; Rs. C100/88, Sig. 1989,4285 (4309) - Augustin Oyowe and Amadou TraorelKommission; EuGH Rs. C-260/89, Sig. 1991,1-2925 (2963 f.) - ERT; Rs. 288/89, Sig. 1991,1-4007 (4043) - Gouda. 173 So offenbar auch Laeuchli Bosshard, S. 19 f. . 174 Ygl. die entsprechende Argumentation des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften zu Art. 8 EMRK in der Hoechst-Entscheidung (Fn. 77 im 2. Teil); siehe auch die Ausftlhrungen unter 2. Teil B. I. 2. a). Die Europäische Kommission ftlr Menschenrechte sieht allerdings die negative Meinungsfreiheit als von Art. 10 EMRK umfaßt an, siehe Harris/O'Boyle/Warbrick, S.373.
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Dritter Teil: Aktuelle Konfliktfälle
schaften ein Verstoß gegen Art. 10 EMRK schon aufgrund fehlender "Schutzbereichsbetroffenheit"175 von vornherein ausscheidet. Doch selbst wenn man davon ausgeht, daß sich die Gewährleistung des Art. 10 EMRK auch auf die negative Meinungsäußerungsfreiheit erstreckt, entspricht die Schrankenbestimmung des Art. 10 Abs. 2 EMRK nicht der Reichweite des Art. 5 Abs. 2 GG. Die zur Beschränkung ermächtigenden Eingriffsziele sind weit gefaßt. Die EMRK gestattet generell gesetzliche Einschränkungen, die "in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen Sicherheit, der territorialen Unversehrtheit oder der öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, des Schutzes der Gesundheit und der Moral, des Schutzes des guten Rufes oder der Rechte anderer, um die Verbreitung vertraulicher Nachrichten zu verhindern oder das Ansehen und die Unparteilichkeit der Rechtsprechung zu gewährleisten, unentbehrlich sind". Zu Recht wird gegen diese extrem weit gefaßte Schrankenbestimmung vorgebracht, daß damit praktisch jeder Eingriff einer Zielsetzung zugeordnet werden könne}76 So ist auch das mit der Etikettierungsrichtlinie intendierte Ziel des Schutzes der Gesundheit vor den Gefährdungen des Tabakkonsums von dem qualifizierten Gesetzesvorbehalt rur den Gesundheitsschutz gedeckt, sofern die Voraussetzungen der Unentbehrlichkeit erfiillt sind. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte handelt es sich hierbei zwar um einen Ausnahmetatbestand, welcher eng auszulegen ist. 177 Jedoch wird den staatlichen Stellen diesbezüglich zum einen ein ganz erheblicher Einschätzungsspielraum zugestanden, zum anderen wird eine strikte Erforderlichkeitsprüfung im Sinne der Auswahl des mildesten Mittels, wie sie im deutschen Recht im Rahmen der Verhältnismäßigkeit durchgefiihrt wird, nicht vorgenommen. 178 Die Bedenken an der Vergleichbarkeit des Schutzniveaus erscheinen um so berechtigter, als die Europäische Kommission rur Menschenrechte mehrfach die Ansicht vertreten hat, bei Werbeäußerungen solle das Schutzniveau niedriger liegen als beispielsweise bei politisch motivierten Äußerungen. Die nach Art. 10 Abs. 2 EMRK erforderliche Unentbehrlichkeitsprüfung solle im Falle kommerzieller
175 Der Europäische Gerichtshof rur Menschenrechte differenziert nicht zwischen "Schutzbereichsbetroffenheit" und "Eingriff', sondern prüft immer nur, ob eine Maßnahme in ein Menschenrecht "eingreift"; vgl. Engel, AfP 1994, 1 (2). 176 Klein, AfP 1994,9 (13); kritisch auch Kloepfer, S. 44. 177 EuGHMR, EuGRZ 1979,386 (390) - Sunday Times; EuGRZ 1985, 170 (173) - Barthold. 178Vgl. EuGHMR, EuGRZ 1977, 38 (41 f.) - Handyside; Hailbronner, in: Mosler-FS, 359 (363 f.).
B. Etikettierungsrichtlinie
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Werbung weniger streng gehandhabt werden. 179 Somit kann nicht mit letzter Sicherheit gesagt werden, ob der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften im Falle der Überprüfung der Richtlinie auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit ebenfalls zu einem Verstoß gegen Art. 10 EMRK und damit zu einem Verstoß gegen die Grundrechtsgewährleistungen des Gemeinschaftsrechtes gelangen würde. Dieses Unsicherheitsmoment wird noch dadurch verstärkt, daß sich der Europäische Gerichtshof nicht immer an den von der EMRK vorgegebenen Mindeststandard gebunden gefühlt hat. 180 Folglich ist es nicht unwahrscheinlich, daß er im Falle der Überprüfung der Etikettierungsrichtlinie einen Verstoß gegen Art. 10 EMRK verneinen und aus diesem Grunde die Grundrechtswidrigkeit der Richtlinie ablehnen würde. 2. Rechtsfindungsquelle gemeinsame Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten
Wenngleich sich der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften auch in einer früheren Entscheidung zur Meinungsäußerungsfreiheit einzig auf Art. 10 EMRK beschränkte, ohne auf die Rechtsermittlungsquelle "gemeinsame Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten" einzugehen, 181 ist damit nicht zwingend vorgegeben, daß er die mitgliedstaatlichen Verfassungen bei der Bestimmung der Reichweite dieses Grundrechtes auch künftig außer Betracht lassen wird. Doch auch ein Vergleich der Garantie der Meinungsäußerungsfreiheit in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen führt zu dem Ergebnis, daß - da der Gerichtshof eben nicht den Maximalstandard gewährleistet l82 - der Schutz enger greift als der des Grundgesetzes. Zwar garantieren sämtliche Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten das Grundrecht der Meinungsfreiheit, 183 doch ist die Reichweite dieser Gewährleistung unterschiedlich ausgestaltet. 184 179 Bericht der EKMR an den Gerichtshof im "markt-intem"-Verfahren, Beschwerde Nr. 10572/83, AfP 1988, 231 (234, Rdnr. 231). Vgl. auch KOM (84) 300 endg., S. 129 (siehe Fn. 166); Kloepfer/Michael, GRUR 1991, 170 (179); Frowein, in: FroweinlPeukert, Art. 10 Rdnr.9. 180 Vgl. AusfUhrungen unter 2. Teil A. 11.; insbesondere Fn. 48 im 2. Teil. 181 EuGH verbundene Rs. 43 und 63/82, Sig. 1984, 19 (62 f.) - Vlaarnse Boekwezen/Kommission; vgl. Fn. 163. 182 Vgl. AusfUhrungen unter 2. Teil A. 11. sowie 2. Teil B. 183 Vgl. die Auflistung bei Rengeling, S. 78 f.; siehe auch Bemhardt, Bulletin der EG, Beilage 5/76, 19 (29 ff.). Gomig, S. 466 ff., bietet eine umfassende Darstellung der Reichweite der Meinungsfreiheit in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft. 184 So wird beispielsweise in Dänemark diskutiert, ob die Fähigkeit, Träger des Grundrechtes der Meinungsfreiheit zu sein, einen gewissen Reifegrad voraussetzt, vgl. Germer, in: Grundrechte
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Dritter Teil: Aktuelle Konfliktfälle
Insbesondere besteht Unsicherheit, ob das Recht der negativen Meinungsfreiheit in allen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft gleichermaßen garantiert wird. Dieser Unsicherheitsfaktor erhöht die Wahrscheinlichkeit, daß der Gerichtshof im Falle der Befassung mit der Etikettierungsrichtlinie nicht zu einem Verstoß gegen das Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit gelangen würde. 3. Berücksichtigung der Gemeinschaftsziele
Darüber hinaus müssen sich die europäischen Grundrechte nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes in die Strukturen und die Ziele der Europäischen Gemeinschaft einfügen. 18s Demnach wird der aus den beiden Quellen EMRK und Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten gewonnene Grundrechtsstandard zusätzlich noch durch die Gemeinschaftsziele eingeengt. Insofern wirken also auch der mit der Richtlinie beabsichtigte Abbau von Handelshemmnissen und die Beseitigung von Wettbewerbsunterschieden und die gemeinschaftsrechtliche Gesundheitspolitik als dominierende Zielsetzung begrenzend auf die Reichweite der betroffenen Grundrechte der Tabakwarenhersteller und -vertreiber ein. Dies gilt nicht nur rur die negative Meinungsfreiheit, sondern auch für die Berufsfreiheit und den Schutz des Eigentums. Bedenkt man ferner die Schwierigkeiten, unter denen die Etikettierungsrichtlinie in der jetzigen Form zustandegekommen ist, erscheint es um so unwahrscheinlicher, daß der Gerichtshof die Verwirklichung der genannten Gemeinschaftsziele zugunsten des Schutzes der Grundrechte der Tabakwarenproduzenten und -vertreiber hintanstellt. 4. Fazit
Die Bewertung der Grundrechtskonformität der Etikettierungsrichtlinie anhand des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsstandards ist folglich durch viele Unwägbarkeiten gekennzeichnet. Mit Sicherheit kann lediglich festgestellt werden, daß der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften einen schwächeren Grundrechtsschutz - insbesondere auf dem Gebiet der Meinungsin Europa und USA, 85 (103). Vgl. auch Art. 7 der niederländischen Verfassung - insbesondere Abs. 4 - (abgedruckt bei Gornig, S. 676). 18S Vgl. Ausfilhrungen oben unter 2. Teil A. Vgl. auch EuGH Rs. 11/70, Slg. 1970, 1125 (1135) - Internationale Handelsgesellschaft; Rs. 4 /73, Sig. 1974,491 (507 f.) - Nold; Rs. 44/79, Sig. 1979,3727 (3746 f.) - Hauer; Rs. 265/87, Sig. 1989,2237 (2268) - Schräder; siehe auch Seibert, EuGRZ 1975,316.
c. Ausblick
Il3
freiheit - gewährt als das Grundgesetz. Darüber hinaus hätte der Gerichtshof bereits im Rahmen der Klagen von mehreren Tabakwarenproduzenten Gelegenheit gehabt, auf die Grundrechtsfrage einzugehen. 186 Da er - trotz der anhaltenden Diskussion über deren Grundrechtskonformitat - darauf verzichtete, im Rahmen dieser. Verfahren Ausführungen zu der Grundrechtsproblematik zu machen, ist es zumindest nicht unwahrscheinlich, daß er zu einer Vereinbarkeit der Richtlinie mit dem gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsstandard gelangen würde. 187 Das hieße im Ergebnis, die Grundrechtsberechtigten in der Bundesrepublik Deutschland würden infolge der Europäisierung der Vorschriften über die Etikettierung von Tabakwaren Grundrechtsvolumen einbüßen.
C.Ausblick Da die Gemeinschaft den Kampf gegen den Tabakkonsum mit noch gravierenderen Grundrechtseingriffen fortsetzen und dieses Konzept auch auf andere Produkte ausdehnen will, welche sie rur gesundheitsgeflihrdend erachtet, wie unter anderem die Entschließung des Rates und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten vom 29. Mai 1986 betreffend den Alkoholmißbrauch belegt,188 sind weitere Normenkollisionen im Grundrechtsbereich unausweichlich. 189 Daher ist die baldige Entwicklung einer Lösung rur diese Kollisionsfiille besonders dringend.
186Ygl. Fn. 162. 187 Derartige Befllrchtungen äußern auch Stewing, R1W 1993, 185 (187); Scholz, in: FriauflScholz, 53 (100 ff.); ders., NJW 1990, 941 (944); KirchhofIFrick, AfP 1994, 677 (682); Pagenkopf, NYwZ 1993, 223 (224). Auch Merten und Kirchhof nach Niedobitek, in: Föderalismus und EG, S. BI, bezweifeln, daß die dogmatische Besonderheit der negativen Meinungsfreiheit vom Europäischen Gerichtshof gewährleistet wird. 188 AblEG Nr. C 184 v. 23.7.1986, S. 3. 189 So auch Scheuing, EuR 1985,229 (270 f.); KirchhofIFrick, AfP 1991,677 (683); Sasse, in: Grundrechtsschutz in Europa, 51 (56); Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 448 ff., insbesondere, S. 469; Stein, in: Grabitz-GS, 777 (779). 8 Rickert
Vierter Teil
Lösungsansätze in der Rechtsprechung Mangels einer ausdrücklichen Kollisionsregel im Gemeinschaftsrecht und im Grundgesetz sind zunächst die Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften und die des Bundesverfassungsgerichtes auf eine richterrechtliche Kollisionslösung zu untersuchen.
A. Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften Der Europäische Gerichtshof nimmt bei der Beantwortung der Kollisionsfrage einen kompromißlosen Standpunkt ein. Er beansprucht den uneingeschränkten Vorrang des Gemeinschaftsrechtes vor jedwedem Recht der Mitgliedstaaten. Grundlegend festgelegt hat er diesen Standpunkt in der CostalENELEntscheidung, indem er resümiert: "Aus alledem folgt, daß dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht wegen dieser seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen können, wenn ihm nicht sein Charakter als Gemeinschaftsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll".1 Diese These vom absoluten Vorrang des Gemeinschaftsrechtes hat er regelmäßig bekräftigt und auch auf nationales Verfassungsrecht erstreckt. 2 Für Divergenzen zwischen einer EGRichtlinie und dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes würde das bedeuten, daß die Art. 1 ff. GG durch eventuell entgegenstehende Richtlinienvorgaben verdrängt würden. Der Gerichtshof leitet die Vorrangregel aus der "Eigenständigkeit der Gemeinschaftrechtsordnung" her und verfolgt damit die Funktionssicherung der
EuGH Rs. 6/64, Sig. 1964, 1251 (1269 f.) - CostaiEnel. EuGH Rs. 14/68, Sig. 1969, 1 (14) - Walt Wilhelm; Rs. 11170, Sig. 1970, 1125 (1135) - Internationale Handelsgesellschaft; Rs. 48171, Sig. 1972, 529 (534 f.); Rs. 106177, Sig. 1978,629 (643 ff.) - Simmenthal; Rs. 190/87, Sig. 1988,4689 (4722) - Moonnann; aus neuerer Zeit EuGH Rs. C-213/89, Sig. 1990,1-2433 (2473 f.) - Factortame 1. 1
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A. Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften
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Gemeinschaft. 3 Deren Funktionsfähigkeit erfordere eine einheitliche oder gleichmäßge Geltung des Gemeinschaftsrechtes in sämtlichen Mitgliedstaaten. Die einheitliche Geltung dürfe nicht durch einseitige mitgliedstaatliche Maßnahmen in Frage gestellt werden. Ansonsten wäre die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft und die Verwirklichung ihrer vertraglichen Ziele nicht mehr gewährleistet. Um dies zu verhindern, müsse dem Gemeinschaftsrecht Vorrang vor jeglichem innerstaatlichen Recht zukommen. Diese Prämisse ist aber nicht haltbar, weil die Europäische Union ihre Legitimation aus den Gründungsverträgen herleitet, deren Abschluß seine Grundlage wiederum in auf den mitgliedstaatlichen Verfassungen basierenden Zustimmungsgesetzen findet. Aus der Perspektive der Bundesrepublik Deutschland findet die Mitgliedschaft in der Europäischen (Wirtschafis-)Gemeinschaft ihre Grundlage in dem Zustimmungsgesetz zum E(W)G-Vertrag in Verbindung mit Art. 24 Abs. I beziehungsweise nunmehr Art. 23 GG. Beruht die Rechtsordnung der Gemeinschaft somit auf verfassungsrechtlichen Ermächtigungen der einzelnen Mitgliedstaaten, welche die Voraussetzungen und Grenzen rur die Übertragung von Hoheitsrechten festlegen, so ist sie nach wie vor von den nationalen Rechtsordnungen abhängig, sie hat folglich noch keinen eigenständigen Status erreicht. 4 Wenn das Gemeinschaftsrecht seine Geltung (auch im Verhältnis zum innerstaatlichen Recht) aus den nationalen Verfassungen ableitet, die innerstaatliche Wirkung also nicht aus eigener Kraft herbeiruhren kann, ist der Europäische Gerichtshof auch nicht befugt, eine rur die nationalen Umsetzungsorgane verbindliche Kollisionsregel zu statuieren. 5 Die vom Gerichtshof entwickelte Kollisionslösung mit dem Inhalt eines absoluten Vorranges des Gemeinschaftsrechtes vor dem nationalen Recht wäre folglich nur haltbar, wenn die Gemeinschaftsrechtsordnung tatsächlich eigenständig wäre. Da aber die Mitgliedstaaten nach wie vor die "Herren der Verträge"6 sind, ist die Kollisionsregel auch aus dem innerstaatlichen Recht und gerade nicht aus dem Gemeinschaftsrecht zu entwickeln. Das Gemeinschaftsrecht kann folglich nur 3 Vgl. EuGH Rs. 6/64, Sig. 1964, 1251 (1269) - Costa/Enel; Rs. 14/68, Sig. 1969, I (15) Walt Wilhelm; Rs. 11/70, Sig. 1970, 1125 (1135) -Internationale Handelsgesellschaft; Rs. 34/73, Sig. 1973,981 (991 f.) - Varida Amministrazione Italiana Delle Finanze; Rs. 106/77, Sig. 1978, 629 (643 f.) - Simmenthal; Rs. 44/79, Sig. 1979,3727 (3728 Leitsatz 3) - Hauer; Rs. C-213/89, 1990,1-2433 (2473) - Factortarne 1 . 4 So auch Tomuschat, DÖV 1990,672; Kirchhof, EuR- Beiheft 1-1991, II (15); Herdegen, EuGRZ 1992, 589 (590); vgl. auch Scholz, NVwZ 1993, 817 (818); OppermanniClassen, NJW 1993, 5 (ll). 5 Zutreffend EuGH Rs. 237/82, Sig. 1984,483 (500) - Jongeneel Kaas BV u.a./Niederlande; Streinz, EuropaR, Rdnr. 198; vgl. auch Groß, JuS 1990,522 (524). 6 BVerfGE 89,155 (190).
so
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Vierter Teil: Lösungsansätze in der Rechtsprechung
dann Vorrang beanspruchen, wenn die nationalen Verfassungsrechtsordnungen ihm diesen Vorrang einräumen. Der Blick ist aus deutscher Sicht mithin auf das Grundgesetz zu richten. 7 Aus diesem Grunde werden die Ausfilhrungen des Gerichtshofes zur Vorrangfrage in der Literatur auch nur als obiter dicta bewertet. 8 Die vom Gerichtshof angenommene Vorrangregel ist auch unter einem weiteren Gesichtspunkt nicht haltbar. Wäre der Einwand zutreffend, das Gemeinschaftsrecht sei nicht am Maßstab nationaler Grundrechte zu prüfen, weil es sich um eine autonome, vom nationalen Recht getrennte Rechtsordnung handele, so müßte im Umkehrschluß konsequenterweise auch gelten, daß das Gemeinschaftsrecht keinen Maßstab für das nationale Recht bilden könne. 9 Dem widerspricht aber, daß das Gemeinschaftsrecht durch den nationalen Rechtsanwendungsbefehl in das innerstaatliche Recht wirkt und daher grundsätzlich in den Herrschaftsbereich des Grundgesetzes einbezogen ist. Als Zwischenergebnis ist somit festzuhalten: Die vom Gerichtshof vertretene Auffassung, die Kollisionslösung lasse sich allein aus dem Gemeinschaftsrecht entwickeln, ist abzulehnen; vielmehr ist das Grundgesetz selbst zu der Entwicklung einer Kollisionsregel heranzuziehen.
B. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes Das Bundesverfassungsgericht hat die vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften entwickelte Vorrangregel vom Ergebnis her grundsätzlich akzeptiert. Allerdings hat es den absoluten Vorrang des Gemeinschaftsrechtes auf das Verhältnis zu einfachgesetzlichem nationalen Recht beschränkt. 1O Differenzierter betrachtet es das Verhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und deutschem Verfassungsrecht, insbesondere deutschen Grundrechten. Den vorläufigen Endpunkt der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zum Grundrechtsbereich stellt das vielbeachtete "Maastricht"-Urteil vom 12. Oktober 1993 dar. Dieses Urteil kann.jedoch nicht isoliert betrachtet werden, sondern es reiht sich in eine Kette von Entscheidungen ein, darunter insbesondere die bekannten "Solange I" und "Solange II"-Beschlüsse aus den Jahren 1974 und 1986. Da das "Maastricht"-Urteil an diese Urteile anknüpft und sogar die Frage aufgeworfen 7 Vgl. auch Tomuschat, DÖV 1990, 672; Kevekordes, S. 213; wohl auch Kirchhof, EuR Beiheft 1-1991,11 (15 ff.). 8 Kevekordes, S. 213; BendalKlein, DVBI. 1974,389 (392); vgl. auch BVerfDE 37, 271 (281). 9 So zu Recht Klein, VVDStRL 50 (1991), 56 (79). 10 Vgl. BVerfGE 29, 198 (210 ff.); 31, 145 (173f.); 75, 223 (244); BVerfDE 85, 191 (204).
B. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes
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wurde, ob es sich dabei um "Solange III" handele,lI ist es unerläßlich, die Rechtsprechungsentwicklung bis zu dieser Entscheidung zu beleuchten. I. "Solange I" Mit dem "Solange I"-Beschluß vom 29. Mai 1974 distanzierte sich das Bundesverfassungsgericht für die Konstellation der Kollision von sekundärem Gemeinschaftsrecht mit den Grundrechtsverbürgungen des Grundgesetzes erstmalig von der Vorrangregel des Europäischen Gerichtshofes. Wegen der Absage an einen absoluten Vorrang des Gemeinschaftsrechtes gegenüber der nationalen Rechtsordnung handelt es sich bei dem Beschluß um eine der wohl am heftigsten kritisierten 12 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes. 1. Anwendungsvorrang nationaler Grundrechte
Ihr lag eine Vorlage des Verwaltungsgerichtes Frankfurt am Main zugrunde, die eine konkrete Normenkontrolle gemäß Art. 100 Abs. 1 GG zum Gegenstand hatte. Das vorlegende Gericht erachtete - trotz gegenteiligen Urteils des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften \3 - eine in zwei EGVerordnungen enthaltene Regelung wegen eines Grundrechtsverstoßes rur verfassungswidrig. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichtes hielt die Richtervorlage mit folgender Begründung rur zulässig: "Solange der Integrationsprozeß der Gemeinschaft nicht so weit fortgeschritten ist, daß das Gemeinschaftsrecht auch einen von einem Parlament beschlossenen und in Geltung stehenden formulierten Katalog von Grundrechten enthält, der dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes adäquat ist, ist nach Einholung der in Art. 177 des Vertrages geforderten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes die Vorlage eines Gerichtes der Bundesrepublik Deutschland an das Bundesverfassungsgericht im Normenkontrollverfahren zulässig und geboten, wenn das Gericht die rur das Verfahren entscheidungserhebliche Vorschrift des Gemein11 Wittkowski, BayVBI. 1994,359 ff.; Tietje, JuS 1994, 197 ff.; vgl. auch Scholz, NJW 1990, 941 ff.; Ehlennann, EuR - Beiheft I - 1991,27 ff.; Everling, EuR 1990, 195 ff.; Kirchhof/Frick, AfP 1991,677 (683). 12 Vgl. beispielsweise Klein, ZaöRV 35 (1975), 67 ff.; Pestalozza, DVBI. 1974,716 tT.; Ipsen, EuR 1975, I ff.; Hilf, EuGRZ 1987, 1 ff.; Frowein, in: BVerfD und 00, Bd. 11, 187 (201 f.); Riegel, BayVBI. 1976,353 (357 f.); Schwarze, EuGRZ 1983, 117 (1l9); Tomuschat, in: HdbStR, Bd. VII, § 172 Rdnr. 43; Entschließung des Europäischen Parlamentes über den Vorrang des Gemeinschaftsrechtes und den Schutz der Grundrechte, EuGRZ 1976, 264 (265). \3 EuGH Rs. 11170, Sig. 1970, 1125 ff. -Internationale Handelsgesellschaft.
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Vierter Teil: Lösungsansätze in der Rechtsprechung
schaftsrechtes in der vom Europäischen Gerichtshof gegebenen Auslegung rur unanwendbar hält, weil und soweit sie mit einem der Grundrechte des Grundgesetzes kollidiert".14 Das Gericht begründete die Befugnis zur Kontrolle der EG-Verordnungen und damit mittelbar auch der Entscheidung des Gerichtshofes mit Art. 24 GG. Diese Vorschrift gestatte nicht, "die Grundstruktur der Verfassung, auf der ihre Identität beruht, ohne Verfassungsänderung l5 , nämlich durch die Gesetzgebung der zwischenstaatlichen Einrichtung zu ändern." Diese Norm eröffne schließlich nicht die Möglichkeit, "die Identität der geltenden Verfassung durch Einbruch in die sie konstituierenden Strukturen aufzuheben".16 Zu diesem unaufgebbaren, zur Verfassungsstruktur des Grundgesetzes gehörenden Essentiale der geltenden Verfassung gehöre ihr Grundrechtsteil. Ihn zu relativieren, gestatte Art. 24 GG nicht vorbehaltlos.1 7 Im Ergebnis hielt das Bundesverfassungsgericht die Klage aber rur unbegründet, weil nicht gegen die als verletzt gerügten Grundrechte verstoßen würde. In einem Sondervotum gelangten drei der entscheidenden Richter bereits zur Unzulässigkeit der Klage. Der auf Gemeinschaftsrechtsebene garantierte Grundrechtsstandard entspreche dem Schutz des Kernbestandes der nationalen Grundrechte und damit der Schranke, die Art. 24 GG der Übertragung von Hoheitsrechten normiere. Gemeinschaftsrechtliche Rechtsetzungsakte seien folglich auch nur am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte zu messen, müßten aber nicht zusätzlich auch den innerstaatlichen Grundrechtsanforderungen genügen. 18 Die dissentierenden Richter bewegten sich damit auf der Linie des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, indem sie davon ausgingen, Gemeinschaftsrecht habe Vorrang vor (sämtlichen) inhaltlich abweichenden Bestimmungen des nationalen Rechts. 19 Im Gegensatz zum Europäischen Gerichtshof leiteten aber auch sie die Vorrangregel aus Art. 24 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Zustimmungsgesetz zum EWG-Vertrag und nicht aus der Gemeinschaftsrechtsordnung her. 20 Anders als diese drei Richter hielt die Senatsmehrheit eine Entscheidung, ob der derzeit in der Gemeinschaft gewährleistete Grundrechtsstandard auf Dauer dem Grundrechtsstandard des Grundgesetzes adäquat sei und ob die sich aus 14 BVerfDE 37, 271
(285). Hervorhebung der Verfasserin. 16 BVerfDE 37, 271 (278 f.). 17 BVerfDE 37, 271 (280). 18 Abw. Votum der Richter Rupp, Hirsch und Wand: BVerfDE 37, 291 (296 f.). 19 BVerfDE 37, 271 (291 ff., insbesondere 295 f.). 20 BVerfDE 37, 271 (295). 15
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Art. 24 Abs. 1 GG ergebende Grenze nicht überschritten werde, nicht rur möglich. Solange diese Rechtsgewißheit nicht gegeben sei, gingen aber im Kollisionsfalle zwischen Gemeinschaftsrecht und deutschen Grundrechten die nationalen Grundrechte in Form eines Anwendungsvorranges vor. 21 Der Entscheidung lag zwar die Überprüfung zweier EG-Verordnungen zugrunde, die Aussagen des Gerichtes sind aber nicht an die unmittelbare Geltung des Gemeinschaftsrechtes in der Bundesrepublik Deutschland geknüpft, so daß sie sich auch auf nur mittelbare Geltung beanspruchende EG-Richtlinien übertragen lassen. 22 Für den Fall, daß der nationale Umsetzungsgesetzgeber durch eine entsprechende Richtlinie gemeinschaftsrechtlich veranIaßt würde, innerstaatlich grundrechtswidriges Recht zu setzen, wäre dem Umsetzungsbefehl nach dieser Entscheidung des Verfassungsgerichtes mithin nur dann Folge zu leisten, wenn auf nationaler Ebene zuvor das Grundgesetz entsprechend dem Richtlinieninhalt mit einer Zweidrittelmehrheit geändert würde. Eine Verpflichtung des verfassungsändemden Gesetzgebers, die Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes an den jeweiligen Richtlinieninhalt anzupassen und damit den Weg rur eine grundrechtskonforme Umsetzung freizumachen, bestünde demnach nicht. WUrde sich die rur eine Verfassungsänderung erforderliche Zweidrittelmehrheit im deutschen Bundestag und im Bundesrat nicht finden, so müßte der gemeinschaftsrechtliche Umsetzungsbefehl aufgrund entgegenstehender nationaler Grundrechtsbestimmungen nicht befolgt werden. Demnach wäre die Effektivität des Gemeinschaftsrechtes rur die Bundesrepublik Deutschland von der Kooperationsbereitschaft des nationalen Parlamentes abhängig. 2. Bewertung der Entscheidung
Einerseits ist diese (vermeintlich) extreme Position des Bundesverfassungsgerichtes als Resultat des Entwicklungsstandes des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzes zu dem damaligen Zeitpunkt zu sehen; schließlich hatte sich der Europäische Gerichtshof lange Zeit geweigert, zum Grundrechtsbereich überhaupt Stellung zu beziehen. 23 Andererseits hat das Gericht mit dieser Entscheidung einen außerordentlichen Weitblick bewiesen, indem es nunmehr BVerfGE 37, 271 (280,282). Auch Pemice, NJW 1990,2409 (2412), geht davon aus, daß sich die Aussagen aufVerordnungen und Richtlinien gleichermaßen erstrecken. 23 Vgl. Ausfllhrungen oben unter 2. Teil A. 21
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vehement diskutierte Defizite in der Gemeinschaftsrechtsordnung schon frühzeitig problematisiert hat. a) Demokratische Legitimation als Voraussetzungjür Grundrechtseingriffe
Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß die Entscheidung unter dem Aspekt der Erforderlichkeit stärkerer demokratischer Legitimation der gemeinschaftsrechtlichen Normsetzung begrüßenswert ist.24 Denn in allen Mitgliedstaaten herrscht Einigkeit darüber, daß jede Ausübung von Hoheitsgewalt nach dem Demokratieprinzip legitimierbar sein muß. Erst die demokratische Legitimation einer Hoheitsgewalt rechtfertigt die Ausgestaltung von Grundrechten. 25 Ein lediglich richterrechtlich garantierter Grundrechtsschutz vermag eine solche legitimierende Wirkung nur sehr eingeschränkt zu vermitteln. Indem das Bundesverfassungsgericht die Kodifizierung einer Grundrechtscharta durch ein unmittelbar demokratisch legitimiertes, aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenes Parlament mit Gesetzgebungsbefugnissen fordert, dem auch die übrigen zur Gesetzgebung befugten Gemeinschaftsorgane politisch voll verantwortlich sind,26 hat es deutlich gemacht, daß die Grundrechtsidee auf das engste mit dem demokratischen Gedanken verknüpft ist und daher auf europäischer Ebene eine Verstärkung der demokratischen Legitimation stattzufinden hat. Damit hat das Gericht sehr vorausschauend erkannt, daß anderenfalls die Ausgestaltung der Grundrechte auf ein Exekutivorgan, nämlich den Ministerrat, verlagert werden würde, obwohl diese Aufgabe nach dem Grundgesetz an sich der gesetzgebenden Gewalt vorbehalten ist. Demnach könnten im nationalen Parlament wegen ihrer Grundrechtswidrigkeit nicht durchsetzbare oder grundrechtlich zumindest problematische Regelungen über den Umweg der europäischen Rechtsetzung im Rat dennoch innerstaatliche Geltung erlangen. Die gemeinschaftsrechtliche Normsetzung könnte also zur Unterwanderung des deutschen Grundrechtsstandards durch die Exekutive benutzt werden. Doch auch wenn das deutsche Ratsmitglied - was der Regelfall ist - den Beschluß grundrechtswidriger Richtlinienvorhaben verhindern will, kann die jeweilige Richtlinie im Falle einer Mehrheitentscheidung trotz eines Vetos von deutscher Seite zustandekommen. In diesem Fall würden die Exekutivvertreter anderer
24
Hilf, EuGRZ 1987, I (4).
25 Pescatore, EuGRZ 1978, 441 (444); Bahlmann, in: Carstens-FS, 17 (26); Hilf, in: Grund-
rechtsschutz im europäischen Raum, 320 (332); Friauf, EuR - Beiheft I - 1991, 50 (51 f.). 26 BVerfDE 37, 271 (280).
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Mitgliedstaaten mittelbar über die Geltung deutscher Grundrechte befinden. Dies kann bei einem mehr als 50%igen gemeinschaftsrechtlichen Ursprung innerstaatlichen Rechts nicht unerheblichen Einfluß auf die deutsche Rechtsordnung haben. 27 Ein weiterer Aspekt im Hinblick auf die Gewaltenteilung im Rahmen grundrechtsrelevanter gemeinschaftsrechtlicher Rechtsetzung ist zu berücksichtigen. Die im Sondervotum enthaltene Absage an die Maßstäblichkeit des Grundrechtskataloges des Grundgesetzes würde bei besonders regelungsintensiven Richtlinien, die dem Umsetzungsgesetzgeber keinen eigenen Gestaltungsspielraum belassen, um in der Richtlinie angelegten Grundrechtswidrigkeiten auszuweichen, dazu filhren, daß der deutsche Bundestag infolge des Umsetzungsbefehles verpflichtet wäre, innerstaatlich grundrechtswidriges Recht zu setzen. Aufgrund der fehlenden Gestaltungsfreiheit käme dem Transformationsakt damit lediglich notarielle Funktion28 zu. Das nationale Parlament hätte nämlich dem Diktat der Regierungen im Ministerrat Folge zu leisten. Gegenüber dem Grundrechtsträger in der Bundesrepublik würde der deutsche Gesetzgeber mit dem Umsetzungsakt nach außen hin aber die Verantw~rtung rur die grundrechtswidrige Regelung übernehmen. Einer solchen Entwicklung hätte die Senatsmehrheit mit ihrem Ansatz einen Riegel vorgeschoben, wonach durch sekundäres Gemeinschaftsrecht bedingte Verfassungsdurchbrechungen in Form von Grundrechtsverstößen unzulässig sind. Auf diese Weise würde jedenfalls die Kompetenz des verfassungsändernden nationalen Gesetzgebers respektiert, über den Inhalt des innerstaatlichen Grundrechtskataloges zu bestimmen, und eine mögliche Degradierung des deutschen Bundestages zum Befehlsempfllnger des Rates verhindert. 29 Aber nicht nur aus der Perspektive des nationalen Parlamentes, sondern auch aus der Sicht des deutschen Bürgers ist entscheidend, daß nicht ein Exekutivorgan, sondern das Parlament, auf dessen Zusammensetzung er durch seine Stimme Einfluß nehmen kann, grundrechtsrelevante Regelungen zumindest mitverantwortet. 3o Zu dem wirksamen Schutz der Grundrechte gehört nämlich, daß der Bürger selbst es ist, der über seine Repräsentanten im Parlament die eigenen Grundrechte Beschränkungen unterwirft. 31 Vgl. hierzu ausfUhrlich AusfUhrungen unter 5. Teil B. Streinz, OVBI. 1990,949 (958); Ipsen, in: HdbStR, Bd. VII, § 181 Rdnr. 72, spricht sogar von einer "Entmündigung der deutschen Legislative". 29 AusfiIhrIich hierzu die AusfUhrungen unter 5. Teil A.1. . 30 Vgl. auch Hilf, EuGRZ 1987, 1 (4). 31 Hilf, in: Grundrechtsschutz im europäischen Raum, 320 (338); ders., EuR 1991, 19 (22). 27 28
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Da gerade das Defizit demokratischer Legitimation der gemeinschaftsrechtlichen Normsetzung zu den gegenwärtig am meisten diskutierten Problematiken gehört, sind die Mahnungen des "Solange I"-Beschlusses aktueller denn je. b) Vorteile eines kodifizierten Grundrechtskataloges
Grund für die Forderung nach einem kodifizierten Grundrechtskatalog war neben der Frage der Legitimation grundrechtsbeschränkender Rechtsakte ferner der Aspekt der Rechtssicherheit, welche eine noch so grundrechtsfreundliche richterrechtliche Grundrechtsgarantie nicht zu gewährleisten vermag, die aber rür unverzichtbar erachtet wurde. 32 Denn ein wirksamer Grundrechtsschutz setzt auch voraus, den Schutz für den Betroffenen sichtbar und berechenbar zu machen. Ein richterrechtlich geschaffener Grundrechtsschutz kann aber ebenso jederzeit richterrechtlich wieder abgeschafft werden und ist nur insoweit berechenbar, als vergleichbare Sachverhalte bereits Gegenstand von Entscheidungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften gewesen sind. 33 Eine umfassende Grundrechtscharta würde auf der Ebene des Gemeinschaftsrechtes einen Anlaß bieten, eine abgerundete Grundrechtsdogmatik zu entwickeln,34 so daß der Ausgang künftiger Verfahren vor dem Gerichtshof einfacher zu prognostizieren wäre. Ein ausformulierter Grundrechtskatalog würde sich auch positiv auf den europäischen Rechtsetzungsprozeß auswirken, weil den Rechtsetzungsorganen die Schutzfunktion der Grundrechte stets vor Augen geführt würde und kodifizierte Grundrechte (eher) außer Streit stünden. Das Vertrauen der betroffenen Grundrechtsträger in die Rechtsordnung der Gemeinschaft würde aufgrund der insgesamt steigenden Kalkulierbarkeit des Grundrechtsschutzes auf Gemeinschaftsebene erheblich wachsen. 35 Zwar hat sich diese Forderung des Gerichtes in "Solange I" bislang noch nicht realisiert und wird vermutlich auch in absehbarer Zukunft nicht verwirklicht. Doch hat sich dieser Beschluß rückblickend betrachtet positiv auf die Grundrechtsentwicklung auf Gemeinschaftsebene durch den Gerichtshof ausgewirkt. Ohne diese Rechtsprechung des Bundesverfassungerichtes wäre der zur Zeit durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes vermittelte
32 BVerfGE 37, 271 (280); vgl. auch Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 234. 33 Darauf weist auch Stein, in: Zeidler-FS, Bd. 2, 1711 (1723), hin. 34 Hilf, in: Grundrechtsschutz im europäischen Raum, 320 (331). 35 Hilf, EuGRZ 1987, 1 (4); Stein, in: Zeidler-FS, Bd. 2, 1711 (1720).
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Grundrechtsstandard noch nicht erreicht, was sogar die Kritiker dieses Beschlusses zugestehen. 36 c) Adäquanz des Grundrechtsstandards
Darüber hinaus ist die Forderung nach einer (annähernden) Vergleichbarkeit des innerstaatlichen und des europarechtlichen Grundrechtsschutzes auch durchaus berechtigt. Für den von Eingriffen der öffentlichen Gewalt betroffenen Bürger macht es keinen Unterschied, ob diese Eingriffe durch die Hoheitsgewalt der Mitgliedstaaten oder durch die öffentliche Gewalt der Europäischen Gemeinschaft erfolgen. 37 Wenn aber die Erweiterung der Kompetenzen der Gemeinschaft eine stärkere "Einmischung in die Grundrechte des einzelnen über das Gemeinschaftsrecht, die Maßnahmen der Gemeinschaft und die daraus abgeleiteten Normen zur Folge haben wird und somit eine größere Gefahr besteht, daß hierbei gegen Grundrechte und Grundfreiheiten verstoßen wird"38, müssen den Betroffenen auch entsprechende Abwehrrechte gegen diese Maßnahmen zur Seite stehen. In materieller Hinsicht sollte· also der auf Gemeinschaftsebene gewährte Grundrechtsschutz nicht hinter dem innerstaatlichen Grundrechtsniveau zurückbleiben, weil ansonsten die Kompetenzverlagerung auf die Europäische Gemeinschaft nicht zu der erhofften Freiheitserweiterung, sondern zu einer Einbuße an Grundrechtsvolumen für die in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Bürger führen würde. Außerdem erkennt das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung zutreffend, daß ihm die Aufgabe, die Grundrechte des Grundgesetzes zu schützen, von der deutschen Verfassung übertragen worden und dieser verfassungsrechtliche Schutzauftrag nicht derogierbar ist. 39 Dieses Auftrages kann es sich somit auch nicht dadurch entledigen, indem es die Verantwortung unter Berufung auf Art. 24 Abs. 1 beziehungsweise nunmehr Art. 23 GG auf die europäische Ebene verlagert. Andererseits kann allerdings auch nicht geleugnet werden, daß die Aussagen der Karlsruher Richter in der "Solange I"-Entscheidung an die Theorie von
36 Vgl. z.B. Schwarze, in: Deringer-FS, 160 (162); Renge1ing, DVBI. 1982, 140; Ipsen, EuR 1987,1 (5); ders., in: HdbStR, Bd. VII, § 181 Rdnr.67. 37 So auch Rande1zhofer, in: Der Staatenverbund, 39 (51); Klein, in: Interne Studien und Berichte der Konrad-Adenauer-Stiftung, Nr. 66/1993, 1 (6) . . 38 Entschließung des Europäischen Parlamentes v. 18.1.1994, in welcher es erneut den Beitritt der Europäischen Gemeinschaft zur EMRK forderte, EuGRZ 1994, 191 (192). 39 Vgl. BVerfGE 37, 271 (282).
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dem Erfordernis der "strukturellen Kongruenz"40 erinnern. Danach darf der Bund über Art. 24 GG Hoheitsgewalt nur auf solche supranationalen Organisationen übertragen, die dem deutschen Verfassungsrecht voll entsprechen. Eine solche Forderung findet jedoch weder im Grundgesetz ihre Berechtigung, noch ist sie bei kontinuierlicher Erweiterung der Europäischen Union praktikabel. Das in der Präambel des Grundgesetzes bekräftigte Bekenntnis zu einem vereinten Europa wäre nämlich nicht zu verwirklichen, wenn sich im Rahmen des fortschreitenden europäischen Einigungsprozesses alle anderen Mitgliedstaaten bei der Schaffung neuen Gemeinschaftsrechtes im vollen Umfange am deutschen Verfassungsrecht orientieren müßten. 41 Zudem könnten die übrigen Mitgliedstaaten dann ihrerseits entsprechende Ansprüche geltend machen. Das Bundesverfassungsgericht geht auch nicht so weit, eine spiegelbildliche Normierung der innerstaatlichen Grundrechtsbestimmungen auf der Gemeinschaftsrechtsebene zu verlangen. Denn gänzlich unantastbar scheint der nationale Grundrechtsstandard auch nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes in der "Solange I"-Entscheidung nicht zu sein,42 wenn es feststellt, "ihn (den Grundrechtsteil des Grundgesetzes) zu relativieren, gestattet Art. 24 GG nicht vorbehaltlos"3".44 Damit ist klargestellt, daß das Gericht eine Relativierung der deutscheri Grundrechte - entgegen anderer Deutungen im Schrifttum45 - durchaus rur zulässig erachtet. Wie der Spielraum für eine zulässige Relativierung inhaltlich zu konkretisieren ist, erläutert es allerdings nicht. Stattdessen zieht sich das Gericht aus der materiellen Grundrechtsfrage .zurück, indem es die formelle Forderung nach einem von einem Parlament beschlossenen Grundrechtskatalog aufstellt. Abgesehen von dieser formellen Prämisse des geschriebenen vom Parlament erlassenen Grundrechtskataloges, verlangt es lediglich, daß der Gewährleistungsstandard dieses Kataloges dem des grundgesetzlichen Grundrechtskataloges "adäquat"46 sein muß. Hierbei handelt es sich zwar um eine materielle Anforderung an den gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsstandard, allerdings hat das Gericht mit dieser Formel ebensowenig konkretisiert, welche Mindestanforderungen inhaltlich an den gemeinschaftsrechtIichen Grundrechtsschutz zu stellen sind. Zu der entscheidenden Frage, wann ein 40 Kraus, in: Wehrbeitrag, 545 (550 fl); Kruse, in: Kraus-FS, 112 (121 ff.). 41 Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 184; Wieseler/Schmitz, MDR 1993, 723 (726). 42 Dies wird beispielsweise von Schwarze, EuGRZ 1983, 117 (119); Stein, ZaöRV 42 (1982),
596 (600); Huthmacher, S. 164; SchweitzerlHummer, EuropaR, S. 217 ff., übersehen. 43 Hervorhebung der Verfasserin. 44 BVerfGE 37, 271 (280). 45 Vgl. Fn. 42. 46 BVerfGE 37, 271 (Leitsatz, 285).
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Grundrechtskatalog als dem des Grundgesetzes "adäquat" angesehen werden kann, finden sich nämlich keine Ausführungen. Das Gericht entzieht sich folglich einer konkreten Bestimmung der Grenzen des Art. 24 Abs. 1 GG. 3. Fazit Als Ergebnis für die Lösung der GrundrechtskoIlision im Falle der Umsetzung einer Richtlinie in nationales Recht läßt sich der Entscheidung folglich nur entnehmen, daß die jeweilige Richtlinie zwar am Maßstab des Grundrechtskataloges des Grundgesetzes zu prüfen ist, dieser Maßstab aber eine nicht näher bestimmte Relativierung durch die Integrationsoffenheit des Grundgesetzes erfährt. Sollte eine Richtlinie aber grundrechtswidrige Bestimmungen enthalten, die sich jenseits der Grenze der zulässigen Relativierung bewegen, ist der bundesdeutsche Gesetzgeber von seiner Umsetzungspflicht befreit, wenn sich die für eine Verfassungsänderung erforderliche Zweidrittelmehrheit nicht finden lassen sollte. Denn einzig durch eine Verfassungsänderung könnten die Voraussetzungen für eine Umsetzung geschaffen werden.
11. "Solange 11" Von dieser Rechtsprechung rückte der nunmehr vollständig neu besetzte Zweite Senat mit seinem einstimmigen Beschluß vom 22. Oktober 1986, der durch den "Eurocontrol I"-Beschluß47 bereits vorbereitet worden war, zumindest teilweise ab. In dem Verfahren, das zum Erlaß der "Solange 11"Entscheidung führte, hatte ein Importunternehmer vor dem Verwaltungsgericht gegen die auf eine EG-Verordnung gestützte Versagung einer Importgenehmigung geklagt. Die Klage blieb in allen Instanzen erfolglos. Zur Klärung der Vereinbarkeit der zugrunde liegenden EG-Verordnung mit dem Gemeinschaftsrecht hatte das Bundesverwaltungsgericht das Verfahren ausgesetzt und dem Europäischen Gerichtshof gemäß Art. 177 Abs. 3 EWG-Vertrag vorgelegt. Nachdem der Gerichtshof die Verordnung für rechtmäßig erachtet hatte,48 wies das Bundesverwaltungsgericht die Klage ab, ohne die Bestimmung dem Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG vorgelegt zu haben. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde griff die Beschwerdeführerin das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes an. Sie sah sich durch das Urteil in ihren prozessualen 47 BVerfGE 58, 1 ff. 48 EuGH Rs. 126/81, Sig. 1982, 1479 ff. - Wünsche HandelsgeselischaftlDeutschland.
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und materiellen Grundrechten verletzt. Der Zweite Senat wies die Verfassungsbeschwerde zurück: Zwar stellte das Gericht anknüpfend an "Solange I" erneut fest, Art. 24 Abs. 1 GG ermächtige nicht dazu, "im Wege der Einräumung von Hoheitsrechten für zwischenstaatliche Einrichtungen die Identität der geltenden Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland durch Einbruch in ihr Grundgefüge, in die sie konstituierenden Strukturen aufzugeben .... Ein unverziehtbares, zum Grundgefüge der geltenden Verfassung gehörendes Essentiale sind jedenfalls die Rechtsprinzipien, die dem Grundrechtsteil des Grundgesetzes zugrundeliegen".49 In Abkehr zu "Solange I" führte es jedoch weiter aus: "Solange die Europäischen Gemeinschaften, insbesondere die Rechtsprechung des Gerichtshofes einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichzuachten ist, zumal den WesensgehaIt der Grundrechte generell verbürgt, wird das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit50 über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht ... nicht mehr ausüben und mithin dieses Recht folglich nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes überprüfen."51 Durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes sei ein solches Schutzniveau mittlerweile garantiert. 52 Eine Aktivierung der bundesverfassungsgerichtlichen Prüfungskompetenz sei somit nur noch dann gefordert, wenn der Gerichtshof erkennen lasse, die geltend gemachten Grundrechte schlechthin und generell nicht anzuerkennen oder zu schützen bereit zu sein, und demzufolge der von der nationalen Verfassung geforderte Grundrechtsstandard im Gemeinschaftsrecht generell und offenkundig unterschritten werde. 53 Forderte das Bundesverfassungsgericht im "Solange I"-Beschluß noch einen gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtskatalog, so ersetzte es im "Solange 11"Beschluß die Formulierung "Katalog" durch "Standard".54 Damit hat das Gericht seine formellen Anforderungen an das Gemeinschaftsrecht insofern zurückgeschraubt, als es nicht mehr eine ausdrücklich geschriebene Grundrechtscharta verlangt, sondern eine richterrechtliche Ausprägung für ausreichend erachtet, wie es bereits die dissentierenden Richter im "Solange I"-Verfahren 49 BVerfGE 73, 339 (375 f.). 50
Hervorhebung der Verfasserin.
51 BVerfGE 73, 339 (Leitsatz 2,387). 52 BVerfGE 73, 339 (376, 378). 53 BVerfGE 73, 339 (387). 54 BVerfGE 73, 339 (378).
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gefordert hatten. 55 Es kommt dem Gericht also nicht mehr auf die formelle, sondern einzig auf die materielle Qualität des europäischen Grundrechtsniveaus an. Auch an der Forderung nach Schaffung eines unmittelbar demokratisch legitimierten, aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen Parlamentes, das Gesetzgebungsbefugnisse besitzt und dem die zur Gesetzgebung befugten Gemeinschaftsorgane politisch voll verantwortlich sind, hat der Senat nur noch sehr eingeschränkt festgehalten,56 obwohl das 1979 erstmalig direkt gewählte Europäische Parlament weder umfassende Legislativbefugnisse erhalten hat, noch ihm Rat und Kommission politisch voll verantwortlich sind. 57 Diese Beschränkung der eigenen, in "Solange I" aufgestellten Forderung kann nur so verstanden werden, daß das Gericht auf diese Weise die - wenn auch nur sehr allmählich voranschreitende - Stärkung demokratischer Elemente auf Gemeinschaftsebene honorieren wollte. Problematischer ist, inwieweit sich die Anforderungen an die inhaltliche Ausgestaltung der Grundrechtsgewährleistungen geändert haben. Auch in dieser Entscheidung behält sich das Gericht die grundsätzliche Möglichkeit vor, sekundäres Gemeinschaftsrecht am Maßstab des Grundgesetzes zu messen. 58 Es geht damit einen anderen Weg als etwa der italienische Verfassungsgerichtshof, der seine Kontrollbefugnis von vornherein auf die nationalen Zustimmungsgesetze beschränkt sieht. 59 Von der direkten Kontrolle sekundären Gemeinschaftsrechtes will das Bundesverfassungsgericht aber absehen, soweit es um die Frage des Grundrechtsschutzes geht, solange die Europäische Gemeinschaft eine Grundrechtsgeltung gewährleistet, "die nach Inhalt und Wirksamkeit dem Grundrechtsschutz, wie er nach dem Grundgesetz unabdingbar ist, im wesentlichen gleichkommt"60. Diese Aussage des Gerichtes hat Spekulationen in zweierlei Richtungen entfacht. Zum einen wurde im Schrifttum die Frage aufgewor55 BVerfGE 37, 271 (297 f.). 56 Vgl. BVerfGE 73, 339 (385). 57 K1oepfer, JZ 1988, 1089 (1093). AusfiIhrIich zu den erweiterten Befugnissen des Europäi-
schen Parlamentes im Gesetzgebungsverfahren der Europäischen Union vgl. Le Nestour, ET 44 (1994), 449 ff. 58 Einhellige Auffassung im Schrifttum: Vgl. beispielsweise Bleckmann, EuropaR, Rdnr. 778; Di Fabio, NJW 1990,947; Kraußer, S. 129; Kevekordes, S. 218; Maidowski, JuS 1988, 114 (117); Scherer, JA 1987,483 (489); Vedder, NJW 1987, 526 (529); Wieseler/Schmitz, MDR 1993, 723 (727); Isensee, in: HdbStR, Bd. V, § 115 Rdnr. 74, spricht von dem "Damoklesschwert des deutschen Grundrechtsvorbehaltes" . 59 Corte Costituzionale, EuGRZ 1975, 311 (315 f.), unter Hinweis auf Art. 134 Italienische Verfassung, der nur staatliche und regionale Normen seiner PrUfungskompetenz unterwirft; vgl. auch Kraußer, S. 129; Hilf, EuGRZ 1987, 1 (5). 60 BVerfGE 73, 339 (375).
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fen, ob es sich bei der "Solange"-Fonnel lediglich um einen prozessualen oder auch einen materiell-rechtlichen Lösungsansatz handelt, zum anderen wurde diskutiert, ob die grundsätzlich weiterhin gegebene PrUfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichtes auch in jedem Einzelfall reaktiviert werden könne. 1. Prozessuale oder materiell-rechtliche Konßiktlösung
Zunächst soll geklärt werden, ob das Gericht in dieser Entscheidung eine materiell-rechtliche Aussage zur KoIIisionsfrage gemacht hat. In "Solange 11" ging es zwar um die Frage der ÜberprUfbarkeit einer gemeinschaftsrechtlichen Verordnung am Maßstab der deutschen Grundrechte, dennoch könnten Aussagen zu der materiell-rechtlichen Kollision von Verordnungsinhalten und nationalen Grundrechten Rückschlüsse auf eine mögliche Lösung der Kollision zwischen Richtlinienvorgaben und deutschen Grundrechten zulassen. a) "Solange /J" als Grundrechtsverzicht
In der Literatur wird die Auffassung vertreten, das Bundesverfassungsgericht habe mit dieser Entscheidung einen materiellen Rückzug angetreten. 61 Die Entscheidung des Verfassungsgerichtes sei als materielle Feststellung zu verstehen, daß die Grundrechtsgarantien des Grundgesetzes als Maßstab gegenüber dem Gemeinschaftsrecht keine Anwendung fmden, "solange" auf Gemeinschaftsebene ein vergleichbarer Schutz, insbesondere hinsichtlich des Wesensgehaltes der Grundrechte durch die Gemeinschaftsorgane gewährleistet werde. Nur wenn der nach Art. 24 Abs. 1 GG gestattete Verzicht auf die Vorherrschaft der eigenen Verfassung die Grenzen der Vorschrift überschreite, also eine Aufgabe der Identität der geltenden Verfassungsordnung bevorstehe, werde der Grundrechtsschutz durch das Bundesverfassungsgericht gewährleistet. 62 Ein derartiger Einbruch in die elementaren Strukturen des Grundgesetzes sei nach zutreffender Aussage des Bundesverfassungsgerichtes nicht schon dann gegeben, wenn ein einzelner gemeinschaftsrechtlicher Rechtsetzungsakt einer bestimmten grundgesetzlichen Gewährleistung nicht entspreche. Dieser sei 61 Klein, VVDStRL 50 (1991), 56 (80); Everling, EuR 1990, 195 (201); Randelzhofer, in: MaunzIDUrig, Art. 24 Abs. I Rdnr. 157; RengelingiMiddeke/GellermannlJakobs, Rdnr.1021, S.515. 62 Klein, VVDStRL 50 (1991), 56 (81); Tomuschat, in: Bonner Kommentar, Art. 24 Rdnr. 61 ff.; auch die Enquete-Kommission-Verfassungsreform, Schlußbericht, BTDrucks. 7/5924, S. 229 f., geht davon aus.
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vielmehr erst dann anzunehmen, wenn eine bestimmte Grundrechtsgarantie auf Gemeinschaftsebene grundsätzlich nicht anerkannt werde. Daß es zu einem solchen Ausnahmefall komme, sei äußerst unwahrscheinlich. Liege ein solcher Vorbehalts-Fall nicht vor, könne das Gemeinschaftsrecht wegen des auf der Ermächtigung des Art. 24 Abs. 1 GG basierenden Rechtsanwendungsbefehles in die innerstaatliche Rechtsordnung einwirken und sich dort gegenüber inhaltlich entgegenstehendem Recht - einschließlich des Verfassungsrechtes - im Sinne eines Anwendungsvorranges durchsetzen. 63 Im Ergebnis sei die Entscheidung somit dahingehend zu interpretieren, daß den Grundrechten des Grundgesetzes außerhalb des aufgezeigten Vorbehaltsbereiches keine unmittelbare Maßstabsfunktion für gemeinschaftsrechtliche Normativakte zukomme. Dieser "Anwendungsverzicht" für Grundrechtsverbürgungen des Grundgesetzes sei insbesondere dadurch gerechtfertigt, daß die Bürger durch die Gemeinschaftsebene eine Grundrechtsdimension hinzugewonnen und dadurch ihre Stellung insgesamt verbessert hätten. 64 Ein eventueller nationaler Grundrechtsverlust soll also "durch einen gemeinschaftsrechtlichen Freiheitsgewinn" kompensiert werden. Demnach hätte sich der in "Solange I" propagierte Anwendungsvorrang nationaler Grundrechte nunmehr in einen Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechtes umgekehrt. Übertragen auf das Rechtsetzungsinstrument der Richtlinie hieße das, die Inhalte einer einzelnen Richtlinie wären grundsätzlich nicht am Grundrechtskatalog des Grundgesetzes zu messen, entgegenstehendes nationales Recht müßte außer acht gelassen werden. Die Umsetzungsorgane und auch die den Um setzungsakt überprüfenden Gerichte wären demnach nur an die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben gebunden, was einer Freistellung von der Bindungswirkung des Art. 1 Abs. 3 GG gleichkäme. Damit wäre grundsätzlich nur das gemeinschaftsrechtliche Schutzniveau für die Grundrechtsberechtigten in der Bundesrepublik Deutschland maßgeblich, sofern das Staatshandeln gemeinschaftsrechtlich determiniert ist. b) "Solange 1I" als prozessuale Lösung
Diese Deutung der Äußerungen des Gerichtes als Aufgabe seiner Gerichtsbarkeit und als Verzicht auf die Anwendung nationaler Grundrechte ist nach Klein, VVDStRL 50 (1991),56 (81); Everling, EuR 1990,195 (202). Everling, EuR 1990, 195 (202); Giegerich, ZaöRV 50 (1990), 836 (858 f.); 1sensee, in: HdbStR, Bd. V, § 115 Rdnr. 72. 63
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anderer Auffassung nicht stichhaltig. Die Aussagen des Karlsruher Gerichtes beschränkten sich auf eine prozessuale Lösung,65 welche die weitergehende Schlußfolgerung eines Grundrechtsverzichtes nicht erlaube. Diejenigen, welche von einem Grundrechtsverzicht ausgingen, übersähen nämlich, daß es dem Bundesverfassungsgericht nicht gestattet sei, auf die Ausübung seiner Rechtsprechung zu verzichten. Die rechtsprechende Gewalt sei den Richtern gemäß Art. 92 GG "anvertraut". Demnach handele es sich bei den im Zuständigkeitskatalog des Art. 93 GG zugewiesenen Aufgaben um Pflichtaufgaben, über die das Bundesverfassungsgericht nicht disponieren dürfe. Das Verfassungsgericht sei gemäß Art. 1 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG an die Grundrechtsordnung gebunden und deshalb auch nicht befugt, sich von der Anwendung der Grundrechte freizuzeichnen, also über materielles Verfassungsrecht zu verfUgen, sondern müsse vielmehr fiir die Achtung der Grundrechte sorgen. 66 Die Befugnis, über Grundrechtsbestimmungen verfUgen zu dürfen, sei bis zur Grenze des Art. 79 Abs. 3 GG - einzig dem verfassungsändernden Gesetzgeber vorbehalten. Da davon auszugehen sei, daß sich das Bundesverfassungsgericht seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtung zum Grundrechtsschutz durchaus bewußt sei, könne von einem Grundrechtsanwendungsverzicht des Gerichtes also nicht die Rede sein. Folglich sei der materielle Geltungsanspruch der deutschen Grundrechte mit dieser Entscheidung nicht aufgehoben. 67 Demnach kann der Entscheidung auch kein Anwendungsvorrang sekundären Gemeinschaftsrechts, also auch grundrechtswidriger Richtlinienvorgaben, vor nationalen Grundrechten entnommen werden. c) Eigene Bewertung
Das Bundesverfassungsgericht hat die Ausübung seiner fortbestehenden Rechtsprechungskompetenz und seine fortbestehende Verantwortung für den Grundrechtsschutz nur insoweit zurückgenommen, als die Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften ein arbeitsteiliges Zusammenwirken rechtfertigt. Auf diese Weise sollten die Bemühungen des Gerichts65 So Herdegen, EuGRZ 1989,309 (310); Kirchhof, JZ 1989,453 (454); ders., EuR - Beiheft I - 1991, 11 (22); Rupp, JZ 1987,241 (242); Di Fabio, NJW 1990,947; Friauf, in: FriauflScholz, 11 (29); Kevekordes, S. 218; Scholz, in: FriauflScholz, 53 (81); ders., NJW 1990, 941 (943), Wittkowski, BayVBI. 1994,359 (360 Fn. 23); Isensee, in: HdbStR, Bd. V, § 115 Rdnr. 70. 66 So zu Recht Kirchhof, ZfA 1992,459 (470); ders., EuR - Beiheft 1 - 1991, 11 (23); Streinz, EuropaR, Rdnr. 217; ders., Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 283; Stein, in: Föderalismus und EG, 91 (102). 67 Kirchhof, EuGRZ 1994, 16 (36); Kevekordes, S. 218.
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hofes um den gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutz honoriert werden. 68 Das Verfassungsgericht garantiert aber nach wie vor unverändert die Geltung der Grundrechte; es kann jedoch einfließen lassen, daß es neben ihm einen weiteren Gewährleistungsträger gibt. Soweit die Grundrechtsgarantie vom Gerichtshof verläßlich übernommen wird, braucht sie nicht von dem weiterhin uneingeschränkt zuständigen Bundesverfassungsgericht geleistet werden. 69 Daher ist die Entscheidung entgegen der erstgenannten Auffassung nicht als materieller Grundrechtsverzicht, sondern als Festschreibung einer prozessualen Arbeitsteilung mit dem Europäis~hen Gerichtshof zu verstehen, die jedoch keine Lockerung oder Minderung des Grundrechtsschutzes bedeutet. Doch beschränken sich die Aussagen des Karlsruher Gerichtes nicht auf rein prozessuale Schlußfolgerungen. Das Bundesverfassungsgericht stellt nämlich auch klar, daß sich der Anwendungsvorrang für Gemeinschaftsrecht zwar nicht unmittelbar aus Art. 24 Abs. I GG ergebe, es diese Norm aber über das nationale Zustimmungsgesetz ermögliche, dem Gemeinschaftsrecht einen innerstaatlichen Anwendungsvorrang zu vermitteln. 70 Nach dieser allgemeinen Feststellung heißt es dann weiter: Dieser auf das nationale Zustimmungsgesetz zum Vertrag gestützte Rechtsanwendungsbefehl erstrecke sich auch auf Art. 189 Abs. 2 EWG-Vertrag. Daraus ergebe sich die unmittelbare Geltung von Gemeinschaftsverordnungen in der Bundesrepublik Deutschland und deren Vorrang vor nationalem RechU· Ob aus der Beschränkung dieser Aussage auf Verordnungen geschlossen werden kann, der Anwendungsvorrang erstrecke sich nur auf unmittelbar geltende Verordnungen und nicht auf nur mittelbare Geltung beanspruchende Richtlinien, ist der Entscheidung nicht zu entnehmen. Es bleibt also die Frage, ob allein aus dem Umstand, daß viele Richtlinien aufgrund ihrer außerordentlichen Detailliertheit Verordnungen in ihrer Wirkung sehr nahe kommen und damit der vertragliche Unterschied zwischen Richtlinien und Verordnungen verwischt wird, auf die Geltung der "Solange 11"Aussagen auch für Richtlinien geschlossen werden kann. 72 Doch auch Verordnungen räumt das Gericht keinen schrankenlosen Anwendungsvorrang ein: Indem es den Grundrechtsteil des Grundgesetzes als essentiellen Bestandteil der deutschen Verfassung herausstellt, der auch über Art. 24 Vgl. BVerfGE 73, 339 (378 ff.). So auch Kirchhof, EuR- Beiheft 1- 1991,11 (46); Kevekordes, S. 218. 70 BVerfGE 73, 339 (374 f.). 7. BVerfGE 73, 339 (375). 72 Vgl. ausfUhrlich hierzu AusfUhrungen nachfolgend unter 6. Teil A.; vgl. auch Stein, in: Zeidler-FS, Bd. 2, 1711 (1718). 68 69
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Abs. 1 GG nicht vorbehaltlos relativierbar sei, greift es die in "Solange I" verwandten Fonnulierungen wieder auf. Damit stellt es noch einmal klar, daß es keinen absoluten Vorrang sekundären Gemeinschaftsrechts vor nationalen Grundrechten gibt, sondern die nationalen Grundrechte - wenn auch in eingeschränktem Umfange - durchaus weiterhin Geltung beanspruchen. Wenn das Gericht nunmehr nur noch von den dem Grundrechtsteil zugrundeliegenden "Rechtsprinzipien" spricht und an anderer Stelle ausführt, seine Rechtsprechung im Vertrauen auf den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften auszusetzen, sofern der "vom Grundgesetz als unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz"73 im wesentlichen gleichgeachtet werde, so scheint es, die grundrechtlichen Anforderungen im Verhältnis zu der "Solange I"-Entscheidung herunterzuschrauben. Im weiteren Verlauf wird der Schutz der Grundrechte durch den Gerichtshof gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaft dann auch als ausreichend angesehen, "wenn er dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichzuachten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt." Dieser Grenzziehung ist zu entnehmen, daß ein gemeinschaftsrechtlicher Nonnativakt nicht schon jedesmal dann einen unzulässigen Eingriff in die Grundrechtsordnung des Grundgesetzes darstellen muß, wenn eine konkrete Grundrechtsgarantie des Grundgesetzes eingeschränkt wird, was allerdings bereits der "Solange 1"Entscheidung entnommen werden konnte. 74 Hier bringt das Gericht aber erstmalig den "Wesensgehalt der Grundrechte" ins Spiel. Damit deutet das Gericht an, daß der vom Grundgesetz als unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz dem Gewährleistungsbereich der Wesensgehaltsgarantie entspricht. Was aber ist darunter zu verstehen? Die Frage, ob der Integrationsgesetzgeber gleichermaßen wie der rein innerstaaatliche Gesetzgeber Grundrechtseinschränkungen bis zur Grenze des Art. 19 Abs. 2 GG vornehmen, darüber aber wegen seiner Grundrechtsbindung gemäß Art. 1 Abs. 3 GG nicht hinausgehen darf, ist damit noch nicht beantwortet. 75 Das wird auch durch die vielfältigen im Schrifttum unternommenen Interpretationsversuche belegU6 Da die dem "Solange 11"Beschluß zugrundeliegende Verfassungsbeschwerde eine solche Konkretisierung aber auch nicht forderte, kann dem Gericht dies nicht zum Vorwurf gereichen. Wenn das Schrifttum diese Aussage des Verfassungsgerichtes als eine
73 BVerfGE 73, 339 (Leitsatz 2). 74 Vgl. Ausftlhrungen soeben unter 4. Teil B. 1. 2. c). 75 So auch Kirchhof, EuR - Beiheft I - 1991, 11 (20). 76
Vgl. auch Ausftlhrungen nachfolgend unter 5. Teil A. 11.
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definitive Grenzziehung bewertet, so wird in die Rechtsprechung mehr hineingelesen, als das Gericht mit seiner Entscheidungsbegründung intendierte. Bemerkenswert ist allerdings, daß das Gericht vermieden hat, auf Art. 79 Abs. 3 GG zu verweisen, und lediglich auf den Wesensgehalt der Grundrechte abstellt. Es dürfte nämlich allgemeiner Ansicht entsprechen, daß Art. 79 Abs. 3 GG die äußerste Grenze der zulässigen Grundrechtsrelativierung bildet. Positionen, in die nicht einmal der verfassungsändernde nationale Gesetzgeber eingreifen darf, dürfen erst recht nicht zur Disposition des auf der Grundlage des innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehles tätig werdenden Umsetzungsgesetzgebers gestellt werden. 77 Dieses Schweigen kann im Umkehrschluß wiederum dahingehend für die Kollisionsfrage fruchtbar gemacht werden, daß damit eine Grenzziehung im Vorfeld der Ewigkeitsgarantie angedeutet werden soll.78 Einer konkreten Bestimmung der Grenzen des Art. 24 GG beziehungsweise der Reichweite des innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehles enthält sich das Gericht jedoch auch im "Solange II"-Beschluß. 79 Insofern stellt die Entscheidung in materieller Hinsicht eine konsequente Fortsetzung von "Solange I" dar, was seine Deutung als Umkehr oder Schlußstrich unter die bisherige Rechtsprechung nicht rechtfertigt. Die Karlsruher Richter bieten lediglich einen einzigen neuen Anhaltspunkt hinsichtlich der Modifizierung des Grundrechtsmaßstabes, indem sie ausführen: "Daß sich auf der gemeinschaftsrechtlichen Ebene unter Umständen andersartige Fragen bei der Regelung von Grundrechten oder der Konkretisierung ihres Schutzbereiches stellen, vermag der Angemessenheit des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzes aus der Sicht des Grundgesetzes keinen generellen Abbruch tun. "80 Hiermit scheint das Gericht andeuten zu wollen, daß sich infolge der Europäisierung eines Regelungsgegenstandes eine andere Bewertung von grundrechtsrelevanten Maßnahmen ergeben kann als bei rein nationalen Sachverhalten; mit anderen Worten ein Grundrechtseingriff auf Gemeinschaftsebene durchaus grundrechtskonform sein kann, der bei rein innerstaatli77Vgl. beispielsweise Rengeling/Middeke/GellennanniJakobs, Rdnr. 1020, S. 515; Herdegen, EuGRZ 1989, 309 (312); Ress, EuGRZ 1986, 549 (554 f.); Maidowski, JuS 1988, 114 (118); Kevekordes, S. 236 f. 78 So im Ergebnis auch Randelzhofer, in: MaunzIDürig, Art. 24 Abs. I Rdnr. 76; Stein, in: Föderalismus und EG, 91 (103); Kirchhof, EuR - Beiheft 1 - 1991, 11 (19); Scholz, in: FriaufiScholz, 53 (82); wohl auch Breuer, NVwZ 1994,417 (423). 79 Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 299, ist sogar der Auffassung, das Bundesverfassungsgericht habe den PrUfungsmaßstab nicht nur nicht konkretisiert, sondern ihn noch konturenloser werden lassen. 80 BVerfGE 73, 339 (386).
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cher Rechtsetzung grundrechtswidrig wäre. 81 Kriterien fUr eine Grundrechtsdogmatik entwickelt das Gericht damit aber nicht. d) Zwischenergebnis Festgehalten werden kann somit nur: Das Gericht hat in "Solange 11" nicht auf die Anwendung der deutschen Grundrechte verzichtet, sondern eine prozessuale Arbeitsteilung mit dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften festgeschrieben. Inwieweit die Maßstäblichkeit der Grundrechte durch die Europaoffenheit des Grundgesetzes relativiert wird, läßt das Gericht allerdings auch in dieser Entscheidung offen. Aus dem Umstand, daß Art. 79 Abs. 3 GG in diesem Zusammenhang unerwähnt bleibt, kann im Umkehrschluß lediglich geschlossen werden, daß die Grenze der zulässigen Relativierung der Grundrechte bereits im Vorfeld des Art. 79 Abs. 3 GG zu suchen ist. 2. Prüfungsbefugnis in jedem Einzelfall?
Wenn daher der "Solange II"-Entscheidung ein materieller Grundrechtsverzicht nicht zu entnehmen ist, so bleibt zu klären, ob die nach wie vor bestehende materiell-rechtliche Reservefunktion der Karlsruher Richter in jedem Einzelfall wieder aktiviert werden kann. Die prozessuale Fragestellung ist insofern auch fUr die materiell-rechtliche Lösung relevant, als daraus geschlossen werden kann, ob eine einzelne Maßnahme an den Grundrechten des Grundgesetzes gemessen werden kann oder ob nur eine generelle Sicherung des Grundrechtsstandards gewährleistet werden soll, mit anderen Worten einzelne Grundrechtsverstöße unbeachtet bleiben sollen. Wenn das Bundesverfassungsgericht die Schwelle fUr das eigene Eingreifen erst dann als überschritten ansieht, sobald der Europäische Gerichtshof Grundrechte "schlechthin und generell" nicht mehr zu schützen bereit oder in der Lage ist, falls das vom Grundgesetz geforderte Maß an Grundrechtsschutz auf der Ebene des Gemeinschaftsrechtes "generell und offenkundig"82 unterschritten wird, so läßt dies vermuten, eine Überprüfung der Grundrechtskonformität im Einzelfall sei ausgeschlossen.
81 Vgl. auch Ausfllhrungen unter 5. Teil D. 82 BVerfDE 73, 339 (387).
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a) Generalität der Grundrechtsverletzung
Im Schrifttum wird diese Aussage des Gerichtes daher auch dahingehend interpretiert, eine Aktivierung des "Solange"-Vorbehaltes im Einzelfall sei gerade auch im Hinblick auf die integrationshemmenden Auswirkungen einer solchen Einzelfallprüfung - nicht mehr möglich. 83 Es gehe nicht um die Grundrechtskonformität im Einzelfall, sondern nur darum, daß das Schutzniveau in der Gemeinschaft "generell", das heißt im ganzen, demjenigen des Grundgesetzes ebenbürtig sein müsse. Die vom Bundesverfassungsgericht rur die Aktivierung der eigenen Rechtsprechung vorausgesetzte generelle Abkehr des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften vom Grundrechtsschutz verwirklicht in einem einzelnen Fall wird fiir ausgeschlossen erachtet, so daß eine einzelne Grundrechtsverletzung fiir das nationale Verfassungsgericht keinen Grund zum Einschreiten begründe. 84 Damit habe das Gericht gleichzeitig zum Ausdruck gebracht, daß innerhalb der Gemeinschaft der Grundrechtsschutz prinzipiell den Organen der Gemeinschaft selbst obliege. Die Eigenverantwortung der Gemeinschaft sei somit akzeptiert worden. 85 Da auch eine "generelle" Unflihigkeit und Unwilligkeit des Europäischen Gerichtshofes, "schlechthin" Grundrechte zu schützen, jedenfalls derzeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen erscheine, komme dem "Solange II"-Beschluß faktisch die Wirkung eines "Niemals mehr" ZU. 86 Das Abstellen auf das Kriterium der Generalität spreche dafiir, daß eine Überprüfung des Gemeinschaftsrechtes am Maßstab des nationalen Grundrechtskataloges nur noch über die deutschen Zustimmungsgesetze möglich sei. Das Bundesverfassungsgericht habe seine Gerichtsbarkeit nur in dem Umfang auszuüben, in dem sich die Gemeinschaftsorgane über das durch das nationale Zustimmungsgesetz im E(W)G-Vertrag Gestattete hinausbewegten. Die Wahrung dieses Rahmens sei aber in erster Linie Aufgabe des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften und werde auch durch einzelne Fehlurteile nicht
83 Nicolaysen, EuR 1989,215 (224); Badura, AöR 115 (1990), 525 (528); Tomuschat, in: Bonner Kommentar, Art. 24 Rdnm. 65 f., 96; ders., EuGRZ 1993,489 (490); Hilf, EuGRZ 1987, I (6); Scherer, JA 1987,483 (489); Kloepfer, JZ 1988, 1089 (1093); Herdegen, EuGRZ 1989,309 (312); Ress, in: Geck-GS, 625 (666); Stein, in: Zeidler-FS, Bd. 2,1711 (1725); ders., ZaöRV 47 (1987),279 (284); Everling, EuR 1990, 195 (203,224); KleinlBeckmann, DÖV 1990, 179 (180); v. SimsonlSchwane, Europäische Integration und Grundgesetz, S. 31. 84 Kloepfer, JZ 1988, 1089 (1093); Tomuschat, EuR 1990,340; Stein, in: Zeidler-FS, Bd. 2, 1711 (1725); RengelinglMiddeke/GellermannlJakobs, Rdnr. 1021, S. 515 f. 85 Tomuschat, EuGRZ 1993,489 (490). 86 Kloepfer, JZ 1988, 1089 (1093); Stein, in: Zeidler-FS, Bd. 2,1711 (1725 f.).
