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German Pages 144 Year 2019
Thilo Fehmel Grundlagen und Wandel sozialer Sicherung
Gesellschaft der Unterschiede | Band 58
Thilo Fehmel ist Professor für Sozialadministration und Sozialpolitik an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Soziologie sozialer Sicherheit, Sozialpolitik und Redistribution, Politische und Europasoziologie sowie Theorien sozialer Konflikte.
Thilo Fehmel
Grundlagen und Wandel sozialer Sicherung Von nationaler Umverteilungsbereitschaft zu postnationaler Redistribution
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Inhalt
Einleitung: Umverteilung als Form der Vergesellschaftung ..................... 7 I. Redistributionsmotive............................................................. 13 1. Sicherheit als Redistributionsmotiv ....................................................... 13 2. Gleichheit als Redistributionsmotiv ...................................................... 24 Exkurs: Konzeptionen von Gleichheit ....................................................... 35 3. Die Relationalität von Sicherheit und Gleichheit ..................................... 39 a. Zielkonflikte zwischen Sicherheit und Gleichheit ............................. 39 b. Dynamik von Umverteilungsstrukturen ........................................... 41 c. Wechselwirkungen von Umverteilungsbeziehungen.......................... 44 II. Redistributionsmechanismen ................................................... 49 1. Die Reichweite der Umverteilung........................................................... 51 a. Homogenitätsbehauptung, Identitätskonstruktion und Umverteilung.............................................................. 52 b. Staat und Bürger ...................................................................... 55 c. Staat und Nation....................................................................... 59 d. Die postnationale Konstellation – I ............................................... 64 2. Modus und Regeln der Verteilung ......................................................... 70 a. Segmentäre Zugehörigkeit als dominantes Umverteilungskriterium...................................................... 73 b. Funktionale Zugehörigkeit als dominantes Umverteilungskriterium...................................................... 74 c. Die postnationale Konstellation – II .............................................. 76
III. Redistributionskonflikte......................................................... 85 1. Solidarität als Form der Vergesellschaftung............................................ 85 a. Solidaritätsnormen ................................................................... 88 b. Solidaritätsdimensionen............................................................. 90 c. Solidaritätsmanagement ............................................................ 98 2. Konflikt als Form der Vergesellschaftung .............................................. 101 a. Konfliktverständnis .................................................................. 102 b. Konfliktdimensionen................................................................. 104 c. Konfliktrahmen ....................................................................... 107 3. Solidaritätskonflikte ....................................................................... 109 Schluss: Soziale Sicherung in Europa – national/postnational ................. 117 Literatur ............................................................................... 127
Einleitung: Umverteilung als Form der Vergesellschaftung
Es ist, mit Georg Simmel (1989 [1890], S. 118), die Aufgabe der Soziologie, »die Formen des Zusammenseins von Menschen zu beschreiben und die Regeln zu finden, nach denen das Individuum, insofern es Mitglied einer Gruppe ist, und die Gruppen untereinander sich verhalten.« Diese Aufgabenstellung ist ebenso knapp wie umfassend, und sie besteht mit dem Hinweis auf handelnde Subjekte und mit dem Hinweis auf verhaltensstrukturierende Regeln aus zwei Teilen. Erst aus der Kombination beider Teile ergeben sich Vergesellschaftung und Gesellschaft als Gegenstände der Soziologie. Auf der Ebene der Subjekte lässt sich von Gesellschaft im soziologischen Sinn dann sprechen, wenn Akteure durch ihr Handeln zueinander in Wechselwirkung treten. Diese Beziehungen zwischen individuellen und/oder kollektiven Akteuren, zwischen Personen und/oder Gruppen sind Phänomene von Vergesellschaftung; »Gesellschaft ist nur der Name für die Summe dieser Wechselwirkungen« (Simmel 1989 [1890], S. 131). Die Ebene der Regeln ist für die soziologische Beobachtung von Gesellschaft deshalb bedeutsam, weil es die Verhaltensregeln sind, die die wechselwirkenden Beziehungen der Akteure zueinander strukturieren. Dabei lässt sich der Begriff der Verhaltensregeln durchaus im zweifachen Sinne verstehen – sie sind sowohl Vorgaben für das Verhalten von Akteuren als auch Regelmäßigkeiten des auf diese Weise typischen Verhaltens von Akteuren. Welch strukturierendes Potential diesen Verhaltensregeln innewohnt, zeigt sich für Simmel nicht nur darin, dass es die Regeln des Verhaltens sind, die zu Regelmäßigkeiten des Verhaltens führen. Die Kraft der Regel zeigt sich
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auch und vor allem dann, wenn sie zu entsubjektivierten Beziehungen führen, wenn also eine soziale Struktur bestehen bleibt, auch wenn einzelne Akteure aus dieser Struktur aus- und neue eintreten (Simmel 1989 [1890], S. 133). Mit anderen Worten: Die strukturierende Kraft der Regel zeigt sich im Grad der Objektivierung von Wechselwirkungen zwischen Akteuren auf angebbaren sozialen Positionen. Die Soziologie ist damit die Wissenschaft, die sich mit den Beziehungsformen und Relationen von Akteuren untereinander beschäftigt. Sowohl die Art und Weise, wie Relationen zwischen Akteuren zustande kommen, als auch die sich daraus ergebenden strukturellen Folgen und Institutionen können vielfältige Formen annehmen. Ausgangspunkt für die vorliegende Arbeit ist die Überzeugung, dass soziale Sicherung in modernen Gesellschaften eine zentrale Form der Beziehung zwischen Akteuren, mithin eine zentrale Ausdrucksform von Vergesellschaftung und Gesellschaft ist.1 Soziale Sicherung umfasst alle bewussten Handlungen von Akteuren, die darauf gerichtet sind, andere Akteure mit Ressourcen auszustatten, über die diese aus eigener Kraft und Leistung nicht verfügen, die sie aber für die Bewältigung einer gegebenen Lebenssituation benötigen bzw. für notwendig erachten. Zweierlei kommt in dieser Begriffsbestimmung zum Ausdruck: die Anerkennung situativ unzureichender eigener Ressourcen einerseits und die Bereitschaft zur Umverteilung von Ressourcen andererseits. Der Anknüpfungspunkt an die Simmel’sche Auffassung von Gesellschaft ist das Adjektiv sozial. Es bedeutet, »dass es bei der Herstellung/Gewährung von Sicherheit letztlich um den Erwerb von Ansprüchen an andere gehen muss, die für den Fall einlösbar sind, dass man sich nicht (mehr) durch eigene Leistung versorgen kann.« (Ganßmann 2010, S. 331, H.i.O.) Das Adjektiv »sozial« 1 Georg Simmel war kein Theoretiker sozialer Sicherung oder gar ein »Klassiker« der Wohlfahrtsliteratur. Hinweise auf soziale Sicherung als zentrale Form der Vergesellschaftung sind in seinem Werk selten und sehr verstreut, aber durchaus von Gewicht. Vor allem aber findet man in seinem umfangreichen Werk zahlreiche Passagen, die als generelle Einsichten oder mit dem Erkenntnismotiv der gesellschaftlichen Modernisierung zugleich auch als Grundlegungen einer relationalen Soziologie sozialer Sicherung gelesen werden können.
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steht für das relationale Element materieller Absicherung; es steht für die wechselseitigen Beziehungen von Akteuren, die Absicherung beanspruchen bzw. gewähren. Dieses Verständnis des Begriffs »sozial« zielt nicht auf die moralische Bewertung des Helfens in der Not, es zielt auf die Beziehung von Helfenden und Hilfebeziehern. Soziale Sicherung ist Sicherung in und durch Gesellschaft. Im Prozess sozialer Sicherung werden Anerkennungsverhältnisse und Anspruchsbeziehungen zwischen Akteuren konstituiert und beständig angepasst (Kaufmann 1998); es werden die gegenseitigen Rechte und Pflichten von Akteuren, die zueinander in Anspruchsbeziehungen stehen, verhandelt, institutionalisiert und adaptiert. Derartige Beziehungen sind Redistributionsbeziehungen; immer geht es in ihnen um materielle Umverteilung von Ressourcen – in einem bewusst zunächst sehr weiten Sinn. Für diese Redistributionsarrangements lassen sich zwei grundsätzliche Legitimationsmuster ausmachen: Sicherheit und Gleichheit (vgl. Flora et al. 1977, S. 720ff.; Goodin, Dryzek 1987). Beide Kategorien können als normative Letztbegründungen verstanden werden, mit denen Redistributionsforderungen und -maßnahmen gerechtfertigt, aber auch abgelehnt werden können. Umverteilung zielt auf das Ausgleichen von Unterschieden. Sie setzt damit unweigerlich einen Vergleich, eine intertemporale und/oder interpersonale Relationierung voraus. Im Falle von Sicherheit soll mittels Umverteilung eine zuvor als solche definierte Unsicherheit überwunden werden, im Falle von Gleichheit eine wahrgenommene und als inakzeptabel empfundene Ungleichheit. In beiden Fällen geht es also um das Ersetzen eines Zustandes durch einen anderen Zustand. Umverteilung ist damit aktives, auf eine Zustandsänderung gerichtetes soziales Handeln. Dieser soziale und politische Prozess der Zustandsänderung (Abb. 1) ist analytisch interessanter als die Gegenüberstellung von Ist- und Soll-Zuständen. Einer relationalen Soziologie geht es nicht in erster Linie um Sicherheit und Gleichheit. Es geht ihr um die Bedingungen der Sicherung als Prozess des Übergangs von Unsicherheit zu Sicherheit und um die Bedingungen der Angleichung als Prozess des Übergangs von Ungleichheit zu Gleichheit. Mit dieser Prozessualität beschäftigt sich die vorliegende Arbeit in ihrem ersten Teil.
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Abbildung 1 Zustandsänderungen durch Umverteilung
Als Wert- und Zieldimensionen sozialer Umverteilungssysteme sind beide Kategorien voneinander unabhängig, nicht aber analytisch unabhängig voneinander zu denken. Moderne Gesellschaften folgen in ihren institutionalisierten Umverteilungsbeziehungen beiden Leitideen. In welchem Verhältnis diese Leitideen und deren Rationalisierungen in einer gegebenen Gesellschaft stehen, ist eine empirische Frage. Eine relationale Soziologie postnationaler sozialer Sicherung muss diese empirischen Fragen in den Blick nehmen. Aus diesem Grund sollen in der Untersuchung die sozialen Konstruktionsbedingungen der beiden Rechtfertigungskategorien »Sicherheit« und »Gleichheit« stärker ausgeleuchtet werden. Betrachtet man sie idealtypisch, dann haben die Legitimationsmuster »Sicherheit« und »Gleichheit« unterschiedliche Implikationen, vor allem unterschiedliche Verteilungsmechanismen und damit auch Verteilungseffekte. Mit den Auswirkungen der De-Nationalisierung sozialer Sicherung auf das Verhältnis dieser Mechanismen beschäftigt sich die vorliegende Arbeit in ihrem zweiten Teil. Solidarität als soziale Bezugsnorm für Anerkennungs- und Redistributionsverhältnisse spielt für die Rechtfertigung von Verteilungsmechanismen eine zentrale Rolle. Doch Solidaritätsbeziehungen sind Konstruktionen; sie sind Verhandlungssache und als solche das Ergebnis von Solidaritätskonflikten. Umverteilungsgemeinschaften konstituieren und modifizieren sich also durch die stets konfliktive
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und immer nur temporäre Festlegung von Solidaritätsreichweiten und -bereitschaften. Diesem dynamischen Verhältnis von Konflikt und Solidarität im Kontext postnationaler Umverteilung widmet sich die vorliegende Untersuchung in ihrem dritten Teil.
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I. Redistributionsmotive
1. Sicherheit als Redistributionsmotiv Aus Gehlens (1963, S. 46ff.) Charakterisierung des Menschen als kulturschaffendes Mängelwesen lässt sich zugleich das Streben nach Sicherheit als universelle menschliche Eigenschaft ableiten. Die hochgradige Unangepasstheit des Menschen an seine natürliche Umwelt setzt ihn beständig Bedrohungen aus, die ihn zu Anpassungsleistungen zwingen, deren Komplexität verglichen mit anderen Spezies einzigartig ist. Unsicherheit ist für den Menschen ein grundlegendes, handlungsleitendes Problem. Das Streben nach Sicherheit, die Überwindung von Mangellagen, die Abwehr von Bedrohungen, Gefährdungen und Unsicherheiten sind demnach ebenso grundlegende menschliche Handlungsmotive. Die außerordentliche Fähigkeit der menschlichen Spezies zur Kooperation wird anthropologisch nicht zuletzt als Ergebnis dieses Bemühens erklärt (Tomasello 2010). So gesehen ist das Streben nach Sicherheit auch ein basaler Vergemeinschaftungs- und Vergesellschaftungsimpuls; »…der sociale Zusammenschluß [ist] eines der wesentlichsten Mittel der Menschen im Kampf ums Dasein.« (Simmel 1989 [1890], S. 140) Das Streben nach Sicherheit manifestiert sich auf zweierlei Weise: Es äußert sich zum einen in gegenwartsbezogenen Versuchen, bestehende Unsicherheiten, Gefährdungen und Mangellagen zu überwinden oder zumindest erträglich zu machen. Es zeigt sich zum anderen auch in seiner antizipativen Ausrichtung, indem es Bedingungen zukünftigen menschlichen Daseins herzustellen und zu stabilisieren
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sucht, mit denen Situationen möglicher Unsicherheit präventiv vermieden werden sollen (Kaufmann 1973, S. 11). Das Streben nach Sicherheit entspringt also sowohl wahrgenommener gegebener akuter Bedrohung eines als sicher empfundenen Status quo als auch der Angst vor zukünftiger Unsicherheit. Vor allem der zweitgenannte Impuls – die Furcht vor zukünftiger Bedrohung von Sicherheit – regt je nach gesellschaftlichem Entwicklungsstand und Erfahrungshaushalt dazu an, kollektive Mechanismen der Bewältigung von Unsicherheitsszenarien zu entwickeln, Mechanismen also, die interpersonal und intertemporär wirken. Das ist, mit Gehlen, »kulturschaffende Tätigkeit«. Verschiedene Faktoren tragen dazu bei, dass diese kollektiven Bewältigungsmechanismen gegenüber individuellen und rein familial‐mikrosozialen Bestrebungen oder aber Fatalismen an Bedeutung gewinnen. Begünstigend auf die Verbreitung kollektiver Mechanismen der Bewältigung von Unsicherheit wirkt erstens ein Weltbild, in dem die Lebensbedingungen einschließlich der Mangellagen und ihrer Ursachen überhaupt als durch Handeln beeinflussbar wahrgenommen werden. Es bedarf also einer von ausreichend Vielen geteilten Überzeugung der Gestaltbarkeit von Gesellschaft (Evers, Nowotny 1987). Die Durchsetzung dieser Überzeugung bei ausreichend Vielen ist noch vergleichsweise jungen Datums. Als Prozess bildet sie gleichsam die Kehrseite der zunehmenden Abwendung von traditionalen Weltbildern, in denen absolutistische, passivierende Handlungsbegründungen vorherrschen und Versuche der Beeinflussung von Lebensbedingungen (Dux 1976) sich vorrangig auf Anrufungen von bzw. Berufungen auf höhere Mächte stützen. Zu dieser Durchsetzung einer postabsolutistischen, säkularisierten Überzeugung der Gestaltbarkeit der natürlichen und sozialen Umwelt trägt wiederum zweitens die fortschreitende Rationalisierung und Verwissenschaftlichung des Blicks auf Natur und Gesellschaft bei (Whitehead 1988 [1925]), in deren Zuge es gelingt, immer mehr bislang diffuse Gefahren zu kalkulierbaren Risiken zu transformieren und sich wissenschaftlich mit einem immer differenzierteren Begriff von Unsicherheit und ihrer sozialen Verteilung auseinanderzusetzen (vgl. Lengwiler 2006, S. 6ff.). Das setzt zunächst voraus, Unsicherheit überhaupt kausal denken zu können, sie also
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nicht als Ergebnis unergründlichen göttlichen Ratsschlusses zu betrachten. Bedrohung, Gefahr, Unsicherheit und Risiko müssen darüber hinaus in rationaler Weise als Folge vorherigen Handelns erfahrbar und erkennbar sein,1 d.h. jenseits etwa moralisierender Vorstellungen göttlichen Bestrafens von Normverletzungen, die ja ebenfalls rudimentäre, naiv‐prärationale Kausalitätsvermutungen enthalten. Und Unsicherheit muss schließlich auch in rationaler Weise als Folge vorherigen individuellen Handelns erfahrbar, und das heißt auch, in ihren individuellen Konsequenzen nachvollziehbar sein.2 Um solche individuellen Kausalitätszuschreibungen mit Bezug auf Unsicherheit und deren soziale Verteilung vornehmen zu können, bedarf es wiederum der Wahrnehmung des Individuums als handlungsfähigem und eigenständigem sozialem Akteur. Auch diese Perspektive ist noch 1 Das gilt auch für Bedrohungen in einer lebensfeindlichen natürlichen Umwelt. Naturkatastrophen als Folge vorherigen individuellen oder kollektiven Handelns zu betrachten, scheint auf den ersten Blick unangemessen. Einen verheerenden Vulkanausbruch, einen Tsunami oder eine anhaltende Dürrephase kann man unmittelbarer menschlicher Verursachung sicher nicht zuschreiben. Aber Katastrophen sind bereits interpretierte Ereignisse. Dass ein solches schwerwiegendes Naturereignis als verheerend oder katastrophisch empfunden wird, ist Ausdruck der Deutung der sozialen Folgen dieses Ereignisses als bedrohlich – und diese Folgen sind ihrerseits Folge vorherigen individuellen oder kollektiven Handelns, das das Bedrohungspotential übersehen oder unterschätzt oder ignoriert hat: Zur Katastrophe wird ein Vulkanausbruch denjenigen, die (aus welchen Gründen auch immer) zu wenig Abstand zu ihm gehalten haben. Eine Dürre wird jenen zur Lebensgefahr, die (warum auch immer) in einem derart betroffenen Gebiet leben (müssen), dort also ihre Nahrungsmittelproduktion organisieren müssen. Naturereignisse werden zu Naturkatastrophen immer dann, wenn Menschen die Grenzen ihrer Anpassungsfähigkeit an die Natur überschreiten, sich also im Status des Mängelwesens mit akuter Bedrohung befinden. In diesem Sinne sind Naturkatastrophen die Folge individuellen oder kollektiven Handelns. 2 Die Durchsetzung rational‐kausativen Erklärens individueller Gefährdungen ist ein Prozess, der weit davon entfernt ist, abgeschlossen zu sein (sofern er das überhaupt je sein kann). Das gilt im Begriffspaar aber vor allem für die Seite des Kausativen. So liegt etwa bis heute die Ursache vieler lebensbedrohlicher Erkrankungen völlig im Dunkeln. Dennoch werden diese Erkrankungen in modernen Gesellschaften kaum noch übernatürlichen Kräften zugeschrieben.
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nicht sehr lange selbstverständlich. Zuvor wurden Individuen vor allem als unablösbarer Teil einer Kollektivität gesehen, deren Identität wichtiger war als die individuelle Identität des Einzelnen (van der Loo, van Reijen 1992, S. 162ff.). Unter den Bedingungen einer solchen Grundauffassung war es dem Einzelnen kaum möglich, seine eigene Unsicherheitslage als sozial relevant zu markieren.3 Das Aufkommen und die allmähliche Durchsetzung der individualistischen Perspektive war eine Grundbedingung für die Möglichkeit, überhaupt individuell Interessen zu artikulieren (Hirschman 1980), und damit auch eine Grundbedingung für die Möglichkeit, interpersonal und intertemporär wirkende kollektive Mechanismen der Bewältigung von Unsicherheitsszenarien einzurichten: Kollektive Sicherungsarrangements haben die Auffassung vom Einzelnen als handlungsfähiger und eigenständiger sozialer Akteur zur Voraussetzung (Zapf 1987, S. 138). Kollektive Mechanismen der Bewältigung materieller Unsicherheit werden drittens in dem Maße wichtiger, in dem das erfahrungsgesättigte Antizipationsvermögen des Einzelnen versagen muss und sich individuelle Strategien der Abwehr von Unsicherheit und der Überwindung von Mangellagen als unangemessen erweisen. Das ist besonders in Phasen rapiden gesellschaftlichen Wandels der Fall. Derartige Phasen verunsichern durch bislang unbekannte Gefahrenkonstellationen, vor allem aber durch das Gefühl der bedrohlichen Auflösung »alter«, 3 Das galt übrigens nicht nur für die »einfachen Leute«, sondern auch für entscheidende Persönlichkeiten. Auch sie wurden weniger als eigenständige Individuen denn als Teil eines Kollektivs, als dessen Haupt, gesehen. War der Fürst gefährdet oder befand er sich in Unsicherheit (etwa durch eine Erkrankung oder in kriegerischen Auseinandersetzungen), dann zielte sein Schutz nicht auf ihn als Person, sondern auf seinen Körper als personifizierten Ausdruck des Kollektivzusammenhangs. Nur durch diese Unterscheidung ließ sich die göttliche Legitimation des Amtes glaubwürdig bewahren und jede Form von Gefährdung von ihm fernhalten, obwohl der Amtsinhaber als Person erkennbar allen Gefahren und Verfallsprozessen ausgesetzt war wie jeder Andere auch. Rex qui nunquam moritur (der König stirbt nie) ist als Aussage nur vor dem Hintergrund dieser intellektuellen Unterscheidungsleistung zwischen der Menschlichkeit des Königs und der »Ewigkeit des Hauptes« (Kantorowicz 1992, S. 322ff.) nachvollziehbar. Aber das heißt eben auch: über die Individualität des Königs wurde weitgehend hinweg gesehen.
I. Redistributionsmotive
vertrauter Ordnungen. Das subjektive Empfinden zunehmender gesellschaftlicher Komplexität, Unbestimmtheit und Kontingenz in solchen Phasen sozialen Wandels erschwert es dem Einzelnen, den Überblick über soziale Relationen zu behalten und seine Position im sozialen Gefüge adäquat zu bestimmen. Entsprechend greifen Verunsicherungen mit Blick auf Zugehörigkeiten, Normen und Verhalten – kurz: Orientierungsunsicherheiten – um sich; und das Streben nach Sicherheit entwickelt sich zum Bemühen um die Wiederherstellung der bekannten, überschaubaren sozialen Verhältnisse, also zum Bemühen um Komplexitätsreduktion. Kollektive Mechanismen der Bewältigung materieller Unsicherheit sind paradoxer Ausdruck sowohl der Reduktion als auch der Steigerung von Komplexität. Komplexitätsreduzierend sind sie, weil mit ihnen – wie durch andere Institutionen mit anderen Zwecksetzungen auch – Kollektivzusammenhänge gebildet werden, die die verloren gegangenen überschaubaren Ordnungen kompensieren und dem menschlichen Bedürfnis nach sozialer Einordnung und Zugehörigkeit zweckgebunden und gruppenbezogen4 Rechnung tragen können. Kollektiven Sicherungsarrangements geht zwar in der Regel eine Gruppenidentität voraus. Die ist jedoch nicht zwingend; vielmehr können Sicherungsarrangements auch ihrerseits durch den Prozess der kollektiven Vergewisserung überhaupt erst zur Etablierung und späteren Festigung solcher Gruppenkonstruktionen beitragen (Simmel 1989 [1890], S. 152). Kollektive Sicherungsarrangements stiften also, indem sie auf den interpersonellen Umgang mit materiellen Mängellagen ausgerichtet sind, zugleich Orientierungssicherheit. Aus dieser Perspektive ist Sicherheit nicht nur Handlungsziel, sondern 4 Gemeint ist damit die Kollektivierung zu einem bestimmten Zweck, nämlich zur materiellen Absicherung, und in einer bestimmten Gruppe mit Homogenitätsvorstellungen. Analog gibt es Gruppenbildungen mit anderen Zwecksetzungen (Arbeitsbedingungen kollektiv verbessern, gemeinsam singen, Sportvereine etc.). Diese Gruppierungen vollzogen und vollziehen übrigens ihrerseits einen analogen Prozess der funktionalen Differenzierung: frühe Gruppen und Vereine verfolgten mehrere Zwecke (Gewerkschaften: Arbeit und Sicherung; Vereine: Sport und Sicherung…).
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auch Handlungsgrundlage. Ausgangspunkt dieser Ausdehnung von materiellen zu immateriellen Umverteilungseffekten sind zunächst die offensichtlichen praktischen Vorteile kollektiver Sicherungsarrangements. Generell, besonders aber in Phasen beschleunigten sozialen Wandels, werden interpersonell angelegte Abwehrmaßnahmen in Form eines pooling of risk (Baldwin 1990, S. 19) wirksamer sein als individuelle Bemühungen, weil mit einiger Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden kann, dass zu einem gegebenen Zeitpunkt nicht alle Individuen in gleichem Ausmaß von einer situativen Bedrohung und Verunsicherung betroffen sein werden; Unsicherheit also kollektiv nivelliert werden kann. Das setzt freilich eine Verständigung über »anerkannte« Risiken und Unsicherheitsquellen voraus, denn Umverteilung – und nichts anderes sind ja kollektive Sicherungsarrangements – bedarf der Akzeptanz insbesondere derer, zu deren Lasten sie geht. Das heißt, nicht jede Mangellage und nicht jede Folge individueller riskanter Entscheidungen berechtigt zu Ansprüchen an andere, sondern nur solche, die den gesellschaftlichen Normen der Umverteilungsgemeinschaft nicht zuwiderlaufen (Titmuss 1958, S. 39f.). Diese Normen unterwerfen den Einzelnen gemeinschaftlichen Kooperations- und Konformitätserwartungen. Kooperationsnormen bestehen abstrakt darin, den Wohlstand der Gemeinschaft zu mehren und nicht zu mindern. Sollte aber Umverteilung, also Ressourcenverbrauch zu Lasten des Gemeinvermögens oder der Erträge Anderer, unvermeidlich sein, dann wird sie von diesen Anderen desto eher als gerechtfertigt angesehen werden, je stärker das Bemühen des Hilfe Begehrenden erkennbar war, den grundlegenden Kooperationsnormen (wenn vielleicht auch erfolglos) zu entsprechen. Die eigene Einschätzung der Frage, ob man verschuldet oder unverschuldet, wider oder mangels besserer Fähigkeiten, trotz angemessener oder nach übertrieben riskanten Entscheidungen in eine Mangellage geraten ist, ist unerheblich. Die Frage beantworten die Anderen; und die Antwort wird zum Zugangskriterium zu Umverteilungsarrangements. Konformitätsnormen generalisieren diese Kooperationsnormen nochmals, indem sie die Erwartung konkreten und situativen kooperativen Verhaltens generalisieren und dieses Verhalten zu einem charakteristischen,
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konstitutiven Merkmal der Gemeinschaft stabilisieren, an das sich anzupassen Voraussetzung für Umverteilungsansprüche ist. Hier wird also die Frage der Verhaltenshomogenität, und damit auch die Frage der Gefährdungshomogenität, zum Zugangskriterium in Umverteilungsarrangements. Individuelle Unsicherheitswahrnehmungen müssen Element der Homogenitätskonstruktion einer Gemeinschaft sein und ihren grundlegenden Konformitätsnormen entsprechen, sich also in Ursachen und Manifestationen ähneln und ausreichend stark verbreitet sein, um Umverteilungsansprüche zu begründen. Auf diese Weise werden im Zuge der Etablierung kollektiver Sicherungsarrangements zugleich auch Normen konstruiert und gefestigt. Die Folge: die kollektiv organisierte Gewährung materieller Sicherheit stiftet zugleich normative Verhaltens- und Orientierungssicherheit und gibt komplexitätsreduzierte Handlungsempfehlungen für den Umgang mit Unbestimmtheit. So gesehen ist »… das subjektive Gefühl der Sicherheit […] nur ein Korrelat der Übereinstimmung mit der Gesamtheit« (Simmel 1989 [1890], S. 223). Kollektive Mechanismen der Bewältigung materieller Unsicherheit sind aber nicht nur komplexitätsreduzierend, sondern zugleich auch komplexitätssteigernd. Mit hoher Wahrscheinlichkeit folgen sie in ihren Strukturen den funktionalen Differenzierungsprozessen, die ja gerade zur subjektiven Wahrnehmung sozialer Desintegration führen, forcieren auf diese Weise die weitere Freisetzung der Individuen aus traditionalen Bindungen (Sachße 1990), begünstigen die Bildung neuer Gruppen und Gemeinschaften mit anderen als den bislang vertrauten Identitäts- und Homogenitätskonstruktionen, und tragen damit ihrerseits zum gesellschaftlichen Wandel bei. »Gerade erst die feinere Differenzierung [bringt] Bedürfnisse und Zuspitzungen der einzelnen Wesensseiten zustande, die die Grundlage für kollektive Bildungen abgeben.« (Simmel 1989 [1890], S. 230) Die Kollektivierung sozialer Sicherheit hat also ein Doppelgesicht: sie begünstigt sozialen Wandel und macht ihn zugleich erträglich.
