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German Pages 421 [424] Year 1990
Grundlagen der Kommunikation und Kognition Foundations of Communication and Cognition Herausgeber / Editors Roland Posner, Georg Meggle
Lorenz Β. Puntel
Grundlagen einer Theorie der Wahrheit
w DE
G_ Walter de Gruyter · Berlin · New York
1990
Gedruckt auf säurefreiem Papier (alterungsbeständig — pH 7, neutral)
CIP- Titclaufnabme der Deutseben Bibliothek
Puntel, Lorenz Bruno: Grundlagen einer Theorie der Wahrheit / Lorenz B. Puntel. — Berlin : New York : de Gruyter, 1990 (Grundlagen der Kommunikation und Kognition) ISBN 3-11-012079-8
© Copyright 1990 by Walter de Gruyter Sc Co., D-1000 Berlin 30 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere fur Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer GmbH, Berlin
Für Nicholas Rescher sine quo non
Vorwort Im Jahre 1978 habe ich ein erstes Buch über die Wahrheitsthematik unter dem Titel Wabrbeitstheorien in der neueren Philosophie, eine kritisch-systematische Darstellung veröffentlicht. Es war damals meine Absicht, diesem historischkritisch orientierten Werk innerhalb eines Zeitraums von etwa zwei Jahren ein weiteres Buch folgen zu lassen, das eine streng systematisch durchgeführte Theorie der Wahrheit zur Darstellung bringen sollte. Die diesem Plan zugrunde liegende Überzeugung, es sei möglich, ein solches Vorhaben innerhalb von zwei Jahren zu verwirklichen, erwies sich jedoch als nicht realistisch. Die Wahrheitsthematik stellte sich als so zentral, komplex, vielschichtig und vertiefungsbedürftig heraus, daß viele intensive Forschungsjahre ins Auge gefaßt werden mußten, sollte das beabsichtigte Werk mehr bringen als eine neue Variante der vielen Wahrheitskonzeptionen, die sowohl auf dem deutschen als auch auf dem internationalen philosophischen Markt in großer Anzahl angetroffen werden können. So habe ich mich entschlossen, mich auf dieses langjährige Forschungsabenteuer einzulassen. Die Forschungen wurden sowohl im Rahmen der Lehr- und Forschungstätigkeit an meiner eigenen Heimatuniversität (München) als auch während mehrerer Forschungsaufenthalte in Amerika, besonders in Pittsburgh und Princeton, durchgeführt. Ein erstes (Teil-)Ergebnis dieser langjährigen Forschungen wird hiermit in Form des vorliegenden Werkes dem philosophisch interessierten Leser präsentiert. Daß es sich um ein erstes (Teil-)Ergebnis handelt, soll in einer Hinsicht mit dem Ausdruck .Grundlagen' im Titel angezeigt werden. Die genaue und vollständige Bedeutung dieses Ausdrucks wird in der Einleitung angegeben. Den größten Teil des Buches habe ich während eines Forschungsaufenthaltes am Institute for Advanced Study (Princeton) 1987/88 geschrieben. Die äußerst forschungs- und theoriefreundliche Atmosphäre des Institute und der Princeton University haben es möglich gemacht, ein seit langem verfolgtes Projekt zu einem ersten (vorläufigen) Abschluß zu bringen. 1
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2. Auflage 1983.
VIII
Vorwort
Ich habe vielen Mitarbeitern, Freunden und Kollegen zu danken. Ihnen verdanke ich viele Anregungen, Einsichten, Präzisierungen und Korrekturen. Insbesondere möchte ich folgende namentlich nennen: Wolfgang Benkewitz (München), Ulrich Blau (München), Robert Brandom (Pittsburgh), Philip Clayton (Williamstown, Mass.), Dirk Greimann (München), Peter Hinst (München), Saul Kripke (Princeton), Godehard Link (München), Wolfhart Pannenberg (München), Hilary Putnam (Harvard), Nicholas Rescher (Pittsburgh), Johanna Seibt (Pittsburgh/München), Wilfrid Seilars (Pittsburgh), Geo Siegwart (Esssen), Scott Soames (Princeton), Bas C. van Fraassen (Princeton), Matthias Varga von Kibed (München), Morton White (Princeton). Alle verbliebenen Schwächen und Fehler gehen selbstverständlich zu meinen Lasten. Schließlich danke ich der Fritz-Thyssen-Stiftung für ihre großzügige finanzielle Förderung. Mai 1989
Lorenz B. Puntel
Inhaltsverzeichnis Vorwort
VII
0
Einleitung
1
Programmatische 1.1 1.1.1 1.1.2
1.1.3 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.2.1 1.2.2.2 1.2.2.3 1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.3 2
1 Grundlagen
Was ist eine „Theorie der Wahrheit"? Allgemeine Charakterisierung Abgrenzungsprobleme: das Verhältnis von explikativ-definitionaler, kriteriologischer und evaluativ-extensionaler Theorie der Wahrheit Bemerkung zur typologischen und metaphilosophischen/ metawissenschaftlichen Theorie der Wahrheit Möglichkeit und Unverzichtbarkeit einer explikativ-definitionalen Theorie der Wahrheit Wahrheitstheoretischer „Deflationismus": Richtungen und Argumente Prinzipielle Kritik des wahrheitstheoretischen Deflationismus Vorbemerkung zur kritischen Diskussion über den Deflationismus Prinzipielle methodologische Überlegung Prinzipielle inhaltliche Argumentation Die Theorie der Wahrheit: eine selbständige Disziplin oder ein Teil einer anderen philosophischen Disziplin? Problemstellung und Aufgabe Kriterien Einige vorläufige Ergebnisse
Begrifflich-methodische 2.1 2.1.1
15 15
17 27 29 31 36 36 38 40 53 53 55 58
Grundlagen
Was ist eine „explikativ-definitionale" Theorie? Das „Paradox der Analyse"
. . . .
63 63
X
Inhaltsverzeichnis
2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.4.1 2.1.4.2 2.1.4.3 2.1.4.4 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5
Aspekte eines semantischen Grandrahmens Ergebnisse für die Klärung der begrifflich-methodischen Grundlagen Begriff und Verfahren der rational-systematischen Rekonstruktion Das Problem Ungenügende Lösungen Zum Verhältnis von „Analysandum-Explicandum-Definiendum" und „Analysans-Explicans-Definiens" . . . . Grundgedanke und Grundmotivation der rational-systematischen Rekonstruktion
67 74 76 76 77 81 90
Das Verhältnis von Theorie der Wahrheit und Sprache Die Aufgabe Aus welcher Sprache wird „Wahr(heit)" entnommen? . Für welche Sprache(n) wird die Theorie der Wahrheit entwickelt Exkurs: Bemerkung zum sog. Theorem der Undefinierbarkeit der Wahrheit von Tarski und zu einigen neuen Ansätzen In welcher Sprache wird die Theorie der Wahrheit dargestellt?
98 98 100
Zwei methodische Leitprinzipien
114
2.3
103 107 114
3 Logische, sprachphilosophische (semantische), ontologische und kognitive Grundlagen 3.1
Einleitung
120
3.2 3.2.1 3.2.1.1 3.2.1.2
Zwei symptomatische Diskussionsthemen Logik und Ontologie: ein subtiles Verhältnis Unterscheidungen Prädikatenlogik erster Stufe, formale Semantik und Ontologie Realismus und Anti-Realismus: das Verhältnis von Kognitivität, Logik, Sprache und Ontologie
121 121 121
3.2.2 3.3 3.3.1
123 130
Der semantisch-ontologische Grundansatz: das Kontextprinzip 138 Zur Formulierung, Interpretations- und Diskussionsgeschichte des Kontextprinzips 138
Inhaltsverzeichnis
XI
3.3.2 3.3.3 3.3.4
Kontextprinzip und Kompositionalitätsprinzip Versionen des Kontextprinzips Zur Begründung des Kontextprinzips
142 156 158
3.4 3.4.1 3.4.2
Elemente einer Theorie des Satzes Vorbemerkung Ist der Wahrheitswert der Referent des Satzes? Zum sog. „slingshot"-Argument Die drei fundamentalen Strukturebenen des Satzes . . .
161 161
Grundzüge einer Theorie der Proposition (des Verhalts) Voraussetzungen und Leitprinzipien Grundbestimmung der Proposition (des Verhalts) . . . Der Ansatz: „Attribut" als die grundlegende intelligible Entität Propositionen (Verhalte) als bestimmte (realisierte) Attribute Primäre und sekundäre, allgemein bestimmte und vollbestimmte Propositionen (Verhalte) und Sätze . . . . Zu einigen Problemen der Theorie der Proposition (des Verhalts) Zur formalen Repräsentation von Propositionen (Verhalte) Einige Repräsentationsformen Satzvariablen und Pr0p08iti0ns-(Verhalts-)Variablen . . Identitätsbedingungen für Propositionen (Verhalte) . . Die Fragestellung und die Aufgabe Ontologische und semantische Identitätsbedingungen . Propositionen (Verhalte), Tatsachen, Objekte (Individuen), Ereignisse, Prozesse, Handlungen: Grundzüge einer kategorialen Ontologie Der Grundgedanke Individuen (im prägnanten Sinne) als fundamentale Konfigurationen von primären Verhalten (Propositionen) Zur grundsätzlichen Bestimmung von „Individuum" . . Präzisierungen, Probleme, Ergänzungen Zur Reduzierbarkeit von Ereignissen, Prozessen und Handlungen auf Verhalte (Propositionen)
179 179 185
3.4.3 3.5 3.5.1 3.5.2 3.5.2.1 3.5.2.2 3.5.2.3 3.5.3 3.5.3.1 3.5.3.1.1 3.5.3.1.2 3.5.3.2 3.5.3.2.1 3.5.3.2.2 3.5.4 3.5.4.1 3.5.4.2 3.5.4.2.1 3.5.4.2.2 3.5.4.3 3.6 3.6.1
Zum Begriff der Welt Zur kategorial-ontologischen Struktur von Welt . . . .
163 174
185 188 192 194 199 200 206 211 211 214 220 220 224 224 235 243 250 251
Inhaltsverzeichnis
XII
3.6.2 3.6.3 3.6.3.1 3.6.3.2 3.6.3.3 3.6.3.4
„Wirküche" Welt(en) und „mögliche" Welt(en) . . . . Eine wirkliche Welt oder viele wirkliche Welten? Sprach/Logik-/Geist-/Theorie-«»abhängige oder anhängige Welt(en)? Das Grundproblem und eine Typologie von Grundpositionen Negative Grundannahmen Positive Grundannahmen Grundzüge eines Lösungsansatzes
254 265 266 271 273 278
4 Explikativ-definitionale Grundlagen 4.1
Die Ergebnisse der vorhergehenden Kapitel und die explikativ-definitionale Theorie der Wahrheit 296
4.2
Aspekte (Momente) des intuitiven Wahrheitsverständnisses und einige ihnen korrespondierende Explikationen von „Wahr(heit)" Das Problem des intuitiven Wahrheitsverständnisses . . Vier Momente des intuitiven Wahrheitsverständnisses . Hinweis auf einige Explikationen (Explikate) des Wahrheitsbegriffs
4.2.1 4.2.2 4.2.3
298 298 302 306
4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3
Wahrheitsträger: Struktur, Anzahl und Zusammenhang 308 Syntaktische Gesichtspunkte 308 Die wahrheitstheoretisch relevanten Wahrheitsträger . . 313 Der Zusammenhang der Wahrheitsträger 318
4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.4
Tentative Definitionsschemata für „Wahr(heit)" . . . . Wahrheit der Proposition (des Verhalts) Wahrheit des Satzes Wahrheit der kognitiven Instanz Die Definitionsschemata und das intuitive Wahrheitsverständnis
Nachwort
322 322 329 331 333 335
Anhang·. Zur Entwicklungsgeschichte der Theorie der Wahrheit seit Tarski 338 1
Der nicht-eindeutige Status von Tarskis semantischer Theorie 339
Inhaltsverzeichnis
2 3 4 5 6 6.1 6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4 6.2.5 6.2.5.1 6.2.5.2 6.2.5.3 6.2.5.4
Probleme der „analytischen Konzeption der Sprache": die inkonsequente Anerkennung des Kontextprinzips . . . Rein sprachimmanente Perspektive: die Beseitigung der Referenzfrage Kognitiv-antirealistische (internrealistische) Perspektive: die semantische Unterbestimmtheit des Kontextprinzips Andere epistemische/pragmatische Richtungen Ontologische Perspektive Die dreifache ontologische Perspektive: Objekte (Individuen), „Momente", Propositionen (Sachverhalte) . . . Propositionale Perspektive Einleitung Tatsachen als Wahrmacher Die drei klassischen Ansätze der Propositionstheorie . . Propositionen als primitive Entitäten Propositionen und mögliche Welten Propositionen als Mengen von Modellen Propositionen durch mögliche Welten definiert . . . . Mögliche Welten durch Propositionen definiert . . . . Eine mögliche Synthese?
XIII
342 346 347 351 351 357 358 358 359 361 362 369 369 371 374 376
Literaturverzeichnis
379
Abkürzungen und logische Symbole
393
Namenregister
397
Sachregister
401
0 Einleitung Über die einzelnen charakteristischen Merkmale der hier vorgelegten Konzeption gibt Kap. 1 („Programmatische Grundlagen") genaue Auskunft. In dieser Einleitung werden drei Themenkomplexe erörtert. Zuerst wird ein allgemeines (oder eher das allgemeine) Charakteristikum des hier gewählten und verfolgten Ansatzes erläutert und ins rechte Licht gerückt; sodann werden Aufbau und Ziel des Werkes vorgeführt; schließlich werden einige Hinweise für die Lektüre des Buches gegeben. [1] Das allgemeine Charakteristikum besteht aus einer Überzeugung, der Feststellung eines Phänomens, einer Erklärung des Phänomens, einer daraus gezogenen Konsequenz und einer Entscheidung hinsichtlich eines grundsätzlichen Dilemmas, mit dem sich jede ernstzunehmende Theorie der Wahrheit in der Gegenwart konfrontiert sieht. Das vorliegende Buch ist von der Überzeugung getragen, daß (der Begriff der) Wahrheit ein schlechterdings zentraler Begriff sowohl der Philosophie als auch der formalen und empirischen Wissenschaften ist. Kaum ein anderer Begriff kann sich in einer bestimmten Hinsicht mit dem Wahrheitsbegriff messen. In der einen oder anderen Weise befaßt sich jeder Philosoph, jeder Logiker, jeder Mathematiker, jeder Wissenschaftler mit der Wahrheitsthematik. Eine Begründung dieser Behauptungen läßt sich leicht dadurch erbringen, daß auf die einschlägige Literatur verwiesen wird. Wo die Beschäftigung mit der Wahrheitsthematik sozusagen „professionell" erfolgt, nämlich in der Philosophie und in der (Meta-)Logik, ist die Produktion wahrheitstheoretischer Arbeiten besonders eindrucksvoll, ja beinahe uferlos. 1 Aber auch dort, wo diese These abgelehnt wird, d. h. wo der Wahrheitsbegriff für redundant oder unbedeutend oder gar unbrauchbar erklärt wird, 2 kann man leicht Begriffe ausfindig machen, die als Ersatzbegriffe fungieren, deren Erklärungswert aber problematisch ist. 1
2
Vgl. eine von Johanna Seibt zusammengestellte ausgewählte Bibliographie für die Jahre 1 9 7 0 - 1 9 8 5 im Sammelband Puntel [1987] S. 3 6 9 - 3 8 5 . Mit dieser Tendenz und den entsprechenden „Argumentationen" wird sich Abschnitt 1.2 auseinandersetzen.
2
0 Einleitung
Die Feststellung betrifft folgendes Phänomen: Seit Tarski haben Philosophen und Logiker enorme Anstrengungen unternommen, die wahrheitstheoretische Thematik zu klären; sie haben zweifellos mehrere bedeutende Ergebnisse gezeitigt. Es würde von Blindheit gegenüber der genannten Thematik und den mit ihr gegebenen Problemen und Aufgaben zeugen, wollte man die erzielten Ergebnisse schmälern oder gar leugnen. Aber es muß dennoch auf der anderen Seite festgestellt werden, daß seit vielen Jahren die wahrheitstheoretischen Diskussionen, ungeachtet der steigenden Zahl von einschlägigen Veröffentlichungen, das Stadium einer eindeutigen Stagnation erreicht haben. Es ist sicher nicht übertrieben zu sagen, daß die wahrheitstheoretischen Diskussionen nichts mehr „bewegen". Sie treten auf der Stelle — im buchstäblichen Sinne. Einige Grundpositionen (wie die eines zurechtgelegten Tarski, eines Quine u. a.) werden ständig wiederholt, kommentiert, kritisiert, verteidigt, ohne daß ein entscheidender Durchbruch erzielt würde. Die langjährige intensive Beschäftigung mit der uferlos werdenden wahrheitstheoretischen Literatur kann leicht ein Gefühl der Frustration hervorrufen. Aber Frustration ist eine Haltung, die dem inneren Duktus und der Konsequenz des philosophischen Denkens und Tuns eindeutig widerspricht. Angesichts einer solchen Situation muß der Philosoph als erstes fragen, wie das festgestellte Phänomen zu erklären ist. Freilich ist eine Antwort auf diese Frage eine gewaltige und gewagte Aufgabe, die man nicht vorschnell als bewältigt betrachten darf. Als Ergebnis der oben genannten langjährigen Forschungen bin ich zur Überzeugung gelangt, daß einer der wichtigsten Gesichtspunkte, die beim Versuch einer Erklärung des genannten Phänomens zu beachten sind, die Verkennung des (intraphilosophischen) interdisziplinären Charakters der Wahrheitsthematik bzw. -theorie ist. Damit ist folgendes gemeint: Obwohl die Wahrheitsthematik im Rahmen einer systematisch konzipierten Philosophie einer ganz bestimmten philosophischen Disziplin zugewiesen werden muß (darauf soll in Kap. 1 eingegangen werden), hat der Versuch einer Klärung der Wahrheitsthematik fundamentale Voraussetzungen und Implikationen in mehreren philosophischen Disziplinen (wobei hier die formale Logik der Einfachheit halber der Philosophie im weitesten Sinne zugerechnet wird). Die vier wichtigsten sind: Logik, Sprachphilosophie (Semantik), Ontologie und Erkenntnistheorie (Epistemologie). Diese Disziplinen sind in einem weiten Sinne zu verstehen, so daß sie auch (Sub-)Disziplinen wie Metalogik, Philosophie der Logik, Metamathematik, Wissenschaftsphilosophie (oder -theorie) u. a. miteinschließen. Es ist ein symptomatisches Phä-
0 Einleitung
3
nomen, daß es „semantische", „epistemische", „ontologische" usw. Theorien der Wahrheit gibt, wie die Ausführungen im ANHANG zeigen. Aber wie hängen sie miteinander zusammen? Ist der Wahrheitsbegriff ein logischer, ein semantischer, ein ontologischer oder ein epistemischer Begriff? Oder sind solche Konzeptionen das Ergebnis einer Verengung, einer Verkennung der interdisziplinären Bezüge, die diesen Begriff charakterisieren? In der positiven Antwort auf diese Frage dürfte einer der fundamentalen Aspekte einer Erklärung der oben festgestellten Stagnation im Bereich der gegenwärtigen wahrheitstheoretischen Diskussionen zu sehen sein. Einige Hinweise mögen diese Behauptung erhärten. Die meisten Wahrheitstheorien (vor Tarski, bei Tarski selbst und später) erklären den Wahrheitsbegriff dahingehend, daß dabei in irgendeiner Weise von „Realität", „Welt" u. ä. die Rede ist. Auch dann nämlich, wenn der Korrespondenzgedanke nicht explizit genannt, oder, wie das meistens der Fall ist, wenn Korrespondenz nicht als Relation aufgefaßt wird, wird Wahrheit auf irgendeine Weise in Verbindung mit „Realität" gesetzt. Aber welche Vorstellung von „Realität" bzw. „Welt" wird dabei vorausgesetzt? In fast allen Wahrheitskonzeptionen, die den („intern" oder „metaphysisch" gedeuteten) realistischen Charakter von Wahrheit vertreten, wird Welt als so etwas wie die Totalität der Objekte (Individuen) verstanden bzw. vorausgesetzt. Wenn Wahrheit irgend etwas mit (der) Welt zu tun haben soll, so muß Wahrheit im Sinne dieser Konzeption — in welcher Weise auch immer — im Bezug (oft als Bezug) zu Objekten gesehen werden. Dabei wird Objekt (Individuum) weiter von der Quasi-Totalität der hier gemeinten Wahrheitskonzeptionen einfach als nicht weiter ontologisch strukturierte (oft als nicht weiter strukturierbare) Grundentität bzw. als unanalysierter (oft als nicht weiter analysierbarer) Grundbegriff vorausgesetzt und angenommen. Es handelt sich um das, was man das objektontologische Dogma nennen könnte, dem man eine radikal andere Sicht von „Welt" entgegensetzen kann, etwa die von Wittgenstein im Tractatus formulierte: „1.1 Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge."3 Das objektontologische Dogma ist eine eindeutig ontologische Annahme, die ihrerseits in einer Hinsicht Voraussetzung, in einer anderen Hinsicht Implikation einer bestimmten Semantik und damit auch einer mit einer bestimmten 3
Wittgenstein [1969] S. 11. Es ist zu beachten, daß Wittgenstein „Tatsache" als „das, was der Fall ist", bzw. als „das Bestehen von Sachverhalten" versteht (vgl.
Tractatus 2).
0 Einleitung
4
Semantik verbundenen Logik ist. So hat eine prädikatenlogische Sprache erster Stufe, wenn sie im Sinne der Standard-Semantik, d. h. der Interpretationssemantik, entwickelt wird, das objektontologische Dogma zur Voraussetzung und Implikation.4 Immerhin muß gesagt werden, daß einige Aspekte eines solchen Zusammenhangs in der Gegenwart zumindest teilweise gesehen werden. So haben ζ. B. Mulligan/Simons/Smith die Notwendigkeit einer Erarbeitung der Wahrheitsontologie hervorgehoben.5 Sie selbst entwickeln den Begriff des ontologischen Moments, in dem sie den eigentlichen Wahrmacber sehen. Allerdings ist eine solche Ontologie der Wahrheit, wie noch zu zeigen sein wird, unzureichend. Dieser Punkt soll im Rahmen dieser Einleitung nicht weiter verfolgt werden. Verwiesen sei auf den ANHANG, in dem die wichtigsten Stationen der Geschichte der Wahrheitstheorie seit Tarski geschildert werden. Die Konsequenz ^ a u s den aufgezeigten Zusammenhängen gezogen habe, liegt auf der Hand: Eine Wahrheitstheorie, die nicht auf der Stelle treten will, muß die genannte Interdis^iplinarität (im erläuterten Sinne) wirklich ernst nehmen und thematisieren. Man könnte auch vom Umfeld einer Wahrheitstheorie im engeren Sinne sprechen. Der Ausdruck .Grundlagen' im Titel des Werkes soll u. a. diese Zusammenhänge anzeigen. Die hier vorgelegte Konzeption ist also dadurch charakterisiert, daß sie den Versuch unternimmt, das interdisziplinäre Umfeld der Theorie der Wahrheit zu klären. Es braucht kaum betont zu werden, wie schwierig, mühsam und komplex ein solches Unterfangen ist. Aber es dürfte schwer zu bestreiten sein, daß es die eigentliche wahrheitstheoretische Aufgabe der Gegenwart darstellt. Ein solches Unterfangen bzw. ein solcher Ansatz ist das Ergebnis einer Entscheidung hinsichtlich eines grundsätzlichen Dilemmas, dem kein nichttrivialer wahrheitstheoretischer Versuch in der gegenwärtigen Diskussionslage entrinnen kann. Gemeint ist folgendes Dilemma: Je weniger Annahmen im Bereich des Umfeldes, also der Interdisziplinarität, gemacht werden, desto größer ist die allgemeine Akzeptanz einer Theorie der Wahrheit; aber
4
5
Einer prädikatenlogischen Sprache erster Stufe muß nicht unbedingt eine solche bzw. die (Standard-)Semantik zugrunde gelegt werden, die als fundamentale Entitäten Objekte annimmt. Wie Legenhausen [1985] gezeigt hat, kann man (mindestens) zwei andere (Nicht-Standard-)Semantiken für den Prädikatenkalkül entwikkeln (vgl. unten Abschnitt 3.2.1.2). Vgl. Mulligan/Simons/Smith [1984],
0 Einleitung
5
der damit erzielte Sachertrag ist minimal, ja trivial: eine solche Theorie der Wahrheit ist nichtssagend, leer, und zwar bis zur Unkenntlichkeit. Umgekehrt nimmt die Akzeptanz in dem Maße ab, in dem interdisziplinäre Voraussetzungen und Implikationen explizit gemacht werden, wobei dann der begriffliche und explikative Sachertrag in dem Maße steigt, in dem das Umfeld geklärt wird. Viele Autoren haben sich implizit oder explizit für die erste Alternative des Dilemmas entschlossen. Der in diesem Buch unternommene Versuch ist das Ergebnis einer Entscheidung für die zweite Alternative. Die rationale Grundlage für diese Entscheidung ist die Einsicht, daß ein Fortschritt in der Philosophie das primäre Ziel eines anspruchsvollen Philosophierens sein soll und daß ein Fortschritt nicht dadurch erzielt wird, daß Konzeptionen vertreten werden, denen deswegen nicht widersprochen wird, weil sie leer und ohne Erklärungswert sind oder nur geringen Erklärungswert haben, sondern dadurch, daß die kontroversen Fragen explizit behandelt und auch kontroverse Positionen bezogen werden. Der Ausdruck .Grundlagen' soll auch einen weiteren, mit dem bisher erläuterten eng zusammenhängenden Gesichtspunkt anzeigen. Es werden hier nur die Grundlagen einer systematischen Theorie der Wahrheit, nicht aber wird die Theorie als solche vorgelegt. Damit soll folgendes gesagt werden: Obwohl die Theorie der Wahrheit als solche am Ende des Werkes skizziert wird, kann nicht gesagt werden, daß sie damit ihre eigentliche, ihr angemessene Darstellungsform schon erhalten hat. An die eigentliche Theorie der Wahrheit sind hohe Forderungen, vor allem formaler Natur, zu stellen. Vermutlich wird es noch lange dauern, bis die Theorie als solche im hier angedeuteten Sinne wirklich entfaltet und vorgelegt wird. [2] Die yweite Aufgabe dieser Einleitung besteht in der Erläuterung des Auflaus der Arbeit. In jedem der vier Kapitel, in die das Buch eingeteilt ist, wird eine bestimmte Art von Grundlagen der Theorie der Wahrheit behandelt. In Kapitel 1 werden programmatische Grundlagen geklärt. Unter diesem Titel sind drei große Fragenkomplexe zusammengefaßt. Erstens wird die Frage „Was ist eine Theorie der Wahrheit?" einer eingehenden Analyse unterzogen und einer Klärung zugeführt, die für alle weiteren Überlegungen von fundamentaler Bedeutung ist (1.1). Zweitens wird die These der Möglichkeit und Unverzichtbarkeit einer substantiellen Theorie der Wahrheit in Auseinandersetzung mit den sog. „deflationistischen" Tendenzen der Gegenwart erläutert und verteidigt (1.2). Drittens wird der methodisch-systematische Ort der (Disziplin) „Theorie der Wahrheit" im Rahmen einer systematisch konzipierten Philosophie herausgearbeitet (1.3).