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verlassen, sondern nur bei einer generellen Mißachtung des VertragesY Demnach könnten einzelne "Betriebsunfälle", die aus der grundrechtswidrigen Gestaltung des auf diesen Zustimmungsgesetzen basierenden sekundären Gemeinschaftsrechtes resultierten, nicht zu der Verfassungswidrigkeit der Zustimmungsgesetze fUhren. 88 Nach dieser Ansicht kämen deutsche Grundrechte also nur noch im Falle einer andauernden Verweigerung des Grundrechtsschutzes durch den Gerichtshof zum Zuge,89 im Einzelfall würden sie aber keine Maßstäblichkeit mehr entfalten. Sofern die anhand der Verordnung gezogenen Schlußfolgerungen auf die hier in Rede stehende Richtlinienproblematik übertragen werden können,9o bedeutet das fUr einzelne grundrechtswidrige Richtlinienbestimmungen, daß sie nicht zu der für die Auslösung der Maßstäblichkeit nationaler Grundrechte vorausgesetzten generellen Unterschreitung des vom Grundgesetz geforderten Grundrechtsstandards fUhren könnten. Der Umsetzungsgesetzgeber wäre nach dieser Deutung somit - ungeachtet der grundrechtswidrigen Elemente - zur Umsetzung der jeweiligen Richtlinie verpflichtet. b) Grundrechte als Individualrechte
Nach der Gegenansicht ist eine solche Interpretation mit der Grundrechtsbindung aus Art. 1 Abs. 3 GG unvereinbar. 91 Da Grundrechte subjektive Rechte des einzelnen gegen ihn beeinträchtigende Maßnahmen seien, scheide es von vornherein aus, den Tatbestand einer Verletzung davon abhängig zu machen, ob eine generelle grundrechtliche Beschwer vorliege, das heißt, ob eine Allgemeinheit von Grundrechtsträgern als Adressaten gemeinschaftsrechtlicher Regelungen in ihren Grundrechten verletzt würde. 92 Eine Rücknahme der verfassungsrechtlich zugeteilten Rechtsprechungsverpflichtung in abstrakt-genereller KleinlBeckmann, DÖV 1990, 179 (180). ZaöRV 47 (1987), 279 (284); ders., Zeidler-FS, Bd. 2, 1711 (1725); so wohl auch Ress/Ukrow, EuGRZ 1990,499 (505); Tomuschat, in: Bonner Kommentar, Art. 24 Rdnrn. 65, 93. 89 RengelinglMiddeke/GellermannlJakobs, Rdnr. 1021, S. 516; Gerstner/Goebel, Jura 1993, 626 (632). 90 Vgl. die soeben unter 4. Teil B. 11. 1. c) angedeuteten Bedenken; filr eine Übertragung auf die Richtlinie, soweit es um die zwingend von der Richtlinie vorgegebenen Inhalte geht, Stein, in: Zeidler-FS, Bd. 2, 1711 (1727); siehe dazu ausfiIhrIich Ausfilhrungen sogleich unter 5. Teil A. 91 Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 302; ders., Bundesverfassungsgerichtliche Kontrolle, S. 19,58. 92 Scholz, in: FriaufiScholz, 53 (83 f., 104); ders., NJW 1990,941 (945); Kirchner/Haas, JZ 1993,760 (763); Kirchhof, JZ 1989,453 (454). 87
88 Stein,
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Form sei schon deshalb nicht möglich, weil Gerichte immer nur über Einzelfalle entscheiden könnten. 93 Dürfe also der Grundrechtsschutz nicht an eine Vielzahl von gleichartigen Grundrechtsverletzungen gebunden werden, sei das Kriterium der Generalität dahingehend zu korrigieren, auch den Einzelfall entsprechend zu berücksichtigen. Damit sei das Bundesverfassungsgericht nicht von einer Einzelfallprüfung entbunden. Daß sich das Gericht des Schutzauftrages im Einzelfall durchaus bewußt sei, lasse sich ausdrücklich auch den nachfolgenden Entscheidungen entnehmen. 94 Da sich diese Argumentation nicht spezifisch auf das Rechtsetzungsinstrument der Verordnung bezieht, kann es auch für die Richtlinie fruchtbar gemacht werden. Demnach können auch einzelne grundrechtswidrige Richtlinien den "Solange"-Vorbehalt auslösen. Es wäre also nicht erforderlich, daß sekundäres Gemeinschaftsrecht generell an Grundrechtsdefiziten leidet, also eine Vielzahl von Richtlinien grundrechtswidrige Bestimmungen enthalten oder eine Vielzahl von Grundrechtsträgern in ihren Grundrechten beeinträchtigt wird, um die Maßstäblichkeit deutscher Grundrechte zu reaktivieren. c) Eigene Bewertung
Der Wortlaut der Entscheidung mag zwar auf den ersten Blick ein Abrücken von der Einzelfallprüfung nahe legen, diese Interpretation der Aussage der Karlsruher Richter ist aber verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen. Wenn die Vertreter der Ansicht, die eine Einzelfallprüfung für ausgeschlossen erachtet, selbst die Frage aufwerfen, "wie eigentlich die generelle Abkehr des Gerichtshofes in einem (weIchen?) Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht geltend gemacht werden könne",95 so scheinen sie bereits selbst zu erkennen, daß ihre Interpretation in eine Sackgasse führt. Insofern unterstützt dieses prozessuale Argument die Schlußfolgerung, daß die Verletzung eines Grundrechtes nicht davon abhängt, ob neben einem einzelnen Grundrechtsträger auch andere in ihrem Recht beeinträchtigt sind oder neben der einen grundrechtswidrigen Richtlinie noch weitere mit grundrechtswidrigen Inhalten ergehen, also eine generelle Betroffenheit vorliegt. 93 Huber, AöR 116 (1991), 210 (242); Randelzhofer, in: MaunzlDürig, Art. 24 Abs. I Rdnr. 161. 94 So Kraußer, S. 129; KirchnerlHaas, JZ 1993, 760 (763); vgl. Ausfilhrungen sogleich unter 4. Teil B. 111. und IV . . 95 So Kloepfer, JZ 1988, 1089 (1093); Scherer, JA 1987,483 (489); vgl. auch Klein, VVDStRL 50 (1991),56 (82 f.).
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Entfalten die Grundrechte somit in jedem Einzelfall ihre Maßstäblichkeit, so ist das aber nicht gleichbedeutend mit dem Schluß, daß die Grundrechte in jedem Einzelfall in vollem Umfange Geltung beanspruchen. Die Frage der Reichweite der Grundrechte im Einzelfall betrifft nämlich eine andere Problematik als die nach der grundsätzlichen Geltung im Einzelfall. Eine strikte Grundrechtskonfonnität, wie sie Art. lAbs. 3 GG für nationale Hoheitsakte verlangt, wird danach rur die im Bereich der Bundesrepublik Deutschland umgesetzten Rechtsakte der Gemeinschaft nicht gefordert. Soweit der gemeinschaftsrechtliche Grundrechtsstandard die notwendige Identität mit dem nationalen Grundrechtsniveau wahrt, ist rur das sekundäre Gemeinschaftsrecht auch nur der supranationale Grundrechtsschutz maßgeblich. Relevant wird die Reaktivierungsmöglichkeit im Einzelfall somit erst im Falle der Divergenz zwischen beiden Grundrechtsebenen. So ist auch die vom Bundesverfassungsgericht gewählte Fonnulierung der "generellen" Grundrechtsgewährleistung zu verstehen. d) Zwischenergebnis
Festzuhalten ist somit, daß einzelne grundrechtswidrige Richtlinienbestimmungen nach der "Solange II"-Entscheidung nicht unter pauschaler Berufung auf Art. 24 Abs. 1 GG beziehungsweise nunmehr Art. 23 GG in Verbindung mit dem Zustimmungsgesetz zum E(W)G-Vertrag hingenommen werden müssen, sondern bei jeder einzelnen Richtlinie geprüft werden muß, ob sich die Grundrechtseingriffe im Rahmen der durch das Grundgesetz gestatteten Relativierung bewegen. 3. Fazit
Das Bundesverfassungsgericht lehnt es auch in der "Solange II"Entscheidung ab, dem Gemeinschaftsrecht im Falle der Kollision mit deutschen Grundrechten einen absoluten Anwendungsvorrang einzuräumen. Insbesondere stellt es in dieser Entscheidung noch einmal heraus, daß ein solcher Anwendungsvorrang zugunsten des Gemeinschaftsrechtes nicht aus dem Gemeinschaftsrecht selbst hergeleitet werden, sondern sich nur aus einer entsprechenden Anordnung der nationalen Verfassung ergeben könne. Damit erteilt das Gericht der vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften entwickelten Kollisionslösung noch einmal eine deutliche Absage. 96
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Der Entscheidung kann ferner entnommen werden, daß das Bundesverfassungsgericht den Grundrechtsberechtigten in der Bundesrepublik Deutschland in jedem Einzelfall als Garant rur den Grundrechtsschutz zur Verfügung steht. Allerdings aktiviert das Bundesverfassungsgericht seine diesbezügliche Prüfungskompetenz und damit auch den nationalen Grundrechtsstandard nur, wenn nicht schon der Europäische Gerichtshof ein dem vom Grundgesetz als unabdingbar geforderten Grundrechtsstandard entsprechendes Grundrechtsniveau gewährleistet. Das Gericht läßt aber das Problem ungelöst, wann es in materieller Hinsicht an einem entsprechenden Grundrechtsschutz im Gemeinschaftsrecht fehlt. Wenn es die Maßstäblichkeit der deutschen Grundrechte auf die Fälle beschränkt, in denen der vom Grundgesetz als unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz auf der Ebene des Gemeinschaftsrechtes generell und offenkundig unterschritten werde, fehlt es - abgesehen von der äußerst mißverständlichen Fonnulierung des Kriteriums "generell" - an materiellen Konkretisierungen, wann eine solche generelle und offenkundige Unterschreitung gegeben ist. Feststeht lediglich, daß Art. 79 Abs. 3 GG nicht die äußerste Grenze der zulässigen Grundrechtsrelativierung darstellt, sondern diese bereits im Vorfeld der Ewigkeitsgarantie zu suchen ist. Einen weiteren Anhaltspunkt liefert das Gericht darüber hinaus nur noch insoweit, als es auf die Wesensgehaltsgarantie als Mindeststandard des Grundrechtsschutzes abstellt. Damit bietet die Rechtsprechung für den hier zu lösenden materiell-rechtlichen Konflikt allerdings noch keine abschließende Lösung. Für den Konflikt zwischen grundrechtswidrigen Richtlinienvorgaben und nationalen Grundrechten läßt sich aus den Aussagen des Verfassungsgerichtes lediglich folgern, daß jede einzelne Richtlinie am Maßstab des innerstaatlichen Grundrechtsniveaus gemessen wird, dieser Maßstab jedoch eine Relativierung erfährt, deren Grenze im Vorfeld des Art. 79 Abs. 3 GG zu suchen ist. Für den deutschen Umsetzungsgesetzgeber bedeutet das, im Falle der Unterschreitung des relativierten Grundrechtsstandards von seiner Umsetzungsverpflichtung befreit zu sein, wenn der verfassungsändernde Gesetzgeber nicht zu einer Anpassung der Verfassung an die Richtlinienvorgaben bereit ist.
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Daraufweisen auch Wiesel er/Schmitz, MDR 1993,723 (727), hin.
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111. "Tabakrichtiinien"-Beschluß In der Reihe dieser Entscheidungen zum Grundrechtsschutz ist auch der oben bereits dargestellte97 "Tabak"-Beschluß des Bundesverfassungsgerichtes zu nennen, der nach Ansicht von Scholz98 "Solange I1I" den Weg bereitet. Anders als in den beiden "Solange"-Entscheidungen bot nunmehr eine Richtlinie Anlaß fiir die Einschaltung der Karlsruher Richter. Wenn das Bundesverfassungsgericht in diesem Beschluß feststellt: "Der nationale Gesetzgeber ist bei der Umsetzung an die Vorgaben des Grundgesetzes gebunden. Die Frage, ob er bei der Umsetzung im Rahmen des ihm von der Richtlinie eingeräumten Gestaltungsspielraumes Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte der Antragstellerinnen verletzt, unterliegt in vollem Umfang verfassungsgerichtlicher Überprüfung"99, ist diese Aussage interpretationsbedUrftig. loo Es schließen sich zwei Fragen an: Zum einen ist offen, ob sich die Grundrechtsbindung lediglich auf die dem Umsetzungsgesetzgeber von der Richtlinie eingeräumten Gestaltungsspielräume bezieht oder ob sie sich auch auf verbindliche Richtlinienvorgaben erstreckt. Zum anderen ist nach wie vor ungeklärt, inwieweit die Sekundärrechtsetzungsakte grundrechtskonform sein müssen. Die Entscheidung ist also auch daraufhin zu untersuchen, ob sie Aufschluß darüber gibt, was unter dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsstandard zu verstehen ist. 1. Bestätigung von "Solange 11"
Ein Teil der Literatur deutet diese Erklärung der Karlsruher Richter dahingehend, soweit es um die Vorgaben durch das Gemeinschaftsrecht selbst gehe, sei allein der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften zur Überprüfung der Grundrechtskonformität des Rechtsetzungsaktes zuständig. Insoweit unterliege die Maßnahme folglich auch nur der Bindungswirkung der Gemeinschaftsgrundrechte. Etwas anderes gelte nur dann, wenn die Grundrechte in den Grenzen des "Solange II"-Vorbehaltes tangiert seien}OI Da aber eine generelle Unterschreitung des vom Grundgesetz unabdingbar geforderten Grundrechtsstandards im Sinne des "Solange"-Vorbehalts nicht in einem Einzelfall verwirklicht werden könne, sondern eine Vielzahl grundrechtswidriger Richtlinien bezieVgl. Ausfilhrungen oben unter 1. Teil C. III. NJW 1990, 941 ff. sowie in: FriauflScholz, 53 (105). 99 Vgl. Fn. 87 im 1. Teil; siehe auch BVerfG, DÖV 1992,.1010. IOOVgl. Ausfilhrungen oben unter 1. Teil C. III.; vgl. auch Badura, AöR 115 (1990), 525 (526), der dieser Aussage den Charakter "delphischer OrakelsprUche" zuschreibt. 101 Ehlermann, EuR - Beiheft I - 1991,27 (29); Nicolaysen, EuR 1989,215 (224). 97 98
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hungsweise betroffener Grundrechtsträger voraussetzen würde, \02 führe dies im Ergebnis dazu, daß der nationale Grundrechtskatalog für die einzelne Richtlinie nicht mehr maßgeblich sei. Nur soweit das Gemeinschaftsrecht, genauer gesagt die Richtlinienvorgaben, dem nationalen Umsetzungsgesetzgeber Gestaltungsspielräume beließen, bleibe für einen ergänzenden Rechtsschutz durch das Bundesverfassungsgericht überhaupt noch Raum. \03 Demnach wären auch nationale Grundrechte nur noch relevant, sofern die jeweilige Richtlinie dem innerstaatlichen Gesetz- und Verordnungsgeber Freiräume zur Umsetzung gewähre. Soweit die Richtlinienvorgaben verbindlich seien, müßte der Umsetzungsgesetzgeber sie folglich - unabhängig von ihrer grundgesetzlichen Grundrechtskonformität - umsetzen. Im Ergebnis läuft diese Interpretation des Beschlusses damit auf den Vorrang von EG-Richtlinien vor den Grundrechtsgewährleistungen der deutschen Verfassung hinaus. Der "Tabak"-Beschluß wird demzufolge als Bestätigung der Entscheidung von 1986 gesehen,I04 indem die anhand der Verordnung entwickelten Maßstäbe auf das Rechtsetzungsinstrument der Richtlinie übertragen werden. Da die Vertreter dieser Auffassung die "Solange II"-Entscheidung bereits als materiellen Grundrechtsverzicht deuteten und eine Aktivierung des "Solange"Vorbehaltes nur im Falle eines generellen Absinkens des durch den Europäischen Gerichtshof garantierten Grundrechtsstandards annehmen, was sie für faktisch ausgeschlossen erachten, und es nach ihrer Auffassung somit zu einer Aktivierung der Prüfungskompetenz im Einzelfall nicht mehr kommen kann, ist die vorgenommene Deutung der "Tabak"-Entscheidung nur konsequent. Wie bereits dargelegt, ist diese Argumentation aber vor dem Hintergrund, daß Grundrechte Individualschutz bezwecken und damit eine Prüfung der Grundrechtskonformität im Einzelfall möglich sein muß, nicht tragbar. 105 Ferner steht es dem Bundesverfassungsgericht nicht zu, sich von der verfassungsrechtlichen Verpflichtung zum Grundrechtsschutz freizuzeichnen und damit über Verfassungsbestimmungen zu disponieren. Doch selbst wenn man mit den Vertretern dieser Auffassung eine generelle Unterschreitung des nationalen Grundrechtsstandards auf Europaebene verlangen würde, um die Maßstäblichkeit des Grundrechtskataloges des Grundgesetzes zu reaktivieren, bedürfte es einer 102Vgl. Ausfllhrungen soeben unter 4. Teil B. 11. 2. a); Everling, EuR 1990,195 (203). 103 V. SimsonlSchwarze, Europäische Integration und Grundgesetz, S. 31; Eh1ermann, EuRBeiheft 1 - 1991,27 (29); Nico1aysen, EuR 1989,215 (221). 104 Grabitz, in: GrabitziHilf, Art. 189 Rdnr. 28; K1einlBeckmann, DÖV 1990, 179 (180); Nico1aysen, EuR 1989,215 (224); Everling, EuR 1990,195 (203 ff.). \05 Vgl. Ausfllhrungen unter 4. Teil B. 11. 2.
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Vierter Teil: Lösungsansätze in der Rechtsprechung
Konkretisierung, wann ein generelles Absinken des europäischen Grundrechtsniveaus vorliegt. Ist diese Deutung des Karlsruher Beschlusses somit wegen der bereits zu "Solange 11" aufgezeigten Fehler nicht stichhaltig, bedarf es eines anderen Interpretationsansatzes. 2. Neuorientierung der Verfassungsgerichtsrechtsprechung
Andere wiederum bewerten den Beschluß vom 12. Mai 1989 als rein prozessuale Stellungnahme. Das Bundesverfassungsgericht offenbare ein Defizit beim Zusammenspiel von nationalem und gemeinschaftsrechtlichem Rechtsschutzsystem. 106 Aus dem Beschluß ergebe sich nämlich, daß dem einzelnen Grundrechtsträger, der von Richtlinien der Europäischen Gemeinschaft in seinen Rechten betroffen wird, vor Erlaß einer Richtlinie keine Möglichkeit des nationalen Rechtsschutzes zur Seite stehe, um das Inkrafttreten der Richtlinie zu verhindern. Auch nach Erlaß der Richtlinie könne sich der betroffene Grundrechtsträger gegen den Richtlinieninhalt nicht vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften wehren. Die in Art. 173 Abs. 4 EG-Vertrag einge,;. räumte Klagemöglichkeit natürlicher und juristischer Personen erstrecke sich lediglich auf Entscheidungen und ausnahmsweise auch auf Verordnungen, sofern diese unmittelbar und individuell gelten, nicht aber auf Richtlinien. Einzig den Mitgliedstaaten selbst stehe ein solches Klagerecht zu. \07 Ein Anspruch des einzelnen Staatsangehörigen, die Bundesrepublik Deutschland zu einer solchen Klage zu veranlassen, bestehe ebenfalls nicht. \08 Ausgeschlossen sei ferner - zumindest nach der bisherigen Rechtsprechung -, daß das Bundesverfassungsgericht gegen den gemeinschaftsrechtlichen Rechtsetzungsakt und die nationale Umsetzungsnorm vorgehe, wenn die innerstaatliche Vorschrift lediglich zwingende Richtlinienvorgaben enthalte, also der innerstaatliche Gesetzgeber nicht eigenständige Gestaltungsspielräume ausfülle, sondern lediglich gemeinschaftsrechtlich determinierte Inhalte transformiere. I09 Eine I06ErberichIFranke, in: Bleckrnann-FS, 55 (66 f.); Kirchhof, in: Föderalismus und EG, 109 (1l6 f., 131); vgl. auch den Beschluß Nr. 1 des 60. Deutschen Juristentages zum individuellen Rechtsschutz in Europa, NJW 1994,3075 (3081). Zu der Problematik des unzulänglichen Rechtsschutzes gegen gemeinschaftsrechtliche Normativakte siehe auch Schröder, DVBI. 1994, 316 (323); Steindorff, EWS 1993, 341 (342). \07 Vgl. Art. 173 Abs. 2 EG-Vertrag. \08 Vgl. Bleckmann, EuropaR, Rdnr. 651 f.; Nicolaysen, EuR 1989,215 (220). \09 Scholz, in: FriauflScholz, 53 (61); ErberichiFranke, in: Bleckmann-FS, 55 (68 f.).
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gerichtliche Überprüfung finde nur dann statt, wenn die Richtlinie dem nationalen Umsetzungsgesetzgeber einen GestaItungsspielraum einräume, weil er innerhalb dieses Gestaltungsfreiraumes grundrechtskonform handeln müsse. Aufgrund der zunehmend detaillierten Ausgestaltung von Richtlinien reduzierten sich damit einhergehend die Rechtsschutzmöglichkeiten des einzelnen gegen ihn belastende Rechtsakte auf unzumutbare Weise. Diese Lücke im Individualrechtsschutz werfe die Frage nach Änderung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes auf. Als Antwort auf diese Frage habe das Bundesverfassungsgericht im "Tabak"-Beschluß angedeutet, daß bei qualifiziertem Vorbringen auch eine Prüfung hinsichtlich der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben in Frage komme. 110 Ob dies nur bei einem generellen Defizit der Grundrechtsgewährleistung durch den Gerichtshof oder auch im Einzelfall möglich ist, habe das Gericht damit allerdings (noch) nicht eindeutig geklärt. Da es für den jeweils betroffenen Grundrechtsträger nur darauf ankomme, ob seine subjektiven Rechte verletzt sind, also ob die Richtlinienvorgaben gegen einzelne Grundrechte verstoßen, sei nur eine Interpretation des "Tabak"-Beschlusses verfassungsrechtlich tragbar, weIche die Aussagen des Gerichtes als Ankündigung einer Einzelfallprüfung verstehe. 111 Demnach könnten auch die zwingenden Vorgaben einer Richtlinie in jedem Einzelfall auf ihre Vereinbarkeit mit deutschen Grundrechten anhand des relativierten Grundrechtsmaßstabes geprüft werden. 3. Fortführung der bisherigen Rechtsprechung
Entgegen der letztgenannten Auffassung handelt es sich bei dem "Tabak"Beschluß nicht um eine völlige Neuorientierung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, sondern vielmehr um eine Präzisierung der in "Solange 11" bereits verfolgten Ansätze und eine Übertragung dieser Grundsätze auf das Rechtsetzungsinstrument der Richtlinie. Das Bundesverfassungsgericht hat im "Tabak"-Beschluß noch einmal klargemacht, daß bei entsprechend qualifiziertem Vorbringen auch eine Einzelfallprüfung hinsichtlich der gemeinschaftsrechtlichen Grundlagen in Frage kommt, also grundsätzlich jede einzel110 Streinz, DVBI. 1990, 949 (957); Scholz, in: FriaufiScholz, 53 (62); vgl. auch Kirchhof, in: Föderalismus und EG, \09 (117). 111 Streinz, DVBI. 1990, 949 (957); ders., Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 12,58; ders. nach Niedobitek, in: Föderalismus und EG, 130; ders., EuropaR, Rdnr. 225; Ressl Ukrow, EuZW 1990, 499 (504 Fn. 58); Rande1zhofer, in: Maunz/Dörig, Art. 24 Abs. I Rdnr. 160 f.
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Vierter Teil: Lösungsansätze in der Rechtsprechung
ne Richtlinie auf ihre Grundrechtskonformität geprüft werden kann: Zunächst ist zwar eine Prüfung durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften anhand des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsstandards durch Vorlage im Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 177 EG-Vertrag zu gewährleisten. Wenn auf diesem Wege der vom Grundgesetz als unabdingbar gebotene Grundrechtsstandard aber nicht verwirklicht werden sollte, der Gerichtshof das sekundäre Gemeinschaftsrecht im Falle eines Verstoßes gegen diesen Maßstab also nicht für ungültig erklären sollte, ist das Bundesverfassungsgericht berufen, diesen Grundrechtsstandard zu garantieren. Wenn dieses arbeitsteilige Zusammenwirken 112 zwischen Bundesverfassungsgericht und dem Gerichtshof in den meisten Fällen zwar dazu führen mag, daß aufgrund der Kongruenz des Grundrechtsniveaus auf beiden Ebenen der grundgesetzliche Standard und damit das Bundesverfassungsgericht als dessen Garant nicht mehr gesondert bemüht werden muß, so stellen die Karlsruher Richter aber klar, daß jeder einzelne europäische Sekundärrechtsetzungsakt am Grundrechtsniveau der deutschen Verfassung zu messen ist, wenn der europäische Grundrechtsstandard ausnahmsweise niedriger ausfallt. Daß nur diese Deutung des Beschlusses zutreffend ist, wird auch durch die Bezugnahme des Senats auf die konkret in Rede stehende Tabakrichtlinie bestätigt: "Soweit die Richtlinie ll3 den Grundrechtsstandard des Gemeinschaftsrechtes verletzen sollte, gewährt der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Rechtsschutz. Wenn auf diesem Wege der vom Grundgesetz als unabdingbar gebotene Grundrechtsstandard nicht verwirklicht werden sollte, kann das Bundesverfassungsgericht angerufen werden. "114 Ebenso wie im "Solange II"-Beschluß knüpft das Verfassungsgericht auch in diesem Fall wieder an die prozessuale Ausgangslage an; jedoch gestatten die Ausführungen zum Rechtsschutz auch hier Schlußfolgerungen in materiellrechtlicher Hinsicht. Gelangt nämlich das Bundesverfassungsgericht zur Reaktivierung der eigenen Prüfungskompetenz, so bedeutet das zwangsläufig eine gleichzeitige Aktivierung des Grundrechtskataloges des Grundgesetzes. Jeder einzelne europäische Normativakt, also auch jede einzelne Richtlinie durchläuft somit eine Kontrolle am Maßstab des deutschen Grundrechtsstandards.
112 Der Europäische Gerichtshof selbst bezeichnet sein Verhältnis zu den nationalen Gerichten im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens als "Zusammenarbeit", EuGH Rs. C-231189, Sig. 1990,1-4012 (4017 Rdnr. 18) - Gmurzynska-Bscher. 113 Hervorhebung der Verfasserin. 114 Bestätigt in BVerfG, DÖV 1992, 1010.
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Damit ist allerdings noch nichts über die viel schwieriger zu beantwortende Frage ausgesagt, welcher "Grundrechtsmaßstab" zu wählen ist, inwieweit also die materielle Grundrechtsbindung gemäß Art. 1 Abs. 3 GG durch die Integrationsbereitschaft des Grundgesetzes modifiziert wird. Da der zugrunde liegende Sachverhalt ein Ausweichen auf eine prozessuale Lösung ermöglichte, hat das Bundesverfassungsgericht auch hier eine Konkretisierung der materiell-rechtlichen Relativierung der Grundrechte wieder elegant umgehen können. Es hat es sich folglich wiederum nicht zur Aufgabe gemacht herauszuarbeiten, was unter dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsstandard zu verstehen ist.
4. Fazit
Der "Tabak"-Beschluß macht - anknüpfend an "Solange 11" - deutlich, daß auch jeder einzelne Akt des sekundären Gemeinschaftsrechtes, gleichgültig ob unmittelbare oder nur mittelbare Geltung beanspruchend, auf seine Grundrechtskonformität überprüft wird; das Bundesverfassungsgericht seine grundsätzlich bestehende Prüfungskompetenz aber nicht aktivieren muß, wenn diese Aufgabe schon vom Europäischen Gerichtshof zufriedenstellend erfiillt wird. Im "Tabak"-Beschluß werden also die in "Solange 11" anband der Verordnung entwickelten Grundsätze auf die Richtlinie übertragen. Für den durch eine grundrechtswidrige Richtlinie betroffenen Grundrechtsträger bedeutet das, in jedem Einzelfall Grundrechtsschutz beim Bundesverfassungsgericht erlangen zu können, sofern der vom Grundgesetz als unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz nicht bereits auf Gemeinschaftsebene vom Gerichtshof gewährleistet wird. Auf eine Konkretisierung dessen, was unter dem vom Grundgesetz als unabdingaber gebotenen Grundrechtsstandard zu verstehen ist, verzichtet das Bundesverfassungsgericht allerdings auch hier wieder.
IV. "Maastricht"-Urteil Das vorläufig letzte Glied in der Kette der Entscheidungen zum Grundrechtsbereich stellt das "Maastricht"-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes dar. Vor dem Hintergrund der auch nach dem "Tabak"-Beschluß noch ungelösten grundrechtlichen Kollisionsfrage und der öffentlichen Diskussion um Maastricht, wurde die Entscheidung vom 12. Oktober 1993 überall mit Spannung erwartet. Mit diesem Urteil hat das Bundesverfassungsgericht der Bun10 Rickert
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desrepublik Deutschland als letztem Mitgliedstaat die Hinterlegung der Ratifikationsurkunde zum Vertrag über die Europäische Union vom 7. Februar 1992 ermöglicht und damit den Weg rur das Inkrafttreten des Vertragswerkes freigemacht. Das Bundesverfassungsgericht hat das Zustimmungsgesetz zum Vertrag über die Europäische Union zwar rur verfassungskonform erklärt und damit ein integrationspolitisches Desaster vermieden, gleichwohl hat es eine Reihe von Aussagen getroffen, welche die Europa-Euphorie einiger Integrationspolitiker erheblich dämpfte. Der Schwerpunkt des Urteils lag allerdings auf anderen Themenkreisen als der Grundrechtskollision wie zum Beispiel dem Demokratieprinzip l15; die Grundrechtsproblematik nimmt demgegenüber vergleichsweise wenig Raum ein. Dennoch enthält die Entscheidung - zusammengefaßt in ihrem Leitsatz 7 - einige grundsätzliche Feststellungen über das Verhältnis von gemeinschaftsrechtlichem und grundgesetzlichem Grundrechtsschutz. 1. Aussagen des Urteils zum Grundrechtsbereich
Anders als in den beiden "Solange"-Entscheidungen ging es im "Maastricht"Verfahren weder um eine konkrete Normenkontrolle noch um eine Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil eines nationalen Gerichtes, sondern vielmehr um Verfassungsbeschwerden zur Überprüfung des Zustimmungsgesetzes zum Maastrichter Vertrag 11 6 und des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes vom 21. Dezember 1992\11, durch das unter anderem Art. 23 GG neugefaßt wurde, am Maßstab des Grundgesetzes. In den Verfassungsbeschwerden wurde die Verletzung zahlreicher Grundrechte gerügt. Sämtliche geltend gemachten Grundrechtsverstöße wurden schon in der Zulässigkeitsprüfung abgelehnt, lediglich die gerügte Verletzung von Art. 38 GG wurde nicht rur offensichtlich ausgeschlossen erachtet, in der Begründetheit dann aber ebenfalls verworfen. 118 Das Gericht mußte sich unter anderem mit der Rüge eines Beschwerderuhrers auseinandersetzen, "seine Grundrechte würden dadurch verletzt, daß sie nicht mehr nur rur Deutschland und durch deutsche Organe gewährleistet seien, 115 Ausfllhrlich hierzu beispielsweise Klein, in: Interne Studien und Berichte der KonradAdenauer-Stiftung, Nr. 6611993,1 (7 tf.); Ipsen, EuR 1994, 1 (5 ff.); Ossenbühl, DVBI. 1993,629 (634 ff.). 116 Gesetz vom 28. Dezember 1992 zum Vertrag vom 7. Februar 1992 über die Europäische Union, BGB!. 11, S. 1251. \11 BGB!. I, S. 2086. 118 BVerIDE 89,155 (171 tT.).
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sondern als europäische Grundrechte einen anderen Inhalt erhielten".119 Das Gericht wies die geltend gemachte Grundrechtsverletzung im Ergebnis zwar als unzulässig zurück, gestand aber zu, daß aufgrund der in der Präambel der Verfassung und in Art. 23 und 24 GG geregelten Offenheit tur die europäische Integration grundrechtsrelevante Eingriffe auch von Gemeinschaftsorganen ausgehen können. Daher müsse der verfassungsrechtliche Grundrechtsschutz auch gegenüber gemeinschaftsrechtlichen Rechtsetzungsakten garantiert werden. Hieraus resultiere eine Erweiterung des Anwendungsbereiches der deutschen Grundrechte gegenüber nich~deutschen Staatsorganen. Mit dieser Erweiterung des Geltungsbereiches der Grundrechte gehe auch eine Erweiterung der Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichtes einher. "Das Bundesverfassungsgericht gewährleistet durch seine Zuständigkeit, daß ein wirksamer Schutz der Grundrechte tur die Einwohner Deutschlands auch gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell sichergestellt und dieser dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleich zu achten ist, zum al den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt." Dies habe zur Folge, daß sekundäres Gemeinschaftsrecht nicht mehr wie bisher nur mittelbar im Rahmen der Kontrolle von Austuhrungs- und Vollzugsakten, sondern nunmehr auch unmittelbar am Maßstab der Grundrechte überprüft werden könne. Allerdings, so fährt das Gericht einschänkend fort, übe es seine Rechtsprechung über die Anwendbarkeit abgeleiteten Gemeinschaftrechtes in der Bundesrepublik in einem "Kooperationsverhältnis" zu dem Europäischen Gerichtshof aus. Das Bundesverfassungsgericht beschränke sich hierbei auf die "generelle Gewährleistung der unabdingbaren Grundrechtsstandards", während der Gerichtshof den Grundrechtsschutz tur das Gebiet der Europäischen Gemeinschaften in jedem Einzelfall garantiere. 12o 2. Abweichungen von der bisherigen Rechtsprechung
Die Austuhrungen enthalten nach Auffassung zahlreicher Stimmen in der Literatur eine Reihe von Neuerungen gegenüber der bisherigen Verfassungsgerichtsrechtsprechung. Der Bedeutung und Reichweite der Rechtsprechungsänderung für die hier zu lösende Kollisionsproblematik soll im folgenden nachgegangen werden.
119 BVerfDE
89, 155 (174). 155 (174 f.).
120 BVerfDE 89,
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a) Abweichung vom "Eurocontroll"-Beschluß Den offensichtlichsten Wandel seiner Rechtsprechung hat das Gericht mit der Aussage vollzogen, seine Aufgabe bestehe nicht nur im Grundrechtsschutz gegenüber der deutschen Staatsgewalt. Während das Verfassungsgericht selbst in der "Eurocontrol I"-Entscheidung vom 23. Juni 1981 noch die Auffassung vertreten hatte, seine Aufgabe beschränke sich auf den Grundrechtsschutz gegenüber deutschen Staatsorganen,121 also gegenüber deutscher öffentlicher Gewalt im Sinne von Art. 19 Abs. 4 und Art. 93 Abs. I Nr. 4 a GG, und dies auch im Schrifttum einhellige Zustimmung gefunden hatte,122 geht es nunmehr unter ausdrücklichem Hinweis auf die Änderung der bisherigen Rechtsprechung davon aus, daß auch sekundäres Gemeinschaftsrecht unmittelbar an deutschen Grundrechten gemessen werden kann. Zur Begründung verweist das Gericht darauf, daß mit der in der Verfassung angelegten Entscheidung rur die europäische Integration eine entsprechende Erweiterung des räumlichen Anwendungsbereiches der Grundrechte korrespondiere. Nunmehr ist ausdrücklich klargesteIlt: Das nationale Grundrechtsniveau ist rur jede in der Bundesrepublik Deutschland ausgeübte HoheitsgewaIt maßgeblich, also auch rur die Anwendung von Gemeinschaftsrecht. Dieser Ansatzpunkt ist insofern neu, als für den Geltungsanspruch des bundesdeutschen Grundrechtskataloges nicht mehr die Anwendung des Gemeinschaftsrechtes durch innerstaatliche SteIlen als notwendige Voraussetzung betrachtet wird, sondern über diese Anknüpfung hinaus die deutschen Grundrechte gegenüber direkt in der Bundesrepublik wirkender Gemeinschaftsgewalt Geltung beanspruchen. Für Gemeinschaftsrechtsakte, die erst durch VoIlzug oder Umsetzung nationaler Organe innerstaatliche Wirkung entfalten, nimmt das Bundesverfassungsgericht dagegen keinen die bisherige Rechtsprechung verändernden Standpunkt ein. Hierfiir verbleibt es bei den in "Solange 11" getroffenen Aussagen. Da das hier in Rede stehende Rechtsetzungsinstrument der Richtlinie in der Regel erst durch einen nationalen Umsetzungsakt innerstaatliche Geltung erlangt, bleibt es insoweit bei der Prüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichtes und damit gleichzeitig bei der Maßstäblichkeit deutscher Grundrechte im Sinne des "Solange II"-Beschlusses hinsichtlich des Umset121 BVerfGE 58,1 (26 ff.); siehe auch BVerfGE 1, 10 (Leitsatz 1); 6,15 (18); 6, 290 (295); 22, 91 (92); 22, 293 (295); 37, 271 (283). 122 Statt vieler Papier, in: HdbStR, Bd. VI, § 154 Rdnr. 23; Schmidt-Aßmann, in: MaunzJDürig, Art. 19 Abs. IV Rdnr. 48; GramIich, JZ 1982, 149 (150); Krebs, in: v. MünchiKunig, Art. 19 Rdnr. 53.
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zungsaktes. Sollte eine Richtlinie allerdings ausnahmsweise unmittelbare Wirkung entfalten, so ist das Bundesverfassungsgericht nach dem "Maastricht"Urteil auch befugt, die Richtlinienvorgaben direkt auf ihre Grundrechtskonformität zu überprüfen. Diese Entwicklung hatte das Bundesverfassungsgericht konkret für das Rechtsetzungsinstrument der Richtlinie bereits im "Tabak"Beschluß angedeutet. 123 Das Motiv des Bundesverfassungsgerichtes tUr die Erweiterung des Geltungsbereiches der nationalen Grundrechte dürfte darin bestehen, daß infolge zunehmender Ausweitung der Gemeinschaftskompetenzen und deren Inanspruchnahme durch die Gemeinschaftsorgane auch die Wahrscheinlichkeit für die Grundrechtsberechtigten in der Bundesrepublik Deutschland, durch unmittelbar wirkende Akte der Gemeinschaftsgewalt in ihren Rechten beeinträchtigt zu werden, gestiegen ist. Aus der Sicht des betroffenen Grundrechtsträgers macht es keinen Unterschied, ob die ihm drohende Grundrechtsverletzung durch einen Akt deutscher Staatsgewalt vermittelt wird oder ob es einer solchen Vermittlung im Einzelfall nicht bedarf, weil der europäische Normativakt unmittelbare Wirkung entfaltet, also "self-executing" ist. 124 aa) Umfassende Bindung des Gemeinschaftsrechts an deutsche Grundrechte Das Abstellen des Bundesverfassungsgerichtes auf die "Betroffenheit" der Grundrechtsberechtigten in der Bundesrepublik durch die Akte der Gemeinschaftsgewalt, um die Erweiterung des Anwendungsbereiches der deutschen Grundrechte zu rechtfertigen, wird im Schrifttum allerdings zum Teil tUr nicht ausreichend erachtet. 125 Der Schluß von der tatsächlichen Betroffenheit in grundrechtlieh relevanten Lebensbereichen auf die rechtliche Geltung der Grundrechtsgewährleistungen bedürfe einer dogmatischen Begründung, weil allein die faktische Grundrechtsbetroffenheit noch nicht zu einer Grundrechtsberechtigung führe. Die Grundrechtsberechtigung reiche immer nur so weit wie die Bindungswirkung gegenüber dem Grundrechtsadressaten. Art. 1 Abs. 3 GG als für die Bundesrepublik Deutschland maßgebliche Norm verpflichte nur die deutsche Hoheitsgewalt. Wenn das "Maastricht"-Urteil aber von der Grundrechtsberechtigung deutscher Grundrechtsträger auch gegenüber der GemeinVgl. AusfUhrungen soeben unter 4. Teil B. 1II. ausdrücklich der an der Entscheidung beteiligte Verfassungsrichter Klein, in: Interne Studien und Berichte der Konrad-Adenauer-Stiftung, Nr. 66/1993, I (6). 125Schröder, DVBI. 1994,316 (323); Horn, DVBl. 1995,89 (94); vgl. auch Tietje, JuS 1994, 197 (199). 123
124 So
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schaftsgewalt ausgehe, so müsse daraus als unweigerlich damit verbundene "Kehrseite" die Bindung der Gemeinschaftsgewalt an die Grundrechte des Grundgesetzes resultieren. 126 bb) Keine Renaissance der Hypothekentheorie Wäre dieser Schluß zutreffend, so würde es sich bei dem "Maastricht"-Urteil tatsächlich um die "Renaissance der Hypothekentheorie" handeln,127 die eine umfassende Bindung der europäischen Hoheitsgewalt an die deutschen Grundrechte forderte. 128 Jedoch trifft der dieser Deutung des Urteils zugrunde liegende Umkehrschluß nicht zu. Eine Grundrechtsberechtigung der deutschen Grundrechtsträger gegenüber der Gemeinschaftsgewalt setzt nicht gleichzeitig eine umfassende grundgesetzliche Grundrechtsbindung der Gemeinschaftsgewalt voraus. Die diese Auffassung vertretende Literaturmeinung geht selbst unter Bezugnahme auf "Solange I" davon aus, daß das Bundesverfassungsgericht unter Anerkennung der Eigenständigkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung niemals über die Gültigkeit oder Ungültigkeit von Gemeinschaftsrecht befinden würde,129 sondern immer nur über die Anwendbarkeit in der Bundesrepublik Deutschland; damit widerlegt sie ihre eigene Interpretation der Aussagen des Gerichtes von der umfassenden Bindung der Gemeinschaftsgewalt an die Grundrechte des Grundgesetzes. Das Gericht nimmt die Reichweite des innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehles als Ausgangspunkt. Dieser gestattet nur gemeinschaftsrechtliche Normativakte, die den unabdingbaren Grundrechtsstandard des Grundgesetzes nicht tangieren. Da dieser Rechtsanwendungsbefehl eine verfassungsrechtliche Wurzel hat, ist das Bundesverfassungsgericht auch berufen, dessen Grenzen zu bestimmen. Dem Gericht geht es also nicht darum, über Gültigkeit oder Ungültigkeit einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechtes zu befmden, sondern allein über deren Anwendbarkeit beziehungsweise deren Befolgungsanspruch in der Bundesrepublik Deutschland. 130 126 Horn, OVBI. 1995, 89 (94); wohl auch Klein, in: Grabitz-GS, 271 (277).
127 So Horn, OVBI. 1995, 89 (94); Klein, in: Grabitz-GS, 271 (277); wohl auch Bleckmann/Pieper, RIW 1993,969 (972), wenn sie den Ausfllhrungen des Bundesverfassungsgerichtes eine Art "Weltgeltung der Grundrechte" entnehmen; andeutungsweise auch Tietje, JuS 1994, 197 (199). 128 Zur Hypothekentheorie Klein, Oie Übertragung von Hoheitsrechten, S. 22; Küchenhoff, OÖV 1963, 161 (164 ff.); Thieme, VVOStRL 18 (1960), 50 (62 f.). 129 Horn, OVBI. 1995, 89 (96). 130 BVerfGE 37, 271 (282); vgl. Kirchhof nach Niedobitek, in: Föderalismus und EG, 129; vgl. auch Horn, OVBI. 1995,89 (96).
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Folglich kann von einer Bindung der Gemeinschaftsgewalt an die nationalen Grundrechte im Sinne der Hypothekentheorie nicht die Rede sein. Darüber hinaus kann erst recht nicht von einer uneingeschränkten Grundrechtsbindung gesprochen werden, weil das Bundesverfassungsgericht aufgrund der Integrationsoffenheit des Grundgesetzes durchaus eine gemeinschaftsrechtlich bedingte Relativierung des Grundrechtsmaßstabes gestattet. Schließlich fordert es lediglich die Wahrung des unabdingbaren Grundrechtsstandards und nicht eine vollständige Deckung mit den nationalen Grundrechten. Hinter der Erstreckung der eigenen Prüfungskompetenz auch auf nicht durch deutsche Organe vermitteltes Gemeinschaftsrecht steht die Überlegung, daß - solange der europäischen Vereinigung noch keine Staatsqualität zukommt die einzelnen Mitgliedstaaten nach wie vor rur die letztendliehe Gewährleistung des Grundrechtsschutzes verantwortlich sind, mithin also die Bundesrepublik Deutschland dem Grundrechtsberechtigten als Garant zur Verfiigung stehen muß.131 Insofern muß auch das Bundesverfassungsgericht der ihm verfassungsrechtlich übertragenen Aufgabe zum Grundrechtsschutz nachkommen. Darüber hinaus machen andere zutreffenderweise geltend, das Bundesverfassungsgericht sei bereits vor der KlarsteIlung im "Maastricht"-Urteil davon ausgegangen, sekundäres Gemeinschaftsrecht ausnahmsweise direkt am Grundrechtskatalog des Grundgesetzes messen zu können. 132 Exemplarisch können hierfiir sowohl Auszüge aus "Solange I" als auch aus "Solange 11" herangezogen werden. So spricht das Bundesverfassungsgericht in der erstgenannten Entscheidung ausdrücklich davon, "... die Unanwendbarkeit einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechtes durch die Verwaltungsbehörden und Gerichte der Bundesrepublik Deutschland festzustellen, soweit sie mit einer Grundrechtsgarantie des Grundgesetzes kollidiert."133 Eindeutig ist auch eine andere Äußerung in dieser Entscheidung: "Die angegriffene Regelung des Gemeinschaftsrechtes in der vom Europäischen Gerichtshof gegebenen Auslegung kollidiert nicht mit einer Grundrechtsgarantie des Grundgesetzes. "134 Auch in der "Solange II"-Entscheidung setzt das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit, sekundäres Gemeinschaftsrecht direkt am Maßstab deutscher Grundrechte zu prüfen, weiterhin voraus. Würde man dem Bundesverfassungsgericht diese 131 Vgl. auch Schröder, DVBI. 1994, 316 (323); Kirchhof, in: HdbStR, Bd. VII, § 183 Rdnr. 30 f1 132Streinz, EuZW 1994,329 (331); Randelzhofer, in: MaunzIDürig, Art. 24 Abs. I Rdnr. 131; vgl. auch die soeben gemachten Ausfllhrungen zur Tabakrichtlinie unter 4. Teil B. 111. 133 BVerfGE 37, 271 (284). 134 BVerfGE 37, 271 (288).
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Befugnis nämlich streitig machen, so könnte es auch nicht den Wesensgehalt der Grundrechte und den unabdingbaren Grundrechtsstandard im Gemeinschaftsrecht sichern. Diese dem Bundesverfassungsgericht nach allgemeiner Ansicht zukommende Reservefunktion läßt sich nur dann verwirklichen, wenn der Anwendungsbereich der Grundrechte auch auf abgeleitetes Gemeinschaftsrecht erstreckt wird. 135 Daher muß das Gericht Rechtsetzungsakte der Gemeinschaft auch unmittelbar auf ihre Grundrechtskonformität überprüfen können. Folglich besteht die Neuerung gegenüber den bisherigen Entscheidungen lediglich darin, daß das Bundesverfassungsgericht im "Maastricht"-Urteil erstmalig ausdrücklich darauf hingewiesen hat, sekundäres Gemeinschaftsrecht direkt auf seine Grundrechtskonformität zu überprüfen, während es bislang immer nur stillschweigend davon ausgegangen ist. Die Erstreckung der Grundrechtsgewährleistung auch auf unmittelbar wirkendes Gemeinschaftsrecht findet zudem Bestätigung in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG. Diese Vorschrift macht die Garantie eines im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutzes auch nicht davon abhängig, ob die Gemeinschaftsgewalt durch mitgliedstaatliche Vermittlung oder unmittelbar ausgeübt wird. 136 cc) Zwischenergebnis Als Zwischenergebnis ist somit festzuhalten, daß sämtliches sekundäres Gemeinschaftsrecht dahingehend überprüft werden kann, ob es dem vom Grundgesetz geforderten unabdingbaren Grundrechtsstandard genügt. In einer entsprechenden Entscheidung würde aber niemals über die Nichtigkeit einer Norm des Gemeinschaftsrechtes, also beispielsweise einer Richtlinie befunden, sondern immer nur über die Nichtvollziehbarkeit der Vorschrift im Geltungsbereich des Grundgesetzes. 137 Ein entsprechender Urteilsspruch würde also auf den Wirkungsbereich des Grundgesetzes beschränkt. Für die hier im Mittelpunkt stehende Richtlinienproblematik bringt das "Maastricht"-Urteil insofern eine Neuerung, als es klarstellt, daß auch unmittelbare Wirkung entfaltende Richtlinien am (relativierten) Grundrechtsmaßstab des Grundgesetzes überprüft werden können. Hinsichtlich nur mittelbare Geltung beanspruchender Richtlinien stellt das Urteil lediglich eine Bestätigung der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes dar. So auch Gersdorf, DVBI. 1994,674 (676). Schröder, DVBI. 1994,316 (323). 137 So ausdrücklich Kirchhofnach Niedobitek, in: Föderalismus und EG, 129.
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b) Abweichung vom "Solange II"-Beschluß?
Neben der Abweichung vom "Eurocontrol I"-Beschluß werten eInIge die Aussagen des Gerichtes auch als teilweise Abkehr von "Solange 11". Ein wesentlicher Unterschied zum "Solange II"-Beschluß wird im Schrifttum in der veränderten Verwendung des Wortes "generell" gesehen. Während das Bundesverfassungsgericht 1986 noch formulierte, es werde seine Gerichtsbarkeit nicht mehr ausüben, solange innerhalb der Gemeinschaft der Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt sei,138 begnüge es sich mit dieser Reservefunktion rur den Ausnahmefall nun offensichtlich nicht mehr. Es wolle selbst den Wesensgehalt der Grundrechte gegenüber der gemeinschaftsrechtlichen Rechtsetzungsgewalt generell garantieren. Daher könne das Verfassungsgericht im "Maastricht"-Urteil nur so verstanden werden, daß es selbst die Gewährleistung des Grundrechtsschutzes übernehme und damit die Primärverantwortlichkeit des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften widerrufe. 139 Mit dieser Aussage habe das Bundesverfassungsgericht folglich die bislang umstrittene Frage, ob ihm in jedem Einzelfall eine Prüfungsbefugnis zustehe, beantwortet. Da das Gericht die Gemeinschaftsgewalt als öffentliche Gewalt im Sinne des Grundgesetzes betrachte und seine Aufgabe auch in dem Schutz der Grundrechtsträger in der Bundesrepublik Deutschland vor gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtseingriffen sehe, könne diese Frage nur noch bejaht werden. 140 Die Vertreter dieser Ansicht verstehen die Betonung der eigenen Zuständigkeit durch das Bundesverfassungsgericht rur den Bereich des Grundrechtsschutzes zwar richtigerweise als Möglichkeit der Aktivierung deutscher Grundrechte im Einzelfall. Entgegen dieser im Schrifttum vertretenen Auffassung stellt das aber keine Änderung, sondern eine Fortruhrung der bisherigen Jurisdiktion dar. Auch "Solange 11" gestattet nur den Schluß, daß das Gericht seine Rechtsprechung in jedem Einzelfall reaktivieren kann, sofern der vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften gewährleistete Grundrechtsstandard hinter dem nach dem Grundgesetz erforderlichen zurückbleibt. 141 Diese Auffassung bestätigt es im "Maastricht"-Urteil auch durch die ausdrückliche Bezugnahme auf "Solange 11".142 138Vgl. BVerfGE 73, 339 (387). 139 Tomuschat, EuGRZ 1993,489 (490) - allerdings mit Bedauern; Streinz, EuZW 1994,329 (331). 140 Ipsen, EuR 1994, 1 (12); Horn, DVBI. 1995,89 (95); Tietje, JuS 1994, 197 (200); so wohl auch Tomuschat, EuGRZ 1993,489 (490) . . 141 Vgl. AusfUhrungen soeben unter 4. Teil B. 11. 2. 142 Vgl. BVerfGE 89, 155 (175).
154
Vierter Teil: Lösungsansätze in der Rechtsprechung
Damit ist gleichzeitig auch die Auffassung widerlegt, welche die Aussagen des Gerichtes zwar korrekterweise als Bestätigung von "Solange 11" begreift, die Entscheidung aber fiilschlicherweise dahingehend deutet, daß eine Einzelfallprüfung nur noch vom Europäischen Gerichtshof und nicht mehr vom Bundesverfassungsgericht begehrt werden kann. 143 c) Zwischenergebnis
Es ist also zu resümieren: Das Bundesverfassungsgericht hat im "Maastricht"-Urteil noch einmal klargestellt, daß es seine "Wächterrolle"144 kontinuierlich und einzelfallbezogen wahrnimmt und sie ausdrücklich auch auf unmittelbar geltendes Gemeinschaftsrecht erstreckt. Folglich können auch unmittelbar wirkende Richtlinien anhand der deutschen Grundrechte überprüft werden. Ein entsprechender Urteilsspruch wäre aber immer nur auf den Wirkungsbereich des Grundgesetzes beschränkt. Das Bundesverfassungsgericht würde sich mithin niemals anmaßen, über Gültigkeit oder Nichtigkeit einer EGRichtlinie zu befinden, sondern immer nur über deren innerstaatliche Anwendbarkeit beziehungsweise Vollziehbarkeit. 3. Übereinstimmungen mit der bisherigen Rechtsprechung
Neben den (vermeintlichen) Abweichungen von der bisherigen Rechtsprechung zum Grundrechtsbereich enthält das Urteil auch deutliche Bekräftigungen der bisherigen Jurisdiktion. a) Kooperation mit dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften
In bezug auf die Grundrechtskonformität von gemeinschaftsrechtlichen Rechtsetzungsakten schränkt das Bundesverfassungsgericht seine Prüfungskompetenz insoweit ein, als es auf das "Kooperationsverhältnis" mit dem Europäischen Gerichtshof verweist und seine Gerichtsbarkeit auf die generelle Gewährleistung der unabdingbaren Grundrechtsstandards beschränkt.
143 Gersdorf, DVBI. 1994, 674; Everling, in: Grabitz·GS, 57 (64); Pemice, in: Grabitz-GS, 523 (534). 144 Streinz, EuZW 1994,329 (331).
B. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes
155
aa) Kooperation mit dem Gerichtshof als Abkehr von "Solange 11" Wenn im Schrifttum behauptet wird, die Kennzeichnung des Verhältnisses zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof im Bereich des Grundrechtsschutzes als "Kooperationsverhältnis" stelle keine Fortsetzung, sondern eine Abkehr von den "Solange"-Entscheidungen dar, weil die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichtes zur Überprüfung sekundären Gemeinschafsrechtes nun nicht mehr unter dem "Solange"-Vorbehalt stehe, sondern unabhängig von der des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften bestehe,145 ist das unzutreffend. Ebenso wie auch in der "Solange 11"Entscheidung deutlich gemacht, aktiviert das Bundesverfassungsgericht die eigene Prüfungskompetenz und damit einhergehend den Grundrechtskatalog des Grundgesetzes nur, wenn der nach dem Grundgesetz unabdingbare Grundrechtsstandard nicht bereits durch den Europäischen Gerichtshof gewährleistet wird. Dieses Zusammenwirken mit dem Gerichtshof ist zwar im "Maastricht"Urteil erstmalig ausdrücklich als "Kooperationsverhältnis" deklariert worden. Da diese Formulierung aber inhaltlich die "Solange II"-Entscheidung aufgreift, bestätigt der Zweite Senat insoweit die 1986 aufgestellten Grundsätze. 146 Wenn auch in dem "Solange II"-Beschluß aus dem Jahre 1986 nicht von einem Kooperationsverhältnis zum Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften die Rede ist, so ist die "Solange"-Formel doch zutreffend als Kooperationsangebot an den Europäischen Gerichtshof gewertet worden,147 die eigene Rechtsprechung insoweit zurückzunehmen, als der verfassungsrechtlich unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz des Grundgesetzes gegenüber der gemeinschaftsrechtlichen Hoheitsgewalt mittlerweile zureichend generell gewährleistet ist. 148 Auch hier ist ein arbeitsteiliges Zusammenwirken mit dem Europäischen Gerichtshof dahingehend gemeint, daß vom Gerichtshof übernommene Grundrechtsgewährleistungen nicht mehr vom Bundesverfassungsgericht garantiert werden müssen; mit dieser Verlagerung der Zuständigkeit auf den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften ist aber hinsichtlich des Grundrechtsschutzniveaus keine Minderung oder Lockerung verbunden. 149 Im Falle der materiellrechtlichen Divergenz im Grundrechtsstandard oder des fehlenden Grundrechtsschutzes auf Gemeinschaftsebene wird nämlich die nach wie vor beste145 Horn, DVBI. 1995, 89 (90 f.). 146 So auch BleckmannIPieper, RIW 1993,969 (972); Schröder, DVBI. 1994,316 (323). 147 Kirchhof, EuR - Beiheft 1 - 1991, 11 (24); ders., in: HdbStR, Bd. VII, § 183 Rdnr.66;
ders., EuGRZ 1994, 16 (36); ders., ZfA 1992,459 (469); Horn, DVBI. 1995,89 (90) . . 148 BVerfGE 73, 339 (374 ff.). 149 So ausdrUcklieh BVerfGE 89, 155 (174 f.).
156
Vierter Teil: Lösungsansätze in der Rechtsprechung
hende Ersatzzuständigkeit des Bundesverfassungsgerichtes und damit auch der - wenn auch modifizierte - nationale Grundrechtsstandard wieder relevant. Auch die Literaturmeinung, die das Kooperationsverhältnis der Karlsruher Richter zum Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften fälschlicherweise als neue Entwicklung in der Rechtsprechung versteht, deutet das "Maastricht"Urteil zutreffend dahingehend, daß die Prüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichtes unabhängig von der des Gerichtshofes bestehe. 150 Nehme aber bereits der Gerichtshof die Sicherung der Grundrechtskonformität anhand eines Standards wahr, der dem des Grundgesetzes entspreche, so brauche diese Aufgabe nicht mehr vom Bundesverfassungsgericht geleistet werden. Damit besagt das Gericht im "Maastricht"-Urteil aber nichts anderes als schon im "Solange 1I"-Beschluß. Ansonsten würde der Hinweis im "Maastricht"-Urteil auf "Solange 11", insbesondere auf die Stelle des Urteils, an der von dem arbeitsteiligen Verhältnis zum Gerichtshof die Rede ist,151 keinen Sinn machen. Der angenommene Rechtsprechungswandel beruht folglich auf einer unzutreffenden Interpretation von "Solange 11". bb) Kooperation mit dem Gerichtshof als politische Lösung Besonders kritisch bewertet Zuck das "Kooperationsverhältnis" zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Gerichtshof. 152 Das Bundesverfassungsgericht sei nämlich nicht befugt, der ihm in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a, Art. 92 GG verfassungsrechtlich zugewiesenen Aufgabe nicht nachzukommen und auf den Grundrechtsschutz zugunsten des Europäischen Gerichtshofes zu verzichten. Wenn das Karlsruher Gericht die eigene Rechtsprechung aber im Vertrauen auf die Jurisdiktion des Gerichtshofes aussetze, werde in dem Umfang auf die eigene Rechtsprechung verzichtet, in welchem die Prüfungskompetenz auf den Europäischen Gerichtshof übertragen wird. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften und nicht das verfassungsrechtlich an sich beauftragte Bundesverfassungsgericht gewährleiste dann den Grundrechtsschutz. Das deutsche Verfassungsgericht sei jedoch gar nicht befugt, sich selbst im Wege der Kooperation von seinem verfassungsgebundenen Auftrag zum Grundrechtsschutz zu dispensieren.
150Vgl. Fn. 145. 151 BVerfDE 73, 339 (387). 152 Zuck, NJW 1994,978 f.
B. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes
157
Wenn aber eine rechtliche Basis für die Annahme des Kooperationsverhältnisses nicht gegeben sei, so könne die Entscheidung nur politisch motiviert sein: Durch die mit der Aufrechterhaltung der nationalen PTÜfungskompetenz verbundenen Drohung mit Verwerfungskompetenz mahne das Bundesverfassungsgericht den Gerichtshof, den europäischen Grundrechtsschutz auszubauen, ohne aber die Rechtsprechung des Gerichtshofes offensichtlich diskreditieren zu müssen. Andererseits seien auf nationaler Ebene sowohl EuropaEuphoriker mit diesem Urteil zufriedengestellt worden, weil es gegenüber dem an sich korrekten Weg der Verwerfung des Zustimmungsgesetzes zum Vertrag über die Europäische Union das mildere Mittel sei, als auch die Euro-Skeptiker, weil das Gericht seine nach wie vor bestehende subsidiäre Zuständigkeit noch einmal betont habe. Wenn es sich im Hinblick auf die verschiedenen Interessengruppen auch um die galanteste "Lösung" handele, sei das Gericht aber dennoch nicht befugt, über die Beantwortung von Rechtsfragen hinaus Politik zu machen. Nichts anderes habe das Gericht aber mit diesem Urteil praktiziert. 153 Da der gemeinschaftsrechtliche Grundrechtsschutz sowohl materiell-rechtlich als auch prozessual hinter dem nationalen zurückbleibe, führe das Kooperationsverhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften für den betroffenen Bürger auch zu einer Einbuße an Grundrechtsschutz. Das Bundesverfassungsgericht greife schließlich nur noch ein, wenn es sich nach Umfang und Bedeutung um signifikante Sachverhalte handele. Der Beschwerdeführer könne folglich nicht geltend machen, der Europäische Gerichtshof habe im Einzelfall grundrechtswidrig entschieden. ,s4 Da das Bundesverfassungsgericht sehr wohl erkennt, daß es auf seine Rechtsprechung nicht verzichten darf, es daher in jedem Einzelfall bereit ist, seine Rechtsprechung zu aktivieren, ISS handelt es sich bei der Annahme eines Kooperationsverhältnisses zum Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften auch nicht um eine politisch motivierte Höflichkeit gegenüber dem Gerichtshof, sondern um eine Bestätigung der eigenen, verfassungsrechtlich auferlegten "Wächterrolle" im Bereich des Grundrechtsschutzes. Wenn Zuck dies als europarechtswidrige Drohung mit nationaler Verwerfungskompetenz versteht, so interpretiert er die von ihm selbst hervorgehobene grundgesetzliehe Pflicht des Bundesverfassungsgerichtes, den Grundrechtsschutz des Grundgesetzes zu 153 Zuck,
NJW 1994,978 f. NJW 1994,978 (979). ISS Vgl. Ausfllhrungen soeben unter 4. Teil B. 11., IlI. und insbesondere unter IV. 2. b).
154 Zuck,
158
Vierter Teil: Lösungsansätze in der Rechtsprechung
gewährleisten, unzutreffend. Die Pflicht des Bundesverfassungsgerichtes zum Grundrechtsschutz kann nicht mit einer generellen Bereitschaft zum Grundrechtsschutz abgegolten werden, sondern fordert, wenn der Gerichtshof grundrechtswidrig entscheidet, daß dem betroffenen Grundrechtsträger im Einzelfall zu dem vom Grundgesetz unabdingbar geforderten Grundrechtsschutz verholfen wird. Bei der Beibehaltung der eigenen PrUfungskompetenz durch das Bundesverfassungsgericht handelt es sich folglich nicht um ein "quantitatives Kriterium" 156, sondern um eine qualitatives. Da die Möglichkeit der Aktivierung der eigenen PrUfungskompetenz und damit des deutschen Grundrechtskataloges im Einzelfall aber auf europäischer Ebene politisch wenig populär ist, ist der von Zuck gemachte Vorwurf auch in dieser Hinsicht unberechtigt. cc) Zwischenergebnis Abschließend bleibt festzuhalten, daß es sich auch bei den Ausführungen zum "Kooperationsverhältnis" um eine konsequente Fortfilhrung der bisherigen Rechtsprechung handelt. 157 Danach wird Grundrechtsträgern in der Bundesrepublik Deutschland in jedem Einzelfall der vom Grundgesetz unabdingbar geforderte Grundrechtsschutz garantiert, wenn nicht schon durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, so jedenfalls durch das Bundesverfassungsgericht. Die prozessuale Arbeitsteilung zwischen dem Gerichtshof und dem Bundesverfassungsgericht hat filr den betroffenen Grundrechtsträger folglich keinerlei nachteilige Auswirkungen auf das ihm garantierte materiellrechtliche Schutzniveau. b) Fehlen einer materiell-rechtlichen Konkretisierung der zulässigen Grundrechtsmodijizierung
Auch was den PrUfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichtes anbelangt, also den Umfang und die Reichweite der Grundrechtsbindung, geht das "Maastricht"-Urteil nicht über Bekanntes hinaus: 158 Das Gericht sichert die generelle Gewährleistung des unabdingbaren Grundrechtsstandards und ver156 So
aber Zuck, NJW 1994,978 (979). Verfassungsrichter Klein, in: Interne Studien und Berichte der Konrad-AdenauerStiftung, Nr.66/1993, 1 (5), unterstreicht, daß die "Solange II"-Entscheidung durch das "Maastricht"-Urteil in vollem Umfang bestätigt worden ist. 158 So auch Ipsen, EuR 1994, 1 (12); Tietje, JuS 1994, 197 (202); Steindorff, EWS 1993,341 (342). 157 Auch
B. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes
159
bürgt den Wesensgehalt der Grundrechte generell. Indessen bleibt auch in diesem Urteil die Frage offen, wie dieser verfassungsrechtlich unabdingbare Kern der deutschen Grundrechte in praktikabler Weise zu konkretisieren ist. 159 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß das Gericht Art. 23 Abs. I S. 1 GG, der "einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz" fordert, völlig unerwähnt läßt. l60 Denn anders als Art. 24 Abs. 1 GG ist mit dieser Vorschrift nunmehr ein ausdrücklich kodifizierter Anknüpfungspunkt rur die Bestimmung der Grenzen einer zulässigen Grundrechtsrelativierung geschaffen worden. Während teilweise geltend gemacht wird, Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG übernehme fast wörtlich die Diktion des Bundesverfassungsgerichtes;61 kritisieren andere sogar, die im "Maastricht"-Urteil verwandte Kontrollformel sei nicht mit Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG abgestimmt, weil der dort geforderte "im wesentlichen vergleichbare Grundrechtsschutz" stringenter sei als die auf Unabdingbarkeit und den Wesensgehalt abstellende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes. 162 Für die erstgenannte Interpretation spricht neben der Tatsache, daß sich die Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat bei der Neufassung dieser Vorschrift ausdrücklich auf die "Solange"-Rechtsprechung stützte,163 daß sie zu erklären vermag, warum das Bundesverfassungsgericht im "Maastricht"-Urteil auf Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG nicht eingegangen ist. Das Gericht konnte sich auf einen Verweis auf die eigene "Solange"-Rechtsprechung beschränken, weil deren Aussagegehalt mit dem des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG identisch ist. Doch auch die beabsichtigte Anlehnung an die "Solange"Rechtsprechung bringt keine weitere Klarheit, weil diese Rechtsprechung eine eindeutige Grenzziehung vermeidet. Feststeht danach lediglich, daß die Grenze einer zulässigen Relativierung der Grundrechte bereits im Vorfeld des Art. 79 Abs. 3 GG zu suchen ist. l64 Wenn Kirchhof, der Berichterstatter im "Maastricht"-Verfahren, die bisher nicht abschließend geklärte Grenzziehung, 159 So auch Breuer, NVwZ 1994,417 (422), allgemein rur die Prinzipien des Grundgesetzes; konkret ftlr den Grundrechtsbereich Horn, DVBI. 1995, 89 (96). 160 Kritisch hierzu auch Götz, JZ 1993, 1081 (1083); Schröder, DVBI. 1994,316 (323); Horn, DVBI. 1995,89 (91). 161 Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, BTDrucks. 12/6000 v. 5.11.93, S. 21; Gersdorf, DVBI. 1994, 674 (678); Fischer, ZParl. 1993, 32 (39); Wilhelm, BayVBI. 1992, 705 (707); König, ZaöRV 54 (1994), 17 (21). 162Schröder, DVBI. 1994,316 (323); Everling, DVBI. 1993,936 (945); ders., in: F.A.Z. v. 15. Oktober 1992, Nr. 240, 7 (8). 163 Vgl. Fn. 161. 164 Vgl. Ausftlhrungen oben unter 4. Teil B. 11.
160
Vierter Teil: Lösungsansätze in der Rechtsprechung
wann ein Gemeinschaftsrechtsakt den Wesensgehalt eines nationalen Grundrechts verletzt, als eine der künftigen "Hauptaufgaben des Europaverfassungsrechts" betrachtet,165 wird deutlich, daß die bisherigen Aussagen des Bundesverfassungsgerichtes der Lösung dieses Problems auch noch nicht gewidmet waren. Auch im "Maastricht"-Urteil konnten die Karlsruher Richter also wiederum der Frage ausweichen, was unter der Sicherung des Wesensgehaltes der Grundrechte generell zu verstehen ist. 166 4. Fazit
Das Bundesverfassungsgericht stellt ausdrücklich klar, daß auch unmittelbar wirkendes sekundäres Gemeinschaftsrecht direkt am Maßstab der nationalen Grundrechte gemessen werden muß, wenn es eine Grundrechtsbeeinträchtigung der Grundrechtsberechtigten in der Bundesrepublik nach sich ziehen könnte. Dies hat rur die hier zu lösende Richtlinienproblematik zur Folge, daß auch eine unmittelbare Wirkung entfaltende Richtlinie, weIche zu Lasten des Betroffenen eine Grundrechtsverletzung mit sich bringt, an deutschen Grundrechten gemessen werden kann. Hinsichtlich mittelbar wirkender Richtlinien, weIche grundrechtswidrige Vorgaben enthalten, die dem nationalen Umsetzungsgesetzgeber keine Alternative grundrechtskonformen Handelns belassen, bestätigt das Gericht seine bisherige Auffassung von der weiterhin gegebenen Geltung des innerstaatlichen Grundrechtsschutzniveaus. Damit maßt sich das Gericht keineswegs die Kompetenz an, Gemeinschaftsrecht zu verwerfen; es entscheidet lediglich über dessen innerstaatliche Anwendung beziehungsweise dessen innerstaatlichen Vollzug. Die Maßstäblichkeit des deutschen Grundrechtsniveaus beschränkt sich also auf den Geltungsbereich des Grundgesetzes. Anknüpfend an die bisherige Rechtsprechung hat das Gericht noch einmal betont, seine Prüfungskompetenz und damit auch die Maßstäblichkeit der deutschen Grundrechte in jedem Einzelfall aktivieren zu können. Demnach kann eine Überprüfung jeder einzelnen Richtlinie erfolgen, sofern der vorgelagerte Rechtsschutz vor dem Europäischen Gerichtshof nicht effektiv ist. WeIchen Maßstab es bei der Überprüfung anlegt, konnte es auch in diesem Fall wieder offen lassen.
165 Kirchhof, EuR - Beiheft 1 - 1991, 11 (19). 166Kritisiert auch von Horn, DVBI. 1995, 89 (91); Götz, JZ 1993, 1081 (1083); Schröder,
DVBI. 1994,316 (323).
B. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes
161
V. Zusammenfassung der Lösungsansätze des Bundesverfassungsgerichtes Entgegen zahlreicher anderslautender Stimmen im Schrifttum ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zu dem Verhältnis von sekundärem Gemeinschaftsrecht und nationalen Grundrechten durch eine strikte Kontinuität gekennzeichnet. Das Gericht geht in sämtlichen Entscheidungen gleichermaßen davon aus, seine Prüfungskompetenz im Einzelfall aktivieren zu können; es hält dies aber nur dann rur erforderlich, wenn der vom Grundgesetz unabdingbar geforderte Grundrechtsschutz nicht schon vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften gewährleistet wird. Aus den prozessualen Stellungnahmen des Gerichtes folgt rur die materielle Kollisionsfrage, daß das innerstaatliche Grundrechtsschutzniveau nach wie vor für jede einzelne Richtlinie maßgeblich ist, es infolge der Entscheidung des Grundgesetzes filr die europäische Integration aber eine Modifizierung erfahrt; eine strikte Grundrechtskonformität, wie sie rur rein innerstaatliches Handeln gegeben sein muß, ist somit nicht erforderlich. Wo aber die Grenze der zulässigen Grundrechtsrelativierung durch gemeinschaftsrechtliche Rechtsetzung zu ziehen ist, mußte das Gericht bislang noch nicht abschließend klären. Deutlich gemacht hat es insofern lediglich, daß Art. 79 Abs. 3 GG nicht die äußerste Grenze darstellt, diese vielmehr bereits im Vorfeld der Ewigkeitsgarantie zu suchen ist. Darüber hinaus steht fest, daß nicht der Wesensgehalt der Grundrechte insgesamt die rur die Beurteilung eines gemeinschaftsrechtlich bedingten Grundrechtsverstoßes maßgebliche Meßlatte bildet, weil betroffenen Grundrechtsträgern auch im Einzelfall der vom Grundgesetz unabdingbar geforderte Grundrechtsschutz gewährt wird. Für den Umsetzungs gesetzgeber ergibt sich daraus, nur dann zu der innerstaatlichen Transformation von Richtlinienvorgaben, die gegen den relativierten nationalen Grundrechtsmaßstab verstoßen, verpflichtet zu sein, wenn das Grundgesetz zuvor an den Inhalt der jeweiligen Richtlinie angepaßt worden ist. Sollte sich die rur eine Verfassungsänderung erforderliche Zweidrittelmehrheit nicht finden, wäre der Umsetzungsgesetzgeber von seiner Umsetzungsverpflichtung dispensiert.
J1 Rickert
Fürifier Teil
Lösungsansätze in der Literatur Auch in der Literatur hat die Kollisionsfrage zwischen sekundärem Gemeinschaftsrecht und nationalen Grundrechten eine neue Belebung erfahren. Angeregt wurde die Diskussion nicht zuletzt durch die eben erörterten neueren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes, insbesondere durch die zur Tabakrichtlinie. Aber nicht nur die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, sondern auch die Ausweitung der Gemeinschaftskompetenzen und die damit einhergehende gesteigerte Wahrscheinlichkeit einer Kollision von Richtlinien mit deutschen Grundrechten hat dazu beigetragen, daß sich das Schrifttum in zunehmendem Maße auch mit der Frage der Kollision bei mittelbarer Rechtsetzung befaßt hat. Die Aussagen in der Literatur hinsichtlich dieser Kollisionsfrage sollen nachfolgend auf entsprechende Lösungsansätze untersucht werden.