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Mit dem Zusammentreffen dieser Entwicklungen, der Absage an das gottgegebene Schicksal als Rechtfertigungskategorie für Lebensbedingungen und soziale Positionen, der Durchsetzung der individualistischen Perspektive, der Verwissenschaftlichung der Einschätzung von Unsicherheitspotentialen sowie einem beschleunigten sozialen Wandel, lässt sich erklären, warum Unsicherheit wie auch Versuche ihrer kollektiven Beherrschung primär Phänomene der Moderne sind. Vor allem aber lässt sich damit erklären, wie sich (erst) im Zuge gesellschaftlicher Modernisierung für weite Kreise der Gesellschaft der Begriff der Sicherheit als Gegenbegriff zu jenem der Unsicherheit etablieren konnte (Kaufmann 1973, S. 14). Neu waren nicht die wahrgenommenen Mangellagen; geändert hatten sich die Wahrnehmungsmuster des modernen Menschen: Wenn Sicherheit herstellbar ist, kann man sie zum Zielzustand erklären, zur gesellschaftlichen Norm. Unsicherheit gilt damit zunehmend als Abweichung von der Norm und wird nicht mehr ohne weiteres hingenommen. Definiert man Probleme prozesshaft, versteht unter ihnen also noch nicht gefundene Lösungen, dann gilt im umfassenden Sinne erst in der Moderne: Unsicherheit wird zum Problem. Hier ist nicht der Raum für Untersuchungen zur Frage, ob sich die genannten begünstigenden Faktoren für die Ausbreitung kollektiver Mechanismen der Bewältigung von Unsicherheitsszenarien einander bedingen, womöglich gar gegenseitig verstärken. Es kann also hier nicht geklärt werden, ob ihre zeitliche Parallelität zwangsläufig oder ein historischer Zufall ist. Klar ist aber, dass in der westlichen Welt unter den Bedingungen von Individualisierung, Verwissenschaftlichung und Säkularisierung der gesellschaftliche Wandel die Form dessen annahm, was als Übergang zur Moderne und im Weiteren als fortgesetzte, reflexive Moderne bezeichnet wird. Wesentliches Kennzeichen dieser Entwicklung war und ist die Ausdifferenzierung eines gemessen an Effizienz- und Rentabilitätsimperativen leistungsfähigen Wirtschaftssystems. Damit gewinnt auch eine Kategorie von Unsicherheit an Bedeutung, die in vormodernen Zeiten aufgrund mangelnder Differenziertheit (der Erklärung) von Lebensbedingungen und aufgrund anderer, nämlich absolutistischer Zuschreibungslösungen noch nicht als solche benannt werden konnte, wenngleich viele der damit
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einhergehenden Mangellagen durchaus erlitten wurden: die Kategorie der wirtschaftlichen Unsicherheit (Kaufmann 1973). Im Schatten der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilbereiche vollzogen sich Pluralisierungen von Zugehörigkeiten und sozialen Rollen. Im Bereich des Wirtschaftssystems bedeutete die fortschreitende gesellschaftliche Modernisierung die Durchsetzung arbeitsmarktlicher Strukturen durch irreversible aktive Proletarisierung (Lenhard, Offe 1977; Vobruba 1978), und das heißt vor allem: einen massiven Anstieg der Zahl nichtselbständiger Beschäftigter. Binnen weniger Jahrzehnte entwickelte sich Einkommen gegenüber Besitz und Vermögen zur zentralen gesellschaftlichen Leistungsnorm (Achinger 1958, S. 24ff.), und der Arbeitsmarkt zur zentralen gesellschaftlichen Arena zur Verteilung von Wohlstand. Der wirtschaftliche Status der sich auf diesem Markt bewegenden Lohnabhängigen markiert eine soziale Position, die sich in relevantem Umfang überhaupt erst in der Moderne herausbildete. Die soziale Position der Lohnabhängigen basiert weder auf sicherem Besitz noch auf sicherer Armut. Sie korrespondiert vielmehr mit unsicherem, relativem Wohlstand. Diese Form des Wohlstands beruht sowohl auf individueller Arbeitsfähigkeit als auch auf den Arbeits- und Einkommensmöglichkeiten, die sich auf dem Arbeitsmarkt bieten. Entsprechend werden der Verlust der Arbeitsmöglichkeit (Arbeitslosigkeit) und der Arbeitsfähigkeit (Krankheit, Invalidität, Alter) zu den beiden größten Gefahren des prekären Wohlstandes der Lohnabhängigen. Es ist wohl vor allem diese Erfahrung möglichen, aber prekären Wohlstandes, der das Unsicherheitsempfinden der entsprechenden gesellschaftlichen Gruppen steigert. In dem Maße, wie es ihnen wirtschaftlich besser geht, steigen auch ihre Verlustängste. Es sind nicht die sicher Armen und nicht die sicher Vermögenden, sondern es ist die wachsende Zahl der mittleren Gesellschaftsschichten, bestehend aus abhängig Beschäftigten und ihren Familien, für die wirtschaftliche Unsicherheit in Form drohenden Einkommensverlustes zum handlungsleitenden Problem wird. Vor dem Hintergrund dieser Möglichkeit zukünftigen Wohlstandsverlustes wandelt sich das Bedürfnis nach wirtschaftlicher Sicherheit zum Streben nach Statussicherheit. Unter zwei Bedingungen überschreitet dieses Bedürfnis die Schwelle vom indivi-
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duellen Problem hin zum politisch relevanten Problem. Erstens dann, wenn und weil – gleichsam als praktische Anwendung der mehrheitlich geteilten Hintergrundüberzeugung von der Gestaltbarkeit von Gesellschaft – sich die Überzeugung durchsetzt, die Gefährdungen der Arbeitsfähigkeit, vor allem aber der Arbeitsmöglichkeiten durch politisches Handeln eindämmen zu können. Und zweitens aufgrund der großen Zahl potentiell Betroffener, aufgrund der Tatsache also, dass die Angst vor Einkommens-, Wohlstands- und Statusverlust von Vielen in ähnlicher Weise wahrgenommen wird. Vor diesem Hintergrund ist die Entstehung und Fortentwicklung von Sozialpolitik ganz allgemein die gesellschaftspolitische Reaktion auf das Phänomen wirtschaftlicher Unsicherheit in der Moderne, und als solche bis in die Gegenwart hinein fester Bestandteil der Organisation moderner Gesellschaften. Sicherheit wird zur gesellschaftspolitischen Kategorie; und mit welchen konkreten Mitteln auch immer individuelle Sicherheit kollektiv hergestellt werden soll, sie alle lassen sich subsumieren unter dem Begriff der materiellen Umverteilung. Selbstverständlich war diese Entwicklung alles andere als unumstritten. Denn mit der Durchsetzung von »Sicherheit« als gesellschaftspolitischer Kategorie ist allenfalls vorentschieden, dass und warum redistributive Maßnahmen ergriffen werden (sollen), noch nicht aber, wie, zwischen wem und in welchem Ausmaß umverteilt wird. An dieser Stelle wird bedeutsam, dass sich in der Moderne nicht nur soziale Rollen und Positionen ausdifferenzieren, sondern auch politische Ideologien und Ideen der Gesellschaftsgestaltung. Seit »Sicherheit« als eine gesellschaftlich relevante und politisch zu bearbeitende, weil politisch grundsätzlich bearbeitungsfähige Kategorie gilt, sind Ausmaß und Reichweite der Umverteilungsmaßnahmen zur Erzielung von »Sicherheit« Gegenstand politischer Auseinandersetzungen. Denn darüber, was Sicherheit genau bedeuten soll und wann sie erreicht ist, besteht in modernen Gesellschaften kein Konsens. Kollektive Maßnahmen zur Herstellung von Sicherheit sind umstritten, weil die Sicherheitsvorstellungen und Sicherungserwartungen selbst sozial ungleich verteilt und umstritten sind. Man kann diesen Konsensmangel individualpsychologisch mit unterschiedlichen Risikotoleranzen
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erklären (so Kaufmann 1973 oder auch Dworkin 2011, S. 92ff.) oder mit strukturell ungleich verteilten Risikolagen (wobei vor allem unterschiedliche Sicherheitsbedarfe thematisiert werden, die sich aus dem gesellschaftlichen Grundgegensatz von Kapital und Arbeit ergeben). Beide Erklärungsansätze sind unterkomplex. Die Schlussfolgerung aber, zu der sie kommen, ist unzweifelhaft: Sicherheit wird zum – politischen – Problem. Unter den Bedingungen einer als gestaltbar angesehenen Gesellschaft wird der Begriff »Sicherheit« nachgerade zwangsläufig politisiert. Er ist, da er sich in politischen Auseinandersetzungen über Verteilungsfragen für Instrumentalisierungen anbietet, ein leerer Signifikant, ein Begriffscontainer für Deutungskonkurrenzen. Er ist individuell und kollektiv interpretationsoffen; er gibt subjektive, situativ wandlungsfähige Bedarfe wieder. Für die detaillierte objektive und vor allem für eine allseits geteilte Beschreibung eines erreichten dauerhaften Zustands ist er damit ungeeignet. Sicherheit ist ein angestrebter, aber potentiell unerreichbarer Zustand. Das macht den Begriff im politischen Diskurs keineswegs unbrauchbar; im Gegenteil, als normative Zielfolie stellt er Legitimationsargumente für politisches Handeln (oder Fordern) zur Verfügung. Deutlich werden damit aber zugleich zwei Mechanismen, angesichts derer die Auffassung von Sicherheit als Zustand fragwürdig werden muss. Einerseits ist Sicherheit dynamisch. Schon die Alltagsbeobachtung zeigt, »daß Menschen, denen es wirtschaftlich immer besser geht, nach immer mehr Sicherheit verlangen.« (Kaufmann 1973, S. 15) Vor dem Hintergrund unablässiger gesellschaftlicher, vor allem wirtschaftlicher Dynamik in der Moderne und individueller Unwägbarkeiten im Lebensverlauf muss auch Sicherheit, die als Umverteilungsergebnis über das absolut minimal Überlebensnotwendige hinausgeht, zwangsläufig einen dynamischen Charakter haben. Andererseits ist Sicherheit im Allgemeinen und Statussicherheit im Besonderen ein relationales Gut. »Der Mensch ist ein Unterschiedswesen« (Simmel 1989 [1890], S. 137) und der individuelle Sicherheitsbedarf das Ergebnis eines Vergleichs: nicht das bereits erreichte oder sozial zugesagte absolute Sicherheitsniveau ist Grundlage individuellen Sicherheitsbedarfes, sondern der relative Unterschied zum Sicherheitsniveau
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relevanter Anderer, in der Regel: Bessergestellter. Da Status selbst ja keine absolute Größe, sondern Ausdruck einer gesellschaftlichen Relation, gleichsam eine soziale Entfernungsangabe ist, muss zwangsläufig auch Statussicherheit eine relationale Konstruktion sein. Aus dem ständigen gegenläufigen Bemühen um Verringerung und Vergrößerung sozialer Abstände ergibt sich ein Wechselspiel konvergierender und divergierender Sicherheitsniveaus. Vor diesem Hintergrund erscheint es für soziologisch‐analytische Zwecke nicht angemessen, Sicherheit als einen stabilen Zustand zu begreifen. Vielmehr sollte gerade jenes dynamisch‐relationale Element begrifflich präzisiert und betont werden, jenes Wechselspiel von Diskursen über und (De-)Institutionalisierungen von politischen Maßnahmen, die unter dem legitimierenden Imperativ der Erreichung von Sicherheit unentwegt Anerkennungs- und Anspruchsbeziehungen zwischen Akteuren konstituieren und modifizieren. Besser als im (normativ‐politischen) Begriff der »sozialen Sicherheit« kommt dieses dynamisch‐relationale Element im Begriff der »sozialen Sicherung« zum Tragen. Weder im politischen Diskurs noch in der analytischen Beschäftigung mit Sozialpolitik geht es um Sicherheit als Zustand. Es geht um Sicherung als Prozess.
2. Gleichheit als Redistributionsmotiv Wesentliche Aspekte der Durchsetzung der Idee von Sicherheit als Zustand und von Sicherung als Gestaltungsprozess lassen sich ohne weiteres auf die Durchsetzung der Idee von Gleichheit als Zustand und von Angleichung als Gestaltungsprozess übertragen. Auch Gleichheit (als Ziel) und Angleichungsbemühungen (als Weg zum Ziel) sind Phänomene der Moderne. Sie setzen Individualisierungs-, Differenzierungsund Säkularisierungs- bzw. Rationalisierungsprozesse voraus (Simmel (1989 [1890], S. 182). Erst im Zusammenwirken dieser Prozesse kann sich die Überzeugung ausbreiten, dass gesellschaftliche Verhältnisse gestaltbar sind und dass dafür konkurrierende Möglichkeiten zur Verfügung stehen, die sich ihrerseits aus konkurrierenden Ideenkonstruktionen und Wertekomplexen speisen. Ähnlich wie das Aufkommen
I. Redistributionsmotive
von Sicherheit als gesellschaftspolitische Kategorie darf man sich auch die Ausbreitung dieser Auseinandersetzungen um den sozialen Wert, die konkrete Form und das akzeptable Ausmaß von Gleichheit nicht als einen ruhigen gleichförmigen Prozess vorstellen. Zwischen der Differenzierung in gesellschaftliche Teilbereiche, der Individualisierung von Akteurszusammenhängen und der Rationalisierung der Lebensführung auf der einen und der Politisierung der Gleichheitsidee auf der anderen Seite liegt als wesentliche Voraussetzung der Wandel eines Deutungsmusters. Aus bislang bloß wahr- und hingenommenen Unterschieden müssen interpretierte und problematisierte Unterschiede, eben Ungleichheiten werden: »Soziale Ungleichheit ist keine Tatsache, sondern eine historisch spezifische Deutung sozialer Tatsachen.« (Endreß 2013, S. 26) Solche Wechsel herrschender Deutungsmuster bezüglich geltender Gleichheitsnormen sind Indiz für soziale Krisen, d.h. für Zeiten, in denen die gesellschaftlichen Selbstverständlichkeiten fragwürdig werden und in denen sich der Wandel sozialer Strukturen besonders dynamisch vollzieht (Lüders, Meuser 1997, S. 73). Insbesondere die Abkehr von vormodernen, absolutistischen Weltbildern und Gesellschaftsbegründungen markiert einen solchen Prozess des Aufbrechens objektiver Strukturen, in denen »das Undiskutierte zur Diskussion« gestellt wird, in denen also die diskursiv vermittelte Struktur einer Gesellschaft vom Zustand der Doxa in den Zustand der Heterodoxie der Meinungen übergeht. Die derart ermöglichten Kontroversen, nicht zuletzt über Gleichheit als politische Kategorie, eröffnen aber zugleich Handlungsräume und treiben so ihrerseits sozialen Wandel an (Bourdieu 1979, S. 331f.; Bourdieu 1998, S. 286f.). Vor allem in sozialphilosophischen Diskursen wird der Gleichheitsbegriff üblicherweise mit Gerechtigkeitserwägungen in Verbindung gebracht. Sozialphilosophen unterläuft es dabei regelmäßig, dass sie vor dem Hintergrund einer stabilen, wenn nicht gar statischen Vorstellung von Gerechtigkeit(svarianten) bestimmte (Varianten von) Gleichheitsvorstellungen entwickeln. Diese elaborierten sozialphilosophischen Entwürfe unterscheiden sich in vielen Aspekten, ihre Gemeinsamkeit aber liegt in ihrer Ahistorizität. Sie nehmen in aller Regel sozialen Wandel nicht zur Kenntnis, haben insbesondere keinen
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Blick für die Metamorphosen des Gleichheitsverständnisses im Zuge gesellschaftlicher Modernisierung, und können so ohne Schwierigkeiten an die Gleichheits- und Gerechtigkeitsauffassungen etwa antiker Klassiker anschließen bzw. sich von ihnen distanzieren (z.B. kommunitaristisch, S. Walzer 1992; liberalistisch: Dworkin 2011; vertragstheoretisch: Rawls 1975). Gleichwohl versäumen es die meisten Autoren, die sich sozialphilosophisch mit Fragen von Gleichheit und Gerechtigkeit beschäftigen, nicht, auf dieser Basis normative Argumentationsfolien für soziale Umverteilungsmuster bereit zu stellen. Damit werden sie, obwohl sie selbst keinen Blick für den Diskurs über Gleichheit und Gerechtigkeit als interessengeleiteten Aushandlungsprozess mit materialen distributiven Effekten haben, vielmehr ihre jeweiligen Gerechtigkeits- und Gleichheitsauffassungen absolut setzen und ihnen zumindest implizit Zeitlosigkeit attestieren, zum Argumentenlieferant für interessierte Akteure, die sich damit ausgestattet diskursiv gegeneinander in Stellung bringen. Widerstreitende Gleichheits- und Gerechtigkeitsentwürfe werden zum Argument im politischen Diskurs um Umverteilungsfragen – und ihre sozialphilosophischen Autoren selbst letztlich zu Diskursteilnehmern. Die Rolle des Diskursbeobachters hat die Soziologie. Es bleibt offenbar der Wissenssoziologie vorbehalten, den oben angedeuteten prozessualen Charakter aufzudecken, mit dem die Idee der Gleichheit zu einer gleichermaßen grundlegenden wie wandelbaren Legitimationsquelle politischen Handelns in der Moderne wird. Wann und wie wird warum und für wen eine soziale Konstellation zu einem rechtfertigungsbedürftigen Problem? Und wie entwickelt sich diese Problemwahrnehmung zum Rechtfertigungsgrund für Umverteilungsforderungen und -maßnahmen (vgl. jüngst dazu in einer umfassenden historisierenden Betrachtung Rosanvallon 2013)? Diese Umverteilung ist ihrerseits, darauf wurde eingangs hingewiesen, die Manifestation gesellschaftlicher Anspruchs- und Anerkennungsverhältnisse von Rechten und Pflichten (Simmel 1993 [1906], S. 24f.). Auf den Entwicklungsprozess der Verrechtlichung dieser Anspruchsund Anerkennungsverhältnisse als Teilaspekt sozialer Modernisierung hat erstmals Thomas Marshall (1977 [1949]) aufmerksam gemacht. Hier
I. Redistributionsmotive
begegnen uns die oben genannten Modernisierungsdimensionen wieder. Gleichheit bemisst sich für Marshall am Differenzierungs- und am Durchsetzungsgrad verrechtlichter Anerkennungsverhältnisse. Seine Konzeption aufeinander aufbauender Rechtskonstruktionen gipfelt im Befund der Durchsetzung so genannter sozialer Rechte und gehört aus diesem Grund zu den Klassikern der Wohlfahrts(staats)literatur. Sie wurde und wird breit rezipiert und dient bis heute als theoretisches Fundament vieler theoretischer wie empirischer Beiträge der Wohlfahrtsforschung. Sie kann also, zumindest in ihren Grundzügen und wesentlichen Aussagen, als weitgehend bekannt vorausgesetzt werden. Insofern verfolgt die folgende Beschäftigung mit ihr weniger den Zweck ihrer vollständigen Darstellung, sondern dient der Grundlegung einer kritischen Auseinandersetzung, um darauf aufbauend eine Soziologie postnationaler sozialer Sicherung entwickeln zu können. Für die Argumentation Marshalls leitend ist die Entfaltung des Bürgers zur prägenden Figur der Neuzeit, und in seiner berühmt gewordenen Evolutionsgeschichte des modernen Bürgerstatus kommt den sozialen Bürgerrechten entscheidende Bedeutung zu. Erst durch ihre Umsetzung werden aus nominalen bürgerlichen und politischen Rechten reale, faktisch durchsetzbare Rechte. Diese Evolutionsgeschichte der zeitlichen Abfolge der Durchsetzung bürgerlicher, politischer und sozialer Rechte lässt sich zugleich als Modernisierungsgeschichte der allmählichen Ausdifferenzierung von Teilrechtssystemen innerhalb einer rechtsstaatlich organisierten Gesellschaft lesen. Die im 18. Jahrhundert um sich greifende Abkehr von feudalen Abhängigkeitsstrukturen, die Überwindung vielfacher sozialer und territorialer Mobilitätsbeschränkungen sowie die Durchsetzung individueller Freiheitsrechte (Freiheit der Person, Rede-, Glaubens-, Eigentums-, Vertrags-, Koalitionsfreiheit, Recht auf Gerichtsverfahren) waren unabdingbare Voraussetzungen für die Entwicklung einer auf Markt- und Tauschbeziehungen basierenden, kapitalistischen Gesellschaftsorganisation. Erst die Etablierung und Ausweitung eines für Alle in gleicher Weise zugänglichen und nutzbaren Rechtssystems und erst die Gewährung egalitärer bürgerlicher Rechte erlaubte die Schaffung prinzipiell symmetrischer Sozial- und Rechtsbeziehungen mittels
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Kontrakt und Gesetz zwischen prinzipiell Gleichen, weil freiheitsund bürgerrechtlich Gleichgestellten. Diese egalitären bürgerlichen Rechte blieben jedoch in großem Umfang nominal insofern, als zu ihrer faktischen Inanspruchnahme weiten Teilen der Gesellschaftsmitglieder weitere Voraussetzungen nicht zur Verfügung standen. Angesichts gravierender Vermögensunterschiede, aber auch angesichts verbreiteter multipler Diskriminierungen blieben viele Sozialund Rechtsbeziehungen asymmetrisch; strukturelle wirtschaftliche – und damit politische – Abhängigkeiten blieben trotz der Zusage bürgerlicher Freiheitsrechte die Regel. Der Überwindung dieses unbefriedigenden Zustandes diente nach Marshalls Auffassung die Durchsetzung egalitärer politischer Rechte als unabweisliche Ergänzung der bürgerlichen Rechte. Diese Ergänzung bereitete den Weg für die Politisierung von Handlungschancen und Verteilungsfragen. Ausschlaggebend hierfür war die immer weitergehende Öffnung parlamentarischer Institutionen als Vertretungsarenen für soziale Gruppen. Ausgehend vom Recht auf politische Partizipation als einem Privileg einiger weniger bevorzugter gesellschaftlicher Gruppen weitete sich vor allem im 19. Jahrhundert das aktive und passive Wahlrecht sukzessive aus und erfasste immer weitere Bevölkerungskreise. Zugleich wurden die Bedingungen für die Inanspruchnahme des Wahlrechts immer weiter abgesenkt. Im Ergebnis dieses Entwicklungsschrittes waren nicht mehr Grundbesitz oder wirtschaftliches Vermögen, später nicht einmal mehr das männliche Geschlecht Zugangsvoraussetzungen zu politischer Beteiligung. Allein der nominal egalitäre Bürgerstatus war ausreichend für die Nutzung der dadurch ebenfalls egalitären politischen Rechte. Erst mit Abschluss dieses Prozesses war es möglich, Verteilungsfragen zu politischen Fragen zu machen. Allerdings zogen die bestehenden Vermögensunterschiede nach wie vor vielfältige Abhängigkeitsverhältnisse nach sich und stellten damit auch ein Einfallstor für die Aushebelung politischer Rechte dar. Insofern blieben auch politische Rechte in dem Maße nominal, wie sie nicht autonom genutzt werden konnten, sondern wirtschaftlichen Abhängigkeiten unterworfen waren.
I. Redistributionsmotive
Überwunden werden konnte dieser Zustand erst im Laufe der Zeit, primär in der des 20. Jahrhunderts; einerseits durch langwierige politische Lernprozesse jener Teile der Bevölkerung, die von der Ausweitung der politischen Rechte profitierten, andererseits durch Maßnahmen, die den Warencharakter der politischen Stimme zu beschneiden suchten. Vor allem aber bedurfte es Marshall zufolge der Einführung von Sicherungs- und Verteilungszusagen, um die Abhängigkeit und letztlich die Käuflichkeit derjenigen zu reduzieren, die zwar über politische Partizipationsrechte verfügten, nicht aber über die wirtschaftliche Unabhängigkeit, diese politischen Rechte autonom zu nutzen. Die solcherart motivierte Einführung sozialer Rechte löste alsbald einen selbstverstärkenden Prozess aus: sie führte Marshall zufolge zu immer weiter fortschreitender Nivellierung wirtschaftlicher Ungleichheiten und griff immer umfassender in marktförmig hergestellte Vertragsbeziehungen ein. Das kam zwar einem Eingriff in bürgerliche Freiheitsrechte gleich, hatte allerdings den Effekt, dass nun erst faktisch nahezu symmetrische Sozial- und Rechtsbeziehungen zwischen nicht nur nominal, sondern auch faktisch Gleichen möglich waren. Soziale Rechte sind aus dieser Perspektive also unabdingbare Anwendungsvoraussetzung bürgerlicher und politischer Rechte (Goodin 1988). Entsprechend lässt sich die Geschichte der aufeinander folgenden Durchsetzung bürgerlicher, politischer und sozialer Rechte als Prozess der fortschreitenden EntLegitimierung und Ent-Institutionalisierung sozialer Ungleichheit lesen (Endreß 2013, S. 30f.). Marshall bündelt in dieser hier nur knapp wiedergegebenen Konzeption sozialer Rechte die oben erwähnten individuellen und kollektiven Ansprüche an Andere. Ohne in dieser Frage allzu konkret zu werden, propagiert Marshall in seiner Konzeption vor dem Erfahrungshintergrund einer Gesellschaft mit vielfältigen strukturellen sozialen Ungleichheiten rechtlich kodifizierte gesellschaftliche Anerkennungs- und Umverteilungsbeziehungen: »By the social element I mean the whole range from the right to a modicum of economic welfare and security to the right to share to the full
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in the social heritage and to live the life of a civilized being according to the standards prevailing in the society.« (Marshall 1977 [1949], S. 78) Auch wenn gerade diese Passage eher den Eindruck eines nachgerade Rosseau’schen Gleichheitsideals hinterlässt, ist Marshall doch eher ein moderater Befürworter sozialer, genauer: wirtschaftlicher Ungleichheiten (Cohen 2010, S. 82). Diese Ungleichheiten sind es, aus denen Anreize für Veränderungen und Verbesserungen hervorgehen, die als Antriebskräfte einer kapitalistischen Marktgesellschaft unverzichtbar sind. Soziale Rechte im Sinne von Teilhabe-, Sicherungs- und Verteilungszusagen sollten also nicht auf die vollständige Einebnung, sondern lediglich auf die Abmilderung wirtschaftlicher Ungleichheit zielen. Die verbleibende (und für den Fortgang gesellschaftlicher Entwicklung unverzichtbare) materielle Ungleichheit ist jedoch legitimierungsbedürftig. Sie kann, so Marshall (1977 [1949], S. 76, 127f.), nur toleriert werden unter der Voraussetzung, dass für jeden Einzelnen die Möglichkeit sozialer Mobilität gegeben, also der individuelle Positionswechsel im relationalen Gefüge sozialer Ungleichheit prinzipiell möglich ist. Und das setzt voraus, dass sie in einer grundsätzlich egalitären Gesellschaft auftritt, in der die Gleichheit des Bürgerstatus anerkannt ist. Grundlage sowohl der Akzeptanz wirtschaftlicher Ungleichheit als auch der auf deren Reduzierung abzielenden diversen Teilhabe- und Sicherungsansprüche ist damit der Meta-Anspruch, »to be accepted as full members of the society« (Marshall 1977 [1949], S. 76). Weniger die empirische Evidenz dieser evolutionären Durchsetzung sozialer Rechte als vielmehr die Prägnanz ihrer Darstellung haben wohl zum Erfolg und zur Verbreitung der Marshall’schen Konzeption sozialer Rechte als Bezugspunkt der Wohlfahrtsstaatsforschung beigetragen. Kaum bekannt ist hingegen, dass etliche Jahrzehnte zuvor schon Georg Simmel ganz ähnliche Ansätze entfaltete, in einer Zeit also, in der sich noch nicht so klar auf gesellschaftliche Modernisierungsprozesse zurückblicken ließ wie dies Marshall in der Mitte des 20. Jahrhunderts möglich war. Gemessen an Marshalls programmatischem Text argumentiert Simmel weniger prägnant und weniger historisch bzw. historisierend, aber ähnlich evolutionistisch und zu-
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dem mit stärker theoretischem Anspruch. Auch Simmel beschreibt die sich ausdifferenzierende Gesellschaft als Parallelität von Gleichheit und Ungleichheit, und sieht gerade darin ein Charakteristikum der Moderne (Simmel 1989 [1890], S. 230). Individualität ist eine Deutungsleistung, sie ist Ausdruck von Ungleichheiten im Sinne interpretierter Unterschiede. Sie kann sich nur auf dem Fundament einer allgegenwärtigen (und deshalb kaum wahrgenommenen) Gleichheit der Mitglieder einer Gesellschaft entfalten, von dem sie sich abgrenzen lässt. Dabei handelt es sich freilich um eine »formale Gleichheit« im Sinne einer »gewissen Gleichheit [des] Einzelnen, die früher versagte Möglichkeit zur Geltendmachung seiner individuellen Befähigungen« (Simmel 1989 [1890], S. 183) nutzen zu können. Simmel sieht ebenso klar wie Marshall gut sechzig Jahre später, dass ein wichtiges Instrument zur faktischen Geltendmachung individueller Befähigungen ein egalitäres Rechtssystem ist, das – um »wirklich allseits befriedigen« zu können – eine »gewisse Einheitlichkeit aller Personen« voraussetzen muss (Simmel 1989 [1890], S. 227). Und es ist bereits Simmel, der es in dieser Frage egalitärer Rechte nicht unterschiedslos bei kodifizierten nominalen Rechten belässt, sondern sie analytisch differenziert: in politische Rechte zur Durchsetzung von Interessen einerseits – und in soziale Rechte »zu ökonomischen Unterstützungszwecken« (Simmel 1989 [1890], S. 249) andererseits! Die Marshall’sche Konzeption sozialer Rechte als Anwendungsvoraussetzung politischer Rechte hat also in Simmels Ausführungen Über sociale Differenzierung einen prominenten Vorläufer! Eine weitere Parallele zu Marshalls Auffassung ist die von Simmel vorgenommene kategoriale Ausdifferenzierung des Gleichheitsbegriffs. Er unterscheidet die erwähnte formale Gleichheit (Simmel 1989 [1890], S. 183) im Sinne bürgerlicher bzw. rechtlicher Gleichheit (von ihm verwendete Synonyme lauten Einheitlichkeit, 227; Wesensgleichheit, substantielle Gleichheit; 234) von materieller Gleichheit (synonyme Begriffe sind Gütergleichheit und funktionelle Gleichheit; 234). Und er vertritt sehr vehement die Unmöglichkeit dauerhafter materieller Gleichheit in einer modernen Gesellschaft: es gibt »keine logische Regel, nach der die substantielle Gleichheit von Wesen
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ihre funktionelle Gleichheit zur Folge haben müsste« (Simmel 1989 [1890], S. 234). Vielmehr ist substantielle Gleichheit das Fundament, auf dem jeder Einzelne sein individuelles und jede soziale Gruppe ihr kollektives Glück suchen, und das heißt: die jeweilige relative soziale Position verbessern kann (Simmel 1989 [1890], S. 232ff.). Über Marshall deutlich hinaus geht Simmel hingegen in seiner Einschätzung relationaler gesellschaftlicher Dynamik: Während Marshall davon ausgeht, dass die Durchsetzung sozialer Rechte in einen Zustand zwar nicht vollkommen überwundener, aber doch dauerhaft nivellierter sozialer Ungleichheiten münden kann (Abb. 2 oben), entwickelt Simmel eine Art Zyklusmodell, das seiner grundlegenden relationalistischen Sicht auf Gesellschaft ebenso entspricht wie seiner Betonung sozialer Dynamik und Differenzierung. Seinem Bild des Menschen als Unterschiedswesen entspricht die Auffassung, dass nicht absolute, sondern relative Größen als Ergebnis unentwegten Vergleichens mit relevanten bessergestellten Anderen die Triebfedern für Gleichheitsforderungen und Angleichungsbestrebungen sozialer Akteure sind (Simmel 1989 [1890], S. 235). Derartige Bestrebungen sind jedoch tendenziell unerschöpflich: Zum einen zeige alle Erfahrung, dass das Erreichen eines Wohlfahrtsziels – Simmel spricht von Glückserhöhung – nur der Ausgangspunkt weitergehender Bestrebungen sei. Die individuelle und kollektive Wahrnehmungsfähigkeit für Unterschiede sinkt nicht in gleichem Maße wie die Nivellierung dieser Unterschiede selbst. Da Ungleichheit interpretierte und problematisierte Unterschiedlichkeit ist, reichen selbst minimale Unterschiede in relevanten Belangen für ein Ungleichheitsempfinden aus, das zu (individuellen oder kollektiven) Angleichungsbemühungen führt. Dieser Mechanismus käme erst an sein Ende, wenn zwischen Akteuren keinerlei Unterschiede mehr zu bemerken wären, es sich also letztlich um vollkommen identische Handlungsbedingungen von in jeder Beziehung identischen Akteuren handelte, die sich miteinander vergleichen. Aller Erfahrung nach ist eine solche Konstellation ausgeschlossen; Angleichungsbemühungen können daher schon aus logischen Gründen nie an ihr Ende kommen. Zum anderen bestehe bei jenen Akteuren, an deren Glücksniveau sich die (vormals) schlechter Gestellten angeglichen haben, ihrerseits
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das Bedürfnis nach Unterscheidung. Dem Interesse der Einen an Verringerung der Ungleichheit steht also ein Interesse der Anderen an ihrer (Wieder-)Ausweitung gegenüber. Das heißt in aller Regel: die Angleichungserfolge der Einen ziehen Abgrenzungsbemühungen der Anderen nach sich, was zu einer Ausweitung sozialer Ungleichheit auf höherem Niveau führt, die weitere Angleichungsbemühungen hervorruft usw. Zustände relativ großer sozialer Gleichheit seien daher allenfalls temporäre Phasen, die auf Akteursebene zu stärkeren Abgrenzungsanstrengungen motivieren (Simmel 1989 [1888], S. 21). Auch aus diesem Grund kann es – jedenfalls unter Handlungsbedingungen, die beide Bestrebungen zulassen – keine dauerhafte soziale Gleichheit geben (Simmel 1989 [1890], S. 234ff.). Was sich stattdessen daraus auf gesellschaftlicher Ebene ergibt, ist eine Art Zyklusmodell, ein Wechselspiel von temporären Phasen der relativen Angleichung und Entfernung der materiellen Bedingungen zwischen sozialen Akteuren (Abb. 2 unten). Der Grad der sozialen Gleichheit ist demnach Gegenstand und Ergebnis eines ständigen Prozesses der Aushandlung zwischen Zug- und Gegenkräften. Und die materialen Folgen dieser Prozesse gradueller Kon- und Divergenz sind legitim, weil diese Prozesse selbst sich auf dem Boden egalitärer Rechte abspielen. In der Konstruktion eines solchen Modells zyklischen sozialen Wandels hat die Vorstellung dauerhaft stabiler sozialer Gleichheit keinen Platz.
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Abbildung 2 Ungleichheitsmodelle
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Die strukturelle Unmöglichkeit des Erreichens und dauerhaften Erhaltens eines Zustandes sozialer Gleichheit in einem gegebenen Sozialzusammenhang steht freilich faktischen Versuchen nicht entgegen, sich einem solchen Zustand anzunähern. Diese Bemühungen beruhen auf der für moderne Gesellschaften konstitutiven Überzeugung, Gesellschaft gestalten, also zum Beispiel auch mit politischen Mitteln der materiellen Umverteilung soziale Gleichheit anstreben und durchsetzen zu können. Die Folge ist ein ständiges gegenläufiges Bemühen um Verringerung und Vergrößerung sozialer (Un-)Gleichheit und ein Wechselspiel konvergierender und divergierender Gleichheitsniveaus. Wie für Sicherheit (vgl. Kapitel I.1) gilt auch für Gleichheit: Sie ist ein angestrebter, aber potentiell unerreichbarer Zustand. Im politischen Diskurs ist der Begriff der Gleichheit zwar unverzichtbar, weil er als normative Zielfolie Legitimationsargumente für redistributives politisches Handeln bereitstellt. Dennoch geht es weder im politischen Diskurs noch in der analytischen Beschäftigung mit Sozialpolitik um soziale Gleichheit als dauerhafter Zustand. Es geht um soziale Angleichung als Prozess.