6
0 Einleitung
Im Kapitel 2 werden begrifflich-methodische Grundlagen der Theorie der Wahrheit erörtert. Dazu gehört an erster Stelle die schwierige und in wahrheitstheoretischen Kontexten fast vollständig vernachlässigte Problematik von Begriffen (bzw. Verfahren) wie „Erklärung", „Explikation", „Definition" u. ä. Der in diesem Abschnitt entwickelten Theorie der rationalsystematischen Rekonstruktion der Bedeutung von Ausdrücken, die (zunächst oder schon) in der natürlichen Sprache angetroffen werden, ist eine universale Bedeutung für alle semantischen und sonstigen philosophischen Zusammenhänge zuzuweisen. In diesem Abschnitt (2.1) werden auch die wichtigsten Aspekte des semantischen Grundrahmens herausgearbeitet, der allen anderen Ausführungen zugrunde liegen und der in Kapitel 3 ausführlich dargelegt und begründet wird. In Abschnitt 2.2 wird die Problematik des Verhältnisses von Theorie der Wahrheit und Sprache erörtert. Hier wird zunächst der zentrale Stellenwert der Sprache für die Philosophie als ganze aufgewiesen; sodann werden die drei wahrheitsspezifischen Fragen ausführlich behandelt: Aus welcher Sprache wird „Wahr(heit)" entnommen? Für welche Sprache(n) wird die Theorie der Wahrheit entwickelt? In welcher Sprache wird die Theorie der Wahrheit dargestellt? In einem wichtigen Exkurs wird Tarskis berühmtes Theorem der Undefinierbarkeit der Wahrheit erläutert und dessen genaue Bedeutung herausgearbeitet sowie auf einige neuere Entwicklungen hinsichtlich der Problematik der Selbstreferentialität der Sprache und deren Tragweite für philosophische Fragestellungen eingegangen. Im Abschnitt 2.3 werden zwei methodische Leitprinzipien, die für das Verständnis und die Rechtfertigung der in diesem Buch aufgestellten Thesen von ausschlaggebender Bedeutung sind, erläutert und begründet: das Prinzip der maximalen Intelligibility und das Prinzip der holistischen Kohärenz Kapitel 3 stellt den eigentlichen Kern der in diesem Buch vertretenen Konzeption dar. Es ist der Klärung logischer, sprachphilosophischer (semantischer), ontologischer und kognitiver Grundlagen gewidmet. Es handelt sich also um die im eigentlichen Sinne zu verstehenden inhaltlichen Grundlagen, um das inhaltliche Umfeld, von dem oben die Rede war. Um den Zusammenhang der vier genannten Disziplinen und deren Tragweite für die Theorie der Wahrheit zu erhärten, werden zunächst zwei wichtige und symptomatische Diskussionsthemen aufgegriffen: erstens das subtile Verhältnis von Logik, Sprache und Ontologie, zweitens das sehr kontroverse Verhältnis von Kognitivität, Logik, Sprache und Ontologie (Realismus-Antirealismus-Debatte) (3.2). Auf der Basis der damit gewonnenen Ergebnisse wird im Abschnitt 3.3 das (zuerst von Frege formulierte) Kontextprin^ip („Nur im Zusammen-
0 Einleitung
7
hange eines Satzes bedeuten die Wörter etwas") als der Grmdansatζ der hier vorgelegten Konzeption erarbeitet; dieses Prinzip wird zunächst mit dem mit ihm konkurrierenden Kompositionalitätsprin^ip verglichen; dann werden verschiedene Versionen charakterisiert, wobei eine Version, die die Bezeichnung starke Version erhält, genau ausgearbeitet und als die eigentlich wichtige und grundlegende aufgewiesen wird. Dieser Grundansatz in Verbindung mit dem im Abschnitt 2.1.2 skizzierten semantischen Grundrahmen ermöglicht es, Elemente einer Theorie des Satzes zu erarbeiten (3.4); dabei soll das sog. „süngshot"-Argument zugunsten der hier abgelehnten These, derzufolge der Referent (das Denotatum) des Satzes der Wahrheitswert ist, kritisch geprüft werden. Im Abschnitt 3.5 werden die Grundzüge einer Theorie der Proposition (oder des Verbalts6) dargelegt. Diese Theorie dürfte als die zentrale Theorie des vorliegenden Buches zu betrachten sein. Hier wird ein völlig neuer Begriff der Proposition (des Verbalts) entwickelt, der als die wichtigste Grundlage für die anvisierte Theorie der Wahrheit dienen wird. Die ontologischen Implikationen dieser Theorie werden in einigen wichtigen Hinsichten aufgezeigt, besonders im Hinblick auf einen ebenfalls völlig neuen Begriff des Individuums und die mögliche und unvermeidliche Reduktion von Ereignissen, Prozessen und Handlungen auf (primäre) Propositionen (Verhalte). Damit ist die Bahn geebnet für die Klärung der sowohl wahrheitstheoretisch wie auch wissenschaftstheoretisch sowie allgemein philosophisch schwerlich in ihrer Bedeutung überschätzbaren Problematik des Begriffs der Welt (Abschnitt 3.6). Drei spezifische Fragen werden erörtert: die Frage nach der genauen kategorial-ontologischen Struktur von Welt, die Frage, ob Kriterien für eine vertretbare Unterscheidung zwischen wirklicher/ wirklichen Welt(en) und möglichen Welten angegeben werden können, schließlich die Frage, ob es eine wirkliche Welt oder viele wirkliche Welten gibt, in Verbindung mit der Frage, ob die wirkliche(n) Welt(en) Sprach-/Logik-/ Geist-/Theori^-abhängig oder -unabhängig ist (sind). Im letzten Kapitel (Kapitel 4) werden Grundlagen einer Theorie der Wahrheit im engeren Sinne, explikativ-definitionale Grundlagen, geklärt. Hier werden zunächst die Ergebnisse der vorhergehenden Ausführungen für die Theorie der Wahrheit beleuchtet (4.1). Sodann werden (die) wichtigste(n) Aspekte oder Momente des intuitiven Wahrheitsverständnisses herausgearbeitet und einige ihnen korrespondierende Explikationen (bzw. ExplikatejExplicantia) des Wahrheitsbegriffs aufgewiesen (4.2). Abschnitt 4.3 befaßt sich mit 6
Zur Erläuterung und Rechtfertigung dieser Schreibweise und des (partiellen) Neologismus vgl. die Bemerkungen am Ende dieser Einleitung (unter [3][iii]).
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0 Einleitung
der Problematik der Struktur, der Anzahl und des Zusammenhangs der Wahrheitsträger. Schließlich werden im Abschnitt 4.4 tentative Definitionen (genauer: Definitionsschemata) der Wahrheit der Proposition (des Verhalts), des Satzes und der kognitiven Instant vorgelegt. In dem sich anschließenden Nachwort werden Eigenart und Ergebnisse des vorliegenden Werkes präzisiert und einige weiterfuhrende wahrheitstheoretische Perspektiven und Aufgaben beleuchtet. In einem ANHANG am Ende des Buches werden die wichtigsten wahrheitstheoretischen Diskussionspunkte und Ansätze seit Tarski kurz dargelegt. Dieser ANHANG war ursprünglich als ein umfangreiches Kapitel konzipiert und geschrieben worden. Wäre diese Fassung beibehalten worden, so hätte das Buch einen unverhältnismäßig großen Umfang erhalten. So habe ich mich entschlossen, in diesem Buch nur eine relativ kleine Darstellung zur Orientierung des systematisch interessierten Lesers zu bringen. Diese Entscheidung erscheint nicht nur aus dem genannten Grund als gerechtfertigt, sondern auch deshalb, weil dieses Buch sich als systematisches Werk versteht. Freilich muß der Leser einen Nachteil in Kauf nehmen: Die Klärung der Grundlagen einer Theorie der Wahrheit wäre leichter zu erreichen, wenn der unmittelbare Bezug auf die ausführlich dargestellte und kritisch gesichtete wahrheitstheoretische Diskussion innerhalb desselben Werkes gegeben wäre. [3] Einige Hinweise für den Leser erscheinen an dieser Stelle angebracht. Sie betreffen mehrere Gesichtspunkte, die für eine fruchtbare Lektüre des Buches beachtet werden sollten. [i] Der hier unternommene Versuch eignet sich nicht für eine schnelle Lektüre. Dem Leser, der die Absicht hat, zu einer — wie immer gearteten — „Klärung" des Wahrheitsbegriffs rasch zu gelangen, ist die Lektüre abzuraten. Dieses Buch ist betontermaßen ein umständliches und komplexes Buch, ist es doch von der Überzeugung getragen, daß die in ihm abgehandelte Thematik nur sehr behutsam und auf vielen Umwegen einer genuinen Klärung zugeführt werden kann. Wie aus den obigen Ausführungen hervorgeht, ist dieses Buch nicht mit einer speziellen (im Sinne von: isolierten) Thematik befaßt, sondern mit einem bedeutenden Teil jener Fragestellungen, die zum zentralen Fragenbestand der Philosophie als solcher zu rechnen sind. Von hier aus gesehen wäre sogar die Frage zu stellen, ob der Titel GRUNDLAGEN EINER THEORIE DER WAHRHEIT geeignet ist, die Thematik des Buches bzw. die in ihm entwickelte(n) Konzeption(en) genau zu charakterisieren. Werden in diesem Buch nicht eher insbesondere eine
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neue Semantik und eine neue Ontologie skizziert und teilweise entwickelt? Dies ist sicher nicht zu bestreiten; andererseits ist zu betonen, daß der Wahrheitsbegriff sich gerade als Net^begriff erweist, d. h. als Begriff, der als Katalysator für fundamentale philosophische Fragen, Themen und Konzeptionen dient. Es dürfte klar sein, daß im Rahmen einer streng systematisch orientierten Philosophie die in diesem Buch abgehandelten Themen in einem anderen Zusammenhang piaziert und mit einem anderen Stellenwert versehen werden müßten. 7 Der Titel des Werkes ist zu verstehen als VORBEREITENDE STUDIEN ZU EINER THEORIE DER WAHRHEIT. Dem Leser, der mit der verwickelten Geschichte der Wahrheitstheorie seit Tarski und mit dem heutigen Diskussionsstand nicht vertraut ist, sei angeraten, mit der Lektüre des ANHANGS zu beginnen. [ii] Im vorliegenden Buch finden sich zum Teil erheblich ungleiche Ausfuhrungen und Thesen, was auch in der Regel im jeweiligen Zusammenhang ausdrücklich vermerkt wird. Diese Ungleichheit betrifft vor allem den Grad der Begründetheit, Ausgeführtheit und des Anspruchs auf Akzeptabilität der jeweiligen Konzeption(en). Man formuliert eine — oft übersehene — Binsenwahrheit, wenn man sagt, daß eine solche Ungleichheit die Philosophie als ganze charakterisiert; es wäre eine Vermessenheit, diese Tatsache leugnen zu wollen. Vielleicht ist das beste Beispiel einer solchen Ungleichheit im vorliegenden Buch der im Abschnitt 3.6 unternommene Versuch einer Klärung des Begriffs der Welt. Die diesbezüglichen Überlegungen und Thesen haben weitgehend einen — teilweise rein — tentativen, ja spekulativen Charakter. Dies gilt insbesondere für die im Abschnitt 3.6.3 aufgeworfenen Fragen, ob es nur eine wirkliche Welt oder mehrere wirkliche Welten gibt und ob diese Welt(en) Sprach-/Logik-/Geist-/Theorie-««abhängig ist (sind). Jedem, der sich heute mit den im Zusammenhang der Begriffe oder Bezeichnungen „interner Realismus — metaphysischer Realismus" behandelten Fragen befaßt, dürfte einleuchten, daß es noch nicht wirklich klar ist, was der genaue Sinn, die Implikationen und die Lösungsvoraussetzungen dieser Fragen sind. Hier ist noch viel zu leisten; im genannten Abschnitt werden Anregungen zu einer klareren, weiterfuhrenden Fragestellung und zu einem möglichen Lösungsansatz gegeben. [iii] Soweit möglich, habe ich mich bemüht, eine normale philosophische Sprache zu verwenden. Mit dieser Bemerkung werden speziell %wei Gesichts7
Vgl. dazu Abschnitt 1.3.
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punkte anvisiert. Der erste betrifft den Gebrauch des (formal-)logischen Instrumentariums. Da es sich in diesem Buch um die Klärung von Grundlagen und (noch) nicht um die eigentliche Darstellung der Theorie der Wahrheit handelt, wurde der Gebrauch logischer Mittel auf ein geringes Maß beschränkt. Jeder Leser mit bescheidenen Kenntnissen im Bereich der (modernen) formalen Logik kann grundsätzlich das ganze Buch lesen und verstehen. Der zweite Gesichtspunkt betrifft die Einführung einer eigenen oder gar eigenwilligen neuen Terminologie. Auch dies wurde im Rahmen des Möglichen vermieden. Die wichtigste Ausnahme liegt im Bereich der für dieses Buch zentralen Theorie der Proposition. Bekanntlich gibt es im Deutschen außer dem (meistens in Fachsprachen vorkommenden) Ausdruck .Proposition' andere Ausdrücke, die teilweise synonym und teilweise unterschiedlich verstanden und verwendet werden; es sind dies vor allem die Ausdrücke .Sachverhalt', .Sachlage' und .Situation'. Im vorliegenden Buch werden insbesondere die Ausdrücke .Proposition' und .Sachverhalt' im Sinne einer rein terminologischen Festlegung als synonyme Ausdrücke verwendet und verstanden. Damit ist nicht im mindesten irgendeine Entscheidung über eine wie immer anvisierte Sachfrage getroffen. Auf der anderen Seite sei der Leser darauf hingewiesen, daß mit der Verwendung dieser Termini in diesem Buch nicht schon automatisch die Auffassung verbunden ist, die in der gegenwärtigen Philosophie weitverbreitete Diskussion über „Propositionen" bzw. „Sachverhalte" sei eine Diskussion über eine echte und klare Thematik. Wie sich zeigen wird, weicht die in diesem Buch vertretene Theorie über „Proposition"/„Sachverhalt" erheblich von den in der gegenwärtigen Philosophie anzutreffenden Konzeptionen ab. Es wäre sogar die Frage zu stellen, ob es nicht angebracht wäre, einen völlig neuen Terminus einzuführen. Daß dennoch an den Ausdrücken .Proposition'/,Sachverhalt' festgehalten wird, hat seinen Grund darin, daß mit der Verwendung dieser Termini in der einen oder anderen Weise eine gewisse Intuition verbunden ist, die immer noch darauf wartet, genau, angemessen und vollständig expliziert zu werden. Um dennoch den genannten Konzeptionsunterschied zu markieren, sollen die genannten Ausdrücke, wenn sie zur Bezeichnung der hier vertretenen neuen Theorie verwendet werden, fett gedruckt werden (Proposition, Sachverhalt, Situation). Was den Ausdruck .Sachverhalt' angeht, so scheint er für die hier vertretene Theorie besonders geeignet zu sein. Allerdings muß eine Modifikation vorgenommen werden, die zur Bildung eines (partiellen) Neologismus führt: anstelle von .Sachverhalt' soll (im allgemeinen) .Verhalt' verwendet werden. (Weil es sich um einen Neologismus handelt, wird .Verhalt' nicht fett gedruckt.) Die Einführung dieses Terminus hat ihren Grund in folgendem
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Sachverhalt: Der Ausdruck .Verhalt' trifft: sprachlich ziemlich genau das, was in diesem Buch mit Bezeichnungen bzw. Begriffen wie Proposition u. ä. intendiert ist. Wie sich zeigen wird, ist eine (primäre) Proposition ein (in einer bestimmten Welt) realisiertes Attribut. Nach der klassischen und gerade heute implizit oder explizit fast ausschließlich vertretenen Konzeption wird in diesem Zusammenhang ein Substratum oder Subjekt (unter welcher Bezeichnung auch immer) angenommen, d. h. ein X, dem das Attribut zugeschrieben wird bzw. welches das Attribut „exemplifiziert". Diese Konzeption wird in diesem Buch abgelehnt. Um die alternative Konzeption dazu sprachlich zu artikulieren, eignet sich der Ausdruck/Begriff „Sich-Verhalten" (oder kurz: „Verhalt") vorzüglich. Es geht nämlich darum, daß eine Proposition einfach dies besagt: „Es-verhält-sich-F" (wobei ,F' ein Attribut anzeigt).8 Man kann kurz und genau sagen: Eine Proposition besagt: „...-Verhalt", wobei in die Stelle der Pünktchen der Ausdruck für das jeweilige Attribut einzusetzen ist, ζ. B. „F-Verhalt". Der Ausdruck .Sachverhalt' — rein sprachlich genommen — zeigt an, daß es sich um das „Sich-Verhalten" jener Attribute handelt, die man „Sacb-Attribute" (also statische usw. Attribute) nennen kann. „Sach-Verhalt" ist also eine Typenbezeichnung. Andere Typen sind etwa: „Ereignis-Verhalt", „Prozeß-Verhalt", „Handlungs-Verhalt", „Wert-Verhalt", „Struktur-Verhalt" usw. Besonders wichtig ist hier folgender Gesichtspunkt: Mit der hier vertretenen Theorie der Proposition wird eine Entität anvisiert, die nicht nur einen Typus hat (nämlich den „statischen" Sachverhalt); vielmehr kommt die gemeinte Entität in verschiedenen Typen vor, entsprechend den großen Typen der Attribute. Es ist an dieser Stelle natürlich nicht möglich, den Begriff „Verhalt" weiter zu klären; es sollte nur kurz gezeigt werden, aus welchen Gründen die Einführung und Verwendung des Ausdrucks/Begriffs „Verhalt" als gerechtfertigt erscheint. [iv] An letzter Stelle seien einige technisch-praktische Hinweise gegeben. Der erste betrifft die Verwendung von Anführungszeichen. Bekanntlich gibt es keine einheitlichen Kriterien für die Verwendung von Anführungszeichen. In diesem Buch werden vier Arten von Anführungszeichen gebraucht:9 die normalen oder doppelten Anführungszeichen , „ . . . " ' , die einfachen Anführungszeichen , , . . . " , eine zweite Art von einfachen Anführungszeichen,»...«' und die von Quine eingeführten „Quasi-Anführungszeichen" , r ..."". 8
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Das ,Es' in der Formulierung ,Es-verhält-sich-F' hat eine grammatische (Hilfs-) Funktion. Zu dem im Text angesprochenen Zusammenhang vgl. die weiteren Erläuterungen im Abschnitt 3.5.2.3. Für die nachfolgende Angabe der vier Arten von Anfuhrungszeichen wird eine dieser Arten verwendet, nämlich die einfachen Anfuhrungszeichen.
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Die doppelten Anführungszeichen werden verwendet: (a) für Zitate, Quasi-Zitate (wie Angaben des Titels eines Buches, eines Kapitels u. ä.) und feste Bezeichnungen (wie: „die semantische Theorie der Wahrheit"), wenn sie besonders hervorgehoben werden sollen; (b) um den „semantischen" Wert (d. h. die Bedeutung, die Referenz, den Begriffsinhalt, den informationalen Gehalt u. ä.) von sprachlichen Ausdrükken anzuzeigen (oder besonders hervorzuheben), wie ζ. B.: der Begriff „wahr", die Proposition „Der Schnee ist weiß"; (c) um einen besonderen (idiosynkratischen, metaphorischen usw.) Sinn oder Gebrauch von sprachlichen Ausdrücken zu markieren, wie ζ. B.: der „dialektische" Charakter der Philosophiegeschichte; (d) in Fällen, in denen offen gelassen werden soll, ob ein sprachlicher Ausdruck selbst oder der semantische Wert oder beides gemeint ist. Die einfachen Anfuhrungszeichen werden zu folgenden Zwecken verwendet: (a) um Zitate innerhalb von Zitaten zu markieren; (b) um den metasprachlichen Status eines Zeichens anzuzeigen, wie ζ. B. (die Konstante) ,A', der Operator (der Ausdruck) ,wahr', (der Satz) .Schnee ist weiß', (der Name) ,Quine', die Anfuhrungszeichen , r Die Anführungszeichen,»...«' werden in den Fällen (b)—(d) der doppelten Anführungszeichen verwendet, wenn Zitate innerhalb von Zitaten auftreten (wobei allerdings in jedem Fall die dem Verfasser der zitierten Stelle eigene Verwendungsweise von Anführungszeichen beachtet wird). Kommt hingegen Fall (b) der einfachen Anführungszeichen innerhalb von (weiteren) Zitaten vor, so werden die einfachen Anführungszeichen beibehalten. Die Quasi-Anführungszeichen , r werden im Sinne Quines verwendet10, es sei denn, es wird auf Autoren Bezug genommen, die diesen Zeichen eine andere Bedeutung geben.11
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Vgl. dazu Quine [1940] § 6. Die Quasi-Anfuhrungszeichen sind Anfuhrungsfunktionen. Ein quasi-angeführter Ausdruck ist zu verstehen (bzw. zu lesen) als das Ergebnis der Ersetzung der in ihm vorkommenden Ausdrücke durch deren „Designata" (also durch Ausdrücke, die durch die im quasi-angeführten Gesamtausdruck vorkommenden Ausdrücke bezeichnet werden). So besagt Γ φ Ξ ψ"1 das Ergebnis der Ersetzung von ,. Hier soll die Frage noch offen bleiben, welchen Stellenwert diesem Begriff zuzumessen ist. Gemäß den genannten Autoren sind die Informationswerte der anderen sprachlichen Ausdrücke Entitäten, die im Hinblick auf die Entität „Proposition" bestimmt werden. So ist der Informationswert des Prädikats das Attribut, das mit dem Prädikat semantisch assoziiert wird, d. h. die Eigen-
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Wenn im folgenden der Ausdruck ,Satz* ohne weitere Qualifikation verwendet wird, so ist darunter immer der .deklarative Satz' zu verstehen. Diese These soll weiter unten ausführlich dargestellt und begründet werden (vgl. 3.3). Vgl. Salmon [1986] S. 13.
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2 Begrifflich-methodische Grundlagen
Schaft (im Falle eines 1-stelligen Prädikats) und die n-stellige Relation (im Falle des n-stelligen Prädikats). Nach der Theorie der direkten Referenz ist der semantische Informationswert des singulären Terms einfach der Referent des Terms. Ein logisches Satzkonnektiv (Junktor) wird in Analogie zum Prädikatsmodell erklärt: der semantisch-informationale Wert eines Konnektivs ist ein Attribut, nicht aber ein Attribut eines Individuums (wie „Sokrates"), sondern das Attribut eines (des zentralen) Informationsgehalts, nämlich der Proposition. Beispielsweise ist der Informationswert des Konnektivs „dann und nur dann, wenn" mit der binären Äquivalenzrelation zwischen Propositionen identisch, die denselben Wahrheitswert besitzen. Der Informationswert eines (objektual verstandenen) Quantors in einer Sprache erster Stufe kann mit einer Eigenschaft von Eigenschaften von Individuen identifiziert werden; der Allquantor „alle" wäre demnach die Eigenschaft (zweiter Stufe) „eine universale Eigenschaft (erster Stufe)", d. h. die Eigenschaft „eine von allen (im Bereich des Quantors situierten) Individuen besessene Eigenschaft". Entsprechendes ist von den anderen Operatoren bzw. den anderen Ausdrücken der Sprache zu sagen. [2] Wollte man die Semantizität der Sprache, also den semantischen Wert sprachlicher Ausdrücke, nur auf den Informationswert (im erläuterten Sinne) reduzieren, so würde man der Sprache, wie sie real vorhanden ist und gehandhabt wird, nicht gerecht. Die „reale" Sprache enthält semantische Werte, die mit den Informationswerten nicht identifiziert werden können. Diese Behauptung läßt sich leicht erhärten. „Konkrete" sprachliche Ausdrücke werden, zumindest oft, indexikalisch verwendet und sie kommen prinzipiell immer in bestimmten Kontexten der Äußerung vor. Nur eine abstrakte (sozusagen völlig objektivierte oder, um einen Ausdruck Quines zu gebrauchen, „eternalisierte") Sprache ist kontext- und indikatorenfrei. Werden nun sprachliche Ausdrücke kontextuell (und indexikalisch) verwendet, so ist nicht (immer) klar bzw. gegeben, welchen semantisch-informationalen Wert sie haben. Zu dieser ersten Feststellung kommt eine ^weite, nicht minder wichtige hinzu: Es ist ein Faktum, daß auch ohne eindeutige Zuordnung semantischinformationaler Werte zu sprachlichen Ausdrücken, diese (doch) verstanden werden (können). Und was verstanden wird (werden kann) hat gemäß den oben getroffenen Feststellungen und Festlegungen einen semantischen Wert. Dieser kann also im hier besprochenen Fall nicht einfach der semantischinformationale Wert sein. Man muß einen anderen semantischen Wert anerkennen und herausarbeiten. Ein Beispiel mag diese Zusammenhänge illu-
2.1 Was ist eine explikativ-definitionale
Theorie?
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strieren. Wenn der Satz ,Ich sitze am Computer' geäußert wird, so daß ein Hörer des Satzes die mit ,Ich' gemeinte Person nicht identifizieren kann, so „versteht" der Hörer dennoch den Satz, genauer und vorsichtiger formuliert: der genannte Umstand schließt nicht aus, daß im Hörer ein (gewisses) Verständnis des Satzes vorhanden ist. Der Hörer — von dem vorausgesetzt sei, daß er des Deutschen mächtig ist, — weiß nämlich mit dem Satz vieles anzufangen: er kann bestätigen, daß der Satz grammatikalisch korrekt ist; er kann annehmen, daß entsprechend den Regeln und der Semantik der deutschen Sprache der Satz von einer Person geäußert wurde; er kann mit dem Satz bestimmte Schlüsse formulieren usw. Das alles zeigt, daß der Satz einen semantischen Wert hat, obwohl der semantisch-informationale Wert nicht eindeutig (bzw. nicht bekannt bzw. nicht gegeben) ist. Wie ist dieser andere semantische Wert zu bestimmen? Hier muß der Umstand beachtet werden, daß zwar auch ein anderer semantischer Wert als der semantisch-informationale anzuerkennen ist, daß er aber auf den letzten, den semantisch-informationalen, „hingeordnet" ist, und zwar in dem genauen Sinne, daß er ihn voraussetzt, um sich selbst zu bestimmen. Daraus folgt, daß der semantisch-informationale Wert der fundamentalere) ist. Der neue Wert kann sich nämlich nur funktional im Hinblick auf den fundamentalen semantischen Wert definieren. In der Tat wird er aus diesem Grunde am besten semantisch-funktionaler Wert genannt. Man könnte ihn auch als den linguistischen Wert sprachlicher Ausdrücke bezeichnen. Und man kann hinzufügen, daß dieser semantische Wert im allgemeinen oder hauptsächlich gemeint ist, wenn gewöhnlich von .Bedeutung' die Rede ist. Dieser zweite semantische Wert ist genauer als eine Funktion zu charakterisieren, die für jeden (möglichen) Kontext k (der Äußerung) eines Ausdrucks den semantisch-informationalen Wert bestimmt, der dem Ausdruck in k zugeordnet wird. Oder anders: der semantisch-funktionale Wert ist eine Funktion von Kontexten k (der Äußerung) sprachlicher Ausdrücke in semantisch-informationale Werte, die diesen Ausdrücken in k zugeordnet werden. Das oben angeführte Beispiel ,Ich sitze am Computer' läßt sich jetzt so deuten: dieser Satz hat einen semantisch-funktionalen Wert im Sinne einer Funktion, die dem Ausdruck ,Ich' im Kontext k einen semantisch-informationalen Wert zuordnet, etwa das Individuum L. B. P., und entsprechend für das Prädikat ,sitze am Computer' ebenfalls einen bestimmten semantisch-informationalen Wert festlegt, nämlich das auf das genannte Individuum „zutreffende" Attribut, das mit dem Prädikat,...sitze am Computer' assoziiert ist. [3] Der herausgearbeitete semantisch-funktionale Wert sollte präziser als der funktional-linguistische Wert bezeichnet werden. Der Grund dafür ist, daß es
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2 Begrifflich-methodische Grundlagen
sich als notwendig erweist, eine zweite Art des semantisch-funktionalen Wertes anzuerkennen und einzuführen, die nicht-linguistischen Charakter hat. Bisher war von Kontexten der Äußerung sprachlicher Ausdrücke die Rede. Aber man kann, ja muß jene Kontexte berücksichtigen, die die Semantik der möglichen Welten eben mögliche Welten nennt10. Am besten könnte man solche Kontexte „metaphysische" Kontexte und den entsprechenden semantischen Wert „funktional-metaphysischen" Wert nennen. Doch nicht alle Vertreter einer Semantik der möglichen Welten würden einen solchen Ausdruck akzeptieren, schon deshalb nicht, weil viele Philosophen, die mögliche Welten annehmen, diese nicht als metaphysische, sondern als sprachliche Entitäten auffassen.11 Aus diesem Grunde soll hier ein anderer Ausdruck eingeführt werden, um den den angesprochenen Kontexten entsprechenden semantischen Wert zu bezeichnen, nämlich den (etwas künstlichen) Ausdruck funktional-systematischer (semantischer) Werf. Damit soll besonders der Umstand hervorgehoben werden, daß es sich um bolistische Kontexte handelt. Der funktional-systematische semantische Wert sei unter Bezugnahme auf allgemeine Einsichten der Semantik der möglichen Welten als die Intension des direkten (informationalen) semantischen Wertes sprachlicher Ausdrücke erklärt, wobei allerdings darauf hinzuweisen ist, daß dieser Ausdruck (und der korrelative Ausdruck,Extension') eine lange und verwickelte Geschichte gehabt hat und heute in sehr verschiedenen Bedeutungen verwendet wird. Intension und Extension können, da sie korrelative Begriffe sind, nur zusammen erklärt werden. Die Extension stellt neben dem semantisch-direkten und dem semantisch-funktionalen (mit den beiden Formen: dem funktional-linguistischen und dem funktional-systematischeri) den dritten semantischen Wert dar; um ihn auch terminologisch von den beiden anderen zu unterscheiden, sei dafür die Bezeichnung semantisch-dimensionaler Wert eingeführt (es handelt sich dabei ja um eine „Dimension"). Auszugehen ist vom fundamentalen, d. h. dem semantisch-direkten (dem semantisch-informationalen) Wert.12 Die Intension und Extension sprachlicher Ausdrücke haben gegenüber der Intension und Extension der jeweiligen semantischen Werte derivativen Charakter.13 Das Verhältnis von Intension Einige Autoren sprechen lieber etwa von „Umständen" („circumstances"). Vgl. ζ. B. Soames [1985] und [1987]. 11 Vgl. ANHANG 6.2.5. 12 Vgl. zu den folgenden Ausführungen Salmon [1986] S. 14 f. " Vgl. dazu S. Soames [1989] S. 414. 10
2.1 Was ist eine explikativ-definitionale Theotie?
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und Extension ist dadurch grundlegend charakterisiert, daß die Extension durch die Intension bestimmt wird. Die genannten Autoren erklären diese Begriffe in bezug auf die Einzelkomponenten der Proposition und auf die Proposition selbst folgendermaßen: Die Intension eines n-stelligen Attributs ist eine Funktion von möglichen Welten in Mengen von n-Tupeln von Individuen, die das Attribut in der (zugehörigen) Welt instantiieren. Die Intension eines Individuums ist eine konstante Funktion von der Menge der möglichen Welten in dieses Individuum. Die Intension einer 1-stelligen propositionalen Funktion g ist eine Funktion von möglichen Welten Ε in Mengen von Individuen in E, denen g Propositionen zuordnet, die in £ wahr sind. Damit sind auch die entsprechenden Extensionen bestimmt. Interessant ist nun die (von den genannten Autoren) vorgelegte Bestimmung der Intension und Extension der Proposition. Um diese Konzeption richtig einzuordnen, ist daran zu erinnern, daß die zitierten Autoren Proposition im Sinne der schon erläuterten singulären Proposition verstehen. Demnach ist die Extension der Proposition relativ zu einer Welt (zu einem „Umstand") der Wahrheitswert der Proposition in der (entsprechenden) Welt und die Intension der Proposition ist die Menge von (möglichen) Welten („Umstände"), in denen die Proposition wahr ist; angefügt wird, daß letztere Bestimmung äquivalent ist der Auffassung, derzufolge die Intension der Proposition die charakteristische Funktion der genannten Menge, also der Menge von (möglichen) Welten (Umstände), in denen sie wahr ist, darstellt.14 Die Bestimmung der Intension und Extension des Satzes ergibt sich entsprechend. [4] Der kurz beschriebene semantische Grundrahmen wird in diesem Buch nur in einer bestimmten Hinsicht übernommen, nämlich nur hinsichtlich der allgemeinen und fundamentalen Gesichtspunkte, nicht aber hinsichtlich der näheren Erklärung dieser Gesichtspunkte. Im einzelnen heißt das: Vertreten wird hier die Auffassung, daß ein sachangemessener semantischer Rahmen den Begriff des semantischen Wertes und die Unterscheidung zwischen (direktem) Informationswert und funktionalem Wert ausdrücklich enthalten muß; ferner darf er den direkten Informationswert nicht mit dessen Intension und Extension identifizieren und damit verwechseln. Auf die Terminologie kommt es nicht entscheidend an (die Ausdrücke .funktionallinguistischer semantischer Wert' [= linguistische Bedeutung], .funktionalsystematischer semantischer Wert' [= Intension] und .dimensionaler seman14
Vgl. ζ. B. Soames [1987] S. 74.