A. Vorrang des Gemeinschaftsrechtes Eine starke Strömung in der Literatur überträgt die anband der "Solange 11"Entscheidung fiir unmittelbar geltendes Gemeinschaftsrecht entwickelten Grundsätze auf das Rechtsetzungsinstrument der Richtlinie. Der aus Art. 24 Abs. 1 GG abgeleitete, durch Art. 23 Abs. 1 GG konkretisierte Vorrang des Gemeinschaftsrechtes gelte filr das gesamte sekundäre Gemeinschaftsrecht, also auch filr Richtlinien. 1 Die Vorrangwirkung sekundären Gemeinschaftsrechtes sei schließlich nicht an die unmittelbare Geltung in den Mitgliedstaaten geknüpft. Entscheidend sei vielmehr, daß auch die nur mittelbare Geltung beanspruchende Richtlinie, die gemäß Art. 189 Abs. 3 EG-Vertrag zumindest hinsichtlich ihrer Zielsetzung fiir die Mitgliedstaaten verbindlich sei, bezüglich ihrer inhaltlichen Vorgaben nicht zur Disposition der Mitgliedstaaten stehe. Daher müsse sie sich ebenfalls gegen-
1 Neßler, DVBI. 1993, 1240 (1243); Oppermann, EuropaR, Rdnr. 528 ff.; Klein, VVDStRL 50 (1991), 56 (83 f.); Gersdorf, DVBI. 1994, 674 (677 f.); Groß, Jura 1991, 575 (579); Kevekordes, S. 229 ff.; Everling, EuR 1990, 195 (213); Bleckmann, EuropaR, Rdnr. 164; Classen, EuZW 1993, 83 (86); Schneider, AöR 119 (1994), 294 (299); WollenschlägerlBecker, EuGRZ 1990, I (9).
A. Vorrang des Gemeinschaftsrechtes
163
über dem nationalen Recht durchsetzen. Von dem Vorrang werde aber nicht nur die Richtlinie als solche, sondern auch die entsprechende nationale Umsetzungsnorm erfaßt. 2 Eine Unterscheidung zwischen dem Vorrang des Gemeinschaftsrechtes auf der normativen Ebene und dem zu seiner Umsetzung ergehenden nationalen Ausfilhrungsakt sei nicht haltbar, weil anderenfalls die gemeinschaftsrechtliche Normsetzung sinnentleert würde. 3 Daher könne das Grundgesetz auch nicht Maßstab fllr einen Rechtsetzungsakt sein, der den Richtlinieninhalt in deutsches Recht transformiere. 4 I. Dispensierung von der Grundrechtsbindung Das bedeute aber nicht, daß der Unterschied zwischen unmittelbar geltenden Verordnungen und umsetzungsbedürftigen Richtlinien verkannt werde. Auch die Vertreter dieser Ansicht berücksichtigten, daß im letztgenannten Fall eine Zwischenschaltung deutscher Rechtsetzungsorgane erfolge, während bei unmittelbarer Normsetzung ein solcher "Filter" nicht existiere. Auch sie gingen davon aus, daß es sich bei der Umsetzung von Richtlinien in innerstaatliches Recht um Akte deutscher Staatsgewalt handele, die grundsätzlich der Verfassungsbindung und damit auch der Bindungswirkung des Art. lAbs. 3 GG unterliegen würden. Diese Bindungswirkung reiche allerdings nur so weit, wie der deutsche Gesetzgeber "frei" sei, ihm die jeweilige Richtlinie also einen eigenen inhaltlichen Gestaltungsspielraum belasse. 5 Soweit eine Richtlinie einen solchen Umsetzungsspielraum einräume, gelte die Verfassungsbindung deutscher Staatsorgane uneingeschränkt; die europäischen Rechtsetzungsorgane verzichteten insoweit bewußt auf ein Stück Steuerungskraft der Richtlinie und damit zugleich auch auf ein - im Interesse der europäischen Integration liegendes - möglichst homogenes Umsetzungsrecht in den Mitgliedstaaten. Anders verhalte es sich jedoch hinsichtlich der inhaltlich verbindlichen Richtlinienvorgaben. Hier komme die Entscheidung des Grundgesetzes fUr eine 2 Gersdorf, DVBI. 1994,674 (677 f.); Groß, Jura 1991, 575 (579); Weber, S. 17; Schneider, AöR 119 (1994), 294 (299). 3 Tomuschat, EuR 1990, 340 (344). 4 Neßler, DVBI. 1993, 1240 (1244); Nico1aysen, EuR 1989,215 (220 f.); Ever1ing, EuR 1990, 195 (212 ff.); Tomuschat, EuR 1990,340 (344 ff.); Weber, S. 16 ff. 5 Classen, EuZW 1993, 83 (86); Henrichs, EuGRZ 1990, 413 (419); Klein, VVDStRL 50 (1991),56 (83); Gersdorf, DVBI. 1994,674 (678); Streinz, in: HdbStR, Bd. VII, § 182 Rdnr. 33; Eh1ermann, EuR - Beiheft 1 - 1991,27 (29); Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, S. 190; ders., DVBI. 1995,945 (950 f.); Ever1ing, ZGR 1992, 376 (388); Nico1aysen, EuR 1989,215 (221); Weber, S. 98 f.; Schneider, AöR 119 (1994), 294 (298).
11·
164
Fünfter Teil: Lösungsansätze in der Literatur
"offene Staatlichkeit", wie sie in Art. 24 Abs. I und Art. 23 GG sowie in der Präambel ihren Niederschlag gefunden hat, zum Tragen. Die Öffnung des Grundgesetzes filr den Prozeß der europäischen Integration erlaube die Ausübung deutscher Staatsgewalt auf der Grundlage des Gemeinschaftsrechtes auch dann, wenn dies nach deutschem Verfassungsrecht eigentlich unzulässig wäre. Von der umfassenden Grundrechtsbindung gemäß Art. lAbs. 3 GG würden die nationalen Rechtsetzungsorgane durch die gleichrangige Norm des Art. 23 GG befreit. Vormals Art. 24 Abs. I, nunmehr Art. 23 GG und das auf dieser Norm basierende Zustimmungsgesetz zum EG-Vertrag würden dem Gemeinschaftsrecht einen innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehl verleihen, 6 den der Umsetzungsgesetzgeber zu befolgen habe. Soweit also die von der Richtlinie verbindlich vorgeschriebenen Inhalte gegen innerstaatliche Grundrechtsgewährleistungen verstießen, sei der Umsetzungsgesetzgeber aufgrund des gemeinschaftsrechtlichen Umsetzungsbefehles von der Bindungswirkung des Art. lAbs. 3 GG freigestellt. 7 Dies gelte auch fiir Richtlinien, die den Mitgliedstaaten keinerlei Umsetzungsspielraum belassen. In einem solchen Fall handele es sich bei der jeweiligen Umsetzungsvorschrift zwar formell um einen Akt deutscher Staatsgewalt, in materieller Hinsicht aber um ein durch den europäischen Gesetzgeber determiniertes Rechtsetzungsergebnis mit der Konsequenz, daß die Vorrangregel insofern in vollem Umfange auf Verwirklichung dränge. 8 Der auf Art. 23 Abs. I GG in Verbindung mit dem entsprechenden Zustimmungsgesetz zum EG-Vertrag basierende Rechtsanwendungsbefehl gelte somit gleichermaßen für das Rechtsetzungsinstrument der Verordnung wie für das der Richtlinie. Ansonsten würde einzig die Umsetzungsbedürftigkeit der Richtlinie dazu führen, die Pflicht zur Beachtung des Gemeinschaftsrechtes umgehen zu können. Falls eine nach Gemeinschaftsrecht zulässige Richtlinie ergangen ist, sei der Umsetzungsgesetzgeber folglich - innerhalb der Schranken des Art. 23 Abs. I GG 9 - von der in Art. lAbs. 3 GG normierten Grundrechtsbindung dispensiert. 10
6 Randelzhofer, in: Maun:dDUrig, Art. 24 Abs. 1 Rdnr. 134 f.; Klein, VVDStRL 50 (1991),56 (79); Rojahn, in: v. MUnchIKunig, Art. 23 Rdnr. 45; Pemice, NJW 1990, 2409 (2412); Tomuschat, EuR 1990,340 (344); Weber, S. 99. 7 Nicolaysen, EuR 1989,215 (221 fI.); Everling, in: 40 Jahre GG, 167 (174 fI.); Ehlermann, EuR- Beiheft 1-1991,27 (29); Streinz, in: HdbStR, Bd. VII, § 182 Rdnr. 33. 8 Gersdorf, DVBI. 1994,674 (678). 9 Vgl. hierzu die Ausftlhrungen sogleich unter 5. Teil A. 1I. 10 Tomuschat, EuR 1990, 340 (344 f.); Groß, Jura 1991, 575 (579); Herdegen, EuGRZ 1989, 309 (311); Everling, EuR 1990, 195 (213); Weber, S. 17 f.
A. Vorrang
des Gemeinschaftsrechtes
165
Von zentraler Bedeutung für die Bestimmung der Reichweite des letztlich auf Art. 23 Abs. 1 GG basierenden Rechtsanwendungsbefehles ist nach dieser Ansicht vor allem der Aspekt der Funktionsfahigkeit der Gemeinschaft. 1I Unbedingte Voraussetzung für das Funktionieren der Gemeinschaft sei die gleichmäßige Geltung des von den Gemeinschaftsorganen gesetzten Rechtes in allen Mitgliedstaaten. 12 Könnte aber den Rechtsakten der Gemeinschaft nationales Verfassungsrecht entgegengehalten werden, wäre das Ziel der gemeinschaftsrechtlichen Rechtsetzung, die Vereinheitlichung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, nicht mehr gewährleistet. Da damit gerechnet werden müßte, daß auch die übrigen Mitgliedstaaten - angeregt durch das deutsche Vorbild den Rechtsakten der Gemeinschaft Normen des nationalen Verfassungsrechtes entgegenhalten, würden die fünfzehn Mitgliedstaaten dann in jedem Einzelfall nach Maßgabe ihrer Verfassung über die innerstaatliche Anwendung des Gemeinschaftsrechtes entscheiden. Das hätte aber zur Folge, daß die Gemeinschaft in vielen Fällen nicht mehr handlungsfahig und damit durch ein derartiges Vorgehen sehr schnell in ihrer Existenz bedroht wäre. 13 Unterstützend wird außerdem angeführt, der EG-Vertrag stelle Verordnung und Richtlinie im wesentlichen gleichrangig nebeneinander. Gelegentlich lasse sich nicht einmal nachvollziehen, aus welchem Grund das eine oder das andere Rechtsetzungsinstrument gewählt worden sei. So eröffne beispielsweise Art. 49 EG-Vertrag sogar eine Wahlmöglichkeit zwischen beiden Handlungsformen. Im übrigen sei aufgrund der zunehmenden Regelungsintensität von Richtlinien kaum ein Unterschied zur Verordnung gegeben, vielmehr gingen zahlreiche Verordnungen dahin, eher einen gemeinschaftsrechtlichen Rahmen vorzugeben, und ständen damit der Idee der Richtlinie sehr nahe, zum Teil sogar näher als manche Richtlinien selbst. Insofern spiele es keine Rolle, ob das eine oder das andere Rechtsetzungsinstrument gewählt werde. Würde man aber eine Dispensierung von der Grundrechtsbindung nur für den Fall der unmittelbaren Rechtsetzung annehmen, so hätte das zur Konsequenz, den Weg des NormerIasses zu diskreditieren, der den Mitgliedstaaten noch den größeren Spielraum zu eigener Gestaltung belasse. 14
11 Ipsen, S. 280 tf.; Kevekordes, S. 226; Grabitz, in: GrabitzlHilf, Art. 189 Rdnr. 27; Weber, S.17. 12 Lukes, DB 1987, 1925 (1928); Kevekordes, S. 226. 13 Tomuschat, EuR 1990, 340 (343); Everling, EuR 1990, 195 (199 f.); ders., EuR - Beiheft 1 1991,42 (43 f.); Henrichs, EuGRZ 1990,413 (423); vgl. auch Gersdorf, DVBI. 1994,674 (677). 14 Tomuschat, EuR 1990, 340 (345); Kevekordes, S. 233.
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Fünfter Teil: Lösungsansätze in der Literatur
Als Zwischenergebnis ist somit festzuhalten, daß der Gesetzgeber bei der Umsetzung von Richtlinien nach dieser Ansicht grundsätzlich in dem Maße von der Grundrechtsbindung dispensiert ist, wie die jeweilige Richtlinie zwingende Vorgaben enthält. Müssen die nationalen Rechtsetzungsorgane dem gemeinschaftsrechtlichen Umsetzungsbefehl somit auch im Falle der Grundrechtswidrigkeit Folge leisten, stellt sich innerhalb der Auffassung aber die Frage, ob es rur die Befolgung dieser Verpflichtung vor Erlaß des Umsetzungsgesetzes einer Anpassung der Verfassung an die Vorgaben der Richtlinie bedarf. 1. Umsetzung im Wege der Verfassungsdurchbrechung
Zum Teil wird der Vorrang der Richtlinie als sekundärem Gemeinschaftsrecht vor den Grundrechtsbestimmungen der nationalen Verfassung dahingehend verstanden, daß der Umsetzungsgesetzgeber dem gemeinschaftsrechtlichen Umsetzungsbefehl ohne Rücksicht auf entgegenstehende nationale Verfassungs- und damit auch Grundrechtsbestimmungen nachkommen muß. Die deutschen gesetzgebenden Körperschaften wären somit gegebenenfalls gemeinschaftsrechtlich verpflichtet, ein formell nationalen Grundrechten nicht entsprechendes Gesetz zu erlassen. Da das Gemeinschaftsrecht, das diese Verpflichtung begründen würde, auf der Übertragung von Hoheitsrechten nach Art. 23 GG beruhe, sei eine solche Norm nicht verfassungswidrig. 15 Demnach könne der einfache Gesetzgeber ohne vorausgehende Verfassungsänderung in Erfiillung von Richtlinienverpflichtungen im Widerspruch zu einzelnen Verfassungs-, insbesondere Grundrechtsbestimmungen Eingriffe in grundgesetzlieh gewährleistete Rechtspositionen normieren. 16 Im Ergebnis würde somit das den gemeinschaftsrechtlichen Rechtsanwendungsbefehl vermittelnde einfache Gesetzesrecht, nämlich das auf Art. 23 GG vormals auf Art. 24 Abs. 1 GG - beruhende Zustimmungsgesetz zum EGVertrag, den Geltungsanspruch des nationalen Verfassungsrechtes ausschalten, also eine Verfassungsdurchbrechung in dem Sinne bedingen, daß der parlamentarische Gesetzgeber mit einfacher Mehrheit inhaltlich vom Grundgesetz abweichendes Recht erläßt. Everling, in: 40 Jahre 00, 167 (176); Eibach, S. 68 f. So Tomuschat, in: Bonner Kommentar, Art. 24 Rdnr. 34; Kevekordes, S. 221; Neßler, DVBI. 1993, 1240 (1244); Birke, S. 96 ff.; Schneider, AöR 119 (1994), 294 (299); JahnlRiede1, NVwZ 1989,716 (721); so wohl auch die Bundesregierung, BRDrucks. 501192, S. 8, die eine Ergänzung des Art. 28 Abs. 1 GG im Hinblick auf das Kommunalwahlrecht rur EG-Ausländer nur aus "rechtspolitischen" GrUnden rur angezeigt hielt; a.A. das BVerfG, NJW 1991, 162 (164 f.), das eine Verfassungsänderung rur erforderlich erachtete. 15
16
A. Vorrang des Gemeinschaftsrechtes
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2. Umsetzung erst nach vorheriger Verfassungsinderung
Andere wiederum schließen sich zwar der Annahme eines grundsätzlichen Vorranges des Gemeinschaftsrechtes an, warnen aber davor, das Modell des "Solange II"-Beschlusses unbesehen von unmittelbar geltenden Verordnungen auf die Rechtsfigur der Richtlinie zu übertragen. Die Anwendung von unmittelbar geltendem Gemeinschaftsrecht setze - anders als der innerstaatliche Vollzug von Richtlinien - keinen Akt des deutschen Gesetzgebers voraus. Die Zwischenschaltung des nationalen Gesetzgebers begründe aber einen wesentlichen Unterschied. Es bestehe nämlich keine Legitimation dafilr, die Verfassungsbindung und damit auch die Grundrechtsbindung des Gesetzgebers einfach zu suspensieren. Die Bindung des einfachen Gesetzgebers an die Verfassung und damit auch an die Grundrechte bleibe grundsätzlich unberührt. 17 Wenn aber die Umsetzung einer Richtlinie in nationales Recht zu einem Verstoß gegen nationale Grundrechtsbestimmungen filhre, so bedinge das eine Änderung des Grundgesetzes im Sinne von Art. 79 Abs. 1 GG. Die Verfassungsänderung gehöre dann zu den "Formen und Mitteln" im Sinne von Art. 189 Abs. 3 EG-Vertrag. 18 a) Verfassungsänderung als Formalakt Eine entsprechende Verpflichtung des verfassungsändernden Gesetzgebers zu einer "Anpassung" des Grundgesetzes resultiere aus Art. 24 Abs. 1 beziehungsweise nunmehr aus Art. 23 GG in Verbindung mit der jeweiligen Richtlinie. 19 Auf diesem Wege solle die Entscheidung, ob die jeweilige Richtlinie eine schlichte Relativierung einzelner Grundrechtsbestimmungen darstellt oder bereits ein Einbruch in den Identitätskern der nationalen Verfassungsordnung vorliegt, nicht dem einfachen Gesetzgeber überlassen, sondern auf den verfassungsändernden Gesetzgeber übertragen werden?O Demnach hätte der verfassungsändernde Gesetzgeber in jedem Einzelfall darüber zu befmden, ob sich die jeweiligen Herdegen, EuGRZ 1989,309 (311) Götz, NJW 1992, 1849 (1853); Henrichs, EuGRZ 1990,413 (419); Herdegen, EuGRZ 1989, 309 (311), der allerdings auch eine gewisse Relativierung der Grundrechtsbindung ohne vorausgegangene VerfassungSänderung gestattet, insofern also nicht konsequent ist; vgl. auch ders., EuGRZ 1992, 589 (592), wonach die Forderung nach einer Verfassungsänderung aufgrund des neuen Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG nicht mehr haltbar sei (siehe auch Fn. 28). Vgl. auch BVerfG, NJW 1991,162 (164 f.) 19 Herdegen, EuGRZ 1989, 309 (311); Henrichs, EuGRZ 1990, 413 (418), nimmt rur den Konfliktfall ebenfalls eine Verpflichtung zur Anpassung entgegenstehenden Verfassungsrechtes an, sieht diese Verpflichtung aber in Art. 5 EG-Vertrag begründet. 20 Herdegen, EuGRZ 1989, 309 (311). 17
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Fünfter Teil: Lösungsansätze in der Literatur
Richtlinienvorgaben im Rahmen des aufgrund von Art. 23 GG Zulässigen bewegen oder bereits die Grenze der unzulässigen Grundrechtsrelativierung überschritten wurde. Sofern sich der Richtlinieninhalt nicht mehr im Rahmen des gestatteten "Integrationsprogrammes" bewegt, wäre der verfassungsändernde Gesetzgeber somit verpflichtet, die Verfassung dahingehend zu modifIzieren, daß ihre Bestimmungen mit der Richtlinie im Einklang stehen?1 Der Verfassungsänderung käme dabei keine eigene Gestaltungswirkung zu, vielmehr würde es sich hierbei um einen durch den Richtlinieninhalt determinierten Formalakt handeln, weil die Neugestaltung sowohl hinsichtlich des "ob" als auch hinsichtlich des "wie" bereits vorbestimmt wäre. Aus der einzelnen Richtlinie würde insofern die Verpflichtung des verfassungsändernden Gesetzgebers resultieren, die betroffene Grundrechtsbestimmung zu modifizieren. b) Verfassungsänderung als Gestaltungsakt des nationalen Parlamentes
Auch Götz betrachtet die Verfassungsänderung als zu den "Formen und Mitteln" im Sinne von Art. 189 Abs. 3 EG-Vertrag gehörend, bewertet diese aber nicht als eine von dem gemeinschaftsrechtlichen Rechtsetzungsorgan oktroyierte Entscheidung, sondern als eigenständigen Gestaltungsakt der mitgliedstaatlichen Parlamente. Er geht nämlich davon aus, die Gemeinschaft sei sich mit der Wahl des Handlungsinstrumentes Richtlinie des Risikos bewußt, daß das Zustandekommen einer Verfassungsänderung unkalkulierbar sei. 22 Dies habe sie beispielsweise dadurch bewiesen, daß sie in ihrem Vorschlag filr eine Richtlinie zur Einfilhrung des kommunalen Ausländerwahlrechtes die verschiedenen verfassungsrechtlichen Hindernisse in den einzelnen Mitgliedstaaten ausftlhrlich dokumentiert und auf die Notwendigkeit von Verfassungsänderungen hingewiesen habe?3 3. Bewertung der Lösungsmodelle
Abgesehen von dem letztgenannten Ansatz gehen die dargestellten Lösungsmodelle gleichermaßen davon aus, daß die Richtlinie unbedingten Vorrang gev. Meibom, DVBI. 1969,437 (442); offenbar auch Huber, vgl. AöR 116 (1991), 210 (239). Götz, NJW 1992, 1849 (1853). 23 Vgl. Götz, NJW 1992, 1849 (1853), der auf den Bericht der Kommission "Das Wahlrecht der BUrger der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft bei Kommunalwahlen", Bulletin der EG, Beilage 7/86, insbesondere S. 31 ff.; Wahlrecht der BUrger der Mitgliedstaaten bei Kommunalwahlen, Richtlinienvorschlag, Bulletin der EG, Beilage 2/88, insbesondere S. 29 ff., verweist. 21
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A. Vorrang des Gemeinschaftsrechtes
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genüber dem nationalen Recht jeder Rangordnung, also auch gegenüber dem Verfassungsrecht und damit ebenfalls gegenüber Grundrechten, beansprucht. Demnach haben die nationalen Umsetzungsorgane auch im Falle der Grundrechtswidrigkeit des Richtlinieninhaltes dem gemeinschaftsrechtlichen Umsetzungsbefehl Folge zu leisten. a) Keine Ermächtigung zur Umsetzung grundrechtswidriger Richtlinieninhalte im Wege der Verfassungsdurchbrechung
Wenn gefordert wird, die Transformation ohne vorhergegangene Verfassungsänderung im Wege der Verfassungsdurchbrechung durchzufiihren, so hätte das auf lange Sicht zur Konsequenz, die deutsche Rechtsordnung durch Gesetze auszugestalten, die nicht zwingend mit der nationalen Verfassung übereinstimmen müßten. Es würden zwei Kategorien von Gesetzen existieren: Die eine Kategorie müßte mit den Grundrechtsbestimmungen in den Art. 1 ff. des Grundgesetzes vereinbar sein, während die andere aufgrund ihrer gemeinschaftsrechtlichen Determinierung im Einzelfall durchaus grundrechtswidrige Bestimmungen enthalten dürfte. Daß dieser Zustand aus der Sicht des Grundrechtsträgers unerträglich ist und das Vertrauen in die eigene Rechtsordnung heftig erschüttern würde, liegt auf der Hand. Aber nicht nur aus der Sicht der betroffenen Grundrechtsträger wäre eine Umsetzung grundrechtswidriger Elemente ohne vorherige Verfassungsänderung untragbar. Auch den nationalen Parlamenten ist insbesondere im Hinblick auf das Gewaltenteilungsprinzip nicht zuzumuten, mit der innerstaatlichen Umsetzung sehenden Auges einen Grundrechtsverstoß gegenüber den eigenen Staatsbürgern zu begehen und hierfür auch - anders als bei der gemeinschaftsrechtlichen Verordnung - gegenüber dem Bürger verantwortlich zu zeichnen?4 Der parlamentarische Gesetzgeber ist gemäß Art. 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte gebunden. Ihm kommt die Aufgabe zu, Freiheit zu schaffen und zu sichern. Besonders deutlich wird dies bei den Grundrechten aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG. Mit dem in Art. 12 Abs. 1 S.2 GG normierten Regelungsvorbehalt und dem Auftrag zur Inhaltsbestimmung in Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG haben die Mütter und Väter der Verfassung dem Gesetzgeber ausdrücklich den Auftrag erteilt, das jeweilige Grundrecht inhaltlich auszugestalten. Andererseits gestattet das Grundgesetz aber auch Freiheitsbeschränkungen durch den parlamentarischen Gesetzgeber, indem es die Grundrechtsgewährleistungen mit 24
Vgl. auch Ausfllhrungen unter 4. Teil B. I. 2. a).
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Fünfter Teil: Lösungsansätze in der Literatur
Gesetzesvorbehalten versieht. Die Ausgestaltung und Garantie von Grundrechten ist somit vorrangige Aufgabe des nationalen Gesetzgebers. Mit der zunehmenden Verlagerung von Rechtsetzungsbefugnissen auf die Gemeinschaft, insbesondere auf den Rat als Hauptrechtsetzungsorgan, verlagert sich aber auch diese Aufgabe immer stärker von den nationalen Parlamenten auf die Regierungsvertreter im Rat. Die Entscheidungsgewalt des Rates macht die Bundesregierung für das deutsche Recht zur legislativen und exekutiven Gewalt in einem. 25 Somit obliegt es einem Exekutivorgan und nicht mehr dem Parlament, die Reichweite von Grundrechten auszugestalten. Diese freiheitssichernde und gleichzeitig auch freiheitsbeschränkende Funktion des parlamentarischen Gesetzgebers kann jedoch nicht unter pauschaler Berufung auf Art. 23 GG in beliebigem Umfang auf ein der Exekutive zuzuordnendes Organ übertragen werden. Selbst wenn man ein gewisses Maß an Gewaltenverschränkung für tragbar erachtet, ist hiermit das in Art. 20 GG verankerte Gewaltenteilungsprinzip in Frage gestellt,26 weil schon jetzt mehr als 50 % des nationalen Rechtes gemeinschaftsrechtlich determiniert ist und Richtlinien dabei das am meisten verwandte Rechtsetzungsinstrument darstellen?7 Die Vertreter dieses Lösungsvorschlages vernachlässigen, daß die Gemeinschaft durch das auf Art. 23 GG basierende Zustimmungsgesetz nicht dazu ermächtigt ist, die nationale Verfassung außer Kraft zu setzen. Das in Art. 20 GG verankerte Gewaltenteilungsprinzip gehört schließlich zum über die Ewigkeitsgarantie geschützten änderungsfesten Kernbestand des Grundgesetzes. Im Ergebnis ist also festzuhalten, daß die vorgeschlagene Umsetzung grundrechtswidriger Richtlinienvorgaben ohne vorherige Verfassungsänderung gegen das Gewaltenteilungsprinzip verstößt und daher als Konfliktlösung von vornherein ausscheidet. Dem kann auch nicht der neugefaßte Art. 23 Abs. 1 GG entgegengehalten werden?8 Nach Satz 3 dieser Vorschrift gilt für sämtliche Hoheitsübertragungen, soweit sie von entsprechender Verfassungsrelevanz sind, den Anforderungen des Art. 79 Abs. 2 und 3 GG genügen zu müssen. Damit hat der Verfassungsgeber klargestellt, daß gemeinschaftsrechtliche Verfassungsdurchbrechungen nicht lediglich mit einfacher Mehrheit beschlossen werden dürfen,
25 Vgl. auch Breuer, NVwZ 1994,417 (425); OssenbUhl, DVBI. 1993,629 (634,636); Pieper, in: Bleckmann-FS, 197 (201); SUssmuth, Die politische Meinung, 301 (Dezember '94), 4, spricht von "Gesetzgebung durch Regierung". Vgl. auch Ress, in: Geck-GS, 625 ff. 26 Dahingehende Bedenken äußert auch Breuer, NVwZ 1994,417 (426). 27 Vgl. AusfUhrungen oben unter I. Teil A. 28 So aber Herdegen, EuGRZ 1992,589 (592), wenn auch mit Bedauern.
A. Vorrang des Gemeinschaftsrechtes
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sondern eine Zweidrittelmehrheit erfordern. 29 Aus der fehlenden Bezugnahme des Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG auf die Bestimmung des Art. 79 Abs. 1 GG wird im Umkehrschluß zwar gefolgert, daß demnach materielle Änderungen der Verfassung einer Änderung des Wortlautes des Grundgesetzes nicht bedürfen; mit anderen Worten Verfassungsdurchbrechungen nach wie vor zulässig wären, wenn sie auf eine Zweidrittelmehrheit des Bundestages und des Bundesrates gestützt werden können. 3o Zum einen ist diese Konsequenz jedoch mit Blick auf die Vergangenheit äußerst bedenklich. Mit dem blankettartigen Verzicht auf die Einhaltung der Regelung des Art. 79 Abs. 1 GG wird nämlich ein Wert, der gerade im Hinblick auf die katastrophalen Erfahrungen, die man mit derartigen "Verfassungsänderungen ohne Textänderung,,31 unter der Weimarer Reichsverfassung gemacht hat, als kostbare Errungenschaft des neuen deutschen Verfassungsstaates betrachtet worden ist,32 leichtfertig aufs Spiel gesetzt. 33 Zum anderen regelt Art. 23 Abs. 1 GG lediglich die Frage des Ausmaßes der Verfassungsbindung bei der Begründung primären Gemeinschaftsrechtes, damit besagt die Vorschrift nichts über die Frage, inwieweit die innerstaatliche Geltung sekundären Gemeinschaftsrechtes von der Vereinbarkeit mit deutschen Grundrechten abhängt. 34 Sicherlich kann man sich auf den Standpunkt stellen, wenn nach Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG nicht einmal filr unmittelbar vom Grundgesetz abweichende Vertragsbestimmungen eine Änderung des Grundgesetztextes erforderlich ist, so könne erst recht die Forderung nach Änderung der Verfassung als Voraussetzung rur die Umsetzung grundrechtswidriger Richtlinien nicht mehr aufrechterhalten werden, auch wenn nach wie vor gewichtige Gründe, insbesondere die Normenklarheit, dafür sprechen würden. 35 Dabei wird aber übersehen, daß Art. 23 Abs. 1 GG rur den hier betroffenen Bereich der Grundrechisein29 Vgl. Randelzhofer, in: Maunz/DUrig, Art. 24 Abs. I Rdnr. 203; Scholz, NJW 1992, 2593 (2597, 2599); ders., NVwZ 1993, 817 (821); Herdegen, EuGRZ 1992, 589 (591); Wilhelm, BayVBI. 1992,705 (707 f.); Breuer, NVwZ 1994,417 (422). 30 Scholz, NJW 1992,2593 (2597, 2599); ders., NVwZ 1993, 817 (821); Herdegen, EuGRZ 1992,589 (591 f.); Wilhelm, BayVBI. 1992,705 (707 0; KleinIHaratsch, Döv 1993, 785 (789); Schneider, AöR 119 (1994), 294 (299). 31 Maunz, in: MaunzlDUrig, Art. 79 Rdnr. 5; Stern, StaatsR, Bd. I, § 5 III 2, S. 159; Hesse, Rdnr.697. 32 Vgl. hierzu zum Beispiel Bryde, in: v. MUnch, Art. 79 Rdnr. I; Maunz, in: Maunz/DUrig, Art. 79 Rdnr. I; Breuer, NVwZ 1994,417 (422); Schütz, Der Staat 28 (1989), 201 (213). 33 So auch Breuer, NVwZ 1994, 417 (422); allgemein zur Unzulässigkeit von Verfassungsdurchbrechungen vgl. auch Hesse, Rdnr. 698 f. 34 Vgl. Stern, StaatsR, Bd. I, § 1511 9, S. 536; Friauf, in: FriauflScholz, II (19 f., 24); Randelzhofer, in: MaunzlDUrig, Art. 24 Abs. I Rdnr. 68; Chwolik-Lanfermann, S. 103. 35 Herdegen, EuGRZ 1992, 589 (592).
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Fünfter Teil: Lösungsansätze in der Literatur
schränkung auch eine Regelung enthält. Gemäß Satz I der Vorschrift muß auch bei gemeinschaftsrechtlicher Rechtsetzung ein "diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbarer Grundrechtsschutz" gewährleistet werden. Wenn auch noch ungeklärt ist, was darunter genau zu verstehen ist,36 so steht jedenfalls fest, daß bei jeder einzelnen umzusetzenden Richtlinie der vom Grundgesetz unabdingbar geforderte Grundrechtsschutz garantiert sein muß. 37 Unterschreitet eine Richtlinie dieses Niveau, so ist der auf Art. 23 GG in Verbindung mit dem Zustimmungsgesetz basierende innerstaatliche Rechtsanwendungsbefehl tangiert. Dieser reicht immer nur so weit, wie die jeweilige Richtlinie dem vom Grundgesetz geforderten Grundrechtsniveau entspricht. Ein die Umsetzungspflicht begründender Rechtsanwendungsbefehl kann in dem Fall einer diesen Standard unterschreitenden Richtlinie nur dadurch erreicht werden, daß die einschlägige Grundrechtsbestimmung des Grundgesetzes geändert wird und somit auch das vom Grundgesetz unabdingbar geforderte Schutzniveau der deutschen Grundrechte eine Änderung erfährt. Ansonsten entflUlt die Transfonnationspflicht des deutschen Umsetzungsgesetzgebers. Mit der Forderung nach einer Zweidrittelmehrheit und gleichzeitiger Verfassungstextänderung wird also keine "Renationalisierung,,38 eingeleitet, sondern vielmehr ein Schritt zur Venneidung der Aushöhlung des Grundgesetzes durch eine gemeinschaftsrechtliche Normsetzung gemacht. Folglich dürfen grundrechtswidrige Richtlinieninhalte nicht ohne vorherige Verfassungsänderung in deutsches Recht umgesetzt werden, wenn die Grenze der zulässigen Grundrechtsrelativierung überschritten wird. 39 b) Verpflichtung zur Anpassung der Verfassung an die Richtlinienvorgaben als Verstoß gegen das Gewaltenteilungs- und Demokratieprinzip
Ähnlichen Bedenken sieht sich auch die Ansicht ausgesetzt, die im Falle der Grundrechtswidrigkeit der Richtlinienvorgaben eine Verpflichtung zur Anpassung der betroffenen Grundrechtsbestimmungen an den Richtlinieninhalt im Wege der 36 Vgl. Ausftlhrungen unter 4. Teil B. 11.
Siehe oben unter 4. Teil B. So aber Everling, in: F.A.Z. v. 15. Oktober 1992, Nr. 240, S. 7 f., der Art. 23 GG auch als "Europabehinderungsartikel" bezeichnet; ebenso OppennanniClassen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 28/93, 1I (14). 39 Im Ergebnis ebenfalls Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 250 ff.; die Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat hielt als Voraussetzung ftlr die Einftlhrung eines Ausländerwahlrechtes auch eine Verfassungsänderung ftlr erforderlich, vgl. Rupp, NJW 1993,38 (39). 37 38
A. Vorrang des Gemeinschaftsrechtes
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Verfassungsänderung fordert. Zwar erkennt diese Ansicht im Gegensatz zur erstgenannten an, daß der verfassungsändernde Gesetzgeber seine Kompetenz zur Verfassungsänderung mit der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Gemeinschaft nicht in das Belieben der Gemeinschaftsorgane gestellt, er also seine ihm gemäß Art. 79 Abs. I und 2 GG zugewiesene Änderungskompetenz prinzipiell ohne Einschränkung behalten hat. Indem aber auch die Vertreter dieser Auffassung die Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes zur Disposition der Regierungsvertreter im Rat stellen und die nationalen Parlamente zu gemeinschaftsrechtlichen "Befehlsempfängern" degradieren, wird die Änderungsverantwortlichkeit auf den Rat verlagert. Dadurch bietet die gemeinschaftsrechtliche Rechtsetzung einen willkommenen Ausweg, um grundrechtlich problematische Regelungen, die innerstaatlich nicht durchsetzbar wären, auf die Gemeinschaftsebene zu verschieben. 40 Demnach könnte ein Exekutivorgan unter Berufung auf Integrationsinteressen im Sinne von Art. 23 GG nationale Grundrechtsstandards weitestgehend aushebeln. 41 Dies ist - abgesehen von der Gefahr der Aushöhlung der nationalen Grundrechtsbestimmungen - im Hinblick auf zwei weitere Gesichtspunkte bedenklich. Zum einen könnte über den Umweg der gemeinschaftsrechtlichen Rechtsetzung das innerstaatliche Gewaltenteilungssystem, wonach die Legislativbefugnisse beim Parlament konzentriert sind, unterlaufen werden, was - wie eben dargelegt - gegen Art. 79 Abs. 3 GG verstoßen würde. 42 Zum anderen wäre die im Hinblick auf das Demokratieprinzip erforderliche Legitimation des Ministerrates als Rechtsetzungsorgan zweifelhaft: In allen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft ist gleichermaßen anerkannt, daß jede Ausübung von Hoheitsgewalt nach dem Demokratieprinzip legitimiert sein muß. Da es ein Staatsvolk konstituiert durch die Gemeinschaftsbürger (noch) nicht gibt und die Wahlen zum Europäischen Parlament kein Gesetze beschließendes Parlament, sondern eine beratende Körperschaft begründen,43 kann die erforderliche Legitimation nur über die Mitgliedstaaten garantiert
40 Diese Gefahr sieht auch Kirchhof, EuR - Beiheft I - 1991, II (20); vgl. auch WieczorekZeul, EA 1993,405 (407); ausfllhrlicher hierzu sogleich unter 5. Teil B. 41 Vgl. auch die von SchUtz, Der Staat 28 (1989), 201 (213), und OssenbUhl, DVBI. 1993,629 (634), geäußerten Bedenken. Siehe auch Ausfllhrungen soeben unter 4. Teil B. I. 2. a). 42 Die Exekutiv-Rechtsetzung der Europäischen Union läßt sich auch nicht mit "Zweckrationalität und sachbedingter Planhaftigkeit" rechtfertigen, wie es Ipsen vertritt, in: Lerche-FS, 425 (428); vgl. auch Schwarze, JZ 1993,585 (589). 43 Zu den erweiterten Befugnissen des Europäischen Parlamentes durch den Unions-Vertrag vgl. Fn. 26 im I. Teil.
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Fünfter Teil: Lösungsansätze in der Literatur
werden. 44 Die Gemeinschaft, insbesondere der Ministerrat als zentrales Entscheidungsorgan, basiert auf mitgliedstaatlicher Ermächtigung, er wird durch die mitgliedstaatlichen Parlamente legitimiert. Da erst die demokratische Legitimation der Hoheitsgewalt die Ausgestaltung von Grundrechten rechtfertigt,45 ist es besonders problematisch, wenn eine Richtlinie gegen das Veto des deutschen Ratsmitgliedes zustandekommt oder wenn ein Landesminister im Rat eine grundrechtsverletzende Richtlinie mitveraniaßt und die betreffende Richtlinie das umsetzende nationale Parlament auf ein bloßes Abschreiben ihres Inhaltes verweist. Anders als ein der Kontrolle des Bundestages unterworfener von der Bundesregierung entsandter Minister ist der vom Bundesrat benannte und im EG-Ministerrat auftretende Landesminister dem Bundestag nicht parlamentarisch verantwortlich. 46 Seine unmittelbare demokratische Legitimation grUndet sich nur auf das Wahlvolk in dem jeweiligen Bundesland und damit ist er auch nur dem entsprechenden Landtag verantwortlich, obwohl er auf Gemeinschaftsebene nicht nur das betreffende Bundesland, sondern den Bund zu vertreten hat. Auch die Landtage der übrigen Bundesländer haben gegenüber dem agierenden Landesminister keine Kontrollrechte. Die Wähler in den übrigen Bundesländern vermitteln eine Legitimation nur über den Bundesrat und damit ausgesprochen indirekt. 47 Demokratische Legitimationsketten können ihrer Aufgabe aber nur dann gerecht werden, wenn sie nicht beliebig lang sind. 48 Die vermittelte Legitimation vermag nicht zu gewährleisten, daß die von dem jeweiligen Landesminister im Rat vertretene Position vom Willen des gesamten deutschen Volkes autorisiert ist. Wenn ein Landesminister mit der Verhandlungsführung im Ministerrat betraut ist, so verlangt zwar allein schon die außenpolitische Verantwortung der Bundesregierung, einen Vertreter der Bundesregierung zu beteiligen und der Verhandlungsführung des Ländervertreters im Rat ist gemäß Abs. 6 die gemeinsam erarbeitete Position zugrundezule-
44 BVerfGE 89, 155 (Leitsatz 4, 185 f.). Vgl. auch Ausftlhrungen unter 4. Teil A.
4S Vgl. auch Hilf, EuR - Beiheft 1 - 1991, 68 (69); ders., in: Grundrechtsschutz im europäischen Raum, 320 (331 f.). Siehe auch oben unter 4. Teil B. I. 2. a). 46 Zwar ist die Entscheidung, ob die Wahrnehmung der Mitgliedschaftsrechte einem Länderminister übertragen wird, in jedem Einzelfall durch den Bund zu treffen. Doch muß sie bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 23 Abs. 6 GG immer positiv ausfallen. Schließlich bedeutet "soll" im Sinne der Norm - wie auch sonst im innerstaatlichen Bereich - grundsätzlich immer "muß" (BTDrucks. 12/3338, S. 9). Abweichungen sind nur in besonders begründeten Ausnahmefllllen möglich. Vgl. auch Fischer, ZParl. 1993,32 (44). 47 Vgl. auch Badura, in: Redeker-FS, 111 (126); Classen, ZRP 1993, 57 (60). 48 BVerfGE 89, 155 (185 f.); vgl. auch BVerfGE 83, 60 (72); Everling, DVBI. 1993,936 (944); Zuleeg, JZ 1993, 1069 (1071); Ossenbühl, DVBI. 1993,629 (634); Klein, VVDStRL 50 (1991), 56 (75); Classen, AöR 119 (1994),238 (252).
A. Vorrang des Gerneinschaftsrechtes
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gen. Jedoch können sich im Rahmen der Verhandlungen im Rat Veränderungen ergeben, die eine Revision des nationalen Standpunktes erforderlich machen. Auch in einem solchen Fall ist der Landesminister zwar gehalten, sich mit dem Bundesvertreter abzustimmen. "Abstimmung" bedeutet in diesem Zusammenhang aber weniger als "Einvemehmen".49 Bei einer zunächst vorgeschalteten innerstaatlichen Kompromißfindung zwischen den sechzehn Vertretern der Landesregierungen und einer anschließenden weiteren Kompromißlösung in Brüssel kann eine parlamentarische Verantwortung nicht mehr ausgemacht werden. 50 Da aber der Deutsche Bundestag das entscheidende Organ für die demokratische Legitimation gemeinschaftsrechtlicher Rechtsetzungsakte aus deutscher Sicht darstellt,51 kann im Extremfall ein nicht vom gesamten deutschen Volk legitimierter Minister über die Grundrechte der deutschen Grundrechtsberechtigten disponieren. Hierin ist ein Verstoß gegen den Kerngehalt des in Art. 79 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 2 GG garantierten Demokratieprinzips zu sehen, wenn der jeweiligen Maßnahme nicht nachträglich durch einen selbständigen Gestaltungsakt des verfassungsändernden Gesetzgebers legitimierende Wirkung beigelegt wird. 52 Das gilt erst recht, wenn die jeweilige Richtlinie als Mehrheitsentscheidung gegen den Willen des deutschen Ratsmitgliedes verabschiedet wird, weil die Legitimationskette vom deutschen Volk hin zu den übrigen Regierungsvertretern im Rat über das deutsche Zustimmungsgesetz zum EG-Vertrag noch "dünner" ist als im Falle der Mitwirkung eines Landesministers. 53 Die dargestellte Lösung führt somit zur Mißachtung zweier elementarer Prinzipien des Grundgesetzes. Wenn aber die nationale Verfassung einseitig zugunsten gemeinschaftsrechtlicher Rechtsetzungsziele weicht, führt dies auf Dauer zur Durchdringung der nationalen Rechtsordnung von oben. 54 Europa kann als dauerhaftes Gefüge aber nur dann Standfestigkeit erlangen, wenn es nicht lediglich auf einer "Diktatur" der mitgliedstaatlichen Regierungen basiert, sondern die "von oben verordnete Integration mit der Integration von unten So auch Fischer, ZParl. 1993,32 (44); Rojahn, in: v. MünchlKunig, Art. 23 Rdnr. 75. Vgl. auch Classen, ZRP 1993, 57 (60); OppermannlClassen, NJW 1993,5 (12); kritisch auch Herdegen, EuGRZ 1992,589 (594). 51 Vgl. BVerfDE 89,155 (Leitsatz 3); Süssmuth, Die politische Meinung, 310 (Dezember '94), 4 (9); Klein, in: Interne Studien und Berichte der Konrad-Adenauer-Stiftung, Nr. 66/1993, I (9); Wieczorek-Zeul, EA 1993,405 (408). 52 Vgl. auch Breuer, NVwZ 1994,417 (428); Classen, ZRP 1993,57 (60). Darüber hinaus stellt die Wahrnehmung von europapolitischen Aufgaben durch einen Landesminister einen unzulässigen Übergriff in die Bundeskompetenz rur Außen- und damit auch rur Europapolitik dar. 53 Vgl. aber auch BVerfDE 89, 155 (185 f.). 54 Vgl. die entsprechende Kritik bei Di Fabio, NJW 1990,947 (950). 49
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Fünfter Teil: Lösungsansätze in der Literatur
synchronisiert"SS wird. Auch aus diesem Grunde darf nicht von der Verpflichtung des verfassungsändernden Gesetzgebers ausgegangen werden, das Grundgesetz entsprechend der Richtlinienvorgaben zu ändern.
c) Gestaltungsfreiheit des verfassungsändernden Gesetzgebers Diesen Fehler macht Götz nicht. Indem er es der freien Entscheidung des verfassungsändernden Gesetzgebers überläßt, ob eine Anpassung des Grundgesetzes entsprechend den Anforderungen der jeweiligen Richtlinie erfolgt, nimmt er Rücksicht auf die Autonomie des verfassungsändernden Gesetzgebers. Andererseits hält er keine Lösung rur den Fall bereit, daß die erforderliche Zweidrittelmehrheit filr eine Änderung des Grundgesetzes nicht zustandekommt und eine grundrechtskonforme Umsetzung damit nicht möglich ist. Gerade dann wird die Kollisionslage aber erst zum Problem. Insoweit macht Götz zwar deutlich, daß dem nationalen Parlament zwingend eigenständiger Regelungsspielraum verbleiben muß, folglich eine Verpflichtung zur formellen Anpassung des Grundgesetzes an die gemeinschaftsrechtlichen Bedürfuisse oder gar eine Verfassungsdurchbrechung nicht zulässig ist. Da er sich aber mit der weitergehenden Fragestellung, wie im Falle der Nichtanpassung des Grundgesetzes zu verfahren sei, nicht auseinandersetzt, stellt auch er kein Lösungsmodell filr den eigentlichen Konflikt vor. Insbesondere läßt er offen, ob und gegebenenfalls inwieweit der nationale Gesetzgeber bei der innerstaatlichen Umsetzung grundrechtswidriger Richtlinien von der Bindungswirkung des Art. 1 Abs. 3 GG dispensiert ist.
11. Grenzen der Dispensierung von der Grundrechtsbindung Abgesehen von der vorgetragenen Kritik an den grundsätzlichen Prämissen der dargestellten Lösungsansätze, sieht sich auch die Bestimmung der Grenzen der Grundrechtsdispensierung, wie sie die Vertreter dieser Ansicht vornehmen, erheblichen Bedenken ausgesetzt. Gemeinsam ist den dargestellten Ansätzen, den Richtlinienvorgaben keinen grenzenlosen Vorrang einzuräumen. Wie sich diese Grenze bestimmt, ist allerdings innerhalb der Ansicht wiederum umstritten. Die hierzu vorgenommenen Konkretisierungsversuche reichen von der Schranke des Art. 79 Abs. 3 GG über die Wesensgehaltsgarantie bis hin zu einer Kombination aus beidem. Häufig stellt sich dabei die Schwierigkeit, die verschiedenen Ansätze sauber zu trennen und zu erkennen, ob der jeweilige Autor nur die Rechtspre55
Ossenbühl, DVBI. 1993,629 (633).
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chung des Bundesverfassungsgerichtes interpretiert oder aber seine eigene Auffassung darlegt. 56 Im folgenden soll dennoch versucht werden, die Hauptströmungen herauszuarbeiten und zu bewerten. Dieser Streit ist entgegen anderer Auffassung nicht schon durch die Neufassung des Art. 23 Abs. I Satz I GG obsolet geworden. 57 Wenn Art. 23 Abs. I Satz 1 GG rur die Übertragung von Hoheitsrechten ausdrücklich bestimmt, daß die Europäische Union einen dem Grundgesetz vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleisten soll, so knüpft diese Formulierung zwar an die "Solange II"-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes an, damit ist aber hinsichtlich der Bestimmung der Grenzen einer zulässigen Grundrechtsrelativierung noch nicht viel gewonnen, weil die Aussage des Verfassungsgerichtes ihrerseits keine abschließende Bestimmung des vom Grundgesetz unabdingbar geforderten Grundrechtsschutzes vomimmt. 58 1. Art. 79 Abs. 3 GG
Die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG sichert die in den Art. 1 und 20 GG verankerten Prinzipien und damit insbesondere auch die Grundrechte. Die ganz überwiegende Meinung betrachtet Art. 79 Abs. 3 GG daher auch als Schranke der zulässigen Grundrechtsrelativierung. 59 Wenn diese Norm sogar dem nationalen Verfassungsgeber unüberwindbare Grenzen ziehe, so müsse dies erst recht rur den gemäß Art. 24 Abs. 1 und Art. 23 GG tätig werdenden einfachen Gesetzgeber gelten. 6o Doch auch hinsichtlich der Konkretisierung der aus diesem Ansatz zu ziehenden Folgerungen herrscht Uneinigkeit; sie erschöpfen sich meist in vagen Formeln, die einer praktischen Handhabung nicht zugänglich sind. 61 Die Vertreter dieser Auffassung berufen sich häufig auf eine Wahrung des prinzipiel-
Daraufweist auch Randelzhofer, in: MaunzlDürig, Art. 24 Abs. I Rdnr. 84, hin. So aber KirchnerlHaas, JZ 1993, 760 (762 f.). 58 Vgl. Ausführungen soeben unter 4. Teil B. 11. 59 Vgl. beispielsweise Weber, S. 99; Ress, EuGRZ 1986, 549 (555); Stern, StaatsR, Bd. I, § 15 11 9, S. 535 ff.; Tomuschat, in: Bonner Kommentar, Art. 24 Rdnr. 51; Eibach, S. 84 ff.; Herdegen, EuGRZ 1989,309 (312); BendalKlein, DVBI. 1974,389 (393 f.); Doehring, Staatsrecht, S. 82 f.; Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 221 ff. Dabei betrachten einige Art. 79 Abs. 3 GG aber nur als feststehende Mindestschranke, welche noch nicht die äußerste Grenze der zulässigen Grundrechtsrelativierung darstellt. 60 Vgl. Ausführungen oben unter 4. Teil B. 11. 1. c)., insbesondere Fn. 77. 61 Ähnliche Kritik klingt bei Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 224, an. 56 57
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len Schutzes der Menschenrechte oder einen nicht näher präzisierten Mindestbestand an Grundrechten. 62 Eine andere Literatunneinung relativiert den in Art. 79 Abs. 3 GG festgeschriebenen Mindestbestand sogar noch, indem sie fordert, Art. 79 Abs. 3 GG sei so auszulegen, daß er "die integrierende Anwendung des Art. 24 Abs. 1 GG am wenigsten behindert",6J oder sich für eine "flexible" Geltung der Grundsätze des Art. 79 Abs. 3 GG ausspricht, um den Besonderheiten der Integration Rechnung zu tragen. 64
2. Wesensgehaltsgarantie
Ein anderer Teil der Literatur ist der Ansicht, die Schranke für gemeinschaftsrechtlich legitimierte Akte deutscher Staatsgewalt müsse dort gezogen werden, wo diese in den durch Art. 19 Abs. 2 GG geschützten Kernbereich eines Grundrechtes eingreifen. 65 Demnach ende die Umsetzungsverpflichtung der nationalen Rechtsetzungsorgane dort, wo der Richtlinieninhalt den Kernbereich einer nationalen Grundrechtsgewährleistung antaste. Die Frage aber, wie die Wesensgehaltsgarantie zu bestimmen ist, wird von den Vertretern dieser Ansicht meist vernachlässigt. Häufig wird gänzlich auf jede Art der Konkretisierung verzichtet, insbesondere fehlt eine Auseinandersetzung mit der Problematik, ob der Wesensgehalt eines Grundrechtes im Einzelfall relativ oder absolut zu bestimmen ist, also ob der Wesensgehalt nicht nur fiir jedes einzelne Grundrecht, sondern auch fiir jeden einzelnen Fall gesondert bestimmt werden muß, oder ob es sich hierbei um eine konstante, vom einzelnen Fall unabhängige Größe handelt. 66 Mithin weichen die Vertreter dieser "Lösung" der eigentlichen Konkretisierungsaufgabe aus. Auch andere sehen die Grenze für den Integrationsgesetzgeber in der Wesensgehaltsgarantie. Anders als die übrigen Vertreter dieses Ansatzes stellen sie
Ehle, NJW 1964,321 (324 f.); Erler, VVDStRL 18 (1960), 7 (44 f.). Ipsen, S. 66 64 Isensee, in: HdbStR, Bd. V, § 115 Rdnr. 69. 6S Carstens, in: Riese-FS, 65 (77); Constantinesco, Recht, S. 714; Frowein, in: BVertU und GG, Bd. 11, 187 (210); Zuleeg, DÖV 1975,44 (45); ders., DÖV 1977,462 (466); ders., in: AK, Art. 24 Abs.1 Rdnr. 30; Huber, AöR 116 (1991), 210 (235 f.); v. Meibom, DVBI. 1969, 437 (442); Randelzhofer, in: MaunzIDUrig, Art. 24 Abs. I Rdnm. 144, 146; Kirchhof, EuR - Beiheft 1 1991,11(18). 66 Allgemein zu der Problematik der Bestimmung des Wesensgehaltes der Grundrechte vgl. PierothiSchlink, Rdnr. 324 ff. 62
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deutlich heraus, es sei nicht erforderlich, daß der Wesensgehalt eines jeden einzelnen Grundrechtes unangetastet bliebe. Vielmehr genüge es, wenn der Wesensgehalt des sich aus den Grundrechten in ihrer Gesamtheit ergebenden Grundrechtsschutzes erhalten bliebe. 67 Erst wenn ein generelles Grundrechtsdefizit zu konstatieren wäre, würde die Grenze des Art. 24 Abs. 1 GG überschritten. Entsprechendes gelte rur den neugefaßten Art. 23 GG. 68 3. Verschränkung von Wesensgehaltsgarantie und Ewigkeitsgarantie
Schließlich wird auf eine Verschränkung von Wesensgehaltsgarantie und Ewigkeitsgarantie abgestellt, um die Schranken der Befreiung von der Grundrechtsbindung zu ermitteln. So sieht Gorny die Wesensgehaltsgarantie durch das Rechtsstaatsprinzip auch über Art. 79 Abs. 3 GG gesichert.69 Tomuschat betrachtet die Wesensgehaltsgarantie als "unterste Grenze" der in der Ewigkeitsgarantie gewährleisteten Prinzipien des Art. 1 und 20 GG. 70 Demnach genüge es, wenn der gemeinschaftsrechtliche Grundrechtsstandard dem des Grundgesetzes äquivalent sei. 71 Die Stellung des Bürgers dürfe sich durch die gemeinschaftsrechtliche Rechtsetzung nicht ungünstiger gestalten, als es bei nationaler Rechtsetzung der Fall wäre, etwas anderes gelte nur dann, wenn "zwingende integrationspolitische Erfordernisse eine abweichende Lösung erfordern".72 Auch Huber sieht die Beschränkung der Grundrechtsbindung des Umsetzungsgesetzgebers auf den Wesensgehalt als Kollisionslösung zwischen der in Art. lAbs. 3 GG statuierten umfassenden Grundrechtsbindung und der in Art. 24 Abs. 1 und Art. 23 GG enthaltenen Verfassungsentscheidung rur die internationale Zusammenarbeit im Sinne praktischer Konkordanz. 73 Insofern ziehe Art. 19 Abs. 2 GG der Gestaltungsfreiheit des Integrationsgesetzgebers eine definitive Grenze. 74 Dies entspreche auch der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG, da sich in dem Kerngehalt eines jeden Grundrechtes auch 67 Kevekordes, S. 237; Horn, DVBI. 1995, 89 (91); vgl. auch alle diejenigen, die aus "Solange 11" folgern, daß eine EinzelfallpTÜfung am Maßstab der deutschen Grundrechte unzulässig ist; vgl. Ausfilhrungen unter 4. Teil B. 11. 2. a), insbesondere Fn. 83 im 4. Teil. 68 Kevekordes, S. 212 Fn. 14,236 f. 69 Gorny, S. 138 ff., 141 ff.; vgl. Maunz, in: MaunzlDürig, Art. 79 Rdnr. 42. 70 Tomuschat, in: Bonner Kommentar, Art. 24 Rdnr. 61. 71 Tomuschat, in: Bonner Kommentar, Art. 24 Rdnr. 65. 72 Tomuschat, in: Bonner Kommentar, Art. 24 Rdnr. 50. 73 Huber, AöR 116 (1991), 210 (235 f.). 74 Huber, Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren als Kompetenzproblem, S.154ff.
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ein von Art. 1 Abs. 1 GG umfaßter Menschenwürdegehalt wiederfmde. 75 Daher stelle jeder Eingriff in den Wesensgehalt gleichzeitig einen Eingriff in die über die Ewigkeitsgarantie geschützte Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs. 1 GG dar. 4. Bewertung der dargestellten Grenzziehungen
Allen drei dargestellten Modellen ist gleichermaßen vorzuwerfen, daß lediglich eine Generalklausel durch eine andere ersetzt wird und damit zu einer praktikablen Erhellung der Grenzziehung im Ergebnis nicht beigetragen wird. Betrachtet man mit der erstgenannten Lösung die Ewigkeitsgarantie als äußerste Integrationsschranke, steht der Umsetzungsgesetzgeber nämlich vor der Schwierigkeit, die Formel des "Mindestbestandes an Grundrechten" mit Inhalt zu rullen. Geht man mit einigen Vertretern der zweitgenannten Auffassung davon aus, der "Wesensgehalt der Grundrechte in ihrer Gesamtheit müsse unangetastet bleiben", so stellt sich die Frage, wann ein "nicht mehr hinnehmbares generelles Grundrechtsdefizit" zu beklagen ist. Beim letztgenannten Ansatz bleibt offen, was unter "zwingenden integrationspolitischen Erfordernissen" zu verstehen ist. Daß derartige formelhafte Maßstäbe unbrauchbar sind, um dem Umsetzungsgesetzgeber im Einzelfall einen praktikablen Maßstab an die Hand zu geben und ihm damit aus seiner Kollisionslage zu helfen, ist offensichtlich. a) Ewigkeitsgarantie lediglich als unumstrittene Mindestanforderung Es liegt auf der Hand, daß die durch die Ewigkeitsgarantie geschützten Verfassungsstrukturen, zu deren Beeinträchtigung nicht einmal der verfassungsändernde Gesetzgeber befugt ist, erst recht nicht durch den einfachen Gesetzgeber, der seine Befugnis aus Art. 23 GG herleitet, relativiert werden können. Daß damit aber noch nicht die äußerste Grenze der zulässigen Grundrechtsrelativierung bestimmt ist, diese vielmehr im Vorfeld des Art. 79 Abs. 3 GG zu suchen ist, ist schon der "Solange II"-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zu entnehmen. 76 Eine Grenzziehung allein durch die Ewigkeitsgarantie würde nämlich vor dem Hintergrund der stetig steigenden Anzahl und Regelungsintensität von Richtlinien und der damit einhergehenden Steigerung von Grundrechtskontlik75 Huber, AöR 116 (1991), 210 (236); OUrig, in: MaunzlI)Urig, Art. 1 Rdnr. 6 ff.; v. Meibom, OVBI. 1969,437 (438, 442); vgl. auch Bleckmann, Grundrechte, S. 450 f. 76 Vgl. Ausfilhrungen unter 4. Teil B. 11. I. c).
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ten letzten Endes dazu fUhren, daß die nationale Verfassung, insbesondere ihr Grundrechtskatalog, ihrer Bedeutung enthoben werden könnte. In jedem Fall würden die Grundrechtsberechtigten in der Bundesrepublik Deutschland an Grundrechtsvolumen einbüßen. Ob das Integrationsinteresse allein ein derartiges Vorgehen rechtfertigen kann, ist äußerst zweifelhaft; schließlich soll die Öffnung der nationalen Rechtsordnungen fUr das Recht der Europäischen Union zu einem Freiheitsgewinn fUr die Marktbürger und nicht zu einer Einbuße an Freiheiten fUhren. Darüber hinaus birgt der letztgenannte Ansatz Tomuschats, wonach zwar grundsätzlich von einer umfassenden Grundrechtsbindung des Umsetzungsgesetzgebers auszugehen ist, diese aber im Falle zwingender integrationspolitischer Erfordernisse zugunsten des Gemeinschaftsinteresses zurückstellt wird, die Gefahr in sich, Integrationsinteressen regelmäßig den nationalen Grundrechtsanforderungen überzuordnen und damit die innerstaatliche Grundrechtsordnung zumindest theoretisch auszuhöhlen. 77 Deutsche Grundrechte könnten demnach nur noch nach Maßgabe integrationspolitscher Erfordernisse gelten. Dies gilt insbesondere, wenn man wie Ipsen davon ausgeht, Art. 79 Abs. 3 GG sei so zu deuten, "daß er die integrierende Anwendung des Art. 24 Abs. 1 GG am wenigsten behindert und die derart entstandene Gemeinschaftsverfassung respektiert" .78 Deutet sich somit an, daß der europäischen Einigung wegen nationale Grundrechtsschranken fUr die Umsetzung der Gemeinschaftsrechtsakte im innerstaatlichen Bereich möglichst restriktiv gehandhabt werden,79 so stellt sich aber die Frage, ob damit das angestrebte Ziel der europäischen Einigung nicht gerade konterkariert wird. Solange das nationalstaatliche Denken seine Kraft noch nicht verloren hat, gebietet schon das Prinzip der Funktionsfilhigkeit der Gemeinschaft, welches von den Vertretern der Gegenansicht allerdings gleichermaßen ins Feld gefUhrt wird,80 entgegenstehende nationale Interessen zu achten, um nicht das gesamte Einigungswerk an einem einzelnen Konflikt scheitern zu lassen. Ferner darf auch nicht außer acht gelassen werden, daß - solange es noch keinen europäischen Verfassungsstaat gibt - der Nationalstaat fUr den Grundrechtsschutz des einzelnen Marktbürgers verantwortlich bleibt. Schließlich nimmt das Rechtsstaatsprinzip diesen Staat als Garanten fUr den
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Diese Gefahr scheint auch Kirchhof, EuR - Beiheft I - 1991, 11 (17), zu sehen.
78 Ipsen, S. 66. 79 So auch Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 248 f. 80 Vgl. Ausftlhrungen soeben unter 5. Teil A. I.
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Grundrechtsschutz in die Pflicht. Dieser Verpflichtung kann sich der deutsche Staat nicht dadurch entledigen, indem er seine Rechtsordnung für beliebige europarechtliche Regelungen öffnet. 81 Eine Teilaussage des Grundgesetzes, nämlich die Öffnung der nationalen Rechtsordnung für die Rechtsordnung der Gemeinschaft, darf nicht dahingehend interpretiert werden, daß sie den Geltungsanspruch der übrigen Verfassungs bestimmungen aushebelt. 82 Wenn einer solchen Argumentation pauschal mit Schlagworten wie "Grundrechtsimperialismus" oder "Grundrechtstotalitarismus" begegnet wird, so muß die Frage erlaubt sein, ob Grundrechte den Totalitarismus begründen oder vermeiden. 83 Außerdem ist die Europäische Union wie die Mitgliedstaaten auch "nicht nur als eine Gewalt, die Segnungen verspricht, sondern auch in der Grundrechtsperspektive als eine Gewalt, die bedrohlich sein kann,,84, zu sehen. Die Hemmung und Mäßigung dieser Gewalt ist eine zentrale Aufgabe der Grundrechtsexegese. 85 Schließlich hat die "Solange I"-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes maßgeblich zur Ausgestaltung und Beschleunigung der europäischen Grundrechtsentwicklung beigetragen. Daher darf das "Beharren" auf nationalem Verfassungsrecht nicht einseitig als Geflihrdungsfaktor für die Gemeinschaft betrachtet werden, sondern muß vielmehr als Impuls für die Weiterentwicklung der gemeinschaftsrechtlichen Verfassungsordnung erkannt werden. 86 Schließlich gewinnt die Gemeinschaft durch die Intensivierung demokratischer und rechtsstaatlicher Elemente, welches die Grundrechte zweifelsohne sind, an Fundament. Das Ziel der gemeinschaftsrechtlichen Rechtsetzung, die Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, rechtfertigt nicht jedes eingesetzte Mittel, vielmehr muß sich dieser Zweck den verfassungsrechtlich bereitgestellten Mitteln anpassen. Daher muß eine Begrenzung der Umsetzungsverpflichtung gefunden werden, die bereits im Vorfeld der Ewigkeitsgarantie ansetzt.
Kirchhof, in: Europa als politische Idee, 63 (97); vgl. auch Ausfllhrungen unter 4. Teil B. Kirchhof, EuR- Beiheft 1-1991,11 (15). 83 So auch Kirchhof, EuR - Beiheft 1 - 1991, 11 (20),76; vgl. auch Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, S. 5. 84 Kirchhof, EuR - Beiheft 1 - 1991, 73 (74, 76). 85 So auch Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, S. 6. 86 Vgl. auch Stein, EuR - Beiheft I - 1991, 71 (72). 81
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b) Wesensgehalt der Grundrechtsordnung in ihrer Gesamtheit als Vernachlässigung des Individualcharakters von Grundrechten
Aber auch wenn man mit einigen Vertretern der zweitgenannten Ansicht die Grenze des zulässigen Integrationsprogram:mes erst dann filr überschritten erachten würde, wenn der Wesensgehalt der Grundrechte in ihrer Gesamtheit beeinträchtigt wäre, mithin ein generelles GrundrechtsdefIzit zu konstatieren wäre, würde das zu einer "Aufweichung des Identitätskerns" der Verfassung fUhren. Denn die Schranken des gemeinschaftsrechtlichen Rechtsanwendungsbefehles ließen sich dann kaum noch zuverlässig prognostizieren und ihre Bestimmung würde mit einem nicht mehr vertretbaren Maß an Rechtsunsicherheit belastet. Außerdem würde der im Einzelfall betroffene Grundrechtsberechtigte in der Bundesrepublik Deutschland schutzlos gestellt, weil es nicht mehr darauf ankäme, ob das vom Betroffenen als verletzt gerügte einzelne Grundrecht in seinem Wesensgehalt unangetastet bliebe, sondern lediglich darauf, ob der Wesensgehalt der Grundrechtsordnung insgesamt erhalten bliebe. Wenn sich der Grundrechtsträger als Adressat einer grundrechtswidrigen Maßnahme, die gemeinschaftsrechtlich determiniert ist, auf diesen Grundrechtsverstoß nicht berufen könnte, so würden die Grundrechte ihrer wichtigsten Funktion beraubt. Sie stellen schließlich in erster Linie Abwehrrechte des einzelnen gegen hoheitliche Maßnahmen dar (status negativus). Folglich ist es auch nicht möglich, die Grenze der zulässigen Grundrechtsdispensierung erst dort zu ziehen, wo ein generelles GrundrechtsdefIzit zu befilrchten ist. Daß es mit dem individualschützenden Charakter der Grundrechte nicht vereinbar ist, auf ein generelles Absinken des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsstandards abzustellen, um die Grenze der Umsetzungsverpflichtung zu bestimmen, konnte bereits der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes entnommen werden. 87 Infolgedessen ist diese Auffassung auch nicht mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes vereinbar. c) Unzulässigkeit der Verschränkung von Wesensgehaltsgarantie und Ewigkeitsgarantie
Einer Verknüpfung von Wesensgehaltsgarantie und Ewigkeitsgarantie ist schließlich entgegenzuhalten, Art. 19 Abs. 2 GG dann quasi überflüssig zu machen, weil seine Schutzwirkung bereits vollständig durch Art. 79 Abs. 3 GG 87
Vgl. Ausftlhrungen oben unter 4. Teil B. Il. 2.
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gewährleistet würde. BB Der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG käme kein eigenständiger über die Ewigkeitsgarantie hinausgehender Aussagegehalt mehr zu. Folglich ist der Ansatz nicht haltbar, die Wesensgehaltsgarantie sei durch den Menschenwürdegehalt des jeweiligen Grundrechtes konkretisierbar. Insofern ist daher Kirchhof zuzustimmen, der davon ausgeht, die Wesensgehaltsgarantie greife über die Menschenrechte, insbesondere über den an der Identitätsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG teilhabenden Art. I GG hinaus. 89 Denn die unantastbare und auch nicht über Art. 23 GG zu relativierende Grundsubstanz des nationalen Grundrechtsstandards beschränkt sich nicht auf den Menschenwürdegehalt der Grundrechtsgewährleistungen des Grundgesetzes. 9o Das materiell-rechtliche Kollisionsproblem ist folglich auch nicht unter dem Aspekt des unantastbaren Wesensgehaltes in Verbindung mit der Ewigkeitsgarantie zu lösen. III. Ergebnis Als Fazit läßt sich daher festhalten: Eine zufriedenstellende Grenzziehung des innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehles der Richtlinie muß noch gefunden werden. Übereinstimmung besteht insoweit nur, daß der nationale Umsetzungsbefehl jedenfalls in der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG eine Beschränkung erflihrt. Art. 23 GG bildet somit nicht die "offene Flanke des Grundgesetzes", die es ermöglicht, den nationalen Grundrechtsstandard beliebig zu unterlaufen. Daß damit die äußerste Schranke noch nicht bestimmt ist, wurde soeben deutlich. Feststeht darüber hinaus, daß die Wesensgehaltsgarantie einen Anhaltspunkt rur die Bestimmung der Grenze des innerstaatlichen Anwendungsbefehles einer Richtlinie darstellt. Dabei kommt es nicht auf den Wesensgehalt der Grundrechte in ihrer Gesamtheit an, viehnehr muß rur jeden einzelnen Grundrechtseingriff ein Ausgleich zu den widerstreitenden Gemeinschaftsvorgaben gefunden werden. Nach wie vor ist aber ungeklärt, inwieweit Abweichungen vom innerstaatlichen Grundrechtsniveau zulässig sind und wie mögliche Konflikte zu lösen sind. Sollte die jeweilige Richtlinie aber den vom Grundgesetz unabdingbar geforderten Grundrechtsstandard mißachten, so ist der deutsche Umsetzungsgesetzgeber nicht verpflichtet, der Richtlinie innerstaatliche Geltung zu verleihen. Nur wenn der nationale Verfassungsgesetzgeber zu einer Anpassung des 88 So auch PierothiSchlink, Rdnr. 332; vgl. auch v. OoemminglFUßlein/Matz, JöR n.F. (1951), I (587). 89 Kirchhof, EuR - Beiheft 1 - 1991, 11 (19). 90 So auch Scholz, in: FriauflScholz, 53 (82); vgl. auch Schröder, OVBI. 1994,316 (323).
B. Lösung über das Rechtsetzungsverfahren im Ministerrat
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Grundgesetzes an die Richtlinienvorgaben bereit ist, können durch eine entsprechende Grundgesetzänderung die Voraussetzungen für die Umsetzungsverpflichtung der innerstaatlichen Rechtsetzungsorgane geschaffen werden; denn nur dann verlangt der auf Art. 23 in Verbindung mit dem Zustimmungsgesetz zum EG-Vertrag beruhende innerstaatliche Rechtsanwendungsbefehl die innerstaatliche Umsetzung der gemeinschaftsrechtlichen Richtlinienvorgaben. Damit decken sich die durch die Analyse dieser Literaturansicht gewonnenen Ergebnisse auch mit den bei der Untersuchung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes gezogenen Schlußfolgerungen.
B. Lösung über das Rechtsetzungsverfahren im Ministerrat Da deutsche Staatsorgane nicht nur an der innerstaatlichen Umsetzung von Richtlinien, sondern auch an deren Begründung beteiligt sind, ist in der Literatur am Beispiel der Tabaketikettierungsrichtlinie91 geltend gemacht worden, die Lösung für den aufgezeigten Konflikt sei bereits im Rechtsetzungsverfahren zu fmden. Dort biete sich schließlich die letzte Möglichkeit vor der Entstehung verbindlichen Gemeinschaftsrechtes, nationale Vorstellungen und damit auch die Maßstäbe des Grundrechtskataloges des Grundgesetzes einzubringen. Wenn nämlich die jeweilige EG-Richtlinie erst einmal beschlossen sei, verpflichte sie die Mitgliedstaaten, auch eventuell bestehenden grundrechtswidrigen Richtlinieninhalten innerstaatliche Wirkung zu verleihen. Daher müsse bereits die Entstehung grundrechtswidriger Richtlinien möglichst verhindert werden. 92 Ausgehend von der Überlegung, daß eine Richtlinie im Rat unter Mitwirkung eines deutschen Ministers verabschiedet wird, wird unter Hinweis auf die Grundrechtsbindung der gesamten deutschen Hoheitsgewalt gemäß Art. I Abs.3 GG eine Verpflichtung des deutschen Vertreters im Ministerrat angenommen, die nationalen Grundrechte zu beachten. Die Grundrechtsbindung verpflichte den deutschen Abgesandten, die Schaffung grundrechtswidrigen Gemeinschaftsrechtes durch entsprechendes Einwirken auf die übrigen Mitgliedstaaten zu verhindern und gegen entsprechende Bestimmungen wie die
Vgl. Ausfilhrungen hierzu unter I. Teil C. III. sowie unter 3. Teil B. Scholz, NJW 1990, 941 (945); Friauf, in: FriauflScholz, S. 11 ff.; Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 206 f. 91
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Fünfter Teil: Lösungsansätze in der Literatur
Etikettierungsrichtlinie zu stimmen. 93 Im Falle der Tabakrichtlinie wäre die Bundesregierung demnach verpflichtet gewesen, auf die übrigen Mitgliedstaaten dahingehend einzuwirken, daß die obligatorischen Warnhinweise den innerstaatlichen Grundrechtsanforderungen, insbesondere der negativen Meinungsäußerungsfreiheit, entsprochen hätten und bei den fakultativen Warnhinweisen hinreichende Ausweichmöglichkeiten auf grundrechtlich unbedenkliche Alternativen verblieben wären. Demnach hätte auch einer Zustimmung zu verfassungswidrigen fakultativen Warnhinweisen nichts entgegengestanden, solange einem Grundrechtsverstoß bei der innerstaatlichen Umsetzung hätte ausgewichen werden können. 94 Während dies dem deutschen Vertreter im Rat für die fakultativen Warnhinweise auch gelungen ist, wurde eine grundrechtskonforme Ausgestaltung der obligatorischen Warnhinweise nicht erreicht. 95 I. Ausschließlich gemeinschaftsrechtliche Bindung des deutschen Vertreters im Rat
Diesem Ansatz liegt die Prämisse zugrunde, daß der deutsche Vertreter bei seiner Mitwirkung im Rat einer umfassenden Verfassungsbindung unterliegt. Der Rat ist aber gemäß Art. 4 Abs. 1 EG-Vertrag ein Gemeinschaftsorgan und die Zustimmung zu einer Richtlinie ist ein Akt der Mitwirkung an gemeinschaftsrechtlichem Normerlaß. Als solcher ist der Rechtsetzungsakt nur an das Gemeinschaftsrecht und nicht an das nationale Recht ge~unden.96 Daran ändert auch der Umstand nichts, daß der gemeinschaftsrechtliche Rechtsetzungsakt unter Mitwirkung deutscher Hoheitsgewalt zustandegekommen ist. 97 Demzufolge wird geltend gemacht, auch die Vertreter im Rat würden lediglich in ihrer Funktion als Mitglieder des Gemeinschaftsorgans tätig und seien daher auch nur an Gemeinschaftsrecht und nicht an die Verfassung des jeweiligen Mitgliedstaates gebunden. 98 Wegen der fehlenden Bindung an nationale Grundrechtsgarantien wäre das deutsche Ratsmitglied folglich auch nicht verpflichtet, 93 Scholz, NJW 1990, 941 (945); Friauf, in: Friauf/Scholz, 11 (29 ff.); Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 226, 252 ff.; offenbar auch Merten, EuR - Beiheft 1 1991,41; Hilf, in: Der Staatenverbund, 75 (80). 94 Streinz, Bundesverfassungsgerichtliche Kontrolle, S. 41. 95 Vgl. Ausfllhrungen unter 3. Teil B. 96 Streinz, Bundesverfassungsgerichtliche Kontrolle, S. 23; Friauf, in: FriauflScholz, S. 11 f.; Meier, NJW 1971,961 (966); Nicolaysen, EuropaR I, S. 82; v. Meibom, DVBI. 1969,437 (439, 441); Chwolik-Lanfermann, S. 200. 97 Vgl. BVerfGE 58, 1 (29); vgl. auch Stern, StaatsR, Bd. iIIlI, § 72 V 5, S. 1236. 98 Nicolaysen, EuR 1989,215 (218 f.); ders., EuropaR I, S. 82; Heintzen, Der Staat 1992, 367 (371 ff., insbesondere 384 f.); Ipsen, EuR 1979,223 (237 0; Henrichs, EuGRZ 1990,413 (415).