Exkurs: Konzeptionen von Gleichheit Beginnend bereits in antiken Texten zur Sozialphilosophie, und bis heute keineswegs zum Stillstand gekommen, hat sich in den Sozialwissenschaften und deren Vorläufern eine umfangreiche Auseinandersetzung mit Varianten und Inhalten des Gleichheitsbegriffs entfaltet. Die entsprechenden Diskurse können und sollen an dieser Stelle nicht nachgezeichnet werden (siehe dazu bspw. Kersting 2000). Als Ergebnis der Beschäftigung mit dieser Grundsatzfrage des menschlichen Zusammenlebens lassen sich mit den Konzeptionen der Verfahrens-, der Chancen- und der Ergebnisgleichheit im Wesentlichen drei Ideal-Formen der Gleichheit unterscheiden (Dobner 2007, S. 60ff.), die hinsichtlich ihrer ideellen Anspruchsniveaus sowie ihrer materiellen Redistributionszumutungen und -effekte in einem gleichsam hierarchischen Verhältnis zueinander stehen. In Anlehnung an Simmels bekannte Zuspitzung in seiner »Soziologie der Armut«
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(Simmel 1989 [1906], S. 45) lässt sich sagen: Auf dem gemeinsamen Boden von Verfahrensgleichheit zielt das Ideal der Chancengleichheit auf die Ursache, das Ideal der Ergebnisgleichheit (auch) auf die Tatsache sozialer Ungleichheit. Verfahrensgleichheit ist in modernen Gesellschaften im Kontext redistributiver Entscheidungen (und das sind – wenigsten mittelbar – die meisten politischen Entscheidungen innerhalb eines Gesellschaftszusammenhangs) ein basales und kaum noch begründungsbedürftiges Konzept. Der Begriff bringt die Ambition zum Ausdruck, dass in einem gegebenen Sozialzusammenhang die Verfahren der Zuweisung von bürgerlichen, politischen und sozialen Rechten, die Verfahren der Institutionalisierung von Anspruchsbeziehungen und nicht zuletzt die sich darauf beziehenden Verfahren der Durchführung von Verteilungsprozessen selbst für alle Akteure in gleicher Weise gelten. Das setzt zum einen voraus, dass diese Verfahren im Sinne von Verteilungsspielregeln transparent und für die Involvierten nachvollziehbar sind. Damit verbunden ist zudem in der Regel der Anspruch, dass für Änderungen dieser Verfahren ebenfalls legitime Verfahren existieren, mit denen rechtmäßige Änderungen gewährleistet sind. Verfahrensgleichheit ist die Gleichheit Aller vor dem Gesetz; materielle Gleichheit oder auch nur die Angleichung materieller Verhältnisse als politisches Projekt muss damit jedoch nicht verbunden sein. Chancengleichheit ist demgegenüber ein anspruchsvolleres und redistributiv folgenreicheres Ideal. Ihre Verfolgung setzt (den Glauben an) eine mobilitätsoffene Sozialstruktur voraus, also an einen Sozialzusammenhang, in dem soziale Positionswechsel möglich und anerkannt sind. Voraussetzung ist darüber hinaus die Deutung von Unterschieden zwischen Akteuren als soziale Ungleichheiten, die nicht nur in einem technischen Sinn als überwindbar, sondern auch normativ als überwindenswürdig gelten. Schließlich bedarf es auch einer zumindest rudimentären Form der Verfahrensgleichheit, damit geklärt werden kann, wer unter welchen definierten Bedingungen mit Ressourcen ausgestattet werden soll, um Fähigkeiten zu erwerben, die in einer grundsätzlich flexiblen Sozialstruktur als erstrebenswert gelten. Ziel dieser Angleichungsbemühungen sind gleiche Startbedingungen bei der individuellen Entwicklung von Fähigkeiten und bei der
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eigenständigen Ressourcenakkumulation. In einer wie auch immer im Einzelnen ungleichen Gesellschaft bedeutet diese Herstellung gleicher Startbedingungen immer auch materielle Umverteilung. Gleichwohl ist das Ziel und die Verwirklichung von Chancengleichheit in einer Gesellschaft mit sozialer Ungleichheit kompatibel; der Gleichheitsimperativ erfasst nur bestimmte Lebensverhältnisse und einem verbreiteten Verständnis zufolge in der Regel auch nur bestimmte biographische Phasen. Verglichen mit diesem Ideal der Chancengleichheit ist Ergebnisgleichheit weniger optimistisch hinsichtlich der Nivellierungseffekte gleicher Startbedingungen und weniger tolerant gegen soziale Ungleichheiten. Von Chancengleichheit unterscheidet sich Ergebnisgleichheit dadurch, dass hier nicht nur gleiche Ausgangsbedingungen mit der Möglichkeit ungleichen Erfolgs beim Einsatz von (Erwerbs-)Fähigkeiten, sondern auch gleiche Lebensbedingungen trotz ungleichen Erfolgs herrschen sollen. In modernen, individualistisch geprägten Gesellschaften ist dies das legitimatorisch wie redistributiv anspruchsvollste Konzept von Gleichheit. Legitimatorisch anspruchsvoll ist es, weil es – gemessen an den beiden anderen Gleichheitskonzeptionen – auf einer sehr hohen Zahl von Unterschieden zwischen Akteuren basiert, die zu nivellierungswürdigen sozialen Ungleichheiten interpretiert werden (vgl. etwa Nollmann, Strasser 2002). Redistributiv anspruchsvoll ist es, weil diese hohe Zahl von als Ungleichheiten interpretierten Unterschieden Angleichungsforderungen und -bemühungen nach sich zieht, die über die Umverteilungseffekte der Verfolgung von Verfahrens- oder Chancengleichheit weit hinausgehen: Die Verfolgung von Ergebnisgleichheit ist tendenziell entsituiert in dem Sinne, dass nicht mehr nur in bestimmten Lebenssituationen und -phasen Anerkennungs- und Umverteilungsbeziehungen bestehen, sondern das Leben selbst – oder nüchterner: die grundsätzliche Existenz eines Akteurs und seine Zugehörigkeit zu einem Sozialzusammenhang – eine Umverteilungsbeziehung generiert. Legt man an diesen Exkurs die analytischen Gesellschaftsbeschreibungen Georg Simmels und Thomas Marshalls an, dann wird offensichtlich, dass beide in der modernen Gesellschaft Verfahrensgleichheit als konstitutiv, Chancengleichheit als realisierbar, Ergebnisgleichheit
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hingegen als unerreichbar erachten.5 Sowohl Simmel als auch Marshall abstrahieren aus ihren Gesellschaftsbeobachtungen also ein Gleichheitsverständnis, das mit Ungleichheit kompatibel ist. Beide können als Vertreter eines Gleichheitsbegriffs angesehen werden, der die Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe gegenüber einer Ergebnisgleichheit betont. Beide verwenden einigen Aufwand darauf, die Entwicklung eines allgemeinen (d.h. staatlichen) Erziehungs- und Bildungssystems nicht nur als ein zentrales Charakteristikum gesellschaftlicher Modernisierung, sondern auch als praktische Umsetzung der Durchsetzung sozialer Rechte herauszustellen. Aus Sicht Beider fließen im Bildungswesen Verfahrens- und Chancengleichheit zusammen: »die steigende Entwicklung der allgemeinen Schulbildung […] will die schroffen Unterschiede der geistigen Niveaus beseitigen und gerade durch die Herstellung einer gewissen Gleichheit jedem Einzelnen die früher versagte Möglichkeit zur Geltendmachung seiner individuellen Befähigungen gewähren« schreibt Simmel (1989 [1890], S. 182f.), und Marshalls Position (Marshall 1977 [1949], S. 89f.) liest sich nachgerade als die sozialpolitische Schlussfolgerung dieser Beobachtung: »[T]he growth of public elementary education during the nineteenth century was the first decisive step on the road to the re‐establishment of the social rights of citizenship in the twentieth. […] The right to education is a genuine social right of citizenship, […] not as the right of the child to go to school, but as the right of the adult citizen to have been educated.« Diese Betonung öffentlicher Maßnahmen zur möglichst gleichen Verteilung von Startchancen ist jedoch nicht gleichzusetzen mit der grundsätzlichen Ablehnung von Umverteilungsmaßnahmen zu anderen als 5 Dem dürfte entsprechen, dass beide auf normativer Ebene Verfahrensgleichheit in der modernen Gesellschaft als grundlegend, Chancengleichheit als erstrebenswert, Ergebnisgleichheit hingegen als letztlich nicht erstrebenswert erachten.
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zu Befähigungszwecken. Nochmals sei an dieser Stelle betont, dass sowohl Simmel als auch Marshall Ergebnisgleichheit als Zustand zwar mikrosoziologisch begründet für unerreichbar halten, die politischen Forderungen, diesen Zustand zu erreichen und die darauf basierenden Versuche der Angleichung von Lebensbedingungen und Ressourcenausstattungen jedoch durchaus zur Kenntnis und selbst als soziologisches Faktum nehmen (bei Marshall andeutungsweise in seinen Gedanken zu konkurrierenden Verteilungsansprüchen (Marshall 1977 [1949], S. 115), bei Simmel in seinen Überlegungen zu Sozialismus (Simmel 1989 [1890], S. 234) und zu Armut (Simmel 1993 [1906]). Folgerichtig beschäftigen sich beide ebenso grundsätzlich wie ausführlich mit soziologischen Aspekten der Umverteilung, unabhängig von der konkreten Frage, welchen Zwecken sie dient, welchem Gleichheitsverständnis sie folgt und wie realistisch die Zielerreichung ist.
3. Die Relationalität von Sicherheit und Gleichheit Als Ergebnis der Darstellungen bis hierher lässt sich festhalten: Sowohl Simmel als auch Marshall vertreten eine relationale Perspektive auf Umverteilungsarrangements. Relational ist die analytische Auseinandersetzung mit Umverteilungsarrangements, wenn sie dem Umstand der Relativität in mindestens dreifacher Weise Rechnung trägt: mit Blick auf die Zielkonflikte im Kontext von Umverteilung, mit Blick auf den historischen Wandel der Umverteilungsarrangements und mit Blick auf die synchronen sozialen Wechselwirkungen, die sich durch Umverteilungsarrangements manifestieren. Marshall steht hierbei für eine primär diachron vergleichende, Simmel vor allem für eine synchron vergleichende Perspektive.
a. Zielkonflikte zwischen Sicherheit und Gleichheit Sicherheit und Gleichheit sind Zielbestimmungsformeln; sie lassen sich als Leitideen und Legitimitätsprinzipien politischen Handelns begreifen. In dem Maße, in dem diese beiden Leitideen präzisiert werden zu
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Zielzuständen der Statussicherheit und der Ergebnisgleichheit, und in dem Maße, in dem sich aus diesen derart präzisierten Leitideen auch tatsächlich politisch‐redistributives Handeln zur Statussicherung und dauerhaften materiellen Angleichung von Ressourcenausstattung und Lebensbedingungen ergibt, in dem Maße geraten die Leitideen der Sicherheit und der Gleichheit in einen Zielkonflikt. Der Umgang mit diesem Zielkonflikt mittels politischer Intervention ist im Entweder-Oder-Modus oder im Sowohl-Als-Auch-Modus möglich. Im Entweder-Oder-Modus wird eines der beiden Ziele vollkommen zugunsten des anderen preisgegeben. Unter dieser Prämisse wäre also entweder die Verfolgung von Statussicherheit verbunden mit der gewollten oder zumindest in Kauf genommenen Betonierung von Ungleichheit; in diesem Falle wirkt die Sicherung des relativen sozialen Status als eine Sicherung gegen die Gleichheit (Hockerts 1998, S. 19). Oder die ausschließliche Verfolgung von Gleichheit würde sich explizit auf die Nivellierung gegebener relativer Status-Unterschiede richten und die damit verbundenen Unterschiede in der individuellen Ressourcenausstattung dauerhaft (Ergebnisgleichheit) oder zumindest passager (Chancengleichheit) zu überwinden suchen – und wäre entsprechend inkompatibel mit der Idee der Statussicherung. Im Sowohl-Als-Auch-Modus wird hingegen versucht, trotz des bestehenden Zielkonflikts beide Ziele zu verfolgen und entsprechende Umverteilungsanstrengungen auf Statussicherungs- und Angleichungsprozesse zu richten. Hier geht es also darum, im politischen Prozess aus dem Grunde nach unvereinbaren und daher konfligierenden Leitideen und je für sich anerkannten politischen Handlungsbegründungen ein stabiles System von Leitdifferenzen (Rehberg 1994) zu entwickeln, das den Bedürfnissen und Interessen an Statussicherheit wie an Gleichheit Rechnung trägt. Empirisch ist der Umgang mit dem Zielkonflikt zwischen den beiden Leitideen Sicherheit und Gleichheit im Sowohl‐als-Auch-Modus der deutlich weiter verbreitete Fall. Moderne Gesellschaften betreiben soziale Umverteilung nicht auf der Basis ausschließlich des einen oder anderen Legitimationsprinzips. Ihre Redistributionsarrangements vereinen vielmehr Maßnahmen, die beiden Leitideen folgen.
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Beide Leitideen und deren institutionelle Umsetzungen stehen in existierenden, Umverteilung praktizierenden Gesellschaften also in einem bestimmten Verhältnis zueinander. Aus dem Widerspruch der Leitideen Sicherheit vs. Gleichheit wird Sicherung und Angleichung als sozialpolitisch handlungsleitende, ordnungsstiftende LeitdifferenzRelation. Inwieweit die Umverteilungseffekte der Maßnahmen, die diesen beiden unterschiedlichen Imperativen folgen, innerhalb einer Wohlfahrtsgesellschaft komplementären oder kompetetiven Charakter haben, ist ebenso eine empirische Frage wie die diesbezüglich evidente Varianz zwischen existierenden Wohlfahrtsgesellschaften. Letztere lässt sich mit Blick auf die beiden Zieldimensionen als Varianz der faktischen Zielverwirklichung wie auch als Varianz der jeweils vorausgehenden Anstrengungen bei der Zielverfolgung betrachten (Flora et al. 1977, S. 721). Wenn und indem sich die Soziologie mit den empirischen Ausprägungen der für Umverteilungsarrangements strukturgebenden Leitdifferenz-Relation in bestehenden Gesellschaften auseinandersetzt, nimmt sie eine relationale Perspektive im hier vertretenen Sinne ein. Vollständig ist diese relationale Perspektive, also die Betrachtung der Relation zweier gesellschaftlicher Leitideen, jedoch erst durch die Rückbindung an zeitliche und räumliche Kategorien.
b. Dynamik von Umverteilungsstrukturen Thomas Marshall betrachtete den Prozess der Durchsetzung sozialer Rechte als gleichsam lineare Evolutionsgeschichte: »[T]he modern drive towards social equality is, I believe, the latest phase of an evolution of citizenship which has been in continuous progress for some 250 years.« (Marshall 1977 [1949], S. 78) Ralf Dahrendorf (1992) hat demgegenüber in seiner Diskussion der Marshall’schen Evolutionstheorie sozialer Rechte nicht nur darauf hingewiesen, dass die Durchsetzung dieser Rechte ein um Vieles konfliktreicherer Prozess gewesen sein dürfte, als dies in den Überlegungen Marshalls selbst zum Ausdruck kommt. Dahrendorf hat auch darauf aufmerksam gemacht, dass dieser Durchsetzungsprozess sozialer Rechte grundsätzlich zwei Dimensionen umfasst: die effektive Ausweitung sozialer Rechte auf bisher benachteiligte Gruppen einer-
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seits und die Ergänzung sozialer Rechte um neue Elemente andererseits (Dahrendorf 1992, S. 60). Folgt man dieser Überlegung, dann ist die Vermutung plausibel, dass wir es hierbei mit zwei aufeinander bezogenen, aber voneinander getrennten Dimensionen zu tun haben. Das heißt, die von Marshall nahe gelegte, stark funktionalistisch geprägte Annahme, dass in einer einzigen linearen Entwicklung soziale Rechte parallel inhaltlich und personell immer weiter ausgedehnt wurden, hat wenig für sich. Vielmehr offenbart ein Blick auf die Geschichte der Entstehung und Entfaltung von Sozialpolitiken und modernen Wohlfahrtsstaaten folgendes Muster: Stets wurden und werden soziale Rechte und Umverteilungsansprüche von einzelnen sozialen Gruppen gegen andere Interessen erkämpft und durchgesetzt – und zwar zunächst als inhaltliche Ausweitung sozialer Rechte nur zu ihren eigenen Gunsten. Bei davon zunächst ausgeschlossenen sozialen Gruppen wächst, nicht zuletzt als Reaktion darauf, das Bedürfnis, diesen Vorreitern gleichgestellt zu werden. Unter angebbaren Bedingungen gelingt ihnen das; was sie erreichen, ist die personelle Ausweitung der jeweiligen sozialen Rechte bzw. funktionaler Äquivalente. Für die Erklärung der Bedingungen, unter denen soziale Rechte erst (personell begrenzt) inhaltlich ausgeweitet und später ggf. auch personell ausgedehnt werden, haben sich in der Wohlfahrtsforschung im Wesentlichen funktionalistische, konflikttheoretische, institutionalistische und jüngst auch kulturalistische Ansätze etabliert. Auf diese unterschiedlichen Ansätze kann im Rahmen dieser Arbeit nicht eingegangen werden (vgl. für einen Überblick Fehmel 2013a, Kapitel II). Hier muss der Hinweis genügen, dass – mehr noch als die theoretischen Ansätze je für sich – die Kombination ihrer jeweiligen Theoreme ein sehr umfassendes und detailliertes Bild der Entstehungsgründe und Entwicklungsfaktoren von Sozialstaatlichkeit von ihren Anfängen bis in die Gegenwart ergibt, und auf diese Weise den dauerhaft dynamischen Charakter eines jeden wohlfahrtsstaatlichen Arrangements unterstreicht. Es dürfte sich kaum eine historische Phase finden, in der in irgendeinem modernen makrosozialen Wohlfahrts-, also Umverteilungssystem zugleich alle gesellschaftlichen Interessen vollkommen befriedigt und alle damit verbundenen Kosten- und Umverteilungszumutungen von
I. Redistributionsmotive
allen akzeptiert worden wären. Wohlfahrtssysteme sind nicht nur Ergebnis, sondern auch beständiger Gegenstand von Aushandlungen und Anpassungen inhaltlicher wie personeller Art. Sie sind das ungeplante makro‐politökonomische Gesamtresultat einer Vielzahl separater, unkoordinierter politischer Aktionen, die jede für sich intentional waren oder sind (Lindbeck 1985, S. 327). Erst durch diese Betonung des Zusammenspiels von Notwendigkeiten, Institutionen und Interessen lässt sich detailliert die sich selbst vorantreibende Entwicklung sichtbar machen, die sich auf dem hohen Abstraktionsniveau, das Marshall einnimmt, retrospektiv als das große Narrativ vom »continuous progress« der Durchsetzung und Ausdehnung sozialer Rechte darstellt. Vor diesem Hintergrund spricht wenig dafür, dass die Gemeinschaftskonstruktion der Nation als Rahmen für Umverteilungsarrangements die historisch abschließende Phase redistributiver Entwicklung ist. Diese Entwicklung ist vielmehr offen für eine Epoche postnationaler sozialer Sicherung. Diesem Problem wende ich mich im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit zu. An dieser Stelle genügt folgende Feststellung: Was sich in diesem beschriebenen Wechselspiel aus Zug- und Gegenkräften, in diesem Wechselspiel aus inhaltlicher und personeller Ausdehnung sozialer Rechte andeutet, erinnert nicht von ungefähr an das oben vorgetragene Simmel’sche Zyklusmodell der dynamisch‐relativen Annäherung und Entfernung sozialer Gruppen. Es erinnert auch an den Befund einer zunehmend reflexiven und selbstreferentiellen Umverteilungsarchitektur in modernen Gesellschaften: Mit zunehmender Reife eines Systems von Wohlfahrtsinstitutionen und Umverteilungsarrangements sind Umverteilungsmaßnahmen immer häufiger Reaktionen auf vorherige Maßnahmen; Sozialpolitik dient zu einem anwachsenden Anteil der Bearbeitung von Folgeproblemen früherer sozialpolitischer Interventionen (vgl. Kaufmann 1998). Wenn und indem sich die Soziologie mit den historischen Entwicklungsverläufen der politisch‐sozialen Auseinandersetzungen um das spezifisch‐situative Verhältnis der inhaltlichen und personellen Reichweite von Umverteilungsarrangements wie auch mit den selbstreferentiellen Dynamiken und Verhältnissen von Sozi-
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alpolitiken erster und zweiter Ordnung beschäftigt, nimmt sie eine relationale Perspektive im hier vertretenen Sinne ein.
c. Wechselwirkungen von Umverteilungsbeziehungen Neben der oft thematisierten konfliktreichen Relation der Ziele und Motive von Umverteilung (a) wie auch der in Anlehnung an Marshall häufig nachgezeichneten diachronen Relation zwischen aktuellen und vorausgehenden Strukturen von Umverteilungsarrangements (b) sind auch und vor allem die (seltener untersuchten) synchronen Relationen und Wechselwirkungen zwischen Akteuren und Gruppen von Akteuren im Kontext von Umverteilungsarrangements von Belang. In Simmels relationaler Soziologie sind Wechselwirkungen ein zentrales theoretisches Konzept zur Beschreibung moderner, komplexer Formen der Vergesellschaftung (Simmel 1989 [1890]; 1992 [1894]). Angesichts der mit fortschreitender gesellschaftlicher Modernisierung zunehmenden sozialen Komplexität wird es seiner Überzeugung nach immer schwieriger, soziale Tatbestände ausschließlich kausal, d.h. in einer diachronen Perspektive von zeitlich aufeinander folgenden Ursache-WirkungsZusammenhängen, zu erfassen und zu erklären. Stattdessen gewinnt mit der hohen Entwicklungsdynamik moderner Gesellschaften ein Erklärungsmodell an Bedeutung, das mit Hilfe der analytischen Querschnittbildung (Kron et al. 2013, S. 83) im Prinzip der Gleichzeitigkeit, der Relativität und der Wechselwirkung das »Zugleich konträrer Kategorien, Urteile und Handlungsimpulse« (Junge 2000, S. 45; Hervorh.: T.F.) innerhalb eines definierten Raumes zum Ausdruck bringt.6 Unter diese komplexen Konstellationen der Synchronie von Haupt-, Neben- und Gegenströmungen, von vermeintlich charakteristischen Bewegungen und scheinbar weniger wesentlichen Gegenbewegungen, Abweichungen und seitwärts liegenden Ereignissen (Simmel 1989 [1892], S. 397f.) fallen auch diverse Formen der Beziehungen und Relationen zwischen 6 Der Begriff der Relativität schließt explizit an dessen erkenntnistheoretische Bedeutung der Gleichzeitigkeit in einem abgegrenzten Raum-Zeit-System an.
I. Redistributionsmotive
Akteuren, die sich synchron in unterschiedlicher Intensität gegenseitig beeinflussen. Da dieser Auffassung folgend letztlich alles mit allem in Beziehung steht, bedarf die Gesellschaftsanalyse der Konzentration auf solche Relationen, die sich angesichts ihrer Regelmäßigkeit – und zwar der Regelmäßigkeit im zweifachen Sinne der Verhaltensvorgaben und Verhaltenswiederholungen – als »typisch« erweisen (Simmel (1989 [1890], S. 130). Zu diesen typischen prozessualen Formen der simultanen Relation zwischen Akteuren gehören auch Umverteilungsbeziehungen. Die für eine relationale Soziologie sozialer Sicherheit grundlegende These lautet: Umverteilung ist eine Form der Vergesellschaftung. In Umverteilung manifestiert sich Gesellschaft als »ein Netzwerk hinund hergehender Rechte und Pflichten, […] als eine Gegenseitigkeit von moralisch, juristisch, konventionell […] berechtigten Wesen«, deren Anrecht »für die anderen Pflichten bedeutet« (Simmel 1993 [1906], S. 24, H.i.O.). Durch Umverteilung treten Akteure in eine spezifische Beziehung zueinander, eben in eine Umverteilungsbeziehung. Kern dieser Umverteilungsbeziehungen sind die Ansprüche der Einen an die Anderen und die Reaktionen der Anderen auf die Ansprüche der Einen. In modernen Gesellschaften sind diese Umverteilungsbeziehungen zu einem großen Teil defamilialisiert und delokalisiert, also hochgradig anonymisiert, verrechtlicht und über eigens dafür entwickelte Institutionen vermittelt. Aus dieser Verrechtlichung und Institutionalisierung von Umverteilungsbeziehungen ergibt sich zugleich deren Entsubjektivierung: Umverteilungsstrukturen bleiben auch dann bestehen, wenn einzelne Akteure aus dieser Struktur aus- und neue in sie eintreten. Sie entfalten auf diese Weise eine verhaltensregulierende Kraft, die dem Konzept der Synchronie und Wechselwirkung entsprechend über den Kreis der Redistributionsberechtigten weit hinausgeht. Die Konsequenz all dessen ist, dass die analytische Beschäftigung mit Umverteilung nicht nur die Perspektive derjenigen berücksichtigen kann, die Umverteilung begehren, sondern auch – und vor allem – die Perspektiven derjenigen Akteure, an die diese Umverteilungsforderungen herangetragen werden. Verschiebt sich der analytische Ausgangspunkt der Beschäftigung mit Umverteilung weg von den Begünstigten und hin
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zu jenen, die die mit Umverteilung verbundenen Lasten zu tragen oder sie zu organisieren haben, dann sind Fragen nach den Umverteilungsmotiven nicht notwendigerweise anders zu stellen, gewiss aber anders zu beantworten. Erst durch diese Perspektivenerweiterung wird der Blick frei für den Umstand, dass es in aller Regel nicht die potentiellen Berechtigten sind, die über die Definitionsmacht der durch Umverteilung zu bearbeitenden Bedürfnisse verfügen. Hält man an Sicherheit (bzw. Statussicherung) und an Gleichheit (bzw. Angleichung) als den zwei tragenden Redistributionsmotiven in modernen Gesellschaften fest, dann ist durch den Perspektivwechsel nun zu fragen, welche Bedeutung Umverteilung für die dazu Verpflichteten hat und mit welcher Erwartungshaltung sie sich auf Umverteilungsbeziehungen einlassen, die vordergründig zu Belastungen führen. Die Frage so zu stellen heißt, Umverteilung nun nicht mehr primär als Zweck zu konzeptualisieren, sondern als Mittel zur Erreichung anderer Zwecke. Spiegelbildlich zum zunehmenden Grad der Komplexität, Verrechtlichung und Anonymität von Umverteilungsbeziehungen sinkt die Wahrscheinlichkeit, die freiwillige oder jedenfalls akzeptierte Teilnahme der Verpflichteten an diesen Umverteilungsbeziehungen plausibel mit Motiven des subjektiven Altruismus oder des jenseitsbezogenen erlösungsorientierten Seelenheils erklären zu können. Bereits Simmel (1993 [1906], S. 28) hat zu einem noch sehr frühen Stadium der Institutionalisierung von Wohlfahrtsstaatlichkeit darauf hingewiesen, dass die Stelle des vormodernen individuellen gottgefälligen Verhaltens als Motiv von diesseitigen Motiven eingenommen wird, sobald Umverteilung eine generalisierte gesamtgesellschaftliche Aufgabe wird. Die Bereitschaft zur Umverteilung zu eigenen Lasten oder jedenfalls das weitgehende Ausbleiben von Widerstand dagegen erklärt sich in der Moderne funktionalistisch geprägt durch ein generalisiertes Interesse am Wohl und an der Selbsterhaltung der Gesellschaft selbst (Simmel 1993 [1906], S. 36). Unterstützung durch Umverteilung wird gewährt, um größeren Schaden von der Gesellschaft abzuhalten, der sich einstellen könnte, würde die Unterstützung verweigert (Simmel 1993 [1906], S. 30). Zwar hatte Simmel zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei gesellschaftsschädlichem Handeln vor allem noch kriminelles Ver-
I. Redistributionsmotive
halten im Blick, das durch Unterstützung vermieden werden könne. Aber unverkennbar wird hier bereits eine Spur gelegt zu späteren Argumentationsstufen, die etwa die allokativen Wirkungen und den wirtschaftlichen Wert von Umverteilung in Marktgesellschaften (vgl. Briefs 1930; Vobruba 1989; Kubon-Gilke 2006; Fehmel 2013b), ihre Rolle bei der politischen Stabilisierung von Gesellschaften (z.B. Flora, Heidenheimer 1981) oder ganz allgemein ihre Bedeutung für die Ausdifferenzierung von gesellschaftlichen Teilsystemen (vgl. Huf 1998) in den Vordergrund stellen. Gemeinsam ist diesen Argumentationsfiguren eine Sichtweise auf Umverteilung, deren Endstation zwar die wie und warum auch immer Berechtigten sind, aber deren »Endzweck […] in dem Schutz und der Förderung des Gemeinwesens liegt« (Simmel 1993 [1906], S. 29, H.i.O.). Wenn und indem sich die Soziologie sozialer Sicherung mit den durch Umverteilungsbeziehungen entstehenden synchronen Wechselwirkungen zwischen Akteuren, mit den Intentionen aller Redistributionsbeteiligten wie auch ggf. mit den transintensionalen Effekten von Umverteilung beschäftigt, nimmt sie eine relationale Perspektive im hier vertretenen Sinne ein.
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II. Redistributionsmechanismen
Was Simmel und Marshall bis heute lesenswert und für sozialpolitische Gestaltung wie auch für deren sozialwissenschaftliche Analyse so fruchtbar macht, ist die Betonung von Umverteilung als Vergesellschaftungsform der Moderne und die Grundkonzeption sozialer Rechte im Sinne einklagbarer sozialer Anerkennungs- und Anspruchsbeziehungen als Grundlage individueller wirtschaftlicher und politischer Freiheit. Beide konnten zeigen, dass und warum im Zuge der Modernisierung von Gesellschaften Umverteilung an Bedeutung gewinnt und entsprechende Institutionen geschaffen werden. Sowohl beider Auffassung von sozialer Sicherung als Prozess als auch die – von Simmel erstmals entworfene und von Marshall weiterentwickelte – Konzeption sozialer Rechte und auch die damit einhergehenden Wechselwirkungen sind Grundbausteine einer jeden Soziologie der sozialen Sicherung. Gleichwohl enden an dieser Stelle die Möglichkeiten, in direktem Bezug auf die Konzeptionen Simmels und Marshalls Umverteilungsarrangements zu erklären. Beide haben aus heutiger Sicht konzeptionelle Leerstellen. Sie übersehen in ihrer jeweiligen Diskussion des Umstandes, dass und warum in modernen Gesellschaften zwischen (Gruppen von) Akteuren umverteilt wird, die nicht minder bedeutsamen Fragen, wie und nach welchen Prinzipien diese Umverteilung erfolgt. Simmel und Marshall (und seither viele andere in deren Gefolge) widmen sich also vor allem und wie gezeigt den Redistributionsmotiven, die normativen Umverteilungsforderungen und faktischen Umverteilungsarrangements zugrunde liegen. Aufbauend auf diesen Motiven – und zuweilen auch in namentlicher Anlehnung oder Abgrenzung zu Simmel und
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Marshall – sollen im folgenden Kapitel aber weitergehend auch grundlegende Redistributionsmechanismen herausgearbeitet und darauf aufbauend zukünftige Schwerpunkte der analytischen Beschäftigung mit Redistributionssystemen identifiziert werden. Soziale Sicherung dient der Kompensation fehlender eigener Ressourcen; sie ist damit letztlich immer materielle Umverteilung. Materielle Umverteilung ist ausgesprochen voraussetzungsvoll. Sie ist das Ergebnis einer Vielzahl von – in letzter Konsequenz und im weitersten Sinne: politischen – Entscheidungen (Walzer 1992). Diese Entscheidungen betreffen die Reichweite, die interne Differenzierung und Intensität, den dominanten Modus und die dominante Arena materieller Umverteilung (Fehmel 2013a): Die »politische Entscheidung« über die Reichweite materieller Umverteilung dient der Definition einer Gemeinschaft, der Bestimmung von umverteilungsrelevanten Gruppengrenzen und der Festlegung der politischen Zugehörigkeit; analytisch geht es hier also um die Frage nach der Entstehung und dem Wandel politischer Wir-Konstruktionen. »Entscheidungen« zur internen Differenzierung und zur Intensität materieller Umverteilung betreffen die Definition von umverteilungsrelevanten Bedürfnissen und die Festlegung funktionaler Zugehörigkeiten; analytisch geht es damit um die Frage nach der Entstehung und dem Wandel funktionaler/soziostruktureller Wir-Konstruktionen und darauf basierender Bedürfniskonstruktionen und sozialer Rechte. Mit der Entscheidung über den dominanten Modus der Verteilung werden Verteilungskriterien festgelegt und umverteilungsrelevante, anerkennenswürdige Leistungen bestimmt; analytisch sind hier also Fragen der Legitimität und Akzeptabilität von Redistributionsregeln relevant. Die Entscheidung über die dominante Arena der Wohlfahrtsproduktion schließlich dient der Bestimmung der Zuständigkeiten von Wohlfahrtsarenen und hier insbesondere der Bestimmung der sozialpolitischen Rolle staatlicher Akteure; analytisch stellt sich hier also die Frage nach der Entstehung und dem Wandel herrschender Arrangements zwischen den Arenen der Wohlfahrtsproduktion.
II. Redistributionsmechanismen
Ich bezeichne diese Entscheidungen als politisch einerseits, weil sie soziale Relationen zwischen Akteuren strukturieren, indem mit ihnen Macht- und Herrschaftsverhältnisse (Weber 2010 [1922], S. 1043) bzw. Beziehungen der institutionalisierten sozialen Über- und Unterordnung (Simmel 1993 [1907]) konstituiert werden. Ich bezeichne diese Entscheidungen als politisch andererseits, weil ihre Gegenstände in modernen Gesellschaften politisierbar sind, also auf der Überzeugung beruhen, dass soziale Verhältnisse im Allgemeinen und Umverteilungsbeziehungen im Besonderen gestaltbar und modifizierbar sind und dass dafür konkurrierende Möglichkeiten zur Verfügung stehen, die sich aus konkurrierenden Ideenkonstruktionen, Wertekomplexen und darauf beruhenden unterschiedlichen Einstellungen zu den beiden Redistributionsmotiven »Sicherheit« und »Gleichheit« speisen. Das heißt, die sozialen Positionsgefüge als Ausdruck von Wechselwirkungen durch Redistribution sind prozessuale Sequenzen; sie sind sowohl Ergebnis vorheriger als auch Ausgangspunkt weitergehender Macht-, Verteilungs- und Anerkennungskonflikte, insgesamt also: politisch umstritten. Die soziologische Analyse der Dominanz einer bestimmten Entscheidungslösung muss demnach stets vor dem Hintergrund möglicher Alternativen, Anpassungen und Weiterentwicklungen erfolgen.
1. Die Reichweite der Umverteilung Eine erste, unverzichtbare Entscheidung betrifft die Reichweite der Umverteilung. Umverteilung setzt die Definition einer Gemeinschaft voraus, innerhalb derer umverteilt werden soll. Mit Ausnahme der akuten Nothilfe dem absolut Fremden gegenüber vollzieht sich Umverteilung ausschließlich unter den Mitgliedern einer Gemeinschaft. Mitgliedschaften bestehen jedoch nicht, sondern sie werden von der Gemeinschaft vergeben. Jeder Mitgliedschaft in und jeder Zugehörigkeit zu einer Gruppe geht eine Entscheidung dieser Gruppe voraus. Diese Entscheidung – wer gehört warum dazu und wer nicht? – ist politischer Art; ich nenne daher die Gruppe eine politische Gemeinschaft und die Mitgliedschaft, die sie gewährt, politische Zugehörigkeit.