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tischer Wert' [= Extension]) werden hier zum ersten Mal eingeführt. Aber der hier zu entwickelnde Ansatz unterscheidet sich grundlegend von der Konzeption, deren Einzelaspekte von den in diesem Abschnitt genannten Autoren allmählich ausgearbeitet wird, hinsichtlich der näheren Bestimmung der Proposition, der Intension und damit des Wahrheitswertes. Dies ausführlich zu zeigen, wird die Aufgabe und der Inhalt des Kapitels 3 sein. Für die Zielsetzung des vorliegenden Kapitels dürfte die kurze Beschreibung des allgemeinen semantischen Grundrahmens ausreichend sein. Zur allgemeinen Orientierung sei der entscheidende Unterschied kurz charakterisiert. Die oben genannten Verfechter der Theorie der direkten Referenz vertreten eine kompositional orientierte Semantik, d. h. eine Semantik, die sich vom Kompositionalitätsprin^ip leiten läßt. Dieses Prinzip besagt, daß der semantische (informationale) Wert eines komplexen sprachlichen Ausdrucks (besonders des Satzes) vom semantischen (informationalen) Wert der einzelnen Komponenten des Ausdrucks (besonders des Satzes) funktional abhängig ist. Der semantische Wert des Satzes baut sich demnach aus den semantischen Werten der einzelnen Satzkomponenten auf. Damit ist vorausgesetzt, daß der semantische Wert der einzelnen Komponenten des Satzes gegenüber dem semantischen Wert des Satzes primär ist. Dieses Prinzip beherrscht fast die ganze semantische Tradition seit Frege. Dem Kompositionalitätsprinzip diametral entgegengesetzt ist das Kontextprinqip, das Frege (allerdings nur in den Grundlagen der Arithmetik) folgendermaßen formuliert hat: „Nur im Zusammenhange eines Satzes bedeuten die Wörter etwas."15
Aber gerade dieses Kontextprinzip, und zwar gemäß einer starken Version, bildet den semantisch-ontologischen Grundansatz für die in diesem Buch zu entwickelnde Konzeption. Mit dem Kontextprinzip befaßt sich der ganze Abschnitt 3.3. 2.1.3 Ergebnisse für die Klärung der begrifflich-methodischen Grundlagen Ungeachtet des Umstands, daß nur einige zentrale Aspekte eines semantischen Grundrahmens skizziert werden konnten, dürfte es doch möglich sein, einige fundamentale begrifflich-prozedurale und begrifflich-sachliche Fragen 15
Frege [1884] § 62.
2.1 Was ist eine explikativ-definitionale Theorie?
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ausreichend zu klären. Es dürfte nämlich jetzt möglich sein, Ausdrücke wie ,Begriff, .Bedeutung' u. ä. bzw. .Analyse', .Erklärung', .Explikation', .Definition' u. ä. in Kontexten wie ,den Begriff X' oder ,die Bedeutung des Ausdrucks ,X' analysieren' (.erklären', .explizieren', .definieren' u. ä.) genau zu bestimmen. Die Ausdrücke .Begriff, .Bedeutung' u. ä., wenn sie in Kontexten wie den zuletzt genannten verwendet werden, sind nach der hier entwickelten Konzeption dahingehend zu verstehen, daß sie den mit einem (d. h. dem betreffenden) Ausdruck verknüpften semantischen Wert dieses Ausdrucks „bezeichnen". Gemeint ist hier der gesamtsemantische Wert eines Ausdrucks gemäß der durchgeführten Analyse, also unter Einschluß der drei Arten des semantischen Wertes: des semantisch-informationalen, der beiden Formen des semantisch-funktionalen und des semantisch-dimensionalen Wertes. Den so verstandenen gesamtsemantischen Wert eines sprachlichen Ausdrucks könnte man kurz den semantischen Status des Ausdrucks nennen. Unter „Begriff (einer „Sache") oder „Bedeutung" 16 (eines sprachlichen Ausdrucks) ist der semantische Status (im soeben definierten Sinne) des betreffenden sprachlichen Ausdrucks zu verstehen. Natürlich haben die Ausdrücke .Begriff und .Bedeutung' jeweils verschiedene Konnotationen: .Begriff betrifft (eher) eine Sache, .Bedeutung' (eher) einen sprachlichen Ausdruck. Diese Konnotationen müssen nicht unbedingt als etwas Falsches, Inadäquates u. ä. angesehen werden; inadäquat, falsch u. ä. werden sie (meistens) dann, wenn man sie nicht präzisiert, wenn man sie nicht im Rahmen einer Gesamtkonzeption klärt. Man nehme den angeführten·Ausdruck .Begriff. In Klammern wurde .einer Sache' angefügt. Beide Ausdrücke gehören zusammen im Sinne einer gewissen, zunächst sehr vagen und allgemeinen, aber deswegen nicht falschen oder schlechterdings inadäquaten Vorstellung. Es ist bekannt, daß Ausdrücke wie ,der Begriff einer Sache', ,der Begriff der Wahrheit', ,der Begriff der Welt' usw. im Sinne eines genitivus subjectivus zu verstehen sind: der Begriff, der diese Sache ist; der Begriff, der Wahrheit usw. heißt. Daher wird im Deutschen auch ,der Begriff «Wahrheit»', ,der Begriff «Welt»' (oder auch, weniger präzis: ,der Begriff Wahrheit') u. ä. gesagt. Zieht man den eingeführten Begriff des semantischen Wertes heran, so wird deutlich, daß die zuletzt genannten Ausdrücke den scmanüsch-in/ormationaien Wert eines 16
Hier wird der Ausdruck .Bedeutung' in einem umfassenderen Sinne gebraucht als oben im Haupttext, wo die Bemerkung gemacht wurde, daß unter .Bedeutung' gewöhnlich der funktional-linguistische semantische Wert eines Ausdrucks verstanden wird.
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2 Begrifflich-methodische Grundlagen
sprachlichen Ausdrucks „anzeigen". Anders der gewöhnlich verwendete Ausdruck ,Bedeutung': wie schon bemerkt, wird dieser Ausdruck meistens — vorsichtig formuliert: in etwa — mit dem funktional-linguistischen semantischen Wert des betreffenden Ausdrucks „assoziiert". Um Mißverständnisse zu vermeiden, könnte man daran denken, diese Ausdrücke, wenn sie verwendet werden, mit einem präzisierenden Index zu versehen, etwa .Begriffs/ für: .«Begriff» wird hier verstanden im Sinne des «semantischen Status»'; aber dies wäre eine unnötige Pedanterie. Nachdem geklärt wurde, in welchem Sinne solche Ausdrücke wie ,Begriff (der) Wahrheit', .Bedeutung von «Wahr(heit)»' u. ä. zu verstehen sind, ist auch klar, daß sie in diesem Buch so verstanden und verwendet werden. Aus dem skizzierten semantischen Grundrahmen lassen sich auch entscheidende Folgerungen im Hinblick auf jene Prozedur(en) ziehen, auf die in der wahrheitstheoretischen Literatur mit Hilfe einer ganzen Reihe von Ausdrücken, wie .Analyse', .Explikation', .Erklärung' u. ä. Bezug genommen wird. Allerdings stellt sich hier die Aufgabe als ungleich komplexer und schwieriger dar. Hier müssen nämlich einige subtile Gesichtspunkte und Differenzierungen beachtet werden, die im einzelnen herauszuarbeiten und in ein kohärentes Gesamtkonzept einzubringen sind. Das Ergebnis des Versuchs einer Klärung der genannten Thematik und gleichzeitig die Bezeichnung für das zu entwickelnde Gesamtkonzept ist der Titel: „Begriff und Verfahren der rational-systematischen Rekonstruktion". Dieser Aufgabe wendet sich der nächste Abschnitt zu. 2.1.4
Begriff und Verfahren der rational-systematischen Rekonstruktion (= RSR)
2.1.4.1 Das Problem Bis jetzt wurde ein Grundrahmen erarbeitet, der es ermöglicht, die semantischen Begriffe „semantischer Wert", „Begriff", „Bedeutung" u. ä. grundsätzlich zu klären. Ein weiteres, schwieriges Problem entsteht, wenn versucht wird, diesen semantischen Grundrahmen für die Klärung der semantischen Verfahren der „Analyse", „Explikation", „Definition" u. ä. in Anschlag zu bringen. Dieses Verfahren wurde im übrigen bisher immer schon in Anspruch genommen, denn die Aufgabe, mit der sich dieses Buch von Anfang an befaßt, ist die „Klärung" oder eben „Analyse" usw. gewisser Grundbegriffe. Insofern ist das hier praktizierte Verfahren selbstreferentiell. Doch was heißt das genau?
2.1 Was ist eine explikativ-definitionaU Theorie?
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In einer Hinsicht ist es auf der Basis des erarbeiteten semantischen Grundrahmens leicht zu sagen, worin das genannte Verfahren besteht, nämlich in der Angabe des semantischen Wertes bzw. im Aufzeigen des semantischen Status eines Ausdrucks. Doch diese — jetzt mögliche, grundsätzlich verständliche und gut begründete — Charakterisierung wirft große Probleme auf. Der entscheidende Punkt ist der Umstand, daß das Verfahren der Explikation/Definition den semantischen Status eines Ausdrucks dadurch „verdeutlicht", daß andere Ausdrücke eingeführt und benutzt werden. Wie kann der semantische Status eines Ausdrucks dadurch angegeben werden, daß andere Ausdrücke verwendet werden? Diese anderen Ausdrücke haben entsprechend dem erarbeiteten Grundrahmen natürlich auch ihren semantischen Status. Wie ist dann das Verhältnis zwischen den beiden Arten von Ausdrücken zu verstehen? Wie sich zeigt, handelt es sich um das Verhältnis von „Analysandum" und „Analysans" bzw. „Explicandum" und „Explicans" bzw. „Definiendum" und „Definiens". Da davon auszugehen ist, daß jeder dieser Ausdrücke einen eigenen semantischen Wert/Status hat, läßt sich das Problem, das das Verfahren der Analyse/Explikation/Definition aufwirft, jetzt so präzisieren: Wie ist das Verhältnis oder der Zusammenhang zwischen dem gesamtsemantischen Wert oder Status, der Ausdrücken mit der Qualifikation „Analysandum/Explicandum/Definiendum" eigen ist, und dem gesamtsemantischen Wert oder Status, der Ausdrücke mit der Qualifikation „Analysans/Explicans/Definiens" charakterisiert, zu verstehen? Daß ein positives Verhältnis bzw. ein positiver Zusammenhang besteht und bestehen muß, dürfte außer Frage sein, sonst hätte es keinen Sinn, von Analyse/ Explikation/Definition zu reden. Aber wie ist dieses Verhältnis bzw. dieser Zusammenhang genau zu bestimmen? 2.1.4.2 Ungenügende Lösungen Es ist im Rahmen dieser Arbeit weder sinnvoll noch möglich, auf die vielen Konzeptionen einzugehen, die in der einen oder anderen Weise Lösungen für das formulierte Problem anbieten. Hier sei vielmehr die Darstellung der zu vertretenden Position dadurch vorbereitet, daß %wei extreme entgegengesetzte Richtungen kurz idealtypisch dargelegt werden. [1] Die eine extreme Position minimalisiert oder ignoriert gar die Seite der Sprache. Analyse/Explikation/Definition (im folgenden abgekürzt als: A/E/ D) wird als eine Operation oder als ein Zusammenhang ausschließlich zwischen „Begriffen" verstanden, wobei „Begriff" irgendwie als etwas Ob-
2 Begrifflich-methodische Grundlagen
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jektives, Nichtsprachliches aufgefaßt wird. Gemäß dem oben eingeführten semantischen Grundrahmen könnte man sagen, daß hier so etwas wie der „reine" semantische Wert/Status von Ausdrücken unter vollständiger Absehung der Ausdrücke selbst betrachtet wird. Eine solche Position scheint von G. E. Moore vertreten worden zu sein. In seiner Antwort auf den Artikel, in dem C. H. Langford das „Paradox der Analyse" formuliert hatte17, betont et, daß er „Analysis" ausschließlich als ein Verfahren versteht, das es mit „Idee oder Begriff oder Proposition" („idea or concept or proposition"), nicht aber mit einem Ausdruck („verbal expression") zu tun hat: „Analysandum" und „Analysans" sind dementsprechend keine sprachlichen Ausdrücke, sondern „Ideen oder Begriffe oder Propositionen".18 Immerhin erkennt Moore den Umstand an, daß verbale Ausdrücke erforderlich sind, um „Ideen oder Begriffe oder Propositionen" „auszudrücken" („to express"). Aber daraus zieht er keine nennenswerten Konsequenzen für die Formulierung seiner Position. Im Gegenteil: Moore betont, daß er lange Zeit nicht klar genug zwischen der Definition eines verbalen Ausdrucks und der Definition eines Begriffs unterschieden habe; unter „Analyse" habe er nur immer ausschließlich diese zweite Art von Definition verstehen wollen. Angesichts der fehlenden Berücksichtigung der sprachlichen Seite ist es nicht verwunderlich, daß Moore offen bekennt, er wisse nicht, wie das „Paradox der Analyse" gelöst werden könne. Ihm zufolge sind (1 a) und (1 b) verschiedene Aussagen („statements"); oder anders: diese Sätze drücken verschiedene Propositionen aus: (1 a) (1 b)
Der Begriff Bruder ist identisch mit dem Begriff Bruder Der Begriff Bruder ist identisch mit dem Begriff männliches Geschwister.
Hier gesteht er doch ein: „...one must suppose that both statements are in some sense about the expressions used as well as about the concept of being a brother. But in what sense they are about the expressions used I cannot see clearly; and therefore I cannot give any clear solution to the puzzle."19
Es verdient aber hervorgehoben zu werden, daß Moore die wichtige Feststellung trifft, daß (1 a) und (1 b) nicht dieselbe Proposition ausdrücken. 17 18 19
Vgl. Langford [1942]. Vgl. Moore [1942], bes. S. 661, 663 und passim. Dabei ist zu bemerken, daß Moore streng zwischen .Proposition' und ,Satz (sentence)' unterscheidet. A. a. O. S. 666.
2.1 Was ist eine
explikativ-definitionale Theorie?
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Diese Feststellung wird, wie sich zeigen wird, eine zentrale Rolle in der hier zu entwickelnden Konzeption spielen. [2] Die entgegengesetzte extreme Position vernachlässigt oder ignoriert gar vollständig die Seite des semantisch-informationalen Gehalts (Werts) der zu analysierenden/explizierenden/definierenden Ausdrücke. A/E/D reduziert sich auf ein rein innersprachliches Verfahren in dem Sinne, daß es sich nur darum handelt, aus Gründen der Praktikabilität, der Bequemlichkeit und der Klarheit bestimmte sprachliche Ausdrücke durch andere zu ersetzen. In diesem Kontext sei auf einige zentrale AussagenQuines über Explikation eingegangen, ohne damit die Behauptung zu verbinden, daß Quines Gesamtposition mit der soeben idealtypisch charakterisierten Richtung identifiziert werden kann. Einige bedeutsame Behauptungen Quines weisen allerdings eindeutig in diese Richtung. Quine hat den Slogan geprägt: „Explikation ist Elimination."20 Um Quines Verständnis dieser These zu explizieren, muß man seine in diesem Kontext gemachten negativen und positiven Aussagen beachten sowie auch ein berühmt gewordenes Beispiel erläutern. Quines negative Aussagen sind bekannt: Wenn wir als Philosophen eine „Analyse" oder „Explikation" vornehmen, so ist dies zunächst negativ so zu verstehen: „Synonymie nehmen wir nicht in Anspruch. Und wir beanspruchen auch nicht, deutlich und explizit zu machen, was denjenigen, die den unklaren Ausdruck gebrauchen, immer schon unbewußt vorgeschwebt hat. Wir bringen keine verborgenen Bedeutungen ans Licht (wie die Wörter .Analyse' und .Explikation' vielleicht suggerieren), sondern wir füllen Lücken aus. Wir halten uns an die besonderen Funktionen des unklaren Ausdrucks, um derentwillen sich das Kopfzerbrechen lohnt, und dann denken wir uns einen Ersatz aus, der klar und in uns genehmen Begriffen formuliert ist und jene Funktionen erfüllt." 21
Quine merkt an, daß das „Paradox der Analyse" deswegen entstehen konnte, weil man den obskuren Begriff der Synonymität in das Verfahren der Analyse hineinbrachte. Tut man das nicht, so taucht ein solches Paradox Quine zufolge gar nicht auf. Was vernünftigerweise unter „Analyse"/„Explikation" positiv verstanden werden kann bzw. muß, wird von Quine in einigen wenigen markanten Sätzen formuliert: 20 21
Quine [1960] bes. § 53. Zum folgenden vgl. auch Quine [1953] S. 24 £f. Quine [I960] S. 445 f.
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2 Begrifflich-methodische Grundlagen „Zunächst haben wir es mit einem Ausdruck oder einer Ausdrucksform zu tun, die uns irgendwie Kopfzerbrechen bereitet. Dieser Ausdruck verhält sich teilweise, aber nicht hinreichend, wie ein Terminus, oder er ist auf beunruhigende Weise vage, oder er schlägt Dellen in eine Theorie oder legt die eine oder andere Verwechslung nahe. Andererseits dient er bestimmten Zwecken, die wir nicht aufgeben wollen. Dann finden wir eine Möglichkeit, dieselben Zwecke auf anderem Wege zu erreichen, indem wir andere, weniger störende Ausdrucksformen verwenden. Damit sind die früheren Verwirrungen beseitigt."22 „In allen diesen Fällen werden die Probleme dadurch aufgelöst, daß man — im wichtigen Sinne von .zeigen' — zeigt, daß sie rein verbal sind, und zwar in jenem wichtigen Sinne ,rein verbal', daß sie sich aus Sprachverwendungen ergeben, die man zugunsten solcher Verwendungen vermeiden kann, die keine derartigen Probleme aufkommen lassen".23
Um diese These zu illustrieren, verweist Quine auf Wittgensteins Lehre, daß die Aufgabe der Philosophie nicht darin besteht, Probleme zu lösen, sondern Probleme in dem Sinne aufzulösen, daß gezeigt wird, daß keine Probleme vorhanden (gewesen) seien. Diese Lehre kann zwar nach Quine nicht für die Philosophie als ganze angenommen werden, sie trifft aber auf die Explikation zu, und zwar in dem Sinne, daß die Explikation ein Problem dadurch zum Verschwinden bringt, daß sie zeigt, daß es in einem wichtigen Sinne „irreal" ist, und zwar in dem Sinne, daß es ausschließlich aus vermeidbaren Verwendungen sprachlicher Ausdrücke entstehe. Quines berühmt gewordenes Beispiel ist der Begriff des geordneten Paares. Das (philosophische) Problem, das sich in der Frage niederschlägt „Was ist ein geordnetes Paar?", kann nach Quine dadurch aufgelöst werden, daß man auf geordnete Paare in irgendeinem problematischen Sinn verzichtet zugunsten anderer, klarerer Begriffe. Ausdrücke wie .geordnetes Paar' und Ausdrücke der Form ,, bestehend aus dem Positivbereich (der Extension), dem Negativbereich (der Anti-Extension) und dem Unbestimmtheitsbereich von Ρ bei s, zuordnet, wobei p,+ υ Ρ, U P? = Dr. Um den allgemeinen semantischen Status eines Ausdrucks zu bestimmen, muß man freilich nicht nur den extensionalen Teil-Wert, sondern auch die beiden anderen Teil-Werte, den direkt informationalen und den funktionalen, berücksichtigen, d. h.: man muß eine den drei semantischen Teil-Werten entsprechende dreifache Interpretationsfunktion einführen. Wie dies technisch zu bewerkstelligen ist, kann in diesem Buch weder gezeigt noch durchgeführt werden. Auf der Basis des allgemeinen semantischen Status läßt sich ein dreifacher spezifischer semantischer Status unterscheiden: — der vorsystematische — der programmatisch-systematische — der bestimmt-systematische.
Der vorsystematische semantische Status ist charakteristisch für Ausdrücke der natürlichen Sprache, insofern und weil sie reine Kandidaten für eine Erklärung bzw. rational-systematische Rekonstruktion sind. Einen programmatisch-systematischen Status haben Ausdrücke, die als Explikate (Explicantia) fungieren. Schließlich ist der bestimmt-systematische Status den Ausdrücken zuzuschreiben, die als Definientia im strengen Sinne gelten (können). Im folgenden ist dieser dreifache Status informell-intuitiv näher zu charakterisieren. Damit wird auch das Verfahren der Explikation und der Definition näher bestimmt. Zu diesem Zweck wird auf den Gesichtspunkt des Vorkommens oder der Verwendungsweise eines Ausdrucks rekurriert. [4] Der vorsystematische semantische Status eines Ausdrucks der natürlichen Sprache ist dadurch charakterisiert, daß die Gesamtheit der Verwendungs-
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2 Begrifflich-methodische Grundlagen
weisen des Ausdrucks im Prinzip (wenn auch nicht immer — vielleicht auch nicht meistens — in der Praxis) eine semantische Interpretation zuläßt, die nicht nur die positive, die negative und die unbestimmte „Angabe" (oder Gegebenheit) des (dreifachen) semantischen Werts, sondern auch „Mischformen" oder „Kombinationen" dieser drei Hinsichten beinhaltet. M. a. W.: im Falle eines Ausdrucks der natürlichen Sprache mit einem vorsystematischen semantischen Status sind Verwendungsweisen (des Ausdrucks) zumindest im Prinzip nicht ausgeschlossen, die einen positiv-negativen (d. h. inkonsistenten), einen positiv-unbestimmten und einen negativ-unbestimmten semantischen Status haben. Dies läßt sich im Falle des extensionalen semantischen TeilWerts eines Prädikats Ρ so präzisieren: Für den vorsystematischen (extensionalen) semantischen Status von Ρ gilt nicht (im Prinzip): p+ η Fx = p,+ η p? = ρ, η p ? = 0.
Es ist zu betonen, daß die genannten „Kombinationen" von Verwendungsweisen im Falle eines Ausdrucks mit vorsystematischem semantischem Status im Prinzip nicht ausgeschlossen sind. Es ist ferner zu beachten, daß diese Bestimmung des semantischen Status der Ausdrücke der natürlichen Sprache auf einer sehr starken Annahme beruht, auf der Annahme nämlich, daß die natürliche Sprache hoffnungslos und vielfaltig vage, unpräzise, ja in vielfältiger Weise inkonsistent ist. Damit reiht sich der hier verfolgte Ansatz in die Reihe derjenigen Konzeptionen ein, die die natürliche Sprache gerade nicht zum Maßstab für Philosophie und Wissenschaft erheben, sondern sie im Gegenteil als für diesen Zweck unbrauchbar; weil schlechterdings korrekturbedürftig, betrachten. Daß moderne Logiker wie Frege, Quirn u. a. diese Auffassung vertreten, ist bekannt: Sie versuchen ja, eine „reglementierte Sprache" einzuführen und zu verwenden.33 Aber auch ein systematischspekulativer Philosoph wie Hegel bekundet dieselbe Einstellung gegenüber der natürlichen Sprache.34 Andere Logiker und Semantiker allerdings ver33
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Vgl. u. a. G. Frege, „Logik (zwischen 1879 und 1891)" in Frege [1983] S. 7: „Es ist also...das Geschäft des Logikers ein fortwährender Kampf gegen das Psychologische und zum Teil gegen die Sprache und Grammatik, insofern sie das Logische nicht rein zum Ausdruck bringen." Vgl. auch Quine [1960] Kap 5: „Reglementierung". Vgl. Hegel [1816] S. 130: „Die Philosophie hat das Recht, aus der Sprache des gemeinen Lebens, welche für die Welt der Vorstellung gemacht ist, solche Ausdrücke zu wählen, welche den Bestimmungen des Begriffs nahe ς« kommen scheinen. Es kann nicht darum zu thun seyn, fur ein aus der Sprache des gemeinen Lebens gewähltes Wort zu erweise»,
2.1 Was ist eine explikativ-dtfinitionale Theorie?
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treten eine andere Auffassung. So entwickelt U. Blau eine dreiwertige Logik der Unbestimmtheiten (L3), die andere Annahmen macht. Er führt den Begriff einer Kontextsprache Κ ein, worunter er ein Tripel (N, S, T} mit einer natürlichen Sprache N, einer Menge S von Sprechern und einem Zeitraum Τ (mit einschränkenden Bedingungen) versteht. Das dreiwertige formale Gegenstück zu Κ ist die formale Sprache von L3 zusammen mit einer Interpretation φ über dem Objektbereich D von K, die jedem rstelligen Prädikatparameter Ρ ein Tripel , P£> zuordnet, wobei Blau die oben genannten Mischformen im Falle der Kontextsprache nicht anerkennt, d. h.: nach ihm gilt für eine solche Sprache:35 p j η ρ , = p j η ρ ; = p„ η ρ ; = 0. Aber nach Blau ist die Auffassung, daß zwischen dem Positiv-, dem Negativund dem Neutralbereich im Falle einer natürlichen Sprache wie des Gegenwartdeutschen scharfe Grenzen bestehen, völlig unplausibel; demnach sind Mischformen wie die oben genannten in einer solchen Sprache nicht auszuschließen. Im Gegensatz zu der im folgenden darzustellenden Konzeption, dergemäß im Fall einer in bezug auf Vagheit „geläuterten" Sprache nur noch der Positiv- und der Negativbereich gegeben sind, bleibt Blau allerdings dabei, daß der Neutralbereich auch für einen allwissenden36 (vollkommen rationalen, idealisierten) Sprecher nicht ausschaltbar ist. Es ist hier nicht der Ort, in eine Auseinandersetzung mit letzterer Konzeption einzutreten. Es sei nur vermerkt, daß man ohne die Annahme der erwähnten Mischformen das ganze Unternehmen der Erklärung, d. h. der Explikation und Definition, der (Bedeutung der) Ausdrücke der natürlichen Sprache, schwerlich genau bestimmen und in den Griff bekommen kann. [5] Der programmatisch-systematische semantische Status charakterisiert Ausdrücke, die als ExplicantiajExplicata einzustufen sind. Dieser Status ist ein mittlerer Status zwischen dem semantischen Status der der rein natürlichen Sprache zuzurechnenden Ausdrücke und dem semantischen Status der eine
35 36
daß man auch im gemeinen Leben denselben Begriff damit verbinde, für welchen es die Philosophie gebraucht, denn das gemeine Leben hat keine Begriffe, sondern Vorstellungen, und es ist die Philosophie selbst, den Begriff dessen zu erkennen, was sonst blosse Vorstellung ist. Es muß daher genügen, wenn der Vorstellung bey ihren Ausdrücken, die für philosophische Bestimmungen gebraucht werden, so etwas ungefähres von ihrem Unterschiede vorschwebt...". Vgl. Blau [1985] S. 372. Vgl. a. a. O. S. 371.