B. Lösung über das Rechtsetzungsverfahren im Ministerrat
187
die Verabschiedung grundrechtswidriger Richtlinien zu verhindern. Demnach könnte die Lösung zur Vermeidung von Grundrechtskonflikten auch nicht im Rechtsetzungsverfahren gefunden werden. 11. Grundgesetzbindung des deutschen Vertreters im Rat Dieser Einwand vernachlässigt aber, daß den Ministerratsmitgliedern eine Doppelfunktion zukommt. 99 Als Gemeinschaftsorgan ist der Rat zwar einerseits auf die Ziele des EG-Vertrages verpflichtet. Demgemäß muß er auch alles unternehmen, um dem den Einzelinteressen der Mitgliedstaaten übergeordneten Integrationsinteresse der Gemeinschaft zur Durchsetzung zu verhelfen. Aus diesem Grunde unterliegt der Ministerrat selbst nur der Bindungswirkung des Gemeinschaftsrechtes. Entsprechend sind die Ratsmitglieder als Angehörige dieses Gemeinschaftsorgans auch dem Wohle der Gemeinschaft verpflichtet. 100 Andererseits setzt sich der Rat aber gemäß Art. 146 EG-Vertrag im Gegensatz zur Kommission 101 nicht aus Organwaltern der Gemeinschaft, sondern aus "echten" Vertretern der Mitgliedstaaten zusammen. 102 Die nationalen Regierungen entsenden jeweils einen Minister; 103 als Entsandte der jeweiligen Regierungen werden die Minister nach Weisung und im Interesse der innerstaatlich zuständigen Organe tätig. 104 Die Entscheidung über die Entsendung und die zu erteilenden Weisungen im Hinblick auf das Abstimmungsverhalten des deutschen Vertreters im Rat sind Akte deutscher Staatsgewalt, welche damit der 99 Hamier, in: v. d. GroebenffhiesinglEhlermann, Art. 146 Rdnr. I; Schweitzer, in: Grabitzl Hilf, Art. 146 Rdnr. 2; v. Meibom, OYBI. 1969,437 (441); Huber, AöR 116 (1991), 210 (230); Randelzhofer, in: MaunzlOUrig, Art. 24 Abs. I Rdnr. 163; so auch schon Wohlfarth/Everlingl Glaesner/Sprung, S. 445. IOOYgl. EuGH verbundene Rs. 2 und 3/60, Slg. 1961,281 (310 f.) - Niederrheinische Bergwerks-Aktiengesellschaft, Untemehmensverband des Aachener Steinkohlenbergbaus/Hohe Behörde; Hamier, in: v. d. GroebenffhiesinglEhlermann, Art. 146 Rdnr. I. 101 Im Falle der Kommission ist die Unabhängigkeit vom innerstaat1ichen Yerfassungsrecht in Art. 10 Abs. 2 Fusionsvertrag ausdrücklich bestimmt worden. 102Ygl. Art. 2 Abs. I des Fusionsvertrages (BGBI. 11 1965, S. 1453 ff.); Scholz, NJW 1990, 941 (945); Streinz, Bundesverfassungsgerichtliche Kontrolle, S. 23; ders., Bundesverfassungsgerichtlieher Grundrechtsschutz, S. 206; Kössinger, S. 126 f.; Meier, NJW 1971,961 (965). 103 Der deutsche Abgesandte kann auch ein Landesminister sein; vgl. Fn. 27 im I. Teil; zu dem hieraus entstehenden Legitimationsproblem vgl. oben unter 5. Teil A. I. 3. b). Siehe auch BYerfGE 22, 293 (295); 51, 222 (239). 104 BYerfGE 51, 222 (239); Ipsen, S. 339 f.; Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 23; Friauf, in: Friauf/Scholz, 11 (39 f., 42); Birke, S. 112; Hamier, in: v. d. GroebenlThiesinglEhlermann, Art. 146 Rdnr. I; MerkeI, S. 39; Bleckmann, EuropaR, Rdnr. 42; Schweitzer, in: GrabitzlHilf, Art. 146 Rdnr. 2; Randelzhofer, in: MaunzlDUrig, Art. 24 Abs. I Rdnr.163.
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Fünfter Teil: Lösungsansätze in der Literatur
Verfassungsbindung und insbesondere auch der Bindung des Art. 1 Abs. 3 GG unterliegen. Die jeweiligen Abgesandten treten gleichsam als "verlängerter Arm" dieser Hoheitsgewalt auf. 105 Wegen dieser nationalen Rückbindung müssen auf das Handeln der im Rat auftretenden Minister die Grundsätze angewandt werden, die tUr die Ausübung hoheitlicher Befugnisse gelten. 106 Das bedeutet, daß sie die Pflicht haben, das nationale Verfassungsrecht, insbesondere die Grundrechte zu wahren, also vor Beeinträchtigungen durch das Gemeinschaftsrecht zu schützen. 107 Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, die Abstimmung des deutschen Vertreters im Rat erfolge im Rahmen eines Gemeinschaftsorganes, denn die Grundrechtsbindung der deutschen Staatsgewalt gilt ohne Unterschied überall dort, wo sie tätig wird oder sich auswirkt. 108 Dieses Ergebnis wird durch die mitgliedstaatliche Entsendungspraxis bestätigt. Der Ministerrat kennt keine persönliche Mitgliedschaft, nicht einmal in der Form, wie sie Art. 51 GG tUr den Bundesrat vorsieht. Der einzelne Minister hat keinen Anspruch auf Teilnahme an den Sitzungen, sondern wird von der Regierung - entsprechend dem jeweiligen Beratungsgegenstand - in den Rat entsandt. In materieller Hinsicht bilden die mitgliedstaatlichen Regierungen quasi selbst den Rat. Demnach ist die Entscheidungsgewalt im Rat letztlich den jeweiligen nationalen Regierungen vorbehalten. 109 Es mangelt folglich an einem gemeinschaftsrechtlichen Mandat der Ratsmitglieder, welches aber erforderlich wäre, um eine ausschließliche Bindung an das Gemeinschaftsrecht begründen zu können,lIo wie sie von der Gegenansicht angenommen wird. Insoweit verkennt diese Auffassung den Unterschied zwischen der aus Sachwaltern der Gemeinschaft besetzten Kommission und dem aus weisungsgebundenen nationalen Delegationen bestehenden Rat.
105 Streinz, Bundesverfassungsgerichtliche Kontrolle, S. 24; Herdegen, EuGRZ 1989, 309 (313); Meier, NJW 1971,961 (965); Bleckmann, EuropaR, Rdnr. 42; Kössinger, S. 127; Friauf, in: FriauflScholz, II (27,42). 106 Tomuschat, EuR 1990,340 (347); Kössinger, S. 99; Bleckmann, EuropaR, Rdnr. 42; Huber, AöR 116 (1991), 210 (232); Streinz, Bundesverfassungsgerichtliche Kontrolle, S. 24; Randelzhofer, in: MaunzlDUrig, Art. 24 Abs. I Rdnr. 163. 107 Pernice, NJW 1991, 612 (613); Scholz, in: Friauf/Scholz, 53 (92); ders., NJW 1990, 941 (945); Groß, Jura 1991, 575 (578); Herdegen, EuGRZ 1989, 309 (313); Bleckmann, EuropaR, Rdnr. 42; Hilf, EuGRZ 1987, 1 (5f.). J08Ygl. BYerfOE 31, 58 (72 fI); 37, 271 (280); 58, 1 (7); 73, 339 (375); Stern, StaatsR, Bd. IIIIl, § 72 Y 5, S. 1230; so auch Tomuschat, EuR 1990,340 (347). 109 Bleckmann, EuropaR, Rdnr. 36; Friauf, in: FriauflScholz, II (40); Kössinger, S. 99 f. JlOSo auch Huber, AöR 116 (1991), 210(231 f.); Friauf, in: FriauflScholz, II (40).
B. Lösung über das Rechtsetzungsverfahren im Ministerrat
189
1. Relativierung der Grundrechtsbindung des deutschen Vertreters im Rat?
Dennoch ist fraglich, ob das deutsche Ratsmitglied im gleichen Maße an die Normen der Verfassung - insbesondere des Grundrechtskataloges - gebunden ist wie bei seinem innerstaatlichen Handeln oder ob sich die vormals auf Art. 24 Abs. 1 GG und nunmehr auf Art. 23 GG gegründete Öffnung der Verfassung tUr die Rechtsordnung der Gemeinschafe ll auch auf die Verfassungsbindung des deutschen Vertreters im Rechtsetzungsverfahren auswirkt. Dies wird von einigen Stimmen im Schrifttum bejaht. Zwar wird der grundsätzlichen Grundgesetzbindung des deutschen Abgesandten zugestimmt und daraus auch gefolgert, daß er grundsätzlich nur solchen Richtlinienvorschlägen zustimmen dürfe, die verfassungskonform sind. Dies könne aber nicht einschränkungslos gelten. Wenn das Grundgesetz in Art. 24 Abs. 1 GG beziehungsweise Art. 23 GG die Möglichkeit einräume, die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland tUr das Recht supranationaler Organisationen zu öffnen, und damit die Verfassung selbst eine Relativierung der Verfassungsbindung gestatte, so müsse dies tUr den vorgelagerten Entscheidungsprozeß im Rat gleichermaßen gelten wie tUr den letzten Endes erlassenen Normativakt. 112 Die Mitglieder des Rates seien schließlich nicht nur als Verfassungsorgane tätig, sondern würden zugleich eine Verantwortung als Mitglieder des Gemeinschaftsorganes tragen. 1I3 Der deutsche Vertreter dürfe von den verfassungsrechtlichen Anforderungen abweichen, wenn sich gemeinschaftsrechtIiche Zielsetzungen nicht mit verfassungskonformen Mitteln erreichen ließen. Aus diesem Grunde könne er unter Umständen befugt sein, im Gemeinschaftsinteresse einer Regelung zuzustimmen, die gemessen am Maßstab des Grundrechtskataloges des Grundgesetzes zumindest fragwürdig sei. Dies gelte insbesondere für "Paketlösungen" .114 Da Richtlinienvorschläge häufig in Paketlösungen eingebettet seien, würde sich der deutsche Abgesandte ansonsten oft gezwungen sehen, sämtliche Regelungen scheitern zu lassen, nur weil eine von vielen Bestimmungen nicht mit den Grundrechten der nationalen Rechtsordnung vereinbar sei. Ferner dürfe nicht außer acht gelassen werden, daß im Ministerrat fünfzehn Verfassungen 111 Vgl. BVerfDE 37, 271 (280); 58,1 (270; 73, 339 (375); 89,155 (183). 112Huber, AöR 116 (1991), 2\0 (232); Eh1ermann, EuR - Beiheft 1 - 1991,27 (37); Tomuschat, EuR 1990, 344 (347); Herdegen, EuGRZ 1989, 309 (314); ders., JuS 1992, 227 (228); Klein, VVDStRL 50 (1991), 56 (85); v. Meibom, DVBI. 1969,437 (441); Gersdorf, DVBI. 1994, 674 (678); Schneider, AöR 119 (1994), 294 (312); Badura, AöR 115 (1990), 525 (526 f.); Streinz, Bundesverfassungsgerichtliche Kontrolle, S. 25 ff.; Rojahn, in: v. MünchIKunig, Art. 23 Rdnr. 54. 113 Pemice, NJW 1991,612 (613); Everling, EuR 1990,195 (226); Klein, VVDStRL 50 (1991), 56; Ipsen, S. 340. 114Herdegen, EuGRZ 1989,309 (313 f.); Everling, EuR 1990, 195 (226).
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Fünfter Teil: Lösungsansätze in der Literatur
aufeinander träfen, die miteinander in Einklang zu bringen seien. Wenn aber bei jedem einzelnen Rechtsetzungsakt auf jede der fUnfzehn Verfassungen mit den jeweils unterschiedlichen Traditionen Rücksicht genommen werden müsse, so hätte dies zwangsläufig die Funktionsunfähigkeit der Gemeinschaft zur Folge. 115 Unterstützend wird angeführt, daß das deutsche Ratsmitglied im Falle der Verpflichtung zu einem bestimmten Abstimmungsverhalten in seiner Verhandlungsflihigkeit stark eingeschränkt sei und damit das Bemühen um einen grundrechtskonformen Komprorniß erschwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht werde. I 16 Im übrigen würde eine strikte Grundrechtsbindung zu puren Zufälligkeiten führen, weil eine Verpflichtung zum Veto nur bei einstimmigen Beschlüssen wirksam werden würde, während der deutsche Abgesandte bei mit Mehrheit zu fassenden Beschlüssen regelmäßig überstimmt werden könnte. Im Ergebnis könnte der Grundrechtsbindung demnach nur im Falle von Einstimmigkeitserfordernissen zur Geltung verholfen werden. 117 Demzufolge wäre der jeweilige deutsche Minister nach dieser Ansicht zwar grundsätzlich an die verfassungsrechtliche Grundrechtsordnung gebunden, im Einzelfall könne er jedoch durchaus befugt sein, an dem Erlaß von Richtlinien mitzuwirken, deren Grundrechtskonformität zweifelhaft ist, falls die Gemeinschaftsinteressen dies erforderten. a) Begrenzung der Grundrechtsbindung durch Art. 5 EG- Vertrag
Während weitestgehend auf eine nähere Konkretisierung der Konstellationen verzichtet wird, in denen Gemeinschaftsinteressen eine Durchbrechung der Grundrechtsbindung im Rechtsetzungsverfahren gestatten, sondern stattdessen pauschal auf die entsprechenden verfassungsrechtlichen Grenzen bei der inI" IIS verwiesen • • d 119 se hen eInige " · hen Umsetzung von R'IChtimen nerstaat IIC Wir, Literaten die Schranke der Verfassungsbindung der nationalen Vertreter im Rat in Art. 5 EG-Vertrag. Nach dieser Vorschrift sind die Mitgliedstaaten verpflich-
115 Everling, EuR - Beiheft 1 - 1991,42 (43). 116Herdegen, EuGRZ 1989, 309 (313); Lörcher, JuS 1993, 1011 (1015); Randelzhofer, in: MaunzIDürig, Art. 24 Abs. 1 Rdnr. 165; so auch die Bundesregierung im RundfunkrichtlinienRechtsstreit, vgl. den Antrag der Bayerischen Staatsregierung vor dem Bundesverfassungsgericht, Entscheidung v. 11.4.1989, BVerfGE 80, 74 (78); siehe auch Everling, DVBI. 1993,936 (946 f.). 117 Tomuschat, EuR 1990, 340 (348); Chwolik-Lanfermann, S. 218. 118 Vgl. Ausführungen soeben unter 5. Teil A. 11. 119 Henrichs, EuGRZ 1990, 413 (417); Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 271; Chwolik-Lanfermann, S. 219 f.
B. Lösung über das Rechtsetzungsverfahren im Ministerrat
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tet, die Funktionsfähigkeit des Rates durch gemeinschaftsfreundliches Verhalten zu sichern. Um dieser Verpflichtung nachkommen zu können, sei ein Mindestmaß an Kompromißbereitschaft und Flexibilität bei der Aushandlung von RichtlinieninhaIten zwingend erforderlich, was im Einzelfall auch ein Abweichen von den Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes erfordere. 120 b) Umfassende Grundrechtsbindung wegen der Konzeption des RechtsetzungsverJahrens im Rat
Zwar erlegt Art. 5 EG-Vertrag den Mitgliedstaaten mit der Verpflichtung zu gemeinschaftsfreundlichem Verhalten echte Rechtspflichten auf, jedoch verlangen diese Kooperationspflichten nicht ein bestimmtes Abstimmungsverhalten im Rat. 12I Vielmehr sollen die Vertreter der nationalen Regierungen im Rat nach der Konzeption dieses Rechtsetzungsverfahrens ausdrücklich die mitgliedstaatlichen Interessen einbringen. Die Konzentration der Rechtsetzungsbefugnisse beim Rat als dem maßgeblichen Entscheidungsorgan sollte ursprünglich nämlich gerade dazu dienen, den mitgliedstaatlichen Einfluß nicht gänzlich zugunsten der Gemeinschaftsorgane einzubüßen, welche zwar von den Mitgliedstaaten eingesetzt werden, diesen aber nicht mehr unmittelbar verantwortlich sind. 122 Diese Struktur sollte dem Rat ferner eine Vermittlerfunktion zwischen der Gemeinschaft und den nationalen Ausfllhrungsorganen zukommen lassen. Da das Funktionieren der Gemeinschaft voraussetzt, daß die wesentlichen Entscheidungen vom politischen Willen der Mitgliedstaaten mitgetragen werden, sollte auf diese Weise die politische Durchsetzbarkeit der Ratsbeschlüsse gesichert werden. 123 Aus diesem Grund ist die Wahrnehmung nationaler Interessen im Rat nicht nur zulässig, sondern gerade beabsichtigt. Demgemäß ist es auch rechtlich unbedenklich, wenn die einzelnen Staaten bei
120Bleckmann, EuropaR, Rdnr. 42; Ress, EuGRZ 1986, 549 (552 ff.); Kössinger, S. 127; v. Meibom, OVBI. 1969, 437 (441 f.); Hamier, in: v. d. Groebenffhiesing/Ehlermann, Art. 146 Rdnr. I. 121 Streinz, Bundesverfassungsgerichtliehe Kontrolle, S. 33; ders., in: HdbStR, Bd. VII, § 182 Rdnr. 49; vgl. auch Randelzhofer, in: MaunzlOürig, Art. 24 Abs. I Rdnr. 165; ChwolikLanfermann, S. 213. 122 Kössinger, S. 127; Randelzhofer, in: MaunzlOürig, Art. 24 Abs. I Rdnr. 163. 123 Vgl. BVerfGE 92, 203 (230 ff.), allerdings nicht zur Grundrechtsfrage, sondern zu der Wahrung der Kompetenzen der Lander im Rahmen der gemeinschaftsrechtIichen Rechtsetzung; Friauf, in: FriauflScholz, 11 (40); Beutler/BieberlPipkornlStreil, S. 130; Ipsen, S. 345 f.; Streinz, Bundesverfassungsgerichtliehe Kontrolle, S. 34; ders., EuropaR, Rdnr. 283; Randelzhofer, in: Maunz! Oürig, Art. 24 Abs. I Rdnr. 164.
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Fünfter Teil: Lösungsansätze in der Literatur
den Verhandlungen im Rat die mitgliedstaatlichen Interessen in den Vordergrund stellen und von diesen bestimmt werden. Dient diese Konzeption der Entscheidungsfindung im Rat dazu, den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, die jeweilige Verhandlungsposition auch und gerade unter nationalem Blickwinkel zu formulieren und durchzusetzen zu suchen, so darf auch eine Beschränkung der Verhandlungsfilhrung aus den mitgliedstaatlichen Verfassungen herrühren. Wenn nämlich die Zustimmung aus rein politischen Motiven verweigert werden darf, so muß dies erst recht gelten, um der Bindungswirkung der nationalen Verfassung Rechnung zu tragen. 124 Demnach muß die deutsche Verhandlungsposition dem Maßstab der Verfassung und damit insbesondere auch den Grundrechtsanforderungen genügen. Die Organe der Bundesrepublik sind folglich bei der Rechtsetzung im Rat ausschließlich, aber auch umfassend an das Grundgesetz gebunden. Das gilt auch dann, wenn der Rat infolgedessen ein Gemeinschaftsziel nicht durchsetzen kann. Die hierdurch bedingten Erschwerungen des Entscheidungsprozesses sind hinzunehmen. Schließlich wird die Funktionsflihigkeit des Rates nicht schon dadurch beeinträchtigt, daß die Verfassungsbindung den jeweiligen Vertreter im Einzelfall dazu zwingt, gegen eine bestimmte gemeinschaftsrechtliche Regelung zu stimmen. Dies kann zwar insbesondere bei den erwähnten Paketlösungen zur Erschwerung des Normeriasses filhren, doch rechtfertigen einzig integrationspolitische Motive nicht die Inkaufnahme eines Grundrechtsverstoßes. 12S Das Argument, eine strikte Grundrechtsbindung würde es von vornherein unmöglich machen, auf eine möglichst grundrechtsnahe Ausgestaltung der jeweiligen Richtlinie hinzuwirken, 126 klingt auf den ersten Blick zwar bestechend. Würde aber eine Verfassungsdurchbrechung zur Erreichung von Gemeinschaftszielen gestattet, so könnte sich der nationale Vertreter stets darauf berufen, im Interesse eines vernünftigen Kompromisses sei es erforderlich, die nationalen Grundrechte zurückzustellen. Eine konsequente Ausnutzung dieser Argumentation könnte dann zu einer Unterwanderung des nationalen Grundrechtsschutzes filhren. 127 124 Kössinger, S. 126 tT.; Friauf, in: FriaufiScholz, 11 (50); Streinz, Bundesverfassungsgerichtliehe Kontrolle, S. 34; Randelzhofer, in: Maun:zJDürig, Art. 24 Abs. I Rdnr. 164. Im Ergebnis wohl auch Zuleeg, JZ 1995,673 (674 f.). 125 Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 338; ders., Das Parlament (Nr. 50) v. 8. Dez. 1989, S. 16; vgl. auch Stein, in: Föderalismus und EG, 91 (94); nicht ganz eindeutig BVerIDE 92, 203 (236 tT.). 126 Vgl. Ausfilhrungen soeben unter 5. Teil B. 11. 1. 127 Auch Henrichs, EuGRZ 1990,413 (416), und Bleckmann, EuropaR, Rdnr. 42, sehen diese Gefahr.
B. Lösung über das Rechtsetzungsverfahren im Ministerrat
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Schließlich darf nicht außer acht gelassen werden, daß der sich aus Art. 5 EG-Vertrag ergebende Grundsatz der Gemeinschaftstreue 128 umgekehrt auch die Gemeinschaftsorgane und damit ebenso den Ministerrat verpflichtet, auf die nationalen Verfassungen Rücksicht zu nehmen. 129 Schließlich handelt es sich hierbei um ein Gebot wechselseitiger Rücksichtnahme,130 welches in modifizierter Form nunmehr auch für die Europäische Union in Art. F Abs. 1 EUVertrag verankert worden ist. Nach dieser Vorschrift hat die Union die "Identität der Mitgliedstaaten" zu achten. Legt ein Mitgliedstaat also vor der Stimmabgabe im Rat dar, daß eine Richtlinie gegen nationale Grundrechte verstößt, und setzt sich das Gemeinschaftsorgan dann nicht mit dieser Problematik auseinander, sondern geht ungeachtet dieser Bedenken darüber hinweg, liegt seinerseits ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gemeinschaftstreue vor. 131 Eine Verletzung der aus Art. 5 EG-Vertrag resultierenden Kooperationspflichten durch einen Mitgliedstaat kann allenfalls dann angenommen werden, wenn der Mitgliedstaat unter Berufung auf die Erfordernisse seiner nationalen Verfassung die Gemeinschaftstätigkeit weitgehend lähmen würde. 132 Nur eine Blockadepolitik aus rein innenpolitischer Motivation wäre mit den Gemeinschaftszielen nicht mehr vereinbar und damit gemeinschaftsrechtswidrig. 133 Die Wahrscheinlichkeit, daß es zu einem solchen Ausnahmefall kommt,134 ist als außerordentlich gering einzustufen, zum al der jeweilige Mitgliedstaat gleichzeitig politische Sanktionen zu befürchten hätte. Außerdem läßt sich ein Boykott der Rechtsetzung dadurch verhindern, indem die beschlossenen Richtlinien den nationalen Rechtsetzungsorganen Gestaltungs128 Zu dem Streitstand, ob der Grundsatz der Gemeinschaftstreue aus Art. 5 EG-Vertrag herzuleiten ist, vgl. Bleckmann, EuropaR, Rdnr. 401 f.; LOck, Die Gemeinschaftstreue, insbesondere S. 138 fT.; vgl. auch Henrichs, EuGRZ 1990,413 (415 Fn. 24). 129 EuGH Rs. 230/81, Sig. 1983, 255 (287) - Luxemburg/Europäisches Parlament; Rs. C-2/88, Sig. 1990, 1-3365 (3372) - Zwartveld u.a.; BVerfGE 89, 155 (184); Bleckrnann, EuropaR, Rdnr. 417; Jarass, S. 10; Bleckmann/Pieper, RIW 1993,969 (974); Winkler, NVwZ 1994,450 (452); Epiney, EuR 1994, 301 (309 fT., insbesondere 312); Zuleeg, JZ 1995, 673 (674); v. Meibom, DVBI. 1969, 437 (439), spricht vom "Grundsatz der Loyalität gegenüber den Mitgliedstaaten" . 130 Hilf, in: Der Staatenverbund, 75 (80); Zuleeg, JZ 1995,673 (674). 13l So offenbar auch Streinz, Bundesverfassungsgerichtliehe Kontrolle, S. 49; vgl. auch Klein, in: Interne Studien und Berichte der Konrad-Adenauer-Stiftung, Nr. 66/1993, 25 (28). 132 Friauf, in: Friauf/Scholz, 11 (50). . 133 Kössinger, S. 127; Streinz, Bundesverfassungsgerichtliehe Kontrolle, S. 34; ders., EuropaR, Rdnr.283. 134 Die aus der BSE-Krise resultierende "empty chair policy" der britischen Regierung scheint allerdings das Gegenteil zu dokumentieren.
13
Rickert
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Fünfter Teil: Lösungsansätze in der Literatur
spielräume einräumen. Der deutsche Abgesandte sollte daher solche Rechtsakte anregen, die genügend Spielraum zur innerstaatlich verfassungskonformen Umsetzung eröffnen,13S um solche "package-deal"-Kompromisse 136 nicht scheitern zu lassen. Im übrigen ist die Heranziehung des Argumentes, Paketlösungen dürften nicht wegen der Grundrechtswidrigkeit einer einzelnen Bestimmung zu Fall gebracht werden, wenig überzeugend. Schließlich besteht jederzeit die Möglichkeit, die sogenannten "package-deal"-Kompromisse wieder in Einzelteile zu zerlegen. Dies gilt um so mehr, als das Schnüren derartiger Kompromißpakete ohnehin sehr zweifelhaft ist, weil häufig Regelungen aus völlig verschiedenen Sachgebieten zusammengefaßt werden, nur um die Akzeptanz rur bestimmte Regelungen zu erhöhen, die in einem isolierten Rechtsetzungsverfahren keine Realisierungschance hätten. Da die einzelnen Rechtsetzungsakte im Ministerrat ohnehin schon an einer mangelnden nationalen - insbesondere parlamentarischen - Rückkoppelung leiden, wirft eine derartige Vorgehensweise, bei der selbst die Regierungsvertreter eine möglicherweise innerstaatlich unliebsame Regelung, statt mit einem Veto abzuwehren, billigend in Kauf nehmen, um die Durchsetzung einer anderen Vorschrift nicht zu hindern, besonders eindringlich die Frage der hinreichenden nationalen Legitimation der Rechtsetzung der Gemeinschaft auf. 137 Ebenso bedeutungsvoll ist in diesem Zusammenhang, daß die Gesetzgebungsbefugnisse des Bundestages durch die zunehmende Verlagerung der Regelungskompetenz auf die Gemeinschaft stetig weiter eingeschränkt werden, während sich einhergehend mit dieser Reduzierung der Rechtsetzungsbefugnisse die Exekutive - insbesondere die Bundesregierung - als "neuer Gesetzgeber" etabliert. Für die Verpflichtung des deutschen Ministers im Rat, auf eine verfassungskonforme und damit auch grundrechtskonforme Ausgestaltung des Sekundärrechtes hinwirken zu müssen, spricht daher ferner, daß anderenfalls die deutsche Exekutive über den Umweg der Rechtsetzung im Ministerrat verstärkt Regelungen durchsetzen könnte, wozu sie im Rahmen der nationalen Rechtsetzung aufgrund der Verfassungsbindung nicht befugt wäre. 138 Als beiAusfilhrlich hierzu Ausfilhrungen unten unter 6. Teil A. 11. Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 40; Stein, in: Föderalismus und EG, 91 (94). 137Vgl. die ähnlich gelagerte innerstaatliche Problematik des "Schnürens von Kompromißpaketen" durch den Vermittlungsausschuß. 138 So auch Jaenicke, in: Grundrechtsschutz in Europa, 104 (107); Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 337, 465 f.; ders., Bundesverfassungsgerichtliche Kontrolle, S. 42; Meier, NJW 1971,961 (963); siehe auch Badura, VVDStRL 23 (1966), 34 (37). Vgl. auch das Diktat des Reichskanzlers Fürst von Bismarck am 9. November 1876 auf einen Brief des l3S
136 Streinz,
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spielhaft rur ein Übergehen des Grundgesetzes und der nationalen Parlamente durch die Regierung über den Ministerrat kann die Regelung in Art. 30 Abs. 1 und Abs.2 der Verordnung (EWG) Nr. 454/80 des Rates vom 18. Februar 1980 zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 337/79 über die gemeinsame Marktorganisation rur Wein und der Verordnung (EWG) Nr. 338/79 zur Festlegung besonderer Vorschriften fur Qualitätsweine bestimmter Anbaugebiete 139 angeruhrt werden. Mit dieser Vorschrift hat ein von der Bundesrepublik initiierter Ratsbeschluß Normqualität erlangt, der es der Bundesrepublik Deutschland untersagt, deutschen Winzern den Weinanbau zu erlauben. 140 Im Ergebnis läuft diese Regelung auf das Verbot des Anbaus von Reben zur Erzeugung von Qualitätswein b.A. in der Bundesrepublik Deutschland hinaus. Ob diese Bestimmung mit Art. 12 Abs. 1 GG unter dem Aspekt der freien Berufswahl vereinbar ist und damit innerstaatlich durchsetzbar gewesen wäre, erscheint äußerst zweifelhaft. Daß die deutsche Weinbaulobby diese Regelung wegen der Vermeidung des Auf-den-Markt-Dringens weiterer Konkurrenten begrüßte, 141 versteht sich von selbst. Ein weiteres Beispiel ist die Forderung des deutschen Apothekertages von 1970 nach einer europäischen Lösung zur Beschränkung der Niederlassungsfreiheit, nachdem das Bundesverfassungsgericht im Apothekenurteie 42 eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit rur verfassungswidrig erkannte und damit den Weg rur eine nationale Niederlassungsbeschränkung verstellte. 143 Ebenso haben die Diskussionen um die Europäisierung des Asylrechtes Anlaß zu der Befurchtung gegeben, daß mit Hilfe einer gemeinschaftsrechtlichen Problembewältigung über den Vorrang des Gemeinschaftsrechtes die parlamentarischen Hürden einer Verfassungsänderung umgangen werden sollten. 144
russischen Staatskanzlers Fürst von Gortschakow: "Ich habe das Wort Europa immer im Munde derjenigen Politiker gefunden, die von anderen Mächten etwas verlangten, was sie im eigenen Namen nicht zu fordern wagten", in: Lepsius/Mendelssohn Bartholdyrrhimme, Bd.2, 87 (88). Ygl. auch oben unter 4. Teil B. I. 2. a). 139 AblEG Nr. L 57 v. 29.2.1980, 7 (li); vgl. auch Verordnung Nr. 455, AblEG Nr. L 57 v. 29.2.1980, S. 15 ff. 140Ygl. Schweitzer, in: Mühl-FS, 651 (660). 141 Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 466; diesen Fall fllhrt auch Kirchhof, EuR-Beiheft 1-1991,11 (20), als kritisches Beispiel an. 142 BYerfDE 7, 377 ff.; vgl. auch 5. Teil D. I. 3. 143 Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 466; Kirchhof, EuR - Beiheft 1-1991,11 (20). 144 Entsprechende Bedenken klingen bei Herdegen, EuGRZ 1989, 309 (310), an; vgl. auch Streinz, Bundesverfassungsgerichtliche Kontrolle, S. 42. 13'
Fünfter Teil: Lösungsansätze in der Literatur
196
c) Zwischenergebnis
Zusammenfassend kann also festgehalten werden, daß die deutsche Exekutive in Einzelfällen zwar in Versuchung geraten mag, im Rahmen der Beschlußfassung über ein Gesamtpaket grundrechtliche Zweifel bezüglich einzelner Regelungen zurückzustellen, um eine ihr wichtig erscheinende andere Regelung nicht zu gefährden und einen ihr insgesamt vorteilhaft erscheinenden Komprorniß durchzusetzen. 145 Doch so verständlich ein derartiges Vorgehen aus integrationspolitischer Sicht auch erscheinen mag, die Aufopferung von Grundrechtsgarantien vermag es nicht zu rechtfertigen. Der deutsche Gesandte darf nicht deshalb von der in Art. lAbs. 3 GG normierten Grundrechtsbindung freigestellt sein, weil politische Interessen filr höherrangig erachtet werden und ein eventueller Verstoß gegen diese Bindung auf Ebene des Gemeinschaftsrechtes sanktionslos bliebe. 146 Daher stellt Friauf zutreffend fest: "Das gemeinschaftsrechtliche Können der deutschen Ratsmitglieder reicht infolgedessen weiter als ihr - von den Bindungen an das Grundgesetz abhängiges - Dürfien.,,147 2. Effektivität der Grundrechtsbindung im Rechtsetzungsverfahren
Steht somit fest, daß der im Rat mitwirkende Vertreter der Bundesrepublik gemäß Art. 1 Abs. 3 GG ohne Einschränkung an die Grundrechte der deutschen Verfassung gebunden ist, drängt sich bei einem Organ, das sich aus zur Zeit (noch) filnfzehn Mitgliedstaaten zusammensetzt und das vermehrt auch zu Mehrheitsbeschlüssen ermächtigt ist, die Frage nach der Effektivität dieses Lösungsmodelles auf. a) Einstimmigkeitserfordernis
Soweit ein gemeinschaftsrechtlicher Rechtsakt Einstimmigkeit erfordert, hat der deutsche Vertreter im Ministerrat die Möglichkeit und zugleich auch die Verpflichtung, die Schaffung grundrechtswidrigen Sekundärrechtes durch seine Gegenstimme zu verhindern. Bei einstimmigen Ratsbeschlüssen kommt die jeweilige Mitverantwortung der Regierung auch unverhüllt zum Ausdruck.
Vgl. Herdegen, EuGRZ 1989,309 (313); Friauf, in: Friauf/Scholz, 11 (51). in: FriauflScholz, 11 (43); v. Meibom, DVBI. 1969,437 (441). 147 Friauf, in: FriauflScholz, 11 (43); vgl. auch v. Meibom, DVBI. 1969,437 (441).
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146 Friauf,
B. Lösung über das Rechtsetzungsverfahren im Ministerrat
197
Eine Berufung darauf, von den übrigen Ratsmitgliedern überstimmt worden zu sein, ist nicht möglich. Im Rahmen von einstimmigen Rechtsetzungsakten im Ministerrat ist die Grundgesetzbindung des deutschen Vertreters somit ein effektiver Weg, um den Erlaß grundrechtswidriger Richtlinien zu verhindern. b) Mehrheitsbeschlüsse
Das Einstimmigkeitserfordernis besteht aber nur noch in einigen wenigen "sensiblen" Bereichen, in denen mitgliedstaatliche Interessen in besonderem Maße betroffen sind, wie zum Beispiel bei der Angleichung der Steuervorschriften, bei Bestimmungen über die Freizügigkeit und die Arbeitnehmerrechte nach Art. 100 a Abs. 2 EG-Vertrag; überwiegend werden jedoch Mehrheitsentscheidungen getroffen. Der Regelfall ist zwar gemäß Art. 148 Abs. 1 EGVertrag die einfache Mehrheit; diese wird aber zunehmend durch das Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit in den Einzelermächtigungen verdrängt, 148 so daß aus der Regel des Art. 148 Abs. I EG-Vertrag die Ausnahme wird. Richtlinien werden also vorwiegend mit qualifizierter Mehrheit verabschiedet. In diesen Fällen des Mehrheitserfordernisses kann der deutsche Vertreter Ratsbeschlüsse, deren innerstaatliche Umsetzung gegen deutsche Grundrechte verstoßen würde, allein durch sein Veto nicht verhindern. Da die Grundgesetzbindung den deutschen Abgesandten im Rat aber verpflichtet, "alles zu tun", um die Schaffung grundrechtswidrigen Gemeinschaftsrechtes zu verhindern, erschöpft sich seine Pflicht nicht lediglich in einer bloßen Zustimmungsverweigerung. Er ist aufgrund der Bindungswirkung des Art. 1 Abs. 3 GG vielmehr verpflichtet, Beschlüssen aktiv entgegenzuwirken, wenn diese die Grundrechte, wie sie im Grundgesetz verankert sind, unzulässig beschneiden, indem er die übrigen Mitgliedstaaten davon zu überzeugen sucht, daß dem Richtlinienvorschlag Verfassungshindernisse entgegenstehen und ein solches Umsetzungshindernis auch dem Gemeinschaftsinteresse an einer einheitlichen Geltung des Gemeinschaftsrechtes in allen Mitgliedstaaten widerspreche. Sollte sich die deutsche Delegation mit diesem Anliegen nicht durchsetzen können, muß sie auf eine möglichst grundrechtsnahe Ausgestaltung hinwirken. Bei gemeinschaftsrechtlichen Rechtsetzungsakten in Form der Richtlinie kann dies in der Weise geschehen, die Vertreter der übrigen Mitgliedstaaten davon zu überzeugen, den nationalen Umsetzungsorganen entsprechende Gestaltungsspielräume einzuräumen, damit im Rahmen der innerstaatli148 Vgl.
z.8. Art. 57 Abs. I, Abs. 2 S. 3; Art. 100 a Abs. I; Art. 1305 Abs. 1 EG-Vertrag.
198
Fünfter Teil: Lösungsansätze in der Literatur
chen Umsetzung den grundrechtswidrigen Bestimmungen der jeweiligen · ht I'lOte . ausgewtc . h en werden kanno 149 R tc Daß dieser Ansatz auch eine praktikable Möglichkeit zur Vermeidung von grundrechtlichen Normenkonflikten eröffnen und der Rat bei entsprechendem Vorbringen durchaus bereit sein kann, verfassungsrechtliche Vollzugsprobleme der Mitgliedstaaten zu berücksichtigen, kann an mehreren Beispielen belegt werden. Ein Beispiel par excellence ist die Verordnung des Rates vom 31. Januar 1984 über die repräsentative statistische Stichprobenerhebung für Arbeitskräfte. 150 Der deutsche Vertreter im Rat hatte der Verordnung zugestimmt, obwohl offensichtlich war, daß eine innerstaatliche Durchführung gemäß den verfassungsrechtIichen Anforderungen, die das Bundesverfassungsgericht erst kurz zuvor im sogenannten VOlkszählungsurteil l51 aufgestellt hatte, höchst problematisch war. Die im Ministerrat am 31. Januar 1984 verabschiedete Verordnung sah vor, daß die Stichprobenerhebung in den Mitgliedstaaten "im Frühjahr 1984" stattzufinden hatte. 152 Die Verordnung hatte aber keinen abschließenden Charakter, sondern war auf mitgliedstaatliches Durchführungsund Ergänzungsrecht angewiesen. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes müssen Vorschriften über statistische Datenerhebung - nach dem Maßstab des Grundrechtes auf informationelle Selbstbestimmung gemäß Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG - in Form eines Parlamentsgesetzes, welches eine Vielzahl von Sicherungsbestimmungen enthalten muß, erlassen werden. Die Bundesrepublik Deutschland war zur Durchführung der Stichprobe noch im Frühjahr 1984 verpflichtet. Das auf die innerstaatliche Durchführung der EWG-Stichprobe anwendbare Bundesstatistikgesetz l53 entsprach den vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Anforderungen nur teilweise; innerhalb der kurzen Frist von Februar bis Juni 1984 konnte die zur Einschränkung des Grundrechtes auf informationelle Selbstbestimmung nach dem Gesetzesvorbehalt erforderliche Schaffung einer gesetzlichen Regelung jedoch nicht mehr rechtzeitig bewirkt werden. Daher mußte die Erhebung auf der Grundlage von Verwaltungsvorschriften durchgeführt werden, um zumindest die Einhaltung der materiellen Grundrechtsanforderungen zu wahren. 154 Daß im Rat durchaus die Möglichkeit zur Rücksichtnahme und damit zur Anpassung an 149 Vgl. ausftlhrlich hierzu Ausftlhrungen unten unter 6. Teil A.; vgl. auch BVerfDE 92, 203 (236). 150 AblEG Nr. L 32 v. 3.2.1984, S. 6 f. 151 BVerfDE 65,1 fT. (Urteil vom 15. Dezember 1983). 152 Verordnung (EWG) 276/84 des Rates v. 31.1.1984, ABlEG Nr. L 32 V. 3.2.1984, S. 6. 153 Vgl. § 12 BStatG v. 14.3.1980, BGBI.I, 289 (292). 154 Scheuing, EuR 1985,229 (271).
B. Lösung über das Rechtsetzungsverfahren im Ministerrat
199
nationale Besonderheiten möglich gewesen wäre, belegt die Ausnahmebestimmung tur die Niederlande, die getroffen wurde, nachdem der niederländische Vertreter innerstaatliche Vollzugsprobleme geltend gemacht hatte. Die Niederlande wurden aufgrund dieser innerstaatlichen Durchtuhrungsprobleme ausdrücklich von der Stichprobenerhebung 1984 ausgenommen. ISS Ebenso hätte der deutsche Vertreter eine entsprechende Ausnahmebestimmung tur die Bundesrepublik Deutschland durchsetzen können, um auf diese Weise die Schaffung einer grundrechtskonformen Regelung ohne Zeitnot zu ermöglichen. ls6 Ein weiteres Beispiel ist die oben behandelte Etikettierungsrichtlinie. ls7 Erst nachdem der Vertreter der Bundesregierung grundrechtliche Bedenken geäußert hatte, wurde die Richtlinie dahingehend geändert, es in das Ermessen der Mitgliedstaaten zu stellen, ob angegeben werden muß, wer der Veranlasser der Wamhinweise iSt. IS8 aa) Luxemburger Vereinbarung Neben der Tatsache, daß die übrigen Mitgliedstaaten im Einzelfall durchaus Verständnis tur nationale Verfassungsprobleme aufbringen können, dokumentieren diese Beispiele gleichzeitig aber auch, daß die Verabschiedung grundrechtswidriger Richtlinien trotz der Äußerung grundrechtlicher Bedenken von deutscher Seite nicht ausgeschlossen werden kann. Als ultima ratio IS9 zur Verhinderung solcher Mehrheitsbeschlüsse steht den Mitgliedstaaten die sogenannte "Luxemburger Vereinbarung" vom 29.1.1966 160 zur Vertugung. Nach dieser Vereinbarung bemühen sich die Ratsmitglieder bei Beschlüssen, die mit Mehrheit gefaßt werden, wenn "sehr wichtige Interessen" eines oder mehrerer Partner tangiert sind, innerhalb eines angemessenen Zeitraumes zu einer adäquaten Lösung zu gelangen. 161 Bei dieser Formulierung drängt sich die Frage nach der rechtlichen Verbindlichkeit dieser Bestimmung auf. 162 Lediglich Frankreich vertritt die Auffassung, die Verhandlungen müßten solange fortgesetzt werden, 155 Vgl. Art. I der Verordnung und die letzte BegrUndungserwägung. 156 Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 337; ders., Bundesverfassungsgerichtliche Kontrolle, S. 41 f.; Scheuing, EuR 1985,229 (272). 157Vgl. Ausfllhrungen oben unter I. Teil C.III. beziehungsweise unter 3. Teil B. 158 Vgl. Ausfllhrungen oben unter I. Teil C. 111. 159 Streinz, Das Parlament (Nr. 50) v. 8. Dez. 1989, S. 16. 160 Die Mehrheitsentscheidungen betreffende Passage ist im Anhang 6 abgedruckt. 161 Mit dieser Vereinbarung wurde die von Frankreich im Juli 1965 begonnene Politik des "leeren Stuhls" beendet, die zu einer der schwersten Krisen in der Geschichte der Europäischen Gemeinschaften gefllhrt hatte. 162Vgl. Streinz, Die Luxemburger Vereinbarung, S. 13 ff.; Winkelmann, S. 40.
200
Fünfter Teil: Lösungsansätze in der Literatur
bis eine Einigung erzielt worden sei. 163 Dieser Standpunkt hat aber zur Konsequenz, daß auch Mehrheitsbeschlüsse nur dann gefaßt werden können, wenn sämtliche Ratsmitglieder damit einverstanden sind. Die vom EG-Vertrag vorgesehene Differenzierung zwischen Einstimmigkeitserfordernis und Mehrheitsentscheidung würde damit im Ergebnis obsolet. Ob eine derartige Relativierung der Bestimmungen des EG-Vertrages vertretbar ist, erscheint äußerst zweifelhaft. l64 Auch der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften hat bereits dahingehende Bedenken verlauten lassen. So stellte er in einer Entscheidung l65 fest, daß die Bestimmungen des Vertrages, weIche die Willensbildung der Gemeinschaftsorgane regeln, nicht der Disposition der Mitgliedstaaten oder der Gemeinschaftsorgane selbst unterliegen. Überträgt man diese Feststellung des Gerichtshofes auf die Frage der Verbindlichkeit der Luxemburger Vereinbarung, so kommt dieser allenfalls empfehlender, nicht aber rechtsverbindlicher Charakter zu. Demnach kann sich das deutsche Ratsmitglied zwar auf die Luxemburger Vereinbarung berufen, dennoch kann nicht ausgeschlossen werden, daß grundrechtswidrige Richtlinien trotz eines deutschen Vetos beschlossen werden; 166 zum al der 1987 eingefügte Art. 7 Abs. I der Geschäftsordnung des Rates 167 ermöglicht, eine Mehrheitsabstimmung im Rat durch Mehrheitsbeschluß zu erzwingen. 168 Daher wirft die Vereinbarung auch hinsichtlich ihrer Effektivität erhebliche Zweifel auf. 169
163 Kraußer, S. 128; vgl. auch Anhang 6. 164 Die Praxis nach der Luxemburger Vereinbarung wird auch im Schrifttum rur rechtswidrig erachtet: vgl. Constantinesco, Recht, S. 431 ff., 544; Everling, EuR 1987, 214 (233); ders., in: 40 Jahre GG, 167 (175); Lahr, EA 1983, 223 (226); Winkel mann, S. 40; a.A. offenbar Stein, in: Föderalismus und EG, 91 (94). 165 EuGH Rs. 68/86, Sig. 1988, 855 (900) - Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland/Rat. 166 So auch Kraußer, S. 128. Das gesteht auch Streinz, Bundesverfassungsgerichtliche Kontrolle, S. 49, zu; ders., Das Parlament (Nr. 50) v. 8. Dez. 1989, S. 16; ders., Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 204 Fn. 311; vgl. auch Harnier, in: v. d. GroebenfThiesingl Ehlermann, Vorbem. zum Fünften Teil Rdnr. 14; Stein, in: Zeidler-FS, Bd. 2, 1711 (1722). 167Vgl. Art. 151 Abs. 3 EG-Vertrag. 168Streinz, EuropaR, Rdnr. 267. 169S0 auch Kraußer, S. 128; Huber, AöR 116 (1991), 210 (232); Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 204 Fn. 311; optimistischer ders., Das Parlament (Nr. 50) v. 8. Dez. 1989, S. 16
B. Lösung über das Rechtsetzungsverfahren im Ministerrat
20 I
bb) Beratungsgeheimnis im Rat Dies gilt um so mehr, als die Beratungen im Ministerrat gemäß Art. 4 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Rates l70 grundsätzlich nicht öffentlich und die jeweiligen Abgesandten zur Geheimhaltung verpflichtet sind. Demnach kann nicht nachvollzogen werden, ob der deutsche Vertreter jeweils alle Möglichkeiten ausgeschöpft hat, um den Anforderungen des nationalen Grundrechtskataloges zur Geltung zu verhelfen. Der Zweck des Beratungsgeheimnisses geht nämlich gerade dahin, die Kompromißbereitschaft derjenigen mitgliedstaatlichen Vertreter zu steigern, die aufgrund innerstaatlicher Pr()bleme ihre Zustimmung verweigern. 171 Die Nichtöffentlichkeit der Sitzungen soll sie von dem mitgliedstaatlichen Druck befreien. 172 Somit ist die Möglichkeit, daß der Vertreter der Bundesrepublik Deutschland dem Beschluß des Rates in vollem Bewußtsein seiner Tragweite zustimmt, um "übergeordnete" Vertragsziele zu realisieren, nicht gänzlich auszuschließen. 173 Zugegebenermaßen hat die im Dezember 1993 vorgenommene Änderung der Geschäftsordnung des Rates insofern eine Verbesserung mit sich gebracht, als gemäß Art. 7 Abs. 5 der neuen Geschäftsordnung vorgeschrieben ist, das Abstimmungsergebnis in bestimmten Konstellationen zu veröffentlichen. Da aber bereits die einfache Mehrheit der Ratsmitglieder genügt, um diese Veröffentlichungspflicht auszuhebeln, ist mit der Neufassung der Geschäftsordnung zwar ein Schritt in die richtige Richtung unternommen worden, allerdings die erforderliche Transparenz längst noch nicht verwirklicht. 174 Aber selbst wenn der deutsche Abgesandte der Bindungswirkung des Art. 1 Abs. 3 GG genügt und die gegebenenfalls bestehenden nationalen Grundrechtsprobleme zur Sprache bringt, können bei Mehrheitsentscheidungen verfassungsrechtliche Bedenken nur dann wirksam zur Geltung gebracht werden, wenn eine drohende Überstimmung durch die anderen Mitgliedstaaten vermieden werden kann. Damit reduzieren sich die Möglichkeiten, eine grundrechtskonforme Lösung zu finden, gleichsam auf das "Hoffen auf Verständnis" der übrigen Ratsmitglieder. Letzten Endes stehen die 170 ABlEG
Nr. L 304 v. 10.12.1993, S. 1 ff. Streinz, Bundesverfassungsgerichtliche Kontrolle, S. 50; Harnier, in: v. d. GroebenffhiesinglEhlerrnann, Art. 147 Rdnr. 9; vgl. auch Bleckmann, EuropaR, Rdnr. 42. 112 Streinz, Bundesverfassungsgerichtliche Kontrolle, S. 50; Harnier, in: v. d. GroebenffhiesingiEhlerrnann, Art. 147 Rdnr. 9. 173 v. Meibom, DVBI. 1969,437 (441); vgl. auch Groß, Jura 1991, 575 (578). 174 Zu dem vom Rat am 2. Oktober 1995 beschlossenen "Verhaltenskodex betreffend den Zugang der Öffentlichkeit zu Protokollen und Protokollerklärungen des Rates in seiner Rolle als Gesetzgeber", mit dem er den Forderungen nach Transparenz und Publizität gerecht zu werden versucht, siehe Dreher, EuZW 1996,487 ff. 171
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Fünfter Teil: Lösungsansätze in der Literatur
Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes bei Mehrheitsentscheidungen damit zur Disposition der Mitgliedstaaten. IH. Ergebnis
Als Fazit kann somit festgehalten werden, daß der jeweils entsandte deutsche Vertreter im Rat zwar einer umfassenden Grundrechtsbindung unterliegt, der Schutz des nationalen Grundrechtsstandards über das Rechtsetzungsverfahren im Rat aber nur bei Einstimmigkeitserfordernissen eine Lösung für den Konflikt zwischen gemeinschaftsrechtlichem und nationalem Grundrechtsstandard bei der Richtlinienumsetzung bietet. Das gilt aber wiederum nur dann, wenn der Grundrechtsverstoß im Rahmen des Rechtsetzungsverfahrens nicht versehentlich übersehen wird, was ebenfalls niemals gänzlich ausgeschlossen werden kann. Hingegen ist es bei Mehrheitsbeschlüssen sehr wohl möglich, daß der deutsche Vertreter überstimmt und eine bestimmte Richtlinie trotz seiner verfassungsrechtlichen Bedenken verabschiedet wird. In solchen Fällen kann die deutsche Delegation zu der Hinnahme von Verletzungen des nationalen Verfassungsrechtes im Rahmen der innerstaatlichen Umsetzung gezwungen werden. In diesen Konstellationen bietet der aufgezeigte Lösungsansatz somit keinen Ausweg.
c. Nachträgliche Kollisionsbeseitigungspßicht Als Lösung wird ferner vorgeschlagen, für den Fall des Konfliktes die Umsetzungsverpflichtung der innerstaatlichen Rechtsetzungsorgane zwar im vollen Umfange anzuerkennen, aber eine Bemühungspflicht der Bundesregierung und aller deutschen Staatsorgane anzunehmen, die aufgetretene Normenkollision nachträglich dadurch zu beheben, daß sie auf die Gemeinschaftseinrichtung mit dem Ziel einer Korrektur des Hoheitsaktes einwirken. I75 An der Beeinträchtigung von Grundrechtsgarantien dürfe die deutsche Staatsgewalt. aufgrund der umfassenden Bindungswirkung des Art. 1 Abs. 3 GG nicht mitwirken; vielmehr resultiere aus dieser Norm die Verpflichtung, sie zu verhindern. Andererseits dürfe diese innerstaatliche Verpflichtung auch nicht zum Bruch der Bindung gegenüber der zwischenstaatlichen Einrichtung führen, weil diese mit 175 BVerfGE 92, 203 (237); Frowein, in: BVerfG und GO, Bd. 11, 187 (205); allgemein zu dem von einer zwischenstaatlichen Einrichtung gesetzten Recht Stern, StaatsR, Bd. IlI/I, § 72 V 5, S. 1237; ähnlich schon Ipsen, EuR 1975,1 (16); vgl. auch Pestalozza, DVBI. 1974,716 (717).
C. Nachträgliche Kollisionsbeseitigungspflicht
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Art. 24 Abs. 1 GG beziehungsweise nunmehr Art. 23 Abs. 1 GG ebenfalls auf einer verfassungsrechtlichen Grundlage beruhe. Die Nichtumsetzung der betreffenden Richtlinie würde aber einen solchen Verstoß gegen gemeinschaftsrechtliche Bindungen darstellen. Um diese beiden kollidierenden Rechtspflichten zu harmonisieren, komme daher nur eine Einwirkung auf die Gemeinschaft zur nachträglichen Modifizierung ihres Hoheitsaktes in Betracht. 176 Die Bundesregierung beziehungsweise der jeweilige Landesminister wäre in einem solchen Fall verpflichtet, im Rahmen ihrer/seiner Möglichkeiten alles zu unternehmen, um eine Revision des Rechtsetzungsaktes zu erreichen. 177 Als Beispiel dafilr, daß sich die übrigen Mitgliedstaaten nationalen verfassungsrechtlich bedingten Umsetzungs- und Vollzugsproblemen nicht unbedingt verschließen und ein derartiges Vorgehen damit nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, läßt sich die Verordnung Nr. 135 der Kommission über die Festsetzung eines Zusatzbetrages filr Einfuhren von geschlachteten Hühnern aus dritten Ländern anfilhren, die erst am Tage ihres Inkrafttretens bekannt gemacht wurde. I78 Der filr den nationalen Vollzug zuständige Bundesfinanzminister schob den Anwendungstermin der Verordnung mit der Begründung hinaus, anderenfalls komme sie einer rückwirkenden, verfassungsrechtlich zweifelhaften Abgabenerhöhung gleich. 179 Diese Sonderregelung ist von den Gemeinschaftsorganen akzeptiert worden. ISO Zwar haben in diesem Fall die Mitgliedstaaten den Rechtsetzungsakt der Gemeinschaft nicht nachträglich korrigiert, doch belegt dieses Beispiel, daß in einzelnen Fällen verfassungsrechtliche Komplikationen aufgrund des Entgegenkommens der übrigen Mitgliedstaaten im nachhinein beseitigt werden können. Der Vorteil dieser Lösung besteht zweifellos darin, daß die gemeinscbaftsrechtliche Rechtsetzung nicht durch innerstaatliche Belange eines der filnfzehn Mitgliedstaaten, insbesondere nicht durch die Grundrechtsanforderungen der deutschen Verfassung, belastet wird. Eine grundgesetzliche Introvertiertheie sl 176 Stern, StaatsR, Bd.lII/l, § 72 Y 5, S. 1237; Frowein, in: BYerfU und GG, Bd. II, 187 (205); vgl. auch Friauf, in: FriauflScholz, I1 (45). 177 Ebenso Scholz, in: FriauflScholz, 53 (95), allerdings erst dann, wenn präventives Hinwirken auf eine grundrechtskonforme Ausgestaltung gescheitert ist. 178Yerordnung Nr. 135 der Kommission vom 7. November 1962, ABlEG v. 7.11.1962, S. 2621 f. 179 Ziffer 3 des Erlasses des Bundesministers der Finanzen vom 15. November 1962, BZBI. v. 17.11.1962, S. 974. 180 Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 344; vgl. auch Jaenicke, ZaöRY 23 (1963),485 (505). 181 Ygl. Einftlhrung, insbesondere Fn. 4.
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Fünfter Teil: Lösungsansätze in der Literatur
kann diesem Lösungsansatz somit nicht vorgeworfen werden, er wirkt jedenfalls nicht integrationshemmend. Andererseits vertraut er aber darauf, daß sich zunächst die Bundesregierung beziehungsweise der betreffende Landesminister zu einem solchen nachträglichen Schritt entschließt und sie/er ferner die Mehrheit der Mitglieder im Rat von der Notwendigkeit einer grundrechtskonformen Abänderung des betreffenden Rechtsetzungsaktes überzeugen kann. 182 Demnach basiert dieser Lösungsvorschlag auf zwei Unwägbarkeiten, was ihn hinsichtlich seiner Effektivität ganz erheblich in Frage stellt. Denn selbst wenn man davon ausgeht, daß sich die deutschen Abgesandten der aus Art. 1 Abs. 3 GG resultierenden Verpflichtung stellen und in der Richtlinie angelegte Grundrechtswidrigkeiten nachträglich zu beseitigen suchen, sind sie auf die Kooperationsbereitschaft der übrigen Mitgliedstaaten angewiesen. Die Grundrechte werden damit zu Lasten ihrer Träger zum "europäischen Verhandlungsgegenstand" , weil ein Anspruch auf Korrektur der gemeinschaftsrechtlich getroffenen Maßnahmen wegen Verstoßes gegen den deutschen Grundrechtskatalog nicht besteht. Die übrigen Mitgliedstaaten könnten in Anbetracht der deutschen Konfliktlage im Einzelfall verfUhrt werden, zwar auf das deutsche verfassungsrechtlich bedingte Änderungsbegehren einzugehen, dessen Berücksichtigung aber von der Durchsetzung eigener politischer Forderungen abhängig zu machen, denen die Bundesrepublik ansonsten nicht zustimmen würde. Elementare Prinzipien des Grundgesetzes würden damit zur Disposition der Mitgliedstaaten gestellt, was mit Art. 79 Abs. 3 GG nicht vereinbar iSt. 183 Darüber hinaus ist es in der Mehrzahl der Fälle wenig wahrscheinlich, daß bei den übrigen vierzehn Mitgliedstaaten die Bereitschaft besteht, einen mühsam gefundenen Komprorniß nachträglich wieder zu modifizieren und damit dessen Akzeptanz aufs Spiel zu setzen. Insofern verspricht das nachträgliche Einwirken auf die übrigen Mitgliedstaaten wenig Aussicht auf Erfolg. Dieser Ansatz kann folglich allenfalls als Ergänzung zu dem soeben dargestellten Lösungsweg über das Rechtsetzungsverfahren im Rat betrachtet werden, um jede zur VerfUgung stehende Möglichkeit auszuschöpfen, das Konfliktpotential auf dem Verhandlungswege zu verringern. Auch hierbei ist aber nicht auszuschließen, daß die innerstaatlichen Umsetzungsprobleme bei den übrigen Ratsmitgliedern kein Gehör finden und sich die nationalen Rechtsetzungsorgane somit nach wie vor dem Konflikt zwischen der Bindungswirkung 182 Frowein, in: BVerfD und GG, Bd. 11, 187 (205); Friauf, in: FriauflScholz, 11 (45); vgl. auch Groß, Jura 1991, 575 (578). 183 So auch Groß, Jura 1991, 575 (578); Friauf, in: FriauflScholz, 11 (45 f.); vgl. auch Scholz, in: FriauflScholz, 53 (99).
D. Einbeziehung europäischer Gemeinwohlinteressen
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des Art. 1 Abs. 3 GG und den gemeinschaftsrechtlichen Richtlinienvorgaben gegenübergestellt sehen.
D. Relativierung der Grundrechtsbindung durch Einbeziehung europäischer Gemeinwohlinteressen im Rahmen der Verhältnismäßigkeit Einen weiteren Aspekt zur Lösung der Grundrechtsproblematik läßt Streinz einfließen: Er wies schon vor der Neufassung des Art. 23 GG zutreffend darauf hin, daß das Grundgesetz ein materielles Abweichen von seinen Bestimmungen nicht ohne Zustimmung des verfassungsändernden Gesetzgebers, der an die Schranken des Art. 79 Abs. 3 GG gebunden ist, gestattet. Er schloß dies aus Art. 79 Abs. 1 GG, der - selbst wenn man ihn lediglich als Formvorschrift mit dem Inhalt "keine Verfassungsänderung ohne Textänderung" begreife - dokumentiere, daß das Grundgesetz materielle Verfassungsdurchbrechungen verbiete, sofern es nicht ausdrücklich eine Ausnahme normiere. Eine derartige Verfassungsdurchbrechung sei aber einzig in dem obsolet gewordenen Art. 139 GG gestattet. Im Umkehrschluß könne daraus gefolgert werden, ohne ausdrückliche Anordnung im Grundgesetz sei ein Abweichen des einfachen Gesetzgebers von den materiellen Bestimmungen des Grundgesetzes nicht zulässig. 184 Daraus ergebe sich rur den Integrationsgesetzgeber wiederum, das gesamte Grundgesetz und damit wegen Art. 1 Abs. 3 GG auch die Grundrechte beachten zu müssen. Da sich die Verfassung aber selbst in Art. 24 Abs. 1 GG beziehungsweise in Art. 23 n.F. GG fiir die europäische Integration öffne, sei nach dem Grundsatz der Einheit der Verfassung eine Lösung zu entwickeln, die diese Öffnung der Verfassung mit einbeziehe. Die Rücknahme des ausschließlichen Herrschaftsanspruches der Bundesrepublik Deutschland im Geltungsbereich des Grundgesetzes und dessen Öffnung fiir das Gemeinschaftsrecht erweitere die Möglichkeit, Grundrechtsbestimmungen einzuschränken: 185 Da Gemeinwohlinteressen im Verfassungsrecht generell als Rechtfertigungsgrund rur Grundrechtsbeschränkungen dienten, 186 schlägt Streinz vor, bei der Überprüfung der Grundrechtskonformität eines Um-
184 Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 251. 185 So neben Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 251, auch Kirchhof, EuR - Beiheft 1 - 1991, 45; vgl. auch Schweitzer, in: Mühl-FS, 651 (658 f.); OppermannIFleischmann, luS 1972,527 (531). 186Vgl. auch Schnapp, luS 1978,729 tT.
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Fünfter Teil: Lösungsansätze in der Literatur
setzungsaktes im Rahmen der Verhältnismäßigkeit die europäischen Gemein' . kSIC . htIgen. . 187 wo hl mteressen zu berUc I. Kriterien des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes
Grundrechtseinschränkungen müßten stets den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes entsprechen, das heißt, die jeweilige Beschränkung muß einem verfassungskonformen Zweck zu dienen bestimmt sein; ferner muß das eingesetzte Mittel verfassungskonform und zur Zielverwirklichung geeignet, erforderlich und angemessen sein. 1. Europäische Gemeinwohlinteressen als verfassungskonformes Ziel
Die europäische Integration und die damit verbundenen Aufgaben stellten ein durch Art. 24 Abs. I, 23 und die Präambel des Grundgesetzes vorgegebenes und damit grundsätzlich verfassungskonformes Ziel dar. 188 Allerdings könne das "europäische Gemeinwohl" oder die "Europafreundlichkeit" des Grundgesetzes nicht pauschal als Grundrechtsschranke fungieren. Das Ziel der europäi~ schen Rechtsvereinheitlichung al/eine vermöge einen Grundrechtseingriff nämlich nicht zu rechtfertigen. Vielmehr müsse auf das mit der jeweiligen Regelung konkret verfolgte Ziel abgestellt werden, weIches sich auf eine oder mehrere Bestimmungen in den GrUndungsverträgen oder im Sekundärrecht stützen müsse. Der Gemeinschaftsbezug gestatte lediglich die Erweiterung der Bewertungsgrundlage auf eine europäische Dimension, was zu anderen tatsächlichen Gegebenheiten fUhren und woraus wiederum eine andere rechtliche Bewertung resultieren könne. 189 Dabei könne das mit der jeweiligen Maßnahme verfolgte spezifische Integrationsinteresse im Rahmen der normativen Beurteilung allerdings nur einen von mehreren maßgeblichen Gesichtspunkten, niemals aber den einzig ausschlaggebenden darstellen. 190
187 Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 254; ders., Bundesverfassungsgerichtliche Kontrolle, S. 31; ders., in: HdbStR, Bd. VII, § 182 Rdnr. 41; vgl. auch Schweitzer, in: MUhl-FS, 651 (658). 188 Streinz, in: HdbStR, Bd. VII, § 182 Rdnr. 41; ders., Bundesverfassungsgerichtliche Kontrolle, S. 30 f. 189 Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 279; ders., Bundesverfassungsgerichtliche Kontrolle, S. 31 f. 190 Streinz, Bundesverfassungsgerichtliche Kontrolle, S. 32.
D. Einbeziehung europäischer Gemeinwohlinteressen
207
2. Europäische Gemeinwohlinteressen als relevanter Gesichtspunkt für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit des Mittels
Auch die zu der Verwirklichung dieses Zieles eingesetzten Mittel müßten auf ihre Verhältnismäßigkeit hin überprüft werden. Bei der Prüfung der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit des eingesetzten Mittels sei die Europäisierung des Regelungsgegenstandes zu berücksichtigen. 191 Die Überprüfung dieser Voraussetzungen setze Tatsachenfeststellungen voraus,192 die bei europäischen Regelungsmaterien eine europäische Dimension erhielten. Auf diesem Wege würden also europäische Belange in den Bewertungsvorgang einfließen. 193 Dabei könne die gemeinschaftsweite Dimension auch hier zu Bewertungen fUhren, die bei rein inlandsbezogenen Fällen nicht zu rechtfertigen wären. Auf diesem Wege werde den gemeinschaftsrechtlichen Belangen durch Einbeziehung in die deutsche Grundrechtsdogmatik Rechnung getragen, ohne die umfassende Grundrechtsbindung des Umsetzungsgesetzgebers zu durchbrechen. 3. Zulassungsbeschränkungen für Apotheker als Beispiel
Streinz verdeutlicht dies am Beispiel des Apothekenurteils 194 des Bundesverfassungsgerichtes. In dieser Entscheidung erklärte das Gericht die Zulassungsbeschränkung in Form der Bedürfnisprüfung gemäß Art.3 Abs. I des bayerischen Apothekengesetzes 195 in der Fassung vom 10. Dezember 1955 196 für "gegenwärtig" unzulässig, weil es - was die Entwicklung seither auch bestätigt habe _197 die tatsächlichen Voraussetzungen für eine Geflihrdung einer geordneten Arzneimittelversorgung und damit des überragend wichtigen Gemeinschaftsgutes Volksgesundheit für nicht gegeben erachtete. 198 Damit habe das Gericht aber gleichzeitig zu verstehen gegeben, daß bei einer veränderten Tatsachenlage eine Bedürfnisprüfung durchaus berechtigt sein könne. Eine derartige Veränderung der maßgeblichen tatsächlichen Umstände könne nach Ansicht von Streinz zum Beispiel dadurch eintreten, daß die Niederlas191 Streinz, in: HdbStR, Bd. VII, § 182 Rdnr. 41. 192Vgl. Starck, in: v. MangoldtIKleinlStarck, Art. 1 Abs. 3 Rdnr. 178 f. 193 Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 278 f. 194 BVerfUE 7, 377 ff.; vgl. auch OppennannIFleischmann, JuS 1972,527 ff. 195 Bayerisches GVBI. 1952, S. 181. 196 Bayerisches GVBI. 1955, S. 267. 197 Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 278. 198 BVerfUE 7, 377 (413 ff., 431).
208
Fünfter Teil: Lösungsansätze in der Literatur
sungsfreiheit für Apotheker im Gebiet der Europäischen Union gemäß Art. 52, 54 Abs. 2 und 57 Abs. 2 EG-Vertrag hergestellt würde. Selbst wenn die entsprechende gemeinschaftsrechtliche Bestimmung eine BedÜTfnispTÜfung nicht zwingend vorschreibe, sondern es in das Ermessen der Mitgliedstaaten stellen würde, ob sie eine solche einfUhren, könne dadurch ein Zustrom von Bewerbern aus Mitgliedstaaten mit BedürfnispTÜfung in die Bundesrepublik Deutschland ausgelöst werden. Das könnte in der Bundesrepublik dann tatsächlich zu der Gefahr der Überfilllung des Berufsstandes der Apotheker fUhren, was wegen der damit einhergehenden negativen Folgen rur die Volksgesundheit in der Bundesrepublik dann ebenfalls eine BedürfnispTÜfung rechtfertigen würde. Damit könnten ohne Dispensierung des Umsetzungsgesetzgebers von der Bindungswirkung des Art. lAbs. 3 GG im Rahmen der Kriterien der deutschen Grundrechtsdogmatik die europäischen Gemeinwohlerwägungen . k· beTÜc SICh· tlgt werden. 199 11. Bewertung des Lösungsansatzes durch die Literatur und eigene Bewertung Wenn der von Streinz zugrundegelegten Annahme, der Umsetzungsgesetzgeber bleibe an die Grundrechtsbestimmungen der Art. 1-19 GG gebunden, mit dem historischen Argument begegnet wird, die Mütter und Väter des Grundgesetzes hätten bereits bei der Schaffung des Art. 24 Abs. I GG die Funktionsfähigkeit der zwischenstaatlichen Einrichtung im Auge gehabt, welche grundrechtliche Kompromisse zwingend voraussetze,200 so stellt dies eine Verkürzung der Tatsachen dar. Zwar mag den Schöpfern der Vorschrift bewußt gewesen sein, daß der Grundrechtskatalog des Grundgesetzes einen besonders hohen Grundrechtsstandard markierte, der über die Gewährleistungen in den anderen Staaten, die rur ein "vereintes Europa" in Betracht kamen, hinausging. Ob den geistigen Urhebern dieser Norm jedoch von vornherein klar war, daß im Zuge der Gründung einer zwischenstaatlichen Einrichtung grundrechtliche Kompromisse zwingend erforderlich sind, läßt sich nicht belegen. Schließlich sollte die Einbindung in ein vereintes Europa gerade den Rückfall in einen totalitäten Staat verhindern. Was aber vermag totalitären Tendenzen stärker entgegenzuwirken als ein ausgeprägter Grundrechtsschutz des einzelnen? Ein Blick auf die Entstehungsgeschichte des EWG-Vertrages bestätigt, daß ein 199 Streinz,
Bundesverfassungsgerichtliche Kontrolle, S. 31 f. S. 221 f.
200 Kevekordes,
D. Einbeziehung europäischer Gemeinwohlinteressen
209
Verzicht auf den innerstaatlichen Grundrechtsstandard nicht von vornherein vorgesehen war. Die deutsche Delegation stellte nämlich gerade den Antrag, einen Vorbehalt zugunsten der nationalen Grundrechte in den Vertragstext aufzunehmen, was die übrigen Vertragspartner jedoch im Laufe der Verhandlungen ablehnten. 201 Die damalige Ablehnung ist aber nicht als endgültige Absage der Berücksichtigung nationaler Grundrechte zu verstehen, vielmehr sollten die ohnehin schwerfiilligen Vertragsverhandlungen nicht noch zusätzlich mit der Grundrechtsproblematik belastet werden. 202 Dieses Thema sollte nur vertagt werden. Darüber hinaus wurde bereits mehrfach erwähnt, daß das alleinige Abstellen auf den Aspekt der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaften nur um ihrer selbst willen, eine Einbuße an Grundrechtsgewährleistungen nicht zu rechtfertigen vermag. 203 Die insoweit gegen diesen Ansatz vorgebrachte Kritik kann also nicht überzeugen. Auch das von Tomuschat herangezogene Argument, unter dem Gesichtspunkt der Prozeßökonomie sei es "müßig", die Konformität eines jeden einzelnen Gemeinschaftsaktes mit den Grundrechten des Grundgesetzes zu bestätigen, selbst wenn ein Auseinanderfallen für den Betroffenen im Einzelfall auch schmerzlich sein möge,204 ist nicht stichhaltig. Grundrechte sind subjektive Individualrechte und es kommt für den Tatbestand einer Grundrechtsverletzung naturgemäß nicht darauf an, ob über die Person des einzelnen hinaus auch andere grundrechtlich beschwert sind oder ein generelles Grundrechtsdefizit zu beklagen ist. 205 Daher besteht der Vorteil der von Streinz vorgetragenen Lösung gerade darin, in jedem Einzelfall eine sachliche Rechtfertigung des Grundrechtseingriffes für erforderlich zu halten und eben nicht durch die pauschale Berufung auf die europäische Integration eine generelle Relativierung der Grundrechtsbindung zu ermöglichen. Bestätigt wird dieser Ansatz auch vom Bundesverfassungsgericht, wenn es im "Solange II"-Beschluß ausführt: "Im Hinblick auf die in den Gemeinschaftsverträgen niedergelegten Zielsetzungen, die ihrerseits mit dem Grundgesetz vereinbar sind, werden sich in diesem Zusammenhang Abwägungsfragen mit den Vertrags- und Gemeinwohlzielen stellen, wie sie sich in dieser Art und Weise auf der mitgliedstaatlichen Rechtsebene jedenfalls nicht unmittelbar ergeben. Auch die vom Grundgesetz verbürgten Grundrechte stehen im Gefüge Schlenzka, S. 198. Vgl. Ausfilhrungen unter 2. Teil. A. 203 Vgl. Ausfilhrungen unter 5. Teil A. I. 204 Tomuschat, DÖV 1990,672 (673). 205 Vgl. auch Scholz, in: FriaufiScholz, 53 (83 f.); siehe auch oben unter 4. Teil B. 11 2. 201
202
14 Rickert
210
Fünfter Teil: Lösungsansätze in der Literatur
der Verfassung als einer nonnativen Sinneinheit und sind demgemäß im Einklang und in Abstimmung mit anderen von der Verfassung nonnierten oder von ihr anerkannten Rechtsgütern auszulegen und anzuwenden. Dazu gehört auch das Bekenntnis in der Präambel des Grundgesetzes zu einem vereinten Europa und zu den über Art. 24 Abs. I GG ennöglichten besonderen Fonnen supranationaler Zusammenarbeit. Von Grundgesetzes wegen sind damit auch Regelungen auf der Ebene der Gemeinschaft ennöglicht, welche die Grundrechte im Einklang mit den Zielen und besonderen Strukturen der Gemeinschaft wahren. ,,206 Wenn die These von der "Relativierung" der Grundrechtsbindung durch die Einbeziehung von Gemeinschaftsbelangen im Rahmen der VerhältnismäßigkeitsprUfung aus diesem Grunde zwar durchaus begrüßenswert ist, so vennag sie das vorhandene Konfliktpotential doch nicht gänzlich zu beseitigen. Denn die Erweiterung der Einschränkungsmöglichkeiten durch die Einbeziehung der jeweils verfolgten Gemeinschaftsbelange in die Verhältnismäßigkeitsprüfung versagt dort, wo es um die Grenzziehung im Bereich des Schutzbereiches eines Grundrechtes geht. Über Diskrepanzen zwischen gemeinschaftsrechtlichem und nationalem Grundrechtsstandard bei der Bestimmung der Reichweite des Schutzbereiches eines Grundrechtes kann dieser Ansatz nämlich nicht hinweghelfen, weil er erst im zweiten Schritt der Grundrechtsprüfung ansetzt, nämlich bei der Überprüfung der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung eines Eingriffes in den Schutzbereich. So wäre beispielsweise im Fall Hoechst, in dem der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Geschäftsräume - abweichend von der deutschen Grundrechtsordnung - aus dem Schutzbereich der Unverletzlichkeit der Wohnung ausgeklammert hat,207 die Konfliktlage zwischen gemeinschaftsrechtlichem und grundgesetzlichem Grundrechtsstandard nicht über den von Streinz vorgeschlagenen Weg zu überwinden gewesen, wenn eine Richtlinie zugrundegelegen hätte. Außerdem berücksichtigt dieser Ansatz nur die infolge der Europäisierung der jeweiligen Materie bedingten Änderungen in der tatsächlichen Bewertung; liegt das Auseinderfallen von gemeinschaftsrechtlichem und innerstaatlichem Grundrechtsniveau aber in rechtlich divergierenden Bewertungen, also in der Grundrechtsdogmatik begründet, zum Beispiel weil der Europäische Gerichtshof Gemeinschaftsinteressen auch dann, wenn sie keine gemeinschaftsrechtliche Verankerung erfahren haben, zu der Rechtfertigung von
206
BVerfDE 73, 339 (386). Ausfllhrungen oben unter 2. Teil B. I.