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Zugehörigkeiten zu und Mitgliedschaften in politischen Gemeinschaften sind Kategorien der sozialen Relationierung. Soziale Akteure haben eine starke Neigung, diese Kategorien zu internalisieren und auf diese Weise die sich ergebenen Relationierungen zu reproduzieren. Zugehörigkeiten und die Mechanismen ihrer Gewährung werden üblicherweise kaum hinterfragt, sie gelten als gegeben und nahezu unveränderbar. Gleichwohl sind Zugehörigkeiten relationalistische und gradualistische Sozialbeziehungen im oben beschriebenen diachronen und synchronen Sinne. Sie haben grundsätzlich Beharrungs- wie auch Veränderungspotential; und ob Mitgliedschaftszuschreibungen durch soziales Handeln stillschweigend reproduziert oder ob sie unbewusst oder intendiert an sich ändernde Bedingungen angepasst werden, ist eine empirische Frage. Zu deren Beantwortung müssen genau diese beiden Faktoren – regelmäßiges soziales Handeln und die Kontextbedingungen der (symbolischen) Reproduktion der politischen Gemeinschaft – in den Blick genommen werden. Umverteilungsarrangements als Form regelmäßigen sozialen Handelns spielen in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle, nicht nur im Prozess der kollektiven Vergewisserung und der Etablierung von Gruppenkonstruktionen, sondern auch und stärker noch als Ausdruck bestehender Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung und als Mittel ihrer Reproduktion (Simmel 1989 [1890], S. 152).
a. Homogenitätsbehauptung, Identitätskonstruktion und Umverteilung Grundlage einer jeden Vergemeinschaftung ist postulierte Homogenität der Gemeinschaftsmitglieder in mindestens einer differenzierungsfähigen Dimension. Diese Homogenität, also die Behauptung übereinstimmender Eigenschaften von Akteuren in der als ent-, weil unterscheidend definierten Dimension, wird zum Abgrenzungsmerkmal gegenüber anderen (Gruppen von) Akteuren. Glückt die Durchsetzung dieser Definition, ergibt sich aus der postulierten Homogenität kollektive Identität, d.h. die Mitglieder der Gemeinschaft erachten die postulierte Dimension der Ähnlichkeit oder gar Gleichheit als konstitutiv
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für ihre Zusammengehörigkeit. Dieses Prinzip der Homogenitäts- und Identitätskonstruktion mit Internalisierungschance findet sich auf allen Ebenen des Sozialen: das identitätsstiftende Element der emotionalen Verbundenheit kann so genannte Blutsverwandschaft ebenso sein wie gleicher sozialer Status oder die Verortung im gleichen territorialen Lebensraum. Nicht selten ergibt sich kollektive Identität aus komplexen Kombinationen solcher Elemente. Immer aber ist kollektive Identität das Ergebnis sozialen Vergleichens, Kategorisierens und Akzentuierens, und damit insgesamt das Ergebnis sozialer Konstruktion (Tajfel 1978). Diese Konstruktion kann sich durch Internalisierung intersubjektiv und intergenerational verfestigen (Nassehi 1995). Identitätskonstruktionen und -inszenierungen sind also insofern diachron‐relational, als sie gegenwärtige und absehbare zukünftige Herausforderungen der Gruppe narrativ mit vergangenen gelungenen, d.h. identitätsstiftenden Zusammengehörigkeitswahrnehmungen verknüpfen (Eder 2009). Und sie sind synchron‐relational, weil sie auf diese Weise soziale Positionsgefüge reproduzieren und zugleich legitimieren – und zwar bezogen auf die Mitglieder wie auf die Nicht-Mitglieder der Gemeinschaft. Das starke Beharrungsvermögen kollektiver Identitäten darf gleichwohl nicht den Blick auf ihre Kontingenz und ihre Fragilität verstellen. Identitätskonstruktionen und -inszenierungen müssen immer auch bis zu einem gewissen Grad flexibel und prozesshaft sein, um neue kollektive Herausforderungen mit früheren Homogenitätsbehauptungen kompatibel zu halten. Zudem gelingt die Aufrechterhaltung von Konstruktionen kollektiver Identität ggf. nur um den Preis hoher Kosten, wie sie etwa aktive Homogenitätsinszenierungen nach innen und Abgrenzungen nach außen mit sich bringen (Eder 2011). Damit sind die beiden sozialen Funktionen von Identitätskonstruktion und -inszenierung angesprochen. Nach innen dienen diese Homogenitäts- und Identitätskonstruktionen der Vergewisserung der sozialen Zusammengehörigkeit und Verbundenheit nicht per
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se, sondern als Basis alltäglicher sozialer Praktiken.1 Politische Gemeinschaften müssen sich beständig reproduzieren. Dafür bedarf es stabiler und entsubjektivierter Kooperationsbeziehungen zwischen den Mitgliedern. An die Mitgliedschaft in einer politischen Gemeinschaft sind also Erwartungen der Verhaltenshomogenität geknüpft; in jeder Gemeinschaft existieren Kooperations- und Konformitätsnormen, wie sie in Kapitel I beschrieben wurden. Diese Normenbündel bedürfen einer Legitimitätsgrundlage, und hierfür bieten sich Muster kollektiver Identität an. Aus Identitätskonstruktionen lassen sich also nicht nur gemeinschaftliche Zugehörigkeiten ableiten, sondern auch gemeinschaftliche Loyalitätserwartungen und Verhaltensnormen; sie sind auf diese Weise die Bezugspunkte, mit denen sich die kontextuelle Angemessenheit sozialen Handelns behaupten und überprüfen lässt. Besonders wichtig wird soziale Angemessenheit als eine wesentliche Voraussetzung für den individuellen Zugang zu Umverteilungsarrangements. Damit schließt sich der Kreis: Jedem Umverteilungsarrangement geht die zumindest implizite Definition einer Gemeinschaft voraus, innerhalb derer umverteilt werden soll. Diese Gemeinschaft benötigt ihrerseits eine kollektive initiierende und prozessuale Selbstvergewisserung in Form einer Homogenitätsbehauptung und darauf aufbauender Identitätsinszenierungen. Ganz grundsätzlich heißt das: gleichviel auf welchem sozialen Niveau und auf welchen konkreten instrumentalisierten Merkmalen beruhend – Umverteilung bedarf einer Identitätskonstruktion. Zugleich wird auf diese Weise ein Umverteilungsarrangement im Zuge seiner Institutionalisierung und Internalisierung selbst auch zu einem Element des Bündels gemeinschaftlicher Verhaltenserwartungen. Berechtigte Ansprüche an andere Mitglieder der Gemeinschaft können nur solche sein und sich nur aus solchen Verhaltensweisen ergeben, die den gesellschaftlichen Normen 1 Eine noch bedeutsamere Rolle spielen Identitätskonstruktionen als Fundament der Bewältigung außeralltäglicher Herausforderungen. Diese Identitätsfunktion soll hier aber nicht weiter verfolgt werden, da es mir in meiner Perspektive auf institutionalisierte Umverteilungsarrangements um die Bedeutung von regelmäßiger, und als solcher identitätsstiftender Umverteilung im sozialen Alltag geht.
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der Umverteilungsgemeinschaft nicht widersprechen (Titmuss 1958, S. 39f.). Auf diese Weise haben Umverteilungsarrangements, einmal institutionalisiert und internalisiert, verhaltensnormierende (Lessenich 2008, S. 26ff.) und damit in letzter Konsequenz homogenisierende oder jedenfalls homogenitätsinszenierende Wirkung. Umverteilung begünstigt eine Identitätskonstruktion: Formen und Mechanismen der (Um-)Verteilung des Wohlstandes einer Gemeinschaft entwickeln im Zuge ihrer Institutionalisierung und Internalisierung Akzentuierungspotential, d.h. sie werden von den Mitgliedern der Gemeinschaft als relevante Kategorie der Unterscheidung von anderen Gemeinschaften konstruiert (Tajfel 1978). Die außenorientierte Funktion von Identitätskonstruktionen besteht in ihrem Signalcharakter (Barth 1969). Inszenierte Identitäten zeigen nicht nur Zugehörigkeitsgrenzen an, sondern auch, welche Erwartungen an Akteure gestellt werden, die eine Mitgliedschaft in der Gemeinschaft begehren (Kießling 2015). Mitgliedschaftsbeschränkungen haben den Zweck, den Wohlstand und die Kultur einer Gruppe oder Gemeinschaft zu bewahren. Entsprechend ist die Entscheidung der Gruppe über die Aufnahme in ihre Gemeinschaft (soweit sie nicht durch Geburt im ius sanguinis oder ius soli gleichsam naturalisiert ist) abhängig vom Grad der Ähnlichkeit der Nichtmitglieder mit den zugehörigkeits- und umverteilungsrelevanten Eigenschaften der Mitglieder. Deren Entscheidung basiert also auf den Normen und Werten der eigenen Gemeinschaft und auf ihren Wissensbeständen die Anpassungsfähigkeit, Ressourcenausstattung und Kooperationsbereitschaft der Fremden betreffend, die eine Mitgliedschaft in der Gemeinschaft begehren, ihr also politisch zugehörig sein wollen.
b. Staat und Bürger Durch ihr Bemühen, ihre Homogenität zu bewahren und sich von anderen Gruppen abzugrenzen wie auch durch ihr Recht, Mitgliedschaften zu vergeben und zu verweigern, sind Gemeinschaften grundsätzlich exklusiv. Exklusionsgrad, Gemeinschaftsumfang und Umverteilungsreichweite sind jedoch keine statischen Größen. So lässt sich der
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Ausbau staatlicher Institutionen sozialer Sicherung im 19. und frühen 20. Jahrhundert in Europa als Prozess der wechselseitigen Öffnung lokaler Umverteilungsgemeinschaften für Fremde betrachten, also als Re-Definition von Mitgliedschaft und politischer Zugehörigkeit auf höherer Ebene (in diesem Sinne, wenn auch mit anderen Begrifflichkeiten Polanyi 2007 [1957]). Erforderlich wurde diese Re-Definition durch die zunehmende räumliche Mobilität von Individuen als Ausdruck des fortschreitenden Übergangs von segmentär zu funktional differenzierten Gesellschaften (Hahn 1993). Die aus funktionaler Differenzierung erwachsende Heterogenisierung innerhalb von Gemeinschaften führte zu zunehmender Homogenität zwischen solchen Gemeinschaften (Simmel 1992 [1908]). Dadurch verwischten Gruppengrenzen, es entwickelten sich neue soziale Relationen und Wechselwirkungen, die vielfach über die bestehenden Gruppengrenzen hinausreichten, etablierte Homogenitätsbehauptungen unglaubwürdig werden ließen und einen »Prozeß der Skalenvergrößerung« (van der Loo; van Reijen 1992, S. 116) in Gang setzten. Dieser Prozess der Skalenvergrößerung und der Ablösung segmentärer durch funktionale Differenzierung »lockert das Band mit den Nächsten, um dafür ein neues – reales und ideales – zu den Entfernteren zu spinnen.« (Simmel 1992 [1908], S. 795) Ersetzt man dieses Bild des Bandes zwischen Akteuren mit dem Begriff der sozialen Anerkennungs- und Anspruchsbeziehungen, die sich aus der von Marshall ausbuchstabierten Durchsetzung bürgerlicher, politischer und sozialer Rechte ergeben, dann wird klar, dass im Zuge gesellschaftlicher Modernisierung nicht nur die etablierten Grenzen politischer Gemeinschaften und die darüber definierten politischen Zugehörigkeiten infrage gestellt wurden, sondern zugleich auch die Reichweiten bislang bewährter Umverteilungsmuster. Im Verlaufe dieser Entwicklungen wurden aber nicht nur viele segmentär geprägte Homogenitätsbehauptungen obsolet oder zumindest für die regelmäßige soziale Praxis irrelevant. Mit der Heterogenisierung von Gesellschaften, der Pluralisierung von Zugehörigkeiten und der Zunahme sozialer Mobilität wurde es auch immer schwerer, überhaupt dauerhafte Homogenitätsdimensionen zu finden, die sich als identitätsstiftende Differenzmerkmale eigneten. Gleichwohl bedurfte
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es der sozialen Grenzziehung, um dem grundlegenden exklusiven Vergemeinschaftungsbedürfnis sozialer Akteure ebenso Rechnung zu tragen wie den Machtansprüchen politischer Akteure. Als Füllmaterial für diese Leerstelle bot sich eine politisch‐soziale Instanz an, die sich im Zuge der Modernisierung von Gesellschaft wenn nicht herausgebildet, so doch professionalisiert hatte und die zum politischen und politisch gesetzten Handlungsrahmen für soziales Handeln avancierte, das nicht mehr ausschließlich in kleinformatigen lokalen oder segmentären Rahmen gestaltbar war. Diese Instanz war der Staat (Polanyi 2007 [1957]). Dessen Bedeutungszuwachs im Kontext des Übergangs von segmentärer zu funktionaler gesellschaftlicher Differenzierung erklärt sich nicht zuletzt mit der damit einhergehenden Pluralisierung von Interessen und der sich wiederum daraus ergebenden Zunahme von Interessenkonflikten. Deren institutionalisierte Austragung konnte nur in der Verantwortung einer Regulierungsinstanz liegen, die in der Lage war, gleichsam oberhalb der vielfältigen gesellschaftlichen funktionalen Subsysteme und subsystemübergreifend die Anerkennung gemeinsamer Regeln der Konfliktaustragung durchzusetzen. Mead (1968) macht darauf aufmerksam, dass diese (zunächst staatlich erzwungene) Anerkennung gemeinsamer Regeln und Entscheidungsverfahren durch soziale Akteure auch die Chance in sich trägt, über kurz oder lang zu einem Selbstdefinitionsmerkmal einer Subsystemgrenzen übergreifenden sozialen Gemeinschaft zu werden (vgl. dazu auch Heater 2004). Dass in diesem Kontext der staatlich institutionalisierten Austragung von Interessenkonflikten auch Mechanismen des Interessenausgleichs – sprich: Mechanismen der Umverteilung – zunehmend an Bedeutung gewannen und auf diese Weise in hohem Maße zur identitätsstiftenden Integration funktional zunehmend differenzierter Gesellschaften beitrugen, liegt auf der Hand. Die Synonymisierung von Staat und Gesellschaft korrespondiert mit der Durchsetzung einer Homogenitätsbehauptung, die die Figur des Bürgers in ihr Zentrum stellt. Das Werk Simmels ist durchzogen von dieser Ambivalenzbeschreibung funktionaler Differenzierung in der Moderne, die im wechselseitigen Drang nach Hetero- und Ho-
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mogenisierung und im Bedürfnis zur Vereinheitlichung der Pluralität zum Ausdruck kommt: »So wird z.B. ein durchgreifendes und vielgliedriges Rechtssystem da heranwachsen, wo eine starke Differenzierung der Persönlichkeiten nach Stellung, Beruf und Vermögen eintritt und die möglichen Kombinationen unter diesen eine Fülle von Fragen schaffen, denen primitive Rechtsbestimmungen nicht mehr genügen können; trotzdem wird immer noch eine gewisse Einheitlichkeit aller dieser Personen vorhanden sein müssen, damit dieses Recht wirklich allseits befriedige und dem moralischen Bewußtsein der Einzelnen entspreche.« (Simmel 1989 [1890], S. 227) Diese für die Akzeptanz eines solchen Systems notwendige »gewisse Einheitlichkeit aller Personen« rationalisiert sich für Simmel in der Konzeption des Staatsbürgers als einem politischen Akteur im Rahmen konstitutioneller Normen und Institutionen; und für eine im evolutionären Sinne höhere kulturelle Entwicklungsstufe einer Gesellschaft steht aus seiner Sicht gerade nicht nur die höhere »Zahl der verschiedenen Kreise«, denen ein Individuum zugehört (Simmel 1989 [1890], S. 239), sondern auch die gesellschaftliche Fähigkeit zur »Vereinigung des sachlich Homogenen aus heterogenen Kreisen« (Simmel 1989 [1890], S. 253). Für eine relationale Soziologie der Umverteilung ist diese Konzeption der sozialen Homogenisierung des Heterogenen zentral. Denn für die Konzeption konstitutiv ist die Annahme, dass einerseits Homogenität ähnlich wie Ungleichheit kein gegebenes, sondern ein konstruiertes und konstruierbares Phänomen ist und dass andererseits diese konstruierte Homogenität in Beziehung steht zu – und nicht zu verstehen ist ohne die Berücksichtigung von – Prozessen der sozialen Heterogenisierung. In sozialer Sicherung und materieller Umverteilung als spezifische Formen der sozialen Relationierung sieht Simmel die praktische Anwendung der Formel der aktiven Homogenisierung des Heterogenen: »[D]ie Homogenität vieler Individuen […] entsteht in der Regel nur durch deren Wechselwirkungen, mit ihrem Erfolge der Anähnlichung, der identischen Beeinflussung, der einheitlichen Zweck-
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setzungen« (Simmel 1993 [1908], S. 361). Wo immer er in seinem für diese Fragen wohl relevantesten Text »Zur Soziologie der Armut« die Perspektive der Leistungsempfänger einnimmt, betont er deren formale Gleichheit mit den Leistungsträgern, jene Gleichheit, die im Status des Staatsbürgers besteht (Simmel 1993 [1906], v.a. S. 33, 35, 47). Und den modernen Staat selbst betrachtet er im Ergebnis einer langen Entwicklungsgeschichte als den Rahmen dieser Homogenisierung des Heterogenen.
c. Staat und Nation Auf den ersten Blick ähnelt diese Simmelsche Betonung der Figur des Bürgers und die Betonung des Staates als Identitätsobjekt des Bürgers im Kontext sozialer Sicherung stark der Marshall’schen Darstellung sich ausdifferenzierender Rechte. Gleichwohl besteht zwischen beiden ein bedeutender Unterschied, der zu unterschiedlicher Brauchbarkeit der Konzeptionen im hier erörterten Themenbereich postnationaler sozialer Sicherung führt. Simmel vertritt durchgehend einen rein instrumentellen Staatsbegriff, der zwar auf einer Linie mit dem bekannten Verständnis Max Webers vom Staat als gewaltmonopolistischem Herrschafts- und Verwaltungsverband liegt (Weber 2010 [1922], S. 1042-1062), jedoch weitgehend ohne dessen Ankopplung an Fragen der Herrschafts- und Verwaltungslegitimität auskommt. Für Simmel ist der moderne Staat nichts anderes als die zentrale Verwaltungsinstanz, derer eine zunehmend funktional differenzierte Gesellschaft bedarf (vgl. z.B. Simmel 1989 [1890], S. 247), und allein daran anknüpfend sieht er in ihm auch eine vergemeinschaftende Inklusionsinstanz. Der Staat ist der weitestmögliche Rechtskreis zur Rahmung der Homogenisierung des Heterogenen (Simmel 1993 [1906], S. 37) und die staatliche Gemeinschaft dementsprechend ein »Maximum von Zusammenschluss« (Simmel 1989 [1890], S. 189). Denkt man diese Argumentation weiter und berücksichtigt die Pluralität und Parallelität dieser Entwicklung – erkennbar im Nebeneinander von Staaten –, dann stellt sich der Prozess der parallelen Staatsprofessionalisierung also vor allem als ein Prozess der auf funktionale Differenzierung reagierenden
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segmentären Differenzierung dar: Die Herausbildung des modernen Staates ist letztlich ein Reflex auf funktionale Differenzierung; er ist der Versuch, die modernisierungsinduziert zunehmend inkongruenten Reichweiten der Rechtsräume bürgerlicher, politischer und sozialer Rechte wieder einander anzugleichen. Wobbe (2009) macht darauf aufmerksam, dass dieser von allen Herrschaftsreichweite- und -rechtfertigungsfragen freie und in diesem Sinne rein instrumentelle Staatsbegriff Simmels gradualistisch, weil nach oben wie nach unten offen ist. Aus ihm allein lassen sich also weder soziale und territoriale Grenzziehungen ableiten noch irgendwie darauf bezogene Inklusionsund Identifikationskonstruktionen. Es ist diese Offenheit und Anschlussfähigkeit an nahezu jede Form der verwalteten politischen Vergemeinschaftung, die den Unterschied zu Marshalls Evolutionsgeschichte sozialer Rechte markiert – eine Geschichte, die sich nicht lediglich im Staat, sondern im Nationalstaat vollzieht. Marshall sieht wie Simmel im Staat die zentrale Instanz zur Aufrechterhaltung sozialer Ordnung. Und wie Simmel erkennt auch Marshall im Staat den Institutionenkomplex, dem die Wahrung jener formalen Gleichheit der Bürger obliegt, die zugleich Grundlage der Akzeptanz wie der Bekämpfung der materiellen Ungleichheiten zwischen ihnen ist. »[T]he inequality of the social class system may be acceptable provided the equality of citizenship is recognized.« (Marshall 1977 [1949], S. 76) Stärker als Simmel Ende des 19. Jahrhunderts kann Marshall aber in der Mitte des 20. Jahrhunderts erfahrungsgesättigt zur Kenntnis nehmen, dass ein Staat, der über zahlreiche soziale Unterschiede, Ungleichheiten und Konfliktkonstellationen hinweg einen überwölbenden Verrechtlichungs- und Verwaltungsrahmen spannt, mit der Homogenitätsbehauptung des Staatsbürgers allein nicht hinreichend legitimiert zu sein scheint. Es bedarf nicht nur der Konstruktion einer rational begründeten Zugehörigkeitsgemeinschaft, in der die lokalen und funktionalen Unterschiede nachrangig werden bzw. in der die damit verbundenen sozialen Ungleichheiten und Konflikte nicht in politische Instabilitäten umschlagen, weil sie in geregelter Form ausgeglichen werden. Es bedarf auch eines weitgehenden Einverständnisses über die Kriterien, anhand derer die Zugehörigkeit zu dieser
II. Redistributionsmechanismen
Gemeinschaft emotional bestimmt werden kann (MacKenzie 1978) und anhand derer sich die Mitglieder der sich ausdifferenzierenden Gesellschaft schnell, unaufwändig und trotz ihrer funktionalen Ungleichheit als Gleiche erkennen. Es bedarf angesichts der Verunsicherungen, die die Modernisierung, die funktionale Ausdifferenzierung und der beschleunigte soziale Wandel von Gesellschaften seit dem 19. Jahrhundert mit sich bringen und angesichts der sozialen Konflikte, die sich dabei ergeben, einer kompensierenden Kollektivimagination und Gemeinschaftsvorstellung mit Vergewisserungsfunktion oder – mit dem Schlagwort Hahns (1993) – einer Konsensfiktion. Hierfür bot sich in einer bestimmten historischen Konstellation der Code der Nation als geeignetes Identifikationsangebot an (Anderson 1988). Die rationale, moderne Konstellation von Staat und Staatsbürger wird dadurch identitätsstiftend überformt durch die emotionale, antimoderne (Gellner 1991) oder zumindest modernitätskompensierende (Giesen 1991, S. 200) Konstellation von Nationalstaat und Nationalstaatsbürger. Nicht die Zugehörigkeit zu einem Staat, derer es ja viele gleichartige gibt, sondern die Zugehörigkeit zu einer als einzigartig vorgestellten Nation ist ein individueller Identitätsfaktor (de Levita 1971). In ihren lebensweltlichen Erfahrungshorizonten und Identitätsstrukturen erscheint den Bürgern der Staat als Nationalstaat; nur als solcher kann er »Heimat« bieten. In diesem Punkt ist Marshall bei der historischen Nachzeichnung der Durchsetzung sozialer Rechte ganz Kind seiner Zeit. Aus zahlreichen Passagen ergibt sich seine unhinterfragte Gleichsetzung von Gesellschaft, Staat und Nation. Zwar geht es darum, »to be accepted as full members of the society, that is, as citizens.« (Marshall 1977 [1949], S. 76) Der Staatsbürgerstatus (citizenship) seinerseits aber ist »by definition, national« (Marshall 1977 [1949], S. 79) und umverteilungsrelevante gesellschaftliche Loyalität speist sich wesentlich aus »the birth, not only of modern civil rights, but also of modern national consciousness.« (Marshall 1977 [1949], S. 101, Hervorhebung T.F.) Die nationale Dimension der Staatsbürgerschaft erachtete Marshall als selbstverständlich (Crowley 1997, S. 69). Diese Naturalisierung des Nationalen ist das Ergebnis eines Prozesses, der sich wechselseitig befeuerte aus dem Homogenitäts-
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und Identitätsbedürfnis der Bürger einer zunehmend – und zunehmend wahrnehmbar – heterogenen Gesellschaft einerseits und den Bemühungen der politischen Eliten, zum Zwecke ihrer politischen Ziele nationale Identität zu instrumentalisieren und zu inszenieren (Turner 2006, S. 227). Umverteilungsarrangements kommt in diesem Prozess der Naturalisierung und Festigung nationaler Identität und Zugehörigkeit zentrale Bedeutung zu. Denn abweichend von der rein instrumentellen Staatsauffassung Simmels kommt staatlichen Akteuren nicht nur die Rolle neutraler Sachwalter gesellschaftlicher Ordnung zu. Sie sind vielmehr Akteure mit je eigenen Interessen. Staatliche Sozialpolitik war von Beginn der modernen Staatswerdung an ein Instrument politischer Loyalitäts- und Herrschaftssicherung (Flora, Heidenheimer 1981). Als neue Arena der Wohlfahrtsproduktion übernahm der Staat vor allem die Aufgabe, die sozialen Sicherungsbedürfnisse einer sozialen Klasse zu befriedigen, die ebenfalls noch »neu« war: die Klasse der aus traditionalen Bindungen und Redistributionsstrukturen freigesetzten Lohnabhängigen. Das geschah jedoch keineswegs nur aus schierer Notwendigkeit angesichts der sozialen Lage der Arbeiter, sondern eben auch aus dem Interesse des Staates an stabilen politischen Verhältnissen. Sichtbar wird dies daran, dass der Staat zwar die Unzulänglichkeiten des sich entwickelnden Arbeitsmarktes als Verteilungsarena, nicht immer aber auch das Fehlen gemeinschaftlich organisierter Sicherungsinstanzen zu kompensieren hatte. Im Gegenteil: mit seiner sozialpolitischen Verantwortungsübernahme musste er sich zugleich auch oft gegen den Widerstand bereits bestehender, nicht‐staatlicher, gemeinschaftlich organisierter Sicherungsformen durchsetzen. Staatliches Motiv war also nicht nur sozialpolitische Bedürfnisbefriedigung, sondern auch soziale Kontrolle. Gleichviel, welchem Zweck sie folgte: Die Zurückdrängung vieler gemeinschaftlicher lokal‐segmentärer oder funktioneller Sicherungsformen mit je eigenen Homogenitätsbehauptungen konnte nur erfolgreich sein, wenn auch deren staatlichen Substitutionen mit einer wirksamen Homogenitätsbehauptung aufwarten konnten. Aus diesem Umstand erklärt sich die oft beschriebene Parallelität von
II. Redistributionsmechanismen
Sozialstaatsbildung und Nationalstaatsbildung. Sozialpolitik war ein zentraler Aspekt der Ausbildung und Festigung von Nationalstaaten. Der Nationalstaat wurde so nicht nur zum zentralen Bezugspunkt für politische Gruppenzugehörigkeiten, sondern auch zum generellen Handlungs- und Konfliktrahmen, in dem Fragen sozialer Sicherung verhandelt und Umverteilungsbeziehungen organisiert wurden. Die Nation wird von ihren Angehörigen als Risikogemeinschaft und als Gemeinschaft der politisch Gleichen wahrgenommen. Im Konstrukt des nationalen Sozial- oder Wohlfahrtsstaates überformt also die Vorstellung des homogenen Nationalen die Realität des heterogenen Sozialen (Chatterjee 2006, S. 36).2 Diese Ineinssetzung von Staat und Nation ist der bis heute dominante Modus von sozialer Abgrenzung und politischer Legitimation. Wenn es zutrifft, dass Institutionenbildung der Bewusstseinsbildung voraus geht und Institutionalisierungsprozesse neue ökonomisch‐politische Ordnungen mit normativem Gehalt und unmittelbarer Wirkung auf Verhaltensbedingungen schaffen (Lepsius 1997, S. 949), dann birgt die Ausweitung von Umverteilungsarrangements von lokalen oder aterritorialen Einheiten auf die staatliche Ebene und die Verknüpfung dieser staatlichen Institutionen mit der Idee der Nation die Chance in sich, dass Umverteilungsarrangements über kurz oder lang selbst zu Elementen des nationalen Bewusstseins im Sinne Marshalls, zu Akzentuierungsmedien und zu kollektiven Identitätsobjekten und zu ebenso tief internalisierten wie unaufwändig abrufbaren Kategorien werden in Situationen, in denen sich das Bedürfnis nach sozialer Vergewisserung und Abgrenzung Bahn bricht. Miller (2008, S. 59ff.) macht ausführlich darauf aufmerksam, wie nachhaltig sich die national‐staatliche
2 Auf die Rolle kriegerischer Auseinandersetzungen im Kontext der Nationalisierung moderner Gesellschaften wird hier nicht näher eingegangen. Es soll an dieser Stelle nur darauf hingewiesen werden, dass Kriege zwar identitätsstiftende Effekte haben (können), aber auch Zumutungen der betroffenen Bevölkerungen nach sich ziehen, denen ihrerseits wiederum nicht zuletzt mit sozialpolitischen Mitteln begegnet werden musste. Vgl. dazu Reidegeld (1989).
