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German Pages 231 [240] Year 2015
Forschungen zum Alten Testament Herausgegeben von Konrad Schmid (Zürich) · Mark S. Smith (New York) Hermann Spieckermann (Göttingen)
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Erhard Blum
Grundfragen der historischen Exegese Methodologische, philologische und hermeneutische Beiträge zum Alten Testament Herausgegeben von
Wolfgang Oswald und Kristin Weingart
Mohr Siebeck
Erhard Blum, geboren 1950; Studium der Evangelischen Theologie; 1982 Promotion; 1988 Habilitation; 1989–2000 Lehrstuhl für Evangelische Theologie mit Schwerpunkt Biblische Theologie an der Universität Augsburg; seit 2000 Lehrstuhl für Altes Testament mit Schwerpunkt Literaturgeschichte des Alten Testaments an der Universität Tübingen. Wolfgang Oswald, geboren 1958; 1992 I. Theologische Dienstprüfung; 1995 II. Theologische Dienstprüfung; 1998 Promotion; 2006 Habilitation; seit 2003 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Evang.-theol. Fakultät der Universität Tübingen; seit 2012 Apl. Professor für besondere Aufgaben in Lehre und Forschung im Dept. Altes Testament. Kristin Weingart, geboren 1974; Junior College, Barnesville (GA), USA; Studium Evang. Theologie (Diplom) sowie Jüdische Studien (MA); 2013 Promotion; derzeit Wis senschaftliche Mitarbeiterin im Dept. Altes Testament der Evang.-theol. Fakultät der Universität Tübingen.
e-ISBN PDF 978-3-16-153572-7 ISBN 978-3-16-153571-0 ISSN 0940-4155 (Forschungen zum Alten Testament) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio nalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb. dnb.de abrufbar. © 2015 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Ver lags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Sys temen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruck papier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.
Vorwort Der vorliegende Band ist der zweite mit ausgewählten Aufsätzen von Erhard Blum. Darin sind Arbeiten versammelt, die sich Fragen der Methodologie, der Philologie und der Hermeneutik zuwenden. Schon früh hat sich Erhard Blum neben seinen bekannten Arbeiten zum Pentateuch und zu den Vorderen Propheten, die im ersten Sammelband wiederveröffentlicht wurden, auch der Beschäftigung mit Grundlagenfragen der historischen Exegese angenommen. Dieser Zugang basiert auf der Erkenntnis, dass ein angemessenes Verständnis der Texte der Hebräischen Bibel nur dann erreicht werden kann, wenn es zum einen mit präziser Beobachtung, der Klärung von Sprache und Eigenart der zu interpretierenden Texte einhergeht, und die Auslegung zum andern auf einer selbstkritischen Reflexion der Voraussetzungen und Regeln der Analyse aufbaut. Materiale Exegese und Besinnung auf die Grundlagen der Exegese stehen in einem unauflöslichen und immer wieder neu zu erarbeitenden Wechselverhältnis. Dies kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, dass die früheste der hier versammelten Arbeiten aus dem Jahr 1975 stammt und die jüngste Anfang 2015 erscheinen wird, die Thematik mithin das gesamte wissenschaftliche Wirken Erhard Blums begleitet. Die Aufsätze sind im vorliegenden Band jedoch nicht in der Reihenfolge ihres Erscheinens abgedruckt, sondern folgen einer sachlichen Ordnung. Die ersten sechs Beiträge sind methodologischen und literaturwissenschaftlichen Themen gewidmet und schreiten vom Grundsätzlichen zum Konkreten fort. Den Anfang bildet die Tübinger Antrittsvorlesung aus dem Jahr 2001, die das Programm einer „alttestamentlichen Exegetik“ skizziert. Am Ende steht eine Studie, die sich im Blick auf das literargeschichtliche Problem des Buchübergangs von Genesis nach Exodus nicht auf die übliche Suche nach Erzählfäden beschränkt, sondern zugleich nach dem Textverständnis und nach den methodischen Voraussetzungen divergierender Analysen fragt. Die zweite Abteilung enthält drei Aufsätze zu sprachwissenschaftlichen und speziell hebraistischen Fragen, wobei es auch für andere Arbeiten von Erhard Blum charakteristisch ist, dass diese beiden Aspekte stets einbezogen werden. Schon in den 1970-er Jahren konnte sich Erhard Blum in Fragen der Semitistik und der allgemeinen Sprachwissenschaft gründlich einarbeiten. Der Gewinn war und ist ein linguistisch geschärfter und vielfach neuer Blick auf die Texte.
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Vorwort
Den Abschluss bilden zwei Arbeiten, die ohne Erhard Blums langjährige Beschäftigung mit dem Judentum und dem Staat Israel so kaum denkbar wären. In ihnen verbinden sich exegetische Entdeckungen mit Infragestellungen von Selbstverständlichkeiten der eigenen Wissenschaftstradition, wie sie nicht zuletzt durch die Konfrontation mit dem fremden Blick des Anderen angestoßen werden. Auch für den vorliegenden, zweiten Band wurden die Aufsätze soweit möglich und sinnvoll in formaler Hinsicht angepasst und vereinheitlicht. So findet jetzt die neue Rechtschreibung Anwendung (Zitate anderer Autoren ausgenommen). Orts- und Personennamen sowie die Abkürzungen für biblische Bücher wurden vereinheitlicht, ebenso die bibliographischen Angaben in den Anmerkungen. In einigen Aufsätzen wurden hebräische Passagen, die im Original in Umschrift wiedergegeben waren, in Quadratschrift gesetzt. Schließlich wurden auch gelegentliche Schreibfehler und kleinere Versehen stillschweigend korrigiert. Für die gute Zusammenarbeit sei dem Cheflektor des Verlages Mohr Siebeck, Herrn Dr. Henning Ziebritzki, sowie den Herausgebern der „Forschungen zum Alten Testament“, den Professoren Konrad Schmid, Hermann Spieckermann und Mark S. Smith, gedankt. Am Lehrstuhl haben sich Sabine Rumpel, Desiree Zecha, Benjamin Häfele, Martin Kächele und Hendrik Stoppel um die Aufbereitung der Texte verdient gemacht. Auch ihnen gilt ein herzlicher Dank. Gute Wünsche gelten abermals dem Autor, zu dessen 65. Geburtstag diese Sammlung erscheint. Tübingen, im Januar 2015 Wolfgang Oswald Kristin Weingart
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Methodologie der Exegese und Pragmatik alttestamentlicher Texte Notwendigkeit und Grenzen historischer Exegese. Plädoyer für eine alttestamentliche „Exegetik“ (2005)
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Historiographie oder Dichtung? Zur Eigenart alttestamentlicher Geschichtsüberlieferung (2005)
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Von Sinn und Nutzen der Kategorie „Synchronie“ in der Exegese (2004) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 „Formgeschichte“ – ein irreführender Begriff (2006)
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Die Stimme des Autors in den Geschichtsüberlieferungen des Alten Testaments (2008) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Zwischen Literarkritik und Stilkritik. Die diachrone Analyse der literarischen Verbindung von Genesis und Exodus – im Gespräch mit Ludwig Schmidt (2012)
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Psalm 2,7c – eine performative Aussage (1975)
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Der vermeintliche Gottesname „Elohim“ (2008)
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Sprachwissenschaftliche Klärungen
Das althebräische Verbalsystem – eine synchrone Analyse (2008)
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Inhaltsverzeichnis
Vorverständnis und historische Hypothesen Volk oder Kultgemeinde? Zum Bild des nachexilischen Judentums in der alttestamentlichen Wissenschaft (1995) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Das Vorverständnis hinterfragen. Veränderungen alttestamentlich-exegetischer Zugänge aus der lebensweltlichen Begegnung mit dem Judentum (2015)
Nachweis der Erstveröffentlichungen Stellenregister Sachregister
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Notwendigkeit und Grenzen historischer Exegese Plädoyer für eine alttestamentliche „Exegetik“ 1 Von der Notwendigkeit (und den Grenzen) historisch orientierter Exegese2 zu reden, könnte – jedenfalls im europäischen Kontext – durchaus überflüssig erscheinen. Die letzten heftigen Auseinandersetzungen um die sog. „historisch-kritische Methode“ wurden (innerhalb der evangelischen Kirche) in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts ausgetragen. Zwar gab es auch danach Stimmen, die das „Ende der historisch-kritischen Methode“ verkündeten. Aber solcher Fundamentalwiderspruch kam von außerhalb der akademischen Theologie und ist ihr äußerlich geblieben: Das Recht historischer Exegese ist im universitären Kontext schlicht selbstverständlich, auch theologisch. Anders verhält es sich mit ihrer Notwendigkeit, sofern man diese in einem strikten Sinne versteht, wonach wissenschaftliche Exegese per se eine historische sein müsse. Schließlich ist der herkömmlichen Forschung, deren Grundlagen im 19. Jahrhundert gelegt wurden, bereits seit mehreren Jahren eine vielfältige Konkurrenz erwachsen: Da gibt es die am überlieferten Endtext orientierten Programme einer „kanonischen“ Auslegung oder einer poetisch-literarischen Interpretation der Bibel oder die sog. kontextuellen Exegesen, sei es aus feministischer, befreiungstheologischer oder anderer Perspektive. Diese Bandbreite, die man in ihrer bunten Vielfalt etwa auf den großen Kongressen der amerikanischen Society of Biblical Literature eindrucksvoll erleben kann, reflektiert zugleich ein gewisses Unbehagen angesichts einer vorrangig diachron, d.h. auf Probleme der Textgenese ausgerichteten Forschung – selbst wenn sich dieses Unbehagen nicht mehr in einem vorkritischen, sondern gleichsam „post-kritischen“ Horizont artikuliert. All das ist freilich mehr in anderen Ländern als den deutschsprachigen zu beobachten. Soll man dies einer größeren stabilitas hierzulande zugute 1 Dem Beitrag liegt meine Antrittsvorlesung an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen im Sommersemester 2001 zugrunde. 2 Die übliche Bezeichnung „historisch-kritische Exegese“ ist ein Pleonasmus, weil die „Kritik“ (bezogen sowohl auf den Gegenstand als auch auf die eigene Urteilsbildung) bei jedem wissenschaftlichen Anspruch, ja bereits in der Kategorie des „Historischen“ mitgesetzt ist. Diese Redundanz vermeidend spreche ich von „historischer Exegese“.
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hal|ten, oder ist es eher ein Symptom dafür, dass die eigene, unbestritten große Tradition mitunter den Blick auf gewisse Defizite verdeckt? Wie auch immer, zu denken gibt, dass – zumindest in der alttestamentlichen Exegese – die alternativen Ansätze zeitlich mit als krisenhaft empfundenen Umbrüchen in der herkömmlichen Forschung zusammenfielen. Diese Umbrüche betrafen zunächst das Bild der Literargeschichte des Alten Testaments und begannen bekanntlich vor drei Jahrzehnten mit der neueren Pentateuchdiskussion. In deren Konsequenz wurden zwar tragende Komponenten der klassischen „Urkundenhypothese“ weitgehend aufgegeben, doch zeigt sich in den Einzelanalysen, den Erklärungsmodellen und den Datierungen – nicht selten mit erstaunlichen Kontinuitäten in den Grundbeobachtungen3 – immer noch ein diffuser Dissens, selbst wenn sich neuerdings gewisse Konvergenzlinien abzuzeichnen scheinen. 411–13 Mit etwas Optimismus könnte man sich diese sog. „Pentateuchkrise“ noch als notwendige Vorbereitung eines klärenden „Paradigmenwechsels“ im Sinne von Thomas S. Kuhn zurechtlegen. Dies wäre aber zu kurz gegriffen. Schon der Umstand, dass in anderen Bereichen – etwa der Prophetie – die literargeschichtlichen Positionen eher noch stärker auseinanderdriften, sollte nachdenklich stimmen. Wo liegt das Problem? Die allgemeine Diagnose ist im Grunde trivial: Die alttestamentliche Exegese hat ein strukturelles Problem, das jeweils beim Verlust vermeintlicher „Selbstverständlichkeiten“ unübersehbar durchschlägt. Die|ses Strukturproblem beruht auf der Kluft zwischen einem hochgesteckten Erklärungsanspruch und einer defizienten Datenbasis. Der Anspruch reicht bekanntlich von der Rekonstruktion der Welt des alten Israel (in allen denkbaren Aspekten) bis zur Verortung der Einzeltexte mit Autoren und Adressaten in ihren historischen Situationen. Dabei besteht 3 Solche Kontinuitäten betreffen mitunter ganz konkrete analytische Befunde und können bis in die Anfänge der wissenschaftlichen Exegese im 19. Jahrhundert zurückreichen. Dazu nur ein Beispiel: Die wichtigsten Problemstellen einer literargeschichtlichen Analyse der Urgeschichte in der Genesis, die in den neuesten redaktionsgeschichtlichen Untersuchungen thematisiert werden, waren schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts von H. HUPFELD, Die Quellen der Genesis und die Art ihrer Zusammensetzung, Berlin 1853, und E. SCHRADER, Studien zur Kritik und Erklärung der biblischen Urgeschichte. Gen. Cap. I – XI, Zürich 1863, erörtert worden, vielfach mit Lösungsvorschlägen, die heute immer noch auf dem Tisch liegen. Wie eine solche Kontinuität im Blick auf den „Fortschritt“ in der Disziplin zu beurteilen ist, soll hier nicht diskutiert werden. 4 Die Konvergenz sehe ich darin, dass für die substantielle Phase der vorpriesterlichen Überlieferung zunehmend „Blockmodelle“ (allerdings in sehr unterschiedlichen Ausfüh rungen) mit literarisch eigenständigen Kompositionen präferiert werden; vgl. z.B. D.M. CARR, Reading the Fractures of Genesis. Historical and Literary Approaches, Louisville 1996; mehrere Beiträge in J.C. GERTZ u.a. (Hg.), Abschied vom Jahwisten. Die Komposition des Hexateuch in der jüngsten Diskussion (BZAW 315), Berlin / New York 2002; E. ZENGER u.a., Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart 2004 5, 97ff.
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die größte Schwierigkeit darin, dass externe Daten rar bleiben, im besten Falle einen gewissen Rahmen des Möglichen abstecken, und dass das Buch, aus dem dies vor allem erhoben werden soll, selbst über Jahrhunderte entstanden ist, dass die zu interpretierenden Texte also erst in der Rekonstruktion eines komplexen Transformationsprozesses erschlossen werden müssen. So betrachtet kann ein grundständiger Dissens in der Forschung eigentlich nicht erstaunen. Es geht schon im Ansatz um ein recht ambitiöses Unterfangen. Nun mag man einwenden, dass eine Diastase von Ausgangsdaten und Erklärungsziel grundsätzlich in allen historisch-philologischen Fächern gegeben ist; doch dürfte es dabei zumindest graduelle Unterschiede geben. Im Falle der alttestamentlichen Exegese ist besagte Diastase nicht nur besonders ausgeprägt, das Fach erweist sich davon in seiner disziplinären Hermeneutik und seiner Methodik maßgeblich bestimmt. Einige der hermeneutischen Implikationen werden im vorletzten Abschnitt (III) thematisiert. Im ersten Teil (I) sollen aber zunächst verbreitete methodische Strategien kritisch beleuchtet werden, die auf eine Bewältigung jener Diastase zielen. Im Anschluss daran wird mit grundsätzlichen Alternativen die eingangs formulierte Frage der Notwendigkeit historischer Exegese zur Debatte stehen (II). Den Abschluss (IV) bildet ein Plädoyer für eine alttestamentliche Exegetik im Sinne einer verstetigten Metareflexion des exegetischen Geschäfts. 13–14
I. Historische Komplexität vs. exegetische Urteilsfähigkeit 1. Komplexitätsreduktion im literarkritischen Verfahren Studierende lernen spätestens im Proseminar ein subtiles methodisches Instrumentarium kennen, mit dem die Disziplin das skizzierte Strukturproblem zu meistern sucht. Unter den in Arbeitsbüchern als „Methodenschritte“ aufgeführten Fragehorizonten bildet dabei die Literarkritik den einzigen, der den Namen „Methode“ verdient. 5 Bei ihr handelt es sich in der Tat um eine methodische Verfahrensweise, insofern sie bestimmte Kriterien und Kontrollfragen bereithält, mit deren Hilfe eine Analyse | der diachronen Einheitlichkeit/Uneinheitlichkeit schriftlicher Traditionstexte durchzuführen sei; dieses analytische Verfahren soll seinerseits die Voraussetzungen liefern für eine Rekonstruktion schriftlicher Vorstufen oder Vorlagen.6 Basierend auf 5
Näher besehen stellt sich die Reihe der sog. „Methodenschritte“ als ein Mix von Methoden (im strengeren Sinne), Fragehorizonten und Erklärungsmodellen dar; s. auch die folgende Anmerkung. 6 Diese Rekonstruktion selbst liegt bereits jenseits der Literarkritik, insofern über das literarkritische Verfahren hinaus synthetische Deutungen und die Applikation potentiell
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der vorderhand plausiblen Vermutung, dass redaktionelle Fügungen oder Fortschreibungen in den Texten gewisse Spuren hinterlassen, werden TextInkohärenzen, insbesondere inhaltliche/formale Spannungen oder Brüche sowie störende Doppelungen, registriert und gleichsam „kriminalistisch“ ausgewertet. Verständlicherweise drehen sich die meisten Kontroversen, sowohl in den konkreten Einzelanalysen wie auch in methodologischen Debatten, um die Frage, ob ein bestimmter Befund oder Befunde einer spezifischen Art als Störung der Textkohärenz zu betrachten seien. 7 Diese heikle Frage, die sich vielfach auch einer generalisierenden Beantwortung entzieht, soll hier jedoch ganz ausgeklammert bleiben. 14–15 Statt dessen wollen wir eine Art Gedankenexperiment unternehmen, in dem eine literarkritische Analyse 8 zur Klärung der diachronen Einheitlichkeit eines Einzeltextes zu denken ist – mithin ein Arbeitsschritt, wie er zum alltäglichen Geschäft der Exegeten gehört. Der Einfachheit halber seien hierbei aber von vornherein Idealanalysen unterstellt, die | ausschließlich „tatsächliche Spannungen“ und/oder „störende Doppelungen“ etc. registrieren.9 verschiedener textgenetischer Modelle erforderlich sind. Von daher ist „Redaktionsgeschichte“ auch keine „Methode“, sondern eine Breviloquenz für ein bestimmtes Erklärungsmodell. Sobald „Redaktionsgeschichte“ zur „Methode“ geworden ist, stellt sie bereits eine Fehlentwicklung dar, insofern ein denkbares diachrones Modell zu einer Selbstverständlichkeit, d.h. zu einer apriorischen Voraussetzung gemacht ist. So werden in der neueren Prophetenforschung nicht selten literarische Komposittexte eo ipso als redaktionell verstanden, weil die Möglichkeit einer primären literarischen Zusammenstellung durch einen Autor gar nicht im Blick ist. Noch Bernhard Duhm u.a. hatten dagegen damit gerechnet, dass Propheten als erste Editoren ihrer (zunächst mündlich vorgetragenen) Worte wirkten. 7 Vgl. zuletzt den Versuch einer gewissen Kriteriologie bei M. ARNETH, Art. Literarkritik der Bibel, in: RGG 4 5, Tübingen 2002, 389–390. 8 Dabei ist primär an eine „textimmanente“ Analyse gedacht, die sich für die Prüfung der „literarischen Integrität“ (vorrangig) auf einzeltextinterne Anstöße und Befunde stützt. Diese bildet ja auch den Kern jeder Literarkritik, ob man diese ganz darauf beschränkt wie W. RICHTER, Exegese als Literaturwissenschaft. Entwurf einer alttestamentlichen Literaturtheorie und Methodologie, Göttingen 1971, 49ff., in seinem Bemühen, Literarkritik und Quellenscheidung/Redaktionskritik methodisch voneinander abzuheben, oder ob man dann auch übergreifende Zusammenhänge/Zuordnungen mit einbezieht; vgl. etwa O.H. STECK, Exegese des Alten Testaments. Leitfaden der Methodik, Neukirchen-Vluyn 1989 12, 51 (Anm. 25), mit kritischen Anmerkungen zu Richter. 9 Eingeklammert bleiben soll bspw. auch die alte Frage, ob neuzeitliche Leser andere Maßstäbe der (In-)Kohärenz, eines (nicht-)abweichenden Sprachgebrauchs, unbeholfener/eleganter Gestaltung haben mögen als antike Autoren/Leser. Vieles spricht dafür, dass sprachliche Kommunikation, d.h. auch Narration, Argumentation etc., in den meisten elementaren Aspekten in alten Kulturen nicht anders funktionierte als in modernen. Je mehr es aber um Fragen des kulturellen und einzelsprachlichen Stilempfindens geht, ist sehr wohl mit divergierenden Maßstäben zu rechnen. Als beliebiges Einzelbeispiel sei hier auf
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Unter welchen Bedingungen, das sei dabei die Frage, lassen sich auf der Basis solcher Beobachtungen eventuelle Vorstufen eines Einzeltextes im Wortlaut oder auch in den Umrissen rekonstruieren? Man kommt hier, meine ich, auf wenigstens zwei Vorannahmen, die dafür de facto (wenn auch nicht notwendig bewusst) zu supponieren sind. Die Stichworte sind: „Signifikanz“ und „Suffizienz“. Das implizite Signifikanz-Postulat besagt: Wo auch immer der untersuchte Text eine echte Spannung oder Doppelung aufweist, handelt es sich um Spuren seiner Genese. Im Einzelfall kann der supponierte Sachverhalt in der Tat gegeben sein, gleichwohl wird man, bei Licht besehen, kaum ernsthaft bestreiten wollen, dass Texte auch aus ganz anderen Gründen Unebenheiten, Widersprüche oder Redundanzen aufweisen können. 15–16 Unebenheiten, Widersprüche, formale Mängel, ästhetische Mängel, sprachlich abweichende Formulierungen etc. können einem Autor unbemerkt unterlaufen, oder er kann sie für vernachlässigenswert halten. Abweichungen, Spannungen etc. können auch mehr oder weniger absichtsvoll herbeigeführt oder belassen sein, um Nichtkognitives (Affekte) zum Ausdruck zu bringen, um – als rhetorisches Mittel – Aufmerksamkeit zu erregen, um aspektuelle Komplexität (verschiedene Wahrnehmungsperspektiven o.ä.) darzustellen oder um „Hintergründlichkeit“ zu gestalten (Leerstellen, Widersprüche in Erzählungen etc.) usf.
Grundsätzlich kann eine Analyse zwar versuchen, solche Möglichkeiten einzubeziehen, und methodisch durchführbar sollte dies auch bei der zweiten genannten Kategorie der bewussten Gestaltungsmittel sein, doch erscheint die Differenzierung insignifikanter Nachlässigkeiten des Autors und diachroner Indizien in der Regel aussichtslos, weil dadurch die Stringenz des methodischen Zugriffs aufs Spiel gesetzt würde. In der | konkreten exegetischen Arbeit spielt sie denn auch äußerst selten eine Rolle. 10 Nun genügt es für eine zielführende Analyse aber noch nicht, dass die alten Autoren/Tradenten keine falschen Spuren legten, sie müssen hinreichende Spuren hinterlassen haben, d.h. von der Zahl und Art, wie die neuzeitlichen Forscher sie brauchen, um eine zutreffende Schichtenanalyse durchzuführen. Dies wäre das Suffizienz-Postulat. Im exegetischen Betrieb ist es zudem gleichsam in einer verschärften Variante virulent. Danach gilt:
die von den Neueren durchgängig als unbeholfen eingeschätzte Syntax in Gen 2,9b verwiesen; cf. dazu ausführlich A. M ICHEL, Theologie aus der Peripherie. Die gespaltene Koordination im Biblischen Hebräisch (BZAW 257), Berlin / New York 1997, 1–22. 10 Ein Beispiel wäre die gelegentliche Erklärung der fehlenden Redeeinleitungen in Ex 4,5.8 als „Anakoluth“; vgl. H. GREßMANN, Mose und seine Zeit. Ein Kommentar zu den Mose-Sagen, Göttingen 1913, 21 (Anm. 1); W.H. SCHMIDT, Exodus (BK II/3), Neukirchen-Vluyn 1983, 190.
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Soweit in einem Text Vorlagen verarbeitet wurden, sind sie auch erkennbar.11 Nur unter einem solchen Axiom ist es beispielsweise verständlich, dass im Falle fehlender Inkohärenz-Befunde üblicherweise behauptet wird, der betreffende Text sei diachron einheitlich.12 Allerdings fällt es wiederum nicht schwer sich auszumalen, welche durchaus naheliegenden Möglichkeiten mit einer solchen Suffizienz-Annahme ausgeschlossen werden. Man braucht hier nicht einmal an Auslassungen oder tiefgreifende Transformationen der Vorlagen durch Tradenten zu denken – Fälle, in denen jegliche „Vorstufenrekonstruktion“ von vornherein zum Scheitern verurteilt sein wird. Es genügt schon, dass Tradenten auf sorgfältig angepasste Bearbeitungen bedacht waren, sei es mit oder ohne punktuell glättende Eingriffe. Darüber hinaus ist damit zu rechnen, dass gerade bei Neubearbeitungen ältere „Unebenheiten“ mehr oder weniger beiläufig geglättet werden. 13 Zugleich besteht die Möglichkeit, dass bei einer Bearbeitung durch Unachtsamkeit neue Inkohärenzen eingeführt werden, aber ohne einen signifikanten Zusammenhang mit dem eigentlichen redaktionellen Prozess. – Die Möglichkeiten und Spielarten ließen sich leicht mehren. |16–17
Unser kleines Gedankenexperiment scheint somit zu dem Ergebnis zu führen, dass die gedachte „ideale“ literarkritische Methodik die ihr unterstellte Urteilsfähigkeit allein unter der Bedingung einer axiomatischen Reduktion von Möglichkeiten erhalten kann. Eine solche Schlussfolgerung wäre nur unter der Voraussetzung zu vermeiden, dass der Traditionsprozess biblischer Literatur sich unter hoch restringierten Bedingungen vollzogen hätte, nämlich derart, dass die Texte während ihrer gesamten Überlieferungsgeschichte ausschließlich additiv erweitert wurden14 und dass die Tradenten im Allgemeinen kein Interesse an der Vermeidung von Inkohärenzen hatten oder nicht anders konnten oder gar mit Absicht ihre Arbeit markierten.
11 Vgl. H. B ARTH / O.H. STECK, Exegese des Alten Testaments. Leitfaden der Methodik. Ein Arbeitsbuch für Proseminare, Seminare und Vorlesungen, Neukirchen -Vluyn 1978 8, 32–35, hier 32: Falls der Wortbestand „in einem Zuge … formuliert“ sei, bleibe „die lk.e Befragung … ohne Befund“; so der Sache nach auch 1989 12, 50.52 (B.I.). 12 Schon die bisherigen Überlegungen zeigen die Notwendigkeit einer begrifflichen Differenzierung zwischen „Kohärenz/Inkohärenz“ als Kategorien einer synchronen Be schreibung und „Einheitlichkeit/Uneinheitlichkeit“ als Kategorien einer diachronen Analyse (mit H. UTZSCHNEIDER / S.A. NITSCHE, Arbeitsbuch literaturwissenschaftlicher Bibelauslegung. Eine Methodenlehre zur Exegese des Alten Testaments, Gütersloh 2001, 229f.). Erstere können, müssen aber nicht auf letzteren beruhen – und umgekehrt! 13 Vgl. u. Anm. 24 und 26. 14 J. W ERLITZ, Studien zur literarkritischen Methode. Gericht und Heil in Jesaja 7,1– 17 und 29,1–8 (BZAW 204), Berlin / New York 1992, 85, Anm. 99: „Indem Literarkritik zur Methode jeder Textbearbeitung erhoben ist, ist die Erwartung traditionstreuer Redak tionen Grundgesetz alttestamentlicher Literargeschichte.“
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Einige dieser Sonderbedingungen werden denn auch mitunter postuliert. 15 Lassen sie sich aber auch generell plausibilisieren, oder handelt es sich um ad-hoc-Postulate der „exegetischen Vernunft“? Ein naheliegender Weg zur Überprüfung solcher Annahmen könnte die Untersuchung von Texten sein, deren Genese sich gleichsam „empirisch“ nachvollziehen lässt, insofern ihre Quellen oder Vorlagen ebenfalls überkommen sind, wenn Ausgangs- und Zieltext des diachronen Prozesses also direkt verglichen werden können. 17–18 Es fehlt dafür auch nicht an potentiellen Kandidaten. Zu nennen wäre beispielsweise das Jubiläenbuch, eine Neufassung der Genesis und von Teilen des Exodusbuches aus dem zweiten Jahrhundert v. Chr., oder die Tempelrolle aus Qumran, die auf dem Pentateuchtext beruht, oder auch die synoptischen Evangelien im Neuen Testament. Innerhalb des Alten Testaments ist insbesondere an die Chronikbücher und die handschriftlich belegte Textgeschichte zu denken. Alle diese untereinander sehr verschiedenen Überlieferungen bieten sich für eine Art „empirischer Fallstudien“ an, die zeigen können, mit welchen Techniken Tradenten in der Welt der biblischen Überlieferung gearbeitet haben und wie sie | mit ihren „Vorlagen“ umgegangen sind.16 Darüber hinaus erlauben sie grundsätzlich eine Simulation experimenteller Analysen, deren Ergebnisse – im Gegensatz zum exegetischen Normalfall – einer direkten Gegenprobe unterzogen werden können. Erstaunlicherweise hat die exegetische Forschung eine Selbstkontrolle dieser Art bis vor einigen Jahren nicht ernsthaft verfolgt. 17 15 Nach C. LEVIN, Der Jahwist (FRLANT 157), Göttingen 1993, 441, gilt: „Immer schon, seit man die Gottesgeschichte niederzuschreiben begann, war der Heilige Text sakrosankt.“ Doch was ist die Evidenz für diese sehr weitgehende Annahme? Mit bewusst signalisierten Bearbeitungen rechnet H. GESE: „die Redaktion ist … bemüht gewesen, die Unterschiede und Gegensätze des Textmaterials deutlich hervortreten zu lassen und so den Reichtum der Tradition zu bewahren“ (Der auszulegende Text, ThQ 167 [1987] 252 –265, hier 258). Seine Beispiele aus der Genesis stehen aber kaum zufällig überwiegend im Zusammenhang mit den priesterlichen Texten und erscheinen da auch am überzeugendsten (vgl. u. Anm. 31). 16 Die Rede von „Empirie“ insinuiert – dies sollte sich von selbst verstehen – keine Möglichkeit einer Überprüfung, bei der hermeneutische Probleme zu suspendieren wären. Dazu sei nur angemerkt, dass jeder der genannten Texte seine spezifischen Handicaps mitbringt: im Falle des Jubiläenbuchs die Zugänglichkeit (fast) nur über späte Tochterübe rsetzungen, bei den Evangelien die Prämisse eines bestimmten Erklärungsmodells (Zweiquellenhypothese) oder die Möglichkeit von weiteren Differenzierungen („Urmarkus“, verschiedene „Q“-Versionen), bei den Chronikbüchern das Problem der Textgeschichte der Vorlagen etc. 17 Erste Ansätze im 19. Jh. konzentrierten sich auf die Frage, ob ein Modell wie das der Urkundenhypothese zum Pentateuch in antiker Literatur überhaupt vorstellbar sei. Den wichtigsten Beitrag hierzu lieferte G.F. MOORE, Tatian’s Diatessaron and the Analysis of
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Eine Pionierarbeit stellt in dieser Hinsicht ein Aufsatz von Stephen Kaufman zur Tempelrolle (11QT) aus dem Jahr 1982 dar. 18 Kaufman kann darin eine große Vielfalt von Spielarten der Rezeption unseres Pentateuchtextes in der Tempelrolle aufweisen. Das Spektrum reicht von (nahezu) unveränderter Übernahme der „Quellen“ über modifizierte Rezeptionen, die Fügung größerer (Quellen-)Textstücke („gross conflation“), die Kombination einer Vielzahl kleinerer Textelemente („fine conflation“) bis zu Neuformulierungen in Anlehnung/Anklang an überlieferte Texte. Dabei ist sein Urteil über die Möglichkeit einer Rekonstruktion der zugrunde gelegten Quellen oder auch nur von deren Umrissen allein aus der Tempelrolle ausgesprochen ernüchternd: „next to impossible“ 19. 18–19 Die bislang umfassendste Publikation zu dieser Thematik ist ein von Jeffrey H. Tigay herausgegebener Sammelband. 20 Die anregenden Beiträge (jüdischer Exege|ten) sind durchweg von einem grundlegenden Zutrauen in die exegetischen Zugänge bestimmt und wurden hier mit dem Ziel zusammengestellt „to consider what such models might show from various proveniences, and to consider what such models might show apart from simply conforming or not conforming to current theories about the Bible“21 (zu Einzelbeiträgen s. im Folgenden). Eigene Untersuchungen einzelner „Fallbeispiele“ 22, die sich auf beliebig ausgewählte Stichproben im Bereich der Synoptiker und der Chronikbücher konzentrierten, bekräftigen weitgehend den von Kaufman an der Tempelrolle erhobenen Befund. Schon die aufmerksame kursorische Lektüre einer Evangelien-Synopse dürfte klarstellen, dass eine Rekonstruktion des Markusevangeliums weder auf der Grundlage von Matthäus oder Lukas allein noch auf beide zusammen gestützt Aussicht auf Erfolg hätte. Dies resultiert nicht zuletzt daraus, dass – die herkömmliche Zweiquellenhypothese einmal vorausgesetzt – beide Großevangelien den Wortlaut ihrer Markusvorlage z.T. transformierten, mehr od er weniger viele Abschnitte ausließen, die Anordnung der Perikopen veränderten etc. Selbst bei
the Pentateuch, JBL (1890) 201–215 (wiederabgedruckt als Appendix in: T IGAY, Models [Anm. 20], 243–256). Moore zeigt darin, dass Tatians „patch-work“-Komposition auch die extensiven Quellenscheidungen im Pentateuch eher übertrifft. Die Disziplin mag sich dadurch im Wesentlichen bestätigt gesehen haben; jedenfalls sind die Anstöße in Moores differenziert-skeptischen Überlegungen zur Frage, ob auf der Basis des Diatessaron eine Rekonstruktion der Evangelien möglich wäre (a.a.O., 213ff. = 254f.), nicht weitergeführt worden. 18 S.A. K AUFMAN , The Temple Scroll and Higher Criticism, HUCA 53 (1982) 29 –43. Nachdrücklich zu verweisen ist aber auch auf einen älteren, leider wenig beachteten Beitrag von M. TSEVAT, Common Sense and Hypothesis in Old Testament Study, in: Congress Volume Edinburgh 1974 (VT.S 28), Leiden 1975, 217–230, der Befunde in deutscher Literatur zum Vergleich heranzieht. Einige Überlegungen Tsevats gehen im Übrigen bereits in die Richtung einer „Exegetik“, wie sie hier vorgeschlagen werden soll. 19 K AUFMAN , a.a.O., 42. 20 J.H. T IGAY (Hg.), Empirical Models of Biblical Criticism, Philadelphia 1985. Vgl. zur Thematik außerdem: H. DONNER, Der Redaktor. Überlegungen zum vorkritischen Umgang mit der Heiligen Schrift, Henoch 2 (1980) 1–30; WERLITZ, Studien (Anm. 14), bes. 73–77.81–83; H.J. TERTEL, Text and Transmission: An Empirical Model for the Literary Development of Old Testament Narratives (BZAW 221), Berlin / New York 1994, und nicht zuletzt D.M. CARR, Reading (Anm. 4), 23–40. 21 T IGAY, a.a.O., xi. 22 [Der an dieser Stelle in der Erstveröffentlichung angekündigte Beitrag konnte noch nicht realisiert werden.]
[19–20]
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Vorliegen deutlicher Anzeichen für einen Kompositcharakter bleibt die Wortlautrekonstruktion am Ende unerreichbar. 23 Ganz unverträglich mit der Axiomatik der Literarkritik sind Befunde wie die, dass gerade in den redaktionellen Neugestaltungen Kohärenzstörungen innerhalb der Vorlagen geglättet werden. 24 Bei den Chronikbüchern in ihrem Verhältnis zu Pentateuch, Samuel- und Königsbüchern ergeben sich grundsätzlich die nämlichen Befunde. Näheres kann hier nicht ausgeführt werden.25 Angemerkt sei immerhin, dass relativ gute Analyseaussichten da zu bestehen scheinen, wo sprachlich und konzeptionell deutlich als chronistisch zu identifizierende Abschnitte nicht widerspruchsfrei mit älterem | Gut verbunden sind. 26 Nun könnte man erwägen, ob die unübersehbare Freiheit des Chronisten, der Tempelrolle oder des Jubiläenautors gegenüber ihren Quellen damit zusammenhängen mag, dass diese von jenen nicht verdrängt wurden/werden sollten. Einer solchen salvatorischen Vermutung stehen jedoch bereits Befunde der Textgeschichte des biblischen Textes entgegen: Obschon die verfügbaren Textzeugen in der Regel ausgesprochen späte Prozesse innerhalb der weitgehend schon formierten und (proto-)kanonischen Überlieferung spiegeln, belegen sie neben den dominierenden additiven Erweiterungen auch Kürzungen, den Wortlaut verändernde Transformationen etc. 27 19–20 23 Instruktiv hierfür ist schon das schlichte Beispiel des Senfkorngleichnisses, das in seiner matthäischen Fassung (Mt 13,31f.) eine massive Inkohärenz aufweist, insofern diese als Parabel beginnt und als Gleichnis zu Ende geführt wird. Gleichwohl würde man hier kaum an die redaktionelle Verknüpfung zweier Quellen denken. Aber auch bei einer Vorgabe dieses Modells blieben Rekonstruktionsversuche aussichtslos. 24 Man vergleiche dazu etwa die Gerasenerepisode in Mk 5 und ihre synoptischen Parallelen. Für die Methodik fast noch fataler ist die Möglichkeit, dass Inkohärenzen tatsächlich gegeben sind, aber – wie oben als Möglichkeit genannt – in keinem signifikanten Zusammenhang mit der Diachronie des Textes stehen, literarkritisch gedeutet also in die Irre führen müssen. Dergleichen scheint mir etwa bei der Zusammenarbeitung von Gen 1 und 2f. im Jubiläenbuch zu beobachten zu sein. 25 Vgl. aber auch den entsprechenden Vergleich von 2 Sam 7 und 1 Chr 17 bei WERLITZ, Studien (Anm. 14), 81ff. 26 Dergleichen ist z.B. bei der chronistischen Beurteilung von Sauls Tod in 1 Chr 10,13f. gegeben. Auf der anderen Seite weist gerade 1 Chr 10 gegenüber 1 Sam 31 mehrfach eine geglättete Fassung auf (z.B. im Bericht von Sauls Beisetzung in 10,12 gegenüber 1 Sam 31,12f.). 27 Es liegt nahe, hier zunächst an die textgeschichtlichen Befunde im Jeremiabuch zu denken; vgl. bspw. die Übersicht von E. TOV, The Literary History of the Book of Jeremiah in the Light of its Textual History, in: T IGAY, Models (Anm. 20), 211–237. Ebenso sind jedoch auch andere Bücher heranzuziehen; vgl. u.a. den Befund zur LXX der Königsbücher nach den überzeugenden Analysen von Z. T ALSHIR, The Image of the LXX-Edition in the Book of Kings (hebr.), Tarb. 59 (1989/90) 249–302; DIES., The Alternative Story 3 Kingdoms 12:24 A–Z (JBS 6), Jerusalem 1993. Zur Illustration soll hier lediglich auf den Bericht zu den Asylstädten in Jos 20 etwas näher eingegangen werden. A. ROFÉ sieht in einer eindringenden Analyse (Joshua 20: Historico-Literary Criticism Illustrated, in: T IGAY, Models [Anm. 20], 131–147) gerade hier die Validität diachroner Fragestellung durch den textgeschichtlichen Befund bestät igt, insofern der kürzere Septuaginta-Text (LXX B) noch ein älteres literargeschichtliches Stadium vor einer deuteronomistisch geprägten Bearbeitung spiegele, wie es auch durch eine davon unabhängige Analyse zu erheben sei (vgl. dazu schon J. WELLHAUSEN, Die Composition des Hexateuchs und der historischen Bücher des Alten Testaments, 1899 3, 132, mit
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[20–21]
So ernüchternd der Ertrag vieler „Fallbeispiele“ für eine sich selbst evidente analytische Methodik auch ausfallen mag, darf er doch nicht vor-| schnell generalisiert oder gar als Feigenblatt für einen bequemen Verzicht auf jede Analyse missbraucht werden. 20–21 So gibt es durchaus auch die „empirischen“ Beispiele, welche spezifische literargeschichtliche Hypothesen und damit auch die grundsätzliche Validität eingeführter Kriterien und Argumente durch „external evidence“ bestätigen. Dazu gehört etwa die Beurteilung von Ri 6,7–10 als relativ späte Einschreibung in einen gegebenen (dtr) Kontext. Für diese Annahme lässt sich ein ganzes Syndrom von Argumenten „klassischer“ diachroner Analytik anführen: 28 (1) Die Verse werden über die wiederholende Aufnahme der unmittelbar vorausgehenden Aussage (V. 6b) gleichsam an den Vorkontext angedockt. 29 (2) Inhaltlich bilden die Verse 8–10 eine vorweggenommene Antwort auf Gideons Frage an den Engel in V. 13. Dies gibt einerseits einen wichtigen Hinweis auf die Funktion von V. 7–10, bewirkt andererseits eine gewisse narrative Störung. (3) Die Rede des Propheten bleibt praktisch ohne szenische Einbindung, insbesondere an ihrem Ende. (4) Auch der Anschluss an die Erzählhandlung ist eher lose, insofern der Handlungsplot der Midianiternot nicht weitergeführt, sondern im Sinne einer grundsätzlichen geschichtstheologischen Programmatik gedeutet wird. (5) Der Abschnitt ist phraseologisch eng mit Jos 24 verbunden und eben darin von der dtr kompositionellen Hauptschicht in Ri 6 unterschieden. 30
Verweis auf Hollenberg, u.a.m.). Daneben wird gelegentlich aber auch die Priorität von MT und eine Kürzung durch die LXX bzw. deren hebräischer Vorlage angenommen (s. J.C. GERTZ, Die Gerichtsorganisation Israels im deuteronomistischen Gesetz [FRLANT 165], Göttingen 1994, 154, Anm. 144; L. SCHMIDT, Leviten- und Asylstädte in Num. xxxv und Jos. xx; xxi 1–42, VT 52 [2002] 103–121, hier 105f.). Diese Alternative braucht hier freilich nicht diskutiert zu werden. Denn in beiden Fällen ist mit transformierenden Eingriffen in den Text zu rechnen (bes. bei V. 3!), und in keinem der Fälle wäre eine Wortlautrekonstruktion des mutmaßlichen Ausgangstextes möglich – selbst unter der Voraussetzung, dass die Bezugstexte in Num und Dtn zur Verfügung stünden: Für die Annahme einer massiven Kürzung im LXX-Text liegt dies auf der Hand, aber auch bei der umgekehrten Annahme bliebe das LXX-Plus in V. 3b unzugänglich; analytisch läge vielmehr ein direkter Anschluss von V.7ff. an V. 3 MT näher, und auch dann verbliebe ein Zwitter aus einer P-Prägung und D-Einsprengseln. Derlei, aber auch die über den LXX-MTVergleich nicht zu erklärende Inkohärenz in V. 6 oder Differenzen bei Einzellexeme n weisen die Grenzen klarer Schichten-Rekonstruktionen selbst in einer solch späten Überlieferung auf. 28 Vgl. E. B LUM , Die Komposition der Vätergeschichte (WMANT 57), NeukirchenVluyn 1984, 52, Anm. 36, mit dem Verweis auf Wolfgang Richter und weiterer Li teratur. 29 A. ROFÉ , „The Book of Balaam“ (Numbers 22:2–24:25). A Study in Methods of Criticism and the History of Biblical Literature and Religion (hebr.) (JBS 1), Jerusalem 1979, 56. Rofé vergleicht dies mit dem Anschluss von Num 22,22ff. an V. 21 und spr icht für beide Fälle von einer „related expansion“. 30 Vgl. Ri 6,8b mit Jos 24,17a; 6,9b mit 24,18a; 6,10a mit 24,15a; 6,10b mit 24,24b(!).
[21–22]
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(6) Das Auftreten des anonymen Propheten hat seine nächsten Parallelen in der Einführung prophetischer Mahner in der Chronik (z.B. 2. Chr 11,2–4; 15,1ff.; 16,7ff.). (7) Der bündige Anschluss von 6,11ff. an 6,1–6 im Sinne der dtr Rahmungen in der Darstellung der Richterzeit erweist 6,7–10 als nach-dtrG-Einschreibung.
Diese Sicht wird nun entscheidend gestützt durch die Lesart der Qumranhandschrift 4QJudga, in der genau die diskutierten Verse „fehlen“. Da keinerlei Indizien für einen technischen Abschreibfehler oder für eine bewusste Auslassung zu erkennen sind, kann die Handschrift als Zeuge für die literargeschichtlich postulierte Textgestalt (noch ohne Ri 6,7–10) gelten. 21–22 Von einer „Empirie“ ganz anderer Art, aber in mancher Hinsicht noch signifikanter sind forschungsgeschichtliche Befunde wie der seit Generationen bestehende internationale und interkonfessionelle Kon|sens, in dem ca. 45% des Pentateuchtextes weitgehend übereinstimmend als priesterliche Überlieferung(en) im weiteren Sinne von den sonstigen Texten diachron abgegrenzt werden, selbst da, wo die Schichten kompliziert ineinander verschlungen sind wie in der Sintflut- oder der Schilfmeererzählung. Möglich wird diese stabile Analyse vor allem durch das außerordentlich ausgeprägte sprachliche und konzeptionelle Profil der P-Überlieferung und durch ihre nicht nur primär additiven, sondern häufig auch pointiert diskontinuierlichen Fügungen.31 Es liegt nahe, an analogen Beispielen systematisch solche Bedingungen der Konsensfähigkeit von Vorstufenrekonstruktionen zu erheben. Daraus könnten dann Parameter für die graduelle Plausibilität diachroner Analysen gewonnen werden. Entsprechende Untersuchungen bilden freilich ein Desideratum. Nimmt man aber die bisherigen Befunde der „empirischen“ Gegenproben und grobe Einschätzungen tatsächlicher Konsensbildung als Indizien, dann lässt sich auf der einen Seite mit hoher Bestimmtheit sagen, unter welchen Umständen die analytischen Möglichkeiten gegen Null gehen. 32 Auf der anderen Seite lassen sich im Blick auf die Konsensfähigkeit diachroner Stratigraphien gewisse Tendenzen immerhin tentativ benennen: 33 Die Konsensfindung dürfte ungleich aussichtsreicher sein bei großräumigen, komplexe Plot- und Kompositionsstrukturen umgreifenden Analysen als bei kleinräumigen Kohärenzanalysen. Sie dürfte wahrscheinlicher sein bei geschlossenen, blockweisen Ergänzungen, Ei nschreibungen etc. als bei fragmentarischen, punktuellen oder sozusagen fortlaufend eingeschriebe-
31 Es gehört zu den Besonderheiten der literarischen Verbindung von priesterlichem und nicht-priesterlichem Material, dass dabei harte Diskontinuitäten nicht nur in Kauf genommen, sondern mitunter sogar profiliert werden, was auf die sehr spezifischen Rahmenbedingungen dieser Traditionsbildung zurückzuführen ist. Allerdings stehen daneben auch kohärente, fugenlose Verbindungen des P-Materials. Zum Ganzen s. E. B LUM , Studien zur Komposition des Pentateuch (BZAW 189), Berlin / New York 1990, 333ff. 32 Immer dann, wenn die Tradenten den Vorlagentext sprachlich transformieren, inhaltlich glätten, (subtraktiv) kürzen, straffen, in Teilen umstellen etc. 33 Dabei ist primär an Prosaüberlieferung gedacht. Im Falle formal gebundener Texte kommen zumindest noch andere Gesichtspunkte dazu.
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[22–23]
nen Elementen. Sie wird ganz entscheidend gewinnen, wenn die Analyse sich auf unstrittige inhaltliche (Plot, Konzeption, Theologie) und/oder formale (Stil, Phraseologie etc.) Konturierungen stützen kann, eventuell sogar auf nachweisliche redaktionelle Techniken (Wiederaufnahme, Prolepse etc.) oder auf „dialogische“ Bezüge zwischen Textabschnitten.34 Bei allen genannten Zusammenhängen können natürlich auch Kohärenzindizien eine wichtige Rolle spielen, deren Kriterien freilich vielfach selbst noch auf ihr e Signifikanz zu | prüfen wären.35 Für eine mögliche Konsensbildung spielt nicht zuletzt auch die Tiefe der „Vorstufenrekonstruktionen“ eine Rolle; entsprechende forschungsgeschichtlic he Erhebungen könnten prüfen, ob es nicht „kritische Mengen“ postulierter Strata in einer begrenzten Perikope ohne größere phraseologische Varianz gibt, bei denen sich die Zustimmungsbereitschaft drastisch reduziert. Wie gesagt, es geht um die Konsensbildu ng, nicht um die „tatsächlichen“ überlieferungsgeschichtlichen Sachverhalte; letz tere mögen unsäglich komplex gewesen sein (auch bei Texten, die allgemein als „einheitlich“ gelten), nur entziehen sich gewisse Spielarten von Komplexität unserem Urteil. 22–23
Bezogen auf das gängige Verständnis von Literarkritik scheint sich mir jedenfalls abzuzeichnen, dass deren Kernkriterien in ihrer Tragfähigkeit bisher oft weit überschätzt werden. 36 Für die konkrete exegetische Arbeit dürfte dies nachhaltigere Konsequenzen haben, als man vorderhand denken mag. Die Überschätzung der Möglichkeiten einer textimmanenten literarkritischen Analyse fällt nämlich häufig immer noch zusammen mit der prozeduralen und heuristischen Vorordnung der Fokussierung auf Indizien diachroner Uneinheitlichkeit vor Lesungen, die sich ganzheitlich auf einen Text einlassen.37 Kurzum: Nimmt man die skizzierten Problemstellungen und Anfragen ernst, dann erscheint in der Tat eine Neuorientierung in der Axiomatik, den Kriterien und Regeln literargeschichtlicher Analysen notwendig, eine Neuorientierung, die letztlich zur Auflösung herkömmlicher „Literarkritik“ als eines eigenständigen Verfahrens (nicht der literarkritischen Fragestellung!) führen dürfte.
34
Vgl. für ein entsprechendes Syndrom das oben vorgestellte „Fallbeispiel“ von Ri 6,7–10. 35 Damit ist ein großer Fragehorizont angesprochen, der in diesem Rahmen nicht aufgenommen werden kann. Für glänzende Beispiele einer quasi-empirischen Überprüfung gängiger Maßstäbe sprachlich-stilistischer oder narrativer Kohärenz verweise ich auf H.-J. STIPP, Elischa – Propheten – Gottesmänner. Die Kompositionsgeschichte des Elischazyklus und verwandter Texte, rekonstruiert auf der Basis von Text- und Literarkritik zu 1 Kön 20.22 und 2 Kön 2–7 (ATSAT 24), St. Ottilien 1987, 97ff.182ff.287ff. 36 Dies scheint mir auch ein wesentliches Ergebnis von Werlitz’ Prüfung des „Paradigma(s) textinterner Literarkritik“ zu sein; s. DERS., Studien (Anm. 14), 42ff. 37 Dazu E. B LUM , Von Sinn und Nutzen der Kategorie „Synchronie“ in der Exegese, in: W. DIETRICH (Hg.), Saul und David im Widerstreit – synchrone und diachrone Exegese im Wettstreit. Beiträge zur Auslegung des ersten Samuelbuches (OBO 206), Freiburg/ Schweiz u. Göttingen 2004, 16–30.
[23–24]
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2. Konzeptionelle Engführungen Es geht freilich nicht allein um die Kritik der Literarkritik in ihrem gängigen Zuschnitt. Auch andere Teile des sog. „Methodenkanons“ erweisen sich in manchen spezifischen Entwicklungen auf analoge Komple|xitätsreduktionen angelegt.38 Noch sehr viel effektiver dürften in dieser Hinsicht allerdings allgemeine konzeptionelle Einstellungen sein, welche die Hypothesenbildung und die Argumentationsstruktur in einem größeren Horizont steuern. Gemeint sind fundamentale Annahmen über den zu untersuchenden Gegenstandsbereich, die, einmal etabliert, zu unbefragten Selbstverständlichkeiten, zu impliziten Axiomen der disziplinären Arbeit absinken. 39 Zwei Beispiele von einiger Bedeutung auch für die gegenwärtige Forschung sollen im Folgenden skizziert werden. 23–24 Das erste hier zu nennende implizite Axiom ist das Konzept der Selbigkeit der Texte in der alttestamentlichen Literargeschichte. Es bildet nicht nur die Geschäftsgrundlage für Teile der Methodik 40, sondern gibt die generelle Blickrichtung diachroner Analysen vor. Dies spiegelt sich nicht zuletzt in der allgemein verwendeten Terminologie, so in dem neutralen, und wohl deshalb zunehmend gebrauchten Begriff der „Vorstufenrekonstruktion“, darüber hinaus in der elementaren Frage nach „Grundschichten“, „Ergänzungsschichten“ etc. Mehr noch, die gesamte Metaphorik, mit der sich Exegese als eine Art Textarchäologie zu definieren scheint,41 hat zur selbstverständlichen Voraussetzung, dass es bei der Frage nach der Diachronie eines Textes um die Genese ein und derselben Entität geht.42 Nichts anderes impliziert jedenfalls die Ausrichtung auf „Vorstufen“ oder die „Grundschicht“. Mit dem derzeit allgegenwärtigen Begriff der „Fortschreibung“ scheint besagtes Axiom vielfach – reflektiert oder nicht – in ein exegetisches Programm überführt zu sein. Wie problematisch eine solche Generalisierung ist, dürfte jedoch unmittelbar einleuchten, sobald man Text-Text-Beziehungen wie die zwischen 38
Hier sind insbesondere die inkonsistenten Konzepte der sog. Formgeschichte zu nennen; vgl. dazu E. B LUM , Formgeschichte – A Misleading Category? Some Critical Remarks, in: M.A. SWEENEY / E. B EN ZVI (Hg.), The Changing Face of Form Criticism for the TwentyFirst Century, Grand Rapids / Cambridge 2003, 32–45; vgl. auch schon C. HARDMEIER , Texttheorie und biblische Exegese. Zur rhetorischen Funktion der Trauermetaphorik in der Prophetie (BEvTh 79), München 1978, 258ff. 39 Vgl. zum Folgenden auch den kritischen Hinweis von T SEVAT, Common Sense (Anm. 18), 218, auf einen geläufigen „implicit recourse to ‚first principles‘ possessing prima facie plausibility“ zur Lösung komplexer exegetischer Probleme. 40 In diesem Sinne wurde es oben schon implizit angesprochen (vor Anm. 27). 41 Entsprechendes gilt für andere Metaphern wie „Subtraktionsverfahren“ u.ä.m. 42 Selbstverständlich unter Einschluss einer Möglichkeit wie der, dass mehrere Texte in einem größeren aufgehen. Die Identifikation des jeweils selbigen Textes hängt mithin von der analytischen Zugriffsebene ab.
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dem Matthäus- und dem Markusevangelium oder zwischen Chronik- und Königsbüchern bedenkt: Weder würde die Chronik üblicherweise als weitere redaktionelle Stufe der Königsbücher betrachtet werden, noch Markus als „Grundschicht“ von Matthäus. Hier wie auch im | Falle des Jubiläenbuches, der Antiquitates des Josephus etc. wird man stattdessen sachgemäßer von „eigenständigen Textbildungen unter Verarbeitung von vorgegebenem Material“ sprechen. 24–25 Für unseren Zusammenhang kommt es nun nicht so sehr auf den Begriff der Selbigkeit/Identität von Texten oder Werken an und wie er näher hin zu definieren wäre,43 sondern darauf, welche analytischen Optionen mit dem Axiom der Selbigkeit präsupponiert bzw. ausgeschlossen werden. Von vornherein ausgeschlossen wäre z.B. eine Texterklärung, wie sie sich im Falle von 1 Kön 17 nahelegt: Vieles deutet hier darauf hin, dass der Autor der großen Eliaerzählung einen literarischen Elischazyklus vorliegen hatte und in seinen Sareptaepisoden die beiden aufeinander folgenden Elischa-Legenden von 2 Kön 4,1–7.8–27 als Eliawunder neu erzählt, wobei etwa die große Erzählung von der Schunemiterin (30 Verse) in eine kurze Episode von acht Versen umgegossen wird. 44 Wie wenig ein solcher Fall in den gängigen Kategorien vorgesehen ist, lässt sich in mehrfacher Hinsicht demonstrieren: Zum einen findet er in O.H. Stecks weithin akzeptierter methodischer Systematik keinen genuinen Platz; vielmehr fällt er ziemlich genau zwischen Stecks „Schritte“ der „Redaktionsgeschichte“ (als Bearbeitung eines selbigen Textes) und „Traditionsgeschichte“ (als Geschichte rezipierter Vorstellungen, Traditionsstoffe etc.). Zum anderen impliziert er ein ungewohntes Analyseverständnis: Dass eine Vorlagenrekonstruktion von 1 Kön 17 her ausgeschlossen ist, stellt hier nicht das (unbefriedigende) Resultat einer unfreiwillig-unvollständigen Vorstufenanalyse dar, sondern beruht darauf, dass es eine „Vorstufe“ gar nicht gibt (wohl aber eine literarische „Vorlage“). Und schließlich nötigt der Befund zu einem differenzierten Konzept von „Einheitlichkeit/Uneinheitlichkeit“: Zwar gibt es in 1 Kön 17,17ff. durchaus Elemente narrativer Inkohärenz, die auch diachron signifikant sind; sie führen jedoch nicht auf verschiedene „Hände“ (ein Autor hat den Abschnitt „in einem Zuge“ formuliert), sondern eben auf die Transformation literarischen Materials. 43 Vermutlich lassen sich Urteile über die Identität von literarischen Entitäten nicht hinreichend über die gegebene oder nicht-gegebene Substanz (gleichsam „ontologisch“) fundieren, sondern letztlich nur in der Textpragmatik. Die Frage entscheidet sich demnach daran, ob Autoren und/oder Rezipienten darin dasselbe Werk sehen oder nicht (vgl. etwa den Fall divergierender Handschriften, die ein und dasselbe Werk repräsentieren). 44 Dazu und zum Folgenden s. E. B LUM , Der Prophet und das Verderben Israels. Eine ganzheitliche, historisch-kritische Lektüre von 1 Regum XVII–XIX, VT 47 (1997) 277–292, hier 278ff. mit Literatur.
[25–27]
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Das Spektrum diachroner Modelle mit unterschiedlichen Zuordnungen von Textbildung und Vorgaben, von Rezeption und Produktion jen|seits der textarchäologischen Stratastruktur ließe sich leicht vergrößern. Demgegenüber steuert das unhinterfragte implizite Axiom der Selbigkeit der Texte bereits den ersten analytischen Blick auf die Texte im Sinne einer einzigen, handwerklich scheinbar zugänglicheren Option. 25–27 Das andere implizite Axiom, auf das hier noch verwiesen werden soll, steht im Zusammenhang des vielleicht folgenreichsten Paradigmenwechsels der alttestamentlichen Exegese in den letzten Jahrzehnten, einer methodischen Neuorientierung, die man in Analogie zu ähnlichen Schlagworten als literary turn bezeichnen könnte. In gewisser Weise bildete er einen return hinter eine Ausrichtung der Forschung, die im Anschluss an Einsichten Hermann Gunkels von so herausragenden Fachvertretern wie Albrecht Alt, Martin Noth und Gerhard von Rad vorangetrieben worden war. Der Fokus ihres Interesses lag primär auf den vorliterarischen, mündlichen Überlieferungsprozessen, von denen her sich ihnen nicht zuletzt die Vor- und Frühgeschichte Israels und seiner Traditionen zu erschließen schien. Diese Fokussierung betraf die meisten alttestamentlichen Traditionsbereiche: Geschichtsüberlieferung, Recht, Prophetie und Kult. Ein Rückschlag des Pendels war angesichts einer teilweise wenig skrupulösen Übersteigerung der Hypothesen im Grunde zu erwarten. In den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts primär in der Pentateuchanalyse einsetzend eroberte sich der methodische Vorrang des literarischen Textes dann rasch die Prophetenexegese und die Psalmenauslegung („Psalterexegese“). Dabei ist für die Wirkkraft dieses Prozesses der Umstand kaum zu überschätzen, dass auch die anfangs genannten neuen Fragestellungen jenseits des historisch-kritischen Kanons wie die kanonische Exegese (Brevard S. Childs, James A. Sanders u.a.) und die sog. synchrone literarische Interpretation am literary turn partizipierten bzw. ihn beförderten. In methodischer Hinsicht erwies sich der Verzicht auf Rekonstruktionsversuche mündlicher Vorgeschichten von Erzählungen etc. rasch als entlastender Realismus, und die Besinnung auf die vorliegenden literarischen Kontexte öffnete verstärkt den Blick für Kompositionen, das Phänomen der Fortschreibung, innerbiblische Auslegungsprozesse etc. Nicht zuletzt auch in der Prophetie hat diese Akzentverschiebung gewichtige Einsichten ermöglicht. Man mag es mit der Pendeldynamik solcher Entwicklungen erklären, die dazu verführt, einen Ansatz unter dem Feldzeichen der „Konsequenz“ bis zum Anschlag auszureizen; 45 jedenfalls konnte die Disziplin dieser Verführung wohl auch hier nicht ganz widerstehen, freilich um | den Preis einer 45 Dass solche Ausschläge eine gewisse Nachhaltigkeit aufweisen, lässt sich wiederum relativ leicht mit dem eingangs entfalteten Strukturproblem der Disziplin begründen.
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sachlichen und methodischen Engführung. Sie besteht darin, dass der Überlieferungsprozess im biblischen Israel weitgehend auf Vorgänge der Fortschreibung oder intertextueller Abhängigkeit reduziert wird. Als steuerndes Axiom fungiert dabei die Gleichsetzung der uns überkommenen Traditionsliteratur und der Traditionswelt des alten Israel. Dies ist m.W. so ausdrücklich nie vertreten worden. Mehr noch, einmal expliziert, wird eine solche evident unhistorische Konstruktion gewiss allgemein zurückgewiesen werden. 27–28 Gleichwohl ist sie für die Logik vieler Argumentationszusammenhänge unabdingbar. Nur unter der Prämisse, dass die israelitische Literatur als hermetisches Korpus zu behandeln ist, und nur wenn Traditionsgeschichte und Literargeschichte tendenziell zusammenfallen, ist etwa mit dem ältesten literarischen Beleg einer Tradition schon ihr Anfang bestimmt. Nur dann versteht es sich von selbst, dass eine formale und inhaltliche Verwandtschaft zwischen Texten zunächst einmal als literarische Abhängigkeit (in der einen oder anderen Richtung) zu interpretieren ist. Dann liegt es auch nahe, Konzepte wie die Forderung der exklusiven Monolatrie aus einer Filiation einzelner Textbelege herzuleiten etc. Zweifellos entziehen sich die jeweiligen exegetischen Alternativen (nicht unmittelbar belegte mündliche Diskurse, vermittelte Abhängigkeiten etc.) einem vergleichbar direkten Zugriff. Dementsprechend wird der methodische Zugang auch nicht mit dem genannten impliziten Axiom begründet, sondern methodologisch: Erscheint es nicht geboten, sich in der historischen Hypothesenbildung darauf zu beschränken, was greifbar „vorliegt“, nämlich erhaltene Texte, Bilder und die archäologisch zu erhebenden Reste materieller Kultur? Dagegen steht jedoch der elementare Einwand, dass historische Forschung sich kaum einer Verwechslung des historisch unmittelbar Belegten und dessen, was historisch der Fall war, zeihen lassen mag. M.a.W., bleiben historische Möglichkeiten um der Urteilsmöglichkeit willen von vornherein ausgeschlossen („Komplexitätsreduktion“!), dann schafft sich die Methodik die Bedingungen ihrer Möglichkeiten selbst, 46 mehr noch, sie kann rasch der Gefahr erliegen, sich zu einer Axiomatik zu verselbstständigen, deren Geltung in der scientific community zwar den mehr oder weniger reibungslosen Wissenschaftsbetrieb garantiert, deren fundamentum in re sich aber im ungünstigen Falle auf eben diese Geltung beschränkt. Im Vergleich damit erscheint der unvermeidliche Preis | einer der historischen Komplexität methodisch zugewandten Forschung gering: das häufigere Eingeständnis der Erkenntnisgrenzen und eine entsprechende Epoché. 46 Vgl. WERLITZ (hier bezogen auf eine Spielart der Literarkritik): „Indem die Regeln des Textwachstums den empirisch-epistomologischen Möglichkeiten, solche zu erkennen, angepasst werden, wird Wirklichkeit konstruiert.“ (Studien [Anm. 14], 85).
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Die verschiedenen Aspekte der in diesem Kapitel formulierten methodologischen Kritik betreffen in letzter Instanz das bislang mehr oder weniger selbstverständliche Konzept „der historisch-kritischen Methode“ im Sinne eines regelgeleiteten, zielführenden Verfahrens. In Theorie und Praxis trägt dieses Konzept nicht selten Züge einer Münchhausen-Lösung, nämlich des Versuchs, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf der Daten-Defizienz zu ziehen. Wege der „Abhilfe“ sind zu einem Gutteil schon in der kritischen Diagnose impliziert. Generell geht es vor allem um eine Verständigung über strengere, theoretisch und empirisch fundierte Plausibilitätsmaßstäbe und um die permanente Revision axiomatischer Engführungen, gerade von solchen, die zu unbewussten Selbstverständlichkeiten abgesunken sind. Auf welche Weise dergleichen zu leisten sein wird, kann in diesem Rahmen freilich ebenso wenig entfaltet werden wie die Perspektiven einer substantiellen Weiterentwicklung der exegetischen Methodik. Zu Letzterem sei lediglich angemerkt, dass dafür hochdifferenzierte methodische Horizonte durchaus bereitstehen – von linguistisch fundierter Texttheorie47 bis zur allgemeinen Literaturwissenschaft.
II. Eine Fundamentalalternative: biblische Texte als autonome Literatur? Angesichts der (durchaus bewusst) pointierten Darstellung der Schwierigkeiten einer historischen Exegese, mag sich für manche freilich eine radikalere Konsequenz aufdrängen. Ist es, so könnte man fragen, wirklich unabdingbar, alttestamentliche Texte solchen entstehungsgeschichtlichen Analysen zu unterwerfen, um ihre Bedeutung methodisch erschließen zu können? Ja, mehr noch: bedeutet die Fokussierung auf den historischen Kontext und die Autorenintention nicht wiederum eine Engführung, deren Problematik in der allgemeinen Literaturwissenschaft schon lange diskutiert wird? |28–29 In dieser Hinsicht erscheint der eingangs erwähnte Ansatz einer poetischliterarischen Werkinterpretation verheißungsvoll, wie er u.a. in den USA, 47 C. H ARDMEIER kommt das Verdienst zu, nicht nur entsprechende textlinguistische Ansätze der exegetischen Öffentlichkeit zugänglich gemacht, sondern deren Applikation im Bereich der Bibelexegese konzeptionell vorangetrieben und ihre Fruchtbarkeit demonstriert zu haben; vgl. zuletzt den Art. Literaturwissenschaft, biblisch, in: RGG 4 5, Tübingen 2002, 425–429, und die beiden Bände: Textwelten der Bibel entdecken. Grundlagen und Verfahren einer textpragmatischen Literaturwissenschaft der Bibel. Textpragmatische Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte der Hebräischen Bibel, Bde. 1/1 und 1/2, Gütersloh 2003 und 2004.
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Holland und von israelischen Literaturwissenschaftlern verfolgt wird. Und tatsächlich verdanken wir vielen Arbeiten dieser Art spannende Perspektiven und einen neuen Blick auf die poetische Qualität alttestamentlicher Texte.48 Unter anderem wurde dabei deutlich, dass biblischen Erzählungen, Liedern etc. oft mehr an subtiler Gestaltung und hintergründiger Komplexität zuzutrauen ist, als historische Exegese ihnen vielfach zugestehen wollte. Die substantielle Poetizität eines Großteils der alttestamentlichen Literatur dürfte jedenfalls gar nicht zu bestreiten sein. Sollte man sie dann aber nicht auch als poetische Literatur lesen, d.h. als Werke, die nun losgelöst von ihrer Entstehungssituation als autonome und überzeitliche Größen ihre Leser affizieren? Könnte ein solcher Zugang nicht tendenziell aus den Aporien historisch-genetischer Fragestellungen befreien und zugleich eine größere Nähe zu den Texten selbst schaffen? 49 Zwar wird man eine solche Lektüre niemandem verwehren können, doch ist sie m.E. den Texten in fundamentaler Weise inadäquat. Zwei Aspekte erscheinen mir dabei entscheidend: 1. Das Alte Testament ist weder autonome Literatur, noch enthält es dergleichen.50 Die Neuzeit kennt „schöne Literatur“ (von populärer Unterhaltungsliteratur bis zu anspruchsvoller Dichtung) als ein von „Sach-/Mitteilungsliteratur“ (im weitesten Sinne) unterschiedenes Segment der literarischen Kommunikation. Konstitutiv für erstere ist die textpragmatische Kategorie der Fiktionalität, d.h. eine konventionell vorgegebene Rezeption, in der die Texte partiell oder vollständig von der abbildenden Referenz auf außersprachliche Wirklichkeit entlastet sind. Von grundlegender Bedeutung ist dabei die Differenzierung zwischen den Kategorien „fiktiv“ und „fiktional“. Als fiktiv hat ein Text zu gelten, wenn wesentliche der in ihm bezeichneten Sachverhalte in der Referenzwelt nicht existieren. | Fiktional ist ein Text, der – unabhängig davon, ob oder wie viele seiner Aussagen fiktiv sind – gar nicht den Anspruch erhebt, ein reales Weltgeschehen abzubilden, oder der in diesem Sinne rezipiert wird. Ein solcher Text konstituiert eine eigene „poetische“ Welt. (Ungeachtet dessen können natürlich zugleich hochkomplexe und -bedeutsame Bezüge zur Lebenswelt von Autor und Adressaten bestehen.) 29–30 48 An erster Stelle ist hier an die bekannten, einschlägigen Arbeiten von Meir Sternberg und Robert Alter zu erinnern. 49 Die folgenden Überlegungen sind nicht zuletzt auch im Gespräch mit Helmut Utzschneider formuliert, der von einer ähnlichen Problemstellung ausgeht, aber zu eine m entgegengesetzten Lösungsvorschlag gelangt; vgl. H. UTZSCHNEIDER , Text – Leser – Autor. Bestandsaufnahme und Prolegomena zu einer Theorie der Exegese, BZ 43 (1999) 224–238. 50 Zum Folgenden vgl. des Näheren: E. B LUM, Historiographie oder Dichtung? Zur Eigenart alttestamentlicher Geschichtsüberlieferung, in: E. B LUM / W. J OHNSTONE / CHR. MARKSCHIES (Hg.), Das Alte Testament – ein Geschichtsbuch?, Beiträge des Symposiums „Das Alte Testament und die Kultur der Moderne“ anlässlich des 100. Geburtstags Gerhard von Rads (1901–1971) Heidelberg 18.–21. Oktober 2001 (atm 10), Münster 2005, 65–86.
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Eine entsprechende eigenständige poetische Kommunikationsform entwickelte sich für unseren Kulturraum erstmals in der klassischen Zeit Griechenlands und konnte hier auch reflektiert der Historiographie und der Epik gegenübergestellt werden. 51 Zwar nahmen die Dramatiker deren Traditionsstoffe (der geschichtlichen und heroischen Zeit) auf, gestalteten sie aber mit einem anderen Anspruch, nämlich als Wirklichkeit, „wie sie sein könnte“ (Aristoteles, Poetik [9] 1451b). Damit war gleichsam auch die Kategorie der Fiktionalität „entdeckt“.52
Das Alte Testament kennt jedoch – anders als die Griechen – diese Ausdifferenzierung einer poetischen Kommunikationsform nicht. Für seine Texte bedeutet dies: sie sind häufig poetisch, ja artifiziell gestaltet, aber sie stellen in textpragmatischer Hinsicht keine Dichtung dar, sondern adressatenbezogene Mitteilungsliteratur. 53 Ihre Interpretation als autonome Literatur impliziert mithin eine anachronistische Projektion und liest die Texte gegen ihr Eigenverständnis. 2. Der verlockendste Gewinn des literarischen Zugangs wäre eine Entlastung von der Frage nach der intentio auctoris. Als Alternative würde sich weniger die Offenheit einer intentio lectoris im Sinne der Rezeptionsästhetik anbieten, als die Orientierung an einer intentio operis, wie sie etwa von Umberto Eco als Regulativ gegen eine Beliebigkeit des Lesens stark gemacht wird.54 Die damit verbundene Konzentration „auf | den Text selbst“ als Maßstab angemessener Interpretation erscheint insbesondere für biblische Texte verheißungsvoll. 30–31 Allerdings ist es nun gerade dieses Regulativ, die „Werkintention“, die in einer Traditionsliteratur wie der biblischen zum Problem wird. Anders als im Normalfall heute angebotener Belletristik ist bekanntlich im Alten Testament die entscheidende Bezugsgröße, das „Opus“, in vielen Fällen nicht
51
Vgl. insbesondere W. RÖSLER, Die Entdeckung der Fiktionalität in der Antike, Poetica 12 (1980) 283–319, und M. FINKELBERG, The Birth of Literary Fiction in Ancient Greece, Oxford 1998. 52 Präziser wäre hier von einer „Fiktionalität zweiten Grades“ zu sprechen, die sich von der Fiktionalität volkstümlicher Gattungen wie Fabel, Gleichnis oder Märchen eben in ihrer Applikation auch auf Stoffe „geglaubter“ geschichtlicher Überlieferung unterscheidet. 53 Ohne diese Unterscheidung von (unstrittiger) Poetizität der Texte (als Aspekt ihrer „Semantik“ und „Syntax“) einerseits und Dichtung als einer textpragmatisch definierten Kategorie „muss“ etwa D.J.A. CLINES, Story and Poem: The Old Testament as Literature and as Scripture, Int. 34 (1980) 115–127, zu einer genau gegenläufigen Position gelangen: „… one cannot, or should not, read the Bible as Scripture except as literature …“ (117). Als wichtigste Differenz für den Umgang mit den Texten bleibt am Ende die Alternative einer grundsätzlichen Offenheit („Scripture as literature“) oder Bestimmtheit des Textsinns. 54 U. ECO, Die Grenzen der Interpretation, München 1992; vgl. die Rezeption Ecos bei UTZSCHNEIDER, Theorie der Exegese (Anm. 49).
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einfach gegeben.55 Dies gilt vor allem im Blick auf die großen Sammelwerke wie den Pentateuch, die Vorderen Propheten oder große Prophetenbücher. Insbesondere die Texte, die sich hier für intensive narratologische/poetologische Interpretationen anbieten, bilden darin nun eingebettete Teiltexte. Wenn deren Abgrenzung systemisch nicht diachron fundiert werden kann (insofern damit ja wieder eine Autorenperspektive eingebracht wäre), bleibt eine Zuordnung von Texteinheiten, eine Bestimmung von Anfang und Schluss etc. nach „ästhetisch-literarischen“ Gesichtspunkten wie Plot, Strukturbezüge etc. Interessanterweise kann dies mitunter auf auffällige Parallelen zu diachronen Abgrenzungen führen. 56 Kaum vermeidbar erscheint dabei aber, dass die Begründung der betreffenden Einheit im Ganzen unterbestimmt bleibt oder dass sperrige bzw. über die Einheit hinaus weisende Elemente „eingeklammert“ werden. 57 Dementsprechend sind hier strukturell-dezisionistische Elemente m.E. unverkennbar, und im Einzelfall wäre auch eine andere Abgrenzung möglich. 58 |31–32 Selbst der naheliegende Bezug auf vorgegebene Bucheinheiten löst die angesprochene Frage in den seltensten Fällen: Große kanonische Einheiten wie der Pentateuch, aber auch Einzelbücher wie Jesaja, Jeremia oder das Richterbuch erweisen sich in ihrer „Endgestalt“ zwar einerseits durch weitgreifende Struktursignale geprägt, andererseits durch das Nebeneinander dissonanter „Stimmen“, diskontinuierlicher Fügungen von narrativen Ele-
55 Vgl. zum Folgenden die (konträren) Überlegungen von H. U TZSCHNEIDER, Gottes langer Atem. Die Exoduserzählung (Ex 1–14) in ästhetischer und historischer Sicht (SBS 166), Stuttgart 1996, 7f.9ff. 56 So bei J.P. FOKKELMAN , Narrative Art and Poetry in the Books of Samuel. A Full Interpretation Based on Stylistic and Structural Analyses. Volume I: King David (II Sam. 9–20 & I Kings 1–2) (SSN 20), Assen 1981, mit einer verbreiteten Abgrenzung der Hof geschichte Davids („ThFG“). 57 Ersteres sehe ich in der genannten Arbeit von Fokkelman, von Letzterem ist die Interpretation der Exoduserzählung von Utzschneider nicht ganz frei (etwa im Blick auf die präskriptiven Stücke in Ex 12–13). 58 Wenn U TZSCHNEIDER , Exoduserzählung (Anm. 55), 7, Anm. 1, die Ausgrenzung des Schilfmeerliedes in Ex 15 aus seiner „Exoduserzählung“ mit „literarischen-ästhetischen Gründen“ rechtfertigt, weil hier der „sprachliche() Modus des Erzählens verlassen“ sei, dann ließe sich die Argumentation auch umkehren: Ist das Lied nicht durch die erzählerische Rahmung (15,1b.19–21a) eng angebunden? Und könnte der Wechsel des „sprachlichen Modus“ nicht in einer ästhetischen Strategie des Textes begründet sein? M.a.W., es geht um die Frage der Kriterien dafür, dass der jeweils als „literarisch-ästhetisches Subjekt“ gelesene Textausschnitt mehr ist als die ephemäre Kreation des Lesers? (Vgl. dazu die Erörterung bei UTZSCHNEIDER, a.a.O., 12–15.) Zugleich ist anzumerken, dass Utzschneider sich von programmatisch a-historischen Ansätzen bewusst abhebt, insofern er dezidiert auf einer Verbindung von ästhetischer und „historischer“ Lesung besteht, letztere allerdings nicht bezogen auf eine bestimmte Kommunikationssituation, sondern mehr auf einen geschichtlichen Erfahrungsraum, in dem der Text nach und nach geworden ist.
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menten oder Sprüchen. Vor allem aber erscheint es nicht möglich, die spezifischen Profile der einzelnen Worte oder Erzählungen in eine geschlossene „Werkintention“ zu integrieren. Entsprechende Interpretationen neigen denn auch dazu, in selektiver Lektüre der hochkomplexen kanonischen Einheiten einen Hypertext zu bilden, der nur eine mögliche Lesung neben anderen realisieren kann. M.a.W., nicht weniger als bei diachronen Analysen stehen Ausleger auch in subtil-poetischen Lesungen des Vorliegenden in der Gefahr, sich Texte „nach ihrem Bild“ zu schaffen. 32–33 Auf den ersten Blick bietet sich hier der Ansatz einer „kanonischen Exegese“ als stimmige Alternative, vielleicht sogar als Synthese an. Auch kanonische Exegese konzentriert sich auf holistische Lesungen der überlieferten Endgestalt. Sie versteht diese als Literatur, aber nicht nach dem Modell von Sophokles oder Dante, sondern als „Heilige Schrift“ einer geschichtlichen Glaubensgemeinschaft. In dem Konzept von Brevard S. Childs geht es denn auch keineswegs um einen a-historischen Deutungshorizont. Vielmehr begründet Childs die Fokussierung auf die Endgestalt damit, dass die kanonische Sammlung als „kritische Norm“ einer komplexen Traditionsgeschichte fungiere. Sie stehe am Ende eines langen „kanonischen Prozesses“, in dem Überlieferung bewahrt, aber auch ausgewählt und transformiert wurde. Die konkreten Umstände dieser Traditionsbildung seien absichtsvoll verwischt worden; unzweideutig bleibe allein der autoritative Anspruch dieser Schrift für alle folgenden Generationen Israels. Insofern könne erst die kanonische Auslegung dem Eigenverständnis der Schrift gerecht werden. 59 Die Grenzen des Ansatzes zeigen sich jedoch bei der Konkretion an den komplexen alttestamentlichen Büchern, und dies ganz analog zur literarisch-ästhetischen Interpretation: Die Auslegung muss teilweise bei Generalisierungen stehen bleiben, oder sie unterstellt einen einheitlichen Gestaltungswillen eines imaginären Endredaktors, der dann als Projektionsfläche für die exegetischen Sinnbildungen dient. Vor allem aber stellt sich wiederum die Frage, wie die diskontinuierlichen, die kontroversen Linien der Endgestalten zu ihrem Recht kommen sollen. Dergleichen lässt sich gar nicht anders profilieren, als dass der diachrone Prozess, dem sich die Endgestalten verdanken, sorgfältig herausgearbeitet wird. In der Konsequenz bedeutet dies, dass eine rein synchrone Auslegung der kanonischen Endgestalt von der Sache her gar nicht möglich ist. |
Am Ende dieses Durchgangs können wir damit die eingangs gestellte Frage nach der Notwendigkeit historischer Exegese erneut aufnehmen und, wie ich meine, eindeutig beantworten: Ohne die historische Frage nach den konkreten Kommunikationssituationen der Einzeltexte (oder sagen wir etwas realistischer: nach den Rahmenbedingungen möglicher Rezeptionen der Texte in der Welt des Alten Testaments) fehlen für eine große Zahl alttestamentlicher Texte die Kriterien bereits für ihre Konstitution (Umfang, AnfangEnde etc.), und für alle biblischen Texte fehlt das entscheidende, auf ihren
59 Vgl. etwa B.S. CHILDS , Introduction to the Old Testament as Scripture, London 1979, bes. 69–83 („Canon and Criticism“).
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Eigensinn60 ausgerichtete Regulativ. Biblische Exegese im wissenschaftlichen Kontext kann somit, will sie ihrem Gegenstand gerecht werden, nur historische Exegese sein.
III. Hermeneutische Implikationen: alttestamentliche Exegese als theologische Disziplin Das zu Beginn diagnostizierte Strukturproblem der Diastase von Daten und Erklärungsanspruch ist über die unmittelbar methodenrelevanten Fragen hinaus auch für wohlvertraute hermeneutische Grundfragen der Disziplin von Bedeutung. Zwar erweisen sie sich keineswegs erst dadurch bedingt, aber doch wohl in mancher Hinsicht verschärft. Eben dieser Horizont soll hier ins Spiel gebracht werden. 33–34 Die im Zusammenhang der Diastase stehenden Reduktionen, seien sie nun unumgänglich oder fahrlässig, erfolgen in der Regel ja keineswegs beliebig, sondern werden mehr oder weniger bewusst gesteuert. Im besten Falle durch explizite historische Theorien, häufig aber durch implizite Vorentwürfe, etwa von der Geschichte Israels in seiner altorientalischen Umwelt, von seiner Traditionsgeschichte, den Bedingungen von Textproduktion und -überlieferung im Allgemeinen und des betreffenden Textes im Besonderen etc. Diese Gesamtbilder ihrerseits sind gewonnen in Synthesen und Extrapolationen von Einzeldaten und -hypothesen. Nun spielen Vorentwürfe von Sinn, wie wir spätestens seit Schleiermacher wissen, bei jedem Verstehensvorgang, auch der Alltagskommunikation, eine konstitutive Rolle. Während aber in direkter Kommunikation das anfängliche Verstehen dank neuer Informationen fortschreitend korrigiert werden kann, sind solche „neuen“ Daten im historischen Verstehen begrenzt und häufig bruchstückhaft. Unter den erschwerten Bedingungen besagter Diastase resultiert daraus eine strukturell verstärkte Disposition zu prädeterminierten Hypothesenbildungen. Was diese allgemeine Einsicht zum Verständnis der windungsrei|chen Forschungsgeschichte und ihrer Prägung durch theologische oder intellektuelle Zeitströmungen beitragen mag, soll hier dahin gestellt sein. Jedenfalls kann sie sich durch den vielfach nachhaltigen Einfluss fundamentaler theologischer Prägungen auf historische Urteile bestätigt sehen. Im Kontext der Theologie könnte man versucht sein, aus dieser wohlbekannten faktischen Unausweichlichkeit positioneller Vorverständnisse wissenschaftstheoretisch eine Tugend zu machen, etwa auch zugunsten einer konfessionellen Bindung der Disziplin. Dies wäre allerdings kurzschlüssig 60 Auf diesem Ziel insistiert auch Hartmut G ESE im Gespräch mit Brevard S. Childs: „Es muß als hermeneutische Grundregel gelten, daß der Text so zu verstehen ist, wie er verstanden sein will, d.h. wie er sich selbst versteht.“ (Text [Anm. 15], 254).
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– allein schon deshalb, weil solche Prägungen einer sachgemäßen historischen Wahrnehmung auch im Wege stehen können. Am deutlichsten wird dies bei Themen, die theologisch wirklich „angehen“, wie etwa bei der Bestimmung von „tora“ bzw. „Gesetz“, die in jüdischer und christlicher Theologie ähnlich zentrale, wenn auch inkompatible Entfaltungen erfahren haben. So wird man den heftigen Widerspruch eines Teils der jüdischen Bibelwissenschaft im vorigen Jahrhundert gegen die mit dem Namen Julius Wellhausens verbundene Spätdatierung des „Priesterkodex“ (P) kaum von dem Stellenwert der Tora im religiös-jüdischen Selbstverständnis trennen können. Umgekehrt sind die unverkennbaren Schwierigkeiten christlicher Exegeten bei diesem Thema ohne die spezifisch christlich-theologische Kategorie „des Gesetzes“ nicht zu verstehen.61 Anführen lassen sich aber auch historische Fragen im engeren Sinne (mit weitreichenden theologischen Implikatio|nen) wie die Konstitution Judas vor und nach 587 v. Chr.62 oder die These vom Ende der Geschichte Israels im 1./2. Jahrhundert n. Chr.63 – Die Beispiele ließen sich mühelos vermehren. Man muss aber fragen, ob sie ohne die massiven Leerstellen in unserer Quellenbasis so überhaupt möglich wären. Positiv gewendet zeigen sie, dass exegetische Forschung umso mehr davon lebt, auch ihre immer gegebenen „leitenden Hinsichten“ unentwegt zur Disposition zu stellen. An diesem „regulativen Prinzip“ als notwendigem Element der disziplinären Matrix hängt die uneingeschränkte Diskursfähigkeit mit Nachbardisziplinen, aber auch die Ausrichtung an der eigenen 34–35
61 Auch wenn die Frage von Wellhausens eigenem theologischen Verständnis, das seine historischen Analysen mit bestimmt haben mag, hier nicht aufzunehmen ist, kann man doch die bei ihm erstaunliche Ungenauigkeit der Problemformulierung nicht übersehen, indem er wiederholt von „dem Gesetz“ oder gar dem „Buch der Thora“ spricht (Prolegomena zur Geschichte Israels, Berlin [1878] 1927 6, 3–4), obschon er die Priesterschrift bzw. deren Ritualgesetz meint (so dann a.a.O., 8f.) und obwohl „Buch der Tora“ definitiv kein P Terminus ist (vgl. auch die Klärung des Missverständnisses a.a.O., 364f.). Das viell eicht eindrücklichste Beispiel für ein intensives Ringen (und Scheitern) mit (an) diesem Gegenstand bildet Martin NOTHs Studie „Die Gesetze im Pentateuch“ (Halle 1940 = DERS., Gesammelte Studien zum Alten Testament [ThB 6], München 1957, 9–141), in der Noth auf der einen Seite gegen Positionen wie die von Emanuel Hirsch die Bezogenheit der vorexilischen Gesetze auf eine Gemeinschaft, die sich dem Bundesverhältnis zwischen Gott und Volk verdankte, herausarbeitet, andererseits „das Gesetz“ der „Spätzeit“ als „absolute() Größe von voraussetzungsloser, zeit- und geschichtsloser Gültigkeit“ (a.a.O., 114) bestimmt, also auch in P keinen Sachbezug auf das Verhältnis zwischen Gott und Volk erkennen kann (a.a.O., 120ff.). Gewiss ist Noth hier von seiner Sicht eines s akralen Stämmebundes geleitet, dessen „Ordnung der Dinge“ er bis zum Ende der Königszeit in Kraft sah (!), doch war für ihn damit zugleich theologisch die Grundlage für das „gesetzliche“ Verständnis des Judentums der neutestamentlichen Zeit gegeben (a.a.O., 136ff.). 62 S. dazu des Näheren E. B LUM, Volk oder Kultgemeinde? Zum Bild des nachexilischen Judentums in der alttestamentlichen Wissenschaft, KuI 10 (1995) 24–42. 63 Dazu überzeugend: R. RENDTORFF, Das „Ende“ der Geschichte Israels, in: DERS., Gesammelte Studien zum Alten Testament (ThB 57), München 1975, 267–276.
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„Sache“ – schließlich geht es um das „Eigenverständnis der Überlieferung“ und nicht um die Selbstbestätigung der Exegeten. Für diese hermeneutische Selbstreflexion (also nicht nur materialiter!) ist die Exegese heuristisch auf den grenzüberschreitenden Diskurs mit anderen historischen Disziplinen (Altorientalistik, Ägyptologie, Archäologie, Althistorik etc.) angewiesen, aber auch, so trivial dies klingen mag, mit Kollegen anderer Konfessionen und mit jüdischen Exegeten.64 Dieser „Diskurs“ realisiert sich idealiter im schlichten Sinne von „Gespräch“. Denn je elementarer die leitenden Hinsichten sind, umso hartnäckiger entziehen sie sich der bloßen Reflexion; oft bedarf es einer lebensweltlichen Konfrontation mit anderen Selbstverständlichkeiten, um der eigenen gewahr zu werden. In der Konsequenz bedeutet dies, dass der Zusammenhang der alttestamentlichen Wissenschaft mit Theologie insgesamt nicht über positionelle Vorgaben konstituiert wird. – Wie aber dann? – Einige notgedrungen holzschnittartige Thesen dazu sollen diesen Abschnitt beschließen: 35–36 1. Historische Exegese und religiöse Applikation der biblischen Texte Religiöse Applikation biblischer Texte innerhalb einer Glaubensgemeinschaft ist per se nicht auf wissenschaftliche Exegese angewiesen. Die gegenteilige Annahme hätte die unsinnige Konsequenz, dass nicht nur die kirchliche Rezeption der vorneuzeitlichen Epochen, sondern auch | der weitaus größte Teil gegenwärtiger Schriftauslegung in der Ökumene von vornherein als unzulänglich zu gelten hätten.65 Vor allem aber: Religiöse Rezeption der Schrift ist in einem Sinne „kanonisch“, wie es eine historische nicht sein kann, insofern sie zugleich eine materiale Ausgrenzung (nicht-kanonischer Texte) und eine semantische Entschränkung voraussetzt. Am konsequentesten ist dieses hermeneutische Modell in der traditionellen jüdischen Exegese ausgebildet, an der ja auch die Schriftauslegung im Neuen Testament Anteil hat. Im Sinne der semantischen Entschränkung des Kanons können hier etwa die einzelnen Textelemente: Wörter, Sätze etc. als autonome Bedeutungsträger rekontextualisiert werden. Dem kanonischen Text wird so ein nicht zu erschöpfendes Sinnpotential unterstellt, dass es für die jeweilige 64 Das im hiesigen Universitätssystem institutionalisierte Nebeneinander konfessio nell gebundener theologischer Fakultäten gewährleistet also auch diese für die exegetischen Fächer essentielle Breite der hermeneutischen Perspektiven. 65 Zu den in diesem Abschnitt angesprochenen Fragen vgl. insbesondere auch T. VEIJOLA, Text, Wissenschaft und Glaube. Überlegungen eines Alttestamentlers zur Lösung des Grundproblems der biblischen Hermeneutik, in: Menschenwürde, JBTh 15 (2000) 313–339, zu III. insgesamt zuletzt N. LOHFINK, Alttestamentliche Wissenschaft als Theologie? 44 Thesen, in: F.-L. HOSSFELD (Hg.), Wieviel Systematik erlaubt die Schrift? Auf der Suche nach einer gesamtbiblischen Theologie (QD 185), Freiburg/Brsg. u.a. 2001, 13– 47 (mit weiterer Literatur).
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Gegenwart produktiv zu realisieren gilt. Gleichwohl ist diese kreative Rezeption nicht beliebig, sondern geleitet durch regulative Kriterien der Interpretationsgemeinschaft, die sich im Spannungsfeld von zu bewältigender Lebenswelt und Bewahrung der Identität bewegen, wobei letztere ihrerseits schon durch die Wirkungsgeschichte der kanonischen Überlieferung bestimmt ist. – Exegetische Forschung hat für eine solche Midrasch-Exegese kein Instrumentarium, sie kann sie nicht einmal prognostizieren, sondern lediglich auslegungsgeschichtlich interpretieren. 36–37 Christliche Applikationen der Gegenwart unterscheiden sich davon strukturell nicht: auch sie repräsentieren eine leserorientierte Rezeption, die – sofern sie gelingt – zugleich lebensweltliche Orientierung ermöglicht und gesamttheologisch und ethisch verantwortet ist. Dabei teilen sie die grundsätzliche Gefahr solcher Rezeptionen: die reine Spiegelung des Eigensinnes der Interpreten im biblischen Text. Soll dieser zu seinem Recht kommen, dann nur, wenn zum einen sein Anders- und Fremdsein ausgehalten wird 66 und wenn zum anderen seine „Sache“ in den gesamttheologischen Regulativen zur Geltung kommt. – Dies führt implizit freilich wiederum zu einer theologischen Bedeutung des historisch erarbeiteten Literalsinnes. 67 | 2. Historische Exegese und wissenschaftliche Theologie a) Die lebhafte neuere Diskussion um das protestantische Schriftprinzip und seine teilweise ausgerufene „Krise“ kann hier nicht aufgenommen werden. Gleichwohl lässt sich die zugrunde liegende Aporie nicht überspringen. Diese besteht darin, dass die exegetische Forschung, die sich selbst dem reformatorischen Schriftprinzip mitverdankt, das dem Sola Scriptura zu Grunde liegende Axiom von der Klarheit und Eindeutigkeit der Schrift nicht eingelöst, sondern im Gegenteil zum Problem hat werden lassen. In der Konsequenz könnte sich die Frage stellen, ob dem Einheitskonzept der Lehre oder der Anknüpfung an den vielstimmigen, z.T. spannungsvollen innerbiblischen Diskurs Vorrang eingeräumt werden sollte; in letzterem Sinne verstehe ich etwa die Überlegungen von Ulrich Luz und Michael Welker zum Sola Scriptura.68 So oder so, lässt sich freilich die Grundfrage der normativen Geltung und der Verbindlichkeit der Schrift nicht suspendieren.
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Wichtige Einsichten zu diesem hermeneutischen Zusammenhang und der Bedeutung historischer Exegese darin verdanke ich K. BERGER, Hermeneutik des Neuen Testaments, Gütersloh 1988. 67 Vgl. auch u. bei Anm. 72. 68 U. LUZ, Was heißt „Sola Scriptura“ heute? Ein Hilferuf für das protestantische Schriftprinzip, EvTh 57 (1997) 28–35; M. WELKER , Sozio-metaphysische Theologie und Biblische Theologie, JBTh 13 (1998) 309–322.