207 Vgl.
E. Kein Vorrang indirekten Gemeinschaftsrechts
211
Grundrechtseingriffen heranzieht, 208 bietet dieser Ansatz ebenfalls keine Lösung.
E. Kein Vorrang indirekten Gemeinschaftsrechts Einen noch grundrechtsfreundlicheren Standpunkt als Streinz vertritt Di Fabio: Er fordert eine uneingeschränkte Befolgung der Verfassungs- und damit der Grundrechtsbindung, was auf einen Vorrang der nationalen Grundrechte vor gemeinschaftsrechtlichen Richtlinienvorgaben hinausläuft. Die Übertragung der Grundsätze der "Solange II"-Entscheidung auf das Rechtsetzungsinstrument der Richtlinie, wie sie von einer starken Strömung in der Literatur vertreten wird/ 09 lehnt er zu Recht ab. Das Bundesverfassungsgericht habe das Verhältnis der europäischen und der innerstaatlichen Rechtsordnung nicht materiell, sondern vielmehr prozessual bestimmt. 2lO Darüber hinaus betreffe der Beschluß nur die Rechtskontrolle von unmittelbar in den Mitgliedstaaten geltendem EG-Recht am Maßstab der Grundrechte. Die anband der unmittelbar wirkenden Verordnung entwickelten Grundsätze seien jedoch nicht auf das nur mittelbare Geltung beanspruchende Rechtsetzungsinstrument der Richtlinie übertragbar. 21l Adressat der jeweiligen Richtlinie sei der Mitgliedstaat als solcher, dem infolge der Zweistufigkeit des Rechtsetzungsverfahrens Gestaltungsspielraum fiir die innerstaatliche Umsetzung verbleiben solle. Nur hinsichtlich des Zieles erzeuge die betreffende Richtlinie Verbindlichkeit fiir den Mitgliedstaat, nur so weit könne somit auch der Vorrang des Gemeinschaftsrechtes reichen. Wenn aber der Gestaltungsspielraum, der dem nationalen Gesetzgeber bei der innerstaatlichen Umsetzung zu der Berücksichtigung nationaler Besonderheiten wie beispielsweise besonderer Grundrechtsanforderungen verbleiben solle, faktisch durch die Regelungsdichte der Richtlinien beseitigt werde, entspreche das nicht mehr den Vorgaben des EWG- beziehungsweise des EG-Vertrages. Dies habe zur Folge, den Unterschied zwischen nur mittelbar wirkender Richtlinie und unmittelbar geltender EG-Verordnung unzulässigerweise zu verwischen. Diese "vertragswidrige" Gleichsetzung beider Rechtsetzungsinstrumente könne aber keine Gleichbehandlung hinsichtlich der Vorrangfrage bewirken. 212 208 Ygl. oben unter 2. Teil A. II. 209Ygl. soeben unter 5. Teil A. 210 Di Fabio, NJW 1990,947; vgl. auch Ausfilhrungen unter 4. Teil B. II. 1. 211 Di Fabio, NJW 1990,947 f.; so offenbar auch Blumenwitz, NJW 1989,621 (625 f.). 212Di Fabio, NJW 1990,947 (951). 14'
212
Fünfter Teil: Lösungsansätze in der Literatur
Würde man nämlich einen unbedingten Vorrang auch von Richtlinien gegenüber nationalem Verfassungsrecht annehmen, so müßten die Verfassungsbestimmungen des Grundgesetzes im Ergebnis richtlinienkonform ausgelegt werden. Dies würde aber eine Einordnung des Gemeinschaftsrechtes in der Normenhierarchie über dem nationalen Verfassungsrecht voraussetzen. Diese Prämisse wiederlegt Di Fabio: Der Rang einer Rechtsnorm richte sich nach der Autorität, welche die Rechtsnorm gesetzt habe. Im Bereich des Staates bestimme das Verfassungsrecht die Höhe der Autorität. 213 Da aber die im Ministerrat agierenden Regierungsvertreter, die in der Regel von ihren nationalen Parlamenten abhängig seien, keine höherrangige demokratisch legitimierte Autorität als die nationalen Parlamente filr sich in Anspruch nehmen könnten und auch nicht durch die Verfassungen mit höherrangiger Autorität ausgestattet seien, liege die filr den Vorrang erforderliche Normenhierarchie nicht vor?14 In letzter Konsequenz verlangt Di Fabio von dem nationalen Umsetzungsgesetzgeber, sich dem gemeinschaftsrechtlichen Umsetzungsbefehl auch im Wege des "nationalen Alleinganges" zu widersetzen. Wenn der Gesetzgeber die Richtlinie nicht "korrekt" umgesetzt habe, dürfe sich auch der nationale Richter darüber nicht nicht im Wege richtlinienkonformer Auslegung der jeweiligen Norm hinwegsetzen, sondern müsse vielmehr den Willen des innerstaatlichen Gesetzgebers respektieren. 21S Allerdings, so gesteht Di Fabio zu, könne eine eigenwillige Umsetzung durch den nationalen Gesetzgeber zu der verfassungsrechtlich prekären Situation filhren, daß die nationalen Gerichte dem Gesetzgeber unter Hinweis auf die betreffende EG-Richtlinie ihre Gefolgschaft verweigern. Demnach könnten Parlamentsgesetze beziehungsweise deren Beachtung nicht mehr im Wege des gerichtlichen Verfahrens durchgesetzt werden. Die Gesetzesbindung der Judikative wäre damit dem Parlament gegenüber durchbrochen, was letztlich zu einer Außerkraftsetzung von Art. 20 Abs. 3 GG führen würde. In diesem Fall wäre dann allerdings die Grenze des Art. 79 Abs. 3 GG und folglich auch die Grenze der zulässigen Integration überschritten. Darüber hinaus sei offensichtlich, daß sich ein Richter, der so vorginge, Legislativbefugnisse anmaßen würde, obwohl die rechtsprechende Gewalt gemäß Art. 20 Abs. 3 GG an das Gesetz, wie es der Gesetzgeber vorgebe, gebunden sei.
So auch Schneider, in: Kutscher-FS, S. 385. 1990,947 (951). 215 So auch Dänzer-Vanotti, RIW 1991,754. 213
214NJW
E. Kein Vorrang indirekten Gemeinschaftsrechts
213
Soweit Di Fabio sich im Rahmen seiner Kritik auf Erwägungen der Gewaltenteilung, insbesondere die Verwaisung der nationalen Parlamente stützt, verdient er uneingeschränkte Zustimmung. Den Mitgliedstaaten sind durch die beschriebene Entwicklung der Verwendung von Richtlinien weitreichende Legislativbefugnisse entzogen worden, so daß die gemeinschaftsrechtliche Rechtsetzung durch Richtlinien letztlich "entparlamentarisiert" worden ist. Da die Mitgliedstaaten an die gemeinschaftsrechtlichen Richtlinienvorgaben gebunden sind, laufen die nationalen parlamentarischen Befugnisse leer. Durch den formalen Umsetzungsakt der nationalen Parlamente werden die gemeinschaftsrechtlichen Normativakte lediglich mit dem nationalen "Deckmantel" demokratischer Legitimation versehen. 216 Tatsächlich verkommen die innerstaatlichen Parlamente aufgrund der Regelungsintensität der Richtlinien zu "Befehlsempfllngem" des Rates. 217 Insoweit ist der Appell Di Fabios, die Richtlinien entsprechend ihrer Konzeption nach dem EG-Vertrag zu verwenden, um den Umsetzungsakt des nationalen Gesetzgebers nicht seiner Funktion zu berauben, berechtigt.218 Trotz dieser berechtigten Kritik an der derzeitigen Verwendung der Richtlinie ist Di Fabio vorzuwerfen, sich nicht um den schonendsten Ausgleich zwischen der letzten Endes auf Art. 24 Abs. 1,23 und die Präambel des Grundgesetzes gegründeten gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtung einerseits und der Bindungswirkung des Art. 1 Abs. 3 GG andererseits zu bemühen, da sein Ansatz eine Alles-oder-Nichts-Lösung darstellt. Er fUhrt nämlich dazu, eine Richtlinie generell innerstaatlich zu verwerfen, wenn sie grundrechtswidrige Bestimmungen enthält. Eine solche Konfliktlösung einseitig aus der Perspektive des nationalen Verfassungsrechtes, ohne die Wertentscheidung des Verfassungsgebers zugunsten der europäischen Integration zu berücksichtigen, ist aber mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der praktischen Konkordanl l9 nicht zu vereinbaren; dieser verlangt nämlich eine Abwägung beider widerstreitender Komponenten. Bei nunmehr fUnfzehn Mitgliedstaaten könnte eine derartige "Blockadepolitik", wie sie nach dem Ansatz Di Fabios möglich wäre, langfristig tatsächlich zu einer Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft fUhren. Eine gewisse "Grundrechtsintrovertiertheit" der Forderung Di Fabios ist daher nicht von der Hand zu weisen.
216 Pieper, in: B1eckmann-FS, 197 (203 f.). 217 Bleckmann, ZParl. 1991, 572. 218 Vgl. ausfllhrlich hierzu die Ausfllhrungen sogleich unter 6. Teil A. 219Vgl. Hesse, Rdnr. 317. Siehe auch unten unter 6. Teil B.lI. l. b).
214
Fünfter Teil: Lösungsansätze in der Literatur
F. Zusammenfassung der Lösungsansätze im Schrifttum Abschließend ist somit festzuhalten: Um das grundrechtliche Konfliktpotenti al von vornherein zu verringern, müssen schon bei der Entstehung mittelbar wirkenden sekundären Gemeinschaftsrechtes die nationalen Grundrechtsanforderungen beachtet werden. Bereits bei der Verabschiedung einer Richtlinie im Rat muß der strikt an die nationale Grundrechtsordnung gebundene deutsche Abgesandte auf möglichst grundrechtskonforme Richtlinieninhalte drängen und grundrechtswidrige Bestimmungen zu verhindern suchen. Bei der Überprüfung der Grundrechtskonformität ist den deutschen Umsetzungsorganen allerdings ein veränderter Prüfungsmaßstab an die Hand zu geben: Die Europäisierung des Regelungsgegenstandes muß im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit eines Grundrechtseingriffes berücksichtigt werden. Da sich dennoch nicht verhindern läßt, daß Bestimmungen einer Richtlinie zwar gemeinschaftsrechtskonform, aber gemessen an dem innerstaatlichen Grundrechtsniveau grundrechtswidrig sind, sind die deutschen Staatsorgane aufgerufen, sich auf dem politischen Verhandlungswege um eine nachträgliche Beseitigung der Kollision durch Abänderung des Richtlinieninhaltes zu bemühen. Die aufgezeigten Ansätze bieten isoliert betrachtet keine zufriedenstellende Lösung der Kollision. Da auch die Erfolgsaussichten ihrer kumulativen Anwendung nicht sonderlich groß sind, kann der Umsetzungsgesetzgeber dennoch in die Situation kommen, eine Richtlinie in deutsches Recht transformieren zu müssen, die zwar gemeinschaftsrechtlich betrachtet grundrechtskonform ist, den deutschen Grundrechtsanforderungen aber nicht genügt. Die Bestimmung der Reichweite der Umsetzungsverpflichtung in diesen Fällen ist daher eine nach wie vor zu lösende Aufgabe.
Sechster Teil
Eigener Lösungsansatz A. Eindämmung des Konfliktpotentials Um einen Konflikt lösen zu können, sind zunächst die Ursachen rur seine Entstehung zu ermitteln. Anband der Offenlegung der Ursachen, die zu der Zuspitzung der Grundrechtsproblematik zwischen Gemeinschaftsebene und nationaler Ebene im Bereich der Richtliniengesetzgebung gefiihrt haben, soll geprüft werden, ob der EG-Vertrag selbst nicht schon Möglichkeiten zur Verftlgung stellt, das Konfliktpotential einzudämmen.
I. Erster Ansatzpunkt: Ausuferung der Richtliniensetzung Vor allem die Flut l der hauptsächlich vom Ministerrat erlassenen Richtlinien und das Vordringen in neue - zum Teil auch besonders grundrechtssensible Regelungsbereiche hat zu einer erheblichen Steigerung der Wahrscheinlichkeit von Grundrechtskollisionen geführt. Nicht nur aus der Perspektive der betroffenen Grundrechtsträger, sondern auch aus der Sicht der nationalen Parlamente scheint die Zahl der erlassenen Richtlinien eine Überforderung darzustellen. Die Mitgliedstaaten sind nämlich nicht mehr in der Lage, ihrer Verpflichtung zur Transformation des Richtlinieninhaltes in die nationale Rechtsordnung frist- und formgerecht nachzukommen. 1. Überforderung bei der Umsetzung
Die innerstaatliche Umsetzung hat innerhalb der in der jeweiligen Richtlinie bestimmten Frist zu erfolgen. 2 Obwohl die Mitgliedstaaten im Rat selbst über
I Stein, in: Die Subsidiaritllt Europas, 23 (24), spricht von der "BrOsseier Regelungswut"; so auch Gündisch, AnwBI. 1993,590; Pieper, Subsidiaritllt, S. 267, von "Normenhunger". 2 Wenn in der betreffenden Richtlinie keine Frist festgelegt ist, tritt sie am zwanzigsten Tag nach ihrer Veröffentlichung in Kraft, sofern es sich um eine an alle Mitgliedstaaten gerichtete Richtlinie
216
Sechster Teil: Eigener Lösungsansatz
die Länge der Umsetzungsfrist befinden und die Tendenz dahin geht, die Fristen tUr die Umsetzung der Richtlinien immer länger anzusetzen, verzögert sich die innerstaatliche Umsetzung immer häufiger. 3 Kaum noch eine Richtlinie wird in sämtlichen Mitgliedstaaten fristgemäß umgesetzt. So sind im Jahre 1991 beispielsweise 174 Umsetzungsfristen mißachtet worden. 4 Hierbei sind Fristversäumnisse von 5 bis 10 Jahren keine Seltenheit. 5 Insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland macht sich diese Tendenz bemerkbar: Sie hinkte bis Ende November 1994 mit der Transformation von nahezu einem Fünftel der umzusetzenden EG-Richtlinien nach; nur Griechenland hatte einen noch größeren Nachholbedarf. 6 So ist beispielsweise die am 27. Juni 1985 verabschiedete Richtlinie des Rates vom 27. Juni 1985 über die UmweltverträglichkeitspTÜfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten7, die bis zum 3. Juli 1988 in nationales Recht umzusetzen war, 8 erst am 1. August 1990 mit über zweijähriger Verspätung in Form des "Gesetzes über die Umweltverträglichkeit" (UVPG)9 in der Bundesrepublik in Kraft getreten. Als eine Ursache für diese Entwicklung kann sicherlich angetUhrt werden, daß angesichts der Überlastung der nationalen Parlamente und der Ministerien das innerstaatliche Rechtsetzungsverfahren erheblich mehr Zeit in Anspruch nimmt als früher. Eine weitere, bedeutsamere Ursache ist aber, daß die im Ministerrat mit dem Richtlinienerlaß betrauten Regierungen integrationsbereiter sind als die nationalen Parlamente. Diese versuchen, im Rahmen des Umsetzungsverfahrens ihre politischen Überzeugungen durchzusetzen. Verbleiben ihnen jedoch wegen der Regelungsintensität der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben keine Einwirkungsmöglichkeiten, so verweigern sie ihre Mitwirkung bei der Umsetzung. Die Mitgliedstaaten versuchen auf diese Weise, den Richtlinienwirkungen zu entgehen. lo Die Konsequenz ist eine immer längere Zeithandelt (Art. 191 Abs. 2 EG-Vertrag). Ansonsten wird sie mit Bekanntgabe an denjenigen, rur den sie bestimmt ist, wirksam (Art. 191 Abs. 3 EG-Vertrag). 3 Hilf, EuR 1993, I (8); Bleckmann, ZParl. 1991, 572 (575); Pieper, DVBI. 1990, 684 (685); Ewert, RlW 1993, 88 I (882); Furrer, S. 70; Hauschild, in: Europäische Integration und nationalstaatliche Verwaltung, 155 (163). 4 Hilf, EuR 1993, I (8). 5 Oppermann, EuropaR, Rdnr. 457. 6 NJW Wochenspiegel, NJW 1994 Heft I, S. XXIX. 7 AbIEGNr. L 175 v. 5.7.1985, S. 40 f1 8 Vgl. Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie. 9 BGBI. I v. 12.2.1990, S. 205 tr. 10 SteinberglKlößner, BayVBI. 1994,33 (35); Pieper, DVBI. 1990,684 (685); Hilf, EuR 1993, I (3); Beyerlin, EuR 1987, 126; Bleckmann, EuropaR, Rdnr. 148; Schuster, S.28; Bömer, in: Kegel-FS, 57 (67).
A. Eindämmung des Konfliktpotentials
217
spanne zwischen Richtlinienerlaß und nationaler Umsetzung. Im Extremfall fUhrt das sogar dazu, daß eine Richtlinie im EG-Ministerrat zwar von den Regierungsvertretern beschlossen wird, wegen fehlender nationaler Rückkoppelung der Abgesandten aber gar nicht umgesetzt wird, weil die zur Umsetzung berufenen Gesetz- und Verordnungsgeber auf diesem Wege ihren politischen Einfluß wahren wollen. Neben der fristgerechten Umsetzung stellt sich ferner das Problem der unvollständigen beziehungsweise fehlerhaften Umsetzung, welche fUr die Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechtes ebenso schädlich ist wie die Nichtumsetzung. Die inhaltlichen Umsetzungsdefizite können zwar sehr vielfliltige Ursachen haben. Sie können beispielsweise ganz banal auf Übersetzungsproblemen basieren. I I Es ist aber nicht von der Hand zu weisen, daß sich das nationale Parlament häufig auch absichtlich von den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben entfernt, um den Inhalt entsprechend den eigenen Vorstellungen zu modifizieren. Auch daran wird deutlich, daß die mitgliedstaatlichen Parlamente nicht gewillt sind, sich dem Diktat des Exekutivorgans Rat bedingungslos zu beugen. Weigern sich die nationalen Rechtsetzungsorgane die 'Richtlinien fristgemäß und korrekt umzusetzen, so resultiert daraus eine wachsende Zahl von Klagen der Kommission vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften. 12 Im Jahre 1991 hat die Kommission beispielsweise bei insgesamt 354 registrierten Verstößen gegen Richtlinien 162 Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet und 55 Klagen vor dem Gerichtshof erhoben. 13 Auch der innerstaatlichen Umsetzung der eben erwähnten UVP-Richtlinie ist ein solches Vertragsverletzungsverfahren vorausgegangen. Im Rahmen dieser Vertragsverletzungsverfahren hat der Gerichtshof regelmäßig betont, die nationalen Rechtsetzungsorgane könnten sich im Außenverhältnis zur Gemeinschaft weder auf die Schwerfälligkeit des nationalen Gesetzgebungsverfahrens, noch auf die fehlende Akzeptanz und Kooperationsbereitschaft der innerstaatlich zuständigen Umsetzungsorgane oder das Bestehen einer Regierungskrise berufen. 14 Da sich die Wirkun11 Vgl. Everling, NVwZ 1993,209 (213); Hauschild, in: Europäische Integration und nationalstaatliehe Verwaltung, 155 (162). 12 47. Bericht der BReg über die Integration der Bundesrepublik Deutschland in die EG, BTDrucks. 12/217 v. 11.3.1991, S. 16, Ziff. 54 f.; Herber, EuZW 1991,401 (402 f.); Bleckmann, ZParl. 1991,572 (575); Beyerlin, EuR 1987,126. 13 Hilf, EuR 1993, I (17). 14 StRspr. des EuGH: vgl. etwa EuGH Rs. 42/80, Sig. 1980, 3635 (3639 f.) - Kommission/Italien; Rs. 43/80, Sig. 1980, 3643 (3647 f.) - KommissionlItaiien; Rs. '140178, Sig. 1980, 3687 (3698 f.) - KommissionlItaiien; Rs. 44/80, Sig. 1981, 343 (347) - Kommission/Italien; Rs.45/80, Sig. 1981, 353 (357 f.) - Kommission/Italien; Rs. 133/80, Sig. 1981, 457 (462) -
218
Sechster Teil: Eigener Lösungsansatz
gen der Vertragsverletzungsverfahren aber in der Erzeugung politischen Drucks zu gemeinschaftskonfonnem Verhalten erschöpften, sind auch die Urteile des Gerichtshofes in zunehmendem Maße nicht mehr vollzogen worden. 15 Als Reaktion auf die geringe Effektivität der Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 169 EG-Vertrag hat der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften die unmittelbare Wirkung von Richtlinien entwickelt. 16 Voraussetzung hierfür ist, daß eine Richtlinie so detaillierte Vorgaben enthält, daß der Bürger daraus unmittelbar Rechte ableiten kann und die dem Mitgliedstaat eingeräumte Umsetzungsfrist abgelaufen ist, ohne daß die innerstaatlichen Umsetzungsorgane (hinlänglich) tätig geworden sind. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes können allerdings nur den Bürger begünstigende, nicht hingegen belastende Richtlinienbestimmungen unmittelbare Wirkung entfalten. 17 Demnach hätte die unmittelbare Wirkung von Richtlinien für den hier relevanten Grundrechtsbereich keinerlei Bedeutung, weil Grundrechtseingriffe aufgrund der Direktwirkung von Richtlinien ausgeschlossen wären. Hierbei ist aber zu berücksichtigen, daß Regelungen, die für den einen Grundrechtsträger begünstigend, also freiheitserweitemd wirken, regelmäßig für einen anderen Grundrechtsträger freiheitsbeschränkende Wirkung haben. Gerade im Bereich des Umweltrechtes ist diese Konstellation an der Tagesordnung. Wenn beispielsweise ein Anlagenbetreiber unter unmittelbarer Berufung auf eine Richtlinie eine Anlagenzulassung unter geringeren nachbarschützenden Auflagen begehrt, als sie das nationale Recht vorsieht, so führt eine Genehmigung der Anlage im Sinne des Antrages zu einer Drittbelastung. Noch problematischer gestaltet sich der Fall, wenn sich bei Zulassung einer emittierenden Anlage ein betroffener Nachbar gegenüber der Genehmigungsbehörde auf eine nicht umgesetzte Richtlinie beruft, welche ihm ein höheres Schutzniveau gewährt als das inner-
KommissionlItalien; Rs. 171/80, Sig. 1981, 465 (469 f.) - KommissionlItalien; Rs. 72/81, Sig. 1982, 183 (187) - KommissionlBelgien; Rs. 73/81, Sig. 1982, 189 (193 f.) - Kommission/Belgien; Rs. 273/82, Slg. 1983, 3075 (3079) - Kommission/Italien. Vgl. auch Streinz, in: HdbStR, Bd VII, § 182 Rdnr. 13; Wägenbaur, ZG 1988,303 (309). 15 Vgl. beispielsweise den Siebten Jahresbericht der Kommission an das Europäische Parlament Ober die Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts, EuZW 1991, 194 f. 16 StRspr. seit EuGH Rs. 9/70, Slg. 1970, 825 (838) - Grad/FA Traunstein beziehungsweise EuGH Rs. 41/74, Sig. 1974, 1337 (1348) - Yvonne van DuynIHome Office. 17 EuGH Rs. 152/84, Sig. 1986, 723 (748 f.) - Marshali; verbundene Rs. 372 bis 374/85, Sig. 1987,2141 (2159) - Oscar Traen; Rs. 80/86, Sig. 1987,3969 (3985) - Ko1pinghuis Nijmegen BV; Rs. C-I06/89, Sig. 1990,1-4135 (4158 f.) - Marleasing.
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219
staatliche Recht. 18 In dieser Konstellation wäre eine unmittelbare Wirkung zugunsten des durch die Richtlinie Begünstigten zwar zu bejahen, im Hinblick auf den nachteilig Betroffenen allerdings abzulehnen. Wie in diesem Fall ein effektiver Grundrechtsschutz gewährt werden soll, ist bislang ebenfalls noch nicht geklärt. 19 Um der ständig fortschreitenden Tendenz unzulänglicher Umsetzung entgegenzuwirken, hat der Europäische Gerichtshof schließlich einen gemeinschaftsrechtlich begründeten Haftungsanspruch für Individuen gegenüber den Mitgliedstaaten für Schäden, die aus der fehlerhaften Umsetzung von Richtlinien entstanden sind, entwickelt. 20 Voraussetzung für einen solchen Anspruch ist, daß die Richtlinie dem einzelnen Rechtspositionen verleiht, also "selfexecuting" ist, der Inhalt dieses Rechtes konkretisiert werden kann und ein Kausalzusammenhang zwischen dem Verstoß gegen die Umsetzungsverpflichtung und den dem Marktbürger entstandenen Schäden besteht. 21 Nunmehr sieht der EG-Vertrag in Art. 171 Abs. 2 auch die Möglichkeit von Zwangsmaßnahmen des Gerichtshofes gegen den säumigen Mitgliedstaat vor. Ob damit allerdings die Umsetzungsmoral der Mitgliedstaaten entscheidend verbessert werden kann, bleibt abzuwarten. Die diesbezüglichen Prognosen im Schrifttum sind eher kritisch. 22 Jedenfalls zeigt allein die Erforderlichkeit, auf derartige Sanktionen zurückgreifen zu müssen, daß die Richtliniengesetzgebung in ihrer praktischen Ausführung erhebliche Defizite aufweist. Dies bestätigt auch die Erklärung der Mitgliedstaaten "zur Anwendung des Gemeinschaftsrechts", die in die Schlußakte zum Unionsvertrag von Maastricht aufgenommen worden ist, wonach es "für die innere Geschlossenheit und die Einheit des europäischen Autbauwerks von wesentlicher Bedeutung ist, daß jeder Mitgliedstaat die an ihn gerichteten Richtlinien der Gemeinschaft innerhalb der darin festgesetzten Fristen vollständig und getreu in innerstaatliches Recht umsetzt ... (und es) für die reibungslose Arbeit der Gemeinschaft von wesentlicher Bedeutung ist, daß die in den einzelnen Mitgliedstaaten getroffenen Maßnahmen dazu führen, daß das Gemeinschaftsrecht dort mit gleicher 18 Langenfeld, DÖV 1992, 955 (960); dies., in: Europäische Integration und nationaIstaatliche Verwaltung, 173 (177 Fn. 21). 19 So auch Kaiser und Kirchhof nach Niedobitek, in: Föderalismus und EG, S. 129. 20 EuGH verbundene Rs. C-6 und 9/90, Slg. 1991,1-5357 ff. - Francovich; verbundene Rs. C46/93 und C-48/93, EuZW 1996, 205 ff. - Brasserie du Pecheur/Factortame I1I; Rs. C-392/93, EuZW 1996, 274 ff. - British Telecommunications. 21 EuGH verbundene Rs. 6 und 9/90, Slg. 1991,1-5357 ff. - Francovich; Hailbronner, JZ 1992, 284 (288); Streinz, in: HdbStR, Bd. VII, § 182 Rdnr. 16. 22 Ewert, RIW 1993,881 (882); Hilf, EuR 1993,1 (20).
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Sechster Teil: Eigener Lösungsansatz
Wirksamkeit und Strenge Anwendung findet, wie dies bei der Durchfiihrung der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften der Fall ist".23 2. Konterkarierung des erstrebten Zieles
Ein Beispiel par excellence fiir die katastrophale Umsetzungsbereitschaft der Mitgliedstaaten stellt die Richtlinie 90/128 EWG über Materialien und Gegenstände aus Kunststoff, die mit Lebensmitteln in Berührung kommen, dar. Bis auf Luxemburg hatten es die übrigen elf Mitgliedstaaten versäumt, diese Richtlinie fristgerecht umzusetzen. 24 In einem solchen Extremfall drängt sich schon die Frage auf, ob es dem einen Mitgliedstaat nicht zum wettbewerbsmäßigen Nachteil gereicht, wenn er sich gemeinschaftskonform verhält und die Richtlinie rechtzeitig umsetzt. 25 In solchen Fällen verkehrt sich die mit dem Richtlinienerlaß intendierte Rechtsvereinheitlichung gleichsam ins Gegenteil: Statt der Rechtsvereinheitlichung zu dienen, bewirkt der ausgedehnte Richtlinienerlaß völlig unterschiedliche Regelungen der betroffenen Materie in den einzelnen Mitgliedstaaten, wenn Richtlinien nur ganz vereinzelt umgesetzt werden. Die Überforderung der Mitgliedstaaten bei der Richtliniengesetzgebung birgt dann die Gefahr der Rechtszersplitterung der Gemeinschaftsrechtsordnung in sich. 26 Gravierende Wettbewerbsverzerrungen fiir die Betroffenen sind die Folge dieser Entwicklung. 27 So sprengt es beispielsweise im Bereich des Umweltrechtes die Einheit des Gemeinschaftsrechtes und den Zusammenhalt der Gemeinschaft, wenn Umweltstandards fiir bestimmte Produkte oder Abfall oder für Emissionen im Widerspruch zu den Vorgaben der jeweiligen Richtlinien nicht mit gleicher Wirksamkeit in den einzelnen Mitgliedstaaten durchgesetzt werden. "Umweltdumping" und möglicherweise sogar einseitige Schutzmaßnahmen anderer Mitgliedstaaten sind die Folge. 28
23 AbIEGNr. C 191 v. 29.7.1992, S. 102. 24 Vgl. den Neunten Jahresbericht der Kommission
an das Europäische Parlament Ober die Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts, AblEG Nr. C 250 v. 28.9.1992, S. 111; Hilf, EuR 1993, 1 (8). 25 Vgl. EuGH Rs. 52/75, Slg. 1976,277 (284) - KommissionlItaJien; Hilf, EuR 1993, 1 (8). 26 Hilf, EuR 1993, 1 (8); Bömer, in: Kegel-FS, 57 (67). 27 Hailbronner, JZ 1992, 284 (285); Pemice, EuR 1994, 325 (326); Streinz, EuropaR, Rdnr. 386; vgl. auch dens., HdbStR, Bd. VII, § 182 Rdnr. 4; siehe auch die soeben erwähnte Erklärung der Regierungskonferenz zur Anwendung des Gemeinschaftsrechts, die der Schlußakte von Maastricht beigefUgt ist, AblEG Nr. C 191 v. 29.7.1992, S. 102. 28 Pemice, EuR 1994, 325 (326).
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3. Überprüfung der Erforderlichkeit des Richtlinienerlasses
Angesichts dieser Entwicklung ist es sowohl verfassungsrechtlich als integrationspolitisch geboten, die Frage nach der Notwendigkeit einer solchen Vielzahl von Richtlinien zu stellen. Es drängt sich der Gedanke der Übernormierung seitens der Gemeinschaft auf. Hier wird die Einfügung des Grundsatzes der Subsidiarität in den EG-Vertrag relevant. Über Art. 189 Abs. 1 EGVertrag, wonach die Rechtsetzungsorgane der Gemeinschaft Richtlinien "nach Maßgabe dieses Vertrages" erlassen, wirkt das Subsidiaritätsprinzip des Art. 3 b Abs. 2 EG-Vertrag auch auf den Erlaß von Richtlinien ein. Die Gemeinschaftsorgane, damit auch der Rat als Hauptrechtsetzungsorgan, sind auch beim Erlaß von Richtlinien zur Beachtung des Subsidiaritätsprinzips verpflichtet. Dies ist auch in einer Erklärung und einer interinstitutionellen Vereinbarung29 festgeschrieben, welche das Europäische Parlament, der Rat und die Kommission am 29. Oktober 1993 unterzeichneten. Wenn Art. 3 b Abs. 2 EGVertrag bestimmt, die Gemeinschaft werde nur tätig, "sofern30 und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können", so wird auch der Richtliniengesetzgeber ermahnt, bei Verabschiedung jeder einzelnen Richtlinienbestimmung zu prüfen, ob es überhaupt erforderlich ist, einen bestimmten Regelungsgegenstand gemeinschaftsrechtlich anzugehen. a) Keine ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft
Die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips setzt allerdings zunächst voraus, daß es sich bei der zu regelnden Materie nicht um einen Bereich handelt, der in die ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft fällt. Anders als in den Katalogzuweisungen des Grundgesetzes sind die Kompetenzen im Gemeinschaftsrecht nicht enumerativ aufgelistet. Erst recht findet sich keine Definition der "ausschließlichen Zuständigkeit". Die Kompetenzen der Gemeinschaft sind zum Teil in den sogenannten Einzelermächtigungen31 konkret nach Regelungsgegenständen und zum Teil in den sogenannten allgemeinen Ermächtigungen32 abstrakt ohne Angabe von Sachgebieten geregelt. Insgesamt wird die KompeAbgedr. in: EuGRZ 1993, 603 f. Hervorhebung der Verfasserin. 31 Vgl. zum Beispiel die Art. 28; 51;.54 Abs. 3lit. g; 69; 99; 103 Abs. 2, 3 und 4 EG-Vertrag. 32 Vgl. zum Beispiel die Art. 100, 100 a, 101 EG-Vertrag. 29
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Sechster Teil: Eigener Lösungsansatz
tenzstruktur des EG-Vertrages also durch das Prinzip der begrenzten Ermächtigung bestimmt. 33 Folglich darf die Gemeinschaft auch nur dann rechtsetzend tätig werden, wenn der EG-Vertrag dies ausdrücklich vorsieht. 34 Damit ist aber noch nichts darüber ausgesagt, ob es sich hierbei jeweils um ausschließliche Zuständigkeiten handelt. Ob das der Fall ist, kann nur nach dem Sinn und Zweck der jeweiligen Ermächtigungsnorm ermittelt werden. Geht es zum Beispiel um Tätigkeiten der Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit, hierbei sind insbesondere die Bereiche der EG-Außenkompetenzen zu nennen sowie die Handels-, Agrar- und Fischereipolitik3S, versteht es sich von selbst, daß eine übergreifende Politik sinnvoll nur von den Mitgliedstaaten gemeinsam betrieben werden kann. Im Rahmen dieser Vergemeinschaftung von Politiken ist die Europäische Gemeinschaft ausschließlich zuständig. Die Kommissison beansprucht darüber hinaus eine ausschließliche Zuständigkeit im Bereich des Europäischen Beamtenrechtes, bei Maßnahmen zur Verwirklichung des Binnenmarktes, beim Erlaß allgemeiner Wettbewerbsregeln sowie bei der Festlegung wesentlicher Elemente der Verkehrspolitik. 36 Letztlich filhrt die Kommission die ausschließlichen Zuständigkeiten damit auf ihre Verpflichtung zurück, den "Gemeinsamen Markt" zu verwirklichen. Aufgrund der dynamischen Weiter~ entwicklung des Binnenmarktes kann der Bereich, filr den die Gemeinschaft ausschließlich zuständig sein soll, nicht eindeutig abgegrenzt werden. Vielmehr ist in jedem Einzelfall erneut zu entscheiden, inwieweit die fortschreitende europäische Integration einer ausschließlichen Zuständigkeit der Gemeinschaft bedarf. Liegt der Ausnahmefall einer ausschließlichen Zuständigkeit vor, so findet das Subsidiaritätsprinzip zwar keine Anwendung, dennoch muß die Intensität der zu erlassenden Maßnahme gemäß Art. 3 b Abs. 3 EG-Vertrag so bemessen sein, den Mitgliedstaaten filr ihre Durchfilhrung den größtmöglichen Handlungsspielraum zu belassen. Damit fließt das Kriterium der Verhältnismäßigkeit auch im Falle der ausschließlichen Zuständigkeit in die Rechtsetzung
33 BVerfUE 89, 155 (181); Schwartz, in: v. d. Groebenffhiesing/Ehlennann, Art. 235 Rdnr. 13; Grabitz, in: GrabitzlHilf, Art. 235 Rdnr. I. 34 Bericht der Kommission an den Europäischen Rat Ober die Anpassung der geltenden Rechtsvorschriften an das Subsidiaritätsprinzip, BRDrucks. 950/93, S. 3. 35 Vgl. Art. 110 ff.; 39 ff. EG-Vertrag. 36 So die Kommission un~r Anhang 11. 2. in ihrer Mitteilung an den Rat und das Europäische Parlament betreffend das Subsidiaritätsprinzip, abgedr. bei Merten, Die Subsidiarität Europas, 112 (119 f.).
A. Eindämmung des Konfliktpotentials
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mit ein. Die nachfolgenden Ausruhrungen 37 zur zulässigen Regelungsintensität von Normativakten gelten folglich auch hier. b) Voraussetzungen des Suhsidiaritätsgrundsatzes Sollte sich im Rahmen dieser Prüfung herausstellen, daß ein Bereich ausschließlicher Zuständigkeit nicht vorliegt, so werden im weiteren Verlauf die einzelnen Voraussetzungen des Subsidiaritätsprinzips relevant. aa) Ausreichende Zielverwirklichung aufmitgliedstaatlicher Ebene Vor dem Erlaß einer Richtlinie haben sich die EG-Rechtsetzungsorgane daher mit der Fragestellung zu befassen, ob die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahme nicht ausreichend von den Mitgliedstaaten auf nationaler Ebene verwirklicht werden können. Denn zahlreiche Maßnahmen mögen zwar durchaus sinnvoll und nützlich sein, doch können sie auch durch die einzelnen Mitgliedstaaten verwirklicht werden. So mag beispielsweise die Schutzhelmpflicht rur Radfahrer durchaus zur Erhöhung der Verkehrssicherheit beitragen, dennoch muß sie nicht gemeinschaftsrechtlich veranlaßt werden. 38 Um diese Frage im Einzelfall beantworten zu können, ist zunächst die Zielsetzung herauszuarbeiten, zu deren Verwirklichung gehandelt werden soll. Die Richtlinienmaßnahmen müssen zur Verfolgung eines konkreten, durch den EG-Vertrag vorgegebenen Zieles veraniaßt sein. Hierbei genügt es weder, sich auf die allgemeinen Zielsetzungen der Gemeinschaft zu berufen, wie sie im ersten Teil "Grundsätze" in den Art. 2, 3 und 3 a EG-Vertrag festgelegt sind, noch reichen die "Ziele" des Vertrages aus, wie sie Art. 235 EG-Vertrag meint. 39 Mit "Ziel" in diesem Sinne ist mehr gemeint als die "Vertragsziele".40 Um dem Subsidiaritätsprinzip zu genügen, muß das Ziel konkreter formuliert werden. Anderenfalls könnte sich die Gemeinschaft auf diesem Wege einen weiten Argumentationsspielraum schaffen, um eine ausreichende mitgliedstaatliche Errullung abzulehnen. Denn je weiter beziehungsweise unbestimmter das Ziel der in Betracht gezogenen Maßnahme gesteckt wird, desto eher läßt sich die Zielerreichung durch die Mitgliedstaaten verneinen. Daß sich das konkrete Ziel der Siehe sogleich unter 6. Teil A. 11. Dieses Beispiel fllhrt Schmidhuber, DVBI. 1993, 417 (419), an. 39 So aber SchmidhuberlHitzler, NVwZ 1992,720 (722 f.); Konow, DÖV 1993,405 (408); a.A. richtigerweise Pieper, DVBI. 1993,705 (709); ders., Subsidiarität, S. 253. 40 Zu diesen vgl. Grabitz, in: GrabitzJHilf, Art. 235 Rdnr. 12 ff. 37
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Einzelmaßnahme jedoch im Rahmen der Vertragsziele bewegen muß, versteht sich von selbst. Letztlich werden die Vertragsziele damit durch das Einzelziel einer Maßnahme näher konkretisiert. Bei der Prüfung, ob das Ziel der in Betracht gezogenen Maßnahme auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden kann, ist zu fragen, ob die zur Zielverwirklichung notwendigen Maßnahmen wegen ihres Inhaltes und ihrer Tragweite die Grenzen der einzelnen Mitgliedstaaten überschreitende Lösungen erfordern, also gewissermaßen nach der Natur der Sache zentral ausgerichtet und einheitlich gestaltet werden müssen.41 Dies wird regelmäßig der Fall sein, wenn die Maßnahme transnationale Aspekte aufweist. So dürfte eine nicht ausreichende· Zielverwirklichung auf der Ebene der Mitgliedstaaten gegeben sein, falls alle oder eine Vielzahl von Mitgliedstaaten betroffen sind, wie zum Beispiel im Bereich des Umweltschutzes. Man denke nur an die Problematik grenzüberschreitender Emissionen. Die Vorgabe von einheitlichen Grenzwerten dürfte am ehesten auf der Gemeinschaftsebene möglich sein. Ähnliche Aspekte dürften im Bereich der Beihilfe- und Wettbewerbskontrolle relevant werden. 42 Diese grenzüberschreitende Komponente betont auch der Europäische Rat auf seiner Tagung in Edinburgh am 11. - 12. Dezember 1992: "Die zur Prüfung vorliegende Frage hat transnationale Aspekte, die durch Maßnahmen der Mitgliedstaaten nicht zufriedenstellend geregelt werden können, ... ".43 Als Beispiel rur einen Sektor, in dem europäischer Handlungsbedarf zwingend gegeben ist, sind Maßnahmen zur Abschaffung der steuerlichen Diskriminierung grenzüberschreitender Tätigkeiten zu nennen. Hierzu gehört unter anderem die Abschaffung der Quellensteuer auf Dividende. Werden entsprechende grenzüberschreitende Aspekte aber bei dem jeweiligen Regelungsgegenstand nicht relevant, so spricht vieles darur, daß gemeinschaftsrechtlicher Normierungsbedarf nicht besteht. In diesem Fall muß der europäische Gesetzgeber auf den Erlaß der geplanten Richtlinie verzichten und den Normerlaß den Mitgliedstaaten überlassen. Beispielhaft kann hier die Richtlinie des Rates vom 13. Juni 1990 über Pauschalreisen (Pauschalreiserichtlinie)44 angeruhrt werden, die das Tätigwerden von Reiseveranstaltern regelt. Da grenzüberschreitende Tätigkeiten in diesem Bereich selten sind, hätte 41 So allgemein zu der Prüfung des Subsidiaritätsprinzips Konow, DÖV 1993,405 (408); Pieper, OVBI. 1993,705 (709); ders., Subsidiarität, S. 255; Pechstein, DÖV 1991, 535 (539); vgl. auch Goppe1, EuZW 1993, 367 (368); Jarass, S. 30 f. 42 Schmidhuber, OVBI. 1993,417 (420). 43 Abgdr. bei Merten, Die Subsidiarität Europas, 136 (140). 44 AblEG Nr. L 158 v. 23.6.1990, S. 59 ff.; hierzu siehe auch EuGH verbundene Rs. C-178/94, C-188 bis 190/94 - Oillenkofer ("MP Travel Line").
A. Eindämmung des Kontliktpotentials
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der bestehende Regelungsbedarf vollständig durch nationale Gesetze erfüllt werden können. bb) Bessere Zielverwirklichung auf Gemeinschaftsebene Wird festgestellt, daß die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahme auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können, so ist es nicht mehr erforderlich, gesondert zu prüfen, ob eine Zielverwirklichung auf Gemeinschaftsebene besser möglich ist. Schon der Wortlaut des Art. 3 b Abs. 2 EG-Vertrag bestimmt mit der Formulierung "... und daher ... ", daß immer dann, wenn die jeweilige Zielsetzung durch die Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden kann, ein "europäischer Mehrwert" gegeben ist. 4s Dieser Automatismus wird auch durch den Tagungsbericht des Europäischen Rates in Edinburgh bestätigt "Die Feststellung, daß ein Gemeinschaftsziel von den Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht und somit besser46 auf Gemeinschaftsebene erreicht werden kann, muß auf qualitativen oder - soweit möglich - auf quantitativen Kriterien beruhen. "47 Folglich ist immer dann, wenn eine ausreichende Verwirklichung des angestrebten Zieles durch die Mitgliedstaaten nicht möglich ist, eine bessere Realisierung auf Gemeinschaftsebene anzunehmen. 48 Nur wenn diese Voraussetzung erfüllt ist, darf der Gemeinschaftsgesetzgeber überhaupt normativ tätig werden. c) Reduzierung der Richtlinienanzahl
Da auf die kritische Hinterfragung des Regelungsbedarfes gemeinschaftsrechtlicher Rechtsetzung bislang verzichtet und vielmehr ausschließlich danach gehandelt wurde, ob politisch das Bedürfnis zum Erlaß einer entsprechenden Norm gegeben war, stellt die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips in jedem Einzelfall gemeinschaftsrechtlichen Normerlasses eine nicht unerhebliche Hürde dar, welche zu einer spürbaren Verringerung sekundären Gemeinschaftsrechtes führen dürfte.
Vgl. Pieper, DVBI. 1993,705 (709); ders., Subsidiarität, S. 254; Jarass, S. 19. Hervorhebung der Verfasserin. 47 Abgedr. bei Merten, Die Subsidiarität Europas, 136 (141). 48 A.A. Pieper, DVBI. 1993, 705 (709); Jarass, S. 19; Merten, in: Die Subsidiarität Europas, 77 (83), die in dem "europäischen Mehrwert" eine zusätzliche Voraussetzung dahingehend sehen, daß durch das Handeln auf Gemeinschaftsebene "deutliche Vorteile" erzielt werden müssen. 4S
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15 Rickert
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Hinsichtlich des "ob" der Nonnsetzung durch Richlinien zeigen sich auch schon erste Auswirkungen des Subsidiaritätsprinzips. Bereits 1992 riet die "Expertengruppe Binnenmarkt" der Europäischen Kommission das Rechtsetzungsverfahren per Richtlinien einer Überprüfung zu unterziehen. 49 Die Kommission kam dieser Aufforderung nach und begann noch Ende 1992, die bis dahin erlassenen Richtlinien und die bereits vorliegenden Vorschläge für Harmonisierungsrichtlinien unter anderem daraufhin zu überprüfen, ob sie mit Art. 3 b Abs. 2 EG-Vertrag hinsichtlich des Regelungsbedarfes (noch) in Einklang stehen. 50 Schon 1993 war festzustellen, daß sich die Zahl der Legislativvorschläge der Kommission vor allem wegen der detaillierten Prüfung in bezug auf das Subsidiaritätsprinzip gegenüber den Vorjahren verringert hatte. 51 Während sie 1989 noch 92 größere Vorhaben einbrachte, hat sich diese Zahl 1994 schon auf etwa die Hälfte verringert. 52 So hat sich die Kommission beispielsweise mit den Mitgliedstaaten über die Möglichkeit einer Begrenzung der Zahl künftiger spezifischer Richtlinien über Lebensmittel für eine besondere Ernährung entsprechend der Richtlinie 89/398 EWG verständigt. Auch in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, ist die Einfügung des Subsidiaritätsprinzips zum Anlaß genommen worden, die bislang erlassenen gemeinschaftsrechtlichen Nonnativakte einer kritischen Revision zu unterziehen. Die Bayerische Staatsregierung verabschiedete am 9. Februar 1993 eine ausführliche Zusammenstellung von Gemeinschaftsrechtsakten und Vorschlägen für EG-Vorschriften, die ihrer Meinung nach nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar sind. Aus der Vielzahl der zusammengestellten Richtlinien sollen hier exemplarisch nur einige herausgegriffen werden, für die nach Ansicht der Bayerischen Regierung kein gemeinschaftsrechtlicher Regelungsbedarf besteht, weil das angestrebte Ziel auch in ausreichender Weise durch die Mitgliedstaaten sichergestellt werden könne mit der Folge, daß ein entsprechender Eingriff in die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen nicht gerechtfertigt sei. 53 Hierzu gehören nach ihrer Auffassung unter anderem der Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die
49 VWD v. 28.10.92, S. 5; vgl. auch Bulletin, hrsg. v. Presse- und Informationsamt der BReg., Nr. 71 v. 1.7.1992,673 f1 50 Schmidhuber, DVBI. 1993,417 (421); Mösche1, NJW 1993,3025 (3027), spricht in diesem Zusammenhang von "Entrümpelung". 51 Bericht der Kommission an den Europäischen Rat über die Anpassung der geltenden Rechtsvorschriften an das Subsidiaritätsprinzip, BRDrucks. 950/93, S. 5. 52 Hort, in: F.A.Z. v. 10. Mai 1995, Nr. 108, S. 14. 53 Vgl. Goppel, EuZW 1993,367 (369).
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Haftung bei Dienstleistungen,54 die Richtlinie des Rates vom 27 . .Juni 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten,55 die Richtlinie des Rates vom 3. Oktober 1989 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit (Femseh-Richtlinie)56 und der Vorschlag rur eine Richtlinie des Rates über Geschwindigkeitsbegrenzungen rur bestimmte Fahrzeugklassen in der Gemeinschaft. 57 Diese Beispiele dokumentieren, daß gleichgültig in welchem Regelungsbereich man sich befindet - überflüssige Regelungen beziehungsweise Regelungen, über deren Notwendigkeit man zumindest streiten kann, erlassen werden. Auch der Deutsche Industrie- und Handelstag (DIHT) hat einen Katalog von Richtlinien zusammengestellt,58 bei denen nach seiner Auffassung fraglich ist, ob das mit ihnen intendierte Ziel nicht genauso effektiv durch nationale Vorschriften erreicht werden kann. Auch diese Auflistung spiegelt wider, daß sich in jedem Bereich gemeinschaftsrechtlicher Normsetzung eine Übernormierung durch Richtlinien abzeichnet, sowohl im Binnenhandel, im Gesellschaftsrecht als auch im Bereich des Verbraucherschutzes. 59 d) Konsequenz für die Grundrechtsproblematik
Wenn nunmehr im Lichte der Subsidiarität Regelungsbereiche auf die Mitgliedstaaten zurückübertragen werden, so verringert sich die Gesamtzahl der umzusetzenden Richtlinien zwangsläufig. Damit wird gleichzeitig ein Beitrag zu der Verringerung der Wahrscheinlichkeit eines Konfliktes zwischen EGRichtlinien und nationalen Grundrechten geleistet. Denn nunmehr ist den mitgliedstaatlichen Regierungen auch die Möglichkeit verwehrt, grundrechtlich problematischen Regelungen, die bei rein nationaler Rechtsetzung wegen ihrer 54 AblEG Nr. C 12 v. 18.1.1991, S. 8 ff. 55 AblEG Nr. L 175 v. 5.7.1985, S. 40
ff.; vgl. die Bemerkungen zu dieser Richtlinie soeben unter 6. Teil A. I. 1. 56 AblEG Nr. L 298 v. 17.10.1989, S. 23 ff. 57 Ratsdok. 4305/89; BRDrucks. 87/89, S. 8 ff. 58 DIHT, Anmerkungen und Vorschläge zur Regelung der Subsidiarität in der EG, S. 6 ff. 59 Zu nennen sind hier zum Beispiel der Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz, AblEG Nr. C 156 v. 23.6.1992, S. 14 ff.; die Richtlinie des Rates vom 13. Juni 1990 über Pauschalreisen (Pauschalreiserichtlinie), ABlEG Nr. L 158 v. 23.6.1990, S. 59 ff.; der Vorschlag rur eine Richtlinie zur Festlegung von Mindestnormen zur Haltung von Tieren in Zoos, ABlEG Nr. C 249 v. 24.9.1991, S. 14 ff., der geänderte Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen v. 4.3.1992, KOM (92) 66 endg. - SYN 285. IS'
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Sechster Teil: Eigener Lösungsansatz
Verfassungswidrigkeit nicht realisierbar wären, über den Umweg der gemeinschaftsrechtlichen Rechtsetzung dennoch innerstaatliche Verbindlichkeit zu verleihen, ohne auf die Mitwirkung der nationalen Verfassungsorgane angewiesen zu sein. Dies gilt allerdings nur insoweit, als kein gemeinschaftsrechtlicher Handlungsbedarf nachgewiesen werden kann. Folglich gebietet nicht nur die Rücksichtnahme auf die Kompetenzen des nationalen Gesetzgebers, sondern insbesondere auch der hinreichende Grundrechtsschutz der Grundrechtsberechtigten in der Bundesrepublik Deutschland einer Ausuferung des Richtlinienerlasses durch eine konsequente Anwendung des Subsidiaritätsgrundsatzes entgegenzuwirken. Ein erster Schritt zur Verringerung des grundrechtlichen Konfliktpotentiales ist somit die Hinterfragung des "ob" der gemeinschaftsrechtlichen Richtliniengesetzgebung in jedem Einzelfall. 11. Zweiter Ansatzpunkt: Regelungsdichte von Richtlinien Stärker noch als die Ausuferung der Anzahl der erlassenen Richtlinien drängt die immense Regelungsdichte, also das "wie" der Richtliniengesetzgebung, den deutschen Umsetzungsgesetzgeber in den Konflikt zwischen gemeinschaftsrechtlicher Umsetzungsverpflichtung und der Grundrechtsbindung gemäß Art. 1 Abs. 3 GG. Wenn behauptet wird, mit der Richtlinie sei ein hinreichend flexibles Handlungsinstrument gegeben, um eventuelle Grundrechtskonflikte zu vermeiden, weil sie auf der einen Seite eine gemeinschaftsrechtliche Initiative zur Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen ermögliche, auf der anderen Seite aber die nationale Umsetzungskompetenz mit den ihr innewohnenden Sicherungsfaktoren beibehalte,6O so stellt diese Bewertung einseitig auf die theoretische Konzeption der Richtlinie ab und vernachlässigt die Rechtsetzungspraxis. Dennoch ist mit dieser Aussage ein Hinweis auf einen weiteren möglichen Ansatzpunkt zu der Reduzierung des Konfliktpotentials gegeben. 1. Keine Umsetzungsverpflichtung bei ultra vires-Handeln der Gemeinschaft
Der Geltungsgrund rur Europäisches Gemeinschaftsrecht und seine Anwendung liegt im innerstaatlichen Recht. Europäisches Gemeinschaftsrecht ist für die Bundesrepublik Deutschland nur verbindlich kraft eines innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehles. Dieser wird nicht unmittelbar durch Art. 23 GG 60
Friauf, EuR - Beiheft 1 - 1991, 50 (52); Kirchhof, EuR - Beiheft 1- 1991, II (19,21).
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(früher Art. 24 Abs. I GG) begründet, sondern erst durch das Zustimmungsgesetz zu dem jeweiligen Gemeinschaftsvertrag. 61 Europarecht kann deshalb nur insoweit innerstaatliche Geltung beanspruchen, als es durch ein von dem mitgliedstaatlichen Parlament beschlossenes Zustimmungsgesetz autorisiert ist. Wesentliche Änderungen des dort angelegten Integrationsprogrammes und ein entsprechender innerstaatlicher Vollzug sind nicht mehr vom Zustimmungsgesetz gedeckt; die Gemeinschaft handelt dann ultra vires. Liegt ein solches ultra vires-Handeln vor, kommt dem jeweiligen Rechtsetzungsakt auch kein innerstaatlicher Rechtsanwendungsbefehl ZU. 62 Übertragen auf das Rechtsetzungsinstrument der Richtlinie bedeutet das, sofern die Richtlinienvorgaben das gemäß Art. 189 Abs. 3 EG-Vertrag Zulässige überschreiten, ist der nationale Gesetzund Verordnungsgeber von seiner Umsetzungsverpflichtung befreit. Die Konzeption des Art. 189 Abs. 3 EG-Vertrag räumt dem nationalen Umsetzungsgesetzgeber die Möglichkeit ein, eventuell in der Richtlinie angelegten grundrechtswidrigen Elementen im Rahmen der Transformation auszuweichen, sofern die jeweilige Richtlinie hinreichend großzügig Gestaltungsspielräume zu einer grundrechtskonformen Umsetzung beläßt. Da sich die Rechtsetzungspraxis durch den Trend zur Steigerung der Regelungsintensität aber immer mehr von diesem Konzept des EG-Vertrages entfernt hat, schrumpfen die Möglichkeiten der nationalen Gesetzgeber, innerstaatlich grundrechtskonforme Bestimmungen zu erlassen, und damit einhergehend wächst die Wahrscheinlichkeit, daß es zu Konflikten zwischen den gemeinschaftsrechtlichen Richtlinienvorgaben und dem innerstaatlichen Grundrechtsniveau kommt. 63 Als populärstes Beispiel für die Entfremdung der Rechtsetzungspraxis von den vertraglichen Vorgaben hinsichtlich der Ausgestaltung von Richtlinien durch Intensivierung der Regelungsdichte ist die oft verspottete 64 Seiten lange Richtlinie des Rates vom 25. Juni 1987 über vor dem Führersitz angebrachte Umsturzvorrichtungen an land- und forstwirtschaftlichen Schmalspurzugmaschinen auf Rädern zu nennen. 64 Dieses Beispiel steht stellvertretend rur etliche andere Richtlinien, die einen Sachverhalt bis ins letzte Detail regeln und die Um setzungstätigkeit der nationalen Umsetzungsorgane damit auf ein "Abschreiben" der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben reduzieren, ohne ihnen eigene Gestal61 BVerfGE 75, 223 (244); vgl. auch 73, 339 (375); Kirchhof, in: HbdStR, Bd. VII, § 183 Rdnr. 63; ders., EuR - Beiheft I - 1991, 11 (15); vgl. auch Ausführungen unter 4. Teil A. 62 BVerfGE 89, ISS (187 f.). 63 Vgl. Ausführungen oben unter I. Teil. 64 AblEG Nr. L 220 v. 8.8.1987, I ff.; vgl. auch den zugrundeliegenden 80 Seiten langen Vorschlag der Kommission, AblEG Nr. C 222 v. 2.9.1985, I ff.
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Sechster Teil: Eigener Lösungsansatz
tungsfreiräume zu belassen. Je mehr die Rechtsetzungspraxis von der ursprünglichen Konzeption der Richtlinie abrückt, desto wahrscheinlicher wird es gleichzeitig auch, daß die gemeinschaftsrechtlichen Rechtsetzungsorgane, die ihnen per Zustimmungsgesetz zum EG-Vertrag eingeräumte Befugnis überschreiten, also ultra vires handeln. Ist dies aber der Fall, so ist der nationale Umsetzungsgesetzgeber von seiner Verpflichtung befreit, die Richtlinienvorgaben in innerstaatliches Recht zu transformieren und damit gemeinschaftsrechtlich determiniert eventuell innerstaatlich grundrechtswidriges Recht erlassen zu müssen, weil dem sekundären Gemeinschaftsrecht dann kein innerstaatlicher Rechtsanwendungsbefehl zukommt. Zu dem hier zu lösenden Grundrechtskonflikt käme es dann nicht mehr, weil der nationale Umsetzungsgesetzgeber gar nicht erst vor die Pflicht gestellt würde, die grundrechtswidrige Richtlinie in nationales Recht zu implementieren. Folglich ist zu klären, wie weit die Ermächtigung der gemeinschaftsrechtlichen Rechtsetzungsorgane reicht, wenn ihnen im EG-Vertrag die Kompetenz zum Erlaß von Richtlinien eingeräumt wird. Über die Frage der zulässigen Regelungsintensität von Richtlinien gibt Art. 189 Abs. 3 EG-Vertrag Aufschluß. a) Wortlaut des Art. 189 Abs. 3 EG-Vertrag
Schon angesichts des eindeutigen Wortlautes 65 des Art. 189 Abs. 3 EGVertrag erscheint die Annahme, der Regelungsintensität von Richtlinien seien keine Grenzen gesetzt, äußerst zweifelhaft. Art. 189 Abs. 3 EG-Vertrag legt unmißverständlich fest, daß die Richtlinie zum einen "für" den Mitgliedstaat gilt, an den sie gerichtet ist, und nicht "in" dem jeweiligen Mitgliedstaat; sie ist also nach dem Wortlaut der Vorschrift nicht unmittelbar anwendbar, sondern entfaltet erst nach mitgliedstaatlicher Umsetzung Wirkungen für die Bürger. Damit ist die Zweistufigkeit des Rechtsetzungsverfahrens angesprochen. 66 Die Richtlinie stellt damit das Beispiel par excellence tUr die Verzahnung des Gemeinschaftsrechtes mit der nationalen Rechtsordnung dar. Sie ist das Medium gemeinschaftsrechtlicher Rechtsetzung bei dem am deutlichsten zum Ausdruck kommt, daß die Gemeinschaftsrechtsordnung auf die Mitwirkung der Mitgliedstaaten angewiesen ist. Jede Richtlinie ist ein erneuter Appell an die Inte65 Auch der EuGH bedient sich der üblichen juristischen Auslegungsmethoden, vgl. Bleckmann, ZGR 1992,364 f.; Pieper, Subsidiarität, S. 249. 66 Vgl. Ausfilhrungen oben im I. Teil. C. I. 2.
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grationsbereitschaft der Mitgliedstaaten und ihre Rechtsetzungsorgane. 67 Eines solchen Appells bedarf es allerdings nur, wenn dem nationalen Mitwirkungsakt auch eine eigene Gestaltungswirkung zukommt und er sich nicht lediglich in einem "Abschreiben" des Richtlinieninhaltes erschöpft. Folglich läßt sich schon aus der zweistufigen Ausgestaltung des Normeriasses entnehmen, daß dem umsetzenden nationalen Gesetzgeber zumindest irgendein Entscheidungsfreiraum belassen werden muß, damit seine Zwischenschaltung überhaupt einen Sinn hat. Diese wechselseitige Abhängigkeit oder Rücksichtnahme beider Rechtsordnungen dokumentiert Art. 189 Abs. 3 EG-Vertrag auch, wenn er die Mitgliedstaaten nur hinsichtlich der Ziele bindet und nicht hinsichtlich der Form und der Mittel. Die Richtlinie ist also im Gegensatz zu der Verordnung und zu der Entscheidung nicht "in allen Teilen verbindlich". Damit ist klargestellt, daß sich der einzuräumende Gestaltungsspielraum sowohl auf die Form als auch auf die Mittel zu erstrecken hat. Hier drängt sich die im Schrifttum bereits ausführlich erörtete Fragestellung auf, ob es überhaupt möglich ist, eine exakte Grenzziehung zwischen Ziel, Mittel und Form im Sinne von Art. 189 Abs. 3 EG-Vertrag vorzunehmen. Dies wird häufig verneint, weil jedes Ziel gleichzeitig wiederum ein Mittel für konkretere Ziele darstelle, sich also auch Formen und Mittel ihrerseits als Ziele definieren ließen. An der Spitze stünden die abstrakten in der Präambel und den ersten Artikeln des Vertrages festgelegten Ziele, darunter die konkreteren Ziele der einzelnen Kapitel des Vertrages und darunter wiederum die einzelnen Vertragsbestimmungen als "Mittel" zur Realisierung nächsthöherer Ziele. 68 Aus der fehlenden Differenzierungsmöglichkeit zwischen Zielen einerseits und den Mitteln und Formen andererseits wird dann gefolgert, auch ganz detaillierte Richtlinien seien zulässig und bänden die Mitgliedstaaten in vollem Umfange. 69 Dieser Argumentation ist jedoch entgegenzuhalten, daß eine konkrete Herausarbeitung des mit der jeweiligen Richtlinie verfolgten Zieles schon erforderlich ist, um die Anforderungen des Subsidiaritätsprinzips zu überprüfen. Wie oben dargelegt, ist unter Ziel im Sinne des Art. 3 b Abs. 2 EG-Vertrag nicht ein abstraktes Vertragsziel zu verstehen, sondern die ganz konkrete mit
67 Wägenbaur, ZG 1988,303 (318); Scherzberg, Jura 1992, 572 (575); Oldekop, S. 164. 680ldekop, S. BI; Bleckmann, EuropaR, Rdnr. 146; Wagner, S. 221, insbesondere Fn. 23; Scherzberg, in: Europäische Integration und nationalstaatliche Verwaltung, 17 (27); Schuster, S. 17f. 69 So zum Beispiel Magiera, DÖV 1985,937 (942).
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Sechster Teil: Eigener Lösungsansatz
der jeweiligen Norm intendierte Zielsetzung. 7o Diese Zielsetzung ist auch bei der Bestimmung der Reichweite der verbindlichen Vorgaben einer Richtlinie, also dem Ziel im Sinne von Art. 189 Abs. 3 EG-Vertrag, zugrundezulegen. Dann stellt sich die Differenzierung zwischen dem Ziel und den zu dessen Verwirklichung einzusetzenden Formen und Mitteln auch nicht länger als unmöglich dar. Unter Zielen im Sinne von Art. 189 Abs. 3 EG-Vertrag ist folglich die Beschreibung eines von den Mitgliedstaaten angestrebten rechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Erfolges zu verstehen, der sich zwar im Rahmen der vom EG-Vertrag herausgestellten "Ziele des Vertrages" halten muß, gleichzeitig aber nur einen ganz bestimmten Einzelausschnitt aus dieser allgemeinen Zielsetzung verfolgt. 71 Im Falle der oben behandelten Tabakrichtlinie besteht das Ziel beispielsweise darin, die Marktbürger vor den Gefahren einer Krebserkrankung, welche aus dem Konsum von Zigaretten resultieren kann, zu schützen,72 was wiederum einen Teilaspekt des gemäß Art. 100 a EG-Vertrag übergeordneten Zieles des Gesundheitsschutzes darstellt. 73 Unter "Form" im Sinne von Art. 189 Abs. 3 EG-Vertrag ist die Art und Weise des nationalen Zustandekommens der Umsetzungsvorschrift zu verstehen. Dabei geht es um die Frage, welches innerstaatliche Rechtsetzungsorgan tätig wird beziehungsweise welche Handlungsform, ob Gesetz oder Verordnung, gewählt wird. Diesbezüglich stellt die betreffende Richtlinie selbst regelmäßig keine Anforderungen. Doch hat der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften dem nationalen Umsetzungsgesetzgeber durch seine Rechtsprechung diesbezüglich konkrete Vorgaben gemacht, welche ebenfalls zu der Verringerung des nationalen Gestaltungsspielraumes beitragen: Weder ein Runderlaß der Regierung an die zuständigen Behörden74 noch behördeninterne Verwaltungsanweisungen 75 können eine rechtsförmliche Umsetzung der Richtlinie ersetzen. Vielmehr muß der umgesetzte Rechtsakt mindestens dieselbe Normqualität aufweisen wie die Vorschriften, die den von der Richtlinie erfaßten Bereich vor der Umsetzung regelten. 76 Diese Anforderung reduziert die Gestaltungsfreiheit hinsichtlich der Form ebenfalls vertragswidrig auf Null, wenn die betreffende Materie innerstaatlich bislang durch Parlamentsgesetze Vgl. Ausfllhrungen oben unter 6. Teil A. 1. 3. b) aa). Vgl. EuGH Rs. 14/83, Slg. 1984, 1891 (1906 f.) - Von Coison; Ipsen, S. 458; Neßler, RIW 1993,206. 72 Vgl. Ausfllhrungen oben unter I. Teil C. 111. 73 Siehe auch Art. 3 0) EG-Vertrag. 74 So im Fall EuGH Rs. 168/85, Sig. 1986,2945 (2958 ff.) - KommissionlItalien. 75 EuGH Rs. \02/79, Sig. 1980, 1473 (1486 f.) - Kommission/Belgien. 76 EuGH Rs. 102/79, Sig. 1980, 1473 (1486) - Kommission/Belgien. 70
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geregelt worden ist, weil die betreffende Richtlinie dann auch in Form eines Parlamentsgesetzes umgesetzt werden muß. Bedeutender für die Grundrechtsproblematik ist die Freiheit der Mittel, die zur Zielverwirklichung eingesetzt werden. Unter "Mitteln" im Sinne des Art. 189 Abs. 3 EG-Vertrag sind die einzelnen inhaltlichen Maßnahmen zu verstehen, welche die Mitgliedstaaten als Adressaten der jeweiligen Richtlinie ergreifen, um der eben ermittelten Zielsetzung zur Durchsetzung zu verhelfen. Die Wahlfreiheit der Mittel war allerdings von Anfang an durch die Forderung des Gerichtshofes begrenzt, die Mittel immer so zu wählen, daß der "effet utile" der jeweiligen Richtlinie am besten gewährleistet wird.?7 Im Falle der Tabakrichtlinie bestehen die Mittel des Schutzes vor den Gefahren für die Gesundheit durch Zigarettenkonsum in den einzelnen Warnhinweisen, die auf den Packungen aufgedruckt werden müssen, um die Marktbürger von dem Zigarettenkonsum abzuhalten. Dabei beschränkte sich der Gestaltungsfreiraum der Umsetzungsorgane auf die Auswahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Warnhinweisen und die Entscheidung, ob anzugeben ist, wer Urheber der Warnungen ist.78 Dieses Beispiel bestätigt, daß es für die Vermeidung von innerstaatlich grundrechtswidrigem Recht aufgrund verbindlicher Richtlinienvorgaben entscheidend ist, den Mitgliedstaaten einen weiten Spielraum hinsichtlich der Mittel der Transformation zu belassen. Die Heranziehung des Wortlautes des Art. 189 Abs. 3 EG-Vertrag ergibt also, daß das Verfahren der mittelbaren Rechtsetzung den nationalen Parlamenten zumindest irgendeinen Gestaltungsfreiraum sowohl hinsichtlich der Mittel als auch hinsichtlich der Form belassen muß. Demnach sind Richtlinien, die tatsächlich nur noch "abgeschrieben" werden müssen, um ihnen innerstaatliche Geltung beizulegen, nicht von der Konzeption des EG-Vertrages gedeckt. Solchen Richtlinien kann nach dem Wortlaut des Art. 189 Abs. 3 EG-Vertrag kein innerstaatlicher Rechtsanwendungsbefehl zukommen. b) Systematische Stellung des Art. 189 Abs. 3 EG-Vertrag
Dieses durch die Heranziehung des Wortlautes gewonnene Ergebnis wird bestätigt, wenn man die systematische Stellung der Richtlinie an der Seite der Verordnung gemäß Art. 189 Abs. 2 EG-Vertrag betrachtet. Anders als die . 77 Vgl. etwa EuGH Rs. 48/75, Sig. 78
1976,497 (517) - Royer. Vgl. ausftlhrlich hierzu Ausftlhrungen oben unter 3. Teil B.
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Sechster Teil: Eigener Lösungsansatz
Richtlinie - wie sie im EG-Vertrag konzipiert ist -, enthält die Verordnung grundsätzlich Vollregelungen, die unmittelbar Rechte und Pflichten für die Bürger der Mitgliedstaaten normieren, ohne eines innerstaatlichen Umsetzungsaktes zu bedürfen. Geht aber die Regelungsintensität von Richtlinien so weit, eine bestimmte Materie abschließend zu regeln, ohne den Mitgliedstaaten einen Entscheidungsspielraum zu belassen, und wird ihnen unter Umständen auch unmittelbare Wirkung zugesprochen, ist die Differenzierung zwischen Verordnung und Richtlinie obsolet. Die Rechtsordnung der Europäischen Gemeinschaft könnte dann auf verschieden strukturierte Rechtsetzungsinstrumente von vornherein verzichten. 79 Auch die Tatsache, daß auf einigen Gebieten nur bestimmte Rechtsakte ergehen dürfen, spricht dafür, die Unterschiede zwischen Verordnungen und Richtlinien nicht zu verwischen. 80 Da die Richtlinie in ihrer ursprünglichen Konzeption die Möglichkeit der Rücksichtnahme auf nationale Besonderheiten eröffnete, setzten die Vertragsschöpfer Richtlinienkompetenzen insbesondere dort ein, wo es zwar um Angleichung, nicht aber notwendigerweise um Vereinheitlichung der nationalen Rechtsordnungen geht. So sieht beispielsweise Art. 100 EG-Vertrag für die Angleichung zur Verwirklichung des Binnenmarktes ausschließlich den Erlaß von Richtlinien vor, ebenso im Bereich der Herstellung der gemeinschaftsweiten Freiheiten wie der Niederlassungsfreiheit oder dem freien Dienstleistungs- und Kapitalverkehr sind nur Richtlinien vorgesehen. 8 I Wenn aber die zuständigen Gemeinschaftsorgane den Regelungsinhalt einer Richtlinie dermaßen detailliert ausgestalten, daß er dem einer Verordnung gleichkommt, also statt der Richtlinie korrekterweise die Handlungsform der Verordnung hätte gewählt werden müssen, so könnte sich die Gemeinschaft in Bereichen, die nach dem EG-Vertrag nur einer Regelung durch Richtlinien vorbehalten sind, durch verordnungsähnliche Ausgestaltung von Richtlinien faktisch eine Kompetenz zum Erlaß von Verordnungen schaffen. Mit der Entfremdung der Richtlinie von ihrer ursprünglichen Konzeption könnte damit auch die Kompetenzverteilung des EG-Vertrages unterlaufen. werden, was im Endeffekt die von den Mitgliedstaaten durch die jeweiligen Zustimmungsgesetze autorisierte Gemeinschaftsrechtsordnung ins Wanken bringen würde.
79 Zu diesem Ergebnis gelangen offenbar auch Hilf, EuR 1993, I (7); Bömer, in: Kegel-FS, 57 (64); so auch schon Fuss, DVBI. 1965,378 (381); kritisch al,lch Schuster, S. 44 ff.; Di Fabio, NJW 1990,947 (951); Rupp, ZRP 1990, I (2); vgl. auch Oppermann, EuropaR, Rdnr. 456 f. 80 Wägenbaur, DVBI. 1972,244. 81 Art. 54,63,69 EG-Vertrag.