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Rahmung von Umverteilungssystemen als selbstverständlich zumindest überall dort durchsetzt, wo diese Umverteilungsarrangements über ein residuales Niveau hinausgehen. In diesen Fällen nämlich zeigt sich die starke Integrationskraft des nationalen Zusammengehörigkeitsgefühls einer politischen Gemeinschaft, denn es bildet das Fundament erstens für internalisierte politische Kulturen, die einen Bestand von Wertmaßstäben und gemeinsamen Vorstellungen von Verteilungsgrundsätzen und -verfahren bereitstellen, zweitens für stark naturalisierte gruppenimmanente, auf Ähnlichkeitskonstruktionen beruhende Solidaritätsbeziehungen, mit denen individuelle und strukturelle Unterschiede überspielt werden können (Dubet 2014), und drittens für die als legitim anerkannte Sanktionsmacht eines Staates, auf deren Basis man zur Teilnahme an Umverteilungsarrangements bereit ist. Insgesamt: Der Nationalstaat ist die Agentur eines durch Zwang gestützten Vertrauens in Umverteilungsbeziehungen einer politischen Gemeinschaft (Miller 2008, S. 61). Er bildet bis in die Gegenwart den wichtigsten Konflikt-, Regulierungs- und Verteilungsrahmen für sozialpolitisch zu bearbeitende gesellschaftliche Umverteilungsinteressen.
d. Die postnationale Konstellation – I Nationalstaaten sind die maßgeblichen Einheiten einer segmentär differenzierten Welt. Sie bilden die Rahmen um Sozialräume, innerhalb ihrer Grenzen werden Sozialbeziehungen strukturiert. Nationalstaaten sind die moderne Antwort auf die Erfahrung der Unangemessenheit pränationaler segmentärer Differenzierung. Aus dieser Perspektive sind Nationalstaaten das – kontingente, aber hochgradig institutionalisierte – Ergebnis eines Prozesses der skalenvergrößernden segmentären Entdifferenzierung als Reaktion auf funktionale Differenzierung des Sozialen. Sie lassen sich betrachten als Versuch der Einhegung funktionaler Differenzierung, als Institutionalisierung der Sozialbeziehungen, die sich aus dieser funktionalen Differenzierung ergeben, also auch als Institutionalisierung von Konflikt- und Umverteilungsbeziehungen. Indem Nationalstaaten auf derartige Modernisierungspro-
II. Redistributionsmechanismen
zesse reagieren, sind sie selbst die moderne Ausdrucksform sozialer Vergemeinschaftung; innerhalb dieser Vergemeinschaftung werden – auf Basis der formalen Gleichheit aller Mitglieder – Fragen materieller Gleichheit bzw. Angleichung wie auch Fragen sozialer Sicherheit bzw. Sicherung politisch verhandelt. Nationalstaaten sind damit zugleich die Bezugspunkte für die Gleichheitsbehauptungen und für die formalen Gleichheitserfordernisse einer sich funktional ausdifferenzierenden Gesellschaft. Diese nationalstaatliche Rahmung von Konflikt- und Umverteilungsbeziehungen ist solange unproblematisch, solange diese Beziehungen selbst und die mit ihnen einhergehenden Wechselwirkungen zwischen Akteuren innerhalb dieser Rahmungen verbleiben (Abb. 3a). Über große Teile des 20. Jahrhunderts hinweg war diese Kongruenz selbstverständlich: Die Grenzen des Nationalstaates bildeten aus Sicht der in ihnen positionierten Akteure den Horizont für konfliktrelevante soziale Wahrnehmung und für umverteilungsrelevanten sozialen Vergleich. Rahmungen und Begrenzungen, die auf dem In- und Exklusionscode des Nationalstaates und der nationalen sozialen Identität basieren, werden zum Problem dann, wenn sich Konflikt- und Verteilungsbeziehungen entwickeln, die in ihrer wahrgenommenen Ausdehnung nationalstaatliche Handlungsrahmen und Grenzen überschreiten. Die vielfältigen Prozesse zunehmender, Staats- und Kontinentalgrenzen überschreitender Abhängigkeiten räumlich weit voneinander entfernter ökonomischer und sozialer Verhältnisse und der Verdichtung von grenzüberschreitenden Sozialbeziehungen machen sichtbar, wie sehr es sich beim Nationalstaat um eine soziale Konstruktion handelt (Sharma, Gupta 2009, S. 28). Die antithetische Inklusions- und Exklusionswirkung nationalstaatlicher Grenzen (Akteure und ihre Beziehungen sind voll und ganz entweder in- oder exkludiert) schwindet; diese Grenzen sind immer weniger in der Lage, Sozialräume zu begrenzen. Stattdessen verlieren die Reichweite nationalstaatlicher Rahmung sozialen Handelns und die Reichweite von Sozialbeziehungen, also von Interessenkonstellationen, Konfliktstrukturen und Arrangements des Sozialvergleichs und der Verteilung, mehr und mehr jene Kongruenz, die für die Blüte des
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ausdifferenzierten, stark institutionalisierten Nationalstaates im 20. Jahrhundert typisch war und (zum Beispiel von Thomas Marshall) als selbstverständlich an- und hingenommen wurde. Dieser Vorgang abnehmender Kongruenz segmentär und funktional strukturierter Sozialräume (Abb. 3b) erinnert an die Irritationen in Fragen sozialer Vergleichsmaßstäbe, Mitgliedschaften und Zugehörigkeiten, die – im 19. Jahrhundert beginnend – der Verlagerung umverteilungsrelevanter segmentärer Differenzierungen von der lokalen auf die staatliche Ebene (wie von Simmel beschrieben) den Weg ebneten. Wie damals, als sich Sozialbeziehungen entwickelten, die massenhaft die Grenzen lokaler Umverteilungsgemeinschaften überschritten, so stellen sich auch in der Gegenwart zunehmend Fragen der Inklusion von Fremden in etablierte, heutzutage national verfasste wohlfahrtsstaatliche Systeme. Dabei geraten die für Umverteilungsarrangements essentiellen »Wir«-Konstruktionen und Homogenitätsbehauptungen unter Druck (Mau 2007). Die Inkongruenz segmentärer und funktionaler Differenzierung fordert die Integrationsbereitschaft von Umverteilungsgemeinschaften, die auf dem In- und Exklusionscode des Nationalstaates und der nationalen sozialen Identität basieren, heraus. Die Reaktionsmöglichkeiten auf diese Zunahme der Inkongruenz sind vielfältig (Feldblum 1998). Sie reichen von exkludierender Aktivierung und Akzentuierung der nationalstaatlichen Zugehörigkeit als Zugangskriterium zu Umverteilungssystemen (zum Beispiel durch Immigrationsbeschränkung und die Verweigerung bürgerlicher, politischer und sozialer Rechte gegenüber anwesenden Fremden) über die partielle Gewährung von Rechten (etwa im Rahmen der so genannten Wohnbürgerschaft bzw. denizenship, vgl. Hammar 1990) und die vollständige rechtliche Integration in nationale Umverteilungsund andere Systeme (durch Zubilligung der Staatsbürgerschaft) bis hin zur Etablierung von Rechten, deren Inanspruchnahme nicht auf nationaler Zugehörigkeit, sondern auf der Zugehörigkeit der Nation zu einer supranationalen politischen Gemeinschaft beruht (zum Beispiel die Unionsbürgerschaft der Europäischen Union, vgl. Heinig 2013; Huber 2013). All diesen Reaktionsmöglichkeiten auf das Problem der Inkongruenz ist gemeinsam, dass es in ihren Realisierungen nicht
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darum geht, segmentäre Grenzen und Differenzierungen rückstandlos durch funktionale Grenzen und Differenzierungen zu ersetzen. Vielmehr zielen sie darauf ab, in einem Prozess der Anpassung den Status der Kongruenz wiederzuerlangen. Es ist dieser graduelle Prozess der Herstellung von Kongruenz, den Simmel als evolutionär begreift und in dem sein oben beschriebenes instrumentelles, von jeglichen Legitimitäts- und Identitätsfragen freies Staatsverständnis aufscheint: Über kurz oder lang findet ein Staat – verstanden als die zentrale Verwaltungsinstanz und als Rechtskreis einer funktional differenzierten Gesellschaft – jene Ausdehnung, die unter dem evolutionären Imperativ der Kraftersparnis (Simmel 1989 [1890], S. 6. Kapitel) temporär angemessen für die Rahmung der Homogenisierung des Heterogenen erscheint. Über die Richtung der Anpassung ist damit noch nichts gesagt. Analytisch bewegen sich vielmehr die Reaktionsmöglichkeiten auf die zunehmende Inkongruenz von segmentär differenzierten politischen Gemeinschaften und faktisch relevanten Sozialräumen zwischen folgenden extremtypischen Anpassungsversuchen: Die Bemühungen zielen entweder darauf ab, die Ausdehnung der faktisch relevanten (also auch: umverteilungsrelevanten) Sozialbeziehungen und Sozialräume wieder an die Reichweite der gegebenen segmentären Einheiten auf nationalstaatlicher Ebene anzupassen (Abb. 3c). Dies kann etwa mittels starker Immigrationskontrolle (bspw. Dänemark) geschehen, sich in der Neigung zur volkswirtschaftlichen Schließung (bspw. Frankreich) äußern oder auch als rechtliche und soziale Exklusion anwesender Fremder3 in Erscheinung treten. Oder die Bemühungen zielen darauf ab, angesichts sich über Grenzen hinweg ausdehnender Sozialbeziehungen (Interessen, Konflikte, Verteilungsansprüche etc.) die Reichweite der segmentären politischen Einheiten daran anzupassen, etwa in Form supranational einheitlicher Rechte (Abb. 3d).
3 Beispiel: Ausschöpfung der Einschränkungsmöglichkeiten der Arbeitnehmerfreizügigkeit in Deutschland.
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Abbildung 3 (In-)Kongruenzverhältnisse zwischen segmentärer und funktionaler Differenzierung
Empirisch lassen sich in modernen Gegenwartsgesellschaften in der Regel beide Anpassungsbemühungen parallel beobachten – ganz im Einklang mit einer relationalistischen Gesellschaftsdiagnose des Sowohl‐als-Auch. Gesellschaften praktizieren sowohl Exklusion zur Wahrung ihres Wohlstandes, ihrer Kultur und ihrer basalen Homogenitätskonstruktionen. Und sie bemühen sich parallel dazu auch um supranationale Harmonisierungen, um der zunehmenden grenzüberschreitenden sozialen Interdependenz Rechnung zu tragen. Soziologisch interessant ist daher nicht die Frage, für welche der beiden Anpassungsstrategien sich eine Gesellschaft entscheidet, sondern die Frage, in welchem Verhältnis beide Anpassungsstrategien in einer national geprägten Gesellschaft zueinander stehen. Dieser Perspektive eines relationalistischen Sowohl‐als-Auch-Umgangs mit der postnationalen Herausforderung liegt das Wissen zugrunde, dass nationale Umverteilungsarrangements in modernen Gesellschaften keine monolithischen Einheiten, sondern üblicherweise stark ausdifferenzierte und hochkomplexe Institutionensysteme sind, die sich partiell modifizieren lassen. Einzelne Segmente nationaler Systeme sozialer Sicherung können durchaus mit Zugangsverschärfungen versehen werden und exklusiv den Nationalstaatsbürgern vorbehalten bleiben, während andere Segmente offen für supranationale soziale
II. Redistributionsmechanismen
Rechte, für Harmonisierungen und für Angehörige anderer Nationen sind, die Nationalität als Zugangskriterium also irrelevant ist. Das je nationale Verhältnis der Anpassungsstrategien zueinander ist dabei nicht nur Ergebnis eines Aushandlungsprozesses zwischen Akteuren mit entsprechenden Interessen bzgl. der In- und Exklusionswirkungen von Wohlfahrtssystemen (Teney, Helbling 2014), sondern steht auch generell unter dem Einfluss von wohlfahrtsunabhängigen sozialen Entwicklungen, bei denen Nation »ein stärker werdendes Identifikationsmoment darstellen (wie beispielsweise in Deutschland, England, Frankreich, Ungarn) oder ein schwächer werdendes (wie beispielsweise Italien, Belgien)« sein kann (Fitzi 2014, S. 18). Zusammenfassend bleibt festzuhalten: Die Zunahme transnationaler Mobilität von sozialen Akteuren, die Zunahme von grenzüberschreitenden regulierungsbedürftigen sozialen Wechselwirkungen, vor allem aber die Zunahme von Zugehörigkeitsbegehren Fremder in Nationalgesellschaften bedroht in diesen Zielgesellschaften die etablierten sozialen Homogenitätskonstruktionen. Die genannten Prozesse heben die naturalisierte Kongruenz von Nation und Sozialraum, von nationalstaatlicher Gemeinschaft und Umverteilungsgemeinschaft auf und machen die bewusste Überprüfung der Ähnlichkeitskonstruktionen und Homogenitätsbehauptungen sowie der Auswahl der relevanten Gruppen des Sozialvergleichs, auf denen Umverteilungsansprüche und -arrangements basieren, notwendig. Der Grad dieser Notwendigkeit ist zum Einen dort besonders hoch, wo soziale Identitätskonstruktionen mit einer starken Homogenitätsbehauptung einhergehen, die nicht nur auf bürgerlicher Gleichheit, sondern auf gleichsam vorsozialer Homogenität, etwa einer vorgestellten ethnischen Homogenität, beruht. Der Grad dieser Notwendigkeit ist zum Zweiten dort besonders hoch, wo Umverteilungsarrangements ein zentraler Teil der Identitätsinszenierung einer Gesellschaft (Suszycki 2011, S. 64) und positive Einstellungen zum Wohlfahrtsystem stark ausgeprägt sind. Und der Grad dieser Notwendigkeit ist zum dritten dort besonders hoch, wo aufgrund des Ausbaugrades des Wohlfahrtssystems Zugehörigkeitsbegehren auch mit signifikanten materiellen Herausforderungen für die institutionalisierten Umverteilungssysteme und die ihnen zu-
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grunde liegenden Umverteilungsbereitschaften einhergehen können. Dieses Setting – die Zunahmen transnationaler Mobilität, sozialer Wechselwirkungen und Zugehörigkeitsbegehren sowie die sich daraus ergebende Notwendigkeit, die legitimatorischen Grundlagen von Umverteilungssystemen anzupassen – nenne ich die postnationale Konstellation sozialer Sicherung.
2. Modus und Regeln der Verteilung Der Grad, zu dem einzelne Segmente nationaler Systeme sozialer Sicherung angesichts der postnationalen Konstellation Exklusions- oder Inklusionsstrategien verfolgen, ist, das ist die nun zu verfolgende These, auch abhängig von den vorherrschenden Redistributionsregeln des jeweiligen Subsystems sozialer Sicherung. Damit bin ich beim Modus materieller Umverteilung als Gegenstand politischer Gestaltung und Entscheidung und als Redistributionsmechanismus. Mit der Festlegung der In- und Exklusionscodes als Zugehörigkeitskriterien zum Personenkreis einer politischen Gemeinschaft ist zwar einiges über die mögliche Reichweite eines Umverteilungsarrangements, jedoch noch nichts über die Art der Umverteilung gesagt. Es bedarf zusätzlich der Definition von Bedürfnissen, die, sofern ein Akteur sie nicht aus eigener Leistung heraus befriedigen kann, durch Umverteilung befriedigt werden sollen. Da Akteure unterschiedlich leistungsfähig sind, auf unterschiedliche Weise und unterschiedlich stark für ihren eigenen Wohlstand sorgen können, damit auch unterschiedlich stark zum Wohlstand der Gemeinschaft beitragen, sind auch die Erwartungen an Umverteilungen und interpersonale Bedürfnisbefriedigung unterschiedlich verteilt. In jeder Gemeinschaft gibt es also Subgruppen, die sich anhand der Art und des Umfangs ihres Beitrages zum gemeinschaftlichen Wohlstand differenzieren lassen. Die multiplen Zugehörigkeiten zu diesen funktionalen Subgruppen innerhalb einer Gemeinschaft stehen quer zur oben thematisierten politischen Mitgliedschaft in einer politischen Gemeinschaft; ich nenne sie funktionale Zugehörigkeiten.
II. Redistributionsmechanismen
Daraus ergibt sich: Bedürfnisse, Erwartungen an soziale Sicherung und Einstellungen zu Umverteilung sind soziostrukturell ungleich verteilt. Wird Akteuren diese Unterschiedlichkeit bewusst, dann ergibt sich daraus die Chance auf Entwicklung unterschiedlicher funktionaler oder soziostruktureller »Wir-Konstruktionen« (Simmel 1890, S. 102f.) innerhalb einer politischen Gemeinschaft formal gleicher Bürger. Diese Bedürfnisse lassen sich grundsätzlich den beiden Umverteilungsmotiven Sicherheit oder Gleichheit zuordnen. Welche davon jedoch unabweisbare, also moralisch oder rechtlich einklagbare Bedürfnisse sind, ist historisch variabel, weil zwischen funktionalen Subgruppen innerhalb einer politischen Gemeinschaft umstritten. Auch die Definition umverteilungsrelevanter Bedürfnisse ist also eine politische Entscheidung, die vergesellschaftend wirkt. Denn die Normierung umverteilungsrelevanter Bedürfnisse und die Entscheidung bezüglich ihrer Unabweisbarkeit erschaffen zugleich spezifische soziale Positionsgefüge und Wechselwirkungen (Nullmeier et al. 1992). Bedürfnisse ergeben sich aus Bedürftigkeit, Bedürftigkeit aber ist – wie Simmels (1993 [1906]) Soziologie der Armut deutlich macht – Ausdruck einer bestimmbaren Beziehung zwischen einzelnen Akteuren und der Gesellschaft, der sie zugehörig sind – und diese Beziehung vollzieht sich im Wege von Umverteilungsforderungen, -ablehnungen und -zubilligungen. Der politische Gehalt dieser »Entscheidung« über umverteilungsrelevante Bedürfnisse steigt mit dem Wohlstand der Gemeinschaft. Sie gewinnt in dem Maße an Relevanz, in dem aus puren Existenzkomplexe Sicherungs- und/oder Angleichungsbedürfnisse werden: Sobald es nicht mehr nur darum geht, das bloße Überleben zu sichern, ist Bedürfnissen ein expansiver Charakter zueigen. Wie die Entscheidung über umverteilungsrelevante Bedürfnisse ausfällt, ist also abhängig vom Wohlstand und vom Ressourcenverteilungsspielraum der Gemeinschaft einerseits, von politischen Machtverhältnissen zwischen den funktionalen Subgruppen innerhalb dieser Gemeinschaft andererseits. Damit werden neben der politischen Zugehörigkeit auch spezifische funktionale Zugehörigkeiten zur Voraussetzung für den Anspruch auf soziale Sicherung. In der sozialphilosophischen und sozialwissenschaftlichen Wohlfahrtsliteratur, gerade wenn sie segmentär
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komparativ ausgerichtet ist oder Denationalisierungsfragen thematisiert, wird dieser Umstand allzu häufig übersehen. Anders als dort angenommen sind umverteilungsrelevant gerade nicht ausschließlich Kriterien der politischen Zugehörigkeit und darauf basierende politisch‐territoriale »Wir-Konstruktionen«, sondern im Wechselspiel mit diesen und sie ergänzend auch Kriterien der Zugehörigkeit zu funktional‐soziostrukturellen »Wir-Konstruktionen«. Im Kontext der postnationalen Konstellation gewinnt dieses Wechselspiel und Spannungsverhältnis zwischen beiden Typen von »Wir«-Konstruktionen und darauf beruhenden Gruppenidentitäten an analytischer Relevanz. Denn sobald eine Gemeinschaft über das Niveau bloßer Überlebens-Zweckverbände hinausgewachsen ist, drängt sich eine weitere zu treffende Entscheidung auf; die nach dem dominanten Verteilungsmodus. In nahezu mittellosen Gemeinschaften oder Gesellschaften stellt sich das Problem allenfalls ansatzweise. Hier wird das verteilbare Sozialvermögen ganz überwiegend zur Linderung absoluter und zur Abwehr lebensbedrohender Armut verwendet; das (Existenz-)Bedürfnis ist also Bezugspunkt der Verteilung. Diese Umverteilung kommt vollkommen ohne Rekurse auf Moral, Solidarität oder Gerechtigkeit aus – schon aus Eigeninteresse wird jedes Gemeinschaftsmitglied jedem anderen eine existenzsichernde Absicherung zubilligen. Mit zunehmendem Wohlstand aber muss politisch entschieden werden: Soll der Katalog unabweisbarer Bedürfnisse re‐definiert und dem Expansionsdrang von Bedürfnissen entsprechend erweitert werden? Oder sollen für den Teil des umverteilbaren Sozialvermögens, der nicht zur Abwehr absoluter Armut verwendet werden muss, andere Verteilungskriterien gelten? Die wichtigste Alternative zur Bedürftigkeit (auf welchem materiellen Niveau auch immer) als Bezugspunkt der Verteilung ist der Verdienst, also die Verteilung entsprechend der individuellen Leistung und dem individuellen Beitrag zum Wohlstand der Gemeinschaft. Für beide Varianten – die Dominanz auf hohem Niveau bedürftigkeitsorientierter und die Dominanz verdienst- und statusorientierter Verteilung – gibt es unter modernen, komplexen Gesellschaften empirische Beispiele. Damit wird diese Gemengelage
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zum Bestandteil der postnationalen Konstellation. Es lohnt sich daher, beide Umverteilungsmodi etwas genauer zu beleuchten.
a. Segmentäre Zugehörigkeit als dominantes Umverteilungskriterium Umverteilungsarrangements, in denen die Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft das entscheidende Kriterium für den legitimen Anspruch auf redistributiv bewirkte Bedürfnisbefriedigung ist, haben ihren Ausgangspunkt ausschließlich in der formalen Gleichheit der Mitglieder der politischen Gemeinschaft, und ihren normativen Zielpunkt in einem Zustand annähernder materieller Gleichheit. Die segmentäre, also politische Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen dient als Rechtfertigung für dieses Ziel der Gleichverteilung bzw. Gleichheit: Allen Mitgliedern wird ungeachtet ihrer individuellen Anlagen und Ausstattungen und unabhängig von ihren Beiträgen zum Wohlstand der Gemeinschaft die gleiche Anerkennung durch diese Gemeinschaft zuteil (Taylor 1992, S. 159). Und diese Anerkennung manifestiert sich in entsprechenden Umverteilungsarrangements. In der Praxis moderner und entwickelter Wohlfahrtsstaatlichkeit zeigt sich dies darin, dass nach Feststellung der Rechtmäßigkeit eines Anspruchs pauschalierte Transferzahlungen oder Sachleistungen gewährt werden. Der vorherige Erwerb von Anwartschaften ist hierfür nicht erforderlich. Derartige Systeme finanzieren sich aus Steuereinnahmen, d.h. an ihrer Finanzierung sind prinzipiell alle Mitglieder der politischen Gemeinschaft, wenn auch in der Regel gestaffelt nach Maßgabe ihrer Leistungsfähigkeit, beteiligt. Das Zahlen von Steuern allein begründet jedoch keinen Rechtsanspruch auf spätere Inanspruchnahme von Sozialleistungen. Es bedarf vielmehr der Feststellung des Bedarfsfalles, um Umverteilungsansprüche geltend machen zu können. Dass diese Feststellung des Bedarfsfalles eher rigide und stigmatisierend oder eher großzügig und wohlwollend erfolgen kann, ändert nichts an der grundsätzlichen Bezugnahme auf die politische Zugehörigkeit für die Finanzierung wie auch für die Gewährung von Sozialleistungen. Aufgrund dieses Konstruktionsprinzips haben solche, häufig als universalistisch be-
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zeichnete Systeme sozialer Sicherung sowohl einnahmen- als auch ausgabenseitig eine sehr große Reichweite; der Umverteilungsbereich ist deckungsgleich mit der gesamten Bevölkerung. Damit ist für soziale Sicherung, also für die Einlösung von Ansprüchen an andere in Fällen, in denen man sich nicht (mehr) durch eigene Leistung versorgen kann (Ganßmann 2010, S. 331), in diesen universalistischen Systemen ausschließlich die politische – in der Regel: die nationale – Zugehörigkeit maßgebend. Entsprechend zentral ist die Bedeutung von Nationalstaatsgrenzen als Selektionsmechanismus. Und entsprechend große Irritationen können die multiplen Prozesse der Postnationalisierung auslösen, die in Europa am weitesten fortgeschritten, aber längst nicht auf Europa beschränkt sind.
b. Funktionale Zugehörigkeit als dominantes Umverteilungskriterium Umverteilungsarrangements, in denen innerhalb einer politischen Gemeinschaft die Zugehörigkeit zu einer soziostrukturell bestimmbaren funktionalen Subgruppe das entscheidende Kriterium für den legitimen Anspruch auf redistributiv bewirkte Bedürfnisbefriedigung ist, haben ihren Ausgangspunkt in der faktischen Unterschiedlichkeit der individuellen Anlagen, Fähigkeiten und Ressourcen der Mitglieder der politischen Gemeinschaft bei gleichzeitiger (sozial konstruierter) Gleichheit innerhalb funktionaler Subgruppen. Ihr normativer Zielpunkt ist nicht ein Zustand annähernder materieller Gleichheit Aller, sondern eher die Sicherung des sozialen und ökonomischen Status der Mitglieder einer funktionalen Subgruppe (Taylor 1992, S. 158, 169). Die individuell unterschiedlichen Beiträge zum Wohlstand oder zur Aufrechterhaltung der Struktur einer politischen Gemeinschaft dienen als Rechtfertigung für die Ungleichverteilung in Umverteilungsarrangements. Zwar ist es in zunehmend komplexer werdenden Gesellschaften auch zunehmend schwierig, den individuellen Beitrag eines Mitglieds exakt zu bestimmen. Aber mittels zweier Hilfskonstruktionen sind solche modernen, hochkomplexen Gesellschaften dennoch in der Lage, die individuellen Beiträge relational zu bestimmen: Zum einen gilt der
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mit einer Leistung erzielbare Verdienst als aussagefähiger Wert mit Blick auf den entsprechenden Beitrag zum Wohl der Gemeinschaft. Um zum anderen vermitteln Sozialvergleiche dieser Verdienste zumindest eine Intuition des relativen Werts individueller Leistungen. Was sich daraus ergibt, sind soziale Gefüge und Relationen. Indem sich Umverteilungsarrangements an diesen Ungleichheiten, an diesen sozialen Gefügen und Relationen orientieren, reproduzieren sie diese zugleich und tragen dadurch zur Verfestigung der gesellschaftlichen Strukturen bei. In modernen Wohlfahrtsstaaten, die diesem Prinzip folgen, dominieren subgruppenbezogene Sozialsysteme. Zugangskriterium in derartige Systeme ist nicht der Bürger-, sondern der Leistungs- bzw. Erwerbs- und Verdienststatus einer Person. Folglich ist der entscheidende Sozialraum für diese Umverteilung auch nicht das politische Gemeinwesen in Form eines (National-)Staates, sondern ein auf Leistung rekurrierendes funktionales gesellschaftliches Subsystem wie etwa der Arbeitsmarkt. Maßgebend für soziale Sicherungsansprüche sind in diesen Fällen also ausschließlich funktionale Zugehörigkeiten. Politische Zugehörigkeiten spielen de jure keine Rolle; man muss zum Beispiel keineswegs zwingend Deutscher sein, um Beiträge in die Deutsche Rentenversicherung einzuzahlen und damit Ansprüche gegenüber dieser Deutschen Rentenversicherung zu erwerben. Dass de facto dennoch der Kreis der Involvierten dieser gruppenbezogenen Systeme zugleich auch ganz überwiegend der gleichen politischen – hier: nationalen – Gruppe angehört, erklärt sich aus der »naturalisierten« Geltungskraft nationaler Grenzen, die bis heute im Wesentlichen auch die Grenzen für Sozialrechtsräume und Arbeitsmärkte sind. Gleichwohl können derartige Systeme aufgrund ihrer Konstruktionsprinzipien vergleichsweise leicht von politischen Grenzen gelöst und ihre Reichweiten grenzüberschreitend organisiert werden. Die gegenwärtige politische Diskussion um die Etablierung einer europäischen Arbeitslosenversicherung mag als Illustration dieser Möglichkeit dienen (vgl. Europäische Kommission 2013; Dullien, Fichtner 2013). Die Finanzierung wie auch die Gewährung von Sozialleistungen folgt in derartigen Systemen dem Versicherungsprinzip: der Anspruch
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auf Sozialleistungen ist vorleistungsabhängig. Sie werden erst nach vorherigem Aufbau individueller Anwartschaften durch (leistungs-, d.h. üblicherweise und komplexitätsreduzierend: einkommensbezogene) Beitragszahlung gewährt, und die Höhe der Sozialleistungen im definierten Versicherungsfall bemisst sich unabhängig vom konkreten Bedarf an der Höhe und der Dauer der gezahlten Beiträge (Äquivalenzprinzip). Durch diese Konstruktion aus zu erwerbenden Anwartschaften auf Sozialleistungen und in der Regel nochmals verstärkt durch die Bewertung erworbener sozialversicherungsrechtlicher Ansprüche als Eigentumstitel ist ein dem Versicherungsprinzip folgendes System sozialer Sicherung (wie bei steuerfinanzierten Systemen) auf interpersonale und (anders als bei diesen) auf intertemporale Umverteilung von Ansprüchen angelegt. Damit wird das Prinzip der individuellen Lebensstandardsicherung, mithin der Statussicherung, zu einer zentralen Legitimationsquelle des Sozial(versicherungs)staates. In der Konsequenz all dessen sind sozialversicherungsmäßig organisierte Sozialsysteme wesentlich fragmentierter als universalistische Systeme, was zu deutlich anderen Umverteilungsbeziehungen führt. Zugleich bedeutet das, dass (innerhalb der Grenzen des politischen Raumes) funktionale Grenzen zwischen gesellschaftlichen Gruppen und ihren Umverteilungssystemen wesentlich mehr Bedeutung haben als in universalistischen Systemen.
c. Die postnationale Konstellation – II In modernen Gesellschaften haben sich hochkomplexe und vielschichtige Umverteilungsarrangements entwickelt. Sie folgen keinem der beiden geschilderten Redistributionsmechanismen in Gänze. Vielmehr sind sie Mischformen aus beiden Mechanismen mit jeweils mehr oder minder starker Dominanz des einen oder anderen Mechanismus. Diese Dominanz ist Ausdruck der Vorherrschaft eines institutionalisierten, spezifischen universellen oder fragmentierten Umverteilungsprinzips, dem historisch gewachsene Gerechtigkeits- und Solidaritätsvorstellungen innerhalb der jeweiligen Gesellschaft zugrunde liegen (Nullmeier, Vobruba 1995).
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Damit lässt sich die Unterteilung von Redistributionsmechanismen mit der Unterscheidung von Redistributionsmotiven in Beziehung setzen und zu einem abstrakten Modell kombinieren. Dieses Modell ist essentieller Bestandteil einer jeden als modern angesehen Gesellschaft; mehr noch: das Modell ist Grundkonstituens der modernen Gesellschaft. Es lässt sich wie folgt zusammenfassen: Sicherungsbemühungen und Angleichungsbemühungen sind, wie in Kapitel I beschrieben, Reaktionen auf die erst in der Moderne politisierbaren Bedürfnisse (Redistributionsmotive) Sicherheit und Gleichheit. Angleichungsbemühungen folgen dabei dem normativen Ziel materieller Gleichheit und legitimieren sich durch das Prinzip formaler Gleichheit. Sicherungsbemühungen folgen hingegen dem normativen Ziel der Statussicherheit und legitimieren sich durch akzeptierte soziale Ungleichheit. Beide Umverteilungsmechanismen basieren also auf sich widersprechenden Maximen. Das Herausragende an modernen Gesellschaften ist ihre Fähigkeit, beide sich widersprechende Maximen in einem hochkomplexen Institutionensystem sozialer Umverteilung zu bündeln und auszubalancieren und damit weitere Modernisierung, also weitere Verunsicherungs- und Ungleichheitszumutungen, zu ermöglichen. Erst Umverteilung macht Modernisierung erträglich (Huf 1998).
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Abbildung 4 Folgeprobleme der gesellschaftlichen Modernisierung
Einer relationalen Soziologie sozialer Sicherung muss es analytisch darum gehen, a) das Verhältnis beider Umverteilungsprinzipien innerhalb eines Sozialzusammenhangs zu erkunden, und b) den Wandel dieses Verhältnisses im Zeitverlauf zu beleuchten. Diesbezüglich offenbart eine Durchsicht der einschlägigen »Klassiker« überraschende Differenzen. In seinem mit »Wesen und Reichweite distributiver Gerechtigkeit« überschriebenen Text analysiert Charles Taylor (1992) sehr ausführlich die sozialen Grundlagen und Folgen beider Distributionsprinzipien und nimmt darüber hinaus – das unterscheidet ihn von den meisten anderen sozialphilosophischen Beiträgen zur Thematik – eine dynamisch‐empirische Perspektive ein. Konkret heißt das, dass er die Möglichkeit des Wandels von Umverteilungsarrangements, den Wandel ihres Verhältnisses und den Wandel der jeweiligen legitimatorischen Grundlagen in den Blick nimmt. Taylors Ausgangsbefund, dass in modernen Gesellschaften stets beide Umverteilungsprinzipien zu finden sind, entspricht den obigen Ausführungen und dürfte nicht umstritten
II. Redistributionsmechanismen
sein. Dass in jeder modernen Gesellschaft beide Prinzipien (wenn auch in je spezifischem Verhältnis) verwirklicht sind, erklärt Taylor funktionalistisch: das Beitragsprinzip ist wichtig für das Gerechtigkeitsgefühl der Leistungsträger einer Gesellschaft, Gleichheit ist wichtig für die Bereitschaft Aller zur Aufrechterhaltung der gemeinsam genutzten Gesellschaft (Taylor 1992, S. 178). Die damit verbundenen Zumutungen (Umverteilungskosten für die Nettozahler bei dennoch permanenter Unterbefriedigung der Nutznießer des Umverteilungsarrangements) waren und sind Taylor zufolge erträglich, solange kontinuierliches Wachstum das Gerechtigkeitsempfinden der Leistungsträger einer Gesellschaft wie auch das der auf Gleichheitsvorstellungen angewiesenen Umverteilungsnutznießer nicht unangemessen belastet. Das darin angesprochene Spannungspotential kann sich jedoch bei ausbleibendem Wachstum und abnehmenden Verteilungsspielräumen vergrößern. Warum Taylor aus diesem Befund sich ggf. verschärfender Verteilungskämpfe eine evolutionäre Entwicklung ableitet, in deren Zuge Gesellschaften zunächst und gleichsam als Durchgangsstadium Umverteilungsarrangements hin zu proportionaler Gleichheit, später dann jedoch hin zu absoluter Gleichheit etablieren (würden) (Taylor 1992, S. 159), bleibt vor dem Hintergrund seiner selbst getroffenen empirischen Aussagen unklar. Wäre nicht die Vermutung plausibler, dass in modernen westlichen Gesellschaften die relativ Bessergestellten angesichts schrumpfender Verteilungsspielräume und prekär werdender politischer Zugehörigkeitskonstruktionen den zunehmenden Gleichheitsforderungen einen starken Widerstand entgegensetzen, der sich unter anderem in einer Stärkung leistungsbezogener – und gerade nicht: gleichheitsbezogener – Umverteilungsarrangements manifestiert? Diese deutlich andere Perspektive auf das Verhältnis von Gleichheit und Leistung als den beiden Legitimationsgrundlagen für Redistribution nimmt Georg Simmel ein. Seine evolutionistische Sichtweise wurde in Kapitel I ausführlich nachgezeichnet; an dieser Stelle genügt also der Hinweis auf die zentralen Aussagen seiner Überlegungen. Sie lauten: Materiale Gleichheit ist der »Urbrei« (Simmel 1989 [1888], S. 36), von dem aus sich gesellschaftliche Modernisierung vollzieht hin zu Dif-
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ferenzierung, Individualität, Unterschiedlichkeiten und Ungleichheiten. Auf dem Boden formaler Gleichheit aller Mitglieder eines Sozialzusammenhangs entwickelt sich das Prinzip der Unterschiedlichkeit als Grundbedürfnis; und diesem Grundbedürfnis entspricht eine Gesellschaftsorganisation, die – etwa in Fragen kollektiver Sicherung – diese Unterschiedlichkeit berücksichtigt. Hinsichtlich der Frage der Bedeutung formaler Gleichheit aller Mitglieder einer politischen Gemeinschaft als Basis moderner Gesellschaftszusammenhänge besteht zwischen Taylor und Simmel keinerlei Differenz. Während aber Taylor auf dem Boden formaler Gleichheit die Legitimität faktischer Ungleichheit als ein in der gesellschaftlichen Entwicklung vorübergehendes Stadium der gesellschaftlichen Entwicklung betrachtet, sieht Simmel gerade Gesellschaften mit dem Ziel materialer Gleichheit als eine temporäre Erscheinung an (Simmel 1989 [1890], S. 234), die abgelöst wird von einem Gesellschaftsprinzip, das der Unterschiedlichkeit der Akteure – und ihrem Bedürfnis nach Unterschiedlichkeit im Wechselspiel mit Angleichungsbemühungen wie beschrieben – Rechnung trägt. Folgt man dem als Heuristik für empirische Analysen, dann bleibt festzuhalten: Was im Zentrum einer relationalen Soziologie sozialer Sicherung zu stehen hat, ist a) das Verhältnis der Konstruktionen formaler Gleichheit und funktionaler Unterschiede, es ist b) das Verhältnis der jeweils sich daraus ergebenden institutionalisierten Umverteilungsarrangements, und es sind c) die je spezifischen In- und Exklusionsmechanismen, die in beiden Typen von Umverteilungsarrangements eingelagert sind. Gerade der letzte Punkt ist im Kontext der postnationalen Konstellation von Bedeutung. Alle sozialen Sicherungssysteme bedürfen der Zugangsbegrenzung, um den Mitgliedschaftsumfang zu regulieren und die Solidaritäts-, also Umverteilungsbereitschaft ihrer Mitglieder nicht zu überfordern (Walzer 1992, S. 65ff). Der Unterscheidung von Redistributionsmechanismen entsprechend können diese Zugangsgrenzen wie gesehen verschiedene Formen annehmen: Es können die Grenzen national organisierter politischer Gemeinschaften sein, oder es können die Grenzen zwischen verschiedenen funktionalen Subgruppen einer Gesellschaft sein. Daraus ergeben sich auch zwei unterschiedliche
II. Redistributionsmechanismen
Formen der Zugangskontrolle zu den jeweils dominierenden Umverteilungssystemen. Ganz grundsätzlich gilt: Das Anwartschaftsprinzip in beitragsfinanzierten fragmentierten Systemen sozialer Sicherung, also die Konstruktion einer zeitlich vorgelagerten individuellen Leistung zur Erlangung von Umverteilungsansprüchen, ist ein funktionales Äquivalent zu politisch‐territorialen Grenzen, mit denen der Zugang zu universalistischen Sozialsystemen reguliert wird – mit beidem wird eine Inanspruchnahme von Sozialleistungen durch Nichtzugehörige vermieden. Unter den Bedingungen der fortschreitenden Durchsetzung der postnationalen Konstellation gewinnt diese Unterscheidung zwischen funktionaler und politischer Zugangskontrolle deshalb an Bedeutung, weil davon auszugehen ist, dass beide Umverteilungsprinzipien in und von der postnationalen Konstellation in unterschiedlicher Weise betroffen sind. Grundsätzlich gilt, dass Postnationalisierungsprozesse soziale Beziehungen und Positionsgefüge rekonfigurieren und Wechselbeziehungen zwischen sozialen Akteuren bedeutsam werden lassen, die zuvor durch nationale Grenzziehungen und Zugehörigkeitszuschreibungen im Kontext von Umverteilungsfragen irrelevant waren. Aus Sicht sozialer Akteure zeigt sich diese postnationale Konstellation vor allem in zwei Dingen: im Bedeutungsverlust nationaler Grenzen und in der (antizipierten) Zunahme grenzüberschreitender Migration. Systeme sozialer Sicherung, die auf dem Prinzip der funktionalen Zugehörigkeit basieren, sind diesen (vermeintlichen) Folgen des Bedeutungsverlustes politischer Grenzen zwischen segmentären Einheiten weniger ausgesetzt als Sozialsysteme, die dem Prinzip der politisch‐territorialen Zugehörigkeit als Zugangsvoraussetzung zu Sozialleistungen folgen. Das Anwartschaftsprinzip »schützt« entsprechende Umverteilungssysteme vor sofortigen Ansprüchen, während universalistische Systeme entsprechende Ansprüche nicht oder nur mit beträchtlichen Legitimitätsrisiken, nämlich durch offen sichtbare Grenzschließung, »abwehren« können.
