Grundgesetz und Europarecht als Elemente Europäischen Verfassungsrechts [1 ed.] 9783428488575, 9783428088577


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German Pages 284 Year 1996

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Grundgesetz und Europarecht als Elemente Europäischen Verfassungsrechts [1 ed.]
 9783428488575, 9783428088577

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ALEXANDER SCHMITT GLAESER

Grundgesetz und Europarecht als Elemente Europäischen Verfassungsrechts

Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von

Siegfried Magiera und Detlef Merten Band 30

Grundgesetz und Europarecht als Elemente Europäischen Verfassungsrechts

Von Alexander Schmitt Glaeser L L . M .

Duncker & Humblot * Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Schmitt Glaeser, Alexander: Grundgesetz und Europarecht als Elemente europäischen Verfassungsrechts / von Alexander Schmitt Glaeser. - Berlin : Duncker und Humblot, 1996 (Schriften zum europäischen Recht ; Bd. 30) Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 1995/96 ISBN 3-428-08857-3 NE: GT

D 188 Alle Rechte vorbehalten © 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 3-428-08857-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©

Für Barbara

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1995/96 vom Fachbereich Recht der Freien Universität Berlin als Promotion angenommen. An erster Stelle möchte ich meinem verehrten Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Randelzhofer, danken, dessen Anleitung und Vorbild mir gerade in den schwierigsten Phasen der Promotion Unterstützung gab. Vor allem bin ich ihm außerordentlich dankbar für die Freiheit und Zeit, die er mir für meine Arbeit an diesem Buch reichlich einräumte. Herrn Prof. Dr. Helmut Lecheler danke ich für die Zweitbegutachtung der Dissertation. Daneben danke ich auch meinen Kollegen am Lehrstuhl, dem wissenschaftlichen Mitarbeiter Herrn Dr. Oliver Dörr, LL.M. und dem Regierungsrat Herrn Carsten Hahn, deren vorbereitende Thesenpapiere und Diskussionsbeiträge für die Kommentierung des Art. 24 Abs. 1 GG im Grundgesetzkommentar Maunz/Dürig meine Überlegungen auf vielfältige Weise gefördert haben. Den Mitgliedern des Forums für Methodenfragen an der FU Berlin danke ich für mancherlei Ideen und Perspektiven, die sie mir innerhalb und außerhalb der Diskussionsveranstaltungen eröffnet haben. Besonders hervorheben möchte ich dabei Herrn Dr. Martin Nettesheim, dessen Verständnis der europäischen Ordnung mir immer wieder Anlaß gab, die eigene Konzeption zu überdenken. Auch außerhalb des Lehrstuhls wurde mir Unterstützung zuteil; vor allem durch Frau Dr. Barbara Gößwein und durch meine Freunde, den Richter am Verwaltungsgericht Herrn Dr. Günter Burmeister und den wissenschaftlichen Mitarbeiter Herrn Christoph Gößwein, die die Mühe auf sich nahmen, die Arbeit in Abschnitten und Entwürfen zu lesen und die mir immer wieder halfen, an das Thema neu heranzutreten. Ich habe mich bemüht, die Grundlagen, auf denen meine Ausführungen beruhen gewissenhaft aufzuzeigen. Aber das Beste, was man von anderen empfangen hat, läßt sich nicht in Fundstellen nachweisen. An erster Stelle möchte ich meinen Eltern für ihre Zuversicht, Geduld und Unterstützung danken. Mein Dank gilt Herrn Prof. Dr. Häberle für vielfältigen Rat und Herrn Prof. Dr. Rudolf Streinz, der mir vor allem in der Anfangsphase half, die Konzeption der Abhandlung zu entwickeln, und der mir auch in späteren Phasen oft mit wichtigen Hinweisen zur Seite stand. Last but not least geht mein Dank an Herrn Prof.

8

Vorwort

Michael Reisman, der mir während meiner Studien in Yale neue Perspektiven eröffnet hat. Ich gedenke Herrn Prof. Dr. Eberhard Grabitz, dessen Vorlesung ich kurz vor seinem Tod im Jahre 1992 noch besuchen durfte.

Berlin, 1. März 1996 Alexander Schmitt Glaeser

Inhaltsverzeichnis Einleitung

17

1. Teil Natur der Rechtsgrundlage der Europäischen Gemeinschaften und der Europäischen Union

23

A. Die Gemeinschaftsverträge als völkerrechtliche Vereinbarungen

23

B. Die Europäische Union als Staatenbund

25

I. Erste Weichenstellung

25

II. Historische Vorbilder

27

III. Die Durchgriffswirkung von Exekutivakten des Bundes

28

IV. Die Durchgriffswirkung von Verordnungen

30

V. Die Souveränität der Mitgliedstaaten

32

VI. Folgerungen für die Einordnung der Europäischen Union

39

1. Zum Austrittsrecht

41

2. Die Eigenfinanzierung

42

3. Zur praktischen Bedeutung des Gemeinschaftsrechts VII. Ergebnis

43 43

C. Das Recht der Gemeinschaften als „Verfassung"

48

I. Verfassungsprinzipien in den Verträgen

49

II. Problematik des Verfassungsbegriffs

50

2. Teil Die „Verfassung" der BR Deutschland als Mitglied der Europäischen Union

55

A. Erste Schlußfolgerungen aus der Natur der Rechtsgrundlagen der EU

55

B. Die Grenzen der „Übertragung" von Hoheitsrechten

58

I. Die Art. 23 Abs. 1 S. 2 und 24 Abs. 1 GG im Kontext der Gesamtverfassung 1. Die Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union

58 59

Inhaltsverzeichnis

10

a) Die Grenzen des Art. 24 Abs. 1 GG

59

b) Konsequenzen für die Auslegung des Art. 23 Abs. 1 S. 2 und 3 GG

69

2. Schlußfolgerungen für die „Grenzen des Art. 23 Abs. 1 GG"

72

a) Strukturelle Kongruenz

72

b) Skizzierung des zulässigen Abwägungsendzustandes

79

II. Zusammenfassung

86

C. Die Ausübung von Hoheitsrechten ultra vires

88

D. Die Ausübung von Hoheitsrechten innerhalb der Ermächtigung der Verträge

92

I. Die Kontrolle gemeinschaftlich nicht determinierter nationaler Durchführung

95

II. Die Kontrolle des gemeinschaftlichen Sekundäraktes

95

1. Die „neue" Hypothekentheorie

96

2. Eigener Ansatz

100

3. Maßstäbe

105

III. Die Verfassungsbindung der nationalen Vertreter im Rat E. Zusammenfassung

110 112

3. Teil Die Union als Gemeinschaft von Verfassungsstaaten

A. Problemstellung

117

117

B. Zur unmittelbaren Bindung des Gemeinschaftsrechts an die einzelne nationale Verfassung

121

C. Die Bedeutung nationaler Verfassungsprinzipien für die Begründung und Ermittlung allgemeiner Rechtsgrundsätze

125

I. Völkerrechtliche Grundlagen

126

II. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze in der Lehre

127

III. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze in der Rechtsprechung des EuGH

130

IV. Der Rang der allgemeinen Rechtsgrundsätze

137

1. Die Rangfrage in der Rechtsprechung des EuGH

137

2. Die Rangfrage in der Lehre

138

D. Schlußfolgerungen

139

Inhaltsverzeichnis

4. Teil Die „Verfaßtheit" der Europäischen Union

145

A. Vorüberlegungen zur Systembildung im Recht der Union

145

B. Der Grundsatz des mitgliedstaatsfreundlichen Verhaltens

149

C. Art. 164 EGV

151

D. Der normative Bezugsrahmen des europäischen Rechtskreises

152

I.Problemstellung

152

II. Monistische Elemente in der Rechtsprechung des EuGH

156

III. Die dualistische Grundlage des Gemeinschafisrechts

164

IV. Das System des Europäischen Gemeinschafisrechts

170

1. Die Notwendigkeit eines erweiterten Systems

170

2. Die Einbeziehung nationalen Verfassungsrechts in die europäische Gesamtrechtsordnung

172

3. Die Positivierung im Europäischen Unionsvertrag

180

E. Die Reoperations-Verfassung der Europäischen Union

184

F. Auswirkungen und Maßstäbe

190

I. Achtung und Rezeption - Zwei Stufen der Verfassungsbildung auf europäischer Ebene 191 1. Die AchtungsVerpflichtung

191

2. Die Möglichkeit rechtsfortbildender Rezeption

194

II. Die Rezeption von Verfassungsprinzipien 1. Rechtsstaat a) Übermaßverbot b) Gewaltenteilung 2. Grundrechte

195 196 196 197 199

a) Zur Entwicklung der Grundrechte in den Europäischen Gemeinschaften

199

b) Rezeption der Grundrechte

202

c) Achtung der Grundrechte III. Die Achtung mitgliedstaatlicher Verfassungsprinzipien 1. Demokratie a) Zu Möglichkeit und Grenzen einer Rezeption des demokratischen Prinzips b) Achtungsverpflichtung der Gemeinschaften aa) Competence d'Attribution und Demokratieprinzip bb) Die Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien.. 2. Föderalismus und Subsidiarität

206 207 207 209 219 219 222 224

Inhaltsverzeichnis

a) Föderalismus im Recht der Gemeinschaften

224

b) Bezüge des Subsidiaritätsprinzips zur AchtungsVerpflichtung der Union

226

aa) Subsidiarität als Rechtsprinzip

226

bb) Subsidiarität als Stärkung der Achtungsverpflichtung gegenüber dem Föderalismus

229 Zusammenfassung in Thesen

233

Summary

241

Literaturverzeichnis

249

Sachregister

279

Abkürzungen

a.A. Abg. ABl. Abs. AdV a.E. a.F. AG AJCL AHL Ani. Anm. AöR Art. Aufl. AWD BAnz. BayOblG BayVBl BB BBPS Bd. Bde. Bf. BFH BFHE BGBl. BGH BGHZ BK BR-Drs. BT-Drs. Buchst. BullEG BullEWG BVerfG BVerfGE BVerfGG BVerwG BVerwGE BYIL bzgl. bzw. CahDrEur CML Rev. ders. d.h. DÖV Drs.

anderer Ansicht Abgeordneter Amtsblatt Absatz Archiv des Völkerrechts am Ende alte Fassung Amtsgericht The American Journal of Comparative Law The American Journal of International Law Anlage Anmerkung Archiv des öffentlichen Rechts Artikel Auflage Außenwirtschaftsdienst des Betriebs-Beraters Bundesanzeiger Bayerisches Oberstes Landesgericht Bayerische Verwaltungsblätter Der Betriebs-Berater Beutler / Bieber / Pipkorn / Streil (s. Literaturverzeichnis) Band Bände Beschwerdeführer Bundesfinanzhof Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen Bonner Kommentar zum Grundgesetz Bundesrat-Drucksache Bundestag-Drucksache Buchstabe Bulletin der Europäischen Gemeinschaften Bulletin der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverfassungsgerichtsgesetz Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts The British Yearbook of International Law bezüglich beziehungsweise Cahiers de Droit Européen Common Market Law Review derselbe das heißt Die Öffentliche Verwaltung Drucksache

14 DVB1 E EA EAG EAGV ebd. EEA EG EGen EGKS EGKSV EMRK EP EPZ EuGH EuGRZ EuR EUV EuZW EVG EvStL EWG EWGV EWS f. FAZ ff. Fn. Fs FusV GA gem. GeschO GG Gs H. Halbbd. HdBVerfR HdWW h.M. Hrsg. hrsg. HStR i.d.F. i.d.S. IGH

Abkürzungen Deutsche Verwaltungsblätter Entscheidungen Band Europa-Archiv Europäische Atomgemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft ebenda Einheitliche Europäische Akte Europäische Gemeinschaft Europäische Gemeinschaften Europäische Gemeinschaft fur Kohle und Stahl Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl Europäische Menschenrechtskonvention (Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten) Europäisches Parlament Europäische politische Zusammenarbeit Europäischer Gerichtshof Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europarecht Vertrag zur Gründung einer Europäischen Union Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Europäische Verteidigungsgemeinschaft Herzog, Roman / Kunst, Hermann / Schiaich, Klaus / Schneemelcher, Wilhelm (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 3. Aufl. Stuttgart 1987 Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht folgende Frankfurter Allgemeine Zeitung fortfolgende Fußnote Festschrift Vertrag zur Einsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen Kommission der Europäischen Gemeinschaften vom 8. 4. 1965 (Fusionsvertrag) General anwalt gemäß Geschäftsordnung Grundgesetz Gedächtnisschrift Heft Halbband Benda, Ernst / Maihofer, Werner / Vogel, Hans-Jochen (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. Berlin / New York 1994 Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft, Stuttgart / New York / Tübingen / Göttingen / Zürich herrschende Meinung Herausgeber herausgegeben Isensee, Josef / Kirchhof, Paul (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts in der Fassung in diesem Sinne Internationaler Gerichtshof

Abkürzungen insbes. i.S. i.S.d. i.S.e. i.V.m. Jhg. JIR JuS JZ Kap. LIEI LS m. MdB MindN.F. m.N. m.w.N. m.z.N. NdsVBl NJW Nr. NVwZ NwVBl NZZ RabelsZ RdC Rdnr. Rdnrn. RIDC RIW RMC Rs. Rspr. RuP S. s. sog. StIGH st. Rspr. u.a. UAbs. UN Urt. V.

verb. Rs. Verf. VG vgl. vo VVDStRL VwGO Yale L.J. ZaöRV

insbesondere im Sinne im Sinne des / der im Sinne einer in Verbindung mit Jahrgang Jahrbuch für Internationales Recht Juristische Schulung Juristenzeitung Kapitel Legal Issues of European Integration, Law Review of the Europa Instituut, University of Amsterdam Leitsatz mit Mitglied des Bundestages Mind. A Quaterly Review of Psychology and Philosophy mit Nachweisen mit weiteren Nachweisen mit zahlreichen Nachweisen Niedersächsische Verwaltungsblätter Neue Juristische Wochenzeitschrift Nummer Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter Neue Züricher Zeitung Rabeis Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Recueil des Cours Randnummer Randnummern Revue International de Droit Comparé Recht der Internationalen Wirtschaft Revue de Marché Commun et de l'Union Européenne Rechtssache Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften Recht und Politik Seite siehe sogenannte Ständiger Internationaler Gerichtshof ständige Rechtsprechung und andere / unter anderem Unterabsatz Vereinte Nationen Urteil vom verbundene Rechtssachen Verfasser Verwaltungsgericht vergleiche Verordnung Veröffentlichungen der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer Verwaltungsgerichtsordnung The Yale Law Journal Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

16 z.B. ZB1 ZfschweizR ZHR zit. ZLR ZRP

Abkürzungen zum Beispiel Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht Zeitschrift für schweizerisches Recht Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht zitiert Zeitschrift für das gesamte Lebensmittelrecht Zeitschrift für Rechtspolitik

„Einem Volke eine, wenn auch ihrem Inhalte nach mehr oder weniger vernünftige Verfassung a priori geben zu wollen, - dieser Einfall übersähe gerade das Moment, durch welches sie mehr als ein Gedankending wäre. Jedes Volk hat deswegen die Verfassung, die ihm angemessen ist und für dasselbe gehört." Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 274 „Es ist doch süß, sich Staatsverfassungen auszudenken, die den Forderungen der Vernunft (vornehmlich in rechtlicher Hinsicht) entsprechen: aber vermessen, die vorzuschlagen." Immanuel Kant, Streit der Fakultäten, 2. Abschnitt (1798)

Einleitung Das europäische Recht ist - etwa 40 Jahre nach Abschluß der Römischen Verträge - zu einem wesentlichen Element auch der nationalen Rechtsordnungen geworden. So gesehen möchte man die Prognose Ernst Forsthoffs, die „eigentliche Fortentwicklung unserer Verfassungsordnung [werde sich] im Rahmen internationaler Zusammenschlüsse vollziehen" 1 , als bestätigt ansehen. Dies gilt vor allem dann, wenn man unter „unserer Verfassungsordnung" nicht nur die positive Verfassung im Sinne Carl Schmitts versteht. Versteht man darunter in einem weiteren Sinne die rechtliche Verfaßtheit der BR Deutschland, so hat sich in den letzten Jahrzehnten eine geradezu revolutionäre Veränderung vollzogen. Es gibt heute kaum noch einen Bereich staatlichen Lebens, auf den das europäische Recht nicht in der einen oder anderen Form und Intensität einwirkt. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften und der Europäischen Union 2 haben auf Kompetenzen verzichtet, die früher zum Kernbe-

1

Wehrbeitrag, S. 312, 333.

2 Wenn im folgenden von den Europäischen Gemeinschaften gesprochen wird, so sind damit die EAG, die EGKS und die EG gemeint. Die Europäische Union i.w.S. umfaßt sämtliche Organisationen im Rahmen der Gemeinschaftsverträge, die Europäische Union i.e. ist die alleine auf der Grundlage des EUV geschaffene Staatenverbindung. Zum Verhältnis von EU und EG eingehender Ch. König / M. Pechstein, Die Europäi-

2 Schmitt Glaeser

18

Einleitung

stand des souveränen Staates gerechnet worden wären. Die Verwirklichung des Gemeinwohls der Mitgliedstaaten ist zu einer Aufgabe auch der Europäischen Union geworden. Diese Entwicklung erschien lange Zeit als unaufhaltsam dynamisch. Der europäische Gesamtstaat wurde von vielen als notwendiger Endpunkt der Entwicklung gesehen3. Das Bild vom Fahrrad, das umfällt, wenn es stehenbleibt, ist Ausdruck dieser Einstellung. Dem entsprechend wurden auch schon Verfassungen eines europäischen Staates entworfen und diskutiert 4 . Daß die europäischen Verträge selbst eine Verfassung sind, wurde in der europarechtlichen Literatur oft als selbstverständlich vorausgesetzt. Es fehlte aber daneben auch nicht an Stimmen, die der europäischen Integration zurückhaltend gegenüberstehen. Man forderte ein Innehalten, ein Nachdenken über Sinn und Zweck und nicht zuletzt auch über die verfassungsrechtliche Möglichkeit weiterer Integrationsschritte. Die Ablehnung des Maastrichter Unionsvertrages in der ersten dänischen Volksabstimmung und die Widerstände in anderen Europäischen Staaten waren ein Fanal: den einen ein Zeichen wiedererstarkenden Nationalismus, den anderen ein Ausfluß der Fehlentwicklungen der Integration. Diese unterschiedliche Bewertung zeigte sich auch in der Reaktion auf das MaastrichtUrteil des BVerfG 5 , das von einigen Stimmen in der Literatur als Anachronismus kritisiert, von anderen als realistische Bestandsaufnahme begrüßt wurde. Eines erscheint angesichts der neuesten Entwicklung im Integrationsprozeß sicher: am Ende muß keineswegs die Entstehung eines europäischen Gesamtstaates stehen. Es wird zunehmend deutlich, daß die europäischen Staaten in absehbarer Zukunft als Einzelstaaten fortbestehen bleiben - die Frage nach der

sehe Union; A. v.Bogdandy / M. Nettesheim, NJW 1995, 2324 ff.; O. Dörr, NJW 1995, 3162 ff. 3 Manche sehen ihn unter dem EUV bereits als entstanden an, vgl. J. Wolf, JZ 1993, 594, 597 f. Zur Dynamik der europäischen Integration, s. auch G. F. Schuppert, Staatswissenschaften und Staatspraxis 5 (1994), 35 f. 4 Vgl. nur Walter Liegens (Hrsg.), 45 Jahre Ringen um die Europäische Verfassung, Dokumente 1939-1984, Bonn 1986; Werner Weidenfeld (Hrsg.), Wie Europa verfaßt sein soll - Materialien zur politischen Union, Gütersloh 1991. Th. Läufer, in: Gs Grabitz, 355 ff.; D. Grimm, Braucht Europa eine Verfassung? Siehe auch den Verfassungsentwurf des Europäischen Parlaments, Zweiter Bericht des Institutionellen Ausschusses über die Verfassung der Europäischen Union vom 9. Feb. 1994 (Berichterstatter: Fernand Herman), EP-Dok. A 3-6064/94, BT-Drs. 11/7074 v. 10. Mrz. 1994 und die Bewertung von M. Hilf, Integration 1994, 68 ff. und H. Lecheler, in: Gs Grabitz, 393 ff. 5

E 89, 155.

Einleitung

souveränen Einzelstaatlichkeit ist nachgerade zu einem Hauptthema der Integration geworden. Sinnfälliger Ausdruck dieser Einstellung sind die neu eingeführten Normierungen in Art. F Abs. 1 EUV und in Art. 3 b Abs. 2 EGV, die beide den Blick für den Mitgliedstaat und seine Bedeutung in der Union schärfen. Die zielorientierte Sicht der Europäische Union als unvollendeter Bundesstaat (Walter Hallstein) ist vor diesem Hintergrund als voreilig abzulehnen. Die Europäische Union ist nicht mehr und nicht weniger als eine (völkerrechtliche) Staatenverbindung hoher Intensität und es ist abzusehen, daß sie - zumindest mittelfristig - eine solche bleiben wird. Vor diesem Hintergrund stellt sich nicht nur politisch die Aufgabe, das Europäische Gemeinwesen zu stabilisieren. Und eine der größten Schwierigkeiten bereitet nach wie vor die Bestimmung des Verhältnisses von europäischem und nationalem Recht. Dieser „Dauerbrenner" der rechtswissenschaftlichen Diskussion soll das Thema auch der vorliegenden Arbeit sein. Während der EuGH - und in seiner Nachfolge die meisten europäischen Rechtsgelehrten - dem europäischen Recht einen uneingeschränkten (Anwendungs-) Vorrang vor dem nationalen Recht einräumen, halten das BVerfG - und in seiner Nachfolge die meisten deutschen Völker- und Verfassungsrechtler - an grundgesetzlichen Grenzen auch gegenüber europäischem Sekundärrecht fest. Von einer konsensfähigen Systembildung, die europäisches und nationales Recht „versöhnt", kann noch nicht die Rede sein. Dies liegt m.E. vor allem daran, daß die Anerkennung einer Relevanz nationalen Rechts auf europäischer Ebene von vielen als Angriff auf die Einheitlichkeit der Rechtsordnung vorschnell abgelehnt wird. Daß die europäische Rechtsordnung und die nationalen Rechtsordnungen nur in einem kooperativen Verhältnis der Verzahnung existieren können 6 , wird dabei nicht hinreichend in die Überlegungen mit eingestellt. In der vorliegenden Arbeit soll versucht werden, die Bedeutung des nationalen Verfassungsrechts in der Europäischen Union und die des europäischen Rechts in der BR Deutschland zu ergründen. Es stellt sich dabei vorrangig die Frage nach der Bewahrung und Verwirklichung des Grundgesetzes gegenüber der Union und nach der Rolle der im Grundgesetz niedergelegten Verfassungsgrundsätze im Recht der Gemeinschaften. Letztendlich wird es darum gehen, beide Herangehensweisen an diese Grundsätze in ein dogmatisches Konzept zu bringen, das die Entstehung von Konflikten in ihren Gründen aufschlüsselt und

6 So schon sehr früh P. Pescatore , EuR 1970, 307, 308; vgl. auch R. Streinz, HStR Bd. VII, § 182; P. Pescatore , in: Grundrechtsschutz, S. 64, 64 f.; M. Nettesheim, AöR 119 (1994), 261, 262; /. Pernice , in: Gs Grabitz, 523, 527 ff. G. F. Schuppert, Staatswissenschaften und Staatspraxis 5 (1994), 35, 58 m.N.