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Schließlich bestätigen auch die unterschiedlichen Rechtsschutzbestimmungen der Art. 173 ff. EG-Vertrag, daß die Differenzierung zwischen den verschiedenen Handlungsformen des EG-Vertrages nicht aufgegeben werden darf. Der im EG-Vertrag vorgesehene Individualrechtsschutz ist nämlich rechtsformbezogen ausgestaltet. So ist den Marktbürgern beispielsweise in Art. 173 Abs. 4 EGVertrag die Möglichkeit eingeräumt, vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften direkt gegen eine gemeinschaftsrechtliche Entscheidung vorzugehen, während dies für Richtlinien nicht vorgesehen ist. Wortlaut und Systematik legen nahe, daß damit auf Entscheidungen im Sinne von Art. 189 Abs.4 EG-Vertrag Bezug genommen wird. 82 Wenn aber die zuständigen Gemeinschaftsorgane den Regelungsgehalt einer Richtlinie dermaßen detailliert ausgestalten, daß sie einen Sachverhalt abschließend regelt, und auch die unmittelbare Wirkung einer solchen Richtlinie anerkannt wird, so macht es für den betroffenen Bürger im Hinblick auf die Funktionsbereiche von Richtlinie und Entscheidung keinen Unterschied, ob eine Richtlinie oder eine Entscheidung ergeht. Da aber nur gegen eine Entscheidung der Rechtsschutz gemäß Art. 173 Abs. 4 EG-Vertrag zur Verfügung steht, hätte der europäische Gesetzgeber in einem solchen Fall statt der Richtlinie korrektei-weise die Rechtsform der Entscheidung wählen müssen. Anderenfalls könnte dem betroffenen Marktbürger auf diesem Wege der vertraglich vorgesehene Rechtsschutz vorenthalten werden. 83 Dieser Problematik scheint sich das Schrifttum bewußt zu sein, wenn es Art. 173 Abs. 4 EG-Vertrag zunehmend dahingehend deutet, es komme nur auf die Wirkung, nicht aber auf die Bezeichnung einer Maßnahme an, und den Rechtsschutz mit dieser Begründung auch auf unmittelbar wirkende Richtlinien erstreckt. 84 Zusammenfassend ist daher festzuhalten: Auch die Systematik verbietet eine Angleichung der Regelungsintensität der Richtlinie an die der Verordnung. Entsprechendes gilt für die Verwischung der Grenzen zwischen Richtlinien und Entscheidungen. Will der europäische Gesetzgeber also eine Materie abschlie82 Vgl. EuGH verbundene Rs. 16 und 17/62, Sig. 1962, 961 (978) - Confederation Nationale des Producteurs de Fruits et Legurnes u.a.lRat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft; verbundene Rs. 19 bis 22/62, Sig. 1962, 1003 (1019 f.) - Federation Nationale de la Boucherie en Gros et du Commerce en Gros des Vrandes u.a.lRat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft; so auch Scherzberg, in: Europäische Integration und nationalstaatliche Verwaltung, 17 (20). 83 Kritisch zu der Verwischung der Grenzen zwischen Richtlinie und Entscheidung auch Scherzberg, in: Europäische Integration und nationalstaatliche Verwaltung, 17 (18). 84 Schuster, S. 49, spricht sich rur eine analoge Anwendung aus. Dies deutet sich auch in der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes an, vgl. auch EuGH Rs. 11/82, Sig. 1985,207 (241 ff.) - Piraiki-Patraiki u.a.lKommission; Rs. C-289/89, Sig. 1993,1-3605 ff. Gibraltar.
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Sechster Teil: Eigener Lösungsansatz
ßend regeln, so ist er verpflichtet, auf die Rechtsfonn der Verordnung zurückzugreifen, sofern eine Vielzahl von Fällen geregelt werden soll. Entscheidet er sich jedoch für den Erlaß einer Richtlinie, so verlangt der EG-Vertrag, daß er diese Entscheidung auch bei der inhaltlichen Ausgestaltung durch die Einräumung von Umsetzungsfreiräumen durchhält. c) Historisches Motiv für die Schaffung der Rechtsfigur der Richtlinie
Zur Stützung dieses Ergebnisses kann auch auf die Entstehungsgeschichte des Art. 189 EWG-Vertrag verwiesen werden. Die historische Auslegung bezieht die Entstehungsgeschichte der Nonn, also die Gesetzesmaterialien und andere feststellbare Erwägungen bei Erlaß einer Nonn, mit ein. Hierdurch wird es möglich, auf die Regelungsintention und Nonnvorstellung des historischen Gesetzgebers zu schließen. 8s In der ursprünglichen Fassung des EWGVertrages war die Richtlinie zunächst als einziges an die Mitgliedstaaten gerichtetes Rechtsetzungsinstrument vorgesehen. Im Laufe der Beratungen wurde die Entscheidung als weitere an die Mitgliedstaaten adressierte Handlungsfonn in den Vertragstext aufgenommen, um damit eine über die Richtlinie hinausgehende Bindung der Mitgliedstaaten zu ennöglichen. 86 Daraus kann im Umkehrschluß gefolgert werden, daß der Richtlinie nur eingeschränkte Bindungswirkung zugedacht war. Motiv für die Schaffung des Rechtsetzungsinstrumentes der Richtlinie im Gemeinschaftsrecht war das Bedürfnis der Mitgliedstaaten nach einem flexiblen Rechtsetzungsinstrument. 87 Der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft als lockerem Staatenbund sollte neben direkte Geltung beanspruchenden Rechtsetzungsakten auch ein Instrument zur Verfügung stehen, welches stärker auf die nationalen Souveränitäts interessen Rücksicht nimmt. 88 Indem die Richtlinie die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben auf das Ziel beschränkt, die Mittel- und Fonnauswahl der souveränen Entscheidung der einzelnen Mitgliedstaaten überläßt, konkretisierte sich der Wille, nationale Souveränitätsreste zu erhalten. 89 Die Gesetzgebungskompetenz sollte weiterhin in der Hand der Mitgliedstaaten verbleiben, die nationalen Parlamente in ihrer Regelungsbefugnis nicht 8S Larenz, Methodenlehre, S. 328; Lutter, JZ 1992,593 (595). 86 Ipsen, S. 451; Grabitz, in: GrabitzlHilf, Art. 189 Rdnr. 69; Scherzberg, Jura 1992, 572 (574). 87 Grabitz, in: GrabitzlHilf, Art. 189 Rdnr. 59; Neßler, RlW 1993,206 (207). 880ldekop, S. 161 ff.; Oppennann, EuropaR, Rdnr. 457; Neßler, RlW 1993,206 (207); KrepIin, NJW 1965,467 (470); Schuster, S. 20. 89 Neßler, RlW 1993,206 (210).
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zu stark beschnitten werden. 90 Auf diesem Wege sollte eine Anpassung an die jeweiligen wirtschaftlichen, sozialen und sonstigen Verhältnisse der einzelnen Mitgliedstaaten ennöglicht werden. 91 Die Richtlinie sollte den Mitgliedstaaten die Möglichkeit einräumen, bei der innerstaatlichen Umsetzung der Richtlinienvorgaben den jeweiligen nationalen Besonderheiten Rechnung zu tragen. 92 Die Vertragsschließenden gingen nämlich davon aus, daß bei der Vielfalt und Kompliziertheit der durch den EWG-Vertrag zu regelnden Materien und der Unterschiedlichkeit des Rechtszustandes in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten durch die Einräumung eines merklichen Umsetzungsspielraumes für den einzelnen als bestem Kenner der eigenen Rechtsordnung die Gemeinschaftsziele am ehesten verwirklicht werden könnten. 93 Die Entstehungsgeschichte belegt somit ebenfalls, daß mit der Richtlinie eine Handlungsfonn mit eingeschränkter Regelungsintensität gemeint ist, welche die Möglichkeit der Rücksichtnahme auf nationale Besonderheiten einräumt. d) Teleologische Auslegung
Auch Sinn und Zweck des Art. 189 Abs. 3 EG-Vertrag erfordern ein Mindestmaß staatlicher Autonomie, ein Minimum an eigenverantwortlicher Entscheidungsfreiheit, das sich nicht lediglich auf die Fonn, sondern auch auf den materiellen Inhalt der Richtlinie erstreckt. 94 Die Ratio der Gesetzgebung durch Richtlinien besteht neben der Rücksichtnahme auf Besonderheiten der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen darin, den innerstaatlichen Parlamenten und auch den übrigen Umsetzungsorganen ein letztes "Vetorecht"95 einzuräumen. Dies gilt insbesondere dann, wenn zwischen der Verabschiedung einer Richtlinie im Ministerrat und der nationalen Umsetzung die Regierung in dem betreffenden Mitgliedstaat wechselt. Gerade die Einräumung eigenständiger Gestaltungsfreiräume zugunsten des innerstaatlichen Umsetzungsgesetzgebers bietet die Möglichkeit, jeder einzelnen Bestimmung einer Richtlinie durch die 90 Vgl. die Erläuterungen der BReg, BTDrucks. 2/3440 Anlage C, S. 150; Bleckmann, EuropaR, Rdnr. 139; Lutter, EuR 1969, I (11); Scherzberg, Jura 1992, 572 (574). 91 Bleckmann, EuropaR, Rdnr. 139; Oldekop, JöR 1972, 55 (62). 92 DaiglSchmidt, in: v. d. GroebenIThiesinglEhlermann, Art. 189 Rdnr. 39; Neßler, RlW 1993, 206; Bach, JZ 1990, 1108 (1109); Kreplin, NJW 1965,467 (470). 93 Oldekop, JöR 1972, 55 (62); Bleckmann, EuropaR, Rdnr. 139; DaiglSchmidt, in: v. d. GroebenIThiesinglEhlermann, Art. 189 Rdnr. 39. 940ldekop, JöR 1972, 55 (86 ff.); Bleckmann, EuropaR, Rdnr. 149; Beyerlin, EuR 1987,126 (128); Wagner, S. 221 ff. 95 Börner, in: Kegel-FS, 57 (63 f.). Er bezeichnet den Umsetzungsakt auch als "Sicherheitsventil" .
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Sechster Teil: Eigener Lösungsansatz
Zwischenschaltung des nationalen Parlamentes legitimierende Wirkung beizulegen. Auf diese Weise kann die zweistufige Rechtsetzung zur Sicherung des Demokratieprinzips in der Gemeinschaft beitragen. 96 Solange dem Europäischen Parlament keine vergleichbaren Befugnisse wie den nationalen Parlamenten eingeräumt werden, verläuft die Legitimationskette im Rahmen der gemeinschaftsrechtlichen Normsetzung nämlich vom Ministerrat der Gemeinschaft über die nationalen Parlamente zum Bürger. 97 Die europäische Gesetzgebung kann aber nur dann über die mitgliedstaatlichen Parlamente legitimiert werden, wenn diese auch Einfluß auf die inhaltliche Ausgestaltung nehmen können. Denn nur dann kommt ihnen (Mit-)Verantwortung rur den einzelnen Normativakt ZU. 98 Nur wenn dem Umsetzungsgesetzgeber etwas an inhaltlicher Regelungssubstanz verbleibt, er also nicht lediglich auf das Abschreiben von Vorgaben des mit Exekutivvertretern besetzten Rates verwiesen wird, kommt der Zweistufigkeit demokratiesichemde Wirkung zu und nur dann kann sie auch in politischer Hinsicht akzeptanzfördernd wirken. Je detaillierter die Richtlinien jedoch werden und je weiter der Gerichtshof ihnen unmittelbare Wirkung zubilligt, desto stärker dient die ehemals zum Schutze der Befugnisse der innerstaatlichen Parlamente gewählte Rechtsfigur zunehmend dazu, das Demokratiedefizit in der Gemeinschaft zu kaschieren, indem der nationale Gesetzgeber durch den Transformationsakt dem Bürger gegenüber formal betrachtet zwar rur den Inhalt der jeweiligen Richtlinie verantwortlich zeichnet; während die demokratiesichemde Funktion durch die Degradierung der nationalen Parlamente zu gemeinschaftsrechtlichen Befehlsempfangern faktisch aber zunehmend verlorengeht. Damit einhergehend drängt sich dann die Frage nach dem eigentlichen Sinn der Transformation der Richtlinie in einem zweistufigen Rechtsetzungsverfahren auf. Es verkommt "zu einem Messer ohne Heft und Klinge"99. Demnach verliert die Handlungsform der Richtlinie genau das, was ihr ursprünglich ihren spezifischen Charakter verlieh. 1oo Folglich ist der Regelungsintensität einer Richtlinie auch nach Sinn und Zweck eine äußerste Grenze gezogen: Der Punkt der zulässigen Detailliertheit ist jedenfalls dann überschritten, wenn den Richtlinienadressaten keine nennenswerte eigene Regelungsbefugnis verbleibt. 101 Das heißt nicht, daß eine Vgl. Bleckmann, ZParl. 1991,572 (574); siehe auch Rupp, ZRP 1990, 1 (3). BVerfGE 89, 155 (Leitsatz 3; 185 f.) ; Klein, in: Interne Studien und Berichte der KonradAdenauer-Stiftung Nr. 66/1993, 1 (9); vgl. auch die AusfUhrungen oben unter 4. Teil B. I. 2. a). 98 Vgl. Hilf, EuR 1993, 1 (22). 99 Börner, in: Kegel-FS, 57 (64). looNeßler, R1W 1993,206 (207); Pieper, in: Bleckmann-FS, 197 (204). 101 Oldekop, JöR 1972, 55 (93). 96
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Richtlinie überhaupt keine Vollregelungen mehr enthalten darf. Im Schrifttum wird geltend gemacht, es gebe Bereiche, in denen die Rechtsangleichung ohne bis ins einzelne gehende Vorgaben gar nicht möglich sei. Vornehmlich bei der Angleichung technischer Standards könne eine Richtlinie, die den Mitgliedstaaten ein "Ioi uniforme" vorgibt, unumgänglich sein. 102 Dennoch verlangten Sinn und Zweck der Rechtsetzung durch Richtlinien eine absolute Grenzziehung hinsichlich der zulässigen Regelungsdichte, die nicht überschritten werden dürfe. Dieser Punkt sei dann erreicht, wenn eine Richtlinie so sehr ins Detail gehe, daß sie einen bestimmten Sachverhalt erschöpfend regele, so daß von einem beachtlichen Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten nicht mehr die Rede sein könne. Dies erinnert an die vom Bundesverfassungsgericht zur nationalen Rahmengesetzgebung entwickelten Kriterien, daß den Bundesländern inhaltlich etwas zu regeln bleiben muß, "das von substantiellem Gewicht ist" und "eine eigene Entschließung" erfordert. 103 Gemäß der vor der Reform der deutschen Rahmengesetzgebungskompetenzen lO4 ergangenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes mußten Rahmenvorschriften des Bundes, wenn auch nicht in allen einzelnen Bestimmungen, so doch als Ganzes durch Landesgesetzgebung ausfüllungsfiihig und ausfüllungsbedürftig sein. Der Rahmen mußte den Ländern die Möglichkeit belassen, die jeweilige Materie entsprechend den besonderen Verhältnissen des einzelnen Landes zu regeln. Überträgt man das auf die Richtlinien der Gemeinschaft, so gestattet Art. 189 Abs.3 EG-Vertrag nach seinem Sinn und Zweck durchaus, daß eine Richtlinie einzelne Bestimmungen enthält, die Vollregelungen darstellen, also einer mitgliedstaatlichen Ausfüllung nicht mehr zugänglich sind. Doch muß die durch die Richtlinie geregelte Materie den Mitgliedstaaten insgesamt noch etwas an eigener Regelungssubstanz belassen, sei es, daß die Richtlinie selbst einzelne Bestimmungen enthält, die noch ausfüllungsbedürftig sind, oder sei es, daß die erlassene Richtlinie den geregelten Lebensbereich nicht vollständig erfaßt, sondern darüber hinaus noch regelungsbedürftige Elemente verbleiben.
102 Scherzberg, in: Europäische Integration und nationalstaatliche Verwaltung, 17 (28); Oppermann, EuropaR, Rdnm. 457, 460; Streinz, EuropaR, Rdnr. 387. 103 BVerfDE 4,115 (128 f.); 7, 29 (41 f.); 25,142 (152); 36,193 (202); 43, 291 (343); 51, 77 (95); 64, 323 (347); 65, 1 (63); 66, 270 (285); 66, 291 (307). 104 Vgl. auch AusfUhrungen unten unter 6. Teil A.II. 3.
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Sechster Teil: Eigener Lösungsansatz
e) Fazit
Die Auslegung der Legaldefinition des Art. 189 Abs. 3 EG-Vertrag ergibt folglich, daß EG-Richtlinien dem nationalen Umsetzungsgesetzgeber zwingend eigenständige Gestaltungsspielräume sowohl hinsichtlich der Mittel als auch hinsichtlich der Form der Umsetzung belassen müssen, er also nicht auf ein bloßes Abschreiben gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben verwiesen werden darf. Vollregelungen sind damit zwar nicht gänzlich ausgeschlossen, ebenso wie bei der Rahmengesetzgebung im nationalen Recht darf der europäische Gesetzgeber den jeweiligen Sachverhalt aber nicht abschließend regeln. Ergeht also eine Richtlinie, ohne dem nationalen Umsetzungsgesetzgeber eigene Entscheidungsfreiräume von substantiellem Gewicht zu lassen, ist sie nicht vom deutschen Zustimmungsgesetz zum EG-Vertrag gedeckt. l05 Sie entfaltet folglich auch keine innerstaatliche Umsetzungsverpflichtung. Enthält eine solche Richtlinie grundrechtswidrige Elemente, kommt es zu dem oben dargestellten Konflikt schon nicht, weil die Transformationspflicht der nationalen Umsetzungsorgane von vornherein entfällt. 2. Renaissance der Problematik der zulässigen Regelungsintensität von Richtlinien
Wenn im Schrifttum geltend gemacht wird, die Frage der zulässigen Regelungsintensität von Richtlinien sei mittlerweile - trotz der Legaldefinition des Art. 189 Abs. 3 EG-Vertrag - dahingehend geklärt, daß je nach Regelungsgegenstand auch außerordentlich detaillierte Richtlinien gestattet seien und der in den sechziger Jahre geführte Streit lO6 über diese Frage inzwischen durch die Praxis und die sie bestätigende Rechtsprechung überholt sei,107 so wird dabei übersehen, daß diese Problematik eine Renaissance erfahren hat:
105 Die Beantwortung der Frage, ob es sich bei der Entwicklung der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien durch den Gerichtshof um zulässige richterliche Rechtsfortbildung handelt, kann hier außen vor bleiben; vgl. BVertDE 75, 223 ff. und Ausfilhrungen sogleich unter 6. Teil A. 11. 2. b). 106 Vgl. die ausfilhrliche Darstellung bei Oldekop, S. 85 ff. 107 Bleckmann, EuropaR, Rdnr. 150; Wägenbaur, ZG 1988, 303 (311); vgl. auch DaigiSchmidt, in: v. d. GroebenffhiesinglEhlermann, Art. 189 Rdnr. 37; Oppermann, EuropaR, Rdnr. 460, begründet das mit der "praktischen Notwendigkeit".
A. Eindämmung des Konfliktpotentials
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a) Auswirkungen des Subsidiaritätsprinzips
Dies ist nicht zuletzt durch die Einfügung des Subsidiaritätsprinzips in den EG-Vertrag bedingt. 108 Ein Tätigwerden der Gemeinschaft ist gemäß Art. 3 Abs. 2 EG-Vertrag nämlich nur zulässig, "sofern und soweitlO9 " die Voraussetzungen der Vorschrift gegeben sind. Damit trifft das Subsidiaritätsprinzip auch eine Aussage darüber, wie intensiv eine Gemeinschaftsregelung ausfallen darf. IIO Es verpflichtet folglich zu einer doppelten Prüfung. Es verlangt nicht nur, festzustellen, ob im Hinblick auf die angestrebten Zielsetzungen überhaupt ein Handeln auf Gemeinschaftsebene erforderlich ist, sondern - wird diese Frage bejaht - auch das "Wie" des Gemeinschaftshandelns zu überprüfen. 111 Das heißt also, nicht nur der Regelungsbedarf, sondern auch die Regelungsintensität einer Maßnahme müssen den Anforderungen der Subsidiarität genügen. Die Intensität einer Maßnahme muß so bemessen sein, daß den Mitgliedstaaten für ihre Durchführung der größtmögliche Handlungsspielraum gelassen wird. 1I2 Zunächst bedeutet das, die gemeinschaftsrechtlichen Rechtsetzungsorgane dürfen für die jeweilige Maßnahme nur diejenige Handlungsform wählen, welche die Mitgliedstaaten am wenigsten belastet. Bei der Alternativität von Richtlinie und Verordnung kann es demnach geboten sein, statt der unmittelbar wirkenden Verordnung eine Richtlinie zu erlassen. 113 Dies führt allerdings nicht zu einer Verringerung, sondern eher zu einer Steigerung des Potentials für einen Konflikt zwischen Richtlinienvorgaben und deutschen Grundrechten.
108Ygl. Pechstein, DÖY 1991, 535 (538). 109 Hervorhebung der Yerfasserin. 110 Im Schrifttum wird die zulässige Regelungsintensität einer Maßnahme zum Teil nicht an Abs. 2, sondern an Abs. 3 des Art. 3 EG-Yertrag gemessen: vgl. zum Beispiel Jarass, S. 28 f. Für das Ergebnis macht es keinen Unterschied, aufweichen Absatz man abstellt. 111 So ist auch das Europäische Parlament in seiner Entschließung zum Subsidiaritätsprinzip, ABlEG Nr. C 231 vom 17.9.1990, Punkt 11, 163 (165), "... der Ansicht, daß das Subsidiaritätsprinzip ... auch ausschlaggebend fUr die Art und Weise (ist), in der diese Zuständigkeiten wahrgenommen werden"; SchmidhuberlHitzler, EuZW 1993, 8 (9 f.); dies., NYwZ 1992, 720 (723); OppermannlClassen, NJW 1993,5 (8). 112 Bericht der Kommission an den Europäischen Rat über die Anpassung der geltenden Rechtsvorschriften an das Subsidiaritätsprinzip, BRDrucks. 950/93, S. 1. 113Ygl. Jarass, S. 29; Schmidhuber, DYBI. 1993,417 (419); Pieper, Subsidiarität, S.269; Möschel, NJW 1993,3025 (3026); Scheiter, EuZW 1990,217 (218); Kirchhof, EuR- Beiheft 11991, 11 (21), der dies allerdings unabhängig vom Subsidiaritätsprinzip fUr geboten erachtet; so auch der Europäische Rat in seiner Stellungnahme von Edinburgh, Tagung der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaft am 11.-12. Dezember 1992, abgedr. bei Merten, Die Subsidiarität Europas, 136 (141). 16 Rickert
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Sechster Teil: Eigener Lösungsansatz
Ist jedoch die Entscheidung rur die Richtlinie gefallen, so ist das Hauptaugenmerk auf die erforderliche Regelungsintensität zu richten. Die jeweilige Richtlinie darf nur das notwendige Mindestmaß regeln. 114 Die betreffende Maßnahme muß so gewählt werden, daß die Mitgliedstaaten am wenigsten belastet und deren Kompetenzen am wenigsten beeinträchtigt werden. So braucht die Gemeinschaftsregelung vielfach nicht in einer Totalharmonisierung bestehen, um eine effektive Ziel verwirklichung zu erreichen. Häufig genügen hierzu schon Rahmenregelungen, die auf mitgliedstaatliche Ausflillung angelegt sind. Hinsichtlich der unterschiedlichen nationalen Regelungen sollte dann eine gegenseitige Anerkennung angestrebt werden. Läßt eine bestimmte Materie den Erlaß von Rahmenvorgaben nicht zu, so kann die Gemeinschaft auch einen anderen Weg im Sinne der Subsidiarität einschlagen: Sie kann sich darauf beschränken, Mindeststandards festzulegen. Eine ausdrückliche Beschränkung auf Mindeststandards ist im EG-Vertrag zwar nur im Bereich des Arbeitsund Sozialrechtes in Art. 118 a Abs. 2 EG-Vertrag vorgesehen, läßt sich aber auch auf alle anderen Regelungsbereiche übertragen. Den einzelnen Mitgliedstaaten bleibt es danach vorbehalten, strengere nationale Vorschriften zu erlassen oder beizubehalten. Voraussetzung hierfür ist allerdings, daß - entsprechend der Wertung in Art. 100 a EG-Vertrag - die strengeren nationalen Anforderungen zum Schutze wichtiger Rechtsgüter erforderlich sind. 115 Die Beschränkung auf die Festlegung von Mindeststandards wird in einigen Bereichen auch bereits praktiziert. So sieht beispielsweise die oben behandelte Etikettierungsrichtlinie vor, daß die Wamhinweise mindestens 4% der Frontflächen einer Zigarettenpackung in Anspruch nehmen. Der britische Umsetzungsakt zu dieser Richtlinie verlangt jedoch, daß der jeweilige Wamhinweis mindestens 6% der entsprechenden Fläche einnimmt. Diese Regelung ist vom Europäischen Gerichtshof gebilligt worden. 116 Auch in einem anderen Fall hat sich der Rat die Alternative des Operierens mit Mindeststandards sehr schnell zu eigen gemacht: Bei der Festlegung des gemeinsamen Standpunktes zu dem Vorschlag einer Richtlinie über Abflille der Titandioxydindustrie im Juni 1992 rugte er einstimmig eine Bestimmung ein, nach der die Mitgliedstaaten strengere Umweltvorschriften beibehalten oder erlassen dürfen, als die Richtlinie sie vorsieht. 117
114 Pechstein, DÖV 1991,535 (541). 115Schmidhuber/Hitzler, EuZW 1993,8 (10); Möschel, NJW 1993,3025 (3027); Scheiter, EuZW 1990,217 (218). 116EuGH Rs. C-II/92, EuZW 1993,642 f. - Rothmanns. 117 Bulletin der EG 6-1992, S. 75 f.
A. Eindämmung des Konfliktpotentials
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Auch in anderen Bereichen des Umweltrechtes hat bereits eine diesbezügliche Anpassung an die Erfordernisse der Subsidiarität stattgefunden. Zum Beispiel sollen die bisherigen Richtlinien über die Regelung der Gewässerqualität durch Rahmenrichtlinien ersetzt werden, die dem Subsidiaritätsprinzip insofern Rechnung tragen, als sie sich auf die Vorgabe von Zielen beschränken und die Festlegung der Mittel den Mitgliedstaaten überlassen. Darüber hinaus sollen diese Regelungen nur die fiir die Qualität und Genußtauglichkeit des Wassers maßgeblichen Parameter aufstellen und den Mitgliedstaaten ansonsten die Möglichkeit belassen, auf Wunsch zusätzliche Parameter hinzuzufiigen. 118 Auch in anderen Bereichen hat die Kommission in Angriff genommen, ihr unterbreitete Vorschläge zu überarbeiten und als bloße Rahmenregelungen auszugestalten, die von den Mitgliedstaaten in eigener Hoheit ausgefiihrt werden können. Dies gilt unter anderem fur die Vorschläge über die vergleichende Werbung 11 9 und die Haftung für fehlerhafte Dienstleistungen. I2O Die Überprüfung durch die Kommission macht auch nicht vor den binnenmarktrelevanten Bereichen halt. Denn auch das Gemeinschaftsziel "Harmonisierung des Binnenmarktes" verlangt keine Totalharmonisierung. Dies hat der Gemeinschaftsgesetzgeber erkannt, indem er sich bei der Abschaffung technischer Handelshemmnisse nunmehr darauf beschränkt, die zum Schutz übergeordneter Schutzgüter wie Leben, Gesundheit, Umweltschutz und Verbraucherschutz unabdingbaren Mindestvorschriften festzulegen, und im übrigen darauf drängt, daß die Mitgliedstaaten die verschiedenen nationalen Bestimmungen gegenseitig anerkennen. 121 Wenn geltend gemacht wird, im Bereich der Regelung technischer Standards komme man häufig nicht umhin, auf Gemeinschaftsebene bereits Details vorzugeben,122 so läßt sich den Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Edinburgh Gegenteiliges entnehmen. Dort heißt es: "Im Bereich der technischen Vorschriften gilt es, eine Reihe von Richtlinien zu straffen, deren technische Spezifikationen zu detailliert sind und nach dem neuen Harmonisierungskonzept durch die Festlegung der wesentlichen Anforderungen ersetzt werden könnten, denen die fraglichen Erzeugnisse genügen müssen, um zum freien Verkehr in der Gemeinschaft zugelassen zu werden."123 Beispielhaft werden die 118 Bericht der Kommission an den Europäischen Rat über die Anpassung der geltenden Rechtsvorschriften an das Subsidiaritätsprinzip, BRDrucks. 950/93, S. 21 f. 119 AblEG Nr. C 180 v. 11.7.1991, S. 14 ff. 120 AblEG Nr. C 12 v. 18.1.1991, S. 8 ff. 121 Vgl. Schmidhuber, DVBI. 1993,417 (421). 122 Vgl. Ausfilhrungen soeben unter 6. Teil A. 11. I. d). 123 Abgedr. bei Merten, Die Subsidiarität Europas, 136 (145). 16"
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Sechster Teil: Eigener Lösungsansatz
Richtlinien im Bereich der Lebensmittel (Konfitüren, natürliche Mineralwässer, Kaffee-Extrakt, Fruchtsäfte) genannt. Aber auch die Niederspannungsrichtlinien und die Richtlinien über Arbeitsmittel sind in diesem Kontext zu erwähnen. Diese Beispiele dokumentieren, daß selbst im Bereich technischer Standards durchaus mit Rahmenrichtlinien gearbeitet werden kann und eine vollständige Durchnormierung nicht erforderlich ist. Folglich ist die Argumentation, in diesem Bereich seien verordnungsähnliche Richtlinienvorgaben zwingend erforderlich, nicht länger tragbar. Auch hier gilt es, den Eingriff in die mitgliedstaatlichen Kompetenzen möglichst schonend zu gestalten, was wiederum positive Rückwirkung auf den Grundrechtskonflikt hat. Die durch die Einfügung des Subsidiaritätsprinzips in den EG-Vertrag gewonnene Überprüfung gemeinschaftsrechtlicher Richtlinien und das wiedergewonnene Bewußtsein hinsichtlich der Beschränkung der RegeIungsintensität von Richtlinien ergibt sich zwar bereits unmittelbar aus Art. 189 Abs. 3 EGVertrag, so daß es der Einfügung des Subsidiaritätsprinzips - zumindest in dieser Hinsicht - an sich gar nicht bedurft hätte, um zu diesen Ergebnissen zu gelangen. Im Schrifttum wird daher auch zu Recht geltend gemacht, die Richtlinie stelle die Konkretisierung des Subsidiaritätsgrundsatzes dar. 124 Doch hat die vor allem von der Bundesrepublik Deutschland veranlaßte Aufnahme des Prinzips in den Vertrag in jedem Fall dazu beigetragen, die Richtlinie vor einer Verwässerung ihrer Konturen zu bewahren. Sogar diejenigen, welche von der völligen Gestaltungsfreiheit des Richtliniengesetzgebers ausgehen, gestehen zu, daß eine allgemein abgefaßte Richtlinie, die den Mitgliedstaaten Gestaltungsspielräume beläßt, dem Subsidiaritätsprinzip eher genügt als die bisherige Richtlinienpraxis. 125 Es bleibt zu hoffen, daß sich insbesondere das Hauptrechtsetzungsorgan Rat auch langfristig dem Subsidiaritätsprinzip verpflichtet fühlt und dies auch durch eine entsprechende Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften stetig angemahnt wird. Die nunmehr eingeleitete Rückbesinnung auf die ursprüngliche Konzeption der Richtlinie läßt jedenfalls hoffen, daß den nationalen Umsetzungsorganen aufgrund weiterer Gestaltungsspielräume verstärkt die Möglichkeit eingeräumt wird, grundrechtswidrigen Vorgaben durch die Ausnutzung dieser Freiräume auszuweichen, um der Grundrechtsbindung gemäß Art. lAbs. 3 GG Rechnung zu tragen. 124Pieper, DVBI. 1993, 705 (708); ders., Subsidiarität, S. 190; vgl. auch Hilf, EuR 1993, 1 (2,5). 125 Wägenbaur, ZG 1988,303 (312); vgl. auch Ehlennann, EuR - Beiheft 1 - 1991, 56 (59).
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b) Mahnung des Bundesverfassungsgerichtes im "Maastricht"-Urteil
Die Wiederbelebung der Problematik spiegelt sich auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes wieder. Die Frage der zulässigen Regelungsintensität und der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien schien mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 8. April 1987 126 abschließend geklärt zu sein. Mit dem Beschluß hob das Gericht die Entscheidung des Bundesfinanzhofes vom 25. April 1985 127 auf, in welcher der Bundesfmanzhof die vom Gerichthof entwickelte unmittelbare Wirkung von Richtlinien als nicht mehr vom deutschen Zustimmungsgesetz zum EWG-Vertrag gedeckt erachtete. Der Bundesfinanzhof hatte geltend gemacht, die Richtliniensetzung begründe ein zweistufiges Rechtsetzungsverfahren: Auf der ersten Stufe werde der Inhalt und die Umsetzungsfrist der betreffenden Richtlinie bestimmt, während auf der zweiten Stufe die fristgerechte Umsetzung der inhaltlichen Vorgaben der Richtlinie in innerstaatliches Recht vollzogen werde. Demnach sei den Gemeinschaftsorganen die Kompetenz mittelbarer Rechtsetzung eingeräumt, es sei ihnen aber nicht gestattet, der Richtlinie ähnliche Wirkung wie einer Verordnung beizulegen, die gemäß Art. 189 Abs. 2 EWG-Vertrag in jedem Mitgliedstaat unmittelbare Geltung entfalte. Der Gemeinschaft sei auch nicht die Kompetenz übertragen worden, im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung Richtlinien eine entsprechende Wirkung zuzusprechen. 128 Das Bundesverfassungsgericht stellte sich jedoch hinter die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes. Nach seiner Auffassung hielten sich sowohl die kompetenzrechtlichen als auch die materiell-rechtlichen Entwicklungen des Gerichtshofes zu der Rechtsnatur von Richtlinien im Rahmen des Zustimmungsgesetzes zum EWG-Vertrag. Der Gerichtshof nehme mit seiner Auffassung zu der Rechtsnatur von Richtlinien nicht eine Normsetzungsbefugnis nach Art einer Verordnung rur die Gemeinschaft in Anspruch. Er beschränke sich vielmehr auf eine genauere Ausgestaltung einer bestehenden Kompetenz. Das Bundesverfassungsgericht gestand zwar zu, daß die Möglichkeit des einzelnen, sich auf eine Richtlinie zu berufen, faktisch normative Wirkung habe. Sinn und Zweck sei aber, die mit dem Richtlinienerlaß verbundene Verpflichtung zur Umsetzung durchzusetzen und die Nichtbefolgung des Umsetzungsbefehles entsprechend zu sanktionieren. Darin sei zwar eine Rechtsfortbildung durch 126 BVerfDE 75, 223 ff. 127BFH, EuR 1985, 191 ff.; vgl. auch die Cohn-Bendit-Entscheidung des französischen Conseil d'Etat, EuR 1979, 292 ff. 128BFH, EuR 1985, 191 (196).
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Sechster Teil: Eigener Lösungsansatz
den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften zu sehen. Diese sei aber von dem nationalen Zustimmungsgesetz gedeckt, weil der Gerichtshof befugt sei, bestehende Kompetenzen der Gemeinschaft im Lichte und im Einklang mit den Vertragszielen auszulegen und zu konkretisieren. Zwar unterliege auch diese Auslegung bestimmten Grenzen, diese zu überschreiten, davon sei der Gerichtshof mit seiner Rechtsprechung zu Richtlinien aber weit entfernt. 129 Akzeptierte das Bundesverfassungsgericht die vom Gerichtshof entwickelte Möglichkeit der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien, so nahm es gleichzeitig eine zunehmende Regelungsintensität der gemeinschaftsrechtlichen Richtlinien hin. Denn unmittelbare Wirkung kann eine Richtlinie nur dann entfalten, wenn sie dermaßen detaillierte Bestimmungen enthält, daß eine inhaltliche Ausgestaltung im Rahmen der nationalen Implementation nicht mehr erforderlich ist. Folglich tolerierte das Bundesverfassungsgericht auch, daß Richtlinien - entgegen ihrer EWG-vertraglichen Konzeption - so detaillierte Inhalte aufweisen, daß sie einer mitgliedstaatlichen Konkretisierung nicht mehr zugänglich sind. Mit dem "Maastricht"-Urteil scheint es, eine diesbezügliche Kehrtwende einzuläuten. Es weist darauf hin, daß wesentliche Änderungen des vertraglich festgelegten Integrationsprogrammes und der dort normierten Handlungsermächtigungen nicht mehr vom Zustimmungsgesetz zu diesem Vertrag gedeckt seien. Die deutschen Staatsorgane seien aus verfassungsrechtlichen Gründen gehindert, Rechtsakte der im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft tätigen Organe in Deutschland anzuwenden, die auf einer Handhabung oder Fortbildung des Vertrages beruhten, die vom Vertrag, wie er dem deutschen Zustimmungsgesetz zugrunde liege, nicht mehr gedeckt sei. Im Falle der Überschreitung der im EG-Vertrag eingeräumten Kompetenzen durch die Gemeinschaftsorgane könne der jeweiligen Maßnahme keine innerstaatliche Verbindlichkeit zukommen. \30 Das Gericht geht mit dieser Aussage im "Maastricht"Urteil zwar nicht ausdrücklich auf die Rechtsprechung des Gerichtshofes zu Richtlinien ein, doch drängt sich der Bereich des Richtlinienerlasses als offensichtliches Beispiel ftlr eine Ausdehnung des E(W)G-Vertrages zugunsten der Gemeinschaftsorgane auf. Schließlich hat der Gerichtshof seine ihm gemäß Art. 164 EG-Vertrag zugewiesene Aufgabe, "die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des Vertrags zu sichern", im Bereich der Richtliniengesetzgebung seit 1987 stetig weiter ausgedehnt. Spätestens seit dem 129
BVerfDE 75, 223 (242 f.); noch einmal bestätigt vom Ersten Senat: BVerfDE 85,191 ff. 89, 155 (Leitsatz 6, 186 ff.).
130 BVerfDE
A. Eindämmung des Konfliktpotentials
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"Francovich"-Urteil 131 , in dem die mitgliedstaatliche Staatshaftung entwickelt wurde, kann ein Eingriff in das Gestaltungsermessen des Gemeinschaftsverfassungsgebers, also der Mitgliedstaaten, nicht mehr geleugnet werden. 132 Er hat nämlich das primäre Gemeinschaftsrecht geändert, indem er einen Schadensersatzanspruch etabliert hat, den die Mitgliedstaaten nicht vorgesehen haben. Ansonsten hätten sie ihn im Rahmen der durch den "Maastrichter"-Vertrag bedingten Änderungen des EG-Vertrages in den Vertrag aufnehmen können. 133 Diese qualitative Weiterentwicklung der Unmittelbarkeitsrechtsprechung gibt Anlaß, die Frage nach der Grenze der zulässigen Modifizierung des Rechtsetzungsinstrumentes Richtlinie erneut aufzurollen. 134 c) Bestätigung des Rechtsetzungsinstrumentes Richtlinie durch den Maastrichter-Vertrag
Noch ein weiterer Gesichtspunkt läßt sich fUr die Wiederbelebung der ursprünglichen Konzeption der Richtlinie anfUhren. Als Reaktion auf die Entfremdung der Richtlinie von der Legaldefinition des Art. 189 Abs. 3 des EGVertrages wurde im Vorfeld des Maastrichter-Vertrages darüber nachgedacht, das Rechtsetzungsinstitut der Richtlinie ganz abzuschaffen. Der ehemalige Kommissionspräsident Jacques Delors schlug vor, die Richtlinie durch ein von dem Europäischen Parlament und dem Rat zu beschließendes "Gesetz" ("la loi") zu ersetzen. Mit dem Vorschlag war das Ziel verbunden, den nationalen und regionalen Entscheidungsorganen einen breiten Spielraum zu belassen, der sie in die Lage versetzen sollte, eine an lokale Anforderungen angepaßte Umsetzung vorzunehmen. Das "Gesetz" sollte folglich die Funktion erfUllen, welche der Richtlinie nach dem Konzept des Art. 189 Abs. 3 des Vertrages an sich zugedacht war, die aber aufgrund der Praxis der Detailregulierung zunehmend verlorengegangen ist. 13S Dieser Vorschlag dokumentiert, daß sich die Mitgliedstaaten des Dilemmas der Richtlinie durchaus bewußt sind und eine allgemeine Unzufriedenheit hinsichtlich der derzeitigen Rechtsetzungspraxis besteht. Indem sie sich mit dem Maastrichter-Vertrag aber fUr die Beibehaltung der Richtlinie entschieden haben, haben die sich gleichzeitig fUr eine WiederbeleVgl. Fn. 20 in diesem Teil. auch Neßler, RlW 1993, 206 (213); Hailbronner, JZ 1992, 284 (287). 133 Ossenbühl, DVBI. 1992,993 (995). 134 Auch Götz, JZ 1993, 1081 (1084), bewertet die Aussage im "Maastricht"-Urteil als Abkehr von der Entscheidung vom 8. April 1987; vgl. auch Tomuschat, EuGRZ 1993,489 (494). 13S Hauschild, in: Europäische Integration und nationalstaatliche Verwaltung, ISS (156). 131
132 So
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Sechster Teil: Eigener Lösungsansatz
bung der zweistufigen Rechtsetzung und der Bedeutung der Legaldefinition des Art. 189 Abs. 3 EG-Vertrag entschieden. J36 d) Fazit
Wenn geltend gemacht wird, die Legaldefinition des Art. 189 Abs. 3 EGVertrag sei durch die Rechtsetzungspraxis längst überholt, so übersehen die Vertreter dieser Ansicht, daß die ursprüngliche Konzeption der Richtlinie durch die Einfiigung des Subsidiaritätsprinzips in den EG-Vertrag eine Renaissance erfahren hat. Kommt der ursprünglichen zwei stufigen Konzeption der Richtlinie nunmehr neue Bedeutung zu, ist künftig mit dem Erlaß weniger regelungsintensiver Richtlinien zu rechnen; damit einhergehend hat der nationale Gesetzgeber auch weitreichendere Möglichkeiten, etwa in den Richtlinien angelegten Grundrechtswidrigkeiten im Rahmen der Umsetzung auszuweichen. Damit hat die Rückbesinnung auf Art. 189 Abs. 3 EG-Vertrag auch positive Auswirkungen auf die Grundrechtsproblematik. 3. Anleihen an die Reform der Rahmengesetzgebungskompetenz im Grundgesetz
Neben den durch die Auslegung des Art. 189 Abs. 3 EG-Vertrag gewonnenen und durch das Subsidiaritätsprinzip konkretisierten Regeln, wann die vom deutschen Zustimmungsgesetz gedeckte Regelungsdichte überschritten ist, können aufgrund der Vergleichbarkeit der Sachverhalte und der Interessenlagen hierfiir auch die vom Bundesverfassungsgericht zur Rahmengesetzgebung gemäß Art. 75 GG entwickelten Grundsätze und die diesbezüglich durch die Tätigkeit der Gemeinsamen Verfassungskommission diskutierten Ansätze und die daraus hervorgegangene Verfassungsänderung herangezogen werden. 137 Anlaß filr die Reform der deutschen Rahmengesetzgebungskompetenz war der zunehmende "zentralstaatliche Sog"l38 in der Bundesrepublik. Die Art und Weise der Wahrnehmung der Rahmengesetzgebungskompetenz durch den Bundesgesetzgeber beließ den Ländern selten Raum zur Ausfilllung mit Regelungen von substantiellem Gewicht. Der Bund hat vielfach bis ins Detail gehende oder sogar erschöpfende Regelungen getroffen und sich dabei nicht auf eine Adressierung an die Länder beschränkt, sondern auch den Bürger unmitJ36Vgl. auch Hilf, EuR 1993, 1 (20). auch SteinberglBritz, DÖV 1993,313 (322); Bleckmann, EuropaR, Rdnr. 149. 138 Erichsen, Jura 1986, 337. 137 Vgl.
A. Eindämmung des Konfliktpotentials
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telbar bindendes Recht gesetzt. 139 Auch das Bundesverfassungsgericht versäumte es, dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten. 14o Insofern entspricht die innerstaatliche Entwicklung der Rahmenkompetenz im Verhältnis zwischen Bund und Ländern der Entwicklung des Verhältnisses von Europäischer Gemeinschaft und Mitgliedstaaten im Bereich der Rechtsetzung durch Richtlinien. Diese Parallele ist vom deutschen verfassungsändernden Gesetzgeber selbst noch dadurch unterstrichen worden, daß Art. 75 Abs. 3 GG nunmehr eine Verpflichtung der Länder vorsieht, innerhalb einer gesetzten Frist die zur Sicherung der Rahmenvorgaben des Bundes erforderlichen Landesgesetze zu erlassen. Zwar konnten sich die Länder in der Reformdiskussion mit ihrem Verlangen nicht durchsetzen, wonach dem Bund Detailvorschriften, Vollregelungen und der Erlaß unmittelbar geltenden Rechtes vollständig untersagt werden sollte, weil von seiten des Bundes die Notwendigkeit, bestimmte Sachgebiete auch bis ins Detail regeln zu können, überzeugend dargelegt wurde. Jedoch beschränkt der neugefaßte Art. 75 Abs. 2 GG die Möglichkeit des Erlasses von in Einzelheiten gehenden oder unmittelbar geltenden Regelungen auf Ausnahmefälle mit der Konsequenz, daß Vollregelungen jedenfalls grundsätzlich unzulässig sind. Dabei sind die Fälle, in denen der Rahmencharakter ausnahmsweise durchbrochen werden darf, auch justitiabel. I41 Auf diese Weise kann einer erneuten Verkehrung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses vorgebeugt werden. Macht man diese im innerstaatlichen Bereich anhand der Rahmengesetzgebung gewonnen Erfahrungswerte für den Richtlinienerlaß in der Europäischen Gemeinschaft fruchtbar, so bedeutet das zwar keine vollständige Untersagung von Detailrichtlinien, so aber doch - anders als bisher - eine eindeutig~ Begrenzung von Vollregelungen auf Ausnahmefälle. Während Richtlinien bislang punktuelle Vollregelungen und detaillierte, der Präzisierung und Konkretisierung weder bedürftige noch fähige Vorgaben enthalten durften,142 würden nunmehr im Regelfall nur noch auf eine mitgliedstaatliche Konkretisierung angelegte oder einer Konkretisierung gar bedürftige Zielfestlegungen gestattet sein. 143 Auf diese Weise würde sich auch die Zahl der Richtlinien verringern, 139 Bundesrat, Kommissions-Drucks. 11, S. 9; Bericht des Freistaates Bayern, Arbeitsunterlage Nr. 5, S. 5; Klotz, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 52-53/93,39 (40 f.). 140 Vgl. stRspr. des BVerfG seit BVerfGE 4, 115 (128 f.); siehe Fn. 103 in diesem Teil. 141 Klotz, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 52-53/93, 39 (41). 142 Pemice, EuR 1994, 325 (328). 143 Auch SteinberglBritz, DÖV 1993,313 (322), schlagen eine Anlehnung an die reformierte nationale Rahmengesetzgebungskompetenz vor.
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Sechster Teil: Eigener Lösungsansatz
welche im Falle der fehlenden oder unzulänglichen Umsetzung aufgrund ihrer Detailliertheit unmittelbare Wirkung entfalten könnten, und der nationale Umsetzungsgesetzgeber sähe sich seltener zu dem Erlaß einer grundrechtswidrigen innerstaatlichen Norm verpflichtet. Die Parallele zur deutschen Rahmengesetzgebung vermag zwar keine Pflicht des europäischen Richtliniengesetzgebers zu begründen, sie kann ihm aber als zusätzliche Orientierungshilfe bei der Wiederbelebung der zweistufigen Rechtsetzung dienen. III. Ergebnis
Die rechtliche Pflicht, den Anforderungen der Subsidiarität zu genügen, stellt sicherlich keine Garantie für die Reduzierung der Gesamtzahl neu erlassener Richtlinien und für die Einräumung hinreichender Gestaltungsfreiräume dar, um eventuellen in einer Richtlinie angelegten Grundrechtswidrigkeiten auszuweichen, weil den Gemeinschaftsorganen bei der Bewertung jedes Einzelfalles ein Beurteilungsspielraum einzuräumen ist. 144 Sie kann aber zumindest einen Beitrag dazu leisten, daß die Gemeinschaftsorgane die mitgliedstaatlichen Grundrechtsstrukturen bewußter zur Kenntnis nehmen und in ihre Normsetzungserwägungen einbeziehen. Unterstützt wird dies jedenfalls durch die Begründungspflicht des Art. 190 EG-Vertrag, wonach im Rahmen der Erwägungsgründe, die zum Erlaß einer Richtlinie geführt haben, auch zur Subsidiarität Stellung bezogen werden muß. Schließlich sei angemerkt, daß die hier aufgezeigte Verpflichtung der gemeinschaftsrechtlichen Rechtsetzungsorgane zur Überprüfung der Erforderlichkeit einer europäischen Regelung und deren Regelungsintensität die rechtliche Voraussetzung für einen fUr die weitere Entwicklung der Integration maßgeblichen Gesichtspunkt darstellt: Nur wenn die Gemeinschaft hinreichend Rücksicht auf nationale Besonderheiten wie zum Beispiel bestimmte Grundrechtssensibilitäten nimmt, wird die auf Gemeinschaftsebene in Angriff genommene Integration auf der Ebene der Mitgliedstaaten akzeptiert und innerstaatlich vollzogen. Da aber regelungsintensive Richtlinien nach wie vor auftreten können und das Rechtsetzungsinstrument der Richtlinie im Verhältnis zur Verordnung an sich die geeignetere Handlungsform ist, um den Anforderungen der Subsidiarität Rechnung zu tragen und daher auch nicht mit einem einschneidenden Rück144 Möschel, NJW 1993,3025 (3027); Schmidhuber/Hitzler, NVwZ 1992,720 (722), die davon ausgehen, daß der EuGH der Kommission und dem Rat einen erheblichen Ermessensspielraum einräumen wird; so auch Jarass, S. 22.
B. Entwicklung eines grundrechtlichen Kollisionsrechtes
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gang der Zahl der erlassenen Richtlinien zu rechnen ist, kann dennoch nicht ausgeschlossen werden, daß es zukünftig zu den beschriebenen Grundrechtskonflikten im Rahmen der Richtliniensetzung kommen wird. Für die verbleibenden Fälle, die bei der nunmehr eingeleiteten Rückbesinnung auf die ursprüngliche Konzeption der Richtlinie zwar abnehmen werden, aber keineswegs ausgeschlossen werden können, muß weiterhin eine Kollisionslösung entwickelt werden.
B. Entwicklung eines grundrechtlichen Kollisionsrechtes Nachfolgend wird der Versuch unternommen, Regeln zu entwickeln, um den Konflikt zwischen verbindlichen grundrechtswidrigen Richtlinienvorgaben und der Grundrechtsbindung des deutschen Umsetzungsgesetzgebers gemäß Art. I Abs. 3 GG im Einzelfall einer Lösung zufuhren zu können. Es sei noch einmal in Erinnerung gerufen, daß das auf Art. 24 Abs. 1 GG beziehungsweise nunmehr auf Art. 23 GG gestützte Zustimmungsgesetz zum E(W)G-Vertrag auch zu der Anwendung solchen Rechts ermächtigt, durch das Grundrechte eingeschränkt werden. Die Grundrechtsbindung gemäß Art. 1 Abs. 3 GG erfilhrt insofern eine Relativierung. Maßgeblich ist demnach die Reichweite des innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehles beziehungsweise - aus der verfassungsrechtlichen Perspektive gesprochen - dieTragweite des Art. 1 Abs. 3 GG bei der Begrenzung des innerstaatlichen Umsetzungsbefehles.
I. Anleihen an das Internationale Privatrecht Die Wirkungsweise der Begrenzung des innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehles erinnert an den ordre public-Vorbehalt im Internationalen Privatrecht. 145 Dort wird der ordre public relevant, wenn die Anwendung ausländischer, durch das EGBGBI46 berufener Sachnormen im Widerspruch zu den obersten Leitprinzipien der innerstaatlichen Rechtsordnung, insbesondere zu deutschen Grundrechten, steht. Die ausländische Sachnorm beruht zwar auf ausländischer Staatsgewalt und unterliegt damit nur der Bindungswirkung der 145 So andeutungsweise auch Randelzhofer, in: MaunzlDUrig, Art. 24 Abs. I Rdnr. 135 Fn. 385; Schneider, VVDStRL 18 (1960), 97; deutlicher Seuffert, in: Schmid·FS, 169 (178 f., 183); vgl. auch Furrer, S. 90 f.; Martiny, in: Europäisches Gemeinschaftsrecht und Internationales Privatrecht, 211 (213). 146 Einfilhrungsgesetz zum BUrgerlichen Gesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 21. September 1994 (BGBI. I, S. 2494 ff.).
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Sechster Teil: Eigener Lösungsansatz
jeweiligen ausländischen Verfassungsrechtsordnung. 147 Sie ist mithin - ebenso wie sekundäres Gemeinschaftsrecht - nicht am deutschen Grundgesetz, also auch nicht an deutschen Grundrechten, zu messen. Verstöße gegen die Grundrechtsgewährleistungen des Grundgesetzes lassen ihre Wirksamkeit somit unberührt. Jedoch fällt die Anwendung der ausländischen Sachnorm, die durch die Kollisionsnormen des deutschen Internationalen Privatrechtes berufen wird, in die nationale Sphäre. Da die gesamte deutsche Hoheitsgewalt gemäß Art. 1 Abs. 3 GG der Bindungswirkung der Grundrechte unterliegt, sind die deutsche Exekutive und Judikative auch in Fällen mit Auslandsberührung bei der Anwendung des ausländischen Sachrechtes grundsätzlich an die Grundrechte gebunden. 148 Problematisch wird dies allerdings, wenn das Ergebnis der Anwendung der ausländischen Rechtsnorm im Widerspruch zu innerstaatlichen Grundrechtsgarantien steht. Ebenso wie für den nationalen Umsetzungsgesetzgeber im Falle des Konfliktes zwischen Richtlinieninhalt und nationalen Grundrechten stellt sich somit auch hier die Frage, wie dieser Normenkonflikt zu lösen ist. Im Internationalen Privatrecht gibt der ordre public nach Art. 6 EGBGB hierauf eine Antwort. Nach Satz 1 dieser Vorschrift ist "eine Rechtsnorm eines anderen Staates nicht anzuwenden, wenn ihre Anwendung zu einem Ergebnis führt, das mit den wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist". Nach Satz 2 gilt jede Grundrechtsverletzung, die sich im Einzelfall durch die Anwendung fremden Rechtes ergibt, als "offensichtlicher" Verstoß gegen wesentliche Grundsätze des deutschen Rechts. Mit dieser Vorschrift sind die Aussagen des Bundesverfassungsgerichtes im sogenannten "Spanier"-Beschluß vom 4. Mai 1971 in Gesetzesform gegossen worden. Dort leistete das Gericht einen wesentlichen Beitrag zu der Beantwortung der Frage der Grundrechtsgeltung bei der Anwendung ausländischen Sachrechtes durch die deutsche Staatsgewalt, indem es feststellte: "Auch im Internationalen Privatrecht ist von der Leitnorm des Art. lAbs. 3 GG auszugehen, die im Geltungsbereich des Grundgesetzes alle staatliche Gewalt mit unmittelbarer Wirkung an die Grundrechte bindet." Bei der Anwendung des ausländischen Rechts ginge es nicht an, "die verfassungsrechtliche Prüfung auszusetzen und die Betroffenen ohne den Schutz der Grundrechte dem ungewissen Ergebnis der jeweiligen Anwendung des durch die Kollisionsnorm berufenen ausländischen Rechts zu überlassen. Die Grundrechte bilden einen untrennbaren Teil 147Vgl. auch BVerfDE 18, 385 (387 f.); 22, 91 (92); 22, 293 (297); 58, 1 (26 f.); 63, 181 (194 f.); 66, 39 (56 f.). 148 BVerfDE 31,58 (73 f.); Roth, S. 210.
B. Entwicklung eines grundrechtlichen Kollisionsrechtes
253
der Verfassung; sie sind der eigentliche Kern der freiheitlich-demokratischen Ordnung des staatlichen Lebens im Grundgesetz"149. Aus diesem Grunde unterwirft das Bundesverfassungsgericht auch die innerstaatliche Anwendung ausländischer Sachnormen der deutschen Grundrechtsordnung. Damit soll andererseits aber auch kein deutscher "Grundrechtsoktroi"150 betrieben werden. 151 Nicht jede Rechtsanwendung, die bei einem reinen Inlandsfall grundrechtswidrig wäre, widerspreche der deutschen öffentlichen Ordnung. 152 Die Abweichung des nach dem Internationalen Privatrecht anwendbaren fremden Rechtes von einer nationalen Grundrechtsbestimmung bedeute folglich nicht stets eine Grundrechtsverletzung im Sinne von Art. 6 Satz 2 EGBGB. Maßgeblich sei vielmehr, inwieweit die Grundrechte nach ihrem Wortlaut, Sinn und Zweck auch bei mehr oder weniger auslandsbezogenen Sachverhalten Geltung beanspruchen. 153 Um dieser "Relativität"154 des ordre public Rechnung zu tragen und einem "Grundrechtsimperialismus"155 entgegenzuwirken, haben sich bestimmte Regeln rur die Anwendung des ordre public-Vorbehaltes - und damit auch der Grundrechte - herausgebildet, die es ermöglichen, jeden Einzelfall im Lichte "einer behutsamen Grundrechtshandhabung"156 zu lösen. 1. Anwendungsvoraussetzungen des ordre public
Damit der ordre public-Vorbehalt überhaupt zur Anwendung gelangt, müssen bestimmte Voraussetzungen erfiillt sein. a) Erheblichkeit des Verstoßes
Art. 6 EGBGB greift nur ein, wenn die Anwendung des ausländischen Rechtes zu einem Ergebnis ruhren würde, das mit der deutschen öffentlichen Ordnung "offensichtlich" unvereinbar wäre. Der Verstoß gegen deutsche Wert149 BVerfDE 31, 58 (73). 150 Stern, StaatsR, Bd. IIIIl, § 72 V 7, S. 1243. 151 BVerfDE 31, 58 (74); siehe auch BOHZ 60, 68 (78 f.). 152 BegrRegE, BTDrucks. 10/504, S. 44. 153 BVerfDE 31,58 (77); KropholJer, S. 227 f. 154 KropholJer, S. 223; Kegel, S. 330; Roth, S. 210. 155 Stern, StaatsR, Bd. nUl, § 72 V 4, S. 1228; Starck,
Abs. 3 Rdnr. 150 Fn. 178; vgl. auch Spickhoff, S. 125. 156 Stern, StaatsR, Bd. IIIll, § 72 V 7, S. 1242.
in: v. MangoldtIKleinlStarck, Art. 1
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Sechster Teil: Eigener Lösungsansatz
vorstellungen muß also eklatant sein. Hierbei gilt jede Grundrechtsverletzung, die sich im Einzelfall durch die Anwendung fremden Rechtes ergibt, als "offensicht-licher" Verstoß gegen wesentliche Grundsätze des deutschen Rechts. Eine Differenzierung zwischen "tragbaren" und "untragbaren" Grundrechtsverletzungen ist nicht gestattet. 157 Folglich löst jede durch die Anwendung ausländischen Rechts im Einzelfall bewirkte Grundrechtsverletzung den deutschen ordre public-Vorbehalt aus. 158 b) Inlandsbeziehung
Jedoch führt nicht jede Anwendung ausländischen Rechtes, die bei einem reinen Inlandsfall grundrechtswidrig wäre, bereits zur offensichtlichen Unvereinbarkeit mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechtes, vielmehr muß wegen der Relativität des Grundrechtsvorbehaltes noch eine ausreichende Inlandsbeziehung des Falles gegeben sein, die es rechtfertigt, den Maßstab der deutschen Grundrechtsordnung anzulegen. Wer den Schutz der deutschen Grundrechte beansprucht, muß mit der deutschen Rechtsordnung und dem deutschen Rechtsraum verbunden sein. 159 Jedes Grundrecht setzt eine bestimmte Beziehung zu dem geschützten Lebensbereich voraus, so daß eine uneingeschränkte Durchsetzung in ganz oder überwiegend auslandsbezogenen Sachverhalten den Sinn des Grundrechtsschutzes verfehlen würde. '60 Würde man auf das Erfordernis einer Inlandsbeziehung verzichten, liefe die Anwendung des ordre public-Vorbehaltes nämlich auf eine abstrakte Überprüfung der ausländischen Norm am Maßstab der deutschen Rechtsordnung hinaus, für die keinerlei Rechtfertigung bestünde. Ob eine ausreichende Inlandsbeziehung vorliegt, ist nach den Umständen des Einzelfalles zu entscheiden. 161 Als die Inlandsbeziehung begründend, kommen sämtliche territorialen und persönlichen Umstände in Betracht wie Wohnsitz oder deutsche Staatsangehörigkeit. Es kommt immer darauf an, ob und inwieweit das betroffene Grundrecht in bezug auf den konkreten Sachverhalt Geltung beansprucht. '62
157 So
schon BVertGE 31, 58 (86); vgl. auch BegrRegE, BTDrucks. 10/504, S. 44. in: Münchener Kommentar, Art. 6 Rdnr. 38. 159 Schröder, in: Schlochauer-FS, 137 (140). 160 BVertGE 31, 58 (77); Kropholler, S. 228; vgl. auch Henrich, RabelsZ 36 (1972), 2 (6). 161 Sonnenberger, in: Münchener Kommentar, Art. 6 Rdnr. 38; Spickhoff, S. 97 f. 162 BVertGE 31,58 (86 f.). 158 Sonnenberger,
B. Entwicklung eines grundrechtlichen Kollisionsrechtes
255
2. Rechtsfolge der Anwendung des ordre public
Liegen die Anwendungsvoraussetzungen des ordre public vor, so können unterschiedliche Rechtsfolgen ausgelöst werden. In jedem Fall darf durch inländisches Kollisionsrecht für anwendbar erklärtes Recht nur in grundrechtskonformer Weise angewendet werden. a) Nichtanwendung des grundrechtswidrigen ausländischen Sachrechtes
Das vom deutschen Internationalen Privatrecht berufene ausländische Sachrecht wird folglich nicht angewendet, soweit es mit dem deutschen ordre public unvereinbar ist. Im übrigen bleibt das berufene ausländische Recht für die Beurteilung des Sachverhaltes maßgeblich. Die Nichtanwendung der fremden Rechtsordnung darf also nur so weit gehen, als dies zur Berichtigung des grundrechtswidrigen Anwendungsergebnisses unbedingt erforderlich ist. Hiermit soll dem Prinzip des geringstmöglichen Eingriffes in die lex causae, also in das anzuwendende Recht, Rechnung getragen werden. 163 b) Ersatzlösungen
Die durch die Nichtanwendung der grundrechtswidrigen Elemente des ausländischen Rechtes entstandene Lücke ist in einer Weise zu schließen, die auf den Inhalt des ausländischen Rechtes möglichst Rücksicht nimmt. Der deutsche Gesetzgeber hat dabei auf eine Normierung, wie das Ersatzrecht auszusehen hat, bewußt verzichtet, "um der Praxis flexible und differenzierte Lösungen offenzuhalten."I64 Auch bei der Ermittlung der Ersatzlösung ist also zu berücksichtigen, daß der Eingriff in das fremde Recht möglichst schonend gestaltet wird. Die Lücke ist daher nach Möglichkeit durch das anzuwendende Recht selbst zu schließen. Die Rechtsfolge beschränkt sich auf die bloße Nichtanwendung des fremden Rechtes, wenn auf der Grundlage des nicht zu beanstandenden verbleibenden Teiles der fremden lex causae ein ordre public-konformes Ergebnis erreicht werden kann. 165 Dies gilt insbesondere dann, wenn der ordre public-Vorbehalt eine spezielle Regelung betrifft, die durch eine allgemeine Bestimmung des einschlägigen Sachrechtes aufgefangen werden kann. Ist dies 163 Kropholler, S. 230; SchUtz, Der internationale ordre public, S. 49; Sonnenberger, in: MUnehener Kommentar, Art. 6 Rdnr. 80; Spiekhoff, S. 105; Kegel, in: Soergel, Art. 30 Rdnr. 23. 164 BegrRegE, BTDrueks. 10/504, S. 44. 165 Kropholler, S. 230 f.; vgl. aueh Heldrieh, in: Palandt, Art. 6 EGBGB Rdnr. 13.
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Sechster Teil: Eigener Lösungsansatz
nicht der Fall, so ist die Möglichkeit der Anwendung des ausländischen Rechts in modifizierter Form zu prüfen. Dies kann in Form der Heranziehung eines anderen Rechtssatzes des ausländischen Rechtes oder einer fallbezogenen Abwandlung des ausländischen Sachrechtes geschehen. In der Regel bietet sich eine Lösung an, die durch eine "geltungserhaltende Reduktion" der derogierten ausländischen Sachnorm der ausländischen Rechtsordnung am nächsten kommt und für den deutschen ordre public gerade noch tragbar erscheint. Sollte eine Modifizierung des ausländischen Rechtes nicht möglich sein, wird als ultima ratio die lex fori angewendet. l66 Die aufgrund des ordre public entstandene Lücke ist dann durch diejenigen Rechtsnormen zu schließen, die das eigene Recht für den von den nichtangewendeten Rechtssätzen erfaßten Tatbestand bereithält. 167 Als Fazit ist festzuhalten: Die Ersatzlösung hat so auszusehen, daß einerseits die Anforderungen des ordre public noch hinreichend gewahrt werden, andererseits aber die Wertungen des ausländischen Rechtes so weit wie nur eben möglich erhalten bleiben. 168 Die Anwendung des ordre public wird also durch das Prinzip möglichst schonender Abweichung von dem in der Kollisionsnorm liegenden Rechtsanwendungsbefehl bestimmt. 169 11. Übertragung auf den Konflikt zwischen EG-Richtlinien und nationalen Grundrechten Im folgenden wird der Frage nachgegangen, ob sich der ordre publicVorbehalt des Internationalen Privatrechtes für den Konflikt zwischen gemeinschaftsrechtlicher und grundrechtIicher Bindung des Umsetzungsgesetzgebers fruchtbar machen läßt. 1. Bedenken gegen die Übertragung
Die vereinzelt angedachte 170 Übertragung des ordre public-Gedankens aus dem Internationalen Privatrecht auf die Kollision zwischen Gemeinschaftsrecht 166 Heldrich, in: Palandt, Art. 6 EGBGB Rdnr. 13; Kropholler, S. 230; Schütz, Der internationale ordre public, S. 50; Spickhoff, S. IlO. 167Vgl. Schwung, RabelsZ 49 (1985), 407 (409). 168 Roth, S. 21. 169 BegrRegE, BTDrucks. lO/504, S. 44; Roth, S. 210; Kropholler, S. 231 Fn. 41. 170 Seuffert, in: Schmid-FS, 169 (178 f., 183); Schneider, VVDStRL 18 (1960), 97, der aber nur mit einem Satz auf den ordre public eingeht.
B. Entwicklung eines grundrechtlichen Kollisionsrechtes
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und nationalen Grundrechten wurde, sofern ihr überhaupt Beachtung geschenkt wurde, damit abgetan, der ordre public stelle eine Schranke gegen die Anwendung fremden Rechtes dar, Gemeinschaftsrecht sei aber nicht mit ausländischem Recht gleichzustellen, weil es kein fremdes Recht im Sinne des Internationalen Privatrechts sei, sondern zumindest teilweise "eigenes Recht".171 Für die Anwendung des ordre public kommt es aber nicht darauf an, ob es sich um "fremdes Recht" handelt, weil sein Grundgedanke, die materielle Einheit des Rechts zu gewährleisten, theoretisch sogar bei der Anwendung deutschen Rechtes relevant werden könnte. 172 Mit dieser Kritik ist der entscheidende Unterschied folglich noch nicht herausgearbeitet worden. Der wesentliche Unterschied liegt nämlich darin begründet, daß die letztlich den innerstaatlichen Umsetzungsbefehl rür Richtlinien vermittelnde Vorschrift des Art. 23 GG und der die Grundrechtsbindung normierende Art. lAbs. 3 GG gleichrangig sind, das die Anwendung des ausländischen Sachrechtes gebietende Kollisionsrecht und der ordre public hingegen nicht auf derselben Stufe der Normenhierarchie stehen. Zwar hat der ordre public in Art. 6 EGBGB eine einfachgesetzliche Normierung erfahren und steht damit formal auf derselben Stufe der Normenhierarchie wie das die Anwendung des ausländischen Sachrechtes gebietende Kollisionsrecht. Da es sich bei der dort gemeinten "objektiven Wertordnung" aber um oberste Grundprinzipien der staatlichen Ordnung in der Bundesrepublik handelt,173 welche aus der Verfassung hergeleitet werden, kollidieren in diesem Fall keine gleichrangigen Normen miteinander. Vielmehr gebietet der ordre public als Ausdruck höherrangigen Rechts eine Beachtung der nationalen Grundrechte schon aufgrund seiner Stellung in der Normenhierarchie. 174 Auf den ersten Blick scheint es, als verbiete dieser Unterschied die Übertragung der ordre public-Regeln auf die zu lösende Kollision zwischen der Grundrechtsbindung gemäß Art. 1 Abs. 3 GG und dem auf Art. 23 GG basierenden innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehl für Richtlinien von vornherein. Bei genauerer Betrachtung ergibt sich aber, daß dieser Unterschied einer entsprechenden Anwendung der ordre public-Regeln nicht entgegensteht:
171
BendalKlein, DVBI. 1974,389 (394); Menzel, in: VVDStRL 18 (1960), 97. auch Randelzhofer, in: MaunzlDUrig, Art. 24 Abs. 1 Rdnr. 135 Fn. 385; a.A. Spickhoff,
172 So
S.78. 173
Vgl. auch Spickhoff, S. 118; Henrich, RabelsZ 36 (1972), 2 (3). in: MUnchener Kommentar, Art. 6 Rdnr. 38.
174 Sonnenberger,
17 Rickert
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Sechster Teil: Eigener Lösungsansatz
a) Grundrechte als oberste Leitprinzipien jeder staatlichen Ordnung
Grundrechte begründen verfassungsrechtliche Fundamentalrechte des einzelnen als Mensch und Staatsbürger. Als in der Tradition der Menschen- und Bürgerrechte stehend, haben ihre Inhalte in den westlichen Verfassungsstaaten die Qualität überpositiver Rechtsgrundsätze erlangt, die zu Grundelementen des Rechtsbewußtseins geworden sind. Da keine Rechtsordnung Legitimität beanspruchen kann, welche nicht den Freiheits- und Gleichheitsrechten verpflichtet ist,175 sind die Grundrechtsgewährleistungen auch Voraussetzung der Integration auf europäischer Ebene. Davon geht auch das Bundesverfassungsgericht aus, wenn es in der "Spanier"-Entscheidung feststellt: "Das der Verfassung vorangestellte Bekenntnis zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als der Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt (Art. 1 Abs. 2 GG) ist nicht zu vereinbaren mit der Vorstellung, die mit den Grundrechten aufgerichtete Wertordnung, besonders die dadurch gewährte Sicherung eines Freiheitsraumes rur den einzelnen könne oder müsse allgemein außer Funktion treten, um der Rechtsordnung anderer Staaten den Vorrang zu lassen. Die Frage, ob und welche Modifikationen sich aus einer durch die Präambel des GG und Art. 24 Abs. 1 GG ausdrücklich zugelassenen Bindung der Bundesrepublik an supranationale Gemeinschaften ergeben könnten, kann außer Betracht bleiben"}16 Demnach schließt das Gericht die grundsätzliche Übertragung des ordre publicGedankens auf das Verhältnis von Gemeinschaftsrecht zu nationalen Grundrechten nicht von vornherein aus, deutet aber an, daß sich aufgrund der von Verfassungs wegen vorgesehenen Öffnung der nationalen Rechtsordnung rur das Recht der Europäischen Gemeinschaft Besonderheiten ergeben können. b) Praktische Konkordanz
Die von der im Internationalen Privatrecht abweichende Konstellation, daß zwei Werte mit Verfassungsrang miteinander kollidieren, wird im Verfassungsrecht herkömmlicherweise mit dem Prinzip der praktischen Konkordanz gelöst. Wo verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter miteinander kollidieren, darf nicht eines in abstrakter Wertabwägung auf Kosten des anderen realisiert werden, vielmehr verlangt die praktische Konkordanz in jedem Einzelfall die verhältnismäßige Zuordnung beider Werte, also von Grundrechten und grund175
Hesse, Rdnr. 283; vgl. auch Ausfilhrungen oben unter 4. Teil B. I. 2. a). 31,58 (76).
176 BVerfGE
B. Entwicklung eines grundrechtlichen Kollisionsrechtes
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rechtsbegrenzenden Rechtsgütem. 177 Es muß heiden kollidierenden Rechtsgütern eine Grenze gezogen werden, damit heide zu optimaler Wirksamkeit gelangen können. 118 Demnach ist auch das Vorgehen unzulässig, unter pauschaler Berufung auf Art. 24 Abs. 1 GG beziehungsweise nunmehr Art. 23 GG die Funktionsflihigkeit der Gemeinschaft als Begründung filr den Vorrang des Gemeinschaftsrechtes vor nationalen Grundrechten heranzuziehen, ohne auf die Umstände des Einzelfalles abzustellen. 119 Ebenso ist aus diesem Grunde ein Rückzug des Bundesverfassungsgerichtes auf eine generelle Grundrechtsgewährleistung nicht zulässig,180 vielmehr muß das Gericht in jedem einzelnen Kollisionsfall prüfen, ob der Eingriff in die grundrechtliche Gewährleistung nicht das notwendige Maß überschreitet und das betroffene Grundrecht nicht seiner Wirksamkeit beraubt wird. Jede Grundrechtsbeschränkung muß "im Lichte der Bedeutung des Grundrechtes" gesehen werden, so daß die Entscheidung des Grundgesetzes rur die europäische Integration keine "Blankovollmacht" zu beliebiger Grundrechtsbeschränkung bedeutet. Auch diejenigen, welche die Grenze des Vorranges des Gemeinschaftsrechtes vor nationalen Grundrechten im Wesensgehalt der jeweiligen Gewährleistung sehen,181 müßten konsequenterweise zu dieser Schlußfolgerung gelangen. Die materielle Schranke der Wesensgehaltsgarantie gemäß Art. 19 Abs. 2 GG bezeichnet im Ergebnis nämlich nichts anderes als die aus dem Prinzip der praktischen Konkordanz resultierende Grenze einer zulässigen Grundrechtsbeschränkung. Überschritten wird diese Grenze bei Zugrundelegung beider Maßstäbe gleichermaßen, wenn das betreffende Grundrecht im Leben des Gemeinwesens keine Wirkung mehr entfalten kann. 182 Nichts anderes soll mit der Übertragung der ordre public-Regeln auf die Kollision zwischen grundrechtswidrigen Richtlinienvorgaben und deutschen Grundrechten erreicht werden: In jedem Einzelfall soll eine Lösung gefunden werden, welche einen möglichst schonenden Ausgleich l83 zwischen den widerstreitenden Interessen ermöglicht.
111 Hesse,
Rdnr. 72.