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2 Begrifflich-methodische Grundlagen
vollständig bestimmte, d. h. definierte (wissenschaftliche) Sprache charakterisierenden Ausdrücke. Er besitzt also weder die Perfektion der letzteren noch die „Chaotizität" der ersteren. Wie mehrmals betont wurde, ist es bis zu einem gewissen Punkt eine Sache der Konvention, wie man diesen mittleren Status genau bestimmt. Hier wird folgender Vorschlag gemacht: ein Ausdruck, der als Explicans/Explikat dient, ist dadurch charakterisiert, daß Verwendungsweisen ausgeschlossen sind, die einen rein unbestimmten und einen inkonsistenten semantischen Status des Ausdrucks beinhalten; nicht ausgeschlossen sind hingegen Verwendungsweisen, die einen positiv-unbestimmten und einen negativ-unbestimmten semantischen Status des Ausdrucks voraussetzen. Dies läßt sich im Falle des extensionalen semantischen Teil-Wertes eines als Explicans/Explikat qualifizierten Prädikats Ρ formal so präzisieren: (p.+ π P?) υ (F. η P?) Φ 0. [6] Der (voll)bestimmt-systematiscbe semantische Status ist der für Definientia charakteristische Status. Im Lichte der vorhergehenden Ausführungen ist er leicht anzugeben: Die als Definientia dienenden Ausdrücke sind nur durch Verwendungsweisen charakterisiert, die einen positiven und einen negativen semantischen Status des Ausdrucks beinhalten. Jede Unbestimmtheit, in welcher Form auch immer, und alle oben genannten Mischformen des semantischen Status sind ausgeschlossen. Diese Kategorie von Ausdrücken besitzt also als einzige einen vollbestimmten semantischen Status. Im Falle des extensionalen semantischen Teil-Werts (bzw. Status) von Ρ gilt: P+ U P , = D'. [7] Jetzt können auch die Begriffe bzw. Verfahren der Explikation und der Definition genauer charakterisiert werden. Explikation ist die B-Bestimmung eines Ausdrucks mit vorsystematischem semantischem Status durch die Einführung eines Ausdrucks mit programmatisch-systematischem Status. Definition ist jenes Verfahren, durch welches ein Ausdruck mit programmatisch-systematischem Status durch einen Ausdruck mit bestimmt-systematischem Status bestimmt wird. Drei Bemerkungen sind hier am Platze. [i] Die oben vorgelegte Charakterisierung der Definition ist nicht dahingehend zu verstehen, daß damit die Definition in jeder — ζ. B. in formaler — Hinsicht genau bestimmt worden ist. Die obige Charakterisierung erfolgte nur in einer Hinsicht, nämlich insofern die Definition eine (die zweite) Stufe
2.1 Was ist eine explikativ-definitionale Theorie?
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im Rahmen des Verfahrens der RSR darstellt. Nichts wurde gesagt über andere (formale) Merkmale der Definition, besonders über die bekannten zwei Grundmerkmale der Nicht-Kreativität und der Elimiiiierbarkeit (des Definiendum). Darauf einzugehen ist nicht Aufgabe des vorliegenden Werkes. Es sei nur angemerkt, daß die im Sinne der zwei genannten Merkmale aufgefaßte Definition den semantischen Status des Definiendum nur insofern thematisiert, als eine (definitorische) Identitätsrelation zwischen ihm und einem anderen Ausdruck eingeführt bzw. artikuliert wird. Diese Identitätsrelation wird ihrerseits nur durch die genannten Merkmale näher bestimmt. Die so aufgefaßte Definition macht die Voraussetzung, daß jener Ausdruck, der den Status eines Definiendum hat, semantisch vollständig bestimmt ist, denn genau dies soll ja das Definiens „zum Ausdruck bringen". Im Lichte der hier vertretenen Konzeption ist diese Voraussetzung weder falsch noch willkürlich; vielmehr ist sie so zu deuten: die Definition im hier gemeinten „formalen" Sinne betrachtet einen Ausdruck, das „Definiendum", nur im Hinblick, auf seine einen positiven und einen negativen semantischen Status beinhaltenden Verwendungsweisen. Vollkommen außer Betracht bleibt dabei die Frage, ob dieser Ausdruck auch Verwendungsweisen hat, die nicht nur einen positiven bzw. negativen semantischen Status beinhalten; m. a. W.: nicht thematisiert wird dabei der Umstand, daß er in der natürlichen (oder Bildungs-)Sprache vorgegeben ist. Gerade diese Thematik versucht die Charakterisierung der Definition als der ^weiten Stufe des Verfahrens der rational-systematischen Rekonstruktion zu klären. [ii] Das Verfahren der RSR ist ein idealisiertes Verfahren. In der Praxis wird es selten vorkommen, daß die beiden Stufen der Explikation und der Definition gemäß der vorgelegten (teilweise normativ bestimmten) Deutung und in der angegebenen Reihenfolge berücksichtigt werden. RSR ist so etwas wie ein regulativer Grundrahmen, dessen Zweck darin besteht, daß er grundsätzliche und programmatische Klarheit über das verwickelte Unternehmen der Erklärung schafft: bzw. ermöglicht. Welche Schritte man im gegebenen Fall tatsächlich unternimmt oder unternehmen soll, hängt von konkreten (und oft sehr kontingenten) Faktoren ab. So ist es oft unbedenklich, ja empfehlenswert, die Zwischenstufe Explikation einfach zu überspringen und gleich eine Definition (der Bedeutung) eines in der natürlichen Sprache vorkommenden Ausdrucks vorzulegen. Dies ist dann der Fall, wenn sich etwa zeigt, daß der fragliche Ausdruck in der natürlichen Sprache etwa von Inkonsistenzen gänzlich und von Unbestimmtheiten weitgehend frei ist, und/oder daß seine Explicantia/Explikate (im hier erläuterten Sinne) in
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2 Begrifflich-methodische Grundlagen
der Philosophie bzw. in der Wissenschaft unnötig, unwichtig oder uninteressant sind (beispielsweise aus dem Grunde, weil es sich als möglich erweist, für den Ausdruck eine klare und überzeugende Definition vorzulegen). Wichtig ist allerdings dann, daß vollständige Klarheit hinsichtlich des Verfahrens besteht. Wie sich im Kapitel 4 zeigen wird, sind etwa Explicantia/ Explikate des Wahrheitsbegriffs nur im konkreten Fall einer philosophischen Arbeit interessant. [iii] Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß die obige teilweise formale Bestimmung der RSR bzw. der Explikation und der Definition von semantischen Mitteln Gebrauch gemacht hat, die sich später in einer bestimmten Hinsicht als fragwürdig oder zumindest als stark präzisierungs- und korrekturbedürftig herausstellen werden. Insbesondere handelt es sich um die Erklärung (des semantischen Werts) des Prädikats Ρ in der angegebenen Weise. Später wird sich zeigen, daß damit die umfassende Bedeutung des Kontextprin^ips in seiner starken Version nicht beachtet wurde. Dennoch erschien dieses Vorgehen als legitim, da es einerseits nicht möglich ist, gleich in diesem Kapitel die späteren Resultate eingehend zu berücksichtigen, und andererseits die nötigen Korrekturen im Lichte der späteren Ausführungen durch den Leser selbst leicht nachgeholt werden können. Hier war es vor allem um möglichst große Verständlichkeit der Darstellung zu tun.
2.2 Zum Verhältnis von Theorie der Wahrheit und Sprache 2.2.1 Die zentrale Stellung der Sprache In diesem Abschnitt soll das Verhältnis von explikativ-definitionaler Theorie der Wahrheit und Sprache nur in einer bestimmten Hinsicht geklärt werden. Man kann diese Hinsicht eine begrifflich-methodologische nennen und sie in eine dreifache Frage kleiden: Erstens: Aus welcher Sprache wird der Ausdruck/Begriff ,,Wahr(heit)" entnommen? Zweitens: Für welche Sprache wird der Ausdruck/Begriff ,,Wahr(heit)" expliziert/definiert? Drittens: In welcher Sprache wird die Theorie der Wahrheit dargestellt? Es ist somit klar, daß in diesem Abschnitt nicht andere, ebenfalls zentrale Aspekte des Verhältnisses von Theorie der Wahrheit und Sprache behandelt werden.
2.2 Zum Verhältnis von Theorie der Wahrheit und Sprache
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Diese dreifache Problemstellung ist nur dann verständlich und relevant bzw. von kaum zu überschätzender Bedeutung, wenn man der Sprache eine zentrale Rolle in der Philosophie und damit auch in der Theorie der Wahrheit einräumt. Diese Annahme wird hier in aller Deutlichkeit gemacht. Daß sie gerechtfertigt ist, wird sich aus dem ganzen Duktus der hier darzustellenden Konzeption ergeben. Im gegenwärtigen Kontext möge eine grundsätzliche Überlegung genügen, deren Tragweite auch in anderen Zusammenhängen deutlich werden wird. Es gibt einen Umstand, von dem kaum ein Philosoph wird absehen können und aus dem sich die absolut zentrale Stellung der Sprache zwingend ergibt. Dies ist die Unvermeidlichkeit der sprachlichen Darstellung philosophischer Theorien, wobei auch formale Systeme als Sprachen begriffen werden (müssen). Es ist nicht denkbar, daß eine Philosophie vertreten und mitgeteilt werden kann, ohne daß sie sprachlich dargestellt wird. Man mag dabei Sprache sogar zunächst als reines Medium der Darstellung konzipieren. Dies genügt, um zu zeigen, daß Sprache nicht nur irgendwie unentbehrlich ist, sondern daß ihre Struktur eine bestimmende Rolle hinsichtlich aller philosophischen (Einzel-)Theorien spielt. Dies läßt sich leicht zeigen: Auch wenn Sprache als reines Medium oder Vehikel für die Mitteilung von Gedanken (was immer das sein mag) charakterisiert wird, hat sie als solches Medium/Vehikel eine bestimmte Struktur, die analysierbar, verbesserbar und korrigierbar ist. Ist nun die Sprache als Medium/Vehikel im angegebenen Sinne unentbehrlich, so ergibt sich daraus, daß alle Gedanken, Theorien usw. durch die Struktur der Sprache sozusagen „hindurchgehen" oder der Struktur der Sprache zugeordnet werden müssen und auch tatsächlich zugeordnet werden. Trifft man diese grundlegende Feststellung und zieht man aus ihr die genannte grundlegende Folgerung, so können prinzipiell drei Sichtweisen bezüglich der Sprache vertreten werden, die sich gegenseitig ausschließen, so daß man von einem Trilemma sprechen kann: (i) Entweder ist die Sprache unfähig, die Gedanken (noch einmal: was immer das sein mag) zur Darstellung zu bringen, (ii) oder sie entstellt oder misrepräsentiert die Gedanken, (iii) oder schließlich ist sie geeignet, die Gedanken zu artikulieren. Entscheidet man sich für (i), so begeht man eine Inkohärenz und nimmt eine völlig unplausible Konsequenz in Kauf. Die Inkohärenz ist darin enthalten, daß man doch Sprache benutzt, um den in (i) enthaltenen oder eben: ausgesprochenen Gedanken zu formulieren. Die unplausible Konsequenz ist eine totale Dichotomie zwischen Philosophie und sprachlicher Darstellung. Wenn je-
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mand eine solche Einstellung hat, wird er in der Regel an „verborgene", „große" Gedanken appellieren, die aber unaussprechbar seien. Die „Sprachnot" ist aber kein überzeugendes Argument in der Philosophie. Eine analoge Inkohärenz und unplausible Konsequenz kann auch im Falle der Konzeption (ii) nachgewiesen werden. Denn auch hier wird Sprache benutzt, um die These zu vertreten, daß Sprache die Gedanken entstellt; ferner ergibt sich daraus eine trübe Aussicht: wenn Philosophie nur durch ein ihre Gedanken entstellendes Medium mitgeteilt weden kann, welchen Sinn hat es überhaupt, Philosophie zu betreiben? Wo und wie werden die (angeblich) „reinen" (d. h. sprachlich nicht entstellten) Gedanken gewonnen bzw. artikuliert? E s bleibt nur Alternative (iii). Aber aus ihr ergibt sich eine bedeutsame, überaus wichtige Konsequenz: Wenn die Sprache ein unentbehrliches und geeignetes Mittel für die Mitteilung von Gedanken ist und wenn sie eine deutliche und detaillierte Struktur besitzt, dann können die Struktur der Gedanken und die Struktur der Sprache nicht schlechterdings auseinanderklaffen. An der Sprache ist die Struktur der Gedanken (und allgemein all dessen, was man behauptet und annimmt) ablesbar. O b man etwa mentale, reale — im Sinne von „geistunabhängige" — oder ideale oder transzendente oder wie auch immer geartete Entitäten annimmt, deren Strukturiertheit kann nicht völlig verschieden von der sprachlichen Strukturiertheit sein. Die Ablehnung dieser These muß eine Konsequenz behaupten und in Kauf nehmen, deren Inakzeptabilität auf der Hand liegt, die Konsequenz nämlich, daß eine Dichotomie zwischen Erfassung bzw. Darstellung von Gedanken und Sprache angenommen wird. Aber eine solche Dichotomie kann sich selbst gar nicht verständlich machen. Was die explikativ-definitionale Theorie der Wahrheit angeht, so kommt das Verhältnis von Wahrheitsbegriff bzw. Theorie der Wahrheit und Sprache in den drei oben formulierten Fragen eben „zur Sprache". Diese sind in den nun folgenden drei Abschnitten zu behandeln und zu beantworten.
2.2.2 Aus welcher Sprache wird ,,Wahr(heit)" entnommen? Die erste Frage dürfte die am leichtesten zu beantworten sein: ,,Wahr(heit)" wird aus der Sprache bzw. aus den Sprachen entnommen, in der/denen der Ausdruck ,Wahr(heit)' vorkommt. Das ist in jedem Fall unsere natürliche, historisch gewachsene, durch eine große literarische Produktion angereicherte und sich als Teil einer bedeutsamen Bildungs- und Theoriegeschichte
2.2 Zum Verhältnis von Theorie der Wahrheit und Sprache
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verstehende Sprache. Sie ist in einem Umgangssprache, Bildungssprache, (zumindest Teil einer ganzen Reihe von) Fachsprache(n). In dieser Sprache bzw. in diesen Sprachen gebührt dem Ausdruck ,Wahr(heit)' eine herausragende Stellung. Die Kehrseite der Medaille muß allerdings gleich genannt werden: dieser außerordentlich intensive Gebrauch des Ausdrucks ,Wahr(heit)' hat es mit sich gebracht, daß die Bedeutung dieses Ausdrucks extrem breit und extrem vage ist. Darauf ist hier nicht im einzelnen einzugehen. Eine andere Frage muß hier in aller Kürze angesprochen werden: Ist der Ausdruck ,Wahr(heit)' für alle Sprachen relevant? Dies ist weitgehend eine empirische Frage. Von philosophischem Interesse ist die Frage dann, wenn man sie dahingehend präzisiert, ob unser Ausdruck ,Wahr(heit)' in andere bzw. in alle Sprachen übersetzbar ist. Eine Antwort auf diese Frage wäre nur dann als gut fundiert anzusehen, wenn man das grundsätzliche Übersetzungsproblem behandeln würde. Aus den weiteren Ausführungen dieses Buches werden sich einige wichtige Einsichten für die Beantwortung dieser Frage ergeben. Aber die Frage gehört, strenggenommen, in den Bereich der am Anfang von 2.2.1 formulierten zweiten Frage. An dieser Stelle ist auf ein außerordentlich wichtiges „Phänomen" in der Geschichte der Wahrheitstheorie hinzuweisen, das in den gewöhnlichen Behandlungen der hier anstehenden Problematik symptomatischerweise kaum oder überhaupt nicht gesehen und behandelt wird. Der für die abendländischen Sprachen charakteristische Ausdruck bzw. Begriff ,,Wahr(heit)" hat nicht nur lateinische, sondern besonders auch griechische und hebräische Wurzeln. Es wird nun in der bibelexegetischen, theologieund philosophiehistorischen Literatur allgemein angenommen, daß dem Ausdruck ,Wahr(heit)' im Hebräischen das Wort ,Emet' und im Griechischen das Wort .Aletheia' entspricht. Auf der Basis dieser Annahme wird dann von einigen Theologen und Philosophen ein grundlegender Unterschied zwischen dem (angeblichen) (hebräisch-)biblischen, dem griechischen und dem neuzeitlichen .Wahrheitsverständnis' (und Wirklichkeitsverständnis) festgestellt.1 Der gängigen Auffassung zufolge besagt ,Emet' soviel wie: die Verläßlichkeit, die unverbrüchliche Tragfähigkeit einer Sache oder eines Wortes. Daß dies eine Bedeutung ist, die wenig zu tun hat mit dem, was wir heute allgemein unter „Wahr(heit)" verstehen, dürfte leicht einleuchten. Aber auch die Inbezugsetzung der (modernen) „Wahr(heit)" zur griechischen 1
Vgl. dazu: Boman [1952], Müller [1964], bes. Teil C, Kap. IV und V (vgl. speziell S. 228 ff.).
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2 Begrifflich-methodische Grundlagen
Aletheia erscheint vielen Philosophen höchst problematisch. So stellte Heidegger am Ende seines Lebens fest: „Die Frage nach der Aletheia, nach der Unverborgenheit als solcher, ist nicht die Frage nach der Wahrheit. Darum war es nicht sachgemäß und demzufolge irreführend, die Aletheia im Sinne der Lichtung Wahrheit zu nennen."2
Es kann daher nicht fraglos davon ausgegangen werden, es gäbe so etwas wie eine von der Vielfalt der Sprachen und von der geschichtlichen Entwicklung nicht tangierbare universale Frage nach der Wahrheit und eine identisch bleibende, nur sich in verschiedenen „Gestalten" konkretisierende „Bedeutung" von ,,Wahr(heit)". Eine solche Annahme erscheint höchst fragwürdig, was sich u. a. darin zeigt, daß sie zu unhaltbaren (u. a. weil unverständlichen) Behauptungen fuhrt, wie den folgenden: ,Emet' und .Aletheia* sind Terme, die „dasselbe" bedeuten, nur mit dem Unterschied, daß sie ein jeweils radikal anderes („hebräisches" bzw. „griechisches") „Wahrheitsverständnis" indizieren. Die sowohl historisch als auch philosophisch (und theologisch) sehr interessante Frage ist im jetzigen Kontext die folgende: Wie ist es zu erklären, daß in der in Alexandrien im 3./2. Jahrhundert v. Chr. entstandenen Übersetzung des Alten Testamentes (der sog. „Septuaginta") das hebräische Wort ,Emet' durch .Aletheia' wiedergegeben wird? War dies eine Übersetzung oder eine Interpretation oder ein Mißverständnis? Es sollte in diesem Abschnitt nur soviel gezeigt werden: eine Theorie der Wahrheit entnimmt den Ausdruck, mit dem sie sich beschäftigt, aus einer außerordentlich reichen Sprach- und Kulturgeschichte. Wie immer die Probleme bezüglich anderer Sprachen und die Aporien der Übersetzung usw. zu lösen sind, es bleibt bestehen, daß die gegenwärtige philosophische Theorie mit dem zentralen Ausdruck ,Wahr(heit)' in vielfaltiger Weise konfrontiert ist. Wie sich aus dem eingeführten Begriff der rational-systematischen Rekonstruktion ergibt, kann die philosophische Aufgabe einer philosophischen Theorie der Wahrheit nicht darin bestehen, den Begriff der Wahrheit in dem Sinne zu rekonstruieren, daß der ganze unabsehbare Umfang der historischen Tradition und der weitgehend nicht ganz eindeutigen Verwendungsweisen dieses Wortes wirklich erfaßt wird. Rational-systematische Rekonstruktion besagt Klärung auch — und in gewisser Weise besonders — in dem Sinne, daß die Vielfältigkeit und Nicht-Eindeutigkeit reduziert, ja eliminiert wird. 2
M. Heidegger [1969] S. 77.
2.2 Zum Verhältnis von Theorie der Wahrheit und Sprache
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2.2.3 Für welche Sprache(n) wird die Theorie der Wahrheit entwickelt? [1] Es ist ein Charakteristikum der schlechterdings zentralen Stellung, die die meisten gegenwärtigen Philosophen der Sprache zuweisen, daß in der Theorie der Wahrheit — zumindest wenn sie sorgfaltig elaboriert wird — das Verhältnis von „Wahr(heit)" und Sprache explizit behandelt wird. „Wahrheit überhaupt", d. h. unabhängig von jeder Sprache bzw. von Sprache überhaupt, erscheint sinnlos. Im Lichte der bisherigen Ausführungen ist diese Annahme nicht nur als verständlich, sondern auch als voll gerechtfertigt, ja als unabdingbar richtig zu betrachten. Ist also der Versuch, „Wahr(heit) überhaupt" (im Sinne von „unabhängig von Sprache überhaupt") zu definieren, ein sinnloses Unternehmen, so ist der Versuch, ,,Wahr(heit)" nur für eine bestimmte, sehr eng aufgefaßte Sprache zwar für bestimmte spezielle Zwecke sinnvoll, für allgemeine philosophische (und wissenschaftliche) Zwecke allerdings unzureichend. Im allgemeinen wählt man eine bestimmte Sprache, die man dann — explizit oder implizit — für geeignet hält, alle relevanten wissenschaftlichen und philosophischen Fragen zu artikulieren". Am häufigsten wird die Prädikatenlogische Sprache erster Stufe (mit Identität) gewählt. Dies ist auch die Sprache, für die am klarsten ein Wahrheitsbegriff (seit Tarski) explizit eingeführt (definiert) wurde. Aber auch andere Sprachen bzw. Logiken wurden entwickelt und für sie ein Wahrheitsbegriff eingeführt, so beispielsweise eine klassische intensionale Sprache (Logik) zweiter Stufe (mit sog. „maximalen Propositionen").3 Solche Versuche werfen mehrere Fragen auf, auf die im folgenden einzugehen ist. [2] Eine erste Frage lautet: Für welche Sprache und aufgrund welcher Kriterien soll sich der Wahrheitstheoretiker entscheiden? Wenn Quine beispielsweise für eine Quantorensprache erster Stufe („kanonische Notation"4) plädiert und sie mit äußerster Konsequenz anwendet, so macht er vor allem zwei Kriterien geltend: erstens leiste diese Sprache alles, was zu leisten ist; zweitens sei sie äußerst einfach und daher zu empfehlen. Freilich ist sich Quine des Umstands bewußt, daß die Annahme und Anwendung 3
4
Vgl. insbesondere: Freeman/Daniels [1978]. Der in dieser Arbeit dargelegten Kohärenztheorie der Wahrheit legen die beiden Autoren eine von ihnen entwickelte intensionale Logik zweiter Stufe zugrunde (vgl. Freeman/Daniels [1977]. Vgl. Quine [1960] Kap.V.
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einer solchen Sprache besonders bedeutsame ontologische Konsequenzen hat. In diesem Buch wird eine diesbezügliche Entscheidung besonders aufgrund des folgenden Kriteriums getroffen: jene Sprache soll gewählt (bzw. ins Auge gefaßt werden) werden, die in einer Hinsicht als Bedingung, in einer anderen Hinsicht als Ergebnis einer (relativ-)maximalen Kohärenz von logischen, semantischen, epistemologischen und ontologischen Einsichten erscheint. Um welche Sprache es sich handelt, wird sich im nächsten Kapitel zeigen. Allerdings ist schon jetzt darauf hinzuweisen, daß es in diesem Buch nicht möglich sein wird, die gewählte Sprache im einzelnen zu entwickeln. [3] An ^weiter Stelle ist zu fragen, wie die Sprache, für die die Theorie der Wahrheit entwickelt wird, sich zur sog. natürlichen oder Umgangssprache verhält. Diese Frage betrifft besonders drei Aspekte, nämlich: erstens die logisch-semantische Klarheit und Präzision, zweitens den kategorial-ontologischen Status, drittens die Problematik der semantischen Geschlossenheit, d. h. der Selbstreferentialität. Darauf ist nun im einzelnen einzugehen. [i] Der an erster Stelle genannte Faktor macht sofort deutlich, daß die Sprache, für die in diesem Buch eine Theorie der Wahrheit entwickelt werden soll, nicht einfach mit der natürlichen oder Umgangssprache identisch ist. Denn letztere Sprache ist alles andere als klar und präzis, wie dies im Rahmen der Ausführungen über den Begriff und das Verfahren der rationalsystematischen Rekonstruktion gezeigt wurde. Vielmehr muß es sich um eine, wenn man will, zur Klarheit und Präzision „geläuterte" natürliche Sprache handeln, also nicht um die Sprache, wie sie tatsächlich verwendet wird, sondern um die Sprache, wie sie unter Anwendung der genannten Kriterien verwendet werden sollte. Wie man nun diese Sprache bezeichnet, ist eine sekundäre Frage. Wichtig ist, daß man die beiden folgenden Gesichtspunkte nicht aus dem Auge verliert: erstens knüpft die „neue" Sprache an die natürliche Sprache an und in dieser Hinsicht kann sie als eine Extension dieser Sprache betrachtet werden: zweitens beinhaltet die „neue" Sprache eine — teilweise sehr einschneidende — Korrektur der natürlichen Sprache und in dieser Hinsicht stellt sie doch eine Art Bruch gegenüber der natürlichen Sprache dar. In jedem Fall wird in diesem Buch nicht versucht, eine Theorie der Wahrheit für die natürliche Sprache ut jacet zu entwickeln, wie dies einige Autoren zu intendieren scheinen, so z. B. D. Davidson. In einer anderen Hinsicht kann man das Charakteristikum der hier anvisierten Sprache dadurch angeben, daß man sie als zur Konzeption des späten
2.2 Zum Verhältnis von Theorie der Wahrheit und Sprache
105
Wittgenstein diametral entgegengesetzt bezeichnet. Wittgenstein zufolge gilt nämlich: „Wenn die Philosophen ein Wort gebrauchen — .Wissen', .Sein', .Gegenstand', ,Ich', ,Satz', ,Name' — und das Wesen des Dings zu erfassen trachten, muß man sich immer fragen: Wird denn dieses Wort in der Sprache, in der es seine Heimat hat, je tatsächlich so gebraucht? — Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen, wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück."5
Was findet man aber, wenn man auf die „alltägliche Verwendung" der sprachlichen Ausdrücke zurückkehrt? Hat man irgend etwas erklärt? Der Hinweis auf „Sprachspiel" und „Lebensform" beseitigt nicht, sondern verschärft das Bedürfnis nach einer Erklärung. [ii] Jede Sprache ist Ausdruck einer bestimmten Ontologie; so entspricht der natürlichen Sprache eine natürliche Ontologie. Dies kommt darin zum Vorschein, daß die Sprache einen bestimmten begrifflich-kategorialen Rahmen beinhaltet, von welchem alle ontologisch relevanten Aussagen der betreffenden Sprache bestimmt werden. Diese „natürliche" Ontologie kann beschrieben werden und sie wurde und wird oft und von vielen Philosophen in vielerlei Weisen beschrieben.6 Welchen Status hat sie? Ist sie akzeptierbar oder gar unaufgebbar? Die Antwort darauf hängt davon ab, ob es gelingt, eine andere oder zumindest eine geläuterte und korrigierte Sprache zu entwickeln, der dann eine andere Ontologie entsprechen würde. Was sind hier die Kriterien, auf die man sich berufen kann, wenn man versucht, das eine oder das andere zu tun? Wie im Abschnitt 2.3 und im Kapitel 3 zu zeigen sein wird, gibt es letzten Endes ein einziges wirklich überzeugendes Kriterium, nämlich: die Frage, ob die „natürliche" Sprache bzw. Ontologie wirklich unser „Intelligibilitätspotential" erfüllt oder befriedigt oder ob dieses Potential nicht über die natürliche Sprache/Ontologie hinausführt. Es ist letzten Endes aussichtslos, Intelligibilitätsfragen verbieten oder in irgendeiner Weise disqualifizieren zu wollen. Die Philosophie und die Wissenschaft stützen sich ja auf das Intelligibilitätspotential. Wenn ζ. B. die natürliche Ontologie, die in vielen Varianten auch der gegenwärtigen Philosophie weiterwirkt, uns sagt, daß es eine Welt gibt und daß diese Welt aus Objekten besteht, die Eigenschaften haben und in Relationen zueinander 5 6
Philosophische Untersuchungen § 116, in Wittgenstein [1969] S. 343. Um nur ein Beispiel zu nennen: Strawson [1959] unternimmt den Versuch einer deskriptiven Metaphysik, wobei dieser Ausdruck bei Strawson im großen und ganzen das bezeichnet, was im Haupttext .natürliche Ontologie' genannt wird.