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Daraus leiten sich folgende Thesen ab: 1. Wenn Umverteilungssysteme grundsätzlich einer Zugehörigkeitsdefinition mit In- und Exklusionswirkung bedürfen, dann macht der Bedeutungsverlust nationalstaatlicher Grenzen die segmentäre Grenzziehung auf einer anderen Ebene erforderlich, um adaptierte Homogenitätskonstruktionen zu ermöglichen. 2. Wenn aber politische Zugehörigkeitskonstruktionen im Zuge der Denationalisierung von Sozialzusammenhängen brüchig werden und ihre Eindeutigkeit verlieren, und wenn zugleich neue Grenzziehungen auf anderen Ebenen keine analoge bzw. kompensatorische Wirkung entfalten können, bedarf es anderer Zugehörigkeitskriterien für Umverteilungsarrangements, und zwar solcher, die gerade nicht auf irgendeine politische Zugehörigkeit Bezug nehmen. Daraus kann sich die Stärkung funktionaler Zugehörigkeitskonstruktionen für die Legitimation sozialer Umverteilung ergeben.
In den beiden genannten Thesen wird das dynamische Element der Konstruktion und Anpassung von Wir-Gruppen verhandelt, innerhalb derer soziale Umverteilung stattfinden soll. Diese thesenartig formulierten Prozesse laufen derzeit – insbesondere in Europa – mit besonderer Dynamik ab; und sie sind weit davon entfernt, an Fahrt zu verlieren oder gar an ihr Ende zu kommen. So kann etwa gezeigt werden, wie durch Denationalisierungsprozesse in Europa neue Konfliktlinien zwischen Akteuren entstehen, die in der nationalen Konstellation noch durch staatliche Grenzen als Konfliktraumbegrenzungen und Interdependenzunterbrecher voneinander isoliert waren (Fehmel 2014a). Zugleich ziehen diese neuen transnationalen Konflikte auch die Notwendigkeit supranationaler Konfliktregulierung nach sich. Dieses Wechselspiel aus Konfliktentstehung, Konfliktrahmung, sich daraus ergebenden weitergehenden Konflikten und wiederum darauf reagierender ergänzender Institutionalisierung trägt soziale Europäisierungstendenzen in sich (Faist 2014; Vobruba 2017). Ob das zu Bedingungen beiträgt, unter denen dies auf dem Boden einer denationalisierten politischen Zugehörigkeit auch
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einer postnationalen umverteilungsfesten Homogenitätskonstruktion den Weg ebnen kann, bleibt weiterer Forschung vorbehalten. Jedenfalls lässt sich anhand von Aggregatdaten beobachten, dass innerhalb der europäischen nationalen Systeme sozialer Sicherung leistungsbezogene Umverteilungssysteme gegenüber gleichheitsbezogenen Systemen an Bedeutung gewinnen bzw. ihre bereits starke Bedeutung beibehalten (Fehmel 2013a, S. 81ff). Verstehen lässt sich dieser Bedeutungszuwachs als emergente, nicht unbedingt intendierte und einem Masterplan folgende, aber wirksame Bypass-Strategie gegen den Relevanzverlust nationaler Grenzen und gegen den Exklusivitätsverlust politisch‐territorialer Zugehörigkeit. Das heißt, Staatsgrenzen als politisch‐territoriale Markierungslinien für den Raum sozialpolitischen Handelns werden – partiell und in jedem Wohlfahrtsstaat anders – ersetzt durch funktionale Äquivalente, durch funktionale Grenzen. Damit lassen sich die strukturelle Konvergenz der europäischen Systeme sozialer Sicherung ebenso erklären wie die wirtschaftsund sozialpolitischen Zielvorstellungen supranationaler europäischer politischer Akteure in Bezug auf die beiden grundlegenden Varianten der sozialen Sicherung (Fehmel 2013b).
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III. Redistributionskonflikte
1. Solidarität als Form der Vergesellschaftung An die Beobachtung der Variabilität politischer und funktionaler Grenzen sind Untersuchungen zur Entstehung von Wir-Konstruktionen anschlussfähig. Dass sich derartige Konstruktionen nicht spontan herausbilden, sondern aktiv hergestellt werden, ist im vorangehenden Kapitel bereits angesprochen worden. Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit mit In- und Exklusionseffekten ist ein wesentlicher Aspekt in der Beschäftigung mit dem Verhältnis nationaler zu postnationaler sozialer Sicherung. Über Solidaritätsbeziehungen, das heißt über die Gewährung von Zugehörigkeiten und über die Reichweite von Umverteilungssystemen, wird politisch erbittert gestritten. Eine Entwicklungsrichtung ist hierbei nicht determiniert, wie der Umstand zeigt, dass in der politischen und akademischen Öffentlichkeit zeitgleich einerseits über die Grenzen der europäischen Integration (etwa Immerfall 2018) und über den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union (Buchsteiner 2018), andererseits etwa über die Idee einer europäischen Arbeitslosenversicherung (Schmid 2019) oder allgemeiner über die durchaus gegebene transnationale Solidaritätsbereitschaft der Europäerinnen und Europäer (vgl. z.B. Lahusen, Grasso 2018) debattiert werden kann. In den Sozialwissenschaften, geschweige denn wissenschaftlich interdisziplinär, besteht mit Blick auf Solidarität alles andere als ein einmütiges und einvernehmliches Begriffsverständnis. Die Autorinnen und Autoren aller einschlägigen Beiträge sind sich lediglich – das
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aber schon seit Langem – einig darin, dass es immens viele unterschiedliche Solidaritätsverständnisse gibt (vgl. etwa Bayertz 1998; auch Prisching 2003) Die in jüngster Zeit zu beobachtende Konjunktur der sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Solidarität als komplexem sozialen Phänomen, prominent angetrieben nicht zuletzt von den multiplen Krisen der europäischen Integration oder von den Fragen im Zusammenhang der Bewältigung der Herausforderungen umfangreicher Migrationsbewegungen, trägt zur Überwindung dieser definitorischen Vielstimmigkeit bislang wenig bei (vgl. für viele Synopsen differierender Solidaritätsbegriffe nur Weigand 1979, S. 71ff.; Zoll 2001; Hechter 2001; Osa 2008; Dallinger 2009). Ich komme daher nicht umhin zu explizieren, wovon im Folgenden die Rede sein soll, wenn von Solidarität die Rede ist. Dafür greife ich zurück auf die kürzeste und prägnanteste mir bekannte Klärung und Einordnung des Begriffs und Phänomens Solidarität. Otfried Höffe (2018, S. 53) zufolge bedeutet Solidarität als eine Art von Loyalität zur eigenen Gemeinschaft (1) die Haftung und wechselseitige Verpflichtung, füreinander einzustehen, die (2) in Not- und Gefahrenlagen (3) innerhalb von Gruppen aktiviert wird. Die Bereitschaft zu gegenseitiger Hilfe in der Gruppe wird (4) begünstigt, wenn deren Mitglieder emotionale Bindungen zueinander entwickeln; das wiederum ist umso leichter, je offensichtlicher das gemeinsame Schicksal geteilt wird. Unabhängig davon, wie die Gruppenverbundenheit entstanden ist (unfreiwillig, freiwillig oder zufällig): Solidargemeinschaften sind immer (zumindest potentielle) Not- und Gefahrengemeinschaften. Nur wenn die Mitglieder einer Gruppe grundsätzlich von einem gemeinsamen Schicksal ausgehen, ist ihr gegenseitig begünstigendes Handeln solidarisch. Fehlt diese Bedingung, dann, so Höffe (ebd.), entspricht die gewährte Hilfe den Prinzipien der an Gleichheitsaspekten orientierten, (rechtlich) geschuldeten Gerechtigkeit einerseits oder der freiwillig über das geschuldete Maß hinaus großzügig erbrachten Philanthropie andererseits. So gesehen ist Solidarität also ein interessengeleiteter, kollektiv organisierter Risikoausgleich (Hengsbach 1999, S. 36), ein auf Reziprozität basierender sozialer Mechanismus, eine Veranstal-
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tung auf Gegenseitigkeit.1 Voraussetzung für dieses Handeln auf Gegenseitigkeit ist ein – in vielen anderen Definitionsversuchen vage bleibendes – Gefühl der Zusammengehörigkeit. Dieses für Solidarität notwendige Kriterium präzisiert Hengsbach (ebd.) als die Bereitschaft von Akteuren, sich angesichts einer gleichen Interessenlage als einander formal gleich anzusehen und gleich zu setzen; und diese grundlegende Anerkennung der formalen Gleichheit führt im Falle ungleich verteilter Lebensrisiken zur Solidarisierung mit dem Ziel des Ausgleichs. Für eine Handlungstheorie der Solidarität ist dieser auf Gegenseitigkeit angelegte Risikoausgleich von entscheidender Bedeutung – und die in der Literatur häufig zu findende Gegenüberstellung von eigeninteressiertem und gemeinschaftsorientiertem Handeln sowie der Befund des Fehlens einer egoistischen Interessenverfolgung bei solidarischem Handeln (vgl. etwa Kaufmann 2015, S. 331) nicht plausibel. Handlungstheoretisch gehaltvoll ist vielmehr gerade ein Verständnis, das Solidarverhalten als eine spezifische Form der individuellen Interessenverfolgung betrachtet (Vobruba 1983, S. 72ff.): Man zeigt sich als Mitglied einer Gruppe solidarisch, d.h. zu eigenen Lasten umverteilungsbereit, weil man absehen oder jedenfalls nicht ausschließen kann, zu einem späteren Zeitpunkt auf die Bereitschaft anderer Gruppenmitglieder zur Umverteilung zu eigenen Gunsten angewiesen zu sein. In diesem Sinne ist solidarisches Handeln eigennützig, und es bedeutet keineswegs den Verzicht auf einen individuellen Interessenstandpunkt. Mit der Bemerkung »Der wahre Egoist verhält sich solidarisch« kassiert Voland (1998, S. 302) die vermeintliche Gegenüberstellung von Eigennutz und Opferbereitschaft; Trivers (1971) argumentiert aus einer evolutionsbiologischen Sicht überzeugend, dass die Erklärung solidarischen Verhaltens mit individuellen Interessen sowie psychologischen Erwägungen möglich ist und eines Konzepts des Vorteils für die Gemeinschaft nicht 1 Durch die Betonung der Reziprozität als einem zentralen Element solidarischer Strukturen unterscheidet sich das hier vorgelegte Solidaritätsverständnis kategorial von einem Solidaritätsbegriff, der explizit (auch) kompensationslosen Ressourcentransfer von ego zu alter einschließt (vgl. etwa Tranow 2013, S. 398f. mit Hinweisen auf weitere Vertreter dieses Ansatzes).
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bedarf; und schon Simmel (1989 [1890], S. 148) betont: Solidarisierung hebt die Beschränkung des Handelns auf das unmittelbare eigene Interesse auf und sieht es zugleich gewahrt durch den Zusammenschluss, der zunächst nur dem anderen zugutekommt.2 Für die Erklärung der Motive individuellen solidarischen Verhaltens ist damit grundsätzlich, das heißt: unabhängig von konkreten Anlässen für und Manifestationen von Solidarität, von Bedeutung, dass es in Gruppen stattfindet, deren Angehörige nach eigener Überzeugung in mindestens einer Dimension ein gemeinsames, zugehörigkeitsgenerierendes (Gleichheit) und in mindestens einer Dimension ein unterschiedliches, umverteilungsgenerierendes (Ungleichheit) Merkmal aufweisen. So gesehen beschreibt der Begriff »solidarisch« nicht eine Eigenschaft einzelner Akteure, sondern dient der Charakterisierung sozialer Relationen und sozialer Beziehungen zwischen Akteuren. Solidarität infolge der »Analogisierung des eigenen Schicksals mit dem des Nachbars ist einer der mächtigsten Hebel der Vergesellschaftung« (Simmel 1989 [1890], S. 148)!
a. Solidaritätsnormen Im Rahmen eines solchen Solidaritätsverständnisses basiert solidarisches Handeln auf grundlegenden Reziprozitätsnormen. Um zu verstehen, warum derartige Solidarnormen nötig sind, ist darauf hinzuweisen, dass soziales Handeln mit Blick auf seinen solidarischen Gehalt keineswegs nur die zwei dichotomen Zustände »solidarisch« oder »nicht‐solidarisch« annehmen kann. Vielmehr ist solidarisches Verhalten, also ein mit Reziprozitätserwartungen verbundenes kostenträchtiges Handeln zugunsten Anderer, grundsätzlich gradueller Natur (Popitz 1968, S. 8). In- und Extensität solidarischen Verhaltens sind va2 Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass die Unterscheidung von Eigennutz und Opferbereitschaft auch in umgekehrter Richtung wenig überzeugend ist: auch Altruismus ist nicht pure Selbstlosigkeit, sondern enthält immer eigennützige Anteile; vgl. dazu Nagel (1998) für ethische und Nutzinger (1993) für verhaltensökonomische Herleitungen.
III. Redistributionskonflikte
riabel; und welches Ausmaß sie annehmen, hängt ab von den Kontextbedingungen der Solidaritätsbeziehung (Voland 1998). Von besonderer Bedeutung sind dabei zum einen die Stärke der Verbundenheit der Akteure und zum anderen der Faktor Zeit. Mit zunehmender Zahl der Gruppenangehörigen und mit zunehmender Dauer, auf die solidarische Zusammenhänge angelegt sind, sinkt zwar möglicherweise die materielle Solidarbelastung des Einzelnen. Es sinkt aber auch die Belastbarkeit der Anspruchsbeziehungen. Um die für generalisierte Reziprozität, also Reziprozitätsbeziehungen mit großem personalem Umfang und mit langen Zeithorizonten (Stegbauer 2011) typischen Vertrauensprobleme zu minimieren, bedarf es daher verlässlicher, vertrauensbildender Reziprozitätsnormen (Popitz 2010 [1980], S. 76ff.): Man zeigt sich als Mitglied einer Gruppe solidarisch, d.h. zu eigenen Lasten umverteilungsbereit, wenn man darauf vertrauen kann, zu einem späteren Zeitpunkt nötigenfalls die (implizit zugesagte) Bereitschaft anderer Gruppenmitglieder zur Umverteilung zu eigenen Gunsten einfordern zu können. In solidarischen Reziprozitätsbeziehungen kann das Handeln der interdependent beteiligten Akteure einen ausgesprochen weiten Zeithorizont haben. Insofern ist solidarisches Handeln sehr voraussetzungsvoll, weil alles andere als selbstverständlich. Deshalb gilt: Solidarisches Handeln wird durch Solidarnormen abgesichert. Für analytische Zwecke ist es daher erforderlich, zwischen Solidarität als gezeigtem Verhalten und Solidarität als normgebundener Form sozialer Steuerung zu unterscheiden (Kaufmann 2015, S. 335). Solidarisches Verhalten lässt sich demnach erklären mit der Befolgung existierender Solidarnormen. Wie aber lässt sich deren Existenz erklären? Normen sind verfestigte kontext- bzw. situationsspezifische Sollens-Erwartungen und Vorgaben für das Verhalten von Akteuren, das diese ohne derartige Vorgaben wahrscheinlich nicht an den Tag legen würden (Opp 2001). Solidarnormen als eine spezifische Erscheinungsform von Normen enthalten die Vorgabe, solidarisch zu sein. Solidarisch zu sein umfasst zum einen – und naheliegenderweise – die durch Tun belegte Bereitschaft des solidarische Hilfe Gewährenden zu selbstbelastendem Handeln in angemessenem Umfang zugunsten Anderer (vgl. Tranow 2013, S. 411f.); zum anderen aber auch das durch
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Tun belegte Bemühen des oder der solidarische Hilfe Empfangenden, die Belastung für den Hilfegewährenden so gering wie möglich zu halten oder jedenfalls nicht übergebührlich auszunutzen. Um als Verhaltensvorgabe wirksam zu sein, bedürfen Normen eines Mechanismus, der diese Normen nötigenfalls auch gegen den Willen der beteiligten Akteure durchsetzt. Dieser Mechanismus der Erzwingung normkonformen Verhaltens basiert in der Regel auf einem mehr oder weniger komplexen Gefüge negativ und positiv wirkender Sanktionen. Nun ist es freilich keineswegs zufällig, welche Normen in einer Gesellschaft gelten und wann soziales Verhalten, gemessen am Maßstab normativer Solidaritätserwartungen, als konform oder nonkonform angesehen wird. Mit der Frage nach solidarnormdurchsetzenden Sanktionssystemen in einer Gesellschaft geraten also unweigerlich Fragen von Macht und Herrschaft in den soziologischen Blick. Ich komme darauf zurück. Solidarnormen institutionalisieren die gegenseitigen Rechte und Pflichten von Akteuren, die zueinander in Solidarbeziehungen stehen. In Anlehnung an Opp (2000) lassen sich Solidarnormen als Kollektivgüter zweiter Ordnung klassifizieren, wenn die damit hergestellte Verhaltensregelmäßigkeit (nämlich: eine sozialintegrativ wirkende Solidarbeziehung, die sich verlässlich in reziprokem solidarischem Handeln der Mitglieder einer Gruppe manifestiert) als Kollektivgut erster Ordnung verstanden wird. Solidarnormen wie auch die darauf beruhenden Solidarbeziehungen sind jedoch kontingent in dem Sinne, dass sie Folge von Entscheidungen sind, die prinzipiell auch anders hätten ausfallen können. Dem solidarischen Verhalten der Hilfegewährenden und -empfangenden gehen zahlreiche Handlungsentscheidungen mit Normierungspotential voraus, ohne dass dies den konkret Beteiligten an einer solidarischen Interaktion auch immer zwingend bewusst sein muss.
b. Solidaritätsdimensionen Diese Entscheidungen betreffen erstens die Reichweite der Solidarbeziehungen (Redistributionsmechanismen, vgl. dazu ausführlich Kap.
III. Redistributionskonflikte
II). Hier sei lediglich daran erinnert, dass Mechanismen der Umverteilung und Solidarität im Zuge ihrer Institutionalisierung und Internalisierung Akzentuierungspotential entwickeln können. Das heißt, sie werden von den Mitgliedern der Gemeinschaft als relevante Kategorie der Unterscheidung von anderen Gemeinschaften konstruiert, gern auch im Rahmen so genannten Solidaritätsmanagements instrumentalisiert (dazu unten mehr). Solidaritätsverhältnisse neigen auf diese Weise prinzipiell zur Abschließung nach außen; solidarische Verhältnisse sind notwendigerweise partikulär und exklusiv (Kaufmann 1984, S. 180). Und zugleich haben Strukturen solidarischer Beziehungen damit auch Signalfunktion nach außen: Sie zeigen nicht nur Zugehörigkeitsgrenzen an, sondern verdeutlichen auch, welche Erwartungen an Akteure gestellt werden, die eine Integration in diese Solidarstrukturen begehren. Entscheidungen zur Solidarnormierung betreffen zweitens die anerkannten und normierten Auslöser solidarischen Handelns (Redistributionsmotive, vgl. ausführlich Kap. I): Berechtigte Reziprozitätsansprüche an andere Gruppenmitglieder können nur solche sein, die den Solidarnormen der Gruppe nicht widersprechen. Welche sozialen Herausforderungen die Verständigung auf solidaritätsrelevante Risiken mit sich bringt, zeigt allein schon der Umstand, dass mit zunehmender Gruppengröße strukturell bedingt nicht nur die soziale Komplexität und Unübersichtlichkeit, sondern ebenso die individuelle Risikovariabilität wie auch die Betroffenheitsheterogenität zwischen den Mitgliedern einer Gruppe zunimmt (Renn 2015). Aus diesen strukturellen Bedingungen, und nochmals verstärkt durch individuelle Verfasstheiten ergibt sich, dass Risikotoleranzen in Gruppen sozial ungleich verteilt sind. Solidaritätsinhalte ergeben sich damit aus der in einer definierten Kategorie wahrgenommen und konsensual als bearbeitungswürdig eingeschätzten materialen Ungleichheit zwischen den formal Gleichen einer Solidargemeinschaft. Sie sind angesichts der ungeheuer feinsinnigen menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit für Unterschiede tendenziell unerschöpflich (Fehmel 2019, S. 28f.) Entsprechend gilt in modernen Sozialzusammenhängen: Gesellschaftliche Konventionen zu den Gründen für Solidarität auf Basis von Wertorien-
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tierungen und gemeinsam geteilten Situationsdefinitionen sind zwar für jede Gesellschaft resp. Solidargemeinschaft essentiell, in funktional differenzierten Gesellschaften aber besonders schwer herbeizuführen und als Solidarnormen besonders schwer zu institutionalisieren (Kaufmann 1984; Boholm und Corvellec 2011). Die Mechanismen, mit denen diese gesellschaftlichen Konventionen zu solidaritätsauslösender Betroffenheit erarbeitet werden und Geltung erlangen, sind komplex; ihre ausführliche Erörterung würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Hinweise aber seien gegeben: Zum einen liegt es nahe, altruistisches Verhalten als einen möglichen Auslöser für solidarisches Verhalten in Betracht zu ziehen. Wenn auch möglicherweise initial gar nicht beabsichtigt, kann sich aus der zunächst rein philanthropischen Hilfe die Erwartung einer Vergeltung entwickeln, also der Nukleus einer Solidarbeziehung.3 Entweder darauf aufbauend oder aber – zum anderen – ganz unabhängig von altruistischen Initialzündungen ist die Verfestigung einer Verhaltensweise zu einer moralisch‐sittlichen Reziprozitätserwartung vorstellbar (Opp 2000), die dann wiederum – mit zunehmender Komplexität der Gruppenstrukturen – in Solidarbeziehungen per Recht und Gesetz transformiert werden muss (Geiger 1964), um das im Zuge funktionaler Differenzierung und struktureller Ausdehnung der sozialen Kreise (vgl. Simmel 1989 [1888], S. 20f.) schwindende Sanktionspotential der moralischen Reziprozitätserwartung kompensieren zu können. Das ist der Grund für die Beobachtung, dass mit zunehmender Gruppengröße und -komplexität die Existenz verrechtlichter Solidarbeziehungen wahrscheinlicher wird. Entsprechend haben Entscheidungen zur Solidarnormierung auch eine prozedurale Dimension. Sind Solidarnormen verrechtlicht, dann 3 Simmel hält dies sogar »…für den tieferen und wichtigeren, wenngleich verborgeneren Prozeß. Auch auf entwickelsten Gebieten glauben wir oft, daß die solidarische Aktion zweier Persönlichkeiten aus einer inneren Zusammengehörigkeit derselben hervorginge, während thatsächlich diese erst durch die Notwendigkeit jener vorübergehend, aber oft auch dauernd bewirkt wurde.« (Simmel 1989 [1890], S. 152)
III. Redistributionskonflikte
heißt das, dass die mit Rechtsetzungsmacht ausgestatteten Akteure einer Gesellschaft ein Interesse an bestimmten Formen umverteilungsrelevanter sozialer Beziehungen zwischen den Mitgliedern dieser Gesellschaft haben – und zugleich von der insuffizienten Geltung nichtrechtlicher Solidarnormen ausgehen: ihrer Einschätzung nach entfalten andere als rechtliche Mittel der Solidarnormdurchsetzung nicht ausreichend Wirkung. Jede Institutionalisierung von Solidarnormen, insbesondere aber die Setzung von Solidar-Rechtsnormen zwingt zur Befassung mit der Frage, wie genau denn Solidarbeziehungen zwischen den Mitgliedern der Solidargemeinschaft gestaltet sein sollen. Dabei werden die Konkreta solidarischer Praktiken üblicherweise gemeinsam mit der Reichweite der solidarischen Beziehungen (strukturelle Dimension) und mit den Gründen für solidarisches Handeln (inhaltliche Dimension) normiert. Genauer: im Setzungsakt fließen die analytisch unterscheidbaren Dimensionen nachgerade zwangsläufig zusammen, weil letzten Endes über keine der drei Dimensionen ohne parallele Entscheidungen zu den jeweils beiden anderen Dimensionen entschieden werden kann. Am ehesten ist noch vorstellbar, eine Mehrzahl von Akteuren auch zunächst ohne konkreten Solidaritätsgrund und -anlass sowie ohne Normierung von Solidaritätsmodi als eine Solidargemeinschaft zu deklarieren, also die Reichweite der potentiellen Solidarbeziehungen abstrakt und auf zunächst nicht näher bestimmte zukünftige »Solidarfälle«, gleichsam auf Vorrat, festzulegen. Wie umverteilungsfest Solidarbeziehungen sind, erweist sich allerdings unausweichlich erst in ihrer praktischen Bewährung. Solidaritätsgründe und -modi können hingegen aufgrund ihrer Relationalität ohne vorherige oder gleichzeitige Festlegung der Solidaritätsreichweite, also der möglichen Beteiligten an den Anspruchsbeziehungen, nicht bestimmt werden. Gleichviel aber, wann und wie über die drei Dimensionen entschieden wird: die Entscheidungshierarchie zwischen ihnen bleibt in jedem Fall bestehen: Innerhalb einer Gruppe (Reichweite) wird erst über die solidaritätsauslösenden Lebenssituationen und Bedarfslagen (Grund) entschieden und dann die Art und Weise der Beteiligung konkreter Akteure an der Solidarbeziehung und die Aufteilung von Kosten und Nutzen zwischen ihnen festgelegt (Abb. 5)
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Abbildung 5 Hierarchie solidaritätsrelevanter Entscheidungen
Dass Entscheidungen zum Modus von Solidarität die hierarchisch nachrangigsten sind, bedeutet jedoch nicht, dass sie ohne Schwierigkeiten zu fällen wären. Für die Erörterung der modusbezogenen Entscheidungsschwierigkeiten ist es sinnvoll daran zu erinnern, dass Solidarbeziehungen Distributionsrelationen sind, in denen faktische materiale Transfers stattfinden bzw. über derartige Transfers verhandelt wird (vgl. Kolers 2012).4 Mit einem solchen materialen Verständnis von Solidarbeziehungen lassen sich analytisch die zu einem bestimmten Zeitpunkt t1 an einer Solidarbeziehung Beteiligten als Geber oder als Empfänger klassifizieren; und diese Rollenaufteilung kann sich infolge der reziproken Struktur von Solidarbeziehungen zu einem späte-
4 Das heißt auch, dass pauschale und abstrakte Solidaritätsbekundungen, wie sie zum politischen Tagesgeschäft gehören, allenfalls eine Bereitschaft zum Transfer annoncieren, oft aber über Lippenbekenntnisse ohne tatsächliche Transferbereitschaft nicht hinausgehen. Solche Bekundungen sind dann wohlfeil, da nicht mit Kosten verbunden.
III. Redistributionskonflikte
ren Zeitpunkt t2 umkehren.5 Damit geraten die Verteilung von Kosten und Nutzen innerhalb einer Solidarbeziehung zu einem bestimmten Zeitpunkt wie auch mögliche Verschiebungen im Kosten-NutzenVerhältnis im Zeitverlauf ins Zentrum des analytischen Interesses. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass modusbezogene Solidarnormen, auch wenn Fragen der Reichweite und der Begründungen solidarischen Verhaltens bereits geklärt sind, Lösungen für Handlungsprobleme bereitstellen müssen, die sich auf den beiden Seiten einer Solidarbeziehung ergeben und auf die Kosten und Nutzen der jeweils Beteiligten beziehen. Probleme auf Seiten des rezenten Gebers können sich aus dessen ungenügender Bereitschaft zur Kostenübernahme ergeben. Sofern diese mangelnde Bereitschaft sich daraus ergibt, dass der Geber Unklarheiten bezüglich der Mitgliedschaft des Nehmers zur Solidargruppe oder bezüglich des Vorliegens eines Solidaritätsanlasses deklariert, werden letztlich Fragen auf Ebene der strukturellen oder inhaltlichen Solidaritätsdimension verhandelt. Das zeigt sich dann in der Regel in der vollständigen Zurückweisung einer Solidaritätsforderung. Eine modusbezogen ungenügende Bereitschaft zur Kostenübernahme erkennt hingegen sowohl die Zugehörigkeit des Nehmers als auch seinen Umverteilungsanspruch an, stellt aber die Höhe der zu tragenden Kosten (resp.: die Höhe des Nutzens für den Empfänger) in Frage. Das zeigt sich üblicherweise in einer relativen Zurückweisung einer Solidaritätsforderung. Die in einer Solidarbeziehung angelegte Reziprozitätsstruktur kann zur Entschärfung dieses Problems der ungenügenden Kostenübernahmebereitschaft des rezenten Gebers beitragen: Je höher dessen Transferbeiträge (Kosten) sind, desto höher ist auch seine Reziprozitätserwartung bezüglich zukünftiger Gegenleistungen (Nutzen).6 Hingegen 5 Zu Vereinfachungszwecken wird hier vom Idealfall einer solidarischen Zweierbeziehung ausgegangen. Die Ausweitung auf mehr als zwei Akteure ändert nichts an den Möglichkeiten der analytischen Kategorisierung. 6 Neben der Höhe des Transferbeitrages dürfte auch die Stärke der emotionalen Bindung zwischen rezentem Geber und rezentem Empfänger Einfluss auf Transferbereitschaft und die Reziprozitätserwartung haben.