20

Einleitung

zu ihrer Vermeidung beitragen könnte. Dies ist m.E. die zentrale Aufgabe einer europäischen Verfassungsrechtswissenschaft, die die Verfaßtheit der Gemeinschaft europäischer Staaten beschreibt und weiterentwickelt 7. Daß der vorliegende Beitrag angesichts der großen Aufgabe nicht erschöpfend sein kann, liegt auf der Hand. Vor allem aber beleuchtet er in der Beschränkung auf das Verhältnis der deutschen Verfassungsordnung zur europäischen Verfassung auch nur einen Teilbereich dieser Disziplin 8 . Der erste Teil der Arbeit widmet sich der Natur der Rechtsgrundlagen der Europäischen Union im weiteren Sinne9. Damit sollen erste Maßstäbe für die Bestimmung des Verhältnisses von europäischem und nationalem Recht entwickelt werden. Unter A. wird zu zeigen sein, an welchem Punkt eine Bestimmung der Rechtsnatur zutreffenderweise ansetzen muß. Im folgenden (B.) geht es um die Einordnung der Europäischen Union in die Systematik der Staatenverbindungen. C. schließlich setzt sich mit der weitverbreiteten Charakterisierung der Gemeinschaftsverträge als „Verfassung" auseinander. Der zweite Teil behandelt das Verhältnis beider Rechtsordnungen aus der Sicht der BR Deutschland. Die Erörterungen nehmen ihren Ausgang (A.) in den Kernaussagen des Maastricht-Urteils des BVerfG zur Rechtsnatur der Europäischen Union. Unter B. werden Ausmaß und Grenzen der Maßstäblichkeit des Grundgesetzes für den Integrationsgesetzgeber erörtert. Anschließend soll gezeigt werden, welche Grenzen sich aus der Verfassung für Agenden der Europäischen Union im weiteren Sinne herleiten lassen. Dabei wird differenziert zwischen Agenden, die außerhalb der vertraglichen Ermächtigung ergehen (C.), und solchen, die sich in diesem Rahmen halten (D.).

7

H. Coing sieht darin die Neuentwicklung einer europäischen Rechtswissenschaft und die Chance der Herausbildung eines europäischen ius commune, in: Fs Hallstein, 116 ff. In dieselbe Richtung geht P. Häberle, JZ 1992, 1033 ff., der die Notwendigkeit betont, die Entstehung eines "gesamteuropäischen Verfassungsrechts" auch als Rezeption schon bestehender Verfassungsentwicklungen zu begreifen. Dies sei die Grundlage, um den Vorgang der Rezeption zu einer Theorie der Interaktion zwischen verschiedenen Rechtskreisen zu entwickeln. Unklar bleibt freilich, wo dabei die Grenze zwischen Recht und Politik verlaufen soll. 8 Das Unterbleiben der Berücksichtigung der Interdependenz zu anderen europäischen Verfassungsstaaten ist nach der Konzeption der Arbeit auch gerechtfertigt. Einen Überblick der nationalen Verfassungsrechtslagen gibt H. Henrichs, EuGRZ 1990, 413 ff. 9 Siehe zur Unterscheidung zwischen Europäischer Union im engeren und weiteren Sinne die Ausführungen in Fn. 2.

Einleitung

Im dritten Teil sollen Vorfragen zum Verhältnis des nationalen und des gemeinschaftlichen Rechts geklärt werden. Unter A. wird zunächst erörtert, warum eine unmittelbare Bindung des Gemeinschaftsrechts an die einzelne nationale Verfassung abzulehnen ist. Teil B. behandelt die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die unzweifelhaft Teil des Gemeinschaftsrechts sind und schon bisher, zumindest faktisch, viel zur Vermeidung von Konflikten beider Rechtsordnungen beigetragen haben. Der vierte Teil stellt Zuordnungsmodelle beider Rechtskreise vor (B., C.). Es wird darzulegen sein (D.), daß die bisherige Rechtsprechung des EuGH zum Verhältnis von Gemeinschaftsrecht und Landesrecht dogmatisch nicht schlüssig ist und der eigentlichen Problemlage nicht gerecht werden kann. Daran anschließend (E.) wird eine, das nationale Verfassungsrecht einbeziehende Dogmatik des europäischen Rechts entwickelt. Die Konsequenzen dieses Ansatzes werden unter F. skizziert.

/. Teil

Natur der Rechtsgrundlage der Europäischen Gemeinschaften und der Europäischen Union A. Die Gemeinschaftsverträge als völkerrechtliche Vereinbarungen Die Charakterisierung des europäischen Rechts als Völkerrecht ist strittig, wird aber von der wohl herrschenden Meinung bejaht1. Diese Feststellung hat fur sich betrachtet einen nur begrenzten Erkenntniswert. Das Völkerrecht ist heute ein sehr differenziertes und vielgestaltiges Rechtsgebiet, das in unterschiedlicher Intensität und Dichte das Verhältnis zwischen Staaten normiert. Überdies wirkt es zunehmend auch auf den innerstaatlichen Rechtsraum ein; die internationalen Menschenrechtskonventionen sind der deutlichste Ausdruck dieser Entwicklung. Man könnte nun einwenden, die Charakterisierung als Völkerrecht habe überhaupt keine Relevanz für das europäische Gemeinschaftsrecht; entscheidend seien alleine die konkreten Verträge. Dies ist indes - wie im folgenden (unter anderem) zu zeigen sein wird - schon eine Folge der Einordnung als Völkerrecht bzw. der Gründe, wirum das europäische Gemeinschaftsrecht weder als Staatsrecht noch als Tertium eingestuft werden kann. Überdies eröffnen sich in den zu entwickelnden Abgrenzungskriterien aussagekräftige Leitlinien, anhand derer man das Recht der Europäischen Union gerade auch im Bezug zum nationalen Verfassungsrecht besser verstehen und anhand derer man beide Rechtskreise in ein einheitliches System bringen kann. Es genügt nicht, zur Begründung der völkerrechtlichen Natur der gemeinschaftlichen Rechtsordnung auf die Eigenschaft der Gründungsverträge als Völkerrecht 2 zu verweisen 3. Entscheidend ist vielmehr, welche Qualität das aus ih1

Vgl. E. Klein, VVDStRL 50 (1991), 56, 59; Ch. Tomuschal, in: BK, Art. 24, Rdnrn. 48 und 99; H.F. Köck, Gesamtakt, S. 144; R. Streinz, Grundrechtsschutz, S. 125 ff.; R. Streinz, Europarecht, S. 33, Rdnr. 107 ff.; R. Scholz, NVwZ 1993, 817, 818, Ο. Dörr, NJW 1995, 3162 ff. und, wie im 2. Teil zu zeigen sein wird BVerfGE 89, 155; vgl. auch J. Kunz, Staatenverbindungen, S. 121; a.A. u.a. R. Böhm, Kompetenzauslegung, S. 15 ff.; vgl. auch noch BVerfGE 37, 271 [277]; nicht eindeutig 77z. Oppermann, S. 68. Zu einer anderen Einschätzung des Meinungsstandes kommt Κ Stern, Staatsrecht I, S. 540. 2 Das aus dem Text des Grundgesetzes hergeleitete Argument KP. Ipsens, die „Übertragung" durch Gesetz sei eben keine Gründung durch Vertrag (Europäisches

24

1. Teil: Natur der Rechtsgrundlagen der EG und der EU

nen erwachsene Recht hat. Besonders deutlich w i r d die Notwendigkeit dieser Trennung von Vertrag und dem auf seiner Grundlage entstehendem Recht bei Heinrich Triepel 4 . In seiner Nachfolge könnte man die Gemeinschaftsverträge als Vereinbarungen i.S. einer „Verschmelzung verschiedener inhaltlich gleicher W i l l e n " 5 charakterisieren. Diese „Verschmelzung" ist streng zu trennen von der „Erfüllung", dem „Gesamtakt" 6 . Triepel führt dazu aus: Wenn „mehrere oder alle Theilnehmer der Vereinbarung zu handeln berechtigt oder verpflichtet werden, so müssen ihre Handlungen gleichen Inhalts sein; aus der Vereinbarung entspringt Recht oder Pflicht zu gleicher oder gemeinsamer Handlung. Diese letztere ist das, was man neuerdings als Gesamtakt bezeichnet. Vereinbarung und Gesamtakt sind also nicht identische Begriffe; bedauerlicher Weise hat man das fast immer übersehen. Der Gesamtakt ist, wenn er zu einer Vereinbarung in Beziehung steht, deren Erfüllung

oder die Ausübung der aus ihr entstehenden Rechte."7

Daher sind die Vereinbarung und die Erfüllung zu trennen, vor allem aber ist der Inhalt des Gesamtaktes in diesem Sinne aus der Vereinbarung zu gewinnen. Der Gesamtakt empfängt seinen Gehalt also nicht aus dem „Inhalt und Wesen der Ordnung", die geschaffen wurde 8 , sondern aus der Vereinbarung, die er erfüllt. W e i l auch Staaten auf der Grundlage völkerrechtlicher Verträge gegründet werden können 9 , ist die Einordnung der Verträge als Völkerrecht noch kein

Gemeinschaftsrecht, S. 60) kann nicht überzeugen, weil das Gesetz, wie er selbst einräumt (ebd., S. 58), auch andere Funktionen hat oder zumindest haben kann. 3

So auch, cum grano salis, A. Riklin, S. 170 f.; G. Ress, Berichte, 7, 9.

4

Völkerrecht und Landesrecht.

5

Völkerrecht und Landesrecht, S. 50. Ob darin zugleich, im Gegensatz zum Vertrag, alleine die Grundlage für Völkerrecht gesehen werden kann, S. 57, ist nach wie vor sehr umstritten und im Ergebnis abzulehnen. Die englische Lehre wählt die Bezeichnung als lawmaking treaties im Gegensatz zu contractual treaties, vgl. A. McNair , 11 BYIL 1930, 100 ff. Die Charakterisierung als Vereinbarung soll hier alleine dem Verständnis des Gesamtaktes dienen. 6

Unklar in diesem Zusammenhang: U. Everting,

7

Völkerrecht und Landesrecht, S. 59.

in: Fs Mosler, S. 173, 175 f.

8 (Was wohl eher bedeutet: die geschaffen hätte werden sollen) H.P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 60 ff.; ähnlich U. Everting , in: Fs Mosler, S. 173, 175 f.; wie hier: H.F. Köck, Gesamtakt, S. 46. 9

So z.B. das Deutsche Reich 1870/71 oder das Königreich Jugoslawien 1918. Dabei ist freilich immer zu bedenken, daß der völkerrechtliche Vertrag den Staat nur gründet. Ob er auch zur Entstehung gelang, hängt sicher von weiteren, nicht-rechtlichen Umstän-

Β. Die Europäische Union als Staatenbund

25

Präjudiz für den Rechtscharakter der Union 1 0 . Entscheidend ist vielmehr, ob die Gründungs- oder Änderungsverträge der Union zu einer völkerrechtlichen, staatsrechtlichen oder eventuell zu einer neuartigen Verbindung der Europäischen Staaten führen sollten 11 . Der entscheidende Schritt wird mit der Inhaltsbestimmung getan, mit der Auslegung der Verträge in bezug auf den zu erfüllenden Gesamtakt 12 .

B. Die Europäische Union als Staatenbund I. Erste Weichenstellung Für die Union stellt sich die Frage, ob es sich bei ihr um eine völkerrechtliche oder eine staatsrechtliche Staatenverbindung handelt 13 , oder ob es zwischen staatsrechtlicher und völkerrechtlicher Staatenverbindung eine neue Ordnungsform gibt, die sich in der europäischen Integration beispielhaft entwickelt hat und beide Elemente verbindet. Letzteres ist im Kern die These der sog. Autonomisten 14 . Beispielhaft formuliert Hans Peter Ipsen 15 : Die Europäischen Gemeinschaften sind „Integrationsverbände und -träger, die ihrerseits in Organisation, Entscheidungsmechanismen und -verfahren den bewährten Typ internationaler Kooperation durch eine Art Überhöhung hinter sich lassen. Ich meine mit dieser Überhöhung die rechtlich verfaßte, mit selbständiger öffentlicher Gewalt ausgestattete Gemeinschaftsorganisation."

den ab, vgl. G. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 256 f. Vor allem geht mit der Gründung eines Vertrages auch in aller Regel die Schaffung einer Verfassung einher. 10

Vgl. R. Bindschedler,

11

Vgl. J. Kunz, Staatenverbindungen, S. 113.

12

Ähnlich U. Everling,

Rechtsfragen, S. 23.

Fs Mosler, S. 173, 175 f.

13 Gegen F. Somló , Grundlehre, S. 290, der staatsrechtliche Staatenverbindungen nicht als Staaten Verbindungen betrachtet; so auch D. Anzilotti, Völkerrecht I, S. 113 u.a. 14 Begriff von M. Schweitzer / W. Hummer, Europarecht, S. 223; vgl. Κ Stern, Staatsrecht I, S. 540 ff.; Κ Hesse, Grundzüge, Rdnr. 105; auch A. Riklin, Staaten Verbindungen, S. 357 ff., vertritt eine „Originalität" der Europäischen Gemeinschaften, allerdings nur eingeschränkt in Abgrenzung zu der „kunterbunten" Schar der Autonomisten, S. 358. 15

Verfassungsperspektiven, S. 2 f.

26

1. Teil: Natur der Rechtsgrundlagen der EG und der EU

Zunächst ist dieser Lehre zuzugestehen, daß die europäische Einigung sich nicht in den herkömmlichen Formen der Staatenverbindungen vollziehen müßte. Die Einordnung einer neuen Staatenverbindung in eine der herkömmlichen historisch entwickelten Modelle ist zwar naheliegend, nicht aber zwingend (kein „Formenzwang"). Im Unterschied zu der Einteilung der Staatenverbindungen in völkerrechtliche und staatsrechtliche, organisierte und nicht-organisierte, politische und nicht-politische u.s.w. 16 kann ein geschlossenes System der möglichen Staatenverbindungen (Allianz, Staatenbund, Bundesstaat u.s.w.) nicht gebildet werden, weil die letztgenannten Typusbegriffe sind, also keine rechtstheoretische Kategorisierung darstellen 17 . Daher läßt die bisher entwickelte Lehre von den Staatenverbindungen durchaus noch Raum für eine neuartige Verbindung von Staaten, soweit man nicht, wie vor allem Georg Jellinek, den Begriff des Staatenbundes äußerst weit faßt, ihn in der Weite aber insoweit negativ definiert, als im Gegensatz zu weitergehenden Verbindungen die Souveränität der beteiligten Staaten erhalten bleibt. Nach seinem Verständnis gibt es zwischen dem völkerrechtlichen Staatenbund und dem staatsrechtlichen Bundesstaat folglich keinen (Zwischen-) Typus von Staatenverbindung mehr 18 . Daher erscheint es in seiner Nachfolge nur dann sinnvoll, die Union als eigenständige Art der Staatenverbindung zu bezeichnen, wenn die Staaten, die ihr angehören, nicht mehr souverän wären. Faßt man den Typus „Staatenbund" enger, wie dies Alois Riklin tut, dann sind Staatenverbindungen zwischen Staatenbund und Bundesstaat möglich, etwa Verbindungen, deren sekundäre Rechtsakte Durchgriffswirkung haben. Es wäre dann Raum für den Typus der „überstaatlichen Staatenverbindung" (Riklin) oder des „Staatenverbundes" (BVerfG). Es ist nach alledem nicht zweckmäßig, die Frage nach der Rechtsnatur der Europäischen Union alleine an den verschiedenen Typen der Staatenverbindung festzumachen. Zwar erleichtert eine solche Orientierung den Vergleich mit historischen Vorbildern, sie erschwert aber auch eine theoretische Durchdringung des Problems. Im folgenden soll sich die Diskussion daher primär an den Begriffen der völkerrechtlichen und der staatsrechtlichen Staatenverbindung ausrichten. Gleichwohl wird es immer wieder notwendig werden, aus Gründen der Verständigung und Verständlichkeit auf den Typusbegriff Staatenbund auszuweichen, um die bisherige Diskussion und die historischen Leitbilder in die Er-

16

Vgl. dazu./ Kunz, Staatenverbindungen; G. Jellinek, Staatenverbindungen u.a.

17

A. Riklin, Staatenverbindungen, S. 95, mit Verweis auf Radbruch und Keller, vgl. auch R. Streinz, Europarecht, S. 36 f., Rdnrn. 115 ff. 18

Vgl. auch H.F. Köck, Gesamtakt, S. 145.

Β. Die Europäische Union als Staatenbund

27

örterung einbinden zu können. Auf die Frage, ob es wirklich gerechtfertigt ist, die Europäische Union als Staatenbund zu bezeichnen, will ich später eingehen.

II. Historische Vorbilder Die Feststellung Georg Jellineks 1882, das Wesen des Staatenbundes sei weit von einer wissenschaftlichen Klärung entfernt 19 , gilt nach wie vor gerade im Blick auf die Europäische Union. Ein Grund dafür kann sicher darin gesehen werden, daß die Vorarbeiten z.B. von Jellinek, Rudolf Bindschedler oder Josef Kunz nicht hinreichend gewürdigt werden 20 , obgleich diese mehr bereithalten, als Nur-Europarechtler bisher wahrgenommen haben. Eine Ursache dieser Vernachlässigung ist sicher auch, daß die europäische Integration von vielen als Unikum gesehen wird. Dabei gibt es historisch nachweisbare Vorläufer mit vergleichbaren Strukturen, die für eine Untersuchung fruchtbar gemacht werden können. Dazu zählen unter anderen die griechischen 21 und latinischen Städtebünde, die Hanse des Mittelalters, die vereinigten Niederlande, die Eidgenossenschaft der schweizerischen Kantone bis 1798 und dann 1815 bis 1849, die Vereinigten Staaten von Nordamerika 1778 bis 1787, der Rheinbund und der Deutsche Bund 2 2 . All diese zeichnen sich in Georg Jellineks Beschreibung dadurch aus, daß das Zentralorgan des Bundes aus einem Gesandtenkongress der verbündeten Staaten besteht, in diesem Gesandtenkongress die Mitglieder nach den Instruktionen ihrer Regierungen in Mehrheitsverfahren abstimmen, eine Änderung des Bundesvertrages aber nur durch Stimmeneinhelligkeit aller Bundesglieder erfolgen kann. Ein Element der „Überstaatlichkeit", die Möglichkeit, den Gliedstaaten durch Mehrheitsbeschlüsse Verpflichtungen aufzuerlegen, ist dem Staatenbund folglich keineswegs wesensfremd. Ein Aliud könnte erst dann behauptet werden, wenn auch Vertragsänderungen durch Mehrheitsbeschluß möglich wären 23 . Aber auch andere Elemente des Vertragswerkes entbehren der

19

G. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 1.

2 0

Eine Ausnahme stellt sicher das Werk von Alois Riklin, Staatenverbindungen, dar.

21

Vgl. dazu J. Madison / Α. Hamilton, Federalist Paper Nr. 18 (S. 122 ff.).

2 2

Vgl. auch A. Riklin, Staatenverbindungen, S. 122. Zum Deutschen Bund vgl. J. Madison ΙΑ. Hamilton, Federalist Paper Nr. 19 (S. 128 ff.). 2 3

Siehe dagegen z.B. Art. K.9 EUV; vgl. auch die Nordamerikanische Föderation, die zwar insoweit auch Mehrheitsbeschlüsse zuließ, zusätzlich aber eine Ratifizierung durch alle Mitgliedstaaten verlangte, A. Riklin, Staatenverbindungen, S. 119, Fn 10.

28

1. Teil: Natur der Rechtsgrundlagen der EG und der EU

Einzigartigkeit, wenn man sie mit Staatenverbindungen der Geschichte und der Gegenwart vergleicht.

III. Die Durchgriffswirkung von Exekutivakten des Bundes Eines der bedeutsamsten Elemente der Europäischen Gemeinschaftsverträge ist die Durchgriffswirkung von Hoheitsakten der Gemeinschaftsorgane. Sie gibt nicht wenigen Anlaß, die Klassifizierung der Gemeinschaften als völkerrechtliche Staatenverbindung anzuzweifeln 24 . Und in der Tat möchte man - gerade vor dem Hintergrund der speziellen Normierung z.B. der Art. 24 Abs. 1 / 23 GG hier einen wesentlichen Unterschied ausmachen. Auch Georg Jellinek bezeichnet es als wichtiges Kriterium eines Staatenbundes, „dass die Beschlüsse des Bundesorgans nicht unmittelbar Geltung für die Bürger der Staaten besitzen, sondern sie erst durch ausdrücklichen Befehl der Staaten erlangen, so dass die Bürger immer nur der Gewalt ihres Staates als Einzelstaates unterworfen sind, also der Societätsgewalt nicht unterstehen" 25.

Diese Ausführungen bezieht Jellinek indes nur auf Gesetzgebungsakte, nicht auch auf Exekutivakte des Bundes. Diese können damit Durchgriffswirkung haben, ohne die Einordnung der Staatenverbindung als Staatenbund zu berühren. So sieht Jellinek in der Durchgriffswirkung als solcher nichts fur das Völkerrecht Außergewöhnliches 26. Vielmehr sei das „Loslösen einzelner aus der Souveränetät sich ergebender Rechte und Uebertragen derselben an andere Staaten zur Ausübung nach eigenem Rechte ... für das Völkerrecht eine bekannte Tatsache. Jede Staatsservitut ist ein Exempel derselben." 27 Angesichts der Tatsache, daß im Völkerrecht selbst die Übertragung von Hoheitsrechten an andere Staa-

Siehe zur Möglichkeit der Bildung eines Gemeinwillens durch Mehrheitsbeschluß: Κ Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 83 und 86. 2 4 Vgl. z.B. G. Erler, VVDStRL 18 (1959), 7, 23; A. Riklin,, Staatenverbindungen, S. 120, 348; K. Stern, Staatsrecht I, S. 518; J. Gründisch, Rechtsschutz, S. 22 f.; L.-J. Constantinesco, Recht der Europäischen Gemeinschaften, S. 329; wohl auch W. Brohm, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1990, 132, 134; Oppenheim, S. 246 f. 2 5

G. Jellinek,

Staatenverbindungen, S. 185; vgl. entsprechend BVerfGE 89, 155,

[190]. 2 6

Wiewohl es durchaus nicht üblich ist, vgl. z.B. G. Dahm, Völkerrecht I, S. 411 ff. A.A. P. Badura, VVDStRL 23 (1966), 34, 60: Der Durchgriffseffekt ist keine völkerrechtliche Rechtsfolge. Siehe auch ebd., 49 f. 2 7

G. Jellinek, Staaten Verbindungen, S. 47.

Β. Die Europäische Union als Staatenbund

29

ten nicht unbekannt ist, kann auch die Durchgriffswirkung des Gemeinschaftsrechts in seiner Bedeutung nicht überschätzt werden. Zwar bestimmen völkerrechtliche Normen grundsätzlich nur, „was getan oder unterlassen werden soll, nicht aber wer, das heißt: welches menschliche Individuum die vorgeschriebene Handlung oder Unterlassung zu setzen hat" 2 8 . Der Durchgriffseffekt ist dem Völkerrecht aber gleichwohl nicht fremd 29. Und auch das ohne Hoheitsrechts"Übertragung" auskommende Völkerrecht kennt Pflichten und Rechte Einzelner 3 0 . Die Gestattung einer Durchgriffswirkung könnte allenfalls die Feststellung begründen, daß das europäische (Völker-) Recht und das einzelstaatliche (Staats-) Recht in einer besonders engen rechtlichen Verzahnung stehen, daß Gemeinschaftsrecht und nationales Recht eventuell als einheitliches System (nicht aber als einheitliche Rechtsordnung) zu begreifen sind. Die Durchgriffswirkung ist zudem nicht einmal ein konstituierendes Element des Staatenbundes, es kann auch den Akten einer an Integrationsintensität weniger einschneidenden Verbindung von Staaten, dem Verwaltungsverein, zukommen. Rudolf Bindschedler verweist in diesem Zusammenhang auf den deutschen Zollverein, dessen Zollbundesrat und Zollparlament gesetzgeberische Kompetenzen zustanden31. Im Verständnis von Georg Jellinek wäre es daher durchaus denkbar, die Europäischen Gemeinschaften als Verwaltungsverein zu charakterisieren 32, der die gemeinsamen Interessen auf ökonomischem Gebiet 33

2 8

Η Kelsen, Rechtslehre, S. 326.