106
2 Begrifflich-methodische Grundlagen
stehen, so entspricht es dem menschlichen Intelligibilitätspotential zu fragen, was das genau heißt, ob das hierbei im Spiel stehende Denkschema (nämlich: Substratum plus Universalien) nicht ein zu einfaches Vorstellungsschema ist, das einem höheren, intelligibleren und kohärenteren Denkschema Platz machen sollte. Das macht deutlich, daß und warum die in diesem Buch anvisierte Sprache nicht identisch ist mit der natürlichen Sprache. [4] Der dritte Aspekt betrifft einen Faktor, der in der Geschichte der wahrheitstheoretischen Diskussionen eine bedeutende und explizite Rolle gespielt hat und spielt. Es handelt sich um die Problematik der Selbstreferentialität der Sprache. Tarski hielt die Aufgabe, einen Wahrheitsbegriff für die natürliche Sprache zu entwickeln, aus dem Grunde fur undurchführbar; weil die natürliche Sprache eine „semantisch geschlossene", d. h. eine selbstreferentielle Sprache ist. Damit ist der Umstand gemeint, daß diese Sprache auch über sich selbst sprechen kann, was dazu führt, daß etwa die Antinomie des Lügners in dieser Sprache konstruiert werden kann. Tarski sah die Hauptursache für den antinomischen Charakter der natürlichen Sprache in deren Universalität.7 So entwickelte er eine Definition des Wahrheitsbegriffs nur für formalisierte Sprachen, die nach ihm nicht universal (im angegebenen Sinne) und daher auch nicht selbstreferentiell sind bzw. sein können. Konkret entwickelt er eine Definition des Wahrheitsbegriffs für die Sprache des Klassenkalküls. Eines der wichtigsten Strukturmerkmale der Tarskischen Wahrheitsdefinition ist seine klar getroffene und strikt eingehaltene Unterscheidung von Objektsprache und Metasprache. Es kann in der Tat nicht im Ernst bestritten werden, daß die natürliche Sprache selbstreferentiellen Charakter hat. Heißt das nun, daß die „andere" Sprache, für die in diesem Buch ein Wahrheitsbegriff zu entwickeln ist, sich auch in dieser Hinsiebt von der natürlichen Sprache unterscheiden muß? M. a. W.: Schließt jede Sprache mit selbstreferentiellem Charakter eine Theorie der Wahrheit aus? Es wird in diesem Buch die These vertreten, daß diese Frage zu verneinen ist. Diese Thematik, wie unter 1.1 gezeigt, bildet den Gegenstand des dritten Teils der umfassenden Theorie der Wahrheit. In der hier interessierenden Perspektive sei dazu an dieser Stelle nur soviel gesagt: Gegenüber der geschilderten grundlegenden These Tarskis haben sich in der nachtarskischen Zeit zwei Tendenzen herausgebildet: die eine rekurriert explizit auf die Hauptaspekte der Tarskischen Wahrheitsdefinition und wen7
Vgl. Tarski [1935] § 1.
2.2 Zum Verhältnis von Theorie der Wahrheit und Sprache
107
det sie auf die Erklärung ausgerechnet der natürlichen Sprache an, ohne sich explizit um das von Tarski aufgezeigte Antinomienproblem zu kümmern; Hauptrepräsentant dieser Tendenz ist zweifelsohne D. Davidson.8 Die andere Tendenz sucht intensiv nach einer Lösung der Wahrheitsparadoxie. Der allergrößte Teil der wirklich wichtigen wahrheitstheoretischen Arbeiten, die etwa in den letzten fünfzehn Jahren publiziert wurden, beschäftigt sich mit dem, was in diesem Buch die evalmtiv-extensionale (Sub-) Theorie der Wahrheit genannt wird. Dabei ist es wichtig zu sehen, daß eine positive Lösung fur die Wahrheitsparadoxie sowohl im Bereich der natürlichen Sprache als auch im Bereich anderer (formaler) selbstreferentieller Sprachen gesucht wird. Angesichts dieser immensen Bemühungen, auf die im nachfolgenden Exkurs teilweise eingegangen wird, kann man heute kaum begründeterweise behaupten, daß jede selbstreferentielle Sprache inkonsistent ist und daß es daher sinnlos sei, einen Wahrheitsbegriff für eine solche Sprache zu entwickeln. An dieser Stelle wird also die Annahme gemacht, daß die Sprache, für die hier eine Theorie der Wahrheit anvisiert wird, Selbstreferentialität nicht ausschließt. Damit sind einige, besonders negativ orientierte, Bestimmungen der Sprache genannt worden, für die hier der Wahrheitsbegriff zu explizieren/definieren ist. Natürlich ist dies sehr wenig; aber es ist darauf aufmerksam zu machen, daß es sich in diesem Buch zunächst (nur) darum handelt, die Grundlagen für die Entwicklung einer Theorie der Wahrheit zu erarbeiten. Es muß einem weiteren Werk vorbehalten bleiben, die Einzelheiten einer solchen Theorie zur Darstellung zu bringen. 2.2.4 EXKURS: Bemerkung zu Tarskis „Theorem der Undefinierbarkeit der Wahrheit" und zu einigen neuen Ansätzen Der oft verwendete Ausdruck „Theorem der Undefinierbarkeit der Wahrheit von Tarski" (= UWT) ist ein leicht mißverständlicher Ausdruck. Im folgenden soll dazu einiges im Hinblick auf das Vorhaben des gegenwärtigen Buches gesagt werden. Worum handelt es sich? Welches ist die Tragweite des Theorems? [1] Wie oben dargelegt, war Tarski in seinem berühmten Werk Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen der Auffassung, daß die natürliche 8
Vgl. bes. „Wahrheit und Bedeutung" in Davidson [1984] S. 40—67 (vgl. bes. S. 55 ff.).
108
2 Begrifflich-methodische Grundlagen
Sprache inkonsistent ist und daß daher ein Wahrheitsbegriff für diese Sprache nicht entwickelt werden kann. 1939 bewies Tarski in dem Aufsatz „On Undecidable Statements in Enlarged Systems of Logic and the Concept of Truth"9 u. a. jenes Theorem, das als „Theorem der Undefinierbarkeit der Wahrheit" bekannt wurde. Etwas genauer sollte es heißen: Theorem der (syntaktischen) Nichtausdrückbarkeit (der Extension) der Wahrheit. Dieses Theorem ist in einer bestimmten Hinsicht nur eine andere Formulierung der These, daß eine semantisch geschlossene Sprache zu Inkonsistenzen führt. In der eher allgemein verständlich ausgerichteten Schrift aus dem Jahre 1944 „Die semantische Konzeption der Sprache und die Grundlagen der Semantik"10 legt Tarski in äußerst konziser Form eine Argumentation vor, als deren Ergebnis man das genannte Theorem bezeichnen kann: „Das [die Konstruktion der Antinomie des Lügners in der natürlichen Sprache, L. B. P.] kann grob in folgender Weise geschehen. S sei eine Aussage, die mit den Wörtern Jede Aussage' beginnt. Wir bringen mit S die neue Aussage S* in Wechselbeziehung, indem wir S den folgenden beiden Modifikationen unterwerfen: wir ersetzen in S das erste Wort Jede' durch ,Die' und fugen an das zweite Wort ,Aussage' die ganze Aussage S in Anführungszeichen. Wir wollen vereinbaren, die Aussage S ,(auf sich selbst) anwendbar' oder .nicht (auf sich selbst) anwendbar' zu nennen, und zwar in Abhängigkeit davon, ob die in Wechselbeziehung zu ihr stehende Aussage S* wahr oder falsch ist. Betrachten wir nun die Aussage: Jede Aussage ist nichtanwendbar'. Es kann leicht gezeigt werden, daß die eben aufgestellte Aussage anwendbar und nichtanwendbar sein muß, also eine Kontradiktion." 11
Was Tarski hier nur andeutet, sei im folgenden nach %wei Darstellungsverfahren gezeigt. Das erstefindetsich bei R. Gramfy12. In äußerst vereinfachter Form läßt es sich folgendermaßen wiedergeben: Es geht um den Versuch einer Formalisierung einer Wahrheitsdefinition für eine Theorie oder ein System Η im Rahmen einer Sprache der Quantorenlogik erster Stufe Q. Die Definition eines Prädikates W (für ,wahr') für Η kann nicht in der Weise durchgeführt werden, daß eine Liste (Aufzählung) aller wahren Sätze von Η angefertigt wird, da feststeht, daß die Klasse der wahren Sätze der Sprache der Quantorenlogik erster Stufe Q nicht rekursiv aufzählbar ist, so daß Wahrheit auf diese Weise in keiner effektiv gegebenen Extension von Q
Tarski [1939], Tarski [1944], " Tarski [1944] S. 66 Anm. 13. 12 Grandy [1977] Kap. IX. 9
10
2.2 Zum Verhältnis von Theorie der Wahrheit und Sprache
109
repräsentiert werden kann. Eine andere Defmitionsmöglichkeit könnte darin gesehen werden, daß versucht wird, ein Prädikat W in der Weise zu definieren, daß für jeden Satz von Η — abhängig von der Logik des Konditionals — die Äquivalenz W(,A') ei Hauptversionen des Argumentes rekonstruiert und geprüft werden: die von Church und die von Davidson. Die erste dürfte die wichtigste und genaueste sein; die zweite ist für die Thematik und die zentrale These des vorliegenden Buches deswegen von großer Bedeutung, weil Davidson mit dem Begriff der „Tatsache" operiert, wobei er Tatsachen ablehnt. [3] Bei Church kann man %wei Varianten des Arguments finden, eine äußerst einfache in der Einleitung zu seinem Buch Introduction to Mathematical Logic16 und eine andere, eine sehr detaillierte und anspruchsvolle, in der oben genannten Rezension. Zuerst sei die erste Variante dargelegt, die ohne einen formalen Apparat auskommt. Church geht von der These aus, daß Sätze Namen sind, also Ausdrücke, die etwas „bezeichnen" ( = „denotieren [denote]"), und er stützt sich auf das Prinzip, daß Namen mit derselben Denotation füreinander ausgetauscht werden können, ohne daß die Denotation des „Gesamtnamens" (insbesondere des Satzes, der, wie gezeigt, nach Church ein Name, ein „Gesamtname", 9
Church [1943], Gödel [1946] (vgl. unten [3]). " Vgl. bes. „Three Grades of Modal Involvement" in Quine [1966 a] S. 1 5 8 - 1 7 6 (vgl. bes. S. 163 ff.). 12 Davidson [1984] (vgl. unten [4]). 13 Follesdal [1983], 14 Vgl. dazu u. a. Yourgrau [1987] (dort ausführliche Literaturhinweise). 15 Vgl. Barwise/Perry [1981] S. 395. 16 Church [1956], 10
3.4 Elemente einer Theorie des Satzes
167
ist) sich ändert. 17 Church führt eine Reihe von Sät2en an, in bezug auf welche er zu zeigen versucht, daß sie dieselbe Denotation haben. Die Sätze (1)
Sir Walter Scott ist Sir Walter Scott
und (2)
Sir Walter Scott ist der Verfasser von Waverky
haben dieselbe Denotation, weil die in ihnen vorkommenden Namen (auch der Ausdruck ,der Verfasser von Waverky ist nach Church ein Name) füreinander austauschbar sind. Satz (2) und Satz (3)
Sir Walter Scott ist der Mann, der insgesamt neunundzwanzig Romane schrieb
Waverky
haben aus demselben Grund dieselbe Denotation. Nun führt Church die folgenden weiteren Sätze ein: (4)
Die Zahl, so daß Sir Walter Scott der Mann ist, der ebensoviele Waverley Romane schrieb, ist neunundzwanzig.
(5)
Die Zahl der Verwaltungsbezirke in Utah ist neunundzwanzig.
Church behauptet, daß die Sätze (3) und (4) und die Sätze (4) und (5) dieselbe Denotation haben. Die identische Denotation von (3) und (4) begründet er mit der „plausiblen Annahme", daß diese Sätze, wenn nicht vollkommen, so doch beinahe synonym („nearly synonymous") sind. Hinsichtlich (4) und (5) bemerkt er, daß die Identität der Denotation ersichtlich wird, sobald wir das vollständige Subjekt durch einen anderen Namen derselben Zahl ersetzen. Augrund dieser Argumentation gelangt Church zur Konklusion, daß alle genannten Sätze dieselbe Denotation haben. Die weitere Konklusion, daß die Denotation (der Referent) des Satzes sein Wahrheitswert ist, gewinnt er, indem er folgende Überlegung anstellt: Der auffallendste Faktor, den die untersuchten Sätze gemeinsam haben, ist der Wahrheitswert. Daraus schließt er: alle wahren Sätze haben den Wahrheitswert „Wahrheit" als Denotatum, während das Denotatum aller falschen Sätze der Wahrheitswert „Falschheit" ist. 18 Barwise/Perry haben dieses Argument einer ausgezeichneten kritischen Analyse unterzogen. 19 Der Leser sei darauf verwiesen. Im Unterschied zur 17 18 19
Vgl. a. a. O. S. 24 und 9. Vgl. a. a. O. S. 24 f. Vgl. Barwise/Perry [1981] S. 396 ff.
168
3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
anderen Variante des Arguments wird in der dargelegten Version nicht auf den Begriff der logischen Äquivalenz rekurriert. Der Grund dürfte, wie Barwise/Perry richtig bemerken, darin zu sehen sein, daß diese Version für Leser gedacht war, die noch keine Logikkenntnisse haben. In der erwähnten Rezension versucht Church, Carnaps These, derzufolge die Designata der Sätze Propositionen sind, zu widerlegen. Sein zentraler Gedanke ist der folgende: Wenn eine Sprache, zusätzlich zu einigen anderen gemeinsamen Eigenschaften, den Lambda-Operator ,(λχ)(...)' (zu lesen: ,die Klasse aller χ so daß...') einschließt, so ist es möglich zu beweisen, daß die Designata der Sätze nicht Propositionen, sondern Wahrheitswerte sind. Im folgenden soll eine möglichst eng an Churchs informelle (oder teilweise halb-formale) Ausführungen gehaltene formale Rekonstruktion geboten werden. 2 0 Alle Voraussetzungen und Prämissen sind bei Church in der einen oder anderen Form zu finden. CHURCHs Argument (in der Rezension über R. Carnaps Introduction Semantics)·.
to
Α. Voraussetzungen I. Syntaktisch-semantische Festlegungen 1. S' ist Metasprache und enthält die Objektsprache S. 2. ,Des' ist das Prädikat .designiert'. 3. ,Des' gehört zu S'. 4. Symbole: P, Q, R für Sätze; P2 für Propositionen; x, y für Objekte/Designata. II. Prämissen (Prinzipien) PI Sätze sind eine besondere Art von Namen (also von Ausdrücken, die etwas bezeichnen). 21 P2 Ausdrücke haben dasselbe Designatum genau dann, wenn sie synonyme Ausdrücke sind. P3 Synonyme Ausdrücke sind austauschbar (unter Wahrung der Korreferentialität). P4 Logisch äquivalente Sätze sind synonyme Sätze. P5 Das Designatum eines Satzes ist entweder die Proposition oder der Wahrheitswert. 20
21
Diese Rekonstruktion unterscheidet sich merklich von der von Yourgrau [1987] unternommenen Rekonstruktion. Vgl. unten Anm. 22. Diese Prämisse wird in der genannten Rezension nicht explizit formuliert, wohl aber in der in Introduction to Mathematical Logic dargelegten Variante des Arguments (vgl. oben). Sie ist aber unerläßlich, um in dem unten präsentierten halbformalen Beweis die Sätze 5. und 6. abzuleiten. Was den in der Formulierung der Prämisse verwendeten Ausdruck .Bezeichnung' angeht, so entsprechen ihm in diesem Kontext bei Church die Ausdrücke ,denotation' und Resignation'. Auf die damit gegebene terminologische Problematik wird unten im Text eingegangen.
3.4 Elemente einer Theorie des Satzes B. Der Beweis 1. Ρ 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.
C7= , ( λ χ ) (χ = χ Λ ~ Ρ ) ' S, = ,(λχ) (χ = χ Λ ~ Ρ ) = 0' in S ί 2 = ,0 = 0' in S ,Des (ί1,, (λχ)(χ = χ Λ ~ Ρ ) = 0)' ist wahr in S' ,Des(.y2, 0 = 0)' ist wahr in S' (Des(£7, χ) Λ Des (,0', y)) χ = y Syn(£7, ,0') A u s t a u s c h b a r ^ , ,0') ,Des(J\, 0 = 0)' ist wahr in S' .Syn^i, ist wahr in S' (VP,) (V/>2)(drückt aus(J·,, />,) A drückt nus(S2, P2)) —• Λ φ P2
13. Ρ ist L-äquivalent mit J1,
14. Syn(P, St) 15. ,Syn(P, S2)' ist wahr in S' 16. (VQ)(Q ist wahr Syn(Q, S2)) 17. (VQ)(VR)((Q ist wahr Λ R ist wahr) Syn(Q, R)) 18. ((Q ist wahr Λ R ist wahr) ν (Q ist falsch Λ R ist falsch)) —• ((VQ)(VR)((Des(Q,x) A Des(R, y) - » x = Y)) 19. (VQ)(VR)((Des(Q,x) A Des(R.y) Λ Q ist wahr Λ R ist wahr) —• (x ist Wahrheitswert A y ist Wahrheitswert))
169
(Annahme [ = wahrer, aber nicht-logisch wahrer Satz]) (Annahme) (Annahme) (Annahme) (aus 3 und P I ) (aus 4 und PI) (Annahme) (aus 7 und P2) (aus 8 und P3) (aus 5, 9) (aus P2, 3, 4, 8, 9) (Annahme, die sich aus der gewöhnlichen Bedeutung von „Proposition" ergibt) (folgt logisch aufgrund der [von Church gemachten] Annahme, daß die Nullmenge (in allen möglichen Welten) existiert) (aus 1, 3, 13 und P4) (aus 1, 3, 14 und Transitivität der Synonymie) (Generalisierung) (aus 16, Generalisierung) (aus 7, 12, 17 und P2)
(aus 12, 18 und P5).
D e r B e w e i s dürfte als korrekt anzusehen sein. D i e Frage ist allerdings, o b die Prämissen stimmen. H o c h p r o b l e m a t i s c h sind insbesondere Prämissen PI und P4, auf die sich das A r g u m e n t entscheidend stützt. Warum m ü s s e n l o g i s c h äquivalente Sätze s y n o n y m u n d korreferentiell sein? D i e s leuchtet k e i n e s w e g s ein. 2 2 D a ß Sätze nicht als N a m e n (welcher Art auch immer)
22
Vgl. dazu die treffenden Überlegungen bei Barwise/Perry [1981], S. 398, und bei Yourgrau [1987], S. 135. In Yourgraus Rekonstruktion des Arguments wird Churchs erstes fundamentales Prinzip so formuliert: Logisch äquivalente Sätze
170
3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
aufgefaßt werden können, wird heute meistens allgemein anerkannt. Der in diesem Buch auf der Basis der starken Version des Kontextprinzips verfolgte Ansatz steht in direktem Widerspruch zu dieser auf Frege zurückgehenden These. 23 Es muß noch angemerkt werden, daß die Frage nicht von der Hand zu weisen ist, ob es sich bei dieser ganzen Diskussion nicht um ein großes terminologisches Mißverständnis handelt. Auffallend ist, daß sowohl Carnap als auch Church Propositionen annehmen. 24 Geht möglicherweise der Streit nur um das Wort ,Designatum'? In Introduction to Semantics vertrat Carnap die These, daß die Propositionen die Designata der Sätze sind. Wie gezeigt, versucht Church die These zu beweisen, daß die Designata der Sätze die Wahrheitswerte sind. Ein Streit um Worte? Daß dieser Verdacht nicht ganz unbegründet ist, wird durch einen Kommentar Carnaps in seinem 1947 erschienenen Buch Meaning and Necessity zu Churchs Rezension seines Buches Introduction to Semantics25 bestätigt. Carnap bemerkt, daß er in dem von Church rezensierten Werk das Wort ,Designatum' nicht im Sinne von .Denotatum' verwendet habe, sondern als einen Ausdruck, der das Verhältnis zwischen sprachlichen Ausdrücken und folgenden Arten von Entitäten: Eigenschaften, Relationen, Attributen, Funktionen, Begriffen und Propositionen, artikuliert; Church aber habe ,designatum' im Sinne von ,nominatum' verstanden. Carnap fügte hinzu, daß auf der Basis der Fregeschen Methode der Namensrelation die These, daß das Nominatum des Satzes der Wahrheitswert ist, als korrekt anzusehen ist.
23
24
25
sind korreferentiell. Zwar ist diese Formulierung — verstanden als Rekonstruktion — nicht falsch, aber sie entspricht nicht der detaillierten Version des Churchschen Arguments. Church unterscheidet genauer zwischen Synonymität und Korreferentialität: L-äquivalente sind synonyme Sätze (P3) und synonyme Sätze sind korreferentiell (PI). Es sei noch angemerkt, daß die von Barwise/Perry aufgestellten Thesen über das, was sie „uncompromising situations" nennen, hier nicht übernommen werden; die Verwerfung der These, daß der Referent des Satzes der Wahrheitswert ist, muß nicht auf die genannten Thesen rekurrieren. M. Dummett nennt diese Lehre Freges „misbegotten" und deren Konsequenzen „disastrous"; die „katastrophalste" Konsequenz charakterisiert er so: Wenn das Wahre und das Falsche lediglich als zwei partikuläre Objekte inmitten eines Universums von Objekten aufgefaßt werden, dann gibt es nichts Einzigartiges in bezug auf den Satz (vgl. Dummett [1981 a], S. 196; vgl. auch die Bemerkungen über das Kontextprinzip bei Frege [oben 3.3.1]). Freilich muß beachtet werden, daß Carnap und Church unter „Proposition" nicht dasselbe verstehen. Für die hier anstehende Frage spielt aber diese Differenz keine nennenswerte Rolle. Vgl. Carnap [1947] S. 166 Anm. 15.
3.4 Elemente einer Theorie des Satzes
171
Ungeachtet dieses unbestreitbaren terminologischen Mißverständnisses kann nicht gesagt werden, daß der ganze Streit sich nur um Worte dreht, und zwar mindestens aus zwei Gründen: Erstens bleibt die Frage bestehen, was unter „Proposition" zu verstehen ist und wie sie sich zum „Referenten" des Satzes (nach der hier erörterten Konzeption: dem Wahrheitswert) verhält. In Meaning and Necessity verwendet Carnap für ,Designatum' im Sinne von Introduction to Semantics den Ausdruck ,Intension'. Was sind aber Intensionen? Die Ausführungen dieses Buches sind ein Beleg dafür, daß die traditionelle (Fregesche und Churchsche) Konzeption hochproblematisch ist. Zweitens ist zu betonen — worauf schon hingewiesen wurde —, daß die These, derzufolge der Referent des Satzes der Wahrheitswert ist, auch (in gewisser Hinsicht sogar besonders) von Autoren vertreten wird, die Entitäten wie „Propositionen" u. dgl. nicht annehmen. Ein Beispiel ist D. Davidson, dessen Version bzw. Varianten des Arguments im folgenden zu prüfen sind. [3] D. Davidson präsentiert %wei Varianten des Arguments. Der Kontext, in dem die erste26 entsteht, ist die Diskussion des Versuchs, die Sätze im Anschluß an Frege als Spezialfall komplexer singulärer Termini und die Bedeutung eines solchen Terminus mit seinem Referenten zu identifizieren. Dieser Versuch führt nach Davidson zu folgendem „unerträglichen Ergebnis": Wenn die Bedeutung des als komplexer singulärer Terminus aufgefaßten Satzes sein Referent ist, so müssen alle Sätze mit demselben Wahrheitswert synonym sein. Diese Konklusion ist nach Davidson unausweichlich, sobald man zwei „vernünftige Annahmen" macht. Erstens: logisch äquivalente singulare Terme haben denselben Referenten; zweitens: ein singulärer Term ändert nicht seinen Referenten, wenn ein singulärer Term durch einen anderen ersetzt wird, der denselben Referenten hat. Davidson formuliert das Argument folgendermaßen: „Aber nun wollen wir annehmen, ,R' und ,S' seien Abkürzungen für zwei beliebige Sätze mit gleichem Wahrheitswert. Dann haben die folgenden vier Sätze denselben Referenten: (1)
R
(2)
x(x = x.R) = x(x = x)
(3)
x(x = x.S) = x(x = x)
(4)
S
26
Vgl. Davidson, „Wahrheit und Bedeutung" (1967) in Davidson [1984] S. 42 f.
172
3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen Denn (1) und (2) sind logisch äquivalent, ebenso wie (3) und (4), während sich (3) nur darin von (2) unterscheidet, daß es den singulären Terminus ,x(x = x. S)' enthält, wo (2) ,x(x = x. R)' enthält, und diese referieren auf dasselbe, sofern S und R den gleichen Wahrheitswert haben. Also haben je zwei beliebige Sätze denselben Referenten, sofern sie denselben Wahrheitswert haben."27
Davidson verweist explizit auf Church und merkt an, daß das Argument unabhängig ist von irgendwelchen Annahmen bezüglich der Entitäten, auf welche die Sätze voraussetzungsmäßig referieren. Gerade der letzte Punkt wird von der zweiten Variante 28 des Arguments bei Davidson in ein ganz anderes Licht gerückt, denn diese Variante soll zeigen, daß „Tatsachen (facts)" zu verwerfen sind. Der Kontext, in dem diese Version entwickelt wird, ist die Auseinandersetzung mit dem Versuch, „Wahrheit" als Korrespondenz mit Tatsachen zu erklären. Ein solcher Versuch könnte nach Davidson nur gelingen, wenn gezeigt werden könnte, daß Sätze der folgenden Form sinnvoll sind: (5)
Die Aussage, daß p korrespondiert mit der Tatsache, daß q.
Davidson zufolge sind Sätze der Form (5) nicht sinnvoll, da sie dazu führen, daß man eine unmögliche These annehmen müßte, die These nämlich, daß es eine einzige Tatsache gibt: Die Große Tatsache. Die Prämissen des Arguments, das zu dieser Konklusion führt, werden von Davidson anhand von Beispielen eingeführt. Satz (5) ist dann behauptbar, wenn ,p' und ,q' durch denselben Satz ersetzt werden. Darüber hinaus vertritt Davidson folgende Thesen: Die Aussage, daß Hamburg nördlich von München liegt, korrespondiert nicht nur mit der Tatsache, daß Hamburg nördlich von München liegt, sondern auch mit der Tatsache, daß München südlich von Hamburg liegt, ferner mit der Tatsache, daß München südlich von der großen Hafenstadt an der Elbe liegt. Davidson vollzieht nun einen entscheidenden Schritt, indem er eine Feststellung trifft und darauf eine „Vermutung" gründet. Er stellt fest, daß Hamburg die Stadt ist, die folgende Beschreibung erfüllt: die größte deutsche Hafenstadt, so daß Paris in Frankreich liegt. Die Vermutung lautet: Wenn eine Aussage mit einer Tatsache korrespondiert, dann korrespondiert sie mit allen Tatsachen. Die „Bestätigung" der „Vermutung" findet Davidson in der Angabe der in den Beispielen implizit enthaltenen Prinzipien. Es sind zwei Prinzipien, die ihm zufolge die folgende 27 28
A. a. O. S. 42 f. (modifizierte Übersetzung). Vgl. „Wahr hinsichtlich der Tatsachen" (1969) in Davidson [1984] S. 6 8 - 9 1 (vgl. bes. S. 74 f.).