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erreichen rezente Geber durch die Reduktion ihrer Beiträge zu t1 zwar eine aktuelle Kostensenkung, provozieren damit aber auch eine Reduktion ihrer späteren (t2 ) Auszahlung(sansprüche). In durchaus rationaler Abwägung kann das dazu führen, dass rezente Geber nicht zwingend ein Interesse an möglichst geringen Kosten bzw. Beiträgen haben müssen. Das setzt jedoch voraus, dass allen Beteiligten, insbesondere dem rezenten Geber, der reziproke Charakter der Umverteilungsbeziehung auch bewusst ist. Noch wichtiger für die Kostenübernahmebereitschaft des rezenten Gebers ist jedoch, dass er auf eine zukünftige Gegenleistung in nicht unbedingt konkret bezifferter, aber zumindest »gefühlt« angemessener Höhe vertrauen kann. Angesichts der zuweilen sehr langen Zeiträume zwischen Leistung (Kosten zu t1 ) und Gegenleistung (Nutzen zu t2 ) ist Vertrauen riskant (Popitz 1992, S. 203f.) und solidarisches Verhalten zugunsten Anderer entsprechend unwahrscheinlich. Genauer: freiwilliges solidarisches Verhalten ergibt aus der subjektiven Einschätzung nicht nur der aktuellen Situation, sondern auch zukünftiger Konstellationen: Vorstellbar ist, dass der rezente Geber zwar durchaus ein Interesse an einer solidarischen Beziehung hat, gerade weil er von einem eigenen zukünftigen Bedarf daran ausgeht, andererseits aber dem rezenten Empfänger (unabhängig von dessen ggf. gemachter Zusage) nicht die Fähigkeit zu späterem reziproken Handeln zutraut. Eine solche Einschätzung senkt die Solidaritäts- und Transferbereitschaft beim rezenten Geber unter Umständen erheblich. Modusbezogene Solidarnormen dienen also zunächst der Etablierung von Institutionen zur Herstellung dieses langanhaltenden Vertrauens (Luhmann 2014 [1968], S. 9f.; 1969, S. 227). Doch selbst wenn ein rezenter Geber keinen begründeten Anlass hat, innerhalb einer Solidarbeziehung an einer zukünftigen Gegenleistung zu seinen Gunsten zu zweifeln, ändert das nichts an der Tatsache, dass die von ihm geleisteten rezenten Solidarbeiträge zunächst einmal seinem individuellen Ressourcenpool zur sofortigen Befriedigung eigener Bedürfnisse entzogen sind. Es ist ohne weiteres denkbar, dass ein Akteur in dieser Entscheidungskonstellation – aktuell Verzicht für spätere Zeiten und/oder zugunsten Anderer üben oder die fraglichen Ressourcen zum sofortigen eigenen Nutzen verwenden – eine kurzfris-
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tig rationale Gegenwartspräferenz entwickelt, selbst wenn die KostenNutzen-Saldierung der reziprozitätsberücksichtigenden Langfristperspektive attraktiver ist. Das ist etwa dann der Fall, wenn der rezente Geber davon ausgeht, seinerseits zukünftig nicht in eine Bedürftigkeitssituation zu geraten, die die Aktivierung solidarischer Hilfe notwendig macht; unter diesen Umständen einer vermeintlich nicht benötigten Reziprozitätsbeziehung sinkt die Bereitschaft zu eigenem solidarischen Verhalten in Abhängigkeit vom Verbundenheitsgefühl mehr oder minder stark. Modusbezogene Solidarnormen dienen also auch der Etablierung von Institutionen zur Herstellung und Aufrechterhaltung solidarischer Verpflichtungen bei gering ausgeprägter Freiwilligkeit (Tranow 2013). Ebenfalls in den Bereich der prozeduralen Dimension von Solidarität fällt die Entscheidungskonstellation, dass ein potentieller rezenter Geber zwar alle bislang erörterten Aspekte einer Solidarbeziehung akzeptiert, nicht aber über die Mittel verfügt, die Beziehung auch manifest werden zu lassen. Daraus lässt sich ableiten, dass die erwarteten Leistungen dem rezenten Geber auch zumutbar sein müssen und der Transferbeitrag die Selbstbestimmung des Gebers nicht gefährden darf (Steinvorth 1998). Auch diesem Regelungszweck, der Deckelung der Solidarverpflichtung des rezenten Gebers entsprechend seiner aktuellen Leistungsfähigkeit, dienen modusbezogene Solidarnormen. Jedes der erörterten möglichen Solidaritätsprobleme auf Seiten des rezenten Gebers enthält Potential für Entsolidarisierungsdynamiken. Unzureichende Lösungen dieser Probleme strahlen freilich über Modusfragen im engeren Sinne weit hinaus. Da solidarisches Verhalten per definitionem ein in Gruppen gezeigtes und auf Gruppen bezogenes Verhalten ist, kann sich Entsolidarisierung generell in zweierlei Form äußern: Sie führt entweder zu faktischer De-Kollektivierung, also zur Auflösung der Gruppe als Reziprozitäts- und Solidarverband und zum Umschalten auf (kurzfristige) asolidarische individuelle Verfolgung von Eigeninteressen. Oder Entsolidarisierungsdynamiken forcieren die Re-Definition von Solidaritätsanlässen und ggf. gar die Re-Definition von Gruppenzugehörigkeit. Die Geltung modusbezogener Solidarnormen ist also von elementarer Bedeutung für die Stabilität von Solidarbeziehungen ge-
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nerell – inklusive der Fragen der Reichweite von und der Gründe für Solidarität – und damit elementar für die Integration der Gruppe. Modusbezogene Solidarnormen halten auch Verhaltensvorgaben für rezente Empfänger bereit. Die Versuchung, als aktueller Nutznießer eine Solidaritätsbeziehung auszubeuten, wird zwar auch hier durch den reziproken Charakter der Beziehung strukturell begrenzt: Je mehr Hilfe beansprucht wird, desto höher sind eventuelle Gegenleistungspflichten in der Zukunft. Das Interesse an möglichst geringen zukünftigen Transferpflichten mag demnach dazu beitragen, dass auch die gegenwärtigen Transferanrechte eigeninteressiert nicht überstrapaziert werden. Gleichwohl bedarf es der Absicherung gegen Ausbeutung und Missbrauch der Solidarbeziehung oder das, was rezente und potentielle Geber dafür halten könnten. Das umfasst Nachweispflichten bezüglich der Hilfeberechtigung (strukturelle Dimension) und bezüglich der Hilfebedürftigkeit (inhaltliche Dimension) ebenso wie Nachweispflichten bezüglich der Anstrengungen, das Ausmaß der Hilfebedürftigkeit (genauer: das Ausmaß der Transferpflicht des jeweils rezenten Gebers) schnellst- und weitmöglichst zu reduzieren. Hier wird soziale Kontrolle als Funktion modusbezogener Solidarnormen besonders sichtbar.
c. Solidaritätsmanagement Angesichts der beschriebenen Handlungs- und Entscheidungskonstellationen wird deutlich, dass solidarisches Verhalten und darauf aufbauende Solidarstrukturen ausgesprochen voraussetzungsvolle Entitäten sind. Vor diesem Hintergrund macht F.X. Kaufmann völlig zu Recht darauf aufmerksam, dass »…solidarische Steuerung an kurze Handlungsketten gebunden [scheint]. Je komplexer die Handlungszusammenhänge werden, um so unwahrscheinlicher lassen sie sich durch Brauch und Sitte bzw. gemeinsame Wertorientierungen und Situationsdefinitionen allein steuern. Der Zusammenhang von Beurteilungskriterien, Handlungsweisen und Erfolgszurechnung muß für die Beteiligten überschaubar sein oder
III. Redistributionskonflikte
zumindesten für überschaubar gehalten werden. Mit Bezug auf komplexe gesellschaftliche Situationen erscheint daher die Möglichkeit solidarischer Steuerung von Vereinfachungen abhängig, deren Tragfähigkeit von Fall zu Fall zu prüfen ist.« (Kaufmann 1984, H.i.O.) Das freilich dürfte die Fähigkeiten komplexer Gesellschaften bei weitem übersteigen. Solidarisches Handeln in komplexen Gesellschaften muss daher durch Solidarnormen abgesichert werden, die dieser Komplexität gerecht werden, indem sie sie reduzieren. Die bereits erwähnte Tendenz der zunehmenden Verrechtlichung von Solidarnormen bei zunehmender sozialer Komplexität geht unweigerlich einher mit der zunehmenden Relevanz von Zwang zur Durchsetzung der Solidarnormen. Anzuerkennen, dass es so etwas wie Solidarnormen gibt, heißt also auch anzuerkennen, dass Solidarität erzwingbar ist. Normen sind per definitionem Mechanismen zur Erzwingung eines bestimmten Verhaltens (Popitz 2010 [1980]). Die Frage ist also nicht, ob, sondern wie und wie stark Normen ein bestimmtes Verhalten erzwingen. Fluchtpunkt der Zwangswirkung von Normen ist dabei stets, dass der Normadressat Gefahr läuft, durch normnonkonformes Verhalten den Entzug seiner sozialen Anerkennung zu riskieren. Ob er diesem Anerkennungsentzug zuvorkommt, indem er eine Norm internalisiert und sich der Überzeugung hingibt, sie aus einer autonomen Entscheidung heraus zu befolgen (vgl. dazu Fehmel 2014c); oder ob er sich in vollem Bewusstsein notgedrungen der Norm unterwirft, um der drohenden sozialen Ächtung zu entgehen, ist letzten Endes zweitrangig. Entscheidend ist, dass Gesellschaften – auch komplexe Gesellschaften – Wege finden, ihre Mitglieder zu solidarischem Handeln zu veranlassen, obwohl die Möglichkeiten und Anreize zu nicht‐kooperativem Verhalten so zahlreich sind (Trivers 1971). Es bedarf also der Solidarnormierung, wenn der Eigenantrieb der in eine potentielle Solidarbeziehung Involvierten zu solidarischem Handeln nicht ausreicht, weil ihr subjektives Gefühl der sozialen Verbundenheit als Solidaritätsantrieb oder ihr taxierter Eigennutzen der Reziprozitätsbeziehung zu gering ist (Gouldner 1960, S. 175). Da wirksame und transferfeste, verlässliche und reziproke Solidarbeziehungen im
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Hinblick auf die soziale Integration ein Kollektivgut darstellen, sind die dieses manifeste solidarische Handeln absichernden Solidarnormen als Kollektivgüter zweiter Ordnung zu betrachten. Das gilt für alle drei Dimensionen von Solidarität. Der Bedarf an Solidaritätsnormen verweist schließlich auf das, was ich Solidaritätsmanagement nennen möchte. Als Solidaritätsmanagement bezeichne ich die Gesamtheit sowohl der Versuche, die oben dargestellten »Entscheidungen« bezüglich der Strukturen, Inhalte und Prozedere solidarischer Beziehungen zu treffen, ggf. zu adaptieren und jeweils zu rechtfertigen, als auch der Bemühungen, entsprechende Solidarnormen durchzusetzen, ihnen Geltung zu verschaffen und sie zu stabilisieren. Solidaritätsmanagement umfasst auch Bemühungen, geltende Solidarnormen in Frage zu stellen und in den genannten Dimensionen ihre Geltungskraft zu verändern. Das lenkt die Aufmerksamkeit auf das Handeln solidaritätsinteressierter Akteure. So gesehen ist Solidarität als Norm und als faktisches Handeln eine Konstruktionsleistung; und die Möglichkeit, Solidaritäten zu »konstruieren«, verweist unweigerlich auf gesellschaftliche Prozesse von Macht und Normierung. Die Durchsetzung und Stabilisierung von Solidarnormen ist eine machtvolle Angelegenheit. Erzwungene Solidarität ist dafür ein beredtes Beispiel. Dabei geht der Zwang zur Solidarität freilich über unmittelbar beobachtbare, mit Sanktionskraft ausgestattete Verhaltensanweisungen weit hinaus. Internalisierte Solidaritätsnormen können weitgehend ohne unmittelbare Sanktion(sandrohung) verhaltenswirksame Geltung entfalten. Internalisierte Solidarnormen sind, insbesondere in großen, komplexen und hochgradig anonymen Sozialzusammenhängen, das Resultat der strategischen Bearbeitung kollektiver Identitäten: Grundlage einer jeden solidaritätsfesten Vergemeinschaftung ist – darauf wurde bereits hingewiesen – postulierte Homogenität der Gemeinschaftsmitglieder in mindestens einer differenzierungsfähigen Kategorie. Gelingt die Durchsetzung dieser Definition, wird die postulierte Homogenität unter Umständen zu einem, wenn nicht dem Element kollektiver Identität, d.h. die Mitglieder der Gemeinschaft erachten die postulierte Kategorie der Ähnlichkeit oder gar Gleichheit als konstitutiv für ihre Zusammengehörigkeit –
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und damit auch für ihre Solidaritätsbereitschaft. Verfestigte Homogenitätsbehauptungen und Identitätskonstruktionen begünstigen also die Geltung von Solidarnormen, und sie sind entsprechend Gegenstand eines strategischen Solidaritätsmanagements.
2. Konflikt als Form der Vergesellschaftung In keiner soziologischen oder sozialpsychologischen Auseinandersetzung mit Solidarität als sozialem Phänomen fehlt der Hinweis auf den empirisch immer wieder bestätigten Zusammenhang von solidarischen Handlungsstrukturen innerhalb einer Gruppe und deren Neigung zu sozialer Schließung und Abgrenzung nach außen: Intragruppensolidarität begünstigt Intergruppenkonflikte. In den hier bislang angestellten Überlegungen ging es mir hingegen im Kontext von Solidarität ausschließlich um Handlungs- und Koordinationsprobleme innerhalb von Gruppen. Gleichwohl gibt es auch im Zuge der Entfaltung der Argumentation und der Systematisierung gruppeninterner Solidaritätsprobleme unzählige Anknüpfungspunkte an das Thema »Konflikt«. Nahezu jede der aufgeworfenen Fragen zu Reichweite, Anlässen und Modi von Solidarität dürfte innerhalb einer Gesellschaft von (potentiell) miteinander solidarischen Akteuren umstritten sein. Diese Fragen als politische Entscheidungen zu konzeptualisieren, wie oben geschehen, heißt nachgerade zwangsläufig, eine gewisse Konfliktualität zu unterstellen, jedenfalls dann, wenn man das Politische als grundsätzlich agonistisch, konfliktiv denkt. Solidaritätsmanagement als ein in großen, komplexen Gemeinschaften unverzichtbares strategisches Gestalten von Solidarnormen zum Zwecke der Etablierung, Stabilisierung, Adaptierung von Solidarbeziehungen enthält demnach mannigfaltiges Konfliktpotential. Solidarnormen normieren Solidarbeziehungen. Solidarbeziehungen wiederum sind geregelte und institutionalisierte Beziehungen zwischen sozialen Akteuren, die ihren Ausdruck in manifesten Umverteilungen von Ressourcen und in damit verbundenen Verhaltenserwartungen finden. Solidarnormen haben also Umverteilungseffekte.
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Solidarbeziehungen als Kollektivgüter erster und Solidarnormen als Kollektivgüter zweiter Ordnung sind ihrem Wesen nach konfliktiv. Soziale Konflikte sind die Antriebselemente von Solidaritätsmanagement und Solidarnormierung. Das rechtfertigt eine analytische Beschäftigung mit »Konflikten um Solidarität« wie auch mit »Konflikten durch Solidarität«.
a. Konfliktverständnis Sozialer Konflikt ist – wie Solidarität – eine spezifische Form sozialer Beziehungen.7 In sozialen Konflikten nehmen mindestens zwei soziale Akteure auf individueller oder kollektiver Ebene ihre Meinungen, Ziele oder Interessen als verschiedenartig und gegenläufig wahr, und handeln entsprechend. Wie für Solidarbeziehungen sind auch für soziale Konflikte soziale Unterschiede Voraussetzung. Diese Unterschiede können sich unter angebbaren Bedingungen durch Prozesse der Deutung, Problematisierung und damit Politisierung zu sozialen Ungleichheiten entwickeln. Das führt zu sozialen Konflikten dann, wenn die Deutungsleistung bei mindestens einem der involvierten Akteure mit dem Bemühen einhergeht, die wahrgenommene Ungleichheit zu überwinden bzw. zu reduzieren. Durch das aktive Bestreben, den eigenen relativen Status zu verändern (etwa hinsichtl. des Zugangs zu Ressourcen, Macht, sozialer Anerkennung o.ä.), wird aus sozialer Ungleichheit sozialer Konflikt. Ähnlich wie im Falle der Solidarität bestehen auch im Falle eines sozialen Konfliktes die Beziehungen zwischen ungleichen Gleichen. Wie oben ausgeführt, ist die formale Gleichheit (Zugehörigkeit zu ein und derselben Solidargemeinschaft) Voraussetzung dafür, dass sich material ungleich ausgestattete Akteure zueinander solidarisch verhalten. Für konfliktives Verhalten ist zwar formale Gleichheit nicht Voraussetzung. Dennoch lässt sich jeder soziale Konflikt auch als ein Konflikt zwischen Gleichen betrachten, weil um knappe Ressourcen, Po7 Die folgenden Ausführungen basieren auf einem andernorts ausführlicher eingeführten Modell zur Analyse sozialer Konflikte (Fehmel 2014b; 2019).
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sitionen, Einflusschancen und Anerkennungsansprüche Akteure oder Gruppen von Akteuren konkurrieren, die sich allein schon in ihrer Rolle als Konfliktbeteiligte einander gleichen.8 Als Gleiche begegnen sie sich aber auch insofern, als sie sich in ihren Ansprüchen auf den Konfliktgegenstand für gleichberechtigt halten oder zumindest nicht umhinkönnen, die Ansprüche der Konfliktgegner zur Kenntnis zu nehmen. Für Solidaritäts- wie für Konfliktbeziehungen gilt daher: Handlungstheoretisch ist Gleichheit die Voraussetzung für Ungleichheit (vgl. Schütz 2011 [1955]). Soziale Konflikte sind nicht per se dysfunktional. Sie können sozial integrierend oder desintegrierend wirken. Sozialintegrative Wirkungen haben sie dann, wenn sie zu assoziativen sozialen Strukturen, zu dauerhaft kohäsiven und konstruktiven Beziehungen und zu für funktional differenzierte Gesellschaften charakteristischen Kooperationsgefügen zwischen Akteuren führen oder diese, sofern sie bereits bestehen, nicht schwächen. Konflikte können also unter anderem in Solidarbeziehungen münden oder bestehende stärken. Desintegrativ wirken soziale Konflikte hingegen, wenn sich in ihrer Folge dissoziative Strukturen herausbilden, also bestehende soziale Kontakte reduziert, wechselseitige soziale Beziehungen geschwächt, Kooperationsbereitschaften und -zusammenhänge aufgekündigt und soziale Akteure voneinander isoliert werden (Galtung 1970). Konflikte können also unter anderem auch bestehende Solidarbeziehungen schwächen. Ob und in welcher Weise soziale Konflikte einen sozialen (Solidar-)Zusammenhang (zer)stören oder vielmehr zu seiner Stabilisierung und Weiterentwicklung beitragen, kann nur empirisch und für den Einzelfall ermittelt werden. Ähnlich wie für Solidarität bietet es sich daher an, auch Konflikt als soziales Phänomen zum Zwecke empirischer Prüfbarkeit analytisch zu zerlegen. Das (Des-)Integrationspotential sozialer Konflikte lässt sich anhand von vier Dimensionen untersuchen (vgl. ausführlich Fehmel 2015). 8 Prägnant kommt das in der Etymologie des Begriffes der Rivalität zum Ausdruck. Rivalen – nach modernem Sprachverständnis Konfliktgegner – waren ursprünglich diejenigen, die einen Wasserlauf gleichberechtig nutzen durften.
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b. Konfliktdimensionen Analog zur strukturellen Dimension der Reichweite von Solidarbeziehungen lassen sich auch soziale Konflikte entlang der Frage ihrer Reichweite, das heißt: Konfliktbetroffenheit untersuchen. Mit dem Grad der funktionalen Differenzierung eines sozialen Zusammenhangs steigt bekanntlich die Zahl von sozialen Zugehörigkeiten und Rollen einzelner Akteure. Durch diese Pluralisierung von Zugehörigkeiten erhöht sich für einen Akteur unter Umständen nicht nur die Zahl der Einbindungen in differente solidarische Strukturen (Hondrich, Koch-Arzberger 1992, S. 22), sondern auch die Wahrscheinlichkeit, als Individuum oder als Angehöriger einer sozialen Gruppe in einen manifesten sozialen Konflikt involviert zu sein. Zugleich steigt damit aber auch die Wahrscheinlichkeit sich überschneidender Konflikte und sich überlagernder Konfliktlinien und es sinkt die Relevanz sozialer Konflikte und Großpolarisierungen entlang einer einzigen, (vormals) zentralen Achse (Gluckman 1956, S. 25). Dadurch kann sich für den einzelnen Akteur die Bedeutung des einzelnen sozialen Konfliktes relativieren. Das heißt, mit zunehmender funktionaler Differenzierung nimmt die Zahl sozialer Konflikte und der Konfliktbeteiligten zu, die Intensität (und damit das Desintegrationspotential) sozialer Konflikte hingegen ab. Je intensiver und vielfältiger die Interdependenzen und Kooperationsbedürfnisse zwischen gesellschaftlichen Teilbereichen und sozialen Gruppen sind, desto wahrscheinlicher sind relationale Positionen innerhalb eines einzelnen von vielen möglichen Interessengegensätzen Konfliktgegenstand (Simmel 1992 [1908], S. 846), und nicht grundsätzliche Fragen der Gesellschaftsorganisation. Im Zuge der europäischen Integration »erwerben« die Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedstaaten der Europäischen Union eine weitere politische Zugehörigkeit: die der Unionsbürgerschaft. Damit sind vom Nationalstaat unterscheidbare politische Partizipationsrechte ebenso verbunden wie europäische Rechtsbetroffenheit. Vor allem aber vervielfältigen sich im Zuge der europäischen Integration ihre sozialen Zugehörigkeiten: Sie können neben ihrer Zugehörigkeit zur Europäischen Union als Bürger beispielsweise auch dem Schengen-Raum
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(Aufhebung innereuropäischer Grenzkontrollen), dem Europäischen Hochschulraum (Vereinheitlichung des tertiären Bildungssystems), der Euro-Zone (Währungsunion und Aufhebung nationaler Währungssouveränität) oder dem Raum der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Aufweichung national gerahmter Protektionsräume) angehören. All diese verschiedenen Sozialräume sind inkongruent; das heißt, die oder der Einzelne teilt ihre unter Umständen umverteilungs- und damit konfliktrelevante soziale Zugehörigkeit je nach Sozialraum mit unterschiedlichen Akteuren in unterschiedlichen sozialen Kreisen. Die einzige Gemeinsamkeit all dieser inkongruenten Sozialräume ist, dass sie segmentäre Differenzierungen zugunsten funktionaler Differenzierungen und Entdifferenzierungen relativieren und tendenziell überwinden. Analog zur inhaltlichen, anlassbezogenen Dimension von Solidarität lassen sich auch soziale Konflikte mit Blick auf ihre Inhalte bzw. die Konfliktgegenstände bestimmen. Analytisch werden hierbei üblicherweise Verteilungskonflikte und Wertkonflikte unterschieden. Dafür ist grundsätzlich die Frage zu klären, ob die Konfliktbeteiligten den Konfliktgegenstand als teilbar oder unteilbar betrachten (Hirschman 1994). Verteilungskonflikte sind Konflikte um teilbare und verteilbare oder um verhandlungs-, ausgleichs- und ggf. substitutionsfähige Güter, Ressourcen oder soziale Positionen; sie lassen sich per Kompromiss und durch Nutzung geeigneter Verteilungsmedien (beispielsweise Geld oder zeitliche, räumliche, sachliche Machtbeschränkungen) und Verteilungsstrukturen (zum Beispiel Solidarität) vergleichsweise leicht beilegen. Gegenstand sogenannter Wertkonflikte sind hingegen aus Sicht der Beteiligten als unteilbar empfundene Materien und unvereinbare Werte, etwa entlang rivalisierender ethnischer, linguistischer oder religiöser Gruppenzugehörigkeiten. Deshalb gelten sie als schwerer bearbeit- und beilegbar. Häufig zeigt sich jedoch, dass die empirische Zuordnung bestehender Konflikte entlang der heuristisch plausiblen Unterscheidung von Verteilungs- und Wertkonflikten schwierig ist (van den Daele 2001). Empirisch ist wohl anstelle eines dichotomen
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Verhältnisses von graduellen Abstufungen auszugehen: Auch Wertkonflikte haben eine Verteilungsdimension. Schlussendlich sind alle Konflikte Verteilungskonflikte, aber unter bestimmten Bedingungen ist deren Transformation und »Kulturalisierung« (Manow 2018: 13) in schwer zu bearbeitende Wertkonflikte möglich. Das ist etwa dann der Fall, wenn sich aus einem so genannten realistischen Konflikt, der auf unterschiedlichen Interessen bezüglich eines konkreten Konfliktgegenstandes beruht, ein unrealistischer Konflikt entwickelt, der von allgemeiner, nicht zwingend gegenstandsbezogener Feindseligkeit getragen ist (Coser 1965). Die Funktion solcher Konflikte dürfte dann weniger im Aushandeln und Durchsetzen von Interessen liegen, sondern primär in sozialer Selbstvergewisserung und in der Konstruktion und Stabilisierung einer Gruppenidentität durch Abgrenzung. Der Aufbau von Solidaritätsbeziehungen und -strukturen wird dadurch erheblich erschwert. Die Gegenwart der Europäischen Union und der in ihr vereinten nationalen Wohlfahrtsstaaten ist geprägt von zahlreichen solcher Wertkonflikte (vgl. dazu sehr scharfsinnig Abraham 2017). Sie zeigen sich nicht nur in einer um sich greifenden Ablehnung von Europa als multiplem politischen und sozialen Raum. Sie zeigen sich auch in einem Wiedererstarken von Wohlfahrtsstaatschauvinismen, Populismen, Separatismen, Nationalisierung und Re-Nationalisierung, also in Projekten segmentärer Differenzierung. Das unterstreicht, dass auch Meidung im Sinne politischer und sozialer Schließung eine Form der Konfliktaustragung ist. Analog zur Frage, wie regelhaft solidarisches Handeln gestaltet ist, spielt für die Analyse sozialer Konflikte schließlich auch der Grad der Regulierung und Verrechtlichung der Konfliktaustragung eine tragende Rolle (Dahrendorf 1972, S. 41). Je ausgebauter und umfangreicher die Verfahrensregeln der Konfliktaustragung sind, desto geordneter und strukturierter können Konflikte ausgetragen werden und entsprechend vorherseh- und berechenbar sind ihre Lösungen für die Beteiligten. Allseits akzeptierte Verfahrensvorgaben zur Konfliktaustragung können
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zunächst bewirken, dass die Konfliktparteien sich und ihre inkompatiblen Interessen gegenseitig zur Kenntnis nehmen und als legitim anerkennen. Zudem lassen sich bestehende Machtunterschiede und Ressourcenungleichheiten zwischen den Konfliktgegnern vorübergehend und jedenfalls partiell außer Kraft setzen. Schließlich hat der Grad der Konfliktregelung und -einbettung auch Einfluss darauf, ob bzw. dass die Beteiligten die verfahrensmäßig gefundenen Verteilungslösungen zumindest befristet als verbindliche Handlungsanweisungen ansehen (Luhmann 1969). Bedeutsam für die Wirksamkeit von Verfahren ist aber vor allem die Existenz eines »durchsetzenden Dritten«, einer legitimen Instanz, die die Konfliktaustragung überwacht und die gefundenen Konfliktlösungen ggf. zwangsweise durchzusetzen in der Lage ist (Knight 1997, S. 60). In der Europäischen Union existiert ein ausgebautes Institutionensystem, dem diese Funktion der Regulierung transnationaler Konflikte zukommt, und es gibt mit der Europäischen Kommission und mehr noch mit dem Europäischem Gerichtshof Akteure, die die Rolle der Figur des durchsetzenden Dritten innehaben. Stärker als in national geformten Konfliktkulturen ist der zentrale Durchsetzungsmechanismus auf europäischer Ebene das Recht auf Basis der europäischen Verträge. Erklären lässt sich das damit, dass angesichts der Grundintention des Projektes Europa, der Vertiefung grenzüberschreitender Beziehungen zwischen sozialen Akteuren, kodifizierte Konfliktregeln erforderlich sind, die gerade das transnationale (Konflikt-)Verhalten gesellschaftlicher Akteure strukturieren. Solange aber auf europäischer Ebene der Zustand rudimentärer Parlamentarisierung und Politisierung anhält, solange kommt die Erarbeitung dieser Konfliktregeln primär dem Europäischen Gerichtshof zu.
c. Konfliktrahmen Das Setting aus (in komplexen Gesellschaften vor allem rechtlich kodifizierten) Verfahrensregeln, Verteilungsmechanismen, Verteilungsbeziehungen und Überwachungsinstanz für die Austragung sozialer Konflikte lässt sich als Konfliktrahmen bezeichnen. Solidarnormen sind ei-
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ne mögliche Erscheinungsform von Konfliktrahmen. Da das Austragen konkreter sozialer Konflikte Verteilungskonsequenzen hat, liegt es nahe, dass umverteilungsbetroffene Akteure nicht nur in derartigen Konflikten selbst nach Distributionsgewinnen streben. Sie streben auch danach, schon bei der Gestaltung eines relevanten Konfliktrahmens für derartige Konflikte Regelungen durchzusetzen, die dauerhaft Verteilungsvorteile in Aussicht stellen, indem sie die Möglichkeiten potentieller Konfliktgegner einschränken – und zwar nicht nur situativ, sondern strukturell! Demnach können auch Konfliktrahmen sowohl Gegenstand als auch Ergebnis von Konflikten sein. In diesen Konflikten um Konfliktrahmen geht es grundsätzlich darum, die Reichweite der Konfliktbetroffenheit und die Regeln der zukünftigen Konfliktaustragung dauerhaft festzulegen; und es geht um die Frage, welchem Akteur eigentlich die Kompetenzen des »durchsetzenden Dritten« zugewiesen werden, also die Kompetenzen der Konfliktüberwachung und der Durchsetzung der Konfliktregeln. Angesichts der kategorialen Unterschiede zwischen »einfachen« Konflikten einerseits und Konflikten um Konfliktrahmen andererseits ist es angebracht, analytisch zwischen Konflikten erster und zweiter Ordnung zu unterscheiden. Diese Unterscheidung erlaubt nicht nur die Strukturierung der Analyse empirischen Konfliktgeschehens. Sie erlaubt es auch, jenseits theoretischer Möglichkeiten, mithin: für konkrete Konfliktkonstellationen, die oben gestellte Frage zu klären (bzw.: in eine empirisch prüfbare Hypothese zu überführen), ob soziale Konflikte sozial integrierend oder desintegrierend wirken, resp. in welchem Ausmaß konkreter sozialer Konflikt auch faktisch eine Form der Vergesellschaftung ist9 : Soziale Konflikte wirken dann 9 Das ist das analytisch Interessante am Brexit: er ist nicht nur der desintegrative Versuch, durch nationale Schließung transnationale soziale Konflikte zu vermeiden, sondern damit auch der dissoziativ wirkende Ausstieg eines Mitgliedstaates aus dem gemeinsamen Konfliktrahmen der EU. In ähnlicher Weise eindrücklich, wenn auch nicht mit formalem und vollendetem Exit verbunden, sind etwa mangelnde politische Bereitschaften, in Verfahren über die Beilegung von Verteilungskonflikten überhaupt einzutreten (beispielsweise bzgl. einer Quotenregelung für Geflüchtete).
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vergesellschaftend, wenn sie eingebettet sind in stabile und von den Konfliktbeteiligten anerkannte Konfliktrahmen.
3. Solidaritätskonflikte In zahlreichen der einschlägigen analytischen Auseinandersetzungen mit Solidarität wird Solidarität in einen engen Bezug zu Konflikt gesetzt, wenn auch in der Regel eher beiläufig. So definiert etwa Kaufmann Solidarität als kooperatives Verhalten in Situationen, bei denen zumindest eine kurzfristige Betrachtungsweise der Interessenlage der beteiligten Akteure ein nichtkooperatives Verhalten nahelegen würde (Kaufmann 1984, S. 162). Höffe verweist darauf, dass die Inklusion in wie auch die Exklusion aus solidarischen Strukturen – insbesondere zwangssolidarischen Strukturen – stets rechtfertigungsbedürftig ist (Höffe 2018, S. 56). Bekannt ist auch das pointierte Diktum von Michael Stolleis: »Wer Solidarität sagt, will etwas haben!« (Stolleis 2004, S. 52) In all diesen – und vielen weiteren ähnlichen – Äußerungen ist zumindest implizit auch die Andeutung enthalten, dass solidarisches Verhalten nicht selbstverständlich ist und die daher erforderliche Solidarnormierung umstritten sein kann. Auffallend unbeleuchtet bleibt hingegen in der Literatur der unmittelbare Zusammenhang von Solidarität und Konflikt als zwei unterscheidbaren sozialen Phänomenen; und unbeleuchtet bleibt vor allem das Verhältnis von Solidarität und Konflikt als einem sozialen Phänomen eigener Art. Die verbleibenden Ausführungen wenden sich diesen Desiderata zu. Solidarität und Konflikt sind jenseits ihrer Verwendung im allgemeinen, öffentlichen Sprachgebrauch analytisch scharfe Begriffe zur Beschreibung sozialer Beziehungen unter den Bedingungen knapper und ungleich verteilter wertvoller Güter. Daraus ergibt sich in Zusammenführung der Ergebnisse der beiden vorigen Kapitel die folgende Analogie: Solidarbeziehungen als Kollektivgüter erster Ordnung sind gefundene Lösungen für Verteilungskonflikte, also Lösungen für Konflikte erster Ordnung. Solidarnormen als Kollektivgüter zweiter Ordnung sind gefundene Lösungen für Konflikte um Konfliktrahmen,
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also Lösungen für Konflikte zweiter Ordnung. Aus dieser zunächst statischen Anordnung lässt sich ein sozialtheoretisches Modell entwickeln, das sequenzanalytisch zeigen kann, wie die Wechselbeziehung von Konflikt und Solidarität systematisch sozialen Wandel (zyklisch) vorantreibt. Ausgangspunkt eines solchen Modells dürfte in jedem Fall die Manifestation eines Konfliktes sein. Dabei wird es sich um einen unmittelbaren Verteilungskonflikt dann handeln, wenn sich die im Streit um Ressourcen, Chancen, Positionen etc. wähnenden Akteure zumindest einig darüber sind, dass sie bei aller Ungleichheit Angehörige der gleichen Gemeinschaft sind und nur deshalb überhaupt füreinander zu Widersachern in der strittigen Frage der Verteilung eines begehrten Gutes sein können. Etwas komplizierter ist die Angelegenheit, wenn diese Grundgemeinsamkeit zwischen Akteuren nicht besteht. Dann ist die Wahrscheinlichkeit recht hoch, dass die erstmalige Interessenbekundung mindestens einer Seite zunächst in einen Wertkonflikt um Anerkennung als gleichberechtigte Konfliktpartner mündet, und erst die Form eines Verteilungskonfliktes annimmt, wenn die Frage der Gleichberechtigung der Interessen grundlegend geklärt ist. Diese Klärung kommt im Falle der wechselseitig erlangten Anerkennung als Konfliktpartner der Konstitution einer Gruppe (oder der Ausdehnung einer bestehenden Gruppe auf neue Mitglieder) gleich, in der – siehe oben – Verteilungskonflikte ausgetragen werden können, weil die Verteilungsreichweite jedenfalls für den Moment nicht mehr strittig ist. Wird das Zwischenziel der wechselseitigen Anerkennung hingegen verfehlt, ist das Austragen von Verteilungskonflikten verunmöglicht – und damit a la longue auch die Entstehung solidarischer Beziehungen. Innerhalb des sequenzanalytischen Modells ergibt sich daraus, dass ein initialer manifester Verteilungskonflikt (unmittelbar oder nach Formwandel eines Wertkonfliktes) zur Austragung und Lösung drängt. Die gefundene Lösung kann sich, insbesondere bei iterativen Verteilungsrunden, weiterentwickeln zu reziproken Beziehungen, also zu Erwartungen der wechselseitigen Begünstigung in vorab definierten
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Situationen.10 Auf diese Weise können sich aus konfliktiven Verhältnissen solidarische Verhältnisse entwickeln. Sequenzanalytisch: In der Phase des Konfliktes wird die Verteilungslösung gesucht, in der Phase der Solidarität wird sie praktiziert. Zur Absicherung des grundsätzlich prekären solidarischen Charakters der Lösung iterativer Verteilungserwartungen werden sich, wie oben ausführlich beschrieben, mit einiger Wahrscheinlichkeit Solidarnormen bilden. Je nach Geltungskraft lässt sich solidarisches Verhalten auf diese Weise stabilisieren und erzwingen. Sequenzanalytisch ist dieses Stadium eine Phase latenter Konflikte, die durch Solidarnormen als Konfliktrahmen eingebettet sind in allseits hingenommene institutionalisierte Strukturen – eingebettet ggf. bis zur Nichtwahrnehmbarkeit. Ein Anrechtsschein auf eine dauerhaft konfliktfreie Gesellschaft ist das freilich nicht. Über kurz oder lang kann es sich ergeben, dass Akteure mit der praktizierten Verteilung und den damit verbundenen Solidaritätserwartungen immer weniger zufrieden sind – sei es, weil sie als rezente Geber nach subjektivem Empfinden einen zu hohen Beitrag zu leisten haben; sei es, weil sie als rezente Nehmer höhere Transfers als bisher beanspruchen; sei es, weil sie als aktuell Exkludierte nun auch (und wohl mit höherer Wahrscheinlichkeit: nehmender) Teil des Verteilungssystems sein wollen. Durch diese Infragestellung des solidarischen Verhaltens und der dieses Verhalten absichernden Normen wird aus latentem Verteilungskonflikt ein manifester Konflikt um Konfliktrahmen. Damit dreht sich die Entwicklungsrichtung gleichsam um: Aus solidarischen (aber immer weniger akzeptierten) Verhältnisse können sich konfliktive Verhältnissen entwickeln. Die Folge eines solchen Konfliktes durch Solidarität ist zunächst einmal ein Konflikt um Solidarität. Das ist weit mehr als ein Wortspiel: es be10 Wobei »vorab definiert« nicht zwingend bedeutet, dass eine zukünftige Situation der transferberechtigenden Unterstützungsbedürftigkeit in allen Details festgelegt oder gar kodifiziert sein muss. Es reicht, dass die beteiligten Akteure einen situativen Unterstützungsbedarf als der Sache nach ähnlich der auslösenden initialen Hilfe anerkennen. Aber – wie gesagt – mit zunehmender Gruppengröße bzw. mit zunehmender sozialer Anonymisierung bedarf es wohl zunehmend verrechtlichter Definitionen von transferauslösender Hilfebedürftigkeit.
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deutet, dass der Streit um Solidarnormen nicht zwingend zu vollständiger Entsolidarisierung oder gar Auflösung der Gemeinschaft führen muss, sondern dass (»nur«) um die Rekonfiguration von Solidarität und Solidarnormen gerungen wird, und zwar deshalb, weil alle beteiligten Akteure die Auflösung der Gemeinschaft durch Entsolidarisierung gerade nicht riskieren wollen. Solange das alle Beteiligten so sehen, d.h. so lange über Fragen der Zugehörigkeit zu und Reichweite von Solidarbeziehungen Einvernehmen herrscht, wird sich das sequenzanalytische Modell nun zyklisch abspulen (Abb. 6): Verteilungskonflikte werden in Solidarstrukturen und -normen münden, diese irgendwann als Ergebnis von Konflikten um Konfliktrahmen neu justiert, die sich daraus ergebenden veränderten Verteilungseffekte nach einer Phase der allgemeinen Akzeptanz zu erneuten Infragestellungen der Solidarnormen führen und weitere Adaptionen der Konfliktrahmen nach sich ziehen etc. etc. Dieser Ablauf lässt sich als beständig ergänzende Institutionalisierung von Solidarnormen resp. Konfliktrahmen bezeichnen. Im Ganzen wird es also infolge dieses Ablaufs bezogen auf bestimmte Transferansprüche Phasen geben, die sich eher durch Solidarität auszeichnen, und Phasen, die eher geprägt sind von Konflikt. Die Abfolge – Konflikt durch Solidarität, Solidarität statt Konflikt, Konflikt durch Solidarität… – ist in ihren großen Wellen ein zentrales Antriebselement sozialen Wandels. Dieser Rhythmus galt schon Georg Simmel (1992 [1898], S. 367) als eine relationale Form der Vergesellschaftung, als eine dynamische und äußerst wirkungsvolle Form der Selbsterhaltung einer sozialen Gruppe.
III. Redistributionskonflikte
Abbildung 6 Zyklisches Modell der Wechselbeziehung von Konflikt und Solidarität
Kann hingegen der Streit um Solidarnormen, mithin: der Konflikt um Solidarität, nicht innerhalb der gegebenen Solidargruppenbeziehungen durch ergänzende Institutionalisierung beigelegt werden, dann steigt die Wahrscheinlichkeit von Konflikt statt Solidarität. Damit steht letzten Endes die Integration der Gruppe insgesamt auf dem Spiel. Soll heißen: Ein Intragruppenkonflikt hat das Potential, einen Sozialzusammenhang so stark zu erschüttern, dass aus dieser Situation zwei oder mehr voneinander separierte Gruppen hervorgehen, die sich nicht mehr als Angehörige einer Gruppe begreifen, also nicht mehr ohne weiteres füreinander solidarisch sein können (Abb. 6). Der oben eingeführten Heuristik folgend sind solche Re-Definitionen von Gruppenzugehörigkeit umstrittene Festlegungen der Reichweite von Solidarbeziehungen (strukturelle Dimension von Solidarität), obwohl ursprünglich vielleicht nur inhaltliche oder modusbezogene Solidaritätsfragen strittig waren. Daran zeigt sich, dass bei Konflikten um Solidarität die strukturelle, die inhaltliche und die prozedurale Dimension analytisch auseinandergehalten, empirisch aber keineswegs immer getrennt werden können. Konflikte um Solidarität haben demnach, je nachdem, wie sie
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gelöst werden, immenses Integrations- oder Desintegrationspotential. Aus diesen Überlegungen ergibt sich auch, dass die (vor allem in der Sozialpsychologie) oft vorgenommene Unterscheidung zwischen inund intergroup solidarity (vgl. etwa Bierhoff 2008) analytisch nicht immer zielführend ist: oft wird ja erst durch Konflikte um Solidarität entschieden, wo die Gruppengrenze verläuft. Dessen ungeachtet bleibt richtig, dass solidarische Strukturen im Inneren bereits bestehender Gruppen als Bindemittel dienen können mit dem Effekt einer dadurch geschärften Abgrenzung der Gruppe nach außen. Die Beschreibung des Zyklus aus Solidarität durch Konflikt und Konflikt durch Solidarität mag technisch anmuten, nicht zuletzt, weil in ihr handelnde Akteure bislang nicht Erwähnung fanden. Technisch gemeint ist die Beschreibung so nicht. Das wird klar werden, wenn ich abschließend auf die Bedeutung des oben erläuterten Solidaritätsmanagements eingehe. Innerhalb des Solidarität-Konflikt-SolidaritätZyklus ist in jeder einzelnen Phase Solidaritätsmanagement wichtig, freilich in je spezifischer Weise. Je nachdem, ob soziale Akteure das Ziel haben, solidarische Strukturen infrage zu stellen, zu verändern, ggf. gar abzuschaffen – oder ob es ihnen darum geht, Solidarbeziehungen zu etablieren, zu stärken, zu verteidigen, auszubauen, werden sich ihre Versuche, Solidarnormen zu kontrollieren, kategorial unterscheiden. Da (jedenfalls in liberalen Gesellschaften) jeder dieser Versuche Gegenreaktionen gewärtigen muss, sind sämtliche Bemühungen konkret interessierter Akteure an einer bestimmten strukturellen, inhaltlichen und prozeduralen Ausformung solidarischen Handelns zwangsläufig umstritten. In solchen Solidaritätskonflikten betreiben diese Akteure daher strategische Solidaritätskommunikation mit dem Ziel, Adressaten in Öffentlichkeit und Politik von der Notwendigkeit bestimmter Transferbeziehungen zu überzeugen und ergriffene Maßnahmen zu rechtfertigen. In diesen Strategien spielen auch so genannte »komplizierte Wörter« (Dieckmann 1980, S. 50f.) auf dem Abstraktionsniveau normativ stark aufgeladener, positiv konnotierter Hochwertbegriffe eine wichtige Rolle. Das gilt nicht zuletzt für den Begriff »Solidarität« selbst. Dabei wird der Begriff nachgerade zwangsläufig politisiert. Er ist, da er sich in
III. Redistributionskonflikte
politischen Auseinandersetzungen über Verteilungsfragen für Instrumentalisierungen anbietet, ein leerer Signifikant, ein Begriffscontainer für Deutungskonkurrenzen. Er ist individuell und kollektiv interpretationsoffen; er gibt subjektive, situativ wandlungsfähige solidaritätsauslösende Bedarfe und entsprechende Erwartungen wieder. Für die detaillierte objektive und vor allem für eine allseits geteilte Beschreibung eines erreichten dauerhaften Zustands ist der Begriff damit ungeeignet. Im öffentlichen, nicht‐analytischen Sprachgebrauch ist Solidarität üblicherweise ein angestrebter, kaum je ein erreichter Zustand. Das macht den Begriff im politischen Diskurs keineswegs unbrauchbar; im Gegenteil, als normative Zielfolie stellt er Legitimationsargumente für politisches Handeln (oder Fordern) zur Verfügung. Besonders deutlich erkennt man das daran, dass die Rede von Solidarität in aller Regel der Beschreibung eines Desiderates dient: Solidarität wird eingefordert, ihr Fehlen wird beklagt, an ihre Notwendigkeit wird erinnert. Deutlich seltener wird für erwiesene Solidarität gedankt; wird sie faktisch geübt, ist das für den Nehmer zumeist eine Selbstverständlichkeit. An die Solidaritätsbereitschaft zu appellieren, hat jedoch nicht nur die Funktion, anderen die eigenen Transfererwartungen mitzuteilen. Oft geht es auch darum, sich vermittels Solidaritätsrhetorik mit dem Appell-Adressaten auf eine Ebene zu stellen, ihm kategorial gleich zu sein, überhaupt erstmal zu Gruppe dazuzugehören. Umgekehrt bleiben auch Solidaritätsbekundungen der Angerufenen oft für alle Beteiligten folgenlos, da sie sich ausschließlich auf politisch‐diskursiver symbolischer Ebene bewegen und keine materiellen Konsequenzen, etwa: faktische, womöglich gar einklagbare Transfers oder Transferzusagen, haben. Aber auch hier gilt: möglicherweise ist der Zweck solcher Bekundungen gar nicht die Inaussichtstellung konkreter Unterstützung, sondern zunächst »nur« die Anerkennung als Gleiche(r). Bei der Konstruktion von Gruppen, Gemeinschaften und umverteilungsfesten kollektiven Identitäten, aber auch bei der Klärung und Präzisierung von Umverteilungsbeziehungen hat der Begriff Solidarität eine wichtige instrumentelle Funktion (Fehmel 2012). Der Terminus ist, anders als etwa von Stolleis (2004, S. 52) postuliert, bis auf weiteres unverzichtbar.
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Mit dem hier vertretenen analytischen Begriff der Solidarität als materiale reziproke Einstandsverpflichtung zwischen Angehörigen einer Gemeinschaft hat der politische, durch und durch normative Begriff der Solidarität somit wenig zu tun. Als Gegenstand von Diskursforschung ist der politische Begriff der Solidarität jedoch ebenso der empirischen Betrachtung zugänglich wie der sozialstrukturelle Solidaritätsbegriff als Gegenstand der Sozialstrukturanalyse. In einer Sozialtheorie der konfliktiven Solidarität fließen beide Analyseebenen zusammen. Die Nutzung des zyklischen Modells von Solidaritätskonflikten als praktische Umsetzung der Theorie umgreift beides: die Strukturen faktischen solidarischen Handelns in einem gegebenen Sozialzusammenhang und die politischen Auseinandersetzungen darum. Für die Europäische Union scheinen politische und soziale Krisen und die sich daraufhin erforderlich machende ergänzende Institutionalisierung von Konfliktregeln der bevorzugte Integrationsmodus zu sein. Krisen, verstanden als wahrgenommene Gefährdung institutionalisierter Handlungsmuster (Friedrichs 2007), sind Umbruchphasen; in ihnen aktualisieren sich gesellschaftliche Verhältnisse und Verteilungsbeziehungen. In Krisenkonstellationen herrscht ein Überschuss an Situationsdiagnosen und an interessengeleiteten Handlungsempfehlungen. Krisen zeichnen sich also aus durch institutionell unterbestimmte Handlungsbedingungen einerseits, durch konkurrierende Interpretationen bezüglich der angemessenen institutionellen Regulierung andererseits.Krisen sind demnach Phasen, in denen Konfliktrahmen und deren Verteilungswirkungen besonders nachdrücklich zur Disposition stehen. Mit anderen Worten: Krisen sind erkennbar an gesteigertem Solidaritätsmanagement (vgl. für verschiedene Solidaritätsdiskurse im europäischen Kontext zum Beispiel Fischer 2006, S. 173-189; Kleger, Mehlhausen 2013; Kadelbach 2014; Pernicka, Hefler 2017; Bach 2017, S. 296; Abraham 2017; Schmid 2019). Für Europa als eine Gesellschaft im Werden ist das der Normalfall.
Schluss: Soziale Sicherung in Europa – national/postnational
Soziale Sicherung in der Moderne bedeutet regulierte und institutionalisierte Umverteilung. Umverteilung setzt die Definition einer Gruppe von Akteuren voraus, zwischen denen umverteilt wird. Für diese Definition gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten: die Mitgliedschaft eines Akteurs zu einer Gemeinschaft kann sich aus seiner politischen oder aus seiner funktionalen Zugehörigkeit ergeben. Politische Zugehörigkeit, also die Mitgliedschaft in einer politisch definierten Gemeinschaft, basiert auf – zumindest behaupteter – Homogenität der Gemeinschaftsmitglieder, auf geteilten identitätsstiftenden Werten, auf gemeinsam bewahrter und praktizierter Kultur. Es geht deshalb gar nicht anders: politische Gemeinschaften haben eine starke Neigung zur sozialen Schließung, sie können sich in der Regel nur über die Abgrenzung von Fremden definieren. Als dominantes Muster der Rahmung politischer Gemeinschaften haben sich im Laufe der letzten zwei bis drei Jahrhunderte die nationalen Territorialstaaten etabliert (vgl. Wagner, Zimmermann 2003). Politische Zugehörigkeit als das Kriterium für die Inklusion in Umverteilungsbeziehungen definiert sich in diesen Fällen über den Status der Nationalität oder der Staatsbürgerschaft oder zumindest über die Residenz auf dem Staatsterritorium. Da es unterhalb dieser Kategorien keine handhabbaren sozio-politischen Differenzierungen gibt, haben Sozialleistungen universalistischen Charakter. Entsprechend zentral ist die Bedeutung von Staatsgrenzen als Selektionsmechanismus.
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In ihrer ethnokulturell begründeten Variante bestehen die gemeinsam geteilten kulturellen Werte der Nation im Gefühl generationenübergreifender Kontinuität, in kollektiven Erinnerungen an Gründungsmythen, also an identitätsstiftende Ereignisse und Persönlichkeiten und im geteilten Glauben an eine Schicksalsgemeinschaft (Jullien 2017; Bettini 2018). Unter Verweis auf vorpolitische Bindungen, höhere gemeinsame Werte und daraus abgeleitete Pflichten der Gemeinschaft gegenüber spielt individuelle Freiheit in solchermaßen begründeten Nationen nur eine nachgeordnete Rolle. Die republikanische Variante des Konstrukts »Nation« unterscheidet sich von der ethnokulturellen in der entschieden stärkeren Betonung individueller Rechte. Basis der republikanischen Nation ist die gemeinsame politische Freiheit aller Bürger, was die Beschränkung individueller Freiheit zugunsten der Gemeinschaft deutlich erschwert. Dahinter steht die Idee, dass die gleichberechtigte Beteiligung an demokratischen Entscheidungsverfahren eine abstrakte, rechtlich vermittelte Solidarität zwischen Fremden herstellt, und dass diese einander Fremden gerade durch ihre gemeinsame demokratische Praxis eine politische Gemeinschaft bilden (Habermas 1981). Aber auch hier gilt: der Kreis der gemeinsam Fremden muss begrenzt werden, will die republikanische Nation sich nicht selbst mit Umverteilungsansprüchen überfordern (Hondrich, Koch-Arzberger 1992, S. 100ff.). Die fortschreitende europäische Integration muss die Institutionen der Nation – der ethnokulturellen ebenso wie der republikanischen – irritieren. Mit dem Fortschreiten der Integration Europas verlieren die Reichweite nationalstaatlich geschlossener Rahmung und Regulierung von politischen Zugehörigkeiten und Umverteilungsbeziehungen einerseits, die Ausdehnung von Sozialbeziehungen selbst, also von Interessenkonstellationen, Konfliktstrukturen und Verteilungsströmen andererseits, mehr und mehr ihre Kongruenz. Statt dessen ergeben sich aus der intendierten politischen und ökonomischen Integration Europas – verstanden als Relativierung nationaler Protektionsräume (Arbeitsmärkte, Sozialsysteme, Währungsräume, Gütermärkte, politische Institutionensysteme etc.) – neue, grenzüberschreitende Mobilitätsbereitschaften und -erfordernisse, neue Wechselwirkun-
Schluss: Soziale Sicherung in Europa – national/postnational
gen zwischen (bislang füreinander indifferenten) sozialen Akteuren, neuartige, zunehmend transnationale Solidaritätserwartungen, Verteilungsforderungen und Redistributionsbeziehungen – und damit auch neue, supranationale Regelungsbedürfnisse. Dadurch erleiden die Staatsgrenzen, die für territoriale Nationalstaaten konstitutiv sind, massive Bedeutungsverluste. In der »postnationalen Konstellation« (Habermas 1998) bewegen sich Güter, Personen, Kapital, aber auch politische Probleme zunehmend transnational; die Institutionen des Regierens transnationalisieren sich; supranationales Recht greift immer mehr in nationalstaatliche rechtliche Regulierung ein (Richter 2011, S. 102f.). Andererseits sind Ersatzkonstruktionen bis auf weiteres nicht zu erkennen (Jovanović, Henrard 2008): Für ethnokulturelle Konzeptionen von Identität, wie sie im nationalen Rahmen entwickelt wurden, gibt es im europäischen Maßstab keine Basis. Jedenfalls hat die permanente und in den Krisen der letzten Zeit verstärkt vorgetragene Rede vom Europa als Schicksalsgemeinschaft nicht dazu beigetragen, dass sich die Europäerinnen und Europäer nun als Angehörige einer politischen Gemeinschaft verstehen. Aber auch eine staatsbürgerliche Konzeption von Identität, wie sie im nationalen Rahmen entwickelt wurde, konnte sich auf europäischer Ebene bislang nicht durchsetzen (Bach 2008, S. 80). Weil die partizipativen Elemente des europäischen politischen Systems und eine europaweite politische Öffentlichkeit nur schwach entwickelt sind, fehlt auch das für republikanische politische Gemeinschaften konstitutive Gefühl, dass die Rechtsnormen, die die politischen europäischen Institutionen legitimieren, das Ergebnis deliberativer Politik sind (Fehmel 2017). Wo eine europaweite Verständigung auf eine europäische Verfassung fehlschlägt, ist auch Verfassungspatriotismus als republikanische Form affektiver, identitätsstiftender politischer Zugehörigkeit, als gemeinsame Loyalität zu einer gemeinsamen konstitutionellen Ordnung ausgeschlossen (Müller 2008). Paradox ist freilich, dass sich aus dem Fehlen deliberativer politischer Entscheidungsstrukturen auf europäischer Ebene ein Vakuum entwickelt hat, das von einer vermeintlich apolitisch agierenden Institution gefüllt wird – und damit das Partizipationsproblem noch verschärft. Im Zuge der Verwissenschaftlichung von Regierung
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(Münch 2008) betreibt der Europäische Gerichtshof »mit zweifelhaften rechtlichen Mitteln« eine »entschlossene regulative Politik, die suggeriert, jegliche politische Zweckerfüllung durch wirtschaftliches Leistungsvermögen kompensieren zu können.« (Richter 2011, S. 108) Er macht dabei auch vor Umverteilungsfragen nicht Halt und zwingt die Mitgliedsstaaten mittels Richterrecht im Namen der Marktfreiheiten, die Praktiken ihrer zum Teil grundlegend verschiedenen Sozialverträge zu vereinheitlichen (Müller 2010, S. 146; Hartlapp 2019). Fritz Scharpf (2009, S. 432f.) zufolge untergräbt das die Verantwortung der nationalen Politik für die Funktionsfähigkeit der nationalen Sozialsysteme. Aber die Schlussfolgerung, die er daraus zieht, ist falsch: Es lässt sich weder empirisch zeigen noch plausibel erwarten, dass sich im Zuge der richterrechtlich durchgesetzten negativen Integration die nationalen Strukturen der europäischen Sozialsysteme an das Modell der liberalen Marktwirtschaft und des liberalen Wohlfahrtsstaates mit steuerfinanzierter Mindestversorgung angleichen. Vielmehr bewirken die Binnenmarkt-Orientierung der Europäischen Kommission und die apolitische Politik des EuGH einen Bedeutungsverlust innereuropäischer Grenzen, der das Prinzip der (nationalen) politisch‐territorialen Zugehörigkeit als umverteilungsrelevante Inklusionskategorie untergräbt. Das begünstigt die Konvergenz der nationalen Strukturen in Richtung von Sozialsystemen, bei denen Umverteilung auf funktionaler Zugehörigkeit basiert (vgl. Fehmel 2013a). Das Ausmaß der Inklusion in Umverteilungsbeziehungen bemisst sich in derartigen Sozialsystemen nicht wie bei der politischen Zugehörigkeit an Homogenitätsbehauptungen entlang ethnokultureller, staatsbürgerlicher oder territorialer Aspekte, sondern an realer sozialer Heterogenität und am kulturell anerkannten Anteil, zu dem ein Individuum zum Wohlstand einer Gemeinschaft beiträgt. Zum Ausdruck kommt diese Bezugnahme auf individuelle Leistung im Anwartschafts- und Äquivalenzprinzip – und der einfachen Handhabbarkeit wegen hat sich als Indikator für individuelle Leistung die Höhe des individuellen Erwerbseinkommens etabliert. Faktisch sind für die Mitgliedschaft in derart organisierten Umverteilungssystemen die politischen Zugehörigkeitskategorien irrelevant: Die Inklusion in
Schluss: Soziale Sicherung in Europa – national/postnational
Umverteilungsbeziehungen, die auf der Äquivalenz von individueller Leistung und Sozialleistung beruhen, bedarf weder der Voraussetzung der »richtigen« Nationalität oder Staatsbürgerschaft noch der Anwesenheit auf einem bestimmten Staatsgebiet. In solchen Systemen ist die politische Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gemeinschaft als Anspruchsvoraussetzung gar nicht wichtig – das Prinzip ist letzten Endes auch grenzenlos vorstellbar. Deshalb sind Umverteilungssysteme, die auf funktional‐sozio-strukturellen Zugehörigkeiten basieren, vom Bedeutungsverlust politischer Grenzen sehr viel weniger betroffen als Umverteilungssysteme auf Basis politisch‐territorialer Zugehörigkeit. Das Anwartschaftsprinzip dient hier als funktionales Äquivalent zu politisch‐territorialen Grenzen. Dennoch sind auch funktionale, leistungsbezogene Umverteilungssysteme häufig politisch‐territorial begrenzt. Erklären lässt sich das damit, dass es einer Gruppe bedarf, die darüber entscheidet, was als anerkennenswerte und ggf. durch Umverteilung zu belohnende Leistung gilt und was nicht. Das ist – erstens – eine kulturelle Frage. Es ist bis auf weiteres sinnlos, im globalen Maßstab über ein Umverteilungssystem auf Basis funktionaler Zugehörigkeit zu spekulieren: die weltweit vorfindbaren kulturell geprägten Kategoriensysteme zur Bewertung von Leistungen sind selbst für einen sehr abstrakten globalen Grundwertekanon einfach zu unterschiedlich. Aber im Maßstab von Regionen mit vergleichsweise großen kulturellen Ähnlichkeiten – etwa Europa – ist das durchaus vorstellbar; und Vorschläge dazu, was jenseits klassischer Erwerbsarbeit als gesellschaftlich anerkannte Leistung gelten könnte oder sollte, gibt es viele. Was als anerkennenswert anerkannt ist, ist – zweitens – eine politische Frage. Die muss im politischen Diskurs immer wieder neu verhandelt und mit politischen Institutionen entschieden und umgesetzt werden. Im Weltmaßstab stößt das derzeit noch an unüberwindbare Praktikabilitätsgrenzen. Aber im Maßstab von überschaubaren Regionen mit kulturellen Ähnlichkeiten und (jedenfalls de jure) existierender politischer Legislative und Exekutive – also Europa – ist auch das durchaus vorstellbar. Die Gegenüberstellung von politisch‐territorialen und funktional‐soziostrukturellen Zugehörigkeiten darf nicht zu dem Fehlschluss
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verleiten, dass auf funktionalen Zugehörigkeiten basierende Umverteilungssysteme apolitische Umverteilungssysteme seien. Umverteilungsfragen sind – das wurde im Kontext von Solidaritätskonflikten ausführlich herausgearbeitet – grundsätzlich politische Fragen; und auch in auf funktionalen Zugehörigkeiten basierenden Sozialsystemen sind permanent politische Entscheidungen zu treffen. Hinzu kommt, dass beide Formen von Sozialsystemen Idealtypen sind, sie haben im gegenwärtigen Europa keine umfassende reale Entsprechung. Vielmehr sind alle existierenden Wohlfahrtssysteme Mischsysteme mit der Dominanz des einen oder anderen Modells. Sie verknüpfen also, in unterschiedlichen Ausprägungen, Kriterien politisch‐territorialer und funktional‐soziostruktureller Zugehörigkeiten für die Inklusion in Umverteilungssysteme, für die Herstellung von Solidarbeziehungen und für die Sozialintegration. Sie verbinden mithin in je spezifischer Weise die Vorstellung des homogenen Nationalen und die Realität des heterogenen Sozialen miteinander. Jedoch lassen die multiplen Prozesse der schwindenden Bedeutung politischer Grenzen (Inter-, Supraund Transnationalisierung, politische und soziale Europäisierung, horizontale und vertikale Globalisierung etc.) zunehmend sowohl den Charakter der sozialen Konstruktion dieser Kombinationen als auch ihre Anachronismen zu Tage treten: Prozesse der De-Nationalisierung – gleichviel, ob Folge politischer Projekte oder politischer Ohnmacht – stellen diese Arrangements wenn nicht in Frage, so doch zumindest vor grundsätzliche Anpassungserfordernisse (Chatterjee 2006, S. 36). Und in der Tat lassen sich Hinweise finden, dass die Ansätze der Institutionalisierung supranationaler Unterstützungssysteme und Sicherungsarrangements über den Weg zunehmender Politisierung transnationale soziale Integrationseffekte nach sich ziehen. Das gilt etwa für den Befund, dass die Bevölkerungen Europas ein zwar langsam, aber doch zunehmendes transnationales Problembewusstsein entwickeln und entsprechende Solidaritätsbereitschaften zeigen, oder dass sie die Verantwortung für die Bearbeitung sozialer Krisenfolgeprobleme verstärkt der europäischen politischen Ebene zuweisen. Eine Entwicklungsrichtung in Form einer Einbahnstraße ist dabei freilich nicht vorgegeben. Die Öffnung und De-Nationalisierung so-
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zialer Sicherung fordert die für Umverteilungsarrangements essentiellen, nach wie vor primär national geprägten »Wir«-Konstruktionen heraus. Die bislang weitgehend fehlende postnationale kollektive Identität sozialer Akteure wie auch das Fehlen eines europaweiten öffentlichen Raumes zur medialen Stabilisierung supranationaler Politisierungstendenzen und zum geordneten Austragen von Solidaritätskonflikten erschweren nach wie vor die Bemühungen um transnationale Unterstützungssysteme und Sicherungsarrangements – und begünstigen so auch immer wieder das Wiedererstarken nationaler Identitätsbezüge (Re-Nationalisierung). Nicht nur die europäischen Integrationsprojekte, sondern auch die europäischen Krisen der letzten Jahre hatten und haben einen erheblichen Einfluss auf das Verhältnis von Schließung oder Öffnung nationaler Wohlfahrtssysteme (Bach 2019). Zum einen verändert(e) die Finanz- und Staatsschuldenkrise nicht nur in den von ihr unmittelbar betroffenen Mitgliedsländern die Wahrnehmung von Handlungsspielräumen: knapper werdende Budgets, stärker werdender Einfluss europäischer Instanzen und erleichterte Durchsetzung von Austeritätspolitiken führten zu sozialpolitischen Anpassungen ungekannten Ausmaßes. Zum anderen werden durch die Legitimitätskrise der EU selbst deren Kompetenzen zunehmend in Frage gestellt und nationale politische Entscheidungen aufgewertet – besonders eindrücklich zu beobachten im Zusammenhang der Migrationsherausforderung der Jahre 2015f., den diesbezüglichen supranationalen Steuerungsversuchen und den darauf reagierenden nationalisierenden Schließungstendenzen. Durch diese »Krisen« hervorgerufen sind nunmehr Fragen zum Zusammenhang von Europäisierung und sozialer Sicherung deutlich stärker politisiert als noch vor wenigen Jahren: Die Wahrnehmung sozialer Ungleichheiten im europäischen Maßstab, die Bedingungen transnationaler Solidaritätsbereitschaften und umverteilungsrelevanter »Wir«-Konstruktionen, aber auch die Umstände faktischer Redistributionsbeziehungen und deren supranationale Regulierung sind verstärkt Gegenstand der politischen Diskussion und der medialen Aufmerksamkeit (vgl. Abraham 2017) und inzwischen auch der europäischen Rechtsprechung (vgl. Farahat 2016). Damit steht auch das Verhältnis von Öffnung und Schließung von Umverteilungsarran-
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gements, das Verhältnis von De- und Re-Nationalisierung sozialer Sicherung verschärft zur Disposition (Manow 2018). Angesichts dieser Gemengelage sind die beiden ausgangs von Kapitel II erläuterten Thesen zum Bedeutungsverlust nationalstaatlicher Grenzen – der Anachronismus segmentärer Grenzziehung (1) stärkt Zugehörigkeitskonstruktionen entlang funktionaler Grenzen (2) – bewusst offen formuliert: Das große Narrativ vom »continuous progress«, als den Thomas Marshall die Durchsetzung und Ausdehnung sozialer Rechte darstellt, erweist sich aus der Nähe betrachtet als ein vielschichtiges Wechselspiel aus de‐nationalisierenden Zug- und re‐nationalisierenden Gegenkräften. Umverteilungssysteme sind im Begriff, aus ihrer etablierten nationalen Rahmung herauszutreten. Dieser Prozess erschöpft sich aber nicht darin, im Habermas’schen (2011, S. 67ff.) Sinne innerhalb des Prinzips der politisch‐territorialen Zugehörigkeit die Nation als Bezugsrahmen für Umverteilungssysteme zugunsten einer irgendwie supranationalen politischen Einheit abzulösen. Postnationale soziale Sicherung kann auch die Folge des Bedeutungsverlustes jedweder Form von politisch‐territorialer Bezugnahme sein – zugunsten von Umverteilungsprinzipien entlang funktionaler Zugehörigkeiten. Die postnationale Konstellation von Umverteilung und Solidarität wird ganz gewiss keine postpolitische, aber recht wahrscheinlich eine postterritoriale Konstellation sein. Wenn, wie in dieser Arbeit vertreten, Umverteilung eine spezifische Form der Vergesellschaftung ist, dann ergibt sich daraus, dass die Wahrnehmung einer zunehmend de‐nationalisierten Umverteilungsarchitektur ein Indiz für einen Wandel von Vergesellschaftung ist – hin zu einer zunehmend de‐nationalisierten oder jedenfalls nicht mehr ausschließlich nationalen Gesellschaft. Zu zeigen, dass dies – ganz im Sinne des bekannten Lepsius’schen Diktums »Institutionenbildung geht der Bewusstseinsbildung voraus« (Lepsius 1997, S. 949) eine Frage sozialer Konstruktion ist, war Anliegen der Untersuchung. Dass dies nicht ohne Konflikte vonstattengeht, liegt auf der Hand. Wir haben das Privileg, als Gesellschaftsbeobachter einer besonders dynamischen Phase
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des »continuous progress« beiwohnen zu dürfen, ohne dass derzeit mit Gewissheit und abschließend zu sagen wäre, wie der sich anschließende Status zu beschreiben wäre. Zu bezeichnen ist er jedenfalls als postnationale soziale Sicherung.
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Smart City – Kritische Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten 2018, 364 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4336-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4336-1 EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4336-7
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Erloschene Liebe? Das Auto in der Verkehrswende Soziologische Deutungen 2018, 174 S., kart., zahlr. Abb. 19,99 € (DE), 978-3-8376-4568-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4568-6 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4568-2
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10 Minuten Soziologie: Fakten 2018, 166 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4362-6 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4362-0
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