2 9

Vgl. auch R. Bindschedler, der auf die Verordnungen und richterlichen Entscheidungen der Europäischen Donaukommission und die richterlichen Entscheide der Mannheimer Akte verweist, Rechtsfragen, S. 24; dazu auch W. Bayer, RabelsZ 17 (1952), 325, 327. Auch F. v.Liszt, Völkerrecht, S. 46 sah schon 1913 in den Verwaltungsunionen erste „Ansätze zu einem die Staatsbürger der verschiedenen Staaten unmittelbar bindenden, internationalen Recht", Hervorhebung d. Verf. 3 0

H. Kelsen führte in diesem Zusammenhang die Kriegsverbrecherverfolgung an, Rechtslehre, S. 328. Heute genügt ein Verweis auf die völkerrechtlich verbürgten Menschenrechte. 31

R. Bindschedler, Rechtsfragen, S. 24. Man könnte den Zollverein freilich auch als Staatenbund bezeichnen. Freilich fehlt es für die Wahl dieses Typusbegriffes an der gemeinsamen Verteidigung, dazu unten B.V. 3 2 Vgl. auch Η Bülck, Völkerrecht und Europäisches Recht, S.127 ff. Und selbst für die Union ist diese Charakterisierung nicht ganz abwegig, wenn man die gemeinsame Verteidigung zum Mindesterfordernis erklärt, G. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 172. Allerdings beruht dies auf einer m.E. überholten Überschätzung der Verteidigungsaufgabe im Bereich der Staatspolitik, siehe unten B.V. 33

Dies betont auch das BVerfG, E 89, 155 [190].

30

1. Teil: Natur der Rechtsgrundlagen der EG und der EU

koordinieren soll. Demgegenüber wäre die Europäische Union im engeren Sinn e 3 4 - trotz fehlender Durchgriffsbefugnisse - das erste politische Bündnis der europäischen Staaten35. So könnte man auch das BVerfG verstehen, wenn es ausfuhrt, der EUV begründe einen europäischen Staatenverbund 36, der von den Mitgliedstaaten getragen wird und deren nationale Identität achtet.

IV. Die Durchgriffswirkung von Verordnungen Auch wenn die Durchgriffswirkung für sich die Einordnung der Gemeinschaften als völkerrechtliche Staatenverbindung noch nicht in Frage stellt, so kann sich aus der Tatsache, daß auch die Verordnungen Durchgriffswirkung haben 37 , eine andere Bewertung ergeben. Unter den „Normen mit verbindlicher Kraft für die Staatsbürger" 38 sollen vorerst nur die Verordnungen betrachtet werden, weil die Richtlinien zwar nach der Rechtsprechung des EuGH, nicht aber ausdrücklich nach den Gemeinschaftsverträgen (vgl. Art. 189 UAbs. 3 EGV), unmittelbare Geltung erlangen können. Es ist später zu klären, ob nicht Art. 171 Abs. 2 EGV diese Rechtsprechung relativieren muß 3 9 . Bei der Behandlung dieser Eigenart der Gemeinschaften zeigt sich besonders deutlich die Notwendigkeit, zwischen der Einordnung unter einen Typus von Staatenverbindung (Staatenbund, Allianz etc.) und der unter theoretische Kategorien (völkerrechtliche / staatsrechtliche) zu unterscheiden. Georg Jellinek behandelt die direkte Gesetzgebung unter dem Gesichtspunkt der TypusBestimmung. Weil er, wie schon ausgeführt, zwischen Staatenbund und Bundesstaat keinen eigenen Typus mehr anerkennt, muß er hier den Staatenbund-

3 4 Siehe zur Unterscheidung zwischen Europäischer Union im engeren und weiteren Sinne die Ausführungen in der Einleitung, Fn. 2. 3 5

In diese Richtung geht auch BVerfGE 89, 155, [176 f.]; dagegen - schon für die Europäischen Gemeinschaften - zu Recht E.G. Koppensteiner, Souveränitätsproblem, S. 11 und A Riklin, Staatenverbindungen, S. 353. 3 6 E 89, 155 [188]; was sich aus der unterschiedlichen Terminologie „Staatenverbund" ergeben soll ist noch zu erklären. Siehe unten B.V. und 2. Teil A. 3 7 Die Union i.e.S. hat keine Befugnisse zur Setzung von Rechtsakten mit Durchgriffswirkung; insoweit hat die Bundesrepublik keine Hoheitsrechte übertragen, sondern lediglich einer Beschränkung ihrer Hoheitsrechte zugestimmt, vgl. zum Unterschied zwischen Beschränkung und Übertragung: BVerfGE 90, 286 [346 ff.]. 3 8

G. Jellinek, Staaten Verbindungen, S. 185.

3 9

Vgl. unten 4. Teil F.III.l.b) bb).

Β. Die Europäische Union als Staatenbund

31

Begriff sehr weit dehnen. Er spricht insoweit von einem sehr weitgehenden Staatenbund40, der sich, „so lange kein tiefer Conflict in seinem Inneren herrscht, von einem Bundesstaat praktisch kaum mehr unterscheidet, wie aber auch in dieser täuschenden Umhüllung die Natur der Souveränetät in unerbittlicher Weise die Existenz der blos vertragsmäßigen Gemeinschaft zu einer bedingten, von dem Willen der Vertragsglieder ununterbrochen abhängigen macht." 41

Es zeigt sich, daß Jellinek hier die Maßstäbe wechselt. Maßstab ist nicht mehr der historische Typus des Staatenbundes, sondern die rechtstheoretische Charakterisierung als völkerrechtliche, im Gegensatz zur staatsrechtlichen Staatenverbindung. Dementsprechend hält er es nun im Anschluß an John C. Calhoun 42 für ausschlaggebend, ob die Staaten als Vertragsparteien fortbestehen bleiben. Dies mahnt auf den ersten Blick zur Erinnerung an die Mißlichkeit der Petitio principii, aber eben nur auf den ersten Blick. Zwar ist festzustellen, daß der der Vereinbarung folgende Gesamtakt auf die Tatsache, daß die Vereinbarung zwischen souveränen Staaten geschlossen wurde, nicht in jedem Falle Rücksicht zu nehmen hat. Ansonsten wäre ein Staat durch Zusammenschluß mehrerer Staaten nicht zu gründen, wenn diesem ein völkerrechtlicher Vertrag zugrunde liegt. Entscheidend ist daher, ob die Staaten als Vertragsparteien fortbestehen, d.h. ob sie souverän bleiben. Denn die „'Staaten im Sinne des Völkerrechts' sind die 'Subjekte des Völkerrechts' als jene Rechtsgemeinschaften, die nur ... 4 3 der Völkerrechtsgemeinschaft, deren Rechtsordnungen (Einzel'staats'rechtsordnungen) nur ... 4 4 der Völkerrechtsordnung untergeordnet

4 0 Insoweit sind die Gemeinschaften zwar eine „neue Rechtsordnung", aber, wie der EuGH richtig feststellt, eine „des Völkerrechts", Rs. 26/62, Van Gend & Loos, Rspr. 1963, 3, 25; auch P. Badura, VVDStRL 23 (1966), 34, 46 f. erkennt die Rechtssetzung als Grundlage dafür, daß die Gemeinschaften eine „Rechtsordnung" haben, er sieht dies aber als entscheidendes Merkmal dafür, daß sie kein Staatenbund mehr sind, 93; so auch H. Nawiasky, Staatslehre, S. 200; ders. in: Strupp / Schlochauer, 313, 316, allerdings mit einer erheblichen Erweiterung des Bundesstaatsbegriffes (S. 315 f.). 41

G. Jellinek, Staaten Verbindungen, S. 188.

4 2 Discourse on the constitution and government of the United States, zit. nach G. Jellinek , Staatenverbindungen, S. 189. 4 3

J. Kunz fügt hier entsprechend seiner monistischen Vorstellung ein: „und unmittelbar". 4 4

Auch hier fügt y. Kunz ein: „und unmittelbar".

32

1. Teil: Natur der Rechtsgrundlagen der EG und der EU

sind". „Die 'Staaten im Sinne des Völkerrechts' sind die herkömmlicherweise so genannten 'souveränen' Staaten." 45

V. Die Souveränität der Mitgliedstaaten Die Souveränität ist nach wie vor einer der schillerndsten Begriffe des Völker- wie des Staatsrechts 46. Die zahlreichen Facetten, die diesem Begriff

im

Laufe seiner langen Geschichte eingeschliffen wurden nachzuzeichnen, wäre zwar erhellend, es genügt hier aber den für die Frage der Einordnung der Union entscheidenden Gehalt zu bestimmen 47 : Was beinhaltet die

umma potestas"

oder supreme authority " 48? Behandelt man zunächst die Frage, wann Gewalt zur Rechtsmacht wird (Rechtsvoraussetzungsbegriff der Souveränität* 9), so stellt sich die Verbindung zur Argumentation mancher Autonomisten her, die ihre Auffassung aus der „originären" Ordnung der Gemeinschaften herleiten 50 . In diesem Kontext liegt darin indes allenfalls die Bejahung einer „souveränen Zwangsordnung", die auch das sonstige Völkerrecht auszeichnet, wenn man es als unabgeleitetes d.h. selbständiges Recht begreift, wie es vor allem Hans Kelsen tut 5 1 . Daraus läßt sich jedoch gerade das „gewünschte" Ergebnis nicht herleiten, weil das Gemeinschaftsrecht auf dieser Grundlage als Völkerrecht (nicht als Staatsrecht oder Aliud) einzuordnen wäre und sodann allenfalls zu klären ist, inwieweit der

4 5

J. Kunz, Staatenverbindungen, S. 21. Zum Fortbestand der Teilnehmer als Staaten i.S.v. Gliedstaaten vgl. Κ Stern, Staatsrecht I, S. 644 f. m.z.N. und O. Kimminich, HStR I, § 26, 1113, 1120 ff. Die Unterscheidung von souveränen und nicht-souveränen Staaten wurde vor allem von Paul Laband und Georg Jellinek entwickelt, vgl. O. Kimminich, HStR I, § 26, 1113, 1123 m.N. 4 6 Eine vorzügliche Problemdarstellung gibt H.G. Koppensteiner, Souveränitätsproblem, S. 15 ff; zur staatsrechtlichen Problematik: A. Randelzhofer, HStR I, § 15, 691 ff; zur Ideengeschichte G. Jellinek, Staatslehre, S. 435 ff; P. Dagtoglou, in: EvStL, 3160 ff; L Wildhaber, in: Fs Eichenberger, 131, 133 ff 4 7

Vgl. zu der Notwendigkeit, sich vom Begriff selbst zu lösen: J. Kunz, Staaten Verbindungen, S. 22; G. Erler, Berichte, S. 32 f.; B. Kahl, Der Staat 33 (1994), 241, 243. 4 8

Vgl. H.G. Koppensteiner, Souveränitätsproblem, S. 26 f.

4 9

F. Somló, Grundlehre, S. 284 ff

5 0 Vgl. dazu E. Benda iE. Klein, DVB1. 1974, 389, 390; in diese Richtung geht auch H.H. Schwan, Die deutschen Bundesländer, S. 32 ff 51

Rechtslehre, S. 321; vgl. dazu J. Kunz, Staatenverbindungen, S. 33 f.

Β. Die Europäische Union als Staatenbund

33

Bestand des europäischen Rechts (als Völkerrecht) von dem Willen der Mitgliedstaaten abhängig ist. Der Rechtsvoraussetzungsbegriff der Souveränität verweist im wesentlichen alleine auf den Streit zwischen Monismus und Dualismus. Es ist folglich ergiebiger, auf den Rechtsinhaltsbegriff der Souveränität abzustellen, der auch für die dem Monismus folgenden Autoren das weitergehende Problem der Rechtsmacht der Staaten umfaßt. Dabei ist, wie Georg Jellinek zutreffend darlegt 52 , eine Unterscheidung zwischen der Souveränität nach innen und der Souveränität nach außen kaum nachzuvollziehen, weil nur ein Staat, der nach innen die „höchste Macht" besitzt, völkerrechtlich unabhängig ist 5 3 . Albrecht Randelzhofer stellt hierzu fest: „Die Souveränität nach innen ist nur gegeben, wenn auch die nach außen besteht, d.h. der Staat nach innen unabhängig von Weisungen eines oder mehrerer anderer Staaten Recht setzen und vollziehen kann. Umgekehrt gilt, daß der Staat sich nach außen als Wirkungseinheit präsentieren muß, um im Verkehr mit Staaten ohne weiteres als Träger von Rechten und Pflichten auftreten zu können." 54

Die gegenseitige Abhängigkeit beider „Souveränitäten" zeigt sich, wenn man das Problem von der Kehrseite her betrachtet, der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit des Staates. Nur ein solcher Staat kann völkerrechtlich in der Verantwortung stehen, der sein Handeln auch innen selbst bestimmt 55 und insoweit auch unabhängig nach außen ist 5 6 . Zum Kern der Frage nach der autonomen Stellung der Union kommt man, wenn man sich dem tatsächlichen Inhalt der summa potestas zuwendet, der Frage also was diese Unabhängigkeit bedeutet. Wenn auch der positive Gehalt weitgehend bestritten ist, so gibt es doch kaum jemanden, der aus der Souveränität eine Leugnung des Völkerrechts begründet 57 , auch wenn oft das Argu-

5 2

Staatenverbindungen, S. 22 ff.

53 Zumindest als Anhaltspunkt mag auch der Hinweis in Oppenheim, S. 122 Fn 8 dienen, wonach das Fehlen einer Regierung normalerweise verhindert, daß Territorien unter Treuhandschaft wie Staaten behandelt werden. 54

HStR I, § 15, 691,700.

55 Das an die Staaten gerichtete Verbot des Angriffskrieges setzt eben voraus, daß der jeweilige Staat das Militär „im Griff hat" (oder das Militär den Staat); vgl. dazu H. Nawiasky, Staatslehre, S. 99 f. 5 6

A. Randelzhofer,

57

HStR I, § 15, 691, 701.

Schon der Legist Jean Bodin betonte, daß die summa potestas dem göttlichen, dem Naturrecht, sowie der „lex omnium gentium communis" unterworfen ist; vgl. Sechs 3 Schmitt Glaeser

34

1. Teil: Natur der Rechtsgrundlagen der EG und der EU

ment gebraucht wird, ein bestimmtes Verständnis von der Souveränität führe genau dazu oder müßte, „logisch konsequent zu Ende gedacht", dazu führen 58 . Eine sehr enge Definition, wie sie von Josef Kunz 5 9 oder Rudolf Bindschedler 6 0 entwickelt wird, versteht Souveränität als ausschließliche Völkerrechtsunmittelbarkeit (Bindschedler) oder als „völkerrechtliche Zuständigkeit der völlig völkerrechtsunmittelbaren Staaten" (Kunz). Demgegenüber vertritt Georg Jellinek 61 , daß Souveränität die „Eigenschaft eines Staates" ist, „kraft welcher er nur durch eigenen Willen rechtlich gebunden werden kann." In der Gegenüberstellung der Positionen von Kunz und Jellinek zeigt sich aber, daß es an sich kaum eine Unterschiedlichkeit des Rechtsinhaltsbegriffes gibt, der Unterschied vielmehr im Rechtsvoraussetzungsbegriff der Souveränität zu suchen ist. Denn während Kunz die Zuständigkeit aus dem Völkerrecht ableitet, setzt Jellinek früher an, indem er vom Willen der Staaten ausgeht, der sich aber eben im geltenden Völkerrecht schon niedergeschlagen hat und die aus der Souveränität sich ergebende „Competenz" begrenzt. Während also Kunz die aus der Souveränität fließenden Zuständigkeiten positiv aus dem Völkerrecht herleitet, ermittelt Jellinek die Zuständigkeiten negativ nach dem, wessen sich die Staaten noch nicht begeben haben. Der wesentlichste Unterschied ist folglich darin zu sehen, daß Kunz in der Souveränität eine durch die Völkerrechtsordnung verliehene Macht sieht, während Jellinek in der Souveränität eine durch die Völkerrechtsordnung nur in der daraus fließenden Kompetenzfülle begrenzte Macht erkennt. Dementsprechend bleibt für Jellinek die Souveränität als solche unbegrenzt. Nun ist Kunz insoweit nicht konsequent, als er die Fülle der sich aus der Souveränität ergebenden Macht des Staates in Abhängigkeit bringt zu der Völkerrechtsordnung. Diese beruht aber in ihrer Fortentwicklung auf dem Verhalten der Staaten, insofern also auf ihrem Willen 6 2 . Die Folgerung Rudolf Bindschedlers, der Kunz aufgrund ähnlicher Erwägungen mangelnde Konsequenz vorwirft, ist die vollständige Reduktion des rechtlichen Souveränitätsgehaltes auf

Bücher, Bd. I, S. 207; dies gilt auch für alle anderen großen Staats- und Völkerrechtslehrer, vgl. den Überblick bei A. Riklin, Staatenverbindungen, S. 86 f. 58 Vgl. z.B. J. Kunz, Staatenverbindungen, S. 29; H. Kelsen, in: Strupp / Schlochauer, 278, 281; H.G. Koppensteiner, Souveränitätsproblem, S. 35. 5 9

Staatenverbindungen, S. 36.

6 0

Rechtsfragen, S. 70.

61

Staatenverbindungen, S. 34.

6 2

Vgl. HG. Koppensteiner, S. 35.

Β. Die Europäische Union als Staatenbund

35

die Völkerrechtsunmittelbarkeit (absoluter Souveränitätsbegriff) 63. Folglich beschränkt er den Gehalt der Souveränität darauf, daß der souveräne Staat nur dem Völkerrecht untergeordnet ist 6 4 . Damit beraubt er freilich die Souveränität jeglicher Substanz und verliert die Fragestellung aus den Augen, die sich hinter dem Begriff „Souveränität" verbirgt: worin liegt die „höchste Macht" des Staates? Die Bedeutung dieser Fragestellung zeigt sich vor allem auch in der Abgrenzung von völkerrechtlichen zu staatsrechtlichen Staatenverbindungen 65. Wenn Kunz ausfuhrt, ein Bundesstaat entstehe, wenn die Staaten auf ihre Souveränität i.S. der Völkerrechtsunmittelbarkeit völlig verzichten 66 , so lassen sich daraus keine Kriterien für die Beantwortung der Frage gewinnen, ob das Recht des Bundes, dem sie jetzt unterstehen, Staatsrecht oder Völkerrecht ist 6 7 . Gerade dies läßt sich eben nur danach bestimmen, ob die Geltung und Fortbildung dieses Rechts auf dem Willen der Mitgliedstaaten oder auf dem Willen des Bundes beruht 68 . Es ist nach alledem unerläßlich, bei der Bestimmung des Vorliegens der Souveränität nach außen zumindest auch die Frage nach den Grundlagen der Souveränität nach innen zu stellen, insoweit also Jellinek im Ansatz zu folgen 6 9 . Allerdings wird man seiner, von Hegel 7 0 angeregte Lehre von der Ver-

63 Wobei er diese - konsequent - nur auf das Völkergewohnheitsrecht bezieht, Rechtsfragen, S. 70 f. Vgl. auch P. Guggenheim, DIP I, S. 173. 6 4

Staatenverbindungen, S. 41; vgl. auch G. Radbruch, Rechtsphilosophie, 5. Aufl. Stuttgart 1956, S. 303: nach ihm „ist Souveränität nichts anderes als völkerrechtliche Subjekteigenschaft: ein Staat ist nicht Völkerrechtssubjekt, weil er souverän ist, sondern er ist souverän, weil er Völkerrechtssubjekt ist". 65

Wobei letztere dann im Verständnis von Kunz unechte Staatenverbindungen wären, weil dann von einem Staat im eigentlichen Sinne nicht mehr gesprochen werden kann, Staatenverbindungen, S. 631. 6 6

Staatenverbindungen, S. 628.

6 7 H.G. Koppensteiner, S. 41 macht dieselbe Frage an der ausschließlichen Völkerrechtsunmittelbarkeit des Bundes fest und kann nur auf die Vertragsabhängigkeit zur Lösung verweisen; im Ergebnis ein Zirkelschluß. 68

Dies bestätigt er selbst, wenn er im Anschluß an A. Verdross danach unterscheidet, ob das Verhältnis der Glieder ausschließlich den Regeln der Bundesverfassung unterstellt ist. 6 9

Im übrigen stellt auch J. Kunz diese Verbindung her, indem er die Verfassungsautonomie als Merkmal der Völkerrechtsunmittelbarkeit bezeichnet, Staatenverbindungen, S. 22 ff., ohne dies konsequent weiterzuentwickeln. 7 0

Grundlinien, §§ 330 ff.

36

1. Teil: Natur der Rechtsgrundlagen der EG und der EU

pflichtung des Staates durch sich selbst, die im Ende die Lehre vom äußeren Staatsrechts („Bonner Schule") 71 vorstrukturiert, mit Triepel entgegenhalten müssen, daß die Verpflichtung des Willens durch seine eigenen Gebote nur für den Bereich der Ethik 7 2 zutrifft. Dagegen tritt im „Völkerrechtssatze ... dem Staate nicht nur sein eigener Wille, sondern ein Gemeinwille gegenüber, der durch das Zusammenwirken mit anderen Staatswillen entstanden ist" 7 3 . Daher ist zwar die vertragsmäßige Gemeinschaft eine bedingte, von dem Willen der Vertragsglieder ununterbrochen abhängige, aber eben grundsätzlich von dem Willen aller Vertragsglieder und nicht nur eines Vertragsgliedes 74. Auch nach dieser Modifizierung des Jellinekschen Souveränitätsverständnisses i.S. einer nur »relativ höchsten Willensmacht und Entscheidungsgewalt"75 wird man ihm folgen können, wenn er es für die Frage, wann der Staat seine Souveränität verliert, als entscheidend erachtet, ob der Staat im Bund seine innere Souveränität aufgibt. Die Rechtfertigung dieser Schlußfolgerung ergibt sich - auch wenn man einem absoluten Souveränitätsbegriff folgt - daraus, daß erst eine dem Staat übergeordnete staatsrechtliche Verbindung - also eine nach innen souveräne Bindung - die äußere Souveränität des Gliedes vernichtet. Weil der Inhalt des die Vereinbarung erfüllenden Gesamtaktes aus dem Vertrag ermittelt werden muß, ist zunächst festzustellen, welches Herrschaftskonzept den beteiligten Staaten zugrunde liegt. Nur wenn aus der Vereinbarung der Wille erkennbar wird, bei der zu schaffenden Verbindung die Voraussetzungen für eben dieses Herrschaftskonzept zu schaffen (oder das bisherige innerstaatliche Herrschaftskonzept zu beseitigen), kann der folgende Gesamtakt eine staatsrechtliche Ordnung begründen und so zum letzten Souveränitätsakt der Glieder werden. Dementsprechend kann von einer Übertragung von Teilen der Souveränität nur dann gesprochen werden, wenn man auf den Begriff der politischen Souve-

71

Siehe H.E. Koenigsgarten, Problem; dazu H. Kelsen, Souveränität, S. 154 ff.; zu neueren Tendenzen: H. Günther, Völkergewohnheitsrecht, S. 16 ff. 7 2

G.W.F. Hegel selbst behandelt das äußere Staatsrecht unter dem Kapitel der Sittlichkeit. 73

Völkerrecht und Landesrecht, S. 79; ähnlich auch J. Kunz, Staaten Verbindungen, S. 28 ff. 7 4 7 5

Vgl. H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 88.

G. Dahm, Völkerrecht I, S. 152 (Hervorhebung d. Verf.); im übrigen erkennt G. Jellinek selbst diese Relativität durchaus an, Staatslehre, S. 479 ff.

Β. Die Europäische Union als Staatenbund

37

r ä n i t ä t 7 6 abstellt. N u r diese politische Souveränität ist, um m i t Oppenheim zu sprechen, a question of degree 11. tenzen

78

Insofern kann durch die Abgabe von Kompe-

eine teilweise Begrenzung der Souveränität eintreten. Diese zieht aber

- auch bei weitumfanglicher Übertragung - nicht den Verlust der Souveränität i m übrigen nach s i c h 7 9 . Die staatliche Souveränität gründet bei Demokratien i m V o l k , sie kann ohne ein Aufgehen des Volkes in einem Bundes-Volk nicht, auch nicht teilweise, übertragen werden. Dementsprechend mißt das B V e r f G 8 0 das Problem der Ausdehnung der Aufgaben und Befugnisse der Union auch primär am Demokratieprinzip und nicht an der Frage, ob die Bundesrepublik dadurch ihre souveräne Staatlichkeit verlieren könnte. Jellinek knüpft daher zu Recht an John C. Calhoun an, der sich bei seinen Ausführungen zur Rechtsnatur der Vereinigten Staaten von Amerika darauf konzentrierte, wann souveräne demokratische

Staaten ihre Souveränität verlie-

ren81.

7 6 Vgl. P. Dagtoglou, in: EvStL, 3160, 3165; Λ. Verdross, in: Fs Heydte, S. 703, 708; ähnlich J. Crawford , Creation of States, S. 71; D. Blumenwitz, in: Fs Lerche, 385, 386 f. 7 7

Oppenheim, S. 124; A. Riklin, Staatenverbindungen, S. 88; anders wohl Κ Stern, Staatsrecht I, S. 522.; Η Mosler, ZaöRV 14 (1951/52), 1, 32 ff. 7 8

Vgl. zur Übertragung nach Art. 24 Abs. 1 GG: Κ Stern, Staatsrecht I, S. 521; Zum Begriff der Kompetenz M. Pechstein, Sachwalter, S. 23 ff. 7 9 G. Jellinek, Staatslehre, S. 484 ff.; A. Randelzhofer, HStR I, § 15, 691, 704; HF. Köck, Gesamtakt, S. 146; P. Kirchhof in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 11, 12; P. Dagtoglou,, in: EvStL, 3160, 3165; O. Kimminich, HStR I, § 26, 1113, 1125; H.G. Koppensteiner-, Souveränitätsproblem, S. 44 ff, insbes. 46; in diese Richtung geht auch P. Badura, HStR VII, § 159, 33, 42. Anders z.B. H.P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 1053; wohl auch N. MacCormick, Rechtstheorie 1994, 281, 287. Klassisch ist insoweit die Formulierung des StIGH im Wimbledon-Fall von 1920, CPJ, Sér. A N ° 1, 1920, S. 25: „The Court declines to see in the conclusion of any Treaty by which a State undertakes to perform or refrain from performing a particular act an abandonment of its sovereignty." Von Interesse ist auch, daß der StIGH in seiner Avis consultatif vom 7. Februar 1923, Sér. Β, Nr. 4, S. 24 feststellte, daß die domaine réservé von der Entwicklung der internationalen Gemeinschaft abhängig sei. 8 0

E 89, 155 [186].

81 Zur gedankenhistorischen Entwicklung der Verbindung von Nation, Staat und Souveränität siehe z.B. Art. 3 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 („Le principe de toute souveraineté réside essentiellement dans la Nation. Nul corps, nul individu ne peut exercer d'autorité qui n'en émane expressément") und den Überblick bei J. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 633-636.

1. Teil: Natur der Rechtsgrundlagen der EG und der EU

38

„There is no difficulty in understanding how powers, appertaining to sovereignty, may be divided; and the exercise of one portion delegated to one set of agents, and another portion to another: or how sovereignty may be vested in one man or in a few; or in many. But how sovereignty itself - the supreme power can be divided, how the people of the several States can be partly sovereign and partly not sovereign - partly supreme, and partly not supreme - it is impossible to conceive. Sovereignty is an entire thing; to divide is, - to destroy i t . " 8 2 Georg Jellinek leitet daraus die w o h l weitergehende Erkenntnis ab, daß die Souveränität eines demokratischen Staates in einem B u n d von Demokratien nur gefährdet ist, wenn „ z w e i verschiedene Subjekte für beide Organismen angenommen würden, wenn dem einen von dem angeblichen Gesamtstaatsvolk, dem anderen von dem Einzelstaatsvolk seine Gewalten delegirt worden wären". Denn „dann wäre jene Theilung der Souveränetät vorhanden, welche sowohl begrifflich als auch faktisch unmöglich ist. Wenn die Bundesregierung nun ihren Rechtsgrund in einem Vertrag zwischen den Staaten hat, wenn sie nur der Träger eines Quantums von den Einzelstaatsvölkern delegirter staatlicher Macht ist, so kann sie nicht über den Staaten stehen, sie ist den Staatenregierungen nicht über-, sondern beigeordnet. Sie ist das Werk der Staaten, ihr Geschöpf." 83 Das entscheidende Merkmal der völkerrechtlichen Staatenverbindung zwischen Demokratien ist somit nicht, ob Gesetzgebungskompetenzen übertragen werden, sondern ob souverän das Volk des Mitglieds

oder das Volk des Bundes

i s t 8 4 . Die Abgrenzung der völkerrechtlichen zur staatsrechtlichen Verbindung

Auch E. Grabitz, DVB1. 1977, 786, 790 f. sieht einen wesentlichen Unterschied zwischen Gemeinschaften und Staat darin, daß erstere „einer Legitimitätsidee entbehren, wie sie in der Institution Staat mit der Idee der Volkssouveränität ausgebildet worden ist"; Den Bezug der Souveränität zur Demokratie betont auch J. Kokott, AöR 119 (1994), 207, 208; P. Kirchhof, in: J. Isensee, S. 63, 93 f.; H Krüger, Berichte, S. 1 ff; D. Tsatsos, EuGRZ 1995, 287, 290. 82 J. Calhoun, zit. nach G. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 192 f., Fn 39; anders Κ Stern, Staatsrecht I, S. 522, der durchaus die Möglichkeit einer „doppelten Souveränität" sieht. Zu Staatsvolk und Volksteilen unter dem GG, vgl. M. Jestaedt, Kondominialverwaltung, S. 210 ff., 500 ff. 83 G. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 192; vgl. auch A. Hamilton, Federalist Paper Nr. 22 (S. 153). 8 4

Im Ergebnis wie hier KH Friauf DVB1 1964, 781, 783, der freilich schon bei der Definition von „Gesetzgebung" ansetzt und „Gesetzgebung" nur dann annehmen will, wenn das Organ demokratisch unmittelbar legitimiert ist. Dies verneint er für die Hohe Behörde. Die Übertragung von Rechtsetzungsbefügnissen auf ein direkt gewähltes europäisches Parlament würde so in der Tat die Frage nach dem Staatscharakter der Europäischen Gemeinschaften inhaltlich gerechtfertigt erscheinen lassen, P. Badura, VVDStRL

Β. Die Europäische Union als Staatenbund

39

nach der Übertragung von Hoheitsrechten ist folglich danach vorzunehmen, was Voraussetzung jeder Demokratie ist: der Existenz eines Volkes (auf staatlicher oder auf Bundesebene). Dabei braucht man auch noch nicht sofort an die schwierige Frage heranzutreten, wann ein Volk soziologisch / politologisch in Entstehung gelangt. Es muß auch nicht entschieden werden, ob demokratische Legitimität auch über Teil-Völker 85 originär vermittelt werden kann. Es genügt zunächst zu überprüfen, ob die Bundesvereinbarung ein Gesamtvolk schaffen will oder nicht 8 6 . Solange in der Union, wie Art. A UAbs. 2 und 3 EUV deutlich macht, ein solcher Ehrgeiz nicht erkennbar ist, kann es bei dieser Feststellung sein Bewenden haben 87 . Erst mit der „Normierung eines Volkes" durch die Bundesvereinbarung kann ein Streit, wie der, in dem Calhoun unterlag, auftreten: ob nämlich ein „normiertes Volk" des Bundes de facto existiert. Calhouns These von der völkerrechtlichen Natur der Vereinigten Staaten von Amerika war zwar - wie die Geschichte entschied - unzutreffend, für die Calhounsche Konföderationsverfassung war sie aber schon deshalb richtig, weil sie die Existenz eines Gesamtvolkes nicht „verordnete". Entscheidend war, wie Jellinek aufzeigt 88 , daß die Unionsverfassung mit „We, the people of the United States, in order to form a more perfect union ..." ansetzte, während die Konföderationsverfassung als Eingangssatz die Formulierung wählte: „We the people of the Confederate States, each State acting in his sovereign and independent character

VI. Folgerungen für die Einordnung der Europäischen Union Aus Perspektive der rechtsdogmatischen Struktur relativiert sich vor diesem Hintergrund die Einzigartigkeit des europäischen Integrationsprozesses - auch unter Berücksichtigung der eingeräumten Legislativbefugnisse - ganz erheblich.

23 (1964), 34, 101. Die Übertragung von Legislativbefugnissen auf das Europäische Parlament läßt diese Frage aber noch nicht relevant erscheinen. Vgl. aber wohl R. Streinz, EuZW 1994, 329, 332, der allerdings von der Übertragung „der Legislative" spricht. 85 Zur Problematik und Abgrenzung des Begriffes vgl. M. Jestaedt, verwaltung, S. 210 f. und insbesondere Fn. 30 m.w.N. 8 6

Kondominial-

Ob sie es schaffen kann, steht auf einem anderen Blatt.

87 Die „Unionsbürgerschaft" ist lediglich als „Rechtsbündel" zu definieren, so E. Klein, Der Staat 33 (1994), 39, 49. 8 8

Staatenverbindungen, S. 194, Fn 42.

40

1. Teil: Natur der Rechtsgrundlagen der EG und der EU

Auch andere „Eigenarten" der Union teilen dieses „Déjà-vu": z.B. die Existenz eines Parlaments. Georg Jellinek macht in seinen Ausführungen zu den Staatenbünden mit Gesetzgebungsbefugnissen deutlich, daß an gemeinsamen Gesetzen auch ein Parlament (mit Zustimmungs- und Initiativrechten) mitwirken kann, das - wie es der Münchner Entwurf einer deutschen Bundesverfassung vom 27. Februar 1850 vorsah - von den Landesvertretern der einzelnen Bundesstaaten gewählt werden sollte 89 . An anderer Stelle führt er den deutschen Zollverein 1867 bis 1871 an, dem ein Zollparlament als parlamentarische Vertretung der gesamten Bevölkerung des Zollvereinsgebiets zugeordnet war 9 0 . Folglich möchte man die Europäische Union als Staatenbund einordnen. Freilich spricht dagegen, daß der Vertrag der Europäischen Union in Art. Β Spiegelstrich 2 eine gemeinsame Verteidigung lediglich in Aussicht stellt. Georg Jellinek fordert dagegen die gemeinsame Verteidigung als Minimalelement des Staatenbundes im Gegensatz zum blossen Verwaltungsverein 91 . Nun könnte man das Fehlen dieses Tatbestandsmerkmals angesichts der veränderten Schwerpunkte staatlicher Aufgaben für unerheblich erachten. Die wirtschaftliche Entwicklung oder der Umweltschutz sind in der heutigen Welt Aufgaben, die die militärische Verteidigung - in der Normalsituation - an Bedeutung bei weitem übersteigen. Gleichwohl zeigt sich hier, daß die Wahl dieses Typusbegriffes nicht paßt. Die Europäische Union ist keine zwischen Staats- und Völkerrecht stehende, (nach innen oder außen) teilsouveräne Ordnung 92 , sondern eine besonders tiefgreifende völkerrechtliche Staatenverbindung. Gerade diese Annäherung an den Staat macht es unerläßlich, auch bei der Wahl des Typusbegriffes die Unterschiede deutlich herauszustreichen. Zum einen ist der Begriff des Staatenbundes vor allem verteidigungspolitisch geprägt. In dieser Gestalt war und ist er ausgestorben 93 . Die Europäische Union dagegen ist „lebendig", und zwar m.E. gerade wegen ihres nicht-militärischen Charakters, ihrer wirtschaftlichen Zielset8 9

Vgl. G. Jellinek,, Staatenbundes fest. 9 0 91

Staatenverbindungen, S. 186; der Entwurf hielt an der Idee des

G. Jellinek,, Staatenverbindungen, S. 171.

Staatenverbindungen, S. 172; H. Nawiasky, tenverbindungen, S. 121. 9 2

Staatslehre, S. 196; A. Riklin,

Staa-

Im Ergebnis für 1963 so auch H.G. Koppensteiner, S. 70 ff.

9 3 Der Typus des Staatenbundes wurde nachgerade als notwendig moribund bezeichnet, vgl. G. Jellinek, Staatslehre, S. 769; D. Anzilotti, Völkerrecht I, S. 146; J. Madison! A. Hamilton, Federalist Papers Nr. 18 und Nr. 19.

41

Β. Die Europäische Union als Staatenbund

zung und der Staatsnähe, die sie durch die Durchgriffswirkung ihrer Exekutivund Legislativagenden erlangt. Gleichwohl bleibt sie eine völkerrechtliche Staatenverbindung mit souveränen Gliedern. Ein Typusbegriff für diese Staatenverbindung zu wählen ist m.E. schon deshalb überflüssig, weil sie einzigartig ist und bleiben wird und man daher aus dem Begriff keinen großen Erkenntniswert

ziehen kann 9 4 .

Gleichwohl wird

im

folgenden

der Begriff

des

„Staatenverbundes" (BVerfG) gewählt, um die Bezüge zum Gehalt der Maastricht-Entscheidung deutlich werden zu lassen.

7. Zum Austrittsrecht Ausgehend von den bisherigen Erörterungen ist die oft zu hörende Beschwörung des Fehlens eines Austrittsrechts 95 irreleitend. Zunächst ist dies in den Verträgen an keiner Stelle ausdrücklich vorgesehen 96. Die Frage ist daher aus der rechtlichen Natur der Union her zu beantworten. Wollte man umgekehrt, ausgehend vom angeblichen Fehlen eines Austrittsrecht, auf die Rechtsnatur der Union schließen, so stellte dies eine Petitio principii dar. Ganz abgesehen davon, daß es angesichts der Geschichte sehr zweifelhaft erscheint, die Unveränderlichkeit des Gegebenen als Tatbestandselement einer rechtlichen Institution zu bezeichnen 97 , ist die Frage nach dem Austrittsrecht in jedem Falle sekundär zur Frage nach der Souveränität. Wie der Staatenbund setzt jedwede völkerrechtliche Staatenverbindung ewige Dauer nicht voraus und läßt die außeror-

9 4 Ähnlich Ch. Tomuschat, EuGRZ 1993, 489, 491, H. Lecheler, in: Gs. Grabitz, 393, 398. 95 H.P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 182 ff, insbesondere S. 195; zum Problem allgemein: P. Dagtoglou, in: Fs Forsthoff, 77, 79 f. 9 6

Wie R. Bindschedler, Rechtsfragen, S. 42 f. darstellt, können aus dem Schweigen in einem Bundesvertrag keine Folgerungen gezogen werden, was die Möglichkeit des Austritts angeht. Er verweist dabei auf das Absehen von einer entsprechenden Normierung in der Charta der Vereinten Nationen, das auf Grund der Erfahrungen im Völkerbund erfolgte. H.-W. Bayer, Aufhebung völkerrechtlicher Verträge, S. 39, verneint ein einseitiges Austrittsrecht wegen der Normierungen in Art. 170 EWGV, wobei er sich m.E. zu stark am zweiseitigen Vertragsrecht orientiert. Und auch Art. 23 Abs. 1 GG enthält keinen Verzicht auf Austritt, was sich schon aus den Anforderungen ersehen läßt, die die Vorschrift an die Europäische Union stellt. A.A. offenbar J. Schwarze, Rev. MC 1994, 293, 297. 9 7

So auch P. Dagtoglou, in: Fs Forsthoff, 77, 80.

42

1. Teil: Natur der Rechtsgrundlagen der EG und der EU

dentlichen Austrittsgründe des allgemeinen Völkerrechts 98 unberührt. Zwar ist sie nicht, wie eine Allianz, von jedem Wechsel der Politik abhängig. Gleichwohl ist sie, wenn auch auf einen langen so doch immerhin nicht unendlichen Zeitraum abgeschlossen. Wie beim Staatenbund ist „die rechtliche Möglichkeit der Auflösung eines als ewig bezeichneten Bundes durch übereinstimmenden Willen sämtlicher Teilnehmer nicht in Abrede zu stellen." 99 Auch wenn die weitumfängliche Übertragung politischer Souveränität auf die Union zu einer tatsächlich stark eingeschränkten Möglichkeit der Auflösung führt, so hat dies nicht zur Folge, daß die Auflösung rechtlich unmöglich ist. Es bleibt vielmehr dabei, daß die „Gesamtheit der Mitgliedstaaten ... über der Gemeinschaft" steht 1 0 0 .

2. Die Eigenfinanzierung Grundsätzlich entspricht es dem typischen Bild des Staatenbundes, „dass er in finanzieller Hinsicht auf die Martricularbeiträge der Bundesglieder angewiesen i s t " 1 0 1 . Dahingegen finanzieren sich die Gemeinschaften und die Union aus Eigenmitteln 102 . Eine zwingende Abkehr von der Einordnung der Union als „Staatenverbund" folgt daraus nicht: nach Jellinek schließt der Begriff des Staatenbundes die Finanzierung über Eigenmittel nicht aus, wie auch die Ab-

9 8 Vgl. z.B. R. Bindschedler, 691, 704.

Rechtsfragen, S. 37 ff.; A. Randelzhofer,

9 9

HStR I, § 15,

G. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 174 f.; A. Riklin, Staatenverbindungen, S. 179 ff.; für die Europäischen Gemeinschaften vgl. statt vieler A. v.Bogdandy / M. Nettesheim, in: Grabitz / Hilf, Art. 1 EGV, Rdnr. 22; weitergehend BVerfGE 89, 155, [190]; gegen U. Everling, Fs Mosler, S. 173, 183 f., H.-W. Bayer, Aufhebung völkerrechtlicher Verträge, S. 43 und EuGH, Rs. 6/64, Costa / EN.EL, Rspr. 1964, 1251 ff. In diesem Zusammenhang kann auch auf den Deutschen Bund verwiesen werden, vgl. Art. V der Wiener Schlußakte vom 15. Mai 1820. Die Argumentation ist dann anders zu bewerten, wenn man mit A. Verdross, in: Fs Heydte, S. 703, 708 dann ein Umschlagen von Verlusten an politischer Souveränität in einen Verlust an völkerrechtlicher Souveränität annimmt, wenn keine (rechtliche) Austrittsmöglichkeit besteht. Für die EU ist dies mangels ausdrücklicher Regelung nicht anzunehmen. 10 0

G. Gorny, Verbindlichkeit, S. 85.

101

G. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 187.

102

Vgl. R. Streinz, Europarecht, S. 163 ff., Rdnrn. 581 ff.

Β. Die Europäische Union als Staatenbund

43

hängigkeit von Matrikularbeiträgen in einem Bundesstaat vorliegen kann 1 0 3 . Es ist nur nicht „typisch", daß dem Staatenbund diese Möglichkeit eingeräumt ist.

3. Zur praktischen Bedeutung des Gemeinschafisrechts Im Kern kann sich die Auffassung, das Gemeinschaftsrecht sei weder Völkerrecht noch Staatsrecht, sondern ein Recht eigener oder anderer Art alleine auf die einzigartige Intensität und Tragweite der Gemeinschaftlichkeit stützen 1 0 4 . Die Vereinbarung der Staaten wird daher als Durchbrechung der herkömmlichen Formen des Völkerrechts angesehen. Diese Aussage ist indes nur dann richtig, wenn man auf die herkömmlichen „Typen" von Staatenverbindungen abstellt. Vor allem ist aber daran zu erinnern, daß Bedeutung und Umfang der Bundeskompetenzen für die Beantwortung der Frage nach der Einordnung der errichteten Rechtsordnung als völkerrechtlich oder staatsrechtlich untauglich ist. Unweigerlich stellt sich dann die Frage, warum gerade hier angesetzt wird. Betrachtet man die Konsequenzen der autonomistischen Vorstellungen, so zeigt sich, daß es im Kern darum geht, die Souveränität der Mitgliedstaaten als „Störfaktor" der Einigungsbewegung auszuschalten oder doch zumindest erheblich „an die Zügel zu nehmen". Genau hier muß man aber wiederum auf die Gedanken Calhouns zurückgreifen. Erkennt man, daß die Souveränität in demokratischen Staaten im Volk gründet, so identifiziert sich der „Störfaktor" als die „Demokratie".

VII. Ergebnis Geht man von dem Inhalt des im europäischen Vertragswerk Vereinbarten aus, so lassen sich hieraus keine Elemente entnehmen, die die Einordnung der Europäischen Union im weiteren Sinne 1 0 5 als eine völkerrechtliche Staätenverbindung erschüttern können. Dies fallt auch deshalb schwer, weil das Völ103 vgl Q Jellinek Staatenverbindungen, S. 187. Siehe dazu einerseits die Art. 5 und 6 der Utrechter Union der Vereinigten Niederlande oder § 3 Abs. 5 des Bundesvertrages der Schweiz von 1815, und andererseits Art. 42 Buchst, f der schweizerischen Bundesverfassung. 104 Die auch das BVerfG betont, ohne jedoch die Einordnung als Völkerrecht aufzugeben, BVerfGE 52, 187 [200]; E 73, 339 [372]; E 75, 223 [241]; vgl. auch Κ Mosler, ZaöRV 14 (1951/52), 1, 36; Κ Bieber / J. Schwarze, Verfassungsentwicklung, S. 22. 105

Siehe zur Unterscheidung zwischen Europäischer Union im engeren und weiteren Sinne die Ausführungen in der Einleitung, Fn. 2.

44

1. Teil: Natur der Rechtsgrundlagen der EG und der EU

kerrecht als „primitive" Rechtsordnung 106 gleichwohl oder gerade deshalb außerordentlich entwicklungsfähig ist. Die vielfältigen neuen Verfahrens- und Organisationsformen oder die oft phantasievollen Sanktionsmechanismen107 sind Ausdruck einer flexiblen und dem Regelungsgegenstand angemessenen Rechtsordnung. Man kann daher das Völkerrecht nicht dann als „überwunden" betrachten, wenn es effektive Strukturen entwickelt. So ist z.B. die Existenz arbeitsteilig funktionierender Organe für die Erzeugung und Anwendung seiner Normen eine relativ neue Entwicklung des Völkerrechts 108 . Georg Jellinek bezeichnet solche Staatenverbindungen als organisierte im Gegensatz zu nichtorganisierten 109 . Er sieht darin eine „tief eingreifende, auf der Natur des menschlichen Gemeinlebens beruhende Scheidung der Staaten Verbindungen". Denn „dauernde Beziehungen der Glieder bedürfen einer, sei es vertragsmässigen, sei es auf Herrscherbefehlen beruhenden Organisation, mittelst welcher die durch das Gemeinschaftsverhältniss zu erstrebenden Zwecke verwirklicht werden."110 Entscheidend ist nach alledem, daß die Verträge nicht eindeutig den Sinn erkennen lassen, die durch sie gegründeten Gemeinschaften von ihrer völkerrechtlichen Grundlage abzulösen 111 . Der Unionsvertrag stellt die Souveränität der Völker der Mitgliedstaaten nicht in Frage. Schließlich weist die im Vertrag von Maastricht erkennbare Stärkung der Rolle des Europäischen Rates (Art. D

10 6

H. Kelsen, Rechtslehre, S. 323 ff. Gegen den Begriff der primitiven Rechtsordnung wendet sich A. Verdross / B. Simma, Universelles Völkerrecht, S. 33. Dem ist zuzustimmen, wenn darin die abwertende Feststellung liegt, daß zentrale Gesetzgebungsorgane, eine vom Willen der Streitteile unabhängige Gerichtsbarkeit und eine zentrale Gewalt zur Durchsetzung fehlen. So verstanden ist die Begriffswahl in der Tat irreführend, weil es die Natur des Völkerrechts als Koordinationsrecht verkennt. 107 Vgl. etwa die faktische Monopolisierung ozongefährdender Stoffe bei den Mitgliedstaaten des Montrealer Protokolls. 108

H. Kelsen, Rechtslehre, S. 323.

109

Staatenverbindungen, S. 58. R. Bindschedler, Rechtsfragen, S. 68 kritisiert zwar die begriffliche Unterscheidung, weil er bei allen Staatenverbindungen die Staaten als Organe und daher die Verbindung als „organisiert" betrachtet; im Ergebnis unterscheidet er aber dann wie Jellinek. 110 111

G. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 59.

Vgl. vor allem auch Art. A Abs. 2 EUV; dazu Ch. Tomuschat, EuGRZ 1993, 489, 491.

Β. Die Europäische Union als Staatenbund

45

E U V ) und die damit verbundene Betonung des Gemeinschaftsrechts als zwischenstaatliches Recht in die entgegengesetzte R i c h t u n g 1 1 2 . Folglich ist jede staatsrechtliche Betrachtung der Europäischen Union i.w.S. eine Betrachtung de lege ferenda. N u r wenn man nicht erkennt, daß die Gründung der Europäischen Gemeinschaften und der Europäischen U n i o n i m engeren S i n n e 1 1 3 auf der Grundlage ihrer Verträge die Souveränität der Mitgliedstaaten in ihrem wesentlichen Gehalt b e w a h r t 1 1 4 , entstehen Behauptungen von fließenden G r e n z e n 1 1 5 . A u f die Wesentlichkeit der übertragenen Hoheitsrechte kommt es nicht a n 1 1 6 . Daher ist die Union und sind die Gemeinschaften keine „neue Organisationsform

i m Grenzbereich

zwischen

Staats- und

Völker-

r e c h t " 1 1 7 , sondern völkerrechtliche Organisationen mit dem möglichen Z i e l einer Staatsbildung 1 1 8 .

112 Vgl. E 89, 155, [190] und R. Streinz, Europarecht, S. 33, Rdnr. 113, der auch überzeugend aufzeigt, daß dies der Funktionalität keinen Abbruch tut. Zum Europäischen Rat und der Rolle nach der Ratifizierung des EUV allgemein: H.J. Glaesner, EuR 1994, 22 ff. 113 Siehe zur Unterscheidung zwischen Europäischer Union im engeren und weiteren Sinne die Ausführungen in der Einleitung, Fn. 2. 114 Ähnlich G. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 172 ff.; J. Schwarze, JZ 1993, 585, 588; vgl. aber F. Ossenbühl, DVB1 1993, 629, 631; v.Bogdandy, in: v.Danwitz u.a., S. 9, 15. 115

Ursprünglich H. Kelsen, Staatslehre, S. 194 f., der auf den Grad der Zentralisation abstellt; jüngst wieder G. Ress, JuS 1992, 985, 985. 116 G. Jellinek nennt als Beleg dafür, daß die Souveränität sogar als nudum ius fortbestehen kann, die Souveränität der Pforte über Bosnien und die Herzegowina nach der Okkupation durch Österreich-Ungarn gemäß der Berliner Kongreßakte von 1878. 117

Für die Gemeinschaften: Κ Zweigert, C D. Classen, AöR 119 (1994), 238, 240 f. 118

RabelsZ 28 (1964), 601, 603 ff.; jüngst

Insofern ist eine genaue systematische Einordnung möglich; gegen K. Zweigert, RabelsZ 28 (1964), 601, 606. Den Übergang zum Bundesstaat durch den Maastrichter Vertrag behauptet J. Wolf, JZ 1993, 594, 597 f. Um mit G. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 15 zu sprechen: „Bis auf den heutigen Tag hört man immer wieder, dass die Grenzen zwischen Staatenbund und Bundesstaat fliessend sind, dass es manigfaltige Übergänge in den Staatenverbindungen von der einfachen Allianz bis zum Einheitsstaat gibt. Auch diese Behauptung ist die Folge einer Verwechslung politischer mit juristischen Gesichtspunkten. Das ist eben das Wesen des Rechts, dass es die fliessenden Verhältnisse des Lebens durch feste Begriffe gegeneinander abgrenzt." Angesichts seines weiten Verständnisses des Staatenbundes trifft diese Äußerung auch hier.

46

1. Teil: Natur der Rechtsgrundlagen der EG und der EU

Es ist vor diesem Hintergrund auch nicht richtig zu behaupten, die faktische Entstehung eines Staates aus einem völkerrechtlichen Vertrag sei ein metajuristischer Vorgang, der erst „nach einer Periode der kontinuierlichen Verwirklichung des Vertragswerkes rückschauend als solcher erkannt

werden

k a n n " 1 1 9 . Denn die Übertragung einer umfassenden Kompetenz-Kompetenz,

die

gerade wegen der Souveränität des Volkes ein konstitutives Merkmal des demokratischen Staates d a r s t e l l t 1 2 0 , ist als solche erkennbar. Wenn freilich Autoren zu folgen wäre, die aus Art. F Abs. 3 E U V

den

eine Kompetenz-

Kompetenz a b l e i t e n 1 2 1 , dann verliert sich diese Erkennbarkeit. Die Irritationen, die sich in bezug auf das Verständnis dieser Bestimmung entwickelt haben und die nicht zuletzt durch die unangemessen breite (nachgerade beschwörende) Befassung des B V e r f G mit der Frage noch verstärkt werden könnten, sind m.E. mit H.P. Ipsen unter Verweis auf Art. E E U V 1 2 2 , vor allem aber auch auf die Entstehungsgeschichte des Art. F Abs. 3 E U V leicht zu beheben. Sollte die Eu-

119

W. Bayer, RabelsZ 17 (1952), 325, 328; Κ Zweigert,

RabelsZ 28 (1964), 601,

605. 120

Gegen die Geeignetheit der Kompetenz-Kompetenz als Abgrenzungskriterium /. Pernice , Grundrechtsgehalte, S. 223, unter Berufimg auf Κ Feige, Gleichheitssatz, S. 5 und E. Grabitz, DVB1. 1977, 786, 790. Ob die Nennung der Kompetenz-Kompetenz in einem Atemzug mit Totalität und Omnipotenz dieser Frage gerecht wird, ist zu bezweifeln. Wie hier u.a. Ρ Badura., VVDStRL 23 (1966), 34, 49 ; J. Kokott, AöR 119 (1994), 207, 210; W. Möschel, NJW 1993, 3025, 3025; H. Hahn, Maastricht, S. 119; Th. Schilling, Der Staat 29 (1990), S. 162; wohl auch R. Bieber / J. Schwarze, Verfassungsentwicklung, S. 22. Κ Doehring, ZRP 1993, 98, 98 kommt im Hinblick auf die Frage der Souveränität zu dem Ergebnis, auch die Europäischen Gemeinschaften besässen eine Kompetenz-Kompetenz auf den ihnen übertragenen Gebieten. Damit wird aber der Begriff bagatellisiert, weil nicht jede Erweiterung einer bestehenden Kompetenz schon Betätigung der Kompetenz zur Kompetenzschaffimg ist. Hier geht es ja um die Möglichkeit, für neue oder neu beurteilte Situationen neue Aufgabenbereiche des Gemeinwesens zu schaffen. Dies ist aber für die, nur über begrenzte Ermächtigungen verfügenden Gemeinschaften nicht möglich. Während der Staat aus eigener Hoheit neue Zuständigkeiten, Verfahren und materielle Regelungen kreieren kann, sind die Gemeinschaften auf die Zuweisung dieser Zuständigkeiten durch die Mitgliedstaaten angewiesen. 121

KA. Schachtschneider / A. Emmerich-Fritsche / Th. Beyer, JZ 1993, 751, 753 f.; KA. Schachtschneider, VVDStRL 53 (1994), Diskussion, S. 108; ähnlich J. Wolf, JZ 1993, 594, 596, G. Ress, JuS 1992, 985, 987; R Scholz, NVwZ 1993, 817, 818; M Schweitzer, VVDStRL 53 (1994), 48, 53, 97 f.; H.H. Rupp, VVDStRL 53 (1994), Diskussion, S. 110. 122

EuR 1994, 1, 3 f.; wie hier: M. Hilf, VVDStRL 53 (1994), 7, 10 f., 89 f.; Ch. Tomuschat, VVDStRL 53 (1994), Diskussion, S. 121; /. Pernice, VVDStRL 53 (1994), Diskussion, S. 131 f.; R. Bieber, VVDStRL 53 (1994), Diskussion, S. 135; R. Streinz, Europarecht, S. 37, Rdnr. 121.

Β. Die Europäische Union als Staatenbund

47

ropäische Union für sich selbst eine solche Kompetenz behaupten 123 , so wäre dies - bei Fehlen einer entsprechenden Vertragsänderung - eine eklatante Vertragsverletzung, nicht aber eine Staatswerdung. Ein solcher Umschlag einer völkerrechtlichen in eine staatsrechtliche Staatenverbindung kann eben bei hochentwickelten demokratischen Rechtsstaaten nicht mehr „leicht gescheh e n " 1 2 4 . Bestätigt wird dieses Ergebnis auch durch die Rechtsquellen des primären Gemeinschafisrechts, die sämtlich aus dem Völkerrecht (Art. 38 IGHStatut) bekannt sind (Verträge, Gemeinschaftsgewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze 125). Überdies ist es durchaus zu bezweifeln, daß der „Staat" als Endziel der Integration wünschenswert i s t 1 2 6 . Die zunehmende Verflechtung der internationalen Staatengemeinschaft und die damit einhergehende Evolution der „primitiven" Ordnung des Völkerrechts 127 , die sich zum Beispiel in den spektakulären Vertragsanpassungsmechanismen des Wiener Übereinkommens zum Schutz der Ozonschicht 128 niederschlägt, läßt es fraglich erscheinen, ob die Staatswerdung Europas vor dem Hintergrund der drängenden globalen Existenzfragen keine „Zeitverschwendung" ist, ob ein solches Bemühen nicht weltgeschichtlich redundant ist. So wird die völkerrechtliche Staatengemeinschaft „im Verlaufe der Culturentwicklung eine immer innigere. Immer mehr gemeinsame Interessen entstehen, d.h. Interessen, welche über das Wohl und Wehe eines einzelnen Volkes hinausragen und, je mehr gemeinsame Interessen, desto grösser die Zahl und mannigfaltiger die Art der Lebensverhältnisse, in welche die Staaten zu einander treten, desto breiter das Geflecht der internationalen Rechtsnormen, das sie umschlingt. Steigende Cultur ist verbunden mit Abnahme der Selbstgenügsamkeit des Einzelstaates."129

123 Ansätze für eine solche Behauptung lassen sich immer wieder finden, in jüngster Zeit vor allem im Kulturbereich, vgl. H.P. Ipsen, in: Gs Geck, S. 339 ff.; U. Di Fabio , Der Staat 32 (1993), 191, 197 mit Verweis auf EuGH, JZ 1992, S. 787 ff, S. 788. 12 4

G. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 81.

125

J. Bast, RIW 1992, 742, 742 f.

126 Zu diesem Problem: D. Schindler, Gs Imboden, 355 ff.; P. Kirchhof, see, S. 63, 63 f. 127

H. Kelsen, Rechtslehre, S. 323 ff.

128

BGBl. 1988 II S. 902.

in: J. Isen-

129 G. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 96, unter Verweis auf J. Lorimer; vgl. auch KH. Friauf in: Friauf / Scholz, S. 11,15.

1. Teil: Natur der Rechtsgrundlagen der EG und der EU

48

Zudem kann man mit einiger Rechtfertigung befürchten, daß die kreative Vielgestaltigkeit des europäischen Raumes in einem Super-Staat Europa nivelliert wird. Auch insofern ist es bedeutsam, die Möglichkeiten der schon bestehenden Organisation zur effektiven Funktionalität auszuloten und zu verbessern. Daher stellt sich auch die Frage, wie es um die Verfaßtheit des Europa der Fünfzehn bestellt ist.

C. Das Recht der Gemeinschaften als „Verfassung" Wenn vom Primärrecht der Europäischen Gemeinschaften als „Verfassung" und dem EuGH als „Verfassungsgericht" 130 gesprochen wird, so steht dahinter oft das Bemühen, die Gemeinschaften von ihrer völkerrechtlichen Grundlage abzuheben 131 . Die entsprechende Argumentation setzt bei der tatsächlichen Bedeutung des Primärrechts an, folgert daraus ihren Charakter als Verfassung und kommt so zu staatsrechtlichen Charakteristika der Union. Der dogmatisch richtige Weg verläuft entgegengesetzt. Ausgehend von der Rechtsnatur des Gemeinschaftsrechts ist zu fragen, ob es staatsrechtlichen Charakter, d.h. eine Verfassung im eigentlichen Sinne haben kann. Erst anschließend kann auch dessen Bedeutung richtig gewertet werden 1 3 2 . Angesichts der Ergebnisse der vorangegangenen Erörterungen kann das europäische Vertragsrecht keine staatsrechtliche Verfassung sein. Gleichwohl ist die Nähe zum Staatsrecht nicht zu negieren. Daher ist es - auch unter Berücksichtigung der völkerrechtlichen Natur der eu-

130

Vgl. ζ. B. G.C. Iglesias , EuR 1992, 225 ff. Eine funktionale Einschränkung dieser Charakterisierung findet sich in der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 16. Sept. 1993 - A 3 - 0228/93, EuGRZ 1993, 600. In der Entschließung wird die verfassungsgerichtliche Funktion auf drei Gebiete beschränkt. Das Europäische Parlament nennt die Abgrenzung von Zuständigkeiten und Klärung institutioneller Rechte und Pflichten im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft oder zwischen den Organen der Gemeinschaften, die Prüfung abgeleiteten Gemeinschaftsrechts und der Entwürfe internationaler Abkommen mit den Gemeinschaftsverträgen sowie den Schutz der Grundrechte und die Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze. 131

So wohl u. a. R. Bieber/J. Schwarze, Verfassungsentwicklung, S. 22 f.; vgl. aber z.B. R. Bindschedler, Rechtsfragen, der Verfassung im materiellen Sinne bei jeder Rechtsgemeinschaft ausmacht. Vgl. auch HP. Ipsen, Verfassungsperspektiven, S. 1, der diesen Zusammenhang mit dankenswerter Deutlichkeit sichtbar macht. Differenziert auch M. Hilf, Integration 1994, 68, 70. Wie hier: A. Randelzhofer, in: Noske, 123, 128. 132

Vgl. R. Bindschedler,

Rechtsfragen, S. 21.

C. Das Recht der Gemeinschaften als „Verfassung"

49

ropäischen Staatenverbindung - nicht völlig abwegig, das Primärrecht als Verfassung zu bezeichnen.

I. Verfassungsprinzipien in den Verträgen Die Verträge der Gemeinschaften enthalten - neben organisatorischen Bestimmungen 133 - Grundsätze, die sich in ähnlicher Form auch in nationalen Verfassungen finden. Zu nennen sind hier vor allem Prinzipien grundrechtsähnlicher A r t 1 3 4 , wie etwa die Grundsätze der Abgabengleichheit (Art. 95 E G V ) 1 3 5 , der Wettbewerbsfreiheit (Art. 85 E G V ) 1 3 6 , der Nichtdiskriminierung wegen des Geschlechts (Art. 119 E G V ) 1 3 7 , die Freizügigkeit (Art. 8 EGV), das Wahlrecht (Art. 8b EGV) und das Petitionsrecht (Art. 8d EGV). Dazu gehört auch die Unabhängigkeit der Rechtsprechung (Art. 167 EGV). Neben diesen, an klassische Verfassungsgehalte anknüpfenden Prinzipien finden sich überdies Grundsätze, die auch unter dem Grundgesetz als Verfassungsgehalte anerkannt werden, etwa die harmonische und ausgewogene Entwicklung des Wirtschaftslebens, Art. 2 EGV, Preisstabilität, Art. 105 EGV, „Volks"-Gesundheit, Art. 129 EGV und der Umweltschutz, Art. 130 r E G V 1 3 8 . Damit allein wurde nun freilich kein ausgewogenes „Verfassungssystem" i.S. einer „freiheitlichen demokratischen Grundordnung" geschaffen. Dies zeigt sich schon daran, daß Probleme wie etwa die Inländerdiskriminierung 139 entstehen, ohne daß dafür in den Verträgen

133

Gegen M. Lagrange, ZHR 124, 88, 98 ist festzustellen, daß die organisatorischen Bestimmungen in den Verträgen noch kein (als Verfassung zu bezeichnendes) „loi d'organisation des pouvoirs publics" darstellen, weil sie eben nur einen Teil der „pouvoirs publics" erfassen. 134

Vgl. H.P. Ipsen, HStR, Bd. VII, § 181, 767, 797. Bei manchen der im folgenden aufgeführten Gewährleistungen verbietet es sich nicht, von Grundrechten zu sprechen. 135

Rs. 45/75, REWE, Rspr. 1976, 181, 192 ff. m.N.

136

Rs. 56 und 58/64, Consten / Grundig, Rspr. 1966, 321, 390.

137 Die unmittelbare Anwendbarkeit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer wurde in EuGH Rs. 43/75, Defrenne II, Rspr. 1975, 455, 475 festgestellt. 138

Einen Überblick gibt P.-Ch. Müller-Graff,

in: Dauses, Rdnrn. 77 ff.

139 Vgl. dazu R. Streinz, ZLR 1990, 487 ff.; W. Brohm, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1990, 132, 144 f.; Th. Schilling, JZ 1994, 8 ff.; J. Isensee, HStR V, § 111, 143,213.

4 Schmitt Glaeser

1. Teil: Natur der Rechtsgrundlagen der EG und der EU

50

umfassende Ausgleichsmechanismen vorgesehen sind, solche nachgerade nicht gewollt sind 1 4 0 .

II. Problematik des Verfassungsbegriffs Die Einordnung des primären Gemeinschaftsrechts unter der Typusbeschreibung „Verfassung" 141 ist damit also noch nicht begründet 142 . Daß die Frage, ob das Gemeinschaftsrecht Verfassungsrecht ist, Bedeutung hat, erhellt aus den Assoziationen, die der Begriff „Verfassung" weckt. Entsprechend dem Diktum Herbert Krügers, daß Verfassungs- und Rechtsstaaten heute als unfähig zur Schöpfung unverfaßter und unverrechtlichter öffentlicher Gewalt angesehen werden müssen 143 , liegt es nach alledem zwar nahe, das Primärrecht der Gemeinschaften als ihre Verfassung anzusehen 144 . Und dies ist sicher unproblematisch, wenn Verfassung lediglich als rechtliche Verfaßtheit verstanden wird, als Basis einer Rechtsgemeinschaft 145. Der Begriff der Verfassung umfaßt aber mehr. Er weckt Assoziationen der Höchstrangigkeit, Staatlichkeit und Abschließlichkeit 146 . Vor allem ist „Verfassung" in Europa nicht gleichbedeutend mit höchster Rechtsordnung. Der Begriff impliziert, daß in ihr eine menschliche Gemeinschaft grundlegend und auf bestimmt Werte bezogen „verfaßt" w i r d 1 4 7 . Von dem Gemeinschaftsrecht als Verfassung zu sprechen ist daher in unserem Rechtsraum an sich gleichbedeutend mit der Behauptung, daß die Verträge

140

Hier ist das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung zu nennen, vgl. R. Streinz, ZLR 1990, 487, 490; D. König, AöR 118 (1993), 591, 594 ff. 141

So der EuGH: „Grundlegende Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft", EuGH, EWR RIW 1992, 239, 240; (in „Gänsefüßchen") B. de Witte, LIEI 1991/2, 1, 1; D. Murswick, Der Staat 32 (1993), 161, 162; C.F. Ophüls, in: Fs Hallstein, 387 ff. u.v.m.; vgl. auch A. v.Bogdandy, in: Die Europäische Option, S. 97, 102 ff. 142

Auch nicht „mutatis mutandis", Ρ. Pescatore, in: Fs Kutscher, 319, 331.

143

DÖV 1959, 721, 725 f.

144 Vgl. z.B. M. Zuleeg, DVB1 1992, 1329, 1329. Zur Problematik, das Primärrecht als Verfassung zu bezeichnen vgl. G. F. Schuppert, Staats Wissenschaften und Staatspraxis 5 (1994), 35, 37 f. 145

A. v. Bogdandy /M. Nettesheim, in: Grabitz / Hilf, Art. 1 EGV, Rdnr. 3.

146 D. Grimm, S.22 f. m.N.; vgl. auch H. Hofmann, Staatsrechtswissenschaften und Staatspraxis 6 (1995), 155, 165. 147

Vgl. P. Pescatore, in: Fs Kutscher, S. 318, 330 ff.

C. Das Recht der Gemeinschaften als „Verfassung"

51

nicht nur die europäischen Völker einander zuordnen (vgl. Art. A UAbs. 2 EUV), sondern daß sie eine europäische Volksgemeinschaft „unter eine Verfassung bringen" 1 4 8 . Damit werden die Verträge in Konkurrenz gebracht zu den mitgliedstaatlichen Verfassungen, die für ihre Völker denselben Anspruch erheben. Es erscheint mir daher richtig, den Begriff „Verfassung" für die Grundordnungen von Staaten vorzubehalten 149 . Es ist wohl nicht zuletzt diese immer noch herrschende Vorstellung, die auch den EuGH in einer vorsichtigen Formulierung von »grundlegende[r]

Verfassung einer Rechtsgemeinschaft" 150

sprechen läßt. Damit ist eine Dynamik angedeutet, die es plausibler erscheinen läßt, von einer „sich entwickelnden Verfassung" 151 zu sprechen, die sich auf eine die Staatsverfassung auszeichnende „Abschließlichkeit" zubewegen könnt e 1 5 2 . Bestätigt wird diese Beschreibung nicht zuletzt dadurch, daß die - aus keiner modernen freiheitlichen Verfassung wegzudenkenden - Grundsätze der Freiheit, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit im EUV lediglich im 3. Absatz der Präambel niedergelegt sind. Die Anerkennung einer solchen Dynamik eröffnet u.a. auch den Weg, in bestimmten Stufen neue, eigengeartete („Verfassungs"-) Dogmatiken zu entwickeln 153 . Es folgt aber daraus nicht, daß es die Gemeinschaften selbst in der Hand hätten, aus der „werdenden Verfas-

148 Vgl. K. Stern, Grundideen, der die Bezüge des Verfassungsstaates zur Volkssouveränität herausarbeitet, insbesondere unter Verweis auf einen der Väter des modernen Verfassungsstaates James Madison , Federalist Paper Nr. 43 (S. 279): „The express authority of the people alone could give due validity to the Constitution." S. auch D. Grimm , S. 32. 149

Zu dieser Frage vgl. J Isensee, HStR I, § 13, 591, 650; W. Bernhardt , Verfassungsprinzipien, S. 53, Fn. 1; C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 3; R. Pitschas , NVwZ 1994, 635, 628; A. Randelzhofer , in: Noske, 123, 125 ff.; P. Häberle, EuGRZ 1992, 429, 431 (Verfassung und Staat als notwendige Verbindung fraglich); P-Ch. MüllerGraff in: Dauses, Rdnrn. 61 ff.; D. Grimm, S. 27 ff.; zur Frage der Staatswerdung U. Di Fabio , Der Staat 32 (1993), 191, 195 ff.; vgl. R Bieber, RuP 1991, 204, 205; M. Hilf, VVDStRL 53 (1994), 7, 20. 150

EWR-Gutachten, RIW 1992, 239, 240, Hervorhebung durch Verf.

151

/. Pernice , Grundrechtsgehalte, S. 210; W. Bernhardt, Verfassungsprinzipien, S. 53; B. Beutler, in: BBPS, S. 50 f. spricht von „formeller Verfassung". 152

HP. Ipsen, EuR 1987, 195, 196, grenzt die europäische Verfassung von der „Mitbestimmungs- und Organisationsverfassung" der Staaten ab. 153

Auch darin liegt eine Rechtfertigung gerade nicht von „Verfassung" zu sprechen, siehe auch unten: 2. Teil E. a.E.

52

1. Teil: Natur der Rechtsgrundlagen der EG und der EU

sung" eine „Verfassung" zu machen 154 . Dies zeigt sich nicht zuletzt in den Grenzen, die sich aus dem Grundgesetz einer „autonomen" Fortbildung des Gemeinschaftsrechts entgegenstellen155. Die Verträge mögen sich in den Strukturen der Gemeinschaft entwickeln, eine Weiterentwicklung

kann nur

durch die Mitgliedstaaten erfolgen, weil nur sie insofern als Glieder eines Staatenverbundes eine pouvoir constituant innehaben. Lehnt man die Charakterisierung des Primärrechts als Verfassung im klassischen Sinne ab, so ist damit noch keineswegs gesagt, daß es sich nicht gleichwohl um einen Teil einer Verfassung handeln kann 1 5 6 , um ein „Stück Verfassung" (Pierre Pescatore) 157 . Sieht man Verfassung nämlich als rechtliche Grundordnung, unter der sich das Gemeinwohl oder das öffentliche Interesse verwirklichen soll, so wird zu beachten sein, daß sich dieses Gemeinwohl inzwischen teilweise europäisiert (wenn nicht sogar globalisiert) hat. Es steht außer Frage, daß gerade in Wirtschafts- und Umweltfragen das Gemeinwohl national nicht (mehr?) optimiert werden kann. Insoweit liegt es im Interesse jedes Gemeinwesens, international zusammenzuarbeiten. Darin ist vor allem auch die Möglichkeit begründet, an sich Unbeeinflußbares zu beeinflussen, indem der Staat über die territoriale Begrenzung hinaus effektiv wirken kann. Dieser positive Aspekt der „Übertragung" von Hoheitsrechten darf aber nicht dazu verleiten, darin eine befriedigende Kompensation des Verlustes an Normierung durch die nationale Verfassung zu sehen. Natürlich erweitern sich in der Einbindung in die Union die Möglichkeiten des Staates, die Gemeinwohlverwirklichung auf breiterer Ebene zu verfolgen 158 . Dies kompensiert die Kompetenzverluste auf nationaler Ebene aber nicht, es legitimiert allenfalls die Aufgabe der Kompetenzen in Alleinverantwortlichkeit. Aus der Sicht des Verfassungsstaates ist die Kompetenzverlagerung primär ein Verlust an demokratischer und verfassungsrechtlicher Normierung der Einwirkungen auf die Einzelnen und die Gemeinschaft. Dieser Verlust wird durch die erweiterte Einflußmöglichkeit des Staates

154

So aber / Pernice , Grundrechtsgehalte, S. 210.

155

Dazu näher im 2. Teil.

156 So im Ansatz, bezogen auf den Begriff des Staatsrechts, auch J. Schwarze, JZ 1993, 585, 591; R. Bieber, RuP 1991, 204, 205 spricht von „Komplementärverfassung"; vgl. auch T. Läufer, in: Gs Grabitz, 355, 362. 157

In: Fs Kutscher, 319, 335.

158

So D. Thürer, VVDStRL 50 (1991), 97, 102.

C. Das Recht der Gemeinschaften als „Verfassung"

53

(besser: der Organe des Staates) nicht ausgeglichen: den Verfassungsstaaten Europas ist eine solch utilitaristische 159 Denkart strukturell fremd. Sieht man die Übertragung von Hoheitsrechten in der Notwendigkeit der Gemeinwohloptimierung (teil-)legitimiert und berücksichtigt man gleichzeitig und gleichwertig den Verlust an Verfassungsstaatlichkeit dieser „überstaatlichen" Gemeinwohloptimierung, so liegt es nahe, eine gegenseitige Zuordnung der europäischen „Verfassung" und der mitgliedstaatlichen Verfassungen über den Gedanken der Gemeinwohlkompetenz vorzunehmen 160 . Während dann die „Ziel- und Aufgabenbestimmungen der Verträge ... in positiver Form die ... Gemeinwohlkompetenz der Gemeinschaft" 161 umschreiben, normieren die mitgliedstaatlichen Verfassungen komplementär (aber nicht nachrangig) Verfahren und Inhalte nach denen im übrigen, und damit auch in der Gesamtheit 162 , das Gemeinwohl im europäischen Raum definiert und umgesetzt w i r d 1 6 3 . Es kann auch hier auf das Problem der Inländerdiskriminierung verwiesen werden, das alleine durch das nationale Recht „gerecht" gelöst werden kann 1 6 4 . Damit ist aber zugleich die Grundproblematik des europäischen Rechtsraumes skizziert: Wenn das Gemeinwohl heute weder alleine durch die Mitgliedstaaten noch alleine durch die Union i.w.S. zu befördern ist, dann kristallisiert sich die Frage heraus, in welchem Prozeß beide Ordnungen aufeinander ausgerichtet werden können 1 6 5 . Das Abstellen auf den Vorrang des Gemeinschafts159

Vgl. dazu allgemein: J. Rawls , S. 22 ff.

160 Auch Κ Doehring, ZRP 1993, 98, 98 betont die Gemeinwohlkompetenz als entscheidend fur die Bestimmung der Zuordnung, leitet aber aus der fehlenden Totalverantwortung der Staaten ein Fehlen von Souveränität der Staaten ab, was wohl so zu verstehen ist, daß ihnen auch nicht mehr die Primärverantwortung zukommt. 161 /. Pernice , Grundrechtsgehalte, S. 226, der von der Grundrechts- und Gemeinwohlkompetenz der Gemeinschaften spricht. Daß eine solche Beziehung besteht, kann mit P. Häberle, Öffentliches Interesse, S. 351 ff., S. 355 ff. und R. Streinz, HStR Bd. VII, § 182, 817, 838 bejaht werden; gleichwohl ist das Verhältnis der Grundrechte zur Gemeinwohlkompetenz der Gemeinschaften m.E. in dieser Art nicht zutreffend wiedergegeben; vgl. unten 4. Teil C. 162

Vgl. H.P. Ipsen, Fusionsverfassung, S. 51.; Κ Doehring, Diskussionsbeitrag in: Grundrechtsschutz, S. 82; T. Stein, VVDStRL 53 (1994), 26, 32; U. Everting, DVB1 1993, 936, 942; H. Lecheler, in: Gs Grabitz, 393, 397 f. 163

E. Klein, VVDStRL 50 (1991), 56, 59; vgl. auch /. Pernice, Die Verwaltung 1993, S. 454 f. 164

Vgl. R. Streinz, ZLR 1990, 487, 504 ff., S, 513; Th. Schilling, JZ 1994, 8, 8.

165

Vgl. auch J. Schwarze, JZ 1993, 585, 591.

54

1. Teil: Natur der Rechtsgrundlagen der EG und der EU

rechts ist dabei neu zu überdenken. So bedeutsam dieser Vorrang für das Funktionieren des europäischen Staatenverbundes sein mag, so sehr bedarf er der kritischen Betrachtung und (eventuell) Relativierung. Im weiteren Verlauf der Arbeit soll sowohl aus Sicht der BR Deutschland wie aus Sicht der Europäischen Union untersucht werden, wie die deutsche und die europäische Grundordnung einander zugeordnet sind bzw. wie sie einander besser zugeordnet werden können.

2. Teil D i e „ V e r f a s s u n g " d e r B R D e u t s c h l a n d als Mitglied der Europäischen Union

A . Erste Schlußfolgerungen aus der N a t u r der Rechtsgrundlagen der Europäischen Union Weil in einer demokratischen Ordnung, bei Fehlen eines Gesamtvolks im Bund, die Souveränität unteilbar beim Volk des Gliedstaates bleibt 1 , „folgt aus der Natur des Bundes als einer vertragsmäßigen Institution und aus dem Wesen der Souveränetät mit unerbittlicher Notwendigkeit, dass die Staaten Richter sind über Umfang der Bundescompetenz und die Verfassungsmässigkeit der Bundesbeschlüsse, dass im Falle ein Act der Bundesregierung ihnen verfassungswidrig erscheint, sie das Recht haben, von der Gesamtheit der Staaten (auf dem für Aenderungen der Bundesverfassung im Unionsvertrag vorgeschriebenen Wege) ein Urtheil über die Verfassungsmässigkeit des betreffenden Actes zu verlangen, bis dahin denselben als rechtsungiltig zu betrachten und dass, wenn trotz der Billigung des Actes durch die Staaten der in der Minorität befindliche Staat die Competenz der Bundesregierung für überschritten hält, der Austritt dieses Staates aus dem Bunde gerechtfertigt erscheint."2 „Überhaupt gilt aber für den Staatenbund der aus der Natur der Souveränetät fließende Satz, dass die Vermuthung für die Competenz der Staaten und gegen die des Bundes entscheidet. In letzter Instanz entscheidet im Conflictsfalle der Staate, die Bundeszwecke gegen seine höchsten particulären Zwecke abwägend, über seine Zuständigkeit, denn selbst der Spruch eines Bundesgerichts hat, so lange der Staat souverän bleibt, für ihn nur die Bedeutung eines Schiedsspruches, dem er kraft seiner Souveränetät Gehorsam verweigern kann."3

Übersetzt man Existenzbedingungen bzw. „höchste particuläre Zwecke" mit „freiheitliche demokratische Grundordnung" im allgemeinen und dem Demo-

1

Vgl. G. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 192.

2

G. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 193.

3 G. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 183 f.; vgl. ähnlich, wenngleich mit größerer Betonung der völkerrechtlichen Praxis X.S. Combothecra, in: Kurz, S. 1, 40; dagegen sieht E. Grabitz, in: Kruse, S. 33, 35, gerade in der Existenz des EuGH die Verdrängung der Auslegungskompetenz der nationalen Gerichte.

56

2. Teil: Die „Verfassung" der BR Deutschland als Mitglied der EU

kratieprinzip im besonderen, so sagt das BVerfG im Grundsatz nichts anderes. Es spricht davon, daß sich die „Wahrnehmung von Hoheitsgewalt durch einen Staaten verbünd wie die Europäische Union ... auf Ermächtigungen souverän bleibender Staaten [begründet], die im zwischenstaatlichen Bereich regelmäßig durch ihre Regierungen handeln und dadurch die Integration steuern." 4 Seine „Gemeinschaftsgewalt [leitet] sich von den Mitgliedstaaten [ab] und [kann] im deutschen Hoheitsbereich nur kraft des deutschen Rechtsanwendungsbefehls verbindlich wirken" 5 . Überdies bezeichnet das Gericht Deutschland als einen „der 'Herren der Verträge', die ihre Gebundenheit an den 'auf unbegrenzte Zeit' geschlossenen EU-Vertrag (Art. Q EUV) mit dem Willen zur langfristigen Mitgliedschaft begründet haben, diese Zugehörigkeit aber letztlich durch einen gegenläufigen Akt auch wieder aufheben könnten." 6 Und um das Bild abzurunden rekurriert das Gericht auch auf das letzte Element, das Jellinek als kennzeichnend für das Verhältnis des Bundes zu den Staaten bezeichnet, indem es ausführt: „Würden etwa Europäische Einrichtungen oder Organe den EUVertrag in einer Weise handhaben oder fortbilden, die von dem Vertrag ... nicht mehr gedeckt wäre, so wären die daraus hervorgehenden Rechtsakte im deutschen Hoheitsbereich nicht verbindlich." 7 Angesichts dieser geradezu deckungsgleichen Schlußfolgerungen, die das BVerfG aus der völkerrechtlichen Natur der Europäischen Union zieht, wird auch deutlich, was der Begriff des „Staatenverbundes" zum Ausdruck bringen soll. Es ist nichts anderes als der sehr weitgehende Staatenbund i.S. Jellineks8 mit direkter Gesetzgebungsbefugnis, „durch welche er sich, so lange kein tiefer Conflict in seinem Inneren herrscht, von einem Bundesstaat praktisch kaum mehr unterscheidet, wie aber auch in dieser täuschenden Umhüllung die Natur der Souveränetät in unerbittlicher Weise die Exi-

4

E 89, 155, [186].

5

E 89, 155, [190].

6 BVerfGE 89, 155, [190]; zur Frage, ob sich aus dieser Äußerung ein einseitiges Austritts- oder nur ein ein vernehmliches Auflösungsrecht herleiten läßt, vgl. die Stellungnahmen von J. Kokott, AöR 119 (1994), 207, 224 ff., H. Steinberger, in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 25, 28 und T. Stein, VVDStRL 53 (1994), 26, 32 f. 7

BVerfGE 89, 155, [188].

8 Insoweit sind die Gemeinschaften eine „neue Rechtsordnung", aber, wie der EuGH richtig feststellt, „des Völkerrechts", Rs. 26/62, Van Gend & Loos, Rspr. 1963, 3, 25; auch P. Badura, VVDStRL 23 (1966), 34, 46 f. erkennt die Rechtssetzung als Grundlage dafür, daß die Gemeinschaften eine „Rechtsordnung" haben, er sieht dies aber als entscheidendes Merkmal dafür, daß sie kein Staatenbund mehr sind, 93.

Α. Erste Schlußfolgerungen

57

Stenz der blos vertragsmäßigen Gemeinschaft zu einer bedingten, von dem Willen der Vertragsglieder ununterbrochen abhängigen macht."9

Damit markiert der Typusbegriff des „Staatenverbundes" die völkerrechtliche Staatenverbindung in einer äußerst intensiven Form, die dem Staat viel näher steht als der Allianz 1 0 . Auch wenn die Argumentation des BVerfG im Maastricht-Urteil im wesentlichen auf dem Demokratieprinzip aufbaut, so beruft es sich daneben auch auf die souveräne Staatlichkeit. Man kann insoweit davon sprechen, daß es eine „Theorie vom Staatenverbund" rechtlich aktiviert und sich so einen Freiraum schafft, der es ermöglicht, verfassungsrechtliche Existenzfragen in eigener Macht vorzustrukturieren und die Lösung künftige Konflikte schon heute zumindest in Obiter dicta zu präjudizieren. Im Zentrum steht die Bestimmung der Grenzen der Ausübung von Hoheitsrechten durch die Gemeinschaften. Dies wird relevant sowohl bei der Beurteilung des Anwendungs-Vorranges von im Rahmen der übertragenen Hoheitsrechte erlassenen Sekundärakten als auch bei der Frage, ob sich Sekundärakte in diesem Rahmen halten. Beim zweiten Problem stellt das Gericht vorrangig auf die Frage ab, ob es sich bei dem strittigen Sekundärakt um einen, einer Änderung des verfassungsgemäßen Vertrages gleichwertigen Rechtsakt handelt. Im folgenden sollen Begründung und Geltung von Gemeinschaftsrecht im innerstaatlichen Bereich untersucht werden. Dabei ist strikt zu trennen zwischen dem Problem der verfassungsrechtlichen Grenzen, denen der Integrationsgesetzgeber unterliegt, und denen, die der innerstaatlichen Geltung europäischen Rechts gesetzt sind 1 1 . Während die Anforderungen an den Integrationsgesetzgeber vom noch zu schaffenden europäischen Recht weitgehend unabhängig 9 G. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 188; vgl. dazu auch die Formulierung des BVerfG in Solange /, E 37, 271 [273]: „Das [voneinander unabhängige Verhältnis der Rechtskreise] führt zu keinerlei Schwierigkeiten, solange beide Rechtsordnungen inhaltlich nicht miteinander in Konflikt geraten." 10 Zur Begrifflichkeit siehe auch P. Kirchhoff, in: Bayerische Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Zeitfragen 1992, S. 43; dersin: Hommelhoff / Kirchhof, S. 11,12 betont das im Begriff angelegte voluntative Element der Mitgliedstaaten zur Zusammenarbeit; dann wäre aber der Begriff „Gemeinschaft" besser geeignet, vgl. W. Hallstein, Bundesstaat, S. 40; A. v.Bogdandy / M. Nettesheim, in: Grabitz / Hilf, Art. 1 EGV, Rdnrn. 4 ff.; kritisch zu der Begriffswahl des BVerfG HP. Ipsen, EuR 1994, 1, 8 und K. Meesen, NJW 1994, 549, 554. J. Frowein kommt zu der nicht einsichtigen Auffassung, der Staatenverbund i.S. des BVerfG bleibe selbst hinter dem Staatenbund zurück, ZaöRV 54 (1994), 1, 6. 11

A. Randelzhofer,

in: Maunz / Dürig, Art. 24 I GG, Rdnr. 68 ff., 129 ff.

58

2. Teil: Die „Verfassung" der BR Deutschland als Mitglied der EU

sind, steht die deutsche Rechtsordnung nach der Zustimmung zu den Verträgen (bzw. Vertragsänderungen) vor andersgearteten (und schwierigeren) Problemen.

B. Die Grenzen der „Übertragung" von Hoheitsrechten Die Unterscheidung zwischen den Grenzen, denen der nationale Gesetzgeber unterliegt und denen, die der Ausübung so übertragener Hoheitsrechte gesetzt sind, folgt aus dem grundsätzlich auf innerstaatliche

Hoheitsträger begrenzten

Adressatenkreis nationaler Verfassungsbestimmungen. Während der deutsche Integrationsgesetzgeber an die deutsche Verfassung gebunden ist, ist die europäische Hoheitsgewalt auf den ersten Blick nur an die Verträge gebunden. Dementsprechend kann die Wirkung mitgliedstaatlicher Verfassungsbestimmungen auf das Handeln nationaler Hoheitsträger weder im Hinblick auf die dogmatische Begründung noch im Hinblick auf den Inhalt identisch sein mit der, die sie auf das Handeln der zwischenstaatlichen Einrichtung hat.

I. Die Art. 23 Abs. 1 S. 2 und 24 Abs. 1 GG im Kontext der Gesamtverfassung Einschlägige Kompetenznorm für die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union ist Art. 23 GG. Diese Vorschrift löst für diesen Teilbereich der internationalen Verflechtung den Art. 24 Abs. 1 GG ab. Angesichts der Spezialität der Regelung und der Übereinstimmungen in der Wortwahl des Satzes 2 des zentralen Absatzes 1 des Art. 23 GG stellt sich die Frage, worin die Neuartigkeit gegenüber dem alten Art. 24 Abs. 1 GG zu sehen ist 1 2 . Es ist daher unverzichtbar, auch die langjährige dogmatische Auseinandersetzung mit Art. 24 Abs. 1 GG für das Verständnis des „Maastrichf'-Artikels zu erschliessen. Vergleicht man lediglich Art. 24 Abs. 1 GG und Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG, so fällt zunächst ins Auge, daß Satz 2 das Erfordernis der Zustimmung des Bun-

12 Auf keinen Fall aber die Ermöglichung der Schaffung eines europäischen Bundesstaates, wie U. DiFabio vorsichtig behauptet, Der Staat 32 (1993), 191, 197 f. Sein Argument aus Art. 23, der die Union auch auf föderative Grundsätze verpflichten will, berücksichtigt m.E. nicht, daß Föderalismus auch ein Prinzip völkerrechtlicher Staatenverbindungen ist.

Β. Die Grenzen der „Übertragung" von Hoheitsrechten

59

desrates begründet bzw. bestätigt 13 . Satz 3 enthält eine Privilegierung insoweit, als Absatz 1 des Art. 79 GG nicht zu beachten ist 1 4 . Darüber hinaus scheint Satz 3 zudem das Erfordernis einer Zwei-Drittel-Mehrheit zu begründen, eine Aussage die auf den ersten Blick befremdet. Gemäß Satz 3 soll eine ZweiDrittel-Mehrheit dann erforderlich sein, wenn durch die Übertragung das Grundgesetz geändert oder ergänzt wird; dies erscheint selbstverständlich. Daher ist fraglich, ob es der Vorschrift um die Begründung der Anwendbarkeit des Art. 79 Abs. 2 und 3 GG oder lediglich um die Affirmation der Anwendbarkeit geht. Andererseits könnte man Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG auch als Privilegierung ansehen, weil eine direkte oder indirekte Modifikation des Inhaltes der Verfassung nicht in jedem Fall unter Art. 79 Abs. 2 und 3 GG zu fallen scheint 15 .

1. Die Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union Betrachtet man zunächst die Systematik des Absatzes 1, so ist eine Grundsatz-Ausnahme-Relation zwischen Art. 23 Abs. 1 S. 2 und Satz 3 zu erkennen. Daher muß man zunächst den Grundsatz des Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG näher beleuchten. Da er die Formulierung des alten und neuen Art. 24 Abs. 1 GG im wesentlichen wiederholt, soll zunächst die schon geleistete wissenschaftliche Analyse dieser Vorschrift - vor allem in bezug auf seine Grenzen - fur die Auslegung des neuen Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG erschlossen werden.

a) Die Grenzen des Art. 24 Abs. 1 GG Die „Grenzen des Art. 24 Abs. 1 GG", von denen in der Rechtsprechung des BVerfG 1 6 und in der Literatur 17 immer wieder die Rede ist, sind zunächst die 13

Zum Streitstand vor der Einfuhrung des Art. 23 GG: A. Randelzhofer, Maunz / Dürig, Art. 24 I GG, Rdnr. 66.

in:

14

Ob dies eine „gute" Neuerung ist, mag dahinstehen. Vgl. dazu MdB H.-J. Vogel, Diskussionsbeitrag, Gemeinsame Verfassungskommission, Berlin, 22. Mai 1992, S. 29. Angesichts der von ihm formulierten erheblichen Bedenken ist es anzuraten, die Privilegierung des Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG restriktiv zu handhaben; so auch Bericht zum Entwurf des Sonderausschusses „Europäische Union (Vertrag von Maastricht)", S. 18. Vgl. auch den Gesetzentwurf der Bundesregierung, Drs. 12/3338 vom 2. 10. 1992, S. 4. 15 16

Vgl. Art. 23 Abs. 1 S. 3 Hs. 1.

Noch offengelassen in BVerfGE 22, 293 [298 f]; erstmals behandelte das Gericht die Frage in BVerfGE 37, Solange /, 271; spätere Entscheidungen: E 58, 1; E 59, 63; E

2. Teil: Die „Verfassung" der BR Deutschland als Mitglied der EU

60

Grenzen, die sich aus der Gesamtverfassung rechtlichen

Kreationsverträgen

18

für die Zustimmung zu völker-

zwischenstaatlicher

„Übertragung" von Hoheitsrechten

19

Einrichtungen

und

nach Art. 24 Abs. 1 G G ergeben

zur 20

. Zu

Recht behandelt das B V e r f G die Grenzenproblematik i m Zusammenhang m i t dem Gedanken der »Einheit der Verfassung'

21

.

Nach Konrad Hesse begründet

„der Zusammenhang und die Interdependenz der einzelnen Elemente der Verfassung ... die Notwendigkeit, nie nur auf die einzelne Norm, sondern immer auch auf den Gesamtzusammenhang zu sehen, in den sie zu stellen ist; alle Verfassungsnormen sind so zu interpretieren, daß Widersprüche zu anderen Verfassungsnormen vermieden werden."

2 2

Dieser Gedanke findet sich auch in der Konzeption von R u d o l f Streinz wieder, wenn er die grundrechtlichen Schranken „ i m Lichte" der Entscheidung zur offenen Staatlichkeit in Art. 24 Abs. 1 G G interpretiert 2 3 . M i t dem Verweis auf die Einheit der Verfassung w i r d einem zentralen Prinzip der Verfassungsinter-

68, 1; E 73, 339; E 75, 223 und E 89, 155; andere bundesdeutsche Gerichte: BVerwGE 54, 291; E 85, 266; BFHE 88, 266; E 93, 102; BGHZ 102, 118. Einen Überblick gibt E. Niebier, in: Fs Lukes, S. 495 ff. 17

W. Thieme, VVDStRL 18 (1959), 50, LS 4 spricht von „immanenten Grenzen" der Ermächtigung zur „Verfassungsdurchbrechung" nach Art. 24 GG, der „nicht zu Eingriffen in die Grundrechte [ermächtigt]". 18 So auch das BVerfG, E 73, 339 [375]: „Die Ermächtigung auf Grund des Art. 24 Abs. 1 GG ist indessen nicht ohne verfassungsrechtliche Grenzen." Siehe auch S. 387: „... nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes ...". Ähnlich 77z. Maunz, in: Maunz / Dürig, Erstkommentierung des Art. 24 Abs. 1 GG, Rdnr. 17; P. Huber, AöR 116 (1991), 210, 226 f.; /. Pernice, Grundrechtsgehalte, S. 221; treffend R. Streinz, DVB1 1990, 949, 953. 19

Zur Problematik des Begriffs der Übertragung A. Randelzhofer, in: Maunz / Dürig, Art. 24 I GG, Rdnrn. 55 ff. Zum Begriff der Hoheitsrechte ebd., Rdnrn. 29 ff. 2 0

Die früher vertretene Ansicht, daß es Grenzen der Übertragung nicht gebe (vgl., wenn auch nicht ausdrücklich, E. Menzel, VVDStRL 12 (1954), 179, 213 ff.; AT. Zweigert, RabelsZ 28 (1964), 601, 640; D. Emrich, Verhältnis, S. 125 f.; in Ansätzen auch HP. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 289 und J. Kaiser, VVDStRL 23 (1966), 1, 18, LS II. 3) wird heute ganz überwiegend abgelehnt. 21

BVerfGE 37, Solange I, 271 [279, 296]; dies betonen auch K. Stern, Staatsrecht I, S. 535, KH. Friauf, DVB1 1964, 781, 786 und P. Badura, HStR VII, § 159, 33, 42. 2 2

Grundzüge, S. 27, Rdnr. 71; zum Bezug von Einheit und System und zum dahinter stehenden Gerechtigkeitsgedanken: C-W. Canaris, Systemdenken, S. 11 ff. 2 3

Grundrechtsschutz, S. 253 f., 271 ff. Vgl. auch KH. Friauf, 11, 25: ders., DVB1 1964, 781, 786.

in: Friauf / Scholz, S.

Β. Die Grenzen der „Übertragung" von Hoheitsrechten

61

pretation Rechnung getragen, das z.B. auch bei der Begrenzung von Grundrechten eine wichtige Rolle spielt. I n engem Zusammenhang m i t diesem Prinzip steht das Gebot des „schonendsten Ausgleichs" (Peter L e r c h e ) 2 4 . Darin liegt vor allem eine Ablehnung jeglicher Güter- oder abstrakter Werteabwägung 2 5 . Folglich kann es keinen generellen Vorrang eines Verfassungsgrundsatzes geben26. Geraten der Grundsatz der „offenen Staatlichkeit" 2 7 und andere Prinzipien der Verfassung in Konflikt, so ist, wie bei anderen Normkonflikten der Verfassungsordnung auch, nicht zugunsten der einen oder der anderen zu entscheid e n 2 8 , sondern i m Wege des schonendsten Ausgleichs beiden Grundsätzen zu größtmöglicher Wirksamkeit zu verhelfen 2 9 . Dieser Schlußfolgerung aus der allgemeinen Verfassungsdogmatik scheinen die Aussagen des B V e r f G entgegenzustehen,

die

die

Grenzen

der

Übertragung

von

Hoheitsrechten

mit

2 4

P. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, bes. S. 152 f.; ders., HStR IV, § 122, 775, III ff.; K. Hesse, Grundzüge, Rdnrn. 71 f. prägte später den Begriff der „praktischen Konkordanz". Zur Nutzbarmachung dieses Gedankens für die Grenzenproblematik R. Streinz, Grundrechtsschutz, S. 247. 2 5

K. Hesse, Grundzüge, Rdnr. 72.

2 6

Vgl. für die Grundrechte R. Alexy, Theorie, S. 94 ff.; für den U.S.-amerikanischen Rechtskreis: A. Aleinikoff, 96 Yale L.J. 1987, 943, 995 ff. 2 7

Zu verorten ist diese Prinzip neben der Präambel vor allem in den Art 23 und 24. Der Begriff geht zurück auf K. Vogel, Verfassungsentscheidung, insbes. S. 42 ff. Ch. Tomuschat, VVDStRL 36 (1977), 7, 20 und HStR, Bd. VII, § 172, 483, 485 f. sieht auch einen Zusammenhang mit Art. 11 Abs. 1, 2 Abs. 1 und den Art. 5 Abs. 1, 9 Abs. 1, 12 Abs. 1,14 Abs. 1 GG, die allesamt eine öffnende Tendenz befördern. 2 8

Damit sind sowohl der These von der Nichtnormierbarkeit des staatlichen Handelns auf dem Felde der auswärtigen Politik als auch der des Verfassungsabsolutismus gegenüber dem Völkerrecht unter dem Grundgesetz nicht zu folgen; P. Badura, VVDStRL 23 (1966), 34, 41 m.N.: Das Grundgesetz beinhaltet eine „Konstitutionalisierung auch der Vertragsschließenden Gewalt". 2 9 K.H. Friauf, DVB1 1964, 781, 786 spricht von „Wertrelation"; vgl. auch J. Isensee, HStR, Bd. IV, § 98, 517, 675; in diese Richtung geht wohl auch D. Merten, in: Seminar Bettermann, S. 31, 38, der aber nur das Erforderlichkeitsprinzip, als eine dem Art. 24 Abs. 1 GG immanente Schranke, der Integrationsgewalt entgegenstellen will. Wie J. Isensee auch J. Spelten, Bundesländerkompetenzen, S. 24, der freilich aus dem Wandel zum unitaristischen Bundesstaat die Folgerung ableiten zu können glaubt, daß die Gesetzgebungskompetenz der Länder auf den ihnen noch verbliebenen Gebieten keinen essentiellen Bestandteil der bundesstaatlichen Ordnung darstellt und daher nicht mehr ins Gewicht fällt. Zum Verhältnis des Art. 24 Abs. 1 GG zu den Bestimmungen über den Bundesstaat W. Kössinger, Durchführung, S. 73.

62

2. Teil: Die „Verfassung" der BR Deutschland als Mitglied der EU

„Identität" oder „Grundgefüge der Verfassung" 30 umschreiben, also gerade nicht auf die Gesamtverfassung abstellen. Die Lehre hat sich auf der Grundlage solcher Äußerungen eingehend mit der Frage beschäftigt, ob diese „Grundstrukturen" mit den in Art. 79 Abs. 3 GG „verewigten" Grundsätzen identisch sind 3 1 , oder ob damit mehr oder weniger gemeint ist 3 2 . Während einige Autoren die Grenzen auf den Wesensgehalt der Grundrechte ausdehnen wollen 3 3 , sehen andere z.B. die Bundesstaatlichkeit nur eingeschränkt als Teil der zu schützenden „Grundstrukturen" 34 . Man kann diese Meinungen unter dem Sammelbegriff der Kembereichs-Theorien

35

bündeln. Sie alle haben mehr oder minder gemein,

daß die Grenzen, die dem Integrationsgesetzgeber gesetzt sind, hinter den „üblichen" Grenzen der Verfassung zurückbleiben. Die Autoren, die eine Beschränkung der Verfassungswirkung auf den Integrationsgesetzgeber daraus ableiten, daß Art. 24 Abs. 1 GG zur Verfassungsänderung berechtigt 36 , unterliegen dabei einem Fehlschluß 37 . Art. 24 Abs. 1 GG

3 0 BVerfGE 37, Solange I, 271 [279]; E 58, 1 [40]. Diese Formulierungen wurde in den einschlägigen Entscheidungen verschiedentlich variiert: E 59, 63 [63, 86]; E 73, 339 [375 f.]. 31 So wohl die überwiegende Meinung, vgl. die Nachweise bei Ch. Tomuschat, in: BK, Art. 24, Rdnr. 50; K. Stern, Staatsrecht I, S. 535 f. 3 2

Zum Streitstand u.a. HP. Ipsen, in: Fs Dürig, S. 151, 163.

33

Z.B. M. Zuleeg, DÖV 1975, 44, 45; G. Gorny, Verbindlichkeit, S. 138 ff.; H. Mosler, HStR, Bd. VII, § 175, 599, 635 f.; Th. Maunz, Wehrbeitrag, S. 599 ff.; wohl auch H. Hahn, Maastricht, S. 123; vgl. auch die Nachweise bei R. Streinz, Grundrechtsschutz, S. 224 f. Über Art. 79 III GG hinaus gehen auch P. Kirchhof, EuR, Beiheft 1, 1991, 11, 19 f.; M. Herdegen, EuGRZ 1992, 589, 592 f.; R Bieber, RuP 1991, 204,

212. 3 4 Besonders weitgehend E. Grabitz, in: Hrbek / Thaysen, S. 169, 171. Eine Relativierung der Grenzen des Art. 79 III GG vertreten auch: G. Eibach, Recht der Europäischen Gemeinschaften, S. 87 f. (aus einer Abwägung des Art. 79 Abs. 3 GG mit dem Prinzip der offenen Staatlichkeit); unklar N. Lorenz, Übertragung, S. 75 ff. und 409 f. G. Kisker, Kooperation im Bundesstaat, S. 130, Fn. 459 scheint davon auszugehen, daß ohne Modifikation - Art. 79 Abs. 3 GG eine strukturelle Kongruenz fordern würde. 3 5

Vgl. A. Randelzhofer,

in: Maunz / Dürig, Art. 24 I GG, Rdnr. 87.

3 6 H Claudi, S. 210 f.; J. Ter-Nedden, Schranken, S. 46 ff.; H.J. Schlenzka, EG, S. 96; G. Hoffmann, DÖV 1967, 433, 437; A. Weber, Rechtsfragen, S. 5; „klassisch" i.d.S. D. Dörr, NwVBl. 1988, 289, 292; wohl auch HP. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 55; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 204; G. Robbers, NJW 1989, 1325, 1331 f. vgl. auch die Stellungnahme der Bundesregierung vom 18. 8. 1952, in: Der Kampf um den Wehrbeitrag, Veröffentlichungen des Instituts fur Staatslehre und Politik e.V., Bd. II, 2. Halbbd., 1953, S. 5-37, 31.

Β. Die Grenzen der „Übertragung" von Hoheitsrechten

63

ermächtigt zwar bzgl. der Änderung der grundgesetzlichen Kompetenzordnung 3 8 zur Verfassungsänderung durch einfaches Gesetz 39 . Ansonsten wäre die vom Verfassungsgeber gewollte Privilegierung hinfällig. Insoweit folgt aus dem Telos der Vorschrift, daß Art. 79 Abs. 1 und 2 GG in dieser Hinsicht durch Art. 24 Abs. 1 GG als lex specialis verdrängt wird. Schlußfolgerungen auf eine weitergehende Kompetenz zur einfachgesetzlichen Verfassungsänderung 40 läßt dies aber nicht zu. Jede Auffassung, die begründen will, daß bei der „Übertragung" von Hoheitsrechten durch den einfachen Gesetzgeber auf der Grundlage des Art. 24 Abs. 1 GG nicht die Gesamtheit der grundgesetzlichen Regeln und Prinzipien 41 zu beachten ist, trägt die Beweislast dafür, daß es sich bei Art. 24 GG um eine aus dem Kontext der Gesamtverfassung gelöste Norm mit absolutem Charakter handelt, um eine „Über-Verfassungsnorm". Ungeachtet der Tatsache, daß Art. 24 Abs. 1 GG sicherlich keine Verfassungsnorm wie jede andere ist, kann ein solcher Nachweis weder mit grammatikalischen noch systematischen noch teleologischen und sicher nicht mit historischen Argumen-

Wie hier KH Friauf, DVB1 1964, 781, 786 und P. Badura, VVDStRL 23 (1966), 34, 67; ders. ZfschweizR 109 (1990), 115, 123; ders. HStR VII, § 159, 33, 42, der den materiell verfassungsändernden Charakter des Gesetzes nach Art. 24 Abs. 1 GG allein in der Integration als solcher sieht; ähnlich K. Stern, Staatsrecht I, S. 533. 3 7

R. Streinz, Grundrechtsschutz, S. 219, spricht von einer Petitio principii.

3 8 P. Huber, AöR 116 (1991), 210, 226; BVerfGE 58, Eurocontrol /, 1 [36], E 59, 63 [90]; H Mosler, HStR, Bd. VII, § 175, 599, 605; mit Caveat auch A. Randelzhofer, in: Maunz / Dürig, Art. 24 I GG, Rdnr. 10. 3 9 A. Randelzhofer, in: Maunz / Dürig, Art. 24 I GG, Rdnr. 64; vgl. auch Carlo Schmid im Parlamentarischen Rat, Die Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, JöR 1 (1951), 224. 4 0

Am weitesten geht wohl J. Kaiser, VVDStRL 23 (1966), 1, 18, der auf der Grundlage, die Konstituierung der Europäischen Gemeinschaften sei Verfassungsgebung (ablehnend A. Randelzhofer, in: Maunz / Dürig, Art. 24 I GG, Rdnr. 6) alle Grenzen, auch die des Art. 20 GG fallen läßt. Dagegen R. Streinz, Grundrechtsschutz, S. 219.; W: Schätzet, Wehrbeitrag, S. 620, 637; vgl. auch W. Thieme, VVDStRL 18 (1959), 50, 62, der die Reichweite der Verfassungsdurchbrechung bei den Grundrechten beendet sehen will. 4 1

Die Unterscheidung von Regeln und Prinzipien wurde in Deutschland zuletzt vor allem von Robert Alexy dogmatisch erarbeitet; Ursprünge finden sich freilich schon bei Κ Engisch, Einheit der Rechtsordnung, S. 4: „Die Rechtsordnung besteht aus Sollenssätzen, aus Sätzen, die - wenigstens ihrem letzten Gehalte nach - bestimmen, wie sich der Rechtsgenosse allgemein oder hier und jetzt verhalten soll" [Hervorhebung durch Verfasser].

64

2. Teil: Die „Verfassung" der BR Deutschland als Mitglied der EU

ten geführt werden 42 . Denn nicht einmal eine Einreihung unter die zum „materialen Kern" (Konrad Hesse) des Art. 79 Abs. 3 GG gehörenden Verfassungsentscheidungen (Art. 1 oder 20 G G ) 4 3 könnte den Art. 24 GG aus dem Gesamtkontext der Verfassung heben. Auch diese Entscheidungen sind nicht generell vorrangig 44 . Die Geschlossenheit des Grundgesetzes macht Art. 24 somit lediglich „zu einem Stein im Verfassungsmosaik, der das Gesamtgemälde der Verfassung mitprägt, jedoch seine Abgestimmtheit und Ausgewogenheit nicht verfälschen darf." 4 5 Die Internationalität des Grundgesetzes ist eben nur ein Teil seines Wesens und nicht Sinn und Zweck der Verfassungsordnung 46. Die Berücksichtigung struktureller Eigengesetzlichkeiten internationaler Organisationen, wie sie u.a. von Christian Tomuschat 47 gefordert wird, ist abzulehnen, wenn damit eine einschränkende Interpretation anderer verfassungsrechtlicher Bestimmungen im Vorfeld

der Abwägung mit dem Grundsatz des 48

öffhungsbereiten Staates verbunden ist . Darin liegt eine Ausdehnung des Prinzips der völkerrechtsfreundlichen Interpretation 49 auf die Auslegung der Verfassungsentscheidung für die Internationale Zusammenarbeit, die zu einer

4 2

Ähnlich P. Huber, AöR 116 (1991), 210, 225, 228; Tk Maunz,, Wehrbeitrag, S. 591 ff., insbes. 605; R. Streinz, Grundrechtsschutz, S. 250 f.; E. Forsthoff, Wehrbeitrag, S. 312, 332. 4 3

So E. Benda/E. Klein, DVB1 1974, 389, 393 f.; O. Rojahn, in: v. Münch, Art. 24 GG, Rdnr. 30; A. Ruppert, Integrationsgewalt, S. 238 ff. Noch weiter ging U. Scheuner, Wehrbeitrag, S. 94, 138; vgl. dazu das „kräftige Wörtchen" von Κ Loewenstein, Wehrbeitrag, S. 337, 386 f. 4 4

Vgl. den Diskussionsbeitrag des Abg. H.-J. Vogel, Gemeinsame Verfassungskommission, Berlin, 22. Mai 1992, S. 29: „Ist es verfassungspolitisch wirklich in Ordnung, daß wir das Grundgesetz in drei Schichten teilen: unabänderlich, wesentlich und unwesentlich? Der Begriff der unwesentlichen Verfassungsnorm ist der Verfassungslehre, wenn ich es richtig verfolgt habe, verhältnismäßig selten oder neu." 4 5

P. Kirchhof, EuR, Beiheft 1, 1991, 11, 13; ders., EuGRZ 1994, S. 19; ders. in: Hommelhoff/Kirchhof, S. 11, 14. 4 6

Zur Teleologie der Verfassung vgl. D. Göldner, S. 14 ff. 4 7

Integration und Pluralismus,

In: BK, Art. 24, Rdnr. 7.

4 8 So aber ders., Rdnr. 50; ablehnend auch A. Randelzhofer, 24 I GG, Rdnr. 26. 4 9

in: Maunz / Dürig, Art.

Dazu Ck Tomuschat, HStR VII, § 172, 483, 499 ff.; H. Lauterpacht, Collected Papers, S. 157 f.

Β. Die Grenzen der „Übertragung" von Hoheitsrechten

65

unvertretbaren Verdoppelung der Wirkung des Art. 24 Abs. 1 GG führte 50 . Denn während die völkerrechtsfreundliche Interpretation an schon bestehendes Völkerrechts anknüpft, soll der gesetzgeberische Akt nach Art. 24 Abs. 1 GG noch zu schaffendem

Völkerrecht Durchgriffswirkung verleihen. Auch wenn

Art. 24 Abs. 1 GG als Teil des Verfassungssystems Relevanz für die (systematische) Auslegung der Verfassung haben kann, so muß doch dieser Aspekt im Prozeß der Abwägung mit dem in ihm normierten Grundsatz der offenen Staatlichkeit 51 unberücksichtigt bleiben. Art. 24 Abs. 1 GG rechtfertigt - für sich alleine gesehen - noch „nicht das Antasten von Verfassungsgehalten, das nur im Zusammenhang mit der Übertragung von Hoheitsrechten steht" 52 . Dies wird von den meisten Vertretern der sog. Kernbereichs-Theorien nicht hinreichend berücksichtigt 53 . Neben den schon genannten Gründen für diese Beschränkung der Wirkkraft des Grundgesetzes gegenüber dem auf der Grundlage des Art. 24 Abs. 1 GG mit einfacher Mehrheit handelnden Integrationsgesetzgeber ist zudem auch die unzulängliche Unterscheidung zwischen der Schrankenziehung gegenüber dem Integrationsge-

5 0

So aber O. Rojahn, in: von Münch, Art 24 GG, Rdnr. 1.

51 A. RandeIzhofer, in: Maunz / Dürig, Art. 24 I GG, Rdnrn. 17; zu den Funktionen des Art. 24 Abs. 1 GG allgemein: Rdnrn. 4 ff. 5 2 P. Lerche, Stellungnahme, S. 2; ähnlich auch P. Badura, ZfschweizR 109 (1990), I. Halbbd., 115, 122 und ders., Staatsrecht, S. 136. 53 Eine eigengeartete Konstruktion errichtet G. Eibach, Recht der Europäischen Gemeinschaften, S. 65 ff. In dem Zustimmungsgesetz zu Verträgen, die eine zwischenstaatliche Einrichtung begründen, sieht er ein Gesetz mit rechtlich zu trennender Doppelfunktion. Weil das Gesetz nach Art. 24 Abs. 1 GG ein Admissionsgesetz ist (S. 66), transformiert es nicht und ist daher zwar als solches nationales Recht, bezieht sich aber auf Recht, das europarechtlich zu qualifizieren ist (S. 67). Das europäische Recht ist daher dem Gesetzgeber nach Art. 24 Abs. 1 GG vorgegeben, wird nicht von ihm geschaffen (S. 67). Letzteres ist zwar zutreffend, es reduziert aber den normativen Inhalt des Gesetzes nach Art. 24 Abs. 1 GG keineswegs, weil das zuzulassende Recht eben noch nicht gültig ist und ohne Admission die Bundesrepublik dem Vertrag nicht zustimmen darf. Im Ergebnis ist dies eine spitzfindige Konstruktion, die den Gehalt des Gesetzes nach Art. 24 Abs. 1 GG reduzieren will. Die Schwäche der Konstruktion zeigt sich auch in den Konsequenzen. Eibach rekurriert in der Folge auf die Einschränkungen der Verfassungsmaßstäblichkeit, die das BVerfG für die Bewältigung der Kriegsfolgen entwickelt hat (s.u. Fn. 264). Eine Vergleichbarkeit besteht aber bei der Zustimmung zur Errichtung zwischenstaatlicher Einrichtungen nicht, weil ohne Admission des Rechts die Verfassungswirklichkeit keineswegs der Verfassung weniger gerecht ist als nach der Admission.

5 Schmitt Glaeser

66

2. Teil: Die „Verfassung" der BR Deutschland als Mitglied der EU

setzgeber und gegenüber Gemeinschaftsakten zu nennen 54 . Dies zeigt sich vor allem am Umgang mit der einprägsamen und inzwischen allgemein eingeführten Formel von der „offenen Staatlichkeit" (Klaus Vogel). In dieser weiten Fassung ist der Begriff nicht differenziert genug 55 . Bevor einem völkerrechtlichen Vertrag zugestimmt wurde, ist der Staat noch nicht „offen". Denn gleichgültig wie man das Verhältnis des staatlichen zum internationalen Recht bestimmt, fest steht, daß das Völkerrecht in seiner Weiterbildung auf Entscheidungen der Staaten angewiesen ist. Die rechtliche (nicht unbedingt die politische) Einwirkung des zwischenstaatlichen Rechts in contrahendo auf das nationale Recht vor der Schaffung oder Fortschreibung des zwischenstaatlichen Rechts ist abzulehnen. Genausowenig beinhaltet das Grundgesetz ein Prinzip der Öffnungspflicht bezüglich einer konkreten zwischenstaatlichen Einrichtung. Auch wenn man eine Pflicht zur europäischen Zusammenarbeit annehmen wollte, die sich dann wohl primär aus der Präambel und Art. 23 GG herleiten ließe 56 , kann eine solche Pflicht nicht bedeuten, daß irgendeinem Vertragsentwurf, der in diese Richtung geht, die Zustimmung nicht verweigert werden dürfte. Daß dies nicht immer klar erkannt wird, zeigt sich in Äußerungen der Literatur, wonach eine strenge Grenzziehung bestimmte Integrationsformen unmöglich mache 57 . Eine solche Argumentation verwandelt das Grundgesetz in ein „Repositorium der gängigen Werte" (Ernst Forsthofï) 58 . Es zeigt sich auch hier wieder die Tendenz, der Verfassung in bezug auf die europäische Integration einen Telos zu verordnen, der in dieser Absolutheit nicht aus ihr hergeleitet werden kann 5 9 . Es kann nämlich kaum ernsthaft bezweifelt werden, daß der Bundesgesetzgeber nicht gegen die Verfassung verstößt, wenn er sich dem Beitritt zu einer zwi-

5 4 Besonders deutlich wird dies bei K. Stern, Staatsrecht I, S. 536, der darin nur zwei unterschiedliche Aspekte sieht. 55 Dieser Vorwurf trifft den Urheber selbst nicht, der von einer „grundsätzlichen Bereitschaft zur Zusammenarbeit und Einordnung" spricht, K. Vogel, Verfassungsentscheidung, S. 41 f.; ähnlich K. Stern, Staatsrecht I, S. 519. 56 Vgl. KD. Jarass, in: Jarass / Pieroth, Art. 23 GG, Rdnr. 3; I. Pernice , HStR VIII, § 191,225, 228 f. 57 In dieser Richtung Κ Claudi , S. 211; O. Rojahn, in: ν. Münch, Art. 24 GG, Rdnr. 31; H.-J. Blanke, in: Gegenwartsfragen, S. 53, 55 f.; in bezug auf Länderkompetenzen im Ansatz auch E. Grabitz, AöR 111 (1986), 1, 5 f.; gegen eine solche „politische" Relativierung der Verfassung C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 191 und, im Anschluß, E. Forsthoff, Wehrbeitrag, S. 312, 319. 5 8 5 9

Verfassungsauslegung, S. 38.

Zum Verhältnis Teleologie der Verfassung und Verfassung als Normgefüge: D. Göldner, Integration und Pluralismus, S. 15 m.w.N.

Β. Die Grenzen der „Übertragung" von Hoheitsrechten

67

schenstaatlichen Einrichtung aus politischen Gründen verweigert 60 . Und die legitimsten Gründe sind die in der Verfassung enthaltenen Rechtsnormen 61. Es ist daher zu unterscheiden: Für den Integrationsgesetzgeber normiert Art. 23 Abs. 1 GG den Grundsatz des „öffhungsbereiten Staates", während die „offene Staatlichkeit' erst nach der Öffnung besteht. Richtet man das Augenmerk alleine auf den mit einfacher Mehrheit befugten Gesetzgeber nach den Art. 24 Abs. 1 und 23 Abs. 1 S. 2 GG, so ist von der Feststellung des BVerfG auszugehen, daß die Art. 24 Abs. 1, 23 Abs. 1 S. 1 GG, „wie jede Verfassungsbestimmung ähnlich grundsätzlicher Art im Kontext der Gesamtverfassung verstanden und ausgelegt werden" muß 6 2 . Damit ist aber die „Identität der Verfassung" in bezug auf den Gesetzgeber nichts anderes als ihre Regeln und die Gesamtheit ihrer Grundsätze in einem bestimmten Abwägungsendzustand. Will also die BR Deutschland einer zwischenstaatlichen Einrichtung Hoheitsrechte „übertragen", so liegt darin zwar notwendig eine Änderung der verfassungsrechtlichen Zuständigkeitsordnung 63. Daneben können aber durch diesen Vertrag und das Zustimmungs- und Übertragungsgesetz Ge- oder Verbote

6 0 So aber tendenziell E. Grabitz, Gemeinschaftsrecht, S. 57; vgl. dagegen A. Randelzhofer, in: Maunz / Dürig, Art. 24 I GG, Rdnr. 18; siehe auch schon H. Kelsen, Rechtslehre, S. 343. 61

In diesem Zusammenhang sei auch auf Art. 1 Abs. 2 GG hingewiesen, der für die Grundrechte, soweit sie Menschenrechte sind, eine Bindung in jeder Gemeinschaft, also auch in einer zwischenstaatlichen Einrichtung, fordern. Vgl. im übrigen KH. Friauf DVB1 1964, 781,782. 6 2

E 37, 271 [279]. Bestätigt wird dies auch in der späteren Rechtsprechung, vor allem in E 75, 223 [240], wo auf „rechtsstaatliche Grenzen" Bezug genommen wird und von den Grenzen gesprochen wird, „die einer Übertragung von Hoheitsrechten nach Art. 24 Abs. 1 GG von Verfassungs wegen gesetzt sind". Vgl. auch E 80, 74 [80 f.] (Bundesstaat). Es ist bemerkenswert, daß auch das spanische Tribunal Constitutional, Declaratión 108/1992, EuGRZ 1993, 285, 289 und der französische Conseil Constitutionel, Décision N ° 92-308 DC, EuGRZ 1993, 187, 189, zumindest in der Grundidee, vergleichbar argumentieren. 63 Soll, um ein verhältnismäßig einfaches Beispiel zu wählen, eine zwischenstaatliche Einrichtung gegründet werden, der das Post- und Fernmeldewesen mehrerer Staaten übertragen wird (der Internationalen Fernmeldeunion vom 30. Juni 1989, BGBl. 1994 II, S. 147 ff. wurden keine Hoheitsrechte übertragen), dann wird dadurch notwendigerweise Art. 73 Nr. 7 GG insofern geändert, als er der tatsächlichen Verfaßtheit in der Bundesrepublik nicht mehr entspricht. Dazu wäre eine Änderung der Bestimmung unter dem Gesichtspunkt der Klarstellung wünschenswert, nicht aber erforderlich.

68

2. Teil: Die „Verfassung" der BR Deutschland als Mitglied der EU

des Grundgesetzes verletzt 64 und Verfassungsprinzipien gegenüber der bisherigen Rechtslage eingeschränkt bzw. übermäßig relativiert werden 65 . Für den ersten Fall, d.h. die Verletzung eines Ge- oder Verbotes des Grundgesetzes bedeutet dies, daß das Grundgesetz geändert werden muß, daß also Art. 24 Abs. 1 GG die Zustimmung zu dem Vertrag alleine nicht deckt. Im zweiten Fall, in dem ein Verfassungsgrundsatz relativiert wird, ist zu fragen, ob diese Relativierung - auch angesichts der Öflhungsbereitschaft des Grundgesetzes - verhältnismäßig ist, oder ob diese Änderung das „Sein-Sollen" (Hermann Heller) eines bestimmten Zustandes66 in der Bundesrepublik so stark relativiert, daß wiederum eine Verfassungsänderung notwendig wird 6 7 . Wenn diese - die Identität der geltenden Verfassung konstituierenden - Strukturen aufgehoben werden, d.h. wenn der Integrationsgesetzgeber in den Bereich der notwendigen Verfassungsänderung tritt, sind die Grenzen des Art. 24 Abs. 1 GG erreicht. Dies bedeutet freilich nicht, daß die Bundesrepublik in der Konsequenz unfähig zur Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen eines bestimmten ausgehandelten Vertrages wäre. Es bedarf dann aber der verfassungsändernden Mehrheit. Für einen solchen Akt erlangte Art. 79 GG Relevanz 68 .

6 4 Im Fall der (fiktiven) Post- und Fernmeldeunion (Fn. 63) könnte der Vertrag z.B. vorsehen, daß Eingriffe in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis alleine von einer internationalen Kommission überprüft werden. 6 5

So könnte der Vertrag (Fn. 63) vorsehen, daß Telefonate von Privaten auch ohne Einwilligung für Beweiszwecke in Zivilprozessen immer mitgeschnitten werden dürfen (vgl. § 201 StGB). Diese Vertragsbestimmung soll hier z.B. dadurch bedingt sein, daß alle anderen beteiligten Staaten diese Einschränkung kennen und sich die Bundesrepublik bei den Verhandlungen mit ihren Vorstellungen nicht durchsetzen konnte. 6 6

Staatslehre, S. 222; R. Alexy, Theorie, u.a. S. 133.

6 7 Im Beispielsfall (Fn. 63) bedürfte es grundsätzlich einer Verfassungsänderung, weil die Einschränkung auch unter Berücksichtigung des berechtigten Interesses der Beweisführung in Zivilprozessen das für einen freien Austausch von Gedanken notwendige Vertrauen in das Geheimnis des gesprochenen Wortes unverhältnismäßig (im engeren Sinne) erschüttern würde. Eine Berücksichtigung des Prinzips der offenen Staatlichkeit könnte hier nur dann zu anderen Ergebnissen führen, wenn diese Beschränkung gerade wegen der Internationalisierung des Sachgebietes notwendig ist. Da aber das gegenüber dem in Art. 10 Abs. 1 GG verankerten Prinzip angeführte Interesse keinen Bezug zur Internationalisierung hat, bleibt es bei der Notwendigkeit, nach Art. 79 GG vorzugehen. 6 8

Daß Art. 24 Abs. 1 GG ein Übertragungsgesetz dort nicht mehr trägt, wo eine Verfassungsänderung notwendig wird vertritt auch P. Huber, AöR 116 (1991), 210, 227. Zum Meinungsstand: A. Randelzhofer, in: Maunz / Dürig, Art. 24 I GG, Rdnr. 70; siehe auch Rdnr. 86.

Β. Die Grenzen der „Übertragung" von Hoheitsrechten

69

Daß es sich bei der Feststellung der „Grenzen des Art. 24 Abs. 1 GG" in aller Regel 69 um einen Abwägungsvorgang handelt, bestätigte das BVerfG in Eurocontrol I. Dort zieht es nicht, wie noch in Solange I, „den Grundrechtsteil" 70 als Grenze heran, sondern die ihm zugrundeliegenden Rechtsgrundsätze 71. Während die Nachrüstungs-Entscheidung Art. 79 Abs. 3 GG als einschlägige Grenzennormierung zu bezeichnen scheint 72 , spricht die Solange IiEntscheidung wieder uneingeschränkt von den, den Grundrechten zugrundeliegenden Rechtsprinzipien 73 .

b) Konsequenzen für die Auslegung des Art. 23 Abs. 1 S. 2 und 3 GG Sieht man von der Einführung einer Privilegierung hinsichtlich des Art. 79 Abs. 1 GG ab, so ist durch Art. 23 Abs. 1 GG eine weitergehende Einschränkung der Übertragungsermächtigung des mit einfacher Mehrheit handelnden Gesetzgebers nicht eingeführt worden 74 . Vor allem spricht die Systematik des Absatzes 1 dagegen, das Tatbestandselement der Grundgesetzänderung oder ergänzung in Satz 3 auf Eingriffe in die Kompetenzordnung des Grundgesetzes zu beziehen 75 . Dies vertritt aber die Bundesregierung in der Begründung zum Entwurf vom 2. 10. 1992 76 . Weil die Übertragung von Hoheitsrechten als solche immer mit einer Veränderung der verfassungsrechtlichen

Zuständigkeitsbestimmungen

verbunden ist, soll sie (gerade deswegen) als Fall des Satz 3 anzusehen sein. Damit wäre aber dem Satz 2 jeglicher Anwendungsbereich genommen. Die Vorstellung, der Anwendungsbereich des Satz 2 sei dann eröffnet, wenn

6 9

Wenn nicht Regelungen des Grundgesetzes den Normierungen eines Vertrages unmittelbar widersprechen. 7 0

BVerfGE 37, 271 [280].

71

BVerfGE 58, 1 [40].

7 2

BVerfGE 68, 1 [96].

73

BVerfGE 73, 339 [376].

7 4

Vgl. aber Gesetzentwurf der Bundesregierung, Drs. 12/3338 vom 2. 10. 1992,

S. 7. 75

Dazu oben unter a); vgl. auch R. Scholz, NVwZ 1993, 817, 821; a.A. KD. Jarass, in: Jarass / Pieroth, Art. 23 GG, Rdnr. 8 f. 7 6

Drs. 12/3338 vom 2. 10. 1992.

70

2. Teil: Die „Verfassung" der BR Deutschland als Mitglied der EU

„Änderungen des Unionsvertrages zu ratifizieren sind, die von ihrem Gewicht her der Gründung der Europäischen Union nicht vergleichbar sind und insoweit nicht die 'Geschäftsgrundlage 1 dieses Vertrages betreffen" 77 , ist weder mit ihrem Entwurf noch mit der jetzt geltenden Fassung vereinbar. Zudem ist völlig unklar, was „vergleichbar" sein soll. Der Bundesrat ging in seiner Stellungnahme noch weiter, indem er auch die Ausnahme der „nicht vergleichbaren Änderung" in der von der Bundesregierung vertretenen Weite nicht anerkannte 78. Im Bericht zum Entwurf des Sonderausschusses „Europäische Union (Vertrag von Maastricht)" wurde dann ausgeführt, Satz 3 erfasse sämtliche weiteren Übertragungen von Hoheitsrechten 79. Als verbleibende Anwendungsfälle des Satz 2 bezeichnete der Bericht Veränderungen des Vertrages auf der Grundlage von sog. Evolutivklauseln,

von Klauseln also, die, wie Art. K.9 EUV

oder Art. 138 Abs. 3 und Art. 201 EGV, für die Fortschreibung des Vertrages in einigen Bereichen lediglich einen einstimmigen Beschluß des Europäischen Rates und die Ratifizierung erfordern 80 . Satz 2 soll nur dann Anwendung finden, wenn solche Veränderungen mit einer Änderung des Vertrages nicht vergleichbar sind 8 1 . Da aber die Einräumung einer Ermächtigung eine Hoheitsrechtsübertragung ist, bleibt für Satz 2 nach dieser Auffassung kein Anwendungsbereich mehr übrig 8 2 . Im Ergebnis legt damit der Ausschuß den Satz 2 so

7 7

Gesetzentwurf der Bundesregierung, Drs. 12/3338 vom 2. 10. 1992 S. 7.

78

Stellungnahme des Bundesrates zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, Drs. 12/3338 vom 2. 10. 1992 S. 12. Die Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates, Drs. 12/3338 vom 2. 10. 1992 S. 14 versteht die Stellungnahme des Bundesrates offensichtlich falsch, indem sie ihm unterstellt, er wollte ,jede förmliche Änderung des Unions-Vertrages" unter Satz 3 fassen. 7 9

Drs 12/3896 vom 1. 12. 1992, S. 14 ff., insbesondere S. 18.

8 0 Ebd., S. 18; vgl. auch Beitrag des Finanzausschusses zum Bericht des federführenden Sonderausschusses „Europäische Union (Vertrag von Maastricht)" zum Entwurf eines Gesetzes zum Vertrag vom 7. Februar 1992 über die Europäische Union - Drucksache 12/3334, Drs. 3895, S. 42 f. 81

Drs 12/3896 vom 1. 12. 1992, S. 18 f.; Diese Formulierung entspricht der Formulierung des BVerfG zum Ausgangspunkt der Bestimmung der Grenzen gegenüber Sekundärakten. Ob die Formulierung wirklich darauf bezogen ist, kann aus den Materialien nicht entnommen werden. 8 2

So fragt auch A. Randelzhofer, in: Maunz / Dürig, Art. 24 I GG, Rdnr. 203, warum ein Anwendungsfall für Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG überhaupt gesucht wurde. MdB Dr. Müller: „Nunmehr wird die Übertragung von Hoheitsrechten in europäischen Angelegenheiten an die Europäische Union immer an eine Zweidrittelmehrheit gebunden" (S. 4

Β. Die Grenzen der „Übertragung" von Hoheitsrechten

71

aus, daß er gerade keine Fälle der „Übertragung" von Hoheitsrechten normiert, sondern nur solche Änderungen der Verträge, die derartige Übertragungen nicht beinhalten 8 3 . Wollte man alleine auf die Materialien abstellen, so entstünde ein krasser und untragbarer Widerspruch zum Wortlaut und zur Systematik innerhalb des Art. 23 Abs. 1 G G 8 4 . Daher ist trotz der "Frische" der verfassungsrechtlichen Neuregelung auch hier die grammatikalische und systematische Auslegung vor die historische Auslegung zu stellen und Satz 3 des Art. 23 Abs. 1 G G auf die Fälle zu beschränken, in denen aus der Übertragung von Hoheitsrechten - neben der notwendigen Änderung der grundgesetzlichen Zuständigkeitsordnung - eine Verletzung der grundgesetzlichen Verfassungsordnung folgen w ü r d e 8 5 . Das ist keine Mißachtung der verfassungsändernden Gewalt, sondern eine Achtung vor dem Gesetz gewordenen W i l l e n des grundgesetzlichen Verfassungsgesetzgebers86.

des Sten. Berichts über die Sitzung der Gemeinsamen Verfassungskommission); vgl. auch Wilhelm, BayVBl 1992, 705, 707. 83

Zustimmend P. Wilhelm,

BayVBl 1992, 705, 707; R. Breuer, NVwZ 1994, 417,

423. 8 4

Wie H. Schnoor, Stenographischer Bericht über die Sitzung vom 26. 6. 1992, S. 6, dazu kommt, von einer ,,klare[n] Regelung" zu sprechen, ist angesichts dieser Widersprüchlichkeiten schleierhaft. 85 Gegen W. Fischer, ZParl 1993, 32, 40; wie hier R. Streinz, Europarecht, S. 60, Rdnr. 210 c; im Ansatz auch R. Scholz, NVwZ 1993, 817, 822, der aber m.E. seinen Widerspruch zum ausgedrückten Willen des Gesetzgebers „gnädig verschleiert", indem er die eindeutigen Aussagen (s.o.) gegen ihren Gehalt mißversteht. Im Ergebnis (III 2 c a.E.) kommt er aber wiederum gegen seine vorangegangenen Ausführungen zu der Schlußfolgerung, daß Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG nur in den Fällen Anwendung findet, die keine Hoheitsrechtsübertragung darstellen. Die Auffassung U. Everlings, DVB1 1993, 936, 944, wonach eine sinnvolle Auslegung nur zur Folge haben kann, daß „Art. 79 Abs. 2 und 3 GG bei jeder Übertragung von Hoheitsrechten im Bereich der Union angewendet werden und Satz 3 des Art. 23 Abs. 1 GG keine weitere Bedeutung zugemessen wird" ist keine Auslegung, sondern mißachtet den Wortlaut der Vorschrift. 8 6 Auch das BVerfG scheint von der hier vertretenen Auffassung auszugehen, wenn es davon spricht, daß nach Art. 23 Abs. 1 GG fur die Erweiterung der Befugnisse der Europäischen Union „ein Gesetz erforderlich ist, das unter den Voraussetzungen des Satz 3 der qualifizierten Mehrheiten des Art. 79 Abs. 2 GG bedarf', E 89, 155 [190 f.]; Hervorhebung durch Verf.

72

2. Teil: Die „Verfassung" der BR Deutschland als Mitglied der EU 2. Schlußfolgerungen für die „ Grenzen des Art. 23 Abs. 1 GG " Muß nach alledem der Integrationsgesetzgeber auf der Grundlage der Art. 23

Abs. 1 S. 2, Art. 24 Abs. 1 GG - genau wie in anderen Fällen auch - entgegenstehende Regeln des Grundgesetzes beachten und im übrigen eine praktische Konkordanz mit den betroffenen Verfassungsprinzipien erreichen, so stellt sich die Frage nach den Grenzen der Art. 23 Abs. 1 S. 2, 24 Abs. 1 GG nicht mehr in der theoretischen Abstraktion, die der h.M. eine fundierte Begründung ihrer Grenzenziehung in bezug auf Art. 24 Abs. 1 GG erschwert; vor allem scheidet Art. 79 Abs. 3 als Orientierung aus. Weil das Ergebnis einer verfassungsrechtlichen Abwägung nur im Einzelfall (hier: bezogen auf den zu ratifizierenden Vertrag) gefunden werden kann, ist den betroffenen Verfassungsgrundsätzen im Lichte der grundgesetzlichen Entscheidung für den öffhungsbereiten Staat zu größtmöglicher Wirksamkeit zu verhelfen; ansonsten bedarf es der Verfassungsänderung. Die hier entwickelte dogmatische Grundlegung der Schranken der Art. 23 Abs. 1 S. 2 und 3, Art. 24 Abs. 1 GG eröffnet nun beileibe keine Lösung des Problems, vor dem Gesetzgebung und (gegebenenfalls) Rechtsprechung angesichts eines konkreten Vertragsentwurfes stehen. Zwar wird nun der Geltungsanspruch der Verfassung m.E. angemessen gewürdigt. Wie er umzusetzen ist, ist damit noch nicht gesagt.

a) Strukturelle Kongruenz Ein Lösungsansatz, der vordergründig zu einer Optimierung der Verfassungsprinzipien im Recht der zwischenstaatlichen Einrichtung führt, ist die Forderung nach struktureller Kongruenz oder, eingeschränkt, nach Homogenität der Wertvorstellungen. Als erster stellte Herbert Kraus die These auf, daß nach Art. 24 Abs. 1 GG Hoheitsrechte nur auf zwischenstaatliche Einrichtungen „übertragen" werden können, die der „innerstaatlichen Bundesverfassungsordnung" in dem Sinne kongruent sind, als sie eine „der Bundesverfassung entsprechende demokratische, föderalistische und rechtsstaatliche Verfassung" haben 8 7 . Die Stärke dieser Theorie liegt in der (vordergründigen) Einfachheit der Bestimmung des Verhältnisses von nationalem zu zwischenstaatlichem Recht. Die Trennung zwischen den Schranken der Übertragung und den Schranken, die Akten der zwischenstaatlichen Einrichtung gesetzt sind, lösen sich auf. Statt

8 7

H. Kraus, S. 545, 553.

Β. Die Grenzen der „Übertragung" von Hoheitsrechten

73

dessen wird dem Hoheitsrechte übertragenden Gesetzgeber aufgegeben, die Struktur der zwischenstaatlichen Einrichtung so zu gestalten, daß es zu späteren Verletzungen der Verfassungsordnung nicht kommen wird. Darin liegt zunächst ein rechtspolitisch erfolgversprechender Gedanke 88 . Gelingt es, die Wertentscheidungen der eigenen Verfassung im Primärrecht der zwischenstaatlichen Einrichtung zu verankern, so ist dies ein effektiver Schutz vor einer verfassungswidrigen Entwicklung des Sekundärrechts. Gelingt es darüber hinaus, eine strukturelle Kongruenz herzustellen, so ist zu erwarten, daß eine derartige Ordnung keine Ergebnisse zeitigt, die der eigenen Ordnung zuwiderlaufen. Der Gedanke, der somit hinter der m.E. mißglückten Wortwahl steht ist der einer institutionellen 89 Absicherung der Verfassung entsprechend dem Gedanken des Verfassungsschutzes durch Organisation und Verfahren 90 . Verfassungsrechtlich begegnet die Konzeption indes erheblichen Bedenken. Auf den ersten Blick scheint Satz 1 des Art. 23 Abs. 1 GG eine derartiges Homogenitätsanforderungen nunmehr ausdrücklich einzuführen 91 . Eine nähere Betrachtung des Wortlautes läßt aber erkennen, daß daran zumindest Zweifel angebracht sind. Denn während die Vorschrift eine Gewährleistung

eines „im

wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutzes" fordert, verlangt es im Hinblick auf die Grundsätze der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, des Sozialen, des Föderalismus und der Subsidiarität lediglich, daß die Europäische Union ihnen verpflichtet

sein muß 9 2 . Zudem ist augenfällig, daß ausdrücklich nicht

von Demokratie, Rechtsstaat, Sozialstaat und Bundesstaat93 die Rede ist, sondern nur von Grundsätzen, die diesen Elementen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der BR Deutschland zugrunde liegen. Aus den Materialien

88

A. Randelzhofer,

8 9

Vgl. R. Streinz, HStR Bd. VII, § 182, 817, 834.

in: Maunz / Dürig, Art. 24 I GG, Rdnr. 111.

9 0

Dazu P. Häberle, VVDStRL 30 (1972), 43, insbes. 86 ff., 121 ff.; Κ Hesse, HdBVerfR, 127, 146 ff; M. Jestaedt, Kondominialverwaltung, S. 559 ff. 91 So Ch. Kirchner / J. Haas, JZ 1993, 760, 763; R. Streinz, Europarecht, S. 60, Rdnr. 210a f.; E. Klein, in: Gs Grabitz, 271, 277 f.; W. Fischer, ZParl 1993, 32, 37 f. und M. Heintzen, EuR 1994, 35, 35 sprechen von einer Struktursicherungsklausel, ohne die Bedeutung dieses Begriffes näher zu erläutern. Fischer, ebd. leitet aus dem Wort „hierzu" eine Grenze her, deren Gehalte sich aus den Vorgaben des S. 1 speist. Zwingend ist dies nicht. 9 2

Vgl. ähnlich A. Randelzhofer,

in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 39, 50 f.

9 3 A.A. offenbar J. Schwarze , RMC 1994, 293, 295: „l'Union européenne doit être confirmé au principe démocratique, doit être un État de droit, social et fédéral,...".

74

2. Teil: Die „Verfassung" der BR Deutschland als Mitglied der EU

läßt sich zudem erkennen, daß die aufgezählten Grundentscheidungen auf das Diktum des BVerfG von den unverzichtbaren essentialia zurückzuführen sein könnten. Vor dem Hintergrund der nicht eindeutigen Normierung des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG muß die Problematik der Theorie der strukturellen Kongruenz bzw. der auf ihrer Grundlage entwickelten Varianten näher dargestellt werden. Besonders deutlich

wurde

die

Fragwürdigkeit

der

Konzeption

in

der

Solange-

Rechtsprechung des BVerfG. Auch das Verfassungsgericht schien anfangs der Krausschen Theorie zu folgen, wenn an die Europäischen Gemeinschaften die Forderung auch nach einem, durch ein demokratisch gewähltes Parlament beschlossenen Grundrechtskatalog 94 gestellt wird. Es zeigte sich aber schon bald, daß diese Anforderungen überzogen waren. Angesichts der Problematik, auf europäischer Ebene repräsentativ-demokratische Strukturen zu etablieren, wurde in der Solange Ii-Entscheidung nur noch ein entsprechender Grundrechtsschutz gefordert. Eine Lösung der Grundproblematik des Verhältnisses der beiden Rechtsordnungen wurde damit aber auch nicht gefunden, weil durch eine derartige, nur eingeschränkte Homogenität ein Schutz der Verfassung der Bundesrepublik nicht gewährleistet ist. Daher wurde die Homogenität auch nicht als Garant, sondern lediglich als Vermutung für die Verfassungskompatibilität des Sekundärrechts akzeptiert 95 . Vor allem aber wandelte sich das vor dem Übertragungsakt ansetzende Konzept der strukturellen Kongruenz zu einer Variante des einzelfallbezogenen Schutzes vor „verfassungswidrigen Sekundärakten". Das BVerfG nimmt in Solange II keine Relativierung der Grenzen des Grundgesetzes gegenüber dem Integrationsgesetzgeber vor, sondern schafft lediglich eine Voraussetzung für das Fortbestehen seiner eigenen Zuständigkeit für die Überprüfung von Sekundärakten 96. Insoweit kann das Homogenitätserfordernis auch weiterhin Bedeutung haben, wie unter D. zu zeigen sein wird.

9 4 E 37, 271 [280, 283]. Die M*