3.4 Elemente einer Theorie des Satzes
173
These stützen: Wenn eine Aussage mit der durch einen Ausdruck der Form ,die Tatasche daß p' beschriebenen Tatsache korrespondiert, dann korrespondiert sie (auch) mit der durch einen Ausdruck der Form ,die Tatsache daß q' beschriebenen Tatsache. Es sind dies: (a) Die Sätze, die ,p' und ,q' ersetzen, sind logisch äquivalent, (b) unterscheidet sich von ,q' nur dadurch, daß ein singulärer Term durch einen koextensiven singulären Term ersetzt wird. Das eigentliche Argument sei nun in Davidsons eigenen Worten wiedergegeben: „,s' sei die Abkürzung für einen wahren Satz. Dann wird die Aussage, daß gewiß übereinstimmen mit der Tatsache, daß s. Doch das zweite ,/ dürfen wir durch diesen logisch äquivalenten Satz ersetzen: ,(der χ derart, daß χ mit Diogenes identisch ist, und s) ist identisch mit (der χ derart, daß χ mit Diogenes identisch ist)'. Indem wir das Prinzip anwenden, daß koextensive singulare Termini durcheinander ersetzt werden dürfen, können wir in dem zuletzt zitierten Satz durch ,/' ersetzen, vorausgesetzt,,/' ist wahr. Schließlich kommen wir, indem wir den ersten Schritt umkehren, zu dem Schluß, daß die Aussage, daß s, mit der Tatsache, daß t, übereinstimmt, wobei und ,/' beliebige wahre Sätze sind." 29
Die Konklusion ist also, daß, wenn man Tatsachen annimmt, alle Tatsachen gleich sind: Es gibt eine einzige Große Tatsache. Man sieht leicht, wie Freges oben referierte Überlegungen über „das Wahre" (bzw. „das Falsche") und Churchs Formulierungen von Davidson übernommen werden, mit dem Unterschied, daß er anstelle der Relation „der Satz bezeichnet eine Proposition" die andere Relation „die Aussage daß p korrespondiert mit der Tatsache daß q" betrachtet. In beiden Fällen ergibt sich aus der Anwendung des „slingshot"-Arguments eine erste ähnliche Konklusion. Im ersten Fall (Church): Wenn der Referent des Satzes die Proposition wäre, so wären alle Propositionen gleich, es gäbe eine einzige Große Proposition; im anderen Fall (Davidson): Wenn der Satz mit einer Tatsache korrespondierte, so wären alle Tatsachen gleich, es gäbe eine einzige Große Tatsache. Es ist nun interessant festzustellen, daß Frege-Church aus ihrem Argument nicht die weitere Konklusion ziehen, es gäbe keine Propositionen, sondern nur den Schluß, daß der Referent des Satzes nicht die Proposition, sondern der Wahrheitswert ist. Church führt nämlich explizit die Annahme (oben im Beweis als Schritt 12.) ein, daß die Propositionen und P2 nicht identisch sind. Davidson verfährt ganz anders. Die n/eitere Konklusion, die er zieht, ist die „Redundanztheorie der Tatsachen"30. Um diese Konklusion zu ziehen 29 30
Davidson [1984] S. 75 (modifizierte Übersetzung). Vgl. a. a. O. S. 76.
174
3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
bzw. um diese These aufzustellen, stützt er sich auf die Behauptung, daß außer dem Kriterium der Korrespondenz kein anderes Kriterium für die Unterscheidung (Identität) von Tatsachen vorgeschlagen wurde. Es wird auch hier klar, daß Davidsons zweite Variante des „slingshot"Arguments genau wie Churchs erste Variante wesentlich auf der fragwürdigen Prämisse beruht, daß logisch äquivalente Sätze denselben Referenten haben. Darüber hinaus ist es mehr als fragwürdig zu sagen, daß die Tatsache, daß Hamburg nördlich von München liegt, identisch ist mit der Tatsache, daß München südlich von Hamburg liegt. 31 3.4.3 Die drei fundamentalen Strukturebenen (-dimensionen) des Satzes Der Satz ist ein Sprachgebilde, das nur dann als angemessen bestimmt angesehen werden kann, wenn es hinsichtlich dreier Ebenen oder Dimensionen betrachtet wird: der syntaktischen, der semantischen und der pragmatischen. Man kann entsprechend von einer syntaktischen, einer semantischen und einer pragmatischen Strukturiertheit des Satzes sprechen. Als semiotisches Gebilde ist der Satz zunächst ein Zeichengebilde, das in dem Sinne syntaktisch strukturiert ist, daß die es konstitutierenden Zeichen gewisse Verbindungen miteinander aufweisen. Die semantische Strukturiertheit des Satzes besagt, daß der Satz als Zeichengebilde etwas „be-zeichnet", einen „Wert" hat, der eben deswegen „semantischer Wert" genannt wird. Schließlich steht der Satz als Zeichengebilde in Beziehung zu „Instanzen", die ihn „handhaben", d. h. „äußern"; die diesbezügliche Strukturiertheit des Satzes kann man die pragmatische nennen. Wird eine dieser drei Ebenen bzw. Strukturiertheiten unbeachtet gelassen, so bleibt der Satz wesentlich unterbestimmt. [1] Hinsichtlich der syntaktischen Strukturiertheit des Satzes ist an dieser Stelle nur auf folgenden Gesichtspunkt hinzuweisen: Es ist zunächst zu unterscheiden zwischen syntaktisch-grammatikalischer und syntaktisch-logischer Strukturiertheit des Satzes. Ob beide gleichzusetzen sind und, wenn ja, in welchem genauen Sinne, stellt ein schwieriges Problem dar. 32 Hier sei nur angedeutet, daß die syntaktisch-logische Strukturiertheit als die „geläuterte" 31
32
Hochberg [1984], S. 279 — 295, hat eine detaillierte Analyse der zweiten Variante des Davidsonschen Arguments unternommen. Eine gute Darstellung und Kritik findet sich auch in Brownstein [1976] und Olson [1987]. Vgl. dazu unter vielen anderen Harman [1972], Etchemendy [1983], Moody [1986],
3.4 Elemente einer Theorie des Satzes
175
(korrigierte und präzisierte) syntaktisch-grammatikalische Strukturiertheit aufgefaßt werden kann. Was dies bedeutet, wird unten zumindest im Hinblick auf einen Fall (die Unterscheidung zwischen „primärem" und „sekundärem" Satz) deutlich werden. Hier ist noch anzufügen, daß eine Klärung der Frage, welche syntaktisch-logische Strukturiertheit des Satzes als die „richtige" oder „angemessene" anzusehen ist, nicht allein auf der isoliert genommenen syntaktischen Ebene erzielt werden kann. Es ist der Sache nicht angemessen, zunächst eine nur für sich betrachtete und konstruierte Syntax zu entwickeln und erst danach überhaupt die beiden anderen Dimensionen zu berücksichtigen. Der Grund ist, daß die drei Dimensionen ein „ursprüngliches Gebilde" konstituieren dergestalt, daß keine von ihnen eine absolute Priorität gegenüber den anderen beanspruchen kann. Nur im Sinne einer „konzertierten Aktion" können sie überhaupt als solche bestimmt werden. [2] Die wesentlichen Elemente der semantischen Strukturiertbeit des Satzes wurden im Abschnitt 2.1.2 herausgearbeitet. Obwohl die Semantik des Satzes ihren wahren Ort im gegenwärtigen Zusammenhang hat, wurde sie im genannten Abschnitt aus Darstellungsgriinden vorweggenommen. Hier sind ergänzend einige Präzisierungen, Erläuterungen und Begründungen vorzunehmen. Nimmt man Bezug auf die inzwischen allgemein akzeptierte — was nicht heißt: einwandfrei verständliche und klare — Unterscheidung zwischen „type" und „token", so dürfte es klar sein, daß hier „Satz" im Sinne des Satztypus, nicht des Satzvorkommisses, verstanden wird — es sei denn, dies wird explizit angegeben. Was der Satztypus ist, wurde von Quine gut charakterisiert: „Ein Satz ist kein einzelnes Äußerungsereignis, sondern ein Universale: ein wiederholbares Klangmuster bzw. eine Norm, der man wiederholt nahekommen kann." 33
Dieser Gesichtspunkt ist u. a. wichtig im Hinblick auf die (unten, im Rahmen der Theorie der Proposition) zu behandelnde Frage, ob die oder eine Sprache nur endlich viele oder abzählbar unendlich viele oder überabzählbar unendlich viele Sätze hat. Die Tragweite dieser Frage für die hier anvisierte Theorie der Wahrheit wird sich an entsprechender Stelle deutlich zeigen. 33
Quine [1960] S. 332.
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3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
Wie im Abschnitt 2.1.2 gezeigt, ist die Semantik des Satzes als die Theorie anzusehen, die den semantischen Wert des Satzes erklärt. Dabei wurde ein dreifacher semantischer Wert unterschieden und herausgearbeitet: der semantisch-informationale, der semantisch-funktionale und der semantisch-dimensionale Wert. Die Einsicht, daß Sätze „Information" kodieren, d. h. beinhalten und vermitteln, ist wesentlich und es ist nicht zu sehen, wie sie ernsthaft in Frage gestellt werden kann. Freilich besagt das nicht, daß sie nicht faktisch bestritten wird; im Gegenteil: Jede Konzeption, die etwa im Anschluß an den — so oder so interpretierten — späten Wittgenstein Sprache ausschließlich als „Spiel" und Bedeutung als „Gebrauch" o. ä. versteht, hat zumindest Schwierigkeiten, so etwas wie den semantisch-informationalen Wert anzuerkennen und vor allem ihn in die Gesamttheorie angemessen einzubeziehen. Doch auf eine Auseinandersetzung mit solchen Richtungen muß hier verzichtet werden. Als terminologische Festlegung soll der semantisch-informationale Wert des Satzes Proposition genannt werden, wobei von diesem Ausdruck bis zur Entwicklung der Theorie der Proposition alle in der philosophischen Literatur zu findenden Konnotationen zu diesem Begriff fernzuhalten sind. Dieser Hinweis ist deshalb sehr wichtig, weil gerade hinsichtlich des Themas „Proposition" oft die größten terminologischen und sachlichen Konfusionen festgetellt werden können. Entsprechend erweisen sich die meisten Diskussionen über dieses Thema als außerordentlich konfus und damit als unergiebig. Von seiner Struktur und seinem Stellenwert her ist der semantischinformationale Wert als der direkte Wert des Satzes oder auch als die Basis oder der Bezugspunkt für die Bestimmung der anderen semantischen Werte zu begreifen. Es ergibt sich folgende Konstellation: (i) Der direkte oder semantiscb-informationale sition. (ii) Hinsichtlich des semantisch-funktionalen terscheiden:
Wert des Satzes ist die Propo-
Wertes sind zwei Formen zu un-
(ii —i) Der funktional-linguistische Wert des Satzes ist eine Funktion von Kontexten der Äußerung des Satzes in den direkten semantisch-informationalen Wert, d. h. in die Proposition. (ii—ii) Der funktional-systematische Wert des Satzes ist die Intension des direkten oder semantisch-informationalen Wertes (d. h. der Proposition) und (indi-
3.4 Elemente einer Theorie des Satzes
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rekt oder vermittelt) des Satzes selbst; die Intension ist eine Funktion, die jeder möglichen Welt die Extension (im Sinne von (iii)) des direkten oder semantisch-informationalen Wertes (und damit indirekt des Satzes selbst) zuordnet. (iii) Der semantisch-dimensionale Wert des Satzes ist die Extension des semantisch-informationalen Wertes des Satzes (man kann auch — verkürzt — von der Extension des Satzes selbst, d. h. des Satzes als einer linguistischen Entität, sprechen). Die Extension ist die Menge der (möglichen) Welten, zu denen der direkte semantisch-informationale Wert, d. h. die Proposition, als Mitglied gehört oder in denen die Proposition „besteht" bzw. in denen der Satz „wahr" ist. Besagt (iii), daß Frege und die an ihn anknüpfenden Philosophen und Logiker die richtige These vertreten, wenn sie sagen, daß die „Bedeutung" (Frege) oder der „Referent" des Satzes der Wahrheitswert (das Wahre bzw. das Falsche) ist? Das kann so nicht gesagt werden, wie die Ausführungen über das „slingshot"-Argument im Abschnitt 3.4.2 gezeigt haben. Insbesondere ist auf folgenden Umstand hinzuweisen: Die meisten Autoren, die heute die These vertreten, daß der Referent des Satzes der Wahrheitswert ist, lehnen Freges „Gedanken" (d. h. den „Sinn" des Satzes) ab; aber für Frege wäre die Identifikation der „Bedeutung" (d. h. des Referenten oder der Extension) des Satzes mit dem Wahrheitswert bei gleichzeitiger Ablehnung des „Sinnes" des Satzes (d. h. des Gedankens) sinnlos und unverständlich. Schon aus diesem Grunde sind vorschnelle Kombinationen von bestimmten Theorien oder gar Identifikationen der einen Theorie mit der anderen mit größter Vorsicht zu betrachten. Immerhin läßt sich schon jetzt folgendes sagen: Die Formulierung ,Die Extension des Satzes bzw. des semantisch-informationalen Wertes des Satzes ist die Menge der (möglichen) Welten, in denen der Satz wahr ist' ist zwar nicht sinnlos oder falsch, wohl aber ziemlich unbestimmt; denn was heißt es zu sagen: ,ein Satz ist wahr in einer (möglichen) Welt'? Man läuft hier leicht Gefahr, sich im Kreise zu drehen, d. h. nichts zu erklären. Wenn der Ausdruck ,Wahrheitswert' „objektiv", d. h. als Bezeichnung für die (Menge der) Welt(en) im Sinne von „Totalität(en) bestehender Propositionen" genommen wird, so ist nach (iii) die Extension dasselbe wie der Wahrheitswert. Es ist aber ersichtlich, daß etwa Frege seine These nicht in diesem Sinne verstanden haben kann, da er eine völlig andere Ontotogie voraussetzt und außerdem den Satz als Eigennamen mit einer „Bedeutung"
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3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
(einem „Referenten"), den „Objekten" „das Wahre" bzw. „das Falsche", deutet. 34 Im Sinne der oben eingeführten Terminologie könnte (es ist zu betonen: könnte) man sagen: die Wahrheit der Proposition (also des semantischinformationalen Wertes des Satzes) ist gleichzusetzen mit der Intension (im oben festgelegten Sinne) der Proposition. Die Intension der Proposition ist eine „Qualifikation", der die Proposition unterzogen wird; durch diese Qualifikation erhält sie ihre Letztbestimmtheit überhaupt. Da die Intension eine Funktion ist, könnte man folgende Ausdrucksweise einführen: die Wahrheit der Proposition im Sinne der letztbestimmenden Qualifikation der Proposition ist die „Wahrheitsfunktion" (gleichgesetzt mit der „Intension"); der Funktionswert der so gedeuteten Intension ist der Wahrheitswert im Sinne der erläuterten Extension der Proposition. Hier erhält der Ausdruck .Wahrheitswert' einen objektiv-extensionalen Sinn: „Wahrheitswert" ist dann identisch mit der Menge jener (möglichen) Welten (als der Totalitäten bestehender Propositionen), zu denen die als wahr qualifizierte Proposition gehört. Man kann sich dann so ausdrücken: eine Proposition ist wahr, wenn es eine Intension gibt, die jeder (möglichen) Welt eine Extension der Proposition als (Wahrheits-)Wert zuordnet. Dies ist eine Explikation der folgenden Formulierung: eine Proposition ist wahr, wenn es (mögliche) Welten gibt, so daß sie ein „Bestandteil" (oder Element) dieser Welten ist. Dies ist eine erste allgemeine Formulierung der wahrheitstheoretischen Konzeption, deren Grundlagen in diesem Buch erarbeitet werden sollen. 35 Es dürfte leicht einleuchten, daß solche Formulierungen nur dann einen nicht-vagen, sondern bestimmten, verständlichen und erklärenden Sinn haben, wenn deren ontologische Implikationen bzw. Voraussetzungen nicht im Dunklen gelassen, sondern genau expliziert werden. Dies soll in den beiden nächsten Abschnitten geleistet werden. [3] Die dritte Strukturdimension des Satzes ist die pragmatische. Dazu soll hier nur wenig gesagt werden (im Abschnitt 4.3, im Zusammenhang der Frage nach dem Wahrheitsträger, soll darauf näher eingegangen werden). Ohne die zumindest implizite Voraussetzung einer pragmatischen Kompo-
34
35
Vgl. dazu Frege [1892] S. 48: „Jeder Behauptungssatz, in dem es auf die Bedeutung der Wörter ankommt, ist...als Eigenname aufzufassen, und zwar ist seine Bedeutung, falls sie vorhanden ist, entweder das Wahre oder das Falsche. Diese beiden Gegenstände usw." Vgl. Abschnitt 4.4.
3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition
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nente wäre der Satz ein zwar syntaktisch und semantisch strukturiertes, aber in einer fundamentalen Hinsicht völlig im Unbestimmten gelassenes Zeichengebilde. Die gemeinte Hinsicht kann so charakterisiert werden: Angesichts eines nur syntaktisch und semantisch bestimmten (strukturierten) Zeichengebildes drängen sich sofort Fragen der folgenden Art auf: Was kann oder soll damit geschehen? Was kann oder soll damit angefangen werden? Solche Fragen sind Anzeigen einer dem ausschließlich syntaktisch und semantisch strukturierten (bestimmten) Satz anhaftenden Unbestimmtheit. Es ist leicht zu zeigen, wie sie aufgehoben werden kann, dadurch nämlich, daß Antworten wie die folgenden gegeben werden: der Satz (als syntaktisch-semantisch strukturiertes Zeichengebilde) kann (soll) geäußert werden, und zwar indem er bejaht, angenommen, behauptet, angezweifelt, bewiesen, verteidigt usw. wird. M. a. W.: die Fragen werden unter Hinweis auf bestimmte Handlungen beantwortet, die in Verbindung mit den Sätzen qua syntaktisch-semantischen Zeichengebilden vollzogen werden. Bekanntlich werden solche Handlungen in der Gegenwart „illokutionäre Akte" genannt. Darüber gibt es eine ausgedehnte Literatur, auf die hier zunächst nur verwiesen werden kann. 36 Die Frage, wie das Verhältnis der drei genannten Ebenen zueinander zu bestimmen ist, ist eine weitreichende Frage. Es war unvermeidlich, daß in den obigen Ausführungen auch einige Aspekte dieses Verhältnisses angesprochen wurden. Im Mittelpunkt einer voll entwickelten Theorie über diesen Zusammenhang müßte vermutlich die These stehen, daß zwischen den drei Dimensionen/Ebenen strenge (sogar l-l-)Entsprechungen bestehen. Aber über diese Andeutung hinaus soll diese Thematik hier nicht verfolgt werden.
3.5 Gruncteüge einer Theorie der Proposition (des Verhalts) 3.5.1 Voraussetzungen und Leitprinzip Die kurze Darstellung der wichtigsten Propositionstheorien der Gegenwart im ANHANG 1 macht deutlich, wie schwer die Aufgabe ist, Klarheit über die mit diesem Begriff in welcher Weise auch immer anvisierte Thematik zu 36 1
Vgl. dazu bes. Searle/Vanderveken [1985]. Vgl. ANHANG, 6.2.3, 6.2.4 und 6.2.5.
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3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
schaffen. Aber die Aufgabe erscheint nicht unmöglich. Ausgehend von den bisher erzielten Ergebnissen sollen zunächst in diesem Abschnitt einige Voraussetzungen und ein Leitprinzip formuliert werden. [1] Der adäquate Ansatz zu einer Theorie der Proposition ist nicht die Annahme, daß Propositionen (die) Objekte von intentionalen oder eben „propositionalen" Einstellungen oder (primäre oder sekundäre) Wahrheitsträger sind. Die meisten Diskussionen über Propositionen gehen von einer dieser Annahmen, oft von beiden, aus und verwickeln sich dann in nicht mehr zu entwirrende Unklarheiten. Der hier gewählte Ansatz basiert auf der Einsicht, daß die Proposition ein wesentlicher Bestandteil der Theorie des Satzes ist, wobei gleich anzufügen ist, daß die Proposition eben nicht identisch ist mit der „Bedeutung" des Satzes (was immer das sein mag), wie besonders Quine bei seiner Ablehnung von Propositionen als selbstverständlich annimmt bzw. voraussetzt. 2 In ihrem primären Sinn betrifft die Proposition den Informationsgehalt oder den informationalen Wert des Satzes. Das hat zur unmittelbaren Konsequenz, daß über Propositionen grundsätzlich bzw. primär nicht im Rahmen einer Theorie über die sog. „propositionalen" Einstellungen und über die Wahrheitsträger entschieden werden kann. Propositionen sind Entitäten, denen ein ursprünglicherer und fundamentalerer Platz in einer Gesamttheorie einzuräumen ist. Probleme, die mit bestimmten Aspekten der sog. „propositionalen" Einstellungen gegeben sind, werden damit weder geleugnet noch unterdrückt; es soll nur gesagt werden, daß der primäre Ort für die Behandlung der Propositionsthematik der Satz und nicht das Phänomen der „propositionalen" Einstellungen oder die Ebene der Wahrheitsträger ist. [2] Die Proposition wird im Rahmen des im folgenden zu entwickelnden Ansatzes nicht mit einer Menge möglicher Welten bzw. mit einer Funktion von der Menge der möglichen Welten in die Wahrheitswerte „wahr" und „falsch" (bzw. {0, 1}) identifiziert. An dieser Stelle seien nur zwei Gründe erwähnt, die gegen eine solche Konzeption sprechen. (i) Die Identifizierung der Proposition mit einer Menge möglicher Welten ist kontraintuitiv. 3 Auch wenn dieser Gesichtspunkt nicht ohne weiteres als stichhaltiges Argument betrachtet werden kann, kommt ihm insofern ein 2 3
Vgl. ζ. B. Quine [1970] Kap. 1 u. ö.; vgl. aber S. 12. Vgl. dazu u. a. Bealer [1982] S. 46.
3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition
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großes Gewicht zu, als die Frage zu klären ist, ob die „Erklärung" eines bestimmten Ausdrucks bzw. Begriffs den Intuitionen, die mit der Verwendung des Ausdrucks bzw. Begriffs verbunden sind, überhaupt Rechnung tragen muß oder nicht. Es könnte geschehen, daß die vorgelegte „Erklärung" eines Ausdrucks/Begriffs mit diesen Intuitionen nichts zu tun hat; in diesem Fall hätte man einfach einen bestimmten Ausdruck auf der Basis einer rein stipulativen Definition eingeführt, womit das Problem nicht geklärt wäre, was der betreffende Ausdruck, so wie er sonst intuitiv verwendet wird, bedeutet, (ii) Ein zweiter Grund kann Stichhaltigkeit beanspruchen. Die Identifikation der Proposition/Proposition (im Sinne des informationalen Wertes des Satzes) mit einer Menge möglicher Welten bzw. einer Funktion über einer solchen Menge hat inakzeptable Konsequenzen. Scott Soames hat diese Beweisführung in mehreren Aufsätzen vorbildlich durchgeführt, weshalb hier darauf nicht weiter eingegangen wird. 4 Soames befürwortet einen „Russellschen" Begriff der Proposition (im Sinne der „singulären Proposition"). 5 [3] Aus der Ablehnung der Identifikation der Proposition/Proposition mit einer Menge möglicher Welten bzw. mit einer Funktion über einer solchen Menge darf nicht gefolgert werden, daß die von der Semantik der möglichen Welten eröffnete Perspektive und behandelte Thematik nicht zu berücksichtigen sind. Im Gegenteil: der durchzuführende Ansatz basiert auf der Uberzeugung, daß ein Propositionsbegriff, der der Problematik der möglichen Welten nicht Rechnung trägt, heute kaum noch verteidigbar ist. Aber „Rechnung tragen" ist nicht dasselbe wie „Gleichsetzung". Der semantischinformationale Wert des Satzes ist die Proposition als eine Entität sui generis, die auf eine Funktion oder Menge möglicher Welten nicht reduzierbar ist. Aber diese Entität hat eine bestimmte Funktion, die nur unter Einbeziehung der möglichen Welten bestimmbar ist. Um dies auszudrücken, wird folgende Terminologie eingeführt: die Proposition hat eine Intension (nicht aber ist sie mit der Intension zu identifizieren); diese Intension ist eine Funktion über der Menge der möglichen Welten und sie bestimmt die Extension der Proposition. Diese Zusammenhänge müssen sorgfältig herausgearbeitet werden.
4 5
Vgl. Soames [1985], [1987a], [1989], Vgl. ANHANG 6.2.4.
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3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
[4] Um die Proposition als Entität sui generis zu erklären, muß auf das Kontextprinyip gemäß seiner starken (molekularen) Version rekurriert werden. Das bedeutet hier zunächst, daß alle Konstituenten des Satzes streng (oder ursprünglich) propositional gedeutet werden müssen. Doch was heißt es, den singulären Term und das Prädikat streng propositional zu deuten? Es genügt nicht zu sagen, daß singulärer Term und Prädikat irgendwie zur Proposition beitragen. Auf diese Weise erhält man den Begriff der singulären Proposition, d. h. eines Komplexes, bestehend aus dem (realen) Objekt, auf welches der singuläre Term referiert, und dem durch das Prädikat bezeichneten Attribut. Es kann nun nicht gesagt werden, daß der singuläre Term und das Prädikat hier streng propositional begriffen werden; stellen sie doch selbst die Voraussetzungen für die Bildung der (singulären) Proposition dar. Soll der singuläre Term bzw. das Objekt, auf welches er referiert, streng propositional im hier intendierten Sinne erklärt werden, so heißt das, daß der semantisch-informationale Wert des singulären Terms selbst allererst durch einen Satz ausgedrückt wird: der singuläre Term selbst muß propositional aufgefaßt werden. Nun ist es offensichtlich, daß der singuläre Term, nimmt man ihn, wie er sich zunächst präsentiert, kein Satz ist und somit keine Proposition ausdrückt. Soll der singuläre Term dennoch streng propositional gedeutet werden, so muß er als singulärer Term eliminiert, d. h. umgedeutet, werden. Es sei hier an die Ausführungen über Quines Verfahren der Elimination der singulären Terme unten im Abschnitt 3.5.2.3 verwiesen. [5] Bekanntlich gibt es in der Philosophie Prinzipien, die man ontologische Leitprin^ipien nennen könnte. Sie artikulieren Kriterien, denen die Annahme von Entitäten zu genügen hat. Vielleicht sind in der Gegenwart keine ontologischen Leitprinzipien so bekannt geworden wie Quines berühmte Dicta: „No entity without identity" 6 und „To be is to be the value of a [bound] variable." 7 Im allgemeinen ist allerdings zu sagen, daß die Existenz und die Tragweite solcher Leitprinzipien bisher zu wenig erforscht wurden. Die meisten Leitprinzipien haben einen eher allgemein-methodologischen Charakter. Es ist aber nicht schwer einzusehen, daß die wichtigsten ontologischen Leitprinzipien einen fundamentaleren Charakter haben (sollten). Ab und zu wird ein solches Prinzip — fast durchgehend en passant — von dem einen oder anderen Philosophen formuliert. So findet man in einem Aufsatz von Η. N. Lee über die Ontotogie Quines folgende Aussage: 6 7
Vgl. dazu ζ. B. Quine [1969] S. 37 u. ö. Vgl. ζ. B. Quine [1966 a] S. 66 u. ö.