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b) Gehört diese Frage aber auch zu den Aufgaben eines Faches, das sich seiner disziplinären Logik entsprechend die historisch orientierte Textauslegung auf die Fahne schreibt? Eine textorientierte Argumentationslinie beruft sich hierfür auf den Verbindlichkeitsanspruch der Texte selbst – als Teil einer kanonischen Sammlung: Führt eine historisch-antiquarische Forschung allein nicht allenfalls „bis in die ‚Vorhöfe der Heiden‘“, während ein volles Verstehen schon deswegen weitergehen müsste, weil „die alttestamentlichen Texte durch die Kanonisierung an einen neuen Ort gestellt [wurden], der ihren Anspruch für alle künftigen Zeiten sichern soll“? 69 Nun bildet aber „Anspruch“ (wie auch „Kanon“) einen Relationsbegriff, der immer auf Bezugsgrößen gerichtet ist; und in rein historischer Perspektive mag eine solche Entschränkung des Anspruchs durchaus fraglich erscheinen, waren doch spätgeborene heidenchristliche Rezipienten kaum bei der Kanonbildung der hebräischen oder alexandrinischen Bibel im Blick. Ja, hat nicht eine Zeitdimension, die unsere Gegenwart einschließt, selbst für die Perspektive von Tradenten, die den christlichen Kanon einschließlich der Septuaginta gebildet haben, etwas anachronistisches? 37–38 Der kanonische Status des Alten Testaments bzw. des Tanach für gegenwärtige Gemeinschaften und Personen gründet mithin – wiede|rum historisch gesehen – in erster Instanz in seiner Rezeptionsgeschichte: Er wird durch die Rezitation und Rezeption gerade dieser Textsammlung im Gottesdienst und in der Lebens- und Glaubenspraxis der Christen bzw. der Juden konstituiert.70 Wenn also nicht unmittelbar aus dem Forschungsgegenstand selbst – woraus resultiert dann die normative Frage? M.E. kann auch die Antwort darauf nur in einem elementaren Sinne „pragmatisch“ sein: aus der Zugehörigkeit der alttestamentlichen Wissenschaft zum universitären Fach der Theologie.71 69 H. SPIECKERMANN , Die Verbindlichkeit des Alten Testaments. Unzeitgemäße Betrachtungen zu einem ungeliebten Thema, in: Biblische Hermeneutik, JBTh 12 (1997) 25– 51, hier 26. 70 Innerhalb dieses Interpretationsraumes gelten freilich notwendigerweise andere Perspektiven. So stellt sich die Frage eines Anachronismus hier gar nicht. Vor allem wird die Rezeptionsgemeinschaft den „Grund“ des Kanons nicht in sich selbst finden. 71 In der institutionellen Alternative, einem „Department of religious studies“, ist dergleichen eben nicht strukturell vorgegeben. Die Nachhaltigkeit solcher Ordnungsstrukturen erhellt schlagartig im Übrigen auch aus dem Hauptgrund, den D.J.A. CLINES bereits 1980 (!) für den Aufschwung der Bibelinterpretation „as literature“ (s.o. II.) dia gnostizierte: „More influential, however, in the English-speaking world at least, has been the heady development of schools of religious studies in secular universities; the Bible has been taught in these schools not for the reasons that have accorded it prominence in the seminaries and divinity schools. It has not even always been taught by professional biblical scholars, but by professors of English for the sake of acquainting their students with what
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c) Der schwierige Schritt von der Deskription zum normativen Urteil, vom Sein zum Sollen steht nach den bisherigen Überlegungen in einer Denk- und Fragerichtung, die von einer gegenwärtigen Rezeptionsgemeinschaft zu den Texten geht. Dem korrespondiert, dass lebensgeschichtlich und -weltlich primär nicht die normativen Texte vorgegeben sind, sondern der Glaube und die religiöse Praxis der Gemeinschaft und der Individuen. Sofern akademische Theologie einen ihr vorgegebenen Glauben und religiöse Praxis wissenschaftlich reflektiert und in Zeitgenossenschaft verantwortlich artikuliert, folgt sie dieser Denk- und Fragerichtung. Urteile über die Geltung biblischer Lehren oder Verhaltensorientierungen sind von daher nicht unmittelbar und allein aus den Texten 72 abzuleiten, sondern gesamttheologisch im Horizont der Gegenwart zu begründen. Diese Aufgabe wird damit nicht einfach in die Zustän|digkeit der systematischen und praktischen Theologie abgeschoben, aber es bleibt festzuhalten, dass Exegeten und Exegetinnen dabei notwendig theologische Gesamtentwürfe voraussetzen. Sie sind dementsprechend auf den interdisziplinären Austausch angewiesen. d) Bleibt die Frage, ob auch Dogmatik, Ethik etc. ihrerseits nicht nur auf die Schrift, sondern auf eine historisch orientierte Exegese angewiesen sind. Als Argumente dafür nenne ich im Gefälle des Bisherigen nur drei Aspekte: zum einen den Wissenschaftsanspruch der Theologie, der größtmögliche Diskursfähigkeit einschließt; eben darauf ist historische Exegese strukturell angelegt; zum anderen die Einsicht in die Geschichtlichkeit des eigenen Denkens und Glaubens, zu der die Geschichtlichkeit des biblischen Denkens und Glaubens gehört, und schließlich: den Beistand gegen eine bloße biblische Selbstbespiegelung gegenwärtiger Theologie 73 oder anders gesagt: die Profilierung eines unschätzbaren kritischen Potentials gegen die Plausibilitäten neuzeitlichen Bewusstseins. 38–39
IV. Plädoyer für eine alttestamentliche Exegetik Meine Überlegungen waren von Problemen der Konsensfindung im Bereich der neueren literargeschichtlichen Forschung ausgegangen. Die Diagnose, is arguably the greatest and certainly the most influential literary work o f world civilization.” (Story [Anm. 53], 116). 72 Hier, im Horizont theologischer Urteilsbildung, kann es dabei nur um die Texte in ihrem Literalsinn, so wie ihn historische Exegese immer neu zu erarbeiten sucht, gehen (s. gleich unter d). Davon wurde oben in „These 1.“ die allgemeinere religiöse Applikation unterschieden, die freilich vermittelt über die „gesamttheologischen Regulative“ ihrerseits an eben diesen theologisch unverzichtbaren Literalsinn zurückgebunden bleibt. 73 Vgl. o. Anm. 66.
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wonach die Aporien teilweise systemimmanent, durch einen aufwendigen, aber vielfach reduktionistisch geführten methodischen Zugriff generiert werden, diese Diagnose setzt freilich so etwas wie eine Außenperspektive voraus, gleichsam einen Schritt neben den laufenden Forschungsbetrieb. Ein solcher „Blick von der Seite“ könnte – systematisch und umfassend angelegt – zu einer „meta-theoria“ der Disziplin ausgebildet werden. In der Geschichtswissenschaft gibt es hierfür das Konzept einer „Wissenschaftslehre“, einer „systematischen Grundlegung“ der Disziplin, wofür seit J.G. Droysen der Begriff „Historik“ gebraucht wird. 74 Als Analogiebildung dazu scheint sich mir der Begriff der „Exegetik“ anzubieten. 75 | Eine „Exegetik“ hätte also gleichsam nach den „Bedingungen exegetischer Arbeit“ zu fragen. Zu diesem Fragehorizont gehört die theoretische Reflexion und die Anleitung zu induktiven Kontrollen des „disziplinären Sprachspiels“, wobei ich unter Letzterem die Gesamtheit derjenigen „Regeln“ und Axiome verstehe, denen eine anerkannte Kommunikation innerhalb des Faches folgt. Komponenten und Anlage des „disziplinären Sprachspiels“ lassen sich des Weiteren nicht trennen von den vorausgesetzten Textkonzepten (und Geschichtskonzepten), und diese hängen wieder an hermeneutischen und epistemologischen Entscheidungen. Dementsprechend wird Exegetik insbesondere auch hermeneutische Fragen der Disziplin in ihren wissenschaftlichen und lebensweltlichen Kontexten zu thematisieren haben, also die Einbindung in den Diskurs der theologischen Fächer, dann auch der Kulturwissenschaften; weiterhin die Prägungen durch die Bezugsfelder Kirche und Gesellschaft und die Orientierungshilfen, die von da aus eingefordert werden.76 39–40 Eine derart (vorläufig) umrissene Exegetik stellt m.E. innerhalb des Faches ein echtes Desideratum dar. Dabei ist nicht in erster Linie an die Einrichtung einer weiteren „Teildisziplin“ mit eigenen Lehrbüchern (oder gar neuen Examensgebieten) gedacht, sondern an die Etablierung und bewusste Pflege entsprechender, aufeinander bezogener Problemhorizonte innerhalb des 74 Zu verweisen ist hier insbesondere auf die beeindruckende Konzeption einer Historik in Aufnahme von Droysens Grundanliegen durch Jörn Rüsen; vgl. J. RÜSEN, Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft (KVR 1489), Göttingen 1983; DERS., Rekonstruktion der Vergangenheit. Grundzüge einer Historik II: Die Prinzipien der historischen Forschung (KVR 1515), Göttingen 1986; DERS., Lebendige Geschichte. Grundzüge einer Historik III: Formen und Funktionen des historischen Wissens (KVR 1542), Göttingen 1989. 75 Ebenso kann man von „Theorie der Exegese“ oder „Epistemologie der Exegese“ sprechen. 76 Letztendlich geht es hierbei wohl um die Möglichkeiten der Kommunikation zwischen verschiedenen „Sprachspielen“; vgl. die Andeutungen zu den unterschiedlichen „Regulativa“ in historisch-exegetischer (bzw. gesamttheologischer) und religiös-applikativer Schriftauslegung in Abschnitt II. und III.
[39–40]
Notwendigkeit und Grenzen historischer Exegese
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fachwissenschaftlichen Diskurses. Dringend erforderlich erscheint insbesondere eine offene und von verschiedenen Positionen her geführte Verständigung hinsichtlich der axiomatischen Voraussetzungen der exegetischen Arbeit, ansonsten sind nicht nur die Perpetuierung des bestehenden Dissenses, sondern weitere methodische Fehlentwicklungen vorprogrammiert. Auch abgesehen von dieser praktischen Abzweckung steht freilich einer wissenschaftlichen Disziplin die Pflege einer Meta-Reflexion wohl gut an, einer Reflexion, die im Grunde nur das, was immer schon getan, vielfach mitbedacht und mitunter formuliert wird, expliziert und systematisiert und damit erst methodischer Klärung zugänglich macht. 77
77
Vgl. in diesem Sinne RÜSEN, Historische Vernunft (Anm. 74), 10, zur Historik: „Die Historik bringt … das in den Blick, worauf das historische Denken in seiner wissenschaftlichen Verfassung immer schon beruht, und das ohne seine Thematisierung und Explikation durch die Historik lediglich den Status nicht-explizierter Voraussetzungen und Grundlagen hätte.“
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Notwendigkeit und Grenzen historischer Exegese
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Historiographie oder Dichtung? Zur Eigenart alttestamentlicher Geschichtsüberlieferung 1 Den programmatischen Satz: „Das A[lte] T[estament] ist ein Geschichtsbuch“, mit dem Gerhard von Rad 1952 seine Sicht des Alten Testaments zusammenfasste,2 hätte er vermutlich selbst in späteren Jahren nicht mehr so dezidiert und exklusiv formulieren können. Gleichwohl dürfte der elementare Sachverhalt nicht leicht zu bestreiten sein, dass biblische Rede von Gott in einem grundlegenden, ja essentiellen Sinne das Erinnern und das vergegenwärtigende Erzählen vom Handeln Gottes in der Geschichte einschließt. Damit beginnen die theologischen Sachfragen freilich erst. Immer noch klärungsbedürftig erscheint zunächst und ganz elementar die spezifische Art des biblischen Umgangs mit Geschichte (nicht nur mit der sog. „Heilsgeschichte“!), insbesondere im Vergleich mit den Zugängen zur Geschichte, die für das neuzeitliche kulturelle Bewusstsein bestimmend geworden sind. Dass hier – neben aller Kontinuität – erhebliche Differenzen liegen, wird allgemein zugestanden; es ist ja auch nicht zu übersehen und tritt beispielsweise dann zu Tage, wenn Studierende der Theologie nach der „Wahrheit“ biblischer Überlieferungen fragen und dabei deren Historizität meinen. Kaum jemand hat sich mit den damit verbundenen Fragen so differenziert und nachhaltig auseinandergesetzt wie Gerhard von Rad. Lassen wir uns also von ihm in den Problemhorizont einführen! Einer der berühmten Aufsätze von Rads trägt den Titel: „Der Anfang der Geschichtsschreibung im alten Israel“. Die Formulierung ist mehrdeutig: 1 Der Beitrag überschneidet sich mit Teilen von E. B LUM , Ein Anfang der Geschichtsschreibung? Anmerkungen zur sog. Thronfolgegeschichte und zum Umgang mit Geschichte im alten Israel, in: A. DE PURY / TH. RÖMER (Hg.), Die sogenannte Thronfolgegeschichte Davids (OBO 176), Freiburg/Schweiz u. Göttingen 2000, 4–37. Er bietet Präzisierungen und weiterführende Explikationen. 2 G. VON RAD, Typologische Auslegung des Alten Testaments, EvTh 12 (1952/53) 17– 34, darin 23 (= Gesammelte Studien zum Alten Testament II, hg. von R. Smend [ThB 48], München 1973, 272–288, darin 278). Der zitierte Satz dient auch als Titel eines Teilabdrucks dieses Aufsatzes in: C. WESTERMANN (Hg.), Probleme alttestamentlicher Hermeneutik. Aufsätze zum Verstehen des Alten Testaments (ThB 11), München 1963, 11–17.
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Historiographie oder Dichtung?
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Geht es ihm um den Anfang der israelitischen Geschichtsschreibung oder den Anfang von Geschichtsschreibung überhaupt, der eben in Israel zu verorten ist? Doch wohl um beides. Denn während das Phänomen der Historiographie dem neuzeitlichen Europa so selbstverständlich erscheint, sind es nach von Rad „nur | zwei Völker, die im Altertum wirklich Geschichte geschrieben haben: die Griechen und lange Zeit vor ihnen die Israeliten“ 3. Was sich dagegen in den Hochkulturen Ägyptens und Mesopotamiens an Annalen, Königslisten, Chroniken oder Kriegsberichten finde, könne nicht als „Geschichtsschreibung“ im eigentlichen Sinne gelten. In Israel dagegen sei sie „zu einem bestimmten Zeitpunkt da, und zwar steht sie da vor uns in ihrer vollkommensten Gestalt“4. Mit dem „Zeitpunkt“ ist das 10. Jahrhundert v. Chr. gemeint, mit der „Gestalt“ die sog. „Geschichte von der Thronnachfolge Davids“. 65–66 In den Grundlinien folgt hier von Rad einer damaligen opinio communis, die zudem durch die Autorität des Althistorikers Eduard Meyer gestützt war. Meyer konnte etwa formulieren: „So hat die Blütezeit des judaeischen Königtums eine wirkliche Geschichtsschreibung geschaffen. Kein anderes Kulturvolk des alten Orients hat das vermocht; auch die Grie chen sind erst auf der Höhe ihrer Entwicklung im 5. Jahrhundert dazu gelangt und dann allerdings alsbald darüber hinausgeschritten. Hier dagegen handelt es sich um ein Vo lk, das eben erst in die Kultur eingetreten ist. … Wir stehn hier, wie in aller Geschichte, vor dem unerforschlichen Rätsel der angeborenen Begabung. “5
Von Rad selbst fragt hartnäckiger nach den Voraussetzungen dieser kulturellen Leistung und nennt drei Faktoren: als erstes den „historischen Sinn“ Israels, „d.h. jenes eigentümlich ausgeprägte Vermögen, Geschichte bewusst zu erleben“6. Als Beleg verweist er auf die grundlegenden Ursprungserzählungen und ätiologischen Sagen von der Genesis bis Josua und darüber hinaus. „Das geschichtliche Denken hat (…) zu den elementarsten Formen seines (scil. Israels) Daseinsverständnisses gehört.“ Sodann verweist er auf „eine alles überragende Gabe erzählerischer Darstellung“. Eine dritte Voraussetzung sieht er schließlich in den „eigentümlichen Glaubensvorstellungen dieses Volkes begründet“, welches „in allen sonderlichen Ereignissen ein unmittelbares Handeln Gottes“ gesehen habe.7 „Die Israeliten kamen zu einem Geschichtsdenken und dann zur Geschichtsschreibung von ihrem
3 G. VON RAD, Der Anfang der Geschichtsschreibung im Alten Israel (1944), in: DERS ., Gesammelte Studien zum Alten Testament (ThB 8), München 1958, 148–188, darin 149. 4 V ON RAD, a.a.O., 150. 5 E. MEYER , Geschichte des Altertums II/2, Stuttgart/Berlin 1931, 285. 6 V ON RAD, Anfang (Anm. 3), 150. 7 V ON RAD, a.a.O., 152.
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Historiographie oder Dichtung?
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Glauben an die Geschichtsmächtigkeit Gottes her.“8 Eben darin zeige sich dann auch eine „völlige Verschiedenheit“ von „der griechischen Historie“. Sein ältestes Beispiel israelitischer Geschichtsschreibung, die sog. „Thronfolgegeschichte Davids“ (in 2 Sam … 9–20; 1 Kön 1–2), ist für von Rad zugleich das vollkommenste – nicht nur wegen der Erzählkunst, sondern auch auf Grund | einer geradezu modern anmutenden Rede vom verborgenen Handeln Gottes, das der Erzähler in und hinter allem Tun und Ergehen der Protagonisten, „in der ganzen Profaneität, schlechthin alle Lebensbereiche durchwaltend“9 erkennt. Als historischen Hintergrund dieses geschichtstheologischen Erzählens postulierte von Rad eine neue Geistigkeit am Hofe Salomos, eine „Epoche der Aufklärung“. 66–67 Etwa zwanzig Jahre nach diesem Aufsatz setzt von Rad in seiner Theologie des Alten Testaments einen grundlegend anderen Akzent: Hier rechnet er Texte wie die „Thronfolgegeschichte“ zur „historischen Dichtung“: „Soviel ich sehe, ist Israel erst mit der dtr Geschichtsschreibung endgültig zur prosaischen und wissenschaftlichen Darstellung seiner Geschichte übergegangen. Bis ins 6. Jahrhundert konnte Israel also der Dichtung zur Konzeption der Geschichte nicht ent raten, denn die ‚Geschichte von der Thronnachfolge Davids‘ oder die von der Revolution Jehus sind Nachdichtungen, und zwar Dichtung in hoher Vollendung.“10
Was meint aber „Dichtung“ in diesem Zusammenhang bzw. in welchem Sinne kann diese Kategorie auf die Daviderzählungen appliziert werden? Und wie verhält sich dazu die Kategorie der „Geschichtsschreibung“? Eben solche Fragen wurden gut zehn Jahre nach dem Erscheinen der Theologie von Rads weit außerhalb des Gesichtskreises christlicher Exegeten intensiv diskutiert: in den ersten Heften der literaturwissenschaftlichen Zeitschrift „Hasifrut“, die in Tel Aviv erscheint. Den Anstoß hatten die beiden Literaturwissenschaftler Menahem Perry und Meir Sternberg gegeben mit einer gehaltvollen, heute würde man sagen: rezeptionsästhetischen Lesung der Batseba-Episode von 2 Sam 11 „als Literatur“.11 Bezeichnenderweise stellte der Bibelexeget Uriel Simon in der sich anschließenden Debatte die Angemessenheit eines solchen Zugangs grundsätzlich in Frage – mit dem Argument, bei dem Text handle es sich um einen Ausschnitt aus einem historiographischen Werk, nicht um Literatur. 12 8 V ON RAD, a.a.O., 153. 9 V ON RAD, a.a.O., 188. 10 G. VON RAD, Theologie des 11 M. P ERRY / M. STERNBERG,
Alten Testaments I, München (1960) 1969 6, 122. The King Through Ironic Eyes: The Narrator’s Devices in the Story of David and Bathsheba and Two Excurses on the Theory of Narrative Text (hebr.), Hasifrut 1 (1968) 263–292; DIES., Caution, a Literary Text! Problems in the Poetics and the Interpretation of Biblical Narrative (hebr.), Hasifrut 2 (1970) 608–663. 12 U. SIMON, An Ironic Approach to a Bible Story: On the Interpretation of the Story of David and Bathsheba (hebr.), Hasifrut 2 (1970) 598–607, darin 606. Simon beruft sich
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Historiographie oder Dichtung?
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„Historiographie oder Dichtung/Literatur“ – kaum zufällig läuft die Debatte immer wieder auf diese Alternative zu. Liegt dies an einer der Überlieferung selbst inhärenten Ambivalenz? Auf den ersten Blick mag sich eine solche Vermutung aufdrängen. Ebenso möglich ist jedoch eine Selbstspiegelung der Beschreibungskategorien in den biblischen/traditionalen Darstellungen geschichtlicher Wirklichkeit, die selbst einer anderen „Rationalität“ folgen. Tatsächlich ist es näher besehen die Inadäquatheit beider Kategorien, Geschichtsschreibung | und Dichtung, die – gemessen am Eigenverständnis der biblischen Texte – notwendig in Engführungen mündet. 67–68 Besonders deutlich wird diese Problematik im interkulturellen Vergleich mit bestimmten griechischen Prosawerken der sog. Ionischen Wissenschaft (6. Jahrhundert v. Chr.) und der klassischen Zeit (5./4. Jahrhundert v. Chr.). Diese Literatur steht einerseits der alttestamentlichen Überlieferung in vieler Hinsicht (zeitlich und material) nahe; andererseits entstehen in diesem Kontext erstmals genau jene Kommunikationsformen, die für heutigen Umgang mit jeglicher Art von „Literatur“ so selbstverständlich geworden sind. Dementsprechend werde ich im Folgenden zunächst den Begriff der „Geschichtsschreibung“ zu beleuchten versuchen, in der auf das Elementarste beschränkten Gegenüberstellung zweier Paradigmata, die hier als das „ionische“ bzw. das „israelitische Paradigma“ bezeichnet werden. Darauf folgt eine weitere paradigmatische Kontrastierung: Biblische Texte als Dichtung/ Literatur bzw. biblische Texte als adressatenbezogene Mitteilungsliteratur.
I. Historiographie vs. traditionale Erzählung Das ionische Paradigma Während die literarische Hinterlassenschaft des Alten Orients keine erzählenden Prosawerke aufweist, die mit israelitischen Ursprungsgeschichten wie dem Pentateuch oder dem „deuteronomistischen Geschichtswerk“ vergleichbar wären, sind für den griechischen Bereich seit dem Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. die Werke zahlreicher Prosaschriftsteller 13 belegt (Hekataios von Milet, Akusilaos von Argos, Pherekydes von Athen, Hellanikos
hierbei ausdrücklich auf die Ergebnisse der alttestamentlichen Gattungsforschung seit Hermann Gunkel. 13 F. J ACOBY, Die Fragmente der griechischen Historiker (FGrHist), Leiden 1957ff. Als grundlegende Darstellung s. K. VON FRITZ, Die griechische Geschichtsschreibung I, Berlin 1967, 48ff.77ff.476ff.; daneben z.B. W. SCHADEWALDT , Die Anfänge der Geschichtsschreibung bei den Griechen. Herodot – Thukydides (stw 389), Frankfurt am Main 1982, 31ff.; K. MEISTER , Die griechische Geschichtsschreibung. Von den Anfängen bis zum Ende des Hellenismus, Stuttgart u.a. 1990, 20–25 (206ff.: Lit.!).
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Historiographie oder Dichtung?
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von Lesbos u.a.), welche das Überlieferungsmaterial der Epen (Homer, Hesiod) zur Welt der Götter und Heroen bzw. lokalen Sagenstoff aus verschiedenen Regionen oder Städten zusammentragen und systematisieren. Mit Hilfe genealogischer, chronologischer bzw. geographischer Ordnungsschemata bildeten sie zusammenhängende Ursprungsgeschichten, die etwa mit Göttergenealogien oder mit Phoroneus, dem ersten Menschen, oder Deukalion, dem Helden der großen Flut, beginnen konnten und z.T. bis in die Gegenwart des Autors ausgezogen wurden. Grundlegend bei diesen frühen „Historikern“ (in – ungenauer – Anlehnung an Thukydides auch „Logographen“ genannt) ist die ätiologische Erklärung der vorfindlichen Welt mit Hilfe überkommener Ursprungstraditionen. | Es ist ein Verdienst von John Van Seters 14, die eminenten materialen Entsprechungen zwischen dieser frühen griechischen Historiographie und den Überlieferungen der Genesis oder der Geschichtsbücher herausgearbeitet zu haben. Diese Parallelen reichen bis in substanzielle Einzelzüge wie das Interesse an Namensätiologien und Kultätiologien oder die Verwendung von Genealogien und Itineraren als konzeptionellen/kompositorischen Strukturelementen. 68–69 Für Van Seters bilden die frühen griechischen Historiker deshalb auch die entscheidende historische Analogie, von der her sich Funktion, Komposition und Genese der biblischen Prosawerke erschließen. Diese wären dementsprechend auf judäische „Historiker“ zurückzuführen („den Deuteronomisten“, einen „Yahwist“15 oder priesterliche Redaktoren des Pentateuch), die mit den gleichen Mitteln ihre Ursprungsgeschichten gestaltet hätten wie die Ionier. Van Seters sucht dies nicht zuletzt auch an Herodot aufzuzeigen, dessen Werk als einziges der frühgriechischen Historiker vollständig überliefert ist und hinsichtlich der Erzähl- und Kompositionstechniken, aber auch hinsichtlich der Disparatheit der Stoffe mit den biblischen Großtexten
14 J. V AN SETERS, In Search of History. Historiography in the Ancient World and the Origins of Biblical History, New Haven / London 1983; DERS., Der Jahwist als Historiker (ThSt 134), Zürich 1987; vgl. auch DERS., Prologue to History. The Yahwist as Historian in Genesis, Zürich 1992; DERS., The Life of Moses. The Yahwist as Historian in Exodus– Numbers, Kampen 1994; DERS., Is There Any Historiography in the Hebrew Bible? A Hebrew-Greek Comparison, JNSL 28 (2002) 1–25; vgl. auch DERS., The Pentateuch as Torah and History. In Defense of G. von Rad, in: E. B LUM / W. J OHNSTONE / C. MARKSCHIES (Hg.), Das Alte Testament – ein Geschichtsbuch? Beiträge des Symposiums „Das Alte Testament und die Kultur der Moderne“ anlässlich des 100. Geburtstags Gerhard von Rads (1901–1971), Heidelberg, 18.–21. Oktober 2001 (atm 10), Münster 2005, 47–63. 15 Van Seters’ „Yahwist (J)“ umfasst in etwa das Material des klassischen „Jehovisten (JE)“, dazu wichtige Überlieferungen in Jos; er sollte mithin nicht mit dem „J“ der herkömmlichen Urkundenhypothese verwechselt werden.
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Historiographie oder Dichtung?
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des Pentateuch und der Vorderen Propheten direkt vergleichbar sei. 16 Schließlich fügt sich in dieses Bild auch seine zeitliche Verortung der biblischen Werke nahtlos ein: Das älteste bildet das exilische Deuteronomistische Geschichtswerk, darauf folgt – noch im Exil – Van Seters’ „Yahwist“, „who supplemented Dtr by extending the history back in time to the beginning of the world“17. Die Herausbildung einer Geschichtsschreibung, die diesen Namen uneingeschränkt verdient, hätte sich demnach bei Judäern und Griechen nahezu gleichzeitig vollzogen, nämlich ab dem 6. Jahrhundert v. Chr.18 69–70 So unstrittig viele der von Van Seters hervorgehobenen Befunde sind und so verlockend die historische Analogiebildung in ihrer Einfachheit erscheint, so | deutlich blendet diese einen Aspekt aus, der in einer ebenso evidenten fundamentalen Differenz begründet ist. Diese Differenz bezieht sich nicht auf Inhalt („Semantik“) oder Kompositionsstruktur („Textsyntax“) der Texte, sondern darauf, wie der Autor seine Beziehung zu dem Text definiert bzw. welche Weise der Rezeption des Textes er auf Seiten der Rezipienten voraussetzt oder ihnen einräumt. In der Terminologie von Semiotik und Linguistik geht es mithin um die „Pragmatik“ dieser Texte. Die Lenkung der Rezeption kann – gestützt auf konventionelle Regeln – auch durch außertextliche Signale erfolgen. 19 Bei einer historischen Rekonstruktion wie in unserem Falle sind wir jedoch primär auf textinterne Indizien angewiesen; dazu gehören insbesondere autoreferentielle Aussagen über den betreffenden Text, seinen Autor bzw. die Adressaten. Von speziellem Interesse sind in dieser Hinsicht Buchanfänge bzw. -schlüsse. Nun sind von den „Logographen“ nicht viele Proömien erhalten, glücklicherweise aber das des ersten bekannten „historiographischen“ Werkes, der „Genealogien“ des Hekataios von Milet; dieses lautet: „Hekataios von Milet kündet so: ‚Dieses schreibe ich, wie es mir wahr zu sein scheint. Denn die Geschichten der Griechen sind, wie sie sich mir darstellen, vielerlei und lächerlich.‘“20
16
Das Modell des frei arbeitenden Autors, der ohne große schriftliche Vorlagen arbeitet, machen nach Van Seters komplexe kompositionsgeschichtliche Analysen im nichtpriesterlichen Pentateuch weitgehend überflüssig. Noch weiter geht R.N. W HYBRAY, The Making of the Pentateuch. A Methodological Study (JSOT.S 53), Sheffield 1987, 225ff., der mit dieser Ein-Autor-Hypothese den gesamten Pentateuch einschließlich der priesterlichen Überlieferung erklären will. 17 V AN SETERS, Search (Anm. 14), 361. 18 Auch von Rads Kronzeuge einer alten Geschichtserzählung, die „Thronfolgegeschichte“, wird von Van Seters nachdeuteronomistisch verortet: als antimessianische Ein schreibung in das DtrG; vgl. VAN SETERS, Search (Anm. 14), 277ff. 19 Vgl. u. Anm. 46. 20 FGrHist 1 F1 (Anm. 13); vgl. auch H. CANCIK, Zur Verwissenschaftlichung des historischen Diskurses bei den Griechen, in: BLUM/JOHNSTONE/MARKSCHIES, Geschichtsbuch (Anm. 14), 88f.
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Historiographie oder Dichtung?
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Der Ionier Hekataios 21 führt sich nicht nur mit Namen und auktorialem Ich ein, sondern proklamiert für seinen Text einen Wahrheitsanspruch, den er selbstbewusst und kritisch dem ihm überkommenen Stoff gegenüberstellt. Diesem in naiver Direktheit vorgetragenen Gestus korrespondieren im Werkkorpus dann auch wiederholt „kritisch“ distanzierte Urteile über das tradierte Sagenmaterial. 22 Für unseren Zusammenhang sind dabei nicht die (eher subjektiven) Maßstäbe bzw. seine (fehlende) Methodik wesentlich, sondern allein der Umstand, dass der Verfasser auf der einen Seite sich selbst als Subjekt präsentiert, das in einer urteilenden Distanz zu seinem Gegenstand steht und mit seinem Wahrheitsanspruch zugleich Verantwortung für seine Darstellung übernimmt. 23 Auf der anderen Seite räumt er damit auch seinen Rezipienten grundsätzlich eine entspre|chende urteilende Distanz ein, freilich nicht allein dem Stoff gegenüber, sondern auch gegenüber dessen Darstellung durch den Autor. 70–71 Unübersehbar sind hier die Grundparameter einer spezifischen literarischen Kommunikationsform (und Gattung) gesetzt, zu der beispielsweise wesentlich die Möglichkeit kritischer Rückfragen der Leser/Hörer zum Verhältnis von Quellen und Darstellung gehört. Eine neue Qualität gewinnt diese Kommunikationsform bei Herodot (5. Jahrhundert), der in seinem Werk nun nicht mehr die prosaische Entfaltung der Heroenüberlieferung anstrebt, sondern sich der umfassenden Darstellung der Perserkriege, d.h. seiner Zeitgeschichte, widmet (I,1): „Die Darstellung der Erkundung des Herodot von Halikarnassos ist dies, damit weder das von Menschen Geschehene durch die Wirkung der Zeit verblasse noch die großen und staunenswerten Werke, ob sie nun von Hellenen oder Barbaren aufgewiesen wurden, ohne Kunde blieben; unter anderem geht es insbesondere darum, aus welcher Ursache/Schuld (αἰτία) sie miteinander Kriege führten.“24
Mit der Charakterisierung des Werks als „Darlegung der Erkundung“ geht Herodot einen wesentlichen Schritt über Hekataios hinaus, insofern der Anspruch der Zuverlässigkeit über die Darstellung hinaus auf das Material bezogen wird, das er ausdrücklich der eigenen „Erkundung“ (ἱστορίη) zuschreibt. Bezeichnenderweise markiert das erste Vorkommen von Herodots 21 Zu Hekataios und seinem Kontext vgl. SCHADEWALDT , Anfänge (Anm. 13), 96ff., sowie H. CANCIK, Mythische und historische Wahrheit. Interpretationen zu Texten der hethitischen, biblischen und griechischen Historiographie (SBS 48), Stuttgart 1970, 39ff. 22 So heißt es in einem der erhaltenen Fragmente: „Aigyptos in eigener Person ist nicht nach Argos gekommen, sondern seine Söhne, die sich auf fünfzig beliefen, wie Hesiod sagt, wie ich aber glaube, nicht einmal zwanzig“ (FGrHist 1 F19); weitere Beispiele bei VON FRITZ, Geschichtsschreibung (Anm. 13), 71ff. 23 Vgl. auch das ebenfalls erhaltene Proömium des Antiochos aus Syrakus: „Antiochos, der Sohn des Xenophanes, hat dies zusammengestellt, das Glaubwürdigste und Vernünftigste aus den alten Geschichten über Italien …“ (FGrHist 555 F2). 24 Übersetzt in Anlehnung an SCHADEWALDT, Anfänge (Anm. 13), 113.
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Historiographie oder Dichtung?
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„Ich“ gegen Ende der Einleitung (I,5.3) dann sogleich exemplarisch den Übergang von bloß mitzuteilenden Logoi bei Persern und Phöniziern zu dem, was er selbst über den Anfang des Konflikts zwischen Hellenen und Barbaren „wisse“.25 Herodot übernimmt mithin ausdrücklich die Rolle des verantwortlichen Autors, die er dann im Korpus des Werkes wiederholt bekräftigt. So bei der Differenzierung zwischen eigener Anschauung und nur gehörten Logoi (II,99) oder in der Mitteilung verschiedener ihm bekannter Versionen, wie es seiner berühmten Maxime entspricht: „Es ist meine Pflicht, das Berichtete mitzuteilen, aber nicht, alles zu glauben“ (VII,152). Nicht zuletzt realisiert sich diese Autorenrolle auch in der argumentativen/polemischen Auseinandersetzung mit anderen Werken bzw. deren Verfasser.26 | 71–72 In textpragmatischer Hinsicht ist nun entscheidend, dass mit dieser gegenüber dem Gegenstand distanzierten Autorenrolle zugleich bestimmte Rezeptionsmöglichkeiten eröffnet bzw. bestimmte Lesererwartungen evoziert werden. Dazu gehört die Möglichkeit, den Autor mit seinen Ansprüchen beim Wort zu nehmen, die Erwartung der Nachprüfbarkeit, der Nachweisbarkeit etc. Eben in dieser Konstellation von Anspruch und Erwartung konstituiert sich die Kategorie der „Historizität“! Als Aspekt der Textpragmatik besteht diese Konstellation zudem unabhängig davon, ob oder inwieweit solche auktorialen Ansprüche sachlich gedeckt sind bzw. ob die „historischen“ Aussagen in einem „kontrollierten“ Procedere gewonnen wurden etc. 27 Zu25 „So erzählen also die Perser und so die Phönizier. Ich will nun nicht urteilen, ob die Sache so oder anders gewesen ist, den aber will ich benennen, von dem ich selb st weiß, dass er mit den Feindseligkeiten gegen die Griechen angefangen hat …“ 26 Vgl. dazu CANCIK, Verwissenschaftlichung (Anm. 20). Vgl. auch J. ASSMANN , Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, 301: „In Griechenland entsteht … eine kritische Intertextualität, eine Disziplin kritischer Bezugnahme auf vorhergehende Texte, die sich zu einem eigenen Rahmen des kulturellen Gedächtnisses, der Wissenschaft, verfestigte. Vergleichbares lässt sic h weder in Ägypten und Mesopotamien noch in Israel beobachten …“ 27 Alle Versuche, Zuordnungen zu „Historiographie“ semantisch, d.h. mit der historischen Qualität (bzw. irrealen Züge) der Aussagen, mit der Benutzung von Quellen u. Ä. zu begründen (vgl. auch E.W. N ICHOLSON, Story and History in the Old Testament, in: Language, Theology and the Bible [FS James Barr], hg. von S. Balentine und J. Barton, Oxford 1994, 135–150, mit Van Seters’ Entgegnung: Historiography [Anm. 14], sowie den Beitrag B. HALPERN, Biblical versus Greek Historiography: A Comparison, in: B LUM /J OHNSTONE/ MARKSCHIES, Geschichtsbuch [Anm. 14], 109–127), werden unweigerlich auf schwer zu lösende Aporien der Definition stoßen: Welches Maß an Fiktion ist zuzugestehen? Taugen weltanschauliche Differenzen zu einer adäquaten Definition von „Geschichtsschreibung“? etc. D.V. EDELMAN, Clio’s Dilemma. The Changing Face of History-Writing, in: A. LEMAIRE / M. SÆBØ (Hg.), Congress Volume Oslo 1998 (VT.S 80), Leiden 2000, 247–255, zeigt solche Aporien auf, postuliert selbst dann aber als Unterscheidungskriterien für modernes und antikes „history-writing“, dass bei ersterem eine „critical evaluation of sources“
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Historiographie oder Dichtung?
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gleich ist freilich evident, dass die Herausbildung nachprüfbarer, methodisch kontrollierter „Forschung“ gleichsam in der Logik dieser Gattung liegt. Das „israelitische“ Paradigma 72–73 In der Hebräischen Bibel 28 fehlt für dergleichen die elementarste Voraussetzung: der seinem Werk gegenübertretende Autor. Denn über den bekannten Umstand hinaus, dass so gut wie alle „realen“ Erzähler der umfangreichen Prosaüberlieferung anonym bleiben, fehlt textintern – bis auf einige IchBerichte (dazu gleich!) – das explizite erzählende Subjekt! 29 Dieser triviale Befund wird | partiell und gelegentlich notiert, 30 aber kaum in seinen Konsequenzen bedacht. Als Ausnahmen sind in erster Linie Forscher aus Nachbardisziplinen zu nennen: zum einen Hubert Cancik mit seinem grundlegenden Buch „Mythische und historische Wahrheit“,31 zum anderen der schon erwähnte israelische Literaturwissenschaftler Meir Sternberg.32 Nun kann selbstverständlich auch in biblischen Erzählungen die Erzählerstimme eines impliziten Autors präsent sein, etwa in kommentierenden,
gegeben sei und der jeweils angenommene Kausalgrund „strictly human“ (und nicht „human or divine“) (EDELMAN, a.a.O., 255). Auch ein solches Kriterium, das ein bestimmtes säkulares Bewusstsein zum Maß der Dinge macht, dürfte sich aber weder historisch (in Bezug auf antike wie neuzeitliche Geschichtsschreibung) bewähren, noch wird es dem Umstand gerecht, dass mit der oben skizzierten Kommunikationsform die Kategorie der „Historizität“ schon bei Herodot angelegt ist: Mag es sich bei Herodot nach modernen Maßstäben auch um „schlecht“ recherchierte Quellen und Daten handeln, der Anspruch der Recherche und der Belegbarkeit ist gleichwohl da, und damit die Logik der „Historizität“! 28 Diese Bezeichnung ist hier einschlägig, weil das griechische Alte Testament mit dem Zweiten Makkabäerbuch eine Rezeption des Paradigmas hellenistischer Geschichtsschreibung einschließt; vgl. u. Anm. 85. 29 Der Befund lässt sich deshalb auch nicht einfach auf die Überlieferungsgeschichte schieben. Dem steht zudem der Sachverhalt bei den selbstständigen Büchern (Ruth, Jona usw.) und den großen Werken (DtrG, ChrG) entgegen. 30 Zumeist wird nur auf die Anonymität abgehoben. Vgl. auch V AN SETERS, Search (Anm. 14), 359, zum Autor des sog. deuteronomistischen Geschichtswerks: „Dtr’s unfortunate fate was that, unlike Herodotus, he remained anonymous …“ Im Folgenden sollte deutlich werden, dass diese Anonymität eben keinen unglücklichen Zufall darstellt. 31 CANCIK, Wahrheit (Anm. 21), bes. 105ff. Die folgenden Gedanken berühren sich vielfach mit Canciks grundlegendem Werk, obschon er darin gerade die „Historiographie“ von Hethitern, Israeliten und griechischen Lokalgeschichten näher zusammenzurücken sucht (vgl. die Zusammenfassung a.a.O., 127ff.); vgl. aber DERS., Verwissenschaftlichung (Anm. 20). 32 Vgl. dazu unten bei Anm. 61.
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Historiographie oder Dichtung?
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erläuternden Bemerkungen, die häufig die Welt der Fabel mit der der Adressaten in Beziehung setzen 33 und dabei den Erzählerstandort (wie auch den der Leser) deutlich von der Zeit der erzählten Handlung absetzen können. 34 Gleichwohl bleibt der Erzähler seiner Darstellung insofern durchweg immanent, als die Möglichkeit einer anderen Darstellung oder auch die Vorinstanz einer individuell-auktorialen Urteilsbildung nicht in den Blick genommen werden. In dieser Hinsicht wird die Erzählung also grundsätzlich nicht als Darstellung von dem Dargestellten unterschieden. Strukturell korrespondiert dem die durchgehende Allwissenheit, der „Olympian point of view“ der biblischen Erzähler 35 (die Ich-Erzähler wieder ausgenommen). 73–74 Zugleich impliziert dieses Zurücktreten des Autors hinter bzw. in seinen Text dessen „un-mittelbaren“ Geltungsanspruch, der sich eben nicht über das vorgeschaltete urteilende Subjekt des Erzählers vermittelt präsentiert. Auf Seiten der intendierten Rezeption entspricht dem eine „ganzheitliche“ Hermeneutik, die elementar auf Identifikation, Einverständnis etc. ausgerichtet ist. Es sind mithin diese textpragmatischen Komponenten, in denen die israelitischen und die frühen griechischen Prosawerke – unbeschadet aller materialen Entsprechungen – grundlegend verschiedene Strukturen aufweisen. Sie repräsentieren verschiedene Kommunikationsformen! Selbstverständlich ist auch für Überlieferungen ohne metatextuell eingeführten, verantwortenden Autor die Referenz auf geschichtliches Geschehen wesentlich, doch bleibt dieser Aspekt für die Rezipienten eingebettet in eine umfassendere Verlässlichkeit, die sich letztlich in der Erschließung der Lebenswelt | der betreffenden Erzählgemeinschaft bewährt, d.h. in der Bedeutung der Texte für die Identität von Gemeinschaft und Individuen, für deren Handlungsorientierung etc. Unter der Voraussetzung, dass Traditionsliteratur primär im mündlichen Vortrag (sei es ausschließlich mündlich existierender, sei es schriftlicher Texte) vermittelt wird, ist zudem die Gestalt des Erzählers, der für das Vorgetragene einsteht, „real“ präsent. Freilich nicht als Autor (schon gar nicht als distanziert urteilender), sondern als „Tradent“, der selbst Teil der Überlieferung ist und diese kraft seiner Person, seines Standes und/oder seines Amtes zu autorisieren vermag. Einen solchen Geltungsanspruch, gestützt auf fraglose Authentizität, kennen auch neuzeitliche Hörer/Leser jedenfalls da, wo eine Person von sich selbst erzählt und sich damit anderen gegenüber definiert. – Dementsprechend fallen denn auch die wenigen nicht-anonymen biblischen Erzähltexte, die prophetischen Ich-Berichte und die sog. Nehemia-Denkschrift, nicht aus 33 Vgl. dazu vor allem SH. B AR -E FRAT, Narrative Art in the Bible (engl. Übers.) (JSOT.S 70), Sheffield 1989, 23ff. 34 Besonders deutliche Beispiele bieten Gen 22,14b; 1 Sam 9,9. 35 Dazu wieder B AR -E FRAT, Art (Anm. 33), 17ff.
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dem beschriebenen „israelitischen Paradigma“ heraus. Schließlich ist die Darstellungsimmanenz des Erzählers in diesen Fällen geradezu idealiter gegeben, insofern er hier als Aktant sogar Teil der Handlung, nicht nur des Textes ist. – Im Licht des Grenzfalls der Ich-Erzählungen, liegt die raison d’être der biblischen Ursprungserzählungen also darin, dass die Erzählgemeinschaft hier „von sich selbst“ erzählt und sich damit in kollektiver „Anamnese“ selbst definiert.36 74–75 Nun könnte die vorstehende Kontrastierung der beiden „Paradigmen“ suggerieren, der skizzierte Umgang mit Geschichte im alten Israel stelle gleichsam einen Sonderfall dar. Tatsächlich verhält es sich umgekehrt: In kulturgeschichtlicher Perspektive dürfte das ionische Paradigma die Ausnahme darstellen, die sich sehr spezifischen Entstehungsbedingungen verdankt.37 Freilich wurde dieses Paradigma durch seine Weiterführung im antiken und im neuzeitlichen Europa außerordentlich wirkmächtig und zu einer schieren Selbstverständlichkeit. Demgegenüber ist es das israelitische Modell, das so etwas wie den „Regelfall“ traditionalen Erzählens – nicht allein im Alten Orient – repräsentiert. In der alttestamentlichen Exegese wird diese Weise des Erzählens denn auch schon lange intensiv thematisiert – in den Beschreibungen der Gattung „Sage“. Es genügt, hierfür auf die grundlegenden Beiträge von Hermann Gunkel und Gerhard von Rad zu verweisen.38 Wesentliche Aspekte dieser Beschreibungen ließen sich | m.E. mit textpragmatischen Kategorien präzisierend reformulieren; dazu gehören u.a. die soeben skizzierten Parameter des „traditionalen Erzählens“. Dessen pragmatische Konstellation trifft aber, und das ist wesentlich, nicht nur auf „Sage“ im üblichen (Gunkelschen) Sinne zu. Vielmehr bleibt alle geschichtliche Darstellung im alten Israel bis hin zu den großen Werken wie Pentateuch oder deuteronomistisches Geschichtswerk in diesem Paradigma. 74–75
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Vgl. damit VON RAD, Theologie I (Anm. 10), 120: „Ja, es wäre zu betonen, daß Israel mit seinen Aussagen aus einer Tiefenschicht geschichtlichen Erlebens kommt, die für die historisch-kritische Betrachtungsweise unerreichbar ist. Hier hat, weil es sich um die Dinge seines Glaubens handelt, nur Israel eine Kompetenz zur Aussage.“ 37 Vgl. die klassische Studie von K. VON FRITZ, Der gemeinsame Ursprung der Geschichtsschreibung und der exakten Wissenschaften bei den Griechen, Philosophia naturalis 2 (1952) 200–223. Zu den geschichtlichen Voraussetzungen für die Umbrüche bei den Ioniern (Kolonisation, Veränderungen politischer Strukturen) s. SCHADEWALDT, Anfänge (Anm. 13), 22ff. 38 H. G UNKEL, Art. Sagen und Legenden II., RGG 2 5, 49–60; DERS., Genesis (HK 1/1), Göttingen 1910 3, VIIff.; G. VON RAD, Das erste Buch Mose. Genesis (ATD 2/4), Göttingen (1949) 1972 9, 16–26; DERS., Offene Fragen im Umkreis einer Theologie des Alten Testaments (1963), in: DERS., Gesammelte Studien zum Alten Testament II (Anm. 2), 289–312, bes. 299ff.
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Umgekehrt empfiehlt es sich, die Kategorie der „Geschichtsschreibung“ auf den Umgang mit Geschichte zu beschränken, für den Herodot und Thukydides kulturgeschichtlich als erste Exempel gelten können. 39 In diesem prägnanten Sinne lässt er sich auf die Geschichtsüberlieferung des Alten Testaments dann nicht beziehen. Mehr noch, ein solcher Sprachgebrauch könnte deren Eigenart nur verdunkeln. In einzelnen Urteilen früherer Exegeten wie Wilhelm Vatke 40 und Bernhard Duhm41 findet sich diese Einsicht bereits angedeutet. Man kann hierfür aber auch wieder Gerhard von Rad zitieren, nach dem „das in seinem Geschichtsdenken wahrlich nicht unerfahrene Israel eine Reflexion über die ‚Historizität‘ eines Ereignisses … überhaupt nicht kennt“42. Hubert Cancik hat dieses Urteil 1970 so kommentiert: „Dem wäre nur hinzuzufügen, dass mit einer Reflexion über ‚Historizität‘ schon fast ungebührlich viel verlangt ist. Es fehlt nicht nur diese Reflexion, sondern auch jegliche Voraussetzung dazu.“4375–76
II. Fiktionale Dichtung vs. Mitteilungsliteratur mit Geltungsanspruch Das Programm der israelischen Literaturwissenschaftler in der eingangs erwähnten Diskussion in „Hasifrut“, wonach die biblischen Erzählungen eben als „Literatur“ – nicht anders als Sophokles, Dante oder Shakespeare – zu lesen seien, bildete seinerzeit eine Provokation, die dem Textverständnis der gesamten exe|getischen Zunft widersprach. Das hat sich in den Jahrzehnten seither deutlich geändert. Unter verschiedenen Labels, darunter auch dem irreführenden „synchrone Interpretation“, konnte sich das Unternehmen einer 39 Bezogen auf die Unterscheidungen von A. ASSMANN , Geschichte und Gedächtnis: Drei Formen von Geschichtsschreibung, in: BLUM/JOHNSTONE/MARKSCHIES, Geschichtsbuch (Anm. 14), 175–184, entspräche dies der „aufklärenden“ Form von Geschichtsschreibung. Auch den bei ihr differenzierend aufgenommenen Kategorien „Geschichte“ bzw. „Gedächtnis“ dürften die hier unterschiedenen textpragmatischen Kategorien weithin korrespondieren. 40 W. V ATKE , Die biblische Theologie I. Die Religion des Alten Testamentes, Berlin 1835, 716: „Denn auf den Standpunkt der eigentlich-historischen Betrachtung haben sich die Hebräer überhaupt nicht erhoben, und kein Buch des A.T., mag sich auch sonst objektiv-historischer Stoff darin finden, verdient den Namen wahrer Geschichtsschreibung.“ R. SMEND, Elemente alttestamentlichen Geschichtsdenkens (1968), in: DERS., Die Mitte des Alten Testaments. Gesammelte Studien Band 1 (BEvTh 99), München 1986, 160–185, darin 181f., zitiert Vatke mit grundsätzlicher Zustimmung (auch unter Verweis auf G. VON RAD, Theologie des AT II, München 1968 5, 445!). 41 B. DUHM , Israels Propheten, Tübingen 1916, 9ff., stellt die „anonyme() Schriftstellerei“ der biblischen Erzähler deutlich dem kritischen Bewusstsein Herodots entgegen. 42 V ON RAD, Theologie des AT II (Anm. 40), 445. 43 CANCIK, Wahrheit (Anm. 20), 130.
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bewussten Lesung der Bibel „as literature“ vor allem in der angelsächsischen Exegese etablieren – mit eigenen Einführungen, Zeitschriften, Monographienreihen etc.44 76 Die Bandbreite der unter diesem Schlagwort praktizierten methodischen und konzeptionellen Ansätze ist beträchtlich und kann in diesem Rahmen nicht gewürdigt werden. Wir wollen uns hier auf den „literary approach“ konzentrieren, der in einer gewissen Konsequenz den betreffenden Texten letztlich ästhetisch-literarische Autonomie zugesteht und sie ohne Bindung an individuelle, geschichtliche Kommunikationssituationen liest. Es geht dann um überzeitliche, a-chrone Sinndeutungen oder, wie mit einem gewissen Pathos formuliert werden kann, um die (ausschließliche) Bemühung um „den Text selbst“: „Approaching the Bible as literature means placing the emphasis on the text itself – not on his historical and textual backgrounds, not on the circumstances that brought the text into its present form, not on its religious and cultural foundations. “45
Eine willkommene Konsequenz solch a-chroner Zugänge scheint die Entlastung von ebenso mühsamen wie strittigen Hypothesenbildungen der historischen Exegese zu bilden. Hinsichtlich der konzeptionellen Voraussetzungen eines solchen „literary approach“ ergibt sich aber nun interessanterweise eine Problematik, die derjenigen in der Diskussion um das Konzept der Historiographie (im Gespräch mit Van Seters) nicht nur strukturanalog ist, sondern sich letztlich auch mit ihr verschränkt: Einerseits scheint sich dieser methodische Zugang geradezu aufzudrängen, sofern man die materiale Gestaltung der biblischen Texte ernst nimmt: Sie weisen vielfach eine intensive, unverkennbare Poetizität auf, die in ihren ästhetischen, narrativen etc. Gestaltungsmitteln von der nichtbiblischer Texte nicht grundsätzlich zu unterscheiden ist. Dementsprechend können 44 Vgl. die Übersicht (mit Lit.!) bei M. GROHMANN , Aneignung der Schrift. Wege einer christlichen Rezeption jüdischer Hermeneutik, Neukirchen-Vluyn 2000, 43ff.; M. OEMING / A.-R. PREGLA, New Literary Criticism, ThR 66 (2001) 1–23, nicht zuletzt aber auch die kritische Darstellung bei M. STERNBERG, The Poetics of Biblical Narrative. Ideological Literature and the Drama of Reading (Indiana Literary Biblical Series), Bloomington 1985, 4ff. Für eine detaillierte Bibliographie s. auch D.F. W ATSON / A.J. HAUSER , Rhetorical Criticism in the Bible: A Comprehensive Bibliography with Notes on History and Method (Biblical Interpretation Series 4), Leiden u.a. 1994. Zur Problematik des Begriffs „synchrone Exegese“ in diesem Zusammenhang s. E. B LUM , Von Sinn und Nutzen der Kategorie „Synchronie“ in der Exegese, in: W. DIETRICH (Hg.), David und Saul im Widerstreit – Diachronie und Synchronie im Wettstreit (OBO 206), Freiburg/Schweiz u. Göttingen 2004, 16–30. 45 K.R.R. GROS LOUIS , Some Methodological Considerations, in: DERS. / J.S. ACKER MAN (Hg.), Literary Interpretations of Biblical Narrative II, Nashville 1982, 14; zitiert und kritisch kommentiert bei STERNBERG, Poetics (Anm. 44), 6.
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mitunter literaturwissenschaftlich geschulte Interpretationen biblische Texte in einem Maße zum Leuch|ten bringen, wie es Exegesen, die ihren Texten poetisch nicht so viel zutrauen, nicht gelingen will. 76–77 Andererseits gilt es aber auch in diesem Falle, elementare textpragmatische Distinktionen zu beachten, will man sich nicht in fruchtlosen Äquivokationen verstricken. „Dichtung“ bzw. „(schöne) Literatur“ im Sinne literarisch-ästhetischer Werke stellt ein konventionell definiertes 46 Segment gegenwärtiger literarischer Kommunikation dar, für das spezifische Regeln/Maßstäbe der Rezeption gelten. Einen konstitutiven, vielleicht den entscheidenden Parameter dieser Kommunikationsform bildet die textpragmatische Kategorie der Fiktionalität. Als Kategorie der Pragmatik wird Fiktionalität hier grundsätzlich von Fiktion/Fiktivität unterschieden. Geht es bei Letzterer – stark elementarisiert – darum, ob ein Text Wirklichkeit abbildet oder nicht, so ist ein fiktionaler Text per Konvention von der assertori schen Referenz auf Wirklichkeit entlastet (unabhängig davon, ob sein Aussagegefüge – nichtfiktional gelesen – fiktiv ist oder nicht!). Fiktionale und nicht-fiktionale Texte unterscheiden sich also in dem jeweils zugeschriebenen Anspruch hinsichtlich des Bezugs auf die außersprachliche Wirklichkeit.47
Zwischen Poetizität/Ästhetizität und Fiktionalität besteht zwar insofern eine gewisse Affinität, als unter der Bedingung der Fiktionalität die Offenheit und Polyvalenz poetischer Texte konsequent, sozusagen „ungehindert“ realisiert werden kann, während sie in Funktionstexten, die auf Eindeutigkeit ausgerichtet sind, eher hinderlich wäre. Gleichwohl lassen sich beide Begriffe – jedenfalls in einem weiteren kulturgeschichtlichen Horizont – nicht direkt korrelieren. So gibt es auf der einen Seite die Möglichkeit einer sekundären Fiktionalisierung ausgesprochener Gebrauchstexte (z.B. in Collagen, Performances etc.), auf der anderen Seite stehen Exempel hochpoetischer Werke, die keineswegs fiktional rezipiert werden wollen. Ein besonders signifikantes Beispiel für Letzteres bietet die frühe griechische Epik: Hält man sich an die Darstellung der göttlichen Berufung
46 Diese Abgrenzung konkretisiert sich material bspw. in speziellen Verlagsprogrammen, Abteilungen in Buchhandlungen etc. 47 Immer noch grundlegend dazu: S.J. SCHMIDT, Ist „Fiktionalität“ eine linguistische oder eine texttheoretische Kategorie?, in: E. GÜLICH / W. RAIBLE (Hg.), Textsorten, Frankfurt/Main 1972, 59–71; DERS., Literaturwissenschaft als argumentierende Wissenschaft. Zur Grundlegung einer rationalen Literaturwissenschaft, München 1975, 170ff. Vgl. des Weiteren G. GABRIEL, Fiktion und Wahrheit. Eine semantische Theorie der Literatur, Stuttgart 1975; W. ISER, Der Akt des Lesens (UTB 636), München 1976, 87ff.; U. KELLER , Fiktionalität als literaturwissenschaftliche Kategorie (GRM Beiheft 2), Heidelberg 1980; A. ASSMANN, Die Legitimität der Fiktion. Ein Beitrag zur Geschichte der literarischen Kommunikation, München 1980.
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Hesiods48 oder | auch an die Musenanrufungen bei Homer 49, so kommt darin ein Wahrheitsanspruch zum Ausdruck, der freilich nicht in der eigenen Subjektivität begründet, sondern mit göttlicher Begeisterung legitimiert wird. 50 Nur der inspirierte Sänger kann die Welt der Götter und Heroen verbindlich darstellen. 77–78 Wie Wolfgang Rösler51 grundlegend herausgearbeitet hat, ist Fiktionalität als Konstituente einer eigenen poetischen Kommunikation für diese Zeit noch gar nicht vorauszusetzen, da ihre „Entdeckung“ in der klassischen Zeit sozusagen noch bevorstand. Allerdings habe diese Entdeckung gerade die kritische Auseinandersetzung mit der epischen Tradition (und deren Wahrheitsanspruch) in der ionischen „Wissenschaft“ (bei Xenophanes, Heraklit, Hekataios u.a.52) zur Voraussetzung, auch wenn sie erst bei Aristoteles deutlich artikuliert wird. Bezeichnenderweise bildet auch in dessen Poetik das Gegenüber zur Dichtung – die Historiographie! Die Reflexion darüber wird hier auf einen eigenen Wahrheitsbegriff der Dichtung fundiert: Der Unterschied zwischen Historiker und Dichter (sprich: Dramatiker) bestehe nicht darin, erklärt Aristoteles, „dass sie metrisch bzw. ohne Metrum formulierten (auch wenn man das Werk Herodots in Verse setzte, bliebe es ‚historia‘ – mit oder ohne Metrum), vielmehr besteht der Unterschied
48 Hesiods Theogonie wird programmatisch mit dem „Bericht“ seiner Berufung durch die Musen vom Helikon zum Sänger eröffnet (V. 1–35, bes. 22ff.). Darin heißt es (V. 28ff.): „So sprachen des großen Zeus Töchter, die über das rechte Wort verfügen, / und gaben mir den Stab des Sprechers … / … und sie hauchten mir Stimme ein, / eine göttliche, auf dass ich künde, was sein wird und was vorher war …“ (Übers. in Anlehnung an W. MARG, Hesiod, Darmstadt 1984 2, 28). Bezeichnend auch die Selbstaussage der Musen (V. 27f.): „Wir wissen vieles Unwahre (ψεύδα πολλά) zu sagen, das dem Wirklichen ähnlich, / wir wissen aber auch, wenn es uns beliebt, Wahres (ἀληθέα) zu verkünden.“ 49 Vgl. die bekannten Eröffnungen von Odyssee und Ilias, aber auch Ilias 2,484ff.: „Sagt mir nun, ihr Musen, die ihr die olympischen Häuser bewohnt, / – denn ihr seid Göttinnen, seid Augenzeugen und wißt alles, / wir aber hören nur die Kunde und wissen nichts –, / wer die Führer und Herrscher der Danaer waren.“ (Übers. W. RÖSLER , Die Entdeckung der Fiktionalität in der Antike, Poetica 12 [1980] 283–319, darin 294). 50 Vgl. D. LAUNDERVILLE , Piety and Politics. The Dynamics of Royal Authority in Homeric Greece, Biblical Israel, and Old Babylonian Mesopotamia, Grand Rapids 2003, 211f. (mit Lit.). 51 RÖSLER , Entdeckung (Anm. 49); DERS., Alte und neue Mündlichkeit. Über kulturellen Wandel im antiken Griechenland und heute (Der altsprachliche Unterricht 28 [1985]) 4–26; DERS., Schriftkultur und Fiktionalität. Zum Funktionswandel der griechischen Literatur von Homer bis Aristoteles, in: A. UND J. ASSMANN / C. HARDMEIER (Hg.), Schrift und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation I, München 1983, 109–122. Vgl. auch M. FINKELBERG, The Birth of Literary Fiction in Ancient Greece, Oxford 1998. 52 Dazu RÖSLER , Entdeckung (Anm. 49), 286ff. mit Lit.
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darin, dass der eine das tatsächliche Geschehen vermittelt, der andere aber, was geschehen könnte“53 (Poetik [9] 1451b). 78–79
In eben dieser Differenzierung diagnostiziert Rösler überzeugend die „Entdeckung der Fiktionalität“ als einem grundlegenden Aspekt von Dichtung. Davon zu unterscheiden ist selbstverständlich jene „primäre“ Fiktionalität, wie sie in Kleingattungen volkstümlicher Literatur wie Fabel, Gleichnis, Witz u.a. gegeben ist – also in wohl allen | traditionalen Kulturen, darunter auch in Israel. 54 Die originär mit der kulturellen Entwicklung bei den Griechen zu verbindende Dimension der Fiktionalität („zweiten Grades“) setzt da ein, wo Dichter und ihre Rezipienten nun auch Stoffe geglaubter Sagenüberlieferung poetisch als Welt, „wie sie sein könnte“, imaginieren konnten. 55 Eben da entstand Fiktionalität als Konstituente einer ausdifferenzierten poetischen Kommunikation.
Rösler sieht diese Entwicklung ebenso wie die ionische Historiographie in einem kausalen Zusammenhang mit einem kulturellen Wandel, der wesentlich durch das neue Medium der Schrift bedingt sei. Nun steht einer solch einlinigen Erklärung allein schon der gegenläufige Befund im ebenfalls
53 Übersetzung z.T. nach RÖSLER , a.a.O., 309. Die Schlusspassage lautet griechisch: … ἀλλὰ τούτῳ διαφέρει, τῷ τὸν μέν τὰ γενόμενα λέγειν, τὸν δέ οἷα ἂν γένοιτο. Aristoteles handelt hier des Näheren von der Tragödie; zu seiner Verhältnisbestimmung von Epos und Tragödie vgl. M. FUHRMANN, Die Dichtungstheorie der Antike. Aristoteles – Horaz – „Longin“. Eine Einführung, Darmstadt 1992 2, 48ff. 54 Hier ist auch die Gattung „Märchen“ einzureihen. Zur viel diskutierten Frage, ob es im Alten Testament Märchen gibt, vgl. die klassische Studie von H. GUNKEL, Das Märchen im Alten Testament (1921), Frankfurt/Main 1987, und H.-J. HERMISSON, Das Alte Testament und die Märchen, Nachwort in Gunkel, a.a.O., 191–202. Dass diese Gattung im Alten Testament nicht belegt ist, und hier allenfalls mit zitierten Exemplaren (analog zur Jothamfabel) denkbar wäre, erklärt sich hinreichend mit der für sie konstitutiven Fiktionalität. Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass im alten Israel keine Märchen erzählt worden wären. 55 Insofern wäre präziser nicht von einer „Entdeckung der Fiktionalität“ zu sprechen, sondern von der Innovation einer neuen Kommunikationsform mit fiktionaler Gestaltung geschichtlicher Stoffe. Erhellend erscheint mir in diesem Zusammenhang der Hinweis von KELLER, Fiktionalität (Anm. 47), 15, wonach der „Status“ dichterischer Rede „nicht lediglich als Suspendierung des Realitätsbezugs, sondern als Fiktion bzw. Nachahmung von wirklicher, wirklichkeitsbezogener Rede bestimmt“ ist: Fiktionalität ersten Grades (in volkstümlicher Überlieferung) stellt in der Regel eine von vornherein „gebrochene“ „Nachahmung wirklichkeitsbezogener Rede“ dar, insofern sie sich durch diverse Fiktionssignale von der realen Wirklichkeit der Adressaten abgrenzt: am deutlichsten in Tier - und Pflanzenfabeln, aber auch durch die Nichtverortbarkeit der handelnden Figuren („ein König“, „eine Königstochter“, „ein reicher Bauer“ etc.) in Gleichnissen und in Märchen. Fiktionalität zweiten Grades (in Dichtung als eigener Kommunikationsform) dagegen ist Nachahmung wirklichkeitsbezogener, abbildender Rede von der geschichtlichen Welt der Leser (z.B. ein König-David-Roman, eine Ballade von Kaiser Barbarossa oder ein „deutsches Trauerspiel“ zum 17. Juni 1953).
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(partiell) literalen Israel/Juda entgegen. 56 Röslers Beobachtungen scheinen sich mir allerdings darin zu bewähren, dass eine Korrelation zwischen auktorial verantworteter Geschichtsschreibung einerseits und der Ausdifferenzierung der Dichtung als einer ästhetisch-literarischen Rezeptionsform andererseits besteht. Beide Kommunikationssysteme, Historiographie und Dichtung, damit auch deren jeweiliger Wahrheitsbegriff bilden sich danach aus einer Transformation des traditionalen, göttlich autorisierten Wissens (Epik!), das gegenüber dem kritisch-distanziert urteilenden Subjekt seine Selbstverständlichkeit verloren hat. 79–80 Es fügt sich nun nahtlos in diesen Horizont, dass wir im alten Israel/Juda nicht nur keine auktorial verantwortete Historiographie, sondern auch nicht den Ansatz zu einer Ausdifferenzierung von „fiktionaler“ Literatur finden.57 Vorder|gründig scheint dem zu widersprechen, dass man seit Hermann Gunkel Sagen, Legenden u.Ä. gern – und durchaus treffend – als „poetische Erzählungen“ bezeichnet. Tatsächlich gilt hier aber ganz Entsprechendes wie für die griechischen Epiker: Auch die hebräischen Sagen zeichnen sich nicht selten durch erlesene Poetizität aus, gleichwohl sind sie nicht Dichtung im neuzeitlichen Sinne, d.h. im Sinne einer ästhetisch-literarischen Kommunikationsform, die von den Entwürfen potentieller Wirklichkeiten in der (bewussten) Illusion der Abbildung lebt. 58 Analog zu den Epikern, wenn auch mit ganz anderen Mitteln, steht vielmehr ihre „Poesie“ im Dienst einer verbindlichen Darstellung geschichtlicher Wirklichkeit. Für die Texte der Sagenerzähler erweist sich damit genau genommen selbst die Qualifizierung als „nicht-fiktional“ als unangemessen, insofern ihnen die Kategorie der Fiktionalität59 als solche fremd ist. Nichts anderes gilt für das Konzept der Historizität! Gemessen an der zu beschreibenden Sache stoßen wir damit gleich mehrfach an die Grenzen unserer Beschreibungskategorien, die der spezifischen Rationalität dieser Traditionsliteratur offenbar nicht kommensurabel sind. In manchen Aspekten kongruiert diese Diagnose mit der Analyse eines der Pioniere der literaturwissenschaftlichen Interpretation der Hebräischen Bibel, dem übe rdies die bislang 56 Vgl. den differenzierten kulturgeschichtlichen Vergleich in ASSMANN , Gedächtnis (Anm. 25), zusammenfassend 294ff. 57 Zu den häufig postulierten Ausnahmen Hiob und Jona vgl. BLUM, Anfang (Anm. 1), 16, Anm. 53. Die fiktionale Poesie des Hohenliedes hat keine „Geschichte“ zum Gegenstand. 58 Für die hebräische Versdichtung, d.h. Psalmen, Weisheitssentenzen etc., gilt dies in gleichem Maße: Als Gebete, als Lebenslehre etc. stellen sie auf bestimmte Mitteilungen oder Wirkungen zielende Kommunikate dar! Die Freiheit/Unverbindlichkeit situations unabhängiger, literarisch-ästhetischer Rezeptionen kann auf sie appliziert werden, sie entspricht jedoch nicht ihrer Gestaltungsintention. 59 Näherhin die „Fiktionalität zweiten Grades“, s.o. bei Anm. 55.
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wohl elaboriertesten Beiträge hierzu zu verdanken sind: Meir Sternber g. Bezeichnenderweise wieder unter der Überschrift „Fiction and History“ und in deutlicher Kritik an verbreiteten „literarischen“ Ansätzen arbeitet Sternberg heraus, 60 dass die alttestamentliche Literatur nicht einfach dem Genre fiktionaler Dichtung zugeordnet werden kann. Dagegen stehe der Wahrheitsanspruch der Erzähler. Sternberg kann sogar pointiert davon sprechen, in den biblischen Prosatexten handele es sich um „historiography pure and uncompromising“. Zugleich gelte es aber, die poetischen Gestaltungsmöglichkeiten der Erzähler, wozu auch die implizierte Allwissenheit gehört, zu er|klären. Eine wesentliche Rolle spielt dabei auch für ihn die Anonymität der biblischen Autoren. Nach Sternberg dient Anonymität in antiken Erzählungen als Indiz von „supranatural powers of narration“61. Gemäß dem Selbstverständnis der Texte stünde also hinter dem inspirierten Autor ein zweiter impliziter Autor: „the tale’s claim to truth rests on the teller’s God-given knowledge“62. Zwar entspreche es der „self-effacing policy“ des Erzählers, dass er die beanspruchte Inspiration nicht formuliere, doch könne angesichts historischer u.a. Befunde an seinem „inspired standing“ kein Zweifel bestehen. 63 Das Selbstbewusstsein der biblischen Geschichtenerzähler hätte somit dem der frühgriechischen Epiker entsprochen. Damit scheint eine elegante Lösung für das paradoxe Zugleich von history und poetry gefunden: „With God postulated as double author, the biblical narrator can enjoy the privileges of art without renouncing his historical titles.“64 Genau besehen handelt es sich dabei jedoch um eine anachronistische Projektion, für die Sternberg bezeichnenderweise erst auf Befunde der hellenistischen Zeit verweisen kann, z.B. auf die Bezeichnung der Bücher Josua bis Könige als „Vordere Propheten“ oder auf Josephus’ Sicht der jüdischen Heiligen Schriften. 65 In historischvergleichender Perspektive ist – gegen Sternberg – darauf zu insistieren, dass Anonymität und Kommunikationsform der biblischen Erzählungen gerade nicht auf einem Sonderfall religiös-kanonischer Literatur beruhen, sondern sich aus dem „Normalfall“ traditionalen Erzählens erklären, welches sich sowohl von neuzeitlicher „Literatur“ als auch Historiographie kategorial unterscheidet. 80–81
60 Vgl. STERNBERG, Poetics (Anm. 44), 23ff.; Sternberg argumentiert hier deutlich differenzierter und problembewusster als in den frühen Beiträgen von 1968/70 (s. Anm. 11). Vgl. auch R. ALTER, Sacred History and Prose Fiction, in: R.E. FRIEDMAN (Hg.), The Creation of Sacred Literature, Berkeley 1981, 7–24. Wie sehr sich die Problematik aufdrängt, können die Reflexionen in der Einleitung zu J.P. FOKKELMAN, Narrative Art in Genesis. Specimens of Stylistic and Structural Analysis (SSN 17), Assen 1975, einem Pionierwerk literarisch-narrativer Analysen im Alten Testament, zeigen: Fokkelman beansprucht für die Genesiserzählungen einerseits „the ontological status of the literary work of art“, dessen „world exists, and this is fundamental, in the mode of language“ (a.a.O., 6). Andererseits gesteht er ihren geschichtlichen Wahrheitsanspruch ein (a.a.O., 7): „So the specific ‚fictionality‘ of OT prose may not be represented as opposed to what ancient Israel meant by historicity; rather it can be said to include that historicity.“ Die vorgebliche Paradoxalität alttestamentlicher Prosa verdeckt hier lediglich die inkonsistente Projektion moderner Kategorien („fictionality, historicity“) auf das biblische Material. 61 STERNBERG, Poetics (Anm. 44), 33; diese These wird freilich nicht näher belegt. 62 STERNBERG, a.a.O., 34f. 63 STERNBERG, a.a.O., 77. 64 STERNBERG, a.a.O., 82. 65 STERNBERG, a.a.O., 33, 79f. Hier weitere einschlägige Belege aus der frühjüdischen Literatur. Zur Sache s. auch unten III. c).
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Steht am Ende dieser Überlegungen im Wesentlichen also eine Bestimmung, was biblisches Erzählen von Geschichte nicht ist, so liegt dies am methodischen Ausgangspunkt bei dem in der Moderne Selbstverständlichen. Im Sinne des von Radschen Votums, es könnte „eine Hilfe bedeuten, das alttestamentliche Geschichtsdenken in seiner vollen Andersartigkeit zu sehen“66, handelt es sich mithin um propädeutische, als solche gleichwohl unumgängliche Klärungsversuche. Eine komplementäre „positive“ Bestimmung dieses „anderen Geschichtsdenkens“ hätte die Aufgabe, die alttestamentliche Überlieferung sowohl in ihrem allgemeinen kulturgeschichtlichen Kontext als auch in ihren spezifischen Voraussetzungen und in den proprietären Aspekten ihrer anamnetischen Wirklichkeitserschließung zu konturieren; verschiedene Beiträge dieses Symposiums* bieten m.E. hierzu wesentliche weiterführende Einsichten. 67 |
III. Exegetische Nachbemerkungen Die vorgetragene Profilierung der Eigenart alttestamentlicher Geschichtsüberlieferung hat vielfältige exegetische Konsequenzen. Dazu gehören verschiedene Implikationen für die Überlieferungsgeschichte (und das Selbstverständnis) der biblischen Texte; dies soll zunächst ([a]–[b]) skizziert werden. Zum Schluss (c) sollen einige Aspekte mit Bezug auf den alttestamentlichen Kanonisierungsprozess angesprochen werden. 81–82 (a) Im Vergleich mit dem „Autorenmodell“ der frühen griechischen Prosawerke (inkl. Herodot) hat sich als ein Spezifikum der alttestamentlichen Überlieferung erwiesen, dass diese offenbar Grundzüge der Pragmatik mündlicher Sagenerzählung im Medium der Schriftlichkeit bewahrt hat. 66 VON RAD, Offene Fragen (Anm. 38), 299. * Siehe Tagungsband B LUM /JOHNSTONE/MARKSCHIES , Geschichtsbuch (Anm. 14). 67 Insbesondere sei auf die Beiträge von A. ASSMANN , Geschichte und Gedächtnis (Anm. 39), C. HARDMEIER , „Geschichten“ und „Geschichte“ in der hebräischen Bibel. Zur Tora-Form von Geschichtstheologie im kulturwissenschaftlichen Kontext, in: B LUM / J OHNSTONE /MARKSCHIES, Geschichtsbuch (Anm. 14), 1–26, und C. LINK, Über den biblischen Umgang mit Geschichte im neuzeitlichen Kontext, in: a.a.O., 185–198, hingewiesen. Im Übrigen sind hier wiederum die genannten Arbeiten von Gerhard von Rad zu nennen. Erst noch auszuloten (unter Beachtung der hier skizzierten Distinktionen!) wäre m.E. die von ihm betonte hermeneutische Dimension der (materialen) Poetizität biblischer Erzählungen als Ausdrucksmittel einer bloße Historizität transzendierenden Wirklichkeit. Des Weiteren bleiben die klassische Studie von SMEND, Elemente (Anm. 40), sowie P. STUHLMACHER , Anamnese – eine unterschätzte hermeneutische Kategorie, in: DERS., Biblische Theologie und Evangelium. Gesammelte Aufsätze (WUNT 146), Tübingen 2002, 191–214, grundlegend.
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Dazu gehört insbesondere die Rolle des sich mit dem Traditum identifizierenden und deshalb anonymen Erzählers. Dass dies auch für den konkreten Umgang der Tradenten-Erzähler mit vorgefundenem Material Konsequenzen haben kann, versteht sich von selbst. Damit verlieren freilich unmittelbare Analogieschlüsse von griechischer Historiographie auf die Diachronie speziell des Pentateuch (Van Seters, Whybray) ihre historische Grundlage. Wir bleiben also weiterhin primär auf die immanenten Befunde der alttestamentlichen Überlieferung verwiesen. Diese sprechen m.E. jedoch nicht für das Modell eines frei über disparates Material verfügenden Autors (à la Herodot), sondern für komplexe Kompositionen, in die vorgegebene „Bausteine“ sorgfältig integriert wurden. 68 Fallen gerade hinsichtlich der Pragmatik die ionischen Prosawerke als Analogon aus, dann ist dies auch von Bedeutung im Blick auf die „Abzweckung“ bzw. das Selbstverständnis der israelitischen Traditionswerke. Des Näheren wird man diese Frage jeweils „individuell“ zu prüfen haben. Bezogen auf den prominentesten Fall, den Pentateuch(/Hexateuch), wurde in dieser Sek|tion des Symposiums die Alternative „Tora oder Historiographie“, die natürlich auch als Rückfrage an Gerhard von Rad zu hören ist, behandelt. 69 82–83 Im Sinne einer generellen Textsortenbestimmung behält die Charakterisierung des Pen tateuch als Erzähl- bzw. Geschichtswerk 70 zweifellos ihren Sinn. Dem steht freilich seine innerkanonische Rezeption als „Torabuch Moses“ etc.71 gegenüber, die in der griechischen Überlieferung sogar zur Bezeichnung als νόμος enggeführt wurde. Tatsächlich schließt die
68 Allzu raschen historischen Analogiebildungen, auch im Blick auf die zeitliche Verortung, steht darüber hinaus die durchaus unterschiedliche Entwicklung der Literalität entgegen: Während die Übernahme der Alphabetschrift durch die Griechen und d ann auch die schriftliche Komposition der Epen im 8. Jahrhundert v. Chr. angesetzt wird, sind schriftliche „Traditionstexte“, die keinem alltäglichen Funktionszusammenhang zugewiesen werden können, in der Welt des alten Israel deutlich früher nachzuweisen. Als ältester inschriftlicher Beleg ist der sog. Geserkalender (10. Jh.) zu nennen, der m.E. ein Dokument einfacher Listenweisheit (Ordnung der Zeit / des Jahres nach den Hauptphasen bäuerlicher Arbeit) ohne alltagspraktische Funktion darstellt. Besondere Beachtung verdienen sodann die aufwendige(n) Wandinschrift(en) in Tell Deir Alla (Ende 9. Jahrhundert?) mit einer Zusammenstellung prophetischer Traditionen, verbunden mit dem Seher Bileam (vgl. dazu M. W EIPPERT, The Balaam Text from Deir Alla and the Study of the Old Testament, in: J. HOFTIJZER / G. VAN DER KOOIJ [Hg.], The Balaam Text from Deir Alla Re-evaluated, Leiden 1991, 151–184, bes. 175ff.). Bleiben die epigraphischen Befunde bislang und – wegen der unbeständigen Schriftträger (Papyrus, Leder, Putz etc.) für „literarische“ Texte – leider wohl auch künftig selten und kaum repräsentativ, so sind aber doch im AT Prosaüberlieferungen überkommen, deren Entstehung bis ins 9. Jahrhundert, jedenfalls in die erste Hälfte des 8. Jahrhunderts zurückreichen dürfte; dazu rechne ich beispielsweise die älteste Jakoberzählung und den Vitazyklus Elischas. 69 Vgl. dazu besonders V AN SETERS , Pentateuch (Anm. 14). 70 Nach dem hier Ausgeführten: nicht im qualifizierten Sinne von „Historiographie“. 71 Vgl. die Belege bei E. B LUM, Studien zur Komposition des Pentateuch (BZAW 189), Berlin / New York 1990, 352f.
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Pentateucherzählung ja umfassende Bestimmungen zur rechtlichen und kultischen Verfassung des Gottesvolks ein,72 vor allem in der massiven Sinaiperikope im Zentrum, aber auch in deren (struktureller) Reprise im abschließenden Deuteronomium. Doch mehr noch, die Rezeption als Torabuch ist bereits im Pentateuchtext selbst als Leseperspektive explizit vorgegeben: Am Anfang und Ende des Deuteronomiums finden sich autoreferentielle Verweise auf „die Tora“ bzw. „das Torabuch“ (( )ספר התורהDtn 1,5; 31,9.11.12.24 [ התורה ]הזאת.26 [)]ספר התורה הזה, das von Mose im göttlichen Auftrag niedergeschrieben und den Leviten zur Verwahrung übergeben wurde. Positionierung und kompositionelle Einbindung dieser Referenzen geben deutlich zu erkennen, dass hier zunächst das dtr Deuteronomium von sich selbst sprach. Sobald aber dieses Deuteronomium – unter welchen Umständen auch immer – an das Ende einer davor entfalteten Mose-Erzählung (inkl. einer Gebotsoffenbarung am Gottesberg) zu stehen kam, und zwar als deren explikative Rekapitulation, konnten die Leser gar nicht anders, als die Selbstbezeichnung „Tora“ bzw. „das Torabuch“ auf den Gesamtzusammenhang zu beziehen! Dies gilt natürlich für den kanonischen Pentateuch, m.E. aber bereits für eine vor-priesterliche Proto-Pentateuch-Komposition.73 Nachvollziehbar wird all dies freilich nur unter Beachtung der „Eigenbegrifflichkeit“ des Toraverständnisses der hebräischen Bibel: Wir wissen hier von keinem „Torabuch“, in dem die Gebotsverpflichtung nicht in eine erzählte Ätiologie der damit konstituierten Gemeinschaftsbeziehung eingebunden wäre. 74
(b) Der wohl folgenreichste Aspekt der Eigenart biblischer Traditionsbildung zeigt sich im Umgang mit inhomogenen oder sogar einander widerstreitenden Traditionen. | 83–84 Miteinander konkurrierende bzw. sich verändernde Traditionen gibt es naturgemäß auch in mündlicher Überlieferung. Sofern diese nicht in verschiedenen Erzählgemeinschaften nebeneinander existieren, wirkt hier freilich, das haben Studien zur Oralität von Jack Goody u.a.75 schön gezeigt, in und mit der kollektiven Anamnese so etwas wie eine regulierende Amnese; 72 Hier erweist sich zudem in einem weiteren zentralen Aspekt die grundlegende Inkompatibilität der biblischen Tradition und der „Ionier“: Auch von Herodot und wahrscheinlich von diversen Lokalhistorikern wurden Verfassungen und Rechtsüberlieferungen von Staaten bzw. Völkern thematisiert. Der basale Unterschied ist aber der von „Quelle“ und „Sekundärliteratur“: Während „Historiker“ Verfassungen darstellen bzw. diskutieren, ist der Pentateuch selbst die „Urkunde“! 73 Gemeint ist die D-Komposition (*Ex bis Dtn) aus frühpersischer Zeit; dazu zuletzt E. B LUM, Die literarische Verbindung von Erzvätern und Exodus, in: J.C. GERTZ u.a. (Hg.), Abschied vom Jahwisten (BZAW 315), Berlin / New York 2002, 119–156. VAN SETERS, Pentateuch (Anm. 14), scheint zu unterstellen, dass KD allein das Bundesbuch als Rechtskorpus eingeschlossen hätte; tatsächlich gehört aber die kompositionelle Verklammerung mit dem Deuteronomium in Dtn 31,14f.23; 34,10 tragend zur KD-Hypothese (vgl. B LUM, Studien [Anm. 71], 85ff.), ebenso das Nebeneinander von Bundesbuch und dtn Gesetz in KD (a.a.O., 197ff.). 74 Zur inhaltlichen Füllung des dtr (und späteren) Torabegriffs vgl. den Beitrag von C. HARDMEIER , „Geschichten“ (Anm. 67). 75 Hier kann der Hinweis auf die klassische Arbeit von J. G OODY / I. W ATT genügen: The Consequences of Literacy, in: J. GOODY (Hg.), Literacy in Traditional Societies, Cambridge 1968, 27–68.
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sie ist es, welche die Möglichkeit einer ständigen unmerklichen Adaption und Justierung der Tradition eröffnet. Demgegenüber besteht in einer auktorial verantworteten Literatur die Möglichkeit, inhomogene Überlieferungen ausdrücklich als Varianten nebeneinander auszuweisen, zu kommentieren, zu bestreiten etc.76 In einer schriftlichen Überlieferung aber, die nicht durch einen expliziten Autor verantwortet wird, entfällt die letztere Möglichkeit völlig! „Amnese“ als Steuerungsmoment der Traditionsbildung wiederum ist zwar nicht a limine ausgeschlossen (etwa in der Form bewusster Auslassungen), muss aber in dem Maße, in dem verschriftete Überlieferung vorliegt und Anerkennung gefunden hat, mit Widerstand oder gar Einspruch rechnen. Somit bleiben zwei Grundmöglichkeiten, die beide im Judentum der biblischen Zeit belegt sind: Entweder man stellt verschiedene Ausprägungen der Überlieferung in jeweils eigenständigen Werken mehr oder weniger bewusst nebeneinander,77 oder man geht den Weg mehr oder weniger diskontinuierlicher Fortschreibungen der Überlieferung, einschließlich subtraktiver und transformierender Eingriffe. Dominant scheint allerdings die fortschreitende literarische Sedimentierung der Überlieferung geworden zu sein. Unter bestimmten Rahmenbedingungen konnten dabei sogar handfeste Korrekturen/Gegendarstellungen in der Weise erfolgen, dass sie in die fortlaufende Darstellung hineinerzählt wurden, selbst wenn dies das Erzählkontinuum zu sprengen droht. Ich habe das am priesterlich edierten Pentateuch herauszuarbeiten versucht.7884–85 (c) Meine Profilierung der israelitischen Geschichtsüberlieferung hatte bei dem Phänomen der Anonymität der biblischen Tradenten eingesetzt. Bezeichnenderweise dient dieser elementare Befund – in anderer Weise – nicht nur Meir Sternberg als Referenz, um das Proprium der israelitischen Literatur herauszustellen, sondern – noch einmal in anderer Weise – auch für Brevard S. Childs. Bei Childs geht es um die Konturen des „canonical process“. Israels nachhaltige Gotteserfahrun|gen hätten es zu einem „new understanding of scripture“ geführt, und dies mittels eines Kanons, in dem Israel nicht von sich selbst handle, sondern Zeugnis ablege von „the divine source of its life“. „The clearest evidence for this position is found in the consistent 76 Vgl. als schönes Beispiel hierfür wieder Herodot I,5,3. 77 Vgl. z.B. die Chronikbücher neben Samuel-Könige; das Jubiläenbuch neben Genesis-
Exodus oder die Tempelrolle neben dem Pentateuch. Angesichts des eminenten Aufwands, der mit der Weitergabe literarischer Werke über Generationen verbunden war, ist durchaus auch mit dem spurlosen Verlust solcher Texte zu rechnen. Die gewaltige Menge von ausschließlich durch Zitierungen bekannten antik-griechischen Werken mag eine Ahnung vermitteln, wie leicht Literatur, die außerhalb eines bewusst gepflegten Kanons blieb, verloren ging. 78 B LUM, Studien (Anm. 71), 229ff., u.ö.
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manner in which the identity of the canonical editors has been consciously obscured …“79 Vermutlich denkt Childs hier nicht an redaktionelle Retouchen und Eingriffe, in denen Hinweise auf Autoren getilgt worden wären; dafür gäbe es auch keinerlei Indizien. Vielmehr dürfte für die Genese der kanonischen Überlieferung insgesamt eine spezifische Epistemologie vorausgesetzt sein, der die „Schrift“ selbst zum Subjekt wird: „Israel’s own self-understanding was never accorded a place of autonomy, but was always interpreted in the light of the authority of scripture.“80 In dieser Perspektive kann dann die Überlieferungsgeschichte, interpretiert als „kanonischer Prozess“, leicht selbst theologische Qualität gewinnen. 85 Verglichen damit stellt sich unser Erklärungsvorschlag wesentlich schlichter dar, insofern die zu erklärende Anonymität weder einer bewussten hermeneutischen Absicht, noch einem theologischen „Kanonbewusstsein“ zuzuschreiben ist, sondern einem traditionalen hermeneutischen Paradigma. – Gleichwohl drängt sich auch von daher ein möglicher Zusammenhang mit dem Prozess, der zum biblischen Kanon geführt hat, auf: Wie bereits skizziert (in [b]), bildet das Paradigma des nicht-explizierten textimmanenten Autors einen wesentlichen Faktor bei der Tendenz zur „Sedimentierung“ der Überlieferung. Es ist nicht auszuschließen, dass diese Sedimentierung ihrerseits eine Konzentration der Traditionsbildung auf bestimmte, zunehmend autoritative literarische Werke begünstigte. In diesem Falle war eine Dynamik gegeben, die den Weg für eine Kanonbildung im engeren Sinne bereiten konnte. Vor diesem Hintergrund mag es paradox erscheinen, dass gerade in der Schlussphase der Stabilisierung des hebräischen Kanons offenbar „Informationen“ über die Art und Identität der Verfasser der kanonischen Schriften gefragt waren. Angaben bei Josephus und Philo zum prophetischen Charakter der biblischen Autoren und deren namentliche Identifizierung im babylonischen Talmud81 reflektieren wohl nur eine breitere Tradition, die sich bereits innerkanonisch in den Chronikbüchern andeutet: Fiktive Quellenangaben führen hier das Material der Königsbücher letztinstanzlich auf die „Niederschrift der Zeitgeschichte“82 durch namentlich genannte Propheten zurück. Wie Thomas Willi überzeugend ausführt, 83 ist damit nicht zuletzt
79 80 81
B.S. CHILDS, Introduction to the Old Testament as Scripture, London 1979, 59. CHILDS, ebd. Vgl. Josephus, Contra Apionem I,37ff.; Philo, Vita Mosis II,11; sowie die Reihe der Verfasser (u.a.) der Vorderen Propheten in bBB 14b: Josua, Samuel, Jeremia. 82 T H. W ILLI, Die Chronik als Auslegung. Untersuchungen zur literarischen Gestaltung der historischen Überlieferung Israels (FRLANT 106), Göttingen 1972, 241. 83 W ILLI, a.a.O., 229ff. Vgl. auch die Präsentation der Belege mit einer profiliert anderen Deutung von HALPERN, Historiography (Anm. 27).
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die früh belegte84 Subsumierung des | auf die Tora folgenden Kanonteils unter die „Propheten“ vorbereitet. All dies steht freilich nur vordergründig in einer Spannung zu der zuvor so betonten Absetzung vom Autorenmodell. In Wahrheit wird der israelitische Überlieferungsraum hier von dem griechischen Paradigma gleichsam historisch eingeholt: In dem Maße, wie das antike Judentum sich innerhalb einer hellenistischen Oikumene zu behaupten hatte, konnte der überkommene Wahrheitsanspruch der erzählenden Überlieferung offenbar nicht ohne das in diesem kulturellen Kontext dominante „Autorenmodell“ artikuliert werden. Deshalb wird dieses Modell sekundär auf die ursprünglich anonymen Texte/Bücher appliziert. Freilich konnte der Wahrheitsanspruch dabei nur so gewahrt bleiben, dass er als Anspruch inspirierter Autoren reformuliert wurde! Innerhalb der jüdischen Tradition stand dafür das Paradigma der prophetischen Schriften bereit, in welchem in der Tat so etwas wie eine „doppelte Autorschaft“ gegeben ist. Typologisch adaptiert die jüdische Tradition somit in der Schlussphase ihrer „kanonischen“ Traditionsbildung das Modell des begeisterten Sängers, das im griechischen Kontext am Anfang gestanden hatte. Möglicherweise geht es auch um mehr als typologische Entsprechung, nämlich um eine Antwort auf den religiösen Kanon der hellenistischen Kultur (Homer; Hesiod).85 85– 86
84
So zunächst im Prolog des Siracidenenkels (Ende 2. Jh. v. Chr.), dann passim im Neuen Testament. 85 Zu den expliziten und reflektierten Auseinandersetzungen mit hellenistischer Geschichtsschreibung im antiken Judentum, in 2 Makk bzw. bei Josephus, vgl. CANCIK, Wahrheit (Anm. 20), 108ff. bzw. DERS., Geschichtsschreibung und Priestertum. Zum Vergleich von orientalischer und hellenistischer Historiographie bei Flavius Josephus, contra Apionem, Buch I, in: „Wie gut sind deine Zelte, Jaakow …“ (FS Reinhold Mayer), hg. von E.L. EHRLICH u.a., Gerlingen 1986, 41–62, und S.J.D. COHEN, History and Historiography in the Against Apion of Josephus, in: A. RAPOPORT-ALBERT (Hg.), Essays in Jewish Historiography: in memoriam A.D. Momigliano (History and Theory. Beiheft 27), Middletown 1988, 1–11. Zum Einfluss des griechischen Autor-Konzepts auf das antike Judentum: B. MACK, Under the Shadow of Moses: Authorship and Authority in Hellenistic Judaism, in: K.H. RICHARDS (Hg.), SBL 1982 Seminar Papers (Seminar Papers Series 21), Atlanta 1982, 299–318.
Von Sinn und Nutzen der Kategorie „Synchronie“ in der Exegese* Die Anfragen an den „Methodenkanon“ der sog. historisch-kritischen Exegese, die seit etwa dreißig Jahren nicht nur zu einer größeren Vielfalt der exegetischen Zugänge geführt haben, sondern auch zu einer permanenten Auseinandersetzung über den sachgemäßen Umgang mit den biblischen Texten, diese Anfragen haben sich sehr früh mit dem Begriffspaar „synchron – diachron“ verbunden.1 „Synchronie“ wurde dabei zu einer Art Chiffre für Alternativen zur herkömmlichen, im weiteren Sinne historisch orientierten Exegese, wobei mit diesem Schlagwort im Einzelnen freilich sehr verschiedene Interpretationsansätze bezeichnet werden konnten und können. Bei näherem Zusehen ergibt sich hier ein nicht geringer Klärungsbedarf.
I. Der gängige exegetische Sprachgebrauch von „Synchronie“ – eine begriffliche Engführung Das Konzept bzw. den Begriff der „Synchronie“ mit seinen Derivaten hat die biblische Exegese aus der modernen Linguistik entlehnt. 2 | Geprägt wurden Begriff und Konzept durch Ferdinand de Saussure, mit dessen „Cours de linguistique générale“ (1915)3 üblicherweise der Beginn der modernen * Diesen Beitrag widme ich meinem Tübinger Kollegen Hermann Lichtenberger zu seinem 60. Geburtstag. – Einige der folgenden Überlegungen wurden 1993 auf einem „Konsultationstreffen“ deutscher Alttestamentler in Berlin vorgetragen. 1 Als Beispiel für einen relativ frühen programmatischen Gebrauch der Begriffe soll an dieser Stelle nur die „Introduction“ in J.P. FOKKELMAN, Narrative Art in Genesis. Specimens of Stylistic and Structural Analysis (SSN 17), Assen u.a. 1975, 1ff., genannt werden. Generell kann auch auf die Periodica „Semeia“ und „Prooftexts“ in den 70er bzw. 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts verwiesen werden. 2 Nicht die Entlehnung als solche, wohl aber die intensive und oft programmatische Verwendung des Begriffs dürfte im Übrigen ohne Parallele in anderen Literaturwissenschaften sein. 3 Die Publikation wurde posthum auf der Grundlage von Nachschriften verschiedener Vorlesungen de Saussures in Genf erstellt; erst seit den späten 60er Jahren gibt es mehrbändige kritische Editionen von Nachschriften der Vorlesungen. Hier wird die deutsche Übersetzung der ersten Publikation (2. Aufl.) zitiert: F. DE SAUSSURE, Grundfragen der
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Linguistik verbunden wird. De Saussures Programm einer „synchronen Sprachwissenschaft“ als komplementäres Gegenstück zur etablierten historischen Sprachwissenschaft ist grundlegend verbunden mit seiner Einsicht in die Sprache (langue) als ein System von Zeichen, „dessen Teile in ihrer synchronischen Wechselbeziehung betrachtet werden können und müssen.“4 Der von der historischen Sprachwissenschaft untersuchte Sprachwandel stellt sich von daher als die durch einzelne Veränderungen bedingte Abfolge von systemhaft strukturierten Zuständen („Gleichgewichtszuständen“) dar. Der Ausdruck „syn-chron“ bezieht sich also zunächst auf die Gleichzeitigkeit der sprachlichen Elemente. Aber die „synchronische Untersuchung hat als Gegenstand nicht alles, was überhaupt gleichzeitig ist, sondern nur die Gesamtheit von Tatsachen, die jede einzelne Sprache ausmachen.“ 5 Zugleich folgt aus dieser Bestimmung, dass jeder beliebige geschichtliche „Sprachzustand“ (état de langue) zum Gegenstand einer synchronen Untersuchung werden kann, nicht etwa nur gegenwärtige Sprachsysteme.6 „Synchronie“ ist insofern ein relationaler Begriff. In diesen Grundlinien gehört das de Saussure’sche Konzept der Synchronie zu den basalen Kategorien der neueren Sprachwissenschaft. 17–18 Die Verwendung dieser Kategorie im Bereich von Text- bzw. Literaturwissenschaften setzt voraus, dass eine hinreichend klare Analogie im Bereich des Untersuchungsgegenstands vorliegt, die eine Übertragung ermöglicht. Dies versteht sich insofern nicht von selbst, als die abstrakte, regelhafte Systemstruktur7 von Sprachen (langues) mit der Struktur individueller Texte (d.h. einem Teil der „Rede“ [parole]) in vieler Hinsicht nicht vergleichbar ist. Gleichwohl besteht eine wichtige Analogie in der Bedeutung konstituierenden Beziehung zwischen einem „Ganzen“ und den es bildenden Elementen, die untereinander in signifikanten Relationen stehen. Von einer „synchronen Interpretation/Auslegung/Exegese“ kann mithin immer dann gesprochen werden, | wenn die Beziehungen zwischen gleichzeitigen Elementen, die ein Textganzes bilden, untersucht bzw. gedeutet werden. allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin 1967 2, deutsche Übersetzung von Cours de linguistique générale, hg. von Ch. Bally und A. Sechehaye, Paris 1922 2 (Lausanne/Paris 1916). 4 D E SAUSSURE, Grundfragen (Anm. 3), 103. 5 D E SAUSSURE , a.a.O., 107. Vgl. auch die Definition a.a.O., 119: „Die synchronische Sprachwissenschaft befasst sich mit logischen und psychologischen Verhältnissen, welche zwischen gleichzeitigen Gliedern, die ein System bilden, bestehen, so wie sie von einem und demselben Kollektivbewusstsein wahrgenommen werden.“ 6 Vgl. J. LYONS, Introduction to Theoretical Linguistics, Cambridge 1969, 46: „By the synchronic study of a language is meant the description of a particular ‚state‘ of that language (at some ‚point‘ in time). It is important to realize that synchronic description is not restricted in principle to the analysis of modern spoken language.“ 7 Zu langue als abstraktem, virtuellem System vgl. bes. K. HEGER , Monem, Wort und Satz (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 8), Tübingen 1971, 6ff.
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Dies gilt der Logik der Sache nach für jeden beliebigen geschichtlichen „Zustand“ eines Textes, im Falle von Traditionsliteratur mithin für jedes Stadium der Überlieferungsgeschichte.18 Die vermutlich erste Übernahme der Begriffsopposition „diachron vs. synchron“ im Bereich der alttestamentlichen Exegese durch Wolfgang Richter8 rezipierte den Begriff „Synchronie“ denn auch sachgemäß in dem skizzierten relationalen Sinn. Allerdings mit einer nicht unbedeutenden Inkonsequenz, die aus Richters methodischer Systematik resultiert: Mit der prozeduralen Vorordnung der Literarkritik vor synchrone Arbeitsschritte wie die sog. „Formkritik“ bleibt gerade die Endgestalt de facto ausgeschlossen!9 Exakt in dieser Hinsicht vollzog sich seit den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts dann aber – zunächst vor allem in englischsprachigen Arbeiten – eine Umprägung des Sprachgebrauchs, insofern „Synchronie“ ausschließlich für Auslegungen der Endgestalt reserviert wurde. Damit verband sich zudem ein ausgeprägter neuer Impetus: Stellte Richters methodologischer Entwurf noch den Versuch einer präzisierenden Reformulierung des traditionellen historisch-kritischen Methodenkanons dar, so segeln nun unter der Flagge der Synchronie die exegetischen Ansätze, welche die diachrone Ausrichtung der Bibelwissenschaft teilweise oder insgesamt zu korrigieren suchen. „Synchron“ wird in diesem Kontext also gleichgesetzt mit „endtextorientiert“. Gemessen an dem skizzierten sonstigen Verständnis des Begriffs handelt es sich dabei um eine definitorische Engführung, geradezu eine Idiosynkrasie der exegetischen Literatur, die m.W. ohne Parallele in anderen Textwissenschaften ist.10 Nun könnte man sich mit der Feststellung einer willkürlichen definitorischen Einschränkung des Begriffs in der biblischen Exegese begnügen und 8 W. R ICHTER , Exegese als Literaturwissenschaft. Entwurf einer alttestamentlichen Literaturtheorie und Methodologie, Göttingen 1971. 9 Es sei denn, die Literarkritik hat den Text für diachron einheitlich befunden; vgl. R ICHTER, a.a.O., 72. 10 Entsprechend kommentiert J. B ARR, The Synchronic, the Diachronic and the Historical: A Triangular Relationship, in: J.C. DE MOOR (Hg.), Synchronic or Diachronic? A Debate on Method in Old Testament Exegesis (OTS 34), Leiden u.a. 1995, 1–14, darin 3, die Gleichsetzung von Synchronie mit Endtextexegese: „… I just want to say that that approach is not the natural use of synchrony on Saussurean principles.“ Auch im Arbeitsbuch von H. UTZSCHNEIDER / S.A. NITSCHE, Arbeitsbuch literaturwissenschaftlicher Bibelauslegung. Eine Methodenlehre zur Exegese des Alten Testaments, Gütersloh 2001 (wie zuvor schon in H. UTZSCHNEIDER , Text – Leser – Autor. Bestandsaufnahme und Prolegomena zu einer Theorie der Exegese, BZ 43 [1999] 224–238) wird auf die Sonderentwicklung des Begriffs „Synchronie“ in der Exegese ausdrücklich verwiesen, sodann gleichwohl das verbreitete endtextbezogene Verständnis adaptiert (20). Der begrifflichen Klärung eher abträglich erscheint es mir aber, dass darüber hinaus diachrone Auslegung de facto mit der Frage nach der intentio auctoris, synchrone Interpretation mit der Erhebung der intentio operis („Texte für sich genommen“) gleichgesetzt werden (ebd.).
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dies nicht für weiter beunruhigend halten; selbst die interdisziplinäre Verständigung bräuchte darunter keinen Schaden zu leiden, sofern die terminologischen Unterschiede klargestellt sind. Bei näherem Zusehen verbergen sich hinter der begrifflichen Engführung jedoch methodologische Probleme, angesichts derer dann doch nach der sachlichen Angemessenheit der Terminologie zu fragen | ist. Um dies zu verdeutlichen, sollen im Folgenden zwei prägnante alternative Verstehensmöglichkeiten von „synchroner Exegese/ Auslegung“ mit ihren Konsequenzen skizziert werden: zunächst eine pointierte Konzeption von synchroner Exegese als Endtextinterpretation, sodann die Implikationen eines relationalen Verständnisses „synchroner Exegese“. Bei ersterer wird sich vor allem die Frage der Adäquatheit sowohl der Terminologie als auch des propagierten interpretatorischen Zugangs stellen, bei letzterem die Frage, was ein präzisierter Begriff der Synchronie methodologisch leisten kann. 18–19
II. „Synchrone Auslegung“ als programmatische Endtextexegese – eine sachliche Engführung Wird „Synchronie“ in der exegetischen Literatur als programmatischer Gegenbegriff zu „Diachronie“ gebraucht, geht es zumeist um eine spezifische Art von Endtextexegese, die dadurch qualifiziert ist, dass sie die Diachronie der Texte bewusst und sozusagen als methodisch-hermeneutisches Prinzip ausklammert. Mit dieser Beschreibung wird freilich eine recht große Bandbreite verschiedener Positionen zusammengefasst, die im Blick auf die Exklusivität der Endtextauslegung und/oder deren Begründung erheblich divergieren können. 11 So wird die diachrone Perspektive mitunter lediglich temporär – aus methodischen Gründen – suspendiert, ohne Sinn und Notwendigkeit dieses Zugangs in Frage zu stellen. Daneben gibt es den generellen Verzicht auf entstehungsgeschichtliche Fragestellungen, der mit einer grundsätzlichen methodischen Skepsis bzw. mit faktischem Desinteresse begründet wird. Tendenziell eine ganz eigene Kategorie bilden Auslegungen, die etwa aus religiösen Gründen den Gedanken diachroner Uneinheitlichkeit der Texte abweisen. Unbeschadet solch tiefgreifender Differenzen ist all diesen Zugängen das Postulat der grundsätzlichen methodischen Autonomie „synchroner“ Endtextauslegungen (gegenüber diachronen Analysen) gemeinsam.
11 Da die folgenden Typisierungen durchaus plakativ bleiben und Literaturhinweise zudem nur selektiv ausfallen könnten, wird auf die Nennung einzelner Arbeiten verzichtet. Für Übersichtsdarstellungen bzw. Diskussionen der Literatur vgl. M. STERNBERG, The Poetics of Biblical Narrative. Ideological Literature and the Drama of Reading, Bloomington 1985, 4ff.; G. SCHUNACK, Neuere literaturkritische Interpretationsverfahren in der anglo amerikanischen Exegese, VuF 41 (1996) 28–55; M. OEMING, Biblische Hermeneutik. Eine Einführung, Darmstadt 1998, 70ff.; M. OEMING / A.-R. PREGLA, New Literary Criticism, ThR 66 (2001) 1–23.
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Demgegenüber soll hier die These vertreten werden, dass eine konsequent synchrone Interpretation, die sich keine Rechenschaft über grundlegende diachrone Parameter ihres Gegenstandes gibt, methodisch gar nicht durchführbar ist, es sei denn unter den Bedingungen einer spezifisch neuzeitlichen Kommunikationsform, deren Applikation auf die biblischen Texte einen Anachronismus darstellt. Im Blick auf solche Lesungen erweist sich zudem der Begriff „synchron“ als unangemessen; zutreffender wäre in diesem Falle von „achronen“ Rezeptionen zu sprechen. Diese erste These soll im Folgenden erläutert werden. | 19–20 1. Ein elementarer Aspekt, unter dem sich synchrone Auslegungen nicht ohne diachrone Voraussetzungen durchführen lassen, bildet die Definition des jeweiligen Textganzen. Die Notwendigkeit einer solchen Definition folgt aus dem essentiellen Bezug jeder „synchronen“ Deutung auf ein (in irgendeiner Form gegebenes oder konstituiertes) „Ganzes“ (s.o. I.). Auch der Rekurs auf „den Endtext“ bietet hierfür nur vermeintlich eine Lösung: Selbst wenn man von dem oft vernachlässigten Befund einer Mehrzahl verschiedener „Endtexte“ in den diversen Textüberlieferungen einmal absieht,12 lässt sich das Problem der Abgrenzungen nicht durch den Verweis auf die traditionellen Buchgrenzen oder Kanonteile lösen: Zum einen erlaubt die hohe Komplexität der großen kanonischen Einheiten häufig nur selektive Auslegungen,13 welche die Teiltexte in der Regel bloß partiell bzw. in erheblichen Abstraktionen tangieren. Zum anderen verlaufen die Texteinheiten, auf die hin die Texte gebildet wurden, z.T. quer zu den üblichen Buchgrenzen. Ein schlagendes Beispiel hierfür bieten gerade die Daviderzählungen: Nicht nur markiert der Übergang zwischen den beiden Teilen des Samuelbuches keine „Textgrenze“, auch der Anfang des Königsbuchs lässt sich bekanntlich ohne die Davidüberlieferung in Samuel nicht lesen (und umgekehrt). Allein daran mag schon deutlich werden, dass die formale Orientierung an den Buchgrenzen schnell zu einem fragwürdigen Traditionspositivismus geraten kann. Darüber hinaus ist sehr bezeichnend, dass ein so dezidiert „synchrones“ close reading der David-Saul-Erzählungen wie das von Fokkelman nicht einfach dem „Endtext“ folgt, sondern sich auf unterschiedliche „Auszüge“ aus dem kanonischen Text bezieht. Mögen diese Abgren-
12 Die nicht seltene apriorische Festlegung auf den masoretischen Text (Entsprechendes gälte für den alexandrinischen etc.) ist entweder dogmatisch oder dezisionistisch. Beides bleibt in unserem Zusammenhang fragwürdig. 13 Der Plural ist hier bewusst gebraucht; s.u. (3.).
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zungen auch primär auf Beobachtungen zur narrativen Dichte und Komposition beruhen, setzen sie für die jeweiligen Erzählkomplexe doch so etwas wie einen spezifischen „Gestaltungswillen“ voraus.14 Damit implizieren solche Differenzierungen aber eine wie auch immer zu denkende Diachronie; mehr noch, sie bleiben letztlich ohne zureichende Fundierung, solange sie nicht in einer umfassenden diachronen Analyse abgeklärt sind. | 2. 20–21 Ein weiterer Aspekt, der jede „synchrone“ Deutung unweigerlich in einen geschichtlichen Kontext stellt, ist die „Pragmatik“ der biblischen Texte, d.h. ihre kommunikative Funktion. Insofern alttestamentliche Überlieferungen sich durchgehend als Mitteilungstexte 15 präsentieren, lässt sich der mehr oder weniger konkrete Adressatenbezug nicht von ihnen ablösen. Vielmehr gehört zu ihrer Sinnwelt – neben den Referenzen auf eine geschichtliche außersprachliche Wirklichkeit – insbesondere auch der „implizite“ bzw. der „intendierte Leser“, also der Leser oder die Leserin, deren Situation, Vorverständnis, Reaktion usw. der Autor bei der Textbildung „vor Augen hat“. Allein schon damit ist aber jede werkorientierte Auslegung sehr elementar auf den geschichtlichen Kontext auch des/der Textverfasser verwiesen.16 14 So bezieht sich Fokkelman in J.P. FOKKELMAN , Narrative Art and Poetry in the Books of Samuel. A Full Interpretation Based on Stylistic and Structural Analyses. Vol. I: King David (II Sam. 9–20 & I Kings 1–2) (SSN 20), Assen u.a. 1981, im Wesentlichen auf eine gängige Abgrenzung der sog. „Thronfolgegeschichte“ (2 Sam 9–20 + 1 Kön 1–2), in J.P. FOKKELMAN, Narrative Art and Poetry in the Books of Samuel. A Full Interpretation Based on Stylistic and Structural Analyses. Vol. II: The Crossing Fates (II Sam. 13 –31 & II Sam. 1) (SSN 23), Assen u.a. 1986, auf einen Komplex, welcher der „Aufstiegsge schichte Davids“ nahe kommt (1 Sam 13–31 + 2 Sam 1). Von 2 Sam 9–20; 1 Kön 1–2 heißt es bei Fokkelman ausdrücklich, dass „this text was initially composed in written form and that it forms one integral piece of literature“ (FOKKELMAN, King David, 9; vgl. auch a.a.O., 18). Dies wird jedoch nicht genauer fundiert, ebenso wie die (bei Fokkelman seltene) Annahme einer späteren Ergänzung im Falle von 2 Kön 2,3–4. 15 Darunter sollen hier Texte verstanden werden, die ihre Aussagen etc. nicht von der assertorischen etc. Referenz auf Wirklichkeit suspendieren und den intendierten Leserinnen eine solche Suspendierung auch nicht freistellen. Der Ausdruck steht somit in Opposition zu „fiktionaler Literatur“ (s.u.). 16 Zu den Konsequenzen der kommunikativen Funktion biblischer Texte vgl. grundlegend C. HARDMEIER , Texttheorie und biblische Exegese. Zur rhetorischen Funktion der Trauermetaphorik in der Prophetie (BEvTh 79), München 1978. Utzschneider und Nitsche verweisen dagegen auf die Schwierigkeit, die „,realen Autoren‘ und deren ‚reale Leser‘ hypothetisch zu rekonstruieren“ (UTZSCHNEIDER/NITSCHE, Arbeitsbuch [Anm. 10], 64), was im Blick auf „den hebräischen Text in seiner vorliegenden Gestalt“ sowieso kaum möglich sei (ebd.). Unter anderem deshalb ziehen sie es vor, den Text als „literari sch-ästhetisches Subjekt“ in Anschlag zu bringen (ebd.). Diese Argumentation verwundert insofern, als die „realen“ individuellen Autoren (oder gar Leser) in der Regel gar nicht zur Debatte stehen, sondern die „impliziten Autoren“ (a.a.O., 154f.), deren Mitteilungs- und Wirkabsicht die
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Für dezidiert synchrone Zugänge im Sinne der Endtextexegese bleiben hier zwei Möglichkeiten: Entweder sie beziehen die Frage nach den geschichtlichen Adressaten der (jeweiligen) „Endgestalt“ mit ein, dann sind sie freilich schon mitten in dem historisch-kritischen Problemfeld, das nicht zuletzt eine Klärung des literargeschichtlichen Profils einfordert. Oder sie suchen dem durch ein Verständnis des Textes als einer autonomen, überzeitlichen Größe zu entgehen. Genau besehen handelt es sich dabei freilich gar nicht mehr um eine „synchrone“, auf ein Textganzes (inkl. seiner pragmatischen Dimensionen) bezogene Auslegung, sondern um eine Art „achroner“ oder „panchroner“ Lesung, welche den Adressatenbezug eliminieren oder doch abstrahierend reduzieren muss. | Das Modell für Letzteres bildet zumeist das Konzept des „autonomen sprachlichen Kunstwerks“, wie es insbesondere innerhalb der sog. „Werkinterpretation“ bzw. des „New Literary Criticism“ vertreten wurde. 17 Unabhängig davon, wie dieses Konzept innerhalb der gegenwärtigen Literaturwissenschaft eingeschätzt wird, impliziert seine Anwenung auf die biblischen Texte jedenfalls zugleich eine Transformation und einen Anachronismus. Die Transformation besteht in der Überführung der alttestamentlichen „Mitteilungstexte“ in eine andere Kommunikationsform: die der fiktionalen Dichtung. Denn unbeschadet der unstrittigen materialen Poetizität vieler biblischer Texte sind sie generell nicht unter Voraussetzung der textpragmatischen Kategorie der Fiktionalität gebildet. Mehr noch, und darin liegt der Anachronismus, diese Kategorie und die korrespondierende Ausdifferenzierung eines entsprechenden Kommunikationssystems („Dichtung/Belletristik“) bilden ein kulturgeschichtliches Paradigma, das der Welt des alten Israel bzw. des Frühjudentums insgesamt unbekannt ist. 18 21–22
Gestaltung des Textes geleitet hat. Letzteres gilt durchaus auch im Blick auf die „Endgestalt“ der biblischen Texte. Darüber hinaus kann zum einen der Wirklichkeits - und Situationsbezug sehr variieren: von gnomischen Weisheitstexten, die allenfalls einen bestimmten kulturellen Raum voraussetzen, bis zu direkt situationsbezogenen Prophetenworten; zum anderen ist damit zu rechnen, dass die die Texte bestimmende kommunikative Absicht jeweils nur in sehr unterschiedlicher Konkretion rekonstruierbar ist. Letzteres führt allerdings auf nichts anderes als den leidlich bekannten Sachverhalt, dass sich alte Texte dem Verständnis der Nachgeborenen tatsächlich nur in sehr unterschiedlicher Dichte erschließen. 17 Auf dieser Linie liegt auch die Auffassung des biblischen Textes als „literarischästhetisches Subjekt“ bei Utzschneider; vgl. dazu programmatisch UTZSCHNEIDER, Text (Anm. 10), 226ff. 18 S. vorläufig E. B LUM, Ein Anfang der Geschichtsschreibung? Anmerkungen zur sog. Thronfolgegeschichte und zum Umgang mit Geschichte im alten Israel, in: A. DE P URY / TH. RÖMER (Hg.), Die sogenannte Thronfolgegeschichte Davids. Neue Einsichten und Anfragen (OBO 176), Freiburg/Schweiz u. Göttingen 2000, 4–37, eingehender DERS., Historiographie oder Dichtung? Zur Eigenart alttestamentlicher Geschichtsüberlieferung, in:
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3. Ein letzter Aspekt: Bei Texten, die – wie ein Großteil der alttestamentlichen Literatur – eine hochkomplexe Entstehungsgeschichte zu erkennen geben, erweisen sich konsistente Gesamtdeutungen, die alle Textkomponenten integrieren, als unmöglich. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Textbildung selbst gar nicht durchgängig auf Konsistenz (welcher Komplexität auch immer) ausgerichtet war, sondern u.a. auch auf diskontinuierliche Kommentierungen, Korrekturen oder Gegendarstellungen. 19 Exklusiv „synchrone“ Analysen vielschichtiger Komposittexte zeitigen deshalb entweder Abstraktionen ohne nennenswerte Substanz oder notwendig divergierende Deutungen, deren Pluralität zudem von anderer Qualität ist als die poetische Polyvalenz in der Dichtung. Die unvermeidliche Selektivität der Interpretationen führt somit auf das Problem einer Beliebigkeit, die durch keine intentio operis zu begrenzen ist und methodisch wohl doch nicht ohne den Rekurs auf die Autorenintention(en) – zumindest als regulative Idee – überwunden werden kann. Auch in dieser Hinsicht erweist sich also die Verschränkung synchroner Betrachtungen mit diachronen Analysen als unabdingbar. | 22–23 Im Übrigen haben die skizzierten methodischen Konstellationen manche hermeneutischen Implikationen, die hier nur angedeutet werden können. So sind auch „achrone“ Lesungen, welche die Texte als autonome Größen aus ihrem historischen Kommunikationszusammenhang herauslösen, genau besehen nicht eigentlich zeitlos, vielmehr wird der Text in eine Synchronie mit dem Interpreten versetzt, dessen Deutung dementsprechend seine eigenen Kommunikationsinteressen spiegelt. Hermeneutisch mag diese Unmittelbarkeit von Text und Leser verheißungsvoll wirken gerade im Blick auf applikative Rezeptionen der Heiligen Schrift, sei es in der religiösen Praxis oder in der theologischen Reflexion. Tatsächlich weisen die leserorientierten, kreativen Auslegungen der jüdischen und der christlichen Tradition signifikante Affinitäten zu rezeptionsästhetischen Zugängen auf. 20 Freilich stehen auch solche applikativen Auslegungen naturgemäß vor dem oben skizzierten DERS. / C. H ARDMEIER (Hg.), Das Alte Testament
– ein Geschichtsbuch? Beiträge des Symposiums „Das Alte Testament und die Kultur der Moderne“ anlässlich des 100. Geburtstags Gerhard von Rads (1901–1971), Heidelberg 18.–21. Oktober 2001 (atm 10), Münster 2005, 65–86. 19 Vgl. z.B. E. B LUM, Gibt es die Endgestalt des Pentateuch?, in: J.A. EMERTON (Hg.), Congress Volume Leuven 1989 (VT.S 43), Leiden 1991, 46–57; DERS., Esra, die Mosetora und die persische Politik, in: R.G. KRATZ (Hg.), Religion und Religionskontakte im Zeitalter der Achämeniden (VWGTh 22), Gütersloh 2002, 231–256, darin 235ff. Übrigens bestätigt sich auch in dieser Hinsicht die Inkompatibilität des Paradigmas der fiktional-ästhetischen Kommunikation mit der biblischen Literatur. 20 Vgl. M. GROHMANN , Aneignung der Schrift. Wege einer christlichen Rezeption jüdischer Hermeneutik, Neukirchen-Vluyn 2000.
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Problem der Beliebigkeit, das wiederum nicht ohne konsensfähige regulative Kriterien zu lösen ist, sollen die überkommenen Texte nicht zum Spielfeld mehr oder weniger geistreicher Idiosynkrasien werden. Die Konsensfähigkeit solcher Regulativa wird im Falle normativ-applikativer Auslegungen vielfach auf die betreffende Auslegungsgemeinschaft beschränkt bleiben. Geht es analog um ein kommunikables regulatives Prinzip im Rahmen akademischer Exegese, führt wiederum kein Weg am Eigensinn der Texte, d.h. an der Intention der Autoren bzw. der von ihnen intendierten Leserschaft, vorbei. Mit anderen Worten, an der kontinuierlichen Einbeziehung des diachronen Fragehorizonts hängt nicht zuletzt die methodische Urteilsfähigkeit innerhalb des wissenschaftlichen Faches! Der naheliegende Einwand, dass letztlich bei jedem Verstehen, auch dem historischen, das verstehende Subjekt sich mit seinem Vorverständnis einbringe und den Text gleichsam mit sich „synchronisiere“, ist zwar in dieser Allgemeinheit nicht zu bestreiten, trifft aber nicht die methodologische Pointe der „historisch“ orientierten Auslegung, nämlich den Anspruch, das eigene Verständnis grundsätzlich und immer wieder in Frage zu stellen, um den Eigensinn der Texte in ihrem geschichtlichen Kontext zur Geltung kommen zu lassen.21 | 23–24
III. Der Nutzen von „Synchronie“ als Relationsbegriff in der Exegese Wird „Synchronie“ in der Exegese demgegenüber, wie es dem allgemeinen Sprachgebrauch entspricht, als Relationsbegriff verwendet, so bezeichnet er (1.) eine bare Selbstverständlichkeit, die immer schon in der Exegese betrieben wurde, jedenfalls (2.) keine „Methode“, bleibt aber (3.) als Begriff von erheblichem Nutzen für die Profilierung grundlegender Fragehinsichten und deren methodischer Zuordnung. Diese zweite These ist ebenfalls kurz zu entfalten: 1. Versteht man „synchrone Exegese“ in Analogie zum de Saussure’schen Verständnis, dann steht er, bei Licht besehen, für eine Selbstverständlichkeit: Er umgreift jede Interpretation, die eine wie auch immer gegebene Menge von Zeichen als Text, d.h. als eine Ganzheit für wie auch immer gegebene Adressaten zu deuten versucht. Insofern gibt es keine Exegese, die nicht, ob 21 Dabei geht es im Übrigen nicht nur um eine Bedingung der Möglichkeit von Exegese als Wissenschaft, sondern – jedenfalls aus evangelisch-reformatorischer Sicht – auch um ein zentrales theologisches Anliegen.
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reflektiert oder unreflektiert, eine synchrone Auslegung, oder vorsichtiger formuliert: ein synchrones Verstehen implizierte. Dabei ist es fürs Erste unwesentlich, ob das zu deutende Ganze real besteht oder rekonstruiert ist (ob nun zutreffend oder nicht) oder auch nur – im Falle von Textfragmenten – als Entwurf existiert. Zum Bereich der Davidüberlieferungen finden sich klassische „synchrone“ Interpretationen jenseits des Endtextes beispielsweise in Rosts Analyse der „Thronfolgegeschichte“ 22 oder in von Rads23 berühmter Deutung derselben erschlossenen Texteinheit. Letztlich implizieren jedoch alle Vorstufenrekonstruktionen, sei es einer Aufstiegsgeschichte, einer Ladeerzählung oder auch jahwistischer bzw. elohistischer Quellenfäden in Sam/Kön zumindest Ansätze einer Deutung, welche einzelne Textkomponenten auf ein reales oder fiktives Ganzes bezieht.
Generell gehören zu einer soliden diachronen Analyse, die x verschiedene Überlieferungsschichten in einem Abschnitt glaubt rekonstruieren zu können, x synchrone (hypothetische) Deutungen, davon bezieht sich eine auf die sog. „Endgestalt“. 24–25 Mit Blick auf die inzwischen schon bis zum Überdruss diskutierte Frage, ob nicht neben der Synchronie auch die Diachronie (oder umgekehrt) ihr Recht habe, ist von daher auf einem elementaren Sachverhalt zu bestehen: Es gibt schlicht keine diachrone Auslegung ohne implizite synchrone Interpretation. Und umgekehrt gibt es keine synchrone Interpretation ohne diachrone Implikationen (s.o. II.). Für eine wissenschaftliche Disziplin sollte es allerdings selbstverständlich sein, dass beide unumgänglichen (!) Analyseperspektiven bewusst und methodisch reflektiert verfolgt werden; es gehört zum Elend des Fachs, dass dies sich offenbar nicht von selbst versteht. | 2. Angesichts einer inflationären Rede von „Methode“ im Bereich der alttestamentlichen Exegese24 ist des Weiteren zu betonen, dass eine „synchrone 22
L. ROST, Die Überlieferung von der Thronnachfolge Davids (BWANT III/6), Stuttgart 1926 (= DERS., Das kleine Credo und andere Studien zum Alten Testament, Heidelberg 1965, 119–253). 23 G. VON RAD, Der Anfang der Geschichtsschreibung im alten Israel, AKG 32 (1944) 1–42 (= DERS., Gesammelte Studien zum Alten Testament [ThB 8], München 1961, 148– 188). 24 Vgl. die verbreitete Rede von der „überlieferungsgeschichtlichen“, der „redaktionsgeschichtlichen“, der „traditionsgeschichtlichen“ oder der „formgeschichtlichen“ „Methode“: „Überlieferungsgeschichte“ bezeichnet (als Oberbegriff) eine Fragehinsicht, im en geren Sinne (= „mündliche Überlieferungsgeschichte“) das Gleiche bzw. so wie „Redaktionsgeschichte“ ein allgemeines Erklärungsmodell (entsprechend „Traditionsgeschichte“); zur „Formgeschichte“ vgl. E. B LUM, Formgeschichte – A Misleading Category? Some Critical Remarks, in: M.A. SWEENEY / E. BEN ZVI (Hg.), The Changing Face of Form Criticism for the Twenty-First Century, Grand Rapids 2003, 32–45.
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Exegese“ (im soeben skizzierten Sinne) für sich genommen keine Methode darstellt, sondern eine grundlegende Fragehinsicht. 25 Die „Methoden“, d.h. kontrollierte analytische/synthetische Vorgehensweisen, gilt es im disziplinären Diskurs zu entwickeln: in der argumentierenden Auseinandersetzung um den Gegenstand und im Gespräch mit allgemeinen und speziellen Textwissenschaften. Grundlegende Aspekte der Textkonstitution können sich mit Hilfe linguistischer, textlinguistischer, texttheoretischer etc. Parameter und Kategorien erschließen. Im Falle erzählender Texte dürften darüber hinaus narratologische Zugänge im Vordergrund stehen, im Falle diskursiv-argumentierender Texte rhetorische etc. 3. Wenn es in einer „synchronen Auslegung“ letztlich um nichts anderes geht als um das exegetische Kerngeschäft der interpretatorischen Erschließung von rekonstruierten oder vorliegenden Texten, mag man fragen, ob es hierfür des Ausdrucks „Synchronie“ und seiner Derivate überhaupt bedarf. Tatsächlich erscheint es aber durchaus sinnvoll, über einen Begriff für die Fragehinsicht, die der literargeschichtlichen komplementär ist, zu verfügen. Dies gilt umso mehr, als in der herkömmlichen Exegese diese zentrale Perspektive als eigenständige, methodisch zu verfolgende Fragestellung – neben der geschichtlichen – so gut wie nicht im Blick war. In dieser Hinsicht kann die Opposition „Synchronie – Diachronie“ hilfreich sein bei der Diagnose einer gravierenden Engführung mit nachhaltigen Wirkungen – und für deren allfällige Korrektur. 25–26 Wie konsequent synchrone Fragehinsichten ausgeblendet oder in der methodischen Systematik marginalisiert blieben, lässt sich leicht an Hand verbreiteter „Methodenbücher“ zeigen, mit denen Generationen deutschsprachiger Theologen in die Exegese des Alten Testaments eingeführt wurden. 26 Wenn es im traditionellen Methodenschema überhaupt eine Konstante gab, dann den Einsatz mit den „Schritten“: „Textkritik“ – „Literarkritik“. Danach wird es variabel: „Formgeschichte“, | „Traditionsgeschichte“, „Überlieferungsgeschichte“ in unterschiedlicher Abfolge, eventuell mit der Differenzierung von „Überlieferungs- und Redaktionsgeschichte“ oder von „-kritik“ und „-geschichte“. Am Ende stehen jedenfalls „Zusammenhangsexegese“ oder „Einzelexegese“ oder „Interpretation“, in denen dann „ganzheitlich“ 27 der 25 26
Entsprechendes gilt für die Frage nach der Literargeschichte. Im Folgenden beziehe ich mich primär auf die „Klassiker“: H. B ARTH (bis zur 11. Aufl.) / O.H. STECK, Exegese des Alten Testaments. Leitfaden der Methodik. Ein Arbeitsbuch für Proseminare, Seminare und Vorlesungen, Neukirchen-Vluyn 1971 2; 1978 8; 1989 12, bzw. G. FOHRER u.a., Exegese des Alten Testaments. Einführung in die Methodik (UTB 267), Heidelberg 1973 1; 19834. Deutlich andere Ansätze vertritt das neue Arbeitsbuch von UTZSCHNEIDER /NITSCHE, Arbeitsbuch (Anm. 10). 27 Das Stichwort findet sich bei B ARTH/STECK, Exegese (Anm. 26) (8.Aufl.), 103; a.a.O. (12. Aufl.), 161.
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„Sinngehalt“ des Textes in seinen verschiedenen Überlieferungsstufen erarbeitet werden soll. Dennoch korrespondiert diese „Interpretation“ nicht mit der skizzierten Synchronie. Denn hier geht es nicht mehr um die analytische Wahrnehmung des Textes, sondern um den Ertrag der vorausgehenden methodengeleiteten Analyse. Insofern ist es konsequent, dass in dem Methodenbuch von Barth/Steck Aspekte einer synchronen Analyse, die – wenn ich recht sehe – bis zur 7. Auflage noch ganz fehlten, ab der 8. Auflage (1978) nicht im letzten Punkt „Interpretation“ aufgenommen wurden, sondern gleichsam verteilt auf „Formgeschichte“ (§7) und den vormethodischen „Einsatz von Phantasie und Imagination“ bei der ersten Begegnung mit dem Text. So blieb es auch in der überarbeiteten 12. Auflage (1989) von Steck, nur dass der Anteil der Imagination ein größeres Gewicht erhielt. Anders verhält es sich, jedenfalls auf den ersten Blick, in dem Methodenbuch von Fohrer u.a. (1973), folgt hier doch auf die Literarkritik eine sog. „Formkritik“ bzw. eine „sprachliche Analyse“ (darin jeweils eine „Strukturanalyse“). Näher besehen bleibt aber auch hier der synchrone „Arbeitsschritt“ von vornherein entscheidend restringiert, u.a. insofern er der Literarkritik nachgeordnet wird. 28
Der Blick in lang eingeführte Handbücher zur exegetischen Methodik verdeutlicht einen doch erstaunlichen Befund: Seit Generationen bemüht sich die Disziplin um Kriterien für die Rekonstruktion von Quellen und Redaktionen, für die Definition von Gattungen, die Zuordnung historischer Kontexte usw. und bemüht sich mit alldem gewiss um ein besseres Verstehen der untersuchten Texte; seit jeher bewegen sich die Textdeutungen, weil gar nicht anders möglich, vom Ganzen zu den Teilen und von den Teilen zum Ganzen – dennoch wurde traditionell dieser entscheidende Vorgang nicht als eigenständige, methodisch zu betreibende Aufgabe artikuliert. Man muss es noch zuspitzen: Über Generationen wurde das Defizit nicht einmal bemerkt! Einer der Gründe dürfte sein, dass Textinterpretation als solche sich scheinbar von selbst verstand: Dergleichen macht man, ohne darüber zu reden. Hinzu kommt die geschichtliche Prägung der Disziplin durch die historische Kritik als dem unstrittigen Proprium wissenschaftlicher Exegese und daraus folgend mitunter auch gewisse Vorbehalte gegenüber holistischen Fragestellungen. 26–27 Ist synchrone Auslegung aber einmal als eigenständige analytische Aufgabe erkannt, stellt sich das Problem der heuristischen und methodischen Zuordnung diachroner und synchroner Fragehinsichten. Eben daran dürfte sich für die konkrete Exegese Wesentliches entscheiden; auch mancher sachliche Dissens wird hier letztlich seinen Ausgangspunkt haben. Worum es dabei geht, lässt | sich am einfachsten an derjenigen analytischen Sachfrage erläutern, die beiden Perspektiven gemeinsam ist: der Frage der Textkohärenz. 28
Die andere Einschränkung besteht in der Substanz der „sprachlichen Analyse“ (§ 6), die an Richter anknüpft. Deren Problematik kann hier nicht näher diskutiert werden; jedenfalls ist es von der darin vorgeschlagenen „sprachlichen“ Deskription noch ein recht weiter Weg zur Erschließung der literarischen (und oft poetischen) Struktur der Texte (vgl. u. bei Anm. 31).
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Kohärenz ist prinzipiell gegeben, sofern eine sprachliche Größe als Text rezipiert wird. Die Fragestellung, ob ein Text Kohärenz aufweist, wäre mithin widersinnig. Vielmehr kann es grundsätzlich nur darum gehen, von welcher Art und welcher Intensität die Kohärenz auf den verschiedenen Textebenen29 ist. Synchrone und diachrone Zugänge unterscheiden sich dabei in der Fokussierung ihrer Textwahrnehmung: 27–28 Synchrone Analysen sind konzeptionell darauf ausgerichtet aufzuspüren, worin die spezifische Kohärenzbildung des spezifischen Textes im Horizont seines semantischen und kommunikativen Gesamtprogramms besteht. Dabei geht es also nicht allein um die elementaren syntaktischen und semantischen Konnexionen,30 sondern um Strukturbildungen bis hin zu artifiziellen Verdichtungen der Ausdrucks- und Inhaltsseite und um die kommunikativen Intentionen, die solche Gestaltungen steuern. Die „interessanten“ Kohärenzwahrnehmungen implizieren mithin immer schon Gesamtdeutungen des Textes. Je eingehender ein synchrones close reading den Konturen eines Textes nachgeht, umso konsequenter wird es freilich auch eventuelle nichtintegrierbare Probleme oder Störungen der Textkohärenz registrieren. Demgegenüber konzentriert sich die klassische Literarkritik mit ihrer methodischen Frage nach Dubletten, Spannungen, textlichen Unebenheiten etc. von vornherein auf mögliche Befunde von Inkohärenz, die in der Regel als Anzeichen diachroner Uneinheitlichkeit interpretiert werden. In der Praxis wird dabei freilich häufig übersehen, dass zwischen (synchroner) Kohärenz und (diachroner) Einheitlichkeit bzw. zwischen Inkohärenz und Uneinheitlichkeit keine eindeutigen Relationen bestehen. 31 Denn zum einen steht nicht jede Inkohärenz in ursächlichem Zusammenhang mit diachroner Uneinheitlichkeit, vielmehr kann sie im Einzelfall auch (a) zu nicht als abweichend empfundenen (elliptischen etc.) Formulierungen gehören, (b) zu abweichenden, aber geduldeten Textstörungen oder (c) zu intendier ten Mitteln der (einheitlichen) Textgestaltung. Zum anderen sind diachron uneinheitliche Texte häufig ohne methodisch erhebbare Kohärenzstörungen gebildet.
Die gegensätzliche Heuristik der Frageperspektiven liegt jedenfalls auf der Hand: Literarkritische Untersuchungen sind methodisch auf Spuren von Uneinheitlichkeit ausgerichtet. Gewiss geht es dabei implizit auch um Aspekte und | Möglichkeiten der Kohärenz. Systematisch ist dies jedoch erst bei der
29 Mit „Textebenen“ sind hier einerseits Syntax, Semantik und Pragmatik gemeint, andererseits die Oberflächenstrukturen und Tiefenstrukturen der Texte. 30 Darauf konzentrieren sich (u.a.) die – in ihrem exegetischen Ertrag oft begrenzten – „sprachlichen Analysen“ (z.B. FOHRER , Exegese [Anm. 26], §6) bzw. die „Textanalyse“ (UTZSCHNEIDER /NITSCHE , Arbeitsbuch [Anm. 10], §4). 31 Vgl. dazu und zur terminologischen Differenzierung zwischen synchroner „(In)Ko härenz“ und diachroner „(Un)Einheitlichkeit“ UTZSCHNEIDER/NITSCHE, Arbeitsbuch (Anm. 10), 229f.
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synthetischen Rekonstruktion der Diachronie der Fall. Da es sich hier vorrangig um Neuarrangements „kohärenter“ Zusammenhänge aus Textteilen bzw. -bruchstücken handelt, bei denen der Eigenkreativität der Exegeten Tor und Tür geöffnet ist, steigt aber die Wahrscheinlichkeit fiktiver „Vorstufenrekonstruktionen“ in dem Maße, in dem die vorgängige Textwahrnehmung methodisch enggeführt worden ist. Synchrone Untersuchungen (gegebener oder rekonstruierter Texte!) demgegenüber sind ihrem methodischen Gefälle nach darauf ausgerichtet, die Einzelelemente exhaustiv und kohärent vom Ganzen her (und umgekehrt) zu lesen. Nachdrücklich betrieben, werden hierbei gerade widerständige, schwierige Elemente zum (wiederholten) Ansporn, nicht den Text, sondern seine Lesung zu korrigieren und neu zu „organisieren“. Freilich stehen auch synchrone Lesungen – nicht weniger als diachrone! 32 – in der Gefahr, der Neigung zu Eigenbildungen zu erliegen; diese präsentieren sich in Gestalt „synthetischer“ Sinnstiftungen, die in der exegetischen Entdeckerfreude leicht mit Harmonisierungen, Überhöhungen oder schlicht „Fortdeutungen“ einhergehen können. Sie bedürfen deshalb der methodischen Kontrolle, sowohl mit Hilfe des texttheoretischen und literaturwissenschaftlichen Instrumentariums als auch insbesondere durch die komplementären Fragehinsichten der Diachronie. 28 Abgesehen von der erneut evident gewordenen Notwendigkeit einer bewussten, reflektierten Verbindung synchroner und diachroner Zugänge bedeuten die skizzierten heuristischen Profile, dass mit der ersten methodengeleiteten Textwahrnehmung erhebliche Weichenstellungen verbunden sein können. Gerade für eine historische, auf den „Eigensinn“ der Texte gerichtete Exegese müsste sich von daher die methodische Priorität einer synchronen Wahrnehmung, die sich vorbehaltlos und nachhaltig auf den (wie auch immer) gegebenen Text einlässt, von selbst verstehen – sollte man meinen. Freilich ist diese methodische Priorität der synchronen Fragehinsicht nach dem Vorstehenden nicht im Sinne eines starren Abfolgeschemas zu verstehen, sondern als methodische Positionierung innerhalb eines komplexen Prozesses der Urteilsbildung, der sich idealiter nach der Art eines wiederholt durchlaufenen Regelkreises vollzieht. Textanalysen, welche diese korrektive Interdependenz der synchronen und diachronen Textwahrnehmungen an der einen oder anderen Stelle beschneiden, bleiben unter dem gegenwärtig gebotenen Standard wissenschaftlicher Exegese.
32 Ein Unterschied bleibt insofern, als Vorstufenrekonstruktionen eine zweifache Textbildung implizieren: als materiale Neudefinition und als synchrone Sinnstiftung. Freilich setzen auch manche „rein synchronen“ Endtextinterpretationen de facto eigene Textabgrenzungen voraus.
„Formgeschichte“ – ein irreführender Begriff* Wissenschaftliche Forschung lebt von klaren Distinktionen. Der Begriff der „Formgeschichte“, wie er in der biblischen Exegese geprägt wurde, ist nicht nur für sich genommen mehrdeutig, sondern wird für so unterschiedliche Fragestellungen und Größen gebraucht, dass man von einem „unklaren Sammelbegriff“1 gesprochen hat. Nun gibt es bereits Versuche, seine Bedeutung in der einen oder anderen Richtung definitorisch einzugrenzen. Man kann jedoch auch fundamentaler fragen, wie es überhaupt um die Notwendigkeit dieses Terminus steht, mit anderen Worten, ob es wirklich proprietäre exegetische Fragehinsichten gibt, die nicht anders als mit „Formgeschichte“ angemessen zu benennen wären. Sollten sich solche genuin „formgeschichtlichen“ Zugänge nicht eindeutig bestimmen lassen, wäre zu prüfen, ob der Terminus nicht besser ganz aufgegeben würde. Dieser elementaren Fragestellung soll in der folgenden Skizze unter Aspekten, die auch bisher schon unter dem Etikett „Formgeschichte“ impliziert oder diskutiert worden sind, nachgegangen werden. Es handelt sich um die Oppositionen bzw. Zuordnungen von Form und Gattung, Form und Geschichte, Form und Inhalt sowie Form und Ästhetik.
1. Form und Gattung Hermann Gunkel, der als Begründer der Formgeschichte in Anspruch genommen wird, hat bekanntlich selbst diesen Begriff weder geprägt noch benutzt. Ihm ging es nicht um „Formen“ und deren Geschichte, sondern um das Programm einer „Literaturgeschichte“, die „nach ‚Gattungen‘ den Stoff ordnet“2. In der Begründung einer methodischen Gattungsforschung besteht denn auch einer der bleibenden Beiträge Gunkels zur biblischen Exegese. * Eine englische Fassung dieses Beitrags ist in M.A. SWEENEY / E. BEN ZVI (Hg.), The Changing Face of Form Criticism for the Twenty-First Century, Grand Rapids 2003, 32– 45, erschienen. 1 So K. B ERGER , Einführung in die Formgeschichte (UTB 1444), Tübingen 1987, 27. 2 So Gunkel in einem Brief an Adolf Jülicher (1925), in dem er sich ausdrücklich von Sprachgebrauch und Fragestellung seiner neutestamentlichen „Schüler“ wie Martin Dibelius abgrenzt: „Besonders unangenehm ist mir das Wort ,formgeschichtlich‘ …“
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Formgeschichte – ein irreführender Begriff
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Bei der Frage „Form(en) oder Gattung“ stehen nun nicht einfach nur terminologische Vorlieben zur Debatte. Wäre es so, dann ließe sich der Streit leicht durch einen synonymen Gebrauch von „Form“ und „Gattung“ beilegen. Auf den ersten Blick eine bequeme Lösung, würde eine solche Gleichsetzung jedoch sachlich notwendige kategoriale Differenzierungen unnötig erschweren oder gar unmöglich machen. So ist ein synonymer Gebrauch von „Form“ und „Gattung“ allein schon deshalb wenig sinnvoll, weil Gattungen – wie wiederum bereits Gunkel 3 betont hat – nicht ausschließlich und nicht einmal primär durch Formmerkmale zu definieren sind – es sei denn, man definiert „Form“ in einem recht weiten Sinne (dazu unten 3.). Darüber hinaus drohte damit unversehens eine schlechthin elementare Un|terscheidung verloren zu gehen: die Unterscheidung zwischen dem konkreten, individuellen Einzeltext und dem abstrakten, überindividuellen Textbildungsmuster, das wir mit dem Begriff „Gattung“ bezeichnen. 85–86 Auch wenn die Differenz zwischen (typischer „Form“ einer) Gattung und (individueller „Form“ eines) Einzeltext(es) letztlich immer selbstverständlich gewesen sein mag, wurde sie doch durch Terminologie und methodische Praxis häufig eingeebnet. Es ist deshalb ein Verdienst von Wolfgang Richter, in seinem großangelegten methodologischen Entwurf von 1971 auf dieser Unterscheidung konsequent insistiert zu haben, indem er zwischen einer auf die Beschreibung des Einzeltexts in seiner individuellen Gestalt ausgerichteten „Formkritik“ und der „Gattungskritik“, die im analytischen Vergleich voneinander unabhängiger Einzeltexte dieses vorgegebene „Strukturmuster“ zu eruieren sucht, differenzierte. 4 Eine weiterführende und im Bereich der Exegese die bislang wohl fundierteste Definition des Gattungsbegriffs hat sodann Christof Hardmeier (1978) vorgelegt.5 Danach können Gattungen
(H. ROLLMANN, Zwei Briefe Hermann Gunkels an Adolf Jülicher zur religionsgeschichtlichen und formgeschichtlichen Methode, ZThK 78 [1981] 276–288, darin 283; das Zitat im Haupttext 284). 3 Gunkel (bei ROLLMANN , Briefe [Anm. 2], 284): „Es handelt sich dabei [scil. bei der Untersuchung der Gattungen] also nicht vorwiegend, geschweige denn allein um ‚Formen‘ …“ 4 W. RICHTER , Exegese als Literaturwissenschaft. Entwurf einer alttestamentlichen Literaturtheorie und Methodologie, Göttingen 1971. Richter ging es hier um eine bewusste Korrektur eingefahrener „Methodik“; vgl. a.a.O., 46: „Die Vermischung von Einzeltext (Form) und Typentext (Gattung) und den entsprechenden inhaltlichen Größen hat verheerende Folgen in der Forschungsgeschichte gezeitigt, die bis heute noch nicht ausgeräumt sind.“ 5 Dabei nimmt C. H ARDMEIER , Texttheorie und Exegese. Zur rhetorischen Exegese der Trauermetaphorik in der Prophetie (BEvTh 79), München 1978, konsequent neuere Ansätze der Literaturwissenschaft auf, unter anderem K.W. HEMPFER , Gattungstheorie. Information und Synthese (UTB 133), München 1973. Hardmeiers grundlegende Arbeit wurde freilich selbst in der deutschsprachigen Exegese bisher nur partiell rezipiert. Bezeichnend
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als überindividuelle Textbildungsmuster bestimmt werden. Solche „Muster“ sind als (bewusst oder unbewusst erlernter) Teil einer kulturell bestimmten kommunikativen Kompetenz den einzelnen Autoren vorgegeben – in einer gewissen Analogie zur generellen Sprachkompetenz. Wiederum in Analogie zu grammatischen Sprachregeln können diese Strukturmuster nur aus dem Vergleich konkreter Einzeltexte in analytischer Abstraktion erschlossen werden.6 Ein Großteil der Gattungsmuster ist des Näheren als semantisch und/oder pragmatisch geprägte „Texttiefenstruktur“ zu definieren. 7 Gattungen, vor allem poetische, können aber auch teilweise oder ganz durch Muster der Textoberflächenstrukturen definiert sein. 8 86–87 Insoweit Elemente der Textoberflächenstruktur (mit) konstitutiv sind für die Gattungsstruktur, kann man von einem bestimmten „Gattungsstil“ sprechen. Von den gattungstypischen Stilelementen zu unterscheiden ist wiederum die individuelle Stilisierung der konkreten Gattungsexemplare als rhetorische, ästhetische o.a. Gestaltungsmittel. Zu Letzteren kann | u.a. auch die „uneigentliche“, metaphorische bzw. rhetorische Applikation „fremder“ Gattungsmerkmale gehören. Alttestamentliche Beispiele dafür wären die Stilisierung prophetischer Gerichtsworte mit Elementen der Totenklage 9 oder die Gestaltung des Gerichtsworts in Jes 5,1–7 mit Elementen eines Liebesliedes bzw. mit der Präsentation eines Rechtsfalls – offensichtlich als Aspekte einer bewussten rhetorischen Strategie. 10 In der Begrifflichkeit von dafür erscheint, dass sie etwa in dem umfangreichen Artikel „Formgeschichte/Formenkritik“ in der Theologischen Realenzyklopädie zwar im Literaturverzeichnis aufgeführt ist, sachlich jedoch gänzlich unberücksichtigt bleibt. 6 In diesem Sinne konstatiert H EMPFER , Gattungstheorie (Anm. 5), „dass die ‚Gattungen‘ zwar beobachtbare Phänomene sprachlicher Kommunikation darstellen, dass sie aber nicht in der gleichen Weise vorgegeben sind wie etwa bestimmte historische Ereignisse. Als mehr oder weniger interiorisierte Normen, die bei der aktualen Realisierung von Texten konstitutive Funktion haben, sind ‚Gattungen‘ für den Analysator immer nur in diesen individuellen Textmanifestationen greifbar“ (a.a.O., 128, zitiert bei H ARDMEIER , Texttheorie [Anm. 5], 261). Vgl. ganz in diesem Sinne aber auch schon RICHTER, Exegese (Anm. 4), 132: „‚Gattung‘ ist ferner Begriff für eine ‚ideale‘ und ‚typische‘ Form, wie sie in der Realität nicht existiert; sie wird gewonnen durch den Vorgang der Auswahl (Abstraktion), die einige Merkmale einer Form für charakteristisch hält, von anderen aber absieht. ‚Gattung‘ ist also ein theoretisches Ergebnis der Wissenschaft; in der konkreten Literatur existieren nur die Formen. Sie ist aber nicht reines Theorem. Denn wenn verwandte Formen unabhängig voneinander existiert haben, muß man erschließen, daß ein gewisses Strukturmuster den einzelnen Formen vorausgelegen hat, das eine bestimmte Anzahl von Strukturregeln umfasst.“ 7 H ARDMEIER , Texttheorie (Anm. 5), 260. 8 Man denke z.B. an das Sonett mit seiner spezifischen Strophen- und Reimstruktur. Diese Möglichkeit scheint im Übrigen bei Hardmeier nicht berücksichtigt zu sein. 9 Dazu wiederum H ARDMEIER , Texttheorie (Anm. 5), passim. 10 Eine Verwechslung von Stilisierung des Einzeltextes (mit Hilfe „entliehener“ Gattungselemente) und dessen Gattungszugehörigkeit liegt vor, wenn J. B ARTON, Art. Form
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Wolfgang Richter formuliert kommt dabei die Differenzierung von Form und Gattung zum Tragen. Erst wenn dieses Discrimen konsequent beachtet wird, kann die Frage nach der Gattung ihr wichtiges Potenzial für eine profilierte Interpretation der Einzeltexte entfalten. Damit soll die Gattungsforschung jedoch keineswegs auf den Horizont der Einzeltextexegese verengt werden. Vielmehr erscheint eine möglichst breite Erarbeitung des Spektrums der Gattungen insbesondere da unerlässlich, wo es darum geht, die sprachlich vermittelte Welterschließung eines bestimmten kulturellen Raums zu untersuchen. Alle diese Fragehinsichten teilt biblische Exegese aber mit sonstigen Literatur- bzw. Textwissenschaften; einer proprietären „Formgeschichte“ bedarf es dabei nicht. 87 Nun hat Hermann Gunkel freilich seinerseits mit der Frage nach dem „Sitz im Leben“ der Gattungen (!) einen wohl originären, jedenfalls eminent bedeutsamen Problemhorizont in die Forschung eingeführt. 11 In neueren Kategorien formuliert geht es dabei um die textpragmatische Dimension von Gattungen, näherhin um ihren Charakter als Sprachhandlungsmuster, die auf typische Interaktionen ausgerichtet sind, in einem weiteren Sinne um die lebensweltliche Verortung typischer Sprachhandlungen. Begrifflich ist auch in dieser Hinsicht die elementare Unterscheidung von konkretem Einzeltext und abstraktem Textbildungsmuster durchzuhalten: „Sitz im Leben“ als Bezeichnung der typischen Kommunikationssituationen von Gattungen sollte – gegen einen verbreiteten, aber gedankenlosen Sprachgebrauch – nicht auf individuelle Kommunikations- bzw. Rezeptionssituationen von Einzeltexten bezogen werden.12 Allerdings gibt es daneben so etwas wie eine „dritte Kategorie“, nämlich typische Kommunikationssituationen bestimmter Einzeltexte, die in typischen Interaktionskonstellationen rekurrent gebraucht werden. Dazu gehört etwa die formularartige Verwendung konkreter Psalmtexte in spezifischen rituellen oder lebensweltlichen Zusammenhängen. Es mag gerechtfertigt erscheinen, auch in derartigen Fällen von „Sitz im Leben“ (in einem abgeleiteten Sinne) zu sprechen. |
Criticism (OT), AncBD 2, New York 1992, 838–841, darin 839, Jes 5 als Beispiel dafür nennt, „that one genre is often embedded in another“: „In the example from Isaiah, a poem in the form of a love song is set within the larger context of a collection of oracles …“ 11 In der allgemeinen Literaturwissenschaft wird denn auch verschiedentlich der Gunkelsche „Sitz im Leben“ in seinem Sachgehalt und als Terminus rezipiert. 12 Vgl. dazu die Klarstellung bei M.J. BUSS, Biblical Form Criticism in its Context (JSOT.S 274), Sheffield 1999, 234: „The term Sitz im Leben, as it was employed by Gunkel, refers to the home … of a genre, not to the context of a particular text“. Ebd., Anm. 78, verweist Buss auf prominente Beispiele für einen abweichenden Sprachgebrauch in der exegetischen Literatur, darunter auch bei K. KOCH, Was ist Formgeschichte? Neue Wege der Bibelexegese, Neukirchen-Vluyn 1964, 19895.
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2. Form und Geschichte Die ebenso rasche wie komplette Durchsetzung des Begriffs „Formgeschichte“ bzw. „formgeschichtliche Methode“ in der Forschung „nach Gunkel“ mag geradezu phänomenal erscheinen; sie lässt sich jedoch wohl damit erklären, dass der Begriff eine grundsätzliche sachliche und methodische Verschiebung gegenüber der Fragestellung Gunkels beförderte, eine Verschiebung, die ihren besonderen Reiz darin hatte, dass sie bislang unzugängliche Bereiche der Welt der biblischen Literatur zu erschließen schien. Dafür erwiesen sich die beiden Teilkomponenten des Begriffs, nämlich „Form“ und „Geschichte“, in gleicher Weise einschlägig. Die Verschiebung war zumindest den Hauptprotagonisten (zuvorderst Neutestamentler!) zu Anfang noch durchaus bewusst. Dies wird etwa deutlich in programmatischen Formulierungen von Rudolf Bultmann (1931):88 „Mit M. Dibelius bin ich ganz darin einig, daß die formgeschichtliche Arbeit weder in einem ästhetischen Betrachten, noch in einem deskribierenden und klassifizierenden Verfahren besteht; also nicht darin, daß man die einzelnen Stücke der Überlieferung nach ästhetischen oder anderen Merkmalen einfach beschreibt und in bestimmte Gattungen einordnet. Vielmehr ist es die Aufgabe, ‚Entstehung und Geschichte dieser Einzelstücke zu rekonstruieren, somit die Geschichte der vorliterarischen Überlieferung aufzuhellen‘.“13
Hier ist in aller Deutlichkeit festgehalten: Es geht den Gründervätern der „Formgeschichte“ weniger um die Gattungen als um die Einzeltexte, deren formtypische Analyse dazu dienen soll, ihre Vorgeschichte in den mündlichen Anfängen zu erschließen. „Formgeschichte“ wird damit nahezu synonym mit „mündliche Überlieferungsgeschichte“! 14 Der Bezug zu Gunkels Arbeiten war vorderhand damit gegeben, dass Gunkel mit seiner Gattungsforschung, insbesondere auch mit seinem Konzept vom „Sitz im Leben“, einen methodischen Zugang zur Überlieferungsgeschichte vorliterarischer Kleinliteratur eröffnet zu haben schien. Näher besehen handelt es sich bei dem Programm der Gunkel-Schüler freilich tendenziell um eine verengende Instrumentalisierung des gattungskritischen Ansatzes für bestimmte diachrone
13 R. B ULTMANN , Die Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 1931 2, 4. Als Quelle des Dibeliuszitats gibt Bultmann an: Theologische Rundschau NF 1 (1929) 187. Berger macht mit Recht darauf aufmerksam, dass Bultmann im Übrigen den Terminus „formgeschichtlich“ weitgehend und „Formgeschichte“ völlig vermeidet und statt dessen von „Geschichte der Tradition“ spricht: „M. Dibelius dagegen bezeichnet genau das, was Bultmann ‚Traditionsgeschichte‘ nennt, als Formgeschichte.“ (B ERGER , Einführung [Anm. 1], 20). 14 Vgl. als Reflex dazu auch noch die Feststellung bei B ARTON, Form Criticism (Anm. 10), 839: „Form criticism is no longer in the center of interest in OT studies, as REDACTION CRITICISM and literary approaches … have focused on the finished form of the text, rather than on preliterary stages of the text’s growth.“
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Fragehorizonte, und eben dafür steht das Etikett „Formgeschichte“. 15 Diese Engführung, welche die innerdisziplinäre Selbstverständigung auf Generationen prägen sollte, betrifft mehrere und methodologisch durchaus verschiedene Ebenen: Sie zeigt sich erstens in der sachlich durch nichts begründeten Beschränkung auf kleine Einheiten | mündlicher Überlieferung.16 Zweitens und noch grundsätzlicher zeigt sich die Engführung in einer reduktionistischen Zuordnung von Form-/Gattungsanalyse und Diachronie der Einzeltexte,17 und dies in doppelter, komplementärer Hinsicht: (a) Auf der einen Seite werden gattungskritische und gattungsgeschichtliche Fragehorizonte dem der Überlieferungsgeschichte instrumentalisierend unterstellt. 18 In gewisser Weise ist dies verständlich, da beide Fragestellungen durchaus in einer engen heuristischen und methodischen Interdependenz zueinander stehen können. Zugleich darf aber diese Interdependenz nicht verdecken, dass Gattungsforschung ihren eigenen Erkenntnishorizont hat und nicht per se auf textgenetische Probleme ausgerichtet ist. (b) Auf der anderen Seite wird dabei auch die methodische Komplexität diachroner Rekonstruktionen reduziert, insofern Gattungsbeobachtungen darin zwar eine wichtige Rolle spielen können, dies aber in der Regel nicht allein, sondern in einem ganzen Bündel kompositioneller Befunde und historischer Überlegungen. 88–89 Schließlich zeigt sich eine weitere Engführung da, wo die Rede von „Formgeschichte“ z.T. die Konsequenz, z.T. die Voraussetzung für eine Konzentration auf die Ausdrucksseite der Texte (die „Textoberflächenstruktur“) als vermeintlich zuverlässigen Schlüssel für deren Vorgeschichte bildet (dazu unten 3.). 15 Gunkel selbst hat diese μετάβασις εἰς ἄλλο γένος offenbar genau gesehen, wenn er den Terminus „formgeschichtlich“ für seine eigene Arbeit ablehnte und zugleich tentativ den Neutestamentlern die Erarbeitung der „Formgesetze“ authentischer Jesuslogien (mithin nicht von überindividuellen Gattungen!) in Abgrenzung von solchen, die „vom hellenistischen Geschmack mehr oder wenig bestimmt werden“, empfahl. „Solche Beobachtungen aber würden dann allerdings eine neue, wesentlich ‚formgeschichtliche Methode‘ beginnen.“ (bei ROLLMANN, Briefe [Anm. 2], 285). 16 Vgl. dazu bspw. noch die grundsätzlichen Ausführungen bei F. H AHN, Die Formgeschichte des Evangeliums (WdF 81), Darmstadt 1985 (Vorwort, VII–XI). Bultmann selbst war hier Anfang der 30er Jahre im Grunde schon weiter, wenn er mit Verweis auf Jacob Burckhardts „Weltgeschichtliche Betrachtungen“ anmerkt: „Es zeigt sich dabei, daß diese Betrachtungsweise keineswegs nur für sog. ‚Kleinliteratur‘ gültig ist.“ (B ULTMANN, Geschichte [Anm. 13], 5, Anm. 1). 17 Für die kritische Diskussion einiger Axiome, die dabei eine Rolle spielten, vgl. BUSS, Form Criticism (Anm. 12), 358ff. (auch wenn Buss’ Analyse hier – etwa in manchen zeitgeschichtlichen Herleitungen – nicht in jeder Hinsicht überzeugt). 18 Dazu wiederum treffend B USS, Form Criticism (Anm. 12), 308: „the term referred to an attempt to treat formal observations as means to answer diachronic questions“. Zur Notwendigkeit der Unterscheidung von Gattungsgeschichte, Überlieferungsgeschichte und Kompositionskritik vgl. schon BERGER, Einführung (Anm. 1), 19–27.
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Wenn der Begriff der „Formgeschichte“ je einen proprietären Sinn hatte, dann wohl in dem skizzierten Verständnis, das man mit „ein auf Formbeobachtungen gestütztes Verfahren zur Erarbeitung der vorliterarischen Überlieferung kleiner Einheiten“ paraphrasieren könnte. 19 Biblischer Exegese mochte ein derartiges Verfahren verheißungsvoll erscheinen, bot es doch vermeintlich methodische Auswege aus einer Grundaporie der Disziplin: der garstigen Diastase zwischen ihrem hohen Erklärungsanspruch und der defizienten Datenbasis, in diesem Falle bei der Erhellung der schwer zugänglichen, und doch so lockenden mündlichen Vorgeschichte der Texte. In Wahrheit beruhte die dergestalt entwickelte „Methode“ auf einem verkürzenden Amalgam aus Elementen eigenständiger Fragestellungen. Mit gehörigem Augenmaß praktiziert mochten dabei durchaus tragfähige Resultate herauskommen, dann aber gegen die Eigendynamik der im Ansatz unzulänglich konstruierten „Methode“. 89–90
3. Form und Inhalt Auch unter der Voraussetzung einer begrifflichen Unterscheidung von „Form“ und „Gattung“ (s. oben unter 1.) gibt der Begriff der „Form“, wie er von „Formgeschichtlern“ gebraucht wird, erhebliche Definitionsprobleme auf. Nun kann und soll dem einschlägigen Sprach|gebrauch hier nicht forschungsgeschichtlich nachgegangen werden. Einigermaßen repräsentativ dürfte in dieser Hinsicht jedoch die Position von Wolfgang Richter sein, dessen Darlegungen zum Thema überdies den eminenten Vorteil haben, dass sie zum einen um klare Definitionen bemüht und zum anderen in der Begrifflichkeit neuerer Sprachwissenschaft formuliert sind. Deshalb wollen wir das Sachproblem in Auseinandersetzung mit Richter erörtern. Richter definiert „Form“ als Oppositionsbegriff zu „Inhalt“. 20 Des Näheren scheint er unter „Form“ „die sprachliche Ausdrucksseite“ einer literarischen Einheit zu verstehen.21 Für seine exegetische Methodik ist zunächst
19 Zumindest für die deutschsprachige protestantische Forschung um die Mitte des 20. Jahrhunderts dürfte damit das dominante Verständnis getroffen sein. 20 RICHTER , Exegese (Anm. 4), 75ff. In dem (mit Richters Arbeit nahezu gleichzeitigen) linguistischen Klassiker J. LYONS, Introduction to Theoretical Linguistics, Cambridge 1968, dominiert die Opposition „form :: meaning“; Lyons spricht aber auch von „expression“ als Oppositionsbegriff zu „content“ (a.a.O., 53f.). 21 Vgl. RICHTER, Exegese (Anm. 4), 78. Meine Formulierung im Potentialis ist darin begründet, dass Richter hier zunächst von „der Sprache“ und ihrer Ausdrucksseite spricht und die damit verbundenen Kategorien auf Texteinheiten überträgt. Dabei b leibt allerdings z.B. ungeklärt, ob „Form“ ein Synonym für „Ausdrucksseite“ sein soll oder mit deren Gestaltung gleichzusetzen ist.
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die Unterscheidung von „äußerer Form“ und „innerer Form“ grundlegend. 22 Davon scheint die „äußere Form“ in der Tat weitgehend auf die sprachliche Ausdrucksseite der Texte beschränkt zu sein, sofern man ihr neben syntaktischen Konfigurationen auf der Satzebene etwa auch semantisch definierte Wortklassenkategorien zuordnet. 23 90–91 Dagegen wird bei der Beschreibung der „inneren Form“ die definitorisch vorgegebene Opposition zur Inhaltsseite der Texte de facto (und in der Sache m.E. notwendig) aufgegeben. Der Programmatik nach soll neben der Ausdrucksseite auf Wort-, Satz- und Textebene zwar nur die sprachwissenschaftlich erhobene Bedeutungsseite von Lexemen, Wortklassen etc. ausgewertet werden, ohne „den Inhalt schon ins Auge zu fassen“24, doch geschieht in den verschiedenen exemplarischen Durchführungen genau dies. So listet Richter als Beispiel für Aspekte der „inneren Form“ zwanzig Möglichkeiten der Funktionen von direkten Reden bzw. bestimmter Wortklassen innerhalb einer Einheit auf.25 Näher besehen implizieren jedoch die meisten dieser Möglichkeiten ein inhaltliches Verständnis des jeweiligen Textes, ausgenommen vielleicht drei Fälle (Nr. 2, 9, 19). Zwar abstrahiert die Beschreibung weitgehend von den individuellen Zügen der Handlung oder der ausgesagten Sachverhalte und hebt auf grundsätzliche Struktur- und Zeitbezüge zwischen Reden und Handlungen ab, doch ist entscheidend, dass auch solche Strukturbezüge sich aus der Ausdrucksseite der Texte allein gerade nicht ableiten lassen, sondern eine inhaltliche Deutung des individuellen Textes zur Voraussetzung haben. Dies gilt etwa für Richters Fall Nr. 3: „Die Rede trägt zurückliegende Nebenzüge nach“ oder Nr. 4: „Die Rede steht am Ende als Begründung einer Handlung oder eines Vorgangs“ oder Nr. 8: „Handlungsverben lösen die Einsträngigkeit durch Rückgriffe auf Zurückl iegendes auf“ oder Nr. 12: „Per|sonennamen spielen nur eine indirekte Rolle oder fehlen ganz“ oder Nr. 16: „Jahwe/Elohim ist in Handlung und Rede verflochten“ oder Nr. 18: „Ortsnamen entfalten eine Bewegung in der Einheit“. 91
Nicht weniger aufschlussreich sind die an ausgewählten Textabschnitten demonstrierten „Beispiele für Formen“ 26: Der vorausgesetzten Definition von 22 Ich übergehe für unseren Zusammenhang Richters Kategorie der „ornamentalen Form“, von der die „strukturale Form“ unterschieden wird, welche wiederum in „äußere und innere Form“ differenziert wird. 23 Problematisch erscheint mir in dieser Hinsicht aber bereits die der äußeren Form zugeordnete Beschreibung der innertextuellen Verweiszusammenhänge durch nominale oder pronominale Aufnahmen etc. (vgl. das Paradigma R ICHTER, a.a.O., 85ff.), schließlich ist der Vollzug solcher Konnexionen wesentlich durch das inhaltliche Verständnis bestimmt. Als ein Extrembeispiel hierfür im Alten Testament sei nur an Ex 4,24–27 erinnert. 24 R ICHTER , a.a.O., 92. 25 R ICHTER , a.a.O., 92ff. 26 R ICHTER, a.a.O., 104ff. Vorgestellt werden neun Textbeispiele, darunter Ri 3,15–28; Ex 3,1ab.2b–4ab.5.6cd; 1 Sam 9,1–10,16*; Ri 6,11c–17; Spr 23,10f.; 1 Kön 4,2–6.
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„Form“ entsprechen Teile der dargebotenen Aufbauschemata, freilich nicht so wichtige Unterscheidungen wie „Exposition – Korpus – Schluß“ oder die Einteilung in verschiedene Szenen; denn weder das eine noch das andere ist allein oder auch nur primär durch eine Beschreibung der sprachlichen Ausdrucksseite der Einheit zu erschließen. Erst recht gilt dies für Richters explizierende Beschreibungen der „inneren Form“, die substanziell inhaltsbezogen sind.27 Mehr noch, man muss bezweifeln, dass ohne die auf inhaltlichem Verstehen beruhenden Beschreibungen überhaupt Profilierungen von einigem exegetischen Interesse möglich wären. Mit anderen Worten: der Nachweis, dass eine strikt auf die Ausdrucksgestalt beschränkte Analyse (ohne Berücksichtigung der Textsemantik!) „das Ziel, nämlich die Aussage oder die Intention der Einheit“, oder eine diachron signifikante Struktur erarbeiten kann, wäre noch zu erbringen. Auch gattungsspezifische Strukturen dürften sich bei dieser Fragestellung auf wenige Sonderfälle beschränken (dazu gleich).28 In der großen Mehrheit bieten Richters Beispiele für seine „innere Form“ näher besehen Beschreibungen von „Inhaltsstrukturen“ bestimmter Texteinheiten. Für die uns interessierende terminologische Frage ergibt sich daraus folgende Alternative: Entweder die definitorische Beschränkung von „Form“ auf die Ausdrucksseite wird beibehalten, dann hat eine Formanalyse freilich bei Aspekten der sog. „äußeren Form“ stehen zu bleiben. Oder „Form“ schließt auch die Inhaltstruktur eines Textes ein, dann ist jedoch die Opposition „Form :: Inhalt“ aufgegeben. Orientiert man sich am allgemeinen Sprachgebrauch und am möglichen exegetischen Ertrag, legt sich ein weiter gefasster Begriff von „Form“ nahe, der sowohl auf die Ausdrucksgestalt eines Textes als auch seine Inhaltsstruktur bezogen werden kann. „Form“ bildet dann ein Synonym zu „Gestalt“ oder „Struktur“.29 „Formanalyse“ wird ein Wechselbegriff zu „Strukturanalyse“, ohne eine Opposition zu „Inhaltsanalyse“ zu implizieren. Aufschlussreich für die Problematik der Definition von „Form“ als Gegenbegriff zu „Inhalt“ sind schließlich die Debatten um Kriterien der Gattungsbestimmung und deren praktischer Vollzug. 91
27 Die Ausführung des ersten Beispiels (Ri 3,15–18) ist schon ab dem zweiten Satz inhaltlich bestimmt: „Die Exposition ist durch einen einleitenden Nominalsatz bestimmt, der Ehud in einer Formel einführt. Sie enthält in Umstandssätzen zwei besondere Merkmale der Hauptpersonen, die beim Höhepunkt zusammentreffen …“ (R ICHTER , a.a.O., 104). 28 Vgl. Anm. 8; hier wären möglicherweise auch aufzählende Gattungen wie Listen etc. zu nennen. 29 So ja auch (wenn auch unter vorgeblicher Ausblendung des Inhalts) Richter, nach dem „die Analyse der ‚äußeren‘ und ‚inneren‘ Form … einen Einblick in die Struktur der Einheit“ ergibt (RICHTER, a.a.O., 114).
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Hermann Gunkel selbst vertrat dazu noch einen differenzierten und – wie sich zeigen wird – wegweisenden Ansatz, auch wenn seine Begrifflichkeit nach heutigen Standards eher locker gehalten war. So konnte er formulieren: „‚Gattungen‘ stelle ich fest a) nach dem gemeinsamen Schatz von Gedanken u[nd] Stimmungen, b) nach dem gleichen Sitz im Leben, c) nach gleichbleibenden Ausdrucksformen. Diese Betrachtungen beziehen sich auf alle Gebiete des | AT, nicht nur auf die Erzählungen u[nd] werden, je nach Beschaffenheit der Gattungen, sehr verschieden im einzeln[en] angewandt. Es handelt sich dabei also nicht vorwiegend, geschweige denn allein um ‚Formen‘ …“30
Bekanntlich lief der mainstream seit der Generation nach Gunkel just in die Richtung, gegen die in diesem Zitat argumentiert wird. Dabei mag man zwei Hauptlinien unterscheiden. In der einen werden lediglich die Gewichte verschoben, d.h. die Formkriterien für Gattungen gestärkt und – dafür stehen insbesondere Albrecht Alt und seine Schule – ein geradezu „zwangsmäßiger“ Zusammenhang von „Form bzw. Gattung“ und „Inhalt“ postuliert. So beruht der formgeschichtliche Ansatz nach Alt „auf der Einsicht, daß in jeder einzelnen Literaturgattung, solange sie ihr eigenes Leben führt, bestimmte Inhalte mit bestimmten Ausdrucksformen fest verbunden und daß diese charakteristischen Verbindungen … von jeher, also auch schon in der Frühzeit volksmäßiger mündlicher Gestaltung und Überlieferung vor aller Literatur, wesenhaft zusammengehörten, da sie den besonderen, regelmäßig wiederkehrenden Ereignissen und Bedürfnissen des Lebens entsprachen, aus denen die Gattungen je für sich erwuchsen“. 31
Da aber die „Ausdrucksformen“ als Aspekt der Textoberfläche sozusagen primär gegeben und kontrollierbar erscheinen, ist es nur zu verständlich, dass heuristisch-methodisch eben diesen Formaspekten zunehmend das Primat eingeräumt wurde. 91–92 Demgegenüber setzt sich Wolfgang Richter noch pointierter von solchen Positionen ab, die inhaltliche Merkmale einbeziehen 32 oder gar davon ausgehen,33 und postuliert als „allein zuverlässige[n] Ansatzpunkt … die Form, somit eine strukturierte Einheit“ 34. Dies liegt völlig in der Konsequenz seiner Definition von „Gattung“ als einer „die Einzelformen prägende(n)
30 Nach ROLLMANN , Briefe (Anm. 2), 284. Vgl. auch die Zitate bei H ARDMEIER , Texttheorie (Anm. 5), 259, Anm. 5. 31 A. ALT, Die Ursprünge des israelitischen Rechts (1934), in: DERS., Kleine Schriften I, München 1984, 278–332, darin 284, (zustimmend) zitiert bei KOCH, Formgeschichte (Anm. 12), 34. Zu der dabei implizierten Theorie des „Formzwangs“ (vgl. dazu etwa a.a.O., 5f.) kann hier auf die eingehende texttheoretische Kritik bei HARDMEIER , Texttheorie (Anm. 5), 258ff. und passim, verwiesen werden. 32 Vgl. RICHTER, Exegese (Anm. 4), 75 mit Anm. 8. 33 R ICHTER , a.a.O., 127ff. mit Anmerkungen. 34 R ICHTER , a.a.O., 125ff., das Zitat 131.
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Größe“, mit der die „Verwandtschaft von Formen trotz literarischer Unabhängigkeit“ erklärt werden kann. 35 Wenn unsere Kritik aber zutrifft, wonach Richter in seinen „formalen“ Strukturen, nicht allein die Ausdrucksseite berücksichtigt, sondern Inhaltsstrukturen (mit gewissen Eigentümlichkeiten des Ausdrucks) beschreibt, dann müsste dies auch für seine Gattungsstrukturen gelten. Tatsächlich ist dies bei den meisten seiner exemplarischen Gattungsbeschreibungen zu beobachten – völlig unabhängig von deren sachlicher Plausibilität im Einzelnen. 36 Und selbst bei auf den ersten Blick rein durch die syntaktische Struktur de|finierten Kleingattungen wie dem „kasuistischen Rechtssatz“ reichen Satzstruktur, Verbformen etc. als Merkmale nicht hin.37 92–93 Ein kurzer Blick auf gängige und in der Forschung konsensfähige alttestamentliche Gattungen mag dies verdeutlichen: a) die „ätiologische Erzählung“: Wie will man sie anders als inhaltlich und pragmatisch definieren („eine Erzählung, die darauf zielt, eine oder mehrere Gegebenheiten in der Gegenwart von Erzähler und intendierten Rezipienten mit Vorgängen der Vergangenheit zu erklären“)? Formelhafte Elemente wie „bis auf den heutigen Tag …“ können verwendet werden, sind aber nicht obligatorisch. Entsprechendes dürfte für die meisten Erzählgattungen zutreffen, in jedem Fall für Grundkategorien wie „Sage“, 35 36
R ICHTER , a.a.O., 132. R ICHTER, a.a.O., 141ff. mit Versuchen, die Gattungen „Erzählung“ bzw. „konstruierte Erzählung“ zu bestimmen. Stellvertretend seien die Merkmale für eine der Untergattungen zitiert: „‚Prophetische Erzählungen‘ haben die Struktur von Erzählungen, nur mit dem Unterschied, dass die erste Rede die Handlung durch Aufforderung anstößt, die folgende Handlung deren Ausführung berichtet (1 Sam 9,1–10,16).“ (a.a.O., 143) – Eine in verschiedener Hinsicht merkwürdige Definition! Ein entsprechender Befund ergibt sich bei Berger, der in den Grundzügen Richters De finitionen folgt (vgl. BERGER, Einführung [Anm. 1], 28f.36). So ordnet Berger der Gattung „Epideixis/Demonstratio/Epiphaniebericht“ Texte mit folgenden Merkmalen zu: „1. Es geht um Erzählungen, in denen Gott oder (meistens) ein Repräsentant Gottes wichtig sind. 2. Erzählt wird eine staunenswerte Einzeltat oder eine Kette gleichartiger Taten. 3. Die Erzählung erfolgt aus der Perspektive der späteren Leser, da außer der Tat auch d ie Reaktion in Form von Staunen, Furcht, Entsetzen oder Lobpreis berichtet wird. Diese Reaktion steht jeweils nach dem göttlichen Eingreifen.“ Wie Berger ausführt, ist dieses Merkmalbündel durch Abstraktionen aus den konkreten Einzeltexten gewonnen. Solche – in der Tat unumgänglichen – „Abstraktionen“ machen die o.g. Merkmale aber noch nicht zu Charakteristika der Ausdrucksseite von Texten, vielmehr handelt es sich durchgehend um (partiell abstrahierte) Inhaltsangaben bzw. um einen Aspekt der Textpragmatik (Einbeziehung „der späteren Leser“). 37 Richters „formale“ Definition dafür lautet (RICHTER, Exegese [Anm. 4], 144): „Das Strukturmuster besteht aus einem bestimmten Konditionalsatzgefüge. Es ist immer in dritter Person Singular gehalten. Die Protasis mit kī oder ’im in bestimmter Folge weist Präfixkonjugation … auf, die Apodosis (meist ohne wa= angefügt) hat qatal-x oder x-yiqtol; in letzterem Fall ist x = Infinitiv absolutus.“ Auch davon abgesehen, dass letzteres Merkmal offenbar nicht obligatorisch ist (vgl. Ex 21,3.4.19.29), wären danach Satzgefüge wie in Gen 32,9; 1 Kön 12,27 (vgl. auch 1 Kön 1,52!) als kasuistische Rechtssätze einzustufen, was sie auf Grund von Inhalt und Kontext zweifellos nicht sind.
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„Märchen“, „Gleichnis“ etc. b) Das „begründete Unheilswort“: Bereits die unterschiedlichen Bezeichnungen für die beiden Hauptteile („Scheltwort – Drohwort“, „Anklage – Gerichtsankündung“, „Lagehinweis – Weissagung des Unheils“ etc.) belegen, dass die Strukturbeschreibung inhaltliche Deutungen einschließt; dies gilt überdies auch schon für den allgemein angenommenen Begründungszusammenhang zwischen Teil I und II. Die typischen Sender-Sprecher-Adressaten-Konstellationen führen darüber hinaus auf spezifische textpragmatische Konfigurationen. c) Selbst Gattungen mit formal scheinbar strengem Aufbau wie das sog. „Heilsorakel“ bei Deuterojesaja, dessen Struktur von Begrich und Westermann unter anderem auch an syntaktischen Merkmalen festgemacht wurde, sind in ihren Bauelementen wesentlich inhaltsbestimmt. Darüber hinaus ist in diesem Falle zu fragen, ob die relativ hohe Kongruenz des Aufbaus wirklich ein Gattungsmerkmal darstellt oder nicht eher autorenspezifisch ist. 38 Rein oder primär durch Elemente der Ausdrucksgestalt bestimmte Gattungen stellen in der alttestamentlichen Literatur ein Randphänomen dar; man könnte hier eventuell an akrostichische Psalmen oder Kehrversgedichte in prophetischer Literatur denken (sofern man darin wirklich Gattungen sehen möchte).39
Im kritischen Rückblick wird von daher deutlich, dass es am ehesten Gunkels Kriterien für Gattungsbestimmungen sind, die in ihrer Breite (und Unschärfe) zumindest so etwas wie das „Rohmaterial“ für eine sachgemäße Gattungsanalyse bereitstellen dürften. Sein Kriterium der „Gedanken und Stimmungen“ wäre dabei zu übertragen in die Kategorien „Inhaltsstruktur“ und „Mitteilungs- und Wirkabsicht“; der „Sitz im Leben“ wäre über Gunkel hinaus nicht allein auf den soziologischen Ort, sondern auf die darin eingebettete typische Kommunikationssituation zu beziehen. 40 Als drittes mögliches Kriterium bleiben Ausdruckskonstanten bzw. Gattungsstil. | 93–94
4. Form und Ästhetik 94 Ausgehend von einem weit gefassten Begriff der „Form“ (im Sinne von „Struktur“, „Gestalt“ etc.) mag man fragen, ob „Formgeschichte / form criticism“ in einem weiteren Sinne nicht (auch) solche Zugänge umfassen könnte, welche die ästhetisch-formale Gestalt der Texte zu beschreiben und zu interpretieren suchen. In forschungsgeschichtlicher Perspektive wäre dies jedoch zumindest eine Neudefinition, um nicht zu sagen eine Umdefinition von „Formgeschichte“. So verschieden „formgeschichtliche“ Fragestellungen auch sein mögen, waren sie doch generell eher an typischen Merkmalen interessiert und nicht an besonderen, an geprägten Sprach- und Textelementen und nicht an individuellen, an institutionellen Verortungen und nicht an 38 Diese Frage stellt sich insbesondere im Vergleich mit den neuassyrischen „prophetischen Heilsorakeln“; vgl. dazu z.B. das Material in M. WEIPPERT, Assyrische Prophetien in der Zeit Asarhaddons und Assurbanipals, in: F.M. FALES (Hg.), Assyrian Royal Inscriptions: New Horizons (Orientis Antiqui Collectio 17), Rom 1981, 71–111. 39 Vgl. Anm. 28. 40 Vgl. dazu die Kritik an Gunkel bei H ARDMEIER , Texttheorie (Anm. 5), 259, Anm. 5.
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spezifischen etc. Bekanntlich wurde bereits in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts die mitunter ausdrückliche Missachtung der individuellen, ästhetischen Gestaltung der Texte durch die „Formgeschichtler“ von Exegeten wie Meir Weiss41 und Luis Alonso Schökel42 als Defizit angemahnt, damals gegen den Strom der dominierenden Formgeschichte und mit der Alternative einer ganzheitlichen, gerade auf die Individualität und oft kunstvolle Gestalt biblischer Texte ausgerichteten Interpretation. Mit ähnlichen Anliegen sah James Muilenburg, um nur noch ein herausragendes Beispiel zu nennen, Ende der 60er Jahre in einer berühmten „Presidential Address“ die Notwendigkeit, über die „Formgeschichte“ hinaus (!) Fragestellungen eines „rhetorical criticism“ ins Spiel zu bringen. 43 Eine Ausdehnung des Begriffs der Formgeschichte gerade auf solche Ansätze wäre jedoch nicht nur forschungsgeschichtlich widersinnig, sondern auch sachlich überflüssig, sind hierfür doch schon treffende Bezeichnungen (mit unterschiedlichen Nuancen) etabliert (wie rhetorische Analyse / rhetorical criticism, ganzheitliche Lektüre / holistic reading, literaturwissenschaftliche Interpretation / literary criticism etc.). 94
5. Resümee Die Überlegungen in diesem Beitrag waren von der Frage nach einer sinnvollen und klaren Eingrenzung des vielfältig gebrauchten Begriffs der „Formgeschichte“ ausgegangen. Der „Sinn“ eines entsprechenden Sprach-
41 M. W EISS, Wege der neuen Dichtungswissenschaft in ihrer Anwendung auf die Psalmenforschung, Bib. 42 (1961) 255–302; DERS., Einiges über die Bauformen des Erzählens, VT 13 (1963) 456–475; DERS., Die Methode der „Totalen Interpretation“. Von der Notwendigkeit der Struktur-Analyse für das Verständnis der biblischen Dichtung, in: Congress Volume Uppsala 1971 (VT.S 22), Leiden 1972, 88–112; DERS., The Bible from Within. The Method of Total Interpretation, Jerusalem 1984 (hebr. 1967). 42 L. A LONSO SCHÖKEL, Erzählkunst im Buche der Richter, Bib. 48 (1961) 143–172; DERS., Hermeneutical Problems of a Literary Study of the Bible, in: Congress Volume Edinburgh 1974 (VT.S 28), Leiden 1975, 1–15. 43 J. M UILENBURG, Form Criticism and Beyond, JBL 88 (1969) 1–18, vorgetragen als Presidential Address auf dem Annual Meeting der SBL in Berkeley, Cal., 1968. Muilenburg hat sich darin bekanntlich ausdrücklich zur „Formgeschichte“ – verstanden als „Gattungsforschung“ – bekannt, zugleich aber deren Ergänzung durch andere Fragestellungen gefordert: „What I am interested in, above all, is in understanding the nature of Hebrew literary composition, in exhibiting the structural patterns that are employed for the fashioning of a literary unit, whether in poetry or in prose, and in discerning t he many and various devices by which the predications are formulated and ordered into a unified whole. Such an enterprise I should describe as rhetoric and the methodology as rhetorical criticism.“ (a.a.O., 8).
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Formgeschichte – ein irreführender Begriff
[94–95]
gebrauchs hat sich nicht zuletzt daran zu messen, ob der schlüssig definierbare Begriff einen wirklich spezifischen methodischen Zugang innerhalb der Exegese bezeichnet oder – alternativ – wegen seiner Genauigkeit anderen eingeführten Termini vorzuziehen ist. Das Ergebnis der Prüfung war negativ. Zudem zeigte sich, dass dem herkömmlichen Begriff aufgrund seiner forschungsgeschichtlich bedingten Unschärfe geradezu ein methodisch irreleitendes Potenzial zukommt. Zugleich ist allerdings zu beto|nen, dass dieser Befund keineswegs eine Infragestellung der verschiedenen Problemhorizonte impliziert, die bisher (auch) unter dem Etikett „Formgeschichte“ diskutiert wurden, im Gegenteil! 94–95 So bildet die Untersuchung der Gattungen und ihres „Sitzes im Leben“ eine unstrittige Aufgabe exegetischer Forschung. „Formgeschichte“ als zusätzliche Bezeichnung der Gattungsforschung ist jedoch nicht nur überflüssig, sondern war in der bisherigen Forschung mit folgenreichen Unzulänglichkeiten verknüpft: zum einen infolge der mangelnden Differenzierung von Einzeltext und Gattung (s. oben unter 1.), zum anderen infolge problematischer Engführungen der Kategorie „Form“ (s. oben unter 3.). Ebenso wird die Frage nach einer schriftlichen oder mündlichen Vorgeschichte biblischer Texte eine unabdingbare Aufgabe bleiben (selbst wenn die methodischen Möglichkeiten im Blick auf die mündliche Überlieferung außerordentlich beschränkt sind). Dabei kommt unter anderem auch den Einsichten der Gattungsforschung nicht selten eminente Bedeutung zu. Die post Gunkel eingeführte Verknüpfung von „Überlieferungsgeschichte“ und „Gattungsanalyse“ in der nun so genannten „Formgeschichte“ reduziert jedoch die Komplexität solch diachroner Hypothesenbildungen auf den Weg der vermeintlich leichter objektivierbaren „Formanalysen“. Mehr noch, in dieser vermeintlichen Komplexitätsreduktion dürfte letztlich die methodische raison d’être dieser Art von „Formgeschichte“ bestehen. Kurzum: Eine am historischen Eigenverständnis der Überlieferung orientierte Exegese wird immer angewiesen sein auf „Gattungsforschung“ im Gunkelschen Sinne, auf die mit literaturwissenschaftlichen Methoden verfolgte Frage nach der Gestalt und Bedeutung der individuellen Texte in ihrer intendierten Rezeptionssituation und auf die Rekonstruktion der Literar- und der Traditionsgeschichte – ganz abgesehen von der Erarbeitung der geschichtlichen Lebenswelt, der die Textüberlieferung angehört. Dabei wird keine dieser Fragestellungen sich ohne die Einbeziehung aller anderen methodisch sinnvoll durchführen lassen. Dazwischen gibt es jedoch keine spezifische „formgeschichtliche Methode“. – Wozu sollte also das Etikett einer „Formgeschichte“ benötigt werden? 95
Die Stimme des Autors in den Geschichtsüberlieferungen des Alten Testaments Wie die Stimme des Autors/Erzählers in erzählender Prosa gestaltet und profiliert wird, wie sie sich zu anderen Stimmen innerhalb eines Textes verhält etc., solche Fragen gehören zu den zentralen Gegenständen einer allgemeinen oder literaturspezifischen Narratologie. 1 Entsprechenden Raum nehmen sie denn auch in den Untersuchungen zu bzw. Einführungen in eine alttestamentliche/biblische Narratologie ein. 2 Im Folgenden kann freilich ein solch umfassender Problemhorizont nicht verfolgt werden, vielmehr soll es – mit Blick auf das Gesamtthema des Symposiums – um Überlegungen dazu gehen, in welcher Weise die Präsenz der Erzähler in den Texten für den Umgang der Autoren mit ihren Geschichten bzw. „der“ Geschichte signifikant sein könnte. Dementsprechend werden in einem ersten Teil einige elementare Möglichkeiten und Funktionen der Erzählerstimme in alttestamentlichen Texten3 besprochen, insbesondere unter der Frage|stellung, ob bzw. in welcher Weise sich diese Stimme von dem „eigentlichen“ narrativen Diskurs abheben kann. In einem zweiten Teil soll dann ein vergleichender Blick 1
Exemplarisch seien hier E. LÄMMERT, Bauformen des Erzählens, Stuttgart 1955; K. STANZEL, Theorie des Erzählens (UTB 904), Göttingen (1979) 2001 7, und G. GENETTE , Die Erzählung (übers. aus dem Französischen) (UTB 8083), München 1998 2, genannt. 2 In der wissenschaftlichen Exegese wurde eine systematische Beschäftigung mit einer Narratologie der althebräischen Prosa erst relativ spät als wichtige Aufgabe erkannt. Nach Pionier- und Vorarbeiten von H. Gunkel, H. Greßmann, M. Buber, W. Baumgartner, L. Alonso-Schökel, M. Weiss u.a. sind hier vor allem die Einführungen von SH. B AR-EFRAT, Narrative Art in the Bible (JSOT.S 70), Sheffield 1989 (hebr. Erstausgabe Tel Aviv 1979; dt. Übers.: Wie die Bibel erzählt. Alttestamentliche Texte als literarische Kunstwerke verstehen, Gütersloh 2006) (zur Erzählerstimme: Kap. 1), und J.L. SKA, „Our Fathers Have Told Us“. Introduction to the Analysis of Hebrew Narratives (SubBi 13), Rom 1990 (hier bes. Kap. IV), zu nennen, des Weiteren die übersichtlichen Erläuterungen in H. UTZSCHNEIDER / S.A. N ITSCHE , Arbeitsbuch literaturwissenschaftliche Bibelauslegung. Eine Methodenlehre zur Exegese des Alten Testaments, Gütersloh 2001, bes. §5a.1.2/2.2. Unter den literaturwissenschaftlichen Untersuchungen ist für unseren Zusammenhang besonders auf M. STERNBERG, The Poetics of Biblical Narrative. Ideological Literature and the Drama of Reading (Indiana Literary Biblical Series), Bloomington 1985, bes. Kap. 3 u. 5, zu verweisen. 3 Mit einem Schwerpunkt auf dem Textbereich Pentateuch und Vordere Propheten.
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Die Stimme des Autors
[108–109]
auf frühe Texte der altgriechischen Prosa geworfen und sodann im abschließenden dritten Teil nach Voraussetzungen für die Herausbildung der vielgestaltigen und im altorientalischen Kontext (bislang) einzigartigen Geschichtsüberlieferung des Alten Testaments gefragt werden. 108–109
I Das Alte Testament beginnt als Erzählung, die zunächst bis zum Ende des ersten Kanonteils, des Pentateuch, geht, dann aber über das Josuabuch etc. nahtlos weitergeführt wird bis zum Ende der Königsbücher. Es handelt sich mithin um ein narratives Kontinuum, das von der Weltschöpfung bis zur Eroberung und Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier reicht. Formal steht der Erzählcharakter außer Frage, unbeschadet dessen, dass darin auch Lieder und umfangreiche Rechtscorpora zitiert werden. Gleichwohl wäre es voreilig, wollte man aus diesem Kontinuum ableiten, dass der Gesamtzusammenhang als ein literarisches „Erzählwerk“ intendiert war. Letztere Frage kann an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden; 4 sie ist aber insofern mit unserer Fragestellung verbunden, als sich die diachrone Abgrenzung literarischer Einheiten kaum völlig von einer Autoren- oder Editorenintention abtrennen lässt. Ein expliziter Autor, sei es als „realer“, historisch identifizierbarer Verfasser, sei es als ein fiktiver, textimmanenter Erzähler, tritt jedoch weder im Pentateuch noch in den sog. „Vorderen Propheten“ (Josua bis 2 Könige) oder einer anderen aus der „Außenperspektive“ erzählten5 Geschichte des AT auf. 109–110 Die Unterscheidung „realer – fiktiver Autor/Erzähler“ ist nicht zu verwechseln mit der literaturwissenschaftlich eingeführten Differenzierung zwischen „realem“ und „implizi(er)tem“ Autor.6 Unter Letz|terem wird das Bild des Autors verstanden, wie es den Rezipienten in einem gegebenen Text vermittelt wird. Ob dieser textimplizite Autor in der Gestalt eines
4
Dazu vgl. E. B LUM , Pentateuch – Hexateuch – Enneateuch? oder: Woran erkennt man ein literarisches Werk in der hebräischen Bibel?, in: TH. RÖMER / K. SCHMID (Hg.), Les dernières rédactions du Pentateuque, de l’Hexateuque et de l’Ennéateuque (BEThL 203), Leuven 2007, 67–98. 5 Zur Opposition „Innenperspektive“ – „Außenperspektive“ im Blick auf den Erzählstandpunkt („point of view“) vgl. STANZEL, Theorie (Anm. 1), Kap. 5.; im Sinne von GENETTE, Erzählung (Anm. 1), 178f., wäre von einem „extradiegetisch-heteroegetischen“ Erzähler zu sprechen. 6 Vgl. die kundige Darstellung mit ausführlicher Literatur bei SKA, „Our Fathers“ (Anm. 2), 39–54, sowie UTZSCHNEIDER /NITSCHE, Arbeitsbuch (Anm. 2), 154–178. Kritisch zu diesem Konzept: GENETTE, Erzähler (Anm. 1), II. Neuer Diskurs der Erzählung, Kap. 19, 283–295.
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Die Stimme des Autors
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erzählungsimmanenten („intradiegetischen“) Ich-Erzählers verselbstständigt ist oder sich in der primären Erzählerrolle artikuliert, so oder so kann seine Stimme neben denen der Personen, die in der Textwelt agieren, profiliert werden, ohne dass sie (oder die der Personen) mit dem realen Autor und dessen Weltsicht gleichzusetzen wäre. Teilweise wird diese aus neuzeitlicher fiktionaler Literatur wohl vertraute Differenzierung recht unmittelbar auch auf alttestamentliche Texte appliziert.7 M.E. erweist sich das Konzept des „implizi(er)ten Autors“ für die alttestamentliche Literatur jedoch als nicht angebracht, ja geradezu als irreführend, aus einem einfachen Grund: Biblische Erzählungen verstehen sich als Mitteilungstexte; das neuzeitliche Konzept fiktionaler Literatur ist ihnen fremd. 8 Ein unter den Bedingungen der Fiktionalität mögliches Spiel des „realen“ Autors mit einer mehr oder weniger „uneigentlichen“ Erzählerstimme (oder gar Gottesstimme) ist hier weder vorgesehen9 noch stellt es überhaupt eine Denkmöglichkeit dar. Dass in geschichtlichen Texten jeder Art der/die reale Autor/in nicht unmittelbar zugänglich ist, sondern nur insoweit, wie er/sie seine/ihre Weltsicht (mit mehr oder weniger Erfolg) in einem Text artikuliert hat, ist freilich trivial. Davon zu unterscheiden bleibt aber der Anspruch der Autoren jeglicher („ernst gemeinter“) Mitteilungsliteratur, dass die Stimme des textimmanenten Autors ihre eigene Weltsicht authentisch zum Ausdruck bringt. Dieser Anspruch gilt auch für den Fall eines fiktiven10 textimmanenten | Autors/Erzählers. Dergleichen ist im Alten Testament prominent mit Mose als WirErzähler im Deuteronomium (siehe im Folgenden) vertreten. Punktuell kann ein fiktiver Autor auch durch eine zeitliche Deixis suggeriert werden, die 7 So etwa bei L. ESLINGER , Into the Hands of the Living God (JSOT.S 84), Sheffield 1989, der im Bereich des deuteronomistischen Geschichtswerks und darüber hinaus auch konzeptionelle Inkohärenzen durch die Annahme einer Vielzahl einander widerstreitender, relativierender etc. Stimmen auflösen zu können meint. Dabei könne die perspekti vische Relativierung nicht nur den impliziten Autor, sondern auch die Gottesreden und programmatische Reden der Hauptpersonen (Mose, Josua, Samuel, Salomo etc.) betreffen. M.E. impliziert dies eine anachronistische Projektion; siehe im Folgenden. 8 Zur Begründung und zu Differenzierungen E. B LUM , Historiographie oder Dichtung? Zur Eigenart alttestamentlicher Geschichtsüberlieferung, in: E. B LUM u.a. (Hg.), Das Alte Testament ein Geschichtsbuch? Beiträge des Symposiums „Das Alte Testament und die Moderne“ anlässlich des 100. Geburtstags Gerhard von Rads (1901–1971), Heidelberg 18.–21. Oktober 2001 (atm 10), Münster 2005, 65–86, darin 75–81. 9 Direkt einschlägig sind hier auch die Differenzierungen von GENETTE, Erzählung (Anm. 1), 152. 10 Die elementare Unterscheidung zwischen Fiktivität und Fiktionalität (siehe B LUM, Historiographie [Anm. 8], 77) wird in der zünftigen Exegese leider zumeist verkannt; vg l. zuletzt K. SEYBOLD, Poetik der erzählenden Literatur im Alten Testament (Poetologische Studien zum Alten Testament 2), Stuttgart 2006, 207–209. Damit geraten die Bemühungen um eine Einbeziehung genuin literaturwissenschaftlicher Ansätze von vornherein in eine konzeptionelle Schieflage.
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Die Stimme des Autors
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weit von dem geschichtlichen Ort des historisch zu rekonstruierenden „realen“ Autors entfernt ist. 11 Auch wenn die Autoren/Erzähler sich nicht identifizieren, ist selbstverständlich eine Erzählerstimme durchgehend präsent, und dies nicht nur als die verborgene mediale Instanz, der die Leser/Hörer die Mitteilung allen Geschehens verdanken, sondern – zumindest gelegentlich – auch als eine Stimme, die das erzählte Geschehen oder dessen Darstellung selbst thematisiert und damit auch die Abständigkeit der erzählten Welt von der Welt der Erzählsituation ins Bewusstsein hebt. Allerdings begegnen solche tendenziell metanarrativen Interventionen der Erzähler in der hebräischen Bibel zumeist sehr verhalten. Nicht selten erscheint es schwierig zu entscheiden, ob Beschreibungen, Bewertungen etc. der narrativen Inszenierung selbst angehören oder davon abgesetzt an die Adressaten gerichtet sind, also eine Kommunikation „zweiten Grades“ bilden. Dabei mag eine Rolle spielen, dass im Medium der Schrift wesentliche Parameter des mündlichen Erzählvortrags wie Intonation, Gestik u.Ä.m. nicht vermittelt werden. Neigt man zu der Annahme, dass es sich bei den alttestamentlichen Texten primär um „Vorleseliteratur“ handelt (siehe im Folgenden), dann ist damit zu rechnen, dass die schriftliche Vorlage als „Partitur“ für entsprechende Interpretationen beim Vortrag offen war. Gleichwohl lassen sich auf semantischer und syntaktischer Ebene einige Indikatoren für Erzähleräußerungen „zweiten Grades“ festmachen. Nach Inhalt bzw. Pragmatik können dabei mehrere Funktionen unterschieden werden.12 110–111 Am häufigsten sind vermutlich die Applikationen der Geschichten oder einzelner Elemente der Geschichten auf die Lebenswelt der Ad|ressaten in sog. „ätiologischen“ Bemerkungen. Die ätiologische Ausrichtung vieler biblischer Erzählungen (bzw. Erzählzüge) wurde vor allem seit Hermann Gunkel vielfach beschrieben. 13 11 Dies gilt vor allem für den Bezug ätiologischer Aussagen auf ein in der Zeit des faktischen Autors/Tradenten nicht mehr gegebenes Heute. So impliziert Ri 1,21 einen Standpunkt vor der Einnahme Jerusalems durch David und suggeriert damit ein entsprechendes Alter der Notiz bzw. der Angaben in Ri 1 (mit Samuel als Autor?), 1 Kön 8,8 eine Formulierung vor der Zerstörung des Jerusalemer Tempels. Welcher Phase der Literargeschichte der betreffenden Texte diese Angaben angehören, muss freilich in der Regel offen bleiben; zum Problem vgl. Ri 1,29 mit Jos 16,10. 12 Vgl. zum Folgenden auch GENETTE, Erzählung (Anm. 1), 183ff., und B AR-EFRAT, Art (Anm. 2), 24ff. 13 Bis heute grundlegend sind die Einleitung in GUNKELS Genesiskommentar (Genesis [HKAT 1,1], Göttingen 1910 3, § 2. Arten der Sagen der Genesis) sowie R. SMEND, Elemente alttestamentlichen Geschichtsdenkens (ThSt 95), Zürich 1968. Aus der vielfältigen sonstigen Literatur seien hier J. FICHTNER , Die etymologische Ätiologie in der Namengebung der geschichtlichen Bücher des Alten Testaments, VT 6 (1968) 372–296, der kritisch differenzierende Beitrag von I.L. SEELIGMANN, Ätiologische Elemente in der biblischen
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Selbst solche ätiologischen Züge können freilich nahtlos in die „eigentliche“ Erzählung integriert sein und müssen dann in ihrem Gegenwartsbezug von den Adressaten realisiert werden. So z.B. bezogen auf eine Örtlichkeit „Even ha-Ezer“ in 1 Sam 7,12: Und Samuel nahm einen Stein und stellte ihn zwischen ha-Mizpa und ha-Schen auf. Und er nannte ihn „Even ha-Ezer“ („Stein der Hilfe“) und sagte: „Bis hierher hat uns JHWH geholfen!“
Deutlich zu vernehmen ist der Erzähler als eigene Stimme erst da, wo er die Narration verlässt und sich in diskursiven Erläuterungen direkt an die Rezipienten wendet. In der Terminologie von Harald Weinrich 14 könnte man sagen, dass der Erzähler hier jeweils die erzählende Sprechhaltung aufgibt und eine „besprechende“ einnimmt. Besonders häufige Marker bilden dabei das herleitende „( על כןdarum“)15 und die Zeitangabe „(עד היום הזהbis auf den heutigen Tag“), 16 wie z.B. in Gen 32,33: 111–112 Darum ( )על כןessen die Israeliten nicht die Hüftsehne, die über dem Hüftgelenk ist, bis zum heutigen Tag ()עד היום הזה, weil er das Hüftgelenk Jakobs, die Hüftsehne, berührt hat. |
Die relativ schlichten Beispiele dieser Art ließen sich leicht mehren. 17 Daneben stehen freilich auch subtilere Erzählerinterventionen. In Anschluss an das Drama von der Opferung/Bindung Isaaks in Gen 22 heißt es: „Und Abraham nannte jenen Ort ‚( יהוה יראהJHWH ersieht‘)“ (22,14a). Dies ist noch Fortführung der erzählten Handlung, denn der von einer furchtbaren Last befreite Abraham drückt in dieser Namensgebung als persönliches Resümee aus, dass sein Hoffen auf einen anderen Gott als den des Opferbefehls (22,2) sich bewahrheitet hat.18 Vers 14a klingt ätiologisch, Geschichtsschreibung (hebr.), Zion 26 (1961) 141–169; dt. Übers. in: I.L. SEELIGMANN, Gesammelte Studien zur Hebräischen Bibel, hg. von E. Blum (FAT 41), Tübingen 2004, 77–118, sowie B.O. LONG, The Problem of Etiological Narrative in the Old Testament (BZAW 108), Berlin 1968, genannt. 14 H. WEINRICH, Tempus. Besprochene und erzählte Welt, Stuttgart u.a. 1971 2. 15 Die einschlägigen Belege hierfür in Gen – 2 Kön: Gen (2,24;) 10,9; 11,9; 16,14; 19,22; 21,31; 25,30; 26,33; 29,34.35; 30,6; 31,48; 32,33; 33,17; 50,11; Ex 15,23; Num 21,14.27; Dtn 10,9; Jos 7,26; 14,14; 15,19; 18,12; 1 Sam 5,5; 10,12; 19,24; 23,28; 28,18; 2 Sam 5,8.20. 16 Nicht selten scheint die Formulierung aber gleichsam unentschieden zwischen „erzählender“ und „besprechender“ Darstellung zu stehen, indem die Angabe עד היום הזהformelhaft an eine Erzählnotiz angeschlossen wird und streng genommen elliptisch für einen ganzen Satz steht. Vgl. z.B. Dtn 3,14; Jos 5,9 (LXX ohne „bis auf diesen Tag“); 7,26; 8,29; Ri 18,12. 17 Dabei ist aber zu beachten, dass das häufige „bis auf diesen Tag“ nicht per se einen ätiologischen Bezug anzeigt; vgl. schon B.S. CHILDS, A Study of the Formula ‚Until this Day‘, JBL 82 (1963) 279–292. 18 Dazu E. B LUM , Die Komposition der Vätergeschichte (WMANT 57), NeukirchenVluyn 1984, 322–324.
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ist es aber nicht; denn nach allem, was wir wissen, hat es diesen Namen in der Welt der Leser gar nicht gegeben, vielmehr existiert er nur in der erzählten Welt Abrahams. Dann aber geht es diskursiv mit der Erzählerstimme weiter: „(den Ort), von dem man heute sagt: ‚der Berg, auf dem JHWH erscheint‘ (“)בהר יהוה יראהa(22,14b). Im judäischen Kontext gab es nur einen Berg, von dem man so absolut sprechen konnte: den Tempelberg von Jerusalem. Er wird hier als Ziel des Weges Abrahams von Mesopotamien her expliziert19 und zugleich „ätiologisch“ als (der) Kultort eingeführt. Ungewöhnlich (im Pentateuchkontext) bleibt dabei die unübersehbare Verortung von Erzählern und Adressaten in einer Zeit nach der Einrichtung eines JHWH-Heiligtums in Jerusalem. 112–113 Mitunter verkannt wird auch eine metanarrative, letztlich ätiologische Bemerkung in der Paradieserzählung von Gen 2–3: Nachdem der Mensch in 2,23 die aus einem Stück von ihm „gebaute“ Frau mit einem Jubelruf als verwandt20 und wesensgleich begrüßt hat, heißt es in 2,24: „Darum verlässt ein Mann Vater und Mutter und hängt seiner Frau an, und sie werden ein Fleisch.“ Manche Ausleger lesen dies als Teil der Erzählung und konstatieren dann einen Widerspruch zu Gen 3, wo die beiden erst nach dem Griff zum Baum der Erkenntnis ihre Sexualität entdecken. 21 In Wahrheit geht es in 2,24 nicht um die Menschen im Gottesgarten, sondern um die Welt der Adressaten und | den staunenswerten Umstand, dass es darin eine Beziehung gibt, die enger ist als die engste Blutsverwandtschaft, nämlich die Ehe zwischen Mann und Frau. Die kurze Digression von der erzählten Welt in die Wirklichkeit der Rezipienten ist formal durch das על כןund die Tempusformen angezeigt, inhaltlich dadurch, dass die elementare Beziehung von Eltern und Kindern erst nach der Ausweisung des Menschenpaares aus dem Gottesgarten eingeführt wird. Während die Applikationen auf Begründungen und Erklärungen von Sachverhalten in der Gegenwart der Kommunikanten zielen, ist eine andere Art metanarrativer Äußerungen auf Erläuterungen vergangener Sachverhalte in der erzählten Welt, sei es im Text selbst oder der darin vorausgesetzten geschichtlichen Welt, ausgerichtet. Unter bewusster Vermeidung des Begriffs „historisch“ möchte man geradezu von „geschichtlichen Erläuterungen“ sprechen. Ein klares Beispiel dafür findet sich in der Geschichte von Saul, der den Gottesmann Samuel aufsucht, um eine Auskunft über die verlorenen Eselinnen seines Vaters zu erhalten (1 Sam 9,9): 19 Zur theologisch-narrativen Bedeutung dieses Zusammenhangs in der Abrahamgeschichte vgl. die Hinweise in E. B LUM , Art. Abraham, RGG 4, 1998, 70–74, darin 72. 20 Durch den Rückgriff auf eine idiomatische Wendung („mein Bein und Fleisch“; z.B. Gen 29,14), mit der die Blutsverwandtschaft bezeichnet wird. 21 So unter den älteren etwa G. VON RAD, Das erste Buch Mose. Genesis (ATD 2/4), Göttingen 1972 9, 71.
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Die Stimme des Autors
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Früher sagte man in Israel, wenn man Gott befragen ging: „Auf, lasst uns zum Seher ( )ראהgehen!“ Denn was man heute „Prophet“ ( )נביאnennt, nannte man früher („ )לפניםSeher“ ()ראה. 113–114
Diese Erläuterung bezieht sich auf den ab V. 11 in der Erzählung gebrauchten Titel ראה. Anders als ätiologische Notizen erklärt sie nicht einen gegenwärtigen Sprachgebrauch, sondern einen als vergangen unterstellten. Sie markiert also nicht nur die geschichtliche Distanz zwischen Erzählern/Adressaten und Handlung, sondern zeigt so etwas wie ein antiquarisches Interesse am „Früheren“. Auf weitere Beispiele dieser Art kann der Konkordanzbefund zu dem hier gebrauchten Zeitadverb לפניםführen. So finden sich in Dtn 2,10–12 und 20–23 Angaben zu den Vorbewohnern der Gebiete der Moabiter, der Edomiter und der Ammoniter, die im Zusammenhang von JHWH-Reden stehen, die wiederum innerhalb einer rekapitulierenden Erzählung des Mose zitiert werden. Die Angaben sind offenbar als Entfaltung der Aussagen gedacht, wonach JHWH den genannten Völkern – in Analogie zu Israel – ihr jeweiliges Land zugeteilt hat, weswegen die vorbeiziehenden Israeliten jede gewalttätige Auseinandersetzung mit den drei Nachbarvölkern vermeiden sollen. Zugleich stehen die Notizen deutlich außerhalb der Wir-Erzählung Moses, die den Zusammenhang konstituiert: Weder sind sie als JHWH-Rede noch überhaupt als Anrede an die Israeliten formuliert; darüber hinaus setzen sie – gleichsam aus einer nach-mosaischen (und nachjosuanischen) Perspektive – die vollzogene Landnahme der Israeliten | voraus (2,12b!). Damit können sie wohl nur der Ebene des anonymen Erzählers zugerechnet werden, in dessen Darstellung die Abschiedsrede(n) Moses eingebettet ist und seine letzten Handlungen, einschließlich seines Todes, mitgeteilt werden. Inhaltlich bieten sie eine Art Wissensstoff über die vorzeitliche Besiedelung der Region durch eine Bevölkerung von Heroen und gehen dabei in ihren „geschichtlichen“ Details – bis hin zur Benennung der Urvölker im Moabitischen (2,11) bzw. Ammonitischen (2,20) – über die Erfordernisse des Erzählkontextes hinaus. Von gleicher Art sind in Dtn 3 die Notizen über die Benennung des Hermon in anderen Sprachen (3,9) und über den riesenhaften Sarkophag von Og, dem König des Baschan (3,11). Es dürfte sich am ehesten um Gegenstände weisheitlicher Bildung handeln, wie sie im gelehrten Schulbetrieb gepflegt worden sein mag. Entsprechende „geschichtliche“ Erläuterungen begegnen sodann (wiederum mit )לפניםin Jos 11,10 (über die frühere Größe von Hazor), in Ri 1,10–11 (mit Parallelen). 23 oder in Ruth 4,7.22 Allein auf die erzählte Handlung bezogen und leicht zu überlesen ist eine Erläuterung ganz anderer Art in 1 Kön 13. Die Episode handelt von einem Gottesmann aus Juda, der in das Staatsheiligtum des Nordreiches Israel zu Bethel geht und dessen Untergang vorhersagt. In der göttlichen Sendung 22
Einschlägig sind weiterhin die Belege in Neh 13,5; 1 Chr 4,40; 9,20.
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Die Stimme des Autors
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wird ihm aufgetragen, in Bethel weder zu essen noch zu trinken und auch nicht auf demselben Weg zurückzukehren, auf dem er gekommen war. Ein alter in Bethel sesshafter Prophet, der vom Auftritt des Gottesmannes gehört hat, holt ihn aber auf dem Rückweg nach Juda ein und überredet ihn, bei ihm in Bethel einzukehren, und zwar mit einem fingierten Gotteswort (13,18a): Er sagte ihm: „Auch ich bin ein Prophet wie du, und ein Engel hat zu mir im Auftrag JHWHs gesprochen: ‚Hole ihn zurück in dein Haus, damit er Brot esse und Wasser trinke!‘“
Die Geschichte als ganze ist im Grunde erst verstanden, wenn man erfasst hat, weshalb der Gottesmann diese Lüge eigentlich durchschauen müsste, und weshalb er seine Nachgiebigkeit gegenüber dem Bethel-Propheten mit dem Leben bezahlen muss. Lesern und Hörern wird freilich ein Wissensvorsprung gegeben, indem die Erzählerstimme an dieser Stelle (13,18b) eine kurze lakonische Information hinzufügt: „ – כחש לוer hatte ihn angelogen“. Im Hebräischen ist dieser außer-narrative Hinweis syntaktisch durch den asyndetischen Anschluss abgehoben. Damit wird die Kette der Narrativformen unterbrochen und das Publikum, gleichsam mit einer Zwischenbemer|kung, direkt angesprochen. M.E. spiegelt sich hier und in ähnlichen Beispielen23 recht deutlich, dass die althebräische Literatur Vorleseliteratur war. Diese wiederum stand im Erbe einer reichen und artifiziellen Erzählkultur, in der der mündliche Vortrag immer auch etwas von einer Perfomance haben kann. – Wir werden auf diesen Punkt noch einmal zurückkommen. 114–115 Von den erläuternden Kommentierungen kann man schließlich evaluierende unterscheiden. Exegetisch Versierte werden dafür nicht zuletzt an die rekurrenten deuteronomistischen Königsbeurteilungen in den Königsbüchern denken: „und er tat das Gute/das Böse in den Augen JHWHs“. Zwar bleiben diese Beurteilungen in der Regel innerhalb der primären Erzählebene,24 doch gehen auch die deuteronomistischen Tradenten an entscheidenden Stellen zu einer diskursiven Ebene über, so bei dem paradigmatischen König Josia (2 Kön 23,25): 23 Ähnlich wie in 1 Kön 13,18 fungieren in Am 7,1–6 die asyndetischen Formulierungen von 7,3a.6a als explizierende „Seitenbemerkungen“ des prophetischen Erzählers. Mit verdeutlichenden Stimmmodulationen etc. ist auch bei Erzähltechniken wie der summa rischen Prolepse (z.B. in Gen 27,23 oder 37,21) zu rechnen, der J.L. SKA erhellende Studien gewidmet hat (Sommaires proleptiques en Gn 27 et dans l’histoire de Joseph, Bib. 73 [1992] 518–527; Quelques examples de sommaires proleptiques dans les récits bibliques, in: J.A. EMERTON [Hg.], Congress Volume Paris 1992 [VT.S 61], Leiden 1995, 315–326). 24 Anders die Kommentierung zweier Episoden am Ende des Richterbuches, die von ungezügelter Gewalt handeln: „In jener Zeit gab es keinen König in Israel. Ein jeder machte, was ihm recht dünkte“ (Ri 17,6; 21,25). Asyndese und Distanzmarkierung zeigen wiederum den besprechenden Charakter an.
[115–116]
Die Stimme des Autors
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So wie er war kein König vor ihm, der mit ganzem Herzen, aller Leidenschaft u nd ganzer Kraft entsprechend der ganzen Tora Moses zu JHWH umgekehrt wäre; und nach ihm erstand keiner mehr wie er.
Der „besprechende“ Charakter wird hier vor allem 25 an dem Horizont des Urteils deutlich, das über die Einzelperiode hinausgreift und die gesamte judäische Königszeit in den Blick nimmt. 26 Im Vergleich mit der Mehrzahl der bisherigen Beispiele möchte man meinen, hier sei nicht nur eine Erzähler-, sondern eine Historikerstimme zu hören. Tatsächlich hat M. Noth in seiner klassischen Analyse des von ihm sogenannten „deuteronomistischen Geschichtswerks“27 bereits die zentrale Bedeutung epochenübergreifender Deutungen für die Kom|position des Werkes herausgestellt – neben weiteren Elementen wie der chronologischen Kohärenz, narrativen Vor- und Rückverweisen etc. Dank solcher kompositorischer Mittel wird hier aus einer Vielzahl von Einzelgeschichten so etwas wie „Geschichte“. Weit über eine chronistische Reihung hinaus bietet diese Geschichtsüberlieferung darüber hinaus den Versuch einer sinntragenden Synthese. 115–116 In einen solchen, auf den ersten Blick „historiographischen“ Zusammenhang passen denn auch trefflich die Referenzen auf externe „Quellen“, wie wir sie in den dreiunddreißig Verweisen auf die „Chronik der Könige von Juda/Israel“ in den Königsbüchern finden: „Und was sonst noch von XY zu sagen ist, was er getan hat, steht es nicht geschrieben im Buch der Chronik der Könige von Juda/Israel“. 28 Die pragmatische Funktion dieser Referenzen im Rahmen des deuteronomistischen Geschichtswerks versteht sich deshalb nicht von selbst, weil höchst fraglich ist, ob für dessen spät-/ nachexilische Adressaten die genannten Chroniken überhaupt existent und zugänglich waren. Darüber hinaus hat C. Hardmeier 29 gute Gründe dafür angeführt, dass diese Quellenangaben bereits zu einem vordeuteronomistischen Annalenwerk gehörten, in dem sie potenziell eine reale Referenzfunktion haben konnten. Mit dessen Integration in das deuteronomistische Geschichtswerk blieben sie wohl30 als Blindreferenzen stehen. Davon unbenommen konnten 25 Die LXX-Vorlage dürfte zudem noch einen asyndetischen Satzanschluss geboten haben. 26 Vgl. auch den Horizont des abschließenden Urteils über Mose in Dtn 34,10 –12. 27 M. NOTH, Überlieferungsgeschichtliche Studien. Die sammelnden und bearbeitenden Geschichtswerke im Alten Testament (1943), Tübingen 1957 2. 28 1 Kön 14,19.29; 15,7.23.31; 16,5.14.20.27; 22,39.46; 2 Kön 1,18; 8,23; 10,34; 12,20; 13,8.12; 14,15.18.28; 15,6.11.15.21.26.31.36; 16,19; 20,20; 21,17.25; 23,28; 24,5. 29 C. HARDMEIER , Umrisse eines vordeuteronomistischen Annalenwerks der Zidkijazeit. Zu den Möglichkeiten computergestützter Textanalyse, VT 90 (1990) 165–184. 30 Die von D. CARR, Writing on the Tablet of the Heart. Origins of Scripture and Literature, Oxford 2005, überzeugend herausgearbeitete Bedeutung des Memorierens und der mündlichen Rezitation literarischer Texte in der Schulung altorientalischer und anti ker Schreiber lässt eine vorsichtige Zurückhaltung bei solchen historischen Annahmen geraten
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sie aber weiterhin die mit allen literarischen Quellenverweisen verbundene pragmatische Funktion der Beglaubigung wahrnehmen.31 | 116–117 Unter den soweit skizzierten Typen diskursiver Einwürfe der Erzählerstimme32 sind es die erläuternden, evaluierenden und beglaubigenden Bemerkungen, die häufig eine quasi-historische Ausrichtung auf die Vergangenheit aufweisen. So kommt es nicht von ungefähr, dass in der exegetischen Forschung das deuteronomistische Werk (neben einem – wie auch immer definierten – vorpriesterlichen Zusammenhang im Pentateuch) in einer signifikanten Entsprechung zu den etwas jüngeren Werken der frühgriechischen Historiker gesehen wurde und wird. 33 Tatsächlich kann man hierfür noch eine ganze Reihe materialer und formaler Gemeinsamkeiten anführen, von der ätiologischen Prägung vieler Stoffe über den oft episodischen Erzählstil und kompositorische Rahmenelemente aus Genealogien und chronologischen oder geographischen Zusammenhängen bis hin zu dem ganze Zeitepochen übergreifenden geschichtlichen Horizont. 34 erscheinen. Zugleich eröffnen sich von daher kaum bedachte Möglichkeiten, etwa im Blick auf die Verortung der Autoren des DtrG: Plädoyers für eine Niederschrift in Juda können sich jedenfalls kaum mehr auf eine fehlende Verfügbarkeit des „Quellen“-Materials unter den Exulanten stützen (vgl. z.B. NOTH, Studien [Anm. 27], 110, Anm. 1). Unbeschadet dessen blieb eine solche Textkenntnis auf einen relativ kleinen Kreis ent sprechend ausgebildeter und trainierter Zeitgenossen beschränkt (selbst dann, wenn i m/nach dem Exil ältere Werke erneut niedergeschrieben worden sein sollten). 31 Ebenso wie die fiktiven Quellenangaben prophetischer Bücher in der Chronik; zu der darin zum Ausdruck kommenden geschichtstheologischen Konzeption des Chronisten vgl. insbesondere TH. W ILLI, Die Chronik als Auslegung. Untersuchungen zur literarischen Gestaltung der historischen Überlieferung Israels (FRLANT 106), Göttingen 1972, 229 –241. 32 Als Übersicht mit exemplarischen Belegen:
Zeitdistanz
impliziert
markiert
applikativ
Gen 2,24
Gen 22,14 (etc.)
erläuternd
Dtn 2,10–12.20–23
1 Sam 9,9
2 Kön 23,25
Jos 10,14; Ri 21,25
2 Kön 14,15 etc.
Jos 10,(12–)13
(Jes 8,16ff.) Neh 13,31 u.a.
Dtn 1,(1–)5
Funktion
evaluierend beglaubigend bezogen auf die Pragmatik des Gesamttextes
Bezugnahmen des Autors auf den eigenen Text als Ganzen begegnen in alttestamentlicher Prosaerzählung nur in Ich-Erzählungen (z.B. „Nehemia-Denkschrift“) bzw. über einen intradiegetischen Autor wie Mose in Dtn 1,5. Dies hat „Methode“ und ist nicht allei n mit kompositionstechnischen Auslassungen von Kolophonen oder Überschriften zu erklären (siehe im Folgenden). 33 Siehe dazu insbesondere J. VAN SETERS, In Search of History. Historiography in the Ancient World and the Origins of Biblical History, New Haven / London 1983; DERS., Der Jahwist als Historiker (ThSt 134), Zürich 1987. 34 Siehe dazu beispielsweise VAN SETERS, Jahwist (Anm. 33), 47–63.
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Unbeschadet dieser offensichtlichen Gemeinsamkeiten lässt sich jedoch zeigen, dass die ionischen und die alttestamentlichen Werke näher betrachtet zwei fundamental verschiedene Kategorien des Umgangs mit geschichtlicher Überlieferung repräsentieren. André Jolles 35 hätte wohl von grundlegend verschiedenen „Geistesbeschäftigungen“ gesprochen. Ich habe diese These bereits an verschiedenen Stellen be|gründet36; hier soll sie noch einmal mit Bezug auf die jeweilige Rolle der „Autorenstimme“ in den Texten ausgeführt werden. 117–118
II Bei den Griechen beginnt Prosaliteratur im 6. Jahrhundert v. Chr. Die Verschriftung der Dichtung ging voraus, vor allem Homer und Hesiod. In ungenauer Anlehnung an Thukydides werden die frühen Prosaschriftsteller mitunter als „Logographen“ (Geschichtenschreiber) bezeichnet; man rechnet dazu Autoren wie Hekataios von Milet, Akusilaos von Argos, Pherekydes von Athen, Hellanikos von Lesbos, Antiochos von Syrakus u.a., die das Überlieferungsmaterial der Epen zur Welt der Götter und Heroen (Homer, Hesiod) bzw. lokalen Sagenstoff aus verschiedenen Regionen oder Städten zusammentragen und systematisieren. 37 Schon im ersten dieser „historiographischen“ Werke, den „Genealogien“ des Hekataios von Milet, ist die Autorenstimme gleich zu Anfang laut zu vernehmen. Das glücklicherweise überlieferte Proömium lautet: Hekataios von Milet kündet so: „Dieses schreibe ich, wie es mir wahr zu sein scheint. Denn die Geschichten der Griechen sind, wie sie sich mir darstellen, vielerlei und lächerlich.“38 118–119
35 A. J OLLES, Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memo rabile, Märchen, Witz, Tübingen 1982 6 (1930). 36 Zuletzt B LUM , Historiographie (Anm. 8), mit Verweis auf ältere Publikationen. Die wichtige Untersuchung von P. MACHINIST, The Voice of the Historian in the Ancient Near Eastern and Mediterranean World, Interp. 57 (2003) 117–137, die mir bei der Ausarbeitung des eben genannten Beitrags nicht bekannt war, weist in eine ganz ähnliche Rich tung. Für eine andere Sicht vgl. beispielsweise die Beiträge von J. VAN SETERS (Anm. 33) oder B. HALPERN, Biblical versus Greek Historiography. A Comparison, in: B LUM u.a. (Hg.), Geschichtsbuch (Anm. 8), 101–127. 37 Die erhaltenen Text(fragment)e in F. J ACOBY, Die Fragmente der griechischen Historiker (FGrHist), Leiden 1957ff. Für kundige Darstellungen mag an dieser Stelle der Hin weis auf K. VON FRITZ, Die griechische Geschichtsschreibung I, Berlin 1967, und W. SCHADEWALDT, Die Anfänge der Geschichtsschreibung bei den Griechen. Herodot – Thukydides (stw 389), Frankfurt a.M. 1982, genügen. 38 FGrHist 1 F 1.
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Hekataios39, der sich mit Namen und auktorialem Ich einführt, eröffnet sein Werk sogleich mit einer metanarrativen Erklärung, in der er die eigene Darstellung dem überkommenen Stoff der Überlieferung ge|genüberstellt. Dem in unbekümmerter Direktheit vorgetragenen Wahrheitsanspruch des Proömiums korrespondieren denn auch „kritische“ Urteile des Autors über das tradierte Sagenmaterial im Werkkorpus. So heißt es in Fragment 19: „Aigyptos in eigener Person ist nicht nach Argos gekommen, sondern seine Söhne, die sich auf fünfzig beliefen, wie Hesiod sagt, wie ich aber glaube, nicht einmal zwanzig“. Ein anderes Beispiel: Der Höllenhund der Heraklessage wird bei Hekataios zu einer giftigen Schlange im Tainarongebirge und er kommentiert (F 27): „Ich glaube aber nicht, dass die Schlange so groß und ein solches Ungetüm gewesen ist (wie die Sage behauptet), sondern nur schrecklicher als die anderen Schlangen und dass deshalb Eurystheus sie für unüberwindlich gehalten hat.“40 Verglichen mit den alttestamentlichen Texten herrscht hier unverkennbar ein völlig anderer Ton. Im Alten Testament bleibt die Erzähler- bzw. Autorenstimme erzählungsimmanent; gelegentlich vermittelt sie applizierend, kommentierend, evaluierend oder beglaubigend zwischen Stoff und Rezipienten. Dabei kann auch der zeitliche Abstand markiert werden, aber es gibt keine Ansätze zu einer sachlichen Distanzierung. Nichts tritt zwischen Darstellung und Erzähler. Ein notwendiges Pendant zu dieser weitgehenden Verschmelzung von Darstellung und Dargestelltem bildet denn auch die viel besprochene „omniscience“, der „Olympian point of view“ der biblischen Erzähler.41 In der griechischen Prosaliteratur dagegen tritt die Autorenstimme dominant in den Vordergrund. Sie ist nicht Dienerin der Tradition, sondern deren Meister, und sie setzt sich zu ihr in eine argumentierende Distanz. 42 Auch der kritische Umgang mit Hesiod bildet hier kein Einzelelement, vielmehr bleibt die agonale Lust an der kontroversen Auseinandersetzung prägend für diese Art von Literatur. H. Cancik hat diesen Grundzug zuletzt prägnant
39
Zu Hekataios und seinem Kontext vgl. SCHADEWALDT, Anfänge (Anm. 37), 96ff., sowie H. CANCIK, Mythische und historische Wahrheit. Interpretationen zu Texten der hethitischen, biblischen und griechischen Historiographie (SBS 48), Stuttgart 1970, 39ff. 40 Zum Ganzen siehe VON FRITZ, Geschichtsschreibung (Anm. 37), 71ff. 41 Diesem wichtigen Aspekt kann an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden; vgl. dazu vor allem STERNBERG, Poetics (Anm. 2), passim. 42 MACHINIST, Voice (Anm. 36), 118ff., spricht von dem „analytischen Ich“. Wenn er dabei auch Epigramme des Archilochos einbezieht, wird der grundlegende Aspekt der metasprachlichen Distanzierung der Prosaautoren von ihrem Gegenstand freilich eher verdeckt. An kritischem Denken in politischen und theologischen Dingen fehlt es auch in Israel wahrlich nicht (a.a.O., 136); der hier infrage stehende Umgang mit Traditionstexten liegt aber kategorial wohl auf einer eigenen Ebene.
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herausgearbeitet.43 So gehört zu den Charakteristika dieser Literatur, dass Herodot ähnlich respektlos über Hekataios urteilen wird wie dieser über Hesiod: „Ich muss lachen, wenn ich so manche Leute Erdkarten zeichnen sehe, die doch die Ges|talt der Erde gar nicht richtig zu erklären wissen“ (IV,36) – und er meint damit gerade auch Hekataios. Herodot selbst geht es in seinem Werk nicht mehr um die prosaische Entfaltung der Heroenüberlieferung, sondern um eine umfassende Darstellung der Perserkriege, d.h. seiner Zeitgeschichte: 119–120 Die Darstellung der Erkundung des Herodot von Halikarnassos ist dies, damit weder das von Menschen Geschehene durch die Wirkung der Zeit verblasse noch die großen und staunenswerten Werke, ob sie nun von Hellenen oder Barbaren aufgewiesen wurden, ohne Kunde blieben; unter anderem geht es insbesondere darum, aus welcher Ursache/Schuld (αἰτία) sie miteinander Kriege führten. 44
Im Sprachgestus deutlich maßvoller als Hekataios geht Herodot sachlich einen wesentlichen Schritt weiter als jener, insofern seine Verantwortung als Autor über die Darstellung hinaus auf das Material bezogen wird, das er ausdrücklich der eigenen „Erkundung“ (ἱστορία) zuschreibt. Herodots „Ich“ erscheint erst gegen Ende der Einleitung, in der er zunächst diverse Logoi der Perser und Phönizier darüber erzählt, wer schuld sei am Trojanischen Krieg und damit am Konflikt zwischen Hellenen und Barbaren, ohne übrigens die griechische Version auszuführen. Dies mündet dann mit I,5 in eine bezeichnende Selbstpräsentation des Autors: So erzählen die Perser und so die Phönizier. Ich selber will nicht entscheiden, ob es so oder so gewesen ist. Aber den Mann will ich nennen, von dem ich selber weiß, dass er es war, der mit den Feindseligkeiten gegen die Hellenen den Anfang gemacht hat.
Herodot übernimmt hier und in seinem weiteren Werk konsequent die Rolle des verantwortlichen Autors, der zwischen bloß gehörten Logoi und dem in eigener Erkundung und Anschauung Ermittelten wohl zu unterscheiden weiß (siehe auch II,99), sich aber vor allem als neutraler Vermittler dessen, was er in Erfahrung gebracht hat, versteht (VII,152). Was impliziert nun diese unterschiedliche Autorenrolle und wie sind Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen den frühen Formen einer antiken Geschichtsschreibung und den althebräischen Traditionen genauer zu bestimmen? Ist man geneigt, beide Phänomene aufgrund der materialen und (teilweise) formalen Gemeinsamkeiten möglichst nahe zusammenzurücken, gleichsam als zeitlich und sachliche Parallelentwicklungen in verschiedenen Kulturräumen, dann könnte man die unterschiedliche textimmanente Rolle des Autors so deuten wollen, dass in den alttestamentlichen Werken die 43
H. CANCIK, Zur Verwissenschaftlichung des historischen Diskurses bei den Griechen, in: B LUM, Geschichtsbuch (Anm. 8), 87–100. 44 Übersetzt in Anlehnung an SCHADEWALDT, Anfänge (Anm. 37), 113.
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Sichtung des Materials und die kritische Auswahl jeweils als vorlaufender Prozess vor|auszusetzen sei, während sich eben dieser Prozess in den ionischen Werken teilweise noch spiegele. An neuzeitlichen Maßstäben gemessen kann man zudem durchaus diskutieren, ob die Rationalität eines Hekataios und sogar die Plausibilitätskriterien Herodots denen der biblischen Autoren in jedem Falle historisch überlegen sind. Aus einer solchen Perspektive heraus wäre die zurückhaltende Erzählerrolle alttestamentlicher Tradenten dann eventuell als Ausdruck einer größeren darstellerischen Abgeklärtheit aufzufassen. – Dergleichen Versuche wären jedoch zu kurz gegriffen. Die besagte Differenz lässt sich nicht auf die graduelle Abstufung einer mehr oder weniger aktiven Autorenrolle reduzieren, sondern ist m.E. geradezu kategorial. 120–121 Fundamental für die alttestamentliche Überlieferung ist zunächst das Fehlen der elementarsten Voraussetzung für diskursiv-argumentierende Interventionen des Autors, nämlich ein seinem Werk als Subjekt gegenüberstehendes „Ich“. Die alttestamentliche Prosa ist anonym. An diesem Befund ändern auch zwei scheinbare Ausnahmen nichts grundsätzlich, nämlich die Ich-Erzählungen (dazu im Folgenden!) und die gelegentliche Verbindung einer Buchniederschrift mit einer bestimmten Person. Das bei weitem wichtigste Beispiel für Letzteres bildet die Einführung Moses als Schreiber des deuteronomischen Torabuches im Schlussteil des Deuteronomiums (Kap. 31): V. 9: Mose schrieb diese Tora auf und gab sie den Priestern, den Nachkommen Levis, die die Lade des Bundes ( )בריתJHWHs trugen, und allen Ältesten Israels. (10) Und er befahl ihnen: „Nach sieben Jahren … am Laubhüttenfest (11) … sollst du diese Tora vor ganz Israel vorlesen, (12) … damit sie sie hören und damit sie sie lernen … und darauf achten, alle Worte dieser Tora zu tun.“
Liest man diese Notiz im Kontext weiterer autoreferentieller Aussagen, der Einleitung des Buches in Dtn 1,5: Jenseits des Jordan im Lande Moabs begann Mose, diese Tora klar darzulege n …
und der Bestimmung des Königsgesetzes in Dtn 17,18–19: Wenn er auf seinem Königsthron sitzt, soll er sich eine Abschrift dieser Tora in einem Buch schreiben nach der Vorlage bei den levitischen Priestern … damit er lerne … darauf zu achten, alle Worte dieser Tora … zu tun … , 121–122
dann wird offensichtlich, dass es hier um eine Selbstthematisierung des Deuteronomiums als Tora-Buch geht. Nun ist aber der größte Teil des Deuteronomiums zugleich als Abschiedsrede(n) Moses an seinem letzten Lebenstag gestaltet, eine Rede, die mit einer rekapitulierenden Erzählung des Weges
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Israels vom Gottesberg bis in das Gebiet jenseits | des Jordans und mit weiteren heilsgeschichtlichen Reminiszenzen einsetzt. 45 Vordergründig scheint damit Vieles auf eine explizite Autoren/Erzählerrolle des Mose zu deuten. Dem steht jedoch entgegen, dass die gesamte mit Dtn 1,5 eingeleitete Moserede ihrerseits in eine Narration eingebettet ist, zu der auch der Bericht der Niederschrift durch Mose gehört. Mose erzählt mithin als Figur der Handlung seine eigene (und des Volkes) Geschichte (analog zu Odysseus in Gesang IX–XII der Odyssee).46 Die Erzählerstimme der rahmenden Narration hingegen ist nicht die des Mose, sondern sie bleibt – wie zu erwarten – anonym.47 Unverkennbar bleibt dabei freilich eine elementare Inkohärenz, die darin besteht, dass die von Mose niedergeschriebene Tora textimmanent nicht von dem Buch des anonymen Erzählers (mit dem Bericht dieser Niederschrift) unterschieden wird.48 In der Konsequenz kann dann auf dieses Buch nicht nur als „dieses Torabuch“ (so gleich in Jos 1,8), sondern auch als „Tora(buch) Moses“ (Jos 23,6; 1 Kön 2,3; 2 Kön 14,6; 23,25 etc.) referiert werden. Es ist damit in seiner Triftigkeit und Geltung uneingeschränkt durch die Autorität des Mose verbürgt, ohne dass Mose textintern an irgendeiner Stelle als Autor dem Gesamttext gegenübersteht und in dieser Rolle (implizit oder explizit) den Buchadressaten gegenübertritt. Die Beziehungen zwischen Autor und/oder Rezipienten auf der einen Seite und dem Text auf der anderen Seite bilden die Grundkonstituenten seiner Pragmatik. Auf dieser Ebene – nicht in der Textsemantik – liegt also eine grundlegende Differenz zwischen den israelitischen und den griechischen Prosawerken. Nur in letzteren präsentiert sich der Verfasser als Subjekt, das in einer urteilenden Distanz zu seinem Gegenstand steht und damit zugleich Verantwortung für seine eigene Darstellung übernimmt. In textpragmatischer Hinsicht korrespondieren dieser gegenüber dem Gegenstand distanzierten Autorenrolle nun bestimmte Rezeptionsmöglichkeiten bzw. bestimmte Lesererwartungen. Dazu gehört die grundsätzliche Möglichkeit, den Autor mit seinen Ansprüchen beim Wort zu nehmen, ebenso die Erwar-
45
Siehe dazu zuletzt die Untersuchungen von C. HARDMEIER „zur erinnerungskulturellen Singulärgestalt der deuteronomistischen Tora“, wieder abgedruckt in: DERS., Erzähldiskurs und Redepragmatik im Alten Testament (FAT 46), Tübingen 2005, 95ff. 46 In der Begrifflichkeit von G. Genette fungiert Mose als intradiegetischer Erzähler, der homodiegetisch erzählt. 47 Bezieht man die oben vorgestellten Erläuterungen des anonymen Autors in Kap. 2 und 3 ein, dann ist für ihn zudem eine beträchtliche geschichtliche Distanz des Erzählers/ Autors gegenüber der Mosezeit angezeigt. 48 Anders J.-P. SONNET, The Book within the Book. Writing in Deuteronomy (Biblical Interpretation Series 14), Leiden u.a. 1997, 257f. u.ö.
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tung der Nach|prüfbarkeit, der Nachweisbarkeit etc. Eben in dieser Konstellation von Anspruch und Erwartung konstituiert sich nichts weniger als die uns so selbstverständliche Kategorie der „Historizität“! Als ein Aspekt der Textpragmatik besteht diese Konstellation im Übrigen unabhängig davon, ob oder inwieweit solche auktorialen Ansprüche im Einzelfall sachlich gedeckt sind (dazu sind auch bei Herodot nicht selten Zweifel angebracht) oder ob die historischen Aussagen in einem kontrollierten Procedere gewonnen wurden etc. 49 122–124 Wie verhält es sich demgegenüber in dem Paradigma der biblischen Erzählungen? Der kurze Überblick über die verschiedenen Typen der intervenierenden Erzählerstimme hat gezeigt, dass der Autor sich ohne Weiteres diskursiv unmittelbar an die Rezipienten richten kann; ebenso deutlich ist aber, dass dabei die Möglichkeit einer anderen Darstellung oder auch die Vorinstanz einer auktorialen Urteilsbildung nicht in den Blick genommen werden. Insofern bleibt also der Autor selbst bei solchen Kommentierungen letztlich der Darstellung immanent. Zugleich impliziert dieses Zurücktreten des Autors hinter bzw. in seinen Text einen gleichsam selbstverständlichen Geltungsanspruch der Erzählung, insofern sie sich eben nicht über das „vorgeschaltete“ urteilende Subjekt des Erzählers vermittelt präsentiert. Dies bedeutet, dass sich die Frage der Geltung für die Rezipienten nicht mit dem Erzähler als Autor verbindet, sondern mit der Verlässlichkeit der Überlieferung. In Kulturen, in denen Tradition primär im mündlichen Vortrag (sei es nur mündlich existierender, sei es schriftlicher Texte) vermittelt wird, ist zudem die Gestalt des Erzählers immer „real“ präsent, doch eben nicht eigentlich als Autor, sondern als „Tradent“, der selbst Teil der Überlieferung ist und diese kraft seiner Person, seines Standes und/oder seines Amtes zu autorisieren vermag (siehe auch u. III.). Exakt aus diesem Grunde fallen denn auch die wenigen nicht-anonymen biblischen Erzähltexte, prophetische Ich-Berichte (z.B. Jes *6–8) und die sog. Nehemia-Denkschrift, nicht aus dem beschriebenen Paradigma heraus; schließlich ist die Darstellungsimmanenz des Erzähler in diesen Fällen geradezu idealiter gegeben, insofern er als Akteur sogar Teil der Handlung, nicht nur des Textes ist. – Orientiert man sich an dieser Analogie der IchErzählungen, liegt die Bedeutung der israelitischen (und anderer) Ursprungserzählungen also darin, dass die Erzählgemeinschaft hier „von sich selbst“ erzählt und sich dabei in kollektiver „Anamnese“ selbst definiert. | Zusammengefasst: unbeschadet aller materialen Entsprechungen weisen die israelitischen und die frühen griechischen Prosawerke grundlegend verschiedene pragmatische Strukturen auf. Sie repräsentieren verschiedene Kommunikationsformen! 49
„Historizität“ entsteht hier gleichsam als (implizite) regulative Idee.
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Die Stimme des Autors
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Wie sind diese grundlegenden kulturgeschichtlichen Differenzen zu erklären? Aus unserer neuzeitlichen Perspektive, in der die Kommunikationsform wissenschaftlicher Historiographie zu einer schieren Selbstverständlichkeit geworden ist, mag der skizzierte Umgang mit Geschichte im alten Israel wie ein Sonderfall erscheinen. Tatsächlich verhält es sich umgekehrt. Die alttestamentliche Prosaüberlieferung repräsentiert den „Regelfall“ traditionalen Erzählens, wie es in der Exegese üblicherweise unter dem Vorzeichen der Gattung „Sage“ thematisiert wird. Dagegen ist es in erster Linie die kulturgeschichtliche Sonderentwicklung des ionischen Paradigmas, die der historischen Erklärung bedarf. 124–125
III Historische Theorien über die Genese der spezifischen Wahrnehmungs-, Denk- und Kommunikationsformen bei den Griechen liegen außerhalb alttestamentlicher Fachkompetenz. Immerhin mag von dieser Seite die Erinnerung daran nützlich sein, dass manche der in diesem Zusammenhang diskutierten Entwicklungen und Faktoren nicht ohne Parallelen im Bereich des Alten Orients und der Levante sind. 50 Dies gilt insbesondere für einen historischen Prozess, den Wolfgang Rösler hierfür in Anschlag gebracht hat: Er sieht in den Anfängen der historiographischen Literatur und den darin sich zeigenden „Einstellungen“, in „dem Bestreben, Zeugnisse und Befunde zu sichern, auszuwerten und zu tradieren, und der Bereitschaft, sich mit anderen Positionen, Vorgehensweisen, Wertungen kritisch auseinanderzusetzen“51, primär ein „Folgeprodukt der Schrift“ 52, also einer sich relativ breit durchsetzenden Literalität. So plausibel Röslers Überlegungen im Anschluss an die bekannten Untersuchungen von Jack Goody u.a. zu ora|len Kulturen auch erscheinen, so sehr gibt doch zu denken, dass im Alten Orient, darunter im alten Israel, nicht nur der Gebrauch der (Alphabet-) Schrift, sondern auch die schulmäßige Pflege literarischer Traditionen deutlich älter sind als bei den Griechen, 53 ohne aber die für diese spezifischen kulturellen Entwicklungen zu zeitigen. 125–126 50
So liegt für die gern und gewiss mit Recht hervorgehobene Bedeutung der griechi schen Kolonisation des Mittelmeerraumes und des Fernhandels mit damit verbundenen Erfahrungen anderer Kulturen und „Selbstverständlichkeiten“ selbstverständlich der Blick auf die Phönizier mit ihrer in mancher Hinsicht vergleichbaren ökonomischen und kulturellen Entwicklung nahe. 51 W. RÖSLER , Alte und neue Mündlichkeit. Über kulturellen Wandel im antiken Griechenland und heute, Der altsprachliche Unterricht 28 (1985) 4–26, darin 22. 52 A.a.O., 23. 53 Wegen der geringen Haltbarkeit linear geschriebener Texte des 1. Jahrtausends v. Chr. in Alphabetschrift bildet die im Alten Testament überlieferte Literat ur nach wie vor
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Eben dieser unstrittige, weil triviale Befund impliziert nun freilich im Blick auf die Geschichte Israels einen korrespondierenden Klärungsbedarf zur Frage, wie es auf Seiten Israels zu einer Literaturbildung kommen konnte, die weit über die mündliche Sagenerzählung hinausging, ohne ein Autorenmodell auszubilden, und die statt dessen in einen religiösen Kanon mündete. Für diese Frage empfiehlt es sich, noch einmal bei der Verantwortung des Autors für seinen Text anzusetzen. In der griechischen Historiographie ist diese Verantwortung nicht nur mit der Einführung des Verfassernamens angezeigt, sondern, wie das Beispiel Herodots belegt, auch durch autoreferentielle Äußerungen im Textcorpus. Aber auch beim traditionalen Erzählen kann der Aspekt der Verlässlichkeit des Erzählten nicht einfach suspendiert werden, jedenfalls wenn die Erzählung nicht primär der Unterhaltung dient (wie bei Märchen), sondern die Identität und Lebensgestaltung der Adressaten betrifft. Bedenkt man freilich das primäre Medium traditionaler Narration, den mündlichen Vortrag, so braucht sich der Erzähler hier schlicht deshalb nicht in seinem Text vorzustellen, weil er leibhaftig präsent ist. Er kann mithin – im wörtlichen Sinne – für die Verlässlichkeit seiner Geschichte „einstehen“, und dies mit seiner personalen Präsenz in der Regel wohl wirkungsvoller als ein zumeist nur vermittelt oder auch gar nicht erreichbarer Buchautor. Selbstverständlich können Geschichtenerzähler zur Beglaubigung gegebenenfalls auch auf „Gewährsleute“ rekurrieren, doch bleibt selbst dann ein kategorialer Unterschied zu einem Historiker wie Herodot gewahrt: Sagenerzähler teilen nicht das Ergebnis ihrer Erkundungen mit, sondern sie fungieren ihrem eigenen Anspruch nach als Tradenten, die überkommenen Wissensstoff weitergeben. Die Triftigkeit und Geltung dieser Überlieferungen können dann an der personalen und/oder funktionalen Glaubwürdigkeit der Erzähler oder an einem institutionellen, z.B. kultischen, Erzählkontext hängen oder dank der Identifikation der Hörer mit einer bestimmten Erzählgemeinschaft schlicht gegeben sein. Werden solche Erzählüberlieferungen verschrif|tet, dann erweitert dies die Möglichkeiten der narrativen Gestaltung. Es verändert aber nicht die grundsätzliche kommunikative Konstellation, sofern solche Texte weiterhin mündlich, eventuell in vergleichbaren institutionellen Kontexten vorgetragen wurden: Die Situation der personal vermittelten Tradition bleibt unverändert. 126–127 Aus anderer Perspektive kann man auch sagen: Die Anonymität von religiös und lebensweltlich bedeutsamer Traditionsliteratur entspricht deren innerer kommunikativer Logik; dazu fügt sich ja auch wohl der Befund im ganzen Alten Orient, einschließlich eines Großteils der mythologischen das umfangreichste Korpus. Für die Frühzeit ist nun aber auch auf die literarischen Texte der Wandinschriften vom Tell Deir ‘Alla (im östlichen Jordangraben; vermutlich ausgehendes 9. Jh. v. Chr.) zu verweisen.
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Die Stimme des Autors
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Epik.54 Umso mehr fällt auf, dass bei den Griechen auch schon die epische Tradition sich von dem dominierenden altorientalischen Muster abhebt. Damit könnte sich nun tatsächlich eine signifikante Spur unterschiedlicher Entwicklungslinien auftun: Die epische Dichtung über die griechische Götter- und Heroengeschichte firmiert unter wohlbekannten Autorennamen: Homer und Hesiod. Mehr noch, das textimmanente Ich dieser Sänger reklamiert einen Wahrheitsanspruch, der sich nicht auf Tradition, sondern auf göttliche Inspiration beruft.55 Besonders eindrücklich ist hierzu die | Berufung Hesiods zum Sänger durch die Musen zu Beginn seiner Theogonie (Verse 22–35); einschlägig sind aber auch die Musenanrufungen bei Homer. Bedenkt man, dass ein Autor wie Hekataios seinen Wahrheitsanspruch nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit diesen „kanonischen“ Sängern behaupten muss, dann liegt es nahe, im Anschluss an Wolfgang Rösler56 das autonom-auktoriale Ich der Logographen und Historiographen als eine Transformation des inspirierten Ichs der Epiker zu verstehen. Die frühen
54
Die zahlreichen Kolophone der (mesopotamischen) Keilschriftliteratur nennen in der Regel die Schreiber bzw. Eigentümer, nur selten Verfasser; vgl. W.G. LAMBERT, Ancestors, Authors, and Canonicity, JCS 11 (1957) 1–14; H. UNGER , Babylonische und assyrische Kolophone (AOAT 2), Kevelaer/Neukirchen-Vluyn 1968, 8f. Eine häufig zitierte Ausnahme bildet die namentliche Zuschreibung des Erra-Epos (siehe die nächste Anm.). Ob der in KTU 1.6 VI 54–58 (u.ö.) genannte ugaritische Beamte Ilimalku auch so etwas wie Verfasserschaft beansprucht, geht aus den Kolophonen nicht hervor. Ein Kolophon Assurbanipals (UNGER, a.a.O., Nr. 318): „Assurbanipal, der große König, der starke König, der König des Alls, der König des Landes Assur, der Sohn des Asarhaddon, des Königs des Landes Assur, des Sohnes des Sanherib, des Königs des Landes Assur. Nach dem Wortlaut von Ton- und Holztafeln, Exemplaren des Landes Assur, des Landes Sumer und Akkad, habe ich diese Tafel in der Versammlung der Gelehrten geschrieben, geprüft und kollationiert und zum Lesen für meine Majestät innerhalb meines Palastes aufgestellt. Wer meine Inschrift auslöscht und seinen Namen hineinschreibt, dessen Namen möge Nabû, der Schreiber des Alls, auslöschen!“, wird von MACHINIST, Voice (Anm. 36), 128, folgendermaßen kommentiert: „Implied here, but not clarified, is the possibility that the copying involved making a choice among competing textual variants in the models.“ Auch wenn man den vorsichtig erwogenen „textkritischen“ Umgang mit Textvorlagen (vgl. dazu auch UNGER , a.a.O., Nr. 164, 163 und viele ähnliche mehr) einmal unterstellt, ist von da noch kein direkter oder indirekter Weg zum Konzept einer kritisch-verantwortlichen Autorschaft zu denken. 55 Interessant ist in diesem Zusammenhang das Kolophon des akkadischen Erra -Epos (IV, 42ff.), das als Verfasser einen Kabti-Ilani-Marduk nennt, dem das Lied in der Nacht offenbart worden sei (vgl. ähnlich UNGER, a.a.O., Nr. 290!). Die darauf folgenden metatextuellen (!) Empfehlungen zur apotropäischen Pragmatik der Schrifttafeln dieses Epos durch den Gott Erra selbst unterstreichen noch den göttlichen Ursprung des Textes. 56 W. RÖSLER , Die Entdeckung der Fiktionalität in der Antike, Poetica 12 (1980) 283 – 319.
102
Die Stimme des Autors
[127–128]
Prosaschriftsteller gründen ihren eigenständigen Umgang mit dem überkommenen Stoff der Sänger und der Sagen nicht mehr auf göttliche Berufung; an deren Stelle tritt das auktoriale Urteil, das seinerseits dem kontroversen literarischen Diskurs ausgesetzt bleibt. Für eine analoge Transformation fehlt im alten Israel die entscheidende Voraussetzung: das Ich des be-geisterten Sängers/Dichters. Zwar kennen wir auch hier ein in göttlicher Autorität sprechendes Ich, aber ausschließlich bei den Propheten, und diese erzählen keine Ursprungsgeschichte, sondern sie reden diskursiv von Gegenwart und Zukunft. Episch „erzählende“ Dichtung mag es auch in Israel gegeben haben; sicher zu belegen ist es nicht. Einzelne überlieferte Lieder oder Sprüche werden gern entweder anonymen „Schriften“ zugeschrieben 57 oder – sekundär – prophetischen Gestalten58. Namentlich gerühmte Poeten, neben/an denen sich Prosaschriftsteller hätten profilieren können, gab es jedenfalls nicht. In diesem Sinne bestätigt sich also die traditionale Erzählung als das Paradigma, das die Pragmatik und Darstellungsweise auch der großen schriftlichen Werke in Israel entscheidend prägt. 127–128 Kunstvolle Einzelsagen, Erzählungszyklen oder auch novellistische Großerzählungen reichen aber als „Bauelemente“ für ein literarisches Werk wie das „deuteronomistische Geschichtswerk“ nicht hin. Andere Gattungen, auf welche die Autoren solcher Werke zurückgreifen konnten, waren vermutlich schulmäßiger, in Listen zusammengestellter Wissensstoff und bei Hof geführte Annalen. Letztere lieferten nicht nur das Grundgerüst für die Darstellung der Königszeit, sondern implizieren auch die Organisation großer zeitlicher Horizonte mit Hilfe der Chronologie. Auch diese über Generationen geführten Chroniken waren ihrer inneren Logik nach aber anonym (unbeschadet dessen, dass in | ihnen unter anderem auktorial stilisierte Königsinschriften verarbeitet sein mögen). Damit sind die Hauptingredienzien für die Herausbildung der israelitischen Geschichtswerke schon benannt. Am Anfang der literarischen Prosaüberlieferung standen – anders als in Ionien (und anders als im altorientalischen Kontext?) – verschriftete Erzählzyklen bzw. Großerzählungen. Als eine solche ist im Alten Testament noch die Jakoberzählung der Genesis erkennbar, die als Ursprungsgeschichte des Nordreiches wahrscheinlich in der Gründerzeit von Nord-Israel formuliert und im Staatsheiligtum zu Bethel tradiert wurde. Auch die Erzählung vom Sturz der Omridynastie durch den Begründer der Jehudynastie würde ich dazu rechnen. In Juda dürften Abrahamüberlieferungen und die ältesten Saul- und Davidzyklen am Anfang gestanden haben. 57 58
Vgl. Num 21,14f.(17f.27–30); Jos 10,(12–)13aβ (>LXXBA); 2 Sam 1,18(–27). Vgl. Ex 15 (Lied Moses und Mirjams); Ri 5 (Debora).
[128–129]
Die Stimme des Autors
103
Die Zusammenstellung weitergreifender Werke begann in Israel – ebenso wie bei den Griechen – nicht mit „Neuerer Geschichte“, sondern mit Kompositionen zur Ursprungsgeschichte. Dazu rechne ich eine wohl im Juda des 7. Jahrhunderts, also nach dem politischen Untergang des Nordreiches, entstandene Mose-Exodus-Geschichte, welche die nordisraelitischen Exodustraditionen literarisch rezipiert, sie aber polemisch gegen den untergegangenen Staatskult des Nordens wendet und damit zugleich die Identität des Südreiches Juda partiell neu definiert. Parallel dazu bzw. bald danach haben radikalere „Reformer“ das deuteronomische Programm entwickelt, das dann die konzeptionelle Grundlage für das erste bis an die Gegenwart des Autors reichende Geschichtswerk wurde. Dieses Werk hat den politischen Untergang nun auch des Südreiches Juda zur Voraussetzung. Es beginnt mit einer neuformulierten „Verfassung“, der Mose-Tora im Deuteronomium, und endet mit der Zerstörung Jerusalems und der Exilierung von Königshaus und Angehörigen der gesellschaftlichen Elite Judas. In diesem Werk wird nun auch erstmals höfisches Annalenmaterial integriert. Es bildet das Rückgrat für die Darstellung der Königszeit, die mit Hilfe theologisch-programmatischer Elemente als eine in der Tendenz abfallende Linie kultischer Reformen und Gegenreformen profiliert werden konnte. Am Ende dieser Dynamik stand unabweisbar zunächst das politische Ende des Nordreiches, sodann des Südreiches. 128–129 Mit seiner epochenübergreifenden Geschichtsdarstellung bildete dieses exilische Geschichtswerk etwas Neues, jedenfalls nach Maßstäben des Alten Orients. Das leitende Interesse war allerdings nicht ein schriftstellerischsystematisierendes, sondern ein geschichtstheologisches. Letztlich geht es um die Frage einer Zukunft für Juda/Israel als Volk JHWHs. | Die Erfahrungen der Katastrophen von Israel und Juda nötigten also zur geschichtlichen Zusammenschau. Aber die wesentlichen literarischen Ingredienzien waren schon vorgegeben: reiche literarische Erzähltraditionen auf der einen Seite und die eher berichtenden Annalen der Hofschreiber auf der anderen Seite, aber auch die konzeptionelle Verbindung verschiedener „Zeiten“ in einem geschichtlichen Kontinuum. In seiner Grundfassung dürfte das deuteronomistische Geschichtswerk von einem einzelnen Autor verfasst worden sein. Dennoch tritt dieser Autor nahezu völlig hinter seine Darstellung zurück – nicht anders als in den lebendigen, von ihm teilweise eingearbeiteten Erzählungen. Auch sein Geschichtswerk ist in diesem Sinne keine Geschichtsschreibung, sondern Traditionsliteratur, in der Rückschau könnte man auch sagen: proto-kanonische Literatur. 129
104
Die Stimme des Autors
[129]
Zwischen Literarkritik und Stilkritik Die diachrone Analyse der literarischen Verbindung von Genesis und Exodus – im Gespräch mit Ludwig Schmidt In seinem jüngsten Beitrag in der ZAW 1 konzentriert sich L. Schmidt mit sicherem Griff auf einen der neuralgischen Bereiche jeder Pentateuchanalyse: die literarische Verbindung der Erzeltern- und der Exodusüberlieferungen.2 Seine Analyse kann sich auf eine intensive, langjährige Beschäftigung mit diesem Textbereich stützen; 3 schon von daher verdient diese konsequent vorgetragene Verteidigung der klassischen Urkundenhypothese im Bereich von Genesis und Exodus eine sorgfältige Prüfung. Zugleich bestätigt sich hier wie in manch anderen Zusammenhängen unserer Disziplin, dass die wesentlichen Argumente seit einiger Zeit auf dem Tisch liegen – unbenommen interessanter Neubeobachtungen im Einzelnen und profilierender Abwägungen im Ganzen. Gerade in einer solchen Situation erscheint es mir geboten, gezielt nach den Gründen und Voraussetzungen für die nachhaltige Divergenz der Analysen zu fragen. In diesem Sinne wird der folgende Diskussionsbeitrag sich an die sachliche Zweiteilung (Josephgeschichte / Übergang Genesis–Exodus) halten, zugleich aber auch methodologische Gesichtspunkte aufgreifen.
I. Die nichtpriesterliche Josephgeschichte Kein anderer Textzusammenhang ist seit den Anfängen der Literarkritik derart konträr analysiert worden wie die Josephgeschichte. Den Grund dafür 1 L. SCHMIDT, Die vorpriesterliche Verbindung von Erzvätern und Exodus durch die Josefsgeschichte (Gen 37; 39–50*) und Exodus 1, ZAW 124 (2012) 19–37. Der Beitrag wird im Folgenden als „Schmidt“ zitiert. 2 Nicht ohne Grund handeln sechs der neun Beiträge in dem Sammelband T H.B. DOZEMAN / K. SCHMID (Hg.), A Farewell to the Yahwist? The Composition of the Pentateuch in Recent European Interpretation (SBL Symposium Series 34), Atlanta 2006, schwerpunktmäßig von diesem Textbereich. 3 L. SCHMIDT, Literarische Studien zur Josephsgeschichte (BZAW 167), Berlin / New York 1986, 121–297.
106
Zwischen Literarkritik und Stilkritik
[492–493]
bildet ihr Charakter als novellistisch ausgeführte Großerzählung, | der sie so evident von den mehr oder weniger episodisch angelegten Erzählungen bzw. Erzählkreisen in der Genesis unterscheidet. So notiert einerseits bereits Theodor Nöldeke (1869), es sei „ein wahrhaft verfehltes Beginnen …, diese fliessende Erzählung nach Quellen zerstückeln zu wollen“ 4. Ausdrücklich dagegen insistiert Julius Wellhausen: „Ich halte das Beginnen, ‚diese fliessende Erzählung von Joseph nach Quellen zerstückeln zu wollen‘, nicht für verfehlt, sondern für so notwendig, wie überhaupt die Dekomposition der Genesis.“5 Dazu verweist er auf Wilhelm M.L. de Wette, der wiederum Karl D. Ilgen rezipierte.6 Symptomatisch ist dann die Position Gerhard von Rads, der die novellistische Gestalt des Ganzen nachempfindet und in seinen Interpretationen sich schlicht auf „die Josephsgeschichte“ bezieht, 7 aber zugleich – jedenfalls im Grundsatz – die Zusammenarbeitung zweier Versionen (J/E) unterstellt. Herbert Donner schließlich sieht darin eine Inkonsequenz und begründet (1976, noch unter der selbstverständlichen Voraussetzung der Urkundenhypothese!) die These einer einheitlichen und eigenständigen „Josephnovelle“, die nur durch punktuelle „Zusätze und Ergänzungen“ fortgeschrieben und erst vom „jehovistische(n) Redaktor“ in JE integriert worden sei.8 Gerade seit Donners Untersuchung wird die literarische Einheitlichkeit der Erzählung zunehmend vertreten, gleichwohl mangelt es auch heute nicht an redaktionsgeschichtlichen oder auch quellenkritischen Entstehungshypothesen. Worin liegt dieser polare Dissens begründet? 492–493 1. Die Unterscheidung zwischen (In-)Kohärenz und (Un-)Einheitlichkeit
4 93 – 4 9 4
Es ist bemerkenswert, dass die für ihre Erzählkunst gerühmte Josephgeschichte sogleich in ihrer Eröffnung (Gen 37) eine Reihe unverkennbarer Inkohärenzen aufweist. Am gewichtigsten ist wohl die Leerstelle in Bezug 4
T H. NÖLDEKE, Die sog. Grundschrift des Pentateuchs, in: DERS., Untersuchungen zur Kritik des Alten Testaments, Kiel 1869, 1–144, hier 32. 5 J. WELLHAUSEN , Die Composition des Hexateuchs und der historischen Bücher des Alten Testaments, Berlin 1899 3, 52. Das Nöldeke-Zitat ist unverkennbar, auch wenn es weder exakt markiert noch die Quelle angegeben ist. H. DONNER, Die literarische Gestalt der alttestamentlichen Josephsgeschichte (SHAW.PH 1976/2), Heidelberg 1976, 7 –9, der den Nöldeke-Bezug anscheinend nicht bemerkt hat, nimmt eine Art inneren Monolog Wellhausens an. 6 W.M.L. DE WETTE , Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament II, Halle 1807, 142– 168; K.D. ILGEN, Die Urkunden des Jerusalemischen Tempelarchivs in ihrer Urgestalt, Bd. 1: Die Urkunden des ersten Buchs von Moses in ihrer Urgestalt, Halle 1798. 7 So in G. VON RAD, Josephsgeschichte und ältere Chokma, in: Congress Volume Copenhagen 1953 (VT.S 1), Leiden 1953, 120–127 (= Gesammelte Studien zum Alten Testament [ThB 8], München 1958, 272–280); DERS., Das erste Buch Mose. Genesis (ATD 2/4), Göttingen 1972 4. 8 D ONNER , Gestalt (Anm. 5), zusammenfassend 25–26.47.
[493–494]
Zwischen Literarkritik und Stilkritik
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auf Benjamin. Einerseits ist er in Josephs zweitem Traum mit den Gestirnen zweifellos bei den Brüdern mitgezählt (37,9–10), andererseits lässt | die Darstellung der Vorliebe des Vaters für Joseph als den Spätgeborenen vor all (!) seinen Söhnen (37,3) wie auch die Schilderung des Hasses und der brutalen Anschläge der anderen auf Joseph keinen Platz für einen „kleinen“ Bruder Josephs. In 42,4 wird dieser aber – scheinbar beiläufig – erwähnt und spielt von da an eine Schlüsselrolle 9 in der dramatischen Handlungsführung bis zur Selbstkundgabe Josephs (42,13.15–20.32–38; 43,5–14.15ff.; 44,2– 34).10 Wie ist diese massive narrative Inkohärenz zu erklären? Quellenkritische oder redaktionsgeschichtliche Entstehungshypothesen bieten hierzu keine Lösung,11 schließlich lässt sich die Rolle Benjamins aus der Substanz des Plots nicht heraustrennen. Vielmehr ist der Befund auf gestalterische „Zwänge“ zurückzuführen: Offenbar zog der Erzähler es vor, das heikle Thema Benjamin zu Anfang (nahezu) völlig auszublenden, um so eine ungehinderte Fokussierung auf die Sonderstellung Josephs und den Konflikt mit „den“ Brüdern zu ermöglichen. Die Auslassung bildet demnach ein relativ drastisches Mittel der narrativen „Ökonomie“; sie ist als solche für hebräische Erzählungen freilich nicht untypisch. Bekannt ist etwa die Leerstelle in der ersten Ahnfrauerzählung (Gen 12,10–20): Die Leser erfahren nicht, 9 Die genauere Charakterisierung Benjamins wird bezeichnenderweise in 43,29 nach geholt, bei der Begrüßung des Bruders. 10 Häufig wird in diesem Zusammenhang auch die Rede von „deine Mutter“ in der Deutung von Josephs zweitem Traum (37,10) diskutiert; s. zuletzt eingehend J. EBACH, Genesis 37–50 (HThKAT), Freiburg/Brsg. u.a. 2007, 68–70. Sollte damit Rahel gemeint sein, ergäbe sich eine Spannung zu der mit Rahels Grab verbundenen Tradition vom Tod Rahels bei der Geburt Benjamins (35,16–20). Bei Lichte besehen bildete dann freilich das konsequente Schweigen von Rahel im Schlussteil von Gen 37 und bei den Auseinandersetzungen um Benjamin einen noch größeren Anstoß. So mag אני ואמךin 37,10 schlicht das noch lebende Elternpaar (!), d.h. neben Jakob noch Lea, meinen (so wohl auch Gersonides z.St.: )יעקב ואשתו. 11 L. SCHMIDT erklärt sich den Befund für seinen J-Faden damit, dass Benjamin darin „noch ein Kind war, als die anderen Brüder Joseph verkauften“ (Studien [Anm. 3], 275). Eben dies wird in „J“ gerade nicht erzählt und auch nicht mit der Frage Josephs zu Ben jamin in 43,29 angedeutet (so Schmidt): Zum einen erkennt Joseph den jüngeren Bruder schon in 45,16 („J“), zum anderen muss er in der Szene von 45,26ff. die Erfüllung seiner vorausgegangenen Bedingung (vgl. 43,3ff.) thematisieren (inkognito!). Für seinen E-Faden postuliert Schmidt dagegen eine andere Position Benjamins: Er habe hier „Anteil an der Schuld der Brüder“ und gegenüber diesen auch keine bevorzugte Stellung (a.a.O., 284). Dem widersprechen jedoch die E zugewiesenen Verse 42,3–4 und 45,22 (Das Argument, E sei hier von J abhängig [a.a.O., 281], überzeugt nicht: Was nötigt einen Autor, Motive zu übernehmen, die seine narrative Logik konterkarieren?). Angesichts der Formulierung in 42,4: „Aber Benjamin, den Bruder Josephs, sandte Jakob nicht mit seinen Brüd ern, denn er dachte: Es könnte ihm ein Unglück widerfahren.“ hätte für „E“ zudem nichts anderes zu gelten als für „J“: „… Benjamin war ja durch die gemeinsame Mutter mit Joseph besonders verbunden und konnte deshalb für den Verfasser Joseph nicht gehaßt haben.“ (a.a.O., 275)
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Zwischen Literarkritik und Stilkritik
[494–495]
woher Pharao weiß, dass und | weshalb er und sein Haus um Saras willen mit Plagen „geschlagen“ wird. Entsprechende weitläufige Ausführungen würden die Aufmerksamkeit von der Hauptlinie der Episode ablenken; so können sie ausgespart bleiben. Eine umfänglichere Sammlung ähnlicher narrativer Ellipsen hat bereits W. Baumgartner zusammengestellt. 12 494–495 Auch wenn solche Phänomene von den Erzählern in Kauf genommen oder als Stilmittel eingesetzt wurden, bleiben sie gleichwohl narrative Inkohärenzen. Dieser Befund macht es notwendig, zwischen synchroner „Inkohärenz“ und diachroner „Uneinheitlichkeit“ sachlich und begrifflich zu unterscheiden.13 Die gängige synonyme Verwendung der Termini verdeckt und fördert lediglich eine verbreitete Kurzschlüssigkeit, in der gegebene InkohärenzBefunde als Symptome der Text-Diachronie gedeutet werden. Letzteres ist zweifellos eine Möglichkeit, jedoch nur eine neben weiteren, z.B. dass eine stilistisch nicht als abweichend empfundene Inkohärenz vorliegt (s.o.) oder eine als Kunstmittel „bewusst“ eingesetzte Abweichung oder eine vom primären Verfasser schlicht nicht beachtete Störung etc. – Ebenso zu beachten ist freilich die Umkehrung: Ein Text, der sich auch bei genauer Analyse als kohärent darstellt, ist damit noch nicht als einheitlich erwiesen. Ein solcher Schluss wäre nur unter der (leicht zu widerlegenden) Prämisse vertretbar, dass Entstehungsprozesse, die in einem Textabschnitt keine Störungen als Spuren hinterlassen, grundsätzlich auszuschließen sind. So trivial diese Überlegungen auch sein mögen, spielen sie in der exegetischen Praxis selten eine erkennbare Rolle. Der Grund ist leicht nachvollziehbar: Sie schwächen in irritierender Weise die Eindeutigkeit des Zugriffs der regelgeleiteten Analyse. Pointiert formuliert steht die Exegese hier jedoch vor der Alternative eines pseudo-historischen Glasperlenspiels (mit mehr oder weniger eindeutigem Regelwerk) und einer historisch arbeitenden Disziplin mit einem komplexen Gegenstand, die sich immer wieder ihre Grenzen vergegenwärtigt. |
12 W. B AUMGARTNER , Ein Kapitel vom hebräischen Erzählungsstil, in: H. SCHMIDT (Hg.), ΕΥΧΑΡΙΣΤΗΡΙΟΝ. Studien zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, FS H. Gunkel (FRLANT 19/1), Göttingen 1923, 145–157. Er konzentriert sich dabei auf bestimmte Konfigurationen wie „Auftrag und Ausführung“. 13 Die vorgeschlagene terminologische Unterscheidung ist im Deutschen selbstverständlich arbiträr. Sie orientiert sich freilich an der dominanten Verwendung von „Kohärenz“ (und Derivaten) als synchroner Beschreibungskategorie in der Linguistik und von „Uneinheitlichkeit“ im exegetischen Sprachgebrauch. Zu dem hier wiederholten Vorschlag vgl. schon E. B LUM , Von Sinn und Nutzen der Kategorie „Synchronie“ in der Exegese, in: W. DIETRICH (Hg.), David und Saul im Widerstreit – Diachronie und Synchronie im Wettstreit. Beiträge zur Auslegung des ersten Samuelbuches (OBO 206), Freiburg/Schweiz u. Göttingen 2004, 16–30, hier 27.
[496]
Zwischen Literarkritik und Stilkritik
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2. Literarkritische Indizien vs. Stilmittel 496 Die überlieferte Josepherzählung weist zahlreiche Wiederholungen von Erzählmotiven, Szenen etc. auf, wie etwa die Doppelung der Träume Josephs, der Mitgefangenen im Kerker und des Pharao. Donner, der dem Phänomen genauer nachging, spricht von einem „Kompositionsprinzip der Doppelung“14. Dabei sollte freilich nicht aus dem Auge verloren werden, dass es hier im Grunde um ein breiteres Phänomen geht: Weder beschränken sich die Wiederholungen auf Doppelungen,15 noch handelt es sich um ein Spezifikum dieser Erzählung. Vielmehr lassen sich strukturierte Wiederholungen/Redundanzen auf allen Textebenen, von Phrasen und Sätzen über Erzählmotive und Szenen bis hin zu Teilepisoden als rekurrentes Gestaltungsmittel in unterschiedlichen alttestamentlichen 16 Erzähltexten nachweisen.17 Es ist ein Kennzeichen „gehobener Prosa“, in der mitunter die Abgrenzung von „Poesie“ im althebräischen Sinne fließend werden kann. 18 Zugleich bleibt das Ausmaß wiederholender Variationen von Formulierungen und Handlungselementen innerhalb der Josephgeschichte bemerkenswert. Literarkritischen Zugängen, die von einer Arbeitshypothese mit parallellaufenden Quellen ausgehen, kann sich dadurch umgekehrt immer wieder Stoff für eine Aufspaltung in Parallelfäden anbieten, zumal dann, wenn die Unvollständigkeit des einen oder anderen „Fadens“ von vornherein zugestanden wird. Die Entschiedenheit, mit der sowohl die Einheitlichkeit als auch die Zusammengesetztheit gerade dieser Erzählung verfochten werden, hat wohl in dem skizzierten formalen Charakter des Gesamttextes einen ihrer hauptsächlichen Gründe. Komplizierend kommt hinzu, dass auch ein Nebeneinander von Doppelungen als Gestaltungsmittel bzw. als redaktionelles Produkt nicht von vornherein auszuschließen ist. So vermögen auch Quellenscheidungen längst
14 15
DONNER , Gestalt (Anm. 5), 36. EBACH, Genesis (Anm. 10), 34, verweist etwa auf die insgesamt drei Traumpaare, Josephs dreifachen Aufstieg in Ägypten und die drei Reisen der Jakobleute nach Ägypten. 16 Diese Stilmittel literarischer Prosa sind auch in der engen Umwelt Israels gut belegt. Am Beispiel der Bileaminschrift vom Tell Deir ‘Alla soll dies an anderer Stelle ausgeführt werden. Vgl. aber bereits D. T ALSHIR (mit E. QIMRON), The Bird Names in the Deir ‘Allā Inscription (hebr., 1995), in: D. T ALSHIR , Living Names. Fauna, Places and Humans (hebr.) (Asuppot 6), Jerusalem 2012, 39–46. 17 Für diverse Exempel aus der Jakoberzählung s. E. B LUM, The Jacob Tradition, in: C.A. EVANS u.a. (Hg.), The Book of Genesis: Composition, Reception, and Interpretation (VT.S 152), Leiden 2012, 181–211, darin 187–190, sowie generell SH. B AR-EFRAT, Narrative Art in the Bible (JSOT.SS 70), Sheffield 1989 (s. im Sachregister den Eintrag „Repe tition“). 18 Grundlegend dazu J.L. K UGEL, The Idea of Biblical Poetry. Parallelism and its History, New Haven 1981, 59–95.
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Zwischen Literarkritik und Stilkritik
[496–497]
nicht alle Doppelungen innerhalb des Plots aufzulösen, rech|nen also implizit oder explizit19 mit einem entsprechenden Gestaltungsmittel. Für das methodische Vorgehen kann dies im Grunde nur bedeuten, dass die Optionen einer narratologischen und einer literarkritischen Erklärung mit gleicher Intensität durchgespielt und die jeweils postulierten primären Erzählungen auf die höhere Schlüssigkeit und narrative Plausibilität hin gegeneinander abgewogen werden. Ein solches Idealprogramm lässt sich in diesem Rahmen naturgemäß nicht durchführen. Immerhin kann die dezidiert literarkritisch prozedierende Analyse von Ludwig Schmidt hier mit synchron ausgerichteten Perspektiven konfrontiert werden. 496–497 Besonders auffällige Inkohärenzen weist die Josepherzählung im zweiten Teil von Gen 37 auf. Mit einer beeindruckend langen Forschungstradition20 vertritt Schmidt hier denn auch die Unterscheidung einer Juda-IsmaeliterVersion (ohne die Zisterne), in der Joseph auf Anraten Judas von seinen Brüdern an die Ismaeliter verkauft wurde (V. 25–27.28aβ), und einer RubenMidianiter-Version (V. 19–20.22.24.28aαb.29–30), in der Ruben Joseph zwar vor der Tötung durch die Brüder rettet, mit dem Vorschlag, ihn in die Zisterne zu werfen, aber ungewollt dessen Verschleppung nach Ägypten vorbereitet, weil vorbeiziehende Midianiter den Bruder herausholen und mitnehmen. Letztere Linie („E“) scheint sich in Josephs Aussage zu spiegeln, er sei aus dem Hebräerland verschleppt/gestohlen worden (40,15), erstere („J“) in seiner Formulierung, die Brüder hätten ihn nach Ägypten verkauft (45,4.5). Der überlieferte Zusammenhang ist demgegenüber von einiger Turbulenz, insofern Ruben den ungeliebten Joseph zwar vor der unmittelbaren Tötung bewahrt, Juda aber die Brüder überzeugt, diesen an heranziehende ismaelitische Händler zu verkaufen. Bevor sie dies tun können, kommen ihnen jedoch unbemerkt Midianiter zuvor, die ihrerseits Joseph an die Ismaeliter verkaufen. Erst Ruben, der Joseph wieder aus der Zisterne holen wollte, bemerkt voll Entsetzen sein Verschwinden und informiert die anderen. Es ist eine Verkettung böser und guter Absichten sowie unglücklicher „Zufälle“ mit katastrophalem Ausgang. Soll dieser Ablauf, der einer Kontrolle durch die Brüder zunehmend entgleitet, schon die höhere Hand anzeigen, die Joseph im Rückblick am Werk sehen wird (45,5–8; 50,20)? So soll es wohl gelesen werden; ist es aber der primäre Zusammenhang? Kaum damit vereinbar bleibt zum einen die Rede vom Verkauf Josephs durch die Brüder in
19 So schreibt auch SCHMIDT (Anm. 1), 22f., die zwei Träume Josephs in Kap. 37 ausdrücklich einem „Stil der Verdoppelung“ zu. 20 Vgl. I LGEN, Urkunden (Anm. 6), 418f.447–449; DE WETTE , Beiträge (Anm. 6), 142– 145.
[497–498]
Zwischen Literarkritik und Stilkritik
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45,4–5.21 Darüber hinaus ist in | V. 27–30 ein auffälliger Handlungsabbruch zu konstatieren: Die Brüder, die sich soeben zum Verkauf Josephs an die Ismaeliter entschlossen haben (V. 27b), bleiben inaktiv, bis sie von Ruben vom Verschwinden des Bruders gehört haben. Das Problem verschärft sich noch, wenn man mit Rüdiger Lux unterstellt, dass Ruben den Verkauf durch die Brüder vereiteln wollte und deshalb vorab zur Zisterne zurückkehrte. 22 Wie soll in diesem raschen Ablauf die heimliche Entführung Josephs durch die unvermittelt auftretenden Midianiter mit dem Verkauf an die Ismaeliter szenisch verortet werden? Dabei war die ismaelitische Karawane soeben (V. 25–27) noch im szenischen Hintergrund präsent, für Ruben aber ist sie (mitsamt Midianitern) bereits verschwunden. Der Ausweg einer vorzeitigen Lesung von V. 28a („Midianitische Händler hatten aber …“) ist sprachlich ausgeschlossen; sie müsste am Anfang durch eine Inversion (we-x-qatal) markiert sein.23 Diachron signifikant wird die Inkohärenz insbesondere angesichts des unerklärlichen Kontrastes zu der sorgfältig ausgeleuchteten Szenerie im unmittelbaren Vorkontext (37,17–27).24497–498 Damit verglichen beeindrucken die rekonstruierten Ruben- bzw. JudaVersionen in Kap. 37 durch die Geradlinigkeit ihres Plots. Gleichwohl bieten sie keine tragfähige Lösung. Ein erstes deutliches Indiz ergibt sich aus der supponierten Fortführung der Ruben-Linie in 42,21–22. Das Bekenntnis ihrer Mitleidlosigkeit und Schuld gegenüber Joseph durch die Brüder wird hier von Ruben mit der Anklage verstärkt, sie hätten ja auf seine Warnung, sich an dem „Kind“ nicht zu versündigen, nicht gehört. Gemessen an der für Gen 37 postulierten E-Version stellte Ruben damit den Sachverhalt auf den Kopf. Die Grube, aus der die Midianiter dann Joseph entführten, war sein Vorschlag, insofern könnte er sich in die Selbstbezichtigung der Brüder ausdrücklich einschließen – oder schweigen. Da eine nachträgliche Umdeutung 21 Der beredte Widerspruch von B. J ACOB, Das Buch Genesis, Stuttgart 2000 (Nachdruck der Originalausgabe Berlin 1934), 812f., wonach hier vom „Verkaufen“ der Brüder als Antithese zum „Senden“ Gottes die Rede sei, gibt zwar zu denken (vgl. auch I. W ILLIP LEIN, Historiographische Aspekte der Josefsgeschichte, Henoch 1 [1979] 305–331, hier 315 = DIES., Sprache als Schlüssel. Gesammelte Aufsätze zum Alten Testament, hg. von M. Pietsch und T. Präckel, Neukirchen-Vluyn 2002, 60–78, hier 67f.), doch wären dafür ohne weiteres auch mit 37,28 kompatible Formulierungen denkbar (mit בגד, התנכלo.Ä.m.). 22 R. LUX, Josef. Der Auserwählte unter seinen Brüdern (Biblische Gestalten 1), Leipzig 2001, 90. Die paraphrasierende Nacherzählung: „Der Vorschlag Judas zwang Ruben, umgehend seinerseits aktiv zu werden … Deswegen machte er sich sofort auf und kehrte zur Grube zurück …“ (ebd.), setzt im Übrigen Akzente, die hebräisch wohl andere Verben der Bewegung als das וישבin V. 29a erwarten ließen. 23 Eine abweichende Syntax aus Nachlässigkeit des Erzählers ist höchst unplausibel. Die biblischen Autoren/Tradenten formulieren in dieser Hinsicht mit schlafwandlerischer Sicherheit: Unter tausenden von Prosasätzen ist keine gesicherte Ausnahme bekannt. 24 Vgl. die Inszenierung der Ankunft Josephs zwischen V. 17 und V. 23 und die detaillierte Einführung der Ismaeliter in V. 25.
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Zwischen Literarkritik und Stilkritik
[498–499]
durch Ruben narrativ keinen Sinn ergibt, zeigt allein schon dieses Detail, dass die gängige J/E-Scheidung in Bezug auf das Nebeneinander von Ruben/ Juda und Midianiter/Ismaeliter | am Text nicht aufgeht (Analoges gilt für die redaktionsgeschichtliche Annahme einer Ruben-Grundschicht).498–499 Bestätigt wird dieses Urteil durch deutliche Defizite der rekonstruierten Parallelerzählungen schon in Gen 37. Insbesondere kann keine der beiden eine narrativ bündige Begründung für den Anschlag auf den Bruder vorweisen, am wenigsten „E“.25 Nach Schmidt bleibt hier nur der Satz von V. 11a vom Neid26 auf Joseph im Anschluss an dessen Traumerzählungen. Dies leuchtet umso weniger ein, als es sich dabei genau besehen um ein Nebenmotiv handelt, wie die Position nach der Zurechtweisung Josephs durch den Vater und vor der Kontrastaussage „sein Vater aber merkte sich die Sache“ zeigt. Für „J“27 bleibt immerhin der Bruderhass auf den Lieblingssohn in V. 4, doch auch dies – bis auf die – כתנת פסיםohne narrative Entfaltung. So erweisen sich beide rekonstruierten Fäden gegenüber der Schlüssigkeit der unverkürzten Erzählung mit ihrer komplexen und sich steigernden Geschichte des Bruderhasses (V. 4.8b 28), genährt aus der Zurückstellung durch den Vater und der vermeintlichen/tatsächlichen Selbstüberhebung des Träumers als defizitär. In „J“ fehlt zudem infolge der Ausscheidung von V. 18a („E“) die für 18b erforderliche Wahrnehmung Josephs durch die Brüder. Ein anderes Problem bildet die anschließende Überleitung zu V. 23*; dafür setzt L. Schmidt V. 21 an, muss darin aber „Ruben“ durch „Juda“ ersetzen. Unbeschadet der Kritik an der Ruben-Juda-Scheidung bleibt allerdings das zuvor beschriebene Inkohärenz-Problem hinsichtlich der wie ein Deus ex machina auftretenden Midianiter in V. 28. Hierfür erscheint mir immer noch eine von Rainer Kessler29 vorgeschlagene Lösung die einfachste: Der 25 Gen 37,…5a.6–8a.9–11…13b.14a…18a.19–20.22.24.28aα.29–30.34a.35b.36; die Quellenabgrenzungen halten sich hier und im Folgenden an L. Schmidt. 26 Schmidt übersetzt קנא בhier mit „eifersüchtig sein“, doch wie soll das auf die Träume zu beziehen sein, insbesondere nachdem der Vater Joseph gescholten hat (V. 10)? 27 Gen 37,3–4.12.13a.14b.15–17.18b.21* („Juda“ statt „Ruben“).23abα.25–27.28aβ*. 31–33.34b.35a. 28 V. 5b ist textgeschichtlich fraglich. V. 8b dagegen wird als vermeintliche Vorwegnahme dem „Redaktor“ zugeschrieben. Genauer besehen steht die Notiz jedoch zwischen den beiden Träumen. Dabei sind die Pluralformen wohl „Abstrakt-Plurale“ (GesK §124f), hier mit pejorativem Ton als Ausdruck der Wahrnehmung durch die Brüder („seine Träumerei und sein Gerede“). Umso „passender“ ist es, dass der so Eingeschätzte prompt noch einen weiteren Traum nachschiebt. Zu dem angesprochenen Stilmittel für den Ausdruck unterschiedlicher Wahrnehmungen/Perspektiven vgl. BAR-EFRAT, Narrative Art (Anm. 17), 36–41. 29 R. K ESSLER , Die Querverweise im Pentateuch. Überlieferungsgeschichtliche Untersuchung der expliziten Querverbindungen innerhalb des vorpriesterlichen Pentateuchs, Diss. theol. (masch.), Heidelberg 1972, 150; E. B LUM , Die Komposition der Vätergeschichte (WMANT 57), Neukirchen-Vluyn 1984, 245, mit weiterer Literatur.
[499–500]
Zwischen Literarkritik und Stilkritik
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Satz ויעב רו אנשים מדינים סחריםwurde zur Entlastung der Brüder eingefügt, um an ihre Stelle die zufällig vorbeikommenden Midia|niter treten zu lassen. Dem Einwand Jürgen Ebachs, dass dies „angesichts des faktischen Handelns der Brüder wenig (überzeuge)“30, steht die Differenz zwischen Gedanken und Tat entgegen. Das entscheidende „Faktum“ beruhte auf einem Zufall, nicht auf der Brüder Tat. 31 In diese Linie fügt sich auch die Nennung der Midianiter32 in 37,36: Der Satz wurde als „raffende“ Vorwegnahme (das Spiegelbild der bekannteren Wiederaufnahme) zu 39,1 bei der Einfügung von Gen 38 in den Josephzusammenhang formuliert. Dies passt insofern, als die Midianiter-Entlastung in besonderer Weise Juda betrifft und Gen 38 (mit den Anfängen des Stammes Juda) zusammen mit Gen 34* (Simeon und Levi); 35,21.22a (Ruben) zu einer Erweiterung gehört, die in Gen 49 auf den Primatanspruch Judas hinausläuft. 33 499–500 In der unbearbeiteten Erzählung waren es demnach die Brüder, die Joseph an die Ismaeliter-Karawane verkauften 34 – mit Ausnahme Rubens, der Josephs Verschwinden erst in V. 29–30 mit großer Bestürzung entdeckt. Aus seinem Verhalten muss der Leser schließen, dass Ruben bei der Planung und Durchführung des Verkaufs nicht anwesend war. Eben dies wird davor jedoch nicht mitgeteilt – unstreitig eine narrative Inkohärenz. Nötigt diese – gegen den bisherigen Argumentationsgang – am Ende doch zu einer diachronen Ruben-Juda-Scheidung?35 Ich meine nicht. Von dem Befund, dass der JosephErzähler (und nicht er allein) auch eine erhebliche Inkohärenz des Plots in Kauf nehmen kann, wenn es einer ihm wichtigen narrativen Fokussierung dient, war schon eingangs die Rede. In diesem Falle kommt eine weitere stilkritische Beobachtung hinzu: Gerade im Zusammenhang mit dem Abund Auftreten von Akteuren gehören Auslassungen von Vorgängen, die von den Hörern/Lesern aus dem Fortgang der Erzählung „selbstverständlich“ erschlossen werden, zu einem gut belegten Stilrepertoire. | 30 31 32
EBACH, Genesis (Anm. 10), 92. Für die Möglichkeit, dies als theologischen Fingerzeig zu lesen, s. oben. Hinter der Schreibung מדניםeine dritte geheimnisvolle Gruppe von Akteuren zu wähnen, wäre mehr als angestrengt. M.E. ist von einer schlichten Verschreibung auszugehen (vgl. LXX etc.). 33 Dazu B LUM , Komposition (Anm. 29), 209ff., bes. die Zusammenfassung 228f. 34 Dem steht auch die Formulierung in 40,15a nicht entgegen. Dem mitgefangenen ägyptischen Bäcker gegenüber beteuert Joseph seine Unschuld (vgl. V. 15b!). In diesem Zusammenhang könnte er weder von seinen Brüdern noch vom „Verkaufen“ sprechen. גנב wird bezogen auf Personen im Sinne von „entführen, (heimlich) beiseite schaffen“ gebraucht (vgl. 2 Kön 11,2; 2 Sam 19,42 und Ges 18, 224); dies trifft auch für Joseph (gegenüber den Eltern etc.) zu und bringt treffend die Illegitimität des Vorgangs zum Ausdruck. 35 Dafür kämen der Logik nach übrigens nur eine 2-Quellen-Lösung oder die Abhebung einer Juda-Redaktion von einer Ruben-Grundschicht infrage: Für einen Ruben-Redaktor gälte die Inkohärenzproblematik nicht anders als für den Haupterzähler.
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Zwischen Literarkritik und Stilkritik
[501–502]
So springt die Erzählung in 2 Sam 11,9–10 von einem Geschehen am Abend zu einer Frage Davids an Uria am nächsten Tag; ausgelassen sind Angaben zum Zeitablauf und die (erneute) Einbestellung Urias zum König. Am Ende der Performance der „weisen Frau aus Tekoa“ in 2 Sam 14,20–21 werden sowohl das Abtreten der Frau als auch der Auftritt Joabs ausgespart. In 1 Kön 1,28 lässt David Batseba rufen, und ihr Auftritt wird relativ breit erzählt, obwohl sie bereits in 1,15–22 zur Audienz bei dem König vorgelassen, aber von ihrem Abtreten nicht die Rede war. Vergleichbar damit ist die Darstellung des Gesprächs zwischen Elisa und der Frau von Sunem in 2 Kön 4,12–16: In V. 15 lässt Elisa die Frau durch Gehasi wieder rufen, wodurch im Nachhinein deutlich wird, dass sie während des vorausgehenden Gesprächs zwischen Elisa und seinem Diener nicht zugegen war, obwohl ihr Abtreten davor ausgespart bleibt. 36501–502
Gerade in dem komplexeren Gefüge von Gen 37 musste sich eine solche Auslassung aufdrängen: Für eine lückenlose Vorbereitung des Geschehens in 37,29f. wäre nach V. 24 davon zu erzählen, dass Ruben sich aus dem Kreis der Brüder entfernte. Da dies eine Begründung (mit der Sorge um die Herde o.Ä.m.) verlangte, wäre es an dieser Stelle ein unmotiviert erscheinender Nebenzug, der von der Haupthandlung um Joseph und seine Brüder wegführt. Eine solche Ablenkung konnte37 sich die Erzählung im Sinne einer zielführenden „Ökonomie“ sparen, weil die Handlungslogik von V. 29–30 für die Leser eine Nachholung impliziert. Wozu bedarf es aber überhaupt der retardierenden Szene von V. 29–30 nach dem Verkauf? Zweierlei drängt sich unmittelbar auf: Zum einen zeigt die dramatische Reaktion Rubens (mit dem die Leser sich identifizieren können) den kalt agierenden Brüdern unmittelbar nach der Tat deren Ungeheuerlichkeit wie in einem Spiegel. Zum anderen liegt sie narrativ in der Konsequenz der Einführung Rubens in V. 21f. Diese ihrerseits gehört zur übergreifenden Erzählstrategie, in der ein aktiv handelndes Paar (Ruben und Juda) zwei passiven Brüdern, an denen gehandelt wird (Simeon und Benjamin), korrespondiert (auch in ihrer Ungleichheit). Solche „Verdoppelungen“ wiederum stellen keine stilistische Ornamentik dar, sondern bilden eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass die Josepherzählung die oft gerühmte Profiltiefe ihrer Darstellung erreichen kann – beginnend mit Gen 37. In 37,12–30 gehört dazu die wirkungsvolle Verlangsamung der Erzählung von Josephs Begegnung mit seinen Brüdern, die mit seinem Verfehlen der Brüder und der Wegweisung durch den wissenden Mann beginnt (V. 15–17) und dann in der weit greifenden Klammer von V. 18abα || 23a räumlich abgebildet wird. Letztere Schilderung wird ih|rerseits durch den wiederholten Gebrauch der Stilfigur des „sommaire proleptique“ 38 bzw. in rabbinischer 36
Diverse literarkritische Eingriffe in 2 Kön 4,12–16 zerstören gerade eine Pointe der Erzählung: die Unnahbarkeit des Gottesmannes. 37 Mehr noch, die Ausführung vergleichbarer Nebenhandlungen dürfte generell in he bräischen Erzählungen nur schwer nachzuweisen sein. 38 Dazu grundlegend J.L. SKA, Sommaires proleptiques en Gn 27 et dans l’histoire de Joseph, Bib. 73 (1992) 518–527; DERS., Judah, Joseph, and the Reader (Gen 42:6–9 and 44:18–34), in: E. B LUM u.a. (Hg.), Das Alte Testament ein Geschichtsbuch? Beiträge des
[502–503]
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Terminologie: von ( כלל ופרטV. 18bβ+19; 21a+21b.22ff.) verlangsamt. 39 Die Verse 25–27 führen diesen Erzählgestus fort.
Kurzum: Die unverkürzte Erzählung zeigt sich in Gen 37 den postulierten Quellenfäden bzw. literarkritischen Grundschichten in mehrfacher Hinsicht überlegen. In ähnlicher Weise gilt dies für die selbstständige Josepherzählung insgesamt,40 die ich – von wenigen punktuellen Eingriffen abgesehen – in Gen 37,2*–27.28*(ohne 28aα1).29–35; *39–45; 46,5b.28–33; 47,1–7. 10b.11–12[.13–26].29–31(…); 50,1–9.10*–11.14a.15–21 finde. Schließlich sollte deutlich geworden sein, wie sehr eine umfassende und systematische Stilkunde der althebräischen Prosa (und verwandter altorientalischer Literatur) ein Desideratum darstellt.
II. Noch einmal: Der Übergang von Genesis zu Exodus Basierend auf seiner Analyse der Josephgeschichte identifiziert L. Schmidt in Gen 50 und Ex 1 zwei unabhängige literarische Verknüpfungen der Erzeltern- und Exodusüberlieferungen im Rahmen der Quellen J und E. Die jenseits der J/E-Prämissen dafür in Anschlag gebrachten Textbefunde sollen im Folgenden auf ihre Validität geprüft werden, wobei selbstverständlich die Hintergrundfrage, ob überhaupt ein vorpriesterlicher Werkzusammenhang zwischen Genesis- und Exodusmaterial auszumachen ist, zur Diskussion stehen wird. Dabei sollen auch wieder einige methodologische Aspekte in den Blick genommen werden. 502–503 1. Literarkritik und Commonsense Vor dem oben angesprochenen Urteil über die diachrone Signifikanz von Inkohärenzbefunden steht die Diagnose der Inkohärenz selbst. Setzt der fachliche Dissens bereits an dieser Stelle ein, so kann dies an der Spannbreite sprachlicher bzw. sachlicher Unschärfe liegen, die in Kommunikationen, seien sie mündlich oder literarisch, generell zugestanden wird. Es kann sich freilich auch um eine Funktion der methodischen Perspektivik | handeln. So sucht Literarkritik gezielt nach Spuren von Uneinheitlichkeit. Die Gefahr Symposiums „Das Alte Testament und die Kultur der Moderne“ anlässlich des 100. Geburtstags Gerhard von Rads (1901–1971), Heidelberg 18.–21. Oktober 2001 (atm 10), Münster 2005, 27–39, hier 29–30. 39 Alle genannten stilistischen Feinheiten in V. 18–23 werden übrigens in den gängigen quellenkritischen/redaktionsgeschichtlichen Scheidungen verkannt und zerlegt. 40 Die dazu in Anschlag gebrachten Kohärenzprobleme erscheinen mir geringer an Gewicht als die in Kap. 37. Die Lösungen finden sich in Interpretationen/Analys en wie DONNER, Gestalt (Anm. 5); SKA, Judah (Anm. 38); EBACH, Genesis (Anm. 10) u.Ä.m.
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Zwischen Literarkritik und Stilkritik
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liegt dabei in Vereinfachungen, 41 sei es, weil subtilere Kohärenzen (z.B. narrativer, rhetorischer Art) perspektivisch nicht in den Blick kommen, sei es, weil Textkonsistenz an einem restriktiv interpretierten Wortlaut festgemacht wird, ohne die sprachlich oder durch sonstige Konventionen vorgegebene semantische Breite einzubeziehen. Aus dem hier diskutierten Zusammenhang sollen im Folgenden einige Beispiele genannt werden, in denen ich die letztgenannte Möglichkeit gegeben sehe. 503–504 (1) In Aufnahme einer auch sonst vertretenen Argumentation sieht L. Schmidt einen Bruch zwischen Gen 50,14 und 50,15(ff.): 42 „Es lässt sich m.E. nicht erklären, warum die Brüder in V. 15 erst nach dem langen Weg in das Land Kanaan und zurück ‚sahen‘, dass ihr Vater tot war.“ Dies gelte auch dann, „wenn man annimmt, dass den Brüdern erst jetzt der Tod des Vaters bewusst wurde“. Ausgehend von der angeblichen Unebenheit rekonstruieren Konrad Schmid und Jan C. Gertz sogar eine vor-P-Grundschicht (ohne 50,7b.8b.14), in der 50,15–21 nicht nur direkt an 50,11 anschloss, sondern in der die Josephgeschichte mit dem Verbleib der Brüder in Kanaan ein Ende fand.43 Dieser Rekonstruktion widerspricht L. Schmidt mit Recht;44 sie ist aus vielerlei Gründen mit dem Text unvereinbar. 45 | Trägt aber die 41
Die Gefahr von Vereinfachungen besteht naturgemäß nicht weniger bei synchronen (dies meint nicht allein endtextbezogenen) Interpretationen, die heuristisch von einem e inheitlichen Gestaltungswillen ausgehen, indem z.B. Inkohärenzen gar nicht in den Blick kommen oder in eingetragenen Harmonisierungen überspielt werden. Dazu ein gehender: B LUM, Sinn und Nutzen (Anm. 13), 25–28. Die Einseitigkeit der obigen Überlegungen ist der spezifischen Gesprächskonstellation geschuldet. 42 SCHMIDT (Anm. 1), 26f. 43 K. SCHMID, Die Josephsgeschichte im Pentateuch, in: J.C. GERTZ u.a. (Hg.), Abschied vom Jahwisten. Die Komposition des Hexateuch in der jüngsten Diskussion (BZAW 315), Berlin / New York 2002, 83–118, hier 103f.; J.C. GERTZ, The Transition between the Books of Genesis and Exodus, in: DOZEMAN/SCHMID (Hg.), Farewell (Anm. 2), 73–87, hier 77f. 44 SCHMIDT (Anm. 1), 27, mit Anm. 37. 45 Die Gründe in Kürze: (1.) Mit den genannten Subtraktionen ist es nicht getan. An der mit V. 7b eingeleiteten und mit V. 14a abgeschlossenen ägyptischen Haupt- und Staatsaktion hängen auch V. 9 und 10–11 („Abel Mizrajim“!). Damit wäre zwischen V. 7a und 15 der Text abhanden gekommen. (2.) Davon abgesehen setzt die Furcht der Brüder (V. 15– 21) in jedem Falle Josephs Machtposition voraus; diese gilt in der Handlungslogik für Ägypten, nicht für Kanaan. (3.) Auf die Situation in Ägypten ist (mit L. Schmidt) evident die andauernde Versorgung der Brüder durch Joseph (V. 21a) bezogen; vgl. die genaue Entsprechung in 47,26! (4.) Joseph zieht nach Kanaan, um seinen Vater beizusetzen (50,4 – 7a!), nicht um sich bei dieser Gelegenheit sang- und klanglos mitsamt seinen Angehörigen aus dem Staube zu machen. Ein solcher „Abschluss“ wäre denn auch der Erzählung unwürdig. (5.) Entgegen wiederholter Behauptungen handelt V. 14 nicht von dem „letztlich entscheidende(n) Eisodos [sc. der Jakobfamilie] nach Ägypten“ (SCHMID, Josephsgeschichte [Anm. 43], 102), sondern von der Rückkehr ( )וישבvon einer Beisetzung (auch ohne die übereifrige Glosse in V. 14b). (6.) Die Frage, wie in spätexilischer (?) Zeit eine
[504–505]
Zwischen Literarkritik und Stilkritik
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Ausgangsdiagnose?46 Zunächst darf nicht unerwähnt bleiben, dass der Anfang von V. 15 sich problemlos auch als „Die Brüder Josephs fürchteten sich, weil ihr Vater gestorben war, und sie sagten …“ lesen lässt. Doch auch wer eine Herleitung von ראהbevorzugt, kann die Aussage nicht auf ein visuelles „Sehen“ beziehen (es sei denn im direkten Anschluss an V. 1). Ausgehend von den beiden Möglichkeiten „sich fürchten“ bzw. „sich bewusst werden“ gibt es für V. 15–21 näher besehen aber keine passendere Position als nach V. 14a: Erst hier ist das Staatsbegräbnis mit dem pompösen offiziellen Aufzug abgeschlossen und der sorgenvolle Blick auf das „normale Leben“ – nun ohne den Vater – nur zu verständlich. Erst hier in Ägypten ist zudem die Abhängigkeit von dem herrscherlichen Bruder, die aus jeder Phrase dieses Dialogs spricht, gegeben. Kurzum: Die behauptete Inkohärenz ist aus einer engen (und lebensfernen) Logik eingetragen. 504–505 (2) Die Verse Gen 50,23–26 hält L. Schmidt nicht für „quellenhaft“, sondern mit vielen Neueren für nach-priesterlich (s. auch unten II.3.). Zugleich möchte er darin V. 25.26b als jüngere Ergänzung noch einmal abheben. Dies folgt s.E. aus den Implikationen der unterschiedlichen Adressierung von V. 24 ( )אחיוund V. 25 ()בני ישראל: V. 24 richte sich an Josephs leibliche Brüder, setze also voraus, dass Joseph vor diesen verstarb und fälschlicherweise die Hinaufführung nach Kanaan noch für deren Lebzeiten erwartete; Letzteres werde in V. 25 korrigiert.47 Mit dieser Deutung werden die Verse m.E. in jeder Hinsicht überanstrengt: Bevor intendierte Leser der Josephgestalt eine irrtümliche Vorhersage des Exodus unterstellen, werden sie אחיםin V. 24 im geläufigen weiteren Sinne als „Verwandte“ verstehen,48 d.h. mit gleicher Referenz wie | ( בני ישראלV. 25). Erst recht dürfte es Tradenten fern gelegen
Großerzählung mit einer zeitweiligen Ansiedelung der Stammes väter in Ägypten erzählt werden konnte, um sie mit deren gelegentlicher Rückkehr nach Kanaan abzuschließen, während zur gleichen Zeit eine Mose-Exodus-Überlieferung selbstverständlich war, diese Frage stellte vor ein kaum zu lösendes Rätsel. 46 Vgl. zum Folgenden auch J. V AN SETERS, The Report of the Yahwist’s Demise Has Been Greatly Exaggerated!, in: DOZEMAN/SCHMID, Farewell (Anm. 2), 143–157, hier 149; D.M. CARR, What Is Required to Identify Pre-Priestly Narrative Connections between Genesis and Exodus? Some General Reflections and Specific Cases, in: DOZEMAN/ SCHMID, Farewell (Anm. 2), 159–180, hier 168. 47 SCHMIDT (Anm. 1), 29f. 48 Vgl. auch A. G RAUPNER , Der Elohist. Gegenwart und Wirksamkeit des transzendenten Gottes in der Geschichte (WMANT 97), Neukirchen-Vluyn 2002, 376, im Anschluss an J ACOB , Genesis (Anm. 21), z.St. Hinter dem Gegenargument einer unterschiedlichen Intension von אחיוin V. 15–21 bzw. 24 (SCHMIDT [Anm. 1], 30, Anm. 53) steht die literarkritische Prämisse der lexematischen Uniformität als Kennzeichen von Autorenstil. Diese Vorannahme ist gleichermaßen verbreitet wie unfundiert. Für ein beliebiges, aber unverdächtiges Beispiel vgl. בית אביin den Bedeutungen „meine Familie“ und „der Palast meines Vaters“ in KAI 216,7.12. Eine geläufige Variante dieser Uniformitätsprämisse ist die Schei-
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[505–506]
haben, in Ex 1,6 („Joseph und alle seine Brüder starben und jene ganze Generation“) „die Reihenfolge als zeitliche Abfolge“ (d.h. „Joseph vor seinen Brüdern“) zu lesen.49 Resümee: Unabdingbar bleiben Kontrollfragen im Sinne des Commonsense, ohne den Literarkritik in der Gefahr steht, sich in einer künstlichen Logik zu verlieren. 505–506 (3) Als letztes Beispiel mag die Begründung der Scheidung von Ex 1,8– 12.22 (J) einerseits und 1,6*.*15–20a (E) andererseits dienen. Grundlegend ist für L. Schmidt hier die supponierte Größe des Volkes, die in 1,15ff. anders sei als in 1,8–12: „Da es nach V. 15b für die Hebräerinnen nur zwei Hebammen gab, bestand hier dieses Volk aus erheblich weniger Menschen als in 1,8ff.“50 Daraus gewinnt er auch ein Argument für einen der postulierten Quellenzusammenhänge: „Wahrscheinlich folgte bei E Ex 1,15ff. auf die Todesnotiz für Josef und seine Brüder in V. 6*. Da das Volk bei E erheblich kleiner als bei J war, setzt E zwischen ihrem Tod und dem Tötungsbefehl an die Hebammen keinen längeren Zeitraum voraus.“ 51
Die Frage, ob zwei Hebammen für das Volk der Israeliten ausreichten, beschäftigte jedenfalls seit dem Mittelalter manche Ausleger (mit Interesse an Realia). Die übliche Auskunft dazu lautete (bis Benno Jacob), die beiden hätten als Vorsteherinnen der Hebammen fungiert.52 Die zitierte literarkritische Reformulierung der Frage impliziert nun freilich, dass die Angaben in V. 9 und 12 eine irgendwie quantifizierbare Größe einschließen und dass der Erzähler der Hebammen-Episode seinerseits eine andere Größe vor Augen hatte. Auf dieser Linie wäre dann auch zu fragen, ob etwa der Autor, der Josua alle kriegsfähigen Männer mit Flintmessern beschneiden lässt (Jos 5,2–9), sich Rechenschaft über deren Anzahl bzw. über die erforderliche Zeit ablegte.53 | Meines Erachtens ist dergleichen weder für Jos 5 noch für
dung nach Synonymen wie פרעה/ ( מלך מצריםs. SCHMIDT [Anm. 1], 34–36). Wie unkontrolliert damit verfahren wird, zeigt schon die Quellenscheidung in unserem Bereich: nach Bedarf kann sowohl J (Gen 39,1; 40,1) als auch E (Gen 40,2ff; Ex 1,15ff.) ein wechselnder Sprachgebrauch zugestanden werden. 49 SCHMIDT (Anm. 1), 31. 50 SCHMIDT (Anm. 1), 34. 51 SCHMIDT (Anm. 1), 35. 52 So schreibt A. Ibn Esra in seinem „langen Kommentar“ zu Exodus (z.St.): „Sie stan den allen Hebammen vor ()שרות היו על כל המילדות. Denn es besteht kein Zweifel, dass es mehr als 500 Hebammen waren. Diese zwei standen ihnen aber vor, um dem König die Lohnsteuer abzuliefern. So habe ich es heutzutage an vielen Orten gesehen.“ Für seine „Schätzung“ wird sich Ibn Esra an Ex 12,37 orientiert haben. 53 David Kimchi kommt denn auch zu dem Schluss, dass Josua mehrere Personen damit beauftragt haben muss, weil er allein in vier Tagen (vgl. Jos 4,19; 5,10) dazu nicht in der Lage war.
[506–507]
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Ex 1 plausibel.54 Vielmehr haben wir es mit einer Überlieferung zu tun, für deren Tradenten solche Realia gänzlich hinter die (in diesem Falle) paradigmatischen Intentionen zurücktraten. 55 2. Bedarf es einer Literarkritik literarkritischer Analysen? Wenn ein zugegebenermaßen subjektiver Eindruck nicht trügt, unterbleibt bei literar-/redaktionskritischen Analysen nicht selten eine hinreichende Prüfung der resultierenden „Vorstufenrekonstruktionen“ auf ihre sprachliche, narrative etc. Kohärenz. So gut dies für jeden Beteiligten (den Schreiber eingeschlossen) aus eigener Erfahrung nachvollziehbar sein mag, so problematisch ist es in der Sache, wenn an gegebene Texte strengere Maßstäbe angelegt werden als an (selbst) rekonstruierte Zeichenfolgen. Für eine Problemanzeige in diesem Sinne sollen im Folgenden (mit eigenen Übersetzungen) zunächst die Rekonstruktionen des Übergangs von der Joseph- zur Exodusgeschichte in den Quellenfäden von L. Schmidt vorgestellt werden. Der Übergang von den Vätern zum Exodus in „J“ (Schmidt): 50,14 50,22 1,8 1,9 1,10
1,11 1,12
Joseph, seine Brüder und alle, die mit ihm hinaufgezogen waren, um seinen Vater zu begraben, kehrten zurück nach Ägypten ( ). Und Joseph wohnte in Ägypten, er und die Familie seines Vaters. Und Joseph lebte 110 Jahre () ( )ויחי יוסף מאה ועשר שנים. Und es erstand ein neuer König über Ägypten, der Joseph nicht kannte. Und er sagte zu seinem Volk: Siehe, das Volk der Israeliten ist zu zahlreich und zu stark für uns. Auf, wir wollen uns, was es betrifft, klug verhalten! Sonst mehrt es sich (noch mehr), und wenn uns ein Krieg widerfährt, wird auch es sich unseren Feinden anschließen und gegen uns kämpfen und über das Land hinauswachsen! Da setzten sie über es Fronvögte, um es mit ihrem Frondienst zu bedrücken. Und es baute Vorratsstädte für Pharao, Pithom und Ramses. Aber wie sie es bedrückten, so mehrte es sich und so breitete es sich aus. Und sie grauten sich vor den Israeliten. …|
Der Übergang von den Vätern zum Exodus in „E“ (Schmidt):506–507 50,15
… Da wurde den Brüdern Josephs bewusst, dass ihr Vater gestorben war … …
54 W.H. SCHMIDT, Exodus (BK II/1), Neukirchen-Vluyn 1988, 42, kommentiert: „Jene Frage (scil. zu den Hebammen) ist wohl überhaupt abwegig; denn das Gesetz der Zwei heit oder Dreiheit ist ein Kennzeichen der Sage.“ 55 Dazu gehört beispielsweise auch, dass die Anordnung des Genozids durch Pharao in Ex 1,22 allein als Hintergrund für die anschließende Moseepisode dient und ansonsten sogleich „vergessen“ ist.
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bis 20
Joseph sagte zu ihnen: … Nun aber, fürchtet euch nicht! Ich, ich werde euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete ihnen gut zu. Und Joseph und alle seine Brüder ( ) starben. Da sagte der König von Ägypten zu den Hebammen „der Hebräerinnen“, von denen die eine „Schifra“ und die andere „Pua“ hieß, er sagte: Wenn ihr den Hebräerinnen Geburtshilfe leistet, dann sollt ihr auf … achten. Wenn es ein Sohn ist, sollt ihr ihn töten. Und wenn es eine Tochter ist, soll sie leben. Die Hebammen aber fürchteten Gott und taten nicht so, wie ihnen der König von Ägypten gesagt hatte, sondern ließen die Knaben am Leben. Da rief der König von Ägypten die Hebammen und sagte zu ihnen: Warum habt ihr dies getan und die Knaben am Leben gelassen? Da sagten die Hebammen ( ): Weil die Hebräerinnen nicht wie die Ägypterinnen sind; weil sie vital sind: Bevor die Hebamme zu ihnen kommt, gebären sie. Da ließ Gott es den Hebammen gut gehen. Und das Volk mehrte sich ( ). …507–508
50,21
1,6* 1,15 1,16
1,17 1,18
1,19*
1,20*
[507–508]
Bei näherer Betrachtung fallen in beiden hypothetischen Relationen massive Kohärenzprobleme ins Auge. Im J-Faden ist der (hier entscheidende) Übergang von Gen 50,22 auf Ex 1,8 so nicht möglich: (a) Die Formulierung „ויחי + Lebensjahre“ ist ausweislich der 36 Belege idiomatisch und bezeichnet für sich genommen nie das Lebensalter, sondern benennt Lebensjahre bis zu oder von einem anderen Geschehen im Leben des Betreffenden an (z.B. Gen 5,15–16). Dementsprechend impliziert 50,22b allein auch noch nicht den Tod Josephs.56 (b) Alle Argumente, die Schmidt ge|gen eine Abfolge von Ex 1,6.8 in Kontaktstellung anführt,57 erweisen sich als deutlich durchschlagender im Blick auf die propagierte Abfolge 50,22 + 1,8: Obschon das Ende der Generation der Jakobsöhne noch gar nicht in den Blick genommen war, ist 56
Gegen SCHMIDT (Anm. 1), 33. Dieser Aspekt war freilich auch in meiner eigenen Rekonstruktion nicht hinreichend bedacht; vgl. E. B LUM, Die literarische Verbindung von Erzvätern und Exodus. Ein Gespräch mit neueren Endredaktionshypothesen, in: GERTZ, Abschied (Anm. 43), 119–156, hier 149 (= E. B LUM , Textgestalt und Komposition. Exegetische Beiträge zu Tora und Vordere Propheten, hg. von Wolfgang Oswald [FAT 69], Tübingen 2010, 85–121, hier 115); anders unten II.3. 57 SCHMIDT (Anm. 1), 33f.
[508–509]
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bereits von einem neuen König die Rede, der Joseph nicht mehr kannte, des Weiteren von einem „Volk der Israelsöhne“, das sich zudem durch eine bedrohliche Größe auszeichnet. Allen drei Neuerungen fehlt die narrative Vermittlung. (c) Nicht plausibel ist die Auftrennung des durch Ri 2,8.10 gesicherten Zusammenhangs von Ex 1,6 und 8 (s.u.). 58 Der für E rekonstruierte Übergang beinhaltet mit Ex 1,6 eine Todesnotiz für Joseph und seine Brüder. Deren unmittelbarer Anschluss an Gen 50,15– 21, wo Joseph und die Brüder nach dem Tod des Vaters sich versöhnen und in die Zukunft blicken (V. 21: „Ich, ich werde euch und eure Kinder versorgen“), setzt jedoch einen abrupten Schnitt, der als originärer erzählerischer Abschluss nicht vorstellbar ist. Die Fortführung mit der Hebammen-Episode (1,15ff.) wirkt vollends wie eine Collage, nicht als narratives Kontinuum: Weshalb initiiert der ägyptische König (gar der Förderer Josephs?) einen verdeckten Völkermord an den Hebräern? – Hier fehlt die Exposition. Dementsprechend erfahren die Leser in 1,20 auch eher beiläufig, dass die Großfamilie Jakobs zu einem „Volk“ geworden war. Aufgrund der gravierenden Brüche und Lakunen in den beiden rekonstruierten Vorstufen, für die keine sachlichen oder erzählerischen Gründe erkennbar sind, scheint mir die Rekonstruktion der zwei parallelen vorpriesterlichen Epochenübergänge auch unabhängig von der Einzelargumentation infrage zu stehen. 508–509 3. Noch einmal: Die literarische Verbindung von Erzvätern und Exodus Die Auseinandersetzung mit anderen Analysen schärft, wenn es gut geht, den Blick für Schwächen der eigenen Versuche. In diesem Sinne soll zum Abschluss der eigene, gegenüber einer früheren Version 59 teilweise modifizierte Analysevorschlag zum Übergang von der Genesis zu Exodus skiz-| ziert werden. Er beinhaltet für diese kompositorische Nahtstelle drei diachrone Phasen bzw. Schichten, die sich mehr oder weniger deutlich nachzeichnen lassen bzw. erschließen: (A) Der vollständig erhaltene Abschluss der Josepherzählung (Gen 50,14a.15–21), mit dem auch eine noch eigenständige Vätergeschichte ausklang, und als Pendant dazu: der teilweise überlagerte Anfang einer eigenständigen Exodus-Mose-Überlieferung. (B) Eine 58 Dabei erweisen sich die These, die Phrase „und jene ganze Generation“ sei erst „später in V. 6 ergänzt [worden], um V. 8ff. mit diesem Vers zu verbinden“ (ebd.), als eine petitio principii ersten Grades und der aus dieser angeblich „redaktionellen“ Verbindung abgeleitete Schluss der Quellenhaftigkeit (J) von 1,8–12 als eine solche zweiten Grades. 59 E. B LUM , The Literary Connection between the Books of Genesis and Exodus and the End of the Book of Joshua, in: DOZEMAN/SCHMID, Farewell (Anm. 2), 89–106. Der Beitrag wurde zuerst auf einer Tagung zu Ehren von Alexander Rofé im Jahr 2002 hebräisch vorgetragen und publiziert in: Z. T ALSHIR / D. AMARA (Hg.), On the Border Line. Textual [Criticism] Meets Literary Criticism (hebr.), Beer Sheva 13 (2005) 13 –32.
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[509–510]
durchlaufende Textlinie der P-Komposition, die an dieser Stelle die Väterund Exodusgeschichten kompositionell in einen größeren Werkzusammenhang integrierte. (C) Eine nach-P-Bearbeitung, die ihren Zielpunkt in Jos 24 hat und die an dieser Stelle den Epochenübergang nicht nur mit neuen Elementen profilierte, sondern auch so etwas wie einen Buchübergang gestaltete.509–510 Diese Synthese hängt wesentlich an der Bestimmung von (C), der Schicht, die hier zudem mit der Endgestaltung zusammenfällt. Seit Längerem ist weitgehend unstrittig, dass dieser Textbereich zweierlei über den Pentateuch hinausreichende Bezüge bzw. Entsprechungen aufweist: (a) Die Verfügung zu bzw. der Umgang mit Josephs Gebeinen in Gen 50,25.26b steht in einem evidenten Verweiszusammenhang, der von Gen 33,19; [35,1– 6] über Ex 13,19 bis zu deren Beisetzung in Jos 24,32 reicht. (b) Ex 1,6.8 und Ri 2,8.10 weisen eine signifikante Parallelität in der Markierung des Epochenübergangs auf: „Joseph/Josua starb ( … )וימתund jene ganze Generation. Und ein(e) neue(r) König/Generation … erstand ()ויקם, der/die … nicht kannte(n) ()ידע.“ Entgegen dem derzeit fast blind verfolgten Trend ist bei solchen Entsprechungen zwar nicht ohne Weiteres von einer literarischen Abhängigkeit auszugehen, sondern z.B. die Möglichkeit eines narrativen Idioms zu bedenken,60 doch gibt es in diesem Falle klare Befunde, die eine spezifische Abhängigkeit anzeigen: 61 Zum einen weist Ex 1,6.8 aufgrund der fehlenden Sukzession eine gegenüber der Sachlogik von Ri 2,8.10 abweichende Asymmetrie auf; zum zweiten stimmt nicht nur das mit der Sterbenotiz verbundene Lebensalter der beiden Hauptpersonen (Joseph/Josua), sondern auch dessen sprachliche Formulierung exakt überein (Gen 50,26; Jos 24,29; Ri 2,8); zum dritten zielt die mit der Sterbenotiz verbundene Verfügung Josephs (50,25–26) auf den Abschluss von Jos 24 und damit just auf die Epochennahtstelle bei Josua; schließlich findet sich in beiden Übergängen eine Verdoppelung der Todesnotiz (Gen 50,26; Ex 1,6 || Jos 24,29; Ri 2,8). Nimmt man hinzu, dass für Ex 1,6 in Gen 50 keine ältere Anschlussmög|lichkeit gegeben ist,62 so führen diese Indizien auf einen genuinen diachronen Zusammenhang zwischen Ex 1,6.8 und der Motivlinie mit den Gebeinen Josephs (Gen 50,25–26 etc.). Mehr noch, damit ist bei dieser Markierung des Gen/Ex-Übergangs keine andere Hand am Werk als 60 So die Erklärung durch T H.C. VRIEZEN, Exodusstudien: Exodus I, VT 17 (1967) 334–353, hier 335–344. Er spricht von einem „literarischen Schema“ bzw. einer „Redewendung“ (a.a.O., 339). 61 Vgl. auch schon J. V AN SETERS, The Life of Moses. The Yahwist as Historian in Exodus–Numbers, Louisville 1994, 16f.; er deutet mit Recht an, dass auch schon die Notiz vom „nicht kennen“ über ein generelles Stilmuster hinausgeht. 62 S. oben zu L. Schmidts E-Faden und B LUM , Verbindung (Anm. 56), 145f. (= 111) (zu Gen 50,25; Ex 1,6).
[510–511]
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die, die in Jos 24 (unter anderem in einer Prolepse des DtrG-Übergangs von Ri 2,6–10) einen neuen Werkabschluss („Hexateuch“) gestaltete. Von diesem literargeschichtlichen „Stratum“ ist m.E. auch Gen 50,24 nicht zu trennen. Über die (für sich genommen nicht eindeutige) Strukturentsprechung zwischen V. 24 und 25 hinaus spricht dafür die komplexe Konnexion der Verse mit Gen 48,21f. 63 Des Weiteren lässt sich die Jahresangabe in 50,22bβ ihrer Formulierung nach (aber auch nur in dieser Hinsicht, dazu gleich!) nicht von V. 26a trennen. Josephs Erleben der dritten Generation von Nachkommen über Ephraim und Manasse nach V. 23 korrespondiert den 110 Jahren Lebensalter, fügt sich aber auch zu dem Vorkontext von 48,21f. So spricht einiges dafür, dass 50,22bβ–26 sich insgesamt der Gestaltung durch eine Bearbeitungsschicht verdankt. 510–511 Demgegenüber steht 50,22* ausweislich seiner Formulierung in einer Linie mit 37,1 und 47,27.28a und ist, wie vor allem Rüdiger Lux 64 eingehend begründet hat, der P-Schicht zuzuschreiben. Dies gilt jedoch definitiv nicht für die hebräische Formulierung der Jahreszahl, die der in V. 26 (und Jos 24,29; Ri 2,8) entspricht.65 Offenbar ist hier die vorgegebene P-Formulierung transformiert worden im Sinne der Joseph-Josua-Bezüge (wohl auch, um diesen Bezug zu unterstreichen), ein Befund, der zugleich die wiederholte Angabe der Lebensjahre Josephs im Kontext von 50,22–26 diachron erklärt.66 Für die redaktionelle Schicht von 50,22bβ–26; Ex 1,6.8 ist damit des Weiteren ein erster „stratigraphischer“ Hinweis darauf gegeben, dass diese nachpriesterlich anzusetzen ist. 67 Ein weiteres, zwingendes Argument ergibt sich aus dem Nebeneinander der Todesnotizen Josephs in 50,26 und 1,6. Narrativ ist dies nur denkbar in dem vorliegenden Zusammenhang, | in dem auf der Basis von Ex 1,1–5a (KP) und einer erneuten Thematisierung Josephs, inklusive seines Todes, sowie im Zusammenspiel von 1,6 mit 1,8 so etwas wie ein Neueinsatz in einem größeren Werkzusammenhang profiliert 63 64
S. dazu B LUM , Connection (Anm. 59), 97. R. LUX, Geschichte als Erfahrung, Erinnerung und Erzählung in der priesterschriftlichen Rezeption der Josefsnovelle, in: DERS. (Hg.), Erzählte Geschichte. Beiträge zur narrativen Kultur im alten Israel (BThSt 40), Neukirchen-Vluyn 2000, 147–180, hier 158– 161. 65 In KP-Texten steht dagegen insbesondere מאהim status constructus. 66 Falls bereits in KP Josephs Lebensalter 110 Jahre betrug, könnte dies die weitere Parallelisierung der Joseph/Josua-Übergänge in der Hexateuch-Bearbeitung angeregt haben. 67 Mit den hier angeführten Argumenten soll eine berechtigte Anfrage von CARR, What Is Required (Anm. 46), 171f., aufgenommen werden. Gestützt wird die Stratigraphie im Übrigen auch dadurch, dass die in 50,24 vorausgesetzte Väterverheißung als Eid in der Genesis ausschließlich in nach-KP-Überlieferungen von Gen 15 bis (wenigstens) Ex 32,13 begegnet; dazu vgl. vorläufig B LUM , Verbindung (Anm. 56), 153f.
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[511]
werden konnte.68 Für die narrative Stimmigkeit der Abfolge von 1,6.8 ist schließlich auch auf 1,7 (KP) mit dem darin implizierten Zeitablauf nicht zu verzichten.511 Umgekehrt bedeutet die teilweise Transformation der KP-Überlieferung durch die Jos 24-(Hexateuch-)Bearbeitung, dass der zugrundeliegende KPZusammenhang zwar deutlich umrissen erkennbar ist, aber zumindest bei 50,22 im Wortlaut nicht mehr sicher rekonstruiert werden kann. Dazu gehört auch die Todesnotiz für Joseph, die nach V. 22 narrativ unverzichtbar ist69 und wohl der redaktionellen Transformation in V. 26a zugrunde liegt. Ebenso spricht viel dafür, dass auch der vorpriesterliche Text in Ex 1,8 nach Analogie von Ri 2,10 umgestaltet wurde. 70 Unter diesen Vorbehalten lässt sich der Übergang von der Väter- zur Mosezeit m.E. wie folgt darstellen. Der Übergang von der Väterzeit zum Exodus in der „P-Komposition“ (Blum): 50,22* 50,26a* 1,1 1,2 1,3 1,4 1,5a 1,7
1,8a* 1,9 1,10
… Und Joseph wohnte in Ägypten, er und die Familie seines Vaters. Und Joseph lebte 110 Jahre ()… עשר שנים ומאת שנה, dann starb er ()וימת. Und dies sind die Namen der Israeliten, die mit Jakob nach Ägypten gekommen waren; ein jeder war mit seiner Familie gekommen: Ruben, Simeon, Levi und Juda, Issachar, Sebulon und Benjamin, Dan und Naphtali, Gad und Ascher. Insgesamt waren es 70 Personen, die aus den Lenden Jakobs hervorgegangen waren. ( ) Aber die Israeliten waren fruchtbar, und sie wimmelten und wurden zahlreich und wurden sehr, sehr stark. Und das Land wurde voll von ihnen. Da kam (וימלך/ )ויקםein neuer König über Ägypten auf den Thron. ( ) Und er sagte zu seinem Volk: Da, das Volk der Israeliten ist zu zahlreich und stark für uns. Auf, wir wollen uns, was es betrifft, klug verhalten. …|
68 Dementsprechend stellt Gen 50/Ex 1 denn auch eher eine „relative Buchgrenze“ dar – gegenüber dem „absoluten“ Buchschluss von Jos 24 (BLUM , Connection [Anm. 59], 98– 100). 69 Gegen B LUM , Verbindung (Anm. 56), 149 (= 115). 70 Wiederum anders B LUM, Verbindung (Anm. 56). Ex 1,5b dürfte erst als Überleitung zu 1,6 hinzugefügt worden sein; s. B LUM , a.a.O., 151 (= 117).
[512]
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Das inhaltliche Profil dieser Erzähllinie wurde bereits an anderer Stelle erläutert.71 Hier kann der Hinweis auf ihr Zentrum genügen, den mit der kontrastiven Gegenüberstellung von 1,5a und 7 bezeichneten Wandel in der Daseinsform Israels. Auch die hinter Josephs Tod zurückgreifende Aufführung der übrigen Jakob-Söhne in 1,1–472 steht im Dienst der narrativen Abbildung dieser Transformation von der Großfamilie zum Volk. Dass mit Gen 50,14a.15–21 ein vollendeter Erzählungsschluss der angenommenen eigenständigen Josephnovelle vorliegt, erscheint evident und bedarf hier keiner weiteren Begründung. In gleicher Weise eignet sich dieser Abschluss aber auch für die größere Einheit einer mit Abraham einsetzenden Vätergeschichte, als deren letzter Baustein die Josepherzählung fungiert. Der Integration dieses Bausteins in diese größere Komposition dient insbesondere Gen 46,1–5a.512 Die Episode hebt sich bekanntlich von ihrem Erzählkontext deutlich ab: „Die Episode unterscheidet sich nach Inhalt und Formulierungsart vollkommen vom Duktus der Joseph novelle; sie atmet den Geist der Patriarchensagen, dessen Abwesenheit sonst für die Josephnovelle charakteristisch ist.“ 73 Zugleich bildet sie aber eine gezielt gesetzte Klammer als Teil einer die Erzelterngeschichte übergreifenden Struktur von Gottesreden an vier Wendepunkten der Erzväter-Wege (12,1ff.; 26,1ff.; 31,11.13; 46,1–5a). Diese Reden unterstreichen die zentrale Bedeutung Kanaans als Verheißungsland, indem sie ineinander verschränkt den Aufbruch des jeweiligen Erzvaters von Mesopotamien nach Kanaan (12,1ff.; 31,13) bzw. von Kanaan nach Ägypten (26,1ff.; 46,1ff.) thematisie ren.74 Das direkte Gegenstück zu 46,1ff. stellt das Verbot an Isaak in 26,2f. dar, nach Ägypten übe rzusiedeln. Der intendierte Zusammenhang 75 zwischen Verbot (Gen 26) und Erlaubnis/Zuspruch (Gen 46) wird direkt durch die exponierten Isaak-Bezüge (46,1.3) 76 angezeigt, indirekt dadurch, dass beide kontextuell „aufgesetzt“ wirken. Weitere Querbezüge77 bilden unter anderem die Mehrungsverheißung mit ( גוי גדול46,3 → 12,2)78 und die Selbstvorstellung Gottes mit
71
Vgl. B LUM , Verbindung (Anm. 56), 150f. (= 115f.) – unbeschadet der Modifikation mancher Details der Rekonstruktion. 72 Die Verse sind – mit SCHMIDT (Anm. 1), 31, Anm. 55 – nicht erst einer späteren Hand zuzuschreiben. 73 D ONNER , Gestalt (Anm. 5), 29; für ähnliche Stimmen in diesem Sinne vgl. B LUM, Komposition (Anm. 29), 246. Im Modell des Elohisten im Sinne von L. Schmidt lässt sich dieser Befund m.E. nicht bündig erklären. 74 Ausgeführt in B LUM , Komposition (Anm. 29), 247–249 und 297–301. Für den geschichtlichen Kontext dieser Profilierung vgl. a.a.O., 342–346. 75 Vgl. schon H. GUNKEL, Genesis (HKAT 1/1), Göttingen 1910 3, 462f., und DONNER, Gestalt (Anm. 5), 30, mit den daraus für eine J/E-Scheidung erwachsenden Problemen. 76 Zu 46,1b ist auch der von Isaak in Beer Sheva gebaute Altar (26,25) zu vergleichen. 77 Vgl. die graphische Übersicht in B LUM, Komposition (Anm. 29), 300. 78 Anders als SCHMIDT (Anm. 1), 25, kann ich weder sehen, dass גוי גדולin 12,2 eine grundlegend andere Bedeutung hätte als in 46,3, noch nötigt der Gebrauch von עשהbzw. שיםdazu, verschiedene Hände anzunehmen; dazu o. Anm. 48.
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[512–513]
( האל46,3 → 31,13).79 Der Exo|dus gehört zum Hintergrundwissen der Adressaten (vgl. 46,3bβ!), vor dem der „heilsgeschichtliche“ Sinn dieses letzten Weges nach Ägypten transparent wird. Umso signifikanter ist, dass explizite Aussagen zur Herausführung des Volkes unterbleiben; die Heraufführung nach 46,4aβ bezieht sich auf Jakobs Beisetzung in Kanaan, wie die rein individuellen Zusagen davor und danach verdeutlichen.80 Auch die wiederholt angeführten Parallelen zwischen Gen 46,2–4 und dem Dialog Gott-Mose in Ex 3,4.681 belegen keinen literarischen Zusammenhang, sondern beruhen auf einem verbreiteten narrativen Idiom und kontingenten kontextuellen Bedingungen. 82 Für eine mitunter angenommene nachpriesterliche bzw. „endredaktionelle“ Zuordnung schließlich fehlen alle Indizien.512–513
Im Gegensatz zu dem vollständig erhaltenen Abschluss der eigenständigen Vätergeschichte bleibt für den Anfang der vorpriesterlichen Mose-ExodusGeschichte zwangsläufig vieles offen. Dass die Substanz von Ex 1,(8*)9– 12.15–21 dazu gehörte, lässt sich m.E. aus dem Fortgang in Ex 2 mit hinreichender Wahrscheinlichkeit erschließen. 83 Unter Voraussetzung der vorstehenden Analyse ergibt sich daraus zwingend, dass eine 1,8*ff. ursprünglich vorausgehende Exposition von KP überlagert bzw. verdrängt wurde. Als Spurenreste dieses älteren Erzählungsanfangs kommen noch die nicht-priesterlichen und 1,9b korrespondierenden Mehrungsaussagen in 1,7 mit רבה
79 Gen 31,13 war bereits mit der alten Jakoberzählung vorgegeben (s. zuletzt B LUM, Jacob Tradition [Anm. 17], 203ff.); bezeichnenderweise „fehlen“ hier auch die Ver heißungselemente der anderen drei Gottesreden. 80 Anders J.C. GERTZ, Tradition und Redaktion in der Exoduserzählung. Untersuchungen zur Endredaktion des Pentateuch (FRLANT 186), Göttingen 2000, 277, Anm. 204, der freilich den unmittelbaren Kontext in V. 4 mit der Kontrastierung von ירדund עלהübergeht. Wenn Leser die Heraufführung Jakobs auch als Vorabschattung des Exodus verstanden, mag dies durchaus im Sinne des Verfassers gewesen sein. Er sieht gleichwohl keine Veranlassung, selbst davon zu reden. 81 Vgl. z.B. GERTZ, Tradition (Anm. 80), 278f.; V AN SETERS, Report (Anm. 46), 155f.; CARR, What Is Required (Anm. 46), 176–178. 82 Vgl. Gen 22,1.11; 27,1; 1 Sam 3,4.16; 2 Sam 1,7 und B LUM, Verbindung (Anm. 56), 132. Gegenüber TH.B. DOZEMAN, The Commission of Moses and the Book of Genesis, in: DOZEMAN/SCHMID, Farewell (Anm. 2), 107–129, dem zufolge „these text[s] share ‚multiple and sustained linkages‘ in motifs and in form“ (127; ähnlich CARR , What Is Required [Anm. 46]), würde ich darauf bestehen, dass die schiere Menge von surface -Entsprechungen leicht den Schein differenzierter Bezüge erwecken kann. So beruht die Parallelisierung von ירדin Gen 46,4 / Ex 3,8 auf einer Äquivokation; zu עלהs.o. Anm. 80; die Nennung der Erzväter in Ex 3,6 bildet wohl eine interpretierende Ergänzung (B LUM , a.a.O., 139f.) etc. Ein solches Insistieren verdankt sich im Übrigen nicht einem Systemzwang, insofern in meiner Hypothese durchaus wahrscheinlich ist, dass der KD-Kompositor von Ex 3 die exilische Vätergeschichte (inkl. Gen 46,1–5a) gekannt hat. Eine intertextuelle Abhängigkeit wäre mithin nicht a limine ausgeschlossen. 83 B LUM, Verbindung (Anm. 56), 145–148.
[513–514]
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und עצםinfrage.84 | David M. Carr85 hat zwar die interessante Option ins Spiel gebracht, dass die Mehrung der Israeliten nicht durch den Erzähler, sondern in der Rede Pharaos eingeführt worden war, doch wäre eine indirekte Mitteilung dieses tragenden Motivs in einem so gewichtigen Erzählungsbeginn zu erwarten? Alles Weitere bleibt endgültig im Bereich der Spekulationen. Da die Präsenz von Israeliten in Ägypten von keinem Erzähler als einfach gegeben vorausgesetzt werden konnte, wird man immerhin einen erklärenden Hinweis vermuten – am ehesten die summarische Notiz von einem Stammvater, den die Not nach Ägypten geführt hat. Falls es so gewesen sein sollte, hätte dies für die literarische Beziehung zu Erzelternüberlieferungen übrigens ebenso viel zu besagen wie der Verweis auf den trojanischen Krieg am Anfang der Odyssee für einen Werkzusammenhang der homerischen Epen.513–514
84 85
Vgl. die Diskussion a.a.O., 148. D.M. CARR, Genesis in Relation to the Moses Story. Diachronic and Synchronic Perspectives, in: A. WÉNIN (Hg.), Studies in the Book of Genesis. Literature, Redaction and History (BEThL 155), Leuven 2001, 273–295, hier 291.
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[513–514]
Psalm 2,7c – eine performative Aussage Bei meinen Bemerkungen zu Ps 2,7 gehe ich im Wesentlichen von dem inhaltlichen Verständnis des Verses aus, so wie es der derzeitigen communis opinio entspricht. Ich möchte hier lediglich auf die sprachliche Form von V. 7c hinweisen, die bisher entweder nicht beachtet oder m.E. inadäquat interpretiert wurde. Hinsichtlich der in V. 7 thematisierten Gottessohnschaft ist man sich weithin darüber einig, dass a) nicht an eine physische Zeugung zu denken ist, sondern dass die Sohnschaft auf Adoption beruht, und b) die Adoption in einem institutionalisierten Rahmen erfolgt, wobei man in dem Gottesspruch in V. 7 ein Zitat aus dem Protokoll der Inthronisationsfeier sieht. 1 Die übliche Übersetzung der vermutlichen Adoptionsformel lautet: „Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt.“ Sie findet sich mit kleinen Varianten in den meisten deutschen Bibelübersetzungen und Kommentaren.2 Diese folgen damit dem Vorbild der LXX (ἐγὼ σήμερον γεγέννηκά σε) und der Vulgata („ego hodie genui te“). Diese scheinbar wortgetreue Übersetzung enthält allerdings in sich insofern eine gewisse Spannung, als das Vergangenheitstempus und die Zeitbestimmung „heute“ unvermittelt nebeneinander stehen. Zudem stellt sich die Frage, wie sich das Präteritum mit der Bestimmung von V. 7bc als einer Adoptionserklärung verträgt.
1
Siehe z.B. M. NOTH, Gott, König, Volk im Alten Testament (Eine methodologische Auseinandersetzung mit einer gegenwärtigen Forschungsrichtung), in: DERS., Gesammelte Studien zum Alten Testament (ThB 6), München 1957, 222; H.J. KRAUS, Psalmen (BK XV/1), Neukirchen-Vluyn 1972 4, 18f. 2 So schon bei M. LUTHER, Die gantze Heilige Schrifft (1545), Repr. dtv, München 1974. Eine Übersetzung mit „Ich habe dich geboren“ statt „Ich habe dich gezeugt“ bietet F. B AETHGEN, Psalmen (HKAT II/2), Göttingen 1892. In E. GERSTENBERGER / K. JUTZLER / H.J. B OECKER , Psalmen in der Sprache unserer Zeit. Der Psalter und die Klagelieder, Neukirchen-Vluyn/Zürich 1972, findet sich eine Übersetzung, die meiner unten vorgeschlagenen mehr oder weniger äquivalent ist: „… heute nehme ich dich an Kindesstatt an.“ Allerdings zeigt der Hinweis auf die „wörtliche“ Übersetzung „Heute habe ich dich gezeugt“ in der Anmerkung zu V. 7, dass die gewählte Formulierung wohl eher als freie Übertragung gedacht ist, denn einer grammatischen Überlegung entspringt.
130
Ps 2,7c – eine performative Aussage
[4–5]
Das Missverständnis der hebräischen Konstruktion, das sich m.E. hinter dieser Formulierung verbirgt, wurde bei einigen Exegeten sozusagen explizit und hat sie veranlasst, an der | „Unausgeglichenheit“ von V. 7c die Israelitisierung der Formel ablesen zu wollen. So schreibt Artur Weiser nach dem Vorgang Hermann Gunkels:3 „Der Psalmdichter [schließt], obwohl er die jener fremden Gedankenwelt entstammende Formel ‚ich habe dich gezeugt‘ stehen läßt, durch Hinzufügen eines ‚heute‘ und durch Verwendung der alten Adoptionsformel ‚mein Sohn bist du‘ den Gedanken der physischen Erzeugung aus, und wandelt ihn um in den Gedanken der Adoption, der Sohneserklärung …“4
Für diese überlieferungsgeschichtliche Ausdeutung gibt es m.E. jedoch nur in der vorausgesetzten deutschen Übersetzung eine Grundlage, nicht aber im hebräischen Text. Denn die spezifische sprachliche Form von אני היום ילדתיך erklärt sich daraus, dass hier eine performative Aussage vorliegt und in diesem Fall die Affixkonjugation im Biblischen Hebräisch (bei der vorliegenden syntaktischen Stellung) obligatorisch ist. Fakultativ können dabei deiktische Ausdrücke wie היום, הנהu.Ä. hinzutreten.4–5 Als „performativ“ (oder auch „Koinzidenzfälle“) werden Aussagen bezeichnet, bei deren Äußerung die in ihnen ausgesagte Handlung vollzogen wird. (Zum Beispiel wird mit der Äußerung des Satzes „Ich verspreche dir, dass ich komme“ die Sprechhandlung „Ein-Versprechen-Geben“ vollzogen.) Mit einer gewissen Erweiterung der Definition spreche ich auch dann von performativen Aussagen, wenn der Vollzug der ausgesagten Handlung nicht allein in der Äußerung der entsprechenden Aussage besteht, sondern in einer umfassenderen institutionalisierten Handlung, für welche die Sprechhandlung einen – allerdings konstitutiven – Bestandteil darstellt (z.B. „Ich taufe dich …“ u.Ä.). Gemeinsam5 ist solchen Aussagen, dass sie die 1. Person als logisches Subjekt6 haben und nicht verneint sind. Ihre vorauszusetzenden temporalen Kategorien sind a) hinsichtlich der Zeitstufen: die Gegenwart, b) hinsichtlich
3 4 5
H. GUNKEL, Psalmen (HKAT II/2), Göttingen 19264, 7. A. WEISER , Psalmen (ATD 14/15), Göttingen 1966 7, 76. Vgl. D. W UNDERLICH, Zur Konventionalität von Sprechhandlungen, in: DERS. (Hg.), Linguistische Pragmatik, Frankfurt/Main 1972, 11–58, v.a. 16. 6 Ein Beleg mit der 3. Person als grammatischem Subjekt, aber der l. Person als logischem Subjekt ist 2 Sam 24,23.
[5–6]
Ps 2,7c – eine performative Aussage
131
der Aspektopposition:7 der perfektive Aspekt, weil der Vorgang als abgeschlossen, „von außen“ betrachtet wird.8 Das Biblische Hebräisch als „Aspektsprache“ gebraucht hier dementsprechend die Bezeichnungskategorien für den perfek|tiven Aspekt, d.h. Affixkonjugation („Perfekt“) und/oder Imperfectum consecutivum. Für die Affixkonjugation wird dieser Gebrauch auch mehrfach in Grammatiken konstatiert.9 Die Verwendung von Imperfectum consecutivum muss schon aus syntaktischen Gründen 10 selten sein. Ein Beleg ist vielleicht l Chr 17,10.11 Die durch die Verbform nicht bezeichnete Zeitstufenkategorie wird im Hebräischen m.E. durch deiktische Ausdrücke wie היוםoder הנהausgedrückt. Hierzu einige Textbeispiele: 5–6 Dtn 4,26 2 Sam 14,21 Jer 1,10 Jer 40,4
העידתי בכם היום את השמים הנה־נא עשיתי את־הדבר הזה ראה הפקדתיך היום הזה על־הגוים ועתה הנה פתחתיך היום מן־האזקים
Doch sind diese Ausdrücke nicht obligatorisch, da die Zeitstufe „Gegenwart“ oft durch Kontext bzw. Situation eindeutig festliegt. Da im Deutschen gerade umgekehrt die Zeitstufe durch die Flexionsform bezeichnet wird, während die Partikel „hiermit“ eher dem Ausdruck der Perfektivität dient, schlage ich vor, das hebräische Perfekt im Deutschen mit Präsens zu übersetzen und היוםmit „hiermit“. Nach dem bisher Gesagten ist deutlich, dass auf Ps 2,7c alle sprachlichen Merkmale einer performativen Aussage im Biblischen Hebräisch zutreffen: a) l. Person als logisches Subjekt, b) Affixkonjugation, nicht negiert, c) die
7
Ich beziehe mich hier auf die Aspektkategorien, wie sie in K. HEGER, Die Bezeichnung temporal-deiktischer Begriffskategorien im französischen und spanischen Konjugationssystem (Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie 104), Tübingen 1963, definiert werden. 8 Vgl. dazu H EGER , a.a.O., 42. Zum Ausdruck der Perfektivität vgl. im Deutschen den performativen Ausdruck „Die Versammlung ist hiermit eröffnet“. 9 Vgl. z.B. G. BERGSTRÄSSER , Hebräische Grammatik, II. Teil: Verbum, Leipzig 1929, §6e; C. BROCKELMANN, Hebräische Syntax, Neukirchen 1956, §41d. 10 Performative Ausdrücke stehen meistens in einer Redeeröffnung und auch häufig mit vorangestellten Partikeln wie הנה, so dass eine Verbindung von Verb und וausgeschlossen ist, mithin auch Imperfectum consecutivum. 11 הגידhat hier wohl die Bedeutung „ankündigen“ (vgl. Dtn 30,18). In der Parallelstelle 2 Sam 7,11 steht „( והגידund JHWH kündigt dir an, dass …“) statt ואגד. Damit, dass hier keine performative Rede vorliegt, erklärt sich auch das andere Tempus (Perfectum consecutivum). Allerdings ist in l Chr 17,10 der masoretische Text nicht über jeden Zweifel erhaben.
132
Ps 2,7c – eine performative Aussage
[6]
Handlung liegt in der Gegenwart, hier sprachlich durch היוםbezeichnet, d) es liegt kein sog. Zustandsverb vor ( מלך, ידעu.Ä.).12 Als deutsche Übersetzung, die dem Rechnung trägt, ist etwa denkbar: „Ich selbst mache dich hiermit zu meinem Kind.“13 Es ist deutlich, dass diese grammatische Analyse von Ps 2,7c sich der oben angedeuteten Auslegung des Verses nicht nur einfügt, sondern ihr auch noch ein weiteres (sprachliches) Argument liefert. 6
12 Unter „Zustandsverben“ im Hebräischen verstehe ich Verballexeme, die insofern polysem sind, als sie sowohl einen ingressiven Vorgang als auch den daraus resultierenden Zustand bedeuten können (z.B. „erkennen“/„wissen“). Zwar treffen bei ihnen nicht selten die Kriterien a) – c) zu, dann bezeichnen sie aber immer einen Zustand, scheiden also prinzipiell als performativer Ausdruck aus. Von daher ist die Einschränkung d) notwendig. 13 Bei einem solchen metaphorischen Gebrauch mit Gott als Subjekt lässt sich aus dem Genus des Subjekts nicht entscheiden, ob ילדetwa mit „zeugen“ oder „gebären“ zu übersetzen ist. Vgl. etwa Ps 7,15, wo ילדin der 3. Pers. masc. metaphorisch im Sinn von „gebären“ gebraucht wird, und Dtn 32,18, wo אלals מחללךbezeichnet wird. Ich wähle daher diese Übersetzung, die allerdings die Interpretation im Sinn eines Adoptionsvorganges voraussetzt.
Der vermeintliche Gottesname „Elohim“ Die Unterscheidung verschiedener Gottesnamen im Alten Testament, das sogenannte „Gottesnamenkriterium“, gehört zu den Ursprüngen der neuzeitlichen Bibelwissenschaft. An deren Anfang stand die Pentateuchkritik, und diese stützte sich bereits in den ersten „Quellenhypothesen“ des Hildesheimer Pfarrers Bernhard Witter und des Pariser Arztes Jean Astruc auf die Beobachtung unterschiedlicher Gottesbezeichnungen in Gen 1–11. Trotz gelegentlicher Diskussionen1 hat man an diesem „Urkriterium“ der Kritik festgehalten (in letzter Konsequenz freilich nur für den Pentateuch), und daran scheint sich auch nach der Auflösung des älteren „Konsenses“ 2 zur klassischen Pentateuch-Urkundenhypothese in den letzten Jahrzehnten wenig geändert zu haben. Bezogen auf den herkömmlichen Methoden-Kanon der Exegese gehört das „Gottesnamenkriterium“ zum Arsenal der sogenannten Literarkritik, in deren Rahmen versucht wird, die diachrone, näherhin die literargeschichtliche Einheitlichkeit bzw. Uneinheitlichkeit eines gegebenen Textes zu analysieren. Wie das besagte Argument dabei gebraucht werden kann, soll ein Beispiel aus einem klassischen „Paradigma“ für eine literar|kritische Quellenanalyse andeuten: Jakobs Traum von der Himmelsleiter in Gen 28,12– 13a: 1
Eine solche Diskussion hatten Paul Volz und Wilhelm Rudolph mit ihrer Bestreitung des Arguments (P. VOLZ / W. RUDOLPH, Der Elohist als Erzähler ein Irrweg der Pentateuchkritik? [BZAW 63], Gießen 1933, bes. 14–16.148f.180ff.) ausgelöst; vgl. die Reaktion von M. NOTH, Überlieferungsgeschichte des Pentateuch, Stuttgart 1948, 23f. (mit einem Tadel für Otto Eißfeldts allzu rasches Zugeständnis an Rudolph). Bemerkenswerterweise sprechen Volz und Rudolph ganz selbstverständlich vom „Wechsel der Gottesnamen“ o. Ä. und bestreiten nur dessen quellenkritische Signifikanz. Dagegen hebt Noth auf die Unterscheidung von Gottesnamen und appellativischem Gebrauch von אלהיםab (a.a.O., 23, Anm. 69). Genau darum soll es in diesem Beitrag gehen. – Auf die Versuche von Umberto Cassuto u.a., im Anschluss an jüdische Traditionen für JHWH und אלהיםfeste und unterschiedliche theologische Konnotationen nachzuweisen, kann hier nicht eingegangen werden; m.E. lassen sie sich an den Texten nicht durchhalten. 2 Ob ein solcher Konsens – von der Ausscheidung der „Priesterschrift“ einmal abgesehen – wirklich bestanden hat, ist eine andere Frage. Konsensfähig war nur das Dass vorpriesterlicher durchlaufender Quellenfäden, nicht aber deren Anzahl und schon gar nicht ihre Abgrenzung im Einzelnen.
134 (12)
(13)
Der vermeintliche Gottesname „Elohim“
[98–99]
Da träumte er: Und siehe, eine Rampe war aufgerichtet auf die Erde, und ihre Spitze reichte zum Himmel. Und siehe, Boten Gottes ( )מלאכי אלהיםstiegen auf und nieder auf ihr. Und siehe, JHWH stand aufrecht auf ihr/vor ihm. 98–99
Obwohl das Traumbild in V. 12 und 13a leicht erkennbar aus drei Elementen besteht, die sprachlich streng parallel ( והנה+ Subjekt + Partizip + Ortsangabe)3 und zudem in einer unverkennbaren Klimax (Rampe – Gottesboten – JHWH) formuliert sind, hat man durchgängig V. 13 literarkritisch abgetrennt und einer anderen Quelle zugewiesen. Den entscheidenden Anstoß dazu bildete immer der Gebrauch des Gottesnamens „JHWH“ in V. 13 im Unterschied zur Rede von den „Boten Gottes ( “)אלהיםin V. 12.4 In der laufenden exegetischen Arbeit wird gewöhnlich die literarkritische Signifikanz eines Sachverhalts wie des vorliegenden schlicht als gegeben vorausgesetzt; dabei versteht sich diese Signifikanz keineswegs von selbst. Im Sinne der klassischen Literarkritik wären zwei Möglichkeiten denkbar: Zum einen könnten die unterschiedlichen Formulierungen als Indizien verschiedener Autorenstile gedeutet, zum anderen als logische/sachliche Spannung innerhalb des Textes und von daher als Ausdruck seiner Inkohärenz verstanden sein. Im ersteren Falle wäre der sprachliche Befund noch nicht per se relevant, sondern erst, sofern er sich durch eine weitergreifende Stilanalyse entsprechend fundieren ließe. 5 Die andere Möglichkeit der literarkritischen „Spannung“ wäre dagegen ein sehr viel stärkeres und auch | eindeutiger zu handhabendes Kriterium. Vielfach wird für die sogenannten „Gottesnamen“ letzteres postuliert. So etwa in dem Methodenbuch von Georg Fohrer und Mitarbeitern. Im Blick auf Gen 28,10ff. heißt es hierzu: 3
Im hebräischen Text ist diese Struktur geradezu augenfällig: והנה סלם מצב ארצה וראשו מגיע השמימה והנה מלאכי אלהים עלים וירדים בו והנה יהוה נצב עליו Beim ersten Element ist der Partizipialsatz gleichsam gedoppelt, im zweiten nur das Partizip; das dritte Element bildet formal das knappste, inhaltlich aber gewichtigste. 4 Zu den literarkritischen Analysen von Gen 28,10ff., die sich selbstverständlich noch auf weitere Argumente stützen, s. eingehender E. B LUM , Noch einmal: Jakobs Traum in Bethel – Genesis 28,10–22, in: S.L. MCKENZIE / T H. RÖMER (Hg.), Rethinking the Foundations. Historiography in the Ancient World and in the Bible. FS John Van Seters (BZAW 294), Berlin / New York 2000, 33–54. 5 Variationen in den Gottesbezeichnungen sind dabei sonstigen sprachlichen Variierungen zwischen Synonymen, Ausdrücken mit derselben Referenz etc. gleichgestellt. Bei den in der Regel strittigen Abgrenzungen der Werke und dem oft relativ geringen Umfang zu vergleichender Corpora werden die methodischen Schwierigkeiten entsprechender Stilanalysen in der hebräischen Bibel allerdings notorisch unterschätzt; vgl. dazu auch u. Anm. 70. Ein in vielerlei Hinsicht markanter Sprachgebrauch diachron so deutlich abgrenzbarer Texte wie im Falle der P-Schicht des Pentateuch bildet die Ausnahme.
[99–100]
Der vermeintliche Gottesname „Elohim“
135
„,Jahwe‘ und ‚Elohim‘ stehen dann in Spannung zueinander, wenn Elohim als Name, nicht als Gattungsbezeichnung gebraucht ist.“ 6 Und eben dies ist nach Meinung von Fohrer und Mitarbeitern in Gen 28 der Fall. Die Logik der hier angenommenen „Spannung“ wird in dem Methodenbuch nicht expliziert, ist aber wohl nach folgender Analogie zu denken: Ein Autor kann nicht dieselbe Person einmal „Hans“ und dann „Peter“ nennen. Auch wenn die Person eigentlich „Hans-Peter“ heißen sollte oder wenn sie nicht einen Doppelnamen, sondern zwei Namen haben sollte, würde man erwarten, dass ein Autor normalerweise durchgehend denselben Namen gebraucht. Übertragen auf die Argumentation der zitierten Literarkritik implizierte dies entweder: der israelitische Gott hatte eigentlich einen Doppelnamen – was aber niemand ernsthaft vertritt –, oder: er hatte mehrere Namen und konnte mit diesen – je nach Verehrer oder Kontext – angerufen oder bezeichnet werden, nämlich mit „JHWH“ oder „Elohim“. Ob dies religionsgeschichtlich überhaupt einen Sinn machen könnte, braucht hier nicht weiter erörtert werden, denn in unserem Zusammenhang geht es vorrangig um die philologisch-sprachwissenschaftliche Seite des Problems. 99–100 Dazu werde ich hier die These vertreten, dass אלהיםim Alten Testament grundsätzlich nicht der Kategorie der Eigennamen zu subsumieren ist. 7 Dies impliziert u.a., dass der beschriebene Wechsel von Gottesbezeichnungen im o.g. strikten Sinne kein literarkritisches Kriterium bilden kann.8 An dieser von mir auch schon früher formulierten Position 9 | meine ich festhalten zu 6 G. FOHRER u.a., Exegese des Alten Testaments. Einführung in die Methodik (UTB 267), Heidelberg 1973, 174. 7 Andere Gottesbezeichnungen wie אלoder אלוהsollen in diesem Zusammenhang nicht erörtert werden; sachlich und sprachlich gilt für sie mutatis mutandis aber das Gleiche wie für אלהים. Auch die zumeist mit singularischem Prädikat verbundene Pluralform von אלהיםist hier nicht zu diskutieren; vgl. dazu J.S. BURNETT, A Reassessment of Biblical Elohim (SBL.DS 183), Atlanta 2001, 7–24, der die These eines „concretized abstract plural“ vertritt: „According to this grammatical category, the plural form denoted an individual person or thing representing a certain status expressed as an abstraction“ (a.a.O., 23). 8 Für die hier zu verhandelnde Grundproblematik nicht einschlägig ist die mechanische Ersetzung des Gottesnamens durch אלהיםim sogenannten „elohistischen Psalter“. Man wird sie in der Sache analog zu den Ersetzungen des Gottesnamens durch andere Ausdrücke wie „der Name“, „Herr“ in nachalttestamentlicher Zeit zu beurteilen haben. 9 E. B LUM, Die Komposition der Vätergeschichte (WMANT 57), Neukirchen-Vluyn 1984, 471–475: „Exkurs 3: Die sog. ‚Gottesnamen‘ als literarkritisches Argument“. Allerdings hatte ich seinerzeit den nachhaltigen Anstoß unterschätzt, den vor allem der artikellose Gebrauch von אלהיםals – Sprachphilosophen würden sagen – „singulärer Terminus“ bzw. „definite Kennzeichnung“ für Exegeten darstellt. Dieses Versäumnis soll im Folgenden durch entsprechende Präzisierungen ausgeglichen werden. Denkanstöße dazu verda nke ich neben dem Beitrag von Albert de Pury (s. nächste Anmerkung) insbesondere dem Gespräch mit Konrad Schmid, Zürich.
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Der vermeintliche Gottesname „Elohim“
[100–101]
sollen – auch gegen einen partiellen Konsens der neueren bibelhebräischen Lexikographie (s.u.) und gegenüber der zuletzt von Albert de Pury nachdrücklich vertretenen Sicht, wonach אלהיםin einem bestimmten Gebrauch und dank einer Innovation der P-Schicht des Pentateuch zu einer Art Eigenname geworden sei – mit seines Erachtens weitreichenden religionsgeschichtlichen und theologischen Konsequenzen. 10 Letztere werden unten in Abschnitt 3. angesprochen. Zunächst aber scheint immer noch ein elementarer sachlicher Klärungsbedarf zu bestehen, insofern unter Exegeten einerseits unstrittig ist, dass אלהיםim AT das gängige und allgemeine Wort für „Gott“ bzw. „Götter“ darstellt, also ein nomen appellativum, andererseits für viele zumindest offen ist, ob das Wort daneben auch als Eigenname, als nomen proprium, gebraucht wird. Diese philologische Frage soll in den Abschnitten 1. und 2. noch einmal erörtert werden. 100–101
1. Angesichts der soweit skizzierten Problemstellung kommt es letztlich auf eine möglichst präzise und konsensfähige Definition der sprachlichen Kategorie der Eigennamen hinsichtlich ihrer Merkmale und Funktion an. 11 Auf den ersten Blick sollte dies kein größeres Problem darstellen, möchte man meinen, sind doch Angehörige einer Sprachgemeinschaft gewöhnlich auch ohne linguistische Kenntnisse in der Lage, recht zielsicher Eigennamen und Allgemeinbegriffe auseinander zu halten. Schwieriger wird es gleichwohl bei einer genaueren sprachwissenschaftlichen Definition | und den daraus folgenden Abgrenzungen. Dabei ist von vornherein klar, dass eine solche kategoriale Bestimmung nicht auf einzelne Sprachen hin formuliert sein 10 A. DE PURY, Gottesname, Gottesbezeichnung und Gottesbegriff. ’Elohim als Indiz zur Entstehungsgeschichte des Pentateuch, in: J.C. GERTZ u.a. (Hg.), Abschied vom Jahwisten. Die Komposition des Hexateuch in der jüngsten Diskussion (BZAW 315), Berlin / New York 2002, 25–47; s. auch DERS., Wie und wann wurde „der Gott“ zu „Gott“?, in: I.U. DALFERTH / P H. STOELLGER (Hg.), Gott Nennen. Gottes Namen und Gott als Name (RPT 35), Tübingen 2008, 121–142. Vgl. außerdem die Aufnahme von de Purys These bei K. SCHMID, Differenzierungen und Konzeptualisierungen der Einheit Gottes in der Religions- und Literaturgeschichte Israels. Methodische, religionsgeschichtliche und exegetische Aspekte zur neueren Diskussion um den sogenannten „Monotheismus“ im antiken Israel, in: M. OEMING / K. SCHMID (Hg.), Der eine Gott und die Götter. Polytheismus und Monotheismus im antiken Israel (AThANT 82), Zürich 2003, 11–38, darin bes. 28ff. 11 Wie im Folgenden deutlich werden wird, beruht auch die sachliche Differenz zwischen Albert de Purys und meiner Sicht letztlich allein auf einem unterschiedlichen Verständnis der sprachlichen Kategorie „Eigenname“ (nomen proprium); vgl. z.B. u. Anm. 36 und 42.
[101–102]
Der vermeintliche Gottesname „Elohim“
137
kann (dabei wäre der Gefahr linguistischer Sonderkonstrukte kaum zu entgehen), sondern übereinzelsprachlich zu fundieren ist. Glücklicherweise braucht hier auf exegetischer oder hebraistischer Seite das Rad nicht neu erfunden zu werden, vielmehr kann (und muss) die alttestamentliche Exegese auf Distinktionen der allgemeinen Sprachwissenschaft zurückgreifen. Von entscheidender Bedeutung erweist sich dabei die Unterscheidung einiger elementarer Grundaspekte der Semantik von Wörtern einer Sprache: (a) Referenz vs. (b) Wortsinn bzw. mit einer Verschiebung im ersten Element: (a’) Extension vs. (b) Intension. 12 Ein sprachlicher Ausdruck (z.B. „Stuhl“) referiert13 in einer konkreten Kommunikation auf einen außersprachlichen Gegenstand (einen bestimmten Stuhl) oder Sachverhalt, seine (situationsunabhängige) Extension ist die Menge der Gegenstände/Sachverhalte, die durch ihn bezeichnet werden können (alle Stühle der Welt). Seine Intension dagegen ist der Sinn/Bedeutungsinhalt 14, der ihm in einem sprachlichen System zukommt. Mit Hilfe dieser intensionalen Bedeutung sind Sprecher in der Lage, Gegenstände einem Begriff zu subsumieren. 101–102 Anders verhält es sich bei Eigennamen: Sagt jemand in einer realen Kommunikationssituation: „Das ist Ulli!“, dann hat der Ausdruck „Ulli“ eine bestimmte Referenz, aber die Person wird damit nicht einem Begriff subsumiert. Der Name selbst hat keine Intension. Vielmehr ist er als Ausdruck so mit der Person verbunden, dass man diese damit identifizieren kann. Stephen Ullmann zitiert in seinen Grundzügen der Semantik dazu eine erhellende Formulierung von Hermann Ammann: „Einen Namen nicht kennen, heißt: nicht | wissen, wer so heißt; ein Wort nicht kennen, heißt: nicht wissen, was das Wort heißt oder bedeutet“15. 101–102
12 Grundlegend wurde hierfür der Aufsatz von G. FREGE, Über Sinn und Bedeutung, ZPPK 100 (1892) 25–50 = DERS., Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien, hg. von G. Patzig (KVR 144/145), Göttingen 1962, 40–65. Frege führte terminologisch die Opposition „Bedeutung vs. Sinn“ ein; vgl. sein berühmtes Beispiel (a.a.O., 27 = 41): „Es würde die Bedeutung von ‚Abendstern‘ und ‚Morgenstern‘ dieselbe sein, aber nicht der Sinn.“ Wenn ich recht sehe, wird inzwischen aber auch in deutschsprachiger Literatur terminologisch zumeist zwischen „Sinn/Bedeutung/Intension“ (bzw. „bedeuten“) auf der einen Seite und „Referenz“ bzw. „Extension“ (bzw. „referieren, bezeichnen“) auf der anderen unterschieden. 13 Wie R. W IMMER, Zur Theorie der Eigennamen, Linguistische Berichte 17 (1972) 70– 75, darin 71, mit Recht anmerkt, bildet diese Redeweise genau genommen eine Abkürzung dafür, dass „Sprecher in bestimmten Situationen diese und jene Gegenstände mit Hilfe bestimmter Zeichen bezeichnen“. 14 Duden. Das Große Wörterbuch der deutschen Sprache. Band 6, Mannheim u.a. 1981, 2531, gibt als (erste) Bedeutung des Lexems „Stuhl“ an: „Sitzmöbel mit vier Beinen u. mehr od. weniger gerader Rückenlehne […], auf dem eine Person Platz findet“. 15 H. AMMANN, Die menschliche Rede. Sprachphilosophische Untersuchungen, Bd. I: Die Idee der Sprache und das Wesen der Wortbedeutung, Lahr 1925, 47f.; zitiert bei
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[102–103]
Natürlich haben Namen oft auch eine etymologische Bedeutung. Diese ist aber nicht mit dem intensionalen Sinn zu verwechseln. Andernfalls gälten alle Trägerinnen des Namens „Irene“ per se als friedfertig und allen Peter würden felsige Eigenschaften zugeschrieben. Doch selbst dann, wenn Namen, wie häufig bei Orts- oder Firmennamen, aus einer beschreibenden Bezeichnung entstanden sind, ist der Gebrauch des Namens nicht an das Bestehen des darin aufgegriffenen Sachverhalts gebunden.16 Sind Eigennamen mithin durch das Fehlen einer lexikalisierbaren 17 intensionalen Bedeutung gekennzeichnet, so ist jedenfalls in natürlichen Sprachen18 noch eine weitere Bestimmung erforderlich: Die besondere | kommunikative Leistung von Eigennamen besteht darin, dass sie (mehr oder weniger) situationsunabhängig eine Identifikation erlauben. 102–103 Mit diesen Überlegungen folgen wir der allgemein vorherrschenden sprachwissenschaftlichen Bestimmung, wie sie z.B. Stephen Ullmann nach
S. ULLMANN, Grundzüge der Semantik. Die Bedeutung in sprachwissenschaftlicher Sicht [dt. Übers. von „The Principles of Semantics“, 1957], Berlin 1967, 68. 16 Ob es beispielsweise in der Stadt namens „Zweibrücken“ noch eine Brücke gibt und, wenn ja, wie viele, ist für den Namensgebrauch letztlich unerheblich. S. auch u. bei Anm. 24. 17 Diese Einschränkung bezieht sich darauf, dass Namen konventionell oft mit bestimmten Gattungen verbunden sind, mit männlichen/weiblichen Personen, Orten, Tieren etc. Allerdings scheint für Namen gerade die potentielle Ungebundenheit charakteristisch zu sein. So kann man – ohne Kontext – nicht von vornherein wissen, ob „Berlin“ eine Stadt meint oder eine Person, ob „Waldi“ sich auf einen Dackel bezieht oder die Koseform eines Personennamens „Waldemar“ darstellt. Dazu des näheren J. LYONS, Semantics: Volume 1, Cambridge 1977, 221. 18 Diese Einschränkung bezieht sich auf (sprach)philosophische Diskussionen, in denen teilweise die These vertreten wurde, Namen in reinster Form seien deiktische Ausdrücke wie „dies“, die etwas oder jemand bezeichnen, aber nichts über das Bezeichnete au ssagen (Bertrand Russell u.a.). Demgegenüber hebt Saul Kripkes Vorschlag (S. KRIPKE, Name und Notwendigkeit [1972, 1980] [stw 1056], Frankfurt/Main 1981/1993), Namen als „feste Designatoren“ („rigid designators“) zu bezeichnen, auf ihre situationsunabhängige Bezeichnungsfunktion ab. Gleichwohl hat auch seine Bestimmung von Namen als „feste Designatoren“, die sich „in allen möglichen Welten“ immer nur auf ein und denselben Gegenstand beziehen, nicht den Sprachgebrauch in natürlichen Sprachen im Fokus, jedenfalls wären danach „Peter“ oder auch „Peter Müller“ gerade keine Namen. Schon bei Gottlob Frege führte die philosophische Debatte um Eigennamen im Übrigen von den Gegebenheiten natürlicher Sprache weg, wohl nicht zuletzt wegen der Ausrichtung auf das Problem der „Wahrheitswerte“ von Sätzen/Propositionen etc. Wichtige Stimmen zur philosophischen Diskussion sind in dem Sammelband von U. W OLF (Hg.), Eigennamen. Dokumentation einer Kontroverse (stw 1057), Frankfurt/Main 1993, versammelt. In unserem Zusammenhang geht es dagegen um „Eigennamen“ als einer sprachwissenschaftlichen Beschreibungskategorie. (Zur hier angedeuteten Differenz der Diskurskontexte vgl. auch W IMMER , Theorie [Anm. 13]; DERS., Die Bedeutung eines Eigennamens, Semasia 5 [1978] 1–21.)
[103–104]
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einer ausführlichen Erörterung der verschiedenen in sprachwissenschaftlichen Zusammenhängen vorgeschlagenen Kriterien für Eigennamen als „the most useful“ präferiert:19 „The essential difference between common nouns and proper names lies in their function: the former are meaningful units, the latter mere identification marks.“
Sachlich ganz entsprechend definiert ein verbreitetes linguistisches Wörterbuch:20 „E[igennamen] sind Ausdrücke, die bestimmte Einzelobjekte (Personen, Orte, Gebirge usw.) benennen oder bezeichnen, ohne begriffliche Information zu geben; sie orientieren und identifizieren, ihre primäre semantische Funktion besteht in ihrem Bezug oder ihrer Referenz.“
Diese spezifische „Semantik“ von Eigennamen hat entsprechende praktische und (einzel)sprachliche Konsequenzen. So werden Eigennamen in Wörterbüchern üblicherweise nicht aufgeführt, 21 sondern nur „Wörter/Lexeme“: Man findet eventuell das Wort „Berliner“, aber nicht „Berlin“; man findet „Bikini“ als Wort für ein Bekleidungsstück, aber nicht als Name eines Südseeatolls. Eine weitere Konsequenz besteht darin, dass Eigennamen nicht übersetzt werden. So heißt „Le Havre“ in deutschen Übersetzungen nicht „Der Hafen“, sondern bleibt „Le Havre“. Steht in der Zielsprache ein „eigener“ eingeführter Name zur Verfügung, kann der Name der Vorlage aber durch diesen ersetzt (freilich nicht „übersetzt“) werden.22 103–104 Geläufig ist aber auch das Phänomen, dass aus Lexemen Namen gebildet werden können und umgekehrt. 23 Ersteres findet sich häufig nicht nur bei Ortsnamen (s.o.), sondern gerade auch bei Firmen, deren Name gern aus | einer beschreibenden Bezeichnung gewonnen wird. Das heißt, die Etymologie dieser Firmennamen bleibt oft transparent. Sobald es sich um eingeführte Namen handelt, ist diese Etymologie aber auch hier letztlich irrelevant. 24 19 S. U LLMANN, Semantics. An Introduction to the Science of Meaning, Oxford 1970, 77; Ullmann bezieht sich dabei wesentlich auf A. Gardiner. S. auch die differenzierten Ausführungen bei LYONS, Semantics (Anm. 17), 219-223. 20 T. LEWANDOWSKI, , Linguistisches Wörterbuch 1 (UTB 1518), Heidelberg 1994 6, 244. 21 Anders verhält es sich gewöhnlich bei Lexika zu historischen Sprachen mit begrenzten Textcorpora, die entweder als Thesaurus angelegt sind oder einen eingeschränkten Thesaurus-Charakter haben (wie die gängigen Handwörterbücher zum biblischen Hebräisch). 22 So z.B., wenn anstelle des russischen „Kaliningrad“ in Übersetzungen „Königsberg“ gebraucht wird. 23 Vgl. die z.T. kulturgeschichtlich interessanten Beispiele bei U LLMANN, Semantics (Anm. 19), 77–79. 24 So lässt „Bayrische Motorenwerke“ nicht eindeutig auf die Produkte der Firma schließen; ebenso wenig gibt der Firmenname „M.A.N.“ („Maschinenfabrik AugsburgNürnberg“) eine zuverlässige Auskunft über den Firmensitz etc.
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[104]
Bekannte Beispiele für den umgekehrten Fall, dass Eigennamen zu Allgemeinbegriffen werden, sind „Zeppelin“ oder „Bikini“. 25 Neben den semantischen Kennzeichen kann der Gebrauch von Namen in den Einzelsprachen mit weiteren grammatischen Besonderheiten verbunden sein. Dies gilt vor allem für die Syntax des Artikels.26 Im Englischen ist der Artikel entweder fest mit dem Namen verbunden, oder er steht gar nicht. 27 In der deutschen Schriftsprache gilt weithin das Gleiche, es sei denn der Name ist attributiv ergänzt („der dumme Augustin“). In Süddeutschland dagegen wäre es in der gesprochenen Sprache, erst recht im Dialekt, geradezu abweichend, Personennamen ohne Artikel zu gebrauchen. Man sagt nicht: „Gestern traf ich Peter“, sondern „Gestern hab’ ich den Peter getroffen.“ Nun gibt es freilich auch Sprachen, die gar keinen bestimmten Artikel kennen, wie das Lateinische, die aber selbstverständlich zwischen Eigennamen und sonstigen Wörtern unterscheiden. Schon von daher wird es kaum möglich sein, die Definition einer elementaren Kategorie wie „Eigenname“ auf einzelsprachliche Befunde der Syntax von Namen zu gründen. Die neuere Sprachwissenschaft trägt dem Rechnung, insofern sie, wenn ich recht sehe, durchgehend die differentia specifica der Eigennamen in deren Semantik (und Pragmatik28) sucht. |104
25 Bei den verschiedentlich diskutierten sogenannten „Übergängen“ zwischen beiden Kategorien gilt es freilich genau hinzusehen. So werden als Beispiele eines „appellativen Gebrauchs“ von Eigennamen gern Redeweisen genannt wie: „Ein Einstein ist er nicht“ oder „Roma locuta – causa finita“ oder „Er hörte einen Tag lang Bach“. Tatsächlich liegt hier aber durchgehend Breviloquenz vor: „[Ein Genie wie] Einstein …“, „[der Papst in] Rom …“, „… [Musikstücke von] Bach“. 26 U LLMANN, Semantics (Anm. 19), 76: „The syntax of the article and other ‚determiners‘ is indeed one of the most widespread grammatical criteria distinguishing between proper names and common nouns, but it operates differently in various languages.“ 27 Als Ausnahme „in special circumstances“ notiert U LLMANN, ebd., einen Fall wie „the Lloyd George we knew“. 28 „Pragmatik“ steht hier für die Bezogenheit auf die konkreten Bedingungen der kommunikativen Situation, ohne dass diese von den semantischen Spezifika zu trennen wäre. Ihrer Anschaulichkeit wegen sei hier noch eine Formulierung des an der „Sprachpragmatik“ interessierten Philosophen John R. Searle zitiert: „The uniqueness and immense pragmatic convenience of proper names in our language lie precisely in the fact that they enable us to refer publicly to objects without being forced to raise issues and come to agreement on what descriptive characteristics exactly constitute the identity of the object. They function not as descriptions, but as pegs on which to hang descriptions.“ (J.R. SEARLE, Proper Names, Mind 67 [1958] 166–173, darin 172).
[105–106]
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2. Zurück zur Ausgangsfragestellung nach der kategorialen Relation zwischen JHWH und אלהיםim biblischen Hebräisch! Wie schon angesprochen, werden mit dem Nomen אלהיםüblicherweise bestimmte Wesen oder Mächte dem oder einem Begriff „Gott“ subsumiert. Nun war es auch für einen althebräischen Autor ohne weiteres möglich, Allgemeinbegriffe, insbesondere auch Titel, und Eigennamen nebeneinander zu gebrauchen.29 Dementsprechend könnte man fragen, worin das Problem der Exegeten mit einem Nebeneinander oder Wechsel der verschiedenen Bezeichnungen liegt. 105–106 Tatsächlich hätte sich die Frage wohl schon längst von selbst erledigt, wäre bei dem Lexem אלהיםnicht eine Differenz zwischen einem unspezifisch appellativischen Gebrauch des Lexems im Sinne von „ein Gott, Götter etc.“ und seinem Gebrauch zur Bezeichnung eines bestimmten Gottes, der im jeweiligen Zusammenhang oder überhaupt der einzige Gott ist, festzustellen. Bei Letzterem kann das Nomen sowohl mit dem Artikel, also האלהים (entsprechend dem griechischen ὁ θεός), als auch ohne Artikel, also mit אלהים, das aber gleichwohl determiniert ist, bezeichnet werden. Dieser Gebrauch ist in der Regel daran erkennbar, dass die betreffenden Belege mehr oder weniger selbstverständlich mit „Gott“ (ohne Artikel) übersetzt werden bzw. mit großgeschriebenem, artikellosem „God“, „Dio“ oder „Dieu“. Ernsthafte Hypothesen, die behaupten, dass )ה(אלהיםauch als „Gottesname“ oder wenigstens „eigennamenartig“ gebraucht werde, beziehen sich nur auf diesen letzteren Fall. Albert de Purys religionsgeschichtliche Hypothese beschränkt sich darüber hinaus allein auf determiniertes אלהיםohne Artikel. Schon ein flüchtiger Blick in neuere Wörterbücher zum AT ergibt den bemerkenswerten Befund, dass die Deutung von אלהיםals Eigenname gerade in „philologischen“ Lexika wieder mit Nachdruck vertreten wird, während die Ausführungen in T heologischen Wörterbüchern aus dem Anfang der 70er Jahre eher von einem unentschiedenen Sprachgebrauch geprägt sind. So heißt es im Artikel אלהיםdes ThWAT: „Schließlich ist אלהיםeinfach zur Bezeichnung JHWHs geworden, wodurch er als der Gott schlechthin bezeichnet wird.“ Auf dieser Linie ist vom „Gebrauch von אלהיםals Ersatz des Gottesnamens“ die Rede, zugleich wird aber auch vom „Wechsel des Gottesnamens“ (im Pentateuch) gesprochen.30 Im Theologischen Handwörterbuch wird einerseits den entsprechenden Pentateuchquellen und weiteren Autoren/Redaktoren | ein „Gebrauch des Allgemeinbegriffs für ‚Gott‘ und Vermeidung des Eigennamens“ 31 zugeschrieben, andererseits kann von אלהים gesagt werden, es gewinne „im Laufe der Geschichte den Charakter eines Eigennamens, so daß ’ælōhīm ohne Artikel auftreten (…) oder im Vokativ als Anrede an ‚Gott‘ dienen
29 30
Für Beispiele s.u. bei Anm. 59 Die Zitate stammen aus H. R INGGREN, Art. א ֹלהִ ים, ThWAT I, Stuttgart u.a. 1970ff., 285–305, darin 304f. 31 W.H. SCHMIDT, Art. א ֹלהִ ים, THAT I, München 1971, 153–167, hier 166.
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kann (…).“32 Dagegen gibt HALAT 33 an: „' אmit u. ohne Art[ikel] wie als n[omen] pr[oprium], gleichwertig u. wechselnd mit ' יim P[enta]t[euch] (…) u. sonst …“. Noch dezidierter bestimmt die neueste Auflage des Gesenius-Handwörterbuchs 34 als zweite Bedeutung von אלהים: „EN [=Eigenname] Gott, Elohim, z[ur] Bez[eichnung] Jahwes, m[it] Art[ikel] …, o[hne] Art[ikel] …“. Freilich steht dem die schlichte Notierung von אלהיםund אלוהals Nomina im Dictionary of Classical Hebrew aus Sheffield gegenüber. 35
Vorausgesetzt, dass das Althebräische und die europäischen, von christlicher Tradition geprägten Sprachen in dieser Hinsicht vergleichbar sind, könnten wir unsere philologische Frage demnach am europäischen Sprachgebrauch durchbuchstabieren: Sind (artikelloses) „Gott“ oder „Dieu“ oder „God“ Eigennamen? – Viele würden dies vermutlich spontan bejahen. 36 Schließlich bezeichnet artikellos determiniertes „Gott“ immer nur ein und dasselbe Wesen, sei es nun geglaubt oder in seiner Existenz bestritten. Der Begriff wird sozusagen immer identifizierend gebraucht. Dies zeigt schon eine einfache Probe: Auf eine Aussage wie „Gott ist die Liebe“ kann man nicht wirklich sinnvoll zurückfragen: „Welcher Gott?“ Nun war oben ein identifizierender Gebrauch als ein Charakteristikum von Eigennamen vorgestellt worden. Folgt daraus also ein Eigennamen-Charakter von „Gott/God“ etc.? Dem steht freilich entgegen, dass wohl nach allgemeinem Sprachgefühl zwischen „Gott“ auf der einen und Götternamen wie „Zeus“ oder „Jupiter“ auf der anderen Seite ein Unterschied besteht. Diesen Unterschied machen auch die neueren Wörterbücher. 37106–107 So erklärt Das große Wörterbuch der deutschen Sprache von Duden im Vorwort, dass es den Wortschatz der deutschen Gegenwartssprache vollständig | erfassen wolle, dass aber grundsätzlich keine Namen aufgenommen wurden. Deshalb wird man darin keinen Artikel „Artemis“ oder „Zeus“ fin-
32 SCHMIDT, a.a.O., 155. Die relativ unbestimmte Formulierung „Charakter eines Eigennamens“ scheint sich näherhin besehen freilich nur auf die Syntax zu beziehen (Artikelsetzung), da gleich im Anschluss von der Bedeutung des Wortes „(der) Gott“ gesprochen wird. 33 HALAT 52, Art. ַּ א לוֹהund א ֹלהִ יםII.3.dα). 34 Ges18 61, Art. ַּ א לוֹהII.B.2. 35 The Dictionary of Classical Hebrew. Vol. I, Sheffield 1993, 277, s. Art. אלהים: „n.m.pl. God“ „1. God, in ref. to Y. …“. 36 So jedenfalls auch Albert de Pury, der argumentiert (Gottesname [Anm. 10], 28): „Für mich ist ausschlaggebend, dass in Gen 1 ’lhym weder mit ‚der Gott‘ noch mit ‚ein Gott‘ übersetzt werden kann, sondern nur mit ‚Gott‘. Genau darin besteht der Übergang vom Appellativum zum Eigennamen.“ Mit Letzterem setzt er freilich voraus, was zu erweisen wäre und im Folgenden überprüft werden soll. 37 Konsultiert wurden: Duden (1976ff.), Wahrig (1974); Lo Zingarelli (2006); Le Nouveau Petit Robert (1993/2004); Oxford Dictionary of English. Second edition (2003). Allein Letzteres führt auch Namen ausgewählter Figuren der Geschichte und Mythologie auf, darunter „Artemis“ und „Zeus“.
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den, aber es gibt einen Artikel „Gott“, in dem die Bedeutungen dieses Lexems angegeben werden.38 Ebenso wird das Wort „Gott“ – anders als Götternamen – grundsätzlich in andere Sprachen übersetzt. Der Sachgrund für all dies liegt auf der Hand: Auch mit artikellos gebrauchtem „Gott“ als Bezeichnung des einen Gottes identifiziert man nicht nur etwas/jemanden, sondern man subsumiert zugleich das Gemeinte dem Begriff „Gott“, und dafür hat jede Sprache ihre eigenen Ausdrücke. Mit anderen Worten: Das Wort „Gott“ hat – in welchem Gebrauch auch immer – eine intensionale Bedeutung. 107–108 Gleichwohl unterscheidet sich dieses Lexem im Deutschen von der Mehrzahl der Appellativa, insbesondere hinsichtlich der Artikelsetzung, die der bei Personennamen entspricht.39 Allerdings ist diese Syntax – entgegen anderslautender Behauptungen – keineswegs ein exklusives Kennzeichen von nomina propria. Direkte Analogien finden sich vielmehr bei Ausdrücken, deren Verwendung in der Regel ebenfalls mit einer eindeutigen identifizierenden Referenz verbunden ist. Dazu gehören etwa Standestitel wie „Hochwürden“, „Durchlaucht“, „Majestät“ oder Ähnliches. Zwar werden die Adelstitel in förmlich-höfischer Sprache zumeist mit Pronomina verbunden („Ihro/Seine Majestät“), doch ist weniger formell auch die einfache Verwendung ohne Artikel möglich (nicht nur in der Anrede). 40 Ebenso | vergleichbar
38 Duden. Das Große Wörterbuch der deutschen Sprache. Band 3, Mannheim 1977, 1065. Als erste Bedeutung wird hier angeführt: „1. (im Monotheismus, bes. im Christentum) höchstes, übernatürliches Wesen, das als Schöpfer Ursache allen Naturgeschehens ist, das Schicksal der Menschen lenkt, Richter über ihr sittliches Verhalten u. ihr Heilsbringer ist“. Das Oxford Dictionary of English. Second edition, Oxford 2003, 741, notiert unter dem Artikel „God“: „noun … 1 (in Christianity and other monotheistic religions) the creator and ruler of the universe and source of moral authority; the supreme being.“ Entsprechendes gilt für alle in Anm. 37 genannten Werke. Dagegen ging noch das Deutsche Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Vierter Band I. Abteilung 5. Teil. Glibber–Gräzist, Leipzig 1958, 1017– 1144 (Art. Gott) – erste Lieferungen dieses Teilbandes kamen von 1936 an heraus – von einem Eigennamen-Begriff aus, der dem in der exegetischen Tradition genau entspricht; vgl. a.a.O., 1025: „I. gott als der biblische gott … dem charakter seiner einzigkeit entsprechend und gemäsz seiner verwendung in der art eines eigennamens steht gott hier seit je artikellos …“ 39 Wie bei singularischen Eigennamen kann zu (determiniertem) „Gott“ auch kein Plural gebildet werden. 40 Belege bietet das Internet. Hier sei nur aus einem politischen Witz im Simplicissimus zitiert: „Bei der Durchreise durch eine kleine Stadt besucht Durchlaucht auch das dort befindliche Gefängnis und läßt sich einige der Inhaftierten vorführen. … Es fällt Durchlaucht auf, daß fast alle auf die Frage, weshalb sie bestraft worden sind, zur Antwort geben: ‚Wegen Diebstahls!‘ und so beginnt er endlich auch zu fragen: ‚Ja, mein Sohn, weshalb, äh … weshalb hat man denn gestohlen?‘ ‚Frau und Kinder hatten Hunger,‘ erwiderte fast ein jeder, ‚sonst hätte ich es nicht getan.‘ Durchlaucht schüttelt den Kopf, und als sie das Ge-
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ist des Weiteren der binnenfamiliär identifizierende Gebrauch von artikellosem „Vater“ oder „Mutter“. 41 Es gibt also gerade bei als Titel verwendeten „definiten Kennzeichnungen“ einen determinierten Sprachgebrauch, ohne dass die Determination durch Artikel oder Pronomina markiert sein muss. Vorausgesetzt wird dabei, dass die intendierte Referenz, der/die Träger/in des Titels, für die Adressaten nicht weiter spezifiziert zu werden braucht. Es handelt sich um eine semantische (bzw. pragmatische) Determination. Interessanterweise kann bei herausgehobenen fremdsprachlichen Titeln auch die Übersetzung unterbleiben, wie etwa bei „Zar“, „Schah“ oder „Pharao“. Der Titel für den (alt)ägyptischen König weist im Deutschen zudem noch eine Besonderheit auf: „Pharao“ kann ohne Bedeutungsunterschied mit oder ohne Artikel gebraucht werden. 42 108–109 Ein derartiger unmarkiert-determinierter Gebrauch von Titeln findet sich auch in antiken Sprachen. So ist u.a. bei Herodot artikelloses βασιλεύς als Bezeichnung für den persischen König belegt. 43 βασιλεύς behielt dabei selbstverständlich die intensionale Bedeutung des Wortes („König“), wurde also keineswegs zum Eigennamen eines oder mehrerer persischer Könige;44 zugleich zeigte die rein semantische Determination den Kommunikationsteilnehmern an, dass der so verwendete Titel nicht einen beliebigen König der damaligen Welt meinte. Walter Burkert macht auf den analogen Ge|brauch eines weniger prominenten Titels aufmerksam:45 Der Hauptpriester des Artemiskultes in Ephesus trug im 6. Jahrhundert v. Chr. den Titel fängnis verlassen, wendet sich der Fürst an seinen Begleiter: ‚Hm, wirklich sehr merkwürdig das, sehr merkwürdig, meint Er nicht auch? … Wenn man Hunger hat, ißt man doch, aber man stiehlt nicht! Wirklich merkwürdig, sehr merkwürdig!‘“ 41 Gemeint ist ein Gebrauch wie in „Mutter kommt heute später“. Eine Klassifizierung auch solcher Ausdrücke als Eigennamen erforderte eine deutlich ausgeweitete Definition, die allein auf die identifizierende Funktion abhebt, wie bei D. BERGER, Zur Abgrenzung der Eigennamen von den Appellativen, Beiträge zur Namensforschung NF 11 (1976) 375 – 387, hier 387: „Wo ein Substantiv (…) ein individuelles Lebewesen oder eine individuelle Sache oder eine individuelle Gruppe identifiziert, ist es Eigenname.“ Damit würden aber (so auch Berger) Ausdrücke wie „der Chef“, „der Präsident der Vereinigten Staaten“ zu Eigennamen erklärt, mithin die gesamte Kategorie der „definiten Kennzeichnungen“. 42 Die oben in Anm. 37 genannten Wörterbücher führen im Übrigen „Pharao/faraone/ pharaon/pharaoh“ durchgehend als Nomen auf und geben eine entsprechende Bedeutung an („a ruler in ancient Egypt“ o.ä.). (Vgl. aber DE P URY, Gottesname [Anm. 10], 28.) 43 Vgl. den Eintrag in H. L IDDELL / R. SCOTT, An Intermediate Greek-English Lexicon, Oxford 1889 (1968), Art. βασιλεύς: „III. after the Persian war, the king of Persia was called βασιλεύς (without the Art.), Hdt., Att.; more rarely ὁ βασιλεύς, or ὁ μέγας βασιλεύς. Hdt. (Deriv. uncertain.)“. 44 Entsprechend wird das Wort in Herodot-Übersetzungen auch nicht transkribiert, sondern mit „der Großkönig“ wiedergegeben. 45 W. B URKERT, Die Griechen und der Orient. Von Homer bis zu den Magiern, München 2003, 113f.
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„Megabyxos“. Nach Burkert ist diese Amtsbezeichnung aus politischen Gründen aus dem Persischen entlehnt worden. Von Xenophon wird auch sie artikellos verwendet. Gestützt auf die erörterten Befunde dürften sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Eigennamen und Titeln (bzw. „definiten Kennzeichnungen“) folgendermaßen präzisieren lassen: (1a) Eigennamen und determinierte Titel haben gemeinsam, dass sie in konkreter Kommunikation identifizierend auf ein bestimmtes Objekt referieren. (1b) Einzelsprachlich kann die Determination sowohl bei Eigennamen als auch bei (spezifischen) Titeln sprachlich unmarkiert bleiben. (2) Unberührt von der Frage, ob die Determination formal angezeigt wird oder nicht, unterscheiden sich Titel von Eigennamen kategorial darin, dass sie das Bezeichnete nicht nur identifizieren, sondern es zugleich einem Begriff subsumieren.46 Es liegt nahe zu fragen, ob ein artikelloser Gebrauch von Titeln vom Grad der Situationsunabhängigkeit ihres Identifikationspotentials abhängt. Bei βασιλεύς oder Pharao etwa dürften die Voraussetzungen für eine situationsunabhängige Referenz in hohem Maße gegeben (gewesen) sein. Zwar steht schon der Sprachgebrauch von „Hochwürden“ auf der einen Seite und „der Papst“ auf der anderen einer allzu simplen Regelableitung im Deutschen entgegen, doch ist der Sachzusammenhang zwischen einem konstant identifizierenden und einem artikellosen Gebrauch – in Analogie zu den Eigennamen – kaum abzuweisen. Jedenfalls fällt es ins Auge, dass die Identifikation eines Wesens, das den Kommunikationspartnern als in alle Ewigkeit und in allen Welten dasselbe bekannt ist, gleichsam per definitionem situationsunabhängig ist. Wenn irgendwo, dann vermag in diesem Falle die Semantik des Wortes eine formale Determination zu erübrigen. 109–110
Das wichtigste Beispiel für einen unmarkiert-determinierten Titel bildet im Deutschen (und in vielen europäischen Sprachen) die artikellose Rede von „Gott“.47 – Dass aber auch im Falle der monotheistischen Gottesbezeichnung Semantik (determinierter Titel) und Syntax (Artikellosigkeit) nicht notwendig korrelieren, vermag noch einmal schlagend der (christ|liche) Sprachgebrauch im Altgriechischen zu belegen: Die Autoren des Neuen Testaments bezeichnen den einen wahren Gott zumeist mit ὁ θεός, können
46 Zu der verbreiteten Ausdrucksweise, aufgrund der (z.T. partiellen) Analogie bei der Artikelsetzung würden die betreffenden Ausdrücke „wie Eigennamen“ oder „eigennamenartig“ gebraucht, s.u. bei Anm. 60. 47 Das Verständnis von „Gott“ als „Titel“ setzt voraus, dass (a) Titel „jmds. Rang, Stand, Amt, Würde, Stand kennzeichne(n)“ (Duden-Wörterbuch 6 [Anm. 38], 2596) und (b) die Semantik von „Gott“ die Hoheit/Überlegenheit Gottes (gegenüber der Kreatur) einschließt (vgl. bspw. die in Anm. 38 zitierten Bedeutungsangaben). Wem diese Kategorisierung nicht geheuer ist, mag es bei dem allgemeineren, in der analyt ischen Philosophie gängigen Begriff „definite Kennzeichnung“ („definite description“) belassen.
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aber auch einfach θεός sagen; analog verhält es sich mit κύριος (mit und ohne Artikel) in der Bedeutung „der Herr“.48 Der biblisch-hebräische Gebrauch von אלהיםentspricht (in Semantik und Syntax) ohne Einschränkung dem besprochenen Sprachgebrauch korrespondierender Allgemeinbegriffe bzw. Titel in antiken und modernen Sprachen: Das Wort kann als Gattungsbegriff verwendet werden (undeterminiert und/oder mit pluralischer Bedeutung) oder – determiniert und mit singularischer Bedeutung – als tituläre49 Bezeichnung des einen 50 Gottes. Die Determination kann ohne erkennbaren Bedeutungsunterschied formal (durch den Artikel) markiert oder unmarkiert sein. Die sachgemäße Übersetzung ist jeweils artikelloses, aber determiniertes „Gott“ („Dieu“, „God“ etc.). Hinsichtlich der Semantik bleibt dieses tituläre (ה)אלהיםkategorial von dem Gottesnamen JHWH unterschieden. Obschon die vorstehende Diskussion dies suggerieren könnte, hängen diese Bestimmungen zum hebräischen אלהיםdarüber hinaus sachlich nicht an der Triftigkeit der beschriebenen Analogien in anderen (modernen und antiken) Sprachen. Vielmehr lassen sie sich voll und ganz aus durch den sonstigen, epigraphisch und alttestamentlich belegten Sprachgebrauch im Althebräischen fundieren. Dies soll zum Abschluss dieses philologischen Argumentationsgangs anhand der entsprechenden Belege erläutert werden: | – Ein erstes vertrautes Beispiel stellt der Titel [„( פרעהder] Pharao“) dar, der hebräisch, obwohl determiniert, ausschließlich ohne Artikel gebraucht wird, häufig allein, z.T. aber auch verbunden mit dem Namen des betreffenden Pharao. 51 110–111
48 Für die Belege kann hier der Verweis auf W. B AUER, Wörterbuch zum Neuen Testament, Berlin u.a. 1971 5, Art. θεός, 3. („ganz überwiegend v. wahren Gott, bald mit, bald ohne Art. gebraucht“), bzw. Art. II. κύριος, 2.c.γ. und d., genügen. Hinsichtlich der uneinheitlichen Artikelsetzung muss im Übrigen kein spezifischer Einfluss des alttesta mentlichen Sprachgebrauchs postuliert werden, da Entsprechendes auch für d ie pagane griechische Literatur belegt ist; vgl. H. KLEINKNECHT, Art. θεός. A. Der griechische Gottesbegriff. 1. θεός im Sprachgebrauch der Profangräzität, in: ThWNT III, Stuttgart 1938, 65 –79, hier 67: „Ebenso wechselt θεός und ὁ θεός ohne erkennbaren Bedeutungsunterschied.“ 49 Diese (im Deutschen ungewöhnliche) Adjektivbildung ist angeregt durch G. Davies, der erhellend von einem „titular use of the words for G/god“ spricht; vgl. G. DAVIES, „God“ in Old Testament Theology, in: A. LEMAIRE (Hg.), Congress Volume Leiden 2004 (VT.S 109), Leiden 2006, 175–194, hier 179. Davies’ knapp begründete Position (vgl. a.a.O., 181f.) trifft sich mit meiner auch darin, dass er neben der Unterscheidung von „divine name“ und „divine title“ auch bei den „Wörtern“ für „Gott“ einen (allgemein) appellativen und einen titulären unterscheidet (z.B. a.a.O., 178). 50 Im jeweiligen kommunikativen Zusammenhang oder überhaupt. 51 Vgl. die Belege u. bei Anm. 68.
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– Auf einer Elfenbeinplatte, die als Beute oder Tributabgabe aus dem Nordreich Israel in das assyrische Nimrud gelangt war, ist eine hebräische Inschrift [Nim(8):1,2] aus dem 8. Jahrhundert fragmentarisch erhalten, in der es u.a. heißt: „( ממלך גדלvom Großkönig“). Dieser, dem neuassyrischen šarru rabû entsprechende Titel begegnet in 2 Kön 18,19 par. mit Artikel ( )הגדל המלךund in Hos 5,13; 10,6 in der Form מלך ירבbzw. מלכי רב52. Sowohl die epigraphische als auch die bei Hosea belegte Form sind jeweils artikellos, aber semantisch determiniert. – In Ez 26,7 wird Nebukadnezar u.a. mit dem Epitheton „( מלך מלכיםder Großkönig“), bezeichnet, wiederum ohne Artikel, aber semantisch determiniert, hier nun in einer Lehnübersetzung des neubabylonischen šar šarrāni.53 – Entsprechendes gilt für herausgehobene militärische Titel. Dazu gehören (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) ( שר־צבא2 Sam 2,8; 1 Kön 16,1654) und „( רב־טבחיםder Kommandant der Leibwache“), der nur artikellos belegt ist (2 Kön 25,8–20 par. Jer 39,9ff.[MT]; 52,12ff.).55 111–112 – Schließlich weist auch der vielleicht älteste inschriftliche Beleg für einen hebräischen Titel die gleiche signifikante Syntax auf (artikellos bei semantischer Determination): „( לשר ערdem Bürgermeister/Stadtkommandanten [gehörig]“ [KAgr(9):2,III]). Paläographisch wird die Inschrift aus Kuntillet Adschrud von Johannes Renz „(a)b dem 9. Jhdt.“ datiert 56, der archäologische Gesamtbefund lässt eher an das 8. Jahrhundert denken. | Die (mutmaßlich unvollständige) Reihe semantisch determinierter Titel mag für das Althebräische57 ausreichend belegen, dass die Annahme, „nur Eigennamen [seien] Nomen, die für sich genommen hinreichend determiniert sein 52 Zu den beiden Lesungen und zur Bedeutung „Großkönig“ vgl. W. RUDOLPH, Hosea (KAT 13,1), Gütersloh 1996, 124, Anm. 13b), zu weiteren Deutungsvorschlägen zuletzt Ges18 491f., Art. י ֵָר ב. 53 Vgl. zuletzt Ges 18 685, Art. מלך. Im Übrigen liegt es m.E. nahe zu fragen, ob nicht auch βασιλεύς für den persischen Großkönig auf diesen semitischen Sprachgebrauch zurückgehen könnte. 54 Belege mit Artikel: 1 Sam 17,55(MT); 1 Kön 11,15.21; 2 Kön 25,19. 55 Vgl. auch die aus dem Akkadischen entlehnten Titel רב־נזג, רב־סריס, רב־שקה. 56 So J. RENZ, Die althebräischen Inschriften. Teil I, in: J. RENZ / W. RÖLLIG (Hg.), Handbuch der althebräischen Epigraphik, Darmstadt 1995, 54. Die Einzelbesprechung der Buchstabenformen grenzt diese allerdings zeitlich nicht besonders eng ein (10./9. bis 7. Jahrhundert). Nach a.a.O., 55, Anm. 3, ist der Titel in dieser Form „(v)iermal in Kuntillet ‘Ağrūd belegt, auf Siegeln sonst als lśr h‘r“. Sollte der Beleg in Kuntillet Adschrud tatsächlich ins 9. Jahrhundert zurückgehen, könnte das „Fehlen“ des Artikels auch allge meine sprachgeschichtliche Gründe haben; s. ebd., und s.u. bei Anm. 82. 57 Der hebräische Befund hat zudem eine interessante Entsprechung im Phönizischen, in dem nach J. FRIEDRICH / W. RÖLLIG, Phönizisch-punische Grammatik (neubearbeitet von M.G.A. Guzzo) (AnOr 55), Rom 1999 3, § 297, 3), der Artikel (neben Eigennamen und
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und so auf den Artikel verzichten können, da es die mit ihnen bezeichneten Größen nur einmal gibt“58, nicht zutrifft.59 Insbesondere solche Syntagmen wie „( את־עמרי שר־צבאden Heerführer Omri“, 1 Kön 16,16), „( פרעה נכהPharao Necho“, 2 Kön 23,29) oder [„( נבוזראדן רב־טבחיםder] Kommandant Nebusaradan“, 2 Kön 25,8) lassen sich gar nicht anders als nach dem Muster z.B. von „( דוד המלךKönig David“) lesen. In diesen Fällen ist nicht nur evident, dass die jeweiligen Titel/definiten Kennzeichnungen keine Eigennamen „sind“. Auch eine Beschreibung als „eigennamenartig“ (aufgrund des artikellosen Gebrauchs) ergibt hier keinen Sinn, da es jeweils um bestimmte Qualifizierungen der namentlich genannten Personen geht. Im Lichte dieses althebräisch möglichen Sprachgebrauchs zeigt sich denn auch die Problematik der – für deutsches Sprachgefühl zweifellos gut nachvollziehbaren – Formulierungen, biblische Autoren gebrauchten determiniertes artikelloses „ אלהיםwie einen Eigennamen“ oder „nach der Art eines Eigennamens“. 60 Man kann solche Formulierungen wohlwollend dahingehend interpretieren, dass damit die semantisch-syntaktischen | Merkmale „artikellos, mit eindeutiger Referenz“ gemeint seien (in deren Zusammenhang hat ein vergleichender Hinweis auf Eigennamen selbstverständlich seinen Platz). Als rekurrente Bestimmung sollen sie aber wohl eine kategoriale bzw. funktionale Gleichheit mit Eigennamen suggerieren, die weder nach deren gängiger Definition 1 1 2 – 1 13
besonderen Appellativa) vor allem in „Titulaturen“ fehlt. Zu den Belegen gehören Verbindungen wie ( מלך אשמנעזרKAI 14,1ff.), ( רב סרסרםKAI 34,1ff.) oder ( רב ארץKAI 43,2.6). 58 So SCHMID, Differenzierungen (Anm. 10), 35 (mit zusätzlichem Verweis auf GK §125a.c); in seinem Argumentationszusammenhang fungiert diese Annahme als tragende Prämisse, aus der die sprachliche Interpretation des Gebrauchs von אלהיםin der Priesterschrift abgeleitet wird. 59 Bereits die innere Logik der Annahme ist nicht zwingend, da hinsichtlich der Determinierung bei „singulären Termini / definiten Kennzeichnungen“ wie „der Papst“, „der Kaiser von China“ einerseits und „Pharao“ andererseits kein gradueller Unterschied erkennbar ist. Im Vergleich mit Eigennamen wie „Peter Müller“ ist die Referenz solcher Titel sogar deutlich situationsunabhängiger determiniert. Zu Schmids Prämisse vgl. grundsätzlich W IMMER, Bedeutung (Anm. 18), 13: „Im Unterschied zur logischen Analyse kommt es bei der linguistischen Beschreibung des Eigennamens gerade darauf an, den Eigennamen semantisch von definiten Kennzeichnungen und Pronomina zu unterscheiden. Als unterscheidendes Merkmal kann dabei nicht gelten, dass der Eigenname in den meisten Verwendungen einen und nur einen Gegenstand bezeichnet. Solche Verwendungsweisen sind auch für definite Kennzeichnungen und Pronomina möglich.“ 60 SCHMID, Differenzierungen (Anm. 10), 34 bzw. 35 (im Original kursiv). Ebenso wenig erlaubt der Befund m.E. eine Auflösung in ein Sowohl-als-auch: „Von der Semantik her bleibt אלהיםtatsächlich Gottesbezeichnung, hinsichtlich der artikellosen Determination wird אלהיםaber fraglos wie ein Eigenname verwendet“ (a.a.O., 35, Anm. 77). Das Problem dabei ist ein doppeltes: Weder ist artikellose Determination ein alleiniges Kennzeichen von Eigennamen, noch stehen bei Letzteren einzelsprachliche syntaktische Merkmale gleichrangig neben den semantisch-pragmatischen.
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noch nach den oben genannten bibelhebräischen Syntagmen von Eigennamen und artikellosen Titeln gegeben ist. Zugespitzt formuliert ist diese überaus verbreitete Redeweise entweder sachlich unzutreffend (wenn „wie ein Eigenname“ meint „als Eigenname“) oder verunklärend unterbestimmt (gegenüber einer direkten Benennung der relevanten Merkmale) und deshalb alles in allem irreführend.61 113–114 Die offensichtliche Attraktivität der Qualifizierung von אלהיםals „eigennamenartig“ im exegetischen Kontext dürfte von dieser quasi zielführenden Unbestimmtheit nicht zu trennen sein. Zur Illustration mag der Hinweis auf eine programmatische Äußerung von M artin Noth genügen, der für die Pentateuchanalyse „das bekannte Nebeneinander der beiden Gottesnamen יהוהund “אלהיםals Kriterium anführt, in der Anmerkung aber erläutert: „Daß appellativisch gebrauchtes אלהיםals Kriterium ausscheidet, ist so selbstverständlich, daß nur anmerkungsweise darauf hingewiesen zu werden braucht. Im Allgemeinen aber haben wir es im Pentateuch mit eigennamenartigem אלהיםzu tun.“ 62 Wenn Noth hier kohärent argumentiert, wovon man ausgehen darf, dann ist „eigennamenartig“ nicht im Sinne von „wie ein Eigenname“, sondern „als ein Eigenname“ zu lesen. Dennoch spricht er weder direkt von dem „Eigennamen “אלהיםnoch gibt er אלהיםin seinen Übersetzungen – analog zu „Jahwe“ – transkribiert als „Elohim“ wieder, sondern er übersetzt den Ausdruck. Den dahinter sich verbergenden Klärungsbedarf zeigt das „eigennamenartig“ gleichsam ungewollt an. Aus Sicht der in diesem Beitrag vertretenen Kategorisierung drängt sich darüber hinaus allerdings die Frage auf, wie das eminente Beharrungsmoment der „Zwei -Gottesnamen-Hypothese“, die binnendisziplinär vielfach zu einer schieren Selbstverständlichkeit abgesunken ist, zu erklären sein mag. Grundlegend für Herausbildung und Etablierung des „Arguments“ dürfte zunächst gewesen sein, dass die Gründergenerationen der Disziplin bis ins 20. Jahrhundert hinein mit einem sehr viel weiteren, genauer: einem unterbestimmten Namensbegriff operiert haben. 63 (Symptomatisch dafür sind Titel wie „Kyrios als Gottesname im Judentum“.) | Zu den Gründen für diese relative Sorglosigkeit in terminologischen Dingen wird man zwei „Vorgaben“ zu rechnen haben: zum einen die elementare Mehrdeutigkeit des lateinischen Basisbegriffs nomen (wie auch des hebräischen grammatischen Terminus )!שםals „Namen“ und „Nomen“, 64 zum anderen den Umstand, dass die Diskussion der distinkten Semantik von Eigennamen – verbunden mit einer Rezeption der 61
Zur Verdeutlichung empfiehlt sich eine Gegenprobe: Folgerte man aus dem Gebrauch des Artikels im umgangssprachlichen „der Peter“, hier werde „Peter“ „hinsichtlich der Determination wie ein Allgemeinbegriff gebraucht“ bzw. „nach der Art eines Allgemeinbegriffs“, dann ist dies entweder unzutreffend („Peter“ als Allgemeinbegriff) oder ohne spezifischen Informationswert (es sei denn für Leute, die nicht wissen, dass Allgemeinbegriffe gewöhnlich mit einem Artikel verbunden sind). 62 N OTH, Überlieferungsgeschichte (Anm. 1), 23 mit Anm. 69 (Hervorhebung im Original). 63 Der selbstverständlich von außerhalb der Exegese vorgegeben war. Zur Illustration kann an das oben in Anm. 38 gegebene Zitat aus dem Grimmschen Wörterbuch erinnert werden. 64 Die Ausdrücke der romanischen Sprachen teilen diese Mehrdeutigkeit des lateinischen „nomen“. So fällt in dem ersten von DE P URY, Gottesname (Anm. 10), 26, Anm. 1, zitierten Abschnitt aus Jean Astrucs Conjectures auf, dass der Anfang zunächst von zwei „noms“ = „Nomina“ sprechen könnte, mit denen Gott bezeichnet wird. Erst der letzte Satz, der sich auf „JHWH“ bezieht, spricht unzweifelhaft vom „Gottesnamen“.
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älteren sprachlogischen Problemstellungen – erst seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts in der Sprachwissenschaft intensiver geführt wird. Unabhängig davon, ob bzw. inwieweit man diese Diskussion in der Exegese überhaupt wahrgenommen hat, war die eigene Begrifflichkeit zu dieser Zeit jedenfalls längst verfestigt. Darüber hinaus gibt noch manche Formulierung in den Wörterbüchern zu erkennen, wie sehr hier die überkommene Quellenkritik des Pentateuch die Wahrnehmung der philologischen Sachverhalte zu prägen scheint.65
3. Die präzise kategoriale Zuordnung von (ה)אלהיםals Bezeichnung „Gottes“ (= des einen/wahren Gottes), auf der hier insistiert wurde, hat über den engeren philologischen Sachhorizont hinaus eine Reihe von exegetischen Implikationen, von denen einige zumindest noch angesprochen werden sollen. So erweist sich das mitunter praktizierte Verfahren, das Lexem אלהיםin Übersetzungen biblischer Texte nicht in die Zielsprache zu übertragen, sondern analog zu „JHWH/Jahwe“ transkribiert („Elohim“ o.ä.) wiederzugeben, als sachlich verfehlt, auch wenn die neueste Auflage des GeseniusHandwörterbuchs dergleichen meint autorisieren zu sollen. 66 114–115 Weitreichender sind die Konsequenzen für die literarhistorische Analyse: Wenn – אלהיםin welcher Verwendung auch immer – keinen Gottesnamen darstellt, entfällt die sprachlogische Grundlage für das oben vorgestellte sogenannte „Gottesnamenkriterium“.67 Denn erstens gibt es nur | einen Gottesnamen, zweitens stellt ein Nebeneinander von JHWH und אלהיםkeine Kohärenzstörung dar, sondern ist per se so unauffällig wie das Nebeneinander von (artikellosem) Titel und Eigenname in dem Syntagma ו/„ – פרעה נכהPharao Necho“ (2 Kön 23,29.33–35; Jer 46,2) oder der promiscue-Gebrauch von „Necho“, „Pharao“ und „der ägyptische König“ (2 Kön 23,33–35; 2 Chr 35,20.22; 36,4).68 Konsequenterweise ist auch ein Syntagma wie יהוה אלהים, zu Deutsch: „Gott JHWH“, sprachlich korrekt und darüber hinaus sachlich
65
Vgl. oben bei Anm. 33 und bereits Ges 17, 40, Art. ַּ א לוֹהin Pl. B)2.: „In demselben S[inne] aber auch אלהיםohne Art[ikel] (als Eigenname) Gn 1,1. 9,27. Am 4,11 usw., bes. bei bestimmten Erzählern d[es] Pent[ateuch] u[nd] in bestimmten Psalmgruppen.“ Die grammatische „Fundierung“ liefert GK §125. In gewisser Weise bezeichnend ist auch die Näherbestimmung „im Pentateuch“ in dem Noth-Zitat bei Anm. 62. 66 Vgl. Gen 18 61, Art. ַּ א לוֹהals Angabe der Grundbedeutungen: „appellat. Gott u. EN Gott, Elohim (Begriffsgrenze fließend)“; vgl. auch oben bei Anm. 34. 67 Dementsprechend impliziert auch in unserem Ausgangsbeispiel Gen 28,12f. das Nebeneinander von מלאכי אלהיםund יהוהper se keinerlei Spannung und bietet keinen Anlass, das sorgfältig strukturierte Traumbild literarkritisch aufzulösen. 68 Sprachlich eine genaue Analogie bildet die Verwendung von „der König“ neben „David“ in 2 Sam 15 u.ö.
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ohne weiteres sinnvoll; tatsächlich kommt es im Masoretischen Text nicht weniger als 39-mal vor. 115–116 Über die methodologischen Aspekte hinaus ist freilich auch mit sachlichexegetischen und theologischen Dimensionen des Gebrauchs der Gottesbezeichnungen zu rechnen. 69 So kann der Gebrauch von Name und/oder Titel im Einzelfall etwas mit dem Individualstil eines Autors 70 zu tun haben oder mit inhaltlichen Profilierungen 71 oder mit einer theologischen Konzeption. Letzteres ist im Alten Testament in singulärer Weise innerhalb der P-Schicht des Pentateuch gegeben. Bekanntlich gebraucht „P“ innerhalb der Urgeschichte ausschließlich die Gottesbezeichnung אלהיםund vermeidet auch danach bis Ex 6 den Gottesnamen in der Anrede an und in Reden von menschlichen Akteuren.72 Zudem wird dieser zweite Aspekt in Ex 6,2f. ausdrücklich thematisiert, freilich ohne den programmatischen Sinn der Namensperiodisierung zu explizieren. Dieser erschließt sich nur aus der theologischen Gesamtkonzeption der priesterlichen Pentateuch|komposition (KP). Darin wird die Geschichte Israels in eine spannungsvolle Geschichte Gottes mit seiner Schöpfung dergestalt integriert, dass mit der Bundeszusage für Abraham eine Dynamik der partiellen Wiederherstellung der guten Schöpfung vor der Flut einsetzt, eine Dynamik, die auf die kultisch vermittelte Gegenwart Gottes in Israel zielt. Kultische Institutionen und Praxis im Sinne von KP setzen aber ein größeres Kollektiv, das Volk als entsprechenden personalen Raum voraus. Deshalb „kann“ der JHWH-Name mit seiner kultischen Funktion nach diesem Verständnis erst bei Mose offenbart werden.73 69 Vgl. zuletzt D AVIES , God (Anm. 49); im Blick auf den kanonischen Befund geht es ihm darin systematisch um die Frage nach „the theological significance of the fact that ‚the God of Israel and the Creator of the World and Humanity‘ is often referred to without the use of the divine name at all or with words for G/god in association with the divine name“ (a.a.O., 176). 70 Allerdings werden individuelle Befunde der Ausdrucksvarianz häufig ad hoc als literarkritische Argumente angeführt, ohne dass die jeweiligen methodischen Präsuppositionen auch nur ansatzweise im Blick sind. Demgegenüber zeigen naheliegende Gegenproben, um die sich meines Wissens erstmals H.-J. Stipp bemüht hat, dass „Variationen im Sprachgebrauch“ per se „keine literarkritischen Indikatoren“ darstellen; vgl. H.-J. STIPP, Elischa – Propheten – Gottesmänner. Die Kompositionsgeschichte des Elischazyklus und verwandter Texte, rekonstruiert auf der Basis von Text- und Literarkritik zu 1 Kön 20.22 und 2 Kön 2–7 (ATSAT 24), St. Ottilien 1987, 97ff.183ff.287ff. (die Zitate aus 185). Dies gilt nicht zuletzt auch für den Wechsel von Titel und Eigenname in einer Einheit, selbst bei prima vista auffällig uneinheitlicher Verteilung (a.a.O., 97ff.). 71 Vgl. dazu schon B LUM , Vätergeschichte (Anm. 9), 474f. Als Beispiel für eine inhaltliche Profilierung verweise ich dort schon auf Gen 22,1–14. Ein weiteres, gängiges Beispiel wäre der Gebrauch von אלהיםin Darstellungen aus der Perspektive von Nichtisraeliten. 72 S. aber unten Anm. 85. 73 Vgl. E. B LUM , Studien zur Komposition des Pentateuch (BZAW 189), Berlin / New York 1990, 295f.
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Nach Albert de Purys auch in diesem Band * subtil entfalteten These wäre in P freilich schon ab Gen 1 mit einer bis dahin unerhörten Namenstheologie zu rechnen, insofern hier אלהיםals monotheistischer, zugleich aber gleichsam universal kommunikationsfähiger Gottesname eingeführt würde. Auch Konrad Schmid sieht in seiner Rezeption dieser These hier „ein(en) Vorgang von fundamentaler Bedeutsamkeit“: „Die Priesterschrift lässt die Gattung אלהיםund ihren einzigen Inhalt אלהיםkoinzidieren: Der einzige, der אלהים ist, kann deshalb gleichzeitig auch אלהיםheißen.“74 Sehen wir nach den vorstehenden Darlegungen einmal von der spezifischen Namenstheorie ab, könnte man gleichwohl fragen, ob in einem lockeren Anschluss an de Pury die „kopernikanische Wende“ in der Rede von Gott bei „P“ etwa in der Weise reformuliert werden könnte, dass das monotheistische Gottesverständnis sich hier erstmals in einer neuen sprachlichen Variante des titulären Gebrauchs von – אלהיםeben ohne Artikel – artikulieren würde. Nach meinem Dafürhalten lässt sich jedoch auch diese Variante der Grundthese nicht wahrscheinlich machen, und dies in doppelter Hinsicht: Zum einen impliziert אלהיםals definite Kennzeichnung, ob ohne oder mit Artikel, nicht notwendig ein monotheistisches Gottesverständnis, zum anderen bildet der artikellos determinierte Gebrauch von אלהיםkeine sprachliche Innovation durch P. Als erhellende Analogie hinsichtlich der sachlichen Implikationen kann wiederum der griechische, „absolut“ gebrauchte Titel βασιλεύς für den Perserkönig dienen. Die Referenz dieses Titels war bei der konkreten Verwendung innerhalb seines originären Sprachkontextes zweifellos eindeutig. Gleichwohl bedeutet dies nicht, dass – das Zitat von Konrad Schmid paraphrasierend – der einzige, der βασιλεύς war, deshalb gleichzeitig auch βασιλεύς heißen konnte. Vielmehr kannten die Sprecher neben dem Großkönig potentiell weitere Könige, innerhalb wie außerhalb des Perserreiches, und | konnten diese jeweils auch mit dem Wort βασιλεύς (mit „üblicher“ Syntax) bezeichnen.75 116–117 Entsprechend ist theoretisch denkbar, dass auch im Kontext einer grundsätzlich polytheistischen Weltsicht eine Gottheit als „der Gott schlechthin“ gedacht und bezeichnet wurde, sei es in einer „henotheistischen“ Perspektive in Äußerungen persönlicher Frömmigkeit oder in Texten, die in bzw. für einen de facto monolatrischen Zusammenhang formuliert wurden. In solchen Kontexten tritt „der Gott“, von oder zu dem gesprochen wird, so ausschließlich in den Fokus, dass althebräisch für seine Bezeichnung auch ein „absolut“, d.h. ohne Artikel verwendetes אלהיםvorstellbar erscheint. 117–118
* DE P URY, Der Gott (Anm. 10). 74 SCHMID, Differenzierungen (Anm. 10), 35. 75 Vgl. Herodot VIII, 67, mit βασιλεύς für den Großkönig und für die Könige von Sidon und Tyros im direkten Kontext.
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In der Tat begegnet determiniertes אלהיםin der Bedeutung „Gott“ im Alten Testament denn auch nicht nur in monotheistischen Kontexten und auch nicht zum ersten Mal in der P-Schicht des Pentateuch. Selbst wenn wir die Nicht-P-Belege im Pentateuch einmal außen vor lassen, bleibt eine Fülle von Belegen allein in den Vorderen Propheten. Friedrich Baumgärtel76, der die Vorkommen von ( אלהיםim MT) außerhalb des Pentateuch bereits 1914 zusammengestellt hat, zählte in Jos–Kön ca. 196 Vorkommen, die mit „Gott“ zu übertragen sind;77 dabei machte er – sachlich m.E. zu Recht – keinen kategorialen Unterschied zwischen Belegen mit und ohne Artikel. Beschränkt man sich für den vorliegenden Argumentationszusammenhang auf artikelloses אלהים, bleiben immerhin noch ca. 89 Vorkommen. Der Versuch von Albert de Pury, alle diese Belege entweder als nach-priesterlich oder als in anderer Hinsicht nicht einschlägig zu erweisen, gelingt nur um den Preis, dass nicht nur alle status-constructus-Verbindungen mit אלהיםausgeschlossen werden, sondern auch alle Texte, in denen bei אלהיםnicht nachweislich ein monotheistisches Gottesverständnis als „Weltschöpfer“, „Gott aller Menschen“ à la Gen 1; 9 etc. mitzudenken ist. Damit schließt sich freilich ein argumentativer Zirkel, insofern die problematische These einer Transformation in einen „Eigennamen“ um die Bedingung angereichert wird, dass bei diesem Name von vornherein und nachhaltig die hohe Theologie der PKomposition mitzudenken sei, und dann beides zur Voraussetzung anstatt zum Gegenstand der Überprüfung gemacht wird. Eine solche Hypothese wird sich in der Tat kaum widerlegen lassen; sie ist aufgrund ihrer Konstruktion immunisiert. Ohne solche Bedingungen wird man dagegen keine Mühe haben, Vor-P-Belege für artikellos determiniertes אלהיםzu benennen, in denen der – für Erzähler bzw. Akteure – „eine“ Gott, sei es der Volksgott oder der persönli|che Gott gemeint ist. 78 So rechnet auch Konrad Schmid mit der Möglichkeit eines artikellosen „ אלהיםbes. in Ri, Sam, Kön … im Rahmen monolatrischer persönlicher Frömmigkeit“ 79. Wie man aber diesen artikellos determinierten Gebrauch in monolatrischem Kontext von einem solchen in einem monotheistischen Kontext hinsichtlich der grammatisch-sprachlichen Kategorisierung unterscheiden können soll, dürfte schwer zu zeigen
76 F. B AUMGÄRTEL, Elohim außerhalb des Pentateuch. Grundlegung zu einer Untersuchung über die Gottesnamen im Pentateuch (BWAT 19), Leipzig 1914. 77 D AVIES, God (Anm. 49), 182, findet zwischen Ri 1 und 1 Kön 11 etwa 140 Vorkommen mit nicht-appellativer Bedeutung, 78 Als Beispiele nenne ich nur die Vorkommen von אלהיםin Gen 30–31 (Jakoberzählung) oder in den Saul-David-Erzählungen (1 Sam 23,14; 26,8; 28,15; 2 Sam 14,13 etc.). 79 SCHMID, Differenzierungen (Anm. 10), 34, Anm. 74. Dieser Sprachgebrauch wird tentativ als Residuum der älteren Sprache vor der „Einführung“ des Artikels angenommen (dazu gleich).
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sein. Der relativ80 einheitliche Gebrauch in P jedenfalls bildet hierfür keinen Indikator, entspricht er doch der auch sonst wohl bekannten stilistischen Konsequenz und Geschlossenheit der priesterlichen Überlieferung. Die These einer sprachlich-theologischen „kopernikanischen Wende“ lässt sich darauf nicht stützen. Mehr noch, bereits sprachgeschichtliche Befunde führen darauf, dass der artikellose Gebrauch des Wortes 81 nicht eine späte Entwicklung darstellt, sondern im Gegenteil am Anfang stand: Hebraistisch besteht Konsens, dass der Gebrauch eines bestimmten Artikels sich erst zu Beginn des 1. Jahrtausends herausgebildet82 und darüber hinaus nur in der Prosa einigermaßen konsequent durchgesetzt hat. In poetischer Literatur sind artikellose Verwendungen determinierter Nomina bis in die späte Zeit wohl vertraut. Von daher dürfte u.a. auch zu erklären sein, dass Bezeichnungen numinoser/kosmischer etc. Größen, die fast ausschließlich in Poesie begegnen, durchweg artikellos gebraucht werden83 und dass ein häufiges Wort wie שמיםgelegentlich auch in Prosa ohne Artikel stehen kann. 84 Wenn gerade bei einem Nomen wie אלהיםder ältere artikellose Gebrauch ohne Bedeutungsunterschied neben dem mit Artikel beibehalten wurde, braucht dies demnach nicht zu verwundern. | 118–119 Kurzum: Der weit überwiegende Gebrauch von artikellosem אלהיםin der priesterlichen Pentateuchkomposition85 vor der Mitteilung des Gottesnamens in Ex 6 an Mose ist als Teilkomponente einer reflektierten „schöpfungsgeschichtlichen“ Konzeption durchaus bemerkenswert. Doch weder handelt es sich bei diesem Sprachgebrauch um eine diachrone Innovation durch „P“, noch wurde er inneralttestamentlich als genuiner Ausdruck eines spezifischen Gottesbildes rezipiert. 86
80 In
Gen 6,9.11 gebrauchen die P-Tradenten immerhin auch האלהיםunmittelbar neben ( אלהים6,12f.) und in Gen 17,1 das Tetragramm. 81 Zur Vorgeschichte des Lexems im kanaanäischen Umfeld des 2. Jahrtausends v. Chr. vgl. B URNETT, Reassessment (Anm. 7), 7–53. 82 Vgl. für die Sprachen der Levante z.B. W.R. G ARR , Dialect Geography of SyriaPalestine 1000–586 B.C.E., Philadelphia 1985, 87–89; J. TROPPER , Die Inschriften von Zincirli (ALASP 6), Münster 1993, 193f. Im engeren Bereich/Umfeld des alten Israel fehlt noch in der sogenannten Bileaminschrift von Tell Deir Alla (= Sukkot) (um 800, aber nach älteren Textvorlagen) jede Spur eines Artikels. 83 Vgl. zu תבל, שאול, תהם, תהמותGK §125g und die Wörterbücher. 84 Vgl. Gen 2,4; 1 Kön 8,35. 85 Allerdings bezeichnenderweise nie in der Selbstvorstellung Gottes und nie in der Gebetsanrede! Auch dieser Umstand zeigt, dass die P-Komposition in אלהיםkeinen Gottesnamen gesehen hat. 86 Vgl. beispielsweise das Vorherrschen der Verwendung mit Artikel in den späten Büchern Esr, Neh, Chr; dazu BAUMGÄRTEL, Elohim (Anm. 76), 68ff.84.
Das althebräische Verbalsystem – eine synchrone Analyse* Die Formulierung des Themas impliziert in de Saussure’scher Lesart eine Tautologie, bezieht sich doch eine synchrone Sprachanalyse nicht nur auf ein bestimmtes Sprachstadium, sondern schließt zugleich dessen Untersuchung als Sprachsystem ein.1 In diesem Sinne geht es im Folgenden um das für einen bestimmten Zeitraum belegbare Althebräische als langue,2 nicht um eine a-chrone Deskription der vielfältigen Phänomene des masoretisch überlieferten „Bibelhebräisch“. Des Näheren soll hier eine semasiologische Analyse des Verbalsystems des klassischen Althebräisch skizziert werden. Dazu bedarf es einerseits eines Systems der verbalen | Ausdruckskategorien des Althebräischen und andererseits eines wohldefinierten noetischen Begriffssystems. Für Letzteres stehen einschlägige Untersuchungen unter anderem von Erwin Koschmieder und Klaus Heger zur Verfügung.3 Für Ersteres kann das Verständnis der althebräischen Verbalkategorien aufgenommen werden, wie es in den grundlegenden Arbeiten von Samuel R. Driver, Gotthelf Bergsträsser, Paul Joüon und anderen entfaltet wurde; allerdings bedarf dieses Verständnis an einigen Systemstellen einer konziseren Fassung. * Die Grundthesen des Beitrags wurden bereits vor mehr als dreißig Jahren (1974) in einer Examensarbeit (maschinenschriftlich) ausgearbeitet, vgl. C. HARDMEIER , Texttheorie und biblische Exegese (BevTh 79), München 1978, 368, Anm. 181. Gleichwohl wäre die hier vorgelegte Profilierung der Gesamtthese ohne die intensiven (mitunter auch freund schaftlich-kontroversen) Tübinger Sachgespräche mit Walter Groß nicht möglich gewe sen. Ihm ist der Beitrag in Hochschätzung und Dankbarkeit gewidmet. 1 Vgl. E. B LUM , Von Sinn und Nutzen der Kategorie „Synchronie“ in der Exegese, in: W. DIETRICH (Hg.), David und Saul im Widerstreit – Diachronie und Synchronie im Wettstreit. Beiträge zur Auslegung des ersten Samuelbuches (OBO 206), Freiburg/Schweiz u. Göttingen 2004, 16–30, hier 17f. Nicht wenige der „Verknotungen“ in der Diskussion um die althebräischen Tempora resultieren nach meiner Einschätzung aus einer unzureichen den Unterscheidung der Ebenen (synchrone Systemanalyse vs. sprachgeschichtliche Untersuchung). 2 Die Relation „Sprachstadium“ – „Sprachsystem“ ließe sich ihrerseits theoretisch differenzieren (und problematisieren). Aufgrund der komplizierten Quellenlage verlangt in diesem Rahmen aber zunächst einmal die elementare Bestimmung des zu analysierenden „Sprachstadiums“ eine pragmatische Lösung (dazu im Folgenden). 3 S. die unten in Anm. 63 aufgeführten Arbeiten.
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Ein solches Unternehmen hat darüber hinaus nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn die unvermeidbaren Schwierigkeiten bei der synchronen Analyse einer historischen Sprache methodisch konsequent einbezogen werden. Im Falle des Althebräischen fehlt nicht nur – naturgemäß – die Möglichkeit „empirischer“, reproduzierbarer Kontrollen am Sprachgebrauch von „Muttersprachlern“. Vielmehr kommt erschwerend hinzu, dass wir nur über wenige inschriftliche „Primärquellen“ verfügen, die zudem hinsichtlich der belegten Textsorten sehr restringiert sind und keine hinreichende Basis für eine umfassende Systemanalyse bieten. Das wesentliche Referenzkorpus bleibt somit bis auf Weiteres die hebräische Bibel, ein abgeschlossenes Korpus von Traditionstexten mit einer langen Entstehungsgeschichte, dessen Einzeltexte jedoch nur selten einigermaßen präzise und unstrittig zu datieren sind. Wie bei den meisten semitischen Sprachen kommt erschwerend hinzu, dass die Aussprache nur hypothetisch erschlossen werden kann bzw. in einer nachträglich im Mittelalter fixierten Form vorliegt. 92‒93 Aufgrund des Grundcharakters des Alten Testaments als einer in kontinuierlicher (Re-)Produktion überlieferten Traditionsliteratur ist zudem mit einer Reihe von Unbestimmtheitsfaktoren und potentiellen Fehlerquellen zu rechnen. Zu den Unbestimmtheiten gehören beispielsweise die Möglichkeit dialektaler Spuren in den Texten oder die Möglichkeit struktureller Differenzen zwischen Literatursprache und | gesprochener Sprache mit potenziellen Interferenzen von dieser in jener. Die wesentlichsten Fehlerquellen liegen in der langen (handschriftlichen) Textgeschichte: Die Belegtexte wurden von Tradenten abgeschrieben oder gar bearbeitet, die nachweislich in ihrer eigenen gesprochenen und/oder geschriebenen Sprache deutlich verschiedene Tempussysteme des jüngeren Hebräisch oder Aramäisch verwendeten. Dementsprechend lassen sich grundsätzlich auch in „alten“ Texten Interferenzen der Sprache(n) späterer Schreiber nicht ausschließen. Methodisch schwerer zu fassen ist die Möglichkeit rein mechanischer Textverderbnis in den Handschriften, die freilich nie gänzlich auszuschließen ist. Schließlich bleibt als unangenehmste Fehlerquelle der grammatisch abweichende, d.h. „regelwidrige“ Sprachgebrauch, den man in der eigenen Sprache immer wieder feststellen kann, ohne dass daraus ein Verständnisproblem erwachsen muss. Für die Erarbeitung eines Sprachsystems sind solche Belege aber umso tückischer, je begrenzter die verfügbare Datenbasis ist. Angesichts solcher Unwägbarkeiten könnten sich Zweifel aufdrängen, ob überhaupt eine reale Möglichkeit besteht, eine Sprachstufe des Althebräischen, die der letzten produktiven Traditionsbildung der hebräischen Bibel in hellenistischer Zeit vorausging, synchron, d. h. auch systemisch zu rekon-
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struieren. – Wie im Folgenden gezeigt werden soll, besteht diese Möglichkeit durchaus, sofern die notwendigen methodischen Konsequenzen aus den genannten Problemen gezogen werden. Folgendes erscheint mir dabei am wichtigsten: 1) Die potentiellen Fehlerquellen der Textüberlieferung sind systematisch in die Überprüfung einzubeziehen. 2) Das inschriftliche Material, so begrenzt es auch sein mag, ist als Kontrollkorpus zu nutzen. 3) Die Überprüfung des postulierten Systems sollte tendenziell von inhaltlichen Textdeutungen unabhängig sein bzw. sich auf möglichst elementare semantische Oppositionen beschränken. 4) Da semantische Interpretationen gleichwohl de facto nie gänzlich auszuklammern sind, empfiehlt es sich mit – in | Tempusfragen eindeutigeren – Prosatexten zu beginnen, ohne a priori eine Differenz zwischen Prosa und poetisch gebundenen Texten vorauszusetzen. 5) Unstrittig späte Prosaüberlieferung (Chr, Esr-Neh, Dan, Est) gehört nicht zur primären Textbasis. 93‒94 6) Insofern es sich um die Analyse des Systems einer vormasoretischen Sprachstufe handelt, bleibt letztlich allein der Konsonantentext maßgeblich. Die synchrone Untersuchung eines Verbalsystems setzt die diachrone Differenzierung des betreffenden Sprachstadiums voraus. Umgekehrt stützen sich Annahmen sprachgeschichtlicher Veränderungen auf „synchrone“ Einsichten in systemische Gegebenheiten bestimmter Sprachstufen. Diese methodische Verschränkung von Synchronie und Diachronie versteht sich bei einem historischen Untersuchungsgegenstand von selbst. Sie tangiert zwar nicht die sachliche Unterscheidung der Frageebenen, nötigt aber im Falle einer Quellenlage wie beim Althebräischen zu einer gewissen Offenheit bei der diachronen Definition des zu untersuchenden „Sprachstadiums“. So bewährt sich beispielsweise die verbreitete Annahme tiefgreifender Veränderungen des Hebräischen mit dem Umbruch des babylonischen Exils aufgrund des Belegmaterials nicht, jedenfalls nicht bezogen auf das Tempussystem. Vielmehr zeigt sich in diesem Bereich der Syntax eine bemerkenswerte Stabilität auch noch in Prosatexten der vorgerückten nachexilischen Zeit. Deutliche Anzeichen einer Verschiebung geben dann freilich späte Werke wie Chronik und Esra-Nehemia oder Daniel zu erkennen. 4 Historisch ist die nachhaltige Kontinuität nur mit der Annahme einer stabilen gelehrten Schreibertradition zu erklären, die mehr oder weniger sorgfältig gepflegt 4 Dazu und zu den Befunden in den Qumrantexten vgl. M.S. SMITH, The Origins and Developments of the Waw-Consecutive. Northwest Semitic Evidence from Ugarit to Qumran (HSS 39), Atlanta 1991, 27ff., 35ff., sowie unten 166.
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wurde, auch in Jahrhunderten, in denen die Literatursprache und die gesprochene(n) | Sprache(n) stark differierten.5 Die in diesem Sinne „klassische“ Literatursprache wird im Weiteren als „Standard-Althebräisch“ bezeichnet. 6 Nach diesen Vorbemerkungen soll nun zunächst das Grundgerüst der Hypothese vorgestellt werden (I). Danach wird diese diversen formalen Falsifikationsversuchen unterzogen (II), sodann einigen Verifikationsversuchen (III), die in der Hauptsache darin bestehen, dass sich die behauptete Semantik der Tempus- und Moduskategorien an bekannt schwierigen Textbeispielen bewähren sollte. Der Schlussteil (IV) wird zwei Kontrollfragen aufnehmen. 94‒96
I Zunächst das System der formalen Kategorien der althebräischen Tempora und des volitiven Modus, das in Tabelle 1 (a/b) dargestellt ist. Die finiten Tempuskategorien (A) bestehen aus den wohlbekannten Inversionspaaren I und II – und nur aus diesen. Die beiden Elemente der Inversionspaare bilden jeweils syntaktisch alternative Bezeichnungen der gleichen semantischen Kategorien von Tempora, Aktionsarten und Modi. Kurz, sie sind syntaktisch alternativ und semantisch äquivalent, Letzteres allerdings mit der Einschränkung, dass die (b)-Elemente obligatorisch die Konjunktion „und“ einschließen, | die hier zugleich als Konjunktion und als Tempusmorphem, gleichsam als „Präformativ“ fungiert,7 während dies für das fakultative „und“ in (a) nicht gilt. Die
5 In der Konsequenz bildet – umgekehrt – ein standard-althebräischer Gebrauch der Tempora kein Argument in Datierungsfragen. 6 Bewusst wird eine Bezeichnung als „Standard-Bibelhebräisch“ o.Ä. vermieden, da es ausweislich der epigraphischen Evidenz nicht um ein speziell „biblisches“ Idiom geht, sondern um die Schriftsprache von (Israel und) Juda. Hinsichtlich des Tempussystems besteht zudem eine auffallende Kongruenz mit den benachbarten palästinischen und südsyrischen Schriftsprachen, soweit sie in den wenigen literarischen Quellen (Mescha -Stein, Tel DanInschrift, Tell Deir Alla-Inschrift) belegt sind. Ob für die jüngere Literatursprache, wie sie sich in chronistischen Abschnitten oder in Daniel spiegelt, die Rede von „Bibelhebräisch“ sinnvoller ist, mag dahingestellt bleiben. Dafür wäre es wünschenswert, Genaueres über den allgemeinen Literaturbetrieb der spätpersisch/hellenistischen Zeit (vor „Qumran“) zu wissen. 7 Wie leicht zu erkennen ist, handelt es sich hier um eine linguistische Reformulierung der Rede vom „( ו״ו ההיפוךWaw conversivum“) der traditionellen jüdischen Grammatiker (zu diesen s. L. MCFALL, The Enigma of the Hebrew Verbal System. Solutions from Ewald to the Present Day [Historic Texts and Interpreters in Biblical Scholarship 2], Sheffield 1982, 2ff.). Fungiert das „Waw conversivum“, wie hier gezeigt werden soll, in der Tat als Tempusmorphem, dann erweisen sich alle Versuche als grundlegend verfehlt, die systemi-
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Inversionsregel besagt: Immer dann, wenn das finite Verb direkt mit einem proklitischen we/wa verbunden ist, sind die Kategorien (b) zu gebrauchen, und umgekehrt: Immer dann, wenn diese proklitische Verbindung mit we/wa nicht gegeben ist, stehen die Kategorien (a). Insofern bilden (a) und (b) syntaktisch determinierte „Alloformen“8 innerhalb der Kategorien I und II. Wesentlich an der Regel ist die Bedingung „immer dann, wenn“, welche bestimmte Zuordnungen und Kombinationen signifikant ausschließt: 9 unter anderem ein Vorkommen von we=qaṭal in der Kategorie I, d. h. ein traditionell so genanntes „Perfectum copulativum“, aber auch we=PKLF (Präformativkonjugation Langform), also ein „Imperfectum copulativum“. | 96‒97 Mit „Modus“ ist hier, sofern nichts anderes spezifiziert wird, der Volitiv gemeint, d.h. distinkte formale Kategorien 10 der „auslösenden“ Rede, die mit den Sprechakten der situationsbezogenen Aufforderung, der Bitte oder des Wunsches, hebräisch auch des Segens verbunden ist. 11 Die formalen Ausdruckskategorien des Modus müssen deshalb an dieser Stelle eingeführt werden, weil sie mit den Tempuskategorien systemisch korrelieren.
sche Bedeutung von we=qaṭal bzw. wayyiqṭol aus einem substantialistischen Sprachverständnis heraus von qaṭal bzw. yiqṭol her bestimmen zu wollen (so mit W. GESENIUS / E. KAUTZSCH, Hebräische Grammatik, Leipzig 1918 28 [= Nachdruck Hildesheim 1995 7] [im Folgenden: „GK“] [§ 111f.] z.B. C. BROCKELMANN, Hebräische Syntax, NeukirchenVluyn 1956, 2004 2; B. JOHNSON, Hebräisches Perfekt und Imperfekt mit vorangehendem we [CB.OT 13], Lund 1979). 8 Dieser Ausdruck ist in Analogie zu „Allomorph“ gebildet – für Formen, die ihrerseits Bündel von „Morphen“ darstellen. 9 Eine besonders klare Formulierung der Inversionsregeln, die (a) die Bedeutungs äquivalenz zwischen den Inversionselementen und (b) die Bedingtheit des jeweiligen Gebrauchs durch anderweitige, nicht im Verbalsystem begründete syntaktische Faktoren impliziert, bietet Y.(J.) B LAU, בעיות בהיסטוריה הלשון העבריתa(1970), in: DERS., Studies in Hebrew Linguistics (hebr.), Jerusalem 1996, 25–40, hier 33f. (vgl. auch DERS., A Grammar of Biblical Hebrew [PLO NS 12], Wiesbaden 1993 2, § 20.3). Allerdings weicht Blau die Regel durch Hinweis auf (vermeintliche) Ausnahmen auf. Nicht schlüssig ist darü ber hinaus seine Verbindung der Inversion mit der Alternative „Aspekte oder Zeitstufen“. 10 Die Beschränkung von „Modus“ auf Ausdruckskategorien und „Modalität“ auf die konzeptuell-noetischen Kategorien (H. GZELLA, Tempus, Aspekt und Modalität im Reichsaramäischen [Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. Veröffent lichungen der Orientalischen Kommission 48], Wiesbaden 2004, 100f.) wird im Folgenden nicht praktiziert, obwohl damit manche Äquivokationen vermieden werden könnten. Wenn, dann sollte die entsprechende terminologische Differenzierung aber auch bei den Tempus kategorien durchgeführt werden. 11 Der verschiedentlich gebrauchte Begriff der „deontischen“ Modalität (s. G ZELLA, Tempus [Anm. 10], 101ff. mit Lit.) ist einerseits weiter gefasst als das hier mit „Volitiv“ Gemeinte, insofern auch nicht auf das Kommunikationsereignis bezogene Präskriptionen damit gemeint sein können, andererseits erscheint eine vom griechischen δεῖ hergeleitete Bezeichnung für die Bezeichnung von Wünschen, Aufforderungen etc. wenig glücklich.
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Grundlegend ist zunächst die einfache, aber folgenreiche Feststellung, dass der althebräische Modus ein „suppletorisches Paradigma“ bildet, insofern für jede der drei grammatischen Personen eine eigene formale Kategorie (Suppletivform) reserviert ist 12: | Für die 1. Person wird eine erweiterte Form der Präformativkonjugation (PKEF) gebraucht, der sog. „Kohortativ“ (ʼeqṭela / niqṭela). Für die 2. Person steht der Imperativ zur Verfügung und für die 3. Person die PK-Kurzform13. Alle drei Formen können, aber müssen nicht mit proklitischem we verbunden sein. Verneint wird der Modus grundsätzlich mit ( אלʼal), in der 1. Person mit der erweiterten PK-Form, in der 2. und 3. Person mit der PK-Kurzform. Die Grundformen des Modus können bekanntlich in unterschiedlicher Weise modifiziert werden. Häufig ist die Erweiterung des Imperativs m.sg. mit der Endung -ā bzw. dem „Heh adhortativum/paragogicum“, eine Form, die Ernst Jenni als Bezeichnung der höflichen Bitte näher bestimmen möchte. 14 Selten, aber möglich ist dies auch in der 3. Person sg. des Jussivs. 15 Ein besonderer Nachdruck der Aufforderung oder des Wunsches wird mit der „halb-enklitischen“ Partikel ( ־נא-nāʼ) zum Ausdruck gebracht. Beim Imperativ ist auch die Kombination beider Erweiterungen belegt. 97‒98 Dieses relativ rigide definierte System wird schon aufgrund seiner vordergründigen Redundanz grundsätzliche Plausibilitätsfragen provozieren: 1) Ist es plausibel, dass eine Sprache, die nicht gerade über zahlreiche finite Verbalformen verfügt, sich eine derartige Doppelung der Bezeichnungskategorien leistet, nämlich jeweils zwei distinkte Formen für ein und dieselbe noetische Kategorie (bzw. ein und dasselbe noetische Kategorienbündel)?
12 Der Befund ebenso wie die Bezeichnung „suppletive paradigm“ ist mir erstmals in einer Vorlesung von Chaim Rabin an der Hebräischen Universität (1971/72) begegnet. Die Grundthese findet sich aber schon bei G. BERGSTRÄSSER, Hebräische Grammatik II. Teil: Verbum, Leipzig 1929 (= Nachdruck Hildesheim 1962), § 10a: „… Begehrungsformen. Und zwar dient der Kohortativ für die 1. Pers., der Imperativ für die 2. Pers. affirmativ und der Jussiv für die 2. Pers. negativ und für die 3. Pers.“ Vgl. auch E. J. REVELL, The System of the Verb in Standard Biblical Prose, HUCA 60 (1989) 1–36, hier 1; B.K. W ALTKE / M. O’CONNOR , An Introduction to Biblical Hebrew Syntax, Winona Lake 1990, § 34.1b, trotz der einschränkenden Formulierung „… the Jussive (chiefly third person)“; A. N ICCACCI, The Syntax of the Verb in Classical Hebrew Prose (JSOT.Sup 86), Sheffield 1990, 88. 13 Bei den endungs- und suffixlosen Singularformen kommt als (lexemklassen-unabhängiges) Merkmal vermutlich die diachron zu erschließende Betonung auf der Paenultima hinzu. 14 E. J ENNI, Höfliche Bitte im Alten Testament, in: A. LEMAIRE (Hg.), Congress Volume Basel 2001 (VT.S 92), Leiden/Boston 2002, 1–16. 15 Siehe unten 167 zu Jes 5.
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2) Welche systemische Plausibilität hat der Modus mit einem aufwendigen „suppletorischen Paradigma“? 3) Wie steht es mit der Stabilität des behaupteten Systems, wenn eine wesentliche Komponente, nämlich die Unter|scheidung von PK-Kurzform und PK-Langform, nur in Teilmengen der möglichen Verbalflexionen formal erkennbar ist? 4) Schließlich ist zu fragen, ob das Ganze ohne die sprachgeschichtlich vermutlich späte formale Unterscheidung zwischen „Waw consecutivum“ und „Waw copulativum“ funktionieren kann. In der Tat wird sich die hier vorgestellte Theorie nicht nur am Belegmaterial, sondern auch an diesen Fragen zu bewähren haben. Die Antworten, dieser Hinweis mag hier genügen, werden sich im letzten Teil aus der Systembeschreibung gleichsam von selbst ergeben. 98‒100 Zuvorderst muss es jedoch um den Nachweis für das Regelwerk der Tempus- und Modusformen selbst gehen. Dabei wird Überprüfungsverfahren, die ohne semantische Abwägungen auskommen, erste Priorität gegeben.
II Beginnen wir mit dem komplementären Modus-Paradigma: Wesentliches ist hier unstrittig, z.B. die durchgehende Verneinung mit אלund nicht mit לא. Auch der Gebrauch der Partikel נאals Indiz für volitive Modusformen ist geläufig.16 Dem korrespondiert der Befund, 17 dass eine Verbindung von אל und נאallein in Pentateuch und Vorderen Propheten | 17-mal vorkommt; לא־ *נאgibt es dagegen im TaNaK kein einziges Mal. Gewagt könnte dagegen die Behauptung erscheinen, dass der Volitiv in der 2. Person ausschließlich durch den Imperativ ausgedrückt werden kann, wo doch die meisten Grammatiken auch von einem Jussiv der 2. Person sprechen. Einen solchen gibt es jedoch nicht. Der formale Befund, dass außerhalb der Verneinung mit אלeine PK-Kurzform in der 2. Person so gut
16 Unter den mehr als 360 Belegen für Verbindungen von נאmit einer Verbform bietet Gen 40,14a die einzige Ausnahme. Es handelt sich um eine abweichende constructio ad sensum, bei der auch die Formulierung von Wunschsätzen mit der idiomatischen Einleitung ( אם־נא מצאתי חן בעיני־vgl. z.B. Ri 6,17) eingewirkt haben mag. 17 Die folgenden Konkordanzdaten beruhen, sofern nicht anders vermerkt, auf Datenbank und Suchsystem der Stuttgarter Elektronischen Studienbibel (SESB). Wegen einzelner Fehler in der Datenbank müssen die Ergebnisse allerdings sorgfältig durchgesehen werden. Da die Abfragen jederzeit reproduzierbar sind, wird auf Auflistungen von Beleg stellen zumeist verzichtet.
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[100‒101]
wie nicht vorkommt, wird zwar in klassischen Untersuchungen und Nachschlagewerken registriert, 18 eher selten19 wird daraus jedoch die „paradigmatische“ Konsequenz gezogen. 100‒101 Die Prüfung des hier primär zugrunde gelegten Textbereichs von Pentateuch und Vorderen Propheten bestätigt die These ohne Einschränkung: Die Stuttgarter Elektronische Studienbibel (= SESB) führt auf 248 eindeutige 20 Belege von III-heh-Verben21 in der 2. Person m.sg. der Präformativ|konjugation22; unter den 248 Vorkommen sind 8 Kurzformen mit der Verneinung אל, aber kein genuiner, eigenständiger Jussiv mit der Kurzform (→ 240:0). Des Weiteren gibt es in der hebräischen Bibel keinen einzigen Beleg mit einer (nicht verneinten) PK der 2. Person und der Partikel ־נא. Zum Vergleich: Dem stehen 236 Belege mit Imperativ + נאgegenüber (→ 236:0)! Im epigraphischen Material findet sich ebenfalls kein Beleg für eine PKKF in der 2. Person oder für eine Verbindung 2. Person PK + נא. Zwar führt Johannes Renz insgesamt acht Belege für einen „Jussiv 2. Sg. masc.“ an,23 doch weisen davon zwei (Mur [7]:1,2; Arad [6]:2,6) den verneinten Modus (mit )אלauf und drei werden von Renz selbst aus gutem Grund mit Fragezeichen versehen: Bei dem kontextlosen Fragment von Qud (7) :2,2 ist die Lesung als 2. Person überhaupt fraglich (dazu unten 169ff.); auch Arad (6):13,1 bleibt für 18 Vgl. schon S.R. DRIVER , A Treatise on the Use of the Tenses in Hebrew and Some Other Syntactical Questions, London 1892 3 (=Nachdruck Grand Rapids 1998), § 50 (γ): „In the second person the jussive is very rare, except after “אל, dazu nennt er vier (!) Ausnahmen: 1 Sam 10,8; Ez 3,3; Ps 71,21; Dan 9,25; ähnlich P. J OÜON S.J., A Grammar of Biblical Hebrew. Volume II. Part Three: Syntax (translated and revised by T. Muraoka) (SubBi 14/II), Roma 2000 2, § 114g (mit Ps 104,20 als weiterem Beleg). Dem sind 4300 Imperativ-Belege und 544 Belege mit dem verneinten Modus der 2. Person gegenüberzustellen. Von den fünf „Ausnahmen“ ist allein das Vorkommen in Ps 71,21 im Konso nantentext zu erkennen (unter Einbeziehung des Kontextes ist auch Ps 104,20 einschlä gig), und allein 1 Sam 10,8 (dazu u. Anm. 22) liegt innerhalb unseres primären Referenzbereichs. 19 S. aber oben Anm. 12. 20 Zu den beiden nicht eindeutigen Belegen (Num 17,25; 2 Kön 19,25) s. unten 170. 21 Da SESB bedauerlicherweise eine gezielte Suche nach Verbklassen nicht erlaubt, muss die Suchmaschine mit der Lexemeingabe „ “??הüberlistet werden. Die daraus resultierende Lexemliste sollte einerseits durch Löschung der aramäischen Wurzeln und der nicht-verbalen Lexeme verkürzt, andererseits „manuell“ komplettiert werden durch Lexeme mit ׂש/ ׁשals erstem oder zweitem Radikal. Im Ergebnis komme ich auf 224 III-hehVerbalwurzeln. 22 Das gleiche Bild zeigt sich bei anderen Verbklassen und -formen mit potenziellen PKKF (Hif‘il, Nif‘al, Hohle Wurzeln im Qal, I-y-Verben). Lediglich 3 von 118 Hif‘ilBelegen (Dtn 13,1 [ ;]לא תוסֵ ף1 Sam 10,8 [;]ת ֵח לa1 Kön 2,6 [תכר ת ֵ )]ולאsind nicht mit „î“ punktiert. Allerdings zeigen die beiden Verneinungen mit לא, dass es sich um Langformen handelt, die in „Verkennung der Defektiv-Schreibung“ (GK § 109d) mit dem kürzeren Vokal versehen wurden. Entsprechendes dürfte auch für den einzig verbleibenden Beleg in 1 Sam 10 gelten. 23 J. RENZ, Handbuch der althebräischen Epigraphik (im Folgenden: HAE) II/2. Materialien zur althebräischen Morphologie, Darmstadt 2003, 46.49.50.52.
[101‒102]
Das althebräische Verbalsystem
163
eine eindeutige Lesung zu fragmentarisch;24 erst recht gilt dies für MHas(7):1,13.25 In Arad (6):1,6f.; 10 und Arad (6):18,6 schließlich handelt es sich um Imperfektformen, die jeweils (regulär) explizite Aufforderungen mit Inf. abs. (mit imperativer Bedeutung) bzw. Imperativen fortführen. 26 101‒102
Unsere Annahme, wonach es sich bei dem exklusiven Gebrauch des Imperativs für den Modus der 2. Person um eine Systemkomponente handelt, wird schließlich noch dadurch | bestätigt, dass an zahlreichen Stellen, an denen man nach unserem Sprachgefühl einen Jussiv erwarten sollte, althebräisch der Imperativ steht. 27 Als Beispiele mögen hier Gen 12,2 („Ich will dich zu einem großen Volk machen … und du sollst ein Segen sein [ וֶהְ יֵה )“]ברכהoder Gen 20,7a („und nun, gib die Frau des Mannes zurück, … auf dass er für dich bete und du am Leben bleibst [ )“]וחיהgenügen.28 Zum „Kohortativ“ als Modus der 1. Person gibt es keine Alternative. Eine PK-Kurzform ist mit modaler Bedeutung gar nicht zu belegen. 29 Dagegen haben alle PK + נאin der 1. Person – ohne die III-heh-Verben (und eine suffigierte Form) sind es im AT 37 Vorkommen – die Kohortativ-Endung, ausgenommen נירא נאin Jer 5,24. Diese vermeintliche Ausnahme erklärt sich allerdings von daher, dass bei III-aleph-Verben der Kohortativ durchweg im Schriftbild dann nicht erkennbar ist, wenn sie vokalisch auf -a auslauten.30 Der Grund liegt m.E. auf der Hand: Sobald aleph nicht mehr gesprochen wurde, lauteten Kohortativ und PKLF in der Aussprache gleich.
24 M.E. ist denkbar: …בחתמך.]הזה [וחתמת.תש[לח את הש]מן.א]ם. Ein Jussiv wäre dann freilich ausgeschlossen. 25 Erhalten ist nicht mehr alsרח[…ו.[עב[……]ן אלו. Zu den diversen Ergänzungsvorschlägen s. J. RENZ, HAE I (Anm. 23). Die althebräischen Inschriften Teil 1. Text und Kommentar, Darmstadt 1995, 238f., Anm. 6. 26 Dazu allgemein unten 187ff. Auch die Fortführung eines „volitiv“ zu ver stehenden Inf. abs. durch ein we=qaṭal ist nicht ungewöhnlich. Vgl. Gen 17,10f.; Lev 2,6 u.a.m. 27 J OÜON (/M URAOKA) (Anm. 18), § 116f, notiert zu diesem Gebrauch: „In the 2nd person, the indirect volitive is not the jussive, as would have been expected (and as it is in Arabic), but rather the imperative.“ Noch deutlicher ebd., Anm. 1: „There do not seem to be any examples of final-consecutive jussive in the 2nd pers.: in any case the imperative is normal.“ 28 Eine Prüfung, ob in anderen nordwestsemitischen Sprachen ein eigenständiger „Jussiv“ der 2. Person (mit KF) nachzuweisen ist, könnte sich lohnen. Im älteren Aramäisch habe ich keinen sicheren Beleg gefunden. Infrage kämen eventuell zwei PK-Formen der 2. Person f.sg. in der „Bileam-Inschrift“ (Kombination I), Z. 6 u. 7. Allerdings fehlt (in beiden Kombinationen) für den Erweis einer KF ein Gegenstück mit Nunation. 29 B ERGSTRÄSSER , Grammatik (Anm. 12), II § 5cc; J OÜON (/M URAOKA) (Anm. 18), § 114g, die beiden Belege Jes 41,28; 42,6 sind gegen MT indikativisch als Narrative zu lesen. 30 J OÜON (/M URAOKA) (Anm. 18), § 114b Anm. 1; W ALTKE /O’CONNOR , Introduction (Anm. 12), § 34.1d mit Anm. 3.
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Das althebräische Verbalsystem
[102‒104]
Die Klarheit des Gesamtbefundes ist deshalb erstaunlich, weil die textgeschichtliche Überlieferung der Kohortativformen ansonsten besondere Instabilitäten aufweist. Nehmen wir als Beispiel die Verneinung der 1. Person des Modus mit אל. Die Zahl der Belege ist insgesamt relativ gering: Ohne die III-heh-Verben bleiben 15 Vorkommen, davon immerhin | vier Abweichungen (ohne Kohortativendung); davon gehören zwei allerdings zu erhellenden Parallelüberlieferungen: 1 Chr 21,13 ( )וביד אגם אל אפלmit der Parallele 2 Sam 24,14 ()וביד אדם אל אפלה, sowie der Ausdruck אל אבושה, der in Ps 25,2; 31,2.18; 71,1 in phraseologischen Clustern begegnet, ebenso in Ps 25,20, (nur) hier aber als אל אבוש.30a Zu dieser Instabilität gleich mehr. Die PKKF (bzw. PK mit Betonung auf der Paenultima) der 3. Person als Jussiv bedarf wohl keines weiteren Nachweises. Zwar gibt es selbst dazu einzelne abweichende Belege;31 das Gesamtbild ist jedoch eindeutig. 32 Unter der Voraussetzung, dass die dergestalt definierten volitiven Moduskategorien und die „temporalen“ Inversionspaare formal ein geschlossenes System bilden, sind bestimmte, morphologisch durchaus denkbare und naheliegende Formen systemisch ausgeschlossen. Eben diese Implikationen eröffnen Möglichkeiten der „Falsifizierung“ der Hypothese bzw., falls diese misslingt, ihrer Bewährung. Hinzu kommt, dass diese Überprüfungsmöglichkeiten weitgehend a-semantisch durchgeführt werden können, d.h. ohne (oft strittige) Diskussionen inhaltlicher Nunancierungen. Im Folgenden soll der Fokus auf einer zentralen Implikation liegen. Sie besagt: Die Form *we=PKLF33 existiert im Sprachsystem des Standard-Althebräischen nicht. Diese systemlogisch notwendige Annahme (Implikation 1) lässt sich (nahezu) rein formal mit der Konkordanz überprüfen, differenziert nach den grammatischen Personen. 102‒104 Wir beginnen mit dem in der Textüberlieferung unsichersten Kandidaten, mit der 1. Person zu we=PK. Die systematische Herleitung ist einfach (vgl. dazu Tabelle 1): Sollte *we=ʼeqṭol | einen Indikativ bezeichnen, dann muss nach A II statt dessen we=qaṭalti stehen. Sollte *we=ʼeqṭol den Modus, einen Volitiv, bezeichnen, muss nach B – weil 1. Person! – der Kohortativ we=ʼeqṭela stehen. Demnach dürfte weder ein *we=eqṭol noch ein *we=niqṭol in sorgfältig überlieferten Texten der Standard-Prosasprache vorkommen (= Implikation 30a Die beiden verbleibenden Belege sind: 1 Sam 12,19; 2 Sam 13,25. 31 J OÜON (/M URAOKA) (Anm. 18), § 114l; es handelt sich überwiegend
um ein Problem der Punktation bei Defektivschreibung bzw. um poetische Belege. 32 Vgl. die 13 Vorkommen der 3. Person PK mit נא, von denen alle außer 2 Sam 14,17 PKKF sind; dazu s. unten 168. אלsteht immer (23-mal) mit der Kurzform der 3. Person PK, ausgenommen wieder ein Hiobbeleg mit einer III-aleph-Wurzel (Hi 3,9). 33 Anders formuliert: Imperfekt mit „Waw copulativum“.
[104‒105]
Das althebräische Verbalsystem
165
1.1). Die Annahme entspricht weitgehend dem Befund, den Harry M. Orlinsky 1940–42 in einer zu Recht viel zitierten Untersuchung sorgfältig aufgewiesen hat, nämlich dass we=PK nach Imperativ (oder „Interjection“) im Althebräischen grundsätzlich als Kohortativ (bzw. Jussiv) zu lesen ist.34 Dies bedarf nur einer – de facto – geringfügigen Verallgemeinerung: Nicht nur nach einem imperativischen Vorkontext, sondern grundsätzlich gehören we=PK der 1. Person zum Kohortativ.35 104‒105 Der Konkordanzbefund in Pentateuch und Vorderen Propheten sieht folgendermaßen aus: Im Pentateuch lassen sich von 99 Belegen für we=PK der 1. Person (ohne Suffix, inkl. 31 III-heh-Vorkommen) 97 Vorkommen als Kohortativ lesen, zwei Belege (Ex 24,7; Dtn 10,2) sind abweichend [2,1%]; davon lässt sich einer (Ex 24,7) exegetisch „erklären“. 36 In den | Vorderen Propheten sind von 98 Belegen (inkl. 17 III-heh-Vorkommen) 14 abweichend [14,28%] – mit einer besonderen Häufung im masoretischen 2. Samuelbuch. Für die Einschätzung der Abweichungen sind die Belege zum Narrativ in der 1. Person, also waʼeqṭol/wanniqṭol als Vergleichswerte zu bedenken: Der Regel nach ist bei endungs- und suffixlosen Formen der einschlägigen Stammesmodifikationen bzw. Verbklassen die PKKF 37 zu erwarten, ansonsten die Normalform. Im Pentateuch haben wir bei 126 Belegen davon 7 Abweichungen (mit [nicht-apokopierter] PKLF bzw. [erweiterter] PKEF) [5,55%], in den Vorderen Propheten bei 90 Belegen 21 Abweichungen [23,33%]. In den Schriften weisen von 189 Belegen sogar mehr als die 34 H.M. ORLINSKY , On the Cohortative and Jussive after an Imperative or Interjection in Biblical Hebrew, JQR N.S. 31 (1940–41) 371–382; N.S. 32 (1941–42) 191–205, 273– 277; zuletzt aufgenommen bei J.F. DIEHL, Die Fortführung des Imperativs im Biblischen Hebräisch (AOAT 286), Münster 2004, 129ff., der a.a.O., 139 auf einen entsprechenden Hinweis schon bei E. KUHR, Die Ausdrucksmittel der konjunktionslosen Hypotaxe in der ältesten hebräischen Prosa. Ein Beitrag zur historischen Syntax des Hebräischen (BSPL 7), Leipzig 1929 (Nachdruck Hildesheim 1968), aufmerksam macht. 35 Von 287 Belegen mit we =PK 1. Person insgesamt stehen nur 6 nicht nach einem modalen (Kohortativ, Imperativ oder Jussiv) Vorkontext: Gen 27,41; Ex 14,4; Dtn 12,30; Ri 9,29; 1 Sam 20,4; 2 Sam 9,1. Orlinskys Analyse hatte also bereits den bei Weitem größten Teil aller Vorkommen erschlossen. 36 Dazu E. B LUM , Pentateuch – Hexateuch – Enneateuch? oder: Woran erkennt man ein literarisches Werk in der hebräischen Bibel?, in: T. RÖMER / K. SCHMID (Hg.), Les dernières rédactions du Pentateuque, de l’Hexateuque et de l’Ennéateuque (BEThL 203), Leuven 2007, 383f. 37 Der masoretischen Punktation nach bekanntlich mit Ausnahme der 1. Person sg. (soweit der Konsonantentext dies zuließ). Zu dieser künstlichen formalen Differenzierung zwischen Singular und Plural der 1. Person (und darüber hinaus zum Verhältnis von „Konsekutivtempora“ und Modalformen) s. die wichtige Untersuchung von D. T ALSHIR , The Development of the Imperfect Consecutive Forms in Relation to the Modal System (hebr.), Tarb. 56 (1987) 585–591.
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Das althebräische Verbalsystem
[105‒106]
Hälfte (101) die erweiterte Langform mit „Heh paragogicum“ auf.38 An diesen Vergleichszahlen gemessen erscheint die Beleglage für die postulierte Regelform von we=PK der 1. Person nicht ungünstig. Wichtiger ist aber der Gesichtspunkt, den bereits Orlinsky in seiner Besprechung der „Ausnahmen“ herausgearbeitet hat, dass nämlich die Textüberlieferung im Blick auf die 1. Person der Präformativkonjugation besonders instabil war. 39 Das liegt daran, dass weder im Aramäischen noch in den hebräischen Sprachformen der hellenistisch-römischen Zeit ein Kohortativ existierte. Im sog. „Mittelhebräisch“ der Mischna | gibt es nicht einmal die formale Kategorie. In der literarischen Schultradition, wie sie die Qumrantexte spiegeln, wird dagegen nach Elisha Qimron die erweiterte Langform mit heh als Normalform der 1. Person gebraucht, jedenfalls dann, wenn sie syndetisch mit einem we/wagebraucht wird.40 Aus dem „Heh cohortativum“ ist mithin ein semantisch neutrales „Heh paragogicum“ geworden, oder anders gesagt: Die Auflösung des alten Tempussystems mündete hier in eine neue Systematik. 105‒10 6
Die Unsicherheit der Textüberlieferung zeigt sich im Übrigen besonders schön an der großen Jesajahandschrift aus Qumran (1QIs a): Wie Yechezkel Kutscher herausgestellt hat, 41 unterscheiden sich die Kapitel 1–33 und 34ff. grundsätzlich in der Setzung der „Kohortativ“-Formen: Lediglich zwei Abweichungen gegenüber MT mit erweiterter PK im ersten Teil (Jes 6,8.11) stehen 24 zusätzliche „Kohortativ“-Formen im zweiten Teil gegenüber. Kutscher macht in diesem Zusammenhang auch auf eine ähnliche Unsicherheit und Vielfalt bereits in späten alttestamentlichen Büchern aufmerksam. 42 | 38 Zu dem Befund der Narrativformen in der 3. Person vgl. die Studie von H.-J. STIPP, Narrativ-Langformen der 2. und 3. Person von zweiradikaligen Basen nach qalY im biblischen Hebräisch. Eine Untersuchung zu morphologischen Abweichungen in den Büchern Jeremia und Könige, JNSL 13 (1987) 109–149. Stipp kann eine signifikante Häufung der irregulären Formen im Bereich von 1 Kön 16 – 2 Kön 13 und in Jer aufweisen, die offenbar der textgeschichtlichen Überlieferung zuzuschreiben ist. 39 Seinerzeit noch ohne Kenntnis der Qumran-Befunde stellte Orlinsky die masoretischen Varianten (nach Kennicott), Ketiv-Qere-Abweichungen und mögliche orthographische Fehlerquellen in Rechnung. 40 E. Q IMRON, The Hebrew of the Dead Sea Scrolls (HSS 29), Atlanta 1986, 44. Umgekehrt lässt sich daraus nicht schließen, dass der deutliche Befund zu we=ʼeqṭela eben in der späten „Qumran“-Tendenz begründet sein könnte. Denn damit wäre vor allem der klare Befund im Pentateuch mit der konsequenten Differenzierung zwischen we=PKEF und waPKKF nicht zu erklären. Die gut dokumentierten textgeschichtlichen Sachverhalte sprechen im Übrigen ent schieden gegen die von J. TROPPER, Althebräisches und semitisches Aspektsystem, ZAH 11 (1998) 153–190, hier 166f., vorgeschlagene Deutung nicht-apokopierter Narrativformen als potentielle PKKF. 41 Y. K UTSCHER , The Language and Linguistic Background of the Isaiah Scroll (hebr.), Jerusalem 1959, 250–252. 42 A.a.O., 251, unter Verweis auf BERGSTRÄSSER , Grammatik (Anm. 12), II § 5f. Schon dieser hat innerhalb der „jüngeren Stücke() des AT.“ uneinheitliche Tendenzen festgestellt: Während die Chronik keine Neigung zu verlängerten Formen der 1. Person des Narrativs
[107‒108]
Das althebräische Verbalsystem
167
Noch deutlicher ist der Befund bei der 3. Person zu we=PK. Die Hypothese (= Implikation 1.2) lautet: Innerhalb des geschlossenen Tempus- und Modussystems gibt es keine indikativischen we=yiqṭol-Formen. Denn nach A II kann die PK-Langform nur verwendet werden, wenn das Verb nicht mit der Konjunktion verbunden ist. Treten beide zusammen, ist die Alternative we=AK obligatorisch. Dagegen ist we=yiqṭol innerhalb des Modusparadigmas (B) ohne weiteres möglich. Daraus folgt: Jede we=PK-Form gehört per definitionem zum Modus;43 dementsprechend ist in der 3. Person, sofern morphologisch möglich, die PKKF zu erwarten. Von dieser Regel gibt es nur eine systemkonforme Ausnahme, die in Tabelle 1 unter „Modus-Modifikation I“ notiert ist: die Erweiterung des Jussiv mit einem Heh adhortativum. Alle eindeutigen Belege 44 dafür sind in einem Vers, in Jes 5,19, versammelt: 107‒108 ָה אֹ ְמ ִר ים ְי מַ הֵ ר יָחִ יׁשָ ה מַ עֲׂשֵ הּו לְ מַ ַע ן ִנ ְראֶ ה וְ ִתקְ ַר ב וְ תָ בֹואָ ה עֲצַ ת קְ דֹוׁש ִי ְׂש ָראֵ ל וְ נֵדָ ָעה׃ Im prophetischen Unheilswort wird hier der dem Propheten erwiderte Spott zitiert: „Es möge doch Sein Werk schnell machen, sich beeilen, damit wir es sehen! Und der Plan des Heiligen Israels möge bald Wirklichkeit werden, auf dass wir ihn erkennen.“ יחישהund ותבואהzeigen hier schön das Heh adhortativum am Jussiv. 45 Dass es in dieser Form sonst nicht belegt ist, dürfte wieder textgeschichtliche Gründe haben: Es war einerseits den jüngeren Sprachen der Schreiber unbekannt, andererseits in den Traditionstexten nicht derart allgegenwärtig wie der Kohortativ oder die Erweiterung des Imperativs.46 | Was passiert aber, wenn eine solches -ā-Morphem an ein Verbum III-heh der dritten Person tritt? Dies könnte etwa so aussehen:
zeigt (bewusster „Klassizismus“?), verhält es sich in Daniel (von 25 Belegen mit 1. Person Narrativ ohne Suffix nur 7 nicht erweitert), Esra (22:4) oder Nehemia (77:42) anders. In Nehemia fällt zudem die Distribution auf: Während etwa in Neh 2,14ff.; 4 die ältere Form vorherrscht, ist in Kap. 5–7 das Verhältnis 16:6, in Kap. 12–13 gar 22:3. Auch in diesen Büchern muss man also mit (inkonsequenten) sekundären Schreiberkorrekturen etc. rech nen. Im Übrigen ist bei den nicht-erweiterten Formen der Anteil der III-aleph/ʽajin-Verben ungewöhnlich hoch; vgl. dazu o. bei Anm. 30. 43 Vgl. auch N ICCACCI, Syntax (Anm. 12), 88ff. 168. 44 Vgl. aber auch noch Hi 11,17 ( ;)תעפהdazu z.B. G. FOHRER, Das Buch Hiob (KAT 16), Gütersloh 1963, 222, Textanmerkung 17b). 45 Auch sonst bietet der Vers eine kleine Studie zum althebräischen Modus: Alle we=yiqtol-Formen sind erwartungsgemäß Jussiv; entsprechend steht die 1. Person im Kohortativ, hier in einer typischen Verwendung des Modus: mit finaler Bedeutung, ausweislich des Parallelismus membrorum äquivalent zur Konstruktion mit למען+ PKLF. 46 Vgl. die Probleme des Schreibers von Jes 5,19 in 1QIs a und dazu K UTSCHER , Language (Anm. 41), 252.
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Das althebräische Verbalsystem 2 Sam 14,15 14,17
[108‒109]
… וַת ֹאמֶ ר ִׁש פְ חָ ְת ָך ֲא דַ בְ ָרה־נָא אֶ ל־הַ מֶ לְֶך וַת ֹאמֶ ר ִׁשפְ ָח ְתָך … יהיה־נָא דְ בַ ר־ ֲא ֹד ִנ י הַ מֶ לְֶך לִ ְמנּוחָ ה
Will man hier nicht eine abweichende Verbindung von נאmit der PK-Langform postulieren, liegt es nahe, von einem unerkannt überlieferten erweiterten Jussiv (lies: yihyannaʼ) auszugehen. 108‒109 Methodisch bedeutet diese Möglichkeit, dass bei dem Versuch einer Falsifikation des Systems im Falle von III-heh-Verben semantische Alternativen zu bedenken sind: So ist (a) gemäß der postulierten Morphologie bei der Verbindung we=yiqṭol normalerweise die Kurzform zu erwarten. Tatsächlich passt der Befund recht gut dazu: 47 SESB findet in Gen–Kön 37 Belege. Unter den 17 Pentateuch-Vorkommen gibt es lediglich eine Langform, unter den 20 übrigen Vorkommen zwei Langformen in den Königsbüchern. Formal könnten (b) diese Belege freilich auch mit dem -ā-Morphem erweiterte Jussive darstellen. Im Falle von 1 Kön 15,19 und 2 Kön 6,17 ist dies inhaltlich nicht nur möglich, sondern wird durch den Kontext sogar nahe gelegt: 1 Kön 15,19b48
ׁש חַ ד ֶכ סֶ ף וְ זָהָ ב ֹ הִ נֵה ׁשָ לַחְ ִת י לְ ָך ית ָך אֶ ת־ ַב עְ ׁשָ א ֶ ִֽמ לְֶך־ ִי ְׂש ָראֵ ל וְ יַ ֲעלֶה מֵ ָע לָי׃ ְ לְֵך הָ ֵפ ָר ה אֶ ת־בְ ִ ִֽר |
2 Kön 6,17
ַו ִי ְת ַפלֵל ֱא לִ יׁשָ ע וַי ֹאמַ ר יהוָה פְ קַ ח־נָא אֶ ת־ ֵע ינָיו וְ ִי ְראֶ ה … ַו ִי פְ ַק ח ְי הוָה אֶ ת־ ֵע ינֵי ַה ַנ ַע ר ַו י ְַר א
Demgegenüber ergibt eine Erweiterung des Jussivs im einzigen Pentateuchbeleg, Gen 1,9, wenig Sinn: וַי ֹאמֶ ר ֱאֹלהִ ים ִי קָ וּו הַ מַ ִי ם ִמתַ ַחת ַהשָ מַ ִי ם אֶ ל־מָ קֹום אֶ חָ ד וְ תֵ ָראֶ ה הַ יַבָ ׁשָ ה ַו ְי הִ י־כֵן׃ Da die strukturell entsprechenden Aussagen im Kontext die semantisch zu erwartenden Jussivformen aufweisen (1,6.11a), steht zu vermuten, dass die Langform ותראהauf eine Dittographie des folgenden Artikels zurückgeht.
47 Vgl. auch das Material bei E. Q IMRON, Consecutive and Conjunctive Imperfect: the Form of the Imperfect with waw in Biblical Hebrew, JQR 77 (1986–87) 149–161. 48 Übernimmt man die Deutung des „Heh paragogicum“ durch Jenni, wäre zu übersetzen: „Hier schicke ich dir Silber und Gold als Provision. Auf, löse bitte deinen Pakt mit Baʻscha, dem König von Israel, damit er, bitte-schön, von mir abzieht!“ Die Markierung der Bitte in dem Finalsatz ist selbstverständlich auf die Gesamtaufforderung an den aramäischen König bezogen, nicht auf Baʻscha. In deutscher Schriftsprache lässt sich dies nicht direkt wiedergeben; anders in manchen Umgangssprachen.
[109‒110]
Das althebräische Verbalsystem
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Freilich scheint das Versehen relativ früh passiert zu sein, da auch die samaritanische Überlieferung die Langform bietet. Immerhin ist aber auf 4QGenk, Fragment 1, zu verweisen, das die „reguläre“ Lesung bezeugt:49 [ותרא הי Ob das Fragment die originäre Überlieferung repräsentiert oder die sekundäre Korrektur eines mutmaßlichen mechanischen Schreibfehlers, so oder so wird man den vereinzelten und unsicheren Beleg Gen 1,9 (MT) nicht für eine Falsifizierung der Hypothese in Anspruch nehmen können, müsste er doch die Last einer auch sonst nicht sicher zu stützenden zusätzlichen Systemposition tragen. 50 109‒110 Wir kommen zum letzten formalen „Falsifikationsversuch“, der sich vor den anderen dadurch auszeichnet, dass Unsicherheitsfaktoren von der Art, wie sie bislang zu bedenken waren, nicht gegeben sind. | Es geht hier um die 2. Person der Präformativkonjugation mit der proklitischen Konjunktion we-, und dies unabhängig von der Alternative Kurzform/Langform und in allen Flexionsformen (m./f., sg./pl., mit oder ohne Suffix) (= Implikation 1.3): Eine Form *we=PK 2. Person (*we=tiqṭol) gibt es im Verbalsystem des Standard-Althebräischen nicht. Die Herleitung ist wiederum einfach: Anstelle von *we=tiqṭol (2. Person sg./pl.) mit indikativischer (oder abgeleitet-modaler51) Bedeutung muss nach A II regelhaft we=qaṭalta stehen (oder [indikativisch] nach A I: wattiqṭol). Anstelle von *we=tiqṭol als Modusform muss nach B regelhaft we=Imperativ stehen, da im Modus der Imperativ die Suppletivform der 2. Person bildet. Der methodische Vorzug dieser Implikation besteht darin, dass sie weitgehend unabhängig ist von möglichen orthographischen Versehen, deshalb wohl auch vom sprachlichen Vorverständnis der Schreiber, obschon in deren Sprachen die Verbindung von we=tiqṭol (2. Person) ganz selbstverständlich war. Die Suche mit SESB führt in unserem Primärbereich von Pentateuch und Vorderen Propheten auf vier Treffer, davon zwei in Poesie. Bei keinem dieser Treffer handelt es sich jedoch – genauer betrachtet – um einen falsifizierenden Beleg: 110‒111
49 J.R. D AVILA, in: E. U LRICH et al., Qumran Cave 4, VII. Genesis to Numbers (DJD 12), Oxford 1994, 76. 50 STIPP, Narrativ-Langformen (Anm. 38), 123f., erwägt für Einzelfälle der wa=PKLF (in Iterativkontexten) die Möglichkeit primärer Vorkommen von we=PKLF; doch wäre deren Regularität ihrerseits zunächst auf zweifelsfreie Belege zu fundieren. 51 Dazu u. 2.2.3.
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Das althebräische Verbalsystem
[110‒111]
– Das ותהיin 2 Kön 19,25 par. Jes 37,26 im Spottlied über Sanherib wird in der exegetischen Literatur m.W. ausnahmslos (mit der Septuaginta) als Narrativ gelesen (oder textkritisch ausgeschieden). 52 – Der Beleg Ex 15,17 ותטעמוliegt ebenso wie das Schilfmeerlied insgesamt als (späte) Poesie außerhalb des primären Kontrollkorpus; davon abgesehen ist auch in diesem Falle Narrativ zu lesen, wie bereits die durchgehend indikativisch-vergangenheitlichen Übersetzungen anzeigen.53 | – Bei Num 17,25 ותכלlässt der Konsonantentext verschiedene Lesungen zu; vielfach wird eine 3. Person f.sg. des Qal präferiert. 54 Damit bleibt als einziger, für unseren Zusammenhang einschlägiger Text Ex 19,3: ֹכ ה ת ֹאמַ ר לְ בֵ ית יַ עֲ ֹק ב וְ תַ גֵיד לִ בְ נֵי ִי ְׂש ָראֵ ל׃ Es handelt sich um die Eröffnung der ersten Gottesrede an Mose auf dem Gottesberg. Formal fällt auf, dass die Masoreten hier die Kurzform des Hif‘il punktieren, obwohl der Konsonantentext eine Langform bietet. Bereits die Parallele zu תאמרspricht freilich für das K etiv. Darüber hinaus lässt sich zeigen, dass die formal abweichende Form ותגידin diesem Falle lediglich die – stilistisch begründete – Ausnahme darstellt, welche die Regel bestätigt und überdies keineswegs allein steht. Als Einstieg mag eine erhellende aramäische Analogie aus dem Hermopolis-Brief Nr. 1 (kurz vor 500) dienen. In Z. 10 heißt es hier: 55 וכעת מדעם „ – אל תזבני בכסת ותשרי להUnd jetzt: kaufe nichts an Kleidung und schicke (es) ihm nicht!“ Bei den beiden Verbformen in der 2. Person f.sg. handelt es sich um Kurzformen (ohne Nunation), die zur Verneinung mit אלgehören. Wie der Zusammenhang erweist, steht die zweite Kurzform hier aber nur vermeintlich selbstständig; in Wahrheit handelt es sich um eine Ellipse, bei der vor תשריdas אלmitgedacht sein will. 110‒111 Eine althebräische Analogie ist von Walter Groß beschrieben worden, der ganz in diesem Sinne den Kehrvers in Ps 42,6 erklärt:
52 Vgl. die Apparate von BHK und BHS zu beiden Stellen und die Kommentare, darunter A.B. EHRLICH, Randglossen zur hebräischen Bibel. Textkritisches, Sprachliches und Sachliches 5. Ezechiel und die kleinen Propheten, Leipzig 1912 (= Nachdruck Hildesheim 1968), 136. 53 Zu einer systematischen Erklärung s. die Hinweise unten 183. 54 Der Verweis auf die Apparate von BHK und BHS und auf HALAT s.v. * ְת לֻנֹותmag hier genügen; anders zuletzt H. SEEBASS, Numeri (BK IV/2.3), Neukirchen-Vluyn 2001, 172. 55 V. HUG, Altaramäische Grammatik der Texte des 7. und 6. Jh.s v. Chr. (Heidelberger Studien zum Alten Orient 4), Heidelberg 1993, 36.
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… ה־ת ְׁשתֹוחֲחִ י נַפְ ִׁש י וַתֶ ה ֱִמ י ָעלָי ִ ַ מ6,24 … ה־ת ְׁשתֹוחֲחִ י נַפְ ִׁש י ּומַ ה־תֶ ה ֱִמ י ָע לָי ִ ַ מ6,22, … ה־ת ְׁשתֹוחֲחִ י ַנ פְ ִׁש י ּומַ ה־תֶ ה ֱִמ י ָע לָי ִ ַ מ43,5 | Groß führt dazu aus: „In v. 6b ist entweder entsprechend 42,12; 43,5 w˙=mah statt wa= zu lesen oder ein w˙=yiqṭol zu punktieren; dieses wäre syntaktisch als w˙=x=yiqṭol LF zu deuten, da mah aus 6a auch diesen zweiten koordinierten Fragesatz regiert und daher als x zu berücksichtigen ist.“56 Diese syntaktische Erklärung wird durch weitere Beispiele gestützt. Dazu gehört Jes 38,15, das in der masoretischen Überlieferung überdeckt ist, aber nun durch 1QIsa erhellt wird:57 מה אדבר ואומר לו\י. Des Weiteren rechne ich dazu Jes 40,27:58 למה תאמר יעקב ּותדבר ישראלoder Prv 5,20: ולמה תשגה בני בזרה ּו תחבק חק נכריה. In Anlehnung an die Formulierung von Groß zu Ps 42,6 lässt sich von daher unser auffälliger Pentateuchbeleg folgendermaßen erklären: In Ex 19,3 ist ein we=yiqṭol LF zu punktieren, also we=taggid. Dieses ist aber als we=x-yiqṭol zu deuten, da כהaus 3bα semantisch auch diesen Folgesatz mit bestimmt und daher als x zu berücksichtigen ist. Demnach ergibt sich für eine Form 2. Person we=PK im Bereich von Pentateuch und Vorderen Propheten eine komplette Fehlanzeige. Die SystemSignifikanz dieses eindeutigen Befundes in der Prosa des Standard-Althebräischen59 ließe sich auch nicht mit Mutmaßungen über eine generell geringere Häufigkeit der 2. Person mindern. Dagegen stünden als Kontrollgrößen die systematisch zu erwartenden Formen we=qaṭalta (in allen Genera und Numeri) bzw. we=Imperativ (dito), die im selben Textbereich (Gen – Kön) 1110-mal bzw. 362-mal (!) vorkommen. | 111‒113
Kurzum: Unternimmt man es, die immer schon bekannten Hauptregeln für die althebräischen Verbalformen streng systemisch zu bestimmen, ergibt sich ein formales Kategoriensystem, das immerhin so spezifisch definiert ist, dass es ganze Breitseiten für Falsifikationsversuche und Überprüfungen bietet. Dies spricht für seine Signifikanz. Die meisten Überprüfungen kommen zudem mit einem Minimum an semantischen Interpretationen aus. Im 56 W. G ROSS, Verbform und Funktion. wayyiqṭol für die Gegenwart? Ein Beitrag zur Syntax poetischer althebräischer Texte (ATSAT 1), St. Ottilien 1976, 148. 57 Vgl. H. W ILDBERGER , Jesaja (BK X/17.18), Neukirchen-Vluyn 1981, 1444 z. St. 58 In Jes 40ff. häufen sich die Beispiele für solche elliptischen Konstruktionen; vgl. noch 46,5, aber wohl auch 43,10; 41,23. 59 Während die Tradenten der Prosaüberlieferung gleichsam an den späten Rändern hier und da aus Unachtsamkeit (?) aus dem System der erlernten Literatursprache heraus fallen (vgl. 2 Chr 20,9: אם תבוא עלינו רעה … ונזעק … ותשמע ותושיעoder Dan 12,13: ואתה לך לקץ )ותנוח ותעמד לגרלך לקץ הימין, häufen sich die Abweichungen in Teilen des Psalters (13 Belege) und der Hiobdichtung (20 Belege) (nicht dagegen in Proverbien!).
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Bereich der Prosa von Pentateuch und Vorderen Propheten bewährt sich dabei das System in einem Ausmaß, wie es – angesichts der vielfältigen Fehlerquellen in der Textgeschichte – kaum zu erwarten war.
III Der zweite Teil der Überprüfung des postulierten Systems hinsichtlich seiner semantischen Bewährung wird sich in diesem Rahmen naturgemäß auf einige signifikante Fragen beschränken müssen. 1. Zum Gebrauch des volitiven Modus Die folgenden Modusbelege haben lediglich illustrativen Charakter und stehen grundsätzlich für beliebig vermehrbare Beispiele. Als Exempel für die Suppletivstruktur des Modus gemäß den drei grammatischen Personen mag ein Abschnitt aus Ex 14 dienen: 113–114
ה־תצְ עַק אֵ לָי ִ ַ ַוי ֹאמֶ ר יְ הוָה אֶ ל־מֹ ׁשֶ ה מ21 ל־בנֵי־יִ ְׂש ָראֵ ל וְ יִ סָ עּו׃ ְ ֶדַ בֵ ר א ּובקָ עֵהּו ְ וְ אַ תָ ה הָ ֵרם אֶ ת־מַ ְטָך ּונְ טֵ ה אֶ ת־י ְָדָך עַל־הַ יָם24 וְ יָבֹ אּו ְבנֵי־יִ ְׂש ָראֵ ל בְ תֹוְך הַ יָם בַ יַבָ ׁשָ ה׃ וַאֲנִ י ִהנְ נִ י ְמחַ זֵק אֶ ת־לֵב ִמצְ ַריִ ם21 וְ יָבֹ אּו אַ ח ֲֵריהֶ ם וְ ִאכָבְ דָ ה ְבפ ְַרעֹ ה ּובְ כָל־חֵ ילֹו בְ ִרכְ בֹו ּובְ פָ ָרׁשָ יו׃ Ebenso wie in Ex 14,15f. steht das jussivische we=yiqṭol nach einem Imperativ60 auch sonst häufig für die beabsichtigte | Folge, hypotaktisch interpretiert also für einen Finalsatz.61 Diese Bedeutung der syndetischen Modusformen ist aber auch in anderen Konstellationen belegt. Als besonders signifikant erweist sich in diesem Zusammenhang Ex 14,17, wo „finale“ Modusformen der 3. und 1. Person auf eine Ankündigung mit הנה+ Partizip 60
lung.
Dazu zuletzt DIEHL, Fortführung (Anm. 34), mit einer umfassenden Materialsamm-
61 Vgl. z.B. J OÜON (/MURAOKA) (Anm. 18), § 116 („Indirect volitive moods“) und das differenzierte Material bei S.E. FASSBERG, Studies in Biblical Syntax (hebr.), Jerusalem 1994, 76ff. T. MURAOKA, The Alleged Final Function of the Biblical Hebrew Syntagma ‚waw + a volitive form‘, in: E. VAN W OLDE (Hg.), Narrative Syntax and the Hebrew Bible. Papers of the Tilburg Conference 1996 (Biblical Interpretation Series 29), Leiden u.a. 1997, 229–241, insistiert mit Recht darauf, dass die Folge nicht per se bezeichnet wird, sondern dass einfache Koordination eines Wunsches oder einer Absicht vorliegen kann. Gleichwohl kann die (beabsichtigte) Folge mit der semantisch-syntaktischen Gesamtkonstellation angezeigt sein, so in Ex 14,15.17; 1 Kön 22,20 oder 2 Sam 24,21. Die Frage verdiente aber in der Tat eine nähere Untersuchung.
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(futur proche) folgen. Damit ist der modale Gebrauch von we=PK auch über die Fortführung des Imperativs oder Kohortativs hinaus belegt. Hierzu noch einige Beispiele: 114‒115 Ri 9,29 (nach irrealem Wunsch):
יר ה אֶ ת־ ֲא בִ ימֶ לְֶך … ׃ ָ ּומ י ִי תֵ ן אֶ ת־ ָה ָע ם הַ זֶה בְ יָדִ י וְ אָ ִס ִ 1 Kön 22,20 (nach einer Frage):
וַי ֹאמֶ ר ְיהוָה ִמ י ְי ַפתֶ ה אֶ ת־אַ חְ אָ ב וְ יַ ַע ל וְ ִי ֹפ ל בְ ָר מֹ ת גִ לְ ָע ד … ׃ 2 Sam 24,21 (nach einer elliptischen Aussage):
וַי ֹאמֶ ר ֲא ַר וְ נָה מַ דּו ַע ָב א ֲא ֹד ִנ י־הַ מֶ לְֶך אֶ ל־ ַעבְ דֹו וַי ֹאמֶ ר דָ וִ ד ִל קְ נֹות מֵ עִ ְמָך אֶ ת־הַ ֹג ֶר ן לִ בְ נֹות ִמזְבֵ חַ לַיהוָה 62 | וְ תֵ ָע צַ ר ַה מַ ֵג ָפ ה מֵ ַעל ָה ָע ם׃ 2. Die semantische Äquivalenz der „temporalen“ Inversionspaare Die Auffassung der Komponenten (a) und (b) in den Inversionspaaren A I und II als „Alloformen“ impliziert ihre semantische Äquivalenz. Selbstverständlich können sie in den Texten nicht beliebig einander ersetzen – dann bräuchte man die Inversionsregeln gar nicht –, aber die Stellungsregeln sind syntaktischer Natur (vermittelt dann z.T. auch stilistischer), mit anderen Worten, sie hängen nicht von der Semantik hinsichtlich Tempus, Aktionsart oder Modus ab (= Implikation 2)! Die damit behauptete semantische Äquivalenz ist im Sinne der in Tabelle 2 aufgeführten Bedeutungszuordnungen zu verstehen, wobei die dort gegebene Aufzählung durchaus unvollständig sein mag. Entscheidend sind jedenfalls die hervorgehobenen Grundbedeutungen. Dazu rechne ich auf der Linie von Ewald, Driver u.a. die Aspektopposition, d.h. die Kategorien einer „vorgangsbezogenen Deixis“.63 Ohne damit die tatsächliche Bedeutungsvielfalt einschränken zu wollen, aber doch 62 Die Infinitive artikulieren den unmittelbaren Zweck des Kommens Davids; davon abgesetzt benennt der syndetische Jussiv die intendierte Wirkung, die das ganze Handeln begründet. 63 Dazu K. H EGER, Die Bezeichnung temporal-deiktischer Begriffskategorien im französischen und spanischen Konjugationssystem (Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie 104), Tübingen 1963, bes. 22f.34ff.; DERS., Temporale Deixis und Vorgangsquantität („Aspekt“ und „Aktionsart“), ZRPh 83 (1967) 512–582, bes. 552ff. Heger bezieht sich für seine Definitionen temporaler Deixis ausdrücklich auf E. KOSCHMIEDER (vgl. Zeitbezug und Sprache. Ein Beitrag zur Aspekt- und Tempusfrage [1929], Nachdruck Darmstadt 1971). In dessen Erbe steht auch die in vieler Hinsicht hilfreiche noetische Analyse temporaler Sachverhalte von A. DENZ, Die Verbalsyntax des neuarabischen Dialektes von Kwayriš (Irak) mit einer einleitenden allgemeinen Tempus- und Aspektlehre (AKM 40,1),
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als Ausdruck der dominierenden semantischen Äquivalenz sei deshalb die Bezeichnung „Perfektiv“ bzw. „Imperfektiv“ für die beiden Inversionspaare vorgeschlagen. | Entscheidend für das hier vorausgesetzte Verständnis der „Aspekte“ (perfektiv vs. imperfektiv) ist, dass es sich um deiktische, nicht – wie z. B. bei den Aktionsarten – um definitorische Kategorien64 handelt.65 Dementsprechend geht es nicht um die Opposition „abgeschlossen vs. unabgeschlossen“ (als Qualitäten eines Vorgangs), sondern um die deiktische Opposition von „als abgeschlossen zeigen vs. als unabgeschlossen zeigen“. Präziser formuliert, wird bei Letzterem die grundlegende temporale Opposition „jetzt vs. nicht-jetzt“ auf den „ausgesagten Vorgang“ bezogen66: „Das ,jetzt‘ wird dabei zum ,jetzt‘ des Vorgangs, der somit von innen her, das heißt von einem sich innerhalb seines Ablaufs befindenden Bezugspunkt aus dargestellt wird, und entsprechend für das ,nicht-jetzt‘ zu einer Darstellung des Vorgangs von einem Bezugspunkt aus, der sich außerhalb seines Ablaufs befindet.“67 Wesentlich ist dabei die Möglichkeit einer „Deixis am Phantasma“ (Karl Bühler), d.h. einer (von der realen Sprechsituation unabhängigen) fiktiven Setzung des Bezugspunkts der Deixis. 115‒117
Die Präferenz der Aspektkategorien gegenüber den „Zeitstufen“-Kategorien stützt sich darauf, dass sich der standard-althebräische Tempusgebrauch gerade in den Zügen, die von dem ausgeprägter „Zeitstufen-Sprachen“ wie dem Deutschen | oder dem Neuhebräischen abweichen, unter Voraussetzung eines Aspektsystems konsistent erklären lässt. 68
Wiesbaden 1971. Deren kategoriale Differenzen gegenüber Hegers Definitionen können in diesem Rahmen nicht diskutiert werden. Für die Vielfalt von unter „Aspekt“ subsumierten Bedeutungen vgl. im Übrigen GZELLA, Tempus (Anm. 10), 90ff. 64 Zu dieser Unterscheidung s. H EGER, Bezeichnung (Anm. 63), 13ff., und die schlichte Bestimmung in DERS., Temporale Deixis (Anm. 63), 551, wonach „deiktisch“ „auf das Sprechereignis bezogen“ meint und „definitorisch“ „nicht auf das Sprechereignis bezogen“. 65 Darin differiert der hier vorausgesetzte Aspektbegriff grundlegend von dem bei B. COMRIE, Aspect. An Introduction to the Study of Verbal Aspect and Related Problems (Cambridge Textbooks in Linguistics 2), Cambridge 1976. Ohne allgemeine Definitionsfragen diskutieren zu können, erscheint mir jedenfalls deutlich, dass sich ein „definito rischer“ Aspektbegriff für Sprachen wie das Althebräische nicht empfiehlt. Damit verbun dene Probleme deuten sich in Comries Ausführungen zur arabischen Schriftsprache an (a.a.O., 78ff.). Vgl. im Übrigen mutatis mutandis die in Anm. 68 angeführten Befunde; anders R.S. HENDEL, In the Margins of the Hebrew Verbal System. Situation, Tense, Aspect, Mood, ZAH 9 (1996) 152–181. 66 Alternativ wäre der Bezug von „jetzt – nicht-jetzt“ auf die Origo des Sprechers. Dann wird „aus dem ,jetzt‘ seine Gegenwart und aus dem ,nicht-jetzt‘ seine Nicht-Gegenwart“ (HEGER, Bezeichnung [Anm. 63], 22; Hervorhebungen im Original), mithin die Grund kategorien der sog. „Zeitstufen“. 67 H EGER , Bezeichnung (Anm. 63), 22f. 68 So mit GROSS, der im Blick auf wayyiqṭol zusammenfasst: „Alle Verwendungsweisen erklären sich bei der Annahme, wayyiqṭol bezeichne perfektiven Aspekt. Der Gebrauch von wayyiqṭol neben x-qaṭal für generellen als Erfahrungssatz ausgedrückten Sachverhalt,
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Auf den ersten Blick scheint der Voraussetzung eines Aspektsystems entgegen zu stehen, dass die häufige Bezeichnung mit dem Sprechereignis gleichzeitiger Sachverhalte durch Nominalsätze (einschließlich der Partizipialsätze) 69 eine noetische Gliederung in Präsens einerseits und Vergangenheit/Zukunft andererseits zu suggerieren scheint. Tatsächli ch aber bezeichnet der Nominalsatz (/Partizipialsatz) die definitorische Kategorie der relativen Gleichzeitigkeit, wobei erst dem Kontext zu entnehmen ist, ob diese Relation sich auf einen „vergangenen“ Sachverhalt oder auf einen „zukünftigen“ bzw. – alternativ – auf das Sprechereignis bezieht. Obschon in letzterem Falle die „definitorische“ Gleichzeitigkeit mit der deiktisch anzuzeigenden Gegenwart zusammenfällt, bezeichnet der althebrä ische Partizipialsatz (bzw. NS) nicht per se die Zeitstufe des Präsens.
2.1 Das Inversionspaar des „Perfektiv“ Die Bezeichnung des perfektiven Aspekts durch qaṭal, nicht nur bei – der Zeitstufe nach – vergangenen, sondern auch bei Sachverhalten, die sich präsentisch auffassen lassen (innerhalb von performativen Aussagen [Koinzidenzfall] und bei Zustandsverben), oder auch in Erfahrungssätzen bedarf keines Nachweises. Wie Walter Groß aufgewiesen hat, kann in den genannten Fällen aber grundsätzlich auch wayyiqṭol stehen.70 Insoweit ist mithin die semantische Äquivalenz gegeben. Eine Differenz besteht lediglich im Blick auf die bei wayyiqṭol immer mitgegebene semantische Komponente der Konjunktion „und“. | 117‒118 Nicht selten wird darüber hinaus aber auch hinsichtlich temporaler Bedeutungsaspekte eine Differenz zwischen qaṭal und wayyiqṭol angenommen. Nahezu allgemein verbreitet ist die Annahme, dass die Formen mit dem sog. Waw „consecutivum“ per se den zeitlichen „Progress“ bezeichneten. Des Weiteren nennt Walter Groß – gleichsam als Komplement – die relative Vorzeitigkeit zu einem anderen Sachverhalt, die nur mit qaṭal bezeichnet werden könne. Derartige Bedeutungsvarianten sind auch in dem hier postulierten Modell keineswegs a limine ausgeschlossen, jedenfalls sofern sie sich schlüssig mit der Semantik der Konjunktion in den (b)-Kategorien verbinden lassen. Dies wäre im Blick auf die genannten Bedeutungszuordnungen dann gegeben, wenn wa/we darin über die koordinierende Verknüpfung hinaus die zeitliche Abfolge im Sinne von „und dann“ bezeichnen sollte. M.E. stehen jedoch beide Bedeutungsvarianten mitsamt ihrer Prämisse in Frage.
für Koinzidenz und für individuellen Sachverhalt der Gegenwart bei den Subsysteme bildenden Verbgruppen sprechen entscheidend gegen die Deutung als Vergangenheitstempus“ (Verbform [Anm. 56], 166). Entsprechendes gilt für den Gebrauch der ImperfektivFormen zum Ausdruck relativer Gleich- oder Nachzeitigkeit oder der „damals“-Sachverhalte; dazu im Folgenden. 69 Dazu auch unten bei Anm. 92. 70 GROSS, Verbform (Anm. 56), 89ff.111ff.121f., zusammenfassend 163ff.
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Beginnen wir mit dem zweiten Aspekt. Walter Groß führt dazu aus:71 „wayyiqṭol kann weder Erstsetzung bezeichnen noch für einen Sachverhalt stehen, der bezüglich eines weiteren zukünftigen, gegenwärtigen oder vergangenen Sachverhalts vorzeitig ist und als vorzeitig gekennzeichnet werden soll. Hierfür muß Suffixkonjugation eintreten.“ Hinsichtlich der „Erstsetzung“ ist zunächst zu bedenken, dass jegliche Setzung von wayyiqṭol naturgemäß nur unter den Bedingungen einer Syndese möglich ist. Gleichwohl ist auch dadurch eine „Erstsetzung“ von wayyiqṭol nicht ausgeschlossen, sofern damit die kontextuell erstmalige Bezeichnung des „Perfektivs“ gemeint ist. In diesem Sinne repräsentiert etwa das ויאמרin Jes 3,16 eine Erstsetzung, aufgrund der jeweils eigenen „Kommunikationsebenen“ gilt das Gleiche auch für Jes 5,7b ( )ויקוoder 6,1 ()ואראה.72 Allgemein vertraut ist die „Erstsetzung“ von | ( ויהיbzw. )והיהvor Zeitbestimmungen u.Ä.73 Die koordinierende Bedeutung der Konjunktion hat sich bei letzterem idiomatischen Sprachgebrauch offenbar so weit abgeschwächt, dass die syndetische Texteröffnung nicht als solche empfunden wird. 74 118‒119 Als komplexer erweist sich die Frage der Bezeichnung der relativen Vorzeitigkeit „bezüglich eines weiteren zukünftigen, gegenwärtigen oder vergangenen Sachverhalts“. Verbreitet ist der Bezug auf vorzeitige Sachverhalte in konjunktional eingeleiteten Nebensätzen, zumal in Relativsätzen. Naturgemäß kann wayyiqṭol hier nach der Konjunktion/Partikel nicht an erster Stelle stehen. Ist daraus aber zu schließen, dass qaṭal – im Unterschied zu wayyiqṭol! – einen Sachverhalt als vorzeitig kennzeichnen könne? Aus folgenden Gründen bedarf eine solche Bestimmung m.E. der Präzisierung: (a) Entsprechende Nebensätze in einem Vergangenheitskontext zeigen, dass weder qaṭal noch wayyiqṭol per se die relative Vorzeitigkeit bezeichnen, sondern den perfektiven Aspekt. Die Vorzeitigkeit ist hier allein aus der semantischen Gesamtkonstellation zu erschließen. 75 (b) Wiederum anders verhält es sich in einem dominant imperfektivischen (d.h. in Zeitstufen gedacht:
71 GROSS, a.a.O., 163f. 72 Epigraphische Evidenz lässt sich
im engen Umfeld des Althebräischen benennen: der Beginn der Bileam-Erzählung in Kombination I von Tell Deir Alla (mit האim Casus pendens und anschließendem wayyiqṭol); auch Z. 5 des Meschasteins ist einschlägig, falls עמרי מלך ישראלhier als Casus pendens am Beginn eines Erzählungseinsatzes zu lesen ist. 73 Der mitunter postulierte Ausnahmecharakter für die sog. „Tempusmarker“ ist ein Notbehelf. Weshalb sollte ausgerechnet der Tempusmarker substantiell von dem sonstigen Tempussystem abweichen? Die einzige Besonderheit dieses Gebrauchs liegt in der Schwächung der Syndese. 74 Vgl. auch die syndetischen Anfänge von direkter Rede, darunter auch we=qaṭal (z.B. Num 14,13; Jos 22,28; Ez 11,17; 13,13 u.ö.). 75 Vgl. z.B. Gen 26,18 (qaṭal – wayyiqṭol); 31,22.32b; 1 Kön 10,7a (qaṭal – wayyiqṭol). Weshalb im Blick auf einen solchen wayyiqṭol-Gebrauch die Unterscheidung zwischen ei-
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präsentisch-futurischem) Kontext: Werden hier einzelne Sachverhalte als abgeschlossen dargestellt, impliziert dies ihre relative Vorzeitigkeit zu Sachverhalten des Kontextes. Diese relative Vorzeitigkeit wird somit lediglich | indirekt gekennzeichnet, dies aber gleichermaßen durch qaṭal wie durch wayyiqṭol!76 Analoges gilt auch für formal parataktische Fügungen. Als ein erstes Beispiel (mit qaṭal) mag Lev 17,(3–)4 dienen:
ִאיׁש ִאיׁש ִמבֵ ית יִ ְׂש ָראֵ ל3 אֲׁשֶ ר יִ ְׁשחַ ט ׁשֹור אֹו־כֶׂשֶ ב אֹו־עֵז בַ מַ ֲחנֶה … ׃ וְ אֶ ל־פֶתַ ח אֹ הֶ ל מֹועֵד ל ֹא הֱבִ יאֹו לְ הַ קְ ִריב קָ ְרבָ ן לַיהוָה … ל6 דָ ם ֵי ָחׁשֵ ב ל ִָא יׁש ַה הּוא … ׃ Man könnte die hier dargestellten Zeitverhältnisse so paraphrasieren: Der Umstand, dass jemand ein Tier schlachtet, ohne es (zuvor) zum Ohel Moed gebracht zu haben (mit der Absicht, ein Opfer darzubringen), soll ihm als Blutschuld angerechnet werden. Nicht unwichtig mag der Hinweis sein, dass hier – wie in analogen Fällen – keine Notwendigkeit besteht, solche temporalen Nuancierungen ausdrücklich zu bezeichnen. Für den vorliegenden Fall belegt dies schlagend Lev 17,8f., wo in einer strukturparallelen Bestimmung die Präformativkonjugation ( )יביאנוgebraucht ist. 119‒121 Die Kennzeichnung eines Sachverhalts als vorzeitig durch seine perfektische Darstellung in einer Parataxe ist aber nicht auf qaṭal beschränkt. Ein einschlägiger Beleg dafür findet sich in den Bestimmungen zur kultischen Unreinheit der menstruierenden Frau in Lev 15,24: וְ ִא ם ׁשָ ֹכ ב ִי ְׁש ַכב ִא יׁש ֹאתָ ּה ותהי ִנ דָ תָ ּה ָע לָיו וְ טָ מֵ א ִׁשבְ ַעת י ִָמ ים וְ ָכ ל־הַ ִמ ְׁש ָכ ב ֲא ׁשֶ ר־ ִי ְׁש ַכ ב ָעלָיו ִי ְט מָ א׃ Da innerhalb einer rechtlichen Regelbestimmung der isolierte Gebrauch eines Jussivs keinen Sinn ergäbe, ist hier gegen die Masoreten wattehi zu lesen, das als Bezeichnung des perfektiven Aspekts eine sachgemäße temporale Differenzierung zum Ausdruck bringt: „Wenn ein Mann mit ihr schläft und (nachdem so) ihre Unreinheit auf ihn gekommen ist, wird er sieben Tage lang unrein sein …“ Gemäß diesem und wei|teren Beispielen77 kann wayyiqṭol nem „narrative wayyiqṭol“ und einem „continuation wayyiqṭol“ hilfreich sein soll (A. N ICCACCI, Basic Facts and Theory of the Biblical Hebrew Verb System in Prose, in: VAN W OLDE, Narrative Syntax [Anm. 61], darin 191 mit Anm. 67), ist mir nicht deutlich. 76 Vgl. z.B. Gen 28,15b; Num 5,27 (qaṭal – wayyiqṭol). 77 So 1 Sam 25,29 ( )ויקםmit konjunktionsloser Hypotaxe: „Wenn sich jemand aufmacht (futurum exactum), dich zu verfolgen und dir nach dem Leben zu trachten, dann wird das Leben meines Herrn …“ oder analog Jos 7,9 ( וישמעוlies wa=PK): „Wenn die Kanaanäer
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also in bestimmten syntaktischen/semantischen Konstellationen in „Erstsetzung“ einen Sachverhalt (mittelbar) als vorzeitig kennzeichnen. Von daher fällt nun auch ein Licht auf die geläufige Kennzeichnung der Vorzeitigkeit mittels einer syndetischen Inversion (we=x-qaṭal) in Erzählprosa:78 Es ist nicht die Verbform qaṭal, die hier per se die Vorzeitigkeit anzeigen würde, sondern die syntaktische und semantische Gesamtkonstellation, also die Unterbrechung einer vorausgehenden wayyiqṭol-Kette durch eine syndetische Inversion, wobei freilich semantische Indizien für einen zeitlichen Rückblick hinzukommen müssen! 79 121‒122 Wie steht es nun mit der anderen o.g. These, wonach wayyiqṭol im Unterschied zu qaṭal den zeitlichen „Progress“ implizierte? In den althebräischen Grammatiken bildet sie wohl einen Allgemeinplatz,80 für den man nicht nur auf die zahllosen Narrativfolgen mit fortschreitender Handlung verweisen kann, sondern gerade auch auf die soeben erörterte Inversion zum Ausdruck der relativen Vorzeitigkeit. Für ein zeitlich „regredierendes“ wayyiqṭol innerhalb einer Narrativkette gibt es in der Tat kein einziges schlagendes Beispiel, wie spätestens seit Samuel R. Driver bekannt sein sollte. 81 Lässt sich daraus aber eine Bezeichnung der Progression durch wayyiqṭol ableiten? Dagegen stehen zunächst die häufigen Vorkommen, bei denen eine zeitliche Abfolge, die angeblich durch das Waw | „consecutivum“ angezeigt wird, schlicht ausgeschlossen ist. Hierzu gehören nicht nur die gern als Ausnahmen genannten Verbindungen wie ויאכל וישתa(1 Kön 19,6) o.Ä., sondern alle Aufzählungen nach der Art von 2 Kön 17,7–17 oder die häufigen wayyiqṭol nach einer vorangestellten Zeitangabe (sei es mit oder ohne )ויהי oder die summarischen Prolepsen (z.B. Gen 37,21aβ mit Kontext) bzw. Analepsen (Wiederaufnahmen) (z.B. Gen 2,15 nach 2,8f.). Solche Gebrauchsweisen von wayyiqṭol sind einerseits zu häufig, als dass es sinnvoll wäre, für sie jeweils eine „Neutralisierung“ der Progress-Bedeutung zu postulieren; andererseits finden sie eine einfache Erklärung, wenn die proklitische Konjunktion am Verb nichts anderes bedeutet als sonst, nämlich die koordinierende Verknüpfung. Diese reicht m.E. auch völlig hin, um die mit einer we=x-qaṭal-Inversion verbundenen Ausdrucksmöglichkeiten nachvollziehen zu können: In den wayyiqṭol-Reihen der Erzählprosa sind es die und alle Bewohner des Landes (dies) hören (futurum exactum), werden sie sich gegen uns wenden …“ 78 Vgl. Gen 31,33f.; 2 Sam 18,17f. etc. 79 Die Inversion kann auch Gegenüberstellungen von handelnden Personen u.Ä. anzei gen – ohne relative Vorzeitigkeit. Mitunter ist dabei nicht eindeutig, ob (auch) Vorzeitigkeit impliziert ist; siehe z.B. Ex 17,10b. 80 GK § 111 u.a.m.; in neuerer Zeit besonders pointiert: R. B ARTELMUS, Einführung in das biblische Hebräisch, Zürich 1994, 97f., und TROPPER , Aspektsystem (Anm. 40), 155f. 81 Vgl. D RIVER, Treatise (Anm. 18), 84–89.
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Verbformen als Bezeichnungen der Handlungen etc., die durch die Konjunktion koordiniert werden, sei es aufzählend oder (linear) erzählend. Eine punktuelle Inversion unterbricht diese „Regelkoordination“, um bestimmte Aktanten oder sonstige sprachliche Ausdrücke hervorzuheben oder um anzuzeigen, dass weder eine aufzählende noch eine linear erzählende Koordination der Handlungen/Sachverhalte intendiert ist, sondern eben ein zeitlicher Rückgriff. Die Annahme einer spezifischen „und dann“-Bedeutung des wa= in wayyiqṭol ist dafür nicht notwendig. 82 122‒123 2.2 Das Inversionspaar des „Imperfektiv“ Auch hierzu gilt es, an einigen Beispielen zu zeigen, dass die beiden Alloformen prinzipiell jede Bedeutung des „Imperfektiv“ vertreten können. Freilich sind die zu bedenkenden semantischen Verhältnisse bei dieser Kategorie z.T. komplexer als beim Perfektiv. | 2.2.1 Die Aktionsart des sog. „Iterativ der Vergangenheit“, d.h. die Bezeichnung der iterativen/pluralischen Vorgangsquantität83 in einem perfektiven bzw. narrativen Kontext ist als eine der vielfach belegten Bedeutungen des Inversionspaares von A II bestens dokumentiert. Im Blick auf die (analog zur „Progress-Hypothese“ bei wayyiqṭol) gern vertretene Annahme, wonach we=qaṭal sozusagen als „Konsekutivform“ zur Weiterführung oder als „Folgetempus“ zu yiqṭol gebraucht werde,84 muss jedoch darauf insistiert werden, dass der Gebrauch beider Formen keiner derartigen Beschränkung unterliegt. Die einzige „regulative“ Bedingung resultiert aus der Inversionsregel selbst, nämlich die Frage, ob das Verb mit der proklitischen /und/Konjunktion verbunden ist oder nicht. Für den Iterativ-Gebrauch lässt sich dies schlagend an den zahlreichen Vorkommen belegen, in denen die Bezeichnung des Iterativ mehr oder weniger unvermittelt mit we=qaṭal einsetzt (und dies nicht nur mit dem häufigen ;)והיהso etwa in Gen 30,6; Ex 16,21b; 1 Sam 7,16 oder in Hi 1,3–4:
82 Da die formale Differenzierung des sog. Waw consecutivum wohl ein sekundäres Phänomen darstellt, gibt es dafür auch keinen morphologischen Anhaltspunkt. 83 Zur noetischen Unterscheidung verschiedener Aktionsarten, darunter zu „messender“ (Punktualis, Durativ etc.) bzw. zu „zählender“ (Semelfaktiv, Iterativ etc.) Vorgangs quantitäten vgl. wieder HEGER , Temporale Deixis (Anm. 63), bes. 564ff. Zur Bezeichnung des Durativs im Althebräischen siehe unten bei Anm. 92. Von einiger Bedeutung sind im Althebräischen darüber hinaus die sog. „Phasenaktionsarten“ (bei den „Zustandsver ben“), doch muss deren Erörterung einem anderen Zusammenhang vorbehalten bleiben. 84 Vgl. u.a. R. B ARTELMUS, HYH. Bedeutung und Funktion eines hebräischen „Allerweltswortes“ – zugleich ein Beitrag zur Frage des hebräischen Tempussystems (ATSAT 17), St. Ottilien 1982, 74ff.
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[123‒125]
וַיְ ִהי ִמקְ נֵהּו … ַו ֲעבֻדָ ה ַרבָ ה ְמאֹ ד3 וַיְ הִ י הָ ִאיׁש הַ הּוא גָדֹול ִמכָל־בְ נֵי־קֶ דֶ ם׃ וְ הָ לְ כּו בָ נָיו וְ עָׂשּו ִמ ְׁשתֶ ה בֵ ית ִאיׁש יֹומֹו6 וְ ׁשָ לְ חּו וְ קָ ְראּו לִ ְׁשֹלׁשֶ ת אַ חְ יֹ תֵ יהֶ ם ֶלאֱכֹ ל וְ לִ ְׁשתֹות עִ מָ הֶ ם׃ … ׃ An dem im Allgemeinen unstrittigen Iterativ-Sprachgebrauch lässt sich darüber hinaus die elementare Grundeinsicht demonstrieren, dass zwischen dem handlungslogisch „objektiven“ iterativen/pluralischen Charakter von Handlungen/Ereignissen und dessen sprachlicher Bezeichnung strikt zu unterscheiden | ist. Von Ersterem kann man nicht auf das Zweite schließen. Dies erweisen die nicht wenigen Beispiele, in denen ein sich wiederholender Handlungszusammenhang teilweise in einfacher Narration, teilweise als Iterativ formuliert ist. 85 2.2.2 Zur temporalen Grundbedeutung der vorgangsbezogenen Deixis gehört ein Gebrauch des „Imperfektivs“ in narrativen oder konstatierenden Kontexten, dessen Signifikanz für die Befunde in der bibelhebräischen Überlieferung bislang nur partiell beachtet wurde.123‒125 In Anlehnung an die arabische Grammatik spricht man gern von einem ḥāl-Satz oder übertragen von einem „Zustands- oder Umstandssatz“, wenn „Nebenereignisse() und -umstände() vergangener (…) Ereignisse oder (eine) nähere() Ausführung von solchen“ 86 bezeichnet werden. Im Althebräischen (wie im Arabischen) kann in solchen Sätzen der imperfektive Aspekt gebraucht werden, um die betreffende Relation zwischen den Vorgängen/ Sachverhalten zum Ausdruck zu bringen. 87 Manfred Weippert hat in neuerer Zeit wieder nachdrücklich auf diesen Sprachgebrauch hingewiesen und aufgezeigt, dass in biblischen wie in epigraphischen Belegen nicht nur yiqṭol, sondern auch die Alloform des Inversionspaares (we=qaṭal) hierfür in Anschlag zu bringen ist. So kann Weippert das we=qaṭal ( )ואסםin Z. 5.6f. des Beschwerdebriefs von M etsad Hašavyahu als regelhafte Syntax eines „Umstandssatzes“ erklären.88 Außerhebräisch belegt die Wandinschrift vom Tell | Deir Alla (Kombination I) sowohl yiqṭol als auch we=qaṭal (entsprechend 85 Vgl. das Material bei BERGSTRÄSSER , Grammatik (Anm. 12), II § 7e, darunter „Mischungen von Wiederholungsausdruck (…) und einfacher Vergangenheit“, aber auch lexematische Bezeichnungen des Iterativs ohne entsprechende Verbformen. 86 Die Formulierungen sind B ERGSTRÄSSER , Grammatik (Anm. 12), II § 7b entnommen, der hier von „Zustandssätzen“ spricht. 87 Anders W. GROSS , Otto Rössler und die Diskussion um das althebräische Verbalsystem, BN 18 (1982) 28–78, darin 67. 88 M. WEIPPERT, Die Petition eines Erntearbeiters aus Məṣad Ḥăšavyāhū und die Syntax althebräischer erzählender Prosa, in: E. B LUM u.a. (Hg.), Die Hebräische Bibel und ihre zweifache Nachgeschichte. FS Rolf Rendtorff, Neukirchen-Vluyn 1990, 449–466; vgl. die Erörterung in HAE I (Anm. 25), 325, Anm. 2 und 326, Anm. 3.
[125‒126]
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den im Althebräischen gegebenen Inversionsregeln) in derartigen „Umstandssätzen“.89 Hinsichtlich der zugrunde liegenden Zeitstruktur geht es dabei jeweils um die relative Gleichzeitigkeit des betreffenden Vorgangs oder Sachverhalts zu einem anderen Vorgang/Sachverhalt der dargestellten Handlung. 90 Näher besehen bezeichnen die sprachlichen Ausdrücke diese (definitorische) Gleichzeitigkeit nicht unmittelbar, sondern vermittelt durch die Bedeutung des imperfektiven Aspekts. 91 Dies lässt sich an dem alttestamentlichen Beispiel 2 Sam 15,37 darstellen: 125‒126 ַו יָב ֹא חּוׁשַ י ֵר ֶעה דָ וִ ד ָה עִ יר וְ אַ בְ ׁשָ ֹלם יָב ֹא ְי רּוׁשָ ָל ִם׃ Wird ein Vorgang in der Rückschau imperfektiv dargestellt, dann impliziert dies, dass der Bezugspunkt der vorgangs|bezogenen Deixis fiktiv in die vergangene Haupthandlung versetzt wird. Dementsprechend kann hier der Vorgang, dass Absalom nach Jerusalem kam, „von innen heraus“, d.h. imperfektiv, dargestellt werden. In der Konsequenz wird damit eine relative Gleichzeitigkeit zur kontextuell vorgegebenen Handlung angezeigt. So bietet sich an zu übersetzen: „Huschai, Davids Freund, kam in die Stadt, gerade als Absalom nach Jerusalem kam.“ Man könnte schon bei diesem Beispiel fragen, ob die Rede von einem „Umstandssatz“ oder von „Nebenereignissen“ etc. tatsächlich der narrativen Funktion dieser Profilierung angemessen ist. Es erscheint mir sachgemäßer, sich zumindest für die Bedeutung der Verbalformen auf die temporale 89 Kombination I, Z. 3–4 ( )ויצ]ם ובכה יבכהbzw. 5–6 (… ;)אלהן אתיחדו ונצבו שדין מועד ואמרו dazu H. & M. W EIPPERT, Die „Bileam“-Inschrift von Tell Dēr ʻAllā, ZDPV 98 (1982) 77– 103 (= M. WEIPPERT, Jahwe und die anderen Götter. Studien zur Religionsgeschichte des antiken Israel in ihrem syrisch-palästinischen Kontext [FAT 18], Tübingen 1997, 131– 161), darin 86 (= 140).88 (= 143). Zur Diskussion um mögliche „circumstantial clauses“ in der Tel Dan-Inschrift vgl. J.A. EMERTON, Further Comments on the Use of the Tenses in the Aramaic Inscription from Tel Dan, VT 47 (1997) 429–440, und die dort referierte Literatur sowie (anders) T. MURAOKA, Again on the Tel Dan Inscription and the Northwest Semitic Verb Tenses, ZAH 11 (1998) 74–80. 90 In den klassischen Untersuchungen ist der Sachverhalt grundsätzlich bereits gesehen. Beispielhaft sei wiederum S.R. DRIVER zitiert, hier zum Gebrauch von we=qaṭal (Treatise [Anm. 18], 159): „We find it (1) upon occasions when a writer wishes to place two facts in co-ordination with one another, to exhibit the second as simultaneous with the first rather than as succeeding it; for instance, in the conjunction of two synonymous or similar ideas …“ Unter den Neueren hebt auch H. SPIECKERMANN , Juda unter Assur in der Sargonidenzeit (FRLANT 129), Göttingen 1982, 124f., in wünschenswerter Deutlichkeit die mögliche Bezeichnung relativ gleichzeitiger Vorgänge (s.E. nur) durch we=qaṭal hervor. Allerdings sucht er dies einer eigenen Kategorie des „Waw-Perfekts“ (weder Perfectum copulativum noch Perfectum consecutivum) zuzuschreiben; eine systemische Analyse erscheint mir dergestalt jedoch kaum möglich. 91 Dies bildet eine genaue Analogie zur „Kennzeichnung“ der relativen Vorzeitigkeit (in einem Imperfektiv-Kontext) durch die Bezeichnung des perfektiven Aspekts.
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[126‒127]
Konstellation zu beschränken: relative Gleichzeitigkeit zwischen Sachverhalten, zum Ausdruck gebracht durch die imperfektive Darstellung in narrativ/konstatierendem Kontext. In diesem Zusammenhang drängt sich naturgemäß die Frage auf, in welchem Verhältnis diese Ausdrucksmöglichkeit für relative Gleichzeitigkeit zu deren geläufiger Bezeichnung durch Nominalsätze im Allgemeinen und durch Partizipialsätze im Besonderen verhält. Von vornherein unwahrscheinlich wäre eine völlige Bedeutungsgleichheit und Austausch barkeit dieser Ausdrucksvarianten. Eine Differenz scheint mir darin zu bestehen, dass Partizipialsätze hinsichtlich der Aktionsarten auf den Durativ festgelegt sind, während die Imperfektiv-Formen in dieser Hinsicht „nicht markiert“ sind.92 Darüber hinaus scheinen Letztere vorzugsweise in bestimmten Nischen-Konstellationen gebraucht zu werden. So fällt bei 2 Sam 15,37b ins Auge, dass in diesem Falle eine Formulierung als Partizipialsatz von der als we=x-qaṭal nicht unterscheidbar gewesen wäre. Die Verwendung von yiqṭol dient mithin auch 93 der Eindeutigkeit. Für den „Tempusmarker“ fällt das Partizip grundsätzlich aus, deshalb wird gegebenenfalls והיהgebraucht (s.u.). Komplikationen können sich mit Partizipialphrasen auch bei verneinten Sachverhalten 94 und bei Verstärkungen des Verbalbegriffs (mithilfe eines Inf. abs.: בכה תבכהetc.) ergeben. Hier bietet der Gebrauch von | Imperfektiv-Formen eine elegante Alternative. Auch sonst ist mit mancherlei stilistischen und semantischen Konditionen/Restriktionen zu rechnen, die freilic h über die im Folgenden gegebenen „Typen“ hinaus einer eingehenden Untersuchung bedürften. 126‒127
Jedenfalls erschließen sich von der skizzierten temporalen Struktur her weitere typische Verwendungen der „Imperfektiv“-Formen. Dazu gehört die erstaunlich große Zahl von Belegen, in denen ein und derselbe Sachverhalt entweder in redundanter Synonymie oder in mehr oder weniger stark differierenden Perspektiven/Nuancen dargestellt wird. In allen diesen Fällen ist temporal die „relative Gleichzeitigkeit“ gleichsam per se gegeben (was nicht bedeutet, dass sie in jedem Falle sprachlich zum Ausdruck gebracht werden müsste!). Ein Beispiel mit Synonymen findet sich in der Rede von König Ahab in 1 Kön 21,6: כי אדבר אל נבות היזרעאלי וָאֹ מַ ר Wie immer man die Redundanz, die Ahabs Ärger narrativ spiegeln dürfte, wiedergeben mag, ohne einen Ausdruck der Gleichzeitigkeit („als“, „dabei“ etc.) wird es hier auch in der Übersetzung nicht abgehen. Ein analoger Fall liegt in 2 Kön 18,36 95 vor, hier mit dem zu yiqṭol bedeutungsäquivalenten we=qaṭal:96 92 Dies ist einschlägig für viele „damals“-Konstruktionen; dazu s. unten 186. Entgegen einer verbreiteten Behauptung fehlen m.E. eindeutige Belege für eine Bezeichnung der durativen Aktionsart durch PKLF. 93 Darüber hinaus drängt sich in 2 Sam 15,37b auch die durative Aktionsart nicht auf. 94 Dazu schon erhellend DRIVER, Treatise (Anm. 18), 205 (§ 162). 95 Die Parallele Jes 36,21 liest dagegen – ויחרישוoffenbar eine Glättung. 96 S. B OMBECK, Das althebräische w-Perf. für Gegenwart und Vergangenheit in den hinteren Propheten und den Psalmen, in: R. B ARTELMUS / N. NEBES (Hg.), Sachverhalt und
[127‒129]
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| והחרישו העם ולא ענו אתו דבר Eben diese bzw. eine vergleichbare Struktur zeigen die vermeintlich irregulären Belege in Dtn 2,30 ( ;)הקשה … את רוחו ואמץ את לבבוRi 3,23 ( … ויסגר ;)בעדו ונעלRi 7,13 ( ;)ויבא עד האהל ויכהו ויפל ויהפכה … ונפל האהלRi 16,18 ( ועלו … ;)אליה … ויעלו1 Sam 3,12f. (… ;)… את כל אשר דברתי אל ביתו … והגדתי לו 2 Sam 13,18 ( ;)ויצא אותה … ונעל הדלת אחריה1 Kön 3,11 ( יען אשר שאלת … ולא … ;)שאלת … ושאלת לך1 Kön 20,27 ( ;)ובני ישראל התפקדו וכלכלו1 Kön 20,33a( ;)והאנשים ינחשו … ויחלטוJes 1,2 ()בנים גדלתי ורוממתי. Auf dieser Linie findet denn auch der klassische Problemfall Ri 2,1: … אעלה אתכם ממצרים ואביא אתכם אל הארץ אשרeine Erklärung: Die Heraufführung97 aus Ägypten und die Hineinführung in das Land sind hier rückblickend in der Perspektive des Führungs- מלאךals zwei Aspekte des einen heilsgeschichtlichen Handelns gezeichnet. Sprachlich wird dies durch die Zeitstruktur unterstrichen: „Als/indem ich euch aus Ägypten heraufführte, brachte ich euch in das Land …“ 127‒129 Die Möglichkeit einer Bezeichnung der relativen Gleichzeitigkeit mit Hilfe des imperfektiven Inversionspaares und die Gleichzeitigkeit als temporales Korrelat einer „mehrfachen“, (partiell) synonymen Darstellung des gleichen Sachverhalts dürften darüber hinaus den m.W. bislang noch kaum erkannten Schlüssel 98 für ein rekurrentes Problem des Tempusgebrauchs in der althebräischen Poesie bilden: für die recht häufige und scheinbar will kürliche Variation zwischen perfektiven und imperfektiven Tempusformen innerhalb eines poetischen Verses mit synonymem/antithetischem Parallelismus membrorum. Der Befund kann an dieser Stelle nur angezeigt werden. Als Beispiele mögen – vorläufig und ohne weitere Kommentierung – einige einschlägige Verse aus | Ex 15 dienen: V. 5 ()יכסימו – יָרדו, 15f.a(ידמו/תפל עליהם אימתה/נמגו/יאחזמו רעד/)נבהלו,a17aa() תבאמו ותטעמו [= וַת׳] בהר נחלתך.
Zeitbezug. Semitistische und alttestamentliche Studien. FS Adolf Denz (Jenaer Beiträge zum Vorderen Orient 4), Wiesbaden 2001, 21–34, darin 26ff., führt eine stattliche Reihe von Belegen mit we=qaṭal neben qaṭal oder wayyiqṭol aus poetischen Texten auf, in denen „ein Sachverhalt mit zwei Verben dargestellt wird oder zwei Sachverhalte in Relation zueinander gleichzeitig sind“ (a.a.O., 26). Dabei handelt es sich exakt um den hier beschriebenen elementaren Gebrauch des imperfektiven Aspekts. Bombecks eigene Interpretation, wonach „im biblischen Hebräisch w-Perf. außerhalb der Zukunft einen ,Un-Progreß‘ oder Stillstand bezeichn(e)“ (a.a.O., 29), hat u.a. die Befunde gegen sich, dass (a) we=qaṭal auch vor der korrelierten Sachverhaltsaussage stehen kann und (b) yiqṭol im gleichen Sinne gebraucht wird. 97 Nicht die „Herausführung“! D.h., das in Ägypten beginnende Gotteshandeln ist aus der Perspektive der (erfolgten) Landnahme heraus dargestellt. 98 Vgl. aber schon die Überlegungen bei M. W EIPPERT, Der „Bileam“-Text von Tell Dēr ʻAllā und das Alte Testament, in: DERS., Jahwe und die anderen Götter (Anm. 89), 163–188 (= The Balaam Text from Deir ʻAllā and the Study of the Old Testament, in: J. HOFTIJZER / G. VAN DER KOOIJ [Hg.], The Balaam Text from Deir Alla Re-evaluated, Leiden u.a. 1991, 151–184), darin 182 (= 173–174), zu Kombination I, Z. 7ff. (allerdings teile ich nicht seine Auffassung der dortigen AK-Formen im Sinne eines „Perfectum propheticum“).
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Das althebräische Verbalsystem
[129–130]
Ebenfalls auf ein gemeinsames Muster von Redundanz, wenn auch deutlich anderer Art, führen Belege wie die folgenden aus narrativen Kontexten: 2 Kön 8,29 = 9,15
Gen 28,6
1 Sam 1,12
1 Sam 25,20
יֹורם הַ מֶ לְֶך ָ ַויָׁשָ ב לְ הִ ְת ַרפֵא בְ יִ ז ְְרעֶאל ִמן־הַ מַ כִ ים אֲׁשֶ ר ַיכֻהּו א ֲַר ִמים בָ ָרמָ ה בְ הִ ָלחֲמֹו אֶ ת־ ֲחזָהאֵ ל מֶ לְֶך אֲ ָרם
… ַו י ְַר א ֵעׂשָ ו כִ י־ ֵב ַר ְך ִיצְ ָח ק אֶ ת־ ַיעֲ ֹק ב וְ ִׁשלַח אֹ תֹו ַפדֶ נָה ֲא ָר ם לָקַ ַחת־לֹו מִ שָ ם ִאשָ ה בְ ָב רֲ כֹו אֹ תֹו … ֹו וְ הָ יָה כִ י הִ ְר בְ תָ ה לְ הִ ְת ַפלֵל ִל פְ נֵי ְיהוָה וְ עֵלִ י ׁשֹ מֵ ר אֶ ת־פִ יהָ ׃ וְ הָ יָה הִ יא ֹר ֶכ ֶבת ַעל־הַ חֲמֹור וְ ֹי ֶרדֶ ת בְ סֵ תֶ ר הָ ָה ר וְ הִ נֵה דָ וִ ד ַו ֲא נָׁשָ יו יֹ ְר ִד ים לִ קְ ָראתָ ּה … ּה
2 Sam 6,16
וְ הָ יָה ֲא רֹון ְיהוָה בָ א עִ יר דָ וִ ד ּומ י ַכ ל בַ ת־ׁשָ אּול ִנ ְׁשקְ ָפה בְ ַעד הַ חַ לֹון וַתֵ ֶר א אֶ ת־ ַה מֶ לְֶך דָ וִ ד … ד ִ
2 Sam 16,5
חּור ים ִ ַּו ָב א הַ מֶ לְֶך דָ וִ ד ַעד־ב וְ הִ נֵה ִמשָ ם ִא יׁש יֹוצֵ א ִמ ִמ ְׁש ַפ חַ ת ֵב ית־ׁשָ אּול … ל
Jer 37,11–12
וְ הָ יָה בְ ֵה ָע לֹות חֵ יל הַ ַכ ְׂשדִ ים מֵ ַע ל ְירּוׁשָ ָל ִם ִמפְ נֵי חֵ יל פ ְַרעֹ ה׃ ַויֵצֵ א ְיִר ְמיָהּו ִמירּוׁשָ ַל ִם …׃
Den Belegen in 2 Kön 8,29 // 9,15 und Gen 28,6 ist gemeinsam, dass der in dem betreffenden Satz berichtete Sachverhalt mittels der Infinitivkonstruktion als gleichzeitig mit einer anderen Handlung des Protagonisten (Kämpfen/Segnen) dargestellt wird. Zugleich aber ist der berichtete Hauptsachverhalt in einer imperfektiven Verbform formuliert. Da ein Iterativ in Gen 28,6 ausgeschlossen ist und in 2 Kön 8,29 konstruiert wäre, bleibt nur der imperfektive Aspekt zur Kennzeichnung von Gleichzeitigkeit. Diese wird also gleichsam doppelt zum Ausdruck gebracht: durch das Tempus und die Infinitivkonstruktion. Solche Pleonasmen sind generell nicht unbekannt, unabhängig davon, ob sie in allen Sprachkontexten als | „regelhaft“ anerkannt werden oder nicht. In der Regel und jedenfalls in den hier aufgeführten Beispielen sind sie allerdings auch nicht „obligatorisch“. 99129–130
99 Vgl. etwa im Deutschen geläufige Phrasen wie „das kleine Büchlein“. Einige Phänomene werden nur umgangssprachlich / in Dialekten akzeptiert, so z.B. doppelte Vernei nungen („er hat keinem nichts getan“). Dagegen häuft sich z.B. pleonastischer Gebrauch
[130‒131]
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Pleonasmen etwas anderer Art bieten die angeführten Samuelbelege. Hier wird die Gleichzeitigkeit diverser Sachverhalte durch Partizipialsätze im Grunde hinreichend zum Ausdruck gebracht. Dies gilt etwa für die Gleichzeitigkeit von Hannas Beten und dessen Beobachtung durch Eli in 1 Sam 1,12ff. Der imperfektive „Tempusmarker“ והיהsignalisiert nun aber „zusätzlich“ die Gleichzeitigkeit der folgenden Sachverhalte. Sprachlich wäre freilich ein ויהיnicht weniger akzeptabel, ja es scheint zumindest in der überlieferten Textgestalt des Alten Testaments im Allgemeinen präferiert worden zu sein.100 Im Grundsatz ist die Alternative vergleichbar mit der Einleitung einer erzählenden Iterativreihe durch ויהיoder ( והיהbeides ist belegt).101 Das Ganze stellt zudem kein spezifisches „Problem“ | der Tempusmarker dar, wie 2 Sam 16,5 zeigt: Zwar hätte der והנה+ Partizip-Satz zur Darstellung der relativen Gleichzeitigkeit gereicht, die imperfektive Einleitung des vorausgehenden Verbalsatzes mit we=qaṭal scheint aber noch einmal einen besonderen Akzent zu setzen („eben als …“). 130‒131 Eine wiederum anders nuancierte Struktur zeigen Belege wie Jer 37,11f.; 1 Sam 10,9;102 17,48; 1 Kön 3,11; Am 7,2, insofern der Tempusmarker hier nicht, wie sonst anzunehmen, die Deixis des folgenden Verbalsatzes vorwegnehmend signalisiert, sondern sich (verstärkend) auf die zeitliche Zuordnung der vorangestellten Zeit- oder Umstandsangabe bezieht.
des Konjunktivs bis in öffentliche Nachrichtensendungen („laut Erklärung des Wirtschaftsministers plane das Ministerium keine Aktionen“; „die Meldung sei angeblich falsch“ u.Ä.m.). 100 Wie einige Doppelüberlieferungen zeigen, ist auch hier freilich mit der Möglichkeit von „Glättungen“ in der Textüberlieferung zu rechnen. 101 H.-J. STIPP, w· =hayā für nichtiterative Vergangenheit? Zu syntaktischen Modernisierungen im masoretischen Jeremiabuch, in: W. GROSS u.a. (Hg.), Text, Methode und Grammatik. FS Wolfgang Richter, St. Ottilien 1991, 521–547, diskutiert unter anderem die hier als Ausdruck der relativen Gleichzeitigkeit interpretierten Vorkommen von we=haya, schließt aber eine solche Deutung dezidiert aus (a.a.O., 538) und rechnet mit einem nach althebräischen Sprachgebrauch später Schreiber. Nun will Letzteres schon deshalb nicht recht einleuchten, weil die Vorkommen von we=haya in späten Prosawerken wie Chr, EsrNeh buchstäblich an einer Hand abzuzählen sind (aber alle „regelhaft“) und in Est bzw. Dan völlig fehlen. Noch späterer mittelhebräischer/rabbinischer Sprachgebrauch ist erst recht nicht anzunehmen, weil es in diesen Sprachstadien die syntaktische Figur der mit היה vorangestellten Zeit- und Umstandsangaben gar nicht gibt. Allein schon auf Grund der schieren Masse gehören die ויהי-Vorkommen zu den auch bei späten Schreibern stabilsten Elementen. Von daher ist eher anzunehmen, dass manches ältere והיהunter der Hand in ויהי „korrigiert“ worden ist. Sachlich bleibt damit Stipps Hinweis auf Parallelbelege, in denen Sachverhalte mit Gleichzeitigkeitsverhältnissen nicht mit we=qaṭal bezeichnet würden (ebd.). Allerdings trifft bereits die Präsupposition dieses Argu mentes nicht zu: Für althebräische Sprecher/Schreiber besteht in solchen Dingen kein Bezeichnungszwang; s. oben 177 und bei Anm. 85. 102 In V. 5 markiert w[a]yhy umgekehrt die relative Vorzeitigkeit.
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[131–132]
Als letztes Beispiel dieses Gebrauchs der Imperfektiv-Formen soll in diesem Rahmen noch auf das Muster der „damals-Aussagen“ hingewiesen werden.103 Wohlvertraut ist der Gebrauch von yiqṭol (PKLF) nach אזwie in Ex 15,1: … אז ישיר משה ובני ישראל. Analog zur soeben thematisierten relativen Gleichzeitigkeit von Sachverhalten geht es hier um den Bezug der Deixis vom Sachverhalt auf die Erzähler-/Leser-Origo, die fiktiv mit einem in der erzählten Welt gesetzten oder benannten Zeitpunkt oder (vagen) Zeitraum zusammenfällt. Die Markierung dieses Zeitpunkts ist freilich auch schon lexematisch mit אזbezeichnet. Insofern stellt der „zusätzliche“ Gebrauch des Imperfektivs wiederum einen Pleonasmus dar, der denn auch unterbleiben kann.104 Von größerem Interesse | ist aber die Beobachtung, dass die Bezeichnung dieser temporalen Zuordnung ihrerseits nicht an das eine Lexem אזgebunden ist. Eine lexematische Alternative bildet etwa ביום ההוא, wobei in diesem Falle sowohl ein Gebrauch von yiqṭol als auch von we=qaṭal denkbar ist. Letzteres ist denn auch deutlich belegt in 1 Kön 13,3 ([ ונתן ביום ההוא ) מופת [= אז יתן מופת, im Sinne des Ersteren lässt sich möglicherweise 2 Sam 23,10 (… )ביום ההוא והעם ישובו אחריו אך לפשטerklären. Ebenfalls deutlich gegeben erscheint mir dieser Zusammenhang in 2 Sam 23,20 ( והוא ירד והכה )את האריה בתוך הבאר ביום השלגoder auch in Hi 3,3 ()יאבד יום אולד בו. Nahe liegend, aber hier nicht weiter zu diskutieren ist die Frage, ob eine solche „damals-Deixis“ auch ohne lexematische Stütze, allein aufgrund eines signifikanten Tempusgebrauchs möglich war. Systemisch wäre dergleichen ohne weiteres denkbar; 105 ob es sich bei einer historischen Sprache im Einzelfall methodisch kontrollierbar behaupten lässt, ist eine andere Frage. 131–132
103 Sachlich gehören hierher ebenso die „noch nicht“- bzw. „bevor“-Sachverhalte (טרם2 )בטרם, die Althebräisch gern mit Imperfektiv formuliert werden – zum Ausdruck der Gleichzeitigkeit des (noch) Nicht-Bestehens eines Sachverhaltes mit der Haupthandlung; vgl. beispielsweise Gen 2,5–7. 104 Gen 4,26; 49,4; Ex 4,26; 2 Sam 21,17 etc. Insgesamt zähle ich 31 Belege mit am Konsonantentext erkennbarer Afformativkonjugation. Elementar verkannt werden die vorausgesetzten temporalen Strukturen, wenn diese Belege als Beweis dafür herhalten sollen, dass PKLF bei „ אזfür abgeschlossene Handlungen der Vergangenheit“ stünde (so A. SCHÜLE, Deutung und Neugestaltung. Althebräische Grammatik in alttestamentlichen Texten, ZDPV 116 [2000] 14–25, darin 21). Noch gewagter erscheint der Vorschlag bei TROPPER, Aspektsystem (Anm. 40), 171f., die acht Langformbelege (darunter fünf III -heh) aufgrund einer defektiven Hifʻil-Form (1 Kön 8,1), die von den Masoreten als Kurzform gedeutet wurde, als „eigentliche“ Kurzformen zu interpretieren. 105 Immerhin könnte sich damit eine stimmige Lösung für Belege wie Gen 15,6 ergeben.
[132‒134]
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2.2.3 Ein letzter besonderer Verwendungsbereich der „Imperfektiv“-Formen, der an dieser Stelle im Sinne einer gewissen Komplettierung noch anzuführen ist, betrifft ihren modalen Gebrauch in drei hauptsächlichen 106 Ausprägungen: (a) als Weiterführung des volitiven Modus, (b) in situationsunabhängig gültigen Präskriptionen (Rechtssätzen, | Geboten etc.), (c) zum Ausdruck des Modus der Möglichkeit/Notwendigkeit. 132‒134 Zu (a): Die überaus häufige Fortführung des Volitivs, insbesondere des Imperativs, durch we=qaṭal braucht hier nicht belegt zu werden. Das Material hat zuletzt Johannes F. Diehl zusammengestellt. 107 Für unseren Zusammenhang mag auch die Diehl besonders interessierende Frage offen bleiben, ob die Fortführung eines Imperativs durch weitere Imperative oder durch we=qaṭal-Formen nicht nur mit Fragen des Nachdrucks oder der Stilistik, sondern mit weitergehenden semantischen Aspekten zusammenhängt.108 Wesentlich für die hier vorgelegte Hypothese ist hingegen, (a) dass die Semantik des Volitivs durch eine entsprechende Modusform (in „Erstsetzung“) explizit angezeigt sein muss und durch die Imperfektiv-Formen in der Tat lediglich weitergeführt wird und (b) dass auch für diese „abgeleitete“ Bedeutung die syntaktische Inversionsregel (we=qaṭal vs. we=x-yiqṭol) gilt. Beispielhaft seien hier 1 Kön 3,27 a(;)תנו לה את הילד החי והמת לא תמיתהוa1 Kön 18,25 ()וקראו בשם אלהיכם ואש לא תשימו109 oder (mit dem | Inversionspaar)
106 Daneben wäre insbesondere noch der Gebrauch von Imperfektiv-Formen für eine strenge Anweisung, die keinen Widerspruch erlaubt, zu nennen (z.B. Ex 1,22 und die meisten der in J OÜON [/MURAOKA], Grammar [Anm. 18], § 113m aufgeführten Belege); vgl. auch B ARTELMUS, Einführung (Anm. 80), 84, der hier (mit anderen) vom „Injunktiv“ als affirmativem Gegenstück zum „Prohibitiv“ spricht. Allerdings sollte man Anweisun gen, die auf die Situation des Sprechereignisses bezogen sind, und solche von genereller Gültigkeit noetisch noch einmal unterscheiden. 107 D IEHL, Fortführung (Anm. 34), 223ff. 108 Nicht verhehlen möchte ich jedoch, dass mich die These: „Ein perf consec nach einem imp ist diesem immer untergeordnet und trägt im Gegensatz zu reinen Imperativketten nicht den Ton der Satzkette“ (DIEHL, a.a.O., 234, i.O. kursiv), in dieser Generalisierung nicht überzeugt. Weder vermag ich nachzuvollziehen, dass bei … לך ואמרתim Unterschied zu … לך ואמרnicht der Redeauftrag, sondern der Auftrag zu gehen im Vordergrund stünde (vgl. a.a.O., 267ff.), noch erscheint mir im Falle vergleichbarer Formulierungen wie Jos 24,14 und 1 Sam 12,24; Jer 36,2 und 36,28; Jer 29,5 und 1 Kön 2,36; Jer 13,6 und Ri 4,6 (a.a.O., 235ff.) jeweils evident, dass die als we=qaṭal formulierte Aufforderung nicht den Ton trage. 109 Dieser überaus breit belegbare Sprachgebrauch einer Fortführung von Modusfor men durch beide Alloformen hat im Übrigen auch Bedeutung im Blick auf die jüngst von E. QIMRON, ה צעה חדשה לפירוש צורות העתיד בעברית הקדומה, Lešonenu 61 (1998) 31–43, skizzierte Erklärung des althebräischen Verbalsystems. Qimron vertritt – inspiriert durch den Befund im Qumran-Hebräisch – die These, dass sich der Gebrauch der diversen PKFormen allein nach der Stellung im Satz richte. Demnach stünden PKKF und PKEF grundsätzlich am Beginn des Satzes, die „vollen“ PK-Formen (nicht-apokopiert und nicht-er-
188
Das althebräische Verbalsystem
[134‒135]
1 Sam 15,3 ( )עתה לך והכיתה את עמלק והחרמתם את כל אשר לו ולא תחמל עליוgenannt.110 Hinsichtlich des Folgekontextes von Volitiv-Formen ist immer wieder die Auffälligkeit notiert worden, dass bei verneinten Weiterführungen (häufig mit einer „finalen“ Logik) die „eigentlich“ zu erwartende Formulierung mit ואל+ PKKF/PKEF nur sehr selten gebraucht wird. An ihre Stelle tritt dagegen üblicherweise ולא+ PK-Langform, also die formale Kategorie des Imperfektivs, 111 wie beispielsweise in Gen 42,2: רדו שמה ושברו לנו משם ונחיה ולא נמות. M.E. hat sich hierbei der „absolute“ Gebrauch von ולאim Sinne von „wenn nicht, es sei denn“ (vgl. Ex 3,19; 2 Sam 13,26; 2 Kön 5,17) 112 idiomatisch dergestalt durchgesetzt, dass ולאnach Art einer Konjunktion (analog zu )פן113 mit der Bedeutung „damit nicht/ sonst“ gebraucht wird. 134‒135
Zu (b): Eine genuine auslösend-modale Bedeutung des imperfektiven Inversionspaares stellt demgegenüber die generell gültige Präskription dar. Dazu gehören zum einen allgemeingültige Gebote bzw. Verbote (Prohibitive), zum anderen kasuistische Rechtsbestimmungen. Beide sind nicht nur im Überfluss belegt, auch die Äquivalenz von yiqṭol und we=qaṭal dürfte hier nicht infrage stehen. Die einzigen „Problemkinder“ bilden vielmehr umgekehrt die wenigen mit volitivem Modus | formulierten Belege wie Ex 23,1b. 7b, die sich vermutlich der Absicht einer gesteigerten paränetisch-rhetorischen Wirkung verdanken. Zu (c): Abgesehen von den Modi der „auslösenden“ Rede werden der Präformativkonjugation (yiqṭol) in den Grammatiken noch weitere modale Bedeutungsnuancen („können, dürfen, müssen, wollen“) zugeschrieben. 114 Davon lässt sich zumindest eine Stellungnahme zur Möglichkeit, genauer zum Vermögen von Akteuren, eine Handlung durchzuführen, als eine potentielle Bedeutung der Imperfektiv-Formen nachweisen. Für einen solchen weitert) dagegen grundsätzlich an nicht-erster Stelle. Tatsächlich ist insgesamt eine Tendenz erkennbar, explizite Moduskategorien an Text- und Satzanfänge zu setzen (so auch GROSS, Diskussion [Anm. 87], 62). Dies ergibt sich jedoch aus der kommunikativen Logik solcher Äußerungen und lässt sich nicht zu einer syntaktischen Regel verallgemeinern: Unter der Voraussetzung einer Rhematisierung anderer Aussagekomponenten können Modusformen ohne Weiteres „nachgestellt“ werden (Gen 1,22; 44,33 [Jussiv]; Gen 6,21; 8,17; 14,21; 18,6; 19,7 etc. [Imperativ]; Gen 22,5; Num 20,13; Ri 5,3; Mi 1,8; Hab 2,1 etc. [Kohortativ]). Im Übrigen stützt sich Qimron überwiegend auf (häufig junge) poetische Belege, ohne dabei mögliche mit der Stilfigur des Parallelismus membrorum verbundene Konventionen zu berücksichtigen. 110 Diese und weitere Belege bei D IEHL, Fortführung (Anm. 34), 309ff. 111 DRIVER , Treatise (Anm. 18), 67; GK § 109 g; J OÜON (/ MURAOKA), Grammar (Anm. 18), § 116j; zuletzt DIEHL, Fortführung (Anm. 34), 306ff. 112 Dazu zuletzt Ges 18, s.v. לא2 לֹואund להa4., 588. 113 Zu פןund ( ולאnicht nur nach Modus) vgl. S.E. FASSBERG, ֶפ ן ִי קְ ֹט לand וְ לא ִי קְ ֹט לin Biblical Hebrew (hebr.), in: M. GOSHEN-GOTTSTEIN et al. (Hg.), שי לחיים רבין. Studies on Hebrew and Other Semitic Languages. FS Chaim Rabin, Jerusalem 1990, 273–294. 114 Vgl. u.a. J OÜON (/ M URAOKA), Grammar (Anm. 18), § 113lm.
[135‒136]
189
Das althebräische Verbalsystem
Nachweis ist es erforderlich, dass der betreffende Beleg (1.) in einen Perfektiv-Kontext (im Deutschen: Vergangenheitskontext) integriert, (2.) weder als Iterativ noch als Bezeichnung der relativen Gleichzeitigkeit plausibilisierbar ist und (3.) sich auf einen Sachverhalt bezieht, dessen Möglichkeit auf Grund des Sachzusammenhangs infrage steht. In den althebräischen Belegen geht es dabei zumeist um das Nicht-Vermögen etwas zu tun. Aus diesem Grunde überwiegen hier deutlich die yiqṭol-Beispiele. Zu den Belegen gehören:
ימנו מרב 1 Kön 8,5 („man konnte sie nicht zählen und messen vor Menge“) 1 Kön 8,8 („man konnte sie von außen nicht sehen“)
לא יספרו ולא
ולא יראו החוצה
יאמר … ר Gen 43,7 („konnten wir denn wissen, dass er sagen würde …?)
הידוע נדע כי
הכזונה יעשה את אחותנו Gen 34,31 („konnte/durfte er unsere Schwester wie zu einer Hure machen?“) Eventuell sind hier auch 1 Sam 1,7b ( )ולא תאכלund 1,13 ( )וקולה לא ישמעeinzuordnen.115 | 135‒136 Gleichsam auf der Hand liegt diese Bedeutung aber in mehreren Imperfektiv-Vorkommen des Lexems יכל: Gen 48,10; 1 Sam 3,2 (;)לא יוכל לראות Jer 44,22 ( ;)לא יוכלEz 47,5 ( )לא אוכלund mit we=qaṭal: Jer 38,22 ( הסיתוך – )ויָכלו לךein Befund, der die Reihe der im Althebräischen beliebten Pleonasmen116 noch einmal verlängert.
IV Eine wesentliche Konsequenz der vorgestellten Erklärungshypothese besteht darin, dass das althebräische Verbalsystem in seiner Syntax (Stellungsregeln) und vor allem in seiner Semantik, d.h. hinsichtlich der Tempora (perfektiver // imperfektiver Aspekt; in bestimmten syntaktischen Gefügen: relative Vorzeitigkeit // Gleichzeitigkeit), der Aktionsarten (Semelfaktiv // IterativFrequentativ) und der verschiedenen Modi (Volitiv, situationsunabhängige Bestimmung, Möglichkeit) eine hohe Bestimmtheit der Ausdruckskategorien ermöglicht. Entscheidend erscheinen hier drei Teilaspekte: 115 Noch einmal eine andere modale Nuance scheint 2 Sam 3,33b ( ) הכמות נבל ימות אבנר nahezulegen („Durfte/musste [?] Abner wie ein Tor sterben?“). 116 Siehe oben 184f.
190
Das althebräische Verbalsystem
[136‒137]
1) Die Äquivalenz der beiden (temporalen) Inversionspaare und deren systemische Verbindung mit dem Modus schließen sowohl ein „kopulatives Perfekt“ (we=qaṭal mit perfektiver Bedeutung) als auch ein „kopulatives Imperfekt“ (we=yiqṭol mit indikativischer Bedeutung) aus und vereindeutigen damit entscheidend die temporale Semantik. 2) Die Suppletiv-Struktur des Modus-Paradigmas garantiert die eindeutige Bezeichnung des Modus in der (besonders wichtigen) 2. Person und – für nicht-suffigierte Vorkommen – in der 1. Person. 3) Die Mehrzahl der ansonsten morphologisch nicht erkennbaren Modusformen (suffigierte Vorkommen der 1. und 3. Person, alle Pluralformen der 3. Person etc.) ist darüber hinaus aufgrund der Festlegung aller we=yiqṭolFormen auf eine volitiv-modale Bedeutung eindeutig identifizierbar. In der Praxis (sozusagen auf parole-Ebene) kommt noch | hinzu, dass formal nicht erkennbare Modusvorkommen zumeist durch syndetische Formen weitergeführt und damit kontextuell determiniert werden (Ex 35,10; Num 6,24 etc.). 136‒137 Aufs Ganze gesehen bewirken somit die „Verdoppelung“ der Aspekt-Bezeichnungskategorien in den beiden Inversionspaaren und die suppletorische Struktur des Modus-Paradigmas eine eminente Stabilisierung des Gesamtsystems, insbesondere im Blick auf die Unterscheidung von Indikativ und Volitiv. Mit dieser Beobachtung ist auch bereits die Antwort auf die am Ende von Abschnitt I aufgeworfenen „Plausibilitätsfragen“ (1) bis (3) vorgezeichnet: Sowohl die formale Redundanz der Inversionspaare als auch die des suppletorischen Modus bilden die Voraussetzung für eine hinreichende Stabilität des Verbalsystems unter Bewahrung eines voll ausgebildeten und differenzierten Modus.117 In sprachgeschichtlicher Perspektive ist damit eine der denkbaren Reorganisationen des Verbalsystems nach dem Wegfall der kurzen Auslautvokale gegen Ende des 2. Jahrtausends realisiert. Solange die Unterscheidung von PK-Langform und PK-Kurzform (yaqṭulu vs. yaqṭul) bzw. einer modalen Form (yaqṭula) durchgängig gegeben war, hatte für die Einbeziehung des wa= als Tempusmorphem kein Grund bestanden. Nach Abfall der kurzen, drucklosen Auslautvokale boten sich dagegen zwei Entwicklungsmöglich keiten. Die eine (a) bestand in einer zunehmenden Reduktion bzw. dem Verschwinden der PK-Kurzformen als systemisch eingebundener Bezeichnungskategorien (so schon früh im Aramäischen Nordsyriens, später allgemein im Aramäischen) mit der Konsequenz einer auch formal binären Struktur der Tempuskategorien (eventuell erweiterbar durch das Partizip) und eines deutlich reduzierten Modusparadigmas (Imperativ sowie nicht-suffigierter Jussiv sg. f./pl.). Die andere Möglichkeit (b) bestand in der Entwicklung des hier für das Althebräische 117 Hinzu kommen sprachliche Profilierungsmöglichkeiten (Thema – Rhema; Ausdruck der Vorzeitigkeit; Vordergrund – Hintergrund), die sich besonders der formalen Redundanz der Inversionspaare bedienen können.
[137‒139]
Das althebräische Verbalsystem
191
beschriebenen formal redundanten Systems mit zwei temporalen Inversionspaaren und einem Suppletivparadigma im Modus (so in südaramäischen und südkanaanäischen Sprachen wie dem Israelitischen, Judäischen, Moabitischen etc.). Für die Heraus |bildung von System (b) war zum Einen die systemische Generalisierung von parole-Phänomenen, die bereits im älteren Kanaanäisch dominant gewesen sein dürften (die Verbindung von yáqṭul mit dem koordinierenden wa=; Imperativ als Modus der 2. Person, „Kohortativ“ in 1. Person), erforderlich, zum Anderen die Bildung einer zusätzlichen Systemstelle (*waqaṭal) in Analogie zu dem als Morphembündel stabilisierten *wayíqṭol (PKKF). 137‒139
Unter derartigen synchronen und diachronen Voraussetzungen dürfte sich nun freilich die vierte Plausibilitätsfrage 118 mit besonderem Nachdruck aufdrängen: Muss die These einer konsequenten und eindeutigen Unterscheidung von indikativischen und (im engeren Sinne) volitiven Kategorien nicht in sich zusammenfallen, wenn eine formale Differenzierung zwischen sog. Waw copulativum und Waw consecutivum sprachgeschichtlich für die alttestamentliche Zeit noch gar nicht anzunehmen ist, wie in der Regel 119 (und wohl mit Recht) angenommen wird? Das Gegenteil ist m.E. der Fall. Gerade unter der Voraussetzung eines formal nicht differenzierten *wayiqṭol bewährt sich die angenommene Systematik: Ein Ausdruck wie ויכתבוkann darin entweder „und sie schrieben“ oder „und sie sollen schreiben / auf dass sie schreiben“ bezeichnen. Mit anderen Worten, die gleiche morphologische Bildung steht für die beiden am weitesten auseinander liegenden Bedeutungen des Verbalsystems: perfektiver Aspekt (Betrachtung des Sachverhalts als abgeschlossen) bzw. volitiver Modus (Auslösung des Sachverhalts). Innerhalb einer sprachlichen Kommunikation, d.h. in kontextueller Verwendung, wird dieser Unterschied in aller Regel „selbstevident“ erscheinen. Eben diese semantische Eindeutigkeit wäre dagegen mit einer weiteren Systemkategorie „kopulatives wa=Imperfekt“ nicht mehr gegeben (Analoges gilt für ein „kopulatives wa=Perfekt“). | Diese innere Konsistenz des althebräischen Verbalsystems kommt nicht zuletzt auch nachgeborenen Lesern zugute. Als Probe aufs Exempel mag es sich anbieten, sowohl die Deutungsvorschläge zu epigraphischen Zeugnissen als auch die Übersetzungen mancher biblischer Texte einer entsprechenden Prüfung zu unterziehen. 139
118 119
Siehe oben 161. Vgl. zuletzt H.-P. MÜLLER , wa-, ha- und das Imperfectum consecutivum, ZAH 4 (1991) 144–160. Anders offenbar MURAOKA, Again (Anm. 89), 76f.
192
Das althebräische Verbalsystem
[140–141]
Tabelle 1: (Finite) Ausdruckskategorien des Verbalsystems 140–141
AK PKKF PKLF PKEF
= = = =
Afformativkonjugation Kurzform der Präformativkonjugation (morphologisch eingeschränkt erkennbar) Langform der Präformativkonjugation (dito) „Erweiterte“ Form der Präformativkonjugation
A „Tempora“ (a) I
(b) e
˅
([w +] X+) AK
wa=PKKF
e
([w =] X) - qāṭal ([we=] X) - gālā II
wayyiqṭol wayyíg(æ)l
([we +] X+) PKLF
„P ERFEKTIV “
we=AK
˅
([we=] X) - yiqṭol ([we=] X) - yiglæ
we=qāṭal we=gālā
„IMPERFEKTIV “ |
B Modus (Volitiv) Position
Negation
1. Person (sg./pl.)
(w e=) PKEF (we=) ʼeqṭelā
„Kohortativ“
ʼal + PKEF ʼal ʼeqṭ elā
2. Person (sg./pl., m./f.)
(w e=) Imperativ (we=) q eṭol
„Imperativ“
ʼal + PKKF ʼal tiqṭol / tígœl
3. Person (sg./pl., m./f.)
(w e=) PKKF (we=) yiqṭol / yígœl
„Jussiv“
ʼal + PKKF ʼal yiqṭol / yígœl
Modus-Modifikation 1
3. Pers.
Modus-Modifikation 3
(w e=) Kohortativ + nāʼ (we=) ʼeqṭ elā-(n)nāʼ
1. Pers. 2. Pers.
Modus-Modifikation 2
(w e=) Imperativ=ā (m.sg.) (we=) qŏṭlā
(w e=) Imperativ + nāʼ (we=) q eṭol-nāʼ
(w e=) Imperativ=ā + nāʼ (m.sg.) (we=) qŏṭlā-(n)nāʼ
(w e=) PKEF (m./f. sg.) (we=) yiqṭelā / *yiglā
(w e=) Jussiv + nāʼ
< (we=) PKEF + nāʼ? >
(we=) yiqṭol-nāʼ
[142]
193
Das althebräische Verbalsystem
142
Tabelle 2: Hauptbedeutungen der finiten Tempuskategorien (A)
Ausdruckskategorien Semantische Kategorien Temporale Deixis (vorgangsbezogen) relatives Tempus:
AI „Perfektiv“
A II „Imperfektiv“
Perfektiver Aspekt
Imperfektiver Aspekt
relative Vorzeitigkeit
relative Gleichzeitigkeit (/Nachzeitigkeit)
Phasenaktionsart (bei fientisch-stativischen Verben:)
u.a. resultativ (wurde groß / war groß / ist groß)
Aktionsarten der Vorgangsquantität zählbar:
< Semelfaktiv >
Iterativ / Habitativ
Erfahrungsaussage, gnomisch messbar: Modi
selbstständig:
< Punktualis >
< Punktualis >
Indikativ
Indikativ
Irrealis (der Vgh / Ggw [?]) Können / Vermögen Injunktiv / Prohibitiv Rechtsbestimmungen … unselbstständig:
… Fortführung des Volitiv
194
Das althebräische Verbalsystem
[142]
Volk oder Kultgemeinde? Zum Bild des nachexilischen Judentums in der alttestamentlichen Wissenschaft 1 Im Jahre 1893 konstituierte sich in Berlin der „Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens e.V.“, der sich vor allem der Bekämpfung des Antisemitismus widmen sollte. In seinem Programm heißt es u.a.: „Wir deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens stehen fest auf dem Boden der deutschen Nationalität. Unsere Gemeinschaft mit den Juden anderer Länder ist keine andere als die Gemeinschaft der Katholiken und Protestanten Deutschlands mit den Katholiken und Protestanten anderer Länder …“2 Vier Jahre später (1897) trat in Basel der erste Zionistische Kongress zusammen, auf dem die „Schaffung einer öffentlich-rechtlichen Heimstätte in Palästina“ „für das jüdische Volk“ gefordert wurde. Als ein politisches Ziel wurde hier formuliert: „Die Stärkung des jüdischen Volksgefühls und Volksbewußtseins.“ Beide, der Central-Verein und die Zionistische Organisation, hatten natürlich ihre Vorgeschichte, die weit in den Anfang des 19. Jahrhunderts zurückreicht. Es erscheint nun nicht ohne Bedeutung, dass zu eben dieser Zeit, als innerhalb der Judenheit derart kontrovers darum gerungen wurde, was es eigentlich bedeute, Jude zu sein, protestantische Bibelwissenschaftler in Deutschland damit beschäftigt waren, die Anfänge des Judentums (damit auch seine Identität) historisch neu zu bestimmen.24–25 Die fachinterne Debatte, die in besonderer Weise mit dem Namen Julius Wellhausen verbunden war und ist, betraf literargeschichtlich vor allem die Datierung der sog. „Priesterschrift“, einer Überlieferungsschicht im Pentateuch (der Mose-Tora). Hatte man bis dahin in den „priesterlichen“ Texten mit dem Großteil der mosaischen Gesetze dessen ältesten Bestandteile gesehen, so erwies sich nun gerade „das Gesetz“ als die jüngste Schicht, als Produkt der Spätzeit! Doch bildete | dieser quellengeschichtliche Streit nur
1 Leicht
überarbeitete Fassung eines Vortrags, der erstmals im WS 1990/91 als Antrittsvorlesung an der Universität Augsburg gehalten wurde. Der Vortragsstil wurde im Wesentlichen beibehalten 2 Zitiert nach J. B LOCH , Das anstößige Volk. Über die weltliche Glaubensgemeinschaft der Juden, Heidelberg 1964, 21.
196
Volk oder Kultgemeinde?
[25]
eine Teilfrage in der grundsätzlichen Auseinandersetzung um ein neues Gesamtbild der Geschichte und Religion Israels. So waren es auch nicht einzelne Textanalysen, die in diesem (von konservativer Seite) heftig geführten Streit die größte Wirkung zeitigten, sondern Wellhausens glänzend geschriebenen „Prolegomena zur Geschichte Israels“ 3. Jüdische Gelehrte waren an der Diskussion allenfalls marginal beteiligt. Die gleichzeitig in Deutschland sich entwickelnde „Wissenschaft des Judentums“ konzentrierte sich statt dessen auf die historische und philologische Erforschung der nachbiblischen Überlieferung. Den Umgang protestantischer Exegeten mit der eigenen – jüdischen – Tradition verfolgte man eher aus der Distanz; z.T. aber auch mit ausdrücklicher Kritik, bis hin zum Vorwurf der vorurteilsgeleiteten Tendenzwissenschaft.4 Was machte nun das Spezifische der neuen Gesamtsicht aus? – Es ist im Kern, so meine ich, die These, das Judentum lasse sich in seiner Entstehung historisch eingrenzen und dabei zugleich von den entscheidenden Epochen der biblischen Zeit absetzen: Judentum beginnt danach nicht mit Mose, schon gar nicht mit Abraham, sondern mit dem Babylonischen Exil. Gewiss hatte man das Ende des Königreiches Juda und die Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier immer schon als tiefe geschichtliche Zäsur gesehen. Nun aber gewinnt sie eine neue Qualität: Sie wird zur Bruchstelle einer fundamentalen Diskontinuität zwischen altem „Israel“ und nachexilischem „Juda“.25 Es gab zwar zu Beginn der Perserzeit eine Art Restauration durch zurückkehrende Exulanten. Sie aber – so die klassische These – restituierten nicht etwa das vormalige Volk, sondern bildeten ein neues, weitgehend entpolitisiertes Gemeinwesen, das sich als „Jerusalemer Kultgemeinde“ um den Tempel scharte. Im Inneren war es zunehmend theokratisch, genauer „hierokratisch“, strukturiert, mit dem Hohenpriester an der Spitze. Seiner Konsti 3 4
J. WELLHAUSEN, Prolegomena zur Geschichte Israels, Berlin 1927 6 (1878). Mit einer grundsätzlichen Kritik an der quellenkritischen Pentateuchanalyse z. B. D. HOFFMANN, Die wichtigsten Instanzen gegen die Graf-Wellhausensche Hypothese I, Berlin 1904; bezogen auf die nachexilische Datierung der „Priesterschrift“ cf. die Arbeiten von J. (Y.) KAUFMANN, Probleme der israelitisch-jüdischen Religionsgeschichte, ZAW 48 (1930) 23–43, und besonders die große Geschichte der israelitischen Religion. Von den Anfängen bis zum Ende des Zweiten Tempels (hebr.), Teile 1–8 (in 4 Bd.en), Tel Aviv 1937ff. (von M. GREENBERG übersetzt und abgekürzt: The Religion of Israel, Chicago 1960); zu Kaufmann jetzt: TH.M. KRAPF, Die Priesterschrift und die vorexilische Zeit. Yehezkel Kaufmanns vernachlässigter Beitrag zur Geschichte der biblischen Religion (OBO 119), Freiburg/Schweiz u. Göttingen 1992. Der Vorwurf der theologischen Voreingenommenheit wird besonders bei B LOCH, Volk (Anm. 2), in polemischer Form vorgetragen. Neben den in mancher Hinsicht problematischen exegetischen Grundlagen hat möglicherweise gerade dieser polemische Ton die Rezeption des Buches und seines Anlie gens behindert.
[25–26]
Volk oder Kultgemeinde?
197
tution nach – und das gilt als entscheidend – bildete es eine Wahlgemeinschaft; denn letztes Kriterium der Zugehörigkeit wurde nun die „Unterwerfung“5 unter das Gesetz, das alle Lebensbereiche durchdrang, besonders seit den Reformen von Esra und Nehemia. In den Vordergrund traten dabei Dinge wie Beschneidung und Sabbathaltung, die rituelle Reinheit von Land und „Gemeinde“, und daraus abgeleitet, die bewusste Absonderung von der Umwelt. Hier findet man also die Ursprünge „des Judentums“ 6: Es erwuchs aus der Metamorphose der Reste des früheren Volkes Israel in eine konfessionelle Gemeinde. Oder in einer pointierten Formulierung Wellhausens: „Aus dem Exil kehrte nicht die Nation zurück, sondern eine religiöse Sekte.“7 In der Sicht der älteren Forschung war dies alles ein ausgesprochen | degenerativer Prozess, den sie kontrastreich auszumalen verstand. Für das positive Bild der israelitischen Frühzeit bezog man die leuchtenden Farben – darin ganz in der Tradition Johann Gottfried Herders8 und der deutschen Historiographie stehend – aus einer romantisierenden Hochschätzung des ursprünglichen, jugendlichen Volkslebens. Die Tristesse der jüdischen Spätzeit dagegen korrespondierte einer christlich-theologischen Bewertung der jüdischen Gesetzesreligion als geistloser Erstarrung. 25–26 Das Konzept der „Jerusalemer Kultgemeinde“ hat sich seither in den Hauptzügen als unangefochtenes Forschungsparadigma etabliert, innerhalb dessen die weiteren Problemstellungen und -lösungen diskutiert werden konnten. Es bestimmt die grundlegenden Arbeiten um die Jahrhundertwende ebenso wie die klassische Darstellung der Geschichte Israels in unserem Jahrhundert von Martin Noth oder auch noch das neueste Lehrbuch von einem eminenten Sachkenner wie Herbert Donner.9 Vereinzelter Widerspruch kam, wie bereits gesagt, von jüdischer Seite. Innerhalb der Disziplin wird das Paradigma erst in den letzten Jahren, wenn auch keineswegs auf breiter Front, hinterfragt. Im Folgenden werden besonders Arbeiten von Frank Crüsemann und Walter Groß zu nennen sein. Tatsächlich erweisen sich bei einer kritischen Sichtung die Grundlagen der Hy-
5 6
M. NOTH, Geschichte Israels, Göttingen 1966 6 (1950), 300f. Cf. bes. den grundlegenden Aufsatz von R. SMEND, Ueber die Genesis des Judenthums, ZAW 2 (1882) 94–151. 7 WELLHAUSEN , Prolegomena (Anm. 2), 28. 8 Zur Bedeutung Herders für Wellhausen s. besonders F. BOSCHWITZ, Julius Wellhausen. Motive und Maßstäbe seiner Geschichtsschreibung, Marburg 1938, 18ff., sowie L. PERLITT, Vatke und Wellhausen. Geschichtsphilosophische Voraussetzungen und historiographische Motive für die Darstellung der Religion und Geschichte Israels durch Wilhelm Vatke und Julius Wellhausen (BZAW 94), Berlin 1965, 211ff. 9 H. D ONNER, Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen. Teil 2 (ATD.E 4/2), Göttingen 1986, 431.438f.
198
Volk oder Kultgemeinde?
[26–27]
pothese von der Kultgemeinde als so brüchig und die Einwände als so gravierend, dass die eigentlich interessante Frage sein dürfte, wie und weshalb diese Sicht der Dinge sich in dieser Form durchsetzen und mehr als hundert Jahre Bestand haben konnte. – Aber man sollte nicht den zweiten Schritt vor dem ersten tun; deshalb werde ich zunächst (I) die wichtigsten Sacheinwände gegen die Grundhypothese skizzieren und dann (II) die forschungskritische Fragestellung wieder aufnehmen.
I Eine dreifache Gegenthese 10 soll am Anfang stehen: Entgegen der vorherrschenden Sicht war Juda in der persischen Zeit – 1. – weder entpolitisiert und ohne Autonomie noch – 2. – seiner Verfassung nach eine Theokratie noch – 3. – eine konfessionelle Gemeinde. Zum ersten: Die ältere Forschung im 19. Jahrhundert war – aus Gründen, auf die wir noch zu sprechen kommen – ganz auf den Verlust der Eigenstaatlichkeit Judas seit dem Babylonischen Exil fixiert. So wurden auch die Gegebenheiten, die ein politisches Eigenleben nach dem Exil anzeigten, als solche nur unzureichend wahrgenommen. 26–27 Strittig und bei unserer Quellenlage schwer zu entscheiden ist, seit wann Juda als eigene persische Provinz geführt wurde. Es hatte diesen Status aber spätestens seit Nehemia, möglicherweise schon früher, seit dem Ende des 6. Jahrhunderts unter Serubbabel.11 Wahrscheinlich mit Esra | wurde dem Gebiet überdies Rechtsautonomie verliehen; d.h.: Ein jüdisches Gesetzbuch, m.E. der Pentateuch, wurde von der Zentralmacht als Reichsrecht für Juda 10 Für die ersten beiden Aspekte ist durchgehend auch F. CRÜSEMANN , Israel in der Perserzeit. Eine Skizze in Auseinandersetzung mit Max Weber, in: W. SCHLUCHTER (Hg.), Max Webers Sicht des Christentums (stw 548), Frankfurt/Main 1985, 205–232, zu vergleichen. 11 Nach einer weithin rezipierten These von A. ALT (Die Rolle Samarias bei der Entstehung des Judentums [1934], in: Kleine Schriften II, München 1953, 316–337) waren Jerusalem und Juda in der persischen Verwaltung zunächst Samaria zugeordnet und wurden erst unter Nehemia zu einer eigenständigen Provinz. Unbeschadet des neueren inschriftlichen Materials, mit dem Nahman Avigad den Provinzstatus Judas schon für das 6. Jahrhundert belegen zu können glaubt (N. AVIGAD, Bullae and Seals from a Post-exilic Judean Archive [Qedem 4], Jerusalem 1976, bes. 32ff.), hat die Sicht Alts immer noch einiges für sich. Die Entscheidung hängt u.a. an strittigen Einzelfragen, wie der Bedeutung des Titels פחהbei Serubbabel (Hag 1,1.14; 2,2.21 u.ö.) oder der Deutung von Neh 5,15; aber auch an der Datierung der einschlägigen Siegel und Inschriften (dazu E. STERN, Material Culture of the Land of the Bible in the Persian Period 538 –332 B.C., London/Jerusalem 1982, 199ff.237). Zum Ganzen abwägend E. STERN, The Persian Empire and the Political and Social History of Palestine in the Persian Period, in: W.D. DAVIES u.a. (Hg.), The Cambridge History of Judaism I, Cambrigde 1984, 70–87, besonders 78ff.
[27]
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autorisiert.12 Archäologische Funde belegen lokale Münzprägungen („Jehud“Münzen) seit dem 4. Jahrhundert.13 Juda genoss somit das Maß relativer politischer Autonomie, das die persische Zentralgewalt unterworfenen Regionen einzuräumen bereit war. 14 Auch fehlte es nicht am politischen Willen, diesen Spielraum zu nutzen. So wurde unter Nehemias Führung Jerusalems Stadtmauer erneut befestigt (Neh 4), und die inneren Verhältnisse wurden konsolidiert (Neh 5ff.). Darüber kam es zum Konflikt mit Nachbarpotentaten, zu deren Abschreckung Nehemia die Bevölkerung bewaffnen musste. Darüber hinaus regten sich unter den Judäern verschiedentlich weitergehende Bestrebungen, offenbar verbunden mit Hoffnungen auf eine Wiederherstellung des Königtums (cf. Neh 6,6f.). Bei alledem war Juda – und damit kommen wir zum zweiten Punkt – im Inneren nicht theokratisch verfasst. Gewiss bildete der Tempel in Jerusalem die zentrale Institution für die Juden im Land und in der Diaspora, gewiss war der Hohepriester einer ihrer Repräsentanten. Aber den Persern verantwortlich war primär der „Statthalter“, hebr. ;פחהdie Amtsträger waren ausweislich der biblisch bzw. epigraphisch belegten Namen 15 (mit einer ungewissen Ausnahme)16 durchweg Juden, im Falle Serubbabels (welche genaue Funktion פחהin seinem Falle auch immer bezeichnen mag) sogar ein Nachkomme des alten Königshauses. Als Entscheidungsträger in rechtlichen und politischen Fragen treten daneben Repräsentanten der Laienaristokratie in Erscheinung.17 Erwägenswert ist, dass neben Vertretern der Priesterschaft ein „Ältestenrat“ als „Leitungsgremium“ stand 18 – möglicherweise ein „Vorläufer“ des späteren Synhedriums. Von einer Priesterherrschaft oder auch nur einer faktischen Dominanz der Priester in politischen Dingen kann 27
12 E. B LUM , Studien zur Komposition des Pentateuch (BZAW 189), Berlin / New York 1990, 345ff. mit Literatur. 13 STERN, Material Culture (Anm. 11), 224–227. 14 E. B ICKERMAN , From Ezra to the Last of the Maccabees. Foundations of Postbiblical Judaism, New York 1962, 13: „Like every city and nation in the Persian Empire the Jews enjoyed a more or less large autonomy …“ 15 S. die Liste in AVIGAD , Bullae (Anm. 11), 35. 16 Der in Elephantine-Papyri genannte „Bagohi/Bagoas“ (EP 30; 32, dt. Übersetzung in: K. GALLING [Hg.], Textbuch zur Geschichte Israels, Tübingen 1968 2, Nr. 51f.). Der nicht-hebräische Charakter des Namens besagt freilich wenig für die ethnische Herkunft seines Trägers, cf. z.B. „Bigwai“ in Esr 2,14 u.ö. 17 Signifikant ist insbesondere der Brief der jüdischen Diaspora-Gemeinschaft von Elephantine (EP 30 = GALLING, Textbuch [Anm. 16], Nr. 51), in dem als maßgebliche Instanzen in Juda neben Statthalter, Hohempriester (und Priesterschaft) auch „die Vornehmen der Juden“ genannt werden. 18 So zuletzt R. ALBERTZ, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit, Bd. 2 (ATD.E 8/2), Göttingen 1992, 472ff., mit Belegen und Literatur.
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aufgrund der Quellenlage jedenfalls keine Rede sein.19 Mehr noch, in der umfangreichen Literatur der persischen Zeit findet sich keine Stimme, die einer Hierokratie das Wort reden würde. 27–28 Da hilft nicht einmal ein Verweis auf die sog. „Priesterschrift“, die seit Wellhausen gern als Spiegelung oder Programm einer theokratischen Gemeinde im Medium der Ursprungsgeschichte gedeutet wird. Diese Interpretation der priesterlichen Texte im Pentateuch beruht jedoch, das hat zuletzt eine Studie von Walter Groß gezeigt,20 auf mehreren Engführungen. Wir können die Problematik hier nicht im Einzelnen ausbreiten, aber doch auf den grundlegenden Aspekt hinweisen: Entscheidend ist bereits, an welcher Stelle der priesterlichen Pentateuchkomposition man nach deren „Verfassungsideal“ für Israel sucht. Gewöhnlich konzentriert man sich dafür auf die Darstellung des Volkes am Sinai, wo in der Tat kultische Institutionen, darunter die Priesterschaft, im Zentrum stehen, politische Strukturen aber weitgehend fehlen. Übersehen wurde dabei jedoch, dass das Thema schon sehr viel | früher im Vorgriff behandelt wird, nämlich in den Verheißungen an die Erzväter. Und da, in einer Art phylogenetischem Programm, wird das künftige Israel entworfen als ein „Volk“ (hebr. )גויunter anderen Völkern mit einem eigenem Land – und eigenen „Königen“. So heißt es z.B. in einer priesterlichen Verheißung für Jakob (Gen 35,11f.): „Ein Volk ()גוי, ja eine Völkerschar21, soll aus dir entstehen. // Das Land, das ich Abraham und Isaak gegeben habe, dir werde ich es geben.“ Zwischen Mehrungs- und Landverheißung aber steht: „Könige sollen aus deinen Lenden hervorgehen.“ Entsprechendes wird Abraham in Gen 17 (V. 6.16) zugesagt. – Gewöhnlich werden diese Königsverheißungen in „P“ heruntergespielt als bloße Reminiszenz an eine große Vergangenheit. Doch würden sie nicht selbst in diesem Falle Defizite der Gegenwart in der Wahrnehmung der Adressaten anzeigen (oder evozieren)? 22 – In Wahrheit sind die Königsverheißungen nicht anders zu hören als die übrigen Zusagen an die Patriarchen. 19 Erhellend ist die differenzierte Darstellung bei J. W ELLHAUSEN , Israelitische und jüdische Geschichte, Berlin 1897 3 (1894), 181f.: Generell spricht er von „der Hierokratie“, seine eigene Darstellung der Institutionen belegt aber für persische Zeit gerade das Gegenteil. 20 W. GROß , Israels Hoffnung auf die Erneuerung des Staates, in: J. SCHREINER (Hg.), Unterwegs zur Kirche. Alttestamentliche Konzeptionen (QD 110), Freiburg/Brsg. u.a. 1987, 87–122. 21 Worauf dieser Ausdruck ( קהל גויםbzw. קהל עמיםin Gen 28,3; 48,4) konkret zielt, ist nicht leicht auszumachen. Gegenüber einer früheren tentativen Deutung auf das Neben einander von Nordisrael und Juda (E. B LUM, Die Komposition der Vätergeschichte [WMANT 57], Neukirchen-Vluyn 1984, 456f.) scheint er mir jetzt – mit GROß, Hoffnung (Anm. 20), 88ff. – eher auf die Stämme Israels (cf. Gen 48,19a) bezogen zu sein. Der Ausdruck „Menge der Völker“ (המון גוים, Gen 17,5) dürfte dagegen die verschiedenen von Abraham abstammenden Völker (Ismael, Israel, Edom usw.) im Blick haben. 22 So schon B LUM , Komposition (Anm. 21), 457f., zustimmend G ROß , a.a.O., 88.
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D.h., sie weisen über eine bloße Fehlanzeige weit hinaus, indem sie eine kommende Wirklichkeit benennen. Wir sind damit bereits bei den Eigenentwürfen des nachexilischen Juda hinsichtlich seiner sozialen, politischen sowie religiösen Verfassung und damit auch bei unserem dritten, wichtigsten Punkt. Wie steht es also mit dem Konzept der konfessionellen Gemeinschaft? Oder anders gefragt: Wodurch definiert sich ein „Judäer“ oder „Jude“? – Gerade die vermeintlich „theokratischen“ Texte sind da ganz eindeutig: durch Abstammung! Nirgendwo im Alten Testament sind Genealogien wichtiger als in späten Literaturwerken wie der Chronik und Esra-Nehemia. Sowohl Außenabgrenzung wie Binnenrelationen basieren auf Verwandtschaftsstrukturen.23 Soziale Solidarität artikuliert sich als verwandtschaftliche Solidarität; man könnte das beispielsweise an der Frage des Grundbesitzes zeigen, der in der Großfamilie bzw. im Clan vererbt wird und dessen Erhalt dem Clan ( )משפחהobliegt.24 Dieses Solidaritätsgefüge konnten sog. „Mischehen“ mit nicht-jüdischen Ehepartnern potentiell destabilisieren. Das ist ein sozialer Grund 25 für die große Bedeutung des Exogamie-Verbots in nachexilischer Zeit. 26 Gerade der Umgang mit den Mischehen ist aber, wie Frank Crüsemann bereits herausgestellt hat,27 erhellend für unsere Fragestellung: In der Esra-Überlieferung wird das Problem nicht etwa durch den Übertritt der fremden Frauen und ihrer Kinder in die „Gemeinde“ gelöst, sondern durch deren Ausschluss aus dem Volk (Esr 9f.)!28 Die umfassende verwandtschaftliche Einheit bildet das Volk. Als ein solches definiert sich das nachexilische Juda, und dies in ungebrochener Kontinuität zu Israel bzw. Juda vor dem Exil. Gegen dieses Selbstbild wird freilich verschiedentlich der Einwand erhoben – zuletzt wieder bei Herbert Donner28 –, eine derartige „Blutsgemeinschaft“ bestehe nach dem Exil allenfalls
23 Als soziale Einheiten besonders wichtig sind
Großfamilie und Sippe (Clan). Zu deren Struktur und sozial-rechtlicher Bedeutung cf. R. P ATAI, Sitte und Sippe in Bibel und Orient, Frankfurt/Main 1962, und bes. H.G. KIPPENBERG, Religion und Klassenbildung im antiken Judäa (SUNT 14), Göttingen 1982 2, 25ff. 24 Cf. u.a. K IPPENBERG, a.a.O., bes. 33ff., als Texte: Lev 25,25ff.; Jer 32,5ff.; Ruth 4. 25 So mit K IPPENBERG, a.a.O., 71. 26 Cf. z.B. Gen 24; 27,46; Ex 34,15f.; Dtn 7,3f.; Esr 9f.; Neh 10,31; 13,1ff.23ff. 27 CRÜSEMANN , Perserzeit (Anm. 10), 209f. 28 D ONNER, Geschichte (Anm. 9), 431: „Wir sind [z.Z. Nehemias und Esras, E.B.] im Zeitalter der heiligen Schriften, in dem sich ‚Israel‘ als theokratische Gemeinde unter dem Gesetz formulierte. Diese Gemeinde verstand sich als eine Blutsgemeinschaft, obwohl sie das faktisch schon lange nicht mehr war und genau genommen weder je gewesen war noch hatte sein können. Sie schied alle ‚Fremden‘ aus und ‚reinigte‘ sich unter ausdrücklicher Berufung auf das Gemeindegesetz des Deuteronomiums (Dtn 23,2–9). Aber das war The-
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noch als „Postulat“, sei aber realiter nicht | mehr gegeben. – Nun könnte man durchaus fragen, ob da nicht mehr behauptet wird, als wir wissen können. Wichtiger ist aber, dass solche Argumentationen bereits im Ansatz einem elementaren Missverständnis erliegen. Sie verkennen, dass Verwandtschaftsgruppen, zumal große Einheiten (das belegt vor allem die ethnologische Feldforschung)29, primär eine soziale und keine genetische Realität darstellen! Maßgeblich ist allein das kollektive Selbstverständnis, nicht der genetische Code. – Wenn dies so ist, kommt es also darauf an, dieses Selbstverständnis möglichst präzise und differenziert zu erheben. Deshalb ist an diesem Punkte noch einmal genauer nachzufragen – auch wenn dies nicht ohne einige exegetische Details abgeht. 28–29 Die Jerusalemer Kultgemeinde, so sagen ihre Verfechter, bestand aus den Personen, die sich dem jüdischen Religionsgesetz unterstellten; ihre Identität hätte sich damit prinzipiell von ethnischen Bindungen abgelöst. Könnte es nun nicht in der Tat sein, dass sich neben dem (soeben betonten) ethnischen Selbstverständnis und gegenläufig dazu eine andere soziale Dynamik entfaltete, die dann doch eine grundsätzliche Transformation der Gruppenidentität bedingte? – Tatsächlich gibt es eine Reihe von Texten, die genau dies zu belegen scheinen. Es wäre nun wenig sinnvoll, diese Belege summarisch abzuhandeln. Statt dessen greife ich zwei Beispiele heraus, die allerdings als besonders repräsentativ gelten und auch gern als Kronzeugen der Hypothese vorgeführt werden.30 Der erste Text steht im Buch Esra. Im Anschluss an den Bericht von der Einweihung des Zweiten Tempels geht es hier um die erste Feier des Passafestes (6,19–21): (19) Dann hielten die Exulanten ( )בני הגולהdas Passa am 14. des ersten Monats. (20) Denn die […] Leviten hatten sich gereinigt … schlachteten das Passa für alle Exulanten und für ihre Brüder, die Priester, und für sich selbst. (21) So aßen die Israeliten, die aus dem Exi l ( )גולהzurückgekehrt waren, und alle, die sich zu ihnen abgesondert hatten ( בדלnif.) von der Unreinheit der Völker des Landes, um JHWH, den Gott Israels, zu suchen.
orie und jedenfalls nicht das Entscheidende. … Es [dieses ‚Israel‘, E.B.] ist mit dem ethnischen oder staatlichen oder religiösen Israel der 1. Hälfte des 1. Jahrtausends v. Chr. nur noch bedingt vergleichbar.“ 29 Cf. dazu u.a. R.R. W ILSON, Genealogy and History in the Biblical World (Yale Near Eastern Researches 7), New Haven / London 1977, 11–55, und die in C. SIGRIST / R. NEU (Hg.), Ethnologische Texte zum Alten Testament, Bd. 1 Vor- und Frühgeschichte Israels, Neukirchen-Vluyn 1989, Kap. II, abgedruckten Beiträge. 30 Beispiele für weitere einschlägige Textbelege, die gegenüber den im Folgenden besprochenen Texten jedoch keine grundsätzlich neuen Aspekte (für unsere Fragestellung) implizieren: Jes 14,1; 45,20ff.; 66,19ff.; Sach 2,15; Est 8,17; 9,27; Neh 10,29.
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Der Abschnitt gehört nach Sprache und Theologie eindeutig zu den Texten der Hauptredaktion im Buch Esra-Nehemia. Mehrere Gruppen werden hier unterschieden. Da ist zunächst von den בני הגולה, „den Exulanten“ oder „Angehörigen der Gola“, die Rede; in V. 20 in einem engeren Sinne als Bezeichnung der Laien (neben Leviten und Priestern); V. 21 spricht dagegen umfassend von „den Israeliten, die aus dem Exil (Gola) zurückgekehrt waren“. Dies entspricht dem charakteristischen Sprachgebrauch der Esr/Neh-Redaktion, in dem „die Angehörigen der Gola“ oder auch nur „die Gola“ für die gesamte jüdische Bevölkerung des Landes steht. Voraussetzung ist das („kanonisch“ gewordene) chronistische Geschichtsbild, wonach die Babylonier ganz Juda restlos in die Verbannung geführt haben (cf. 1 Chr 36,17–21, | aber auch schon 2 Kön 25). In Wahrheit, so wissen wir historisch, waren im Wesentlichen nur die oberen Schichten davon betroffen; ein großer Teil der Bevölkerung blieb im Lande. Wer sind aber nun die, die sich nach V. 21 „abgesondert hatten von den Völkern des Landes“ und gemeinsam mit den Exulanten das Passa feiern? Einer verbreiteten Hypothese zufolge verbergen sich dahinter eben die Nachkommen der nicht deportierten Judäer (die es in der Theorie der Redaktion gar nicht gibt!), soweit sie bewusst der Heimkehrer-Gemeinde, dem sog. קהל הגולה, beitraten.31 Entschlüsselt man den Text in dieser Weise, wirft er ein direktes Schlaglicht auf die Konstituierung der Jerusalemer Kultgemeinde als letztlich konfessionellem Verband! 32 Die These hat nur einen methodischen Schönheitsfehler: Sie vertauscht die dem Text zugrundeliegende fiktive Geschichtskonstruktion („ganz Juda war im Exil“ – folglich stammen alle Judäer der Perserzeit von Exulanten ab) durch 29–30
31 Diese Unterscheidung einer sich als „Gola“ bezeichnenden Rückkehrergemeinde von im Land verbliebenen „Altjudäern“ (zumeist unter Berufung auf Esr 6,21), zwischen denen mancherlei soziale und religiöse Spannungen bestanden hätten, findet sich nach E. MEYER , Entstehung des Judentums, Halle 1896, 127, Anm. 1, schon bei W.H. KOSTERS, Het herstel van Israël, Leiden 1893, 115ff; Meyer selbst präsentiert a.a.O., 121ff., eine andere Sicht; cf. dann u.a. E. J ANSSEN, Juda in der Exilszeit. Ein Beitrag zur Entstehung des Judentums (FRLANT 69), Göttingen 1956, 118; K. GALLING, Studien zur Geschichte Israels im persischen Zeitalter, Tübingen 1964, 59f; M. SMITH, Das Judentum in Palästina während der Perserzeit (Fischer Weltgeschichte 5), Frankfurt/Main 1965, 356–370. 358ff.; H.C.M. VOGT, Studie zur nachexilischen Gemeinde in Esra-Nehemia, Werl 1966, 141ff.; W.TH. IN DER SMITTEN, Esra. Quellen, Überlieferung und Geschichte (SSN 15), Assen 1973, 137ff.142ff. u.ö.; S. T ALMON, Die frühnachexilische Zeit (hebr.), in: H. T ADMOR (Hg.), Geschichte des Volkes Israel. Restauration und Perserzeit (hebr.), Jerusalem 1983, 28 – 39.35f. Recht viel Anklang hat die Version von J.P. WEINBERG (u.a.: Demographische Notizen zur Geschichte der nachexilischen Gemeinde in Juda, Klio 54 [1972] 45–59) gefunden, der seine „Bürger-Tempel-Gemeinde“ als eine Teilgruppe in der Gesamtbevölkerung des nachexilischen Juda versteht. 32 Hier kommt zugleich „das Gesetz“ als neue identitätsstiftende Größe ins Spiel: Wer von den „Altjudäern“ zur „Gola“, d.h. zum „wahren Israel“ gehören will, muss sich zum Gesetz mit seinen abgrenzenden Bestimmungen „bekennen“.
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eine postulierte historische Konstellation 33 und glaubt diese damit zu belegen – eine Art diachroner Allegorisierung, die den Text gegen sein Selbstverständnis liest.34 Dabei ist die Eigenaussage des Abschnitts völlig konsistent:35 Zusammen mit den Israeliten beteiligen sich an der Passafeier auch (im Land wohnende) Fremde, die sich mit allen rituellen Konsequenzen der JHWH-Religion zugewandt haben. Es ist dies präzise die Situation, wie sie bereits von der priesterlichen Passa-Bestimmung in Ex 12,43–4936 vorgesehen ist: Ein nicht-israelitischer „Schutzbürger“ ( )גרdarf am Passa teilnehmen, sofern er sich beschneiden ließ (V. 48). Bezogen auf die hier vorausgesetzte soziale Wirklichkeit bedeutet dies: Es gibt Personen, die den jüdischen Gott verehren, aber nicht zu Israel gerechnet werden – oder anders gesagt: Die Gemeinschaft der JHWH-Verehrer und Israel sind nicht identisch!30 Der zweite Text, Jes 56,1–8, ist von ganz anderer Art. Er steht am Anfang der sog. Tritojesaja-Sammlung. Kompositionell ist er inkludierend auf den Abschluss des ganzen Buches in Kap. 66,18ff. bezogen 37 und damit zugleich wohl Element einer „großjesajanischen“ Redaktion, die wesentliche Teile unseres Jesajabuches integrierte. Redaktionsgeschichtlich kommen wir damit zweifellos in die fortgeschrittene Perserzeit. 38
33 Tatsächlich hat ja die Vermutung, dass zwischen Rückkehrern aus dem Exil und den im Lande gebliebenen Judäern sich eine ganze Reihe von Konfliktfeldern ergeben konn ten/mussten (in Fragen wie Eigentumsrechten, politischem Führungsanspruch, religiöser Orientierung u.Ä.), von vornherein einige historische Wahrscheinlichkeit für sich. Nicht belegen lässt sich jedoch, dass dies mit einer exklusiven sozialen Selbstabgrenzung der Rückkehrer als „Gola“ einherging. 34 Im Übrigen ein Verfahren, das auch andernorts anzutreffen ist, wenn eine schmale Quellenbasis und die Ambitionen der Historiker in Konflikt miteinander geraten. 35 Zu A.H.J. G UNNEWEG, Esra (KAT 19/1), Gütersloh 1985, 116, der für V. 21 nur deshalb eine „spätere Korrektur“ postulieren muss, weil er – ohne Anhalt am Text – die Vorstellung von „im Lande Verbliebenen, die sich zu den Heimgekehrten hinzugesellen“, postuliert. 36 Cf. auch Num 9,14 in den Bestimmungen über das „zweite Passa“. Auf Ex 12,48f. verweist bereits W. RUDOLPH, Esra und Nehemia (HAT I/20), Tübingen 1949, 61. 37 Dies ist vielfach herausgearbeitet worden. Cf. beispielsweise R. RENDTORFF, Das Alte Testament. Eine Einführung, Neukirchen-Vluyn 1983, 209, der als verbindende Stichworte „Sabbat“, „Haus Gottes und heiliger Berg“, „Name“ und „Fremde“ nennt. 38 Für die komplexen Probleme der redaktionsgeschichtlichen Verortung des Abschnitts cf. W. GROß, Wer soll YHWH verehren? Der Streit um die Aufgabe und die Identität Israels in der Spannung zwischen Abgrenzung und Öffnung, in: H.J. VOGT (Hg.), Kirche in der Zeit (FS W. Kasper), München 1989, 11–32, darin 23 mit Anm. 44, und zuletzt O.H. STECK, Zu jüngsten Untersuchungen von Jes 56,1–8; 63,7–66,24, in: DERS., Studien zu Tritojesaja (BZAW 203), Berlin / New York 1991, 229–265.230f.242ff., mit einer eingehenden Diskussion neuerer Literatur. Eine angemessene Auseinandersetzung mit Stecks
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In der Sache handelt es sich hier um eine Art „prophetischer Tora“, d.h. einen Bescheid über den Status von Fremden – und Eunuchen:39 (1) So hat JHWH gesprochen: Pflegt das Recht / und tut Gerechtigkeit! Denn bald kommt mein Heil / und wird meine Gerechtigkeit offenbar. (2) Wohl dem Menschen, der das tut, / und dem Menschenkind, das sich daran hält: der den Sabbat hält, ihn nicht zu entweihen, / und seine Hand davon abhält, etwas Böses zu tun! |30–31 (3) Und nicht sage der Fremde, / der sich JHWH angeschlossen hat: „Es sondert, ja sondert JHWH mich ab / von seinem Volk.“ Und nicht sage der Eunuch: / „Ich bin doch ein trockener Baum.“ (4) Denn so hat JHWH gesprochen: Den Eunuchen, die meine Sabbate halten und vorziehen, was mir gefällt, / und die meinen Bund festhalten, (5) denen gebe ich in meinem Tempel und in meinen Mauern „Hand und Namen“ ( )יד ושם/ – besser als Söhne und Töchter! –; einen ewigen Namen gebe ich ‚ihnen‘, / der nicht getilgt wird. (6) Und die Fremden, die sich JHWH angeschlossen haben, um JHWH zu dienen, den Namen JHWHs zu lieben, / um seine Knechte zu sein, jeder, der den Sabbat hält, ihn nicht zu entweihen, / und an meinem Bund festhalten, (7) die bringe ich zu meinem heiligen Berge / und erfreue sie in meinem Bethaus, ihre Brandopfer und Schlachtopfer / werden wohlgefällig (aufsteigen) auf mei nem Altar; denn mein Tempel wird ein Bethaus heißen für alle Völker. (8) – Spruch des Herrn JHWH, der die Zerstreuten Israels sammelt. (Ich werde sammeln noch zu seinen Gesammelten!)
Die Perspektive ist eschatologisch. In Erwartung der nahe bevorstehenden Heilstheophanie (V. 1: „bald kommt mein Heil“) hebt das Prophetenwort bisher geltende Grenzen und Schranken auf: Der Fremde, der sich JHWH anschließt, Sabbat und „Bund“ hält (V. 6), soll nach V. 3 nicht sagen: „JHWH wird mich von seinem Volk absondern.“ Die Formulierung als negiertes Zitat klingt etwas umständlich, reflektiert aber wohl gerade so die kompositioneller Deutung des Abschnitts oder gar dessen Verortung in einem redaktionsgeschichtlichen Gesamtmodell (für Steck gehört 56,1–8 zur Schlussredaktion des Jesajabuches und ist in die ersten drei Jahrzehnte des 3. Jahrhunderts v. Chr. zu datieren) ist in diesem Rahmen nicht möglich. Angemerkt sei hier nur, dass das von Steck extensiv bemühte Modell einer sukzessiven schriftgelehrten Fortschreibung innerhalb des Prophetenbuches doch wohl überfordert wird, wenn eine Thematisierung so konkreter Fragen wie in 56,3ff. vorrangig aus intratextuellen Bezügen hergeleitet wird. Jedenfalls erscheint eine konkrete lebensweltliche Fundierung in diesem Falle sehr viel schlüssiger als eine Veranlassung des Eunuchen-Themas durch Jes 39,7 (!; a.a.O., 248) bzw. der Fremden-Thematik durch die im Folgekontext angesagten Dienstarbeiten von Fremden für das Gottesvolk (60,10; 61,5; a.a.O., 247). 39 Die Übersetzung orientiert sich z.T. an der von H. D ONNER, Jesaja lvi 1–7. Ein Abrogationsfall innerhalb des Kanons – Implikationen und Konsequenzen, in: J.A. EMERTON (Hg.), Congress Volume Salamanca 1983 (VT.S 36), Leiden 1985, 81–95, darin 81f.
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Aufnahme einer konkreten Problematik in der Lebenswelt der Adressaten. Doch welche Aussage ist damit – positiv gewendet – intendiert? Für sich genommen möchte man hier geradezu die Zusage finden, ein jeder, der das Gesetz hält, werde in JHWHs Volk aufgenommen. Und was wäre dies dann anderes als die grundsätzliche Öffnung des Gottesvolks, also seine Transformation in eine Gemeinde? In der Tat wird der Text allgemein so verstanden; und auch noch Frank Crüsemann, der die Kultgemeinde als historische Größe bestreitet, findet sie hier – in Tritojesaja – nun doch als Programm prophetischer Randgruppen.40 – Näher besehen weist m.E. jedoch auch dieser Text in eine andere Richtung. Zu beachten ist der überlegte Aufbau: Wir haben – bezogen auf den Fremden und den Eunuchen – jeweils die Zurückweisung einer Selbstaussage („Nicht sage der Fremde …“) und dann als Begründung und Kontrast eine positive Zusage JHWHs. Das Ganze ist dabei chiastisch angelegt: Zitat des Fremden – Zitat des Eunuchen (in V. 3), dann Zusage für die Eunuchen (in V. 4–5) – Zusage für die Fremden (in V. 6–7). Wichtig ist, dass die Verheißungen als Gegenaussage zu den ne|gierten Zitaten implizit deren Bedeutung konkretisieren. Um V. 3a sachgemäß zu interpretieren, müssen wir uns also an V. 6 und 7 halten: 31–32 „Die Fremden, die sich JHWH anschließen, ihm zu dienen …, die werde ich zu meinem heiligen Berg bringen und sie erfreuen in meinem Bethaus, ihre Brand- und Schlachtopfer werden wohlgefällig sein auf meinem Altar …“
Es geht, wie man sieht, um die gleichberechtigte Teilnahme der Nicht-Israeliten am Fest- und Opferkult in Jerusalem.41 Damit ist auch der Sinn von V. 3a expliziert: Er zielt auf die Zulassung von Fremden zum Tempelkult gemeinsam mit Israel, ein Sachhorizont, zu dem sich im Übrigen auch die betonte Rede vom „Absondern“ fügt (der entsprechende Ausdruck [ בדלhif.] bezeichnet häufig die Scheidung von rein und unrein, heilig und profan [cf. auch oben Esr 6,21]). Von einer Aufnahme in das „Volk JHWHs“ ist in dem Text jedenfalls nicht die Rede! Dieses Verständnis bestätigen noch andere Beobachtungen: Zum einen die Einbeziehung der Eunuchen (in V. 3–5). Weshalb erscheint ausgerechnet diese Personengruppe neben den Fremden? Nun, wie schon lange gesehen wurde, steht unser Abschnitt hier in einem 40 CRÜSEMANN , Perserzeit (Anm. 10), 210. Für Donner markiert eben dieser Text eine bedeutsame innere Transformation der „Kultgemeinde“: „Vor dem Anbruch des Eschaton verändert die Gemeinde ihre Gestalt: aus der Blutsgemeinschaft, die sie hatte sein sollen und wollen, wird eine Bekenntnisgemeinschaft, deren Glieder am Halten des Gesetzes, insbesondere der Sabbatheiligung, erkannt werden können.“ (Abrogationsfall [Anm. 39], 87). 41 Wenn man als Kontrast und Problemhorizont zu unserem Abschnitt Ez 44,6ff. her anziehen darf, dann geht es von Jes 56,6 her wohl sogar um kultische Hilfsdienste von Fremden im Tempel.
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intertextuellen Verweiszusammenhang. Jes 56 formuliert nämlich mit prophetischer Autorität so etwas wie die Abrogation, die Aufhebung eines deuteronomischen Gesetzes, das den Zugang von Fremden (genauer: Ammonitern und Moabitern) und eben Eunuchen zur „Versammlung JHWHs“ einschränkt bzw. untersagt (Dtn 23,2ff.).42 Dabei geht es im Falle der Eunuchen eindeutig nicht um die Zugehörigkeit zu Israel (die steht gar nicht zur Diskussion), sondern um die Teilnahme am Kult, die dem Kastraten aus Gründen ritueller Tabus versagt blieb. Analoges gilt dann aber – mutatis mutandis – auch für den Fremden, in beiden Texten. Auf nichts anderes zielt schließlich auch der Spitzensatz des Abschnittes in V. 7: „Mein Tempel soll ein Bethaus heißen für alle Völker.“ Hier artikuliert sich eine eschatologische Erwartung, wie wir sie ähnlich in anderen prophetischen Worten der Zeit finden. Sie verbindet die künftige Heilszeit mit der universalen Erkenntnis Gottes durch die anderen Völker und deren Wallfahrt zum Zion. 43 Niemals ist diese endzeitliche Bekehrung der Völker aber als Eintritt ins Judentum vorgestellt.44 Es geht vielmehr um die Verehrung des einen Gottes gemeinsam mit Israel. 32–33 Soweit der Blick auf die Texte. Wir könnten auch die anderen einschlägigen Belege durchgehen, sie führten alle auf den gleichen Befund: Wohl gab es in persischer Zeit Fremde, die den JHWH-Glauben und die Verpflichtungen des Religionsgesetzes übernahmen, doch wurden sie damit nicht zu Juden. Innerjüdisch kontrovers war offenbar ihre Beteiligung am Kult. Ob es je eine „Kultgemeinde“ im Jerusale|mer Tempel unter Einschluss von Fremden gegeben hat, so wie der Verfasser von Jes 56,1–8 es meint, ist durchaus fraglich. Wenn ja, war sie nicht identisch mit Israel. – Als Resümee ist mithin festzuhalten: Abgrenzungskriterium zwischen Juden und Nicht-Juden in
42 Cf. neben den Kommentaren besonders D ONNER , Abrogationsfall (Anm. 39). Der Einwand von STECK, Untersuchungen (Anm. 38), 248, ein solcher Bezug könne schon „angesichts der terminologischen Differenz“ nicht intendiert sein, schränkt die Art mög licher Text-Bezüge apriorisch ein. 43 Cf. dazu nur Jes 2,1ff. || Mi 4,1ff.; Jes 19,19ff.; Jer 16,19ff.; Zeph 3,9f.; Sach 8,20ff.; 14 u.a.m. 44 Die Erwartung einer Integration „in das Volk YHWHs“ findet G ROß , Streit (Anm. 38), 30, Anm. 54, in Sach 2,15.16 und 9,7. Was auch immer in dem letzteren, schwierigen Vers für die übriggebliebenen Philister erwartet wird (Zugehörigkeit zu JHWH in oder neben Juda? – cf. „wie eine ‚Tausendschaft‘ in Juda, … wie der Jebusiter“), der Akzent in Sach 2,15f. ist doch wohl anders: Danach werden sich „viele Völker“ JHWH anschließen und von ihm „als Volk“ angenommen werden (V. 15); aber Juda und Jerusalem bleiben als besonderes „Erbteil“ JHWHs davon abgehoben (V. 16). Es handelt sich mithin – auch in der Formulierung erkennbar – um eine theologische Weiterführung der Tradition von Dtn 32,8f.
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persischer Zeit ist nicht die Religion. Israel hat sich nicht als Bekenntnisgemeinschaft oder Kirche definiert, sondern als „Volk“ oder, um es mit einem antiken Begriff zu sagen, als „Ethnos“. 45 33
II Wenn der Quellenbefund sich so darstellt, wie hier skizziert, dann drängt sich um so mehr die anfänglich gestellte Frage auf, womit die Plausibilität und die nahezu unangefochtene Geltung des Paradigmas von der „Jerusalemer Kultgemeinde“ zu erklären ist. Natürlich hat es etwas mit einer spezifischen Wahrnehmung des Quellenmaterials zu tun, und diese stützt sich in erster Linie auf ein komplexes Gesamtbild, in welchem sich Vorgaben der unterschiedlichsten Art sowie historische und exegetische Einzelurteile ineinander verschränken. Tatsächlich vermitteln die klassischen Arbeiten von Wellhausen und seinen Mitstreitern noch heute einen Eindruck von der damit verbundenen „Evidenzerfahrung“. Auf einmal passte alles zusammen. Literargeschichtliche Analysen, historische und religionsgeschichtliche Hypothesen sowie theologische Problemstellungen fügten sich nahtlos aneinander und stabilisierten sich gegenseitig. Daraus resultierte zweifellos die Wucht, m it der sich das neue Paradigma – gegen alle konservativen Widerstände – durchsetzte. Freilich war vieles bereits vorgegeben: Schon vorher – bei Wilhelm M.L. de Wette46 – gab es die Gegenüberstellung eines frühen Hebraismus und des späteren Judentums;47 ebenso das Verständnis der nachexilischen Zeit als „Theokratie“. Julius Wellhausens Lehrer Heinrich Ewald48 sprach von „Heiligherrschaft“. Bei ihm spielt auch der Begriff der „Gemeinde“ eine zentrale Rolle, allerdings noch nicht als Gegenbegriff zu „Volk“ oder „Nation“! Das 45 Dieses Selbstverständnis wurde und wird im Übrigen auch in nachalttestamentli cher Zeit von der dann „institutionalisierten“ Möglichkeit des Proselytismus nicht tangiert: Bis in die Gegenwart bedeutet ein „Übertritt zum Judentum“ zugleich die Aufnahme in das Volk (symbolisiert etwa in der liturgischen Benennung des Proselyten als „PN ben -Avraham“). Es handelt sich mithin um eine Art „Adoption“ durch die ethnische Gruppe, man könnte auch sagen, um den Grenzfall der „Verwandtschaft“ als rein sozialer Beziehung. 46 W.M.L. DE W ETTE , Biblische Dogmatik Alten und Neuen Testaments oder kritische Darstellung der Religionslehre des Hebraismus, des Judenthums und Urchristentums, Berlin 1813 (1831 3). 47 Dazu und zum Folgenden cf. auch R. RENDTORFF, Das Bild des nachexilischen Israel in der deutschen alttestamentlichen Wissenschaft von Wellhausen bis von Rad, in: DERS., Kanon und Theologie. Vorarbeiten zu einer Theologie des Alten Testaments, Neukirchen Vluyn 1991, 72–80. 48 H. E WALD, Geschichte des Volkes Israel. Band IV. Geschichte Ezra’s und der Hei ligherrschaft in Israel bis Christus, Göttingen 1864 3.
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Volk gilt ihm vor- und nachexilisch immer auch als „Gemeinde JHWHs“; der Verlust von Staat und Königtum bedeuten dann nicht eo ipso einen Verfall. Wenn Wellhausen und andere gerade da nun eine Zäsur anderer Qualität fanden, so lag dies zunächst in der Konsequenz eines generellen Vorverständnisses. Sie standen hier ganz in einer Tradition der deutschen historischen Schule des 19. Jahrhunderts, für welche der Staat, zumal der monarchische, eine eigenwertige, ja sittliche Größe darstellte.49 „Volk“ und „Staat“ bilden da eine organische Einheit,50 einen wesenhaften Zusammenhang. So konnte etwa Rudolf Smend in einem großen Aufsatz „Ueber die Genesis des Judenthums“ (1882) das „nationale() Königthum“ ganz unbefangen als die „natürliche() Form des Volkslebens“ bezeichnen.51 In dieser Sicht, die | natürlich die eigene Gegenwart und Befindlichkeit reflektiert, bedeutet der Verlust von Königtum und Eigenstaatlichkeit mehr als eine Veränderung der politischen Verfassung, er allein impliziert bereits den Verlust der Identität als Volk.33–34 Historisch ausgewiesen und schlüssig erschien diese Epochenscheidung jedoch erst damit, dass sie sich in der analytischen Arbeit bewährte – und in den literarhistorischen Gesamtentwürfen, von denen ja nicht wenig bis heute Bestand hat. Tatsächlich könnte man fragen, ob sich das skizzierte Geschichtsbild nicht zumindest heuristisch als eminent anregend erwies. Allerdings steht dem das Beispiel des Holländers Abraham Kuenen, des hochgeachteten Mitstreiters von Wellhausen, entgegen, der sich in seinen gewichtigen Analysen das abwertende Konzept der „Kultgemeinde“ nicht zu eigen machte.52 – Für die konkrete exegetische Arbeit waren also am Ende andere
49 Cf. G.G. I GGERS , Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart (dtv 4059), München 1971, 17ff. Zur Bedeutung dieses Kontextes für Wellhausen (u.a.) cf. PERLITT, Vatke (Anm. 8), 176f., und F. CRÜSEMANN, Der Widerstand gegen das Königtum. Die antiköniglichen Texte des Alten Testamentes und der Kampf um den frühen israelitischen Staat (WMANT 49), NeukirchenVluyn 1978, 3ff. mit Anm. 40; außerdem B OSCHWITZ, Wellhausen (Anm. 8), 45ff.62ff. 50 Cf. dazu G. SCHOLTZ, Art. Geschichte, Historie. IV. Deutscher Idealismus, Romantik und historische Schule, in: J. RITTER (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 3, Darmstadt 1974, Sp. 361–371, besonders 367f. 51 SMEND, Judenthum (Anm. 6), 112. 52 Bemerkenswert ist auch seine ausdrückliche Distanzierung von der Dichotomie „Hebraismus – Judaismus“, von der „Ansicht“, „daß eine tiefe Kluft das alte vorexilische Israel von dem Judaismus trenne. Diese Meinung wäre zu verwerfen …“ (A. KUENEN, Die Chronologie des persischen Zeitalters der jüdischen Geschichte, in: DERS., Gesammelte Abhandlungen zur Biblischen Wissenschaft, Freiburg/Brsg. / Leipzig 1894, 212–251.250). Erhellend dazu auch: A. ROFÉ, Abraham Kuenen’s Contribution to the Study of the Pentateuch. A View from Israel, in: P.B. DIRKSEN / A. VAN DER KOOIJ (Hg.), Abraham Kuenen (1828–1891): His Major Contributions to the Study of the Old Testament. A Collection of Old Testament Studies Published on the Occasion of the Centenary of Abraham Kuenen’s
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Voraussetzungen und Beobachtungen doch wohl wichtiger. Wie dem auch sei, die sozialgeschichtliche Reduktion des nachexilischen Israel auf eine „Kirche“ oder „religiöse Sekte“ hatte – kritisch betrachtet – auch im Rahmen der literargeschichtlichen Hypothesen an den Texten selbst keinen tragfähigen Anhalt: weder in den vermeintlich „theokratischen“, dem nachexilischen Tempel zugeordneten Werken (vor allem dem „Chronistischen Geschichtswerk“ und „P“) noch in der prophetischen Überlieferung der sog. „eschatologischen Kreise“. Es bleibt mithin ungewöhnlich, dass die Plausibilität dieser Engführung innerhalb der Disziplin nicht ernsthaft zur Diskussion gestellt wurde. Offenbar gab es eine Evidenz, welche die der Quellen aufwog. – Und diese Evidenz war meines Erachtens die Erfahrung eines konfessionell definierten Judentums in der eigenen Gegenwart! Innerhalb der jüdischen Geschichte stellte ein solches Judentum eine völlig neue und zudem auf Mittel- und Westeuropa sowie Nordamerika beschränkte Entwicklung dar; Deutschland und die USA spielten die führende Rolle. Ausgelöst wurde sie durch die Herausbildung der europäischen Nationalstaaten und die synchron, wenn auch nicht stetig verlaufende bürgerliche Emanzipation der Juden in Europa. Dies war ein Prozess, der die Juden zu einer Neubestimmung ihres Ortes in der jeweiligen Gesellschaft nötigte. So forderte der Abgeordnete Comte Stanislas de Clermont-Tonnerre in der französischen Nationalversammlung von 1789 die Gleichstellung der Juden mit dem berühmten Satz: „Den Juden als Nation ist alles zu verweigern, den Juden als Menschen ist alles zu gewähren.“53 Damit war für die Judenheit zugleich die Spannung zwischen Identität und Integration markiert. Neben den Versuchen, die traditionelle Einheit von Volk und Religionsgemeinschaft zu wahren, stand deren Aufsplitterung mit den eingangs genannten „Extremen“: Auf der einen Seite reformulierte sich, vor allem in Osteuropa, das traditionell-ethnische Selbstverständnis als jüdische Nationalbewegung im Zionismus, nicht selten sogar | mit stark antireligiösen Impulsen. Auf der anderen Seite wurde (in Westeuropa) die Konfessionalisierung betrieben mit vollständiger ethnisch-kultureller Assimilation an die umgebende Nation. Freilich standen solchen Bestrebungen häufig die Vorbehalte bzw. Ablehnung der Umwelt im Wege – in Deutschland wurden sie durch die Nürnberger Gesetze beendet.34–35 Ich denke, man kann bezweifeln, dass ohne diese spezifische Entwicklung im Europa des 19. Jahrhunderts die Alternative „Volk oder Kultgemeinde“ für das frühe Judentum überhaupt hätte gedacht werden können. – Dies impliziert auch: Hier wurde keine bloß historische Frage verhandelt. Death (10 December 1991) (OTS 29), Leiden 1993, 105–112; cf. noch J.A. LOADER, The Exilic Period in Abraham Kuenen’s Account of Israelite Religion, ZAW 96 (1984) 3–23. 53 Zitiert nach B LOCH, Volk (Anm. 2), 9.
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Tatsächlich geht es in der Diskussion über den Anfang des Judentums zugleich um das gegenwärtige, oder besser gesagt, um das Bild, das man sich von dem Judentum macht. Mehr noch, es geht auch um die Identität der christlichen Exegeten und Historiker selbst, die sich weder historisch noch theologisch einer Verhältnisbestimmung zum Judentum entziehen kann. Einige Stichworte mögen dies verdeutlichen: Die klassische Beschreibung des nachexilischen Judentums besagt ja nicht nur, dass hier bereits Grundzüge des Weiteren angelegt sind, sie behauptet – zumeist sehr emphatisch – die Diskontinuität zum Vorherigen. Damit scheint sie vor allem die Grundlage einer historischen Lösung für eine elementare theologische Spannung zu liefern, nämlich für die „Aneignung“ der kanonischen Überlieferung und der Geschichte Israels, d.h. einer anderen Religion, durch die christliche Exegese. Pointiert formuliert, besteht diese „Lösung“ darin, dass die lebendige, prophetische Religion des frühen Israel erstens gar nicht „jüdisch“ war, zweitens ihre authentische Fortsetzung in der Verkündigung Jesu von Nazareth bzw. der urchristlichen Gemeinde gefunden hat. Die epigonale Kultgemeinde hatte ihren geschichtlichen Sinn danach vor allem darin, die prophetischen Traditionen über die Zeit gerettet zu haben. So spricht etwa Well hausen in bezeichnenden Metaphern davon, dass „der Gott der Propheten sich jetzt in einer kleinlichen Heils- und Zuchtanstalt verpuppte und statt einer für alle Welt giltigen Norm der Gerechtigkeit ein streng jüdisches Ritualgesetz aufstellte“54. Klaus Koch hat diese Periodisierung treffend als „Profeten-Anschluß-Theorie“ kritisiert.55 Heute wird sie unmodifiziert wohl kaum noch vertreten. Man betont jetzt die innere Komplexität des nachexilischen Judentums oder verlegt den entscheidenden Kontinuitätsbruch in eine spätere Zeit.56 Für unseren Zusammenhang bleibt jedenfalls festzuhalten: Es ist nicht etwa die Ablösung des alten Volkes durch eine religiöse Gemeinde, welche einen Kontinuitätsbruch zwischen Israel und Judentum erweist, sondern umgekehrt: Die Annahme eines solchen Bruches erhielt ihre historiographische Konkretion in der These von der Jerusalemer Kultgemeinde. |35–36 Trifft diese Analyse zu, dann war die Plausibilität der Hypothesenbildung also nur sehr bedingt eine Funktion der Sachargumentation. Wesentlicher war (und ist) eine komplexe Prädisposition der Wahrnehmung, fundiert im 54
J. WELLHAUSEN, Israelitische und jüdische Geschichte, Berlin 1897 3 (Nachdruck 1958), 175. 55 K. K OCH, Ratlos vor der Apokalyptik, Gütersloh 1970, 35ff. 56 Die Frage, ob nicht auch noch solche Positionen mitunter dem klassischen Grund schema folgen, indem sie auf die eine oder andere Weise das Theologumenon von der Kirche als dem „wahren Israel“ auf die Historie projizieren, soll hier nicht aufgenommen werden.
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lebensweltlichen Kontext der historisch-kritischen Exegese. Forschungsgeschichtliche Gegenproben könnten dieses Urteil bestätigen. Als Beispiel mag hier die Rezeption der diskutierten Hypothese in der bedeutendsten exegetisch-historiographischen Schule in diesem Jahrhundert dienen, die mit den Namen Albrecht Alt und Martin Noth verbunden ist. In den Jahrzehnten nach dem Ersten Weltkrieg setzte in der Forschung zur Geschichte Israels eine tiefgreifende Verschiebung ein: Das Interesse konzentrierte sich auf die Frühzeit, die man mit Hilfe neuer methodischer Ansätze („Formgeschichte“, „Traditionsgeschichte“) historisch zu erschließen suchte. Der Ertrag war eine grundlegende Neubewertung der vorstaatlichen Zeit als der eigentlich formativen Epoche für „Israel“. Das Wellhausensche Paradigma zur nachexilischen Periode blieb davon jedoch unberührt – und dies, obwohl wenigstens zwei seiner tragenden Voraussetzungen inzwischen entfallen waren: 36 Zum einen galt dies für die konzeptionelle Einheit von Staat und „Volksleben“. In der Alt-Noth-Schule kehren sich hier die Vorzeichen geradezu um. Nun wird man nicht müde zu betonen, dass die Monarchie in Israel ein relativ spätes Phänomen darstellte und für Israels Identität alles andere als konstitutiv war.57 Zum anderen verschiebt sich die Sicht des alttestamentlichen Gesetzes. 58 Das Gottesrecht gewinnt sogar eine zentrale Bedeutung für die Konstitution des Volkes in der Frühzeit.59 Und selbst in literarisch späten Rechtstexten werden nun alte und älteste Traditionen identifiziert.60 Überhaupt rücken in dieser Perspektive das frühe Volk und die späte „Kultgemeinde“ erstaunlich nahe zusammen. Gleichwohl wird die These vom tiefgreifenden Identitätsbruch nach dem Exil nicht einmal hinterfragt, geschweige denn revidiert. Wie konnte das zugehen? – Offenbar erfolgte innerhalb des überkommenen Hypothesengebäudes so etwas wie ein partieller Austausch der argumentativen Basis, so dass das Gebäude selbst um so konsolidierter erscheinen mochte. Ist bereits dieser Vorgang methodologisch nicht ohne Pikanterie, so erscheint aber vor allem die breite Konsensfähigkeit dieser Hypothesenrevision bemerkenswert; sie ist denn auch nicht von dem weiteren theologischen und wohl auch politischen Kontext der Zeit zu trennen. 36–37
57 58 59
Dazu CRÜSEMANN, Widerstand (Anm. 49), 9ff. Cf. RENDTORFF, Bild (Anm. 47), 76ff. Cf. insb. M. NOTH, Die Gesetze im Pentateuch. Ihre Voraussetzungen und ihr Sinn (1940), in: DERS., Gesammelte Studien zum Alten Testament (ThB 6), München 1960 2, 9– 141; DERS., Das Amt des „Richters Israels“ (1950), in: DERS., Gesammelte Studien zum Alten Testament II (ThB 39), München 1969, 71–85. 60 So findet, um nur ein Beispiel zu nennen, K. E LLIGER , Das Gesetz Leviticus 18, ZAW 67 (1955) 1–25, in dem priesterlichen Kapitel Lev 18 eine Tradition der Frühzeit Israels.
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Den theologischen „Dreh- und Angelpunkt“ bildete das Gesetzesverständnis. Dabei ging es nicht mehr wie bei Wellhausen um den Gegensatz zwischen ethischen und rituellen Geboten, sondern um die religiöse und soziale Bedeutung der „Gesetze“. Nach Martin Noth war das Gottesrecht in der Frühzeit der Ordnung des sakralen Stämmebundes zugeordnet, und diese ruhte auf dem Bundesverhältnis zwischen Gott | und Volk. Die Gesetze hielten Israel sozusagen innerhalb dieser Ordnung. Anders im nachexilischen „Judentum“; hier löste sich diese Bindung an Bund und vorgegebene Gemeinschaft auf. Nun begründete umgekehrt das Gesetz die Gemeinde als Wahlgemeinschaft. Und das Gesetz selbst wurde „zu einer absoluten Größe von voraussetzungsloser, zeit- und geschichtsloser Gültigkeit“61. – Die Transparenz dieser religionsgeschichtlichen Zuordnung von „Bund“ und „Gesetz“ für das reformatorische Thema „Gesetz und Evangelium“ liegt auf der Hand und war auch immer bewusst. Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass hier in veränderter und noch verschärfter Gestalt die traditionelle Abwertung der nachexilischen Religion wiederkehrt, nun reformuliert in bewusster Aufnahme der gleichzeitigen theologischen Diskussion. Und diese Diskussion hatte einen handfesten Hintergrund: Noths maßgebliche Monographie über das Thema wurde im Jahre 1940 publiziert.62 Ihre Frontstellung ist klar: Es geht um eine Auseinandersetzung mit denen, die das „jüdische“ Alte Testament als Teil der christlichen Bibel in Frage stellten. Ausdrücklich bezieht sich Noth in seiner Arbeit auf Emanuel Hirsch, nach dem das Alte Testament zwar beibehalten werden sollte, doch vornehmlich zu dem Zweck, „als ewiges Bild der im Evangelium verneinten Gesetzesreligion dem christlichen Selbstverständnis vor Gott als Stachel zu dienen“ 63. Wiederum geht es bei der historischen Rekonstruktion des Judentums um gegenwärtige christliche Identität. Auch
61 N OTH, Gesetze (Anm.
59), 114 (Hervorhebung im Original). Diese Charakterisierung des Gesetzes „der Spätzeit“ wird in Arbeiten aus dem Umkreis von Martin Noth und Gerhard von Rad immer wieder aufgenommen. Ihre sachliche Problematik kann hier nicht dargelegt werden. Wie in einem Brennpunkt lässt sie sich jedoch bereits an Martin Noths gewundenen und historisch letztlich inkonsistenten Ausführungen zum „Gesetz Esras“ (Geschichte Israels [Anm. 5], 303f.) ablesen: Weder die angenommenen „Vorläufer“ des Pentateuch (Dtn, „P“) noch gar die Endgestalt des Pentateuch selbst mit ihrer Einbettung der Gesetzesoffenbarung in eine Erzählung der Heilsgeschichte fügen sich zum theologischen Bild des „Gesetzes der Spätzeit“ (als von „voraussetzungsloser, zeit- und geschichtsloser Gültigkeit“). Um so genauer entspricht dem ein von Noth postuliertes, literargeschichtlich nicht mehr nachzuweisendes „Esra-Gesetz“ mit „allerlei Sammlungen von Vorschriften“, das zwar – so Noth – „sehr bald nach Esra“ schon im Gesamtpentateuch aufgegangen war, gleichwohl aber (unbeschadet seiner Kurzlebigkeit) als die entscheidende Grundlage für „die Neuordnung des Lebens in der Jerusalemer Kultgemeinde“ zu gelten hätte! 62 Cf. oben Anm. 59. 63 E. HIRSCH, Das Alte Testament und die Predigt des Evangeliums, Tübingen 1936, 83.
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Noth u.a. wollten – verkürzt gesagt – das alte Israel für die christliche Tradition retten, aber meinten dies nur um den Preis einer konsequenten Disqualifikation des Judentums tun zu können oder sollen. 37–38
Wir brechen hier ab. Die Bilanz ist nicht eben ermutigend. In mancher Hinsicht liefert die vorgestellte Forschungsgeschichte ein Lehrstück zu einer problematischen Tradition antijüdischer Denkschemata in der akademischen Theologie (die heute freilich zunehmend aufgearbeitet werden).64 Hat sich damit auch der eingangs zitierte, grundsätzliche Vorwurf der exegetischen Tendenzwissenschaft von seiten jüdischer Historiker bestätigt? Vordergründig mag es so erscheinen. Tatsächlich wäre es aber ohne weiteres möglich, eine Parallelvorlesung zu halten über jüdische historische Untersuchungen zum gleichen Thema und über die apologetischen Tendenzen, die in ihre Hypothesenbildungen eingegangen sind. D.h., wir treffen hier unweigerlich auf das wohlbekannte Datum der grundsätzlichen Perspektivik und Standortgebundenheit aller Sinnkonstruktionen, die – in den Worten von Johann Gustav Droysen – aus „Geschäften“ erst „Geschichte“ machen – bzw. aus einer Menge von Schriftzeichen Texte. Möglicherweise macht sich diese elementare Gegebenheit bei unserem Gegenstand besonders deutlich bemerkbar. Wenn ja, dann liegt dies (neben besonderen methodischen Faktoren, auf die hier nicht eingegangen werden kann) vor | allem an der evidenten und unvermeidbaren Unmittelbarkeit der Sache zum Selbstverständnis derer, die sie analysieren. Diesen Bezug aufzuheben ist weder möglich, noch wäre es wünschenswert. Denn wozu treiben wir Geschichte und Exegese alter, und zumal biblischer, Traditionen, wenn nicht dazu, uns über den eigenen Ort in der Gegenwart zu verständigen? Das gegenläufige Postulat, es könne doch keine christliche oder jüdische Historiographie geben, sondern allenfalls gute oder schlechte, bleibt da als regulative Idee durchaus sinnvoll. Doch um ihm näherzukommen, dürfte weder die verstärkte Konzentration auf Sachfragen hinreichen noch auch bewusste Standpunktreflexionen, seien sie noch so subtil. Wenn etwas substantiell weiterführen kann – und das ist für mich der eigentliche Erkenntnisgewinn aus diesem und ähnlichen Fallbeispielen –, dann sind dies am ehesten lebensweltliche Grenzüberschreitungen der Exegeten selbst in einer gelebten interkulturellen und interkonfessionellen Hermeneutik, einer Hermeneutik, die dann auch eigene Selbstverständlichkeiten zur Disposition stellt.
64
Stellvertretend für eine Vielzahl einschlägiger Arbeiten: R. RENDTORFF / E. STEGE (Hg.), Auschwitz – Krise der christlichen Theologie. Eine Vortragsreihe (Abhandlungen zum christlich-jüdischen Dialog 10), München 1980; U. KUSCHE, Die unterlegene Religion. Das Judentum im Urteil deutscher Alttestamentler. Zur Kritik theologischer Geschichtsschreibung (Studien zu Kirche und Israel 12), Berlin 1991. MANN
Das Vorverständnis hinterfragen Veränderungen alttestamentlich-exegetischer Zugänge aus der lebensweltlichen Begegnung mit dem Judentum Der Titel meines Beitrags nimmt die in dem Tagungsthema vorgegebene These einer Veränderung der Theologie durch den jüdisch-christlichen Dialog affirmativ auf und stellt deren Exemplifizierung im Bereich der Exegese in Aussicht. Des Näheren wird es im Folgenden um Beobachtungen aus dem Bereich der alttestamentlichen Exegese gehen, also aus einem Fach, das zu den „historischen“ Disziplinen der Theologie gerechnet wird. Überdies wird der Fokus auf Fragen der historischen Forschung im engeren Sinne liegen. Vordergründig betrachtet mag es erstaunen, dass theologische Neuorientierungen unmittelbare Auswirkungen auf dezidiert historische Analysen haben sollen, deren Unabhängigkeit von spezifischen religiösen Vorgaben gemeinhin zu ihrem disziplinären Selbstverständnis gehört. Zwar fehlt in methodologischen Reflexionen nicht der Hinweis auf die unvermeidliche erkenntnisleitende Rolle eines allfälligen „Vorverständnisses“ welcher Art auch immer, doch ist kaum strittig, dass im historischen Kontext jegliche Vorgabe, sei sie noch so selbstverständlich, gegebenenfalls zur Disposition zu stehen hat. So jedenfalls die Theorie der akademischen Spielregeln. In der Praxis jedoch erweisen sich kritische Standpunktreflexionen als umso schwieriger, je elementarer es dabei um Fragen der eigenen Identität der forschenden Subjekte geht. Dementsprechend erwachsen wirksame Anstöße zu grundlegenden Neuorientierungen am ehesten aus Konfrontationen mit „fremden“ Identitäten; erfahrungsgemäß vollziehen sich diese besonders nachhaltig in persönlichen Begegnungen. Vor diesem Hintergrund nehme ich die Anregung der Organisatorinnen der Tagung, so etwas wie eine Rückschau auf Auswirkungen des jüdischchristlichen Dialogs zu unternehmen, in der Weise auf, dass ich Beispiele für Veränderungen der Wahrnehmung aufgrund „grenzüberschreitender“ Begegnungen darstelle, und dies teilweise in einer persönlichen Perspektive. Dementsprechend sind die folgenden Überlegungen weder systematisch noch im Sinne einer allgemeinen Übersicht angelegt; exemplarisch konzentrieren sie sich vielmehr auf konkrete historische Sachfragen, deren thematischer Zusammenhang darin besteht, dass sie drei Variationen christlich-
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Das Vorverständnis hinterfragen
exegetischer Konzeptionen eines Abbruchs in der Geschichte Israels repräsentieren.
I. „Spätjudentum“ versus „Frühjudentum“ Als ich Ende der 1960er Jahre mein Studium der evangelischen Theologie in Heidelberg begann, gehörte das antike Judentum naturgemäß zu den wiederkehrenden Themen in exegetischen Veranstaltungen. Die gängige Bezeichnung dafür war „das Spätjudentum“. Gemeint war damit in der Hauptsache „die Religion des Judentums im neutestamentlichen Zeitalter“, wie ein bekannter Buchtitel von Wilhelm Bousset 1 lautete. Etwas präziser und zugleich großzügiger bestimmt ging es um das Judentum zwischen dem 2. Jahrhundert v. Chr. und dem 2. Jahrhundert n. Chr. (Bar Kochba), also in etwa um das, was heute als „Frühjudentum“ bezeichnet wird. Der Frage, wer den Terminus „Spätjudentum“ geprägt hat, brauchen wir hier nicht nachzugehen.2 Jedenfalls liegt die Problematik des Begriffs auf der Hand: Wenn das antike Judentum „spätjüdisch“ war, was ist dann mit dem mittelalterlichen oder dem gegenwärtigen Judentum? Offensichtlich blendet der Ausdruck die weitere Geschichte des Judentums aus. Aber auch die Frage, was dann eigentlich „Frühjudentum“ sein sollte, bleibt offen. M.a.W., der Begriff ist in historischer Perspektive unsinnig und offensichtlich allein wegen seiner evaluativen Implikationen und Konnotationen geprägt und gebraucht worden: Mit „Spätjudentum“ hat man Niedergang/Verfall konnotiert, näherhin so etwas wie eine degenerierte Spätform der alttestamentlichen israelitisch-jüdischen Religion. Und vor allem: Der Begriff impliziert semantisch ein darauf folgendes Ende. 3 Ohne übertreibende Unterstellungen wird man die Intention in dem Sinne konkretisieren dürfen, dass das Judentum als Erbe des biblischen Israel durch das frühe Christentum „abgelöst“ worden sei. Kurzum, das unhistorische Konzept des Spätjudentums brachte das in wesentlichen Elementen antijüdisch geprägte Judentumsbild der christlichen exegetischen Wissenschaften recht genau auf den Punkt. Als Teil der wissenschaftlichen Beschreibungssprache wurden aber zugleich seine evaluativen 1 W. B OUSSET, Die Religion des Judentums im neutestamentlichen Zeitalter, Berlin 1903. 2 Möglicherweise war es Bousset selbst; vgl. die Angaben bei K. DE V ALERIO, Altes Testament und Judentum im Frühwerk Rudolf Bultmanns (BZNW 71), Berlin 1994, 120f., mit Hinweisen auf Vorläufer im Gebrauch des Adjektivs. 3 Ein von DE V ALERIO , a.a.O., 120, mitgeteiltes Zitat Boussets (von 1900) spricht für sich: „Ja man wird vielleicht zu dem Urteil kommen, daß das Spätjudentum eine Religion der Zersetzung und eines Auflösungsprozesses ist, durch den noch in ganz anderer Weise, als man bisher annahm, der schöpferischen Neubildung des Evangeliums der Boden vorbereitet ist.“
Das Vorverständnis hinterfragen
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Implikationen unkontrolliert Teil des Vorverständnisses einer christlichen Wahrnehmung des Judentums. Unbeschadet dessen war dieser Sprachgebrauch in der theologischen Fachliteratur bis in die beginnenden 1970er Jahre hinein völlig selbstverständlich. An der Heidelberger Fakultät gab es damals aber jedenfalls eine Stimme, die mit Verve solche Symptome eines christlichen Antijudaismus anprangerte: Es war die israelische Judaistin Pnina Navè (bzw. Navè-Levinson), die durch die Vermittlung von Rolf Rendtorff als Gastprofessorin nach Heidelberg gekommen war und dort kontinuierlich Seminare und Übungen anbot. Uns Studierenden leuchtete ihre Kritik zu diesem Punkt unmittelbar ein, und dies nicht zuletzt deswegen, weil sie mit ihrer Person ein lebendiges Judentum repräsentierte, das sich ausdrücklich in einer Kontinuität mit dem pharisäischen und rabbinischen Judentum der Antike sieht. Ein Insistieren auf dem Konzept „Spätjudentum“ hätte bedeutet, gegenwärtigen Juden ihre Identität abzusprechen. Offenbar war Pnina Navè aber nicht die einzige und erste Jüdin, die diese Aufklärungsarbeit betrieb, und offenbar hatten sich christliche Theologen auch andernorts darauf eingelassen, das Judentum nicht nur als vergangene „historische“ Größe wahrzunehmen. Denn so selbstverständlich der Gebrauch von „Spätjudentum“ noch in den 1960er Jahren gewesen war, so zügig und nahezu komplett verschwand er im Laufe der 1970er Jahre aus den Lehrveranstaltungen und den neu publizierten Büchern. Stattdessen sprach man fortan von dem „Frühjudentum“4 oder von dem „antiken Judentum“. Heute ist dies völlig selbstverständlich. Umgekehrt erscheint es schwer vorstellbar, dass eine wissenschaftliche Publikation mit „Spätjudentum“ im Titel oder im Text noch von einem seriösen Verlag angenommen würde.
II. Das Ende der Geschichte Israels nach Martin Noth Im 20. Jahrhundert gab es eine Darstellung der Geschichte Israels in biblischer Zeit, die den Maßstab setzte, an dem sich alle orientierten: die Geschichte Israels von Martin Noth, publiziert im Jahr 1950.5 4 Laut I. W ANDREY, Art. Frühjudentum (nota bene!) in: RGG 4 3, Tübingen 2000, 401, war der Begriff schon in den 1930er Jahren von dem amerikanischen Neutestamentler Frederick Clifton Grant als Alternative zu „Spätjudentum“ geprägt worden. Die älteste, mir bekannte deutschsprachige Publikation mit „Frühjudentum“ im Titel ist die von Johann MAIER und Josef SCHREINER 1973 herausgegebene Einführung „Literatur und Religion des Frühjudentums“ (Würzburg/Gütersloh). Interessanterweise ist im Vorwort (anders als in den Beiträgen) „Frühjudentum“ fast immer in Anführungszeichen gesetzt. Offenbar sollen die Leser und Leserinnen auf den Terminus aufmerksam gemacht werden. 5 Um einer jüngeren Generation den forschungsgeschichtlichen Rang von Noths Werk zu vermitteln, hat Rolf Rendtorff gern erzählt, wie Gerhard von Rad in den 1950er Jahren
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Das Vorverständnis hinterfragen
Noths Standardwerk gilt in Fachkreisen bis heute als epochal, nicht zuletzt aufgrund seiner profilierten Bestimmung des Einsatzes seiner Geschichte Israels.6 Kaum weniger profiliert (wenn auch nicht so nachhaltig) war freilich seine Konzeption von einem „Ende Israels“. Rolf Rendtorff ist eine präzise Analyse der Voraussetzungen und Implikationen dieses Aspekts des Noth’schen Werks zu verdanken. 7 Sie dient den folgenden Ausführungen als Grundlage. Im letzten Paragraphen 8 seines Werks schildert Noth zunächst den ersten jüdischen Aufstand gegen Rom, der zur Zerstörung des Tempels führte. Er hebt hier insbesondere den Verlust Jerusalems als eines kollektiven Mittelpunkts hervor und kommentiert emphatisch: „Damit hörte Israel zu bestehen auf, und die Geschichte Israels fand ihr Ende.“ 9 Konsequenterweise kann Noth in dem späteren gescheiterten Aufstand unter der Führung von BarKochba (bzw. Ben Kosiba) nur mehr „das schauerliche Nachspiel der Geschichte Israels“10 sehen. Eine solche Rede von einem „Ende Israels“ ist bei einem Historiker von der Konsequenz Martin Noths nur denkbar unter der Voraussetzung eines entsprechenden „Israel“-Begriffs. Nicht von ungefähr setzt denn auch die ganze Darstellung in § 1 mit der Frage ein, „Was ‚Israel‘, der Gegenstand einer ‚Geschichte Israels‘ gewesen sei“. Zwar könne die Frage „erst in der Darstellung der ‚Geschichte Israels‘ selbst eine begründete Antwort finden“, doch zeigt seine ausführliche Problemanzeige (§ 1) bereits die Richtung an. Dazu gehört eine Relativierung des Begriffs „Volk“ in Bezug auf Israel: Auch wenn man darin „die immerhin noch sachgemäßeste Bezeichnung für diese geschichtliche Größe“ sehen mag, seinen Schülern gegenüber bemerkte, die wesentlichen Fragen der Geschichte Israels seien durch Noth geklärt. 6 M. NOTH, Geschichte Israels, Göttingen 1966 6, 55: „Geschichtlich wirklich erfaßbar ist die Gesamtheit ‚Israel‘, nach der alttestamentlichen Überlieferung ein Verband von zwölf einzelnen Stämmen, erst als eine auf dem Boden des palästinischen Kulturlandes lebende Größe.“ Der Erzählstoff über die Erzväter, Exodus und Sinai gehört nach Not h nicht zur Geschichte Israels, sondern repräsentiert „Traditionen“ des von Noth ange nommenen „sakralen Zwölfstämmebundes“. 7 Rendtorff hat seine Überlegungen erstmals 1972 im Arbeitskreis des Neukirchener Biblischen Kommentars vorgetragen und dann in einer Aufsatzsammlung von 1975 veröffentlicht: R. RENDTORFF, Das „Ende“ der Geschichte Israels, in: DERS., Gesammelte Studien zum Alten Testament (ThB 57), München 1975, 267–276. Das Engagement des Heidelberger Alttestamentlers für eine Erneuerung der Beziehungen zwischen Christen und Juden im akademischen und im kirchlichen Bereich war vielgestaltig und durchweg herausragend. Er ist am 1. April 2014 wenige Tage vor dem Kolloquium in Graz verstorben. 8 Er ist programmatisch überschrieben mit „Die Aufstände gegen Rom und das Ende Israels“. 9 N OTH, Geschichte Israels (Anm. 6), 400. 10 A.a.O., 406, im letzten Satz.
Das Vorverständnis hinterfragen
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„so wird man doch von vornherein darüber klar sein müssen, daß hier nicht ganz in demselben Sinne von einem Volke die Rede sein kann, wie es sonst bei den Völkern der Geschichte der Fall ist“. 11
Stattdessen spricht Noth wiederholt von einer Stämmegruppe, wobei ihn primär die Frage umtreibt, was „die israelitischen Stämme miteinander vereinigte und zusammenhielt und damit das eigentliche Wesen dieses seltsamen ‚Israel‘ ausmachte“12. Bezieht man seine weitere Darstellung ein, so geht es ihm dabei entscheidend um die von ihm angenommene Verfassung des Stämmeverbandes als „sakraler Zwölfstämmebund“, der nach dem Modell einer Amphiktyonie auf ein zentrales Heiligtum hin angelegt war. Nach Noth hätten tragende „Institutionen“ dieser Amphiktyonie nicht nur in vorstaatlicher Zeit, sondern auch in der Königszeit und sogar in der nachexilischen „Jerusalemer Kultgemeinde“ bestanden. 13 Freilich wird diese Annahme an keiner Stelle konkretisiert;14 in der weiteren Diskussion hat sich darüber hinaus schon die Amphiktyonie-Hypothese für die vorstaatliche Zeit als brüchig erwiesen. Im Kern handelte es sich um den Versuch, dieses „Israel“ als „eine einmalige Erscheinung im Kreise der geschichtlichen Völker“15, und dies bedeutete in dem forschungsgeschichtlichen Kontext um 1950, als eine sakral-heilsgeschichtlich bestimmte Größe zu definieren. Dazu gehört schon in der Einleitung (§ 1) die Vorschau auf den „Untergang“ dieser Größe im Zusammenhang der Aufstände gegen die römische Herrschaft, wobei die zeitliche Terminierung sich wesentlich mit einer Abgrenzung verbindet: 11 A.a.O., 13. Bemerkenswert ist auch die Fortsetzung: „und man tut daher vielleicht überhaupt besser, von ‚Israel‘ statt vom ‚Volke Israel‘ zu sprechen.“ Damit revoziert Noth immerhin seinen eigenen Sprachgebrauch in vorausgegangenen Publikationen (z.B. in M. NOTH, Die Gesetze im Pentateuch. Ihre Voraussetzungen und ihr Sinn [1940], wieder abgedruckt in: DERS., Gesammelte Studien zum AT (ThB 6), München 1960, 9–141; DERS., Überlieferungsgeschichtliche Studien [1943], Tübingen 1967 3), wie auch den seines Lehrers Albrecht Alt. 12 N OTH, Geschichte Israels (Anm. 6), 13. 13 In Noths Arbeit über die „Gesetze im Pentateuch“ von 1940 (Anm. 11) beruhte die Argumentation dagegen noch vollständig auf der Annahme, dass mit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels und dem babylonischen Exil eine „Auflösung der alten Ordnung der Dinge“, mithin das Ende „Israels“ verbunden gewesen sei. Dies hätte wiederum die Voraussetzung dafür gebildet, dass „das Gesetz“ in der „Spätzeit“ „zu einer absoluten Größe [H.i.O.] von voraussetzungsloser, zeit- und geschichtsloser Gültigkeit, in sich selbst begründet, verbindlich einfach deswegen, weil als Gesetz existierend, weil göttlicher Herkunft und Autorität“ (a.a.O., 114) geworden sei. Entsprechendes gilt für die „Überlieferungsgeschichtlichen Studien“ von 1943 (Anm. 11); vgl. dazu RENDTORFF, „Ende“ (Anm. 7), 270. 14 Dies nimmt nicht wunder. So gab es die längste Zeit des Königtums kein zentrales Heiligtum, die nachexilische Provinz Jehud wiederum verstand sich nicht als Stämmebund etc. 15 N OTH, Geschichte Israels (Anm. 6), 13.
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Das Vorverständnis hinterfragen
„Was aus dem Untergang ‚Israels‘ erwuchs, war jene Erscheinung, die wir als ‚Judentum‘ zu bezeichnen pflegen. Sie hatte zwar ihre Wurzeln in der Geschichte ‚Israels‘ … sie hat auch immer den Namen ‚Israel‘ auf sich selbst angewendet; aber sie war nach dem Wegfall des kultischen Mittelpunktes, mit dem Fehlen eines Heimatlandes und damit der Möglichkeit gemeinsamen geschichtlichen Handelns etwas wesenhaft Neues, so daß wir gut daran tun, für sie die eigene Bezeichnung ‚Judentum‘ statt des Namens ‚Israel‘ zu gebrauchen.“16
Das hier in Anschlag gebrachte „wesenhaft (!) Neue“ der Zeit ab dem römischen Krieg hängt nun freilich an der skizzierten unscharfen und historisch problematischen Bestimmung des „eigentlichen Wesen(s)“ der Größe Israel. Darüber hinaus lässt sich der unterstellte geschichtliche Abbruch bei Noth als Historisierung einer theologischen Konzeption erweisen. Dies zeigt schon die Verbindung dieses „Bruchs“ mit den Bezeichnungen „Israel“ bzw. „Judentum“, die deren sonstiger Verwendung keineswegs entspricht. 17 Vor allem aber hat Noth selbst sein Verständnis von „Israel“ als einer religiös fundierten Größe in aller Klarheit verdeutlicht, nämlich in dem vorletzten Paragraph der Geschichte Israels (§ 34), der überschrieben ist: „Die Ablehnung des Christus“. In dessen Schlussabsatz heißt es: „Jesus selbst mit seinem Wort und Werk gehörte nicht mehr zur Geschichte Israels. An ihm fand die Geschichte Israels vielmehr ihr eigentliches Ende. Wohl aber gehörte zur Geschichte Israels der Vorgang seiner Ablehnung und Verurteilung durch die Jerusalemer Kultgemeinde. Sie hatte in ihm nicht das Ziel erkannt, auf das verborgen die Geschichte Israels hinführte; sie hatte in ihm den ihr verheißenen Messias von sich gewiesen … Die Geschichte Israels eilte danach schnell ihrem Ende zu.“ 18 So naheliegend es sein mag, hier schlicht eine μετάβασις εἰς ἄλλο γένος (vom Historischen zum Theologischen) zu konstatieren, 19 wäre dies doch eine Verkürzung. Vielmehr expliziert Noth hier die biblisch-theologische Grundlegung seiner Israel-Konzeption, die von Anfang an in seinem „historischen“ Modell angelegt war. Für diese Konzeption erweist sich nun die Rede vom „Ende Israels“ geradezu als essentiell, bildet sie doch eine notwendige Komponente einer bestimmten heilsgeschichtlichen Gesamtschau, dem Gleichnis von den bösen Winzern in den Synoptikern (Mt 21; Mk 12) nicht unähnlich, hier freilich in einem historischen Lehrbuch. Was war die raison d’être dieser „historischen“ Konstruktion? Rolf Rendtorff dürfte den Finger auf den entscheidenden Punkt legen, wenn er formuliert: „Es geht letzten Endes um die Frage der legitimen theologischen 16 17
A.a.O., 15. So wird „Judentum“, „jüdisch“ etc. mit guten Gründen bereits für die persisch -hellenistische Zeit verwendet. Zugleich war und ist im jüdischen Kontext „Israel“ immer auch als emphatische Selbstbezeichnung möglich. Zu den terminologischen Differenzierungen vgl. im Übrigen RENDTORFF, „Ende“ (Anm. 7), 268f. 18 N OTH, Geschichte Israels (Anm. 6), 386. 19 So RENDTORFF, „Ende“ (Anm. 7).
Das Vorverständnis hinterfragen
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Inanspruchnahme des Alten Testaments. Das Reden vom ‚Ende‘ Israels ist im Grunde der Versuch, dem Judentum abzusprechen, daß es ein legitimes Recht auf diese Inanspruchnahme des Alten Testaments habe.“ 20 M.a.W., es handelt sich letztlich um das gleiche Interesse einer quasi-historischen, um nicht zu sagen pseudo-historischen Legitimierung des Christentums zulasten des antiken Judentums wie im Falle des Spätjudentumbegriffs. Meines Wissens war Rolf Rendtorff bis dato der einzige Fachkollege, der sich analytisch mit dem Noth’schen Konstrukt auseinandersetzte. Man darf m.E. fragen, ob sein sachliches Interesse an der Problemstellung und vor allem der klare Blick darauf möglich gewesen wären ohne den Diskurs des jüdisch-christlichen Dialogs, der in den 1960er Jahren einsetzte, und insbesondere ohne seine intensiven Gespräche und Freundschaften mit Kollegen an der Hebräischen Universität in Jerusalem. 21 Wie auch immer, die Veränderungen der Wahrnehmung von Israel/Judentum, haben sich in den vergangenen Jahrzehnten – zumindest auf einer elementaren Ebene – in der alttestamentlichen Exegese weitgehend und mit zunehmender Selbstverständlichkeit durchgesetzt, so nicht nur in Bezug auf das sog. Spätjudentum, sondern auch im Blick auf die diskutierte Fragestellung zur Geschichte Israels: Deren „Ende“ im Noth’schen Sinne scheint mir kein ernsthaftes Thema mehr zu sein. – Aus dieser Perspektive darf man den jüdisch-christlichen Dialog mithin als eine vielleicht ohne großes Aufsehen wirkende, aber doch nachhaltige „Erfolgsgeschichte“ sehen. Unbeschadet dessen ließe sich noch eine stattliche Reihe gewichtiger historisch-exegetischer Problemstellungen benennen, deren Diskussion von einer bewussten und differenzierten Wahrnehmung des gegenwärtigen Judentums und seiner Geschichte nur profitieren könnte. Dafür soll hier als letztes Beispiel eine weitere und in diesem Falle noch weithin selbstverständliche historische Israel-Konzeption thematisiert werden.
III. Die sog. Jerusalemer Kultgemeinde in nachexilischer Zeit Die meisten der Tagungsteilnehmer/innen wüssten vermutlich davon zu erzählen, wie schwierig es sein kann, interessierten Zeitgenossen zu erklären, 20 21
A.a.O., (Anm. 7), 273. Vgl. dazu R. RENDTORFF, Kontinuität im Widerspruch. Autobiographische Reflexionen, Göttingen 2007, 78–83. Im Zusammenhang seiner wiederholten Reisen nach Israel und der Begegnungen in Jerusalem seit 1963 nennt Rendtorff hier u.a. Isaac Seeligmann, Shemaryahu Talmon und Moshe Greenberg. Nicht nur diese schriftlichen Erinnerungen, sondern auch mündlich Äußerungen deuten darauf hin, dass es erst die Begegnungen mit jüdischen Persönlichkeiten in Israel und den USA waren, die ihn in kirchliche Kontexte des christlich-jüdischen Gesprächs in Deutschland führten.
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Das Vorverständnis hinterfragen
was das Judentum eigentlich ist: eine Religionsgemeinschaft oder ein Volk? Die in Abständen wiederkehrende Debatte in Israel um eine rechtliche Klärung der Frage „( מי הוא יהודיWer ist ein Jude?“) bestätigt darüber hinaus, dass das Problem in individuellen Fällen einigermaßen schwierig sein kann. Dabei ist die grundsätzliche Antwort für das traditionelle Judentum und für die gesamte Judenheit vor der neuzeitlichen Säkularisierung einfach: Beides trifft zu. Juden gehören zum ( עם ישראלVolk Israel), ob im Land Israel oder außerhalb, und sie leben entsprechend dem mosaischen Religionsgesetz. Dass man unter bestimmten Voraussetzungen dem Judentum beitreten kann, spricht nur auf den ersten Blick dagegen und für eine reine Konfessionsgemeinschaft, denn jüdische Proselyten und Proselytinnen treten nicht nur einer Religion bei, sondern sie werden zugleich, gleichsam per Adoption, in eine ethnische Gemeinschaft aufgenommen. In gewisser Weise entspricht dies dem Modell der Moabiterin Ruth, die zu ihrer Schwiegermutter aus Bethlehem sagt: „Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott.“ (Ruth 1,16) Das Judentum demonstriert damit ad oculos einen Sachverhalt, der für die Ethnologie und die Soziologie seit Längerem Allgemeingut ist, nämlich dass gemeinsame Herkunft und Verwandtschaft in Großgruppen wie Stämmen oder Völkern eine soziale Kategorie darstellen und keine biologische oder genetische. Schon deswegen wäre es ein Unding, jüdische Identität „rassisch“ begründen zu wollen. Andererseits konnte die zionistische Bewegung nur deshalb, weil die ethnische Zugehörigkeit in der Tradition so selbstverständlich war, dieses Selbstverständnis im Sinne einer modernen Nationalität re-formulieren und damit den Gedanken eines jüdischen Nationalstaates verbinden. Vor diesem Hintergrund soll noch eine dritte These zu einem historischen Bruch innerhalb der Geschichte Israels beleuchtet werden, dieses Mal aus dem Lehrbuch von Herbert Donner (1984/1986). Es ist (in der dritten Auflage) gegenwärtig das aktuelle Standardwerk zur Geschichte Israels in alttestamentlicher Zeit.22 Donner lehnt es ausdrücklich ab, „sich an der wenig fruchtbaren Debatte über das Ende der Geschichte des Volkes Israel zu beteiligen.“ Ihm gehe es „um nicht mehr als um einen vernünftigen Darstellungsabschluß, und der sollte dort liegen, wo die deutlichste und historisch 22 H. D ONNER , Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen. Teil 2: Von der Königszeit bis zu Alexander dem Großen. Mit einem Ausblick auf die Geschichte des Judentums bis Bar Kochba (Grundrisse zum Alten Testament / ATD.E 4/2), Göttingen 1986, 2001 3. Vgl. zum Folgenden besonders F. CRÜSEMANN, Israel in der Perserzeit. Eine Skizze in Auseinandersetzung mit Max Weber, in: W. SCHLUCHTER (Hg.), Max Webers Sicht des Christentums (stw 548), Frankfurt/Main 1985, 205–232 = F. CRÜSEMANN, Kanon und Sozialgeschichte. Beiträge zum Alten Testament, Gütersloh 2003, 210–226; E. B LUM , Volk oder Kultgemeinde? Zum Bild des nachexilischen Judentums in der alttestamentlichen Wissenschaft, KuI 10 (1995) 24–42, und die unten in Anm. 28 und 29 genannte Literatur.
Das Vorverständnis hinterfragen
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wichtigste Zäsur zu erkennen ist: bei Alexander dem Großen, nach der Geschichte des alten Israel und der Formationsepoche des Judentums.“23 Mit der zuletzt genannten „Formationsepoche“ ist offenbar die Perserzeit als eine Übergangsphase zwischen dem vorexilischen „alten Israel“ und dem „Judentum“ „im hellenistisch-römischen Zeitalter“ gemeint. Die tiefgreifende Transformation, die sich in diesem Zeitraum zugetragen hat, beschreibt Donner ebenso „klassisch“ wie pointiert in seinem Resümee zu der Zeit von Nehemia und Esra. Daraus einige Kernsätze: „Wir sind im Zeitalter der heiligen Schriften, in dem sich ‚Israel‘ als theokratische Gemeinde unter dem Gesetz formierte. Diese Gemeinde verstand sich als eine Blutsgemeinschaft, obwohl sie das faktisch schon lange nicht mehr war … Das wesentliche Merkmal der Zugehörigkeit zu ‚Israel‘ war nicht mehr der Beweis oder die Behauptung der Abstammung von Menschengruppen, die das alte Israel gebildet hatten, sondern die Unterwerfung unter das ‚Gesetz‘ als Willenskundgebung Jahwes … Dieses neue Israel kann bei aller Kontinuität mit dem vorexilischen mit alten Maßstäben nicht mehr gemessen werden. Es ist mit dem ethnischen oder staatlichen oder religiösen Israel der 1. Hälfte des 1. Jahrtausends v. Chr. nur noch bedingt vergleichbar. Die Epoche der Restauration unter Nehemia und Esra war die Geburtsstunde des Judentums.“24
Donner begründet damit eine seit dem 19. Jahrhundert in der christlichen Forschung weithin geteilte Hypothese vom nachexilischen Juda als einer „Kultgemeinde“, die vor allem durch zurückgekehrte Exilierte gebildet worden sei. – Oder in der gern zitierten, zugespitzten Formulierung von Julius Wellhausen: „Aus dem Exil kehrte nicht die Nation zurück, sondern eine religiöse Sekte.“25 Ob man dabei von „Gemeinde“, „Kirche“, „Bekenntnis“ oder „Wahlgemeinschaft“ spricht, schlechthin konstitutiv bleibt die These, dass für die Zugehörigkeit zu „Israel“ – wie Donner es formuliert – „nicht die Behauptung der Abstammung“ von entsprechenden „Menschengruppen“ ausschlaggebend gewesen sei, sondern „die Unterwerfung unter das Gesetz“. M.a.W., an die Stelle des Volkes wäre die religiöse Konfession getreten. Angesichts des Quellenmaterials aus nachexilischer Zeit, über das wir in nicht geringem Umfang verfügen, sind die behaupteten Sachverhalte jedoch erstaunlich. Teilweise erscheinen die Gegebenheiten geradezu auf den Kopf gestellt. Frank Crüsemann hat hierzu u.a. bereits auf das in nachexilischen Texten virulente Problem der sog. „Mischehen“ zwischen Judäern und Frauen anderer Volksgruppen verwiesen: „In keinem der darauf bezogenen Texte wird auch nur die Möglichkeit er wogen, die fremden Partner könnten für den Gottesglauben Israels gewonnen werden, also der angeblichen 23 24 25
28.
Alle vorstehenden Zitate aus DONNER , a.a.O., 474f. A.a.O., 465 (erste Aufl. 431). J. WELLHAUSEN, Prolegomena zur Geschichte Israels, Berlin/Leipzig (1878) 1927 6,
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Das Vorverständnis hinterfragen
‚Gemeinde‘ beitreten. An dieser Stelle wird deutlich, dass gerade nicht Gesetzestreue über die Zugehörigkeit entscheidet, sondern allein die Abstammungsverhältnisse.“26
Ebenso ist nicht zu übersehen, dass nirgendwo in der Hebräischen Bibel Stammbäume und verwandtschaftliche Zuordnungen so massiv belegt und so zentral sind wie in der nachexilischen Literatur; dazu gehören die P-Überlieferungen im Pentateuch und vor allem die Chronikbücher und Esra/Nehemia.27 Nun argumentiert Donner darüber hinaus vermeintlich historisch, dass die „Gemeinde“ in der perserzeitlichen Provinz Jehud „faktisch schon lange“ keine „Blutsgemeinschaft“ mehr war. Eine solche Behauptung zu genetischen Verhältnissen (wie auch deren Bestreitung) bleibt jedoch pure Spekulation, weil hierzu jegliche Quellengrundlage fehlt. Noch wichtiger, die These verfehlt schon mit ihrer Präsupposition, es ginge um ein biologisches Faktum, die wesentliche Pointe: Wie bereits angesprochen, basiert Ethnizität traditioneller Gesellschaften nicht auf genetisch nachweisbarer Verwandtschaft, sondern auf dem „Faktum“ des Anspruchs bzw. der sozialen Anerkennung verwandtschaftlicher Beziehungen. Ob entsprechende Geschlechtsregister aus historischer Sicht „real“ oder fiktiv waren, ist für ihre gesellschaftliche Wirksamkeit irrelevant. Die aktuellste und umfassendste Untersuchung zur sozialen Verfasstheit des nachexilischen Juda/„Israel“ bietet die kürzlich publizierte Tübinger Dissertation von Kristin Weingart über die Verwendung des Israel-Namens in biblischer Zeit.28 Auf der Basis einer gründlichen Analyse des einschlägigen Materials wird darin der Nachweis geführt, dass sich die JudäerInnen der Perserzeit dezidiert als Ethnos und nicht als Wahlgemeinschaft verstanden haben. Komplementär dazu konnte Volker Haarmann 29 zeigen, dass die sog. Bekehrungsgeschichten in der Hebräischen Bibel (über Jethro, Rahab, Naeman etc.), die ausnahmslos in persischer Zeit formuliert wurden, zwar von der Zuwendung einzelner nicht-israelitischer Individuen zum Gott Israels erzählen, aber nicht von deren Integration in Israel als „Proselyten“ (Jethro bleibt Midianiter, Naeman bleibt Aramäer etc.). Für Fachleute sei
26 27
F. CRÜSEMANN, Israel (Anm. 22), 210 = 215. Dabei wird gelegentlich die Abstammung als Kriterium der Zugehörigkeit ausdrücklich thematisiert, so in Esr 2,59ff. in Bezug auf Familien, die aus Babylonien zurückkehrten, „ohne angeben zu können, ob sie nach Familie und Herkunft von Israel abstammten“ (2,59 NZB). Sie wurden nach 2,62f. vom Priestertum ausgeschlossen, „bis ein Priester für Urim und Tummim auftrete“. 28 K. WEINGART, Stämmevolk – Staatsvolk – Gottesvolk? Studien zur Verwendung des Israel-Namens im Alten Testament (FAT II/68), Tübingen 2014. 29 V. H AARMANN , JHWH-Verehrer der Völker. Die Hinwendung von Nichtisraeliten zum Gott Israels in alttestamentlichen Überlieferungen (AThANT 91), Zürich 2008.
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noch hinzugefügt: Auch die häufig in diesem Zusammenhang diskutierten Texte Esr 6,19–2130 und Jes 56,1–831 fügen sich in dieses Bild. Wenn die Sachverhalte so eindeutig sind, wie hier vertreten, wie konnte man dann im 19. Jahrhundert auf die Idee einer jüdischen konfessionellen Gemeinde nach dem babylonischen Exil verfallen und bis heute – weithin fraglos – daran festhalten? Zum einen mag dabei das Selbstbild der christlichen Kirchen als Analogie eine Rolle gespielt haben. Zum anderen und vor allem gab es aber ein direktes „Vorbild“: Im Jahr 1893 konstituierte sich in Berlin der „Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens e.V.“. In dessen Programm hieß es unter anderem: „Wir deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens stehen fest auf dem Boden der deutschen Nationalität. Unsere Gemeinschaft mit den Juden anderer Länder ist ke ine andere als die Gemeinschaft der Katholiken und Protestanten Deutschlands mit den Katholiken und Protestanten anderer Länder …“
Unverkennbar artikulierte sich hier in der Tat so etwas wie eine „jüdische Konfession“ neben den etablierten christlichen Kirchen. Historisch bleibt aber zu bedenken, dass dies für das Judentum eine geschichtliche Sonderentwicklung in Mittel- und Westeuropa (mit Ausstrahlung nach Nordamerika) zwischen der bürgerlichen Emanzipation und der Schoah darstellte. Der Grundrahmen dafür war seit der Französischen Revolution vorgegeben, in der mit Blick auf die rechtliche Gleichstellung der Juden die Losung ausgegeben werden konnte: „Den Juden als Nation ist alles zu verweigern, den Juden als Individuen aber ist alles zu gewähren.“ 32 Dem traditionellen jüdischen Selbstverständnis deutlich näher stand das Programm des ersten Zionistischen Kongresses, der vier Jahre nach der Gründung des „Central-Vereins“
30
302.
Siehe dazu B LUM , Volk (Anm. 22), 29f.; WEINGART, Stämmevolk (Anm. 28), 299–
31 Siehe B LUM , Volk (Anm. 22), 30–33; H AARMANN , JHWH-Verehrer (Anm. 29), 206– 245. CRÜSEMANN, Israel (Anm. 22), 210 = 215, findet in diesem tritojesajanischen Wort zwar ähnlich wie Donner „die Vorstellung von Israel als einer ‚Gemeinde‘, die allein durch das Gesetz konstituiert und zusammengehalten wird“, sieht darin aber eine marginal gebliebene prophetische Position (darin vergleichbar der grundsätzlichen Kritik am Tempelbau in Jes 66,1–2). In der Tat ist der Hinweis auf die innerjüdische Partikularität dieser Stimme wichtig. Gleichwohl bleibt zu beachten, dass die Verheißung für den Fremden ( בן )הנכר, der sich am Gotteswillen ( )בריתיorientiert, in dessen unbeschränkter Teilhabe am JHWH-Kult im Heiligtum bestehen soll (Jes 56,6–7); so werde das Heiligtum „Gebetshaus für alle Völker genannt werden“ (56,7b). Dementsprechend ist auch die in V. 3a zitierte Klage des Fremden über seine Absonderung auf die Frage der Kultgemeinschaft mit dem Gottesvolk und nicht auf eine Eingliederung in dieses zu beziehen. 32 „Il faut tout refuser aux juifs comme nation et tout accorder aux juifs comme individus.“ So die häufig zitierte Formulierung von Stanislas de Clermont-Tonnerre in einer Rede in der französischen Nationalversammlung (Dezember 1789).
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Das Vorverständnis hinterfragen
in Basel die „Schaffung einer öffentlich-rechtlichen Heimstätte in Palästina“ „für das jüdische Volk“ forderte. 33 Nicht weniger vielfältig und komplex kann sich jüdische Identität in der Gegenwart, d.h. nach den Weltkriegen, der Schoah und seit der Gründung des Staates Israel darstellen. Auch von den für jüdische Menschen in besonderer Weise katastrophischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts einmal abgesehen, fallen hier die Wirkungen struktureller Verschiebungen zusammen, insbesondere des Auseinandertretens von familiärer Herkunft und religiöser Bindung und der weitgehenden Substitution des traditionellen Ethnos durch die moderne Nation. Unbeschadet dessen bleibt selbst in „säkular-jüdischen“ Kontexten die Kontinuität mit konstitutiven Traditionen klar ausgeprägt und wirksam präsent. Dementsprechend wird auch eine für das eigene christliche Denken selbstverständliche Dichotomie „Religionszugehörigkeit vs. Volkszugehörigkeit“ in jedem jüdischen Kontext sehr schnell in ihrer lebensweltlichen Partikularität wahrgenommen werden.34 Die epistemologische Bedeutung einer unverstellten Wahrnehmung des gegenwärtigen Judentums lässt sich gleichwohl nicht generalisieren. So können in historischen Fragen des alten Israel selbstverständlich auch Sichtweisen des sog. normativen Judentums sich als Anachronismen erweisen, mehr noch: Dafür ließen sich mühelos Beispiele anführen. Gleichwohl erscheint mir die Frage nach dem jüdischen Selbstverständnis für die christliche Theologie essentiell, zuvörderst im Blick auf einen echten Dialog in der Gegenwart, aber auch da, wo es darum geht, die gemeinsame Ursprungsgeschichte zu verstehen. In dem eingangs skizzierten Sinne ist hier das Selbstverständnis des Anderen die verlässlichste Hilfe, um eigene Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen.
33 Zu Entwicklungen im deutschen Judentum dieser Zeit s. den Sammelband W.E. MOSSE (Hg.), Juden im Wilhelminischen Deutschland 1890–1914 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts 33), Tübingen 1998 2, darin besonders R. WELTSCH, Die schleichende Krise der jüdischen Identität – ein Nachwort, 689–702. 34 Dies entspricht auch persönlicher Erfahrung: Die kritische Auseinandersetzun g mit geläufigen Forschungspositionen, die erstmals 1995 publiziert (Anm. 22) und davor in meiner Augsburger Antrittsvorlesung vorgetragen worden war, beruht auf veränderten Wahrnehmungen infolge meiner Studienzeit an der Hebräischen Universität anfangs der 1970er Jahre. Des Weiteren kann in diesem Zusammenhang auf die Vorworte in den oben genannten Arbeiten von K. W EINGART (Anm. 28) und V. HAARMANN (Anm. 29, vgl. auch die Einleitung!) verwiesen werden.
Nachweis der Erstveröffentlichungen Notwendigkeit und Grenzen historischer Exegese. Plädoyer für eine alttestamentliche „Exegetik“, in: BERND J ANOWSKI (Hg.), Theologie und Exegese des Alten Testaments / der Hebräischen Bibel (SBS 200), Stuttgart 2005, 11–40. Historiographie oder Dichtung? Zur Eigenart alttestamentlicher Geschichtsüberlieferung, in: ERHARD BLUM / WILLIAM J OHNSTONE / CHRISTOPH MARKSCHIES (Hg.), Das Alte Testament – ein Geschichtsbuch? Beiträge des Symposiums „Das Alte Testament und die Kultur der Moderne“ anlässlich des 100. Geburtstags Gerhard von Rads (1901–1971) Heidelberg 18.–21. Oktober 2001 (atm 10), Münster 2005, 65–86. Von Sinn und Nutzen der Kategorie „Synchronie“ in der Exegese, in: WALTER DIETRICH (Hg.), David und Saul im Widerstreit – Diachronie und Synchronie im Wettstreit. Beiträge zur Auslegung des ersten Samuelbuches (OBO 206), Freiburg/Schweiz u. Göttingen 2004, 16–30. „Formgeschichte“ – ein irreführender Begriff Zuerst veröffentlicht mit Fragezeichen im Titel als: „Formgeschichte“ – ein irreführender Begriff?, in: HELMUT UTZSCHNEIDER / ERHARD BLUM (Hg.), Lesarten der Bibel. Untersuchungen zu einer Theorie der Exegese des Alten Testaments, Stuttgart 2006, 85–96. Die Stimme des Autors in den Geschichtsüberlieferungen des Alten Testaments, in: KLAUS-PETER ADAM (Hg.), Historiographie in der Antike (BZAW 373), Berlin / New York 2008, 107–130. Zwischen Literarkritik und Stilkritik. Die diachrone Analyse der literarischen Verbindung von Genesis und Exodus – im Gespräch mit Ludwig Schmidt, ZAW 124 (2013) 493–515. Psalm 2,7c – eine performative Aussage, in: KONRAD RUPPRECHT (Hg.), Sefer Rendtorff. Festschrift zum 50. Geburtstag von Rolf Rendtorff (DBAT, Beiheft 1), Dielheim, Selbstverlag der Autoren 1975, 4–8.
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Nachweis der Erstveröffentlichungen
Der vermeintliche Gottesname „Elohim“, in: INGOLF U. DALFERTH / PHILIPP STOELLGER (Hg.), Gott Nennen. Gottes Name und Gott als Name (RPT 35), Tübingen 2008, 97–119. Das althebräische Verbalsystem – eine synchrone Analyse, in: OLIVER DYMA / ANDREAS MICHEL (Hg.), Sprachliche Tiefe – Theologische Weite (BThSt 91), Neukirchen-Vluyn 2008, 91–142. Volk oder Kultgemeinde? Zum Bild des nachexilischen Judentums in der alttestamentlichen Wissenschaft, KuI 10 (1995) 24–42. Das Vorverständnis hinterfragen. Veränderungen alttestamentlich-exegetischer Zugänge aus der lebensweltlichen Begegnung mit dem Judentum, in: IRMTRAUD FISCHER / EDITH PETSCHNIGG (Hg.), Der „jüdisch-christliche“ Dialog verändert(e) die Theologie. Ein Paradigmenwechsel aus ExpertInnensicht, Wien/Köln/Weimar 2015 (in Vorbereitung).
Stellenregister Genesis 1 1,9 2,24 12,2 17 20,7 22,14 28,6 28,10–22 32,33 34,31 35,11f. 37,3 37,4 37,9f. 37,11 37,21f. 37,25–30 37,36 42,4 42,21f. 43,7 46,1–5 50,14–21 50,22 50,23–26
152 168f. 88 163 200 163 40.87f. 184 133–135 87 189 200 107 112 107 112 114 110–114 113 107 111 189 125 116f.119– 121. 125 119f.123f. 117.119f.123
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Nehemia 4ff. 6,6f.
199 199
1 Chronik 10
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Josephus, Contra Apionem I,37ff. 53 Philo, Vita Mosis II,11 53
Sachregister Aspekte 131.174f. Ätiologie 32.35.79f.86–89 Buchgrenzen/Werkgrenzen 19–21.59f. 115–127
intentio operis / Werkintention 19.62 Kohärenz/ Inkohärenz 3–12.66–68.106– 108.119 Kommunikationssituation 72.100 Kultgemeinde 195–214.219.221–225
Diachron(ie) 58f.64.108.190 Eigenname 136–150 Elohim/Gott 141–154 Endgestalt 59f.64 Endtextexegese / Kanonische Exegese 15.21.58–63 Exegetik 27–29 Fiktionalität 18f.44–47.61.85 Formgeschichte 69–82 Gattung(en) 69–72.78–80.82 Geschichtsschreibung/Historiographie 34–39.47.93–96.100.102–104 Hermeneutik/Vorverständnis 3.22–29. 58.62f.214.215.217.226 Historizität 31.42.98 intentio auctoris / Autorenintention 19f.62 intentio lectoris / Rezeptionsästhetik 19.25
Literarkritik 3–12.109f.115f.133–135 Literatur/Belletrisitik 17–19.33f.44f.47 Literaturwissenschaftliche Auslegung / literary turn 15.41–49.81 Methoden(kanon) 13f.57.65f.68.75f.133– 135.212 Mitteilungsliteratur 18f.60.85 Modus 159–161.190 Perfektiv/Imperfektiv 131.175–189 Performative Rede 130–132 Sage/Märchen 32.79f. Sitz im Leben 72f.82 Synchron(ie) 55–68.155–158 Textpragmatik 36.38f.40.44.60.97f. Traditionales Erzählen 41.98–100 Urkundenhypothese 2.105f.110–112.119f. 133–135.195f.