118 Hesse, Rdnr. 72, 318. 119 Vgl. Ausftlhrungen oben unter 4. Teil B. 11. 2. 180 Vgl. Ausftlhrungen oben unter 4. Teil B. 11. 2. c). 181 Vgl. Ausftlhrungen oben unter 5 Teil A. 11. 2. 182 Hesse, Rdnr. 332. 183 Dies fordert auch Schwarze, NJ 1994, 1 (5); vgl. auch Lerche, Übermaß und Verfassungs-
recht, S. 125 ff., insbesondere S. 153. 17'
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Sechster Teil: Eigener Lösungsansatz
c) Ordre pub/ic als Instrument des primären Gemeinschaftsrechtes
Schließlich spricht fUr die Übertragung der ordre public-Regeln auf die hier zu lösende Kollision auch, daß das Primärrecht der Gemeinschaft selbst einen ordre public-Vorbehalt kennt: Wenn der Rat mit qualifizierter Mehrheit gemäß Art. 100 a EG-Vertrag eine Harmonisierungsmaßnahme zur Verwirklichung des Binnenmarktes getroffen hat, sind ausnahmsweise nationale Sonderregelungen nach Abs. 4 der Vorschrift gestattet, sofern die Schutzgüter des Art. 36 EG-Vertrag beziehungsweise der Schutz der Arbeitsumwelt oder der Umweltschutz dies erfordern. Durch den Vorbehalt zugunsten von mitgliedstaatlichen Sonderregelungen in Art. 100 a Abs. 4 EG-Vertrag wird der Vorrang des Gemeinschaftsrechtes vor entgegenstehendem nationalen Recht durchbrochen. 184 In diesem Fall wird nämlich der Rechtsanwendungsbefehl sekundären Gemeinschaftsrechtes durch Positionen außer Kraft gesetzt, die zum Teil innerstaatlichen Grundrechtsschutzl85 beziehungsweise Verfassungsrang genießen, zum Teil aber auch lediglich einfachgesetzlich normiert sind. Der in Art. 100 a Abs. 4 EG-Vertrag vorgesehene nationale Alleingang ist als Kompensation fUr den Übergang zur Mehrheitsentscheidung gedacht. 186 Damit sollte der BefUrchtung einiger Mitgliedstaaten wie der Bundesrepublik Deutschland entgegengewirkt werden, die Rechtsangleichung durch Mehrheitsentscheidungen könne zu einer Harmonisierung auf niedrigem Niveau fUhren. 187 Die genannten Rechtsgüter können gegenüber sämtlichen Rechtsangleichungsmaßnahmen geltend gemacht werden, die auf Art. 100 a EG-Vertrag gestützt werden. Da die EinfUhrung höherer Standards zum Beispiel im Umwelt- oder Arbeitsrecht im Ergebnis eine Kostensteigerung der inländischen Produktion bedeutet und damit eine mögliche Beeinträchtigung der inländischen Wettbewerbsposition, werden die Mitgliedstaaten nur dann zum Mittel des nationalen Alleinganges greifen, wenn wirklich zwingende Gründe des Allgemeinwohls dies verlangen. Allein durch die Androhung eines nationalen Alleinganges eines Mitgliedstaates kann aber auf Gemeinschaftsebene im Ergebnis eventuell ein ursprünglich nicht durchsetzbarer höherer Standard veranlaßt werden, wie es beispielsweise bei der Festlegung der Abgasstandards fUr \84 Martiny, in: Europäisches Gemeinschaftsrecht und Internationales Privatrecht, 211 (213); Pipkorn, in: v. d. Groebenffhiesing/Ehlermann, Art. 100 a Rdnr. 86. 185 Auch Hailbronner, EuGRZ 1989, 101, weist daraufhin, daß die "Problematik des nationalen Alleingangs auch einen grundrechtIichen Aspekt" hat. \86 Pipkorn, in: v. d. Groebenffhiesing/Ehlermann, Art. 100 a Rdnr. 80 ff.; Hailbronner, Nationaler Alleingang, S. 24; Langeheine, in: Grabitz/Hilf, Art. 100 a Rdnr. 57. 187 Hailbronner, Nationaler Alleingang, S. 24 f.; ders., EuGRZ 1989, 101 (110).
B. Entwicklung eines grundrechtlichen Kollisionsrechtes
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Kleinwagen durch Androhung eines deutschen Alleinganges der Fall war. 188 Der nationale Alleingang gemäß Art. 100 a Abs. 4 EG-Vertrag dient somit nicht der rücksichtslosen Durchsetzung nationaler Interessen, sondern kann eine wichtige Antriebsfunktion bei der Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechtes übernehmen. 189 Ist ein ordre public-Vorbehalt zugunsten nationaler Allgemeinwohlinteressen, die nicht einmal ausnahmslos Verfassungsrang haben, schon im Gemeinschaftsrecht angelegt,19O so muß es erst recht zulässig sein, einen entsprechenden Vorbehalt zugunsten nationaler Grundrechtsbestimmungen zu aktivieren.
d) "Cassis de Dijon"-Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften Außerdem läßt sich mehreren Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes ein vergleichbares Vorgehen entnehmen: Jede Handelsbestimmung der Mitgliedstaaten, welche geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel zu behindern, wird von der Rechtsprechung des Gerichtshofes wegen diskriminierenden Charakters als "Maßnahme gleicher Wirkung" im Sinne von Art. 30 EG-Vertrag und damit als verboten qualifiziert}91 Eine Ausnahme macht der Gerichtshof nur dann, wenn einzelne den Handel beeinträchtigende Bestimmungen notwenig sind, "um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden, insbesondere den Erfordernissen einer wirksamen steuerlichen Kontrolle, des Schutzes der öffentlichen Gesundheit, der Lauterkeit des Handelsverkehrs und des Verbraucherschutzes"192 (sogenannte "Cassis"-Formel). Bei der Berücksichtigung dieser zwingenden mitgliedstaatlichen Erfordernisse wägt der Europäische Gerichtshof zwischen den Zielsetzungen der Gemeinschaft und dem entgegenstehenden nationalen Bedürfnis ab. 193 Die dabei verwandten Formulierungen "notwendig" und "zwingende Erfordernisse" zeigen, daß auch die "Cassis"-Formel durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geprägt wird}94 188Ygl. Hailbronner, Nationaler Alleingang, S. 29 f. 189 Hailbronner, Nationaler Alleingang, S. 27, betrachtet den nationalen Alleingang als ein Instrument, mit dem die "Gefahr der Rechtsangleichung nach unten kompensiert werden kann". 19OYgl. auch Art. 48 Abs. 3 EG-Yertrag. 191 Grundlegend EuGH Rs. 8174, Sig. 1974, 837 (852) - Dassonville; aus neuerer Zeit vgl. EuGH Rs. C-126/91, NJW 1993,3187 f. - Yves Rocher. 192 EuGH Rs. 120178, Sig. 1979,649 (662) - Cassis de Dijon. 193 Ygl. auch EuGH verbundene Rs. 60 und 61184, Sig. 1985, 2605 (2626) - Cinetheque; Rs. 302/86, Sig. 1988,4607 (4630) - KommissionIDänemark. 194 Streinz, EuropaR, Rdnr. 689; Möschel, NJW 1994,429 (430); ScholzlLanger, S. 150.
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Sechster Teil: Eigener Lösungsansatz
Dabei hat der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften mit dem "Keck"Urteif1 95 seine bislang verfolgte Linie, zwingende nationale Bedürfuisse äußerst restriktiv als Rechtfertigung für eine Behinderung des freien Warenverkehrs gelten zu lassen, verlassen und räumt ihnen nunmehr einen höheren Stellenwert ein. 196 Diese Kehrtwende wird im Schrifttum nicht zuletzt auf die neu entfachte Diskussion um das Verhältnis des Gemeinschaftsrechtes zur nationalen Rechtsordnung und auf das Subsidiaritätsprinzip zurückgeführt.'97 Letztlich unterscheidet sich das Vorgehen des Gerichtshofes daher nicht wesentlich von der Suche nach einer Kollisionslösung im Wege praktischer Konkordanz oder der Anwendung der ordre public-Regeln. e) Zwischenergebnis Anders als im Internationalen Privatrecht, wo die Berücksichtigung nationaler Grundrechte schon aufgrund ihrer Stellung in der Normenhierarchie vorgegeben ist, kollidieren bei der Richtlinienproblematik mit der in der Präambel und in Art. 23 GG verankerten Entscheidung für die Öffnung der eigenen Rechtsordnung für das Recht der Europäischen Gemeinschaft einerseits und den nationalen Grundrechten andererseits zwei Werte, die gleichermaßen Verfassungsrang genießen. Da aber die Grundrechte Ausdruck einer objektiven Wertordnung sind, die auch die Öffnung der Verfassung für das Recht der Europäischen Union beeinflußt, können die im Internationalen Privatrecht zum ordre public entwickelten Grundsätze dennoch ein Instrumentarium liefern, um den Konflikt zwischen Richtlinienvorgaben und deutschen Grundrechten zu harmonisieren. Dies gilt um so mehr, als es sich bei den ordre public-Regeln letztlich um eine Ausprägung des Grundsatzes der praktischen Konkordanz handelt, welcher gerade herangezogen wird, um zwei kollidierende Verfassungsgüter miteinander in Einklang zu bringen. Die Berücksichtigung nationaler Grundrechtsstandards soll dabei - ebenso wie die Möglichkeit des nationalen Alleinganges nach Art. 100 a Abs. 4 EG-Vertrag - keine einseitige Oktroyierung der deutschen Rechtsordnung darstellen, sondern eine Fortentwicklung des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzes zugunsten der Marktbürger bedingen.
195 EuGH verbundene Rs. C-267/91 und C-268/91, Slg. 1993,1-6097 ff. - Keck und Mithouard. 196 Ausftlhrlich hierzu Mösche1, NJW 1994,429 ff.; Becker, EuR 1994, 162 ff. 197 Becker, EuR 1994, 162 (174); Mösche1, NJW 1994,429 (431).
B. Entwicklung eines grundrechtlichen Kollisionsrechtes
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Feststeht somit, daß es der Anwendung des ordre public-Gedankens nicht entgegensteht, wenn hier - anders als im Internationalen Privatrecht - mit der Grundrechtsbindung gemäß Art. 1 Abs. 3 GG und der Entscheidung der Verfassung rur die europäische Integration in Art. 23 und der Präambel zwei gleichrangige Rechtsgüter kollidieren. 2. Vergleichbarkeit der Sachverhalte und Interessenlagen
Dies alleine genügt allerdings nicht, um eine entsprechende Anwendung der ordre public-Regeln zu rechtfertigen. Für die Übertragung ist ferner eine Vergleichbarkeit der Sachverhalte und der Interessenlagen erforderlich. 198 a) Grundrechtsbindung deutscher Staatsgewalt bei grenzüberschreitendem Tätigwerden
Art. 1 Abs. 3 GG bindet die deutsche Staatsgewalt bei jedwedem Tätigwerden an die deutsche Grundrechtsordnung. Dies gilt auch im Falle grenzüberschreitenden Tätigwerdens. l99 Ebenso wie die nationalen Rechtsetzungsorgane bei der Umsetzung von Richtlinien in innerstaatliches Recht an die Grundrechte gebunden sind, unterliegen auch die Behörden und Gerichte bei der Anwendung eines durch das deutsche Kollisionsrecht berufenen ausländischen Sachrechtes der Bindungswirkung der Grundrechte. 2°O Problematisch wird dies in beiden Fällen gleichermaßen, wenn das Umsetzungs- beziehungsweise Anwendungsergebnis im Widerspruch zu den nationalen Grundrechten steht. Die Träger deutscher Hoheitsgewalt sehen sich in beiden Konstellationen vor die Kollision zweier gleichermaßen Geltung beanspruchender Normen gestellt. b) Verwerfung des Anwendungsergebnisses im konkreten Fall
Sowohl im Internationalen Privatrecht als auch bei der Richtlinienkollision kann die Rechtsfolge der Anwendung des ordre public auf den Geltungsbereich des Grundgesetzes beschränkt werden. Die Vorbehaltsklausel des Art. 6 EGBGB richtet sich nicht gegen die fremde Rechtsordnung als Ganzes, auch nicht gegen die betreffende Norm als solche, sondern nur gegen ihre Anwen198Ygl. Larenz, Methodenlehre, S. 381 fT. I99Ygl. Ausfllhrungen oben unter I. Teil. C. 200 Ygl. auch Spickhoff, S. 116.
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Sechster Teil: Eigener Lösungsansatz
dung im konkreten Fall. 201 Es kommt lediglich auf das Ergebnis an, das im Einzelfall mit der Anwendung fremden Rechtes erzielt wird. Ebenso würde auch eine gemeinschaftsrechtliche Richtlinie im Falle des Verstoßes gegen deutsche Grundrechtsbestimmungen niemals fUr nichtig, sondern immer nur fUr innerstaatlich nicht anwendbar erklärt werden. 202 Nicht das sekundäre Gemeinschaftsrecht würde folglich am Maßstab der deutschen Grundrechtsordnung gemessen, sondern lediglich das Ergebnis seiner innerstaatlichen Umsetzung. Die Maßstäblichkeit der deutschen Grundrechte ist somit in beiden Konstellationen auf den Geltungsbereich des Grundgesetzes beschränkt. c) Einheitlichkeit der Rechtsanwendung Schließlich ist in beiden Konstellationen gleichermaßen eine Zielsetzung vorherrschend: Das Internationale Privatrecht wird von dem Grundsatz des internationalen Entscheidungsgleichklanges beherrscht. Danach soll das Ergebnis eines Rechtsstreites nicht von dem Ort seines Verfahrens abhängig sein, sondern überall - gleichgültig vor welchem Gericht er verhandelt wird - die gleiche Beurteilung zu erwarten haben. 203 Das Instrument der Richtlinie dient der Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft, damit ein bestimmtes Rechtsproblem in jedem Mitgliedstaat der Gemeinschaft die gleiche Behandlung erfiihrt. Voraussetzung hierfiir ist die Sicherung der einheitlichen Geltung und Auslegung des Gemeinschaftsrechtes in allen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft, also die Förderung der Einheit des Gemeinschaftsrechtes. 204 Die Zielsetzung ist somit in beiden Fällen nicht auf Abschottung der eigenen Rechtsordnung, sondern vielmehr auf einheitliche Rechtsanwendung gerichtet. 3. Fazit
Die aufgezeigten Parallelen rechtfertigen die Umsetzung der Erkenntnisse des ordre public-Vorbehaltes auf das Verhältnis gemeinschaftsrechtlicher Richtlinien zu nationalen Grundrechten. Dabei ist allerdings die vom Bundes201 Schwung, RabelsZ 49 (1985), 407 (413); Kropholler, S. 222; Sonnenberger, in: Münchener Kommentar, Art. 6 Rdnr. 48; Heldrich, in: Palandt, Art. 6 EGBGB Rdnm. 7, 9; Henrich, RabelsZ 36 (1972), 2 (3); Kegel, in: Soergel, Art. 30 EGBGB Rdnr. 4. 202Ygl. Ausfllhrungen oben unter 4. Teil B.lY. 2. a) bb). 203 Savigny, S. 27; Kropholler, S. 35 f.; Schröder, in: Schlochauer-FS, 137 (143). 204Ygl. auch Amdt, RlW 1989, Beilage 7,1 (12).
B. Entwicklung eines grundrechtlichen Kollisionsrechtes
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verfassungs gericht angemahnte Modifizierung dieser Regeln aufgrund der Entscheidung des Grundgesetzes tUr die Öffnung der Verfassungsordnung zugunsten der Europäischen Integration zu berücksichtigen. 111. Folgerungen für die Umsetzungspraxis Für den deutschen Umsetzungsgesetzgeber, der sich vor die Pflicht zur Umsetzung grundrechtswidriger Richtlinieninhalte gestellt sieht, ergibt sich daher eine zweistufige Prüfung: 1. Vorrang der Grundrechtsbindung gemäß Art. 1 Abs. 3 GG als Grundsatz
Da bei jeder Umsetzung von Richtlinien in nationales Recht der tUr die ordre public-Anwendung erforderliche Inlandsbezug gegeben ist - schließlich soll gerade die bundesdeutsche Rechtsordnung durch deutsche Rechtsetzungsorgane mit Wirkung tUr und gegen die deutschen beziehung~weise die in der Bundesrepublik lebenden Marktbürger angepaßt werden -, ist der nationale Umsetzungsgesetzgeber bei der Umsetzung von Richtlinien in innerstaatliches Recht grundsätzlich in vollem Umfang an die Grundrechte gebunden. Dieser Verpflichtung kann und muß er hinsichtlich der grundrechtskonformen Bestimmungen einer Richtlinie und im Rahmen der von der Richtlinie eingeräumten Gestaltungsfreiräume auch problemlos nachkommen. Er kann sich also nicht darauf berufen, wegen einer grundrechtswidrigen Bestimmung die gesamte Richtlinie nicht umsetzen zu können. Soweit die Richtlinienvorgaben aber grundrechtswidrigen Charakter haben, gebietet die Anwendung des nationalen ordre public-Gedankens, den Umsetzungsgesetzgeber von der Umsetzungsverpflichtung freizustellen. Greift der Gedanke des ordre public ein, so ist die entstandene Lücke in einer Weise zu tUllen, die auf die inhaltlichen Vorgaben möglichst Rücksicht nimmt, um dem Grundsatz möglichst weitgehender Schonung des Richtlinieninhaltes Rechnung zu tragen. Daher ist die Ersatzlösung möglichst aus der Richtlinie selbst zu entwickeln. Die Lücke ist folglich im Sinne einer geltungserhaltenden Reduktion so zu tUllen, daß der Inhalt der Richtlinie mit der deutschen Grundrechtsordnung gerade noch vereinbar ist. Dabei bestimmt sich die zu entwikkelnde Modifizierung unter anderem nach der Bedeutung der betreffenden Richtlinienbestimmung tUr den Gesamtinhalt der Richtlinie: Die Lösung beschränkt sich auf die Nichtbefolgung des Umsetzungsbefehles hinsichtlich des
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Sechster Teil: Eigener Lösungsansatz
grundrechtswidrigen Regelungsgehaltes der Richtlinie, wenn anzunehmen ist, daß die Richtlinie auch ohne den grundrechtswidrigen Teil erlassen worden wäre. Ist dies nicht der Fall, ist der Inhalt in grundrechtskonformer Form zu modifizieren; Kriterien hierfür können die Beratungen im Rat sowie Motive und Entwürfe zum Erlaß der jeweiligen Richtlinie liefern. Die Modifizierung ist jedenfalls vorrangig aus den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben zu entwikkeIn. Wenn eine modifizierte Anwendung des Gemeinschaftsrechtes nicht möglich ist, ist als ultima ratio das innerstaatliche Recht zur Lückenfüllung heranzuziehen. 2. Vorrang der gemeinschaftsrechtlichen Bindung als Ausnahme
Da die Öffnung der deutschen Rechtsordnung fur die europäische Integration - anders als die ausländische lex causae - ihrerseits Verfassungsrang hat, ergibt sich die Notwendigkeit, die im Internationalen Privatrecht einschlägigen Grundsätze zum ordre public zu modifizieren. Die Forderung nach strikter Grundrechtskonformität auch des gemeinschaftsrechtlich veranlaßten innerstaatlichen Rechtes darf nicht dazu fUhren, die Funktionsfiihigkeit der Gemeinschaft in dem jeweiligen Regelungsbereich zu hemmen. Wenn die Nichtumsetzung des grundrechtswidrigen Teiles der Richtlinie zur Folge hätte, die Richtlinie damit ihrer Zielsetzung zu entheben, tritt die Bindungswirkung der deutschen Grundrechtsordnung daher ausnahmsweise hinter der gemeinschaftsrechtlichen Umsetzungsverpflichtung zurück. In diesem Fall muß der deutsche Gesetzgeber den Umsetzungsbefehl auch hinsichtlich der grundrechtswidrigen Bestimmungen der Richtlinie befolgen. Die Prüfung, ob die Zielsetzung, welche mit dem Erlaß der betreffenden Richtlinie verfolgt wird, infolge der Anwendung des ordre public-Gedankens nicht mehr verwirklicht werden kann, ist in jedem Einzelfall gleichsam als Ergebniskontrolle durchzuführen. Auf diese Weise kann sichergestellt werden, daß die Funktionsfiihigkeit der Gemeinschaft in dem jeweiligen Regelungsbereich nicht durch einseitige Berücksichtigung nationaler - wenn auch verfassungsrechtlicher - Belange gefahrdet wird. IV. Anwendung dieser Regeln auf die erörterten Kollisionsfälle Nunmehr gilt es, diese Regeln auf die oben behandelten Kollisionsfiille, nämlich die Vorschläge der Kommission fUr Richtlinien des Rates betreffend
B. Entwicklung eines grundrechtlichen Kollisionsrechtes
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gemeinsame Vorschriften rur den Erdgas- und den Elektrizitätsbinnenmarkt und die Etikettierungsrichtlinie zu übertragen. 1. Richtlinienvorschläge zur Verwirklichung des Energiebinnenmarktes
In einem ersten Schritt ist rur die grundrechtswidrigen Bestimmungen der beiden Energierichtlinienvorschläge nach einer möglichst verwandten Ersatz/ösung zu suchen; in einem zweiten Schritt ist dann zu überprüfen, ob die gewonnene Ersatzlösung die Ziele der beiden Energierichtlinienvorhaben hinreichend wahrt und die Richtlinienvorschläge nicht aufgrund der Modifizierung ihrer Zielsetzung enthoben werden (Ergebniskontrol/e). a) Entwicklung einer Ersatz/ösung/ür die grundrechtswidrigen Richtlinienbestimmungen
Würden die beiden Richtlinienvorschläge der Kommission in der oben behandelten Form beschlossen, wären die deutschen Urhsetzungsorgane nach dem ordre public-Modell hinsichtlich derjenigen Bestimmungen der Richtlinien, welche die Durchleitungsfrage betreffen, von der Umsetzungsverpflichtung befreit, um nicht innerstaatlich grundrechtswidriges Recht setzen zu müssen. 205 Daß es mit der Nichtumsetzung der grundrechtswidrigen Bestimmungen nicht sein Bewenden haben kann, liegt auf der Hand, weil es sich bei der Regelung des "Third Party Access" um einen wesentlichen Bestandteil der Richtlinienvorhaben handelt, ohne den die Richtlinien nicht vorgeschlagen worden wären. Daher ist nach einer grundrechtskonformen Ersatzlösung rur den grundrechtswidrigen Durchleitungszwang zu suchen, die den geplanten Regelungen möglichst nahekommt, um auf diese Weise den Eingriff in die Richtlinienvorgaben möglichst schonend zu gestalten. Wie bereits im Rahmen der Erforderlichkeitsprüfung der mit den Richtlinienvorhaben verbundenen Eigentumsbeeinträchtigung erwähnt,206 kommt als Handlungsalternative die Freistellung von Kooperationen unter kartellrechtlicher Mißbrauchsaufsicht in Betracht, wie sie auch das deutsche Recht vorsieht. Hierdurch könnte wettbewerbsrechtlich unerwünschten Folgen, welche 205 Ygl. Ausfllhrungen oben unter 3. Teil A. I. 206Ygl. Ausfllhrungen oben unter 3. Teil A. I. 4. c).
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Sechster Teil: Eigener Lösungsansatz
mit der Durchsetzung des freien Leitungsbaus sowie des Imports und Exports von Energie und des gleichen Zugangs zu Abnehmern von Gas und Strom in allen Mitgliedstaaten einhergehen können, abgeholfen werden. Diese im Schrifttum aufgezeigte Handlungsalternative207 ist letztlich nichts anderes als die Suche nach Ersatzlösungen im Sinne des hier zugrundegelegten Modells. Allerdings kann die aufgezeigte Alternative nur dann als Ersatzlösung herangezogen werden, wenn sie den Eingriff in die Richtlinienvorgaben auf die schonendste Weise vornimmt. Dies ist insofern bedenklich, als der Rückgriff auf die "lex fori", also das deutsche Recht, als ultima ratio nur dann gestattet ist, wenn ein ordre public-konformes Ergebnis nicht schon durch Modifizierung der "lex causae", also der Richtlinienvorschläge selbst, erreicht werden kann. Zunächst ist daher zu prüfen, ob die bei den Richtlinienvorschläge nicht im Wege geltungserhaltender Reduktion modifiziert werden können, um so ein ordre public-konformes Ergebnis zu finden. Man könnte daran denken, in Art. 7, 14 und 21 der GemVGas-RL beziehungsweise in Art. 12 und 19 der GemVElek-RL Härteklauseln aufzunehmen, die festlegen, unter welchen Bedingungen es für die Leitungsunternehmen unzumutbar ist, die eigenen Leitungssysteme Dritten zur Verfügung zu stellen, um die Intensität des Eingriffes in die betroffenen Eigentumspositionen abzuschwächen. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß die beiden Richtlinienvorhaben in Art. 14 Abs.2 S. 2 und Art. 21 Abs. 2 S. 2 beziehungsweise in Art. 12 Abs. 2 S. 2 und Art. 19 Abs. 2 S. 2 bereits eine. Berücksichtigung der Einzelfallsituation der von der Durchleitungspflicht betroffenen Leitungsunternehmen vorsehen, indem ihnen ermöglicht wird, die Durchleitung abzulehnen, wenn sie dadurch vorgeschriebene Verpflichtungen oder eingegangene Verbindlichkeiten in Frage stellen müßten. Trotz dieser im Ausnahmefall möglichen Dispensierung der betroffenen Leitungsunternehmen wird die Grundrechtswidrigkeit der Durchleitungspflicht nicht behoben. 208 Liegt die Grundrechtswidrigkeit der Richtlinienvorhaben aber darin begründet, eine grundsätzlich bestehende Durchleitungspflicht, also eine Pflicht zur VerfügungsteIlung des eigenen Unternehmenspotentials an Dritte - wenn auch mit Dispensierungsmöglichkeit -, zugrundezulegen, kann eine grundrechtskonforme Ersatzlösung nur gefunden werden, wenn das Modell der Durchleitungspjlicht aufgegeben wird. Demnach ist eine geltungserhaltende Reduktion der Richtlinienvorgaben nicht möglich, die Ersatzlösung kann folglich nicht aus der Richtlinie 207Ygl. Steindorff, RIW 1989, Beilage 1, 1 (10); Kühne: in: Leitungsgebundene Energie, 105 (112 f.). 208Ygl. Ausfllhrungen oben unter 3. Teil A.1. 4.
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selbst entwickelt werden. Im Umkehrschluß kann aus der Grundrechtswidrigkeit des Durchleitungszwanges gefolgert werden, daß eine Regelung der Durchleitungsfrage nur dann grundrechtskonform sein kann, wenn sie von der grundsätzlichen Dispositionsfreiheit der Unternehmen über ihre Leitungen ausgeht, die Verweigerung der Durchleitung im Einzelfall allerdings als mißbräuchlich sanktioniert, sofern die Durchleitungsverweigerung eine unbillige Behinderung des Absatzes oder des Bezuges von Gas oder Strom darstellen würde. Eine solche Lösung sieht das deutsche Recht, also die "lex fori", vor. Da eine grundrechtskonforme Modifizierung der "lex causae" nach dem eben Gesagten nicht möglich ist, steht dem Rückgriff auf die deutsche Rechtsordnung zur Ermittlung der Ersatzlösung als ultima ratio auch nichts mehr im Wege: In der Bundesrepublik bewirken die zwischen Energieversorgungsunternehmen geschlossenen Demarkationsverträge209 sowie die zwischen ihnen und den jeweiligen Gebietskörperschaften geschlossenen Konzessionsverträge 21O ein Angebotsmonopol der privilegierten VersorgeT. Dies führt zu Wettbewerbsbeschränkungen, die an sich gemäß § 1 beziehungsweise § 15 GWB211 nichtig oder gemäß § 18 GWB aufhebbar wären. Die Anwendbarkeit dieser Bestimmungen wird jedoch durch § 103 Abs. 1 GWB ausgeschlossen. Gemäß § 103 Abs. 5 S. 1 GWB besteht der Sinn dieser Freistellung der Versorgungsunternehmen darin, eine sichere und preiswürdige Versorgung zu garantieren. Denn eine Versorgungsptlicht der Energieversorgungsunternehmen auch gegenüber Klein- und Tarifkunden, welche Voraussetzung für die Gewährleistung von Versorgungssicherheit ist, kann nur dann garantiert werden, wenn diesen Unternehmen eine MonopolsteIlung in dem jeweiligen Versorgungsgebiet zukommt. Sobald aber zwei oder mehrere Versorgungsunternehmen innerhalb eines Versorgungsgebietes um Abnehmer konkurrieren, besteht kein KontrahierungszWang mehr. Der Kunde, insbesondere der für die Energieversorgungsunternehmen weniger lukrative Kleinverbraucher, würde daher im Falle des Wettbewerbes von Versorgern innerhalb eines Versorgungsgebietes schlechter gestellt als bei einer monopolistischen Marktstruktur. 212 Versor209 Demarkationsverträge dienen der Abgrenzung und Aufteilung von Versorgungsgebieten; vgl. ausfilhrlich hierzu Zinow, S. 35 f. 210 In Konzessionsverträgen räumen die zuständigen Gebietskörperschaften einem Versorgungsuntemehmen das Recht ein, öffentliche Straßen, Wege und Plätze zum Bau und zur Unterhaltung von Versorgungsleitungen zu nutzen; ausfilhrlich hierzu Zinow, S. 34 f. 2lI Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen in der Fassung der Bekanntmachung vom 20. Februar 1990 (BGBI. I, S. 235 ff.). 212 ScholzlLanger, S. 124 f.
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Sechster Teil: Eigener Lösungsansatz
gungssicherheit kann folglich nur dann gewährleistet werden, wenn die Energieversorgungsunternehmen vor einem ruinösen Wettbewerb bewahrt werden. Die kartellrechtliche Freistellung von Demarkations- und Konzessionsverträgen ist also Mittel zum Zweck der Durchsetzung der Versorgungssicherheit rur jedermann. Damit die einmal vorgenommene Aufteilung der Versorgungsgebiete aber nicht rur immer Bestand hat und neu auf den Markt dringende Unternehmen von vornherein chancenlos sind, darf die vereinbarte Laufzeit der Demarkations- und Konzessionsverträge gemäß § 103 a GWB 20 Jahre nicht überschreiten. Ist die Frist abgelaufen, ist der Wettbewerb um die Versorgungsgebiete wieder eröffnet. Zum Schutz vor einem Mißbrauch der durch diese Freistellung erlangten Marktposition sind die Energieversorgungsunternehmen der kartellrechtlichen Mißbrauchskontrolle gemäß § 103 Abs. 5 und 6 unterworfen. Die hier im Vordergrund stehenden "Durchleitungsverweigerungen" sind in § 103 Abs. 5 S. 2 Nr. 4 GWB geregelt. Danach sind Durchleitungsverweigerungen dann aIsmißbräuchlich anzusehen, wenn ein Energieversorgungsunternehmen andere Unternehmen dadurch unbillig behindert, daß es sich weigert, mit diesen Unternehmen Verträge über die Durchleitung von Energie zu angemessenen Bedin~ gungen abzuschließen. Der Begriff der unbilligen Behinderung wird in Anlehnung an die zu § 26 Abs. 2 GWB entwickelten Grundsätze bestimmt. Somit ist eine Abwägung der widerstreitenden Interessen vorzunehmen, wobei neben der Zielsetzung der sicheren und preiswürdigen Energieversorgung auch die auf Gewährleistung von Wettbewerbsfreiheit gerichtete Zielsetzung des GWB miteinfließen muß. Ebenso darf bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe im Kartellrecht die Ausstrahlungswirkung der grundrechtlichen Wertentscheidungen aus Art. 12 und 14 GG nicht vernachlässigt werden. 2IJ Ist bei der Beurteilung der Unbilligkeit einer Durchleitungsverweigerung gemäß § 103 Abs. 5 S. 2 Nr. 4 GWB auch auf die Marktverhältnisse, insbesondere "die Versorgungsbedingungen rur die Abnehmer des zur Durchleitung verpflichteten Versorgungsunternehmens" abzustellen, bedeutet das nach dem eben Gesagten, daß die Verweigerung der Durchleitung gegenüber einem Energieversorgungsunternehmen, das Abnehmer in dem Gebiet eines anderen Versorgungsunternehmers unter Benutzung des Leitungssystems dieses Unternehmens beliefern möchte, grundsätzlich keine "unbillige Behinderung" im Sinne von § 103 Abs. 5 S. 2 Nr. 4 S. 1 GWB darstellen kann. An diesem Ergebnis hat sich durch die Streichung der Regelvermutung des § 103 Abs. 5 S. 2 Nr. 4 S. 3 GWB im 2IJ
Scho\z, Wirtschaftsaufsicht, S. \72; vgl. auch BVerfGE 32, 3\\ (3\7 f.).
B. Entwicklung eines grundrechtlichen Kollisionsrechtes
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Zuge der 5. Kartellgesetznovelle nichts geändert. Die Regelvennutung lautete: "Die Verweigerung der Durchleitung ist in der Regel nicht unbillig, wenn die Durchleitung zu der Versorgung eines Dritten im Gebiet des Versorgungsunternehmens fUhren würde". Mit der Änderung des Satzes 3 der Nr. 4 214 hat der Gesetzgeber eine "flexiblere Fassung des Durchleitungstatbestandes"215 angestrebt. Aber auch nach der Änderung der Nr. 4 des § 103 Abs. 5 S. 2 GWB soll die Wertung dahingehend erhalten bleiben, in der weitaus überwiegenden Zahl der Fälle den Interessen der Leitungsinhaber im Ergebnis Vorrang einzuräumen. 216 Wesentlicher Unterschied zu der gemeinschaftsrechtlich vorgesehenen Regelung ist also, daß es um die Abwehr eines mißbräuchlichen Verhaltens im Einzelfall geht und gerade nicht wie beim Netzzugang Dritter darum, jedem Konkurrenten ein generelles Nutzungsrecht am unternehmerischen Potenial einzuräumen. Dabei ist der Ausgangspunkt im Rahmen der MIßbrauchsaufsicht grundsätzlich die Dispositionsfreiheit der Energieversorger; nur als Ausnahme sind aufgrund einer Einzelabwägung unter maßgeblicher Berücksichtigung des Zieles der Versorgungssicherheit Eingriffe in diese Freiheit gestattet. Eine Ersatzlösung nach dem Vorbild der deutschen Regelung der Durchleitungsfrage kommt aber nur in Betracht, wenn sie mit dem übrigen Gemeinschaftsrecht vereinbar ist. Eine entsprechende Funktion wie § 103 Abs. 5 S. 2 Nr. 4 GWB im nationalen Recht kommt Art. 86 EG-Vertrag auf Gemeinschaftsebene zu. Ebenso wie § 103 Abs. 5 S. 2 NT. 4 GWB das Lenkungsziel einer sicheren und preiswerten Energieversorgung berücksichtigt, erfUllt diese Funktion im Gemeinschaftsrecht Art. 90 Abs. 2 EG-Vertrag im Rahmen der Anwendung des Art. 86 EG-Vertrag. 217 Wenn der EG-Vertrag auch nicht in allen Details eine der deutschen Rechtslage entsprechende Regelung zuläßt, beispielsweise ist umstritten, ob Konzessionsverträge nicht gegen Art. 30 EGVertrag verstoßen _,218 so eröffnet die "lex causae" doch die grundsätzliche Möglichkeit der kartellrechtlichen Freistellung und einer punktuellen Mißbrauchskontrolle wie im nationalen Recht statt der von der Kommission ge214 Gesetz
vom 22. Dezember 1989, BGBI. I, 2486 (2491, Art. I Nr. 24 b).
215 BTDrucks. 1114610, S. 30 f. 216 Amdt, RIW 1989, Beilage 7, I (10); Zinow, S. 39. 217 Kühne, in: Leitungsgebundene Energie, 105 (113).
218 AusfUhrlich zu der Vereinbarkeit der bundes deutschen Rechtslage, insbesondere von § 103 GWB, mit dem EG-Vertrag, vgl. ScholziLanger, S. 111 ff.; Amdt, RIW 1989, Beilage 7, 1 (13 ff.); Baur, in: Der EG-Binnenmarkt fUr Energie, S. 37 ff.; siehe auch Zinow, S. 171 ff.; Everling, in: EWG-Binnenmarkt fUr Elektrizität, 132 (148 ff.).
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wählten generellen marktordnenden Regulierung. Eine dem deutschen Recht vergleichbare Regelung der Durchleitungsfrage steht folglich auch mit dem übrigen Gemeinschaftsrecht in Einklang. Mithin ist fUr die Ersatzlösung die "lex fori ", das deutsche Recht, als ultima ratio heranzuziehen, um den Grundrechten der betroffenen Leitungsunternehmen hinreichend Rechnung zu tragen. b) Ergebniskontrolle
Nimmt man eine Ergebniskontrolle dahingehend vor, ob die Berücksichtigung nationaler Grundrechtsbelange dazu fUhrt, die beiden Richtlinienvorhaben ihrer Zielsetzung zu entheben, so scheint dies aufgrund der erheblichen Abweichung der Ersatzlösung von den betroffenen Richtlinienbestimmungen zunächst nicht unwahrscheinlich. Schließlich sind von der Anwendung des ordre public-Vorbehaltes nicht lediglich diejenigen Vorschriften betroffen, welche die Durchleitungsfrage unmittelbar regeln (Art. 7, 14 und 21 der GemVElek-RL beziehungsweise Art. 12 und 19 der GemVGas-RL), sondern auch jene, welche die Vertragsmodalitäten festlegen, sowie Bestimmungen über Dienstleistungs-, Informations- und Kooperationspflichten der N etzbetreiber. 219 Mit den beiden Richtlinienvorschlägen verfolgt die Kommission aber neben der EinfUhrung des Zugangs Dritter zum Netz noch zwei weitere Zielsetzungen: Zum einen soll ein transparentes und nichtdiskriminierendes System fUr die Erteilung von Genehmigungen fUr die Elektrizitätserzeugung und den Bau von Leitungen und Gaspipelines geschaffen werden. 220 Zum anderen will die Kommission die Entbündelung der vertikal integrierten Versorgungsunternehmen erreichen, das heißt, Management und RechnungsfUhrung zwischen den Bereichen der Produktion, des Transports, der Speicherung und der Verteilung sollen getrennt werden. 221 Da sich die Anwendung des ordre public-Vorbehaltes auf die Bestimmungen, welche diese Zielsetzungen umsetzen, nicht aus-
219 Vgl. Kapitel III (Betrieb des Fernleitungsnetzes) und Kapitel IV (Betrieb des Verteilernetzes) der GernVGas-RL, AblEG Nr. C 65 v. 24.2.1992, 14 (\8 ff.), und Kapitel III (Betrieb eines Übertragungsnetzes) und Kapitel IV (Betrieb des Verteilernetzes) der GemVElek-RL, ABlEG Nr. C 65 v. 24.2.1992, 4 (8 ff.). 220Vgl. insbesondere Kapitel 11 (Zugang zum Markt) der GemVGas-RL, ABlEG Nr. C 65 v.24.2.1992, 14 (16 f.), beziehungsweise Kapitel II (Zugang zum Markt) der GemVElek-RL, ABlEG Nr. C 65 v. 24.2.1992, 4 (6 ff.). 221 Vgl. Kapitel V (Entflechtung - Transparenz der Rechnungslegung) der GemVGas-RL, ABlEG Nr. C 65 v. 24.2.1992, 14 (21 f.), beziehungsweise Kapitel V (Entflechtung - Transparenz der Rechnungslegung) der GemVElek-RL, AblEG Nr. C 65 v. 24.2.1992, 4 (13).
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wirkt,222 wird die Zielsetzung der Richtlinien diesbezüglich auch nicht beeinträchtigt. Im Rahmen der Ergebniskontrolle muß daher lediglich überprüft werden, ob die mit dem "Third Party Access" angestrebten Zwecke durch die Ersatzlösung beeinträchtigt, die Richtlinien also diesbezüglich ihrer Zielsetzung enthoben werden. Die mit den beiden Richtlinienvorschlägen verfolgte Absicht, einen stärkeren Wettbewerb und höhere Versorgungssicherheit auf dem Energiesektor zu gewährleisten, wird durch den "Third Party Access" nur unzulänglich verwirklicht. 223 Da im Bereich der Versorgungswirtschaft Wettbewerb von vornherein nur in beschränktem Maße möglich ist, weil die Durchsetzung von mehr Wettbewerb immer zu Lasten der Versorgungssicherheit geht,224 stellt die bundesdeutsche Regelung der Durchleitungsfrage einen Komprorniß zwischen den widerstreitenden Zielsetzungen, der Versorgungssicherheit einerseits und der Forderung nach (mehr) Wettbewerb andererseits, dar. Vergleicht man nämlich die Marktsituation in der Bundesrepublik Deutschland mit der, welche durch den "Third Party Access" bewirkt werden würde, so wird mit der bundesdeutschen Regelung ein stärkerer Wettbewerb garantiert als mit einem Durchleitungszwang zu erreichen wäre. 225 Jedenfalls würden die nationalen Monopolstrukturen, wie sie in Frankreich, Italien, Irland und Portugal gegeben sind,226 aufgebrochen, was sich zwangsläufig auch positiv auf das Preisniveau der Energieversorgung auswirken würde. Der Umstand, daß der energiewirtschaftliche Markt dennoch relativ starr ist, ist keine Folge der gesetzlichen Freistellung, sondern liegt vielmehr in der Leitungsgebundenheit und der außerordentlichen Kapitalintensität der Energieversorgung begründet. Der Absatz von Energie ist nur durch bestehende Leitungssysteme möglich und der Bau neuer Leitungen, der Zugang zu neuen Märkten eröffnen könnte, kann nur durch langfristige Investitionen verwirklicht werden, die kurzfristige Reaktionen auf Absatzschwankungen unmöglich machen. Diese Einschränkung bei der Verwirklichung des Wettbewerbs im Bereich der Energiewirtschaft wird aber durch die Garantie einer sicheren und preis222 So ausdrücklich fIlr die Entbündelung der vertikal integrierten Untemehmensstrukturen Schröder, Yerwirklichung des Elektrizitätsbinnenmarktes, S. 76, 90. Selbst wenn man mit ScholzlLanger, S. 200, die Gegenansicht vertritt und die letztgenannte Zielsetzung fIlr untrennbar mit dem "Third Party Access" verbunden erachtet, werden die Richtlinienvorschläge diesbezüglich nicht ihrer Zielsetzung enthoben: siehe die nachfolgenden Ausfllhrungen. 223 Ygl. Ausfllhrungen oben unter 3. Teil A. I. 4. 224 Ygl. Ausfllhrungen oben unter 3. Teil A. I. 4. 225 So auch Kühne, in: Leitungsgebundene Energie, 105 (120). 226Ygl. die Darstellung bei Zinow, S. 50 ff.; Amdt, RIW 1989, Beilage 7,1 (5 f.). 18 Rickert
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würdigen Energieversorgung innerhalb der gesamten Gemeinschaft kompensiert, welche durch eine dem deutschen Recht entsprechende Regelung in jedem Fall gewährleistet werden würde. Will die Kommission mit ihren Richtlinienvorhaben Wettbewerb und Versorgungssicherheit gleichermaßen erreichen, so wUrde die entwickelte Ersatzlösung diese Zielsetzungen nicht nur nicht beeinträchtigen, sondern sogar noch effektiver verwirklichen als der Durchleitungszwang. Die Ergebniskontrolle ergibt folglich, daß der Rückgriff auf die "lex fori" zu der Entwicklung einer Ersatzlösung die mit den beiden Richtlinienvorhaben angestrebten Ziele nicht beeinträchtigt, die Richtlinienvorschläge durch die Anwendung der ordre public-Regeln ihrer Zielsetzung mithin nicht enthoben werden, sondern eher noch eine effektivere Zielverwirklichung garantieren als der ursprünglich vorgesehene grundrechtswidrige DurchleitungsZwang. c) Fazit
Zusammenfassend ist somit festzuhalten: Im Falle der GemVGas-RL und der GemVElek-RL ist der Eingriff in die Richtlinienvorgaben zwar insofern intensiv, als die Ersatzlösung filr die grundrechtswidrigen Bestimmungen nicht im Wege der geltungserhaltenden Reduktion aus der "lex causae", also aus den Richtlinien selbst, gewonnen werden kann, sondern auf die "lex fori", das deutsche Recht, zurückgegriffen werden muß. Die Intensität des Eingriffs wird aber dadurch kompensiert, daß die "lex fori" eine Ersatzlösung anbietet, welche die mit den Richtlinienvorschlägen angestrebten Zielsetzungen effektiver umzusetzen vermag als die urspünglich vorgesehenen grundrechtswidrigen Bestimmungen. 2. Etikettierungsrichtlinie
Einfacher gestaltet sich die Entwicklung einer Ersatzlösung anband der ordre public-Regeln im Falle der Etikettierungsrichtlinie. a) Entwicklung einer ErsatzlösungJür die grundrechtswidrigen Richtlinienbestimmungen
Es sei noch einmal in Erinnerung gerufen, daß die Etikettierungsrichtlinie den Mitgliedstaaten in Art. 4 Abs. 2 die Möglichkeit einräumte, aus einer Liste
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von Warnhinweisen bestimmte auszuwählen, die auf den Zigarettenpackungen aufgedruckt werden müssen. Auf diese Weise konnte die Bundesrepublik Deutschland der Umsetzung grundrechtswidriger Warnungen wie "Rauchen ist tödlich" und "Rauchen führt zu tödlichen Krankheiten"227 entgehen. Anders gestaltete sich die Lage jedoch hinsichtlich der verbindlichen grundrechtswidrigen Richtlinienbestimmungen, dem Warnhinweis "Rauchen verursacht Krebs" und dem Warnhinweis "Rauchen verursacht Herz- und Geflißkrankheiten".228 Diese haben trotz ihrer Grundrechtswidrigkeit wegen fehlender Freiräume bei der Umsetzung innerstaatliche Geltung erlangt. Überträgt man das vorliegende Modell, so wäre der deutsche Umsetzungs gesetzgeber hinsichtlich dieser Warnungen von seiner Umsetzungsverpflichtung befreit gewesen, um seiner Grundrechtsbindung gemäß Art. 1 Abs. 3 GG genügen zu können. Dennoch hätte er dem Gebot möglichst weitgehender Schonung und Respektierung der gemeinschaftsrechtlichen Richtlinienvorgaben Rechnung tragen müssen, indem er sich um eine Ersatzlösung bemüht hätte, die den verworfenen grundrechtswidrigen Warnhinweisen möglichst nahegekommen wäre. Zunächst hätte man daran denken können, auf die beiden Warnungen ersatzlos zu verzichten. Für diese Lösung läßt sich anfUhren, daß aufgrund der verbleibenden fakultativen Warnhinweise genug Variationsmöglichkeiten verblieben wären, die Zielsetzung der gesamten Richtlinie durch den Verzicht auf die beiden Warnungen also nicht merklich beeinträchtigt worden wäre. Da es sich bei den beiden Hinweisen um die einzigen obligatorischen handelt, die auf jeder Zigarettenpackung zu erscheinen haben, wäre diese Ersatzlösung den Anforderungen des ordre public-Gedankens aber nicht gerecht geworden, weil sie eine schonendere Modifizierungsmöglichkeit unberücksichtigt gelassen hätte. Die Richtlinie selbst bietet eine weniger eingriffsintensive Modifizierung an: Unter Ziffer 3 in der Liste der Warnhinweise, unter denen die Mitgliedstaaten wählen konnten,229 wird der Hinweis "Rauchen kann zum Tode führen" angeboten. Wurde den Mitgliedstaaten damit die Möglichkeit eingeräumt, statt der unter Ziffer 2 dieser Liste aufgefUhrten grundrechtswidrigen Warnung "Rauchen ist230 tödlich" die abgeschwächte, aber dennoch aussageverwandte Version "Rauchen kann 231 zum Tode führen" zu wählen, so hätte im Falle der verbindlichen Warnungen eine grundrechtskonforme Lösung so aus227 Vgl. Ausfilhrungen oben unter 3. Teil B. 228 Vgl. Ausfilhrungen oben unter 3. Teil B. 229Vgl. Anhang I. 230 Hervorhebung der Verfasserin. 231 Hervorhebung der Verfasserin. IS*
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sehen können, die obligatorischen Warnhinweise dahingehend abzuändern, daß nur noch auf die möglichen Risiken des Rauchens abgestellt und damit nicht über wissenschaftlich Belegbares hinausgegangen worden wäre: "Rauchen kann Krebs verursachen" beziehungsweise "Rauchen kann Herz- und Gefiißkrankheiten verursachen". Diese Änderung wird durch die Richtlinie selbst schon nahegelegt und verändert die Aussagekraft der ursprünglich vorgegebenen Richtlinienbestimmungen nur geringfiigig, stellt also einen schonenden Eingriff in die Richtlinienvorgaben dar. Eine grundrechtskonforme Ersatzlösung rur die in der letztlich verabschiedeten Richtlinie erhalten gebliebenen Grundrechtswidrigkeiten hätte folglich aus der "lex causae", also aus der Richtlinie selbst, entwickelt werden können. Anhand der Etikettierungsrichtlinie kann aber auch aufgezeigt werden, wie aus der "lex fori", dem nationalen Recht, eine Lösung hergeleitet werden kann. Die Tabakrichtlinie ist aufgrund deutscher Intervention nachträglich dahingehend geändert worden, den Mitgliedstaaten gemäß Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie freizustellen, ob sie bestimmen, daß auf den Zigarettenpackungen angegeben wird, von welcher Stelle die Warnungen ausgehen. 232 Gesetzt den Fall, die von deutscher Seite vorgetragenen grundrechtlichen Bedenken diesbezüglich wären unbeachtet geblieben und es wäre zu dieser Einigung im Rat nicht gekommen, so hätte man in Anwendung des ordre public-Gedankens deutsches Recht als ultima ratio heranziehen müssen, um die Grundrechtswidrigkeit zu beheben, die daraus resultiert hätte, daß die Tabakproduzenten gleichsam zur Warnung vor dem eigenen Produkt verpflichtet und ihnen der Inhalt der Warnungen als eigene Meinung untergeschoben worden wäre. 233 Im nationalen Recht war nämlich schon vor der Europäisierung der Wamhinweise vorgesehen, den Urheber entsprechender Warnungen anzugeben. In der Bundesrepublik durften schon seit dem 1. Januar 1987 nur noch Tabakerzeugnisse mit dem Warnhinweis "Der Bundesgesundheitsminister: Rauchen gefährdet Ihre Gesundheit" in den Verkehr gebracht werden. 234 Angelehnt an diese innerstaatliche Regelung hätte man die Richtlinienvorgaben im Rahmen des deutschen Transformationsaktes so modifizieren können, wie es in der letztlich verabschiedeten Richtlinie dann auch ermöglicht worden ist: Es ist in das Ermessen der Mitgliedstaaten gestellt worden, ob bei den Warnhinweisen anzugeben ist, von wem die War232 Vg!.
Ausfllhrungen oben unter 1. Teil C. 111. und 3. Teil B. I. 1. a). Vg!. Ausfllhrungen oben unter 1. Teil C. III. 1. b). und unter 3. Teil B. I. 1. a). 234 § 3 a Abs. 1 TabakVO, Verordnung vom 20.12.1977, BGB!. I, S. 2831, i.d.F. der ÄndVO vom 26.10.1982 (BGB!. I, S. 1444), der Zusatzstoff-Verkehrsverordnung vom 10.7.1986 (BGB!. I, S. 368). 233
B. Entwicklung eines grundrechtlichen Kollisionsrechtes
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nung ausgeht. Den Warnhinweisen müssen nach der deutschen Umsetzungsvorschrift daher jeweils die Worte "Die EG-Gesundheitsminister:" vorangestellt werden. 235 Das Ziel der Maßnahme hätte dadurch auch keinerlei Beeinträchtigung erfahren, wie die letztendliehe Berücksichtigung der deutschen Position in der schließlich verabschiedeten Richtlinie bestätigt. Die Intensität des Eingriffes in die gemeinschaftsrechtlichen Richtlinienvorgaben wäre zudem dadurch abgeschwächt worden, daß die Problematik bereits Gegenstand der Verhandlungen im Rat war und die Situation des deutschen Umsetzungsgesetzgebers den übrigen Mitgliedstaaten folglich bekannt gewesen wäre. b) Ergebniskontrolle
Schließlich ist im Rahmen der Ergebniskontrolle zu prüfen, ob die eben entwickelte Ersatzlösung fUr die grundrechtswidrigen Bestimmungen der deutschen Umsetzungsverordnung die gemeinschaftsrechtlich verfolgte Zielsetzung der Richtlinie beeinträchtigt hätte. Es sei noch einmal in Erinnerung gerufen, daß die Intention der Richtlinie zum einen darin besteht, die Marktbürger vor den Gesundheitsgefahren, die der Konsum von Zigaretten mit sich bringt, zu schützen, zum anderen auch darin, die bestehenden Wettbewerbsverzerrungen, die durch verschiedene Etikettierungsvorschriften in den einzelnen Mitgliedstaaten bedingt waren, zu beseitigen, wobei allerdings die erstgenannte Zielsetzung im Vordergrund stand. 236 Da die Effektivität der Maßnahme, der "Wachrüttelungseffekt", nicht von der konkreten Formulierung der Warnhinweise abhängt und diese ohnehin nur eine kaum merkliche Veränderung erfahren hätten, wäre die Tabakrichtlinie nicht ihres "effet utile" enthoben worden, wenn die beiden betreffenden Warnhinweise in der deutschen TabKTHmV in der soeben dargestellten Form modifiziert wurde. Darüber hinaus wäre der deutschen Tabakindustrie kein nennenswerter Wettbewerbsvorteil daraus erwachsen, wenn sie - anders als ihre Konkurrenten in den übrigen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft - die von ihnen produzierten Zigarettenpackungen mit dem Hinweis "Rauchen kann Krebs verursachen" statt mit dem Hinweis "Rauchen verursacht Krebs" beziehungsweise "Rauchen kann zu Herz- und Gefiißkrankheiten führen" statt "Rauchen fUhrt zu Herz- und Gefiißkrankheiten" versehen würde. Dies gilt um so mehr, wenn man berücksichtigt, daß die Effektivität derartiger Warnungen ohnehin zweifelhaft ist. 231 Vgl. § 2 Abs. 2 und § 3 Abs. 2 TabKTHmV; siehe Anhang 2. Ausfilhrungen oben unter I. Teil C. III. und 3. Teil B. 237 Vgl. Ausfilhrungen oben unter 3. Teil B. J. I. c) aa). 235
236 Vgl.
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Sechster Teil: Eigener Lösungsansatz
c) Fazit
Im Falle der Etikettierungsrichtlinie hätte eine grundrechtskonforme Ersatzlösung somit aus der "lex causae", also aus der Richtlinie selbst, entwickelt werden können, ohne eines nennenswerten Eingriffes in die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben zu bedürfen. Durch eine minimale Modifizierung des Richtlinieninhaltes hätte also innerstaatlich grundrechtswidriges Recht vermieden werden können. V. Ergebnis Die Übertragung der im Internationalen Privatrecht zum ordre public entwikkelten Grundsätze auf den Konflikt zwischen gemeinschaftsrechtlichen Richtlinienvorgaben und nationalen Grundrechtsgewährleistungen ermöglicht es, in jedem Einzelfall die beiden kollidierenden Positionen im Wege praktischer Konkordanz zu optimaler Wirksamkeit gelangen zu lassen. Der nationale Umsetzungsgesetzgeber ist bei der Transformation von Richtlinien in innerstaatliches Recht grundsätzlich nicht von der Bindungswirkung der Grundrechte dispensiert, sondern unterliegt ihr in vollem Umfang. Daher beschränkt sich seine Umsetzungsverpflichtung auch auf die grundrechtskonformen Bestimmungen einer Richtlinie. Bei der Ermittlung einer "Ersatzlösung" für den grundrechtswidrigen Teil der jeweiligen Richtlinie ist aber dem Prinzip des geringstmöglichen Eingriffes in den Inhalt der Richtlinie Rechnung zu tragen, indem die Ersatzlösung den ursprünglichen Vorgaben möglichst nahekommt. Die Bindung an den Grundrechtskatalog des Grundgesetzes wird allerdings ausnahmsweise durch die Bindung an die Richtlinienvorgaben verdrängt, wenn die Ersatzlösung dazu führt, daß die Richtlinie ihrer Zielsetzung enthoben wird. Auf diese Weise kann die Entscheidung des Grundgesetzes für die Öffnung der nationalen Rechtsordnung für das Recht der Europäischen Gemeinschaft, wie sie in Art. 23 GG und der Präambel zum Ausdruck kommt, berücksichtigt und die Funktionsflihigkeit der Gemeinschaft gewahrt werden.
C. Gesamtergebnis Die Anwendung des entwickelten Ansatzes vollzieht sich also in zwei Phasen: In der ersten Phase soll vor dem Erlaß einer Richtlinie durch eine Rückbesinnung auf die ursprüngliche Funktion der zweistufigen Rechtsetzung mit Hilfe des Subsidiaritätsgrundsatzes schon die Entstehung grundrechtlichen
c. Gesamtergebnis
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Konfliktpotentials vermieden werden. Die gemeinschaftsrechtlichen Rechtsetzungsorgane müssen vor dem Erlaß einer Richtlinie zunächst prüfen, ob ein gemeinschaftsrechtlicher Normerlaß überhaupt erforderlich ist. Eine kritische Hinterfragung der Notwendigkeit einer gemeinschaftsrechtIichen Regelung fUhrt zu einer Verringerung der Gesamtzahl der erlassenen Richtlinien und damit zwangsläufig auch zu einer Verringerung der Wahrscheinlichkeit eines Grundrechtskonfliktes. Stellt sich im Rahmen dieser Prüfung jedoch heraus, daß ein Handeln durch die Gemeinschaft in Form der Richtlinie zwingend notwendig ist, muß auch bei der inhaltlichen Ausgestaltung der jeweiligen Richtlinie den Anforderungen des Subsidiaritätsgrundsatzes Rechnung getragen werden, indem der Inhalt auf das Notwendigste beschränkt wird, also nur Rahmenvorgaben getroffen oder Mindeststandards festgelegt werden. Jedenfalls müssen hinreichende Gestaltungsfreiräume verbleiben, damit der nationale Umsetzungsgesetzgeber bei der innerstaatlichen Transformation auf nationale Grundrechtssensibilitäten eingehen und eventuell in einer Richtlinie angelegten Grundsrechtswidrigkeiten ausweichen kann. Sollte sich trotz Beachtung dieser Grundsätze eine grundrechtswidrige Richtlinie nicht verhindern lassen, so hat der Umsetzungsgesetzgeber in der zweiten Phase eine Prüfung in zwei Schritten vorzunehmen: Hinsichtlich der grundrechtswidrigen RichtIinienbestimmungen ist er zwar von seiner Um setzungsverpflichtung befreit, er muß sich aber um eine Ersatzlösung bemühen, die den Eingriff in die Richtlinienvorgaben möglichst schonend gestaltet. Die Ersatzlösung ist - wenn möglich - aus der Richtlinie selbst zu entwickeln, nur als ultima ratio darf das Recht des Forumstaates herangezogen werden. Schließlich hat der Umsetzungsgesetzgeber eine Ergebniskontrolle durchzufUhren, ob die entwickelte Ersatzlösung nicht dazu fUhrt, die Richtlinie ihrer Zielsetzung zu entheben. Sollte dies der Fall sein, muß die Grundrechtsbindung gemäß Art. 1 Abs. 3 GG ausnahmsweise hinter der Umsetzungsverpflichtung zurücktreten, um die Funktionsflihigkeit der Gemeinschaft in dem betroffenen Regelungsbereich nicht zu geflihrden. Dieses Modell mag zwar - kurzfristig betrachtet - im Einzelfall eine geringfUgige Integrationsverzögerung mit sich bringen, hat aber den großen Vorteil, die politische Akzeptanz in den Mitgliedstaaten zu stärken und damit langfristig zu einer Verfestigung der Integration beizutragen.
Zusammenfassung der Ergebnisse 1. Aufgrund des zunehmenden Vordringens der Gemeinschaft in neue, zum Teil auch besonders grundrechtssensible Bereiche und der steigenden Regelungsintensität von Richtlinien ist die Wahrscheinlichkeit, daß sich der bundesdeutsche Umsetzungsgesetzgeber bei der Transformation von Richtlinien in nationales Recht einem Konflikt zwischen verbindlichen Richtlinienvorgaben und seiner Grundrechtsbindung gemäß Art. 1 Abs. 3 GG ausgesetzt sieht, erheblich gestiegen. Die Diskussion über das Verhältnis von nationalen Grundrechten zu sekundärem Gemeinschaftsrecht beschränkte sich bisher nahezu ausschließlich auf unmittelbar geltendes sekundäres Gemeinschaftsrecht. Die Frage, wie der Konflikt zwischen nur mittelbare Geltung beanspruchenden Richtlinien und nationalen Grundrechten zu lösen ist, fand hingegen kaum Beachtung. 2. Die Ursache ftir die Entstehung solcher Konflikte liegt darin begründet, daß der gemeinschaftsrechtliche Grundrechtsstandard im Detail (noch) nicht dem innerstaatlichen Schutzniveau entspricht: Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften hat zwar - nicht zuletzt durch die "Solange I"-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes veraniaßt - mittlerweile einen bemerkenswerten Grundrechtsstandard auf Gemeinschaftsebene entwickelt, doch verzichtet er häufig auf ausftihrliche Begründungen seiner Ergebnisse, die es ermöglichen würden, eine sichere Grundrechtsdogmatik zu entwickeln. Er gewinnt die gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsgewährleistungen zwar regelmäßig aus der EMRK und den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten. Das führt wegen der völlig unterschiedlichen Grundrechtstraditionen in den einzelnen Mitgliedstaaten jedoch nicht selten zu Kompromißlösungen, die gemessen an dem vergleichsweise hohen bundesdeutschen Grundrecht~ schutzniveau eine Einbuße an Grundrechtsvolumen ftir die Marktbürger in der Bundesrepublik Deutschland bedeuten. Darüber hinaus hält sich der Gerichtshof nicht immer konsequent an die von ihm selbst gesetzten Standards. Im Einzelfall ist daher nicht ausgeschlossen, daß der durch den Gerichtshof gewährte Schutz hinter dem innerstaatlichen Grundrechtsniveau zurückbleibt. Exemplarisch können hierftir der Schutz von Geschäftsräumen, das Aussage-
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verweigerungsrecht im Falle der Gefahr der Selbstbezichtigung und die Eigentumsgarantie genannt werden. 3. Beispiele aus neuerer Zeit, bei denen der Konflikt des Umsetzungsgesetzgebers zwischen der Grundrechtsbindung gemäß Art. lAbs. 3 GG und der gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtung, grundrechtswidrigen Richtlinieninhalten innerstaatliche Geltung zu verleihen, virulent werden wird beziehungsweise bereits geworden ist, sind die Richtlinienvorschläge der Kommission zur Verwirklichung des Energiebinnenmarktes und die Richtlinie über die Etikettierung von Tabakerzeugnissen. In beiden Fällen bleibt der durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften gewährleistete Grundrechtsschutz (vermutlich) hinter den innerstaatlichen Grundrechtsanforderungen zurück, was im Fall der Etikettierungsrichtlinie bereits zu dem Erlaß innerstaatlich grundrechtswidrigen Rechtes geführt hat. Entsprechendes steht im Falle der Energierichtlinien zu befürchten, wenn sich der ursprüngliche Kommissionsvorschlag durchsetzen sollte. Diese Beispiele belegen auch, daß Grundrechtskonflikte nicht nur in Regelungsbereichen relevant werden können, die außerhalb des klassischerweise dem Gemeinschaftsrecht zuzuordnenden Sektor des Wirtschaftsrechtes liegen, sondern auch im Bereich der Wirtschaftsgrundrechte Unterschiede zwischen dem gemeinschaftsrechtlichen und dem innerstaatlichen Grundrechtsstandard gegeben sind. Gleichzeitig machen diese Fälle deutlich, wie dringlich es ist, eine Lösung für die Kollisionsproblematik zu entwickeln. 4. Der vom Gerichtshof zu der Lösung dieses Konfliktes angenommene bedingungslose Vorrang des Gemeinschaftsrechtes vor jedwedem nationalen Recht, also auch vor nationalen Grundrechten, - hergeleitet aus der Eigenständigkeit des Gemeinschaftrechtes - ist nicht überzeugend. Schließlich leitet das Gemeinschaftsrecht seine Geltung auch im Verhältnis zu nationalem Recht letztlich aus den mitgliedstaatlichen Verfassungen her. Solange aber die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen die Reichweite des innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehles von sekundärem Gemeinschaftsrecht bestimmen, kann die gesuchte Kollisionsregel auch nur aus den nationalen Verfassungen selbst entwickelt werden. 5. Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes ist eine eindeutige Aussage zu der Frage der Grundrechtsgeltung bei der Umsetzung von Richtlinien in deutsches Recht nicht zu entnehmen, weil das Gericht bislang nur - vom "Tabak"-Beschluß abgesehen - zu der Problematik des Verhältnisses zwischen gemeinschaftsrechtlichen Verordnungen und nationalen Grundrechten Stellung beziehen mußte und auch hier auf prozessuale Lösungen auswei-
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chen und so die Entwicklung einer materiell-rechtlichen KoIIisionslösung umgehen konnte: a) Zwar hat das Gericht seine in "Solange I" aufgestellte Forderung nach einem geschriebenen Grundrechtskatalog auf Gemeinschaftsebene in "Solange 11" aufgegeben, jedoch ist es in "Solange 11" - entgegen zahlreicher Deutungen im Schrifttum - nicht von der grundsätzlichen Maßstäblichkeit der deutschen Grundrechte in jedem Einzelfall abgerückt. Es hat lediglich die mittlerweile entstandene Grundrechtsrechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes honoriert, indem es ihm eine prozessuale Primärzuständigkeit bei der Gewährleistung von Grundrechtsschutz gegenüber Gemeinschaftsrechtsakten zugebilligt hat. Soweit die Grundrechtsgewährleistung nämlich verläßlich vom Gerichtshof übernommen wird, braucht sie nicht von dem weiterhin uneingeschränkt zuständigen Bundesverfassungsgericht geleistet zu werden. Diese Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht sowohl in dem Beschluß zur Tabakrichtlinie als auch im "Maastricht"-Urteil fortgesetzt. b) Für die Lösung der materiell-rechtlichen KoIIisionslage, in der sich der Umsetzungsgesetzgeber befindet, ist der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes lediglich zu entnehmen, daß eine strikte Grundrechtskonformität gemeinschaftsrechtlich veranlaßten innerstaatlichen Rechtes wie bei rein nationalem Recht nicht gegeben sein muß. Wo aber die Grenze der zulässigen Grundrechtsrelativierung durch gemeinschaftsrechtliche . Rechtsetzung zu ziehen ist, ist bislang noch offen. Feststeht insofern nur, daß sie im Vorfeld des Art. 79 Abs. 3 GG zu suchen und in jedem Einzelfall gesondert zu bestimmen ist. 6. Eine starke Strömung im Schrifttum geht von der Dispensierung des Umsetzungsgesetzgebers von der Grundrechtsbindung des Art. 1 Abs. 3 GG aus, soweit die Richtlinien zwingende Vorgaben enthalten, und begründet dies mit der Funktionsflihigkeit der Gemeinschaft: Könnte den Richtlinien nationales Verfassungsrecht entgegengehalten werden, so wäre das Ziel der gemeinschaftsrechtlichen Rechtsetzung, die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zu vereinheitlichen, geflihrdet. a) Müssen die nationalen Umsetzungsorgane dem gemeinschaftsrechtlichen Umsetzungsbefehl nach dieser Auffassung auch im Falle der Grundrechtswidrigkeit Folge leisten, so besteht innerhalb der Ansicht jedoch Uneinigkeit, ob eine Umsetzung im Wege der Verfassungsdurchbrechung gestattet ist oder ob eine vorherige Anpassung der Verfassung an die Vorgaben der Richtlinien
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erforderlich ist. Auch die Frage, bis zu welcher Grenze der Umsetzungs gesetzgeber von der Grundrechtsbindung dispensiert ist, wird unterschiedlich beantwortet. Die Grenzziehungen reichen von der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG über die Wesensgehaltsgarantie bis zu einer Kombination aus beidem, ohne dem Umsetzungsgesetzgeber jedoch praktikable Kriterien an die Hand zu geben, wann die jeweilige Grenze im Einzelfall überschritten ist. b) Würde man auf eine vorgeschaltete Anpassung des Grundgesetzes an die Vorgaben der Richtlinien verzichten und eine Umsetzung im Wege der Verfassungsdurchbrechung gestatten, würde das den gemeinschaftsrechtlichen Rechtsanwendungsbefehl vermittelnde einfache Gesetzesrecht den Geltungsanspruch nationalen Verfassungsrechtes ausschalten und die nationalen Grundrechtsgewährleistungen stünden letztlich zur Disposition des Exekutivorgans Ministerrat. Die Kompetenz des nationalen Parlamentes, den Inhalt der Grundrechte auszugestalten, würde ausgehebelt. Darüber hinaus gäbe es innerstaatlich zwei Kategorien von Gesetzen: Während die eine mit den Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes vereinbar sein müßte, dürfte die andere aufgrund ihrer gemeinschaftsrechtlichen Determinierung grundrechtswidrige Bestimmungen enthalten. Um das zu verhindern, kann auf eine der Umsetzung vorgeschaltete Verfassungsänderung nicht verzichtet werden. Will man den verfassungsändernden Gesetzgeber nicht zum "Befehlsempfiinger" des Rates degradieren, darf man auch nicht von einer aus Art. 23 GG resultierenden Verpflichtung zur Anpassung des Grundgesetzes an den Inhalt der jeweiligen Richtlinie ausgehen, sondern muß die Verfassungsänderung als Gestaltungsakt des nationalen Parlamentes betrachten, dem das Risiko immanent ist, daß die für eine Verfassungsänderung erforderliche Zweidrittelmehrheit nicht zlistandekommt. 7. Da die letzte Möglichkeit, nationale Grundrechtsinteressen einzubringen und grundrechtswidrige Richtlinien zu verhindern, das zum Erlaß der Richtlinie führende Rechtsetzungsverfahren im Ministerrat ist, suchen andere die Lösung für den Grundrechtskonflikt des Umsetzungsgesetzgebers bereits im Rechtsetzungsverfahren. Indem sie zutreffenderweise von einer umfassenden, keine Relativierung gestattenden Grundrechtsbindung des deutschen Vertreters im Rat ausgehen, können grundrechtswidrige Richtlinien jedenfalls dann verhindert werden, wenn Einstimmigkeit zum Normerlaß erforderlich ist. Der deutsche Abgesandte muß das Entstehen einer grundrechtswidrigen Richtlinie dann mit seiner Gegenstimme verhindern.
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8. Da das Einstimmigkeitserfordernis mit der Einfugung des Art. 100 a in den Vertrag aber zur Ausnahme geworden ist, überwiegend also Mehrheitsentscheidungen getroffen werden, vermag das Veto des deutschen Ratsmitgliedes das Entstehen grundrechtswidriger Richtlinien nur noch in den seltensten Fällen zu verhindern. Aber auch im Falle der Mehrheitsentscheidung verpflichtet die Bindungswirkung des Art. lAbs. 3 GG den deutschen Vertreter im Rat, "alles zu tun", um der Schaffung grundrechtswidrigen Gemeinschaftsrechtes entgegenzuwirken. Gelingt es dem deutschen Abgesandten nicht, die Vertreter der übrigen Mitgliedstaaten von seinem Anliegen zu überzeugen, so muß er auf eine möglichst grundrechtsnahe Ausgestaltung des Richtlinieninhaltes hinwirken und auf die Einräumung von Gestaltungsspielräumen zu einer grundrechtskonformen Umsetzung drängen. Da aber nicht ausgeschlossen werden kann, daß dennoch grundrechtswidrige Richtlinien erlassen werden, vermag die Lösung über das Rechtsetzungsverfahren allein keine abschließende Konfliktlösung zu bieten. 9. Wenn im Schrifttum ferner von der Pflicht der deutschen Ratsdelegation ausgegangen wird, sich für die nachträgliche Revision eines grundrechtswidrigen Normativaktes im Ministerrat einsetzen zu müssen, so entspricht das zwar der aus Art. 1 Abs. 3 GG resultierenden Bindungswirkung der Grundrechte und eröffnet auch die Möglichkeit einer schonenden Behebung des Konfliktes, verspricht aber wenig Aussicht auf Erfolg. Es mag zwar nicht gänzlich ausgeschlossen sein, daß die Mehrheit der Ratsmitglieder im Einzelfall nachträglich von der Notwendigkeit einer grundrechtskonformen Abänderung des jeweiligen Rechtsetzungsaktes überzeugt werden kann, der Regelfall dürfte aber eher gegenteilig verlaufen, weil die Bereitschaft, einen mühsam gefundenen Komprorniß nachträglich zu gefährden, regelmäßig gering sein dürfte. 10. Streinz versucht, die Relativierung der Grundrechtsbindung durch die Einbeziehung europäischer Gemeinwohlinteressen im Rahmen der Überprüfung der Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseingriffen zu konkretisieren. Dabei geht er zutreffend davon aus, daß die Öffnung des Grundgesetzes für den Prozeß der europäischen Integration die Möglichkeit, Grundrechte einzuschränken, erweitere. Die Europäisierung eines Regelungsbereiches könne zu anderen tatsächlichen Gegebenheiten führen, als es bei rein nationaler Rechtsetzung der Fall wäre, woraus wiederum eine andere rechtliche Bewertung resultieren könne. Die durch Einbeziehung der jeweils verfolgten Gemeinschaftsbelange in die VerhältnismäßigkeitspTÜfung gewonnene Erweiterung der Einschränkungsmöglichkeiten verringert das Konfliktpotential ebenso wie die
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Lösung über das Rechtsetzungsverfahren und die nachträgliche Kollisionsbeseitigungspflicht, versagt aber dort, wo es um die Grenzziehung im Bereich des Schutzbereiches geht und wo die Diskrepanzen im grundrechtlichen Schutzniveau auf Unterschieden in der Dogmatik beruhen. 11. Den grundrechtsfreundlichsten Standpunkt vertritt Di Fabio, der von einer umfassenden Grundrechtsbindung des Umsetzungsgesetzgebers ausgeht. Etwaigen Konflikten zwischen verfassungsrechtlichen und gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsanforderungen sei dadurch auszuweichen, daß die Richtlinie dem nationalen Gesetzgeber hinreichend Gestaltungsfreiräume belasse, um entsprechenden Kollisionen im Rahmen der innerstaatlichen Umsetzung entrinnen zu können. Bestehen solche Freiräume nicht, geht er von dem Vorrang der Grundrechtsgewährleistungen des Grundgesetzes vor verbindlichen Richtlinienvorgaben aus. Wenn Di Fabio damit die Art und Weise der bisherigen Verwendung des Rechtsetzungsinstrumentes Richtlinie auch berechtigterweise kritisiert, stellt die Forderung nach einer uneingeschränkten Bindung an die nationalen Grundrechte nicht den schonendsten Ausgleich zwischen Art. 1 Abs. 3 GG einerseits und der Öffnung des Grundgesetzes rur die europäische Integation andererseits dar, weil sie einseitig die nationalen Grundrechtsinteressen bevorzugt. 12. Sowohl die Verpflichtung des deutschen Vertreters im Rat, auf grundrechtskonforme Richtlinien hinzuwirken, als auch die nachträgliche Kollisionsbeseitigungspflicht sowie die Einbeziehung europäischer Gemeinwohlbelange in die Überprüfung der Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseingriffen verringern zwar die Wahrscheinlichkeit von Grundrechtskollisionsfällen, vermögen sie aber nicht gänzlich auszuschließen. Infolgedessen ist die Aufgabe, eine zufriedenstellende Konfliktlösung zu entwickeln, noch nicht erfüllt. 13. Da die Lösung rur einen Konflikt immer bei dessen Ursachen zu suchen ist, ist zunächst bei der Anzahl der verabschiedeten Richtlinien und deren Regelungsintensität anzusetzen. Mit Hilfe des Subsidiaritätsprinzips müssen in jedem Einzelfall das "ob" und das "wie" des gemeinschaftsrechtlichen Richtlinienerlasses hinterfragt werden. Die gemeinschaftsrechtlichen Rechtsetzungsorgane müssen zunächst vor dem Erlaß einer Richtlinie prüfen, ob ein gemeinschaftsrechtlicher Normerlaß überhaupt erforderlich ist oder ob nicht mitgliedstaatliehe Regelungen ausreichend sind. Wird die Notwendigkeit einer gemeinschaftsrechtlichen Vereinheitlichung der mitgliedstaatlichen Regelungen in jedem Einzelfall konsequent hinterfragt, fuhrt das zu einer Reduzierung der Gesamtzahl der erlassenen Richtlinien und damit zwangsläufig auch zu einer
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Verringerung des grundrechtlichen Konfliktpotentials. Stellt sich im Rahmen dieser Prüfung heraus, daß ein Handeln durch die Gemeinschaft in Form der Richtlinie zwingend notwendig ist, muß auch bei der inhaltlichen Ausgestaltung der Richtlinie den Anforderungen des Subsidiaritätsprinzips Rechnung getragen werden, indem der Inhalt auf das Notwendigste beschränkt wird, also nur Rahmenvorgaben getroffen oder Mindeststandards festgelegt werden. Damit erfolgt gleichzeitig eine Rückbesinnung auf die ursprüngliche Konzeption der Richtlinie, nach der dem Umsetzungsgesetzgeber hinreichend Gestaltungsspielräume zu einer grundrechtskonformen Umsetzung der Vorgaben belassen werden, um bei der innerstaatlichen Transformation auf nationale Grundrechtssensibilitäten einzugehen und eventuell in einer Richtlinie angelegten Grundrechtswidrigkeiten ausweichen zu können. Da den Rechtsetzungsorganen der Gemeinschaft bei der Überprüfung der Erforderlichkeit des NormerIasses und der Regelungsdichte aber ein Beurteilungsspielraum einzuräumen ist, kann nicht ausgeschlossen werden, daß dennoch grundrechtswidrige Richtlinien erlassen werden. Das Potential für einen Konflikt zwischen Richtlinienvorgaben und nationalen Grundrechten kann auf diese Weise aber auf jeden Fall verringert, wenn auch nicht gänzlich beseitigt werden. 14. Für die verbleibenden Konfliktfalle dung der Regeln des ordre public, wie er wandt wird, eine Lösung, die sowohl der Abs. 3 GG als auch der Entscheidung des Integration, wie sie in der Präambel und in Rechnung trägt:
bietet eine entsprechende Anwenim Internationalen Privatrecht verGrundrechtsbindung gemäß Art. 1 Grundgesetzes filr die europäische Art. 23 GG zum Ausdruck kommt,
a) Zwar kollidieren bei der Richtlinienproblematik - anders als im Internationalen Privatrecht, wo die Grundrechte schon aufgrund ihrer höherrangigen Stellung in der Normenhierarchie beachtet werden müssen - mit der in der Präambel und in Art. 23 GG verankerten Entscheidung rur die Öffnung der eigenen Rechtsordnung rur das Recht der Europäischen Gemeinschaft einerseits und den nationalen Grundrechten andererseits zwei Werte, die gleichermaßen Verfassungsrang genießen. Da die Grundrechte aber Ausdruck einer objektiven Wertordnung sind, die auch die Öffnung der Verfassung rur das Recht der Europäischen Union beeinflußt, können die im Internationalen Privatrecht zum ordre public entwickelten Grundsätze dennoch ein brauchbares Instrumentarium liefern, um den Konflikt zwischen verbindlichen Richtlinienvorgaben und deutschen Grundrechten zu harmonisieren. Das gilt um so mehr, als es sich bei den ordre public-Regeln letztlich um eine Ausprägung des
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Grundsatzes praktischer Konkordanz handelt, welcher gerade herangezogen wird, um zwei miteinander kollidierende Verfassungsgüter in Einklang zu bringen, und dem Gemeirischaftsrecht selbst der ordre public-Vorbehalt zugunsten nationaler Schutzinteressen nicht fremd ist. Der Unterschied zwischen beiden Konstellationen steht der Anwendung der ordre public-Regeln auf die Richtlinienproblematik folglich nicht entgegen. b) Ferner entsprechen sich auch die Interessenlagen, weil sich in beiden Fällen Träger deutscher Hoheitsgewalt vor die Kollision zweier gleichermaßen Geltung beanspruchender Normen gestellt sehen. Im Internationalen Privatrecht beanspruchen das durch die deutsche KoIIisionsnorm berufene ausländische Sachrecht und die nationalen Grundrechte gleichermaßen Geltung, während im Falle der Richtlinie die verbindlichen Richtlinienvorgaben und die nationalen Grundrechtsbestimmungen gleichzeitig auf Anwendung drängen. In beiden Fällen geht es ferner nur darum, die Anwendung grundrechtswidrigen Rechts im Geltungsbereich des Grundgesetzes zu verhindern. Die Maßstäblichkeit deutscher Grundrechte solI folglich in beiden FälIen nicht über den Geltungsbereich des Grundgesetzes hinaus erstreckt werden, weil weder das ausländische Sachrecht noch die Richlinie als solche am Maßstab der deutschen Grundrechtsordnung überprüft werden solIen, sondern jeweils nur das Ergebnis ihrer innerstaatlichen Anwendung. Schließlich ist in beiden KonsteIIationen gleichermaßen die Zielsetzung einer einheitlichen Rechtsanwendung maßgeblich. Diese ParalIelen rechtfertigen die Übertragung der Erkenntnisse des ordre public-Vorbehaltes aus dem Internationalen Privatrecht auf das Verhältnis gemeinschaftsrechtlicher Richtlinien zu nationalen Grundrechten, alIerdings ist dabei die vom Bundesverfassungsgericht im "Spanier"-Beschluß angemahnte Modifizierung dieser Regeln aufgrund der Entscheidung des Grundgesetzes für die Öffnung der Verfassungsordnung zugunsten der europäischen Integration zu berücksichtigen. c) Da eine ausreichende Inlandsbeziehung bei jeder innerstaatlichen Transformation von Richtlinien durch den deutschen Umsetzungsgesetzgeber mit Wirkung für und gegen die in der Bundesrepublik lebenden Marktbürger gegeben und jede GrundrechtsverJetzung so erheblich ist, daß sie den ordre publicVorbehalt auslöst, wird der Umsetzungsgesetzgeber grundsätzlich von der Umsetzungsverpflichtung hinsichtlich der grundrechtswidrigen Richtlinienvorgaben freigestelIt. Für die durch die Nichtumsetzung der grundrechtswidrigen Elemente entstandene Lücke ist nach einer Ersatzlösung zu suchen, die dem Grundsatz möglichst weitreichender Schonung der Richtlinienvorgaben Rech-
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nung trägt. Aus diesem Grund ist die Ersatzlösung möglichst aus der Richtlinie selbst zu entwickeln. Nur wenn dies nicht möglich ist, ist als ultima ratio die lex fori, also das deutsche Recht, heranzuziehen. Sollte die so entwickelte Ersatzlösung die Richtlinie im Einzelfall aber ihrer Zielsetzung entheben, so muß die Grundrechtsbindung gemäß Art. lAbs. 3 GG ausnahmsweise hinter den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben zurücktreten. In diesem Fall muß der nationale Umsetzungsgesetzgeber den Umsetzungsbefehl auch hinsichtlich der grundrechtswidrigen Richtlinienvorgaben befolgen, um zu verhindern, daß die Funktionsfiiliigkeit der Gemeinschaft in dem betroffenen Regelungsbereich aufgrund der einseitigen Berücksichtigung nationaler Belange beeinträchtigt wird.
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Anhang Anhang 1: Richtlinie des Rates vom 13. November 1989 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Etikettierung von Tabakerzeugnissen (89/622/EWG) [ABlEG 1991 Nr. L 359 v. 8.12.1989, S. 1 ff.] ...................................... 317 Anhang 2: Verordnung über die Kennzeichnung von Tabakerzeugnissen und über Höchstmengen von Teer im Zigarettenrauch vom 29. Oktober 1991 (TabKTHmV) [BGB!. Nr. 61 v. 8.1l.l991, BGB!. I, S. 2053 f.] ................................... 322 Anhang 3: Auszug aus der Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. Februar 1962. Erste DurchfUhrungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrages [ABlEG 1962 Nr. 13 v. 21.2.1962, S. 204] ............................................ 325 Anhang 4: Vorschlag für eine Richtlinie des Rates betreffend gemeinsame Vorschriften fUr den Elektrizitätsbinnenmarkt (92/C 65104) [ABlEG 1992 Nr. 65 v. 14.3.1992, S. 4 ff.] ........................................... 328
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates betreffend gemeinsame Vorschriften fUr den Erdgasbinnenmarkt (92/C 65105) [ABlEG 1992 Nr. 65 v. 14.3.1992, S. 14 ff.] ......................................... 331 Anhang 5: Auszug aus der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 [BGB!. 1952 11, S. 685, 953, zuletzt geänd. durch Prot. Nr. 8 v. 19.3.85, in Kraft seit dem 1.1.1990, BGB!. 199011, S. 991] .................. 334 Anhang 6: Auszug aus der Luxemburger Vereinbarung vom 29. Januar 1966 [Bulletin der EWG 3/1966, S. 8 ff.] ....................................................... 336
Anhang 1 8.12.89
Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften
Nr. L 359/1
11 (Nicht veröffentlichungsbedürftige Rechtsakte)
RAT Richtlinie des Rates vom 13. November 1989 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten Ober die Etikettierung von Tabakerzeugnissen (89/622/EWG) DER RAT DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN - gestützt auf den Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, insbesondere auf Art. 100a, - auf Vorschlag der Kommission, - in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament, - nach Stellungnahme des Wirtschaftsund Sozialausschusses, - in Erwägung nachstehender Gründe: Es bestehen Unterschiede zwischen den Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Etikettierung von Tabakerzeugnissen. Diese Unterschiede können zu Handelshemmnissen führen und somit die Schaffung und das Funktionieren des Binnenmarktes behindern. Diese möglichen Hindernisse müssen beseitigt werden. Zu diesem Zweck müssen die Vermarktung und der freie Verkehr von Tabakerzeugnissen gemeinsa-
men Regeln für ihre Etikettierung unterworfen werden. Diese gemeinsamen Regeln müssen dem Schutz der menschlichen Gesundheit in ausreichendem Maße Rechnung tragen. Der Europäische Rat hat am 28. und 29. Juni 1985 in Mailand auf die Bedeutung eines europäischen Aktionsprogramms zur Krebsbekämpfung hingewiesen. Der Rat und die im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten haben in ihrer Entschließung vom 7. Juli 1986 über ein Aktionsprogramm der Europäischen Gemeinschaften gegen den Krebs als Ziel für dieses Programm einen Beitrag zur Verbesserung der Gesundheit und. der Lebensqualität der Bürger der Gemeinschaft zur Verringerung der Zahl der Krebserkrankungen festgelegt. Dabei haben sie als vorrangiges Ziel den Kampf gegen den übermäßigen Tabakkonsum anerkannt.
318 12.8.89
Anhang Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften
Zum Schutz der menschlichen Gesundheit ist es wichtig, auf den Verpackungen aller Tabakerzeugnisse eine Warnung vor den Risiken anzubringen, die der Konsum dieser Erzeugnisse mit sich bringt. Im Hinblick auf einen besseren Schutz der menschlichen Gesundheit ist die Angabe des Teer- und Nikotingehaltes auf Zigarettenpackungen zur Information der Bürger und ihrer Erziehung zu einem gesundheitsbewußten Verhalten erforderlich. Diese Richtlinie enthält Vorschriften, die auf der Grundlage der gewonnenen Erfahrungen und der Entwicklung der medizinischen Kenntnisse auf diesem Gebiet überprüft werden, wobei als Ziel ein stärkerer Schutz der menschlichen Gesundheit angestrebt wird. Die in dieser Richtlinie vorgeschriebenen Initiativen werden die Gesundheit der Bevölkerung um so eher verbessern, als sie von Gesundheitserziehung im schulpflichtigen Alter sowie von Aufklärungsund Informationskarnpagnen begleitet werden HAT FOLGENDE RICHTLINIE ERLASSEN:
Artikel 1 Diese Richtlinie bezweckt die Harrnonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über gesundheitsrelevante Warnhinweise auf den Verpackungen von Tabakerzeugnissen sowie über die Angabe des Teer- und Nikotingehaltes auf Zigarettenpackungen, wobei von einem hohen Niveau des Schutzes der menschlichen Gesundheit durch Verringerung der Gesundheitsschä-
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den infolge von Tabakmißbrauch ausgegangen wird.
Artikel 2 Im Sinne dieser Richtlinie sind I. Tabakerzeugnisse: Erzeugnisse, die zum Rauchen, Schnupfen, Lutschen oder Kauen bestimmt sind, sofern sie ganz oder teilweise aus Tabak bestehen, 2. Teer: das nikotinfreie trockene Rauchkondensat, 3. Nikotin: Nikotin-Alkaloide.
Artikel 3 (I) Der auf den Zigarettenpackungen anzugebende Teer- und Nikotingehalt wird nach der Methode ISO 4387 bzw. ISO 3400 gemessen. (2) Die Genauigkeit der Angaben auf den Packungen wird nach Norm ISO 8243 überprüft.
(3) Die Angaben müssen auf der Schmalseite der Zigarettenpackungen in gut lesbaren Buchstaben auf kontrastierbarem Hintergrund in der bzw. den Amtssprachen des Landes der letzten Vermarktungsstufe aufgedruckt sein und mindestens 4 v.H. der betreffenden Fläche einnehmen. Der genannte Prozentsatz erhöht sich bei Ländern mit zwei Amtssprachen auf 6 v.H. und bei Ländern mit drei Amtssprachen auf 8 v.H. (4) Die Mitgliedstaaten übermitteln der Kommission im Januar eines jeden Jahres das Verzeichnis des Teer- und Nikotingehalts der Zigaretten, die auf ihrem Markt in den Verkehr gebracht werden. Die Kommission veröffentlicht die Angaben im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften.
Anhang I
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Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Artikel 4
(1) Alle Verpackungen von Tabakerzeugnissen müssen auf der am ehesten ins Auge fallenden Seite in der (den) Amtssprache(n) des Landes der letzten Vermarktungsstufe folgenden allgemeinen Warnhinweis tragen: "Rauchenffabak gefährdet die Gesundheit". (2) Bei Zigarettenpackungen müssen auf der anderen Breitseite in der (den) Amtssprache(n) des Landes der letzten Vermarktungsstufe alternierend spezifische Warnhinweise angebracht werden, wobei wie folgt vorzugehen ist: - jeder Mitgliedstaat stellt ausschließlich aus den im Anhang aufgeführten Warnhinweisen eine eigene Liste auf; - die ausgewählten spezifischen Warnhinweise werden auf die Packungen aufgedruckt, wobei - mit einer Toleranz von ca. 5 v.H. - zu gewährleisten ist, daß jeder Hinweis mit gleicher Häufigkeit auf den Packungen erscheint. (3) Die Mitgliedstaaten können vorsehen, daß bei den Warnhinweisen der Absätze 1 und 2 angegeben wird, von welcher Stelle sie ausgehen. (4) Die Warnhinweise der Absätze 1 und 2 auf Zigarettenpackungen nehmen mindestens 4 v.H. jeder Breitseite ein; die Angabe der Stelle nach Absatz 3 ist hierin nicht inbegriffen. Der genannte Prozentsatz erhöht sich bei Ländern mit zwei Amtssprachen auf 6 v.H. und bei Ländern mit drei Amtssprachen auf 8 v.H. Die Warnhinweise auf beiden Breitseiten der Zigarettenpackung
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a)müssen deutlich lesbar sein; b)müssen in fetten Buchstaben gedruckt sein; c)müssen auf einem kontrastierenden Hintergrund angebracht sein; d)dürfen nicht an einer Stelle angebracht sein, wo sie beim Öffnen der Packung zerstört werden können; e)dürfen nicht auf Transparentfolie oder sonstigem Verpackungspapier angebracht sein, das die Packung umhüllt. (5) Bei anderen Tabakerzeugnissen als Zigaretten ist der allgemeine Warnhinweis nach Absatz 1 an ins Auge fallender Stelle auf einem kontrastierbaren Hintergrund gut sichtbar, deutlich lesbar und unverwischbar aufzudrucken oder unlösbar anzubringen. Er darf auf keinen Fall durch andere Angaben oder Bildzeichen verdeckt oder getrennt werden. Artikel 5
Die Anpassung dieser Richtlinie an den technischen Fortschritt beschränkt sich auf die Meß- und Überprüfungsmethoden nach Artikel 3 Absätze I und 2. Artikel 6
Bei der Anpassung an den technischen Fortschritt nach Artikel 5 wird die Kommission von einem beratenden Ausschuß unterstützt, der aus Vertretern der Mitgliedstaaten besteht und in dem der Vertreter der Kommission den Vorsitz führt. Artikel 7
Der Verteter der Kommission unterbreitet dem Ausschuß einen Entwurf der zu treffenden Maßnahmen. Der Ausschuß gibt - erforderlichenfalls durch Abstim-
Anhang
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Amtsblatt der EurQpäischen Gemeinschaften
mung - eine Stellungnahme zu diesem Entwurf innerhalb einer Frist ab, die der Vorsitzende entsprechend der Dringlichkeit der betreffenden Frage festsetzen kann. Die Stellungnahme wird in das Protokoll aufgenommen; darüber hinaus kann jeder Mitgliedstaat verlangen, daß sein Standpunkt im Protokoll festgehalten wird. Die Kommission berücksichtigt soweit wie möglich die Stellungnahme des Ausschusses. Sie unterrichtet den Ausschuß darüber, inwieweit sie seine Stellungnahme berücksichtigt hat. Artikel 8
(I) Die Mitgliedstaaten dürfen den Handel mit Erzeugnissen, die den Anforderungen dieser Richtlinie entsprechen, aus Gründen der Etikettierung weder untersagen noch beschränken. (2) Von dieser Richtlinie bleibt das Recht der Mitgliedstaaten unberührt, unter Beachtung des Vertrages Vorschriften, die sie zum Schutz der menschlichen Gesundheit als erforderlich erachten, fIlr die Einfuhr, den Verkauf und den Verbrauch von Tabakerzeugnissen zu erlassen, sofern dies keine Änderung der Etikettierung gegenüber den Vorschriften dieser Richtlinie beinhaltet. Artikel 9
(I) Die Mitgliedstaaten erlassen vor dem 1. Juli 1990 die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie nachzukommen. Sie setzen die Kommission unverzüglich davon in Kenntnis und teilen ihr die
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innerstaatlichen Rechtsvorschriften mit, die sie auf dem unter diese Richtlinie fallenden Gebiet erlassen haben. Die Kommission veröffentlicht die in Artikel 4 Absatz 2 erster Gedankenstrich vorgesehenen einzelstaatlichen Listen der Warnhinweise im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften. (2) Die Mitgliedstaaten setzen die in Absatz I genannten Rechts- und Verwaltungsvorschriften vor dem 31. Dezember 1991 in Kraft. In den Verkehr gebracht werden dürfen jedoch noch - bis zum 3 I. Dezember 1992 Zigaretten sowie - bis zum 31. Dezember 1993 sonstige Tabakerzeugnisse, die am 3 I. Dezember 1991 bereits hergestellt sind und den Anforderungen dieser Richtlinie nicht entsprechen. (3) Die Mitgliedstaaten, die ihre in Artikel 4 Absatz 2 erster Gedankenstrich vorgesehenen Listen der Warnhinweise nach dem 3 1. Dezember 1991 ändern, teilen die betreffende Änderung achtzehn Monate vor ihrem Inkrafttreten der Kommission mit, die sie im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht. Artikel 10
Diese Richtlinie ist an die Mitgliedstaaten gerichtet. Geschehen zu Brüssel am 13. November 1989. 1m Namen des Rates Der Präsident C. Evin
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ANHANG Liste der gesundheitsrelevanten Warnhinweise nach Artikel 4 Absatz 2 erster Gedankenstrich A. Warnhinweise, die in den einzelstaatlichen Listen stehen müssen 1. Rauchen verursacht Krebs. 2. Rauchen verursacht Herz- und Geflißkrankheiten.
B. Warnhinweise, unter denen die Mitgliedstaaten wählen können 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
11. 12. 13. 14.
Rauchen fUhrt zu tödlichen Krankheiten. Rauchen ist tödlich. Rauchen kann zum Tode fUhren. Rauchen gefährdet die Gesundheit Ihres Kindes bereits in der Schwangerschaft. SchUtzen Sie die Kinder: lassen Sie sie nicht Ihren Tabakrauch einatmen. Rauchen gefährdet die Gesundheit Ihrer Mitmenschen. Wer das Rauchen aufgibt, verringert das Risiko schwerer Erkrankungen. Rauchen fUhrt zu Krebs, chronischer Bronchitis und anderen Lungenkrankheiten. Jedes Jahr sterben in ". (Name des Landes) mehr als ". Menschen an Lungenkrebs. Jedes Jahr kommen ". (Bezeichnung der Staatsangehörigen) bei VerkehrsunfliJlen um - Tabakmißbrauch tötet ". mal mehr. Jedes Jahr verursacht der Tabakmißbrauch mehr Opfer als der Straßenverkehr. Raucher sterben früher. Nichtraucher leben gesUnder. Steigern Sie Ihr Einkommen: geben Sie das Rauchen auf.
21 Rickert
Anhang 2 Nr. 61 - Tag der Ausgabe: Bonn, den 8. November 1991 Verordnung über die Kennzeichnung von Tabakerzeugnissen und über Höchstmengen von Teer im Zigarettenrauch (TabKTHmV) Vom 29. Ok~ober 1991
Auf Grund des § 21 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe c, d und f des Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetzes vom 15. August 1974 (BGB!. I S. 1945, 1946) in Verbindung mit Artikel 56 Abs. 1 des Zuständigkeitsanpassungs-Gesetzes vom 18. März 1975 (BGB!. I S. 705) und dem Organisationserlaß vom 23. Januar 1991 (BGB!. I S. 530) verordnet der Bundesminister tUr Gesundheit im Einvernehmen mit den Bundesministern für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten und für Wirtschaft: §1 Begriffsbestimmungen
Im Sinne dieser Verordnung sind: 1. Packungen: Fertigpackungen im Sinne des § 14 des Eichgesetzes, die zur Abgabe an Verbraucher im Sinne des § 6 Abs. 1 des Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetzes bestimmt sind; 2. Teer: das nikotinfreie trockene Rauchkondensat; 3.Nikotin: die Nikotinalkaloide.
§2 Allgemeiner Warnhinweis (1) Tabakerzeugnisse im Sinne des § 3 Abs. 1 des Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetzes dürfen in Packungen gewerbsmäßig nur in den Verkehr gebracht werden, wenn sie mit dem allgemeinen Warnhinweis "Rauchen gefährdet die Gesundheit" versehen sind. Bei Tabakerzeugnissen, die nicht zum Rauchen bestimmt sind, ist statt des Wortes "Rauchen" das Wort "Tabak" zu verwenden.
(2) Dem allgemeinen Warnhinweis müssen die Worte "Die EG-Gesundheitsminister:" vorangestellt sein.
§3 Besondere Warn hinweise (1) Zigaretten dürfen in Packungen gewerbsmäßig nur in den Verkehr gebracht werden, wenn sie außer dem allgemeinen Warnhinweis nach § 2 Abs. 1 jeweils einen der folgenden besonderen Warnhinweise tragen: 1. "Rauchen verursacht Krebs" 2. "Rauchen verursacht Herz- und Geflißkrankheiten"
Anhang 2
323
Nr. 61 - Tag der Ausgabe: Bonn, den 8. November 1991 3. "Rauchen gefährdet die Gesundheit Ihres Kindes bereits in der Schwangerschaft" 4. "Wer das Rauchen aufgibt, verringert das Risiko schwerer Erkrankungen". (2) Dem besonderen Warnhinweis müssen die Worte "Die EG-Gesundheitsminister:" vorangestellt sein. (3) Die besonderen Warnhinweise des Absatzes I sind vom Hersteller abwechselnd zu verwenden. Sie müssen mit der gleichen Häufigkeit auf den von ihm in den Verkehr gebrachten Packungen erscheinen. Abweichungen dürfen nicht mehr als 5 vom Hundert betragen.
§4 Eingeführte Tabakerzeugnisse (I) Zigaretten aus anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft dürfen abweichend von § 3 Abs. I auch in den Verkehr gebracht werden, wenn sie anstelle eines der dort aufgefllhrten besonderen Warnhinweise einen nach den Rechtsvorschriften des Herstellungslandes zulässigen anderen besonderen Warnhinweis in deutscher Sprache tragen. (2) Bei Tabakerzeugnissen aus anderen Mitgliedstaaten sind die Angaben nach § 2 Abs. 2 und § 3 Abs. 2 nicht erforderlich, wenn diese im Herstellungsland nicht vorgeschrieben sind.
§5 Angabe des Gehaltes an Rauchinhaltsstoffen Zigaretten dürfen in Packungen gewerbsmäßig nur in den Verkehr gebracht werden, wenn der im Rauch einer Zigarette enthaltene Teergehalt und Nikotingehalt angegeben sind.
21"
§6 Form der Kennzeichnung (I) Bei Zigarettenpackungen muß der allgemeine Warnhinweis nach § 2 auf der am ehesten ins Auge fallenden Breitseite, der besondere Warnhinweis nach § 3 oder § 4 Abs. I auf der anderen Breitseite der Packung angebracht sein. Sowohl der allgemeine Warnhinweis als auch der besondere Warnhinweis müssen jeweils mindestens 4 vom Hundert der Fläche der Breitseite einnehmen, auf der sie angebracht sind. Diese Mindestgröße gilt fIlr die bloßen Warnhinweise ohne die durch § 2 Abs. 2 und § 3 Abs. 2 vorgeschriebenen zusätzlichen Angaben. Die Warnhinweise müssen deutlich lesbar, fettgedruckt und auf einem kontrastierenden Hintergrund angebracht sein. Sie dürfen nicht auf Transparentfolie oder sonstigem Verpackungspapier, das die Packung umhüllt, oder so angebracht sein, daß sie beim Öffnen der Packung zerstört werden können.
(2) Bei anderen Tabakerzeugnissen ist der allgemeine Warnhinweis an ins Auge fallender Seite der Packung auf kontrastierendem Hintergrund gut sichtbar, deutlich lesbar und unverwischbar aufzudrucken oder unablösbar anzubringen. Er darf nicht durch andere Angaben oder Bildzeichen verdeckt oder getrennt werden. (3) Die Angaben nach § 5 über den Gehalt an Rauchinhaltsstoffen müssen auf der Schmalseite der Zigarettenpackung gut lesbar auf kontrastierendem Hintergrund aufgedruckt sein und mindestens 4 vom Hundert der betreffenden Fläche einnehmen.
Anhang
324
Nr. 61 - Tag der Ausgabe: Bonn, den 8. November 1991
§7 Teergehalt bei Zigaretten (1) Für den Teergehalt im Rauch werden je Zigarette folgende Höchstmengen festgesetzt:
15 Milligramm ab 31. Dezember 1992, 12 Milligramm ab 31. Dezember 1997. (2) Zigaretten mit einem Gehalt von mehr als 15 Milligramm dürfen noch bis zum 31. Dezember 1994 in den Verkehr gebracht werden, wenn sie vor dem 31. Dezember 1992 hergestellt worden sind. Zigaretten mit einem Gehalt von mehr als 12 Milligramm bis zu 15 Milligramm dürfen noch bis zum 31. Dezember 1999 in den Verkehr gebracht werden, wenn sie vor dem 3 1. Dezember 1997 hergestellt worden sind.
§8 Ordnungswidrigkeiten Ordnungswidrig im Sinne des § 53 Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe c des Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetzes handelt, wer vorsätzlich oder fahrlässig 1. entgegen § 2, § 3 Abs. 1 oder 2 oder § 5, jeweils in Verbindung mit § 6, Tabakerzeugnisse, bei denen die vorgeschriebenen Angaben nicht oder nicht in der vorgeschriebenen Weise angebracht sind, in den Verkehr bringt oder
2. entgegen § 3 Abs. 3 die besonderen Wamhinweise nicht mit der gleichen Häufigkeit verwendet.
§9 Änderung der Tabakverordnung In der Tabakverordnung vom 20. Dezember 1977 (BGBI. I S. 2831), zuletzt geändert durch die Verordnung vom 21. März 1986 (BGBI. I S. 368), werden § 3 a und § 6 Abs. 4 gestrichen. §1O
Inkrafttreten, Übergangsregelungen (1) Diese Verordnung tritt am Tage nach der Verkündung in Kraft. (2) Zigaretten dürfen noch bis zum 31. Dezember 1994 mit einer Kennzeichnung nach den bis zum Inkrafttreten dieser Verordnung geltenden Vorschriften in den Verkehr gebracht werden, wenn sie bis zum 30. Juni 1992 hergestellt worden sind. (3) Andere Tabakerzeugnisse dürfen noch bis zum 31. Dezember 1994 mit einer Kennzeichnung nach den bis zum Inkrafttreten dieser Verordnung geltenden Vorschriften in den Verkehr gebracht werden, wenn sie bis zum 30. Juni 1992 hergestellt worden sind.
Der Bundesrat hat zugestimmt. Bonn, den 29. Oktober 1991 Der Bundesminister für Gesundheit Gerda Hasselfeldt
Anhang 3 Auszug aus der VERORDNUNG Nr.17 DES RATES vom 6. Februar 1962 Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrages (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. 13 vom 21.2.1962, S. 204) geändert durch Verordnung Nr. 59 vom 3. Juli 1962} Verordnung (EWG) Nr. 118/63 vom 5. November 1963. 2 Verordnung (EWG) Nr. 2822/71 vom 20. Dezember 197J3 sowie die Akte über die Beitrittsbedingungen und die Anpassungen der Verträge vom 22. Januar 1972,4 vom 24. Mai 19795 und vom 12. Juni 1985. 6 Artikel 11 Auskunftsverlangen
(I) Die Kommission kann zur Erfüllung der ihr in Artikel 89 und in Vorschriften nach Artikel 87 des Vertrages übertragenen Aufgaben von den Regierungen und den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten sowie von Unternehmen und Unternehmensvereinigungen alle erforderlichen Auskünfte einholen. (2) Richtet die Kommission ein Auskunftsverlangen an ein Unternehmen oder an eine Unternehmensvereinigung, so übermittelt sie der zuständigen Behörde des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet sich der Sitz des Unternehmens oder der Unternehmensvereinigung befindet, gleichzeitig eine Abschrift dieses Verlangens. (3) In ihrem Verlangen weist die Kommission auf die Rechtsgrundlage und den Zweck des Verlangens sowie auf die in Artikel 15 Absatz (1) Buchstabe b) für den Fall der Erteilung einer unrichtigen Auskunft vorgesehenen Zwangsmaßnahmen hin.
I
2 3
4
5 6
ABlEG ABlEG ABlEG ABlEG ABlEG ABlEG
1962 Nr. 1963 Nr. 1971 Nr. 1972 Nr. 1979 Nr. 1985 Nr.
58, S. 1655. 162, S. 2696. L 285, S. 49. L 13, S. 92. L 291, S. 93. L 302, S. 165.
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Anhang
(4) Zur Erteilung der Auskunft sind die Inhaber der Unternehmen oder deren Vertreter, bei juristischen Personen, Gesellschaften und nicht rechtsflihigen Vereinen die nach Gesetz oder Satzung zur Vertretung berufenen Personen verpflichtet. (5) Wird eine von Unternehmen oder Unternehmenvereinigungen verlangte Auskunft innerhalb einer von der Kommission gesetzten Frist nicht oder nicht vollständig erteilt, so fordert die Kommission die Auskunft durch Entscheidung an. Die Entscheidung bezeichnet die geforderten Auskünfte, bestimmt eine angemessene Frist zur Erteilung der Auskünfte und weist auf die in Artikel 15 Absatz (1) Buchstabe b) und Artikel 16 Absatz (1) Buchstabe c) vorgesehenen Zwangsmaßnahmen sowie auf das Recht hin, vor dem Gerichtshof gegen die Entscheidung Klage zu erheben. (6) Die Kommission übermittelt der zuständigen Behörde des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet sich der Sitz des Unternehmens oder der Unternehmensvereinigung befindet, gleichzeitig eine Abschrift der Entscheidung.
Artikel 14 Nachprüfungsbefugnisse der Kommission
(1) Die Kommission kann zur Erfilllung der in Artikel 89 und in Vorschriften nach Artikel 87 des Vertrages übertragenen Aufgaben bei Unternehmen und Unternehmensvereinigungen alle erforderlichen Nachprüfungen vornehmen. Zu diesem Zweck verfügen die beauftragten Bediensteten der Kommission über folgende Befugnisse: a) b) c) d)
die Bücher und sonstigen Geschäftsunterlagen zu prüfen; Abschriften oder Auszüge aus Büchern und Geschäftsunterlagen anzufertigen; mündliche Erklärungen an Ort und Stelle anzufordern; alle Räumlichkeiten, Grundstücke und Transportmittel der Unternehmen zu betreten.
(2) Die mit der Nachprüfung beauftragten Bediensteten der Kommission üben ihre Befugnisse unter Vorlage eines schriftlichen Prüfungsauftrags aus, in dem der Gegenstand und der Zweck der Nachprüfung bezeichnet sind und in dem auf die in Artikel 15 Absatz (1) Buchstabe c) vorgesehenen Zwangsmaßnahmen für den Fall hingewiesen wird, daß die angeforderten Bücher oder sonstigen Geschäftsunterlagen nicht vollständig vorgelegt werden. Die Kommission unterrichtet die zuständige Behörde des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet die Nachprüfung vorgenommen werden soll, rechtzeitig vor der Nachprüfung über den Prüfungsauftrag und die Person des beauftragten Bediensteten. (3) Unternehmen und Unternehmensvereinigungen sind verpflichtet, die Nachprüfungen zu dulden, welche die Kommission in einer Entscheidung angeordnet hat. Die Entscheidung bezeichnet den Gegenstand und den Zweck der Nachprüfung, bestimmt den Zeitpunkt des Beginns der Nachprüfung und weist auf die in Artikel 15 Absatz (1) Buchstabe c) und Artikel 16 Absatz (1) Buchstabe d) vorgesehenen Zwangsmaßnahmen
Anhang 3
327
sowie auf das Recht hin, vor dem Gerichtshof gegen die Entscheidung Klage zu erheben. (4) Die Kommission erläßt die in Absatz (3) bezeichneten Entscheidungen nach Anhörung der zuständigen Behörde des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet die Nachprüfung vorgenommen werden soll. (5) Bedienstete der zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet die Nachprüfung vorgenommen werden soll, können auf Antrag dieser Behörde oder auf Antrag der Kommission die Bediensteten der Kommission bei der Erfüllung ihrer Aufgaben unterstützen. (6) Widersetzt sich ein Unternehmen einer auf Grund dieses Artikels angeordneten Nachprüfung, so gewährt der betreffende Mitgliedstaat den beauftragten Bediensteten der Kommission die erforderliche Unterstützung, damit diese ihre Nachprüfungen durchfilhren können. Zu diesem Zweck treffen die Mitgliedstaaten vor dem 1. Oktober 1962 nach Anhörung der Kommission die erforderlichen Maßnahmen.
Anhang 4 Nr C 65/4
Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften
14.3.92
11 (Vorbereitende Rechtsakte)
KOMMISSION Vorschlag für eine Richtlinie des Rates betreffend gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt
(92/C 65/04) KOM (91) 548 endg. - SYN 384 (Von der Kommission vorgelegt am 24. Februar 1992)
Artikel 7
(1) Die Mitgliedstaaten tragen Sorge dafür, daß es Stromproduzenten und -versorgern, die auf ihrem Hoheitsgebiet ansässig sind, möglich ist: i) ihre eigenen Betriebsstätten, unteroder nebengeordnete Unternehmen im selben oder einem anderen Mitgliedstaat durch die Nutzung des Verbundsystems zu versorgen, und zwar durch den Abschluß von Vereinbarungen mit den betroffenen Betreibern der Übertragungs- und Verteilernetze gemäß Artikel 14 bzw. 21; ii) Kunden im selben oder einem anderen Mitgliedstaat durch die Nutzung des Verbundsystems zu versorgen oder Versorgungsverträge abzuschließen, und zwar durch den Abschluß von Vereinbarungen mit den betroffenen Betreibern der Übertragungs- und
Verteilernetze gemäß Artikel 14 bzw. 21. (2) Die Mitgliedstaaten tragen Sorge dafür, daß es Kunden, die auf ihrem Hoheitsgebiet ansässig sind, möglich ist, Elektrizität von Produzenten oder Versorgern im selben oder einem anderen Mitgliedstaat zu erwerben oder zu vereinbaren, Elektrizität zu erwerben und durch die Nutzung des Verbundsystems mit Strom beliefert zu werden, und zwar durch den Abschluß von Vereinbarungen mit den betroffenen Betreibern der Übertragungs- und Verteilernetze gemäß Artikel 14 bzw. 21. Der Mitgliedstaat kann eine derartige Nutzung des Verbundsystems beschränken auf: - einzelne Gesellschaften für die Versorgung der Standorte, deren jeweiliger jährlicher Gesamtverbrauch 100 GWh bzw. einen vom Mitgliedstaat festgelegten niedrigeren Verbrauch überschreitet;
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Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften
Verteilergesellschaften, und zwar einzeln oder gemeinschaftlich, deren einzelne oder gemeinsame Verkäufe mindestens 3 % bzw. einen vom Mitgliedstaat festgelegten niedrigeren Prozentsatz des Gesamtverbrauchs in dem jeweiligen Mitgliedstaat ausmachen.
Artikel 14
(I) Netzbenutzer oder mögliche Netzbenutzer können beim Betreiber des Übertragungsnetzes den Antrag auf eine Vereinbarung über den Anschluß an und/oder die Benutzung des Verbundsystems stellen. (2) Auf einen solchen Antrag hin schlägt der Betreiber des Übertragungsnetzes eine Vereinbarung über den Anschluß an und/oder die Benutzung des Verbundsystems vor. Der Betreiber des Übertragungsnetzes kann es jedoch ablehnen, einen Vorschlag für eine Vereinbarung über die Benutzung des Netzes vorzulegen, wenn diese Benutzung die Stromübertragung in Erfullung vorgeschriebener Verpflichtungen oder eingegangener Verbindlichkeiten in Frage stellen würde. Die Gründe für die Ablehnung müssen dem Antragsteller mitgeteilt werden. Die Anträge sind zugig zu bearbeiten; eine Antwort ist in jedem Fall innerhalb von drei Monaten nach Eingang des Antrags zu erteilen. (3) Der Vorschlag für eine Vereinbarung enthält Modalitäten fIlr eine Verpflichtung seitens des Betreibers des Übertragungsnetzes:
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i) in das entsprechende Netz an dem im Antrag angegebenen Eintrittspunkt oder den -punkten und in den angegebenen Mengen Strom aufzunehmen; und/oder ii) die Lieferung der unter Ziffer i) genannten Mengen Strom (abzüglich etwaiger Leitungsverluste ) an dem im Antrag angegebenen Austrittspunkt oder den -punkten des betreffenden Netzes zu ermöglichen. (4) Auf Antrag liefert der Betreiber des Übertragungsnetzes einem potentiellen Benutzer gegen eine angemessene Gebühr eine Aufstellung der Möglichkeiten fur Elektrizitätstransaktionen unter Einsatz des Netzes und seiner Verbindungsleitungen. Diese Aufstellung enthält ausreichende Angaben, die dem potentiellen Benutzer eine vernünftige Beurteilung der gebotenen Möglichkeiten erlauben. (5) Der Betreiber des Übertragungsnetzes veröffentlicht die Grundlage, auf die sich die Bedingungen fIlr den Anschluß an und die Benutzung des Netzes und der Verbindungsleitungen stützen. Die Veröffentlichung enthält ausreichende Angaben, die dem potentiellen Benutzer eine vernünftige Beurteilung der fIlr die Elektrizitätstransaktionen unter Einsatz des Netzes und seiner Verbindungsleitungen zu entrichtenden Gebühren erlauben. (6) Die Grundlage, auf die sich die Bedingungen des Betreibers des Übertragungsnetzes stützen, wird so gewählt, daß die Gebühren in einem angemessenen Verhältnis zu den Langzeitkosten fIlr die Erbringung dieser Dienste stehen und das
330 Nr. C 65
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entsprechende Kapital angemessen verzinst wird. (7) Der Betreiber des Übertragungsnetzes legt die Bedingungen rur einen Anschluß an sein Netz oder rur die Benutzung seines Netzes und seiner Verbindungsleitungen ohne Diskriminierung zwischen Personen oder Kategorien von Personen fest. (8) Die Mitgliedstaaten erklären das ver-tragliche Recht zur Benutzung des Verbundsystems rur verwirkt, wenn die Übertragungskapazitäten nicht benutzt werden. Bei teilweiser Nichtbenutzung der Kapazitäten gilt diese Bestimmung gleichermaßen rur den unbenutzten Teil der Kapazität.
Artikel 21
(I) Netzbenutzer oder mögliche Netzbenutzer können beim Betreiber des Verteilernetzes einen Antrag auf eine Vereinbarung über den Anschluß und/oder die Benutzung des Verbundsystems stellen. (2) Auf einen solchen Antrag hin schlägt der Betreiber des Verteilernetzes eine Vereinbarung über den Anschluß an und/oder die Benutzung des Verbundsystems vor. Der Betreiber des Verteilernetzes kann es jedoch ablehnen, einen Vorschlag für eine Vereinbarung über die Benutzung des Netzes vorzulegen, wenn diese Benutzung die Stromverteilung in Erflillung vorgeschriebener Verpflichtungen oder eingegangener Verbindlichkeiten in Frage stellen würde. Die Gründe für die Ablehnung müssen dem Antragsteller mitgeteilt werden.
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Die Anträge sind zügig zu bearbeiten; eine Antwort ist in jedem Fall innerhalb von drei Monaten nach Eingang des Antrags zu erteilen. (3) Der Vorschlag rur eine Vereinbarung enthält Modalitäten rur eine Verpflichtung seitens des Betreibers des Verteilernetzes: i) in das entsprechende Netz an dem im Antrag angegebenen Eintrittspunkt oder den -punkten und in den angegebenen Mengen Strom aufzunehmen; und/oder ii) die Lieferung der unter Ziffer i) genannten Mengen (abzüglich etwaiger Leitungsverluste) an dem im Antrag angegebenen Austrittspunkt oder den punkten des betreffenden Netzes zu ermöglichen. (4) Auf Antrag liefert der Betreiber des Verteilernetzes einem potentiellen Benutzer gegen eine angemessene Gebühr eine Aufstellung der Möglichkeiten rur Elektrizitätstransaktionen unter Einsatz des Netzes und seiner Ausgleichsleitungen. Diese Aufstellung enthält ausreichende Angaben, die dem potentiellen Benutzer eine sachgemäße Beurteilung der gebotenen Möglichkeiten erlauben. (5) Der Betreiber des Verteilernetzes veröffentlicht die Grundlage, auf die sich die Bedingungen für den Anschluß anl und/oder die Benutzung des Netzes und der Verbindungsleitungen stützen. Die Veröffentlichung enthält ausreichende Angaben, die dem potentiellen Benutzer eine vernünftige Beurteilung der rur die Elektrizitätstransaktionen unter Einsatz
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des Netzes und seiner Ausgleichsleitungen zu entrichtenden Gebühren erlauben.
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an sein Netz oder für die Benutzung des Netzes und seiner Verbindungsleitungen ohne Diskriminierung zwischen Personen oder Kategorien von Personen fest.
(6) Die Grundlage, auf die sich die Bedingungen des Betreibers des Verteilernetzes stützen, wird so gewählt, daß die Gebühren in einem angemessenen Verhältnis zu den Langzeitkosten für die Erbringung dieses Dienstes stehen und das entsprechende Kapital angemessen verzinst wird.
(8) Die Mitgliedstaaten erklären das vertragliche Recht zur Nutzung des Verbundsystems fur verwirkt, wenn die Verteilerkapazitäten nicht genutzt werden. Bei teilweiser Nichtnutzung der Kapazitäten gilt diese Bestimmung gleichermaßen für den ungenutzten Teil der Kapazität.
(7) Der Betreiber des Verteilernetzes legt die Bedingungen für einen Anschluß
11 (Vorbereitende RechtsakJe)
KOMMISSION Vorschlag für eine Richtlinie des Rates betreffend gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt (92/C 65/05) KOM (91) 548 endg. - SYN 385 (Von der Kommission vorgelegt am 24. Februar 1992)
Artikel 12 (I) Netzbenutzer oder mögliche Netzbenutzer können beim Fernleitungsunternehmen den Antrag auf eine Vereinbarung über den Anschluß an und!oder die Benutzung des Verbundnetzes stellen. (2) Auf einen solchen Antrag hin schlägt das Fernleitungsunternehmen eine Vereinbarung über den Anschluß an und! oder die Benutzung des Verbundnetzes, der LNG-Anlagen oder Speicheranlagen
vor. Der Betreiber des Übertragungsnetzes kann es jedoch ablehnen, einen Vorschlag für eine Vereinbarung über die Benutzung des Netzes, der LNG-Anlagen oder Speicheranlagen vorzulegen, wenn diese Benutzung die Durchleitung oder Speicherung von Erdgas oder den Import oder Export von LNG in Erfullung vorgeschriebener Verpflichtungen oder eingegangener Verbindlichkeiten in Frage stellen würde. Die Gründe für die Ablehnung müssen dem Antragsteller mitgeteilt werden.
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Die Anträge sind zügig zu bearbeiten; eine Antwort ist in jedem FaJJ innerhalb von drei Monaten nach Eingang des Antrags zu erteilen.
Erdgastransaktionen unter Einsatz des Netzes, einschließlich der zugehörigen LNG-Anlagen und Speicheranlagen, zu entrichtenden Preise erlauben.
(3) Der Vorschlag flIr eine Vereinbarung enthält Modalitäten flIr eine Verpflichtung seitens des Fernleitungsunternehmens,
(6) Die Grundlage, auf die sich die Bedingungen des Fernleitungsunternehmens stützen, wird so gewählt, daß die Gebühren in einem angemessenen Verhältnis zu den Langzeitkosten flIr die Erbringung dieser Dienste stehen und das entsprechende Kapital verzinst wird.
i) an dem oder den im Antrag genannten Eintrittspunkten die Erdgasmengen in das betreffende System zu übernehmen; ii) in die betreffende LNG-Anlage oder
Speicheranlage die im Antrag genannten Erdgasmengen aufzunehmen;
iii)die Lieferung der in den Ziffern i) und ii) genannten Erdgasmengen (abzüglieh etwaiger Netzverluste) an dem oder den im Antrag genannten Austrittspunkten des betreffenden Systems zu ermöglichen. (4) Auf Antrag liefert ein Fernleitungsunternehmen einem potentieJJen Benutzer gegen eine angemessene Gebühr eine AufsteJJung der Möglichkeiten flIr Transaktionen, für die sein System einschließlich der zugehörigen LNG-Anlagen und Speicheranlagen benutzt werden kann. Diese AufsteJJung enthält ausreichende Angaben, die dem potentieJJen Benutzer eine vernünftige Beurteilung der gebotenen Möglichkeiten erlauben. (5) Jedes Fernleitungsunternehmen veröffentlicht die Grundlage, auf die sich die Bedingungen für den Anschluß an und die Benutzung des Systems stützen. Die Veröffentlichung enthält ausreichende Angaben, die dem potentieJJen Benutzer eine vernünftige Beurteilung der für die
(7) Das Fernleitungsunternehmen legt die Bedingungen rur einen Anschluß an sein System oder rur die Bedingungen seines Systems und ohne Diskriminierung zwischen Personen oder Kategorien von Personen fest. (8) Die Mitgliedstaaten erklären das vertragliche Recht zur Nutzung des Verbundnetzes, der LNG-Anlagen oder Speicheranlagen für verwirkt, wenn die Übertragungskapazitäten nicht genutzt werden. Bei teilweiser Nichtnutzung der Kapazitäten gilt diese Bestimmung gleichermaßen für den ungenutzten Teil der Kapazität.
Artikel 19
(1) Netzbenutzer oder mögliche Netzbenutzer können beim Betreiber des Verteilernetzes einen Antrag auf eine Vereinbarung über den Anschluß und/oder die Benutzung des Verbundsystems oder der Speicheranlagen, die im Eigentum des Verteilernetzbetreibers stehen oder von ihm betrieben werden, steJJen. (2) Auf einen solchen Antrag hin schlägt der Betreiber des Verteilernetzes eine Vereinbarung über den Anschluß an
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und/oder die Benutzung des Verbundnetzes oder der Speicheranlagen vor. Der Betreiber des Verteilernetzes kann es jedoch ablehnen, einen Vorschlag für eine Vereinbarung vorzulegen, wenn diese Benutzung die Erdgasverteilung in Erfüllung vorgeschriebener Verpflichtungen oder eingegangener Verbindlichkeiten in Frage stellen würde. Die Grunde für die Ablehnung müssen dem Antragsteller mitgeteilt werden. Die Anträge sind zugig zu bearbeiten; eine Antwort ist in jedem Fall innerhalb von drei Monaten nach Eingang des Antrags zu erteilen. (3) Der Vorschlag für eine Vereinbarung enthält Modalitäten für eine Verpflichtung seitens des Betreibers des Verteilernetzes: i) an dem oder den im Antrag genannten Eintrittspunkten die Erdgasmengen in das betreffende System zu übernehmen und/oder ii) in die betreffende Speicheranlage die im Antrag genannten Erdgasmengen aufzunehmen und/oder iii)die Lieferung der in den Ziffern i) und ii) genannten Erdgasmengen (abzüglich etwaiger Netzverluste) an dem oder den im Antrag genannten Austrittspunkten des betreffenden Systems zu ermöglichen. (4) Auf Antrag liefert der Betreiber des Verteilernetzes einem potentiellen Benutzer gegen eine angemessene Gebühr eine Aufstellung der Möglichkeiten für Erdgastransaktionen unter Einsatz des Netzes, einschließlich der Speicheranlagen, die Teil dieses Systems wird.
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Diese Aufstellung enthält ausreichende Angaben, die dem potentiellen Benutzer eine sachgerechte Beurteilung der gebotenen Möglichkeiten erlauben. (5) Der Betreiber des Verteilernetzes veröffentlicht die Grundlage, auf die sich die Bedingungen fur den Anschluß an und/oder die Benutzung des Netzes stützen. Die Veröffentlichung enthält ausreichende Angaben, die dem potentiellen Benutzer eine sachgemäßge Beurteilung der rur die Erdgastransaktionen unter Einsatz des Netzes, einschließlich der zum System gehörenden Speicheranlagen, zu entrichtenden Preise erlauben. (6) Die Grundlage, auf die sich die Bedingungen des Betreibers des Verteilernetzes stützen, wird so gewählt, daß die Preise in einem angemessenen Verhältnis zu den Langzeitkosten rur die Erbringung dieses Dienstes stehen und das entsprechende Kapital angemessen verzinst wird. (7) Der Betreiber eines Verteilernetzes legt die Bedingungen für einen Anschluß an sein Netz oder rur die Benutzung des Netzes ohne Diskriminierung zwischen Personen oder Kategorien von Personen fest. (8) Die Mitgliedstaaten erklären das vertragliche Recht zur Nutzung des Verbundnetzes und der Speicheranlagen rur verwirkt, wenn die Kapazitäten nicht genutzt werden. Bei teilweiser Nichtnutzung der Kapazitäten gilt diese Bestimmung gleichermaßen rur den ungenutzten Teil der Kapazität.
Anhang 5 Auszug aus der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten* Vom 4. November 1950 (BGB\. 195211, S. 685, 953, geänd. durch Prot. Nr. 3 v. 6.5.1963, BGB\. 196811, S. 116, in Kraft seit 21.9.1970, BGB\. 11, S. 1315; Prot. Nr. 5 v. 20.1.1966, BGB\. 1968 11, S. 1120, in Kraft seit 20.12.1971, BGB\. 1972 11, S. 105; Prot. Nr. 8 v. 19.3.1985, BGB\. 198911, S. 546, in Kraft seit 1.1.1990, BGB\. 11, S. 991)
Art. 8 (Gebot der Achtung der privaten Sphäre) (1) Jedermann hat Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs.
(2) Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Art. 10 (Recht der freien Meinungsäußerung) (1) Jeder hat Anspruch auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Freiheit der Meinung und die Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten oder Ideen ohne Eingriffe öffentlicher Behörden und ohne Rücksicht auf Landesgrenzen ein. Dieser Artikel schließt nicht aus, daß die Staaten Rundfunk-, Lichtspiel- oder Fernsehunternehmen einem Genehmigungsverfahren unterwerfen. (2) Da die Ausübung dieser Freiheiten Pflichten und Verantwortung mit sich bringt, kann sie bestimmten, vom Gesetz vorgesehenen Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, wie sie vom Gesetz vorge* Die Konvention ist gemäß Bek. v. 15.12.1953 (BGBI. 195411, S. 14) am 3.9.1953 in Kraft getreten; die Ratifizierung durch die Bundesrepublik v. 5.12.1952 erfolgte unter dem Vorbehalt, daß Art. 7 Abs. 2 der Konvention nur in den Grenzen von Art. 103 Abs. 2 GO angewendet wird.
Anhang 5
335
schrieben und in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen Sicherheit, der territorialen Unversehrtheit oder der öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, des Schutzes der Gesundheit und der Moral, des Schutzes des guten Rufes oder der Rechte anderer, um die Verbreitung vertraulicher Nachrichten zu verhindern oder das Ansehen und die Unparteilichkeit der Rechtsprechung zu gewährleisten, unentbehrlich sind.
Anhang 6 Auszug aus der LUXEMBURGER VEREINBARUNG vom 29. Januar 1966·
b)
Mehrheitsenscheidungen
I.
Stehen bei Beschlüssen, die mit Mehrheit auf Vorschlag der Kommission gefaßt werden können, sehr wichtige Interessen eines oder mehrerer Partner auf dem Spiel, so werden sich die Mitglieder des Rats innerhalb eines angemessenen Zeitraums bemühen, zu Lösungen zu gelangen, die von allen Mitgliedern des Rats unter Wahrung ihrer gegenseitigen Interessen und der Interessen der Gemeinschaft gemäß Artikel 2 des Vertrags angenommen werden können.
II.
Hinsichtlich des vorstehenden Absatzes ist die französische Delegation der Auffassung, daß bei sehr wichtigen Interessen die Erörterung fortgesetzt werden muß, bis ein einstimmiges Einvernehmen erzielt worden ist.
III. Die sechs Delegationen stellen fest, daß in der Frage, was geschehen sollte, falls keine vollständige Einigung zustande kommt, weiterhin unterschiedliche Meinungen bestehen. IV. Die sechs Delegationen sind jedoch der Auffassung, daß diese Meinungsverschiedenheiten nicht verhindern, daß die Arbeit der Gemeinschaft nach dem normalen Verfahren wiederaufgenommmen wird .
• Bulletin der EWG 3/1966, S. 8 ff.
Stichwortverzeichnis Abstimmungsverhalten 191 Akte deutscher Staatsgewalt 163 Anwendungsverzicht 129 Anwendungsvorrang 117, 129, 138 Asylrecht 43 Auskunftsverweigerungsrecht 60 - Orkem 63 - Solvay 64 - Vertretungsberechtigte Organe einer juristischen Person 62 - Zwang zur Selbstbezichtigung 61 - s. auch Aussageverweigerungsrecht Ausländische Sachnonn 251 Aussageverweigerungsrecht 43 - s. auch Auskunftsverweigerungsrecht Ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft 221 Bayerisches Apothekengesetz 207 Begründungspflicht des Art. 190 EGVertrag 250 Beratungsgeheimnis im Rat 200 Berufsfreiheit Art. 12 GG - Dreistufentheorie des Bundesverfassungsgerichtes 102 - Wettbewerbsfreiheit 101 - Wirtschaftswerbung 37, 108 Bessere Zielverwirklichung auf Gemeinschaftsebene 224 - s. auch Subsidiaritätsprinzip Beurteilungsspielraum 99 Bindungswirkung des Art. 1 Abs. 3 GG 33 Blockadepolitik 193 Bundesfinanzhof 244 Bundesstatistikgesetz 198 "Cassis de Dijon"-Rechtsprechung 261 "Cassis"-Fonnel 261
22 Rickert
Datenschutz 43 Demarkationsverträge 269 Demokratieprinzip 237 Demokratische Legitimation als Voraussetzung rur Grundrechtseingriffe 120 Demokratische Legitimation gemeinschaftsrechtlicher Richtliniensetzung 213 Detenninierung innerstaatlichen Rechts 25 Deutscher Vertreter im Ministerrat 185 - Abstimmungsverhalten 187,190 - Effektivität .der Grundrechtsbindung 196 - Gemeinschaftsrechtliche Bindung 186 - Grundgesetzbindung 187 - Relativierung der Grundrechtsbindung 189 - Umfassende Grundrechtsbindung 191 Dispositionsfreiheit der Energieversorger 271 Durchleitungsverweigerungen 270 Eigentumsgarantie 67,71,85 E(W)G-Richtlinien - Apotheken-Richtlinien 34 - Architektenrichtlinie 34 - Etikettierungsrichtlinie 36, 40, 93, 266 - GemVElek-RL 71,266 f. - GemVGas-RL 71,266 f. - Haftung rur fehlerhafte Dienstleistungen 243 - Richtlinie 89/398 EWG 226 - Richtlinie 90/128 EWG über Materialien und Gegenstände aus Kunst-
338
Stichwortverzeichnis
stoff, die mit Lebensmitteln in Berührung kommen 220 - Richtlinie des Rates über die Umweltverträglichkeitsprüfung 216, 226 - Richtlinie über Umsturzvorrichtungen an landwirtschaftlichen Schmalspurzugmaschinen auf Rädern 229 - Richtlinien über die Regelung der Gewässerqualität 242 - Rundfunk-Richtlinie 226 - Tabakrichtlinie 35 - Vorschlag einer Richtlinie über Abfalle der Titandioxydindustrie 242 - Vorschlag rur eine Richtlinie des Rates über die Haftung bei Dienstleistungen 226 f. - Vorschlag rur eine Richtlinie des Rates über Geschwindigkeitsbegrenzungen rur bestimmte Fahrzeugklassen 227 - Vorschläge über die vergleichende Werbung 243 - Werberichtlinie 36 E(W)G-Verordnungen - Kartellverordnung Nr. 17 52, 60 - Verordnung der Kommission über die Festsetzung eines Zusatzbetrages rur Einfuhren von geschlachteten Hühnern aus dritten Ländern 203 - Verordnung des Rates vom 31. Januar 1984 über die repräsentative statistische Stichprobenerhebung rur Arbeitskräfte 198 - Verordnung Nr. 454 195 Edinburgh 224, 225, 243 Effet utile 31 Eigentumsfreiheit Art. 14 GG - Eingriffsqualität 78 - Investitionsschutz 76 - Privatnützigkeit der Eigentumsverwendung 77 - Third Party Access 76 - Verfugungsbefugnis über das Leitungseigentum 76 - Wirtschaftswerbung 37 - s. auch Eigentumsgarantie, Eigentumsgrundrecht
Eigentumsgarantie 66 - s. auch Eigentumsfreiheit Art. 14 GG, Eigentumsgrundrecht Eigentumsgrundrecht 43 - -so auch Eigentumsfreiheit Art. 14 GG, Eigentumsgarantie Einheit des Gemeinschaftsrechtes 264 Einheitliche Europäische Akte 35 Einheitlichkeit der Rechtsanwendung 264 Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers 99 Einschätzungsspielraum 90 Einstimmigkeitserfordernis 190, 196, 202 E~RK 46,47,49,56,108 - Beitritt 26 - Negative ~einungsfreiheit 108 - Wirtschaftswerbung 108 Entbündelung vertikal integrierter Versorgungsunternehmen 272 Entscheidung 234, 236 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes - Apothekenurteil 34, 195, 207 - Eurocontrol I-Beschluß 125 - ~aastricht-Urteil 145 - Spanier-EntScheidung 252, 258 - Solange I 117 - Solange 11 34, 125 - Tabak-Beschluß 40 - Volkszählungsurteil 198 Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes - Cassis de Dijon 261 - Costa/ENEL-Entscheidung 114 - Dow Chemical Iberica 56 - Francovich-Urteil 246 - Hauer 47 - Hoechst 55,210 - Internationale Handelsgesellschaft 46 - Keck-Urteil 261 - National Panasonic 54 - Nold-Urteil 46, 49 - Orkem 63 - Ruhrkohlenverkaufsgesellschaften 46
Stichwortverzeichnis -
Solvay 64 Stauder 46 Stork 45 s. auch Grundrechtsrechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes Ergebniskontrolle 266, 267, 272, 274, 277,279 Erklärung der Mitgliedstaaten "zur Anwendung des Gemeinschaftsrechts" 219 Ersatzlösung 267, 274, 278, 279 Etikettierungsrichtlinie 36,93, 186,274 - s. auch Tabakrichtlinie "EurocontroII"-Beschluß 125, 147 Europäische Kommission für Menschenrechte 110 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte 58, 109, 110 Europäische Gemeinwohlinteressen 205 Europäisierung des Regelungsgegenstandes 207 Europawahl 22 Ewigkeitsgarantie 133, 139, 161, 177, 180, 184 Freiheit der Person 48 Freistellung von der Bindungswirkung des Art. 1 Abs. 3 GG 129 Freistellung von Kooperationen 267 Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft 165, 181,213,259,266,279 Funktionsfähigkeit der zwischenstaatlichen Einrichtung 208 - s. auch Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft Gebot möglichst weitgehender Schonung und Respektierung der Richtlinienvorgaben 265, 275 Gefahr der Rechtszersplitterung 220 Geltungserhaltende Reduktion 256, 265,268 Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat 159, 248 Gemeinsame Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten 111 22*
339
Gemeinschaftsfreundliches Verhalten 191 - Gemeinschaftstreue 193 - Gebot wechselseitiger Rücksichtnahme 193 Gemeinschaftsrechtlich begründeter Haftungsanspruch 219 Gemeinschaftstreue 193 Gemischt-wirtschaftliche Unternehmen 72 - Grundrechtsfähigkeit 73 GemVElek-RL 71,266 f. GemVGas-RL 71,266 f. Generelles Grundrechtsdefizit 183 Geschäftsordnung des Rates 200 Gesetz über die Umweltverträglichkeit 216 Gestaltungsfreiraum, 105, 233 - s. auch GestaItungsspielraum Gestaltungsspielraum 142, 163, 197, 211,229,239 - s. auch Gestaltungsfreiraum Gewaltenteilung 169, 172,213 Gewerbliche Schutz- und Patentrechte 90 Glaubens- und Gewissensfreiheit 45 Grundgesetzänderung 185 Grundgesetzliehe Introvertiertheit 21, 203 Grundrechte als oberste Leitprinzipien jeder staatlichen Ordnung 258 Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung 198 Grundrechtliches Kollisionsrecht 251 Grundrechtsbindung - Dispensierung 163 - Effektivität 196 - gemeinschaftsfreundliches Verhalten 191 - Grenzen der Dispensierung 176 - Re1ativierung 189,205 - Umfassende 191 - Uneingeschränkte Befolgung 211 Grundrechtsbindung deutscher Staatgewalt bei grenzüberschreitendem Tätigwerden 263
340
Stichwortverzeichnis
Grundrechtsflihigkeit der Energieversorgungsunternehmen 72, 85 Grundrechtsgeltung bei der Anwendung ausländischen Sachrechts 252 Grundrechtsimperialismus 21, 182, 253 Grundrechtsintrovertiertheit 213 Grundrechtskatalog 126 Grundrechtsrechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes 44 - Auskunftsverweigerungsrecht 60 - Dow Chemical Iberica 56 - EMRK 49 - Hauer 47 - Hoechst 55 - Internationale Handelsgesellschaft 46 - National Panasonic 54 - Nold-Urteil 46, 49 - Orkem 63 - Ruhrkohlenverkaufsgesellschaften 46 - Solvay 64 - Stauder-Urteil 46 - Stork 45 Grundrechtsstandard im Europäischen Gemeinschaftsrecht 26, 43 - Asylrecht 43 - Aussageverweigerungsrecht 43 - Berücksichtigung der Gemeinschaftsziele 112 - Datenschutz 43 - Eigentumsgarantie 43, 66 - EMRK 47, 56, 108 - Fehlende dogmatische Absicherung 47 - Freiheit der Person 48 - Gemeinsame Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten III - Glaubens- und Gewissensfreiheit 45 - Kunstfreiheit 48 - Materielles Grundrechtsdefizit 68 - Negative Meinungsäußerungsfreiheit 43 - Recht auf Vertraulichkeit zwischen Anwalt und Mandant 50 - Schutz der Geschäftsräume 43
- Schutzniveau 49 - Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten 46, 59 - Versammlungsfreiheit 48 - Wissenschaft, Forschung und Lehre 48 Grundrechtstotalitarismus 21, 182 Grundrechtstypische Geflihrdungslage 74 Grundrechtsverzicht 128, 134 Grundsatz der Einheit der Verfassung 205 Grundsatz der Verhältnismäßigkeit 261 - s. auch Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Grundsatz möglichst weitgehender Schonung des Richtlinieninhalts 265 Historische Auslegung 236 Hypothekentheorie 149 Innerstaatlicher Rechtsanwendungsbefehl 150, 228 - Reichweite 251 Interinstitutionelle Vereinbarung 221 Internationales Privatrecht 251,278 Internationaler Entscheidungsgleichklang 264 Jacques Delors 247 Kartellrechtliche Mißbrauchsaufsicht 267,270 Kartellverordnung Nr. 17 52, 60 Katalog von Grundrechten 44 "Keck"-Urteil 261 Kodifizierter Grundrechtskatalog 122 Kollisionsnormen des deutschen Internationalen Privatrechts 252 Kontrahierungszwang 269 Konzessionsverträge 269,271 Kooperationsverhältnis 147, 154 Kunstfreiheit 48 "Laloi" 247 Legitimation der Rechtsetzung der Gemeinschaft 194,237 f.
Stichwortverzeichnis Legitimität der Gemeinschaftsgewalt 23 Lex causae 255,268,271,276,278 Lex fori 256, 268, 272, 274, 276 Loi uniforme 238 Lücke im Individualrechtsschutz 142 Luxemburger Vereinbarung 199 Maastrichter-Vertrag 154,247 Maastricht-Urteil24, 145,244 - "EurocontroII"-Beschluß 147 - Grenzen einer zulässigen Grundrechtsrelativierung 158 - Hypothekentheorie 149 - innerstaatlicher Rechtsanwendungsbefehl 150 - Kooperationsverhältnis 147 - Öffentliche Gewalt im Sinne von Art. 19 Abs. 4 147 - Solange 11 148 - Zulässige Grundrechtsmodifizierung 158 Mehrheitsbeschlüsse 197, 202 Meinungsäußerungsfreiheit, Art. 5 Abs. 1 GG - Negative 39, 94, 108 - Positive 39 Ministerrat 189 - Beratungsgeheimnis 200 - Deutscher Vertreter 40, 185, 187 - Einschätzungsspielraum 90 - Gemeinschaftsrechtliche Bindung des deutschen Vertreters 186 - Geschäftsordnung 200 - Landesminister iI:I1 Rat 174 - "package-deal"-Kompromisse, Paketlösungen 189, 192, 194 - Rechtsetzungsverfahren 185 Mitgliedstaatliche Staatshaftung 246 Monopolstrukturen 273 Nachträgliche Kollisionsbeseitigungspflicht 202 Nationaler Alleingang 212,260 Negative Meinungsäußerungsfreiheit 43, 109 Nichtigkeitsklage gemäß Art. 173 Abs. 4 EG-Vertrag 92
341
Normenhierarchie 212,257 Objektive Wertordnung 257 Öffentliche Gewalt im Sinne von Art. 19 Abs. 4 147 Ordre public 266, 278 - s. auch Ordre public-Vorbehalt Ordre public-Vorbehalt 251,256 - Erheblichkeit des Verstoßes 253 - Ersatzlösungen 255 - Inlandsbeziehung 254 - Konflikt zwischen EG-Richtlinien und nationalen Grundrechten 256 - Nichtanwendung grundrechtswidrigen ausländischen Sachrechts 255 - Prinzip möglichst schonender Abweichung 256 - Relativität 253, 254 Praktische Konkordanz 34, 42, 213, 258,278 Prinzip der begrenzten Ermächtigung 221 Prinzip des geringstmöglichen Eingriffs 278 Problemstellung 25 Prüfungskompetenz im Einzelfall 160 QuerelIes allemandes 22 Rahmengesetzgebungskompetenz 239, 248 Recht auf Vertraulichkeit zwischen Anwalt und Mandant 50 Rechtsetzungsverfahren im Rat 185 - Effektivität der Grundrechtsbindung 196 - Einstimmigkeitserfordernis 190, 196, 202 - Luxemburger Vereinbarung 199 - Mehrheitsbeschlüsse 197,202 - "package-deal"-Kompromisse, Paketlösungen 189, 192, 194 - Zweistufigkeit 211 Rechtsschutzbestimmungen 234 Referendum 22
342
Stich wortverzeichnis
Regelungsintensität einer Richtlinie 228,238 - Renaissance der Problematik 240 Richterliche Rechtsfortbildung 245 Richtlinie - Ausuferung der Richtliniensetzung 215 - Direktwirkung 218 - effet utile 31 - Erforderlichkeit des Richtlinienerlasses 220 - Fehlerhafte Umsetzung 217 - Form 30,232 - Fristversäumnisse 216 - Gemeinschaftsrechtlich begründeter Haftungsanspruch 219 - GestaItungsfreiraum 233 - Gestuftes Rechtsetzungsverfahren 30 - Historisches Motiv 236 - Mindeststandards 242, 279 - Mittel 30, 232 - Rahmenvorgaben 241,279 - Reduzierung der Richtlinienanzahl 225 - Regelungsintensität, -dichte 33,213, 216,228,238 - Rückbesinnung auf die ursprüngliche Konzeption 244 - Sinn und Zweck 237 - Systematische Stellung des Art. 189 Abs. 3 EG-Vertrag 233 - Überforderung bei der Umsetzung 215 - Übernormierung durch Richtlinien 227 - Umsetzungsspielraum 31 - Unmittelbare Wirkung 218, 244, 245 - Wortlaut des Art. 189 Abs. 3 EGVertrag 230 - Ziel 30, 231 - Zweistufige Rechtsetzung 247 Richtlinienkonforme Auslegung 212 Richtlinienvorschläge zur Verwirklichung des Energie- und Erdgasbinnenmarktes 267
Schonender Ausgleich 259 Schutz der Geschäftsräume 43 Sekundäres Gemeinschaftsrecht - Zusammensetzung 29 Solangel 1\7,151 - Adäquanz des Grundrechtsstandards 123 - Anwendungsvorrang nationaler Grundrechte 117 - Demokratische Legitimation als Voraussetzung rur Grundrechtseingriffe 120 - kodifizierter Grundrechtskatalog 122 - Sondervotum 118 Solange 11 125, 143, 145, 148, 151, 152, 154, 209 - Anwendungsverzicht 129 - Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechtes 129, 138 - Ewigkeitsgarantie 133, 139 - Freistellung von der Bindungswirkung des Art. lAbs. 3 GG 129 - Generalität der Grundrechtsverletzung 134 - Grundrechte als Individualrechte 136 - Grundrechtsverzicht 128, 134 - Prozessuale Arbeitsteilung 131, 134 - Prozessuale Konfliktlösung 129 - Materiell-rechtliche Konfliktlösung 128 - Prüfungsbefugnis in jedem Einzelfall 134 - Wesensgehaltsgarantie 132, 139 Solange III 139 Subsidiaritätsprinzip, Subsidiaritätsgrundsatz 221,240,262,278 - Ausreichende Zielverwirklichung auf mitgliedstaatlicher Ebene 223 - Ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft 221 - Bessere Zielverwirklichung auf Gemeinschaftsebene 224 - Beurteilungsspielraum 250 - Regelungsintensität einer Maßnahme 241
Stichwortverzeichnis Tabak-Beschluß 24, 40, 139 - Einzelfallprüfung 143 - Gestaltungsspielraum 142 - Lücke im Individualrechtsschutz 142 - Neuorientierung der Verfassungsgerichtsrechtsprechung 142 - Solange III 139 - Vorrang von EG-Richtlinien 141 Tabakrichtlinie 35, 186,232 - s. auch Etikettierungsrichtlinie - Eigentumsgrundrecht aus Art. 14 GG 102 - Grundrecht der Berufsfreiheit 101 - Negative Meinungsfreiheit 94 - Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb 106 - Sacheigentum am Produkt 102 - Schutzrecht an der Ausstattung 104 - Ursprünglicher Kommissionsentwurf 97 - Verstoß gegen Gemeinschaftsgrundrechte 107 - Verstoß gegen innerstaatliche Grundrechtsgewährleistungen 94 - Wettbewerbsfreiheit 101 TabKTHmV 36 Teleologische Auslegung 237 Third Party Access 69,267,273 - Beeinträchtigte Eigentumspositionen 76,86 - Eigentumsgarantie des Gemeinschaftsrechtes 85 - Eigentumsgarantie des Grundgesetzes 71 - Eingriffsqualität 78, 88 - Gewährleistung stärkeren Wettbewerbs 80 - Mißbrauchskontrollen 83 - Monopolstrukturen 79 - Preissenkungen 80 - Verhältnismäßigkeit der Eingriffe 88 - Versorgungssicherheit 79 - Wettbewerbsaufsicht 82 Ultra vires-Handeln der Gemeinschaft 228 Unverletzlichkeit der Wohnung 52, 210
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Dow Chemical lberica 56 Durchsuchung 53 EMRK 56 Geschäftsräume 53, 54, 55 Hoechst 55 National Panasonic 54 Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten 59
Verfassungsänderung 167, 172, 195 - als Formalakt 167 - als Gestaltungsakt des nationalen Parlamentes 168 - GestaItungsfreiheit des verfassungsändernden Gesetzgebers 176 Verfassungsbindung des Umsetzungsgesetzgebers 32 Verfassungsdurchbrechung 166, 169, 192,205 - Weimarer Reichsverfassung 171 Verfassungstextänderung 172 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 222 - Europäische Gemeinwohlinteressen 205 - Europäisierung des Regelungsgegenstandes 207,214 - Kriterien 206 Verlagerung der RegeJungskompetenz 194 Verlagerung von Rechtsetzungsbefugnissen auf die Gemeinschaft 170 Verordnung 233,241,245 - s. auch E(W)G-Verordnung Versammlungsfreiheit 48 Verschränkung von WesensgehaItsgarantie und Ewigkeitsgarantie 179, 183 Versorgungssicherheit 269,271,273 Vertrag über die Europäische Union 146 Vertragsverletzungsverfahren 217 Verwaisung der nationalen Parlamente 213 Verwerfung des Anwendungsergebnisses 263 Vorrang der gemeinschaftsrechtlichen Bindung als Ausnahme 266
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Stichwortverzeichnis
Vorrang der Grundrechtsbindung gemäß Art. 1 Abs. 3 GG 265 Vorrang des Gemeinschaftsrechtes 114, 162,259 Vorrang von EG-Richtlinien 141 Wahlbeteiligung 22 Wesensgehalt 151, 158, 161 - s. auch Wesensgehaltsgarantie WesensgehaIt der Grundrechte in ihrer Gesamtheit 182 WesensgehaItsgarantie 132, 139, 178, 184,259
- Absolut 178 - Relativ 178 Wissenschaft, Forschung und Lehre 48 Zulassungs beschränkungen rur Apotheker 207 Zweistufige Rechtsetzung 278 - s. auch Zweistufigkeit des Rechtssetzungsverfahrens Zweistufigkeit des Rechtssetzungsverfahrens 211,230