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„Only what is relatively stable and fundamental in the scheme of things should be called an entity." 8
Im folgenden soll ein Leitprinzip formuliert werden, das letzterer Kategorie zuzurechnen ist. Wollte man einen Slogan bilden, der den Stil der oben zitierten Quineschen Slogans imitiert, so könnte man für das anvisierte Leitprinzip die Formulierung vorschlagen: ,No entity without intelligibility.' Was ist damit gemeint? Gemeint ist mehr und anderes als die Trivialität, daß man Entitäten soz. nicht blind annehmen darf. Um den gemeinten Sachverhalt zu erfassen und zu artikulieren, muß weiter ausgeholt werden. Im übrigen ist das im folgenden zu erläuternde Leitprinzip als eine Konkretisierung des im Abschnitt 2.3 vorgeführten Prinzips der maximalen Intelligibilität zu verstehen. In der Tradition der Philosophie wurden in der hier interessierenden Perspektive vgvei Typen von Entitäten angenommen: (i) Entitäten, die — zumindest prinzipiell — direkt begrifflich erfaßt werden (können), also Entitäten, die gerade den Gehalt des begreifenden Denkens, also das, was das begreifende Denken erfaßt, ausmachen. Dazu gehören natürlich die „Begriffe" im objektiven Sinne. Dieser Ausdruck ist freilich außerordentlich dunkel. Hier kann man kurz sagen: „Begriffe" sind Eigenschaften und Relationen, also kurz: Attribute, und alle formalen Strukturen, (ii) In der Tradition der abendländischen Philosophie wurden die soeben genannten rein „deskriptiv-begrifflichen" Entitäten als „abstrakte Entitäten" im Sinne von „Universalien" angesehen, was zur Konsequenz hatte, daß man einen anderen, angeblich „fundamentaleren" Typus von Entität suchte und annahm: Es handelte sich um eine solche Entität, der man die Entitäten des ersten Typus, nämlich die Attribute, allererst „zuschreiben" konnte. Die Entität im Sinne des zweiten Typus ist die Substanz, das Substratum, das Hypokeimenon; es ist jene Entität, die allen Prädikationen, d. h. Zuschreibungen von Attributen, „zugrunde liegt". Aristoteles hat die berühmte Formel geprägt: ΤΙ ΚΑΤΑ ΤΙΝΟΣ, etwas 2 (wird) von etwasi (ausgesagt). Die Substratum-Entität, das Etwasi, entzieht sich auf eigenartige Weise dem begreifenden Denken: sie wird „erfaßt" nur, indem ein Etwas 2 ihr zu- oder abgesprochen wird. Als solche aber ist sie nicht das oder ein Etwas, was das Denken (direkt) erfaßt. Trotz ihres angeblich „metaphysikfreien" Ansatzes ist die moderne analytische Philosophie zutiefst von diesem Substra-
8
Lee [1986] S. 306.
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3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
tum-Denken geprägt. Die unbekümmerte und völlig ungeklärte Rede von „Objekten/Individuen" beweist es. Natürlich kann man in vielerlei Hinsicht weitere Typen von Entitäten unterscheiden, so besonders die folgenden: (iii) Zu nennen sind zuerst begrifflich abgeleitete begrifflich-deskriptive Entitäten und begrifflich abgeleitete oder auf andere Weise (etwa aufgrund von Postulaten, Glaubensüberzeugungen usw.) angenommene nicht-begrifflich-deskriptive Entitäten. Zur ersten Art gehört beispielsweise ein komplexes Attribut, das nicht unmittelbar oder direkt begrifflich erfaßt, sondern nur als Ergebnis eines begrifflichen Prozesses, eines Beweises, abgeleitet wird. Zur zweiten Art gehört jedes „Ding", jede „Substanz", das/die etwa nicht zum Bereich der „Erfahrung" (was immer das sein mag) gehört (wie ζ. B. Gott), aber aufgrund eines begrifflich-argumentativen Prozesses angenommen wird, (iv) Zu nennen sind ferner Entitäten, die weder begrifflich-deskriptiv (wie die Entitäten vom Typus (i)) sind und begrifflich-deskriptiv erfaßt werden (können) noch „Substratum"-Charakter haben (wie die Entitäten vom Typus (ii)), sondern die nur im Sinnenbereich „existieren", wie die sog. sekundären Qualitäten, die Empfindungen, die Sinnesdaten usw. Um den Status dieser Entitäten zu klären, wäre eine immense Arbeit zu leisten. Hinsichtlich der Entitäten dieses Typus kann überall ein radikaler Kantianismus festgestellt werden, der um so tiefer wirkt, als er meistens ganz unbemerkt bleibt. Doch kann hier darauf nicht im einzelnen eingegangen werden, (v) Einen fünften Typus von Entitäten bilden die „Artefakte", die „praktischen" und die „ästhetischen" Entitäten, die ganz besonders schwierige Probleme aufwerfen. Sind sie als begrifflich direkt erfaßbar zu betrachten? Dies soll hier nicht entschieden werden. Hier soll vielmehr nur die Unterscheidung zwischen Typus (i) und Typus (ii) berücksichtigt werden, da es sich hier — zumindest zunächst — nur darum handelt, im theoretischen Bereich prinzipielle Klarheit zu schaffen. Die Konsequenzen des aufzustellenden Leitprinzips für die anderen Typen von Entitäten sind beträchtlich, doch sollen sie hier nicht explizit aufgezeigt werden. Jetzt kann das zunächst durch den Slogan ,No entity without intelligibility' angedeutete Prinzip der ontologischen Intelligibilität so formuliert werden: (POI)
Eine philosophische Theorie darf nur prinzipiell intelligible Entitäten annehmen, d. h. Entitäten, die einen unmittelbaren oder vermittelten begrifflichen Inhalt darstellen; alle anderen (die nicht-intelligiblen) Entitäten sind auf intelligible zu reduzieren.
Wie sich zeigen wird, gehören dieses Prinzip und das Kontextprinzip engstens zusammen; ja, es muß sogar gesagt werden, daß sie sich gegenseitig implizieren.
3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition
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Damit sind einige der wichtigsten Annahmen und ein Leitprinzip im Hinblick auf eine Theorie der Proposition genannt und erläutert worden. Jetzt muß die Theorie selbst skizziert werden. 3.5.2
Grundbestimmung der Proposition (des Verhalts)
3.5.2.1 Der Ansatz: „Attribut" als die grundlegende intelligible Entität „Attribut" 9 ist alles und jedes, was begriffen, verstanden, artikuliert usw. werden kann. „Attribut" ist somit die grundlegende intelligible Entität, das Intelligible selbst. Die sprachliche Form, als deren semantischer Wert es erscheint, ist das Prädikat. „Attribut" meint sowohl Eigenschaft (den informational-semantischen Wert des 1-stelligen Prädikats) als auch Relation (den informational-semantischen Wert des n-stelligen Prädikats). Ob man von „Attributen" unabhängig von (zumindest potentiellen) Prädikaten sprechen kann, ist eine Frage, die später zu stellen und zu klären ist. Attribute werden traditionell als „Universalien" verstanden. Damit ist gesagt, daß jeder Versuch, eine Theorie der Attribute zu entwickeln, sich mit dem „Universalienproblem" auseinandersetzen muß. Doch ist anzumerken, daß dieses berühmte Problem in Wahrheit nur der Name für eine ganze Reihe von (Einzel-)Problemen ist. Schon aus diesem Grunde erscheint es gerechtfertigt, nicht mit der Behandlung dieses Problems zu beginnen. Zunächst muß eine Theorie der Attribute zumindest skizziert werden; es könnte sich dann herausstellen, daß das sog. Universalienproblem sich von selbst erledigt. 10 Der Ansatz zu der im folgenden zu skizzierenden Theorie liegt in der Einsicht, daß es im Prinzip möglich ist, Attribute „als solche" durch mindestens drei sprachliche Formen zu repräsentieren, die allerdings nicht gleichrangig und damit gleichadäquat sind, sondern einen jeweils höheren Grad einer adäquaten Erfassung und Explikation der Attribute darstellen. (i) Man kann das Attribut — erstens — so begreifen, daß man es als den semantisch-informationalen Wert des vom Sat^ isoliert genommenen Prädikatausdrucks betrachtet. Attribute werden dann als der semantische Wert solcher 9
10
Etymologisch und historisch betrachtet, ist dieser Ausdruck nicht ganz geeignet, um das zu bezeichnen, was hier intendiert ist. Doch soll er dennoch verwendet werden, schon aus dem Grund, weil kein geeigneterer Ausdruck zur Verfügung steht. Vgl. dazu die Ausführungen über die Identitätsbedingungen für Propositionen am Anfang des Abschnitts 3.5.3.2.
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Ausdrücke wie .dreieckig', ,gerecht', .ableitbar' usw. verstanden. Das Attribut wird hier rein abstrakt (d. h. isoliert vom Satz) genommen. Es ist dann ganz natürlich, dem Attribut als dem semantisch-informationalen Wert des so betrachteten Prädikatausdrucks eine rein abstrakte sprachliche Form zu geben. Im allgemeinen bildet man dann aus dem Prädikatausdruck einen abstrakten Substantivausdruck, wie: ,Dreieckigkeit', .Gerechtigkeit', .Ableitbarkeit', .Vaterschaft', .Pferdheit' u. ä. Das so verstandene Attribut soll hier das abstrakt-unbestimmte Attribut oder die abstrakt-unbestimmte Form des Attributs genannt werden. Ist es sinnvoll, das Attribut „abstrakt", d. h. unter Nicht-Berücksichtigung seines Vorkommens in einem Satz, erklären zu wollen? Wie leicht einzusehen ist, widerspricht dies direkt dem Kontextprinzip. Daß das so erfaßte Attribut zbsttzkt-unbestimmt ist, besagt soviel wie: es steht soz. im luftleeren Raum. Aus dieser Verlegenheit haben manche Philosophen eine Tugend zu machen versucht, indem sie das abstrakt-unbestimmte Attribut hypostasiert und in eine Art platonischen Himmel projiziert haben. Unzählige Diskussionen zwischen Platonisten und Nominalisten wurden auf dieser Basis geführt. Es ist aber die Frage zu stellen, ob dieses Verständnis des Attributs adäquat ist. Es deutet sich schon hier an, daß das sog. Universalienproblem — zumindest in vielen seiner Formulierungen — aus falschen Voraussetzungen entspringt. (ii) Eine zweite Weise, den Prädikatausdruck zu verstehen, besteht darin, ihn mit der Kopula .ist' zu verbinden und ihm damit gemäß der sprachlichen Form ,ist F' (,ist dreieckig', .ist gerecht', ,ist ableitbar', ,ist (ein) Pferd' usw.) einen semantisch-informationalen Wert zuzuordnen. Es ist offensichtlich, daß der Satz hier zwar nicht explizit genannt, aber dennoch nicht ganz ignoriert wird: der Satz wird schon (so oder so) „anvisiert". Auf natürliche Weise werden dann auf dieser Basis Ausdrücke mit der Endung ,-sein' gebildet, um das so verstandene Attribut „als solches" zu bezeichnen: .Dreieckigsein', .Ableitbarsein', .Gerechtsein', .Vatersein' u. ä. Das so erfaßte Attribut könnte das abstrakt-halbbestimmte Attribut genannt werden. Es ist abstrakt, weil es immer noch unter nicht ausdrücklicher Beachtung des Satzes erfaßt bzw. artikuliert wird; aber es ist schon halbbestimmt, weil es die „Tendenz" zu voller Bestimmtheit in sich schließt. (iii) Eine dritte Form der sprachlichen Repräsentation des Prädikats berücksichtigt den Satz in einer Hinsicht, die hier programmatisch genannt werden soll. Prädikate werden nach dieser Form identifiziert mit Satz-Rahmen oder Satzformen der Gestalt: , (ist) dreieckig',, (ist) links von ...', , (ist) ableitbar (aus)...', kurz: , F' bzw. , F 2 ...' oder ,F
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( )' bzw. ,F 2 (...,...)' usw. Diese Repräsentation erlaubt es nicht mehr, für das Prädikat einen selbständigen Ausdruck zu bilden. Dieser Umstand ist sehr bezeichnend, denn er macht deutlich, daß das Prädikat hier nicht mehr isoliert vom Satz genommen wird. Dem so gedeuteten Prädikat wird ein semantisch-informationaler Wert zugeordnet, dem man das Epitheton programmatisch-bestimmt geben kann; das entsprechende Attribut wäre das programmatisch-bestimmte Attribut zu nennen. Es ist bestimmt, weil dank dem Kontextprinzip davon ausgegangen wird, daß semantische Bestimmtheit ausschließlich im Rahmen des Satzes gegeben ist; aber es ist nur programmatischbestimmt, weil noch völlig offen ist, wie die Leerstellen in dem Prädikatausdruck zu füllen sind. Dies ist nun die für die hier darzustellende Theorie die entscheidende Frage. In der logischen und sprachphilosophischen Literatur findet man oft das Prädikat als ,P(x)' repräsentiert. Natürlich ist das nicht falsch, nur muß darauf geachtet werden, was damit ausgesagt und impliziert wird. ,x' wird dabei als Individuenvariable verstanden und es wird oft gesagt, daß deren Rolle nur die eines Platzhalters sei, um die Funktion von ,P' anzuzeigen. Dies ist korrekt, nur wird damit schon vorausgesetzt, daß der Prädikatausdruck ,P' auf einen Ausdruck appliziert wird, dem ein voll konstituiertes Objekt/Individuum als Wert zugeordnet wird (oder, eher ontologisch gewendet, daß das Attribut P* auf das Objekt/Individuum ο zutrifft, das als Wert der Variablen ,x' genommen wird). Damit ist zwar eine Vollbestimmtheit des Prädikats und — in einer bestimmten Hinsicht — auch des Attributs gegeben, aber um den Preis, daß (der Begriff bzw. die Entität) Objekt/ Individuum völlig unanalysiert bzw. ungeklärt bleibt. Dasselbe ist zum Vorschlag zu sagen, den Lambda-Funktor für die Repräsentation des Prädikats bzw. des Attributs zu verwenden. Beispiele: ,(Xx)(Fx)' ( = die Eigenschaft ,(ein-)F-zu-sein'), ,(Xx)(Rx,x)' ( = die Eigenschaft ,in-der-R-Relation-zu-sich-selbst-zu-stehen'), ,(λχ)(λγ)[ (3z)(R(x,z) Λ R ' ( z , y ) ) ] ' (Beispiel: die Eigenschaft ,der-Vater-der-Mutter-von-zu-sein'). Es ist klar, daß auch hier Attribute nur im Hinblick auf schon so oder so als vollkonstituiert vorausgesetzte Objekte/Individuen bestimmt werden. Wird diese Voraussetzung nicht gemacht und statt dessen versucht, den singulären Term (bzw. die Individuenvariable) und das dadurch bezeichnete Objekt/Individuum streng vom Satz her, also prepositional, zu verstehen, so kann man in der Theorie des Satzes, in der Theorie des Attributs und in der Theorie der Proposition von der Gestalt , F' bzw. ,F( )' nicht gleich zu ,F(x)' im erläuterten Sinne übergehen. Eine fundamentale Etappe wäre hier übersprungen. Dies ist eine Feststellung, die als die vielleicht
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radikalste Kritik an den meisten logischen, semantischen und ontologischen Konzeptionen der Gegenwart anzusehen ist. Worin besteht aber diese fundamentale Etappe? 3.5.2.2 Propositionen (Verhalte) als bestimmte (realisierte) Attribute In den weiteren Ausführungen sollen die Ausdrücke proposition' und .Verhalt', die nach der getroffenen Festlegung als synonyme Ausdrücke verstanden werden, (weiterhin) nebeneinander verwendet werden. Manchmal wird allerdings der Kontext entscheiden, ob sich die Verwendung des einen oder des anderen Ausdrucks empfiehlt. In dem Maß aber, in dem die hier vertretene Theorie Gestalt annimmt, wird dem Ausdruck .Verhalt' der Vorzug gegeben. [1] Aus dem bisher Ausgeführten ergibt sich unmittelbar die wichtige Konsequenz: Wenn der Satz im Sinne der strengen Version des Kontextprinzips das primäre und zentrale Sprachgebilde und das Attribut die fundamentale (im Sinne von: ausschließliche) intelligible Entität ist, so ist ,x' in ,P(x)' als Individuenvariable allererst vom Satz, d. h. hier zunächst: von ,P', her, nicht hingegen unabhängig davon zu deuten; entsprechend: das Objekt/Individuum, das als Wert von ,x' genommen wird, darf nicht mehr unabhängig vom Attribut, das durch ,P( )' angezeigt wird, vorausgesetzt werden. ,P(x)' hat daher einen abgeleiteten, sekundären Charakter. Man muß eine Stufe zurückgehen und bei ,P( )' ansetzen. „Ansetzen" heißt aber nicht: dabei stehen bleiben. ,P( )' muß vielmehr bestimmt werden. Wie kann das erreicht werden, ohne daß man gleich die Bestimmtheitsgestalt ,P(x)' oder gar ,P(a)' (wobei ,a' ein Individuenparameter oder eine Individuenkonstante im gewöhnlichen, oben erläuterten Sinne ist) als die nächste Bestimmtheitsgestalt einführt? Wenn man alle genannten Restriktionen bzw. Aufgaben streng beachtet, so ergibt sich, daß dasjenige, was in der Formel ,P( )' in die Klammern eingesetzt ist (oder werden soll), also das, was gewöhnlich Instant oder Argument u. ä. genannt wird, zwar ein von ,P' verschiedenes Zeichen sein kann bzw. muß, daß sich aber die Interpretation (der Wert) dieses Zeichens von der Interpretation (dem Wert) von ,P* nicht in gleicher oder ähnlicher Weise unterscheidet wie sich ,P' und ,x' in ,P(x)' (hinsichtlich ihres jeweiligen Wertes bzw. ihrer jeweiligen Interpretation) unterscheiden. Die Frage: „Wodurch wird ,P' bestimmt?" ist eine zweideutige, ja irreführende Frage. Wie dies zu verstehen ist, soll im folgenden gezeigt werden.
3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition
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[2] Zunächst soll der zentrale Gedanke der hier zu vertretenden Konzeption möglichst intuitiv dargelegt werden. Daß ,P( )' bestimmt wird, heißt, daß Ρ „vorkommt", „stattfindet" o. ä.; damit ist ein Bereich impliziert, in dem dies geschieht. Da aber der Bereich intelligibel sein muß, da nur das Attribut intelligibel ist und da es viele Attribute gibt, muß der Bereich als vielfaltig durch „in ihm vorkommende" (ihn „ausmachende" oder ihn „darstellende") Attribute bestimmt konzipiert werden. Der Bereich ist bestimmt, indem Attribute in ihm „vorkommen" oder in ihm „realisiert" sind; umgekehrt sind die Attribute dadurch bestimmt, daß sie in einem Bereich vorkommen. Dies heißt aber nicht, daß sie „auf etwas zutreffen", so daß ein solches etwas vorausgesetzt werden müßte. Alles, was „im" Bereich „ist", „vorkommt", kurz: die ganze „Bestimmtheit" des Bereichs, ist ausschließlich durch die Attribute gegeben. Ungeachtet einer gewissen Gefahr eines sich leicht einstellenden Mißverständnisses kann man diesen Grundgedanken auch so darstellen, daß man einen Bereich D annimmt und ihn mit „Stellen" ausgestattet denkt. Diese „Stellen" (oder „Punkte") sind nur die Indizes oder Anzeigen für Bestimmtheiten. Wenn die Bestimmtheiten nur durch die Attribute gegeben sind, so heißt das, daß die Stellen durch Attribute „besetzt" sind. Hier ist nun große Vorsicht geboten, um nicht den Verführungen der Vorstellung zu erliegen: Wenn man sagt, daß ein Attribut dadurch bestimmt ist, daß es „in" einem Bereich D vorkommt, und daß es dadurch vorkommt, daß es eine „Stelle" des Bereichs D „besetzt", so darf das nicht so verstanden werden, als ob der Bereich D mit seinen „Stellen" schon irgendwie bestimmt vorläge, bevor diese Stellen durch Attribute „besetzt" werden. Die „Stelligkeit" des Bereichs D ist nur ein Repräsentationsmittel, um die vielgestaltige Bestimmtheit des Bereichs allein durch Attribute darzustellen. Zwischen „Attribut" und „Stelle(n)" gibt es keine Beziehung wie zwischen ,P' und ,x' oder ,a' in ,P(x)' bzw. ,P(a)'. Eher müßte man sagen: das Attribut ist als Stelle bestimmt; die Stelle ist eine solche nur als bestimmtes Attribut. Wenn also mit dem Ausdruck ,Stelle (Stelligkeit)' des Bereichs D ein gewisses Prius bezüglich des Attributs nahegelegt wird, so ist das nur durch die Darstellungstechnik bedingt und nur für die Darstellung bestimmt. Schon hier sei angedeutet, daß man in gewisser Hinsicht von einem Posterius hinsichtlich der Attribute sprechen kann. Wenn man nämlich, wie oben geschehen, den Bereich D als durch Attribute allein bestimmt konzipiert, so sollte dies nicht so verstanden werden, daß die Attribute sozusagen als eine (unendliche) Menge oder Reihe isolierter Bestimmtheiten oder Punkte „vorkommen"; im Gegenteil: zumindest im Hinblick auf (unsere) wirkliche
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Welt wird unten zu zeigen sein, daß sie allererst in, genauer als „Konfigurationen" bestimmt sind. Als eine ganz bestimmte (fundamentale) Form von Konfiguration wird sich das Individuum (im prägnanten Sinne dieses Wortes) herausstellen. Beachtet man streng alle Vorsichtsmaßnahmen hinsichtlich möglicher Mißverständnisse, so kann das bestimmte Attribut im erläuterten Sinne, also als in einem Bereich D „vorkommend", dadurch sprachlich artikuliert werden, daß man anstelle der Individuenvariablen (bzw. -parameter bzw. -konstanten) einfach „Stellen"- (oder Punkte-)Variablen (bzw. -Parameter bzw. -Konstanten) einführt. Im folgenden sollen für solche Stellen-Variablen die griechischen Kleinbuchstaben ,μ', ,ν', ,μχ\ ,Vi'..., für Stellenparameter ,μ', ,ν', ,μ,', ,ν,'..., und für Stellenkonstanten ,μ', ,ν', ,μ,*, ,v, £ ... verwendet werden. Es ergeben sich dann Satzformen bzw. Sätze wie: ,Ρ(μ)\ ,p n (v,,...V n )', ,Ρ(μ)', ,Ρ(μ)' usw. Dies bedeutet: diese Satzformen bzw. Sätze drücken ein bzw. das entsprechende(s) Attribut an einer bzw. der entsprechenden Stelle aus; ein/das Attribut „besetzt" eine/die Stelle; so und nur so ist ein/das Attribut bestimmt oder realisiert. Damit ist aber das bestimmte oder realisierte Attribut noch nicht angemessen erklärt. Daß das Attribut „an" einer oder genauer als eine Stelle „realisiert" oder „bestimmt" wird, setzt voraus, daß die Stelle zu einem Bereich D gehört. Dieser Gesichtspunkt muß noch herausgearbeitet werden. Der Bereich wird in der hier entwickelten Konzeption eine zentrale Rolle spielen, allerdings unter einer anderen Bezeichnung, nämlich ,Welt\ Im allgemeinen gehen die meisten, traditionell orientierten, Logiker, Semantiker und Ontologen davon aus, daß es eine Welt gibt, die sog. reale Welt, die Welt der existierenden Dinge. Die Semantik der möglichen Welten hat gezeigt, daß man hier viel differenzierter denken muß; es reicht nicht mehr aus, nur von der Welt zu sprechen; die Problematik einer Pluralität von Welten muß ernst genommen werden. Ein diesbezüglicher Klärungsversuch soll unten im Abschnitt 3.6.2 unternommen werden. Hier ist diese Möglichkeit im Hinblick auf die nähere Bestimmung des Begriffs der Proposition und ihrer adäquaten formalen Repräsentation zu berücksichtigen. Bestimmt oder realisiert ist ein Attribut nur dadurch, daß es zu einer Welt gehört. Damit ist eben der Rahmen angegeben, der es allerst ermöglicht, von Bestimmtheit oder Realisiertheit zu sprechen. Diesem fundamentalen Gesichtspunkt kann notational zunächst dadurch Rechnung getragen werden, daß Satzausdrücke wie ,Ρ(μ)' durch Bezug auf Welt(en) mit Hilfe von entsprechenden Welt-Variablen (,w', ,w,'...), Welt-Parametern (,w*', ,w,*'...) und Welt-Konstanten (,w + '...) näher bestimmt werden. Es ergeben sich
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dann Satzausdrücke wie ,Ρ(μ„.)', wodurch die Realisierbarkeit eines Attributs an einer Stelle in einer Welt w* ausgedrückt wird. Ein weiterer präzisierungsbedürftiger Punkt betrifft den genauen Status der Stellen (-variablen, -parameter, -konstanten). Syntaktisch gesehen haben sie in den oben eingeführten Ausdrücken den Status von (Quasi-)singulären Termen, während den Prädikatbuchstaben bzw. -variablen der Status von Prädikaten erster Stufe zuzuschreiben ist. Man könnte auch umgekehrt verfahren, und zwar in Analogie zu einem unten (Abschnitt 3.5.3.1) darzustellenden Vorschlag von Nusenoff (der seinerseits auf eine Aussage Freges zurückgreift), demzufolge die einem partikular-quantifizierten positiven Satz entsprechende Proposition als ein geordnetes Paar bestehend aus dem Prädikat und der Verneinung (dem Komplement) der Nullzahl repräsentiert werden kann. Nusenoff deutet die Nullzahl als ein Prädikat zweiter Stufe und das „normale" Prädikat als ein Prädikat erster Stufe. In der hier entwickelten Konzeption entspricht dem Begriff der Nullzahl der Begriff der Stelle(nzahl). Da nun den Stellen variablen eine ganz besondere Deutung gegeben und da im allgemeinen eine ganz andere Semantik (und Ontologie) als die übliche Interpretationssemantik (und Objektontologie) vertreten wird, ist es für die hier entwickelte Auffassung nicht von entscheidender Bedeutung, ob man die „Stellenausdrücke" als Prädikate erster oder zweiter Ordnung betrachtet, obzwar die Perspektiven nicht identisch sind, was in bestimmten Zusammenhängen doch von Bedeutung sein kann. In einer bestimmten Hinsicht erweist sich die zweite Perspektive, dergemäß die Stellenausdrücke als Prädikate zweiter Stufe verstanden werden, als adäquater; sie stellt nämlich den Gesichtspunkt der Welt in den Vordergrund, so daß dann ein realisiertes/bestimmtes Attribut gedeutet werden kann als ein Attribut mit der Qualifikation (Prädikat zweiter Stufe!), daß es an-einer(oder: als-eine-)Stelle-in-einer-Welt-realisiert ist. Wie leicht zu sehen ist, hängt die Klärung dieser Frage mit der Klärung des Begriffs der Welt engstens zusammen. Betrachtet man die Stellenausdrücke als Prädikate zweiter Stufe, so erhalten die Satzgebilde, durch die realisierte Attribute artikuliert werden, folgende Gestalt: ,μ„,·(Ρ)', ,μ„+(Ρ)' u. ä. Der semantisch-informationale Wert von Satzausdrücken der genannten Art sind Entitäten, die man „Propositionen"/„Verhalte", näherhin primäre (einfache) „Propositionen"/„Verhalte" nennen kann. Dabei ist natürlich zwischen „Satzform", d. h. Satzausdrücken mit freien Variablen, und (geschlossenen) Sätzen, d. h. Satzausdrücken ohne freie Variablen, zu unterscheiden.
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3 Logische, sprachphilosophische, kognitive und ontologische Grundlagen
3.5.2.3 Primäre und sekundäre, allgemein bestimmte und vollbestimmte Propositionen/Verhalte und Sätze [1] Es hat sich herausgestellt, daß die adäquate Form der Darstellung des bestimmten oder realisierten Attributs Ausdrücke der soeben genannten Form sind. Diese Ausdrücke sind mehr als Prädikatausdrücke, sie haben eindeutig Satzcharakter. Man kann diesen Sachverhalt auch so erklären, daß man sagt: die adäquate oder bestimmte Fassung des Prädikatausdrucks ist der Satzausdruck. Dies ist einerseits eine direkte Konsequenz des Kontextprinzips, andererseits eine beachtenswerte Bestätigung der Tragweite dieses Prinzips. Es hat sich auch gezeigt, daß es einen grundlegenden Unterschied zwischen Satzausdrücken der Form ,P(/iw.)' oder ,Ρ(μ„.)' u. ä. und Satzausdrücken der Gestalt ,P(x)' oder ,P(a)' u. ä. gibt und worin dieser Unterschied besteht. Satzausdrücke der ersten Form sollen kurz primäre Sät^e (wenn die Variablen frei sind: primäre Satzformen), Satzausdrücke der zweiten Form sekundäre Sät^e (bzw. sekundäre Satzformen) genannt werden. Der semantisch-informationale Wert der primären Sätze ist die primäre Proposition, der semantisch-informationale Wert der sekundären Sätze ist die sekundäre Proposition. Primäre Sätze drücken eine Proposition aus, die (noch) kein als schon vollkonstituiert vorausgesetztes Objekt oder Individuum als Komponente enthält. M. a. W.: sie drücken nicht jene Art von Proposition aus, die darin besteht, daß auf ein X (Objekt) ein Attribut zutrifft; vielmehr ist die Proposition, die sie ausdrücken, einfach ein bestimmtes oder realisiertes Attribut. In welche Konfigurationen eine solche primäre Proposition (Verhalt) eingeht, ist eine weitere Frage. Vollkonstituierte Objekte/Individuen sind solche Konfigurationen von primären Propositionen (Verhalten) (vgl. unten 3.5.4.2). [2] Zu fragen ist an dieser Stelle, ob es solche primären Sätze in der natürlichen Sprache überhaupt gibt. Darauf ist eine doppelte Antwort zu geben. Erstens: es gibt Sätze, die Quine von einer behavioristischen Perspektive aus „Gelegenheitssätze (occasion sentences)"11 nennt und die den primären Sätzen im erläuterten Sinne zumindest sehr nahe kommen oder sogar, wenn man sie richtig deutet, als Beispiele für primäre Sätze aufgefaßt werden können. Es sind Sätze wie: ,Es regnet', ,es ist windig', ,es ist Milch', ,es weihnachtet (gar sehr)', aber auch ,Mama' u. ä. Zweitens: eine theoretisch geläuterte und orientierte Sprache ist nicht einfach die gesprochene Sprache 11
Vgl. ζ. B. Quine [1981 a] Kap. 1.
3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition
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(vgl. dazu die Abschnitte 2.1.4 und 2.2). Es ist daher nicht verboten, Ausdrucksweisen zu konstruieren, die sonst als unüblich angesehen werden. Vor diesem Hintergrund läßt sich jetzt die aufgeworfene Frage so umformulieren: Wie sind primäre Sätze der oben angegebenen formalisierten Art zu lesen? Es gibt im Deutschen dafür einen ausgezeichneten Ausdruck, nämlich ,es verhält sich (so und so)'. Setzt man an die Stelle der Klammer Pünktchen und füllt man sie mit einem Attributausdruck, so hat man eine nicht-formalisierte, sondern „umgangssprachliche" Ausdrucksweise bzw. Lesart für die formalisierten primären Satzausdrücke. Also: ,es-verhält-sich...(etwa: Ρ)', ζ. B.: ,es-verhält-sich-blau*. Hier ist kein Subjekt vorhanden, dem ein Attribut zugeschrieben oder auf welches es zutreffen würde. ,Es' ist ein rein grammatikalisches Hilfswort, ohne jede semantische oder ontologische Bedeutung. Von hier aus gesehen dürfte auch einleuchten, daß die Wahl des partiellen Neologismus ,Verhalt' gut begründet ist. 12 [3] Zur weiteren Verdeutlichung dieses ganzen Zusammenhangs ist es aufschlußreich, auf Quines Verfahren der Elimination singulärer Terme und auf einige von ihm vorgeschlagene (und teilweise abgelehnte) Paraphrasierungen bestimmter Sätze einzugehen.
12
Eine bis zu einem gewissen Punkt ähnliche Konzeption vertritt Levinson [1978]. Er versteht Eigenschaften (Attribute) als „being-a-certain-way" or „being such and such", was in die Paraphrasierung „being such that it " übersetzt werden kann (vgl. a. a. O. S. 1, 6. Vgl. auch Levinson [1974]). Eine gewisse Ähnlichkeit besteht auch zu einem von Bell [1986] vorgelegten Entwurf einer „propositional logic as a logic of attributes". Bell schreibt: „Let us think of attributes or qualities like .blackness', .hardness', .having positive charge', etc. as being possessed bji or manifested over parts of a space (sometimes called a manifold or field). [...] Each attribute is correlated with a proposition (more precisely, a propositional function) of the form: , has the attribute in question.' [...] Attributes may be combined by means of the logical operators Λ (and), ν (or), —ι (not) to form compound or molecular attributes. The term .attribute' will accordingly be extended to include compound attributes as well as primitive ones. It follows that (symbols for) attributes may be regarded as the formulas of a propositional language L — the language of attributes — and we shall use the terms .attribute' and .formula' synonymously" (a. a. O. S. 86). Was bei Bell „parts of a space" genannt werden, dürfte grundsätzlich dem entsprechen, was in der in diesem Buch entwickelten Konzeption „(die) Stelle" ( , an der, oder genauer: als die, ein Attribut realisiert ist) genannt wird. Aber wie vor allem der letzte Satz des Zitats zeigt, scheint Bell nicht genug zwischen Sätzen (Formeln) und den durch sie ausgedrückten „attributes as being possessed by or manifested over parts of a space" zu unterscheiden.
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In gewisser Hinsicht — und dies kann überraschend klingen — ist die Entwicklung der starken molekularen Version des Kontextprinzips die konsequente Durchführung des von Quine eingeführten Verfahrens der Elimination singulärer Terme. Quine ist aber auf halbem Wege stehen geblieben, wie kurz zu zeigen ist. Um besonders das Problem der nicht-referentiellen singulären Terme zu lösen, schlägt er vor, die Referentialität ganz auf die Ebene der quantifizierten Sätze zu verlagern. Aufgrund einer Reihe logischer Transformationen zeigt er, daß ,...a...' mit ,(3x)(x = a) und ...x...' äquivalent ist. Der singuläre Term wird (weg)erklärt, indem er als, = a' verstanden wird. Nun ist , = a', als ein Ganzes genommen, ein Prädikat oder ein allgemeiner Term; , = a' ist jetzt das Prädikat in der Prädikationsform ,x = a', d. h. das ,F' von ,Fx'. So ist beispielsweise der Satz ,Sokrates ist weise' folgendermaßen zu deuten: ,(3x)(x = Sokrates und χ ist weise)'. Da , = Sokrates' Prädikat oder allgemeiner Term ist (,Socratizes', wie Quine sich ausdrückt), ist der singuläre Term eliminiert. 13 Dieses ingeniöse Verfahren kann als das Lostreten einer Lawine angesehen werden. Allerdings scheint Quine dies nicht gesehen zu haben, da sich bei ihm sonst kaum etwas ändert. Die Objekte bleiben das, was sie waren, als man die singulären Terme noch nicht eliminiert hatte: unanalysierte Grundbegriffe bzw. unstrukturierte primitive Entitäten, und die Welt wird weiterhin als die Totalität der Objekte vorausgesetzt — wie eh und je. 14 In einer wichtigen Anmerkung weist Quine darauf hin, daß der Ausdruck .Werte der Variablen' nicht bedeutet „singuläre Terme, die für die Variablen substituierbar sind", und fährt fort: „Durch verfehlte kritische Bemerkungen wird man immer wieder daran erinnert, daß es Leute gibt, die meinen, der mathematische Ausdruck .Werte 13 14
Vgl. Quine [1960] § 37. Diese Kritik muß in einer wichtigen Hinsicht präzisiert, ja sogar eingeschränkt werden. Die Objekte/Individuen werden von Quine als unstrukturierte, ursprüngliche Entitäten aufgefaßt, insofern er die prädikatenlogische Sprache gemäß der Standardsemantik (vgl. dazu Abschnitt 3.2.1.2) als „the adopted form, for better or worse, of scientific theory" (Quine [1985], S. 170) annimmt und benutzt. Es ist nicht einzusehen, wie er es in diesem Rahmen vermeiden könnte, den Begriff des Objekts/Individuums anders denn als unanalysierten (oder sogar unanalysierbaren) Begriff zu nehmen. Uberraschenderweise analysiert er aber doch den Begriff des Objekts/Individuums, und zwar besonders im ersten Kapitel von Quine [1981 a], indem er eine Reihe von beachtenswerten ontologischen Reduktionen vorschlägt. Die Frage ist allerdings, wie diese reduktionistischen Analysen mit der Absolutstellung der im Sinne der Standardsemantik verstandenen Prädikatenlogik in Einklang gebracht werden können.
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der Variablen' bedeute .singulare Termini, die sich für Variablen einsetzen lassen'. Als Wert der Variablen aber gilt vielmehr der durch einen solchen Terminus bezeichnete Gegenstand und die Gegenstände bleiben auch dann als Werte der Variablen bestehen, wenn die singulären Termini zum Verschwinden gebracht werden." 15
Quine dreht sich hier im Kreise, wie seine Formulierungen zeigen: um den Wert der (Individuen-) Variablen zu bestimmen, rekurriert er explizit auf den singulären Term; aber das Ziel war (ist) doch, den singulären Term zu eliminieren, und Quine erreichte dieses Ziel gerade durch die Einführung der gebundenen Variablen plus dem zum Prädikat gewordenen ,= a'. Es hegt hier zweifellos ein ungelöstes Grundproblem vor. Es bleibt nämlich bei Quine weiterhin bestehen, daß im Rahmen eines quantifizierten Satzes eine gebundene Individuenvariable erscheint, der ein Objekt/Individuum als Wert zugeordnet wird. Aber dieses Objekt/Individuum hat jetzt einen sonderbaren, ja mysteriösen Status: Es ist so etwas wie ein Substratum, dem der eliminierte, d. h. der zum allgemeinen Term (Prädikat) avancierte singuläre Term zugeschrieben wird. Quine gibt sich mit seinem Verfahren und dessen Ergebnis anscheinend aus dem Grunde zufrieden, weil das ihn dazu motivierende Problem, nämlich die Nicht-Referentialität einiger singulärer Terme, dadurch gelöst wird. Immerhin hat er ein Verfahren eingeführt, das als die Spitze eines Eisberges betrachtet werden kann. Nach Quine16 kann der Beobachtungssatz (1)
A white cat is facing a dog and bristling
auf zweifache Weise paraphrasiert werden, nämlich: (2)
It's catting whitely, bristlingy, and dogwardly
und (3)
3x (x is a cat and χ is white and χ is bristling and χ is dogward).
Quine zufolge wird die referentielle Funktion von (1) durch (2) maskiert, während (3) sie mit Hilfe der kanonischen Notation (d. h. nach Quine: der Quantorenlogik erster Stufe mit Identität) voll zur Geltung bringt. Ein Satz der Form (2) ist nach Quine ein reiner „Gelegenheitssatz", dem er eine Bedeutung nur in einer behavioristisch orientierten Theorie der Bedeutung und des Erlernens von Sprache beimißt, wobei das Ziel das Erreichen der vollen Referenz mittels der Einführung singulärer Terme und der Bildung 15 16
Quine [1960] § 40 Anm. 1 S. 333. Vgl. Quine [1985], S. 169 ff.
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quantifizierter Sätze ist. Es ist offenkundig, daß Quine die Voraussetzung macht, die Welt bestehe aus Objekten als den ursprünglichen Entitäten. Auf der Basis dieser Annahme ist sein Verfahren konsequent. Stellt man aber diese Annahme in Frage, indem man, wie in diesem Buch, den semantischen Primat des Satzes im strengen Sinne (d. h. gemäß der starken Version des Kontextprinzips) vertritt, so erscheint (2) als die konsequente und angemessene Paraphrasierung von (1). Dem Term ,a cat' wird dann nicht ein direkter Referent im voraus und unabhängig vom semantischen Wert eines Satzes zugeordnet (wie im Falle von (3)), sondern der Term selbst wird propositional gedeutet: ,it's catting', wobei vorauszusetzen ist, daß dieser Satz ,It's catting' als Paraphrasierung von ,a cat' eine sehr komplexe Proposition ausdrückt. Quines Behauptung, (2) „maskiere" die referentielle Funktion von (1), hat nur dann einen Sinn, wenn bei der Deutung von (1) das Kontextprinzip unbeachtet gelassen und statt dessen das Kompositionalitätsprinzip als Maßstab herangezogen wird. Wird diese Voraussetzung fallen gelassen, so erweist sich die Rede von einer „Maskierung" der referentiellen Funktion von (1) als gegenstandslos. Denn dann zeigt sich, daß die Paraphrasierung (2) es ist, die die eigentliche semantisch-ontologische Relevanz von (1) explizit macht. Insofern ist (2) ein ausgezeichnetes Beispiel für jenes Paraphrasierungsverfahren, dem die Sätze der Umgangssprache zu unterziehen sind, wenn die starke Version des Kontextprinzips radikal und konsequent zur Geltung gebracht wird. Quines dargelegte Verfahren haben große — von ihm selbst nicht beabsichtigte, ja vermutlich nicht einmal geahnte — Konsequenzen. Dennoch gibt er sich damit nicht zufrieden; er geht einen Schritt weiter, indem er ein Verfahren einführt, um die (Individuen-) Variablen selbst eliminieren. Daß Quine auch die Variablen eliminiert, heißt, daß er sie „wegerklärt", und zwar indem er Prädikatfunktoren einführt: „And now our new reduction dispenses even with the variables. There cease to be singular terms at all; there remain only the predicates themselves and our six fixed operators upon them." 17
Um zu erläutern, was Quine damit meint und wie diese Prozedur funktioniert, sei einer der Operatoren, der „Derelativierungsoperator Der" („de-
17
„Variables Explained Away", in Quine [1966 b] S. 2 2 7 - 2 3 5 ; zit. St. 235. Vgl. auch seine Aufsätze: „Algebraic Logic and Predicate Functors", in Quine [1966 a] S. 2 8 3 - 3 0 7 ; „Predikate, Termini und Klassen", in Quine [1981 a] S. 1 9 9 - 2 0 8 .
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relativization operator Der") erklärt. Quine beschreibt diesen Operator wie folgt (dabei repräsentiert ,P' ein n-stelliges Prädikat): (Der) (Der P)x l ,...x„_ 1 genau dann, wenn es ein x n gibt, so daß Ρχ^.,.,χ,,.
Am einfachsten kann man den Operator ,Der' durch Beispiele erklären. Zunächst sei gezeigt, wie unter Anwendung des Operators ,Der' auf ein zweistelliges Prädikat ein einstelliges Prädikat erzeugt werden kann. Man nehme das Prädikat ,B' (für ,beißen'). Die Standardformalisierung des Ausdrucks ,x beißt etwas' erfolgt in zwei Schritten: erstens wird der prädikative Ausdruck ,Bxy' gebildet; zweitens wird das Existenzpräfix ,etwas ist derart, daß' auf ihn angewendet, wodurch der Ausdruck entsteht: r(3x)(3y)Bxy~\ Quine entwickelt ein anderes Verfahren, das in umgekehrter Reihenfolge abgewickelt wird: zuerst wird ein neues Prädikat, ein einstelliges Prädikat ,beißt etwas', gebildet; zweitens wird dieses Prädikat zusammen mit ,x' verwendet, um den prädikativen Ausdruck ,x beißt etwas' zu konstruieren. Um ein einstelliges Prädikat,beißt etwas' zu bilden, braucht man dann einen Operator, der auf das zweistellige Prädikat ,B' (,beißt') angewendet werden kann. Diesen Operator nennt Quine den ,Derelativierungsoperator Der': „Thus ,Der B' is the one-place predicate or intransitive verb of biting, or biting something, and the predication ,(Der B) x' means that χ bites something." 18
Da nun die Anwendung von ,Der' iteriert werden kann, ist auch der Ausdruck ,(Der B) x' ( = ,x beißt etwas') reduzierbar auf ,Der Der B' ( = ,etwas beißt etwas'). Die ursprüngliche Formel war: ,(3x)(3y)Bxy' (— ,ein χ ist derart, daß ein y derart ist, daß Bxy" 9 . Was passiert nun, wenn der Der-Operator auf ein einsteiliges Prädikat angewendet wird? Dies ist der Punkt, wo sich zeigt, wie wichtig Quines Verfahrenstechnik für den oben eingeführten Begriff der primären Proposition ist. Quine schreibt: „Let us now explain it [i. e. the derelativization] as applying similarly to a one-place predicate to produce a no-place predicate, or sentence, which simply affirms existence: ,Der D' means simply that there are dogs." 20
Quine verfährt und formuliert sehr elliptisch, wodurch er die ganze Tragweite des von ihm selbst erreichten Resultats unterinterpretiert. Wenn ein 18 19
20
A. a. O. S. 230. Diese Lesart entspricht Quines Deutung der Variablen und der Quantoren („Something χ is such that something y is such that Bxy" [a. a. Ο. S. 230]). A. a. Ο. S. 230 (Hervorhebung nicht im Original).
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nullstelliges Prädikat als ein Satz ausgegeben wird, reicht es nicht aus, einfach zu sagen, damit werde „Existenz behauptet". Existenz wovon? Quine bringt gleich ein „massives" Prädikat, nämlich ,Hunde', und weicht damit den Konsequenzen seines Verfahrens hinsichtlich anderer Prädikate bzw. Attribute aus. Kombiniert man Quines Verfahren der Elimination singulärer Terme mit seinem Verfahren der Paraphrasierung von Sätzen der Form (1) im Sinne von Sätzen der Form (2) sowie mit seinem Verfahren der Elimination der (Individuen-)Variablen und läßt man das objektontologische Dogma fallen, so dürfte sich eine einzige kohärente Konzeption ergeben: die Annahme primärer Propositionen/Verhalte. [4] Um ein mögliches Mißverständnis zu vermeiden, sei gleich folgende Klarstellung angefügt: Das, was hier sekundäre Proposition genannt wird, scheint identisch zu sein mit dem, was einige Autoren als singuläre Proposition bezeichnen.21 Diese Annahme wurde auch oben gemacht. Aber sie ist nur prima facie richtig; in Wirklichkeit implizieren beide Konzeptionen jeweils völlig verschiedene Prädikationstheorien, was hauptsächlich darauf zurückzuführen ist, daß die Vertreter der singulären Proposition von einem völlig unanalysierten Begriff des Objekts/Individuums ausgehen und auf dieser Basis die Prädikation als die Zuschreibung eines Attributs zu einem schon als konstituiert vorausgesetzten Individuum deuten. Gemäß der hier entwickelten Konzeption, wie noch zu zeigen sein wird, ist die sekundäre Proposition und, im Zusammenhang damit, das, was gewöhnlich Prädikation genannt wird, folgendermaßen zu erklären: Indem prädiziert wird, wird ausgesprochen, daß ein bestimmtes Attribut zu einer Konfiguration von Attributen gehört. Wie das formal dargestellt werden kann, wird weiter unten (Abschnitt 3.5.4.2) gezeigt. Ob man von Prädikation auch hinsichtlich der primären Sätze und Propositionen sprechen kann oder will, ist eine terminologische Angelegenheit. Man könnte entsprechend zwischen primärer und sekundärer Prädikation unterscheiden. Wichtig ist in jedem Fall, daß Prädikation hier völlig anders verstanden wird. [5] Primäre und sekundäre Propositionen und Sätze können allgemein bestimmt oder vollbestimmt sein. Diese wichtige Unterscheidung ergibt sich aus folgendem Sachverhalt: Es ist nicht ausgeschlossen, daß zumindest viele Attribute mehrere Stellen sowohl innerhalb ein und derselben Welt als auch 21
Vgl. A N H A N G 6.2.4.
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innerhalb mehrerer Welten „besetzen" können. Insofern Attribute nur im Hinblick auf diese Möglichkeit oder nur vor dem Hintergrund dieser Möglichkeit bestimmt sind, sind sie nur allgemein bestimmte primäre Propositionen: Sie sind realisiert in irgendeiner Welt w*. Sie befinden sich sozusagen in einem nur allgemein bestimmten logischen Raum. Die sie ausdrückenden Sätze sind ebenfalls nur allgemein bestimmte Sät^e. Die Vollbestimmung der Attribute wird dadurch erreicht, daß die Welt oder die Welten genau angegeben wird/ werden, „in" der/denen sie (eine) „Stelle(n)" „besetzen". Dann sind sie vollbestimmte primäre Propositionen und die ihnen entsprechenden Sätze sind vollbestimmte Sät^e. Entsprechendes gilt für die sekundären Propositionen und Sätze.
3.5.3 Zu einigen Problemen der Theorie der Proposition (des Verhalts) Aus vielerlei Gründen wirft die oben skizzierte Theorie der Proposition (des Verhalts) viele und verschiedenartige Probleme auf. Es dürfte klar sein, daß alle diese Probleme nur im Rahmen einer vollentwickelten Theorie gelöst werden können. Im vorliegenden Werk erscheint es angebracht, auf zwei Kategorien von Problemen einzugehen: die formale Repräsentation von Propositionen (Verhalten) und die Identitätskriterien für diese Entitäten. 3.5.3.1 Zur formalen Repräsentation von Propositionen (Verhalten) Die Theorie der Proposition kann um einen wichtigen Schritt vorangetrieben werden, wenn man der Frage nachgeht, wie Propositionen formal adäquat zu repräsentieren sind. In der Regel, wie es nicht anders sein kann, sind solche Repräsentationstechniken alles andere als reine Techniken, d. h. neutrale Darstellungsformen. Die Neutralität einer Darstellungsform oder -methode ist in der Philosophie grundsätzlich ein Mythos. In diesem Abschnitt werden zunächst einige (die wichtigsten und bekanntesten) Repräsentationsformen von Propositionen dargestellt und einige damit zusammenhängende Probleme erörtert. Sodann wird zwischen Satzund Propositionsvariablen unterschieden und der genaue Sinn dieser Unterscheidung aufgezeigt. Es sei daran erinnert, daß in diesem Abschnitt der Unterschied zwischen „Proposition" und „Proposition" genau zu beachten ist: Der fett gesetzte Ausdruck soll die hier vertretene Konzeption anzeigen.
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3.5.3.1.1 Einige Repräsentationsformen Es sollen insgesamt vier Repräsentationsformen dargelegt werden, von denen die ersten drei weit verbreitet und sehr bekannt sind. Die erste Repräsentationsform unterscheidet sich von den anderen insbesondere dadurch, daß sie — im Gegensatz zu diesen — die innere Strukturiertheit der Proposition nicht zum Ausdruck bringt. Einige Einzelheiten dieser Repräsentationsformen werden im A N H A N G geschildert. Verwiesen sei auch auf die Ausführungen über Quines Verfahren der Elimination singulärer Terme, der Wegerklärung der Individuenvariablen und der (in seinem Sinne) nicht-referentiellen Paraphrasierung von Sätzen oben im Abschnitt 3.5.2.3 [3]. [1] Die erste, scheinbar unproblematischste, Form besteht einfach in der Einführung einer speziellen Variablensorte für Propositionen. So versteht beispielsweise Ph. Bricker die Variablen ,p', ,q', ,r' und ,s' als Propositionsvariablen. Dieses Verfahren hat sicher den Vorteil der Einfachheit und Bequemlichkeit, aber es setzt voraus, daß Klarheit darüber besteht (bzw. bestehen muß), was es genau heißt, daß die angeführten Variablen „über Propositionen laufen" 22 . Man kann diesbezüglich auf einen Nachteil und auf ein fundamentales Problem hinweisen. Der Nachteil ist der rein globale und allgemeine Repräsentationsmodus: Propositionen werden in ihrer Strukturiertheit nicht erkennbar; freilich ist dies kein Einwand, da man für viele Zielsetzungen im Bereich der Logik, Semantik usw. eine möglichst kurze Repräsentationsform wählen muß. Aber dann müßte man die Variablen so verstehen, daß deren Wert die genau strukturierte Proposition ist; dies setzt allerdings wieder voraus, daß ein genauerer Repräsentationsmodus für die strukturierte Proposition verfügbar ist. Das Problem, das dieser Repräsentationsmodus aufwirft, betrifft den Status (und damit den Begriff) der Proposition selbst. Die Variablen ,p', ,q', ,r' und ,s' werden (von Bricker) so verwendet, daß sie als selbständige Zeichen (wie sonst die Satzvariablen oder -buchstaben) vorkommen, wie ζ. B. in der folgenden „Formel": Für alle ρ, ρ —• p. Aber wie kann das sein? Wenn Propositionen, wie allgemein angenommen wird, 23 sprachlich durch ,daß-Ausdrücke' artikuliert werden, dann werden den obigen Variablen Werte zugeordnet, die sprachlich durch ,daß-Ausdrücke' umschrieben wer-
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„The variables ,p', ,q', ,r', and ,s' range over propositions" (Bricker [1983] S. 12). Diese Annahme wird in der in diesem Buch vertretenen Konzeption nicht geteilt; sie steht nicht im Einklang mit dem Kontextprinzip.
3.5 Grundzüge einer Theorie der Proposition
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den, etwa: ,daß Schnee weiß ist...', also durch nominaliskrte Sätze. Unter der gemachten Voraussetzung wäre also eine Proposition durch ein Namenssymbol repräsentiert, das nicht den Stellenwert eines (selbständigen) Satzes hat und daher nicht wie ein Satz in einem aussagenlogischen Kontext auftreten kann. Es wäre jene Konfusion gegeben, auf die Quine hingewiesen hat: Man hätte ,p' verwendet sowohl an Stellen, wo Sätze, als auch an Stellen, wo Namen von Entitäten stehen sollen. 24 Propositionen als die Designata von ,daß-Ausdrücken' bzw. die sie repräsentierenden Zeichen können gar nicht als selbständige Entitäten bzw. Zeichen vorkommen; sie erfordern eine Ergänzung, etwa durch die Einführung von Prädikaten. Dieses Problem ist grundsätzlicher Natur, denn es betrifft das Verständnis und die Bestimmung der Proposition selbst. Solange die Proposition als unvollständig im angegebenen Sinne betrachtet wird, kann sie nicht durch Variablen repräsentiert werden, die selbständig (freistehend) vorkommen. Müssen aber Propositionen so aufgefaßt werden? Diese Auffassung erscheint dann zwingend, wenn man von einer bestimmten Analyse sprachlicher Ausdrücke ausgeht, nämlich derjenigen, die die Proposition der Nominalisierung sprachlicher Ausdrücke zuordnet. Aber diese Auffassung ist durch die Annahme der strengen Version des Kontextprinzips ausgeschlossen (vgl. unten Abschnitt 4.3.1). [2] Die zweite Repräsentationsform besteht darin, daß ein Satzgebilde in eckige Klammern ,[ ]' (oder Schrägstriche ,/ /') gesetzt wird, wodurch, wie einige Autoren meinen, ein „intensionales Abstraktum" 25 entsteht. Auf den ersten Blick ist diese Form besonders geeignet, die Konzeption zu repräsentieren, dergemäß die Proposition eine „satzartige Struktur" in dem Sinne hat, daß aus und an der Satzstruktur die Propositionsstruktur abgelesen werden kann. Indem aber der Satz nominalisiert, d. h indem aus einem Satz ein Name mit der syntaktischen Gestalt ,daß S' gemacht wird, geht dieser Vorteil wieder verloren. Auf diese Weise wird die Proposition als das Designatum eines Namens aufgefaßt; damit wird auch die These vom semantischen Primat des Satzes, zumindest gemäß der starken Version des Kontextprinzips, aufgegeben. 26 [3] Die dritte Repräsentationsform basiert auf der Verwendung mengentheoretischer Darstellungsmittel: Die Proposition wird als ein Tupel reprä24 25 26
Vgl. Quine [1970] S. 11. Vgl. ζ. B. Bealer [1982] S. 46 u. ö. Vgl. unten 4.3.1.
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sentiert und damit als eine mengentheoretische Entität verstanden. (Letztere Konsequenz ist jedenfalls dann zwingend, wenn man, wie in diesem Buch, die These vertritt, daß die Darstellungsform der dargestellten „Sache" nicht äußerlich ist.) Auch diese Form kann die Komponenten des Satzes genau wiedergeben, allerdings unter einem mengentheoretischen Vorzeichen. Der große Vorteil dieser Repräsentationsform ist ihre Klarheit; einer ihrer Nachteile besteht darin, daß man sich damit das Problem einhandelt, wie eine Ontologie mengentheoretischer Gebilde genau zu konzipieren bzw. ob eine solche Ontologie wirklich adäquat ist. Das oben hinsichtlich der ersten und der zweiten Repräsentationsform erörterte Problem der „Selbständigkeit" oder des selbständigen Charakters der Proposition und des sie repräsentierenden Zeichens kehrt auch hier wieder. [4] Nusenoff hat einen interessanten Vorschlag gemacht, wie man Propositionen repräsentieren kann. Seine Absicht ist es, nicht nur singuläre, sondern auch allgemeine Propositionen zu repräsentieren. Eine singuläre Proposition, die durch einen atomaren Subjekt-PrädikatSatz ausgedrückt wird, sollte nach Nusenoff als geordnetes Paar repräsentiert werden: (1)
Dem Satz ,Fa' entspricht die Proposition:
(2)
Dem Satz ,Gai,...,aI,' entspricht die Proposition:
a„X G ) . 2 7
Um die durch den Existenzsatz r(3x)Fx"1 ausgedrückte Proposition zu repräsentieren, rekurriert Nusenoff auf eine berühmte Einsicht, die Frege in den Grundlagen der Arithmetik folgendermaßen artikuliert: die Existenz [hat] Aehnlichkeit mit der Zahl. Es ist ja Bejahung der Existenz nichts Anderes als Verneinung der Nullzahl."28
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28
Nusenoff [1979] S. 506. Strenggenommen ist der Ausdruck ,', als Repräsentation der dem Satz ,Fa' entsprechenden Proposition, sinnlos, da die Repräsentation der durch diesen Satz ausgedrückten Proposition den Referenten bzw. das Designatum (d. h. den semantischen Wert) von a bzw. F kenntlich machen muß. Man sollte also etwa folgende Notation verwenden: