Grundfragen Der Antiken Philosophie (Eugen Fink Gesamtausgabe, 11) (German Edition) 3495998365, 9783495998366

Band 11 der Eugen Fink Gesamtausgabe versammelt Beitrage Eugen Finks seit den 1940er Jahren zur antiken Philosophie: dre

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German Pages 720 [715] Year 2023

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Table of contents :
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Grundfragen der antiken Philosophie
Gedankengang
I. Wir und die Griechen
II. Ausgang der Interpretation von der „Philosophiegeschichte“ des Aristoteles (Met. A)
III. Anaximander
IV. Heraklit
V. Parmenides
Der Satz vom Widerspruch
Heraklit
Ergänzende Texte
Zeit und Zeitbegriff bei Aristoteles
Asebeia und technē im 10. Buch der Nomoi
Notizen und Dispositionen
Heraklits Leben und Lehre
‹Notizen zur Übung „Platons Parmenides“›
Beiläufiges. Zur Vorlesung über Grundfragen der antiken Philosophie
Parmenides-Kolloquium
‹Dispositionen zur Übung „Zur Geschichte des Welt-Begriffs (Timaios)“›
Aristoteles, Nikomachische Ethik
‹Notizen zur Übung „Platons Philebos“›
Heraklit-Interpretationen
Zu Aristoteles’ Physik, 4. Buch, 10. Kap.
‹Dispositionen zum Seminar über „Vom Wesen der Freundschaft“ (Aristoteles, Ethika Nikomacheia, 8. und 9. Buch)›
‹Notizen zur Übung „Platons Sophistes“›
‹Dispositionen zum Proseminar „Der Satz vom Widerspruch“›
‹Dispositionen zum Seminar „Heraklit und Parmenides“ (mit Martin Heidegger)›
Textkritischer Apparat
I. Der Aufbau des Bandes
II. Beschreibung der Texte und textkritische Anmerkungen
Verzeichnis der von Fink zitierten Texte
Nachwort der Herausgeberin und des Herausgebers
1. Die Weltontologie Finks und die antike Philosophie
2. Heraklit und der Anfang des kosmologischen Denkens
3. Parmenides und die Entstehung der Ontologie
4. Die Parmenideische Explikation des Seins und das Weltproblem
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Grundfragen Der Antiken Philosophie (Eugen Fink Gesamtausgabe, 11) (German Edition)
 3495998365, 9783495998366

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Eugen Fink Gesamtausgabe

Eugen Fink

Grundfragen der antiken Philosophie

| 11

Eugen Fink Gesamtausgabe Herausgegeben von Annette Hilt Cathrin Nielsen Alexander Schnell Hans Rainer Sepp Holger Zaborowski Beirat Damir Barbarić (Zagreb) Rudolf Bernet (Leuven) Renato Christin (Triest/Berlin) Natalie Depraz (Paris) Giovanni Jan Giubilato (Wuppertal) Wolfhart Henckmann (München) Catherine Homan (Milwaukee) Guy van Kerckhoven (Brüssel) Pavel Kouba (Prag) Alfredo Marini (Mailand) Javier San Martín (Madrid) Käte Meyer-Drawe (Bochum) Franz Anton Schwarz (Freiburg) Christopher Turner (Stanislaus) Helmuth Vetter (Wien)

Band 11

Eugen Fink

Grundfragen der antiken Philosophie Herausgegeben von Simona Bertolini und Riccardo Lazzari

Koordination: Eugen Fink-Zentrum Wuppertal Mit archivalischer Unterstützung durch das Universitätsarchiv der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und das Eugen-Fink-Archiv an der Universität Erfurt.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99836-6 (Print) ISBN 978-3-495-99542-6 (ePDF)

1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de

Inhalt

Grundfragen der antiken Philosophie ‹WS 1947/48› . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Satz vom Widerspruch

‹Philosophisches Proseminar im Wintersemester 1959/60› . . . . . . . . . .

Heraklit

‹Seminar Wintersemester 1966/1967 (mit Martin Heidegger)› . . . . . . . . .

7 227 273

Ergänzende Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Zeit und Zeitbegriff bei Aristoteles

‹1963› . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Asebeia und technē im 10. Buch der Nomoi

‹1969› . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

447 461

Notizen und Dispositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 Heraklits Leben und Lehre

(Nachwort zu einer geplanten Ausgabe der Fragmente von W. Bröcker) ‹1946›

‹Notizen zur Übung „Platons Parmenides“›

473

‹WS 1947/48› . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

477

Beiläufiges. Zur Vorlesung über Grundfragen der antiken Philosophie ‹WS 1947/48› . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

499

Parmenides-Kolloquium ‹WS 1948/49› . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

563

‹Dispositionen zur Übung „Zur Geschichte des Welt-Begriffs (Timaios)“› ‹SS 1949› . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

567

5

Inhalt

Aristoteles, Nikomachische Ethik ‹1950› . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‹Notizen zur Übung „Platons Philebos“›

‹SS 1951› . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Heraklit-Interpretationen

589 593

‹1950–1954› . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

595

Zu Aristoteles’ Physik, 4. Buch, 10. Kap. ‹1951› . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

609

‹Dispositionen zum Seminar über „Vom Wesen der Freundschaft“ (Aristoteles, Ethika Nikomacheia, 8. und 9. Buch)› ‹SS 1953› . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

617

‹Notizen zur Übung „Platons Sophistes“›

‹WS 1953/54› . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

619

‹Dispositionen zum Proseminar „Der Satz vom Widerspruch“› ‹WS 1959/60› . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

623

‹Dispositionen zum Seminar „Heraklit und Parmenides“ (mit Martin Heidegger)› ‹WS 1966/67› . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

635

Textkritischer Apparat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

655

I. Der Aufbau des Bandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

655

II. Beschreibung der Texte und textkritische Anmerkungen . . . . . .

658

Verzeichnis der von Fink zitierten Texte . . . . . . . . . . . . . . . . .

684

Nachwort der Herausgeberin und des Herausgebers . . . . . . . . .

685

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Grundfragen der antiken Philosophie ‹WS 1947/48›

Gedankengang1 1.

Das Problem des geschichtlichen Verhältnisses zur antiken Philosophie

I. 2.

Wir und die Griechen Doxographie und „antiquarische Historie“; Trennung von System und Geschichte und die „kritische Historie“; unechte und echte „monumenta­ lische Historie“; die Griechen als die „Stifter der Philosophie“; kein grie­ chenfreier Raum in unserem Weltverhalten; die griechische Daseins­ erfahrung Wiederholung der griechischen Grundfragen als der Zugang zur Geschichte der ontologischen Gedanken; die vulgäre Gegenüberstel­ lung von sog. „Metaphysik der Substanz“ und „Metaphysik der Subjek­ tivität“; die „Abstraktion vom Christentum“ Das Fragen und die stillstehende Seinsauslegung; Vorbegriffe von Phi­ losophie und Philosoph; das Ineinander von anfangender Philosophie und anfangender Wissenschaft

3.

4.

II. 5. 6. 7.

8.

Ausgang der Interpretation von der „Philosophiegeschichte“ des Aristoteles (Met. A) Anzeige des Philosophiebegriffs des Aristoteles; die aristotelische Interpretation der Anfänge des griechischen Denkens2 Archē und aition; die vier Weisen des Grundes Die metaphysische Auslegung der tetraktys der Gründe: das Sein am Seienden; die Frage nach der hylē als leitendem Gesichtspunkt des Aristoteles für seine Deutung der ersten Philosophen; „Bestehen aus …“ als eine Weise des Gründens; Analogie zwischen bleibendem Ding und bleibender physis Der ontologische Grundgedanke von Bleiben und Wechsel; die aristo­ telische Konstruktion eines Weges im Denken der archai. – Thales

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Grundfragen der antiken Philosophie

III. 9. 10. 11. 12.

Anaximander Grundstimmung und Grunderfahrung der Philosophie; die Ergriffen­ heit; das dritte Anaximander-Fragment Apeiron als hylē? Das apeiron kein Seiendes, sondern das Sein; alles Bestehen aus … endet im Element; alles Seiende besteht letztlich aus Sein Das erste Anaximander-Fragment; Entstehen, Vergehen, adikia Kata tēn tou chronou taxin: die zeitlassende Zeit; das apeiron nicht das „Absolute“ der Metaphysik; Sein – Zeit – physis

IV. Heraklit 13. Das anaximandrische Problem als Ausgang für Heraklit und Parmen­ ides; Heraklits Existenz als „Absonderung“; die „Dunkelheit“ des hera­ klitischen Stils. Fragmente: 92, 125a, 121, 34, 93, 64 14. Die Feuerlehre: Sein und Werden als zentrale Frage; Feuer = Zeit, nicht = Urstoff; Grundsymbol des Feuers, seine Lichtnatur (phaos). Fragmente: 11, 100, 94, 30, 76, 36, 90 15. Lehre von den Gegensätzen: die heraklitische Paradoxie; die sichtbare Harmonie als ontologische Struktur im Sein der endlichen Dinge; alles Vergängliche ist übergänglich; Leben und Tod als Symbol der unsichtba­ ren Harmonie zwischen physis und Welt der Dinge. Fragmente: 126, 111, 58, 61, 80, 8, 54, 96, 15 16. Selbigkeit von Dionysos und Hades; die metaphysische Auslegung der Selbigkeit; Harmonie von Bogen und Leier. Fragmente: 103, 10, 51, 48, 53, 102 17. Symbolische und eigentliche Philosophie; der Schlaf der Welt; to sophon nichts Personales. Fragmente: 28, 75, 89, 1, 93, 113, 116, 79, 82, 83, 67, 5, 32, 50 18. To sophon nicht = Vernunft (im metaphysischen Sinne); das Offene; das Einssein von Allem; der Vernunftbegriff des neuzeitlichen Rationa­ lismus und das Vernünftige der „physiologischen“ Wahrheit; „Alles ist eins“ bedeutet nicht die Leugnung der Individuation, keine These über die Dinge; Sein ist Werden (Geschehen); harmoniē aphanēs; polymathiē und sophiē. Fragmente: 40, 41 19. Verkürzter Erscheinungsbegriff der Neuzeit (nur subjektiv); die vor­ gängige Lichtung des Seienden; periechon, dikē und das dikaion der Herakliteer; der chōrismos des sophon. Fragmente: 2, 16, 17, 18, 108 20. Sophon, logos, psychē? Der Weltaufbruch (Sein als Werden); logos primär nicht menschliche Rede, sondern prägende, fügende Macht des Seins; im Menschen die Wohnstatt des weltdurchwaltenden logos; 8

Grundfragen der antiken Philosophie

psychē und das Offenstehen dem Sein; die Weltstellung des Menschen: ontologisches Tier. Fragmente: 1, 72, 101, 45, 115, 118, 119 21. Heraklits Erscheinungsbegriff nicht vom Subjekt her gedacht; Zusam­ menhang von Vergänglichkeit, Vereinzelung und Erscheinung; Vor­ schein und Anschein; die physis, die Bewegtheit des Seins (hodos anō katō) als Spiel des aiōn. Fragmente: 123, 57, 60, 112, 52 22. Heraklits Problem von „Sein und Werden“; Vulgärauffassungen die­ ses Unterschieds; das Sein im Horizont der Zeit? Das metaphysisch begriffene Sein am Seienden als InderZeitsein; das vor-metaphysische Problem von Sein und Zeit; Sein weltet = das Sein spielt Welt; die Grundgestalten der Seinsfrage: vor-metaphysisch (physiologisch) wie metaphysisch; Übergang zu Parmenides V. Parmenides 23. Grundproblem des Parmenides: Sein und Schein. Grundmotive der physiologoi und ihre spätere Wandlung in der Metaphysik; Auslegung des Eingangsfragmentes: Ausgang aus dem Lande des Scheins; der „Sonnen“-Weg des Denkers; dikē = die Fuge des Seins; der Gegen-Bezug von Mensch und Sein; Wahrheit und Sein 24. Der Standort des Menschen; Parmenides: archē = Sein; erste ontologi­ sche Explikation des Seins selbst; Sein nur durch Sein explikabel; die Grund-Sätze des Parmenides keine Tautologien; der Fundamentalsatz über noein und einai; das Wesen des nous: abwesend – anwesend 25. Umgängiges Seinsverständnis und die Seins-Ahnung; physis, das Sein und der nous; abwesend – anwesend; der nous und das Sein; die „Prüfung“ des Seinsgedankens; ontologische Analogien; die sēmata tou eontos; Denken als Seinsdenken; die Metapher der Kugel 26. II. Teil des Lehrgedichts: die Lehre vom Schein; keine Hypothese (gegen Diels’ und Reinhardts Deutung); nous und doxa: ein ontologischer, nicht ein „erkenntnistheoretischer“ Unterschied; die ontologische Falschheit der doxa: die Vermischung von Sein und Nichts; Schein als Vorschein; doxa und die Namengebung; Sprache als „Verkehrung“; Namengebung nicht konventionell, sondern wesenhaft begriffen: die Sprache des Menschen als der ausgezeichnete beispielhafte Ort der Vermischung von Sein und Nichts zum Schein; thesenhafte Zusammenfassung der Parmenides-Interpretation; die physiologische Philosophie und die Metaphysik; die antike Verwunderung

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Grundfragen der antiken Philosophie 1/1

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| 1. Die Vorlesung wählt zu ihrem Gegenstand3 „Grundfragen der antiken Philosophie“. Damit stehen wir vor der Aufgabe, ein geschichtliches Ver­ hältnis zu jenen längstvergangenen Zeiten herzustellen, als der Geist des Abendlandes erwachte an der Küste Joniens und in Unteritalien. Wir müssen um zweieinhalbtausend Jahre zurückgehen. Vielleicht erscheint uns ein solcher Rückgang nicht besonders schwierig. Die abendländische Geschichte ist doch nur ein begrenzter und schon gründlich ausgeforschter Zeitraum innerhalb der uns zugänglichen Weltgeschichte, eine Etappe im Gang der Zivilisation, die wir über Ägypten, Babylon bis in die sumero-akkadische Frühzeit verfolgen können; und ebenso kennen wir in Indien und China in historischen Dokumenten bezeugte Vergangenheiten, die weit hinter die Griechenzeit zurückreichen. Und ferner, die griechische Philosophie ist nicht nur in einem reichhaltigen dokumentarischen Material vorhanden, sondern auch in einer fast ununterbrochenen Überlieferung kommentiert worden, von den Römern,4 den Kirchenvätern, von den Arabern, von den Scholasti­ kern, den Humanisten bis zu unseren modernen klassischen Philologen. Als historisches Dokument ist die antike Philosophie eine geistige Tatsache unserer Welt. Darüber hinaus ist sie als ein integrales Moment der huma­ nistischen Bildung eine noch lebendig wirkende, wenngleich schwindende5 geistige Macht. Die Frage ist nur, ob eine Vorlesung über die griechische Philosophie6 sich darauf beschränken kann, die historischen Zeugnisse vorzuführen, die Bekanntschaft mit dem Wortlaut antiker Philosopheme zu vermitteln und schließlich dem breiten Strom ihrer geistesgeschichtlichen Wirkungen nachzugehen. Gesetzt den Fall, daß in der Philosophie der Wort­ laut in einem spannungsreichen Bezug stünde zum Sinn, und ferner, daß die geistesgeschichtliche „Wirkung“ einer Philosophie nur ein ihr äußerliches Schicksal ist, dann wäre eine noch so gründliche Berichterstattung über die antiken Texte und ihre späteren Exegesen lediglich eine philologisch-histo­ rische Aufgabe. So ist es in der Tat. Damit wird der Wert der philologischen Arbeit nicht herabgesetzt. Die textliche Sicherung der antiken Philosophie, die durchgängige philologische Interpretation bildet eine unerläßliche Vor­ aussetzung für jeden philosophierenden Zugang zum wesentlichen Denken der Antike. Die moderne Philologie hat das Bewußtsein dafür geschärft, daß für ein angemessenes Begreifen eines längst vergangenen Menschentums nicht ohne weiteres die Verstehensweisen gebraucht werden | dürfen, die der Situation des Zugangsuchenden angehören; daß also nicht die homerische Welt etwa von den Denkweisen unseres späten differenzierten Lebens aus begriffen werden kann, daß man vielmehr den Versuch machen muß, sie aus sich selbst zu verstehen. Bei einem solchen Vorgehen macht der Interpretie­ rende Gebrauch von den Denkweisen, Lebenshaltungen der homerischen Heroenzeit, wie sie ihm in vielen zusammenstimmenden Einzelzügen deut­ lich werden; mit anderen Worten, er ist kritisch, sofern er die Kategorien 10

Grundfragen der antiken Philosophie

des Verstehens seiner eigenen Epoche möglichst unterbindet und aus der geistesgeschichtlichen Situation des zu deutenden Zeitalters zu denken versucht. Wenn die klassische Philologie, als die Hüterin auch des großen philosophischen Schrifttums der Antike, nicht nur die Texte sammelt, ihre Echtheit prüft usw., sondern auch übersetzt und deutet, so interpretiert sie diese aus dem allgemeinen Horizont des geistesgeschichtlich verstandenen griechischen Daseins. Philosophie ist dann eine Lebensäußerung neben anderen, neben der griechischen Kunst, der Politik, der Mythologie. Die Frage, der wir zusteuern, läßt sich also formulieren: Ist das notwen­ dige geschichtliche Verhältnis zur antiken Philosophie nur die Gewinnung der rechten Einsicht in die geistesgeschichtliche Situation des Griechen­ tums? Kommt es nur darauf an, unsere modernen Begriffe zurückzuhalten und aus der Kenntnis des griechischen Lebensverständnisses, etwa des | 5. vorchristlichen Jahrhunderts, heraus die philosophischen Zeugnisse auszulegen? Hegel nennt die Philosophie „die verkehrte Welt“;7 auch zu den Zeiten des Thales schon war sie die verkehrte Welt und stand im Gegensatz gegen die Meinungen der Menge, nicht in einer angemaßten und überheblichen Besserwisserei, sondern im Wagnis, den tragenden Grund der Vertrautheit des Seienden loszulassen und sich der Fragwürdigkeit der Welt auszusetzen. In dem, was die antike Philosophie wesentlich ist, wird sie nur zugänglich für ein Verhalten, das selbst philosophiert. Die Geschichte der Philosophie ist einzig und allein ein Thema der Philosophie. Keine Wissenschaft, auch nicht die umfassendste Kulturwissenschaft und Geis­ tesgeschichte, kommt von sich aus in die Dimension der philosophischen Geschichtlichkeit. Es sieht zwar immer so aus, als ob die Philosophien eines Zeitalters aus dem allgemeinen Geist dieser Zeit erklärbar wären; sie sprechen die Sprache dieser Zeit, haben Ton und Farbe einer Epoche und sind doch, wenn anders sie überhaupt Philosophien sind, durch einen abgründigen Gegensatz zu ihrem Zeitalter bestimmt. Sie sind zwar auch eine Gestalt des objektiven Geistes einer Zeit, sind in ihrer „Zeitgemäßheit“ ein Ausdruck und Symptom des öffentlichen Geistes ‒ aber all dies betrifft nur ihre geistesgeschichtliche Erscheinung, nie ihr wahres Wesen, das der bloßen Geistesgeschichte ungreifbar bleibt. Jede Philosophie ist auf eine zweideutige | Weise vorhanden, als Wortlaut samt der öffentlich umgehen­ den Deutung, die eben nicht selbst philosophierend um den Sinn eines Philosophems ringt, und als der verschlossene und immer unzeitgemäße Sinn, der sich nur dem mitfragenden Denken offenbart. Das ist zunächst einfach eine Behauptung. Der Verlauf der Vorlesung soll sie versuchen, ins Recht zu setzen.8 Wo aber ausdrücklich darauf verzichtet wird, selbst philosophierend den Zugang zu vergangener Philosophie zu suchen und zu bahnen, wo „unvoreingenommen“ und „standpunktfrei“ einfach und getreu berichtet 11

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Grundfragen der antiken Philosophie

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wird, was sich als Fakten in der Philosophiegeschichte eben zugetragen hat, entsteht jenes gefährliche Zerrbild der „Objektivität“, die ohne eigene Meinung über Meinungen referiert, bloße Doxographie ist. Der Aberglaube, es gehöre zur intellektuellen Redlichkeit, als Historiker der Philosophie keine eigenen Gedanken zu haben und sich nur zum reinen Durchgang des Vergangenen zu machen, ist ein Vorurteil, das dem Bereich positivistischer Wissenschaftsgesinnung entstammt. Es rechtfertigt sich dabei immer wie­ der mit dem beliebten Hinweis auf die „gewaltsamen“ Interpretationen, mit denen große systematische Philosophen die Geschichte vergewaltigt haben, sie auf sich selber zulaufen ließen als End- und Höhepunkt, wie sie alles Vergangene umschufen, bis es, um mit Nietzsche zu reden, zum „Herold und Hahnenschrei“9 ihres eigenen Tages geworden war. Die Doxographie hat es mit bloßen Schatten zu tun, mit dem Buchstaben, dem der Geist entflohen. Die methodisch gewollte Meinungslosigkeit eines „objektiven historischen Verhaltens“ trägt den Fluch in sich, daß sie nie wirkliche Philosophie, nur Meinungen antrifft. Philosophie ist immer eine Bewegung des Gedankens; sie läßt sich gar nie erfassen und in den Griff bringen, wenn das Organ des Zugriffs der Gedankenstillstand sein soll. Bei einem solchen Verhalten entstehen dann die lächerlichen Erzählungen über jenen Anfang der griechischen Philosophie, wonach bald das Wasser, die Luft, bald das Feuer als „Urstoff“ angesetzt worden wäre. Urstoff wird dabei als eine ganz bekannte und geläufige Kategorie gebraucht. Das Entscheidende der antiken Auslegung wird überhaupt erst sichtbar, wenn ursprünglich begriffen ist, was „hylē“ überhaupt ist, was man so handlich als Urstoff übersetzt. Wenn es wahr ist, daß die Geschichte der Philosophie sich erst öffnet in ihrem verborgenen Sinn für ein Denken, das in die Bewegung des vergangenen Denkens zurückgeht, dann ist offenbar das von uns ausdrück­ lich herzustellende Verhältnis nicht nur ein „historisches“. | Das heißt: nicht nur ein historisches im gewöhnlichen Sinne. Ohne die Entfaltung systematischer Voraussetzungen bleibt eine geschichtliche Zuwendung zur vergangenen Philosophie unmöglich und verliert sich in die bloße unfrucht­ bare Doxographie oder, | wenn es hochkommt, in eine geistesgeschichtliche Deutung, die ihre Begriffe dem vorphilosophischen Leben der Umwelt entnimmt, in welcher eine Philosophie vorkommt ‒ und wogegen sie sich gerade aufrichtet. Mit anderen Worten, in der Philosophiegeschichte gibt es nicht die Trennung von systematischer und bloß historischer Betrachtung. Jedes Vorgehen ist hier unlösbar systematisch und historisch zugleich. Ja noch mehr, auch alles systematische Denken der Philosophie ist in innerster Notwendigkeit historisch. Welchen Sinn diese Behauptung haben kann, wird später hinreichend klar werden. Zunächst sei einmal hingewiesen auf die verhängnisvolle Rolle, die das Vorbild der positiven Wissenschaft in dieser Hinsicht spielt. An ihr ist der Unterschied der systematischen und 12

Grundfragen der antiken Philosophie

der historischen Erkenntnis leicht einzusehen. Nehmen wir den Fall der Mathematik. Mathematik entsteht als ein intersubjektives geistiges Gebilde in einem Zusammenwirken von vielen Forschern und Forschergenerationen. Sie hat ihre Geschichte, ihre Anfänge und bedeutsamen Ereignisse. Sie durchläuft die Jahrhunderte, und dieser Lauf ist ein Weg des Fortschrittes. Sie wächst aus kleinen Anfängen, aus ersten systematischen Versuchen in einem ständigen Weiterbau, zu dem jeder Forscher beiträgt. Jede neue Erkenntnis bereichert den mathematischen Besitzstand, erweitert ihn oder bildet ihn gar um. Gemessen an fortgeschrittenen Gestalten erweisen sich die Frühge­ stalten als unvollkommen oder gar als überholt; die Mathematik hat einen „gegenwärtigen Stand“; dieser allein repräsentiert das systematische Ganze der mathematischen Wissenschaft; natürlich ist dieser selbst überholbar durch künftige weitergehende Forschungen; einmal aber überholt, hat er nur noch ein historisches Interesse. Die Geschichte der Mathematik bezieht mit vollem Recht und in methodischer Bewußtheit vom gegenwärtigen Stand dieser Wissenschaft die Kategorien des Verstehens und Bewertens etwa der früheren, nun überholten Vorstufen. Sachlich-systematisches Forschen und historisches treten hier deutlich und klar auseinander. Das Historische ist nur interessant, sofern es „unterwegs“ war zum Heutigen; es hat nur ein sekundäres Interesse, es ist ja „überwunden“. Das gilt nicht nur etwa für die Mathematik, sondern prinzipiell für alle Wissenschaften. Das Wesen der positiven Wissenschaft besteht im fortschrittlichen Wissen. Wo immer Fortschritt ist, ist allein der gegenwärtige Stand das selbstverständliche Maß, an dem alles Vergangene, auf diese Gegenwart Zueilende gemessen wird. An der fortschrittlichen Wissenschaft ist die strenge methodische Trennung von systematischer und historischer Erkenntnis im Recht. Dies auch bei den sogenannten „historischen Wissenschaften“. Die Geschichtswissenschaft ist als solche ja eine systematische, in einem Wissensfortschritt begriffene Erforschung der Vergangenheit. In der Geschichte der Geschichtsschreibung verhält sich der zünftige Histori|ker dann zu Vorstufen der Geschichtswis­ senschaft, die noch nicht die methodische Durchbildung der gegenwärti­ gen haben, welche Gegenwart so als selbstverständliches Maß erscheint. Allerdings wird hier die Frage etwas verwickelt wegen der eigentümlichen Selbstbezogenheit der Geschichtswissenschaft. Die Philosophie ist keine Wissenschaft. Sie ist wesentlich etwas anderes als ein fortschrittliches Wissen. Deswegen darf auch die dort zu Recht bestehende Unterscheidung von Systematik und Historie nicht mehr selbst­ verständlich auf die Philosophie angewandt werden. Daß die Philosophie keine Wissenschaft ist, besagt nicht, daß sie etwa weniger wäre. Philosophie ist aus dem Horizont der Wissenschaft nicht zu begreifen, wohl aber umgekehrt. Auch die große Kunst hat nicht den der positiven Wissenschaft eigentümlichen Fortschrittscharakter. Sie wird nicht als ein | Stufenbau sich 13

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Grundfragen der antiken Philosophie

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immer steigernder Vollkommenheit. Hegel spricht die Verwandtschaft von Philosophie und Kunst schon in seiner ersten philosophischen Schrift also aus: „Jede Philosophie ist in sich vollendet, und hat, wie ein ächtes Kunst­ werk, die Totalität in sich. So wenig des Apelles und Sophokles Werke, wenn Raffael und Shakespeare sie gekannt hätten, diesen als bloße Vorübungen für sich hätten erscheinen können, sondern als eine verwandte Kraft des Geistes: so wenig kann die Vernunft in früheren Gestaltungen ihrer selbst nur nützliche Vorübungen für sich erblicken. Und wenn Virgil den Homer für eine solche Vorübung für sich und sein verfeinertes Zeitalter betrachtet hat, so ist sein Werk dafür eine Nachübung geblieben.“10 Es bedeutet schon eine wesentliche Einsicht, wenn begriffen wird, daß die Philosophie nicht als ein Fortschritt durch die Zeiten geht. Dann bereitet sich auch die Möglichkeit vor, die Vielfalt der philosophischen Systeme, die den gemeinen Verstand verwirrt und seinen Spott herausfordert, anders anzusehen, ohne darin sofort einen Einwand zu erblicken. Die Vielfalt wäre eine babylonische Sprachverwirrung, wenn eben die Philosophie wissenschaftlich sein müßte wie eine positive Wissenschaft. Dort ist es unerträglich, eine Vielzahl sich ausschließender Thesen gelten zu lassen. Im gegenwärtigen Wissensstande gibt es nicht viele Ansichten, die miteinander zusammenbestehen, sondern nur eine einzige umfassende, in sich einstimmige Theorie. Das übliche Argument, das gegen die Wissenschaftlichkeit der Philosophie ins Feld geführt wird, nämlich daß sie zu keiner Zeit bislang es zu einer einstimmigen Theorie gebracht habe, ist richtig in einem Sinne, wie ihn die so Argumentie­ renden nie begreifen. Was sie meinen ein vernichtendes Verdikt zu sein, ist in Wahrheit nur die Wahrheit über die Philosophie. Sie ist keine Wissenschaft. Was sie aber selbst positiv ist, bleibt jetzt noch offen. Der gemeine Verstand glaubt sie „widerlegt“, wenn er den Skandal der vielen einander wider|spre­ chenden Philosopheme unterstreicht. Die Einheit der Philosophie in der Vielzahl ihrer Ausprägungen, ihrer geschichtlichen Selbstverwirklichungen, ist eine Frage, die ausdrücklich offengehalten werden muß. Wir fassen zusammen: Eine philosophische Vorlesung11 über die Anfänge der Philosophie kann nicht einen gegenwärtigen Stand des philo­ sophischen Denkens als allgemeingültigen Maßstab voraussetzen, um von da her die Anfänge als Vorstufen auszulegen. Ein solches Unterfangen hielte die Philosophie, also etwas, das ursprünglicher ist als alle Wissenschaft, in einem verfälschenden Aspekt fest. Die bei den positiven Wissenschaften berechtigte Unterscheidung des systematischen und des historischen Inter­ esses muß der Philosophie fremd bleiben, weil sie in einem ganz anderen Sinne geschichtlich ist als das in der Fortschrittstruktur sich bewegende Wissen. Die Philosophie ist geschichtlich in einem ganz eigenen Sinne. Sie gehört nicht als ein Moment dem allgemeinen Geiste eines Zeitalters an, wenngleich sie darin auch vorkommt. Philosophie kann auch genommen 14

Grundfragen der antiken Philosophie

werden als ein Ausdruck einer Zeit, wie die Staatsformen, die Sitten, die Weltbilder; aber dann ist sie nie in ihrem eigenen geschichtlichen Wesen erfaßt. Die Philosophie stiftet überhaupt erst ein Weltalter, indem sie ent­ scheidet und für Jahrhunderte entscheidet, was das Wesen des Seienden und das Wesen der Wahrheit ist. In solchen Entscheidungen des ursprünglichen Denkens wird erst der Boden geschaffen, der eine Zeit trägt, der Boden einer menschlichen Weltstellung, auf welchem sich dann der Fortschritt der Wissenschaften bewegt. Philosophie ist geschichtlich, nicht weil sie in der Geschichte vorkommt, sondern weil sie Geschichte überhaupt erst ermöglicht. Die Frage erhebt sich erneut und verschärft: Wie muß das rechte12 geschichtliche Verhältnis gewonnen werden, das eine Zuwendung zur antiken Philosophie, zu ihren Grundfragen zuläßt? | Ist das nicht eine sonderbare Frage? Zunächst ging es uns darum, eine Bedenklichkeit und einen Verdacht zu erwecken gegen die Selbstverständ­ lichkeit, mit welcher man das Gegebensein eines historischen Verhältnisses annimmt, wenn nur ein Text, das Faktum einer Dokumentation vorliegt. Aber gerade die Faktizität eines solchen philosophiegeschichtlichen Faktums ist zumeist völlig unbegriffen, ja nicht einmal als das gewußt. Platon und Aristoteles sind eben vorhanden in den einschlägigen Schriften, die wir ja jederzeit übersetzen können. Übersetzen, wenn anders es mehr sein soll als nur die Wiedergabe der griechischen durch deutsche Worte, ist doch immer ein Verstehen. Woher nimmt nun ein solches Verstehen seine Kraft? Müssen wir nicht selber mitdenken? Genügt es, wenn wir das allgemeine geistesgeschichtliche Milieu von Platon und Aristoteles kennen, den griechi­ schen Stadtstaat, die Sitten, die soziale Struktur des damaligen Lebens ‒ oder müssen wir am | Ende auch die Entgegensetzung mitmachen, die jene Den­ ker gegen die landläufigen Anschauungen vollziehen? Und geht überhaupt ein solches Mitdenken und Nachdenken, wenn wir unsere eigene Meinung zurückhalten und uns nur vom fremden Denken mitnehmen lassen? In der bisherigen Überlegung haben wir das Problem einseitig, als eine bloße Frage des richtigen Wissens von der vergangenen Philosophie angesetzt. Friedrich Nietzsche hat das Problem des historischen Verhält­ nisses zu einer radikaleren Fragestellung vorgetrieben. Das Verhältnis zur Vergangenheit ist dabei primär kein Wissensverhältnis, sondern ein Gesamtverhältnis der ganzen menschlichen Existenz. Nietzsche unterschei­ det drei Weisen des Verhaltens: die monumentalische, die antiquarische und die kritische Historie. Das sind keine Arten von Geschichtsbetrachtung, die man sich auswählen könnte. Vielmehr handelt es sich dabei primär um eine je bestimmte Grundstellung des Menschen zur Zeit überhaupt. Am Verhältnis zur Vergangenheit wird offenbar, wie ein Menschentum, ein Einzelner, ein Volk, eine Kultur, in der Zeit sich hält. Für Nietzsche sind es also Grundmöglichkeiten des menschlichen In-der-Zeit-Seins. Dabei ist 15

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der Angelpunkt seiner Betrachtung das Verhältnis von Leben und Historie. Er handelt davon in der 2. Unzeitgemäßen Betrachtung, die überschrieben ist: „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“. Hier entfaltet Nietzsche bereits die ihm eigentümliche „Optik des Lebens“, des Denkens vom Leben her. Das Leben ist bewegt durch den es durchstimmenden Gegensatz von Bewußtsein und tiefer Bewußtlosigkeit, von menschlicher Freiheit und naturhafter Instinktsicherheit. Der Mensch ist das aus dem Naturfrieden herausgerissene, aufgescheuchte Tier, das nicht mehr selbst­ vergessen im Augenblick leben kann, sondern immer sich zur ganzen Zeit seines Daseins verhalten muß. Dort nun, wo der vitale Drang noch stark und lebendig ist, wo der Wagemut und die Begeisterung, mit anderen Worten, wo das menschliche Dasein selbst noch sich vorwiegend auf die Zukunft hin entwirft, dort tritt ein Verhalten zur Vergangenheit, zur Historie zu Tage, das in ihr die großen Möglichkeiten sieht. Nur wo Zukunft am Werk ist, sieht ein Menschentum die Vergangenheit groß und großartig, aufrufend als Vorbild zur heldischen Nachfolge. Die monumentale Historie ist jenes Zeitverhältnis, das im eigentlichen Sinn geschichtlich ist. Der Mensch existiert im Ganzen der Zeit: aufgerufen vom Vorbild der groß gesehenen Vergangenheit und groß planend bereit für die augenblickliche Tat. Anders ist die antiquarische Historie. Das Wesentliche derselben besteht nun nicht darin, daß sie sorgsamer und gründlicher sich dem Vergangenen hingibt, allen seinen Einzelheiten, allem nur historischen Plunder und Gerümpel; es ist vielmehr die bewahrende und | verehrende Art Mensch, die zurückblickt, sich in die Vergangenheit und ihren | unendlichen Reichtum versenkt, weil sie selbst keine Zukunft mehr in sich hat; hier ist bereits schon eine Verwand­ lung des Zeitganzen des Menschentums geschehen; die Zukunft ist das nur Kommende, Zustoßende, aber nicht mehr willentlich Ergriffene, nicht mehr der Raum der Tat. Und endlich die dritte Form, die kritische Historie, bedeutet die Schrumpfung der Zeiterstrecktheit des menschlichen Daseins auf die bloße Gegenwart: die Vergangenheit hat keine aufrufenden Vorbilder mehr, aber auch keinen Wert, den es zu wahren und zu bewahren gilt; die Zukunft ist bereits vom Mißtrauen in alles Menschenwerk überschattet; die einem solchen Menschentum mögliche Historie wird zur kritischen Haltung, die letztlich das Zeitganze einschnürt zur leeren Gegenwart. Diese drei Typen, die Nietzsche von dem historischen Verhältnis des Menschen aufstellt, haben eine große Bedeutung; wir haben sie nur beige­ zogen, um unsere Frage nach dem von uns selbst zu suchenden Verhältnis zur Antike weiter zu profilieren. Könnte es sein, daß die antiquarische Betrachtung der vergangenen Philosophie, die bloß sammelnde Doxogra­ phie, wie die kritische Historie, die fälschlich einen gegenwärtigen Stand ansetzt als unkritisch genommenen „Maßstab“ für Abschätzung der früheren Versuche ‒ könnte es sein, daß diese beiden im Schwange befindlichen 16

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Formen auf einer Verkümmerung des geschichtlichen Zeitverständnisses der Philosophie selbst beruhten? Das als ein Verdacht ausgesprochen! Wäre dann vielleicht die „monumentalische“ Historie die rechte Art, sich zur Vergangenheit der Philosophie zu verhalten? Anders ausgedrückt: es wäre die Frage, offenbart sich die Größe des Gewesenen dort, wo ein Dasein selbst in der echten Zukünftigkeit steht? Man mag dieser Ansicht zuneigen. Man sagt vielleicht, nur wo wirklich schon selbst philosophiert wird, kann die Stimme der vergangenen Philosophie gehört werden. Nur dem verwandten Geist offenbart sich das Innere einer versunkenen Philosophie, die bereits hinabgegangen ist in den Zeitenabgrund. Nur dem Philosophen ist sie sichtbar, jene „Galerie der Heroen der denkenden Vernunft, welche in Kraft dieser Vernunft in das Wesen der Dinge, der Natur und des Geistes, in das Wesen Gottes eingedrungen sind“13 ‒ um Hegels Worte zu gebrauchen. Ist das mehr als eine romantische Auffassung? Nietzsche selbst versucht im Stil einer monumentalischen Historie die „Antike Philosophie“ zu über­ blicken und darzustellen in seiner Schrift „Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen“. Die großartigsten Fernsichten eröffnen sich dabei, eine staunenswerte Witterung für geistige Größe offenbart sich ‒ und zugleich ein gründliches Vergreifen in allen wesentlichen Dingen. Wie Nietzsche hier Parmenides oder Heraklit sieht, ist völlig verkehrt. Die entscheidende ontologische Problematik dieser Denker kommt gar nicht in sei|nen Gesichtskreis. Bei Hegel dagegen sehen wir das monumentalische Verhältnis zur Philosophie der Griechen rein verwirklicht: Er nimmt fast alle Denkmotive der Antike verwandelnd auf; er zeigt jene geistige Spann­ weite, die Parmenides und Heraklit sich ebenso anverwandelt wie Platon und Aristoteles. Als Grenze aber der Hegelschen Auffassung will es uns scheinen, daß er der Philosophie einen Bewegungssinn zuspricht, den er am Modell der „Entwicklung“ begreift. Der geschichtliche Gang der Philosophie ist ein Weg der Entfaltung und Entwicklung. Dadurch kommt ein Moment der Finalität in die Weltgeschichte des Begriffs; er läuft auf ein Ende zu. Was bei Hegel gleichsam ohne Gewicht erscheint, ist die Möglichkeit, daß bereits aufgegangene philosophische Wahrheit sich verdunkelt, verfällt, trivialisiert wird. Um uns herum liegen überall die Trümmer eines früheren ursprünglichen Weltentwurfes. Was die Griechen dachten vom Sein, scheint heute jedes Kind zu wissen. Es gibt keine „vorphilosophische“ Welt, die vor allen Theorien eben ist, was sie ist, die in diesem Anschauungsgehalt bestimmbar wäre. | Ein sogenannter „natürlicher Weltbegriff“ ist eine theo­ retische Fiktion. In jedem Ding, im unscheinbarsten, in diesem Stück Papier, ist schon die Dingheit des Dinges verschwiegen mitgedacht. Was ein Ding ist, darum ging das große Ringen des griechischen Geistes ‒ und wir stehen heute noch auf Schritt und Tritt auf den nicht mehr begriffenen Relikten seiner Auseinandersetzung mit der verborgenen Macht des Seienden. 17

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Wenn heute die Philosophie entschlossen die metaphysischen Grund­ fragen wieder aufnimmt, so hat sie keinen festen Besitzstand von Erkennt­ nissen, sondern vor allem Fragwürdigkeiten, „Probleme“. Die abendländi­ sche Überlieferung ist dabei selbst in die radikale Fragwürdigkeit unseres ganzen Daseins einbezogen. Aus ihr heraus allein können wir in geschichtli­ cher Wahrhaftigkeit den Griechen uns zuwenden. Wir beginnen daher diese Vorlesung14 über die griechische Philosophie mit einer Einleitung: Wir und die Griechen.

I. Wir und die Griechen 8

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| 2. Wir stehen noch in der ersten und vorläufigen Besinnung auf unser Thema.15 Die antike Philosophie, der wir uns zuwenden wollen, liegt in einer Ferne der Zeit, die uns schon das stille Schattenreich des Abgestorbenen scheint. Welches Motiv nun treibt uns, den Blick zurückzuwenden? Ist es ein Bildungsinteresse, eine pietätvolle Pilgerfahrt zu den Gräbern unserer geistigen Ahnen; wollen wir uns Rechenschaft geben von den „3000 Jahren“, um nicht im „Dunkeln unerfahren, von Tag zu Tage“ hinzuleben?16 Die zeitliche Entlegenheit der antiken Philosophie ist zunächst ein Maß des Abstandes von allem | „Heutigen“, Modernen und Aktuellen. Im Wirbel unseres von Sensationen, Tempo, Angst, Not und Verzweiflung gejagten ruhelosen Daseins erscheint die monumentale Gedankenlandschaft der antiken Philosophie wie ein fernes unzugängliches Gestirn. In solcher Ferne zum Heutig-Allzuheutigen ist aber immer die Philosophie. Das antike Denken ist ebensowenig „vergangen“, wie das lebendige Philosophieren unserer Tage nur „gegenwärtig“ ist. Die Fragen, die Parmenides, Platon und Aristoteles gefragt haben, sind immer noch offene Probleme. Der innerste Grund der Zuwendung zum antiken Denken ist die Not der aufgegangenen Fragwürdigkeit des Seienden als solchen und im Ganzen. Nur wenn wir in dieser Not stehen und von ihr ergriffen und geführt sind, kann unsere Hinwendung zur Antike mehr sein als ein bloßes Bildungsanliegen, mehr als eine Erweiterung unserer Kenntnisse einer vergangenen Kultur. Das wahrhafte philosophische Verhältnis zur Geschichte der Philosophie ist ein Problem, das allzuleicht verdeckt bleibt unter den sich zunächst andrän­ genden geläufigen Vorstellungen, die wir hegen über den Zusammenhang von Gegenwart und Vergangenheit. Wir haben17 einen ersten Hinweis versucht auf dieses Problem. Philosophiegeschichte ist nicht in echter Weise möglich für ein „doxographisches“ Verhalten, das alle eigenen Stellungnah­ men angeblich „einklammert“ und sine ira et studio die Meinungen der Philosophen berichtet; in solchem Vorgehen wird nie die hinter dem Vor­ dergrund des Wortlautes verborgene Philosophie gesichtet; erfaßt werden 18

I. Wir und die Griechen

nur absonderliche Meinungen und der Wirrwarr der vielen unzusammen­ stimmenden Meinungen; die Geschichte bietet den Anblick eines Museums oder eines Tollhauses; der Wahnwitz eines solchen Verfahrens liegt in dem uneingestandenen Gebrauch der ungeprüften und undurchdachten Begriff­ lichkeit des alltäglichen Weltverstehens, das so die Basis der Auslegung abgibt. Doxographie ist die Anmaßung des gemeinen Verstandes, in seiner Sprache überhaupt sagen zu wollen, was die Philosophie meint, also jenes Denken zur Aussage bringen zu können, in welchem gerade der gemeine Verstand zugrundegeht. Das existenzielle Verhalten, das der Doxographie zugrundeliegt, charakterisierten wir ‒ im Anschluß an Nietzsche ‒ als „antiquarische Historie“. Die Geschichte der Philosophie läßt sich aber auch nicht auslegen in einer Art, die am Vorbild des wissenschaftlichen Wissens orientiert ist. In der Wissenschaft ‒ und das heißt immer: in der positiven Wissenschaft ‒ ist der „gegenwärtige Stand“ der Theorie das unbestrittene Maß der Beurteilung aller früheren Wissensstände, die eben nur „Vorstufen“ sind. Wird eine solche, im Bereich des fortschrittlichen Wissens legitime Betrach­ tungsart auf die Philosophie übertragen, so entsteht eine verhängnisvolle Verfälschung ihres Wesens. Es herrscht der trügerische Anschein, als wäre die geschichtliche Bewegung | des philosophischen Denkens gegenwärtig in einem Zustand gesicherter Theoreme (mit da und dort noch bestehen­ den Wissenslücken), und dieser gegenwärtige Stand böte die rechte und fraglose Basis zur | Kennzeichnung aller früheren philosophischen Versu­ che; damit wird fälschlich als ein Besitz ausgegeben, was immer nur eine drängende Frage sein kann, wird die „Gegenwartsphilosophie“ zum selbst­ verständlichen Bezugspunkt, werden die heutigen Knirpse zum Maßstab, an dem die Giganten der griechischen Frühzeit zu messen wären. Eine solche Anschauung operiert mit dem bequemen, aber durch und durch verfehlten Schema des Unterschieds von systematischer Philosophie und ihrer „Geschichte“. Das dahinter stehende existenzielle Zeitverhältnis zur Geschichte überhaupt ist das, was Nietzsche die „kritische Historie“ nennt. Und endlich versuchten wir noch abzuwehren eine dritte, sich auch anbietende Art, die Philosophie in ihrem geschichtlichen Verhältnis zu sehen, nämlich den Versuch, die je bestimmte vergangene geschichtliche Gestalt aus dem „allgemeinen“ Zusammenhang des damals herrschenden Zeitgeistes heraus zu deuten; Philosophie tritt dann auf neben den großen Formen der Religion, des Mythos, der Kunst, der Sitte, des Staates usf. In allen diesen Äußerungsformen einer Kultur offenbart sich ein Men­ schentum, eine geschichtliche Weise des Menschen, dazusein. Philosophie gewinnt einen Ausdruckswert, einen Symptomcharakter. In seiner Kunst, in seinem Denken und Dichten offenbart ein Volk, eine Kultur seine Welt­ haltung. Die griechische Philosophie wird so vielleicht zurückbezogen auf 19

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den allgemeinen Stil des griechischen Daseins, auf die griechische Seele, auf die eigenartige Zeitsituation des anbrechenden 5. Jahrhunderts; die Kenntnis der Kunst, der Religion, der Sitte und der Philosophie erhellen sich wechselseitig; man versucht, über eine begrenzte Ausdrucksform hin­ auszugehen und durch ein Aufspüren der tragenden Welthaltung jenen gemeinsamen Grund aufzudecken, in dem alle diese kulturellen Formen wurzeln. Ein solches Verfahren ist beliebt geworden, vor allem seit den methodisch bahnbrechenden Forschungen Wilhelm Diltheys. Was aber dort noch in einer skeptischen Bescheidung lediglich eine Seite der geschicht­ lichen Betrachtung der Philosophie war, ist in unserem nihilistischen Jahrhundert zur vorherrschenden Betrachtungsart geworden. Für Jacob Burckhardt wie für Dilthey hat die geschichtlich auftretende Philosophie ihre temporäre Gestalt, mit der sie Tribut zahlt an den Geist ihrer Zeit, sie ist eine wesentliche Weise, wie das Selbstverständnis einer Zeit sich in ihrer eigentümlichen Sprache ausspricht; die Philosophie der Griechen ist auch noch durchzittert von der Spannung des ganzen griechischen Daseins, und in der Philosophie Kants schwingt das Pathos des Aufklärungszeitalters. Gewiß. Es sind geistesge|schichtlich bedeutsame und fruchtbare Aspekte, welche die Philosopheme so dem historischen Erforscher einer ganzen geschlossenen Kultur, einer Epoche18 darbieten. Die entscheidende Frage ist nur, ob der geistesgeschichtliche Anblick, den eine Philosophie bietet, ihr Gesicht oder ihre Maske ist. Heute, wo man bereits darauf stolz ist, an nichts mehr zu glauben, vor allem nicht an „Wahrheiten“, begegnet man mit Hohn jedem Verhalten zur Geschichte der Philosophie, dem es dabei einzig um die Wahrheit geht. Wahrheit ist ein Aberglaube, zwinkern sich die Auguren zu. Jede Weltanschauung, jede Philosophie ist wesentlich Symptom, ein Lebensausdruck; es verrät sich eine Lebenshaltung darin, es kommt einzig darauf an, die Nebentöne herauszuhören, die wider Willen verraten. Hinter den Philosophemen stehen kämpfende Lebenstendenzen, Machtansprüche; geistige Haltungen sind „Ideologien“. Ideologien aber sind hinsichtlich Wahrheit oder Unwahrheit unab|schätzbar; sie haben nur Wert als geistige Kampfmittel. Bis zu dieser Verzerrung des Wahrheitsgedankens ist die Historisierung heute gekommen. Gewiß ist das eine Entartung. Ein an sich fruchtbarer Gedanke wird durch eine maßlose Übersteigerung ad absurdum geführt. Die Kulturpsychologie, Kulturmorphologie, die allge­ meine Geistesgeschichte hat sicher eine sinnvolle Thematik; gewiß sind alle geistigen Gebilde auch Ausdrucksformen des Lebens, Objektivationen seiner schöpferischen Kraft, auch die Philosophie. Aber es ist einzig und allein die Frage, ob die Auffassung einer Philosophie als Lebensausdruck, als Symptom überhaupt in die eigentliche philosophische Dimension vorstößt. Ist eine Auseinandersetzung mit ihrem wesentlichen Wort in der Art 20

I. Wir und die Griechen

möglich, daß sie aus dem verstanden und ausgelegt wird, was sie mit den anderen geistigen Gestaltungen eines Zeitalters teilt? Ich möchte nicht mißverstanden werden: Keine Philosophie existiert an einem topos hyperouranios, an einem überhimmlischen Ort, entrückt aller faktischen Geschichte, sondern ist, was sie ist, immer und unaufhebbar im geschichtlichen Gange des Menschentums. Philosophie ist primär nicht eine Theorie, ein System von Sätzen, von wahren Aussagen, sondern eine Bewegung von Gedanken, ein Geschehen ‒ und als Geschehen ist sie geschichtlich. Sie geschieht aber nicht auf der gleichen Ebene wie politische Vorgänge, soziale Veränderungen, Wandlungen des Geschmacks und der Gesinnungen, nicht auf der Ebene der geschichtlichen Entwicklung der Reli­ gionen und Weltanschauungen; all solches Geschehen vollzieht sich doch schon in einer Bahn, die gegründet ist auf ein feststehendes Wissen über die Natur der Dinge; diese geraten nicht „in Fluß“. Aber in der Philosophie kommt in Fluß, was der sicher gegründete Bau der Welt zu sein schien. Der Boden selbst, auf dem der sonst geschichtliche Wandel sich abspielt, wankt. Nicht Wahrheiten werden fraglich, sondern das Wesen der Wahrheit selbst. | Kann aber ein solches Geschehen im Grunde unseres Daseins interpretiert werden von dem her, was erst durch es ermöglicht wird? Die Philosophiegeschichte nur als Geistesgeschichte aufzufassen und aus der allgemeinen Eigenart einer Epoche auch die darin auftretende Philosophie erklären zu wollen, ist die endgültige Abriegelung vom historischen Wesen der Philosophie; einmal in diesem Verfahren eingefahren, ist der Zirkel geschlossen, ausweglos, weil man immer nur Philosopheme als „Lebens­ ausdruck“, als „Symptom“, als verräterische Zeichen für den Geist eines bestimmten Zeitalters zu Gesicht bekommt. Ein so geartetes Verhalten mag sich dann zuweilen noch als „monumentalische Geschichte“ mißverstehen, weil man in der Vergangenheit die Heroen des Gedankens, die großen Männer zur Geltung bringt, die großen Aufschwünge eines Volkes, einer Kultur usw. ‒ aber man ahnt dabei nicht, daß Philosophien Weisen des Daseins der Wahrheit sind, und nicht nur19 die Heldentaten der großen Geister. Die wahrhaft monumentalische Historie der Philosophie ist kein Kult der großen Denker, sondern die leidenschaftliche Zuwendung allein zu den großen Gedanken und Fragen. Wir haben bislang nur aus der Abwehr gesprochen. Und das ist keines­ wegs zufällig. Wir stehen sozusagen ständig in der Gefahr, das rätselhafte und noch unbekannte Wesen eines wahrhaften historischen Verhaltens zur vergangenen Philosophie mit den uns geläufigen Vorstellungsweisen von Geschichte zu verdecken. In all dieser negativen Abgrenzung kam positiv nur zu Wort die Forderung, alle historisch vorgegebene Philosophie philosophierend zu verstehen. Das ist eine noch ganz leere Rede, die in ihrer Unbestimmtheit | fatal nach Anmaßung klingt. Was soll es denn heißen, die 21

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antike Philosophie einer philosophierenden Interpretation zu unterwerfen? Heißt das, daß wir uns im Besitz des philosophischen Zugangsweges halten? Oder besagt das, daß wir gerade erst in der Begegnung mit dem Denken der Griechen selbst zum Philosophieren kommen müssen, wenn anders dies mehr sein soll als eine bloße Anreicherung eines ohnehin schon übergroßen Bildungsballastes? Der Blick auf die Philosophie der Griechen ist immer der Rückblick auf den Anfang der Philosophie selbst. Die Griechen sind die Schöpfer der Philosophie. Schöpfer nicht in dem Sinne einer eigenmächtigen Selbstherrlichkeit des Menschen, so daß sie um dieser ihrer „Leistung“ wegen zu rühmen wären. Schöpfer sind sie als die Erleidenden eines großen Schicksals, des Schicksals, die Stätte zu sein, wo das Sein selbst sich denkt und ins Wort tritt. Die Griechen sind der Anfang, Anfang nicht im Sinne des Unscheinbaren, aus dem dann in einer langen Geschichte der Vervollkommnung ein Bedeutendes herauswächst. Sie sind der Anfang der Philosophie als das schlechthin Größte und Niezuübertreffende, das, solange überhaupt es eine Geschichte der Philosophie geben mag, bestän|dig am Werk ist. Der griechische Anfang der Philosophie stiftet nicht nur eine neue, unerhörte Möglichkeit des Menschen, sondern öffnet erstmals denke­ risch den Wesensraum der Wahrheit, in dem alle künftigen Geschlechter in ihrem Philosophieren wohnen. Wo immer der Versuch gewagt wird, in die uranfängliche Offenheit des griechischen Denkens zurückzugehen, gibt es kein Verhalten, das unabhängig wäre von den Griechen und aus dieser Unabhängigkeit heraus sich ein Richteramt anmaßen dürfte. Immer ist es ein wenn auch schwacher Nachhall von den Küsten Griechenlands, wo immer philosophiert werden mag; immer steht der denkerisch sich Mühende im Angesichte der großen Griechen. Nicht in den Büchern allein, im Bau der Welt, in der Strukturverfassung jedes Dinges, mit dem wir umgehen, ist griechische Philosophie anwesend. Das besagt aber für das uns leitende Problem: Der Zugang zum griechischen Denken kann nie aus einem griechenfreien Raum betreten werden; immer stehen wir in ihrer Nachfolge, in ihrer Tradition, wenn wir uns ihnen zuwenden. Sie sind ein Wesensmoment unserer Situation. Bei allem Fremdverstehen muß, wenn es überhaupt tragen soll, eine hellere Wachheit des Selbstverständnisses gewonnen werden. Fremdverstehen ist nicht nur ein Sichversetzen in einen anderen, in eine andere Situation, in eine andere Zeit, in ein anderes Menschentum, wobei man ein gleichsam „methodisches Selbstvergessen“, eine Ausschaltung seiner selbst vollziehen müßte. Solches ist nur ein unechtes „Anempfinden“. Wie beim Mitleid nicht das gedankliche Sich-andie-Stelle-Setzen die echte Weise ist, einem Unglücklichen beizustehen, sondern das Sichöffnen, das Mit-sein mit ihm, so ist auch der echte Modus des Fremdverstehens immer ein Mitsein. Das bedeutet für unsere Frage: Das wahrhafte Verhältnis zur Philosophie der Griechen ist nicht die utopische 22

I. Wir und die Griechen

und wirklich unvollziehbare Rekonstruktion jenes Anfanges, ein Sich-andie-Stelle-der-Griechen-Setzen, sondern die geschichtliche Begegnung mit ihnen aus unserer Situation heraus. Wir, hier und jetzt, müssen20 den Weg suchen in die antike Philosophie. Dieser Weg ist ein Rückweg; unser Denken auf diesem Weg ist nicht wie in den Wissenschaften „fortschrittlich“, sondern ‒ ich scheue nicht zu sagen: „rückschrittlich“, rückschreitend in einen Grund, der längst gelegt ist und auf welchem unsere ganze abendländische | Existenz gründet. Damit ist vorerst nur darauf hingewiesen, daß das historische Verhältnis zur antiken Philosophie nicht allein bestimmt werden kann durch die Abgrenzung der unangemessenen Methoden der Doxogra­ phie, der pseudowissenschaftlichen Philosophieauffassung und einer an der Geistesgeschichte orientierten Auslegung ‒ auch nicht hinreichend bestimmt ist, wenn der Unterschied der Philosophie zu allen anderen Wei­ sen der Welthaltung eines Menschentums eingesehen ist; sondern daß das historische Verhältnis begriffen werden muß | als ein Bezug zwischen uns, unserer von den Griechen bestimmten geistigen Existenz, und den antiken Gedanken. Aus unserer griechisch geprägten Tradition heraus verhalten wir uns zu den „Anfängen“. Bevor wir aber dazu übergehen, dies Verhältnis genauer zu charakteri­ sieren, werfen wir noch einen Blick auf die geistesgeschichtliche Relation, die uns mit den Griechen verbindet. Denn hier spielen allzuleicht Verwechslun­ gen. Wie stehen wir zu den Griechen überhaupt? Jeder mag zugeben, daß sie eine Wurzel unserer Humanität darstellen. Vielleicht daß wir kritischer geworden sind als die Zeiten der Renaissance, die Goethezeit. Wir sehen in ihnen vielleicht nicht mehr die unbedingten Lehrmeister unseres Lebens, das große bewunderte Vorbild. Wir sind vom Philhellenismus, von der Griechenschwärmerei nicht mehr so ergriffen und verführt. Unser geistes­ geschichtlicher Horizont hat sich ausgeweitet; Griechentum steht uns viel­ leicht gleichberechtigt neben den anderen Hochkulturen, der chinesischen und indischen. Ist es nicht ein kultureller Lokalpatriotismus, der zuweilen zur Verabsolutierung und Heroisierung der Antike verleitet? Und endlich zeigt nicht heute die Welt die ersten Ansätze zu einer globalen Kultur? Aber selbst innerhalb unseres eigenen Kulturkreises steht doch neben der Antike das Christentum als die andere große Wurzel unseres Menschentums. Sind wir nicht auch durch die christliche Tradition geformt, und zwar auch in der Philosophie? Und ferner, ist es nicht eine Eigentümlichkeit der Griechen, sich im Überschaubaren, in der als Kosmos geordneten Welt zu halten, das Endliche und Begrenzte gegen das Unendliche und Grenzenlose zu fixieren? Haben die Griechen nicht diese eigentümliche Vorliebe für das Nahe, in sich Geschlossene? Und sind sie dadurch nicht ihrer ganzen Existenz nach unterschieden von den faustisch strebenden, dem Endlosen hingegebenen Menschen der Neuzeit, die aus diesem Unendlichkeitsdrang die moderne 23

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Mathematik und Naturforschung entwickelten und das dynamische Welt­ bild schufen? Warum hatten die Griechen keine nennenswerte Technik? Was bedeutet es, daß in unserem Dasein die Naturbeherrschung zu jener unbezähmbaren Leidenschaft unseres Lebens geworden ist, daß wir uns dem Rausch der Bewegung, dem Dröhnen der Motoren, der rastlosen Arbeit überantworten und die griechische Muße verschmähen? Sind dies ebenso­ viele Fremdheiten, die uns von den Griechen trennen? In mehr oder weniger wissenschaftlicher Vertiefung kommen diese nur jetzt „schlagwortartig“ auf­ gerafften Unterschiede in der Geistesgeschichte zu Wort. Die Griechen sind uns nah und fern, verwandt und unverwandt. Und auch ihre Philosophie, soweit sie ein geistesgeschichtlich faßbares Aussehen zeigt, ist durch diese Verwandtschaft und Fremdheit mit betroffen. Vielleicht daß wir noch eine Abhebung versuchen: nämlich in der Kennzeichnung der | griechischen „Daseinserfahrung“. Was soll damit gemeint sein? Daseinserfahrung? Ist das die Erfahrung, die ein Volk oder ein Zeitalter eben aufsammelt im Lauf seiner Geschichte, die also das Resultat seiner Erkenntnisse und Enttäuschungen ist, sein Kennenlernen von Welt und Menschen im Guten und Bösen? Nein, nicht die Erfahrung ist gemeint, die am Ende herausspringt, sondern diejenige, die am Anfang steht, die allererst uns den ganzen Bereich und die Weite des Seienden öffnet, die einem Volk oder einem Zeitalter erst die Welt aufgehen | läßt und seine Weltoffenheit bestimmt. Unter Daseinserfahrung verstehen wir jetzt also die Grundweise des Weltaufgangs, als der Weise, wie das menschliche Dasein allem Einzelnen und Besonderen zuvor das Ganze, das Menschsein im Ganzen aller kosmischen Kräfte und Gewalten je schon erfahren hat. Daseinserfahrung ist so die Weltaufschließung eines Menschentums, sein Verstehen des Gesamtcharakters der Welt, in der es sich ansiedelt. Solche Weltaufschließung vollzieht sich urtümlich in der Sprache. Wir fragen nach der griechischen Daseinserfahrung. Wenn wir wirklich fragen müssen, so deshalb, weil wir längst aus dem Machtbereich griechischer Weltoffenheit herausgeraten sind, wenngleich wir stolz uns immer noch als Erben griechischer Kultur empfinden oder es uns zuweilen einreden. Welches ist unsere Daseinserfahrung? Wie öffnet sich uns das Ganze des Seienden? (Wir sehen dabei davon ab, daß in unserem Weltverhältnis die griechische Philosophie noch anwest). Öffnet sich uns das Ganze noch als die uns durchwaltende und durchstimmende, tragendumfangende mütterliche Natur? Oder stehen wir entfremdet der Natur gegenüber? Ist unsere Weltoffenheit nicht gerade bestimmt und gezeichnet durch die Grunderfahrung eines Gegensatzes zur Natur? Und weil wir ihr gegenüberstehen, durch unsere Freiheit nicht mehr in sie einbezogen sind und doch in unseren Nöten und Bedürfnissen auf sie angewiesen sind, erschließt sie sich als die Grenze unserer Freiheit, als das, woran und wogegen sich unsere Freiheit immer wieder bewähren und behaupten muß, 24

I. Wir und die Griechen

eben dadurch, daß sie sich unterwirft. Aus dieser Erfahrung entspringt das neuzeitliche Bemühen um die Sicherung der menschlichen Herrschaft über die Natur. Die Technik ist nur ein Mittel, allerdings ein seltsam wucherndes Mittel, das bereits den Menschen selbst sich unterwirft. Die romantische Natursehnsucht des modernen Menschen spricht nicht gegen diese Erfah­ rung, sondern ist vielleicht der schärfste Ausdruck dafür. „Eines zu sein mit Allem, was lebt, in seeliger Selbstvergessenheit wiederzukehren ins All der Natur, das ist der Gipfel der Gedanken und Freuden …“21, sagt Hölderlins Hyperion, und sagt so die kosmische Vereinsamung, das Herausgefallensein aus dem lebendigen Allheitszusammenhang des naturdurchwalteten Seien­ den aus. Der neuzeitliche Mensch ist der Ausgestoßene, der | Fremdling der Natur, der in seiner Freiheit ihr gegenübersteht. Hölderlins Beschwörung jenes Daseins kosmischer Allverbundenheit ist sein Versuch, die griechische Seele wiederzufinden. Es wäre aber ein radikales Mißverständnis, das Grie­ chentum als ein noch naturgeborgenes Dasein anzusetzen. Von uns aus sieht es zwar so aus, weil es noch über eine kosmische Tiefe und einen Reichtum natursichtiger Erhelltheit verfügt, gemessen an dem wir mehr als dürftig geworden sind. Das Griechentum stellt jene Weltstunde dar, da der Mensch sich losreißt vom Naturgrunde seines Daseins und aufsteht gegen das Ganze des Seienden und somit einrückt in die erweckte Freiheit, ein Selbst zu sein. Nie geschah ein größerer Ruck als damals, als sich der Mensch abriß vom stetigen Stand und die Geschichte anfing. Das Griechentum stiftet die Entzweiung mit der Natur; damals vollzog sich erstmals der frische Bruch, das aus tausend Wunden blutende sieghafte Sichlosreißen aus dem mütter­ lichen Naturgrunde. Die griechische Existenz bedeutet die Aufrichtung der menschlichen Freiheit, die Überwindung der Naturumfangenheit, so aber, daß das griechische Menschentum in der ungeheueren Spannung gleichsam stehen blieb, in diesem Übergang aus dem Reich der Natur in das Reich der Freiheit. Natur ist immer noch nah, aber bereits schon überstiegen, sie wird nicht nur begriffen als Demeters stilles Reich, als mütterlich gebärende Erde, aus der die Blumen aufgehen und das nährende Korn, | sondern als der schreckliche und gestaltlose Abgrund des Chaos, der titanisch-maßlosen Kräfte der Vernichtung, wo Blutschuld, Gier und Gesetzlosigkeit herrschen; dann aber auch als die heilige Wildnis, wo im heißen Sommermittag sinnenfroh der große Pan träumt; Natur ist in eins Wohnstatt und Nahrung schenkende Erde, aber auch das Toben der Meerflut im Zorne Poseidons, aber auch der Aufruhr aus der Tiefe, der Aufstand gegen Recht und Satzung, die Entfesselung des Chaos, die Gewalttat der Titanen, die den Pelion auf den Ossa türmt im Sturm gegen die Götterburg des Olymp. Natur ist weder nur idyllisch noch schrecklich erfahren, sondern beides zumal, in einem als das Ungestalte und Ungefüge und allem Maß Entrückte, als das 25

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Maßlose; und zugleich ist im Geiste, in der selbstbewußten Freiheit die rechte Ordnung erfahren, der Kosmos; der nous vernimmt die Ordnung am Himmelsgewölbe, im Gang der Wandelsterne, aber auch im gerechten Wal­ ten des Zeus, in der von Athene gelehrten Kunstfertigkeit, in der von Hera gehüteten Sitte, und in allen musischen Künsten und in der Weisheit des delphischen Gottes. Das macht die einzigartige Spannung des griechischen Daseins aus, daß Naturmacht und Geistesmacht zugleich erfahren sind, daß beide Bereiche in diesem Weltaugenblick des „Überganges“ offenstehen in einer Ursprünglichkeit, die später nicht mehr wiederholbar ist. Diese griechische Daseinserfahrung ist auch die Voraussetzung der griechi|schen Bildungsidee. Die Existenz des Griechen steht immer in der Gefahr: sich an das Maßlose zu verlieren, den titanisch ungeheuren Gewal­ ten anheimzufallen und seine errungene Freiheit zu verlieren. Die Selbst­ behauptung der griechischen Freiheit geschieht im Willen zur Form, zur Gestalt, zum Maß. Nur das Maß, das bändigt, das kraftvoll das Ungestalte schöpferisch zusammenzwingt, nur die Helligkeit und Nüchternheit des Geistes, welche der höchsten leidenschaftlichen Erregung und Trunkenheit abgerungen wird, nur die schöne Welt Apolls, die aus der abgründigen Nacht der dionysischen Raserei auftaucht, ist griechisch. Griechische Bil­ dung ist kein bloßer Schmuck des Daseins, sondern ist die menschliche Weise dazusein. Indem der Grieche das Maßlose in sich selber bändigt, erschafft er sich zum freien Menschen und gibt sich Begrenzung und Gestalt. Bildung ist die Lebensnotwendigkeit, die ihn davor bewahrt, im wirbelnden Chaos seiner glühenden und naturtrunkenen Seele zu versinken; Bildung ist ihm etwas ganz Ursprüngliches, die Gewinnung der Möglichkeit, sich als Mensch zu behaupten, trotz der Hinfälligkeit und Ausgeliefertheit an die Natur. Der Wille zur Form als Wille zur Überwindung des gigantisch Maßlosen und formlos Ungeheueren schafft die paideia. Weil aber der Grieche das Chaos in sich trägt und immer in der Gefahr steht, sich zu verlieren im unendlichen Ozean der ihn durchstürmenden Allnatur, die sich ihm offenbart in des Weingotts heiliger Trunkenheit, in der dionysischen Ekstase und im Rasen der Mänaden, von deren Lärmen die nächtlichen Wälder des Gebirgs widerhallten, ‒ weil er also immer die zauberische Lockung der Natur verspürte, der er sich eben erst entrissen, mußte er, um überhaupt sein zu können, diesen Zauber bannen, das Gestaltlose nennen, sagen, singen, bilden, denken und es so einrücken in den festen Umriß eines stehenden Seins. | 3. Wir versuchen, eine erste Klarheit zu bekommen über unser Verhältnis zur Antike, über das Verhältnis, in welchem wir stehen, wenn wir das jederzeit Vermessene wagen, die Gedanken der griechischen Denker nach26

I. Wir und die Griechen

zudenken. Es geht dabei nicht darum, in einer falschen Bescheidenheit unser Epigonentum zu unterstreichen und die Griechen zu heroisieren. Vor der Philosophie versinkt jede menschliche Pose ins Wesenlose. Hier entscheidet allein, wie weit das menschliche Dasein in sich Raum gibt dem Walten des Gedankens. Im Griechentum vollzog sich erstmals der Einbruch jener Mög­ lichkeit des Menschen, die Stätte zu sein, wo das Seiende im Ganzen sich lichtet. Die Griechen sind die Stifter der Philosophie, die „Anfänger“, in deren Nachfolge alles | steht, was seitdem gedacht wurde. Die Griechen nachden­ ken heißt, unsere eigenen Wurzeln aufgraben. Wir können uns zu ihnen nur verhalten von einem geschichtlichen Boden aus, der abkünftig ist von ihnen, der damals gerade „grundgelegt“ wurde. Aber, so wird man vielleicht einwen­ den, liegt nicht zwischen uns und den Griechen ein langer Weg? Und ist nicht dies ein Weg der Wandlungen? Hat uns nicht das geistige Geschehen von 2000 Jahren auch entfernt von den Griechen? Gewiß, der griechische Frühling des Abendlandes ist vorbei, verrauscht sind die Zeiten Homers, die Zeit der Helden und strahlenden Götter, vorbei jenes Menschentum, das kraftvoll standhielt im Spannungsbogen von Natur und Freiheit und aus dieser äußersten Spannung sein Denken und Dichten gewann; um uns wehen22 nicht mehr die Winde des „Archipelagus“,23 sondern der „schnei­ dende Luftzug der neueren Geschichte“; unser Dasein ist wesentlich anders. Wir sind nicht nur von den Griechen bestimmt, sondern auch von dem langen Weg der abendländischen Geistesgeschichte. Und die Problematik unseres Zeitalters liegt vor allem darin, daß diese Geistesgeschichte sich in dem kritischen Moment ihrer nihilistischen Selbstaufhebung befindet. Am Ende des Abendlandes stehend, blicken wir zurück zu seinem Anfang ‒ und verspüren eine befremdliche Fremdheit der Griechen. Vielleicht werden sie, in dieser Fremdheit genommen, uns erst eigentlich „interessant“; das Fremde reizt unsere Neugier, das Absonderliche, die Ausnahme, das Exotische; keine Zeit wußte vielleicht so viel von der vielfältigen Buntheit des Menschen, von dem Anormalen, den geheimen Abgründen; wir haben alle Zeiten und Gegenden durchstreift, und kein Pygmäenstamm im dunkelsten Afrika ist unausgeforscht geblieben; wir kennen uns aus in der Kultur der Malayen wie der Inkas; auf alle Sorten von Menschentum ist wissenschaftlich Jagd gemacht worden, und die Trophäen dieses Streifzuges durchs Menschenland sind aufbewahrt in dem reichhaltigen Museum unserer Anthropologie, Ethnologie, Psychiatrie usf.; die griechische Kulturgeschichte ist dabei nur eine Abteilung in diesem imposanten Gebäude. Es ist nur die Frage, ob wir bei all dem vielen Wissen vom Menschen überhaupt noch wesentlich wissen, was der Mensch ist; und ferner ob das Griechentum, sofern es eine Wurzel unseres Daseins ist, überhaupt in einem nur kulturgeschichtlichen Aspekt begegnen kann. Könnte es nicht sein, daß es überhaupt gar nicht darauf ankommt, eine kulturgeschichtliche 27

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Anschauung von dem uns fremden griechischen Leben zu gewinnen, son­ dern das in uns fortwirkende, in uns gegenwärtige Denken der Griechen über das Sein, d. h. den in uns anwesenden Inbegriff antiker ontologischer Grund­ vorstellungen in Bewegung zu bringen? Das für die „Philosophiegeschichte“ wesentliche Verhältnis zur Vergangenheit ist nicht eine „Kenntnis“ einer anderen Zeit, sondern die Wieder|holung ihrer Grundfragen. „Wiederholung“ besagt dabei nicht eine bloße Repetition, sondern das Nach-Denken der antiken Fragen aus unserer Situation. Wiederfragend sind wir allein in echter Weise geschichtlich, wenn anders nicht das Resultat, die These, das Dogma, sondern einzig und | allein das Problem, die Fragwürdigkeit das Wesentliche der Philosophie ist. Die antike Deutung des Seins umgibt uns noch immer, auch dort, wo wir davon gerade nichts wissen, wo wir uns auf dem selbstverständlichen Boden der unmittelbaren Anschauung zu bewegen scheinen; die antike Ontologie ist nicht von uns gelernt, sondern überall vorausgesetzt, wo wir uns zu dem uns umgebenden Seienden verhalten, wo wir von Dingen sprechen, von Substanz, von Akzidenz, von Ding und Eigenschaft; auch dort, wo wir nicht theoretisch uns verhalten, wo wir hassen oder lieben, wo wir hantierend umgehen mit dem Seienden; in jedem Bezug zu Seiendem ist unauffällig schon gedacht, was die Seiendheit des Seienden ausmacht. Die antike Ontologie ist aber anwesend in einem schwer zu charakterisierenden Modus: eben in der Weise der „Selbstver­ ständlichkeit“; was einmal ein Problem war, ist längst trivialisiert; auf das Selbstverständliche achtet man nicht, es wird immer vorausgesetzt; man macht davon Gebrauch; das Selbstverständliche ist gerade eine Weise, wie etwas abgeschnitten ist von der Möglichkeit, neu befragt zu werden; es bietet ja keine Schwierigkeit für das Verstehen; im Gegenteil, es ist gleichsam das Medium, in welchem alles Verstehen sich hält; es ist die Basis, auf die in allem Verstehen zurückgegriffen wird, der alle Kategorien des Verstehens entnommen werden. Weil die antike Ontologie heute noch der Grund ist, auf welchem unser Verstehen von Sein sich hält, und weil ferner dieser Grund im unauffälligen Modus des Selbstverständlichen da ist, ist der uns aufgegebene Bezug zur antiken Philosophie die „Wiederholung“, die Wiederholung der antiken Grundfragen. Das tote Erbe in uns wieder wirklich zu holen, wieder in ein Problem zu verwandeln, was uns als „Selbstverständlichkeit“ erscheint, wieder in Bewegung zu bringen, was in uns stillsteht, nämlich jene Frage, die alles antike Denken in Atem hält, ti to on, was ist das Seiende ‒ dies allein umgrenzt, wie mir scheinen möchte, die Aufgabe einer philosophiege­ schichtlichen Zuwendung zur Antike. Ein solches Unternehmen kann nicht „historisch“ sein in dem Sinne, als ob lediglich ein Fremdes, eben eine längst vergangene Zeit, das Thema des Interesses wäre; wir sind es selbst, die dabei mit im Thema stehen. Wie weit es uns gelingen mag, hinter den antiken Texten das treibende Problem wiederzuholen und aus solcher Wiederholung 28

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die in uns liegende antike Erbschaft lebendig zu machen, das allein entschei­ det. Das besagt aber auch: Geschichte der Philosophie ist nicht, wie es zuweilen wohl genommen wird, eine Geschichte von Lebensdeutungen, von Erkenntnislehren, | von Thesen über Gott und die Welt, sondern im Grunde die Geschichte der tragenden Grundvorstellungen vom Sein, die Geschichte der ontologischen Gedanken. Der Wandel, in welchem auch diese stehen, ist langsamer als das sonst weltgeschichtliche Geschehen. Seit den Griechen ist nicht allzuviel geschehen in dieser Geschichte der Philosophie; während das griechische Menschentum, seine Welthaltung, seine abgründige Heiterkeit, seine tragisch durchstimmte24 Diesseitsfreude vorbei ist, eine versunkene und verrauschte Menschenmöglichkeit darstellt, für uns nicht mehr zugäng­ lich als eigene Möglichkeit, ist die griechische Philosophie nach 2000 Jahren noch da und trägt unseren ganzen ontologischen Weltentwurf, trägt unser ganzes Denken des Seins. Das kann man als eine übertriebene Behauptung ansehen. Man kann vielleicht darauf hinweisen, daß doch die Philosophie seit den Tagen Pla­ tons und Aristoteles’ entscheidende Wandlungen im Seinsbegriff vollzogen habe. Als eine entscheidende Zäsur wird oft die Philosophie des Descartes angesehen. Von da ab datiert eine neue Grund|auffassung des Seienden, sagt man. Mit Descartes beginnt das philosophische Zeitalter des „Subjekti­ vismus“. Die Philosophie vollzieht eine Achsendrehung, durch welche das denkende Subjekt, der Mensch, als eine Voraussetzung für alles andere Seiende erkannt wird. Der Mensch gewinnt eine neue Weltstellung, die ihm grundsätzlich in der antiken Philosophie nicht offenstand. In der Antike ist der Mensch ein Seiendes unter dem Seienden, er ist noch nicht radikal als das „Subjekt für alles Seiende“ begriffen; er bleibt gleichsam eingeordnet in einen objektiven Seinszusammenhang; das Interesse der Philosophie wird bewegt von der Frage, wie sie das Seiende bestimmen soll, wie sie die Seiendheit alles Seienden begrifflich zu fixieren vermag; der ontologische Begriff der „Substanz“ führt die antike Ontologie; der Mensch wird prinzipiell gefaßt wie alles andere Seiende auch; sein Sein wird ausgelegt am Leitfaden der Substanz; was auf alle Dinge zutrifft, muß auf ihn auch zutreffen; er stellt nicht ein eigenes brennendes ontologisches Problem dar. In der neuzeitlichen Philosophie dagegen erwächst die Einsicht, daß das Sein des Menschen prinzipiell von allem anderen Seienden verschieden ist; daß er nicht vorhanden ist wie ein Ding, daß er als Freiheit existiert. Die Griechen, fügt man vielleicht ergänzend zu, hatten noch nicht das philoso­ phische Bewußtsein der Freiheit; das, woraus sie denkerisch handelten, war ihnen noch selbst verborgen; im Dualismus des Descartes, sagt man, sei nicht die Ansetzung einer doppelten Substanz, der res extensa und der res cogitans entscheidend, sondern die ontologische Unterscheidung als solche, die er damit vollzieht; wenngleich er das Subjekt noch als „res“ bezeichnet 29

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und es so im überkommenen Schema der Dingheit festhält, so bringe doch die Auslegung dieser res cogitans die neuen, über alle griechische Tradition hinausgehenden | Einsichten. Der Mensch, gefaßt als die denkende Sub­ stanz, wird zum Ausgang, zum Wurzelgrund der Philosophie; er wird als eine bisher übersprungene Voraussetzung erkannt, die aller Ontologie der Dinge schon vorhergeht. Die Philosophie gründet sich in der Neuzeit, sagt man, nicht primär auf die Einsicht in das allgemeine Wesen des Seienden überhaupt, sondern auf die Selbstgewißheit des denkenden und sich selbst wissenden Subjekts. Diese Selbstgewißheit mache dann Descartes zum Fundament des philosophischen Denkens, zu dem „fundamentum inconcus­ sum“, auf welchem von nun an die ganze neuere Philosophie beruhe. Der Mensch, genauer das denkende Subjekt, werde das erste Thema; ja, es werde erkannt als eine Voraussetzung für das Sein alles anderen Seienden; die Phi­ losophie verändere also den Aufriß der griechischen Metaphysik: sie habe von nun an ihren Anfang in der Auslegung der res cogitans, in der Auslegung des Subjektes. An die Stelle einer vorwiegend objektiv orientierten antiken Metaphysik der Substanz trete eine subjektiv orientierte Metaphysik des Subjekts, des Menschen, der Freiheit, des Lebens, der „Existenz“. Ihren Höhepunkt gewinne diese Achsendrehung der Philosophie in der sogenann­ ten kopernikanischen Wendung Kants, die, statt naive Substanzmetaphysik zu sein, eine radikale Umwendung vollziehe zum denkenden Subjekt hin und so zu einer Kritik der reinen Vernunft werde. Diese Legende wird in verschiedenen Spielarten fast in jedem Handbuch der Philosophiegeschichte erzählt. Sie ist nichts anderes als ein allzu bequemes Schema, das überhaupt nicht einer philosophischen Besinnung entspricht. Modell steht dabei die landläufige Auffassung von Reflexion: Die Griechen werden auf eine unre­ flektierte Naivität in der Zuwendung zu den Dingen festgelegt, während die Neuzeit das Zeitalter der Reflexion, des Sichselberwissens sei. Was in Wahrheit bei Descartes, Kant und den neuzeitlichen Philosophen geschieht, ist keine grundsätzliche Überwindung der antiken Philosophie, wohl aber eine Verlagerung, ein Wechsel der führenden Grundfrage. Das zu zeigen, ist aber erst dann möglich, wenn man einen Begriff von der antiken Philosophie gewonnen hat, der in der Auseinandersetzung mit ihrem wirklichen Fragen | erreicht wird und nicht in einer von außen herangetragenen Kennzeich­ nung der griechischen „Naivität“. Dort, wo alle revolutionären Gedanken der neuzeitlichen Philosophie ihren Gipfel erreichen, bei Hegel, sind zugleich alle ontologischen Grundgedanken der Griechen mit da: „… es ist kein Satz des Heraklit, den ich nicht in meine Logik aufgenommen“, sagt Hegel.25 Es soll hier nicht behauptet werden, daß die neuzeitliche Philosophie keine ihr eigentümliche Problematik habe. Nur dies, daß sie bei allem vollbrachten Wandel der ontologischen Ideen immer noch auf dem Boden der Antike steht; daß sie nicht ihn verlassen und ihn grundsätzlich26 über­ 30

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wunden hat. Der vielberufene Subjekti|vismus der Neuzeit, wo er wirklich philosophisch da ist, und das heißt nicht eine Art jener geistesgeschicht­ lich bedeutsamen modernen Selbstbespiegelung und Selbstvergafftheit dar­ stellt, ist am Ende keine „Errungenschaft der Neuzeit“, sondern die weite Auswirkung eines antiken Motivs: „psychē pōs panta“,27 die Seele ist in gewisser Weise alles, sagt Aristoteles an einer wesentlichen Stelle. Es könnte sein, daß wir am Ende erst von der Antike aus verstehen lernen, was im Grunde der Subjektivismus der neuzeitlichen Metaphysik ist. Bestimmt ist er nicht eine bloße Auswechslung der philosophischen Thematik, so als ob in der Neuzeit an die Stelle des bisher führenden Problems, der Frage nach der Natur des Seienden, ein neues Thema getreten wäre, das das alte ablöst. Solange man als nur einen ontischen Wechsel interpretiert, was eine Wandlung in der ontologischen Frage ist, solange verbaut man sich den Zugang zur Antike ebenso wie ein wirkliches Selbstverständnis der philosophischen Neuzeit. Dann ist es nicht einmal möglich, zu begreifen, was an ontologischen Voraussetzungen bereits im Wort „Subjekt“ steckt; subjectum ist die lateinische Übersetzung des griechischen hypokeimenon, des Zugrundeliegenden. Das Zugrundeliegende ist das in allem Wechsel der Eigenschaften Beharrende, die Substanz, „id quod substat“. Damit sind die griechischen Vorstellungen von beharrlichem Sein und dessen Bezug zum Wechsel der zunächst ungeklärte Horizont, in welchem der Bedeu­ tungswandel des Subjektbegriffs sich vollzog. Was bedeutet es, so muß man philosophisch fragen, daß gerade das Wort, das auch die Substanz bezeichnet, zum Titel werden konnte für das denkende Ich? Hält sich dieser Bedeutungswandel noch grundsätzlich im ontologischen Rahmen der Dingheit, oder wird darüber hinausgegangen? Jedenfalls ist die handliche Unterscheidung zwischen Substanz und Subjekt, zwischen Substanzmeta­ physik der Griechen und einer Philosophie des sich selbst wissenden und als Freiheit wissenden Subjekts nicht mehr als eine vulgäre Konzeption, die mit einem wirklich geschichtlichen Verständnis der philosophischen Wandlung nichts zu tun hat. Wir müssen also mit äußerstem Mißtrauen uns alle üblichen Einteilun­ gen der Philosophiegeschichte vom Leibe halten, besonders jener Periodisie­ rungen, die ihre Einteilungsgründe der „allgemeinen Geistesgeschichte“ ent­ nehmen. Noch ist eine wichtige Frage zu nennen, bevor wir uns an die Arbeit machen; eine Frage, die auch unser Verhältnis zu den Griechen und die Problematik dieses Verhältnisses mitbestimmt: Ist nicht durch die zweitau­ sendjährige Geschichte des Christentums eine Entfernung von den Griechen vollzogen, die unseren Zugang erschwert? Bei dieser Frage handelt es sich nicht um das Problem des Verhältnisses von Philosophie und Religion. Nicht das Fak|tum der christlichen Offenbarungsreligion betrifft die Geschichte 31

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der Philosophie. Philosophie ist immer ein endliches Menschenwerk und hat darin allein ihre Größe und Grenze. In der Philosophie kann es keine Stimme Gottes geben, die den Menschen lehrte, was das Seiende sei. Philosophie bleibt immer die Anstrengung der endlichen menschlichen Vernunft, denkend zu entwerfen das Wesensgefüge alles Seins, um sich auf dem Grunde solchen Entwurfs zu verhalten zu jeglichem, was ist: zu | Stein, Pflanze, Tier, Mensch, aber auch zum Staat, zum Kunstwerk, zum Schicksal, zu den unnennbaren Mächten. In der Religion dagegen redet die Gottheit zum Menschen. Das Christentum bedeutet ein schwerwiegen­ des Problem der Philosophiegeschichte, weil die christliche Theologie eine bestimmte Rezeption der antiken Philosophie vollzog und zum Gefäß der Tradition wurde. Aus christlichen Kelchen wurde das lebendige Wasser der heidnischen Weisheit verwandelt getrunken. Die Überlieferung der anti­ ken Philosophie durchläuft eine lange Zeit der christlichen Interpretation. Gewiß sind auch andere Vermittlungen geschehen, über die jüdische und arabische Spekulation, aber auch diese mündet wieder im einheitlichen Geis­ tesraum der abendländischen Kultur, die nicht einfach aus zwei heterogenen Momenten besteht, sondern aus zwei Motiven, die eine eigentümliche Symbiose eingegangen sind, eine Verflechtung und Verschlingung, eine gegenseitige Verwandlung und Überfremdung, die zu den schwierigsten Fragen Anlaß gibt. Man könnte dagegen sagen, wir haben doch jederzeit die Möglichkeit, die antiken Texte, soweit sie einwandfrei vorhanden und durch eine kritische Philologie gesichert sind, ausschließlich für unser Studium zugrundezulegen und abzusehen von allen späteren christlichen Kommentatoren. Sicherlich ist die Aristoteles-Interpretation von Thomas von Aquin ausschaltbar bei dem Versuch, Aristoteles aus seinem Schrifttum zu verstehen. Aber fraglich bleibt es, ob wir, die Interpretierenden, uns nicht auch dort durch eine christlich gedeutete Antike den freien Blick verstellen, wo wir nur zum Verständnis der antiken Begriffe eben zurückgreifen auf Begriffe, Denkweisen, Vorstellungen, die wir also haben. Nicht dort liegt die Gefahr, wo die massiven und plumpen Versuche gemacht werden, Platon und Aristoteles als eine „anima naturaliter christiana“ aufzufassen und im Heidentum ein präexistentes Christentum zu sehen. Die Gefahr liegt vielmehr dort, wo wir anscheinend ganz „vorurteilsfrei“ auslegen, in solchem Auslegen aber Gebrauch machen von den zunächst unausgearbeiteten, uns überkommenen ontologischen Vorstellungen, die in unserem Alltag liegen. Nicht nur die Antike, die antike Ontologie ist trivialisiert worden und in der Form der unauffälligen Trivialität in die Alltagsauffassung vom Seienden zurückgegangen; auch die christliche Verwandlung antiker Probleme ist so zurückgegangen und bildet mit die Luft des | „Selbstverständlichen“, in welcher wir atmen. Und wenn immer wieder darauf hingewiesen wird, daß die Verschmelzung von griechischer Philosophie und christlicher Theologie 32

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nicht nur dort statt hatte, wo die Kirchenväter die Theologie ausarbeiteten, sondern auch dort, wo nach dem Mittelalter eine fortschreitende Säkula­ risierung religiöser Motive, eine Verweltlichung ursprünglich religiöser Erfahrungen aufkommt, so ist damit eine besonders bedenkliche Seite gekennzeichnet; die in der Nachfolge der Griechen stehende neuzeitliche Philosophie nimmt aus der christlichen Religion geistige Impulse auf, die unsere Situation von den Griechen entfernen. So sagt man, die christliche Erfahrung der Freiheit vor Gott wird in säkularisierter Form ein wesentlicher Gehalt der modernen Philosophie. Wie immer es mit solchen Thesen stehen mag, die abendländische Philosophie ist durch die Religion des Christentums mitgeformt, nicht nur in ihrem geistesgeschichtlichen Ausdruck, auch in ihrer Problematik. Das ist ein Schicksal, das seine bedeutsamen Folgen hat. Es mag offen bleiben, ob es der Philosophie zum Segen gereichte. Eines aber ist sicher, daß die antike Philosophie für uns dadurch schwerer zugänglich geworden ist. Die antiken Grundvorstellungen vom Sein sind jetzt wie überlagert durch Denkweisen, die anderen Ursprunges sind. Sie tragen zwar auch in dieser verdeckten Gestalt noch unsere Welt. Um ein Beispiel zu geben: Die christliche Theo­ logie operiert mit dem Begriff der Schöpfung. Schöpfung der Welt, d. h. alles end|lich Seienden durch das unendlich Seiende, durch Gott. Schöpfung ist creatio ex nihilo. Welches Seinsverständnis ist in diesem theologischen Begriff wirksam? Ist im Raume der antiken Ontologie überhaupt ein Platz für einen solchen Schöpfungsbegriff? Oder widerstreitet er allen antiken Gedanken vom Sein? Macht er nicht selbst Gebrauch von ontologischen Begriffen, von Sein, Nichts, Werden, also Begriffen, welche im antiken Denken eine Entfaltung erfahren? Übersteigt der Schöpfungsbegriff am Ende alle ontologischen Möglichkeiten der Antike, weil er in Kategorien der Freiheit formuliert wird? Das sind zunächst nur Fragen, in denen sich das Bedenkliche der christlichen Bestimmtheit unserer Situation anmeldet. Stehen wir nicht immer in der Versuchung, den antiken Gedanken des „am meisten Seienden“ vom christlichen Gottesbegriff zu interpretieren, zumal wenn die Griechen hier selbst vom theion sprechen, von der Philosophie als einer epistēmē theologikē, einer theologischen Wissenschaft reden? Und wer­ den wir nicht noch in solcher Auffassung bestärkt, wenn wir sehen, daß der Begriff des „Absoluten“, der in der Vollendung der neuzeitlichen Philosophie im Deutschen Idealismus eine so beherrschende Rolle spielt, zugleich eine Wiederaufnahme antiker Fragestellung nach dem „am meisten Seienden“ ist und auch unverkennbare Züge der säkularisierten christlichen | Gottesidee zeigt? Es bleibt also eine schwere und entscheidungsträchtige Frage, ob ein Zugang zum antiken Denken, und zwar ein aus unserer Situation heraus mitfragender Zugang möglich ist, solange wir die christlichen Elemente im Arsenal der ontologischen Begriffe festhalten ‒ oder ob eine „Abstraktion“ 33

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vom Christentum notwendig wird. Und wie sollte eine solche Abstrak­ tion aussehen? Genügt es, die religiös-theologischen Überzeugungen und Begriffe aus der philosophischen Fragestellung herauszuhalten? Oder wird mehr gefordert, als nur im Philosophieren keinen Gebrauch zu machen von Überzeugungen, die aus außerphilosophischen Gewißheiten sich herleiten? Wird es notwendig, sich im Ganzen in die weltweite Fragwürdigkeit des Seienden einzulassen, in jene Not sich einzulassen, wo nichts mehr gilt, in jene absolute Gottverlassenheit des sich auf sich selbst stellenden Menschen, der nur das Fragen wagt? Ist Philosophie, d. h. das aus der Frage aufsteigende Denken möglich, wenn das Fragen nur ein methodischer Kunstgriff und alle methodische Ungewißheit schon überholt ist von einer Heilsgewißheit und von einer Wahrheit, die Gott uns selbst schenkt und verbürgt? Dies sind Fragen von einer Härte, die keine Beschönigung zulassen. Gerade angesichts der antiken Philosophie gilt es sie zu stellen ‒ und zu beantworten, nicht in einer vorschnellen These, nicht in einer Option des Herzens, sondern im Ringen um das unverstellte Heidentum des antiken Denkens. Damit ist hier nichts vorweg festgelegt, es ist nur das Problem genannt, welches in der christlichen Situation unserer Frage nach der heidnischen Philosophie liegt. Hegel, der nicht nur die griechische Philosophie in sich aufgenommen ‹hat›, sondern den ganzen Geist des Abendlandes, und wesentlich durch das Christentum im Philosophieren bestimmt ist, sagt am Ende seiner Schrift Glauben und Wissen, daß es wesentlich darauf ankommt, der „Philosophie die Idee der absoluten Freiheit [zu geben],28 und damit das absolute Leiden oder den spekulativen Charfreitag, der sonst historisch war, und diesen selbst, in der ganzen Wahrheit und Härte seiner Gottlosigkeit wiederhergestellt: ‒ aus welcher Härte allein […] die höchste Totalität in ihrem ganzen Ernst und aus ihrem tiefsten Grunde, zugleich allumfassend, und in die heiterste Freiheit ihrer Gestalt auferstehen kann und muß“.29 Diese Gott-losigkeit der Philosophie ist alles eher als ein dogmatischer Atheismus; es ist die radikale | Absage an jede Einschränkung des sich dem Ganzen des Seienden öffnenden Fragens. Dort, wo man heute vom Ende des Christentums spricht, eben im Hinweis auf die geistesgeschichtliche Situation des wie ein Weltbrand um sich greifenden Nihilismus, hat man das Problem, das ich die „Abstraktion vom Christentum“ genannt ‹habe›, nicht gelöst. Hat man dort vielleicht schon ein wahrhaftes nachchristliches Verständnis von den Strukturen des Seins alles Seienden, aus wel|chem ein Weg führen könnte zum vor-christlichen Seinsverständnis der Antike? Noch ist der Chor der Stimmen dünn, denen dies wirklich zugetraut werden kann, weil sie das bereits schon wieder denkend und dichtend ansagen, was das unerschaffene, alles Seiende aus sich entlassende, allumfangende Eine ist, jenen Grund, in welchen alles, was ist, heimgehört, dem es entsprossen ist, 34

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eben die allgegenwärtige physis. Die ersten griechischen Denker zwangen ins Wort, was die physis sei. Sie waren physiologoi. Mit diesem Hinweis schließen wir unsere vorbereitenden methodischen Betrachtungen und versuchen den Gang zu den Griechen. | 4. Die methodischen Besinnungen, die wir bislang durchgeführt haben, waren alle negativer Art; sie waren im wesentlichen Warnungen an uns selbst. Der Rückgang in die Grundfragen der antiken Philosophie kann nie vollzogen werden, wenn wir selbst unbewegt und fraglos in der unse­ ren Alltag beherrschenden Seinsauffassung stehen bleiben und ihr „ganz selbstverständlich“ die Begriffe entnehmen für die Deutung der griechischen Philosophie. Wir müssen uns fern halten von einem äußerlichen Bericht über bloße Lehrmeinungen ebenso wie von einer Auffassung der antiken Philosopheme als symptomatischer Zeugnisse des hellenischen Geistes, in welchem sich geistesgeschichtlich ein Gesamtstil der griechischen Kul­ tur ausdrücke. Und endlich verwehren wir uns die Festlegung auf eine philosophische Position, wobei etwa die Philosophie der Gegenwart als der Maßstab angesetzt würde für die Beurteilung von „Vorstufen“. Das besagt aber keineswegs, daß wir unsere Situation überspringen könnten, um unmittelbar bei und mit den Griechen wieder anzufangen. Das wahrhafte geschichtliche Verhältnis, das wir anstreben, ist die „Wiederholung“ der Fragen, die das antike Denken treiben. Fragen aber sind nicht wiederholt, wenn sie nur genannt sind. Die Nennung als solche bedeutet noch gar nichts. Fragen sind dort erst wirklich, wo das Unverständliche uns bedrängt, die Verborgenheit uns ängstigt, das Geheimnis uns anrührt, das Staunen uns überfällt und alles Seiende fragwürdig wird. Was ist das für eine merkwürdige Verwandlung? Die Frage? Zunächst, kann man sagen, ist so etwas wie Fragen beheimatet im menschlichen Miteinandersein und ist eine besondere Weise der Rede. Rede ist Sagen als Aussagen über …, Urteilen, Wünschen, Befehlen, Fragen. Der Mensch ist redend in der Welt; er ist das zōion logon echon, das animal rationale, das redende Tier. Redend ist er zusammen mit anderen in der Welt bei den seienden Dingen. In al|lem Reden verhält er sich zum Seienden, und zwar zum anwesenden wie zum abwesenden Seienden. Alle Rede aber ist nicht nur Aussage über das an- oder abwesende Seiende, sondern zugleich immer Hinsage zu einem mitseienden Mitmenschen. Alle Rede ist adressiert. Die Adresse ist auch dort sinnhaft da, wo sie nicht in dem Wortlaut eigens miterscheint. Der Satz „Die Tafel ist schwarz“ ist nicht nur eine Aussage über ein Ding, sondern ist als verlautbarter Satz immer schon adressiert an sinnverstehende andere. Sprechen ist immer ein Gespräch. Auch der Monolog ist nur eine einsame Rede, wobei die anderen 35

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als abwesende, als ausgeschlossene und abgewehrte doch mitbestimmend sind für den Sinn. Einsamkeit ist eine Weise des Miteinanderseins, die Weise des ausdrücklichen Sichverschließens gegen die Mitwelt. Bei Wunsch, Befehl und Frage nun wird das Moment der Hinsage eigens auch im Wortlaut deutlich; hier ist die Adresse auffällig. Fragen ist immer ein Anfragen bei einem anderen. Solches Anfragen erfrägt ein fremdes Wissen. Wir fragen einen nach dem Weg, von dem wir annehmen, daß er ihn weiß und ihn uns weisen kann. Das Fragen spielt also zwischen Unwissenden und Wissenden, genauer zwischen solchen, die ihr Nichtwissen wissen, die in Verlegenheit sind, und solchen, von denen angenommen wird, sie verfügten über das gesuchte Wissen. Die ganze Alltäglichkeit des menschlichen Lebens ist von diesem Frage- und Antwortspiel des Miteinanderredens bestimmt. Fragen ist dabei nichts besonders Ausgezeichnetes; alltäglich fragen wir nach den alltäglichen Dingen; alle unsere Fragen halten sich in einem Bereich der Bekanntheit und der geläufigen Weltkenntnis. Anders in den Wissenschaften. Wissenschaften entspringen aus der Alltagskenntnis des Seienden, so zwar, daß gerade diese Alltagskenntnis fragwürdig wird; man beruhigt sich nicht mit den je und je gegebenen Antworten; man stellt Fragen nicht als ein einfa|ches Anfragen bei einem anderen, sondern als eine Anfrage bei sich selbst, bei seiner eigenen denkenden und beobachtenden Einsicht. Dort Fragen zu sehen, wo das unwissenschaftliche Bewußtsein keinen Anlaß dazu sieht, charakterisiert die Wissenschaft; wissenschaftliches Wissen überhöht und übertrifft das vorwissenschaftliche nicht allein durch den Umfang, die Systematik, die Vergemeinschaftung aller Einzelbeobachtungen, sondern vor allem durch die Öffnung einer Fragebahn, einer Forschungsrichtung; im Fragenstellen an sich selbst bricht der Wissenschaftler sich den Raum auf für seine methodischen Beobachtungen; das Experiment ist eine Fragestellung auch an die Dinge, die Natur usf.; die Natur antwortet in der Weise, wie sie auf die Versuchsanordnung reagiert. Man sieht leicht, daß damit der Begriff der „Frage“ bereits ausgeweitet und in einem übertragenen Sinne genommen ist. So wie man sonst im gewöhnlichen Fragen einen anderen Mit|menschen fragt, so fragt man als Wissenschaftler sich selbst und die Natur. Wenn die Wissenschaften insgesamt das Feld der vorwissenschaftlichen Kenntnisse überhöhen und übertreffen und in solchem Übertreffen stetig „fortschreiten“, also fortschrittlich sind, so haben sie doch mit der verlassenen Ausgangssi­ tuation eine wesentliche Gemeinsamkeit: Sie lassen das Seiende stehen, d. h. sie denken und forschen und fragen nicht aus, was das Seiende als solches ist; sie stehen auf dem Boden derselben unbewegten Seinsinterpretation wie das vorwissenschaftliche Leben. Sie haben hier kein Problem, keine Frage. Und sie können auch nicht fragen, solange sie ihre wissenschaftlichen Fragen stellen; stehen bleiben muß der Grund, wenn die Wissenschaften 36

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das Seiende denkend, forschend, beobachtend, experimentierend bestim­ men sollen. Das Stehenlassen des Seienden ist eine Voraussetzung für alle Wissenschaft; nur so kann sie sich ihm anmessen und sich von den „Sachen selbst“ sagen lassen, was und wie sie sind. Das oberste Gesetz aller Wissenschaft, sagt man, ist die Objektivität, die unbedingte, getreue Anmessung an das Seiende; in solcher Angemessenheit allein verwirklicht sie „objektive Wahrheit“. Vorausgesetzt ist also in aller Wissenschaft, ebenso wie in der Vorwissenschaft, die unverrückt stehende Natur des Seienden und der Wahrheit; gesucht werden Bestimmtheiten am Seienden, gesucht werden Wahrheiten über das Seiende; aber nicht gesucht wird die Seiendheit des Seienden selbst, nicht gesucht wird die Natur der Wahrheit. Das ist in aller Wissenschaft fraglos geblieben. Was ist aber das für ein Fragen, das auch noch diesen tragenden Grund alles Lebens angreift? Ist überhaupt ein Fragen möglich, das ausdrücklich aus dem immer gängigen Verständnis des Seienden heraustritt, das nicht immer schon Dinge voraussetzt, sondern einmal radikal fragt, was ist überhaupt ein Ding? Ist ein Fragen möglich, das nicht nur an bestimmten Wahrheiten zweifelt, sondern an der Wahrheit selbst, an dem, was wir für das Wesen der Wahrheit halten? Ist ein solches Fragen, wenn es überhaupt möglich ist, noch ein Anfragen bei einem anderen, oder ein Anfragen bei sich selbst und bei den Dingen, bei der Natur? Bleibt überhaupt noch etwas, wobei angefragt werden könnte? Oder gerät dabei nicht alles in eine irrsinnige Drehung, wo es keinen festen Stand, kein Fundament mehr gibt? Aber ist ein solches Fragen nicht einfach sinnlos, weil es die Fundamente angreift, auf denen sonst jede vernünftige Frage beruht? Ist das nur die Narretei, die immer mehr fragen kann, als alle Weisen zu beantworten vermögen? Oder ist es am Ende gerade die eine Frage, die alle Weisen immer wieder fragen? Was ist das für eine Not, aus der solches Fragen ‒ sei es nun Narretei oder Weisheit ‒ aufsteigt? Denn daß hier etwas anderes im Spiele ist als nur ein übersteigerter Scharf|sinn, daß gleichsam der ganze Boden der menschlichen Existenz, ihre Weltsicherheit einbricht, wird er|fahren, wenn auch nur ein Schatten dieser Fragwürdigkeit des Seienden im Ganzen uns überfällt. Wir verlieren den Boden unter den Füßen und sinken ins Grundlose. Es ist ein unheimlicher Gast, der sich dann dem Menschen gesellt. Er kommt nicht von außen, er kommt aus uns selbst, er steigt auf als eine sonst verdeckte und versteckte, verleugnete Möglichkeit unseres Daseins, als unser geheimes Selbst. Die schlafwandlerische Sicherheit, mit der wir als ein Seiendes mitten unter den Dingen dahinleben, in der Welt unsere Ziele verfolgen, lieben und hassen, uns umsehen und planen, die Natur unterwerfen, Wissenschaften treiben, Tempel der Götter errichten, Kunstwerke fertigen, Kulturen erbauen und vernichten, geht verloren; die Unbefangenheit des Daseins ist dahin, wo eben ausgemacht war und feststand, was das Seiende sei und die ewige 37

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unverrückbare Natur der Wahrheit; der Mensch hat jeden Weg verloren, nicht weil er nicht wüßte, welchen er einschlagen sollte, sondern weil überhaupt kein fester Boden, keine tragende Bahn mehr da ist; er ist in die „Weglosigkeit“ geraten: die aporia. In dieser Not der Weglosigkeit, wo nichts mehr feststeht, gibt es dann kein Anfragen bei einem anderen; der Mensch ist vereinzelt und auf sich zurückgeworfen; die gemeinsame Welt war ja gerade die Gemeinsamkeit des Vorurteils, je schon zu wissen, was das Seiende und was die Wahrheit wäre; die gemeinsame öffentliche Welt war eine gemeinsame vorgefundene, überlieferte und übernommene Seinsausle­ gung, die stillstand. Wie geschieht aber ein Fragen aus der Fragwürdigkeit dieses tragenden Grundes heraus? Sind solche Fragen schon da, wenn wir sie nennen? Was ist das Seiende? Was die Seiendheit selbst? Solche Fragen sind keineswegs schwer nachzusagen. Wenn sie einmal ausgesprochen sind, können sie selbst jederzeit vom öffentlichen Gerede nachgesagt und gar wissenschaftlich zu einer sogenannten „Problemgeschichte“ verarbeitet werden. Der Ursprung aber, aus dem sie herkommen, bleibt allem Gerede entzogen. Denn sie erwachsen, wo ein Mensch sich denkend öffnet dem Geheimnis der Welt und sich aussetzt der abgründigsten Befremdung durch das unverstandene Sein. Das Fragen, das wir meinen, ist keines, das man jederzeit in Gang setzen kann; die radikale Frage greift an die Wurzeln unserer Existenz; wir können sie nicht rufen und wieder verjagen; sie bricht immer ein als ein Schicksal; sie widerfährt. Aber gerade weil sie ein Widerfahrnis und nicht eine beherrschbare Möglichkeit ist, verlangt sie die höchste Anstrengung der denkerischen Ausarbeitung. Das, was jederzeit in unserer Macht steht, was wir von uns aus „machen“ können, ist im Grunde auch das Belanglose. Ponos kai agōn, Mühe und Kampf, ist das Los der Seele, die, sich mit sich selber unterredend über das Sein, den Aufstieg sucht zum wahren Wesen alles Seienden. Das antike Verständnis solchen Fragens begreift sich als Philosophie. Am | Ausgang der Antike, im hellenistischen Zeitalter, sind es vor allem sechs Bestimmungen der Philosophie, die nebeneinander aufgeführt wer­ den: 1. gnōsis tōn ontōn hēi onta estin, Erkenntnis des Seienden, sofern es Seiendes ist; 2. gnōsis theiōn te kai anthrōpinon pragmatōn, Erkenntnis der göttlichen und menschlichen Dinge; 3. meletē thanatou, die Sorge um den Tod; 4. homoiōsis theōi kata to dynaton anthrōpōi, die Verähnlichung mit Gott, soweit dies dem Menschen möglich ist; 5. technē technōn kai epistēmē epistēmōn, die Auskenntnis der Auskenntnisse und die Wissenschaft der Wissenschaften; 6. philia sophias. Die beiden ersten Bestimmungen sind apo tou hypokeimenou, vom Gegenstande | der Philosophie her gesehen, die beiden folgenden ek tou telous, die 5. ek tēs hyperochēs, aus ihrer Über­ legenheit und die 6. aus der Etymologie. In diesen Begriffsbestimmungen der Philosophie, die teils auf Pythagoras und Platon zurückgedeutet werden, 38

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spricht sich eine nachträgliche Systematisierung aus, die nicht mehr aus dem ursprünglichen Fragen lebt, sondern aus der Tradition der Philosophie heraus denkt. Dies ist noch mehr der Fall, wo die Philosophie bereits aufgegliedert wird in Physik, Ethik, Logik, wie in der Stoa; diese Einteilung in Fächer ist in der Folgezeit verhängnisvoll geworden und gar in einer Zeit, die Wissen überhaupt nur noch als Fachwissen zu kennen scheint. Müßte man dagegen nun nicht die Frage stellen, wie die Selbstinterpretation der Philosophie in der Zeit ihres ursprünglichen Fragens aussah? Beginnt die Philosophie mit einem ausgebildeten Begriff ihrer selbst ‒ oder wächst ihr erst im Geschehenlassen der neuen menschlichen Möglichkeit ein Begreifen davon zu, was eigentlich dabei geschieht? In der Tat. Philosophie vollzieht sich zwar nie als ein gleichsam blindes Geschehen, das erst durch eine nachträgliche Reflexion zur Wahrheit über sich selbst gebracht werden müßte; denn sie geschieht in der scharfen Vereinsamung und Vereinzelung, die den von ihr Ergriffenen heraushebt aus allen Bezügen. Aber gerade deshalb hat sie nicht die Begriffe vorweg, in denen sie ihre Selbstcharakte­ ristik leisten könnte. Von den vorsokratischen physiologoi bis zu Platon und Aristoteles ringt das Philosophieren immer auch zugleich um ein angemessenes Selbstverständnis. Die Weite des dabei von den Griechen durchmessenen Spielraumes ist erstaunlich; sie reicht von den wunderbaren platonischen Zeichnungen des philosophischen Lebens bis zu der knappen und hintergründigen Bestimmung, die gelegentlich einmal Aristoteles von der Philosophie gibt, wenn er sie bestimmt als die Wissenschaft, die zu untersuchen habe, ob Sokrates und der sitzende Sokrates dasselbe sei. Die Begriffe philosophos, philosophia, philosophein haben etymologisch die beiden Bestandteile philia und sophos. Sophos heißt nun zunächst keineswegs „weise“ im philosophischen Sinne, sondern sophos ist derjenige, der den rechten Geschmack hat, der sich auskennt. | Bei Hesiod heißt sophos ein jeder, der sich durch irgendeine Kunst oder Geschicklichkeit vor der Menge hervortut; sophos also einer, der etwas versteht, der einer Sache vorstehen kann, der sich auskennt, der etwas von Grund aus versteht und mit instinktiver Sicherheit versteht, und ferner dessen Verstehen ein vorbildliches, maßgebliches ist. Ursprünglich hat auch sophistēs den gleichen Sinn und meint den Verständigen, sich auf etwas Verstehenden und in solchem Verstehen Hervorragenden, als Vorbild Wirkenden. Ein Handwerk, eine technē ist ein ursprüngliches Verhältnis zu den Dingen, ein Verhältnis, das gerade in sich einen Spielraum offen läßt für den Verständigen, den sophos, und den nur Angelernten. Die Ausweitung auf andere Weisen menschlichen Verstehens und Könnens nimmt noch diesen ursprünglichen Sinn mit; im Philosophen steckt dann noch dieses Moment der echten verstehenden Auskenntnis, wenngleich es nicht mehr irgendeine besondere Kunst oder Fertigkeit ist, kein Verhalten zu irgend einem Seienden, sondern 39

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zum „Seienden überhaupt“. Auch sophia meint anfänglich noch die auf Sach­ kunde beruhende Tüchtigkeit; Homer gebraucht es z. B. von der Kunst des Zimmermanns. Bei Heraklit tritt erstmalig im Fr. 35 (Diels) der Ausdruck philosophos auf. Aber auch dort ist es noch strittig, ob er einen Weisheits­ freund meint. Die Vorsokratiker endlich werden physiologoi genannt. Zusammengefaßt: Die Philosophie beginnt nicht mit einem begriff­ lich festliegenden Selbstverständnis, sondern gewinnt langsam in einer Verwandlung übernommener Begriffe des sophos, des sophistēs, der sophia und der | philosophia eine Einsicht in ihr eigenes Wesen. Bei Platon finden wir an vielen Stellen das Wesen der Philosophie ausgesprochen; in der Apologie wird sie gekennzeichnet als ein Dienst, den Sokrates dem Apollon leistet; im Phaidon heißt es: tōi onti hoi orthōs philosophountes apothnēiskein meletōsi,30 „in der Tat trachten die richtig Philosophierenden danach zu sterben“, im Symposion endlich wird Eros, der Sohn der Penia und des Poros, des Mangels und des Reichtums, als der in allem Philosophieren wirkende Gott begriffen, der uns antreibt, über den schönen Leib aufzusteigen zu dem Schönen an sich; in der Politeia endlich wird die Philosophie als das Wissen von dem an sich Guten verstanden, das so die rechte Lebensordnung des gerechten Staates möglich macht; im 7. Brief endlich sagt Platon, daß die Philosophie nichts Erlernbares, ja nicht einmal Sagbares sei, sondern ein Geschehnis in der Seele aufgrund eines reichen Zusammenseins mit der Sache selbst. Im Theätet zeichnet er ein Bild, das den Spott der Menge erregt, den Philosophen als einen, der nichts weiß von den Nichtigkeiten und Wichtigkeiten des alltäglichen Daseins, von den politischen Kämpfen, den Intrigen in der Stadt, vom Ruhme der Wettkämpfer und den langen Ahnenreihen edler Geschlechter „,sondern | es wohnt nur sein Körper im Staate, und hält sich darin auf; seine Seele aber, dies alles für gering achtend und nichtig, schweift verachtend nach Pindaros überall umher, was auf der Erde und was in ihren Tiefen ist, messend und am Himmel die Sterne verteilend, und überall jegliche Natur all dessen, was ist, erforschend, zu nichts aber, was in der Nähe ist, sich herablassend“31. Der Philosoph also ist ein solcher, der ein Wissen sucht und erstrebt, das über alle Nähe hinausgeht; philosophisches Wissen als ein Wissen der Ferne, zunächst gekennzeichnet als das Wissen vom ganzen Erdkreis und vom gestirnten Himmel, dann aber übergehend zu einer größeren Ferne: zur Erforschung der Natur des Seienden als solchen. Und für diesen in die Ferne Sinnenden gilt dann nach Platons Wort der Spott, „mit dem man immer noch ausreicht gegen alle, die in der Philosophie leben“32. „Wie auch den Thales, als er um die Sterne zu beschauen, den Blick nach oben gerichtet in den Brunnen fiel, eine artige und witzige thrakische Dienstmagd soll verspottet haben, daß er, was am Himmel wäre, wohl strebte zu erfahren, was aber vor ihm läge und zu seinen Füßen, ihm unbekannt bliebe.“33 Das Nächste und uns 40

I. Wir und die Griechen

gemeinhin immer Fesselnde geht den Philosophen nichts an: „Denn in der Tat ein solcher weiß nichts von seinem Nächsten oder Nachbar, nicht nur nicht, was er betreibt, sondern kaum, ob er ein Mensch ist oder etwa irgend ein anderes Geschöpf. Was aber der Mensch an sich sein mag, und was einer solchen Natur ziemt, anders als alle anderen zu tun und zu leiden, das untersucht er und läßt sich keine Mühe kosten es zu erforschen.“34 In diesen wenigen Sätzen Platons steht ein Existenzbild des philoso­ phischen Daseins uns eindringlich vor Augen. Zugleich zeigt aber dieses Bild deutlich ein Moment, das wir jetzt ausdrücklich herausheben müssen. In der antiken Philosophie verbindet sich der Ursprung des eigentlichen philosophischen Gedankens eigentümlich mit den Anfängen der Wissen­ schaften. Der Philosoph ist, wie wir eben sahen, auch derjenige, der die Erde ausmißt und die Sterne am Himmel verteilt. Grob gesprochen, er ist zugleich Astronom, Physiker und ‒ Ontologe. Gewiß hat die antike Naturdeutung, vor allem in der vorsokratischen Epoche, nicht den Charakter der von der Philosophie ausdrücklich abgesetzten „Einzelwissenschaft“; schwer mag hier zu scheiden sein, was in diesen kosmogonischen Theorien Naturphilosophie und Naturwissenschaft ist; aber es ist höchst | bedeutsam und auch folgen­ reich, daß die antike Philosophie zugleich auch die Wissenschaften anfängt. Die Antike gebraucht den Begriff der Philosophie pluralisch; sie spricht von philosophiai; bei Aristoteles wird dann das eigentliche philosophische Fragen zusammengefaßt in der ersten Philosophie, der protē philosophia; erste ist diese nicht im Sinne ei|ner Grundwissenschaft, sondern sie ist die eigentliche Philosophie, Philosophie im eigentlichen Sinne; während die Neuzeit in der Gefahr steht, das Wesen der Philosophie dadurch zu verfälschen, daß sie diese subsumiert unter den Oberbegriff der Wissenschaft und so zusam­ menstellt mit dem einzelwissenschaftlichen Wissen, das einen ganz anderen Wissenssinn hat, ist es bei der Antike eher die Gefahr, das positive Wissen von der Philosophie her zu mißdeuten. Erinnern wir uns daran, daß zur Struktur des einzelwissenschaftlichen Wissens gehört, daß es in einem Gang des Fortschritts aufsteigt, so ist leicht einzusehen, daß das, was als einzelwissenschaftliche Erkenntnis bei den antiken Philosophen anfänglich auftritt, notwendig primitiv ist, erste tastende Versuche darstellt, die von uns aus gesehen nur überholte Vorstufen sind. Aber es ist sehr die Frage, ob das gleiche auch gilt von ihren philosophischen Gedanken, von ihrer Deutung des Seins ‒ oder ob wir immer noch auf den von ihnen gelegten Fundamenten stehen. Könnte es nicht sein, daß gerade die primitiven naturwissenschaftlichen Theorien der alten Denker einer Auffassung Vorschub geleistet haben, wonach sie überhaupt und im ganzen noch unentwickelte geistige Gestalten darstellen, ehrwürdige Figuren aus den Kindheitstagen der Menschheit? Nimmt man des Thales Lehre vom Wasser als dem Urstoff, des Anaximenes These von 41

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der Luft, des Herakleitos vom Feuer im Sinne einer naturwissenschaftlichen Kosmogonie, so fallen sie jäh ins Unbedeutende zusammen; sie haben dann nur noch historisches Interesse, aber sie stellen uns selbst nicht mehr vor eine Entscheidung; wir brauchen dann nicht mehr zu fragen, ob wir in den Raum der Wahrheit dieser Denker eingedrungen sind. Wenn aber das nur Naturwissenschaftliche gerade das Nebensächliche ist an der Philosophie der griechischen Frühzeit, wenn es darauf ankommt, nachzuverstehen, was als Auffassung des Ganzen, der Einheit und Grenzenlosigkeit des Seienden, der Beseeltheit und Durchwaltetheit vom nous, der Ständigkeit, des Bleibens, des Werdens und Vergehens, der Gegensätzlichkeit in allem Sein, der Mischung aller Dinge aus gegenteiligen Prinzipien usf. gedacht wird,35 dann rücken auf einmal auch die uns so primitiv erscheinenden Wasser-, Luft- und Feuerlehren in ein anderes Licht: In ihnen spricht sich eine Wandlung der Seinsauffassung aus. Wie aber können wir überhaupt in der rechten Weise scheiden zwischen dem, was nur den einzelwissenschaft­ lichen Anfängen zugehört, und dem, was für den philosophischen Gedanken bedeutsam ist? Ist das überhaupt eine zulässige Unterscheidung? Gewiß ist es vielfach so, daß eine neue ontologische Auffassung auftritt in der Einkleidung in eine Lehre über das Geschehen am Himmel. Ist es nicht eine moderne Trennung, die wir so in das griechische Denken verlegen wollen? Ist dort nicht noch eine uns schwer begreifbare Einheit des Wissens? Das ist kei|neswegs zu bestreiten. Wir dürfen nicht in den Fehler verfallen, Lehren als nur „naturwissenschaftliche“ ausschalten zu wollen, die vielleicht eine besondere, zunächst nicht erkennbare ontologische Bedeutung haben. Wir dürfen überhaupt nichts ausschalten von den griechischen Texten. Aber wir müssen zumindest das moderne Vorurteil ausschalten, daß die „naturwissenschaftliche Primitivität“ der Griechen auch eine philosophische Pri|mitivität nach sich ziehe. Um einen ersten Weg zu versuchen, zum wesentlichen Denken der Antike vorzudringen, gehen wir aus von einer selbst der Antike angehören­ den Sicht auf ihren Anfang ‒ von einem philosophischen Rückblick von der Höhe des entfalteten antiken Denkens zu seinen Anfängen. Wir meinen damit die Interpretation, die Aristoteles im ersten Buch der Metaphysik gibt. Zuvor aber wollen wir noch in einem vorläufigen Überschlage den Begriff der Philosophie anzeigen, von welchem Aristoteles selbst geführt ist. Wir gliedern also:36 Anzeige des Philosophiebegriffs des Aristoteles; die aristotelische Interpretation der Anfänge des griechischen Denkens. Dieses methodische Vorgehen mag einiges Kopfschütteln erregen; zäu­ men wir hier das Pferd am Schwanze auf? Von hinten, von dem historisch Späteren soll das Licht fallen auf die Anfänge? Verstellt uns Aristoteles nicht auch durch seine eigene Philosophie den unvoreingenommenen Zugang zu den Früheren? Solche Bedenken mögen ihr Recht haben, wenn es gälte, nur 42

II. Ausgang der Interpretation von der „Philosophiegeschichte“ des Aristoteles (Met. A)

die kritische Vorsicht zu bewahren gegen die „Beurteilungen“, die Aristoteles austeilt. Aber was wir suchen, ist das fragende Denken der Griechen; alles Verstehen eines Fragens aber ist nur möglich in einem Mitfragen. Das heißt, es geschieht immer aus unserer Situation. Also immer vom Späteren zum Früheren hin. Wir sind selber in keiner anderen Lage, als es der aristotelische Rückblick ist ‒ nur noch weiter entfernt und ohne die Möglichkeit, unmit­ telbar aus der Philosophie heraus zu sprechen. Wir Spätlinge müssen erst wieder bei den Griechen in die Schule gehen, um einen Hauch von jener geistigen Freiheit des sich selber begründenden Menschentums zu erfahren, welche die Lebensluft des Altertums ist.

II. Ausgang der Interpretation von der „Philosophiegeschichte“ des Aristoteles (Met. A) | 5. Wir suchen den Rückweg zu den Griechen. Von ihnen sind wir entfernt durch eine lange Tradition, in welcher die griechischen Gedanken vom Sein entfaltet und weitergedacht wurden, aber auch verfielen in die Unauffällig­ keit des Selbstverständlichen. Wir stehen auf dem Fundament, das die Grie­ chen leg|ten, wir wohnen in dem von ihnen errichteten Haus. Wenn anders es zum Wesen des Menschen gehört, nicht wie Blume oder Tier einfach zu sein, mit Rilkes Worten „unendlich, ungefaßt und ohne Blick auf seinen Zustand“,37 sondern nur so sein zu können, daß er sich zu sich selbst und zu allem anderen Seienden verhält, dann ist der denkerische Entwurf jener Gedanken vom Sein die Gründung der menschlichen Existenz im Weltall. Wir sind in der uns eigenen abendländischen Möglichkeit des Menschseins gegründet von den Griechen. Die Rückbesinnung auf diese Gründung aber ist kein Anliegen bloßer historischer Neugier, sondern die Aufgabe unserer Selbsterhellung. Wir sollen uns auf den Grund richten, der uns trägt, sollen versuchen, zurückzugehen in jene längst vergangene, aber immer noch uns tragend-bestimmende38 Auseinandersetzung der griechischen Denker mit dem dunklen Rätsel des Seins. Ein solcher Rückgang ist weder leicht noch sicher. Er kann keine bloße Erzählung über die Griechen sein. Die Fragen, aus denen das griechische Denken lebt, sollen „wieder geholt“ werden, um so ihre Macht in unserem Dasein zu zeigen. Wie weit wir aber wirklich die Kraft haben, uns unter die Gewalt jener uralten Fragen zu stellen und uns ihnen offenzuhalten, das zu entscheiden liegt nicht bei uns. Es ist also ein Unterfangen ohne alle Sicherheit, ein Versuch, der selbst durch und durch fragwürdig bleibt. Im Hinblick auf die so angedeutete Schwierigkeit und Unsicherheit unseres Unternehmens steht zu erwarten, daß wir nicht in einem Zuge und sozusagen „in einem Handstreich“ uns der griechischen Grundfragen 43

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bemächtigen können, daß wir nicht direkt uns in sie versetzen lassen kön­ nen; vielmehr bedarf es verschiedener und immer wieder erneuter Anläufe, um jenen „Sprung“ zu wagen, der uns zum „Ursprung“ unserer geistigen, d. i. von Seinsgedanken erhellten Existenz inmitten der Dinge zurückbringt. Zu diesem vorläufigen Bemühen gehört jetzt fürs erste unser Ausgang von der Interpretation, die Aristoteles in Met. A, d. h. dem ersten Buch seiner Metaphysik, gibt von den vorausgegangenen Philosophen. Dieser rückschauende Überblick des Aristoteles ist keine Aneinanderreihung von Lehrmeinungen, keine Doxographie, die mit vulgären Alltagsbegriffen Philosophien beschreibt, sondern ist eine philosophierende Sicht auf die vorausliegenden Denker; sie werden insgesamt aus einem Grundproblem her gesehen. Das ist das Problem des „Anfangs“. Archē und aition: Diese beiden Titel umzeichnen eine zentrale Problematik des aristotelischen Den­ kens; von hier aus gewinnt Aristoteles die Möglichkeit, das ganze ihm voraufgegangene Denken aus einem systematischen Blickpunkt zu sehen; sein von ihm erarbeitetes Verständnis von archē und aition wird ausdrücklich zugrundegelegt in seiner Interpretation. Dabei ist ihm aber die Geschichte der Philosophie nicht bloß ein An|wendungsbereich der von ihm ausgear­ beiteten Problematik des Grundes, des Anfanges, der Ursache, sondern eine Erprobung. Er stellt seinen Gedanken dem Gerichte der Geschichte, er prüft ihn daraufhin, ob er in allem fragenden Denken der voraufgegangenen Philosophen anwesend war. Aristoteles verhält sich so in echter Weise39 geschichtlich, wie es dem Wesen der Philosophie angemessen ist. Das Wahre ist immer „gegenwärtig“. Die früheren Philosophen sind ihm nicht die Über­ holten, die bloßen Vorgänger, sondern die Mitfragenden; was er sucht, ist das dort geschehene Fragen nach archē und aition; er begreift die Vorgänger als „Märtyrer“, als Zeugen; er faßt seinen Überblick zusammen: hoti men oun orthōs diōristai peri tōn aitiōn, kai posa kai poia, martyrein eoikasin hēmin kai houtoi pantes, ou dynamenoi thigein allēs aitias,40 daß also „bezüglich der Ursachen richtig entschieden wurde, was ihre Zahl wie ihre Beschaffenheit angeht, scheinen uns auch alle diese zu bezeugen, da | sie keine andere Ursache entdecken konnten“. Aus dem Problemverständnis von archē und aition her überblickt Aristoteles das Denken von Thales, Anaximenes, Heraklit, Empedokles, Anaxagoras, Leukipp, Demokrit, der Pythagoreer, Xenophanes, Parmenides, Melissos, Kratylos, Sokrates und Platon. Wir nehmen diese Interpretation des Ganges des anfänglichen griechi­ schen Denkens als eine erste Weg-Weisung. Ob aber das aristotelische Verständnis von archē und aition das wahrhaft angemessene ist, um das Fragen der ursprünglichen Denker zu fassen, muß zunächst offen bleiben. Vorerst fragen wir ganz am Rande, wie ist die beherrschende Stellung des archē- und aition-Problems zu verstehen? Wie kann Aristoteles von da aus den Angelpunkt ansetzen, um den sich die vorausgegangene Philosophie 44

II. Ausgang der Interpretation von der „Philosophiegeschichte“ des Aristoteles (Met. A)

dreht? In welchem Bezug steht das Philosophieren überhaupt zur Frage nach archē und aition? Ist das irgendeine der philosophischen Fragen oder in einer ausgezeichneten Weise eine Grundfrage? Um das vorläufig deutlich zu machen, gehen wir aus von einer Anzeige des Philosophiebegriffs, die Aristoteles im ersten Buch seiner Metaphysik entwirft. Es ist eine Anzeige, als Leitidee von Aristoteles gemeint. Keineswegs liegt darin schon eine dogmatisch verfestigte Auffassung vom Wesen der Philosophie vor, keine Auffassung, die sich der bestimmte Denker aus seinem ihm eigentümlichen Weltbild macht; die Leitidee der Philosophie, auf welche Aristoteles hier aus ist, ist ein Verständnis der Philosophie als einer dem Menschen überhaupt offenen Möglichkeit. Diese Möglichkeit ist gleichsam immer gewußt ‒ gewußt in einer seltsamen Weise, eben in der Weise der Ahnung; sie schläft zumeist und wird nicht als Möglichkeit geweckt und ergriffen, aber steht doch immer herein in alles menschliche Wissen. Den Leitbegriff der Philosophie entwickelt Aristoteles aus der Natur des Menschen. Dieses Moment ist von größter Bedeutung. Es ist keineswegs so, | daß Aristoteles sich dabei auf „die zweifelhafte Autorität der durchgängig herrschenden Auffassung der Menschen“41 beruft, eben auf die gängigen Meinungen über das Weise-sein und dergleichen. Nicht was man so denkt und meint über den Weisen und das Weise-sein, nicht die Alltagsmeinungen des „Man“ sind leitend, wenn es für eine oberflächliche Ansicht auch so aussehen mag. Aristoteles zeigt die Philosophie an, sofern sie zum Wesen des Menschen gehört und als eine wesentliche Möglichkeit auch dort noch geahnt wird, wo sich das menschliche Dasein gerade ihr verschließen will, eben in der Weise des Sichgenügenlassens beim leicht faßbaren Wissen. Das Wissen ist in sich selbst, seiner Natur nach, aus auf eine Steigerung, es entwirft sich selbst auf ein Maximum hin; es ist als Wissen unterwegs; alles Wissen hat die Natur, mehr sein zu wollen, und das heißt nicht primär mehr Wissensgegenstände oder größere Gewißheitsgrade erstreben; all dies ist nur eine Folge des dem Wissen eigentümlichen Dranges, mehr Wissen, ein noch mehr Wissen-seiendes Wissen zu werden; in allem Wissen drängt und bedrängt als möglich das wissendste Wissen; in alles Wissen steht so die Philosophie herein. Diese komparativische Natur des Wissens, sein in ihm waltender Drang, der es erhellende Entwurf auf ein Maximum, ‒ das wird von Aristo­ teles klar gesehen und wesentlich begriffen. Er beginnt mit dem Satz: pantes anthrōpoi tou eidenai oregontai physei,42 alle Menschen verlangen von Natur aus nach Wissen. Dieser Satz ist kein Ausdruck etwa einer optimistischen Einschätzung des Menschen; es ist ein Satz, der von einer optimistischen wie pessimistischen Beurteilung des faktischen Menschentums gleich weit entfernt ist. Darin wird das Wesen des Menschen wesentlich ausgesagt. Die orexis tou eidenai, die Begierde nach Wissen treibt den Menschen 45

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von Natur aus; das Wissenwollen ist ein ursprünglicher Trieb. Aber noch mehr ist damit gemeint. Es ist nicht nur eine Begierde nach Wissen, die den Menschen durchwaltet, ähnlich wie die Begierde nach Trinken und dgl., sondern das Wissen ist in sich selbst orexis, Begierde; das Wissen | begehrt nicht nur nach seinem Gegenstand und nach einer Fülle von Gegenständen, sondern es begehrt in sich nach sich selbst, nach einer Steigerung seiner selbst; es ist immer schon, wenn auch unklar, erhellt durch eine Ahnung eines noch wissenderen Wissens, und diese Ahnung wird ihm zum treibenden Stachel. Aristoteles weist zunächst hin auf die Freude an den Sinneswahrnehmungen; mit Aug und Ohr vernehmen wir die bunte Fülle der uns erscheinenden Dinge, den Zauber und den goldnen Rauch der schönen Welt, die Helle des Tages und das Funkeln des nächtlichen Firmaments; die aisthēsis, die Sinneswahrnehmung, als menschliche, ist immer gestimmt, ist immer eingehalten in das Ganze des menschlichen Weltverhaltens; die Sinneswahrnehmung, die aisthēsis ist freudig offen für das sinnlich vernehmbare Sei|ende. Sinneswahrnehmung, sagt Aristoteles, gehört zur Ausstattung aller belebten Wesen. Das teilt also der Mensch auch mit den Tieren; mit einigen von ihnen teilt er auch die Möglichkeit des Gedächtnisses; Mensch und Tier stehen so gesehen sich noch gleich; Wissen als aisthēsis, als Sinneswahrnehmung, und als mnēmē, als Gedächtnis, bilden also die natürliche Ausstattung; erst auf diesem Naturgrunde des Wissens erhebt sich dann die Steigerung, die dem Menschen möglich ist. Aristoteles stellt mehrere Stufen des Wissens zusammen, sie bilden insgesamt einen Stufengang. Diese Stufen sind vom Menschen her gesehen: 1. aisthēsis, 2. mnēmē, 3. empeiria, Erfahrung, 4. technē, die Kunstfertigkeit, 5. epistēmē, die Wissenschaft, 6. die sophia, die Weisheit. Diese Stufenfolge enthält also als letztes Glied die Weisheit. Von dort aus also wäre doch wohl die Bestimmung der Philosophie zu gewinnen, wie sie Aristoteles vorschwebt. Wichtig aber ist, daß in allen Stufen, sofern sie menschliche und nicht tierische sind, bereits schon die Ahnung der sophia als treibendes Motiv auftritt und zur Übersteigerung der Stufe hindrängt. Mit anderen Worten, die Weisheit ist nicht eine letzte und höchste Stufe des menschli­ chen Wissens, mit der man sich auch noch abgeben kann, wenn andere und wichtigere, lebenswichtigere Ziele erreicht sind, sondern diese höchste Stufe ist immer in allem menschlichen Wissen mit da als die Unruhe, die alle Sicherheit zerbricht und jedes Genügen schal werden läßt. Von außen gese­ hen sieht es so aus, daß je höher eine Stufe des Wissens liege, desto weniger sie allgemein sei. Aisthēsis kommt allem Lebendigen zu, mnēmē einigen Tieren und Menschen, und dann wieder empeiria, Erfahrung, zeichnet im Kreise der Menschen diejenigen aus, die aus dem Umgang mit dem Seienden lernen, technē gehört wieder einem kleineren Kreise an; die Kunstfertigkeit ist je auch eine bestimmt geartete, die technē des Arztes, des Häuserbauers, 46

II. Ausgang der Interpretation von der „Philosophiegeschichte“ des Aristoteles (Met. A)

des Webers, des Schiffbaumeisters usf., der Technit der einen technē ist ausgeschlossen von den anderen; noch geringer endlich ist der Umkreis derjenigen, die sich der Wissenschaft, der epistēmē widmen, und noch enger derjenigen, die die sophia erstreben; es ist also gleichsam eine Pyramide der Wissensstufen, wenn man auf den Umkreis der damit Befaßten hinblickt. Dieser nach oben hin abnehmenden Zahl der Teilnehmer steht aber umge­ kehrt eine immer steigende „Allgemeinheit“ des Gewußten gegenüber; die aisthēsis ist das Vernehmen von einzelnem, von gerade diesem Anwesenden, dieser Farbe, diesem Klang, diesem Geschmack usf.; die Erinnerung und das Gedächtnis aber vergegenwärtigen auch das Vergangene und Abwesende; die empeiria, die Erfahrung ist schon ein allgemeines Verstehen der Dinge; die Kunstfertigkeit ist schon eine allgemeine Auskenntnis im Seienden, die sich auf die Gründe versteht; Wissenschaft ist immer Wissen um die Gründe, und endlich die sophia ist das Wissen um die ersten Gründe alles Seienden. Diese | Stufung steht aber nicht so abgesetzt in ihren Gliedern da; die Stufen stehen zueinander in einem eindeutigen Verhältnis; die | höheren überholen die niederen; diese Überholung wird nur verständlich, wenn ausdrücklich hingeblickt wird auf die Tendenz, die in allem Wissen treibt und letztlich immer auf die höchste Weise des Wissens, die sophia aus ist. Diese ist das immanente telos, der innere Zielsinn alles Wissens. Im ersten Kapitel des ersten Buches der Metaphysik hat Aristoteles zuerst den Stufengang des Wissens hingestellt. Im zweiten Kapitel nun wird das Verständnis von Wissen, Weisheit und Weisesein entwickelt, in dem wir uns immer schon aufhalten; dieses uns bekannte Wesen der Weisheit wird zum ausdrücklichen Leitfaden genommen für eine Besinnung, in welcher sich diese uns immer schon beherrschende Idee klären soll zur ausdrücklich ergriffenen Leitidee für ein Fragen nach der Philosophie. Mit anderen Worten, wir können die Philosophie nur suchen, weil wir sie im Grunde schon kennen; wir kennen sie aber nur als eine erahnte Möglichkeit. Aristoteles geht also jetzt aus von diesem gängigen Wissen, in welchem uns die Philosophie bekannt und zugleich unbekannt ist. Nicht legt er die Allerweltsmeinungen, die Ansichten der polloi, der Vielen-Allzuvielen dabei zugrunde, das, was sie von der Philosophie halten; er deckt jenes Wissen auf, in dem widerwillig sich auch der gemeine Verstand befindet, wenn er die Philosophie ahnt, aber mit ihr nichts zu tun haben will. In den populären Meinungen vom sophos spricht sich gleichsam unabsichtlich diese Ahnung von der Philosophie aus. Weise wird so genannt, wer alles weiß; aber ist dies überhaupt eine Möglichkeit des Menschen? Kann man alles wissen? Aber heißt denn alles = die Summe alles wißbaren Einzelnen, alle möglichen Einzelerkenntnisse? Der Weise, der sophos, wird genommen als einer, der alles weiß, aber eben nicht in der Art der Allwissenheit von allem Einzelnen, sondern der das Ganze, das Allbetreffende weiß; die Art solchen Wissens 47

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bleibt offen; der Weise ist einer, der sich auf die Welt versteht; Welt ist kein Gegenstand neben anderen für die Philosophie ‒ diese ist Weltweisheit, das Wissen des Seienden im Ganzen. Ferner wird „weise“ genannt, wer Schwieriges und nicht leicht Erkennbares weiß; die Weisheit also bezogen auf eine Anstrengung des Menschen; das Wissen ist in sich entworfen auf einen Horizont möglicher Steigerung, ausgehend vom leichten Wissen von den Dingen, bei denen wir sind, die wir sehen, hören, tasten; das Wissen versteht sich so in einer Bahn der Schwierigkeit; schwierigerwerden gehört zum Wesen des Wissenswachstumes; der Weise wird gemeint als ein solcher, der zum Schwierigsten ausgreift, der am meisten ringt und kämpft mit der Undurchdringlichkeit des Seienden. Und ferner gilt uns als weise derjenige, der mehr als andere genau ist in seinem Wissen und mehr als andere die Ursachen lehrt; Wissen ist so offengehalten in eine Rich|tung der sich steigernden Genauigkeit und Lehrbarkeit aus den Gründen; ein Höchstmaß an Genauigkeit und begründender Lehrbarkeit liegt so in der vage geahnten Idee des Weisen. Und nun springt Aristoteles über vom Vorbegriff des sophos zu dem ebenso in allem natürlichen Verhalten bereits geahnten Wissen von der höchsten epistēmē; eine Wissenschaft ist umso mehr „weise“, wenn sie um ihrer selbst willen und um des Wissens willen erstrebt wird; und endlich „weiser“ ist eine Wissenschaft, die herrschend ist, als eine dienende, und zwar weil der Weise, d. i. der alles Seiende im Ganzen im schwierigsten und schwerst erlernbaren Wissen am genauesten und lehrbarsten Verstehende, befehlen soll. Vom Kundigsten aus soll die Ordnung der menschlichen Dinge geschehen, auf daß sie im Einklang seien mit der Ordnung der Welt. Diesen populären Vorbegriff des sophos und der epistēmē interpretiert nun Aristoteles und geht in solcher Auslegung bereits über das alltägliche Verständnis hinaus; er deckt jetzt thematisch auf, was vorher gleichsam unentfaltet und nur geahnt im gewöhnlichen | Vorverständnis lag. Jetzt beginnt bereits die Leistung einer Interpretation, die auf ein Ziel zusteuert, einen Leitbegriff der Philosophie entwickeln will aus den populären Vorstellungen heraus. Der sophos, so legt er jetzt aus, weiß alles, weil er am meisten im Besitz der allgemeinen Wissenschaft, der epistēmē katholou ist; wer das Allgemeine weiß, weiß in gewisser Weise auch alles, was im Einzelnen je darunter fällt, weil es vorher schon gewußt ist in seiner Natur, seinem Wesen. Das Allgemeinste aber ist auch das Schwierigste; wir halten uns immer schon in einem vagen Wissen des Allgemeinen, wir kennen die allgemeinste Natur des Seienden; in allem Verhalten zu den Dingen ist schon mitverstanden, daß sie sind, daß sie je so und so sind; aber dieses vorweg verstandene Sein der Dinge ist auch dasjenige, was wir zwar immer kennen, aber gerade nicht erkennen; die Erkenntnis davon, die Erkenntnis dieses Allgemeinsten ist gerade das Schwerste. Wie Aristoteles hier die populäre Vorstellung des 48

II. Ausgang der Interpretation von der „Philosophiegeschichte“ des Aristoteles (Met. A)

schwierigsten Wissens bereits schon interpretiert auf das Verstehen des Allgemeinsten und dieses als das Sein am Seienden andeutet, so legt er auch den zunächst aufgenommenen Begriff der größten Genauigkeit aus; nicht das bestimmt er als das Genaue, was „man“ für genau hält, etwa das mathematische Wissen; Genauigkeit wird gesehen vom Zusammenhang des Gegründetseins des Seienden her; genauer ist eine epistēmē, die mehr als eine andere auf das Erste, das Grundlegende geht, und dabei ist die am meisten genau, die auf das am meisten Erste geht; ebenso wird jetzt die Lehrhaftigkeit interpretiert auf die Gegründetheit hin; am meisten lehrbar ist eine Wissenschaft, wenn sie die letzten Gründe anzugeben weiß. Zusammengefaßt bis hierher: Aristoteles zeigt die innere, im Wissen selbst liegende Gradualität, seine komparativische Natur auf im Hinblick auf das | Phänomen des Grundes. Die Natur des Wissens, in sich selbst angelegt zu sein auf eine Steigerung und durchwaltet zu sein von einem Drang zu dem in ihm liegenden telos, wird erleuchtet durch den Hinweis auf die Gegründetheit alles Seienden, sein Herkommen aus Gründen. Im Hinzeigen darauf gewinnt Aristoteles dem populären Verständnis des sophos und der epistēmē erst den verborgenen Hintersinn ab. Der vierte Punkt, den er in diesem Zusammenhang interpretiert, ist hinsichtlich des Wissens das hautēs heneken kai tou eidenai charin;43 jenes Wissen ist weise, das um seiner selbst willen und um des Wissens willen erstrebt wird. Das kann zunächst in einem äußerlichen, oberflächlichen Sinne aufgefaßt werden. Um seiner selbst willen ist ein Wissen gesucht, wenn es nicht zu etwas anderem dienen soll, wenn es nicht nur Durchgang, Umweg, Mittel für ein anderes Wissen ist; wenn sich der Mensch im Streben nach solchem Wissen einzig darauf verlegt, es zu gewinnen, wenn er damit nicht noch etwas will. Jede Liebhaberei, die bis zur Leidenschaft gehen kann, jedes Sammeln z. B. ist aus auf das angehende Wissen; der Sammler will Kenntnisse über sein Sammelgebiet rein um des Wissens willen; er will außerdem nichts damit anfangen. In diesem Sinne aber ist die Stelle bei Aristoteles gar nicht gemeint. Es handelt sich nicht nur um ein Wissen, das an sich selbst gewollt wird, sondern um ein Wissen, das um seiner selbst willen (heautou heneken), um seiner selbst als Wissen willen gewollt wird. Der Ausdruck „um seiner selbst willen“ ist zweideutig: Er besagt einmal nur „absolut erstrebt sein“ „,nicht Mittel sein“; dann aber ‒ und das ist die wesentliche Bedeutung: um seiner selbst willen, das Wissen um des Wissendseins willen; nicht der Wissensinhalt begrenzt und hält das gesuchte Wissen in einer festen Gestalt fest, sondern das Wissen wird erstrebt als Wissen; als Wissen aber ist es nie in einer fixen Gestalt fertig, sondern steht im Horizont möglicher Steigerung bis zum höchsten, zum wissendsten Wissen. Deswegen sagt Aristoteles noch „kai tou eidenai charin“, um seiner selbst willen und um des Wissens willen; dieser Zusatz ist explikativ und erklärt das „um seiner selbst willen.“ 49

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| Voll verständlich wird das erst in der Deutung, die Aristoteles diesem Moment der populären Vorstellung von Weise-sein gibt. Er sagt, daß derjenige das Wissen um seiner selbst willen, d. h. um seiner höchsten Möglichkeit willen begehrt, welcher nach der am meisten Wissenschaft seienden Wissenschaft strebt. Am meisten Wissenschaft aber ist die Wis­ senschaft des am meisten Wißbaren, am meisten wißbar aber sind das Erste und die Ursachen. Auch hier erfolgt die Interpretation im Hinblick auf die Gegründetheit des Seienden. Seiendes wird am meisten gewußt, wenn es aus seiner Gegründetheit her, aus seinen Gründen verstanden wird. Das Wissen von den Gründen aber ist die höchste Möglichkeit des Wissens. Und endlich noch interpretiert er das | Verhältnis der herrschenden und dienenden Wissenschaft ebenfalls auf ein Gründungsverhältnis hin: der Herrschende ist ein solcher, der aus der Einsicht in das Ziel und den Zweck anordnet und befiehlt; die herrschende Wissenschaft aber ist das Verstehen des Zieles, des Zweckes, des hou heneka, des Weswegen; das ist in den einzelnen Handlungen je das Gute, im Ganzen gesehen das, was alle Handlungen zu einer sinnvollen Ordnung zusammenfügt: das Beste. Die aristotelische Einführung des Guten hier scheint, gerade weil ja ein menschliches Verhältnis zum Ausgangspunkt genommen wurde, eben das Verhältnis des Herrschens und Dienens, auch ein nur menschlicher Begriff, eine nur im Menschenbereich wirkende Beziehung zu sein. Grundsätzlich aber ist sie von ihm bereits schon allgemein, über den menschlichen Bezirk hinausgehend verstanden. Ein aufmerksamer Nachvollzug dieser Analyse des Vorbegriffs der Philosophie, wie sie hier Aristoteles im Anschluß an die populären Meinungen von sophos und epistēmē gibt, läßt den gesteuerten Charakter dieser Analyse erkennen; Aristoteles spricht bereits aus der Philosophie her, er legt die Weise aus, wie sie in das vor-philosophische Dasein des Menschen hereinsteht, geahnt und doch verdeckt, gewußt als all-umfassendes, schwieriges, genaues Wissen, aber eben doch nicht ver­ standen in der Art, wie sie das Ganze weiß, worin ihre Schwierigkeit und Genauigkeit und Lehrbarkeit, ihre Selbstbezogenheit und herrschende Rolle wirklich bestehen. Erst in der Interpretation, die alle diese Momente von der Gegründetheit des Seienden her sieht, fällt das Licht eines latenten Verständnisses herein, das zu einer Leitidee der Philosophie werden kann. Aristoteles faßt also zusammen: „nach allem Gesagten kommt der fragliche Name einer und derselben Wissenschaft zu, derjenigen, welche die ersten Prinzipien und Ursachen erforscht“44. Im Aufriß der Stufenfolge des Wissens steht zuhöchst als die alle anderen überholende und in sich aufnehmende Stufe die sophia. Das, was zur sophia gehört, wurde aufgenommen aus den populären Vorstellungen vom Weise-sein, aus der darin wirksamen Ahnung einer höchsten Mög­ lichkeit des Wissens; und diese gängigen Meinungen wurden in ihrem 50

II. Ausgang der Interpretation von der „Philosophiegeschichte“ des Aristoteles (Met. A)

eigentlichen und sonst verdeckten Sinne aufgehellt durch die Interpretation von der Gegründetheit des Seienden her. Die sophia, das ist nun der Leitbegriff, ist die Wissenschaft von den archai und den aitia des Seienden. Im weiteren Gange des Gedankens spricht Aristoteles dann vom Ursprung der Philosophie, von der darin wirksamen menschlichen Existenzweise und dem Verhältnis zum Göttlichen. Damit wird die populär ansetzende Gewinnung der Leitidee verlassen, der Denker spricht jetzt unmittelbar45 aus der Philosophie über sie selbst. Der Ursprung der Philosophie aus dem Staunen, die menschliche Existenzweise der Freiheit und der Bezug zum Göttlichen aus dem Gegenstand der Philosophie ‒ diese | dort nur berührten Gedanken auch nur im Ungefähren auszulegen, sind wir jetzt nicht zugerüstet. Sie stehen auch noch außerhalb unseres Interesses. Wir fragen, welchen Begriff, genauer: welchen Leitbegriff entwickelt Aristoteles aus der analytischen Interpretation des ahnenden menschlichen Wissens um die Philosophie? | Der so gefundene Leitbegriff als Wissenschaft von den archai und den aitia, von den „Anfängen“ und „Ursachen“ bleibt noch in einer Unbestimmtheit stehen, auch wenn bereits ganz bestimmte Verhältnisse des Gründens des Seienden in dieser Analyse aufscheinen. Am Anfang des dritten Kapitels aber greift Aristoteles dann ausdrücklich zusammen, was als systematische Erkenntnis hinter seiner Auslegung der populären Ahnung der Philosophie stand. Er stellt vier Weisen des Ursacheseins auf. Diese Tafel der aitia bildet den Raum, von welchem aus Aristoteles den Rückblick wirft auf das Denken der vor ihm Philosophierenden. Sie ist keine stillschweigende Voraussetzung seines historischen Bezugs, sondern von ihm selbst ganz ausdrücklich als die Basis seiner Auseinandersetzung mit den alten Denkern und seiner Absetzung von ihnen hervorgehoben. Daran mißt er all ihr Denken; diese Tafel der aitia wird zum Bezugsraum und zum Maßstab seiner historischen Kritik. Die Vierfalt der aitia wird an dieser Stelle nicht begründet; es ist überhaupt die Frage, ob Aristoteles auch dort, wo er grundsätzlich darüber nachdenkt, zu einer inneren Erhellung der Vierfalt vorgedrungen ist. Wir nehmen aber zunächst, im Bemühen, das Fragen der Griechen zu lernen, den Leitfaden des Aristoteles auf. Ta d’aitia legetai tetrachōs: „die Ursachen werden vierfach gesagt“: 1. ousia kai to ti ēn einai; 2. hylē kai to hypokeimenon; 3. hothen hē archē tēs kinēseos; 4. to hou heneka kai tagathon.46 Alle diese Begriffe verlangen eine Auslegung, um den darin liegenden ontologischen Sinn zu erhellen. Denn es sind keine Ursachen als Dinge, auf die man hinzeigen kann, sondern Gedanken, in denen das Grundsein von Seiendem gedacht wird.47

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| 6. Wir sind dabei, den Vorbegriff der Philosophie auszulegen, welchen Aristoteles im ersten Buche seiner Metaphysik gewinnt in einer Betrachtung der Natur des Wissens. Dieser Vorbegriff bildet für Aristoteles selbst die ausdrücklich genannte Basis für sein Verhältnis zu der vorausgegangenen Philosophie von Thales bis Platon. Er erzählt dabei keine Geschichten, reiht nicht in bunter Folge eine Weltentstehungslehre an die andere, son­ dern arbeitet die tragen|den Grundvorstellungen vom Seienden heraus, die jeweils in den Wasser-, Luft- und Feuerlehren am Werk sind. Aristoteles „wieder-holt“ das Fragen der Vorgänger, indem er eigens und ausdrücklich herausfragt, was dort gleichsam noch eingehüllt war. Die aristotelische Geschichtsbetrachtung ist „Interpretation“. Im Blick darauf sollen wir lernen, was die Aufgabe und das Risiko der interpretierenden Wiederholung philo­ sophischer Fragen eigentlich ist. Den Vorbegriff der Philosophie stellt Aristoteles nicht einfach auf als eine Leitidee, die sich erst in der Durchführung bewährt; sie ist kein VorGriff des Denkers auf sein System. Vielmehr entnimmt er dem gewöhnlichen menschlichen Wissen eine es immer leitende Idee, welche keineswegs klar und deutlich, sondern in einer vagen und ungenauen Art darin haust. Im Wissen liegt immer ein gewisser Vorblick. Ein Vorblick auf eine Steigerung. Wissen ist nicht etwas, das als ruhiger Besitz festliegt, sondern versteht sich selbst als „unterwegs“, als im Gang befindlich, als eine Bewegung, als ein Zunehmen- und Wachsenkönnen; das menschliche Wissen fühlt sich immer beengt und beschränkt, als begrenzt und endlich; das Wissen ist ein Trieb, der immer über sich hinaustreibt; das Wissen ist immer erhellt durch den Vorblick auf ein malista, auf ein „am meisten“; und auch im gewöhnlichsten Alltag, wo wir weit davon entfernt sind, daß das Wissen uns zur Leidenschaft wird, bewegen wir uns ganz selbstverständlich in einer Kenntnis der Spielräume, in denen Wissen zu steigern ist: „wenig“ und „viel“ wissen, „ungenau“ und „genau“ wissen, auf „lehrbare Weise“ wissen oder nicht „mittelbar“ oder „unmittelbar“ wissen und endlich „teilhaft“ wissen oder so wissen, daß eine „ganze Lebenssituation“ wissend beherrscht wird. Diese fünf Spielräume der möglichen Steigerung des Wissens werden von Aristoteles in einer eindringlichen Analyse herausgearbeitet. Dabei hat es den Anschein, daß er fast Allzuselbstverständliches sagt. Das weiß ja im Grunde jedes Kind. Die Leistung des Aristoteles ist hier, daß er auffallen läßt, was jedes Kind weiß; daß er diese Selbstverständlichkeit nennt und ausdrücklich damit zu einem Problem macht. Was hat es damit auf sich, mit dem menschlichen Wissen, daß es immer so „zwischen“ steht, zwischen dem Nichtwissen und dem Alleswissen, in einem dämmerigen Zwielicht, das weder Nacht noch Tag ist? Verrät sich in dieser Eigenart menschlichen Wissens eine Zwischensituation, eine Stellung zwischen dem Nichts und 52

II. Ausgang der Interpretation von der „Philosophiegeschichte“ des Aristoteles (Met. A)

dem Sein? Ist es ein Index der Endlichkeit des Menschen, daß er nicht „mit einem Schlage“ sozusagen alles weiß, wissend bei allem Seienden ist, sondern nur in einer mühevollen Wanderung immer unterwegs ist, Wissen als „zeitlichen“ Prozeß sich zueignen kann und dabei bei allem erreichten Wissen immer wieder übertroffen wird von der geahnten, fernen48 Fülle des Wissens, auf die er ständig vorblickt? Ist menschliches Wissen und alle menschliche Wis|senschaft so geartet, daß sie faktisch immer zurückbleiben muß hinter der sie leitend-erhellenden Idee? Mit solchen Fragen wird nur das Problem angedeutet, das unausgesprochen hinter der so selbstverständ­ lich und billig erscheinenden Analyse des Aristoteles steht: das Problem der Endlichkeit des menschlichen Wissens. Als wichtiges Moment gilt es festzuhalten: Aristoteles stellt einen Vorbegriff der Philosophie auf, indem er diesen aus dem gewöhnlichen Wissen entnimmt, eben als die dort ungenau und vage ihr Wesen treibende Idee | eines malista, eines „am meisten“. Die Philosophie wird begriffen als die immer schon hereinstehende Möglichkeit der höchsten Steigerung des Wissens. Das unterscheidet aber den Menschen vom Gott. Der Gott gewinnt nicht auf einem mühsamen Weg das höchste Wissen, er steht immer schon darin; sein Wissen hat nicht die Natur der Bewegung; Menschenwissen aber geht immer aus vom wenigen, ungenauen und steigert sich mühsam, getrieben von der voran­ leuchtenden Idee eines ganzen, allumfassenden, genauen und gesicherten lehrbaren Wissens. Menschenwissen ist Stückwerk; das zeigt sich nicht nur in der faktischen Begrenztheit des jeweiligen Wissensbestandes, sondern am schärfsten vielleicht gerade darin, daß es immer durch einen Vorblick auf eine „aufgegebene“ höchste Möglichkeit erhellt wird. Weil das faktische Wissen sich immer selbst mißt an einem Ideal, weil es so des treibenden Ideals bedürftig ist, ist es in einem unaufhebbaren Sinne endlich. Alle Wissensstufen des Menschen sind in sich vorblickend, sind angetrieben durch diesen Vorblick, sich zu überhöhen, überzugehen in die höhere Wissensweise und hinzudrängen auf die höchste: Die höchste aber wurde charakterisiert als die sophia. Besitz aber ist die sophia nur dem Gott; dem Menschen bleibt sie das ihn aus aller Genügsamkeit aufjagende Ideal, das in ihm die Begierde entzündet, die Liebe, die philia. Nicht die sophia selbst, aber die philosophia ist dem Menschen möglich: jene Existenzweise, in der er sich entwirft auf das am meisten Wissen hin, wo er aufbricht aus allen Begrenzungen und strebend sich bemüht, soweit es dem Menschen möglich ist, das höchste Wissen zu erlangen. Die Philosophie ist die Bewegung des endlichen Wissens auf die sophia zu; als Menschenwerk ist sie ein „Weg“. Der tiefe Zusammenhang von Endlichkeit, Bewegungsnatur des menschlichen Wissens und dem Weg-Charakter der Philosophie bleibt im abendländischen Denken gewahrt bis zum Deutschen Idealismus: auch Hegels Philosophie selbst, die der oberflächlichen Beurteilung als ein uto­ 53

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pischer Versuch erscheint, den Menschen, seiner Endlichkeit vergessend, an die Stelle Gottes zu setzen, hat ja das schärfste Wissen vom Wegcharak­ ter der Philosophie, von ihrem Ausgang aus dem erscheinenden Wissen und von ihrer Vollzugsform als Bewegung. In einem verwandelten Sinne kehren gerade in der Phänomenologie des Geistes, dem ersten Systementwurf | Hegels, die einander überholenden Wissensstufen wieder, von der aisthēsis bis zur sophia, die wir im Aufriß des Aristoteles kennenlernten. Gegen ein naheliegendes Mißverständnis müssen wir die aristotelische Analyse des Wissens, welche seine Gradualität und die fünf Spielräume der Steigerung herausgearbeitet hatte, noch eigens sichern und abschirmen. Sieht es nicht so aus, als wäre die Philosophie dann nur graduell verschieden vom sonstigen Wissen? Gibt es dann noch einen tiefen Abgrund, der die philosophische Existenz trennt von den sonstigen Verhaltungen des Menschen? Weiß die Philosophie dann auf die gleiche Weise die Dinge wie der Alltag, nur eben umfassender, genauer, lehrbarer usf.? Ist Philosophie nur eine Aufsteigerung auf dem bereits gelegten Boden? Wenn dies so wäre, wäre sie nichts anderes als positive Wissenschaft. Deren Wesen ist es, das gewöhnliche Wissen zu übertreffen, es zu vervollkommnen nach Umfang, Systematik, Genauigkeit und Zuverlässigkeit; aber alle Wissenschaft hat ja mit dem Alltag das eine gemein: Sie stehen auf dem Boden der gleichen überkommenen Grundvorstellungen vom Sein; sie fragen nicht erst nach dem Bau und nach der Natur des Seienden. Von entscheidender Wichtigkeit ist die Einsicht, daß die Spielräume der möglichen Wissenssteigerung auf eine zweifache Art interpretiert werden können: einmal in einem mehr naheliegenden Sinne, das führt zu den positiven Wissenschaften; und das andere Mal in einem radikalen und | profunden Sinne, wie wir es bei Aristoteles gesehen haben. Dort vollzieht sich eine Auslegung der mögli­ chen Wissenssteigerung in die Richtung eines Wissens der Anfänge und Ur-Sachen. Die sophia ist ihrer Idee nach das Wissen um die ersten Anfänge und die ersten Ur-Sachen. Was versteht Aristoteles unter Anfang, archē und aition, Ursache? Auf diese Frage eine Antwort geben, hieße, die ganze aristotelische Philosophie in ihren Grundzügen zu entfalten. Es ist keineswegs so, daß eine terminologische Fixierung festgehalten werden kann, vielmehr radikalisiert sich im Zuge seiner Philosophie das Verständnis von archē und aition. An diesen Begriffen könnte gerade gezeigt werden, wie Aristoteles zunächst an den sich zeigenden Dingen bestimmte Phänomene aufgreift: verschie­ dene Weisen des Gründens, und dann am Modell solcher vorgefundener Verhältnisse durchstößt zum reinen Seinsverhältnis, das als ermöglichen­ der Grund dahintersteht. Die Termini haben verschiedene Übersetzungen erfahren. Archē ist wörtlich der Anfang, lateinisch principium; der deutsche Ausdruck Prinzip hat vielfach schon etwas Verschwommenes, etwas Unge­ 54

II. Ausgang der Interpretation von der „Philosophiegeschichte“ des Aristoteles (Met. A)

nau-Abstraktes. Etwa die Wissenschaft der ersten Prinzipien? Was soll man dabei sich denken? Im alltäglichen Gerede nennen wir bald dies, bald jenes ein Prinzip. Wir reden von den ewigen Prinzipien der Humanität, vom Prinzip eines Ordens, vom Prinzip eines Dieselmotors usf. und meinen dabei immer | so etwas wie das Grundsätzliche. Genügt dieser Begriff, um den Gedanken des Aristoteles zu fassen? Keineswegs. Ist es nicht zufällig, daß archē als Anfang zunächst einen ursprünglichen räumlichen oder zeitlichen Sinn mitenthält? Im 5. Buch der Metaphysik gibt Aristoteles einen ersten Hinblick auf das, was er unter archē versteht. Archē = „Anfang“ ist einmal der Teil eines Dinges, bei welchem eine Bewegung begonnen wird, z. B. bei einem Weg ist das der Anfang, von wo aus der Weg durchmessen wird; ein Weg kann von der einen oder anderen Seite her angefangen werden; Anfang ist ein Wegstück nur im Hinblick auf eine Bewegung; anders wiederum ist „Anfang“ gemeint etwa beim Lernen; der Anfang wird gemacht bei dem am leichtesten Faßlichen, etwa in der Mathematik fangen wir an bei dem Rechnen mit den ganzen Zahlen; Anfangen ist hier also gemeint als das Woher auch einer Bewegung, eben der Bewegung des Lernens; und dabei können wir unterscheiden den Anfang einer Sache für das Kennenlernen und den Anfang, den eine Sache an sich selbst hat; z. B. ist die Reihe der ganzen Zahlen wohl für das Lernen der Anfang der Mathematik, für sie selbst der Sache nach ist der Begriff der Größe der Anfang. In einem anderen Sinne ist z. B. der Kiel des Schiffes oder das Fundament des Hauses der „Anfang“, hier ist er ein Teil einer Sache, mit welchem sie entsteht. Anders wieder gebrauchen wir „Anfang“, wenn wir sagen, daß das Kind aus Vater oder Mutter entsteht; was hier Anfang heißt, ist nicht selbst ein Teil des Gewordenen, sondern bleibt außer ihm, ist etwas, woraus jenes wird. Und endlich sprechen wir von „Anfang“ auch dort, wo etwas geschieht um eines anderen willen; so ist der Herrscher ein Anfang für das von ihm geordnete Geschehen. Jede technē, jede Kunstfertigkeit endlich ist archē, ist „Anfang“, sofern sie etwas bewirkt, hervorbringt um eines Zieles willen; neben diese aufgezählten Fälle, in denen wir von Anfang sprechen, stellt Aristoteles zuletzt dann noch einen Sinn: „Anfang“ im Sinne der Voraussetzung, der Prämisse eines Beweises. Die erst erwähnten Fälle enthalten alle Weisen des Anfangseins, die beheimatet sind im Bereich der wirklichen Dinge ‒ das Anfangsein der Prämisse für die Folge ist ein logisches Verhältnis. Aber auch dieses zeichnet für ein wirkliches Geschehen, eben das Verstehen solchen Beweisganges, einen Weg vor. Von größter grundsätzlicher Bedeutung ist nun die Art, wie Aristoteles aus den vielen Weisen, wie wir Gebrauch machen von einem Verstehen von „Anfang“, das in solchem Gebrauch latent bleibende Wissen her|ausholt und selbst zu einem Gegenstande des Denkens macht. Diese Methode ist keine bloße Reflexion, ja es ist überhaupt keine Methode im Sinne 55

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eines einlernbaren Verfahrens; es ist Methode als methodos, als Weg der Philosophie. Das in allem Umgang mit dem Seienden schon „gebrauchte“ Seinsverständnis eigens abzuheben und in den Griff des Fragens zu zwingen, ist das schwere Geschäft | allen Philosophierens. Wir halten uns immer schon auf in einem Verständnis aller Grundweisen des Seins, wir bewegen uns in einer artikulierten und grammatikalisch ausgebildeten Sprache in Grundbegriffen, mit welchen wir die Strukturverfassung des Seienden denken, aber wir sind zumeist himmelweit entfernt von der Möglichkeit, dieses von uns ständig in Gebrauch genommene Seinsverständnis an ihm selbst zu fassen und zu befragen. Aristoteles greift in unserem Falle nicht einige ihm gerade vorkommende Fälle von Anfang blindlings auf und zieht durch „Abstraktion“ das diesen Fällen Gemeinsame heraus. Es wäre ein heilloses Mißverständnis, die Eigenart des Denkens, das sich auf das von uns immer schon gebrauchte Seinsverständnis besinnt, das „ontologische Denken“, als eine bloße „Abstraktion“ zu nehmen. Abstraktion ist berechtigt in der Sphäre der Erfahrung; durch Absehen, durch Weglassen gewinnen wir den empirischen Allgemeinbegriff. Nie aber führt ein Weglassen, ein bloßes Absehen vom Einzelfall zur Erkenntnis einer ontologischen Allgemeinheit. Hier ist das Entscheidende immer die Umwendung vom latenten Gebrauch einer ontologischen Grundvorstellung auf sie selbst hin, das Herausreißen des verdeckten Seinsgedankens. Aristoteles leistet dieses Herausreißen, indem er „Anfangsein“ in den folgenden Grundriß der archē zwingt: to prōton einai hothen ē estin ē gignetai ē gignōsketai,49 „das Erste zu sein, woher etwas entweder ist oder wird oder erkannt wird“. Das Wesen des Anfangs ist also, ein Erstes zu sein für ein anderes, das aus ihm her ist oder wird oder erkannt wird; Erstes für ein anderes aber heißt Grundsein. Anfang, archē, Grund fordert von sich aus etwas, dem es Grund und Ermöglichung sein kann. Anfang kann es nur geben, wo das Seiende so geartet ist, daß es in einer Folge des Früheren und Späteren, des Grundes und des Begründeten aufgebaut ist. Wenn es zum Wesen des Seienden gehört, daß es gründet, daß es zurückweist in einen ersten Anfang, aus dem es herkommt, von woher es50 in Bewegung und Ruhe ist, oder von welchem aus es einsichtig und erkennbar ist, mit andern Worten, wenn es in einer gründenden Seins- und Erkenntnisordnung steht, dann ist die Erkenntnis der ersten Gründe mit Recht die höchste Möglichkeit des Wissens, Philosophie. Aber ist das nicht eine Voraussetzung? Ist es denn so sicher, daß alle Dinge zusammenhängen mit ihren Gründen? Ist der Satz vom zureichenden Grunde mit Recht ein Fundamentalsatz der abendländischen Metaphysik? Wir können hier diese Frage nicht beantworten, ja nicht einmal zureichend als Frage ausarbeiten. Sie soll nur aufmerksam machen auf eine Grundvoraussetzung, in der unser Denken gemäß der antiken Tradition steht. Wäre es nicht möglich, daß alle Dinge „grundlos“ nebeneinander vorkommen? Daß keine Fundierungsver­ 56

II. Ausgang der Interpretation von der „Philosophiegeschichte“ des Aristoteles (Met. A)

hältnisse zwischen dem Seienden walten; daß alles, was ist, eben einfach und schlicht ist und auf | nichts zurückweist? In einer solchen Welt könnte es kein Geschehen geben, nur die unbewegte, starre Ruhe des Seins. Vielleicht daß eine solche Möglichkeit einmal im Denken der Griechen ausgedacht wurde, eine Welt, in der es kein Gründen, kein Geschehen, überhaupt nicht die vielen einander begrenzenden Dinge, sondern nur das einfache, ungegliederte, bewegungslose und grundlose Sein gibt. Allerdings hat dort in der eleatischen Schule dieser Gedanke einen Tiefgang, der | von dieser Andeutung nicht betroffen werden kann. Die durchgängige Gegründetheit des Seienden ist der ontologische Boden, auf welchem Aristoteles die Idee der Philosophie entwirft als das Wissen von den ersten Gründen, den ersten Anfängen und Ur-Sachen. Wir haben51 bereits die Tafel der archai und aitia genannt, die Aristoteles aufstellt. Vierfach werden Anfänge und Ursachen gesagt. Das Sagen und Ansprechen der Gründe also gibt für Aristoteles die Anweisung, ihre Vierzahl zu entdecken. Gesagt werden sie nicht so, als ob man immer schon über diese Vierzahl gesprochen hätte; Aristoteles nennt damit keine schon bestehende Theorie, über welche unter den Denkern Einstimmung bestünde ‒ oder gar eine alltägliche Tatsache. Im Sagen, in der Rede werden die Gründe vierfach gesagt, aber eben nicht thematisch; das Sagen gebraucht vierfältig ein unausdrückliches und unabgehobenes Verstehen von Grund; in der Sprache ist also gewissermaßen eine verborgene Philosophie versteckt, nur weiß sie es selbst nicht. Aristoteles nimmt in vielen seiner philosophi­ schen Anläufe die verborgene Weisheit der Sprache zum Leitfaden für die Entdeckung des dort latenten Seinsverständnisses. Der Zusammenhang von on, dem Seienden, und dem logos, der Rede, bleibt für die antike Philosophie immer der Horizont der Arbeit am Seinsbegriff, auch dann noch, wenn sie gegen den Sprachgeist kämpft. Und wenn Kant in der Kritik der reinen Vernunft die Tafel der Urteile als Leitfaden nimmt für die Entdeckung der Kategorien, d. h. der obersten Seinsbestimmungen, dann steht er noch in der Nachfolge dieses antiken Motivs. Aristoteles reißt aus den vierfachen Weisen, wie „Anfang“ und „Ur-Sache“ gesagt werden, die Vierfalt der Gründe selbst ans Tageslicht. Zunächst stellen wir diese vier Gründe einfach nebeneinander. 1. Ousia kai to ti ēn einai: die Seiendheit und das Wesen.52 Ist eine solche Übersetzung nicht schon eine fragwürdige Interpretation? Wir lassen vorerst alles beiseite, was zu den eigentlichen Fragen der Aristotelesinterpretation gehört; wir halten uns nur in einem vorläufigen Verständnis; denn es geht uns hier ja einzig darum, im Nachgang zur aristotelischen Auslegung der ersten Philosophen einen Einstieg zu finden in die sonst unzugänglichen Wände jenes Gedankengebirges aus den schöpferischen Urtagen der Phi­ losophie. Die Denker, die wir im Laufe unserer Vorlesung53 | auslegen 57

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wollen, sind Anaximander,54 Heraklit und Parmenides. Aristoteles deutet deren Fragen von seinen Gedanken über archē und aition aus. Gesetzt den Fall, diese Deutung beruhe auf einem Fundament, das den frühen Denkern unangemessen wäre, so müßte doch die Erfahrung des Scheiterns mit den aristotelischen Voraussetzungen uns immer noch55 ein echteres Verhältnis verschaffen, als ein ungeprüfter Umgang mit56 ‹einem› Begriffsarsenal, das wir unserem Dasein entnehmen. Was sollen wir also zunächst verstehen unter der archē der ousia, dem „Anfang“ der Seiendheit? Ein Seiendes, ein Ding ist mannigfach bestimmt, es hat eine Menge von Eigenschaften; dieses Katheder z. B. ist so und so gestaltet, so gefärbt usf. Alle die vielen Eigenschaften aber stehen nicht nur beieinander, sondern sie eignen diesem bestimmten Ding, das als solcher Eigentümer57 etwas ist, was ein fest umrissenes Wesen hat, das, was wir im Begriff erfassen, wenn wir von ihm sprechen. Das Ding hat eine „Natur“, ein Wesen, einen Begriff, ein Was-Sein, das es eben als ein Katheder bestimmt; dieses wesentliche Was-Sein, das abzugrenzen ist gegen zufällige, ihm auch noch zukommende Eigenschaften. Jedes Ding überhaupt in der Welt hat seine ihm eigene Natur, darin besteht sein Sein, daß es etwas Selbständiges58 ist, an welchem Bestimmtheiten vorkommen. Der Begriff der ousia ist bei Aristoteles nicht immer im selben Sinne gebraucht; man unterscheidet gewöhnlich einen Doppelsinn: einmal, sagt man, meint er das Was-Sein, dann aber auch die Substanz, einmal die Seiendheit, dann das Seiende. Diese Distinktion hat ihre großen Gefahren, weil sie auseinanderzerrt, was dort einheitlich, wenn auch als Problem, gesehen wurde. Man könnte | vielleicht sagen, die Seiendheit alles Seienden besteht gerade darin, daß dieses als je ein selbständiges Seiendes nur sein kann. Als ein Selbständiges aber ist es immer faßbar in einem Was: Es ist ein Haus, ein Baum, ein Tisch. Wie ist nun die ousia ein Anfang? Sie ist das Erste, von wo aus etwas ist. Alle Bestimmungen sind an ihr, sie weisen auf sie zurück; in solcher Rückverweisung der Prädikate auf das Substrat, dem die Prädikate zukommen, liegt eine besondere Weise des Gründens. Und ähnliches könnte von der Erkenntnisordnung her über die ousia gesagt werden. Sie ist auch das Erste, von wo her etwas erkannt wird; gleichsam explikativ steht das to ti ēn einai daneben, dieser ins Deutsche fast unübersetzbare Ausdruck des Aristoteles: „das, was sein war“; das Wesen hat im Deutschen den gleichen Tiefsinn: das Wesen eignet einem Seienden so, daß es immer schon gewesen sein muß, was es ist; das Wesen ist eine das Sei­ ende ursprünglich bestimmende Gewesenheit. Wesen meint im Deutschen 1. das allgemeine Was, die ein Ding bestimmende Gattungsallgemeinheit, die es zu einem gattungshaft bestimmten Seienden macht; 2. soviel wie ein selbständig Seiendes, wie ein wirkliches Ding, etwa in der Rede von Lebewesen; 3. endlich eine ursprüngliche Gewe|senheit. Die ontologische 58

II. Ausgang der Interpretation von der „Philosophiegeschichte“ des Aristoteles (Met. A)

Diskussion dieser Begriffe können wir hier nicht beginnen, es handelt sich nur um eine vorläufige Anzeige. Die zweite Weise von Grund nennt Aristoteles hylē kai hypokeimenon,59 der Stoff und das Zugrundeliegende. Seiendes ist nicht nur je ein selbstän­ diges was-bestimmtes Ding, sondern es besteht aus etwas, es ist geformter Stoff, der Stuhl ebensogut wie irgendein Tier oder Mensch. Das, woraus etwas besteht, ist für das Ding auch ein Anfang, ein erstes, woher es kommt. Mit dem Bestehen aus einem zugrundeliegenden Stoff aber ist sofort die Gewordenheit des Seienden mitgesetzt; alles Werden aber ist kinesis, ist Bewegung. Bewegung aber hat in einem doppelten Sinne „Anfang“: einmal als hothen hē archē tēs kinēseos,60 als das Woher des Anfanges der Bewegung; Bewegung weist in sich zurück auf einen Anstoß, eine Veranlassung; und ferner wird auch Bewegung verstanden von dem Ziel her, auf das sie aus ist; das Werden ist um willen; dieses „Um willen“ ist das in allem Werden Erstrebte, als Zielsinn Wirkende: das Gute. Man ist vielleicht schnell bei der Hand, hier von einer teleologischen Weltbetrachtung des Aristoteles zu reden, von sogenannten „Endursachen“, und diese angesichts der modernen Naturwissenschaft zu verwerfen. War es nicht gerade der Kampf gegen die finale Weltbetrachtung, der zu den Entdeckungen der neuzeitlichen Physik geführt hat? Mag sein, daß die finale Ansicht des Naturgeschehens eine überholte Denkweise ist, aber es ist die Frage, ob der eigentliche Sinn der aristotelischen Interpretation der Bewegung vom hou heneka,61 vom Umwil­ len her in einer Deutung des Naturgeschehens liegt und nicht vielmehr im Aufriß des ontologischen Wesens von Bewegung überhaupt. Die Modelle, die Aristoteles wählt, entstammen allerdings zumeist dem Bereich des menschlichen, zielgelenkten Handelns oder des organischen Wachstums, und das verführt leicht zur Verkennung seiner eigentlichen Absicht. Wir können hier noch in gar keiner Weise Stellung nehmen zur Frage, ob diese Vierfalt der Gründe bereits auf einer zureichenden Ausarbeitung der Seinsverfassung des Seienden beruht. Wir nehmen sie zunächst nur als den Ariadnefaden, der uns durch die aristotelische Kritik der vorangegangenen Philosophie hindurchleiten soll. Die vier Gründe umzirken den Bau des gegründeten Seienden, wie ihn Aristoteles versteht: Seiendes ist solches, das ein Wesen ist und hat; ist etwas, das aus etwas besteht; das in Bewegung ist, und als in-Bewegung-Begriffenes ein Woher und Wohin der Bewegung hat. Die Ausarbeitung aber der Seinsverfassung des Seienden ist das Wesen der „Metaphysik“. Die Geschichtsphilosophie des Aristoteles entspringt auf dem Boden der Metaphysik. Von | dem in seinem Denken gelegten Grunde fragt er zurück und mißt das Fragen der alten Philosophen an seinem Entwurf des Wesensgefüges | des Seienden. Seit Aristoteles steht das ganze Denken der abendländischen Philosophie auf dem Boden der Metaphysik: Das Sein wird seither gedacht, wie es am Seienden sich zeigt, es ermöglicht und begründet. 59

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Was aber ist es in sich selbst? Vielleicht, daß die physiologoi noch wußten, was das Sein selber ist. Vielleicht daß die Wahrheit des Denkens von Heraklit und Parmenides gar nicht mehr gefaßt werden kann, wenn wir sie von der Metaphysik her denken wollen, das heißt von jenem Seinsverständnis, das hinblickt auf das Sein an den Dingen. Aber gerade deshalb muß zunächst der Versuch gemacht werden, vom Boden der durch Aristoteles vollendeten antiken Metaphysik her zurückzufragen. Dazu nehmen wir als Leitfaden seine historische Auseinandersetzung mit dem Denken der alten Giganten.

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| 7. Wir nehmen die Philosophiegeschichte, die Aristoteles im ersten Buche der Metaphysik entwirft, zum Leitfaden unserer Rückfrage. Dadurch werden wir in die Notwendigkeit versetzt, die Vorstellungen zu verabschieden, die uns alltäglich umgeben ‒ und die eine zur Trivialität abgesunkene Erbschaft der Griechen darstellen. Dabei sind wir uns allerdings bewußt, daß wir noch lange nicht wirklich mit und aus Aristoteles nach den alten Giganten fragen. Wir sind noch nicht selbst in das Problem zurückgegangen, aus welchem die aristotelische Philosophie lebt. Obgleich wir also nur in Vorläufigkeiten stehen, von Aristoteles noch nicht mehr als eine erste Anzeige seines Philosophiebegriffs kennen, entscheiden wir uns für den Versuch, aus seiner Perspektive den Anfang der griechischen Philosophie zu sehen. Er selbst bringt den historischen Überblick am Eingang, im ersten Buche. Das besagt, dieser Überblick hat selbst die Funktion, „einzuleiten“; er ist nicht eine Auseinandersetzung mit dem Denken der Vorgänger, die aus der Fülle des voll entfalteten Problems her vollzogen wird; es ist vielmehr die vorläufige Anzeige der Philosophie, die Aristoteles als Basis, als Blickpunkt für seine Überschau nimmt. Philosophie ist das Wissen von den archai und aitia, von den Anfängen und Ur-Sachen. Das Wesen der archē wurde bestimmt als „das Erste zu sein, von woher etwas ist, wird und erkannt wird“.62 Ursprung und Grund zu sein für das Sein, das Werden und das Erkennen macht also die archē aus. Archē wird verstanden als solches, woraufhin Sein, Werden, Erkennen zurückweisen. In dem, was archē ist, sammelt sich also das Fragen nach dem Sein, das Seinsproblem, das Fragen nach dem Werden, und das Erkenntnisproblem. Die innere Verklammerung der drei Momente „Sein“, „Werden“ und | „Erkennen“ wird zunächst nicht sichtbar. Es hat den Anschein, als wäre archē jeweils in solcher oder anderer Hinsicht als das „Erste, von woher“ verstanden. Auch in der Auseinanderlegung der archē in die tetraktys, die Vierfalt der Gründe, kommt die innere Bezüglichkeit, die hinter diesem Schema steht, vorerst nicht ans Licht. Die Frage bleibt zunächst offen: wie muß diese Vierfalt im philosophischen Fragen nach dem Seienden begriffen werden? Ist das einfach ein aufgerafftes und zusammen­ gelesenes Schema, das vielleicht mit genialem Instinkt gefunden wurde? 60

II. Ausgang der Interpretation von der „Philosophiegeschichte“ des Aristoteles (Met. A)

Oder ist die Vierfalt in einer Vierfaltung des Seins selbst zu suchen? Zunächst spricht sich Aristoteles nicht über den inneren Einheitsgrund dieser tetraktys aus. Aber sie umzeichnet für ihn das volle Wesen der archē; auch die voran­ gegangenen Denker haben keine anderen Gründe des Seienden gedacht; ja sie haben nicht einmal alle diese vier in den Griff bekommen. Sie werden von Aristoteles insgesamt daran gemessen, ob sie ihr Fragen in allen vier Horizonten der archē ausspannen konnten. Der Grundriß der archē ist also einmal von Aristoteles entworfen als die Vorzeichnung der philosophischen Problematik überhaupt, und zugleich als die Basis für den rückschauenden Überblick über die Fragen der vorausgegangenen Denker. Die Historie wird zum Zeugen genommen und zugleich in ihrer Zeugenschaft von dem her aufgehellt, wofür sie Zeugnis ablegen soll. Diese Methode mag auf den ersten Blick als eine Voreingenommenheit erscheinen. Es sieht so aus, als lege Aristoteles seine Fragestellungen in die Vorgänger zurück und kritisiere sie dann, eben nach Maßgabe dessen, inwieweit sie diese wirklich ergriffen und begriffen hätten. Gerade weil er von einem bestimmten Problemaufriß her das geschichtlich vergangene Denken auslege, unterschiebe er ihm eine spätere Denkform und verstelle sich so die gesuchte Wirklichkeit. Dieser Anschein aber gehört zum Wesen aller philosophischen Interpretation. Er macht gerade das Risiko aus, das in allem wahrhaften Mitfragen liegt. Es kann wohl sein, daß Aristoteles von einer wesentlich anderen Problematik her das | uranfängliche Denken interpretiert; aber das ist selbst wieder nur zu sehen und aufzudecken aus einer anderen Fragestellung her, die ihrerseits voller Risiko bleibt. Eine risikolose Interpretation ist gar nicht möglich, weil Philosophien keine Gegenstände sind, auf die man in einer selbstverständlichen Gemeinsamkeit des Augenscheins hinzeigen könnte. Nur in der Helle einer wirklichen Frage kommt überhaupt ein vergangenes Philosophem aus dem Schattenreich des historischen „Vorbei“ ‒ und leuchtet auf in seiner ewigen Gegenwart, die keinen Staub der Vergänglichkeit kennt. Aber Blut wollen auch diese Schatten trinken, wie die Abgeschiedenen im Hades, daß sie den Spätgeborenen vernehmlich werden. Die Geschichtsbetrachtung des Aristoteles entspringt dem blutvollen Le|ben einer Grundfrage: der Frage nach den archai und aitia. In der Vierfalt der archai ist der Bau des Seienden umrissen, sind die Grundvorstellungen abgesteckt, die das Sein am Seienden denken. Das Seiende in seinem Sein zu bestimmen aber ist das Geschäft der „Metaphysik“. Wir müssen zunächst den populären Begriff der „Metaphysik“ ausdrücklich ausschalten, wonach diese genommen wird als ein Inbegriff von Ansichten, Theorien über solches, was jenseits unserer erfahrenen Welt liegt: die Hinterwelt der Letzten Dinge, Tod, Jenseits, Gericht und Auferstehung; Metaphysik in einem uneigentlichen Sinne ist heute gebräuchlich für die Anschauungen, in denen eine säkularisierte Religion sich ausspricht; meta ta physika, 61

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das jenseits der Physik Liegende; das hinter den uns gegebenen Dingen liegende Eigentliche; diese populären Mißdeutungen sind aber nicht von ungefähr; sie haben eine Geschichte; in den Banalitäten des Alltags laufen zumeist geschichtliche Prozesse aus, um dort zu versanden. Es ist hier nicht die Stelle, die Geschichte des Metaphysikbegriffs, seiner Wandlungen und mannigfachen Überlagerungen nachzuzeichnen. Eine Metaphysik im Sinne einer Lehre von einer hinter der sich zeigenden63 Welt liegenden eigentlichen Welt, einem Jenseits, hat Aristoteles überhaupt nicht. Er selbst gebraucht gar nicht den Titel Metaphysik. Dieser Titel ist entstanden aus einer buchtechnischen Verlegenheit. Die Schriften des Aristoteles, die wir heute als seine Metaphysik kennen, wurden in der hellenistischen Ordnung seiner Bücher so eingeordnet, daß sie hinter die Bücher über die Physik zu stehen kamen. Sie standen in diesem Ordnungsschema meta ta physika, nach den Büchern über die physis. Diese bloße Einordnungsbezeichnung hat dann in der Folgezeit verhängnisvoll gewirkt, sofern das Eigentümliche dieser Schriften gekennzeichnet wurde aus einem Bezug zur Physik, das „meta“ in eine inhaltliche Beziehung umgedeutet wurde. Metaphysik also als die epistēmē, die Wissenschaft, die das erforscht, was „meta“, oder lateinisch „trans“, jenseits der Physik liegt. In dieser Fehldeutung ging dann der wesent­ liche Gehalt des aristotelischen Fragens unter. Aristoteles selbst bestimmt die epistēmē, die er in der Metaphysik entwickelt, als prōtē philosophia, als Erste Philosophie. Im ersten Buch kennzeichnet er diese als die Wissenschaft von den „Anfängen“ und „Ursachen“, im vierten Buche aber als die epistēmē hē zētei to on hēi on,64 die Wissenschaft, welche forscht nach dem Seienden als Seiendem. Die Erste Philosophie oder die Philosophie in eigentlicher Bedeutung ist die Frage nach dem Seienden als solchem, die Frage nach der Seiendheit des Seienden, nach dem Sein am Seienden. Die Metaphysik des Aristoteles müßte noch ausdrücklich in ihrem Verhältnis zur Logik und zur Physik bestimmt werden, wenn man den Gründen nachgehen wollte, die zu dem historischen Mißverständnis geführt haben. Aber wir lassen es bei einer kurzen Andeutung. Die | Physik ist ihm natürlich nicht das, | was wir unter diesem Titel denken, ist nicht eine positive Wissenschaft von der res corporea, sondern ist Philosophie der Natur. Natur aber ist der Inbegriff des bewegten Seienden. Die Ausarbeitung des Wesens der Bewegung bleibt das vorherrschende Anliegen der aristotelischen Physik. Sie ist somit eine Onto­ logie eines Grundbereichs des Seienden, jenes Grundbereichs, der zumeist für das Ganze selbst genommen wird. Das Denken der physiologoi erscheint für Aristoteles gleichsam gebannt von dem Ganzheitsbereich der physis; sie denken nicht darüber hinaus; sie machen den Fehler, daß sie das Unbewegte nicht aufnehmen in den Kreis ihrer Fragen, sich so verhalten, als gäbe es nur Bewegtes, nur physis. Die von Aristoteles erstmals in der Geschichte der Philosophie aufgegriffene Idee der Logik hat es mit dem Beweisverfahren, 62

II. Ausgang der Interpretation von der „Philosophiegeschichte“ des Aristoteles (Met. A)

mit den Gesetzen des Denkens und den Sinnverhältnissen der Gedanken unter sich zu tun; das Element der Logik ist der Allgemeinbegriff. Wie steht nun eine epistēmē, die es mit dem Seienden als solchen zu tun hat, zwischen Physik und Logik? Sie ist doch offenbar allgemeiner als die Physik und weniger allgemein als die Logik? Sie ist in der ihr eigentümlichen Problematik schwer zu fassen. Sie geht in ihrer Fragestellung hinaus über die bewegten Dinge, sie fragt ja nach allem Seienden, sofern sie überhaupt ausdenkt, was das Seiendsein am Seienden ist; sie ist die Wissenschaft vom Sein des Seienden; was aber ist dieses Sein? Es ist weder selbst ein Ding noch auch nur ein logischer Begriff. Die Geschichte der Metaphysik bleibt fortan durch die Ungeklärtheit des Bezugs der Metaphysik zur Logik und Physik verhängnisvoll bestimmt. Die Basis für die aristotelische Interpretation der vor ihm liegenden Phi­ losophiegeschichte ist die Metaphysik, allerdings in der Weise der nur ersten und vorläufigen Anzeige ihres Wesens als der Frage nach den archai und aitia. In der Vierfalt, wie archē verstanden wird, zeigt sich der ontologische Grundriß des Seienden. Seiendes ist Gegründetes und so auf ursprüngliche Gründe Zurückweisendes. Das Durchdenken dieser Gründung des Seienden aber ist der ontologische Entwurf der Seinsverfassung. Es ist von grundsätzlicher Wichtigkeit, sich gegenwärtig zu halten, wie die Auseinandersetzung des Aristoteles mit den vorausgegangenen Denkern ausschließlich geführt wird von diesem Problemverständnis der Seinsverfassung des Seienden. Einzig in diesem Sinne ist seine Interpreta­ tion eine „metaphysische“. Wir versuchen nun, die Grundschritte dieser metaphysischen Interpretation nachzugehen. Er beginnt mit einer Feststel­ lung. Er sagt aus über die „meisten“ (hoi pleistoi); er beginnt also schon aus einem Überblick heraus. Die meisten von denen, die zuerst philosophiert haben, hielten nur die „Anfänge“, die das Aussehen der hylē haben, für die Gründe von allem. Ari|stoteles springt mit diesem Satz unmittelbar in das zurück, was ihm als die treibende Grundfrage des früheren Denkens erscheint. Das erste Fragen ist ihm bereits ein ontologisches. Er weist damit gerade ein Verständnis der Philosophie ab, das etwa im Rückgang auf bereits vorgebildete Formen des Geistes, etwa das mythische Denken, ein Motiv sucht. Gewiß, der Mythos ist eine Form, in der sich der Mensch über die Verflechtung an die einzelnen Dinge, an das begrenzte Interessenfeld des gewöhnlichen Lebens erhebt und sich schon zum Ganzen aller Dinge verhält. Die mythologische Theologie entwickelt bereits eine Kosmogonie, etwa Uranos – Chaos, Gaia – Chronos usw.; Mythen haben einen Tiefsinn, der für die Philosophie vielleicht zur Aufgabe einer Auslegung werden kann, in der sie selbst zu ungeahnten Einsichten gelangen mag. Aristoteles ‒ und das ist das Großartige seiner Sicht ‒ beginnt die Philosophie nicht aus der Mythologie, überhaupt nicht aus irgendeiner anderen Weise des 63

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menschlichen Geistes, sondern läßt sie am Anfang bereits schon Philosophie sein. Es ist eine ontologische Frage, mit der sie für ihn anhebt. Philosophie springt ins Dasein, fertig als Möglichkeit, ist bereits schon als | Seinsfrage ausdrücklich; Aristoteles begreift so die Unzurückleitbarkeit der Philoso­ phie. Die meisten also der ersten Philosophierenden fragten die Seinsfrage als Frage nach der hylē. Ihr Verstehen von archē war vorwiegend geführt von einer Weise des Gründens des Seienden. Aristoteles sagt an dieser Stelle: „Denn dasjenige, woraus alles Seiende besteht und woraus es ursprünglich entsteht und in das es letzthin vergeht, indem das Seiende zwar beharrt, aber in den Eigenschaften wechselt, das ist ihnen zufolge Element und Anfang des Seienden …“65. Dieser Satz bedarf einer kurzen Beleuchtung. Wir sind allzusehr gewohnt, in abgegriffenen und nicht mehr wirklich durchdachten Vorstellungen zu leben, als daß wir sofort den notwendigen Abstand gewinnen könnten, um die Befremdlichkeit dieser Vorstellung vom Sein zu erfahren. Damals mußte solches überhaupt erst gestiftet werden, entworfen werden in einer Anstrengung, die ein Kampf des Denkens mit der Nacht der Welt war. In der nächtigen Welt lichtet der begreifende begriffliche Gedanke die Verborgenheit aller Dinge, indem er sie einrücken läßt in ein Grundverhältnis. Seiendes ist nun gedacht als solches, das aus etwas besteht. Was aber ist das „Aus-etwas-Bestehen“? Können wir einfach hinzeigen auf bekannte Verhältnisse? Dieses Katheder besteht aus Holz, wir Menschen aus Knochen und Fleisch, dieses Gebäude aus Steinen, diese Stadt aus dem tragenden Grund und den darauf errichteten Häusern, dieses Firmament aus Luft, Wolken und wandelnden Gestirnen. Ist das gemeint, das „Aus-etwas-Sein“? Das aus einem Stoff Bestehen? Oder steht selbst dahinter noch etwas Ursprünglicheres? Alles einzelne, in den Umriß einer Gestalt Eingerückte „besteht“ die tragende Erde, ist | auf ihr, ist errichtet auf ihrem Grunde; alles, was als einzelnes ist, ist ihr gleichsam abgerissen, ist dem gestaltlosen Grunde der Erde entrissen, um gestaltet auf ihr zu stehen, sie zu be-stehen. Und alles solches einzelne hat Bestand nur, solange es eben das Gestaltlose be-steht; das Bestehen aus einem Stoff, so könnte man vielleicht sagen, ist nur möglich als das Bestehen der Erde; aus ihr nimmt alles einzelne den Stoff, das, woraus es sich formt, und „besteht“ in dem angezeigten Doppelsinn. Alle Dinge, alle einzelnen wirklichen, bestehen aus Erde und bestehen die Erde; Erde ist jetzt noch keineswegs als das bestimmte Element genommen, sondern meint die physis, die Natur. Die Dinge können nur aus Naturstoff bestehen, weil sie ständig die Natur bestehen. Diese tiefe Merkwürdigkeit, daß ein Seiendes so ist, daß es aus etwas besteht, kann nicht befremdlich genug erfahren werden. Warum muß es aus etwas sein? Warum weist es in sich selbst auf etwas hin, aus dem es ist, ist es nicht aus sich selbst? Die wirklichen Einzeldinge können nie „aus sich selbst“ sein, sondern sind immer aus etwas anderem, aus einem „Stoff“ ‒ und dieser Stoff 64

II. Ausgang der Interpretation von der „Philosophiegeschichte“ des Aristoteles (Met. A)

ist immer die Erde. Alles einzelne ist aus der physis. Das Bestehen aus … nimmt Aristoteles zusammen mit dem Entstehen, worausher erstlich das Seiende wird; alles Bestehende ist als Abgerissenes vom Grunde der Erde ein Entstandenes, ein Gewordenes; etwas wird aus etwas, der hölzerne Tisch wird aus Holz, das Holz, als Baum, wird aus dem Samen, der aufwächst aus dem nährenden Grunde der Erde; ein Ding wird aus einem anderen, aber erstlich werden sie alle aus der physis; sie ist das „Woraus als Erstem“, ex hou gignetai prōtou, woraus als Erstem alles wird, und worein als Letztem alles vergeht. Das Erste im Woher des Werdens ist auch das Letzte im Wohin des Vergehens. Die Dinge gehen zugrunde, indem sie in den Grund gehen, aus dem sie gekommen sind, um den tragenden Grund zu be-stehen. In dem ersten ursprünglichen Verständnis von Bestehen, Entstehen und Vergehen | ist immer die physis mitverstanden: Sie ist, woraus alles Seiende gemacht ist, aus welchem es herkommt und wohin es geht; die physis ist auch dabei die ousia hypomenousa, das verbleibende und verweilende Seiende, das allen Wandel trägt, im Entstehen, Bestehen und Zugrundegehen bleibt, in solchem Bleiben aber gerade sich verändert, auch die ousia metaballousa, das umschlagende, in seinen pathē, seinen Eigenschaften wechselnde Seiende. Die Erde bleibt, wenn auch die Dinge auf ihr wechseln; die Dinge sind als bestehend aus der Erde, entstanden aus ihr und vergehend in sie, in einem dauernden Wechsel. Die physis ist das immerseiende, bleibende, unvergäng­ liche, Entstehen und Vergehen tragende Ureine, und so ist sie das stoicheion, das Element, und archē, „Anfang“ der Dinge. Die physis wird so gesehen auf dem Boden eines Verstehens von hypomenein, Zugrundebleiben, von metaballein, von Umschlagen (Wechseln), von genesis, von | Werden, und von apollysthai, von Vergehen, oder ‒ genauer: Sie ist das Seiende, die ousia hypomenousa kai metaballousa, das durch Bleiben, Wechseln, Werden und Vergehen gedacht wird. Wie wird dabei die physis begriffen, in welcher Dimension bewegen sich die Grundbegriffe, zu welchen die Auslegung gedrängt wird? Wohin gehören Bleiben, Wechseln, Werden und Vergehen? Offenbar sind das doch Weisen, in denen ein bestimmtes Verhältnis zur Zeit ausgesagt wird. Was aber ist ‹das› für ein Zusammenhang von Sein und Zeit? Warum gerät die uranfängliche Auslegung des Seienden, der erste ontologische Entwurf am Anfang der abendländischen Philosophie, in den Bereich der Zeit? Hat die Zeit in sich einen Bezug zum Sein? Und am Ende gar einen Bezug zu der physis? Aber so könnte man, nicht zu Unrecht, ein Bedenken anmelden gegen diese Interpretation, mit der Frage, ob damit nicht das Absehen des Aristote­ les überschritten und gleichsam in seinem Fragesinn überspannt worden sei. Steht in der Tat denn die physis als das allen Stoff liefernde, in allem Wechsel bleibende Seiende da? Oder ‒ wie man vielleicht auch interpretieren könnte ‒ gibt Aristoteles den Aufriß des Dinges, die Dingheit aller Dinge, sofern sie 65

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eben „en hylēs eidei“, im Aussehen der hylē, gedacht wird? Diese Frage ist sehr wesentlich und bezeichnet eine zentrale Schwierigkeit der Interpretation. Handelt es sich nur um ein ontologisches Modell des Dinges überhaupt, sofern es ein wirkliches Einzelding ist? An einem Ding können wir immer unterscheiden seine Gestalt und seinen Stoff, am Tisch die Tischform und das Holz; ein Tisch beharrt im Wechsel seiner Eigenschaften; er ist neu und blank, wird alt und wurmstichig; aller Wechsel setzt das Bleiben voraus, und Bleiben zeigt sich im Wechsel; ein Tisch entsteht in der Herstellung und vergeht im Zerbrechen. Das wirkliche Einzelding hat also in gewisser Weise auch die Strukturen des Bleibens, Wechselns, Entstehens und Vergehens, von denen wir im Hinblick auf die physis gesprochen haben; es ist physis tis, eine „gewisse physis“. Aber, so kann man die Frage verschärfen, ist die physis letzten Endes eben auch ein Ding und fällt sie unter das allgemeine Wesen der Dingheit ‒ oder können die Dinge nur einen ähnlichen Bau haben, weil sie alle in der physis gründen? Das, woher als Erstem etwas entsteht und worein als Letztem es vergeht, und das, was so als Erst-Letztes bleibt und an sich wechseln läßt, das ist der tragende Grund der Erde, die physis. Die Dinge sind gestaltet und geformt aus Stoff, der selbst wieder ein Ding ist, und so vielfach zurücklaufend. Am Ende aber dieses Rücklaufes steht kein „Ding“ mehr, steht die allumfangende Erde. Die Schwierigkeit der Stelle, die wir uns vorgenommen haben, liegt in einer Unentschiedenheit der vorhin genannten Frage: Ist die archē, die das Sein des Seienden denkt als hylē kai hypokeimenon, als Stoff und Zugrunde|liegendes, ein ontologischer Gedanke, der die | physis faßt oder nur die Dingheit? Anders ausgedrückt: das Sein, aus dem alle Dinge entspringen, oder das Sein am Seienden? Und das ist gleich mit der Frage: Wird das Denken der physiologoi aus seiner eigenen Urkraft verstanden oder bereits schon von der Metaphysik her? Aristoteles fährt an der Stelle fort: „und deswegen glauben sie, daß nichts entsteht, noch vergeht, da ja eine solche physis immer gerettet wird …“66. Das meint nicht, daß die früheren Philosophen der Ansicht waren, es gäbe kein Entstehen und Vergehen; wir haben ja vorhin gerade gesehen, daß alles Entstehen aus etwas als dem Ersten herkommt und in etwas als das Letzte vergeht. Entstehen und Vergehen ist immer solches von Dingen. Dinge aber entstehen nicht aus nichts und vergehen nicht in nichts. Dinge entstehen aus der bleibenden, immer geretteten physis und vergehen in sie. Was also so aussieht wie ein Herkommen aus dem Nichts, ist die Herkunft aus der Erde, und was aussieht wie ein Verschwinden, wie ein Sichauflösen in Nichts, ist das Zugrundegehen in den Grund, der alles trägt. Und nun erläutert Aristoteles diesen Gedanken durch einen Hinweis, der ebensosehr erhellt als er auch andererseits verdunkelt. Er sagt: „so wie wir auch von Sokrates nicht sagen, daß er schlechthin wird, wenn er schön oder gebildet wird, noch daß er schlechthin vergeht, wenn er diese Eigenschaften verliert, weil das 66

II. Ausgang der Interpretation von der „Philosophiegeschichte“ des Aristoteles (Met. A)

Zugrundeliegende, Sokrates selbst, zugrundebleibt“67. An diesem Beispiel wird einsichtig, daß das Werden, das als solches Entstehen und Vergehen ist, an einem Zugrundeliegenden haftet und dieses voraussetzt; aber fragwürdig wird dieses Beispiel wiederum dadurch, daß ja Sokrates selbst etwas ist, das ein Entstehen und Vergehen hat. Aristoteles sagt deswegen ja auch „hōsper“, wie. Das ist also ein Gleichnis, genauer eine Analogie, die eigens ausgedacht werden muß. So wie das Verhältnis des bleibenden Sokrates gegenüber den an ihm wechselnden Eigenschaften ist, so ist das Verhältnis aller Dinge in Bezug auf die physis, sofern diese in einem radikaleren Sinne das Bleibende und Zugrundeliegende ist. Auch hier ist wieder das Problem, was die Analogie überhaupt möglich macht. Warum kann die physis in ihrem Zugrundeliegen überhaupt erläutert und beispielhaft gedacht werden am Modell der Seinsverfassung des Dinges? Das Ding beharrt in seinen Eigenschaften; die physis aber beharrt im Wechsel aller Dinge. Sind Dinge, die Eigenschaften haben, ihrerseits etwas Ähnliches wie Eigenschaften der physis ‒ oder versagt diese Übertragung vollkommen? Diese Fragen können wir zunächst nicht beantworten. Es ist das Problem der Grenze der metaphy­ sischen Betrachtungsweise; vielleicht daß wir im Verlauf dieser Vorlesung über die68 alten Denker etwas von dieser Grenze an uns selbst erfahren. Aristoteles faßt den Grundgedanken der „meisten“ seiner Vorgänger, die im Bilde der hylē, des Stoffes und des Zugrun|deliegenden, den „Anfang“ des Seienden denken, dahin zusammen, daß sie meinen, es muß eine einzige physis oder auch mehrere geben, aus welchen alles andere entsteht, während jene gerettet bleibt. Sie unterscheiden sich nur, sofern sie hinsichtlich der Art und der Zahl des ersten Zugrundeliegenden uneins sind. Damit schließt Aristoteles seine erste vorausspringende Gesamtcharak­ teristik der alten Denker und wendet sich dann den einzelnen zu, zuerst dem Thales. Wir sind bei dieser Gesamtcharakteristik so lange geblieben, weil sie bei aller Schlichtheit des Ausdrucks die innere Großartigkeit der anbrechenden Philosophie sehen läßt. Die Philosophie steht auf mit einer Frage des Gedankens; sie kommt nicht | aus der unbestimmten69 Weite des Weltgefühls oder aus der Ergriffenheit der Religion. Sie ist der denkende Entwurf des Menschen, in welchem das Gerüst gestiftet wird, das fortan alles Weltverhalten trägt. Das Sein ist fragwürdig geworden und wird nunmehr gedacht in einem logos, der die physis selbst ansagt. Alle Dinge bestehen aus …, entstehen aus … und vergehen in …; das Sein aller Dinge ist ein In-der-Zeit-Sein: ist Bleiben, Wechseln, Werden. Die hylē wird auf ein Schema hin entworfen, das diese Bezüge der Zeitlichkeit ausdrücklich in das Sein eindenkt. Aristoteles sieht den Anbruch der Philosophie also im Aufreißen eines Grundproblems, das seitdem nie mehr zur Ruhe gekommen ist. Er begreift damit, daß diese Möglichkeit des Menschen von allem Sonstigen von Grund auf verschieden ist, und daß sie nie ins Dasein treten 67

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konnte als Fort- oder Umbildung eines schon Bestehenden, daß sie vielmehr mit ihrer „Grundfrage“ auftreten muß und nur so ins Dasein springen kann wie ihre Schutzgöttin, wie Pallas Athene aus dem Haupte des Zeus.

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| 8. Wir haben70 einen Satz des Aristoteles interpretiert. Jenen nämlich, in welchem er in einem vorgängigen Überblick über die „meisten“ der früheren Philosophen die Weise aussagt, wie diese die archē, den Anfang des Seienden, gedacht haben: en hylēs eidei, im Aussehen, im Bild der hylē. Die hylē aber ist, wie wir gesehen haben, nur eine Weise der archē. Aristoteles selbst kennt vier Weisen. Diese Vierfalt der Anfänge bildet die ausdrückliche Basis seiner Interpretation. Wir sagten, die Interpretation des Aristoteles ist eine „metaphysische“. Metaphysik bezeichnet dabei für uns, im ausdrücklichen Gegensatz gegen die umgehende populäre Auffas­ sung, nicht eine Lehre von einer übersinnlichen, jenseits der Erfahrbarkeit liegenden Hinterwelt, sondern | das Denken, das das Sein am Seienden oder anders die Seinsverfassung des Seienden aussagt und auf den Begriff bringt. In der Vierfalt der archai wird von Aristoteles der Wesensbau des Dinges gedacht. Also am metaphysischen Denken der Dingheit des Dinges mißt Aristoteles das Fragen der ersten Philosophen. Aus solchem Blickpunkt heraus erscheint es ihm befangen zu sein. Das erste, urtümliche Denken bewegt sich nur in einem Verständnis der einen archē. Allerdings werden auch die anderen Weisen „irgendwie berührt“, sie stehen bereits im Blick, aber kommen nicht in die Deutlichkeit des Begriffs. Von ihnen spricht die anhebende Philosophie noch, wie Aristoteles sagt, „mit lallendem Munde“71. Hylē kai to hypokeimenon, der Stoff und das Zugrundeliegende also ist der ontologische Grundgedanke, den die anbrechende Philosophie zuerst denkt. Und sie denkt das Zugrundeliegende als Wasser, als Luft, als Feuer usf. Das Entscheidende dabei ist nicht, welcher Stoff jeweils als hypokeime­ non behauptet wird, sondern ‒ und das hebt Aristoteles eindringlich genug heraus ‒ wie das Zugrundeliegen ausgedacht wird. Wir sind sehr schnell bei der Hand, überheblich herabzusehen auf Versuche, die Wasser, Luft oder Feuer als die Substanz aller Dinge behaupten; wir sind naturwissenschaftlich nicht mehr so „primitiv“; aber die Frage ist, ob wir nicht im Felde der onto­ logischen Gedanken „primitiv“ sind. Machen wir nicht ganz ohne eigenes Denken Gebrauch von der Vorstellung, daß Dinge eben aus etwas bestehen? Das gehört doch zu den Selbstverständlichkeiten, gewiß, zu den tiefen Gedankenlosigkeiten, die unser Leben halten und tragen. Was einstmals in einer höchsten Anstrengung in den Griff des Denkens gerissen wurde, ist banal geworden; wir gehen damit um, machen davon Gebrauch ‒ und wissen im Grunde nicht, was wir tun. Die beginnende antike Philosophie denkt das Zugrundeliegen des Zugrundeliegenden, das Stoffsein des Stoffes. Sie denkt 68

II. Ausgang der Interpretation von der „Philosophiegeschichte“ des Aristoteles (Met. A)

das Sein als das Bleibendsein im Wandel; der Gedanke der hylē ist bereits so entfaltet, daß Sein als ständiges Bleiben im Bezug steht zum Wechsel, zum Werden, Entstehen und Vergehen, Nichts und Bewegung. Dieses sich im Bezug von Sein und Zeit72 ausarbeitende Seinsverständnis aber ist der eigentliche Ertrag der ersten Schritte der abendländischen Philosophie. Genaugenommen sind es keine „Schritte“ auf einer schon eröffneten Bahn, sondern ein Sprung, der Ur-Sprung des Gedankens in das Wesen des Seins. Vergegenwärtigen wir uns kurz noch einmal den von Aristoteles voran­ gestellten Gedanken über die hylē. Er stellt ihn voraus, bevor er sich den einzelnen Denkern zuwendet, die jeweils als Wasser oder als Luft oder als Feuer das Zugrundeliegende bestimmen. Die hylē ist das, woraus alle Dinge bestehen, was immer bleibt, was selbst ungeworden und unvergänglich ist, aber aus dem | alles Werden und Vergehen herkommt. Alles Werden und Vergehen ist auf dem Grunde eines ungewordenen Bleibens. Dieser Grundriß der hylē zeigt eine Ineinanderbindung von Zeitverhältnissen: Das Bleiben ist Ständigkeit im Wechsel; das Zugrundeliegende bleibt so, daß an ihm, dem Ständigen, der stetige Wechsel ist: die ousia hypomenousa, das Bleibende, ist auch die ousia metaballousa, das Umschlagende, das Wechselnde; an ihr gibt es nur das Entstehen und Verge|hen. Dieses Zeitschema bleibt in der abendländischen Metaphysik bestimmend für die Auffassung des Seienden. Noch in Kants Lehre von der Substanz als dem Beharrlichen in allem Wechsel haben wir den Widerschein dieser frühen temporalen Deutung. Was uns aber73 fragwürdig erschien, war die Weise, wie wir die hylē begreifen sollten. Ist damit nur die Dingheit gemeint: das Verharren, Bleiben des Dinges in allen seinen Eigenschaften und im Wechsel seiner Zustände ‒ oder ist die zugrundeliegende, allumfangende physis das im Denken der physiologoi Angedachte? Diese Frage lassen wir offen, nicht um sie beiseite zu schieben, sondern sie vielmehr immer wieder radikaler zu fragen. Wir werden sie erst in ihrem vollen Fragegehalt und ihrer Tragweite begreifen lernen, wenn wir uns in der Auslegung Heraklits und Parmenides’ der Grenze der metaphysischen Betrachtung genähert haben. Das älteste Wort der Philosophie über das Seiende ist, wenn wir also zusammenfassen, was im Gedanken der hylē liegt: das Seiende ist; es ist ungeworden, ist immer, ist aei, ist ewig. Ungeschaffen und unvernicht­ bar bleibt es „im Grunde“. Kein Gott kann das Seiende selbst ins Dasein rufen. Der Gedanke einer Weltschöpfung ist außerhalb des philosophischen Begriffs. Für den oberflächlichen Blick könnte es so aussehen, als wären die frühen Philosophen ja auch in einem gewissen Sinne Lehrer der Weltschöp­ fung: Sie lassen ja alle Dinge hervorgehen aus einem Urstoff; es scheint, daß sie nur begrifflich wiederholen, was die kosmogonische Mythologie erzählt. Aber alles Werden, welches die anfängliche Philosophie denkt, ist 69

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ein Werden an einem ungewordenen, immerseienden Zugrundeliegenden. Sie denkt erstmals das Werden zurück in das es tragende und ermöglichende Sein. Wenn man nur hinblickt auf die Lehren, daß alles aus dem Wasser, aus der Luft oder dem Feuer wird, und so das Werden gleichsam isoliert nimmt, dann versteht man überhaupt nicht mehr das Eigentümliche der anhebenden Philosophie; dann ist sie nur säkularisierte Theologie. Das Werden aus … wird philosophisch begriffen vom Bleibenden her: Aus dem bleibenden und sich wandelnden Urstoff werden die Dinge, und in ihn kehren sie letztlich wieder; er selbst ist allem Werden entrückt; ja er ist in seinem ewigen, ungewordenen Bleiben die Ermöglichung dafür, daß an ihm etwas wechselt, daß aus ihm etwas wird, das nun aus ihm besteht, bis | es wieder zu-Grunde-geht. Es ist nicht zufällig, daß Aristoteles seinen Bericht über die ersten Denker eröffnet mit einer vorausgestellten allgemeinen Bestimmung der hylē; es ist nicht allein das Gemeinsame, das diese Philosophen verbindet, sondern auch das, worauf es ihnen eigentlich ankommt. Sie haben nicht die ontologische Vorstellung der hylē voraus und nehmen nun bald dies, bald jenes als hylē an, der eine das Wasser, der andere die Luft. Wir verfallen allzu leicht in den Fehler, daß wir so interpretieren; daß wir meinen, für jene frühen Denker stünde die Denkform hylē kai hypokeimenon schon zur Verfügung und sie wären nur verschieden in der Ansetzung des bestimmten Urstoffes. Es ist gerade umgekehrt: Was sie denkerisch erobern, ist der ontologische Gedanke von einem Bleibenden, allen Wechsel an sich tragenden Seienden, an welchem alle Bewegung des Entstehens und Vergehens vorkommt. Aber dieser Gedanke ringt sich nur zäh und langsam und unendlich mühsam los aus den phänomenal74 erfahrenen Verhältnissen, die an den Dingen sich zeigen. Die Beständigkeit des Wassers, sein Vorkommen in vielen Formen und Wandlungen, wird zum Leitfaden für die Idee eines bleibenden Urstoffes. Daß Aristoteles klar und entschi|eden die archē der hylē voranstellt und zergliedert in ihren wesentlichen Sinnbezügen, unterstreicht, daß es darauf den ersten Philosophen ankam. Sie dachten nicht gemäß einer schon ausgebildeten Kategorie, sondern sie suchten und entdeckten erst diese Kategorie. Sie dachten den Anfang des Seienden „im Bilde der hylē“. Diesen Ausdruck en hylēs eidei, im Aussehen der hylē, gebraucht nun Aristoteles in einem zwiefachen Sinn, den wir wohl unterscheiden müssen. Einmal bedeutet es das bereits Erörterte: daß die ersten Denker vorwiegend nur in einer Weise die archē des Seienden gesucht haben, eben als hylē kai hypokeimenon, daß sie die anderen Weisen zuweilen geahnt, irgendwie berührt, aber nicht eigentlich begriffen hatten; daß sie also kein ausdrückliches Verständnis von ousia kai to ti ēn einai, vom Woher des Anfangs der Bewegung und vom Worumwillen (Guten) aufgebracht haben. Von Aristoteles her gesehen erreicht das anfangende Denken nur eine archē 70

II. Ausgang der Interpretation von der „Philosophiegeschichte“ des Aristoteles (Met. A)

und nicht alle vier. Das ontologische Verständnis erscheint so beschränkt. Aristoteles aber begnügt sich nicht mit einer hochmütig-kritischen Fest­ stellung solcher Beschränktheit seiner Vorgänger. In der Philosophie gibt es kein Vorrechnen von Irrtümern und nicht den einfältigen Stolz der Besserwisserei. Aristoteles sucht vielmehr sachlich zu begreifen, warum das ursprüngliche Denken zuerst en hylēs eidei, im Bilde des Urstoffes, das Seiende begreift. Er konstruiert einen Weg des Gedankens, der ihm zum Leitfaden wird für die Gesamtschau. Was ist das für ein Weg? Ist er nur zufällig oder hat er eine innere Notwendigkeit in sich? Die Sache selbst, sagt Aristoteles, bahnt den Weg. Das erste ist, zu begreifen, daß die | Dinge bestehen aus …; das Bestehen aus … führt zur Idee des zugrundeliegenden Stoffes, aus welchem die Dinge werden und in welchen sie wieder vergehen; das Bleiben und der Wechsel werden so in ihrem Wesenszusammenhang gedacht. Aber woher kommt die Bewegung, die sich als das Entstehen und Vergehen vollzieht? Hat nicht die Bewegung als solche selbst einen Anfang? Damit nun, daß das Entstehen und Vergehen ausdrücklich als Bewegung begriffen wird, eröffnet sich eine neue75 Dimension in der Frage nach dem Sein der Bewegung. Bewegung kommt woher und führt wohin; sie ist damit noch nicht geklärt, daß eingesehen wird, daß alles Entstehen aus dem Zugrundeliegenden herkommt und dahin führt; das Bewegte, das Entstehende und das Vergehende, kommt aus der hylē und kehrt in sie zurück; aber die Bewegung selbst ist damit nicht begriffen. Für die Bewegung ist erfordert, sie als solche zu verstehen aus einem Woher und Wohin: und das leisten für Aristoteles das hothen hē archē tēs kinēseos,76 das Woher des Anfangs der Bewegung, und das hou heneka kai agathon,77 das Weswegen und das Gute, als das Ziel der Bewegung. Diese von der Problematik der Bewegung her motivierten archai liegen dem suchenden Denken näher; sie sind die ontologischen Gedanken, zu denen das Philosophieren zunächst gedrängt wird, wenn es die hylē begriffen hat. Am weitesten ab aber liegt die archē der ousia kai to ti ēn einai,78 das „Wesen“. Der Weg also, den Aristoteles konstruiert, ist ein Weg der steigenden Schwierigkeit des seinsbegrifflichen Denkens; er beginnt beim Urstoff und endet beim „Wesen“. Der sachliche Weg ist aber für Aristoteles zugleich der historische. Die innere Entwicklung des Seinsbegriffes ist zugleich auch seine äußere Geschichte. In dieser Konstruktion des Aristoteles sind bereits alle Elemente enthalten, die später in Hegels Zusammenschau der geschichtlichen und sachlichen Entwicklung der Philosophie behauptet wurden. Wir verfolgen nun diesen zugleich sachlichen und historischen Gang des Aristoteles in seinen Grundzügen. Nicht daß wir alle von ihm erwähnten Denker ausführlich in seiner Sicht darstellen wollten. Die Geschichte des Aristo|teles reicht von Thales bis Platon. Wir wollen nur das Allgemeine seiner Sichtweise uns vergegenwärtigen, um uns dann dem Wagnis auszu­ 71

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setzen, Anaximander, Heraklit und Parmenides aus ihren Fragmenten selbst zu deuten. Aristoteles beginnt mit Thales. Thales denkt en hylēs eidei, im Bilde der hylē. Einmal sofern er das archē-Sein nur als zugrundeliegenden Urstoff faßt, dann aber auch in einem anderen Sinne. Wie bereits gesagt, verwendet Aristoteles diesen Ausdruck „im Bilde der hylē“ zwiefach. Es kann nunmehr auch heißen, die hylē selbst erscheint in vielfachem Aussehen, bei dem einen Denker als Wasser, beim anderen als Luft und beim dritten als Feuer. Die hylē hat je | ein anderes Aussehen, aber in allem verschiedenen Aussehen ist es derselbe ontologische Gedanke, der dabei gedacht wird. Thales setzt das Wasser als den Urstoff. Das heißt also: Alle Dinge bestehen aus Wasser; aus Wasser als dem Ersten entstehen sie und in Wasser als Letztem vergehen sie, wobei das Wasser immer zugrunde bleibt und nur umschlägt, wechselt in dem, als was es sich dann zeigt; im Grunde ist alles Wasser, alles aus Wasser geworden und zu Wasser werdend. Das Wasser ist das wahrhaft Bleibende, das Unvergängliche, das Beharrliche im Wandel aller Dinge. Ist eine solche Konzeption nicht überaus befremdlich? Warum wird der Urstoff gerade als Wasser gedacht? Liegt es nicht unserem Gefühl näher, das Bleibende im Bilde der unveränderlichen, tragenden Erde zu denken? Ist es eine jonische Erfahrung, ist es bezogen auf ein Menschentum, das an der Küste lebte angesichts der schimmernden Weite des Meeres? Man hat vielerlei dergleichen Mutmaßungen angestellt. Die Philosophie aber nimmt nicht ihre Gedanken auf aus der umgebenden Umwelt und spiegelt diese im Begriff wider; sie denkt vielmehr das Seiende selbst. Das aber, was das Seiende ist, finden wir nicht herumliegen, sondern treffen es ursprünglich in jenem schweigenden Raume, den allein der Gedanke betritt. Das Wasser, als der Urstoff gesetzt, aber verschärft eine Schwierigkeit, die wir schon genannt haben. Zunächst: Wie begegnet uns das Wasser? Wir sagen in vielen Formen: als Regen, als Tau, als Bach und Gewässer, als Meer; so ist es etwas, was neben anderem Seienden vorkommt, neben dem Felsgestein des Ufers, dem Sturmwind, der die Woge peitscht, dem Feuer, das im Wasser erlischt oder das Wasser zum Verdampfen bringt. Wasser ist etwas neben anderem. Es ist kein „Ding“, kein abgegrenztes, festumrissenes Ding, es ist kein einzelnes so wie ein Mensch, ein Tier, ein Baum; es hat gegenüber solchen Einzeldingen eine Formlosigkeit; Wasser ist überall nur eines; alle Wasser rinnen zusammen in eines; was wir absondern, etwa einen Krug voll, ist nur ein abgestückter Teil eines Ganzen, das immer zusammenhängt; Wasser ist kein Einzelding, sondern ein Element. Das Elementhafte am Element ist, daß es ein alldurchwaltender Einheitszusam­ menhang ist; alle Gewässer sind ein Wasser. Diese Natur des Elements, eines zu sein in allen seinen abgestückten Teilen, und nicht wie ein Tier, ein Mensch, ein Baum je gesondert zu sein, gibt gleichsam schon einen ersten Hinweis und Fingerzeig79 auf ein Zugrundeliegen. Das Wasser ist zunächst 72

II. Ausgang der Interpretation von der „Philosophiegeschichte“ des Aristoteles (Met. A)

ein Element, ein einfacher Körper, wie Aristoteles sagt. Als Element kommt es neben anderen Elementen vor, neben Erde, Luft und Feuer. Inwiefern hat es einen Vorzug vor diesen? Inwiefern ist es das wahrhaft Bleibende in allem Wandel, inwiefern entstehen auch die anderen Elemente aus dem Wasser und sind im Grunde Wasser? Was motiviert das Herausheben des Wassers aus der phänomenal begegnenden Gleichstellung mit den anderen Elementen? Zu|gegeben also, daß der Elementcharakter ein sinnliches Bild abgibt, an welchem der Gedanke aufblitzen kann vom Einheitsgrund aller Dinge; warum aber gerade dieses bestimmte Element des Wassers? Wir würden die jonische Physik des Thales von Grund aus mißverste­ hen, wenn | wir die darin drängenden Seinsgedanken auslegten in die Richtung einer naturwissenschaftlichen Hypothese; etwa so: Nach Ansicht des Thales ist alles erscheinungsmäßig sich Zeigende Wasser, auch das, was sonst nicht so aussieht, das Feste, die Luft und das Feuer; die anderen Elemente sind nur andere Aggregatzustände des Wassers, wie sonst das Eis oder der Dampf. Damit wäre die Philosophie des Thales auf eine unglaubliche, phantastische und primitive Hypothese herabgezogen; und das heißt: Sie wäre überhaupt nicht mehr Philosophie. Leider sieht es in vielen Geschichtsbüchern der Philosophie so aus, als ließe sich die Meinung des Thales zusammenfassen in den Satz: alles Seiende = H2O. Das Wasser ist aber von Thales gedacht als die ousia hypomenousa kai metaballousa,80 als das zugrundebleibende und umschlagende, den Wechsel ermöglichende Seiende. Die Frage, die sich hier dem Nachverständnis immer wieder stellt, ist: Warum gewinnt das Wasser, ein phänomenal begegnendes Element neben anderen, diese Auszeichnung, daß in seinem Bild das Zugrundelie­ gende gedacht werden konnte? Wir kehren also die übliche Ansicht um. Dort gilt es als verständlich, was Urstoff ist, und der Anfang der Philosophie wird gesehen in einer dogmatischen These: Dies, das Wasser, ist der Urstoff. Es gilt aber zu begreifen, und zuvor als Frage auszulegen, wie das Denken des Menschen am Leitbild des Wassers durchbricht zum Gedanken eines hypokeimenon. Aristoteles führt eine Reihe von Motiven an. Für Thales liegt nicht das Wasser in einer Mulde der Erde, sondern umgekehrt, die feste Erde ist auf dem Wasser; das Festland schwimmt auf dem Wasser. Vielleicht, fährt Aristoteles fort, komme Thales zu seiner Ansicht durch die Beobachtung, daß alles Lebendige sich durch Feuchtes nähre, und aus solcher Nahrung den Lebewesen die Wärme entstehe; ferner daß der Samen seiner natürlichen Beschaffenheit nach feucht sei; ferner sei die Ansicht von der Ursprünglich­ keit des Wassers eine alte und ehrwürdige, die bereits in den ältesten Mythen von Okeanos und Tethys ausgesprochen sei; und endlich sei noch das, wobei selbst die Götter nach den Zeugnissen der Dichter schworen, ein Wasser: der Styx. Der Eidschwur aber sei das Ehrwürdigste; das Ehrwürdigste aber auch das Älteste. Das Wasser ist also das im ehrwürdigsten Eid angerufene 73

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Älteste. Man sieht sofort, daß die von Aristoteles angegebenen Motive sich himmelweit entfernt halten von einer naturwissenschaftlichen Hypothese. Das spricht nicht gegen, sondern ganz eindringlich für den philosophischen Charakter des Gedankens des Thales. Es sind zunächst verschiedene Weisen, wie ein | „Gründen“ von Seiendem erfahren ist: Das Land liegt auf dem Wasser, das Wasser trägt; alle Nahrung ist feucht, das Feuchte nährt; das Feuchte aber ist der Samen und so der Ursprung von etwas, und das Wasser ist das mythologisch bezeugte Älteste. Tragen, Nähren, Entspringenlassen und „am ältesten sein“ sind also die auf das Wasser hin sich sammelnden Bezüge, die zusammen mit dem elementarischen Charakter des Wassers zum Analogon werden für den aufblitzenden Gedanken, in welchem nun das Zugrundeliegen rein gedacht wird. So wie das Wasser als das tragende, nährende, entspringenlassende und älteste sich zu den anderen Dingen ver­ hält, so verhält sich ein Zugrundeliegendes, ein unwandelbares Seiendes zu allem Wandel, in dem die Dinge entstehen und vergehen. Der ontologische Gedanke tritt aber für die ersten Philosophen noch nicht heraus aus diesem Raume der Analogie; er bleibt für sie noch darin eingewickelt. Das Gleichnis tritt selbst an die Stelle des sich noch nicht selbst durchsichtigen Gedankens. Aristoteles erst interpretiert, d. h. er holt heraus, was verhüllt im Denken der alten physiologoi versteckt liegt. Am Modell phänomenaler Verhältnisse also werden analogisch reine Seinsverhältnisse aufgespürt und entdeckt. Diese Analogie ist keine methodische Minderwertigkeit der anhebenden Philosophie. Solange überhaupt philosophiert wird, | steht das menschliche Denken in der Not, in Vorstellungen und Gedanken, die zunächst die Dinge betreffen, das Dingsein des Dinges zu denken und gar das Sein selbst. Diese Not ist nicht aufhebbar. Sie ist nur einsehbar, und als eingesehene bestimmt sie allen Kampf des Begriffs. Das gilt für Thales ebensogut wie für uns heute. Von Thales geht Aristoteles in schneller Folge über zu Anaximenes, der die Luft als das Zugrundeliegende ansetzt, wie dann Heraklit das Feuer und endlich Empedokles, der alle vier Elemente als das hypokeimenon behauptet. Alle diese Denker kommen in dem überein, daß sie den Anfang, die archē des Seienden als hylē denken, unterscheiden sich jeweils in der bestimmten Interpretation der hylē. Für Aristoteles aber gewinnen sie Wert vor allem durch die steigende Differenzierung, in welcher dabei das Seins­ verhältnis des Zugrundeliegens ausgedacht wird. Während bei Thales noch offenbleibt, in welchem Bezug das Bleibende zum Werdenden steht, wird in der Folge gerade das Werden als Entstehen aus …, Bestehen, Vergehen weiter entwickelt. Die Dinge entstehen aus einem Zusammenwirken der Elemente, durch Mischung, durch Verdichtung und Verdünnung usw. Der Prozeß der ontologischen Generation des Seienden aus dem Ur-Einen wird in mannigfachen, selbst noch modellhaft gebundenen Gedanken entfaltet. Im einzelnen können wir darauf jetzt nicht mehr eingehen. Es genügt uns, 74

II. Ausgang der Interpretation von der „Philosophiegeschichte“ des Aristoteles (Met. A)

von Aristoteles die Einsicht gelernt zu haben, daß es im Philosophieren der physiologoi | nicht um Wasser, Luft oder Feuer geht, sondern eigentlich um ein Verständnis der Seinsstrukturen, die sich in jenen Modellen analo­ gisch anzeigen. Diese Einsicht soll uns den Weg zeigen, wo wir uns den schwer ver­ ständlichen, dunklen Fragmenten der ersten Philosophen gegenübersehen. Die Philosophie ist vom ersten Tag ihrer Geschichte an Ontologie. Und sie bleibt es, solange sie in der Nachfolge der Griechen steht. „Ontologie“ ist dabei nicht ein Sonderproblem, das neben anderen philosophischen Fragen steht, etwa neben der Ethik, der Logik, der Erkenntnistheorie. Ontologie ist die Philosophie, sofern sie nach dem Sein aller Dinge fragt, nicht nur der sichtbaren Einzeldinge, sondern auch nach dem Sein des Menschen, das ihm aufgegeben ist, nach dem Sein der logisch-mathematischen Gebilde und nach dem Sein der Wahrheit. Die Philosophie zerfällt nie in Fächer, die nebeneinander gleichberechtigt vorkommen; Philosophie ist immer ein in einer Bewegung stehendes, von einer Grundfrage angetriebenes Denken, das ins Ganze ausgreift und den Menschen ins Herz trifft, weil er das Wesen ist unter allem Lebendigen, das allein den „Begriff“ braucht, um inmitten der Weltnacht als lohende Fackel zu existieren. In diesem dunk­ len Bilde Heraklits ist die Notwendigkeit des Begriffs angesprochen. Der Seinsgedanke, den die Philosophie entwirft und ausarbeitet, ist nicht eine bloße Angelegenheit spintisierender Köpfe, ein unfruchtbarer Müßiggang, der doch zu nichts nützt. Gewiß „nützt“ alles Philosophieren nichts, wenn der Maßstab des Nutzens der gemeine Verstand ist;81 man kann damit nichts anfangen. Aber ohne die Philosophie, ohne die getane Arbeit von zweiein­ halbtausend Jahren, ohne die Griechen und ihre Nachfolger wäre unser Dasein „bodenlos“. Vielleicht wäre es gehalten in einem Mythos, in einer Religion; aber es wäre kein Dasein eines freien, sich selbst begründenden Menschentums. Alle Selbstbegründung des Menschen als des weltoffenen Wesens82 aber beginnt mit dem Denken des Seins. Wenn die Philosophie wesenhaft Ontologie ist, wenn es ihr innerster geschichtlicher Auftrag ist, vorgängig vor aller Weltverhaltung das Seinsgefüge selbst zu entwerfen, so ist sie darin vielleicht aber doch mehr als nur „Metaphysik“. Was soll das heißen? Unter Metaphysik verstanden wir den ontologischen Entwurf der Dingheit. Metaphysik ist umgrenzt in | der Weite ihrer Fragestellung durch das Seiende, das sie in seiner Seinsverfassung erhellt und lichtet. Die aris­ totelische Interpretation der vorangegangenen Philosophie der physiologoi geht aus von der Basis einer sich als Metaphysik verstehenden Philosophie. Das Wesensgefüge der Seiendheit, die sich im Aufriß der vierfachen archai zeigt: als das Ding, das bleibt im Wandel seiner Zustände und Eigenschaften, als das Ding, das ein Wesen hat, das sich in dem ihm zugeordneten Begriff ausspricht, als das Ding, das | in einer Bewegung steht, die ein Woher 75

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und ein Wohin hat ‒ dieses Wesensgefüge der Seiendheit bildet also, wie wir gesehen haben, die Interpretationsbasis des Aristoteles. Unter seiner Führung konnten wir die Einsicht erwerben, daß die Philosophie nicht als mythische Erzählung über Wasser, Luft und Feuer beginnt, sondern als der denkerische Kampf um verborgene und schwer herausreißbare Seinsverhält­ nisse. Die Frage bleibt nur, ob wir uns nicht auch eine wesentliche Dimension im Denken der physiologoi verschlossen haben durch den Ausgang von Aristoteles, d. h. von der metaphysischen Basis seiner Philosophie. Das ist kein leerer Verdacht. Wir wollen83 den Versuch machen, die noch verschlossene Dimension in den Griff zu bekommen und zu öffnen in einer Interpretation eines von Aristoteles fast übergangenen alten Denkers: des Anaximander.

III. Anaximander 57

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| 9. Die abendländische Philosophie beginnt mit einem großen Wurf. Sie springt ins Dasein mit ihrer größten Frage. Sie fragt nach dem Ursprung aller Dinge, nach der archē. Das Ganze des Seienden wird überblickt ‒ und durchblickt bis in seinen Grund. Das fragende Denken greift aus in die weiteste Weite und gräbt zugleich in eine unauslotbare Tiefe. Das sind keine Bewegungen nach zwei verschiedenen Richtungen. Die Weltoffenheit ist nur dort wahrhaft möglich, wo der Mensch nicht mehr verfallen bleibt dem Augenschein, dem Vordergründigen, wo er ins Wesen der Dinge eindringt; nur dort wird er auch hinausgehoben über das Einzelne und ihn sonst Fesselnde und wird ins Ganze des Seienden eingelassen. Seit Thales ist die weltweite und ursprungsnahe Gelassenheit die Grundstimmung der Philosophie. Mit Thales beginnt aber auch die Arbeit des Gedankens, die im weltweiten Staunen aufgebrochene Fragwürdigkeit des Seienden im Ganzen zu lichten. Die anhebende griechische Philosophie beginnt mit einem großen Wurf, sofern sie ent-wirft, was und wie das Seiende „ist“, sofern sie das Sein selber ausdenkt. Vor der Philosophie ist „Sein“ zwar immer schon verstanden; wir leben ja nie ohne ein solches Verstehen; Sein ist gerade das allezeit und immer Verstandene: in jeder Begierde schon wie auch in jedem Ausweichen vor einem Bedrohlichen, im wortlosen Verhalten zu den Dingen wie dann eigens und ausdrücklich in jeder Sprache. Das Verstehen von Sein liegt allem anderen Verstehen von Menschen, Tieren, Geräten, Werkzeugen, Kunstwerken, Kulturgebilden, Staat usw. zugrunde; immerzu machen wir Gebrauch vom „Ist“-Sagen; immerzu verstehen wir dabei Wirklichkeit, Mög­ lichkeit, Was-Sein, Daß-Sein, Wahrsein usf.; wir streiten | z. B. darüber, ob es eine behauptete Sache gibt; wir gehen sogar vor Gericht mit einer Feststellungsklage; wir schwören Eide, um das Sein von etwas zu versichern; 76

III. Anaximander

aber nie, solange wir eben noch den gesunden Menschenverstand bewahren, streiten wir darüber, ob es das „es gibt“ gibt, oder streiten wir über das Wesen der Feststellung überhaupt oder schwören einen Eid, der das Sein selbst vergewissert. Dergleichen fällt nur den Philosophen ein, jener merk­ würdigen Sorte von Menschen, die eigens nach dem fragen wollen, was für alle fraglos ist; die sich das ansehen wollen, womit sonst jeder nur umgeht; die ausdrücklich das im Gebrauch stehende Seinsverständnis prüfen wollen. Sein ist immer schon und umgängig verstanden. Der Umgang ist die Weise, wie wir darin leben, davon ständig Gebrauch machen ‒ und es doch eigentlich nicht kennen. Der Umgang entzieht sich selbst der Einsicht. Alles Erkennen und Begreifen, Erklären und wissenschaftliche Begründen hält sich je schon im Umgang mit einem vielfältig gegliederten Verstehen von Sein; aber was dieses in Gebrauch Genommene selbst ist, bleibt dabei unbegriffen. Das ist keine nur „methodische“ Naivität. Es wäre vollkommen falsch, darin nur ein „erkenntnistheoretisches Problem“ zu sehen. Man könnte etwa argu­ mentieren: Gewiß bleiben in der sachgerichteten Einstellung des Lebens, in der alltäglichen Praxis und auch in der dingbezogenen wissenschaftlichen Forschung die Denk- und Vorstellungsweisen, mit denen operiert wird, gleichsam latent; es ist dann eine Aufgabe der Logik, die Denkschemata des praktischen wie die des wissenschaftlichen Lebens gegenständlich zu machen und in ihren Bezügen zu erhellen. Diese Auffassung ist immer noch weitverbreitet. Hier wird überhaupt nicht begriffen, daß sogenannte „Denk­ formen“ mehr sind als nur eine subjektive Sache, mehr als eine Einrichtung des menschlichen Intellekts, eben ein Verstehen jenes Ungreifbaren und Unsichtbaren und Unhörbaren, das alles Greifbare, Sichtbare und Hörbare allererst ermöglicht: des Seins. Die antike Philosophie beginnt, indem sie ausdrücklich darauf zurückgeht, was so vorgängig und umgängig das immer Verstandene, aber Unbegriffene ist; sie ist nur als dieser Rückgang. Immer blicken wir in die Welt hinein, finden darin Dinge, die uns angehen oder abstoßen, haben vor uns die bunte Fülle des vielfältig sich zeigenden Seienden; die Dinge selbst | aber sind begriffen in einem unabläs­ sigen Wandel: über die gegründete Erde laufen lauter Augenblicke: in jedem ist alles anders; Dinge treten auf und verschwinden, Blumen gehen auf und verblühen; in allem ist Altern, Werden und Tod, und selbst die ragenden Gebirge verwittern; alles ist in Bewegung, in Bewegung vielfältiger Art. Der Wandel der Vergänglichkeit herrscht allenthalben. Was ist da das Sein, wenn wir nur Werden, Vergehen, Wechsel, Altern und Anderswerden sehen, uns selbst dabei als die Vergänglich|sten in der vergehenden Welt erfahren? Die Philosophie beginnt ihr geschichtliches Dasein, indem sie in Thales zum ersten Male ausdenkt, was im Grunde diese flimmernde, zitternde, von Augenblick zu Augenblick huschende und doch so ungeheure weite Welt ist. Thales er-denkt den Grundriß der Welt. Der Gedanke stellt gegen 77

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alle Erfahrungen, die von den Phänomenen ausgehen, von ihrer jagenden Flucht und Ruhelosigkeit, das bleibende Sein auf. Das Bleiben liegt allem Wandel zugrunde. Das Seiende ist, nicht im Sinne einer leeren Tautologie, sondern als die erste und fundamentale Einsicht, die den logos des on aussagt. Das Seiende ist ungeworden und unentstanden. Aller wirbelnde Tanz der Erscheinungen wird damit überstiegen. Dort, wo nur hingeblickt wird auf das vielfältige Kommen und Gehen aller Dinge, kann der Gedanke aufkommen, das Ganze des Seienden selbst könnte so gekommen sein wie die flüchtigen Erscheinungen, und es könnte als Ganzes selbst vergehen und verschwinden; dann wird die Welt als in ihrem Dasein zufällig angesetzt; in solcher Zufälligkeit gehalten aber verlangt sie nach einem zureichenden Grunde, der sie ins Dasein bringt; das ist die Weise der Kosmogonie, die vor allem der religiösen Spekulation zugrundeliegt. Die griechische Philosophie denkt von Anfang an die Ewigkeit der Welt. Und dies nicht als eine willkürli­ che Behauptung, sondern aus einem ersten und ursprünglichsten Verstehen von Sein. Die Ewigkeit der Welt ist der erste ontologische Gedanke. Der Grundriß des Seienden ist so geartet, daß alles Werden nur auf dem Grunde eines Bleibenden möglich ist. Die Philosophie denkt aus und faßt in den Begriff, was sonst nur verborgen und bloß umgängig in aller Auffassung von Wandlung liegt: eben das Bleibendsein des Zugrundeliegenden. Wandlung ist nur am Blei­ benden. Das Stehende und Ständige im Grunde ist das erste Anliegen der philosophischen Besinnung. Das Bleibende hat nicht dieselbe phänomenale Gegebenheit wie der Wechsel und das Wechselnde; es ist vielmehr immer un-thematisch oder umgängig verstanden; vom Bleibenden her wird der Wechsel gesehen; der Wechsel ist das Auffällige und Beängstigende; das Bleiben an ihm selbst wird nicht so unmittelbar aufgenommen. Es war die erste und größte Leistung des antiken Gedankens, die bloße Phänomenalität zu durchstoßen und auf das Bleibende selbst zurückzudenken. Die soge­ nannten Kosmogonien der ersten Philosophen sind Weltentstehungslehren, die vom ewigen, unentstandenen und unvergänglichen hypokeimenon her die Werdenswelt aufbauen, aber eben nicht die Welt selbst. Das Sein der Welt braucht keine Ursache, als das Zugrundeliegende ist es die archē, der Anfang von allem. Thales denkt diese ontologische Grundhaftigkeit als das Wasser. Oder genauer: Im Hinblick auf das Wasser und seine Ständigkeit entwirft er, gleichsam in das Bild des Wassers noch verhüllt, den ontologi­ schen Grundriß: ein ständig Bleibendes und ein darauf | gründendes stetes Wechseln. Das Seiende ist Wasser, heißt also: das Seiende ist im Grunde ein Einfaches, das in allem Wandel bleibt. Die Einfachheit und Beständigkeit des Seienden wird als Wasser, im Bild des Wassers gedacht. Wasser ist hier noch ein echtes Symbol, kein bloßes Gleichnis. Der ontologische Gedanke ist hier noch wahrhaft sinnenfällig; er fällt in die Sinne, weil es das Selbe 78

III. Anaximander

ist, was im Gedanken und hier im bestimmten Element des Wassers anwest. Das Denken ist noch nicht „abstract“. Das ist nicht so zu verstehen, daß hier am Ende noch „primitive Anfänge“ wären, daß es sich noch nicht losrei­ ßen könnte von einer übermächtigen Sinnlichkeit, welche ja die glühende Mitte des griechischen Lebens war. Nicht eine Hilf|losigkeit des sinnlich befangenen Denkens läßt die anfänglichen Denker zu sinnlichen Substraten für abstrakte ontologische Gedanken greifen; vielmehr ist das, was hier das abstrakte, d. h. das seinsbegriffliche Denken trifft, selbst ein Sinnliches; das Sein ist noch begriffen als physis. Es kann manchmal so aussehen, als wäre das frühe Denken der Philosophie eine Art von „Materialismus“, der nur dadurch gemildert sei, daß sie die hylē als „belebt“ angesehen hätten. Man spricht zuweilen vom „Hylozoismus“. Mit solchen Begriffen verbaut man sich endgültig die Möglichkeit, zu begreifen, um was es damals ging. Das Denken der physiologoi ist weder „materialistisch“ noch „spiritualistisch“; solche Schemata sind hier völlig wertlos. Das Sein in allem Seienden wird von Thales gefaßt als das Wasser ‒ und umgekehrt wird im Hinblick auf Ständigkeit, Einfachheit und Einzigkeit des einen, alles Land und alles darauf Liegende umgreifenden Wassers84 zugleich der Durchblick auf die innere Struktur des Seins gewonnen: Bleibendes als der tragende Grund allen Wechsels. In solchem Hinblick entfaltet das ur-anfängliche Denken die Bezüge von Sein und Nichts, Bewegung, Ständigkeit, Wandel, Entstehen und Vergehen. Fassen wir in eine kurze Formel zusammen: Thales erdenkt den Grundriß des Seienden als eines einfachen, bleibenden hypokeimenon im Symbol85 des Wassers. Die Lehre des Thales bleibt uns in ihren ausführlicheren Bestimmthei­ ten im Dunkel der Vorzeit verborgen. Wir haben überhaupt keine Schriften von ihm, sondern eben nur die Berichte antiker Autoren, vor allem eben des Aristoteles, dann auch des Diogenes Laertius, des Herodot, des Platon, des Simplicius, des Seneca usf. Nicht viel besser steht es mit seinem Nachfolger und Schüler Anaximander von Milet (geb. um 610 vor Christus). Anaximander galt im Altertum als der erste Philosoph, der eine Schrift hinterlassen hatte, die „Peri physeōs“ handelte, über die Natur also, ohne daß allerdings dieser Titel feststeht. Diese Schrift ist verschollen und hat bereits im Altertum, wie es scheint, dem Simplicius86 nicht mehr vorgelegen. Wir haben nur wenige Fragmente, aus denen uns original die erste Stimme der Philosophie entgegentönt. | Wir wollen hier, wo es nicht um eine Geistesge­ schichte des Griechentums geht, alles beiseite lassen, was den Anaximander in der alten Welt schon hochberühmt gemacht hat: die ihm zugeschriebene Erfindung der Sonnenuhr, seine erstmalige Ergänzung der augenscheinlich gegebenen Himmelshalbkugel zur vollen Kugel, seine Erdtafel, die erste Landkarte der bewohnten Welt, die, später von Hekataios ausgearbeitet, eine große Berühmtheit erlangte. Wir wollen allein hinhören auf die Stimme der 79

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Philosophie. Eine solche Absicht ist schnell gesagt. Sind wir denn solche, die überhaupt hören können, was aus dem Abgrund uralter Zeit laut wird? Anaximanders entlegene Weisheit fassen wir nicht in einem Zug. Wir sind nicht nur voll von dem Lärm des modernen Daseins, vom Kampf mit der Natur, der sich im Zeichen der Maschine vollzieht und von dem Rilkes Wort gilt: „Zwar ist kein Hören heil in dem Durchtobtsein, doch der Maschinenteil will jetzt gelobt sein …“;87 wir sind auch geprägt durch die Geschichte, die Entfaltung und Verfall in einem ist. Zurückzuhorchen in jene uranfängliche Stille, aus welcher das Sagen der Philosophie sich erhebt, fordert zuerst ein Stillwerden in uns selbst; all das Vorlaute und Geschwätzige, das sich gleich andrängt, um ein wesentliches Wort des Denkens zu zerreden und einzuebnen in das immer schon Bekannte, müssen wir unterdrücken, wenn wir uns frei machen sollen für das unbekannte Einfache. Die ersten Philosophen sprechen aus einer Ergriffenheit. Auch dieses Wort bedeutet nur eine Verlegenheit. Wir kennen im allgemeinen die „ergriffene Rede“ als die Sprache der Propheten. Wo Gottes unendlicher Schatten über dem Menschenland liegt, stehen sie auf, die Ergriffenen, und hören seine Stimme aus dem brennenden Dornbusch oder in den Gewitter­ stürmen des Sinai. Und sie | wandeln ebenso am Ganges wie in der Wüste Arabiens; die Ergriffenen sind uns vertraut als die Mundstücke übermensch­ licher Mächte; in Religion und Dichtung scheint das wesentliche Sagen zu geschehen im Auftrag der Götter. Philosophie aber hat diesen beiden Möglichkeiten der Rede gegenüber eine grundsätzlich andere Wesensart. Sie ist als die freieste Möglichkeit des Menschen auch die endlichste; sie ist nie „inspiriert“ möglich; durch des Philosophen Mund spricht keine übermenschliche Macht. Philosophie ist immer Wagnis. Sie ist das wagende Denken, das es auf sich nimmt, den Grund zu legen für die Existenz des Menschen im Ganzen des Seienden. Der Mensch kann nur so von sich her in der Welt sein, daß er sich zu allem, was ist, verhält; zwar ist er immer schon in einem Verhalten und immer schon in einem ihn umgängig leitenden Seinsverständnis. Philosophie aber ist die ausdrückliche „Prüfung“ aller sonst fraglos leitenden Seinsgedanken, eine Prüfung, in welcher auch der Doppelsinn von Leid und „Heimsuchung“ nicht umsonst mitschwingt. In der Philosophie sucht das grundlos gewordene Dasein heim in | den Grund aller Dinge. Wenn das Philosophieren begriffen wird als ein Geschehen, das als solches die menschliche Freiheit leistet und damit erst Geschichte möglich macht, so ist sie doch weit entfernt davon, eine bloße Selbstherrlichkeit des Menschen zu sein; der Mensch in der metaphysischen Not, denkend den Entwurf zu wagen, was ihm das Seiende ist, steht nicht in der Beliebigkeit und leeren Willkür. Aller ontologische Entwurf kann nur aufsteigen aus einer „ontologischen Erfahrung“, aus einer Erfahrung der Verborgenheit und Verschlossenheit des Seienden im Ganzen. Nur wenn das Dasein sich sol­ 80

III. Anaximander

cher vereinsamenden und vereinzigenden Erfahrung auszusetzen getraut, wenn es alleingelassen in der Weltnacht schweigend und bangend steht, öffnet sich ihm die Stille, in welcher es hinhören kann auf den logos, der in allem waltet. Ergriffen aber kann ein Dasein im Philosophieren sein, sofern es sich ergreifen läßt von der Macht der Dunkelheit des „Seienden“, wenn es sich losmacht von allen mitgebrachten Sicherungen und dem Fragen Raum gibt. Und ergriffen wiederum ist es dann, wenn es den logos hört und ihm sich öffnet. Die Philosophie kennt also eine andere Weise der Ergriffenheit, die verschieden ist von aller Religion und Kunst. Die hohe und dunkle Sprache der ersten Denker ist keine Abhängigkeit von der Mythologie, in welcher für den Griechen Kunst und Religion innig zusammenhingen. Diese hohe und dunkle Sprache entstammt einer eigenen und eigentümlichen Ergriffenheit. Es ist daher nicht das Problem, das dort „dunkel“ Gesagte zu übersetzen in die nüchterne und klare Sprache eines kritischen und sich selbst mißtrauenden Denkens; nicht gilt es die frühen Denker von einem „mythischen Sprachgewand“ zu befreien, vielmehr gerade umgekehrt, wir haben den schweren Versuch zu machen, uns im Nachverstehen in die Erfahrung zurückzustellen, aus der heraus Anaximander und Heraklit sprechen. Das bedeutet aber nie, sie nachzuahmen. Das Erste und auch Schwerste der Interpretation der anhebenden antiken Philosophie ist die rechte Bereitschaft zum Hinhorchen. Von Anaximander sind uns ganz wenige Sätze überliefert. Diese allein legen wir der Interpretation zugrunde. Anaximander gilt den Alten als der erste Philosoph, der den Ausdruck archē aufgebracht hat; solches Aufbringen ist zugleich auch das Aufbringen der Sache. Anaximander begreift das, was vor ihm Thales mit der Ständigkeit des Wassers denkt, als den „Anfang“ aller Dinge; die Dinge, das Viele und Vielartige, werden im ganzen überblickt und begriffen von einer archē her. Diese archē nennt Anaximander das apeiron: das Unbegrenzte. Alle Dinge, jegliches, was immer ist, hat seine Gestalt, seinen Umriß, was es so unterscheidet von den anderen Dingen; etwas ist, solange es währt, in seinem Umriß, in einer endlichen, begrenzten Gestalt; alle Dinge können sich zwar ständig in den bestimmten For|men verändern, größer oder kleiner | werden, sich dehnen oder schrumpfen; aber sie haben dann immer irgendeinen Umriß, der sie begrenzt und sie als dieses bestimmt, das sie eben sind. Alle Dinge sind begrenzt; nicht nur im räumlichen Sinne, in ihrer Figur, sondern auch in ihrem Wesen; jedes Ding ist etwas und ist nicht zugleich alles; es ist entweder warm oder kalt, hell oder dunkel, entweder ein Tier oder ein Mensch, entweder ein Staat oder ein Gestirn; kein Ding kann unterschiedlos alles sein; alles sein wollen, hieße gerade keine Bestimmtheit mehr an sich tragen; das eine schließt das andere aus. Etwas sein ist zugleich schon „ein anderes nicht sein“; und alle die so begrenzten Dinge zusammen stehen in einer Welt; die vielen begrenzten Dinge machen 81

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die Welt aus. Von der Welt her aber verstehen wir ganz ursprünglich das „Alles“. Was soll sonst uns alles heißen? Alles, was ist, ist beisammen in einer allbefassenden Welt. Unter Welt verstehen wir gemeinhin das alles Einzelne im voraus überholende und so in sich einbehaltende Ganze. Gewiß kennen wir auch andere Allheiten und Ganzheiten. Alle Bäume, alle Menschen, die ganze Stadt usw.; Allheit meint hier einmal die abzählbare Menge, die wir zusammengreifen, oder dann auch den Inbegriff eines gattungshaft gedach­ ten Was-Seins. Die Menge und der Inbegriff aber heben die Begrenztheit des darin Zusammengenommenen nicht auf; die Menge wird erst zu einem Gan­ zen dadurch, daß ein Begrenztes und ein Begrenztes zusammengenommen werden; eine Menge ist nicht die Weise, wie das Begrenzte aufhört, begrenzt zu sein; sie ist, bestehend aus endlichen begrenzten Teilen, selbst endlich und begrenzt; eine Schwierigkeit bildet hier nur das Kontinuum und seine ihm zugehörige Teilbarkeit. Der Inbegriff, gefaßt als Gattungsbegriff, hat selbst, obgleich er gerade ein „Allgemeines“ ist, nicht eine Unbegrenztheit, sondern ist begrenzt: Er umgrenzt ja das Wesen, die bestimmte endliche Natur eines Bereichs des Seienden. Alle begrenzten Dinge stehen in der Offenheit der Welt. Im Hinblick auf die Weltoffenheit also haben wir ein erstes Verstehen des Unbegrenzten und Grenzenlosen. Alles Begrenzte ist so im Unbegrenzten. Das ist zunächst nur eine phänomenale Aussage und noch keine These über die Größe der Welt. Vielleicht hat die Welt selbst keine Größe und alle Größen sind in ihr. Doch lassen wir das einstweilen beiseite. Wir nehmen ‒ in dieser bloßen Vorbetrachtung ‒ nur phänomenale Befunde auf. Die durchgängige Begrenztheit aller Dinge fällt uns bald auf. Und ebenso kommen wir leicht darauf, wie diese begrenzten Dinge zusam­ menstehen oder beisammenliegen im Offenen, Grenzenlosen der Welt. Wir sehen, daß alle Begrenztheit in einer Unbegrenztheit eingelagert ist; wie Begrenztheit der Dinge gerade die Unbegrenztheit des Umfangenden fordert und ‒ vielleicht auch ‒ umgekehrt. Vielleicht, so könnte man einmal denken, ist eine grenzenlose, offene Welt nur möglich, wenn sie nicht eine gäh|nende Leere, sondern erfüllt ist mit einzelnen, sich voneinander unterscheidenden Dingen. Vielleicht. Wir machen ja vielfach den Versuch, das nicht Ausgedachte zu meinen und so eine „weltlose“ Einzelheit oder auch eine „leere“ Welt anzusetzen. Gehört es, so müßte man wirklich fragen, zum Wesen des Seins, daß Seiendes nur ist als endliches, begrenztes in der Welt, und daß umgekehrt so etwas wie Welt nur ist als das Umfangende für Dinge? Die Welt west in allen Dingen an, und die endlichen Dinge kommen nur im Weltganzen vor. Das Begrenzte hat so vielleicht einen inneren Bezug zum Unbegrenzten und ebenso umgekehrt. Diese vorläufige Erörterung hat noch nicht den Charakter einer Inter­ pretation anaximandrischer Gedanken; sie dient lediglich dazu, unsere mit­ gebrachten Begriffe des Begrenzten und Unbegrenzten herauszuheben. Ob 82

III. Anaximander

sie eine legitime Basis bilden für das Verständnis dessen, was Anaximander unter dem apeiron denkt, bleibt offen. Alles Seiende, so sagen wir, ist endlich, ist begrenzt; es ist immer etwas, hat ein „Was“ und ist ein „Dieses“, das seine Stelle hat im Raum und in der Zeit. Als Was und als Dieses ist es begrenzt; ein Baum kann nicht alles sein. Im Zau|ber der Märchen und der Primitiven verstehen wir einzig noch die phantastische Möglichkeit, daß etwas alles sein kann, weil es nichts wirklich ist, weil es noch dem Grunde zugehört, dem alles andere, feste und wirkliche ent-sprungen ist. Die Frage ist nun, verhält sich das Unbegrenzte zum Begrenzten nur so, wie wir es anzeigten: als das Umfangende, Offene, als grenzenlose Welt zu den binnenweltlichen Dingen, oder zugleich auch als das Entspringenlassende zum Entsprungenen? Entsprungen: dabei im Doppelsinn genommen, als das daraus Hervorgegangene und als das Entflohene? Vielleicht kehren beide Bedeutungen wieder in der archē des Anaximander: Welt und Ursprung. Das erste Fragment, dem wir uns zuwenden, ist das dritte in Diels’ Fragmenten der Vorsokratiker: athanaton kai anōlethron, hōs phesin ho Anaximandros.88 Diese Stelle steht bei Aristoteles, in der Physik Γ, 4, 203b 13; Diels übersetzt: „Das apeiron ist ohne Tod und ohne Verderben“. Aristoteles bringt dieses Anaximanderzitat im Zusammenhang einer Betrachtung dessen, womit es die epistēmē peri physeōs eigentlich zu tun hat, also dessen, was zum Thema der Naturphilosophie gehört. Auch hier steht er in einem geschicht­ lichen Überblick ähnlich jenem, den wir in Metaphysik A kennengelernt haben; thematisch handelt er hier vom apeiron, vom Unbegrenzten, und verteidigt das Recht, es als archē aufzustellen; das Unbegrenzte ist nichts als nur archē, es ist nichts anderes. Das Unbegrenzte kann nie aus einem anderen Prinzip abgeleitet werden, sonst wäre jenes ja seine Grenze; das Unbegrenzte ist aber auch ungeworden und unvergänglich; denn alles Gewordene und Vergehende hat ja eine Grenze, seinen Anfang und sein Ende. Das | Unbegrenzte, sagt weiter Aristoteles, ist der „Anfang“, die archē von allem übrigen, umfaßt alles und lenkt alles und ist das Göttliche. Und in diesem Zusammenhang bringt er das Zitat. Aus dem Munde des Aristoteles klingt uns also wieder, was das apeiron ist: ohne Tod und ohne Verderben. Das Unbegrenzte ist eingerückt in die höchste Auszeichnung; es wird als das Göttliche selbst angesprochen. Die weitere Interpretation, die Aristoteles in diesem Zusammenhang sachlich vom apeiron, dem Unbegrenzten gibt, schalten wir aus; sie geht in einer ganz anderen Dimension vonstatten; Aristoteles denkt dort das Wesen des Unbegrenzten wiederum von der Seinsverfassung des „Dinges“ her und bewegt sich damit auf einer Probleme­ bene, die nicht dem anfänglichen Denken der Philosophie zugehört, sondern der entfalteten Metaphysik. Wir halten nur fest: Im apeiron ist für Anaximander als Grundzug einbegriffen: die Todlosigkeit und die Unzerstörbarkeit. Das heißt aber 83

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nicht, es ist etwas, dem diese Prädikate zukommen, sondern es ist als die Todlosigkeit und die Unzerstörbarkeit; das apeiron ist das Todlose und Unzerstörbare. Das apeiron ist gesehen als ein Bleiben. Damit meldet sich wieder der entscheidende Grundzug, der auch im thaletischen hypokeimenon lag: das Bleiben, die Unvergänglichkeit. Die archē, der Anfang aller Dinge, ist ein todloses, unvergängliches Bleiben. Die Zeit kann ihm nichts anhaben, kann es nicht unter ihre Macht bringen; es ist der Macht der Zeit entrückt; alle Dinge, die kommen und gehen, die in stetem Wandel auftauchen und verschwinden, unterstehen der Zeit; sind ihrer Herrschaft unterworfen; das apeiron aber ist außer der Zeit. Wie aber ist es außer der Zeit? Was ist das für ein Draußensein? Hat es selber mit der Zeit nichts zu tun? Was aber sollte dann heißen, daß es „unzerstörbar“ und „ohne Tod“ ist? Ist es außer der Zeit, wie eine Zahl, unbetroffen von der Zeit ‒ oder ist es das Ständige und Bleibende, das Unwandelbare in allem Wandel? Steht es nicht unter der Macht der Zeit, weil es selber diese Macht ist? Ist das Bleiben des Unbegrenzten das Bleiben der Zeit, in welcher alles Entstehen und Vergehen sich abspielt, | welche aber selbst nicht vergeht und nicht wird, sondern immer ist? Der Zeit kann die Zeit nichts anhaben; sie ist das Unsterbliche und Unzerstörbare, das alles hält unter seiner Herrschaft und alles Begrenzte und Endliche sterblich und zerstörbar macht. Das zweite Fragment lautet in der Diels’schen Übersetzung: „Das apeiron ist ohne Alter“89. Es hat kein Alter, sondern in ihm, dem Umfassenden und Umfangenden, ist alles Altern; es hat keine Zeit und keine Stelle in der Zeit, es ist „zeitlos“; aber ist es zeitlos wie das, was in gar keinem Bezug steht zur Zeit ‒ oder ist es zeitlos, weil es das Zeitlichste ist, eben die Zeit selber? Eine Reihe von ersten vordeutenden Hinweisen haben wir bislang gewonnen: Das apeiron, das Unbegrenzte, dieses Grundwort Anaximanders, weist in verschiedene Bezirke: ist es die allumfan|gende, alle begrenzten Dinge in sich haltende, grenzenlose offene Welt? Ist es der Ursprung, aus dem alle Dinge kommen und dem sie entfliehen? Ist es das theion, das Göttliche, das kein Endliches und Begrenztes, sondern in gewisser Weise „alles“ ist? Und endlich, ist es die Zeit selber, in welcher aller Wandel sich bewegt? Mit diesen Fragen ist vorerst ganz von außen umkreist, was Anaximander uns als dunkles Rätselwort hinterlassen hat. | 10. Die Philosophie der Griechen denkt angesichts der ständig sich wandelnden Welt das Unwandelbare, allem Wandel „Zugrundeliegende“. Ihr erster Gedanke entwirft den Grundriß des Seins als den Bezug von Bleiben und Wechsel; ihr erstes Wort, ihr erster logos trifft das on, ist ontologisch. Diese Einsicht gilt es sich immer gegenwärtig zu halten bei aller Auslegung. Die antike Philosophie hat nichts zu tun mit einer Schöp­ 84

III. Anaximander

fungslehre, ebensowenig mit einer naturwissenschaftlichen Hypothese. Sie ist weder Religion noch positive Wissenschaft. Von beiden Bereichen aus aber ist die anhebende Philosophie unangemessen ausgelegt worden, und wir stehen ständig in der Gefahr, uns der bekannteren religiösen oder wis­ senschaftlichen Kategorien bedienen zu wollen; sie drängen sich gleichsam von selbst an ‒ und es bedarf einer Anstrengung, gegen diesen Andrang geläufiger Vorstellungsweisen den philosophischen Sinn der griechischen Gedanken vom Sein zu erobern. Der Augenschein zeigt, wie heute so auch damals, eine wogende Welt: Dinge sind, an ihnen geschehen Veränderungen, sie selbst zerfallen und neue treten auf, aber im Ganzen bleibt das Bild der wogenden Welt; die Erde grünt, Persephone kehrt wieder, und mit ihr kommt das Blütenprangen und der Früchte Reifen; der Sommer geht, und bald fesselt strenger Frost alles Leben; das weite Meer, das ruhelose, schimmert bald in heiterem Glanz, bald schäumt es auf im Sturm; und die Menschen haben kein Bleiben auf der sich immer wandelnden Erde; sie wachsen auf und sind, kaum geboren „,alt genug zu sterben“; und wie die Einzelnen kommen und gehen, so kommen auch Geschlechter, Sippen, Völker, Staaten; alles ist im Wandel, alles wogt, alles ist im Vergehen. Sein scheint Vergänglichsein. Und über dem Gewoge hin wandelt der Wechsel von Tag und Nacht, wandeln die leuchtenden Feuer am Himmelsgewölbe, die den Gang der Zeit selbst bestimmen. Der Augenschein zeigt den währenden Wechsel, der Entstehen und Vergehen in eins ist. Und angesichts dieser augenscheinlichen Welt denkt die griechische Philosophie das, was kein Augenschein zeigt: das bleibende Sein im Wechsel, das Unwandelbare im Wan|del. Das Bleibende, genauer Zugrundebleibende ist die hylē, der Stoff. Der Ausdruck „Stoff“ ist bei uns ganz abgegriffen; das hat seinen Grund einmal darin, daß eine lange Geschichte uns geläufig gemacht hat, was die Griechen ursprünglich denkend sich erringen mußten; wir gehen schon wieder um, und zwar auf eine selbstverständliche Weise um, mit dem Unterschied „Stoff und Form“; ja es ist uns ein fast unerträglich einfaches Schema; gerade das ist ein Beispiel dafür, wie ein philosophischer Begriff zur Trivialität verfallen kann. Und dann ist „Stoff“ für unser im Titanismus der Technik sich ausrasendes Menschentum nur das Zu-überwältigende, das Material für die Gestaltung. Im Verhältnis zum bloßen Stoff herrscht bei uns eine tiefe Ehrfurchtslosigkeit, die aus unserer Naturentfremdung stammt. Das alles dürfen wir nicht in das antike Dasein zurückverlegen. Daß das bleibende Sein als hylē gedacht wird, beeinträchtigt nicht seinen hohen Rang, archē, Anfang, Grund und Ursprung aller Dinge zu sein. Aristoteles erst ‒ das müssen wir allerdings beachten ‒ interpretiert die von den ersten Denkern gedachte archē als hylē kai hypokeimenon. Und von dieser seiner Interpretation ist fast die ganze antike Kommentation der frühen Philoso­ 85

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phen bestimmt. Das Altertum sieht also das Eigentümliche der ersten Denker darin, daß sie das allem Wandel Zugrundeliegende als hylē, als Stoff denken. Das müssen wir festhalten, auch und gerade dann, wenn dieses Zugrundeliegende in Weisen angesprochen wird, die für unser Denken damit unvereinbar erscheinen. Bei Thales ist das Zugrundeliegende das Wasser als das Einfache. Allem Vielartigen und Wechselnden, d. h. von etwas in etwas anderes Umschlagenden, liegt ein Einfaches, wandellos Bleibendes zugrunde, das allen Wandel trägt, an ihm sein läßt. Bei Anaximander tritt der Gedanke der archē radikaler auf: der Anfang aller Dinge wird gedacht in einer Negation zu allen Dingen; das ist von größter grundsätzlicher Bedeutung. Der Gedanke bewegt sich durch die Verneinung. | Der Augenschein zeigt die Unbeständigkeit der Dinge: Alles wandelt sich, nichts bleibt, jedes Bestehen ist bedroht vom Untergang und kann sich nicht gegen ihn erhalten; „alles, was entsteht, ist wert, daß es zugrunde geht“90. Im Sein haust das Nichts, im Bestehen ist schon das Vergehen anwesend. Das Seinsverständnis von der vergänglichen Welt ist je schon offen für Sein und Nichts; alles Seiende ist in sich als nur im Vergehen bestehendes nichtig; die Philosophie aber denkt das bleibende unvergängliche Sein als den Grund des Nichtigen: mit anderen Worten und ganz abstrakt formuliert: Das hypokeimenon ist die Negation des Negativen. Der Augenschein zeigt den Wandel, der Gedanke aber offenbart das Bleiben als den Grund des Wandels. Das Bleibende wird von Anaximander gedacht in einer Negation des Begrenzten. Alle dem Wandel unterworfenen, der Macht der Zeit überlieferten Dinge sind begrenzt, sind endlich; | das aber im Grunde dieses Wandels Bleibende ist un-begrenzt, ist un-endlich. Das Unbegrenzte, das apeiron, ist die archē. Wir haben versucht, einige Fingerzeige zu geben in die Richtungen, in die sich die Auslegung des apeiron bewegen muß. Das apeiron ist Ursprung. Das Unbegrenzte kann nicht selbst von-woher sein; denn sonst wäre jenes ihm als seine Grenze gesetzt. Das apeiron ist allumfassend, wie Aristoteles von ihm sagt: periechein hapanta kai panta kybernan dokei,91 „es scheint alles zu umfangen und alles zu regieren“; es ist athanaton kai anōlethron,92 „un-sterblich und un-zerstörbar“, und es ist endlich aidion kai agērō,93 „un-vergänglich und ohne Alter“. Das Alpha privativum kommt in vielerlei Negationen hier vor: verneint werden Tod, Zerstörung, Vergänglichkeit, Alter. Das Wesen des Un-begrenzten wird in Negationen angesprochen, die vom Begrenzten, vom Vergänglichen und Wandelbaren her gesagt sind. Das apeiron zeigt so Wesenszüge, die uns hinweisen auf die allumfangende Welt, den allem zugrundeliegenden Ursprung, auf das theion, das Göttliche, und die alles Vergehen bewirkende, aber selbst unvergängliche und unzerstör­ bare Zeit. Steht dies alles im Blick Anaximanders? Und wenn ‒ wie? Kann die Zeit und die Welt und der Ursprung und das Göttliche eins sein? Ist das apei­ ron schwanger von soviel Grundworten? Das zu zeigen, ist die eigentliche 86

III. Anaximander

Aufgabe der Interpretation. Erst wenn eine solche Auslegung sich ins Recht setzen könnte in der Exegese des schwierigsten Anaximander-Fragments, ist sie mehr als eine bloße Behauptung; sie ist dann eine begründete Vermu­ tung. Fraglich und ungewiß im letzten bleibt immer der Sinn des Fragments. Bevor wir uns diesem zuwenden, wollen wir noch einige Momente des apeiron zur Abhebung bringen, die im Altertum diesem Grundbegriff des Anaximander zugeschrieben worden sind. Simplicius94 und Aetius (Diels, Dox‹ographi› Graeci, 272)95 weisen vor allem auf einen Grundzug des apeiron hin, auf seine Un-Erschöpflichkeit. Alles endliche Seiende nutzt sich ab, die Berge verwittern und96 die Meere trocknen aus, die Dinge halten sich eine Weile im Dasein, behaupten sich in ihrem Bestand und brechen doch schließlich zusammen; alle Kraft, zu sein, ist gleichsam selbst endlich; alles vom Ursprung Abgerissene und Abgelöste kann eine Weile sein, aber alles Ent-Sprungene ist erschöpflich; nicht nur die Lebewesen altern und sterben, alle Dinge altern, verwittern, verfallen, vergehen; aber der Grund, aus dem sie alle letztlich aufsteigen und aus dem sie sich, ins Dasein tretend, ablösen, ist selbst unerschöpflich; immer ist Werden, immer ist Wechsel, immer ist Geburt und Tod, immer Blühen und Altern. Der Ursprung wird auch als das Unbegrenzte gedacht im Gegensatz gegen die begrenzte Kraft aller Dinge, sich im Dasein zu halten, also gegen ihre Erschöpflichkeit. Das Ur-Verhältnis des Ursprungs, des unerschöpflichen, zu allen erschöpflichen Din|gen wird von Anaximander nach mannigfachen antiken Zeugnissen als eine Bewegung, eine kinēsis angesehen; eine Bewegung des Hervorgehens der Dinge aus dem Ursprung und ihrer Rückkehr | in ihn; und diese Bewegung wird begriffen als aidios kinēsis, als un-aufhörliche Bewegung. Der Un-Erschöpflichkeit des Ursprungs entspricht die Un-Aufhörlichkeit der Bewegung des Entspringens. Was aber ist das für ein Hervorgehen der bestimmten, begrenzten Dinge aus dem Unbegrenzten? Wie gehen sie hervor? Darin liegt das größte Problem. Und dieses Problem bleibt als drängende und beunruhigende Frage in der ganzen Geschichte der abendländischen Philosophie wach und ist in verwandelter Gestalt eine Frage, die auch heute noch brennend ist. Wenn der vernünftige Gedanke die phänomenale Welt des Augen­ scheins durchbricht und zurückdenkt in einen bleibenden Grund, wie kann in diesem Grunde selbst der Anlaß gefunden werden, aus sich herauszugehen, wie kann das in sich Bleibende in den Wechsel drängen, das Unerschöpfliche in die Erschöpfung durch die Zeit ‒ das Absolute ins Endliche? Zunächst faßt die antike Interpretation des Anaximander gleichsam zaghaft diese Frage an. Dort, wo bei Thales und Anaximenes oder Heraklit oder Empedokles je ein bestimmtes Element oder gar alle vier als der zugrundeliegende Urstoff angesetzt werden, wird das Hervorgehen der erscheinenden Dinge aus dieser hylē gedacht in Bildern, in Symbolen: Durch Verdickung oder 87

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Verdünnung des Urstoffes entstehen die übrigen Elemente und mit ihnen die vielen Dinge. Verdickung und Verdünnung aber sind nicht gemeint als naturwissenschaftliche Hypothesen, wenngleich diese Denker bisweilen sozusagen zur Illustration auf Vorkommnisse an den Phänomenen selbst hinweisen. Die Philosophie hat zunächst ja gar keine anderen Modelle, das Verhältnis des im Gedanken erfaßten hypokeimenon zu den Dingen zu denken, als „im Bilde“ von Verhältnissen, die wir an den Dingen selbst sehen; Verdickung und Verdünnung ist zunächst ebenso ein augenscheinlich sich Zeigendes wie der Wandel selbst. Das Wasser wird fest, wird zu Eis; das Festwerden sieht aus wie eine Verdickung; der ursprüngliche Stoff zeigt ein anderes Aussehen; das Eis schmilzt, wird wieder zu Wasser; am Verhältnis etwa von Wasser und Eis wird allgemein nun begriffen das Verhältnis von Flüssigem zum Festen. Das Wasser verdampft: das Flüssige wird luftförmig; die Sonne zieht Wasser, das Meer steigt als Dampf auf zum Feurigen: das Wasser wird zum Feuer. So im Rohen gesehen, scheint es nur eine primitive Naturbeobachtung zu sein, der wir nicht einmal den Rang eines Vorstadiums der Naturwissenschaft zuerkennen können. Aber das Entscheidende liegt hier überhaupt nicht in der naturwissenschaftlichen Bedeutung, sondern in der Entfaltung ontologischer Grundvorstellungen. Und mancher Naturwissenschaftler, der sich unendlich überlegen glaubt über jene ziemlich | wilde Art, Zusammenhänge zu sehen, ahnt gar nicht, daß er selbst mit all seinem differenzierten Denken ganz naiv auf dem Boden ontologischer Grundauffassungen steht, die damals gelegt worden sind. So wie Wasser zu Eis, zu Dampf, zur Sonne sich verhält, eben als das in allen Verwandlungen doch Bleibende, so verhält sich das bleibende Sein, das im Symbol eines Elements gedacht wird, zu den Wandlungen der Dinge. Die antike Kommentation des Anaximander ist immer in Verlegenheit, wie sie das Hervorgehen der Dinge aus dem Unbegrenzten, dem apeiron fassen soll; es fehlen hier die Bilder, die Symbole. Die entschiedenere philosophische Radikalität des Anaximander, die eben nicht ein gegebenes Element zum Urstoff erklärt, sondern in der Negation alles gegebenen Endlichen und Begrenzten das hypokeimenon ansetzt als das Un-Endliche und Un-Begrenzte, sieht sich der Schwierigkeit gegenüber, deswegen auch keine endlichen Verhältnisse als Modelle und Symbole zur Hand zu haben, in denen sie den Bezug von archē und den Dingen ansprechen könnte. Unter den antiken Auslegern herrscht ein Streit, ob Anaximanders apeiron ein migma, eine Mischung ist, aus welcher dann die bestimmten Elemente sich aussondern, oder ob in ihm noch keine einzelnen Elemente liegen, also Erde, Wasser, Feuer, Luft erst werden, im Herauskommen aus dem | unbegrenzten Urgrund. Nach Ansicht des Aristoteles und des Theophrast ist das apeiron kein migma. So sagt auch der Aristoteleskommentator Themistius, daß Anaximander deswegen kein bestimmtes Element als archē 88

III. Anaximander

ansetzen konnte, weil er ja die archē als das Unbegrenzte fasse; wenn aber ein Element unbegrenzt wäre, so würde es dank seiner Übermacht alle anderen vernichten.97 In diesem Gedanken liegt ein tiefer Sinn verborgen. Wir wollen versuchen, ihn uns nahe zu bringen. Die Begrenztheit, die Endlichkeit, die Zeitunterworfenheit und die Erschöpflichkeit sind die Struk­ turen, die Anaximander an den Dingen erkennt; diese Momente machen das Sein des Wandelbaren, des Vergänglichen aus; allem Wandel liegt das Bleibende zugrunde, das als Unbegrenztes, Zeitloses und Unerschöpfliches gedacht werden muß. Ein Ding, sei es ein Einzelding oder ein Element, aber im Gedanken ausstatten zu wollen mit den Eigenschaften, die in der Negation aller endlichen Bestimmungen des Endlichen gewonnen worden sind, hieße: ein Endliches absolut zu setzen. Kein Mensch und kein Gott, kein ragender Berg, kein Land und kein Meer, kein Gestirn am Himmel kann das Unerschöpfliche und Immerwährende sein, alles ist der Vergänglichkeit unterworfen; das sagt Anaximander von den Göttern, den Himmeln und den darunter liegenden Erden, sie sind im Wandel; die Götter sind nur dauernder, standhafter als die Menschen, stärker in ihrer Kraft, sich im Dasein zu halten; aber auch sie müssen hinab in den Grund, aus dem sie aufstiegen; kein Seiendes ist | unbegrenzt; das apeiron ist kein Seiendes; das apeiron ist strenggenommen das Sein selbst: nicht jenes, das wir an den Dingen, am Seienden erfassen als seine Struktur, sondern der unerschöpfliche und immerbleibende Seinsgrund, der das allein wahrhaft Göttliche, das theion ist, aus dem heraus alle seienden Dinge, Menschen, Götter, Sterne und Erden ins Dasein fallen, sich eine Weile halten in der zehrenden Eile der Zeit und dann wieder heimfallen an den Urgrund. Es ist von größter Tragweite, daß bei Anaximander, auch nach den Zeugnissen seiner späteren Ausleger, das Hervorkommen des Seienden aus dem Unbegrenzten gleichsam „gesichts­ los“ bezeichnet wird als ekkrinesthai, als Aussonderung ‒ daß hier keine bekannten Verhältnisse Modell stehen, sondern nur das leere „Aussondern“. Alles Ins-Dasein-kommen der Dinge ist Sonderung. Sie reißen sich los, sondern sich ab und sind dann nicht mehr das Ganze und heil im Ganzen, sie sind besonderte. Und zwar sind sie nicht vorher schon, als besonderte, im Unbegrenzten, vielmehr sondern sie sich aus im Hervorgehen; dieses ist gerade die Besonderung. Es wäre hier aber völlig abwegig, diese Gedanken deuten zu wollen von religiösen Grundanschauungen her. Das hat nichts zu tun mit einer orientalischen Stimmung, welche die Individuation als ein Trugbild der Maja ansieht, obwohl Hegel hier von einem „orientalischen Ton“98 spricht;99 bei Anaximander spricht allein die Philosophie aus der Hoheit ihres ursprünglichen Wesens. Das ekkrinesthai, die Aussonderung, hat den formalen Charakter des Hervorgehens in Gegensätzlichkeiten. Alles Endliche steht als das Begrenzte in Gegensätzen: Es ist dies oder jenes, groß oder klein, warm oder kalt, trocken oder feucht. Alle Besonderung ist 89

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nicht nur Entgegensetzung gegen den Ursprung, aus welchem das Seiende hervorgeht, sondern ist zugleich und unvermeidbar ein Stehen im Gegensatz zu anderem Seienden. Das Begrenzte ist unter sich je gegensätzlich und nicht nur gegen das Unbegrenzte. Alles Endliche muß als Gegensätzliches sich behaupten gegen …; es hat immer ein Wogegen; die Wärme vertreibt die Kälte und umgekehrt, das Feuchte das Trockene; alle Dinge stehen in einer Feindschaft zueinander, behaupten sich gegeneinander; das Leben des einen ist der Tod des anderen. Versuchen wir nun nach diesen Vorüberlegungen heranzugehen an das entscheidende Fragment. Es ist ein Wort, das schwer und dunkel klingt. Nietzsche sagt davon: „Anaximander aus Milet, der erste philosophische Schriftsteller der Alten, schreibt […] in großstilisierter Steinschrift, Satz für Satz Zeuge einer neuen Erleuchtung und Ausdruck des Verweilens in erhabe|nen Kontemplationen.“100 Nietzsche, sensibel für den Klang und den großen feierlichen Stil der anbrechenden Philosophie, kommt aber nicht zu einer angemessenen Auslegung des Gedankens. Anaximander gilt ihm als der „erste Grieche“, der „das | Knäuel des tiefsinnigsten ethischen Problems mit kühnem Griffe“ erhascht hat.101 Anaximander wird vom Leitproblem Nietzsches, vom Moralproblem her gedeutet. Moral aber ist ebenso weit weg wie Mythologie. Anaximander denkt ontologisch. Das Fragment lautet: archēn eieke tōn ontōn to apeiron „,der Anfang der seienden Dinge ist das Unbegrenzte“; ex hōn de hē genesis esti tois ousi, kai tēn phthoran eis tauta ginesthai kata to chreōn; „woraus aber das Werden ist den seienden Dingen, in das hinein geschieht auch ihr Vergehen nach der Schuldigkeit“; didonai gar auta dikēn kai tisin allēlois tēs adikias kata tēn tou chronou taxin; „denn sie zahlen einander gerechte Strafe und Buße für ihre Ungerechtigkeit nach der Zeit Anordnung“.102 Der erste Satz des Fragments scheint durch die früheren Erläuterungen bereits erklärt; der Anfang der seienden Dinge ist das Unbegrenzte. Das apeiron wird so allen seienden Dingen gegenübergestellt; es ist selbst kein Ding, auch kein Element unter den Elementen; alles Begrenzte hat seinen Anfang im Unbegrenzten. Wie? Wo und wie zeigt sich dieses Zurückweisen des Begrenzten? Wenn das Unbegrenzte als hylē, als Stoff, gedacht werden soll, wo finden wir diesen unbegrenzten Stoff, aus dem alle begrenzten Dinge bestehen sollen? Ein Tisch besteht aus Holz, das Holz war vordem ein Baum, der Baum wuchs aus der Erde, die Erde ist ein Element; hat nun dieses Element noch etwas, das ihm zugrundeliegt und das wir ebenso aufzeigen können? Wir können eine Strecke weit das Bestehen der Dinge aus etwas verfolgen; aber eben nur eine Strecke weit, dann endet dieses Bestehen aus … in irgend einem Element. Wenn ein Tisch aus Holz ist, so ist das Holz noch im Tisch da; der Stoff bleibt in der Formung; anders wieder bei der Nahrungsaufnahme, dort wird der aufgenommene Stoff verwandelt; 90

III. Anaximander

die Säfte der Erde in das Holz, die Pflanze in das Fleisch des Tieres; in allem Bestehen aus etwas bleibt entweder der Stoff oder er verwandelt sich. Dieses Bleiben und Verwandeln aber ist zusammengehalten durch eine Gleichartigkeit des Dinges und des Stoffes, woraus es besteht; Ding und Stoff sind beide Begrenztes. Wie kann aber nun letztlich, d. h. als Ur-stoff allen Dingen das apeiron zugrundeliegen? Welchen Sinn hat dann noch das Bestehen aus …? Wenn wir nun hinblicken auf das Bestehen aus etwas, kommen wir überhaupt nie zum Unbegrenzten; immer hört die Reihe auf in einem Endlichen, in einem Element. Woraus besteht aber noch ein Element? Es ist nach antiker Auffassung ein „einfacher Körper“. Kann man hier noch die Frage wiederholen, aus was es besteht, oder ist erst von da ab in aufsteigender Reihe der Formungen diese Frage sinnvoll? Das wird man bei einigem Nachdenken anzunehmen geneigt sein. Das Bestehen aus … als ein ontisches Verhältnis der Fundierung eines Seienden in einem anderen Seienden kommt im Element zu Ende. Das Element ist beständig. Es währt; es ist in der Zeit und wie alles in der | Zeit Seiende ihrer Macht unterworfen; die Ständigkeit der Elemente, ihr Bleiben gegenüber dem Kommen und Gehen der aus den Elementen geformten Dinge ist dauernder; sie haben eine größere Ständigkeit. Aber sind sie selber immer, sind sie wirklich aei? Wir fragen nur, wir entscheiden hier gar nichts. Die größere Dauer, das höhere Alter der Elemente bedeutet vielleicht noch nicht ihre Ewigkeit. Dem Anaximander wird im Altertum auch die Lehre zugeschrieben, daß er viele kosmoi annahm, sowohl gleichzeitig als auch nacheinander. Das meint strenggenommen nicht viele „Welten“; Welt gibt es nur im Singular, sie ist das All-umfangende schlechthin, weil sie Raum des Seins selbst ist. Kosmos meint dort vielmehr einen endlichen103 Gesamtzustand der Dinge, zu welchem die Elemente sowie ouranos, der Himmel, und die in einem solchen Bereich | herrschenden Götter gehören; also endliche kosmoi vergehen, und mit ihnen vergehen auch die Elemente. Wir greifen die Frage wieder auf: woraus bestehen die Elemente? Elemente sind das Letzte, wohin wir zurückkommen, wenn wir seiende Bestehensverhältnisse meinen. Die Elemente können aus nichts mehr Seien­ dem bestehen, sie sind das Zugrundeliegende für die Dinge; sind deren hylē. Woraus bestehen sie? Das ist keine eigensinnige Frage. Anaximander fragt gerade von allem endlich-Seienden zurück auf das Unbegrenzte und faßt dieses als das, woraus „letztlich“ alle Dinge bestehen. Die Elemente sind beständig, sagten wir. Worin liegt ihre Beständigkeit? Eben in ihrem Bestehen! Sie haben Bestand; sie sind; sie bestehen aus Sein. Das, was Anaximander im Eingang der Philosophie denkt, ist dies, daß die Dinge letztlich „aus Sein bestehen“; das Sein selbst ist das immer Zugrundeliegende, der Stoff, aus dem alles gemacht ist, und das doch nicht ist wie ein endlicher, begrenzter Stoff. Das Sein ist kein Seiendes. Alle Dinge sind daraus gemacht, 91

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aber eben nicht so, wie der Tisch aus Holz, die Bildsäule aus Erz. Es ist in allem Begrenzten und Endlichen da, ist das Unbegrenzte und Unendliche, das Unzerstörbare und der Zeit nicht Unterworfene, das Unsterbliche und Alterlose. Wie immer auch alles sich wandelt und kein Bleiben hat, so bleibt wandellos das Sein. Es gibt erst den Boden her für den Wandel aller Dinge. Der zweite Satz des Fragments hat auch auf den ersten Blick den Anschein einer gewissen unmittelbaren Verstehbarkeit. „Woraus aber das Werden ist den seienden Dingen, in das hinein geschieht auch ihr Verge­ hen nach der Schuldigkeit“. Die Dinge sind genommen als Werdende, im Werden Stehende. Der Begriff des Werdens kann zunächst mehrdeutig verstanden werden. Was ist hier gemeint? Werden kann bedeuten ein Ins-Sein-Kommen; eine Sache, etwa ein Hausbau, wird; das Ding, hier das Haus, wird angefangen, zuerst im Gedanken des Baumeisters, dann in den ersten Arbeiten der Handwerker; das Haus wird durch einen Stufengang des Unfertigen bis zur Fertigkeit; dann ist | es aus dem Werden herausgetreten und ist. Ist dieses nur gemeint, das Werden als der Gegensatz zum Sein? Keineswegs, gerade das Fertigsein ist immer noch ein Werden. Alles Dauern ist Werden. Der Baum, der aus dem Fruchtkern wächst, wird, solange er ist, und er ist nur, solange er wird. Die genesis ist nicht eine, die zu den „seienden Dingen“ nur hinführt und dann zu Ende ist; vielmehr sind alle Dinge nur in der genesis; das Sein der begrenzten Dinge ist ein Währen. Und das gleiche gilt vom Vergehen. Zunächst kann man das Vergehen dem Werden gegenüberstellen. Ein Haus wird im Hausbau, es ist eine Zeitlang und verfällt. Dann kommt also zuerst das Werden, dann das Sein und dann das Vergehen. Diese Auffassung ist eine gängige. Aber die tiefere Besinnung zeigt, daß diese drei Momente des Wandels immer schon zugleich sind. Das Vergehen beginnt schon in der ersten Phase des Entstehens, und das Sein der endlichen Dinge ist immer ein Währen zugleich im Entstehen und Vergehen. Genesis und phthora sind ineinander verschränkt; Bestand haben die Dinge nur im Währen, das ständig von Entstehen und Vergehen genährt und verzehrt wird. Das gilt nicht nur für die Melodie, die aufklingt und im Klingen verklingt, nur ist im Vergang, das gilt genausogut für den ragenden Fels, der aussieht wie für die Ewigkeit gegründet. Auch der ragende Fels währt. Die Dinge sind nicht nur in ihrem eigenen Währen zugleich genesis und phthora, zugleich Entstehen und Verderben, die Dinge sind als endliche in ihren Bezügen zueinander zeugend und verderblich; das eine kann nur währen, wenn das andere vergeht. Diese Struktur bedarf noch einer genaueren Interpretation. Es104 mag vielleicht so aussehen, als würde durch eine analytische Exegese der urtümliche Sinn des | Anaximanderfragments irgendwie in Mosaik aufgelöst. Von der ursprünglichen Gewalt jenes großen und wesentlich einfachen Denkens können wir nicht mehr ebenbürtig reden; in jenem Denken ist eine Gleichzeitigkeit vieler Gedanken, geeinigt und 92

III. Anaximander

gesammelt in einem schweren und dunklen Wort. Wir müssen buchstabie­ ren, was damals in den Schöpfungstagen der Philosophie das im Begriff sich lichtende Geheimnis war. | 11. Wir versuchen die Philosophie Anaximanders aus den wenigen Frag­ menten, die überliefert sind, zu deuten. Ein solcher Versuch bleibt immer fragwürdig. Nicht wegen der Dürftigkeit der Dokumente. Es sind die ersten Sätze der Philosophie. Ihr Sagen wohnt noch nahe dem Ursprung. Die Sprache der anhebenden Philosophie hat den ehernen Klang der wesentli­ chen Einfachheit. Die Schwierigkeit für uns, in einer langen Geschichte vielfältig, differenziert und | reflektiert geworden, ist allein die Frage, ob wir die Kraft aufbringen, hinzuhorchen auf das „ursprüngliche Wort“. Ursprünglich ist das Denken von Thales und Anaximander, weil sie einzig das Eine denken: den Ursprung aller Dinge, weil ihr Sagen einzig in der Helle dieses Gedankens vom Ursprung steht, weil in ihnen die Philosophie geschichtslos ihren Ursprung nimmt in ursprünglichem Denken und Sagen des Ursprungs. Thales und Anaximander denken aus der ganzen wirbelnden Fülle der Welt zurück in die archē; sie übersteigen damit in Gedanken alles Sichzeigende, alle Phänomene, und er-denken den Anfang. Nicht so, wie alle Mythologie, die hinblickt auf das Wandelbare und nicht darüber hinauskommt, die nur dem zeitlichen Wandel einen zeitlichen Anfang gibt, den Lauf der Weltereignisse zurückleitet auf ein erstes Ereignis; alle Mytho­ logie erklärt das Werden durch Werden, durch einen ersten Akt, der sich ereignet. Aber sie begreift damit nie die Natur des Werdens und des Wandels selbst. Die Philosophie setzt dem Werden und Wandel einen Anfang ganz anderer Art; sie durchdenkt das Wesen des Wandels selbst und erkennt als das Wesensgefüge des Wandels den Bezug alles Wandelbaren auf ein Bleiben, das ihm zugrundeliegt. Damit ist die mythologische Weltansicht grundsätzlich überwunden. Welterklärung ist nicht mehr möglich, sofern das Geschehen auf ein erstes Geschehnis der Weltbildung zurückgedeutet wird. Alles Geschehen setzt ein Bleibendes voraus. Und diese Grundvo­ raussetzung denkt nun die Philosophie ausdrücklich. Die im Augenschein sich zeigende Welt des Wandels fordert ein Zugrundeliegendes, das bleibt. Dieses Bleibende aber ist ein Gegenstand des Denkens, es zeigt sich nicht an ihm selbst. Das Sichzeigende ist das Wandelbare. Oder anders ausgedrückt: Das Wandelbare ist das, was mit den Sinnen vernommen wird, das Bleibende und Zugrundeliegende aber das, was mit dem Denken, dem noein vernom­ men wird. Haben wir also in den ersten Gedanken der abendländischen Philosophie schon die Unterscheidung einer sinnlichen und einer vernünf­ tigen Welt, eines mundus sensibilis und eines mundus intelligibilis? Und bleibt das nicht ein Leitthema im ganzen Gang der Geschichte? Eine solche 93

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Ausdeutung wäre gefährlich und irreführend. Sie würde gerade von späteren Begriffen her das umdeuten, was die anfangende Philosophie ursprünglich faßt. Sinnlichkeit und Vernunft treten noch nicht auseinander, vielmehr ist der Vernunftgedanke der archē, also der Gedanke des Bleibenden, das Licht, das nunmehr das Verstehen von allem Wandel erleuchtet. Im Lichte des Bleibenden wird das Wandelbare selbst durchsichtig. Anaximander faßt das Bleibende als das Unbegrenzte, das Wandelbare als das Begrenzte. Das apeiron ist die archē aller Dinge, heißt auch, vom Unbegrenzten her wird erst das Begrenzte durchsichtig in dem, was es ist und wie es ist. Der bleibende Grund aller Dinge wird von Anaximander ge|dacht in einer Negation alles Sichzeigenden; nicht ein Ding oder ein Element wird zum Urgrund ernannt; der Urgrund wird in einem Übersteigen aller Dinge gedacht; und dieser Überstieg ist zunächst die Negation. Vom Abgeleiteten her gesehen sieht das, was alles Abgeleitete erst begründet, aus als das Negative. Das, was gleichsam seinsstärker ist, gerät in eine Charakteristik, die zur Negation greifen muß. Das Bleibende, das also, was immer ist, wird vom Wechselnden, d. h. nur zeitweilig Seienden her gesehen ‒ als das | „Negative“ genommen. Der Gedanke negiert die Wahrheit des Augenscheins. Aber er interpretiert auch den Augenschein. Solange wir gleichsam befangen sind in dem Bereich des Wandelbaren und uns nur das als seiend gilt, was eine Weile vorhält, sich bald so, bald anders zeigt, solange verstehen wir nicht wirklich, was das Wandelbare selbst ist; wir sind selbst ein Vergängliches inmitten der vergänglichen Dinge, halten uns, trotzend der verzehrenden Wucht der sausenden Zeit, eine Weile ‒ aber wir begreifen weder uns noch die Dinge. Anaximander denkt ontologisch, sofern er den Grundriß entwirft vom Bleiben im Wechsel und vom Wechsel am Bleibenden. Das Vergängliche wird als solches erst offenbar, wenn es im Bezug gesehen wird zum Unvergängli­ chen. Der erste Gedanke der Philosophie übersteigt nicht nur den phänome­ nalen Bereich des Wandels und wendet sich dem Unwandelbaren zu, das im Grunde bleibt, sondern kehrt selbst wieder zurück, erleuchtend zurück. Vom Wandellosen her wird das Wesen alles Wandels durchsichtig. Diese Doppel­ bewegung des Gedankens, im Abstoß vom Bezirk des Augenscheins und in der interpretierenden Rückkehr zu ihm, gilt es als ein Grundmotiv festzuhal­ ten. Sonst verlieren wir die Möglichkeit, das innere Absehen von Heraklit und Parmenides in den Griff zu bekommen. Indem Anaximander die archē faßt als theion, als das Un-Begrenzte, das Un-Vergängliche (Alter-lose), Un-Zerstörbare, das Un-Sterbliche, als das Un-Erschöpfliche und un-auf­ hörlich Bewegende, negiert er nicht bloß schon offenbare Bestimmtheiten der augenscheinlichen Dinge, sondern er entdeckt eigens und ausdrücklich damit diese Bestimmtheiten. Es ist ein und derselbe Gedanke, dasselbe aufblitzende Licht, in welchem das Unendliche und das Endliche als solches 94

III. Anaximander

offenbar werden. Indem das apeiron gedacht wird, wird zugleich das endlich Seiende in seine wesentlichen Bestimmtheiten auseinandergelegt. Es zeigt sich als Begrenztes, als Alterndes, als Zerstörbares, als Sterbliches, als Erschöpfliches und als Bewegtes. Damit zeigt sich aber auch an dem, was uns sonst schlecht und recht als das Seiende gilt, eine tiefe Negativität, und zwar eine solche, die nicht in der Weise des Angesprochenwerdens allein liegt, sondern in der nichtigen Natur der Dinge: Sie sind begrenzt; jedes ist nur etwas, nicht alles; zu seinem Sein gehört das Fehlen, es kommt aus dem Schoße, wo alles noch alles ist, wo nichts fehlt, wo es keine | Bedürftigkeit gibt, aber, sofern es erscheint, sofern es sich zeigt, sofern es heraustritt aus dem ureinen Urgrund in die begrenzte Gestalt, in den festen Umriß einer Einzelheit, ist es auch „vereinzelt“, ist dieses und eben das andere und das Ganze nicht; es ist herausgefallen und vereinsamt. Die Dinge altern, sind vergänglich als einzelne und vereinsamte, sind je zeitweilig, sie weilen in der Zeit, aber so, daß sie in diesem Weilen verzehrt werden, zerstört werden, daß die Zeit sie mitnimmt und ihnen übel mitspielt. Die vereinzelten Dinge können nicht in der Zeit bleiben, wie das alterslose apeiron bleibt. Sie bleiben nur auf vergängliche Weise, nur im Vergehen können sie eine Weile bestehen und standhalten; sie sind erschöpflich: alle einzelnen und zeitweiligen Dinge sind erschöpflich; sie haben gleichsam, wenn sie ins Dasein treten, einen Vorrat von Kraft, mit dem sie haushalten. Aber sie können nur sein, indem sie diesen Vorrat aufzehren, verbrauchen; sie sind als sich selbst Verzehrende. Auch das Gewaltigste, was atmet unter dem Himmel, muß hinab in den Orkus; die mächtigsten Menschen sogut wie die armseligen Sklaven; die blühenden, meerebeherrschenden Städte sogut wie das Dorf der Heloten, die Pyramiden sogut wie die Gebirge und Meere, die Götter sogut wie die Gestirne am Himmel. In all diesem gibt es zwar vielfältigen Unterschied der Dauer, was aber überhaupt dauert, ist vergänglich. Dauern, d. i. das Bleiben in der Zeit in der Weise des Sichverzehrens. Und endlich: Alle Dinge sind bewegt. Sie zeigen unter sich auch wiederum mannigfache Weise von Bewegtheit; eines stößt das andere an, aber das ganze Geschiebe, Drängen, Auf- | und Niederfluten der vereinzelten Dinge ist im ganzen gesehen ein In-Bewegung-gehalten-sein, ein Getroffensein von einem Ur-Anstoß, eben jenem Stoß, der Dinge herauswirft aus dem Grunde des Unbegrenzten und sie hineinstößt ins Gepräge ihrer Vereinzelung. Alle phänomenale Bewegt­ heit, in welcher wir wohl unterscheiden können zwischen Bewegtem und Unbewegtem, ist im ganzen eine erlittene Bewegtheit. Oder anders gesagt: alle endliche Bewegung der Dinge ist ein Bewegtsein, das angestoßen ist von der un-endlichen Bewegung des Urgrundes, des apeiron, das „un-aufhörlich“ das ekkrinesthai, die Aussonderung der Dinge vollzieht und sie ins Dasein treibt. Als das Treibende in dieser unendlichen Bewegung aber ist das apeiron 95

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das Göttliche, das „alles regiert“. Von dort her gesehen erscheint das Endliche als das Gott-lose. Diese Zusammenhänge bedürfen einer ständigen Vergegenwärtigung, wenn wir uns dem Hauptfragment Anaximanders wieder zuwenden. Der erste Satz spricht das apeiron als die archē der seienden Dinge aus; der zweite Satz aber handelt vom Entstehen und Vergehen der Dinge. Wie ist hier der Zusammenhang? Warum wird, wenn eben im ersten Satz alle Dinge überstiegen sind auf die ihnen zugrundeliegende archē des Unbegrenzten, das Entste|hen und Vergehen der Dinge in den Blick genommen? Das kön­ nen wir jetzt begreifen, wenn wir uns die Doppelbewegung des Gedankens vor Augen halten. Im Er-Denken des apeiron wird erst der ganze Bereich der endlichen und begrenzten Dinge in seiner Natur durchsichtig; jetzt erst fällt das Licht des Begriffs in den sonst dumpf durchlebten Bezirk. „Woraus aber das Werden ist den seienden Dingen, in das hinein geschieht auch ihr Vergehen nach der Schuldigkeit …“. Herkunft und Ziel des Werdens der Dinge ist das Thema des Satzes. Wir haben105 versucht, zwei Ansichten von Entstehen und Vergehen auseinanderzuhalten. Einmal die gängige Auffassung, daß das Entstehen gleichsam abgesetzt genommen werden müsse vom Vergehen. Und da wiesen wir hin auf das Beispiel des Hausbaues. Das Haus entsteht im Bauen und ist erst, wenn es fertig gebaut ist, und dann setzt, sagt man, das Bestehen ein, es ist eine Weile noch wie neu, bekommt allmählich die Farbe, die ihm Wind und Wetter geben, und zeigt bereits die ersten Spuren vom Zahn der Zeit. In solcher Sicht erscheint, in Stadien aufgeteilt und voneinander abgesetzt, das Entstehen und das Vergehen. Zuerst ist das Entstehen und dann kommt das Vergehen. Eine andere Ansicht aber ist die, wonach beide, Entstehen und Vergehen, je gleichzeitig sind. Sie sind ineinander unlösbar verschränkt; das, was wird, vergeht zugleich schon während seines Entstehens, und umgekehrt, in allem Vergehen muß das Vergehende ja immer noch weiterhin werden, solange es vergeht; etwa ein Mensch wird von der Kindheit an; alles Werden, Wachsen, Reifen ist nicht nur ein Gewinnen, sondern zugleich auch ein Verlieren; der Mensch wird bewußter, aber er verliert, indem er das wird, die Unbefangenheit des Kindes; alles Gewinnen ist zugleich Verlieren, alles Entstehen zugleich ein Vergehen. Es sind nur abstrakte Momente, was wir so auseinanderhalten; alles In-der-Zeit-sein ist gegenläufig, Werden hat nur Platz, wenn Vergehen ihm Platz macht; damit etwas wird, muß zugleich etwas zugrundegehen. Beide Ansichten von Werden und Vergehen haben wir jetzt nicht ausdrücklich entfaltet, sondern nur umlaufende Ansichten angezeigt; in der ersten wird hingeblickt auf die akmē eines Seienden, auf dessen Höhepunkt. Auf diesen läuft das Entstehen zu, und dort kehrt es sich um in das Vergehen. Im anderen Fall aber blickt man nicht primär auf das Seiende hin, sondern auf dessen In-der-Zeit-sein. Die zweite Ansicht gehört einer Reflexionsstufe an. 96

III. Anaximander

Die Frage aber ist nun, ob wir von diesen umlaufenden Ansichten über Ent­ stehen und Vergehen her überhaupt den Sinn des Anaximanderfragments fassen können. Von welchem Entstehen und | Vergehen ist hier die Rede? Das Woraus des Entstehens ist das Worein des Vergehens? Was soll das heißen? Jedes Ding entsteht aus anderen Dingen, und jedes Ding zerfällt in andere Dinge. Dies lehrt doch der Augenschein. Was sich zeigt an Entstehen und was sich zeigt an Vergehen | ist immer Entstehen aus Dingen und Vergehen in Dinge. Aus Nichts wird nichts und in Nichts vergeht nichts. Die Dinge stehen in einem ständigen Wandel. Das Haus wird aus den Baustoffen und menschlicher Arbeit und verfällt wieder zu Trümmern; manche Dinge wechseln schnell und andere wiederum bleiben fast unveränderlich: die in ihren Bahnen wandelnden Himmelsfeuer und die gegründete Erde, die Schauplatz ist von allem. Heißt der uns angehende Satz des Fragments nun dies: Die Dinge zerfallen wieder in ihre Elemente? Das, woraus sie bestehen, in das müssen sie wieder vergehen? Zum Staube, aus dem wir geformt, kehren wir wieder und geben der Erde die Elemente zurück, die sie uns lieh? Diese Auffassung legt sich nahe, wenn wir uns orientieren an der ersten Ansicht vom Werden. Woraus die Dinge geworden sind, in das zerfallen sie wieder. Das ist aber keineswegs gemeint. Der Satz, so verstanden, spricht überhaupt keinen Gedanken der Philosophie aus, sondern nur, was uns jederzeit schon der Augenschein zeigt. Wie steht es nun aber, wenn wir die andere Anschauung vom Werden hervorholen? Entstehen und Vergehen ist gleichzeitig: Woraus etwas wird, dahinein vergeht es zugleich; woher es etwas gewinnt, dahin gibt es immer auch etwas ab; die Richtung des Herkommens einer Sache ist zugleich, nur im umgekehrten Sinne, die Richtung ihres Verschwindens. Sagt so der Satz das eherne Gesetz der Vergänglichkeit aus, daß nur Geburt ist, wo Tod, nur Aufstieg, wo Untergang? Daß die Dinge nur im Sichselbstverzehren zeitweilig bestehen und daß sie unter sich auch beherrscht werden von diesem erzenen Gesetz? Daß das eine sich nur behauptet, wenn es anderes unterdrückt, nur lebt, wenn es tötet, nur sein kann, wenn es einem anderen den Platz wegnimmt? Aber auch das zeigt schon der Augenschein. Von phänomenalen Einsichten aus, d. h. von Einsichten, die im unmit­ telbaren Hinblick auf das Sichzeigende gewonnen werden, öffnet sich die philosophische Wahrheit des Anaximanderfragments nicht. Denn es enthält keine Thesen, die durch den Augenschein bestätigt werden können. Nicht die phänomenale genesis und phthora ist Problem. Das wird klar aus dem Zusatz kata to chreōn, nach der Schuldigkeit. Das, woraus die seienden Dinge entstehen, ist das Un-Begrenzte, worein sie vergehen ist auch das Un-Begrenzte. Entstehen und Vergehen sind nicht genommen als die phä­ nomenalen Weisen, wie aus Begrenztem anderes Begrenztes wird oder wie Begrenztes wieder in anderes Begrenztes zerfällt; sondern allein als 97

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die Herkunft alles Begrenzten schlechthin aus dem Unbegrenzten und als der Heimgang alles Begrenzten in das apeiron. Dieses Entstehen wird nie gesehen, nie mit den Sinnen wahrgenommen, es ist nicht augenscheinlich; es wird im Denken erdacht. Nicht um das Entstehen geht es also, das waltet zwischen den seienden Dingen, sondern um das Entstehen, in welchem alle seienden Dinge samt der | ihnen eigenen Weise des Werdens entstehen. Mit anderen Worten, es handelt sich um den Hervorgang der Dinge aus dem apeiron, um jenen Vorgang des ekkrinesthai, der Aussonderung. Das Entstehen ist Aussonderung aus dem Unbegrenzten, aus dem Ur-Einen, das Vergehen ist die Rückkehr aus der Sonderheit in den Schoß des apeiron. Inwiefern aber ist dies alles kata to chreōn? Nach der Schuldigkeit? Diese Übersetzung von Diels ist nicht ohne Bedenken. Auf die schwierigen phi­ lologischen Fragen können wir uns hier nicht einlassen. Bedenklich aber ist gerade der moralische Unterton im Begriff der Schuldigkeit. Ist hier in einem Raume ontologischer Gedanken überhaupt eine moralische Betrach­ tungsweise am Platze? Ist es nicht das groteske Mißverständnis Nietzsches, daß er Anaximander „ethisch“ inter|pretieren zu müssen glaubte? Die Dinge entstehen aus dem, worein sie letztlich vergehen oder, genauer an den Text des Fragments angelehnt, sie vergehen in das, woraus sie entstehen ‒ gemäß der Schuldigkeit. Die Dinge schulden, sofern sie sind, sind schuldig, aber eben nicht in einem moralischen Verstande. Was aber schulden sie, und wem sind sie schuldig? Es gibt eine Menge Interpretationen, die die Schuldigkeit der Dinge in ihrem Verhältnis zueinander ansetzen wollen; sie sind schuldig, sofern das eine nur wird, wenn es anderes verdrängt; jedes Entstehende wird schuldig, sofern es ein anderes ins Nichtsein hinabstößt. Über dem Wandel aber waltet ein strenges Gesetz: das, was nur durch Verdrängen eines anderen wird, muß selbst verdrängt werden, was nur durch den Tod des anderen leben kann, muß selber sterben und von einem anderen beseitigt werden. Der Wandel der Dinge ist beherrscht von einem strengen Gesetz. Man macht sogar zuweilen die strenge Rechtsidee der antiken Polis, des griechischen Bürgerstaates, als Vorbild namhaft für diesen Anaximandergedanken des über den Dingen verhängten Gesetzes; so als ob die Philosophie aus ihrer Umwelt die Motive aufzunehmen pflegte für ihre ontologischen Grundvorstellungen. Diese Art von Auslegung wird dann noch gestützt durch den Hinweis auf die im letzten Satze des Fragments ausgesagte adikia, die Ungerechtig­ keit, und die Strafe und Buße, dikē und tisis, welche die Dinge einander (allēlois) zahlen. Der plausible Gedankengang ist dabei, daß Strafe und Buße ja dem zu zahlen sind, gegen den ein Unrecht begangen worden ist. Weil nun die Dinge einander Buße und Strafe zahlen, deswegen ist die Ungerechtigkeit, die adikia, wohl auch eine solche der Dinge gegeneinander. Aber da müßte schon etwas uns stutzig machen. Gesetzt den Fall, die 98

III. Anaximander

Ungerechtigkeit ist eine solche der Dinge gegeneinander, sofern das eine ins Dasein kommt, wenn es ein anderes beseitigt; kann aber ein Ding dem von ihm beseitigten Strafe zahlen? Oder zahlt es ja einem anderen die Buße, eben dem nach ihm kommenden, durch das es nun selbst beseitigt wird? Bei genauerem Hinsehen löst sich die Plausibilität des oft | vorgebrachten Argumentes auf. Die Strafe wird ja gar nicht dem bezahlt, wogegen ein Ding sich vergangen hat. Vielmehr büßen sie durch das Beseitigtwerden von Nachkommenden, büßen sie durch ihren Untergang, eine Ungerechtigkeit, eine adikia, die in ihrem Bestehen schon liegt. Die Dinge sind schuldig, sofern sie bestehen. Was sind sie schuldig? Sie sind und sind doch nicht; ihr Sein ist nichtig; sie sind be-grenzt, sind nicht alles, sind abgesetzt von anderem; sie bestehen in ihrem Umriß gegen alles andere, sie halten das Sein fest auf eine endliche und begrenzte Weise, das Sein, das seinem Wesen nach allumfangend und allbefassend ist; sie wollen gleichsam das Unbegrenzte auf eine endliche und begrenzte Weise sein und bleiben so alles schuldig; sie sind bedürftig, nur durch das Bedürfnis und die Entbehrung geprägt; weil sie auf eine bedürftige Weise nur sind, sind sie im Ganzen gesehen bestimmt durch eine Weise, wie es not tut, kata to chreōn. Weil die Dinge in ihrem Bestreben, das Sein zu halten, in Not sind, ist über sie verhängt, auf eine dürftige und nothafte Weise nur sein zu können: eben in der Weise der Vergänglichkeit. Wir interpretieren also: Woraus den seienden Dingen das Entstehen ist = woraus sie im Entstehen sich aussondern in ihre einzelhafte, endliche Weise, das Sein zu halten, ‒ dahinein geschieht auch ihr Vergehen = dahin fallen sie im Untergang wieder zurück; nach der Schuldigkeit, kata to chreōn = „wie es not tut“ ‒ für in ständiger Seinsnot Gefangenes. Das Endliche, Begrenzte kann gar nicht wahrhaft bleibend sein: bleibendes Sein ist nur als apeiron möglich. Wir kommen zum dritten, bereits schon vorweggenommenen Satz des Frag|ments: „denn sie zahlen einander gerechte Strafe und Buße für ihre Ungerechtigkeit nach der Zeit Anordnung.“ Die entscheidende Frage ist hier, was ist die Ungerechtigkeit, die adikia? Ist das ein moralischer Begriff? Gewiß ist er aus dem Bereich des moralischen Verhaltens genommen; Menschen nur begehen Ungerechtigkeiten; ein Stein kann nicht gerecht oder ungerecht sein, ebensowenig ein Tier und ebensowenig ein Gott. Unrechttun ist eine spezifische Möglichkeit des Menschen. Was bedeutet es aber, daß ein menschlicher Begriff hier genommen wird, um das Verhalten der Dinge überhaupt zu kennzeichnen? Ist es einfach ein Rückfall in eine mythologische Vorstellungsweise, eine gewisse Primitivität? Keineswegs; gerade weil das Denken Anaximanders ontologisch ist, ist er jeder moralisie­ renden Weltbetrachtung weit entrückt. Das Seiende selbst, die Dinge sind im Unrecht, ihr Sein ist ein Im-Unrecht-sein; sie sind nicht zuerst und begehen dann ein Unrecht, das sie ebensogut unterlassen könnten; nein, sofern sie 99

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sind, sofern sie eintreten ins Dasein, sind sie im Unrecht. Sie sind, könnten wir zugespitzt sagen, unrichtig, sind nicht auf die richtige Weise; das richtige Sein ist Sein der Weise des Unbegrenztseins, des | Unvergänglichseins, des Unzerstörbarseins, des Unerschöpflichseins und des Unaufhörlichbewe­ gendseins. Dieses „richtige Sein“ aber ist keine willkürliche Vorstellung, die sich der Philosoph eben vom Sein macht, sondern ist der wesentliche Sinn des Seins, wie er den Griechen aufging im Hinblick auf die physis. Sie ist das Immerseiende und Unerschöpfliche, das alles gebiert und nie leer wird, das allen Tod in sich aufnimmt und doch voller lebendigsten Lebens bleibt. Sie ist auch das Bleibende im Grunde allen Wandels, sie ist das apeiron selbst. Die im apeiron gedachte archē enthüllt sich gerade als die physis. So ist sie auch die Welt, so auch das Göttliche, so der Ursprung von allem. Wenn also die wesentlichen Bestimmungen des Seins gewonnen sind am Anfang der abendländischen Philosophie in einer Offenheit für die alldurchwaltende physis, für die Göttlichkeit der schöpferischen Natur, so ist damit nicht eine phänomenale Natur verabsolutiert, nicht das, was die Naturwissenschaft meint, aber auch nicht das, was die Schwärmerei als Natur anspricht. Vielmehr hat der griechische Gedanke bereits eine innere Bestimmtheit der Natur gefaßt: das Bleibendsein und die Unerschöpflich­ keit. Das richtige Sein also ist dieses Sein der im apeiron-Begriff angezielten physis. Das Sein der Dinge ist, daran gemessen, unrichtig; sie sind, aber nicht allumfangend und nicht unerschöpflich, sie sind begrenzt und endlich. Ihr Unrecht besteht in der Ablösung aus dem tragend-umfangenden Grund, in ihrem Hervorgehen, besser Hervorgegangensein aus dem Einheitsgrund der physis. Die Dinge sind durch die Entzweiung, durch die Gegenstellung zur physis. In der Aussonderung aus dem Ur-Einen liegt ihr Unrecht. Ausgesondert aus dem Immerbleibenden sind sie in den Wandel gefallen, in die Ordnung der Zeit; sie unterstehen jetzt der Macht der Zeit. Was ist die Zeit, daß sie den Wandel ordnet, jenen Wandel, in welchem die Dinge büßen und Strafe zahlen? Buße und Strafe klingt uns wieder mora­ lisch. Steht dahinter der antike Pessimismus, der das Sein selbst verneint? Ist es eine düstere Taxation des Daseins, die das hellenische Wesen umdun­ kelt? Seit Burckhardt und Nietzsche spricht man viel von diesem antiken Pessimismus. Aber auch wenn er die Grundstimmung jener „Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen“ gewesen sein sollte, so ist doch der das Sein denkende Gedanke nicht daraus abzuleiten ‒ eher umgekehrt. Wie die Dinge büßen und Strafe zahlen, das ist leicht verständlich: eben durch ihren Untergang; für ihr Bestehen, das eine Weile währt, zahlen sie mit ihrer Vernichtung. Sie halten sich im Dasein um den Preis des unvermeidlichen Verschwindens. Aber wieso ist dieses eine Strafe und eine Buße? Befremdet uns dieser Gedanke nicht zunächst? Man könnte doch | sagen, das Auf und Ab von Leben und Tod, von | Entstehen und Vergehen ist das Gesetz, das 100

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in allem Wandel waltet, das mit Naturnotwendigkeit herrscht, das „jenseits von Gut und Böse“ steht und in das moralische Begriffe hineinzutragen sinnlos ist. Das Entscheidende des anaximandrischen Gedankens aber ist nicht eine moralische Erklärung des Gesetzes in allem Wandel; Anaximander steht jenseits von Gut und Böse, wie alle Philosophie, wenn sie das Wesen des Seins denkt. Entscheidend ist, daß Anaximander über das Gesetz im Wandel hinausdenkt, daß er es begreift vom Verhältnis des Wandelbaren zum Unwandelbaren, zum zugrundeliegenden apeiron. Und in diesem Bezug übernimmt die führende Rolle die Zeit. Von der Interpretation des kata tou chronou taxin, des „nach der Anordnung der Zeit“ wollen wir106 das bislang nur „buchstabierte“ Fragment zusammenfassen in die wesentlichen Motive des darin ausgesprochenen Seinsgedankens, um den Übergang zu gewinnen zu Heraklit.107 | 12. In der Auslegung des Anaximander-Fragmentes steht noch aus die Deutung des kata tēn tou chronou taxin, „nach der Zeit Anordnung“. Welches ist die Rolle der Zeit im Ganzen der ontologischen Grundauffassung, die uns aus dem Fragment entgegentritt, eingehüllt in eine entrückte Sprache, die nicht aus der mythischen Ergriffenheit stammt, die hervorbricht aus dem ersten welterhellenden Blitzschlag des Gedankens? Wir sind längst gewöhnt, mit Gedanken umzugehen; wir lesen Bücher und kennen die Geistesgeschichte, wir kennen vielerlei Meinungen über Gott108 und die Welt, viele Theorien über das Sein, das Werden, das Nichts, die Zeit; wir klassifizieren „Weltanschauungen“ und operieren dabei mit Grundbegriffen, die überall vorkommen, jeweils so oder so aufgefaßt werden. Wir haben es verlernt, so feierlich von bloßen Gedanken zu reden; wir sind kühl und skeptisch geworden, machen uns nichts mehr vor: Wir wissen, daß es auch in der Philosophie „menschlich, allzumenschlich“ zugeht, daß die Originalitätssucht ihr Unwesen treibt, daß es im Grunde eben fast die gleichen Gedanken sind, die immer wieder neu aufgeputzt werden. Und wir tun uns viel zugute auf diese Abgeklärtheit, auf unsere moderne Entde­ ckung der sich behauptenden Banalität des Menschenwesens auch in den Erscheinungen, die angeblich darüber hinauswollen. Mit viel Psychologie und Gelehrsamkeit sind wir illusionslos geworden. Vielleicht, daß wir noch etwas Bewunderung aufbringen für den archaischen Stil der alten Denker, die von Gedanken reden wie von etwas Ungeheurem, deren Sagen noch durchzittert ist von einer überwältigenden Erfahrung. Eine solche Bewunde­ rung vergreift sich ebensosehr am Wesen der urspringenden Philosophie wie die Attitude der kühlen Überheblichkeit, für welche Gedanken doch nur Menschengedanken, nur Meinungen sind. Wissen wir in unserer Vielwis| 101

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serei überhaupt noch wesentlich, was ein „Gedanke“ ist? Ist es denn so sicher, daß Gedanken nur in Menschengehirnen hausen, nur die unwichtige Weise sind, wie ein klägliches Geschöpf von sich aus sich ein Bild der Welt macht? Gibt es Gedanken nur, weil der Mensch sie denkt, sind sie ihm zugehörig als sein Erzeugnis und Eigentum, oder kann der Mensch wahrhaft denken, wenn er sich öffnet den waltenden Seinsmächten, wenn ihm von dort her die Gedanken geschenkt werden? Es ist ein Vorurteil der Neuzeit, daß der Mensch der Schöpfer des Gedankens sei. Solange wir im Banne dieses Vorurteils stehen, bleibt die Philosophie der ersten Zeit uns überhaupt unzugänglich. Was haben wir in solcher Sicht denn für wenig ausgebildete Individualitäten: Thales, der das Wasser als den Grund der Dinge ansetzt, Anaximenes die Luft und Heraklit das Feuer. Ist eine solche Ansetzung überhaupt eine Philosophie? Kann man mit diesem einen Gedanken gleichsam lebenslang stillstehen? Sind das nicht arme und bewegungslose Gedanken (Hegel)? ‒ In Wahrheit ist es gerade umgekehrt. Im Denken der ersten Denker öffnet sich das Menschenwesen erstmalig und ursprünglich dem allumfangenden Ganzen: der physis. Der Mensch tritt aus dem bergenden Grunde und reißt sich los; er ist nicht mehr geborgen und eingeschlossen in das Ganze wie das Tier oder anders der mythische Mensch; aber gerade deswegen kann und muß er sich verhalten zum Ganzen; er stellt sich in die Offenheit des Ganzen, indem er sich freigibt, über jede einzelne Verhaltung zu einzelnem Seienden hinweg, für das Licht, das den Raum des Ganzen erhellt. Und dies sind die ursprünglichen Gedanken vom Sein. Diese Seinsgedanken sind keine Erfindung des Menschen, keine willkürliche Setzung; aber auch nicht etwas, was fertig dem Menschen geschenkt würde und das er nur aufzuheben brauchte. Die Eigentümlichkeit des ursprünglichen Denkens ist mit den entge­ gengesetzten Begriffen von „Tun“ und „Leiden“ nicht zu erreichen; es steht noch diesseits einer solchen Unterscheidung; es ist ebensosehr produktiv wie hinnehmend; es ist „ontologische Erfahrung“ und zugleich „ontologi­ scher Entwurf“. Diese Natur des philosophischen Denkens | bleibt ein beunruhigendes Problem: der Doppelaspekt wird immer wieder gesehen und in verschiedenen Weisen zu fassen versucht. Noch in der Kantischen Unterscheidung der Rezeptivität und Spontaneität hinsichtlich der apriori­ schen Gesetzgebung der reinen Erkenntnis liegt ein Widerschein davon. Allerdings sieht es dort so aus, als laufe dieser Unterschied letztlich zurück auf eine Trennung der beiden Erkenntnisquellen: Sinnlichkeit und Verstand. Sinnlichkeit ist rezeptiv, Verstand aber spontan; die Frage Kants geht zunächst aber auf den apriorischen Teil des Erkenntnisvermögens. Apriorische Erkenntnis aber ist solche, die „von vornherein“, d. h. vor aller Erfahrung das Seiende erkennt; was aber vor aller | Erfahrung erkannt wird, ist die Seinsverfassung des Seienden; apriorische Erkenntnis = ontologische 102

III. Anaximander

Erkenntnis. Und diese ontologische Erkenntnis wird Problem in der Kritik der reinen Vernunft. Die leitende Frage dabei ist, wie das Seiende vor der Begegnung im Erfahrungsbezug schon offenstehen kann in seiner Seins­ verfassung. Kants Antwort darauf lautet, kurz zusammengefaßt: weil die menschliche Vernunft diese Seinsverfassung des Seienden, vorauslaufend aller Erfahrung, vorgängig bildet. Dieses Bilden aber bestimmt er als eine Spontaneität, die rezeptiv ist, oder als eine Rezeptivität, die zugleich spontan ist. Gerade in der Auslegung also der ontologischen Erkenntnis fallen auf eine schwer sagbare Weise Tun und Leiden in eins zusammen, oder besser: versagen beide Vorstellungsweisen. Mit diesem Hinblick auf Kant ist nur an einer späten Philosophie noch aufgezeigt, was bereits am Anfang des philosophischen Denkens dieses auszeichnet: Es ist in eins die höchste Anstrengung des Menschen und ein Widerfahrnis, Entwurf und Erfahrung. Die höchste Kraft muß der Mensch aufbringen, um sich zu öffnen und offenzuhalten der Helle, in der das Ganze sich zeigt. Das Denken von Thales und Anaximander ist weitab von einer persön­ lichen Weltauffassung, von einem individuellen Weltbild; sie vernehmen noch, wenn sie entwerfen. Sie denken das Sein, das ihnen sich schenkt. Ihre Sprache muß daher aus diesem Bezug allein verstanden werden. Sie ist weder archaisch, noch hierophantisch. Sie ist nicht Dichtung und nicht Religion; sie ist Philosophie, die das Größte denkt und aussagt: die archē, den Grund aller Dinge. Anaximander denkt und erfährt diesen Grund als das apeiron, das Unbegrenzte. Das Unbegrenzte ist das Sein selbst. Das „richtige“ Sein als das Immersein, das Unzerstörbarsein, das Unerschöpflichsein, das Allumfangen und Allesbewegen. In solcher Sicht liegt dem anaximandrischen Denken das Wesen des Seins; so geht es ihm auf. Aber solches Aufgehen geschieht nicht im Blick auf ein Vorhandenes, an dem diese Charaktere abgelesen werden. So wird Sein gar nie „festgestellt“. Keine Durchmusterung aller Dinge, die uns irgend unterlaufen, könnte je solches an ihnen vorfinden wie die Allumfängnis, die Unbegrenztheit und die Unerschöpflichkeit. Und gar das Immersein können wir nie feststellen, weil alles Feststellenkönnen selbst nur begrenzte Zeit währt. Sind diese Charaktere, in denen das Sein gedacht wird, und zwar nicht willkürlich gedacht, sondern vernehmend gedacht wird, überhaupt etwas, was einem Ding zukommen könnte? Gerade nicht. Die Dinge ‒ d. h. der Bereich, an dem wir feststellen, beobachten, ablesen usf. ‒ zeigen nirgends dergleichen. Die Dinge selbst rücken aber, von der Grundeinsicht Anaximanders aus, nun ausdrücklich ein in eine Charakteristik, die das Gegenteil darstellt dessen, was der archē zukommt: Sie sind begrenzt, sind endlich, sind erschöpflich, vergänglich. Archē, als der Anfang aller Dinge, und die Dinge | selbst verhalten sich irgendwie gegenteilig. Aber, so könnte man fragen, werden die Dinge beobachtet, festgestellt, abgeschildert? Findet Anaximander im Hinblick auf die Dinge 103

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ihre grundsätzliche ontologische Charakteristik? Auch das ist zu verneinen. Anaximander beschreibt nicht die phänomenalen Dinge und gewinnt durch Beobachtung erst nachträglich109 ihre Eigentümlichkeit; es sind keine empi­ rischen Feststellungen, sondern ontologische Aussa|gen. Dasselbe Licht, das die Unvergänglichkeit, Allumfängnis, Unbegrenztheit des Seins offenbart, offenbart auch die Vergänglichkeit, Endlichkeit und Begrenztheit des Seien­ den. Nur so ist überhaupt der Zusammenhang des Fragments zu begreifen. Das Denken des apeiron ist notwendig zugleich das Denken des Begrenzten in seiner Begrenztheit. Die adikia des Begrenzten haben wir auszulegen versucht als die Abgesondertheit der Dinge aus dem Seinsgrund. Die Dinge sind im Unrecht; sie sind Unrecht; sie sind auf unrechte Weise. Recht ist das apeiron, das das ganze Sein ist, allumfangend und alles regierend, unerschöpflich, immer bleibend. Das apeiron ist so das Maß des Seins, die Richtschnur, die Recht und Unrecht bestimmt. Recht und Unrecht sind hier also keine moralischen, sondern ontologische Begriffe und meinen die rechte Weise, zu sein, und die unrechte Weise, zu sein. Auf unrechte Weise sind die Dinge; sie sind, aber so, daß sie das Sein selbst vergeuden und vertun, es nicht halten können; sie sind vergänglich. Diese Vergänglichkeit meint aber nicht, daß sie nicht ewig sind, daß sie irgendwann einmal aufhören müssen; sondern sie sind selbst dann, wenn sie voller Kraft dastehen und das Sein in ihnen gesichert erscheint, „vergänglich“, sie sind nur im Vergang. Sie gehen in der Zeit, sind von der Zeit mitgenommen. Sie sind bestimmt durch genesis und phthora, durch Entstehen und Vergehen; alles von der Zeit Mitgenommene ist immer in einer Zeitphase, ist jetzt und wieder jetzt; im Jetzt seiend aber sind sie das, was sie vorhin waren, nicht mehr, und das, was sie bald sein werden, noch nicht; alles Sein des In-der-Zeit-Seienden ist bestimmt durch ein Nicht-mehr und ein Noch-nicht; die Fülle des Seins ist nie beisammen, sondern immer aufgeteilt in die Phasen der Zeit; alles so in der Zeit Seiende ist in seinem Sein durch ein Nichts bestimmt, ist nichtig. Nichtigkeit aber ist die eigentliche „ontologische Schuld“, das eigentliche ontologische Unrecht. Dieses Unrecht als „nicht auf die rechte Weise sein“ ist aber nicht nur gesehen im Hinblick auf die Seinsweise des apeiron, in dem alle Fülle und Unerschöpflichkeit des Seins gesammelt erscheint; das apeiron ist nicht nur das Maß, es ist auch das, wogegen die Dinge Unrecht tun; die Dinge begehen das Unrecht, indem sie sich aussondern in ihre geprägte Einzelheit, die sie eine Weile halten und behaupten. Sie ent-springen dem Ursprung, gehen aus ihm hervor und setzen sich von ihm ab, fliehen ihn. Dieser Gedanke | scheint eine Schwierigkeit zu bergen. Wenn wirklich das apeiron das „rechte Sein“ ist, eben das unerschöpfliche und unbegrenzte, wie kann ihm überhaupt ein Unrecht angetan werden? Kann nicht nur solches Unrecht leiden, das betroffen werden kann, das geschädigt werden kann? Kann aber 104

III. Anaximander

dem, das die Fülle des Seins selbst ist, Unrecht angetan werden? Die adikia der Dinge ist zwar ein Unrecht gegen das apeiron, aber ein solches, das dieses nicht trifft. Es bleibt davon unbetroffen. Warum? Auf diese Frage gewinnen wir eine Antwort, wenn wir nun das kata tēn tou chronou taxin, das „nach der Anordnung der Zeit“ bedenken. Die Dinge zahlen Strafe und Buße nach der Zeit Anordnung. Mit der Vergänglichkeit zahlen sie Buße für ihre Absonderung aus dem Grund des umfangenden Ur-Einen. Das ist nicht so zu verstehen, daß die Absonderung sozusagen den Sündenfall darstellt, für welchen dann im Nachhinein die Buße der Vergänglichkeit auferlegt wird. Vielmehr ist die Absonderung an sich selbst schon der Fall in die Vergänglichkeit. Das Begrenzte kann nur sein als Mitgenommenes in der Zeit: Die Vergänglichkeit ist der Raum, in den hinein alle Absonderung allein möglich ist. Die taxis tou chronou, die Ordnung der Zeit ist die geöffnete Weite, in die allein die Vereinze­ lung geschehen kann. Die Ordnung der Zeit ist der Raum des möglichen Unrechts, der adikia. | Heißt das nun soviel wie: Die Zeit ist der Bereich, das Ordnungsgefüge, in welchem die gesonderten Dinge allein sich aufhalten können? Sonderung nennt man auch Individuation. Raum und Zeit gelten als die „principia individuationis“, als die Prinzipien der Vereinzelung. Ist also dies gemeint, daß das Begrenzte als Abgesondertes und Vereinzeltes eben nur sein kann im Felde der Einzelheiten, im Gefüge der Zeit? Ist Zeit also als ein Ordnungsschema begriffen? Auf der einen Seite also das alterlose, zeitlose apeiron ‒ und auf der anderen Seite die der Macht der Zeit verfal­ lenen Dinge? Man könnte sagen, die Dinge unterstehen den allgemeinen Bedingungen der Zeitlichkeit; die Zeitordnung beherrscht sie. Und diese Zeitordnung ist eben die strenge Folge des Nacheinander. Was währt, was dauert, was in der Zeit ist, kann eben nur so sein, daß es im Nacheinander zerlegt sein Sein hat, nie in einem einzigen Zumal, nie zugleich. Und als zerlegtes ins Nacheinander der sukzessiven Dauer ist es in jedem Moment durch ein Fehlen, einen Mangel, ein Noch-Nicht oder ein Nicht-Mehr bestimmt. Die Zeitordnung ist das allgemeine Gesetz der Vergänglichkeit. Im Gefüge dieser Ordnung vollzieht sich die Strafe und Buße der Dinge; sie kommen, um schließlich zu verschwinden. Bei einer solchen Deutung bleibt aber ein Wesentliches unbegriffen: eben der Zusammenhang zwischen dem apeiron und den begrenzten Dingen. Und in diesen Zusammenhang hinein geschieht das eigentliche Sagen des Fragments. Man muß begreifen | lernen, wie das apeiron seinen vollen Sinn erst gewinnt im Bezug zu den Dingen und andererseits auch diese in ihrer Begrenztheit und Endlichkeit, also in ihrem ontologischen Charakter erst einsichtig werden im Rückbezug zur archē. Die genesis und die phthora, von welchen das Fragment spricht, meinen ja nicht das innerzeitige Werden und das innerzeitige Vergehen der Dinge, sondern eigentlich das Entstehen aus dem apeiron und das Vergehen in es. Nur so 105

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kann der ontologische Satz verstanden werden, daß es dasselbe ist, woraus die Dinge entstehen und worein sie vergehen. Das Entstehen meint also nicht das phänomenale Werden, das Schwinden nicht das dem Augenschein zugängliche Verschwinden. Und ebenso müssen wir jetzt fragen, was die Zeit-Ordnung eigentlich meint. Gehört die Zeitordnung dem Vergänglichen an? Ist das apeiron das Zeitlose und das Begrenzte eben das Zeitliche? Eine solche Deutung würde gerade in zwei unbezügliche Sphären auseinanderreißen, was bei Anaximander zusammengesehen wird. Die taxis tou chronou ist nicht die Zeitordnung als ein Gefüge, ein Stellensystem, ein Schema, sondern ist streng als „Anordnung“ zu nehmen. Anordnung heißt einmal das Anordnen, den Akt, das Geschehen des Ordnens, das Geben und Setzen einer Ordnung, und dann auch das in solcher Setzung Gesetzte selbst. Die Zeit ist primär hier nicht genommen als das Geordnete, sondern als das Ordnende. Sie ist nicht als Gefüge oder Rahmen verstanden. Sie ist eine Macht, die befiehlt. Die Dinge geben einander Strafe und Buße auf das Geheiß der anordnenden Zeit. Die Zeit befiehlt. Wie ist hier die Zeit verstanden? Wer ist diese Zeit? Diese Zeit ist das apeiron selbst. Sie steht also nicht auf der anderen Seite, auf der Seite der Dinge, als deren Form und Verhältnis; das apeiron, das Grenzenlose, ist die Zeit; sie ist „unbegrenzt“, sie hat alle Grenzen in sich, sie bildet erst die Grenzen für alle Dinge, sie ist grenzenlos, aber begrenzend; alle Weilen sind in ihr, aber sie selber hat keine Weile, sie ist immer. Dieses „Immer“ ist anders als das „immer“, das wir vielleicht einigen Dingen zuzusprechen geneigt sind, den ewigen Gestirnen und dergleichen; auch jene sind „in“ der Zeit. Die Zeit selbst steht und bleibt, auf daß in ihr Wandel und Bewegtheit, Dauern, Entstehen und Vergehen statthaben kann; sie ist „unerschöpflich“. Zeit selbst erschöpft sich nicht, wenngleich sie immerzu vergeht; sie nimmt nicht ab, wird nicht kleiner, braucht keinen Vorrat auf; sie ist das uner|schöpflich Bleibende, das allen Dingen das Währen gewährt, ihnen ihre Zeit gibt. Als apeiron verstanden, mißt die Zeit allen Dingen ihre begrenzte Weile zu; sie kommen und gehen und büßen im Gehen die adikia ihres „unrechten Seins“; aber das, was sie büßen läßt, was ihnen ihr vergängliches Währen zumißt, ist auch das, wogegen sie die adikia begehen: das apeiron, das die Zeit selber ist. Das apeiron aber kann von der adikia nicht be|troffen werden, weil es als die zeitlassende Zeit alles Vergängliche immer schon überholt hat und es in sich einbehält. Das apeiron selbst bildet den möglichen Raum des Unrechts; es selber als das Unbegrenzte und Unerschöpfliche west als die taxis tou chronou, als die zeitlassende Zeit, die alle Dinge umfängt, begrenzt und währen läßt. Das apeiron ist der „Anfang“, die archē der Dinge: d. h. es ist das, woher diese sind, werden und erkannt werden. Die Philosophie nimmt selbst ihren Anfang, indem sie die Dinge überdenkt, d. h. über die Dinge hinausdenkt, um in solchem 106

III. Anaximander

Über-Denken auf sie zurückzukommen und sie eigentlich zu begreifen. In der Denk-Offenheit für das apeiron werden die fundamentalen Wesenszüge des Seins sichtig: Unzerstörbar und unerschöpflich bleibt es immer als das Unbegrenzte und Allumfangende. Im Lichte dieses Verstehens von Sein wird das sich Zeigende, werden die Dinge durchsichtig als die wesenhaft zerstörbaren (nichtigen), nur „zeitweilig“ währenden. Aus dem apeiron gehen die Dinge hervor, von dort her können sie auch eigentlich erkannt werden, eben in dem, was ihr Sein ist. Wir haben viele Worte gemacht über die wenigen Sätze Anaximanders. Und wir haben noch lange nicht den Tiefsinn ergriffen, der darin lebt. Was wir versuchten, war keine Interpretation, die in die wesentliche Mitte der anaximandrischen Seinsgedanken vorstößt: d. h. zum Begriff der physis, der dieses Denken der ersten physiologoi von Grund auf lenkt. Was die physis ist, wird uns vielleicht aufgehen bei Heraklit. Bei Anaximander ist sie das immer Gegenwärtige, aber selbst nicht ins Wort tretende in den bruchstückhaften Fragmenten, die wir noch besitzen. Nach antiker Überlieferung soll seine Schrift peri physeōs gehandelt haben. Was aber können wir zusammenfassend sagen? Die wenigen Fragmente versetzen uns mit einem Schlage in die Grundfrage der Philosophie, die Frage nach dem Sein. Die Dinge werden im Ganzen denkend überstiegen auf einen ihnen zugrundeliegenden Ursprung hin. Die Philosophie denkt den Ursprung der Welt. Nicht als einen innerzeitlichen Anfang der Dinge, in Abhängigkeit von irgendeinem Gott. Die archē, die Anaximander denkt, ist kein Ding, ist kein Seiendes. Vielmehr zeigt sich alles Seiende erst in dem, was es eigentlich ist, wenn es gesehen wird vom apeiron her. Was aber „ist“ dieses? Anaximander faßt es in Begriffen, die keinem Ding zusprechbar sind; faßt es als das Unbegrenzte. Das Unbegrenzte nennt nicht etwas, was wir schon kennen; es wird nicht hingezeigt auf irgendetwas Bekanntes und dieses nun zum Grund der Dinge ernannt. Das Unbegrenzte ist nicht „gege­ ben“; aber es wird vernommen im Denken; das Denken allein vernimmt es, schafft es aber nicht aus sich selbst. Das apeiron ist kein bloßer „subjektiver Gedanke“. Wenn wir auch nirgends darauf hinzeigen können, wenn wir nirgends darauf stoßen, wenn es | nicht irgendwo und irgendwann ist wie sonst jedes Ding, so heißt es doch nicht, daß es bloß ein Gedankending sei. Was ist jenes Merkwürdige, das überall ist und doch an keinem Ort, allezeit und doch zu keiner bestimmten Zeit währt? Was ist das, was wir immer schon kennen und irgendwie verstehen und doch nie sehen und greifen? Dies ist das Sein. Das Sein ist kein Ding und ist auch nicht nur ein menschlicher Gedanke. Im Denken aber ist vernehmbar allein, was kein Auge sieht und kein Ohr hört, und was doch allem Sichtbaren und Hörbaren erst Wirklichkeit gibt. Anaximander nennt im Fragment nicht ausdrücklich das apeiron das Sein; | das bleibt Deutung. Anaximander sagt aber das 107

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apeiron weiterhin in Begriffen aus, die zu dieser Deutung hindrängen. Ohne Alter, unzerstörbar und unerschöpflich und unaufhörlich bewegend und allumfassend ist das apeiron; diese Beiworte können keinem Ding, keinem Seienden wirklich zugedacht sein; denn in der anaximandrischen Sicht stehen die Dinge als die entstehend-vergehenden da im Charakter einer Nichtigkeit, bestimmt also durch die adikia und überantwortet dem Gesetz der Vergänglichkeit „gemäß dem Geheiß der zeitlassenden Zeit“. Das apeiron ist die Zeit. Es ist sowohl das Sein als auch die Zeit. Und es ist endlich das theion, das Göttliche. Alle endlichen Dinge gründen im apeiron, heißt: alles Seiende im Sein, alles zeitlich Währende in der zeitlassenden Zeit, alle gottlosen Dinge im Göttlichen. Hier liegt eine ernste Schwierigkeit und eine große Gefahr für ein radikales Mißverständnis. Man könnte etwa sagen: In der Weltsicht Anaxi­ manders tritt alles Endliche erstmals in das Licht des Unendlichen und wird von dort her begriffen. Und dieses Unendliche wird als „Gott“ gedacht. Gott ist der erste Beweger, von dem alles ausgeht; Gott ist das „Absolute“. Bei Anaximander, so könnte man meinen, treten erstmals schon die Motive auf, die in der Geschichte der abendländischen Metaphysik eine zentrale Rolle spielen. Wenn es wahr wäre, daß Anaximanders apeiron das Unendliche im Sinne „Gottes“ oder des „Absoluten“ wäre, so hätte die Metaphysik bei ihm ihren Anfang. Es ist aber die Frage, ob das metaphysische Denken in die Wahrheit der vorsokratischen Philosophie zurückreicht. Es ist ein Wesenszug der Metaphysik, daß sie das Sein unsinnlich denkt; das Sein wird nicht nur im Gedanken vernommen, sondern nach der Überlieferung der Metaphysik ist es selbst gedankenhaft. Dabei bestimmt sich diese Gedan­ kenhaftigkeit des Seins, seine „Intelligibilität“, durch den Gegensatz zum Sinnlichen. Sofern also dann das Sein als unsinnlicher Gedanke genommen wird, legt sich die Möglichkeit nahe, das „Sein“ der Philosophen mit dem Gott der Propheten und des Christentums zusammenzudenken. Dies geschieht faktisch im Gang der abendländischen Geschichte. Gott als Geist und das Sein als Gedanke können zusammenge|nommen werden. Das Unendliche, das Unbegrenzte und alles Endliche Ermöglichende ist das Absolute, in welchem der Gott des Christentums und die metaphysische Interpretation des Seins zusammengehen. Das gilt vor allem für Hegels Metaphysik. Dort ist das Unendliche ausdrücklich als der Grund des Endlichen begriffen, nicht so, daß das eine das andere nur eben setzt oder erschafft, sondern so, daß es zum Wesen des Unendlichen gehört, ständig überzugehen ins Endliche, und andererseits zum Wesen des Endlichen, aus aller Vereinzelung und fixierten Selbständigkeit wieder zurückzugehen in den unendlichen Grund. Dieses Übergehen und Zurückkehren wird dabei von Hegel, in dem sich also die Tradition antiker Philosophie und theologisch-christliche Spekulation verbinden, so gefaßt, daß „Absolutes“ und Endliches nicht voneinander 108

IV. Heraklit

abgesetzte Größen bleiben, daß vielmehr die letzte und eigentliche Wirklich­ keit, die es philosophisch zu fassen gilt, die kreislaufende Bewegung des Unendlichen ins Endliche und zurück sei „jener bacchantische Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist“110. Für einen ersten Blick scheint dieselbe Grundauffassung schon bei Anaximander vorgebildet zu sein im Verhältnis des Unbegrenzten zum Begrenzten. Hegels Begriff des Absoluten scheint in ihren wesentlichen Grundstrukturen eine „Wiederholung“ Anaximanders in einer anderen geschichtlichen Situation zu sein. Aber das ist ein gefährlicher Schein. Anaximanders apeiron, das wir deuteten als das Sein und die Zeit, ist nichts Unsinnliches, wenngleich es auch kein Sinnending ist; es ist nicht geistig, wie der Gott des Christentums, nicht einmal wie ein griechischer Gott; es ist das theion als die physis, die allgegenwärtige, immerseiende, unerschöpfliche, | Tod und Leben in sich bergende, zeugend-vernichtende Natur, die als philosophisches Problem wieder lebendig geworden ist seit Friedrich Nietzsches Versuch, am Ende des abendländischen Geistesweges die „dionysische Weisheit“ der Vorsokratiker „wieder-zu-holen“. Das apeiron des Anaximander ist Sein, Zeit, physis. Eine wirklich in die Tiefe dringende Auslegung müßte diesen Zusammenhang ins Zentrum stellen. Was ist das apeiron, daß es in dieser dreifachen Weise ansprechbar ist? Es ist archē, ist Anfang der Dinge; die Dinge gründen in ihm. Wie gründet das Seiende im Sein, in der Zeit und in der physis? Welches Grundproblem der Philosophie drängt sich da vor? Wir nennen es zunächst nur mit einem Namen. Das Denken der physiologoi, dieser Erzväter der Philosophie, wird bewegt vom Grundproblem von Sein und Werden. Das Sein tritt erstmals und ausdrücklich in den Raum der Zeit. Die entscheidende Entfaltung dieser Grundfrage von Sein und Werden im Hinblick auf die physis geschieht bei dem Denker, dem das Altertum schon den Namen des skoteinos, des „Dunklen“ gab, bei Heraklit aus Ephe­ sos.111

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IV. Heraklit | 13. Was in den wenigen Sätzen der Anaximander-Fragmente eingeschlos­ sen liegt, in einer monumentalischen Sprache gesagt und doch nicht gesagt ist, das kommt an den Tag in der Philosophie Heraklits und Parmenides’. Für die landläufige Betrachtung gelten aber eleatische und heraklitische Philosophie als das direkte Gegenteil. Parmenides lehrt das unbewegte, starre Sein und Heraklit das ruhelose Werden; dem einen steht alles still und dem anderen fließt alles. Selbst ein Denker vom Range Friedrich Nietzsches kommt von der populären Entgegensetzung von „Sein“ und „Werden“ nicht los, wenn er das Verhältnis von Heraklit und Parmenides charakterisiert, 109

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obgleich er die gemeinsame Wurzel dieser Denker in Anaximander erkennt. Wo immer mit dem Gegensatz von Sein und Werden operiert wird wie mit festen Größen, wo das eine als der Gegensatz des anderen gilt, dort ist überhaupt noch kein Verständnis des Problems wach geworden. Was Par­ menides und Heraklit fragen, ist die erste Grundfrage der abendländischen Philosophie, die mit dem Gedanken der archē aufbricht, die Frage nach „Sein und Werden“. In dem „und“ liegt das Problem. Dieses „und“ ist keine Zusammenstellung von zwei gegebenen und bekannten Sachen, sondern der Ausdruck für einen durchaus fragwürdigen Zusammenhang. Das „und“ ist das Fragwürdigste in der Problemformel „Sein und Werden“. Der Gedanke der archē, wie ihn Thales und radikaler Anaximander denken, er-denkt das allem Wandel zugrundeliegende Bleiben; dieses Bleiben trägt den Wandel. Wandel und Bleiben stehen in einem notwendigen Bezug. Dieser Bezug ist der Grundriß der Welt. Er wird nicht denkend erfaßt im Hinblick auf die Dinge; er ist primär keine Dingstruktur. Auch ein Ding bleibt im Wandel seiner Eigenschaften; das Ding als Substanz verharrt, während seine Zustände wechseln; an einem Ding geschieht der Umschlag, die metabolē, der einen Bestimmung in eine andere; es verändert sich. Das Ding als selbiges in seinen Veränderungen, als bleibendes im Wechsel seiner Zustände und Eigenschaften ‒ das ist nicht das, was im Blick der frühen Denker steht, wenn sie die archē denken. Die Selbigkeit des Dinges, seine Substanzialität, ist ein Problem der späteren Metaphysik. Thales und Anaximander denken nicht die Dinglichkeit des Dinges, sie denken die Weltlichkeit der Welt; sie denken die Struktur des Seienden im Ganzen. Allem Wandel der Dinge selbst, ihrem Kommen und Gehen liegt ein Bleibendes zugrunde, das selbst kein Ding mehr ist, das archē, d. h. Grund aller Dinge ist. Die anbrechende Philosophie begreift alle Dinge, alles Seiende als Gewordenes. Aber dieses Begreifen als Gewordenes entwirft alles Gewordene hin auf einen ungewordenen Grund, aus dem die Dinge ihr Entstehen haben. Dieser Grund kann selbst | kein Ding sein, auch nicht das mächtigste, größte und stärkste aller Dinge; es kann kein Gott sein, sofern dieser eingegrenzt ist in den Umriß eines bestimmten Wesens. Wenngleich dieser Grund als das Göttliche angesprochen wird, so ist es to theion, das Göttliche, jenes Neutrum, das nicht eine Abstraktion an den personalen Göttern ist, sondern dessen Symbol und Widerschein die Götter sind. Dieser Grund aller Dinge ist die physis, „denn sie, sie selbst, die älter denn die Zeiten / und über die Götter des Abends und Orients ist, / die Natur ist jetzt mit Waffenklang erwacht, …“112 ‒ um mit Hölderlin zu reden; die Natur nicht als der Inbegriff des Vorhandenen, auch nicht als ein System von Kräften und Mächten, sondern die Natur als das immerbleibende, uner­ schöpflich-schöpferische apeiron ist mit Waffenklang erwacht im Denken der physiologoi und west nun an. Sie ist nicht das Gesehene im entzückten 110

IV. Heraklit

Blick auf die Weite des fernhinglänzenden Meeres oder auf die schneeigen Gipfel des Gebirges, nicht das Gehörte im Brausen der Winde und Rauschen der Wälder, nicht das Einverleibte wie die erquickende Luft, wie Brot und Wein und die anderen Gaben der Erde; die physis ist kein Ding, das gegriffen, gesehen und gehört werden kann; sie ist dem Gedanken vernehmbar und doch kein „bloßes Gedankenschema“, kein Begriffs|gespinst. Die physis ist der im Gedanken vernehmbare un-dingliche Grund aller Dinge, der unvergänglich bleibt in allem Vergehen der Dinge. Die physis selbst erscheint nicht; was erscheint, ist das Seiende; aber alles Erscheinende kommt heraus aus dem Schoße der physis und kehrt in ihn zurück. Im anaximandrischen Gedanken der archē ist der Zusammenhang zwischen dem apeiron und den seienden Dingen begriffen als ein überholender Bezug. Die Dinge stehen nicht auf der einen und das apeiron auf der anderen Seite, wie man meinen könnte, wenn man nur auf die gegensätzliche Charak­ teristik achtet. Dem Unbegrenzten-Unerschöpflichen, Zeitlosen steht das Begrenzte, Erschöpfliche und in der Zeit Mitgenommene gegenüber. Aber entscheidend ist die Einsicht, die das größte Fragment eigens ausspricht: daß die Dinge hervorgehen aus und zurückgehen in das apeiron. Dieses Unvergängliche ist die taxis tou chronou, die befehlende, seinlassende Zeit, die jedem Seienden seine Zeit gewährt, es ins Dasein entläßt und es wieder daraus zurücknimmt; das Unvergängliche ist das Vergehenlassende; das Unzerstörbare das Zerstörende; das Unerschöpfliche das Erschöpfende; das Unendliche ist das Verendlichende; das sich selbst nicht Zeigende ist das Erscheinenlassende. Mit anderen Worten, das apeiron ist nicht den seienden Dingen gegenübergestellt als das andere, sondern es überholt alle Dinge und begreift sie in sich ein. Das apeiron ist dem Verzehr der Zeit entrückt, weil es diese verzehrende Macht der Zeit selber ist. In der taxis tou chronou ist das Problem des inneren Zusammenhangs vom Bleiben des Grundes und dem Wandel der | Dinge aufgerissen. Die denkerische Bemühung von Heraklit und von Parmenides geht einzig darum, diesem aufgebrochenen Problem standzuhalten. Wie bleibt der Grund im Wandel, und wie ist er in solchem Bleiben gerade das den Wandel Veranlassende? Anaximanders archē wurde als das Un-Begrenzte gedacht. Es ist eine charakteristische Eigentümlichkeit des griechischen Denkens, daß es zu solchen Neutra greift, die primär nicht einfach substan­ tivierte Attribute sind, nicht abstrakte Eigenschaften an den Dingen, sondern ursprünglich wesende Seinsmächte; die grammatikalische Form könnte uns verleiten, darin etwas Abgeleitetes sehen zu wollen, eine nachträgliche Verselbständigung von Momenten an den Dingen. Das Gegenteil ist der Fall. Diese Neutra sind eine ursprüngliche Ausdrucksweise der Griechen. Man verfehlt z. B. den Sinn der platonischen Ideenlehre gründlichst, wenn man glaubt, daß Ausdrücke wie to dikaion, to kalon, to homoion, also 111

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das Gerechte, das Schöne, das Ähnliche usf., nur substantivierte Attribute seien und ohnehin ersetzt werden könnten durch „Gerechtigkeit, Schönheit, Ähnlichkeit“; to apeiron meint also nicht die Unbegrenztheit, sondern eine unbegrenzte Seinsmacht, die kein Ding sein kann, weil alle Dinge endlich und begrenzt sind. Dieses apeiron versuchten wir als Titel eines Problems zu deuten in einer dreifachen Hinsicht: sofern es gedacht wird als die physis, als das Sein und als die Zeit. Alle drei Horizonte leuchten bereits bei Anaximander auf. Parmenides und Heraklit unterscheiden sich ‒ massiv gesprochen ‒ darin, daß je ein bestimmter Problemhorizont die Führung übernimmt. Parmenides nimmt das anaximandrische Problem von Sein und Werden auf, indem er aus diesem Zusammenhang heraus das Wesen des eon erfragt, dessen, was das bleibende Sein ist. Heraklits Denken steht unter der Führung der Zeit. Das heißt aber jetzt nicht, daß bei Parmenides die Zeit ausgeschal­ tet, das Werden kein Problem mehr sei ‒ oder umgekehrt, daß Heraklit nicht auf ein Bleibendes hin denken würde. Der Problem-Raum ist bei beiden Denkern derselbe, wenngleich sie ihn in verschiedenen Richtungen durchwandern. Mit dieser These stehen wir gegen die üblichen Auffassun­ gen. Solange man auf die doxographische Gestalt der beiden Philosopheme hinblickt, scheint es kaum einen krasseren Gegensatz zu geben als den zwischen Heraklit und Parmenides ‒ und man hat immer wieder den einen aus einer aus|drücklichen Gegnerschaft zum andern verstehen zu müssen geglaubt; diese Gegnerschaft spielt dann in den chronologischen Fragen eine wichtige Rolle. Die Chronologie selbst ist umstritten; die verbreitete Ansicht ist die chronologische Vorgängigkeit von Heraklit; sie wird bestritten von Karl Reinhardt in seinem bedeutsamen Werk Parmenides und die Geschichte der griechischen Philosophie. Wir lassen diesen Streit beiseite, nicht weil er belanglos wäre und nicht aus Mißachtung für die höchst verdienstvolle Arbeit | der kritischen Philologie. Aber es geht uns hier nicht um eine Nacherzählung der Geschichte der antiken Philosophie. Wir wollen verste­ hen lernen, was damals „gefragt“ wurde. Und zwar deshalb, weil wir heute nicht nur nicht weitergekommen sind, sondern diese alten Fragen vergessen haben. Dieses Vergessen aber hat nicht die Gleichgültigkeit einer Bildungs­ lücke. Vielleicht hängt mehr davon ab als nur ein Stück Gelehrsamkeit, ob wir die ur-alte erste Grundfrage der Philosophie wieder holen und als eine bewegende Kraft in unser Dasein aufnehmen können. Wenn wir uns jetzt Heraklit zuwenden, so also nicht aus einem chrono­ logischen Grunde. Wir überspringen ja auch eine Reihe anderer Denker. Einzig das innere Wachstum des einen Grundproblems von Sein und Werden ist der leitende Gesichtspunkt. An äußeren Daten ist zu Heraklit wenig mehr zu bemerken als zu Anaximander. Diese zwei Denker ragen wie einsame Felsburgen aus ihrer Zeit; ihre Außerordentlichkeit ist noch das 112

IV. Heraklit

Außerordentliche eines Denkens, das den Grundriß der Welt entwirft. Es ist noch nicht das interessante Individuum, das vom Ruhm umstrahlt wird und in allen seinen Menschlichkeiten zum Gegenstand der zudringlichsten Neugier wird. Der Ruhm gehört noch den Gedanken. Was Diogenes über sein Leben berichtet, sind Anekdoten, die eine spätere Zeit erdacht haben mag, motiviert durch Aussprüche Heraklits. Der Einfluß der heraklitischen Gedanken war im Altertum ungeheuer groß; seine Philosophie war eine Macht, die durch die Jahrhunderte ging. Und zu allen Zeiten der Geschichte hat der „dunkle Ephesier“ die Geister entzündet; von ihm selbst gilt, was er von der Sibylle sagt: „Die Sibylle, die mit rasendem Munde Ungelachtes und Ungeschminktes und Ungesalbtes redet, reicht mit ihrer Stimme durch tausend Jahre. Denn der Gott treibt sie“ (Fr. 92).113 Heraklit lebte rund um 500 in Ephesus; er stammte aus einem altadeligen Geschlecht, in dem die Würde des Basileus, eines priesterlichen Amtes des Opferkönigs erblich war; er überließ dieses Amt seinem Bruder und verzichtete auf eine Würde und eine bevorzugte Stellung inmitten seiner Vaterstadt. Die Philosophie tritt mit ihm aus dem Geflecht des natürlichen Lebens heraus, sondert sich ab. Dieses Verhältnis zu seinen Mitbürgern ist es vor allem, was die Legende überliefert. Im konkreten Fall des Verhältnisses zu seinen Landsleuten, den Ephesiern, geschieht die Absonderung in der bitteren Form der Verachtung. „Möge euch nie der Reichtum ausgehen, Ephesier, damit eure Schlechtigkeit an den Tag kommen kann“ (Fr. 125a);114 „Recht täten die Ephesier, sich Mann für Mann aufzuhängen allesamt und den Nichtmannbaren ihre Stadt zu hinterlassen, sie, die Hermodoros, ihren wertvollsten Mann herausgeworfen haben mit den Worten: von uns soll keiner der wertvollste sein, oder wenn schon, dann anderswo und bei anderen“ (Fr. 121).115 | Sind solche Aussprüche nur aus der Bitternis persönlicher Erfahrungen zu verstehen, aus seinem Gegensatz gegen die Herrschaft des Demos? Oder vollzieht sich im Gewande empirischer Lebenswirklichkeit ein tragi­ sches Gesetz, das über allem Denken waltet, das sich über das Alltägliche erhebt? Gehört die Absonderung zum Wesen eines Denkens, das das Ganze, das All des Seienden selber denken will? Hat nicht Platon ähnlich das Wesen des Philosophen gezeichnet ‒ daß er nicht Bescheid wisse in den Angelegenheiten der Stadt und im Gerede der Menschen, weil er sich zum Ganzen aller Dinge verhalte? | Ist so vielleicht die Absonderung als ein Schicksal zu verstehen, das dem wesentlichen Denken immer zufällt, mag es verkannt oder berühmt sein? Zeigt sich so an Heraklit, trotz der wenigen persönlichen Züge, die wir von seinem Leben kennen, doch der Wesenszug der philosophischen Existenz? Und ist die Einsamkeit des Denkers dann nicht, jenseits von aller Pose, die notwendige existenzielle Bedingung dafür, daß ein Mensch sich der größten Weite öffnen kann? Das sind nur Fragen, aber Fragen, die uns das Leben Heraklits zuruft. Ich glaube nicht, daß 113

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man diesem Denker gerecht wird, wenn man ihn psychologisch fassen will, wenn man von seiner aristokratischen Natur, seinem Pathos der Distanz ausgeht, als ob es nur im Zufälligen seiner Person gelegen wäre, der Einsame im volkreichen Ephesus zu sein. Gerade Heraklit sagt es immer wieder aus, daß das, was er erkennt und denkend erfaßt, das „Gemeinsame“ ist, to xynon, das, was jeder erfassen könnte und müßte, was aber die Menschen gemeinhin überhaupt nicht sehen. Und so sagt er im Fr. 34: „Sie verstehen es nicht, auch wenn sie es vernommen; so sind sie wie Taube; das Sprichwort bezeugt’s ihnen: anwesend sind sie abwesend.“116 Nietzsche, der sich seltsam hingezogen fühlte zu Heraklit, spricht die Absonderung des Philosophen zweideutig aus, als ob es sich um eine eingenommene, freigewählte Haltung handle; dahinter wetterleuchtet aber doch ein tieferes existenzielles Verstehen der philosophischen Einsamkeit. Es heißt dort: „Heraklit war stolz: und wenn es bei einem Philosophen zum Stolz kommt, so giebt es einen großen Stolz. Sein Wirken weist ihn nie auf ein ‚Publikum‘, auf den Beifall der Massen und den zujauchzenden Chorus der Zeitgenossen hin. Einsam die Straße zu ziehn gehört zum Wesen des Philosophen. Seine Begabung ist die seltenste, in einem gewissen Sinne unnatürlichste […]. Seine Reise zur Unsterblichkeit ist beschwerlicher und behinderter als jede andre; und doch kann Niemand sicherer glauben als gerade der Philosoph, auf ihr zum Ziele zu kommen ‒ weil er gar nicht weiß, wo er stehen soll, wenn nicht auf den weitausgebreiteten Fittichen aller Zeiten; denn die Nichtachtung des Gegenwärtigen und Augenblicklichen liegt im Wesen der großen philosophischen Natur.“117 Wenn wir beiseite lassen, was der selbstgefälligen Tendenz Nietzsches zuge|hört, so ist hier doch begriffen, daß Philosophie nur wirklich werden kann in einem Dasein, das sich losläßt ins Weite der Welt, über alles bloß Hiesige und Jetzige sich erhebt und ins Ganze denkt. Bei Heraklit zeigt sich die Existenz des Philosophen, auch wenn wir von seinem Leben wenige und nur dürftige Nachrichten haben; und das allein ist die Bedeutung jener Fragmente, wo er sich abscheidet von den Ephesiern. In solcher Abscheidung geht die Philosophie in ihr Schicksal ein. „Es ist wichtig ‒ sagt Nietzsche ‒ von solchen Menschen zu erfahren, daß sie einmal gelebt haben. Nie würde man sich zum Beispiel den Stolz des Heraklit, als eine müssige Möglichkeit, imaginieren können.“118 In der Tat ist es wichtig, von solchen Menschen zu erfahren; aber fraglich bleibt, ob man mit dem Begriff des Stolzes überhaupt auslangt in das Geheimnis ihrer Existenz; Stolz versteht sich noch im Gegensatz zu den anderen; wo aber ein Mensch ergriffen ist von der Gewalt des fragenden Denkens, ist er entrückt in die Weite des Weltalls. Dort aber ist menschliche Anmaßung und menschlicher Stolz nur nichtiger Tand. Daß Heraklit nicht mehr versucht war vom Stolz, jenem Abstandsgefühl gegen die Mitmenschen, zeigt sich darin, daß er das Königsamt vergibt, daß er die 114

IV. Heraklit

Aufforderung des Darius Hystapis, ihn in seine Philosophie einzuführen, abgelehnt hat, nach der Überlieferung des Diogenes Laertius mit folgenden Worten: „So viel Sterbliche leben, so sind sie der Wahrheit und Gerechtigkeit fremde, und halten auf Unmäßigkeit und Eitelkeit der Meinungen, um ihres bösen Unverstandes willen. Ich aber, indem ich die Vergessenheit al|les Bösen erreicht habe, und das Übermaß des Neides, der mich verfolgt, und den Übermut des hohen Standes fliehe, werde ich nicht nach Persien kommen, mit Wenigem zufrieden und bei meinem Sinne bleibend.“119 Aus all diesen Zügen könnte unsere moderne, geschärfte Psychologie vielleicht einen Hochmut des Denkers herauswittern, einen Hochmut, der sich darin gefällt, selbst das abzulehnen, was sonst den Menschen als das Ehrenvolle gilt. Mit dergleichen hintergründiger Psychologie verstehen wir aber über­ haupt nichts mehr von jenem Menschentum der abendländischen Frühzeit. Wir sind so lange bei diesen Dingen verweilt, weil man immer wieder versucht hat, die Gedanken Heraklits aus seiner Persönlichkeit abzuleiten. Man sagt vielleicht, dieser stolze, menschenverachtende Denker gefällt sich darin, seine Gedanken einzuhüllen in eine Sprache, die dunkel wie ein Orakel Rätsel aufgibt, die sich dem Zugang nicht öffnet, vielmehr verschließt; und schon im Altertum ist der alberne Verdacht laut geworden, die Dunkelheit Heraklits sei eine gesuchte und beabsichtigte. Von Heraklit besitzen wir, nach Diels’ Sammlung der Vorsokratiker, rund120 130 Frag­ mente, abgefaßt in einer Sprache, die schwer zugänglich ist. Diese Fragmente stammen aus einer Schrift, die | ebenfalls den Titel peri physeōs, also Über die Natur, getragen haben soll; die Authentizität dieses Titels ist keineswegs gesichert, ebensowenig die im Altertum behauptete Einteilung dieser Schrift in drei Abschnitte: peri tou pantos, politikos, theologikos. Was hat es nun mit der vielberufenen Dunkelheit des heraklitischen Stils auf sich? Ist das überhaupt eine Stil-Frage? Oder müssen wir zuvor erst verstehen lernen, in welchem Bereich das Sagen Heraklits überhaupt geschieht? Von dem, was vor aller Augen und Mund liegt, ist leicht reden; sol­ ches zu sagen, ist die Sprache seit langem gewohnt; sie bewegt sich in eingelaufenen Bahnen; gewiß kann man auch hier gut oder schlecht reden, und es gibt auch hier das Problem der Rhetorik. In der Volksversammlung oder vor Gericht gut reden, mit guten Gründen, überzeugend, packend, mitreißend, reich an Wendungen, die nicht abgegriffen sind, die noch den prägenden Wortklang haben ‒ also „gut“ reden ist eine Stil-Frage; aber in der Volksversammlung und vor Gericht wird über Dinge gesprochen, die in ihrem Stil bekannt sind: über Krieg und Frieden, über Rechtshändel usf. Das Menschenleben ist immer schon offen für einen Bereich von her­ einstehenden Möglichkeiten, die bedacht, erwogen und besprochen werden können. Spricht Heraklit aber auch von Dingen, die schon vorbekannt sind? Er spricht von dem Krieg, von der Harmonie, von den Gegensätzen, von dem 115

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Gemeinsamen und Besonderen, von logos und dikē, von Wachen und Schlaf. Er geht doch um mit Worten, die man schon kennt, und stellt sie auf eine unbegreifliche Weise zusammen; in dieser Zusammenstellung gewinnen die Worte einen dunklen, fast unenträtselbaren Sinn. Vielleicht besteht aber die befremdende Dunkelheit Heraklits in der Dunkelheit unseres gewöhnlichen Verstehens: d. h. in der Ungelichtetheit unseres durchgängigen Weltbezugs. Heraklit ist kein bizarrer Denker, der sein Sagen versteckt und einhüllt, weil er seine höchsten Wahrheiten nicht der Menge preisgeben will. Er spricht wesentlich aus dem wesentlichen Denken heraus. Das Problem seiner Auslegung hängt allein davon ab, ob man in die Dimension zurückzugehen vermag, aus welcher heraus er redet. Gewiß klingen seine Sentenzen wie Orakelsprüche, vieldeutig und voll geheimer Entsprechungen, aber damit ist noch gar nichts gesagt; man hat immer wieder den Versuch gemacht, die Eigenart der heraklitischen Rede als „symbolische Rede“ zu deuten, gerade im Hinblick auf ein Fragment (93), in dem er vom delphischen Gott spricht: „Der Herr, dem das Orakel in Delphi gehört, sagt nichts und verbirgt nichts, sondern er bedeutet.“121 Und nun, sagt man, steht das philosophische Sagen in der Nachfolge des del|phischen Gottes, auch es sagt nichts und verbirgt nichts, sondern bedeutet. Durch eine solche Interpretation ist ein wesentliches Verstehen Heraklits verschüttet. Das Sagen der Philosophie, die denkend die physis ansagt als den unerschöpflichen Grund al|ler Dinge, kann nicht gemessen werden an der Stimme, in der die physis selber spricht durch den Mund des pythischen Apoll. Die Philosophie ist, solange sie sich selbst versteht, kein Orakel; sie spricht nicht aus dem Gott, sie spricht nicht aus dem unbegrenzten, unerschöpflichen Seinsgrunde selbst; Philosophie ist endliches Sagen und bleibt in seine Endlichkeit gebannt, auch dann und gerade dann, wenn sie denkend den Grundriß der Welt entwirft, wenn sie das Bleiben im währenden Wandel denkt, wenn sie auslangt zum Sein und zur Zeit. Die Dunkelheit Heraklits abschieben zu wollen auf eine gewollte und beabsichtigte Haltung oder auf einen Willen, dem delphischen Gott auch in der Sprache nachzufolgen, oder schließlich, wie es auch immer wieder geschehen ist, auf den Einfluß orientalischer Religionsmotive, die in Ephesus ‒ diesem „Marktplatz der verschiedensten Religionen, wo vorderasiatische, phrygische und ägyptische Religionslehren mit den hellenischen zusammentrafen und sich in dem Cultus der großen Artemis in Attributen und Symbolen vereinigten“ (Lassalle)122 ‒, das bedeu­ tet eine Vorentscheidung, die überhaupt noch nicht geprüft hat, was für ein Sagen in der Dimension möglich ist, in welcher sich Heraklit bewegt. Wenn es wahr ist, was wir voraus ansetzten, daß Heraklit im Raume des durch Anaximander aufgebrochenen Problems von Sein und Werden steht und bei ihm die Führung seiner Frage im Hinblick auf die zeitlassende Zeit geschieht, so steht zu erwarten, daß sein Sagen kein solches sein kann, 116

IV. Heraklit

das sich in bekannten und vorgegebenen Begriffen bewegt. Eine solche Voraussetzung ist zunächst nur These. Sie kann sich erst einen Schein von Glaubwürdigkeit erwerben, wenn es ihr gelingt, die in den Fragmenten gleichsam zerstreute Philosophie Heraklits als ein von Grundgedanken durchhelltes Ganzes zu begreifen. Wir sind uns dabei bewußt, daß eine Systematik in die Fragmente hineinzutragen immer ein Wagnis bleibt; daß ein gelingendes Gesamtbild noch kein Beweis ist. Wenn wir aber nicht nur die Fragmente einfach wiedergeben wollen, wenn wir sie begreifen wollen nicht im Rückgang auf die Persönlichkeit Heraklits, die uns doch im Dunkel verschwindet, sondern auf das in ihnen treibende Problem hin, müssen wir das Risiko übernehmen, das in einem solchen vermessenen Vorgehen liegt. Wir beginnen unsere Auslegung gleichsam vom Rande her. In der Sicht des Aristoteles steht Heraklit in einer Reihe mit den ersten jonischen Physikern, mit Thales, Anaximenes; nimmt der eine das Wasser, der andere die Luft als die hylē an, als den zugrundeliegenden Stoff, so Heraklit das Feuer. So gesehen erscheint er ebenso wie Anaximenes als ein Rückfall hinter Anaximander, der alles bestimmte Seiende über-fragte, im Zurückgehen auf das apeiron, auf das Unbegrenzte. Jetzt sieht es so aus, als ob doch wieder ein bestimmtes Seiendes, eben ein Element neben anderen, zum | Zugrun­ deliegenden ernannt worden sei; Feuer steht zunächst phänomenal neben Erde, Wasser und Luft. Für die Griechen war dieses Nebeneinander zugleich eine Stufenfolge der Verdünnung. Erde das Dichteste und Festeste, Wasser weniger dicht, Luft noch weniger und am dünnsten und feinsten das Feuer. Wenn das Verhältnis der sich wandelnden Dinge angesehen werden soll als ein solches des Entstehens der Dinge durch Verdickung und Verdünnung, so hat offenbar das dünnste Element einen bestimmten Vorrang. Das Eindicken der Dinge geschieht durch Häufung des dünnen Elementes; es ist das sich Häufende und in der Verdünnung Auseinandertretende; vom Dünnen her ist sozusagen das Werden der Dinge am leichtesten verständlich. Ist es dieser Vorrang, der zur Ansetzung des Feuers als des zugrundeliegenden Stoffes geführt hat? Von Aristoteles her gesehen, sieht es so aus. Aber es | bleibt zu fragen, wie steht die Feuerlehre Heraklits im Ganzen seiner Philosophie? Ist sie das Zentrum oder die Peripherie? Hat Heraklit die Vorstellung vom Feuer als dem Urstoff aller Dinge, oder ist das Feuer gedacht schon in einem Verhältnis zu den Dingen, das nicht mehr dinglicher Natur ist, ist es schon gesehen aus dem von Anaximander her eröffneten Raum des Bezugs des Unbegrenzten zum Begrenzten? Ta de panta oiakizei keraunos, „das Weltall aber steuert der Blitz“123. Das Feuer, das Heraklit in diesem Fr. 64 nennt als den Regenten aller Dinge, ist der Blitz. Was ist dieser Blitz? Ist es eine Art des Feuers, das wir kennen als den Brand des heimischen Herdes? Oder ist es das Feuer des Himmels, das mit einem Schlage aufgeht aus der dunklen Wetterwand und alles erhellt, das aus dem Dunklen selbst hervorkommt 117

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und es lichtet? Die Stellung des Blitzes in Heraklits Feuerlehre ist von größter Bedeutung. Sie wird erst klar werden, wenn wir tiefer in seine Lehre eingedrungen sind.

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| 14. Die Philosophie Heraklits, zu der wir einen Zugang suchen, steht gleichsam verschlossen vor uns: Die rund 130 Fragmente, die wir noch von seiner Schrift besitzen, stellen ‒ und zwar jedes einzelne ‒ ein schwieriges Interpretationsproblem dar. Philosophie läßt sich nie berichten, nie einfach nur erzählen; sie fordert immer ein Mitgehen, ein Nachverstehen aus dem Problem her. Philosophiegeschichte als Interpretation bleibt immer eine zweideutige Sache. Das gilt aber im höchsten Maße für die Auslegung Heraklits. Er steht in dem gefährlichen Ruf der „Dunkelheit“. Der Tiefsinn seiner Gedanken scheint sich dem begrifflichen Erfassen zu entziehen und nur der schwärmerischen Ahnung offen zu stehen. Heraklit aber ist kein Myste, kein Schwärmer, kein aus | dem Gott Rasender: Er ist Denker ‒ die Dunkelheit seiner Gedanken muß von dem her begriffen werden, was in ihnen gedacht wird. Wenn einerseits Heraklit allzuoft ausgedeutet wird von der antiken Mysterienweisheit her, also von einer außer-rationalen Erfah­ rung, so steht dem auf der anderen Seite eine Trivialisierung gegenüber: Heraklit wird genommen als der Leugner des beharrlichen Seins in den Dingen. Diese beiden Deutungsweisen sind bereits in der Antike ausgebildet und seitdem immer wieder abgewandelt worden. Wir müssen versuchen, uns von beiden üblichen Deutungen freizuhalten, von der „mystischen“ wie der trivialen. Es steht dabei nicht zu erwarten, daß wir sofort eine Interpretation zur Hand haben, wenn wir einige Fragmente durchgegangen sind; es mag ein langer und schwieriger Weg sein, aus den Fragmenten in das dahinter treibende Grundproblem zurückzufragen. Dabei versuchen wir, einen bestimmten124 Gang durchzuhalten. Wir gehen aus von dem, was selbst dem antiken Bewußtsein der vorherrschende Charakter der heraklitischen Philosophie gewesen war: seine Lehre vom Feuer. Von dort aus wenden wir uns seiner Lehre von den Gegensätzen zu. Dann versuchen wir die Interpretation der eigentlichen Seins- und Logoslehre und zuletzt die Deutung der physis-Fragmente. Diese Gliederung des Weges hat aber gar nichts zu tun mit einer Einteilung der heraklitischen Philosophie in Disziplinen. Bei Heraklit eine Kosmologie oder Naturphilosophie und eine allgemeine Ontologie und schließlich eine Psychologie und dergleichen unterscheiden zu wollen, ist grundverkehrt. Die Philosophie Heraklits hat nur ein Thema: das Seiende im Ganzen. Heraklit denkt, wie die anderen physiologoi, einzig nur die Welt. Die abendländische Philosophie beginnt, indem sie den Bezug von Sein und Werden ausdenkt als die Grundstruktur der Welt. 118

IV. Heraklit

Als Leit-These unserer Interpretation sagen wir, daß Heraklit das Problem Anaximanders entfaltet. Eine Leit-These ist noch kein Resultat, sie ist nur eine bestimmte Richtung des Fragens. Wie entfaltet nun Heraklit den anaximandrischen Zusammenhang von apeiron und den begrenzten Dingen? Die Antwort lautet: indem er das kata tēn tou chronou taxin ins Zentrum stellt. Die Zeit ist das eigentliche Grundproblem Heraklits. Das Bleibende und Unbegrenzte ist die Zeit. Das apeiron des Anaximander ist der Abgrund, der alle Dinge hervorläßt und alle wieder in sich zurücknimmt, aus dem her den seienden Dingen das Entstehen ist und wohin ihr Untergang. Die Dinge kommen und gehen in der Zeit und haben in ihr ihren Wandel. Alles Seiende ist eingehalten und umfangen von der Zeit. Sie ist das, was die Dinge sein läßt, so aber, daß sie in diesem Lassen zugleich schon wieder verzehrt werden. Die Zeit ist die Einheit des Gewährens und Nehmens, des Lassens und Verzehrens, des Schöpferischen und Vernichtenden. Und die so begriffene Zeit ist das wahrhaft | Bleibende. Sie bleibt nicht wie ein Ding; ein Ding währt, dauert, ist in der Zeit; aber die Zeit ist nicht, wie das Binnenzeitliche ist; sie bleibt nicht wie der Stoff, wie die hylē; bleibt nicht als das Zugrundeliegende, nicht als die Substanz, an der die Veränderungen geschehen; Zeit bleibt nicht als das von Wandlungen Unbetroffene, alle Wandlungen an sich geschehen Lassende; die Substanz, der Urstoff ist noch „in der Zeit“, wenn auch verschieden von der Wei|se, wie alle besonderen Gestaltungen dieses Stoffes in der Zeit sind; der Urstoff ‒ so denkt die Phi­ losophie des Thales ‒ ist auf eine ewige Weise in der Zeit, er ist unentstanden und unvergänglich; dagegen sind alle gestalteten Dinge, die aus dem Urstoff bestehen, nur auf vergängliche Weise in der Zeit; zusammengefügt zerfallen sie wieder. Aber die Zeit selbst ist in einer anderen Weise bleibend als der Urstoff; sie bleibt nicht, wie dieser, als das immerwährende Woran aller Wandlungen, aber sie bleibt als das immer zu Verwandelnde; sie bleibt nicht wie der Stoff, der im Grunde aller Wandlungen ruht, sie bleibt vielmehr als das ewig Ruhelose, sie bleibt als die unvergängliche Vergänglichkeit, die den Dingen ihre Zeit zumißt; sie ist das Treibende, das alle Dinge ins Werden jagt und sie ins Gepräge ihres einseitigen Seins schlägt. Pan gar herpeton plēgēi nemetai,125 „alles, was da kreucht, wird mit dem Geißelschlag gehütet“, heißt es im Fr. 11. Die Zeit bleibt: Das ist das kaum angemessen zu Denkende: denn alles Bleiben versteht man doch schon aus dem Horizont der Zeit her; die Zeit bleibt nicht in der Zeit, sie bleibt als die Zeit, als das Ruhelose, ständig Bewegende, als das unaufhörlich schöpferisch Zeugende und Vernichtende. Gerade aus dem Bleiben der Zeit muß alles weggedacht werden, was dem binnenzeitlichen Bleiben zugehört. Es muß weggedacht werden das Verharren, das Unbewegtsein; die Zeit ist vielmehr das ständige Anderssein, die immer lebendige Bewegung. 119

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Schon aus dieser ersten flüchtigen Andeutung sehen wir die Schwierig­ keit, die darin liegt, das Bleibendsein der ruhelosen Zeit angemessen zu denken und auszusagen. Man hat Heraklit in verschiedenen Deutungsver­ suchen immer wieder festlegen wollen auf die These, daß es in den Dingen kein beharrliches Sein gäbe; man hat also die ontologischen Charaktere, in denen die Zeit für Heraklit aufscheint, auf die Dinge übertragen wollen. Ist seine Lehre von den Wandlungen eine Behauptung über die Dinge? Ist es wirklich wahr, daß er die Selbigkeit und Beharrlichkeit in den Dingen leugnet, daß er eine unablässige Veränderung, einen unablässigen Fluß aller Bestimmtheiten annimmt, so daß die ganze Struktur der dinglichen Welt aufgelöst wird in einen Strom von fluktuierenden Momenten, in dem nichts fest ist, nichts bleibt? Ist es Heraklits Meinung, daß das Aussehen, das uns beharrliche Dinge zeigt, ein Trug ist, ein bloßer Sinnenschein? Gaukeln die Sinne uns Beharrliches vor, während in Wahrheit nichts ist als ein Fluß? Panta rhei, alles fließt. Diese For|mel stammt gar nicht von Heraklit; sie gehört der Deutung an, die bereits in der Antike umging und in welcher Heraklits ontologische These über die Welt zu einer ontologischen These über das Sein der Dinge umgedeutet wurde. An dieser Umdeutung zeigt sich deutlich der Wandel der Problematik, der sich von den Vorsokratikern zur „metaphysischen“ Philosophie vollzieht. Im Blick des metaphysischen Denkens steht vornehmlich das Sein als die Seinsverfassung des Dinges (der ousia). Das Ding, die ousia, die Substanz wird als Beharrliches, als Bleibendes gedacht, das dem Wechsel ihrer Zustände zugrundeliegt. Ein Zustand löst am Ding einen anderen ab. Solches Ablösen faßt der Grieche als metabolē, als ein Umschlagen. Aus warm wird kalt. Warm ist nicht-kalt und kalt ist nicht-warm. Dies aber nicht im Sinne einer billigen begrifflichen Entgegen­ setzung. Vielmehr gehört zur Struktur des Warmseins, daß, wenn es ist, sein Gegenteil nicht ist. Und nur weil dieses Gegenteil nicht ist, kann das Warme dann nachher umschlagen ins Kalte. Das Nichtsein des Gegenteils hält so erst den Raum offen, in den hinein ein Umschlag geschehen kann. Aristoteles wendet nun gegen Heraklit ein, daß nach dessen Lehre überhaupt keine metabolē mehr möglich sei, sofern dort ja Teil und Gegenteil, warm und kalt usf., gleichzeitig angesetzt würden und deshalb das Werden keinen Platz habe, in den hinein es umschlagen könne. Diese Polemik des Aristoteles zeigt ganz klar, daß er | Heraklits Aussprüche deutet als eine Auslegung des Dingseins der Dinge. Und das scheint uns aufs äußerste fragwürdig zu sein. Karl Reinhardt verwirft in seinem bereits erwähnten Buche überhaupt die ganze landläufige „Fluß-Lehre“ als unheraklitisch, als eine Fehldeutung, die schon in der Antike auf einem Mißverständnis beruhte. In dieser radika­ len Formulierung ist aber eine wesentliche Einsicht vielleicht übertrieben ausgesprochen. Wir kennen ja nur einen kleinen Teil der heraklitischen Schrift; die Wirksamkeit der Gedanken Heraklits war aber im Altertum 120

IV. Heraklit

ungeheuer groß; bei Platon und Aristoteles sind deutliche Spuren einer Heraklitauffassung, die stark durch das panta rhei-Motiv mitbestimmt ist. Wir können aber die Interpretation nur abstellen auf die uns noch zugänglichen Fragmente. Und hier möchte ich mich der Ansicht Reinhardts anschließen. Die Leugnung der phänomenalen Beharrlichkeit der Dinge ist kein Thema Heraklits. Er sagt überhaupt nichts wesentlich aus über das Sein, die Seinsverfassung der Dinge. Was er denkt, ist der Weltbezug von Sein und Werden, gesehen von der Zeit aus. Die Bewegung, auf welcher Heraklits Blick ruht, ist die Bewegung des apeiron, die Bewegung des Unbegrenzten, das allem endlich-begrenzten Seienden zugrundeliegt. Nicht den Wandel bedenkt Heraklit, der unter den Dingen obwaltet, der zwischen ihnen spielt als die metabolē, oder als das Einanderverdrängen, sondern den Wandel der zeitigenden Zeit, die alles Seiende sein läßt. | Die ewige Ruhelosigkeit der gewährend-verzehrenden Zeit spricht Heraklit zuerst an als das Feuer. Im Bilde und im Symbol des Feuers wird die Zeit als das Bleibende gedacht. Nur wenn man sich das vergegenwärtigt, wird klar, daß Heraklit nicht wieder hinter Anaximander zurückfällt. Er setzt das Feuer, strenggenommen, gar nicht als „Urstoff“. Im Bilde des Feuers denkt er keine hylē, keinen ewig in der Zeit währenden, unvergänglichen Stoff, sondern die ruhelose, allen Wandel wirkende Zeit. Das Feuer ist die Zeit. Ist das nicht eine befremdliche Behauptung? Ist es am Ende gar eine gewaltsam herbeigeholte Behauptung, die dazu dienen soll, Heraklit nicht hinter Anaximander zurückfallen zu lassen? Keineswegs. Wie offenbart sich uns ‒ ganz naiv gesprochen ‒ die Zeit? Woran zeigt sich uns die Zeit? Wir blicken auf die Uhr. Aber wonach gehen die Uhren? Nach den Gestirnen; die Zeit zeigt sich den Griechen am Umlauf der Gestirne. Hēlios der Strahlende bestimmt mit seinem Gang das Maß des Tages, die Sterne die Stunden der Nacht, Sonne und Mond in ihren wechselnden Stellungen die Jahreszeiten. Im Fr. 100 heißt es: „Die Sonne als Wächterin des Jahreslaufes bringt die Veränderungen zum Vorschein und die Horen, die alles bringen.“126 Hēlios, das leuchtendste Feuer, ist im engsten Zusammenhang mit den Horen, den Stunden, die alles bringen. Die allesbringenden sind auch die allesnehmenden Horen. Das Feuer ist in einer gewissen Weise die Zeit. Oder andersherum, die Zeit zeigt sich am Feuer der himmlischen Gestirne. Das Denken Heraklits geht nicht geradewegs zu auf die Zeit und nennt sie als das Bekannte und Geläufige. Ein Denken, das noch so ursprünglich geschieht, entdeckt erst. Wie Heraklit die Zeit begreift, werden wir mühsam und auf einem langen Wege nachzudenken versuchen. Im Feuer gilt es die Züge aufzuspüren, die hinweisen auf die Zeit. Der Ausgang unserer Heraklit-Interpretation ist nicht von ungefähr die Feuerlehre. Weil das Feuer das Grundsymbol Heraklits ist, mit dem er hinweist auf seinen ontologi­ 121

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schen Grundbegriff, müssen wir in der Zeigerichtung des so gewiesenen Weges bleiben. Zunächst noch einige Worte zum sinnlichen Bild. Wie sehen wir das Feuer? Das Feuer als Flamme genommen, gilt uns immer als ein Symbol des Lebendigen, es ist immer in Bewegung, es flackert und glüht, es ist rei|nes Sichverzehren, es ist ruhelos, es spendet Licht und Wärme und vernichtet und zerstört; es ist dies alles in eins. Und das große Feuer am Himmel, hēlios, ist das Licht, das die Welt erhellt und alle Dinge aufscheinen läßt, ihnen Sichtbarkeit und Glanz gibt, das mit seiner Wärme die Erde aufblühen und mit seiner Entfernung in Frost erstarren läßt. Und der Gang der Sonne ist das den Wandel von Nacht und Tag, von Sommer und Winter Bewirkende, aber in diesem Bewirken des Wandels selbst bleibend als den Wandel Veranlassende. Dieser bleiben|de Wandel der Sonne liegt festgefügt, ist die Fuge der Welt. Oder wie Heraklit sagt (Fr. 94): „Hēlios wird seine Maße nicht überschreiten; sonst werden ihn die Erinnyen, der Dikē Schergen, ausfindig machen.“127 Am Feuer haben wir bislang abgehoben das Moment der Ruhelosigkeit, des Sichselbstverzehrens und (als Gestirne) das Bewirken der Zeiten. Und nur nebenbei erwähnt: den Lichtcharakter des Feuers. Aber das ist gerade der entscheidende Zug des Feuers. Es ist Licht. Phaos. Feuer ist nicht nur Flamme, sondern auch die Helle, die die Flamme von sich auswirft: der Schein. Das Feuer hat seinen Feuerschein, der zu ihm unabtrennbar gehört. Das Feuer erhellt, lichtet eine Verschlossenheit, wirft einen Bereich der Sichtbarkeit aus sich heraus und öffnet so erst einen Raum für Dinge, die im Lichte stehen, die sichtbar werden, die aufglänzen und sich zeigen in dem, was sie sind. Das Feuer als Licht läßt erscheinen. Und als solches, was erscheinen läßt, muß es immer all das schon überholt und in sich eingefangen haben, was sichtbar wird. Die Helle ist wesenhaft das Erhellte überholend. Das ist abstrakt formuliert, aber wir verstehen ganz unmittel­ bar, daß das Licht über die Dinge hinaus ist, die im Licht stehen, und daß dabei die Dinge nicht in das Licht, in die Helligkeit eingeschlossen sind; sie sind nicht darin wie in einem Gefäß oder einem Kasten. Sie sind gerade nicht irgendwo „drin“, sondern stehen im Offenen. Der Lichtschein hat gerade die Weise des Offenen; ganz ursprünglich verstehen wir das Offene als die gelichtete Weite, in der Dinge erscheinen: im Schein des Lichtes sich selbst zeigen. Licht behindert nicht nur nicht, sondern gibt erst die Möglichkeit des Sichzeigens. Dies nur Angedeutete bleibt für die Feuerlehre Heraklits von grundsätzlicher Bedeutung. Wir werden in den entscheidenden Stellen unserer Interpretation darauf zurückkommen. Zunächst nehmen wir die Feuerlehre in der ersten massiven Weise der Auffassung in Angriff. Fragment 30: kosmon tonde, ton auton hapantōn, oute tis theōn oute tis anthrōpōn epoiēsen, all’ēn aiei kai estin kai estai pyr 122

IV. Heraklit

aeizōon, haptomenon metra kai aposbennymenon metra.128 Diels übersetzt: „Diese Weltordnung, dieselbige für alle Wesen, schuf weder einer der Götter noch der Menschen, sondern sie war immerdar und ist und wird sein ewig lebendiges Feuer, erglimmend nach Maßen und erlöschend nach Maßen.“ Was sagt dieses Fragment? Woraufhin geschieht sein Sagen? Ist es eine Aussage über das Vorhandene? Etwa, das Vorhandene ist Feuer? Die Dinge sind Feuer, auch das, was nicht so aussieht; recht gesehen sind alle Dinge Feuer, es gibt nur Feuer, verschiedene Zustände des Feuers, die der Mensch nicht gleich durchschaut. Eine solche Auffassung würde einen ontologischen Satz auf das Niveau eines primitiven und absurden physikalischen Satzes herabdrücken. Das stimmt für Heraklit genauso wenig wie für Thales beim Wasser. Die Dinge bestehen nicht | aus Feuer, sie bestehen aus allen vier Elementen, aber diese vier Elemente sind durchwaltet im Ganzen von der Macht des Feuers. Das Feuer ist der Regent des Wandels. Das Weltall steuert der Blitz ‒ hörten wir schon.129 Das Feuer ist das im Wandel Herrschende, das den Wandel Durch|mächtigende. Zunächst sagt das Fragment in seinem ersten Satz die Ungewordenheit des kosmos aus. Gegen alle mythologische Vorstellung von einem Weltanfang wird hier die philosophische Einsicht der Weltewigkeit gesetzt. Gerade der Blick auf den Wandel aller Dinge führt die Philosophie dazu, das Bleibende im Wandel zu denken und so den Raum des uranfänglichsten Problems, der Frage nach dem Bezug von Sein und Werden zu öffnen. Der kosmos ist nicht gemacht, nicht hervorgebracht, weder von einem Gott noch von einem Menschen, sondern er war und ist und wird sein. Worauf hin wird so die Ewigkeit der Welt, das Bleiben des Seins entworfen? Auf das „immerdar Gewesensein, immerdar Sein und auf das Seinwerden“. Also auf die Zeit, die in ihren Erstreckungen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft gefaßt wird. Was aber ist das, was immer war, ist und immer sein wird? Ist es der kosmos als die Allheit aller Dinge, das Ganze, das beharrt, auch wenn die Einzeldinge wechseln? Ist der bleibende kosmos hier verstanden als das Bleiben einer Weltsubstanz, einer hylē? Kosmos heißt aber nicht schlechthin nur Welt, sondern die Weltordnung, primär also gerade ein Wie der Welt, eine Weise der Welt, ein Zustand.130 Kosmos ist der Zustand der Geordnetheit. Meint nun das Fragment vielleicht einen bestimmten Zustand der Welt? Das Ganze des Seienden, das ja einem beständigen Wechsel unterliegt, zeigt ja in jedem Moment einen anderen Zustand; jetzt ist es Tag und dann ist es Nacht usf. Von solchen Zuständen zu sagen, sie waren immer, sind und werden immer sein, ist doch offenbar sinnlos; denn sie sind ja der bestimmte Zustand des Ganzen im Gange des Wandels. Zustand meint hier die Verfassung des Seienden im Ganzen, die bleibende Struktur der Welt. Und was ist diese Verfassung? Ist sie ein Gesamtcharakter der Dinge, ein Ordnungsgefüge der Dinge? 123

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Der kosmos ist nicht allein die Ordnung, die den erscheinenden Dingen angehört, sondern ist die Ordnung des Bezuges zwischen dem apeiron, dem Abgrund aller Dinge, und diesen selbst; kosmos ist die Ordnung des Hervorkommens und Zurückgehens der Dinge; also nicht eine Ordnung innerhalb des Sichzeigenden, sondern die Ordnung, die das Sichzeigende zusammengreift mit dem Grunde, aus dem es hervorkommt. Und diese Ordnung war immer, ist und wird immer sein. Dieser kosmos ist dasselbe, was bei Anaximander die taxis tou chronou ist. Und diese Ordnung, dieser kosmos, der unvergänglich ist, ist ewiglebendiges Feuer; diese Ordnung ist kein starres, festliegendes Gefüge, sondern ist gerade immer ruheloses Feuer. Aber von diesem Feuer wird doch gesagt „erglimmend nach | Maßen, verlöschend nach Maßen“. Wie kann ein Feuer, das erglimmt und verlöscht, ein aeizōon, ein Immerlebendiges sein? Geht es im Verlöschen selbst unter, und beginnt es sich im Erglimmen neu? Von unserer sinnlichen Alltags­ erfahrung her gesehen, ist ein erloschenes Feuer zunichte geworden, ein erglimmendes, angezündetes ist ein beginnendes Feuer. Spricht also der Satz nicht einen Widerspruch aus? Aber ist das Erlöschen nicht so zu verstehen, daß das Feuer sich der Sichtbarkeit entzieht, und das „Erglimmen“ als ein in die Sichtbarkeit Zurückkommen? Die naheliegenden Deutungen greifen auf sinnverwandte Fragmente zurück, in denen von den pyros tropai gesprochen wird, von den Umwen­ dungen des Feuers. Dort sieht es so aus, als sei das Feuer der Urstoff, der eine Reihe von Verwandlungen, von Metamorphosen durchlaufe, und zwar in einem zyklischen Gang. So heißt es im Fragment 76: „Feuer lebt der Erde Tod und Luft lebt des Feuers Tod; Wasser lebt der Luft Tod und Erde den des Wassers.“131 Das Verhältnis der Elemente aber ist auch hier nicht einfach bestimmt durch die Reihenfolge Feuer-Luft-Wasser-Erde, die ineinander übergehen. Mit solchen Übergängen und Reihenfolgen ist die | jonische Physik seit anfangs vertraut; der Kreislauf der Elemente ist nicht das Eigentümliche des heraklitischen Gedankens. Vielmehr faßt er das den ganzen Kreislauf treibende Verhältnis als den Bezug von Leben und Tod. Das Feuer stirbt in die Luft, diese in das Wasser, das Wasser in die Erde und diese wieder in das Feuer; aber zugleich, während es in Luft abstirbt, lebt es den Tod der Erde; jedes Absterben ist zugleich auch ein Leben aus dem Tod des anderen Elements. Das Verhältnis der Elemente ist in diesem Fragment als das gleichzeitige Werden und Vergehen; soviel eines wird, soviel vergeht es auch; soviel eines gewinnt, soviel gibt es ab; in all dem Wandel bleiben die Maße. Hat nun in diesem Fragment das Feuer überhaupt noch eine ausgezeichnete Stelle? Ist es nicht ein Element neben den anderen, genau so wie jene zunehmend im Abnehmen, gewinnend im Verlieren? Was bedeutet es aber, daß das Verhältnis der Elemente untereinander in der Vorstellung von Leben und Tod charakterisiert wird? Ist das nur eine poetische Form, die 124

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mit dem Inhalt selbst nichts zu tun hat? Oder hat vielleicht das Feuer einen besonderen und ausgezeichneten Bezug zum Leben? Hieß es im Fragment 30 nicht das pyr aeizōon, das immer lebendige Feuer? Ist das Feuer das Prinzip des Lebens? Wie die Sonne das Allbelebende? Und ist andererseits das Kalte und Feste, das von sich selbst aus Unbewegliche, die Erde, nicht das Prinzip des Toten? Wenn aber das Feuer selbst einen wesentlichen Sinnbezug zum Lebendigen haben sollte, dann wäre es ja keineswegs gleichgültig, daß das Verhältnis des Feuers zu den übrigen Elementen in der Kategorie des Lebens gefaßt wird. Im Fragment 36 heißt es in einer Entsprechung, die dann nichts | Unbegreifliches mehr hat: „Für Seelen ist es Tod Wasser zu werden, für Wasser aber Tod Erde zu werden. Aus Erde aber wird Wasser und aus Wasser Seele.“132 An der Stelle also, wo wir Luft und Feuer vermuten sollten, steht hier psychē. Das läßt doch mindestens den Verdacht zu, daß es sich vorhin auch nicht um einen bloßen Ringtausch der Elemente gehandelt hat, in welchem das Feuer keinen Vorrang hat. Eindeutig aber wird er ausgesprochen im Fragment 90: „Wechselweiser Umsatz: des Alls gegen das Feuer und des Feuers gegen das All, so wie der Waren gegen Gold und des Goldes gegen Waren.“133 Das Feuer als das Eine verhält sich zu den vielen Dingen wie das Gold zu den vielen Waren. Es steht also in gewisser Weise allem gegenüber. Das Feuer steht gegen ta panta. Es steht allen Dingen gegenüber. Wie? Ist es der Urstoff, aus dem alle Dinge bestehen? Hat das Feuer in all diesen Fragmenten die gleiche Rolle wie bei Thales das Wasser? Oder stehen alle Dinge im Lichte des Feuers und kommen im Lichtraum des Feuers erst zum Vorschein und Erscheinen? Ist das Erglimmen und Erlöschen des Feuers nur ein Zug, den es mit den anderen Elementen teilt, mit Luft, Wasser, Erde? Heißt dies, daß das Feuer ebensoviel vergeht wie es entbrennt, daß die Maße bleiben, unverrückbar? Ist Erglimmen und Erlöschen das gleichzeitige Zunehmen und Abnehmen? Eben jenes, das im Maß beharrt, das nach dem Maß des Seienden geschieht, das in der Weltordnung gesetzt ist? Oder ist das Erglimmen und Erlöschen des Feuers noch etwas Tieferes, das gar nicht sichtlich wird, solang es als ein Element unter den anderen genommen wird? Ist das ewiglebendige Feuer nicht die Weltordnung selbst? Die Heraklitdeutung, schon im Altertum, war belastet durch das Prob­ lem der ekpyrōsis, des Weltbrandes. Der Weltbrand wurde gedacht als der Abschluß eines kosmischen Großen Jahres, das beginnt in der diakosmēsis, in der Weltbildung aus dem Feuer, im Hervorgehen aller Dinge, und beendet wird durch die Vernichtung der ausgebildeten Welt im alles fressenden134 Feuer. Die ekpyrōsis ist in den uns erhaltenen Fragmenten nur gestreift; diese genügen keines|wegs, um die Frage irgendwie begründet zu entscheiden. Aber in der antiken Welt, vor allem in der Stoa, wird dieser auf Heraklit zurückgeleitete Gedanke zu einer mächtigen, erregenden Vorstellung, die die Gemüter ergreift. Das Erglimmen und Erlöschen des Feuers wird dann 125

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auf diese Weltprozesse bezogen ‒ aber damit auch endgültig des ontologi­ schen, d. h. philosophischen Sinnes beraubt. Mag Heraklit die diakosmēsis und ekpyrōsis gelehrt haben, dann aber als eine philosophische Mythe, die im Gleichnis sagt, was der Gedanke meint. Dieser kurze Überblick über die Feuerlehre Heraklits, soweit sie wirklich in den Fragmenten bezeugt ist, läßt die wesentliche Frage offen: Wofür steht eigentlich135 das Feuer bei Heraklit?

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| 15. Der Zugang zur Philosophie Heraklits, des Dunklen, ist schwer zu gewinnen. Und dabei ist die größte Schwierigkeit nicht die Dunkelheit des Ausdrucks. Sie gründet eher in der geschichtlichen Situation unserer Auslegung. Wir stehen in einer Tradition der Philosophie, die bis auf die Griechen zurückläuft. Aber gerade dort, bei den Griechen, ist das Wesen der Philosophie nicht einheitlich verstanden. Dort vollzog sich eine radikale Wandlung, die in ihrer Bedeutsamkeit nicht hoch genug veranschlagt werden kann. Wir nennen es zunächst einmal anzeigend die Wandlung von der „physiologischen“ Philosophie der Vorsokratiker zur Metaphysik, die in Platon und Aristoteles ihr Gepräge erhielt. Das Verständnis dieses Wandels im Wesen der Philosophie gehört zu den noch offenen Aufgaben der Zukunft. Nietzsche hat mit der ihm eigenen Witterung für geistige Katastrophen hingewiesen auf die Kluft, die das Denken der Vorsokratiker, „die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen“, trennt von allen Sokratikern. Wie immer man hier die wertenden Akzente legen mag, ob man in der „Metaphysik“ ein tragisches Verhängnis sehen will oder eine höhere Stufe des Denkens, eine Intellektualansicht der Welt, eines ist gewiß, daß die uns zur Verfügung stehenden Kategorien der Auslegung aus der metaphysischen Tradition der Philosophie stammen. Mit dieser Einsicht verschärft sich das Problem des Zugangs zu Heraklit. Wir haben damit begonnen, einen Überblick über seine Lehre vom immerlebendigen Feuer zu werfen. Und wir schlossen mit der Frage, wofür steht eigentlich das Feuer? Ist das Feuer das sinnliche Symbol für einen unsinnlichen Gedanken? Zeigt sich am Feuer gleichnishaft eine abstrakte ontologische Verfassung? In solchem Sinne wird Heraklits Feuerlehre zumeist interpretiert. Eine bestimmte sinnliche Existenz steht stellvertre­ tend für einen Gedankensinn. So formuliert diese Grundauffassung vor allem Lassalle in seinem großen Werk über Die Philosophie Herakleitos’ des Dunklen, wenn er sagt: „Diesen Übergang nun, mit welchem die jonische Philosophie es vollbringt, das sinnliche Sein von sich abzuarbeiten und den Gedanken aus seiner Gebundenheit im Naturdasein loszulösen, bezeichnet uns in seiner höchsten Form, aber noch innerhalb ihres eigenen Prinzips und Kreises, Heraklit.“136 126

IV. Heraklit

Diese Deutung Lassalles ist aus der Metaphysik her gesprochen. Es ist mehr als fraglich, ob eine solche Auffassung die ursprüngliche Wahrheit des „physiologischen Denkens“ erreichen kann. Das Feuer ist nicht ein bloßes Zeichen137 für einen Gedanken, vor allem nicht, wenn wir bei einer solchen Deutung uns bereits bewegen in der von der Metaphysik bestimmten Tradition, d. h. das Sinnliche als das Mindere fassen. Für das Denken der physiologoi | sind das Sinnliche und das „Geistige“ noch nicht in einer Stufenordnung gedacht, sondern als Seinsmächte begriffen, die beide der physis angehören. Der Überblick über die Feuerlehre Heraklits hat also nicht nur einen propädeutischen Zweck gehabt. Das Feuer ist nicht stellvertretend, sondern als es selbst gemeint; es ist keine Allegorie für das Wesen der Welt, sondern ein echtes, ursprüngliches Symbol, in dem das Wesen der Welt ebenso anwest wie in jener Gedankenmacht, die Heraklit hen to sophon, das Eine Weise nennt. Das Feuer ist, wie wir zu zeigen versuchten, primär gar nicht als das besondere Element genommen, sondern als das Licht. Als das Licht, das aufbricht aus der dunklen Verschlossenheit der all-einen physis und in seinem Lichtraum den einzelnen Dingen, den aus der physis hervorgekommenen, Sichtbarkeit und damit die Begrenztheit ihres Aussehens verleiht. Das Feuer ist das Lichtende. Und erst in seinem eigenen Licht ist es dann als das bestimmte einzelne Element entdeckt. Auch das Feuer wird erst in seinem eigenen Licht gesehen. Die Wandlungen des Feuers, als des nun entdeckten einen Elements, in die anderen Elemente, in Luft, Wasser, Erde und wieder zurück, diese tropai tou pyros, halten sich in festen Maßen, so daß immer | dieselbe Ordnung von Elementen bleibt; die tropai tou pyros bestimmen die Maße der Welt, die Strukturverfassung des Seienden im Ganzen. Aber eben nicht nur als eine feste Größenord­ nung unter den vorhandenen Elementen, sondern als eine Ordnung, die gerade das Hervorkommen aller Dinge aus der Dunkelheit der in sich verschlossenen physis in den vom Schein des Weltfeuers erhellten Raum der Sichtbarkeit umgreift. Hier liegt ein wesentlicher Punkt, auf den wir noch einmal nachdrücklichst hinzeigen wollen. Das gewöhnliche Verstehen von Seiendem nimmt dieses in einer vorgegebenen Mannigfaltigkeit. Die vielen Dinge stehen beisammen in der Einheit eines umgreifenden Ganzen; dieses Ganze nennen wir eben die Welt. Die Welt ist der Inbegriff der Dinge. Vielleicht machen wir uns dann und wann Gedanken darüber, wie ein solcher Inbegriff eigentlich zu denken ist, ob als ein Haufen, eine Summe von vielen Dingen, oder als ein großer Behälter, in welchen alles viele eingefaßt ist. Die grundsätzliche Sicht aber auf die Welt geht aus von den vielen Dingen. Diese sind uns das Seiende. Die Welt ist eben dann das All des Seienden. Das Seiende ist auch solches, was sich uns zeigt; als sich Zeigendes und Erscheinendes aber ist es „Phänomen“; die Welt ist die Allheit der Phänomene. Das sind Selbstverständlichkeiten, 127

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die weit über das gewöhnliche Bewußtsein hinauswirken, die bis in die Philosophie selbst bestimmend sind. Man könnte die Frage aufwerfen, ist denn das Ganze der vielen Dinge schon das Seiende im Ganzen? Ist die Allheit des Sichzeigenden schon die Allheit dessen, was überhaupt ist? Oder ist der Weltbegriff zumeist nicht eingeschränkt, wenn er nur auf die Allheit der vielen Dinge hin gedacht wird? | Mit anderen Worten, im Hinblick auf die Vorsokratiker stellt sich das Problem, die Ganzheit des Weltganzen so zu fassen, daß der Bereich der vielen Dinge, eben das, was wir gewöhnlich die Welt nennen, nur die eine Seite ist, die Seite der aus der physis hervorgegangenen, in die einseitige Einzelexistenz herausgefallenen Dinge, der in die Sichtbarkeit gestellten Dinge. Das, was diesen Bereich des vielen Einzelnen und Sichtbaren erst zum Ganzen „ergänzt“, ist die immer vergessene physis, die erst das Viele aus sich entläßt, um es wieder zurückzunehmen; und die physis ist es auch, aus welcher das Licht aufbricht, der Weltfeuerschein, der den Dingen die Sichtbarkeit des Aussehens ver­ leiht. Die Metaphysik denkt das Seiende im Ganzen zu kurz, weil sie dank ihrer vorwiegenden Fragerichtung auf die Seinsverfassung des Dinges die Ganzheit als eine Allheit aller Dinge denkt ‒ und vergißt, daß allen Dingen, den wandelbaren und vergänglichen, die unwandelbare ewige Mutter, die physis zugrundeliegt. Dieser verkürzte Weltbegriff der Metaphysik bestimmt viele Deutungen Heraklits. Dadurch wird sein Sagen, das immer in den umgreifenden Zusammenhang des Ganzen hinein geschieht, gleichsam abgedrängt auf das verengte Feld des nur phänomenalen Bereichs der vielen, sichtbaren Dinge. Das gilt besonders von seiner Lehre von den Gegensätzen, der wir uns nunmehr zuwenden. Heraklit gilt als ein Denker, der in Paradoxien denkt. Man sagt, er begreift die Natur der Wahrheit als ein Paradox. Mit solchen Charakteristi­ ken ist aber noch nichts wirklich begriffen. Gewiß tragen seine Aussprüche vielfach ein paradoxes Gepräge. Aber die heraklitische Paradoxie ist nicht von anderen uns vertrauten oder bekannten Weisen des paradoxen Aus­ druckes her zu verstehen. Zunächst allgemein verstehen wir unter einer Paradoxie eine Aussage, die para doxan, gegen die Meinung geht, eine Aussage, die überrascht, die das ganz Unerwartete ausspricht, das, was auf den ersten Blick widersinnig erscheint. Wenn dabei der gewöhnliche gesunde Menschenverstand als der natürliche Bezugspunkt genommen wird, ist jede philosophische Aussage eine Paradoxie; Philosophie ist nach dem berühmten Hegelwort die „verkehrte Welt“. Paradoxie kann aber auch in einem schärferen Sinne gemeint sein, nicht nur als das Auf-den-Kopf-stellen der „gesunden“ Alltagsansicht von der Welt. Paradox nennen wir ein Sagen, welches das verständig Getrennte und Auseinandergehaltene zusammen­ nimmt ‒ das ganz bewußt und absichtlich in der Form von widersprechenden Sätzen verläuft. Der Wider|spruch wird dabei nicht übersehen und gleichsam 128

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nur versehentlich begangen, sondern er wird das Element, in dem eine Rede sich kundgibt: Der Schein der Unvernunft wird gerade gewollt, um eine tiefere Vernunft, die mit den normalen Mitteln der Rede nicht explikabel ist, anzuzeigen; das Ärgernis des paradoxen Ausdrucks ist beabsichtigt. In diesem Sinne ist die paradoxe Rede im Grunde eine | Verlegenheit. Auch das, was man so landläufig „Dialektik“ nennt, ist nicht mehr als eine Tiefsinn stammelnde Paradoxie. Damit hat Heraklit nichts zu tun. Er fügt nicht Gegensätze aneinander und setzt sie in eins, weil er die ganze umgreifende Wahrheit nicht aussagen kann; seine paradox anmutenden Wendungen entstammen keiner Verlegen­ heit. Wir fragen zuerst, welches sind die Gegensätze, von denen Heraklit spricht? Und als was sind Gegensätze begriffen? Sind solche nur begriffli­ che Antithesen? Handelt es sich um ein logisches Problem? Keineswegs. Es ist vielmehr zu fragen, ob die Logik, die wir kennen, überhaupt die Möglichkeit hat, begrifflich die Spannweite der Gegensätze zu fixieren, die im Denken Heraklits aufleuchten. Die Logik ist wesentlich eine Frucht der Metaphysik; sie beruht in ihren formalen Abstraktionen auf bestimmten ontologischen Interpretationen der Dingheit der Dinge. Wenn es keine nur logischen Antithesen sind, sind Heraklits Gegensätze dann, wie Karl Reinhardt meint,138 die wechselweisen Bedingungsverhältnisse im Seienden? Sind die Dinge jeweils einseitig so oder so, bestimmt durch einander zunächst ausschließende Potenzen: entweder warm oder kalt, entweder fest oder weich usf.? Überall, wohin wir blicken, sehen wir das Gegensätzliche. Und dieses zwiefach Gegensätzliche steht gegeneinander. Es steht im Streit. Der Streit der Gegensätze geht durch die Welt; er ist das Bewegende allen Wandels. Aber in solchem Streit muß das Streitende doch gerade beisammen sein; der Streit ist nicht nur das Trennende, sondern auch das Vereinende; streiten kann nur solches, das sich zum Streit vereint hat; die Gegensätze bedingen einander, und in diesem wechselseitigen Bezug des Bedingens stehen sie in der Umfangenheit von einem Selbigen. Die Sicht, die bei den Gegensätzen nur das je Entgegengesetzte sieht, blickt nur auf das Ontische hin, auf das Widerstreitende, aber nicht auf den Widerstreit selbst, nicht auf die ontologische Natur, die die beiden Pole des Gegensatzes eint. Der Hinblick aber auf die Gemeinsamkeit im Widerstreit, auf die Wechsel­ bedingnis, stellt eine höhere Einsicht dar; der Widerstreit wird zugleich als eine Gemeinsamkeit begriffen, die Zwietracht als eine Eintracht, der Krieg als ein Friedenusf. Wir nennen diese Einsicht in die Gemeinsamkeit des Widerstreitendenden „ontologischen Begriff des Gegensatzes“. In ihm wird die Einheit des Verschiedenen gedacht. Wir gehen zunächst um mit einer Fülle von Gegensätzen, z. B. von Tun und Leiden, Bewegen und Bewegtwerden, und sehen nicht, daß das eine notwendig das andere fordert. Erst der Besinnung erschließt sich der Zusammenhang des Gegensätzlichen. 129

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Reinhardt interpretiert Heraklits Lehre von den Gegensätzen auf diese onto­ logische Einsicht in die Verbundenheit des Widerstreitenden hin. Die Frage aber bleibt: ist damit der philosophische Sinnerschöpft oder überhaupt nur wesentlich erreicht? Auf diese Frage soll nun | nicht mit einer Gegenthese geantwortet werden, sondern mit dem Versuch einer Auslegung. Zunächst nehmen wir gerade solche Fragmente vor, in denen sich Reinhardts Interpretation bewährt. Im Fragment 126 heißt es: „Das Kalte erwärmt sich, Warmes kühlt sich, Feuchtes trocknet sich, Dürres netzt sich.“139 Das ist keine physikalische Aussage, sondern eine wesensgesetzli­ che Aussage, die das Verhältnis des Entgegengesetzten ausspricht. Wärme und Warmwerden kann nur sein im Raum des Kalten und umgekehrt; das Feuchte ist nicht nur das andere als das Dürre, sondern ist solches, dem ein Werden nur möglich ist auf das Dürre zu; es trocknet, wie umge|kehrt jenes das Naßwerdenkönnende ist. Der Gegensatz ist also nicht ein solcher, der Verschiedenes nur auseinanderhält, festhält in seinem gegensätzlichen Sein; sondern das so Entgegengesetzte hat ein Werden nur in bezug auf seinen Gegensatz; sein Werdenkönnen weist es schon hin auf das, was es gerade von sich ausschließen will. Alle solchen Widerparte aber sind gar nicht ohne Werden zu denken; sie sind vielmehr ja das im Werden gehaltene und dort allein währende Seiende; es ist daher nie bewegungslos, sondern immer und unablässig in Bewegung. Das Warme, begriffen als nur in Bewegung und Wandel sein könnend, ist immerzu unterwegs, es wird noch wärmer oder kälter; wärmer werdend wird es trockener; trockener kann es aber nur werden, wenn es in gewissem Maße noch feucht ist. Wenn man das Gerippe der Gegensätze gleichsam bewegungslos, stillstehend denkt, dann scheint es, als ob das eine ohne das andere sein könnte; das ist aber nur ein Trug. In Wahrheit ist alles ständig in Bewegung; auch das Gleichbleibendsein ist nur in der Bewegung möglich. Zum Sein des Warmen gehört mit das Kalte und umgekehrt, und zwar nicht als ein es von außen Begrenzendes, sondern in ihm selbst steckt das Kalte wie im Feuchten das Trockene, eben als die Werdensmöglichkeit. Denselben Gedanken spricht Heraklit aus im Fragment 111: „Krankheit macht Gesundheit angenehm und gut, Hunger Sattheit, Mühe Ruhe.“140 Auch hier haben wir wieder dieselbe In-Eins-Verwobenheit des Gegensätzlichen: das Mitanwesen des Gegenteils. Und eben das Gleiche kehrt in anderen Wendungen wieder in den Fragmenten 58, 61. Das Heilen der Ärzte geschieht durch Schneiden und Brennen, das Meerwasser ist zugleich reinstes und scheußlichstes Wasser, trinkbar den Fischen, untrinkbar den Menschen. Mit diesem letzteren ist aber nicht die Relativität der Bestimmung gemeint, daß es für ein anderes so und gegenteilig ist; sondern in ihm selbst ist es gegenteilig, zwieträchtig und doch eins. 130

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Das wechselseitige Bedingen der Gegensätze aber ist nicht die entschei­ dende Einsicht Heraklits. Seine Lehre von den Gegensätzen erschöpft sich nicht mit dem ontologischen Hinblick auf das Gemeinsame im Widerstreit. Das Wi|derstreitende ist insgesamt begriffen als der Bereich des Werdens. Im Fragment 80 heißt es: „Man soll aber wissen, daß der Krieg gemeinsam ist und das Recht der Zwist, und daß alles geschieht aufgrund von Zwist und Not.“141 Auf den ersten Blick sagt dieses Fragment dasselbe wie die bisher zitierten. Krieg, diese äußerste Entzweiung, dieser schärfste Streit, bindet doch die sich Bekriegenden zu einem gemeinsamen Werk, sie sind einander zu geeint, nicht nur so, daß sie zusammenkommen müssen, um sich zu bekämpfen, sondern das Werden des Krieges kann nur so in den Frieden hinein geschehen, wie das Trockenwerden auf das Feuchte orientiert ist. Und das Recht, die dikē, ist nur, sofern es sich im Streit, d. h. im Unrecht entfalten kann; sie kann ihr Wesen nur zeigen als das Fügen ins Rechte im Unfügsamen des Streites. So ist die dikē zugleich die eris; das Recht ist das Unrecht. Das ist keine Einerlei-setzung, die nivelliert; im Gegenteil: Das Recht ist, was es ist, erst im Raume des Unrechts; Recht kann nur werden, wenn Unrecht ist. Alles Gegensätzliche ist nicht in einem stehenden Sinne, sondern es wird, und es kann nur sein Werden haben, wenn es auf sein Gegenteil hin lebt; es lebt aus der ihm entgegengesetzten Seinsmöglichkeit. Das Fragment sagt aber mehr. Krieg und eris sind nicht nur Beispiele, an denen die ontologische Einheit des Gegensätzlichen gezeigt werden soll. Sie sind in diesem Fragment angesprochen als der Grund des Geschehens: „alles geschieht aufgrund von Zwist und Not“. Am Geschehenden, im Werden, Währenden zeigt sich die ontologische Verfassung der Einheit des Gegensätzlichen; diese Einheit, die die Gegensätze umgreift, im Warmen schon das Kalte, im Feuchten das Trockene, im Krieg den Frie|den anwesen läßt, ist eine harmonia. Fr. 8: to antixoun sympheron kai ek tōn diapherontōn kallistēn harmonian;142 „Das einander Widerstrebende zusammengehend; aus dem auseinander Gehenden die schönste Fügung.“ Was ist das für eine Harmonie? Heraklit unterscheidet zwischen einer sichtbaren und einer unsichtbaren Harmonie. Dieser Unterschied wird allzu oft in einer plausiblen und problemlosen Weise ausgelegt. So nämlich, daß man die sichtbare Harmonie interpretiert als die, von welcher auch schon das gewöhnliche Bewußtsein wisse. Etwa der Friede, die Einstimmigkeit gilt als eine solche sichtbare, ohne weiteres vernehmbare Harmonie. Sie ist dann überhaupt kein Problem mehr. Problematisch ist erst die unsichtbare Har­ monie. Und diese wird dann bestimmt als die Einheit des Gegensätzlichen, die im wechselweisen Bedingungsverhältnis dieser Gegensätze erkannt wird. Diese Auffassung ist unseres Erachtens falsch. Die sichtbare Harmonie ist nicht die allen sichtbare, die Hinz und Kunz vernehmen; vielmehr ist die sichtbare Harmonie gerade das, was man als die Einheit in den 131

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Gegensätzen anspricht. Sichtbar ist diese Harmonie nicht, weil sie sofort und direkt thematisch gesehen | würde; es bedarf erst einer philosophischen Anstrengung, um sie zu entdecken. Gewöhnlich ist der Mensch fixiert von den Gegensätzen, fixiert von dem Unterschiedenen; er erhebt sich nicht zum Hinblick auf den Gegensatz selbst, auf den einheitlichen Bereich, in welchem der Gegensatz sich ausbreitet. Die sichtbare Harmonie ist die Harmonie des Sichtbaren. Ist das Sichtbare insgesamt schon das Seiende im Ganzen, fragen wir wieder ‒ oder ist es der Bereich, der uns gemeinhin gefangen hält? Das Sichtbare sind die bestimmten, abgegrenzten endlichen Dinge. Und dies sind zugleich auch die entstehend-vergehenden Dinge, das Seiende, das im Wandel umgetrieben ist, das in der Zeit währt. Alles so endlich Seiende ist immerzu von Gegensätzen beherrscht; es wird, hat sein Sein nur als ein Werden; und zwar kann es nur im Werden dahintreiben, weil es immerzu „übergeht“, im Übergang ist, aus dem Kalten ins Warme usf. Es lebt ständig in seine Gegenmöglichkeit hinein. In dieser Verschlungenheit in die gegenteiligen Seinsmöglichkeiten, die allen endlichen Dingen eigen ist, „zahlen sie einander Buße“, um mit Anaximander zu reden. Sie behaupten sich, als das eine, das sie gerade sind, und müssen doch in solchem Behaup­ ten ständig schon in ihr Gegenteil übergehen. Alles Vergängliche ist so zugleich übergänglich, bestimmt von dem Widerspiel gegenteiliger Seins­ möglichkeiten. Der Tiefblick in diese übergängliche Natur des Vergänglichen vollzieht sich ausdrücklich bei Heraklit; er entdeckt die „sichtbare Harmonie“, die Harmonie im Streit aller endlichen Dinge. Aber sein Tiefblick reicht weiter. Woraufhin all seine „paradox anmutende“ Rede von der Einheit der Gegensätze eigentlich hinauswill, ist die harmoniē aphanēs, die unsichtbare Harmonie. Fr. 54: harmoniē aphanēs phanerēs kreittōn,143 „die unsichtbare Harmonie stärker als sichtbare“. Vom Verständnis dieses Fragmentes hängt es entscheidend ab, ob wir über die von Reinhardt gegebene Heraklitdeu­ tung hinauskommen. Wir fragen: Ist der Bereich des Sichtbaren das umfangende Ganze, innerhalb dessen das Spiel und Widerspiel der Gegensätze, ihre scharfe Entgegensetzung und zugleich ihre Einheit, ihre Zwietracht wie zugleich ihre Eintracht statthaben? Werden so Gegensatz und Einheit nur gesehen im Blick auf das Sein der Dinge? Oder spricht Heraklit am Ende über den Bereich des Sichtbaren hinaus und auf die physis selbst hin? Und sind die eigentlichen tiefsinnigen Sätze vielleicht solche, in denen eine Harmonie zwischen der mütterlichen Nacht der physis und dem Reich des Sichtbaren ausgesagt wird? Oder anders angesetzt, ist der ursprünglichste Gegensatz ein solcher in den Dingen, zwischen ihnen, oder ist es ein Gegensatz, aus dem her erst die auch un|ter sich gegensätzlichen und entzweiten Dinge hervorgehen? Ist der Urgegensatz nicht der zwischen der all-einen physis und den vielen, aus ihr herausgekommenen | Dingen? Sind die Dinge gegensätzlichen Wesens und 132

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von der Zwietracht beherrscht, weil sie in einer Urzwietracht stehen gegen den allumfangenden Seinsgrund? Ist diese ihre adikia gegen das Ureine der ontologische Grund ihrer Vergänglichkeit? Und ist die Zwietracht zwischen dem Bereich des Sichtbaren und der verschlossenen physis nicht auch der Ort einer Harmonie, eben der harmoniē aphanēs? Waltet nicht auch hier eine übergreifende und allumfangende Einheit? Mit solchen Fragen ist zunächst einmal der philosophische Ort ange­ zielt, der Bezug für „unsichtbare“ Harmonie, die stärker ist als die sichtbare ‒ von der her erst die sichtbare begriffen werden muß. Heraklit spricht die harmoniē aphanēs aus in den Symbolen von Leben und Tod. Tod ist nicht das im Reiche des Sichtbaren sich zeigende Wegschwinden des Lebens, das Sterben von Lebewesen; das Tote im Sinne des im Sichtbaren liegen­ gebliebenen Leichnams ist von Heraklit nicht gemeint; sagt er doch im Fragment 96: „Leichen sollte man eher wegwerfen als Mist.“144 Das Tote ist kein im Reiche des Sichtbaren Vernehmbares, und doch ist es immer anwesend, schweigend, still, ungreifbar und unhörbar. Dem gewöhnlichen Menschen gilt nur das, was sich zeigt, als seiend; er ahnt nicht, daß im Sichtbaren schon das Unsichtbare anwest, im Leben der Tod ist und im Tod das Leben. Er hält auseinander und getrennt, was eine unsichtbare Fügung und Harmonie ist. Der Gegensatz von Leben und Tod aber ist der Spielraum der harmoniē aphanēs. Ist damit nur ein eng begrenzter Gegensatz getroffen, oder steht in diesem Gegensatz für Heraklit der Urgegensatz von physis und den vielen Dingen symbolisch da? In der Tat: Leben und Tod sind hier die größten Symbole Heraklits. Gerade unter diesem Gesichtspunkt hat Pfleiderer145 eine Ausdeutung Heraklits versucht, die seine Philosophie darstellt als eine begriffliche Fassung uralter Mysterienweisheit, als das orphische Wissen um die Unzerstörbarkeit des Lebens, das auch im Tod nicht untergeht. Aber damit wird gerade umgedreht und ins Gegenteil verkehrt, was eigentlich bei Heraklit geschieht. Er drückt nicht einen schon bestehenden mythologischen oder religiösen Gehalt in einer Begriffssprache aus; erdenkt vielmehr die religiösen Ahnungen zu Ende und spricht ihre verborgene Wahrheit aus: Er denkt den Zusammenhang des Seienden im Ganzen, den Zusammenhang der all-einen physis und der vielen zerstreuten und auseinandergeratenen Dinge, den Zusammenhang der sichtbaren Welt und des mütterlichen Weltgrundes. Ein solcher Zusammenhang aber ist nicht ein Bezug zwischen abgesetzten, an sich getrennten Bezugsgliedern.146 Die physis als das Unsichtbare ist gerade das, woraus das Licht aufgeht; sie ist als das zeitlos Ewige aber auch das, was die Zeit erschafft. | Die sichtbaren Dinge stehen im Licht; so haben sie Umriß, Gestalt, Aussehen; das Licht selbst läßt das Viele so in sich ein und hält es in seinem Vieles-sein fest. Das Licht zerstreut ins Nebeneinander, gerade weil es selbst nicht zerstreut und nicht ein Nebeneinander ist. Das Licht, das 133

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ins Dunkel einbricht, legt die Einförmigkeit und Ununterschiedenheit des Dunkels auseinander und gibt so, in solchem Auseinanderlegen, Raum für die unterschiedene, gegliederte Mannigfalt der Dinge. Das Licht bricht ein ins Dunkel und entzweit es, reißt es aus seiner Ungegliedertheit und bricht Raum auf. Das Licht, das aus dem Schoße der physis selber kommt, schafft erst so den Urgegensatz; im Licht erscheint nun die vielfältige Fülle des Sichtbaren. Und ebenso ist es mit der Zeit. Wie das Licht im Raum zerstreuend ist, so ist auch die Zeit zerstreuend: Sie zerlegt das eine, alterlose Sein der physis in das Nacheinander der vergänglichen Dinge. Zeit ist in sich zerstreuend, weil sie selber unzerstreut ist. Licht und Zeit ‒ oder, wie wir auch sagen können, Raum und Zeit sind die Weisen, wie die | physis aus ihrem verborgenen und dunkeln Abgrund die sichtbaren Dinge „aufgehen läßt“, heraustreten läßt, wie Persephone die Blumen aus dem Schoß der Erde, einrücken läßt in den Raum der Sichtbarkeit, der alle umfängt, aber so, daß er das Viele als Zerstreutes währen läßt. Das Aufgehen aller Dinge aus dem Grund der physis ist gehalten in den Maßen einer unsichtbaren Harmonie, für die Heraklit seinen tiefsten Ausdruck findet in der Sprache eines mythologischen Symbols; zugleich aber verwirft er dabei alles, was nur dem Mythos angehört: (Fr. 15) „Denn wenn es nicht Dionysos wäre, dem sie die Prozession veranstalten und das Lied singen für das Schamglied, so wäre es ein ganz schamloses Treiben. Derselbe aber ist Hades und Dionysos, dem sie da toben und ihr Lenaienfest feiern.“147 Die Selbigkeit von Dionysos und Hades ist die harmoniē aphanēs, die „unsichtbare Harmonie“.148 | 16. Dionysos und Hades ist derselbe. Mit diesem Satz spricht Heraklit das Prinzip seiner Gegensatzlehre aus, die schon in der Antike das Ärgernis seiner logoi antilogoi, seiner Widerspruchsätze, aber auch der anlockende Reiz des unergründlichen Tiefsinns war und seitdem die Ausleger in Atem hält. Und was in den meisten Interpretationen unseres Erachtens verfehlt wird, ist die Dimension, in welcher die Einheit des Gegensätzlichen von Heraklit begriffen wird. Und dieses Fehlgehen der Deutungen hat seinen Grund nicht in Unzuläng|lichkeiten der Kommentatoren, sondern vielmehr in dem von der Metaphysik her bestimmten Ansatzpunkt der meisten Auslegungsversuche. Heraklits Lehre von den Gegensätzen wird genom­ men als eine ontologische Einsicht in die Seinsverfassung der Dinge. Das gewöhnliche, naive Bewußtsein scheidet das in Gegenbegriffen Gedachte und hält es auseinander, unterscheidet das Tun vom Leiden, die Ruhe von der Bewegung, die Eintracht von der Zwietracht, den Krieg vom Frieden. Der gesunde, von keiner tieferen Reflexion angekränkelte Menschenverstand hat seine Sicherheit gerade durch die Art, wie er in festen, standhaltenden 134

IV. Heraklit

Unterscheidungen gehalten ist. Erst wo das Nachdenken zu einer Lebens­ macht wird, die alle fixen, überkommenen Einteilungen in Frage stellt, in denen uns gewöhnlich die Welt aufgegliedert ist, steigt die Einsicht auf, daß die Gegensätze ineinander verflochten sind; daß die Dinge, als ständig ins Werden geworfene, nur sein können im unablässigen Übergang in ihr Gegenteil. Alle begrenzten, endlichen Dinge sind gegenteilig. So gesehen ist die Zwietracht immer auch schon eine Art Eintracht, der Krieg eine Art Gemeinsamkeit, die Ruhe eine Art Bewegung usf. Wir nannten diese „Einheit der Gegensätze“ eine ontologische. Genauer müssen wir sie bestimmen als die Identität des Gegensätzlichen, die zur Strukturverfassung der endlichen, vergänglich-übergänglichen Dinge gehört. Auch sie spielt bei Heraklit eine wesentliche Rolle. In der Interpretation Karl Reinhardts aber gilt sie als die eigentliche philosophische Einsicht Heraklits. Der gegensei­ tige Bedingungsbezug der Gegensätze, den der naive Mensch nicht erkennt, soll Heraklits Entdeckung sein. Eine solche Entdeckung kann erst aufkom­ men, wo das Werden zum ausdrücklichen Thema der Besinnung gemacht wird. Und das ist doch offenbar bei Heraklit der Fall. Zu fragen bleibt aber, ob das Werden im Blick des Ephesiers steht nur als die zeitliche Bewegtheit der Dinge, als Entstehen, Vergehen, Veränderung und Ortsbewegung, oder ob eine solche Auffassung zu kurz trägt. Begreift Heraklit das Werden nicht radikaler, nicht nur als zeitliche Bewegtheit der Dinge, sondern als die Bewegung der zeitigenden Zeit? Das Werden also als das Hervorkommen des Endlichen und Begrenzten aus dem Grunde des Unbegrenzten, das Anaximander das apeiron genannt hat. Erst wenn grundsätzlich begriffen wird, wie Heraklits Gedanke des Werdens über alle zwischen-dinglichen Beziehungen hinausgeht und wesentlich nur in den Zusammenhang des Ganzen zurückdenkt, in den Zusammenhang von physis und dem Reich der vereinzelten Dinge, hat man die Dimension gewonnen, in welcher Heraklits Tiefsinn Gegensätze in eins denkt. Dionysos und Hades ist derselbe. Diese Selbigkeit ist ein schwieriges Problem schon in ihrer begrifflichen Struktur. Wir fragen zunächst, was ver­ stehen wir unter „Selbigkeit“? Auch das ist ein Begriff, mit dem umzugehen wir | gewohnt sind. Irgendetwas bietet z. B. jeweils verschiedene Anblicke an; wir sagen aber, das so verschieden Aussehende ist doch „dasselbe“. Hier ist Selbigkeit also bezogen auf Verschiedenheit des Aussehens. Oder aber wir unterscheiden trotz fast gleichen Aussehens (etwa der Doppelgänger, der Zwillinge) und sagen, es ist nicht dasselbe. Selbigkeit von etwas hängt nicht ab vom Aussehen, sondern ist ein innerer Wesenszug jedes Dinges. Ein Ding ist, was es ist, als dasselbe; seine Selbigkeit ist der Grund dafür, daß es eine Vielfalt von Bestimmungen an sich tragen kann, daß es Bestimmungen annehmen und abgeben kann; es erhält sich, solange es währt, als „ein und dasselbe“. Selbigkeit also macht eine Grundstruktur im Sein der Dinge aus; 135

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Dingsein | ist Selbigsein, ist ein Einzelnes sein, ein Dieses sein, esse = idem esse.149 Die Selbigkeit als zugehörig zur Seinsverfassung des Dinges wird seit alters her gedacht im sogenannten Satz der „Identität“ (A = A). Dieser Satz ist weit davon entfernt, eine bloße Tautologie zu sein, wie heute die Logik anzunehmen geneigt ist, es ist vielmehr ein Fundamentalsatz über das Sein des Dinges, eine Grundaussage über das Dingsein. A = A ist ein Grundsatz der Metaphysik. Ebenso auch der ihm zugeordnete Satz des Widerspruchs. Auch dieser ist primär kein Satz, der das Verhältnis von Aussagen untereinander regelt, nur eine formale Bedingung der logischen Wahrheit und dgl., sondern ist ein metaphysischer Satz. Keinem Ding kann eine Bestimmung und auch ihr Gegenteil zur selben Zeit und in derselben Hinsicht zukommen. Kant hat gegen diese aristotelische Fassung des Widerspruchssatzes polemisiert; er bekämpft dabei vor allem das hama, das „zur selben Zeit“. Für Kant ist die Hereinnahme einer Zeitbestimmung eine Trübung des rein logischen Gesetzes; logische Gesetze sagen nichts über reale Verhältnisse aus. Kants Polemik aber geht fehl, weil er überhaupt den ursprünglich ontologischen Sinn des aristotelischen Widerspruchssatzes nicht mehr begreift. Die Zeit ist der Horizont, auf den hin und aus dem her das Sein des Seienden verstanden werden muß. Das Sein der Dinge ist ein InderZeitsein. Die Selbigkeit des Dinges hat den Sinn des Hindurchgehens durch die Zeit, des Währens; das im Währen sich bewährende Selbigsein schließt es aus, daß zur selben Zeit ein Ding eine bestimmte Eigenschaft hat und zugleich deren Gegenteil; das ist nur zu verschiedenen Zeiten möglich, daß gegenteilige Eigenschaften an einem Ding vorkommen und dann von ihm als Prädikate aussagbar sind. Wir halten also zweierlei fest: 1. die Selbigkeit ist der ontologische Grundcharakter des Dinges; er steht so zu den Gegensätzen, daß jeweils nur ein Glied eines Gegensatzpaares als Bestimmung am Ding möglich ist; 2. das Verständnis von Identität und Verschiedenheit bewegt sich im Horizont der Zeit; von einem Verstehen von Zeit wird Gebrauch gemacht, wenn angegeben werden soll, was Selbigsein ist als das Hindurchwähren und was die Unmög|lichkeit bedeutet von entgegengesetzten Bestimmungen, nämlich nicht „zur selben Zeit“. Mit dieser etwas langweilig anmutenden Begriffszergliederung haben wir erst die Möglichkeit gewonnen, zu fragen, wie Heraklits Identität der Gegensätze gemeint ist. Verstößt er dabei gegen die Fundamentalgesetze des vernünftigen Denkens und gegen die Grundstruktur der Dingheit, gegen den metaphysischen Wesensbau des Dinges? Platon und Aristoteles erheben in diesem Sinne Bedenken gegen Heraklit. Ihnen erscheint als eine Auflösung der Seinsstruktur des Seienden, was Heraklits Tiefsinn aussagt, als eine Verflüssigung aller Bestimmtheiten, die keine Begreifbarkeit mehr zuläßt. Aber es ist ja gerade unser Verdacht, daß, von der metaphysischen 136

IV. Heraklit

Philosophie aus, Heraklits Lehre von den Gegensätzen aussehen mußte, als wäre sie eine Leugnung der Identität der Dinge. Darum jedoch geht es diesem gar nicht. Seine Lehre ist keine „mystische“ These von der coincidentia oppositorum im Bereich der endlichen Dinge. Die Dimension seiner Ineinssetzungen ist der Bezug der physis zum Reich des begrenzten Seienden. Was er in den scheinbar widersprüchlichen Sätzen ausspricht, ist die harmoniē aphanēs, die unsichtbare Harmonie, die waltet im Ganzen. Die Gegensätze, die Heraklit in eins denkt, verhalten sich nicht zueinander wie sich ausschließende Bestimmtheiten des Seienden; er begeht nicht die Torheit, die einzelne endliche Bestimmung aufheben zu wollen, das Weiße schwarz, das Große klein sein zu lassen. Die von Heraklit gedachte Identität ist nicht die Selbigkeit von Dingen. Was aber ist es dann für eine Selbigkeit? Derselbe ist Hades und Dionysos. Dieser Satz spricht doch zunächst eine Identität der beiden sonst auseinandergehaltenen Götter aus. Er sagt, Hades ist nicht ein anderer Gott als Dionysos. Ihre uns sonst verschieden anmutende | Gestalt ist nur ein Schein, in Wirklichkeit sind sie dasselbe. Die Selbigkeit aber hebt nicht die Verschiedenheit des Aussehens auf; sie sind dasselbe, weil sie nur „Seiten“ eines übergreifenden göttlichen Wesens sind; in Dionysos und in Hades erscheint je nur einseitig, nur teilhaft das Ganze; und es gilt hinter die einseitige Gestalt zurückzugehen und diese ins Ganze zurückzunehmen. Die Identität hätte danach nur den Charakter einer „Ergänzung eines Einseitigen“. So verstanden verliert die Gegensatzlehre Heraklits den schroffen und befremdenden Charakter; die Ineinssetzung der Gegensätze erscheint als die Methode, zu einem volleren und umgreifenden Ganzen vorzustoßen. Man sagt,150 das gewöhnliche menschliche Erkennen ist befangen in Teilansichten, in einzelnen Perspektiven, und hat nicht von sich aus schon eine ganzheitliche Schau; die Philosophie ist dann jenes Ergänzen aller endlichen Teilaspekte zum vollen und gültigen Bild des Seienden im Ganzen. Eine solche Auf|fassung verharmlost. Sie macht Heraklits Dimension zu einem bloßen Nebeneinander. Die physis und die aus ihr herausgeworfenen Dinge stehen nicht nebeneinander; es ist die Aufgabe der alten physiologoi nicht, neben den Dingen, dem, was uns sonst als die Welt gilt, noch einen übersehenen Bereich aufzuzeigen. Die physis ist der Abgrund, aus welchem die Dinge aufsteigen und in welchen sie wieder versinken. Das Verhältnis des Abgrundes zu dem aus ihm Entlassenen kann nicht gültig151 gedacht werden an Bezügen, die zwischen den Dingen gültig sind. Jeder Versuch, die physis von den Dingen her zu denken, muß notwendig versagen; damit wird schon das formale Problem der heraklitischen Selbigkeit in den Gegen­ sätzen immer brennender. Die physiologoi wagen das fast nicht Sagbare im ständigen Abstoß von allen Sagensweisen, die auf die Dinge hin gerichtet sind. Und sie bewegen sich dabei nicht blind im Horizont der Zeit, wenn sie 137

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Selbigkeit und Verschiedenheit denken, sondern sie denken dabei eigentlich gerade die Zeit, die taxis tou chronou wie Anaximander, oder als die zentrale Grundfrage wie Heraklit ‒ sie denken den Zusammenhang der physis mit den seienden Dingen als das Weltproblem von Sein und Werden. Mit dieser negativen Charakteristik ist aber vorerst noch nicht viel gewonnen. Sie soll uns lediglich die Fraglichkeit wachhalten, die im Verhält­ nis der physis zum Reich der vielen Dinge liegt, soll verhindern, daß wir nicht unbesehen und geradezu die physis selbst wie ein Ding denken, d. h. sie metaphysisch interpretieren. Wenn es wahr ist, daß einzig dieser in seiner Struktur noch undurchsichtige Bezug die Dimension darstellt, auf die hin Heraklit spricht, wenn er die Gegensätze in eins setzt, was bedeutet dann Hades und Dionysos? Sind es einfach die Götter der griechischen Religion, über die Heraklit eine theologische Aussage macht? Keineswegs. Auch die Einheit der beiden Götter ist nicht Heraklits Einsicht. In den orphischen Mysterien ist die Selbigkeit des Todesgottes mit dem Gott des Lebensüberschwanges immer schon ausgesprochen worden. Leben und Tod sind eines, nicht als die Aufhebung des Gegensatzes, sondern eines als die Unzerstörbarkeit des Lebens im Tod und das vom Tod Durchdrungensein alles Lebendigen. Heraklit aber spricht nicht nur nach, was die Mysterien in der ursprünglichen Kraft der Symbole als geheime Weisheit den Ein­ geweihten verbürgen. Für Heraklit geht es hier um einen Gedanken der Philosophie. Der Gegensatz von Leben und Tod, sagten wir,152 wird von ihm aufgenommen als das Symbol für den Bezug von physis und Reich der Dinge. Versuchen wir, der Möglichkeit dieser Symbolik nachzuspüren. Hades und Dionysos gelten dem Griechen als die Reiche der Oberwelt und der Unterwelt. Die Oberwelt ist das, wohinein das Seiende aufgeht aus dem dunklen Schoß der Erde, | ins Licht tritt, erscheint, abgegrenzt von den anderen Dingen ist und im festen Umriß seines Aussehens steht. Die | Oberwelt ist also das Reich des Lichtes und des Vielen, das Reich des Blühens und des Lebens. Die Unterwelt ist das Reich der Schatten, der wesenlosen Unbestimmtheit, wo nichts mehr für sich ist, sondern alles zurückgegangen ist in den einfachen und verschließenden Grund; das Reich des Dunkels und der unbestimmten Einheit. Dionysos, der Herrscher im Raume des Lebens, ist zugleich Dionysos Zagreus, der Zerrissene, Zerstü­ ckelte. Der Lebensdrang und Lebensüberschwang des lebenstrunkenen Got­ tes führt in die Zerstückelung, in die Zerrissenheit des Seins in die Vielheit des Seienden; diese Vielheit ist keine stehende und starr ruhende, sondern eine Vielheit der währenden Dinge, der tolle Wirbel der Vergänglichkeit. Die lichte Welt ist das vielfach und vielfältig auseinandergetretene Sein und ist auch das Reich des Lebens; die dunkle Hadeswelt, die lichtlose, birgt alles in eins, unterschiedslos, und ist das Reich des Todes. Damit sind die wesentlichen Momente genannt, die für Heraklit bedeutsam waren: der 138

IV. Heraklit

dunkle Bereich, in dem alles noch eins ist, und der helle, in dem das Sein zerstückelt ist, wie Dionysos Zagreus, in die vielen vereinzelten Dinge. Das dunkle Todesreich, der Mutterschoß, aus dem alles Leben aufsteigt und ins Licht tritt, wird ihm zum Symbol der physis; das helle oberweltliche Reich, der Schauplatz des ständigen Wandels, zum Symbol der vielen Dinge. Hades und Dionysos sind eins, das heißt, die beiden Reiche des einen Seins und der vielen Seienden stehen in einem unlösbaren Zusammenhang, im Zusammenhang der unsichtbaren Harmonie. Sie stehen nicht nebeneinan­ der, und in diesem Sinne ist die Rede von den beiden Reichen geradezu falsch, vielmehr geschieht immerzu ein Übergang: Aus dem Dunkel bricht das Licht, der Weltfeuerschein auf; aus dem Hades, in dem alle Zeit und alles Leben erloschen scheint, kommt die Zeit hervor, um allen Dingen ihre Weile zu lassen; aus dem einen Sein geht das viele Seiende hervor. Die Bewegung des Hervorkommens und Zurückgehens von der Welt der Dinge aus der physis und in sie zurück, diese Bewegung allein hat Heraklit im Blick, und von ihr her sind seine Ineinssetzungen des Gegensätzlichen nur zu verstehen. Diese Bewegung ist ein ständiger Weg, ein Kreislauf, in dem das Ganze selbst kreist. Und von ihm sagt Heraklit (Fr. 103), daß Anfang und Ende beim Kreise zusammenfallen.153 Der Weg dieses ewigen, immerwährenden Kreislaufes, der die Dinge aus dem Grund der physis hervorgehen läßt in ihre vergehende endliche Gestalt und sie der Vergänglichkeit überantwortet, ist ein Weg nach oben und unten, hodos anō katō.154 Der volle Gehalt dieses tiefsten heraklitischen Fragments vom „Weg nach oben und unten“ wird erst erfragbar, wenn wir die eigentlichen physis-Fragmente durchgegangen sind. Vorläufig soll es nur ein Hinweis sein. Der Weg des unaufhörlichen Übergangs von physis in die Vielfalt des Seienden ist die Dimension der „unsichtbaren Harmonie“, die er in den paradox ausse|henden Sätzen zur Aussage bringt. Hat man das einmal begriffen, dann verschwindet der Anschein eines orakelhaften Tiefsinns, der es nicht zum Begriff zu bringen vermag; es öffnet sich dann allerdings ein Abgrund für das Denken, das nur gewohnt ist, das Seiende zu bedenken und, wenn es hoch kommt, „metaphysisch“ an ihm das Sein zu Gesicht bringt. Heraklit erdenkt jene Tiefe des Seins, die alles Seiende aus sich entläßt und in sich zurücksaugt. Der im Denken der physiologoi aufgerissene Abgrund des Seins wird von der „metaphysischen Philosophie“ wieder geschlossen und verdeckt. Diese Verdeckung beherrscht die Geschichte der abendländischen Philoso­ phie. Die Vorsokratiker werden schließlich genommen als „naive Materia­ listen“. Wie wenig das zutrifft, zeigt uns schon das Fr. 10. „Ver|bindungen: Ganzes und Nichtganzes, Einträchtiges Zwieträchtiges, Einklang Zwieklang und aus allem eines und aus einem alles.“155 Für den ersten Blick sieht es wieder so aus, als wäre damit nur die wechselweise Bedingung der 139

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Gegensätze ausgesprochen, also jener Gedanke, den wir bei Reinhardt als den Zentralgedanken der heraklitischen Gegensatzlehre gedeutet sahen. In Wahrheit aber wird das Fragment erst in seinem Sinne offenbar, wenn wir es auslegen auf die Einheit von Hades und Dionysos hin oder, philosophisch bestimmter, auf den Weg des Übergangs aus der physis zu der Vielfalt der Dinge. Die physis ist das Ganze, ist das allumschließende Sein, das alles in sich birgt, das alles umfängt, und ist zugleich das Nichtganze, sofern aus ihr die vielen Dinge hervorgehen; und diese selbst scheinen eine Ganzheit zu sein, eben das, was man gewöhnlich die Welt nennt, die Allheit aller Dinge; diese Allheit des Seienden aber ist eine unganze, relative Ganzheit. Die Ganzheit der physis ist solchen Wesens, daß sie aus sich die unganze Ganzheit der weltlichen Dinge hervorbringt; aus der Eintracht des einen Seins geht die Zwietracht der vielen verschiedenen Dinge auf, die nur ihr vergängliches Sein haben und halten können im Verzehrtwerden von ihrem Gegenteil. Aus dem Einklang des in sich einen Abgrundes bricht der Zwieklang der Vielheit auf; und ganz deutlich sagen es die letzten Worte des Fragmentes: aus allem eines und aus einem alles, ek panton hen kai ex henos panta. Das Ur-eine ist das Sichentzweiende und sich wieder daraus Zurückholende. Nur auf diese Bewegung des Seins selbst hin denkt Heraklit. Das ist ihm Philosophie. Die Menschen aber vergessen des Ursprungs, aus dem die Dinge kommen, und halten das Wandelbare und Vergehende für das Sein selbst; das Seiende ist das Feld ihrer Interessen und all ihres Trachtens und Sinnens; dem Seienden zugewandt, sammeln sie Wissen in einer Vielwisserei, die doch ohne wahre Einsicht ist; sie halten sich an das Hervorgekommene, an das Vorhandene, ohne es zu begreifen als herausgestiegen aus dem umfangenden Grunde des Ursprungs, der die physis ist. | Fr. 51: ou xyniasin hokōs diapheromenon heautōi homologeei; palin­ tropos harmoniē hokōsper toxou kai lyrēs;156 „sie verstehen nicht, wie es auseinandergetragen mit sich selbst im logos übereinstimmt: gegenstrebige Vereinigung wie die des Bogens und der Leier“. Das also, was die Menschen gemeinhin nicht verstehen, ist das Auseinandergehen der einen physis in das Viele, das Aufbrechen des Lichts aus dem Dunkeln, der Hervorgang des Dionysos, des zerrissenen, zerstückelten aus der einfachen Wesenheit des Hades. Das Auseinandertretende ist aber nicht getrennt und abgerissen von seinem Grund, vielmehr ist es immer noch, selbst als Herausgegange­ nes, überholt vom Urgrund; der Urgrund der physis und die Vielfalt des Seienden bleibt geeint in einer unsichtbaren, umfangenden Harmonie: das Auseinandertretende ist auch wieder das Zusammengehende. Im Symposion spielt Platon auf das Fragment an, in einer Abwandlung, die stärker noch unterstreicht, daß Heraklit einzig im Blick auf den Ursprung hin spricht; es heißt dort: to hen gar diapheromenon auto hautō sympheresthai, hōsper 140

IV. Heraklit

harmonian toxou te kai lyras;157 „das Eine, indem es sich von sich trennt, eint sich mit sich selbst, wie die Harmonie des Bogens und der Leier“. Sichtbare Dinge, wie Bogen und Leier, werden zu Symbolen einer unsichtbaren Harmonie, die alles Sichtbare, das ins Licht Hinausgetretene, eint mit dem lichtlosen Abgrund. Wie ist die Harmonie des Bogens und der Leier zu verstehen? Über diese Frage ist ein großer Auslegungsstreit entbrannt, ein Streit, der, wie mir scheinen möchte, über der Deutung der Symbolgegenstände das Sym­ bolisierte verfehlte. Zunächst sind Bogen und Leier schon in ihrer äußeren Form ein Auseinanderstreben der beiden Äste; je stärker diese auseinander­ streben, desto größer ist die Kraft des Bogens, desto fester ist die Saite gespannt. Das Auseinander bildet so die Spannweite. Erst in der Spannung der Ge|gensätze bildet sich die Einheit. Man hat Bogen und Leier deuten wollen nicht nur als Beispiele, von denen schließlich eines so gut wie das andere ist, sondern als eine Zusammenstellung, die überdies noch einen bedeutsamen und verborgenen Sinn mitmeint. Bogen und Leier zeigen nicht nur das gleiche, eben die Einheit im Widerstreit der Spannung, sondern sie stehen zueinander selbst noch in einem Widerstreit; sie zeigen dasselbe als widerstreitende Dinge; der Bogen ist ein Instrument des Todes, die Leier ein solches der festlichen Lebensfreude; das Todsymbol und das Lebenssymbol zeigen dieselbe Struktur. Bogen und Leier aber sind die Attribute Apolls, des fernhintreffenden, der vernichtet und zugleich das Lebendige feiert. In Apoll ist die Selbigkeit des Hades und des Dionysos gleichsam selbst gemeint, der Gott des Todes und des Lebens. Gewiß ist es möglich, noch viele bedeutungsschwere Sinnmomente in der Sprache Heraklits abzuheben, die den unendlichen Zauber seiner kurzen und geballten Aus|sprüche aus­ machen. Vom Bogen selbst spricht er eine Zweideutigkeit aus im Fr. 48: „Des Bogens Name also ist Leben, sein Werk aber Tod.“158 Griechisch heißt biós Bogen und bíos Leben. So wird ihm der Name des Bogens zum Symbol des Zusammenhanges von Leben und Tod. Die Gegensatzlehre Heraklits ist, im Ganzen genommen, symbolisch. Sie zielt einzig nur auf den Zusammenhang von physis und den vielen Seienden, aber sie spricht diesen Zusammenhang aus in Bildern, die dem Feld des Seienden entnommen sind. Deswegen ist es auch so schwer zu verstehen, daß er über dieses Feld hinausdenkt. Leben und Tod, Licht und Dunkel, Hades und Dionysos bilden die Bahn seiner Symbole, in denen der Bezug des hen, des Einen, zu der Allheit des Vielen, zu den panta in die Sicht Heraklits kommt. In dieser symbolischen Weise ist auch das vielzitierte Fragment zu verstehen (Fr. 53): „Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König; die einen erweist er als Götter, die anderen als Menschen, die einen macht er zu Sklaven, die anderen zu Freien.“159 Aus der Welt der menschlichen Vorkommnisse ist eines herausgenommen, die schärfste 141

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Zwietracht, der Krieg. Das Fragment lobsingt nicht dem kriegerischen Heldentum, es meint überhaupt nichts nur Menschliches. Der Krieg als der Vater aller Dinge ist das Auseinandergehen des in der physis noch einträchtig in sich versammelten Seins in die Besonderung der Einzelheiten. Der Krieg ist ein Weltprinzip; eben als die Entzweiung des Urgrundes, der aus sich das Viele entspringen läßt, das nun eingehalten ist in den ständigen Kampf aller vergänglichen Dinge miteinander. Der Krieg, der als Lichtung des Dunkels und als Zeitigung des Vergänglichen entbrennt, ist dasjenige, das die Dinge ordnet, die taxis tou chronou, die jegliches zu dem bestimmt, was es ist, die einen zu Göttern, die anderen zu Menschen. Der Krieg als die Urzwietracht der Zeit ist das individualisierende Prinzip. Immer stoßen wir bei der Deutung der heraklitischen Fragmente auf die Zeit, aber bislang immer so, daß sie gemeint ist, aber gleichwohl nicht direkt und mit dem abstrakten Namen genannt wird. Der abstrakte Name selbst würde wenig bedeuten. Es kommt vielmehr darauf an, das Wesen der Zeit, das Wesen des Werdens aus den Symbolen Heraklits aufzunehmen und in allen ihren Zügen zu bewähren. Wir haben die heraklitische Gegensatzlehre nur in einem summarisch gehaltenen Überblick betrachtet. Wesentlich war dabei die Bemühung, uns der Dimension zu vergewissern, in welcher seine Gegensätze in eins gehen. Diese Dimension ist die größte Weite, die der Gedanke überhaupt er-denken kann; sie liegt hinaus über die unübersehbare Welt der Dinge, ist weiter als die äußersten und fernsten Sterne; es ist die Weite eines Bezuges, der alle gewordenen und im Werden währenden | endlichen, einseitigen und unter sich zwieträchti|gen Dinge zusammenhält, in einer unsichtbaren Harmonie, mit dem unendlichen und heilen Abgrund der physis. Das Denken der Philosophie geschieht in den Raum der unsichtbaren Harmonie hinein; sie ist darin fast etwas Göttliches, fast ein übermenschliches Wissen. Der Gott steht in der Offenbarkeit der unsichtbaren Harmonie; die Menschen wissen zumeist davon nichts und leben befangen in ihren fixen Unterschieden. So heißt es im Fr. 102: „Für Gott ist alles schön und gerecht; die Menschen aber haben das eine als ungerecht, das andere als gerecht angenommen.“160 | 17. Die Philosophie Heraklits stellt der Auslegung eine besondere Schwie­ rigkeit entgegen, nicht nur in der bereits besprochenen Auslegungsform, eben der tiefsinnig-dunklen Spruchweisheit, sondern in dem schwer begreif­ lichen Verhältnis seiner „symbolischen“ Philosophie zur eigentlichen Phi­ losophie. Vor der Aufgabe, diesen Übergang zu vollziehen, stehen wir. Unangemessen erscheinen uns die Deutungsversuche, die sich leiten las­ sen von einem Unterschied des abstrakten spekulativen Gedankens und der sinnfälligen konkreten Repräsentation; so sagt man z. B., Heraklits 142

IV. Heraklit

Feuerlehre ist nur eine Versinnlichung im Bereich der Anschauung und behauptet als einen realen Prozeß, als ein seiendes Geschehnis inmitten des Ontischen, was eine un-sinnliche Struktur des Seins ist; seine Feuerlehre ist Physik, was sie meint, ist Metaphysik; ein realer Prozeß steht als Zeichen für einen abstrakten, der nur dem spekulativen Denken vernehmbar ist. In einer solchen Sicht wird die Feuerlehre zum bloßen Vorhof der eigentli­ chen Philosophie herabgesetzt. Und diese Herabsetzung geschieht so, daß dabei Gebrauch gemacht wird von der Abwertung des Sinnlichen, die der abendländischen Metaphysik eigentümlich ist. Das ist im wesentlichen auch die Deutung Hegels: Er sieht den Unterschied in der Philosophie Heraklits und deutet ihn aus von der Metaphysik her. Das Sinnliche erscheint so als eine bloße Verhüllung des Gedankens, als Allegorie. Heraklit aber ist ein vor-metaphysischer Denker, ein physiologos. Die physis und sie allein ist der Gegenstand seiner denkerischen Bemühung. Die physis aber ist kein nur gedankenhaftes Sein, sondern ist das allgegenwärtige Ganze, aus dem Menschen und Tiere,161 Berge und Wälder, Land und Meer und alle leuch­ tenden Feuer am Himmel heraustreten in die sinnenfällige Sichtbarkeit. Es ist also sehr die Frage, ob man mit der Unterscheidung von real und abstrakt, von sinnlichem Zeichen und spekulativem Gedanken überhaupt einen angemessenen Leitfaden zur Hand hat, um den Unterschied von Begriffen wie Feuer, | Blitz, Hades-Dionysos, Krieg und Eintracht einerseits und logos, dikē, sophon, psychē, physis und aiōn andererseits wesentlich zu begreifen. Gewiß ist die eigentliche Philosophie Heraklits in jenen Fragmenten zu suchen, die vom logos handeln und vom schwer zugänglichen Sein, von dem „einen Weisen“, von der Seele, von der Natur und von der Zeit. Die bisher behandelten Fragmente enthalten aber nicht bloße Allegorien der eigentlichen Wahrheit; sie machen vielmehr die symbolische Philosophie Heraklits aus. Dasselbe ist es, was anwest in den auf alle Bildhaftigkeit verzichtenden Fragmenten, als auch in den gleichsam von hintergründiger Bildfülle getragenen. Gedanke und Bild fallen in eins, machen zusammen erst das ganze Symbolon aus. Die ausgezeichneten Hauptsymbole, die wir kennenlernten, waren das Feuer und die Doppeleinheit von Hades-Dionysos. Das Feuer ist, wesentlich begriffen, Licht. Das Ganze des Seins zeigt sich im Symbol des aus der verschlossenen Weltnacht aufbrechenden Lichts; in der Lichtung geht die physis aus sich heraus und auf in die Vielheit der mannigfaltigen seienden Dinge; im Hades-Dionysos-Symbol wird das Ganze begriffen als der ein­ heitliche Doppelbereich von Leben und Tod; aus dem einen, zeitlosen, alles in eins verschließenden Reich des Hades geht der zerstückelte Dionysos hervor, das principium individuationis. Dunkel und Licht, Tod und Leben werden so die Symbole der in sich verschlossenen, aus der Verschlossenheit aufgehenden physis. Und nun haben wir noch ein drittes Grundsymbol zu 143

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betrachten: den Gegensatz von Wachen und Schlaf. In diesem Symbol wird die Weltoffenheit, die alētheia, der griechische Name der Wahrheit gedacht. Wachen und Schlaf verhalten sich ähnlich wie Licht und Dunkel, Leben und Tod. Wo Heraklit in seinen Fragmenten vom Wachen und Schlafen spricht, sind nicht nur bestimmte Weisen des menschlichen Lebensvollzuges gemeint, die wir kennen und die uns tagtäglich und nachtnächtlich vertraut sind. Wachen und Schlaf konnte man ansehen als nur menschliche Vor­ kommnisse. Bei Heraklit stehen diese Phänomene in der grundsätzlichen Weite eines welthaltigen Symbols. Zunächst: Wachen und Schlafen eignet allen Lebewesen. Schlaf | ist eine Weise, oder besser: die Grundweise, wie ein Seiendes in sich verschlossen ist, wie es gleichsam „zu“ ist, nicht mehr hinauslangt aus seinem Lebensbereich in die Weite der umgebenden Dinge, nicht mehr mit den Augen, Ohren und allen Sinnen und allen Gedanken draußen ist, offen ist für das umgebende Seiende; das schlafende Lebewesen ist in sich selbst zurückgegangen. Dieses Rückgehen in sich aber ist völlig verschieden von einer reflexiven Zuwendung zur eigenen Innerlichkeit. Jene ist ja nur möglich, wo wir offen sind, wo wir wach sind für die Welt; sie ist eine besondere Weise, wie wir um uns als um die Weltoffenen wissen; der Schlafende aber verliert nicht nur die Welt, er verliert auch sich | selbst; er geht so in sich zurück, daß er gleichsam auslöscht; Schlafen ist eine Weise, wie ein sonst weltoffenes und für sein Selbst offenes Lebewesen die ganze Offenheit verliert und sich in sich verschließt. Aus dieser Verschlossenheit heraus geschieht dann das Erwachen; das Lebewesen, das in sich und zu war, geht auf, öffnet sich. Auch hier sehen wir den fundamentalen Wechselbezug von Aufgehen und Verschließen; alles Aufgehen kommt aus dem Verschlossenen und alles Verschließen kehrt aus dem Offenen zurück. Nicht nur der Mensch ist wach und ist schlafend; in diesem Rhythmus von Wachen und Schlaf ist er vor allem Naturwesen; die Natur selbst ist das Schlafende und Wachende, das stumm und lichtlos in sich Verschlossene und zugleich das Aufgehende. Wachen und Schlaf, in dieser kosmischen Symbo­ lik genommen, berühren sich immer: Alles Wachen kann nur aus dem Schlaf kommen und aller Schlaf nur aus dem Wachen. So heißt es im Fragment 26: „Der Mensch rührt in der Nacht ein Licht an, wann sein Augenlicht erloschen; lebend rührt er an den Toten im Schlaf; im Wachen rührt er an den Schlafenden.“162 So also, wie man ein Licht entzündet in der Nacht, so ist die Wachheit und die Weltoffenheit inmitten der schlafenden Verborgenheit des Seienden im Ganzen; der lebende Mensch berührt im Schlaf, d. h. im Insichverschlossensein, den Toten, d. h. den völlig in sich Verschlossenen, so wie er im Wachen den Schlafenden berührt. Schlaf und Tod verhalten sich wie Wachen und Schlaf. Aber dieses Verhältnis ist kein bloßes poetisches Gleichnis. Es ist eine innere Entsprechung damit ausgesagt. Leben und Tod stehen nicht nur übergangslos einander gegenüber; der Übergang ist der 144

IV. Heraklit

Schlaf. Der Schlaf der Welt: Das Seiende, das die physis herauswirft aus ihrem nächtlichen Schoß, steht noch nicht in der vollen Helle der Offenheit für das Ganze; das an seine Einzelheit entlassene Seiende ist gleichsam noch halb geborgen im naturhaften Grund und seinem alldurchflutenden Leben; es ist schon ausgesetzt, aber erfährt die Schärfe dieser Ausgesetztheit nicht ganz, es dämmert dahin, traumhaft. So halb geborgen und halb gefährdet ist alles Sein der Pflanzen und Tiere. Der Mensch aber hat die Auszeichnung, am meisten wach sein zu kön­ nen unter den Lebewesen, seine Weltoffenheit ist nicht nur eine solche der jeweiligen Sinne, sondern vor allem eine solche des Gedankens. Denkend zu sein ist höchste Wachheit. Und diese höchste Wachheit ruht auf dem Grunde der Verborgenheit und der Insichverschlossenheit des Seienden im Ganzen und ist nur in solchem Aufruhen, oder heraklitisch gesprochen: im Anrühren derselben möglich. Der Erwachende geht auf, geht aus sich heraus, hält sich offen für den Zudrang aller begegnenden Dinge. Im Fragment 75 nennt Heraklit die Schlafenden „Werker und Mitwirker an den Geschehnissen der Welt“163. Was werken die Schlafenden? Sind sie nicht vielmehr alles Wirkens bar und ledig? Aber gerade dieses Frag|ment spricht eine tiefe Einsicht aus: das Insichverschlossensein ist gerade der Grund, in dem sich alles bereitet, was nachher aufgeht und im Licht sich zeigt. So ist auch die Nacht der verborgenen physis der schöpferische Grund, in dem sich alles bereitet, was ans Licht kommt. Wachen und Schlaf, Leben und Tod, Dunkel und Licht ‒ all dies ist im Grunde nur ein Symbol. Im Gegensatz von Wachen und Schlaf denkt Heraklit symbolisch nicht nur Weisen des menschlichen Lebens, sondern | die Grundweisen des Weltganzen: die insichseiende Geborgenheit des verschlossenen Urgrundes und die ausgesetzte Offenheit für das Ganze. Die ausgezeichnete Stellung des Menschen, sein Weltort gründet darin, beiden Weisen anzugehören. Von da aus bestimmt sich dann in der eigentlichen Philosophie Heraklits das Wesen der psychē. Zunächst halten wir diese Bezüge fest, um das Fragment 89 zu verste­ hen, in welchem Heraklit die entscheidende Aussage über Wachen und Schlafen macht. Es heißt dort: „Die Wachenden haben eine einzige und gemeinsame Welt, doch im Schlummer wendet jeder sich ab von dieser an seine eigene.“164 Der kosmos der Wachenden ist ein kosmos koinos, die Welt der Schlafenden ist ein kosmos idios. Was ist das für eine Aussage? Ist dies nur eine psychologische Feststellung? Keineswegs. Wachheit ist die Offenheit des Einzelnen für die allen gemeinsame, die wahrhaft seiende Welt; der wirklich Wache ist nicht mehr befangen in Traumgebilden, die nur ihm angehören, sondern steht im Raume des gemeinsam zugänglichen Seienden. Was der Wache sieht, kann der andere Mit-Wache auch sehen. Am Traum des anderen aber kann ich nie teilhaben; ich kann nicht mitträumen. Der Träumende ist in seine Eigentümlichkeit verstrickt und in ihr gefangen; 145

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was er vernimmt, sind nur Bilder, die ihm erscheinen, die er mit niemandem teilen kann. Hier gilt es eine Grundstruktur einzusehen: Je weniger ein Mensch ein Einzelner ist, je mehr er in einer dämmerhaften, traumhaften, halb schlafenden Weise noch dem Insichsein der Natur zugehört, desto befangener und „subjektiver“ sind seine Anblicke, ist seine Welt. Und umge­ kehrt, je schärfer die Vereinzelung ausgeprägt ist, die Abgelöstheit aus dem bergenden Naturgrunde, desto weniger subjektiv, desto objektiver, wahrer ist seine Welt. Die höchste Wachheit erst hat die größte Offenheit. Und nun kommt bei Heraklit eine bezeichnende Wendung des Gedankens. So wie wir gewöhnlich den Unterschied von Wachen und Schlaf, von Traumwelt und wahrer, wirklicher Welt, von kosmos koinos und kosmos idios gebrauchen, so ist ‒ von der Philosophie her gesehen ‒ die Welt der meisten wachenden Menschen nicht besser als eine Traumwelt, ein unwirklicher kosmos idios; die Menschen treiben sich um in einem Netzwerk von Vorurteilen und übernommenen Meinungen; ihr Wachen ist eigentlich ein Schlaf mit wirren Träumen; sie geben für das Seiende aus, was der denkenden Prüfung nicht standhält; sie | unterscheiden und fixieren Gegensätze, wo in Wahrheit ein umgreifender Bezug das Ganze des Auseinandergerissenen trägt: tous de allous anthrōpous lanthanei hokosa egerthentes poiousin, hokōsper hokosa heudontes epilanthanontai;165 „Den anderen Menschen bleibt unbewußt, was sie nach dem Erwachen tun, so, wie sie das Bewußtsein verlieren für das, was sie im Schlafe tun“ (Fr. 1). Die eigentliche, die wahrhaft wache Wachheit ist die Weltoffenheit der Philosophie. Was sonst Wachheit heißt, gehört noch dem Schlaf der Welt an, der die Lebewesen umfängt. Man könnte versucht sein, in diesen Gedanken ein Beispiel sehen zu wollen für die Hybris der Philosophen, die sich für klüger halten als die anderen Menschen und als Folie ihrer Klugheit die Befangenheit der Mitmenschen brauchen. So wird immer und zu allen Zeiten gegen die Philosophie geredet; der Anspruch, mit dem sie auftritt, wird von vornherein in den Bezirk der bloß menschlichen Haltungen abgedrängt. Aber hat man dann überhaupt noch die Philosophie als Objekt des Spottes? Philosophie ist das Menschlichste des Menschen, sein eigentliches Wesen; aber sie ist nie, wenn sie sich als das begreift, im Raume allzumenschlicher Eitelkeiten. Ihr Selbstverständnis lebt nicht aus dem Pathos der Distanz zu den anderen. Heraklit sagt im Fragment 43: „Überhebung soll man löschen mehr noch als Feuersbrunst.“166 Die Hybris ist das größte Mißverständnis der Philosophie. In jener Weltoffenheit, die die philosophische Einsicht aufbricht, kommt Heraklit in den wahren kosmos koinos, die allen gemeinsame Welt. Der Philosoph denkt nur, was alle denken könnten. Xynon esti pasi to phroneein,167 „Gemeinsam ist allen das Denken“ | (Fr. 113); und ebenso Fragment 116: „Allen Menschen ist es zuteil geworden, sich zu erkennen und besonnen zu sein“.168 Diese Sätze 146

IV. Heraklit

treffen keine Feststellungen, sondern machen eine Wesensaussage über den Menschen; der Mensch ist wesentlich bestimmt durch die Möglichkeit der höchsten Wachheit, d. h. der Weltoffenheit für das Ganze. Diese Wachheit ist nicht nur das sinnliche Offensein des Menschen, sondern ist darüber hinausgehend das Vernehmen der „unsichtbaren Harmonie“, die den ver­ schlossenen Weltgrund der physis eint mit ihrem Auseinandergehen in die Vielfalt der erscheinenden Welt, eint das diapheromenon, das Entzweite, wie die Harmonie des Bogens und der Leier. Die so das Ganze umgreifende Wachheit ist eine Möglichkeit des Menschen, kein ihm zugefallener Besitz. Besitz kann sie nur dem Gott sein. Heraklits symbolische Philosophie findet ihren Abschluß in seiner Theologie. Im Fragment 78 ist diese Theologie lapidar zusammengefaßt: ēthos gar anthrōpeion men ouk echei gnōmas, theion de echei;169 „denn menschliches Wesen hat keine Einsichten, wohl aber göttliches“. Damit wird nicht dem Menschen die alētheia, die Wahrheit überhaupt abgesprochen, aber sie wird als ein menschlicher Besitz verneint; dem Menschen ist Wachheit, Wahrheit nur | möglich im Zugehen auf das, was der Gott schon hat; der Mensch muß kämpfen um die Wahrheit, sich ihr in einem mühsamen Aufstieg nähern. Dieses Verhältnis des Menschen zum Gott wird bei Heraklit begriffen als ein Verhältnis des Maßes; seine Theologie besteht nicht in einer Zuwendung des Menschen zu den Göttern; die Zuwendung, die der Auftrag des Menschentums ist, ist die Zuwendung zur Wahrheit; aber in solcher Zuwendung bleibt der Mensch weit hinter den Göttern zurück; „Der Mann heißt kindisch vor der Gottheit sowie der Knabe vor dem Manne“170 (Fr. 79); und Fragmente 82, 83 verschärfen dieses Verhältnis: „Der schönste Affe ist häßlich, mit dem Menschengeschlechte verglichen“171. „Der weiseste Mensch wird gegen den Gott gehalten wie ein Affe erscheinen in Weisheit, Schönheit und allem anderen.“172 Heraklits symbolische Philosophie nimmt den Gott als den Wissenden der ganzen Wahrheit vom Ganzen des Seins; und so ist er das übermenschliche Maß des Menschen und sein Ideal. Neben den Fragmenten, welche den Gott als den Wissenden der Wahrheit begreifen, steht aber auch noch ein anderes, das rätselhafte Fragment 67. Der Gott ist nicht nur das Wissen, sondern ist die Wahrheit selbst, ist die alētheia, ist die harmoniē aphanēs, ist selbst das Licht, das das Weltall erhellt. Es heißt dort: „Gott ist Tag Nacht, Winter Sommer, Krieg Frieden, Sattheit Hunger; er wandelt sich gerade wie das Feuer, das, wenn es mit Räucherwerk vermengt wird, nach dem Duft eines Jeglichen heißt.“173 Das ist kein Stück negativer Theologie, die Gott mit gegensätzlichen und gegensprechenden Attributen ausstattet, um ihn über den Widerstreit aller endlichen Bestimmungen zu erheben und ihn mit dem Geheimnis der Unbegreiflichkeit zu umhüllen. Bei Heraklit sind die Gegensätze und ihre Einheit selbst gemeint. Der Gott ist die ganze Wahrheit 147

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von Hades und Dionysos, von Einheit und Vielheit, von Dunkel und Licht, von Entzweiung und Eintracht; diese ganze Wahrheit ist Zeus, der Herr des welterhellenden und weltlenkenden Blitzes. Es ist zutiefst bezeichnend für Heraklits philosophische Theologie, daß die Götter die Festigkeit ihrer mythologischen Figur verlieren und Symbole werden; er tadelt die Menschen, die so zu den Götterbildern beten, wie wenn einer mit Häusern reden wollte, weil sie die Götter und Heroen nicht als das erkennen, was sie sind (Fr. 5).174 Was aber sind ihm die Götter? Sind es nur Allegorien für Gedanken der Philosophie, blasse Schemen, die von der bunten Welt der Vorstellung Kleid und Glanz leihen? Heraklit löst die Götter nicht in der Philosophie auf. Götter sind waltende Seinsmächte, die der Gedanke vernimmt; jene Seinsmächte der ständigen Wandlung von Nacht in Tag, von Einheit in Vielheit und aus | allem zurück; sie sind, wie das Fragment 62 sagt: „Un|sterbliche: Sterbliche, Sterbliche: Unsterbliche; denn das Leben dieser ist der Tod jener und das Leben jener der Tod dieser.“175 Mit diesem Fragment, das das Tiefste aussagt über das griechisch begriffene Verhältnis von Gott und Mensch, verlassen wir die „symbolische Philosophie“ Heraklits. Seine eigentliche Philosophie wird durch wenige Grundbegriffe umschrieben. Die Deutung der hier in Frage kommenden Fragmente wird wesentlich schwieriger, und zwar gerade weil wir zunächst des Glaubens sind, Begriffen zu begegnen, die in der Geschichte der Phi­ losophie sich weiterhin entfaltet haben. Z. B. der Begriff des logos bildet ein unverlierbares Thema der gesamten antiken Philosophie; bis heute haben wir eine ununterbrochene Geschichte der Logik; oder der Begriff der psychē scheint uns ebenso vertraut und als Titel für rein theoretische Fragen geläufig. Aber wir müssen vor allen solchen voreiligen Interpretationen erst fragen und in einem fragenden Denken begreifen lernen, wie Heraklit von logos und psychē spricht. Die Anforderung an das Nachverständnis ist bei weitem größer als in der symbolischen Philosophie. Dort bewegen wir uns schon von Anfang an in der ahnungshaften Helle, die alle Symbolik auszeichnet. Heraklits symbolische Rede erreicht einen dichten176 Zusam­ menschluß im Begriff des Gottes, der alle Gegensätze und ihre Einheit, der die unsichtbare Harmonie des Weltganzen selber „ist“. Im Fragment 32 heißt es nun: hen to sophon mounon legesthai ouk ethelei kai ethelei Zēnos onoma;177 „Eins, das allein Weise, will nicht und will doch mit dem Namen des Zeus benannt werden“. Hen to sophon? Das eine Weise? Was ist in diesem Begriff Heraklits gedacht? Läßt sich überhaupt die Fülle des darin zusammengehenden Denkens sozusagen mit einem Schlage angeben? Das ist überhaupt bei keinem philosophischen Begriff der Fall; jeder erfordert eine eigentümliche Exposition, einen Weg des Denkens, der ausgeht von dem sich zunächst anbietenden geläufigen Sinn. To sophon aber ist ein Fun­ damentalbegriff; seine wahrhafte Exposition ist die Entfaltung der ganzen 148

IV. Heraklit

Grundgedanken der heraklitischen Philosophie: er steht in wesentlichem Bezug zu den anderen Grundbegriffen des logos, der psychē, der dikē, der physis und des aiōn (der Zeit).178 Wir beginnen mit einer Vorüberlegung. To sophon, das ist wieder eine bei den Griechen so beliebte Bildung: ein Neutrum. Das Neutrum gilt uns als etwas „nur Sächliches“, als etwas Unpersonales, etwas, das kein Ich, kein Wer ist, und zu dem man sich nicht in einem echten Zutrauen verhalten kann. Dieses unpersönliche, den persönlichen Kontakt gleichsam von sich abwehrende und weghaltende aber ist auch kein bloßes Gedankending, ein Abstraktum; to sophon ist nicht die Weisheit; es ist das Weise. Weise-sein, so könnte man mei|nen, kann doch nur solchem zukommen, das eben die Möglichkeit hat dazu, eine Fähigkeit, ein Vermögen; weise kann nur etwas durch Verstand, Erkenntnis, Vernunft Bestimmtes sein; ja nur etwas, das Vernunft im höchsten Sinne hat, kann weise genannt werden. Mit andern Worten, weise kann als Prädikat nur einem Seienden zukommen, das durch Subjektivität, durch Ichlichkeit usf. charakterisiert ist, also einer Person. Weisheit ist prinzipiell eine personale Möglichkeit. Aber gerade die Personalität wird mit der neutralen Bildung ausgeschlossen. Das Weise im Sinne Heraklits ist kein vernunftbegabtes Lebewesen, weder ein Mensch noch ein Gott, es ist kein Ding unter Dingen, kein einzelnes Seiendes. Es will und will nicht mit dem Namen des Zeus benannt werden. Das könnte man auch zunächst so verstehen: Heraklit hat einen tieferen und reineren Gottesbegriff als die damalige Volksreligion; er steht vielleicht schon in der Ahnung des höchsten Wesens, des einen einzigen xenophantischen Gottes; der Zeus des | Volksglaubens ist ein sehr vermenschlichter Gott; die reinere Idee Gottes, die der Philosoph hat, unterscheidet sich von Zeus, will nicht mit seinem Namen genannt werden; so aber ist sie das Namenlose und Unaus­ sprechbare, und so fordert das Sagen dann doch wieder die symbolische Verwendung des mythologischen Namens. Eine solche Deutung erscheint uns ganz abwegig. Heraklit geht es in diesem Fragment nicht um eine „reinere Gottesidee“, nicht um eine Gegenstellung gegen den Volksglauben; es geht allein um das Verhältnis eines mythologischen Symbols zu einem Grundbegriff der Philosophie. To sophon, dieses Neutrum, will und will auch nicht mit dem personalen Namen des höchsten Gottes angesprochen werden; es entzieht sich gerade der personalen Kategorie. Das hat für uns etwas bestürzend Befremdliches. Die Neutra, die bloßen sächlichen Dinge, erscheinen uns wie Privationen eines volleren Seins, eben als minderen Ranges denn die selbsthaften Dinge. Diese Auffassung hat ihre tiefen geschichtlichen Wurzeln, denen wir jetzt nicht nachgehen können; sie liegen zum Teil im Christentum und vor allem in der neuzeitlichen Grundstellung des Menschen zum Ganzen des Seienden. Das bloße, wer-lose und so auch wehrlose Naturding ist nur 149

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ein Material, etwas, worüber verfügt wird im menschlichen Planen und Machen; die bloßen leblosen Dinge sind nur das Feld und der Schauplatz des menschlichen Wirkens, sind der immer zu bearbeitende spröde Stoff, dem der Mensch Gestalt und Nutzung abringt. Die Natur als umweltliche begegnet uns dann vornehmlich in den zwei Hinsichten, als Feld der Arbeit, und ‒ romantisch ‒ als Feld des Naturgenusses; man sucht Ruhe, Frieden oder Beschaulichkeit. Aber es ist die schwere Frage, ob in den Hinsichten, die der moderne Mensch hat, noch ein echtes und ursprüngliches Verhältnis zur Natur möglich ist, wo sie weder nur „gebraucht“ noch nur „bewundert“ wird. Gerade in der gleich|sam selbstverständlichen Rangordnung, nach welcher wir das Neutrum, d. h. das nicht durch Selbstheit (Personalität) bestimmte Seiende niedriger ansetzen, kommt ein uns beherrschendes Mißverhältnis zur Natur zum Vorschein. To sophon, das Weise, wird nicht „niedriger“ ange­ setzt, wenn der Name des Zeus von ihm genommen wird. Es ist keineswegs ausgemacht, daß dieses Neutrum weniger ist als der Gott. Die Philosophie Heraklits denkt in eigentlicher Weise das, was die Mythologie personal als den Zeus nennt, neutral als to sophon. Was liegt in dieser Neutralität? Erhebt am Ende die Philosophie, umkehrend die gebräuchlichen Ansichten, das Sein der leblosen Sachen zum Maß des wahren Seins? Keineswegs. Sachen und Lebewesen, Feldsteine und Götter sind „Seiendes“, sind solches, das herausgekommen ist aus dem Grund der allumfangenden physis. Feldsteine und Götter sind je einzelne. Das sophon aber ist nicht hen, ist nicht eines im Sinne der numerischen Einzelheit, sondern ist eines in ganz anderer Weise als je die vielen Dinge je einzelne und einshafte sind. Der Sinn des sophon bestimmt sich aus dem ihm zugehörigen hen. Einheit gebrauchen wir in vielfachem Sinne. Einheit kann besagen das Eins-sein gegenüber vielfachen Wiederholungen solcher Einsheiten; jedes Seiende ist eins und kann mit anderem zusammengestellt werden; ein Ding aber ist auch eine Einheit als das Ganze, das alle verschiedenen Momente und Seiten umgreift; ein Ding kann eins sein als ein Einfaches, nicht Zusammengesetztes; Einheit kann wiederum sein die Einigung des Entzweiten usf. Einheit der Zahl, Einheit der Gestalt, Einheit des Einfachen, und Einheit des Einigens: das sind nur so regellos aufgegriffene Weisen, wie wir Einheit immer schon verstehen und damit umgehen. Ist irgend etwas davon nun brauchbar, um die Einheit des sophon zu charakterisieren? Das sophon, das Weise ‒ das halten wir fest ‒ ist kein Weiser, ist kein personaler Verstand, ist ein Weises; aber auch das ist falsch; | es ist nicht „ein“, sondern das Weise, hen to sophon. Es kann keinen Plural kennen, es ist nur eines. Worin gründet aber nun seine Einsheit? Wie läßt sich diese verständlich machen? Dafür wählen wir einen Hinblick auf ein Hauptfragment, um das wir immer wieder auslegend kreisen müssen, das Fr. 50: ouk emou, alla tou logou akousantas homologein sophon estin hen panta einai;179 „Haben sie nicht mich, sondern den logos vernommen, 150

IV. Heraklit

so ist es weise, dem logos gemäß zu sagen, alles sei eins.“ Bevor wir die Bedenklichkeit dieser Übersetzung uns vergegenwärtigen, sehen wir doch daraus, daß ein wesentlicher Zusammenhang besteht zwischen hen, panta und sophon, d. h. zwischen allen vielen Dingen und dem ur-einen Grund und dem sophon, dem Weisen, das diesen Zusammenhang denkt. Damit haben wir das Eingangstor zur eigentlichen Philosophie Hera­ klits betreten ‒ und stehen auch vor den Problemen „der eigentlichen Inter­ pretation“.180 | 18. Hen to sophon, das eine Weise will und will nicht mit dem Namen des Zeus benannt werden. In diesem Satze Heraklits ist der Anspruch der Philosophie formuliert, die Wahrheit der Religion auszusagen. Was der Mythos unter Zeus meint, sagt die Philosophie im Begriff des sophon. Und dabei ist das sophon nicht vom Zeus her zu denken, sondern umge­ kehrt. In der Situation des Nachverständnisses aber ist uns das Bekanntere der mythologische Begriff des Zeus. Der oberste Gott des Olymps, der Allesdurchwaltende und alles Lenkende, steht nicht wie der Gott des Chris­ tentums als allmächtiger181 Schöpfer einer geschaffenen Welt gegenüber; er gehört vielmehr hinein in den Zusammenhang des Seienden im Ganzen; er ist selbst ein Aufgegangenes aus der physis; er ist das, was sonst sein Attribut genannt wird, er ist der Blitz, d. h. das aus der chaotischen Nacht der physis aufbrechende Licht, das lichtende Weltfeuer, das alles erhellt. Er ist der Sohn des Chronos, der Sohn der Zeit. Zeus ist die Helle im Raume des Werdens, des Entstehens und Vergehens, und ist so das Ordnende. Hier kommt eine griechische Grunderfahrung zum Ausdruck. Ordnung ist nicht primär eine in einem planenden Herstellen und Eingreifen182 bewirkte Zusammenstellung oder Umstellung der vorhandenen Dinge, sondern ist das Gelichtetsein des Seienden: das Dastehen aller Dinge im Licht, im Umriß ihrer Gestalt, die einen festen und sicheren Anblick bietet. Zeus ordnet die Welt, nicht indem er waltet und schaltet und hineinhandelt in den natürlichen Gang der Dinge; er ordnet die Welt, indem er sie ins Licht bringt. Zeus ist das Licht der Welt. Was diese mythologische Metapher sagt, denkt die Philosophie Heraklits im Begriff des sophon. Das „Eine Weise“ ist das welterhellende Licht der „Vernunft“. Es ist das Vernünftige. Hier kommt alles darauf an, das scheinbar Widersinnige zu denken einer Vernunft, die niemandem gehört. Für uns ist geradezu eine triviale Selbstverständlichkeit, daß „vernünftig“ im eigentlichen Sinne nur eine Person sein kann und erst in einem abgeleiteten, analogen Sinne auch eine Handlung, eine Verordnung, eine Staatseinrichtung; die Vernunft erscheint uns als ein Vermögen des Menschen. Wenngleich wir zwar diese nicht den einzelnen Individuen als Eigentum zurechnen, so doch dem Menschengeschlecht oder, noch weiter 151

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gefaßt, den Intelligenzwesen überhaupt. Vernunft hat für uns die Seinsart der Subjektivität. Auch dort, wo wir von einer Weltvernunft, einem absoluten Geist und dergleichen sprechen, ist die Kategorie der Personalität, wenn auch in abgewandelter Form, mit im Spiel. Vernunft scheint uns nur möglich, wo das Leben nicht nur an sich ist, sondern sich zu sich selbst verhält, wo es auch „für sich“ ist, wo es selbsthaft ist. Und das besagt noch ein Weiteres. Fürsich-sein und Selbsthaftig|keit des Lebens entspringt einer Entgegensetzung zur Natur. Sofern der Mensch sich als ein Vernunftwesen begreift, gehört er der Natur nicht an, ist er über seine Daseinsgrundlage, welcher er als Natur­ wesen hörig ist, erhoben. Diese beiden Motive: die Selbsthaftigkeit und die Gegenstellung zur Natur, kennzeichnen die Geschichte des Vernunftbegriffs im Gange des abendländischen Denkens; sie erreicht ihren Höhepunkt in der Philosophie Hegels, der die Natur als „das Anderssein der Idee“ aus der Vernunft abzuleiten versuchte. Es ist ein welthistorischer Prozeß, in welchem sich die Ablösung der Vernunft aus dem Naturgrunde vollzieht, die Naturentfremdung der Vernunft: Es ist die Geschichte der Metaphysik. Den metaphysischen Begriff der Vernunft aber dürfen wir nie und nimmer in das heraklitische sophon zurücktragen: Es ist weder ein primär selbsthaft Vernünftiges, noch ein Vernünftiges, das durch die Ablösung von der Natur bestimmt ist. Es ist ein Neutrum: to sophon, und es gehört der Natur an als das aus ihr aufgebrochene Licht. Der Vergleich mit dem Licht ist mehr als nur eine Metapher, es liegt vielmehr eine tiefe Entsprechung darin ‒ ein selbiges Grundwesen zeigt sich im sophon und im Licht. Wir sehen im Licht; wir sehen die Dinge und sehen zumeist nicht hin auf das Licht; es ist das Medium, das Worin des Sehens; das Licht ist nicht an den Dingen und nicht in unseren Augen, es ist gerade das Zwischen, der Zwischenraum des Bezuges, in | dem das Sehen sich aufhält. Das Licht ist so weder ein Objektives noch ein Subjektives, sondern ein Bezugsphänomen. Und dieses Phänomen wird durch eine physikalische Theorie der Lichtschwingungen überhaupt nicht getroffen. Das sophon, das Weise, das Vernünftige, ist weder ein selbsthaft Seiendes, das dem Menschen angehört, noch eine selbstlose „Sache“; es ist strenggenommen überhaupt kein Seiendes, sondern ein alles Seiende durchwaltender Bezug. Dadurch daß der Mensch, das Selbst, teilnimmt an diesem Weltbezug, kommt ihm Vernünftigkeit zu und ebenso den Din­ gen dadurch, daß sie im Lichte des Vernünftigen erscheinen. Das sophon Heraklits ist in einem strengen Sinne die Welt-Vernunft; also nicht ein irgendwie phantastisches „Subjekt“, der „absolute Geist“ und dergleichen. Wir übersetzen es als das Offene. In der gelichteten Weite des Offenen geschieht alles Vernehmen und Sichzeigen der Dinge. To sophon ist der positive Name für die alētheia. Alētheia, charakterisiert durch das Alpha privativum als ein Negatives, als das Unverborgene und Unvergeßliche, 152

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als das der Verborgenheit und der Vergessenheit zu Entreißende, ereignet sich in der Existenz des Menschen. Das Grundwort der alētheia spricht das Wesen der Wahrheit in der Hinsicht auf den Menschen als den Ort des Wahrheitens aus. Aber alles menschliche Entbergen des Verborgenen ist im Vernehmen, Verwahren und Aussagen nur möglich, wenn zuvor | das Licht das Seiende und das Auge des Menschen erhellt hat. Das Wahrheiten, das alētheuein, fordert schon den Stand des Menschen in einer gelichteten Welt. Das Seiende muß von sich selbst her aufgegangen sein aus dem Allgrund der physis und eingegangen sein in seine endliche Gestalt, überantwortet dem Wandel, und muß im Licht dastehen, um sich zu zeigen in seinem Aussehen. Und was das Licht für das sinnliche Sehen, das ist das Offene für alles Vernehmen überhaupt. In dieses Offene gehen alle Dinge auf, um dort zu währen ihre Weile und sich zu zeigen und zu erscheinen. Das Offene ist die Welt. Welt ist nicht primär ein Inbegriff, eine Ansammlung von Dingen, eine Summe oder ein Aggregat; Welt ist kein Haufen, sondern ist der gemeinsame Aufenthalt aller Dinge, wo ihr Erscheinen geschieht. Das sagt aber, sie ist der Raum des Sichzeigens und des Vernehmens des Sichzeigenden, ist der Raum der Vernehmbarkeit; Vernehmen und Vernehmbares in eins gesehen und begriffen von dem her, was erst dieses Zusammen ermöglicht, ist die „Vernunft“ als eine Seinsmacht. Das Offene ist Welt und ist Vernunft; ist Weltvernunft. So müssen wir in einem ersten Anlauf den Begriff des sophon fassen, um zu verstehen, daß diese niemandem gehörende, aber alles Seiende in sich lichtende Vernunft „will und doch nicht will, mit dem Namen des Zeus benannt zu werden“. Das eine Weise, das sophon, so sahen wir aus dem Fragment 50, steht in einem grundsätzlichen Zusammenhang mit hen und panta. Das müssen wir jetzt genauer zu begreifen versuchen. „Haben sie nicht mich, sondern den logos vernommen, so ist es weise, dem logos zustimmend zu sagen, alles sei eins.“ Heraklit spricht nicht aus der Autorität seiner Person; das, was er zu sagen hat, geschieht nicht von ihm her, ist nicht seine ihm gehörende Einsicht; er spricht, in der Zustimmung zu dem logos, das Weise aus: alles ist eins. Das ist kein weiser Satz, eben ein Satz der Weisheit, neben dem noch viele andere weise Sätze möglich wären. Vielmehr ist es der Satz der Weisheit, weil die Weisheit in nichts anderem besteht als in dem Wissen, alles ist eins. Das Einssein von allem aber ist nicht nur der Wissensinhalt der menschlichen Weisheit; das Weise, to sophon, ist in sich selbst das Licht, in dem das Einssein von Allem sich zeigt. Das weltdurchwaltende Weise, die Weltvernunft ist das Offenstehen für das Einssein von Allem. Was, so fragen wir weiter, ist aber dieses Einssein? Ist damit eine Einheit aller Dinge behauptet, die uns bekannt ist etwa als die These des Pantheismus? Pantheismus ist längst eine trivialisierte Sache geworden. Keineswegs dürfen wir von dort her die Kategorien des 153

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Verstehens beziehen, um die frühe Weisheit des vorsokratischen Denkens uns zu vergegenwärtigen. Der Pantheismus, der selbst in die Geschichte der Metaphysik hineingehört, beruht wesent|lich auf einer Gegenstellung gegen den personalen Gottesbegriff des Christentums. Das Fragment 50 nennt in einer unvergleichlichen Kürze | einen Zusammenhang von Grundbegriffen: den logos, das homologein, das sophon, das panta, das hen und das einai. Homologein ist die menschliche Weise überhaupt, am logos teilzunehmen. Das Zustimmen, das Sich-im-Einverständnis-mit-ihm erklären ist nicht eine beliebige Art des menschlichen Miteinanderseins. Im Mitsein mit anderen haben wir immer die Möglichkeit, mit oder gegen sie zu leben, in Eintracht oder in Zwietracht uns zum Mitmenschen zu verhalten; und so können wir übereinstimmen mit den anderen in den Ansichten über die Dinge, über Welt und Gott ‒ oder können uns von den allgemeinen und anerkannten Ansichten distanzieren, nicht übereinstimmen, uns auf eigene Einsichten stützen usw. Das Verhalten des Menschen zum logos aber ist kein mitmenschliches Verhalten, das Übereinstimmen hat nicht den Charakter des mitmenschli­ chen Einverständnisses. Das kann erst klar werden, wenn wir verstanden haben, was Heraklit unter logos denkt. Logos ist nicht nur das Vermögen des menschlichen Sagens, das Vermögen der Rede, des wahren oder falschen Sprechens über Dinge, logos ist hier viel ursprünglicher gedacht und meint ebenso wie to sophon eine das Ganze des Seienden durchwaltende Seins­ macht. Wie diese aber zum sophon steht, werden wir183 ausführlicher erör­ tern müssen. Jetzt184 ist es nur wesentlich, festzuhalten, daß das homologein, das aus dem Einverständnis geschehende Mitsagen des Menschen, keinen zwischenmenschlichen Bezug bedeutet, sondern das grundsätzliche Verhält­ nis des Menschen überhaupt zu allem weltdurchwaltenden Sinn; vernünftig ist der Mensch nicht von sich aus, wenn er sich auf sich selbst stellt. Das war die metaphysische Grundauffassung des neuzeitlichen Rationalismus. Vernünftig ist der Mensch vielmehr, wenn er sich im Einklang mit einer über-menschlichen, durch alles Seiende hindurchgehenden Vernunft befin­ det; nicht wenn er aus sich, sondern wenn er aus dem Ganzen her existiert, wenn er in der Offenheit des Ganzen steht. Menschliche Vernünftigkeit ist so grundsätzlich eine miteinstimmende, eine „homologische“. Im homologein wird gerade das Allgemein-Vernünftige, das als Weltvernunft das Offene offenhält für den Vorschein aller Dinge, für ihr Erscheinen, vernommen, wird das hen to sophon, das eine Weise erfahren; es ist eines, weil es nicht den vielen Dingen vielfach zugehört, den vernünftigen Lebewesen, sondern weil es eine allgemeine, Welt erhellende Vernunft ist, an der die Vernunftwesen teilnehmen; und es ist ferner eines, weil es nur eines offenhält: das Einssein von allem. Um den abstrakten Sinn zu veranschaulichen, weisen wir wieder hin auf das Licht. Das Licht als der Tag genommen, als hēlios, ist eines, 154

IV. Heraklit

es gehört niemandem; nicht den vielen Sehenden und nicht den vielen gesehenen Dingen; im einen Licht werden die vielen sich zeigenden Dinge von vielen Vernehmenden vernehmbar; und es ist auch eines, sofern es nur eines offenhält: den Raum der Sichtbarkeit, und | in diesem zugleich das Viele sehen läßt und den Einheitszusammenhang des Vielen. Wir sehen nie ein Einzelnes allein, sondern immer in einer Umgebung, in einem Ganzen. Das Licht, das das Einzelne abgrenzt in seinen Anblick, verschafft zugleich den Überblick über das Ganze. Gibt dieses Gleichnis, das ja mehr ist als nur eine Metapher, uns eine Anweisung, bestimmter nach dem Einssein von allem zu fragen? Welche möglichen Weisen von Einssein sind dabei mitzudenken? Was verstehen wir unter ta panta, unter allen Dingen? Die Dinge sind uns ständig zur Hand, wir brauchen sie nur auszustrecken, um darauf zu deuten. Wir sind nie ohne eine Vielfalt von Dingen; um uns herum stehen sie, bewegen sie sich. Dinge sind nicht nur die leblosen Dinge, die Bänke185 im Hörsaal, das Haus, draußen die Bäume, die Wolken, die Gestirne ‒ Dinge sind wir selber, wir Menschen, aber auch die Tiere, die Lebewesen. All das nennen wir in einem weiten Sinne: die Dinge. Unabsehbar und unabzählbar breitet sich um uns das weite Feld der Dinge; überall sind Din|ge, nirgends ist Nichts. Zu allen Zeiten sind Dinge, ehe wir waren, und wenn wir nicht mehr sein werden; immer sind Dinge; aber die Dinge selber sind nicht immer, sie stehen in einem steten Wandel, sie kommen und gehen; wo eines geht, bleibt kein leerer Platz; unerschöpflich quillt das Werden und unerbittlich holt der Tod zurück. Wenn wir denkend die Dinge überschauen, so zeigen sie sich in verschiedenem Aussehen, sie bieten je einen anderen Anblick; nach dem Anblick unterscheiden wir die Dinge, teilen sie ein in Gattungen und Arten; wir unterscheiden die Menschen, die Tiere, die Pflanzen, die Steine, die Menschenwerkgebilde wie Hammer, Denkmal, Staat usf. Das All der vielen Dinge ist ein gegliedertes Ganzes, das in Bereiche zerfällt. Die Dinge der verschiedenen Bereiche sind verschieden voneinander, ein Staat ist anders als ein Pferd, ein Mensch anders als ein Kunstwerk. Aber selbst die gleich aussehenden Dinge, alle Pferde z. B., sind je verschieden voneinander; jedes ist gerade dieses, dieses einzelne. Allgemeiner gespro­ chen: Alles Seiende, alle Dinge sind verschieden voneinander nach ihrem Was-sein und verschieden voneinander nach ihrem Daß-sein. Wenn wir uns das einmal eindringlich vor Augen führen, so wird der Satz „alles ist eins“ umso befremdlicher. Steht er nicht in offenem Widerspruch gegen eine Erfahrung, die wir immer und unablässig machen? Ist nicht vielmehr „alles nicht eins“? Ist es nicht ganz evident, daß die vielen Dinge nicht in eins zusammenfallen? Ist es am Ende nur ein romantisches Grundgefühl, das die Härte der Individuation leugnet, die Vereinzelung negiert? Aber sagt dies der Satz „alles ist eins“? Sagt er, die Vereinzelung ist nur ein Schein, 155

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ist nur ein Trug, ein Schleier der Maja ‒ in Wahrheit ist alles eins, die Vereinzelung besteht nicht? Diese indische Weisheit ist kein Gedanke der Griechen. Die Schärfe | und Wachheit des griechischen Denkens überspringt nicht die Vereinzelung. Versuchen wir eine andere Art der Deutung. Im Hinblick auf die Dinge sprechen wir diese an als das und jenes; wir machen Aussagen über sie. Etwa „der Hammer ist praktisch“, „die Heizung ist in Ordnung“, „der Zug ist weg“, „ich bin müde“. Wir sind interessiert an der Handlichkeit des Hammers, sind zufrieden mit der Heizung, sind enttäuscht über den davongefahrenen Zug, sind der Meinung, daß es Zeit ist, schlafen zu gehen usf. An diesen ganz trivialen Beispielen zeigt sich, worauf unser Interesse aus ist. Wir machen dabei Gebrauch von einem ständigen Ist-Sagen, d. h. wir verstehen dabei immer das Sein, operieren damit, aber interessieren uns nicht an diesem ständig in Gebrauch genommenen „Sein“. Auch dort, wo wir uns anscheinend für ein Vorhandensein interessieren, in der Besorgung und Beibringung von Lebensgütern, ist es doch das genießbare Gut, dem unser Interesse gilt, nicht seinem bloßen Vorhandensein. Das Sein wird in vielen Hinsichten verstanden und verstehend-sprechend in Gebrauch genommen, aber ist nicht an ihm selbst Gegenstand; es ist kein Interessenthema. Alle unsere Interessenthematik hält sich im Raume eines umgängigen Verstehens von Sein, ist aber gleichgültig und indifferent gegen das Sein. Für das Seiende sind wir interessiert, nicht für das Sein. Das Sein scheint überhaupt nur ein Wort zu sein, ein Hilfszeitwort, das man sprachlich gebraucht, um über die Dinge Aussagen zu machen; es selbst, außer den Dingen, ist doch nur ein Wort und weiter nichts. Diese Auffassung ist nicht nur eine vulgäre, die dem unüberlegten Reden des alltäglichen Lebens angehört; sie bestimmt weitgehend auch das wissenschaftliche Verhalten des Menschen zu den Dingen. Wie nun aber, wenn wir wirklich uns diesem bloßen Schall einmal eigens und interessehaft zuwenden? Ganz selbstverständlich nennen wir die Dinge doch das Seiende. Jedes Ding „ist“, ist irgendetwas und besteht, hat Was-sein und Daß-sein; im Aussagen über die Dinge verhalten wir uns zu ihrem Wahr-sein, zu ihrem Sichzeigen. Wie verschieden doch auch alle Dinge sein mögen, verschieden nach ihrem „Aussehen“ und verschieden nach ihrer faktischen Stelle in Raum und Zeit ‒ alle diese Verschiedenheiten sind doch nur möglich auf dem | Boden einer Gleichartigkeit; der Wurm im Staube ist ein Seiendes sogut wie der freie Mensch. Das „ein-Seiendes-sein“ geht durch alle Verschiedenheiten hindurch, auch durch die äußersten. Nie können Dinge so verschieden sein, daß sie nicht eines gemeinsam haben: das Sein. Sind nun im Hinblick auf das überall durchgehende „Sein“ alle Dinge geeint, alle eins? Oder genauer gefragt: Ist die Einheit aller Dinge eine solche, die selbst dinghaften Wesens ist, oder zeigt sie sich erst in einer Umstellung des Blickes, in einer Umstellung der gewöhnlichen Blickrichtung auf das 156

IV. Heraklit

Seiende in eine neue und ungewohnte Richtung: eben auf das Sein selbst hin? Zunächst geben sich uns | die Dinge ja nicht nur in einem Zudrang des Vielfältigen, vielmehr begegnen sie uns aus einer bestimmten Ordnung her: etwa186 im Hörsaal aus dem Zweckganzen einer Universität; alles hat hier seine sinnvolle Stelle; die Universität steht in der Stadt und hat ihren Sinn als eine Institution der menschlichen Kultur, welche selbst die Weise ist, wie der Mensch sich aufhält inmitten der Übermacht der von selber seienden Dinge. Die Dinge begegnen aus einem Ganzen her. Das Ganze nennen wir die Welt. Auch das ist ein Begriff wie das Sein, das uns zumeist nicht interessiert. Was uns angeht, ist das Seiende in der Welt, nicht sie selbst. Und wenn wir sie einmal zu denken versuchen, setzen wir sie an wie ein Ding, als eine Summe, eine Anhäufung. Alle Dinge sind in der Welt, d. h. alle Dinge sind geeint durch die gemeinsame Zugehörigkeit zur Welt. Besagt nun das hen panta einai, das Einssein von allen Dingen, nur eben das unbestimmte Wissen um den umgreifenden Bezug von Welt und Sein? Wie die Welt alle Dinge „enthält“, so sammelt das Sein alles Viele in seine Einheit. In einer solchen Auslegung ist nicht mehr als ein Ansatz gewonnen. Solange wir gleichsam selbst nur umgehen mit einem vagen und verschwommenen Verständnis von Einheit, von Allheit der vielen Dinge und von „Sein“, solange ist dieser dreifache Bezug noch leer und nichtssagend. Das sophon ist nicht das Wissen, daß die vielen Dinge eins sind, sondern wie sie es sind. Mit andern Worten, das sophon ist die Helle des Verständnisses, in dem Einheit und Allheit und Sein in ihrem gegenseitigen Bezug gelichtet erscheinen. Heraklit sagt in seinem gedankentiefen Fragment nicht nur etwas aus über den Zusammenhang aller Dinge mit der Einsheit, macht dabei nicht bloß „Gebrauch“ von einai, vom Sein, sondern er spricht diese Einheit gerade aus als das Sein. Das Offene, das sophon, ist so die ursprüngliche Wahrheit, die im Sein das Eins im Vielen denkt. Das letzte Wort des Spruches ist das Entscheidende, auf das der ganze Spruch in einer unvergleichlichen Bewegung zugeht. Heraklit stößt zuerst ab von sich: „haben sie nicht mich, sondern den logos vernommen“; im Einverständnis mit dem logos öffnet sich das Offene, to sophon, in welchem das Viele aller Dinge zusammenhängt mit der Einheit und dieser Zusammenhang ist das „Sein“. Wie wird das Sein so letztlich verstanden? Wir interpretieren: Das Sein wird ganz ursprünglich verbal, als Geschehnis verstanden. Das Sein ist ein Zeitwort, ein Wort, das das Wesen der Zeit aussagt. Das kann in einem sehr oberflächlichen oder auch in einem sehr tiefen und radikalen Sinne genommen werden. Das Sein geschieht, es ist das eigentliche Geschehende in allem Geschehen, in allen Vorgängen, Bewegungen und Ruhen der Dinge. Das Sein ist Werden. Das ist die Seinsinterpretation Heraklits. Sie ist alles eher als eine vulgäre Leug|nung des Bleibens und die Behauptung des 157

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bloßen Wechsels, des Flusses aller Dinge. Das Sein steht dem Werden nicht gegenüber, wie die fixe Alltagsansicht meint. Das Sein ist in sich selbst Werden, Zeitigung. Das Sein ist die Zeit, so zwar, daß darin gerade der Zusammenhang von Einheit und Allheit der Dinge liegt. Sein ist das Geschehnis des Herauskommens der vielen Dinge aus dem einheitlichen Grunde der allumfangenden physis, ist ihr Aufgehen in die gelichte|te Weite des Offenen und das Zurückgehen in die physis. Sein ist der Kreislauf: aus dem Einen in das Viele und aus dem Vielen in das Eine. Was Heraklit mit dem „Einssein von allem“ sagt, ist nicht ein unterschiedloses Ineinsfallen der Dinge, sozusagen in ein „großes Ding“, ist nicht die Aufhebung der Verein­ zelung, sondern ist die Einsicht in die Vereinzelung als das diapheresthai, das Auseinandergehen der physis, das immer auch ein xympheresthai, ein wieder Zusammengehen ist. Das Satz hen panta einai sagt denkerisch, was die Einheit von Hades und Dionysos, die Harmonie von Bogen und Leier, und die harmoniē aphanēs symbolisch ausgedrückt haben. Das sophon also ist das vernünftige Licht, das den Zusammenhang von Sein, Allheit und Einheit durchwaltet. Vom sophon aus bestimmt sich für Heraklit die sophiē, die Weisheit ‒ und nicht umgekehrt, wie man zunächst meinen möchte. Die sophiē steht der polymathiē gegenüber, der Vielwisserei. So heißt es im Fr. 40: „Vielwisserei lehrt nicht Verstand haben; sonst hätte sie es Hesiod gelehrt und Pythagoras, ferner auch Xenophanes und Hekataios.“187 Über den polemischen Angriff hinaus hat dieses Fragment eine Bedeutung durch die Beistellung des Begriffs der polymathiē, der Vielwisserei. Meint er die Vielwisserei in einem uns geläufigen Sinne? Etwa als das wahllose Sammeln von wißbaren Tatsachen, von Kenntnissen, die bloße Aufspeiche­ rung von Wissensstoff, die nicht mehr gelenkt wird durch wesentliche Anliegen einer echten Wissensleidenschaft? Der Wissensbetrieb ‒ das ist eine Errungenschaft unseres Zeitalters: die Zersplitterung des Wissens in zahllose Gebiete und Spezialthemen, die die übergreifende Führung verlieren und nun gleichsam sinnlos weiterwuchern. Polymathiē muß hier in einem ursprünglicheren Sinne genommen werden. Sie ist eine echte Grundmöglichkeit des Wissens und nicht schon eine Verfallserscheinung. Die poly-mathiē ist das Wissen vom Vielen; das Viele, das sind die vielen seienden Dinge. Also nicht die bloße Gelehrsamkeit, die auch das Belanglose weiß. Vielmehr ist die polymathiē das echte Wissen im Verhalten zu den Dingen. Der Mensch in der Grundstellung des Offenstehens für die Vielfalt der vielen seienden Dinge, in dieser Zuwendung zum Seienden, steht in der Vielwisserei. Darin vergißt er gleichsam des Einen, das alles Viele im voraus schon geeint hält und umfängt: Er vergißt das Sein, er vergißt die Welt. Vor lauter Bäumen sieht er den Wald nicht, vor lauter vielem Seienden sieht er | nicht das Ganze; er steht in der Zerstreutheit und ist ungesammelt für das Eine, für jenes Eine, aus dem her erst das Viele 158

IV. Heraklit

ist, was es ist. Polymathiē ist die Grundstellung der Zerstreuung, die das tagtägliche Sein des Menschen beherrscht, die Vielfalt seiner Interessen leitet, die mannigfaltigen Zuwendungen zu den Dingen betreibt. Der entscheidende Gegenbegriff zur polymathiē ist die sophiē, die Weisheit; sie besteht in jenem Wandel der Grundstellung, wo der Mensch sich sammelt auf das Eine, auf hen to sophon, auf jene Unverborgenheit des Ganzen, d. h. des Zusammenhangs von Eins und Vielem im Gesche­ hen des Seins. Das meint das Fr. 41: hen to sophon, epistasthai gnōmēn, hoteē ekybernēse panta dia pantōn;188 „eins nur ist das Weise, sich auf den Gedanken zu verstehen, als welcher alles auf alle Weise zu steuern weiß“. Gegenüber dem Vielwissen ist das Weise das nur Eines wissen; das eine Gewußte ist das Wesen des Seins. Das sophon ist die Helligkeit, in welcher das Wesen des Seins gelichtet ist, ist die alētheia des Seins. Und diese Wahrheit des Seins ist nicht von vornherein ein menschliches Besitztum; vielmehr nimmt der sophos, der Weise daran teil, öffnet sich dem schon Offenen; er wird durch solche Teilnahme überhaupt erst zu einem sophos; die sophiē ist keine ihm von ihm selbst her bereitete Möglichkeit. Die frühen griechischen Denker denken gerade umgekehrt, als wir gewohnt sind. Vernunft, das Weise, der logos usw. sind nicht subjektive Vermögen, sondern sind primär weltdurchwaltende Mächte, an denen der Mensch teilnehmen kann. Die Weltstellung des Menschen ist durch diese mögliche Teilnahme am | „Licht der Welt“ gekennzeichnet. Der Mensch aber ist nicht die Quelle des Lichts. Das sophon ist in diesem Fr. 41 als das „Sichverstehen auf die Einsicht, die alles auf alle Weise steuert“ ausgesagt. Das könnte dazu verführen, anzu­ nehmen, diese gnōmē wäre eine menschliche Möglichkeit. Die gnōmē, die Einsicht, die alles steuert, ist keine Einsicht in einem Einsehenden; sie ist in keinem „Subjekt“, sie ist vielmehr eine Einsicht ohne einen Einsichtigen, ein Gedanke ohne einen Denkenden, eine Wahrheit ohne einen Erkennenden, oder wie immer wir das, paradox für unsere Ohren, ausdrücken können. Die gnōmē ist auch hier ein positives Wort für alētheia, für die Helligkeit des Offenen. Das Allessteuernde, der Regent von allem, ist das Erhellende, das Feuer, in dessen Schein das Viele sich zeigt auf dem Grunde des Ur-Einen. | 19. Der Begriff des sophon, des Einen Weisen, erwies sich uns als der zentrale Begriff von Heraklits eigentlicher Philosophie. Das Eine Weise hat nicht die Seinsart der Subjektivität; es ist nicht ein Vernunftwesen, und auch nicht ein Wissensinhalt für einen Vernünftigen. Das widerspricht einer uns alle beherrschenden Grundauffassung ‒ diesen Widerspruch aber ausdrücklich werden zu lassen, ist ein Grunderfordernis der Auslegung. Das frühe ursprüngliche Denken begreift nicht das Vernünftige vom Subjektsein her, sondern umgekehrt das Subjektsein vom Vernünftigen. Es ist dabei aber 159

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keineswegs „archaisch“, so als ob es, unfähig zur Reflexion, das Subjektive in einer massiven Weise verdingliche und also vom Vernünftigen rede wie von einem vorhandenen Ding. Das sophon ist weder „subjektiv“ noch „objektiv“, weder ein Intelligenzwesen noch eine Sache. Es ist ursprünglicher als der Unterschied von Subjekt und Objekt. Es ist die Helle, in der sich alle Entgegensetzung von Subjekt und Objekt schon hält. Das sophon ist das Offene, sagten wir. Es ist eine kosmische Macht. Es gehört weder dem Menschen an noch den Dingen, sondern ist der übergreifende Bezug, ein Weltbezug, der vorgängig alles ordnet. Kosmisch ist das sophon in dem Doppelsinn von „Welt“ und „Ordnung“. Aber auch die Rede von Bezug ist leicht irreführend. Es ist kein Bezug, der zwischen zwei schon vorher gege­ benen Gliedern sich abspielt, etwa zwischen dem Subjekt und dem Objekt. Der Mensch kann, als Subjekt inmitten des Seienden, sich vernehmend auf die Dinge nur richten, weil zuvor schon alle Dinge aufgegangen sind aus dem verschlossenen Grunde der physis in die Helle des Offenen. Das Offene ist so der ermöglichende Grund für alles vernehmende Verhalten des Menschen, für seinen Erkenntnisbezug zu den Dingen. Das Offene ist der Bereich des Aufgangs aller Dinge (panta) aus dem Grunde der physis (hen), ist der gelichtete Raum, in den hinein sich alles besondert und vereinzelt. Das Hervorkommen der vielen endlichen und begrenzten Dinge aus dem Schoße der unerschöpflichen Natur, ihr Fallen in die Vergänglichkeit und in die Macht der Zeit ist immer zugleich auch das Aufgehen ins Offene. Zeitigung ist zugleich Lichtung. Die Zeit (chronos) ist zugleich das Weltfeuer (pyr). Oder anders gewendet: alles Vergängliche ist zugleich das Erscheinende, das ins Licht Tretende. Erscheinen ist dabei nicht primär ein Erscheinen für ein Subjekt, ein Gegenstandwerden; vielmehr ist das „einem-Subjekt-Erschei­ nen“ erst möglich durch das ins-Licht-Kommen des Seienden. Hier liegen ganz prinzipielle Fragen. Die ganze neuzeitliche Philosophie faßt den Erscheinungsbegriff vom Sichzeigen einer Sache für ein Subjekt, d. h. vom Gegenstandscharakter des Seien|den. Das Seiende wird ganz selbstverständlich als der Gegen­ stand für ein Bewußtsein genommen; das Ding ist Objekt für je mich, das Subjekt. Kants Begriff der Erscheinung z. B. ist bestimmt durch das Gegenstandsein des Seienden für ein endliches Erkenntnisvermögen. Der neuzeitliche Begriff der Erscheinung ist verkürzt gefaßt; ein gegründetes Moment: der Subjekt-Objektbezug, wird allein festgehalten, und dabei wird nicht gesehen, daß er selbst noch gründet in einem Umfangenden, eben der vorgängigen Lichtung des Seienden. Das sophon Heraklits ist das saphes, das Helle, Lichte. Heraklit bestimmt es auch als das xynon, das Gemeinsame. Den Charakter dieser Gemeinsamkeit gilt es näher zu verstehen. Zunächst gehen wir aus von ganz einfachen Beispielen. Gemeinsam ist etwas, wenn es mehreren Dingen zukommt; d. h. Gemeinsamkeit ist in sich bezogen 160

IV. Heraklit

auf Verschiedenheit. Verschiedene Dinge können etwas gemeinsam haben; mehrere Personen ein gemeinsames Eigentum. Dieses gemeinsame Eigen­ tum aber ist im ganzen doch auch wieder Eigentum, das heißt, ein nicht allen Gemeinsames; es ist ein Gemeinsames, aber nicht das Gemeinsame. Das Gemeinsame müßte dann wohl ein solches sein, das allen gehört und überhaupt kein Eigen-tum mehr ist. Wir sprechen auch von einem „geistigen Eigentum“; dazu rechnen wir die originalen Gedanken, die schöpferischen Leistungen, die den hervorragenden Einzelnen zugehören; die gewöhnli­ chen Gedanken, die Aller|weltsmeinungen gehören niemandem, sie gehö­ ren allen und keinem, jeder sagt sie nach, ohne selbst dabei zu denken, selbst den Gedanken zu bewegen; das allgemeine Gerede ist niemandes Eigentum; die großen und tiefen Gedanken aber gehören den Einzelnen, die sie den anderen mitteilen und schenken, so daß sie zu einem allgemeinen Besitz werden, zum sogenannten Bildungsbesitz. Diese Auffassung gehört dem modernen „Subjektivismus“ an, wonach eben das Vernünftige wesentlich einem Subjekt zugehört. Die Allgemeingültigkeit eines Gedankens, einer Einsicht, einer Erkenntnis wird dann interpretiert von der Gültigkeit für alle denkenden Wesen. Die Objektivität, sagt man, liegt in der intersubjektiven Gültigkeit, in der Verbindlichkeit für Jedermann. Das sophon Heraklits ist nicht das Gemeinsame als der verbindliche, allgemeingültige Erkenntnisbesitz für jedermann, intersubjektiv gültig für jegliches Vernunftwesen, für jede Intelligenz. Das xynon des Vernünftigen wird bei Heraklit nicht begriffen von der denkenden Subjektivität her, sondern umgekehrt: Das subjektive Denken, auch das vergemeinschaftete und übereinstimmende, ist als wahrhaftes nur möglich, wenn es teilnimmt an einer Welt-durchwaltenden Vernunft, wenn es sich öffnet und offenhält dem schon gelichteten Offenen, dem sophon, wenn es im homologein über­ einstimmt mit einem logos, der primär keine menschliche Möglichkeit ist. Gerade wenn das Denken | nicht „eigentümlich“, ins eigene Selbst verschlos­ sen geschieht, wenn es aufgeht ins Kosmisch-Vernünftige, erst dann ist es wirklich vernehmend, vernünftig. „Drum ist es nötig, dem Gemeinsamen zu folgen. Denn obschon der logos gemeinsam ist, leben die Vielen, als hätten sie eine eigene Einsicht“189, heißt es im Fr. 2. Der gemeinsame logos ist aber nicht die allgemeine Menschenvernunft, sondern die den Kosmos durchwal­ tende Vernunft, das sophon. Wieder ist es wie beim Licht. Das Licht ist allen Sehenden gemeinsam, es gehört keinem, es ist allen zugänglich; aber es ist doch etwas anderes als nur das intersubjektive Wesen des Sehens, das Sehvermögen, das alle Menschen haben, mehr oder weniger gut. Das Sehen ist allem zuvor das Aufmachen des Gesichtssinnes, das Öffnen der Augen, das Teilnehmen des sehenden Menschen an dem „gemeinsamen Raum“ der Sichtbarkeit. Ohne Licht ist auch das Sehvermögen blind. Licht ist das Offene, worin das Sehen geschieht, und das Sichzeigen der sichtbaren Dinge. 161

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Das Sehen verlangt allem zuvor das Sichlichtenlassen des Auges ‒ dessen Teilnahme am Licht. Und so ist das menschliche Vernunftvermögen „blind“, wenn es sich nicht allem zuvor lichten läßt von dem Kosmisch-Vernünftigen, wenn es nicht die Helle aufnimmt des sophon. Das erst Vernommene in allem Vernehmen ist das „Vernünftige an sich“, und erst in seinem Lichte ist dann das Vernehmen des Einzelnen, der Dinge möglich. Und nur in der Offenheit für das sophon, für das Eine Weise, ist Vernünftigkeit des Einzelnen und des vergemeinschafteten Wir möglich. Ohne sie aber bleibt der einzelne Mensch in seine Einzelheit gebannt, in seinen „idios kosmos“ verhaftet, und verhält sich zum wahrhaft vernünftigen Menschen nun wie der Verrückte, oder der Schlafende zum Wachenden. Die Wachheit ist die Grundvoraussetzung aller menschlichen Vernünftigkeit ‒ und sie besteht in dem vorgängigen Sichöffnen für das Offene, für das sophon. Diese Wachheit wird gleichsam in der modernen Vernunftinterpretation übersprungen, als selbstverständlich genommen. Der Sehende bekümmert sich nicht um das Licht ‒ das ist ihm selbstverständlich ‒, der Vernünftig-Denkende nicht um die Wachheit, der mit dem Seienden Umgehende nicht um das Sein. Die anfängliche Philosophie Heraklits steht nicht selbstverständlich und vergessend im Raume der alētheia, im Raume der gelichteten Offenheit des Seins im Ganzen, sondern existiert noch im ursprünglichen Staunen über die weltlichtende und weltdurchwaltende Vernunft. Diese ist das xynon, das Gemeinsame, nicht nur weil sie allen vernünftigen Lebewesen eigentümlich ist, sondern weil sie das umgreifende Ganze ist, der Raum des Bezugs zwischen dem Vernehmen und den vernehmbaren Dingen. Sie ist nicht nur ein subjektives Gemeinsames, sondern ein „xynon“, das Subjekt und Objekt im voraus schon umgreift und eint. | Bei den Herakliteern, nicht bei Heraklit selbst, tritt | in diesem Zusammenhang der Begriff des periechon, des Umgebenden auf. Das sophon, das Kosmisch-Vernünftige, ist ein Umgebendes. Es umgibt den Menschen, hat nicht primär die Seinsweise des Menschen; der Mensch kann sich zu diesem Umgebenden verhalten, er kann sich ihm öffnen. So ist auch das Licht ein periechon, ein Umgebendes; es ist nicht im Sehenden, sondern gleichsam draußen; der Sehende öffnet seine Augen. Das sophon aber ist „umgebend“ noch in einem radikaleren Sinne, es ist das Umfangende, alles in sich Einlassende; alles, was ist, steht in der gelichteten Weite des sophon, ist von seinem Licht umspielt. Das Umgebende: das sind nicht die um uns herumstehenden, uns umringenden Dinge, sondern das, was solches Umringen überhaupt erst sehen läßt; wir sind vom Offenen umgeben und umfangen, wenn wir bei den Dingen sind und uns zu ihnen verhalten. So sagt Sextus Empiricus über das periechon: „In dem Wachenden erhält der nous durch die Wege des Gefühls, wie durch Fenster hinaussehend und mit dem Umgebenden zusammengehend (symballōn), die logische Kraft; 162

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nach der Weise, wie die Kohlen, die dem Feuer nahe kommen, selbst feurig werden, getrennt aber davon verlöschen, so wird der Teil, der in unseren Körpern von dem Umgebenden beherbergt ist, durch die Trennung fast unvernünftig; in dem Zusammenhang aber mit den vielen Wegen wird er mit dem Ganzen gleicher Art“ (homoioeidēs tōi holōi kathistatai);190 Hegel nennt diese Beschreibung „eine schöne, unbefangene, kindliche Weise, von der Wahrheit wahr zu sprechen“191, „man kann sich nicht wahrer und unbefangener über die Wahrheit ausdrücken“192. Das von Sextus Empiricus gebrauchte Gleichnis erläutert in einer unbefangenen Weise das Grundver­ hältnis zwischen menschlichem Vernunftvermögen und dem sophon. Das sophon, hier periechon genannt, erscheint als ein alldurchwaltendes Feuer; das Feuer ist das Vernünftige, das Lichtende; das menschliche Vernunftver­ mögen ist selbst kein Feuer, aber ein Brennbares, Kohle, etwas, was vom weltdurchwaltenden Feuer entzündet werden kann und nun mitbrennt; Mitbrennen, Mit-Leuchten kann der Mensch nur in der Verbundenheit mit dem sophon, dem Kosmisch-Vernünftigen; erst im Sichöffnen zum Offenen nimmt er teil, erst im Aufwachen tritt er in den Raum der alētheia. In der Trennung aber, im Zurückgehen des Menschen in sich, wird er unvernünftig. Mit anderen Worten: Vernunft ist kein dem Menschen Gehöriges; der Mensch hat vielmehr die Möglichkeit, der Vernunft zu gehören ‒ oder sich ihr zu verschließen. Vernunft und Subjektivität fallen nicht in eins, sie sind für Heraklit so verschieden, daß der Zusammenhang der beiden noch ein ursprüngliches Problem ist. Wenngleich wir uns das auch immer wieder ver­ gegenwärtigen, so bleibt im faktischen193 Vollzug des Nachverstehens immer die Schwierigkeit le|bendig, entgegen unseren gewohnten Vorstellungen über Vernunft eine nicht-subjektive und auch nicht-objektive, vielmehr ursprünglichere Vernunft zu denken. Heraklit legt den an sich schwer faßbaren Gedanken nicht extenso aus­ einander, sondern sammelt ihn in den geballten Fügungen seiner Sprüche. Das sophon, das Eine Weise heißt bei ihm auch dikē. In der gewohnten Übersetzung also: das Recht. Kann von diesem Begriff aus ein Licht fallen in den dunklen Zusammenhang? Die dikē ist auch der Name einer Gottheit; müssen wir von da her vorgehen? Oder gilt es auch hier, daß das, was Heraklit eigentlich meint, will und will nicht mit dem Namen einer Gottheit angesprochen werden? Dikē ist weder die mythologische Gottheit, noch einfach das Recht. Das Recht verstehen wir als einen Begriff, der der Menschenwelt zugehört; im zwischenmenschlichen Verhalten gibt es Recht und Unrecht. Die dikē meint hier nicht das Recht unter den Menschen; das Recht ist ein kosmisches Prinzip, wie die Harmonie, der Krieg. Das Recht, die dikē ist das, was als Ordnung alles durchwaltet, alles durchdringt und alles zusammenfügt. Den Herakliteern war so das dikaion zum Grundbegriff geworden. | In Bezug darauf interpretiert Platon im Kratylos das dikaion 163

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der Herakliteer. Aber selbst durch die vermittelte und indirekte Weise leuchtet am Ende noch ein Moment des ursprünglichen Sinnes der dikē auf. Das dikaion wird dort interpretiert als dia pantos ti diexion, di’ hou panta ta gignomena gignesthai, als das durch alles Hindurchgehende, durch welches alles Werdende wird; es ist, wie Platon weiter sagt, „das Schnellste und Unkörperlichste; denn nicht könnte es sonst durch alles in Bewegung Befindliche sich hindurchbewegen, wenn es nicht das Unkörperlichste wäre, so daß nichts es aufhält, und das Schnellste, so daß es die anderen Dinge wie stillstehende gebraucht“194. Die dikē also als die waltende Ordnung, die durchgreift durch alles ‒ die alles Werden leitet und regelt ‒, die, alle Dinge durcheilend, ihnen immer schon voraus ist und sie überholt hat. Damit kommen lauter Grundzüge zu Gesicht, die im Bereich des sinnlichen Sehens dem Lichte eignen, allgemeiner aber dem Lichte der Vernunft, dem sophon zugehören. Von der dikē aus interpretiert, erscheint das sophon als die waltende Ordnungsmacht, das „Gesetz des Seins alles Seienden“. Das sophon, so hörten wir,195 ist die Offenheit dafür, daß alles eins ist; das sophon also das Licht, in dem der Grundbezug von Sein und Werden, von physis einerseits und dem Reich der Vereinzelung und Vergänglichkeit andererseits offenbar ist. Die dikē ist das Gesetz, das den Wandel beherrscht, das das Herauskommen der Dinge und ihren Untergang regelt und lenkt. Fassen wir zusammen, um die Grundbezüge, die in den erörterten Begriffen sophon, periechon und dikē liegen, in ihrem Zusammenhange zu verstehen: | Sie meinen im Grunde alle dasselbe. Das Reich des Werdens ist der gelichtete Raum der Vernünftigkeit, das Umfangende für den Menschen und für alle Dinge und zugleich das von einem festen Gesetz Durchdrun­ gene. Es ist Heraklits Grundauffassung vom Sein, die unausgesprochen hinter diesen Grundbegriffen seiner eigentlichen Philosophie steht. Thema­ tisch sagt er nur wenig über das Sein selbst aus. Das wesentlichste Fragment in dieser Hinsicht haben wir bereits zu deuten versucht, das Fragment 50, wo das Sein begriffen wird vom hen panta einai her, vom Einssein von Allem. Das Sein selbst ist ihm nicht etwas, das zum „Gegenstand“ einer Erkenntnis werden könnte, zum Thema einer ontologischen Theorie, was sonst, also ohne eine solche Erkenntnis, in sich irgendwo und irgendwie eben einfach wäre. Dem Sein kommt es nicht zufällig zu, daß es vom Menschen erkannt wird. Es ist in sich selbst reines Aufgehen, Sichlichten; das Sein ist als Sein schon ein Offenbares ‒ und nicht erst im Nachhinein in Relation zu einem menschlichen Erkenntnisvermögen. Nur weil es an ihm selbst das ursprünglich Sichlichtende ist, kann der Mensch als ein Seiendes an diesem Licht teilnehmen und so zum Vernunftwesen werden. Das Sein und das „Licht vom Sein“, die Wahrheit über das Sein, sind nicht getrennt, nicht erst nachträglich beisammen. Das sagen die Fragmente 16, 17, 18. Auf den ersten Blick scheinen sie unbestimmt gefaßt. So das Fragment 16: to mē 164

IV. Heraklit

dynon pote pōs an tis lathoi,196 „wie kann einer sich bergen vor dem, was nimmer untergeht?“ Im Verhalten zu Seiendem gibt es für den Menschen die Möglichkeit der Zukehr oder Abkehr; wir können zu den Dingen zugehen oder sie fliehen, ihnen ausweichen; wir bewegen uns ständig in einem Umkreis von Zu- und Abwendungen; im Zudringen auf die Dinge zu, etwa im untersuchenden Verhalten, legen wir sie auseinander, schauen ihnen ins Herz; aber das ist immer ein langer und mühsamer Weg durch manchen Irrtum und manche Verstellung der Dinge hindurch; sie zeigen sich ja zunächst nur teilweise, nicht ganz, das Bekannte an ihnen hat seine Gegenseite, die uns unbekannt ist. Die Wissenschaft z. B. ist so eine Grundsituation des Menschen, wo er im Kampf steht mit der Verborgenheit der Dinge. Aber hier ist alle Offenheit und Unverborgenheit immer zusammen mit einer noch weiteren Verschlossenheit und Verborgenheit. | Das heißt jetzt prinzipiell: Dem Seienden ist es eigentümlich, je nur offen zu sein zusammen mit einer gleichzeitigen Verborgenheit. Das Seiende ist nicht das von Natur aus Offenbare; ihm gehört es nicht zu, in sich selbst schon hell (saphes) zu sein. Aber das Sein hat diese Lichtnatur, daß es das am meisten Offenbare ist; es kann nicht verborgen sein, sowenig wie ein Licht nicht leuchtet. Es geht nie unter, ist das ständig Leuchtende, immer Offenbare: und in seiner Helle steht Jegliches, was überhaupt ist; vor der Helle des Seins gibt es kein Verbergen. In allem Tun, auch im Sichver|bergen und Verhüllen, ist das Verhalten doch selbst schon als ein Seiendes offenbar, steht im Lichte des Seins. Aber, und nun kommt eine entscheidende Wendung des Gedankens, die Lichtnatur des Seins bringt es nicht mit sich, daß es, das alles Erhellende und alles Erkennen Ermöglichende, selbst vorgängig erkannt wird. Der Mensch steht bergungslos im Lichte des in sich selbst hellen Seins, aber versteht gerade nicht dieses Licht; er verhält sich nicht eigens zu diesem, sondern vergißt es ständig und fast immerzu. Das sagt das Fragment 17: „Es verstehen solches viele nicht, so viele auch darauf stoßen, noch erkennen sie es, wenn sie lernen, aber sie bilden es sich ein.“197 Die gewöhnliche Einstellung des Menschen ist paradox gesagt so, daß er im Lichte des Seins alles Seiende versteht und sich zu diesem verhält, daß er dabei aber gerade nicht das Licht erkennt, das sein sonstiges Erkennen ermöglicht. Das Fragment 18: ean mē elpētai, anelpiston ouk exeurēsei, anexereunēton eon kai aporon.198 „Wenn er’s nicht erhofft, das Unerhoffte wird er nicht finden, da es unaufspürbar ist und unzugänglich.“ Elpis, die Hoffnung, ist hier nicht zu nehmen als die Hoffnung auf ein kommendes Ereignis, also ein Vorlaufen zu einem künftig Seienden; Hoffnung ist hier als Ahnung zu verstehen, als das vorauslaufende Hindrängen zu einem Noch-Unbestimmten und Ungreifbaren. Das Fragment sagt, wer das Sein selbst nicht ahnend schon weiß, wird es nie finden; nur dem Ahnend-Hoffenden zeigt sich das Sein; 165

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der Ahnend-Hoffende ist der Mensch, sofern er nicht ganz benommen ist von den Dingen, nicht ganz zerstreut in das Viele; nicht ganz aufgesaugt von dem Vereinzelten, nicht ausschließlich zugewandt dem Erscheinenden. Wo das ahnende Offensein verloren ist, bleibt das Sein unzugänglich und unaufspürbar; und wenn der Mensch alle Dinge umdreht und durchmustert, wenn er alle Winkel der bewohnten Erde durchstöbert, alle Kontinente, Kulturen kennenlernt, alle Gestirne, nirgends wird er in so hoffnungsloser Bahn das Sein selbst finden. Das Sein, in dessen Licht bergungslos der Mensch steht, ist zumeist gerade das Unerkannte, nicht weil es verborgen ist, sondern paradox: weil es das Unverborgenste selbst ist. Durch seine Lichtnatur entzieht es sich gerade dem trägen menschlichen Erkennen. Das Sein ist das sophon, die Lichtung alles Seienden und des Grundrisses der Welt. So erst verstehen wir dann das Fragment 108: hokosōn logous ēkousa, oudeis aphikneitai es touto, hōste gignōskein, hoti sophon esti pantōn kechōrismenon.199 „Von allen, deren logoi ich vernommen, gelangt keiner dazu zu erkennen, daß das Weise etwas von allem Abgesondertes ist.“ Heraklit gibt diesem Spruch einen starken Akzent, der ihn hervorhebt. Er spricht hier die vielleicht erste philosophiegeschichtliche Kritik aus; er kennzeichnet die Unzulänglichkeit der bisherigen logoi; keiner kam dazu, die Ge|trenntheit des sophon zu erkennen. Wovon ist es getrennt? Man könnte im ersten Anlauf versucht sein zu glauben, das Fragment sagt etwas über die Stellung des sophon als einer Menschenmöglichkeit aus, also über die sophia; die Weisheit ist getrennt von allen sonstigen Verhaltungen des Menschen; aber das ist nicht gemeint. To sophon, die außer-menschliche, weltdurchdringende und weltlichtende Vernunft, das Offene, ist getrennt, abgesondert von allem? Die Tren|nung, die Heraklit ansagt, ist keine Trennung bekannter Art: keine Trennung, die zwischen seienden Dingen obwaltet; denn eine solche wäre ja innerhalb ta panta, wäre höchstens eine solche zwischen einem Ding und allen übrigen; alle Dinge sind „vereinzelte“, individuierte, getrennte; die Trennung, der chōrismos, ist gerade ein konstitutives Prinzip aller vorkommenden Dinge; sie sind getrennt, aber hängen in ihrer Individuiertheit doch wieder zusammen. Kein Ding steht allein in der Welt; neben ihm, um es herum sind die anderen in unabsehbarer Vielfalt. Jedes einzelne ist als einzelnes getrennt von allen übrigen, aber zugleich auch zusammen mit ihnen in einem einheitlichen Ganzen, in der Welt. Was soll aber nun eine Trennung besagen, die eine Getrenntheit von allem meint, pantōn kechōrismenon? Das so Abgesonderte kann gar kein Ding sein, kann kein Seiendes sein. Es kann nicht im Zusammenhang der Dinge vorkommen, als eines unter ihnen; das sophon, das Eine Weise, ist getrennt auf eine noch dunkle und schwer zu verstehende Weise. Oder anders gesagt: Die möglichen Trennungen und Getrenntheiten, die zwischen 166

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den Dingen obwalten, kennen wir und verstehen wir; unter diesen bekann­ ten Formen läßt sich die Getrenntheit des sophon nicht rubrizieren; denn diese ist keine solche, die wir in ihrer formalen Struktur schon vorweg verstünden und die wir nur hier, also fall-weise, anwenden müßten. Die Trennung, die dem sophon zukommt, eignet ihm allein, muß aus seinem Wesen abgeleitet werden. Wir müssen schon verstehen, was das sophon ist, um seinen chōrismos, seine Getrenntheit von allen Dingen, angemessen zu begreifen. Ist das nicht ein Zirkel? In der Tat, aber die Grundbegriffe der Philosophie sind nie auf außerphilosophische Begriffe rückleitbar und von dort her auszulegen; sie sind immer nur im Philosophieren zu entfalten und zu prüfen. Immer bleibt es eine Aufgabe der Philosophie, die Begriffe, mit denen sie operativ umgeht, selbst zu prüfen. Diese innere Durchprüfung der gebrauchten Begriffe wird ausdrücklich von Heraklit nicht vollzogen; das sagt aber200 nicht, daß seine dunklen Sprüche einem sich selbst undurchsich­ tigen Denken entstammen; aber die Aufgabe der Interpretation ist dadurch besonders schwer. Das sophon ist ein von allem Seienden Getrenntes. Hegel und in seiner Nachfolge eine Reihe von Auslegern haben geglaubt, das sophon als das „Absolute“ deuten zu müssen, den choris|mos als die Kluft zwischen dem endlichen Seienden überhaupt und einem unendlichen oder göttlichen Seienden bestimmen zu können. Diese Deutung lassen wir beiseite. Wenn es wahr ist, daß to sophon = das Offene ist, und zwar als das in sich selbst lichthafte Sein (to pyr), so muß die Trennung verstanden werden als diejenige von Seiendem und Sein. Das Sein begegnet nie in der Blickbahn auf das Seiende, kommt nicht im Ontischen vor, ist von allem, was ist, d. h. was Sein hat, verschieden und getrennt. Aber diese Trennung ist kein bloßes Auseinandergestelltsein von zwei Sachen, die nichts miteinander zu tun haben. Vielmehr ist die Einsicht in die Differenz von Seiendem und Sein gerade die Voraussetzung für das Verstehen dessen, wie es das Sein mit allem Seienden zu tun hat: wie es alles lichtet und in diesem Licht Vernehmen und Vernehmbarkeit begründet ‒ wie es alles durchwaltet und durchdringt, und doch nicht wie ein Ding zwischen oder in allen Dingen vorkommt ‒, wie es als Gesetz alles lenkt und regiert, und doch kein Herrscher und Lenker, kein Zeus ist. Das Sein also ist zwar durchdringend durch alle Dinge und doch nicht in ihnen, als Helle zwischen und doch nicht inmitten, immer an allem Seienden und doch getrennt von allem. Diese Ausführungen sind bloße Hinweise, die das Bezugsverhältnis von sophon, periechon, dikē und dem chōrismos, der Trennung von Seiendem und Sein als einen Problemtitel anzeigen sollen. Die sachliche Entfaltung des Problems kann im Rahmen dieser Vorlesung201 nicht in Angriff genommen werden. Wichtig ist, daß das Denken Heraklits in der prinzipiellen Richtung seines | Vorstoßes begriffen wird und nicht abgedrängt wird in oberflächliche Bezirke. Das nächste Mal versuchen wir 167

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dann die Einsicht zu gewinnen in den Zusammenhang von sophon und logos und psychē, also in den Bezug zwischen dem Offenen und dem Menschen, der sich im logos zeigt.202

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| 20. Wir stehen vor der Aufgabe, uns den inneren Zusammenhang zu vergegenwärtigen, der das „Eine Weise“, das sophon zusammenbindet mit dem logos und mit der psychē, mit der Seele des Menschen. Offenbar wird erst aus einem Verständnis dieses Zusammenhangs die volle heraklitische Idee der Philosophie sichtbar. Der Fundamentalsatz seiner Philosophie ist: Alles ist eins, hen panta einai. Diese Einheit ist kein unterschiedsloses Zusammenfallen, keine Austilgung der Vereinzelung, ist kein Zustand der Aufgehobenheit der Individuation ‒ diese Einheit ist die Einheit eines Weges, einer Bewegung: Aus dem einen Grund entspringt alles Einzelne und in ihn kehrt alles wieder; der zerstückelte Dionysos ist der einfache Hades. Das Sein ist in sich das Auseinandergehen, das Eine zerstreut sich ins Viele, Sein geschieht als Werden, als Zeiti|gung, als eine Ausbreitung in die Vereinzelung. Diese Grundidee Heraklits ist schwer deutlich zu machen ohne eine weitausholende systematische Besinnung; wir stehen nicht mehr so unmittelbar wie die frühen Griechen in der Nacht der Seinsfrage, als daß sie uns von den Sprüchen Heraklits wie von Blitzschlägen erhellt würde; wir haben das Seinsproblem vergessen und trivialisiert; das Sein gilt uns als „das Bekannteste“; gegen diese scheinbare Bekanntheit müssen wir uns überhaupt erst wieder den Zugang zum Problem des Seins erringen. Der Freundschaftsbund von Hegel und Hölderlin bewahrte als sein Geheimnis die heraklitische Weisheit hen kai pan. Das Auseinandergehen des Seins im Werden hat den Charakter des Weltaufbruchs: nicht tritt aus dem nächtigen Schoß der physis je ein Ein­ zelnes nach dem anderen hervor und reiht sich ein in die unabsehbare Vielfalt der Dinge; das, was zuerst sozusagen hervorgeht, sind nicht die Dinge, sondern der Bereich der möglichen vielen Dinge, das Reich der Vereinzelung, das Reich der Vergänglichkeit, der Raum und die Zeit, in denen dann die Dinge Ort, Eile und Weile haben; und wieder nicht Raum und Zeit als irgendwie abgezogene Verhältnisse verstanden, sondern als die gelichtete Weite des Offenen. Das Auseinandergehen der einen physis ist Weltaufbruch, ist das Aufgehen der Dinge in den voraus gelichteten Zeit-Raum, in dem sie währen, erscheinen ‒ und dabei durchwaltet sind von der dikē, der alles durchdringenden und alles umgebenden „Weltvernunft“. Diese Weltvernunft ist ganz und gar nicht ein Subjekt, aber auch keine Sache, sie ist gleichsam das Medium, die Luft, der Aether, der den Zeit-Raum der Welt lichtend erfüllt. Im gewöhnlichen Dasein, fern der Philosophie, sind wir ein Menschending, das zu anderen Dingen sich verhält. Wir kennen viel: 168

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die Menschen, die Tiere, die Pflanzen, die Zahlen, die Götter, die Länder und Meere, die Sterne, vergangene Kulturen, aber nicht kennen wir die alles durchwaltende Vernünftigkeit, nicht kennen wir den gelichteten Zeit-Raum des Offenen, aus dem her uns alles zustößt, was wir je erfahren; nicht kennen wir die Grundgeschehnisse der Lichtung und Vereinzelung, und am wenigsten kennen wir den Weltaufbruch des Lichts und der Zeit aus dem Grunde der physis, das Sein als Werden, von wo aus erst zu begreifen ist, daß alles eins. Wie verhält sich nun das Offene, die im Vernunftlicht aufgebrochene Welt zum logos und zur psychē? Der Begriff des logos ist uns bekannt. Vielleicht zu bekannt. Wir kennen eine ganze Fülle von Bedeutungen. Logos kommt von legein, reden; der logos ist also die menschliche Rede; der Mensch ist nach antiker Definition ein zōion logon echon, ein Lebewesen, das die Rede hat. Rede als Vermögen unterscheiden wir von dem jeweils Geredeten; im logos als Vermögen gründet die Möglichkeit der vielen logoi, das Aussagen, das Wünschen, das | Befehlen, das Bitten, das Fragen, und dann jeweils in diesen Bereichen der Rede die faktischen Aussagen, die faktischen Bitten, Befehle usw. Jeder Satz ist ein logos. Der Satz, der logos onomatōn kai rhematōn synthesis, als die Verbindung von Namen und Zeitworten, heißt es in Platons Kratylos203 | kann ein logos alēthēs oder ein logos pseudēs sein, ein wahrer oder falscher logos; Wahrheit und Falschheit gehört dem aufweisenden logos an, dem logos apophantikos, und dieser wiederum kann sein als apophasis oder kataphasis, als Behauptung oder Verneinung. Der logos, die Rede, wird so in einem ausgezeichneten Sinne zum Ort der Wahrheit; Wahrheit und Unwahrheit sind Möglichkeiten der menschlichen Rede. Wahrheit tritt dabei in der doppelten Form auf: der Richtigkeit und der Wahrhaftigkeit. Nicht jede wahrhaftige Rede ist richtig, und nicht jede richtige ist wahrhaftig. Wir können lügen, auch wenn wir etwas objektiv Wahres aussagen. Logos, als Rede genommen, deckt also vielerlei: das Redevermögen, die Grundweisen des Redens, die faktischen Reden, die Worte, die Sätze, die Begriffe, die Urteile, die Ausführung, den Beweis, den Gedankengang usf. Andererseits nehmen wir logos auch noch in einem anderen Sinn, nicht nur als Wort, sondern als das vernünftige Wort; logisch ist uns nicht nur irgendein Geredetes, sondern ein vernünftig Geredetes, ein logischer Zusammenhang. Logik ist uns nicht die Wissenschaft von der Rede primär, sondern von der Vernunft im Reden, von den vernünftigen Sinnzu­ sammenhängen im Denken und Reden; logos tritt hier also an die Stelle der Vernunft. Die Vernunft aber ist verstanden als die menschliche Vernunft, als das subjektive Vernunftvermögen, das einheitlich alle Menschen bindet, all ihrem Sagen und Sprechen Regeln vorschreibt, Regeln des vernünftigen Sinnes. Mag zuweilen der Begriff der Vernunft und damit auch der Begriff des logos über das Menschliche hinausgehoben werden, so bleibt doch ihre 169

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Seinsart prinzipiell subjektiv; sie ist das subjektive Vermögen des sich selbst wissenden Geistes; dieser subjektive Sinn der selbsthaften Seinsart bleibt auch noch erhalten in Hegels Begriff der absoluten Vernunft; und endlich kennen wir den Begriff des logos auch als Hypostase, entweder als zu einer Person oder zu einem „Weltprinzip“ ernannt. En archē ēn ho logos,204 „im Anfang war das Wort“, heißt es zu Anfang des Johannisevangeliums; der logos erscheint hier als die zweite göttliche Person. Alle drei nur im Rohen abgehobenen Hinsichten auf den logos sind ungeeignet, uns den Weg zu bahnen zum heraklitischen Begriff des logos: dieser ist weder primär die menschliche Rede, noch die subjektive, selbst­ hafte Vernunft, noch eine göttliche Person. Hier stehen wir vor derselben prinzipiellen Schwierigkeit wie schon beim Begriff des sophon. Das sophon ist uns vertraut als etwas Subjektives; Vernunft ist uns selbstverständlich subjektiv. Die Sub|jektivität der Vernunft ist nicht zu bestreiten; die Frage ist nur, ob die menschliche Vernunft etwas Abgeleitetes oder Ursprüngli­ ches ist; ist sie ein Licht, das von sich selbst aus brennt oder erst durch Entzündung an einem Anderen, Nicht-Menschlichen? Ist das, was uns selbstverständlich ist, gerade das Problem? Wie kommt die Vernunft in den Menschen, wie kann das, was von Hause aus gerade nicht die Seinsart der Subjektivität ist, doch „subjektiv“ werden und im Menschen Wohnung neh­ men? Das Denken als eine Menschenmöglichkeit ist uns selbstverständlich; ohne diese Voraussetzung erscheint uns das Absehen auf Philosophie gleich­ sam sinnlos. Ist aber ‒ so können wir fragen ‒ das Denken der anfänglichen Denker so radikal, daß sie diese selbstverständliche Voraussetzung nicht ohnehin mitmachten, sondern das menschliche Denkenkönnen selbst in seiner Seinsmöglichkeit zum Problem machten? Das Denken erdenkt dort noch den Grund seiner eigenen Möglichkeit; es nimmt die Vernünftigkeit des Menschen nicht als eine gegebene Tatsache, nicht als ein Urfaktum hin, sondern frägt nach dem Grunde dieses Faktums. Und fragen kann es so radikal nur, weil „Vernunft“, das Licht der Vernunft, verstanden war als ein Licht, das im Sein selbst brennt und dort die Weite des Offenen, der aufgegangenen Welt erhellt. Der griechische Ansatz ist das direkte Gegenteil des Ansatzes der neuzeitlichen Philosophie, die ihren Ausgang nimmt in der Selbstgewißheit der sich wissenden menschlichen Vernunft. Der logos ist von Heraklit nicht primär als menschlicher logos, nicht als menschliche Rede verstanden; das besagt nicht, daß | er in diesem Sinne dort gar nicht vorkäme; er kommt auch so vor: „wie vieler logoi auch ich vernommen habe … “ und dgl. Aber die entscheidende und tragende, sinn­ bestimmende Fassung ist dies nicht. Der logos ist primär nichts Menschliches. Logos, sagten wir, kommt von legein; legein heißt reden. Aber die Frage ist, ob dies die ursprüngliche Wortbedeutung ist oder eine abgeleitete, die erst im Nachhinein sich befestigte und herrschend wurde. In der Tat. Legein 170

IV. Heraklit

heißt ursprünglich einfach „lesen“, wie wir dies Wort gebrauchen in Ähren lesen, Holz lesen, Wein lesen. Das Lesen ist ein Zusammennehmen und zugleich ein Bewahren des Gelesenen, ein Sammeln, das das Gesammelte verwahrt. Im Sprechen, in der menschlichen Rede, geschieht nur in einer besonderen Weise das sammelnde bewahrende Lesen, im Zusammengreifen der Worte, in ihrer Fügung, die dann als gefügte die Verwahrung des Gele­ senen darstellen. Im einfachsten Satz: „diese Tafel ist schwarz“, geschieht ein solches Zusammenlesen: Das eine Ding, die Tafel, und ihr Schwarzsein, ihre Farbe werden zusammengelesen; im sinnlichen Sehen ist beides mit einem Schlage da: Wir sehen die schwarze Tafel. Das sinnliche Vernehmen kann vieles unterscheiden und über einen differenzierten Reichtum verfügen, aber es kann nicht sprechen, es ist stumm; nur das | denkende Verweilen vor dem sinnlich Angeschauten vernimmt die verschiedenen Momente als solche und kann sie ausdrücklich zusammennehmen, aufnehmen aus einer Gegliedertheit, in der sie sich zeigen, kann sie zusammenfügen und diese Fügung ins Wort stellen. Wir lesen dann zusammen die Tafel und ihre Schwärze; wir heben das eine Moment ab und dann das andere und lassen in der Rede selbst die Fügung sehen, wie diese Momente selbst zusammenstehen; es sind ja nicht zwei Dinge, sondern an einem Ding ist es die Farbe, die wir aussagen. Das Reden fügt nicht von sich aus, kraft eigener Macht, den Zusammenhang von Tafel und schwarz, sondern es spricht aus einem Vernehmen heraus, in welchem die Fügung selbst, die Fügung im Ding, vernommen ist. Das Lesen der Rede ist kein selbstherrliches Fügen, sondern ein Auflesen einer vorausgegangenen Fügung. Und doch hat die Rede in sich einen weiten Spielraum freier Fügungsmöglichkeiten; statt „die Tafel ist schwarz“ können wir auch sagen „die Farbe der Tafel ist schwarz“ oder „der Tafel kommt die Eigenschaft zu, schwarz zu sein“ usf.; jeder Sachverhalt läßt sich auf eine mehrfache Weise ausdrücken; aber gerade der Spielraum der freien Fügung zeigt ganz eindringlich, daß er im Grund beherrscht wird durch eine Fügung, die nicht der Rede angehört, sondern die sie aufnimmt. Das Lesen, das Aufsammeln der Rede, stiftet nicht erst das Zusammen der gegliederten Momente; die Rede liest nach, was zuvor schon in eins gesammelt ist. Die Rede: „die Tafel ist schwarz“, sagt das sinnlich Vernommene aus; sinnlich gesehen ist die Tafel und die schwarze Farbe. Aber ist auch das „ist“ gesehen? Ist das „ist“ ein sinnliches Objekt? Keineswegs; es wird weder gesehen, getastet, gehört, es ist unsichtbar und ungreifbar; aber dieses „ist“ hat das Sinnlich-Vernehmbare schon in eine bestimmte Fügung zusammengebracht, in eins gelesen und verwahrt. Das, was so im „ist“ alle Dinge gliedert und in ihren gegliederten Fügungen zusammenhält, was alles zusammenliest und als eine Lese bewahrt, ist der logos, von dem Heraklit eigentlich spricht. 171

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Der logos ist die gliedernde, fügende, lesende Macht des Seins, die die Dinge durchwirkt ‒ und die der Mensch in seinem Reden nachliest. Abstrakt formuliert: Der logos Heraklits ist die ontologische Durchgliederung des Offenen, das Strukturprinzip des sophon. Das Sammeln des logos ist nicht nur ein Zusammennehmen, es ist die zugleich gliedernde und die Gliede­ rung in eins fassende Macht, nicht nur ein Sammeln, sondern ein Sammeln des vielfältig Ge|fügten; ist Sammeln ebenso sehr wie Auseinanderlegen; ist ein auseinanderlegendes Sammeln, ein differenzierendes Vereinen. So heißt es im Fragment 1: „Für diesen hier waltenden logos bleiben die Menschen immer ohne Verständnis, weder ehe sie ihn vernommen, noch sobald sie ihn vernommen. Denn geschieht auch alles nach diesem logos, so gleichen sie doch Unerprobten, so oft sie sich erproben an solchen | Worten und Werken, wie ich sie erörtere, jegliches nach seiner Natur zerlegend und erklärend, wie es sich verhält …“.205 Der waltende logos wird also vernommen im menschlichen Nachsagen der gegliederten Fügung alles Seienden. Im Hinhören auf diesen seinsfügenden logos wird das menschliche homologein, das Nach-Lesen der Rede, das Mit-Einstimmen erst möglich. Das Fragment 72 spricht das mögliche menschliche Verhältnis zum logos als ein faktisches Mißverhältnis aus: hōi malista diēnekōs homilousi logōi tōi ta hola dioikounti, toutōi diapherontai, kai hois kath’ hēmeran egkyrousi, tauta autois xena phainetai.206 „Mit dem logos, mit dem sie am meisten beständig verkehren, dem Verwalter des Alls, mit dem entzweien sie sich, und die Dinge, auf die sie täglich stoßen, die scheinen ihnen fremd.“ Immer hält der Mensch sich in der artikulierten Helle des Seinsverständnisses, gemäß welchem die Dinge sich ihm zeigen in ihrer Fügung, im Bau ihrer Form, in der Struktur ihres Zusammenhangs, in ihrer ganzen gegliederten Seinsverfassung. Beständig verkehren wir in solchem Verstehen mit dem logos, machen von ihm Gebrauch, aber gleichsam „blind“. Wir erkennen nicht ihn selbst, nicht die durch alle Dinge hindurchgehende, gliedernde und fügende Macht; und deswegen bleiben die Dinge, auf die wir täglich stoßen, die uns vor Augen und Händen liegen, fremd und unbegriffen. Das Seiende ist uns fremd (xenon), weil wir entzweit sind mit dem, was alle Dinge prägt. Der logos Heraklits ist die prägende und fügende Kraft, die über alle Dinge verfügt. Unsere hinweisende Darstellung hat leicht einen irreführenden Cha­ rakter; es sieht so aus, als wären bei Heraklit Personifikationen fast von Mächten, die die Welt durchwalten, eine ganze Hierarchie von Mächten und Kräften, die mit menschlichen nur den Namen gemein haben, aber grundsätzlich vom Menschen verschieden sind. Es sieht so aus, als wäre eine überhöhte Form des mythologischen Denkens noch da, nur daß abstrakte Wesenheiten diese Mythologie bevölkern: to sophon, to periechon, dikē und der logos. Nimmt man diese Grundbegriffe Heraklits als eine Art 172

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von Mythologemen, so ist man sofort geneigt, darin eben eine archaische Stufe des abstrakten Denkens zu sehen und als Vorläufer unserer Begriffe zu deuten. Damit verliert man aber den fundamentalen Sinn dieser hera­ klitischen Begriffe, die der Mythologie ebenso fremd sind wie unserem aufgeklärten Denken. Was ist in all diesen Begriffen gedacht? Das sophon ist der von einem kosmischen Vernunftlicht erhellte Zeit-Raum des Offenen, der Horizont, in dem alles Werden spielt, alle Dinge wechseln, währen und erscheinen; es ist der gelichtete Bereich von Raum und Zeit als den Formen aller Vereinzelung, aller Individuation; Raum und Zeit aber sind erst der Rahmen für das mögliche Sein von wirklichen Dingen; diese gehen nicht darin auf, nur zeit-räumlich zu sein; sie sind jeweils Dinge von einer | bestimmten Seinsverfassung, einem bestimmten Gepräge, einem Wesensbau, einer Dingstruktur. Der logos Heraklits ist das ontologische Gepräge, das die Dinge in ihren Umriß schlägt, sie eint und sondert und in allen Sonderungen zusammenhält, in eins liest. Im sophon sind die ontologischen Bedingungen der Wirklichkeit gedacht, Raum und Zeit und das Sichzeigen; im logos sind die ontologischen Bedingungen des Dingseins gedacht, die Artikulation der Seinsverfassung, die den ganzen Reichtum strukturaler Momente zusammenhält. In einer späten Form erkennen wir dieselbe Unterscheidung Heraklits zwischen dem sophon und dem logos in der Kantischen Unterscheidung von „transcendentaler Aesthe|tik“ und „transcendentaler Analytik“; in der ersten werden die ontologischen Probleme von Raum und Zeit, also der Weltfor­ men gestellt, in der zweiten die ontologischen Probleme der Dingheit als solcher. Aber es klafft ein Abgrund zwischen beiden Ansätzen, nicht nur die Kluft von zweieinhalb Jahrtausenden. Kant versteht seine Fragestellung aus dem Grundansatz der abendländischen Metaphysik, die bei Platon und Aris­ toteles zur Ausbildung kommt. Kants Fragen untersteht der Leitung durch die Logik; die formale Logik gibt ihm den Leitfaden vor für den Ansatz der metaphysischen Fragestellung; die Metaphysik ist bereits der Logik hörig, und die Logik selbst wird als das Maß des Seinsverständnisses angesetzt. Die mannigfaltigen Weisen, wie das on, das Seiende, im menschlichen Reden gesagt wird, gibt für Aristoteles eine Anweisung für den Entwurf der Seins­ frage. Mit anderen Worten: Das legein wird bereits genommen als das legein im Menschen, als das Menschenwort, die menschliche Rede, und unter ihrer Anleitung geschieht das ontologische Fragen; es ist bereits zur „Selbstver­ ständlichkeit“ geworden, daß im Menschen das Lesen des Seins des Seienden geschieht. Für Heraklit ist das noch keine Selbstverständlichkeit, für ihn ist das noch ein Problem. Und zwar das entscheidende Problem des Menschen. Der Mensch kommt in seiner Philosophie nur vor, weil er gerade durch diese wunderbare und fast unbegreifliche Weise ausgezeichnet ist, daß der weltdurchwaltende, alle Dinge ins Gepräge ihres Wesens schlagende logos in 173

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ihm wohnen kann. Das Sein selbst, das in sich lichte und in sich gegliederte und gefügte, nimmt einen Bezug zum Menschen. Von allem Seienden trifft es nur ihn. Damit ist die Rolle des Menschen grundsätzlich anders begriffen als in der neuzeitlichen Metaphysik. Er ist nicht das Ausnahmewesen, weil er als Freiheit existiert, weil er nicht nur einfach ist, weil sein Sein ihm selbst überantwortet, in seine Entscheidungen gelegt ist; er ist nicht das Ausnahmewesen, weil er vernünftig ist, Selbsterkenntnis hat, weil er eine sittliche Person und dgl. ist; er ist nicht das Ausnahmewesen, weil die Dinge umwillen des Menschen sind, ihm dienlich, für ihn bedeutsam, weil sie ihr Sein erst im Rückgang auf die seinsverstehende Subjektivität | offenbaren. Der Mensch ist für Heraklit nicht die Achse der Welt, nicht der Bezugspunkt, nicht die Mitte, um die sich alles dreht. Der Mensch ist vielmehr noch erfahren in der Hinfälligkeit und Verlorenheit vor der Übermacht des Ganzen; aber gerade dieses gefährdetste Wesen ist das gezeichnete, das ausgezeichnete; in es kann die Welt-durchwaltende Macht des Vernünftigen und des logos einbrechen und dort Wohnung nehmen. Der Mensch hat nicht Vernunft, aber er ist aus dem Stoff gemacht, in den Vernunft eindringen kann; er ist nicht selbst das lichtende Feuer, aber die Kohle, die Feuer fangen kann. Im Menschen werden die im Offenen webenden Mächte gleichsam selbst zu etwas Seiendem. Edizesamēn emeōuton,207 „ich durchforschte mich selbst“ (Fr. 101). Das bedeutet nicht eine innengewendete Reflexion, eine Neugier narzißtischer Selbstbespiegelung; es ist überhaupt keine Aussage des faktischen Menschen Heraklit über sich selbst; seine Selbsterkenntnis ist die Erkenntnis des Wesens des Menschen überhaupt; er forschte danach, was der Mensch ist ‒ dieses nichtige und fragile Wesen, das ausgezeichnet ist dadurch, daß kosmische Mächte in ihm Wohnung nehmen können. Dieses Ausforschen des Menschen kommt nicht zu einer Absteckung des Menschenwesens, einem Überblick über seinen Umfang. Vielmehr führt die Selbsterforschung Heraklits gerade zum Fragment 45: psychēs peirata iōn ouk an exeuroio, pasan epiporeuomenos hodon; houto bathyn logon echei.208 „Der Seele Grenzen kannst du im Gehen nicht ausfindig machen, und ob du jegliche Straße abschrittest; so tiefen logos hat sie.“ Ist die Seele des Menschen damit als ein Unendliches begriffen, das grenzenlos ist? Entdeckt Heraklit die unendliche Lebenstiefe der Subjektivität: die Freiheit? | Keineswegs. All das sind allzu moderne Interpretationen. Psychē, das was wir mit „Seele“ übersetzen, ist noch keineswegs der Gegenbegriff zum Leib, als eine besondere Wesenheit; psychē heißt ursprünglich Atem; die psychē ist das Ein- und Ausatmen des Lebendigen, wodurch dieses teilnimmt an dem umgebenden Ozean der allbelebenden Luft, die nun durch „alle Röhren des Lebens“ rinnt; atmend ist der Mensch offen für das Umfangende, Umgebende, ist draußen und in sich, ist teil­ nehmend. Dieser ursprüngliche Sinn ist noch mitzudenken, wenn wir 174

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Seele antik als die Lebenskraft eines Lebendigen verstehen; die Kraft, die das Lebendige von innen bewegt, die das Wachsen und Sichnähren, die Begierden und Triebe, die Ortsbewegungen und alles Sinnen und Trachten leitet, ist zugleich auch sich öffnendes Aufgehen ins Offene; jeder Sinn, jede aisthēsis, öffnet sich und kann sich verschließen; Wachen und Schlaf sind die Grundweisen des Offenstehens und des Verschlossenseins; jedem Lebendigen, jedem Tier eignet diese Offenheit; des Menschen Seele aber ist noch in einem tieferen Sinne „offen“; sie kann sich nicht nur öffnen dem draußen befindlichen Licht, dem draußen klingenden Ton, sie kann sich | öffnen dem draußen waltenden Vernünftigen, kann nicht nur Seiendes vernehmen, sondern das Sein selbst. Sie kann, d. h. es steht ihr nicht frei; sie kann Vernünftigkeit nicht aus sich selbst leisten, sondern im Offenstehen für die Weltvernunft, im „Einatmen“ des logos. Die Grenzen der Seele: das sind nicht die Ränder, in die sie eingeschlossen ist, sondern die Weite ihres Auslangens ins Offene; und diese Weite ist nicht begrenzt. Die Seele ist in sich nicht unendlich, sie ist vielmehr nur offen für das über alles Endliche Hinweggehende: für das Sein. In der möglichen Offenheit für das Sein selbst hat die Seele ihre größte mögliche Weite des Ausgriffs ins Offene. Im Verstehen des Seins wohnt der unendliche logos, der logos bathys, selbst in der Seele des Menschen. Widerspricht diese Interpretation nicht dem Wortlaut? Ist dort nicht die Rede von einem logos, den die Seele hat, den sie besitzt? Die Frage bleibt, wie dieses Haben zu begreifen ist. Gehört der logos gleichsam zur Ausstattung der Seele, ist er ein Seelenvermögen ‒ oder wohnt er ihr ein, wenn sie aufgeht dem Offenen? Gerade hier wird die Auslegung immer bestimmt sein durch die Grundauffassung vom logos ‒ ist er etwas Subjektives oder eine kosmische Macht? Das Fragment 115: psychēs esti logos heauton auxōn.209 „Die Seele ist der logos, der sich selbst mehrt“. Heißt das, die Seele besitzt als die Kraft der geistigen Bewegung einen logos, der im Denken und Reden entfaltbar ist, der in logischen Prozessen vermehrt werden kann? Das wird man so deuten, wenn man primär an einem subjektiven logos-Begriff fixiert bleibt. Wird aber der logos ursprünglich als kosmische Macht der Seinsfügung alles Seienden, als Lese verstanden, dann bezieht sich das Sichselbstmehren gerade auf den Einbruch des kosmischen logos in den Menschen. Im Bezug zum Menschen mehrt sich der logos. Das ist die einzigartige Weltstellung des Menschen: er kann mitbrennen und mitleuchten mit dem welterhellenden Feuer, und so vernimmt er allein unter allen Wesen das Geheimnis des Seins, er hat die Möglichkeit der Philosophie. Im Fragment 118 heißt es, die trockenste Seele ist die weiseste und beste; trocken, d. i. die am meisten feurigste, die am meisten mit-brennende ist auch die erleuchtetste. Des Menschen wesentliches Schicksal ist durch diese seine Möglichkeit bestimmt, offen sein zu können. Fragment 119: ēthos anthrōpōi daimōn.210 175

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„Seine Eigenart ist dem Menschen sein Dämon“. Dieser Satz Heraklits ist oft in Anspruch genommen worden für die Fatalität des großen Menschen, für die Unentrinnbarkeit seines Lebensvollzuges; er steht unter dem Gesetz, wonach er angetreten, sagt man, nicht im Sinne eines äußeren Verhängnis­ ses, aber eben durch seine dämonische Natur. Wir zweifeln, ob dieser Satz dieses meint: die Dämonie des großen Charakters. Wir glauben, daß er eine Wesensaussage ü|ber den Menschen überhaupt bringt; er spricht die Fatalität des Menschengeschlechtes aus: die Eigenart des Menschen, allein unter allen | Dingen offen sein zu können für das weltdurchwaltende Licht, für das sophon, und für die alles prägende Fügung des logos; diese Eigenart, Sein zu verstehen, das ontologische Tier zu sein, ist ein Dämon, ist etwas Göttliches im Menschen. | 21.211 Wir haben versucht, die Philosophie Heraklits im Umriß ihrer wesentlichen Grundbegriffe sichtbar zu machen.212 Dabei haben wir unter­ schieden zwischen der symbolischen und eigentlichen Philosophie. Diese Unterscheidung kann zu einem argen Mißverständnis Anlaß geben, wenn man glaubt, es handle sich dabei um zwei voneinander abgesetzte Teile eines Lehrsystems;213 in Wahrheit ist es ein einheitliches Denken, das bald in Symbolbegriffen, bald in reinen Gedankenbegriffen sich ausspricht. Reiner Gedanke und Symbol: Die Spannung dieses Gegensatzes ist keine uns vertraute und geläufige, vor allem nicht der Bezug des Sinnlichen zum Geistigen. Nicht repräsentiert hier ein sinnlich Anschaubares einen gedanklichen Sinn; es geht hier überhaupt nicht um eine Entsprechung zwischen den beiden Sphären des Wirklichen, der Körperwelt und der Innenwelt, der res extensa und der res cogitans; die Symbolik Heraklits ist überhaupt keine ontische Symbolik, kein bedeutsamer Zusammenfall von Seiendem. Symbole nannten wir das Feuer, Leben und Tod, Wachen und Schlaf, die Harmonie des Bogens und der Leier, den Krieg, Hades-Dionysos. Die Symbolik dieser Symbole bestimmt sich daraus, daß einzelnes Seiendes hinzeigen soll auf das Wesen des Seins. Die Philosophie Heraklits, wie aller vor-metaphysischen Denker, ist ein Denken, das einzig und allein nur das Sein bedenkt. Es ist daher eine Irrmeinung, wenn man Heraklit die Leugnung der Beharrlichkeit in den Dingen zuschreibt, die Lehre von einem ständigen Fluß und einem unaufhörlichen Wandel aller Dinge: Nichts bleibt, alles ist im Fluß. Diese üblich gewordene Deutung mutet Heraklit etwas schlechthin Unsinniges zu: Es gibt im Seienden keinen Wandel ohne ein Substrat des Wandels; ohne ein Beharrliches, das bleibt, kann es überhaupt keinen Wech­ sel, keine Veränderung geben, keinen Zusammenhang der Zeitmomente. Wohl kann man sich ausdenken, daß alle Bestimmungen eines Dinges 176

IV. Heraklit

in jedem Zeitmoment wechseln, daß keine Eigenschaft länger dauert als einen Augenblick, aber das Ding muß als „selbiges“ doch zugrundebleiben, damit an ihm dieser jähe Wechsel von Augenblick zu Augenblick sein kann. Versuchen wir auch die Selbigkeit der Substanz wegzudenken aus dem Ding, dann verlieren wir die Möglichkeit, die verschiedenen Augenblicke als eine Abfolge, als einen Wandel zu sehen. Alles, was ist, was wir als Seiendes kennen, als Wirkliches | und Selbständiges, ist hineingeworfen in den verzehrenden Wandel der Zeit und dem Alter untertan; alles Währende wandelt sich ständig und verfällt; aber zur Dingheit der Dinge, zu ihrem Dingsein gehört es wesensnotwendig, daß die Substanz beharrt im Wechsel der Eigenschaften: Das zeitliche Schema des Dinges ist gerade ein Bleiben im Wechsel, der Bau des Dinges ist charakterisiert durch ein Zugrundeliegen­ des (hypokeimenon), das der Träger der wechselnden Bestimmungen und Beschaffenheiten ist. So ist das In-der-Zeit-sein des Dinges ein Bleiben und Wechseln zugleich; diese temporale Interpretation des Seienden214 beherrscht die Philosophie von Aristoteles bis Hegel. Als ein beunruhigen­ des Moment haftet dieser Zeitdeutung der Dingheit die Frage an, wie das doch erfahrene Auftauchen und Verschwinden von Dingen, das Entstehen und Vergehen nicht nur von Eigenschaften, sondern von Seiendem selbst begriffen werden müssen. Gibt es also doch einen Beginn und ein Ende des Zugrundeliegenden? Die abendländische Metaphysik weicht dieser Frage aus dadurch, daß sie im Grunde nur eine einzige Substanz annimmt und die vielen Einzeldinge zu Attributen dieser einen Substanz herabsetzt; so aber gerät sie in Konflikt mit dem christlichen Glauben und wird „Pantheismus“. Für uns ist von Bedeutung, wie die metaphysische Interpretation der Ding­ heit von Aristoteles angesetzt wird als die Basis für seine Auslegung der frü­ hen Denker: So deutet er, wie wir wissen, Heraklit von dessen Feuerlehre aus; das Feuer wird zur Substanz, zum hypokeimenon, zu hylē. Das ontologische Verständnis der Dingheit wird | so zum Maßstab der Beurteilung. Gewiß wird auch im Denken der alten Giganten angesichts der allverzehrenden Vergänglichkeit ein Unwandelbares gedacht, ein Unvergängliches: aber eben nicht als ein Ding, als ein Seiendes. Der Flug ihres Geistes schwingt sich über alles Seiende hinweg, über-fliegt den Bereich der Dinge überhaupt, den Bereich des Begrenzten, und stößt vor ins Grenzenlose, ins apeiron als zur archē, als zum Ursprung aller Dinge. Die aristotelische Interpretation von Heraklit erscheint uns somit als ein Mißverständnis ‒ nicht als ein solches, das wir ihm vorwerfen könnten, sondern als ein Mißverständnis, das zwangsläufig wird, wenn die metaphysische Interpretation der Dingheit als Ausgangsbasis genommen wird. Für Aristoteles lehrt Heraklit das Feuer als den Urstoff, aus dem alle Dinge bestehen. Von dieser aristotelischen Sichtweise, die unser erstes Zugehen leitete, mußten wir im Verfolg der Auslegung der heraklitischen Fragmente uns 177

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schrittweise215 befreien. Das Feuer ist ein symbolischer Grundbegriff: er meint nicht ein dinghaftes Element, sondern das Licht des Weltfeuers, die Helle, die dem Sein selbst eigen ist. Wo immer Heraklit vom Feuer spricht, trifft sein Denken nicht die Dinge und nicht die Dingheit, sondern etwas Ursprünglicheres, das, was wir das „Offene“ nannten. Das Feuer als die Lichtnatur des | Seins lichtet den Raum, in welchem alle Dinge stehen. Dieses Offene, das sophon (das lichtvoll Vernünftige) ist ein Dreifaches in eins. Das zu sehen und zu begreifen, ist für uns äußerst schwer. Das Offene ist das Reich der Vergänglichkeit, die Stätte der Vereinzelung und das Feld der Erscheinung. Im Offenen stehen die Dinge als die vergehenden, vereinzelten und erscheinenden. Wie hēlios, das strahlende Himmelslicht, in seinem Aufgang die Dinge der bergenden Nacht entreißt, sie in ihren Anblick und die Bestimmtheit ihrer Gestalt vereinzelt, sie aufscheinen läßt und ihnen mit seinem Gang am Himmelsgewölbe die Zeit zumißt, so erhellt das vernünftige Licht des sophon alles Seiende, läßt es währen, einzelnes sein und erscheinen. Daß ein wesentlicher Zusammenhang besteht zwischen Vereinzelung und Zeit, leuchtet am Ende uns eher ein: Die Zeit nehmen wir doch neben dem Raum als principium individuationis; was in die Zeit fällt, fällt auch in Vereinzelung; anders aber sind wir gewohnt den Erscheinungs­ begriff zu nehmen. Daß das InderZeitsein und das Vereinzeltsein zugleich und notwendig auch ein „Erscheinen“ sein müsse, das geht uns weniger leicht ein. Könnten nicht die Dinge sein, die Meere wogen, die Wolken ziehen, die Gestirne kreisen, auch wenn niemand da wäre, für den sie sich zeigen, dem sie erscheinen? Ist nicht die These von der Gleichursprünglichkeit von Vergänglichkeit, Vereinzelung und Erscheinung eine phantastische Behaup­ tung, die ein erkennendes Subjekt für die Welt als notwendig behauptet? Ist der Mensch nicht ein ephemeres Wesen, nur jene Zeitspanne im Kosmos, die gemessen an den ungeheuren Zeiten der Naturvorgänge sich wie eine „Minute“ ausnimmt, freilich als die „hochmüthigste und verlogenste Minute der Weltgeschichte“216 ‒ wie Nietzsche meint? Bei Kant wird in seiner Transcendentalphilosophie ein Wesenszusam­ menhang zwischen Zeit, Erscheinung und Individuation gedacht. Zeit ist eine Form des subjektiven Vermögens der Anschauung von Seiendem; alles für den Menschen erfahrbare Seiende muß vorgängig den subjek­ tiven Bedingungen der anschaulichen Vernehmbarkeit entsprechen; die menschliche Vernunft vernimmt nie Dinge an sich, d. h. die Dinge, wie sie unabhängig von der menschlichen Anschauungsform, unabhängig von der Zeitordnung, „an sich“ sind, sie vernimmt nur Erscheinungen, d. i. in der Zeit ausgebreitetes Seiendes. Steckt nun in dieser Lehre Kants ein Nachklang heraklitischer Einsicht? Keineswegs. Die Kantische Auffassung ist vielmehr das äußerste Gegenteil. Den Zusammenhang von Zeitlichkeit, Vereinzelung und Erscheinung begründet Heraklit nicht vom Subjekt her. 178

IV. Heraklit

Erschei|nung ist überhaupt kein subjekt-relativer Begriff. Wir müssen auch hier ebenso umdenken lernen, wie bei dem uns paradox anmutenden Begriff des sophon, das ein Weises meint, das keinem Weisen gehört, ein Vernünf­ tiges, das in keinem subjektiven Erkenntnisvermögen beheimatet ist, oder wie beim | heraklitischen Begriff des logos, der primär nicht die menschliche vernünftige Rede bezeichnet. Erscheinen ist also nicht das Sichzeigen der Dinge für ein erkennendes Lebewesen, nicht das Gegenstandwerden für ein Subjekt. Erscheinen meint vielmehr das Zum-Vorschein-Kommen, das Herauskommen aus einer Verborgenheit, das Aufgehen ins Offene; etwa wie die Blumen aufgehen aus dem bergenden Schoße der Erde und heraustreten in den Tag und dort ihre leuchtenden Farben wehen lassen im Winde der Wiesen; alle Dinge, die ins Dasein treten, scheinen: kommen heraus ins Offene, in die Vielfalt und den Reigen der vielen Einzeldinge und sind jeweils ihre Zeit inmitten aller Dinge. Den Begriff des Scheins als einen fundamentalen ontologischen Begriff haben wir verloren; Schein ist uns zumeist etwas Unechtes, Vorwand, Trug; wir denken Schein zumeist nur als Anschein und lassen so den ursprünglicheren Sinn von Vorschein fallen. Die Sonne scheint; das heißt doch nicht, sie ist nur anscheinend, sondern sie ist gerade in ihrem vollen wahrhaften Sein, wenn sie leuchtet, wenn sie scheint ‒ wenn sie heraustritt aus verbergenden Wolken oder aufgeht aus dunkler Nacht; alles aus der Verborgenheit Heraustretende muß scheinen, muß sich aussetzen in seinen Anblick, muß im Licht des Offenen stehen, in der weltdurchwaltenden Helle des sophon. Das IndieZeitfallen, Vereinzeltwerden des Seienden ist immer auch ein Aufgehen in einen gelichteten Raum, ein zum Vorschein-kommen, ein Vor-Scheinen. Über die Dinge hinweg, sagten wir, stößt das heraklitische Denken in den Grundbegriffen seiner eigentlichen Philosophie, im Begriff des sophon und des logos, vor in den ursprünglichen Bereich, in welchem Individuation, Zeitlichkeit und Lichtung einheitlich walten und so die Welt aufbrechen für die vielen Dinge. Ursprünglicher als alle Dinge ist der Weltaufbruch: ursprünglicher als der währende Vorgang das Währen selbst, ursprünglicher als das Einzelding die Vereinzelung, ursprünglicher als der Anblick irgendeines Seienden das Scheinen überhaupt, das den Dingen den Anblick verleiht. Das Fragen nach dem Ding und seinem Wesen bewegt sich schon in der Helle des Offenen; so steht auch die metaphysische Philosophie immerzu in dieser Helle. Weil Heraklit wesentlich nach dem Sein selbst zu denkt, hat es den Anschein, er überspringe alle Fragen nach der Natur des Dinges, des Seienden. Er läßt es unbefragt und unbeantwortet stehen. Er bedenkt das Offene als den aufgebrochenen Weltraum, in dem Währen und Vereinzelung und Erscheinung ihr Wesen treiben. Das Sein offenbart sich ihm als die gelichtete Weite; es ist in sich selbst hell, ist Feuer. Aber auch über diesen Begriff vom Sein denkt Heraklit noch hinaus: Das Offene 179

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ist gleichsam nur eine „Seite“ des Seins: die erste, die wir gewinnen, wenn wir von den Dingen her aufsteigen. Als Fragende und Denkende stehen wir jeweils schon selbst im hellen Tag, befinden uns inmitten der vielen, vereinzel|ten Dinge, sind selber ein solches Ding, stehen wir mitten in der tosenden Brandung der Zeit, stehen wir im Licht, das uns alle Dinge zeigt. Der „Ort“ unserer Frage ist im Reich der Vergänglichkeit, auf dem Feld der Vereinzelung und im Umkreis der Erscheinung. Das aber ist die einzigartige Möglichkeit der psychē, die Möglichkeit des Menschen, daß er hinwegdenken kann aus dem Offenen und ausgreifen ins Ganze des Seins. Dort, wo das Offene als Offenes selbst noch Problem wird, dort, wo das Fragen über die Helle, die sie ermöglicht, hinausfragt, kommt die physis in den Blick der alten Denker. Das geschieht nicht in einem überscharfen kritischen Räsonnement, nicht in einer auf die Spitze getriebenen forma­ len217 Radikalität des Fragens. Das anfängliche Denken ist noch durchwaltet von einer Grunderfahrung, die wir lange | verloren haben, verloren auf dem Gange der abendländischen Metaphysik. Diese Metaphysik, die unser geistiges Schicksal bestimmt, hat sich angesiedelt und seßhaft gemacht218 im Raume des Offenen und ist im wesentlichen eine Deutung der Seiendheit des Seienden geblieben; als Philosophie hat sie eine Nähe zum Sein; sie sucht und findet aber allein das Sein am Seienden; nicht daß sie es verdingliche ‒ im Gegenteil; bei Platon vollzieht sich schon die bewußte Auseinandersetzung des Seins vom Seienden; aber der ganze platonische Dualismus verbleibt bei aller Schärfe dieser fundamentalen Unterscheidung im Raume der ursprünglichen alētheia, der ursprünglichen Offenheit, ohne den Ursprung des Offenen selbst zu bedenken. Das Ursprungsproblem verwandelt sich in den Bezug der Ideen zu den Dingen ‒ oder später unter Aufnahme von Motiven des christlichen Glaubens in den Bezug des Abso­ luten zu den endlichen geschaffenen219 Dingen. Damit geht das eigentliche philosophische Ursprungsproblem verloren. Dieses besteht nicht darin, daß aus irgendeinem Seienden alle übrigen Dinge hergeleitet werden, sondern im Begreifen des Seins als des Ursprungs für alles, was ist. Das Sein als Ursprung ‒ das ist die physis, und nichts sonst. Bei Anaximander, der zuerst den Begriff der archē, des Ursprungs schöpferisch faßt, ist diese archē gedacht in einem Gegensatz zu allem, was wir als seiend kennen: Es ist das Unbegrenzte, Unvergängliche, Unzerstörbare, Unerschöpfliche, das alle begrenzten, der Zeit verfallenen Dinge aus sich entläßt und in sich zurücknimmt. Diese Charakteristik trifft genau auch zu auf die physis Heraklits. Die wörtliche Übersetzung mit „Natur“ ist irreführend. Unter Natur verstehen wir einen Teilbereich des Wirklichen, alle von sich selbst aus seienden, nicht gemachten Dinge, also einen Gegenbegriff zu Kultur; oder wir nehmen Natur im physikalischen Sinne als einen Inbegriff von metrisch interpretierbaren Vorgängen, die eine feste gesetzliche Struktur haben; oder 180

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nehmen Natur romantisch als eine Lebensmacht, in die wir hineingehören, die uns hütet und umfängt wie | alle Lebewesen. In allen üblichen Vorstell­ ungen von Natur denken wir Seiendes oder einen Bezirk von Seiendem oder die Allheit des Seienden. Unser Naturbegriff ist zumeist ontisch. Diese Vorstellungen müssen wir alle verabschieden, wenn wir auch nur einen Hauch davon begreifen wollen, was Heraklits physis-Begriff eigentlich meint. Physis kryptesthai philei (Fr. 123).220 „Die Natur liebt es, sich zu verbergen.“ Was ist das für ein Verbergen? Ist das ein Verbergen, das bereits im Raume des Offenen geschieht, ein Verbergen also, wie zuweilen die sich zeigenden Dinge gerade verstellt, verdeckt werden können durch andere ‒ oder wie die Menschen sich verbergen können, sich in sich verschließen? Meint es überhaupt eine Verbergung, die dem Ontischen eignet? Alles, was ist, ist je als Einzelnes, Zeithaftes ‒ und sich Zeigendes, d. i. Scheinendes. Die physis aber ist gerade das Nicht-Scheinende, das Verborgene schlechthin; die Verborgenheit der physis ist der Gegenbegriff zum sophon, zum Offenen; die physis ist die in sich verschlossene Tiefe des Seins; sie zeigt sich nicht, zu ihr führt kein Weg als der wagende Sprung des Gedankens, der aus der Welthelle des Offenen her in den Grund dieser Helle zurückdenkt: aus der Welthelle in die Weltnacht, in die allumfangende Verborgenheit, wo das Sein noch nicht in sich gelichtet und zerstückelt ist in die Mannigfalt der seienden Dinge. Die physis hat so zunächst die abweisende Form des Grenzbegriffs; sie ist wie das apeiron des Anaximander nur negativ ansprechbar; aber sie ist es auch, woraufhin Heraklit die ganze Kraft seines Sagens sammelt. Ins Wort zu zwingen, was das Wortlose, Dunkle, Insichverschlossene ist, und zwar als die ganze Macht des Seins ist, darum ringt Heraklit in | den wenigen uns überlieferten physis-Fragmenten. Jede Deutung muß hier ihrer Fragwürdigkeit bewußt werden. Die Aufgabe eines wirklichen Nachverständnisses, das über eingelernte Formeln hinausgeht, erfordert, daß wir in uns selbst eine tiefgreifende Umstellung vollziehen. Zumeist sind wir, im Getriebe des Lebens mitge­ nommen, nur offen für das uns angehende Seiende, das uns in Not oder Interesse betrifft; es ist eine Wandlung, wenn wir uns vom Seienden weg­ wenden und an ihm das Sein erfassen, an den Dingen die Dingheit, die „Ideen“, die Seinsverfassung; und es ist eine noch radikalere Wandlung, wenn wir den Blick lernen auf den ganzen Bereich, in welchem der Unterschied von Seiendem und Sein sich vollzieht ‒ wenn wir den Raum der Wahrheit, das Offene als das Feld des Aufgangs aller Dinge sehen lernen; und endlich ist es die äußerste Wandlung, wenn unser Denken zurückgreift auf das uns im Offenen durch dieses entzogene Dunkel, auf die Verborgenheit, die aller aufgegangenen Wahrheit über Sein und Seiendes zugrundeliegt. Diese äußerste Wandlung wäre uns zugemutet, wenn wir den Gedanken Heraklits von der physis nachdenken wollten. Jedes Licht brennt in der Nacht, | bricht 181

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aus der Nacht und lichtet diese. So ist das Dunkel die Voraussetzung für jedes Licht. Das Licht bleibt auf die Nacht bezogen, die Offenheit der Welthelle auf die Verborgenheit der Weltnacht. In der Nacht ist alles eins; es gibt nichts Unterschiedenes; in sich einig und unzerteilt ist das Sein im mütterlichen Schoße der Nacht ‒ verstreut in die Vielfalt des Einzelnen aber im Licht des Tags. Der Tag kennt die Allheit des Vielen: panta, die Nacht die Einheit des Nichtunterschiedenen: hen. Hen panta einai, alles ist eins, diese Weisheit Heraklits sagt auch das Fragment 57: „Lehrer der meisten ist Hesiod; von ihm sind sie überzeugt, er wisse am meisten, er, der doch Tag und Nacht nicht erkannte; ist ja doch eins.“221 Damit wird nicht der irdische Tag und die irdische Nacht als das gleiche gesagt, sondern in eins gesehen das Offene, dieser Ort der Individuation, der Zeitlichkeit und des Erscheinens, und das Verborgene, wo nichts unterschieden ist und keine Vergänglichkeit und kein Sichzeigen. Dieses Fragment 57 sagt im symbolischen Bild von Tag und Nacht die eigentliche Wahrheit des Ephesiers aus; Tag und Nacht sind eins, das Offene und das Verborgene sind eins: eins aber nicht im Sinne des gleichförmigen Einerlei. Vielmehr: Das Sein ist die Einheit, die sich in zwei „Reiche“ zerlegt: Hades und Dionysos. Wie aber ist das Sein dieser Einheit? Sind dies zwei Seiten, zwei differente Momente? Nein, das Sein ist für Heraklit nichts anderes als der ständige Übergang aus der Nacht in den Tag, aus der verschlossenen Tiefe in die offenbare Helle. Das Sein ist ein Walten, ein Geschehen, wenn man so sagen dürfte: Es „steht“ nicht, es ist in einer unaufhörlichen Bewegung: es ist als ständiger Ursprung, als immerfließende Quelle; aus der Nacht bricht das Licht, aus der physis steigen alle Dinge hervor, kommen aus dem Dunkel zum Vorschein und in ihre abgegrenzte Gestalt, und in ihrem Untergang kehren sie heim in den Grund, der sie entließ. All das sind metaphorische Reden, die nur andeuten, ohne eigentlich zu zeigen. Aber Heraklit zeigt selber nicht, wie die physis der Ursprung aller Dinge ist. Sein Denken erreicht seinen Gipfel, wenn er die physis als diesen Ursprung behauptet: hodos anō katō mia kai hōute (Fr. 60).222 „Der Weg hinauf und hinab ein und derselbe.“ Welcher Weg? In diesem vielleicht bedeutsamsten Fragment ist in einer unüberbietbaren lapidaren Kürze seine tiefste philosophische Einsicht ausgesprochen. Dieses Fragment hat auch die verschiedensten Deutungen erfahren. Der „Weg hinauf und hinab“ soll den Mysterien der Aegypter entstammen, ihrem Totenglauben, sagt man zuweilen erklärend. Der phi­ losophische Sinn des Fragments ist davon unabhängig. Der Weg hinauf: das Hervorgehen des Seienden aus dem Sein, das Zum-Vorschein-kommen der Dinge, ihr Aufgehen? Was meint | aber der Weg hinab? Meint er den Untergang der Dinge, ihren Heimfall? Mitnichten. Der Weg hinauf und | hinab ist überhaupt kein Weg, den die Dinge durchmessen, es ist vielmehr die Bewegtheit des Seins selbst. 182

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Das Sein ist zugleich aufgehend ins Offene und sich verschließend in Verborgenheit; das Sein wirft aus sich zugleich den Raum der Helle und hüllt sich in Nacht; es ist ein einziges und unaufteilbares „Gescheh­ nis“. Im Außersichgehen geht es zugleich in sich zurück; die Struktur dieser Seinsbewegtheit läßt sich nicht in andeutenden Worten verständlich machen; wir halten als Ahnung fest: Keine Lichtung im Sein tilgt je seine Verborgenheit und keine Verborgenheit hebt je diese Lichtung auf, Lichtung und Verbergung sind gleichursprünglich, sind nur zwei Namen für ein einziges, in sich einheitliches Geschehnis. Sōphronein aretē megistē, kai sophiē alēthea legein kai poiein kata physin epaiontas.223 „Das vernünftige Denken ist die größte Vollkommenheit, und die Weisheit ist, das Wahre zu sagen und hervorzubringen, hinhörend auf die Natur.“ (Fr. 112) Was sagt dieser Spruch? Sagt er das Verständige aus, daß das vernunftgemäße Denken die größte Tugend, daß die Weisheit im Sagen der Wahrheit bestünde und im naturgemäßen Lebenswandel? Auch so hat eine platte Verständlichkeit diesen Spruch schon ausgelegt. Aber es geht in Wahrheit hier nicht um das Lob der Vernünftigkeit und der Wahrhaftigkeit. Das verstehende Denken ist die höchste Möglichkeit des Menschen ‒ aber nicht irgendein Denken oder das Denken überhaupt und im allgemeinen. Welches Denken gemeint ist, sagt der zweite Teil des Spruches: das Denken der sophie. Und worin besteht diese: im Sagen des Unverborgenen. Unverborgenes kann aber vielfach gesagt werden, so nämlich, daß das Sagen nur nachsagt, was schon offenkundig ist; solches Sagen ist all unsere gewöhnliche Rede; sie greift nur auf, was als Unverborgenes schon herumliegt; sie vollzieht nicht die Anstrengung der eigentlichen Rede: das Herausreißen des zu Sagenden aus der Verborgenheit. Die gewöhnliche Rede „entbirgt“ nicht; sie steht nicht auf gegen die ganze Macht der Verbergung, die alles Sein durchwaltet, und zwingt ihm das alēthea, das Unverborgene ab. Die Rede der sophia, das Spre­ chen der Weisheit ist immer das Wagnis, der Verborgenheit die Wahrheit zu entreißen; solches Sagen ist ein poiein. Poiein bedeutet also im Spruch nicht neben dem Sagen noch ein anderes, sondern ist explikativ zu legein. Solches Sagen des Unverborgenen ist gemeint, das ein hervorbringendes Sagen ist. Poiein heißt griechisch nicht nur Machen, Verfertigen, sondern vor allem zum Vorschein bringen; jedes Machen eines Machwerkes bringt etwas in einen Anblick, läßt etwas sehen, herauskommen. Das hervorbringende Sagen des Wahren aber soll kata physin epaiontas geschehen: im Hinhören auf die physis. Das heißt, im Verhalten zu dem Insichverschlossenen soll das entreißende Sagen des Wahren geschehen; und so ist es allein die sophia, die höchste menschliche Möglichkeit. Nicht im Denken, das im Offenen verbleibt und in seinem Umkreis sich um|tut, erreicht die Wahrheit ihr höchstes Wesen; einzig nur im Denken des Seins, als der Einheit des Offenen 183

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und Verschlossenen, im ausdrücklichen denkerischen Vollzug der Lichtung, die im Lichten um die Nacht weiß, ist die aretē megistē da. In einem einzigen Fragment nennt Heraklit ausdrücklich die Weise, wie die in sich verschlossene Tiefe des Seins, die physis, aus sich selbst herausgeht und sich lichtet, im Fragment 52: aiōn pais esti paizōn, pesseuōn; paidos hē basilēiē.224 „Die Zeit ist ein Knabe, der spielt, hin und her die Brettsteine setzt, die Königsherrschaft des Kindes.“ Dieses Fragment trägt im wesentlichen Nietzsches ganze Heraklitdeutung; bei aller Falschheit seiner Interpretation verrät doch Nietzsche hier wieder seinen unerhörten Sinn für wesentlichen Geist. In der Tat ist dieses Fragment in einem gewissen Sinne ein Schlüssel: die | Zeit erscheint hier als ein Spiel. Der dunkle Zusammen­ hang des in sich verschlossenen und doch zugleich in sich gelichteten Seins als des Ursprungs aller Dinge wird begriffen als das Seinsspiel der „Zeit“. Von da aus müssen wir versuchen, die eigentliche Grundfrage Heraklits zu deuten, das Problem von Sein und Werden. Das nächste Mal soll die Heraklitinterpretation zum Abschluß kommen und der Übergang gewonnen werden zu Parmenides.225 | 22. Den Durchgang durch die Philosophie Heraklits haben wir im Beden­ ken der wesentlichsten Fragmente und „Grundbegriffe“ vorläufig beendet; damit aber ist noch gar nichts gewonnen, wenn wir uns nur Kenntnisse verschafft haben über eine vergangene und abgetane Form des Geistes. Haben wir dabei auch etwas vernommen von der ursprünglichen Not jenes anfänglichen Denkens der Philosophie? Sind wir, und sei es nur mit einem kleinen und zögernden Schritt, hineingegangen in den Machtbe­ reich jener ins Ganze des Seins ausgreifenden fragenden Verwunderung? Haben wir wirklich mitgefragt? Alles Verstehen geschichtlicher Gestalten der Philosophie ist nur möglich im Mitfragen. Welches ist die Frage, die das Denken Heraklits treibt? Wir bezeichneten sie wiederholt schon als das Problem von „Sein und Werden“. Eine solche Bezeichnung sieht aus wie eine verfügbare Etikette. Philosophie aber hat das Mißliche, daß in ihr alle Selbstverständlichkeiten und Bekanntheiten, auf die man verfügend zurückgreift, verschwunden sind: Das am meisten Bekannte und von uns in Gebrauch Genommene ist das „Sein“. In jedem Satz, in jedem Gedanken, in jedem Verhalten ‒ immer verstehen wir in gewisser Weise das „ist“. Dieses Verstehen von Sein ist gleichsam das Medium, in welchem wir uns bewegen und aufhalten, aus dem wir nie herausfallen, in das wir ständig eingelassen sind. Zugleich aber ist dieses „Immerschon-Verstandene“: das Sein, das Unbegriffene und Fragwürdige, das Rätsel aller Rätsel. Wir gehen da|mit um ‒ und begreifen es doch nicht; wir machen ständig davon Gebrauch und wissen doch im Grunde nicht, was es eigentlich ist; wir sind selbst 184

IV. Heraklit

ein Seiendes inmitten einer Welt des Seienden und sind bedrängt von der Undurchschaubarkeit dieser Situation. Was ist das Sein? Mit dieser Frage steht die Philosophie auf ‒ und bleibt in ihr, solange sie ihr geschichtliches Dasein hat auf dieser Erde. Die Seinsfrage der Philosophie endigt in keiner „Antwort“, die die Frage beseitigt; vielmehr führt alles Denken immer nur tiefer in die ursprüngliche Not des Menschentums hinein. Wenn die Sprüche Heraklits in der versammelten Macht ihres Tiefsinns uns so angerührt haben, daß die Seinsfrage selbst in uns ins Schwingen geriet, dann mögen die folgenden Hinweise auf sein „Grundproblem“ mehr sein als leere Formeln. Sein und Werden? Die Zusammenstellung dieser beiden Titel soll ein Problem anzeigen. Und zwar eine wesentliche Gestalt der Seinsfrage. Mit der Zusammenstellung ist nicht gefragt nach einem Verhältnis von zwei Sachen, dem Sein hier und dem Werden dort. Die alltägliche Unterscheidung, die dem Sein das Werden gegenüberstellt und mit diesem Gegensatz operiert, steht noch außerhalb des Problems. Dort sagt man etwa: Das Sein ist der Gegenbegriff zum Werden, Sein und Werden sind Gegensätze; das Sein steht, das Werden ist bewegt; der Begriff der226 Ruhe und Bewegung wird in Gebrauch genommen, um den Gegensatz von Sein und Werden alltäglich zu erklären; das Sein ist vollendet, das Werden ist unterwegs; doch gesteht man zu, daß ein Zusammenhang dieses Gegensätzlichen besteht: das Werden endigt im Sein. Die vage Art, wie wir dieses alltägliche Verständnis von Sein und Werden anzeigen, entspricht nur der Vagheit, die jenes Verständnis durchwaltet. Werden wird einmal genommen als das Unterwegs zu einem Sein als dem Endzustand, dann auch als lebendige Bewegtheit; und entsprechend wird Sein genommen als Gewordensein, als Resultat eines Werdeprozesses, dann aber auch als unlebendige starre Unbe­ wegtheit; die Vulgärinterpretation ist somit orientiert am Phänomen des Entstehens von etwas und am Gegensatz des Lebendigen (Organischen) und Unlebendigen (Vorhandenen); das Werden eignet dem Sichwandelnden, das Sein dem zur Wandlung Unfähigen. In dieser Vulgärinterpretation des Gegensatzes von Sein und Werden ist selbst ein Denker vom Range Friedrich Nietzsches befangen geblieben, und zwar gerade in seiner Deutung des Verhältnisses von Heraklit und Parmenides. Heraklit gilt ihm als der Denker der lebendigen Be|wegtheit, der unaufhörlichen Wandlung, des Prozesses ‒ Parmenides als der Denker des starren, unlebendigen, stehenden Seins. Das eon, das „Seiende“ des Parmenides ist für Nietzsche eine furchtbare Abstraktion, ein Produkt des abstrakten Begriffs, eine Stillstellung des Lebens, eine tödliche Erstarrung. Die Intuition faßt das Wirkliche, das Lebendige, Insichgegensätzliche; | der Begriff dagegen nur das Gedanken­ schema, das Sein. „Ungriechisch wie kein andrer in den zwei Jahrhunderten des tragischen Zeitalters“227, nennt Nietzsche den Moment, in welchem Parmenides seine Lehre fand vom Sein. „Einem Griechen war es damals 185

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möglich“, sagt er mit geistigem Entsetzen, „aus der überreichen Wirklichkeit, wie aus einem bloßen gauklerischen Schematismus der Einbildungskräfte zu flüchten ‒ in die starre Todesruhe des kältesten, Nichts sagenden Begriffs, des Seins“228. Die Vulgärinterpretation des Gegensatzes von Sein und Werden ist nicht bei Nietzsche allein die Perspektive geworden für das Verhältnis von Heraklit und Parmenides, sie beherrscht weitaus die meisten Auslegungen. Das ist um so verwunderlicher, als im Philosophieren des Heraklit und des Parmenides die vulgäre Deutung von Sein und Werden ausdrücklich überwunden wird. Von einem Gegensatz zu sprechen, ist schon deswegen übereilt, als ja der Begriff des Seins das Werden mit umfaßt. Werden, als eine Weise des Lebendigen verstanden, ist ja gerade dann die ihm eigentümliche Seinsweise; und wieder anders, das Sein, als Resultat des Werdeprozesses genommen, gehört jenem ja noch als Abschluß, als Endphase zu; das Werden, sagt man dann, schlägt ins Sein um. Schon eine ganz oberflächliche Besinnung zeigt eine Verkettung dieser Begriffe, eine tieferdringende, eine gegenseitige Implikation: Jedes Werden ist seiend und jedes Sein ist im Werden, sofern Werden nicht nur als Geschehnis, Vorgang, Ereignis, sondern als Zeit gefaßt wird. Alles, was ist, ist entweder gewesen, jetzt oder zukünftig; jedes Seiende ist in der Zeit; die Zeit aber ist reines Werden; sie ist nie auf einmal ganz, sondern ist nur so, daß sie als Abfolge von Momenten, von Augenblicken sich vollzieht. Die Zeit „zerlegt“ sich so, daß je nur ein Moment ist und alle anderen nicht, aber dieses eine Moment ins Dasein tritt, um sogleich zu verschwinden und dem anderen, nachfolgenden Platz zu machen. Nicht im Hinblick auf die in der Zeit vorkommenden Ereignisse des Wachsens, Entstehens und Zugrundegehens usf. kann der Begriff des Werdens gefaßt werden, sondern im Hinblick auf die Zeit selbst. Alles was ist, ist in der Zeit; nicht nur das Wechselnde und Wandelnde, auch das Ständige und Bleibende. Auch Ständigsein und Bleiben ist nur von Moment zu Moment möglich, ist ein Hindurchdauern durch die Zeit. Auch das Wandellose, sich nicht Verändernde, Gleichbleibende kann solches nur sein im Wandel der Jetztmomente, im Wandel der werdenden Zeit. Eine Ständigkeit, die die ganze Fülle des Seins ohne die zeitliche Zerlegung in sich faßt, ist unmöglich. Das Werden, so verstanden als die Zeit, ist das Worin alles Seienden. Sein von Seiendem gibt es nur im Raume des Werdens der Zeit. Das Sein ist Werden. Das Sein ist Zeit. Sein ist ein Zeitwort. Ist diese Problematik der Horizont der heraklitischen Grundfrage? Ist es seine Ein|sicht, daß alles Seiende treibt im Strome der Zeit, auch das Ständige und Bleibende? Entdeckt Heraklit die Zeit als den Horizont des Seins? Diese Frage bejahen, würde bedeuten, Heraklit von der Fragebahn der Metaphysik her auszulegen. Die Metaphysik, die eigentlich erst bei Platon und Aristoteles ent­ springt, sagten wir, denkt das Sein am Seienden. Die Grundsituation der 186

IV. Heraklit

Metaphysik ist charakterisiert durch den Einsatz der philosophischen Frage im Raum des Offenen, im Raume der aufgegangenen Vielheit des Seienden. Das Sein all dieses Vielen ist ein InderZeitsein; die Explikation der Seinsver­ fassung der Dinge muß not|wendig die Zeit als den Horizont, der sie alle umfängt, sehen lassen; dies geschieht in der griechischen Interpretation des eigentlichen Seins als des „bleibenden“ gegenüber dem nur „wandelbaren“; das Zeitverständnis von Sein spricht sich aus in den Grundbestimmungen der Substanz, der ousia. Das Denken Heraklits aber zielt nicht ab auf die Seinsverfassung der seienden Dinge, er entdeckt nicht daran die Zeit als das Feld ihres Seins; Heraklit denkt zurück in die archē, in den Ursprung: in das Sein, sofern es noch nicht ausgegossen ist in die Vielfalt und am Vielfältigen sich zeigt. Und er denkt zurück in die Tiefe der Zeit, sofern sie noch nicht entfaltet ist und als Form alle Dinge umfängt, sondern sofern sie aufgeht, sich zeitigt im Hervorkommen aus dem Schoße der physis. Mit anderen Worten: Heraklits Problem von Sein und Werden hat nicht den Charakter der ontologischen Bestimmung der bereits schon entsprungenen Welt, sondern der entspringenden. Die vormetaphysischen Denker wagen das Andenken des Ursprungs. Ihre Fragen können nur erfaßt werden, wo ursprünglicher gedacht wird als in der Metaphysik. Die Metaphysik aber hat uns alle geprägt: Sie ist die Form, in welcher unser Seinsverständnis „gefaßt“ ist. Und darin besteht die große Schwierigkeit, einen Zugang wiederzufinden zu den physiologischen Denkern der Frühzeit, daß er nur gewonnen werden kann in einer „Überwindung der Metaphysik“. Das Problem von Sein und Werden (von Sein und Zeit) als eine Weise der Frage nach dem Ursprung ist keine Erhellung des wesentlichen Bezugs zwischen dem Sein an den Dingen und der Zeit an den Dingen. Vielmehr richtet sich die Stoßkraft dieses Problems über alle Dinge hinweg in den Grund oder Abgrund, aus dem sie stammen. Wie entspringt aus dem einen, in sich verschlossenen Sein die Welt des Vielfältigen, das Reich der Dinge? Und wie kommt aus dem uner­ schöpflichen, zeitlosen, alle Fülle des Seins zugleich in sich Versammelnden (dem apeiron anōlethron kai athanaton) die alles erschöpfende, alles Sein zerlegende Zeit? Sein und Werden an den Dingen wird also zurückgesehen auf den Ursprung hin. Damit sieht es so aus, als behaupte Heraklit ein zwiefaches Sein: das Sein als noch unentfaltetes, in welchem es keinen Unterschied von | Sein und Seiendem gibt, und das welthaft entfaltete, das Sein an den Dingen ‒ und ebenso eine zwiefache Zeit: die Ewigkeit als die noch unzerlegte, und die Weltzeit als die alles zerlegende Zeit. Aber das Ganze zusammen ist erst das Sein und die Zeit: der verschlossene Abgrund und die aus ihm aufgehende Lichtung, Hades und Dionysos. Das Aufgehen, das zugleich ein Verschließen ist, dieser Doppelweg der hodos anō katō, ist die Bewegung, die das Sein vollzieht: das Auseinandertreten (diapheresthai) 187

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und das Insichgehen (xympheresthai). Das Ewige ist keine Ewigkeit, die in sich bleiben könnte, sie muß in die Zeitlichkeit sich ausgießen; und ebenso kann das einige Sein nicht in sich bleiben ohne den Sturz in die Welt. Das Aufgehen zur Welt, das „Welten“ (verbal genommen) ist die Weise, wie der Ursprung als Entspringenlassen ist. Das Entspringenlassen ist Zeitigung in einem tieferen Sinne, als sie je faßbar ist als die Form des Daseins der Dinge. Das Sein ist Zeit ‒ dies ist Heraklits These, aber in einer radikalisierten Form. Das Sein weltet: es gießt sich aus und verliert sich dabei doch nicht, es erschöpft sich nicht im Fall in die Vergänglichkeit; es ist sein ewiges Wesen, sich zu verzeitlichen. Das Welten, das Auseinander­ gehen des Seins, ist für Heraklit gesichtet im Symbol des Spiels. Das Sein spielt Welt und wird dieses Spiels nie müde, weil es ein Spiel spielt, das zugleich ein Bauen und Zerstören ist, das nie gefesselt bleibt, sondern das Fesselnde wieder vernichtet. Das Sein, der ewige, schöpferische Abgrund, spielt unaufhörlich Welt ‒ und dieses Spielen ist das tiefste Wesen der Zeit. Das Sein wird: es wirft sich immer ins Werden. | Heraklit denkt im Symbol des Spiels aber das Kind mit. Nicht das Spiel überhaupt wird ihm zur „kosmischen Metapher“: das Spiel des Kindes. Das Kind spielt nicht nur auch auf seine Weise, sondern es ist vielmehr der eigentliche Spieler. Alle Spiele der Erwachsenen sind blinde und taube Nachahmungen, die nur die „Zeit vertreiben“, verjagen, aber nicht sie eigentlich und wesenhaft dasein lassen. Das Kind spielt nicht, weil es sonst mit der Zeit nichts anfangen kann; es kann vielmehr auf seine ursprüngliche Art nur spielen, weil es gerade auf eine besondere Weise zeithaft ist. Das mag befremden. Sind wir nicht gewohnt, vom Kinde zu sagen, es lebe noch in seliger Selbstvergessenheit, in der bloßen Gegenwart und ohne Zukunft und ohne Vergangenheit, in einer gewissen Weise „zeitlos“? Gewiß ist das Kind zeitlos, wenn es gemessen wird an der Erwachsenen-Zeit, an jener Zeit der ausgebildeten Horizonte, wo eine lange Vergangenheit hinter uns, eine kurze, flüchtige und ungreifbare Gegenwart bei uns und eine ungewisse, nur in ihrem tödlichen Ende gewisse Zukunft vor uns liegt. Der Erwachsene ist existierend je schon ganz eingegangen in die Zeit, sie ist die ausgeprägte Form seines Daseins. Aber es ist die Frage, ist diese ausgebildete, in ihren Horizonten und Erstre­ ckungen festliegende Zeit auch die ei|gentliche? Oder gibt es Erfahrungen, in denen sich uns eine tiefere Dimension auftut? In allem schöpferischen Verhalten und wagenden Existieren zeigt sich, als seltener Glücksfall, ein Widerschein dessen, was das kindliche Dasein selbstverständlich ist: die spielerische Leichtigkeit des Entwurfs. Das Kind ist nicht in der Zeit wie in einem vorgegebenen Gefängnis, sondern geht in sie hinein, wirft sich in die Möglichkeiten. Wie das Kind gleichsam noch zwischensteht zwischen der Naturgeborgenheit des Tieres und dem an-sich-selbst-Überlassensein des Erwachsenen, wie es unterwegs ist zwischen diesen beiden Lebensformen, 188

IV. Heraklit

so geht es auch erst in die Zeit hinein, und sein Spielen hat den Charakter des Übergangs: es bildet erst Zeit. Das Sein, das abgründig noch in sich verschlossene, spielt auf kindhafte Art: es ist ein Hineingehen in die Zeit. Der Begriff des kindlichen Spiels, von Heraklit genommen, um die innere Bewegung des Seins selbst, also seinen größten Gedanken zu kennzeichnen, läßt noch ein weiteres Moment wichtig erscheinen: die Absichtslosigkeit, wir könnten sagen: „Zwecklosigkeit“. Das Sein wirft sich in die Offenheit der Welt, geht auseinander in die Vielheit der Dinge, ohne daß dahinter eine vernünftige Absicht, ein Plan steht. Die Weltbildung, als welche das Spiel des Seins sich vollzieht, ist für Heraklit nie zu fassen in Kategorien, die dem planenden und berechnenden Verhalten des Menschen entnommen sind. Die Welt ist keine Schöpfung, kein Gebilde eines planenden Verstandes. Sie ist damit noch nicht sinnlos oder unvernünftig. Vielmehr sahen wir ja, daß Heraklit den Begriff der menschlichen Vernunft von der kosmischen her, vom sophon aus faßt, und nicht umgekehrt, wie wir es gewohnt sind. Die Welt, das Offene, ist durchwaltet und durchmachtet vom Vernünftigen und vom kosmischen logos, und dennoch hat sie den Charakter des Spiels. Die tiefen Gedanken, die in dieser Konzeption liegen, lassen sich nicht ohnehin entfalten; sie stehen im Widerstreit mit den ganzen Denkgewohnheiten einer langen geistigen Geschichte. Nietzsche hat den Versuch gemacht, das Sein von aller moralisch-theologischen Ausdeutung, die ihm in dem Gange der metaphysischen Philosophie zugewachsen ist, zu befreien und es als die „Unschuld des Werdens“ zu denken; aber gerade in dieser negativen Formel von der Un-Schuld ist die Kontrastposition immer noch mächtig; er kommt nicht in die Erfahrung der Vorsokratiker vom Sein wirklich zurück. Bei dieser Reminiszenz mag noch ein Hinweis verstattet sein. Es wäre ein krasses Mißverständnis, wenn man Heraklits Problemansatz von Sein und Werden, d. h. vom Zeitspiel des Seins, auslegen wollte mit den Begriffen, die erst in der späteren Stufe der Metaphysik zur | Ausbildung kommen. Wir haben aber selbst dergleichen getan. Wir sagten etwa, die Ewigkeit des Seinsgrundes geht über in die Zeitlichkeit und dergleichen. Aber alle solchen Reden sind nur als Verlegenheiten zu nehmen. Die Ewigkeit der | physis ist keine Ewigkeit, wie sie die Metaphysik dem Weltstoff zudenkt, kein unaufhörliches Dauern in der Zeit, und ist auch keine Ewigkeit, wie sie der christliche Glaube dem Schöpfergott zuspricht, keine Ewigkeit außer der Zeit; und ebenso ist das Weltbilden keine Erschaffung, keine Hervorbringung aus dem Nichts, sondern eben das Hervorkommen des Vielen aus dem Schoße des Einen. Als eine wesentliche Einsicht unseres Interpretationsversuches mag es gelten, daß wir gerade die Unzulänglichkeit all der Vorstellungsweisen erfahren haben, die man sonst so geradezu an die alten Denker heranträgt. Heraklit lehrt nicht den Fluß der Dinge, lehrt nicht das Werden als die einzige Wirklichkeit, er leugnet nicht das Sein, und 189

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er entdeckt nicht den Wesenszusammenhang von Sein und Zeit, solange diese Begriffe ontologische Strukturen der Dinge meinen. Was er wirklich denkt, und was wirklich sein bewegendes Problem war, das zu sagen ist eine Aufgabe, die wir nur in einem allzu vorläufigen Ansatz angegangen sind. Hen panta einai, das Eine ist alles, indem das Sein sich ausspielt in die Welt. Es kann nun als eine einseitige Auffassung angesehen werden, daß wir die Interpretationsthese durchzuführen versuchten, das Grundproblem Heraklits sei die Frage von Sein und Werden. Steht seine Philosophie nicht in der Weite aller wesentlichen Fragen? Ist das Sein bei ihm nur auf das Spiel der Zeit hin gesehen und verstanden? Keineswegs. Wo immer Philosophie wirklich wird, hat die Seinsfrage im Ganzen über sie Gewalt. Wie und in welchen Dimensionen aber wird Sein jeweils fragwürdig? Kann man das so im voraus ausmachen? Oder läßt sich das erst im Hinblick auf die faktische Geschichte der Seinsfrage, also auf den Gang der Philosophie bestimmen? Diese Alternative ist falsch gestellt; weder läßt sich der Raum der philosophischen Verwunderung vorgängig gleichsam rechnerisch aus­ messen, noch ist eine sogenannte „Problemgeschichte“ der rechte Weg, in die Grundfragen hineinzukommen. In gewissem Sinne stehen die Grundfragen der Philosophie immer schon offen; aber mit dem Genanntwerden derselben ist noch gar nichts getan. Probleme haben wohl Namen und somit eine Bekanntheit; aber das erste, wenn das Denken sich mit ihnen einläßt, ist es, diese Bekanntheit zu verabschieden. Durch die Geschichte der Philosophie ziehen sich, aufs Große gesehen, solche Namen und Bekanntheiten: Die Seinsfrage entfaltet sich mehrfältig, so zwar, daß sie in jeder Fragegestalt doch ihre ganze drängende Wucht behält. Diese Grundgestalten der einen Frage sind deswegen auch keine „Gliederung“ der Philosophie, die in ver­ schiedene Bezirke oder Bereiche zerfiele. In jeder Gestalt ist sie je ganz da. Das Sein? Das Sein verstehen wir, wenn wir es aussagen von einem Ding, als solches, was das Ding seinläßt, was seine Wirklichkeit ausmacht. Das Seiende ist. Wogegen verstehen wir dieses „ist“? Was ist mitverstanden als das | abwesende Gegenteil, wenn wir von etwas sagen, es ist? Das Nichts. Das Sein wird immer verstanden als das Gegenteil des Nichts. Sein und Nichts: Dies ist die eine Grundgestalt der Seinsfrage, d. h. der Philosophie. Das Seiende ist ‒ das kann auch heißen: es ist ‒ im Gegensatz zu „es wird erst“ oder „ist nicht mehr“; das „ist“ verweist auf die Zeit, auf das Werden: Sein und Werden. Und ferner sagen wir etwa, eine Sache ist im Sinne von „sie ist wahrhaft so“, es sieht nicht nur so aus; Sein wird dann verstanden als wahrhaft-Sein, in „seiender Weise sein“ im Gegensatz zum bloßen Aussehen, zum Anschein; das Seinsverständnis bewegt sich je schon in einem Unterschied von Sein und Schein. Und endlich, das, was wahrhaft ist, zeigt sich nicht sofort dem bloßen Hinblick, dem erstbesten Verhalten, sondern einem besinnenden, überlegenden Verhalten, dem Denken. Das 190

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Sein steht in einem Bezug zum Denken. Sein und Denken ist endlich die vierte Grundgestalt der Seinsfrage. Diese Aufzählung ist | jetzt ganz roh und unvollkommen vollzogen und gibt so zunächst noch keine Ahnung von der Bedeutsamkeit dieser Viergestalt der einen Seinsfrage. Diese Vierfalt aber beherrscht die Philosophie seit ihren Anfängen; sie ist ebenso in der vormetaphysischen wie der metaphysischen Philosophie am Werk; aber es ist eine grundsätzlich andere Weise, wie das ursprüngliche Denken in dieser Vierfalt sich bewegt, und wie die Metaphysik. Bei Heraklit ist das beherrschende Problem die Bewegung im Sein, vom hen zum panta ‒ aber auch die Fragen von Sein und Nichts, von Sein und Schein, Sein und Denken lassen sich alle bei ihm finden. So sahen wir z. B., wie gerade das Offene nicht nur der Bereich der Vergänglichkeit, sondern auch des Scheinens in einem ursprünglichen Sinne ist ‒ wo Schein nicht als Anschein, sondern als Vorschein begriffen ist. Das Problem von Sein und Schein, so sagen wir zunächst als eine vorlaufende These, ist das Grundproblem des Parmenides. Und in seinem Denken gewinnt es die erste unerhörte Entfaltung. Parmenides ist nie als eine Gegenposition zu Heraklit zu verstehen, wie es der Unfug der gängigen Deutungen behauptet. Wenn es eine ausdrückliche Gegenposition wäre, müßte sie derselben Grundfrage entspringen; das ist aber nicht der Fall. Parmenides steht in einer eigenen und von ihm erstmals zentral ergriffenen Problematik. Das soll uns die Auslegung seines Lehrgedichtes dartun. Über das bloß Tatsächliche nur wenige Worte. Parmenides, geb. 540 in Elea in Unteritalien, bedeutet zunächst den Wechsel des Schauplatzes der Philosophie. Von Jonien gehen wir über nach Italien. Parmenides soll aber nach der antiken Überlieferung im Zusammenhang mit dem jonischen Denken gestanden sein; als sein Lehrer gilt Xenophanes aus Kolophon in Kleinasien; im platonischen Dialog, der den Namen Parmenides führt, wird erzählt von einem Besuch, den der schon alte, ehr|würdige Parmenides in Athen gemacht habe, wobei er mit dem damals noch jungen Sokrates sich unterredet hätte. Das Äußere alles besagt für unser Anliegen wenig. Es geht uns jetzt nur um die Auslegung seiner Schrift, die auch den Titel Peri physeos gehabt haben soll, was jedoch ungesichert ist. Diese Schrift ist229 ein uns nur fragmentarisch erhaltenes Gedicht von 154 vollständigen Versen (wobei sechs nur in lateinischer Übersetzung erhalten sind). Der üblich gewordene Ausdruck „Lehrgedicht“ birgt die Möglichkeit eines schwerwie­ genden Mißverständnisses in sich. Man könnte meinen, es handle sich dabei nur um eine in Verse gebrachte Abhandlung, also um ein poetisches Gewand für eine theoretische Sache; bei einer solchen Auffassung ist man allzuleicht geneigt, als bloße Allegorie anzusehen, was in der metaphorischen Bilder­ sprache gesagt wird. Die allegorisierende Ausdeutung ist dann vor allem auch der Eingangspartie des Gedichts zugemutet worden, dem sogenannten 191

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Prooemium. Allegorie aber ist keine ursprüngliche Weise der Rede. Wir glauben daher, daß die dichterisch-denkerische Form, in welcher Parmenides seine Wahrheit aussagt, nicht zufällig und äußerlich ist, so wenig wie die Symbolik Heraklits. Das Gedicht beginnt als Bericht über die Wagenfahrt des Denkers, die ihn in das Haus der Göttin, der Dikē bringt, damit er dort aus ihrem Munde die Wahrheit erfahre über das Seiende im Ganzen. Zweierlei halten wir gleich fest. Die Wahrheit wird vernommen nach dem Durchmessen eines langen Weges. Das besagt aber, sie ist zunächst nicht vernehmbar, weil wir entfernt sind vom Sein. Diese Seinsferne ist die Situation des Ausgangs alles Denkens. Und zweitens, die Wahrheit wird vernommen aus dem Munde der Göttin. Heißt das nun, daß Parmenides eine Auffassung der Philosophie gehabt habe, wonach diese „Offenbarung“ ist, Selbstaussage der Gottheit? Widerspricht das nicht dem Wesen der Philosophie? Aber es ist mehr als fraglich, ob die Verkündigung der Göttin so etwas wie Offenbarung ist, vor allem Offenbarung, | wie wir sie im religiösen Sinne kennen. Diese Frage ist um so brennender, je weniger wir in der Göttin nur eine Allegorie sehen, je ernster wir die parmenideischen Worte selbst nehmen. Die Wahrheit wird vernehmlich nach einem Weg, nach einer Entfernung vom Standort, wo sonst der Mensch steht ‒ und wird vernehmlich als eine göttliche, aber den Menschen ansprechende Stimme. Der Weg ist hier nicht zu nehmen als ein innerlicher subjektiver Weg der gedanklichen Entwicklung, als der Weg des Suchens und Forschens, sondern als die Verrückung des Standortes des Menschen. Darin liegt die tiefe Einsicht, daß Philosophie immer den Menschen herausreißt und aufjagt aus dem wohnlichen Gehäuse, das er sich eingerichtet hat inmitten des Seienden,230 daß sie eine Verrückung, etwas „Verrücktes“ ist, ein Ruck in den Wesensgrund des Seins.

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| 23. Wir stehen vor der Aufgabe, das parmenideische Lehrgedicht in seinen Grundzügen uns zu vergegenwärtigen, um die darin treibende Grundfrage, das Problem des Parmenides zu sichten.231 Beiseite lassen müssen wir die Auseinandersetzung mit den bekannten Interpretationen und dem Streit, der darüber entbrannt ist. Wir haben bereits vorweggreifend die Leit-These unserer Auffassung ausgesprochen: Das Denken des Parmenides steht wie das Heraklits im Raume der von Anaximander aufgebrochenen Frage nach der archē; das Denken greift über alles Sichtbare hinweg und denkt zurück in den Ursprung aller Dinge, zurück von der Vielfalt des ausgegossenen, in die Mannigfalt des Seienden zerstückten Seins in seine ursprüngliche Einheit: in die physis. Bei 192

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Parmenides geschieht das Zurück-Denken in die physis als Entfaltung des Problems von Sein und Schein. Die physis wird verstanden als das eine in sich wahrhaft Seiende, das eon, und die Welt, der Bereich der vielen Einzeldinge, der Bereich des Entstehens und Vergehens, als die Sphäre des Scheins. Sein und Schein sind aber prinzipiell ontologische Begriffe bei Parmenides. Von dieser Einsicht hängt schlechthin das Verständnis seiner Philosophie ab. Solange man den Begriff des „Scheins“ etwa nur in einem erkenntnisrelativen Sinne nimmt, also als bezogen auf ein trügliches Vorstellen des Menschen, solange bleibt die innere Einheit des parmenideischen Lehrgedichtes verbor­ gen. Es geht dort nicht darum, die Weltsicht des Philosophen gegen die der Menge zu stellen, die Vernunftgedanken gegen den Sinnenschein, die Wahrheit gegen den Wahn. Der Schein, von welchem Parmenides spricht, ist kein Irrtum, kein Erkenntnisfehler: Er gehört selbst mit zum Sein. Das eine in sich einige Sein, das eon, das zu denken ‒ nach Parmenides ‒ das Wesen der Philosophie ist, scheint: erscheint; mit zum Wesen des eon gehört sein Erscheinen, sein Aussichherausgehen, sein zum-Vorschein-Kommen; und zwar erscheint es im Vielen, an den vielen seienden Dingen, die wir gewöhnlich schon als das Wahrhafte nehmen. Wir sind, solange wir nicht in den Ursprung zurückdenken, befangen im Schein, wir verstehen ihn nicht als den Schein des wahrhaft-Seienden, nicht als das Vorscheinen des Ur-Einen. Im Schein befangen, erkennen wir ihn nicht als Schein; erst dort, wo das eon selbst erkannt wird, kann auch der Schein als Schein verstanden werden. Denn dieser Schein ist kein Trug, kein Wahn und kein Irrtum, sondern die wesentliche „Äußerung“ des wesentlich Seienden. Wenn in der Philosophie die Wahrheit aufgeht über das Ganze des Seins, so muß sie zugleich die Wahrheit über das wesentliche Sein, to eon, „und“ über den Schein, ta dokounta, sein. So hängen auch die beiden Teile des Lehrgedich|tes zusammen: Der erste Teil nach dem Prooemium enthält die Lehre des Parmenides vom ursprünglichen Sein (eon), der zweite die Interpretation der Welt des Vorscheinens. Der Seinsgedanke des Parmenides entfaltet sich so in der inneren Unterscheidung im Sein selbst: zwischen Wesen und Erscheinung. Dieser Unterschied von Wesen und Erscheinung stellt in dem ganzen Gang der Philosophie ein zentrales Motiv dar. Ähnlich wie der tempo­ rale Unterschied von Bleiben und Wechsel. In der vor-metaphysischen Philosophie aber haben diese Unterscheidungen einen prinzipiell anderen Sinn, als sie nachher im Gang der Metaphysik erhalten. Die Metaphysik prägt die ontologischen Unterscheidungen, welche die physiologoi vollzo­ gen zwischen der physis (als der archē) und den aus ihr entsprungenen Dingen, um in Unterschiede im Dingsein selbst. Was vorher als das Bleiben der physis gegenüber dem Wandel aller Dinge gedacht wurde, wird zur Struktur der Substanz (hypokeimenon); und was als das Verhältnis von 193

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Wesen und Erscheinung zuerst gedacht war auf die physis und die aus ihr aufgegangenen Dinge hin, wird uminterpretiert in den Bau des Dinges selbst: sein „Wesen“ erscheint in seinen Eigenschaften. Dieser Wandel der physiologischen Grundgedanken in metaphysische bedeutet den Verlust einer ungeheuren Möglichkeit der Philosophie ‒ ein Verlust, der uns noch immer bestimmt, und den wir nie so schmerzlich verspüren als im Ver|such, die Fragen der Vorsokratiker „wieder zu holen“. Soviel zunächst über die Teile des Lehrgedichts und ihr Verhältnis zueinander. Nur in der Einsicht in den Wesenszusammenhang von wesentlichem Sein und Schein wird die Einheit des Ganzen verstehbar. Wir beginnen mit der Interpretation des Eingangsfragments. Gerade dieses Fragment spricht gegen die übliche Auffassung, als wäre der Schein bei Parmenides nur genommen als der subjektive Menschenwahn, als bestünde er nicht für den Denker. Gerade hier, in der Situation des Ausgangs, walten die Mächte von Tag und Nacht, Licht und Finsternis ‒ und sie sind keine Trugbilder, die den Menschen narren. Der Weg der Philosophie beginnt im Reiche der Erscheinung, in der Licht und Dunkel wechselnd walten. Der Denker, der wissende Mann, wird auf dem rossegezogenen Wagen, geleitet von den Heliaden, den vielberühmten Weg geführt, der über die Wohnstätte der Menschen hinwegführt. Was ist das für ein Symbol? Schalten wir ausdrücklich alle bloße „Allegorie“ aus, vor allem jene im Altertum berühmt gewordene, wonach die Rosse das Seelengespann der verschiedenen Seelenkräfte, die Straße die Methode, die Begleiterinnen die Sinne, die Heliaden das Gesicht,232 die Räder das Gehör, die Göttin Dikē die untrügliche dianoia usw. darstelle; denn eine solche Allegorie verfehlt gerade das Entscheidende. Es wird als bloß subjektiv, als seelisches Vermögen usf. ausgelegt, was waltende Mächte im Reiche der Er|scheinung sind. Das Bild ist keine Allegorie, sondern ist ein Symbol. Das heißt aber, die einzelnen Momente stellen nicht etwas anderes dar, sondern fallen zusammen mit dem, was als Gedanke in diesem Bild sich ausspricht. Der Wagen, den die hippoi polyphrastoi ziehen, ist der Sonnenwagen, der den vielberühmten Weg befährt, den Weg der Sonne, hoch über allen Wohnstät­ ten der Menschen. Die Sonne aber ist das Scheinende, das allen Schein aus sich Werfende, das All-Erlichtende. Dort, wo die Sonne scheint, ist das Reich des Sichtbaren, des Sich-Zeigenden. Im Sonnenwagen fährt, wie Phaeton einst, der Denker die berühmte Bahn, beginnend in der Helle der vom Schein der Sonne erleuchteten Welt. Der Weg hat so selbst den Charakter des Erhel­ lens; geleitet ist der Wagen, der nie sonst in menschliche Macht gegeben ist, von den Heliaden, den Sonnenjungfrauen; sie weisen den Weg. Sie selbst sind Scheinende; und sie sind gekommen, wie auch der Sonnenwagen selbst, aus dem Hause der Nacht, eis phaos, „lichtwärts“, selbst lichtend und ins Licht aufsteigend, eis phaos ōsamenai kratōn apo chersi kalyptras,233 „wobei 194

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sie vom Haupte mit den Händen die Hüllen zurückstießen“. Die Heliaden also werden gesehen in der ihnen eigensten Bewegung des Enthüllens, des Offenbarmachens und Lichtens. Im Sonnengang, in diesem „majestätischen“ Bild, vollzieht sich der Weg des Denkers. Aus dem Offenen und schon Gelichteten, aus dem Reiche der Erscheinung, dringt der wissende Mann, mitgenommen selbst von der lichtenden Kraft, die im Ganzen waltet, an den Rand, an die Grenze der Lichtung selbst, an das Haus der Nacht. Am Hause der Nacht hat das Offene und Gelichtete seine Grenze: Das Offene ist umfangen von der Nacht des Verborgenen. Das, was sich uns zeigt, was wir kennen, der immer schon helle Bereich, die Welt des Scheins, hat dort ihr Ende. Aus der Dunkelheit der Nacht geht die Sonne auf, und in diese Dunkelheit verlöscht sie. Was aber ist das Dunkel, das nie sich für uns lichtet, solange wir im Bereich des Erscheinens stehen bleiben, dort wo die Wohnstätten der Menschen sind? In jenes Dunkel selbst hineinzufragen, ist der Anfang der Philosophie. Über alles schon Gelichtete, uns als das Seiende sich Zeigende hinweg in den Urgrund, aus welchem her sein Aufscheinen geschieht, zurückzufragen und zurückzudenken, die Verborgenheit des Ursprungs selbst zu lichten, das ist der Sinn des Denkwegs des Parmenides. Und die Göttinnen, die Heliaden, geleiten den Sonnenwagen an das Tor, an dem sonst immer die Sonnenbahn endet, am Hause der Dikē. Die Dikē polypoinos, die vielstrafende Dikē verwaltet | die „wechselnden Schlüssel“ zu den Toren von Nacht und Tag. Was ist diese Gottheit, die Dikē? Sie ist die Gottheit der Grenze, die gesetzt ist zwischen der Verborgenheit des Seins und der Offenheit des erscheinenden Seins, oder anders: zwischen dem Reiche des Ursprungs und dem Bereich der | Welt; das ur-eine Sein erscheint immer zerstückt ins Viele; die Grenze des Übergangs des Einen ins Viele, des Verborgenen ins Offene, des ursprünglichen Seins in die Mannigfalt der Dinge, ist die Fuge, die das Sein in seinem Doppelbereich zusammenschließt. Als diese Fuge scheidet die Dikē und bindet zusammen, sie ist das eherne Gesetz, das das Ganze durchwaltet. Ehern und ewig und unveränderlich ist diese Scheidung der Bereiche, und alles Recht und alle Ordnung unter dem Himmel, im Offenen und Verborgenen, ist gehalten von der Dikē. Am Übergang, anscheinend nur auf einem einzigen Punkt im All, ist doch das Walten der Dikē ausgreifend ins Ganze und alles durchdringend. Die Fuge des Seins ist unauflöslich. Und doch geschieht das Unerhörte: Die Heliaden bewegen durch weiche Worte die sonst unerbittliche Göttin, das verschlossene Tor zu öffnen, dem Sonnenwagen, der jetzt den Menschen trägt, den Weg freizugeben in die nie erhellte Nacht der Verborgenheit; das Unerhörte, dem ehernen Gesetz des Seins gleichsam Hohnsprechende geschieht: Die Dikē öffnet den verpflöckten Riegel und das Tor fliegt weit auf, und mitten durch das Tor lenken die Heliadenmädchen, die Lichtbringenden, den Sonnenwagen 195

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selbst. Erstmals geschieht das allem Gang der Welt Widersprechende: In die Tiefe der Verborgenheit fällt das Licht, das ur-eine Sein selbst, nicht nur das sonst immer sich zeigende Seiende, steht im Licht; es vollzieht sich die Entschleierung des tiefsten Geheimnisses; es zeigt sich, was in Wahrheit das Sein ist. Und die Dikē selbst, die sonst die Hüterin des Geheimnisses der Verborgenheit des Seins ist, nimmt den Menschen huldreich auf und spricht ihm zu. Keine moira kakē, keine schlechte Fügung habe ihn hergebracht, vielmehr themis und dikē. Der Denker ist mit Fug und Recht den Weg gekommen und hat das Unerhörte begehrt, die Verborgenheit selbst zu schauen; aber zugleich wird gesagt, daß dieser Weg „fürwahr außerhalb der Menschen Pfade ist“234. Das scheint ein Widerspruch zu sein. Man könnte versucht sein, diesen Widerspruch dadurch zu beseitigen, daß man auf die Rarität des Denkers hinwiese; der Philosoph ist gleichsam ein Außenseiter, der nicht die üblichen Menschenwege geht, sich nicht genügen läßt an dem, was sich uns zeigt, der über die Dinge noch hinaus will ins Herz der Welt. Aber eine solche Deutung macht nur einen empirischen Unterschied; die meisten gehen nicht den Denkweg, sie könnten ihn jedoch auch gehen. Aber es ist in aller Schärfe gesagt, daß er ganz und gar außerhalb ist, ja wir müssen sagen, außerhalb der menschenmöglichen Pfade überhaupt; d. h. der Pfade, die der Mensch, dieses ärmliche und doch so eitle Wesen, von sich aus, aus eigener Kraft gehen kann. Der Weg der Philosophie gründet nicht in einer Selbstherrlichkeit der menschlichen Vernunft. Das ist eine Grunderfahrung, welche die Morgen­ frühe der Philosophie durchstimmt. Und dennoch ist sie keine Offenbarung, die | von den Göttern kommt. Sie ist weder nur Selbstleistung des Men­ schen, noch Werk der Götter. Sie ist in eins das äußerste menschliche235 Wagnis und ist Anruf. Die Dikē selbst verwehrt sonst den Einblick in den Abgrund, der alles trägt und alles aus sich entläßt; sie hält ihn versiegelt und verschlossen als das gemeinhin den Menschen nicht Wißbare, diesen in den Schein Gebannten und Verschlagenen. Aber die Dikē selbst öffnet dem Philosophierenden das verschlossene Tor, wenn er nicht nur von sich aus kommt, sondern getragen ist von der ganzen Macht der lichtenden Kraft, wenn er im Sonnenwagen kommt. Das heißt, wenn das Sein, als das verschlossene, aber sich in den Schein werfende, selbst den Menschen ruft, um seine eigene Wesenstiefe zu erhellen. Das Sein, die physis, braucht den Menschen, um in der abgründigen Tiefe ihrer Verborgenheit hell zu werden. Getragen von der Sonnenkraft des Lichtens | erst, geleitet von den Heliaden, ist der Weg des Menschen bestimmt von themis und dikē. Dann allein ist er im Recht, und „mit Fug und Recht“ steht dann die menschliche Frage auf, was das Sein selbst sei. Nicht hat also dann der Mensch nur einen Bezug zum Sein, sondern vielmehr ist der Menschenbezug eingehalten in einen tieferen Bezug, den das Sein selbst nimmt zum Menschen, wenn es ihn braucht, wenn 196

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es ihn ruft. Der Ruf des Seins an den Menschen ist die Voraussetzung dafür, daß der Denker auf den Weg gebracht wird, daß die Rosse des Sonnenwa­ gens, die Heliaden, alle lichtenden Kräfte ihn geleiten, und die unerbittliche Dikē sich erbitten läßt und ihm das Tor aufstößt. Es ist also viel mehr als nur ein Bild, eine äußerliche Allegorie, es ist ein tiefes und bedeutsames Symbol, welches das Eingangsfragment beherrscht: das Symbol der Sonne, der Lichtung. Die Sonne ist das eigentlich Scheinende, den Schein Werfende. Aus dem Reiche des Scheins führt der Weg des Denkens heraus, aber gerade mit den Kräften, die den Schein werfen. Das ist von größter Bedeutung. Was die physis sei, das immer Verborgene, aber doch immerzu Anwesende und Allumfangende, kann nicht erkannt und gesagt werden, solange nur ihre Verborgenheit gedacht wird, ihre Andersheit zu allem Sichzeigenden. Die physis wird von Parmenides begriffen als das eon, das eigentlich Seiende; und dieses Begreifen hat den Charakter des denkerischen Entfaltens dessen, was Sein ist. Parmenides wirft das Licht gleichsam selbst in den nächtigen Abgrund und erkennt, vernimmt dann das begriffene Sein. Von außen her gesprochen und ohne jedes Mitgehen in der Fragebewegung des Parmenides ist es, wenn man sagt, er habe die physis, die Natur umgedeutet in einen vornehmlich logisch gedachten Seinsbegriff. Gerade die in einer solchen Charakterisierung umlaufende Unterscheidung von „Natur“ und „Logik“ ist dem frühen und ursprünglichen Denken ganz fremd. Was es eigentlich mit diesem vielverleumdeten „abstrakten Sein“ des Parmenides für eine Bewandtnis hat, werden wir | im Laufe der Interpretation des Lehrgedichtes noch sehen können. Das Eingangsfragment, das wir bisher zu deuten versuchten in seinem symbolischen Gehalt, schließt mit der Ansprache der Dikē an den Denker: Die Seinsfuge, die verschließend und öffnend in eins ist und als solche die beiden Bereiche zusammenhält und die Mitte des Ganzen ist, spricht: aus seiner wesentlichen Mitte spricht das Sein auf den Menschen zu: „Nun sollst du alles erfahren, sowohl der wohlgerundeten Wahrheit unerschütterlich Herz, wie auch der Sterblichen Meinungen, denen nicht innewohnt wahre Gewißheit. Und trotzdem wirst du auch dieses kennenlernen, wie das Scheinende auf scheinende Weise ist, alles gänzlich durchdringend“236. Dieser Schluß des Eingangsfragments ist in der Deutung heftig umstritten worden. Der Streit aber, glaube ich, ist auf dem Vorurteil basiert, daß Schein vorzüglich eben subjektiver Schein, menschlicher Wahn, trügerische Ansicht und dgl. sei. Gerade der ontologische Begriff des Scheins ist verfehlt worden; an seiner Stelle nimmt man einen erkenntnistheoretischen „Schein“ an. Dadurch gewinnen die Worte der Göttin einen absurden Sinn. Ist es der Göttin würdig, den Menschen neben der Wahrheit noch ausdrücklich den Trug zu lehren, den Trug, den doch die Menschen ja sowieso kennen? Neben dem wahren Weltbild noch ausdrücklich und ausführlich ein wahnhaftes 197

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Weltbild zu zeigen? Karl Reinhardt ist in seinem Buche Parmenides und die Geschichte der griechischen Philosophie gegen diese Auffassung Sturm gelaufen und hat sie mit ernsten philologischen Gründen erschüttert; aber er ist ‒ prinzipiell gesehen ‒ doch in der „erkenntnistheoretischen“ Deutung des parmenideischen Schein-Begriffes stecken geblieben. Er meint, es wäre ein „Mißstand, unter dem für uns die doxa leidet, daß sie das erkennende Subjekt nicht greifen kann“237. Parmenides will aber | überhaupt nicht das erkennende Subjekt greifen, wo es ihm um den Schein geht. Der Schein ist nicht das Falsche, sondern das Erscheinende, zwar nicht das eigentliche Sein, aber eben seine Äußerung, an die wir Menschen sonst immer gebunden sind, weil die Wohnstätte unseres Daseins im Offenen liegt, im Reich der Erscheinung. Zum Denker hin aber spricht die Dikē und weist ihm den vollen Umkreis der ganzen Wahrheit, der Wahrheit über das eigentliche Sein und der Wahrheit vom Schein. Und hier gilt es einen wesentlichen Zusammenhang zu begreifen: den zwischen Wahrheit und Sein. Wir können ihn kurz und andeutend so exponieren. Gemeinhin sind wir gewohnt, Wahrheit zu denken als die Übereinstimmung eines meinenden menschlichen Verhaltens mit einer Sache. Wahr ist dann eine Erkenntnis, eine Ansicht, eine Wahrnehmung, ein Glaube; und zweitens ist uns dann auch wahr eine Aussage, ein Urteil, ein Satz, in welchem sich eine Erkenntnis oder eine Meinung ausspricht. Dieser vulgäre, d. h. ganz problem|lose und gedankenlose Wahrheitsbegriff beherrscht unser alltägliches Verhalten zu den Dingen. Wahr ist ein auf Dinge, auf Seiendes bezogenes Meinen, wenn es die Dinge trifft, sich nach ihnen richtet und ihnen gemäß sich in Sätzen verlautbart. Jedes Meinen oder Behaupten ist demzufolge entweder falsch oder wahr. Wahrheit und Falsch­ heit sind einfache Gegensätze. Jede besondere Wahrheit hat die allgemeine Form der Wahrheit überhaupt. Gewiß unterscheiden wir Wahrheiten, die uns mehr angehen, uns mehr betreffen, uns wichtiger sind, von anderen, ohne welche wir leben können. Die Wahrheiten über die letzten Dinge, über Gott und Tod und Sinn des Lebens gelten uns als höher als irgendwelche Wahrheiten, die ohne das Schwergewicht der Lebensbedeutung sind. Und trotzdem sind wir zumeist geneigt zu sagen, wie immer auch die verschiede­ nen Wahrheiten je nach der Bedeutsamkeit für uns verschiedenen Ranges sind, als Wahrheiten aber sind sie alle gleich. Es gibt keine Wahrheit, die wahrer wäre als die andere, obwohl es Grade der Gewißheit, Grade der Sicherheit gibt. Diesem üblichen und unentwickelten Wahrheitsbegriff liegt die Auffassung zugrunde, daß alle Wahrheit solche von Seiendem ist und daß außerdem das Seiende alles in gleicher, ununterschiedener Weise ist. Was ist, das ist eben; es gibt kein stärkeres oder minderes Sein. Das Sein wird also ebenso gedacht wie vorhin die Wahrheit, in einem einfachen EntwederOder: wahr oder falsch, seiend oder nichtseiend; „tertium non datur“. 198

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Diese Einebnung von Wahrheit und Sein in das einfache Schema des Entweder-Oder beherrscht uns alle ‒ vor der Philosophie. Diese erwacht gerade im Zweifel an diesem Schema. Fragwürdig wird dann, ob alle und jede Wahrheit nur Seiendes betrifft, und ferner, ob die Wahrheit vom Seienden nicht auch abhängt von der Seinsmacht des jeweils wahren Seienden, von seinem Seinsrang, das besagt nicht von der Bedeutsamkeit für den Menschen, nicht von der Stelle, die ein Ding im menschlichen Weltbild einnimmt, sondern von der Stärke des Seins in ihm. Die Philosophie begreift in ihrem ersten Schritt, daß das Sein in sich unterschieden ist in wesentliches und unwesentliches und daß die Wahrheit vom eigentlich Seienden auch eigentliche Wahrheit, und ebenso Wahrheit vom seinsminderen Seienden auch mindere Wahrheit ist; und sie begreift so ferner, daß der Wahrheit selbst ein Sein zukommt, ein Seinsrang, der sich danach bemißt, welches Seiende in ihr offenbar wird. Und so drängt alles Philosophieren immer auf die am meisten Wahrheit seiende Wahrheit vom am meisten Seienden. Und noch ein wesentlicher Zug der Wahrheit muß gefaßt werden. Die gewöhnliche Wahrheitsauffassung verlegt die Wahrheit in den Menschen, in das Subjekt, wie wir gewöhnlich sagen. Wahrheit ist ein die Dinge treffendes, mit ihnen übereinstimmendes Wissen. Wahrheit ist genommen als ein Bezug des Subjekts zu den Dingen. Diese selbst aber, sagt man, sind, was sie sind, | ob sie wahrgenommen werden oder nicht, ob sie zum Gegenstand eines menschlichen Meinens werden oder nicht; sie sind von sich aus dagegen gleichgültig; es geht sie selbst nichts an. | Das Erkennen, das Vernehmen überhaupt, ist eine nur subjektive Bewegung, die an den Dingen nichts ändert. In dieser Auffassung also werden die Dinge als indifferent gedacht gegen die Helle, die über sie fällt, wenn Wahrheit sich ereignet. Wahrheit aber nannten die Griechen alētheia, die Unverborgenheit. Das verweist doch auf eine vorgängige Verborgenheit. Ist nur jene gemeint, wenn sich die Dinge unserem Hinblick entziehen, wenn sie durch anderes verstellt oder verdeckt sind? Oder gehört die Verborgenheit in einem wesentlichen Sinne zum Seienden? Im griechischen Wahrheitsbegriff ist das Wesen der Wahrheit nicht primär vom Subjekt, sondern vom Seienden selbst her gedacht. Wo Wahrheit sich ereignet, geschieht die Entbergung eines Verborgenen, und das geschieht an den Dingen selbst. Aber hier stutzen wir. Sind denn die Dinge nicht immer schon hervorgetreten aus dem bergenden Grunde der physis und hinausgestoßen ins Offene, in die gelichtete Weite der Welt? Sind die Dinge nicht in einem radikalen Sinne immer schon entborgen? Und ist dies nicht eine fundamentale Voraussetzung, die Heraklit und Parmenides machen? In der Tat. Alles was uns sonst als das Seiende gilt: die unübersehbare Fülle der Dinge, ist schon herausgetreten in den Umriß der bestimmten Gestalt und der endlichen Erscheinung. Und das ist der tiefste Grund dafür, daß der 199

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vulgäre Wahrheitsbegriff überhaupt aufkommen kann, daß man meinen kann, die Dinge seien gleichgültig gegen die im Subjekt verbleibenden Prozesse. Denn all das, was wir so Tag für Tag erkennen, ist schon entborgen, liegt schon im Lichte des Tags, steht bereits im Felde der Erscheinung. Mit anderen Worten, die Sphäre der Erscheinung ist die Situation ‒ und zwar die undurchschaute Situation ‒, in welche der gewöhnliche Wahrheitsbegriff gebannt bleibt; der Schein, ontologisch verstanden, ist der Horizont des alltäg­ lichen Wahrheitsbegriffes. Das Denken entbirgt hier nicht mehr, weil das zu Bedenkende, das All der vielen Einzeldinge, selbst schon entborgen ist. Die Wahrheit im Bereich des Scheins ist strenggenommen keine Entbergung. Wahrheit, alētheia, ist dort am meisten da, wo das Entbergen am meisten geschieht, d. h. dort, wo die ganze Kraft der Lichtung sich messen muß mit der höchsten Kraft der Verbergung. Das aber ist allein dort, wo über alles schon Gelichtete hinweg das Entbergen eindringen will in den immer verschlossenen Abgrund des Ursprungs, wo es in die archē zurückdenkt: d. h. in der Philosophie. Diese ist keine Wahrheit über schon entborgene Dinge, sie ist die Entbergung der stärksten und mächtigsten Verborgenheit; sie ist die Wahrheit über das Sein selbst. In dieser einen Wahrheit sind alle Wahrheiten enthalten, sie ist wohlgerundet | (eukyklos), nichts fehlt ihr und alles umfängt sie, und so ist sie die Wahrheit, die das Seiende im Ganzen aus seiner wesentlichen Mitte versteht ‒ aus dem unerschütterlichen Sein als dem Grunde alles erschütterlichen, d. h. vergehenden Seienden. Die Göttin verheißt dem auf der Sonnenbahn ihr zugekommenen Menschen, dem Denker, den höchsten Preis: der wohlgerundeten Wahrheit unerschütterlich Herz, ēmen Alētheiēs eukykleos atremes ētor … Aber erst aus dieser Herzmitte des Ganzen wird dann in seinem minderen Sein verstehbar: der Schein, die Welt, aus der der Denker herausfragt in den Grund der physis. Ta dokounta, das Scheinende, das was die Menschen zumeist gerade so nehmen, als wäre es schon das wahrhafte Sein, kann in seinem Scheinen wesentlich begriffen werden vom Sein her, nicht nur als sein Gegenteil, oder gar als menschlicher Irrtum, sondern in der Einsicht in die Notwendigkeit, die im Sein selbst haust, die Notwendigkeit zu scheinen. Sein und Schein ‒ das ist die grundsätzliche Gestalt der parmenideischen Seinsfrage. Im Eingangs­ fragment tritt der Schein im großartigsten Symbol auf, im Sonnengleichnis. Wir sehen das Gleichnis wiederkehren bei Platon. Aber dort, am Beginn der metaphysischen Wendung der Philosophie, hat es einen radikal anderen Sinn. Parmenides denkt das Licht und die Helle noch ursprünglich zurück | auf die Nacht der in sich verschlossenen physis; im Bunde mit allen lichtenden Kräften, geleitet von den Heliaden und eingelassen von der Dikē selbst in den nie betretenen Grund, vernimmt er die Stimme des Seins. Im Hinhorchen auf diese Stimme aus dem ewigen Abgrund aller Dinge vollzieht sich das Philosophieren des Parmenides. 200

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Das Prooemium, das Eingangsfragment sagt selbst noch nichts über diese Philosophie aus; es nennt nur das Problem, die Frage von Sein und Schein. Aber darüber hinaus kommen, wenngleich nur im Wink des Symbols, doch grundsätzliche Züge der parmenideischen Philosophie zum Vorschein: der Ausgang des Denkens aus der Welt des Scheins, sein Bündnis mit der lichtenden Kraft und der tiefe rätselhafte238 Bezug, in welchem das Sein selbst auf den Menschen hinzielt, weil es ihn braucht; es, das Mächtigste, braucht das endlichste Wesen. | 24. Das Eingangsfragment des parmenideischen Lehrgedichtes zeigte uns in der Sprache des Symbols den ungeheuren Anspruch dieser Philosophie: den über alle Menschenkraft und Menschenmacht gehenden, wahrhaft übermenschlichen Gang des Denkers zur archē, zum Urgrund von allem, was lebt und at|met im Licht, was oben ist in der Helle des Tages als ein Einzelnes bei dem anderen vielen Einzelnen. Im Bunde mit den heliadischen Kräften des Lichtes dringt der Denker mit dem Sonnenwagen selbst ein in das Haus der Nacht, das sonst immer verschlossene, und entnimmt der größten Ver­ bergung die größte Wahrheit. Und dies nicht als ein selbstherrlicher Raub, sondern im Vernehmen der den Menschen selbst anrufenden Stimme aus der abgründigen Tiefe, im Hinhören auf die Worte der Dikē. In diesem sym­ bolischen Eingang gewinnt das Lehrgedicht des Parmenides die erste und grundsätzliche Ortsbestimmung des Problems. Gefragt wird nach der archē. Nicht also finden wir bei Parmenides einen Umschlag des Philosophierens von der jonischen Physik zur eleatischen Logik. Die Milesier haben so wenig eine „Physik“ gehabt oder auch nur gewollt wie Parmenides eine „Logik“. Sie denken alle nur die archē, sie denken den Ursprung. Das uns Befremdende ist die außerordentliche Kühnheit, ja Gewagtheit des anfänglichen Denkens der Philosophie. Sie geht nicht aus von dem, was sich uns zunächst zeigt, von den „Phänomenen“, von den erfahrenen, gesehenen und sonstwie vernommenen Dingen, von der Situation unseres menschlichen Daseins mitten in einer Welt, nicht von den Herznöten und Sorgen unserer Existenz ‒ sie ist in keiner Weise „kritisch“ und „methodisch“, sie beginnt nicht mit einer Zergliederung unseres Erkenntnisvermögens und einer Abschätzung der Tragekraft des Denkens, sie fängt nicht an mit dem Gegebenen, um dann später vorsichtig weiterzugehen, sie philosophiert nicht vom Standort des Menschen aus, dort anfangend, wo er nun eben einmal steht, sich umblickend in der Welt und Jegliches befragend, was und wie es ist. Der Standort des Menschen ist in der Welt, im Reiche der Vereinzelung: Er selbst ist ein Seiendes neben vielem anderen Seienden, das er nicht ist; als eines unter unzählig, unabsehbar Vielem ist er mit diesem zusammen in der allbefassenden Einheit der Welt; und diese Welt ist zugleich das Feld der Vergänglichkeit, wo Entstehen und 201

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Vergehen sich durchdringen, wo jeder Bestand nur Altern bedeutet; und ebenso ist die Welt das Reich des in die Offenbarkeit herausgetretenen Seienden, des ins Licht Aufgegangenen: Die vielen Einzeldinge zeigen sich, und weilen entstehend-vergehend in der Zeit. Wir sind gewohnt, den Ausgang des Nachdenkens und der philoso­ phierenden Besinnung ausdrücklich aus dieser Grundsituation zu nehmen, d. h. vom natürlichen Standort des Menschen aus zu denken. So verfah­ rend treffen wir nie die archē. Was wir treffen, das sind wir selbst, das sind Mitmenschen, Lebewesen, vorhandene Naturdinge, Menschenwerke, Zahlen, Sinngebilde und vielleicht waltende Himmlische ‒ wenn es hoch kommt, fragen wir dann noch ausdrücklich und eigens nach dem Sein an all diesem vielen Seienden und unterscheiden es nach einigen Dimensionen. In der Kantischen Philosophie hat die|se Gebanntheit des Denkens in die „Erscheinung“, sofern es vom Menschenstandort ausläuft, ihren höchsten methodischen Ausdruck gefunden. Das frühe Denken der physiologoi ist davon das äußerste Gegenteil. Schon in der uns so simpel anmutenden Philosophie des Thales hat das menschliche Denken sich hinweggehoben über seinen natürlichen Standort, übersteigt fragend alle Phänomene, alles Sichtbare und Einzelne und Wandelbare, und denkt im Bilde des Wassers das einfache Sein als Ursprung der seienden Dinge; Anaximander wagt mit dem Begriff des apeiron den Urgrund anzudenken, über den Wirbel des Ver­ gänglichen hinweg das Unzerstörbare, Unvergängliche, Unerschöpfliche; Heraklit begreift, daß alles eines, daß das Viele nur das ausgegossene Ureine, der zerstückte Dionysos im Grunde der einfache Hades ist, und alles in der Zeit Dahintreibende, Vereinzelte und Erscheinende durch eine „verborgene Harmonie“ zurückgebunden ist in den Mutterschoß der all-einen physis. Im Grunde bleibt auch der Begriff der physis noch ein Bild. Wenn die | griechische Daseinserfahrung auch noch durchzittert war von der unge­ heuren Spannung zwischen Naturoffenheit und erwachender239 Freiheit und aus dieser Spannung heraus einen Naturbegriff hatte, den wir nur schwer rekonstruieren können, so mag zugegeben werden, daß dort Natur primär weder eine Region vorhandener Dinge, noch ein unter besonderen Vorgriffen geprägtes Feld einer positiven Wissenschaft war ‒ daß Natur als das „Wachsenlassende“ erfahren war, als das Allesumfangende, dem Jegliches entstammt, ob Tier, ob Mensch, ob Gott. Die Natur, die physis, war so kein einzelnes Ding, sie war in gewisser Weise alles, aber eben nicht als die Summe aller Dinge. Vielmehr sind alle vereinzelten Dinge aus ihr herausgewachsen; sie stehen auf dem Erdboden, der alles trägt. Die Einzeldinge steigen aus dem Dunkel der Erde auf ins Licht wie die Gewächse, und oben haben sie dann ihre Zeit, nach der sie wieder heimfallen in den Grund. Die Natur, so verstanden als die „Allesgebärerin“, als die 202

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unerschöpfliche Mutter, die physis, konnte zum tiefsten Symbol für die archē werden. Parmenides denkt erstmalig die archē in ihrem reinen Wesen ‒ ohne die Einkleidung ins Symbol; er faßt sie als das Sein. Das physiologische Denken erreicht in Parmenides seinen Höhepunkt. Jetzt tritt heraus in Klarheit, was eigentlich im apeiron gemeint war wie auch im thaletischen Wasser. Die archē ist das Sein. Dieser Satz ist vielen Mißverständnissen preisgegeben. Ein herrschendes Vorurteil der Parmenides-Auslegung ist der uneingestandene „metaphysische“ Ansatz. Man macht die stillschweigende Voraussetzung, Parmenides wolle ausmachen, was denn eigentlich das Sein am Seienden wäre, man macht ihn so zum Erzvater der Metaphysik. Die parmenideische Seinsfrage aber zielt nie und nimmer auf die Seiendheit des Seienden, nicht auf die Seinsweisen und die Seinsverfassungen, welche den Dingen zu|kommen, dem Vergänglichen, Vereinzelten und Erscheinenden. Nicht das Sein am Vielen ist sein Problem, sondern das Sein als archē, als der Ursprung der vielen seienden Dinge, die ihm das Scheinende, ta dokounta, sind. Die vorherrschende Parmenides-Interpretation nimmt seinen Grund­ begriff des eon so, als wäre dies ein einziges Ding. Man sagt dann etwa, in Wahrheit gibt es nicht viele Dinge, sondern nur eben eines, ein einziges, to eon, die in sich geschlossene, einheitliche Seinskugel; es gibt überhaupt nicht Entstehen und Vergehen, sondern nur die unbewegte ewige Gegenwart; es gibt nur in den menschlichen Vorstellungen, Setzungen, Meinungen, Namen dergleichen wie das Viele und das Entstehen und Vergehen; in Wahrheit steht alles still und ist eines, während die Menschen trüglich vermeinen, daß viele Dinge sind und der Wandel der Zeit. Individuation und Vergänglichkeit sind Trugvorstellungen der Menschen. Die Philosophie erkennt die Wahrheit: die Einzigkeit des einen Seienden; die Menge ist im subjektiven Schein befangen, der uns eine Vielzahl und das Werden vorgau­ kelt. Diese Auffassung halten wir für von Grund aus verfehlt; sie hat ja schon das Ungereimte an sich, daß, wenn es in Wahrheit nur ein einzig-eines Seiendes gibt, es überhaupt nicht eine Vielheit von meinenden Subjekten geben kann als Quelle des Scheins. Diese Vielheit meinender Subjekte kann dann ihrerseits ja nur ein Schein sein. Mit anderen Worten, weder ist das eon das einzige Seiende, noch ist der Schein bloß ein subjektiver Trug. Wie aber muß der parmenideische Grundbegriff des eon angemessen gefaßt werden? Das ist eine schwere Frage, auf die wir nicht sogleich eine bündige Antwort zur Hand haben. Zunächst gilt es den prinzipiellen Sinn des Problemansatzes in den Griff zu bringen. Parmenides denkt wie Thales, Anaximander, Heraklit über die uns erscheinende Welt hinweg in den Grund des „Ursprungs“. Die archē, die physis, wird von ihm begriffen als das Sein. Die vielen, erscheinenden, seienden Dinge sind gleichsam „Gewächse“ des Seins. Wenn wir das eon, sofern es als Ursprung, als physis gedacht wird, 203

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übersetzen mit | „das Sein“, so ist das eigentlich ein Verlegenheitsausdruck, der sehr mißlich ist; denn von dem Sein reden wir doch auch im ausdrück­ lichen Unterschied zu dem Seienden, und zwar in der Metaphysik, wo das Sein des Seienden das zentrale Thema ist. Wenn aber Sein als archē gedacht und begriffen wird, hat es einen gänzlich anderen Sinn. Und der ist schwer anzuzeigen. Es ist das Sein gleichsam bevor es auseinandergegangen ist in die Vielheit, in die Vereinzelung, in die Vergänglichkeit und in die Erscheinung: das Sein gleichsam noch vor dem Weltaufbruch. Aber auch diese Kennzeichnung leidet daran, daß sie in ein Zeitverhältnis setzt, was in der Zeit nicht charakterisiert werden kann; nicht ist zuerst das Sein in sich, eins und einig ‒ und geht alsdann aus sich her|aus und spaltet sich in die Vielzahl der Dinge und des Seins an ihnen auf; das Sein bleibt eins und einig, auch wenn es sich ausgießt ins Viele, so wie das apeiron der unerschöpfliche Grund bleibt, auch wenn aus ihm unaufhörlich die begrenz­ ten Dinge hervorgehen; die physis wird nicht ärmer durch ihre Gewächse, sie bleibt der allesgebärende und alles umfangende Schoß, bleibt der eine Daseinsgrund aller Dinge. Und so ist das Sein des Parmenides zu nehmen: Es ist kein logisches Sein, und es ist kein Sein an den vielen Seienden, ist die Seinsmacht als archē. Die archē hat sonst im Denken der physiologoi gerade den eigentümlichen Charakter der Verschlossenheit; im Gegensatz zu dem Offenen, in dem wir unsere Wohnstätte haben, ist sie der schweigende und verschlossene Abgrund. Physis kryptesthai philei hörten wir als tiefes Wahr­ heitswort bei Heraklit. Die Verschlossenheit und Unbetretbarkeit der physis zeigt sich in den meist negativen Kennzeichnungen: sie ist das Unbegrenzte, Unerschöpfliche usf.; die Charakteristik bewegt sich nur in Anzeigen, die sich abstoßen vom Bekannten; sie ist das „ganz Andere“, das nie gesehen wird, das nie begegnet und um das wir doch ahnend wissen. Bei Parmenides wird die Scheu vor der Verborgenheit des Ursprunges überwunden, nicht beiseitegeworfen in frecher Ehrfurchtslosigkeit; vielmehr, angerufen von der Stimme der Dikē selbst, vollzieht der Mensch die höchste Entbergung, die Lichtung der physis selbst. Sie wird offenbar als das „ursprüngliche Sein“. Das Denken, in welchem sich diese Lichtung vollzieht und die eigentlichste alētheia gestiftet wird, ist alles eher als ein bloß logisches Räsonnement, „ein Ziehen von Folgerungen aus dem Wörtchen on“, wie ein Interpret meint; es ist die erste ontologische Explikation. Die bisherigen Grundbegriffe der Philosophie wie der des apeiron, der physis, bewegen sich in einem fundamentalen Verstehen des Ursprungs, der archē, sie halten sich in einem Verständnis des „ursprünglichen Seins“ ‒ das zeigen alle Attribute, die sie der archē zuweisen ‒, aber sie vermögen nicht selbst die „Wahrheit des Seins“, in der sie schon stehen, zu bedenken. Erst in der ontologischen Spekulation des Parmenides wird das „ursprüngliche Sein“ begriffen. 204

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Nach dieser allgemeinen Vordeutung, die allein den Zweck hat, vor­ schnelle und handliche Deutungsschemata fernzuhalten, wenden wir uns der Auslegung der Fragmente zu. Der Gang der gedanklichen Exposition ist keineswegs ganz eindeutig; die Anordnung der Fragmente ist teilweise umstritten; wir können uns aber auf diese Frage hier nicht einlassen und fol­ gen daher der Anordnung, welche in der 5. Auflage von Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, eingehalten ist. Noch eine kurze Vorbemerkung: Unsere Übersetzung von to eon = das „ursprüngliche Sein“ mag wie eine willkürliche Behauptung klingen, sie mag vor allem philologisch bedenklich sein; aber es ist die Frage, | ob der philologisch exakte Sinn hier ausschlaggebend ist. To eon heißt wohl das „Seiende“. Wir aber verstehen unter dem Seienden gerade die vielen einzelnen Dinge. Im Griechischen aber schwingt to on immer in der Doppeldeutigkeit von on und einai. Und Parmenides verwendet für das ursprüngliche Sein nicht nur den Ausdruck eon, sondern auch estin, einai, to pelein und für den Gegenbegriff des Nichtseins ouk esti, mē einai, to mē eon, ouk einai, mē | eonta, to mēden, ouk eon, d. h. die ontologische Explikation des Seins ist nicht thematisch auf einen einzigen Titel hin zentriert, sondern expliziert das Sein in einer umgängigen Art: Auslegend, was Sein ist, macht sie selbst wieder Gebrauch von bestimmten Seinsbegriffen. Darin steckt die Paradoxie, daß das Sein nur durch sich selbst explikabel ist. Parmenides denkt das Einfachste auf der Welt: das Sein ist Sein; was dem trüben und gedankenlosen Blick erscheinen mag als eine leere und nichtssagende Tautologie, als ein Satz, mit dem man offene Türen einrennt, ist aber in der Tat die höchste Wahrheit und eine ungeheuerliche Einsicht, die die Tür zum bisher nie betretenen Abgrund der physis aufstößt. Das 2. Fragment beginnt mit den Worten der Dikē an den Denker; sie unterweist ihn über die einzigen Wege der Forschung, d. h. der Philosophie, haiper hodoi mounai dizēsios eisi noēsai.240 Sie selbst gibt nicht schon Resultate, die den Weg ersparen, sie weist vielmehr gerade Wege; die Bewegung und damit die Endlichkeit des Denkenden ist durch die göttliche Unterweisung nicht aufgehoben. Die einzigen Wege sind: hopōs estin, der Weg des „Ist“, und der Weg, welcher bezeichnet wird: das Nichtsein ist nicht. Und diese zusammen machen die Bahn der Überzeugung, der alētheia. Und dieser doppelten Bahn der Wahrheit steht gegenüber die Bahn, welche durch das „Nicht ist“ bezeichnet wird und durch das Erfordernis von Nichtsein. Diese Bahn aber, welche vorgibt, daß das Nichtsein ist, ist unerkundbar, weil das Nichtseiende weder erkannt noch ausgesprochen werden kann. Die ontologische Explikation beginnt mit den Thesen: 1. Das Sein ist, das Nichtsein ist nicht; 2. der Versuch, das Nichtsein als seiend zu setzen, ist unausführbar, kann wirklich weder gedacht noch gesagt werden. Das sind aber keine Thesen, die unentwickelt stehen bleiben können, sondern es kommt eben entscheidend darauf an, den inneren Gehalt dieser ontologi­ 205

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schen Grundgedanken zu entfalten. Wir gehen gewöhnlich gedankenlos um mit den Begriffen von Sein, unsere alltäglich gebrauchten Seinsbegriffe stehen weder in der Helligkeit einer metaphysischen Interpretation der Seiendheit der Dinge, noch gar einer begreifenden Deutung des „ursprüng­ lichen Seins“. Für uns ist es keine Härte, Sein und Nichtsein als gemischt zu denken; ein Ding ist etwa für uns in einem bestimmten Zustand, in einer bestimmten Phase: Es ist, sagen wir und meinen zugleich, es ist nicht | mehr das, was es vorher war, und ist noch nicht das, was es nachher sein wird; und doch sprechen wir ihm Sein zu. Von was für einem Verständnis von Sein machen wir so Gebrauch? Doch offenbar von einem, das eine Mischung von Sein und Nichtsein zuläßt und in einer gewissen Weise das Nichtsein (etwa als Nochnicht und Nichtmehr) selbst irgendwie als „seiend“ nimmt; oder aber wir reden von den vielen Seienden, den Dingen, die die Welt anfüllen, und dabei ist es uns eine ganz geläufige Vorstellung, daß solches, was ist, zerteilt sein, vielfältig sein kann. Aber als Zerteiltes und Vielfältiges hat doch das Sein jeweils eine Grenze an einem anderen, das es nicht ist, so daß zu diesem Sein die Grenze und damit eine Art von Nichtsein mitgehört. Im Ansprechen aller Dinge überhaupt, so könnte man sagen, gebrauchen wir ein Seinsverständnis, das durch die unbedachte Mitnahme des Nichtseins in das Sein charakterisiert ist. Wenn im Zugang zum „ursprünglichen Sein“ die scheinbar tautologischen Thesen aufgestellt werden, daß das Sein ist und das Nichtsein nicht ist, so hat das große, uns zunächst in ihrer Trag­ weite unübersehbare Konsequenzen. Das, was so aussieht wie die größte Selbstverständlichkeit, ist der größte Widerspruch des Gedankens gegen die vorherrschende Seinsauslegung. Das darf aber nicht so wie üblich verstanden werden, als sprengte Parmenides durch den Rigorismus seiner Deutung des Seins die ganze phänomenale Welt mit ihrem zeitlichen Wandel in die Luft; er versteht das Sein lediglich tiefer und „ursprünglicher“, als es je im Bereich der erscheinenden Dinge begriffen wer|den kann. Das Sein, als archē verstanden, ist „anders“, ist „voller“, ist in sich „eins“, ist „unzerteilt“ und „nicht ins Werden getaucht“, wie es erscheint im Bereich der scheinenden Dinge, der dokounta. In diesem zweiten Fragment haben wir die Grundthesen des Par­ menides in ihrer ersten unentwickelten Form; sie haben den Anschein von Tautologien, von leeren logischen Gleichungen und sind doch etwas radikal anderes. Die Logik ihrerseits241 ist charakterisiert durch einen nivellierten Seinsbegriff, der dem „Ist-Sagen“ entnommen ist. Gott ist allmächtig, der Baum dort ist grünbelaubt, die Zahl „i“ ist Wurzel aus -1: Dreimal sagen wir hier „ist“. Das darin angesprochene Seiende ist außer Vergleich; Gott, eine mathematische Zahl und eine Pflanze haben je ein gänzlich verschiedenes Sein; die prädikative Aussage aber ebnet diese Verschiedenheit ein in der Kopula, in dem Verbindungswort „ist“. Die Logik sieht ausdrücklich ab von aller inhaltlichen Bestimmtheit ihrer exemplarischen Gegenstände, sie fragt 206

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nur nach formalen Beziehungen, die sich gerade in einem eingeebneten Verständnis von „ist“ und „sind“ halten. Wenn aber Parmenides sagt, daß das Sein ist und das Nichtsein nicht ist, so wird hier eben nicht gleichgesetzt A = A, sondern das Sein durch sich selbst interpretiert. In dieser Selbstinterpretation von Sein werden wir verstehend erst|mals auf das Sein selbst zurückgeworfen. Sonst verstehen wir zwar immer Sein in mannigfachen Weisen und Formen, aber eben im Ist-Sagen, im Aussagen über uns selbst und die uns begegnenden Dinge ‒ diese nennen wir das „Seiende“; d. h. wir machen immerzu Gebrauch vom Verstehen von Sein, aber durchdringen es nicht selbst. Was Sein und Nichtsein ist, darüber sind wir nicht im Zweifel, wenn wir es irgendwem zulegen wollen, aber was dieses Sein und Nichtsein rein in sich selbst „ist“, oder anders, was für ein Sein das Sein hat, darüber machen wir uns gemeinhin keine Gedanken; das scheint uns wohl die müßigste Frage zu sein, die es auf Erden geben mag. Die müßigste vielleicht ‒ weil sie nur aufbrechen kann, wo das menschliche Dasein entlassen aus der Fron zurückschwingt in die ruhige Gelassenheit des denkenden Verweilens. Aber sie ist die erste und letzte Frage der Philosophie. Welches Sein kommt dem Sein selbst zu? Ist eine solche Frage nicht widersinnig? Am Ende gar ein Zirkel? Woraufhin kann Sein noch verstanden werden? Können wir es durch etwas anderes verstehen und begreifen als durch sich selbst? Im Versuch, sagen zu wollen, was das Sein ist, werden wir auf es selbst zurückgeworfen. Dieser Rückwurf muß als eine wesentliche Struktur des parmenideischen Ansatzes begriffen werden. Fassen wir den gedanklichen Gehalt des 2. Fragmentes zusammen: Die möglichen Wege und der unmögliche Weg des seinserforschenden Denkens werden gleichsam thesenhaft hingestellt. Das Sein schließt das Nichts aus sich aus, ist mit ihm unvereinbar ‒ dann nämlich, wenn das Sein als das „ursprüngliche“, als archē begriffen wird. Aber gerade in diesem ausdrücklichen Weghalten des Nichts vom Sein bewegt sich Parmenides in einem Verstehen von Nicht und Nichtsein, und zwar zwiefach: Das Nichtsein ist nicht. Der unmögliche Weg, welcher das Nichtsein als seiend zu denken versucht, ist dann noch in seiner Unmöglichkeit charakterisiert dadurch, daß das Nichtseiende weder gedacht noch ausgesagt werden könne. Das Sein also ist allein solches, das erkannt und gesagt werden kann, es steht in einem festen und unlösbaren Bezug zum Erkennen und Sagen. Sein ‒ Erkennen ‒ Sprechen: das ist ein Zusammenhang, der seit den Griechen eine immer wach gehaltene Frage der Philosophie darstellt, das Problem von on und legein. Die Ontologie wird so selbst erst aus diesem Grundverhältnis | in ihren Möglichkeiten verstehbar: sie ist ein Ansprechen des Seins. Dieser Zusammenhang von Sein, Erkennen und Sprechen verbirgt seine Problematik hinter einer leichtverständlichen Plausibilität. Etwa wenn man aus den parmenideischen Worten herausliest: Das, was nicht ist, kann 207

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man eben deswegen, weil es dann ja nicht „gegeben“ sein kann, auch nicht erkennen, und über das Nichts läßt sich nichts sagen. So billig aber ist der Gedanke hier nicht. Er sagt nicht die platte Selbstverständlichkeit aus, daß, wo nichts ist, auch der Erkennende | sein Recht verloren hat; er meint vielmehr, daß in allem Erkennen und Sprechen ein ganz bestimmtes Verstehen von Sein am Werk ist, welches das Sein als das Beständige, in sich Feste und Unwankende denkt, d. h. als solches, das nicht bald so, bald so sein kann, oder auch gemischt sein kann mit Nichtigkeit. Das kommt in den anderen Fragmenten deutlicher heraus. Schon das dritte Fragment, das aus einem einzigen Satz besteht, weist in diese Richtung: to gar auto noein estin te kai einai.242 „Denn dasselbe ist Denken und Sein.“ Dieser Satz gilt als der Fundamentalsatz der parmeni­ deischen Ontologie. Denken und Sein: dasselbe? Fürs erste müssen wir uns der ganzen Befremdlichkeit dieses Satzes überlassen. Was besagt er überhaupt? Sagt er, daß das Sein in sich Denken ist? Hebt er die Unterschei­ dung der beiden Begriffe auf ‒ die Wesensauszeichnung des Seins ist das Denken oder umgekehrt? Wird das Sein vom Denken oder das Denken vom Sein verstanden und gedeutet? Oder besagt es nicht die Selbigkeit des Zusammenfallens in ein unterschiedsloses Einerlei? Bedeutet es einen notwendigen Bezug, eine feste und unauflösliche Korrelation? Steckt in diesem dunklen Satz, wie man oft zu deuten versucht, eine „metaphysische“ Grundüberzeugung dergestalt, daß das Denken des Menschen nicht ein den Dingen fremd von „außen“ gegenüberstehendes Verhalten ist, vielmehr in das innere Wesen der Dinge eingehe, weil dieses selber die Natur des Gedankens habe? Auf den Satz des Parmenides beruft sich die idealistische Seinsinterpretation des Deutschen Idealismus. Aber hat sie dabei Recht? Wir lassen vorerst diese Fragen offen; erst im 7./8. Fragment folgt die wichtige, aufschlußreiche Stelle über die Selbigkeit von Denken und Sein, d. h. dort nach der ausführlichen ontologischen Explikation von Sein, die wir zuvor durchlaufen müssen, um überhaupt zu ermessen, was hier „Sein“ heißt. Wir lassen also das 3. Fragment in seiner ganzen Befremdlichkeit stehen. Das 4. Fragment lautet: „Schaue jedoch mit dem Geist, wie durch den Geist das Abwesende anwesend ist mit Sicherheit; denn er wird das Seiende von seinem Zusammenhang mit dem Seienden nicht abtrennen, weder als solches, das sich überall gänzlich zerstreue nach der Ordnung, noch als solches, das sich zusammenballe.“243 Mit dem ersten Satz kommt schon eine wesentliche Aussage über den nous. Der nous, das Vermögen des noein, ist ein vernehmendes Verhalten, das hier gekennzeichnet wird als ein Bezug zum Abwesenden, so zwar, daß dabei gerade das Abwesende anwesend wird. Wie ist das aufzufassen? Zunächst mag man meinen, eben in der allgemeinen vagen Art. Man sagt etwa, sehen, tasten, befühlen usf. können wir nur solches, was wirklich da, was vor uns liegt, was in unserer Gegenwart 208

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ist, die Dinge um uns herum, das Anwesende. Unsere Wahrnehmung vom Anwesenden hat den Charakter der Gegenwärtigung; aber wir haben ja nicht nur die Wahrnehmungen und Empfin|dungen, die uns ständig erfüllen und angehen, wir haben außerdem noch unsere „innere Welt“; wir können gleichgültig und gelangweilt von dem gerade Anwesenden weg-denken, uns erinnern oder in Träumen und Phantasien verlieren; wir sind dann eben „in Gedanken“; in diesem weiten Sinne umfaßt das Denken alle Möglichkeiten der Vergegenwärtigung, das Abwesende stellen wir uns im Geiste vor und haben es in einer gewissen, aber uneigentlichen Weise anwesend, eben im Innenraum unserer Seele, in unserer Einbildung. Ist aber, so fragen wir, das nur hier gemeint, die seltsame Fähigkeit des Geistes, | hinzudenken zum Abwesenden und es im Bilde zu vergegenwärtigen? Greift Parmenides den ganz vagen und alltäglichen Begriff von nous hier auf ‒ oder umgrenzt er das Wesen des nous gerade mit der Bestimmung, das Abwesende anwesend sein zu lassen ‒ bebaiōs: „mit Sicherheit“? Ist die Abwesenheit, die hier in Frage steht, eine solche von nicht im Umkreis unseres Verfügens liegenden Dingen ‒ oder ist eine ganz andere und einzigartige Weise des Abwesendseins gemeint? Zumeist stehen wir im Zudrang der Dinge, im Widerspiel von Zukehr und Abkehr, und haben dabei die physis vergessen; sie ist das schlechthin Abwesende. Parmenides begreift den nous als die Möglichkeit, das immer vergessene Sein auf dem Grunde aller Dinge anwesen zu lassen. | 25. Bei Parmenides wird die Philosophie der schöpferischen Anfangszeit der Griechen zur Ontologie, zur ausdrücklichen, sich selbst begreifenden Frage nach dem Sein. Damit vollzieht sich aber kein Wandel der Thematik; nicht gewinnt die Philosophie damit ein neues Feld, das sie bislang noch nicht betreten; es geschieht vielmehr dies, daß sie ausdrücklich für sich wird, was sie an sich schon war. Das Sein, das Parmenides in seinem Wesen bestimmt, ist dasselbe, was zuvor die physis, die allumfangende Natur war. Das Philosophieren des Parmenides ist ein einziger geistiger Kampf, die „Wahrheit des Seins“ in den Begriff zu zwingen. Und es bedeutet das ärgste Mißverständnis, diese ursprünglichste ontologische Bemühung als eine leere „logische Spekulation“ zu kennzeichnen. Die „Logik“ ist überhaupt nicht244 zuständig in dem Fragebezirk des parmenideischen Denkens, weil sie bis heute in dem sie selber leitenden Seinsverständnis unerhellt geblieben ist. Die Logik mit ihren Sinngebilden und ihrem „ist“-Begriff ist, grundsätzlich gesehen, ontologisch noch ungeklärt; sie ist im wesentlichen eine Gedan­ kentechnik, ein „Organon“ geblieben. Sie bedeutet ein Problem für die Onto­ logie, die aus einem entfalteten Verstehen von Sein auch | das sogenannte „logische Sein“ in seinem spezifischen245 Seinssinn bestimmen muß. 209

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Der Zugang zu Parmenides hängt entscheidend von der Einsicht ab, die Frage nach der Natur des Seins als die zentrale und führende zu begreifen. Die ontologische Explikation, d. h. der Versuch, zu denken und zu sagen, was Sein ist, ist das einzige Anliegen der parmenideischen Philosophie. „Sein“: darauf kann man nicht hinzeigen, nicht hinweisen, nicht die Hand darauf legen, man kann es nicht feststellen und beobachten, durch verwickelte Methoden aufspüren. Dergleichen Verhalten ist nur sinnvoll, wenn wir erkunden, wie beschaffen das Seiende ist, die vielen uns umringenden Dinge; diese Dinge haben Sein, ihnen kommt es zu; aber sie können es nicht halten; im ständigen Verfall, der alle Dinge unter dem Himmel beherrscht, geht ständig Sein in Nichtsein über; wir leben in einer hinfälligen Welt. Ist das schon das Sein, dieses „eine Weile währen“, eine Zeitlang dahintreiben im sausenden Winde der Zeit? Oder das ragende Dastehen der Berge oder der stetige Wandel der Gestirne? Können wir an den dauernden Dingen ablesen, was Sein in sich selbst ist? Was Sein ist, wissen wir und wissen wir nicht; wir verstehen es dunkel und ungefähr und können es doch nicht klar sagen; wir meinen es an den Dingen zu finden, die standhalten, die dem Zahn der Zeit trotzen, die „bleiben“. Vage und dunkel halten wir das Sein für das Bleibende und Beständige; wir haben immer eine Ahnung vom Sein, und diese Ahnung steht herein als dämmerhaftes Licht in all unser Verhalten, durchzieht unser Sagen ebenso wie den bloßen Umgang mit den Dingen. Ohne die Ahnung von der Wahrheit des Seins wäre der Mensch ein Tier. Sie ist es allein, die ihn auszeichnet vor allen Lebewesen; in dieser Ahnung gründet die sonst im alltäglichen Dasein verdeckte Möglichkeit der Philosophie. Die Ahnung vom Sein bestimmt den Menschen als ein Wesen der Ferne; sofern er existiert, ist er durchwaltet und durchstimmt vom ahnenden Bezug zum fernen Sein selbst, auch dann, wenn er es, wie zumeist, dabei bewenden läßt und aufgeht im Umgang mit den begegnenden Dingen und diese als seiend hinnimmt in der Vagheit und Unklarheit, welche dem alltäglichen Seinsverständnis eigentümlich ist. Das Sein selbst ist nie anwesend im nahen Umkreis des menschlichen Treibens, es west ab ‒ wie ein fernes Licht, das den Umkreis unserer Nähe nur noch schwach, dämmerhaft und mit dunklen Schatten gemischt zu erhellen vermag. Im Fragment 4, das auszulegen wir begonnen haben, wird der nous gefaßt in der ihm eigentümlichen Kraft, das Abwesende anwesen zu lassen. Das bedeutet nicht die Fähigkeit der menschlichen Einbildungskraft, entfernte Dinge oder Ereignisse sich im Bilde vorzustellen, sich zu vergegenwärtigen. Eine solche Beziehung zum Abwesenden ist uneigentlich, nur das Bild, nicht | die Sache selbst west | an. Und ferner ist es nicht der nous, das vernünftige Denken, das also imaginiert, sondern der menschliche Geist in einem ganz vagen Sinne genommen. Hier geht es aber um etwas prinzipiell anderes: um einen Bezug des menschlichen 210

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nous zu solchem, das wesentlich und nicht aus zufälligen Gründen abwesend ist, und es geht ferner um ein wahrhaftes Anwesen des Abwesenden, nicht nur um eine bildhafte Vergegenwärtigung. Der nous also wird gerade in seiner Wesensnatur ergriffen, wenn er gefaßt wird als das menschliche Vermögen, das Abwesende zum Anwesen zu bringen. Der nous ist die Stätte, wo das Abwesende zum Anwesen gelangt. Dieses Abwesende ist das „Sein“. Bei uns, d. h. bei uns anwesend sind die Dinge, das durch Vereinzelung, Vergänglichkeit und Erscheinen bestimmte Seiende; all das steht um uns herum, und wir gehören jeweils selbst hinein in den kosmos, in die Ordnung der Individuation, der Zeit und der Erscheinung. Das Sein, begriffen in der ursprünglichen Mächtigkeit der physis, als archē, ist gerade abwesend, ist das zunächst Verborgene, der Grund oder Abgrund aller Dinge. Aber es ist die physis, die Wachsenlassende, der Ursprung von allem doch nur, sofern ihm die Dinge entströmen, aus ihm hervortreten und aufscheinen im Licht: Die physis selbst ist so der immer abwesende Grund, der alles Anwesen der Dinge gewährt; sie selbst hat den Charakter, zugleich abwesend-anwesend zu sein. Dieser paradoxe Grundzug der physis begegnete uns schon bei Heraklit in der Selbigkeit von Hades und Dionysos: Hades das abwesende Ur-eine, Dionysos das anwesende Viele. Aber gerade dadurch, daß die physis oder, parmenideisch gesprochen, das Sein diese Natur hat, abwesend anwesen zu lassen, d. h. das viele Seiende aus sich zu entlassen und in die Welt aufzubrechen, bleibt es an ihm selbst verdeckt: das Seiende verdeckt uns das Sein. Wir sind im Anwesenden befangen, nur noch der ahnungshafte Bezug zum Sein unterscheidet uns vom Tier, das seinen Sinnen vertraut und an das Sinnlich-Nahe wie angepflockt bleibt. Der nous, das vernünftige Denken allein hebt den Menschen über seinen natürlichen Standort hinaus, indem er das ferne abwesende Sein denkt. Dieses Denken ist das Ausarbeiten der Ahnung. Ist damit nicht ein rätselhaftes und unbegreiflich Wunderbares dem Menschen zugesprochen, die Fähigkeit, das ferne Sein zu erreichen? Ist das menschliche Denken damit in einen Rang versetzt, der zum größten Stolz Veranlassung bietet? Ist der Mensch das Maß geworden, hat seine Vernunft allein den Schlüssel zum verborgenen Geheimnis des Seins? Keineswegs. Parmenides war von einer solchen Hybris weit entfernt. Er begreift das Wesen des nous primär gar nicht vom Menschen aus, als sein Vermögen und seine Fähigkeit, sondern er sieht den entscheidenden Grundzug des noein vielmehr vom einai her: Der nous kann das Sein selbst vernehmen, weil er wie das Sein abwesend-an|wesend ist. Der nous vollzieht nur eine Bewegung, die das Sein in sich ständig vollzieht; er stimmt so mit dem Sein selbst überein, ist in diesem Grundzug selbig mit ihm. Damit haben wir einen ersten Vorbegriff von der Selbigkeit von noein und einai. Im nous des Menschen vollzieht sich derselbe Grundvorgang, der das Ganze des 211

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Seins durchwaltet: abwesend-anwesend zu sein. Im Hindenken zur archē, zum Ursprung, west der nous ab und bringt das Verborgene selber zum Anwesen. Und dabei besteht also nicht nur eine Übereinstimmung in der Struktur zwischen dem Sein und dem nous, nicht eine Übereinstimmung wie zwischen zwei getrennten Dingen; der nous ist selbst eine Kraft des Seins, die den Menschen durchwaltet und in ihm Wohnung nimmt. Der Bezug des Seins zum Menschen, wie er ‒ fern von aller falschen Selbstherrlichkeit der „Vernunft“ ‒ von Parmenides erblickt wird im Symbol der anrufenden Stimme der Dikē, durchwaltet den nous: So ist das Sein, als abwesendes, selbst in die Kraft gestellt, anzuwesen und auf den Menschen als die Stätte seiner offenbaren Wahrheit hinzudrängen. Wie hier der Mensch begriffen wird, ist himmelweit von allem Humanismus, von aller Selbstbehauptung des Menschen entfernt. Das Fragment 4 führt nun nach der grundsätzlichen Interpretation des nous als der Möglichkeit, das Abwesende anwesen zu lassen, ausdrücklich und expressis verbis zu dem | Abwesenden hin: zum eon. Der nous, so wird jetzt gesagt, wird das Sein nicht abtrennen von seinem Zusammenhang mit sich, wird es nicht denken als zerstreut überallhin und nicht als zusammengegangen. Was meinen diese zunächst dunkel erscheinenden Worte? Wo, so fragen wir, nehmen wir das Sein als zerstreut, als abgerissen von sich, als unzusammenhängend? Wo vermeinen wir das Sein als gänzlich ausgebreitet kata kosmon und dann doch wieder zusam­ mengefaßt? Nirgends anders als eben gerade hier, wo der natürliche Standort des Menschen ist: Hier in der Welt der Vereinzelung, des vielen Seienden, scheint uns die Mannigfalt der Dinge schon das Sein zu sein; die Dinge sind abgetrennt voneinander, zerstreut über den ganzen Weltzustand hin, und andererseits ist all dies Zerstreute und Vereinzelte zusammengegangen in die eine Welt. Aber so, als zerstreut und zusammengegangen zur Welt, wird der nous das Sein nicht denken; so vermeint es das unvernünftige Meinen nur, das im Anwesenden befangen bleibt. Der nous ‒ so steht gleichsam aus dem Kontrast da ‒ vernimmt das Sein nicht als zerstreutes und welthaft zusammengehaltenes, er denkt es als einig-eines und als archē. Und so ist dann auch der Gedanke des 5. Fragments zu verstehen, wo das Sein als ein xynon angesprochen wird: als ein Gemeinsames, in sich zusammen-Hängendes. Das 6. Fragment steht gedanklich auf dem Boden der bisher vollzogenen Unterscheidungen. Vor allem ist es der Gegensatz zwischen dem philosophischen Denken des Seins und dem gewöhnlichen | menschlichen Meinen, welchem das Viele als das Seiende gilt. Aber diese Entgegensetzung wird jetzt streng ontologisch charakterisiert. Es spricht noch die Göttin. Sie unterscheidet drei Wege. Im 2. Fragment und im 7./8. sind es nur zwei Wege, die unterschieden werden. Das bedeutet aber keinen Widerspruch. Hier im 6. Fragment also vollzieht sich eine prinzipielle ontologische Formulierung. Der erste Weg ist der Weg 212

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der Wahrheit: Er trifft die Natur des Seins, wenn er alles Nichts und alle Nichtigkeit vom Sein ausschließt. Wieder erhebt die Göttin ihre warnende Stimme, um den Denker zurückzuhalten von dem weglosen Weg, der das Nichts selbst als seiend ansetzt, und dann warnt sie endlich vor einem dritten Weg, auf welchem Sein und Nichtsein als dasselbe gilt und als nicht dasselbe. Dieser dritte Weg aber ist der, auf dem wir alle tagaus tagein dahinwandeln, der Weg des Scheins. Von prinzipieller Bedeutung ist in diesem Überblick über die drei Wege, daß der zweite, der zunächst ganz unsinnig erscheint (eben daß das Nichts ist), als die innere, wenn auch unausgesprochene Voraussetzung des dritten klar erkannt wird. Die Vermischung von Sein und Nichts-sein, das Hineinlassen der Nichtigkeit in das Sein, das ist nur möglich, wenn stillschweigend dem Nichts eine Art von Sein zuerkannt wird. Mit andern Worten, alle unsere gewöhnliche Seinsauffassung, und der gemäß wir den vergänglichen und vereinzelten Dingen irgendwie ein Sein zuerkennen, steht auf der widersinnigen, unaufgedeckten Voraussetzung vom Sein des Nichts. Wir sind die dikranoi, die Doppelköpfe, die das Sein meinen und zugleich darin das Nichts mitmeinen, denen sich dieser Gegensatz verwischt. Und weil wir zumeist nicht das Sein denken, das reine, in sich feste, von allem Nichts befreite Sein, weil wir es zulassen, daß das Nichtige sich breit macht in dem, was wir sonst das Seiende nennen, sind wir befangen in Gegensätzen, zeigt sich unsere Welt als eine Welt der Gegensätze, des Warmen und Kalten, des Lichten und Dunkeln, gibt es für uns überall einen palintropos keleuthos, eine gegenstrebige Bahn. In dieser Wendung wollte man eine Anspielung auf Heraklit erkennen und in der Verdammung des dritten Weges eine abschätzige Beurteilung der heraklitischen Philosophie von seiten des Parmenides. Ich glaube, daß dieses 6. Fragment etwas Wesentlicheres sagt. Parmenides entwirft hier aus einem systematischen Überblick über die Grundmöglichkeiten, die Natur des Seins aufzufassen, den Weg der Philosophie im Gegensatz zur breiten Heerstraße, auf | welcher das Menschengeschlecht dahinzieht, das im Schein befangene; es ahnt dunkel, was Sein ist, aber vermißt sich ständig und hält die vielen Einzeldinge für das wahrhaft Seiende; es weiß und weiß doch nicht, ratlos schwankt es in seinem Sein-Vermeinen hin und her; wir selber sind die unentschiedenen Haufen, die akrita phyla, die dahintreiben stumm und blind, bei all ihrer Geschwätzigkeit und all ihrer Neugier. | In dem von Diels zusammengefaßten 7. und 8. Fragment haben wir endlich das Zentrum des parmenideischen Seinsgedankens vor uns. Auch hier beginnt das Fragment mit der Warnung der Dikē vor dem Abweg, der das Nichtsein als seiend ansetzt. Griechisch steht hier der Ausdruck mē eonta. Vielleicht ist der Plural hier besonders bedeutungsvoll. Ta mē eonta? Die vielen Seienden, die Dinge, die aus Gegensätzen gebauten, in denen sich Sein und Nichts vermischen. Von diesem Wege möge der Denker 213

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den Gedanken fernhalten und sich nicht zurückzwingen lassen durch die vielerfahrene Gewohnheit, und er möge darauf nicht walten lassen das blicklose Auge und das dröhnende Gehör und die Zunge. Das Denken des Seins muß sich schon im Ausgang abstemmen gleichsam gegen die Gewalt der Gewohnheit, jener Macht, die uns alltäglich bindet. Die Gewohnheit also ist hier das Vermeinen, welches ta mē eonta als seiend ausgibt im blinden Vertrauen auf das „blicklose Auge“. Blicklos ist das Auge, das gewöhnliche sinnliche Sehen, weil es vermeint, wirkliche seiende Dinge zu erfassen, aber dabei im Ganzen geleitet ist von einem unrechten Begriff von Sein; und dröhnend ist das Gehör, weil es im lauten Lärm der brausenden Welt doch eben nicht vernimmt, was es zu vernehmen glaubt. Gegen das Zeugnis von Auge und Ohr und gegen das Zeugnis der Zunge, d. h. des immer schon Geredeten ‒ gegen diese ganze gewöhnliche Welt der Gewohnheit, in der der Mensch wohnt, soll nun mit dem logos der Streit über das Sein zur Entscheidung gebracht werden. Bestimmter, dieser Streit soll allererst entfacht werden. Das Entfachen dieses Streites ist der Anfang der Philosophie; sie ist die „streitreiche Prüfung“, wie Parmenides sagt. Was kommt in diesem Streit zur Prüfung und worüber soll gestritten werden? Und gegen wen? Der Gegner ist bereits genannt: Es ist die Gewohnheit, die alltägliche, ungeprüfte, gedankenlose Seinsdeutung, in der wir befangen sind. Der Gegenstand des Streites ist das Sein selbst. Die Wahrheit des Seins muß erstritten und erkämpft werden gegen uns selbst; der Mensch ist das Feld und die Walstatt des Streites um das Sein. Und dieser Streit hat nicht nur den Charakter einer menschlichen Angelegenheit, so als ob es eben nur für ihn darauf ankäme, vom Sein einen rechten Begriff zu gewinnen. Der menschliche nous, so hörten wir, ist die Stelle im Weltall, wo das verborgene Wesen des Seins selbst ins Licht treten kann; er kann das Abwesende anwesen lassen. Der elenchos, der nun entfacht wird, ist kein Beweisgang, wo mit Rückgriff auf gesicherte Erkenntnisse etwas bewiesen wird; er ist eine „Prüfung“ in jedem, auch dem verwegensten Sinne des Wortes. Philosophie ist immer Prüfung, eine Prüfung für den Menschen, den sie heimsucht, auf daß er das eigentlichste Wesen des Menschentums bewähre, eben in dem prüfenden Bedenken, was eigentlich „Sein“ ist. Nichts trägt mehr und keinen Boden gibt es dann, wo wirklich die|se Prüfung sich ereignet. Die Prüfung der Seinsgedanken ist die äußerste Ausgesetztheit des Menschen, und sie ist daher durch Abgründe getrennt von der Harmlosigkeit einer nur logischen Begriffsuntersuchung. Ein Weg nur bleibt dem Denker, der Weg, der in die Wahrheit des Seins selbst führt. Dafür, sagt Parmenides, gibt es viele Zeichen, polla sēmata. Mit diesem Ausdruck erscheint ein ganz wesentlicher Begriff. Die Wahrheit des Seins zeigt sich in Zeichen. Das heißt, sie kann nicht unmittelbar und direkt ausgesagt werden. Sein ist das nur durch sich selbst Auslegbare; wir können 214

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nicht auf anderes zurückgreifen, wenn wir sagen sollen, was es eigentlich ist; es ist keine „Art“, alle | Arten sind in ihm; es selbst ist ja das Ӓußerste, alles in sich Einbehaltende. Von woher also soll es aufgehellt werden? Das Sein ist: sagt Parmenides: hōs estin; diese zwei Worte können alles enthalten und auch nichts. Und allzuoft werden sie als nichtssagende Tautologie gedeutet. Explikabel ist das Sein nur auf mittelbare Weise, so zwar, daß ihm Charaktere zugesprochen werden, gleichsam mit schlechtem Gewissen, Charaktere, die in eigentlicher Weise irgendwelchem Seienden zukommen, und die dem Sein beizulegen eine Unangemessenheit bedeutet; aber gerade in dieser Unangemessenheit doch Züge des Seins selbst ansprechen. Das ist die fundamentale Schwierigkeit aller Ontologie, daß sie anscheinend die ontische Sprache, das Ansprechen der Dinge spricht und im Grunde eben nicht Dinge meint: daß sie Seiendes sagt, aber Sein denkt. Einzig auf diese Grundschwierigkeit hin muß begriffen werden, was die sēmata tou eontos, die Zeichen des Seins selbst sind, die nun Parmenides einzeln durchgeht. Die ontologische Explikation hat hier den Charakter der Metapher, nicht des symbolischen Ausdrucks im üblichen Sinne, nicht das dichterische Bild anstelle des Gedankens; vielmehr hat der Gedanke, und zwar in der höchsten Schärfe und Bestimmtheit, das Moment der Analogie an sich. Die parmenideische Interpretation der Natur des Seins vollzieht sich in ontologischen Analogien. Zunächst werden als sēmata des Seins genannt agenēton und anōlethron, ungeboren und unzerstörbar ist das Sein. Wieder leuchten diese Worte des Anaximander auf, die er dem apeiron gab. Die Ungewordenheit und Unvergänglichkeit des Seins gründet in seiner Ganz­ heit, es ist oulomeles, und ferner atremes, unerschütterlich und ateleston, ziellos, nicht auf ein Ziel in der Zeit zulaufend. Diese erste Gruppe der sēmata sind bis auf eines Negativa, sind Kennzeichnungen der Seinsnatur durch den Abstoß von den wesentlichen Zügen, welche den Dingen zukom­ men; denn jene sind geworden und vergänglich, sind erschütterlich ‒ alles verwittert im Wetter der Zeit ‒ und haben so ein Ende in der Zeit. Auch das Ganzsein ist wesentlich aus dem Kontrast her gedacht; die Einzeldinge sind je nicht alles, sind nur das Eine und das Andere nicht, sind begrenzt vom Anderen, räum|lich und durch die Gegensätzlichkeit wie das Kalte vom Warmen; sie sind immer unganz. Im Gegenzug gegen diese Unganzheit der endlichen Dinge wird die Ganzheit des Seins gedacht: Es ist nicht vereinzelt und nicht zerstreut, sondern in sich beisammen, eins und einig; und daher kann es nie geworden sein; denn Werden ist das Aufsammeln von Sein im Nacheinander; und es kann nie an Sein verlieren, nicht abnehmen und hinschwinden. Entscheidend aber ist, daß die Einsicht wach wird, daß Parmenides nicht irgend ein phantastisches Ding, das „Absolute“, erdenkt: Ein Ding, das zwar nicht mehr endlich und begrenzt sein soll, aber im Grunde doch noch ein Seiendes ist, das immer währt und nie vergeht und 215

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unerschütterlich bleibt im Wandel der Zeit. Es sieht nur so aus, als wäre das Sein so ein Ding; gleichsam in der Metapher des von allen Endlichkeiten befreiten Dinges stößt das ontologische Denken „analogisch“ vor zum Wesen des Seins. Und grundsätzlich gilt das auch von allen weiteren sēmata. Das eon, das Sein, war nie und wird nie sein, weil es im Jetzt zusammen ist in ganzer Weise, als Eines, als hen, und Zusammenhängendes, xyneches. Auch hier wird das Modell für die ontologische Analogie deutlich: es ist der Gegensatz zum InderZeitsein der Dinge. Die Zeit zerreißt deren Sein in die Abfolge von Phasen, zerlegt es, splittert es auf; ein Ding kann nur sein im Moment des Jetzt, und hinter sich die gewesenen, schon durchlaufenen Jetztmomente, und vor sich die noch ausstehenden. Was soll es nun bedeuten, das Jetzt festzuhalten und Vergangenheit und Zukunft wegzustreichen? Ist das ein nyn, ein Jetzt wie es die Dinge haben? Wird das Sein zusammengedrängt auf das punktuelle Jetzt? Keineswegs: Es wird zu denken versucht das zunächst Ungereimte einer Zeit, die nur aus lauter Jetzt besteht, aus lauter Gleich|zeitigkeit; eine zeitlose Zeit wird hier zur Metapher. Das Sein stößt die „Zeit“ als Vergängnis246 von sich; diese hat nur die Herrschaft über die endlichen Dinge, über die „Gewächse“ der physis, nicht über sie selbst. Das eon, fährt Parmenides fort, kann nicht hervorwachsen aus Seiendem und ebensowenig aus Nichtseiendem. Das Sein ist unvermehrbar, weil es schon alles ist ‒ und aus dem Nichts kann überhaupt nie Sein hervorkommen. Das ist die Grundüberzeugung der gesamten antiken Ontologie. Das Sein ist unableitbar; es weist jeden Gedanken von Geschaffenheit weit von sich, und zwar deshalb, weil es selbst schöpferisch ist im Sinne der physis. Antik gedacht kommt alles Seiende aus dem Sein, und nie aus dem Nichts; die creatio ex nihilo, selbst wenn sie durch Gott geschieht, ist der ganzen Seinsauslegung der Antike widersprechend. Die Dikē, die Gottheit des Rechts selbst bindet das Sein in sein unzerstörbares Gefüge und hat es nicht freigegeben für Vergehen und Entstehen; denn vom Sein selbst zu denken, es könnte entstanden sein oder jemals vergehen, bedeutet das Sein im Sein zu negieren, die „Ewigkeit des Seins“ zu leug|nen und damit das Nichts einbrechen zu lassen in das eherne, unerschütterliche, wandellose Wesen des Seins. Das Sein kennt keine genesis und nicht olethros;247 „so ist das Entstehen verlöscht und verschollen das Vergehen“, sagt Parmenides. Aber damit löscht und vertreibt er Entstehen und Vergehen aus dem Begriffe des Seins, nicht leugnet er schlechtweg, daß es Entstehen und Vergehen gibt. Wo immer Sein gedacht wird, muß mitgedacht werden das Enthobensein über allen verzehrenden Wandel der Zeit. Wenn der nous das Sein selbst vernimmt, ist der Brand gelöscht des fressenden Feuers, das die endlichen Dinge tilgt, und weit weg, verschollen ist alle Vergänglichkeit. Das Sein, nicht das Seiende (im Sinne von endlichen Dingen), ist das aller Zeit Entrückte; es ist nicht „in“ der Zeit, aber es ist 216

V. Parmenides

nicht zeitlos, sondern ist ständige Gegenwart.248 Die weiteren sēmata, in denen sich die Seinsexplikation des Parmenides bewegt, sind dann noch folgende: das Sein ist oude diaireton, nicht teilbar, es ist gleichartig, ist ganz von sich erfüllt (empleon), ist unbeweglich in den Grenzen gewaltiger Bande, anfangslos und zeitlich endlos, ist das mit sich selber einige (tauton) und in sich selbst Bleibende und Unbedürftige, dem nichts fehlt. Und weil es an ihm keinen Ausstand und keine Lücke geben kann, ist es auch das in sich selbst Geschlossene, Ganze. Nach dieser Explikation der Seinsnatur kommt dann die entscheidende Stelle, wo Parmenides den Zusammenhang von Denken und Sein bestimmt. Das Denken ist nicht im allgemeinen und unbestimmten Sinne genommen, als das menschliche Vermögen, Gedanken zu bilden, sondern wird in seinem Wesen geprägt von einem einzigen Gedanken. Tauton d’esti noein te kai houneken esti noēma;249 „dasselbe ist Denken und der Gedanke des Ist“. Das Denken ist nicht „an etwas Beliebiges denken“, an irgendein Seiendes, Denken ist das Ausdenken, das entwerfende Ausdenken der Natur des Seins. „Nicht ohne das Sein, in welchem es als Ausgesprochenes ist, kannst du das Denken antreffen“250, heißt es weiter. Das noein, von welchem Parmenides spricht, ist allein das Denken der Philosophie, das prüfende Bedenken, was Sein ist. Indem der Mensch das Sein denkt in den sēmata des Ungewordenen, Unzerstörbaren, des Insichganzen, des Zeitentrückten usf., läßt er es anwesen und ins Wort kommen und macht sich selbst zur Stätte, wo die höchste Verbergung sich lichtet. Und diese Wahrheit des Seinerdenkens ist von Grund auf verschieden von allen sonstigen sogenannten Wahrheiten, die die Menschen zu besitzen wähnen, wenn sie umgehen mit den endlichen Dingen, sie benennen und besprechen. Das gewöhnliche Sagen bewegt sich in bloßen Namen; wir nennen die Dinge, diese nichtigen Schatten, bereits schon das „Seiende“ und wissen dabei nicht, was Sein wirklich ist. Wir nen­ nen das Werden und Vergehen, die Veränderung des Orts und den Wechsel der leuchtenden Farben.251 Das Sein offenbart sich im | Denken, in jenem freilich, das den | Entwurf wagt, das die „Seinsheit des Seins“ ausdrücklich denkerisch entfaltet in versagenden Metaphern und sich dabei angerufen weiß von der göttlichen Stimme der Dikē ‒ und ihrer Wegweisung folgt. Parmenides beschließt die ontologische Explikation mit einer grandio­ sen Metapher: Das Sein selbst, als das in sich vollendete und unversehrte (asylon), gleicht einer wohlgerundeten Kugel, die gleichgewichtig und gleich­ mäßig ist. Aber gerade dieses Bild macht auf eine eindringliche Weise den Analogiecharakter aller verwendeten Begriffe deutlich. Das Sein ist kein geometrisches Gebilde, aber an der Kugel, dieser für den Griechen schlechthin vollendeten Gestalt, werden die Wesenszüge des schlechthin Gestaltlosen: des Seins, angesprochen. 217

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Damit kommt der erste Teil des parmenideischen Lehrgedichtes zu Ende.

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| 26. Der zweite Teil des parmenideischen Lehrgedichtes, dem wir uns zum Schlusse noch zuwenden, enthält die Lehre vom Schein. Die textliche Überlieferung ist lückenhaft und bietet keinen so zusammenhängenden Gedankengang wie der erste Teil; es sind im wesentlichen die Fragmente 9–19 und davor noch die entscheidende Partie aus dem 7./8. Fragment, wo der Übergang vollzogen wird. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als handele es sich um eine Art von Kosmogonie, eine Weltentstehungslehre. Die Schwierigkeit, die sich aber dem Nachverständnis in den Weg legt, liegt in der eigentümlichen Zweideutigkeit, daß die Göttin hier spricht wie über wirkliche Vorgänge kosmogonischer Art, über das Entstehen von Sonne, Mond, der himmlischen Feuerkränze überhaupt usw., und zugleich all dies als doxai brotōn, als Meinungen der Sterblichen charakterisiert. Ist diese ganze Kosmogonie nur eine Wahnvorstellung der Menschen, und berichtet die Göttin nur, wie sich die Menschen, in Irrtum befangen, die Welt vorstellen? Dem widerspricht aber der bestimmte Ton, in welchem alle Dar­ legungen über die Kosmologie gehalten sind. Hier liegt also die eigentliche „crux“ der Interpretation. Nach der Auffassung von Diels geht es in diesem zweiten Teil nur um die Darlegung einer „wahrscheinlichen Hypothese“252, der aber von vornherein keine Wahrheit zuerkannt werde, weil im ersten Teil des Lehrgedichtes die wahre Weltansicht bereits ausgesprochen sei; es sei nur die relativ beste Ansicht vom unhaltbaren Boden des im Sinnenschein befangenen menschlichen Meinens aus und sei außerdem noch eine Art von Doxographie der bisherigen Meinungen. Die Künstlichkeit einer solchen | Deutung springt in die Augen; sie ist meiner Meinung nach völlig verfehlt. Sie widerspricht dem ganzen Ton und der ganzen Stimmung des Gedichtes ebensosehr wie dem darin treibenden Problem. Der Göttin, dem erhabenen Mund des Seins, die Ausmalung einer Hypothese anzusinnen, sie sagen zu lassen, wie es wäre, wenn der Sinnenschein im Recht wäre, erniedrigt sie zur bloßen allegorischen Figur; Karl Reinhardt hat gegen die Konstruktion von Diels die wesentlichsten Einwände vorgebracht; seine Auffassung ist, kurz gesagt, die: Die Göttin trägt keine Hypothese vor, keine Als-ob-Auffassung, sondern aus ihrem Munde kann nur die lautere Wahrheit kommen: Sie sagt die Wahrheit über den Menschenwahn. Aber dabei geschieht das, was auch die Reinhardtsche Auffassung wieder erschüttert; die Göttin hält diese Einstellung nicht durch; sie beginnt zunächst über den Wahn zu sprechen, verfällt aber im Fortgang selbst in diesen Wahn, spricht aus ihm heraus ‒ und nicht mehr über ihn. Reinhardt formuliert dies selbst so: „Parmenides beginnt die doxa damit […], daß er erzählt, die Menschen seien übereinge­ 218

V. Parmenides

kommen, zweierlei Gestalt mit Namen zu benennen; aber er entwickelt nicht, was man erwarten sollte, wie sie aus beiden Gestalten sich ihr Weltbild schufen, sondern das Gedachte gewinnt alsbald selbständiges Leben, Dunkel und Licht vereinigen sich und bilden die Welt, aus der Erkenntnistheorie erwächst, zu unserer Überraschung, eine Kosmogonie, was nichts als Name, […] onoma war, geht physikalische Verbindungen ein und erzeugt zuletzt auch noch den Menschen selbst samt seinen Erkenntnissen. Das ist für unsere Begriffe allerdings ein starkes Stück …“253. Die Frage ist hier nur, ob nicht die Interpretation sich „ein starkes Stück“ leistet, wenn sie Parmenides eine „Erkenntnistheorie“, eine Reflexion auf subjektive Erkenntnisquellen und dergleichen Modernitäten zuspricht. Diels wie Reinhardt stehen beide auf der selbstverständlichen Vorausset­ zung, daß der Schein, von welchem Parmenides spricht, nichts anderes sei als Trug, Täuschung, Irrtum, falsches subjektives Meinen. Die doxa beziehe sich auf dieselben Dinge wie der nous; nur eben fälschlich und im Irrtum befangen. Der nous sei die richtige, die doxa die falsche Ansicht von der Welt. Ich glaube, daß dieser ganze Ansatz verfehlt ist. Man operiert hier ganz selbstverständlich mit dem geläufigen Gegensatz von objektiv-wahrer und subjektiv-wahnhafter Beziehung zum Gegenstand, mit dem Gegensatz von „Erkenntnis“ und „Meinung“. In Wahrheit aber erkennt bei Parmenides der nous nicht besser als die doxa das Seiende, weil | er überhaupt sich gar nicht auf die Dinge bezieht. Der nous ist kein Organ der Erkenntnis der erscheinenden Welt; der nous vernimmt allein to eon, das Sein selbst; er denkt es in den sēmata, in den Zeichen der Anfangslosigkeit, Zeitentrückt­ heit, Unzerstörbarkeit usw.; der nous läßt | das für den Menschen immer ferne Sein anwesen, so zwar, daß es dadurch nie zu einem „Ding“ wird, aber dem Menschen aufgeht in der Herrlichkeit seiner in sich gegründeten Vollkommenheit, die im sēma der gleichgewichtigen Kugel symbolisiert wird. Der nous zielt einzig auf die abwesende archē, nie auf das anwesende Viele. Das Verhältnis von nous und doxa kann deswegen schon nie ein konkurrierendes sein. Der Grundfehler der üblichen Deutungen besteht darin, daß sie das Verhältnis von nous und doxa orientieren auf das Schema von wahrer und vermeintlicher Erkenntnis von Demselben; und ganz unbeschwert das Selbige ansetzen als ta onta, das Seiende in der Welt. Wenn dieser Ansatz festgehalten wird, wenn es hinsichtlich des Selben zwei Ansichten gibt, muß die eine notwendig falsch sein und diese Falschheit sich aus der Subjektivität erklären. Das Wesen des Scheins wird hier von der Subjektivität aus erklärt, sie ist die Quelle des Scheins; Schein ist prinzipiell als „Anschein“ verstanden. Die Interpretation, die wir vom ersten Teil des Lehrgedichtes versuch­ ten, weicht von der allgemeinen Auffassung ab: Sie deutet to eon nicht als das Seiende, sondern als das Sein, das zwar nur aussprechbar bleibt im sēma, von 219

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dem wir reden müssen, als wäre es ein Ding, während der Gedanke gerade nur das reine Sein denkt. Das eon des Parmenides ist nie ein „Phänomen“, nie ein im Umkreis unseres menschlichen Weltaufenthaltes begegnendes Ding; es ist wie die physis Heraklits oder das apeiron des Anaximander die archē. Wenn das einmal begriffen ist, dann verschwindet die Konkurrenz zwischen nous und doxa; der nous denkt das Sein, die doxa vernimmt das Seiende. Die doxa ist die Erkenntnis der erscheinenden Welt. Der Unterschied von nous und doxa muß nicht „erkenntnistheoretisch“, sondern primär ontologisch verstanden werden. Doxa ist die Weise des wissenden Innestehens in der aufgebrochenen Welt der vielen vereinzelten, erscheinenden und in den Strom der Zeit geworfenen Dinge, während der nous das ur-eine, in sich wohlgerundete Sein vernimmt. Die doxa umgreift den Bereich, von dem schon im Eingangsfragment die Göttin sagt: „Du wirst auch dieses kennen­ lernen, wie das Scheinende (ta dokounta) scheinend ist, alles ganz und gar durchdringend“254; also außer der eigentlichen Wahrheit, der Wahrheit vom Wesen des Seins, auch das Feld des Erscheinens. Beides zusammen erst macht das Ganze aus: archē und die aufgegangene Welt. Aber wird denn nicht, so kann man einwenden, die doxa bei Parmenides als trüglich charakterisiert, der nicht einwohne pistis alēthēs, „wahre Gewißheit“? In der Tat. Diese Kennzeichnung ist das am schwersten Verstehbare. Es bedeutet aber eine, wie mir scheinen will, vorschnelle Deutung, die eigentümliche „Unwahrheit“ der doxa als subjektiven Trug auszulegen. Worin besteht die „Falschheit der doxa“? Etwa darin, daß sie die Dinge falsch auffaßt, falsch | wahrnimmt, falsch beurteilt? Vergreift sie sich, bewegt sie sich in Illusionen und Täuschungen? Was ist das in der doxa Vernommene? Vorläufig gesagt, das Werden und Vergehen, der Wandel der Zeit und die Vielheit der Dinge. Ist nun die doxa falsch, weil sie annimmt, es gäbe dergleichen wie Entstehen und Vergehen, während in Wirklichkeit es solches nicht gibt? Sind Wandel der Zeit und Vereinzelung der vielen Dinge nur menschliche Wahngebilde? Diese groteske Anschauung wird von den meisten Interpreten dem Par­ menides nachgesagt. Und so stehen sie dann auch vor der ungereimten Tatsache, daß die Göttin selber ernsthaft redet vom Werden der Gestirne und den feuer- und nachterfüllten Regionen des Himmels. Die Falschheit der doxa wird als „gewöhnliche“ Falschheit verstanden; das ist sie aber keineswegs. Es handelt sich hier nicht um eine Nichtübereinstimmung von einem gegenstandsbezogenen Meinen und der Sache selbst, vielmehr einzig um eine ontologische Falschheit. Was soll das besagen? Die doxa, als die Weise des menschlichen Innestehens in der erscheinen|den Welt, ist nicht falsch, weil sie Entstehen und Vergehen ansetzt, sie ist falsch, weil sie dabei geführt ist von einem unrechten Seinsbegriff; sie denkt ‒ allerdings ganz dunkel und unausdrücklich ‒ das Sein als ein von Nichtigkeit durchsetztes, wenn sie den erscheinenden Dingen, diesen ständig von der Zeit verzehrten, 220

V. Parmenides

„Sein“ zumißt und ebenso den vereinzelten, d. h. jeweils durch Grenzen bestimmten Dingen. Sie vermischt Sein und Nichtsein. Sie spricht jeweils aus einem getrübten und verdunkelten Verständnis des Seins ‒ gemessen am nous, der das reine und heile, alles Nichts von sich abstoßende Wesen des Seins ergreift und damit im Lichte der vollen ontologischen Wahrheit steht, ist die doxa falsch; ihre Falschheit ist nur ontologisch zu charakterisieren: Sie spricht als „seiend“ an solches, was nicht das wahrhafte Wesen vom Sein hat. In den erscheinenden Dingen ist das eine, in sich ruhende, unbewegte Sein gleichsam herausgegangen ins Viele, ins Werden abgestürzt, aufgebrochen zur vielfältigen Welt. Das Sein als archē ist übergegangen ins „Phänomen“, ähnlich wie bei Heraklit die physis, die unerschöpfliche, die endlichen Dinge in den erschöpfenden Strom der Zeit wirft. Anders aber als bei Heraklit ist das Problem angesetzt: nicht als das Verhältnis des zeitlosen Grundes zum Werden, sondern als die ontologische Problematik von Sein und Schein. Wie muß die phänomenale Welt im Ganzen ihres angeblichen Seins begriffen werden, wenn der Maßstab des wahrhaften Seins der nous ist, wenn Sein so ist, wie es der nous vernimmt und in den erörterten sēmata aussagt? Diese Frage steht über dem ganzen zweiten Teil des Lehrgedichtes. Thesenhaft können wir sagen: Der Begriff des Scheins darf nicht orientiert werden am gewöhnlichen Trug oder Irrtum oder Wahn. Schein besagt primär Vorschein (Phäno|men) und nicht Anschein (Illusion). Die Welt im Ganzen genommen, das All der endlichen Dinge überhaupt, ist der Schein des Seins, in dem Sinne, wie wir vom Schein der Sonne reden. Das Sein scheint, sofern es erscheint, aufgespalten in die Vielheit, eingetaucht ins Werden, aufgebro­ chen zur Welt. Aber an diesem aufgebrochenen und zerstückten Sein, an dem Anwesenden, ist eben nicht wahrhaft zu verstehen, was es „eigentlich“ ist, sondern im Hinwegdenken über das Anwesende, in jener Entrückung, deren großartiges Symbol, die Fahrt des Denkers im Sonnenwagen hoch über allen Wohnstätten der Menschen, das Eingangsfragment bringt. Die Menschen sind die unten Wohnenden, in der Erscheinung Beheimateten. Die Menschen werden somit selbst zur Ortsbestimmung der Erscheinung. Das ist von großer Bedeutung. Ta dokounta, das Reich der Phänomene, ist bei uns, bei den Menschen, ist in einem weiten Sinne das Menschenland. Karl Reinhardt macht die tiefe Bemerkung, daß in der „urwüchsigen Philosophie“ des Parmenides die „Sterblichen“ zum fest umgrenzten Begriff werden „für die Welt, in der wir leben“255. Wir, die Sterblichen, sind der Bezugspunkt, um das Reich der Erscheinung, das Anwesende festzulegen, gegenüber dem Abwesenden, dem Ort des wohlgerundeten Seins, der dort bei den Göttern ist. Was aber ist nun diese „phänomenale Welt“? Dieses Nichtige, vom Nichts durchsetzte Sein, das Scheinhafte ihres Scheins? Parmenides begreift die Natur des Scheins in einem Rückgang auf den Menschen. Also doch zur 221

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Subjektivität? Ja und Nein. Die Frage ist nur, wie der Mensch hier begriffen wird. Das bedarf einer näheren Erläuterung. Die doxa, sagten wir, ist das menschliche Vernehmen der erscheinen­ den Dinge. Parmenides sieht nun das Wesen dieser doxa im Nennen, im Ansetzen von Namen. Der Mensch kommt also nicht in den Blick als der in die Subjektivität seines Meinens Eingesponnene, sondern als der Namengeber,256 Nenner aller Dinge. Die doxa ist eigentlich die menschliche Rede. Alles Sprechen des Menschen aber ist ein unaufhörliches „Ist“-Sagen. Nur in der Sprache verhalten wir uns eigens auch zum „Sein“, und nicht nur zu den Dingen, eben dann, wenn wir von den Dingen sagen, daß sie so und so sind, daß sie überhaupt vorhanden sind, daß sie wirklich oder möglich sind oder daß sie wahrhaft oder nur scheinbar sind. In vielen Weisen sprechen wir das Sein zu oder ab; Sprechen ist ein Verstehen von Sein. Aber wie verstehen wir dabei | das „ist“, von dem wir ja immerzu Gebrauch machen? Bewegen wir uns schon in einem durchgedachten und ausgearbeiteten Seinsverstehen oder hat dieses bei aller sprachlichen Differenzierung doch eine Vagheit und Dunkelheit? In allem Sprechen haust die Ahnung vom Wesen des Seins, aber zumeist bleibt es dabei ‒ was das Sein in sich selbst ist, das wird nicht ausgedacht; der Weg des nous bleibt zumeist unbetreten. Sprechend gehen wir um mit dem | Wort „sein“ und lassen es doch unbegriffen und unbedacht stehen. Und diese Unbedachtheit des Seins waltet um so mächtiger in aller menschlichen Rede, je mehr der Mensch angegangen ist von der Fülle und dem Zudrang der Dinge. Namengebend ordnet der Mensch das Chaos, teilt er Sein zu. Aus dem dunklen, ahnungsvollen Wissen um das Sein sagt er dem Vereinzelten, Vergänglichen und Sichzeigenden das Seiendsein zu; das Einzelne tritt in den festen Bezirk seines Namens, wird gleichsam in ihm festgemacht; alles Benennen ist ein Festlegen und Festhalten, und ist ein Absondern von Ande­ rem; wenn alles seinen Namen hat, kann nicht mehr alles durcheinanderlau­ fen, es ist abgeteilt und eingeteilt. Das Sagen ist eigentümlich „verkehrt“. Es spricht Sein zu; Sein aber ist eigentlich nur als das unerschütterlich in sich ruhende Ur-eine; die Sprache aber sagt vom Vielen, Zerstückten, in der Zeit Wirbelnden, es „sei“. Sie ist verkehrt, sie beruht auf einer Unbedachtheit: Sie sagt Sein und widerspricht sich selbst. Auf diesem Widerspruch alles menschlichen Sagens beruht die Namengebung. Durch diese sieht es so aus, als wäre all das damit Angesprochene „seiend“. Das Wesen der doxa wird also von Parmenides in dem Selbstwiderspruch der menschlichen Sprache gesehen. Bei Hegel kehrt dasselbe Motiv wieder in der Phänomenologie des Geistes, die auch einen Weg des Menschen darstellt, aus der Sphäre der Erscheinung und der endlichen Dinge zurückzugehen in das reine und heile Wesen des Seins. Parmenides beginnt die Exposition der doxa mit dem Hinweis auf die menschliche Namengebung. Die Menschen haben zwei 222

V. Parmenides

Formen benannt: dyo morphas. Im Nennen haben sie als seiend festgehalten einen Gegensatz. Beide Formen, als genannte und festgemachte, sind für die Menschen. Dieses Nennen ist im Grunde aber eine Vermischung von Sein und Nichts. Und diese Vermischung ist überhaupt das Kennzeichen der Natur des Scheins. Im Gegensatz der beiden Formen ist sowohl das „Positive“ wie das „Negative“ angesetzt als wirklich. Und ausdrücklich sagt Parmenides, daß die Menschen in die Irre gegangen sind dadurch, daß sie das Nichtige, Negative selbst zu einer seienden Macht in der Namengebung werden ließen. Diese beiden Formen sind „Licht“ und „Nacht“. Licht also gilt als das Positive, dem Sein Verwandte, Nacht als das Gegensätzlich-Negative, das dem Nichts verwandt ist. In Licht und Nacht, sofern sie als die Grundmächte genommen werden, ist schon der absolute Gegensatz von Sein und Nichts vermischt; es ist die ontologische Unbedachtheit geschehen, die das Nichts in das Sein einläßt. Und diese Vermischung von Sein und Nichts führt zwangsläufig zu lauter Gegensätzen: Das Nichtige ist selbst eine Macht geworden, selbst eine Art von Seiendem, und durchwaltet gegensätzlich die Welt. Die Menschen schieden namengebend, sagt Parmenides, und sonderten:257 „hier das aetherische Flammenfeuer, das milde gar leichte, mit sich | selber überall einige, mit dem anderen aber uneinig; aber auch jenes für sich, gerade entgegengesetzt: die lichtlose Nacht, ein dichtes und schweres Gebilde.“258 Licht und das Leichte auf der einen Seite und auf der anderen das Dunkel, das Schwere und Dichte: dieser Gegensatz durchwaltet die Erscheinungswelt, den „diakosmon eoikota“259 ‒ und die Göttin selber sagt dies aus. Darin besteht nun das Problem der Interpretation dieses zweiten Teils. Parmenides läßt den Schein entstehen in der Namengebung der Men­ schen, und doch ist er nicht bloß eine menschliche Konvention; vielmehr bleibt alles menschliche Auffassen darein gebannt; ausdrücklich sagt die Göttin, daß unmöglich irgendeine Ansicht der Sterblichen dem so belehrten Denker den Rang ablaufen könne. Das heißt, nie kann menschliche Erkennt­ nis von sich aus heraus aus der Sphäre der Erscheinung, heraus aus dem Bereich, wo Licht und Dunkel miteinander streiten und | ihren immerwäh­ renden Kampf führen. Der Mensch ist gebannt in die Erscheinung, es sei denn, ihn trage der Sonnenwagen, göttinnengeleitet zum Ur-einen. Das bedeutet im ganzen nun, daß die doxa nicht eine willkürliche Namengebung des Menschen darstellt, eine, die er auch unterlassen könnte, die nur kon­ ventionell wäre; die Namengebung, das Ansprechen des Seienden, gehört zum Wesen des Menschen, und ebenso gehört ‒ für Parmenides ‒ dazu die Vermischung von Sein und Nichts, die die Menschen immer begehen. Und, so können wir vielleicht sagen, diese Vermischung im verkehrten Sagen des Menschen ist notwendig, weil alles, alle Dinge und nicht nur der Mensch, so vermischtes, mit Nichts untermischtes, nichtiges Sein ist ‒ 223

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im ganzen weiten Bereich der Erscheinung. Am Menschen, und zwar am wesentlichsten Wesenszug des Menschentums, an der Sprache, zeigt Par­ menides die Vermischung, aus welcher der Schein entspringt. Der Mensch ist ein Beispiel, allerdings ein besonders ausgezeichnetes Beispiel. Ähnlich wie das Wesen des eon entwickelt wird im Bezug zum noein, so das Wesen der den Schein verursachenden Mischung von Sein und Nichts an der doxa, die als Namengebung primär expliziert wird. Wenn wir diese Deutung260 uns vergegenwärtigen, so verschwindet der Widerspruch, den Reinhardt darin erkennen will, daß die Namen und der Wahn der Menschen im Fortgang des Gedichts umschlagen in die Meinung der Göttin selbst. Das kurze 9. Fragment zeigt eindringlich diesen Umschlag:261 „Aber nachdem Licht und Nacht benannt und das, was ihren Kräften gemäß ist, diesen als Namen zugeteilt worden, so ist alles voll zugleich von Licht und unsichtbarer Nacht, gleichgewichtig; denn nichts ist möglich, was unter keinem von beiden.“262 Damit haben wir das Zentralproblem der Auslegung des zweiten Teiles, wenn auch nur mit einem Hinweis, behandelt. Die parmenideische Kosmo­ gonie im einzelnen durchzusprechen, müssen | wir uns versagen; sie ist nur trümmerhaft überliefert; im wesentlichen ist sie bestimmt durch den fundamentalen Gegensatz von Licht und Nacht. Mit seiner Kosmogonie aber widerspricht Parmenides nicht sich selbst, wie man ihm zuweilen vorwarf. Das eon, das ur-eine Sein, wird nicht und vergeht nicht, es ist das Ewige, allem Wandel Entrückte, Unzerstückte und Unzerlegte: Das Sein kann nicht werden und kann niemals vergehen. Kosmogonie ‒ das begreift Parmenides erstmals in höchster Klarheit des Gedankens ‒ gibt es nur im Reiche der Erscheinung, der Vereinzelung und der Zeit. Fassen wir unsere Deutung in wenigen Thesen zusammen: 1. Die Phi­ losophie des Parmenides ist Ontologie, d. h. die ausdrücklich sich erstmals selbst begreifende Seinsfrage; sie denkt, was die anderen Philosophen in ihren Begriffen von der archē, vom apeiron, von der physis nur mitgedacht hatten, thematisch; sie stiftet den philosophischen Begriff des Seins. 2. Der erste Teil des Lehrgedichtes, der vom eon handelt, meint kein Seiendes, sondern nur das Sein selbst. 3. Das abwesende Sein wird vernehmbar im nous, weil er die Natur hat, Abwesendes anwesen zu lassen: Das Sein steht so in einem eigentümlichen Bezug zum Menschen: es offenbart sich im Menschen; der Mensch ist der Ort, wo das Sein, der unendliche Grund aller endlichen Dinge, selbst ans Licht tritt. 4. to eon und ta dokounta verhalten sich wie Sein und Seiendes; die doxa ist deswegen als das Vernehmen der Phänomene, d. h. der zum Vorschein gekommenen Dinge, keine Trug- oder Wahnvorstellung; ihre „Falschheit“ ist eine ontologische Unbedachtheit, sie vermengt Sein und Nichts in dem sie leitenden Seinsbegriff; doxa ist nicht vom Meinen schlechthin, sondern vom Namengeben her gesehen; die doxa gründet in der Sprache; in der Sprache des Menschen geschieht 224

V. Parmenides

beispielhaft, was überhaupt der Wesenszug des Scheins ist bei Parmenides: | die Vermischung von Sein und Nichts. 5. Das das ganze Denken von Parmenides in Atem haltende Problem war die Seinsfrage in der Gestalt der Fragwürdigkeit von Sein und Schein. Die Seinsheit des Seins wird in ständiger Absetzung erkämpft gegen die Seinsauffassung, die ansonst den Menschen beherrscht ‒ zugleich wird diese aber noch selbst ontologisch begriffen als Schein. Die Auslegung, die ich263 von den parmenideischen Fragmenten gege­ ben habe, war selbst durchaus fragmentarisch und kann nur die Bedeutung eines „Wegweisers“ haben. Vielleicht aber haben wir doch dabei begriffen, daß das anfängliche Denken, dem man allzu oft eine „archaische Primitivität“ nachredet und es als „materialistisch“ verdächtigt, sich nicht darin erschöpft, als die „Vorsokratik“ nur eine Vorstufe zu sein, daß es in Wahrheit ein Gigan­ tenkampf war, der Anbruch einer ungeheuren Möglichkeit, der der Mensch nie mächtig geworden, auf daß er über sie verfügen könnte. Um was es den ersten | Denkern des Griechentums ging, ist auch auf dem langen Weg des abendländischen Geistes kein Besitz geworden. Anaximander, Heraklit und Parmenides sind auch heute noch nicht „überholt“ ‒ vielleicht ist das, was damals „Philosophie“ war, eine uns entglittene äußerste Verwegenheit des Menschengeistes. Wir haben uns im wesentlichen auf diese drei Denker beschränkt; eine Reihe erhabener Namen blieb außer dem Thema, wie Anaxagoras, Melissos, Empedokles, Demokrit. Die Vorlesung war264 somit keine Geschichte der anfangenden antiken Philosophie; die Vollständigkeit eines Überblicks war gar nicht erstrebt; sie sollte lediglich ein Versuch sein, in die Bewegung des fragenden Denkens einzuführen durch das immer riskante Wagnis der Interpretation. Den Ansatz unserer Auslegung gewannen wir im Ausgang von der „ersten Philosophiegeschichte“ des Aristoteles, d. h. vom Boden der Metaphysik aus. Aber dieser Boden schwand uns weg, je entschie­ dener wir uns von den originären Gedanken, von den Fragmenten selbst leiten ließen. Die Metaphysik als Blickbahn wurde uns damit fragwürdig. Was bedeutet diese Fragwürdigkeit? Verweist sie auf eine Unzulänglichkeit und Grenze der metaphysischen Betrachtungsart? Bedeuten Platon und Aristoteles bei all ihrer unbestrittenen Größe auch ein Verhängnis? Wie immer es damit stehen mag, die Metaphysik ist nicht damit gerichtet, wenn sie von sich aus nicht den Zugang zu eröffnen vermag in die „ursprüngliche“ Problematik der physiologoi. Sie muß zuvor aus dem Denken begriffen werden, das in ihr sich entfaltet. Die physiologoi denken die archē, die Seinsfrage, als das Andenken des Ursprungs; was aber unterbestimmt bleibt, ist die aus dem ur-einen Sein aufgebrochene Welt, die Welt der Vereinzelung, der Endlichkeit und der Zeit, unsere Welt, wo wir lachen und leiden, denken und dichten, erwachen und sterben; unsere, die erscheinende Welt, das Men­ schenland, das Reich der Namen (um mit Parmenides zu sprechen); durch 225

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Grundfragen der antiken Philosophie

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das Sagen der physiologoi schwingt einzig das Namenlose, Unnennbare und Göttliche, dem wir Menschen den vergeblichen Namen des Seins zurufen. Kaum ein Denker ist von der nachfolgenden Geschichte so mißkannt und verstellt worden wie Parmenides. Wenn Nietzsche ihn „als ungriechisch wie kein andrer“ bezeichnet, so ist zu fragen, ob irgendwann und irgendwo tiefer und radikaler die Frage gefragt wurde, welche das ganze griechische Dasein bis in die Wurzeln durchbebt: ti to on? Vermögen wir noch zu ahnen, was das Staunen und Fragen der Griechen war und was damit im Menschenwesen geschah? Hat es, wenngleich im späten Nachhall, noch Macht über uns ‒ oder haben wir im Wissensbetrieb unserer Hohen Schulen und in der leeren Geschäftigkeit unseres verödeten modernen Daseins es verlernt, uns zu verwundern, daß wir „da sind“, hier auf dieser unbegreiflichen Erde, eine Weile umgehen mit den Dingen, Steinen, Pflanzen | und seltsamen Tieren, uns gegenseitig fremder noch, daß wir dem Tode zuwanken, Verfall und Vergänglichkeit in ihrem würgenden Griff spüren, und doch als die zu Einsam|keit und Tod „Verurteilten“ uns freuen an den Morgen voll Licht und den Nächten voller Sterne, daß wir uns ausgesetzt wissen in eine unheimliche Welt und zugleich uns umfangen fühlen von einer mütterlichen Natur: Diese ganze entsetzliche Freude, die das menschliche Wohnen auf der Erde durchstimmt, befeuert sie noch unseren Geist, auf daß wir aus letzter Leidenschaft und Wachheit fragen lernen, was denn dies eigentlich sei: das Sein, das Allgegenwärtige und doch nie Greifbare, das alles durchwaltet, die tragende Erde wie den sternerfüllten Weltraum, „Natur“ wie „Geschichte“, den erdgeborenen Menschen wie auch die Himmlischen?

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Der Satz vom Widerspruch ‹Philosophisches Proseminar im Wintersemester 1959/60›

| 1. Ein Proseminar über den Satz vom Widerspruch – dies scheint selbst ein Widerspruch zu sein. Es scheint doch, daß die philosophische Erörterung dieses Satzes schon eine begriffliche Schulung voraussetzt. Aber es gehört zu den Anforderungen, die man an eine philosophische Propädeutik stellt, daß diese sich auch mit schwierigen Denkverhältnissen befasse. Die Philosophie kann, nach dem Beispiel des Sokrates, ihren Denkweg bei den einfachsten Dingen beginnen lassen, um von da aus in die eigentliche philosophische Problematik vorzustoßen. Die Philosophie beginnt außerhalb ihrer selbst, mit der selbstverständlichen Lebenskenntnis des Alltags; durch steigende Radikalisierung ihrer Fragestellung dringt sie dann in die Tiefe des Problems. Das vorphilosophische Leben ist nicht eine Stufe der Naivität, die, einmal überwunden, endgültig zurückgelassen wird, es ist nicht ein Inbegriff von Banalitäten, sondern der bleibende Boden für alle Reflexion. Die vorphilo­ sophische Lebenswelt hat auch nicht den Charakter einer konstanten Basis, die sich ein für allemal gültig beschreiben ließe; sie ist ein Gewirr aus unreflektierten Selbstverständlichkeiten und aus Spuren früherer Philoso­ pheme und wissenschaftlicher Theorien, sie ist ein geschichtlicher Befund. Die philosophische Reflexion muß ausgehen von den in der Lebenswelt gebundenen Sinnauflagen und Sinnfragmenten, die aus intensiver Denkbe­ mühung herabgesunkene Selbstverständlichkeiten sind. Das Proseminar soll beginnen mit der rohen Bestandsaufnahme unserer Auffassungen vom „Satz vom Widerspruch“, und dann jene philosophischen Darstellungen des Satzes vom Widerspruch interpretieren, die zu Markstei­ nen der Geschichte des Denkens geworden sind: die Darstellungen von Aristoteles, Leibniz, Kant, Hegel; auch sollen moderne Erörterungen des Satzes vom Widerspruch herangezogen werden. Damit ist das Vorverständ­ nis des Satzes vom Widerspruch exponiert, und es soll von da aus eine Erörterung dieses Satzes unter Führung eines grundsätzlichen Problems versucht werden: des Problems der Individuation. Es geht dabei um den Zusammenhang aller endli|chen Dinge mit dem Satz vom Widerspruch. Wir verstehen unter dem „Satz vom Widerspruch“ so etwas wie eine Generalregel des Denkens. Der Satz handelt „vom Widerspruch“. Wir ken­ nen das alltägliche Phänomen des Widerspruchs: in einer Wechselrede wechseln Spruch und Widerspruch miteinander ab. Zur Rede gehören 227

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grundsätzlich zwei Momente: das Thema, das, „wovon die Rede ist“, und der Adressat der Rede. In einem Schulbeispiel wie „die Tafel ist schwarz“ wird allerdings von dem Adressaten abgesehen, aber wir müssen darin einen defizienten Modus des intersubjektiven Sprechens sehen. Ein Widerspruch bestreitet nun die Behauptung eines Sachverhalts. Über sinnfällige, unmit­ telbar gegebene Sachverhalte, wie über das Schwarzsein dieser Schultafel, entzweien sich die Meinungen der Menschen freilich nicht. Aber wenn wir z. B. auf dieser Tafel eine Rechnung ausführen, so kann ein anderer die Richtigkeit bestreiten. Dabei wird man abschließend eine einstimmige Formulierung erreichen. Viel schwieriger verhält es sich in einem Falle des Auseinandertretens von Meinungen über den Sinn des Lebens, über das Dasein Gottes oder über die Unsterblichkeit der Seele; hier treten unver­ söhnliche und unentscheidbare Widersprüche auf, denn der Gegenstand, über den Aussagen gebildet werden, ist nicht unmittelbar gegeben, ist überhaupt kein Phänomen. Aber der Satz vom Widerspruch meint nun nicht, daß zwei Auffassun­ gen über eine Sache sich widersprechen können, er ist keine allgemeine Regel über das Streitgespräch. Freilich beruft man sich in Streitgesprächen oft auf diesen Satz, weil der Verstoß gegen ihn das Verfehlen der Wahrheit bedeutet, und zwar schon von der bloßen Form der Aussage her. Der Satz vom Widerspruch ist eine Verbotsregel, die den Gebrauch des Denkens normiert. Die Widerspruchs-Freiheit von Aussagen wird darin zwar nicht als Ausweis inhaltlicher Wahrheit, aber als conditio sine qua non der Wahrheit (in formaler Hinsicht) angegeben. (Aber fast alle philosophischen Aussagen verstoßen gegen den Satz vom Widerspruch, allerdings nicht in der einfachen Form, die leicht erkannt und einfach gerügt werden kann.) Der Satz vom Widerspruch erklärt nicht, was der Widerspruch ist, sondern fordert die Vermeidung jeden Widerspruchs, er hat prohibitiven Sinn. Nicht die Gegenrede, der Einwand | wird verboten, sondern innerhalb einer Rede wird der Widerspruch als unzulässig bezeichnet. Nur wenn der Sprecher sich widerspricht, bedeutet das ein Verfallen in die Unwahrheit. Der Satz vom Widerspruch ist also ein Verbot des Widerspruchs in anderen Sätzen. Aber was für eine Art von Satz ist er selbst? Damit wir uns über seine Satzstruktur klar werden können, müssen wir nach dem Satz überhaupt fragen. Der Satz „die Tafel ist schwarz“ formuliert einen Sachverhalt, der faktisch besteht. Indirekt ist die Situation des Sachverhalts mit ausgesagt: diese Tafel ist jetzt schwarz, und nicht irgendeine andere Tafel zu irgendeiner anderen Zeit. Die Aussage ist „empirisch“ und betrifft ein Gegebenes, Unmittelbares. Aber wir formulieren nicht nur Sätze über jetzt Vorliegendes, sondern auch über Gewesenes oder über einen Zustand, der noch aussteht und erwartet wird. Wir formulieren Sätze über Sachverhalte, die uns von anderen berichtet werden; hier wird die originale Selbster­ 228

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fahrungssphäre erweitert durch die Mitteilungen anderer, wie bei dem Kunstgriff der „Mauerschau“ in der antiken Tragödie. Die Erfahrungssphäre des andern überschneidet sich teilweise mit meiner eigenen, teilweise reicht sie über diese hinaus. So bildet sich (bei vielen sich mitteilenden Erfah­ rungssubjekten) eine gemeinsame Sphäre intersubjektiver Erfahrungen. Auch bei solchem Erfahrungs-Austausch werden Aussagen über faktische Sachverhalte formuliert. Es treten hier aber auch allgemeine Sätze auf, die durch Induktion, durch Verallgemeinerung von bekannten Tatsachen entste­ hen, indem die beschränkten Erfahrungen als auch für noch ausstehende Erfahrungen gültig angesehen werden. Eine ganz andere Art von Satz ist die mathematische Aussage über die Winkelverhältnisse des Dreiecks: die Aussage betrifft nicht dieses Drei­ eck, an dem demonstriert wird, sondern das Dreieck im Allgemeinen und damit alle Dreiecke überhaupt. Die Aussage betrifft hier keine empirische Allgemeinheit, sondern einen idealen Sachverhalt, der „immer“ gilt und unabhängig von der Erfahrung eingesehen werden kann. Hier müssen wir den formulierten Satz, den eben ausgesprochenen Satz als die Aktualisie­ rung eines menschlichen Verstehens des ideell-allgemeinen Sachverhalts unterscheiden von dem | „Satz an sich“ oder dem unabhängig von unserem Denken schon bestehenden idealen Sachverhalt selbst. Auch der Satz vom Widerspruch ist nicht als ein einzeln ausgesproche­ ner, an einen bestimmten Zeitpunkt gebundener Satz zu verstehen. Es muß vielmehr angenommen werden, daß dieser Satz jederzeit formuliert werden kann; der Satz vom Widerspruch hat eine ideelle Seinsweise. In ihm wird ein bestimmtes Verhalten der Dinge, ein Sachverhalten ausgedrückt. Er ist eine Grundaussage über das Sein der Dinge und ihr logisches Verhältnis. Im selben Sinne werden drei verwandte Sätze formuliert: der Satz der Identität, der Satz vom ausgeschlossenen Dritten und der Satz vom Grunde. Der Zusammenhang dieser Sätze soll später behandelt werden. Beim Satz der Identität sehen wir ein, daß er eine Grundstruktur der Dinge bezeichnet. In ihm ist die „Selbstgleichheit aller Dinge“ formuliert. Der Ausdruck selbst, die Gleichung „A = A“, ist dabei allerdings ein Umweg. Das Ding als solches steht ja nicht in einer Gleichung, nur das menschliche Verstehen der Selbigkeit braucht die Gleichung, um überhaupt die Selbigkeit zu denken. Dabei ist der sog. Satz der Identität die reinste Form der Tautologie. Eine Tautologie ist sonst nichtssagend, aber hier drückt sie das Selbigsein jedes Seienden aus. Wir müssen eine zuerst aufgestellte Zweiheit durch das Gleichheitszeichen wieder vernichten, um das Selbigsein der Dinge auszudrücken. Wir bewegen uns dann schon in einem vorgängigen Unterschied von „Sein der Dinge“ und „Aussagen über die Dinge“, wir halten das legein und das einai auseinander. Der Satz der Identität meint durch das Denken hindurch die Struktur der Dinge. Nur auf dem Grund des 229

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Selbigseins kann es ein je einzelnes Ding geben, der Satz der Identität bezieht sich auf die Individuation. Jedes Ding ist zunächst je eins und es selbst. Der Satz vom Widerspruch ist irgendwie die Umformung des Satzes der Identität. Aristoteles formuliert ihn: „Es ist unmöglich, daß demselben in derselben Hinsicht dasselbe zugleich zukommt und nicht zukommt“.1 Der Satz vom Widerspruch macht bereits Gebrauch vom Begriff des Selben (der Identität) und der Negativität (nicht), außerdem von „Möglichsein“ und | „Zugleichsein“. In ihm wird die Fundamentalstruktur alles Seienden ausge­ sagt, aber er ist noch deutlicher als der Satz der Identität die Formulierung eines menschlichen Verhältnisses zu den Sachen. Die Sachen selbst wider­ sprechen sich nicht, sie verhalten sich immer sachgerecht; der Mensch aber kann diese und die gegenteilige Bestimmung aufnehmen. Die Formulierung des Satzes vom Widerspruch durch Aristoteles zielt nicht ab auf das Sein der Dinge, er besagt, daß der Widerspruch die Möglichkeit menschlichen Sagens über die Dinge vernichtet. Der Satz vom Widerspruch formuliert auch ein strukturelles Grundverhältnis der Dinge, ihre Bestimmtheit, aber er ist zunächst doch ein Satz über das Sprechen. Der Widerspruch ist zu vermeiden. Der Satz soll einen eventuellen Mißbrauch des Bestimmens der Dinge verhindern. Auch der Satz vom ausgeschlossenen Dritten hat grundsätzliche Bedeu­ tung und ist nicht bloß (wie man oft meint) eine zusätzliche Formulierung des Satzes vom Widerspruch. Durch den Satz vom ausgeschlossenen Dritten wird die Gesamtheit aller Prädikate aufgeteilt in „A“ und „nicht A“ (tertium non datur). Dieser Satz setzt jedes Ding in ein Verhältnis zur Gesamtheit, zur Allheit aller möglichen Dingprädikate. Der Satz der Identität betrifft die Selbständigkeit der Dinge, der Satz vom Widerspruch richtet sich gegen die Verletzung der Selbständigkeit der Dinge, der Satz vom ausgeschlossenen Dritten hält die Selbständigkeit (Distinktheit) eines Prädikats in der Totalität aller Prädikate fest. Der Satz vom Grunde dagegen relativiert die Selbständigkeit der Dinge auf ein Unbe­ dingtes hin, er formuliert die Abgeleitetheit, die Begründetheit aller Dinge. Die genannten vier Sätze werden bisweilen als „Denkgesetze“ bezeich­ net, als Regeln für den Gebrauch der Vernunft. Dies ist einseitig, betref­ fen die vier Sätze doch ebensosehr die Grundstruktur der Dinge. Aber abgesehen davon läßt sich nicht einfach behaupten, daß diese Sätze einen Denkzwang ausdrücken. Das Denken ist ein psychischer Prozeß. Aber ist der Satz vom Widerspruch etc. ein psychischer Befund, kommt er nur als menschliches Denkerlebnis vor? Man meint vielleicht, es gebe ein menschliches Denken, das gegen die vier Sätze verstoße, das sie ignoriere – Fälle der Psychopathologie, | oder auch Primitive (wie es Lévy-Bruhl in seiner frühen, später von ihm selbst widerrufenen Theorie dargestellt 230

Der Satz vom Widerspruch

hat). Es ist die Frage, ob es hier „Ausnahmen von der Regel“ gibt, ob solche Abweichungen die Denk-Gesetze relativieren, indem sie sie auf das Denken der Majorität, der Gesunden beschränken. Dagegen ist eben einzuwenden, daß die genannten Sätze nicht nur das Denken regeln, sondern auch das Gedachte, die Dinge. Sie sind kein psychotischer Zwang, ihre Seinsweise ist nicht das subjektive Erlebnis. Husserl zeigte, daß die logischen Gesetze zwar von der subjektiven Vernunft erfahren, erlebt werden, aber daß sie sowenig im Erleben aufgehen wie die Zahlen im Zählen. Die Zahl kommt im Erlebnis des Zählens vor, ist aber selbst nichts Psychisches. Wenn man sagt, die Zahlen haben ideale Geltung, so ist freilich die Seinsweise der Zahlen damit noch nicht ausreichend bestimmt. Die Vermutung, daß man auch anders denken könne, als es die vier Sätze bestimmen, die Vermutung, daß es eine Wahrheit gibt, für die diese unsere Logik nicht paßt, ist kein begründeter Zweifel, sondern eine leere, beliebige Äußerung. Aber vorausgreifend sei gesagt, daß die Sätze selbst nicht unter ihren eigenen Prinzipien formuliert sind. Von da aus führt der Weg allerdings nicht zur Relativierung des logischen Denkens, sondern zur Entdeckung des Widerspruchs im Sein der Dinge selbst. 2. Im alltäglichen Reden hält sich jeder an den Satz vom Widerspruch, aber er findet selten einen Grund, sich diesen Satz zu vergegenwärtigen oder gar darüber zu reflektieren. Der Satz gilt uns als selbstverständlich. Wo ist nun der Ort des durch diesen Satz verbotenen Widerspruchs – in Meinungen, also in Sätzen, oder im Bereich des Verhältnisses von Sätzen zu Sachen? Zwei Sätze, die nicht verträglich sind, heben sich auf; auch ohne daß der eine Satz im Vergleich mit der Sache als wahr, der andre als falsch erwiesen ist, steht fest, | daß beide zusammen nicht wahr sein können. Also Sätze können sich widersprechen. Gibt es aber auch einen Widerspruch in den Dingen? Der Satz vom Widerspruch gilt als reflektierende Formulierung einer Regel, die unser nicht reflektiertes Sprechen fraglos beherrscht; er ist also ein Satz der Reflexion. Es ist ein Satz, der irgendwann einmal zuerst formuliert wird, aber er betrifft nicht einen empirischen Sachverhalt, sondern einen Sachverhalt, der dem idealen Inhalt mathematischer Sätze vergleichbar ist. Dieser wirkliche Satz über eine ideelle Struktur ist wiederholbar, er betrifft nicht nur einen ideellen Sachverhalt, sondern ist kraft seiner Bedeutung selbst ein ideeller Satz. Es verhält sich damit ähnlich wie mit einem musika­ lischen Satz, einer Symphonie z. B. Diese ist ein Sinngebilde, das nicht nur in den Wiederholungen sich nicht verändert, sondern das auf Wiederholbarkeit angelegt ist. „Die Symphonie“ ist nur die fixierte Möglichkeit des wiederhol­ ten Aufgeführtwerdenkönnens. „Der Satz vom Widerspruch“ ist eine aus philosophischer Reflexion hervorgegangene Prägung einer Sinneinheit, die 231

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das Verhältnis von Sachen und Sagen regelt, und ähnlich verhält es sich mit den verwandten sog. Denkgesetzen. Der Satz vom Widerspruch macht in seiner Formulierung Gebrauch von der Identität. Diese Identität ist die eines Seienden. Der Satz selbst ist identisch, er bleibt derselbe in allen Wiederholungen. Ist diese Identität nur ein Fall der allgemeineren Identität eines Dinges? Diese Annahme ist naheliegend, aber sie würde, wie hier vorläufig angedeutet werden soll, in große Schwierigkeiten hineinführen. Der Satz vom Widerspruch hat einen prohibitiven Sinn, wie die aris­ totelische Formulierung zeigt. Die Motivation für dieses Verbot liegt in der Distanz des Sagens, Meinens, Denkens zu den vermeinten Dingen; es ist eine Verbindung von Vorstellungen möglich, die sich im Widerspruch befinden. Es widersprechen sich also nicht die Dinge selbst, der Satz ver­ bietet nicht den Dingen, sich widerspruchsvoll zu verhalten. Wir setzen vielmehr voraus, daß die Dinge schon durch ihr Wirklichsein sich nicht widersprechen können; wir setzen voraus, daß das, was wirklich ist, vorab schon möglich sein muß. | Alles Wirkliche ist möglich, aber nicht alles Mögliche ist wirklich. Das Möglichsein gilt uns als Minimalbedingung für das Wirklichsein; es bedarf noch eines Zusatzes, damit das Mögliche auch wirklich ist. Die Wirklichkeit halten wir für gediegen, sie explodiert uns nicht durch Widersprüche. Alle Motive und Gegenmotive scheinen schon zum Ausgleich gekommen zu sein, allein dadurch, daß die Sache wirklich ist. Das Problem eines Widerspruchs entsteht für uns bei der Erörterung der Möglichkeit der Dinge oder des Zugangs zu den Dingen. Zur Möglichkeit von Seiendem verhalten wir uns im Vorstellen. Dabei gilt es zu unterscheiden zwischen Phantasiegebilden als offenen und ungebundenen Möglichkeiten der Dinge und motivierten Möglichkeiten, beispielsweise bei der Antizipation eines zu erwartenden Vorgangs. Hier sind die Möglich­ keiten im Horizont der Zukunft vorgezeichnet, wir müssen aber davon noch unterscheiden das Verständnis von Möglichkeiten unseres eigenen Handelns. Durch das Vorstellen der Phantasie gewinnen wir den Blick für einen Möglichkeitsspielraum im ontologischen Sinne. Husserl hat diese Methode der Variation entwickelt. Hier geht es nicht darum, die motivierten Möglichkeiten durchzudenken, sondern im Umfingieren des Gegebenen den Spielraum auszudenken, in dem auch die erhaltenen Variationen noch als Möglichkeiten einbehalten sind. Der Widerspruch wird also angetroffen im Verhältnis des menschlichen Vorstellens zu den Dingen. Wir können uns in bezug auf dieses Verhältnis täuschen. Das Wirklichsein der Dinge ist zwar an sich, aber es ist auch auf ein subjektives Vorstellen bezogen – die Dinge erscheinen im subjektiven Vorstellen. Bei diesem „Erscheinen“ kann es zu Widersprüchen kommen. Der Widerspruch gründet im menschlichen Meinen von den Dingen. Das menschliche Meinen wird vor allem Sicheinlassen auf die Dinge bestimmt 232

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durch den Satz, daß demselben Ding dasselbe in derselben Weise nicht zugleich zukommen und nicht zukommen kann. Weil die Dinge dem subjektiven Meinen bloß erscheinen und das Vernehmen in einer Vielzahl von Subjekten liegt, ist der Satz vom Widerspruch auf dasselbe Ding begründet. Die Dinge sind an sich unwidersprechend, aber im Wahrheitsbzw. Unwahrheitsverhältnis des Menschen zu den Dingen kann ein Wider­ spruch auftreten. Was bedeutet das Erscheinen eines Dinges, das von einer Mehrzahl von Menschen als identisch vermeint ist? Das Er|scheinen wird meist von der Wahrnehmung her verstanden, doch liegt darin eine gewisse Einseitigkeit. Man spricht hier von Perspektivismus. Kein Mensch kann die Perspektive des andern im Hinblick auf dasselbe Wahrnehmungsding miterleben, aber die Perspektiven kommen überein im Hinblick auf dasselbe Ding. Das Ding vereinigt die Perspektiven auf sich, es ist das Identifikat der vielstrahligen Perspektivität. Daß Perspektiven bisweilen austauschbar sind, ist ein Motiv, das der Formulierung des identischen Dinges zugute kommt, ohne doch erforderlich zu sein. Unter den verschiedenen Perspektiven kann sich aber auch eine Perspektive absolut zu setzen versuchen, und dann können die Perspektiven in Widerspruch zueinander geraten. Die Perspektivität scheint dabei ganz im Subjekt zu liegen, die Sache gilt als dem Widerspruch enthoben. Die Dinge sind widerspruchsfrei. Aber das „Erscheinen der Dinge“ bedarf noch der Klärung. Ein Ding erscheint in einer Vielzahl von Eigenschaften. Was uns erscheint, ist gar nicht das Ding als solches, sondern seine Eigenschaften, die wir auf ein Sub­ strat beziehen. Das Ding ist Substanz, es zeigt sich in seinen Akzidentien. Indem es die Vielzahl seiner Erscheinungsweisen auf sich zurückbezieht, hält es sich als das eine verborgen. Dem Insichverhaltensein des Dinges entspricht das Sichäußern des Dinges in seinen Eigenschaften. Ferner gilt das Ding als beharrend im Wechsel seiner Zustände, es ist das Beharrende im Wechsel. Es ist eines, indem es vieles ist, es ist verborgen, indem es erscheint, beharrend, indem es sich verändert. So scheint das Ding überhaupt ‒ der existente Widerspruch zu sein, und dabei ist es für uns die formale Anzeige für Identität überhaupt; wir verdeutlichen uns das „A gleich A“ am Ding. Das Ding ist in stetigem Übergang begriffen. Es existiert gar nicht als insichruhende Einheit, sondern nur in der Vielzahl und Vielfalt menschlicher Perspektiven. Die Perspektivität des Dinges ist nur dadurch möglich, daß das Ding nicht eine unbedingte Einheit ist. So ist das Ding sich an sich widersprechend. „Alle Dinge sind an sich selbst widersprechend“:2 Hegel hat diesen Gedanken zu dem Leitgedanken ge|macht, der auf das Absolute hinführt. Aber die Dinge in der Welt haben nicht nur jene widersprüchliche Struktur, sie sind auch vielfältig bestimmt durch Gegensätze. Kein Ding ist allein, jedes grenzt an andere Dinge. Als durch die Grenze bestimmt ist es zugleich abgegrenzt gegen die andern und verbunden mit ihnen. Gewöhn­ 233

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lich versteht man die Grenze nur als Trennung, erst die Reflexion zeigt, daß sie ebensosehr verbindet wie scheidet. Die Grenze ist auch ein Übergang. Hier liegt der Ansatz für die Betrachtung der Gegensätze. Die Gegensätze sind nicht gleich strukturiert. Die Farben z. B. lassen die Kontur der Dinge erkennen und heben sie voneinander ab, aber innerhalb der Farbenskala gibt es streng genommen keine Gegensätze, nur Übergänge. Das Licht, das uns die Dinge erst sichtbar macht, hat den Gegensatz von hell und dunkel im Gefolge, und ähnlich, d. h. mit unendlich vielen Zwischenstufen, sind die Gegensätze von schwer und leicht, warm und kalt usf. strukturiert. Dagegen ist „Licht und Finsternis“ ein härterer Gegensatz, der Gegensatz zweier Prinzipien. Hiermit ist vergleichbar der Gegensatz von männlich und weiblich, links und rechts usw.; diese Gegensätze sind schon auf der Gegensatztafel der Pythagoreer aufgeführt. Der härteste Gegensatz aber, der ohne jeden Übergang besteht, ist der von Leben und Tod. Wir verstehen die Dinge als in einem Polaritätsgefüge stehend, zwischen polaren Gegensätzen ausgespannt und dadurch bestimmt. Solche ontischen Gegensätze schließen sich nicht im Widerspruch aus. Sie durchwalten das Seiende, sie gehören zum Gesamtzusammenhang aller wirklichen Dinge. Es ist darauf zu achten, daß das Problem des Satzes vom Widerspruch nicht mit dem Spiel von kosmischen Gegensätzen verwechselt wird.

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| 3. Die Dimension, in der die Dinge von sich her erscheinen, und das menschliche Meinen, das sich darauf bezieht, lassen Wahrheit, aber auch Unwahrheit erst zu. Auch die Möglichkeit der beabsichtigten Unwahrheit, der Lüge ist in dem genannten Verhältnis von Dingerscheinung und menschlichem Vernehmen begründet. Die Lüge ist überhaupt nur möglich, weil das Sichzeigen der Dinge ein Moment der Unsicherheit bei sich führt. Die Täuschung kann nur entdeckt und eliminiert werden durch neue Erfahrung. Dabei gilt dann als sicher, daß die Dinge selbst aus der Sphäre des Widerspruchs entrückt sind. Aber das Gefüge des Dinges läßt sich doch offensichtlich nur durch das Zusammenbringen sich gegenseitig ausschließender Bestimmungen denken, das Ding bildet ein Spannungsgefüge von Gegensätzen, von Eins­ sein und Vielessein, von Beharren und Wechseln. Die Dinge sind aber auch betroffen von Gegensätzen, die durch die Gesamtheit alles Wirklichen hindurchreichen. Wir meinen damit das Verhältnis von Element und Einzel­ ding! Die einzelnen Dinge haben ihre Raumgestalt, sie sind dadurch von anderen Dingen abgegrenzt, bilden ein räumliches und zeitliches Quantum. Aber die Dinge liegen nicht nur nebeneinander, sie schließen sich auch ein, zunächst gefäßhaft, dann bilden sie größere Dingverbände, die in noch größere aufgenommen sind (die Erde, Milchstraßensystem etc.) ‒ dabei 234

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fragt sich, ob diese Erweiterung immer am Leitfaden der Dinglichkeit bleibt. Außerdem aber geht durch die Einzeldinge, durch diesen Stein, diesen Sandhaufen, jenes Haus als kontinuierlicher Zusammenhang das Erdhafte hindurch, das wir ein Element nennen. Die damit bezeichnete Kontinuität ist allerdings schwer auszudenken, denn die Richtung unseres Denkens geht immer auf die Dinge, auf die Vereinzelung zu. Der Erdstoff entzieht sich uns, gerade weil er in vielerlei und vielgearteten Dingen erscheint, in uns selbst so gut wie in jenem Stein. Es ist Sache der Philosophie, in umgekehrter Richtung des gewohnten Denkinteresses zu denken. So setzt die antike Naturphilosophie an bei den hapla sōmata, bei Erde, Wasser, Luft und Feuer. Diese einfachen Be|reiche unterscheiden sich durch ein Aussehen, aber dies ist ein Aussehen anderer Art als das der Einzeldinge; die Einzeldinge stellen meist das Element nicht rein dar, sondern sind Mischungen aus mehreren Elementen. Die vier Elemente bezeichnen die phänomenalen Bereiche des festen Landes, des Meeres, des Luftmeeres und des Feuerscheins bzw. des Lichtscheins der Sonne und der andern Gestirne, sowie des Blitzes (Heraklit). Damit ist die erfahrbare, unmittelbare Welt des Menschen umschrieben. Mit den Verhältnissen der Elemente beschäftigte sich schon der Mythos. Die Philosophie stellt sich die Aufgabe, die Vierzahl der Elemente zurückzudenken in ihre Genesis, in ein Urelement, das eines der vier sein kann oder auch ein anderes, von den vieren verschiedenes. Wesentlich ist dabei die Vorstellung, daß die Elemente ihre natürlichen Örter haben, in denen sie sich vornehmlich ausbreiten. Später wird daraus die Gegensatzstruktur der Elemente entwickelt; die vier Elemente ergeben sich aus den Kombinationsmöglichkeiten der Gegensätze von Schwerem und Leichtem, Kaltem und Warmem. In den vier Elementen ist alles eingebettet, was als Einzelding ist ‒ die Dinge heben sich als Mischungen und Einzelheiten aus den Elementen heraus. Die Dinge können aber, unbeschadet ihrer Zusammensetzung, den Platz tauschen. Daraus ersehen wir, daß es nicht nur einen figuralen Raum gibt, sondern auch einen Ortsraum, in dem der Platztausch vor sich geht. Die Dinge sind daher auch eingegrenzt in einem durchgängigen Raum, sie sind diskrete Einzeichnungen in demselben. Dasselbe gilt für die Weilen der Dinge: sie sind einbehalten als Eingrenzungen in der einen Zeit. Der eine Raum geht dem mannigfach gegliederten Figuralraum vor, so wie die eine Zeit die Mannigfalt der temporalen Existenz einbegreift. Raum und Zeit aber gehen noch ursprünglicher den Einzeldingen vorauf als die Elemente, denn auch diese sind noch im Raum und in der Zeit. Die kosmologische Priorität von Raum und Zeit einerseits, von Elementen andererseits, vor dem Sein der Einzeldinge ist das Problem der ältesten abendländischen Philosophie. Später verschiebt sich das Problem, das Einzelding tritt in den Vordergrund. 235

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Das Einzelding steht aber noch in einem ganz anderen Gegensatz. Es hat nicht nur ein individuelles, sondern auch ein | typisches Aussehen, wodurch es anderen Dingen ähnlich ist. Typische Bestimmtheiten der Dinge sind die Arten und Gattungen. Das einzelne Ding teilt sein Aussehen mit vielen anderen Dingen, es „partizipiert“ an dem allgemeinen Aussehen. Ein solches „typisches“ Aussehen gibt es daher in weit geringerer Anzahl als Einzeldinge. Wenn wir angeben sollen, was ein Ding ist, dann nennen wir seine Gattungsund Artbestimmtheit. Wenn wir auf das Was-sein der Dinge achten, so werden wir aus dem Umgebungszusammenhang, in dem das Ding steht, weggeführt zu einem Wesenszusammenhang. Die Betrachtung, die sich am Was-sein orientiert, führt hin zur „Idee“. Das Ding ist aber auch Substanz und Träger von Eigenschaften, es steht in Beziehungen usf. Die Betrachtungsart, die herausstellt, in welche Dingstruktur das Einzelne gehört, ist kategorial und von der zuvor genann­ ten Betrachtungsart zu unterscheiden. Die kategoriale Betrachtungsart ist auch verschieden von der Betrachtung der elementaren Grundlage und der Betrachtung der universellen Zusammenhänge von Raum und Zeit ‒ wenn auch bei Aristoteles gewisse Momente von Raum und Zeit als kategoriale Bestimmungen genannt werden. Die naive Ansicht, daß das Ding selbst von Widerspruch frei ist, ist damit erschüttert. Der „Satz vom Widerspruch“ bezieht sich nicht nur auf das Denken als solches, er ist nicht nur ein logischer oder gar psychologischer Satz, der ein objektives Denkgesetz oder eine im Denken einzuhaltende Vorschrift ausdrückte. Wenn wir „gar nicht anders denken könnten“, so wenig wie ein Körper im Schwerefeld der Erde aufhören kann, schwer zu sein, dann wäre eine Formulierung des Satzes vom Widerspruch gar nicht möglich; das schlechthin Selbstverständliche wird von keiner Verwunderung erreicht, es kann nicht denkend gestellt werden. Der Satz ist aber auch nicht das bloße Verbot einer Regelwidrigkeit des Denkens, es ist kein „logischer“ Satz in diesem Sinne; wir bezeichnen ihn als einen ontologischen Satz. Damit ist mehr gesagt, als daß dieser Satz auch noch etwas über die Dinge ausmacht. Wenn wir etwas aussagen über die Seinsverfassung des Dinges, dann steht das Seiende im Blick, wir halten uns aber auf in der Dimension der Sprache. Wir denken nicht ausdrücklich das Verhältnis des Dinges zum Sagen, dieses Verhältnis wird | vorausgesetzt. Der Satz vom Widerspruch nun sagt nicht nur etwas aus über die Dinge, und auch nicht nur etwas über das Denken, sondern er thematisiert gerade das Verhältnis von Ding und Sagen bzw. Denken. Daher ist er ein onto-logischer Satz. In ihm ist die Sagbarkeit des Seienden und die Seinsbezogenheit des Denkens gleichermaßen betroffen. Onto-logisch ist ein Satz, der den Zusammenhang von Sein und logos, die Wechselbezogenheit von „on“ und „legein“ betrifft, der das thematisiert, was wir sonst in allen sachlichen Aussagen unbedenklich 236

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verbrauchen, die Voraussetzung nämlich, daß das Seiende säglich, das Sagen aber auf Dinge angelegt ist. Wird nur die eine Richtung, die Sprachlichkeit des Dinges ausgedrückt, so ist die Betrachtung „ontologisch“ im gewöhnli­ chen Sinn; wird dagegen die Seinsbezogenheit des Sagens untersucht, so ist die Betrachtung „transzendentallogisch“ im Sinne Kants. Der Satz vom Widerspruch aber ist der Ausdruck für das Verhältnis aller endlichen Dinge, gesagt werden zu können, und für die menschliche Rede, dingerschließend zu sein. Bei der Erfahrung umweltlich begegnender Dinge und Dingverhältnisse bewegen wir uns immer schon in Bekanntheitshorizonten; die neue Erfah­ rung von Dingzusammenhängen ist zugleich die Erfahrung eines Wissen­ derwerdens; wir beziehen uns auf die erworbene Kenntnis mit dem Vorsatz, darauf aufzubauen. Wenn wir aber analytisch vorgehen, die Ersterfahrungen aufzuspüren versuchen, dann stoßen wir auf solche Vorbekanntheiten, die sich nicht auf erste Erfahrungen zurückführen lassen, die wir schon voraussetzen müssen, um überhaupt erfahren zu können. Dazu gehört das Raum- und Zeitfeld, in dem wir die Dinge erfahren, das aber Vorausset­ zung aller Erfahrung ist. Zu den Vorkenntnissen aller „aposteriorischen“ Erkenntnisse gehört außerdem das „A priori“ der Kategorien als reiner Denkbestimmungen und der aus diesen Kategorien abgeleiteten sinnlichen Schemata. Kant stellt sich die Aufgabe, eine Inventur des menschlichen Erkenntnisvermögens vorzunehmen, in der diese Vorkenntnisse in einem außerordentlich schwierigen Gedankengang ausdrücklich gemacht werden. „A priori“ ist auch die sogenannte formale Logik. Wir beziehen uns hier auf Husserl. Husserl unterscheidet apriorische Erkenntnisse sachhaltiger Art, z. B. der Extensionalität, die | in der Geometrie entwickelt werden, und ähnlich apriorische Vorstellungen für den Bereich des Leblosen, Lebendigen etc. Die Wissenschaften, die diese Aprioritäten fixieren, sind die regionalen Ontologien. Hier werden also die Strukturen bestimmter Dingbereiche untersucht. Neben diesen sachhaltigen, regionalen Ontologien bedürfen wir aber, Husserl zufolge, einer formalen Ontologie, einer Lehre vom Etwas überhaupt, als der Leerstelle für jedes mögliche Ding; dieses Etwas ist „eins“, und wenn wir die Reihe der Eins durchlaufen, so erhalten wir eine arithmetische Logik und logische Arithmetik. Hier gibt es nur ein Verhältnis der Implikation und Konsequenz, und hier ist für Husserl der Satz vom Widerspruch zu Hause. In allen sachhaltigen Verhältnissen müssen als Minimalbedingung aller Wahrheit die formalen Verhältnisse befolgt sein, welche in der formalen Ontologie zusammengefaßt werden. Der Satz vom Widerspruch ist hier zwar auch ein ontologischer Grundsatz, aber ontologisch im Sinne formaler Konsequenzverhältnisse. Es handelt sich also nicht um das Problem einer onto-logischen Bedeutung des Satzes vom Widerspruch. 237

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Onto-logisch ist der Satz vom Widerspruch als Bestimmung des Ver­ hältnisses von Sagen und Sein der endlichen Dinge. Der Satz gilt nur dann, wenn die Struktur des Dinges feststeht, mögen die einzelnen Dinge sich auch mannigfach verändern. Würden sich aber die Dinge einmal so, ein ander­ mal unter gleichen Bedingungen anders verhalten, wären sie ohne einen festen Verhaltensstil, dann wären sie nicht in nichtwidersprechenden Sätzen aussagbar. Die aristotelische Formulierung des Satzes vom Widerspruch macht daher zur Voraussetzung, daß die Dinge ein beständiges Gepräge haben. Das Prinzip, das wir den Satz vom Widerspruch nennen, begründet die Beständigkeit der Dinge und damit ihre Sagbarkeit; daher nennt es Aristoteles die bebaiotatē archē.

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| 4. Der Satz vom Widerspruch bezieht sich auf das Verhältnis von Spra­ che und Seiendem. Aber wir kennen eine Fülle möglicher Verhältnisse zwischen den Dingen, z. B. das Benachbartsein von Dingen, das von unserm Vorstellen aufgefaßt wird. Ist es möglich, die Sagbarkeit überhaupt als eine subjektive Beziehung zu Sachverhalten zu erklären? Der Gegensatz von Subjekt und Objekt ist doch selbst durch Sagbarkeit bestimmt. Die Sagbar­ keit kann auch nicht eingeschränkt werden auf ein Verhältnis zwischen Seiendem und menschlicher Rede. Es gibt Sagbares, das nicht die Struktur des endlichen Dinges hat. Auch die Elemente sind sagbar, wenngleich sie sich der Rede in gewisser Weise entziehen und nicht so leicht sagbar sind wie die einzelnen Dinge. Die Grundbedingung alles Sagens besteht darin, daß die Dinge in ihrem Benehmensstil stehen. Sie mögen entstehen und vergehen, sie mögen den Ort wechseln und sich verändern; bei all dem wird eine Ständigkeit im Stil erfordert, d. i.: eine Ständigkeit in der Zeit. Der Satz vom Widerspruch drückt einen Zusammenhang aus von Sein, Zeit und Sagbarkeit der endlichen Dinge. Zwar ist, streng genommen, jedes Ereignis einmalig, auch die Naturprozesse, die einen Stil zyklischer Wiederholung zeigen; daß sich „etwas wiederholt“ besagt nur, daß sich zwei Vorgänge ähnlich sind. Aber das schlechthin Einmalige wäre ein „ineffabile“, die sinnliche Fülle eines „Dieses“, das „hier und jetzt“ das „Ich“ angeht, ist sprachlich nicht anders als in den vier genannten Bestimmungen zu fassen; die „Wahrheit“ des Einmalig-Einzelnen ist „das Allgemeine“ (Hegel). Auch bei den absurdesten Wandlungen, wie sie die animistische Vor­ stellungswelt, der Mythos, das Märchen kennen, muß eine Selbigkeit des Substrats angesetzt werden, sonst wäre jede Sagbarkeit vernichtet. Geht die Wandelbarkeit ins Extrem, so löst sich die Sagbarkeit auf. Für Aris­ toteles ist das als ständig angesetzte Grundverhältnis das „Zukommen“. Ständigkeit bedeutet nicht die Gleichartigkeit der Fälle, sondern eine blei­ 238

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bende Grundstruktur. Diese Struktur, die Seinsver|fassung der einzelnen Dinge, wird zur Sagbarkeit in Beziehung gesetzt. Ein Verstoßen gegen diese Grundvoraussetzung zieht den Widerspruch nach sich; d. h. also auch das Nichtständigsein des Seienden selbst. Jede Regel drückt einen bestimmten Verhaltensstil der Dinge aus, eine Art des Bleibens. Der Zusammenhang von Sein und Ständigkeit wurde bedeutsam in der Geschichte der abendländischen Metaphysik; hier wird das Ständige grundsätzlich höher gestellt als das Flüchtige, das Ständige gilt als in höherem Maße seiend im Vergleich zum Wandelbaren. Zunächst werden so die erscheinenden Dinge nach ihrem Ausmaß von „Bestand“, von Bestehen bewertet; das Längerdauernde ist höheren Ranges als das Kür­ zerdauernde. Dann wird dasjenige, was durch absolute Ständigkeit, durch „Immersein“ bestimmt ist, also z. B. Platons „Idee“, absolut erhoben über das Sinnliche, das durch die Ohnmacht charakterisiert ist, sich in der Zeit zu halten. Dieser Maßstab muß als willkürlich angenommen erscheinen. Vorgegeben ist doch eine Welt von sich wandelnden Dingen. Wir wissen weder, ob die Welt ungeworden und unvergänglich ist, noch können wir uns von Anfang und Ende derselben eine begründete Vorstellung machen. In der Welt gibt es dann Dinge, die hinsichtlich der Ständigkeit voneinander abweichen. Beim Sein der Dinge wird das Inderzeitsein mitverstanden, und zwar in der Weise, daß alle Dinge als durch die Zeit erschöpfbar gelten. Es gibt kein Ding in der Welt, das phänomenal gegeben ist und die ganze Zeit aus- und durchhielte, das absolut beständig wäre. Allerdings kann man sich vorstellen, daß die Materie der Welt die daraus geformten einzelnen Dinge an Beständigkeit weit übertrifft. Dann wäre ein Ding, je höher es organisiert ist, umso fragiler. Am kurzlebigsten wäre also der durch den „Geist“ ausgezeichnete Mensch. Diese Auffassung heißt „Materialismus“. Dagegen werden schon in der religiösen Welt, im Mythos die Götter, denen ein höheres Bewußtsein zugeschrieben wird als dem Menschen, als bleibend angesehen. Radikaler noch ist die Philosophie Platons, welche die Ständigkeit des Anblicks der Dinge als Ideen bezeichnet und sie absolut setzt. Damit ist die Position des Idealismus bezeichnet. Idealismus und Materialismus kommen jedenfalls darin überein, daß sie die Ständigkeit als Ausweis gültigen Seins anerkennen. Aber könnte man sich nicht auch denken, daß noch | ständiger als Stoff oder Idee die Zeit selbst wäre, da doch in ihr allererst der Unterschied der bleibenden Substanz und der veränderlichen Akzidentien erkannt wurde? Bevor wir die aristotelische Fassung des Satzes vom Widerspruch interpretieren, müssen wir den Begriff erörtern, durch den Aristoteles die Bedeutung des Satzes vom Widerspruch bezeichnet: den Begriff der archē. „Archē“ ist für Aristoteles „das erste, wovonher etwas ist, wird oder erkannt wird“.3 Zwischen Sein und Werden besteht ein Gegensatz. „Sein“ kann 239

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zwar das Erscheinen, Entstehen und Vergehen umfassen, wird aber sonst als Gegensatz zu diesen begriffen. Das, was „entsteht“, „ist“ nicht, denn „ist“ heißt „gegenwärtig bestehen“. Aber das, was ist, ist oft Resultat eines Prozesses (wenn auch Werdensprozesse in der Gegenwart weiterlaufen können). Werden ist dann der Weg, der zum Bestehen, zum Sein hingeführt hat. Aber auch das, was unverändert in der Zeit steht, was nicht gerade geworden ist, altert, es geht durch die Zeit hindurch und erfährt die Zeit nur nicht als korrumpierend. Dagegen denken wir auch ein unveränderliches Seiendes als über alle Zeit erhaben, ein „nunc stans“, das nicht gerade eben ist, sondern überhaupt nicht in die Zeit fällt. Wir unterscheiden das „ist“ demnach in dreifacher Beziehung vom „wird“: als Resultat eines Werdens, als Nichtkorrumpiertwerden und als überzeitliches Sein im Sinne der Geltung mathematischer Sachverhalte (zu unterscheiden von der einmal menschlich formulierten Wahrheit, die durchaus in der Zeit ist und altert). In einem radikalen Sinne „ist“ das eon des Parmenides; es hat kein Vorher und kein Nachher, kein Entstehen und kein Vergehen, aber es ist doch grundsätzlich in dem sēma des nyn zu denken. Im Werden sind Sein und Bewegung zusammengedacht. „Werden“ ist z. B. die Entwicklung der Lebewesen, überhaupt Generationsprozesse, sowie die Herstellung durch menschliche Arbeit. Der damit bezeichnete Gegensatz von „gewachsen“ und „verfertigt“, von physei und technēi onta, wird aber auch auf das Ganze übertragen und dabei als phänomenaler Unterschied aufgehoben: die physis wird selbst als das Werk einer kosmogonischen technē zu verstehen gesucht. Aber die hervorbringende Macht ist dann doch wieder die physis; der Begriff, der durch die technē interpretiert werden soll, springt also nur eine Stufe zurück. | Die Dinge werden verstanden, wenn sie als Resultate zurückbezogen werden auf das Hervorbringende, wenn sie als das Gewordene aufgewiesen werden, das die Gewordenheit phänomenal an sich ausdrückt und damit sein Werden zurückweist. Mit dem Begriff des Werdens ist die gesamte Natur umschrieben; dagegen die mathematischen Verhältnisse können nicht als „geworden“ aufgefaßt werden. Das Erkennen ist die Mischung des Bezugs, woher etwas ist und woher etwas wird. Etwas ist entweder ungeworden (ewig), oder es ist durch sein Werden erhellt. Das Seiende, das sich als Gewordenes zeigt, ist bezogen auf den vorstellenden Menschen, weil der Mensch das Erscheinen vernehmen kann. Das Erkennen ist ein Werden von eigentümlicher Art, das Werden der Wahrheit eines Dinges, das Werden eines Vernehmens des Erscheinens der Dinge im Menschen. Wir unterscheiden also von der Gegenwart und dem zeithaften Prozeß der Dinge die besondere Genesis des Entstehens von Wahrheit über seiende Dinge. Das Erkanntwerden ist ein „Werden“ in bezug auf das, was ist (die Idee) und auf das, was wird (die Natur- und Kunstdinge) ‒ auf das dem Werden Enthobene und das im Werden Befangene. 240

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Die archē ist das erste, von woher etwas ist, wird oder erkannt wird. Die Dinge werden zurückbezogen auf den Anfang des Seins, des Werdens und des Erkanntwerdens; der Gedanke der archē drückt aus, daß das Seiende grundsätzlich abkünftig ist. Was ist und was wird, wird im Erkennen der Gründe erkannt; daß das Erkennen hier nochmals gesondert auftritt, ist als Hinweis auf die Selbstbezogenheit des Erkennens, auf das Erkennen des Erkennens auszulegen. Neben der dreifachen archē nennt Aristoteles die Vierfalt der Ursachen (aitia). Alle Dinge, die etwas sind, bestehen aus einem Stoff. Alle Dinge, die etwas sind und aus etwas bestehen, sind unterwegs zu einem Ziel, das letztlich auf das höchste Ziel hinführt, auf den unbewegten Beweger; und alle Dinge sind, als Kunstdinge aufgefaßt, durch ein Woher der Bewegung bestimmt. Die Scholastik bezeichnete die vierfache Ursache als causa forma­ lis, causa materialis, causa finalis und causa efficiens. | 5. Aristoteles unterscheidet nicht drei Arten von archai, sondern formuliert eine dreifache archē. Er reiht Sein, Werden und Erkennen nicht nebenei­ nander auf; denn das Erkanntwerden ist bereits im Werden, das Werden im Sein impliziert. Das „von woher“ bezeichnet eine Abkünftigkeit, die in einer Seins-, Werdens- und Erkenntnisordnung liegt. Die Dingstruktur der Abkünftigkeit ist dabei fundierend für das Erkennen; der Einblick in das Gründungsgefüge ist überhaupt die Weise, wie wir ein Ding begreifen. Wo ein Ding auf seine archē zurückbezogen wird, ist das Erkenntnisverhältnis des Menschen bereits vorausgesetzt. Die Dinge unter den Bedingungen ihrer Seins- und Werdensgründe zu sehen bedeutet, sie schon unter Erkenntnis­ gründen entdeckt zu haben. Das Zeitverhältnis des Erkennens und das Inderzeitsein der Dinge und das Sein der Dinge überhaupt stehen in einer Gesamtstruktur von Sein, Zeit und Wahrheit; diese Gesamtstruktur wird von Aristoteles als archē bezeichnet. Der Satz vom Widerspruch wird für Aristoteles wichtig, weil durch ihn das ontologische Verhältnis von Dingsein und Sagbarkeit bestimmt wird. Das Sagen von Seiendem, von Einzeldingen ist überhaupt nur möglich durch die seinserhellende Kraft der Sprache und durch die Sprachlichkeit des Seienden als solchen. Die aristotelische Formulierung des Satzes vom Widerspruch ist ein Spruch über das Sprechen. Die Gliederung des aition dagegen, die vierfache Ursache geschieht nicht in bezug auf Sein, Zeit und Wahrheit, sondern im Hinblick auf das Ding selbst. Eine „Form“ ist einem „Stoff“ aufgeprägt; führend ist dabei das Modell der technē. Der Töpfer, der einen Krug formt, muß einen Vorblick auf das Muster haben und einen geeigneten Naturstoff aufnehmen. Das eidos (das Muster) wird dann zur Gestalt des Kruges, der Krug ist ein synolon aus Stoff und Form. Der Töpfer ist „das, wovon her“ die Zusammenfügung erfolgt, 241

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die causa efficiens. Aber der Vorblick des Töpfers auf die Sinngestalt „Krug“ ist zugleich der Hinblick auf ein Ziel (telos), auf ein Ende der Tätigkeit. Die Unterscheidung der vier aitia läßt sich an jedem technisch | hergestellten Ding aufzeigen, wird aber von Aristoteles auf alles Seiende ausgedehnt, also auch auf Naturdinge. Z. B. Organismen bestehen aus einem Stoff und entwickeln sich auf ein Ziel hin, das sie allerdings in sich haben. Etwas besteht aus etwas, strebt zu etwas hin und kommt von irgendwo her. Das Ding ist überhaupt das Gefügeganze von Stoff und Form, wird aber zugleich in eine Bewegung hineingestellt. Alle Bewegungen in den Dingen zielen letztlich ab auf ein letztes und höchstes Umwillen, nämlich das proton kinoun. Dieses bewegt nicht als causa efficiens, sondern teleologisch, „als ein Geliebtes“. Die causa formalis, die causa materialis, die causa finalis und die causa efficiens sind nicht „Arten“ der Kausalität, sondern Momente des Ursäch­ lichen, ineinander verschränkt in der Bewegtheit der endlichen Dinge. Das fertige Ding wird zurückbezogen auf eine „ontologische“ Bewegung, welche alle endlichen Bewegungen trägt; es gilt als Resultat einer Zusam­ menfügung. Diese Zusammenfügung wird wieder mit der Kreisbewegung des Himmels zusammengedacht. Aristoteles entwirft die Vierfalt der aitia, um daraus die erste Problemgeschichte der abendländischen Philosophie zu schreiben. Alle früheren Philosophien waren demzufolge einseitig, sie haben nur einen oder zwei Gründe genannt, die andern übersehen. Es wurde z. B. das Prinzip der hyle überbetont, oder das des nous. Erst die aristotelische Philosophie erscheint dann als die Vereinigung aller Motive, als Integral aller Teilwahrheiten. Die aristotelische Philosophie ist kein System im Hegelschen Sinne, aber doch ein Systemgefüge als universelle Topologie aller philosophischen Gründe. Die aristotelische Formulierung des Satzes vom Widerspruch, auf die alle späteren Formulierungen mehr oder weniger zurückbezogen sind, steht im vierten Buch der Metaphysik. Bereits im ersten Satz dieses Buches wird „das Seiende“ als ein Gefüge gekennzeichnet, bestehend aus einem Träger, dem Bestimmungen „zukommen“. Das Zukommen ist hier nicht als ein Verhältnis eines Dinges zu anderen Dingen gemeint, sondern als Verhältnis des Dinges zu sich, zu seinen Prädikaten oder Attributen. Dieses Zukommen aber kann gesagt werden, die Dingstruktur kann sich spiegeln in dem Sprechen, das sie in Worte faßt. Dabei scheidet sich ein Sagen, das zutrifft, von | einem Sagen, das das Seiende ungehörig oder falsch aussagt. Die Struktur von Zugrundeliegen und Zukommen ist dabei die Voraussetzung für wahres und für falsches Sagen. Falschheit ist überhaupt erst möglich gemacht durch die Gefügestruktur des Bestimmtseins von Seiendem. Ein falsches Sagen kann auf einem Irrtum des Sagenden beruhen, kann aber auch absichtliche Täuschung eines anderen sein. Die Lüge gründet in der 242

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menschlichen Vertrautheit mit Wahrheit und Falschheit; nur infolge dieser Vertrautheit kann eine Lüge glaubhaft werden und Erfolg haben. Der Bau eines Dinges ist also nach Aristoteles ein Verhältnis von Träger und Bestimmungen. Die Bestimmtheit geschieht durch Attribute, durch das, was eine Sache ist, durch die Art, wie sie ist, wie sie beschaffen ist, ferner im Verhältnis zu anderen Dingen, durch Orts- und Zeitbestimmung, durch Bewegtheit (welche das Ruhen einbegreift). Dieses Zukommen ist als ontischer Sachverhalt nicht nur bestehend, sondern immer auch sagbar; das sprachliche Bestimmen ist ein Verhältnis zu an sich bestimmten Sach­ verhalten. Im zweiten Kapitel des Buches meldet sich bereits das Problem des Verhältnisses von Sein und Sagen: to de on legetai men pollachōs.4 Zugleich spielt das Verhältnis von „eins und vieles“ eine Rolle. Im dritten Kapitel wird das Verhältnis des Wissens zu den Axiomen behandelt, wobei die Mathema­ tik zur Analogie wird. Der Philosoph muß nicht nur das Seiende als Seiendes denken, sondern nach Gründen suchen, auf die das Seiende zurückbezogen wird. In diesem Zusammenhang ist von den sichersten Gründen (bebaiotatai archai)5 die Rede. „Sicher“ hat hier nicht die Bedeutung von „gewiß“. Die Festigkeit der Sache wird nicht erreicht durch das Nicht-getäuscht-werdenkönnen, sondern, nach Aristoteles, umgekehrt. Festigkeit hat dann den Sinn von Ständigkeit, zeitlicher Beständigkeit, Unerschütterlichkeit. „Am festesten ist der Grund von allem, über den man nicht getäuscht werden kann“.6 Aber Aristoteles fällt doch hier selbst in einen Widerspruch, wenn er weiter unten von den Herakliteern sagt, daß sie eben diesen festesten Grund, das principium contradictionis, nicht anerkannten. Gälte jener Satz streng, dann könnte es ja gar keine Leugner des principium contradictionis geben. Andererseits muß man zugeben, daß nur weil es Leugner dieses Prinzips gibt, dieses Prinzip eigens formuliert werden | kann und muß; das Nichtgetäuschtwerdenkönnen gilt dann nicht unbedingt. Aristoteles sagt nun, daß es zwar ein Sagen gebe, das so tut, als ob der Satz vom Widerspruch nicht gelte, daß aber dieses Sagen nicht geglaubt werden könne. Er unterscheidet das legein vom hypolambanein. Widersprüchliches ist zwar sagbar, aber nicht glaubhaft. Aristoteles widerlegt damit die Ansicht, daß die Dinge sich völlig zusammenhanglos und chaotisch verhielten. Der Bereich fälschlichen Sagens ist auf die Lüge über Sachverhalte beschränkt; eine Lüge über die Strukturverfassung des Seienden dagegen würde die Möglichkeit jedes Gesprächs zerstören; hier ist deshalb ein Getäuschtwer­ den nicht möglich. Die Herakliteer sagen zwar nicht etwas, was sie selbst nicht glauben, aber sie sprechen etwas aus, was sie selbst nicht glauben können. Denn wäre es glaubhaft, dann würde jedes Gespräch mit anderen, ja sogar jede Selbstverständigung aufhören. Man kann uns über den Satz wohl täuschen wollen, aber die Täuschenden sind dann über ihr eigenes Sagen im Irrtum. Sie wissen nicht, was sie tun, sie fallen in eine sprachlose, 243

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untermenschliche Seinsart, etwa der Pflanze, zurück. Die Herakliteer sagen nur solange „etwas“, als wir meinen, daß sie etwas sagen. In Wahrheit bleibt ihnen nur die Alternative des Schweigens oder der Sinnlosigkeit. Aristoteles sagt, die bebaiotatē archē sei keine hypothesis (1005b 16): sie ist keine Voraussetzung, weil sie die unbedingteste Voraussetzung ist und nicht nur eine willkürliche Annahme. Das Verstehen des strukturierten Dinggefüges, der Boden, auf dem alles Seiende und alles Sagen sich ausbrei­ tet, ist mehr als alle Voraussetzungen ‒ der Satz aller Sätze, der Ursatz, der die Sagbarkeit des Seienden grundsätzlich setzt. Das Seiende ist dann bestimmtes, in sich gefügtes, umrissenes Einzelding. „Es ist unmöglich, daß dieselbe Bestimmung demselben Ding zugleich und in derselben Hinsicht (und was sonst noch hinzugefügt werden muß in bezug auf die logischen Schwierigkeiten, gelte als hinzugefügt) zukomme und nicht zukomme“.7

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| 6. Der Satz vom Widerspruch hat innerhalb der vier großen Grundsätze einen besonderen Platz. Es gibt freilich auch eine Auffassung, derzufolge der Satz vom Widerspruch nur die negative Fassung des Satzes der Identität sei; in der Tat macht die Formulierung des Satzes vom Widerspruch Gebrauch von der Identität. Andererseits läßt sich aber der Satz der Identität nicht ausdrücken, ohne von der Ungleichheit, der Unterschiedenheit Gebrauch zu machen ‒ die nachher wiederum negiert wird. Die Identität wird also nicht von einem stehenden oder insichruhenden Sein her konzipiert, sie wird vielmehr von der Reflexion, dem Sichaufsichbeziehen, also von einer Art Bewegung des Dinges her gedacht. Hegel hat nicht nur den Satz der Identität, sondern auch die andern drei Sätze als Reflexionsbestimmungen entwickelt; daß das Identische als Zweiheit, in der Unterscheidung gedacht wird, wird von Hegel dort als Selbstunterscheidung des Identischen interpretiert. Der Satz vom Widerspruch hebt sich aus dem Zusammenhang der andern Grundsätze dadurch heraus, daß er als onto-logischer Satz das Zuordnungsverhältnis von Sprache und Dingen denkt und damit das Medium für die andern Grundsätze bereitet. Der Satz vom Widerspruch bestimmt den Zusammenhang von Sagen und Sein. Nur wenn Seiendes „ständig“ ist, wenn es den Stil seines Verhaltens durchhält in allen seinen Veränderungen, ist Sagen möglich. Die Alternative dazu wäre der chaotische Wirbel, in dem keine Bestimmung sinnvoll ist. Das Moment der Ständigkeit wird zum Fundament der aristotelischen Formulierung des Satzes vom Widerspruch. Aristoteles bezieht sich auf das Seiende als auf ein Gefüge, dessen Gründe als Dreifalt von Ursprung des Seins, des Werdens und des Erkanntwerdens, und als Vierfalt von Ursachen, die am Leitmodell der Her­ stellung eines Kunstdinges gewonnen und dargestellt werden. Wir mußten diesen Begriff der archē vorwegnehmen, da von Aristoteles der Satz vom 244

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Widerspruch als eine archē bestimmt wird, und zwar nicht als eine einzelne Arche aus der Dreifalt oder der Vierfalt, sondern als die „bebaiotatē archē“. Der Satz vom Widerspruch ist der Grund des menschlichen Seinsverste| hens, das sich im Medium der Sprache vollzieht. In ihm ist das Ansprechen der Dinge mit der Ansprechbarkeit der Dinge als der Erschließung des Seins des Seienden im Sagen vereinigt. Das „am meisten gesichert sein“ dieses Prinzips wird von Aristoteles so ausgelegt, daß ein Beweis für diesen Satz gar nicht möglich sei. Der Satz vom Widerspruch ist das Prinzip, welches am meisten die Beständigkeit im Verhaltensstil, die Unterschiedenheit, Vereinzelung, Individuiertheit der Dinge festhält. Es geht dabei also um das Sein der endlichen Dinge. „Es ist unmöglich, daß dasselbe demselben zugleich und in Hinsicht auf dasselbe (etc.) zukomme und nicht zukomme“. Was ist hier mit „dem Selben“ gemeint? Wenn wir sagen: „A sagt dasselbe wie B“, so konstatieren wir damit nur eine Verschiedenheit der Ausdrucksweise. Mit dem genannten Satz machen wir Gebrauch von dem Begriff „dasselbe“, sagen aber nichts aus über das Selbigsein als solches. Wenn wir den Begriff „dasselbe“ Sachen beilegen, so kann auch hierin wieder ein Unterschied sein. Die damit ausgesagte Verbindung kann zufällig bestehen (wie wenn wir sagen: das Wasser ist kalt; es könnte ja auch warm sein) oder notwendig sein (wie wenn wir sagen: das Eis ist kalt). Aber wir können auch von dem Hantieren mit dem Begriff „des Selben“ abrücken. Zunächst gebrauchen wir diesen Begriff im Sprechen über Dinge, so wie wir Dingen auch Ähnlichkeit zuschreiben können. Aber wie wir statt über ähnliche Dinge auch über die Ähnlichkeit selber sprechen können, so können wir auch das Selbe oder die Selbigkeit thematisieren. Ist nun in der aristotelischen Formulierung des Satzes vom Widerspruch nur von der Selbigkeit von Dingen die Rede oder von der Selbigkeit als solcher? Es erhellt zunächst, daß der Ausdruck „dasselbe“ nicht durchweg dasselbe meint, sondern einmal die Dinge betrifft, dann aber die Bestimmtheiten derselben. Wir lesen daher den Satz so: „Es ist unmöglich, daß demselben Ding ein und dieselbe Bestimmtheit zugleich zukommt und nicht zukommt“. Ding und Bestimmtheit des Dinges sind gerade nicht dasselbe! Es läßt sich zwischen beiden nur eine partielle Identifikation vornehmen. In der Art, wie von Aristoteles der Begriff des „Selben“ | eingesetzt wird, ist schon der Grundriß der Dingheit, das Ding als Träger von Eigenschaf­ ten, von Bestimmtheiten überhaupt, vorausgesetzt. Das Verwunderliche dabei ist aber, daß Aristoteles in der Tat nicht nur eine Selbigkeit aussagt, sondern vom Selbigsein selbst handelt. „Dasselbe Ding“ ist ein selbiges Ding als ein Selbsthaftes. Als dasselbe-Ding-bestehen heißt, ein Wesen haben im Wechsel von Bestimmtheiten. Der Bau eines Dinges sieht so aus: das Ding hat die Ständigkeit eines Selbst, es ist selbst-ständig. „Es ist unmöglich, daß einem selbständigen Ding dasselbe zukommt und nicht 245

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zukommt“. Das zweite „Selbe“, das, was zukommen kann, kann das Wesen des Dinges sein (dem Menschen kommt ein Menschsein zu), in diesem Fall ist die Aussage eine Tautologie. Es kann aber auch von einem Ding, z. B. vom Menschen, ausgesagt werden, was, wie, wo er ist etc., also die ganze Reihe kategorialer Bestimmungen von der ousia, poion, poson, pros ti, bis hin zu den Bewegungskategorien. Es wird darum hier von dem Verständnis des auto nicht nur ein Gebrauch gemacht im Hinblick auf das Seiende, sondern das Seiende selbst wird als ein auto gekennzeichnet, als ein Selbständiges. Die Selbstheit gilt als Kern der Dingstruktur. Weil das Ding selbständig ist, ist es Träger von unselbständigen Bestimmungen; es gibt kein Ding, das nichts als es selbst ist, das keine Eigenschaften hätte. Das Ding, das so angereichert ist durch inhärierende Bestimmungen, steht unter der Grundregel des Satzes vom Widerspruch. Für das Zukommen von Bestimmungen an ein Selbständiges gilt die prohibitiv formulierte Grund­ regel: es ist unmöglich, daß ein endliches Ding zugleich und in derselben Hinsicht sich widersprechende Bestimmungen trägt. Dies ist also ein Satz über das einzelne Seiende, nicht aber über die Gesamtheit, den Inbegriff des Seienden. Aus dem Faktum der Sprache wird die Seinsverfassung der Ständigkeit der Dinge abgeleitet, und umgekehrt wird aus dieser Ständigkeit auf die Möglichkeit der Verständigung über die Dinge geschlossen. Das Ausbrechen aus diesem Zirkel bedeutet das Verstummen, den Verlust der Sprache, das Zur-Pflanze-werden. Es gibt zwar die Möglichkeit der Täuschung hinsichtlich der Dingstruktur des Seienden und der Sagbarkeit; aber die, die sich darin täuschen, können das, was sie sagen, von rechts wegen nicht glauben. | Wir aber schließen an diese Interpretation die Frage an: läßt sich das Sein etwa sagen als nicht gebrochen in die Vielfalt bestehender Einzeldinge? Die ganze aristotelische Ontologie bezieht sich auf dieses Sein von Einzel­ dingen. Es könnte aber sein, daß das Denken Heraklits, gegen das Aristoteles indirekt polemisiert, sich gar nicht auf die Vielfalt der Einzeldinge bezieht, sondern auf das ungebrochene Sein des Ganzen. Dann ginge die Kritik des Aristoteles gegen Heraklit ins Leere. Das Verbot des Widerspruchs ist so formuliert, daß das Zukommen und Nichtzukommen einer und derselben Bestimmtheit ausgeschlossen wird, nicht aber so (was ebenso gültig wäre), daß das gleichzeitige Zukommen kontradiktorisch entgegengesetzter Prädikate ausgeschlossen wird. Was von Aristoteles verneint wird, ist also die Formel S = P, und nicht die Formel S = P + Non-P. Aristoteles setzt also an mit dem allgemeinsten Gegensatz von „Sein und Nichtsein“ (statt mit dem Gegensatz von „dieses“ und „nichtdieses“ sein). Was zuerst verboten wird, ist die Selbigkeit von Sein und Nichtsein; daraus wird dann die Unvereinbarkeit sich ausschließender Bestimmungen abgeleitet. Darin liegt eine implizite Theorie der Gegensätze. Sein und 246

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Nichtsein ist für Aristoteles der Ur-gegensatz; hier wird dieser Urgegensatz interpretiert am „hyparchein“. Weiter unten aber sagt Aristoteles: „Es ist nämlich unmöglich, daß irgendjemand ‚sein‘ und ‚nichtsein‘ für dasselbe halte, wie Heraklit gesagt haben soll. Es ist ja nicht notwendig, daß das, was einer sagt, von ihm auch wirklich angenommen wird“.8 | 7. Wir suchten die ontologische Voraussetzung für die aristotelische Formulierung des Satzes vom Widerspruch herauszuheben und waren dabei, geleitet durch die Zweideutigkeit des auto, auf den für die aristotelische Ontologie grundlegenden Grundriß des Dinges aufmerksam geworden. Das Ding gilt als Träger von Bestimmungen, deren Inhärieren als hyparchein bezeichnet wird. Das Zukommen von Bestimmungen wird als „Sein“, das Nichtzukommen von Bestimmungen als „Nichtsein“ gefaßt. Aristoteles setzt also voraus, daß Seiendes in der Weise ist, daß einem einzelnen, vereinzelten Ding eine Vielheit von Bestimmungen zukommt. Der Bau des Dinges ist die Verklammerung von Einheit und Vielheit im Seienden. Dadurch öffnet sich das Ding in seiner Selbigkeit für eine Nichtidentität der Bestimmungen: es kann Träger kontradiktorisch entgegengesetzter Bestimmungen sein, wenn diese ihm nacheinander oder in verschiedener Hinsicht zukommen. Der Selbigkeit der Bestimmungen entspricht also eine Selbigkeit der Hinsicht; auch tritt der Gedanke des auto wieder in doppelter Beziehung auf. Weil wir das Ding als identischen Träger von Bestimmungen auffassen, können wir auf die Bestimmungen wiederum den Begriff der Selbigkeit anwenden und das Zukommen an die Bedingung der Selbigkeit der Hinsicht knüpfen. So ergibt sich die sinnvolle Abwandlung der Selbigkeit des Dinges in zweifacher Weise; wir denken das Selbe im Sinne irgendeiner Bestimmtheit demselben Ding zukommend in derselben Hinsicht. Durch den dreifachen Gebrauch des auto ist der Satz vom Widerspruch dreifach, gemäß dem vorausgesetzten Grundriß des Dinges: etwas zu sein und in einer Vielzahl von Hinsichten eine Vielzahl von Bestimmungen zu tragen. Vorgeordnet ist dabei der Gegensatz von Sein und Nichtsein; er besagt die Unvereinbarkeit des Zugleichseins von Sein und Nichtsein des Zukommens. Was Sein und Nichtsein selbst ist, weist sich aus im hyparchein. Das Zukommen wird wieder bestimmt aus der Hinsicht. Das Hinsehen leitet über zur folgenden Fassung des Satzes vom Widerspruch. Aristoteles faßt nämlich die Unmöglichkeit des Zusammenbestehens von Sein und Nichtsein nicht nur als die Ausschließ|ung des zugleich Zukommens und Nichtzukommens, sondern auch als die Ausschließung des Glaubens, daß Sein und Nichtsein dasselbe seien. Die erste Fassung des Satzes vom Widerspruch zielt ab auf das Verhalten der Dinge in der Dimension des Bestimmtseins. In der zweiten Fassung handelt es sich 247

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darum, wie dieses Bestimmtsein der Dinge für uns ist und wie wir uns auf die Unvereinbarkeit beziehen. Aristoteles formuliert, es sei unmöglich zu glauben, daß dasselbe sei und nicht sei; sagen kann man es wohl, aber nicht glauben. Wenn wir eine Behauptung für nicht glaubhaft ansehen, dann sagen wir, sie sei falsch und bezeichnen sie damit z. B. als Lüge. Der Satz, der besagt, daß demselben dasselbe zukomme und nicht zukomme oder daß Sein und Nichtsein dasselbe seien, ist aber keine gewöhnliche Lüge, sondern eine schwierige philosophische Lüge. Unmöglich ist, wie bei der Lüge, nicht das Sagen, aber das wahre Sagen, zu dem das subjektive Moment des Glaubens gehört. Das Verhältnis des Zukommens und Nichtzukommens wird daher verglichen mit dem Glauben; damit wird das ganze Verhältnis von Sagen, Sein und Nichtsein geprüft. „Es ist nämlich nicht notwendig, daß einer das, was er sagt, auch glaubt. Wenn anders es unmöglich ist, daß demselben entgegengesetzte Bestimmungen zugleich (und es sei auch dieser Prämisse das früher Gesagte hinzugefügt) zukommen, und wenn auch ‚ent­ gegengesetzt‘ einer Meinung die widersprechende Meinung ist, so leuchtet ein, daß unmöglich derselbe Mensch zugleich glauben kann, daß Sein und Nichtsein dasselbe seien“ (1005b 25–30).9 Aristoteles entnimmt hier der ersten Formulierung des Satzes vom Widerspruch die Argumente und macht das Verhältnis des Glaubens zu einem Fall der Unverträglichkeit von Sein und Nichtsein. Das heißt, wer angeblich beides glaubt, bei dem wäre der Vollzug des Glaubens zugleich Glauben und Nichtglauben. Das Zugleich­ sein zweier unvereinbarer Meinungen entspräche dem Zugleichsein von Sein und Nichtsein. Aristoteles interpretiert damit das Seinsverstehen so, daß er es unter den allgemeinen Gesichtspunkt des Verhältnisses von Sein und Nichtsein rückt. Das Seinsverständnis des Menschen gilt dann als ein bestimmter Fall von Dingsein. Das Sein reißt gewissermaßen das Seinsver­ ständnis in sich hinein, als einen Fall seiner selbst. Aristoteles geht über vom ontologischen Verhältnis des Seins und Nichtseins zum menschlichen Verstehen desselben, indem er das Verstehen selbst wieder von jenem ontologischen Verhältnis her interpre|tiert; und damit faßt Aristoteles das Seinsverständnis selbst als etwas Seiendes auf. Diese Subsumtion wird von Aristoteles nicht absichtlich, in thematischer Intention vorgenommen; sie wird hier von uns als ein besonderes Problem indiziert. Man könnte fragen: was ist alles mit dem Satz vom Widerspruch gemeint? Gemeint sind alle Dinge, alles endliche, binnenweltliche Seiende. „Alles“ hat die Bedeutung von panta, nicht von pan; es ist also zu fragen, ob der Satz vom Widerspruch in der aristotelischen Formulierung auch für das pan gilt. Das menschliche Verstehen des Seienden jedenfalls ist ein Ding unter Dingen, ein Fall des Grundgegensatzes von Sein und Nichtsein. Diese Subsumtion ist nicht selbstverständlich, sondern ein besonderer Schritt, der der Motivierung bedürfte. Die aristotelische Erörterung des Satzes vom 248

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Widerspruch liegt in der Dimension der Beziehung von Seinsverständnis (Glauben) und Verhältnis von Sein und Nichtsein, ohne daß diese Dimen­ sion der Überordnung des ontologischen Verhältnisses über das Verstehen eigens erörtert wird. Es ist allerdings ein schwieriges Problem, wie das Bestimmen der Dinge mit dem Bestimmtsein der Dinge zusammenhängt. Es ist gar nicht sicher, daß das Seinsverständnis einem Seienden, eben dem Menschen, einfach zugehört und daher selbst wie ein Seiendes dem Satz vom Widerspruch unterworfen ist. Aristoteles argumentiert hier gegen Heraklit, oder gegen die von Heraklit überlieferten Meinungen. Das Nicht­ zusammenbestehenkönnen von Sein und Nichtsein wird daher erweitert zu der Feststellung, daß es auch den betreffenden Glauben nicht geben könne. Diese Erweiterung ergibt sich durch die Bestreitung des ersten Satzes (durch „Heraklit“) und ist ein Schritt zur angeblichen Widerlegung desselben. Aristoteles sagt, es gebe wohl ein Sagen, es gebe aber nicht den Glauben an das Gesagte; dieses ist folglich Lüge oder Gedankenlosigkeit. Ein Glaube, der Sein und Nichtsein zusammennähme, wäre nach Aristoteles zwiespältig, er würde in zwei sich widersprechende Meinungen auseinanderbrechen. Dies ist mit der Einheit der denkenden Person unvereinbar; ein solches Denken wäre ontologische Schizophrenie. „Wer in diesen großen Irrtum verfiele, der müßte zugleich die entgegengesetzten Meinungen haben.“10 Aristoteles fährt dann fort: „Wer immer einen Beweis un|ternimmt, bezieht sich auf diesen letzten, obersten Glauben (scil. der Ausschließung von Sein und Nichtsein); dieser ist nämlich von Natur der Grund auch aller andern Axiome.“11 Den Gegnern dieses Grund-satzes hält Aristoteles entgegen, daß sie nicht einmal eine Gegenthese gegen den Satz vom Widerspruch zu formulieren brauchen, um widerlegt zu werden; es genügt, daß sie überhaupt etwas sagen, um des bestrittenen Satzes überführt zu werden; jedes Sagen macht unausdrücklich Gebrauch von diesem Satz. Überhaupt etwas sagen bedeutet natürlich: etwas meinen, nicht nur Laute von sich zu geben. Dieses Meinen, das sēmainein, kann nicht nur in einem einfachen, direkten Zuordnungsverhältnis zu einer Sache bestehen. Es kann keine durch und durch eigennamentliche Sprache geben; eine solche Sprache wäre, wegen der unübersehbaren Fülle der Namen und wegen der Zusammenhanglosigkeit derselben, nicht vollziehbar. | 8. Aristoteles schiebt die Beweislast des Satzes vom Widerspruch dem Gegner zu: dieser muß seine Bestreitung des Satzes zu begründen ver­ suchen. Der Gang des negativen, „elenktischen“ Beweises beginnt damit, daß Aristoteles den Gegner überhaupt etwas sagen läßt (1006a 11). Das Sprechen wird von Aristoteles als Verhältnis von Name (onoma) und Sache (pragma) angesetzt. Onoma ist das Gesagte eines Sagens; es muß kein Name 249

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im engeren Sinne sein, sondern irgendein Wort oder Satz, wofern sie etwas meinen; Sagen ist also nicht nur „überhaupt etwas sagen“, sondern „etwas über etwas sagen“. Das Gesagte ist nicht bloße Artikulation, sondern ein verstehbares Wort; das Sagen terminiert aber nicht darin, sondern es hat seinen Sinn als Sagen von etwas. Das onoma hat grundsätzlich die Funktion des Bezeichnens (sēmainein); es braucht sich nicht immer auf ein pragma zu beziehen, wir müssen aber voraussetzen, daß es sich auf eine Sache beziehen können muß. Das Meinen nun zielt auf eine Sache, die grundsätzlich eine und bestimmt ist, hen und hōrismenon. Die Einsheit, die Abgegrenztheit durch den horos einer Sache läßt diese als hōrismenon erscheinen. Also die Bestimmtheit kommt nicht durch das Sagen erst der Sache zu, sondern diese ist selbst schon ein hōrismenon. Die Be-zeichnung einer Sache durch einen Namen braucht allerdings nicht eindeutig zu sein; mehrere Sachen können einen Namen haben. Die Homonymie der Namen ist kein Einwand gegen die Eindeutigkeit des Sprechens, wenn die Mehrzahl der Bedeutungen eines Namens begrenzt ist, wenn nicht der einzelne Name unbegrenzt vieles oder gar alles bezeichnen kann. Es muß ein festes Zuordnungsverhältnis von Namen und Sachen bestehen. Alles Sagen ist ein Sagen über Seiendes, das grundsätzlich seiend ist im Sinne begrenzter, endlicher Dinge. Die Voraus­ setzung des Meinens ist das Umrissensein der Dinge in einem „Horizont“. Es könnte aber auch jemand die Begrenztheit der Dinge verneinen und nur ein allgemeines Strömen anerkennen. Für dieses strömende Sein wäre dann nur ein Name denkbar, eine weitergehende Zuordnung wäre nicht möglich. Nach Aristoteles wäre dieses strömende Sein aber überhaupt | nicht säglich. Der Satz vom Widerspruch, der das Zukommen und das Zusprechen von Bestimmungen regelt, betrifft grundsätzlich die Verfassung endlicher Dinge und bestimmt nichts über ein Sagen, das das Ganze, vor der Unterscheidung in die Vielheit der Dinge, auszudrücken versuchte. Die endlichen Dinge, die ausgesagt werden, sind im Ganzen versammelt, doch das Ganze wird nicht angesprochen. „Zuerst ist nun offensichtlich dieses wahr, daß der Name ,Sein‘ oder ,Nichtsein‘ ein Bestimmtes bedeutet, so daß sich nicht alles so oder auch anders verhalten kann“ (1006a 29).12 Hier spricht Aristoteles nicht mehr von einer Sache, sondern von Sein und Nichtsein. Spricht also Aristoteles doch von dem Ganzen? Dies wäre ein Mißverständnis; das Sein ist für Aristoteles gerade das Sein endlicher Dinge, nicht das Sein des Welt-Alls. Im Gebrauch des Namens „Sein“ beziehen wir uns auf etwas, was vom Namen unterschieden ist; ob dieser Unterschied in gleicher Weise besteht wie der Unterschied von Ding und Sache, ist allerdings problematisch. Aber wenn der Name überhaupt etwas bezeichnet, so muß das Bezeichnete sein. Aristoteles deduziert aus dem Sagen das Bestehen von endlichen Dingen; 250

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der Name ist bezogen auf etwas, dessen Name er ist. Dagegen läßt sich einwenden, daß es Namen gibt, die nichts Wirkliches bezeichnen, sondern z. B. Fabelwesen. Aristoteles behauptet aber nicht, daß vom Namen auf das faktische Sein (wie „vom Begriff Gottes auf die Existenz desselben“) geschlossen werden kann, sondern nur, daß ein Name, weil er bezeichnet, ein Bestimmtes treffen muß, das von allem andern unterschieden ist. Alles Sagen ist, sofern es bestimmt, abgrenzend; omnis determinatio est negatio. Zuerst also spricht Aristoteles von dem Namen für Sein und Nichtsein. Dann geht er über zu dem Namen, der eine Sache bezeichnet, anthrōpos, Mensch. Er greift damit nicht nur irgendeine Sache auf, sondern er will diese Sache zugleich in ihrer wesentlichen Bestimmtheit fassen; diese Bestimmt­ heit heißt „zweifüßiges Lebewesen“. Das Beispiel ist wohl nicht gerade glücklich gewählt, wir denken sicher beim Menschen nicht primär an seine Zweibeinigkeit; aber das ist jetzt gleichgültig. Die genannte Bestimmung sagt vom Menschen aus, was wir beim Ausdruck „Mensch“ mitmeinen, sie gehört zu seiner | Washaftigkeit. Der Mensch hat noch eine Fülle anderer Bestimmungen, wie das später erwähnte „Weißsein“ und „Gebildetsein“; aber mit diesen Bestimmungen wird das Wassein bereits überschritten, der Begriff des Menschen zusätzlich im poion, im Wiebeschaffensein bestimmt. Das Wassein nennen wir auch das Wesen oder die ousia einer Sache; über das Wassein ist die Sache noch durch eine Fülle „zufälliger“ Bestimmungen charakterisiert. Aristoteles bestimmt zuerst, was die Sache in ihrer ousia ist; die andern Bestimmungen haften an der ousia. Das „eines bezeichnen“ ist für Aristoteles Bezeichnen der ousia. Es ist bedeutsam, daß Aristoteles Einssein und Umrissensein der Sache auslegt im Hinblick auf den Begriff, den horos. Die umrißhafte Geprägtheit der endlichen Dinge würde zerstört, wenn etwas zugleich sein und nichtsein könnte. Das Sagen zielt auf eine durch ihr Wesen bestimmte Sache; das Wesen fundiert die Bestimmtheit. Aristoteles schreibt dem Wort geradezu einen instrumentalen Charak­ ter zu. Worte sind Instrumente zur Bezeichnung von herausgegrenzten Dingen, mit deren Hilfe allein wir uns inmitten der Dinge zu orientieren vermögen. Durch das Herausgrenzen wird das Gemeinte von allem anderen, zuvörderst jedoch von seinem Gegensatz, dem Nichtsein seines Seins, weggehalten. Fielen die Dinge (in Wirklichkeit oder auch nur für unsere Bezeichnungsversuche) mit ihrem Gegensatz zusammen, dann wäre kein menschliches Lebensverhältnis möglich. Das sprachliche Bestimmen hat also eine praktische Funktion der Orientierung inmitten der Dinge. Die Sprache ist für Aristoteles der Ariadnefaden des Menschen im Labyrinth der Welt. Aristoteles experimentiert mit dem gegnerischen Gedanken, daß alles ineinanderliefe, daß Sein und Nichtsein zusammen bestehen könnten, und zieht die Folgerungen aus der so angesetzten Vermischung der Gegensätze 251

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und Verwischung der Unterschiede. „Wenn alle sich widersprechenden Behauptungen in bezug auf dasselbe wahr sind, dann wird doch offenbar alles eins sein. Denn Dreiruderer und Topf und Mensch würden dasselbe sein, wenn man von jeder Sache dieselbe Bestimmung sowohl bejahen als auch verneinen kann …“ (1007b 18).13 Aristoteles konstruiert die Möglich­ keit, daß alle Bestimmt|heit sich auflösen würde; und zwar führt er die Auflösung der Bestimmtheit so vor, daß er dabei hinblickt auf die Struktu­ riertheit der Dinge. Indem Aristoteles die chaotische Welt so schildert, daß er die Struktur der geordneten Welt dabei als Bezugspunkt wählt, macht er die Struktur der Unterschiede erst recht deutlich. Das hen panta einai des Heraklit macht dann den Eindruck, als ob alles durcheinanderflösse. Aristoteles sucht auf logischem Weg den Wirbel, das Chaos zu erzeugen, indem er die Unterschiede zuerst gebraucht und sie dann aufheben will. Er läßt sich nicht ein auf die Behauptung, daß alles eins sei, und damit auf die „Nacht, in der alle Kühe schwarz sind“,14 mit Hegels Wort zu reden; er fordert den Gegner auf, die zunächst bestehende Bestimmtheit ausdrücklich abzuarbeiten. Um das Chaos logisch zu erzeugen, geht er das ganze Arsenal der Bestimmungen durch, und macht mit diesem Umweg die Gegliedertheit der Welt deutlich. Dem Gegner, dem Vertreter der Alleinheitslehre, weist er dabei die Rolle zu, stumm zu werden wie die Pflanze. Er hätte den Beweis auch kürzer fassen können, indem er aus der Bestimmungslosigkeit einfach die Unmöglichkeit, noch etwas zu sagen, abgeleitet hätte; aber er zwingt hier den Gegner dazu, den Weg zum Chaos durch alle Artikulationen der Dinge hindurch zu verfolgen. „Wenn aber alle gleichmäßig im Irrtum und im Rechte sind, so kann der (der dies behauptet) weder etwas verlautbaren noch sprechen, da er zugleich dieses und nicht dieses sagt. Nimmt man aber nichts Bestimmtes mehr an, sondern meint man so, wie man nicht meint, wie unterschiede man sich da von den Pflanzen?“ (1008b 7).15 Das heißt nicht, daß die Pflanzen Leugner des Satzes vom Widerspruch wären; der Leugner des Satzes wird, da er damit die Sprache selbst zerstört hat, nicht zur Pflanze wie Daphne, aber er verliert die (sinnvolle) Möglichkeit des Sagens. Die Leugnung des Satzes vom Widerspruch ist der Tod der Vernunft. Die Sprache ist nicht nur eine dekorative Auszeichnung, eine Zierde des Menschen, als ob dieser auch ohne Sprache sein könnte. Die Welt hat einen logischen Sinn, und mittels der Sprache bewohnt der Mensch seine Welt. Das heißt, nur unter der Führung des Satzes vom Widerspruch, als der Voraussetzung, daß die Dinge einzeln und voneinander abgegrenzt sind, können wir Menschen uns in der Welt zurechtfinden. Aris|toteles fährt nach der eben zitierten Stelle fort: „Daraus kann man auch am besten sehen, daß niemand so etwas glaubt, weder sonst jemand noch einer, der das ausdrücklich behauptet. Denn warum geht man nach Megara und bleibt nicht ruhig zu Hause in der 252

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Meinung man gehe? Oder warum stürzt man sich nicht gleich frühmorgens in einen Brunnen oder Abgrund, wenn sich die Gelegenheit bietet, sondern nimmt sich offenbar wohl in acht, als hielte man das Hineinfallen nicht ebenmäßig für nicht gut und für gut? Es ist also klar, daß man das eine für besser hält, das andre nicht für besser. Wenn aber das, so muß man auch das eine für einen Menschen halten, das andere für keinen Menschen, das eine für süß, das andere für nicht süß. […] Und doch müßte man alles gleich setzen, wenn dasselbe auf gleiche Weise Mensch und Nicht-Mensch wäre“ (1008b 12–24).16 Diese praktische und pragmatische Rechtfertigung des Satzes vom Widerspruch ist hier nicht nur angehängt. Der Satz vom Widerspruch regelt den Umgang eines vereinzelten Wesens mit anderen endlichen Dingen. Der Mensch kann in dieser praktischen Welt nur tätig werden, wenn er geleitet ist vom Seinsverständnis der endlichen Dinge. Das „Gehen und Nicht-Gehen“ ist kein ausgeklügeltes, nur akademisches Problem. Es kommt Aristoteles hier eben nicht nur auf das Weltbild an, sondern auf den verstehenden Umgang eines endlichen Wesens mit lauter endlichen Dingen. Das Verkehrsverhältnis der endlichen Dinge, von denen eines durch Seinsverständnis, durch Sprache, durch Vernunft ausgezeichnet ist, wird geregelt durch den Satz vom Widerspruch. Kants Auslegung des Satzes vom Widerspruch bewegt sich in einer Auseinandersetzung mit Leibniz. Leibniz unterscheidet Vernunftwahrhei­ ten (vérités de raison) und Tatsachenwahrheiten (vérités de fait) und gibt als Prinzip dieser den Satz vom Grunde, als Prinzip jener den Satz vom Widerspruch an. Kant ficht die Leibnizsche Auffassung an, daß der Satz vom Widerspruch das Prinzip aller Vernunftwahrheiten sei. Vernunftwahrheiten nennt man die eingeborenen Vorstellungen oder Vorstellungen „a priori“. Eingeboren sind sie nicht in dem Sinne, daß wir von selbst über sie verfügen könnten (sonst brauchten wir ja keine Mathematik zu lernen); wir müssen sie wohl ausdrücklich für uns vergegenständlichen, beziehen uns dabei aber nicht auf Erfahrungen. | Kant wendet gegen Leibniz ein, nicht alle Vernunftwahrheiten stünden unter dem Satz des Widerspruchs als ihrem ausschließlichen Prinzip. Für ihn sind die apriorischen Wahrheiten in zwei Klassen unterschieden, nämlich in analytische Urteile und in synthetische Urteile a priori; der Satz vom Widerspruch regiert nur die erstgenannten. Die analytischen Urteile gelten allesamt als apriorisch, sie können ohne Rücksicht auf Erfahrung geprüft werden. Denn sie sind, Kant zufolge, bloß Erweiterungsurteile; sie drücken ein Implikations- oder Konsequenzverhältnis aus. Diese Implikation ist leicht einsehbar bei mathematischen Gegenständen; im Begriff des Kreises wird das Rundsein, im Begriff des Körpers das Ausgedehntsein gedacht. Dagegen ist beim empirischen Gegenstand, etwa beim „Gold“, das Implikati­ onsverhältnis an den individuellen Wissensbestand gebunden und kann von 253

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Mensch zu Mensch verschieden sein, so daß für den einen ein synthetisches Urteil wäre, was für den andern bloß ein analytisches Urteil ist. Streng analytisch sind daher nur die sachlichen Implikationsverhältnisse; sonst ist nur die Form des Urteils analytisch. Kant läßt den Satz vom Widerspruch als oberstes Prinzip aller analy­ tischen Urteile gelten. Der oberste Grundsatz aller synthetischen Urteile dagegen ist für ihn durch den Satz ausgedrückt: „Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Mög­ lichkeit der Gegenstände der Erfahrung …“ (Kritik der reinen Vernunft, A 158).17 Der Satz vom Widerspruch wird dadurch zu einem formal-logischen Prinzip gemacht.

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| 9. Wir haben eine lange Geschichte des Satzes vom Widerspruch, die zwischen Aristoteles und Kant sich hinzieht, übersprungen. Daß wir gerade die Kantische Formulierung des Satzes vom Widerspruch aufgreifen, liegt daran, daß wir in dieser Formulierung eine große und typisch neuzeitliche Gestalt des Satzes vom Widerspruch antreffen. Wir müssen zuerst die Problemstellung skizzieren, welche den Horizont für Kants Erörterung des Widerspruchsproblems bildet. Kants kritische Frage ist die Frage nach der Möglichkeit der Metaphysik, als von Erkenntnissen, welche vor aller Erfahrung die Natur des Seienden zu erkennen vorgeben. Kant gibt sich nicht mit der Behauptung zufrieden, daß eine Verwandtschaft zwischen dem Menschengeist und der Natur der Dinge bestehe. Er bekennt sich auch nicht zu der Auffassung, daß eine übermenschliche Macht die menschliche Vernunft so angelegt habe, daß die in ihr gedachten Strukturen der Dinge den Dingen selbst konform sind und eine prästabilierte Harmonie besteht. Die Behauptung einer prästabilierten Harmonie ist für Kant wertlos, weil sie uneinsichtig ist; es mag sein, daß eine solche Übereinstimmung besteht, aber wir können sie nicht feststellen. Für Descartes kommt das Ich zur Einklammerung, zur Inhibierung sei­ nes Glaubens an die mathematischen Wahrheiten durch den Gedanken, daß es einen schlimmen, trügerischen Gott geben könnte, der den Menschen die beim Denken mathematischer Verhältnisse eintretende Evidenz vortäuscht, so daß die geglaubten Verhältnisse tatsächlich nicht bestünden. Der Beweis für das Dasein Gottes erlaubt Descartes, konstitutiven Gebrauch zu machen von der Güte und Wahrhaftigkeit desselben; Gott wird dann zum Garanten der Übereinstimmung von Vorstellung und Sache. Descartes stellt die Frage, ob unsere Vorstellungen sich wirklich auf extramentale Dinge beziehen. Seiende Dinge würden auch in ungleichartigen Vorstellungen betroffen, nur daß die Vorstellungen keine Ähnlichkeit mit den Dingen hätten. Wir müssen also vom Bezug überhaupt den übereinstimmenden Bezug noch unterschei­ 254

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den. Descartes leitet aus der Güte Gottes nicht nur die Möglichkeit des Sichübersteigens der menschlichen Vorstellungen auf extramentale Dinge hin ab, sondern | auch die Ähnlichkeit der Vorstellungen mit der Sache, die adaequatio rei atque intellectus (die Ähnlichkeit kann natürlich, und zwar durch die Schuld des Menschen, auch verfehlt werden, wie Descartes lehrt). Das Problem des Sichbeziehens der Vorstellungen auf Seiendes hat Descartes im VI. Buch der Meditationen abgehandelt, unter dem Titel „De reali mentis a corpore distinctione“. Den Nachfolgern Descartes’ wird der Bezug von Vorstellung und Sache immer fragwürdiger. Die „Okkasionalis­ ten“ behaupten, daß zwischen den Reihen des mentalen und des realen Geschehens ein Entsprechungsverhältnis in Gleichzeitigkeit bestehe, wel­ ches durch Gott bewirkt sei. Leibniz hat dann diese Auffassung vertieft durch die These, daß Gott nicht ständig in die Schöpfung eingreifen müsse, da er bei der Erschaffung der Monaden von vornherein eine Harmonie eingerichtet habe zwischen dem monadischen, metaphysischen Geschehen und den Vorgängen in der körperlichen, phänomenalen Welt. Kant gibt sich auch mit dieser Auskunft nicht zufrieden. Beunruhigt durch die Humesche Skepsis, das Apriori betreffend, muß er die voraus­ gesetzte prästabilierte Harmonie als ein Wunder betrachten, das man glauben kann oder nicht. Kant fordert nicht irgendeine Erklärungsart für die Möglichkeit der Metaphysik, sondern einen einsichtigen Grund; er besteht darauf, einzusehen, wie es möglich ist, daß der Mensch a priori, unabhängig von aller Erfahrung, die Dingverfassung im vorhinein versteht. Eine solche Einsicht bringt er zustande durch die Grundthese, daß unsere apriorischen Erkenntnisse nicht die Dinge an sich betreffen, sondern die Dinge als Erscheinungen, wie sie in den Formen der Anschauung und des Denkens vorkonstituiert sind. Kant revolutioniert also den Begriff des Dinges durch die Unterscheidung von Ding an sich und Ding als Erscheinung. Unser Erkenntnisvermögen ist bezogen auf Erscheinung; Erkenntnis ist überhaupt die Verbindung von Anschauung und Begriff, von Spontaneität und Rezeptivität, von Sinnlichkeit und Vernunft. Die Quellen der menschlichen Erkenntnis sind also durch einen Dualismus bestimmt. Kant teilt dann die genannten Bereiche noch durch einen zweiten Unterschied in empirische Anschauung und empirisches Denken einerseits, und in apriorische Anschauung und apriorisches Denken andererseits. | Der allgemeine Horizont dieser Auseinanderlegungen ist die Grund­ auffassung, daß der Mensch sich zu den ihn umgebenden Dingen verhält als sprechendes, denkendes Wesen. Dies aber ist gerade das Feld, in das die aristotelische Formulierung des Satzes vom Widerspruch hineinzielte; der Satz vom Widerspruch war die Formulierung der allgemeinen Bedingung, unter der ein Sprechen über die Dinge überhaupt möglich ist. Kant zufolge ist unser empirisches Denken, unser Sprechen über faktische Verhältnisse 255

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immer schon geleitet von apriorischen Formen, die wir in Urteilen a priori ausdrücken können. Aus Urteilen a priori besteht idealiter nicht nur die Mathematik, sondern auch die Metaphysik. Kant charakterisiert die Meta­ physik überhaupt als ein Sprechen, das sich in Urteilen a priori vollzieht. Daher lautet seine kritische Frage an die Metaphysik: „Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?“ Diese Frage zielt zunächst auf eine Unterscheidung von analytischen Urteilen und von synthetischen Urteilen a priori. In analytischen Urteilen wird das im Begriff Gedachte nur explizit dargestellt; sie sind bloße „Erläuterungsurteile“. Synthetische Urteile dagegen führen über das im Begriff Gedachte hinaus und sind „Erweiterungsurteile“. Die Erweiterung ist unproblematisch beim Rückgriff auf Erfahrung. Der Begriff eines Erfahrungsdinges ist grundsätzlich offen, die Begriffsbildung ist hier nie abgeschlossen, da immer neue Merkmale als wesentliche Attribute mit aufgenommen werden könnten. Wenn wir zufällige, nicht wesentliche Bestimmungen hinzufügen, dann erweitern wir den Begriff des Dinges ohne Zweifel; den Rechtsgrund dieser Erweiterung liefert aber die Erfahrung. Aus der Erfahrung strömen den Dingerkenntnissen immer neue Sinnbestände zu. Wenn aber die Erweiterung eines Begriffs nicht im Rückgriff auf Erfah­ rung, sondern a priori und aus reiner Vernunft geschehen soll, so nimmt diese Erweiterung die Form des synthetischen Urteils a priori an. Auf solchen Urteilen a priori beruht nach Kant die Metaphysik; die Metaphysiker, die allerdings geglaubt hatten, allein durch Operationen der Vernunft die Begriffe weiterspinnen zu können (was bloß in analytischer Form legitim wäre), müssen sich daher von Kant den Vorwurf des „Dogmatismus“ gefallen lassen, solange sie nicht die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori und allein aus reiner Vernunft nachweisen können. | Als Grund dieser Synthesis nennt aber Kant zuerst das Verfügen der menschlichen Erkenntnis über die reinen Formen der Sinnlichkeit, über Raum und Zeit, und zwar vor aller Erfahrung. Für Kant sind Raum und Zeit keine Bestimmungen der Dinge selbst, sondern die Bedingungen unseres Erkenntnisvermögens, unter denen wir Sinnliches überhaupt erst verstehen können. Die zweite Bedingung für die Legitimation der Synthesis liegt nach Kant in dem Gedanken, daß die gleiche Funktion, welche zwei Begriffe vereinigt, diese Begriffe auch auf Gegenstände bezieht. Die reinen Verstandesbegriffe, die Begriffe also, welche die Gegenständlichkeit der Gegenstände vor aller Erfahrung denken ‒ Kant nennt sie auch „Kategorien“ ‒ werden vom Subjekt mitgebracht. Kant sucht die Verstandesbegriffe auf, indem er sich an einen bestimmten „Leitfaden“ hält; dieser ist die formale Logik, die, Kant zufolge, nur analytische Verhältnisse des Erkennens behan­ delt. Kant legt seiner Deduktion der Verstandesbegriffe die Tafel der Urteile zugrunde. Nach dieser sind die Urteilsformen in vier Hauptabteilungen gegliedert, deren jede wieder drei Formen unter sich befaßt; den zwölf 256

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Urteilsformen entsprechen zwölf Kategorien. Die von Kant vorausgesetzte Leitfadenfunktion der Urteilsformen für die synthetischen Stammbegriffe des Verstandes beruht auf einem Verhältnis der Analogie der formalen Logik zur transzendentalen Logik. Was unter den Kategorien befaßt wird, sind zunächst bloße Denkgegen­ stände. Wenn sich die Kategorien auf Erscheinungsdinge oder auch nur auf mathematische Gegenstände beziehen sollen, so müssen diese bereits unter den Bedingungen der reinen Anschauung stehen; das Zusammen­ bringen von Verstandesbegriff und reiner Anschauung behandelt Kant im „Schematismus der reinen Verstandesbegriffe“. Die Kategorie der Substanz z. B., abgeleitet aus der logischen Form des kategorischen Urteils, drückt die begriffliche Synthesis von Substanz und Accidens aus; die Substanz ist Träger von Bestimmungen, Substantialität ist ein Verhältnis von Subsis­ tieren und Inhärieren. Das Schema dieser Kategorie ist der versinnlichte Begriff, die Einheit von Zeitmoment und Denkmoment: das Beharrliche im Wechsel. Im „Schematismus“ führt Kant die beiden Stämme unseres Erkennens zusammen. Im An|schluß an den „Schematismus“ entwickelt Kant die Grundsätze des Verstandes, d. i. die Grundbestimmungen verzeit­ lichter Kategorien. Bei der Darstellung der Grundsätze wird von Kant der Satz vom Widerspruch erörtert. Es ist dies derselbe systematische Ort, an dem auch Aristoteles den Satz vom Widerspruch eingeführt hat: die archē. Und so, wie Aristoteles nur einen elenktischen, keinen direkten Beweis für den Satz vom Widerspruch vertreten hatte, so fordert auch Kant für die Grundsätze lediglich einen „subjektiven“ Beweis; die Subjektivität, als Verständigung aufgefaßt, war auch für Aristoteles der Ausgangspunkt für den widerlegenden Beweis des Satzes vom Widerspruch. „Subjektiv“ ist dieser Beweis für Kant, weil er ausgeht von der reflexiven Selbstvergegenwärtigung der Vernunft in ihrem Gebrauch. Der Satz vom Widerspruch ist der Grundsatz aller analytischen Urteile, also der Urteile, welche das im Subjektbegriff implizit Gedachte entwickelt darstellen. Der synthetische Gebrauch der Vernunft ist durch einen andern Grundsatz geleitet, er wird für Kant durch das Denken der Gegenstandsstrukturen hinsichtlich der Gegenstände der Erfahrung bestimmt. Der synthetische Gebrauch der Vernunft ist das zentrale Thema der Kritik der reinen Vernunft; die Vernunft kritisiert sich nur in ihrem synthetischen Gebrauch, bedient sich aber dabei ihres analytischen Verstehens, ohne den Rechtsgrund dieser Beziehung eigens zu prüfen. Kant fragt nicht nach dem Grund der Möglich­ keit analytischer Urteile. Kant stellt zunächst fest, daß Urteile, sofern sie wahr sein sollen, grund­ sätzlich widerspruchsfrei sein müssen; die Widerspruchslosigkeit ist condi­ tio sine qua non aller materialen Wahrheit. Damit hat Kant ausgeschlossen, daß der Widerspruch im Seienden selbst hausen könnte, das Seiende als 257

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„Gegenstand“ verstanden. Die Gegenstände können gar nicht in sich selbst widersprüchlich sein. Der Widerspruch ist die Zerstörung der Wahrheit. Kant steht damit auf dem Boden derselben Ontologie wie Aristoteles; von beiden unterscheidet sich darin Hegel. Für Hegel wird der Widerspruch zum Wesen des Seins der Dinge, Kant gibt dann zu verstehen, daß empirisch falsche Urteile nicht wegen eines Widerspruchs falsch sind; also ist auch in widerspruchslosen Sätzen die materiale | Wahrheit derselben durch die Widerspruchslosigkeit nicht gesetzt. „Der Satz nun: keinem Dinge kommt ein Prädikat zu, welches ihm widerspricht, heißt der Satz des Widerspruchs, und ist ein allgemeines, obzwar bloß negatives Kriterium aller Wahrheit, gehört aber auch darum bloß in die Logik, weil er von Erkenntnissen […] unangesehen ihres Inhalts gilt …“ (A 151).18 Hier ist nicht die Rede von einem „Selben“, wie bei Aristoteles, sondern unmittelbar von einem Ding. Der Satz vom Widerspruch gilt von Dingen. Kant sagt nicht: der Welt können nicht kontradiktorisch entgegengesetzte Prädikate zukommen. Das Ding schließt aus, daß zwischen Prädikat und Träger des Prädikats ein Widerspruch besteht. Auch Kant setzt also beim endlichen Ding an, welches hier als Gegenstand gedacht wird. „Ein Ding ist undinglich“ wäre z. B. ein formal ungültiger Satz. Diese Minimalbedingung aller Wahrheit gehört nach Kant noch in die formale Logik; diese Annahme erscheint uns aber problematisch. Was für ein Satz ist denn der Satz vom Widerspruch selbst? Gewiß fällt er unter die formulierte negative Bedingung, er kann sich nicht widersprechen. Aber als Satz über den Bau aller Sätze kann man ihn nicht selbst einfach in die analytischen Sätze einstufen. Der Satz vom Widerspruch ist vielleicht sowenig analytisch, wie der oberste Grundsatz aller synthetischen Urteile selbst synthetisch ist. Es handelt sich hier um wahrheitstheoretische Sätze, um Sätze, die das Wesen der Wahrheit aussagen; sie können nicht wie gewöhnliche Sätze behandelt werden, ihr Charakter ist transzendental. | 10. – Wir fragen uns, wieweit die Kantische Problematik des Satzes vom Widerspruch der aristotelischen gleicht und wieweit sie sich von dieser unterscheidet. Übereinstimmend mit Aristoteles ist auch für Kant der Satz vom Widerspruch ein wahrheitstheoretischer Satz, nicht so sehr ein Satz, der nur die Dinge betrifft oder nur das menschliche Erkennen der Dinge. Für Aristoteles ist der Satz vom Widerspruch ein onto-logischer Satz, in dem die Bezogenheit der Dinge und des Vernehmens thematisch ist, und zwar primär vom Verhältnis der Sprache her. Der Satz vom Widerspruch formuliert grundsätzlich die Säglichkeit, er ist ein Satz über die Wahrheit und Sagbar­ keit. Ferner betrifft der Satz vom Widerspruch sowohl für Aristoteles wie auch für Kant nur die endlichen Dinge und nicht die Gesamtheit, aus der her 258

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uns Dinge überhaupt begegnen. Eine Verschiedenheit des Problemniveaus aber ist schon darin begründet, daß die aristotelische Philosophie die dem antiken Denken eigentümliche Voraussetzung von der Verwandtschaft des Denkens mit dem Sein übernommen hat; für Kant ist diese Voraussetzung gerade fragwürdig geworden, es wird hier gerade zum Problem, wie wir Dinge außer uns wahrhaft erkennen können. Der Satz vom Widerspruch hat alsdann für Aristoteles eine doppelte Form; neben der „Unmöglichkeit des Zukommens und Nichtzukommens derselben Bestimmung“ wird noch erörtert die „Unmöglichkeit, die aussprechbare Leugnung des Satzes vom Widerspruch wirklich zu glauben“. Aristoteles gibt eine unmittelbare und eine vermittelte Bestimmung des Satzes. Die letztere drückt aus, daß der Versuch der Leugnung des Satzes vom Widerspruch zum Selbstmord der Vernunft, der seinsauslegenden Rede überhaupt führen müßte. Bei Kant hat der Satz vom Widerspruch keine Doppelform, sondern eine einfache, verhaltene Gestalt. Es fehlt die Reflexion auf eine mögliche Leugnung des Satzes. Aber ist das zutreffend? Für Kant ist ganz allgemein im Blick auf das Ding der subjektive Rückbezug des Dinges schon mitgesetzt. Das Ding ist „Gegenstand“. (Der fundamentale Begriff des Gegenstands ist aber mehrdeutig.) Man könnte Kants Philosophie als eine „On|tologie des Gegenstands“ bezeichnen, für die der Mensch immer mit gesetzt ist. Das Ding ist nicht entlassen aus dem Rückbezug auf den Menschen, daher ist es überhaupt „Gegenstand“. Kant faßt Gegenstand als den allgemeinsten Begriff auf und unterteilt diesen noch in „etwas“ und „nichts“. Der Gegenstand ist für Kant zunächst ganz allgemein das Ziel einer Meinung; denkbar oder sagbar ist aber nicht nur etwas, sondern auch das Nichts. Etwas wiederum sind nicht nur die Dinge, sondern auch z. B. die Eigenschaften der Dinge; wir können die Eigenschaftswörter substantivieren. Gegenstand ist schon dem Wortsinne nach ein Relationsausdruck; wir denken darin das Objiziertsein einer Sache, das Für-uns-sein derselben. Freilich gebrauchen wir das Wort Gegenstand manchmal auch ungenau für eine Sache überhaupt, ohne der Gegebenheit für ein Bewußtsein Rechnung zu tragen; der Sache ist es nicht wesentlich, daß sie Thema, daß sie „Gegenstand“ wird, daß wir sie vergegenständlichen. Dieser Umstand ist ein der Sache angehängter subjektiver Charakter. Kant gebraucht das Wort Gegenstand im strengen Sinne des Bezogenseins auf ein Bewußtsein als ontologischen Zentralbegriff seiner Vernunftkritik. Darin zeigt er sich als ein Exponent der neuzeitlichen Metaphysik; seit Descartes war das Problem der Zuwendung, des Zugangs zur Sache vordringlich und vorherrschend geworden. Den Begriff des Gegenstands fächert Kant auf nach Gegenständen des Denkens und Gegenständen der Erfahrung. Zu den Gegenständen des Denkens gehört, obwohl per definitionem außerhalb des Subjekts stehend, 259

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das „Ding an sich“. Mit dem Begriff des Dinges an sich hängt es zusammen, daß Kant das menschliche Erkennen nicht als ein Produzieren versteht; es ist das Ding an sich, das Kant zufolge das Subjekt auf unbekannte Art affiziert. Das Ding an sich ist für Kant zwar ein leerer, aber doch notwendiger Gedanke; durch ihn wird die Produktivität des Ich begrenzt. Die Philosophen des Deutschen Idealismus haben diese Grenze zu durchbrechen vermeint und den Gedanken des „Dinges an sich“ zu zerstören versucht, um die Produktivität des Erkennens absolut zu setzen. Das Ding an sich ist als „ens rationis“ eine Form des Nichts; sofern es nur gedacht wird, ist es zwar möglich, aber es ist kein möglicher Gegenstand unserer Erkenntnis. Zu den Denk-Gegen|ständen gehören auch die transzendentalen Ideen, in denen die Totalität der Erscheinung gedacht wird; sie sind nicht nur mögliche Gegenstände, Gegenstände des Denkens, sondern solche Begriffe, die einen Widerspruch in sich tragen, zu Explosionen des Denkens führen. Hierher gehört der Begriff eines allerrealsten Wesens, des ens realissimum, ens originarium, ens entium, ens necessarium. Denkgegenstand ist aber schließlich auch das überhaupt Mögliche, das nicht motiviert-möglich und von der Wirklichkeit schon einbeschlossen ist ‒ etwa ein Phantasiegebilde. Alle Denk-Gegenstände enthalten eine Denk-Möglichkeit, durch die ihre Wirklichkeit nicht ausgemacht ist. Das Wirkliche dagegen ist „Gegenstand der Erfahrung“, eine Erscheinung, der ein sinnliches Datum zugrundeliegt. Was aufgrund einer sinnlichen Empfindung erscheint, wird unter den Bedingungen der Anschauung und des Denkens erfahren und erkannt. Die Einteilung des „Gegenstands“ in Etwas und Nichts läßt sich also weiterführen zu der Einteilung in Gegenstand der Erfahrung und Ding an sich. Der Satz vom Widerspruch gilt für alle Dinge als Denkgegenstände, und damit gilt er eo ipso auch für Gegenstände der Erfahrung, da diese, als „wirklich“, auch „möglich“ sein müssen. Der Satz vom Widerspruch regelt allgemein das Verhältnis von Denkgegenstand und Prädikat. Sofern die Gegenstände der Erfahrung selbst auch Denkgegenstände sind, sind sie dem Satz vom Widerspruch unterworfen, aber der Satz reicht nicht zu, um die Wahrheit der Erfahrungsgegenstände zu begründen; dazu bedarf es eines eigenen, synthetischen Prinzips. „Keinem Dinge kommt ein Prädikat zu, das ihm widerspricht …“. Positiv gewendet: alle Dinge weisen Prädikate ab, die ihnen widersprechen. Ein Denkgegenstand, der ein widersprechendes Prädikat hat, löst sich auf; der Gedanke ist nicht vollziehbar. Am Wider­ spruch zerbricht der Denkgegenstand. Auch in der Kantischen Formulierung des Satzes vom Widerspruch wird vom Begriff des Zukommens Gebrauch gemacht. Aristoteles hatte das zugleich Zukommen und Nichtzukommen eines Prädikats ausgeschlossen und damit in gewisser Weise den Wider­ spruch umschrieben. Bei Kant aber wird hier das zu Erläuternde als Mittel 260

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der Erläuterung gebraucht: „… welches ihm widerspricht“. Dies gilt als ein Verstoß gegen die Grundregel der Definition. | Aristoteles stellt den Widerspruch dar als Versuch einer konkurrieren­ den Seinsbestimmung. Bei Kant wird der Widerspruch auf ein Begriffsver­ hältnis hin interpretiert. Wenn die explizite Bestimmung eines Gegenstands im Urteil nicht vereinbar ist mit der impliziten Bestimmtheit des Gegen­ stands selbst, so besteht ein Widerspruch. Der Satz, in dem die Ausfaltung eines impliziten Bestimmungsgehaltes in die explizite Form geschieht, ist das analytische Urteil. Die reinste Form des analytischen Urteils ist die Tautologie, das Urteil der Identität. Dieses ist die untere Grenze der Expli­ kationsmöglichkeit, da das Gedachte nur von sich unterschieden und mit sich identifiziert wird. Auch die analytischen Urteile sind Identitätsurteile, aber nur partiale. Der Satz „Alle Körper sind ausgedehnt“ zeigt nur in deutlicherer Weise dasjenige auf, über das wir bereits verfügen; wir erläutern diese Bestimmtheit für andere und für uns selbst, und indem wir so unsere wissensmäßige Verfügung vertiefen, vollziehen wir auch einen Wissenspro­ zeß. Der Widerspruch besteht nun für Kant darin, daß einem Ding ein Prädikat zugesprochen wird, das im Begriff des Dinges nicht nur nicht gedacht war (dies ist ja gerade bei den synthetischen Urteilen notwendig der Fall), sondern das das im Begriff des Dinges implizit Gedachte zerstört, also etwa der Satz: „Ein Körper ist nicht ausgedehnt“. Das Widersprechen ist sehr viel härter als ein bloßes „Stören“ oder „Beengen“, „Begrenzen“. Den meisten Dingen kommen Prädikate zu, die sie bestreiten, jedoch keines, das von dessen Sinngehalt überhaupt ausgesperrt ist. Kant bezieht also den Satz vom Widerspruch auf das Begriffsverhältnis. Erst auf dem Hintergrund dieser Formulierung erhält die Hegelsche These ihre Prägnanz, die These nämlich, daß der Widerspruch im (begrifflichen) Sein der Dinge ist. Diese These besagt nicht, daß die Dinge korrumpierbar sind (dies ist bereits eine Folgeerscheinung), sondern daß sie in einer begrifflichen Spannung stehen, daß ihnen jene Selbstzerstörung eigentümlich ist, welche Kant ausdrücklich vom Ding abgehalten hat. Der Satz vom Widerspruch gehört, nach Kant, „bloß in die Logik“. Damit wird deutlich gesagt, daß der Widerspruch begrifflich zu fassen ist, und nicht etwa als ontische oder ontologische Macht der Bestreitung der Dinge. Wir können die | Denkgegenstände nur denken als eindeutig bestimmt. Ein Ding kann nur solche Prädikate haben, welche mit der inbegrifflichen Gesamtbestimmung des Dinges zusammenstimmen. Wir können also aus der Kantischen Interpretation herausheben: den Begriff des Dinges über­ haupt, den Begriff des Widersprechens, das selbst ein Begriffsverhältnis ist, und den Begriff des Zukommens als Verhältnis der Implikation und Explikation. Der Satz vom Widerspruch ist nicht „logisch“ im Sinne einer instrumentalen Technik, sondern die Logik ist der Inbegriff der Regeln für 261

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die Vernunfthandlung, die alles Denkbare überblickt, die aber noch allem Erfahrbaren Regeln vorzeichnet. Die Logizität dieses Satzes macht seine Allgemeinheit aus, sie genügt freilich nicht, um die Wahrheit der Erfahrung zu begründen.

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| 11. Als Erkenntnisgegenstand ist das Ding für Kant Gegenstand der Erfahrung, als Ding überhaupt ist es immerhin zurückbezogen auf das menschliche Denken. Wenn anders das Denken jede Weise des Zugangs ist, in der Dinge überhaupt begegnen, dann sind die Denkgesetze zugleich Gegenstandsgesetze schlechthin. Insofern hat dann die formale Logik für Kant nicht bloß eine Verbindlichkeit für das subjektive Denken. Der in der formalen Logik beheimatete Satz des Widerspruchs kann so formuliert wer­ den: keinem Gegenstand als Gedachtem eines Denkens kommt ein Prädikat zu, das ihm widerspricht. Der Widerspruch besteht in der Unvereinbarkeit des expliziten Sinnes zum impliziten Sinn. Wird der Satz vom Widerspruch auf dieses logische Verhältnis zurückgeführt, das den ontologischen Sinn aller Gegenstände angibt, so hat der Satz nicht nur für Aristoteles, sondern auch für Kant eine „ontologische“ Bedeutung, eine Bedeutung für alle „Gegenstände überhaupt“. Wenn Kant den Satz des Widerspruchs nur als Denkgesetz, nur als formallogischen Grundsatz gelten läßt, so heißt das nicht, der Satz sei nur subjektiv. Der Satz des Widerspruchs ist objektiv, da er die Objektivität aller Objekte betrifft. Die Gegenstände der Erfahrung müssen die Bedingungen der Gegenstände überhaupt vorweg erfüllen; darüber hinaus kommt ihnen dann noch eine inhaltliche Bestimmtheit zu. Für Kant ist der Satz vom Widerspruch ein gegenstandslogischer Grundsatz. Kant übt aber Kritik an der aristotelischen Formulierung des Satzes vom Widerspruch; er findet in dieser ein synthetisches Moment, das nicht hineingehöre. Dieses synthetische Moment ist das „zugleich“, die Zeitbestimmung, welche nach Kants Ansicht das rein analytische Prinzip verunreinigt. Ferner wirft er Aristoteles vor, daß dieser unnötigerweise die apodiktische Gewißheit in die Formulierung mit aufgenommen habe. Als analytisches Verhältnis ist der Satz vom Widerspruch ohnehin apodiktisch; deshalb war es unnötig, auf die apodiktische Geltung noch eigens zu reflek­ tieren. Es handelt sich hier nach Kant um eine Art von Umgriffsiteration, die immer dann eintritt, wenn die in einem Satz implizierten Modalitäten eigens reflektierend herausgezogen werden („Es ist wahr, daß …“). Die Einführung der Zeitbestimmung sei nur deshalb nötig geworden, weil Aristoteles, ebenfalls über|flüssigerweise, das vom Satz des Widerspruchs geregelte Verhältnis als ein Verhältnis von Ding und mehreren Prädikaten angegeben hatte, wo ein Prädikat genügt hätte. Der Satz vom Widerspruch sollte für Aristoteles das Zukommen kontradiktorisch entgegengesetzter 262

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Prädikate ausschließen; das non-P, welches nicht zusammen mit dem P einem Ding zugesprochen werden kann, hat also nicht den limitativen Sinn eines bloß andern (ein Ding ist Träger vieler Bestimmungen, die sich gegenseitig nichts angehen), sondern der strengen Negation. Kontradikto­ risch entgegengesetzte Prädikate können nacheinander demselben Ding freilich zukommen, ein ungelehrter Mensch kann auch gelehrt sein; nur nicht zugleich. Für Aristoteles spielt sich der Widerspruch in den Prädikaten ab, und durch eine zeitliche Differenz des Zukommens kann er wieder aufgehoben werden. Die Zeit ist aber für Aristoteles auch die Dimension, in der über das Zukommen und Nichtzukommen entschieden wird; das Bestimmen eines Dinges (das vom Bestimmtsein des Dinges zu unterschei­ den ist) ist ein zeitlicher Vorgang. Für Kant ist die Zeit auch eine Dimension des Bestimmens, sie besteht aber nicht für die analytischen, sondern nur für die synthetischen Wahrheiten. Für Aristoteles betrifft der Satz vom Widerspruch ein Seins- und Zeitverhältnis; für Kant bezieht er sich auf ein Begriffsverhältnis. Hierin liegt der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Fassungen des Satzes vom Widerspruch. Aristoteles hat in seiner Interpretation den Satz vom Widerspruch erläuternd umschrieben, während Kant eine Definition des Satzes gibt, die den Fehler hat, in der Begriffsbestimmung den zu bestimmenden Begriff zu gebrauchen. Kant hat auf dem Boden seiner Grundunterscheidung eine rein analyti­ sche Form des Satzes vom Widerspruch zu finden versucht. Für Aristoteles gilt der Satz vom Widerspruch streng genommen nur für das Seiende in der Zeit; deshalb gehört auch die pragmatische Wendung, die der Satz bei Aristoteles hat, wesentlich dazu. Die Kantische Fassung gilt, weil sie ein Begriffsverhältnis bezeichnet, auch von Zeitverhältnissen und Zeitgegen­ ständen. Bei Aristoteles ist der Satz vom Widerspruch die oberste Bedingung für die Sagbarkeit des Seienden und für die Seinserschließung von Worten; er ist ein onto-logischer Satz, dem zufolge die Verbindung von on und logos im Felde der Zeit geschieht. Für Kant löst der Satz vom Widerspruch das Problem eines Begriffsverhältnisses, und zu|dem ein Bestimmungsproblem; dieses besagt aber nur, daß kein Denk-Gegenstand denkend so bestimmt werden kann, daß das gedachte Prädikat dem gedachten Sinn des Subjekts widerspricht. Beide Fassungen des Satzes vom Widerspruch machen die Voraussetzung, daß alles Bestimmbare ein begrenztes, endliches, verschlos­ senes Ding ist; das Wesen des Dinges wird in dem Satz so gedacht, daß es jeden Widerspruch von sich weghält. Die Dinge selbst sind widerspruchsfrei. Der Satz vom Widerspruch ist prohibitiv gemeint; er soll verhindern, daß jemand das Ding (bei Aristoteles) oder den Gegenstand (bei Kant) als in sich selbst widersprüchlich denkt. Nun spielen in Kants Kritik der reinen Vernunft einige Denkgegenstände eine bedeutsame Rolle, bei denen jene Voraussetzung, daß der Widerspruch 263

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die Sachen selbst nicht berühre, offenbar fehlt. Es handelt sich um solche Denkgegenstände, in denen die Vernunft keine begrenzten Dinge, sondern das Ganze denkt. Es scheint, daß bei diesem Totum ein Widerspruch möglich wäre. Das Totum wird in dreifacher Form vorgestellt: 1. als das letzte Substantiale. Wenn wir der Zurückverweisung auf das Zugrundeliegende folgen, indem wir das Subjekt eines Prädikats suchen, und das gefundene Subjekt wieder als Prädikat eines Subjekts auffassen usw., so kommen wir, wenn dieser Regreß nicht ins Unendliche fortgeht, auf ein letztes Zugrun­ deliegendes, also z. B. die Materie. Wir können dieses Letzte nie direkt vorweisen; aber wenn wir die Einzeldinge als vorübergehende Zustände des Zugrundeliegenden, eines Urdinges, auffassen, ein letztes Substantiales, eine Ursubstanz postulieren. Diese ist dann als Totalität zu betrachten, als das, woraus alles Mannigfaltige besteht. Es scheint nun, daß wir diese Ursubstanz in unserm Selbstbewußtsein finden können, nicht als materielle, sondern als immaterielle Substanz; wenn wir von den Bestimmungen, den Zuständen unseres Gemüts zurückgehen auf den Träger derselben, so stoßen wir auf die „Seele“. Aber der Versuch, das letzte Substantiale (welches ein notwendiger Vernunftbegriff ist) als Seele auszulegen und daraus die Unsterblichkeit der Seele zu folgern, endet für Kant in den „Paralogismen“ der reinen, rationalen Seelenlehre. Eine solche immaterielle Substanz kann kein menschlicher Erkenntnisgegenstand sein. 2. Die Erfahrung hat einen ausschnitthaften Charakter in der Offenheit des Erfahrungsfeldes. Diese Ausschnitthaftigkeit zwingt die | menschliche Vernunft dazu, ein Ganzes zu denken: den Kosmos, als Inbegriff aller Erscheinungen. Sein Begriff wird in den kosmologischen Antinomien abgehandelt. Kant zeigt, wie wir beim Durchdenken der Thesis (z. B. „Die Welt hat einen Anfang“) zur Antithesis gelangen („Die Welt hat keinen Anfang“), und beim Durchdenken der Antithesis zurück zur Thesis. Die Vernunft gerät hier in Widersprüche, die sie nicht vermeiden kann. 3. Die Dinge, die erscheinen, sind Wirkungen des Dinges an sich; dieses ist daher das transzendentale Ideal der reinen Vernunft, die omnitudo realitatis. Die rationale Theologie verfälscht diese Idee, indem sie sie durch den Begriff „Gott“, also eines Seienden, besetzt. Die Vernunft muß notwendig das Totum denken; aber indem sie es denkt, verwickelt sie sich in Widersprüche. Bei den Dingen kann Kant die Widerspruchslosigkeit erweisen und durchhalten; in den größten, bedeu­ tendsten Gegenständen der Vernunft aber steckt der Widerspruch. Ist aber dann der Widerspruch nicht auch in den Dingen zu finden? Kant löst diese Schwierigkeit auf, indem er die Totalitätsgedanken ins Subjekt zurücknimmt. Seele, Welt und Gott sind für Kant nur menschliche Ent­ würfe, regulative Ideen der Vernunft; wir müssen sie zwar denken, aber es entspricht ihnen nichts Wirkliches, keine Sache. Seele, Welt und Gott sind nicht „gegeben“, sondern „aufgegeben“. Kant entdeckt an ihnen einen 264

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„transzendentalen Schein“ und subjektiviert sie. Auch sonst legt man den Widerspruch dem menschlichen Vernehmen, nicht den Dingen zur Last; aber hier gilt diese Art von Widerspruch als unvermeidlich. Das Problem des Widerspruchs in der transzendentalen Dialektik wird aufgenommen von Hegel. Hegel äußerte in seiner Kantkritik, daß Kant sich zwar über den Standpunkt des bloßen Verstandes erhoben hätte durch den Gedanken des Totum. Aber Kant hätte nur eine Dialektik dieses Totum, nicht auch des Dinges entwickelt. Hegel versucht nun, den Widerspruch nicht nur in bezug auf das Ganze, also kosmologisch (in einem erweiterten Sinn), sondern in bezug auf das Ding und mithin überhaupt ontologisch zu fassen. Seine Philosophie versucht das endliche Ding als existenten Widerspruch zu begreifen. Das Ding ist nur eine Station in der Bewegung des Lebens der Idee und des Geistes. Das Ding gibt vor zu sein, während nur die Gesamtheit der Bewegung des absoluten Geistes wirklich ist. In den Dingen haust der Widerspruch und zeigt sich als das Prinzip ihrer Zerstörung. Für Kant ist der Widerspruch in | den Ganzheitsvorstellungen ein nicht vermeidbarer Schein, der zum Sein des Ganzen gehört. Aber da Kant diesen Widerspruch durch die Subjektivierung der Totalitätsgedanken entschärft, braucht er ihn nicht als zerstörende, im Sein des Ganzen wirkende Kraft zu begreifen. Die wichtigste Stelle in Hegels Werk, die vom Widerspruch handelt, findet sich im zweiten Buch der Wissenschaft der Logik. Dies ist kein Lehr­ buch der formalen Logik; Logik ist für Hegel Philosophie überhaupt. In der Phänomenologie des Geistes versucht Hegel, von der Situation des mensch­ lichen Wissens aus durch einen Gang der Besinnung in eine ursprünglichere Dimension des Wissens zu gelangen, bis das absolute Wissen sich verwirk­ licht. Das endliche Wissen ist gekennzeichnet durch den Unterschied des Wissens und des Gewußten; das Wissen erscheint als äußere Beziehung auf den Gegenstand. Im Bezug auf die endlichen Dinge erkennt sich der Mensch selbst als endlich, als nicht beständig; er gelangt zur Aufhebung des endlichen Wissens und des Menschen als endlichen Selbstbewußtseins. Im „absoluten Wissen“ ist der Unterschied des Wissens und des Gewußten getilgt. Dieses Ende der Phänomenologie des Geistes wird zum Ansatzpunkt für die Wissenschaft der Logik. Die Wissenschaft der Logik ist in die „objektive“ und in die „subjektive“ Logik eingeteilt; die letztere heißt auch die „Lehre vom Begriff“. Die objektive Logik ist unterteilt in die „Lehre vom Sein“ und in die „Lehre vom Wesen“. Der Widerspruch wird thematisiert in der „Lehre vom Wesen“. Der Satz vom Widerspruch tritt dabei nicht für sich auf, er ist eingestellt in die Erörterung der gesamten Grundsätze des Denkens. Die Lehre vom Wesen setzt die Lehre vom Sein voraus. Das Sein ist das „unbestimmte Unmit­ telbare“.19 Das Wesen müssen wir verstehen als eine geistige Bewegung, die von dem Unmittelbaren ausgeht und das Unmittelbare vor sich selbst 265

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bringt. Das Unmittelbare ist dann „vermittelt“. Das Wesen ist also ein Prozeß, es wird erläutert als „Reflexion in ihm selbst“.20 Die Reflexion bedeutet gewöhnlich eine Art von Bewegung: ein Unmittelbares, z. B. ein Sinnending, wird von einer Wahrnehmung aufgenommen, und diese wird selbst wahrgenommen. Hier ist die Reflexion noch ein Phänomen des menschlichen Meinens, ein Akt der Zurückbeugung auf dieses selbst. Für Hegel ist die Reflexion die Bewegung von Seiendem in sich | selbst zurück, das Sich-auf-sich-selbst-Beziehen. Dieses findet sich nicht bloß in vernunftbegabten Lebewesen, sondern in allem Seienden. Die Reflexion wird also grundsätzlich ontologisch verstanden. Sie wird aber nicht bezogen auf endliche, abgeschlossene Dinge. Wir können beim Ding Wesentliches und Unwesentliches unterscheiden und beziehen uns damit reflektierend auf das Ding. Bei Hegel ist die Reflexion gedacht als das Sein der Dinge, nämlich als ihr Sich-in-sich-selbst-Unterscheiden und Sich-auf-sich-Beziehen. Die Unterscheidung in Wesentliches und Unwesentliches ist für Hegel das Wal­ ten, das Geschehen der Reflexion. Die Sätze, um die es sich dabei handelt, sind „Reflexionsbestimmungen“ des Sich-auf-sich-selbst-Beziehens, des Sich-von-sich-Unterscheidens und des Sich-selbst-Widersprechens. Was im Bestimmen bestimmt wird, ist sozusagen eindimensional. Aber durch die Auseinanderlegung des Seins in Wesentliches und Unwesentliches spaltet sich das Seiende auf; es gibt jetzt eine Vordergründigkeit und eine Hintergründigkeit, den Schein und das Wesen. Beide sind notwendig ver­ bunden, oder „das Wesen muß scheinen“ (wobei das Verbum einen aktiven, gewissermaßen transitiven Sinn hat); andererseits gibt es keinen Schein, den wir nicht von einem Wesen unterscheiden müssen. Damit gewinnen wir Einblick in eine Bewegung, die im Herzen der Dinge selbst vor sich geht; was Hegel als „Reflexionsbestimmungen“ ansetzt, sind ontologische Grundprozesse, nicht als Vorgänge im menschlichen Denken, sondern im Seienden selbst. | 12. Hegels Blickbahn für die Erörterung des Satzes vom Widerspruch ist eher durch Kants „Amphibolie der Reflexionsbegriffe“ bestimmt als durch Kants eigene Bestimmung des Satzes vom Widerspruch. Die „Amphibolie der Reflexionsbegriffe“ bildet den Anhang zur „transzendentalen Analytik“ der Kritik der reinen Vernunft. Kant bestimmt dort die Reflexion als eine Handlung unseres Gemüts, nämlich als Selbstbeobachtung der Vernunft. Die Amphibolie der Reflexionsbegriffe gibt eine Überschau über die ver­ schiedenen Erkenntniskräfte. Bei Hegel wird die Reflexion allgemeiner bestimmt als die Bewegung des Seins in seine Wahrheit, in das Wesen. In der Form der Reflexion wird das einfache Unmittelbare in die Selbstunter­ scheidung in Wesentliches und Unwesentliches überführt. „Reflexion“ hat 266

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also für Hegel den allgemeinontologischen Sinn eines sich in allen Dingen vollziehenden Prozesses der Selbstunterscheidung. Hier ist der Ort für die allgemeinsten Denkgesetze, die wir im Satz der Identität, des Widerspruchs, im Satz des ausgeschlossenen Dritten und im Satz vom Grunde formulie­ ren. Identität, Verschiedenheit, Widerspruch, ausgeschlossenes Drittes und Grund sind aber für Hegel nicht Denk- und auch nicht Dingstrukturen, sondern Momente des Prozesses, durch den Dinge überhaupt be-dingt werden. Darin zeigt sich ein grundsätzlicher Unterschied im Vergleich zur Auffassung des Aristoteles und Kants. Die Selbstunterscheidung des Wesens und Unwesens betrifft alle Dinge in ihrer Bedingtheit. Die genann­ ten Sätze betreffen für Hegel sowohl das Denken als auch das Sein, aber nicht in der Form vorliegender Dinge und abstrakt sich darauf beziehender Gedanken, sondern als den Prozeß ihres Zustandekommens. Man könnte sie onto-gonische Sätze nennen. Hegel stößt sich von der traditionellen Ansicht in bezug auf diese Sätze ab, von der Ansicht nämlich, „daß sie von allem gelten“.21 Die Sätze gelten nicht „von allem“, weder wenn das „alles“ als „jedes einzelne“ noch wenn es als die Gesamtheit verstanden wird. Sie beziehen sich vielmehr auf den Prozeß, in welchem die Einzeldinge aus der Totalität werden, auf den Prozeß der Vereinzelung. Als Beispiel wählt Hegel die Identität, bzw. | als deren Umkehrung den Grundsatz „A kann nicht zugleich A und nicht A sein“ ‒ also den Satz vom Widerspruch, in den Hegel das von Kant ausgeschiedene „zugleich“ wieder eingefügt hat. Der Satz besagt, daß Sichselbstgleichheit die Grundstruktur des Dinges ausmacht; er wird von uns formuliert. Aber für Hegel werden die Reflexionsbestimmungen nicht vom reflektierenden Menschen aufgestellt, sie sind vielmehr Bestimmungen an der Sache, die die Reflexion ist, oder Bestimmungen über die Reflexion. Es sind Bestimmungen, die dem sich von sich selbst unterscheidenden Sein (das eben ist „Reflexion“) zukommen. „[…] Indem es Bestimmtheiten sind, welche Beziehungen an sich selbst sind, so enthalten sie insofern die Form des Satzes schon in sich“.22 Der Satz der Identität ist also nicht ein Satz über die Identität (so wie jeder Satz einen Gegenstand hat, auf den er sich bezieht); vielmehr fordert die Identität als Bestimmung der Reflexion den Satzcharakter. Indem Hegel die Reflexionsbestimmung als Bestimmung des Prozesses der Reflexion, also einer Beziehung, auffaßt, kann er sagen, daß die Reflexionsbestimmung das „Setzen“ schon in sich hat. „Den Reflexionsbestimmungen […] als in sich reflektiertem Gesetztsein liegt die Form des Satzes selbst nahe“.23 Die Sätze der Reflexionsbestimmungen beziehen sich auf „alles“ als ihr Substrat. „Alles“ ist hier der Inbegriff für „jedes“. Die Reflexionsbestimmun­ gen weisen nun das Leben des Ganzen als durch jedes gesetzte Teilmoment hindurchströmend auf. Die Gegenwart, die parousia des Ganzen in den 267

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einzelnen, gesetzten Bestimmtheiten wird mit den Reflexionsbestimmun­ gen gedacht. Die Reflexionsbestimmungen treten in der Mehrzahl auf, und es könnte der Anschein entstehen, als ob sie nur nebeneinander stünden, nicht aufein­ ander bezogen wären. Aber sie sind „bestimmte gegen einander, sie sind also durch ihre Form der Reflexion, dem Übergehen und dem Widerspruche nicht entnommen. […] Sie widersprechen einander und heben sich gegenseitig auf“.24 Als Sätze über die Strukturiertheit der Dinge oder des Denkens sind sie freilich nicht im Konflikt. Aber für Hegel sind diese Sätze nicht verträglich, da durch den Reflexionsprozeß die Dinge unter verschiedene Hinsichten geraten. Hegel tritt den | Beweis für diese Behauptung an und beginnt mit der Identität. „Wenn Alles identisch mit sich ist, so ist es nicht verschieden, nicht entgegengesetzt, hat keinen Grund“.25 Wenn wir die Identität streng denken, dann schließt sie die Verschiedenheit aus. Aber um den Satz der Identität zu formulieren, müssen wir das A vom A zuerst unterscheiden, um es dann als ununterschieden darzustellen; wir machen Gebrauch von der Denkart, welche Verschiedenheit denkt. Der Gedanke der Identität kann nur exponiert werden, wenn wir von der Verschiedenheit Gebrauch machen. Es ist unmöglich, die beabsichtigte Bestimmung rein durchzuführen. Die Grundsätze sind überhaupt intolerant gegeneinander. Nur „die gedankenlose Betrachtung derselben zählt sie nach einander auf“;26 diese Gedankenlosigkeit findet Hegel also in der großen philosophischen Tradition. Die Identität wird durch ihre Bestimmung weitergetrieben zum Unter­ schied, dieser wird über Verschiedenheit und Gegensatz zum Widerspruch verschärft, und der Widerspruch führt zum Grund. Dies ist eine Bewegung, in der die Bestimmung des die Dinge bedingenden Reflexionsprozesses gedacht wird. Die Identität ist für Hegel nichts anderes als das Wesen. Wir finden gewöhnlich die Identität am Ding. Hegel aber geht nicht vom Ding aus, um die Identität zu finden, sondern faßt das Ding als Resultat des Refle­ xionsprozesses der Unterscheidung von Wesen und Unwesen. Das Mitsich­ selbstgleichsein ist die Unmittelbarkeit der Reflexion, diese ist aber bezogen auf einen Prozeß der Bedingung, auf einen Prozeß der Unterscheidung von Wesen und Unwesen. Die Dinge sind jetzt Resultate dieses Prozesses der Reflexion, die wiederhergestellte Unmittelbarkeit, die „Unmittelbarkeit der Reflexion“.27 Die Identität muß demnach nicht als Einssein, sondern als Einigung aufgefaßt werden; die Resultate werden zurückgedacht auf den Prozeß. In der Phänomenologie des Geistes bedeutet die Aufhebung der Fremdheit, das Sichherstellen im andern, das Hervorgehen der spekulativen Identität; diese ist der Geist, der sich als die Wahrheit auch der Natur erkennt. Hier, bei der Erörterung der Reflexionsverhältnisse, handelt es sich um den Prozeß des Einsseins, also um das „Einen“. Dieses darf nicht als 268

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nachträgliche Vereinigung einer schon zuvor bestehenden Mannigfaltigkeit aufgefaßt werden. Die prozeßhafte, die „wesentliche Identität“ wird auch unterschieden von der bloß „abstrakten Identität“;28 diese bezeichnet die ruhende oder | stehende Identität eines Dinges, sofern dieses nur es selbst und alles andere nicht ist. Hegel sucht ein Einen zu denken, das die Sache selbst, die Einheit des Dinges allererst herstellt. „Der Begriff der Identität, einfache sich auf sich beziehende Negativität zu sein, […] hat sich an dem Sein selbst ergeben“.29 Nämlich jede getroffene Bestimmung ist „das Gegen­ teil ihrer selbst“.30 Als „Gegenteil seiner selbst“ kann das Absolute bezeichnet werden; denn es „ist“ das Relative. Die Kopula bezeichnet hier nicht eine einfache Gleichung, sie bezeichnet ein Geschehen, ein Vollbringen, einen Vollzug. Das Ansichseiende ist zugleich das Erscheinende; das Wesen, das Absolute muß in den Gegensatz seiner selbst hinausgehen. Es ist nur Leben, indem es sich bewegt, in sein Gegenteil umschlägt, das aber doch wiederum es selbst ist. Die wahre Identität ist, wie es Hegel schon in den Jenenser Schriften ausdrückt, die „Identität der Identität und der Nichtidentität“.31 Die wesentliche Identität ist „als absolute Negation“ „die Negation, die unmittelbar sich selbst negiert; ein Nicht-sein und Unterschied, der in seinem Entstehen verschwindet, oder ein Unterscheiden, wodurch nichts unterschieden wird, sondern das unmittelbar in sich selbst zusammenfällt“.32 Es ist eine Identität, die durch den Unterschied hindurchgeht, sie ist die Iden­ tität des Prozesses des Sichselbstunterscheidens. Was sich so unterscheidet, ohne in die Unterschiede auseinanderzufallen, was seine Entzweiung ebenso wieder aufhebt, ist für Hegel „das Leben“ (Phänomenologie des Geistes). Auch der Prozeß des Wesens setzt den Unterschied von Wesen und Unwesen, aber durch dieses Setzen wird das Unwesen nicht zu einer selbständigen Macht. Der Denkvollzug der Identität geht also im Unterscheiden nicht zu etwas Fremdem hinaus, unterscheidend gesetzt wird vielmehr nichts, also hebt sich das Unterscheiden selbst auf. Das Sichunterscheiden ist wesentlich, aber das A ist nicht nicht A. Scheinbar gehen wir von dem A weg zu einem andern, aber der Unterschied ist Unterschied zu nichts, er ist kein relativer, sondern „der absolute Unterschied“.33 Wenn Hegel dann den Satz der Identität betrachtet, so zeigt sich eine Verwandtschaft zu Platons Sophistes, nämlich zur Verflechtung und gegen­ seitigen Durchdringung der fünf höchsten, ursprünglichsten Ideen, die sich ausschließen, die aber | doch nur im wechselseitigen Gebrauch expliziert werden können. Wenn „A = A“ ist, wenn die Identität nur die Identität ist, dann bedeutet das die Negation der Verschiedenheit; nur im Horizont des Verschiedenseins können wir Identität verstehen. Hegel reflektiert dann auf die Form des Satzes der Identität. Die mit dem Satzanfang „A ist“ verbundene Intention möchte sich von dem A abstoßen und zu einem andern hinkommen, möchte „B“ sagen; aber das andere verschwindet, der Satz 269

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kehrt in sich selbst zurück. Diese Satzform ist dem menschlichen Meinen zuwider, sie wird von Hegel als Form der Bewegung des Reflexionsprozesses selbst angesetzt. Diese Reflexion negiert das A und negiert dann wiederum dieses Negieren. „A = A“ ist das Grundmodell der Philosophie Hegels. Das scheinbare Weggehen von A stößt ins Leere, weist damit A auf sich selbst zurück; so ist A reines Sein und Totalität zugleich. Der Satz des Widerspruchs wird dann von Hegel als „der andere Aus­ druck des Satzes der Identität“34 behandelt. Im Vollzug des Prozesses, der die Identität vollbringt, im Prozeß des Einens ist der Unterschied verborgen einheimisch. Die Gleichsetzung ist nur möglich auf dem Untergrund des Unterschieds. Es kann hier nicht darauf eingegangen werden, wie Hegel aus der Identität den Unterschied ableitet, zunächst den absoluten Unterschied, dann die Verschiedenheit; diese wird zum Gegensatz entwickelt, und als Resultat des Gegensatzes erscheint der Widerspruch. Identität und Differenz ist für Hegel dasselbe. Hegel deduziert aus dem Satz der Identität alle ande­ ren Sätze. In der dritten Anmerkung von „C. Der Widerspruch“ formuliert dann Hegel den Satz des Widerspruchs, wie er seiner Philosophie entspricht: „Alle Dinge sind an sich selbst widersprechend“.35 Diese Formulierung klingt hart im Hinblick auf die früher besprochenen Formulierungen des Satzes vom Widerspruch. Der Widerspruch ist für Hegel nicht gleichrangig mit der Identität, er ist als „die Wurzel aller Bewegung und Lebendigkeit“36 der Weltprozeß, der Prozeß der absoluten Idee, das Leben im Sein aller Dinge. Die Behauptung, bei der wir unser Seminar angefangen haben, die Behauptung nämlich, „daß es nichts Widersprechendes gebe“,37 wird von Hegel als unphilosophisch zurückgewiesen. Zurückgewiesen wird auch die philosophische Relevanz der Behauptung (des Aristoteles), „das Widerspre­ chende könne nicht vorgestellt noch gedacht werden“.38 Der Widerspruch ist für Hegel „eine absolute Bestimmung des We|sens“,39 die sich auch in der Erfahrung muß belegen lassen können. Es gilt aber, den Begriff des Seins umzudenken. „Man muß den alten Dialektikern (d. i. den Eleaten) die Widersprüche zugeben, die sie in der Bewegung aufzeigen, aber daraus folgt nicht, daß darum die Bewegung nicht ist, sondern vielmehr, daß die Bewegung der daseiende Widerspruch selbst ist“.40 Die Bewegung ist für Hegel die Reflexion. Der Reflexionsprozeß ist „identisch“, „verschieden“, „sich widersprechend“. Die absolute Idee ist nur als Bewegung, als daseiender Widerspruch. Für Hegel gehört die Bewegung nicht einem bestimmten Feld der Wirklichkeit an, in der man Bewegtes und Unbewegtes und vielleicht noch Unbewegt-Bewegendes unterscheiden könnte; Bewegung ist für ihn das Wirkend-Wirkliche in allem was ist. Für Hegel wird das Seiende nicht durch einen Satz vom Widerspruch im Sinne von Aristoteles oder Kant in seiner eindeutigen Bestimmtheit festgehalten; der Prozeß muß als das Wesen in das Unwesen übergehen, er muß im Schein „scheinen“. Identisch 270

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sind primär für Hegel nicht die Dinge, sondern ist nur die Bewegung. Er geht aus von der Bewegung und fragt dann nach der Möglichkeit der zeitweiligen Erscheinung, der entstehenden und vergehenden Dinge. Die Reflexionsbestimmungen sind nicht vom Denken ausgehende oder gesetzte Bestimmungen, sondern Bestimmungen des Reflexionsprozesses selbst. Erst in abgeleiteter Weise sind Identität, Unterschied, Widerspruch Bestim­ mungen auch der Dinge; primär sind sie das Einende. „Das spekulative Denken“ aber muß den Widerspruch als sein eigenes Wesen verstehen; es ist dann nicht dem Widerspruch untertan wie das vorstellende Denken, das zurückweicht, wenn sich Widersprüche zeigen. Die Wahrheit über die endlichen Dinge ist, „widersprechend an sich selbst, in sich gebrochen zu sein und in ihren Grund zurückzugehen“.41 Die Philosophie muß denkend mit der Bewegung, die der in den Dingen hausende Widerspruch ist, mitgehen, um das Absolute denkend zu erfahren. Das Endliche ist, indem es zugrunde geht, der Wegweiser, der das Ganze freigibt. Beim Zerbrechen des endlichen Seins und mit der Einsicht in den Widerspruch desselben öffnet sich die Totalität als der Grund, aus dem alle Einzeldinge kommen und in den sie wieder vergehen. Das Seminar sollte der Anlage nach abschließen mit einem systema­ tischen Versuch, nach der Erörterung der Formeln für den | Satz vom Widerspruch bei Aristoteles, Kant und Hegel das Individuationsproblem als Horizont einer neuen Frage nach Identität und Widerspruch zu exponieren. Dazu konnte es aus Zeitmangel nicht mehr kommen. Entscheidend für eine „Übung“ im Denken ist nicht die Ankunft in einem „Resultat“ als vielmehr der begangene Weg.

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Heraklit ‹Seminar Wintersemester 1966/1967 (mit Martin Heidegger)›

Im Wintersemester 1966/67 fand an der Universität Freiburg i. Br. ein von Martin Heidegger und Eugen Fink gemeinsam veranstaltetes HeraklitSeminar statt, dessen protokollierter Text hiermit vorgelegt wird. Da geplant war, die Interpretation über eine Reihe von Semestern fortzusetzen, der Plan jedoch nicht realisiert werden konnte, ist die vorliegende Veröffentlichung ein Torso, ein Fragment über Fragmente. Freiburg im Breisgau, April 1970 Eugen Fink

INHALT I.

Art des Vorgehens – Beginn mit Fragment 64 (beigezogene Frag­ mente: 41, 1, 50, 47) II. Hermeneutischer Zirkel – Bezug von ἕν und πάντα (beigezogene Fragmente: 1, 7, 80, 10, 29, 30, 41, 53, 90, 100, 102, 108, 114) III. πάντα-ὅλον, πάντα-ὄντα – Unterschiedliche Auslegung des Fragments 7 (beigezogenes Fragment 67) – πᾶν ἑρπετόν (Fragment 11) – Zeiti­ gungscharakter der Horen (Fragment 100) IV. Ἥλιος, Tageshelle – Nacht, μέτρα – τέρματα (beigezogene Fragmente: 94, 120, 99, 3, 6, 57, 106, 123) V. Problem einer spekulativen Auslegung – πῦρ ἀείζωον und Zeit? (Fragment 30) VI. πῦρ und πάντα (beigezogene Fragmente: 30, 124, 66, 76, 31) VII. Differenz der Interpreten: Wahrheit des Seins (Fragment 16) oder kosmologische Perspektive (Fragment 64) – Heraklit und die Sache des Denkens – Das Noch-nicht-Metaphysische und das Nicht-mehrMetaphysische – Hegels Verhältnis zu den Griechen – πυρὸς τροπαί und das Tagen (beigezogene Fragmente: 31, 76) VIII. Verschränkung von Leben und Tod (beigezogene Fragmente: 76, 36, 77) – Verhältnis von Menschen und Göttern (beigezogene Fragmente: 62, 67, 88) 273

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IX.

Unsterbliche: Sterbliche (Fragment 62) – ἓν τὸ σοφόν (beigezogene Fragmente: 32, 90) X. Offenständigkeit zwischen Göttern und Menschen (Fragment 62). Das „Spekulative“ bei Hegel ‒ Hegels Verhältnis zu Heraklit ‒ Leben – Tod (beigezogene Fragmente: 88, 62) XI. Das „Logische“ bei Hegel ‒ „Bewußtsein“ und „Dasein“ ‒ Ortschaft des Menschenwesens zwischen Licht und Nacht (beigezogene Fragmente: 26, 10) XII. Schlaf und Traum ‒ Vieldeutigkeit des ἅπτεσθαι (beigezogene Frag­ mente: 26, 99, 55) XIII. Todesbezug, Erwarten ‒ Hoffen (beigezogene Fragmente: 27, 28) ‒ Die „Gegensätze“ und ihr „Übergang“ (beigezogene Fragmente: 111, 126, 8, 48, 51) ‒ Abschlußfrage: Die Griechen als Herausforderung 9

| I. Art des Vorgehens – Beginn mit Fragment 64 (beigezogene Fragmente: 41, 1, 50, 47) Fink: Ich eröffne das Seminar mit einem herzlichen Dank an Herrn Professor Heidegger für seine Bereitschaft, die geistige Führung zu übernehmen bei unserem gemeinsamen Versuch, in den Bereich des großen und geschichts­ mächtigen Denkers Heraklit vorzudringen, dessen Stimme wie die der Pythia weiter als durch tausend Jahre zu uns reicht. Obwohl dieser Denker im Ursprung des Abendlandes beheimatet und insofern längst vergangen ist, ist er gleichwohl von uns immer noch nicht eingeholt. Von Martin Heideggers Dialog mit den Griechen in vielen seiner Schriften können wir lernen, wie das Weiteste nah und das Vertrauteste fremd wird und wie wir nicht zur Ruhe kommen und uns nicht auf eine gesicherte Deutung der Griechen verlassen können. Die Griechen bedeuten für uns eine unge­ heure Herausforderung. Unser Seminar soll eine Übung im Denken sein, d. h. im Nachdenken der von Heraklit vorgedachten Gedanken. Wenn wir mit seinen uns nur als Fragmente hinterlassenen Texten konfrontiert werden, so geht es uns dabei nicht so sehr um die philologische Problematik, so wichtig sie auch sein mag.* Unsere Intention zielt darauf ab, zur Sache selbst vorzudringen, d. h. zu der Sache, die vor dem geistigen Blick von Heraklit gestanden haben muß. Diese Sache ist nicht einfach vorhanden wie ein Befund oder wie irgendeine sprachliche Überlieferung, sondern sie kann gerade durch die * Ausführungen von Seminarteilnehmern, vorwiegend philologischer Art, werden aus urheberrecht­ lichen Gründen nicht mit veröffentlicht.

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sprachliche Überlieferung sowohl eröffnet als auch verstellt sein. Es muß als eine Fehlmeinung gelten, die Sache der Philosophie bzw. die Sache des Denkens, wie Martin Heidegger sie formuliert hat, wie eine vorhandene Sache zu betrachten. Die Sache des Denkens liegt nicht irgend|wo vor als ein Land der Wahrheit, zu dem man vordringen könnte, sie ist keine Sache, die man entdecken und entbergen könnte. Sie ist in ihrer Sachlichkeit und zugeordneten Zugangsweise für uns noch dunkel. Wir suchen erst noch die Sache des Denkens des Denkers Heraklit und sind dabei ein wenig dem Manne ähnlich, der vergessen hat, wohin der Weg führt. Bei unserem Seminar handelt es sich nicht um eine spektakuläre Angelegenheit, sondern um eine nüchterne Arbeitssitzung. Unser gemeinsamer Versuch des Nachdenkens wird nicht frei sein von gewissen Enttäuschungen und Niederlagen. Gleichwohl machen wir das Experiment, den Text des alten Denkers lesend, in die geistige Bewegung zu kommen, die uns selbst zu der Sache befreit, die als Sache des Denkens benannt zu werden verdient. Herr Professor Heidegger ist damit einverstanden, daß ich zunächst eine vorläufige Interpretation der Sprüche Heraklits vorlege, die dem gemeinsamen Gespräch eine Diskussionsbasis und eine Ansatzstelle für eine kritische Überholung oder gar Zertrümmerung gibt und die uns selbst in eine gewisse Gemeinsamkeit der fragenden Sprache zu versetzen geeig­ net sein mag. Vielleicht ist ein Vorblick auf die besondere Sprache der Sprüche Heraklits, bevor wir diese im einzelnen gelesen und interpretiert haben, unzeitig. Die Sprache Heraklits hat eine innere Vieldeutigkeit und Vieldimensionalität, so daß wir sie nicht eindeutig irgendwelchen Bezügen zuordnen können. Sie schwingt vom gnomischen, sentenzhaften und viel­ deutig klingenden Ausdruck bis in eine extreme Verstiegenheit des Denkens. Als Textausgabe legen wir der Seminarübung die Fragmente der Vor­ sokratiker von Hermann Diels zugrunde. Die von ihm vorgenommene Reihung der Fragmente Heraklits ist für uns nicht verbindlich. Wir wählen unsererseits eine andere Anordnung, die einen inneren Sinnzusammenhang der Fragmente aufleuchten lassen soll, ohne dabei den Anspruch zu erhe­ ben, die Urgestalt der verlorengegangenen Schrift Heraklits Περὶ φύσεως rekonstruieren zu wollen. Wir versuchen, einen Leitfaden durch | die Vielfalt der Sprüche zu ziehen in der Hoffnung, daß sich dabei eine gewisse Spur bekunden kann. Ob es sich bei unserer sinngemäßen Anordnung der Fragmente um eine bessere Reihung als die von Diels vorgenommene handelt, soll dahingestellt bleiben. Ohne eine weitere Vorbesinnung gehen wir gleich in medias res. Wir beginnen unsere Interpretation mit dem Fragment 64: τὰ δὲ πάντα οἰακίζει Κεραυνός. Dieser Satz ist offenbar für jedermann verständlich in dem, was er zu meinen scheint. Ob er aber auch verständlich ist in dem, was diese Meinung betrifft, ist eine andere Frage. Zunächst aber fragen wir, was dieser 275

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Satz meint. Sobald wir etwas mehr über ihn nachdenken, kommen wir sogleich vom leichten Verständnis und von der scheinbaren Vertrautheit des Satzes weg. Die Dielssche Übersetzung lautet: „Das Weltall aber steuert der Blitz.“ Ist aber das Weltall die angemessene Übersetzung von τὰ πάντα? Wohl kann man als Ergebnis von Überlegungen zu einer solchen Gleichung von τὰ πάντα und Weltall kommen. Zunächst aber heißt τὰ πάντα „alles“ und bedeutet: alle Dinge, alles Seiende. Heraklit nennt τὰ πάντα gegenüber dem Κεραυνός. Damit spricht er ein Verhältnis aus von den vielen Dingen zu dem Einen des Blitzes. Im Blitzschlag leuchtet das Viele im Sinne des „alles“ auf, wobei „alles“ ein Plural ist. Wenn wir zunächst naiv nach τὰ πάντα fragen, so handelt es sich dabei um ein inbegriffliches Verhältnis. Übersetzen wir τὰ πάντα durch „alle Dinge“, so müssen wir uns erst einmal die Frage stellen, was es denn für Dinge gibt. Wählen wir zunächst den Weg einer gewissen taktischen Naivität. Einmal nehmen wir den Begriff des Dinges in einem weiteren Sinne und meinen dann mit ihm alles das, was ist; zum anderen gebrauchen wir ihn auch in einem engeren Sinne. Meinen wir die Dinge im engeren Sinne, so können wir unterscheiden zwischen solchen, die von Natur aus sind (φύσει ὄντα), und solchen, die aus der menschlichen technē hervorgehen (τέχνῃ ὄντα). Bei all den Dingen von Natur, bei den leblosen wie Stein und bei den lebendigen wie Pflanze, Tier und Mensch – sofern wir überhaupt vom Menschen als von einem Ding | sprechen dürfen –, meinen wir nur solches, was vereinzelt ist und einen bestimmten Umriß hat. Wir haben das bestimmte Einzelding im Blick, das zwar auch als einzelnes allgemeine Charaktere an sich hat, etwa in der Weise der Geartetheit. Wir machen die stillschweigende Voraussetzung, daß τὰ πάντα im Sinne des insgesamt Vielen die Gesamtheit der endlich begrenzten Dinge bildet. Aber ein Stein etwa ist ein Stück eines Berges. Können wir auch vom Berg als von einem Ding sprechen, oder ist es nur eine menschliche Kurzformel, ein Ding zu nennen, was einen bestimmten Umriß hat? Der Stein befindet sich als Geröll am Berge, dieser gehört in das Gebirge, dieses in die Erdrinde, und die Erde selbst ist ein großes Ding, das als Gravitationskern in unser Sonnensystem gehört. Heidegger: Wäre es nicht vielleicht angebracht, zunächst einmal zu fragen, ob Heraklit auch in anderen Fragmenten von τὰ πάντα spricht, um so von ihm selbst einen bestimmten Anhalt zu haben, was er unter τὰ πάντα versteht? Auf diese Weise gewinnen wir mehr Nähe zu Heraklit. Das ist die eine Frage. Die zweite Frage, die ich zur Diskussion stellen möchte, lautet, was der Blitz mit τὰ πάντα zu tun hat. Wir müssen konkret fragen, was es denn heißen kann, wenn Heraklit sagt: der Blitz steuert τὰ πάντα. Kann überhaupt der Blitz das Weltall steuern? 276

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Teilnehmer: Wenn wir den Blitz zunächst einmal nur als Phänomen in den Blick nehmen, so müssen wir uns darüber verwundern, daß er das Weltall steuern soll, da er doch selbst als ein phänomenal Seiendes, als eine sinnlich wahrnehmbare Lichterscheinung mit allem anderen Seienden zusammen in das Weltall hineingehört. Heidegger: Wir müssen den Blitz, wenn wir ihn griechisch verstehen wollen, in Zusammenhang bringen mit dem Naturphänomen. Fink: Der Blitz als Naturphänomen betrachtet bedeutet das Aufbrechen des lichthaften Blitzstrahls im Dunkel der Nacht. | Wie in der Nacht der Blitz sekundenartig aufleuchtet und in der Helle eines Lichtscheins die Dinge in ihrem Umriß gegliedert zeigt, so bringt in einem tieferen Sinne der Blitz die vielen Dinge in ihrer gegliederten Versammlung zum Vorschein. Heidegger: Ich erinnere mich an einen Nachmittag während meines Aufent­ haltes auf Aegina. Plötzlich vernahm ich einen einzigen Blitzschlag, auf den dann kein weiterer erfolgte. Mein Gedanke war: Zeus. – Unsere Aufgabe besteht jetzt darin, uns bei Heraklit umzusehen, was τὰ πάντα heißt. Wieweit bei ihm eine Unterscheidung zwischen „alles“ im Sinne des summierten einzelnen und „alles“ in der Bedeutung der umfangenden Allheit schon möglich war, ist eine offene Frage. Die andere Aufgabe, die uns durch das Fragment 64 vorerst gestellt wird, ist der Zusammenhang zwischen τὰ πάντα und dem Blitz. Den Blitz müssen wir bei Heraklit auch in Zusammenhang bringen mit dem Feuer (πῦρ). Es ist auch nicht unwesentlich zu beachten, wer uns das Fragment 64 überliefert hat. Es ist der Kirchenvater Hippolytos, der etwa 236/37 n. Chr. gestorben ist. Seit Heraklit sind also ungefähr 800 Jahre vergangen, bis unser Fragment durch Hippolyt zitiert wird. Im Kontext ist auch die Rede vom πῦρ und κόσμος. Doch wollen wir hier nicht auf die philologische Problematik eingehen, die sich angesichts des Zusammenhangs des Fragments und des Kontextes des Hippolyt ergibt. In einem Gespräch, das ich mit Karl Reinhardt im Jahre 1941 führte, als er sich hier in Freiburg aufhielt, sprach ich zu ihm über das Zwischenfeld zwischen der reinen Philologie, die meint, mit ihrem philologischen Handwerk den richtigen Heraklit zu finden, und jener Art zu philosophieren, die darin besteht, drauflos zu denken und dabei zu viel zu denken. Zwischen diesen beiden Extremen gibt es ein Zwischenfeld, in dem es um die Rolle der Überlieferung des Verständnisses, des Sinnes und der Interpretation geht. – Bei Hippolyt finden wir nicht nur das πῦρ, sondern auch die ἐκπύρωσις, die bei ihm die Bedeutung des Weltuntergangs hat. Wenn wir nun fragen, was im Fragment 64 τὰ πάντα, der Blitz und auch das Steuern heißt, | so müssen wir gleichzeitig versuchen, uns bei der Klärung dieser Worte in die griechische Welt zu versetzen. Um das Fragment 64 in rechter Weise verstehen zu können, würde ich den Vorschlag machen, das Fragment 41 277

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hinzuzunehmen: εἶναι γὰρ ἓν τὸ σοφόν, ἐπίστασθαι γνώμην, ὁτέη ἐκυβέρνησε πάντα διὰ πάντων. Diels übersetzt: „Eins nur ist das Weise, sich auf den Gedanken zu verstehen, als welcher alles auf alle Weise zu steuern weiß.“ Wörtlich übersetzt heißt πάντα διὰ πάντων: alles durch alles hindurch. Das Gewicht dieses Spruches liegt einmal im ἓν τὸ σοφόν und zum anderen im πάντα διὰ πάντων. Hier müssen wir vor allem den Zusammenhang des Anfangs und des Endes dieses Satzes in den Blick nehmen. Fink: Es besteht ein ähnlicher Zusammenhang zwischen der Einsheit des Blitzstrahls und τὰ πάντα, in dessen Helle das Viele sich in seinem Umriß und in seiner Gegliedertheit zeigt, und der Einsheit des σοφόν und πάντα διὰ πάντων. Wie sich der Κεραυνός zu τὰ πάντα verhält, verhält sich analog das ἓν τὸ σοφόν zu πάντα διὰ πάντων. Heidegger: Wohl gebe ich zu, daß der Blitz und das ἓν τὸ σοφόν in einem Verhältnis zueinander stehen. Doch gibt es bei Fragment 41 noch mehr zu beachten. Im Fragment 64 spricht Heraklit von τὰ πάντα, im Fragment 41 von πάντα διὰ πάντων. Eine ähnliche Wendung finden wir auch bei Parmenides 1/32: διὰ παντὸς πάντα περῶντα. In der Wendung: πάντα διὰ πάντων ist vor allem nach der Bedeutung des διά zu fragen. Zunächst heißt es „durch“. Wie aber sollen wir das „durch“ verstehen, örtlich, räumlich, kausal oder wie sonst? Fink: τὰ πάντα aus dem Fragment 64 meint nicht eine ruhende, statische, sondern eine bewegte Vielfalt von Seiendem. In τὰ πάντα ist gerade im Rückbezug auf den Blitz eine Art von Bewegung mitgedacht. In der Helle bzw. in der Lichtung, die der Blitzstrahl aufreißt, leuchtet τὰ πάντα auf und tritt ins Erscheinen. Die Bewegtheit von τὰ πάντα ist im Aufleuchten des Seienden in der Lichtung des Blitzes mitgedacht. 15

| Heidegger: Lassen wir zunächst noch die Worte wie Lichtung und Helle beiseite. Fink: Wenn ich jetzt von Bewegung gesprochen habe, so müssen wir unterscheiden einmal zwischen der Bewegung, die im Blitzen des Blitzes, im Aufbrechen der Helle liegt, und zum anderen die Bewegung in τὰ πάντα, in den Dingen. Der Bewegung der Helle des Blitzes entspricht die Bewegung, die vom ἓν τὸ σοφόν ausgeht und in den insgesamt vielen Dingen weitergeht. Die Dinge sind keine ruhenden Blöcke, sondern sie sind mannigfach in Bewegung. Heidegger: τὰ πάντα ist also nicht ein vorhandenes Ganzes im Gegenüber, sondern das Seiende in Bewegung. Andererseits kommt bei Heraklit die Bewegung als κίνησις nicht vor. Fink: Wenn auch Bewegung nicht zu den Grundworten Heraklits gehört, so steht sie doch immer im Problemhorizont seines Denkens. 278

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Heidegger: Nehmen wir nun zu Fragment 64 und 41 auch noch das Fragment 1 hinzu: τοῦ δὲ λόγου τοῦδ᾽ ἐόντος ἀεὶ ἀξύνετοι γίνονται ἄνθρωποι καὶ πρόσθεν ἢ ἀκοῦσαι καὶ ἀκούσαντες τὸ πρῶτον· γινομένων γὰρ πάντων κατὰ τὸν λόγον τόνδε ἀπείροισιν ἐοίκασι, πειρώμενοι καὶ ἐπέων καὶ ἔργων τοιούτων, ὁκοίων ἐγὼ διηγεῦμαι κατὰ φύσιν διαιρέων ἕκαστον καὶ φράζων ὅκως ἔχει. τοὺς δὲ ἄλλους ἀνθρώπους λανθάνει ὁκόσα ἐγερθέντες ποιοῦσιν, ὅκωσπερ ὁκόσα εὕδοντες ἐπιλανθάνονται.* Vorerst interessiert uns nur: γινομένων γὰρ πάντων κατὰ τὸν λόγον τόνδε. Wir übersetzen: Denn | obwohl alles nach diesem λόγος geschieht. Wenn Heraklit hier von γινομένων spricht, so ist also bei ihm doch die Rede von Bewegung.

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Fink: In γινομένων γὰρ πάντων handelt es sich um die innerkosmische Bewegtheit der Dinge und nicht um die Bewegung, die vom λόγος ausgeht. Heidegger: γινομένων gehört zu γένεσις. Wenn die Bibel von der γένεσις spricht, so meint sie damit die Schöpfung, in der die Dinge entstanden sind. Was aber bedeutet γένεσις im Griechischen? Teilnehmer: Auch γένεσις ist kein Begriff bei Heraklit. Heidegger: Seit wann gibt es überhaupt Begriffe? Teilnehmer: Erst seit Platon und Aristoteles. Bei Aristoteles haben wir sogar das erste philosophische Wörterbuch. Heidegger: Während sich Platon im Umgang mit Begriffen noch schwer tut, sehen wir bei Aristoteles einen leichteren Umgang mit ihnen. – Das Wort γινομένων steht im Fragment 1 an einer fundamentalen Stelle. Fink: Wir können uns vielleicht selbst einen Einwand machen. γένεσις in einem leichtverständlichen Sinne finden wir, phänomenal gesehen, bei den Lebewesen. Pflanzen entstehen aus Keimen, Tiere aus der Paarung der Elterntiere und Menschen aus der geschlechtlichen Vereinigung von Mann und Frau. Die γένεσις ist also ursprünglich beheimatet im phänomenalen Bereich des Vegetativ-Animalischen. Das Entstehen (γίγνεσθαι) ist in diesem Bereich zugleich verkoppelt mit dem Vergehen (φθείρεσθαι). Wenn wir nun die γένεσις auch auf den Bereich der leblosen Dinge beziehen, operieren wir mit einem erweiterten, allgemeineren Sinn dieses Wortes. Denn beziehen wir γένεσις | auf τὰ πάντα, erweitern wir den Sinn von γένεσις über den phänomenalen Bereich hinaus, in dem sonst das Genesis-Phänomen zu Hause ist. Diels übersetzt: „Für der Lehre Sinn aber, wie er hier vorliegt, gewinnen die Menschen nie ein Verständnis, weder ehe sie ihn vernommen noch sobald sie ihn vernommen. Denn geschieht auch alles nach diesem Sinn, so gleichen sie doch Unerprobten, so oft sie sich erproben an solchen Worten und Werken, wie ich sie erörtere, nach seiner Natur ein jegliches zerlegend und erklärend, wie es sich verhält. Den anderen Menschen aber bleibt unbewußt, was sie nach dem Erwachen tun, so wie sie das Bewußtsein verlieren für das, was sie im Schlafe tun.“ *

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Heidegger: Was Sie unter dem phänomenalen Sinn des Wortes γένεσις verstehen, können wir auch als ontisch bezeichnen. Fink: Die Ausweitung der ursprünglich phänomenalen Bedeutung von γένεσις treffen wir auch in der Vulgärsprache an, etwa wenn wir von der Ent­ stehung der Welt sprechen. Wir gebrauchen für unser Vorstellen bestimmte Bilder und Vorstellungskreise. Im Fragment 1 handelt es sich bei γινομένων um den allgemeineren Sinn von γένεσις. Denn τὰ πάντα entstehen nicht wie dasjenige Seiende, das gemäß der γένεσις im engeren Sinne entsteht, also nicht wie Lebewesen. Etwas anderes ist es, wenn im Entstehen der Dinge die Verfertigung und Hervorbringung (τέχνη und ποίησις) mitgemeint ist. Die ποίησις der Phänomene ist aber etwas anderes als die γένεσις. Der Krug entsteht nicht durch des Töpfers Hand wie der Mensch durch den Menschen erzeugt wird. Heidegger: Vergegenwärtigen wir uns noch einmal, worin jetzt unsere Aufgabe besteht. Wir fragen: was bedeutet τὰ πάντα aus Fragment 64, πάντα διὰ πάντων aus Fragment 41 und γινομένων γὰρ πάντων aus Fragment 1? Das κατὰ τὸν λόγον aus Fragment 1 entspricht dem ἓν τὸ σοφόν aus Fragment 41 und dem Κεραυνός aus Fragment 64. Fink: In γινομένων ist der Sinn von γένεσις ausgeweitet gebraucht.

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Heidegger: Aber kann man denn wirklich von einer Ausweitung sprechen? Ich meine, daß wir doch das „Steuern“, das „alles durch alles hindurch“ und jetzt die Bewegung, die in γινομένων gedacht ist, im genuin griechischen Sinne nachzuverstehen versuchen sollten. Ich stimme dem zu, daß wir die | Bedeutung von γένεσις in γινομένων nicht eng nehmen dürfen, sondern daß es sich dort um eine allgemeine Aussage handelt. Das Fragment 1 gilt als der Beginn der Schrift Heraklits. In ihm wird Fundamentales gesagt. Dürfen wir nun die in γινομένων in einem weiten Sinne gedachte γένεσις beziehen auf das Hervorkommen? Vorgreifend können wir sagen, daß wir im Blick behalten müssen den Grundzug dessen, was die Griechen Sein nennen. Obwohl ich dieses Wort nicht mehr gern gebrauche, nehmen wir es jetzt dennoch auf. Wenn Heraklit in γινομένων die γένεσις denkt, so ist damit nicht gemeint das Werden im modernen Sinne, also nicht in der Bedeutung eines Vorganges, sondern griechisch gedacht heißt es: zum Sein kommen, in die Anwesenheit hervorkommen. Wir haben jetzt drei verschiedene Hinsichten, an die wir uns halten müssen, wenn wir über τὰ πάντα ins Klare kommen wollen, und die wir den Fragmenten 64, 41 und 1 entnommen haben. Hierzu können wir auch noch das Fragment 50 nehmen: οὐκ ἐμοῦ, ἀλλὰ τοῦ λόγου ἀκούσαντας ὁμολογεῖν σοφόν ἐστιν ἓν πάντα εἶναι. Die Dielssche Übersetzung lautet: „Haben sie nicht mich, sondern den Sinn vernommen, so ist es weise, dem Sinne (λόγος) gemäß zu sagen, alles sei eins“. In diesem Spruch kommt es vor allem auf ἕν, πάντα und ὁμολογεῖν an. 280

Art des Vorgehens – Beginn mit Fragment 64

Fink: Wenn wir jetzt ausgehen vom Hervorkommen, Zum-Vorschein-Kom­ men, worin Sie die griechische Bedeutung der in γινομένων gedachten γένεσις sehen, dann haben wir damit auch eine Beziehung zur Helligkeit und zum Lichtschein des Blitzes, in dem das einzelne steht und aufleuchtet. Wir hätten dann folgendes analoge Verhältnis: so wie in einer lichtlosen Nacht der Blitz auf einmal alles einzelne in seinem bestimmten Umriß sehen läßt, so wäre das in einer kurzen Zeit dasselbe, was im πῦρ ἀείζωον aus Fragment 30 immer geschieht. In dem Moment der Helligkeit ist die Einrückung des Seienden in die Bestimmtheit gedacht. Aus Fragment 64 stammt das τὰ πάντα, aus Fragment 41 πάντα διὰ πάντων und aus Fragment 1: γινομένων πάντων κατὰ τὸν λόγον. Wir haben vorhin zu unterscheiden | versucht die Bewegung des Blitzens des Blitzes. Jetzt können wir sagen, daß es die Bewe­ gung des Zum-Vorschein-Bringens ist. Aber das Zum-Vorschein-Bringen, das der Blitz am Seienden vollbringt, ist auch ein steuerndes Eingreifen in die Bewegtheit der Dinge selbst. Die Dinge sind bewegt in der Weise des Auf- und Untergehens, des Zu- und Abnehmens, der Ortsbewegung und der Veränderung. Der Bewegung des Blitzes entspricht die Bewegung des ἓν τὸ σοφόν. Die steuernde Bewegung ist nicht auf den Blitz und auch nicht auf das ἓν τὸ σοφόν gedacht, sondern auf die Wirksamkeit des Blitzes und des ἓν τὸ σοφόν, das im Zum-Vorschein-Bringen wirkt und weiterwirkt in den Dingen. Die Bewegung des steuernden Eingreifens in die Bewegtheit der Dinge geschieht gemäß dem λόγος. Die Bewegung der in der Helle des Blitzes stehenden Dinge hat eine sophonartige Natur, sie muß aber unterschieden werden von der vom σοφόν selbst ausgehenden Bewegung. Im Fragment 41 geht es nicht nur um das Verhältnis des Einen und Vielen, das im Einen vorscheint, sondern auch um die Wirksamkeit des Einen in bezug auf τὰ πάντα, die zum Ausdruck kommt in πάντα διὰ πάντων. Es könnte sein, daß λόγος aus Fragment 1 ein anderes Wort ist für σοφόν aus Fragment 41, für Κεραυνός aus Fragment 64 sowie für πῦρ und πόλεμος. Der πόλεμος ist der πάντων βασιλεύς, der Krieg, der die Bewegtheit der in der Sphäre des Vorscheins stehenden Dinge in Gegensätzen bestimmt.

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Heidegger: Sie wollen also sagen, daß das, was mit γένεσις in γινομένων γὰρ πάντων gemeint ist, dazu dient, das διά aus Fragment 41 näher zu bestimmen? Verstehen Sie dann das διά kausal? Fink: Keineswegs. Ich möchte nur sagen, daß der Blitz, der das Dunkel der Nacht aufreißt und in seinem Lichtschein alles Vereinzelte aufleuchten und sehen läßt, zugleich auch das Bewegende der γένεσις in der Weise des διά ist und daß diese Bewegung weitergeht in den Bewegungen der Dinge. Wie der Blitz, so verhält sich auch der λόγος aus Fragment 1 zu τὰ πάντα. Der | hervorbringenden Bewegung des Blitzes entspricht die hervorbringende Bewegung des λόγος, der alles einrichtet, steuert und bestimmt. 281

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Teilnehmer: Das Verhältnis der Bewegung des Blitzens und der Bewegtheit des Seienden ist kein Wirkverhältnis. Wenn gesagt wurde, daß die zum Vor­ schein bringende Bewegung des Blitzes weitergeht in den Bewegungen der Dinge, so ist damit kein Kausalverhältnis zwischen der hervorbringenden Bewegung und der Bewegtheit des Hervorgebrachten gemeint, sondern das, was hier im Problemhorizont steht, ist die Differenz zwischen der Bewegung im Sein und der Bewegung im Seienden bzw. zwischen der Bewegung im Entbergen und der Bewegtheit des Entborgenen. Fink: Wir unterscheiden das blitzhafte Aufbrechen des Lichts als die Bewe­ gung des Hervorbringens und das darin Hervorkommen von jeglichem Bestimmten in seiner Bewegtheit. Die Momentaneität des Blitzes ist ein Indiz für eine Unständigkeit. Wir müssen den Blitz als die kürzeste Zeit, eben als Momentaneität verstehen, die ein Symbol ist für die selbst nicht binnenzeitliche, aber zeitlassende Bewegung des Hervorbringens. Heidegger: Ist nicht der Blitz ein ewiger und nicht nur ein momentaner?

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Fink: Das Problem der hervorbringenden Bewegung in ihrem Verhältnis zur Bewegung des Hervorgebrachten müssen wir am Zusammenhang von Blitz, Sonne, Feuer und auch der Horen denken, in denen die Zeit gedacht ist. Das Feurige muß bei Heraklit unter mehreren Aspekten gedacht werden, so etwa als das Feuer in der Sonne und als die Wandlungen des Feuers (πυρὸς τροπαί). Das Feuer, das allem zugrundeliegt, ist das Hervorbringen, das sich in seinen Wandlungen als dem Hervorgebrachten entzieht. Das πάντα διὰ πάντων aus Fragment 41 möchte ich in Verbindung bringen mit den πυρὸς τροπαί. Der | Blitz ist der plötzliche Aufbruch des Lichts im Dunkel der Nacht. Wenn nun der Blitz perpetuiert, ist er das Symbol für die Bewegung des Hervorbringens. Heidegger: Sind Sie gegen eine Identifizierung von Blitz, Feuer und auch Krieg? Fink: Nein, aber die Identifizierung ist hier eine Identität der Identität und Nichtidentität. Heidegger: Identität müssen wir dann verstehen als das Zusammengehö­ ren. Fink: Blitz, Feuer, Sonne, Krieg, λόγος und σοφόν sind verschiedene denke­ rische Blickbahnen auf den einen und selben Grund. In den πυρὸς τροπαί wird der Grund von allem gedacht, der sich umschlagend verstellt in Wasser und Erde. Heidegger: Sie meinen also die Wandlungen der Dinge auf einen Grund hin. Fink: Der hier gemeinte Grund ist aber nicht etwa die Substanz oder das Absolute, sondern Licht und Zeit. 282

Art des Vorgehens – Beginn mit Fragment 64

Heidegger: Wenn wir nun bei unseren Ausgangstexten bleiben, und zwar zunächst bei der Frage nach dem διά aus Fragment 41, können wir dann nicht vom Steuern (οἰακίζειν) her das διά bestimmen? Was bedeutet das Steuern? Fink: Man kann das Steuern auch unter die Bewegung subsumieren. Aber bei Heraklit ist das Steuern des Blitzes das, was aller Bewegung im Seienden so gegenübersteht, wie der Blitz demjenigen, was sich in seinem Lichtschein zeigt. Es hat also nicht den Charakter eines Bewegtseins wie das Seiende, sondern den Charakter der Hervorbringung von Bewegung im Seienden. Hinzu kommt, daß das Steuern, das τὰ πάντα betrifft, | kein Steuern von Einzeldingen, sondern von der inbegrifflichen Gesamtheit des Seienden ist. Das Phänomen des Steuerns eines Schiffes ist nur die Absprungbasis für den Gedanken, der die Hervorbringung der Gesamtheit des Seienden in das gegliederte Gesamtgefüge denkt. Wie der Kapitän in der Bewegung des Meeres und der Winde, der das Schiff ausgesetzt ist, einen Kurs in die Bewegung des Schiffes bringt, so gibt das steuernde Zum-Vorschein-Brin­ gen des Blitzes allem Seienden nicht nur seinen Umriß, sondern auch seinen Antrieb. Das steuernde Zum-Vorschein-Bringen ist die anfänglichere Bewe­ gung, die die Gesamtheit des Seienden in seiner mannigfachen Bewegtheit zum Vorschein bringt und sich zugleich in ihr entzieht.

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Heidegger: Kann man das Steuern aus Fragment 64 (οἰακίζει) und aus Fragment 41 (ἐκυβέρνησε) in Zusammenhang bringen mit dem διά? Wenn ja, was ergibt sich dann für den Sinn des διά? Fink: In dem διά ist eine transitive Bewegung gedacht. Heidegger: Welchen Sinn hat nun das „alles durch alles hindurch“? Fink: Ich möchte das πάντα διὰ πάντων in Zusammenhang bringen mit den πυρὸς τροπαί. Die Wandlungen des Feuers besagen dann, daß alles in alles übergeht, und zwar so, daß nicht das Bestimmte in seiner Prägung bleibt, sondern sich nach einer unerkennbaren Weisheit durch Gegensätze hin­ durchbewegt. Heidegger: Warum aber spricht dann Heraklit vom Steuern? Fink: Die Wandlungen des Feuers sind gewissermaßen eine Kreisbewegung, die vom Blitz bzw. vom σοφόν gesteuert wird. Die Bewegung, in der alles durch alles sich durch Gegensätze hindurchbewegt, wird gelenkt. | Heidegger: Aber dürfen wir hier von Gegensätzen oder gar von Dialektik sprechen? Heraklit weiß weder etwas von Gegensätzen noch von Dialektik. Fink: Wohl sind bei Heraklit die Gegensätze nicht thematisch, aber anderer­ seits ist doch nicht zu bestreiten, daß er auf Gegensätze vom Phänomen her zeigt. Die Bewegung, in der alles durch alles hindurch sich wandelt, ist 283

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eine gesteuerte. Für Platon ist das Steuer das Gleichnis, um die Macht des Vernünftigen in der Welt darzulegen. Heidegger: Sie wollen, was Steuern heißt, dadurch erläutern, daß Sie das Steuernde den λόγος nennen. Was aber ist das Steuern als Phänomen? Fink: Das Steuern als Phänomen ist die Bewegung eines Menschen, der etwa ein Schiff in eine gewünschte Richtung bringt. Es ist das Dirigieren einer Bewegung, das ein vernünftiger Mann betreibt. Heidegger: Bei dem Experiment, das wir unternehmen, handelt es sich nicht darum, den Heraklit an sich hervorzaubern zu wollen, sondern er spricht mit uns und wir sprechen mit ihm. Im Augenblick denken wir über das Phäno­ men des Steuerns nach. Dieses Phänomen ist gerade heute im Zeitalter der Kybernetik so fundamental geworden, daß es die ganze Naturwissenschaft und das Verhalten des Menschen beansprucht und bestimmt, so daß es uns dazu nötigt, über es mehr Klarheit zu gewinnen. Zunächst haben Sie gesagt, Steuern heiße „etwas in eine gewünschte Richtung bringen“. Versuchen wir noch eine genauere Beschreibung des Phänomens.

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Fink: Steuern ist das In-die-Gewalt-Bringen einer Bewegung. Ein Schiff ohne Steuerrad und Steuermann ist ein Spiel der Wellen und Winde. Erst durch das Steuern wird es gewaltsam in die gewünschte Richtung gebracht. Das Steuern ist eine ein|greifende, umbildende Bewegung, die das Schiff auf einen bestimmten Kurs zwingt. Es hat das Moment der Gewaltsamkeit an sich. Aristoteles unterscheidet die Bewegung, die den Dingen einheimisch ist, und die Bewegung, die den Dingen gewaltsam angetan wird. Heidegger: Gibt es aber nicht auch ein gewaltloses Steuern? Gehört zum Phänomen der Steuerung wesenhaft das Moment der Gewaltsamkeit? Das Phänomen der Steuerung ist immer noch ungeklärt in bezug auf Heraklit und auf unsere heutige Notlage. Daß die Naturwissenschaften und unser Leben heute von der Kybernetik in steigendem Maße beherrscht werden, ist nicht zufällig, sondern ist in der Entstehungsgeschichte der neuzeitlichen Wissenschaft und Technik vorbestimmt. Fink: Das menschliche Phänomen der Steuerung ist bestimmt durch das Moment der gewaltsamen und vorausberechneten Regelung. Es hängt mit dem berechnenden Wissen und dem gewaltsamen Eingreifen zusammen. Etwas anderes ist das Steuern des Zeus. Wenn er steuert, so berechnet er nicht, sondern waltet mühelos. Es mag im Bereich der Götter ein gewaltloses Steuern geben, nicht aber im menschlichen Bereich. Heidegger: Besteht wirklich ein notwendiger Zusammenhang zwischen dem Steuern und der Gewalt?

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Fink: Der Steuermann eines Schiffes ist der Kundige. Er kennt sich aus in den Strömungen und Winden. Er muß die Bewegungsantriebe in Wind und Strömung in rechter Weise nutzen. Durch sein Steuern entzieht er das Schiff gewaltsam dem Spiel der Winde und Wellen. Insofern muß man also im Phänomen des Steuerns das Moment des Gewalttätigen mitsehen und mitsetzen. Heidegger: Wird nicht auch die heutige Kybernetik selbst gesteuert? | Fink: Wenn man dabei etwa an die εἱμαρμένη oder gar an das Ge­ schick denkt.

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Heidegger: Ist dieses Steuern nicht ein gewaltloses? Wir müssen die ver­ schiedenen Phänomene des Steuerns in den Blick nehmen. Steuern kann einmal das gewaltsame in der Richtung Halten sein, zum anderen aber auch das gewaltlose Steuern der Götter. Die Götter der Griechen haben aber nichts zu tun mit Religion. Die Griechen haben nicht an ihre Götter geglaubt. Einen Glauben der Hellenen – um an Wilamowitz zu erinnern – gibt es nicht. Fink: Aber die Griechen haben den Mythos gehabt. Heidegger: Mythos ist jedoch etwas anderes als Glaube. – Um aber auf das gewaltlose Steuern zurückzukommen, können wir fragen, wie es denn damit bei der Genetik steht. Würden Sie dort auch von einem gewaltsamen Steuern sprechen? Fink: Hier muß man unterscheiden einmal zwischen dem natürlichen Verhalten der Gene, das seinerseits kybernetisch interpretiert werden kann, und zum anderen der Manipulation der Erbfaktoren. Heidegger: Würden Sie hier von Gewalt sprechen? Fink: Auch wenn die Gewalt vom Vergewaltigten nicht gespürt wird, ist sie immer noch Gewalt. Auf Grund dessen, daß man heute gewaltsam in das Verhalten der Gene verändernd eingreifen kann, besteht die Möglichkeit, daß eines Tages die Drogisten die Welt regieren. Heidegger: Die Genetiker sprechen angesichts der Gene von einem Alpha­ bet, von einem Informationsarchiv, das in sich eine bestimmte Menge von Informationen speichert. Ist bei diesem Informationsgedanken an Gewalt gedacht? | Fink: Die Gene, die wir vorfinden, sind ein biologischer Befund. Sobald man aber auf den Gedanken kommt, die menschliche Rasse verbessern zu wollen durch eine verändernde Steuerung der Gene, handelt es sich dabei nicht um einen Zwang, der Schmerzen bereitet, wohl aber um Gewalt. Heidegger: Wir müssen also ein Zweifaches unterscheiden: einmal die informations-theoretische Interpretation des Biologischen und zum ande­ 285

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ren den darauf gegründeten Versuch, aktiv zu steuern. Gefragt ist, ob in der kybernetischen Biologie der Begriff der gewaltsamen Steuerung am Platz ist. Fink: Streng genommen kann man hier auch nicht von Steuerung sprechen. Heidegger: Es fragt sich, ob nicht im Begriff der Information eine Zweideu­ tigkeit vorliegt. Fink: Die Gene zeigen eine bestimmte Geprägtheit und haben daher den Charakter von Langspeichern. Der Mensch lebt durch die genetische Bedingtheit sein Leben, das er scheinbar als freies Wesen hinbringt. Hier ist jeder der Bedingte der Vorfahren. Man spricht auch von der Lernfähigkeit der Gene, die wie die Komputer lernen können. Heidegger: Wie aber steht es mit der Information? Fink: Unter Information versteht man einmal das informare, die Prägung, das Formeinpressen und zum anderen die Nachrichtentechnik. Heidegger: Wenn die Gene das menschliche Verhalten bestimmen, entfal­ ten sie dann die in ihnen liegenden Nachrichten? 27

Fink: Gewissermaßen. Bei den Nachrichten handelt es sich hier nicht um die, die der Mensch aufnimmt. Gemeint ist, daß | er sich so verhält, wie wenn er einen Befehl aus dem Genespeicher bekäme. Von hier aus gesehen wird die Freiheit zur geplanten Freiheit. Heidegger: Information besagt also einmal das Prägen und zum anderen das Nachricht-Geben, auf das der Benachrichtete reagiert. Durch die kyber­ netische Biologie werden die menschlichen Verhaltensweisen formalisiert und die gesamte Kausalität wird verwandelt. Wir brauchen keine Naturphi­ losophie, sondern es genügt, wenn wir uns darüber klar werden, woher die Kybernetik kommt und wohin sie führt. Die allgemeine Klage, daß die Philosophie von der Naturwissenschaft nichts versteht und ständig hinterherhinkt, können wir ruhig übernehmen. Wichtig für uns ist, den Naturwissenschaftlern zu sagen, was sie eigentlich machen. – Wir haben jetzt eine Mannigfalt von Aspekten im Phänomen des Steuerns gesehen. Κεραυνός, ἕν, σοφόν, λόγος, πῦρ, Ἥλιος und πόλεμος sind nicht einerlei und dürfen von uns nicht einfach gleichgesetzt werden, sondern zwischen ihnen walten bestimmte Bezüge, die wir sehen wollen, wenn wir uns über die Phänomene klar werden. Heraklit hat keine Phänomene beschrieben, sondern er hat sie einfach gesehen. Abschließend möchte ich noch an das Fragment 47 erinnern: μὴ εἰκῆ περὶ τῶν μεγίστων συμβαλλώμεθα. Übersetzt lautet es: daß wir nicht ins Blaue hinein, d. h. unbedacht über die höchsten Dinge unsere Worte zusammenbringen. Dieser Spruch könnte ein Motto für unser Seminar sein.

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Hermeneutischer Zirkel – Bezug von ἕν und πάντα

| II. Hermeneutischer Zirkel – Bezug von ἕν und πάντα (beigezogene Fragmente: 1, 7, 80, 10, 29, 30, 41, 53, 90, 100, 102, 108, 114)

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Fink: Im Ausgang vom Fragment 64 sind wir auf die Schwierigkeit gestoßen, die Wortfügung τὰ πάντα zu erläutern. Ich spreche absichtlich nicht vom Begriff τὰ πάντα, um nicht die Vorstellung einer Herakliteischen Termino­ logie aufkommen zu lassen. Die Wortfügung τὰ πάντα hat sich uns im Fragment 64 als das gezeigt, worauf sich der Blitz steuernd bezieht. Der Blitz als das aufreißende Licht, als das Feuer in der Phase der Momentaneität bringt τὰ πάντα zum Vorschein, umreißt jegliches in seiner Gestalt und lenkt die Bewegung, den Wandel und Gang all dessen, was in τὰ πάντα gehört. Um die Frage schärfer zuzuspitzen, was oder wer τὰ πάντα sind, ob Einzeldinge, Elemente oder Gegenbezüge, begannen wir damit, auf andere Fragmente vorauszublicken, die auch τὰ πάντα nennen. Wenn wir von dem absehen, was wir bereits in den Bezug zu Fragment 64 gebracht haben, ergeben sich im ganzen fünfzehn Textstellen, die wir uns daraufhin ansehen wollen, inwiefern, d. h. in welchen Hinsichten in ihnen τὰ πάντα angesprochen sind. Im Fragment 64 hat sich gezeigt, daß der Blitz das Steuernde ist. Es handelt sich nicht um eine immanente Selbstregelung der πάντα. Wir müssen den Blitz als das Eine von dem insgesamt Vielen der πάντα unterscheiden. Teilnehmer: Wenn also das Steuerprinzip nicht innerhalb des Ganzen liegt, so muß es außerhalb des Ganzen oder über dem Ganzen sich befinden. Wie aber kann es außerhalb des Ganzen sein? Fink: Wenn wir den Begriff des Ganzen pressen, so meint er einen Inbegriff, der nichts außer sich läßt, also auch scheinbar | nicht das, was Sie das Steuerprinzip nennen. Aber es handelt sich bei Heraklit um einen von uns im Augenblick noch nicht bestimmbaren Gegenbezug zwischen dem ἕν des Blitzes und τὰ πάντα, die durch den Blitz aufgerissen, gesteuert und gelenkt werden. Als formallogischer Inbegriff meint τὰ πάντα einen Begriff von „alles“, der nichts außer sich läßt. Es ist jedoch auch fraglich, ob das Steuernde überhaupt etwas ist, was außerhalb von τὰ πάντα ist. Hier liegt ein ganz eigentümliches Verhältnis vor, das mit den geläufigen Verhältnis-Katego­ rien gar nicht gefaßt werden kann. Das fragliche Verhältnis zwischen dem Blitz, der τὰ πάντα lenkt, und τὰ πάντα selbst ist das Verhältnis von Eins zu Vielem, aber nicht das Verhältnis der Einzahl zu einer Mehrzahl, sondern das Verhältnis eines noch nicht geklärten Einen zu dem Vielen in dem Einen, wobei das Viele im Sinne des Inbegriffs gemeint ist. Heidegger: Inwiefern lehnen Sie die Dielssche Übersetzung von τὰ πάντα als Weltall ab? 287

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Heraklit

Fink: Wenn im Fragment 64 statt τὰ πάντα τὸ πᾶν stehen würde, so wäre eine Übersetzung durch „Weltall“ gerechtfertigt. τὰ πάντα bilden nicht das Weltall, sondern den Inbegriff des Binnenweltlichen. Nicht τὰ πάντα ist das Weltall, sondern der Blitz selbst ist der Weltall-Bildende, in dessen Lichtschein die insgesamt vielen Dinge zum unterschiedenen Erscheinen kommen. τὰ πάντα ist das Reich der Unterschiede. Der Blitz als das ἕν ist aber gegen τὰ πάντα nicht wie der Nachbar gegen den Nachbar oder wie das Kalte gegen das Warme abgesetzt. Heidegger: Ist also nach Ihrer Interpretation der Blitz und das Weltall das­ selbe? Fink: Ich möchte es anders formulieren. Der Blitz ist nicht das Weltall, sondern er ist als das Weltall-Bildende. Er ist nur als Weltbildung. Was hier unter Weltbildung zu verstehen ist, müßte genauer erläutert werden. 30

| Heidegger: Ich selber möchte zu dem, was ich letzthin über die Kybernetik ausgeführt habe, eine Ergänzung hinzufügen. Wenn ich im Ausgang von der Frage nach dem, was das Steuern ist, auf die moderne Kybernetik hingewiesen habe, so darf dadurch nicht das Mißverständnis aufkommen, als würde hier nur auf Grund dessen, was in den Fragmenten 64 und 41 vom Steuern gesagt wird, ein Zusammenhang zwischen Heraklit und Kybernetik konstruiert. Dieser Zusammenhang liegt viel tiefer verborgen und ist nicht so leicht zu fassen. Er geht über einen anderen Weg, den wir im Zusam­ menhang unserer jetzigen Besinnung auf Heraklit nicht erörtern können. Gleichwohl liegt der Sinn der Kybernetik in der Abkünftigkeit von dem, was sich hier bei Heraklit im Verhältnis von ἕν und τὰ πάντα vorbereitet. – Fink: Wenn wir jetzt den Versuch machen, zuzusehen, wie τὰ πάντα in anderen Fragmenten angesprochen werden, beabsichtigen wir noch keine Auslegung der einzelnen Fragmente. Heidegger: Wenn ich jetzt einige von den Teilnehmern gestellte Fragen zunächst zurückgestellt habe, so ist das unter dem Zwang der Grundschwie­ rigkeit geschehen, in der wir uns jetzt befinden. Worin liegt diese Schwierig­ keit? Teilnehmer: Die angeschnittenen Fragen können nur beantwortet werden, wenn wir ein tieferes Verständnis von demjenigen gewonnen haben, dem unsere bisherigen Besinnungen gegolten haben. Vor allem aber: wir sollen gleich zu Beginn und im Ausgang von einem Fragment wissen, was τὰ πάντα heißt. Die Bedeutung von τὰ πάντα können wir aber nur im Zusammenhang aller Fragmente, in denen von τὰ πάντα die Rede ist, verstehen. Andererseits können wir uns den Gesamtzusammenhang nur über den Weg der einzelnen Fragmente Schritt für Schritt erarbeiten, was bereits ein Vorverständnis 288

Hermeneutischer Zirkel – Bezug von ἕν und πάντα

dessen, was τὰ πάντα meint, voraussetzt. Die Grundschwierigkeit, vor der wir stehen, ist also die des hermeneutischen Zirkels. | Heidegger: Können wir aus diesem Zirkel herauskommen?

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Fink: Müssen wir nicht vielmehr in diesen Zirkel hineinkommen? Heidegger: Wittgenstein sagt dazu folgendes. Die Schwierigkeit, in der das Denken steht, gleicht einem Manne in einem Zimmer, aus dem er heraus will. Zunächst versucht er es mit dem Fenster, doch das ist ihm zu hoch. Dann versucht er es mit dem Kamin, der ihm aber zu eng ist. Wenn er sich nun drehen möchte, dann sähe er, daß die Tür immer schon offen war. – Was den hermeneutischen Zirkel anbetrifft, so bewegen wir uns ständig in ihm und sind in ihm gefangen. Unsere Schwierigkeit besteht jetzt darin, daß wir aus wesentlichen Fragmenten Heraklits Aufschluß suchen für den Sinn von τὰ πάντα, ohne daß wir uns schon auf eine eingehende Interpretation dieser Fragmente einlassen. Aus diesem Grunde muß auch unsere Umschau nach der Bedeutung von τὰ πάντα bei Heraklit vorläufig bleiben. Teilnehmer: Können wir nicht, wenn wir im Ausgang von einem Fragment uns die Bedeutung von τὰ πάντα zu verdeutlichen suchen, auf das Fragment 50 zurückgreifen, in dem gesagt wird: „eins ist alles“? Heidegger: Aber alles, was wir an Fragmenten von Heraklit haben, ist nicht das Ganze, ist nicht der ganze Heraklit. Fink: Ich meine nicht, daß man als Interpretationsmaxime Heraklits dunklen Spruch aufgreifen kann. Ebenso können wir uns für das Verständnis dessen, was ein Weg ist, etwa auch ein Weg in die Philosophie oder durch die Fragmente Heraklits, nicht auf das Fragment 60 berufen, in dem es heißt, daß der Weg hinauf und hinab ein und derselbe ist. Auch hier spricht Heraklit nicht etwa das übliche Wegverständnis aus. Zu der von uns genannten hermeneutischen Schwierigkeit gehört auch, daß jedes Fragment in seiner Auslegung fragmentarisch bleibt und auch im | Zusammenhang mit allen anderen Fragmenten nicht das Ganze dessen ergibt, was Heraklit gedacht hat. Obwohl er in seinen Fragmenten an die Volkssprache anknüpft, etwa auch im Fragment 60, so schwingen sie doch in mehreren Dimensionen. Heidegger: Wir müssen im Laufe unseres Seminars den Versuch machen, durch die Interpretation in die Dimension zu gelangen, die von Heraklit verlangt wird. Dabei ergibt sich allerdings die Frage, wieweit wir implizit und explizit interpretieren, d. h. wieweit wir die Dimension Heraklits von unserem Denken aus sichtbar machen können. Die Philosophie kann nur sprechen und sagen, nicht aber malen. Fink: Vielleicht kann sie auch nicht einmal zeigen.

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Heidegger: Es gibt einen alten chinesischen Spruch, der lautet: Einmal gezeigt ist besser als hundertmal gesagt. Dagegen ist die Philosophie genötigt, gerade durch das Sagen zu zeigen. Fink: Beginnen wir damit, die Textstellen, in denen von πάντα die Rede ist, daraufhin anzusehen, wie die πάντα angesprochen werden. Fangen wir an mit Fragment 1, das uns schon beschäftigt hat. Die uns jetzt allein interessierende Stelle lautet: γινομένων γὰρ πάντων κατὰ τὸν λόγον. Fragen wir uns, in welcher Hinsicht hier die πάντα angesprochen werden. Sie werden als γινόμενα bezeichnet. Was aber bedeutet das? Fassen wir γίγνεσθαι eng auf, so meint es das Hervorkommen, das Entstehen eines Lebewesens aus einem anderen. Um aber im Fragment 1 zu verstehen, inwiefern die πάντα γινόμενα sind, müssen wir das κατὰ τὸν λόγον berücksichtigen. Die πάντα sind bewegte gemäß dem λόγος. Die γινόμενα πάντα stehen zugleich in einem Bezug zu den Menschen, die unverständig werden (ἀξύνετοι γίνονται ἄνθρωποι), die den λόγος nicht verstehen, gemäß dem die πάντα geschehen und bewegt sind. Heidegger: Nehmen wir zu κατὰ τὸν λόγον auch noch das τόνδε hinzu. 33

| Fink: Das demonstrative τόνδε besagt: gemäß diesem λόγος, der dann im folgenden erörtert wird. Teilnehmer: Ist es nicht angemessener, das ἀξύνετοι γίνονται nicht mit „unverständig werden“, sondern durch „sich als unverständig erweisen“ zu übersetzen? Fink: Wenn ich γίνονται mit „werden“ übersetze und es in einen Bezug setze zu γινομένων γὰρ πάντων, dann verstehe ich darunter nur ein blasses Werden. Heidegger: Den Ausgang unserer Besinnung bildet das Fragment 64, in welchem wir das Verhältnis des steuernden Blitzes zu τὰ πάντα, d. h. den Bezug von ἕν und πάντα in den Blick nahmen. Die weiteren Fragmente sollen uns nun zeigen, in welcher Weise und unter welchen Hinsichten von diesem Bezug die Rede ist. Fink: Von Fragment 1, in dem die πάντα als bewegte angesprochen werden und ihr Bewegtsein auf den λόγος bezogen wird und in dem zugleich auch das Verhältnis der Menschen zum λόγος genannt wird, sofern sie ihn nicht in seinem bewegenden Bezug zu den bewegten πάντα verstehen, gehe ich über zu Fragment 7: εἰ πάντα τὰ ὄντα καπνὸς γένοιτο, ῥῖνες ἂν διαγνοῖεν.* In welcher Weise werden hier die πάντα angesprochen? Erläutert ὄντα die πάντα oder ist πάντα gemeint als unbestimmtes Zahlwort inbegrifflicher Art, so daß wir übersetzen müssen: alle ὄντα? Ich meine, daß hier πάντα verstanden werden als unterschiedene. * Die Dielssche Übersetzung hat folgenden Wortlaut: „Würden alle Dinge zu Rauch, so würde man sie mit der Nase unterscheiden.“

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Hermeneutischer Zirkel – Bezug von ἕν und πάντα

Heidegger: Daß sie unterschiedene sind, geht hervor aus dem διαγνοῖεν. Fink: Im Fragment 7 wird ein bekanntes Phänomen Unterschiede verhüllen­ der Art genannt, der Rauch. In ihm entziehen | sich wohl die Unterschiede, aber er beseitigt sie nicht, was sich in dem διαγνοῖεν zeigt. In der Wortfügung πάντα τὰ ὄντα ist also vor allem das Moment des Unterschiedenseins zu beachten.

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Heidegger: Wie also ist πάντα hier zu fassen? Fink: πάντα τὰ ὄντα meint nicht eine Abzählung der ὄντα und bedeutet nicht „alle Seienden“, sondern die πάντα, die seiend sind, sind voneinander abgesetzt, sind unterschiedene. Die πάντα insgesamt als ὄντα sind die Korrelate einer διάγνωσις. Das Diagnosishafte eines Unterscheidens wird verschärft im Hinblick auf den Rauch als Unterschiede verhüllendes Phä­ nomen. Die πάντα werden also im Fragment 7 als unterschiedene in den Blick genommen. Heidegger: Welche Auskunft über die πάντα gibt uns Fragment 7 gegenüber Fragment 1? Fink: Im Fragment 7 liegt der Ton auf der Unterschiedenheit, auf der Individuiertheit der πάντα, die in Fragment 1 als die bewegten angesprochen werden, und zwar bewegt gemäß dem λόγος. Heidegger: Dem Gesamtsinn des Fragments 7 nach sind also die πάντα bezogen auf die γνῶσις, auf den vernehmenden Menschen. Fink: Die γνῶσις in bezug auf die πάντα ist aber nur möglich, sofern die πάντα an ihnen selbst unterschieden sind. Die πάντα sind bewegte gemäß dem λόγος. In ihrer Bewegung, in ihrem Wandel und Gang, den der Blitz steuert, sind sie zugleich an ihnen selbst unterschieden. Die Bewegung des im Blitzen aufbrechenden Lichtscheins läßt die πάντα als an ihnen selbst unterschiedene hervorkommen. Heidegger: Doch damit haben Sie schon in die vorläufige Orientierung über die Weise, wie τὰ πάντα von Heraklit angesprochen werden, eine ganze Philosophie hineingelegt. | Fink: Ich möchte auch zunächst dabei bleiben, daß das Wesentliche in Fragment 7 die Rückbeziehung der πάντα auf die γνῶσις und διάγνωσις ist. Heidegger: Während in Fragment 1 die πάντα in ihrem Bezug zum λόγος, der nicht der menschliche ist, gesehen werden, werden sie in Fragment 7 in ihrem Bezug zum menschlichen Erkennen angesprochen. Für die Späteren entwickelt sich dann aus dem διαγιγνώσκειν das διανοεῖσθαι und das διαλέγεσθαι. Das διαγνοῖεν ist ein Hinweis darauf, daß die πάντα charakteri­ siert sind als Unterscheidbares, nicht aber schon als Unterschiedenes. 291

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Teilnehmer: Wenn in Fragment 1 vom λόγος die Rede ist und in Fragment 7 von der διάγνωσις, kann man dann nicht die γνῶσις der πάντα beziehen auf den λόγος? Heidegger: Damit denken Sie schon zu viel. Sie wollen hinaus auf den Zusammenhang von γνῶσις des Menschen und λόγος. Wir aber wollen zunächst nur die unterschiedlichen Weisen kennenlernen, in denen Heraklit von τὰ πάντα spricht. Teilnehmer: Ist aber nicht doch das Seiendsein der πάντα, das in ὄντα zur Sprache kommt, eine Qualität der πάντα, die eine notwendige Voraussetzung für die διάγνωσις ist? Fink: Daß das Seiendsein der πάντα eine notwendige Voraussetzung für das unterscheidende Erkennen des Menschen ist, gebe ich zu. Nur ist ὄντα keine Qualität von πάντα. Wir müssen aber festhalten, daß zum bisherigen Bestimmungsgehalt der πάντα in Fragment 7 das ὄντα hinzukommt. Heidegger: Aber wissen wir denn, was τὰ ὄντα meint? Wir kommen der Sache nur näher, wenn wir es mit der Nase, mit der Opsis und mit dem Gehör zu tun haben werden. 36

Fink: In Fragment 80 interessiert uns jetzt in unserem Zusammenhang das καὶ γινόμενα πάντα κατ᾽ ἔριν καὶ | χρεών.* Auch hier werden die πάντα γινόμενα genannt, jetzt aber nicht κατὰ τὸν λόγον τόνδε wie im Fragment 1, sondern κατ᾽ ἔριν. Die Wendung καὶ χρεών lassen wir vorerst unberück­ sichtigt. Jetzt werden die πάντα und ihre Bewegungsweise nicht auf den λόγος, sondern auf den Streit bezogen. In Fragment 80 treten die πάντα in die Sinnfügung mit dem Streit ein. Es erinnert an das πόλεμος-Fragment 53, dem wir uns noch zuwenden werden. – Aus Fragment 10 heben wir die Wortfügung heraus: ἐκ πάντων ἓν καὶ ἐξ ἑνὸς πάντα.** Auch hier stoßen wir auf ein Werden, aber nicht auf das, das die Bewegung des einzelnen meint, sondern auf das Gesamtwerden. Heidegger: Wie könnte das ἐκ πάντων verstanden werden, wenn wir es naiv auffassen? Teilnehmer: Naiv gelesen würde es bedeuten, daß aus allen Teilen ein Ganzes zusammengestückt wird. Das ἕν würde dann ein summatives Gan­ zes sein. Heidegger: Aber die zweite Wortfügung ἐξ ἑνὸς πάντα zeigt uns schon, daß es sich nicht um das Verhältnis von Teil und Ganzem, das sich aus den Teilen zusammensetzt, handelt. * **

Die Dielssche Übersetzung lautet: „und daß alles geschieht auf Grund von Zwist und Schuldigkeit“. Diels übersetzt: „aus Allem Eins und aus Einem Alles“.

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Hermeneutischer Zirkel – Bezug von ἕν und πάντα

Fink: In Fragment 1 und 80 wurden die πάντα γιγνόμενα genannt. Ihr Bewegtsein war einmal bezogen auf den λόγος, zum anderen auf den Streit. Gemäß dem λόγος und dem Streit bedeutet: gemäß der Bewegung des λόγος und des Streits. Diese Bewegung haben wir unterschieden von dem Bewegtsein der πάντα. Sie ist nicht die Weise der Bewegung, wie sich die πάντα bewegen. Im Fragment 10 kommt sie zur Sprache, und zwar darin, wie aus allem Eins und aus Einem alles wird. Heidegger: Welche Bewegung meinen Sie hier? | Fink: Die Weltbewegung. Doch damit ist jetzt vielleicht schon zu viel gesagt. Wir haben bemerkt, daß man das ἐκ πάντων ἓν naiv als Verhältnis von Teil und Ganzem verstehen kann. Daß aus Vielem eins wird, ist ein bekanntes Phänomen. Dasselbe läßt sich aber nicht in umgekehrter Weise sagen. Aus einem wird nicht Vieles, es sei denn, wir meinen nur die begrenzte Allheit im Sinne der Vielheit und Menge. τὰ πάντα ist aber kein begrenzter Allheitsbegriff, kein Mengenbegriff, sondern ein Inbegriff. Wir müssen unterscheiden den Allheitsbegriff im Sinne des Inbegriffs, wie er in τὰ πάντα gegeben ist, von der numerischen oder auch Gattungsallheit, d. h. vom relativen Allheitsbegriff.

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Heidegger: Bilden alle Bücher, die hier in diesem Raum aufgestellt sind, schon die Bibliothek? Teilnehmer: Der Begriff der Bibliothek ist mehrdeutig. Einmal kann mit ihm nur die Gesamtmenge der hier vorhandenen Bücher gemeint sein, zum anderen aber auch außer den Büchern die Zurüstung, d. h. der Raum, die Regale usf. Die Bibliothek ist nicht an die Gesamtzahl der zu ihr gehörenden Bücher gebunden. Auch wenn einige Bücher herausgenommen werden, ist sie noch eine Bibliothek. Heidegger: Wie lange bleibt sie noch eine Bibliothek, wenn wir ein Buch nach dem anderen herausnehmen? Wir sehen aber schon, daß nicht alle einzelnen Bücher zusammen die Bibliothek ausmachen. „Alle“ summativ verstanden ist ganz verschieden von der Allheit im Sinne einer Einheit eigentümlicher Art, die zunächst nicht so leicht zu bestimmen ist. Fink: Im Fragment 10 wird ein Verhältnis der πάντα im Sinne der insgesamt Vielen zum Einen und ein Verhältnis des Einen zum insgesamt Vielen ausgesprochen, wobei das Eine nicht die Bedeutung eines Teiles hat. Heidegger: Unser deutscher Ausdruck Eins für das griechische ἕν ist fatal. Inwiefern? | Fink: Es geht in dem Verhältnis von ἕν und πάντα nicht nur um einen Gegenbezug, sondern auch um eine Vereinigung.

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Teilnehmer: Ich möchte das ἕν als etwas Komplexes verstehen im Gegensatz zu einer numerischen Auffassung. Der Spannungszustand zwischen ἕν und πάντα hat den Charakter eines Komplexen. Fink: Das ἕν ist der Blitz und das Feuer. Will man hier von einem Komplexen sprechen, so kann man das nur, wenn man darunter die einbegreifende Einheit versteht, die das insgesamt Viele in sich versammelt. Heidegger: Das ἕν, das Eine müssen wir denken als das Einigende. Wohl kann das Eine die Bedeutung von eins und einzig haben, hier aber hat es den Charakter des Einigens. Wenn man die fragliche Textstelle aus Fragment 10 übersetzt: aus allem eins und aus einem alles, so ist das eine gedankenlose Übersetzung. Das ἕν ist nicht eins für sich, das mit den πάντα nichts zu tun hätte, sondern es ist das Einigende. Fink: Um sich die einigende Einheit des ἕν zu verdeutlichen, kann man die Einheit eines Elements als Gleichnis nehmen. Doch dürfen wir dabei nicht stehenbleiben, sondern müssen die einigende Einheit zurückdenken auf das Eine des Blitzes, der in seinem Lichtschein die insgesamt Vielen in ihrer Unterschiedenheit versammelt und einigt. Heidegger: Das ἕν geht durch die ganze Philosophie hindurch bis zu Kants transzendentaler Apperzeption. Sie sagten nun, man müsse das ἕν in seinem Verhältnis zu den πάντα und die πάντα in ihrem Verhältnis zum ἕν aus Fragment 10 zusammennehmen mit dem λόγος und dem Streit in ihrem Bezug zu den πάντα aus Fragment 1 und 80. Das ist aber nur dann möglich, wenn wir λόγος als das Versammeln und ἔρις als das Auseinandernehmen verstehen. Das Fragment 10 beginnt mit dem Wort συνάψιες. Wie sollen wir das übersetzen? 39

| Teilnehmer: Ich würde vorschlagen: Zusammenfügen. Heidegger: Dabei käme es dann auf das Zusammen an. Dementsprechend ist das ἕν das Einigende. Fink : Das Fragment 29 scheint zunächst nicht in die Reihe der Fragmente, in denen von den πάντα die Rede ist, zu gehören: αἱρεῦνται γὰρ ἓν ἀντὶ ἁπάντων οἱ ἄριστοι, κλέος ἀέναον θνητῶν* Denn hier ist nicht direkt von den πάντα in einer bestimmten Hinsicht die Rede, sondern von einem menschlichen Phänomen: daß die Edlen eins vor allem anderen vorziehen, nämlich den immerwährenden Ruhm vor den vergänglichen Dingen. Das Verhalten der Edlen wird dem der πολλοί, der Vielen gegenübergestellt, die vollgefressen daliegen wie das Vieh. Und dennoch ist auch hier der fragwürdige Bezug von ἕν und πάντα zu sehen. Dem unmittelbaren Aussagegehalt nach ist Diels übersetzt: „(Denn) eines gibt es, was die Besten allem anderen vorziehen: den ewigen Ruhm den vergänglichen Dingen.“ *

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Hermeneutischer Zirkel – Bezug von ἕν und πάντα

hier das ἕν der immerwährende Ruhm, der eine Sonderstellung einnimmt gegenüber allem anderen. Aber das Fragment spricht nicht nur das mensch­ liche Verhalten der Edlen in bezug auf den Ruhm aus. Der Ruhm ist das im Glanze Stehen. Der Glanz aber erinnert uns an das Licht des Blitzes und des Feuers. Der Ruhm verhält sich zu allen anderen Dingen wie der Glanz zum Glanzlosen. Hierher gehört auch das Fragment 90, sofern es vom Verhältnis von Gold und Waren spricht. Auch das Gold verhält sich zu den Waren wie der Glanz zum Glanzlosen. Heidegger: Fragment 29 nennt neben den ἄριστοι auch die πολλοί. In Fragment 1 werden die πολλοί verglichen mit den ἀπείροισιν, mit den Unerprobten, die dem ἐγώ, d. h. dem Heraklit entgegengesetzt werden. Aber diese Entgegensetzung dürfen wir nicht wie Nietzsche verstehen als die Absonderung des Stolzen von der Menge. Heraklit nennt auch einen der sieben Weisen, den Bias, der in Priene geboren wurde, und sagt von ihm, daß sein Ruf größer ist als der der anderen (Frag|ment 39). Auch Bias hat gesagt: οἱ πλεῖστoι ἄνθρωπoι κακoί, die meisten Menschen sind schlecht. Die Vielen streben nicht wie die Edlen nach dem Glanze des Ruhms, sondern hängen den vergänglichen Dingen nach und sehen daher nicht das Eine. Fink: Im Fragment 29 müssen wir den Ruhm im Hinblick auf den Glanz denken. Das Glänzende ist das Feuerhafte im Gegensatz zu dem, was die Vielen und Schlechten vorziehen. Der Edle, der den Ruhm vor allem anderen erstrebt, steht dem Denker nahe, dessen Blick nicht nur auf die πάντα, sondern auf das ἕν in seinem Verhältnis zu den πάντα gerichtet ist. Heidegger: Auch bei Pindar wird das Gold, also das Glänzende, mit dem Feuer und dem Blitz zusammengenommen. Die bisherige Betrachtung des Fragments 29 hat uns gezeigt, daß in ihm zunächst ein bestimmtes menschliches Verhalten angesprochen wird. Fink: In diesem menschlichen Verhalten der Edlen zu dem immerwährenden Ruhm spiegelt sich in gewisser Weise das Grundverhältnis von ἕν und πάντα wider. Auch im Fragment 7 traten die πάντα in einen Bezug zu einem menschlichen Verhalten. Dort war es aber das unterscheidende Erkennen. In Fragment 29 werden die πάντα auch in ihrem Rückbezug zu einem menschlichen Verhalten in den Blick genommen, aber dabei handelt es sich nicht um das Erkenntnis-Verhalten, sondern um das Verhalten eines Vorziehens von einem vor allem anderen. Der Ruhm ist aber nicht graduell verschieden von anderen Besitztümern, sondern er hat gegenüber allem anderen den Charakter der Auszeichnung. Es handelt sich nicht um das Vorziehen von einem gegenüber anderem, sondern um das Vorziehen des einzig Wichtigen gegen alles andere. Wie die Edlen das einzig Wichtige, den Glanz des Ruhms vor allen anderen Dingen vorziehen, so denkt der Denker auf das einigende Eine des Blitzes hin, in dessen Licht die πάντα 295

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zum Vorschein kommen, und nicht etwa nur auf die πάντα. Und so wie | die Vielen die vergänglichen Dinge dem Glanze des Ruhmes vorziehen, so verstehen die Menschen, die Vielen nicht das einigende ἕν, das die πάντα in ihrer Unterschiedenheit einbegreift, sondern nur die πάντα, die vielen Dinge. – Im Fragment 30 ist der Denkblick auf das Verhältnis von πάντα und κόσμος gerichtet. Die uns jetzt allein interessierende Textstelle lautet: κόσμον τόνδε, τὸν αὐτὸν ἁπάντων. Diels übersetzt: „Diese Weltordnung, dieselbige für alle Wesen“. Unter den Wesen versteht er offenbar die Lebewesen. Wir wollen aber ἁπάντων übersetzen: für die Gesamtheit der πάντα. Heidegger: τὸν αὐτὸν ἁπάντων steht nur bei Clemens und fehlt bei Plutarch und Simplikios. Karl Reinhardt streicht es. Ich möchte noch einmal auf ihn zu sprechen kommen, vor allem, weil ich seinen Aufsatz „Heraklits Lehre vom Feuer“ nennen möchte, der vor allem in methodischer Hinsicht besonders wichtig ist. Es sind gerade 30 Jahre her, als ich in der Zeit, in der ich die drei Vorträge über den Ursprung des Kunstwerkes hielt, mit Karl Reinhardt in seiner Dachstube lange über Heraklit gesprochen habe. Dabei erzählte er mir von seinem Plan, einen überlieferungsgeschichtlichen Kommentar zu Heraklit zu schreiben. Hätte er diesen Plan verwirklicht, so wäre uns heute vieles erleichtert. Reinhardt hat auch in dem genannten Aufsatz entdeckt, daß das im Kontext von Fragment 64 stehende πῦρ φρόνιμον echt Herakliteisch und daher als Fragment anzusehen ist. Was das Auffinden von neuen Heraklit-Fragmenten betrifft, so sagt er: „Daraus nun ergibt sich eine nicht ganz angenehme Rechnung: es ist nicht unmöglich, daß bei Clemens und den Kirchenvätern ein paar unbekannte Worte Heraklits als wie in einem großen Strom herumschwimmen, die aufzufischen uns niemals gelingen wird, es wäre denn, daß uns von anderer Seite auf sie hingewiesen würde. Einem berühmten Worte anzusehen, daß es berühmt ist, ist nicht immer leicht.“1 Karl Reinhardt war nicht, sondern er ist noch.

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| Fink: Im Fragment 30 wird der Bezug von πάντα und κόσμος gedacht. Dabei lassen wir jetzt noch offen, was κόσμος bei Heraklit bedeutet. Sodann werfen wir noch einmal einen Blick auf das Fragment 41, das uns schon beschäftigt hat: ἓν τὸ σοφόν, ἐπίστασθαι γνώμην, ὁτέη ἐκυβέρνησε πάντα διὰ πάντων.* Hier kommt zu dem ἕν, nach dessen Bezug zu τὰ πάντα wir in den Fragmenten Ausschau halten, das σοφόν hinzu. Wir müßten fragen, ob das σοφόν nur eine Eigenschaft des ἕν als einigender Einheit ist oder ob es nicht gerade das Wesen des ἕν ist. Heidegger: Dann könnten wir zwischen ἕν und σοφόν einen Doppelpunkt setzen: ἓν : τὸ σοφόν. Die Dielssche Übersetzung hat folgenden Wortlaut: „Eins nur ist das Weise, sich auf den Gedanken zu verstehen, als welcher alles auf alle Weise zu steuern weiß.“

*

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Hermeneutischer Zirkel – Bezug von ἕν und πάντα

Fink: Das σοφόν als Wesen des einigenden ἕν faßt dieses in seiner ganzen Sinnfülle. Wenn sich uns das ἕν bisher zu entziehen schien, so haben wir im Fragment 41 die erste genauere Charakteristik als eine Art von ἕνωσις, obwohl dieser Begriff neuplatonisch belastet ist. Heidegger: Das ἕν geht durch die ganze Metaphysik, und auch die Dialektik ist nicht ohne das ἕν zu denken. Fink: Im Fragment 53, auf das wir schon im Zusammenhang mit Fragment 80 hingewiesen haben, werden die πάντα in Bezug zum πόλεμος gesetzt. Das Fragment hat folgenden Wortlaut: Πόλεμος πάντων μὲν πατήρ ἐστι, πάντων δὲ βασιλεύς, καὶ τοὺς μὲν θεοὺς ἔδειξε τοὺς δὲ ἀνθρώπους, τοὺς μὲν δούλους ἐποίησε τοὺς δὲ ἐλευθέρους. Diels übersetzt: „Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König. Die einen erweist er als Götter, die anderen als Menschen, die einen macht er zu Sklaven, die anderen zu Freien.“ Der Bezug von πάντα und πόλεμος hat sich uns schon im Fragment 80 gezeigt, wo von ἔρις die Rede war. Jetzt wird der Krieg bzw. der Streit Vater und König | aller Dinge genannt. Wie der Vater der Ursprung der Kinder ist, so ist der Streit, den wir mit dem ἕν als Blitz und Feuer zusammendenken müssen, der Ursprung der πάντα. Das Verhältnis von πόλεμος als Vater zu den πάντα wiederholt sich in gewisser Weise in dem Verhältnis von πόλεμος als Regent zu den πάντα. Den βασιλεύς müssen wir in Verbindung bringen mit dem Steuern und Lenken des Blitzes. Wie der Blitz das Feld der πάντα aufreißt und dort als das Treibende und Regierende wirkt, so lenkt und regiert der Krieg als Herrscher die πάντα. Heidegger: Heraklit faßt, wenn er vom Vater und Herrscher spricht, in einer beinahe dichterischen Sprache den Sinn der ἀρχή der Bewegung: πρῶτον ὅθεν ἡ ἀρχὴ τῆς κινήσεως. Der erste Ursprung der Bewegung ist auch der erste Ursprung des Herrschens und Lenkens. Fink: Die Wendungen πόλεμος πάντων πατήρ und πάντων βασιλεύς sind nicht nur zwei neue Bilder, sondern in ihnen kommt ein neues Moment im Verhältnis von ἕν und πάντα zur Sprache. Die Weise, wie der Krieg Vater der πάντα ist, wird in ἔδειξε benannt, die Weise, wie der Krieg König der πάντα ist, wird in ἐποίησε angesprochen. – Das Fragment 90 nennt den Bezug zwischen den πάντα und dem Umtausch des Feuers: πυρός τε ἀνταμοιβὴ τὰ πάντα καὶ πῦρ ἁπάντων.* Hier wird das ἕν namentlich angesprochen als Feuer, so wie es vorher schon als Blitz bezeichnet wurde. Das Verhältnis zwischen dem Feuer und den πάντα hat hier nicht den Charakter der bloßen γένεσις, des Erweisens oder des Hervorbringens (Machens), sondern den des Umtausches. *

Diels übersetzt: „Wechselweiser Umsatz: des Alls gegen das Feuer und des Feuers gegen das All.“

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Heidegger: Die Rede vom Umtausch als der Weise, wie das Feuer als das ἕν sich zu den πάντα verhält, hat den Anschein einer gewissen Nivellierung. 44

| Fink: Dieser Anschein ist vielleicht beabsichtigt. – Als nächstes kommt für uns das Fragment 100 in Betracht. Es lautet: ὥρας αἳ πάντα φέρουσι: „die Horen, die die πάντα bringen“. Bisher hatten wir gehört vom Steuern und Lenken, Aufzeigen und Machen, und jetzt spricht Heraklit von einem Bringen. Die Stunden, d. h. die Zeiten bringen die πάντα. Damit kommt in das ἕν die Zeit in ausdrücklicher Weise hinein, die in gewisser Weise auch schon im Blitz in einer verdeckten Form genannt war und auch in den Zeitwenden des Feuers und in der Sonne mitgedacht ist. Die πάντα sind das von den Zeiten Gebrachte. Heidegger: Legen Sie den Akzent mehr auf die Zeit oder auf das Bringen? Fink: Mir geht es gerade um den Zusammenhang von Zeit und Bringen, wobei wir jetzt noch offenlassen müssen, wie hier die Zeit und das Bringen zu denken sind. Heidegger: Das Bringen ist ein wichtiges Moment, das wir später für die Frage nach der Dialektik in συμφερόμενον und διαφερόμενον aus Fragment 10 beachten müssen.

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Fink: Im Fragment 102 werden die πάντα auf eine zwiefache Sichtweise hin in den Blick genommen. Es lautet: τῷ μὲν θεῷ καλὰ πάντα καὶ ἀγαθὰ καὶ δίκαια, ἄνθρωποι δὲ ἃ μὲν ἄδικα ὑπειλήφασιν ἃ δὲ δίκαια. Diels übersetzt: „Für Gott ist alles schön und gut und gerecht; die Menschen aber haben das eine als ungerecht, das andere als gerecht angenommen.“ Im Fragment 7 wurden die πάντα auf das menschliche Vernehmen bezogen. Jetzt spricht Heraklit nicht nur vom menschlichen, sondern auch vom göttlichen Bezug zu den πάντα. Alles ist schön, gut und gerecht für Gott. Nur die Menschen machen einen Unterschied zwischen dem Gerechten und dem Ungerechten. Die eigentliche und wahre Sicht auf die πάντα und das ἕν ist die göttliche, die uneigentliche und unzureichende ist die menschliche. Im Fragment 29 sahen wir ein ähnliches Doppelverhält|nis zu den πάντα und dem ἕν. Dort waren es die Edlen, die den Glanz des Ruhms allem anderen vorzogen, während die Vielen sich den vergänglichen Dingen hingaben und nicht den immerwährenden Ruhm erstrebten. Hier sind es die göttliche und die menschliche Sichtweise, die gegenübergestellt werden. – Fragment 108 nennt das σοφόν als das von allem Abgesonderte: σοφόν ἐστι πάντων κεχωρισμένον.* Hier ist das σοφόν nicht nur eine Bestimmung des ἕν, wie in Fragment 41, sondern als das ἕν ist es das von den πάντα Abgesonderte. Das σοφόν ist das sich selbst von den πάντα abgesondert Haltende und dennoch *

Diels übersetzt: „Das Weise ist etwas von allem Abgesondertes.“

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Hermeneutischer Zirkel – Bezug von ἕν und πάντα

die πάντα Umgreifende. Die πάντα werden also aus dem Abgesondertsein des ἕν gedacht. Heidegger: Das κεχωρισμένον ist die schwierigste Frage bei Heraklit. Karl Jaspers sagt über dieses Wort Heraklits: „Hier ist der Gedanke der Trans­ zendenz als des schlechthin anderen, und zwar im vollen Bewußtsein des Unerhörten, erreicht“.2 Diese Interpretation des κεχωρισμένον als Transzen­ denz ist völlig abwegig. Fink: Wiederum einen anderen Hinblick auf τὰ πάντα liefert das Fragment 114: ξὺν νόῳ λέγοντας ἰσχυρίζεσθαι χρὴ τῷ ξυνῷ πάντων, ὅκωσπερ νόμῳ πόλις, καὶ πολὺ ἰσχυροτέρως. τρέφονται γὰρ πάντες οἱ ἀνθρώπειοι νόμοι ὑπὸ ἑνὸς τοῦ θείουˑ Den letzten Satz können wir für unsere jetzige Betrachtung übergehen. Diels übersetzt: „Wenn man mit Verstand reden will, muß man sich stark machen mit dem allen Gemeinsamen wie eine Stadt mit dem Gesetz und noch viel stärker. Nähren sich doch alle menschlichen Gesetze von dem einen, göttlichen.“ Auch hier werden die πάντα aus einem bestimmten menschlichen Verhalten in den Blick genommen. Ob mit dem allen Gemeinsamen nur das κοινόν der Stadt gemeint ist oder ob es sich nicht auch auf die πάντα bezieht, kann nicht auf den ersten Anhieb entschieden werden. Im letzteren Fall würde sich das Grundverhältnis von ἕν und πάντα im menschlichen Bereich widerspiegeln. Wie | sich derjenige, der mit Verstand reden will, mit dem allen Gemeinsamen stark machen muß, so muß sich der Verständige in einem tieferen Sinne mit dem ἕν, das den πάντα gemeinsam ist, stark machen. Heidegger: Hinter dem ξυνόν müssen wir ebenso wie hinter dem κεχωρισμένον ein großes Fragezeichen setzen. Das Fragezeichen bedeutet aber, daß wir fragen und nachdenken und alle geläufigen Vorstellungen beiseite lassen müssen. Das ξυνόν ist ein besonders verwickeltes Problem, weil hier das ξὺν νόῳ hineinspielt. Fink: Wir haben jetzt eine Reihe von Fragmenten daraufhin untersucht, in welcher Hinsicht in ihnen von τὰ πάντα die Rede ist. Damit haben wir noch keine Interpretation gegeben. Im Durchgang durch die mannigfaltigen Textstellen ist uns dennoch nicht klarer geworden, was τὰ πάντα bedeutet, sondern die Wortfügung τὰ πάντα ist uns fragwürdiger geworden im Hin­ blick auf die aufgewiesenen Bezüge. Fragwürdig ist uns geworden, was die πάντα sind, was ihr zum Vorschein Kommen ist, wie der Bezug von πάντα und ἕν gedacht werden muß und wohin dieser Bezug gehört. Wenn wir sagen „fragwürdig“, so bedeutet das, daß die aufgetauchten Fragen würdig sind, von uns gefragt zu werden. Teilnehmer: In die Reihe der aufgezählten Fragmente, die von den πάντα handeln, gehören auch noch die Fragmente 50 und 66. 299

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Heidegger: Das Fragment 66 ist bei Clemens umstritten, den Karl Reinhardt charakterisiert als den griechischen Jesajas. Denn Clemens sieht Heraklit eschatologisch. Ich betone noch einmal, daß es von unschätzbarem Wert wäre, wenn wir von Karl Reinhardt den überlieferungsgeschichtlichen Kom­ mentar zu Heraklit bekommen hätten. Reinhardt war wohl kein Fachphilo­ soph, aber er konnte denken und sehen.

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| III. πάντα-ὅλον, πάντα-ὄντα – Unterschiedliche Auslegung des Fragments 7 (beigezogenes Fragment 67) – πᾶν ἑρπετόν (Fragment 11) – Zeitigungscharakter der Horen (Fragment 100) Heidegger: Werfen wir einen Blick zurück auf das Thema der letzten Semi­ narsitzung. Teilnehmer: Wir versuchten, im Durchgang durch die Fragmente, in denen von τὰ πάντα die Rede ist, die Hinsichten in den Blick zu nehmen, in denen von Heraklit die Wortfügung τὰ πάντα angesprochen wird. Diese Hinsichten sind der Bezug der πάντα zum λόγος, zum Streit, zum Krieg als Vater und König der πάντα, zum einigenden ἕν, zum κόσμος, zum Umtausch des Feuers, zum σοφόν, zum κεχωρισμένον, zu den Horen, außerdem zum menschlichen Verhalten des unterscheidenden Erkennens, des Vorziehens von einem vor allem anderen, des Sichstarkmachens mit dem allen Gemeinsamen, und der unterschiedliche göttliche und menschliche Bezug zu den πάντα. Heidegger: Haben wir aus diesen mannigfachen Bezügen schon entnom­ men, was τὰ πάντα bei Heraklit heißt? Teilnehmer: Vorläufig haben wir τὰ πάντα als Inbegriff des Einzelnen inter­ pretiert. Heidegger: Woraus entnehmen Sie aber das Einzelne? Teilnehmer: In allen Fragmenten wird der Blick auf das Einzelne gerichtet, das im Inbegriff τὰ πάντα zusammengenommen ist. Heidegger: Was heißt griechisch „das Einzelne“?

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| Teilnehmer: ἕκαστον. Heidegger: Im Durchgang durch eine Reihe von Fragmenten haben wir den Bezug von τὰ πάντα auf das ἕν und das, was dazu gehört, in den Blick genommen. Aber es ist uns noch nicht gelungen, in der Verfolgung der mannigfachen Bezüge, in denen τὰ πάντα angesprochen werden, diese Wortfügung τὰ πάντα näher zu charakterisieren. Es wurde auch von τὰ πάντα als dem in sich Unterschiedenen gesprochen. Wie ist das zu verstehen? 300

πάντα-ὅλον, πάντα-ὄντα – Unterschiedliche Auslegung des Fragments 7

Teilnehmer: Das Gesamte der πάντα können wir als τὸ ὅλον ansprechen. Diese Gesamtheit ist der Inbegriff der an sich unterschiedenen πάντα. Heidegger: Was ist aber der Inbegriff? Bedeutet er nicht schon das Ganze? Teilnehmer: Der Inbegriff ist das, was einbegreift. Heidegger: Gibt es so etwas wie einen einbegreifenden Inbegriff bei Hera­ klit? Offenbar nicht. Inbegriff, Einbegreifen, Greifen und Begreifen ist schon an sich ungriechisch. Bei Heraklit gibt es keinen Begriff, und auch bei Aristoteles gibt es noch keine Begriffe im eigentlichen Sinne. Wann taucht zum ersten Mal der Begriff auf? Teilnehmer: Dann, wenn λόγος bzw. stoisch κατάληψις als conceptus über­ setzt und verstanden werden. Heidegger: Vom Begriff zu reden, ist ungriechisch. Es verträgt sich nicht mit dem, von dem wir in den nächsten Seminarsitzungen handeln werden. Wir müssen daher auch mit dem Wort „Inbegriff“ vorsichtig umgehen. Fink: Wenn ich von Inbegriff spreche, so möchte ich den Ton legen auf das συνέχον. Wurde vom Seminarteilnehmer gesagt, | ich habe τὰ πάντα als Inbegriff von Einzelnem ausgelegt, so hat er damit mehr behauptet, als ich gesagt habe. Ich habe gerade nicht entschieden, ob τὰ πάντα eine Gesamtkonstellation von Einzelnem meint oder ob diese Wortfügung sich nicht eher auf die Elemente und die Gegenbezüge bezieht. τὰ πάντα verstehe ich zunächst nur als Gesamtbereich, dem nichts fehlt, dem aber dennoch etwas entgegengestellt wird. Das den πάντα Entgegengestellte steht aber nicht neben ihnen, sondern es ist eher etwas, in dem die πάντα sind. So gesehen ist dann der Κεραυνός nicht mehr ein Lichtphänomen unter anderen in der Gesamtheit von τὰ πάντα. Daß es in der Gesamtheit dessen, was es gibt, auch den Blitz in einer ausgezeichneten Weise geben kann, die in die Richtung auf ein summum ens weist, soll nicht bestritten werden. Vielleicht aber ist der von Heraklit gedachte Κεραυνός gar kein ens, das in τὰ πάντα hineingehört, auch kein ausgezeichnetes ens, sondern etwas, was in einem von uns noch ungeklärten Verhältnis zu τὰ πάντα steht. Dieses Verhältnis haben wir vorerst in einem Gleichnis formuliert. So wie der lichtaufreißende Blitz den Dingen in seinem Lichtschein Sichtbarkeit gibt, so läßt der Blitz in einem tieferen Sinne die πάντα in seiner Lichtung zum Vorschein kommen. Die zum Vorschein kommenden πάντα sind versammelt in der Helle des Blitzes. Weil der Blitz nicht ein Lichtphänomen innerhalb der Gesamtheit der πάντα ist, sondern die πάντα zum Vorschein bringt, ist er in gewisser Weise von ihnen abgesondert, ist er der Κεραυνὸς πάντων κεχωρισμένος. Aber als der so Abgesonderte ist er in gewisser Weise auch wieder das Zusammenschließende und Auseinandernehmende in bezug auf die πάντα. τὰ πάντα meint nicht nur die Gesamtheit der Einzeldinge. Gerade wenn man 301

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von den πυρὸς τροπαί her denkt, sind es eher die Wandlungen des Feuers durch die Vielzahl der Elemente hindurch. Die Einzeldinge sind dann μικτά, d. h. aus den Elementen gemischt. Heidegger: Worin würden Sie den Unterschied zwischen der Gesamtheit und der Ganzheit sehen? 50

| Fink: Wir sprechen von Ganzheit im Hinblick auf die Strukturganzheit von Dingen, die wir als ὅλα ansprechen können, und von der Gesamtheit der Dinge, von dem ὅλον, in dem alles Unterschiedene versammelt und in bestimmten Fügungen auseinandergesetzt ist. Heidegger: Sie verstehen also die Gesamtheit als das ὅλον bzw. καθόλον? Fink: Aber das ὅλον, die Gesamtheit der πάντα, ist abkünftig vom ἕν, das eine Ganzheit völlig anderer Art ist als die Strukturganzheit von Dingen oder als die Ganzheit summativer Art und das auch nicht zu verstehen ist wie der κόσμος im Τίμαιος, den Platon als ein Lebewesen mit nach innen gekehrten Extremitäten bestimmt. Die Ganzheit des ἕν meint die Totalität, die wir eher denken müssen als den Σφαῖρος. Wir müssen also auseinanderhalten die Mannigfalt der Dinge und Elemente, die inbegriffliche Gesamtheit der πάντα und die im ἕν gedachte Totalität, die die Gesamtheit der πάντα zum Vorschein kommen läßt und umfängt. Heidegger: Was meinen Sie mit der Gesamtheit? Ist man im Denken bei der Ganzheit angelangt, kann die Meinung auftauchen, man sei mit dem Denken zu Ende gekommen. Ist das die Gefahr, die Sie sehen? Fink: Ich möchte einmal von einem doppelstrahligen Denken sprechen. Wir müssen auseinanderhalten das Denken der Dinge im Ganzen und das Denken, das das Universum, die Totalität oder das ἕν denkt. Damit möchte ich vermeiden, daß τὰ πάντα, die zurückbezogen sind auf das ἕν als den Blitz, verstanden werden als in sich geschlossenes Universum.

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Heidegger: Sprechen wir in bezug auf τὰ πάντα von Ganzheit, so besteht die Gefahr, daß das ἕν überflüssig wird. Daher müssen wir im Hinblick auf τὰ πάντα von der Gesamtheit und nicht | von der Ganzheit sprechen. Mit dem Wort „Gesamtheit“ ist gesagt, daß die πάντα in der Gesamtheit nicht wie in einem Kasten, sondern in der Weise ihrer durchgängigen Vereinzelung sind. Wir wählen das Wort „Gesamtheit“ aus zwei Gründen: einmal, um nicht Gefahr zu laufen, mit dem Ganzen sei das letzte Wort gesprochen, und zum anderen, um τὰ πάντα nicht nur im Sinne der ἕκαστα zu verstehen. Fink: In gewisser Weise sind τὰ πάντα das Viele, aber eben nicht das Viele einer durchgezählten Menge, sondern einer inbegrifflichen Gesamtheit. Heidegger: Das Wort „Inbegriff“ ist einmal zu statisch, zum anderen ist es auch ungriechisch, sofern es mit dem Greifen zu tun hat. Griechisch könnten 302

πάντα-ὅλον, πάντα-ὄντα – Unterschiedliche Auslegung des Fragments 7

wir vom περιέχον sprechen. Aber das ἔχειν meint nicht das Greifen und den Griff. Was da hereinspielt, werden wir aus den folgenden Fragmenten ersehen. – Um nun auf die in der letzten Seminarsitzung durchgegangenen Fragmente zurückzukommen, so haben wir gesehen, daß sie in unterschied­ licher Weise von τὰ πάντα sprechen. So ist z. B. das Fragment 7 das einzige bei Heraklit, in dem die πάντα als ὄντα angesprochen und in dem überhaupt die ὄντα genannt werden. Genau übersetzt lautet es: Wenn alles das Seiende Rauch würde, würden die Nasen es unterscheiden. Hier ist die Rede vom διαγιγνώσκειν. Wir sprechen auch von einer Diagnose. Ist eine Diagnose eine Unterscheidung? Teilnehmer: Eine Diagnose unterscheidet, was gesund und krank, was auffällig und nicht auffällig in bezug auf eine Krankheit ist. Teilnehmer: Um in der Terminologie des Arztes zu sprechen: der Arzt sucht nach bestimmten Symptomen einer Krankheit. Die Diagnose ist ein Durchgehen des Körpers und ein genaues, unterscheidendes Erkennen von Symptomen. | Heidegger: Die Diagnose beruht auf dem ursprünglich verstandenen διά und meint zunächst ein Durchlaufen und Durchgehen des ganzen corpus, um dann erst zu einem Unterscheiden und Entscheiden zu kommen. Daraus ersehen wir schon, daß das διαγιγνώσκειν nicht nur ein Unterscheiden ist. Wir müssen daher sagen: Wenn alles das Seiende Rauch würde, hätten die Nasen die Möglichkeit, es zu durchgehen. Teilnehmer: Das Unterscheiden des Seienden geschähe dann durch den Geruchssinn. Heidegger: Können aber Sinne überhaupt unterscheiden? Diese Frage wird uns später noch bei Heraklit beschäftigen. Wie aber kommt Heraklit auf den Rauch? Die Antwort ist nicht schwer zu finden: wo Rauch ist, da ist auch Feuer. Fink: Wenn Heraklit im Fragment 7 vom Rauch spricht, dann ist doch damit gemeint, daß der Rauch die ὄψις in bezug auf πάντα τὰ ὄντα verschwierigt, daß aber gleichwohl im Durchstoß durch den verhüllenden Rauch ein διαγιγνώσκειν mittels der ῥῖνες möglich ist. Wir müssen auch beachten, daß Heraklit nicht etwa sagt: wenn alles Seiende zu Rauch wird, sondern es heißt: wenn alles Seiende zu Rauch würde. Heidegger: Das γίνεσθαι in γένοιτο müssen wir verstehen als „hervorkom­ men“. Wenn alles das Seiende als Rauch hervorkäme … In dem Fragment werden die πάντα τὰ ὄντα von vornherein einer διάγνωσις zugeordnet. Im Hintergrund werden sie aber im Hinblick auf einen Charakter angesprochen, der mit dem Feuer zusammenhängt. 303

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Fink: Sie bringen den Rauch mit dem Feuer in Zusammenhang. Der Rauch steht in Bezug zur Nase. Das würde bedeuten, daß auch die Nase über den Rauch in einem Bezug zum Feuer steht. Ist aber nicht gerade die ὄψις der am meisten feuerhafte Sinn? Ich möchte meinen, daß das Sonnenhafte des Blickes mehr das | Feurige vernehmen kann als die Nase. Hinzu kommt, daß der Rauch etwas vom Feuer Abkünftiges ist. Er ist gleichsam der Schatten des Feuers. Man müßte sagen: wenn alles Seiende zu Rauch als dem vom Feuer Abgeleiteten würde, auch dann könnten die Nasen durch den Widerstand hindurch das Seiende erkennen. Ich würde aber meinen, daß die ὄψις eher als die Nase dem Feuer zugeordnet ist. Heidegger: Dennoch glaube ich, daß mit der Nase und dem Rauch etwas anderes gemeint ist. Werfen wir einen Blick auf das Fragment 67. Dort heißt es u. a.: ἀλλοιοῦται δὲ ὅκωσπερ ‹πῦρ›, ὁπόταν συμμιγῇ θυώμασιν, ὀνομάζεται καθ᾽ ἡδονὴν ἑκάστου. Diels übersetzt: „Er wandelt sich aber gerade wie das Feuer, das, wenn es mit Räucherwerk vermengt wird, nach dem Duft eines jeglichen heißt.“ Das Wort, auf das es in unserem Sinnzusammenhang ankommt, ist θύωμα, Räucherwerk. Je nach dem Räucherwerk, das dem Feuer beigemischt wird, verbreitet es einen Duft, nach dem es dann genannt wird. Wichtig ist hier, daß der Rauch des Feuers verschieden duften kann. Das bedeutet, daß der Rauch selbst in sich eine Mannigfalt von Unterschie­ den hat, so daß er als dieser und jener bestimmte mit der Nase erkannt werden kann. Fink: Ich verstehe den Rauch als ein Phänomen, das die Unterschiede der πάντα verhüllt, ohne daß sie gänzlich verschwinden. Denn die Nase ist es, die im Durchstoß durch die Verhüllung die πάντα unterscheidend erkennt. Heidegger: Sie nehmen also das διά als „durch den Rauch hindurch“. Ich dagegen verstehe das διά als „dem Rauch entlang“. Das διαγιγνώσκειν meint hier, daß die dem Rauch immanente mögliche Mannigfalt durchgehbar und erkennbar ist.

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Fink: Während nach meiner vorläufigen Interpretation der Rauch eine Man­ nigfalt verhüllt, ist nach Ihrer Auslegung der Rauch selber eine Dimension von Mannigfalt. Von der Art, wie | wir den Rauch verstehen, hängt dann die Frage nach τὰ ὄντα ab. Das διαγιγνώσκειν im Sinne des Unterscheidens und Entscheidens setzt das διά in der Bedeutung des „hindurch“ (durchge­ dreht) voraus. Teilnehmer: Wenn alle Dinge zu Rauch würden, ist dann nicht alles eins ohne Unterschiede? Heidegger: Dann hätten die Nasen nichts mehr zu tun, und es gäbe kein διά. Das Fragment 7 sagt gerade nicht, daß alles Seiende homogen zu Rauch würde. Wäre das die Aussage dieses Fragments, dann dürfte kein διαγνοῖεν 304

πάντα-ὅλον, πάντα-ὄντα – Unterschiedliche Auslegung des Fragments 7

folgen. Wir haben gerade das Fragment 67 herangezogen, weil es einen Hinweis darauf enthält, daß der Rauch in sich eine Mannigfalt besitzt. Fink: Unser Interpretationsversuch der Fragmente Heraklits setzte ein mit dem Fragment 64. Wenn wir uns auch schon einer Reihe anderer Fragmente zugewandt haben, so geschah das vor allem deshalb, um zu erfahren, in welchen Hinsichten τὰ πάντα angesprochen werden. Vom Fragment 64, mit dem wir unsere eigene Reihung beginnen ließen, gehen wir über zum Fragment 11. Es lautet: πᾶν γὰρ ἑρπετὸν πληγῇ νέμεται. Diels übersetzt: „Alles, was da kreucht, wird mit (Gottes) (Geißel)schlag gehütet.“ Was kann den Ansatz motivieren, hinter das Κεραυνός-Fragment dieses Fragment zu stellen, das aussagt, daß alles Kriechende mit dem Schlag geweidet wird? Wird auch hier von einer anderen Sicht herkommend ausgesagt, wie der Blitz steuert und wie er die πάντα lenkt, oder wird in ihm etwas völlig anderes angezielt? Gehen wir bei der Auslegung dieses Fragments von dem Wort πληγῇ aus. Diels übersetzt: mit Gottes Geißelschlag. Wohl ist im Kontext die Rede von Gott, nicht aber im Fragment selbst. Wir versuchen eine Auslegung des Spruches, ohne ihn dabei in den Kontext hineinzustellen. Heidegger: Sie wollen den Gott nicht mit hineinnehmen. Aber bei Aischylos und Sophokles finden wir die πληγή in Verbindung mit dem Gott (Agamem­ non 367, Aias 137). | Fink: In πληγή sehe ich ein anderes Grundwort für den Blitz. Es meint dann den Blitzschlag. Von hier aus ist es motiviert, vom Κεραυνός-Fragment zum Fragment 11 überzugehen. Um aber vorerst bei der unmittelbaren Rede des Herakliteischen Spruches zu bleiben: alles, was kriechend ist, wird durch den Schlag gehütet und geweidet. Der Geißelschlag treibt eine Herde an und hütet sie, während sie weidet. Offenbar wird in der unmittelbaren Rede eine weidende Herde angesprochen, die angetrieben und gehütet wird durch den Schlag der Geißel. Wenn wir nun aber den Schlag auf den Blitzschlag beziehen, dann ist der Schlag auch der Donner, der das Weite durchhallt, die Stimme des Blitzes, die alles Kriechende antreibt und lenkt. νέμειν meint einmal auf die Weide treiben, hüten und füttern, zum anderen aber auch austeilen und zuteilen. Dann können wir sagen: allem, was kriecht, wird durch den Schlag als die Stimme des Blitzes zugeteilt. Heidegger: νέμεται verweist auch auf Νέμεσις. Fink: Die Νέμεσις hat aber nicht nur die Bedeutung des Zu- und Verteilens. Teilnehmer: Ebenso verweist νέμεται auf νόμος. Fink: Der νόμος regelt für alle Bürger der Stadt die Zuteilung dessen, was ihnen das Schickliche ist. – Das anschauliche Bild, das aber keine Allegorie ist, besagt, daß alles Kriechende mit dem Schlag geweidet wird, indem ihm zugeteilt wird. In νέμεται verbinden sich das Gewaltsame eines Widerfahr­ 305

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nisses (das Angetriebenwerden durch den Schlag) und das Friedliche des Weidens. Wir müssen in νέμεται mannigfaches, das in ihm mitklingt, hören: das Lenken, Jagen und Steuern des Schlages und das Geweidetwerden. Letzteres ist sowohl ein Behütetsein als auch ein Gesteuertwerden. Zum friedlichen Sinn des Weidens gehört auch das Zuteilen. Das Weiden als Zuteilen ist Behütung sowohl als auch ein Gesteuertwerden im Sinne des Gewaltanwendens. 56

| Heidegger: Hierzu möchte ich aus dem Gedicht Hölderlins Der Frieden ein paar Verse vorlesen: O du die unerbittlich und unbesiegt Den Feigern und den Übergewaltgen trift, Daß bis ins letzte Glied hinab vom Schlage sein armes Geschlecht erzittert, Die du geheim den Stachel und Zügel hältst zu hemmen und zu fördern, o Nemesis, […]3

Fink: Hierher gehört auch eine Strophe aus Hölderlins Gedicht Stimme des Volks (erste Fassung): Und wie des Adlers Jungen, er wirft sie selbst Der Vater aus dem Neste, damit sie sich Im Felde Beute suchen, so auch Treiben uns lächelnd hinaus die Götter.4

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Das lächelnde Treiben der Götter vereinigt in sich die Huld und Gewalt, was wir in νέμεται in Fragment 11 heraushören müssen. Damit haben wir eine vorläufige Orientierung über das, was πληγῇ und νέμεται meinen. Aber bezieht sich denn der Schlag, durch den gelenkt und zugeteilt wird, überhaupt auf τὰ πάντα? Im Spruch selbst ist nicht von τὰ πάντα die Rede. Stattdessen heißt es: πᾶν ἑρπετόν. Es sieht so aus, als würde aus τὰ πάντα ein bestimmter Bereich herausgegrenzt. πᾶν ἑρπετόν meint jegliches, was kreucht. Hier handelt es sich nicht um einen einfachen Singular, sondern um einen Singular, der eine Vielzahl meint: alles Kriechende. Wird hier der Bereich der kriechenden Landtiere ausgegrenzt gegenüber den Luft und Wasser bewohnenden Tieren? Wird die Bewegungsweise der Landtiere als ein Kriechen charakterisiert im Gegenhalt zu dem schnelleren Flug der Vögel oder dem schnelleren Schwimmen der Wassertiere? Diese Frage möchte ich verneinen. Meine Vermutung geht dahin, daß es sich bei πᾶν ἑρπετόν nicht um einen | begrenzten Bereich, sondern um den Gesamtbereich der τὰ πάντα handelt, und zwar aus einer bestimmten Sicht, die die πάντα insgesamt als kriechend bestimmt. πᾶν ἑρπετόν muß dann gelesen werden: τὰ πάντα ὡς ἑρπετά. Fragment 11 spricht dann von den πάντα, sofern sie kriechend sind. 306

πάντα-ὅλον, πάντα-ὄντα – Unterschiedliche Auslegung des Fragments 7

Inwiefern? Das Kriechen ist eine auffällig langsame Bewegung, deren Lang­ samkeit sich an einer schnelleren Bewegung bemißt. Um welche schnellere Bewegung mag es sich hier handeln? Wenn wir πᾶν ἑρπετόν bzw. πάντα ὡς ἑρπετά in Zusammenhang bringen mit der πληγή, so ist es die unüberholbar schnelle Bewegung des Blitzschlages, an der gemessen die Bewegung der πάντα als kriechend bestimmt werden muß. Heidegger: Wenn wir jetzt den Blitzschlag nicht mehr nur phänomenal, sondern in einem tieferen Sinne verstehen, dann dürfen wir von seiner Bewegung nicht mehr sagen, daß sie schnell bzw. schneller als die Bewegung der πάντα ist. Denn „schnell“ ist ein Geschwindigkeitscharakter, der nur der Bewegung der πάντα zukommt. Fink: Die Rede von „schnell“ in bezug auf den Blitzschlag ist unangemessen. Gemessen an der Plötzlichkeit des Blitzes ist alles, was im Bereich der Blitz-Helle zum Vorschein kommt und seinen Gang und Wandel hat, kriechend. So gesehen ist πᾶν ἑρπετόν auch eine Aussage über τὰ πάντα. Jetzt aber werden sie im Rückblick vom Blitz her gesehen. Das Kriechen der πάντα ist ein Zug, den wir an ihnen nicht unmittelbar wie eine eigenschaftliche Bestimmung aufnehmen können. Die mannigfachen Bewegungen, die die πάντα insgesamt durchmachten, sind wie eine lahme Bewegung gemessen an der den Lichtraum aufreißenden Bewegung des Blitzschlags. Heidegger: Um uns den Gang der soeben vorgelegten Interpretation des Fragments 11 noch einmal zu vergegenwärtigen, fragen wir uns, wie dabei das Fragment gelesen worden ist. | Teilnehmer: Die Auslegung, deren Absicht es war, das πᾶν ἑρπετόν auf die τὰ πάντα zu beziehen, setzte nicht bei dem πᾶν ἑρπετόν, sondern bei πληγῇ und dem νέμεται an. Heidegger: Das bedeutet also, daß der Spruch von hinten gelesen worden ist. Von πληγῇ und νέμεται aus wurde entwickelt, wie es möglich ist, daß wir πᾶν ἑρπετόν als πάντα ὡς ἑρπετά lesen können. Aus πᾶν ἑρπετόν für sich genommen läßt sich nicht ersehen, inwiefern mit ihm die πάντα angesprochen werden. Aber durch πληγῇ und νέμεται, das auf das Blitz-Frag­ ment zurückverweist, wird verständlich, inwiefern πᾶν ἑρπετόν als τὰ πάντα verstanden werden muß. Teilnehmer: Ich möchte eine dumme Frage stellen. Kann man πᾶν ἑρπετόν wirklich als τὰ πάντα verstehen? Denn im πᾶν ἑρπετόν ist doch nur das Lebendige angesprochen, τὰ πάντα umfaßt aber auch das Unlebendige. Heidegger: Die Auslegung des Fragments 11 begann mit dem Wort πληγῇ, das bezogen wurde auf den Blitzschlag, der τὰ πάντα steuert, wie es in Fragment 64 heißt. Der Blick der Auslegung war auf das ἕν gerichtet. Im Ausgang vom ἕν in der bestimmten Form des Blitzschlags wurde dargelegt, 307

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daß und wie πᾶν ἑρπετόν als τὰ πάντα aufzufassen ist. Ihre Frage nach dem Unlebendigen, das doch auch zu den πάντα gehöre, ist in der Tat eine dumme, weil damit ein bestimmter Bereich gegen einen anderen Bereich abgegrenzt wird, die vorgelegte Auslegung des Fragments 11 aber entwickelt hat, daß es sich beim πᾶν ἑρπετόν nicht um einen herausgegrenzten Bereich, sondern um etwas Durchgängiges handelt.

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Fink: Wir müssen πᾶν ἑρπετόν lesen als πάντα ὡς ἑρπετά. Das Kriechen meint hier nicht eine Eigenschaft von bestimmten Dingen, nämlich den Lebewesen auf der Erde, sondern einen Charakter an den πάντα insgesamt, der sich nicht unmittelbar zeigt, sondern erst im Hinblick auf die Plötzlichkeit des Blitz|schlags, der in seiner Helle τὰ πάντα zum Vorschein kommen läßt. Im Vergleich zur Plötzlichkeit des Licht aufreißenden Blitzschlags ist die Bewegung der in der Helle des Blitzes versammelten πάντα eine kriechende. Zwischen der Plötzlichkeit des Blitzes und dem Kriechen der πάντα besteht kein Verhältnis des Außerzeitlichen zum Innerzeitlichen. Andererseits han­ delt es sich auch nicht um das Verhältnis des Achill und der Schildkröte. Alles, was in der Helligkeitsdimension des Blitzes umtreibt, wird getrieben durch den Schlag. In diesem Getriebensein gewinnen die πάντα im Rückblick auf den Blitz den Charakter des Kriechenden. Von einem Hirten, der weidend zuteilt und lenkt, ist in Fragment 11 nicht die Rede. Es sagt nichts über einen Lenker, sondern spricht die πάντα im Charakter ihres Betroffen- und Unterworfenseins gegenüber dem Blitzschlag an. Fragment 11 verhält sich nicht zu Fragment 64 wie ein Teilbereich zur Gesamtheit der πάντα. Vielmehr sagt es etwas aus über das Verhältnis der πάντα zu der offengelassenen Macht, die treibt und lenkt. Heidegger: Die Auslegung von Fragment 11 stellt uns vor die Frage, ob πληγῇ und νέμεται tatsächlich einen Bezug auf den Blitzschlag erlaubt, so daß πᾶν ἑρπετόν nicht regional als ein Einzelbereich innerhalb der Gesamtheit der πάντα, sondern als die Gesamtheit der πάντα selbst zu verstehen ist.

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Fink: Wir gehen über zu Fragment 100: ὥρας αἳ πάντα φέρουσι. Diels übersetzt: „die Horen, die alles bringen“. Im Kontext ist die Rede vom Ἥλιος, der ein anderer Name ist für das Feuer ebenso wie der Blitz. In diesem Fragment besteht ein Zusammenhang zwischen Ἥλιος, Licht und Zeit. Wir können uns fragen, ob nicht der Blitz nur ein momentanes Feuer ist im Gegensatz zum Ἥλιος, der ein Feuer von größerer Beständigkeit ist, wenn auch nicht immerwährend, sondern erglimmend und erlöschend. Wenn jetzt in die Stelle des Blitzes Ἥλιος im Sinne des lang andauernden Blitzschlages einrückt, dann gilt es mitzudenken, daß dieses Feuer nicht nur erhellt, sondern auch | die Zeiten bemißt. Ἥλιος ist die Uhr der Welt, die Weltuhr, nicht ein Instrument, das Zeiten anzeigt, sondern das die Horen ermöglicht, die alles bringen. Die Horen dürfen wir nicht verstehen 308

πάντα-ὅλον, πάντα-ὄντα – Unterschiedliche Auslegung des Fragments 7

im Sinne von fixen Zeitlängen und auch nicht als Erstreckungen in der homogenen Zeit, sondern als die Zeiten des Tages und des Jahres. Diese Zeiten des Jahres sind nicht die Weilen, sondern die Bringenden. Die πάντα sind nicht so versammelt, daß sie gleichzeitig sind, sondern sie sind in der Weise, wie sie sich κατ᾽ ἔριν und κατὰ τὸν λόγον gliedern und aufund untergehen, gesteuert durch die erbringenden, vollbringenden und herausbringenden Horen. Heidegger: Versuchen wir zu verdeutlichen, inwiefern im Fragment 100 die Rede von Zeit sein kann. Was sind die Horen? Neben den drei Hesiodischen Horen, der Εὐνομία, der Δίκη und der Eἰρήνη, gibt es auch die Θαλλώ, Αὐξώ und Καρπώ. Die Θαλλώ ist das Frühjahr, das das Sprießen und Blühen bringt. Die Αὐξώ meint den Sommer, das Reifen und das Zeitigen. Die Καρπώ nennt den Herbst, das Pflücken der gereiften Früchte. Diese drei Horen sind nicht etwa drei Zeitabschnitte, sondern wir müssen sie verstehen als die ganze Zeitigung. Wenn wir schon von Bewegung sprechen wollen, welche Arten der Aristotelischen Bewegungsformen kämen dann in Frage? Welches sind zunächst einmal die vier Formen der Bewegung bei Aristoteles? Teilnehmer: αὔξησις und φθίσις, γένεσις und φθορά, φορά und als vierte die ἀλλοίωσις. Heidegger: Welche Bewegungsformen wären für die Horen die geeignets­ ten? Teilnehmer: Die αὔξησις und φθίσις sowie die γένεσις und φθορά. Heidegger: Die ἀλλοίωσις ist in diesen Bewegungsformen enthalten. Früh­ ling, Sommer und Herbst sind keine Absätze, | sondern etwas Stetiges. Ihre Zeitigung hat den Charakter der Stetigkeit, in der eine ἀλλοίωσις enthalten ist. Fink: Die Bewegung des Lebens in der Natur ist aber sowohl eine steigende als eine fallende. Der erste Teil ist eine ansteigende bis zur ἀκμή, der zweite Teil eine fallende. Heidegger: Verstehen Sie die Frucht schon als einen Abstieg? Fink: Das Leben der Lebewesen bildet einen steigenden und fallenden Bogen. Auch das menschliche Leben ist in seinen aufeinander folgenden Lebensaltern eine stetige, aber gewölbte Bewegung. Heidegger: Das Alter entspricht der Frucht im Sinne eines Reifwerdens, das ich nicht als ein Absteigen, sondern als eine Art des Sicherfüllens verstehe. Wenn mit den Horen die Zeit ins Spiel kommt, dann müssen wir die gerechnete Zeit weglassen. Wir müssen aus anderen Phänomenen zu verstehen versuchen, was hier Zeit meint. Wir dürfen auch nicht den Zeitinhalt von der Zeitform trennen. Zur Zeit gehört der Charakter des 309

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Heraklit

Bringens. Wir sagen auch in unserer Sprache: die Zeit bringt mit sich bzw. die Zeit wird es bringen. Solange wir die Zeit als bloßes Nacheinander verstehen, hat das Bringen keinen Platz. Fink: Um ein Verständnis für den Zeitigungscharakter der Horen zu gewin­ nen, müssen wir absehen von der homogenen Zeit, die als Linie und bloßes Nacheinander vorgestellt und in der vom Zeitinhalt abstrahiert wird. Eine solche Abstraktion ist bei den Horen unmöglich. Heidegger: Das Fragment 100 stellt uns vor verschiedene Fragen: wieweit man die Horen mit den πάντα zusammennehmen darf, wie die Zeit, wenn man hier von ihr sprechen will, gedacht werden muß, zumal, wenn man von ihr sagt, daß sie bringt. Wir müssen uns sachlich darüber klar werden, in welchem Sinne die Zeit bringt. 62

| Fink: Dazu ist erforderlich, die Zeit nicht als ein farbloses Medium zu denken, in dem irgendwelche Inhalte herumschwimmen. Vielmehr müssen wir sie zu verstehen suchen im Hinblick auf das γίγνεσθαι der πάντα. Heidegger: Wir müssen die Zeit zusammendenken mit der φύσις. Fink: Wir stehen jetzt vor der Frage, ob uns das Fragment 100 vorerst noch weitere Hinweise auf die Sache, die wir jetzt zu denken versuchen, zu geben vermag, oder ob es nicht angemessener ist, zunächst zu Fragment 94 überzugehen. Heidegger: Die 2500 Jahre, die uns von Heraklit trennen, sind eine gefährliche Sache. Bei unserer Auslegung der Herakliteischen Fragmente bedarf es der stärksten Selbstkritik, um hier etwas zu sehen. Andererseits bedarf es auch eines Wagnisses. Man muß etwas riskieren, weil man sonst nichts in der Hand hat. So ist gegen eine spekulative Interpretation nichts einzuwenden. Wir müssen dabei voraussetzen, daß wir Heraklit nur ahnen können, wenn wir selber denken. Wohl ist es eine Frage, ob wir dem noch gewachsen sind.

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| IV.

Ἥλιος, Tageshelle – Nacht, μέτρα – τέρματα

(beigezogene Fragmente: 94, 120, 99, 3, 6, 57, 106, 123) Fink: In der letzten Seminarsitzung haben wir einige Fragen unbewältigt stehengelassen. Wir sind auch heute noch nicht in der Lage, das Offene der Auslegungssituation irgendwie zur Entscheidung zu bringen. Nach der Erörterung der Ἥλιος-Fragmente versuchen wir zurückzukommen auf die Fragmente 11 und 100, in denen vom πᾶν ἑρπετόν und von den ὧραι die Rede ist. ‒ Wir haben gesehen, daß ὧραι, die Stunden und Zeiten, nicht 310

Ἥλιος, Tageshelle – Nacht, μέτρα – τέρματα

genommen werden sollen als Zeitstrom oder als Zeitverhältnis, das der metrischen Nivellierung unterworfen, das meßbar und berechenbar ist, und auch nicht als leere Form im Unterschied zum Zeitinhalt, sondern als erfüllte Zeit, die jegliches zeitigend erbringt und vollbringt. Die ὧραι sind keine Hohlform, sondern eher die Tages- und Jahreszeiten, die offensichtlich in einem Zusammenhang stehen mit einem Feuer, das nicht wie der Blitz plötzlich aufreißt und alles ins Gepräge der Umrisse stellt, sondern das als das himmlische Feuer anhält und in der Dauer sich durch die Stunden des Tages und die Zeiten des Jahres hindurch wandelt. Das himmlische Feuer bringt das Gewächs hervor, nährt und erhält es. Das Lichtfeuer des Ἥλιος reißt ‒ anders als der Blitz ‒ dauernd auf, es eröffnet die Helle des Tages, in der es wachsen und Jeglichem Zeit läßt. Dieses Sonnenfeuer, die Himmelsleuchte des Ἥλιος, verweilt nicht starr an einem einzigen Ort, sondern zieht am Gewölbe des Himmels dahin und ist in diesem Gang am Himmelsgewölbe das Licht und Leben Zumessende und das Zeitmessende. Die hier angesprochene Metrik des Sonnenlaufs liegt vor jeder menschlich gemachten und berechnenden Metrik. Wenn wir uns jetzt dem Fragment 94 zuwenden, in welchem aus­ drücklich von diesem Himmelsfeuer die Rede ist, dann bleiben wir in der Spur des Feuers, die wir bereits mit dem Κεραυνός-Fragment | betreten haben. Es hat folgenden Wortlaut: Ἥλιος γὰρ οὐχ ὑπερβήσεται μέτρα˙ εἰ δὲ μή, Ἐρινύες μιν Δίκης ἐπίκουροι ἐξευρήσουσιν. Diels übersetzt: „(Denn) Hēlios wird seine Maße nicht überschreiten; sonst werden ihn die Erinyen, der Dikē Schergen, ausfindig machen.“ Wenn wir dieses Fragment ohne besondere gründliche Vorbereitung auf uns wirken lassen, was wird dann in ihm ausgesagt, gesetzt, daß wir die Sprüche Heraklits am Modell einer thematischen Aussage messen dürfen? Problematisch ist hier zunächst das Wort μέτρα. Welches Maß hat oder setzt die Sonne? Hat sie selbst Maße, in denen sie am Himmelsgewölbe dahinzieht? Und wenn sie Maße setzt, welches sind diese Maße? Können wir diesen Unterschied zwischen den Maßen, die der Sonne selbst angehören, und denen, die sie setzt, schon näher bestimmen? Zunächst können wir μέτρα verstehen in bezug auf den Gang und den Lauf der Sonne. Ἥλιος als am Himmel wandelndes Feuer hat bestimmte Maße in seinem Lauf, so etwa das Maß des Morgenlichts, der Mittagsglut und der abendlich gedämpften Helle. Wenn wir nur auf das Phänomen des Sonnenlaufs hinblicken, sehen wir, daß Ἥλιος keine gleichmäßig homogene Strahlung zeigt, sondern zeithafte Unterschiede in der Weise, das Leuchtende zu sein. Zugleich aber wird durch diese Maße, die die Sonne in ihrem Gang durchmißt, den in der Sonnenhelle befindlichen Gewächsen der Erde das nährende Feuer in verschiedener Weise zugemessen. Darin liegt die zweite Bedeutung von μέτρα: die Maße des Lichts und der Wärme, welche die Sonne den Gewächsen zumißt. Wir 311

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können unterscheiden einmal die Maße, die auf den Sonnenlauf selbst bezogen sind, und zum anderen jene Maße, welche die Sonne dem von ihr Beschienenen setzt in der Art, wie sie ihm das Feurige zumißt. μέτρα kann also in einer doppelten Weise verstanden werden: die μέτρα des Sonnenlaufs und die μέτρα, die vom Sonnenlauf herunterwirken auf das vom Sonnenlicht sich Nährende. Hat aber die Sonne auch noch in einem ganz anderen Sinn μέτρα? Ist Ἥλιος, der an die Maße seiner Bahn gebunden ist und von dort her allem im Sonnenlicht Befindlichen das nährende Feuer zumißt, in einem völlig | anderen Sinne in Maße eingezwängt? Gibt es vielleicht auch μέτρα derart, daß die ganze Doppelsphäre des Lichtbereichs durch Maße bestimmt ist? Wenn Heraklit sagt: denn Ἥλιος wird nicht seine Maße überschreiten, so ist hier in keiner Weise eine naturgesetzliche Bestimmtheit des Ἥλιος anzusetzen. Es handelt sich nicht um die Einsicht, daß der Lauf der Sonne irgendwelchen unverbrüchlichen Naturgesetzen unterworfen ist; denn dann hätte der zweite Satz keinen Sinn, in welchem es heißt, daß in dem Fall, wenn Ἥλιος doch seine Maße überschreiten sollte, die Erinyen, die Helfer der Dikē, ihn aufspüren und zur Rechenschaft ziehen würden. Was aber ist das für ein Maßhalten bzw. Maßeeinhalten des Ἥλιος? Ἥλιος wird seine Maße nicht überschreiten. Können wir uns überhaupt denken, daß er seine Maße überschreiten könnte? Wir haben uns zwei Weisen vergegenwärtigt, in denen er nicht den gerechten Weg am Himmelsgewölbe nähme. Man könnte sich vorstellen, daß er plötzlich anhielte, vielleicht auf den Befehl des Josua für die Zeit, in der dieser die Schlacht gegen die Amoriter schlug. Das wäre eine Überschreitung der μέτρα seiner Natur. In einem solchen Falle würde er nicht mehr seiner eigenen Natur der feurigen Macht gemäß sein. Die Sonne könnte ihr eigenes Wesen verändern, wenn sie anders als in der naturgemäßen Weise am Himmelsgewölbe dahinzöge. Sie könnte ihre Maße überschreiten, wenn sie statt von Osten nach Westen von Norden nach Süden liefe. Eine ganz andere Weise von Grenzüberschreitung wäre aber dann gegeben, wenn Ἥλιος in einen Bereich eindränge, von dem wir im Augenblick noch nichts weiter sagen können, als daß er außerhalb der Helle des Ἥλιος liegt, in der das Viele versammelt ist. Dann ginge er aus dem Sonnenreich der versammelt-unterschiedenen Dinge über in einen Bereich, in welchem in einem anderen Sinne alles eins ist. Auch das wäre ein Fehllauf der Sonne, jetzt aber nicht in der Weise eines Abweichens auf der Sonnenbahn, sondern eines Eindringens in einen nächtlichen Abgrund, der dem Ἥλιος nicht gehört. Um uns diesen Gedanken etwas näher zu bringen, nehmen wir das Fragment 120 hinzu, in dem nicht von μέτρα, wohl aber von | τέρματα die Rede ist: ἠοῦς καὶ ἑσπέρας τέρματα ἡ ἄρκτος καὶ ἀντίον τῆς ἄρκτου οὖρος αἰθρίου Διός. Die Dielssche Übersetzung lautet: „Grenzen von Morgen und Abend: Die Bärin und gegenüber der Bärin der Grenzstein des strahlenden 312

Ἥλιος, Tageshelle – Nacht, μέτρα – τέρματα

Zeus.“ Meine Frage ist nun, ob durch die τέρματα (die mit τερματίζειν = begrenzen zusammenhängen) der Bereich des Sonnenhaften umgrenzt wird, und zwar einmal durch Morgen und Abend und zum anderen durch die Bärin und durch den der Bärin gegenüberliegenden Grenzstein des strahlenden Zeus. Die Bärin identifiziere ich mit dem Nordstern, so daß der Grenzstein des strahlenden Zeus, welcher der Bärin gegenüberliegt, im Süden des Himmelsgewölbes läge. Das Fragment 120 besagt dann, daß Ἥλιος, der von Morgen bis Abend am Himmelsgewölbe zieht, in der Möglichkeit seiner Abweichung nach Norden und Süden durch die Bärin und den der Bärin gegenüberliegenden Grenzstein des strahlenden Zeus begrenzt wird. Den strahlenden Zeus müssen wir dabei zusammendenken mit Ἥλιος als der die Gesamtheit von τὰ πάντα erhellenden Macht des Tages. Dieser gesamte Sonnenbereich ist eingegrenzt in vier Richtungen des Himmels, wobei wir die τέρματα als Außengrenzen des Lichtbereiches im Unterschied zu den μέτρα im Sinne der bestimmten Orte auf der uns bekannten Sonnenbahn verstehen müssen. Heidegger: Wie lesen Sie den Genitiv: ἠοῦς καὶ ἑσπέρας? Diels übersetzt: Grenzen von Morgen und Abend, was zu verstehen ist als: Grenzen für Morgen und Abend. Sie aber wollen doch wohl lesen: die Grenzen, die Morgen und Abend bilden? Fink: Ich schließe mich dem letzteren an, frage mich aber, ob durch diese Differenz, also auch durch die Leseweise: Grenzen für Morgen und Abend, der Sinn grundsätzlich verändert wird. Wenn wir die τέρματα als Grenzorte verstehen, und zwar den Morgen als Ost-, den Abend als Westgrenze, die Bärin als Nord- und den der Bärin gegenüberliegenden Grenzstein als Südgrenze, dann haben wir gleichsam die vier Ecken der Welt als das Feld | des Sonnenreiches. So gesehen wären die τέρματα nicht mit den bisher aufgezählten zwei Bedeutungen der μέτρα gleichzusetzen. Das, was das Fragment 120 in bezug auf die τέρματα sagt, wäre eine dritte Bedeutung der μέτρα, die wir zu den beiden anderen hinzunehmen müßten, um den vollen Bedeutungsumfang der μέτρα aus Fragment 94 in den Blick zu nehmen, wobei ‒ wie sich bei einer tiefergehenden Auslegung dieses Fragments zeigen wird ‒ gerade die dritte Bedeutung eine hervorragende Rolle spielt. Die erste Bedeutung von μέτρα, die wir hervorhoben, betraf die Orte und Weilen, die die Sonne vom Morgen über Mittag bis zum Abend durchmißt. In einem zweiten Sinne bedeuteten die μέτρα die von der Sonne geschickten Maße für die Dinge. Ein Abweichen von den geschickten Maßen würde für die Gewächse und Lebewesen bedeuten, daß die Sonne zu heiß, zu nah oder zu fern ist. Die dritte Bedeutung von μέτρα, die wir uns aus Fragment 120 geholt haben, meint die τέρματα, in die der gesamte Lichtbereich der Sonne eingegrenzt ist. Würde Ἥλιος die durch die vier Ecken der Welt 313

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angegebenen Grenzen überschreiten, so würden ihn die Erinyen, die Helfer der Dikē, ausfindig machen. Ein solches Überschreiten würde hier nicht nur ein Abweichen von der geläufigen Bahn, sondern das Eindringen in einen dem Sonnenbereich nicht gehörenden nächtlichen Abgrund bedeuten. Heidegger: Wenn Sie ἠοῦς καὶ ἑσπέρας als genitivus subiectivus auffassen, dann kommen Sie in die Nähe der dritten Bedeutung von μέτρα. Fink: Zunächst will ich nichts thetisch behaupten, sondern mir geht es nur darum, drei Sinnmöglichkeiten von μέτρα aufzuzeigen, wobei die dritte das meint, was das Fragment 120 über die τέρματα sagt. Heidegger: Im gewöhnlichen Sprachgebrauch unterscheiden wir in bezug auf μέτρα zwischen dem Maß und dem Gemessenen. 68

| Fink: Maß können wir in einem topischen und in einem chronoshaften Sinn auffassen. Die erste Bedeutung von μέτρα meint die Maße, die die Sonne nicht überschreiten wird, die Maße im Sinne der Orte und Weilen ihres Ganges am Himmelsgewölbe. Die Maße meinen hier aber nicht die Naturgesetze, sondern sie betreffen die φύσις des Ἥλιος. Das Gleichbleiben der Sonne auf ihrer täglichen und jährlichen Bahn entstammt ihrer φύσις. Ἥλιος bleibt vom eigenen Wesen in den Maßen seiner Bahn gehalten. Die zweite Bedeutung von μέτρα meint die von den Maßen der Sonnenbahn abhängigen Maße in bezug auf die Gewächse im Sonnenfeld. Hier ist eine Zu- und Abnahme möglich, vor allem wenn man an die ἐκπύρωσις-Lehre denkt, an die Überschreitung der Maße der Sonne, die alles verzehrt. Hält sich Ἥλιος in seiner naturgemäßen Bahn, so haben dadurch die von ihm beleuchteten Gewächse ihr Gedeihen und ihre rechten Zeiten. Die dritte Bedeutung von μέτρα liegt in der Begrenzung des Sonnenreiches durch die vier Ecken von Morgen, Abend, Bärin und dem der Bärin gegen­ überliegenden Grenzstein. Innerhalb dieses umgrenzten Bereiches wandelt und herrscht Ἥλιος. Sein Herrschaftsbereich ist eingegrenzt durch die vier τέρματα. Heidegger: Wir müssen dann in der Dielsschen Übersetzung des Genitiv das „von“ streichen. Es darf dann nicht heißen: Grenzen von Morgen und Abend, sondern: Grenzen, die Morgen und Abend bilden. Fink: Doch wird der Sinn dadurch nicht wesentlich berührt. Teilnehmer: Im Anmerkungsteil der Ausgabe von Diels-Kranz wird gesagt, wie die Übersetzung zu verstehen ist. Dort heißt es: „Gewählt hier die Deu­ tung von Kranz Berl. Sitz. Ber. 1916, 1161: Morgen- und Abendland werden getrennt durch die Verbindungslinie des Nordsterns mit dem (täglichen) Kulminationspunkt der Sonnenbahn, den Hēlios (~ Ζεὺς αἴθριος vgl. 22 C 1 Z. 4, Pherekydes A 9, Empedokles B 6, 2 u. ö.) nicht überschreiten darf (B 94).“ 314

Ἥλιος, Tageshelle – Nacht, μέτρα – τέρματα

| Fink: Dann aber hätte τέρματα nicht mehr den Sinn der Grenzen, die Morgen und Abend bilden. Morgen und Abend werden in einer solchen Sicht beinahe zur Gegendbestimmung, was mir als fraglich erscheint.

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Teilnehmer: Die Übersetzung ist auf die Vorstellung von Morgen- und Abendland angelegt, die durch die Verbindungslinie des Nordsterns mit dem täglichen Kulminationspunkt der Sonnenbahn getrennt werden. Ich selber möchte mich dieser Interpretation auch nicht anschließen, da es die Vorstellung vom Morgen- und Abendland für Heraklit noch nicht gab, sondern erst für Herodot anzusetzen ist. Fink: Die Interpretation von Kranz beseitigt den Grenzcharakter von Mor­ gen und Abend. Wenn man von der einen Linie zwischen dem Nordstern und dem täglichen Kulminationspunkt der Sonnenbahn spricht, dann ist auch der Plural τέρματα nicht mehr recht verständlich. Wohl ist die von Kranz gegebene Auslegung eine mögliche Antwort auf die Schwierigkeit, die das Fragment 120 bietet, aber mir scheint, als ob dadurch die lectio difficilior ausgeschlossen ist. ‒ Wir haben uns im Hinblick auf Fragment 94 und 120 die Mehrdeutigkeit der μέτρα des Ἥλιος vergegenwärtigt. Das ist zunächst nur ein Versuch gewesen. Wir müssen nun auch noch die anderen Sonnenfragmente sowie die Fragmente über Tag und Nacht berücksichtigen. Heidegger: In der Durchsprache der drei Bedeutungen der μέτρα des Ἥλιος wollen Sie vor allem auf die dritte Sinnmöglichkeit hinaus, die Sie im Ausgang vom Fragment 120 angedeutet haben. Im Fragment 94 ist diese dritte Bedeutung gegeben durch den zweiten Satz, der eingeleitet wird durch: εἰ δὲ μή, und in welchem von der Dikē und den Erinyen die Rede ist. Fink: Vielleicht ist Ἥλιος, der alles zumißt, selbst von einer anderen Macht begrenzt. Die Instanz, die ihn im Falle einer | Grenzüberschreitung ausfindig machen und zur Rechenschaft ziehen würde, ist die Dikē mit ihren Helfern. Die Dikē ist die Gottheit des Gerechten, die auf der Grenze zwischen dem Bereich der Sonnenhelle und des in ihr Befindlichen und einem uns entzogenen Bereich des nächtlichen Abgrundes wacht. Die Hüter dieser Grenze sind ihre Gehilfinnen. Sie wachen darüber, daß Ἥλιος nicht die Grenze seines eigenen Machtbereichs überschreitet und in den dunklen Abgrund einzudringen versucht. Heidegger: Auf diese dritte Sinnmöglichkeit von μέτρα weisen Sie über das Fragment 120 als Stütze hin. Fink: Wenn wir jetzt auf die Phänomene zurückgehen, so haben wir an der Tageshelle das Merkwürdige, daß sie ins Unermeßliche ausläuft. An der Tageshelle haben wir keine Grenze. Sprechen wir vom Himmelsgewölbe, so meinen wir damit keine Kuppel, die abschließt, sondern den Sonnenbereich der Tageshelle, der ins Endlos-Offene ausläuft. Wir kennen aber auch das 315

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Phänomen der Verschließung des offenen Himmels, den wolkenverhange­ nen Himmel. Es gibt aber noch eine andere Grenze des Lichtreiches, und das ist der Erdboden, auf dem wir gehen. Das Licht als das Element des Feurigen ist mit dem Element des Luftmäßigen der Erde und in gewisser Weise auch dem Okeanos aufgelagert. Auch der Okeanos bildet eine Grenze für das Lichtreich, obwohl er bis in eine bestimmte Tiefe das Licht hineinläßt. Seine Durchsichtigkeit ist begrenzt. Die Undurchsichtigkeit der Erde, die zur Begrenztheit des offenen Lichtbereichs führt, ist ein eigentümliches Phänomen, das uns zumeist gar nicht auffällt. Wir befinden uns auf der undurchsichtigen Erde, an der der Lichtbereich seine Grenze hat. Über uns aber dehnt sich der Machtbereich des Lichts ins Offen-Endlose. Die Undurchsichtigkeit der Erde hat eine Bedeutung für die Bahn der Sonne. Dem unmittelbaren Phänomen nach hebt sich Ἥλιος am Morgen aus dem Schoß der Erde, tagsüber zieht er am Himmelsgewölbe entlang und versinkt am Abend wieder in den verschlossenen Grund der Erde. Das ist ohne geheime Symbo|lik als schlichte Beschreibung des unmittelbaren Phänomens gesagt. Wir wenden uns nun dem Fragment 99 zu, das die allgemeine Struktur verdeutlicht: εἰ μὴ ἥλιος ἦν, ἕνεκα τῶν ἄλλων ἄστρων εὐφρόνη ἂν ἦν. Diels übersetzt: „Gäbe es keine Sonne, trotz der übrigen Gestirne wäre es Nacht.“ Ἥλιος ist das Gestirn, das allein die Helle vollbringt. Jetzt aber wird er nicht nur in seiner Macht gezeigt, in seiner Überlegenheit über die anderen Gestirne, sondern an den anderen Gestirnen wird die Struktur deutlich, die wir an Ἥλιος selbst nicht sehen. Die anderen Sterne sind Lichter in der Nacht. Hier haben wir das Merkwürdige, daß das Lichthafte in seinem ausgeschickten Lichtraum sich erschöpft und von der Nachtdunkelheit umwandet wird. Die anderen Sterne sind Glanzpunkte am Nachthimmel. Auch der Mond kann in stärkerer Weise als die Sterne die Nacht aufhellen, nicht aber tilgen wie Ἥλιος allein. Wir können nun von den anderen Sternen in der Nacht her motiviert folgende Frage stellen. Wenn sich Ἥλιος auf dem undurchsichtigen Grund als aufgelagertes Lichtreich zeigt, das ins Offen-Endlose zu gehen scheint, können wir dann nicht vom Verständnis der anderen Sterne aus als Lichter in der Dunkelheit der Nacht das Gefüge von Ἥλιος und τὰ πάντα, d. h. die ganze Sonnenwelt auch als ein Licht in der Nacht verstehen, was allerdings nicht im Phänomen bezeugt wird? Wir müßten dann sagen: wie die Sterne ein Licht in der Nacht sind, und wie der Lichtbereich der Sonne an der Verschlossenheit der Erde seine Grenze hat, so wird in einem tieferen Sinne die ganze Welt des Ἥλιος, zu der auch die Gesamtheit der πάντα gehört, umgrenzt von einem nächtlichen Abgrund, der den Machtbereich des Ἥλιος begrenzt. Auf der Grenze zwischen dem Lichtbereich des Ἥλιος und dem dunklen Abgrund wachen die Gehilfinnen der Dikē. Die Sonne selbst sehen wir nicht wie die Sterne in der Nacht, 316

Ἥλιος, Tageshelle – Nacht, μέτρα – τέρματα

sondern nur in ihrer eigenen Helligkeit. Davon spricht das Fragment 3: εὖρος ποδὸς ἀνθρωπείου. Die Sonne hat die Breite des menschlichen Fußes vom Phänomen her gesehen. | Heidegger: Wenn Sie vom „Phänomen“ sprechen, so meinen Sie damit das, was sich unmittelbar zeigt, und nicht das Phänomenologische. Fink: Auch das Fragment 3 spricht in einer Art Gleichnisrede. Es sagt zunächst aus, daß der Sonne als der Quelle des Lichts in ihrer eigenen Helle nur ein winziger, unbedeutsamer Ort zukommt, so daß die eröffnende Macht des Ἥλιος im eröffneten Sonnenlichtraum selbst nur eine geringfügige Sache zu sein scheint. Das Eröffnende verdeckt sich in einer gewissen Weise in dem von ihm Eröffneten und stellt sich unter die von ihm als der Lichtmacht umgrenzten Dinge. Sofern die Sonne in der Breite des mensch­ lichen Fußes am Firmament auftaucht, steigt, sinkt und verschwindet, ist sie neu an jedem Tag, wie es das Fragment 6 sagt: νέος ἐφ᾽ ἡμέρῃ ἐστίν. Heraklit gibt keine naturkundliche Bestimmung, daß jeden Tag die Sonne neu aufgeht. Das Neusein der Sonne an jedem Tag widerspricht nicht dem, daß sie jeden Tag dieselbe Sonne ist. Sie ist dieselbe, aber immer neu. Diesen Gedanken müssen wir festhalten für die Frage nach der Sonne als einer Gestalt des πῦρ ἀείζωον, das immer ist, aber – wie das Fragment 30 sagt – erglimmend und verlöschend nach Maßen, worin das immer Neusein desselben zum Ausdruck kommt. Wenn wir zu Fragment 30 kommen werden, wird sich der Begriff der μέτρα noch genauer bestimmen lassen. – Vom Fragment 6 leiten wir über zum Fragment 57: διδάσκαλος δὲ πλείστων Ἡσίοδοςˑ τοῦτον ἐπίστανται πλεῖστα εἰδέναι, ὅστις ἡμέρην καὶ εὐφρόνην οὐκ ἐγίνωσκενˑ ἔστι γὰρ ἕν. Die Dielssche Übersetzung lautet: „Lehrer aber der meisten ist Hesiod. Von ihm sind sie überzeugt, er wisse am meisten, er, der doch Tag und Nacht nicht erkannte. Ist ja doch eins!“ Worin besteht das vermeintliche Wissen des Hesiod? Inwiefern hat der, der über Tage und Werke geschrieben hat, Tag und Nacht nicht erkannt? Tag und Nacht sind abwechselnde Zustände des Sonnenlandes, in dem es in rhythmischem Wechsel hell und dunkel ist. Die Dunkelheit der Nacht im Bereich der Sonne ist etwas anderes als die Verschlossenheit des | Erdbodens, in den kein Licht einzudringen vermag. Das Dunkel der Nacht ist von glimmenden Sternen erleuchtet. Es hat im Unterschied zur Verschlossenheit der Erde die grundsätzliche Erleuchtbarkeit bei sich. Mit den Sonnenfragmenten müssen wir die Fragmente zusammendenken, die von Tag und Nacht handeln. Zu diesen gehört das Fragment 57. Die schwierigste Wortfügung in ihm ist: ἔστι γὰρ ἕν. Wenn Tag und Nacht eins sein sollen, müßte dann nicht statt des Singulars ἔστι der Plural εἰσί stehen? Ist hier die Ununterschiedenheit von Tag und Nacht oder aber etwas ganz anderes gemeint, was sich gar nicht auf den ersten Blick hin zeigt? Unsere Frage lautet: enthält Fragment 57 vom 317

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ἕν her gesprochen eine Aussage über Tag und Nacht? Sind Tag und Nacht im ἕν oder aber sind sie das ἕν? Hesiod hat offenbar von Tag und Nacht am meisten verstanden, und dennoch wird er von Heraklit getadelt, weil er Tag und Nacht für zweierlei hielt. In seiner Theogonie meint der Gegensatz von Tag und Nacht etwas anderes als nur den Gegensatz zweier Zustände des durchsichtigen Raumes, in welchem das Licht an- und abwesen kann. Vielleicht ist es zu kühn, wenn wir in diesem Zusammenhang an den Streit der olympischen Götter mit den Titanen denken. Hier geht ein Grundriß durch die Gesamtheit, der sich für Heraklit schließt, wenn auch nicht in der offenbaren, so doch in der unsichtbaren Harmonie. In diesem Sinne kann man das ἔστι γὰρ ἕν lesen. Tag und Nacht bilden keinen beliebigen Unterschied, sondern die Urgestalt des Unterschiedes. Auch bei Parmenides spielt der Gegensatz von Tag und Nacht eine Rolle (μορφὰς γὰρ κατέθεντο δύο γνώμας ὀνομάζειν.), allerdings in der Meinung der Sterblichen. Wenn man das ἔστι γὰρ ἕν in dem Sinne versteht, daß Tag und Nacht im ἕν eins sind, müßte dann nicht statt ἔστι der Plural εἰσί stehen? Ist sprachlich gesehen ein Plural hier überhaupt möglich? Für mich ist die Frage, ob man nicht statt: Tag und Nacht sind ein ἕν bzw. sind im ἕν, lesen muß: es gibt das ἕν. In diesem Falle würde das Zusammenfallen des Unterschiedenen einen anderen Sinn bekommen. Hesiod kannte sich überall aus, aber er wußte nicht vom ἕν, daß es ist. Denn es gibt das ἕν: so gelesen | ist ἕν nicht prädikativ, sondern als Subjekt des Satzes aufzufassen. Heidegger: Das ἔστι γὰρ ἕν ist dann absolut zu nehmen. Es anders aufzufas­ sen und zu meinen, daß Hesiod Tag und Nacht nicht erkannt habe, wäre eine Zumutung. Fink: Wenn Heraklit sagt, Hesiod habe Tag und Nacht nicht erkannt, so ist das ein absichtlich provokativer Satz. Heidegger: Man braucht nicht Hesiod zu sein, um zwischen Tag und Nacht zu unterscheiden. Wenn er von Tag und Nacht gehandelt hat, dann in einem tieferen Sinne als in der Weise der bloßen Unterscheidung, die jeder von uns vollzieht. Heraklit kann also nicht sagen wollen, daß Hesiod Tag und Nacht unterschieden habe, daß er sich aber darin geirrt habe, da Tag und Nacht eins sind. Die Dielssche Übersetzung: Ist ja doch eins, können wir nicht annehmen. Fink: Ist ja doch eins, das klingt wie: ist ja doch einerlei. Mit dieser Übersetzung vermag ich keinen Sinn zu verbinden. Tag und Nacht sind uns vertraut als die wechselnden Zustände, als Urrhythmik des Lebens, als Anwesend- und Abwesendsein der Sonne und ihres Lichtes im Bereich des Offenen. Der Bereich des Offenen kann taghell und nachtdunkel sein. Dieser Unterschied ist uns vertraut in seiner rhythmischen Wiederkehr. In der Art, wie die Wiederkehr eingehalten wird, zeigt Ἥλιος das Einhalten 318

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von Maßen, die er hat und die von außen beschirmt werden durch Dikē. Wenn Heraklit nun sagt, daß Hesiod Tag und Nacht verkannte, so will er damit nicht behaupten, Hesiod habe übersehen, daß Tag und Nacht gar keinen Unterschied bilden, sondern im Zurückdenken auf das ἕν eins sind und innerhalb des ἕν als Gegenbezug auseinandergelegt sind, wie es im Fragment 67 heißt, daß Gott Tag Nacht, Winter Sommer, Krieg Frieden, Sattheit Hunger ist. Vielmehr geht es ihm hier um ein ἕν ganz anderer Art. | Teilnehmer: Müssen wir nicht zu Fragment 57 auch das Fragment 106 beiziehen, in dem von μία φύσις ἡμέρας die Rede ist?

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Heidegger: Wie wollen Sie beide Fragmente in Verbindung bringen? Teilnehmer: Ich würde μία φύσις mit dem ἔστι γὰρ ἕν zusammendenken. Fink: Die μία φύσις des Tages ist aber gegen die Ansetzung von guten und schlechten, d. h. von günstigen und ungünstigen Tagen gehalten. Gegen ein solches Unterschiedensein der Tage steht die Einsheit der Natur des Tages. Diese ist aber nicht gleichzusetzen mit dem ἔστι γὰρ ἕν in bezug auf Tag und Nacht. Der Unterschied von guten und schlechten Tagen hat nicht das gleiche Gewicht wie der von Tag und Nacht. Demzufolge ist das ἕν jeweils ein anderes. Heidegger: Und dennoch haben Sie mit ihrer Zusammenstellung der Frag­ mente 57 und 106 ein gewisses Recht. In beiden Fragmenten ist die Rede von einem Nichtwissen in bezug auf Hesiod. Das eine Mal verkennt er das ἕν im Hinblick auf Tag und Nacht, das andere Mal die eine und selbe φύσις jedes Tages. Insofern hängen das ἕν und μία φύσις doch zusammen. Fink: Das Fragment 106 ist eher nur eine Parallele zum Fragment 57. In letzterem wird Hesiod als Lehrer der meisten unglaubwürdig gemacht. Er, der sich auskennt in dem Grundunterschied von Tag und Nacht, hat nicht beachtet, daß es das ἕν gibt. Heidegger: Die meisten sind für Heraklit die, welche nicht wissen, worauf es ankommt. Die πλεῖστοι sind dieselben wie die πολλοί. φύσις im Fragment 106 können wir nicht mit „Wesen“ übersetzen. | Fink: Wenn wir „Wesen“ sagen, dann nicht im Sinne von essentia.

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Heidegger: Wenn wir Fragment 123 dazunehmen: φύσις κρύπτεσθαι φιλεῖ, wie ist dann hier φύσις zu verstehen? Teilnehmer: Im Sinne des Aufgehens. Heidegger: Der Zusammenhang von φύσις und ἕν wird uns später noch eingehend beschäftigen. Fink: Im Fragment 57 ist für mich das Rätselwort: ἔστι γὰρ ἕν. Wir haben übersetzt: denn es gibt das ἕν. Aber um was für ein ἕν handelt es sich 319

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hier? Ist es das ἕν im Sinne des Gegenwortes zu τὰ πάντα, also das ἕν des Blitzes, des Schlages, der Sonne und des Feuers, oder ist hier noch ein anderes ἕν gemeint? Meine Vermutung geht dahin, daß es sich hier um das ἕν im Sinne der Einsheit der beiden Bereiche des Ἥλιος und der von der Dikē und ihren Gehilfinnen gehüteten Nacht handelt. Dieser neue Sinn von ἕν wird für uns erst dann klarer werden, wenn wir die Leben- und Tod-Fragmente hinzunehmen. Die hier gemeinte Nacht ist jener nächtliche Abgrund, von dem der Sonnenbereich an den vier τέρματα, wie sie im Fragment 120 genannt werden, umgrenzt wird. Von dieser Interpretation abgesehen, könnte man auch wie folgt argumentieren. Wenn in Fragment 57 vom ἕν in bezug auf Tag und Nacht die Rede ist, so handelt es sich dabei um das ἕν des Sonnenlandes, in dem die Sonne im rhythmischen Wechsel an- und abwest, und zwar derart, daß im Wechsel von Tag und Nacht der Bereich, in welchem die Sonne an- und abwest, bleibt. Sofern die Struktur des Gewölbes, an dem die Sonne dahinzieht, und der Gegenbezug zu dem darunter liegenden Land, bleiben, auch wenn die Sonne zeitweilig abwest und neu an jedem Tag ist, gibt es das ἕν. So gesehen wäre das ἕν das Himmelsgewölbe. Mir selbst aber sagt diese Auslegung nicht zu. In diesem Sinne verstehe ich das „es gibt das ἕν“ nicht. 77

| Heidegger: Warum lehnen Sie diese Interpretation ab? Fink: Weil für mich das Geeintsein von Tag und Nacht unter dem Himmels­ gewölbe eine zu leichte Lesart ist. Wenn Heraklit in bezug auf Tag und Nacht sagt: es gibt das ἕν, so ist mit dem Tag das Sonnenland und mit der Nacht der dunkle Abgrund gemeint, der das Sonnenland umgrenzt und eingrenzt. Sonnenbereich und nächtlicher Abgrund bilden zusammen das ἕν. Heidegger: Ist das ἕν, das Sie jetzt im Blick haben, so etwas wie ein Über-Sein, das noch über das Sein hinausgeht? Ich vermute, daß Sie mit Ihrer Interpretation des ἕν, die jetzt von dem bisher erläuterten ἕν des Blitzes abweicht, noch über das Sein hinaus wollen. Teilnehmer: Ich glaube nicht, daß das ἕν als der Doppelbereich von Son­ nenland und nächtlichem Abgrund über das Sein hinausgeht. Wenn die bisherige Interpretation im Ausgang vom Κεραυνός-Fragment vor allem das Strukturmoment des Lichthaften im Sein, die Entbergung, in den Blick genommen hat, dann blickt sie jetzt, wenn vom nächtlichen Abgrund die Rede ist, auch auf das Strukturmoment der Verschlossenheit im Sein, auf die Verborgenheit, die wesenhaft zur Entbergung gehört. Damit geht die Ausle­ gung nicht über das Sein hinaus, sondern tiefer als in den vorausgegangenen Besinnungen in das Sein hinein, indem sie die volle Dimensionalität des Seins in den Blick nimmt.

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Ἥλιος, Tageshelle – Nacht, μέτρα – τέρματα

Fink: Unsere Heraklit-Auslegung begann damit, daß wir den Bezug von Blitz und τὰ πάντα erläuterten. Der Blitz reißt die Helle auf, läßt τὰ πάντα zum Vorschein kommen und stellt jegliches in seinen festen Umriß ein. Ein anderer Name für das ἕν ist die Sonne. Das Sonnenlicht, das über uns ins Offen-Endlose ausläuft, findet an der Verschlossenheit des Erdbodens seine Grenze. Im eigenen Lichtfeld hat Ἥλιος nur die Breite des menschlichen Fußes. Er zieht in festen Maßen am Himmelsge|wölbe entlang. Durch seine eigenen Maße haben auch die von ihm beschienenen Gewächse und Lebewesen ihre bestimmten Maße. Innerhalb des Sonnenbereiches gibt es einen Hauptunterschied, den zwischen Tag und Nacht, der mit dem Anund Abwesen der Sonne gesetzt ist. Der Bereich, der durch die vier τέρματα umgrenzt ist, bleibt auch dann, wenn die Sonne wegzusinken scheint. Die Struktur des ἕν verlagert sich dann von der zeitweiligen Anwesung der Sonne auf den οὐρανός. Man kann dann sagen: weil unterhalb des οὐρανός Tag und Nacht wechseln und das Verhältnis des einen Himmelsgewölbes zu dem Vielen darunter bleibt, ist der Unterschied von Tag und Nacht nicht so wichtig zu nehmen. Hesiod hat Tag und Nacht unterschieden und dabei nicht bedacht, daß Tag und Nacht nur ein Unterschied ist innerhalb des einen οὐρανός. Diese Interpretation sagt mir jedoch nicht zu. Gerade wenn wir die Fragmente über Tod und Leben heranziehen, wird sich uns außer der uns schon bekannten Dimension des Lichthaften und Offenen die andere Dimension des Verschlossenen zeigen. Das ἕν, das Heraklit im Fragment 57 zu denken versucht, ist die Einheit des Doppelbereiches.

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Heidegger: Wie aber hängen beide Bereiche zusammen? Fink: Der Lichtraum des Blitzes bzw. des Ἥλιος, in dem die πάντα zum Vorschein kommen und in ihren Umriß einrücken, wird umgrenzt von einem dunklen Abgrund. Ἥλιος darf nicht die ihm gesetzte Grenze seines Machtbereichs überschreiten und in den nächtlichen Grund gehen, weil er sonst von den Erinyen, die die Grenze des Doppelbereiches bewachen, zur Rechenschaft gezogen wird. Heidegger: Handelt es sich hier um zwei Bereiche oder um einen und denselben, der in sich unterschieden ist? Doch lassen wir vorerst diese Frage ruhen. Wir werden später wieder auf sie zurückkommen. Ich möchte noch einmal auf das ἔστι γὰρ ἕν eingehen. Kann man hier überhaupt den Plural εἰσί setzen? | Diels setzt vor ἔστι γὰρ ἕν ein Semikolon. Rein stilistisch gesehen müßte der Sprache Heraklits entsprechend nicht ein Semikolon, sondern ein Punkt gesetzt werden. Vielleicht ist Diels durch das darauffolgende γάρ zu dem Semikolon verleitet worden. Ein Punkt ist deshalb erforderlich, weil in dem ἔστι γὰρ ἕν etwas Ungewöhnliches folgt, das von dem Vorhergehenden stärker abgehoben werden muß. 321

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Heraklit

Fink: Die meisten sind mit dem Unterschied von Tag und Nacht vertraut. Zu ihnen gehört auch Hesiod, der von Tag und Nacht gehandelt hat. Aber er hat Tag und Nacht nicht erkannt, weil er das ξυνόν nicht kannte. Das ἔστι γὰρ ἕν wirkt wie ein Schlag. Es ist bewußt thetisch und wie ein Diktat gesagt. Heidegger: Weil Hesiod das ξυνόν nicht kannte, kann Heraklit sich gar nicht mit ihm einlassen. Sie sprechen beide eine verschiedene Sprache. Fink: Heraklit denkt in dem ἔστι γὰρ ἕν nicht das Zusammenfallen von Unterschiedenem, sondern das ἕν des Doppelbereiches. Es gibt das ἕν: hier ist das ἕν das Subjekt des Satzes. In die Dimension des ἕν als des Doppelbereiches muß man kommen, um über die πολλοί hinauszugehen. Heraklit will nicht sagen, Hesiod sei ein Dummkopf. Wenn er ihn tadelt, dann nur deshalb, weil er ein spekulativer Dummkopf ist. Das ἔστι γὰρ ἕν ist begründet für das οὐκ ἐγίνωσκεν. Heidegger: Heraklit gibt aber nicht den Grund an, sondern sagt nur, daß Hesiod den Grund nicht kenne. Fink: Die Unwissenheit von Hesiod wird durch das ἔστι γὰρ ἕν demaskiert.

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Teilnehmer: Für mich bleibt es immer noch eine Schwierigkeit, inwiefern das ἔστι γὰρ ἕν erläutern soll, worin das Nichtwissen von Hesiod besteht, das sich im Denken über Tag und Nacht | zeigt. Es muß daher von uns bestimmt werden, in welchem Verhältnis das ἔστι γὰρ ἕν zu dem Wissen des Hesiod von Tag und Nacht steht. Fink: Sie beziehen das γάρ zu direkt auf das Mißverstehen des Hesiod in bezug auf Tag und Nacht. Hesiod hat das Phänomen von Tag und Nacht nicht etwa nur anders interpretiert als Heraklit. Es tritt nicht an die Stelle des Hesiodischen Unterschieds von Tag und Nacht eine andere Sicht auf Tag und Nacht. Vielmehr spricht Heraklit aus dem Wissen um das ἕν, wenn er sagt, daß die Aufteilung von Tag und Nacht dem Grundcharakter des Seins widerspricht. Heidegger: Hesiod gehört zu den Leuten, die im Fragment 72 genannt werden: καὶ οἷς καθ᾽ ἡμέραν ἐγκυροῦσι, ταῦτα αὐτοῖς ξένα φαίνεται: „und dasjenige, auf das sie täglich stoßen, scheint ihnen fremd“. Hesiod stieß täglich auf den Unterschied von Tag und Nacht. Fink: Tag und Nacht sind für ihn das Alltäglichste und das Allnächtlichste, Heidegger: aber es bleibt ihm fremd in dem, was es eigens ist, vom ἕν her gedacht. Fink: Wenn wir abschließend die Hēlios- und Tag-Nacht-Fragmente zusam­ men in den Blick nehmen, so können wir folgendes sagen. Das Himmels­ feuer der Sonne verhält sich ähnlich zu allem, was durch den Sonnengang Bestand hat, wie der Blitz zu den πάντα. Die Sonne gibt Licht, Umriß und 322

Problem einer spekulativen Auslegung – πῦρ ἀείζωον und Zeit?

Gedeihen und bringt die Zeit für alles, was wächst. Sie ist in ihrem Gang durch μέτρα bestimmt, die sie einzuhalten hat, weil sie sonst durch die Gehilfinnen der Dikē zur Rechenschaft gezogen wird. Sie bestimmt auch die μέτρα für das Wachstum und Gedeihen der Dinge. Sie wird die μέτρα nicht überschreiten, sondern innerhalb ihres Machtbereiches verbleiben, der durch die | vier τέρματα begrenzt wird. Die tiefere Bedeutung der Dikē ist uns vorerst noch dunkel geblieben. Deutlich ist sie bisher nur als eine Macht, die der Macht des Ἥλιος überlegen ist. Obwohl Ἥλιος und Zeus die höchste Macht auf Erden sind, hat Ἥλιος an der Erde eine Macht, die die Helle übermachtet. Die μέτρα des Ἥλιος haben sich uns in einem dreifachen Sinn auseinandergelegt. Einmal unterschieden wir die μέτρα des Sonnenlaufs, zum anderen die μέτρα der Dinge unter dem Sonnenlauf und drittens die μέτρα, die den Gesamtbereich der Sonnenhelle umgrenzen. Der Hinblick auf das Fragment 3 hat uns die Struktur des Eingestelltseins des Ἥλιος in die ihm eigene Helle gezeigt. Das Fragment 6 denkt das tägliche Neusein und das Immer-das-Gleiche-sein zusammen. Die eine φύσις des Tages ist dieselbe φύσις auch gegenüber dem uns bekannten Unterschied von guten und schlechten, günstigen und ungünstigen Tagen. Wir müssen alle diese Gedankenmotive zusammennehmen, ohne sie vorschnell zu identifizieren. Doch wird es für uns immer schwerer, die Mannigfalt der Bezüge im Blick zu halten. Diese Schwierigkeit zeigt sich schon im Hinblick auf die Verschiedenheit der unmittelbar aufgenommenen Phänomene und der damit bestimmten Blickbahnen.

| V. Problem einer spekulativen Auslegung – πῦρ ἀείζωον und Zeit? (Fragment 30)

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Heidegger: Gelegentlich des Fragments 11 habe ich, als Herr Professor Fink das πᾶν ἑρπετόν interpretiert hat, gefragt, was er eigentlich macht. Ich wollte hinaus auf die Frage, in welcher Weise dieser Versuch, mit Heraklit mitzudenken, sich vollzieht. Es ist dann die Bemerkung vom spekulativen Sprung gefallen, was sich in gewisser Weise nahelegt, sofern wir beim Lesen des Textes von dem unmittelbar ausgesprochenen Gehalt ausgehen und im Verlauf des Durchdenkens zu einem Sagen kommen, das sich durch unmittelbare Anschauung nicht belegen läßt. Wenn man schematisch denkt, könnte man sagen, daß wir von einer wahrnehmungsmäßigen zu einer nichtsinnlichen Aussage übergehen. Was aber heißt „spekulativ“? Teilnehmer: „spekulativ“ ist abgeleitet von speculum (Spiegel) und speculari (durch oder in den Spiegel schauen). Das Spekulative ist dann offenbar ein Verhältnis des Spiegelns. 323

Heraklit

Heidegger: Der Spiegel spielt vermutlich eine Rolle. Was aber meint das Wort „spekulativ“ im gewöhnlichen terminologischen Gebrauch? Wo wird in der Philosophie lateinisch geschrieben und gesprochen? Teilnehmer: Im Mittelalter.

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Heidegger: Dort ist die Rede von existimatio speculativa im Unterschied zur existimatio practica oder auch operativa. Existimatio speculativa ist gleichbedeutend mit existimatio theoretica, die auf die species gerichtet ist. Species ist die lateinische Übersetzung von εἶδος. Gemeint ist also ein Sehen, ein θεωρεῖν, d. h. ein theoretisches Betrachten. Auch Kant spricht | von der spekulativen im Sinne der theoretischen Vernunft. Wie aber ist es bei Hegel? Was heißt für Hegel Spekulation und Dialektik? Teilnehmer: Das Spekulative und die Dialektik bezeichnen Hegels Methode des Denkens. Teilnehmer: Mit der Spekulation versucht Hegel, über das Endliche ins Unendliche zu gelangen. Heidegger: Hegel setzt nicht erst im Endlichen an, um dann ins Unendliche zu gelangen, sondern er fängt bereits im Unendlichen an. Er ist schon von vornherein im Unendlichen. Mit meiner Frage nach dem Spekulativen wollte ich nur klar machen, daß es hier bei dem Versuch, Heraklit nachzudenken, nicht um das Spekulative im ausgebildeten Sinne Hegels oder im Sinne des Theoretischen geht. Wir müssen überhaupt verzichten, in irgendeiner Weise von Methode zu sprechen, nach der Heraklit denkt. Andererseits können wir nicht darauf verzichten – so wie Herr Professor Fink es bisher vollzogen hat –, eigens etwas zu verdeutlichen in der Absicht, daß die Seminarteilnehmer eher imstande sind, die Schritte, die wir beim Lesen und Sagen gemacht haben und weiterhin machen werden, deutlicher und abgemessener nachzuvollziehen. Welches Problem dahinter steht, können wir uns verdeutlichen, wenn Herr Professor Fink ein Beispiel macht.

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Fink: Die Art unseres Lesens und Vorgehens ist dadurch charakterisiert, daß wir von der Vergegenwärtigung der in den Sprüchen Heraklits genannten Sachen ausgehen, als ob sie uns unmittelbar vor Augen liegen würden. Heraklit spricht in seinen Fragmenten in keiner Weise verhüllt, wie viel­ leicht der Gott in Delphi, von dem er sagt: οὔτε λέγει οὔτε κρύπτει ἀλλὰ σημαίνει.* Seine Art des Sprechens kann nicht mit der des | Gottes in Delphi gleichgesetzt werden. Im Lesen der Fragmente nehmen wir zunächst die phänomenalen Befunde auf und versuchen ihre Verdeutlichung. Die phäno­ menalen Befunde machen wir uns jedoch nicht in ihrer vollen Extension klar, sondern unsere Verdeutlichung ist bereits schon selektiv gesteuert. *

Diels übersetzt: er „sagt nichts und birgt nichts, sondern er bedeutet“ (Fr. 93).

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Problem einer spekulativen Auslegung – πῦρ ἀείζωον und Zeit?

Heidegger: Wodurch ist sie selektiv bestimmt? Fink: Die Selektion ist dadurch bestimmt, daß wir immer schon vom Spruch des Heraklit zurückkommen und in den unmittelbaren Phänomenen jene Züge suchen, die durch das Fragment angesprochen werden. Eine empirische Phänomenologie der Sonne würde eine Fülle von phänomenalen Zügen beibringen, die für den Sinn der Sonnenfragmente gar nicht bedeutsam sind. Wir lesen zunächst die Fragmente in einer gewissen Naivität und versuchen im Hinblick auf die Sachen, die selbst noch Korrelate unseres sinnlichen Wahrnehmens sind, einige Züge herauszuheben, um dann in einem zweiten Schritt an die so herausgenommenen Züge und Verweisungen die Frage zu stellen, wie sie in einem tieferen Sinne gedacht werden können. Vom unmittelbaren Sehen der sinnlichen Phänomene gehen wir über in einen unsinnlichen, nicht aber in einen übersinnlichen Bereich. Wir dürfen hier nicht das in der Metaphysik beheimatete Schema der phänomenalen bzw. sensiblen und der intelligiblen Welt verwenden und mit einer Zwei-Wel­ ten-Lehre der Metaphysik operieren. Die Rede von einem sensiblen und intelligiblen Bereich ist höchst gefährlich und bedenklich. Heidegger: Angemessener wäre es, wenn wir den phänomenalen Bereich als ontisch bezeichnen. Fink: und den unsinnlichen Bereich dem Sein zuordnen. Das Erstaunliche ist aber, daß wir die Fragmente Heraklits auch in einer naiven Weise auffassen können und dann immer noch einen tiefen Sinn mit ihnen verbinden, so daß wir den eigentlich philosophischen Sinn nicht einmal als Tiefsinn ansprechen können. | Heidegger: Kann man überhaupt von einem philosophischen Sinn spre­ chen? Fink: Sicherlich dürfen wir nicht von der Bedeutung der Sprüche Heraklits sprechen. Da wir die Sprache der Metaphysik hinter uns haben, müssen wir versuchen, die Verführung, die in den ausgearbeiteten Denkbahnen der Metaphysik liegt, zu vermeiden. Um nun die Weise unseres Vorgehens zu zeigen, gehen wir noch einmal auf das Fragment 11 ein. Es lautet übersetzt: Alles Kriechende wird mit dem Schlag zur Weide getrieben bzw. gehütet. Damit ist ein Bild genannt, das wir aus der phänomenalen Umwelt kennen und das wir uns leicht vergegenwärtigen können. In einer ländlichen Gegend oder in einem Agrarstaat wird Vieh mit dem Geißelschlag zur Weide getrieben. Wir können dann πᾶν ἑρπετόν als Weidetiere lesen. Das von Heraklit benannte Bild besagt, daß die Weidetiere vom Hirten mit dem Geißelschlag auf die Weide getrieben werden, und zwar so, daß sie von Zeit zu Zeit die Weidegründe wechseln. Heidegger: Das Hüten ist sowohl ein Treiben als auch ein Leiten. 325

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Fink: Die für unsere Auslegung des νέμεται bedeutsamen Sinnmomente sind das Treiben und das Leiten. Wenn wir nun in νέμεται auch die Νέμεσις hören als die Macht, die zuteilt und schicksalhaft bestimmt, dann haben wir bereits schon das unmittelbare Phänomen des Hütens verlassen und den nichtsinnlichen Bereich denkend betreten. Verstehen wir νέμεται nicht mehr als das Treiben und Leiten des Hirten im Sinne des Zuteilens des Zugehörigen an die jeweiligen Weidetiere, sondern als ein zuteilendes und verteilendes Durchwalten, dann legt sich die Frage nahe, ob das, was im Fragment im Kleinen gesagt ist, nicht auch im Großen gesagt werden kann. Als unverfänglichster Ausdruck legt sich vielleicht das Mikro- und Makrokosmosverhältnis nahe. Die gedankliche Umsetzung phänomenaler Strukturen in eine andere Dimension bringt aber zugleich auch eine Ver­ wandlung der Strukturen mit sich, von denen wir zunächst ausgehen. 86

| Heidegger: Doch schließt die gedankliche Umsetzung eine bestimmte Art des Denkens ein, von der wir noch nicht wissen, wie sie aussieht. Fink: Wenn ich von der gedanklichen Umsetzung in eine andere Dimension spreche, so ist das zunächst nur ein Versuch, die Art unseres Vorgehens zu umschreiben, weil wir noch nicht wissen, was es bedeutet, in eine andere Dimension überzugehen. Wenn wir in diesem Zusammenhang von einer Analogie sprechen wollen, dann müssen wir sie in einer bestimmten Weise denken. In dieser Analogie ist uns dann nur eine Seite, nämlich die phänomenale, gegeben. Indem wir bestimmte phänomenale Strukturen selektiv festhalten, übersetzen wir sie in einem abenteuerlichen Versuch ins Große. Im Fragment 11 übersetzen wir die Art und Weise, wie die Herde mit dem Schlag geweidet wird, ins Große der Gesamtwirklichkeit, in der ein hütendes und zuteilendes Durchwalten der Dinge und Elemente geschieht. Die Vergrößerung von einem besonderen Einzelphänomen in das Ganze wäre vielleicht eine Form, unter der wir die Weise unseres Versuchs, mit Heraklit mitzudenken, ansprechen könnten. Heidegger: Diese Formulierung Ihres Vorgehens halte ich für gefährlich. Vielleicht können wir sagen, daß Heraklit nicht etwa vom Kleinen her das Große, sondern umgekehrt vom Großen her das Kleine sieht. Wir müssen unterscheiden einmal unseren Versuch, den Fragmenten Heraklits nachzudenken, und zum anderen die Art, wie Heraklit selbst gedacht hat. Fink: Heraklit kann aber auch nur das, was er groß denkt, klein sagen. Heidegger: Mit dem Denken und Sagen hat es seine besondere Schwierig­ keit. Handelt es sich dabei um zwei verschiedene Sachen? Ist das Sagen nur der Ausdruck des Denkens?

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Fink: Die Unterscheidung zwischen dem inneren Denken und der Verlaut­ barung des Denkens in der Sprache ist eine Vor|stellung, die wir aus 326

Problem einer spekulativen Auslegung – πῦρ ἀείζωον und Zeit?

der Philosophiegeschichte haben. Es gibt die Auffassung, daß das philoso­ phische Denken gar nicht alles sagen kann, was es denkt, so daß es in gewisser Weise hinter dem sprachlichen Ausdruck zurückbleibt. Die tiefsten Gedanken sind dann ein ἄρρητον. Dieses Modell trifft nicht auf Heraklit zu. Seine Sprüche sind kein hierophantisches, versagendes Sprechen von dem sprachlich unbezwingbaren Geheimnis. Heraklit kennt nicht den Gegensatz des sprachlich Eröffneten und des undurchdringlichen Geheimnisses, das gedacht wird als refugium bzw. asylum ignorantiae. Etwas anderes ist es, wenn wir das Geheimnis in einer ganz anderen Weise denken. Heraklit spricht in einer Sprache, die die ganze Differenz des inneren Denkens und des äußeren Sagens nicht kennt. Heidegger: Wie aber verhält es sich mit dem Denken und Sagen? Auch für Heraklit werden wir sagen müssen, daß zum Sagen immer sein Ungesagtes gehört und nicht das Unsagbare. Das Ungesagte ist aber kein Mangel und keine Barriere für das Sagen. Fink: Bei Heraklit müssen wir immer das mehrdimensionale Sprechen in den Blick nehmen, das wir nicht auf eine Dimension festlegen können. Im πᾶν ἑρπετόν sind zunächst von der unmittelbaren Aussage her gesehen nur die Weidetiere in ihrer Bewegungsart genannt. Nun haben wir aber das πᾶν ἑρπετόν zu lesen und damit zu interpretieren versucht als πάντα ὡς ἑρπετά und πληγή auf den Blitzschlag bezogen. Darin hat der Absprung in den nichtphänomenalen Bereich bestanden. Gemessen an der ungeheuerlichen, plötzlichen Bewegung des Blitzes hat alles, was unter dem Blitz in seinem Lichtschein steht und in sein Gepräge gebracht ist, den Charakter einer tierischen, d. h. langsamen Bewegung. Es ist aber zu fragen, ob es sich um zwei Ebenen handelt, so daß wir sagen können: wie im sinnlichen Bereich die Tierherden durch den Geißelschlag geweidet werden, so werden im Ganzen alle Dinge durch den Blitz gesteuert. Ich möchte meinen, daß wir diese beiden Ebenen nicht so scharf | voneinander abheben dürfen. Sprechen wir von zwei Stufen, dann besteht die Gefahr, daß wir ausgehend von der phänomenalen Ebene irgendwelche Vergleiche ziehen und uns in ungezügelten Analogien bewegen. Wenn wir glauben, die zwei Ebenen scharf unterscheidend zu kennen, so verfehlen wir gerade ihr Ineinander­ spielen. Heraklit kennt keine festliegenden Ebenen, sondern wir müssen bei der Interpretation seiner Fragmente gerade beachten, daß und wie sie ineinanderspielen. Die Kraft seiner Sprüche besteht darin, daß Heraklit vom Großen kommend es auch im Hinblick auf das Alltägliche sagen kann. Heidegger: Vielleicht haben Sie damit schon zu viel gesagt. Fink: Wovon wir aber bei der Auslegung der Fragmente ausgehen müssen, sind die mehr oder weniger bekannten Züge an den Phänomenen. Ich versuche das noch an einem anderen Fragment zu verdeutlichen, das uns 327

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Heraklit

ebenfalls schon beschäftigt hat. Das Fragment 99 lautet übersetzt: „Wenn die Sonne nicht wäre, so wäre es wegen der anderen Sterne Nacht.“ Hier wird nicht nur ein Lobpreis der Mächtigkeit der Kraft des Ἥλιος ausgespro­ chen, der das Dunkel verjagt, sondern an den anderen Sternen sehen wir die Möglichkeit, daß Lichter im Dunkeln sind. Das Licht leuchtet in der Finsternis. Das bedeutet, daß der Umkreis des Lichtes umgeben ist von der Nacht. Die Sterne und der Mond zeigen die Möglichkeit des Eingebettetseins von Lichtern im Dunkel der Nacht. Hier liegt der Absprung für unsere Frage: könnte es nicht sein, daß so, wie die Sterne in der Nacht eingebettet sind, auch der offen-endlose Sonnenbereich in eine nichtphänomenale Nacht eingebettet ist? Heidegger: Wenn Sie von „endlos“ sprechen, so ist das keine griechi­ sche Vorstellung.

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Fink: Mit dem Ausdruck „offen-endlos“ meine ich nur den phänomenalen Zug, daß wir im Hinaufschauen keine Wandung sehen, sondern nur den Charakter des Auslaufens und Nichtan|kommens. Der in Fragment 99 angesprochene phänomenale Sachverhalt, daß Lichter vom Dunkel der Nacht eingebettet sein können, hat uns vor die Frage gestellt, ob nicht der Sonnenbereich, also Ἥλιος in seinem Bezug zu τὰ πάντα, seinerseits μέτρα haben kann, die wir nicht unmittelbar sehen können. Im Absprung von der phänomenalen Einbettung der Gestirne in der Nacht haben wir versucht, die nichtphänomenale Umgrenztheit des Sonnenbereichs durch eine nichtphänomenale Nacht in den Blick zu nehmen. Was die μέτρα der Sonne anbetrifft, so haben wir sie dreifach zu deuten versucht: einmal als die μέτρα der Sonne in ihrem Sonnenlauf, zum anderen als die μέτρα, die durch die Sonne allen unter ihr liegenden Dingen zugemessen werden, und schließlich als die μέτρα im Sinne der im Fragment 120 genannten τέρματα, die den Sonnenbereich, den Bereich der Sonnenhelle und der in ihr befindlichen πάντα, umgrenzen. Heidegger: In diesem Zusammenhang haben Sie von der Nacht gesprochen. Wie aber verstehen Sie die Nacht? Fink: Die vier τέρματα begrenzen die besonnte Welt an ihren vier Enden. Dieser umgrenzte Bereich ist bestimmt durch das zeitweilige An- und Abwesen der Sonne, so daß von dorther das Problem von Tag und Nacht aufkommt. Vom Phänomen her gesehen sind wir alle der Meinung Hesiods. Im unmittelbaren Sehen zeigt sich, daß Tag und Nacht sich abwechseln. Demgegenüber formuliert Heraklit den provokativen Satz und sagt: Obwohl Hesiod am meisten von den Werken und Tagen der Menschen zu verstehen scheint, hat er nicht gewußt, daß Tag und Nacht eins sind. Wir haben unse­ rerseits die Frage gestellt, ob das Einssein so zu lesen ist, wie es unmittelbar gesagt ist, oder ob wir nicht eine schwierigere Lesart beiziehen müssen. Im 328

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letzteren Fall müssen wir sagen: Hesiod hat Tag und Nacht unterschieden gehalten, aber es gibt das ἕν. So verstanden fallen Tag und Nacht nicht zusammen, sondern vom Wissen des ἕν her kann auch die auffälligste Verschiedenheit | von Tag und Nacht letztlich nicht anerkannt werden. Es gibt das Eine, und wenn es gelingt, ins Wissen des Einen zu kommen (ὁμολογεῖν), dann wird das, was in feste Gegenbezüge auseinandergerissen ist, unterlaufen von der einzigen Einheit des ἕν. Sofern Heraklit vom ἕν her denkt, kann er die Demarkation des wissendsten Lehrers nicht gelten lassen.

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Heidegger: Sie unterscheiden also ein mehrfaches Wesen von Nacht. Ein­ mal unterscheiden Sie die Nacht gegen den täglichen Tag, dann verstehen Sie die Nacht auch als die Verschlossenheit der Erde, Fink: wobei die Verschlossenheit der Erde die Grenze des Sonnenbereiches ist. Das Reich der Sonne in ihrem Bezug zu τὰ πάντα ist der Bereich des Offenen, in welchem Tag und Nacht im Wechseltausch sind, Heidegger: und Tag und Nacht in ihrem Wechseltausch sind noch in einer anderen Nacht? Fink: Vielleicht. Heidegger: Ich möchte mit meinen Fragen nur darauf hinaus, von wo aus Sie von der anderen Nacht sprechen. Fink: Wenn ich von einer anderen, ursprünglicheren Nacht, von dem nächt­ lichen Abgrund im Zuge der Auslegung der Sonnen-Fragmente gesprochen habe, so ist das im Vorblick auf die Tod-Leben-Fragmente geschehen. Von dorther habe ich auch den tieferen Sinn des Phänomens der Verschlossenheit der Erde und in gewisser Weise auch des Meeres als Grenze des Sonnenbe­ reiches in den Blick genommen. Erst wenn wir das Verhältnis von Leben und Tod bedenken, werden wir sehen, wie das Reich des Lebens der Sonnenbe­ reich ist und wie mit dem Bezug zum Tode eine neue Dimension aufbricht, die nicht der Bereich des Offenen und auch nicht nur die Verschlossenheit | der Erde ist, obwohl die Erde gerade ein ausgezeichnetes Symbol ist für die Dimension der ursprünglicheren Nacht. Hegel spricht von der Erde als dem elementarischen Individuum, in das der Tote zurückgeht. Die Dimension der ursprünglicheren Nacht wird durch den Tod angezeigt. Sie ist das Totenreich, das aber kein Land ist und keine Ausdehnung hat, das Niemandsland, Heidegger: das nicht durchmessen werden kann und also auch keine Dimension ist. Die Schwierigkeit liegt darin, den durch den Tod angezeigten Bereich anzusprechen. Fink: Die Sprache ist in ihrer Artikulation vielleicht beheimatet in dem Bereich, der selber artikuliert ist, in dem Bereich der Sonne, in welchem das eine vom anderen getrennt und gegeneinander abgehoben ist und das 329

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Einzelne bestimmte Umrisse hat. Wenn wir nun aber das ἕν nicht nur im Sinne der Dimension des Offenen, der Helle des Blitzes und der in ihr befindlichen πάντα verstehen, sondern auch als die ursprünglichere Nacht, als das Gebirg des Seins, das keine Landschaft ist, keinen Namen hat und unsäglich ist – wenn auch nicht im Sinne einer Sprachgrenze –, dann müssen wir im ἕν neben der Dimension des Sonnenbereiches auch eine zweite Dimension in den Blick nehmen, in die die Dimension der Helle eingebettet ist und auf die der Tod hinzeigt. Doch ist das, worauf der Tod hinzeigt, ein Bereich, den keiner zu Lebzeiten ausmachen kann. Je mehr Fragmente wir lesen, desto mehr häufen sich für uns die Fragezeichen.

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Heidegger: Im Zusammenhang dessen, was über die Sprache gesagt worden ist, möchte ich hinweisen auf den Vortrag Sprache als Rhythmus5 von Thrasybulos Georgiades, den er innerhalb der Vortragsreihe „Die Sprache“ der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und der Akademie der Künste in Berlin gehalten hat, sowie auf sein Buch Musik und Rhythmus bei den Griechen.6 In beiden Arbeiten hat er Großartiges | über die Sprache gesagt. Unter anderem stellt er die Frage nach dem Rhythmus und zeigt, daß ῥυσμός nichts zu tun hat mit ῥέω (fließen), sondern als Gepräge zu verstehen ist. Im Rückgriff auf Werner Jäger beruft er sich dabei auf einen Vers des Archilochos-Fragments 67a, wo der ῥυσμός diese Bedeutung hat. Der Vers lautet: γίγνωσκε δ᾽ οἷος ῥυσμὸς ἀνθρώπους ἔχει, erkenne, welcher Rhythmus die Menschen hält.7 Außerdem führt er eine Stelle aus Aischylos’ Prometheus, auf die ebenfalls Werner Jäger schon hingewiesen hatte und in der ῥυσμός bzw. ῥυθμίζω dieselbe Bedeutung wie im Archilochos-Fragment hat: ὧδ᾽ ἐρρύθμισμαι (Prometheus, Vers 241).8 Hier sagt Prometheus von sich selbst: in diesem Rhythmus bin ich festgebannt. Er, der in dem Eisengeflecht seiner Fesseln regungslos festgehalten ist, ist an den Felsen rhythmisiert, d. h. gefügt. Georgiades weist darauf hin, daß nicht die Menschen den Rhythmus machen, sondern daß für die Griechen der ῥυθμός das Substrat der Sprache ist, der Sprache, die auf uns zukommt. In dieser Richtung ver­ steht Georgiades die archaische Sprache. Wir müssen also die alte Sprache bis ins 5. Jahrhundert hinein im Blick haben, um Heraklit annähernd zu verstehen. Diese Sprache kennt keine Sätze, Fink: die eine bestimmte Bedeutung haben. Heidegger: In den Sätzen der archaischen Sprache spricht die Sache und nicht die Bedeutung. Fink: Wir haben unsere Auslegung Heraklits begonnen mit dem Blitzfrag­ ment, sind von dort aus zum Fragment 11 übergegangen, in dem gesagt wird, daß alles Kriechende mit dem Schlag gehütet wird, wobei wir den Schlag mit dem Blitzschlag in Verbindung gebracht haben, und haben dann anschließend die Sonnen- und die Tag-Nacht-Fragmente in den Blick 330

Problem einer spekulativen Auslegung – πῦρ ἀείζωον und Zeit?

genommen. Hier war es vor allem der dreifache Sinn von μέτρα, der Bezug von Sonne und Zeit und die Eingebettetheit des Sonnenbereiches in eine ursprüngliche Nacht. Die Grenzen zwischen | dem Sonnenbereich und dem nächtlichen Abgrund sind die vier τέρματα. In der Sonne haben wir eine zeitbestimmende Macht gesehen, die die Maße der Zeit bemißt. Das nächste Fragment in unserer Reihung ist das Fragment 30: κόσμον τόνδε, τὸν αὐτὸν ἁπάντων, οὔτε τις θεῶν οὔτε ἀνθρώπων ἐποίησεν, ἀλλ᾽ ἦν ἀεὶ καὶ ἔστιν καὶ ἔσται πῦρ ἀείζωον, ἁπτόμενον μέτρα καὶ ἀποσβεννύμενον μέτρα. Diels übersetzt: „Diese Weltordnung, dieselbige für alle Wesen, schuf weder einer der Götter noch der Menschen, sondern sie war immerdar und ist und wird sein ewig lebendiges Feuer, erglimmend nach Maßen und erlöschend nach Maßen.“ Zunächst interpretieren wir nur die zweite Hälfte des Fragments. Der Blitz, so können wir sagen, ist das plötzliche Feuer, die Sonne ist das Feuer im Regelgang des Zeitlaufes, das πῦρ ἀείζωον aber ist etwas, was wir nicht wie den Blitz und die Sonne im Phänomen vorfinden.

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Heidegger: Wie wollen Sie κόσμος übersetzen? Fink: Ich möchte die erste Hälfte des Fragments 30 zunächst übergehen und nur die zweite Hälfte zu interpretieren versuchen. Wenn wir κόσμος mit Weltordnung oder Schmuck übersetzen, dann müssen wir das mit dem Fragment 124 in Verbindung bringen, wo vom schönsten κόσμος als einem Kehrichthaufen die Rede ist. Wenn wir nun das Fragment 30 von hinten her zu lesen und zu interpretieren versuchen, so müssen wir auch jetzt wieder zunächst in die Naivität zurückgehen. Ein phänomenales Feuer dauert an im Brennen. Der Brand des Feuers ist ein Vorgang in der Zeit. Das Feuer war gestern, ist heute und wird morgen sein. Nun aber lautet meine Frage: sind ἦν ἀεί, ἔστιν und ἔσται im Hinblick auf das πῦρ ἀείζωον Bestimmungen der Weisen des In-der-Zeit-seins des Feuers? Wird das ἀείζωον des Feuers durch das Immergewesensein, das Jetztsein und Künftigsein gedacht? Müssen wir von der bekannten Weise, wie wir das Andauern bestimmen, das hier genannte Feuer denken, nur mit dem Unterschied zum sonstigen Feuer, das angezündet wird, eine Weile dauert und wieder erlischt, also nicht immer | gewesen ist, nicht immer ist und nicht immer sein wird? Wie ist das ἀείζωον zu verstehen? Meint es das Durchstehen des Feuers durch die ganze Zeit? Denken wir dann aber das hier von Heraklit gemeinte Feuer nicht zu naiv, wenn wir meinen, seine Auszeichnung bestünde darin, daß es immer gewesen ist, gegenwärtig ist und künftig sein wird? Ich möchte meinen, daß wir eher umgekehrt denken müssen. Nicht ist das Feuer immer gewesen, gegenwärtig und künftig, sondern das Feuer ist es, das erst das Gewesensein, Jetztsein und Künftigsein aufreißt. Heidegger: Was aber ist nach Ihrer Interpretation das Subjekt in der zweiten Satzhälfte? Für Diels ist es κόσμος, von dem er sagt, daß er weder von einem 331

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der Götter noch der Menschen hervorgebracht worden ist, sondern daß er immer war, ist und sein wird ewiglebendiges Feuer. Fink: Diese Übersetzung lehne ich ab. Ich verstehe πῦρ als Subjekt der zweiten Satzhälfte. Heidegger: Machen Sie vor ἀλλ᾽ einen Schnitt, so daß das Folgende mit dem Vorhergehenden nichts zu tun hat? Fink: Der κόσμος als die schöne Fügung der πάντα ist das, was im Feuerschein aufscheint. Insofern haben also die erste und die zweite Satzhälfte sehr viel miteinander zu tun. Das Feuer ist die poietische, hervorbringende Macht. Auch die Götter und Menschen sind zum Aufschein bringende, entbergende Wesen, jedoch nur deshalb, weil es das Feuer gibt, zu dem sie in einem ausgezeichneten Bezug stehen. Heidegger: Wir müssen dann also statt der Dielsschen Übersetzung „sie“ (d. h. die Weltordnung) „das ewiglebendige Feuer“ als Subjekt der zweiten Satzhälfte setzen. 95

Fink: Wenn nun Heraklit von dem ewiglebendigen Feuer sagt, daß es nach Maßen erglimmt und nach Maßen erlischt, so scheint | das dem ἀεί zu widersprechen und mutet uns als eine schockierende Bestimmung an. Heidegger: Lassen wir diese Frage vorerst noch beiseite. Um bei dem zu bleiben, was Sie zunächst gesagt haben: Sie lehnen es also ab, zu sagen, daß die Weltordnung das Feuer ist? Fink: Die Weltordnung ist kein Werk der Götter und Menschen, sondern das Werk des ewiglebendigen Feuers, nicht aber des Feuers, das immer war und ist und sein wird, weil das ewiglebendige Feuer die drei Zeitdimensionen des Gewesenseins, des Jetzt- und des Künftigseins erst aufreißt. Heraklit spricht im Fragment 30 zunächst aus der Abwehr: der κόσμος ist nicht hervorgebracht (die Dielssche Übersetzung „schuf“ ist unangebracht) von einem der Götter oder der Menschen. Wir können auch sagen: er ist nicht von einem der Götter oder der Menschen zum Vorschein gebracht. Darin hören wir schon das Feurige des Feuers. Der κόσμος als die schöne Fügung der πάντα kommt im Feuerschein zum Vorschein. Daß der κόσμος als die schön gefügte Ordnung nicht zum Vorschein gebracht ist von einem der Götter oder der Menschen, ist zunächst nur so zu verstehen, daß die Götter und Menschen unter allen Wesen des κόσμος an der Macht des Feuers teilhaben und poietisch sind, aber nicht in der Weise der ursprünglichsten ποίησις, die das πῦρ ἀείζωον vollbringt. In der Auslegung des Fragments 30 kommt es mir aber vorerst darauf an, in Frage zu stellen, daß über das πῦρ ἀείζωον Zeitcharaktere ausgesagt werden. Das πῦρ ἀείζωον ist weder wie ein innerzeitlicher Vorgang in der Zeit, noch ist es vergleichbar mit dem, was Kant die Weltmaterie als das Substrat der immer bestehenden 332

Problem einer spekulativen Auslegung – πῦρ ἀείζωον und Zeit?

Zeit nennt. Das von Heraklit angesprochene Feuer ist nicht in der Zeit, sondern die zeitlassende Zeit selbst, die das ἦν, das ἔστι und das ἔσται allererst aufbrechen läßt und nicht selber darunter steht. Wenn wir das πῦρ ἀείζωον versuchsweise ansetzen als das zeitlassende, zeiteröffnende, dann steht das ἀεί in einem Spannungsverhältnis zum ἦν, ἔστι und ἔσται und außerdem, was den Nachsatz des Frag|ments 30 anbetrifft, in einem bestimmten Spannungsverhältnis zu dem nach Maßen Erglimmen und nach Maßen Erlöschen.

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Heidegger: Für mich ist jetzt die Kernfrage, wo Sie ansetzen. Gehen Sie aus vom ἦν, ἔστι und ἔσται oder aber vom πῦρ ἀείζωον? Fink: Ich setze an beim πῦρ ἀείζωον und gehe von ihm aus zum ἦν, ἔστι und ἔσται über. Wenn man wortwörtlich liest, so ist vom ἀείζωον die Dreifalt der Zeit gesagt. Heidegger: Das heißt, daß von einem Immerseienden gesagt wird, daß es war, ist und sein wird. Fink: Dieser Gedanke ist hart nachzuvollziehen. Solange wir das Fragment naiv lesen, müssen wir sagen, daß von einem immerlebendigen Feuer die Rede ist, das immer war und ist und sein wird. Heidegger: Das ἦν und ἔσται hat in bezug auf das ἀείζωον keinen Sinn. Fink: Das ἦν meint das Vorbeisein, das ἔσται das Nochnichtsein. Nicht das Feuer ist vergangen und wird sein, sondern es öffnet allererst die Bahn für den innerzeitlichen Aufgang, das innerzeitliche Weilen und den innerzeitli­ chen Untergang. Das Feuer als die zeitlassende Zeit bricht allererst die drei Zeitekstasen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf. Heidegger: Es gibt die Möglichkeit für den Vergang, so daß es selbst nicht immer gewesen sein kann. Wenn Sie aber von Zeitlassen sprechen, in welchem Sinne meinen Sie das? Fink: Im Sinn des Zumessens von Zeit. Heidegger: Das Lassen verstehen Sie als Zumessen. Wie aber ist im Zeitlassen die Zeit gemeint? | Fink: Wir müssen unterscheiden das Zeitlassen und die zugemessene Zeit, die die Dinge haben, und zwar so, daß sie schon eine Weile gewesen sind, gegenwärtig sind und auch künftig noch eine Weile sein werden. Diese Weisen des In-der-Zeit-seins kommen nur den Dingen zu, nicht aber dem ewiglebendigen Feuer, das diese drei Zeitekstasen allererst aufbrechen läßt. Das πῦρ ἀείζωον ist der Aufriß von Gewesen-, Jetzt- und Künftigsein. Aus diesem ursprünglichen Zeitaufgang erhält das, was im Feuerschein steht, die ihm zugemessene Zeit seines Weilens. Das Feuer setzt Maße. Die Härte des Problems wäre verschwunden, wenn man meinte, das πῦρ ἀείζωον wäre 333

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durch Zeitaussagen des In-der-Zeit-seins bestimmt. Es ist aber die Frage, ob gemeint ist, daß das Feuer immer war und ist und sein wird, oder ob zwischen dem Feuer und dem ἦν, ἔστι und ἔσται ein produktives Verhältnis zu denken ist. Heidegger: Wenn Sie vom Zeitlassen des πῦρ ἀείζωον sprechen, dann meinen Sie das nicht im gewöhnlichen Sinne, wie wir etwa sagen: jemand läßt einem anderen Zeit? Fink: Die Zeit, die das Feuer läßt, indem es die Zeit den Dingen zumißt, ist keine leere Zeitform, kein vom Inhalt abgetrenntes Medium, sondern gewissermaßen die Zeit mit ihrem Inhalt. Heidegger: Von der so gegebenen Zeit müßte man sagen, sie jeweiligt. Sie ist nicht ein Behälter, in dem die Dinge verteilt auftreten, sondern die Zeit als zugemessene ist schon auf Jeweiliges bezogen. Fink: Auf Individuiertes. Heidegger: Lassen wir das Individuierte beiseite. Sie wollen aber sagen, daß wir mit Ihrer Interpretation der Zeit und des Zeitlassens über die gewöhnliche Zeitauffassung hinausgehen? 98

Fink: Ich gehe zunächst aus von der Befremdlichkeit, daß im Fragment 30 das πῦρ ἀείζωον angesprochen wird wie ein Vor|gang in der Zeit, während es gerade nicht in der Zeit ist, sondern die Zeitbildung im Sinne des Zumessens von Zeit für alles Innerzeitliche. Dieses Zumessen von Zeit haben wir vorher im treibenden Blitzschlag und im Feuer des Ἥλιος gedacht. Wir dürfen nicht die die Zeiten für τὰ πάντα bildende Zeit des Feuers bestimmen in der verfänglichen Rücklegung von Begriffen des In-der-Zeit-seins auf die ursprünglichste Zeit. Die leichte Lesart lautet: das Feuer war immer und ist und wird sein. So aufgefaßt ist das Feuer ein ständig Bestehendes, Vorhan­ denes, das sich durch den Lauf der Zeit erhält. Dieses Bleiben wird durch die Zeitdimensionen des Gewesenseins, des Jetzt- und des Künftigseins charakterisiert. Dann aber hat man schon die Zeit und wendet Zeitbegriffe auf das zeitbildende Feuer an. Die schwierigere Lesart lautet dagegen: daß das ἦν, ἔστι und ἔσται allererst dem Zeitlassen des Feuers entspringt. Heidegger: Das Feuer ist dabei nicht nur als Glühen, sondern als Licht, Schein und Wärme. Fink: und somit auch als das Nährende zu verstehen. Heidegger: Am πῦρ ἀείζωον ist aber vor allem das Moment des Scheins bedeutsam. Fink: Das Feuer ist das Zum-Vorschein-Bringende. Heidegger: Wenn wir das Feuer nur als Strohfeuer verstehen, so wäre es ohne Schein. 334

Problem einer spekulativen Auslegung – πῦρ ἀείζωον und Zeit?

Fink: Vom Schein her müssen wir zurückdenken auf den κόσμος. Dieser ist das im Feuerschein Aufscheinende. Zunächst müssen wir uns fragen: wie kann durch die innerzeitliche Charakteristik des πῦρ ἀείζωον hingewiesen werden auf das πῦρ ἀείζωον als das, was überhaupt erst aus sich Vergangen­ heit, Gegenwart und Zukunft entläßt? Heidegger: Sie sprechen vom Entlassen. Wie ist dieser Wortgebrauch näher zu verstehen? Hegel entläßt die Natur. Und wie | entläßt das πῦρ ἀείζωον Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft? Für mich ist die Frage, ob das, was nachher kommt, in irgendeiner Weise Ihre Interpretation stützt, oder ob das Kommende Ihre Interpretation erst ermöglicht.

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Fink: Das mich Beunruhigende ist das Spannungsverhältnis zwischen dem ἀείζωον und dem ἦν, ἔστι und ἔσται. Das ἀεί des πῦρ und die drei Zeitbe­ stimmungen scheinen mir nicht ohne weiteres zusammenzugehen. Das Gewesen, das Jetzt und Künftig beziehen sich nicht auf das Feuer, sondern wir müssen vom Feuer her das Aufspringen des Gewesenseins, des Jetztseins und des Künftigseins für τὰ πάντα verstehen. Heidegger: Ich suche nur nach einem Anhalt für diesen Schritt Ihrer Interpretation. Solange ich diesen Anhalt nicht sehe, könnte man sagen, daß der Schritt vom παν ἑρπετόν zu πάντα ὡς ἑρπετά und von der Nacht, die Sterne und Mond umgibt, zu einer ursprünglicheren Nacht, die den Sonnenbereich begrenzt, wohl nachzuvollziehen ist, weil ein Anhalt gegeben ist, daß aber der Schritt vom πῦρ ἀείζωον und den drei Zeitbestimmungen zur Zeitbil­ dung des πῦρ ἀείζωον im Sinne des Aufspringenlassens von Gewesensein, Gegenwärtigsein und Künftigsein keinen Anhalt hat und daher nicht recht nachvollziehbar ist. Fink: Der Anhalt ist für mich der, daß es unmöglich ist, vom πῦρ ἀείζωον innerzeitig zu reden. Sonst wird es zu einer Sache, die in der Welt vorkommt, vielleicht auch zur höchsten Sache, zum summum ens, das aber dann ein ens inmitten ist. So gesehen würde es der Zeit unterstehen. Meine Frage ist aber die, ob nicht die Bestimmungen des In-der-Zeit-seins dem πῦρ ἀείζωον unterstehen. Heidegger: Soweit ich sehe, gibt es also nur diesen Anhalt, daß das πῦρ ἀείζωον kein Ding ist und daß deshalb von ihm kein „war“, „ist“ und „wird sein“ ausgesagt werden kann, | Fink: und auch kein Immersein im gewöhnlichen Sinne.

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Heidegger: Wir stehen vor der Frage, wie sich das πῦρ ἀείζωον zur Zeit verhält. Weiter kommt man nicht. Im Sommersemester 1923 habe ich in Marburg während der Ausarbeitung von Sein und Zeit eine Vorlesung über die Geschichte des Zeitbegriffs gehalten. Als ich der archaischen Vorstellung von der Zeit bei Pindar und Sophokles nachging, war das Auffallende, daß 335

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nirgends die Rede von der Zeit im Sinne des Nacheinander ist, sondern daß dort die Zeit in den Blick genommen wird als das, was das Nacheinander erst gewährt – ähnlich wie in den letzten Paragraphen von Sein und Zeit, obwohl das Problem dort vom Dasein her in den Blick genommen ist. – Ich schaue auf meine Uhr und stelle fest: es ist 3 Minuten vor 19 Uhr. Wo ist da die Zeit? Suchen Sie sie mal. 101

| VI. πῦρ und πάντα (beigezogene Fragmente: 30, 124, 66, 76, 31) (Das Seminar begann mit dem Referat einer Teilnehmerin über Hermann Fränkel „Die Zeitauffassung in der frühgriechischen Literatur“.)9 Fink: Die Referentin hat dargetan, daß χρόνος bei Homer die sich lang hinziehende Zeit, die im Erwarten verstandene Zeitdauer meint oder auch die Zeit, die für den leidgeprüften Sterblichen noch bleibt. Beides sind bestimmte Formen von Zeit. Heidegger: Wichtig ist für uns, daß es bei Homer und Hesiod keine theoretisch begriffliche Bestimmung der Zeit als Zeit gibt, sondern daß bei beiden die Zeit nur aus der Erfahrung angesprochen wird. Fink: Die Frage von Herrn Professor Heidegger ging aus von dem Fränkel­ schen Ausdruck des Tages als einer Erlebniseinheit, d. h. von der Vorstellung einer erlebnismäßigen Gegebenheitsweise der Zeit. Es war die Frage, ob die Zeit auf ein erlebendes Subjekt zu beziehen ist oder eher als konkrete Zeit zu verstehen ist im Sinne der verschiedenen Weisen, wie wir in der Zeit sind, ohne daß wir die Zeit erleben. Die Rede vom Erleben der Zeit ist gefährlich, weil sie dann auf das Bewußtsein bezogen wird. Wir bewegen uns dann in der Unterscheidung der Bewußtseinszeit, in der wir erleben, und der objektiven Zeit, die von der subjektiven Erlebniszeit geschieden ist. Die Frage war, was die bestimmte Zeit ist, ob die Bestimmtheit der Zeit vom Erlebnischarakter her zu fassen ist oder von einem anderen Ansatz her, der außerhalb der Unterscheidung von subjektiver und objektiver Zeit liegt.

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| Heidegger: Ich habe mich an dem Ausdruck „Erlebniseinheit“ gestoßen. Wenn von einem der Teilnehmer gesagt wurde, daß bei Homer eine bestimmte Zeitvorstellung vorliegt und daß diese Bestimmtheit im Erleben der langen Weile beim Warten beruht, dann ist das richtig, nur daß ich mich wieder an der Formulierung stoße. Denn die Griechen erleben nicht. Wir brechen die an das Referat sich anschließende Diskussion ab, weil wir sonst zu viel Zeit verlieren. Was aber bedeutet es, wenn wir sagen, wir verlieren Zeit? Unter welcher Voraussetzung können wir überhaupt Zeit verlieren? 336

πῦρ und πάντα

Teilnehmer: Nur wenn uns die Zeit begrenzt ist, können wir Zeit verlieren. Heidegger: Das Begrenztsein ist nicht das Entscheidende, sondern um etwas zu verlieren, muß man es haben. Ich kann nur Zeit verlieren, wenn ich Zeit habe. Sage ich: ich habe keine Zeit, wie ist dann die Zeit charakterisiert? Teilnehmer: Ich setze dabei voraus, daß mir die Zeit zur Verfügung steht. Heidegger: Das heißt in bezug auf die Zeit, daß sie charakterisiert ist als Zeit für … Teilnehmer: Als Zeit für dieses ist sie die Unzeit für ein anderes. Es ist an der Zeit, dieses und nicht jenes zu erledigen. Heidegger: Die Zeit als Unzeit ist die privative Charakterisierung der Zeit. Der eine Charakter der Zeit, den wir abgehoben haben, ist die Zeit als Zeit für … Ein anderer Charakter der Zeit, auf den ich hinweisen möchte, zeigt sich, wenn ich auf die Uhr sehe und sage: es ist 17 Uhr 45. Nun aber frage ich: wo ist die Zeit? Teilnehmer: Damit zeigt sich die Zeit als Uhrzeit bzw. als gemessene Zeit. | Heidegger: Wenn ich auf die Uhr sehe und sage: es ist 17 Uhr 45 und die Frage stelle, wo die Zeit ist, stimmt dann diese Frage überhaupt?

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Teilnehmer: Es ist ein Problem, ob man fragen kann, wo die Zeit ist. Heidegger: Daher frage ich Sie: kann man überhaupt fragen, wo die Zeit ist? Teilnehmer: 1962 haben Sie in Ihrem Vortrag „Zeit und Sein“ gesagt, daß die Zeit vorräumlich ist. Das würde bedeuten, daß man nicht danach fragen kann, wo die Zeit ist. Heidegger: Andererseits lesen Sie die Zeit von der Uhr ab. Ich sehe auf die Uhr und lese ab: es ist 17 Uhr 45. Offenbar stimmt hier etwas nicht. Nach Hegel müssen wir es auf die Tafel schreiben. Wie aber? Wir müssen schreiben: jetzt ist es 17 Uhr 45. Im Jetzt haben wir also die Zeit. Mit ihm meine ich doch die Zeit. Auf diese Frage kommen wir zurück, wenn wir auf das Fragment 30 eingehen und die Schwierigkeit beachten, die im Sagen vom ἦν, ἔστιν und ἔσται in bezug auf das πῦρ ἀείζωον liegt. Hier wäre, scheint mir, zu überlegen, ob im Fragment 30 überhaupt die Rede von Zeit ist. Fink: Heraklit spricht doch aber vom ἀεὶ ἦν, ἔστι und ἔσται. Heidegger: Wenn wir sagen, daß das Fragment 30 von der Zeit spricht, machen wir dann nicht einen Schritt über den Text hinaus? Fink: Heraklit gebraucht doch aber offensichtlich Zeitbestimmungen. Heidegger: Das bedeutet also, daß er nicht thematisch über die Zeit spricht. Diese Feststellung ist wichtig, um den Schritt | nachzugehen, den Sie in Ihrer Interpretation vom Fragment 30 verfolgen, in der Sie das Verhältnis 337

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von πῦρ ἀείζωον und κόσμος bestimmen. Wir können das Fragment fast trivial lesen, wenn wir sagen, daß ἦν, ἔστι und ἔσται die vorweggenommene Interpretation des ἀείζωον ist. Was würde in diesem Falle das ἀεί bedeuten? Teilnehmer: Das ἀεί würde verstanden sein als ein Zusammen von εἶναι, ἔσεσθαι und γενέσθαι. Heidegger: Was ist das für ein Zusammen? Wenn wir das Fragment 30 fast trivial lesen und das ἦν, ἔστι und ἔσται als vorweggenommene Interpretation des ἀεί verstehen, was heißt das dann? Ist im „immer“ die Zeit vorausgesetzt? Teilnehmer: Das „immer“ kann eine innerzeitliche Bestimmung sein. Heidegger: Das „immer“ ist dann verstanden als „jederzeit“, „ständig“. Im Lateinischen spricht man von der sempiternitas. Daß wir hier nicht recht weiterkommen, beruht darauf, daß im Fragment nicht thematisch über die Zeit gesprochen wird, daß aber trotzdem der Versuch der Interpretation dahin geht, die Zeit in einem entscheidenden Sinne in den Blick zu nehmen. Ich glaube, nur so können wir uns den Weg Ihrer Interpretation klarmachen. Während nach der trivialen Lesart in der ersten Satzhälfte gesagt wird, daß der κόσμος weder von einem der Götter noch der Menschen hervorgebracht ist, und in der zweiten Satzhälfte, die mit ἀλλά beginnt, daß der κόσμος immer war, ist und sein wird ewiglebendiges Feuer, ist nach Ihrer Interpre­ tation das Subjekt in der zweiten Satzhälfte nicht κόσμος, sondern πῦρ.

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Fink: Nach der glatteren Lesart, wie Diels sie vorschlägt, ist das Feuersein eine prädikative Bestimmung des κόσμος. Doch bereits der Vordersatz kann uns schon hellhörig machen. Wenn | wir übersetzen: dieser κόσμος ist weder von einem der Götter noch der Menschen zum Vorschein gebracht, dann rückt – wenn auch aus der Abwehr gesprochen – der κόσμος in die Blickbahn eines Hervorgebrachten. Damit ist auch schon die Verbindung zum Feuer als dem hervorbringenden gegeben. Wir verstehen das Feuer nicht als prädikative Bestimmung des κόσμος, sondern verstehen den κόσμος vom Feuer her als die schöne Fügung der τὰ πάντα, die weder einer der Götter noch der Menschen zum Vorschein gebracht hat. Es war immer und ist und wird sein ewiglebendiges Feuer, in dessen Lichtschein die schöne Fügung der τὰ πάντα zum Aufschein kommt. Das „es war immer und ist und wird sein“ müssen wir verstehen im Sinne des „es gibt“. So gesehen wird der κόσμος vom Feuer her begriffen und nicht das Feuer vom κόσμος her. Diese Lesart würde in die bisherige Spur hineinpassen, in der wir das Verhältnis von Blitz und Sonne zu τὰ πάντα interpretiert haben. Der Bezug von πῦρ und κόσμος wäre ein besonderes Verhältnis von ἕν und πάντα, wonach τὰ πάντα im Lichtschein des Feuers stehen. Die glattere Lesart hat den Vorteil, daß in beiden Satzhälften das Subjekt dasselbe bleibt, so daß das Feuer zu einer Bestimmung des κόσμος wird, anstatt daß umgekehrt 338

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der κόσμος im Feuerschein zum Vorschein gebracht wird. Nur wenn in der zweiten Satzhälfte das Satzsubjekt nicht κόσμος ist, gibt es einen Vorrang des Feuers gegenüber dem κόσμος. Hier können wir auch auf Fragment 124 hindeuten: ὥσπερ σάρμα εἰκῆ κεχυμένων ὁ κάλλιστος [ὁ] κόσμος. Diels übersetzt: „(Wie) ein Haufen aufs Geratewohl hingeschütteter Dinge (?) die schönste (Welt)ordnung.“ Hier ist die Rede davon, daß die schönste Weltordnung einem Kehrichthaufen gleicht. Heidegger: κάλλιστος κόσμος könnte man übersetzen: der κόσμος, wie er überhaupt nur sein kann. Fink: Der schönste κόσμος, die schönste Gesamtordnung aller πάντα, kommt im Feuerschein zum Vorschein. Wenn dieser κόσμος einem Kehrichthaufen gleicht, so haben wir einen harten | Kontrast zwischen κάλλιστος, das auf κόσμος bezogen ist, und der abschätzigen Redeweise vom σάρμα. Inwiefern kann der schönste κόσμος einem Haufen hingeschütteter Dinge gleichen? Insofern, als wir ihn vergleichen mit dem hervorbringenden πῦρ. Verglichen mit dem zum Vorschein bringenden Feuer erscheint der schönste κόσμος als ein Haufen hingeschütteter Dinge. Wenn wir das Fragment 124 in dieser Weise lesen, kann es unsere Interpretation des Fragments 30 stützen, in der es uns auf den Vorrang des Feuers gegenüber dem κόσμος ankommt.

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Heidegger: Daß der schönste κόσμος noch einer Bestimmung bedarf, ist für mich schwer zu fassen. Fink: Ich verstehe das Fragment so, daß der schönste κόσμος den negativen Charakter eines Haufens hingeschütteter Dinge nur erhält im Hinblick auf das ἕν des πῦρ. Heidegger: Die Frage ist also die, ob das Fragment 124 als Stütze für die Auslegung des Fragments 30 in Anspruch genommen werden kann. Fink: Der κάλλιστος κόσμος könnte auch als wirrer Haufen nicht nur im Hin­ blick auf das ἕν des πῦρ, sondern im Hinblick auf das andere ἕν charakterisiert werden, das erst mit der Dimension des Todes in den Blick kommt. Heidegger: Mir geht es vor allem darum, den Teilnehmern die Art, wie Sie vorgehen, deutlich zu machen. Sie setzen sich ab gegen die naivere, glattere Lesart und ziehen die schwierigere vor. Lesen wir das Fragment 30 glatt, dann handelt es sich um eine Aussage über den κόσμος, der weder von einem der Götter noch der Menschen hervorgebracht ist, sondern der immer war, ist und sein wird ewiglebendiges Feuer. Dann ist der κόσμος etwas, was ist. Diese Aussage ist dann, wie Sie sagen wollen, gar keine philosophische. | Fink: Es läge dann nur im ἀεί, in der Ewigkeit der Welt ein gewisses philosophisches Element.

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Heidegger: Sie sagen das aber unter der Voraussetzung, daß Heraklit ein Philosoph ist. Philosophen jedoch gab es zur Zeit Heraklits noch nicht. Fink: Wohl ist Heraklit kein Philosoph, aber er ist doch ein φίλος τοῦ σοφοῦ, ein Freund des σοφόν. Heidegger: Das bedeutet also, daß Sie Heraklit nicht metaphysisch inter­ pretieren. Gegenüber der naiven Lesart verlangen Sie eine philosophische, die noch nicht metaphysisch ist. Aus welcher hermeneutischen Position probieren Sie das?

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Fink: Es macht mich stutzig, daß das πῦρ ἀείζωον als Wesensprädikation des κόσμος angesprochen werden soll, während der κόσμος als Fügung der πάντα auf Grund der bisherigen Fragmente, in denen die πάντα das vom Blitz Gesteuerte und im Lichtschein des Ἥλιος Stehende sind, nicht selbst das Feuer sein kann, sondern das Werk des Feuers ist. Im Vordersatz wird gesagt, daß dieser κόσμος weder von einem der Götter noch der Menschen zum Vorschein gebracht ist. Wir müssen zunächst verwundert fragen, inwiefern überhaupt gesagt werden kann, daß keiner der Menschen die Gesamtord­ nung der Dinge hervorgebracht hat. Diese Verneinung ist nur deshalb möglich, weil die Menschen durch eine poietische Macht ausgezeichnet sind. Zunächst aber klingt diese Abwehr paradox, weil doch keiner so leicht auf den Gedanken käme zu sagen, daß einer der Menschen die Gesamtordnung der πάντα hervorgebracht hat. Die Menschen bringen nicht den κόσμος im Sinne der Gesamtfügung der πάντα hervor, wohl aber den κόσμος im Sinne der πόλις, während die Götter den κόσμος im Sinne des Weltregiments hervorbringen, wenn auch in begrenzter Weise, sofern sie nicht in die Macht der Μοῖρα eingreifen können. Menschen und Götter sind poietisch, weil sie in einer ausgezeichneten | Weise an der poietischen Macht des Feuers teilhaben. Die Menschen machen nur kleine κόσμοι und nicht den großen, aber nur, weil sie an der ποίησις des πῦρ teilhaben. Die Götter und Menschen sind ausgezeichnete Wesen im κόσμος, wobei die Götter durch eine noch größere Nähe zum πῦρ ἀείζωον bestimmt sind. Aus der Teilhabe an der poietischen Macht des Feuers haben die Menschen die Fähigkeit der τέχνη und der Errichtung von Staaten. Die Götter bringen keinen Staat hervor, sondern die Weltherrschaft. Von der Götter und Menschen überragenden poietischen Gewalt des Feuers haben die Götter und Menschen ihre eigene poietische Macht zu Lehen, und nur deshalb kann von ihnen abwehrend gesagt werden, daß sie den großen κόσμος nicht hervorgebracht haben. Vor ἀλλά im Fragment 30 würde ich ein Semikolon setzen und dann weiter übersetzen: aber es war immer und ist und wird sein ewig lebendiges Feuer. Die ποίησις des Feuers ist die διακόσμησις. Was früher als οἰακίζει und ἐκυβέρνησε angesprochen war, ist jetzt die poietische Macht des Feuers für den κόσμος. 340

πῦρ und πάντα

Heidegger: Die Macht denken Sie nicht metaphysisch. Sie denken nicht mehr metaphysisch. Heraklit denkt noch nicht metaphysisch. Ist das das Gleiche? Handelt es sich dabei um die gleiche Situation des Denkens? Fink: Vermutlich nicht. Denn wir sind im Unterschied zu Heraklit durch die Begriffssprache der Metaphysik geprägt. Vielleicht kommen wir mit den metaphysischen Grundvorstellungen kaum aus der Metaphysik heraus. Heidegger: Das ist für die Interpretation und auch für den Zusammenhang des Noch-nicht-metaphysisch und Nicht-mehr-metaphysisch zu beachten, der ein besonderer geschichtlicher Zusammenhang ist. Der Ausdruck „nicht­ metaphysisch“ ist unzureichend. Wir interpretieren nicht mehr metaphy­ sisch einen Text, der noch nicht metaphysisch ist. Dahinter verbirgt sich eine Frage, die jetzt noch nicht zu erörtern ist, die aber notwen|dig sein wird, um den Gang Ihrer Interpretation deutlich machen zu können.

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Fink: Nun können wir die nicht glatte Deutung auch auf den Nachsatz beziehen: ἁπτόμενον μέτρα καὶ ἀποσβεννύμενον μέτρα. Wenn das Feuer immer lebendig ist, verlöscht es als solches nicht, sondern ist entzündend und verlöschend im Hinblick auf den κόσμος und setzt Maße für Tag und Nacht und alle Dinge, die im Offenen des Wechsels von Tag und Nacht stehen. Das ἁπτόμενον μέτρα καὶ ἀποσβεννύμενον μέτρα ist kein Bestimmtsein des Feuers, ist nicht etwas, was mit dem Feuer geschieht, sondern das Entzünden und Verlöschen nach Maßen geschieht im Hinblick auf das, was im Feuerschein steht und geht. Dem, was im Feuerschein zum Aufschein kommt, kommt auch das ἦν, ἔστιν und ἔσται zu. Diese drei Zeitbestimmungen verstehen wir nicht als zeithafte Kennzeichnung des πῦρ ἀείζωον, sondern umgekehrt aus dem ἀεί des πῦρ verstehen wir das Gewesen, das Jetzt und das Künftig der Dinge, die im Feuerschein zum Vorschein kommen. Die Dinge haben ihr In-der-Zeit-sein in den Weisen des Entstehens, des Weilens und des Vergehens. Während sie weilen, erstrecken sie sich zwischen dem Jetzt, dem Gewesen und dem Künftig. Heidegger: Im Fragment wird vom „war“, „ist“ und „wird sein“ gesprochen. Sie aber sprechen vom Gewesensein, Gegenwärtigsein und Künftigsein. Offenbar handelt es sich dabei um etwas Verschiedenes. Während im Fragment Zeitbestimmungen gebraucht werden, nehmen Sie in Ihrer Inter­ pretation die Zeit als solche mit ins Thema. Fink: Die immer lebendige Quelle der Zeit kann nur angesprochen werden mit den Namen, die von τὰ πάντα hergenommen sind. Heidegger: Dem stimme ich zu, aber worauf es mir jetzt ankommt, ist der Hinweis darauf, daß ἦν nicht das Gewesensein als Gewesensein meint. | Fink: Das, wovon meine Verwunderung ausgeht, ist der harte Zusammen­ schluß des πῦρ ἀείζωον mit dem ἦν, ἔστιν und ἔσται. Vielleicht können wir 341

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sagen: in gewisser Weise läßt sich vom πῦρ ἀείζωον nicht sagen, daß es nur ist, weil es nicht ewig ist. Vielmehr müssen wir sagen: wie die Helle des Blitzes und der Sonne die πάντα zum Vorschein und in den Umriß seiner Gestalt bringt, so ist das ἀεί des πῦρ das, was die im Lichtschein des Feuers stehenden πάντα dazu macht, daß sie waren, sind und sein werden. Die Schwierigkeit liegt aber darin, daß sich die Charakteristik des In-der-Zeit-seins der πάντα auf das πῦρ ἀείζωον als die Quelle der Weisen des In-der-Zeit-seins zurücklegt. Vom πῦρ ἀείζωον kann man aber nicht sagen, daß es war, ist und sein wird. Denn dann faßt man es wie ein Bestehendes auf. Was soll es heißen, das πῦρ ἀείζωον ist jetzt? Hat es ein bestimmtes Alter, so daß es in jedem Augenblick älter ist? Und was soll es heißen, daß es immer war und sein wird? Das immer Gewesensein meint, daß es eine Vergangenheit hinter sich hat, so wie das Künftigsein bedeutet, daß es eine Zukunft vor sich hat. Kann man vom πῦρ ἀείζωον sagen, daß es eine Vergangenheit hinter sich hat, daß es jetzt Anwesenheit hat und in Zukunft kommende Anwesenheit? Hier wird auf die Art, wie Dinge in der Zeit sind, entstehen, weilen und vergehen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft haben, das πῦρ ἀείζωον angesprochen, das seinerseits allererst das Gewesen, Gegenwärtig und Künftig entspringen läßt. Wir müssen uns davor hüten, das πῦρ ἀείζωον als einen andauernden Bestand aufzufassen. Heidegger: Für mich ist die Frage, worin der Anlaß für diesen umgekehrten Schritt der Interpretation besteht. Das ἀεί wird für Sie zur Quelle für das ἦν, ἔστιν und ἔσται.

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Fink: Zur Quelle für die drei Zeitdimensionen. Der Anlaß für meinen umgekehrten Interpretationsschritt besteht darin, daß das πῦρ ἀείζωον, das selbst nicht innerzeitlich ist, angesprochen wird durch das, was allererst durch es ermöglicht wird. Darin liegt eine Verdeckung des Ursprünglichen durch das Abgelei|tete. Würden wir uns bei dem unmittelbaren Wortlaut des Fragments beruhigen und die glattere Lesart vorziehen, dann hätte das πῦρ ἀείζωον Vergangenheit und Zukunft und wäre jetzt nicht mehr, was es war, und noch nicht das, was es künftig sein wird. Heidegger: Wir haben gesagt, daß wir nicht mehr metaphysisch einen Text interpretieren, der noch nicht metaphysisch ist. Ist das Nicht-mehr-meta­ physisch schon im Noch-nicht-metaphysisch enthalten? Fink: Das wäre Heraklit durch Heidegger interpretiert. Heidegger: Mir geht es nicht darum, Heraklit durch Heidegger zu inter­ pretieren, sondern um die Herausarbeitung des Anlasses zu Ihrer Inter­ pretation. Wir sind uns beide darin einig: wenn wir mit einem Denker sprechen, so müssen wir auf das Ungesagte im Gesagten achten. Die Frage ist nur, welcher Weg dahin führt und welcher Art die Begründung des 342

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Interpretationsschrittes ist. Diese Frage zu beantworten, scheint mir bei der Interpretation des Fragments 30 im Hinblick auf die Zeit besonders schwierig. Daher habe ich nach dem „immer“ gefragt. Wie sollen wir es verstehen? Was heißt im Rahmen Ihrer Interpretation das „immer“? Wenn ich Sie frage, ist es das nunc stans und Sie mit Nein antworten, dann frage ich: sondern? Hier stehen wir vor einem Fragezeichen. Fink: Die besondere Schwierigkeit liegt darin, daß das, was als Quelle der Zeit vorausgeht, gar nicht in angemessener Weise gesagt werden kann. In bezug auf die Quelle der Zeit befinden wir uns in einer besonderen Verlegen­ heit. Heidegger: Sie betonen mit Recht die Verlegenheit, in der wir uns befinden. Die Schwierigkeit, vor der wir stehen, besteht nicht nur in dem Denkschritt, sondern auch für unseren Nachvollzug. Wir müssen eine zureichende Klar­ heit des Zudenkenden haben, um Heraklit in der rechten Weise zu hören. Das Zuden|kende können wir jedoch nicht an einem Fragment aufdröseln, sondern wir müssen – wie Sie schon gesagt haben – für die Interpretation eines Fragments alle Fragmente im Blick haben. Mir geht es immer wieder darum, die Schrittfolge Ihrer Interpretation deutlich zu machen. Daher habe ich darauf hingewiesen, daß bei Ihrem Denkschritt die Zeit thematisch wird, während im Fragment 30 die Zeit nur als Zeitverständnis in den Blick kommt, ohne daß sie von Heraklit thematisiert würde. Fink: Was das ἦν ἀεὶ καὶ ἔστιν καὶ ἔσται πῦρ ἀείζωον anbetrifft, so will ich nicht behaupten, daß wir ohne weiteres über eine Aussagemöglichkeit verfügen, um den durch innerzeitliche Bestimmungen verdeckten Quell der Zeit ohne innerzeitliche Bestimmungen ansprechen zu können. Denn das würde heißen, daß wir schon imstande wären, die vormetaphysische Sprache einzuholen. – Werfen wir in diesem Zusammenhang einen Blick auf das Fragment 66, das jetzt nur beigezogen werden soll, um den Vorrang des πῦρ gegenüber dem κόσμος und τὰ πάντα zu zeigen. Es lautet: πάντα γὰρ τὸ πῦρ ἐπελθὸν κρινεῖ καὶ καταλήψεται. Diels übersetzt: „Denn alles wird das Feuer, herangekommen, richten und fassen (verurteilen).“ Fraglich ist an dieser Übersetzung, ob κρινεῖ als „wird richten“ im Sinne einer Endsituation übertragen werden muß oder ob es nicht eher als „wird scheiden“ und καταλήψεται als „wird ins Gepräge schlagen“ aufgefaßt werden muß. Wir müssen dann sagen: das Feuer wird τὰ πάντα indem es sie zum Vorschein bringt, scheiden und jegliches in sein Gepräge schlagen. Damit zeigt sich auch hier der Vorrang des Feuers gegenüber τὰ πάντα, die im Fragment 30 unter dem Namen des κόσμος, d. h. der Gesamtordnung der πάντα angespro­ chen werden. Die von mir vorgeschlagene schwierigere Lesart des Fragments 30 erfordert, daß das Subjekt in der ersten und zweiten Satzhälfte wechselt. Der glatteren Lesart gemäß wird das Subjekt des Vordersatzes, κόσμος, 343

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auch in der zweiten Satzhälfte durchgehalten. Sprachlich gesehen mag diese Lesart die leichtere sein, aber gedanklich erscheint sie mir als anstößig. Die schwierigere Lesart besagt: im Vordersatz | kommt der κόσμος in den Blick, der als ein Hervorgebrachtes genannt, aber von der hervorbringenden Macht der Götter und Menschen weggehalten wird. Als Hervorgebrachtes, das weder der ποίησις der Götter noch der Menschen entsprungen ist, weist es auf das Zum-Vorschein-Bringen des Feuers. Deshalb kann in der zweiten Satzhälfte das Subjekt nicht mehr der κόσμος sein. Denn sonst würde das πῦρ ἀείζωον zu einer prädikativen Bestimmung des κόσμος, während doch der κόσμος das Hervorgebrachte des Feuers ist. Wir müssen also lesen: den κόσμος brachte weder einer der Götter noch der Menschen zum Vorschein, sondern es war immer und ist und wird sein immer lebendiges Feuer, das den κόσμος zum Vorschein bringt. Das „war immer und ist und wird sein“ können wir fast im Sinne des „es gibt“ verstehen. Aber die Weise, wie es das πῦρ ἀείζωον gibt, ist die Art, daß es den πάντα die drei Weisen des In-der-Zeit-seins gibt. Wenn wir so das Fragment 30 lesen, ergibt sich ein entscheidender Vorzug des Feuers vor dem κόσμος, ein Vorzug, der durch das Fragment 66 gestützt wird. Die Frage ist allerdings, ob wir das Fragment 30 so lesen dürfen, daß in ihm das Entscheidende das πῦρ ἀείζωον ist, das in den drei Zeitbestimmungen angesprochen wird. Damit zusammenhängend können wir fragen, ob wir auch dem Fragment 31 – obwohl es neue Gedankenmotive enthält – den Vorrang des Feuers entnehmen können. Teilnehmer: Müssen wir hier nicht auch das Fragment 76 hinzunehmen: ζῇ πῦρ τὸν γῆς θάνατον καὶ ἀὴρ ζῇ τὸν πυρὸς θάνατον, ὕδωρ ζῇ τὸν ἀέρος θάνατον, γῆ τὸν ὕδατος. Von Diels übersetzt lautet es: „Feuer lebt der Erde Tod und Luft lebt des Feuers Tod; Wasser lebt der Luft Tod und Erde den des Wassers.“

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Fink: In diesem Fragment wird die Bewegung angesprochen in der Wort­ fügung: Feuer lebt der Erde Tod. Das bedeutet, daß es sich hier nicht um ein einfaches Übergehen handelt, sondern um die Verschränkung von Leben und Tod – ein Problem, dem wir uns noch gesondert zuwenden werden. – Auch vom | Fragment 31 legen wir unserer Besinnung nur die Herakliteischen Worte zugrunde: πυρὸς τροπαὶ πρῶτον θάλασσα, θαλάσσης δὲ τὸ μὲν ἥμισυ γῆ, τὸ δὲ ἥμισυ πρηστήρ. ‹γῆ› θάλασσα διαχέεται, καὶ μετρέεται εἰς τὸν αὐτὸν λόγον, ὁκοῖος πρόσθεν ἦν ἢ γενέσθαι γῆ. Diels übersetzt: „Feuers Umwende: erstens Meer, vom Meere aber die eine Hälfte Erde, die andere Hälfte Gluthauch. Die Erde zerfließt als Meer und dieses erhält sein Maß nach demselben Sinn (Verhältnis) wie er galt, ehe denn es Erde ward.“ Heidegger: Ich verweise auf eine Abhandlung von Bruno Snell über τροπή in Hermes 61, 1926.10 Fink: Diels übersetzt „Feuers Umwende“, während Heraklit im Plural von τροπαί, Umwendungen, Wandlungen spricht. Wie aber sollen wir hier den 344

πῦρ und πάντα

Übergang von Feuer in Meer und von Meer in Erde und Gluthauch, sowie von Erde in Meer und Meer in Feuer verstehen? Handelt es sich hier um das bekannte Phänomen des Übergangs von einem Aggregatzustand in den anderen? Ist hier gemeint, daß irgendwelche Elemente in andere übergehen und sich wandeln? Spricht Heraklit von Wandlungen der Elemente, so wie wir Aggregatzustände übergehen sehen, etwa den Aggregatzustand des Flüssigen in Dampf oder des Feuers in Rauch? Was sind die τροπαί? Spricht Heraklit von einer Vielzahl, weil sich das Feuer gleichzeitig in Vielerlei verwandelt oder weil es sich nacheinander in Verschiedenes verwandelt? Zunächst sieht es nach einem Nacheinander aus: das Feuer wandelt sich um in Meer, das Meer wandelt sich halb in Erde, halb in Gluthauch. Können wir hier überhaupt nach alltäglich bekannten Geschehensweisen fragen? Aus dem Phänomen kennen wir nur den Wandel von Aggregatzuständen. Wir sind aber nicht Zeugen eines kosmogonischen Prozesses. Was hart aufstoßen mag, ist die Verwandlung des Feuers in Meer, während doch das Meer, d. h. das Wasser dasjenige ist, was das Feuer am meisten löscht. Es ist überhaupt die Frage, ob wir zurechtkommen, wenn wir die Umwandlungen des Feuers so ansetzen, als wäre zunächst alles Feuer, als würde sich dann das | Wasser abspalten und aus der einen Hälfte des Wassers die Erde und aus der anderen der Gluthauch. Vermutlich handelt es sich überhaupt nicht um ein Mischungsverhältnis im Nacheinander und in der Ebene der πάντα. Ich möchte eher meinen, daß das Feuer dem Meere, der Erde und dem Gluthauch gegenüber ist, daß sich also das Feuer gegenüber dem Meer, der Erde und dem Gluthauch verhält wie der κεραυνός und Ἥλιος gegenüber den πάντα. Das Feuer als das ἕν würde sich dann in verschiedene Weisen, wie τὰ πάντα sich zeigen, wenden. Diese Interpretation soll vorerst nur als Frage formuliert werden. Wenn wir τροπή nur als Umwendung in einer Ortsbewegung verstehen, so ist das Fragment 31 gar nicht verständlich. Wir können doch nicht sagen, daß sich das Feuer in einer Ortsbewegung umwandelt zu Wasser, Erde und Gluthauch. Heißt τροπή Wende in einer Ortsbewegung, was bedeuten dann die Umwendungen des Feuers? Heraklit sagt doch, daß sich das Feuer zuerst in Meer umwendet. Hier ist doch offenbar nicht an eine Ortsbewegung gedacht. Bewegt sich das Feuer so, daß es zunächst Wasser wird, und bewegt sich das Wasser in der Weise, daß es zu einer Hälfte Erde und zur anderen Hälfte Gluthauch wird? Verstehen wir die τροπαί in diesem Sinne, dann nehmen wir das Feuer wie eine Art Ursubstanz, die verschiedene Erscheinungsformen nacheinander annimmt. Meine Frage aber lautete, ob man sich die πυρὸς τροπαί klarmachen kann an dem uns geläufigen Umschlag von Aggregatzuständen. Heidegger: Wollen Sie sagen, daß das Feuer hinter allem steht? Fraglich aber ist, was hier „hinter“ heißt, vor allem, ob das Feuer in der Weise einer Ursubstanz hinter allem steht, 345

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Fink: oder ob man nicht auch hier das Verhältnis von ἕν und πάντα ansetzen und den Gedanken an einen Grundstoff aufgeben muß. Unsere Aufgabe wird es auch hier wieder sein, die schwierigere Leseweise herauszuarbeiten.

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| VII. Differenz der Interpreten: Wahrheit des Seins (Fragment 16) oder kosmologische Perspektive (Fragment 64) – Heraklit und die Sache des Denkens – Das Noch-nicht-Metaphysische und das Nicht-mehrMetaphysische – Hegels Verhältnis zu den Griechen – πυρὸς τροπαί und das Tagen (beigezogene Fragmente: 31, 76) Heidegger: Da wir die Seminarübung über Weihnachten drei Wochen unterbrochen haben, mag sich eine kurze Rückbesinnung auf den bisheri­ gen Gang unseres Unternehmens als nützlich erweisen. Wenn etwa ein Außenstehender Sie fragen würde, was wir in unserem Seminar treiben, wie würden Sie auf eine solche Frage antworten? Teilnehmer: Im Zentrum der letzten Stunden vor Weihnachten stand die Erörterung des Zeitproblems an Hand des Fragments 30. Heidegger: Sie haben sich also doch durch die Auslegung, die Herr Fink vom Fragment 30 gegeben hat, verführen lassen. Denn – was wir auch immer wieder betont haben – die Zeit kommt bei Heraklit gar nicht vor. Teilnehmer: Das Fragment 30 führt aber Zeitbestimmungen an, und unsere Frage lautete, wie diese verstanden werden sollen. Heidegger: Sie gehen damit auf eine spezielle Frage ein. Wenn Sie aber jemand fragt, was wir in unserem Heraklit-Seminar treiben, und wenn er dabei nicht über Einzelfragen, sondern über das Ganze etwas hören möchte, wenn er etwa fragen würde, womit wir angefangen haben, was würden Sie ihm antworten?

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| Teilnehmer: Wir haben mit einer methodischen Vorüberlegung, d. h. mit der Frage eingesetzt, wie Heraklit zu verstehen ist. Heidegger: Was hat Herr Fink zu Beginn seiner Interpretation gemacht? Teilnehmer: Er hat eingesetzt mit einer Besinnung auf τὰ πάντα. Heidegger: Wie aber ist er auf τὰ πάντα gekommen? – Wenn ich jetzt mit Ihnen spreche, so spreche ich mit allen. – Teilnehmer: Durch das Fragment 64: τὰ δὲ πάντα οἰακίζει Κεραυνός. Heidegger: Haben wir in der Auslegung mit τὰ πάντα oder mit dem Blitz angefangen? Denn das zu unterscheiden, ist wichtig. 346

Differenz der Interpreten: Wahrheit des Seins oder kosmologische Perspektive

Teilnehmer: Zunächst haben wir uns gefragt, wie τὰ πάντα zu übersetzen ist, dann sind wir zum Blitz übergegangen und anschließend haben wir uns alle die Fragmente angesehen, in denen von τὰ πάντα gesprochen wird. Heidegger: Herr Fink hat also die Auslegung Heraklits mit dem Blitz angefangen. Ist dieser Anfang selbstverständlich? Ist er nicht überraschend? Teilnehmer: Wenn man bedenkt, welche Einsätze sonst gemacht werden, so ist dieser Anfang ungewöhnlich. Heidegger: Herr Fink, der mit dem Blitz beginnt, ist gleichsam wie vom Blitz getroffen. Womit fängt Heidegger an? Teilnehmer: Mit dem λόγος. Heidegger: und außerdem | Teilnehmer: mit der ἀλήθεια.

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Heidegger: Wie aber kommt Heidegger auf die ἀλήθεια? Teilnehmer: Über das Fragment 16: τὸ μὴ δῦνόν ποτε πῶς ἄν τις λάθοι.* Heidegger: Dort, wo dieses Fragment einer Heraklit-Auslegung zugrunde­ gelegt wird, steht auch, daß man es als erstes Fragment lesen müsse. Wie aber kommen die Fragmente 64 und 16 zusammen, bzw. wie unterscheidet sich das Fragment 64 vom Fragment 16? Worin liegt der Unterschied zwischen beiden Anfängen? Teilnehmer: Im Fragment 16 steht τὸ μὴ δῦνόν ποτε, im Fragment 64 κεραυνός im Mittelpunkt. Heidegger: Sind beide Fragmente und damit beide Anfänge identisch? Teilnehmer: Nein. Heidegger: Nehmen Sie das ganze Fragment 16 und vergleichen Sie es mit dem Fragment 64. Teilnehmer: Der Unterschied zwischen beiden Fragmenten besteht darin, daß im Fragment 64 nur von τὰ πάντα die Rede ist, während in Fragment 16 der Mensch ins Spiel kommt. Heidegger: Also handelt es sich um einen großen Unterschied. Die Frage wird sein, was der unterschiedliche Anfang einmal bei 64 und zum anderen bei 16 zu bedeuten hat, ob hier ein Gegensatz vorliegt oder nicht. Diese Frage werden wir noch ausdrücklich stellen müssen. Was aber könnte man entgegnen, | wenn gesagt wurde, daß in Fragment 16 der Mensch ins Thema komme, während er in Fragment 64 nicht genannt werde?

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Diels übersetzt: „Wie kann einer sich bergen vor dem, was nimmer untergeht?“.

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Teilnehmer: Wenn τὰ πάντα alles Seiende umfaßt, dann ist darin auch der Mensch als ein Seiendes mitgemeint. Teilnehmer: Dem ist grundsätzlich zuzustimmen. Dann aber ist in Frag­ ment 64 nicht gesagt, wie der Mensch im Unterschied zu allen nichtmensch­ lichen πάντα ist und im Bezug steht zum Blitz. Demgegenüber nennt das Fragment 16 eigens die Weise, wie sich der Mensch zum τὸ μὴ δῦνόν ποτε verhält. Heidegger: Im Fragment 64 wird der Mensch insofern mitgenannt, als er ist und als ein Seiendes zu τὰ πάντα gehört. Aber es ist die Frage, ob wir schon den Menschen denken, wenn wir ihn ansetzen als ein Seiendes, das zu τὰ πάντα wie alles andere Seiende gehört, ob wir ihn nicht anders denken müssen als ein Seiendes unter den πάντα. Wir halten also fest, daß der Anfang der Heraklit-Auslegung von Herrn Fink überraschend ist. Dieser Anfang mit dem Blitz führte dann dazu, Teilnehmer: daß wir das Verhältnis zwischen dem Blitz und τὰ πάντα in den Blick nahmen. Heidegger: Was folgte darauf? Teilnehmer: Eine Auslegung des Fragments 11. Heidegger: Wie aber kamen wir auf dieses Fragment? Welches ist das sachliche Motiv, das uns von 64 zu 11 überleitete? Teilnehmer: Den Anhalt für diesen Übergang gab uns das, was Heraklit selbst sagt: in 64 spricht er von τὰ πάντα, in 11 von πᾶν ἑρπετόν, das wir als πάντα ὡς ἑρπετά verstanden haben. Heidegger: Wo aber lag der sachliche Anhalt für ein solches Vorgehen? 120

| Teilnehmer: Der Blitz (Blitzschlag) führte uns zu πληγή (Schlag). Heidegger: Außerdem sahen wir einen sachlichen Zusammenhang zwi­ schen dem Steuern (οἰακίζει) und dem Treiben (νέμεται). Wir nahmen also zuerst den Bezug von Blitz und τὰ πάντα und anschließend den Bezug von πληγή und πᾶν ἑρπετόν in den Blick. Dann gingen wir über Teilnehmer: zu den Sonnenfragmenten. Heidegger: Die Auslegung begann mit dem Blitz bzw. Blitzschlag, ging dann über zur Sonne und darauf zum πῦρ ἀείζωον. Die Bezüge von Blitz, Sonne, Feuer müssen wir später genauer bestimmen. Jetzt ist zunächst einmal klar geworden, wovon wir bisher thematisch gehandelt haben. Wie aber geht Herr Fink in der Auslegung der Fragmente vor? Teilnehmer: Die Auslegung ist für uns zum Problem geworden.

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Differenz der Interpreten: Wahrheit des Seins oder kosmologische Perspektive

Heidegger: Inwiefern ist die Auslegung ein Problem? Wie würden Sie das Vorgehen von Herrn Fink charakterisieren? Die Art seiner Auslegung ist doch keineswegs selbstverständlich, sondern eher als kühn zu bezeichnen. Teilnehmer: In der Interpretation der Fragmente ist mehr gesagt worden, als dort steht. Heidegger: Die Interpretation ist gewagt. Aber Herr Fink interpretiert auch nicht willkürlich, sondern er hat seine Gründe dafür, wenn er die schwierigere Lesart und die Härte des Problems vorzieht. Um was für ein Problem handelt es sich dabei? Mit welchem Recht zieht er die schwierigere Lesart vor? Nehmen wir als Beispiel das Fragment 30. Teilnehmer: Es wurde jeweils die schwierigere Lesart vorgezogen, damit die Sache zum Vorschein kommt. | Heidegger: Welche Sache ist das?

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Teilnehmer: Die Sache ist bereits in einer Mannigfalt angeklungen, am ausdrücklichsten vielleicht im Hinblick auf die Zeitfrage. Heidegger: Ich verbiete Ihnen jetzt, von Zeit zu sprechen. Sein und Zeit klammern wir jetzt ein. Um welche Sache handelt es sich, die zum Vorschein kommen soll? Denken Sie dabei an den Einleitungsvortrag von Herrn Fink. Teilnehmer: Die Sache des Denkens. Heidegger: Und die Sache des Denkens ist? Wir müssen sagen: die Sache des Denkens ist das, was wir suchen, von dem wir jetzt noch nichts wissen. Derselbe Außenstehende, nachdem er sich das angehört hat, was Sie ihm auf seine Frage geantwortet haben, könnte Ihnen entgegnen, daß wir, wenn wir uns mit Heraklit befassen, gleichsam in einem elfenbeinernen Turm sitzen. Denn das, was wir treiben, habe nichts mit Technik und Industriegesellschaft zu tun, sondern es seien nichts anderes als abgelebte Geschichten. Was wäre hier zu antworten? Teilnehmer: Daß es sich um abgelebte Geschichten handelte, wäre zu bezweifeln. Denn wir nehmen Heraklit nicht als einen Denker der Vergan­ genheit, vielmehr ist es unsere Absicht, in der Auseinandersetzung mit ihm etwas zum Vorschein zu bringen, was möglicherweise etwas anderes oder gar dasselbe ist. Uns geht es nicht um eine Auseinandersetzung, die sich mit einer vergangenen Sache beschäftigt. Heidegger: Also liefern wir keine Beiträge zur Heraklit-Forschung? Teilnehmer: Das würde ich nicht sagen, weil auch unsere Problematik für die Forschung förderlich sein kann. | Heidegger: Wir versuchen die Bestimmung der Sache des Denkens im Gespräch mit Heraklit. Dabei beabsichtigen wir keinen thematischen 349

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Beitrag zur Heraklit-Forschung. In dieser Richtung sind wir nicht interes­ siert. Vielleicht ist das, was wir treiben, auch für die Heraklit-Forschung unzugänglich. Die Art und Weise, wie wir mit den Fragmenten sprechen und auf sie hören, ist nicht die unmittelbare eines alltäglichen Meinens, wie wir die Zeitung lesen. Herr Fink zwingt Sie, anders zu denken. Das Schwierigere der schwierigeren Lesart ist nicht nur gradweise bezogen auf unser Aufnahmevermögen. Was hier wie ein Komparativ aussieht, ist vermutlich ein anderer Unterschied. Teilnehmer: Ein Komparativ setzt voraus, daß etwas verglichen wird, was in einem Zusammenhang steht. Zwischen dem unmittelbaren alltäglichen Meinen und Verstehen und dem, was die schwierigere Lesart genannt worden ist, besteht offenbar eine Kluft, die es zu betonen gilt. Heidegger: Wir haben also in den Blick genommen den Bezug von τὰ πάντα und Blitz, τὰ πάντα und Sonne, τὰ πάντα und Feuer. In Fragment 7 war die Rede von πάντα τὰ ὄντα. Was ist in dem Bezug von τὰ πάντα zum Blitz, zur Sonne, zum Feuer und zum ἕν, das uns auch begegnete, das Schwierigere der schwierigeren Lesart im Unterschied zur naiven Leseweise? Teilnehmer: Die Frage ist, ob die Bezogenheit der πάντα auf den Blitz, auf die Sonne, auf das Feuer, auf das ἕν, auf den πόλεμος oder auf den λόγος jeweils eine andere ist, oder ob die genannte Mannigfaltigkeit dessen, worauf sich τὰ πάντα beziehen, nur dem Namen nach ein Mannigfaltiges ist. Heidegger: Die Schwierigkeit, vor der wir stehen, ist die Mannigfaltigkeit von Blitz, Sonne, Feuer, ἕν, Krieg und λόγος in ihrem Bezug zu τὰ πάντα bzw. zu τὰ ὄντα. Die Mannigfaltigkeit gehört nicht zu den πάντα bzw. ὄντα. Wozu gehört sie aber dann? 123

| Teilnehmer: Ich sehe die Schwierigkeit darin, daß einerseits τὰ πάντα die Totalität bilden, daß andererseits τὰ πάντα in einem Bezug zu etwas anderem stehen sollen, was nicht in die Totalität gehört. Heidegger: Sie wollen sagen, mit der Totalität haben wir doch alles, mit ihr sind wir am Ende des Denkens. Andererseits ist von einer Mannigfaltigkeit die Rede, die über die Totalität hinausgeht. Wenn τὰ πάντα die Totalität der ὄντα, das Seiende im Ganzen sind, gibt es dann noch etwas darüber hinaus? Teilnehmer: Obwohl Sie gesagt haben, daß das Wort „Sein“ eingeklammert werden soll, können wir nicht umhin, das Sein jetzt als das zu benennen, was es über das Seiende im Ganzen hinaus gibt. Heidegger: Bisher war vom Sein noch nicht die Rede. Das Sein ist etwas, was nicht ein Seiendes ist und nicht zum Seienden gehört. Die schwierigere Lesart besteht darin, daß wir die Fragmente nicht ontisch lesen, so wie wir die Zeitung lesen, daß es sich beim Lesen der Fragmente nicht um 350

Differenz der Interpreten: Wahrheit des Seins oder kosmologische Perspektive

Dinge handelt, die einfach eingehen, sondern daß es hier offenbar um eine Denkweise geht, die sich auf etwas einläßt, was im direkten Vorstellen und Meinen nicht zugänglich ist: das ist der eigentliche Hintergrund. Eine andere Schwierigkeit ist die folgende. Die Art des Denkens, das das Seiende im Ganzen hinsichtlich seines Bezugs zum Sein denkt, ist die Denkweise der Metaphysik. Nun sagten wir aber in der letzten Seminarübung, daß Heraklit noch nicht metaphysisch denkt, während wir nicht mehr metaphysisch zu denken versuchen. Hat nun das „noch-nicht-metaphysisch“ gar keinen Bezug zur Metaphysik? Man könnte meinen, das „noch-nicht“ sei von dem Folgenden, der Metaphysik, abgeschnitten. Es könnte aber auch ein „schon“, eine gewisse Vorbereitung sein, die nur wir so sehen und sehen müssen, während Heraklit sie nicht sehen konnte. Wie aber verhält es sich mit dem „nicht-mehr-metaphysisch“? | Teilnehmer: Diese Kennzeichnung für unser Denken ist vorläufig unum­ gänglich, weil die Geschichte der Metaphysik, aus der wir herkommen, nicht von uns einfach abgetan werden kann. Was dagegen das „noch-nicht-meta­ physisch“ anbetrifft, so ist mit dieser Charakterisierung vielleicht schon zu viel gesagt.

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Heidegger: Wenn Heraklit nicht sagen konnte, daß sein Denken noch nicht metaphysisch ist, weil er noch nicht auf die kommende Metaphysik vorausschauen konnte, so müssen wir von uns selbst sagen, daß wir nicht mehr metaphysisch zu denken versuchen, und zwar deshalb, weil wir aus der Metaphysik herkommen. Teilnehmer: Im „nicht-mehr“ liegt eine Zweideutigkeit: einmal kann es im Sinne einer äußerlich-zeitlichen Bestimmung aufgefaßt werden. Dann besagt es, daß die Metaphysik hinter uns liegt. Zum anderen kann es aber auch so verstanden werden, daß die Bezogenheit auf die Metaphysik erhalten bleibt, wenn auch nicht in der Weise einer metaphysischen Gegen­ position innerhalb der Metaphysik. Heidegger: Sie wollen sagen, „nicht-mehr-metaphysisch“ bedeutet nicht, daß wir die Metaphysik verabschiedet hätten, sondern besagt, daß sie uns immer noch anhängt, daß wir sie nicht loswerden. Wo wird innerhalb der abendländischen Philosophie das Verhältnis der Epochen zueinander in der entschiedensten Weise gedacht? Teilnehmer: Bei Hegel. Heidegger: Wenn wir sagen, wir versuchen nicht mehr metaphysisch zu denken, bleiben aber dennoch auf die Metaphysik bezogen, dann könnten wir dieses Verhältnis Hegelisch gesprochen als Aufhebung der Metaphysik bezeichnen. Ob sie einmal wiedererscheinen wird, weiß keiner von uns. Jedenfalls ist das „nicht-mehr-metaphysisch“ schwieriger als das „noch-| 351

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nicht-metaphysisch“ zu bestimmen. – Wie aber verhält sich Hegel zu den Griechen? Nimmt er sie nicht gewissermaßen in einem Schwung? Teilnehmer: Bei Hegel liegt ein anderes Verständnis dessen vor, was ein Anfang ist. Heidegger: Die Frage nach dem Anfang ist uns jetzt zu schwierig. Die Antwort, auf die ich hinaus will, ist einfacher. Welchen Charakter hat bei Hegel das griechische Denken für die Philosophie? Teilnehmer: Einen vorbereitenden. Heidegger: Diese Antwort ist zu allgemein, bestimmter gesagt: Teilnehmer: In der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes sagt Hegel, es komme alles darauf an, das Wahre nicht nur als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken. Heidegger: Wie ist das zu verstehen? Zuvor aber noch: ist die genannte Vorrede die Vorrede zur Phänomenologie? Teilnehmer: Sie ist die Vorrede zum System der Wissenschaft, während die Einleitung die eigentliche Vorrede zur Phänomenologie ist. Heidegger: Die Vorrede gilt also schon für die Logik und nicht nur für die Phänomenologie des Geistes. In der Vorrede sagt Hegel Grundsätzliches über die Philosophie, daß sie das Wahre nicht nur als Substanz, sondern auch als Subjekt denken solle. Substanz heißt griechisch: Teilnehmer: ὑποκείμενον und ist das Zugrundeliegende. 126

| Heidegger: Wie wird von Hegel die Substanz gedacht? Wenn ich sage: das Haus ist groß bzw. hoch, wie ist dann die Art des Denkens, das nur die Substanz denkt, zu charakterisieren? Was ist hier nicht gedacht? Teilnehmer: Die Bewegung zwischen dem Haus und dem Hochsein. Heidegger: Dafür haben die Griechen, die nach Hegel nur die Substanz, das ὑποκείμενον denken, die Kategorien. Teilnehmer: Die Bewegung kann nur in den Blick kommen, wenn noch ein anderes Zugrundeliegendes hinzukommt, das Subjekt. Heidegger: Wenn gesagt wird: das Haus ist hoch, was ist darin nicht gedacht? Teilnehmer: Der Denkende. Heidegger: Also was für ein Denken ist dasjenige, das geradezu auf das ὑποκείμενον und nicht auf das Subjekt hin blickt? Teilnehmer: Ich scheue mich, die abgegriffenen Worte zu nennen.

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Differenz der Interpreten: Wahrheit des Seins oder kosmologische Perspektive

Heidegger: In der Philosophie ist kein Wort und kein Begriff abgegriffen. Wir müssen die Begriffe jeden Tag neu denken. – Wir haben etwa die Aussage: dieses Glas hier ist gefüllt. Damit ist etwas über das Vorliegende ausgesagt, nicht aber ist die Beziehung zu einem Ich gedacht. Wenn diese Beziehung ins Thema kommt für das Denken, für das Ich, dann wird das Vorliegende zu einem Entgegenliegenden, d. h. zu einem Objekt. Im Griechischen gibt es keine Objekte. Was heißt Objekt im Mittelalter? Was heißt es wortwörtlich? | Teilnehmer: Das Entgegengeworfene.

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Heidegger: Das Objekt ist das Entgegengeworfene für wen? Können Sie sich das Glas entgegenwerfen? Wie kann ich mir etwas entgegenwerfen, ohne daß etwas passiert? Was heißt im Mittelalter subiectum? Was bedeutet es wortwörtlich? Teilnehmer: Das Daruntergeworfene. Heidegger: Für das mittelalterliche Denken ist das Glas ein subiectum, das die Übersetzung von ὑποκείμενον ist. Obiectum meint im Mittelalter dagegen nur das Vorgestellte. Ein goldener Berg ist ein Objekt. Dort ist also das Objekt das, was gerade nicht objektiv ist. Es ist das Subjektive. Ich hatte gefragt, wie die Griechen nach Hegels Interpretation denken. Wir haben gesagt, daß in ihrem Denken der Bezug zum Subjekt nicht ins Thema kommt. Aber die Griechen waren doch Denkende? Für Hegel jedoch war ihr Denken ein Zugewandtsein dem Vor- und Zugrundeliegenden, was er das Denken des Unmittelbaren nennt. Das Unmittelbare ist das, zwischen dem nichts dazwischenkommt. Hegel charakterisiert das ganze griechische Denken als Stufe der Unmittelbarkeit. Erst mit Descartes betritt für ihn die Philosophie festes Land durch den Ansatz beim Ich. Teilnehmer: Hegel sieht aber auch schon bei Sokrates eine Zäsur, eine Wendung zur Subjektivität, was mit der Sittlichkeit zusammenhängt, sofern diese zur Moralität wird. Heidegger: Daß Hegel bei Sokrates eine Zäsur sieht, hat noch einen einfacheren Grund. Wenn er das griechische Denken insgesamt als Stufe der Unmittelbarkeit charakterisiert, so nivelliert er nicht die inneren Unter­ schiede, etwa den zwischen Anaxagoras und Aristoteles. Innerhalb der Stufe der Unmittelbarkeit sieht er eine Gliederung, die er wiederum mit demsel­ ben dreifachen Schema Unmittelbarkeit – Vermittlung – Einheit begreift. Dabei gebraucht er kein willkürliches Schema, sondern | er denkt aus dem, was für ihn die Wahrheit im Sinne der absoluten Gewißheit des absoluten Geistes ist. So leicht ist jedoch die Einordnung der Metaphysik und des griechischen Denkens für uns nicht, weil die Frage nach der Bestimmung des griechischen Denkens etwas ist, was wir erst zur Frage machen und als 353

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Frage wecken müssen. – Aus der vorletzten Seminarsitzung ist die Frage, was spekulativ bei Hegel heißt, noch unbeantwortet geblieben. Teilnehmer: Spekulation meint für Hegel die Anschauung der ewi­ gen Wahrheit. Heidegger: Diese Antwort ist zu allgemein und stimmt nur ungefähr. Bei solchen schulmäßigen Fragen greift man nicht zum Index, sondern zur Enzyklopädie. Dort ist das Spekulative eine Bestimmung des Logischen. Wieviel Bestimmungen gibt es und welches sind die übrigen? Teilnehmer: Im ganzen gibt es drei Bestimmungen des Logischen, die den drei genannten Bestimmungen des Unmittelbaren, des Vermittelten und der Einheit entsprechen. Heidegger: Sind die drei Bestimmungen des Logischen drei Sachen neben­ einander? Offenbar nicht. Das erste Moment, das der Unmittelbarkeit entspricht, ist das Abstrakte. Was heißt bei Hegel abstrakt? Teilnehmer: Das Getrennte und Isolierte.

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Heidegger: Besser: das Denken der Einseitigkeit, das nur nach einer Seite hin denkt. Eigentümlich ist, daß das Unmittelbare das Abstrakte sein soll, während es für uns doch eher das Konkrete ist. Hegel nennt aber das Unmit­ telbare das Abstrakte insofern, als ich nur nach der Seite des Gegebenen und nicht nach der Seite des Ich sehe. Das zweite Moment des Logischen ist das Dialektische, das dritte das Spekulative. Die Hegelsche | Bestimmung des Spekulativen ist für uns bedeutsam, wenn wir uns an einer wichtigen Stelle des Seminars mit dem scheinbaren Gegensatz des Ansatzes beim κεραυνός und beim τὸ μὴ δῦνόν ποτε πῶς ἄν τις λάθοι befassen werden. – Jetzt aber habe ich noch an Sie, Herr Fink, eine Frage, die das Fragment 30 betrifft. Verstehe ich Sie recht, wenn Sie nach Ihrer Interpretation κόσμος identisch mit τὰ πάντα auffassen? Fink: κόσμος und τὰ πάντα sind nicht identisch, wohl aber meint κόσμος die Gesamtfügung der τὰ πάντα, das Gesamtgepräge, das nicht stehend, sondern bewegt ist. Heraklit spricht mannigfache Weisen der Bewegung an, etwa im Streit oder im Krieg. Heidegger: Gehört dann κόσμος in die Reihe von Blitz, Sonne und Feuer? Fink: Nicht ohne weiteres. Das ließe sich nur dann sagen, wenn κόσμος nicht als die vom Feuer hervorgebrachte Ordnung, sondern als das ordnende Feuer gedacht würde. Hätte κόσμος die Funktion der διακόσμησις, dann gehörte auch er in die Reihe der Grundworte. Heidegger: Im Fragment 30 wird von κόσμον τόνδε gesprochen. Wenn wir das mit dem κατὰ τὸν λόγον τόνδε zusammenhalten, könnte dann κόσμον 354

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τόνδε nicht entsprechend wie λόγον τόνδε soviel bedeuten wie: dieser κόσμος, von dem noch zu handeln, der noch Thema sein wird? Fink: Das Demonstrativum τόνδε meint vor allem nicht ein einzelnes Dieses, nicht diesen κόσμος, der jetzt ist, gegen andere κόσμοι. Wenn gesagt wird, daß der κόσμος als Ordnungsgefüge hervorgebracht ist, so ist damit nicht ein κόσμος im Singular gemeint, der in einen Plural von κόσμοι gehört. Von diesem heißt es: τὸν αὐτὸν ἁπάντων. Ob diese Wortfügung Herakliteisch ist oder nicht, lassen wir jetzt beiseite. Diels übersetzt | ἁπάντων durch „alle Lebewesen“. Diese Übertragung lehne ich ab. Ich lehne auch die Interpreta­ tion ab, die diese Wortfügung mit dem Fragment 89 zusammendenkt, in welchem es heißt, daß die Wachenden eine einzige und gemeinsame Welt haben, während sich jeder der Schlafenden in seine eigene Welt kehrt. τὸν αὐτὸν ἁπάντων verstehe ich nicht als dieselbe, d. h. eine und gemeinsame Welt der Wachenden (κοινὸς κόσμος) im Gegensatz zur eigenen Welt (ἴδιος κόσμος) der Schlafenden, ἅπαντα interpretiere ich im Sinne von τὰ πάντα. Obwohl ἅπαντες gewöhnlich sich auf Menschen und Lebewesen bezieht, meint ἁπάντων hier soviel wie πάντων, nur daß Heraklit aus Gründen des Sprachduktus statt πάντων ἁπάντων sagt.

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Heidegger: Was aber meint dann πάντα? Fink: Die πάντα bilden ein Gefüge und kommen im Aufglanz des Feuers in ihre Bestimmtheit und Geprägtheit hervor. Heidegger: Kann man nicht auch einen Plural ansetzen, wobei dann κόσμοι die vielen Zustände der einen Gesamtordnung der πάντα sind? κόσμον τόνδε wäre dann dieser eine Zustand im Unterschied zu anderen. Fink: Aber bei Heraklit gibt es keine Textstelle, in der er von vielen κόσμοι spricht. Heidegger: Das τόνδε bezeichnet aber eine Stelle, an der etwas thematisch beginnt. Nach Ihrer Interpretation ist dann κόσμος sowohl ontisch als auch ontologisch zu verstehen. Fink: Er steht weder auf der Seite der πάντα noch auf der des Feuers, sondern nimmt eine merkwürdige Zwischenstellung ein. Heidegger: Damit können wir nun zum Fragment 31 zurückkehren. | Fink: Ich versuche zunächst, einen Gedanken zu exponieren, der den Vorschlag einer Interpretation des Fragments 31 enthält. In der letzten Semi­ narsitzung haben wir unser Bedenken geäußert, ob mit τροπαί Umwand­ lungen oder Umwendungen gemeint sind. Handelt es sich um Umwandlun­ gen, dann denken wir an die ἀλλοίωσις einer Grundsubstanz. Übersetzen wir τροπαί mit Umwendungen, sind dann – so können wir fragen – die 355

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Wendepunkte im Gang des Sonnenfeuers am Firmament, das die Zeit mißt, gemeint? Heidegger: Ist πυρὸς τροπαί ein genitivus subiectivus oder genitivus obiec­ tivus? Fink: Die τροπαί werden vom Feuer ausgesagt. Eine Schwierigkeit liegt aber darin, daß wir aus der Geschichte der Metaphysik gewöhnliche und gängige Vorstellungen und ausgearbeitete und allgemeine Denkbahnen haben, in denen wir uns immer schon bewegen und von denen aus wir zunächst auch das Fragment 31 zu interpretieren geneigt sind. Eine solche uns aus der Metaphysik vorgegebene Vorstellung ist die der zugrundeliegenden Substanz, die sich in mehreren Maskierungen zeigt. Heidegger: πυρός ist dann genitivus obiectivus.

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Fink: Genitivus obiectivus und subiectivus. Ein anderes Schema legt sich uns nahe aus der antiken Elementenspekulation, in der jeweils ein Urelement angesetzt wird. Hat auch das πῦρ die Funktion eines Grundelements, das sich durch das verwandelt, was aus ihm emaniert? Die beiden gängigen Sche­ mata, mit denen wir versuchen könnten, die πυρὸς τροπαί zu interpretieren, sind die ἀλλοίωσις an einer zugrundeliegenden Substanz und die Emanation eines Urelements. Ich glaube aber, daß wir ein äußerstes Mißtrauen gegen solche Auffassungen hegen müssen. Im Text heißt es: Umwendungen des Feuers zuerst in Meer. Das Feuer wendet sich um in Meer, d. h. in das, was wir als die Gegenmacht des Feuers verstehen. Zunächst | könnten wir meinen, es handele sich um den uns vertrauten ontischen harten Gegensatz von Feuer und Wasser. Im Kleinbereich der menschlichen Umwelt gibt es das Phänomen, daß das Wasser Feuer löscht und daß das Feuer Wasser verdampfen kann. Solches wechselseitige Bestreiten und Vernichten ist aber nur auf dem Boden der Erde möglich. Offenbar bezieht sich das Fragment nicht auf den Kleinbereich, sondern eher auf den Großbereich der Welt. Hier schauen wir das Feuer am Himmel, das Meer und die Erde an – das Meer, das die Erde umgürtet. Im Großbereich der Welt, der sich uns in der Welt-Anschauung darbietet, vernichten sich Feuer und Wasser nicht. Welt-Anschauung ist hier nicht ideologisch verstanden, sondern meint jetzt die unmittelbare Anschauung der Großverhältnisse der himmlischen Gestirne und des unter ihnen liegenden Meeres und der Erde. Wenn Heraklit sagt, daß sich das Feuer zuerst in Meer umwendet, halten wir die Schemata der ἀλλοίωσις und der Emanation zurück, auch wenn wir noch nicht zu denken vermögen, was „Umwende“ heißt. Das Meer wendet sich zur Hälfte in Erde, zur Hälfte in Gluthauch um. Dann heißt es, daß die Erde in Meer auseinandergegossen wird und daß sie in das Maß zerfließt, in welchem das Meer zuvor war, als es zu Erde wurde. Ob und wie der Gluthauch weiter gewendet wird, darüber wird im Fragment nichts weiter gesagt. Beim 356

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Gluthauch ist die Umwende abgeschlossen. Es wird nur gesprochen von der Wende von Feuer in Meer und von Meer zur Hälfte in Erde, zur Hälfte in Gluthauch und schließlich von Erde in Meer. Das Feuer wendet sich um in Meer, dieses gabelt sich in Erde und Gluthauch, und die Erde kehrt als Halbsein ins Meer zurück. Scheinbar wird von einem Wechseltausch von Wasser und Erde, von Flüssigem und Festem gesprochen. Was ein bekannter gegensätzlicher Unterschied ist, wendet sich ineinander um. Vom Gluthauch wird keine weitere Wendung und auch keine Rückkehr zum Feuer angegeben. Die Unterschiede von Meer, Erde und Gluthauch werden auf eine gemeinsame Herkunft zurückbezogen, auf eine Genesis, die stufenweise angesetzt ist, aber wir kennen den Charakter der Genesis noch | nicht. Wenn wir nun das bekannte Schema der ἀλλοίωσις, d. h. der Ursubstanz mit ihren Zuständen und Modi und das der Emanation nicht anlegen können, geraten wir in eine Schwierigkeit. Wie sollen wir dann die πυρὸς τροπαί interpretieren? Wir müssen fragen, was Heraklit denkerisch erfahren und erschaut hat. Ich versuche jetzt eine – wenn man so will – phantastische Deutung der πυρὸς τροπαί zu geben, die als eine mögliche Antwort auf die Frage, was Heraklit denkerisch geschaut hat, gedacht ist. Wir können uns die Wendungen des Feuers verständlich machen im Ausgang vom Phänomen des Aufgehens des Tages, vom Phänomen des Tagens an der ionischen Küste, wenn aus dem Feuer, das aus der Nacht aufbricht und die Nacht verdrängt, die Weite des Meeres aufleuchtet und dem Meer gegenüber Ufer und Land und über Meer und Land die Zone des Himmelsgewölbes, das von Gluthauch erfüllt ist. Wenn wir nun das Verhältnis des Feuers zu Meer, Erde und Gluthauch, das Zum-Vorschein-Bringen, das das Grundgeschehen des Feuers ist, nicht bloß denken als das Belichten und Sehenlassen dessen, was schon so und so bestimmt ist, und wenn wir andererseits das Hervorbringen auch nicht im Sinne eines herstellenden Verfertigens oder eines kreativen Hervorbringens verstehen, sondern versuchen, hinter die zwei Ausformun­ gen des Zum-Vorschein-Kommens im Sinne des technischen und kreativen Zustandebringens und des Belichtens denkend vorzustoßen, dann läge ein tieferer Sinn in dem, was uns zunächst als Aufgang des Tages bekannt ist. Es käme also darauf an, das Schema des technischen Hervorbringens im Sinne der realen Umwandlung und auch das Schema der kreativen Hervorbringung zu vermeiden und außerdem dem Aufscheinenlassen im Licht des Feuers den Grundzug der Ohnmacht zu nehmen, um einen tieferen Sinn des Aufgangs des Tages zu gewinnen. Gelänge es uns, hinter die uns geläufigen Schemata von Machen, Hervorbringen und Belichten bzw. Sehenlassen zurückzudenken, dann könnten wir das Aufgehen des Tages in einem tieferen Sinne verstehen. Wir könnten dann sagen: im Aufgang des Welttages kommen die Grundunterscheidungen der Weltge| 357

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biete: Meer, Erde, Himmelsgewölbe allererst zum Vorschein. Für diesen tieferen Gedanken haben wir im Aufbruch des Tages ein unmittelbares Phänomen. Nirgends haben wir aber ein entsprechendes Phänomen für den Rücklauf der Erde ins Meer. Heidegger: Wie würden Sie innerhalb Ihres von Ihnen selbst so genannten Phantasieentwurfs – der gar nicht so phantastisch ist, weil er auf unmittel­ bare Phänomene Bezug nimmt – τροπαί übersetzen? Fink: Wir sehen das Aufgehen des Feuers, und in seinem Aufgehen sind die τροπαί Zuwendungen des Feuers zu dem, was sich im Feuerschein zeigt. Die τροπαί bedeuten keine Stoffverwandlungen, Heidegger: und auch keine bloße Beleuchtung. Fink: In der Anzeige des tieferen Sinnes der πυρὸς τροπαί kam es mir darauf an, auf ein in ontischen Verhältnissen nicht bekanntes Gemeinsames vom Hervorbringen in die Sichtbarkeit und Aufgehenlassen im Sinne der φύσις hinzuweisen. Das ist ein Versuch, um das Schema zu vermeiden, daß sich das Feuer wie ein Urelement in andere Elemente wie Wasser und Erde verwandelt. Und das versuche ich im Gleichnis des Aufganges der gegliederten Welt im Lichtschein des welterhellenden Feuers, in der Ausgliederung der Gegenden der πάντα zu denken. Heidegger: Sie legen also Ihrer Interpretation das Phänomen des Tagens zugrunde, Fink: um das Phänomen der Umwandlung zu vermeiden. Heidegger: Sie meinen dabei das Tagen der Welt und nicht einen bestimm­ ten Tag, so wie Sie das Weltfeuer und nicht die Sonne im Blick haben. 135

| Fink: Aber in der phänomenalen Sonne können wir das Feuer denken. Heidegger: Wie sollen wir das Feuer denken? Um die Schwierigkeit zu erhöhen, verweise ich noch auf Fragment 54, in dem das Wort ἀφανής vorkommt. Das Feuer ist unsichtbar; es ist das Feuer, das nicht erscheint. Fink: Wie wir eingangs gesagt haben: das Feuer ist das, was es in τὰ πάντα nicht gibt. Heidegger: Wenn Sie vom Tag zum Welttag übergehen, so können wir auch von der Sonne auf das Feuer hindenken. Fink: Als ontisches Phänomen finden wir nirgends den Umschlag von Feuer in Meer. Teilnehmer: Worauf ist θαλάσσης zu beziehen? Fink: Auf τροπαί. Denn die Umwendung von Meer in Erde und Gluthauch ist eine Fortführung der τροπαί. 358

Differenz der Interpreten: Wahrheit des Seins oder kosmologische Perspektive

Heidegger: Ich mache den Vorschlag, daß wir das Fragment 31 einklam­ mern. Die Schwierigkeit, in die wir geraten sind, liegt darin, daß wir noch nicht deutlich genug über πῦρ gesprochen haben, was wir noch nachholen müssen. Ich verstehe weder die Interpretation, die von chemischen Vorstell­ ungen geleitet ist, noch kann ich den Versuch der Entsprechung von Tag und Welttag nachvollziehen. Hier zeigt sich für mich ein Loch. Fink: Die Schwierigkeit wird sich vielleicht auflösen, wenn wir zum Frag­ ment 76 kommen, in welchem Feuer, Meer und Erde in mehrfacher Reihung auftreten. Dort ist das Wichtigste die Art, wie die τροπαί charakterisiert werden. Was im Fragment 31 nur als Umwende genannt wird, wird hier angesprochen als ein „den Tod des anderen leben“. Damit stoßen wir | auf einen neuen, überraschenden Gedanken. Zunächst muß es uns als merk­ würdig anmuten, daß die dunkle Formel des Todes, die uns am ehesten am Bereich des Lebendigen deutlich wird, auf solches Seiendes bezogen wird, das weder lebt noch tot ist, auf Wasser oder Erde. Im Kleinbereich des menschlichen Umkreises kennen wir wohl die Phänomene, daß Feuer Wasser verdampfen läßt und Wasser Feuer löscht. Hier könnten wir sagen: Feuer lebt den Untergang des Wassers und Wasser lebt den Untergang des Feuers. Heidegger: Leben hieße dann „überstehen“, Fink: den Untergang des anderen überstehen, überleben in der Vernichtung des anderen. Damit hätten wir aber nur eine poetische Metapher. Um den τροπή-Charakter zu verstehen, müssen wir von der Vorstellung des chemi­ schen Umsatzes fortkommen. Im Ausgang von den Leben-Tod-Fragmenten müssen wir uns vergegenwärtigen, was Heraklit mit Leben und Tod denkt. Von daher können wir auch die ἀνταμοιβή verstehen, also den Umtausch der πάντα gegen das Feuer und des Feuers gegen die πάντα, was ein Verhältnis ist wie das von Gold und Waren, wobei es hier mehr auf das Lichthafte als auf den Geldwert ankommt. Die Umwende des Feuers in solches, was nicht Feuer ist, verstehen wir nicht im Sinne einer chemischen Umsetzung oder einer Ursubstanz, die sich in ihren Zuständen verändert (ἀλλοίωσις), oder eines Urelements, das sich durch seine Emanationen verdeckt, sondern wir werden den Spannungsbogen, der Feuer, Meer, Erde und Gluthauch verbindet, im Zusammenhang mit Leben und Tod in den Blick nehmen. Scheinbar greifen wir damit auf anthropologische Fragmente im Gegensatz zu den kosmologischen Fragmenten zurück. In Wahrheit aber handelt es sich nicht um eine Einschränkung auf menschliche Phänomene, sondern Menschliches wie Leben und Tod wird in einem ausgezeichneten Sinne zum Schlüssel für das Verständnis der Gesamtheit des Gegenverhältnisses von ἕν und πάντα. 359

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| VIII. Verschränkung von Leben und Tod (beigezogene Fragmente: 76, 36, 77) – Verhältnis von Menschen und Göttern (beigezogene Fragmente: 62, 67, 88) Fink: Das Fragment 31 blieb uns aus mehrfachen Gründen verschlossen, erstens weil der Plural τροπαί sich als strittig erwies, und zwar einmal als terminus technicus und zum anderen als Plural von Wendungen, die nacheinander geschehen, und zweitens, weil sich das Problem ergab, ob der Begriff der Wendung im geläufigen Vorstellungskreis der Umwandlung eines Urstoffes (ἀλλοίωσις) oder der Emanation eines Urelements gedacht werden kann, das sich in seinen mannigfaltigen Erscheinungen als Entfrem­ dungsgestalten verdeckt. Ich bin der Ansicht, daß wir ein Mißtrauen gegen alle geläufigen Denkschemata mobilisieren müssen, die uns aus der Begriff­ stradition des metaphysischen Denkens vertraut sind. Das sind hier vor allem die beiden Schemata der ἀλλοίωσις und der Emanation. Der Versuch, das Fragment 31 vom Phänomen des Tagens an der Küste Ioniens zu deuten, blieb in der Charakterisierung des hier zu denkenden Aufgehenlassens und Aufscheinens der Weltgegenden Meer, Erde, Himmel und Gluthauch hinter der Aufgabe zurück, es weder als reelle Umwandlung einer Ursubstanz noch als Emanation eines Urelements, noch als Hervorbringung im technischen oder kreativen Sinn, noch als ohnmächtige Belichtung von schon Seiendem durch den Lichtschein des Feuers zu denken. Vielleicht ist es notwendig, hin­ ter den Unterschied eines realen Verfertigens und kreativen Hervorbringens und eines bloßen Belichtens und Beleuchtens zurückzugehen, wenn wir das Aufscheinen des Seienden in einem allumspannenden Schein des Blitzes, der Sonne oder des ewig lebendigen Feuers denken wollen.

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Heidegger: Sie sagen, daß das Zum-Vorschein-Kommen des Seienden kein reales Machen, kein kreatives Hervorbringen und | auch kein blo­ ßes Beleuchten ist. In diesem Zusammenhang haben Sie einmal darauf hingewiesen, daß sich in Husserls Begriff der Konstitution eine ähnliche Verlegenheit verbirgt. Fink: Das Problem der Konstitution in Husserls Phänomenologie hat seinen Ort im Subjekt-Objekt-Bezug. Das Gewahren der Einheit eines Gegenstandes in der Mannigfalt der Gegebenheitsweisen konstituiert im Zusammenspiel der Aspekte den Gegenstand. Mit dem Begriff der Konsti­ tution versucht Husserl zunächst einmal, einen massiven Realismus und Idealismus zu vermeiden. Der massive Realismus ist die Auffassung, daß das Gewahren nur ein bewußtseinsmäßiges Auffassen von solchem ist, was vom Bewußtsein unabhängig ist. Demgegenüber vertritt der massive Idealismus die Auffassung, daß das Subjekt die Dinge macht. Bei Husserl 360

Verschränkung von Leben und Tod

stellt sich immer das Verlegenheitsproblem ein, einen Begriff zu finden, der kein Herstellen, keine Kreation und auch kein bloßes Vorstellen meint. Die neuzeitliche Philosophie denkt im Unterschied zur antiken Philosophie das Erscheinen nicht so sehr vom Hervorgang des Seienden in das Offene des allgemeinen Anwesens, sondern als Gegenstandwerden und Sichprä­ sentieren für ein Subjekt. Im allgemeinen Erscheinungsbegriff jedoch gehört das Sichpräsentieren zu jedem Seienden. Aber jedes Seiende präsentiert sich allem Seienden und unter anderem auch dem Seienden, das durch Erkenntnis charakterisiert ist. Die Präsentation ist dann ein Zusammensto­ ßen des Seienden untereinander oder ein Vorstellen des Seienden durch den Vorstellenden, das aber nicht mit den Kategorien der Attraktion und Repulsion verstanden werden kann. Heidegger: Eine andere Weise, das Vorstellen auszulegen, geschieht im Hinblick auf die Rezeptivität und Spontaneität. Fink: Kant spricht von der Rezeptivität in bezug auf die sinnlichen Daten und in gewisser Weise auch auf die reinen Anschauungsformen Raum und Zeit. Die Spontaneität beruht auf den kategorialen Synthesen der transzendentalen Apperzeption. | Heidegger: Welches Moment sehen Sie nun in Husserls Konstitutions­ lehre? Fink: Husserl meint in seinem Begriff der Konstitution weder das Machen noch das bloße Gewahren von bewußtseinsunabhängigen Dingen. Die positive Charakterisierung des Konstitutionsbegriffs bleibt jedoch schwie­ rig. Wenn Husserl hinter den Unterschied des Machens und des bloßen Gewahrens zurückzudenken strebt, so hält sich dieses Problem in der Erkenntnisbahn, d. h. im Verhältnis des Subjekts zu einem Seienden, das von vornherein schon als Gegenstand angesetzt ist. Die Vorfrage ist aber, ob zum Sein des Seienden Heidegger: die Gegenständlichkeit notwendig gehört, Fink: oder ob sie erst in der neuzeitlichen Philosophie zu einer universellen Betrachtungsweise des Seienden wird, mit der eine andere, ursprünglichere verdeckt wird. Heidegger: Aus dieser Besinnung ergibt sich für uns erneut, daß wir Heraklit nicht vom Späteren her interpretieren dürfen. Fink: Alle Begriffe, die in der Streitdiskussion um den Realismus und Idealismus auftauchen, sind unzureichend, um das Vorscheinen, das ZumVorschein-Kommen des Seienden zu charakterisieren. Es erscheint mir als glücklicher, vom Vorscheinen als vom Aufscheinen zu sprechen. Denn beim Aufscheinen sind wir leicht von der Vorstellung geleitet, als ob das Seiende 361

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schon wäre und nachträglich beleuchtet würde. Die ἀλήθεια wäre dann nur ein Herauslocken des schon Seienden in ein Licht. Aber das Licht als ἀλήθεια und Feuer ist in einem uns noch unbekannten Sinne produktiv. Wir wissen nur soviel, daß die „Produktivität“ des Feuers weder ein Machen noch ein generatives Hervorbringen noch ein ohnmächtiges Belichten ist. 140

| Heidegger: Man könnte dann sagen: das Zum-Vorschein-Kommen ist weder creatio noch illuminatio, noch Konstitution, Fink: noch das Hervorbringen der τέχνη. Denn diese ist das Hervorbringen einer bestimmten Gestalt auf der Unterlage eines verfügbaren, doch nicht herstellbaren Materials Heidegger: im Unterschied zur creatio, Fink: die Lebendiges hervorbringt. Wir müssen also einen ganzen Katalog von geläufigen Denkweisen ausklammern, um das Zum-Vorschein-Kom­ men nicht in unangemessener Weise zu denken. Aber ein solches Vorgehen hat nur den Charakter der via negationis und führt noch keinen Schritt näher an ein Verständnis, was das Vorscheinen der τὰ πάντα bzw. ὄντα im ἕν des Feuers, der Sonne oder des λόγος bedeutet. Heidegger: Das Zum-Vorschein-Kommen betrifft den allgemeinen Bezug, Fink: den rätselhaften Bezug von ἕν und πάντα. Dieser Bezug ist rätselhaft, weil das ἕν nicht unter τὰ πάντα vorkommt. τὰ πάντα meint alles Seiende. Was aber ist das für eine Allheit? Wir kennen relative, einseitige Allheiten wie die der Arten und Gattungen. Eine Gattungsallheit denken wir z. B. in dem Begriff „alle Lebewesen“. τὰ πάντα aber bilden keine relative Allheit, sondern die Allheit alles Seienden. Dennoch fällt das ἕν nicht unter die Allheit der τὰ πάντα, sondern umgekehrt die τὰ πάντα sind eingelagert im ἕν, aber nicht – wie Sie einmal in einer Vorlesung gesagt haben – wie Kartoffeln im Sack, sondern in der Weise von Seiendem im Sein. Heidegger: Wir müssen noch genauer nach τὰ πάντα und ὄντα fragen. Wie sollen wir ὄντα interpretieren? Was sind die τὰ πάντα?

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| Fink: Wir können einmal den Versuch machen anzugeben, was es alles gibt. Seiendes ist nicht etwa nur die Natur und ihre Dinge. Wir können bei der Aufzählung beginnen mit den Elementen: Meer, Erde, Himmel. Heidegger: Seiendes sind auch die Götter. Fink: Damit nennen Sie aber schon Seiendes, das unphänomenal ist. Bleiben wir zunächst beim phänomenalen Seienden. Nach den Elementen können wir die aus ihnen gemischten Dinge nennen. Aber es gibt nicht nur Natur­ dinge, sondern auch artifizielle Dinge, die wir nicht in der Natur vorfinden und für die es in der Natur auch keine Muster gibt. Der Mensch ist teilhaft hervorbringend. Der Mensch erzeugt den Menschen, sagt Aristoteles. Das 362

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bedeutet, er hat Teil an der kreativen Macht der Natur. Er bringt außerdem künstliche Gegenstände hervor. Ob die Aristotelische Analyse des in der τέχνη hergestellten Dinges mit Hilfe des Schemas von den vier Gründen eine zureichende Bestimmung des Artefakts ist, ist ein offenes Problem. Es ist fraglich, ob die künstlichen Dinge den Charakter des Beliebigen haben, oder ob sie notwendige Dinge sind. Sie haben einmal gefragt, ob es Schuhe gibt, weil es Schuster gibt oder weil die Schuhe nötig sind. Zum menschlichen Dasein gehört solches Seiendes, das mit der Seinsweise des Daseins verbun­ den ist, und das sind die notwendigen Dinge. Neben diesen gibt es auch luxurierte Dinge. Zum Seienden gehören auch die politischen Ordnungen, wie Staaten, Städte, Siedlungen, Rechtssatzungen, aber auch die Idole und Ideale. Dieser rohe Überblick nennt eine Vielzahl von Seiendem. Wir wissen aber nicht sogleich, worin all das Genannte in dem Grundzug zu sein übereinkommt und was es dennoch zu Verschiedenem macht. Aber ein noch so vollständiger Überblick über alles das, was ist, würde niemals dazu führen, mit oder neben den τὰ πάντα das ἕν zu entdecken, sondern um das ἕν in seinem einzigartigen Charakter im Unterschied zu den τὰ πάντα zu verstehen, kommt es auf eine τροπή unseres Geistes an. | Heidegger: Wenn wir von τὰ πάντα sprechen, supponieren wir dann von vornherein τὰ ὄντα, oder besteht zwischen beidem ein Unterschied? Fink: Das Seiendsein denken wir, wenn von τὰ πάντα die Rede ist, in unausdrücklicher Weise. Wird das Seiendsein eigens genannt, werden die τὰ πάντα als ὄντα bezeichnet, dann kann das bedeuten, daß sie im Horizont der Fragwürdigkeit stehen, ob sie wirkliches oder nur vermeintes Seiendes sind. Bilder etwa, die von der εἰκασία vernommen werden, sind auch Seiendes, aber sie sind nicht das, was sie darstellen. Innerhalb der Dinge gibt es Grade des Seiendseins. Es gibt die Möglichkeiten des Scheins von Dingen, die anderes zeigen als sie selbst sind, ohne daß dieser Schein von der subjektiven Täuschung her gesehen werden muß. Ein solches Phänomen des Scheins ist z. B. auch der Spiegelglanz auf dem Wasser. Aber die Seinsweise des Spiegelglanzes zu beschreiben, ist nicht leicht. Wenn τὰ πάντα als ὄντα bezeichnet werden, so kann das einmal in dem Sinne gemeint sein, daß sie sich in ihrem Wirklichsein ausgewiesen haben, und zum anderen kann es auch so gemeint sein, daß das Seiendsein ausdrücklich genannt werden soll. Heidegger: Mir scheint, daß sich dahinter noch eine andere Frage verbirgt: sind die πάντα τὰ πάντα, sofern sie ὄντα sind, oder sind die ὄντα ὄντα, sofern sie τὰ πάντα sind? Fink: Damit ist eine entscheidende Frage genannt, in der zwei Wege des philosophischen Denkens angezeigt sind. Wenn wir die ὄντα von den τὰ πάντα her denken, bewegen wir uns in einem ausdrücklichen Weltverhältnis, ohne jedoch die Welt schon zu denken. Verstehen wir aber die τὰ πάντα von 363

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den ὄντα her, bewegen wir uns in einem Seinsverständnis und denken es auf die Ganzheit hin. Zwei mögliche Ansätze des Denkens sind damit in den Blick genommen. 143

Heidegger: Sie berührten das Problem des Spiegelglanzes und des damit zusammenhängenden Scheins. Ein anderes Problem, | mit dem ich bisher noch nicht ins reine gekommen bin, ist für mich die Wahrnehmung des Sonnenunterganges und die kopernikanische Wendung. Es ist die Frage, ob der Sonnenuntergang eine notwendige Vorstellung ist oder ob ein Sehen möglich ist, für das die Sonne nicht untergeht. Fink: Die Wahrnehmung des Sonnenunterganges ist das Recht der naiv erlebten Welt gegenüber der wissenschaftlichen Interpretation der Welt. Durch die Bildung und das indirekte Wissen kann der Mensch dazu kom­ men, daß er nicht mehr sieht, was ihm vor Augen liegt, daß er z. B. den Sonnenuntergang nicht mehr als das sieht, was sich seinem Blick unmittelbar darbietet, sondern nur noch in der Sichtweise der wissenschaft­ lichen Erklärung. Heidegger: Auf Grund der szientifischen Welt-Interpretation verschwindet die Wahrheit der unmittelbaren Welterfahrung. Fink: In der früheren Welt etwa vor 200 Jahren war das Leben noch in der Nähe zentriert. Die Informationen des damaligen Lebens stammten aus der nahen Welt. Das hat sich heute im Zeitalter der weltweiten Nachrichten­ übermittlung grundlegend geändert. Hans Freyer beschreibt in seinem Buch Theorie des gegenwärtigen Zeitalters11 die technische Welt als eine Umwelt von Surrogaten. Für ihn ist die szientifische Kenntnis der Umwelt ein Surrogat. Ich halte diese Beschreibung für einen unangemessenen Aspekt, weil inzwischen die technischen Dinge zu neuen Erlebnisquellen für den Menschen geworden sind. Heute existiert der Mensch in der Omnipräsenz der gesamten Nachrichten des Erdballs. Die Welt ist heute nicht mehr gegliedert in Nahzonen, fernere und noch fernere Zonen, sondern die einst so gegliederte Welt wird heute durch die Technik überdeckt, die durch ihr ausgebildetes Nachrichtenwesen es ermöglicht, in der Omnipräsenz aller Informationen zu leben. Heidegger: Es ist schwer zu fassen, wie die in Nah- und Fernzonen geglie­ derte Welt durch die technische Umwelt überdeckt wird. Für mich liegt hier ein Bruch vor.

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| Fink: Der moderne Mensch lebt gewissermaßen schizophren. Heidegger: Wenn wir nur wüßten, was diese Schizophrenie bedeutet. Das jetzt Gesagte genügt aber, um zu sehen, daß wir hier nicht über abgelegene Sachen reden. – Problem ist für uns der Bezug von ἕν und πάντα. Von woher erfahren wir diesen Bezug, von den πάντα oder vom ἕν oder vom Hin und 364

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Her im Hegelschen Sinne? Wie würden Sie diese Frage im Hinblick auf Heraklit beantworten? Fink: Der Ansatz der Heraklit-Interpretation beim Blitz sollte darauf hin­ weisen, daß es die Grunderfahrung des Aufbruchs des Ganzen gibt. In der alltäglichen Lebensweise ist diese Erfahrung verdeckt. In ihr sind wir an einer solchen Erfahrung nicht interessiert. Im alltäglichen Lebensvollzug verhalten wir uns nicht ausdrücklich zum Ganzen, auch dann nicht, wenn wir erkennend vordringen in ferne Milchstraßensysteme. Der Mensch hat aber die Möglichkeit, das unausdrückliche Verhältnis zum Ganzen, als welches er immer schon existiert, ausdrücklich werden zu lassen. Er existiert wesensmäßig als ein Verhältnis zum Sein, zum Ganzen, das aber zumeist stagnierend ist. Im Umgang mit dem Denker Heraklit kann man vielleicht zu einer solchen Erfahrung kommen, in der das Ganze, zu dem wir uns unausdrücklich immer schon verhalten, aufblitzt. Heidegger: Wir lenken dabei unseren fragenden Blick auf den Bezug vom ἕν und seinen vielen Gestalten und deren inneren Bezügen zu τὰ πάντα. Eine Schwierigkeit ist für mich immer die, daß im Text Heraklits zu wenig über τὰ πάντα gesagt ist. Wir sind gezwungen, uns das, was wir von Heraklit nicht über τὰ πάντα erfahren, aus der griechischen Welt zu ergänzen und uns eventuell durch die Dichter sagen zu lassen. Fink: Ich sagte, daß wir noch nicht die Möglichkeit haben anzugeben, was das Zum-Vorschein-Kommen der τὰ πάντα im immer lebendigen Feuer ist. Um diesem Problem weiter nach|zugehen, ziehen wir das Fragment 76 an, das eines der am wenigsten gesicherten Fragmente zu sein scheint. Von ihm gibt es mehrere Fassungen, in denen eine Wende (τροπή) gedacht wird. Der von Maximus Tyrius überlieferte griechische Text lautet: ζῇ πῦρ τὸν γῆς θάνατον καὶ ἀὴρ ζῇ τὸν πυρὸς θάνατον, ὕδωρ ζῇ τὸν ἀέρος θάνατον, γῆ τὸν ὕδατος. Diels übersetzt: „Feuer lebt der Erde Tod und Luft lebt des Feuers Tod; Wasser lebt der Luft Tod und Erde den des Wassers (?).“ Das Überraschende an dem Fragment ist, daß die Wende von Erde zu Feuer in der Formel ausgesprochen wird: den Tod leben von etwas anderem. Das Beirrende ist nicht so sehr die Rede von einem Hervorgehen und Entstehen, sondern die Rede davon, daß das Feuer den Tod der Erde, die Luft den Tod des Feuers, das Wasser den Tod der Luft und die Erde den Tod des Wassers lebt. Das Wichtigste scheint mir hier zu sein, daß die Vernichtung des Vorangegangenen das Entstehen und Aufgehen des Nachfolgenden ist. Indem das Nachfolgende den Tod des Vorangehenden lebt, kommt es hervor. Der Untergang des Vorangegange­ nen scheint die Bahn zu sein, auf der das Neue und Andere hervorkommt. Dabei handelt es sich nicht um einen Vorrang der Vernichtung vor dem Entstehenden. Das ist von Bedeutung, um später, wenn wir die Formel „den Tod von etwas anderem leben“ eingehender bedenken, nicht sagen zu 365

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können, daß es sich dabei um einen Zirkelgang handelt. Denn Leben geht in Tod, Tod geht aber nicht in Leben über. Im Fragment 76 heißt es, daß der Tod des Vorhergehenden das Leben des Folgenden ist. Eine Verbesserung, die Tocco12 an dem von Maximus überlieferten Text vorgenommen hat und die das Verhältnis zweideutig macht, lautet: Feuer lebt den Tod der Luft und Luft lebt den Tod des Feuers. Wasser lebt den Tod der Erde, Erde lebt den Tod des Wassers. Hier werden die Beziehungen Feuer-Luft und Wasser-Erde als Wechselbeziehungen angesetzt. In der Anmerkung von Diels-Kranz lesen wir, daß ἀήρ vermutlich stoisch eingeschwärzt ist. Als weitere Variante wird daher angegeben: Feuer lebt den Tod des Wassers, Wasser lebt den Tod des Feuers oder den Tod der Erde, Erde lebt den Tod des Wassers. | Wir haben keine bekannten Phänomene eines Umschlags der Elemente. Wenn von Meer und Erde die Rede ist, dann handelt es sich um die Elemente im Großen, um die Weltgegenden. Ist aber die Rede vom Wasser, so ist nicht klar auszumachen, ob mit Wasser auch das Meer gemeint ist. Im Fragment 76 ist eventuell ein Kreisgang von Feuer, Luft, Wasser und Erde angesprochen. Die hier genannten Umwendungen sind von uns nicht recht nachvollziehbar. Blicken wir in diesem Zusammenhang auch auf das Fragment 36: ψυχῇσιν θάνατος ὕδωρ γενέσθαι, ὕδατι δὲ θάνατος γῆν γενέσθαι, ἐκ γῆς δὲ ὕδωρ γίνεται, ἐξ ὕδατος δὲ ψυχή. Diels übersetzt: „Für Seelen ist es Tod Wasser zu werden, für Wasser aber Tod Erde zu werden. Aus Erde aber wird Wasser und aus Wasser Seele.“ Die Umwendung wird hier mit dem harten und dunklen Wort einer γένεσις benannt. Die Ausgänge und harten Umschläge von Seelen zu Wasser, von Wasser zu Erde, von Erde zu Wasser, von Wasser zu Seele lassen die Vorstellung, daß es dieselbe Ursubstanz ist, die hinter ihren Wandlungen liegt, nicht zu. Es ist die Rede vom γενέσθαι und γίνεται und dem harten Wort ἐκ. Wir müssen uns fragen, ob das ἐκ im Sinne des Ausganges von etwas, also im Sinne des Woher oder aber im Sinne des Aristotelischen ἐξ οὗ als das, was zugrundeliegt und in einer μεταβολή umschlägt, zu verstehen ist. Zunächst aber berührt uns frappierend, daß im Fragment 36 nicht mehr klar die Vierzahl der Elemente angesprochen wird, sondern die Rede ist von den ψυχαί. Was können die ψυχαί sein, was wird mit ihnen gedacht? Verlassen wir die scheinbare Bahn eines Wechselumschlages von Elementen, wenn jetzt im Ausgang und Übergang der Titel ψυχή auftaucht? Ich bin der Ansicht, daß mit ψυχαί zunächst nicht die Seelen im Sinne der menschlichen Seelen gemeint sind. Mit ihnen tritt nicht ein bewußtseinsbegabtes Element in den Elementenumtrieb ein. Dessen können wir uns vielleicht in einem Hinblick auf das Fragment 77 vergewissern: ψυχῇσι τέρψιν ἢ θάνατον ὑγρῇσι γενέσθαι. Der zweite Teil lautet: ζῆν ἡμᾶς τὸν ἐκείνων θάνατον καὶ ζῆν ἐκείνας τὸν ἡμέτερον θάνατον. Die Dielssche Übersetzung lautet: „Für die Seelen ist es Lust oder (?) Tod 366

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feucht zu | werden. Wir leben jener, der Seelen, Tod und jene leben unsern Tod.“ Wenn es heißt, daß wir den Tod der Seelen leben und die Seelen unseren Tod leben, wenn also die Seelen in dem Verhältnis zu uns stehen, daß sie unseren Tod leben und umgekehrt, dann lassen sie sich nicht gleich mit den Menschen identifizieren. Zunächst haben wir allerdings auch kein Motiv, die ψυχαί zu bestimmen. Wir können vorerst nur sagen, daß mit ihnen ein neues Gedankenmotiv in der Wendung des Feuers auftritt.

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Heidegger: Die Schwierigkeit ist die, daß man nicht weiß, wohin die hier genannte Sache gehört, wo sie für Heraklit ihre Stelle hat. Fink: Ich habe das Fragment aufgegriffen, weil auch in ihm die Formel „den Tod von etwas leben“ vorkommt, auch wenn wir noch nicht wissen, wer oder was als ψυχαί den Tod lebt. Diese seltsame, uns zuhöchst befremdende Formel muß von uns ausdrücklich bedacht werden, wenn wir die massiven Vorstellungen der chemischen Umsetzung, der ἀλλοίωσις und der Emana­ tion von den Wendungen des Feuers weghalten wollen. Wir gehen über zu einer ersten Besinnung auf das Fragment 62: ἀθάνατοι θνητοί, θνητοὶ ἀθάνατοι, ζῶντες τὸν ἐκείνων θάνατον, τὸν δὲ ἐκείνων βίον τεθνεῶτες. Diels übersetzt: „Unsterbliche: Sterbliche, Sterbli­ che: Unsterbliche, denn das Leben dieser ist der Tod jener und das Leben jener der Tod dieser.“ Heraklit spricht hier in einer kurzen, sprachlich gedrängten Form. Hier haben wir die Formel „den Tod von etwas anderem leben“ in einer besonderen Weise. Diels-Kranz trennen die Wortfügung „Unsterbliche Sterbliche“ und „Sterbliche Unsterbliche“ jeweils durch einen Doppelpunkt. Man könnte zunächst meinen, das eine Mal handele es sich um eine Bestimmung der θνητοί, das andere Mal um eine Bestimmung der ἀθάνατοι. Im ersten Fall wäre ἀθάνατοι Subjekt und θνητοί Prädikat, im zweiten Fall θνητοί das Subjekt und ἀθάνατοι das Prädikat. Heißt es, daß es unsterbliche Sterbliche und sterbliche | Unsterbliche gibt? Widerspricht sich nicht die Wortfügung in sich? Oder wird hier ein Verhältnis der Unsterblichen zu den Sterblichen gedacht, das durch ihre Zusammenstel­ lung fixiert wird? Heidegger: Es ist merkwürdig, daß die θνητοί zwischen den ἀθάνατοι stehen. Fink: Nehmen Sie die ἀθάνατοι als Satzsubjekt? Man könnte fragen: was ist das für eine Unterscheidung, die in ἀθάνατοι und θνητοί gedacht wird? Eine einfache Antwort wäre, daß das ἀθανατίζειν die Negation des θάνατος ist. Heidegger: Wie ist θάνατος im Hinblick auf das Bisherige zu bestimmen? Fink: Eine solche Bestimmung können wir noch nicht geben, weil wir uns bisher im Bereich der τὰ πάντα im Hinblick auf das πῦρ ἀείζωον bewegt haben. Vielleicht könnte man vom ἀείζωον aus den Tod in den Blick nehmen, 367

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wenn man es gegenüber der Erfahrung, daß alles Lebendige endlich ist, als das immer Lebendige denkt. Aber es ist schwierig, das ἀείζωον zu denken. Heidegger: Ersehen wir nicht aus Fragment 76, daß θάνατος unterschieden ist gegenüber der γένεσις? Fink: Dort ist davon die Rede, daß durch den Tod des einen ein anderes her­ vorkommt. Heidegger: Meint θάνατος die φθορά?

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Fink: Diese Gleichsetzung halte ich für bedenklich. Tod und Leben werden normalerweise nicht auf Feuer, Luft, Wasser und Erde bezogen, jedenfalls solange man das Feuer nicht im Sinne Heraklits versteht. Vom Phänomen her gesehen sprechen wir nur im Bereich des Lebendigen von Leben und Tod. In bezug | auf den Bereich des Leblosen können wir nur im über­ tragenen Sinne von Tod und Leben sprechen. Aber bleiben wir zunächst beim Fragment 62, in welchem die Rede ist von ἀθάνατοι und θνητοί. Wir können sagen: die Unsterblichen sind die Götter, die Sterblichen die Menschen. Die Götter sind nicht todlos im Sinne eines α privativum, sie sind nicht vom Schicksal des Todes unbetroffen, sondern sind in gewisser Weise durch den Rückbezug zum Tod, von dem sie frei sind, dem Tod der Sterblichen zugewendet. Sie sind als Mitschauende in einem uns sprachlich noch nicht faßbaren Bezug zum Tod. Ihr Rückbezug zum Tod hat nicht nur den Charakter der Ausgrenzung. Als ἀ-θάνατοι haben sie zu den Sterblichen einen Bezug, der in der Form auftritt, daß das Leben der Unsterblichen der Tod der Sterblichen ist. Wir sind gewohnt, Leben und Tod als harte Entgegensetzung zu verstehen, deren Härte nicht überboten werden kann. Die Entgegensetzung von Leben und Tod ist nicht die gleiche wie die von warm und kalt oder jung und alt. In den uns bekannten Gegensätzen gibt es Bahnen von Übergängen, so z. B. die Übergänge des Warmseins in das Kaltsein, des Jungseins in das Altsein. Doch strenggenommen gibt es keinen Übergang des Warmseins in das Kaltsein, sondern das, was zunächst Anteil am Warmsein hat, erhält einen Anteil am Kaltsein. Auch das Jungsein geht, strenggenommen, nicht in das Altsein über, sondern das, was zuerst jung ist, geht in Altes über, wird alt. Solche Übergänge sind z. T. umkehrbar, so daß sie in sich zurücklaufen können, z. T. sind sie auch einsinnig und irreversibel. So ist etwa der Gegensatz von Warm-Kalt umkehrbar. Was zunächst Anteil am Warmsein hat und dann in das Kaltsein übergeht, kann auch wieder ins Warmsein übergehen. Was aber erst jung und dann alt ist, kann nicht wieder jung werden. Im Fragment 67, in dem es heißt: Gott ist Tag Nacht, Winter Sommer, Krieg Frieden, Sattheit Hunger, nennt Heraklit verschiedene uns bekannte Entgegensetzungen, die aber alle einen grundsätzlich anderen Charakter haben als der Gegensatz von Leben und Tod. Ist die Entgegensetzung von 368

Verschränkung von Leben und Tod

Leben und Tod in irgendeiner Weise noch meßbar und ver|gleichbar an den uns bekannten Entgegensetzungen? Der Absturz des Lebendigen in das Totsein ist im Phänomen unwiderrufbar und endgültig. Zwar wird im Mythos und in der Religion gehofft, daß uns nach dem Tode ein neues Leben erwartet, zu dem der Tod nur ein Durchgangstor ist. Dieses postmortale Leben ist nicht ein gleichartiges Leben wie das praemortale, hiesige. Aber es ist fraglich, ob die Rede von „nachher“ und „vorher“ hier überhaupt noch einen Sinn hat. Offenbar spricht sich darin nur die Perspektive derer aus, die im Leben sind und das Niemandsland des Todes mit Vorstellungen von einem Leben ausfüllen, das sie erhoffen. Bei den geläufigen Gegensätzen, in denen wir uns auskennen und die ineinander übergehen, finden wir ein Untergehen des einen in das andere und etwa das Entstehen des Warmen aus dem Kalten und des Kalten aus dem Warmen. Aber finden wir auch im Phänomen ein Entstehen des Lebenden aus dem Toten? Offenbar nicht. Das Entstehen des Lebenden ist ein Hervorgehen aus der Vereinigung der dualen Geschlechter. Aus einer besonderen Intensität des Lebendigseins entsteht das neue Leben. Dabei brauchen wir nicht gleich die Ansicht des Aristoteles zu teilen, daß das neue Leben bereits als Keim in den Eltern präformiert ist und das Entstehen dann nur die ἀλλοίωσις einer noch keimhaften Daseins­ weise in eine entwickelte ist. Können wir uns aber vorstellen, wie Leben und Tod verschränkt sind, und zwar nicht in der Weise, daß das Leben in den Tod übergeht, sondern so, daß das Übergehen gedacht wird als „den Tod von etwas anderem leben“? Das bedeutet nicht: aus dem Tod ins Leben kommen. Setzen wir bei der sprachlichen Form an. Wir sind gewohnt zu sagen: das Leben leben, den Tod sterben. Das ist nicht im Sinne einer pleonastischen Ausdrucksweise gemeint. Denn wir können sagen: der einzelne stirbt seinen oder aber einen verfremdeten Tod, oder aber: der einzelne lebt sein Leben in der Absetzung gegen die Alienation, die jeder von den Gewohnheiten, Institutionen und der sozialen Lage erfährt. In solchen Formulierungen ist uns zunächst die Bezogenheit intransitiver Verben auf einen inneren Akkusativ vertraut.

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| Heidegger: Um den von Ihnen genannten inneren Akkusativ klarzuma­ chen, könnten wir an Hegels spekulativen Satz denken. Hegel macht das Beispiel: Gott ist das Sein. Zunächst scheint es ein normaler Aussagesatz zu sein, in welchem Gott das Subjekt und „das Sein“ das Prädikat ist. Wird dieser Satz aber als spekulativer Satz aufgefaßt, dann wird der Unterschied des Subjekts und Prädikats aufgehoben, indem das Subjekt zum Prädikat übergeht. Gott verschwindet im Sein, das Sein ist das, was Gott ist. In dem spekulativen Satz: „Gott ist das Sein“ hat das „ist“ transitiven Charakter: ipsum esse est deus. Dieses Verhältnis des spekulativen Satzes ist jedoch nur eine entfernte, gewagte Analogie zu dem uns jetzt beschäftigenden Problem.

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Heraklit

Fink: Gott ist das Sein, spekulativ gedacht, ist aber nur eine gewisse Analogie zu der Formel: das Leben leben, nicht aber zu jener anderen „den Tod von etwas anderem leben“. Hier ist „leben“ nicht auf das Leben bezogen, sondern auf etwas, was das Gegenteil zu sein scheint. Heidegger: Die Frage ist aber, was hier Tod bedeutet. Welcher Gegensatz hier zwischen Leben und Tod gedacht wird, wissen wir nicht. Fink: Das hängt von der Auffassung ab, ob der Tod der Prozeß des Sterbens, des Tod-werdens oder der vollendete Tod ist. Diese Unterscheidung macht das Problem noch schwieriger. Heidegger: Das Erstaunliche ist, daß die uns so befremdende Sache von Heraklit leicht dahingesagt zu sein scheint.

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Fink: Was hier Heraklit über Leben und Tod sagt, ist das Befremdlichste überhaupt. Wenn wir den Sachverhalt symmetrisch vorstellen, dann können wir nicht nur sagen, daß die Unsterblichen den Tod des Sterblichen leben, sondern auch fragen, ob es ein transitives Sterben von etwas gibt. Die Ver­ schlingung von Leben und Tod hat ihren Ort nur auf dem | gleichbleibenden Untergrund des Lebens. Das schließt ein verbales Sterben aus. Heidegger: Wenn τεθνεῶτες präsentisch zu verstehen ist, dann würde Heraklit sagen: sie sterben das Leben jener. Fink: So gesehen wird die von uns zu denkende Sache noch komplizierter. Es würde sich dann nicht nur handeln um ein „den Tod von etwas anderem leben“, sondern auch um den Gegenlauf in einem transitiven Sterben. ζῶντες bedeutet: den Tod der anderen leben, während τεθνεῶτες das Totsein meint. Wenn wir von Leben und Tod auf das Lebendigsein und Totsein übergehen, müssen wir fragen, was im Hinblick auf das Totsein „Sein“ eigentlich noch heißt. Handelt es sich beim Totsein um eine Weise zu sein? In ζῶντες wird ein Tun angesprochen: den Tod jener leben. Das entspricht der Formel aus Fragment 76: Feuer lebt der Erde Tod. Heidegger: Um das aktivisch verstandene τεθνεῶτες zu verdeutlichen, können wir an Rilkes Wendung „den Tod leisten“ denken. Die Frage ist aber, ob τεθνεῶτες ein aktivisches, präsentisches Sterben oder ein perfektisches Gestorbensein (Fertigsein) meint. Fink: Das präsentische Sterben ist die Endphase des Lebens. Fraglich ist, wer oder was lebt und stirbt. In der Wortfügung ἀθάνατοι θνητοί ist nicht ent­ schieden, ob ἀθάνατοι eine prädikative Bestimmung zu θνητοί ist oder umge­ kehrt, ob θνητοί eine prädikative Bestimmung zu ἀθάνατοί ist. Zunächst werden die Unsterblichen und Sterblichen konfrontiert und zusammenge­ spannt, Heidegger: und darauf folgt die Erläuterung. 370

Verschränkung von Leben und Tod

Fink: Die Wortfügung ἀθάνατοι θνητοί ist keine Aufzählung. Denn sonst wäre die umgekehrte Formulierung nicht möglich. Wir sehen, daß die Unsterblichen und Sterblichen in einem Be|zug stehen. Der Begriff der Götter ist zunächst vom Tode unbetroffen, und dennoch vermuten wir eine Todbezüglichkeit. Dann wird gesagt: indem sie den Tod jener leben. Diels übersetzt: denn das Leben dieser ist der Tod jener. Worauf bezieht sich dieser Satzteil? Was ist das Subjekt von ζῶντες: sind es die Unsterblichen oder die Sterblichen? Und was ist das Subjekt von τεθνεῶτες? Die Götter leben den Tod der Menschen. Sie sind Zuschauer und Zeugen, die den Tod der Menschen wie Opfergaben hinnehmen.

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Heidegger: Und die Menschen sterben das Leben der Götter. Fink: Nehmen wir auch noch das Fragment 88 hinzu: ταὐτό τ’ ἔνι ζῶν καὶ τεθνηκὸς καὶ [τὸ] ἐγρηγορὸς καὶ καθεῦδον καὶ νέον καὶ γηραιόνˑ τάδε γὰρ μεταπεσόντα ἐκεῖνά ἐστι κἀκεῖνα πάλιν μεταπεσόντα ταῦτα. Diels übersetzt: „Und es ist immer ein und dasselbe was in uns wohnt (?): Lebendes und Totes und Waches und Schlafendes und Junges und Altes. Denn dieses ist umschla­ gend jenes und jenes zurück umschlagend dieses.“ Wenn Heraklit sagt: ταὐτό τ’ἔνι ζῶν καὶ τεθνηκός, ist dann Lebendes und Totes oder das Totsein Heidegger: oder das Totseinkönnen gemeint? Fink: Wenn das Lebende und Tote mit dem Wachenden und Schlafenden, dem Jungen und Alten parallelisiert wird, ist kein Können gemeint. Das Ver­ hältnis dieser drei Gegensätze zueinander könnte man auf folgende Weise charakterisieren. Leben ist die ganze Lebenszeit, die ein Mensch hat und die im Tode endet. Wachen und Schlafen sind als abwechselnde Zustände die am meisten alternierende Form des menschlichen Lebenslaufes. Jungsein und Altsein bilden die Anfangs- und Endzeit des menschlichen Lebenslaufes. Das Verhältnis von Wachen und Schlaf und von Jung und Alt sind gewisse Parallelisierungen zu dem Verhältnis von Leben und Tod. Durch sie wird die Beziehung von Leben und Tod noch komplizierter, | Heidegger: weil die Art der drei Unterschiede ganz verschieden ist.

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Fink: Ein und dasselbe ist Lebendes und Totes; dasselbe ist auch Wachendes und Schlafendes; dasselbe ist Junges und Altes. Heraklit sagt die Selbigkeit von solchem aus, was verschieden zu sein scheint. Wie ist hier das ταὐτό zu verstehen? Heidegger: Wir können es als „zusammengehörig“ verstehen. Fink: Wohl gehören Lebendes und Totes, Wachendes und Schlafendes, Junges und Altes jeweils zusammen. Aber wie gehört z. B. Lebendes und Totes in einem Selben zusammen? Heidegger: In bezug auf ein Selbes. 371

Heraklit

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Fink: Wenn Lebendigsein und Totsein dasselbe sind, dann bilden sie eine Selbigkeit, die sich verbirgt. Die Unterschiedenheit von Leben und Tod wird am meisten deutlich, wenn sie als analog zu jenen zwei anderen Verhältnissen angesetzt wird. Schlafen und Wachen sowie Jungsein und Altsein sind uns bekannte Verschiedenheiten, die auf den Zeitgang unseres Lebens bezogen sind. Wachen und Schlafen sind abwechselnde Zustände im Zeitgang, Jung- und Altsein sind zwei ausgezeichnete Phasen im Zeitgang unseres Lebens. Dagegen sind Leben und Tod ein Verhältnis der gesamten Lebenszeit zu etwas, was sie überschattet, aber nicht in ihr vorkommt. Ist der Spruch des Denkers Heraklit ein Schlag ins Gesicht des gängigen Meinens, das auf der Unterschiedenheit von Leben und Tod besteht wie auf dem Unterschied von Wachen und Schlaf, Jung- und Altsein? Kommt es darauf an, den Stoß seines Denkens gegen den Trend zu einer in Unterschieden gegliederten Welt zu führen im Hinblick auf eine Selbigkeit, was nicht bedeutet, daß die Phänomene ihre Unterschiede verlieren, wohl aber, daß sie in bezug zum ἕν ein ταὐτό sind? Heraklit sagt, daß Lebendigsein – Totsein, Wachen – Schlafen und Jungsein – Altsein dasselbe | ist. Er sagt aber nicht, wie Diels-Kranz übersetzen und damit interpretieren: dasselbe was in uns wohnt. ἡμῖν ist zu ἔνι von Diels ergänzt. Es ist gerade fraglich, ob wir der Ort der Selbigkeit der großen Entgegensetzung von Leben und Tod sind, oder ob nicht der Ort der Selbigkeit eher im ἕν gesucht werden muß, zu dem sich die Menschen verhalten und so in gewisser Weise dem ἕν gleichen. Sicher handelt es sich zunächst um eine diktatorische Behauptung, daß dasselbe das Lebendige und Tote, das Wachende und Schlafende, das Junge und Alte ist. Es wird nicht gesagt, daß die drei Gegensatzpaare dasselbe sind, sondern Heraklit nennt drei in einer bestimmten Entsprechung stehende Gegensätze und denkt jeweils im Hinblick auf einen das ταὐτό. Die gemeinsame Basis für die Dreifalt der Gegensätze bildet die Lebenszeit. Die ganze Lebenszeit wird durch den Tod begrenzt. Innerhalb des Lebens ist der Schlaf dem Totsein analog, hat das Altsein eine bestimmte Beziehung zum Tod und ist das Wachen und Jungsein dem Lebendigsein am meisten verwandt. Aber im Fragment 88 ist nicht die Rede von Leben und Tod, sondern von Lebendem und Totem. Wie aber ist der Ausdruck „das Lebende“ und „das Tote“ zu verstehen? Wenn wir sagen: das Gerechte (τὸ δίκαιον) und das Schöne (τὸ καλόν), ist dann solches, was gerecht ist, oder das Gerechtsein, und solches, was schön ist, oder das Schönsein gemeint? Heidegger: Ihr Interpretationsversuch geht also dahin, die drei Unter­ schiede nicht als drei Fälle unter einer Gattung zu verstehen, sondern sie im Hinblick auf das Phänomen der Zeit einzuordnen. Fink: und so ein Analogieverhältnis herzustellen. Es handelt sich hier nicht um fixierte Unterschiede. Dennoch geht es um Unterschiede, die ein 372

Unsterbliche: Sterbliche – ἓν τὸ σοφόν

Verschiedensein bilden. Lebendigsein und Totsein stehen nicht in einem Gradverhältnis zueinander, weil das Totsein sich nicht steigern läßt. Dage­ gen sind wir gewohnt, das Lebendigsein zu steigern und träge und hohe Formen des Lebensvollzugs zu unterscheiden. Wachen und Schlaf aber | gehen fast unmerklich ineinander über. Leben und Tod bilden keinen Gegensatz wie schön und häßlich und keinen Gradualitätsunterschied. Die Natur ihres Verschiedenseins ist das Problem. Sobald wir es vom allzu geläufigen dialektischen Ineinandergehen her zu deuten versuchen, verschwindet die Fragwürdigkeit des Textes. Wenn wir davon ausgehen, daß jede Analogie eine Gleichheit in der Ungleichheit ist, dann können wir sagen, daß sich Schlafen und Wachen, sowie Altsein und Jungsein in gewisser Weise wie das Totsein zum Lebendigsein verhalten. Vielleicht ist es jedoch eine allzu hoffnungsvolle Gleichnissprache, wenn wir den Schlaf den Bruder des Todes nennen und wenn er als Zwischenphänomen gilt. Auch für die Frage nach dem Sinn der Formel „den Tod von etwas leben“ ist die Zusammenspannung von Leben und Tod im transitiven Gebrauch von „leben“ das Befremdliche. Es ist eine Interpretationsfrage, ob auch das gegenläufige Modell angesetzt werden kann, so daß wir nicht nur sagen: den Tod leben, sondern auch: das Leben sterben. – Wir sind zu keinem Resultat gekommen und kommen vielleicht überhaupt zu keinem endgültigen Resul­ tat. Aber in der Fremdartigkeit und Dunkelheit der Formel „den Tod von etwas leben“ hat sich die allzu geläufige Auslegung der τροπή gewandelt. Wir können das Verhältnis des Feuers zur Erde, zur Luft und zum Wasser vielleicht eher am Bezug von Leben und Tod denken, so daß wir mit dem Hinblick auf das schwierige Verspannungsverhältnis von Leben und Tod zu einem gewissen anthropologischen Schlüssel für das nichtanthropologische Fundamentalverhältnis von ἕν und πάντα kommen können.

| IX. Unsterbliche: Sterbliche (Fragment 62) – ἓν τὸ σοφόν (beigezogene Fragmente: 32, 90)

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Fink: Herr Professor Heidegger kann heute nicht kommen, da er durch eine wichtige Reise verhindert ist. Er bittet uns aber, in der Textauslegung fortzufahren, damit wir in unserer Interpretation der Fragmente ein Stück vorankommen. Auf Grund des Protokolls wird er sich über den Gang dieser Seminarsitzung informieren, um sich dann dazu zu äußern. – Vergegenwär­ tigen wir uns den Gedankengang, besser den Zug der offenen Fraglichkeiten, der uns in der letzten Sitzung geführt hat. Ausgegangen sind wir von dem Problem der Umwandlungen des Feuers mit der Frage, ob damit die Veränderung eines Urstoffes gedacht oder aber auf das Verhältnis von ἕν 373

Heraklit

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und πάντα abgezielt wird. Schließlich sind wir im Fragment 76 zu der schwer faßlichen, dunklen Formel gekommen, daß etwas den Tod eines anderen lebt. Diese Formel wird dann im Fragment 62 als Kennzeichnung des Ver­ hältnisses der Unsterblichen zu den Sterblichen bzw. der Sterblichen zu den Unsterblichen gebraucht. Handelt es sich hier nur um einen anderen Bereich für die Anwendung der problematischen Formel „den Tod von etwas leben“? Ist auch hier die Formel in der grundsätzlichen Weite gemeint, wie wir sie im Fragment 76 im Verhältnis der Elemente Feuer, Luft, Wasser und Erde kennengelernt haben? Handelt es sich hier um kosmische Bezüge oder um kosmologische Gegenbezüge, sofern hier die Formel auf Wesen angewendet wird, die in einer besonderen Weise dem Ganzen offenstehen, auf Götter und Menschen? Wird hier die Formel auf kosmologische Lebewesen angewandt? Das geschieht vielleicht deswegen, weil die Beziehung der Unsterblichen zu den Sterblichen ein Analogon ist zu dem Bezug von ἕν in Gestalt des Blitzes, der Sonne und des Feuers zu den πάντα. Wird das uns immer wieder beirrende Grundverhältnis von ἕν und πάντα | eher säglich von seiner Spiegelung her? Wird das Weltverhältnis von ἕν und πάντα eher säglich vom Verhältnis der seinsverstehenden Götter und Menschen? Damit ist zunächst die Bahn unserer Problemstellung angezeigt. Versuchen wir nun, die Struktur des Fragments 62 zu verdeutlichen. Denn wir können nicht sagen, daß seine Struktur schon an Deutlichkeit und Bestimmtheit gewonnen hätte. Das Fragment lautet: ἀθάνατοι θνητοί, θνητοὶ ἀθάνατοι, ζῶντες τὸν ἐκείνων θάνατον, τὸν δὲ ἐκείνων βίον τεθνεῶτες. Wir können übersetzen: „Unsterbliche : Sterbliche, Sterbliche : Unsterbliche“. Damit bringt Diels die Unsterblichen in ein Verhältnis zu den Sterblichen und die Sterblichen in einen Bezug zu den Unsterblichen. Im Anschluß daran wird dieses Verhältnis durch die dunkle Problemformel expliziert, die Diels wie folgt übersetzt: denn das Leben dieser ist der Tod jener und das Leben jener der Tod dieser. Diese Übersetzung scheint mir zu frei zu sein. Denn es heißt doch: ζῶντες τὸν ἐκείνων θάνατον, τὸν δὲ ἐκείνων βίον τεθνεῶτες: indem sie den Tod jener leben und indem sie das Leben jener sterben. Wenn wir ἀθάνατοι im vertrauten Sinne auslegen als Götter und θνητοί als Menschen, so handelt es sich dabei um einen Auslegungsschritt, den wir nicht mit unbedingter Sicherheit behaupten können. Zwar sind die Unsterblichen für den griechischen Mythos die Götter. Aber es gibt auch Zwischenwesen, Heroen, die als Sterbliche geboren, Halbgötter, die zu Unsterblichen erhoben sind. Ist der Umkreis der Unsterblichen und Sterblichen mit Verläßlichkeit und Sicherheit vertraut? Was mit ἀθάνατοι und θνητοί angezeigt ist, ist das Problem. Zunächst aber nehmen wir die mythologische Deutung auf und fassen die Unsterblichen als die Götter und die Sterblichen als die Menschen. Auch die Götter werden im Fragment 62 vom Tode her charakterisiert. Die Unsterblichen sind zwar dem Tode entrückt, ihm nicht verfallen, aber sie 374

Unsterbliche: Sterbliche – ἓν τὸ σοφόν

stehen dem Tode offen. Als Unsterbliche müssen sie sich wissen als die, die in der Negation des Sterblichseins ihr eigenes Selbstverständnis gewinnen. Sie wissen sich als die dem Tode offenen, aber nicht todbetroffenen Wesen, die den Menschentod schauen | und im Anblick der dahinschwindenden ver­ gänglichen Menschen ihrer eigenen Unvergänglichkeit gewiß werden. Die Sterblichen sind die Menschen, die ihre Todverfallenheit wissen allein im Hinblick auf die immerseienden, todentrückten Götter. θνητοί ist nicht etwa eine objektive Bezeichnung, die von einer außermenschlichen Warte her gesprochen ist, sondern deutet hin auf das Selbstverständnis der Menschen im Verstehen ihrer Todverfallenheit, sofern sie sich als morituri wissen. Die Menschen wissen sich als vergänglich im Aufblick und Hinblick auf die immerwährenden, todentrückten Götter. Mit den Unsterblichen und Sterblichen ist die größte innerweltliche Ferne zwischen den innerweltlichen Wesen genannt, der Spannungsbogen zwischen Göttern und Menschen, die aber gleichwohl aufeinander bezogen sind in ihrem Selbst- und Seins­ verständnis. Die Sterblichen wissen ihr eigenes schwindendes Sein im Aufblick und Hinblick auf das immerwährende Sein der Götter, und die Götter gewinnen ihr Immersein im Kontrast und in der Konfrontation mit den ständig in der Zeit schwindenden Menschen. Der Unterschied von Unsterblichen und Sterblichen wird vom Tode her charakterisiert. Aber dieser Unterschied ist nicht ein solcher wie der zwischen Leben und Tod selbst. Denn die Unsterblichen und Sterblichen leben und verhalten sich lebend zu sich in ihrem eigenen Selbstverständnis zum Sein der anderen. Das Verhältnis der Götter zu den Menschen ist nicht gleichzusetzen mit dem Verhältnis der Lebenden zu den Toten, und doch ist der Spannungsbogen zwischen ἀθάνατοι-θνητοί und θνητοὶ-ἀθάνατοι aus dem Bezug zu Leben und Tod gedacht. Der am weitesten ausgespannte Unterschied zwischen Göttern und Menschen, Unsterblichen und Sterblichen wird verschränkt und zusammengespannt mit seinem gegenteiligen Extrem – vielleicht in einer Analogie zu dem Verhältnis von ἕν und πάντα. Die Frage, die uns leitet, ist, ob mit der Aufnahme des Verhältnisses der Unsterblichen zu den Sterblichen mehr als nur ein anthropologischer Schlüssel gefunden ist, um das Verhältnis anzuzeigen, wie das Feuer, die Sonne, der Blitz als besondere Gestalten des ἕν zu den πάντα sich verhalten. ἕν und τὰ πάντα | gibt es nicht nebeneinander, sie liegen nicht in einer gleichen Ebene, nicht in einer Vergleichsebene gewöhnlicher Art, sondern sie sind in ihrem Verhältnis einzigartig. Ihr Verhältnis ist mit keinem bekannten Verhältnis anzeigbar. Das ἕν ist nicht unter den πάντα, es wird nicht schon dadurch gedacht, daß wir τὰ πάντα streng denken und in diesen Inbegriff alles hineinnehmen, was es überhaupt gibt. Selbst wenn wir τὰ πάντα als Inbegriff denken, ist das ἕν nicht mit einbegriffen. Es bleibt von τὰ πάντα getrennt, aber nicht in den uns bekannten Weisen des Getrenntseins 375

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durch räumliche und zeitliche Grenzen oder durch die Zugehörigkeit zu einer anderen Art oder Gattung. Alle geläufigen Weisen des Getrenntseins sind auf das Grundverhältnis von ἕν und πάντα nicht anwendbar. Zugleich aber müssen wir sagen, daß bei der einzigartigen Trennung von ἕν und τὰ πάντα andererseits auch die einzigartige Zusammengehörigkeit von ἕν und τὰ πάντα, die Verschränkung des am meisten Getrennten, in den Blick genommen werden muß. In ihrer Verschränkung sind ἕν und τὰ πάντα zusammengespannt. Bisher begegneten uns mannigfache Gleichnisse, z. B.: wie in der Nacht durch einen Blitzstrahl die im Lichtschein befindlichen Dinge zum Aufschein kommen und sich in ihrem Umriß zeigen, so kommt in einem ursprünglicheren Sinn die Gesamtheit der Dinge im aufbrechenden Lichtschein des als Blitz gedachten ἕν zum Vorschein. Oder aber: wie im Lichte der Sonne die im Sonnenlicht stehenden Dinge in ihrem Gepräge aufscheinen, so kommt die Gesamtheit der innerweltlichen Dinge in dem als Sonnenlicht gedachten ἕν zum Vorschein. Wie hier die Dinge nicht neben dem Schein der Sonne vorkommen, sondern wie das Sonnenlicht die Dinge umspannt und so von ihnen getrennt und zugleich mit ihnen verbunden ist in der Weise des einbegreifenden Lichtes, so gibt es auch das insgesamt Viele der τὰ πάντα nicht neben dem Licht des Vorscheins, sondern das Licht des Vorscheins umfängt die Gesamtheit der πάντα und ist von ihr „getrennt“ und mit ihr „verbunden“ in einer schwer faßlichen Weise, die wir uns noch am ehesten am Gleichnis des allumfassenden Lichts verdeutlichen können. Sind nun auch die | Unsterblichen und Sterblichen aufeinander bezo­ gen, wie ἕν und τὰ πάντα bei ihrer größten Trennung? Dabei verstehen wir die Unsterblichen als diejenigen, die das Immersein ihrer selbst nur auf dem Hintergrund der zeithaft vergehenden Menschen wissen, und die Sterblichen als die Menschen, die ihr Vergänglichsein nur wissen, indem sie einen Bezug zu den Unsterblichen haben, die immer sind und ihr Immersein wissen. Wir können ἀθάνατοι θνητοί, θνητοὶ ἀθάνατοι mehrfach lesen: entweder wie Diels oder aber auch in folgender Weise: unsterbliche Sterbliche, sterbliche Unsterbliche. Diese harte Wortfügung scheint in sich widersprechend zu sein. Aber mit einem paradoxen Begriff von unsterbli­ chen Sterblichen und sterblichen Unsterblichen kommt man nicht besonders weit. Die Götter leben den Tod der sterblichen Menschen, heißt das, daß das Leben der Götter das Töten der Menschen ist? Und andererseits: sterben die Menschen das Leben der Götter? Auch mit dieser Lesart können wir keinen rechten Sinn verbinden. Ich möchte daher eher glauben, daß sich folgende Deutung nahelegt. Die Götter leben sich vergleichend mit den sterblichen Menschen, die den Tod erfahren. Sie leben den Tod der Sterblichen, indem sie sich in ihrem eigenen Selbst- und Seinsverständnis gegenhalten gegen die Vergänglich­ keit der Menschen und ihre allzu endliche Weise, das zu verstehen, was 376

Unsterbliche: Sterbliche – ἓν τὸ σοφόν

ist. Schwieriger wird es aber, wenn wir uns fragen, wie wir τὸν δὲ ἐκείνῶν βίον τεθνεῶτες übersetzen sollen. Können wir das τεθνεῶτες parallelsetzen mit ζῶντες? Die Frage ist aber, ob hier das Partizip Perfekt perfektische Bedeutung hat oder als präsentische Partizipialform wie ἀποθνήσκοντες zu übersetzen ist. Diese Frage kann nur vom Philologen entschieden werden. Das Leben der Unsterblichen ist der Tod der Sterblichen, die Götter leben den Tod der Sterblichen, und die Sterblichen sterben das Leben der Götter oder sind abgestorben in bezug auf das Leben der Götter. Wir gebrauchen auch die Wortfügung: einen Tod sterben, ein Leben leben. Im Fragment 62 aber heißt es: den Tod von anderen leben, das Leben von anderen sterben. Wenn wir uns klarmachen wollen, was es heißt, daß die Götter den Tod der Menschen leben, so können | wir zunächst einmal die Massiv­ form, wonach die Götter menschenfressende Wesen wären, abwehren. Sie leben den Tod der Menschen nicht in der Weise, daß sie die Menschen auffräßen. Denn sie sind nicht nur der Nahrung der Menschen, sondern letztlich auch der menschlichen Opfergaben und Gebete unbedürftig. Was aber heißt dann die Formel: die Götter leben den Tod der Menschen? Ich vermag mit diesem Satz nur einen Sinn zu verbinden, indem ich sage: die Götter verstehen sich selbst in ihrem eigenen immerwährenden Sein im ausdrücklichen Bezug zu den sterblichen Menschen. Das unwandelbare Sein der Götter bedeutet im Anblick der ständig in der Zeit verfallenden Menschen ein Bestehen. In dieser Weise leben die Götter den Tod der Menschen. Und ebenso vermag ich mit dem Satz, daß die Menschen das Leben der Götter sterben bzw. daß sie in bezug auf das Leben der Götter abgestorben sind, nur einen Sinn zu verbinden, wenn damit gesagt ist, daß die Menschen in ihrem Selbstverständnis als die Schwindendsten sich immer zum Unvergänglichen verhalten, das uns das Leben der Götter zu sein scheint. Die Menschen sterben als die Vergänglichen nicht nur insofern, als sie im Umgang mit dem Vergänglichen stehen. Sie sind nicht nur die Schwindendsten im Reiche des Schwindens, sondern sie sind zugleich verstehend offen für die Unvergänglichkeit der Götter. Zum Verhältnis der Menschen zu sich und zu allem, was sie umgibt, gehört ein Grundbezug zu dem, was niemals untergeht. Wir verstehen also das „den Tod der Menschen leben“ und „das Leben der Götter sterben“ als ein gegenseitiges Verschränkungsverhältnis des Seins- und Selbstverständnisses der Götter und Menschen. Die Götter leben den Tod der Menschen in der Weise, daß sie sich als die Unsterblichen in ihrem Immersein nur verstehen können auf dem Hintergrund des Vergänglichen. Sie sind nur immerbleibend, wenn sie zugleich auf die Sphäre des Wandels in der Zeit bezogen sind. Nach dem Fragment 62 verhalten sich die Götter und Menschen gerade nicht so wie in Hölderlins Gedicht Hyperions Schicksalslied: „Ihr wandelt droben im Licht / Auf weichem Boden, selige Genien! / Glänzende Götterlüfte / | Rühren 377

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euch leicht, / Wie die Finger der Künstlerin / Heilige Saiten. – Schicksallos, wie der schlafende / Säugling, atmen die Himmlischen, Keusch bewahrt / In bescheidener Knospe, / Blühet ewig / Ihnen der Geist, / Und die seligen Augen / Blicken in stiller / Ewiger Klarheit. – Doch uns ist gegeben, / Auf keiner Stätte zu ruhn, / Es schwinden, es fallen / die leidenden Menschen / Blindlings von einer / Stunde zur andern, / Wie Wasser von Klippe / Zu Klippe geworfen, / Jahr lang ins Ungewisse hinab.“13 Hier werden der Bereich der Götter und der der Menschen wie zwei Sphären getrennt, die nicht miteinander verschränkt, sondern bezugslos sich gegenüberliegen. Droben im Licht wandeln schicksallos die Götter, deren Geist ewig blüht, während die Menschen ein ruheloses Leben führen und im Katarakt der Zeit fallen und schwinden. Die Art, in der Hölderlin hier das ewige Leben der Götter in den Blick nimmt, weist darauf hin, daß zum Selbstverständnis der Götter nicht der Blick auf die Sterblichen notwendig gehört. Wenn aber Götter und Menschen nicht zwei getrennte, sondern einander zugewendete Bereiche bilden, dann können wir das Verschränkungsverhältnis von dort her auf den Anfang des Fragments 62 beziehen, der Unsterbliche und Sterbliche in einer harten Weise miteinander verspannt. Teilnehmer: Die Verspannung des Immerseins der Götter und des zeithaft sich wandelnden Seins der Menschen hat ihr Analogon in dem Goetheschen Gedanken der Dauer im Wechsel. Fink: Es gibt aber auch eine Dauer als Konstanz in der Zeit. In dieser Weise denkt etwa Kant das Beharren des Weltstoffes. Teilnehmer: Der Gedanke Goethes von der Dauer im Wechsel meint nicht die Konstanz in der Zeit, sondern kommt in die Richtung des Heraklite­ ischen Gedankens. 164

Fink: Doch müßten wir zunächst einmal wissen, auf welche Goethe-Stelle Sie sich beziehen. Es gibt auch Dauerndes, das | den Wechsel durchsteht, wie etwa der Weltstoff bei Kant, der in allen Veränderungen der gleiche bleibt, selbst weder vergeht noch entsteht, sondern nur immer anders erscheint. So aber denken wir das Verhältnis der Substanz zu ihren Akzidenzien. Teilnehmer: Für Goethe konstituiert sich allererst die Dauer im Wechsel. Fink: Das trifft auch für die substantielle Dauer zu. Heraklit aber meint gerade nicht, daß im zeithaft Wechselnden sich etwas durchhält. Denn dann hätten wir nur das Verhältnis des Urstoffs zu seinen Erscheinungsgestalten. Das aber war gerade die Frage, ob das Verhältnis von Feuer, Meer und Erde das Verhältnis eines dauerhaften Urstoffes (Feuer) im Wechsel seiner Zustände bzw. Erscheinungen als Entfremdungsgestalten ist, oder ob es sich um einen ganz anderen, einzigartigen Unterschied handelt. Alles innerweltlich Seiende hat die Struktur von relativ beharrenden Substanzen 378

Unsterbliche: Sterbliche – ἓν τὸ σοφόν

mit wechselnden Zuständen oder gehört zu der einen einzigen Substanz als dem beharrlichen Substrat, das andauert und weder vergeht noch entsteht. Wenn wir dieses Denkschema für die Umwendungen des Feuers anwenden, dann verhält sich das Feuer zu Meer und Erde nicht anders als ein Urstoff zu seinen vielen Erscheinungsgestalten. Wir aber haben nach einem anderen Verhältnis des Feuers zu Meer und Erde gesucht, das das Verhältnis von ἕν und πάντα meint. Für dieses Verhältnis von ἕν und πάντα übernimmt das Verhältnis der unsterblichen Götter und der sterblichen Menschen eine analogische Repräsentanz. Dabei denken wir Götter und Menschen nicht nur im Hinblick auf den Gegensatz der Macht und der Gebrechlichkeit, sondern so, daß sie sich, um sich selbst in ihrem Sein zu wissen, gegenseitig wissen. Wenn das ἕν ἓν τὸ σοφόν ist, kann es sich nur wissen in seinem höchsten Gegensatz zu τὰ πάντα und zugleich auch als dasjenige, was τὰ πάντα steuert und lenkt. Damit nehmen wir ein Verhältnis in den Blick, in welchem sich nicht etwa eine überzeitliche Sphäre von Seiendem zur zeithaften Sphäre von Dingen verhält. Es | handelt sich nicht um eine Zwei-Welten-Lehre platonischer Art, sondern um eine Theorie der Welt, der Einheit des ἕν und der im Gang der Zeit befindlichen Einzeldinge. Wenn Goethe von der Dauer im Wechsel spricht, dann meint er vielleicht die Konstanz der Natur gegenüber den Naturerscheinungen. Damit befindet er sich aber in der Nähe des Gedankens von einem Urstoff. Teilnehmer: Dieser Auffassung kann ich mich nicht anschließen. Ich bin der Ansicht, daß der Goethesche Gedanke von der Dauer im Wechsel in die Nähe Ihrer Interpretation Heraklits kommt. Fink: Im Fragment 30 wird das ἕν als πῦρ ἀείζωον angesprochen, das ein unsterbliches Feuer ist. Die unsterblichen Götter sind die analogischen Statthalter des unsterblichen Feuers. Im Fragment 100 heißt es: ὥρας αἳ πάντα φέρουσι. Danach ist πάντα das durch die Jahreszeiten Erbrachte, also gerade nicht das Immerseiende, sondern das Zeitweilige. Es verhält sich daher das ἕν zu τὰ πάντα wie das πῦρ ἀείζωον bzw. wie das (weil Herr Professor Heidegger heute nicht unter uns ist, können wir es einmal wagen zu sagen) als Zeit gedachte Sein selbst zu den in der Zeit treibenden, zeitlich bestimmten Dingen. Ich habe auch nicht gesagt, daß ἀθάνατοι und θνητοί mit ἕν und πάντα gleichzusetzen sind, sondern daß sie das Verhältnis von ἕν und πάντα symbolisch repräsentieren. Unsterbliche und Sterbliche sind nicht die kosmischen Momente selbst, die als ἕν und πάντα getrennt und zugleich verspannt sind, sondern die beiden kosmologischen Wesen, die das Ganze verstehen: die Götter von oben und die Menschen von unten. Wenn wir hier von einer Analogie sprechen wollen, müssen wir uns darüber im klaren sein, daß es sich dabei immer um eine Ähnlichkeit durch eine Unähnlichkeit hindurch handelt, wobei die Unähnlichkeit immer größer ist. Die Rede vom 379

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Menschen als imago dei bedeutet nicht, daß der Mensch ein Spiegelbild der Gottheit ist und ihr gleicht wie ein Spiegelbild dem Urbild. Er ist ein Bild Gottes durch die Unendlichkeit des Abstandes hindurch. Wir haben | keine Sprache, um das Verhältnis des ἕν zu τὰ πάντα anzusprechen. Das ἕν leuchtet uns nur auf im Blitz, in der Sonne und den Horen, im Feuer. Das Feuer aber ist nicht das phänomenale, sondern das unphänomenale, in dessen Schein die τὰ πάντα zum Vorschein kommen. Weil wir keine Sprache haben, das Grundverhältnis von ἕν und πάντα zu charakterisieren, und weil wir von den πυρὸς τροπαί die überlieferten massiven Denkschemata weghalten wollten, wonach ein immerseiender Urstoff seine Zustände wechselt bzw. sich in seinen Erscheinungsgestalten vermummt, haben wir bei dem Fragment 76 angesetzt, in welchem das Grundverhältnis von ἕν und πάντα in der Formel „den Tod eines anderen leben“ angesprochen wird. Von da aus sind wir zum Fragment 62 übergegangen, in welchem die Formel „den Tod leben“ und „das Leben sterben“ nicht von Feuer, Luft, Wasser und Erde, sondern von den Unsterblichen und Sterblichen gesagt wird. Die Anwendung jener Formel auf die Götter und Menschen scheint zunächst unserer menschlichen Fassungskraft näher zu stehen. Im Übergang vom Fragment 76 auf Fragment 62 geschieht keine Verengung eines allgemeinen kosmischen Bezugs auf ein anthropologisch-theologisches Verhältnis. Das anthropologisch-theolo­ gische Verhältnis ist kein Bezug von zwei Arten von Wesen, sondern das Verhältnis, wie die zwei verschiedenen Arten von Wesen sich selbst und das, was ist, verstehen. Die Götter verstehen ihr eigenes Immersein im Hinblick auf den Tod der Menschen. Könnten die Götter leben im seligen Selbstgenuß ihres nie abreißenden Lebens, könnten sie ihrer Göttlichkeit innewerden, wenn sie nicht vor sich den Sturz der Menschen und πάντα in der Zeit hätten? Könnte das ἕν, das durch die Unsterblichen repräsentiert wird, in sich selbst sein ohne den Anblick der πάντα, könnten die πάντα, die durch die Sterblichen und ihr Seinsverständnis repräsentiert werden, ohne das Wissen um die Endlosigkeit des πῦρ ἀείζωον sein? Ich möchte noch einmal wiederholen, daß das Verhältnis der Unsterblichen zu den Sterblichen nicht mit dem von ἕν und πάντα gleichzusetzen ist. Mir ging es nur darum zu zeigen, daß man in dem Verschränkungsverhältnis der Götter | und Menschen, in ihrem Selbstwissen im Wissen des anderen, einen Fingerzeig finden kann auf das Verhältnis von ἕν und πάντα. Es handelt sich also weder um eine Parallele noch um eine Analogie im geläufigen Sinne. Alle Fragmente der Herakliteischen Theologie sprechen vom Gotte so, wie man nur vom ἕν sprechen könnte. Im Gotte fallen alle Unterschiede zusammen. Damit ist nicht nur eine Erhabenheit des Gottes gegenüber den anderen Lebewesen ausgesprochen, sondern das, was Heraklit über den Gott sagt, muß aus dem eigentümlichen Analogieverhältnis des Gottes zum ἓν τὸ σοφὸν gedacht werden. Im Fragment 32 sagt Heraklit folgendes: ἓν τὸ 380

Unsterbliche: Sterbliche – ἓν τὸ σοφόν

σοφὸν μοῦνον λέγεσθαι οὐκ ἐθέλει καὶ ἐθέλει Ζηνὸς ὄνομα: „Das Eine, allein Weise will nicht und will doch mit dem Namen des Zeus benannt werden.“ In gewisser Weise können wir im Zeus das ἕν denken, wenn auch durch ihn als das höchste innerweltliche Wesen das umspannende ἕν des Ganzen verstellt wird. Wichtig ist deshalb, daß Heraklit erst οὐκ ἐθέλει und dann ἐθέλει sagt. Erst nach der Abstoßung kann eine gewisse analogische Entsprechung von Gott und ἕν gesagt werden. Teilnehmer: Um Ihre Interpretation des ἕν durchzuführen, muß man das ἕν in einer zweifachen Bedeutung verstehen: einmal das ἕν im Gegensatz zu τὰ πάντα und zum anderen das ἕν als Einheit des Gegensatzes von ἕν und πάντα. Man kann nicht den Gegensatz zwischen ἕν und πάντα setzen, ohne eine überbrückende Einheit vorauszusetzen. Vielleicht kann ich mich durch einen Hinweis auf Schelling verdeutlichen. Schelling sagt, daß das Absolute nicht nur die Einheit, sondern die Einheit der Einheit und des Gegensatzes ist. Damit ist gemeint, daß hinter jedem Gegensatz eine überbrückende Einheit steht. Wenn wir eine Zwei-Welten-Lehre vermeiden wollen, dann steht das ἕν nicht nur im Gegensatz zu τὰ πάντα, sondern wir müssen das ἕν zugleich auch als überbrückende Einheit denken. Fink: Das ἕν ist die Einheit, innerhalb deren es erst die Gesamtheit der πάντα in ihren mannigfachen Gegensätzen gibt. Sie argumentieren formal mit dem Begriffsschema aus dem Deut|schen Idealismus, daß das Absolute die Identität der Identität und Nichtidentität ist. Dieses Verhältnis läßt sich auch noch weiter iterieren. Damit kommen wir aber nicht in die Dimension Heraklits. ἕν und πάντα bilden einen einzigartigen Unterschied. Es ist besser, wir sprechen hier vom Unterschied und nicht vom Gegensatz, weil wir sonst allzu leicht an die uns geläufigen Gegensätze wie warm – kalt, männlich – weiblich usf., also an reversible und irreversible Gegensätze denken. Man könnte hier eine ganze Logik der Gegensätze entwerfen. Unsere Frage richtete sich auf das ἕν. Wir kamen auf seine Spur im Ausgang vom Blitz. In der naturwissenschaftlichen Betrachtung ist der Blitz nichts anderes als eine bestimmte elektrische Erscheinung. Heraklit aber denkt in ihm den unphänomenalen Aufgang der Gesamtheit der πάντα. Obwohl wir im Durchgang durch verschiedene Fragmente mehrere Nuan­ cierungen des ἕν-πάντα Verhältnisses aufgedeckt haben, konnten wir dieses Verhältnis noch nicht recht fassen. Nachdem wir das ἕν in Gestalt des Blitzes und Blitzschlages, der Sonne und der Horen kennengelernt haben, stießen wir auch auf die Bestimmung des ἕν als Feuer. Da wir die πυρὸς τροπαί nicht in einem massiven physiologischen Sinn auffassen wollten, mußten wir nach einer anderen Auffassung suchen. Im Fragment 76 lernten wir erstmals die Formel „den Tod von etwas leben“ kennen. Im Fragment 62 fanden wir sie wieder als das Verhältnis der Unsterblichen zu den Sterblichen. 381

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Wir versuchten, mit dieser Formel einer Gegenbezüglichkeit „den Tod des anderen leben“ und „das Leben des anderen sterben“ auf das Verhältnis der Götter und Menschen hinzudenken. Die Götter leben den Tod der Menschen nicht in der Weise, daß zu ihrem Leben ein Töten der Menschen gehört. Wir deuten „den Tod der Sterblichen leben“ als ein Leben der Götter im Angesicht des Seins der Lebewesen, die das Sein auf endlich zeithafte Weise verstehen. Angesichts dieser dem Tode verfallenen und nicht im Immersein geborgenen Menschen verstehen die Götter ihr ἀεὶ εἶναι und sind gleichsam das πῦρ ἀείζωον, wenn sie auch niemals im strengen Sinne ἀει sind, wie das πῦρ ἀείζωον ἀεί ist. Die Menschen da|gegen sterben das Leben der Götter. Sie sind im Verstehen des Immerseins der Götter nicht daran Mitbeteiligte, sie gewinnen keinen Anteil am Immersein der Unsterblichen, aber sie verstehen sich und ihr Schwinden im Hinblick auf die Nichtverfallenheit der Götter an den Tod. Ich versuche, der Formel „den Tod der Sterblichen leben“ und „das Leben der Unsterblichen sterben“ einen Sinn zu geben, indem ich sie als die Verschränkung des Selbst- und Seinsverständnisses der Götter und Menschen interpretiere. Dieses Verschränkungsverhältnis repräsentiert den Gegenbezug des ἕν, des immerlebendigen Feuers, und des zeithaft endlichen, von den Horen erbrachten Seins der πάντα überhaupt. Die unsterblichen Götter sind der Widerschein, die innerweltlichen Reprä­ sentanten des immerlebendigen Feuers als einer Gestalt des ἕν. In dieser Interpretation sehe ich eine Möglichkeit, das Fragment 62 zu lesen. Mir zeigt sich keine andere Möglichkeit zu verstehen, wie die Götter den Menschentod leben. Sie leben den Tod der Menschen nicht im Sinne des Erlebens, sondern im Erleben des eigenen Immerseins sind sie auf den Menschentod bezogen. In der ersten und zweiten Fassung von Mnemosyne sagt Hölderlin: „Denn nicht vermögen / Die Himmlischen alles. Nämlich es reichen / Die Sterblichen eh an den Abgrund. Also wendet es sich das Echo, / Mit diesen. Lang ist / Die Zeit, es ereignet sich aber / Das Wahre.“14 Das bedeutet, daß die Götter als die Unbedürftigen dennoch eines bedürfen, nämlich der Sterblichen, die weiter in den Abgrund reichen. Darin, wie die Götter in ihrem Immersein ihre Unendlichkeit nicht selbstgenügsam genießen können, sondern dazu des Gegenbezugs zu den Sterblichen bedür­ fen, und wie die Menschen, im Lauf der Zeit treibend, für das Wissen um ihre eigene Endlichkeit den Gegenbezug zu den immerseienden Göttern brauchen, haben wir ein Gleichnis des ἕν zu den beständig in der Zeit umgetriebenen πάντα. Menschen und Götter haben das Gemeinsame an sich, daß sie nicht nur Seiendes in der Welt sind, sondern daß sie leben in der Weise von verstehenden Seinsverhältnissen. Der Mensch versteht das Sein in endlicher Weise, die Götter in unendlicher Weise. Die Götter | übertreffen den Menschen nicht nur an Kraft überhaupt, sondern an der Kraft im Verste­ hen dessen, was ist. Das πᾶν ist sterblich unsterblich. Das πᾶν ist aber keine 382

Unsterbliche: Sterbliche – ἓν τὸ σοφόν

coincidentia oppositorum, keine Nacht, in der alle Gegensätze ausgelöscht sind. τό πᾶν ist das Wort, in welchem wir ἕν und πάντα zusammenfassen. Auf es allein können wir paradoxe Wendungen anwenden. Wenden wir uns jetzt dem Fragment 90 zu: πυρός τε ἀνταμοιβὴ τὰ πάντα καὶ πῦρ ἁπάντων ὅκωσπερ χρυσοῦ χρήματα καὶ χρημάτων χρυσός. Diels übersetzt: „Wechselweiser Umsatz: des Alls gegen das Feuer und des Feuers gegen das All, so wie der Waren gegen Gold und des Goldes gegen Waren.“ Mit diesem Fragment scheinen wir die Linie der Interpretation zu unterbrechen. Hier wird das Verhältnis eines Umtausches gedacht, das wir mehr oder weniger denken können und das mit der Weise, wie Götter und Menschen wechselweise sich selbst und das Sein verstehen, nicht zusammenzuhängen scheint. Zunächst scheint das Fragment keine besondere Schwierigkeit zu bieten. Es wird von einem wechselweisen Gegentausch, von einem Gegenverhältnis gesprochen, wo das eine durch das andere ersetzt wird und an die Stelle des anderen tritt. Es scheint, daß hier das Verhältnis von πῦρ und πάντα im Gleichnis eines Marktgeschehens angesprochen wird. Wir kennen einen Markt des naturalen Tauschwechsels oder auch in der entwickelteren Form eines Geldwechsels, auf dem Waren gegen Geld und Geld gegen Waren eingetauscht werden. Die Waren als das Vielfältige und Verschiedenartige verhalten sich zu dem Einförmigen des Geldes, wie das Vielartige überhaupt zu dem, was einfach ist, aber trotzdem dem Vielfachen der Waren korrespondiert. Ist dieses Verhältnis auch eine Gestalt des Grundverhältnisses von ἕν und πάντα? Das ἕν als das Einfachste und alles Zusammenhaltende steht im Gegenverhältnis zu τὰ πάντα. Im Fragment lesen wir: Umtausch der τὰ πάντα gegen das Feuer und des Feuers gegen ἅπαντα. ἅπαντα verstehen wir auch hier im Sinne von πάντα wie im Fragment 30, in dem wir ἅπαντα nicht als Lebewesen, sondern als gleichbedeutend mit πάντα aufgefaßt haben. Heraklit spricht von einem wechselweisen Um|tausch der τὰ πάντα gegen das Feuer und des Feuers gegen die τὰ πάντα. Was wir von dem Verhältnis der Waren und des Goldes sagen können, gilt jedoch nicht in derselben Weise vom Umtausch-Verhältnis der τὰ πάντα und des Feuers. In bezug auf τὰ πάντα und das Feuer können wir nicht sagen, daß dort, wo das eine ist, das andere hingeht. Der Verkäufer auf dem Markt gibt die Waren ab und erhält dafür das Geld. Wo vorher die Waren gewesen sind, geht das Geld hin, und umgekehrt, wo das Geld gewesen ist, gehen die Waren hin. Dürfen wir so massiv das Verhältnis von ἕν und πάντα auffassen? Offenbar nicht. Das Gleichnis wird deutlicher, wenn wir das Gold nicht nur als bestimmte Münze, als eine Form des Geldes nehmen, sondern beim Golde den Goldglanz beachten, der ein Symbol des Sonnenhaften ist. Dann verhält sich das sonnenhaft leuchtende Gold zu den Waren, wie das ἕν zu τὰ πάντα, und umgekehrt, τὰ πάντα zum ἕν wie die Waren zum sonnenhaft 383

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leuchtenden Gold. Der Goldglanz deutet darauf hin, daß es sich nicht um ein beliebiges Gleichnis handelt, in welchem wir statt des Goldes auch das Geld einsetzen könnten. In ihm geht es weniger um den Wechseltausch von Real- und Zeichenwerten, sondern um das Verhältnis des Goldglanzes zu den Waren. Das Gold steht für den Feuerglanz des πῦρ ἀείζωον, die Waren für τὰ πάντα. Das πῦρ ἀείζωον und τὰ πάντα können in ihrem Wechselverhältnis nicht direkt verständlich ausgesagt werden, und auch das Gleichnis von Gold und Waren in ihrem Wechselverhältnis versagt letztlich. Und dennoch erhält das Verhältnis von πῦρ ἀείζωον (ἕν) und πάντα im Versagen jenes Gleichnisses eine Richtung angezeigt. Denkt man hier an die ἐκπύρωσις-Lehre, dann müßte man das Verhältnis des Umsetzens wie folgt charakterisieren: anstelle der πάντα tritt das Feuer und ‒ was die διακόσμησις anbetrifft ‒ anstelle des Feuers treten τὰ πάντα. In diesem Falle würden wir das Verhältnis von Feuer und τὰ πάντα in einer strengeren Analogie zu dem Verhältnis von Gold und Waren verstehen. Im Sinne der ἐκπύρωσις-Lehre in der massiven Form der Stoa könnte man sagen: die πάντα verschwinden in der ἐκπύρωσις des Feuers, und in der διακόσμησις | geht das Feuer in τὰ πάντα über. Dann aber erklären wir zu einem Zeitvorgang, was die Grundstruktur eines immerwährenden Geschehens ist. Die Schwierigkeit, vor die uns das Gleichnis vom Gold und den Waren in ihrem Wechselverhältnis stellt, liegt darin, daß das Gleichnis etwas Wesentliches im Verhältnis von πῦρ ἀείζωον und πάντα zeigt, daß es aber, sobald wir es streng fassen und überziehen, nicht mehr recht stimmt. Das πῦρ ἀείζωον als Gestalt des ἕν ist in einem beständigen Bezug zu τὰ πάντα, so wie auch die Götter in einem beständigen Bezug zu den Menschen stehen. Dieser beständige Bezug geht verloren, wenn wir das Verhältnis des ewiglebendigen Feuers zu den πάντα von der massiv aufgefaßten ἐκπύρωσις-Lehre verstehen wollten. Die Dielssche Übersetzung von τὰ πάντα und ἁπάντων durch „das All“ ist bedenklich. Sie weist in Richtung auf die ἐκπύρωσις. Heraklit sagt aber nicht τὸ πᾶν bzw. τοῦ παντός, sondern τὰ πάντα und ἁπάντων (πάντων). τὰ πάντα aber bezieht sich auf die Gesamtheit des Seienden. Der Umtausch von Feuer in τὰ πάντα und der τὰ πάντα in Feuer verhält sich analog wie der Wechseltausch des glänzenden Goldes in Waren und der Waren in den Feuerglanz des Goldes. Die Frage, die wir zunächst offen lassen müssen, ist die Charakterisierung des Verhältnisses von ἕν und πάντα als eines Umset­ zungsverhältnisses. Wenn wir das Verhältnis von ἕν und πάντα durch das Marktbeispiel zu veranschaulichen versuchen, zeigen sich gewisse Züge des fraglichen Grundverhältnisses. Dennoch entzieht sich uns dieses Verhältnis durch alle es anzeigenden Gleichnisse hindurch hart an der Grenze nicht nur des Sagbaren, sondern auch des Denkbaren. Im Fragment 62 repräsentiert das Verschränkungsverhältnis von Göttern und Menschen das Verhältnis von ἕν und πάντα. Die Götter sind in ihrem Gegenbezug zu den Menschen 384

Offenständigkeit zwischen Göttern und Menschen

in einem bestimmten Sinne die Repräsentanten des ἕν in seinem Verhältnis zu den πάντα, und zwar deshalb, weil sie sich am meisten auf das πῦρ ἀείζωον verstehen. Abschließend können wir sagen: das unglückliche Bewußtsein kommt nicht nur uns als den Auslegenden der Sprüche Heraklits zu, sondern es liegt allem zuvor in den Sprüchen selbst.

| X. Offenständigkeit zwischen Göttern und Menschen (Fragment 62) – Das „Spekulative“ bei Hegel ‒ Hegels Verhältnis zu Heraklit ‒ Leben – Tod (beigezogene Fragmente: 88, 62) Heidegger: In der letzten Seminarsitzung war ich nicht anwesend. Nach­ träglich soll ich mich zu dem Gedankengang äußern. Das aber ist eine verschiedene Sache gegenüber der unmittelbaren Teilnahme am Gespräch. Denn es besteht die Gefahr, daß ich von außen her rede. Zunächst möchte ich die Schwierigkeit berühren, die in der letzten Sitzung das Vorherrschende war: die Bestimmung des Verhältnisses von Göttern und Menschen in seinem Verhältnis zum Verhältnis von ἕν und πάντα. Es handelt sich also um ein Verhältnis zwischen zwei Verhältnissen. Ich spreche jetzt absicht­ lich formalistisch, um die Struktur sehen zu lassen, die dem Gedanken der letzten Sitzung zugrundeliegt. Wenn wir den Ansatz und Gang des bisherigen Seminars beachten, so scheint mir die Schwierigkeit gewesen zu sein, den Übergang zu finden von einem noch unbestimmten Verhältnis des Blitzes, der Sonne, der Horen und des Feuers zu τὰ πάντα zu dem Verhältnis der Götter und Menschen in seinem Verhältnis zum Verhältnis von ἕν und πάντα. Die Schwierigkeit besteht darin zu sehen, wie das ἕν plötzlich einen anderen Charakter zeigt. Soweit ich den Gang verstanden habe, den Herr Fink für das Seminar im Auge hat, ist es der, bewußt von den Feuerfragmenten auszugehen und all das, was man als logos-Fragmente und als spezifisch Herakliteisch kennt, erst zuletzt in den Blick zu bringen. Die Schwierigkeit sehe ich darin, daß durch die Interpretation des eigentüm­ lichen Sachverhalts „den Tod leben, das Leben sterben“, der von Göttern und Menschen gesagt wird, eine Entsprechung ‒ und nicht Gleichsetzung ‒ sichtbar wird zu dem eigentlich thematisch fragwürdigen Verhältnis von ἕν und πάντα. Wenn wir vom | „Verhältnis zwischen ἕν und πάντα“ sprechen, dann scheint es, als dächten wir dabei an eine Beziehung zwischen beiden, die wir gegenständlich lokalisiert hätten und für die wir dann nach einem Bogen suchten, der sie zusammenspannt. Am Ende aber verhält es sich so, daß das ἕν das Verhältnis ist, daß es sich zu τὰ πάντα verhält, indem es sie als solche sein läßt, was sie sind. Das Verhältnis, so verstanden, ist meiner Ansicht nach das Entscheidende, worauf die Bestimmung hinaus 385

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muß und wodurch die Vorstellung von zwei Relata beseitigt wird. Gerade diese Vorstellung muß künftig ferngehalten werden, wenngleich noch nicht ausgemacht ist, was all die Bezüge, die in die Ganzheit der πάντα gehören, und der Bezug all der Bezüge zum ἕν oder im ἕν selbst sind. ‒ Terminologisch ist mir im Protokoll der letzten Sitzung etwas aufgefallen. Sie, Herr Fink, machen einen Unterschied zwischen „kosmisch“ und „kosmologisch“ und sprechen von kosmischen Momenten und kosmologischen Wesen.

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Fink: Das Verhältnis der Götter und Menschen, das sich in der dunklen Formel „den Tod leben, das Leben sterben“ formuliert hatte, könnte man massiver auffassen und sagen, daß die Götter die Substanz ihres Lebens aus dem Tod der Menschen gewinnen, so wie die Menschen ihr Leben gewinnen aus dem Tod der Tiere, die sie verzehren. Den Tod eines anderen leben wäre dann ein Vorgang, ein andauernder Stil des Lebensvollzugs. Mit der Vorstellung, daß die Götter das Leben der Sterblichen brauchen, wie sie in der Vulgärreligion die Opfertiere der Sterblichen brauchen, konnten wir keinen Sinn verbinden. Wenn man die massive Vorstellung beiseitelassen will, muß man übergehen von einem bloß kosmischen Verhältnis zwischen Göttern und Menschen zu dem kosmologischen Bezug der Menschen und Götter. Götter und Menschen sind nicht nur wie andere Lebewesen, sondern sie sind beide durch ein Verstehensverhältnis zu sich selbst und zueinander bestimmt. Das Verstehensverhältnis kapselt die Götter nicht in sich ein, die Götter sind nicht nur auf sich selbst bezogen, sondern sie kön|nen ihr eigenes Immersein nur in bezug auf das Wandelbarsein und Todgeweihtsein der Sterblichen erfahren. Um ihr eigenes Immersein in ihrem Selbstverhält­ nis zu verstehen, müssen sie sich in den Tod der Menschen verstehend hineinhalten. Ein solches verstehendes Sichhineinhalten ist nicht ontisch, sondern ontologisch bzw. kosmologisch zu verstehen. Umgekehrt müssen sich die Menschen, die sich zu ihrem eigenen Schwinden verhalten, in das Immersein der Götter verstehend hineinhalten. Dieses onto-logische Verständnis enthält eine Analogie zum Urverhältnis von ἕν und πάντα. Heidegger: Wenn Sie das kosmische Verhältnis als ontisches abweisen und von einem kosmologischen statt von einem ontologischen Verhältnis sprechen, dann gebrauchen Sie das Wort „kosmologisch“ in einer besonderen Bedeutung. Die gewöhnliche Bedeutung von Kosmologie als der Lehre vom Kosmos meinen Sie nicht in Ihrem Gebrauch des Wortes „kosmologisch“. Was aber haben Sie dann im Blick? Fink: Das verhaltende ἕν, das alle πάντα in sich enthält, und nicht etwa den Kosmos als System der Raumstellen. Heidegger: Sie gebrauchen das Wort „Kosmologie“ also nicht im naturwis­ senschaftlichen Sinne. Mir geht es nur darum, das Motiv zu sehen, weshalb 386

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sie von Kosmologie sprechen. Sie haben Ihre Gründe, weshalb Sie nicht „ontisch“ und „ontologisch“ sagen, sondern „kosmisch“ und „kosmologisch“. Fink: Das Kriterium liegt da, wo Sie selbst die Ontologie kritisieren. Heidegger: Sie sprechen das Verhältnis von ἕν und πάντα als Weltverhält­ nis an. Fink: Dabei verstehe ich es nicht als ein Verhältnis von zwei Relata. Ich denke das ἕν als das Eine, das alles Viele im Sinne der πάντα aufgehen läßt, aber auch wieder zurücknimmt. | Heidegger: Ich will Sie nicht auf Heidegger festlegen, aber ἕν-πάντα als Weltverhältnis besagt doch, daß das ἕν als die Welt weltet.

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Fink: Das ἕν ist die versammelnde, seinlassende und auch vernichtende Macht. Das Moment des Wiederzurücknehmens und Vernichtens ist für mich neben dem Moment des Versammelns und Seinlassens wichtig. Heidegger: Wenn wir jetzt an das Fragment 30 denken, das von κόσμον τόνδε spricht, wie verhält sich dann der hier genannte κόσμος zu Ihrem Gebrauch des Wortes „Kosmologie“? Fink: κόσμον τόνδε meint nicht die Versammlung der πάντα im ἕν, sondern die Gesamtfügung der πάντα. Heidegger: Sie gebrauchen also „kosmologisch“ nicht im Sinne des griechi­ schen κόσμος. Aber warum sprechen Sie dann von „kosmologisch“? Fink: Das Kosmologische denke ich nicht von Heraklit, sondern eher von Kant her, und zwar von der Antinomie der reinen Vernunft. Die reine Vernunft versucht, das Ganze zu denken. Das Ganze ist ein Begriff, der zunächst an den Dingen orientiert ist. In dieser Weise aber können wir nie das versammelnde Ganze denkend erfahren. Kant stellt die Aporien eines Denkversuchs dar, der glaubt, das Ganze am Modell eines Raumdinges denken zu können. Weil er mit diesem Ansatz nicht durchkommt, hat er das Ganze subjektiviert als subjektives Prinzip im Fortgang der Erfahrung, die durch die regulative Idee der Totalität aller Erscheinungen ergänzt wird. Heidegger: Das Motiv für Ihren Gebrauch von „kosmisch – kosmologisch“ im Unterschied zu „ontisch – ontologisch“ ist also die Allheit, | Fink: die aber die Allheit des ἕν ist, des in sich versammelnden, aufge­ henlassenden und untergehenlassenden. Hinsichtlich der Verklammerung des Aufgehenlassens mit dem Untergehenlassen beziehe ich mich auf das Nietzsche-Motiv der Koppelung von Bauen und Brechen, Fügen und Zerstören, der Negation im Walten der Welt. Heidegger: Ich möchte auch noch eine weitere Schwierigkeit berühren. Ich teile Ihre Interpretation des Fragments 62. Auch für mich ist es der einzig 387

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mögliche Weg, die Formel „den Tod eines anderen leben, das Leben eines anderen sterben“ in der von Ihnen aufgezeigten Weise zu interpretieren. Die Frage ist für mich, wieweit wir rein quellenmäßig etwas über die Götter in ihrem Verhältnis zu den Menschen bei den Griechen wissen. Man könnte im Hinblick auf Ihre Interpretation des Verhältnisses der Götter und Menschen massiv sagen, daß Sie den Göttern eine Existenzialontologie unterstellen. Dem Sinne nach kommt Ihre Auslegung in die Richtung einer Existenzialontologie nicht nur der Menschen im Verhältnis zu den Göttern, sondern auch umgekehrt, der Götter in ihrem Verhältnis zu den Menschen. Fink: In der Welt der Religion finden wir die strenge Abgrenzung zwischen Göttern und Menschen. Herr Professor Heidegger meinte aber, wenn ich den Göttern eine Existenzialontologie unterschiebe, dann liege das daran, daß die Götter nicht nur von den Menschen unterschieden sind, sondern daß sie in ihrem Selbstsein sich von den Menschen unterscheidende sind, indem sie sich verstehend zum Tode der Sterblichen verhalten, Heidegger: und daß sie im Sichunterscheiden von den Sterblichen sich erst als die Immerseienden erfahren. 178

Fink: Nur weil sie den Anblick der Sterblichen haben, können sie sich als immerseiend erfahren. Die Unsterblichen sind die | vom Tode Unbetrof­ fenen, die Sterblichen die Todgeweihten. Heraklit aber verwandelt diese übliche Auffassung der griechischen Mythologie, die die Sterblichen und die Götter jeweils für sich sein und sie nur gelegentlich sich zueinander kehren läßt. Dieses gelegentliche Verhältnis macht er zu einem Götter und Men­ schen in ihrem Selbstsein konstituierenden Verhältnis. Das Unsterblichsein der Götter ist nur möglich, wenn sie sich zum Sterblichsein der Menschen verhalten. Das Wissen um das Todgeweihtsein der Menschen konstituiert das Verstehen des eigenen unvergänglichen Seins, und umgekehrt, das Wissen um das Immersein der Götter konstituiert das Verstehen des eigenen Sterblichseins. Götter und Menschen bilden nicht zwei getrennte Sphären. Es kommt darauf an, nicht den Chorismos, sondern die Verschränkung des göttlichen und menschlichen Selbst- und Seinsverständnisses zu sehen. Heidegger: Es geht darum, nicht in einer massiven Weise von den Göttern und Menschen als von verschiedenen Lebewesen zu sprechen, von denen die einen unsterblich, die anderen sterblich sind. In der Terminologie von Sein und Zeit gesprochen ist die Unsterblichkeit keine Kategorie, sondern ein Existenzial, eine Weise, wie sich die Götter zu ihrem Sein verhalten. Fink: Das göttliche Wissen um die Todgeweihtheit der Menschen ist kein bloßes Bewußtsein, sondern ein verstehendes Verhältnis. Bei Athene, die als Mentor den Sterblichen erscheint, um ihnen Hilfe zu leisten, handelt es sich vielleicht noch um eine andere Thematik. Die Epiphanie der Götter ist 388

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kein wirkliches Sterblichsein der Götter, sondern eine Maskierung. Wenn Aristoteles sagt, daß das Leben in der θεωρία, das noch über die φρόνησις hinausgeht, eine Art von göttlichem Leben, ein ἀθανατίζειν sei (wobei ἀθανατίζειν wie ἑλληνίζειν gebildet ist), so besagt das, daß wir uns in der θεωρία wie Unsterbliche verhalten. In ihr reichen die Sterblichen hinauf ins Leben der Götter. Entsprechend müßten wir von den Göttern sagen, daß ihr Sichverhalten zu den Menschen ein „θανατίζειν“ ist, vor|ausgesetzt, daß man dieses Wort bilden könnte. Das Schwergewicht liegt darauf, daß das Verhältnis der Menschen und Götter nicht von außen beschrieben werden kann, sondern daß sie selber als ihr Wechsel- und Gegenverhältnis existie­ ren, nur daß die Götter gewissermaßen die vorteilhaftere, die Menschen dagegen die weniger vorteilhafte Existenzialontologie haben. Das göttliche und menschliche Selbst- und Seinsverständnis muß sich im wechselseitigen Verstehen entwerfen.

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Heidegger: In dem Verhältnis von Göttern und Menschen kommt es auf ein Phänomen an, das bisher hinsichtlich des Bezugs von ἕν und πάντα noch nicht behandelt wurde: auf die Offenständigkeit zwischen Göttern und Menschen. Das offenständige Verhältnis zwischen Göttern und Menschen nannten Sie eine Repräsentanz für das Verhältnis von ἕν und πάντα. Fink: Damit ist vorgedeutet auf den σοφόν-Charakter des ἕν. Das ἕν ist die versammelnde Einheit in der Weise des λόγος und σοφόν. Den σοφόνCharakter des ἕν dürfen wir nicht als Wissen interpretieren. In ihm wird das Moment des verstehenden Bezugs des ἕν zu den πάντα gedacht. Im Lichtcharakter des Blitzes, der Sonne und des Feuers haben wir zunächst Vordeutungen auf den σοφόν-Charakter des ἕν. Wir müssen dabei aber warnen vor einer Auslegung des ἕν als Weltvernunft und als das Absolute. Heidegger: Ich will nur Ihren Weg charakterisieren. Sie bereiten das Ver­ ständnis des σοφόν bzw. des πῦρ φρόνιμον des Fragments 64a vor im Ausgang vom Blitz, von der Sonne, von den Horen, vom Feuer, Licht, Leuchten, Schein. Auf diesem Weg ist es in gewisser Weise schwieriger, den Übergang vom dinghaften Bezug des ἕν als Blitz, Sonne und Feuer zu den πάντα zum offenständigen Bezug der Götter und Menschen zueinander zu machen, der den Bezug des ἓν τὸ σοφόν zu den πάντα repräsentiert. Ihr Weg der Heraklit-Interpretation geht aus vom Feuer zum λόγος, mein Weg der Heraklit-Interpretation geht | aus vom λόγος zum Feuer. Dahinter verbirgt sich eine Schwierigkeit, die bei uns beiden noch nicht gelöst ist, die wir aber schon in verschiedenen Formen berührt haben. Sie haben für Ihre Inter­ pretation des Wechselverhältnisses von Göttern und Menschen Hölderlin als Vergleich herangezogen, und zwar zunächst Hyperions Schicksalslied, in welchem die Götter von den Menschen getrennt und nicht aufeinander bezogen sind. 389

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Fink: Schicksallos, wie der schlafende Säugling, atmen die Himmlischen. Dieses Gedicht spricht von der Unbekümmertheit der Götter um die Men­ schen. Heidegger: Dann haben Sie Hölderlin ein zweites Mal interpretiert und auf einige Verse aus Mnemosyne hingewiesen, die den umgekehrten Gedanken aussprechen, daß die Unsterblichen der Sterblichen bedürfen. Doch stehen bei Hölderlin beide Gedichte nahe beieinander. Der Gedanke aus Mnemo­ syne findet sich schon in der Rheinhymne (8. Strophe), in der es heißt, daß die Götter „Heroen und Menschen / Und Sterbliche sonst“15 bedürfen. Dieser merkwürdige Begriff des Bedürfnisses betrifft bei Hölderlin nur den Bezug der Götter zu den Menschen. Wo kommt damals der Titel „Bedürfnis“ als Terminus in der Philosophie vor? Fink: Bei Hegel in der Schrift Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie (1801), in der Hegel vom „Bedürfnis der Philoso­ phie“ spricht.

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Heidegger: Also zur selben Zeit, als Hölderlin sich in Frankfurt aufhielt. In der Frage nach dem, was bei Hegel und Hölderlin „Bedürfnis“ heißt, haben wir ein wesentliches Dokument für das Gespräch beider in dieser Beziehung – für das Gespräch, das sonst ein dunkles Problem ist. Mit dem Gespräch beider berühren wir eine geschichtliche, nicht bloß eine historische Frage. In welchem Sinne dann beide Herakliteer sind, ist eine andere Frage. In Tübingen verband sie mit Schelling der Wahl|spruch ἓν καὶ πᾶν. Dieses unter diesem gemeinsamen Wahlspruch stehende Verhältnis ging dann später auseinander. Wo aber nennt Hölderlin zum ersten Mal Heraklit? Teilnehmer: Im Hyperion. Dort spricht er vom ἓν διαφέρον ἑαυτῷ. Heidegger: Das Eine, das sich in sich selbst unterscheidet. Hölderlin ver­ steht es als das Wesen der Schönheit. Schönheit aber ist für ihn damals das Wort für Sein. Hegels Interpretation der Griechen in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie geht in dieselbe Richtung: Sein als Schönheit. Mit dem Rückgriff auf das Wort Heraklits nennt Hölderlin keine formalistisch-dialektische Struktur, sondern macht eine fundamentale Aussage. Dieser Gedanke hat sich dann bei ihm gewandelt im Verhältnis von Göttern und Menschen, wonach der Mensch die Existenzbedingung Gottes ist, Fink: und der Mensch dem Abgrund näher ist als der Gott. Heidegger: Deshalb ist das Verhältnis von Göttern und Menschen ein höheres und schwierigeres, das mit der Terminologie der gewöhnlichen metaphysischen Theologie nicht zu bestimmen ist.

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Offenständigkeit zwischen Göttern und Menschen

Fink: Das Verhältnis von Menschen und Göttern ist auch kein imago-Ver­ hältnis, sofern die Sterblichen in ihrem Selbstverhältnis in das andere Sein der Götter verstehend hinausstehen, ohne jedoch dessen teilhaftig zu sein. Einerseits herrscht eine Fremdheit zwischen Göttern und Menschen, andererseits aber auch eine Verklammerung im wechselseitigen Verstehen. Heidegger: Worin besteht – von Hegel aus gesehen – die Verwandtschaft zwischen ihm und Heraklit? Es gibt einen bekannten Satz aus den Vorlesun­ gen über die Geschichte der Philosophie: | Teilnehmer: „Es ist kein Satz des Heraklit, den ich nicht in meine Logik aufgenommen.“

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Heidegger: Was bedeutet dieser Satz? Teilnehmer: Es kommt hier auf das Heraklit-Verständnis Hegels an. Heidegger: Was sagt dieser Satz hinsichtlich des Verhältnisses von Heraklit und Hegel? Teilnehmer: Heraklit ist von Hegel nicht nur aufgenommen, sondern aufge­ hoben. Teilnehmer: Hegel sieht Heraklit dialektisch von den Gegensätzen her. Heidegger: Was aber heißt „dialektisch“? Jetzt können wir die Antwort auf die in einer früheren Sitzung gestellte Frage nach dem Spekulativen bei Hegel nachholen. Was heißt für Hegel „spekulativ“? Teilnehmer: Die Voraussetzung des spekulativen Denkens ist die Identität von Sein und Denken. Heidegger: Wohin gehört für Hegel das Spekulative? Teilnehmer: Das Spekulative ist ein Moment des Logischen. Heidegger: Was ist ein Moment? Teilnehmer: Moment kommt von movere, movimentum. Heidegger: Der Moment hängt ab von „das Moment“. Wenn Hegel sagt, das Spekulative ist ein Moment, so ist damit nicht der Moment, sondern das Moment gemeint. Das Moment ist | ein bewegendes Etwas, das an der Bewegung des Denkens beteiligt ist und was einen Ausschlag gibt. Das Moment wird zum Ausschlag, und der Ausschlag selbst ist der Augenblick, er geschieht in einem Moment. So wird das Moment zu „der Moment“. Welches ist nun das erste Moment des Logischen? Teilnehmer: Das abstrakte oder verständige. Heidegger: Und das zweite Moment? Teilnehmer: Das dialektische. 391

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Heraklit

Heidegger: Es ist merkwürdig, daß Hegel das Dialektische als zweites und nicht als drittes Moment versteht. Und wie lautet das dritte Moment? Teilnehmer: Das Spekulative. Heidegger: Womit wird es zusammenhängen, daß Hegel das Dialektische das zweite und nicht das dritte Moment des Logischen nennt? Wenn er am Ende der Logik von der Identität von Sache und Methode spricht, würde man doch meinen, daß das Dialektische das dritte Moment ist. Hegel nennt das Dialektische auch das Negativ-Vernünftige. Was heißt für Hegel vernünftig? Das brauchen wir alles für Heraklit, auch wenn dort nicht die Rede davon ist. Teilnehmer: Von der Phänomenologie des Geistes her gesprochen ist die Vernunft die Aufhebung der Trennung von Subjekt und Objekt. Heidegger: Woher kommt die Terminologie Hegels? Teilnehmer: Von Kant. Heidegger: Wie charakterisiert Hegel Kants Philosophie? 184

| Teilnehmer: Als Reflexionsphilosophie. Heidegger: Und das heißt? Teilnehmer: Als das Geschiedensein zweier Momente. Heidegger: Welcher Momente? Was heißt Vernunft bei Kant? Teilnehmer: Vernunft ist für ihn das Denken der Ideen im Unterschied zum Verstand als dem Denken der Kategorien. Die Ideen sind regulative Prinzipien, in denen die Vernunft die Totalität denkt. Heidegger: Vernunft ist bei Kant also nicht unmittelbar auf die Erscheinun­ gen, sondern nur auf die Regeln und Grundsätze des Verstandes bezogen. Die Grundfunktion der Vernunft besteht darin, die höchste Einheit zu denken. Wenn Hegel sagt, das Dialektische ist das Negativ-Vernünftige, so besagt das: die abstrakte endliche Bestimmung hebt sich selbst auf und geht in ihre entgegengesetzte Bestimmung über. Dagegen ist das abstrakte Denken des Verstandes das Festhalten an der Bestimmung und ihrer Unter­ schiedenheit gegen andere. Das ganze Denken, der Gedanke Hegels spricht zunächst im Grundschema des Subjekt-Objekt-Verhältnisses. Das abstrakte Moment ist das Vorstellen, das ausgegeben ist an das Objekt ohne Rückbe­ ziehung auf das Subjekt. Es ist die Stufe der Unmittelbarkeit. Das Vorstellen ist an das unmittelbar gegebene Objekt ausgegeben ohne Rückbezug auf die Vermittlung. Wenn nun das Objekt qua Objekt, d. h. in der Rückbeziehung auf das Subjekt gedacht wird, wird die Einheit zwischen Objekt und Subjekt gedacht. Warum aber ist diese Einheit eine negative? Teilnehmer: Weil das Denken die Einheit noch nicht als Einheit eingese­ hen hat. 392

Offenständigkeit zwischen Göttern und Menschen

Heidegger: Denken Sie historisch-konkret an die synthetische Einheit der transzendentalen Apperzeption bei Kant. Sie ist die | Einheit in bezug auf die Objektivität. Für Hegel aber ist erst dieses Ganze selbst, d. h. Subjekt und Objekt in ihrer Einheit die positive Einheit, worin das Ganze des dialektischen Prozesses hinterlegt ist. Das Erblicken dieser Einheit, d. h. das Erblicken des abstrakten und dialektischen Moments in ihrer Einheit, ist das Spekulative. Das Spekulative als das Positiv-Vernünftige faßt die Einheit der Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung auf. Wenn Hegel Heraklit in den Zusammenhang seiner Logik bringt, wie denkt er dann das, was Heraklit über die Gegensätze sagt? Wie nimmt er das von Heraklit über die Gegensätze Gesagte im Unterschied zu dem auf, was wir versuchen? Er nimmt die gegensätzlichen Beziehungen bei Heraklit – von Kant her gesprochen – als Kategorienlehre auf der Stufe der Unmittelbarkeit, also im Sinne einer unmittelbaren Logik. Hegel sieht bei Heraklit nicht die kosmologischen Bezüge, wie Sie sie verstehen.

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Fink: Hegel interpretiert das Verhältnis der Gegensätze von der Vermitt­ lung her. Heidegger: Er versteht die ganze griechische Philosophie von der Stufe der Unmittelbarkeit her und sieht alles unter dem logischen Aspekt. Fink: Man könnte auch sagen, daß für Hegel bei Heraklit der Gedanke des Werdens von Bedeutung ist. Heraklit könnte man auch den Philosophen des Flüssigen nennen. Das Element des Flüssigen gewinnt für Hegel Modellcha­ rakter für die Auflösung der Gegensätze. Heidegger: Das Werden ist Bewegung, für die die drei Momente des Abstrakten, des Dialektischen und des Spekulativen das Ausschlaggebende sind. Diese Bewegung, diese Methode ist nach Abschluß der Logik für Hegel die Sache selbst. Der dritte Herakliteer neben Hölderlin und Hegel ist Nietzsche. Doch auf diese Frage einzugehen, würde jetzt zu weit führen. | Alles jetzt Gesagte habe ich nur berührt, um Ihnen zu zeigen, wo wir uns aufhalten. Unsere Heraklit-Interpretation hält sich in einer weiten Perspektive. Sie steht in der Zwiesprache mit der Überlieferung. Wir können überhaupt nur sprechen aus dem Gespräch, das für das Denken und vor allem für den Weg, auf dem wir uns bewegen, fundamental ist. – Vielleicht wäre es angebracht, wenn Sie, Herr Fink, jetzt im Ausgang vom Hinweis auf den Bezug der wechselseitigen Offenständigkeit der Götter und Menschen, der das Phänomen „den Tod eines anderen leben, das Leben eines anderen sterben“ charakterisiert, die weiteren Schritte, die Sie für den Fortgang des Seminars vor Augen haben, andeuten, damit die Teilnehmer sehen, wohin der Weg uns führen wird.

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Heraklit

Fink: Ich glaube, daß man von der Feuerlehre und den πυρὸς τροπαί die Frage nach dem Verhältnis von ἕν und πάντα weitertreiben muß, wofür wir die Hilfe von den Fragmenten bekommen, in denen das Leben-Tod-Verhältnis gedacht wird. Das Verhältnis der Götter und Menschen ist nicht gleichzu­ setzen mit dem Verhältnis von ἕν und πάντα. An der Offenständigkeit der Götter und Menschen füreinander haben wir gleichsam eine Bremse, das, was im Fragment 90 gesagt ist, nicht einfach als Umschlag vertrauter Art zu denken, entweder als Wandlungen eines Stoffes in andere Gestalten oder am Modell des Tauschverkehrs. Wir haben darauf hingewiesen, daß in χρυσός der Goldglanz mitgehört werden muß. Hier wird ein Verhältnis gedacht von lichthaftem Feuer zu dem, in das es sich wendet. Das Wenden dürfen wir nicht massiv verstehen im Sinne einer Stoffveränderung. Heidegger: Im κόσμος müssen wir das Glänzende, den Schmuck und die Zierde mitdenken, was für die Griechen ein geläufiger Gedanke ist. 187

Fink: Aber der schönste κόσμος ist auch ein hingeschütteter Kehrichthaufen, gemessen am Feuer. Wohl ist er in sich die | schönste Fügung, aber im Hinblick auf das ἕν gleicht er einem Kehrichthaufen. Heidegger: Zu dem Verhältnis der Götter und Menschen möchte ich noch etwas nachtragen. Das wechselseitige Sichverstehen habe ich die Offen­ ständigkeit genannt. Wenn aber die Götter in ihrem Verhältnis zu den Sterblichen das ἕν in seinem Verhältnis zu den πάντα repräsentieren, dann geht der ἕν-Charakter verloren, Fink: und zwar deshalb, weil die Götter als Repräsentanten des ἕν im Plural stehen und somit als Verfremdungsgestalten auftreten. In seiner Theologie aber, der wir uns später noch zuwenden werden, denkt Heraklit den Zusammenfall aller Gegensätze in Gott. – Um nun den weiteren Gang unserer Heraklit-Interpretation vorzudeuten: wir müssen den Versuch unternehmen, von den Fragmenten, die das Verhältnis von Leben und Tod und das Zwischenphänomen des Schlafes behandeln, überzugehen zu einer grundsätzlichen Erörterung aller Gegensätze und ihres Zusammenfalls in Gott und schließlich zu Zeus, mit welchem Namen das ἓν τὸ σοφὸν nicht will und doch will benannt werden. Vorher käme auch noch die Reihe der Fluß- und Bewegungsfragmente in Frage, dann das Problem der ἁρμονία ἀφανής, Leben und Tod in Leier und Bogen, die eigentliche Verschränkung von Leben und Tod in der Doppelbedeutung von Bogen, die Auslegung des Feuers als φῶς und als das, was σαφές macht, aufscheinen läßt und ins Licht bringt, und endlich der Charakter des σοφόν und der λόγος. Die Bahn unserer Heraklit-Interpretation bildet das Verhältnis von ἕν und πάντα. Unsere Auslegung beginnt mit den Erscheinungen des Feuers, geht dann über zu dem Verhältnis von Leben und Tod, zur Lehre von den Entgegensetzungen und dem Zusammenfall, zu den Bewegungsfragmenten, zu dem Fragment 394

Offenständigkeit zwischen Göttern und Menschen

über Gott und von dort zum ἓν τὸ σοφὸν μοῦνον und abschließend zu den λόγος-Fragmenten. Wichtig erscheint mir, zunächst ein vielfältiges Arsenal von Vorstellungen und Denkbahnen zu gewin|nen. Heraklit ope­ riert mit vielen Verhältnissen. Wenn er in den Schlaf-Fragmenten eine Differenzierung vornimmt, so ist diese nicht im Sinne des reichhaltigen Vokabulars, sondern von Verstehensbahnen aufzufassen. Er bewegt sich in einer Vielfalt von Verstehensbahnen. Wohl ist sein Grundgedanke relativ leicht zu formulieren, aber die Schwierigkeit liegt in der Brechung dieses Grundgedankens in den vielen Gedankenbahnen und Vorstellungen, mit denen er umgeht. Der Grundgedanke Heraklits ist in eine Vielzahl von Wegen gebrochen,

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Heidegger: was einen Einblick in τὰ πάντα gibt. Fink: Das Denken des Einen geschieht in einer mehrfältigen Weise. Wie bei Parmenides das ἕν in einer Vielzahl von σήματα angedacht wird, so bei Hera­ klit das Verhältnis von ἕν und πάντα in einer Vielzahl von Verstehensbahnen. Heidegger: Wohin gehören Götter und Menschen? Fink: In einer Hinsicht in die πάντα, in anderer Hinsicht in das ἕν. Heidegger: Die andere Hinsicht ist gerade das Interessante. Fink: Im Verhältnis der Götter und Menschen spiegelt sich das Verhältnis von ἕν und πάντα. Da das ἕν keine sachliche Einheit, sondern die Einheit des λόγος ist, sind Götter und Menschen die vom Blitz des λόγος Getroffenen. Sie sind mitgehörig in das λόγος-Geschehen. Heidegger: Götter und Menschen haben in ihrem Verschränkungsverhält­ nis eine Spiegelungsfunktion in bezug auf ἕν und πάντα. Fink: Heideggerisch gesprochen können wir sagen: Menschen und Götter gehören in einer Hinsicht in das Seiende, in der | wesentlicheren Hinsicht aber in das Sein. Diese Sonderstellung der Götter und Menschen unter allem Seienden, die sie nicht aufgehen läßt Heidegger: unter dem, was es gibt, Fink: ist sehr viel schwerer zu fassen. Götter und Menschen existieren als Seinsverstehen. Das göttliche und menschliche Seinsverständnis sind Weisen der Selbstlichtung des Seins. Heidegger: Das steht aber nicht bei Heraklit. Fink: Wir können die Lichtnatur des ἕν finden auf dem Wege über das Verhältnis der Götter und Menschen. Heidegger: Vielleicht ist hier die geeignete Stelle, um jetzt auf das Fragment 26 überzugehen. 395

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Fink: Zunächst möchte ich noch einmal auf das Fragment 88 zurückkom­ men: ταὐτό τʼἔνι ζῶν καὶ τεθνηκὸς καὶ [τὸ] ἐγρηγορὸς καὶ καθεῦδον καὶ νέον καὶ γηραιόνˑ τάδε γὰρ μεταπεσόντα ἐκεῖνά ἐστι κἀκεῖνα πάλιν μεταπεσόντα ταῦτα. Diels übersetzt: „Und es ist immer ein und dasselbe was in uns wohnt (?): Lebendes und Totes und Waches und Schlafendes und Junges und Altes. Denn dieses ist umschlagend jenes und jenes zurück umschlagend dieses.“ Hier wird ein ταὐτό ausgesagt, aber nicht ein Selbigsein eines vorfindlich Selbigen, nicht die leere Identität, die zu allem gehört, was es gibt, sondern ein Selbigsein, das bezogen ist auf Unterschiedenes. Es ist bezogen auf das, was uns am meisten unterschieden zu sein scheint. Die hier genannten Unterschiede sind nicht solche, die in beständiger Bewegung sind, sondern die alles Lebende betreffen. Für unser gewöhnliches Vorstellen haben Lebendigsein, Wachsein und Jungsein einen positiven Charakter gegenüber dem Totsein, Schlafendsein und Altsein. Aber das Fragment, das das Selbigsein aussagt, spricht nicht nur gegen das gewöhnliche Meinen des Vorrangs | des Lebenden, Wachenden und Jungen gegenüber dem Toten, Schlafenden und Alten, sondern es spricht darüber hinaus auch eine Zusammengehörigkeit der drei Gruppen selber aus. Das in der Mitte stehende Schlafendsein hat eine ausgezeichnete Zwischenstellung, von wo aus eine verstehende Offenständigkeit für das Totsein und das Altsein im Sinne des Verfallens möglich ist. Aber das Fragment sagt noch mehr. Nicht nur ist Lebendes und Totes, Waches und Schlafendes, Junges und Altes ein und dasselbe, sondern dieses ist umschlagend jenes und jenes wieder umschlagend dieses. Ein phänomenaler Umschlag ist nur zu sehen im Verhältnis von Wachen und Schlaf. Denn was aus dem Wachen in den Schlaf übergeht, kehrt auch wieder aus dem Schlaf zurück in das Wachen. Allein der Umschlag von Wachen in Schlaf ist umkehrbar. Dagegen ist der Umschlag vom Leben in den Tod und vom Jungsein in das Altsein im Phänomen nicht umkehrbar. Im Fragment wird aber gesagt: wie das Wachsein in das Schlafendsein übergeht und umgekehrt, so schlägt auch das Lebende in das Tote, das Tote in das Lebende und das Junge in das Alte, das Alte in das Junge um. Es behandelt den Unterschied von Wachendem und Schlafendem in derselben Weise wie den von Lebendem und Totem und von Jungem und Altem. Von wem aber wird dieser umkehrbare Umschlag ausgesagt? Der Ausdruck „wieder umschlagend“ erinnert an die ἀνταμοιβή, an den Wechselumsatz von Gold in Waren und Waren in Gold. Dort ist das Verhältnis des Umschlags bezogen auf das Verhältnis von ἕν und πάντα, sowie πάντα und ἕν. Die Frage ist, ob die zwar auf Lebendes bezogenen Übergänge, die im Fragment 88 genannt werden, ihren Ort innerhalb der Animalia haben, oder ob mit ihnen Umschläge im Sinne der πυρὸς τροπαί gemeint sind. Ist das ταὐτό von den Animalia gesagt oder aber vom πῦρ ἀείζωον, von dem wir hörten, daß es immer war und ist und sein wird (ἦν 396

Offenständigkeit zwischen Göttern und Menschen

ἀεὶ καὶ ἔστιν καὶ ἔσται), aber selbst damit kein innerzeitlich Andauerndes ist, sondern das Gewesensein, Gegenwärtigsein und Künftigsein der πάντα ermöglicht. Sind die im Fragment 88 genannten Umschläge zu denken als bloße Behaup|tungen über gegebene und nicht gegebene Phänomene in der animalischen Welt, oder betreffen sie das πῦρ ἀείζωον? Diese Frage wollen wir als Frage stehenlassen.

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Heidegger: Wie verhält sich ζῶν καὶ τεθνηκὸς aus Fragment 88 zu ζῶντες und τεθνεῶτες aus Fragment 62? Wie wird in dem einen und wie in dem anderen Fragment gesprochen? Fink: Im Fragment 62 sind ζῶντες und τεθνεῶτες bezogen auf Heidegger: die Weise des Seins der Unsterblichen und Sterblichen, im Fragment 88 dagegen ist ζῶν καὶ τεθνηκὸς bezogen auf Seiendes. Fink: Nicht auf Seiendes, sondern auf Lebendigsein und Totsein. ζῶν meint nicht ein Lebewesen, sondern das Lebende als Terminus für das Lebendsein, sowie τεθνηκός nicht ein Totes meint, sondern das Tote als Terminus für das Totsein. Das Entsprechende gilt auch für das Wache und Schlafende und für Junges und Altes. Waches und Schlafendes sind Termini für das Wachsein und Schlafendsein, und Junges und Altes Termini für das Jungsein und Altsein. Heidegger: Ist ζῶν im Fragment 88 nur der Singular vom Plural ζῶντες im Fragment 62? Sind auch im Fragment 88 Götter und Menschen gemeint? Fink: Das ζῶν καὶ τεθνηκὸς bezieht sich nicht nur auf Götter und Menschen, denn das Fragment 88 ist weiter gespannt. Von wem aber ist das Lebendsein und Totsein, das Wachsein und Schlafendsein, das Jungsein und Altsein dasselbe, von Lebewesen oder vom πῦρ ἀείζωον? Heidegger: Im Fragment 88 wird also etwas anderes gesagt als im Fragment 62. In ihm wird in einer weiteren Weise gesprochen. | Fink: ζῶν und τεθνηκός sind zu verstehen wie τὸ καλόν, τὸ δίκαιον. Wie ist der Artikel τὸ ἐγρηγορός zu verstehen? Herr Professor Heidegger hat darauf hingewiesen, daß es sich nicht um Verhältnisse und Gegenbezüge handelt, von denen wir einen Eigentümer angeben können. Im zweiten Satz des Fragments spricht Heraklit im Plural, der sich aber nicht auf Sachen, sondern auf die drei verschiedenen Verhältnisse bezieht. Von wem kann das ταὐτό nur gesagt werden? Der hier gedachte Zusammenfall bedeutet nicht nur einen solchen in eine unterschiedslose Indifferenz. Gemeint ist sogar ein gegenseitiges Umschlagen. Das μεταπεσόντα verweist auf das Fragment 90, in welchem die ἀνταμοιβή genannt ist, der Umtausch des Goldes gegen Waren und der Waren gegen Gold. Was aber im Fragment 88 umschlägt, sind nicht nur Dinge gegenüber der versammelnden Einheit, sondern der härtere 397

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Gegensatz des Lebendseins und des Totseins. Hier wird eine Selbigkeit ausgesprochen, die dem alltäglichen Meinen, das auf dem Unterschied von Leben und Tod besteht, ins Gesicht schlägt und ihm widerspricht. Deswegen ist die Frage beirrend, wo der Ort, die Stätte dieses Umschlags ist. Heidegger: Meint das Totsein (τεθνηκός) dasselbe wie das Gestorbensein? Fink: Ja, wenn τεθνηκός gegen ζῶν gesagt ist. Es bedeutet nicht das Leblose im Sinne des Minerals, Heidegger: also nicht die tote Natur. Ein Stein etwa ist nicht tot.

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Fink: Im Fragment 88 werden Leben und Tod, die wir im Phänomen nur in einem bestimmten Bereich kennen, auf das Gesamtverhältnis von ἕν und πάντα bezogen. Wir lassen allerdings diese Frage noch offen. Denn es läßt sich nicht ohne weiteres verifizierend sagen, was das ταὐτό ist. Wir können zunächst nur vermuten, daß sich das Selbigsein von Leben und Tod auf das | ἕν bezieht. Herr Professor Heidegger hat das Verhältnis von ἕν und πάντα als Verhalt, als Seins- und Weltverhalt gekennzeichnet. Wenn in dem ταὐτό aus dem Fragment 88 dieser Urverhalt angesprochen ist, dann ist allerdings vom Phänomen her ein Widerspruch anzumelden. Denn kein Toter wird wieder lebendig. Lebendes und Totes, Waches und Schlafendes, Junges und Altes sind Phänomene, die in gewisser Weise alle den Aufenthalt von Lebendigem in der Zeit meinen. Das Leben ist die Gesamtzeit eines Lebewesens, der Tod das Ende der Lebenszeit. Wachen und Schlafen bilden den Urrhythmus während des Lebens. Das Jungsein und Altsein zielen auf das Insein in der korrumpierenden Macht der Zeit, die nicht nur bringt, sondern auch alles nimmt. Für mich ist die Frage, ob das Verhältnis von ἕν und πάντα ein Verhältnis der Zeitigung ist. – Anschließend möchte ich eine Auslegung des Fragments 26 versuchen. Es lautet: ἄνθρωπος ἐν εὐφρόνῃ φάος ἅπτεται ἑαυτῷ [ἀποθανὼν] ἀποσβεσθεὶς ὄψεις, ζῶν δὲ ἅπτεται τεθνεῶτος εὕδων, [ἀποσβεσθεὶς ὄψεις] ἐγρηγορὼς ἅπτεται εὕδοντος. Diels übersetzt: „Der Mensch rührt (zündet sich) in der Nacht ein Licht an, wann sein Augenlicht erloschen. Lebend rührt er an den Toten im Schlaf; im Wachen rührt er an den Schlafenden.“ Dieses Fragment beginnt eindeutig mit dem Menschen. Der Mensch zündet sich in der Nacht ein Licht. Das Fragment 26 setzt an beim Menschen und seiner Fähigkeit, sich in der Nacht ein Licht anzuzünden, wenn seine ὄψις erloschen ist. Diels übersetzt ἀποσβεσθεὶς ὄψεις mit „wann sein Augenlicht erloschen“. So aber legt sich die Deutung nahe, daß der Mensch träumend sieht – daß er in der Finsternis während des Traumes in einem Licht ist. Den Plural ἀποσβεσθεὶς ὄψεις würde ich eher übersetzen mit „gelöscht in seinen Sichtweisen“. Der Mensch hat seinen unruhigen Ort zwischen Nacht und Licht. Das Fragment zielt auf den nicht festen Ort des Menschen zwischen Nacht und Licht. Er ist dem Licht nahe. Das zeigt sich dann, wenn er die Nacht zu lichten vermag. Der Mensch ist 398

Das „Logische“ bei Hegel ‒ „Bewußtsein“ und „Dasein“

eine Art prometheischer Feuerräuber. Er hat das Vermögen, in der Nacht das Licht aufgehen zu lassen, wenn seine Sichtweisen gelöscht sind, und zwar nicht, wenn er schläft, sondern wenn er | sich zum Dunkel verhält. „Lebend rührt er an den Toten im Schlaf; im Wachen rührt er an den Schlafenden.“ Leben und Tod sind hier durch die Zwischenstellung des Schlafes aneinander gebunden. Das Schlafen ist eine Weise des todverwandten Lebendseins, das Wachen ist eine Weise des im Licht sich aufhaltenden Anrührens an den Tod über den Bezug zum Schlafenden. Lebendsein und Wachsein, Schlafendsein, Totsein sind nicht drei Zustände, sondern drei mögliche Verhaltensweisen des Menschen, in denen er in die Nähe kommt zum dunkel Nächtigen und lichthaft Offenen.

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Heidegger: Wir müssen uns darüber klarwerden, was die Berührung (ἁφή) eigentlich meint. Später erscheint bei Aristoteles Metaphysik Θ 10 „die Berührung“ als θιγεῖν. Fink: Was wir jetzt über das Fragment 26 gesagt haben, ist nur eine Vordeutung auf die Schwierigkeit, bei der wir in der nächsten Sitzung ansetzen müssen.

| XI. Das „Logische“ bei Hegel ‒ „Bewußtsein“ und „Dasein“ ‒ Ortschaft des Menschenwesens zwischen Licht und Nacht (beigezogene Fragmente: 26, 10) Heidegger: Zunächst muß ich in bezug auf die vorige Seminarsitzung eine Korrektur vornehmen. An der Stelle, wo es hieß, Hölderlin interpretiere im Rückgriff auf das Heraklit-Wort ἓν διαφέρον ἑαυτῷ Sein bzw. Wahrheit als Schönheit, sagte ich versehentlich, daß derselbe Gedanke bei Hegel in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie zu finden sei. Stattdessen steht dieser Gedanke in den Vorlesungen über die Philosophie der Weltge­ schichte, und zwar im III. Band „Die griechische und die römische Welt“ der Ausgabe von Lasson, S. 570ff. „Das Sinnliche ist so nur Erscheinung des Geistes, hat die Endlichkeit abgestreift, und in dieser Einheit des Sinnlichen mit dem an und für sich Geistigen besteht das Schöne.“ (S. 575) „Der wahr­ hafte Mangel der griechischen Religion, gegen die christliche gehalten, ist also, daß in ihr die Erscheinung die höchste Weise, überhaupt das Ganze des Göttlichen ausmacht, während in der christlichen Religion das Erscheinen nur als ein Moment des Göttlichen angenommen wird.“ (S. 580) „Wenn aber das Erscheinen die perennierende Form ist, so ist der Geist, der erscheint, in seiner verklärten Schönheit ein Jenseitiges für den subjektiven Geist, […].“ (S. 581) Hegel denkt hier die Identität von Erscheinung und Schönheit, die 399

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auch für den frühen Hölderlin bezeichnend und wesentlich ist. Auf die Aus­ führungen Hegels können wir im einzelnen nicht eingehen, doch empfehle ich Ihnen, gelegentlich seine Vorlesungen über die Philosophie der Weltge­ schichte nachzulesen. Dann gewinnen Sie eine andere Vorstellung von Hegel, der viel von den Griechen geahnt hat, etwa wenn er Apollo als den wissenden Gott, als den Gott des Wissens, als den sprechenden, prophezei­ enden, | weissagenden, alles Verborgene ans Licht bringenden, ins Dunkel schauenden Gott, als den Gott des Lichts und das Licht als das alles zur Erscheinung Bringende denkt. ‒ Außerdem habe ich noch eine Unterlassung nachzuholen. Wir haben in der letzten Sitzung über die drei Momente des Logischen bei Hegel gesprochen, über das abstrakt-verständige, das dialek­ tische und das spekulative. Was aber haben wir dabei unterlassen? Teilnehmer: Wir haben nicht mehr danach gefragt, was wir hinsichtlich unseres eigenen Vorgehens unter dem Spekulativen im Unterschied zu Hegel verstehen. Denn die Frage nach der Bedeutung des Spekulativen bei Hegel tauchte dadurch auf, daß einer der Teilnehmer unseren Denkversuch im Ausgang von Heraklit durch den Ausdruck des spekulativen Sprungs cha­ rakterisierte. Heidegger: Auf diese Frage kommen wir erst später zu sprechen. Bleiben wir zunächst noch innerhalb der Philosophie Hegels. Bei der Klärung der drei Momente des Logischen folgten wir dem Text Hegels. Was aber gibt es zu fragen, wenn man von den drei Momenten des Logischen bei Hegel spricht? Teilnehmer: Man könnte vielleicht sagen, daß das dialektische und das spekulative Moment als zwei Seiten der Negativität auftreten. Heidegger: Auf die Negation und Negativität wollen wir nicht eingehen. Teilnehmer: Wir haben vergessen, nach der Totalität der drei Momente selbst zu fragen.

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Heidegger: Wie wollen Sie den Gang der drei Momente bestimmen? Das Abstrakte, Dialektische und Spekulative bilden kein Nebeneinander. Worauf aber müssen wir zurückgehen, um auszumachen, wie die drei Momente zusammengehören? | Als ich nachträglich über den Verlauf unseres Gesprächs nachdachte, erschrak ich über unsere Nachlässigkeit. Teilnehmer: Wir müssen fragen, wo innerhalb des Systems die Logik ihren Ort hat. Heidegger: So weit brauchen wir gar nicht zu gehen, sondern wir müs­ sen fragen, Teilnehmer: was das Logische bei Hegel bedeutet. Heidegger: Wir haben also von den drei Momenten des Logischen gespro­ chen, dabei aber nicht über das Logische selbst nachgedacht. Wir haben 400

Das „Logische“ bei Hegel ‒ „Bewußtsein“ und „Dasein“

unterlassen zu fragen, was Hegel mit dem Logischen meint. Ein Mensch sagt z. B.: das ist logisch. Oder aber man kann den Satz hören: die große Koalition ist logisch. Was heißt hier logisch? Teilnehmer: In der Einleitung zur Wissenschaft der Logik sagt Hegel, daß der Inhalt der Logik „die Darstellung Gottes ist, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist“. Heidegger: Bleiben wir zunächst bei dem, was „logisch“ im gewöhnlichen Sinne, d. h. für den Mann auf der Straße heißt. Teilnehmer: Es heißt soviel wie „in sich schlüssig“. Heidegger: Also „folgerichtig“. Meint das aber Hegel, wenn er von den drei Momenten des Logischen spricht? Offenbar nicht. Wir haben uns also nicht klargemacht, wovon wir sprechen. Im Paragraphen 19 der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften sagt Hegel: „Die Logik ist die Wissenschaft der reinen Idee, das ist, der Idee im abstrakten Elemente des Denkens.“ Wir wollen uns nicht lange mit Hegel abgeben. Es kommt mir nur darauf an, die Kluft deutlich zu machen, die uns von | Hegel trennt, wenn wir bei Heraklit sind. Was heißt bei Hegel „Wissenschaft der reinen Idee“, was ist für ihn die Idee? Teilnehmer: Das vollständige Sichselbstbegreifen des Gedankens. Heidegger: Was setzt Hegels Begriff der Idee voraus? Denken Sie an Platos ἰδέα. Was hat sich zwischen der Platonischen Idee und der Idee Hegels ereignet? Was ist inzwischen geschehen, wenn die Neuzeit und Hegel von der Idee sprechen? Teilnehmer: Inzwischen nahm Platos ἰδέα den Weg zum Begriff. Heidegger: Sie müssen etwas vorsichtiger sein. Die Idee wird bei Descartes zur perceptio. Damit wird sie vom Vorstellen des Subjekts, also von der Subjektivität her gesehen. Die absolute Idee Hegels ist dann das vollständige Sichwissen des absoluten Subjekts. Sie ist der innere Zusammenhang der drei Momente im Prozeßcharakter des Sichselbsterscheinens des absoluten Geistes. In diesem Absoluten spricht trotz der Subjektivität immer noch Platos Gedanke der Idee, das Sichzeigen mit hinein. Weshalb kann nun Hegel sagen, die Idee ist das Denken? Das muß uns paradox erscheinen, wenn man den Satz Hegels unmittelbar liest. Der Satz ist nur zu verstehen, wenn man beachtet, daß die Platonische Idee bei Descartes zur perceptio wird. Davor noch werden die Ideen zu den Gedanken Gottes und gewinnen Bedeutung für die creatio. Wir geben nur diese kurze Bestimmung des Logischen bei Hegel, um zu sehen, wovon wir reden, wenn wir die drei Momente des Logischen nennen. Das Logische ist ein Titel bei Hegel, der volles Gewicht hat und eine Fülle in sich birgt, die man nicht schnell 401

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und leicht fassen kann. Im Paragraphen 19 der Enzyklopädie heißt es u. a.: „Insofern aber das Logische die absolute Form der Wahrheit und noch mehr als dies, auch die reine Wahrheit selbst ist, ist es ganz etwas anderes als bloß etwas Nützliches.“ Was heißt hier Wahrheit? | Was muß man mitdenken, wenn man Hegels Begriff der Wahrheit verstehen will? Denken Sie zurück an das, was wir schon gesagt haben: die Idee wird zur clara et distincta perceptio, und diese hängt bei Descartes zusammen mit der Teilnehmer: certitudo. Heidegger: Also mit der Gewißheit. Um Hegels Begriff der Wahrheit verstehen zu können, müssen wir mitdenken die Wahrheit als Gewißheit als Ort im absoluten Sichselbstwissen. Nur so läßt sich verstehen, daß das Logische die reine Wahrheit von sich selbst sein soll. Dieser Hinweis auf die Bedeutung des Logischen bei Hegel ist wichtig, wenn wir später – wenn auch nicht mehr in diesem Semester – auf den logos bei Heraklit zu sprechen kommen. – Jetzt liegt mir noch an einer Klärung. Sie, Herr Fink, sprachen davon, daß das göttliche Wissen um die Todgeweihtheit der Menschen kein bloßes Bewußtsein, sondern ein verstehendes Verhältnis ist. Sie stellen also das verstehende Verhältnis, das wir auch die Offenständigkeit genannt haben, dem bloßen Bewußtsein gegenüber. Fink: Ein bloßes Bewußtsein von etwas wäre z. B. gegeben, wenn man sagt: der Mensch weiß als Belebtes um die Unbelebtheit der Natur. Hier könnte man von einem bloßen Wissensverhältnis sprechen, obwohl ich glaube, daß es sich auch hier um mehr als nur um ein Bewußtsein von … handelt. Zum Sichselbstverstehen der Götter gehört nicht nur das Seinsverständnis des unvergänglichen Seins, sondern als implizite Komponente auch das Seinsverständnis des Vergänglichseins. Das göttliche Seinsverständnis ist nicht neutraler Art, sondern rückbetroffen vom Vergänglichsein der Men­ schen. Die Götter verstehen ihr seliges Sein in der Rückbetroffenheit von der Hinfälligkeit der Sterblichen.

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Heidegger: Wenn Sie sagen: der Bezug der Götter zur Todgeweihtheit der Sterblichen ist kein bloßes Bewußtsein, dann | meinen Sie, daß er kein bloßes Vorstellen der Menschen ist, daß sie so und so sind. Sie sagten: der Bezug der Götter zu den Menschen ist ein verstehendes Verhältnis, und meinen ein sichverstehendes Verhältnis. Fink: Die Götter können ihr Sein nur haben, sofern sie offenständig sind für die Sterblichen. Die Offenständigkeit für die Sterblichen und ihr Ver­ gänglichsein könnte bei ihnen nicht fehlen. Das dürfen wir aber nicht so verstehen, wie etwa Nietzsche mit Thomas v. Aquino über die Seligkeit des Paradieses sagt, daß die Seligen die Qualen der Verdammten schauen werden, damit Ihnen die Glückseligkeit mehr gefalle. (Zur Genealogie der 402

Das „Logische“ bei Hegel ‒ „Bewußtsein“ und „Dasein“

Moral, erste Abhandlung, 15) Die Unsterblichen sind unablegbar θνητοί. Sie wissen ihr ewiges Sein nicht nur aus der schauenden Betrachtung (θεωρία), sondern zugleich in der Rückbetroffenheit vom Vergänglichsein der Sterblichen. Sie sind von der Todgeweihtheit der Menschen affiziert. Es ist schwierig, hier den rechten Terminus zu finden. Heidegger: Auf diesen Punkt will ich gerade hinaus. Ob wir die terminolo­ gisch angemessene Form finden, ist eine andere Frage. Die Offenständigkeit ist nicht so etwas wie ein offenes Fenster oder wie ein Durchgang. Die Offenständigkeit des Menschen zu den Dingen meint nicht, daß da ein Loch ist, durch das der Mensch hindurchsieht, sondern die Offenständigkeit für … ist das Angegangensein von den Dingen. Ich komme darauf zu sprechen, um den fundamentalen Bezug zu klären, der beim Verständnis dessen, was in Sein und Zeit mit dem Wort „Dasein“ gedacht wird, eine Rolle spielt. Meine Frage zielt jetzt ab auf das Verhältnis von Bewußtsein und Dasein. Wie ist das Verhältnis zu klären? Wenn Sie „Bewußtsein“ auch noch als Titel für die Transzendentalphilosophie und den absoluten Idealismus nehmen, so ist mit dem Titel „Dasein“ eine andere Position bezogen worden. Diese andere Position wird oft übersehen oder nicht genügend beachtet. Wenn man von Sein und Zeit spricht, denkt man zunächst an das „Man“ oder an die „Angst“. | Beginnen wir bei dem Titel „Bewußtsein“. Ist es nicht eigentlich ein merkwürdiges Wort? Fink: Bewußtsein ist eigentlich auf die Sache bezogen. Sofern die Sache vorgestellt ist, ist sie ein bewußtes Sein und nicht ein wissendes Sein. Wir aber meinen mit Bewußtsein den Vollzug des Wissens. Heidegger: Bewußt ist eigentlich der Gegenstand. Bewußtsein bedeutet dann soviel wie Gegenständlichkeit, die identisch ist mit dem obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile apriori bei Kant: die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung. Beim Bewußtsein handelt es sich um ein Wissen, und das Wissen wird gedacht als Vorstellen, wie etwa bei Kant. Und wie ist es nun mit dem Dasein? Wenn wir pädagogisch vorgehen wollen, wovon müssen wir dann ausgehen? Teilnehmer: Wir können dabei vom Wort ausgehen. Der Begriff „Dasein“ bei Kant bedeutet Wirklichsein. Heidegger: Der Wirklichkeitsbegriff bei Kant ist ein dunkles Problem. Wie aber ist der Begriff des Daseins im 18. Jahrhundert entstanden? Teilnehmer: Als Übersetzung für existentia. Heidegger: Dasein heißt dann: gegenwärtig anwesend sein. Wie aber ist nun von der Hermeneutik des Daseins in Sein und Zeit aus das Wort „Dasein“ zu verstehen? 403

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Heraklit

Teilnehmer: Die Hermeneutik in Sein und Zeit geht aus vom Dasein, wobei sie dieses nicht in der herkömmlichen Weise als Vorhandensein versteht. 202

| Heidegger: Im Französischen wird Dasein mit être-là übersetzt, so z. B. bei Sartre. Doch damit ist alles das, was in Sein und Zeit als neue Position gewonnen wurde, verlorengegangen. Ist der Mensch so da, wie der Stuhl? Teilnehmer: „Dasein“ in Sein und Zeit meint nicht das pure Faktischsein des Menschen. Heidegger: Dasein heißt nicht Dort- und Hiersein. Was heißt das „Da“? Teilnehmer: Es bedeutet das in sich Gelichtetsein. Das Sein des Menschen als des Daseins ist kein pures Vorhandensein, sondern ein Gelichtetsein. Heidegger: In Sein und Zeit wird Dasein wie folgt geschrieben: Da-sein. Das Da ist die Lichtung und Offenheit des Seienden, die der Mensch aussteht. Das Wissen des Bewußtseins, das Vorstellen ist etwas total anderes. Wie verhält sich das Bewußtsein, das Wissen als Vorstellen, zum Dasein? Sie dürfen dabei nicht nachdenken, sondern Sie müssen sehen. Herr Fink hat darauf hingewiesen, daß das Bewußtsein eigentlich das Wissen vom Gegenstand ist. Worin gründet die Gegenständlichkeit und das Vorgestellte? Teilnehmer: Im Vorstellen. Heidegger: Mit dieser Antwort gibt sich Kant zufrieden und mit ihm der absolute Idealismus der absoluten Idee. Was aber wird dabei unterschlagen? Fink: Das, worin Bewußtsein und Gegenstand spielen.

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Heidegger: Also die Lichtung, in der Anwesendes einem anderen Anwesen­ den entgegenkommt. Die Gegenständigkeit für … setzt voraus die Lichtung, in der Anwesendes dem Menschen | begegnet. Das Bewußtsein ist nur möglich auf dem Grunde des Da als ein von ihm abgeleiteter Modus. Von hier aus muß man den geschichtlichen Schritt verstehen, der in Sein und Zeit mit dem Ansatz beim Dasein gegenüber dem Bewußtsein gemacht ist. Das ist eine Sache, die man sehen muß. Ich habe darauf hingewiesen, weil dieses Verhältnis für uns noch eine Rolle spielen wird neben dem anderen Verhältnis von ἕν und πάντα. Beide Verhältnisse gehören zusammen. Bei Heraklit steht, auch wenn nicht direkt davon die Rede ist, im Hintergrund die ἀλήθεια, die Unverborgenheit. Er spricht auf dem Grunde dieses von ihm nicht weiter Gedachten. Von hier aus ist auch das zu verstehen, was ich in der letzten Sitzung sagte: das ἕν ist das Ver-hältnis der πάντα. Das Ver-halten und Halten heißt hier zunächst Hüten, Bewahren und Gewähren im weitesten Sinne. Dieses Halten wird für uns im Laufe der Zeit, d. h. im Durchgang durch die Fragmente Heraklits inhaltlich erfüllt. Herr Fink hat schon mehrfach darauf hingewiesen, daß alle Bestimmungen des ἕν, wie Blitz, Sonne, Horen und Feuer, keine Bilder, sondern Kennzeichnungen sind, 404

Das „Logische“ bei Hegel ‒ „Bewußtsein“ und „Dasein“

die das Halten und die Art und Weise, wie τὰ πάντα für das ἕν sind, und das ἕν selbst charakterisieren als das Einigende, Versammelnde Fink: und Entlassende. Dieses Verhältnis von ἕν und πάντα müssen wir kontrastieren gegen die Naivauffassung, wonach das ἕν wie ein Behältnis, wie ein Topf gedacht wird, in welchem alle πάντα sind. Dieses ontisch bekannte Umfassungsverhältnis kann man nicht auf den Bezug von ἕν und πάντα anwenden. Heidegger: Süddeutsch heißt Topf: Hafen. Das ist dasselbe Wort wie ἅπτεσθαι. Hierzu gehört auch das Wort „Habicht“, d. h. der Vogel, der faßt. Die Sprache ist viel denkender und eröffnender als wir. Doch das wird man vermutlich in den nächsten Jahrhunderten vergessen. Niemand weiß, ob man einmal wieder darauf zurückkommen wird. Fink: In der letzten Sitzung haben wir damit begonnen, das Fragment 26 zu bedenken und einige Elemente herauszustellen: | die eigentümliche Situation des Menschen als eines Wesens, das als Feuer zündend zwischen Nacht und Licht geortet ist. Heidegger: Für mich bereitet schon die Art, in der das Fragment von Clemens angeführt wird, eine Schwierigkeit. Wenn ich den Kontext von Cle­ mens lese, so ist mir unklar, in welchem Zusammenhang und aus welchem Motiv er das Fragment 26 zitiert. Dort heißt es: ὅσα δʼαὖ περὶ ὕπνου λέγουσι, τὰ αὐτὰ χρὴ καὶ περὶ θανάτου ἐξακούειν. ἑκάτερος γὰρ δηλοῖ τὴν ἀπόστασιν τῆς ψυχῆς, ὃ μὲν μᾶλλον, ὃ δὲ ἧττον, ὅπερ ἐστὶ καὶ παρὰ ‛Hρακλείτου λαβεῖν. Der erste Satz lautet übersetzt: „Was sie über den Schlaf sagen, dasselbe muß man auch hören mit bezug auf den Tod.“ Wie dieser Text mit dem Fragment 26 zusammenhängen soll, ist für mich unverständlich. Ich selber kann keinen Zusammenhang finden. Der Text von Clemens ist für mich im Zusammenhang mit dem Fragment 26 unverständlich, weil im Fragment nichts von der ἀπόστασις τῆς ψυχῆς zu finden ist. Der Text des Clemens ist ein ganz anderer als der des Fragments. Eine andere Schwierigkeit ist für mich folgende. Heraklit sagt: Der Mensch zündet sich in der Nacht ein Licht an, wenn sein Augenlicht erloschen ist. Ist das nur so zu denken, daß der Mensch im Dunkeln ein Licht anzündet, entweder mit dem Streichholz oder durch den Druck auf einen Knopf? Fink: Ich würde meinen, daß die Grundsituation, von der aus im Fragment gesprochen wird, die Situiertheit des Menschen zwischen Nacht und Licht ist. Der Mensch kommt nicht nur wie andere Lebewesen zwischen Nacht und Licht vor, sondern er ist ein Lebewesen, das zu Nacht und Licht im Verhältnis steht und nicht von der Nacht und dem Dunkel überfallen wird. Wenn seine ὄψις gelöscht ist, hat er als das dem Feuer affinite Wesen die Fähigkeit, Feuer und Licht hervorzubringen. Der Mensch verhält sich zu Nacht und Tag. 405

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Heraklit

Heidegger: Bleiben wir zunächst bei Nacht und Tag. 205

Fink: Die Situation des Menschen ist eine andere als die der Lebewesen, die der Nacht und dem Tage ausgeliefert sind. Wenn | es für den Menschen Nacht ist, dann ist das Licht erloschen. Wohl gibt es das Sehen des Dunkeln. Die ὄψις bedeutet hier nicht Sehfähigkeit, sondern die Sehfähigkeit in actu. Wenn seine ὄψις erloschen ist, heißt daher: wenn seine Sehfähigkeit nicht mehr in actu ist. Die Sehfähigkeit als solche erlischt nicht mit dem Einbrechen der Dunkelheit. Wir sagen auch nicht, daß der Mensch nur hört, wenn er Laute hört. Denn er hört auch die Stille. Heidegger: Im Dunkeln sieht der Mensch nichts. Fink: Dennoch sieht jeder Mensch etwas im Dunkeln. Heidegger: Ich will gerade darauf hinaus, was das Erlöschen meint. Fink: Das Erlöschen kann ein Zwiefaches bedeuten: einmal bezieht es sich auf das Nichtsehen im Dunkeln, das andere Mal auf das Nichtsehen im Schlaf. Heidegger: Lassen wir den Schlaf noch beiseite. Im Phänomen müssen wir unterscheiden zwischen dem „im Dunkeln nichts sehen“ und dem „nicht sehen“. Wenn wir nun vom Verlöschen der Sicht sprechen, so ist mir das noch nicht deutlich genug geklärt. Nicht sehen heißt, Fink: daß das Sehvermögen zu ist. Beim offenen Sehvermögen sehen wir im Dunkeln nichts Bestimmtes. Das ist aber immer noch ein Sehen. Heidegger: Mir geht es jetzt darum zu bestimmen, was durch das Erlöschen der ὄψις negiert wird.

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Fink: Man kann das Fragment 26 so lesen: der Mensch zündet sich im Traum ein Licht an. Doch diese Art zu lesen erscheint mir als fragwürdig. Wenn wir sagen: der Mensch ist gelöscht | in bezug auf die ὄψις, so kann das entweder die Verschlossenheit des Sehvermögens oder aber das Nichtantreffen von Sichtbarem wegen der Dunkelheit bedeuten. Was das letztere anbetrifft, so ist das Sehvermögen offen, aber wir können in der Dunkelheit nichts Bestimmtes ausmachen. Heidegger: Im Dunkeln sehe ich nichts, und dennoch sehe ich. Fink: Ähnlich ist es beim Hören. Etwa ein Wachtposten lauscht angestrengt in die Stille hinein, ohne daß er etwas Bestimmtes hört. Wenn er auch keinen bestimmten Laut hört, so hört er doch. Sein Horchen ist die gespannteste Wachheit des Hörenwollens. Das Horchen ist die Bedingung der Möglich­ keit des Hörens. Es ist das Offensein für den Raum des Hörbaren, während das Hören das Antreffen von bestimmtem Hörbaren ist.

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Das „Logische“ bei Hegel ‒ „Bewußtsein“ und „Dasein“

Heidegger: Wenn wir das über das „nichts sehen“ und das „nicht sehen“ Gesagte auf die Situation hindenken, in der der Mensch sich mit einem Licht, etwa mit einer Kerze zu schaffen macht, wie ist dann das ἑαυτῷ aus dem Fragment 26 zu verstehen? Mir geht es darum, das ἑαυτῷ zu retten. Fink: Ich halte es nicht für pleonastisch. Der Mensch hat die dem Tag verwandte Fähigkeit zu lichten, wenn auch im Vergleich zum Tag in einer hinfälligen Art. Die Lichtungskraft des Menschen ist etwas anderes als das Licht, das mit dem Tag kommt. Das von ihm angezündete Licht ist das kleine Licht im großen Dunkel der Nacht. Heidegger: Wenn er ein kleines Licht in der Nacht anzündet, so tut er das, damit ihm durch das Licht im Dunkeln noch etwas gegeben ist. Fink: Das kleine Licht steht im Gegensatz zum rhythmisch uns überkom­ menden großen Licht des Tages, das kein Dunkel um sich hat. Der Mensch ist das lichtverwandte Wesen, das zwar | Licht zünden kann, aber niemals so, daß es die Nacht völlig zu vertilgen vermag. Das von ihm entfachte Licht ist nur eine Insel im Dunkel der Nacht, weshalb sein Ort deutlich zwischen Tag und Nacht gekennzeichnet ist. Heidegger: Sie unterstreichen die Nacht und verstehen sie spekulativ. Wenn wir aber zunächst beim Dunkeln bleiben: im Dunkeln, in der Dämmerung zündet der Mensch ein Licht an. Hängt dieses Dunkel, worin er ein Licht zündet, nicht mit dem Licht zusammen, von dem Sie sprechen? Fink: Dieses Licht, das der Mensch zündet, ist schon ein Abkömmling. Alle Erdenfeuer und die, welche die Feuer zündenden Wesen entfachen, sind wie bei Platon Abkömmlinge. Die Götter verhalten sich nicht in derselben Weise wie die Menschen zu Licht und Nacht. Der Mensch hat ein janushaftes Gesicht: er ist sowohl dem Tag als der Nacht zugekehrt. Heidegger: Der Mensch, der in bezug auf die Sehmöglichkeiten erlischt, zündet ein Licht an. Jetzt wird das ἀποσβεσθεὶς ὄψεις deutlicher. Es heißt also: wenn er wegen der Dunkelheit nichts sehen kann, nicht aber: wenn er nicht sehen kann. Fink: ὄψεις übersetze ich mit Sichtmöglichkeiten. Heidegger: Das verstehe ich nicht ganz. Fink: Der Mensch zündet im Dunkel sich ein kleines Licht an, gemessen an dem großen Licht. Heidegger: Ich möchte noch beim kleinen Licht bleiben, damit wir das ἑαυτῷ klären und retten. Fink: ἑαυτῷ übersetze ich mit: für sich Heidegger: Was aber heißt: für sich? 407

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| Teilnehmer: Es meint, daß das kleine Licht ein Privatlicht ist Fink: gegenüber dem großen. Heidegger: ἅπτεται ἑαυτῷ: warum zünde ich für mich eine Kerze an? Doch offenbar deshalb, damit sie mir etwas zeigt. Diese Dimension muß mit hineingenommen werden. Fink: Ich möchte den Inselcharakter des kleinen Lichts akzentuieren, in welchem sich mir noch einiges zeigt. Das kleine Licht im Dunkel der Nacht ist ein fragmentarisches, insularisches Licht. Weil der Mensch nicht im großen Licht wohnt, gleicht er den Nachteulen (νυκτερίδες), d. h. befindet er sich auf der Grenze zwischen Tag und Nacht. Er ist ausgezeichnet als lichtverwandtes Wesen, das aber zugleich im Verhältnis zur Nacht steht. Heidegger: Wodurch wird das Verhältnis zur Nacht angezeigt? Fink: Zuerst heißt es: der Mensch zündet sich in der Nacht ein Licht an. Dann heißt es weiter: im Schlaf rührt er an den Toten, im Wachen an den Schlafenden. Der Schlaf ist die Dämmernis des Lebens. Der Mensch existiert nicht in der vollen Fülle des Lebens, sofern er über den Schlaf an den Toten rührt. Der Tote steht in einem Bezug zur Nacht. Heidegger: Was heißt „rühren“? Fink: Rühren meint hier nicht das Betasten, sondern zielt auf ein Angren­ zungsverhältnis. Und auch hier gilt es zu beachten: es handelt sich nicht um ein einfaches Angrenzen, sondern um ein Verhältnis der Angrenzung. Heidegger: Wenn ich hier auf dem Tisch die Kreide an das Glas lege, so sprechen wir von einer einfachen Angrenzung beider Dinge aneinander.

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| Fink: Wenn aber der Mensch über den Schlaf an den Toten rührt, so grenzt er nicht an den Toten an wie die Kreide an das Glas. Er rührt im Schlaf verhaltend an das Dunkle. Heidegger: Es handelt sich also um ein offenständiges Rühren. Das hängt damit zusammen, daß das angezündete Licht auch eine Offenständigkeit für den kleinen Umkreis im Zimmer, das durch die Kerze erhellt wird, gewährt. Ich möchte, daß das Fragment 26 und vor allem das ἅπτεται ἑαυτῷ in die Dimension des offenständigen Bezugs kommt. Sie gehen mir zu rasch in die spekulative Dimension über. Fink: Indem sich der Mensch zum begrenzten Lichtraum verhält, verhält er sich zugleich zu dem, was die Offenständigkeit abstößt. Man müßte ein Wort finden, um den Bezug des Menschen nicht nur zum Offenen, sondern auch zur Nacht, die das Offene umsteht, sprachlich fassen zu können.

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Heidegger: Das Dunkel ist, wenn in ihm ein Licht angezündet wird, in gewisser Weise auch eine Offenheit. Dieses dunkle Offene ist nur möglich in der Lichtung im Sinne des Da. Fink: Ich möchte meinen, daß wir die Verborgenheit des Dunklen nicht nur aus dem Verhältnis der Lichtung des Da denken dürfen. Es besteht die Gefahr, daß man das Dunkle nur als Grenze des Offenstehens, als äußere Umwandung des Offenen versteht. Ich möchte vor allem darauf hinweisen, daß sich der Mensch zugleich zum Offenen und zum bergenden Dunkel verhält. Heidegger: Dieses, von dem Sie sprechen, mag zutreffen, aber ist zunächst im Fragment nicht gesagt. Die Dimension, die Sie im Blick haben, will ich nicht bestreiten. Fink: Gehen wir aus von der Situation des Lichts in der Nacht. Jemand zündet eine Fackel in der Nacht an. Sie wirft einen | Schein auf den Weg, so daß man sich auf dem Wege orientieren kann. Indem er sich im Hellen bewegt und sich zu ihm verhält, verhält er sich zugleich auch zum bedrohenden Dunkel, für das er verstehend offen ist, wenn auch nicht in der Weise der Offenständigkeit. Die Lichtung im bergenden Dunkel hat ihre Begrenzung. Die ἀλήθεια wird von der λήθη umstanden. Heidegger: Ich lege bei dem Fragment 26 gerade auf das Verhältnis der Offenständigkeit das Gewicht. Fink: Das Fragment spricht nicht von der Helligkeit, sondern vom Licht in der Nacht. Es spricht von der merkwürdigen Stellung des Menschen zwischen Licht und Nacht, der über den Schlaf todoffen und todbezogen ist. Die Todbezogenheit gehört auch zum Verständnis des Wachenden. Denn der Wachende rührt an den Schlafenden und der Schlafende an den Toten. Heidegger: Zunächst bin ich noch beim Licht in der Nacht. ἀποθανών wird von Wilamowitz als Glosse gestrichen. Teilnehmer: Wenn man das ἀποθανών beibehält, rückt das Fragment in die Sinn-Nähe der orphisch-eleusinischen Weltbetrachtung. Dann verändert sich auch der Sinn der εὐφρόνη. Heidegger: Wie verstehen Sie das ζῶν? Vom ζῶν δὲ her braucht man doch das ἀποθανών nicht zu streichen? Teilnehmer: ἀποθανών ist eine Glosse zu ἀποσβεσθεὶς ὄψεις. Heidegger: ἀποσβεσθεὶς ὄψεις hieße dann, auf ἀποθανών bezogen: nachdem das Sehvermögen weggenommen ist. Fink: Dann aber rückt das Fragment in den Bereich einer mystischen Behauptung, die ich nicht nachvollziehen kann. 409

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Heidegger: Alles, was im Fragment auf das ἑαυτῷ folgt, ist für mich rätselhaft. Ich sehe nicht den Duktus des Fragments. Um | was handelt es sich in diesem Text? Drei Mal wird von einem ἅπτεται gesprochen, und jedes Mal in einem anderen Bezug. Einmal heißt es: der Mensch rührt (zündet sich) in der Nacht ein Licht an. Dann heißt es: lebend rührt er im Schlaf an den Toten, im Wachen rührt er an den Schlafenden. Wo bringen wir das ἅπτεται unter? Fink: Zuerst spricht Heraklit vom ἅπτεται in bezug auf φάος. Im Feuerzünden ist auch das Anrühren gemeint. Wenn der Mensch das Zwischenwesen ist zwischen Licht und Nacht, dann ist er auch das Zwischenwesen zwischen Leben und Tod, das Wesen, das schon im Leben dem Tode nah ist. Im Leben rührt er schlafend an den Tod, wachend an den Schlafenden. Das ἅπτομαι meint eine innigere Weise als nur das abstrakte Vorstellen. Der Schlaf bildet die Mitte zwischen Leben und Tod. Der Schlafende hat das Tätigkeitslose des Toten und das Atmende des Lebenden. Heidegger: Was heißt „wach“? Fink: Der Wache ist der, der in der vollen Offenständigkeit steht. Heidegger: Wach hängt zusammen mit „wecken“. Teilnehmer: Im Aufwachen rührt man an den Schlaf. Das Aufwachen ist das Gegenstück zum Einschlafen. Heidegger: Sie meinen also: im Aufwachen haben wir den Schlaf gerade noch am Zipfel? Im Fragment aber handelt es sich um einen Wesensbezug von Wachen und Schlaf und von Schlaf und Tod Fink: und nicht um eine zufällige Gegebenheit. Hier geht es um den Menschen als das Zwischen-Nacht-und-Tag.

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Heidegger: Für mich ist das Zwischen noch nicht da. Wir nennen einen wachen Menschen auch einen aufgeweckten, munteren | Mann. Er hat seinen Sinn auf etwas gerichtet. Er existiert, indem er seine Bezüge auf etwas gerichtet hat. Fink: Das Verhältnis zwischen Wachen und Schlaf ist ähnlich wie das zwischen Göttern und Menschen. Zum Selbstverständnis des Wachseins gehört das Sichverhalten zu dem alle Wachheit unterlaufenden Schlaf. Heidegger: Das Aufgewecktsein schließt in sich den Bezug zur Schläfrigkeit. Das ist natürlich nicht im Fragment 26 gemeint. Es handelt sich hier nicht um äußere Verhältnisse, sondern um innere Bezüge. Wie zum Sichselbst­ verstehen des Gottes das verstehende Sichverhalten zum Sterblichsein der Menschen gehört, so gehört auch zum Selbstverständnis des Wachen der verstehende Bezug zum Schlaf. Hier zeigt sich etwas von der Bedeutung des Schlafs im Menschenleben. 410

Das „Logische“ bei Hegel ‒ „Bewußtsein“ und „Dasein“

Fink: Zum Wachsein gehört die Gegenspannung zum Schlaf. Der Schlafende aber rührt an den Tod. Der Schlaf ist die Weise des Versunkenseins und des Gelöstseins alles Vielen und Gegliederten. So gesehen kommt der Schlafende in die Nähe des Toten, der dem Bereich des Unterschiedenen der πάντα entgangen ist. Heidegger: Für die Inder ist der Schlaf das höchste Leben. Fink: Das mag eine indische Erfahrung sein. Schlafen ist eine Weise des Lebendseins, wie das Wachen die konzentrierte und eigentliche Weise des Lebendseins ist. Der Wachende rührt nicht unmittelbar an den Toten, sondern nur vermittelt durch den Schlaf. Der Schlaf ist das Zwischenstück zwischen Wachen und Totsein. Das Totsein wird vom Schlaf aus in den Blick genommen. Heidegger: Sagen Sie, daß die Erfahrung des Schlafes die Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung des Todes sei? | Fink: Das wäre zu viel gesagt. Der Schlaf ist eine ähnliche Weise zu sein wie das Totsein, die aber nicht nur objektiv biologisch vorkommt. Denn wir haben im Verstehen des Schlafes ein dämmerhaftes Verstehen des Totseins. In gewisser Weise gilt, daß Gleiches durch Gleiches und auch Ungleiches durch Ungleiches erkannt wird. Heidegger: Ist die Entsprechung von Schlaf und Tod nicht eher ein Anblick von außen her? Kann man den Schlaf als Schlaf erfahren? Fink: Diese Frage möchte ich positiv beantworten, ebenso wie man sagt, daß man den Tod innerlich erleben kann. Es gibt Weisen eines dunklen Verstehens, in denen sich der Mensch mit dem nicht gelichteten Sein vertraut weiß. Wir wissen vom Schlaf nicht erst im Moment des Aufwachens. Wir durchschlafen Zeit. Heidegger: Nach Aristoteles wissen wir nichts vom Schlaf. Fink: Das möchte ich bestreiten. Was Aristoteles in dieser Weise über den Schlaf sagt, entspringt nicht einer phänomenologischen Analyse des Schlafes, die – wie ich meine – heute immer noch aussteht. Heidegger: Ich bestreite nicht die Möglichkeit, den Schlaf als Schlaf zu erfahren, aber ich sehe keinen Zugang. Fink: Wenn Heraklit vom ἅπτεσθαι des Wachenden in bezug auf den Schlafenden spricht, so kann das nicht die Außenansicht bedeuten. Das Rühren an … ist ein in die Nähe Kommen (ἀγχιβασίη), eine Form der Annäherung, die nicht nur objektiv geschieht, sondern die einen dunklen Modus des Verstehens enthält.

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Heidegger: Wenn wir jetzt das Ganze zusammenfassen: Sie haben schon vorgedeutet, wohin Sie es unterbringen. Die drei | Weisen des ἅπτεσθαι sind Verhältnisse, die den Menschen betreffen, Fink: aber den Menschen als ausgezeichnete Verdeutlichung vom Grundbe­ zug. Wie vorher der Gegenbezug von Göttern und Menschen Thema war, wird jetzt der Mensch inmitten der Gegensätze thematisch. Der Mensch ist das zwielichtige, Feuer zündende Wesen im Gegenspiel von Tag und Nacht. Es ist die Grundsituation des Menschen, in ausgezeichneter Weise versetzt zu sein in das Gegenspiel von Tag und Nacht. Er kommt nicht nur wie die anderen Lebewesen in diesem Gegenspiel vor, sondern er verhält sich zu ihm, ist feuernah und dem σοφόν verwandt. Was im Fragment 26 an Bezügen genannt ist, gehört in die Erörterung des Gegenspiels der Gegensätze. Was das ἕν auseinander- und zueinanderträgt, wird im Bild des Gottes, im Bild von Bogen und Leier und in der ἁρμονία ἀφανής gedacht. Dort wird die Gegenwendigkeit in den Blick genommen. Hier aber im Fragment 26 geht es nicht um die Gegenwendigkeit, sondern um das Entgegengesetzte, Heidegger: das zusammengehört. Fink: Der Mensch ist nicht nur dem Gegenspiel von Tag und Nacht ausge­ setzt, sondern er kann es in einer besonderen Weise verstehen. Aber nicht die Vielen verstehen es, sondern nur der, welcher das Verhältnis von ἕν und πάντα versteht.

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Heidegger: Mit der Schwierigkeit, die für mich das Fragment 26 bereitet, bin ich – vor allem um das ἅπτεται zu klären – immer nur zurecht gekommen, wenn ich das Fragment 10 hinzugenommen habe: συνάψιες ὅλα καὶ οὐχ ὅλα συμφερόμενον διαφερόμενον, συνᾷδον διᾷδον, καὶ ἐκ πάντων ἓν καὶ ἐξ ἑνὸς πάντα.* Das entscheidende Wort ist hier: συνάψιες. Es ist dasselbe Wort wie ἅπτω, nur durch das συν verschärft. Mit ἅπτω hängt unser deutsches | Wort heften, Haft zusammen. Hinter συνάψιες können wir einen Doppelpunkt setzen. Ich übersetze es nicht durch „Zusammengefaßtes“, sondern durch „Zusammengehörenlassen“. Im Fragment wird nicht gesagt, von woher die mehrfache σύναψις bestimmt ist. Sie steht einfach nur da. Fink: Ich würde sagen, die ersten beiden Erläuterungen der συνάψιες: ὅλα καὶ οὐχ ὅλα verhindern, daß das σύν verstanden wird im Sinne einer gewöhnlichen Ganzheit. Die übliche Vorstellung von der Ganzheit ist orien­ tiert an der Zusammenfügung. Im Fragment aber heißt es: Ganzheit und nicht Ganzheit. Es handelt sich also um συνάψιες nicht nur von einfachen Momenten zu einem Ganzen, sondern von Ganzem und nicht Ganzem, ebenso von Einträchtigem und nicht Einträchtigem. * Diels übersetzt: „Verbindungen: Ganzes und Nichtganzes, Einträchtiges Zwieträchtiges, Einklang Zwieklang, und aus Allem Eins und aus Einem Alles.“

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Das „Logische“ bei Hegel ‒ „Bewußtsein“ und „Dasein“

Heidegger: Das καί zwischen ὅλα und οὐχ ὅλα können wir einklammern. Fink: Das Fragment lautet dann weiter: ἐκ πάντων ἓν καὶ ἐξ ἑνὸς πάντα. Heidegger: Das Erstaunliche ist, daß πάντα und ὅλα zugleich vorkommen. Fink: Die ὅλα sind in den πάντα. Heidegger: τὸ ὅλον meint also nicht die Welt. Fink: Das Fragment spricht im Plural von Ganzheiten, Heidegger: die aber nicht dinghaft zu verstehen sind. Fink: Wir meinen zunächst, es handele sich hier um Entgegensetzungen auf derselben Ebene. Am Schluß des Fragments wird aber gesagt, daß es nicht nur um die Vereinigung von Entgegengesetztem geht, sondern daß alles nur gedacht werden kann aus dem Verhältnis von ἕν und πάντα. | Heidegger: Wie verstehen Sie das ἐκ?

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Fink: Von der συνάψιες her. Das ist eine Form. Heidegger: Meinen Sie eine oder die Form? Fink: Die Form. Das Verhältnis von ἕν und πάντα haben Sie als Verhalt inter­ pretiert. Heidegger: Ist das ἐκ πάντων dasselbe wie das ἐξ ἑνός? Fink: Hier wird συνάψιες von beiden Seiten her in den Blick genommen, das eine Mal als Verhältnis von πάντα und ἕν, das andere Mal als Verhältnis von ἕν und πάντα. Heidegger: Das müssen wir aber genauer bestimmen, weil das Grund­ verhältnis von ἕν und πάντα im verkleinerten Maßstab dem Fragment 26 zugrundeliegt. Fink: Dort vermag ich es nicht zu sehen. Heidegger: Wenn man ἐκ πάντων ἓν unmittelbar liest, so wie es dasteht, dann heißt es: aus allem wird das Eine zusammengesetzt. Fink: Das wäre dann ein ontischer Vorgang, der aber im Fragment nicht gemeint ist. Heidegger: Aber welchen Sinn hat das ἐκ und dann das ἐξ? Wohl ist das ἕν das Ver-hältnis der πάντα, aber die πάντα sind nicht ihrerseits das Ver-hältnis des ἕν. Fink: Das ἐκ muß jeweils anders gedacht werden. Die πάντα sind in συνάψιες in bezug auf das ἕν. Sie sind vom ἕν her gehalten, sind συναπτόμενα. | Heidegger: Aus der Verhaftetheit ist das Halten

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Fink: vom Haltenden Heidegger: sichtbar. Das Fragment sagt nicht, daß aus allem zusammen­ genommen eins wird, sondern daß in der Allheit aus der Allheit her das Einigende des ἕν sichtbar wird. Handelt es sich hier nur um die ratio cognoscendi oder um die ratio essendi? Fink: Um die ratio essendi. Heidegger: Aber wie? Das ἐξ ἑνὸς πάντα verstehen wir, aber das ἐκ πάντων ἓν ist bisher noch nicht vorgekommen. Fink: Das ἐκ πάντων ἓν begegnete uns schon in dem Verhältnis von Waren und Gold. Die πάντα als die insgesamt Vielen, die in der Verhaftung des ἕν stehen, beziehen sich auf das Eine hin. Alle ὄντα sind schon von vornherein gehalten in der Hut, in der Wahrnis des ἕν. Heidegger: Das kann ich noch nicht zureichend nachvollziehen. Fink: Die Wortfügung συμφερόμενον διαφερόμενον klingt sehr hart. Sie wirkt vor den Kopf stoßend, was auch ausdrücklich gewollt wird. Zugleich aber wird sie zurückgenommen in die συνάψιες.

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Heidegger: Der Bezug von πάντα und ἕν muß anders bestimmt werden als der Bezug von ἕν und πάντα. Wohl gehören beide Bezüge zusammen, aber als unterschiedene. Das ἐξ ἑνὸς πάντα ist nicht das gleiche wie das ἐκ πάντων ἓν, aber dasselbe im Sinne des Zusammengehörigen. Die Schwierigkeit, die sich im Verlauf des Seminars immer wieder gezeigt hat, liegt in dem methodischen Ansatz, dessen Recht ich allerdings nicht bestreiten möchte. Solange man nicht den λόγος im Blick hat, kommt | man nicht recht durch, liest man Heraklit schwer. Darum scheint mir, daß man das Fragment 1, das als Beginn der Schrift Heraklits gilt, auch als erstes der Auslegung Heraklits zugrundelegen muß. Bei der Wortfügung ἐκ πάντων ἓν spielt wieder die Frage herein, die wir im Hinblick auf das Verhältnis von ἕν und πάντα gestellt haben: wie das Verhältnis zu bestimmen ist, wenn es sich weder um ein Machen noch um ein Belichten handelt. Welches ist der Grundcharakter der πάντα als πάντα im ἕν, der πάντα als vom ἕν verhalten? Nur wenn man diesen Charakter sieht, kann man das ἐκ πάντων ἓν bestimmen. συνάψιες ist wahrscheinlich der Schlüssel des Verständnisses. Teilnehmer: Wenn wir auch den Kontext vom Fragment 10 berücksichtigen dürfen, dann findet sich in ihm das Wort συνῆψεν. Heidegger: Dort heißt es, daß die Natur die erste Eintracht durch die Vereinigung des Gegensätzlichen herstellte. Das Fragment aber sagt nicht, daß aus den Vielen das ἕν entsteht. Fink: Ich würde συνάψιες verbaliter verstehen. 414

Schlaf und Traum ‒ Vieldeutigkeit des ἅπτεσθαι

Heidegger: Ich lege großen Wert auf das Wort συνάψιες in bezug auf das Fragment 26. Hier ist alles noch dunkel. Mir kommt es nur darauf an, das Fragwürdige in der Sache zu sehen, wenn man nicht von vornherein dinglich operiert. Teilnehmer: Das Wort συνάψιες ist u. a. auch bestritten worden. Teilnehmer: Statt συνάψιες ist auch συλλάψιες als Lesart möglich, das von συλλαβή her zu verstehen ist. Heidegger: συλλαμβάνειν und συνάπτειν sind nicht so weit von einan­ der entfernt. | Teilnehmer: συλλάψιες wäre einfacher zu verstehen und hieße: Zusam­ mennehmungen. Der Kontext gibt dafür Beispiele.

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Heidegger: Das Rätselhafte ist das σύν, ob wir nun bei συνάψιες oder συλλάψιες bleiben. Dieses σύν ist dem συμφερόμενον διαφερόμενον vor­ geordnet. συνάψιες meint die Zusammengehörigkeit von συμφερόμενον und διαφερόμενον. Fink: συνάψιες bedeutet keine einfache Zusammenheftung, sondern die Zusammenheftung des Zusammengehefteten und Nichtzusammengehefte­ ten. Das läßt sich aber erst vom ἕν-πάντα-Verhältnis verstehen. συνάψιες verbaliter gedacht meint nicht nur den Zustand des Zusammengehefteten, sondern ein Geschehen, ein beständiges Gegenspiel, Heidegger: ein ständiges Einanderzubringen. Griechisch gedacht können wir sagen: alles spielt hier in der Unverborgenheit und Verbergung. Das müssen wir von vornherein mitsehen, weil sonst alles stumpf wird.

| XII. Schlaf und Traum ‒ Vieldeutigkeit des ἅπτεσθαι (beigezogene Fragmente: 26, 99, 55)

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Fink: Wir bewegen uns in einer metaphorischen Redeweise, wenn wir den Schlaf als Bruder des Todes ansprechen. Jemand, der aus einem tiefen Schlaf aufwacht und sich auf den Schlaf zurückbesinnt, sagt: ich habe wie ein Toter geschlafen. Diese metaphorische Deutung ist bedenklich. Heidegger: Eine zweite Schwierigkeit kommt in der Frage zum Ausdruck: ist jedes Schlafen ein Träumen? Ist das Schlafen mit dem Träumen zu identifizieren? Die Psychologie behauptet heute, daß jeder Schlaf auch ein Träumen ist. Fink: Beim Träumen müssen wir unterscheiden den Träumenden und das geträumte Ich. Wenn wir von einem Licht im Traume sprechen, so ist 415

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dieses Licht nicht für den Träumenden, sondern für das geträumte Ich der Traumwelt. Der Schlafende bzw. das schlafende Ich ist auch das träumende Ich, welches nicht das Traumwelt-Ich ist, das im Traume wach ist und sieht. In der Traumwelt verhält sich das Traumwelt-Ich ähnlich wie das wache Ich. Während das träumende Ich schläft, befindet sich das geträumte Ich der Traumwelt im Zustand der Wachheit. Wichtig ist aber, daß das Licht der Traumwelt ein Licht ist nicht für das träumende bzw. schlafende Ich, sondern für das geträumte Ich. Das Traumwelt-Ich kann verschiedene Rollen haben und verschieden in seinem Selbstverhältnis sein. Eine phänomenologische Analyse des Traumes zeigt, daß nicht der Schlafende, sondern das geträumte Ich sich ein Licht anzündet. Obwohl der Schlafende nichts sieht, so hat er doch als Träumender ein geträumtes Ich, das Erlebnisse hat. Heidegger: Man kann also das Schlafen und Träumen nicht identifizieren. 221

| Fink: Das Schlafen ist eine starke Versunkenheitsform des Menschen. Es ist ein Modus des reellen Ich, während das Wachsein in der Traumwelt der Modus eines intentionalen Ich ist. Das Verhältnis des schlafenden Ich zum geträumten Ich bzw. des reellen Ich zum intentionalen Ich kann man vergleichen mit der Wiedererinnerung. Der Wiedererinnernde ist nicht das Subjekt der wiedererinnerten Welt. Auch hier müssen wir unter­ scheiden zwischen dem wiedererinnernden und dem wiedererinnerten Ich. Während das wiedererinnernde Ich in die aktuelle Umwelt gehört, ist das wiedererinnerte Ich bzw. das Erinnerungswelt-Ich auf die Erinnerungswelt bezogen. Nur weil wir gewöhnlich den Unterschied zwischen dem schla­ fend-träumenden Ich und dem Traumwelt-Ich nicht machen, kann man sagen, daß sich der Schlafende im Traum ein Licht anzündet. Das aber ist phänomenologisch gesehen nicht richtig. Nicht der Schlafende, sondern das Traumwelt-Ich zündet sich ein Licht an. Wollte man das Licht-Zünden als ein traumhaftes Feuer-Machen interpretieren, dann wird einmal der phäno­ menologische Unterschied zwischen dem Schlafenden und dem geträumten Ich übersehen und geht zum anderen die meines Erachtens im Fragment angezielte besondere Situation des Menschen, zwischen Licht und Nacht zu stehen, verloren. Das Träumen ist nicht die wesentliche Auszeichnung des Menschen gegenüber dem Tier. Auch Tiere träumen, etwa Jagdhunde, wenn sie im Schlafe hellen Hals geben. Es gibt auch so etwas wie eine geträumte Hundewelt. Ich selber lehne die Interpretation ab, wonach es bei der Stellung des Menschen zwischen Nacht und Licht um das Träumen geht. Wohl ist es eine Möglichkeit der Interpretation, aber man muß dabei fragen, welche philosophische Relevanz eine solche Deutung im Gesamtzusammenhang der Fragmente hat. Heidegger: Wir müssen beachten, daß die These „kein Schlaf ohne Traum“ eine ontische Feststellung ist, die den existenzialen Unterschied des Schla­ 416

Schlaf und Traum ‒ Vieldeutigkeit des ἅπτεσθαι

fenden und des geträumten Ich unterschlägt und nur feststellt, daß alles Schlafen auch ein Träumen ist. | Fink: Dieselbe These nivelliert auch den Unterschied des Wachens in der wirklichen Welt und des geträumten Wachens in der Traumwelt.

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Heidegger: Der phänomenologische Unterschied zwischen dem Schlafen und Träumen fehlt in jener These, die das Schlafen mit dem Träumen identifiziert. Es ist immer ein Vorzug, die Einheit des Textes zu retten, was philologisch immer ein positiv zu wertendes Prinzip ist. Es gibt Phasen in der Philologie, in denen man alles athetiert und herausstreicht, und dann wieder Phasen, in denen man alles zu retten versucht. Als ich 1923 nach Marburg kam, hatte mein Freund Bultmann so viel aus dem Neuen Testament herausgestrichen, daß fast nichts mehr von ihm übrigblieb. Inzwischen hat sich das wieder gewandelt. ‒ Das ganze Fragment 26 ist schwierig, was vor allem an dem ἅπτεται liegt. Vielleicht kommt mehr Klarheit in den Bezug, wenn wir jetzt weitergehen. Fink: Ich möchte vorausschicken, daß die Gesamtinterpretation, die ich jetzt vom Fragment 26 gebe, nur ein Deutungsversuch ist. Wenn wir davon ausgehen, daß der Mensch in der Nacht ein Licht zündet, so wird der Mensch angesprochen als der Feuer-Zündende, d. h. als derjenige, der über die ποίησις des Feuerzündens verfügt. Vergegenwärtigen wir uns, daß es ein entscheidender Schritt in der menschlichen Kulturentwicklung war, die Macht über das Feuer zu gewinnen ‒ was sonst nur etwa als Blitz wahrgenommen wurde, in die Gewalt zu bekommen und zu nutzen. Durch das Promethidenerbe ist der Mensch ausgezeichnet gegenüber allen Tieren. Kein Tier zündet Feuer. Der Mensch allein zündet Licht in der Nacht. Er vermag jedoch nicht, wie Hēlios ein Weltfeuer, das niemals Untergehende, zu zünden, das die Nacht verjagt. Das Fragment 99 sagte: wenn Hēlios nicht wäre, wäre es trotz der übrigen Gestirne Nacht. Der Mond und die Sterne sind Lichter in der Nacht. Hēlios allein verjagt die Nacht. Er ist keine Insel in der Nacht, sondern hat die insulare Natur überwunden. Der Mensch vermag nicht | das τὰ πάντα erhellende Feuer zu zünden wie Hēlios. In der Nacht sind seine Sichtmöglichkeiten gelöscht, sofern das Dunkel trotz offener ὄψις das Sehen unmöglich macht. Wenn der Mensch in der Nacht in der Situation des Sehenwollens und nicht Sehenkönnens von seiner Potenz des Feuerzündens Gebrauch macht, rührt er an die Lichtmacht. Auch das Feuerzünden ist ein Rühren. Das Rühren an die Lichtmacht ist ein Zünden. Dagegen hat das Rühren an die Nacht einen anderen Charakter. Das menschliche Feuerzünden ist das Entwerfen einer Lichthelle, in der Vieles, d. h. die Mannigfalt der πολλά aufleuchtet. Ich spreche jetzt absichtlich von den πολλά und nicht von den πάντα. Auch der endliche, kleine Lichtschein des menschlichen Feuers ist ein ἕν im Sinne einer Helle, in der sich Vieles 417

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zeigt. Hier wiederholt sich in herabgesetzter Weise das Verhältnis von ἕν und πάντα als das Verhältnis von (im Sinne der Helle des vom Menschen gezündeten Feuers) und πολλά (d. h. der Dinge, die sich in jener begrenzten Helle zeigen). Heidegger: Wenn Sie von Feuerzünden sprechen, meinen Sie das Feuer nur im Sinne der Helle und nicht auch im Hinblick auf die Wärme. Fink: Hēlios bringt die Horen zum Vorschein, die alles (πάντα) bringen. Die Struktur von ἕν als der Helle der Sonne und πάντα als dem insgesamt Vielen, das in der Sonnenhelle zum Vorschein kommt, hat in herabgesetzter Weise ein Wiederholungsmoment in dem Verhältnis von ἕν als der Helle des durch den Menschen gezündeten Feuers und πολλά, die sich in dieser endlichen Helle zeigen. Das menschliche Feuer kann nicht alles (πάντα), sondern nur Vieles (πολλά) erhellen. Dagegen umfängt die Helle des Sonnenfeuers alles (πάντα). Heidegger: Besteht der Unterschied zwischen der vom Menschen entwor­ fenen Feuerhelle und der Helle des Hēlios darin, daß jene eingeschränkt ist, während diese allbezogen ist? Fink: Ja. 224

| Heidegger: Gibt es die Feuerhelle ohne das Licht des Hēlios? Fink: Nein, sondern die vom Menschen entworfene Feuerhelle ist von der Sonnenhelle abkünftig. Heidegger: Wir müssen also betonen, daß das Kerzenlicht für sich nicht etwas zeigt und daß der Mensch nicht für sich allein ein Sehender ist. Das Kerzenlicht zeigt nur etwas, und der Mensch sieht das im Lichtschein der Kerze Sichzeigende nur insofern, als er immer schon im Gelichteten steht. Die Offenheit für das Licht überhaupt ist die Bedingung dafür, daß er im Kerzenschein etwas sieht. Fink: Der Kerzenschein ist ein insulares Licht in der Nacht, so daß wir unterscheiden zwischen der Helle und dem Dunkel. Die Helle des Kerzen­ lichts verläuft sich im Dunkel, während die Hēlios-Helle nicht mehr erfahren wird als Helle in der Nacht. Die Sonnenhelle überhaupt ermöglicht und trägt das menschliche Sehen und das sehend Sichverhaltenkönnen zum Sichzeigenden. In der Helle, die der Mensch hervorbringt in dem von ihm gezündeten Lichtschein, ergibt sich ein Verhältnis des vernehmenden Menschen zur vernommenen Sache in seiner Umgebung, die den Charakter der Abständigkeit hat. Das Sehen ist ein abständiges Sein bei den Dingen. Als Fernsinn bedarf es einer optimalen Nähe des Gesehenen. Es besteht eine konstitutive Ferne zwischen dem Sehen und Gesehenen in der Einheit des überwölbenden Lichts, das beleuchtet und sehend macht. 418

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Heidegger: Hier können wir das Fragment 55 beiziehen: ὅσων ὄψις ἀκοὴ μάθησις, ταῦτα ἐγὼ προτιμέω. Fink: ὄψις und ἀκοή, Gesicht und Gehör sind beides Fernsinne. Der eine ist ein Verhältnis zum Lichtraum, der andere ein Verhältnis zum Raum der Laute. Heidegger: Die Übersetzung von Diels: „Alles, wovon es Gesicht, Gehör, Kunde gibt, das ziehe ich vor“ ist verkehrt, | wenn sie ὄψις, ἀκοή und μάθησις gleichstellt und nicht ὄψις und ἀκοή als μάθησις versteht. Wir müssen daher sagen: Alles, wovon Gesicht und Gehör Kunde gibt, das ziehe ich vor. Was man sehen und hören kann, das gibt Kunde.

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Fink: Es handelt sich also um das μανθάνειν durch das Sehen und Hören. Jeder andere Sinn gibt auch Kunde. Die Kunde aber, die Gesicht und Gehör geben, wird vorgezogen. Gesicht sowohl als Gehör sind Fernsinne und als solche durch das abständige Verhältnis des Vernehmenden und Vernommenen charakterisiert. Heidegger: ὄψις und ἀκοή haben einen Vorzug, was aus dem Fragment 55 zu ersehen ist. Fink: Das Sehen ist ein Vernehmen in den Sehraum, das Hören ein Verneh­ men in den Hörraum. Beim Hören sehen wir nicht so leicht ein ζυγόν, das den Hörenden und das Gehörte zusammenspannt, wie das Licht beim Sehen das Auge und das Gesehene zusammenspannt. Und dennoch ‒ so möchte ich meinen ‒ gibt es auch hier so etwas wie ein ζυγόν. Man müßte hier den Begriff der ursprünglichen Stille bilden, die das gleiche wie das Licht beim Sehen ist. Jeder Laut bricht die Stille, muß als das die Stille Brechende verstanden werden. Es gibt auch die Stille, in die wir hineinhorchen, ohne etwas Bestimmtes zu hören. Die ursprüngliche Stille ist ein konstitutives, die Ferne des Hörraumes bildendes Element des Hörens. Heidegger: Vielleicht reicht die Stille noch weiter in Richtung auf die Sammlung und Versammlung. Fink: Sie denken an das Geläut der Stille. Heidegger: Ich glaube, daß wir das Fragment 55 als Beleg beiziehen können für Ihre Betonung des Fernsinnes. Fink: Im Gegensatz zu dem durch die Ferne bestimmten Verhältnis des Vernehmenden zum Vernommenen im Licht bzw. | in der Helle gibt es ein anderes Rühren, das sich uns im Tasten zeigt. Hier besteht eine unmittelbare Nähe zwischen Tastendem und Getastetem, die nicht durch das Medium der Ferne vermittelt ist, in welcher der Sehende und das Gesehene oder auch der Hörende und das Gehörte auseinandergestellt sind. Im Sehen ist das Vernehmen im Licht geschieden vom Vernommenen. In der Einheit des den 419

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Vernehmenden und das Vernommene zusammenschließenden Lichts zeigt sich die Mannigfalt der πολλά. Zwischen dem sehend Vernehmenden und dem Vernommenen waltet eine abständige Ferne. Diese abständige Ferne ist eine Grundweise des Verstehens. Konträr dazu wäre ein Verstehen, das in einem In-der-Nähe-sein im Sinne des unmittelbaren Anrührens gründet. Das Anrühren ist ein Verstehen, das nicht aus der Überschau, aus der Weite bzw. aus der Gegend auf das Vernommene zukommt. Heidegger: Wie aber ist es, wenn ich Ihnen jetzt die Hand gebe? Fink: Das ist ein unmittelbares Berühren der Hände. Aristoteles nennt in περὶ ψυχῆς das Fleisch das Medium für den Tastsinn. Hier aber muß ein phänomenologischer Einwand gemacht werden, weil das Fleisch nicht im eigentlichen Sinne das Medium für den Tastenden und das Getastete ist. Das Sehen ist bezogen auf ein sichtbares Ding, auf einen sichtbaren Gegenstand, der aber aus einer Gegend begegnet. Das Begegnen aus dem offenen Umkreis, der durch die Helle gelichtet ist, ist kennzeichnend für die besondere Art des Vernehmens, die in der Ferne zwischen Vernehmendem und Vernommenem besteht. Heidegger: Und wie verhält es sich mit dem Reichen der Hände?

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Fink: Das Reichen der Hände ist ein Aufeinanderzukommen der sich berüh­ renden Hände. Zwischen den sich berührenden Händen besteht eine unmit­ telbare Nähe. Zugleich aber können die Hände auch von uns gesehen wer­ den. Ein besonderes Phänomen ist auch die Selbstberührung. Zwischen dem Sichbe|rührenden waltet ein Minimum von Ferne. Das Tasten und Berühren ist ein Nahsinn und als solcher die Weise eines unmittelbaren Anstehens und Anliegens, eine unmittelbare Nachbarschaft. Von der Unmittelbarkeit der Nachbarschaft des Berührens muß man das Verhältnis des Wachenden zum Schlafenden und des Schlafenden zum Toten verstehen. Teilnehmer: Sie haben zunächst in einer phänomenologischen Analyse des Sehens und Hörens als der beiden Fernsinne die phänomenologische Struktur der Gegend herausgearbeitet, die mit dem Seh- und Hörraum bzw. mit dem Seh- und Hörfeld identisch ist. Sie haben dann weiter gezeigt, daß im Unterschied zu den beiden Fernsinnen dem Tasten und Berühren als Nahsinn nicht die phänomenologische Struktur der Gegend, sondern die der unmittelbaren Nähe zukommt. Mir geht es jetzt nur um den Hinweis darauf, daß die phänomenologisch gewonnene Struktur der Gegend im Bereich der beiden Fernsinne nicht gleichbedeutend ist mit der ontologisch verstande­ nen Gegend im Sinne des Offenen und der Lichtung, in der Anwesendes dem Menschen begegnet. Denn aus der ontologisch verstandenen Gegend begegnet nicht nur das Gesehene und Gehörte, sondern auch das Getastete. Wenn ich Sie recht verstanden habe, so haben Sie den phänomenologischen 420

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Unterschied zwischen Fernsinn und Nahsinn, d. h. zwischen der Gegend, aus der dem Sehenden das Gesehene und dem Hörenden das Gehörte begegnet, und der unmittelbaren Nähe des Tastenden und Getasteten als Absprungsbasis für einen spekulativen Gedanken gebraucht, wonach Sie zwei verschiedene Weisen des Seinsverständnisses unterscheiden. Im Ausgang vom unmittelbaren Berühren des Tastenden und des Getasteten gehen Sie über zum Anrühren des Wachenden an den Schlafenden und des Schlafenden an den Toten. Fink: Dazu muß ich eine kleine Korrektur vornehmen. Ich bin nicht so sehr ausgegangen von einer phänomenologischen Untersuchung des Sehens, sondern mehr von dem Hinblick auf | die Struktur der Helle. Auch ein endliches kleines Feuer ist eine Einheit, die nicht neben den Dingen ist. Die Helle des vom Menschen gezündeten Feuers ist auch nicht nur der Glanz an den Dingen, sondern das raum- und zeiterfüllende Licht, in welchem nicht nur viele, sondern auch verschiedenartige Dinge sich zeigen. Die Art, wie ein Vernehmender in der Helle ist, ist die Weise des abständigen Vernehmens. Wenn ἅπτεται ἑαυτῷ sprachlich gesehen pleonastisch ist, so würde ich den Pleonasmus nicht verwerfen. Denn man kann sagen: der Mensch zündet sich ein Feuer an, das für ihn ist im Gegensatz zu dem Feuer für alle, in welchem von vornherein sich alle Menschen als in der Helle des Tagesgestirns aufhalten. Der Mensch zündet für sich ein Feuer an, das ihm als dem in der Nacht Weg- und Ratlosen den Umkreis erhellt. Von diesem Phänomen bin ich ausgegangen und habe dann nicht nur das Verhältnis des ἕν (im Sinne der vom Menschen entworfenen Helle) zu den πολλά, sondern auch den Aufenthalt des Menschen in der Helle als einen abständigen Bezug gekennzeichnet. Das Feuerzünden hebt das Unmittelbarkeitsmoment des Rührens deshalb auf, weil das Feuer in sich Abstände entwerfend ist.

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Heidegger: Jemand zündet eine Kerze oder eine Fackel an. Was mit dem Anzünden der Fackel hergestellt wird, die Flamme, ist eine Art von Ding, Fink: das die Eigentümlichkeit hat, daß es scheint, Heidegger: nicht nur scheint, sondern auch sehen läßt. Fink: Es verbreitet einen Schein, wirft eine Helle aus und läßt das darin Sichzeigende sehen. Heidegger: Dieses Ding hat zugleich den Charakter, daß es sich in die Offenheit, in der der Mensch steht, einfügt. Das Verhältnis von Licht und Lichtung ist schwer zu fassen. | Fink: Die Lichtquelle wird erst in ihrem eigenen Licht gesehen. Das Merkwürdige ist, daß die Fackel ihr eigenes Gesehenwerden ermöglicht.

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Heidegger: Hier stoßen wir auf die Mehrdeutigkeit von Schein. Wir sagen etwa: die Sonne scheint. Fink: Wenn wir physikalisch denken, so sprechen wir von der Sonne als Lichtquelle und von der Emission ihrer Strahlen. Das Verhältnis der Lichtung zum Licht bestimmen wir dann so, daß die Lichtung, in der die Sonne selbst gesehen wird, abkünftig ist vom Licht als der Sonne. Doch dieses Abkünftigkeitsverhältnis müssen wir gerade in Frage stellen. Nicht geht das Licht der Lichtung voraus, sondern umgekehrt die Lichtung geht dem Licht voraus. Ein Licht ist nur als einzelnes möglich, weil es einzelnes in der Lichtung gibt. Die Sonne wird in ihrem eigenen Licht gesehen, so daß die Lichtung das Ursprünglichere ist. Wenn wir die Helle nur auf die Lichtquelle zurückleiten, überspringen wir den fundamentalen Charakter der Lichtung. Heidegger: Solange man physikalisch denkt, wird der fundamentale Cha­ rakter der Lichtung, daß sie dem Licht vorausliegt, nicht gesehen. Fink: Der Mensch als der Erbe des Feuerraubes hat in gewisser Weise die Möglichkeit, ein Licht hervorzubringen, aber nur, weil es die Lichtung gibt, Heidegger: weil der Mensch in der Lichtung steht,

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Fink: und zwar von Hause aus. Zum Innestehen in der Lichtung gehört nicht nur das Vorkommen von Dingen, sondern auch das vernehmende Vorkommen des Menschen, das aber zumeist bloß auf die Dinge eingestellt ist und nicht des Lichtes gedenkt, in dem die Dinge vernommen werden. Das Vernehmen steht zwar im Licht, aber es vernimmt nicht eigens das Licht, | sondern bleibt allein den vernommenen Dingen zugekehrt. Die Aufgabe des Denkenden ist daher, das, was alles Aufscheinen und Vernehmen ermöglicht, selber zu denken, Heidegger: und auch die Art der Zugehörigkeit des Lichtes zur Lichtung und wie das Licht ein ausgezeichnetes Ding ist. Fink: Es zeigt sich keine bessere Entsprechung für die Sonderstellung des Menschen inmitten der τὰ πάντα, als daß er anders als alle anderen Lebewesen lichtnah ist. Das Anrühren an die Lichtmacht ist die Weise des Feuerzündens. Man kann nun die phänomenal genannten Züge ontologisch interpretieren, indem man das Licht nicht nur als das sinnlich wahrnehmbare Licht, sondern als das Licht bzw. als die Lichtnatur des σοφόν versteht, das alles σαφές macht. Dieses Verhalten des Menschen zum σοφόν ist ein Innestehen des Menschen in der ursprünglichen Lichtung, ein anrührendes Nahsein dem σοφόν in der Weise der verstehenden Auslegung der Dinge in ihrem Wesen, wobei die Gefahr besteht, daß die Lichtung bzw. die Helle selbst nicht bedacht wird. In der Helle zeigt sich Vielzahliges und Verschiedenartiges. Es gibt keine Helle, in der nur ein Ding ist. In der Helle begrenzen sich viele Dinge. Im Licht haben sie ihre Begrenztheit umrissen 422

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und ihre Grenzen gegeneinander. Der Sehende sieht sich unterschieden von dem Boden, auf dem er steht, und von den anderen Dingen auf dem Boden und um ihn herum. Es gibt aber auch keine Helle, in der es nur eine Art von Dingen gäbe. In der Helle zeigt sich nicht nur Vielzahliges, sondern auch Vielerlei, Verschiedenartiges, etwa Stein, Pflanze, Tier, Mitmenschen und neben den Naturdingen auch die künstlich verfertigten Dinge usf. Wir sehen nicht nur Gleichartiges, sondern auch Verschiedenartiges. Der Mensch ist in der von ihm erwirkten Helle als der endlichen Widerspiegelung des σοφόν inmitten der Gesamtheit, die die gegliederte Fügung ist. Das Verstehen des Menschen im Licht geschieht als ein Verstehen der πολλά, und dieses Verstehen ist zugleich nach Art und Gattung verschieden artikuliert. Die πολλά sind nicht nur | eine Vielfalt der Zahl, sondern auch der Art nach. Gegenüber diesem artikulierten Verstehen in der Helle gibt es vielleicht die Weise eines dunklen Verstehens, das nicht artikuliert ist und sich nicht im Schein einer Helle vollzieht, die auseinandersetzt und zusammenschließt, sondern das eine Art nächtlichen Anrührens ist und als Nachbarschaft der ontischen Verwandtschaft charakterisiert werden kann. In der Position von Sein und Zeit wird der Mensch angesehen als das Seiende, das in seiner Seinsverfassung einzigartig ist. Obgleich er ontisch von allem Seienden verschieden ist und sich gewöhnlich verfremdend aus anderem Seienden versteht, hat er das Verständnis der Seinsweisen aller Dingbereiche,

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Heidegger: und zwar gerade auf Grund der ontischen Verschiedenheit. Fink: Die ontische Verschiedenheit des nichtmenschlichen Seienden ist kein Hemmnis für das Verstehen der Seinsweisen durch den Menschen, sondern geht gerade damit zusammen. Der Mensch ist aber nicht nur ein gelichtetes Wesen, sondern auch ein Naturwesen und als solches in dunkler Weise in die Natur eingesenkt. Es gibt nun auch ein dunkles Verstehen, das nicht die ontische Differenz, sondern gerade die ontische Nähe voraussetzt, das aber an Deutlichkeit und historischer Durcharbeitung ermangelt. Ein solches dunkles Verstehen vom nächtlichen Grund ist auch mit dem ἅπτεται gemeint in bezug auf εὐφρόνη und in der Weise, wie der Wachende an den Schlafen­ den und der Schlafende an den Toten rührt. Dieses dunkle Verstehen ist keine Weise des abständigen Verstehens, sondern ein inständiges Verstehen, was auf der ontischen Nähe beruht, aber keinen ontologischen Reichtum aufweist. Der Mensch ist vorwiegend der Licht Zündende, der der Lichtnatur zugesellt ist. Zugleich aber ruht er auch auf dem nächtlichen Grund auf, den wir nur als verschlossen ansprechen können. Der Schlafende und der Tote sind Figuren, die das Hineingehören des Menschen in die lebende und tote Natur anzeigen. | Heidegger: Der Begriff der ontischen Nähe ist schwierig. Auch zwischen dem Glas und dem Buch hier auf dem Tisch besteht eine ontische Nähe. 423

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Fink: Zwischen Glas und Buch besteht eine räumliche Nähe, nicht aber eine Nähe in der Weise des Seins. Heidegger: Also meinen Sie doch eine ontologische und nicht eine onti­ sche Nähe. Fink: Nein, hier handelt es sich gerade um eine ontische Nähe. Was die ontische Nähe besagt, können wir an der Gegenstruktur verdeutlichen. Als Dasein ist der Mensch von allem anderen Seienden verschieden, hat aber zugleich das ontologische Verstehen von allem Seienden. Aristoteles sagt: ἡ ψυχὴ τὰ ὄντα πώς ἐστι πάντα, die Seele ist in gewisser Weise alles Seiende (περὶ ψυχῆς Γ 8, 431 b 21). Das ist die Art, wie der Mensch dem σοφόν, dem λόγος, der gegliederten Fügung des κόσμος nahe kommt. Weil er in die Lichtung selbst gehört, hat er eine begrenzt lichtende Fähigkeit. Als derjenige, der das Feuer zünden kann, ist er dem Sonnenhaften, dem Sophonhaften nahe. Heidegger: Was verstehen Sie aber unter der ontischen Nähe? Wenn Sie Nähe sagen, dann meinen Sie nicht einen kleinen Abstand. Fink: Die Antike kennt zwei Verstehensprinzipien: Gleiches durch Gleiches und Ungleiches durch Ungleiches erkennen. Der Mensch ist von allem Sei­ enden verschieden. Das schließt jedoch nicht aus, daß er alles andere Seiende in seinem Sein verstehen und bestimmen kann. Hier fungiert das Prinzip, daß Ungleiches durch Ungleiches erkannt wird. Sofern aber der Mensch ein Lebewesen ist, hat er auch noch einen anderen Seinscharakter, mit dem er in den nächtlichen Grund hineinreicht. Er hat den Doppelcharakter: einmal ist er der in die Lichtung selbst Gestellte und zum anderen ist er der dem Untergrund aller Lichtung Verhaftete. 233

| Heidegger: Das wird erst durch das Leibphänomen verständlich, Fink: etwa in der Verstehensweise des Eros. Heidegger: Leib ist hier nicht ontisch gemeint Fink: und auch nicht im Husserlschen Sinne, Heidegger: sondern eher, wie Nietzsche den Leib denkt, wenn es auch dunkel ist, was er für ihn eigentlich bedeutet. Fink: Zarathustra sagt in dem Abschnitt „Von den Verächtern des Leibes“: „Leib bin ich ganz und gar, und nichts außerdem“. Durch Leib und Sinne ist der Mensch erdennah. Heidegger: Was aber ist die ontische Nähe? Fink: Die seinsmäßige Nichtverwandtschaft des Menschen mit dem anderen Seienden gehört zusammen mit dem ontologischen Verstehen seiner Seins­ weisen. Wenn aber der Mensch zwischen Licht und Nacht existiert, verhält 424

Schlaf und Traum ‒ Vieldeutigkeit des ἅπτεσθαι

er sich zur Nacht anders als zum Licht und zum Offenen, das die unterschei­ dende-zusammenschließende Struktur hat. Er verhält sich zur Nacht bzw. zum nächtlichen Grund, sofern er leibhaft der Erde und der Flutung des Lebens zugehört. Das dunkle Verstehen beruht gleichsam auf dem anderen Verstehensprinzip, wonach Gleiches durch Gleiches erkannt wird. Heidegger: Kann man das dunkle Verstehen, das das leibhafte Zugehören zur Erde bestimmt, von dem Gestelltsein in die Lichtung isolieren? Fink: Wohl ist das dunkle Verstehen erst von der Lichtung her ansprechbar, aber es läßt sich nicht mehr zur Sprache bringen in der Weise der geglieder­ ten Fügung. | Heidegger: Wenn Sie ontische Nähe sagen, dann ist in dem, was Sie Nähe nennen, nicht ein geringer Abstand, sondern eine Art von Offen­ heit gemeint, Fink: aber eine dämmerhafte, dunkle, herabgesetzte, die keine Geschichte der Begriffe hinter sich hat, zu der wir vielleicht erst kommen müssen. Der Mensch hat seinen Standort zwischen Himmel und Erde, zwischen dem Offenen der ἀλήθεια und dem Verschlossenen der λήθη. Dennoch müssen wir sagen, daß auch alle Verhaltungen zum dunklen Grunde nur als Verhaltungen zu erfahren sind, wenn ein Rest der Lichtung besteht, weil in der absoluten Nacht nicht nur alle Kühe schwarz sind, sondern auch alles Verstehen getilgt ist. Heidegger: Der Mensch leibt nur, wenn er lebt. So ist der Leib in Ihrem Sinne zu verstehen. Dabei ist „leben“ im existenzialen Sinne gemeint. Die ontische Nähe bedeutet keine räumliche Nähe zwischen zwei Dingen, sondern eine herabgesetzte Offenheit, also ein ontologisches Moment im Menschen. Und trotzdem sprechen Sie von ontischer Nähe. Fink: Sie haben, als Sie damals nach Freiburg kamen, in einer Vorlesung gesagt: das Tier ist weltarm. Damals waren Sie unterwegs zur Verwandt­ schaft des Menschen mit der Natur. Heidegger: Das Leibphänomen ist das schwierigste Problem. Hierher gehört auch die adaequate Fassung des Sprachlautes. Die Phonetik denkt zu sehr physikalisch, wenn sie φωνή als Stimme nicht in der rechten Weise sieht. Teilnehmer: Wittgenstein sagt im Tractatus den erstaunlichen Satz: Die Sprache ist die Verlängerung des Organismus. Fink: Es fragt sich nur, wie hier „Organismus“ zu verstehen ist, ob biologisch oder in der Weise, daß der Aufenthalt des Menschen inmitten des Seienden durch seine Leiblichkeit wesentlich bestimmt ist. 425

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| Heidegger: Man kann den Organismus im Sinne Uexkülls verstehen oder auch als das Funktionieren des Lebenssystems. In meiner damaligen Vorlesung, von der Sie gesprochen haben, habe ich gesagt: der Stein ist weltlos, das Tier ist weltarm, der Mensch ist weltbildend. Fink: Dabei ist es eine Frage, ob die Weltarmut des Tieres ein defizienter Modus der weltbildenden Transzendenz ist. Es ist fraglich, ob das Tierische des Menschen überhaupt verstanden werden kann, wenn wir es vom Tier her sehen, oder ob es nicht eine eigene Weise ist, wie der Mensch sich zum dunklen Grunde verhält. Heidegger: Das Leibliche am Menschen ist nicht etwas Animalisches. Die damit zusammenhängenden Verstehensweisen sind etwas, was die bisherige Metaphysik noch nicht berührt hat. Die ontische Nähe gilt für viele Phänomene, von denen her Sie das ἅπτεται fassen wollen. Fink: Das ἅπτεται scheint zunächst vom Anhaften und Anrühren, vom Tastsinn her gesprochen zu sein. Im Anrühren an die dunkle Macht waltet eine Nachbarschaft der Nähe, während das Anrühren an das Licht ein in der Lichtung Stehen ist. Das Seiende in der Lichtung hat das Moment der Abständigkeit an sich, was aber kein Einwand dagegen ist, daß der Mensch auch an die Lichtmacht des σοφόν anrührt. Heidegger: Wie verstehen Sie jetzt das Anrühren?

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Fink: Das Anrühren an die Lichtmacht des σοφόν ist ein distanziertes Anrühren. Dagegen ist das Anrühren an die dunkle Macht ein distanzloses Anrühren. Ein solches distanzloses Anrühren ist das Anrühren des Wachen­ den an den Schlafenden und des Schlafenden an den Toten. Wie ist das Verhältnis des Wachenden zum Schlafenden zu bestimmen? Der Wachende hat ein Wissen um den Schlaf, das mehr ist als bloß eine Erinnerung an | das Geschlafenhaben, Einschlafen und Aufwachen. Das Wissen des Wachenden um den Schlaf ist eine Weise des dunklen Lebensflusses, wo das Ich für sich selbst in einer herabgesetzten Weise erlischt. Der Lebende rührt im Schlaf an die Weise des ungelichteten Aufenthaltes. Der dem Lichtbereich zugehörige und darauf hörende Mensch hat im Schlaf eine Art von Erfahrung mit dem Zurückgegangensein in den dunklen Grund, nicht in den Zustand des Bewußtlosen, sondern in ein Nichtunterschiedenes. Während für das Verhältnis im Lichtbereich als denkender Auftrag gilt ἓν καὶ πάντα, ist die Erfahrung mit dem dunklen Grund des Lebens die Erfahrung mit dem ἓν καὶ πᾶν. Im ἓν καὶ πᾶν müssen wir den Zusammenfall aller Unterschiede denken. Die Erfahrung mit dem ἓν καὶ πᾶν ist das Verhältnis des in der Individuiertheit stehenden Menschen zum nichtindividuierten, aber individuierenden Grund. Hier aber besteht die Gefahr, daß wir allzu leicht metaphysische Entitäten ansprechen. 426

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Heidegger: Wenn Sie vom Ungelichteten sprechen, ist das privativ oder als Negation zu verstehen? Fink: Das Ungelichtete ist nicht privativ in bezug auf das Gelichtete aufzu­ fassen. Wohl verstehen wir das Ungelichtete vom Gelichteten her, aber es handelt sich dabei um ein ursprüngliches Verhältnis zur λήθη. Aus der Situation eines durch die ἀλήθεια bestimmten Wesens hat der Mensch zugleich ein Verhältnis zur λήθη. Er steht aber nicht immer in der ἀλήθεια, sondern in einem rhythmischen Wechsel zwischen Wachen und Schlafen. Die Nacht, die er im Schlaf berührt, ist nicht nur privativ zu verstehen, sondern als ein eigenständiges Moment neben dem Moment des Tages bzw. der Helle, zu der er sich im Wachen verhält. Der Mensch als φιλόσοφος ist nicht nur ein φίλος des σοφόν, sondern auch der λήθη. Heidegger: Ist die λήθη mit der Nacht zu identifizieren? Fink: Die Nacht ist eine Weise der λήθη. | Heidegger: Wie verstehen Sie die Ungelichtetheit? Wenn Sie von der herabgesetzten Offenheit sprechen, dann klingt das wie στέρησις. Fink: Das Wachsein wird in seiner Spannung unterlaufen von der Möglich­ keit des Zurücksinkenkönnens der Anspannung und des Löschens alles Interesses. Der Schlaf ist eine Weise, wie wir in die Nähe des Totseins kommen und nicht nur eine bloße Metapher für den Tod. Vielleicht müßte man auch Phänomene wie das Sterben einmal ontologisch behandeln. Teilnehmer: Ich glaube, wir müssen unterscheiden zwischen der herabge­ setzten Gelichtetheit des dunklen Verstehens, etwa des Verstehens des dunklen Grundes im Schlaf, und dem dunklen Grund selbst, der das schlechthin Ungelichtete ist. Nicht der dunkle Grund selbst, sondern das Verstehen des dunklen Grundes ist halbgelichtet. Fink: Der Mensch als Fackel in der Nacht besagt, daß er der Lichthelle des Tages und der alle Unterschiede und Sichtmöglichkeiten löschenden Nacht zugeordnet ist. Heidegger: Die Erfahrung des Schlafes besagt nicht eine bloße Erinnerung, daß ich eingeschlafen war. Sie zielt nicht auf den Schlaf als bloßes Vorkomm­ nis Fink: im Bewußtseinsleben, Heidegger: sondern bedeutet eine Weise meines Seins, in die ich eingelas­ sen bin Fink: und die mich noch im Wachsein bestimmt. Die Helle des Wachseins hält sich immer auf dem dunklen Untergrund. Heidegger: Meinen Sie das im aktuellen Sinne? 427

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Fink: Ähnlich wie sich die Götter zu ihrem eigenen Leben verstehend verhalten, indem sie sich zugleich zum Vergänglichsein | der Sterblichen verhalten, so verhalten wir uns wachend zu dem mannigfach geordneten Kosmos, der eine Fügung ist, und wissen dabei zugleich in einer dunklen Weise um das Verlöschenkönnen im Schlaf. Heidegger: Aber dieses Wissen ist nicht notwendig aktuell. Fink: Nein. Vielleicht läßt sich dieses Wissen vom Problem der Geworfen­ heit her charakterisieren als ein Überlassensein an das, was man zu sein hat und was der Vernunft nicht zugehört. Sobald man das Verstehen des dunklen Grundes als ein Verhältnis anspricht, meint man schon ein abständiges Ver­ hältnis. Im Gleichnis gesprochen ist der Schlaf ein unmittelbares Anrühren an den dunklen Grund. Heidegger: Wenn wir vom Verhältnis zum Schlaf sprechen, so ist das eine inadaequate Redeweise. Ist das Schlafen das genuine Verstehen des dunklen Grundes? Fink: Nicht der Schlafende, sondern der Wachende verhält sich zum Schlaf. Heidegger: Gibt es über diesen Bezug hinaus noch eine andere seins­ mäßige Möglichkeit?

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Fink: Wenn das Wachsein die Intensität des Lebensvollzugs ist, so ist das Gespanntsein getragen von der Möglichkeit, die Spannung alles Fixierens, Unterscheidens und Kontrastierens im Verhältnis zu den Dingen und zur Helle loslassen zu können. Jemand könnte sagen, es handele sich hier um eine Betrachtung, wonach sich das Leben zum Tode verhält wie das Wachen zum Schlaf oder wie der Schlaf zum Totsein, und diese Analogieverhältnisse seien von außen gesprochen. Damit aber verfehlt man unser eigentliches Problem, in dem es um die Weise geht, wie der Wachende an den Schlaf und der lebend Schlafende an den Toten rührt. Das Rühren ist unser Problem und nicht die all|tägliche Betrachtung bzw. die Alltagsphilosophie, der gemäß der Schlaf der Bruder des Todes ist und Leben und Tod durch das Zwischenglied des Schlafes als vermittelt gelten. Bei Leibniz finden wir den philosophischen Gedanken, das Sein der niederen Monaden zu verstehen zu suchen durch den traumlosen Schlaf, die Ohnmacht und den Tod, der für ihn kein Tod im strengen Sinne ist. Die genannten drei Phänomene sind für ihn Grade der absinkenden Differenziertheit des Verstehens. Das Totsein ist für Leibniz noch eine Weise des Lebens, d. h. des undifferenzierten Vorstellens, da die Monaden nicht eigentlich sterben können. Damit interpretiert er den Ernst des Todes um in eine äußerste Bewußtseinsschwäche. Schlaf, Ohnmacht und Tod interpretiert er im Hinblick auf eine Skala des Rückgangs der Differenziertheit des Vorstellungslebens der niederen Monaden. In dem Fragment 26 des Heraklit geht es aber nicht um eine Betrachtung über Leben 428

Todesbezug, Erwarten – Hoffen

und Tod und ihre Vermittlung durch Wachen und Schlaf, sondern um eine Aussage über das Menschenwesen. Der Mensch als der Feuer-zünden-Kön­ nende und die Lichtmacht-anrühren-Könnende ist zugleich auch der das Dunkel-anrühren-Könnende im Schlaf und im Tode. Was aber meint das Anrühren an das Dunkel, das nicht die Abständigkeit des Vernehmenden und Vernommenen innerhalb der Helle hat? Hier griffen wir zu dem Verle­ genheitsausdruck der ontischen Nähe. Uns geht es um das philosophische Problem des Doppelverhältnisses des Menschen, um das Verhältnis zum Licht und Feuer, das ein distanziertes Verstehen des Vernehmenden in bezug auf das Vernommene ist, und um das an der Unmittelbarkeit der ἅψις orientierte Verhältnis, in welchem die Unterschiede zwischen dem Vernehmenden und dem Vernommenen uns entgehen. Hier haben wir nur den Modus des Entgehens und Versinkens und können nicht mehr sagen, weil wir sonst leicht einer spekulativen Mystik verfallen. Heidegger: Das Verhältnis zum Tode schließt die Frage nach den Phäno­ menen des Lebens und des Schlafes ein. Wir können das Problem des Todes nicht umgehen, weil der Tod im Frag|ment selbst vorkommt. An der Eigenständigkeit des Schlafes allein können wir das Problem nicht in den Blick nehmen.

| XIII. Todesbezug, Erwarten – Hoffen (beigezogene Fragmente: 27, 28) ‒ Die „Gegensätze“ und ihr „Übergang“ (beigezogene Fragmente: 111, 126, 8, 48, 51) ‒ Abschlußfrage: Die Griechen als Herausforderung Fink: Der Mensch begegnete uns bisher nur im Verhältnis zu den Göttern (Fragment 62). Beim Fragment 26 handelt es sich um ein solches, das den Menschen allein in den Blick nimmt, ohne ihn aber aus den Bezügen herauszunehmen. ἅπτεται ist das Grundwort des Fragments. Es besteht aber eine Differenz zwischen dem ἅπτεται in bezug auf das Licht und dem ἅπτεται als dem Anrühren des Wachenden an den Schlafenden und des Schlafenden an den Toten. Im Fragment 26 wird nicht eine Geschichte erzählt, werden keine Ereignisse, die passieren, berichtet, sondern es werden Grundverhältnisse des Menschen zur Macht des Lichts und zur Macht des Verschlossenen, die er auf je andere Weise anrührt, in den Blick genommen. Das ἅπτεται ist einmal bezogen auf das Licht, das andere Mal auf die Dunkelheit des Schlafenden und auf die größere Dunkelheit des Toten. Das ἅπτεται ist in allen drei Bezügen das Gemeinsame. Wenn wir das Feuer nicht als Element nehmen, sondern als das, was den Schein wirft und im Schein 429

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Heraklit

die Abständigkeit des Vernehmenden und Vernommenen ermöglicht, dann ist mit einer eventuellen Übersetzung als „Kontakt“ für das Feuer-Zünden zu wenig gesagt. Wir müssen fragen, in bezug wozu der Kontakt bestimmt werden muß. Einmal handelt es sich um den Kontakt zum lichtenden und nicht nur zum verbrennenden und wärmenden Feuer, das andere Mal um den Kontakt zu dem bzw. um ein Anrühren dessen, was nicht zum Aufscheinen kommt, sondern sich dem Menschen verschließend entzieht. Heidegger: Was sich verschließend entzieht, ist nicht zunächst offen, um sich dann zu verschließen. Es verschließt sich nicht, weil es auch nicht offen ist. 242

| Fink: Das Sichverschließen meint nicht ein Zugegangensein. Das Anrüh­ ren ist hier ein Fassen des Unfaßlichen, ein Anrühren des Unberührbaren. Im Dunkel des Schlafes rührt der Mensch an das Totsein, an eine Möglichkeit seiner selbst. Aber das bedeutet nicht, daß er zum Toten wird. Denn es heißt: ζῶν δὲ ἅπτεται τεθνεῶτος. Heidegger: Das Elend der ganzen Heraklit-Interpretation ist meiner Mei­ nung [nach] darin zu sehen, daß das, was wir Fragmente nennen, keine Fragmente sind, sondern Zitate aus einem Text, in den sie nicht hineingehö­ ren. Es handelt sich um Zitate aus verschiedenen Textstellen, Fink: die durch den Kontext nicht erhellt werden. Heidegger: Herr Fink wird uns jetzt einen Vorblick geben auf den weiteren Gang des Auslegungsversuchs, und ich werde im Anschluß daran einiges über das Bisherige bemerken.

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Fink: Ich gehe über zum Fragment 27, das ich auf das Fragment 26 beziehen möchte. Der Text lautet: ἀνθρώπους μένει ἀποθανόντας ἅσσα οὐκ ἔλπονται οὐδὲ δοκέουσιν. Diels übersetzt: „Der Menschen wartet, wenn sie gestorben, was sie nicht hoffen noch wähnen.“ Wir können in der Auslegung mit der Frage ansetzen, was ἐλπίζω bzw. ἐλπίς bedeutet. Die Menschen sind nicht nur auf das unmittelbar Gegenwärtige, auf das, was vorliegt, in ihrem vernehmenden Gewahren bezogen. Sie sind nicht allein angewiesen auf das Beikommen von wahrnehmbaren Umweltdingen, sondern sie sind in der Begegnung von Gegenwärtigem als handelnde Wesen in der Erwartung in die Zukunft vorentworfen. Dieser Vorentwurf geschieht u. a. auch in der Hoffnung. Platon unterscheidet in den Nomoi (I 644 c 10–644 d 1) zwei Formen der ἐλπίς: Furcht (φόβος) und Zuversicht (θάρρος). Die Furcht bestimmt er als Erwartung des Schmerzhaften (φόβος μὲν ἡ πρὸ λύπης ἐλπίς), die Zuversicht als Erwartung des Gegenteils (θάρρος δὲ ἡ πρὸ τοῦ ἐναντίου). Der Mensch verhält | sich zur Zukunft zuversichtlich in der Erwartung der künftigen Freude und fürchtend in der Erwartung des auf ihn zukommenden Bedrohlichen. Darüber hinaus rührt der Mensch nicht nur an den Toten, 430

Todesbezug, Erwarten – Hoffen

sondern er verhält sich auch zum Tode. Solange er sich auf die Zukunft vorentwirft, steht er in seinen Verhaltungen im Projekt der Zukunft, die teilweise durch ihn selbst gestaltet und bewältigt, zum großen Teil aber auch durch das Geschick bestimmt wird. Heidegger: Wie ist das Verhältnis von Erwarten und Hoffen zu bestimmen? Fink: Ich höre in der Hoffnung die Erwartung von etwas Positivem, in der Furcht dagegen die Erwartung von etwas Negativem. Der einzelne Mensch lebt über die unmittelbare Gegenwart hinaus im Vorgriff auf das Ausste­ hende in der gestaltbaren Zukunft. So haben etwa die Athener im Vorblick auf den möglichen Ausgang überlegt, ob sie den Krieg mit Sparta beginnen sollen. Dieses Verhältnis zur Zukunft hat der Mensch auch über die Schwelle des Todes hinaus. Er verhält sich nicht nur zur Zukunft seines künftigen Lebens, sondern auch über diese hinaus zu seinem Tode. Alle Menschen versuchen, in Gedanken das Land hinter dem Acheron zu bevölkern und zu besiedeln. Sie gehen mit einer zagenden Hoffnung ihrem Totsein entgegen. Heidegger: Das Verhältnis von Hoffnung und Erwartung ist mir noch nicht geklärt. Im Hoffen liegt immer ein Rechnen auf etwas, im Erwarten dagegen ‒ vom Wort her gesprochen ‒ die Haltung des Sichfügens. Fink: Wohl kann man Hoffen und Erwarten in dieser Weise bestimmen, aber das Hoffen braucht nicht ein Rechnen auf etwas zu sein. Wenn die Menschen die Hoffnung aufpflanzen an den Gräbern der Toten, dann glauben sie, in einer gewissen Weise damit die Sphäre des Nichtantizipierbaren antizipie­ ren zu können. | Heidegger: Das Hoffen bedeutet „sich mit etwas fest befassen“, während im Erwarten das Sichfügen, die Zurückhaltung liegt. Die Hoffnung enthält gleichsam ein aggressives Moment, die Erwartung dagegen das Moment der Verhaltenheit. Hier sehe ich den Unterschied von beiden Phänomenen. Fink: Griechisch ἐλπίς umfaßt beides. In den Nomoi ist der Mensch durch λύπη und ἡδονή bestimmt. Die Erwartung (ἐλπίς) von λύπη ist φόβος, die Erwartung (ἐλπίς) einer ἡδονή ist θάρρος. Heidegger: Beide Haltungen machen sich fest auf das, worauf sie sich bezie­ hen. Die Erwartung aber ist die Haltung der Verhaltenheit und des Sichfü­ gens. Fink: Die Erwartung ist die philosophische Haltung. Der Mensch verhält sich nicht nur zur Zukunft seines Lebens, sondern er greift auch hoffend über die Schwelle des Todes hinaus. Der Tod aber ist das Verschlossene, Unbestimmbare und Unfaßliche. Es ist daher die Frage, ob hinter dem Acheron ein Land oder ein Niemandsland ist.

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Heraklit

Heidegger: Mozart sagte ein Vierteljahr vor seinem Tode: „Der Unbekannte spricht zu mir“.

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Fink: Der Unbekannte hat auch bei ihm das Requiem bestellt. Hierher gehört auch Rilkes Grabspruch: „Rose, oh reiner Widerspruch, Lust, / niemandes Schlaf zu sein unter soviel / Lidern.“ Die Rose ist das Gleichnis des Dichters, der in den vielen Liedern bzw. unter den Lidern nicht mehr der ist, der die Lieder gedichtet hat, sondern der sich selbst entgangen ist in niemandes Schlaf. In der Charakterisierung des Todes als niemandes Schlaf liegt eine abwartende Haltung, ein Sichversagen von Projektionen hinter den Acheron. In der ἐλπίς verhält sich der Mensch vorgreifend bestimmend, und zwar entweder im Vorblick auf die Zukunft seines Lebens oder aber über die | Schwelle des Todes hinaus im Hinblick auf ein postmortales Leben. Heraklit aber sagt, daß auf die Menschen, wenn sie gestorben sind, solches wartet, was sie nicht hoffen. Diels übersetzt das δοκέουσιν mit „wähnen“. Im Wähnen liegt ein abwertender Sinn eines falschen Meinens. Ich glaube aber, daß δοκεῖν hier nicht „wähnen“, sondern „vernehmen“ bedeutet. Auf die Menschen wartet, wenn sie gestorben sind, solches, was sie nicht erreichen durch vorgreifendes Hoffen oder durch Vernehmen. Das Totenreich stößt jede voreilige Beschlagnahme und Erkenntnis von sich ab. Heidegger: Wir müssen das δοκεῖν noch näher erläutern. Teilnehmer: δέχομαι heißt: annehmen. Heidegger: „Annehmen“ ist hier aber nicht zu verstehen im Sinne von Annahme, wie wir sagen: ich nehme an, daß es morgen regnet. „Annehmen“ bedeutet hier: ich nehme hin. Ich nehme an, was mir gegeben wird. Es geht hier also um das Moment des Hinnehmens, während sonst das δοκεῖν ein nicht recht gültiges Meinen bedeutet. Wir müssen daher das δοκέουσιν übersetzen als: annehmen und vernehmen. Das Annehmen meint hier nicht die Annahme, etwa wie sie von Meinong zum Thema gemacht worden ist, mit dem sich Husserl heftig auseinandergesetzt hat. δοκεῖν ist hier nicht das bloße Wähnen, sondern das annehmende Vernehmen. Fink: Bei Platon hat dann die δόξα vorwiegend den Sinn des Meinens. Aber es findet sich auch bei ihm die ὀρθὴ δόξα, die keinen negativen Akzent hat. Heidegger: Das δοκεῖν in der Bedeutung, die wir für das Fragment 27 in Anspruch nehmen, treffen wir auch bei Parmenides an, wenn er von den δοκοῦντα spricht.

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Fink: Wir können also abschließend noch einmal das Fragment 27 über­ setzen: Auf die Menschen wartet, wenn sie gestorben | sind, solches, was sie nicht erreichen durch Hoffen und annehmendes Vernehmen. Das bedeutet, daß der Mensch abgestoßen wird von der Unzugänglichkeit des Totenbereichs. ‒ Anschließend gehe ich zum Fragment 28 über: δοκέοντα γὰρ 432

Todesbezug, Erwarten – Hoffen

ὁ δοκιμώτατος γινώσκει, φυλάσσει· καὶ μέντοι καὶ Δίκη καταλήψεται ψευδῶν τέκτονας καὶ μάρτυρας. δοκέοντα dürfen wir auch hier nicht im negativen Sinne des Wähnens verstehen. Heidegger: Snell versteht δοκέοντα als das, was nur Ansicht ist. Mit dieser Übersetzung verbinde ich mit dem Fragment keinen Sinn. Fink: Ich möchte eine Interpretation vorschlagen als eine Art Stütze für das nichtwahnhafte δοκεῖν aus dem Fragment 27. Der δοκιμώτατος ist der am meisten Vernehmende, derjenige, der im Vernehmen die größte Mächtigkeit hat. Teilnehmer: Der δοκιμώτατος ist auch der Erprobteste. Vielleicht müssen wir beide Bedeutungen zusammen in den Blick nehmen. Heidegger: Wie übersetzt Diels das Fragment 28? Fink: „(Denn) nur Glaubliches ist, was der Glaubwürdigste erkennt, festhält. Aber freilich Dikē wird auch zu fassen wissen der Lügen Schmiede und Zeugen.“ Man würde statt „Glaubliches“ eher „Unglaubliches“ erwarten. Ich bin nicht der Ansicht, daß δοκέοντα den Sinn des bloß Angesetzten und nicht Verifizierten hat. δόξα bedeutet im Griechischen gar nicht nur die bloße Meinung. Es gibt auch die δόξα eines Helden und Feldherrn. Hier besagt δόξα die Weise, im Ansehen und nicht etwa in einer Wahnauffassung zu stehen. Teilnehmer: Der δοκιμώτατος ist auch der Angesehenste, Fink: aber nicht bei den Vielen, sondern auf den Denker hin gesprochen. Der δοκιμώτατος vernimmt die δοκέοντα, d. h. die πάντα | als das viele Seiende, das aufglänzt, erscheint und im Erscheinen vernehmlich wird. Der am meisten Vernehmende vernimmt die Dinge in ihrem Aufschein. φυλάσσει übersetze ich nicht als „hält sie fest“, sondern als „schließt sie zusammen“. Der am meisten Vernehmende nimmt das viele Seiende auf und schließt es zusammen. Auch die πολλοί sind im Vernehmen auf die δοκέοντα bezogen, aber sie sind an sie hingegeben und verloren. Sie vermögen nicht, die Einigung zu sehen, das Licht, in dem die δοκέοντα zum Aufschein kommen. Der δοκιμώτατος ist auf die erscheinenden Dinge bezogen und hält sie zusammen. Er wacht über die δοκέοντα, indem er sie auf das ἕν hin bezieht. Er ist nicht nur ausgerichtet auf das Viele, das im Schein des Lichtes sich zeigt, sondern als zugleich lichtverwandt hat er die zusammenschließende Kraft und sieht, was die δοκέοντα möglich macht. Heidegger: Sie interpretieren also φυλάσσειν als Zusammenhalten. Fink: Das Zusammenhalten der Dinge auf den Zusammenhalt bzw. auf das Ver-hältnis hin, wie Sie gesagt haben. Der am meisten Vernehmende vernimmt das Aufscheinende im zusammenschließenden Verhältnis. Der δοκιμώτατος ist unter den gewöhnlichen Menschen ähnlich wie das Licht 433

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Heraklit

selbst. Der zweite Satz des Fragments lautet übersetzt: Aber freilich Dikē wird auch zu fassen wissen der Lügen Schmiede und Zeugen. Die Schmiede der Lügen sind diejenigen, die die δοκέοντα aus der Fuge der versammelnden Einheit herausgelöst haben und sie nur als solche vernehmen, nicht aber das Erscheinende im Licht des ἕν. Die Dikē wacht über das rechte vernehmende Verhalten, über die Wächterschaft des δοκιμώτατος, der die δοκέοντα zusam­ menhält. Heidegger: καταλαμβάνω heißt auch vereinnahmen. 248

Fink: Hier im Fragment ist aber noch mehr gemeint. Dikē wird sie der Lügen überführen. Sie ist die wachende Macht, der | gemäß sich der δοκιμώτατος verhält, wenn er die ὄντα als das Viele zusammenhält auf das Eine hin. Der Gegenbegriff zum δοκιμώτατος sind die πολλοί, die sich nur an das Viele verlieren und nicht die zusammenschließende Macht des Lichts sehen. Sie sehen wohl das Aufglänzende im Licht, aber nicht die Einheit des Lichts. Sofern sie eine menschliche Grundmöglichkeit verfehlen, sind sie Schmiede der Lügen. Ihre Lügen bzw. ihre Falschheit besteht in ihrem bloßen Hinblick auf die δοκέοντα, ohne daß sie diese im Hinblick auf das einigende Eine zusammenhalten. Die Dikē ist die den Denker begeisternde Macht, die über die im ἕν gesammelte Einheit der πάντα wacht. Ob man μάρτυρας auch noch auf ψευδῶν beziehen kann, ist eine philologische Frage. Die μάρτυρες sind Zeugen, die die δοκέοντα vernehmen, aber nur diese und nicht auch die Helle des Feuers selbst. Heidegger: Diese Deutung ist philologisch eleganter.

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Fink: Mit den Zeugen wären die Vielen genannt, die sich auf das, was sie unmittelbar sehen und vernehmen, berufen. Was die der Einheit des ἕν Entfremdeten in ihrem Vernehmen auf die Dinge hin gewahren, ist nicht falsch in dem Sinne, daß es sich als wahnhaft herausstellt. Sie sind Zeugen von wirklichen Dingen, aber sie beziehen die δοκέοντα nicht zurück auf die sammelnde Fuge wie der δοκιμώτατος. Das Fragment 28 habe ich als Unterstützung für das Fragment 27 herangezogen. Das δοκεῖν ist hier nicht im Sinne des abschätzigen Wähnens gemeint. Wahnhafte und falsche Auffassungen haben wir auch in bezug zu dem, was uns umgibt. Es wäre nichts Besonderes, wenn Heraklit nur sagen würde, daß wir uns angesichts dessen, was uns im Tode erwartet, nicht wähnend verhalten. Wenn er aber von einem οὐκ ἔλπονται οὐδὲ δοκέουσιν in bezug auf die uns entzogene Sphäre des Totenreichs spricht und das δοκεῖν hier nicht die Bedeutung des Wähnens hat, dann hat seine Aussage eine härtere Bestimmtheit. Auch im Diesseits kommen wir nicht aus mit dem Vernehmen. Wir bewegen uns immer in einem | rechten und schlechten Vernehmen. Im Leben gibt es Irrtum und Täuschung. Heraklit aber sagt, daß das Vernehmen, das wir kennen und in den Dienst unserer Lebensführung stellen, nicht für 434

Todesbezug, Erwarten – Hoffen

den postmortalen Bereich ausreicht. Es gibt kein Vernehmen, das in das Niemandsland einzudringen vermag. Ich gehe über zum Fragment 111: νοῦσος ὑγιείην ἐποίησεν ἡδὺ καὶ ἀγαθόν, λιμὸς κόρον, κάματος ἀνάπαυσιν. Diels übersetzt: „Krankheit macht Gesundheit angenehm und gut, Hunger Sattheit, Mühe Ruhe.“ Dieses Fragment scheint simpel zu sein. Man könnte sich darüber verwundern, daß eine solche Alltagserfahrung sententiös formuliert unter den Sprüchen des Heraklit auftaucht. Wir können es aber aufnehmen als einen Einstieg in die Fragmente, die das Verhältnis des Entgegengesetzten in einer unge­ wöhnlichen Weise denken. Wenn gesagt wird: Krankheit macht Gesundheit angenehm, verhält es sich dann so einfach wie Sokrates im Phaidon sagt, daß er, nachdem er von der schmerzhaften Fessel befreit ist, nun das angenehme Gefühl des Kratzens empfindet? Hier geht das Wohlgefühl aus dem vergangenen Unbehagen hervor. Heraklit sagt: Krankheit macht Gesundheit gut und süß. Dabei kann entweder die vorangehende oder die nachkommende Gesundheit gemeint sein. Krankheit-Gesundheit ist kein Unterschied stehend-gegensätzlicher Art, sondern ein Kontrastphänomen derart, daß aus der Krankheit Gesundheit werden kann. Das gleiche gilt für Hunger und Sattheit und für Mühe und Ruhe. Es handelt sich um einen Vorgang des Übergehens von Entgegengesetztem in das Gegenteil, um die phänomenale Verspannung von Kontrastierendem im Übergang. ἡδύ und ἀγαθόν werden nicht bestimmt als Qualitäten in sich, sondern als hervorgegangen aus einem negativen Zustand, von ihrem zurückgelassenen und überwundenen Gegenteil her bestimmt. Vergangener Reichtum macht die nachfolgende Armut bitter, und umgekehrt, vorangehende Armut macht den nachfolgenden Reichtum angenehm. Diese Verhältnisse von Entgegen­ gesetztem sind uns geläufig. Wichtig ist hier nur, daß ἀγαθόν und ἡδύ nur aus dem Kontrast bestimmt werden. Damit gehe ich über zum Fragment 126: τὰ ψυχρὰ θέρεται, | θερμὸν ψύχεται, ὑγρὸν αὐαίνεται, καρφαλέον νοτίζεται. Die Dielssche Übersetzung lautet: „Das Kalte erwärmt sich, Warmes kühlt sich, Feuchtes trocknet sich, Dürres netzt sich.“ ψυχρά, θερμόν, ὑγρόν, καρφαλέον übersetzt Diels durch: Kaltes, Warmes, Feuchtes, Dürres. Was aber ist damit gemeint? Es handelt sich hier um Neutra, die problematisch sind, weil sie einmal einen bestimmten Zustand von etwas aussagen und zum anderen das Kaltsein, Warmsein, Feuchtsein und Trockensein schlechthin meinen können. Ist ein bestimmter Zustand von etwas gemeint, dann wird gesagt: das Kalte, das sich erwärmt, geht aus dem Zustand des Kaltseins in den des Warmseins über. Der Übergang eines Dinges von einem Zustand in einen entgegenge­ setzten ist etwas anderes als das Übergehen des Kaltseins in das Warmsein schlechthin. Der Übergang von etwas aus dem Kaltsein in das Warmsein ist ein bekannter phänomenaler Bewegungswandel. Damit ist weniger 435

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gesagt als mit den πυρὸς τροπαί. Denn hier geht es um die Umsetzung des Feuers selbst in anderes. Merkwürdig ist, daß Heraklit einmal im Plural (τὰ ψυχρά) und dreimal im Singular spricht (θερμόν, ὑγρόν, καρφαλέον). Wir müssen uns den Unterschied klarmachen, der zwischen dem Übergang einer Sache aus dem Kaltsein in das Warmsein und dem Übergang des Kaltseins schlechthin in das Warmsein schlechthin liegt. Wenn gesagt würde, daß das Lebendsein eines Menschen in das Totsein übergehen kann, so wäre damit nichts Aufregendes ausgesprochen. Aber problematischer und uns härter angreifend wäre die Aussage, daß das Leben selbst in den Tod und umgekehrt, der Tod in das Leben übergeht. Das wäre ähnlich dem Übergang des Kaltseins in das Warmsein und des Warmseins in das Kaltsein. Heidegger: Sind τὰ ψυχρά die kalten Dinge?

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Fink: Das ist gerade die Frage, ob mit ihnen die kalten Dinge oder aber das Kaltsein schlechthin gemeint ist. Was die kalten Dinge anbetrifft, so gibt es solche, die von Hause aus kalt sind, wie etwa das Eis, und solche, die gelegentlich kalt sind, wie das | Wasser, das kalt, aber auch warm sein kann. Wasser kann aber auch aus dem Zustand des Flüssigen in den des Dampfförmigen übergehen. Es gibt daher zeitweilige und wesensmäßige Übergänge. Ein schwierigeres Problem aber ist das Verhältnis von Kaltsein und Warmsein schlechthin. Wenn τὰ ψυχρά τὰ ὄντα sind, sind dann τὰ ὄντα Dinge, die im Zustand des Seiendseins sind und übergehen können in den Zustand des Nichtseins? Meint τὸ ὄν den zeitweiligen Zustand von etwas substrathaft Zugrundeliegendem? Oder ist mit τὸ ὄν kein Ding und keine Sache, sondern das Seiendsein gemeint? Für Hegel geht das Sein über in das Nichts und das Nichts über in das Sein. Sein und Nichts sind für ihn dasselbe. In dem aber, wie diese Selbigkeit gemeint ist, liegt eine Zweideutigkeit. Ist das Verhältnis von Seiendsein und Nichtsein ein analoges Verhältnis wie das zwischen Kaltem und Warmem? Meint Heraklit, wenn er vom Kalten und Warmen spricht, nur die kalten und warmen Dinge? Daß kalte Dinge sich erwärmen können und umgekehrt, ist eine banale Aussage. Aber es könnte doch sein, daß das Fragment eine über diese Banalität hinausgehende Problematik enthält, wenn in ihm gesagt werden soll, daß das Kaltsein und Warmsein als ein stehender Gegensatz selber ineinander übergehen. Teilnehmer: Wir müssen den Gegensatz zwischen dem Kalten und Warmen so verstehen, daß im Kalten schon das Sicherwärmen enthalten ist. Fink: Damit greifen Sie wieder auf die leichte Lesart des Fragments zurück. Das Kalte ist dann das kalte Ding, das sich erwärmt. Das ist aber kein Übergang vom Kaltsein schlechthin in das Warmsein schlechthin, sondern nur der Übergang von thermischen Zuständen an einem Ding. Dieser Gedanke bereitet keine Schwierigkeit. Ein größeres Problem ist aber dann gegeben, wenn das Kalte und das Warme nicht die kalten und warmen Dinge, 436

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sondern das Kaltsein und das Warmsein schlechthin sind, von denen dann gesagt wird, daß sie ineinander übergehen. θερμόν oder ὑγρόν müssen wir so zu lesen versu|chen, wie bei Platon τὸ καλόν, τὸ δίκαιον zu verstehen ist. τὸ καλόν ist nicht das, was schön ist, sondern was die καλά zu Schönem macht. Für uns ist die Frage, ob mit der Verspannung von Kontrastgegensätzen nur die alltäglich bekannten Phänomene gemeint sind, oder ob eine Hinter­ gründigkeit darin liegt, daß ein nicht phänomenal bekanntes Übergehen und Ineinanderfließen der sonst stehenden Entgegengesetztheit in den Blick genommen wird. Das Fragment 126 ist zweideutig. Einmal hat es einen Banalsinn, zum anderen einen problematischen Sinn, bei dem es nicht um das Verhältnis von kalten und warmen Dingen, sondern um das Übergehen des Kaltseins schlechthin in das Warmsein schlechthin und umgekehrt geht. Beim Übergang vom Kaltsein in das Warmsein verhält es sich ähnlich wie beim Übergang vom Leben in den Tod und vom Tod in das Leben. In diesem Übergang ist jetzt nicht das Leben eines Menschen gemeint, das in das Totsein übergeht. Die eigentliche Herausforderung des Fragments ist in der teilweisen Gleichsetzung von Entgegengesetztem zu sehen und nicht im Übergehen von Zuständen an einem Ding.

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Heidegger: Die Herausforderung liegt in dem Übergehen als solchem, Fink: in dem Übergehen von solchem, was sonst als Gegensatz steht. Vielleicht ist der Gegensatz von Leben und Tod auch ein stehender wie der von Kaltsein und Warmsein. Im Bezugsraum dieses Gegensatzes kann eine Bewegung von Dingen geschehen derart, daß etwas, was zuerst kalt ist, dann warm wird, und umgekehrt. Wir stehen aber vor der Frage, ob in dem Fragment mehr gesagt ist als die Banalauffassung, ob in ihm die provozierende These liegt, die auch die stehenden Gegensätze ineinander übergehen läßt. Teilnehmer: Das Verhältnis vom Warmsein und Kaltsein ist ein Ineinander­ gehen. Heidegger: Sie denken an die ἀλλοίωσις von Aristoteles. | Fink: Die ἀλλοίωσις setzt ein ὑπομένον voraus, an dem die μεταβολή sich vollzieht. Dann haben wir einen Übergang von entgegengesetzten Zustän­ den an einer Sache. Ein Wärmeleiter kann sich zunächst im Zustand des Wärmegrades Null befinden und sich dann in steigenden Graden erwärmen. Wir können dabei fragen, wo die Kälte hingeht und woher die Wärme kommt. Solange wir solche Phänomene des Übergangs auf eine zugrunde­ liegende Substanz beziehen, sind diese Übergänge nicht problematisch. Heidegger: Aber die ἀλλοίωσις ist doch ein philosophisches Problem? Fink: Dem stimme ich zu. Sie ist vor allem problematisch, weil Aristoteles von ihr her letztlich auch das Entstehen und Vergehen interpretiert. 437

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Heraklit

Heidegger: Seine Bewegungsphilosophie ist auf einen bestimmten Bereich abgesteckt. Wir müssen also drei Dinge unterscheiden: erstens, wie ein kaltes Ding warm wird, zweitens dieses Werden als ἀλλοίωσις interpretiert, was schon ein ontologisches Problem ist, weil hier das Sein von Seiendem bestimmt wird, und drittens Fink: das Übergehen des Kaltseins überhaupt in das Warmsein überhaupt. Damit wird im Denken der Unterschied vom Kaltsein und Warmsein aufgehoben. Der Übergang eines Dinges aus dem Zustand des Kaltseins in den des Warmseins ist nur eine Bewegung an einem dinglichen Substrat. Etwas anderes ist der problematische Zusammenfall vom Kaltsein mit dem Warmsein. Ein noch schwierigeres Problem ist das Selbigsein von Hades und Dionysos (ωὑτὸς δὲ Ἀίδης καὶ Διόνυσος). Heidegger: Kann man den Unterschied von Kalt und Warm in Beziehung bringen zum Unterschied von Leben und Tod? Fink: Leben und Tod ist ein viel härterer Unterschied, 254

| Heidegger: bei dem es keinen Komparativ gibt. Fink: Der Unterschied zwischen dem Kaltsein und dem Warmsein ist ein Unterschied, der nur im Leben beheimatet ist. Heidegger: Der Unterschied von Kalt und Warm gehört in den Bereich der Thermodynamik, Fink: während der Unterschied von Leben und Tod sich nicht an einem solchen Übergang von Kaltem in Warmes fassen läßt. Das Kalte und das Warme sind substantivierte Qualitäten. Das Kalte kann einmal das kalte Ding oder das Kaltsein als solches bedeuten. Ähnlich verhält es sich beim τὸ ὄν. Es bedeutet einmal das Seiende, dem Sein zukommt, und zum anderen das Seiendsein des Seienden. Die Zweideutigkeit gilt für das Kalte, das Warme, das Feuchte, das Trockene. Liest man das Fragment 126, ohne nach einem tieferen Sinn zu suchen, dann handelt es, was den Übergang der kalten Dinge in warme Dinge und umgekehrt anbetrifft, nur von ther­ modynamischen Phänomenen. Man stößt auf das Problem der ἀλλοίωσις, aber es enthält scheinbar keinen provokativen Sinn, den wir sonst von der Herakliteischen Störung der stehenden Gegensätze her kennen. Wenn wir das Fragment in der Weise lesen, daß es einen Übergang des Kaltseins schlechthin in das Warmsein schlechthin in den Blick nimmt, dann bringt es den Gegensatz, der sonst als feststehende Struktur der phänomenalen Welt bei allem Wandel der Dinge bleibt, wohl nicht in die ἁρμονίη φανερή, aber in die ἁρμονίη ἀφανής. Heidegger: Die Schwierigkeit sehe ich darin, daß man nicht weiß, wo das Fragment 126 bei Heraklit gestanden hat. Sie meinen also nicht den uns 438

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geläufigen Übergang von einem Kaltseienden in ein Warmseiendes und auch nicht die Bestimmung des Seinscharakters dieses Überganges, sondern Fink: die als Provokation angesetzte Selbigkeit von Kaltsein und Warmsein. | Heidegger: Kann man diese Selbigkeit von dem Unterschied des Kaltseins und Warmseins her anvisieren und nicht nur vom Gegensatz von Leben und Tod her?

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Fink: Ich möchte noch auf das Fragment 8 eingehen: τὸ ἀντίξουν συμφέρον καὶ ἐκ τῶν διαφερόντων καλλίστην ἁρμονίαν. Diels übersetzt: „Das widerein­ ander Strebende zusammengehend; aus dem auseinander Gehenden die schönste Fügung.“ τὸ ἀντίξουν ist ein substantiviertes Neutrum. Heidegger: Dieses Wort gibt es bei Heraklit nur einmal. Ich habe nie recht verstanden, was mit τὸ ἀντίξουν eigentlich gemeint ist. Eher ist das Wort rückwärts von συμφέρον her zu verstehen. Fink: τὸ ἀντίξουν bedeutet das Auseinanderstrebende, das Widereinander­ strebende, aber nicht wie zwei Lebewesen, sondern wie ein Widerspenstiges, das sich der Gewalt widersetzt. Das Widereinanderstrebende ist das wider­ spenstig sich Entgegenhaltende. Das Auseinanderstrebende ist zugleich das Zusammengetragene bzw. Zusammengebrachte. Wenn wir bei der zweiten Hälfte des Fragments ansetzen, wird auch die erste lesbar. Aus dem Auseinandergetragenen geht die schönste Harmonie hervor. Entgegen der gewöhnlichen Meinung, daß das Widerstrebende ein Negatives ist, ist hier das Widerstrebende zugleich das Zusammenbringende. Das widereinander Strebende geht in einer Weise zusammen, daß aus ihm als dem Ausein­ andergetragenen, dem widerstreitend Entzweiten, die schönste Harmonie entsteht. Damit denkt Heraklit programmatisch über das hinaus, was uns vorher als unmittelbares Phänomen im Fragment 111 begegnete: daß kalte Dinge warm werden können und umgekehrt. Heidegger: Wo aber gehört die „schönste Harmonie“ hin? Ist es die sichtbare oder die unsichtbare Harmonie? Fink: Das läßt sich nicht auf Anhieb sagen. In die Gruppe der Fragmente, die die Gegensätze in den Blick nehmen, gehört | auch das Fragment 48: τῷ οὖν τόξῳ ὄνομα βίος, ἔργον δὲ θάνατος. „Des Bogens Name also ist Leben, sein Werk aber Tod.“ Hier ist nicht nur das Ungereimte gemeint, daß zwischen Sache und Namen ein Mißverhältnis besteht. Teilnehmer: In diesen Zusammenhang gehört auch das Fragment 51: „Sie verstehen nicht, wie es auseinander getragen mit sich selbst im Sinn zusam­ men geht: gegenstrebige Vereinigung wie die des Bogens und der Leier.“ Fink: Um dieses Fragment auslegen zu können, muß man erst das Fragment 48 gelesen haben. Der Bogen vereinigt in sich den Gegensatz des Kämpfen­ 439

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den und des Totenbereichs. Die Leier ist das Instrument, das das Fest feiert. Auch sie ist ein Vereinigendes von zunächst Widerstrebendem. Sie einigt die Gemeinde des Festes. Das Fragment 51 nimmt nicht nur das Verhältnis von Leier und Festgemeinde in den Blick, sondern auch das Verhältnis des Tötens. Das Werk des Bogens ist der Tod, eine vom Fest verschiedene Grundsituation. Tod und Fest sind zusammengeschlossen, aber nicht nur wie die Bogenseiten durch die Sehne zusammengespannt sind, sondern in der Weise von mehrfältigen Gegenverhältnissen. Doch hier müssen wir abbrechen, weil diese Fragmente einer gründlichen Besinnung bedürfen. Heidegger: Ich möchte zum Abschluß keine Rede halten, sondern eine Frage stellen. Sie, Herr Fink, sagten zu Beginn der ersten Seminarsitzung: „Die Griechen bedeuten für uns eine ungeheure Herausforderung.“ Ich frage: inwiefern? Sie sagten weiter, daß es darum gehe, „zur Sache selbst vorzudringen, d. h. zu der Sache, die vor dem geistigen Blick des Heraklit“ gestanden haben muß.

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Fink: Es ist die Frage, ob wir überhaupt aus unserer geschichtlichen Situa­ tion, belastet durch zweieinhalbtausend Jahre Weitergang des Denkens, uns von den Griechen und ihrem Seins- | und Weltverständnis entfernt haben und dennoch in allen Verhaltungen immer noch Erben der griechischen Ontologie geblieben sind. Heidegger: Wenn Sie von der Herausforderung der Griechen sprechen, so meinen Sie die Herausforderung im Denken. Was aber ist das Herausfor­ dernde? Fink: Wir werden herausgefordert, die ganze Richtung unseres Denkens einmal umzukehren. Damit ist nicht die Aufarbeitung einer geschichtlichen Tradition gemeint. Heidegger: Ist auch für Hegel die Antike eine Herausforderung? Fink: Nur im Sinne der Aufhebung und des Weiterdenkens dessen, was die Griechen gedacht haben. Es ist aber die Frage, ob wir nur die Verlängerung der Griechen sind und zu neuen Problemen gekommen sind und uns von dreitausend Jahren Rechenschaft geben müssen, oder ob wir in verhängnis­ voller Weise ein Wissen darum, wie sich die Griechen in der Wahrheit aufgehalten haben, verloren haben. Heidegger: Geht es uns nur um eine Wiederholung Heraklits? Fink: Es geht uns um eine bewußte Konfrontation mit Heraklit. Heidegger: Aber diese finden wir doch auch bei Hegel. Auch er stand unter der Herausforderung der Griechen. Herausgefordert kann nur werden, der selber Fink: eine Bereitschaft zum Denken hat. 440

Todesbezug, Erwarten – Hoffen

Heidegger: Im Hinblick worauf sind für Hegel die Griechen eine Herausfor­ derung? | Fink: Hegel hat die Möglichkeit gehabt, in seiner Begriffssprache die Tradition aufzunehmen, aufzuheben und zu verwandeln.

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Heidegger: Was heißt: seine Begriffssprache? Hegels Denken ist das Den­ ken des Absoluten. Von diesem Denken her, von der Grundtendenz der Vermittlung erscheinen für ihn die Griechen Fink: als Giganten, aber als Vorläufer, Heidegger: als das Unmittelbare und noch nicht Vermittelte. Alles Unmit­ telbare hängt an der Vermittlung. Das Unmittelbare ist immer schon von der Vermittlung her gesehen. Hier liegt für die Phänomenologie ein Problem. Es ist das Problem, ob hinter dem, was sie das unmittelbare Phänomen nennt, auch eine Vermittlung steckt. In einer früheren Seminarsitzung haben wir gesagt, daß das Bedürfnis bei Hegel ein fundamentaler Titel ist. Für das Den­ ken Hegels – was jetzt nicht im persönlichen, sondern im geschichtlichen Sinne gemeint ist – bestand das Bedürfnis der Befriedigung des Gedachten, wobei Befriedigung wörtlich als Versöhnung des Unmittelbaren mit dem Vermittelten zu verstehen ist. Wie aber ist es bei uns? Haben auch wir ein Bedürfnis? Fink: Wohl haben wir ein Bedürfnis, aber nicht einen Boden so wie Hegel. Wir verfügen nicht über eine Begriffswelt, in die wir Heidegger: die Griechen hineinnehmen können, Fink: sondern wir müssen die Rüstung dieser Tradition ablegen. Heidegger: Und dann? Fink: Wir müssen im neuen Sinne anfangen. Heidegger: Wo liegt für Sie die Herausforderung? | Fink: Darin, daß wir durch den Gang der Geschichte des Denkens an ein Ende gekommen sind, in dem uns die Fülle der Überlieferung fragwürdig geworden ist. Unsere Frage ist, ob wir nicht in einer neuen Zuwendung zu dem, was die Griechen gedacht haben, ob wir mit unserer neuen Seinserfah­ rung der griechischen Welt begegnen können. Wir müssen uns fragen, ob wir schon eine durch die Metaphysik nicht geprägte Seinserfahrung haben. Heidegger: Ist das so zu denken, daß unsere Seinserfahrung den Griechen gewachsen ist? Fink: Hier kommt es auf die Wahrheit unserer Situation an, aus der heraus wir fragen und sprechen können. Wir können nur als Nihilisten mit den Griechen sprechen. Heidegger: Meinen Sie? 441

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Heraklit

Fink: Das bedeutet aber nicht, daß im Nihilismus ein fertiges Pro­ gramm läge. Heidegger: Wie, wenn es bei den Griechen etwas Ungedachtes gäbe, was gerade ihr Denken und das Gedachte der ganzen Geschichte bestimmt? Fink: Wie aber gewinnen wir den Blick für dieses Ungedachte? Vielleicht ergibt sich dieser Blick erst aus unserer Spätsituation heraus.

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Heidegger: Das Ungedachte wäre das, was sich nur für unseren Blick zeigt. Aber es ist dabei die Frage, wie weit wir uns selbst verstehen. Ich mache einen Vorschlag: das Ungedachte ist die ἀλήθεια. Über die ἀλήθεια als ἀλήθεια steht in der ganzen griechischen Philosophie nichts. Im Paragraphen 44 b von Sein und Zeit wird in bezug auf die ἀ-λήθεια gesagt: „Die Übersetzung durch das Wort ‚Wahrheit‘ und erst recht die | theoretischen Begriffsbestim­ mungen dieses Ausdrucks verdecken den Sinn dessen, was die Griechen als vorphilosophisches Verständnis dem terminologischen Gebrauch von ἀλήθεια ‚selbstverständlich‘ zugrunde legten.“16 Ἀλήθεια als ἀλήθεια gedacht hat mit „Wahrheit“ nichts zu tun, sondern bedeutet Unverborgenheit. Was ich damals in Sein und Zeit über die ἀλήθεια gesagt habe, geht schon in diese Richtung. Die ἀλήθεια als Unverborgenheit hat mich immer schon beschäftigt, aber die „Wahrheit“ schob sich dazwischen. Die ἀλήθεια als Unverborgenheit geht in die Richtung dessen, was die Lichtung ist. Wie verhält es sich mit der Lichtung? Sie sagten das letzte Mal, die Lichtung setze nicht das Licht voraus, sondern umgekehrt. Haben Lichtung und Licht überhaupt etwas miteinander zu tun? Offenbar nicht. Lichtung besagt: lichten, Anker freimachen, roden. Das bedeutet nicht, daß es dort, wo die Lichtung lichtet, hell ist. Das Gelichtete ist das Freie, das Offene und zugleich das Gelichtete eines Sichverbergenden. Die Lichtung dürfen wir nicht vom Licht her, sondern müssen sie aus dem Griechischen heraus verstehen. Licht und Feuer können erst ihren Ort finden in der Lichtung. In dem Aufsatz Vom Wesen der Wahrheit habe ich dort, wo ich von der „Freiheit“ spreche, die Lichtung im Blick gehabt, nur daß auch hier die Wahrheit immer hinterher kam. Das Dunkel ist zwar lichtlos, aber gelichtet. Für uns kommt es darauf an, die Unverborgenheit als Lichtung zu erfahren. Das ist das Ungedachte im Gedachten der ganzen Denkgeschichte. Bei Hegel bestand das Bedürfnis der Befriedigung des Gedachten. Für uns waltet dagegen die Bedrängnis des Ungedachten im Gedachten. Fink: Herr Professor Heidegger hat schon mit seinen Worten das Seminar offiziell geschlossen. Ich glaube, auch im Namen aller Teilnehmer sprechen zu dürfen, wenn ich Herrn Professor Heidegger in Herzlichkeit und Vereh­ rung danke. Gedanken-Werke können sein wie ragende Gebirge im festen Umriß, wie „die sicher gebaueten Alpen“. Wir aber haben hier etwas er|fahren 442

Todesbezug, Erwarten – Hoffen

von dem flüssigen Magma, das als unterirdisch drängende Kraft Gebirge des Denkens aufwirft. Heidegger: Zum Abschluß möchte ich den Griechen die Ehre geben und zu den Sieben Weisen zurückgehen. Von Periander aus Korinth stammt der Satz, den er in einer Vorahnung gesprochen hat: μελέτα τὸ πᾶν, nimm in die Sorge das Ganze als Ganzes. Ein anderes Wort, das auch von ihm stammt, lautet: φύσεως κατηγορία, das Andeuten, Sichtbarmachen der physis.

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Ergänzende Texte

Zeit und Zeitbegriff bei Aristoteles ‹1963›

| Es ist ohne Zweifel ein hyperbolisches Unterfangen, in der knappen Zeit-Spanne eines Referates über die Zeit-Lehre des Aristoteles zu berich­ ten. Dieser Denker ist mehr als irgendeine paradigmatische Figur des antiken Zeit- und Seinsverständnisses – er schließt eine reichbewegte Gedankengeschichte in radikalen Problemformeln zusammen, bekundet eine Strenge der prinzipiellen Reflexion, die immer wieder erstaunt, und ist dabei subtil und lapidar. Hegel nennt ihn in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie „… eins der reichsten, umfassendsten, tiefsten wissenschaftlichen Genies, die je erschienen sind, – ein‹en› Mann, dem keine Zeit ein Gleiches an die Seite zu stellen hat“.1 Der Stil des aristotelischen Denkens wird leicht verkannt, er ist nüch­ tern und kühl, unpathetisch und lehrhaft und doch von einer unerhörten Leidenschaft des Fragens. Zunächst sieht es immer so aus, als nähme der Denker das je schon Bekannte auf, fasse es gerade in der Weise, wie die Umgangssprache darüber schon befunden habe, greife auf unmittelbare Phänomene, schlicht sich zeigende Sachen zurück oder diskutiere die Lehr­ meinungen früherer Philosophen. Aristoteles setzt beim Bekannten an, um die Bekanntheit des Bekannten in einem disziplinierten Gang von Fragestoß zu Fragestoß aufzulösen. 1. Die Zeit ist uns allen bekannt. Jedermann weiß, was damit gemeint wird. Wir sind mit der Zeit vertraut, halten uns in ihr auf, gehen mit ihr um in der Zeitrechnung, wir verbrauchen Zeit für die mannigfachen Geschäfte des Lebens, wir nutzen oder vertreiben sie, bald ist es uns in ihr langweilig, bald kurzweilig. Wir kennen Zeit, auch wenn wir uns über sie keine Gedanken machen. Zeithaft ist unser Leben. Wie alle wirklichen Dinge überhaupt, sind wir in der Zeit, wir kommen darin vor, jeder eine Weile, deren Ausmaß er nicht kennt, wir treiben mit in ihrem Gang, werden mitgerissen von ihrem Fluß, sind zusammen mit zahllosen Ereignissen, Begebenheiten, Vorgängen, wir teilen uns Zeitumstände, Zeitläufte mit Mitmenschen, sind einander Zeitgenossen, werden irgendwann geboren und enden irgendwann im Tod. Niemals stehen wir der Zeit so gegenüber wie fremden Dingen, wir vermögen es nicht, uns in einen Abstand zu ihr zu 447

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Zeit und Zeitbegriff bei Aristoteles

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bringen, solange wir leben. Wir bleiben von ihr umfangen, können sie nie aus einem zeitlosen Ort betrachten, es sei denn von dem Gestade aus, an dem Charons dunkler Nachen landet. Wir sind in die Zeit versetzt, ohne jedoch alle Zeit in ihr zu bleiben. Endlich ist die Weile, die wir irdisch-zeithaft sind. Wir kommen und gehen, wachsen auf und welken, steigen und fallen im Bogengang des Lebens, nehmen zu und schwinden, entstehen und vergehen. Der Lebensweg jedes Menschen, aber auch ganzer Völker und Kulturen läuft in der Zeit. Doch sind wir nicht bloß einfachhin in der Zeit, wir verhalten uns immer auch zur Zeit – kommen nicht darin vor wie Stein oder Welle, wie Pflanze oder Tier, wir hoffen und planen, denken voraus und zurück, überschwingen verstehend den Augenblick ins Vergangene und Zukünftige, wissen in der Zeit um die Zeit. Das menschliche Zeitverhalten ist eigentümlich zweideutig und gespannt, Verstehen und Unverständnis sind darin seltsam gemischt wie Tag und Nacht in der Dämmerung. Je mehr wir von ‹der› Zeit zu erhellen suchen, desto mehr wächst ihre Dunkelheit. Je zeitoffener wir sind, desto stärker befremdet uns ihre Unbegreiflichkeit, die den Aufgang und Untergang aller endlichen Dinge umspannt – wir spüren, daß „Bleiben nirgends“ ist, daß alles hinab muß, was strahlend aufstieg, und der Schatten der Vergänglichkeit alles überdunkelt, was läuft im Lauf der Zeit, daß wir selbst die „Schwindendsten sind unter den schwindenden Dingen“,2 vergänglicher als Eintagsfliege oder Schmetterling, weil wir die dunkle Strömung sehen, die uns fortreißt. Das menschliche Zeitverhältnis braucht gewiß nicht immer auf jene elegische Schwermut gestimmt zu sein, die Aristoteles dem Philosophen zuweist (die melancholia tēi physei). Vor allem existenziell motivierten Nachdenken über Zeit bewegen wir uns bereits im Alltag in einem artiku­ lierten Zeit|verständnis. Wir sagen Heute, Einst und Ehemals, wir datieren Ereignisse, sprechen von Dauer und Vergang, von Bleiben und Wandel, von Alter und Zeitrechnung. Geläufig bewegen wir uns in mancherlei temporalen Unterscheidungen. Die alltägliche Zeit-Kenntnis ist mehr als eine bloße Vertrautheit mit Zeit, sie ist durchsetzt von den Lineamenten begrifflicher Distinktion, sie operiert mit einem Begriffsvokabular, das die Ruinanzform früheren Zeitdenkens ist. Immer liegt im menschlichen Alltag der Verwitterungsschutt früherer, nun ins Triviale ausgelaufener Philoso­ phie. Das Denken über Zeit ist selber dem zeitlichen Verfall ausgesetzt. Im Gegenstoß gegen diese Ruine kann und muß sich das nachdenkliche Fragen in Gang bringen. Deswegen muß es aber zunächst vom Bekannten und Vertrauten und dem allzu selbstverständlich Ausgelegten gerade ausgehen – um sich davon abzustoßen. Gemeinhin hält man es bereits für einen Anfang von Besinnung, wenn man nicht von der Zeit spricht, in der alle Dauern und Weilen von Dingen jedweder Art zusammen sind, sondern auf eine Vielfalt von „Zeiten“ achtet, etwa „Naturzeit“ der „Geschichtszeit“ gegenüberstellt. 448

Zeit und Zeitbegriff bei Aristoteles

Man sagt vielleicht, Naturzeit habe den Charakter rhythmischer Wieder­ kehr, eines Kreislaufes der Gestirnkonstellationen, der Jahreszeiten, eines immerwährenden Wechselspiels von Gegensätzen, die ineinander überge­ hen, Naturzeit bedeute ein Geschehen in Flutungen, die ihre „Gezeiten“ hätten – auch der Mensch als Naturwesen sei in die Naturzeit eingelassen, in das All-Leben des Kosmos, in seinen Wiederholungskreisgang einbehalten. Im Kontrast dazu deutet man „Geschichtszeit“ als die Geschehensweise, die nicht die Wiederkehr des Gleichen kenne, die vielmehr durch die Einmaligkeit der Tat, der Entscheidung, der Freiheitsaktion, durch eine nichtumkehrbare Gerichtetheit gekennzeichnet sei, möge der Progreß auf eine dunkel verhängte Zukunft oder auf ein eschatologisch verstandenes Ziel zugehen. Oder man unterscheidet „Zeiten“ im Hinblick darauf, wie lebloser Naturstoff, Lebewesen oder der Zeit-verstehende Mensch jeweils „in der Zeit sind“, unterscheidet auch zwischen „objektiver“ und „subjektiver“ Zeit, zwischen Zeit selbst und „Zeitbewußtsein“ oder wieder anders zwischen Zeit und Zeitmessung – oder gar zwischen Zeit und Ewigkeit. Die Vielzahl von „Zeiten“ bedeutet keine zerstreute Vielheit, sind doch alle wiederum gesammelt und auf seltsame Weise vereinigt in der einen, allbefassenden Welt-Zeit. „Während“ die Naturvorgänge zeithaft sich ereignen, läuft auch „Geschichtszeit“ im Menschenlande ab, „während“ Sachen, „Gegenstände“ im Zeitfeld sich breiten, geschieht auch unser „Zeitbewußtsein“ von ihrem Zeitlichsein. Bewußtsein von solchem, was in der Zeit ist, ist selber auch in der Zeit und ist in zeithaften Bezügen mit dem Gewahrten verspannt. All das ist uns bekannt und vertraut, wir operieren mit Zeitbegriffen, zumeist geläufig und gekonnt, sind eingefahren in ihren Gebrauch, verstehen uns auf Grenzscheiden, die die Zeit durchreißen. Die „Grammatik“ unserer Sprachen hat „Zeit“ je schon auseinandergelegt, das Präsens vom Futurum, von Imperfekt und Perfekt geschieden. Wir wissen nicht bloß um die Gegenwart, in der wir als Gegenwärtige bei gegenwärtig anwesenden Dingen sind, wir wissen auch, daß in einer solchen „Gegenwart“ das Vergangene nachleuchtet und das Zukünftige bevorsteht, daß also die Gegenwart mit Vergangenheit und Zukunft „gleichzeitig“ ist. Und daß dies offenbar eine andere „Gleichzei­ tigkeit“ ist als das Zusammenvorkommen von zwei Ereignissen im selben Jetztmoment. Oder wir unterscheiden „reine Geschehnisse“ (wie einen Blitz, eine Melodie) von Vorgängen an beharrenden Dingen. Wo immer Wechsel an einem Beharrenden, Veränderung an einem Sichändernden geschieht, ist das, was man sonst als Ruhe und Bewegung auseinanderhält, gerade zusammengebunden, wechselseitig verkettet. Ob nun die Dinge ruhen oder bewegt sind oder ihrem Bau nach eine Verklammerung von Ruhe und Bewegung darstellen, alle sind sie „in“ der Zeit, sofern sie altern in der rinnenden Abfolge von immer neu zuströmenden Jetzten. Man kann aber auch von den Strukturen des InderZeitseins, also vom Beharren, Folgen 449

Zeit und Zeitbegriff bei Aristoteles

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und Gleichzeitigsein aus den Zeitfluß selbst in den Blick nehmen und stößt bald auf wunderliche Verhältnisse. Vergeht die Zeit selbst, wenn in ihr die endlichen Dinge kommen und gehen, steigen und fallen, zunehmen und schwinden? | Braucht sie sich auf wie einen Vorrat, der einmal zur Neige geht? Alles, was in ihr währt, ist dem Vergang überliefert, sie „selbst verläuft sich nicht“, kommt an kein Ende, immer ist Zeit, wenn auch kein Binnenzeitliches immer ist. Das grenzenlose Beharren von Zeit ist die Voraussetzung für alles begrenzte, zeitweilige Verharren von Dingen im Wechsel der Zustände und Eigenschaften. Die Zeit beharrt als unaufhörliche Folge, sie bleibt, indem sie vergeht, und Bleiben und Vergehen der Zeit ist gleichzeitig. Der kurze Überblick über das Zeitverständnis, in welchem wir uns sicher, vielleicht allzu sicher bewegen und dabei gleichsam „verwitterte“ Begriffe eines einstigen Zeitdenkens gebrauchen, hat ein Dreifaches her­ ausgestellt: 1.) Daß wir die Zeit selbst durch innerzeitliche Begriffe (wie „Fluß“, „Abfolge“) charakterisieren, 2.) daß wir nach Raumbildern greifen, um Zeitverhältnisse anzusprechen („Weg“ und „Bewegung der Zeit“), 3.) daß wir die Zeit mit Seins-Begriffen bestimmen, die der Blickbahn auf das „Ding“ entnommen sind, vom „Sein der Zeit“ reden, als ob es Zeit gäbe, wie es Sterne oder Lebewesen gibt. Mit einer fast schlafwandlerischen Sicherheit verstehen wir Zeit und Zeitliches, gedankenlos gehen wir mit Gedanken um, die einmal „lebendig“ waren. Gefährlich ist es, wenn ein Ruf den Somnambulen aufschreckt – gefährlich ist der Ruf der Philosophie. Er ist jederzeit und überall möglich, er kann auch von weither kommen, von entlegenen Gedanken, von der Zeitlehre des Aristoteles. 2. Von der Zeit handelt Aristoteles vor allem im 4. Buch der Physik und zwar im Zusammenhang der Frage nach dem durch Ruhe und Bewegung bestimmten Sein der Naturdinge. Voran geht der Zeiterörterung die Behand­ lung von Ort (topos) und vom Leeren (kenon). Die Zeitanalytik setzt das dort Gesagte voraus – dieser „Voraussetzung“ jedoch kann hier nicht Rechnung getragen werden, und so bleibt unsere Darstellung „fragmentarisch“. Den Auftakt der aristotelischen Problemexposition bildet die Frage, ob und wie die Zeit seiend sei,3 ob und wie sie an der ousia, am Seienden teilhabe. Damit ist nicht in einem philosophisch aufregenden Sinne nach dem Bezug von Sein und Zeit ausgespäht, vielmehr von einem massiven Seinsverständnis aus die Zeit daraufhin betrachtet, was sie als dieser merkwürdige Fluß „ist“. Das selbstverständliche Maß für so etwas wie „sein“ ist offenbar das Ding. Aristoteles knüpft an gängige und bekannte Weisen an, das Sein der Zeit problematisch zu finden – die Art, hier zu argwöhnen, ist nicht ungewöhnlich. Der eigenen, gezielten Untersuchung ordnet Aristoteles 450

Zeit und Zeitbegriff bei Aristoteles

einen Durchgang durch die üblichen Denkschwierigkeiten vor, die man mit dem Sein der Zeit eben hat. Man kann leicht zu der Vermutung kommen, daß sie entweder gar nicht ist oder kaum in richtiger Weise ist. Denn von der Zeit ist das Gewesene nicht mehr und das Künftige noch nicht, sie ist zusammengesetzt aus Nichtigem. Und zwar gilt dies ebenso für die Zeit im ganzen (apeiros chronos), als auch für jede daraus herausgegriffene, begrenzte Zeit (lambanomenos chronos).4 Diese Unterscheidung von ganzer Zeit und beliebigem Zeitstück ist allerdings von höchster Wichtigkeit, weil schließlich Aristoteles seine eigene Zeitlehre auf die binnenzeitliche Zeitspanne ausrichtet und die physis, die Natur der Zeit in dieser Blickbahn bestimmt. Das Argument für die Nichtigkeit der Zeit liegt in der Vorstellung, daß etwas, was aus Nichtigem zusammengesetzt ist, doch keinen Anspruch auf Sein und Bestehen machen könne. Bei allen Dingen, die teilbar sind, Teile haben, müsse doch mindes­ tens etwas davon existieren, wenn es auch nicht alle Teile zugleich sein müssten. Von einem Haus z. B. müssen die Grundmauern stehen, von einem Baum der Samenkeim im Erdreich, um solche Dinge als schon-seiende, wenngleich auch noch nicht vollendete ansetzen zu können. An der Zeit ist jedoch „nichts“ da, sie gleicht keinem teilhaft vorhandenen, im Gang der Verwirklichung befindlichen Ding. Überhaupt kein „Teil“ von ihr ist. Es wäre leicht hier einzuwenden, die Schwierigkeit wäre „gekünstelt“, weil man die Zeit bestimmen wolle von den Verhältnissen des InderZeitSeienden her und die bemängelte | Nichtigkeit der Zeit allererst das Bestehen von Dingen ermögliche, die zu einem Teil doch schon wirklich sind, wenn auch einige Teile davon noch ausstehen. Das Nichtsein des Vergangenen und Künftigen hat einen temporalen Sinn, bedeutet nicht schlechthinniges Nichtsein, bedeutet ein „Nicht-jetzt-sein“, und ebenso ist das Künftige auch „noch nicht jetzt“, aber ist in der Weise des Bevorstandes. Die Nichtigkeit der Zeit-Teile „Vergangenheit“ und „Zukunft“ wird doch von der „Gegenwart“ her gesagt, ist eine zeithafte Weise von Nichtigsein. Man könnte die Gegenfrage stellen, ob es nicht die Zeit überhaupt aufheben hieße, wenn man verlangt, daß alle ihre Teile seiend wären im Sinn von „Jetzt-sein“. Was ist aber das „Jetzt“? Ist es selber der Teil der Zeit, der allein „ist“ – ragt mit dem Jetzt die Zeit doch noch ins Sein herein? Hier ist die Antwort des Aristoteles, das Jetzt ist kein Teil der Zeit. Denn bei teilhaft komponierten Dingen ist das ganze Ding aus seinen Bestandstücken zusammengesetzt und kann gewissermaßen durch ein Teilstück ausgemessen werden – wie eine Fläche durch ein Flächenmaß gemessen wird. Die Zeit ist jedoch keine Anhäufung von „Jetzten“, sie besteht nicht in einer Wiederholung des kleinsten Zeitmaßes. Das Jetzt ist Grenze, die Grenze zwischen dem nichtmehrseienden Vergangenen und dem nochnichtseienden Künftigen – und ist überdies in seinem Grenz-Charakter eine höchst fragwürdige Sache. 451

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Zeit und Zeitbegriff bei Aristoteles

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Das Jetzt zeigt sich in einem doppelten Hinblick: Es steht, indem es vergeht. Es sieht so aus, als sei immer „dasselbe“ Jetzt, und auch, als sei5 das Jetzt immer ein anderes. Beide Aspekte des Jetzt führen auf Schwierigkeiten. Wenn es immer das gleiche Jetzt ist, kann die Zeit nicht vergehen, kann gar nicht ablaufen, wenn es aber immer wieder ein anderes Jetzt ist, so müsste erklärt werden, wann ein bestimmtes Jetzt wechseln kann, ein anderes Jetzt ablösen und verdrängen kann. Da aber ein bestimmtes Jetzt nicht vergehen kann, während es sich ereignet, ist die Konsequenz, daß alle Jetzte der Zeit gleichzeitig bestehen müssten und somit gerade die Zeit aufgehoben wäre. Man darf nicht glauben, hier handle es sich um müßige Spiele eines leeren Scharfsinnes. Die Zeit ist offenbar etwas, was sich gegen das Begreifen sperrt. Von der Zeit her sprechen wir die Dinge an, sagen, daß sie jetzt sind, früher waren oder sein werden – daß sie bestehen, auch wenn sie in der Zeit sozusagen „unterwegs“ sind wie etwa das im Bau befindliche Haus, das eine gegenwärtige Phase hat, zu der eine bestimmte, durchdauerte Vergangenheit gehört und eine noch ausstehende Zeitstrecke bis zur Vollendung. Jedoch vom Wirklichsein der Dinge her können wir nicht fassen, ob und wie Zeit „ist“. Nach dieser ersten Besprechung von Schwierigkeiten, die sich aus dem Nichtsein der Teile der Zeit ergeben, erörtert Aristoteles die überkommenen philosophischen Zeitlehren in einer knappen, pressenden Überschau, die die Quintessenz der gedachten Zeitgedanken herausholt und kritisch beurteilt. Dieser Rückblick dient der Vorbereitung seiner eigenen Problemstellung. Er nennt zwei Positionen, die einen bestimmen die Zeit als kinēsis tou holou, als Bewegung des Ganzen, Bewegung des Alls, die anderen halten dafür, die Zeit sei die sphaira, die alles einbegreifende Weltkugel selbst. Es ist bereits eine Vorweisung, daß Aristoteles denen den Vorzug gibt, die die Zeit mit der Bewegung zusammenbringen. Die Meinung derer, welche die Zeit mit dem Weltganzen gleichsetzen, nennt er „zu einfältig“. Mit dieser Wertung bekundet sich, daß Aristoteles die Frage nach der Natur der Zeit auf das binnenweltliche Zeitphänomen, auf die Zeit als Zeitstrecke, als Vorgang, Ereignis und Begebenheit ausrichtet und die „Universalität“ der Zeit nicht vom Universum her, sondern von der Strukturallgemeinheit des Zeithaften zu fassen sucht. Doch auch die von ihm positiv bewertete These, Zeit sei die Bewegung des Weltganzen, schränkt er ein. Die größte und umfassendste Bewegung, die wir im Seienden kennen, ist der Himmelsum­ schwung, die zyklische Drehung des Fixsternhimmels, die periphora – von ihm hängen die Zeiten des Jahres, die Bewegungen aller Lebewesen ab. Ein Teilstück des Himmelsumschwungs ist ein Zeitstück, jedoch nicht wieder ein Umschwung. Weil jedes Teilstück von Zeit ebenfalls Zeit ist, ein Teilstück des Umschwungs aber nicht wiederum ein Umschwung, deshalb können Zeit und Himmelsbewegung | nicht einfach zusammenfallen. 452

Zeit und Zeitbegriff bei Aristoteles

Aristoteles hält aber daran fest, die Zeit aus einem Bezug zur Bewegung anzugehen. Leitmodell wird für Aristoteles die Bewegung eines Einzeldin­ ges, die er formal faßt als Umschlag, als metabolē, etwa als Veränderung an einem sich Verändernden. Doch mit der Bewegung an einzelnen Dingen kann die Zeit nicht identisch sein, weil Dingveränderungen nur an den sich verändernden Dingen und nicht überall sind – und weil solche Ding­ veränderungen bald schnell, bald langsam vonstatten gehen können. Die Zeit ist jedoch nicht an irgendwelchen zeithaften Dingen, sie ist überall – und sie hat keine wechselnden Geschwindigkeiten. Denn man nennt doch „schnell“ einen Vorgang, wo vieles in wenig Zeit, und „langsam“, wo weniges in vieler Zeit bewegt wird. Aristoteles springt in die eigene Fragestellung nach der Zeit ein mit dem Versuch, das undurchsichtige Verhältnis von Zeit und Bewegung zu klären. Zeit ist auch nicht ohne Bewegung, nicht ohne metabolē. Damit meint jetzt Aristoteles nicht, was man einen Umschlag von Gegenwärtigem in Vergangenes nennen könnte. Die Zeit ist nicht ohne ein Verhältnis zu den Veränderungen der innerzeitlichen Dinge. Diesen Bezug erläutert Aristoteles auf eine Weise, die leicht mißverstanden werden könnte. Nämlich von unserem Wissen um Zeit aus. Das Vernehmen von Zeit setzt, wenn ihm sonst keine gegenständlichen Bewegungen an Dingen gegeben wären, zumindest die Bewegung der vernehmenden Seele voraus, erfordert Wachheit. Im Schlafe scheint uns keine Zeit zu vergehen. Eine Bedingung jeder Zeit-Erfahrung ist eine Bewegtheit, sei es eine der wahrge­ nommenen Dinge, sei eine solche unserer wahrnehmenden Seele. Zeit ist zwar nicht Bewegung selbst, aber ist, was sie ist, in irgendeinem Verhältnis zur Bewegung. Aristoteles formuliert: „… Entweder Bewegung oder etwas an der Bewegung ist die Zeit …“6. Um dieser Frage näher zu rücken, erörtert Aristoteles einen wesentli­ chen Fundierungszusammenhang. Er geht aus vom Seienden, das bewegt wird, vom kinoumenon. Dessen Bewegtwerden erfolgt so, daß es aus etwas in etwas bewegt wird, ek tinos eis ti. Das ist aber nur möglich, wenn das eine mit dem anderen zusammenhängt. Das Zusammenhängen ist Voraussetzung und Bahn jedes Umschlages einer Sache in eine Andere oder eines Zustan­ des, einer Eigenschaft an einem Ding in einen anderen Zustand, eine andere Eigenschaft. Jede Größe ist zusammenhängend, sagt Aristoteles. Bewegung ist also immer ein Durchgang durch ein kontinuierendes Größefeld. Weil die Größe zusammenhängend (syneches) ist, muß auch nachfolgend die Bewegung zusammenhängend sein, und weil die Bewegung es ist, muß es auch die Zeit (als etwas an der Bewegung) ebenso sein. Die Kontinuität der Zeit folgt bei Aristoteles aus der Kontinuität der Bewegung, diejenige der Bewegung folgt aus der Kontinuität der Größe. Dieser Fundierungszusam­ menhang bildet das Grundgerüst der aristotelischen Zeitlehre. Auch darin verrät sich, sobald man einige Distanz gegen den bestechend durchgearbei­ 453

Zeit und Zeitbegriff bei Aristoteles

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teten Gedankengang gewonnen hat, eine grundsätzliche Ausrichtung der Zeitanalytik auf den Raum und das Raum-Ding hin. Das tritt deutlich heraus mit der These, daß das Vorgängige und das Nachgängige (to proteron kai to hysteron) in der Größe vorkommt, im megethos sozusagen heimisch ist. Gewöhnlich übersetzt man diese Termini mit „das Frühere“, „das Spätere“. Das hat das Mißliche, daß diese Ausdrücke gleich schon einen temporalen Sinn bekommen, den sie von Hause aus bei Aristoteles noch nicht haben. To proteron, das Frühere, oder wie wir sagen wollen das Vorgängige, ist das, was einem Anfang näher, to hysteron, das Spätere oder das Nachgängige, ist das, was einem Anfang ferner liegt, weiter davon abliegt. Etwa das Fundament eines Hauses ist dem Raumanfang eines Hauses näher als das Dach. Für Aristoteles kommt das „Frühere“ und „Spätere“ in die Zeit im Zuge des eben geschilderten Fundierungszusammenhanges. Weil die Größe das Frühere und Spätere an sich hat, hat sie auch die Bewegung an sich, und weil sie diese hat, hat sie auch die Zeit. Zeit-Erkenntnis stellt sich ein im Gefolge der Bewegungs-Erkenntnis durch eine Herausgrenzung eines je bestimmten Früheren und Späteren – wenn unsere Seele (wie Aristoteles sagt) gewissermaßen zwei Jetzte ausspricht, das eine am Beginn, das andere am Ende einer Bewegung, die an einem Seienden oder mit einem Ding geschieht. Wenn wir nur ein Jetzt setzen, vergeht darin keine Zeit und ereignet sich keine Bewegung. Nur dort, wo wir | im Hinblick auf die Bewegtheit der Dinge zuerst ein Jetzt setzen und alsdann ein anderes, grenzen wir eine Zeitlänge, eine Weile im Bewegtsein des Bewegten heraus, stecken ein Zeitquantum ab. Damit gelangt Aristoteles zu seiner berühmten Bestimmung der Zeit, sie ist arithmos kinēseōs kata to proteron kai hysteron, „Zahl einer Bewegung nach dem Früheren und Späteren“.7 Die Formel überrascht, obgleich sie in allen vorhergegangenen Überlegungen sorgsam vorbereitet wurde und deren Konsequenz darstellt. Überraschend ist die scheinbare Leere dieser Formel. Die Zeit eine Zahl, eine Zahl der Bewegung, und zwar hinsichtlich des Früheren und Späteren. Nicht also Bewegung ist die Zeit, sondern eine Zahl der Bewegung. Man sieht nicht gleich ein, was denn hier „gezählt“ wird. Aristoteles hält zunächst bewußt zurück mit dem „Gezählten“, läßt es vorerst ganz formal, eben als das „Frühere“ und „Spätere“. Er sucht eine Formel, die für jegliche Zeit gilt, ‹sowohl› für die begrenzte Zeitweile eines irdischen Vorgangs an Dingen, als auch für die Weilen, ‹durch die› die großen kyklischen Bewegungen am Himmel abgegrenzt werden, also für die Tage, Monde und Jahre. Formell kann man bislang nur sagen: „Gezählt“ werden die verschiedenen Jetzte einer Bewegung. In welchem Sinne ist die Zeit etwas wie Zahl, arithmos tis? Aristoteles unterscheidet ein Doppeltes, Zahl als arithmoumenon, als gezählte Zahl, als Anzahl, und Zahl als Zahleinheit, als dasjenige, womit wir zählen – analog wie bei einem Maß unterschieden 454

Zeit und Zeitbegriff bei Aristoteles

werden kann das Gemessene und das Messende, etwa 100 Scheffel Getreide als die Menge und der Scheffel als die Maßeinheit für diese Menge. Die Bewegung – sagt Aristoteles weiter – ist immer wieder eine andere und andere, unbestimmt viele Bewegungen folgen einander, und viele verlaufen in der gleichen Zeit. Weil die Bewegungen viele sind, sind es nachfolgend auch die Zeitlängen, und wie alle einzelnen Bewegungen in der großen Gesamtbewegung des Himmelsumschwunges sind, so sind auch alle Zeitweilen in der allbefassenden Zeit, die eine ist, anders eins ist als die Zeiteinheit, womit wir Zeitstrecken messen. So wie eine Zahl, die Eins, sich zu jeder Zahlenmenge verhält, so die Zeiteinheit: das Jetzt, zu allen Zeitlängen. Die seltsame Zweideutigkeit des Jetzt, zu stehen und zu vergehen, sowohl eines wie vieles zu sein, versucht Aristoteles zu klären durch eine Analogie zum Verhältnis von Raumding und Raumpunkt. So wie der Raumpunkt im Raumfeld ist, so das räumlich Bewegte (to pheromenon) in der Bewegung – und gleichermaßen ist das Jetzt, to nyn, in der Zeit. Die Frage konzentriert sich immer stärker auf das Jetzt. Es ist nicht Zeitstrecke, aber das, wodurch Zeitstrecken ausgemessen werden. Es ist eines und dasselbe, sofern eben immer „jetzt“ ist – und ist immer ein anderes, sofern es jeweils von einem anderen Inhalte besetzt ist. Chronos und nyn, Zeit und Jetzt, stehen in einem unauflösbaren Spannungsbezug. Wenn es kein Jetzt gäbe, wäre keine Zeit (als Weile) und ohne Zeit gäbe es auch kein Jetzt, d. h. keinen Zeit-Punkt, der eben an der Reihe ist. Zeit kann nicht ohne Jetzt und Jetzt nicht ohne Zeit sein, entsprechend wie die Bewegung nur am Bewegten und dieses nur in jener ist. Die Zeit, chronos, ist die Zahl (Anzahl) der räumlichen Bewegung, der phora – das Jetzt aber ist gleichsam wie die Zahleinheit der gezählten Zahl. Um es für uns deutlicher zu machen, kann man sagen: Die Zeit ist Zahl der Bewegung, d. h. sie ist die Anzahl von zählbaren Einheiten, die an irgendeiner Bewegung gezählt werden. Im Hinblick auf das Bewegte unterscheiden wir das Früher und das Später, ein fahrender Wagen ist in diesem Jetzt hier, im anderen Jetzt dort. Dem Unterschied von hier und dort entspricht ein Unterschied von zwei Jetzten, diese zwei umgrenzen eine Weile, eine Zeitstrecke, diese Strecke ist so groß, wie viele Jetzte als abzählbare Einheiten sie in sich hat. Das Jetzt ist also die Monas, die Einheit, die im Zählen gebraucht wird. Das Jetzt ist ein Analogon des Punktes, der stigmē, in manchen Zügen dem Raumpunkt ähnlich, in manchen jedoch wieder nicht. Der Punkt auf einer Linie verbindet und trennt zugleich, ist eine Grenze, die scheidet, und ein Band, das zusammenhält. Der Punkt ist wie das Jetzt zugleich Anfang und Ende, archē kai teleutē. In solcher Zwiefachheit wird aber das Jetzt nicht gezählt, sondern als Anfang (einer zeitweiligen Bewegung eines Raumdinges) nur das eine Jetzt, als Ende aber ein anderes Jetzt genommen. | Denn nur so umgrenzen zwei verschiedene Jetzte als eschata, als Äußerste, eine dazwischen liegende Weile. Zeit als Zahl 455

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und Zeit als Grenze werden von Aristoteles in einer höchst scharfsinnigen, scharfäugigen Weise unterschieden. Sofern die Zeit (d. h. je eine Zeitlänge) Anzahl ist, ist sie ein bestimmtes Wieviel von Jetzten. Als Grenze dagegen ist das Jetzt eigentlich gar nicht Zeit, hat keine Ausdehnung im Sinne von Wielange. Überdies gehören sonst die Grenzen demjenigen Seienden an, dessen Grenzen sie sind. Die Zahl läßt sich aber von dem, dessen Zahl sie ist, abheben. Die Zehnzahl, sagt Aristoteles, z. B. dieser zehn Pferde ist nicht nur an oder in diesen Pferden, sie ist auch anderswo an anderen Zehnschaften von Dingen. Ebenso ist Zeit als eine bestimmte Anzahl von Jetzten gar nicht an die Zeitlänge eines bestimmten Einzeldinges gebunden. Im selben Zeitabschnitt kann auch anderes, das gleich lang ist, vorkommen, andauern, sich verändern. Es zeigt sich ein eigentümliches Gegenverhältnis von Bewegung und Zeit. Durch die Zeit messen wir die Bewegung, sagt Aristoteles, durch die Bewegung aber wieder die Zeit. Das bedeutet keinen fehlerhaften Zirkel. Es ist ein Gegenverhältnis wie zwischen der Anzahl (als Menge, Quantum) und der Zahl als Einheit. Durch die Menge wird die Einheit als so und soviel mal genommen gedacht – durch die Einheit dagegen eine bestimmte Menge als so und sovielfache bestimmt. Die subtileren Schwierigkeiten treten in der aristotelischen Zeitlehre erst auf, wenn die Fragen aufgeworfen werden, wie das Jetzt zugleich Grenz­ scheide und Band ist, wie es trennt und eint, wie es immer „dasselbe“ und zugleich immer ein „anderes“ ist – wie die Gegenwart beständig vorherrscht, also unaufhörlich jetzt, jetzt, jetzt ist, und wie doch die gestrige Gegenwart von der heutigen Gegenwart verschieden ist (und dies keineswegs nur wegen eines verschiedenen Zeitinhaltes); wie bei der Größe und nachfolgend bei der Bewegung und nochmals nachfolgend bei der Zeit Kontinuität und Diskretheit sich durchdringen – daß ferner die Analogie zwischen Punkt und Jetzt, zwischen stigmē und nyn, nicht durchgängig trägt, weil ein Punkt in einer Linie abgrenzt und verbindet zwischen Gleichartigem, eben den beiden Linienteilen, während das Jetzt Ungleichartiges trennt und vereint, das Gewesene und das Künftige. All diese Fragen zu behandeln, überschreitet die Möglichkeit eines vorläufigen Berichtes und wäre ein Seminarthema für mehrere Semester. Das wichtigste Ergebnis der aristotelischen Zeitanalytik ist für uns die Examination der Frage, wie die physei onta, die Naturdinge, in der Bewegtheit und damit in der Zeit sind. Naturdinge sind Bewegliches und haben damit die Möglichkeit, in Ruhe und in Bewegung zu sein. Wie sind sie in der Zeit, wie muß und kann das InderZeitsein von solchem, was ruht oder bewegt ist, gedacht werden? Ganz ähnlich, wie Aristoteles schon bei der Auslegung des Ortes (topos) verfuhr, wird das Insein, das InderZeitsein, zu einem beherrschenden Problem. Das ungefähre Meinen des Alltags macht sich darüber nicht allzu viele Gedanken, man sagt viel­ 456

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leicht: „InderZeitsein“ ‹–› das ist doch soviel wie „zur selben Zeit sein, wie die Zeit ist“. Die Dinge sind dann, wann Zeit ist. Sie sind mit der Zeit gleichzeitig. Eine solche Auffassung führt aber zu tollen Ungereimtheiten. Aristoteles erläutert seinen Gedanken auch durch die analogische Parallele zur Bewegung und zum Orte. Insein in einer Bewegung ist nicht eben dann sein, wenn eine Bewegung ist, in einem Orte sein, ist nicht dann sein, wenn ein Ort ist. Man sieht leicht, daß Aristoteles für die verwandten Parallelen gerade vom „dann – wann“ Gebrauch macht, vom hote. InderZeitsein ist ebenfalls nicht dann, wann Zeit ist. Denn das hätte die Folge, sagt Aristoteles, daß alles in allem wäre, „das Himmelsgebäude im Hirsekorn, denn in jenem Zeitpunkt, da das Hirsekorn ist, ist auch das Himmelsgebäude“.8 In-sein-in-der-Zeit muß bestimmter und genauer gedacht werden. Die Dinge, ta pragmata, sind in der Zeit, hōs en arithmōi, wie in einer Zahl. Das will sagen, analog wie das Gerade und das Ungerade in einer Zahl ist, so sind die Dinge in der Zeit als ihrer Zahl des Wielange. Und nun tritt noch ein neues Motiv auf. Das in der Zeit Seiende, das bewegliche Naturding, das bald ruhend, bald bewegt in ihr weilt, von der Zeit als Zahl seiner Dauermomente durchherrscht wird, ist nicht in der Zeit wie in einem gleichgültigen Medium – im Gegenteil: | Alles wird von ihr mitgenommen, abgenutzt, verschlissen, alles verfällt ihrem nagenden Zahn, alle Dinge in der Zeit „altern“, welken, siechen dahin, sie ist eine ruinierende Macht. Alles, was in ihr treibt, von ihrer Strömung mitgerissen wird, unterliegt ihrem Zerstörungswerk, leidet von ihr, wie Aristoteles sagt, „… daß die Zeit aufreibt oder alles durch die Zeit altert, daß man durch die Zeit etwas vergißt, nicht hingegen daß man durch sie lernt, durch sie jung oder schön geworden sei; denn mehr Ursache eines Vergehens ist die Zeit an und für sich, denn sie ist Zahl der Bewegung, Bewegung verdrängt das Bestehende“.9 Alle zeithaften Dinge sind der korrumpierenden Gewalt der Zeit verfallen. Sie ist eine „Macht des Negativen“ (Hegel). Dagegen sind die aei onta, also das, was immer ist, was wir mit dem vergeblichen Namen des „Ewigen“ ansprechen, nicht in der Zeit und nicht ihrem zerstörerischen und auflösenden Einfluß unterworfen. Das Ewige wird nicht von der Zeit umfasst, noch wird sein Sein durch die Zeit ausgemessen. Aristoteles sagt an dieser Stelle nicht, was er mit dem „Ewigen“ (im Plural ta aei onta) meint: die Zahlen, die Götter, die reinen Formen – oder den unbewegten Beweger. Zuletzt führt die Wesensbestimmung der Zeit als „Zahl der Bewegung“ noch auf die schwierige Frage hinaus, ob denn diese Zahl der Bewegung existiere, gleichgültig ob es etwas gibt, was diese Zahl „zählt“ – gleichgültig, ob die Seele zählt. Vernimmt die Seele die Zeit-Zahl nur passiv, oder ist das Zählen seitens der Seele in irgendeiner dunklen Weise mit ein Grund dafür, daß überhaupt „Zeit“ ist? Wie steht Seele zur Zeit? Nicht als ob die Seele die Zeit produziere, so bringt sie gleichwohl etwas ausdrücklich zum 457

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Vorschein, eben die je so oder so bestimmte Anzahl der Jetzte, den arithmos kata to proteron kai hysteron! Das Frühere und Spätere kann die Seele nicht bewirken, denn dieses liegt je in der Bewegung des Bewegten selbst. Die Seele bewirkt die Heraushebung des Wieviel, die Heraushebung der Zahl in bezug auf das Frühere und Spätere. Im Zählen der Seele „entsteht“ Zeit als solche und für uns. Damit wird von Aristoteles die Zeit nicht „subjektiviert“, wie man vielleicht meinen könnte, sie ist überall an den durch Bewegbarkeit bestimmten Naturdingen, ist, mit Aristoteles zu sprechen, „an der Erde, als auch am Meere, als auch am Himmelsgebäude“.10 Ist sie gleichermaßen auch „an der Seele“ oder hier in einer besonderen, einzigartigen Weise? Die kurze, aber problemtiefe Argumentation des Aristoteles lautet: „… Wenn das Zählende nicht existieren kann, kann auch kein Zählbares existieren, und demnach auch keine Zahl (denn Zahl ist entweder das Gezählte oder das Zählbare); wenn aber nichts anderes seiner Natur nach zum Zählen fähig ist als die Seele und von der Seele die Denkkraft, so ist es unmöglich, daß eine Zeit sei, wenn keine Seele ist …“.11 Daß gleichwohl damit die Seele nicht zum Ort der Zeit wird, wenn sie auch für das Heraustreten der Zeit als solcher eine eminente Bedeutung hat, kann man aus der Frage ersehen (womit wir die Darstellung der aristotelischen Zeitlehre beschließen) – aus der Frage, ob von allen Bewegungen oder von einer in ganz besonderer Weise die Zeit die gezählte Zahl ist. Es gibt doch viele Bewegungen an zahllosen Dingen und gibt vielartige Bewegungen. Von welcher ist die Zeit vornehmlich die „Zahl“? Die Antwort ist: von keiner einzelnen allein und auch von keiner Bewegungsart, weder einer langsamen noch einer schnellen – auch nicht vom Entstehen und Vergehen, nicht vom Zunehmen und Schwinden, nicht von der Veränderung, sondern von der kontinuierlichen Bewegung schlecht­ hin. Einzelbewegungen der Dinge sind zwar voneinander abgesondert, die Zeit jedoch, in der sie ablaufen, ist in allen die gleiche – weil die Zeit Zahl ist, ‹und› die Zahl ist gleich, ob Hunde oder Katzen gezählt werden. Und doch hat eine Bewegung einen merkwürdigen Vorrang – sie hat den Vorrang nicht, sofern sie „gezählt“ wird, sondern sofern mit ihr gezählt wird: die Kreisbewegung, nicht irgendein Rundgang, vielmehr jene kyklophoria als der gleichmäßige Umlauf der Gestirne am Gewölbe des Himmels. Dieses Maß ist am meisten kenntlich, am deutlichsten, ist arithmos gnorimōtatos. Der Himmelsumschwung | ist die „Uhr der Welt“. Damit kehrt Aristoteles am Ende seiner Zeitanalytik wieder zu der Auffassung zurück, die er aus der Tradition seiner denkenden Vorgänger schon mit einem positiven Urteil herausgehoben hatte: Zeit als kinēsis tou holou, als Bewegung des Weltalls. Doch wie ist dieses Motiv jetzt durchgearbeitet, welchen Reichtum an Bestimmungen, Unterscheidungen schließt es jetzt ein – wie ist sein Denken über Zeit und Bewegung selber zu einer Bewegung des Denkens geworden! Aristoteles überredet nicht, kennt keinen suggestiven Prunk der Worte, 458

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sparsam sind in seinem Werke die Stellen, wo er einmal einen gehobenen Ton anschlägt. Er gibt zuerst und zuletzt der Sache das Wort – allerdings so, daß das Denken in die Tiefe der Sache sich versenkt. Die Zeitlehre ist nicht „abgeschlossen“, ist kein Traktat, der ein Thema erschöpft. Die Fragen des Aristoteles bleiben langehin aufgerissene Probleme, durchziehen die Geschichte der europäischen Philosophie und sind auch heute noch nicht „beantwortet“. 3. Wenn wir zurückblicken auf diesen klassischen Text, der mehr als zwei Jahrtausende hinter uns liegt, so zeigen sich daran Grundverhältnisse menschlichen Zeitverstehens, die so alt sind wie das Menschengeschlecht. Der menschliche Zeit-Begriff ist in der Zeit verfangen – er vermag nicht, sich der Umfassung dessen zu entziehen, was er erkennen will. Zeit wird durch binnenzeitliche Strukturen gedeutet und expliziert. Es gelingt nicht, sie von woanders her zu begreifen, auf etwas Nicht-Zeithaftes, Außer- oder Überzeitliches zurückzuleiten. Die Dinge treiben in der Zeit, sie dauern, geschehen, ereignen sich, währen ruhend oder bewegt. Ihr InderZeitsein sprechen wir an mit Vorstellungen, die dem zeit-bedingten Verhalten der Dinge entnommen sind. Durch die Zeit bedingt und ermöglicht sind die mannigfachen Weisen, wie die Dinge ruhen oder sich bewegen bzw. bewegt werden. Ein Felsblock ruht, Wasser fließt. Das Ruhen des Felsens und ebenso das Fließen des Wassers geschieht in einem „Fluß“, der doch etwas anderes ist als das Bewegtsein von Seiendem, geschieht im Fluß der Zeit. Die Zeit „fließt“, auch wenn die Dinge stillstehen, ihr Fluß unterläuft dingliches Ruhen oder Bewegtsein. Was ist das für ein Fluß, den wir der Zeit zusprechen, wo entspringt und wo mündet er? Was strömt in diesem Strom? Aber ebenso werden wir gezwungen, der Zeit ein Bleiben, einen Stand, ein Verharren zuzuweisen. Sie bleibt, während alles, was in ihr vorkommt, nur zeitweilig bleibt, in seinen Zuständen, Phasen, Eigenschaften wechselt und im Bannkreis ihrer korrumpierenden Macht vergeht. Wie bleibt denn die Zeit, wie ist sie immer? Das Bleiben und Beharren der Zeit selber, das dem Bleiben, Wandel und Wechsel der Zeitinhalte voraufliegt, vermögen wir nicht anders zu denken als in Modellen, die wir vom Binnenzeitlichen hernehmen. Wir gebrauchen Begriffe, die dem angehören, was erst durch die Zeit ermöglicht wird, um das Ermöglichende zu bestimmen. Und wenn wir auch noch so sehr um die Unangemessenheit solcher Modelle wissen, gelingt es nicht, sie zu vermeiden, gelingt es nicht, Zeit selbst, rein und an sich auf den Begriff zu bringen. Alle unsere Zeitbegriffe bleiben binnenzeitlich, bleiben in der Zeit verfangen. Aristoteles wendet einen unendlichen Scharfsinn daran, die Zeit, die das Medium aller Bewegungen ist, von der Bewegung her, genauer von etwas an der Bewegung her zu 459

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interpretieren, nämlich als „Zahl der Bewegung“. Wir sahen, wie er in diesem Zusammenhang die merkwürdige Natur des „Jetzt“ immer wieder umkreist, es kennzeichnet als etwas, was zugleich eines ist und vieles, zugleich steht und vergeht, wie er sich abarbeitet an diesem existenten Widerspruch. Die Analytik der Zeit wird ferner dahin gedrängt, temporale Strukturen von Raum-Verhältnissen her zu deuten. Erinnert sei nur an den Versuch des Aristoteles, einen Fundierungszusammenhang anzusetzen zwischen Größe, Bewegung und Zeit (megethos – kinēsis – chronos). Im Rückgriff auf Raumbegriffe wird die Zeit nicht von außen her interpretiert. Zeit und Raum sind innig verklammert. Alles Zeitliche ist irgendwo, und alles Räumliche ist irgendwann – der Zeit-Raum ist das Feld des Seins aller | erscheinenden Dinge. Und damit ist schon ein drittes Charakteristikum aller Zeitanalytik genannt; Zeit wird ein ontologisches Thema. In der Auslegung der Zeit gebraucht man nicht bloß, wie es unvermeidlich bei jedem begrifflichen Sprechen geschieht, das „ist“ im Sinne der Kopula, macht nicht nur einen prädikativen Gebrauch vom Ist-Sagen, sondern man fragt nach dem Sein der Zeit, oder nach dem, was an der Zeit seiend ist. Andererseits wird Sein verstanden aus dem Horizont von Zeit, das Seiende wird gedeutet als das, was in der Zeit sich ereignet, was nur eine Zeitlang sich im Sein halten kann wie die endlichen Dinge, oder immer darin ist wie die Elemente und der Weltstoff – oder der Zeit entrückt ist wie die Gottheit oder die „Ideen“. Sein wird von der Zeit her – und Zeit vom Sein her verstanden. Bei Aristoteles sahen wir, wie er das Zeitproblem exponiert gerade mit der Frage, was denn an der Zeit „seiend“ ist, wo doch das Vergangene nicht mehr und das Künftige noch nicht und das Jetzt der ebenso verschwindende, wie sich erhaltende Übergang ist. Noch über ihren eigenen, thesenhaften Gehalt hinaus, der für immer ein Glanzstück des spekulativen Denkens bleibt, hat die Zeitlehre des Aristoteles eine paradigmatische Bedeutung: Sie zeigt eindringlich, wie menschliches Denken, auch wenn es die Arbeit des Begriffs mit einer äußers­ ten Strenge vollbringt, befangen bleibt in Zeit, Raum und Sein. Umfangen von Zeit und Raum und Sein stellen wir die Fragen der Philosophie – unser Denken über Zeit ist selbst zeithaft. Und gesetzt, daß wir dabei zu Wahrheiten kommen, sind es Wahrheiten von „Eingeschlossenen“. Der Gedanke ist tröstlich, daß jene Macht, die uns entfernt und herausreißt aus dem Zeit-Raum des Seins, uns vielleicht eine neue, unbekannte Art von Wahrheit eröffne – daß wir absolut zu „wissen“ beginnen, was Zeit ist, wenn wir „das Zeitliche segnen“.

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Asebeia und technē im 10. Buch der Nomoi ‹1969›

| Bereits im 7. Buch der Nomoi findet sich die Verankerung der paideia in der Religion. Jede Staatseinrichtung ist bedroht von der menschlichen Neuerungssucht – und gar im Chorwesen, in Gesang und Tanz, möchten sich am Ende am ehesten Gelüste vordrängen, das alte Thema zu variie­ ren und neue Melodien und neue Figuren einzuführen. Der Staat der platonischen „Gesetze“ will aber nicht eine zeitweilige Form des Lebens sein, eine geschichtliche Gestalt, die sich einmal auslebt und dann von Grund auf erneuert werden will; es ist der Gesetzesstaat der Vernunft, der auf den richtigen Ordnungen, auf dem rechten Verhältnis von Natur und Freiheit, von Leidenschaft und Einsicht beruht. Er kann sich gar nicht als bloß zeitweilig nehmen. Das Wesen des rechten nomos ist seine Unverän­ derlichkeit. Und deswegen kommt alles darauf an, den einmal vernünftig eingerichteten Staat in seiner Vernunftform zu lassen – und nicht mit dem Staate zu experimentieren. Die Unveränderlichkeit der Staatsform hat ihr Fundament in der Unver­ änderlichkeit des Erziehungswesens. Dieses muß in ein unwandelbares Gefüge gebracht, muß sakrosankt werden. Und da wird daran erinnert, wie in Ägypten es gelungen ist, durch unübersehbare Zeiten hin das Lebensge­ präge invariant zu halten: durch die Verbindung von Staatseinrichtung und Religion. Der Staat wird als etwas Heiliges und Göttliches verstanden. Die Natur des Göttlichen ist dabei allerdings erst noch in der rechten Weise zu bestimmen. Das Göttliche erscheint dem menschlichen Geschlecht zunächst in den Gestalten der Volksreligion; die Musen, dann Apoll und schließlich Dionysos regieren das Chorwesen und damit die Bildung des Staates. Sie sind die göttlichen Erzieher des griechischen Volkes. In ihrem Geleit bewegt sich der recht erzogene Mensch durch die Altersstufen und ihren Gegenlauf von Leidenschaft und Einsicht hindurch. Die übermenschliche Macht der Götter hütet und verbürgt das Staatsgesetz, worin das ganze Menschenleben ihrem Dienst geweiht wird. Aber die Gestalten der Volksreligion sind selber noch Verhüllungen des wahren Wesens der Götter. | Für die im Sinnenschein Befangenen mag und muß es genügen, das Göttliche als überlebensgroße Menschen und waltende dämonische Mächte zu vermeinen. Die Heiligung des Staates und damit seine Verankerung im bleibenden Wesen der Götter, dieses kathierōsai, wird hier nicht nur „gebraucht“ – es wird eigens bedacht. 461

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Und in diesem Bedenken der Heiligkeit des Staates kommt im 10. Buch das Problem von nomos und paideia zu einem großartigen Abschluß. Die Göttlichkeit des Gesetzesstaates wird proklamiert, sofern er ein Abbild des Göttlichen in der Welt ist. Das Problem der paideia gewinnt einen kosmo­ logischen Horizont. Die nomoi schließen mit der Wesensbestimmung des nomos überhaupt. Der Anlaß ist wieder ganz beiläufig. Unter die Gesetze der Stadt muß auch ein Gesetz gegen die Gottlosigkeit (Asebie) aufgenommen werden. Man erinnert sich, welche große Rolle gerade die Asebie-Prozesse in der Antike gespielt haben im Kampf der überlieferten Lebensauslegung mit der Philosophie. Sokrates, Platons Lehrer, war ja wegen Asebie angeklagt, und er, der „redlichste und gottesfürchtigste“ Mensch, trank, als Gottloser verfemt, den Schierlingsbecher. Mit dem 10. Buch der Nomoi wird noch einmal die Apologie des Sokra­ tes wiederholt. Die Gottlosigkeit wird in ihrem wahren Wesen bestimmt und ebenso die Frömmigkeit. Beide Begriffe werden aus der gängigen und vulgären Auslegung herausgedreht. Worin besteht denn überhaupt die Gottlosigkeit? Sie wird formuliert in drei Thesen: 1. Daß die Götter überhaupt nicht existieren; 2. daß sie zwar existieren, aber um die Menschen sich in keiner Weise kümmern; 3. daß sie zwar sich um sie kümmern, aber dabei sich von Opfergaben und Gebeten leicht bestechen lassen. Die erste These ist die grundsätzlichste. Die radikale Fassung der Asebie entspringt dem ontologischen Problem von physis und technē beziehungsweise nomos. Die eigentliche Gottlosigkeit besteht darin, zu meinen, daß das Seiende, die Elemente wie Erde, Wasser, Luft und Feuer, sozusagen ganz von sel­ ber, durch Zufall da seien und durch zufällige Vermischung die gestaltete Welt zustande gekommen sei. Der Kosmos sei nicht die Ordnung, die ein denkender Geist geschaffen habe, er sei ein bloßes Produkt eines blinden Zufalls. Und die technē sei nur eine menschliche Erfindungskunst, eine belanglose Kunst, die nur weniges und geringes fertigbringe, das kaum ins Gewicht falle im Vergleich mit dem vielen, ungeheuer vielen Seienden, das einfach „vorhanden“ ist. Die Verfertigung gestalte sozusagen nur Dinge um, die schon zuvor durch den Zufall (tychē) da sind. Der | Mensch mache einige „künstliche Dinge“ und meine Wunder was, aber sie seien bloß bedeutungsloses Menschenwerk und weiter nichts. Und so sei es auch mit dem Staat; er sei ein ergon des Menschen, und auch die angeblichen Götter seien nur Phantasiegebilde der Sterblichen und seien durch „Gesetze“, durch Menschensatzungen zu allgemeiner Anerkennung gebracht worden. Sie wären nur nomōi, nicht physei, nur durch Annahme und nicht in Wirklich­ keit. Und ebenso sei es auch mit allen moralischen Gesetzen. Die Asebie liegt in der grundsätzlichen Auffassung der Götter und der „Gesetze“ als bloßer technika. Entscheidend dabei aber ist die Interpre­ tation der technē als solcher. „Gottlos“ ist die Deutung, daß die technē 462

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etwas Abgeleitetes und Fundiertes ist, sozusagen die vorhandene Natur voraussetzen muß. Was uns dabei verwundert, ist die Tatsache, daß die phänomenal richtige Charakteristik der technē als Gottlosigkeit gebrand­ markt wird. Wir sind doch zunächst alle in der Meinung, die Naturdinge gehen den Kunstdingen voraus. Ein Pflug ist geformtes Eisen, ein Krug gestaltete Tonerde, ein Acker bearbeitete „Wildnis“. Das Natürliche muß dem Künstlichen zugrunde liegen. Aber was und wie ist dieses „Natürliche“ denn? Die Gottlosigkeit liegt nicht in dem Ansatz der Vorgängigkeit der Natur vor den Kunstgebilden im naiven Sinne als eben vielmehr in einer versteckten kosmologischen These. Der Gottlose sagt gewissermaßen, ursprünglich seiend ist das unbeseelte Gemenge vorhandener Urstoffe, wie Feuer, Luft, Wasser, Erde, und erst aus ihrer Mischung entstehen zufällig die Seele und die Lebewesen und die Menschen und ihre technē; der Gottlose hat also eine genealogische Theorie vorweg, die das Beseelte aus dem Unbeseelten, das Vernünftige aus dem Vernunftlosen durch bloßen Zufall hervorgehen läßt; er legt also schon die Natur in eine Richtung aus und zielt auf den Vorrang des Stoffes und des Vernunftlosen; die gegenwärtige Ordnung der Welt ist kein sinnhaftes Gebilde, es ist ein zufälliges Resultat des blindesten Zufalls. Der Gottlose verkennt das Wesen der Seele, der psychē. Der Gottesfürchtige aber anerkennt den Vorrang der Seele vor allem Stofflichen, den Vorrang der ordnenden Weltseele vor den Elementen und den Körpern, erkennt, daß die Seele und der denkende Geist die gegenwärtige Ordnung des Weltalls als ihr Werk geschaffen haben, er versteht also die Ordnung der seienden Dinge im Weltganzen als ein bewirktes Werk, bewirkt durch eine technē ganz einzigartigen Wesens; – und von solcher weltordnenden technē aus erst gelangt der Gottesfürchtige zum rechten Begriff des Göttlichen und des nomos und der paideia. | Die Grundlegung des Staates und aller Erziehung im weltbildenden Tun des göttlichen Weltgeistes ist die höchste Vollendung der platonischen Politik – ist der weiteste Horizont für ein Problem, das zuerst uns nur eine menschliche Frage scheinen will; aber das Sein des Menschen ist nicht „geschlossen“, es ist aufgerissen durch den Bezug zum Welt-All. Der Mensch ist wesenhaft das Lebewesen, das sich zu sich verhält, indem er sich zu den Göttern, zur Natur, zum Weltall verhält. Erziehung als Sinngestaltung des menschlichen Lebens bedeutet ein aktiviertes Ent­ sprechungsverhältnis zu den Bezirken, von woher uns „Sinn“ aufzugehen vermag: im Bezug zu den unterirdischen und himmlischen Göttern oder gar zu dem, was über den Göttern ist, zum „Sein“, zur Welt. Für den grie­ chischen Menschen war Entsprechung zum Göttlichen und Entsprechung zum Kosmos noch in einem und ungebrochenen Richtungssinne möglich. Der Mensch verstand sich als den „Sterblichen“ vor den „unsterblichen Göttern“ und begriff Menschenland und Götterreich als die Gegend zwischen 463

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Himmel und Erde. Noch ist das Gottesverhältnis und das Weltverhältnis des Menschentums gleichsinnig. Die paideia wird politisch gesehen, als das Herzstück der Staatsbildung, und die Politik wird theologisch gesehen, als Gehorsam gegen die Götter, und die Götter werden kosmologisch gesehen: in der Auslegung des Göttlichen als des weltordnenden nous. Der Mensch gilt als paignion theou, als Spielzeug des Gottes, und der spielende Gott als die weltlichtende Sonne der Idee des Guten. Die paideia gewinnt so Charaktere des Heiligen und des Vernunftschönen. Und so bedeutet also das 10. Buch der Nomoi, wo es den Anschein hat, als ginge hier das Gespräch weit über die nomothesia, über die Gesetzgebung, hinaus und verlöre sich in einem allgemeinen philosophischen Exkurs, in Wahrheit den Höhepunkt der ganzen Besinnungen über Gesetz, Staat, Erziehung. Hier werden die paideia und die polis aus dem Weltbau begriffen. Die Pädagogik wird kosmologisch verankert und begründet. Wenngleich der Gesetzesstaat der Nomoi 5040 Haushaltungen zählen soll (eine Zahl, die aus mathematischen Gründen optimaler Teilbarkeit gewählt wird), so ist diese kleine Stadt in einem ursprünglicheren Sinne „weltpolitisch“ als die modernen Großstaaten. In diesen Bezug von polis und kosmos muß die Erörterung über die Asebie, über die Gottlosigkeit, eingestellt werden. Die Gottlosigkeit enthüllt sich als eine These über die Weltbildung. Der Gottlose behauptet den Vorrang der physis vor der technē. Das ist | insofern mißverständlich, weil ja in der Tat die Naturdinge einen Vorrang vor den Kunstdingen haben. Kunstdinge setzen Naturdinge voraus, aber Naturdinge nicht Kunstdinge. Man kann sich leicht einen Zustand ausmalen, etwa vor dem Erscheinen des Menschen auf der Erde, wo die Wildnis herrschte, keine Weide und kein Acker war, kein Krug und kein Schwert, kein Haus und kein Herd – wo nur Pflanzen und Tiere lebten und der nackte „Kampf ums Dasein“ tobte. Mit dem Menschen kam dann ein Vermögen auf, die Naturdinge umzuformen, zu bearbeiten, aber auch sittliche Formen des Gemeinschaftslebens zu bilden und die Götter zu ehren. Über die Grundlage der Natur legte sich ein menschlicher Werkcharakter: Das Land wurde zum Territorium, zum Staatsgebiet, die Wälder und Prärien zu Siedlungsraum, zu aufgeteiltem Eigentum; der Mensch umgab sich mit den Werkgebilden, mit Geräten, Werkzeugen, Schmuck und Kultgegenständen, er ordnete sein Leben in sittlichen Verhältnissen, bildete Ehe, Sippe, Volk und Staat; auch das Naturleben der menschlichen Instinkte wurde in feste, genormte Formen gebracht, der Mensch war auch sich selber Material einer Gestaltung. So kann man sagen, daß die ganze menschliche Kultur auf der technē beruht. Die Gottlosigkeit behauptet den Vorrang der „Natur“ vor der „Kultur“, sie deutet das Sittliche nur als ein Epiphänomen, als eine Art von künstlicher Übermalung der Wirklichkeit. Die sittlichen Gesetze, von denen so viel Wesens gemacht wird, sind nichts anderes als „nützliche Konventionen“, 464

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sind menschliche Zweckerfindungen, und die Götter, welche die Heiligkeit der Sitte verbürgen sollen, sind auch nichts weiter als „Erfindungen“, als Phantasiegebilde. Die Sophistik bewegt sich vor allem in solchen Tropen. Sie versucht, eine Steigerung des menschlichen Selbstbewußtseins herzu­ stellen, indem sie den Menschen als den Schöpfer und Verfertiger aller Kulturgebilde aufweisen will; nur der naive Mensch meint, daß Sitte und Staat sozusagen wie von Natur aus da wären, der aufgeklärte Mensch dagegen durchschaut ihren Ursprung und erkennt, daß sie nicht physēi, sondern nomōi sind. Sophistik hat hier also den angemaßten Charakter philosophischer Einsicht. Sie behauptet, eine Philosophie zu sein, die groß und zugleich illusionslos vom Menschen denkt, ihn als das gewaltige Wesen versteht, das nicht nur Geräte hervorbringt, sondern auch Sitten, Staaten und Götter – das aber dabei immer in den Wahn verfällt, seine Gebilde als „Dinge an sich“ aufzufassen. Die Sophistik entlarvt „Moral“ und „Religion“ als allzu-menschliche Gebilde, sie versteht den Menschen als Techniten nicht nur der offenbaren Werk|gebilde, sondern auch als den Techniten „irrealer“ Phantasmen. Ethos und theos sind nicht Gebilde, bei denen ein wirklicher irdischer Naturstoff umgeformt wird, wie das Erz bei der erzenen Bildsäule, sie sind aus einem „Stoff gemacht als wie aus Träumen“; sie sind Wahngebilde. Die Sophistik bedeutet so eine Ausweitung des technēBegriffs. Aber sie schränkt andererseits die technē dadurch ein, daß sie diese nur als ein menschliches Vermögen ansetzt. Die technē hat keinen höheren ontologischen Rang, als eben der Mensch einen hat; und der Mensch ist doch nur ein Naturding neben unzählig vielen anderen Naturdingen. Gemessen an der physis, an dem von Natur aus Seienden, sind der Mensch und seine Gebilde ein winziges und geringfügiges Stück der Welt. Die Kritik der Gottlosigkeit im 10. Buch der Nomoi bezieht sich aber nicht bloß auf diese sophistische Auslegung des Verhältnisses von physis und technē, von Natur und Kultur. Sie hat ihre eigentliche Stoßkraft gegen einen weit gefährlicheren Feind gerichtet, gegen die Weltbildungsthese Demokrits. Dort wird als Urwirklichkeit ein „Atom-Regen“ angesetzt, wobei durch den Zufall geringer Abweichung von der Fallinie es zu Ballungen von Atomen und schließlich zu einer Konfiguration kommt, die das Gesicht der „Welt“ hat. Die taxis des kosmos, die gegliederte und schöne Fügung, ist das Resultat eines blinden Zufalls. Gegen diesen Ansatz richtet sich die ganze Wucht der Kritik. Das heißt aber jetzt: Das Problem der physis und technē ist aus der phänomenalen Sphäre herausgedreht; denn jetzt geht es nicht um die Klärung des rechten Verhältnisses zwischen dem, was von Natur aus ist, und dem, was durch den Menschen und sein technisches Vermögen zustande kommt, also nicht mehr um den Unterschied zwischen „Natur“ und „Kultur“. Es geht im entscheidenden Sinne um eine Wesensbestimmung der Natur als solcher. Die physis wird daraufhin Problem, ob sie „aus Zufall“ ist 465

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oder „aus Vernunft“. Die physis rückt in den Aspekt der technē. Das bedeutet eine ungeheure Verwandlung des technē-Begriffs, er wird spekulativ gefaßt. Technē, wie sie jetzt Problem wird, ist nicht bezogen auf schon vorhandene Naturdinge, die bearbeitet werden; technē wird gesehen aus dem Horizont der Zustandebringung der „Natur“. Die physis gilt als ein Werk, als ein gewirktes und bewirktes Werk eines weltbildenden Prozesses. Die offene Frage ist jetzt: Ist die Natur als solche das Werk des Zufalls, der tychē, oder das Werk einer ordnenden Vernunft? Mit dem Gedanken vom Werkcharak­ ter der physis wird in jedem Falle der Bereich des | Sichzeigenden, das Feld der Phänomene, überstiegen, es ist nur die Frage, ob ein solcher Überschritt in die Richtung des „Materialismus“ oder des „Idealismus“ gemacht werden soll. Mit der Frontstellung gegen Demokrit wird zugleich Stellung bezogen gegen die ganze naturphilosophische Spekulation, welche das Weltall aus einer Mischung der Urelemente Erde, Wasser, Luft und Feuer hervorgehen läßt. Wo diese „Stoffe“ als das Primäre und ihre Bewegungen als das weltbildende Geschehen angesetzt werden, dort wird (ausdrücklich oder unausdrücklich) die tychē, der Zufall, als Urheber des Kosmos behauptet. Da aber doch offenbar und offenkundig der Kosmos sich als schöne und vernünftige Fügung zeigt, besagt die Rückleitung auf den Zufall den Wider­ sinn einer Erklärung des Vernünftigen aus dem Vernunftlosen. Und darin besteht das eigentliche Sakrileg, die Asebie. Der „Werkcharakter“, den die Natur als solche hat, wird in dem Ordnungsmoment, in der taxis, gesehen. Ordnung ist geschaffene, bewirkte Ordnung und ist immer ein Verhältnis des Begrenzten, des peras, zum Unbegrenzten, zum apeiron, ist ein Herr­ schaftsverhältnis des Maßes über das an sich Maßlose, des Lichtes über das Dunkel, der sonnenhaften Idee über die nächtige chōra. Die platonische Ontologie bildet den Hintergrund dieser Kritik der Gottlosigkeit. Und nun verschlingt sich das Motiv der weltordnenden technē mit dem Problem des Seinsranges der auf vorgängigen Naturdingen fundierten technē. Das macht die Problemführung sehr schwierig. Wir beschränken uns auf die Anzeige der Grundlinie. Es geht darum, dem naiven Meinen und aber auch der gottlosen Philosophie entgegen den Vorrang der technē vor der physis oder auch den Vorrang des Geistigen vor dem Materiellen zu erweisen. In diesem Erweis ist angelegt ein Beweis für das Dasein der Götter. Wenn es gelingt, die Priorität des Vernünftigen in der kosmogonischen Dimension darzutun, ist die Vernunft als das Göttliche aus dem größten „Werk“ heraus als der Weltbaumeister bestimmt, und die Götter des Volksglaubens sind als seine Symbole gerechtfertigt. Die Gottlosigkeit besteht in einer Verkennung, welche ein „Späteres“ als das „Frühere“ behauptet und das „an sich Erste“ als ein Abgeleitetes mißdeutet. Die Asebie ist ein hysteron-proteron, eine Verdrehung und Verkehrung der Wahrheit – und weil die wahre Philosophie 466

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das Verhältnis wieder richtigstellen muß und das Verkehrte wieder ins rechte Lot bringt, erscheint sie dem „gesunden Menschenverstand“ als „die verkehrte Welt“. Nun beginnt eine prinzipielle Erörterung über das Wesen der Bewe­ gung. | Das Problem der Gottesleugnung oder Gottesanerkennung ist letzten Endes der Anstoß für die Frage der rechten Auslegung dessen, was Bewegung ist. Die Interpretation der kinēsis bildet das Feld der höchsten menschlichen Entscheidungen; an diesem anscheinend „abstrakten“ und „theoretischen“ Problem hängen alle Sinnfragen des Daseins. Hier geht es um polis, nomos und paideia. Das bedeutet keine Beschreibung oder Analyse der uns bekannten phänomenalen Bewegungen. Alle solchen sinnfälligen Bewegungen der Dinge sind schon eingehalten in eine umfassende und umfangende Bewegung, sind eingestellt in den „Lauf der Welt“. Die Welt ist im Lauf, sie geschieht; die Zeit und der Raum bilden das verschränkte Gefüge aller binnenweltlichen Bewegungen. Steine fallen, Blumen streben ans Licht, Tiere durcheilen ihr Revier, und Menschen machen viele Gänge der Besorgung. Aber all dergleichen wimmelnde Bewegung der Einzeldinge ist unterlaufen von den großen Bewegungen der Natur, vom Wechsel von Ruhe und Unruhe; oben am Himmel kreisen unablässig die Gestirne und setzen die Zeitmaße, die Zeiten des Jahres, und unten atmet rhythmisch die Erde, die ihre „Gewächse“ eine Weile hinaufschickt ins Licht und dann wieder zurücknimmt; all die mannigfaltigen Bewegungen spielen zusammen und bilden den Weltlauf. Man könnte nun versuchen, die wesentlichen Unterschiede im Bewe­ gungsstil der Dinge zu charakterisieren je nach den Was-Bezirken, nach den „Regionen“; sicher ist die Bewegung des fallenden Steines eine andere als die Bewegung einer aufblühenden und verdorrenden Pflanze, und anders als die Bewegung eines beutejagenden Tieres oder die eines landbebauenden Menschen. Die Blickrichtung aber geht auf allgemeine Strukturen der binnenweltlichen Bewegung als solcher. Es werden zunächst einmal acht Formen unterschieden: die Bewegung der Umdrehung auf der gleichen Stelle und die Bewegung von einer Stelle zu einer anderen hin, dann die aus beiden Formen gemischte Bewegung, die wieder unterschieden wird in eine, die ein Drehzentrum hat, und in eine mit mehreren Zentren, dann die Bewegung des Zerfallens (diakrisis) und die Bewegung des Zusammen­ tretens (synkrisis), ferner die Bewegung des Zunehmens und Abnehmens; und das sind sämtliche Bewegungsarten, die sich unterscheiden lassen „met’ arithmou“, unter „Zuhilfenahme der Zahl“. Der Hinweis auf die „Zahl“ bedeutet selbstverständlich nicht bloß die Abgezähltheit der Anzahl der Bewegungen, sondern meint das Zahlenhafte als Blickbahn der Unterschei­ dung; sie unterscheiden sich ja, ob sie an einem Orte | sind oder mehreren 467

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Asebeia und technē im 10. Buch der Nomoi

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und so fort. Der Überblick über diese acht Bewegungsformen überschaut die Bewegung der endlichen Dinge. Und nun tritt der Gedankengang ins entscheidende Stadium. Alle diese acht Bewegungsarten haben einen Gesamtstil gemeinsam: Sie sind „bewegte Bewegung“. Was damit gemeint ist, kann man sich deutlich machen etwa an einem Stoß. Wir sagen etwa, das Stoßende bewegt, das Gestoßene wird bewegt; das eine ist tuend, das andere leidend. Überall, wo immer ein Tun ist, muß auch ein Leiden sein; Tun und Leiden, poiein und paschein, gehören zu jeder Bewegung. Aber dieser Unterschied ist nur ein relativer: Was bewegend ist auf ein anderes hin, ist seinerseits selbst bewegt von einem anderen; oder abstrakt formuliert: Die Ursache einer Wirkung ist selber Wirkung einer früheren Ursache und diese wiederum einer noch früheren usw. Die Lawine, die ein Haus verschüttet, es zusammenstößt, ist selber ausgelöst und angestoßen durch bestimmte thermische Bedingungen, die ihrerseits wieder Folgen vorhergehender Naturvorgänge sind, und so fort. Alle Bewegungen im Weltlauf sind angestoßene Bewegungen, sind in Gang gesetzt. Es erhebt sich nun die Frage: Führt dies in einen unendlichen Regreß zurück, weil jede Bewegung auf eine noch frühere verweist – oder muß das Denken über diese ganze rückläufige Kette hinausdenken, wenn sie „begriffen“ werden soll? Kann überhaupt Bewegung sein ohne ein ErstBewegendes, fordert nicht gerade die bewegte Bewegung eine ursprünglich bewegende Bewegung, welche den Weltlauf sozusagen „anstößt“, ihn in Gang setzt? Mit diesem Gedanken überschreitet man die phänomenale Basis und denkt spekulativ in den Prozeß der Weltbildung zurück. Die bewegende Bewegung ist nirgends vorhanden, sie kann an den Sinnendingen nicht gezeigt werden, aber sie durchwirkt alles binnenweltliche Geschehen, weil sie der Stoß ist, der noch in der endlosen Kette der Verursachung weiterläuft. Die bewegende Bewegung ist kosmogonisch, die bewegte Bewegung ist die binnenweltliche Reihe der Geschehnisse und Begebenheiten. Die erste bringt die Welt ins Laufen, die andere ist der Lauf der Welt. Der Gedankengang bleibt aber in einer gewissen Weise getrübt. Denn der prinzipielle Unterschied der welteinrichtenden Bewegung und der bin­ nenweltlichen wird durch eine Analogie zu erläutern versucht. Das Gefähr­ liche dieser Analogie aber ist ein mögliches Mißverständnis, das den ganzen Gedanken verharmlost. Zuerst wird operiert mit dem Unterschied von Seele und Körper, psychē und sōma. Die Seele hat die Kraft der Selbstbewegung, der unbeseelte Körper | dagegen kann nur von außen bewegt werden. Wir alle kennen den Unterschied zwischen mechanischer und animalischer Bewegung. Zōē (Leben) und psychē (Seele) werden auch im phänomenalen Bereich vom bloß Körperlichen unterschieden; ja wir machen des weiteren auch die bekannte Distinktion zwischen „Natur und Freiheit“, fassen die unbelebte und belebte Natur als den Naturgesetzen unterworfen, den Men­ 468

Asebeia und technē im 10. Buch der Nomoi

schen aber, soweit er frei ist und frei handelt, als reine Selbstbewegung und dergleichen. Das Schwierige und Nichtleichtzugängliche des Gedan­ kenganges liegt nun darin, daß die phänomenal-bekannte Differenz des Unbelebten und Belebten als Modell genommen wird, um den spekulativen Unterschied von weltbildender Bewegung und binnenweltlicher Bewegung anzuzeigen. Das Weltbildende ist der nous, das Denken. Die eigentliche und ursprüngliche Bewegung ist die Bewegung des Denkens; sie allein ist „bewegend“. Und das Denken ist auch im wahren Sinne allein das Leben, die zōē, und die psychē, die Seele. Aber Leben, Seele und Denken besagen hier in keinem Sinne etwas „Menschliches“. Was wir Menschen gewöhnlich schon „Denken“ nennen, ist nur der geringe Widerschein eines Kosmischen. Das Denken ist das Walten des lichthaft verstandenen Seins, das heißt der idea tou agathou. Im Timaios wird sie das zōion genannt, welches alle anderen Ideen als zōia in sich enthält und umfängt. Das Denken waltet, indem es gleichsam in einer technē die Ordnung, das gegliederte Gefüge des Kosmos, hervorbringt. Das Denken ist der Technit der Welt, ist die absolute demiurgische Macht. Denken ist poiēsis im ursprünglichsten Sinne, ist echteste technē. Es ist bezogen auf einen „Stoff“, auf die Urmaterie, nicht auf ein endliches Naturding. Durch die technē des Denkens, welche der chōra die Ideen einprägt, entsteht erst die sogenannte physis, die Natur im Sinne des Vorhandenen. Wesen und Rang der technē kann gar nicht bestimmt werden, wenn man nur die menschliche technē in den Blick nimmt; diese ist etwas Abkünftiges und setzt Naturdinge voraus. Aber in der menschlichen lebt noch ein Widerschein und Abglanz der himmlischen Kunstfertigkeit des nous. Die Gottlosigkeit besteht zutiefst darin, das Wesen der technē zu kurz zu denken. Erst im kosmogonischen Horizont offenbart sie ihr göttliches Wesen. Und dort zeigt sich auch, daß die Seele „älter ist als der Körper“,1 das Geistige ursprünglicher als das Sinnliche und „Achten und Fürsorge und Verstand und technē und nomos früher gewesen ist als Hartes und Weiches, Schweres und Leichtes. Und insbesondere die ersten und großen Werke und Hand|lungen müssen der technē angehören und unter den ersten Dingen sein; was aber von Natur da ist und die Natur selbst, der man unrichtigerweise gerade diesen Namen gibt, ist später und ist in ihrem Entstehen abhängig von technē und nous“.2 Die Gottlosen, die auf den Vorrang der Natur sich berufen, halten ein hysteron für ein proteron, ein Späteres für ein Früheres – sie verkennen von Grund auf das Weltge­ füge, weil sie die fügende, bildende Macht verkennen. Das ursprünglichste Gesetz, der eigentlichste nomos, ist der nomos der Welteinrichtung, ist das Gesetz der denkenden Weltvernunft, die jedem endlich Seienden sein Teil zumißt und den Kosmos gerecht ordnet. Und die menschlichen Gesetze sind mehr als bloß allzumenschliche Satzungen, geboren aus der Notdurft, wenn sie in Entsprechung zum Weltgesetz stehen – wenn sie im Menschenland 469

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Asebeia und technē im 10. Buch der Nomoi

die Herrschaft des Vernünftigen, Geistigen zu verwirklichen suchen. In solcher Übereinstimmung gedeiht die polis. Sie kommt ins rechte Verhältnis zum Göttlichen und in die Gunst und den Segen der Götter. Die wahre Frömmigkeit ist die Weltfrömmigkeit. Alle Erziehung geht auf dieses Ziel. Die paideia im platonischen Gesetzesstaat endet in der Lichtreligion der weltbildnerischen Vernunft. Die Götter sind nicht, wie der Materialismus meint, technika, Fabelwesen einer menschlichen Erfindung, die nicht einmal im irdischen Stoff gestaltet sind, vielmehr aus Traum gewoben, das Göttliche ist selber die erste und anfänglichste technē, technē des nous. Erst durch sie gibt es die vorhandene Natur und auf Grund dieser wiederum die menschliche Kunstfertigkeit. Die große Gefährdung aller menschlichen Kunst und aller menschlichen Gesetze liegt darin, daß sie nicht an sich schon festgemacht sind in der technē der Weltvernunft und im Weltgesetz, daß sie die Entsprechung zu jenen erst suchen müssen; sie können entsprechen, aber sie können auch verfehlen. Die Möglichkeit besteht, daß Gesetze nur menschliche Konvention sind, eine Religion nur traumhafter Wahn, Erziehung nur eine letztlich willkürliche Haltung ist – dann nämlich, wenn sie nicht aus einem echten und wahrhaften Weltbezug des menschlichen Daseins entspringen. Die Gottlosigkeit hat sozusagen mit ihrer These nur recht in bezug auf „gottlose“ Lebensordnun­ gen; aber sie ist im klarsten Unrecht, wenn sie glaubt, auch die weltgemäße Form des Menschentums mit ihren „aufgeklärten“ Kategorien interpretieren zu können. Alles hängt nun letztlich davon ab, wie die Verfassung und das Wesen der Welt bestimmt wird. Der Verfasser der Nomoi hat in seiner zweiten, denkerischen Ausfahrt, in deuteros plous, den kosmologischen Horizont aller Sinnfragen des Men­ schenlebens mit einer so reifen, tiefen und bedächtigen Altersweisheit herausgearbeitet und dabei doch der dunklen leidenschaftlichen Natur im Menschen ihr Recht zuerkannt, daß man sagen kann, er habe in diesem Werke nicht nur den Chor der Alten geschildert – er habe selbst als ein Dio­ nysos-Trunkener das Zauberlied des rechten, weltfrommen Lebens gesun­ gen.

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Notizen und Dispositionen

Heraklits Leben und Lehre (Nachwort zu einer geplanten Ausgabe der Fragmente von W. Bröcker) ‹1946›

|Von Heraklits Leben wissen wir wenig. Er lebte um 500 in Ephesus. Die ererbte Würde eines basileus, ein priesterliches Amt, trat er an seinen Bruder ab und lebte zurückgezogen ‹und› seinen Erkenntnissen ‹hingegeben›. Die Schrift, in der er sie aufzeichnete, legte er im Artemistempel nieder. Was Diogenes über sein Leben berichtet, sind Anekdoten, die motiviert sind durch Aussprüche, die er ‹Heraklit› selbst getan hat. Fast ebensowenig wie über sein Leben wissen wir über sein Verhältnis zu anderen Philosophen. Besonders sein Verhältnis zu seinem großen Zeitgenossen Parmenides von Elea ist dunkel. Es ist eine Streitfrage, ob er den Parmenides, oder dieser ihn bekämpft – aber gewiß ist, daß der Hauptgegner beider die Meinung der Menge ist. Vielleicht wußte keiner der beiden etwas von dem anderen. Deutlicher ist die Abhängigkeit beider von den Milesiern: Thales, Anaximander und Anaximenes. Diese stellten die Frage nach dem ex hou, dem „Woraus“, aristotelisch gesprochen nach der archē, dem Prinzip alles Seienden, und sie fanden es im Wasser, im Grenzenlosen (apeiron) und in der Luft. Ähnlich ist nun auch für Heraklit ein Element, das Feuer, der Ursprung von allem. Aber dennoch ist alles anders. Nicht mehr um den Anfang der Weltentstehung handelt es sich jetzt, sondern um den Ursprung der ewigen Welt. Und diese Veränderung der Lehre vom Urelement hat ihren Grund in der Lehre, die bei Heraklit dieser Feuerlehre vorausgeht und sie trägt. Auch diese Lehre hat eine gewisse Beziehung zu der älteren des Anaximander, von der wir durch das Dunkel der Überlieferung noch einige Umrisse erkennen können. Nach Anaximanders Lehre begehen alle Dinge durch ihr Entstehen ein Unrecht, und es besteht in der Einseitigkeit, in die sie durch ihr Sein notwendigerweise fallen. Das Warme ist nicht kalt, es hindert vielmehr das Kalte an seiner Stelle zu sein, schließt es vom Sein aus, das Helle ist nicht dunkel, das Schwere nicht leicht, und so überall. Diese Einseitigkeit büßen die Dinge mit ihrer Vergänglichkeit. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann ein Ding durch sein Gegenteil zu Grunde geht. In dem einzigen überlieferten und wörtlich erhaltenen Satz von Anaximander heißt es: ex hōn de hē genesis esti tois ousi, kai tēn phthoran eis tauta genesthai kata to chreōn: didonai gar 473

Heraklits Leben und Lehre

auta dikēn kai tisin allēlois tēs adikias kata tēn tou chronou taxin,1 „woraus aber das Werden ist den seienden Dingen, in das hinein geschieht ihnen auch das Vergehen nach der Notwendigkeit. Denn sie zahlen einander Strafe und Buße für ihr Unrecht auf Geheiß der Zeit.“ Heraklit ist mit Anaximander darin einig, daß alle Einseitigkeit Unrecht ist, aber er weicht darin von ihm ab, daß er lehrt: solches Unrecht und solche Einseitigkeit ist in Wahrheit nicht. Nur vom Standpunkt des Menschen, der nicht eigentlich erkennt, kann der Schein davon auftauchen. In Wahrheit ist vielmehr alles das Nichteinseitige, ist das Gegenteil seiner selbst, und für Gott ist daher alles gerecht, nur die Menschen halten einiges für gerecht, anderes für ungerecht. Die folgende Darstellung mag als Leitfaden dienen für das Studium der Fragmente und Zeugnisse, die uns von Heraklits Lehre berichten. Es versteht sich, daß dieser Versuch der Rekonstruktion eines Ganzen aus den Trümmern eine Deutung bleibt. Den Meinungen der Menge und der Vielwisserei der Dichter und Denker setzt Heraklit seine Erkenntnis entgegen als ein selbstbewußtes „Ich aber sage euch!“. Und doch sind es keine Ausgeburten des eigenen Geistes, die er verkündigt, und keine Offenbarungen, die durch besondere Gnade gerade ihm zuteil geworden wären, sondern was er lehrt, das kann, eben nach seiner Lehre, jeder wissen. Keiner ist davon ausgeschlossen, sofern er nur, wie Heraklit es getan hat, sich selbst erforscht, d. h. hinhört auf den logos, das Wort in der Seele, das sich selbst mehrt. Dieses Wort auszusprechen ist, was Heraklit unternimmt. Aber wenn auch dieses Wort jedem Menschen nahe ist, das allernächste sogar, sofern es das Wesen der eigenen Seele ausmacht, so ist dies Allgemeine dennoch nicht das Häufige, sondern gerade das Seltene. Die Menschen pflegen dies Wort beständig zu überhören | und sie bleiben auch dann taub für es, wenn es ausdrücklich ausgesprochen wird. Denn das Hörenkönnen des Wortes setzt voraus eine wahre Wachheit des Menschen, die Vielen aber leben gleichsam wie im Schlafe. Das Schlafen verhält sich zum Wachen wie das Leben zum Tode, das ist die paradoxe heraklitische Analogie. Erst im Tode erreichen wir das eigentliche Wachsein, als reine Seelen oder Götter. Allein der Philosoph erreicht diese höchste Wahrheit schon als Lebender. Wie wir im Schlafe träumend etwas sehen und hören, was andere nicht sehen und hören, wie da jeder in einer anderen Welt lebt, die er sich selbst macht, und wie diese Welten sich nicht zu einer gemeinsamen Welt zusammenfügen, während die Wachenden eine gemeinsame Welt haben – so treiben sich die Vielen in ihren privaten Einfällen und Meinungen herum, die nichts Allgemeinverbindliches haben, und versteifen sich auf das Vielerlei, das immer wieder anders ist, und sehen nicht das sich ständig gleich bleibende Gesetz im Wechsel. 474

Heraklits Leben und Lehre

Dies göttliche Gesetz ist es, was der logos ausspricht, und was es zu hören gilt, das Gesetz der „gegenwendigen Fügung“, der Einheit der Gegensätze, das Heraklit in hundert Bildern versinnlicht. Im Kampf ist das Kämpfende gerade kämpfend vereinigt, der Fluß ist derselbe, obwohl die Fluten ständig wechseln, das Meerwasser ist lebenerhaltend und tödlich zugleich, das Schneiden und Brennen der Ärzte ist schmerzhaft und heilsam zugleich, der Walkerschraube Weg gerade und krumm. Das ist der Geist in allen Dingen, denn der Geist ist das alle Einseitigkeit zur Totalität Ergänzende. Wissender und mächtiger Geist, von Heraklit to sophon, „das Weise“ genannt, ist daher der Ursprung von allem, und alles ist dieser Geist, obwohl er zugleich in seinem eigentlichen Wesen etwas von allen Dingen verschiedenes ist. In seinem wahren Wesen nämlich ist er reines Feuer. Feuer ist das lebendigste Element, das sich verzehrende, das Element des Kampfes, von dem ja auch wir noch sagen, er entbrenne oder sei heiß – ist höchste Gegensätzlichkeit und reinste Verkörperung des göttlichen Gesetzes, und dies Feuer ist vernünftiges Feuer, ist Seele. Dies Göttliche aber existiert als die Vielheit der Götter, wie der Blick auf das Feuer am Himmel, die Gestirne, zeigt. Aber das Feuer bleibt nicht Feuer. Ermattet durch die Anstrengung der Existenz in der Schärfe des höchsten Gegensatzes stürzt es sich voll Lust herab von dieser Höhe. Das Feuer erlischt, es gibt sein Wesen auf. Es wird Wasser und das Wasser wird Erde. Die Erde ist das Gegenwesen des Feuers, das Starre, Feste, Einseitige, worin aller Kampf, alle Spannung und damit alles Leben und Wissen erloschen ist. Aber ganz verliert das erloschene Feuer doch nicht seinen Ursprung. In der Entfernung von ihm ist es Hunger nach ihm. Und so nach seinem wahren Wesen hungernd entzündet das Feuer sich wieder, und auf demselben Weg über das Wasser kehrt es zur Flamme zurück. Dies Spiel des Feuers ist die Welt, ständig verlöschendes und neu entbrennendes Feuer. In diesem Spiel aber ist doch Notwendigkeit. Es beharren die Maße. Die Region des Wassers wird ständig durchströmt von der Bewegung vom Feuer zur Erde und von der Erde zum Feuer, aber das Maß, die Ausdehnung des Wassers, des Meeres bleibt, und dasselbe gilt für Erde und Flamme. So wenigstens ist es im großen gesehen. Im einzelnen gibt es Abweichungen. Deren Grund aber ist verschiedene Verteilung des Feuers am Himmel. Das aufsteigende Feuer nämlich wird aufgefangen von Schalen, die ihre hohle Seite der Erde zukehren, und diese mit Feuer gefüllten Schalen sind die Gestirne. Diese Schalen ändern ihre Stellung am Himmel, auch drehen sie sich gelegentlich, wodurch die Finsternisse und Mondphasen entstehen. Die Veränderungen am Himmel sind nun Grund des irdischen Wechsels. Tag und Nacht, Sommer und Winter, Ebbe und Flut erklären sich so. Und wie mit denselben Stellungen der Sonne und des Mondes Tages- und 475

Heraklits Leben und Lehre

Jahreszeiten und Gezeiten wiederkehren, so muß wohl alles sich Wandelnde wiederkehren, wenn alle Wandelsterne ihre Stellungen wieder einnehmen. Daher gibt es ein großes Jahr, nach dessen Ablauf alles wiederkehrt, was einst gewesen ist, und die Zeit in sich zurückläuft. Indem so das Feuer am Himmel die Zeit bestimmt, kann Heraklit geradezu sagen, das Feuer sei die Zeit. |Diese ganze Weltordnung herrscht auch über den Menschen. Die Menschen sind gestorbene Götter, und die Götter gestorbene Menschen, die Seele des Gestorbenen steigt auf und existiert als Stern, bis nach Ablauf des großen Jahres dieser Stern wieder erlischt und der Mensch neu geboren wird. Was auf Erden aber nach dem Tode des Menschen von ihm zurückbleibt, der Leichnam, ist weniger wert als Mist. Aber auch während des Lebens herrscht über den Menschen der Kreis­ lauf von Feuer und Erde. Das Leben des Menschen besteht dadurch, daß ständig die Seele, d. h. Feuer, in den Leib, d. h. Erde, übergeht, und umge­ kehrt. Und daher besteht die Gefahr, daß der Mensch seine Seele verbraucht, daß er das Maßverhältnis zugunsten des Körpers verschiebt – und es besteht die Möglichkeit und die Aufgabe, die Seele trocken zu halten. Dies ist, was der Mensch soll, und dies ist zugleich die eigentlich philosophische Existenz, die es dem Menschen ermöglicht, das Wort der Seele, die Wahrheit über das Sein zu hören. Damit schließt sich der Kreis: „Beim Kreis ist Anfang und Ende das­ selbe“.2

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‹Notizen zur Übung „Platons Parmenides“› ‹WS 1947/48›

‹Notizen und Dispositionen zur 1.–2. Stunde› |Vorbesprechung für Parmenides-Interpretation 1. 2. 3. 4.

5. 6.

7.

Texte? Griechischer Text als Grundlage, aber auch für Nicht-Gräcisten ver­ ständlich. Stellung des Dialogs: Altersschriften; „Fragwürdigkeit“ der Ideenlehre; umstrittene Deutung. Unsere Art der Interpretation soll ein Versuch sein, die philos‹ophi­ sche› Problematik nachzuverstehen. Nicht die Stellung im Ganzen der platonischen Schriften, sondern das Problem als solches zu wiederho­ len. Der Text muß vor jeder Stunde gelesen sein – und überdacht sein. Die Dialektik, Hegel beurteilt den P‹armenides› als das „größte Kunst­ werk der antiken Dialektik“.1 Das „Resultat“? Kein Resultat, das leicht thesenhaft faßbar ist. Und doch die Deutung abwegig, als wäre Plato hier selbst nicht „durchgekommen“, usw. Das Resultat ist die Bewegung des Gedankens des Seins. Beginn 127e. Exposition des Problems bis 130a, 3.

|(13.10.47) (1. Stunde) 1. 2. 3.

Protokoll Kein Überschlag über das Problem des Parmenides. Am Ende, nicht am Anfang. 127. Exposition und Gedankengang des heutigen Interpretationsstü­ ckes: a) Sokrates stellt die Frage: Eines und Vieles, Ӓhnlichkeit und Unähn­ lichkeit zugleich, Unmöglichkeit des Vielen = als der logos des Zenon, der in vielen Büchern dargetan wird;

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‹Notizen zur Übung „Platons Parmenides“›

4.

b) Logos des Zenon: Unmöglichkeit des Vielen. Logos des Parmenides: Einssein. Die beiden verschiedenen logoi sagen dasselbe: dies ist das Problem, das Sokrates nicht begreift. c) Zenons Ausweichen. d) εἶδος und πολλά als ἕν und πολλά. e) Wunderbar wäre, wenn die Ähnlichkeit als solche das Unähnliche wäre, wenn das Eine das Viele wäre, Bewegung die Ruhe – (im Folgenden zeigt sich gerade, daß die von Sokrates als „selbstver­ ständlich“ genommene Weise des Verhältnisses der Teilhabe der vielen Einzeldinge am eidos gerade das Problem ist, das auf das von ihm exponierte zuführt). τὰ ὄντα? Das „Seiende“. (Plural?) Inwiefern müßte das Viele ähnlich und unähnlich sein ‹?› Mehrzahligkeit! Qualitative Verschiedenheit? Oder ist mit der Vielheit | des Seienden schon Unähnlichkeit gesetzt? Jene Unähnlichkeit, die das Seiende gliedert in Bereiche des Ӓhnlichen? Sofern das Seiende nur Seiendes ist, ist es ontologisch ähnlich; die onto­ logische Unähnlichkeit im Sein ist Grund der regionalen Ӓhnlichkeit in vielen Seienden.

|Parmenides-Übung (2. Stunde) 1.

478

Exposition des Problems? Im Anschluß an den λόγος des Zenon. Die Vielheit des Seienden ist unmöglich, ist der Zenonsche λόγος, denn sonst würde das Ungereimte sein, daß das Viele ähnlich und unähnlich ist. Aber das Ӓhnliche kann doch nicht das Unähnliche sein. (Zwischen­ frage: Ist nicht alle Ähnlichkeit auch als solche Unähnlichkeit? Ist nicht die Dimension des Ӓhnlichen das Unähnliche und umgekehrt?). Das Ӓhnliche kann nicht das Unähnliche sein. Das Unähnliche kann nicht das Ӓhnliche sein. Begriff: τὰ ὅμοια und τὰ ἀνόμοια? Zweideutigkeit im Begriff τὰ ὅμοια: 1.) Solches, dem Ӓhnlichkeit zukommt, 2.) solches, das wesenhaft ähnlich ist, 3.) = die Ӓhnlichkeit. Scharf wird die Antinomie, wenn das Seiende Vieles ist, erst dann, wenn τὰ ὅμοια als Ӓhnlichkeit genommen wird. – Seiendes: Eins und Vieles, ὄν – ἕν: als Problembereich. Sokrates greift an: Viele λόγοι des Zenon als Beweise für die Einsheit des Seienden? Ebensoviele Beweise wie Bücher! Des Parmenides logos: das Seiende ist eins, und des Zenon logos: das Seiende ist nicht vieles – wie ihr Zusammenhang? Dasselbe in Verschiedenem? Muß nicht der logos der Einsheit des Seienden ein logos sein‹?› Kann er durch sein Gegenteil miterstellt werden‹?› Ist das Einssein bezogen auf das Nichtvieles-Sein? Stehen beide in einem Zusammenhang? Ist dieser „zu hoch“, „ὑπὲρ ἡμᾶς“?

‹Notizen und Dispositionen: Parmenides 130a–137c›

2.

3.

Ausflucht des Zenon: sein logos ist eine Verteidigungsschrift, er zeigt die Ungereimtheit derjenigen auf, die entgegen der | Lehre des Parmenides das Viele annehmen – Zenon aber erklärt nicht, inwiefern dieser negative, „apagogische Beweis“ (der Widersinn des Vielen) gerade für die Einheitsthese spricht. Der Bezug von τὰ ὄντα = ἕν zu: τὰ ὄντα = πολλά (als ungültigen) wird nicht gezeigt. – Anders formuliert: so wie die Ӓhnlichkeit der Farbe die Dimension ist für den Unterschied von schwarz und weiß, so ist der Bezug von Sein und Nichts, Eins und Vielheit die Dimension der negativen These des Zenon: das Seiende ist nicht Vieles. Sokrates verschärft die Fragestellung, Aufzeigung der Ideenlehre. Er arbeitet die Zweideutigkeit im Begriff des ὅμοια heraus. Etwas, das ähnlich ist in einer Hinsicht, kann in anderer ‹un›ähnlich sein; ebenso eins und vieles – und zwar durch die Teilnahme an verschiedenen Ideen.

‹Notizen und Dispositionen: Parmenides 130a–137c› |τὰ ὄντα? ἕν – πολλά Logos des Zenon: Wenn τὰ ὄντα = πολλά, dann ὅμοιον = ἀνόμοιον Versuch des Sokrates: keine Schwierigkeit, wenn das ὁρώμενον teil­ nimmt am eidos der Ӓhnlichkeit und Unähnlichkeit. Wohl aber Problem, wenn Ӓhnlichkeit = Unähnlichkeit. Ideenlehre: μετάληψις Ideen problematisch in 6 Bereichen

Von Sokrates fraglos angesetzt Fraglich:

a.) Transz‹endente› eidŌ b.) Formale eidŌ c.) Vorbildliche eidŌ d.) Element, Mensch, Schmutz

Parmenides: Angriff auf die Ideenlehre, auf den fraglos erscheinenden Teil. Metalēpsis wird Problem vom χωρισμός her I. Χωρισμός und μετάληψις

Stille Voraussetzung der selben Seinsart von Ding und Eidos

1. Aporie: Ganzes und Teil (ɒɟπɍɑ der Idee unbestimmt) 2. Aporie: ɂੇɁɍɑ = ɋɟɄμȽ (ɒɟπɍɑ: ਥɋ ɒȽ૙ɑ ɗɓɖȽ૙ɑ) 3. orie: ɂੇɁɍɑ = πȽɏəɁɂɇɀμȽ (ɒɟπɍɑ: ਥɋ ɒૌ ɔɠɐɂɇ)

Infragestellung der Selbigkeit der Seinsart 2. und 3. Aporie aber setzen die Idee ἐν ἡμῖν stillschweigend an. 479

‹Notizen zur Übung „Platons Parmenides“›

|4. Aporie verschärft den χωρισμός und damit das Problem der μετάληψις. χωρισμός zwischen εἶδος αὑτὸ καθ’ αὑτό und παρ̕ ἡμῖν. Die eidē sind ἄγνωστα. Damit die ganze Leistung der Ideenlehre in Frage gestellt. |4. Aporie. Der χωρισμός war in den ersten 3 Aporien ein solcher der Trennung von Ding und eidos auf dem Boden einer Ӓhnlichkeit der Seinsart. Die 4. Aporie faßt den χωρισμός radikaler als Verschiedenheit der Seinsart. Kampf-These ist: die εἶδη sind ἄγνωστα. εἶδη αὐτά sind nicht ἐν ἡμῖν. Die Trennung der Ideen „an sich“ vom Hiesigen. Sie sind weder in den Seelen, noch in der φύσις. Sie sind „metaphysisch“. – Aber die Relation zwischen Idee und Ding ist unterbrochen durch die Überschärfung des „an sich“. Die Ideen selbst relational. Κοινωνία. – Herrschaft und Knechtschaft. Kein zufälliges Beispiel. Gott und Mensch. Intellectus archetypus und int‹ellectus› ect‹ypus›. Wesen und Erscheinung. Verhältnis von ἐπιστήμη und ἀλήθεια gleichsam als „Fall“ genommen der κοινωνία!? Erkenntnis und Wahrheit des Wesens als getrennt von der Erkenntnis und Wahrheit der Erscheinung. | Die wesent­ liche Erkenntnis geht auf das Wesen, weil „wir“ keine wesentliche Erkenntnis haben, also auch keine Erkenntnis des eidos als des Wesens. Trennung zwischen Gott und Mensch, Wesen und Erscheinung. |Problem der metalēpsis 1. Aporie = Ganzes und Teil 2. Aporie = εἶδος = νόημα (ἐν ταῖς ψυχαῖς) 3. Aporie = εἶδος = παράδειγμα (ἐν τῇ φύσει) Trennung von Göttern und Menschen ist keine Trennung von Göttern an sich und Menschen an sich. Götter παρ̕ ἡμῖν und Menschen παρ̕ ἡμῖν |131a: 1. Problem ist die μετάληψις: Bezug zwischen Einzelding und eidos. Woher wird das Problem gesehen‹?›: vom Einzelding aus! Warum nicht umgekehrt‹?› Die Einzeldinge stehen uns „näher“. Wir sind in einer Einstellung, in der sie „gegeben“ sind. Dagegen das „All­ gemeine“ als Gegenstand erst durch eine Anstrengung. Gibt es überhaupt ein Einzelding? 2. Gleichnamige Dinge und gleichnamige eidē? „Gleichnamigkeit“ setzt einen Bezug: μετάληψις. Beispiele sind: formale und „ideale“ eidē. Dies ist wichtig, weil der Sinn der μετάληψις selbst in diesen beiden Formen bestimmt wird. Ontolog‹isches› Mittel und onto­ log‹isches› Thema! Ganzes–Teil und paradeigma. 3. Problemstellung der χωρισμός, genommen als ein Verhältnis zwi­ schen Dingen: wie kann ein Ding, eins seiend, bei vielen Dingen sein? 480

‹Notizen und Dispositionen: Parmenides 130a–137c›

4.

5.

6.

Beispiele? Ein Ding ist nie allein; ist immer bei vielen. Zusammen­ sein mit vielen ist nicht das Sein bei den vielen. Vielerorts, jedes an seinem Ort, neben den anderen usw. Die Vielerortsordnung der Dinge. Eins seiend bei vielem sein = an einem Ort seiend an vielen Orten sein!? Sokrates’ Antwort: wie der Tag? Zeitstrecke oder Helle? Wesen der Helle = Lichtraum. Wie der Tag als einer und derselbe, unbeschadet seiner Einsheit und Selbigkeit, vielerorts ist und dabei nicht von sich getrennt ist. So jedes eidos als eines in allen Einzeldingen dasselbe. Läßt sich die Lichtraumhaftigkeit in ihren Bezügen des Einen und Vielen auslegen aus dem, was erst im Lichtraum sich zeigt?? Nein. Dies von | prinzipieller Bedeutung für das Verhältnis von ontischen und ontolog‹ischen› Verhältnissen. [Das eidos ist nicht bei dem Vielen, auf irgendeine Weise des Vielen, sondern das Viele ist „im“ eidos – das Seiende im Raum des Seins – und nicht das Sein am vielen Seienden]. [Vielheit selbst eine ontolog‹ische› Struktur!]2 „Tag“ als Analogie!!! Helle, „Lumen“. ἰδεῖν und der griechische Seinsbegriff. Sehen: das Gesehene: das Undurchsichtige. Farbe und Undurchsich­ tiges, Farbe und Durchsichtiges. Helle kein „Gegenstand“, sondern ein Worin von Gegenständen. Parmenides deutet Tag = Zelt. Keine Ausflucht, sondern schärfere Stellung des Problems. Teilbarkeit der Größe? Vieles–Eins = Teile– Ganzes. Viele Teile und ein Ganzes? Was ist ursprünglicher? Eins– Vieles oder Ganzes–Teil?? Das Sein als εἶδος = νόημα ἐν ταῖς ψυχαῖς? (Seinsverständnis). Der ontolog‹ische› Gedanke „wovon“? τινός?

132d, 7: 3. Aporie: paradeigmata-Ӓhnlichkeit. Τρίτος ἄνθρωπος |Wie Herrschaft und Knechtschaft, so ἐπιστήμη und ἀλήθεια absolute: Erkenntnis an sich vom Seienden an sich relative: Erkenntnis für uns vom Seienden für uns Trennung von göttlicher und menschlicher Erkenntnis! Lehrbarkeit des Ansichseins der Ideen? Andererseits aber ohne Ideen |Die Aporien sind bestimmt durch einen Rückgriff auf die Voraussetzungen, mit denen operiert wird. 1. Aporie: die Größe ist selbst groß. Von Ding zu Idee Teilbar, Ganzes, das zerstückt wird. Blickbahn. Ding ĺ Idee Auflösung der Einheit der Idee.

481

‹Notizen zur Übung „Platons Parmenides“›

2. Aporie: die Idee = νόημα Blickbahn selbst Der Topos der Idee ist nicht mehr problematisch. unbestimmt, sie ist kein Ding, Idee ĺ Ding aber ein ɋɟɄμȽ ਥɋ ɒȽ૙ɑ ɗɓɖȽ૙ɑ 3. Aporie bringt die „stille Voraussetzung“ Bezug = der beiden ersten Aporien ans Licht: ២hnlichkeit die ២hnlichkeit zwischen der Seinsart von Eidos und Ding. Paradeigma. Nachbildung. |130b 1.3Parmenides’ Angriff auf die sokratische Lösung. Die „Vorausset­ zung“ wird angegriffen: die Fraglosigkeit des Verhältnisses von εἶδος und ὁρώμενον. Dies der Stil der Dialektik, daß sie rückgreift auf Voraussetzungen und sie in Probleme verwandelt. 2. Χωρισμός zwischen εἶδος und Einzelding. εἴδη αὐτά – χωρίς – τὰ τούτων μετέχοντα. ὁμοιότης αὐτή – χωρίς – ἧς ἡμεῖς μετέχομεν. Diese Formel noch schärfer: Unterschied zwischen dem eidos an sich und dem eidos an uns! In diese verschärfte Fragestellung von εἶδος und ὁρωμένοις kommt nun auch die Frage von ἕν und πολλά. 3. Fünf (oder sechs) Typen von εἴδη a.) ὅμοιότης – [ἕν – πολλά] ‹=› Beziehung – „Transzendentale“ b.) δίκαιον = καλόν = Vorbildliche c.) ἄνθρωπος = Was-Sein einer Dingregion d.) πῦρ, ὕδωρ = Element e.) θρίξ = ἀτιμότατον Von c.) ab ist Sokrates bedenklich. Idee = das Allgemeine der Beziehung, das Vorbildliche 130e: Hinsichtlich e.) aber ist er ablehnend. Also Seiendes, das ist ohne Idee davon: Grenze der Ideenlehre. (Sokratische Ideenlehre und ontologische Fassung derselben!) Die „idealen Gegenstände“ als Ideen-bestimmte!? |130e, 5: Sind ‹es› εἴδη, die den Dingen den Namen geben? Teilnahme (μετάληψις) des Ӓhnlichen an Ӓhnlichkeit, des Großen an der Größe, des Guten und des Gerechten an der Güte und Gerechtigkeit. 131a: Parmenides nimmt jetzt nicht die dem Sokrates selbst fragwürdigen εἴδη vor, sondern die, die er sicher ansetzt: die ihm fraglos sind. Aporetik des Verhältnisses von εἶδος und Einzelding. 1. Aporie: das εἶδος als ἕν und das Viele. [Idee und Ding, Sein und Seiendes auf dem Boden der ontolog‹ischen› Unterscheidung von Einsheit und 482

‹Notizen und Dispositionen: Parmenides 130a–137c›

131b:

Vielheit]. Das γίγνεσθαι: das So-bestimmt-Werden der Einzeldinge durch die Teilnahme?? Das μεταλαμβάνειν als Problem. Nimmt das Teilnehmende das Ganze oder den Teil des εἶδος? Ganzes und Teil? bezogen auf τὸ εἶδος! (Hat das εἶδος der Ӓhnlichkeit und der Größe eine „Größe“??) Ist das ganze eidos bei dem Vielen? Oder ein Teil davon? Sofern es eins ist, ist es bei Vielem?? Einheit des eidos und Vielheit der Teilnehmenden? Frage: wie ist das εἶδος als ἕν bei dem Vielen anwesend? a.) als Ganzes b.) als Teil? Oder eine 3. Weise? Eins seiend soll das εἶδος in dem vielen Einzelnen zugleich drin­ sein: so getrennt von sich selbst sein: Dies die Frage des Par­ menides? [Ganzes und Teil als „gebrauchte“ ontolog‹ische› Vor­ stellung!] Ganzes und Teil und Eins und Vieles? Formel für das ontolog‹ische› Verhältnis von Sein und Seiendem!! Das eine Sein im Außereinander des Seienden und doch nicht außer sich wie ein Ding. Außersichsein aber ist das Wesen des Seins. | Sokrates erläutert den Grundbezug von Sein und Seiendem, εἶδος und Einzelding, am Beispiel des Tages. Was liegt darin? Das Sein ist verteilt auf das Seiende (nicht zerteilt). Eine Weise, die keine ontische Weise ist. Der Tag? οὕτω: Analogia. Der Tag, die Helle, das Licht. Damit eine nicht-dingliche Weise als Gleichnis angesetzt. Parmenides deutet sie allerdings gleich um: ἡμέρα = ἱστίον (Tag: Zelt). [Tag = Helle als das Worin des Sehens. Antiker Seinsbegriff orientiert vom ἰδεῖν (εἶδος – ἰδέα). Das Gesehene (ὁρατόν): im Hellen die Farbe, im Dunkeln das Feurige; das Licht, das Sehen sieht durch. Sehen und ‹…›; das Durchsichtige. Gesehen wird das Undurchsichtige im Durchsichtigen. Durchsehen die Helle. Sehen in der Helle. Helle läßt durch und gibt Raum. Die Helligkeit ist so anwesend, daß sie nicht verbirgt, sondern daß sie erst durchläßt und als Durchlassendes das Worin vor-bildet]. [Der Bezug der Aporien. Ganzes – Teil = Relations-Ideen = νοήματα. Δίκαιον-καλόν = paradeigma].

|1. Wiederholung des Gedankenganges: τὰ ὄντα – Eines – Vieles – Zenons logos im Verhältnis zum Parmenideslogos? Widerspruch zwischen dem unthematischen und thematischen Verstehen der ontolog‹ischen› Strukturen von ἕν und πολλά. Lösungs­ versuch des Sokrates und radikalere Fassung des Problems: Einzelding teilnehmend an verschiedenen Ideen. Sokrates löst die Zweideutigkeit des ὅμοιον auf; formuliert das „dialektische Problem“. 2. 130b: Parmenides greift die selbstverständliche Ansicht des Sokrates an und entwickelt darum die Aporie; das μετέχειν und das γίγνεσθαι werden fraglich;? 4 verschiedene Bereiche der εἶδη: 483

‹Notizen zur Übung „Platons Parmenides“›

3.

a.) ὅμοιον – ἀνόμοιον b.) δίκαιον – καλόν – ἀγαθόν c.) ἄνθρωπος d.) πῦρ – ὕδωρ e.) θρίξ Aporien der μέθεξις: I. εἶδος – μέρος II. εἶδος – νόημα εἶδος – παράδειγμα III. ‹bricht ab›

|Das Leit-Thema ist das Eine und Viele. Exposition des Problems: Wenn das Seiende Vieles, dann Ӓhnliches und Unähnliches. Dafür gibt Zenon viele Beweise. Die Vielzahl der Beweise für die Unmöglichkeit des Vielen. Wie ist dieser Widerspruch? Daß mit den Mitteln (unthematisch) also zugegeben wird, was thematisch bestritten wird! Dies ‹…› das Zenon-logos. Und ebenso im Verhältnis die Zenon-Parmenides-logoi. Zwei verschiedene logoi sagen dasselbe. Zuerst also viele logoi sagen das Nichtsein des Vielen. Dann zwei verschiedene logoi sagen dasselbe. Selbigkeit also in Verschie­ denem: und zwar so, daß Selbigkeit erst aufleuchtet durch den Bezug zum Gegenteil.

Sein und Nichtsein ២hnliches und ២hnlichkeit Eines und Vieles ២hnlichkeit und das Einzeln-២hnliche, Eines und Vieles. | ἕτεροι Die ontolog‹ische› Ӓhnlichkeit als Seiendes ist Eingliederung der Unähn­ lichkeit der Dinge untereinander gemäß dem Was-Sein, dieses Was-Sein ermöglicht die Ӓhnlichkeit der Einzelnen. Grundproblem der Dialektik. Seiendes τά ὄντα. Eines und Vieles? Logos des Zenon: Vieles ist nicht, denn wenn Vieles wäre, so wäre das Ӓhnliche das Unähnliche. Viele logoi des Zenon über die Unmöglichkeit des Vielen. Logos des Parmenides: τὸ πᾶν ἕν. Verhältnis der beiden logoi? Schein der Verschiedenheit – aber Dasselbe. Ausflucht des Zenon. Lösungsversuch des Sokrates: Eines und Vieles zugleich das Einzelding teilnehmend an der Ӓhnlichkeit. Aber wenn die Ӓhnlichkeit auch Unähnlichkeit wäre. |Ist diese Frage des Sokrates nicht unmotiviert?

484

‹Notizen und Dispositionen: Parmenides 130a–137c›

Die Vieldeutigkeit des ὅμοιον (ἀνόμοιον) 1.) das Einzelne, Sichtbare 2.) das eidos, das Verstandesding ἕτερον Unterscheidung zwischen dem a.) Eines und Vieles zeigen b.) Eines als Vieles zeigen, sofern die Einsheit Vielheit sei. Problem der dialektischen Auflösung der Gegensätze: die natürliche Schwie­ rigkeit in den Ideen! Wie in den ὁρώμενα, so in den mit dem λογισμός Vernehmbaren. 130b: Teilst du die Ideen und die daran teilnehmenden Dinge? Ӓhnlichkeit selbst und Ӓhnlichkeit an uns? eidos: ͳǤȌὁɊɍɇɟɒɄɑ—•™Ǥ ʹǤȌἄɋɅɏɘɎɍɑ ͵ǤȌɎῦɏȂὕɁɘɏ ǫǫ ͶǤȌɅɏɜɌ

|εἶδος τι ὁμοιότητος? Eidos der Ӓhnlichkeit ὁμοιότης und (ἐναντίον) ὃ ἔστι ἀνόμοιον Einführung der Ideenlehre: gesprochen von den Einzeldingen her. Beispiel ἐμὲ καὶ σέ. Einzeldinge „nehmen teil“. Durch das μεταλαμβάνειν werden sie, je nach dem Maß der Teilnahme ähnlich und unähnlich. |Die eidē selbst nicht παρ̕ ἡμῖν [damit die 4. Form der Idee: ἄνθρωπος]. Der Mensch und die Idee des Menschen. Der Herr und der Sklave als Relation zwischen Ideen. Herr und Sklave als Relation zwischen Menschen. Parallel ist die Weise, wie die μετάληψις verstanden wird. Erkenntnis – Wahrheit: als ideale Erkenntnis – Wahrheit: als reale [Nivellierung der Erkenntnis als ein Fall der κοινωνία τῶν εἰδῶν] Im Ideen­ reich ist einzelne Erkenntnis? der einzelnen Idee!!! In der Welt der Dinge ist einzelne Erkenntnis = Erk‹enntnis› des einzelnen Dinges. Das Erkannte der idealen Erkenntnis = τὰ γένη (εἴδη) Das Erkannte der realen Erkenntnis = τὰ παρ̕ ἡμῖν Nun Umdrehung (134 b): weil wir die Erkenntnis an sich nicht haben, des­ wegen auch nicht das Seiende „an sich“ erkannt. Unerkennbarkeit! der Ideen.

485

‹Notizen zur Übung „Platons Parmenides“›

Das ‹…›: Wesenserkenntnis genauer als die Erscheinungserkenntnis. Göttliche Erkenntnis = ideale Erkenntnis der Ideen. Göttl‹iche› Erkenntnis unvermögend, das παρ̕ ἡμῖν zu erkennen. |134e: Das Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft nunmehr als Inter­ pretation der Parallele. Die Herrschaft der Götter unmöglich! Keine Götter an sich und Götter παρ̕ ἡμῖν. Vielmehr die Götter und die Menschen als die Ortsbestimmungen. Fazit der 4. Aporie: der χωρισμός ist unüberblickbar: a.) Das herrschende Wissen ist kein herrschendes, das beherrschte ist kein beherrschtes [das endliche ist kein endliches, und das unendliche kein unendliches]. [Das endliche Wissen ist außerhalb des unendlichen!] 135a: Wenn die ἰδέαι αὐταί gesehen werden und von Jeglichem ein εἶδος, so folgt Zweifel der Möglichkeit von Ideen an sich, und Zweifel der Erkennbarkeit; Schwierigkeit des rechten Lernens und Lehrens der Ideenlehre: eben im Hinblick auf die Unerkennbarkeit der Ideen; b.) andererseits Auflösung der διάνοια. Damit schließt die Exposition des Dialogs: das Problem von ἕν und πολλά, das sich zu lösen schien durch die Ideenlehre, schlägt selbst in die Ideenlehre zurück als εἶδος (ἕν) und τὰ ὁρώμενα (πολλά) und macht die μετάληψις zum Problem in zwei Stufen des χωρισμός. Übergang von der Exposition zur Γυμνασία: Vorblick auf die rechte Methode der Philosophie: Ideenlehre ist zu früh (unkritisch). – Der τρόπος τῆς γυμνασίας? Zunächst Beispiel: τὰ ὁρώμενα und τά, ἃ μάλιστά τις ἂν λόγῳ λάβοι.4 136a: Bestimmung der dialekt‹ischen› Methode: Hypothesis des Seins und Nichtseins. Rolle der Negation. |136a Dialektische Methode und das Gegenteil! Wie ein Beispiel wird die Hauptfrage des Dialogs wieder aufgenommen: Vieles (Vieles selbst in Bezug zum Eins und zum Vielen, und das Eins in Bezug auf sich und das Viele) als seiend – und als nichtseiend, was dann dem Vielen und Einen in bezug auf sich und aufeinander zukommt. M. a. W. der äußerste Horizont der ontolog‹ischen› Besinnung ist Sein und Nichtsein. Ӓhnliches ist oder ist nicht, Voraussetzungen in bezug aufeinan­ der, das Vorausgesetzte und das Übrige [Zusammenhang aller phi­ los‹ophischen› Fragen]. – Unähnlich, Bewegung, Ruhe, Entstehen, Vergehen, Sein und Nichtsein. [Gesamter ontologischer Entwurf.] 137c: Γυμνασία: Thema ist ἕν. ἕν und πολλά. Also das Grundproblem. Zunächst 1. These: das ἕν weder ein Ganzes noch Teile (vgl. die erste Aporie: das, womit dort argumentiert wurde, kommt jetzt zur 486

‹Notizen und Dispositionen: Parmenides 137c–162b›

Prüfung). 2. These: τὸ ἕν: weder Anfang noch Ende, also unbegrenzt. D. h. ohne Gestalt (weder rund noch gerade). 3. These: τὸ ἕν nir­ gends, weder in einem anderen noch in sich selbst. a.) Drinsein in einem anderen, b.) Inmittensein von Umgebenden. Umgebendes und Umgebenes: Zerspaltung des Eins in Zwei. Das „Eins“ ist ortlos. | 4. These: das „Eins“ kann weder bestehen („beharren“) noch wechseln. κίνησις: a.) Ortsbewegung b.) Veränderung a.) Veränderung aber ist unmöglich, weil es dann nicht mehr eins (= ein­ fach) ist. b.) Ortsbewegung α) Drehung auf der Stelle β) Stellenwechsel Drehung setzt Mitte und Außenrand, also Teile voraus. – Also unmöglich. Stellenwechsel: jeden Zeitmoment eine andere Stelle. Es kann in nichts/in Etwas sein und es kann in nichts/in Etwas hineinkommen. Wieso? Hinein­ kommen ist teils drin, teils draußen; also teilhaft!! Das Eins als unbeweglich. Auch kein Bleiben. Keine Ruhe und steht nicht.

‹Notizen und Dispositionen: Parmenides 137c–162b› |51. Gang: das ἕν = ἕν 2. Gang: ἕν und ὄν (ἔστι) 3. Gang: ἕν und ὄν und μὴ ὄν ἕν-ὄν und ἕν-μὴ ὄν Die Γυμνασία: Parmenides nimmt seine ὑπόθεσις als Thema „περὶ τὸν ἑνός, εἴτε ἕν ἐστιν εἴτε μὴ ἕν …“6. Diese ὑπόθεσις ist die Grundfrage des Dialogs (Einheit des Seins – gegenüber der Vielheit des Seienden). 137c–142b7 I. Gang: 1. These: τὸ ἕν = keine Teile und kein Ganzes. (Vgl. die 1. Aporie der Ideenkritik: dort εἶδος-Dinge als ἕν-πολλά als ὅλον-μέρη. Also Prüfung der dortigen „operativen“ Argumente). – Positiv formuliert: τὸ ἕν = ἄπειρον (ἄνευ σχήματος) 2. These: τὸ ἕν = nirgends, weder in einem anderen, noch in sich selbst. οὐδαμοῦ! a.) Drinsein in einem anderen. b.) Umgebensein vom Umgeben­ den. Das ἕν ist a-topisch. (Vgl. die 2. Aporie der Ideenkritik: topische Bestimmung des εἶδος, bei den vielen Dingen. Dort Problem der μετάληψις 487

‹Notizen zur Übung „Platons Parmenides“›

als Frage nach dem Bezug des Bei-seins des εἶδος beim Einzelding‹)›. (Vgl. die topischen Vorurteile in der Ideenkritik!!) 3. These: τὸ ἕν = weder stehen (ἑστάναι) noch bewegtsein (κινεῖσθαι). Φορά und ἀλλοίωσις = μόναι κινήσεις

ɈɜɋɄɐɇɑ

a.) Veränderung ist unmöglich, weil es dann nicht mehr eins ist (= einfach). b.) Ortsbewegung ist unmöglich, 1.) Drehung im Kreise (Mitte–Rand = Teile) 2.) Platzwechsel: kann nicht in etwas sein und noch weniger in etwas hineinkommen. ɒઁ ਪɋ also unbeweglich

στάσις : τὸ ἕν = οὔτε ἡσυχίαν ἄγει οὔθ᾽ ἕστηκεν.8 4. These: τὸ ἕν = weder ταὐτόν, noch ἕτερον, also weder Selbiges, noch Verschiedenes in bezug auf sich und auf ein anderes. 1.) Nicht selbig mit einem anderen. Nicht verschieden von sich 2.) Nicht verschieden von einem anderen. Das Eins hat kein ihm zugeordnetes Gegenteil. Auch nicht selbig!! Die Natur des Eins ist | nicht selbig mit der Selbigkeit. Warum? Weil Selbigwerden nicht gleich Einswerden ist. Z. B. Selbigwerden mit vielem! τὸ ἕν ist verschieden vom ταυτόν. 5. These: τὸ ἕν = weder ähnlich noch unähnlich weder sich noch einem anderen. Ӓhnlichkeit setzt irgendeine Selbigkeit voraus. Unähnlichkeit setzt irgendeine Verschiedenheit voraus. 6. These: τὸ ἕν = auch nicht gleich (ἴσον und ἄνισον). ἴσον ist = von selben Maßen sein. Maße: größer und kleiner. Ohne Maß: weder sich selbst gleich noch einem anderen, weder größer noch kleiner als es selbst noch als ein anderes (vgl. die Kritik der Ideenlehre: wo das Paradox auftrat, daß die Dinge durch die Hinzufügung des eidos der Kleinheit noch kleiner werden als das Kleine an ihm selbst). 7. These: τὸ ἕν = weder älter noch jünger, keine Gleichheit und Ähnlich­ keit der Zeit. [Zeit angesetzt als In-der-Zeit-sein!!] Aporie der Zeit: das Ӓlterwerden = Jüngerwerden. Werden? Ӓlter werden ist nicht älter geworden sein, ‹älter› sein werdend, älter sein, sondern Ӓlter-werden. Ӓlter werden ist in bezug auf Jüngeres, ist älter werden als … Im Altern ist das ἅμα des Ӓlteren und Jüngeren. In-der-Zeit-sein = 1.) verschiedene Zeit haben, 2.) gleiche Zeit haben 8. These: Sein = InderZeitsein. Als nichtinderZeitseiend ist das ἕν nicht. οὔτε ἕν ἐστιν οὔτε ἔστιν9 (Differenz von Sein und Eins, ὄν und ἕν). 9. These: τὸ ἕν: weder ὄνομα, noch λόγος, noch ἐπιστήμη, noch αἴσθησις, noch δόξα. 488

‹Notizen und Dispositionen: Parmenides 137c–162b›

|Wir stehen in der Auslegung der 4. These des 1. Ganges der Γυμνασία. Zuerst: τὸ ἕν nicht selbig mit einem anderen, nicht verschieden von sich, dann aber: nicht verschieden von einem anderen, nicht selbig mit sich. Warum nicht verschieden von einem anderen? Das ἕν ist kein Gegenteil. Wieso nicht selbig? Die Natur des Selbigen ist nicht selbig mit der des ἕν. Selbigwerden ist nicht = Einswerden. τὸ ἕν „verschieden“ von ταὐτόν. 5. These: ὅμοιον und ἀνόμοιον? = ποιόν 6. These: ἴσον und ἄνισον? = ποσόν 7. These: Die Aporetik der Zeit ist die zentrale. a.) τὸ ἕν weder älter noch jünger noch gleichaltrig; b.) weil es sonst Gleichheit und Ӓhnlichkeit der Zeit an sich haben müßte; oder Ungleichheit und Unähnlichkeit; c.) kann nicht in der Zeit sein (ἐν χρόνῳ); d.) Das In-der-Zeit-sein = Ӓlterwerden als es selbst; e.) dies ist = zugleich Ӓlter- und Jüngerwerden. Wieso? f.) Schwierigkeit des Werdens – Gegenbegriff zum Sein?? g.) Das Werden weder In der Zeit-Sein In der Zeit = noch In der Zeit-Werden Zwei Vorgänge in der Zeit sind gleichzeitig oder verschiedenen Alters. Die philos‹ophische› Fragestellung kommt nun ‹dadurch› zustande, daß in einem Vorgang, dem Ӓlterwerden, Jünger-Ӓlterwerden und Gleichaltrig­ sein drin steht.10 |9. These weder Sein, noch ‹bricht ab› 10. These noch denkbar, noch wißbar 2. Gang: Der erste Gang, rein thesenhaft gesehen, war ein Absprechen: weder–noch der zweite Gang: sowohl–als auch |Der 2. Gang der Γυμνασία: Thema ἕν εἰ ἔστιν. Wenn das Eins ist. Im 1. Gang war das Eins entwickelt gegen das Viele. Vieles = Teile, Ganzes, Anfang, Ende, Ort und Stelle, Bewegung und Ruhe, Selbiges und Verschie­ denes, Ӓhnliches und Unähnliches, Maßbestimmtes, InderZeitseiendes = Seiendes, Nennbares, Gegenstand für λόγος, ἐπιστήμη, αἴσθησις und δόξα. 489

‹Notizen zur Übung „Platons Parmenides“›

Was ist all dies? = Die ontologische Auslegung der Seiendheit von Seiendem. Das ἕν nach dem ersten Gang ist kein Seiendes: ὄν oder εἶναι? Gegen das Viele abgegrenzt ist das ἕν: das unsagbare Sein. Die onto­ log‹ische› Explikation bewegt sich im „umgängigen“ Verstehen des „ist“. Diese Voraussetzung kommt im 2. Gang ans Licht. ἕν und εἶναι. Wenn das ἕν ist, so Teil und Ganzes, verschieden und unähnlich, Vielheit (Zahl). Die 2. Erörterung bringt das sowohl als auch Eins–Vieles, Ganzes–Teil, begrenzt–unbegrenzt, in sich selbst als auch im anderen verschieden und nichtverschieden sowohl zeitlich: älterwerdend und jüngerwerdend und damit seiend. Der 3. Gang: steht auf der Voraussetzung des 2. und 1. Ganges. I.

Das ἕν ist nicht und das ἕν ist seiend. Eins – Sein – Nichtsein und – Zeit Zeitinterpretation des Übergangs (ἐξαίφ‹νης)› II. Das „Andere“ a.) erhält die Sowohl-als-auch-Prädikate, die im 2. Gang das ἕν erhalten hat b.) die Prädikate, die das ἕν im 1. Gang erhalten hatte. |III. Wenn das ἕν nicht ist: dann kommt ihm doch zu a.) Vielerlei, Unähnlichkeit, Ungleichheit, Größe, Kleinheit, auch im „Sein“, das Sein des Nichtseins b.) dem nichtseienden Eins kommt zu Veränderung und auch nicht, Vergehen und auch nicht. IV. Wenn das ἕν nicht ist, was ist mit dem Anderen‹?› a.) es ist erscheinend als eines und vieles, als begrenztes und unbe­ grenztes usw. b.) und es erscheint nicht als eines und vieles usf. Welches ist die eigentliche philos‹ophische› Problematik dieser Γυμνασία? Die ontolog‹ische› Prüfung zeigt 1.) die Implikation des Seins. Der 1. Gang zeigt die Unerreichbarkeit des Einen. Der 2. Gang zeigt das transz‹endentale› Problem von ὄν und ἕν; das Problem von Sein und Werden. Der 3. Gang das Problem von Sein und Schein. Wir konfrontieren die Zeitinterpretationen des 2. und 3. Ganges: der 1. Gang hat die Problematik der Zeit als des InderZeitseins entwickelt und den Unterschied von InderZeitsein und InderZeitwerden entwickelt. Werden als das gleichsam Unfassbare? Im 2. Gang kommt eine Interpretation des 490

‹Notizen und Dispositionen: Parmenides 137c–162b›

Werdens, als Halten im Jetzt. Resultat: das Eins ist und wird jünger als es selbst und das andere insgesamt und wird und ist weder | älter noch jünger als es selbst oder das andere insgesamt. Die Zeitinterpretation des 3. Ganges: 155e, 4: wenn ἕν ist, dann μέθεξις τοῦ χρόνου. Wenn ἕν nicht ist, keine μέθεξις τοῦ χρόνου. Zu verschiedener Zeit kann es das Sein an sich haben (Satz vom Wider­ spruch!) Sein annehmen = γίγνεσθαι |Der 3. Gang: basiert auf der Voraussetzung des 2. und 1. Das Eins und das Sein. Das Eins und das Sein und Nichtsein, und der Horizont der Zeit. Die Zeit also als die Voraussetzung für das Sein des ἕν (2. Gang) und das Nichtsein des ἕν (1. Gang). Eine Zeit, wo Sein zunimmt und abläuft. Werden-Vergehen. Augenblick ἐξαίφνης. Problem des Übergangs Der 3. Gang‹:› das Andere als das Eins [τὰ δοκοῦντα?] a.) Im 3. Gang erhält das Andere die Sowohl-als-auch-Prädikate, die im 2. Gang das ἕν erhalten hat. b.) Nicht Vieles, nicht ähnlich, noch unähnlich, weder bewegt noch ruhend, weder größer noch kleiner, die ἕν Prädikate des 1. Ganges für das Andere. c.) Wenn Eins nicht ist: hat es kein Sein, aber Vielerlei, Unähnlich­ keit, Ungleichheit, Größe, Kleinheit, Gleichheit, auch ein „Sein“ (das ‹bricht ab› |1. Unterschied von ἕν und εἶναι (resp. οὐσία); Teil und Ganzes. Das seiende Eins und zwar jeder Teil wiederum ist seiendes Eins und Eins des Seien­ den usw. Seiendes und Eins halten sich (transz‹endentales› Problem von ὄν und ἕν) unendlich der Menge nach 2. Verschieden und andersartig 3. Zahlhaftig (Vielheit) 4. Sein verteilt ins Viele, das Einzelne zerstreut und unganz Auch das Eins ist zerschnitten Eins = Eins und Vieles, Ganzes und Teile, begrenzt und unbegrenzt, sowohl in sich selbst als in einem anderen sowohl bewegen als ruhen sowohl verschieden als nicht verschieden sowohl verschieden von anderen und von sich selbst als auch einerlei mit anderen und mit sich selbst sowohl ähnlich als unähnlich 491

‹Notizen zur Übung „Platons Parmenides“›

5.

sowohl sich selbst als dem anderen gleich (ἴσον) und größer und kleiner an Maßen. Zeitinterpretation des 2. Ganges.

|τὸ ἕν? Nicht die Zahl „1“, sondern die ontolog‹ische› Vorstellung: das Seiende ist eins. τὸ ὄν = ἕν. Im 2. Gang der Γυμνασία kommt diese Voraussetzung des 1. Ganges ans Licht. Einsheit des Seins – Vielheit des Seienden? Ontolog‹ische› Differenz! – Sokrates begreift in der Ideenlehre die Einsheit des Seins gegenüber der Vielheit des Seienden (Ideenlehre denkt nur das Was-Sein). Das Verhältnis von Sein und Seiendem in der Ideenlehre in ontolog‹isch› undurchsichtigen, ungeprüften Vorstellungen gedacht. |Das Eins (τὸ ἕν) ist: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

weder teilhaft noch ganz nirgendwo, weder in einem anderen, noch in sich weder sich verändernd, weder bewegt (weder Selbstdrehung, noch Platz­ wechsel), noch stehend weder verschieden noch selbig weder ähnlich, noch unähnlich weder gleich an Maß, noch verschieden an Maß (ποσόν) weder älter noch jünger nicht „seiend“ nicht denkbar und nicht sagbar

Das Eins ontologisch durchdacht gegen das Viele = 1. Gang der Γυμνασία. 2. Gang: wenn das Eins ist: Teil und Ganzes |Noch drei Stunden: wir müssen daher in einer Konzentration auf die wesentlichen Gedanken des Dialogs bleiben; anfallende Fragen, die nicht direkt mit der Sache zu tun haben, nach der Stunde; sie sollen nicht abge­ schoben werden. Ich möchte Sie bitten, die Konzentration mitzumachen. Wir stehen in der Γυμνασία. Sie hat 3 Gänge. ἕν und ὄν: diese beiden Begriffe werden Thema einer dialektischen Prüfung: ἕν und πολλά – ὄν und μή ὄν I. Gang: Wenn das ἕν ist …; das „ist“ wird operativ gebraucht; die thematische Prüfung bedenkt das ἕν und πολλά. ἕν als ἕν. II. Gang: ἕν als ὄν. III. Gang: ἕν als ὄν und μή ὄν.11 Der erste Gang besteht in einem Absprechen von Teile–Ganzes, von irgendwo, von Bewegung und Ruhe.12 492

‹Notizen und Dispositionen: Parmenides 137c–162b›

Wie ist der Aufbau der Absprechungen: Voraussetzungen von einan­ der??? |Wenn das Eins ist …, was ist das Eins? τὸ ἕν? Ist es die Zahl 1 gegenüber 2, 3, 4 usw.? Nein. τὸ ἕν ist ein ontolog‹ischer› Begriff. τὰ ὄντα? πολλά und ἕν: Einsheit des Seins? Die Prüfung des ontolog‹ischen› Gedankens des ἕν. τὸ ὄν = ἕν. Wir erinnern uns: Zenon polemisiert gegen die These von der Vielfalt des Seienden: das Seiende ist eins: These der Eleaten. Sokrates begreift die Einsheit als Einsheit des Seins gegenüber der Vielfalt der Dinge. Ideenlehre. (Ideenlehre aber denkt nur das Was-Sein.) Sokrates macht die Unterscheidung (ontolog‹ische› Differenz), aber er macht sie auf eine ontolog‹isch› undurchsichtige Art: die Weise, wie das Verhältnis von Idee und Einzelding gedacht wird, ist ungeprüft. |Das Naheliegende wäre, zu sagen, das ἕν ist selbig und ist verschieden von allem anderen. Platon zeigt zuerst das weniger Vermutete, daß es nicht verschieden von sich und nicht einerlei mit einem anderen. Aber auch nicht verschieden von einem anderen?? Das Verschiedene hat Gegenteil, aber nicht das Eins. Eins und Selbigsein. Unterschied von Selbigsein und Einssein? Selbigkeit und Einsheit!? |1. Das ἕν keine Teile und kein Ganzes; denn Teile sind Vieles. Ein Ganzes ist ein solches von Teilen. Keinen Anfang, keine Mitte und kein Ende = keine Gestalt. 2. τὸ ἕν: nirgends, weder in einem anderen, noch in sich. Drinsein = umgebensein = berührtwerden. Insichsein = sich selbst umfassen. Sich selbst umgeben: zweifachsein = Vieles. [Ist diese 2. Möglichkeit nicht ganz unsinnig? Ganzheitsvorstellung!! Das Ding ist bei Dingen, ein Ding als einziges gedacht enthält sich selbst???] 3. τὸ ἕν: weder stehen noch bewegtwerden: ἀλλοίωσις – φορά, – Kreisdrehung – Platzwechsel 4. τὸ ἕν: ‹bricht ab›

493

‹Notizen zur Übung „Platons Parmenides“›

|Exposition: εἰ πολλά ἐστιν 1. 2.

Ideenlehre und Aporetik Dialektik: ‹bricht ab›

Γυμνασία 1. Gang: ἕν = ἕν 2. Gang ἕν : ὄν 3. Gang ἕν : εἶναι καὶ μὴ εἶναι |ὑπόθεσις und ihre Exposition: ɂἰἔɐɒɇɋ   

ɒɇɎɏὸɑἑȽɓɒὸɋɈȽὶɎɏὸɑɒὸἐɋȽɋɒɜɍɋ ɒὸἐɋȽɋɒɜɍɋɎɏὸɑἑȽɓɒὸɋɈȽὶɎɏόɑɒɇ

ɒɇɎɏὸɑἑȽɓɒὸɋɈȽὶɎɏὸɑɒὸἐɋȽɋɒɜɍɋ ɂἰɊὴ ἔɐɒɇɋ   ɒὸἐɋȽɋɒɜɍɋɎɏὸɑἑȽɓɒὸɋɈȽὶɎɏόɑɒɇ

Also 8 Fragen: Formale Charakteristik der dialektischen Prüfung. Materiale Charakteristik ἕν – πολλά ὅμοιον – ἀνόμοιον κίνησις – στάσις γένεσις – φθορά εἶναι – μὴ εἶναι Dialektik: die ontologische Prüfung der ὑπόθεσις: Voraussetzung ist nicht irgendeine Annahme, keine ontische ὑπόθεσις, die beliebig und unüberseh­ bar sind, sondern eine ontologische Hypothesis; Hypothesis = Vorausset­ zung ist die Entwurfsnatur der ontolog‹ischen› Setzung. Das Vorausdenken der Verfassung des Seienden, der Wahrheit usf. (ὄν – ἕν – ἀγαθόν – ἀληθές). |Zeitaporie: Was älter wird als es selbst, wird zugleich auch jünger als es selbst!?? [μέλλει!]13 Ӓlterwerden ist zugleich Jüngerwerden!? wenn dieses Ӓlter­ werden geschieht in bezug auf etwas. Das Verschiedene ist verschieden. Werden ist weder gewordensein, noch seinwerdend, noch sein, son­ dern Werden. Das Ӓltere (das Ӓltersein) verschieden vom Jüngeren (Jüngersein). Ӓlterwerden ist nicht Ältersein, nicht Ӓltergewordensein und Ӓlterwer­ dendsein, sondern Ӓlterwerden. Verschieden-werden ist nicht Verschieden­ sein noch Verschiedenwerdendsein noch Verschiedengewordensein. 494

‹Notizen›

[Im Übergang!?] Ӓlterwerden ist ein Werden in bezug auf etwas. Altern ist Ӓlterwerden als … Ӓlterwerden als ist nicht Ältersein, ist nicht Älterge­ wordensein, noch ӓlterseinwerdend, sondern ӓlterwerdend als … Im Alter ist das ἅμα des Ӓlteren und Jüngeren!! | Ӓlterwerden und gleiche Zeit haben mit sich ‹bricht ab› InderZeitsein = 1.) verschiedene Zeit haben 2.) gleiche Zeit haben |Sein des Nichtseins. „Denn nur so kann das Seiende recht sein, als das Nicht­ seiende recht nichtsein, wenn dem Seienden das Sein des Seiendseins eignet und das Nichtsein des Nichtseiendseins, […] dem Nichtseienden aber das Nichtsein des Nichtseiend-Nichtseins und das Sein des Nichtseiendseins, […] Dem Seienden kommt ein Nichtsein zu und dem Nichtseienden ein Sein, so eignet auch dem ἕν (οὐκ ὄν) ein Sein, das Sein des Nichtseins.“14 Nichtsein.15 Übergang als Wechsel von Sein und Nichtsein. Das Eins als seiend und als nichtseiend Das nichtseiende Eins hat Wechsel. Kein Ortswechsel. Nichtseiende Eins verändert sich und auch nicht, wird und vergeht noch wird nicht und vergeht nicht. Nichtsein.16 Nicht ist als Abwesenheit des Seins. Nichtseiende Eins vergeht nicht, noch wird, weil es überhaupt nicht ist. Wenn das Sein nicht ist, was ist dann mit dem Anderen? | Wenn das Eins nicht ist, dann ist das Andere erscheinend, erscheinend als eins, aber es nicht seiend; ‹bricht ab› Vieles als erscheinend, Schein der Gleichheit. Ӓhnlichkeitsschein, Bil­ der aus Ferne. Jegliches andere als begrenzt und unbegrenzt, als eines und vieles erscheinen und nicht erscheinen, ist und nicht ist und scheint und nicht scheint.

‹Notizen› |Die Dialektik des Parmenides hat die Aufgabe, die ontologische Begrifflich­ keit als solche zu erörtern. Die eidē sind weder Begriffe, noch „hypostasierte Substanzen“, noch „Methoden“, sondern sind das Sein und nichts Seiendes. – Das Sein wird immer wieder „ontisch“, in „ontischen Modellen“ gefaßt, gedacht und damit scheitert das Denken. Dies ist seine echte Aporie. – Der Parmenides ist keineswegs die „vernichtende Kritik“ der Ideenlehre als eben 495

‹Notizen zur Übung „Platons Parmenides“›

ihre produktive Entfaltung: in die wahrhafte ontolog‹ische› Dimension, die spekulativ-„dialektisch“ ist. |Ӓhnlichkeit im „Seiendes-Sein“. Unähnlichkeit im Verschiedenes-Sein. Verschiedenes aber ist das Seiende, 1.) sofern es durchwaltet wird von Ӓhnlichkeiten regionaler Art ‹(›Pflanze-Sein, Tiersein, Menschsein usw. ‹)›; 2.) sofern es mehrzahlig ist.

|Seiendes-Sein Washaftsein Einzelnes-Sein

Diese dreifache Gliederung im Sein selbst wird exponiert durch ein Verhältnis, das dem Washaftsein zugehört! Analogia entis: ontolog‹ische› Begriffe.

|Ideenlehre 1. 2. 3. 4.

αὐτὸ καθ’αὑτὸ εἶδος – ὅμοιότης und ἐναντίον: τὸ ἀνόμοιον.17 Damit die Zweideutigkeit des ὅμοιον zerlegt in ὅμοιότης und ὅμοιον! Verhältnis des μεταλαμβάνειν zwischen Einzeldingen und Ideen. Problem der κοινωνία τῶν εἰδῶν verschärft als dialekt‹ische› oder spekulative Einheit der Gegensätze. Rückgang vom Ontischen zum Ontologischen. Rückgang von etwas, das eines ist und vieles (Mensch), auf das Einssein und Vielessein selbst!

|Die ontologische Vielzahligkeit des Seienden. Die Ӓhnlichkeit aller Dinge als „seiender“ ist der Grund der Verschieden­ heit der Dinge als ähnlicher und unähnlicher (als regionaler). Die ontologische Ӓhnlichkeit ermöglicht die Unähnlichkeit der ähnli­ chen, in Was-Bereichen zusammengefassten Dinge; sie ist der Boden, auf dem erst so etwas wie das Ӓhnlichsein von Dingen, das zugleich ein Unähn­ lichsein gegenüber anderen was-bestimmten Dingen ‹ist›, möglich ist.

496

‹Notizen›

|Eines und Vieles Sein Wassein (regionales Wesen)

២hnlichkeit und Unähnlichkeit

Steine – Pflanzen – Tiere ២hnlichkeit eidos18 |1. Das Problem des Einen und Vielen bezogen auf das Seiende (τὰ ὄντα) (die Eleaten-Lehre von ἓν καὶ πᾶν) [Ist dies eine Einheit des Seins??] 2. Das Seiende zugleich ähnlich und unähnlich Ӓhnlichkeit = im Seiendsein [Sein] Unähnlichkeit = im Seiendsein = Nichtigsein [Nichts] 3. Sokratesʼ These: Ӓhnlichkeit und zugleich Unähnlichkeit in bezug auf ein Seiendes, genommen als Einssein und Vielessein eines Seienden kein Problem (!!). Dies möglich, sofern ein Seiendes (= ein Ding) teilhat an verschiedenen eidē. | Aber das wäre wunderbar, wenn Ӓhnlichkeit selbst Unähnlichkeit wäre, wenn Eins = Viele und das Viele = Eins wäre. (Dialektische Gleichung!) 4. Parmenides greift das an, was Sokrates nicht verwunderlich findet, die Teilhabe des eidos an den Einzeldingen, und setzt dies als ein Problem des Einen und Vielen, die eine Idee und die vielen Einzeldinge. (Dies wird der Weg, der zur Beantwortung der Frage des Sokrates führt). |‹…› Ӓhnlichkeit und Unähnliches Existenz Wenn das Seiende Vieles ist, so gibt es viele Dinge mehrzahliges Gleiches oder gibt es vielerlei Seiendes? Vielerlei! (Gegen Mehrfaltigkeit). Vielerlei = d. i. Verschiedenes: Häuser, Bäume, Wolken, Tiere, usw. = Ähnliches und Unähnliches Als Seiendes ist das Seiende ähnlich Als Je-ein Wassein ist ‹das› Seiende unähnlich

Zugleich ähnlich und unähnlich!

|Schärfer: Das Sein ist zwiefach genommen: als Existenz und als Essenz. Mit dem Unterschied von ‹bricht ab›

497

‹Notizen zur Übung „Platons Parmenides“›

1)

τὰ ὄντα? πολλά = Vieles = mehrzahlig? Eines und das Andere. Man­ nigfaltigkeit! Selbstheit, Gleichheit – Verschiedenheit, Ähnlichkeit – Unähnlichkeit. 2) Existenz – Essenz19 |Idee – Seiendes – Sein Wassein – Daßsein – usw. Im Parmenides kommt der ontologische Entwurf Platons, seine Kenn­ zeichnung des Seins des Seienden als Idee, ursprünglich in die Bewegtheit des Problems zurück. |G. Krüger applaudiert der im Wesentlichen von Natorp ausgehenden Deutung, als wäre in den dialektischen Dialogen an die Stelle der myth‹olo­ gischen› eine „logische“ Auffassung der Ideen getreten! Und dies ist ganz falsch. „Dialektische“ Dialoge sind der Höhepunkt des ontologischen Den­ kens Platos, in denen er die Abkehr von der ontischen Auffassung der Idee vollzieht. – Idee und Zahl: dieses Problem der platonischen Spätphilosophie muß begriffen werden von der Problematik der „ontolog‹ischen› Diffe­ renz“ aus!!! |Eins und Vieles. ὄν und ἕν : Sein und Werden. κίνησις (Bewegung als ontologische Bewegung ist das Werden). |Das Grundproblem des Parmenides ist das Problem von Sein und Eins = Sein und Werden = Sein und Zeit = Sein und Bewegung = Kosmologie Die Dialektik als der Vollzug der ontologischen Bewegung |Seiendes = Vieles, so gibt es ähnliche und unähnliche Dinge. ähnlich, sofern sie seiend sind Existentia unähnlich, sofern sie mehr sind als eben nur seiend

Essentia

ähnliche und unähnliche Dinge aber sind, = kommen überein im Wasgehalt, zu sein.

|Kritik der ontolog‹ischen› Vorstellungen, die „im Gebrauch“ sind. |Sokratische Periode. Dialektische Spätdialoge (Pythagoreer) ἀρετή – εἶδος

498

Beiläufiges. Zur Vorlesung über Grundfragen der antiken Philosophie ‹WS 1947/48›

|1. Stunde: das Verhältnis zur Philosophiegeschichte als ein Problem 2. Stunde: Wir und die Griechen: das Griechenbild; Griechen eine Wur­ zel des Abendlandes; andere Mächte sind unser Dasein beherrschend: Technik. Die Wissenschaft 3. Stunde: Die griechischen Begriffe von „Philosophie“! a) 6 Bedeutungen b) Platons Bestimmungen des Philosophen im Sophistes, Theaetet, Sym­ posion, Phaidon, Symposion – bis zum 7. Brief c) Aristoteles. Begriff der Philosophie. Metaphysik A d) Aristoteles’ Bericht über die Anfänge der Philosophie. Met. A. Keine Doxographie 4. Stunde: Die archē: Thales, Anaximander, Anaximenes, Pythagoreer 5. Stunde bis 15. Stunde: Heraklit 15.–25. Stunde: Parmenides 25.–30. Stunde: Sophistik und Sokratik |(1) Parmenidesʼ Lehre vom Schein (2) Rückblick über den Gang der Vorlesung (3) Schlußworte (3) Was ist die Wiederbegegnung mit dem archaischen Denken? Ist dies eine „Wiederholung“, die wir noch leisten können? Aber stehen wir noch in der „Erfahrung“ von „Einsheit von allem, was ist“? Der Anfang ist nicht abgetan. Nie wurde ursprünglicher gedacht als in der Morgenhelle der Philosophie. Wir können Kenntnis nehmen und nichts verstehen. Oder ist es eine Möglichkeit unseres Daseins, hinter den weltlichen Dingen noch den Ein­ heitsgrund zu denken, nicht im ziellosen unbestimmten ahnungsvollen Gefühle, aber im Denken ‹bricht ab› Das Namenlose zu denken. Das Namenlose und ihm Raum zu geben. Ontologie als die Bemühung, das Seiende in seinem Sein zu denken und zu entfalten und zuvor und ursprünglicher, das Sein in sich selbst zu denken und das Namenlose, das keinen Namen braucht, weil es immer sich ins Werden wirft und immer scheint. 499

Beiläufiges. Zur Vorlesung über Grundfragen der antiken Philosophie

|Schlußgedanken: Die Darstellung war Interpretation und damit ein Risiko, wenige Denker nur haben wir kennengelernt, aber die Eigenart der vormetaph‹ysi­ schen› Sprache der Philosophie. Mehrdeutigkeit des Ausdrucks „Ontolo­ gie“. Von Anaximander zu Parmenides vollzieht sich eine Entfaltung der Grundfragen der Philosophie. Der Weg des Geistes ist der Weg der Philosophie1 Sein und Werden

}

Welt und die Vereinzelung

Sein und Schein

Sind wir geborgen bei aller Ausgesetztheit der menschlichen Existenz in die unendliche Weite des Seins? Das Namenlose, aber Allanfangende. Eine Weise der Existenz, die im Ganzen war und noch ni‹cht› verkapselt im Selbst, sondern in der Freiheit ‹bricht ab› Das Namenlose haust im Sagen des Menschen und hat dort seine Wohnung und sein Schicksal. |Der 2. Teil des Lehrgedichts ist auf den ersten Blick einfacher und leichter zu verstehen. Vor allem in der üblichen Weise der Auslegung. Er soll die unwahre Welt zeigen, die gewöhnliche Ansicht der Sterblichen. Die Göttin sagt dem Denker die Irrtümer der Menschen: die Wahnwelt. Diels: Hypo­ these, wie es wäre, wenn es wahr sein könnte. Reinhardt: die göttliche Wahr­ heit über den Wahn. Aber es ist überhaupt keine Wahnwelt, keine Illusion oder Trugwelt. Es ist die Welt, die Menschenwelt, das Menschenland. Hier vom Menschen aus gibt es Werden, Entstehen und Vergehen, hier ist das Reich der Gegensätze; aber dieses hat im Ganzen kein „Sein“. Das Sein in sich ist ganz und eins, und hier beim Menschen steht das Viele, das nicht ist, nicht in seiender Weise ist. Aber das Sein „scheint“. Die Welt ist der Schein des Seins, das Aufgegangene des Grundes. Der Schein des „Seins“: wie Schein der Sonne. Der Schein und das Wogegen (Erde, Dunkel). Das Seiende das Nichtseiende Das Menschenwesen ist das Feld des Scheins; der Mensch als der Nennende, der Sager der Dinge. |Wesen der Δόξα und das Nennen. Was ist das für ein Zusammenhang? Ist es nur Konvention, daß die Menschen benennen, und sagen sie Wahnge­ bilde, während es weder Werden noch Vergehen noch Menschen gibt? Der Mensch, als Denker, steigt aus dem Namen-Land auf ins Namen­ lose, zum Sein selbst, dem nur in Σήματα zu denkenden; hieraus, aus dem 500

Beiläufiges. Zur Vorlesung über Grundfragen der antiken Philosophie

Feld des Vielen, des Erscheinenden und Vereinzelten, Vergänglichen, denkt er in die archē: in das eine und wohl „runde“ Sein; die Menschen aber nennen; Sprache ist die Auszeichnung des Menschenwissens, das Nennen, das Sagen und Aussprechen, ist gerade das Verstehen von „Sein“: aber eben das im Schein Befangene, das dem Blick und dem Gehör vertraut und zwischen Sein und Nichts nicht scheiden kann: δίκρανοι. Δόξα und Rede? Die Δίκρανοι und die Rede und die Δόξα! |Bei Parmenides und Heraklit war noch die Offenbarkeit für das Sein selbst: das Wissen um seine nächtige Verschlossenheit und um den Anfang der Lichtung aus der Nacht. Bei Platon ist das Sein schon im Offenen der Welt: aber noch gefaßt als die wesende Seinsmacht (Idee), die allen Dingen Erscheinen gewährt und doch bei aller Parusie durch den Chorismos bestimmt bleibt. Bei Aristoteles wird das Sein zum Sein des Seienden, wenngleich auch er das Ding als ἔργον der ἐνέργεια begreift. Ontologie bei Parmenides und Heraklit ist bezogen auf die innere (transzendentale) Einheit von Sein und Schein, Sein und Werden: in beiden Bezügen wird der Weltaufbruch des Seins, die Weltung des Seins, das „Weltspiel des Seins“ gedacht. Bei Platon ist Ontologie die Auslegung der Seinsgedanken, (des Σοφόν), welche die Welt durchwalten (als das Eigentlich-Lebendige); die Ideen sind ‹keine› starre‹n‹ Ordnungen von Urbildern, sondern „leben“, sind in einer eigentümlichen κίνησις, sind ζῷα ἀεὶ ὄντα (Lichtmächte). Bei Aristote­ les ist Ontologie kategoriale Seinsauslegung der Dingheit. |(1) Parmenides’ Lehre vom „Schein“ (2) Überblick über die Vorlesung: die Grundfragen Terminus „Ontologie“ Abbau der „Metaphysik“ (3) Schlußworte: Was ist die Aufgabe?2 |Gespräch mit Dr. Ochoner: Anlässlich des „Enthusiasmus“: humanisti­ scher Begriff der Religion; Philosophengott; die Rezeption der antiken Philosophie in der christlichen Theologie; Transzendentalienproblematik, „theologische Differenz“; Frage: ist die vorchristliche antike Philosophie nachchristlich zu wiederholen? der Rückgang in die Fragen der Griechen ist keine gelehrte Angelegenheit, sondern eine des Philosophierens, das in menschlichem Abstand zurückbleibt.

501

Beiläufiges. Zur Vorlesung über Grundfragen der antiken Philosophie

|

Philosophiegeschichte ist nicht bloß die systematische Kenntnis der über­ wundenen Theorien, sondern eine Gleichzeitigkeit aller großen Philoso­ phien. Die heutige Philosophie und ihr „Recht des Lebenden“?? |Gang der Vorlesung (1)

Antiker Begriff der Philosophie? Disziplinen: Physik, Logik, Ethik? Σοφός, Σοφιστής, Φιλόσοφος?? Vgl. Hegels Deutung des Φιλόσοφος (οἰνόφιλος) (2) Platons und Aristoteles’ Philosophiebegriff (3) Aristoteles: Met. A (4) Aristoteles’ Begriff der αἴτια καὶ ἀρχαί: 4 „Gründe des Seienden“. Dies als Vorwegnahme der 4 Grundprobleme (5) Ungeschiedenheit des „Grunds“. Φύσις als Grund. Grund und Erde, das Tragende (6) Thales’ „Grund“: ‹das› Einfache |(7) Anaximander. „Eine und Viele“. Apeiron als das Sein (die Φύσις und das Sein) (8) Pythagoras: Zahl?? (9) Heraklit (10 Stunden) (10) Parmenides (10 Stunden) (11) Übergang zur Sophistik und Sokratik3 Sommersemester 1948: Platon. Wintersemester 1948/49: Aristoteles |(1) Die Untersuchungen über das Sein, das Werden, die Bewegung, die Zeit, den Raum, die sind nie geistesgeschichtlich zu verstehen, sondern erfordern eine eigene Weise der geschichtlichen Klärung. Das Sein ist. (2) Sein und Schein, Sein und Zeit, Sein und Eins, Sein und Bewegung, Sein und Nichts |Φύσις = Gegenbegriff zu Νόμος. Φύσις = φύειν = wachsen, aufgehen. Physis: das Aufgehende. Φύσις und Φάος (Φῶς)? |Ganz wichtiger Gedanke: (1) Naturbegriff der Freiheit, der Mensch als Freiheit bleibt Naturwesen. Seine Freiheit ist keine absolute, sondern endliche, naturbedingte und naturgetragene. Die Unterscheidung des Menschen von der Natur, 502

Beiläufiges. Zur Vorlesung über Grundfragen der antiken Philosophie

seine „Übersteigung“ darf nicht als Entkommen, sondern ‹muss› als Entspringen verstanden werden. (2) Das „Scheinen“ ist primär nichts Negatives, vor allem nicht „erkennt­ nistheoretisch“ abschätzig zu fassen: Scheinen ist das Hervorkommen des Seienden, das Sichzeigen, das Hervortreten. „Scheinen“ = im Lichte stehen; Scheinen ist die Weise des Seins, das sich zeigt. |1. Ursache-Anfang. Metaphysik 2. Metaphysischer Begriff des „Anfangs“ 3. Thales: physis Hegels Urteil von Aristoteles her! Die ontologische-metaphysische Interpretation des Grundes 4. Die Gründung des Seienden als solchen 5. a) Anaximander b) Heraklit c) Parmenides Versuch, wie weit uns das Verständnis trägt, das ‹bricht ab› |Die Seiendheit des Seienden begriffen am Denkbild der 4 Gründe Das Seiende = etwas, das aus etwas besteht Zeitschema des ‹…› = das eine Natur, ein Wesen hat ਫ਼πɍɈɂɜμɂɋɍɋ ɒᛂ ɒᚷ ਷Ȟ ɂᚮɋȽɇ = das in Bewegung ist (ɀᚒɋɂɐɇɑ) ɈᚶɋɄɐɇɑ = das ‹bricht ab› Einheit der Bewegung (Bröcker – Heidegger). Problem der 4 Grundfragen der Metaphysik (ens – verum – unum – bonum) (4) Aristoteles’ philos‹ophische› Konstruktion der Philosophiegeschichte. Φυσιόλογοι: Thales, Anaximander, usw. ὕλης εἴδει, am Modell der hyle4 Die Φυσιόλογοι als Denker, die das zunächst Scheinende überfragen auf das Zugrundeliegende. Offensein für den Unterschied des Gewordenen und des Ur-grunds. Entscheidend ist die innere Differenzierung der Seinsvor­ stellung: Vieles, Eins, Gewordenes, Zugrundeliegendes. Wir hantieren mit diesen Unterscheidungen und sehen von da aus geringschätzig auf die alten Denker, aber das Wesentliche ist die Ausbildung dieser begrifflichen Grund­ vorstellungen.5 (5) Tragweite der aristotelischen Kritik: er nimmt die φύσις wie ein Ding. Metaphysischer Begriff und das Sein (6) Ausblick auf Anaximander6 |οὐσία – τὸ τὶ ἦν εἶναι = Sein und Nichts7 503

Beiläufiges. Zur Vorlesung über Grundfragen der antiken Philosophie

Bröckers Interpretation ist metaphysisch. Sein und Schein8 Ens-nihil – ὕλη – ὑποκείμενον Sein (– Nichts) Ens-verum – οὐσία – τὸ τὶ ἦν εἶναι Sein und Denken Ens-unum – ὅθεν ἡ ἀρχὴ τῆς κινήσεως Sein und Werden Ens-bonum – οὑ ἔνεκα – ἀγαθόν Sein und Schein |Motive (1) Seiendes (als Ding): τὸ ὄν Seiendes im Ganzen: εἶναι Wichtig für den Begriff der Φύσις! Ist diese ein Ding oder das Sein (ἓν καὶ πᾶν)? (2) Aristoteles’ Auffassung der Gründe? Ist sie tragend für die Seinsauffas­ sung der Φυσιόλογοι??? Ἀλήθεια: ὀρθότης (3) Das Werden (γένεσις): das Sein im Horizont der Gewordenheit ist etwas völlig anderes als ein Gewordensein der Φύσις (keine creatio). Sein und Zeit |Rücklegung des späteren ontologischen ‹bricht ab› Das ἀρχή- αἴτια-Problem ist eine Auffassung des Seienden und der Zeit. Modell-Gedanke: das Anfangsein des Dinges wird zum Modell für das Anfangsein des Seienden (aus dem Sein). Ontische und ontologische Gene­ ration!! |Entscheidend ist, daß hier alle ontologischen Gedanken noch im Fluß sind, daß kein ontologisches Verhältnis „feststeht“, stillliegt! |Was heißt griechisch das Werden? γένεσις meint zunächst das Werden von etwas, das Werden von etwas an etwas; aber zunächst nicht jenes Werden, das in eins Entstehen und Vergehen ist, nicht den ontologischen Begriff des Werdens. |Aristoteles’ Begriff der Φύσις ist bestimmt durch die κίνησις. Ursachen des von Natur aus Seienden |Bestehen Bestehen als Beständigsein Bestehen aus … Be-Stehen (Draufstehen) Bestehen einer Gefahr Befehden |Die 3 Wege des Parmenideischen Lehrgedichtes sind in ihrem Zusam­ menhang unbegriffen. Der Weg der doxa? Ist dies eine Ansicht neben der eigentlichen Ansicht, oder? Problem des Seins des Scheins! Schein des Seins. 504

Beiläufiges. Zur Vorlesung über Grundfragen der antiken Philosophie

|Die Zweideutigkeit, ob Ding oder die Φύσις gemeint ist mit der οὐσία ὑπομενοῦσα καὶ μεταβαλλοῦσα, ist eine höchst bedeutsame Sache. Das „apeiron“ ist das Sein, das Unbegrenzte, Gestaltlose und ohne Umriß. Das Sein ist das Nichts als Unbestimmtes. Die Verschuldung der Dinge, die in der Zeit springen aus dem Urgrund heraus Sein → Seiendes. „Pantheismus“ ist die tiefe Einsicht in das Ureine: das Sein. |8. Stunde Das Wasser ist die οὐσία ὑπομενοῦσα καὶ μεταβαλλοῦσα, das Substrat9 des Werdens der Dinge. Das Wasser vertritt die all-umfangende Φύσις. Näher scheint uns der Grund zu l‹i›egen, der Boden. Warum Thales das Wasser? Aristoteles gibt an als Motive: a) Erde auf dem Wasser b) Alles Lebendige nährt sich aus Feuchtem. „Woraus alles wird“ ist Prinzip!! c) Same aller Dinge feucht Aristoteles setzt einen Zusammenhang mit den theologēsantes. Okeanos, Tethys. Eidschwüre: „Styx“, das Ehrwürdigste = Älteste Aufliegen auf Wasser

Nähren aus Wasser

Alle diese Arten zeigen,

Same aus Wasser

daß es kein Chemie-prinzip ist.10

Eidschwüre beim Wasser 6) Anaximenes = Luft, Heraklit = Feuer, Empedokles = 4 einfache Körper (Erde). Diese beharren ständig, ‹…› Vielheit, Wenigkeit. Der Zusam­ menhang ist Verbindung und Trennung: Das Zugrundeliegende meh­ rere11 Φύσεις. Damit der Mittelbegriff zwischen Φύσις und Ding. Anaxagoras Homoiomerien unbegrenzt Schema des Zusammentritts und der Sonderung Thales, Anaximenes, Heraklit, Empedokles, Anaxagoras rücken in eine Sicht: ἀρχή = ὕλη. Entstehen aus dem, woraus die Dinge bestehen: a) Zugrundeliegen (Thales) b) Verhältnis der Elemente c) Vielheit, Mischung usw. |7) Entstehen des Be-Stehenden führt das Werden: Werden als eine Bewe­ gung genommen. Bewegung: von woher?! Die hylē selbst und die Bewegung? Holz → Bett? 505

Beiläufiges. Zur Vorlesung über Grundfragen der antiken Philosophie

Erz → Bildsäule. Aristoteles gibt hier wieder dasselbe dingontologi­ sche Modell 8) Problem der Bewegung: das Eine und die Bewegung. Keine Bewegtheit (keinen Wechsel) – : die Φύσις (τὸ πᾶν-ἕν) und die Bewegung. Verstand (νοῦς) als bewirkende Ursache |(1) Prinzip der Interpretation: in gewisser Weise (2) Das, aus dem alles Seiende ist und woraus als erstem es wird und in welches als letztes es vergeht, bei zugrundebleibendem Seiendem, aber umschlagend in den Zuständen (Eigenschaften), dieses sagen sie, das Element und Anfang des Seienden und deswegen meinen sie, daß nichts entsteht noch vernichtet wird, wie (ὥσπερ) von Sokrates.12 τὸ ὑποκείμενον ὑποµένει Liegen und Bleiben: Zeit als Liegen, Bleiben Zeit als Wechsel, μεταβολή Zeit als γένεσις, φϑείρεσϑαι κίνησις und ἀκίνητον οὕτως (analog) nichts vom anderen Notwendig also muß es eine gewisse Φύσις geben, entweder eine oder mehrere, aus welcher das Andere entsteht, während sie gerettet wird. Aber die Menge und das Aussehen* des so gearteten „Anfangs“ sagen nicht alle dasselbe. Thales: ‹bricht ab› *Εἶδος besagt hier nicht das Modell, die ontologische Denkform, son­ dern das Seiende, das als ἀρχή ‹…›13 |Nach Thales kommt Anaximenes (Diogenes). Luft früher und μάλιστα ἀρχὴ τῶν ἁπλῶν σωμάτων (Wasser, Feuer, Luft und Erde) Heraklit (Hippasos) = Feuer Empedokles alle 4 einfachen Körper. „Zu den 3 genannten die Erde als 4. zugesellend“14 Diese [die ἁπλᾶ σώματα] aber bleiben (διαμένειν) immer (ἀεί) und entstehen (werden) nicht, sondern nur hinsichtlich nach Vielheit und Wenigkeit, ver­ bindend und auseinandertretend in eins und aus einem [Vielheit und Eins­ heit]. Anaxagoras (früher als Empedokles – in den Werken später, oder nachlebend) sagt, die Anfänge seien unbegrenzt (unendlich an Zahl). Die Homoiomerien (wie Wasser und Feuer) entstehen durch Zusammentritt, entstehen und vergehen durch Synkrisis und Diakrisis, auf andere Weise hat es kein Entstehen und Vergehen, sondern bleibt ewig und immer! 506

Beiläufiges. Zur Vorlesung über Grundfragen der antiken Philosophie

Diese Philosophen (Thales, Anaximenes, Heraklit, Empedokles, Ana­ xagoras) rücken in eine Reihe, sofern hier der „Anfang“ ‹als› ὕλη gedacht wird [hylē und Φύσις]. „ὕλης εἴδει“.15 Entstehen des Bestehenden aus dem, woraus es besteht und wird, durch a) Zugrundeliegen, b) Wasser oder Luft oder Feuer, als eines der | „gegebenen Dinge“ (einfache Körper), c) oder durch σύγκρισις und διάκρισις (Vielheit und Einheit), d) Homoiomerien, unbegrenzte Zahl der „Anfänge“. εἶδος der ὕλη in zwiefachem Sinne genommen: (1) εἶδος hinsichtlich der 4 εἴδη von ἀρχή, (2) εἶδος hinsichtlich dessen, was als ὕλη genommen wird, entweder Was­ ser, Luft, Feuer, Erde und die Homoiomerien. Diesen Philosophen, die also das Bleiben des Zugrundeliegenden dachten und das Entstehen und Vergehen der vielen Dinge aus dem einen Grund, diesen brach die Sache selbst Bahn, machte ihnen einen Weg. Wenn jedes Entstehen und Vergehen aus einem gewissen Einen ist – warum geschieht es und was ist die Ursache? Denn nicht macht das Zugrundeliegende selbst das Umschlagen in bezug auf es selbst? [Wieder exemplifiziert am Ding]: nicht Holz und nicht Erz ist schuld an seiner Verӓnderung. Holz macht kein Bett, und Erz keine Bildsӓule??? Macht die Φύσις so wie das Holz und das Erz in bezug auf Bett und Säule?? Oder ist sie das Hervorbringende überhaupt?? Das, woraus etwas besteht, ist nicht schon das Hervorbringende. Eine andere Ursache: | „Woher der Anfang der Bewegung“16: das Seiende also gedacht in seinem Sein als Gewordensein und damit bezogen auf ein Woher der Bewegung. Seiendes ist „in Bewegung“ (Beispiel für das Gewordensein aller Dinge – Hörsaal, Haus, Stadt, Bäume, Menschen, Fahrzeuge). Einige aber, die das Ἕν setzten, sagten das Eine als unbewegt und die ganze Φύσις (φύσιν ὅλην), nicht allein in bezug auf Entstehen und Vergehen (also auf die Φύσις bezogen!) ‒ denn das ist etwas Altes und etwas, worin alle übereinstimmen ‒, sondern bezüglich aller anderen Veränderung. Und dies ist ihnen eigentümlich. Keiner von diesen konnte die betreffende Ursache erkennen, außer Parmenides, und dieser insoweit als er nicht eine, sondern in gewisser Weise zwei Ursachen setzte [???] Dagegen denjenigen, die mehrere Ursachen setzten, kommt es eher zu, denn sie gebrauchen das Feuer als etwas, das eine bewegende Natur hat und das Wasser usw. als das Entgegengesetzte. (Damit ein höheres Verständnis der Bewegung: Bewegendes – Bewegliches – Bewegtes.) 507

Beiläufiges. Zur Vorlesung über Grundfragen der antiken Philosophie

|Nach diesen Philosophen und nach den beiden Prinzipien ὕλη und ὅθεν ἀρχὴ τῆς κινήσεως nicht genügend für die Fügung als Natur des Seienden, gezwungen von der Wahrheit (ἀλήθεια) ‹bricht ab› Das Wohl- und Schönsein des Seienden (εὖ καὶ καλῶς).17 „Die einen sind, die anderen es werden“? Heißt das „teils“ = die himmlischen Gestirne, teils = die werdenden Dinge oder muß das Gute als Bewegendes sein, damit das Seiende bewegt werden kann auf es zu?? „Aber Feuer oder Erde kann nicht die Ursache sein“?? Wieder das Modell des Einzeldings. Wieder die Φύσις nicht begriffen!!! Nous, wie in den Lebewesen, auch in der Φύσις als αἴτιον des Kosmos und der Ordnung, wie ein Nüchterner unter Irreredenden. Φανερῶς,18 auf klare Weise ist es der Gedanke des Anaxagoras (vorher Hermetismus). Die ἀρχή des καλῶς, die „auf schöne Weise“, ist | das Woher der Bewegung, woher den Dingen Bewegung zukommt. [Ist dies schon das οὗ ἕνεκα???] [Nein, das wird aus dem Folgenden klar. Zum Mindesten ist jedoch die ἀρχὴ τῆς κινήσεως und τὸ ἀγαθόν noch ungeschieden.] εὖ und καλῶς – Gegenbegriff κακῶς φιλία καὶ νεῖκος: Empedokles Empedokles ψελλίζεται19 Zwei Ursachen sind beiher bezeichnet: ὕλη und ὅθεν ἡ κίνησις ἀμυδρῶς καὶ οὐδὲν σαφῶς20 Wie es die ἀγύμναστοι machen „Scheinen nicht zu wissen, was sie sagen“21 Empedokles ‹hat› zuerst die ἀρχή der Bewegung als ein Zwiefaches begriffen (4 Elemente: auf zwei Polaritӓten gebracht: Feuer und andere ‹Elemente›) Leukipp und Demokrit: στοιχεῖα = das Volle (τὸ πλῆρες) und das Leere (τὸ κενόν) (τὸ ὄν und τὸ μὴ ὄν) |τὸ πλῆρες καὶ στερεόν (Feste) = τὸ ὄν22 τὸ κενὸν καὶ μανόν (Hohle) = τὸ μὴ ὄν23 τὸ πλῆρες καὶ τὸ κενὸν = eines nicht mehr seiender als das andere. – Beide sind αἴτια τῶν ὄντων ὡς ὕλη!! Wie die ὕλη=ἓν-Setzenden (Aristoteles sagt hier οὐσίαν ὐποκειμένην) das Übrige durch die πάθη (Eigenschaften) erzeugen, und dabei das Hohle und Dichte (μανόν – πυκνόν) So bezeichnen diese [welche gerade das Hohle und das Dichte als die ὕλη setzen]. Auf die gleiche Weise sagen diese, daß die διαφοραί (Unterschiede) die Gründe (αἴτια) des Übrigen seien. Diese nehmen [gemäß demselben ontologischen Leitgedanken] 3 Unterschiede an: 508

Beiläufiges. Zur Vorlesung über Grundfragen der antiken Philosophie

σχῆμα → ῥυσμός → A N τάξις → διαθιγή → AN NA θέσις → τροπή → Z N24 Seiendes unterscheidet [nach diesen Materialisten] sich nach ῥυσμός (Zug), διαθιγή (Berührung) und Wendung (τροπή). |Aber über die Bewegung, über ihr Woher und wie sie den Dingen zukommt, ‹wird› ῥαθύμως25 (auf leichtsinnige Weise) hinweggegangen. Soweit scheinen die Früheren hinsichtlich dieser beiden Ursachen gekommen zu sein. Im 7. Kap. noch ein Überblick a.) οἳ ὡς ὕλην τὴν ἀρχὴν λέγουσιν,26 eine oder mehrere, körperlich oder unkörperlich b.) ἓτεροι δέ τινες ὅθεν ἡ ἀρχὴ τῆς κινήσεως (Freundschaft, Aristoteles; – νοῦς oder ἔρως)27 c.) καὶ τὴν οὐσίαν σαφὼς μὲν οὐδὲς ἀποδέδωκε28 Vom 8. Kap.: Kritik: 29Die, welche τὸ πᾶν (das Ganze) als ἓν, als eins und als eine Φύσις wie eine ὕλη setzen, als körperliche und Größe habend, fehlen offenbar:30 1.) nur Elemente des Körperlichen, Überspringen des Unkörperlichen. 2.) Aufhebung des αἴτιον der κίνησις! Wieso? Diese Aufhebung liegt in den φυσιολογοῦντες περὶ πάντων!31 Als Natur nehmen von allem, wo doch die | Φύσις nie verstehbar ist vom ἀγαθόν her!! 3.) Fehler ist ferner, daß nicht die οὐσία und τὸ τὶ ἔστιν gesetzt werden.32 4.) Beliebigkeit im Ansehen des einfachen Körpers ohne Einsicht in das Werden der anderen an dem einen; Entstehen durch Verdichtung oder Verdünnung. Vorzug des einen feinsten, sofern ‹er› durch Verdichtung entsteht. Vorzug der Feuer-These. Warum nicht die Erde? Großteilig­ keit? (μεγαλομέρεια) Mythischer Vorzug der Erde – Hesiod. Eine „ὑπόληψις ἀρχα καὶ δημοτική“!33 |Warum Aristoteles so ausführlich? Weil hier das Prinzip der Geschichtsbe­ trachtung deutlich ‹von› A‹ristoteles› interpretiert 1. Satz: Von den Philosophierenden hielten die Meisten allein die im Aussehen der hylē … Gründe für die Anfänge von allen Dingen Das besagt: 1.) die Philosophierenden und nicht die Mythologisieren­ den. Die Philosophen beginnen mit dem Denken der Gründe. 2.) Die Gründe, nach dem Aussehen der hylē: d. h. sie haben noch keine ausgebildete ontologische Kategorie, aber sie denken „im Bilde“ der hylē. 509

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Eine Aussage über die Meisten Am Ende des 7. Kap. führt er seine Kritik näher ‹aus›: alle Weisen des Grundes irgendwie gedacht, vornehmlich die ὕλη, aber auch die anderen ungenau „undeutlich irgendwie berühren“.34 1.) 2.) 3.) 4.)

ὕλη ὅθεν ἀρχὴ τῆς κινήσεως Niemand aber die οὐσία und τὸ τί ἦν εἶναι das οὗ ἕνεκα in gewisser Weise, aber nicht gehörig

|(1) Keine Schöpfung, im Gegenteil, die Gewordenheit und Gegründetheit des Seienden ist auf dem Grunde der Ewigkeit und Grundlosigkeit der Welt. (2) Modell des Sokrates: ὥσπερ: so wie dort dem Werden etwas zugrundebleibt, so bleibt dem Werden überhaupt etwas Immerseien­ des zugrunde. (3) Πρότοι θεολογήσαντες: ? Mythos Πρότοι φιλοσοφήσαντες: ? Begriff (4) Ehrwürdigste = Älteste. Das Wobei des Eidschwures = das Älteste = Styx = Wasser |Disposition 1. 2.

Das Negative. Das Bleibende (= Seiende) wird ausgesagt durch eine Negation. Die ἀρχή des ἄπειρον: ἀθάνατον – ἀνώλεθρον – ἀγήρως

Vom Nichtigen her gesprochen wird der „Anfang“ mit dem „Nicht“ der Negation ausgesagt. Darin liegt: so wird zurückgedacht. Angesichts der wandelnden Welt denkt die Philosophie das Unwandelbare, das Zugrun­ debleibende. Was ist die hylē? Der Stoff, woraus alles besteht? Ist diese Vorstellung des Stoffes so etwas, auf ‹das› man hinzeigen kann? Ein Tisch besteht aus Holz, eine Bildsäule aus Erz. Erz und Holz aber bestehen aus Erde, Erde besteht aus …? Aus Wasser. Das Woraus-Sein als gedacht als ein Woher-Sein. Die Welt wird damit nicht am Modell eines Klumpens gedacht. |Subjektivität (1) = Ontologischer Entwurf! (2) Dingheit und Selbstheit |Simplicius und Aetius nennen das ἄπειρον des Anaximander eine ὕλη! Das apeiron des Anax‹imander› gemäß Stellen des Aristoteles und Theo­ 510

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phrastos kein μῖγμα. Der Aristoteleskommentator Themistius spricht zu Arist‹oteles’› Physikstelle. Wenn ein Element unendlich wӓre, so die übrigen durch die im Unbe­ grenzten liegende Macht zerstört würden wegen der in den Elementen liegenden ἐναντίωσις. (Wenn ein Seiendes unbegrenzt wӓre, würde es alle ande­ ren übermӓchtigen) (Deswegen kann allein das Sein das apeiron sein) Aristoteles ‒ De coelo: ἄπειρον ὄν, ὃ περιέχειν πάντας τοὺς οὐρανούς35. Anaximander nimmt viele οὐρανοί an. Die Aristoteles-Kommentatoren schreiben dem Anaximander eine ੢ȜȘ zu, die ein μɚɐɍɋ und μɂɒȽɌɠ)

fraglich

Philoponos sagt, daß nicht nach Aristoteles’ Ansicht das apeiron des Anaxi­ mander ein allgemeiner Begriff wӓre, dessen Unterarten die Elemente sind, sondern ‒? Goebel36 Seite 23: ganze Simplikios-Stelle Was ist das für eine ewige Bewegung, der gemӓß die Ausscheidung des Gegensӓtzlichen geschieht??? (warm, trocken, feucht, kalt) |Exzerpt aus Goebel, Die vorsokratische Philosophie, Bonn 1910. Zu Anaximander apeiron = ein nach Quantitӓt, Qualität unendlicher Grund des Daseins [?]. Theophrast (zitiert in Diels Doxographi Graeci, 113) faßt gleichlautend das Fragment 1 (Simplicius). Dann Arist‹oteles, Physik› Γ, 4, 203b 3: Das apeiron ist ἀρχή; für es gibt es keine ἀρχή. Unvergänglich und ungeworden. Das Allesumfassende apeiron = 1.) räumlich und zeitlich unendlich [???] 2.) ἀρχή des anderen 3.) allumfassend περιέχειν ἅπαντα καὶ κυβερνᾶν δοκεῖ37 4.) göttlich Simplicius und Aetius (Diels Dox. Gr. 272): daß Anaximander um der Uner­ schöpflichkeit des Vorrates willen für das ergänzende Werden (ὑφισταμένη γένεσις)38 des apeiron als Ursprung ‹bricht ab› Aristoteles, Physik I, 4 187a 20: die Φυσικοί machen ein Substrat zum Einen Seienden (ὑποκείμενον), entweder Wasser, Luft, Feuer, oder lassen aus dem Einen die darin enthaltenen Unterschiede ausgesondert werden. ἐκ τοῦ ἑνὸς ‹ἐνούσας› τὰς ἐνατιότητας ἐκκρίνεσθαι, ὥσπερ Ἀναξιμάνδρός ‹φησι›.39 Das apeiron ist nach Zeit, Raum, Masse und Beschaffenheit unbegrenzt, und enthӓlt alles Begrenzte in sich. Ist es ein μῖγμα? Nein! 511

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|

Tod

Ļ Schlaf Ĺ

Wachen Erst im Wachen sind wir offen für den Tod. Im Schlummer sind wir schlafend. Im Tod offen für das Leben. Ist das nur wie in der Gesundheit für die Krankheit? |Das schlafende Insein in der Φύσις (Geborgenheit) ist lichtloses Dun­ kel, ist die Seinsart von Pflanze, Tier und dumpfem Menschen. Der Anfang der Offenheit (Ἀλήθεια) ist zugleich das Herausgehen des Seienden in die Vielheit. Dies die Weltstellung der ψυχή: Zusammenhang von Λόγος und Wachheit. |Schlaf: die Seinsweise der Pflanze und des Tieres, Befangensein in der Φύσις. Wachen: das „Allgemeine“ (τὸ Σοφόν), ist das Licht aus der Φύσις, das Δίκαιον, die Δίκη als der weltdurchwaltende Fug. Wachheit ist Offenheit (Ἀλήθεια) |Gliederung der Heraklit-Darstellung 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Feuerlehre: Licht und Dunkel Gegensatzlehre: Leben und Tod Wahrheitslehre: Wachen – Schlaf (Allgemeines) – (Einzelnes) Logos – „Sein“ – Σοφόν Φύσις Αἰὼν παῖς παίζων40

|Heraklits Prinzip ist die Zeit. Parmenides’ Prinzip ist das „Seiende“. Heraklits Problem ist: Sein und Werden. Parmenides’ Problem ist: Sein und Schein. |τὸ Σοφόν? So ist die Lichtung der Φύσις, die Ἀλήθεια des Ganzen (des Ursprungs und der Dinge); τὸ Σοφόν – Fragmente Σοφόν ‒ Λόγος ‒ Δίκη Ψυχή Φύσις Αἰών41 τὸ Σοφόν: das Weistum (ähnlich wie das Königtum, das Eigentum). Es bezeichnet weder primär ein Subjekt noch einen Gegenstand, sondern ein Walten, einen Bezug. Der König ist nicht ohne sein Königreich und 512

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dieses nicht ohne jenen. Das Eigentum nicht ohne einen Eigner und dieser nicht ohne eine Sache, die ihm gehört. Zusammengehöriger Bezug, eine waltende Macht. τὸ Σοφόν: ist weder ein Σοφός noch ein Gewußter, sondern ist der positive Name für Ἀ-λήθεια. So ist der Bezug des sich lichtenden Seins, das „Weltfeuer“ selbst, der weltdurchwaltende Bezug. Das „Weistum“ steht im Zusammenhang mit ἓν und πάντα, es ist die übergreifende Einheit, in der das Viele geeint ist auf den Ursprungsgrund der Φύσις hin. |Disposition für 17., 18., 19., 20. Stunde. Sein und die Zeit. Disputationes metaphysicae. Straubinger. Gesamtthema ist Heraklits eigentliche Philoso­ phie. Ontologie. Atomistische Philosophie 1. 2.

alles eins: τὸ Σοφόν, Λόγος ‒ Ψυχή ‒ Δίκη Ontologie: im selben Sinne wie Platon nehmen42

17. Stunde: Heraklits Theologie ist bestimmt durch die Gegensatzlehre. Und zwar ist diese die Einheit im Auseinandergetretenen: die ἁρμονίη ἀφανής. Das Wissen um diese harmoniē ist ein göttliches Wissen. Die Philoso­ phie ist etwas fast Göttliches. Der Gott ist die Wahrheit. Und ist das Σοφόν.43 I. Heraklits symbolische Philosophie: Lehre vom Feuer, Lehre von der harmoniē aphanēs, Lehre von dem ξυνόν: Wachen – Schlaf. Wachen und Schlaf keine bloßen Weisen, wie der Mensch ist, sondern Weisen, wie das Ganze offenbar ist. Wachen ist die Offenheit für das Gemeinsame, Wachende. Schlaf ist Befangenheit im Sein: Insein. Fürsichsein und Insein. Die Ἀλήθεια ist das Wachen. Die höchste Wachheit ist die, die nicht nur das Offenbare, sondern auch das Verschlossene weiß. Der Gott als der Offenbarste, der am meisten in der Einsicht Stehende (γνώμη). Philosophie: Mensch – Gott, Mensch – Affe, Philosoph – Alltags­ ansicht, ὕβρις. – Artemistempel. Der Gott ist die Einheit (welcher Gott: Dionysos-Hades). Das Wissen (die Ἀλήθεια des Ganzen) ist τὸ Σοφόν. Σοφόν und Ζεύς. |17. Stunde: Übergang zur eigentlichen Philosophie Heraklits. Nicht im Symbol, sondern in der Sprache des Gedankens. Thema ist das Wissen der harmoniē aphanēs. Der Gott hat das Wissen. Der Mensch im Abstand wie Affe zu Mensch. Der Philosoph als der Übermensch. Philosophie ist das Wissen um den Weltbezug von Sein und Werden. Aber gerade dies ist keine ὕβρις. Der Philosoph weiß das, was jeder wissen könnte. Er verhält 513

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sich zu der Masse wie der Wachende zu den Schlafenden. Er lebt in der gemeinsamen Welt, nicht in der Einzelwelt. Wachen und Schlaf: das dritte Grundsymbol für die Philosophie Hera­ klits. 1. Symbol: das Feuer (Symbol der Zeit und der Lichtung, das Licht kommt aus der physis. Feuer ist das Aufgehen). 2. Symbol: Dionysos-Hades (Einheit von Leben und Tod; Einheit des einfachen Grunds, des Zeitlosen, mit der Vielheit des Auseinanderge­ tretenen, das διαφερόμενον ξυμφέρεσϑαι) 3. Symbol: Wachen und Schlaf: Befangenheit in der Φύσις und der Ausfall aus ihr (Aufstand). |Gedankengang der 17. Stunde (1) Übergang von der symbolischen zur eigentlichen Philosophie Heraklits (2) Die 3 ausgezeichneten Symbole: Feuer, Dionysos-Hades, WachenSchlaf (3) Wachen und Schlaf: keine bloßen Seinsweisen des Menschen. Ausle­ gung von 26, 75, 88, ‒ 89, 88. Ἀλήθεια-Symbol (4) Die Wachheit ist Wachheit des Ganzen, das Wissen der har­ moniē aphanēs (5) Die Götter in ihrer Stellung zum Menschen. Der Philosoph in seiner Stellung zur Mitwelt. Hybris-Artemistempel. Fr. 78 (6) Das Gemeinsame (ξυνόν)? τὸ Σοφόν: Ζεύς. Fr. 32 (7) Fr. 41: Hauptstelle über das Σοφόν. Fr. 108: Hauptstelle über das Σοφόν (8) Was ist das Σοφόν (das „Weise“, Verständige?). Jenes Weise, das die ganze Wahrheit ist, an der teilzunehmen die menschliche Philosophie ausmacht. Die Antwort auf diese Frage muß die Grundbegriffe von Λόγος ‒ Δίκη ‒ Ψυχή (und des Seins) ins Zentrum der Frage stellen |Wachen-Schlaf-Fragmente 21 26 73 75 88 89

Tod ist alles, was wir erwacht scheuen … (ev‹entuell› verdeckt)? Nacht ein Licht usw. Nicht handeln und reden wie Schlafende Schlafende: Mitwirker der Welt Lebendes-Totes, Waches-Schlafendes, Junges-Altes: umschlagend Gemeinsame und einzige Welt der Wachenden

|18. Stunde: (1) τὸ Σοφόν? Keine personale Möglichkeit. Das scheint für uns den Begriff aufzuheben. Wir denken das Vernünftige vom Menschen her und sagen im abgeleiteten Sinne von etwas, es ist vernünftig. τὸ Σοφόν ist nichts anderes als das Vernünftige, aber eben nicht in einem personalen Sinne. 514

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Σοφός ist der Verständige, der sich auskennt. Σοφός, der vernünftig ist, ohne dazu ein personales Verhältnis zu haben. Das Vernünftige, aber nicht das Vernünftige als etwas Einzelnes-Vernünftiges, sondern das Vernünftige im Ganzen. Die Weltvernunft, als impersonal gemeint. Der Begriff ist überlastet, vor allem durch die Geschichte der Metaphysik, Weltvernunft als eine göttliche. Pantheismus. Was es positiv ist, steht aus. Wir übersetzen zunächst das Weise im Sinne wie Weistum d. h. als Bezug. ‒ Die metaphy­ sische Tradition denkt die Vernunft im Gegensatz zur „Natur“. Dies geht bis in Hegels Begriff der Natur als dem Anderssein der Idee. Vielleicht denkt das physiologische Griechentum gerade umgekehrt Vernunft noch als eine Naturmacht. Aber auch das verkehrt: das Vernünftige ist kein Vorkommnis in der Natur, sondern ist die Lichtung der Natur. ‒ τὸ Σοφόν ist das Vernünftige als die durchwaltende Naturmacht: welcher Bezug? Eben von Hades und Dionysos. Übergreifender Bezug, der vernünftig ist. (2) Fr. 50. Das Weise besteht in der Zustimmung zum Λόγος zu sagen? Nein: hörend auf die Stimme des logos, nicht die Menschenstimme, ist es weise zuzugestehen, daß alles eins ist. Nicht schlechthin alles Seiende ist eins; alles ist eins, sofern es seiend ist? Das Sein sammelt alles Seiende im Bezug zu sich. Einheit des Seienden. πάντα ‒ ἓν ‒ εἶναι ỏμολογεῖν Σοφόν ἐστι. Weise ist das Mitsagen des πάντα = ἓν. Der Bezug von ἓν und πάντα. Kein formaler Begriff des eins; auch kein transzendentaler ὄν und ἓν (?), sondern ein physiologischer Begriff. Das Weise ist die Einsicht in den Bezug von πάντα und ἓν. (3) πάντα und ἓν. πάντα = die vielen Dinge. Diese sind aber schon im Ganzen der Welt. Die vielen Dinge und die Einheit der Welt. Dies innerhalb des Phänomenalen. Die Σοφία ist | die Einsicht in den Zusammenhang von Sein und Werden, Bleiben und Vergänglichkeit und Φύσις und τὰ ὄντα. Die sophia also ist Einsicht in den Zusammenhang: und diese Einsicht ist ein Zustimmen dem logos, daß alles eins. Alles ist nicht einerlei; alles ist auch nicht geeint im Sein, sondern das Viele ist einig mit dem Einen, διαφερόμενον ξυμφέρεσθαι. Was die symbolische Philosophie mit Bogen und Leier, Diony­ sos und Hades sagt, ist begrifflich gefaßt als die Σοφίη, die einstimmt in den Spruch des logos, alles ist eins. Das Weise ist jetzt genommen als ein Wissen über den Bezug, das Wissen über den Zusammenhang von πάντα und ἓν. Dieser Bezug aber ist nicht nur, sondern das Sein ist der Bezug von ἓν und πάντα ‒ und auch das Wissen ist kein bloßes Wissen über, sondern ist die Helle des Bezugs, ist das Offene, in dem der Bezug steht. τὸ Σοφόν nennt die Wahrheit als den Raum der Lichtung der Φύσις und als Raum des Bezugs von Sein als des Raums von πάντα und ἓν. Das ὁμολογεῖν ist das Zugestehen. Das ist keine besondere Weise gegenüber Nichteinverstandensein und der­ gleichen, sondern ist die Seinsart des menschlichen Standes in der Wahrheit, der Λόγος ist mehr als eine nur menschliche Möglichkeit: ὁμολογεῖν ist das 515

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Mitgehen des Menschen mit dem Λόγος, ist | die Weise, wie der Mensch in der Helle steht. Hippolytus, der uns das Fragment überliefert, sagt aber, das Ganze sei διαιρετὸν ἀδιαίρετον usw.: dadurch eine Sicht offen.44 πάντα und ἓν ‒ εἶναι (‹Fr.› 41) ἓν τὸ σοφόν:45 das Weise ist eines nur, nicht die πολυμαθία, sondern die Offenheit des stehenden Verweilens vor der γνώμη, die alles zu steuern weiß durch alles. Auch in diesem Fragment ist der Anschein noch nicht beseitigt, daß das Σοφόν ein Wissensinhalt sei. Gegenüber der Vielwisserei, der πολυμαθία. Was ist diese? Vieles wissen: das Seiende in seiner Vielheit und Vielfältigkeit wissen. Das Wissen des Vielen ist nicht die bloße Gelehrsamkeit, die das Belanglose weiß. Der Bezug des Wissens ist auf das Seiende, so daß in ihm das Seiende gewußt wird und nicht gewußt wird das eine, das not tut. Was lehrt die πολυμαθία? Die Auskenntnis im Seienden und vergißt des Seins, vergißt des Bezugs von εἶναι – πάντα – ἓν. Das Weise ist die ontologische Einsicht? Das Weise ist das Verstehen der Γνώμη, die alles steuert auf alle Weise. Das Weise ist das Verstehen der weltdurchhellenden und denkenden Γνώμη? τὸ Σοφόν ist das Wissen vom Weisen als Seinsmacht, als weltdurchwaltende Macht. Das Weltdurchwal­ tende ist selbst das Σοφόν!! Inwiefern? Das Weise waltet regierend auf alle Weise. Und so als weltregierende Macht ist sie nennbar mit dem Namen des Weltregenten. Der Regent ist die Lichtung, das Erhellende, das Feuer. τὸ Σοφόν ist der Regent, sofern es das Durchhellende und allem Vorauslaufende ist, das Umfangende. |Fr. 108:46 das Weise, das Helle, das Offene ist etwas „Abgesondertes“? Das Weise hat seinen Ort abgesondert. Ist es überhaupt irgendwo? Wenn es weltdurchwaltende Macht des Offenen ist, ist es nicht hier und nicht dort, es ist nicht im Raum und nicht in der Zeit. Aber es ist das Sein als der Raum der Zeit. Vom Seienden getrennt ist es in keiner Ordnung der Dinge vorfindlich. Das Weise wurde immer in die Dinge verlegt. Das ist falsch. Es ist kein Seiendes, es ist die Offenheit des Seins: genommen im Spannungsbogen von πάντα und ἓν. τὸ Σοφόν ist in diesem Fr. gleichsam „ontisch“ genommen, aber gerade so ist es kein Seiendes, sondern ein abgesondertes. Ist diese Deutung eindringlich? Wir fassen zusammen: τὸ Σοφόν = 1.) der Bezug von εἶναι – πάντα – ἓν; = 2.) das Verstehen der weltregierenden γνώμη; = 3.) kein Ontisches, sondern ein Umfangendes. τὸ Σοφόν und das ξυνόν? Als Helle, als Offenes, als Wahrheit des Seins, ist das sophon ein Gemeinsames, etwas Durchwaltendes, ein „Weltphäno­ men“. II Fr. 2, 114, 113, ‒ τὸ περιέχον: Hegels Wort vom kindlichen Beschreiben der Wahrheit. Das Vernünftige ist das Allgemeine. ‒ Kohlen. ‒ III Δίκη = Lassalle S. 9447 ‒ Λόγος als der νόμος 516

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|Disposition der 18. Stunde: Thema ist logos und Seinslehre (Δίκη – Σοφόν – Λόγος) 19. Stunde: Thema ist Ψυχή-Lehre 20. Stunde: Thema ist aiōn und Zusammenfassung Heraklits: Sein und Werden 18. Stunde: τὸ Σοφόν = das Weise = das eigentlich zu Wissende und das Wissende selbst. Die Einheit des weltdurchwaltenden Werdens, das Vernünftige, das Durchleuchtende, Durchlässige, die Δίκη, die „Seinsfrage“?? Was ist das sophon? Wie steht es mit logos, mit Δίκη, gnomē, Ψυχή? Das Weise ist, daß alles eins ist. Das Alles-Eins-Sein ist das Weise: das Verstehen von „Sein“, von Allem und Eins. Das Sein im Problembogen von All und Eins. ὄν und ἓν. Dieses Wissen von dem Alles-Eins-Sein betrifft keinen „Sachverhalt“, der unabhängig vom Wissen besteht. Es ist kein Sachverhalt, wie daß das Wetter schlecht ist. Was wird in solchem Wissen gewußt? Die Einsheit des Ganzen. Die Welt ist das Gewußte und zwar der Grundriß der Welt: das Viele in seinem Eins. Wie ist das Viele Eins? Auf das Sein hin. Die Einsheit als All ist keine Einsheit eines Klumpens. Das Eins-Sein des Seienden ist eine Einsheit, die übergreifend ist. Übergriffs-Einheit von Sein und Seiendem, Φύσις und τὰ ὄντα, Bleiben und Vergänglichkeit, | von Hades und Dionysos, Feuer und Nacht: dieses Übergreifende zu wissen, die harmoniē aphanēs zu wissen, ist das Σοφόν. Ist dieses also kein Wissendes, sondern ein Gewußtes? Nein, es ist das Wissen, das durch diesen übergreifenden Bezug hindurch weiß. τὸ Σοφόν ist die Vernunft des Ganzen, aber nicht eine Weltvernunft, ein „geistiges Prinzip“, das der „Natur“ entgegengesetzt ist. Nicht in Richtung der späteren Metaphysik. Jene denkt das Sein des Seienden als „Vernunft“, „Weltgeist“. τὸ Σοφόν ist das übergreifende, vermittelnde Wissen. Die Vermittlung zwischen Φύσις und τὰ ὄντα, zwischen Hades und Dionysos, zwischen Ursprung und entfalteter Welt. Vermittlung ist nicht endliches Wissen, ist nicht begrenztes Wissen, sondern ganzheitlich; ist „absolutes Wissen“. Aber gerade in einem ganz anderen Sinne als in der Metaphysik. Der „Geist“ ist von der Φύσις zu begreifen und nicht umgekehrt. τὸ Σοφόν und τὸ περιέχον?? Das ξυνόν. Die Vernunft nicht etwas Sub­ jektives und dann abgeleitet etwas Objektives, sondern ursprünglich etwas Kosmisch-Waltendes (περιέχον) und erst abgeleitet etwas „Menschliches“. |Disposition für die 18. Stunde. Wir fragen, was heißt bei Heraklit τὸ Σοφόν. Und diese Frage führt ins Zentrum seiner eigentlichen Philosophie. τὸ Σοφόν ist ein fast unüber­ 517

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setzbares Wort. Es bezeichnet eine Macht und nicht einen Mächtigen; was für eine Macht? Die Übersetzung „Weistum“ (wie Königtum, Eigentum, ein Wesen). Eine waltende Macht. Sind waltende Mächte „Personen“ oder ursprünglicher als alle personalen Kategorien? τὸ Σοφόν ist der positive Name für die Ἀλήθεια. Wahrheit ist keine Eigenschaft an Sätzen, keine Eigenschaft an Erkenntnissen, sondern ist die Helle des Seins, die das Sein erhellt. Σοφόν ist auch das Σαφές (vgl. Aristoteles’ Anfang der Physik). Σοφόν = die Offenheit für das Sein, das offenstehende Sein selbst Zusammenhang mit ἓν und πάντα ‒ εἶναι Das Σοφόν ist der Bezug von ἓν und πάντα und εἶναι (2) Das Σοφόν als das ξυνόν (περιέχον), Aufgehen der Menschen |Fr. 2, 72 „Sein“-Fragmente 16, 17, 18, 49a, 41, 50 |Gedankengang der 18. Stunde: Auslegung des τὸ Σοφόν (1) a.) b.) c.) (2) (3)

ἓν ‒ πάντα ‒ εἶναι γνώμη κεχορισμένον Σοφόν ‒ ξυνόν (περιέχον) ‒ Δίκη Σοφόν und Λόγος

|18. Stunde Disposition (1) Σοφόν: ἓν – πάντα – εἶναι ‒ τὸ ξυνόν (περιέχον) ‒ Δίκη – κεχο­ ρισμένον? γνώμη (2) Σοφόν und Λόγος 19. Stunde (1) Λόγος und das „Sein“ (2) Ψυχή 20. Stunde (1) (2) 518

Φύσις Αἰῶν

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|(1) τὸ Σοφόν = die alētheia als aus der Φύσις aufgehende Macht, in der das Ganze, seine Einsheit ‹bricht ab› (2) τὸ Σοφόν = das „pantheistische“ Göttliche. Begriff des Pantheismus bei uns ӓußerst trivialisiert. (3) τὸ Σοφόν nicht das „Absolute“, sondern ist das sich lichtende Sein, das die Φύσις ist. (4) κεχορισμένον? τὸ Σοφόν ist nicht das Seiende, aber es ist auch nicht abgesetzt. Medial zu verstehen? Das für Sich ‹…›48 Σοφόν ist abgeson­ dert von allem ‹…›49, es ‹…›50, es ist das Sein selbst, aber als das „Werden“, ‹…›51 Bezug von Sein und Werden (5) ‹bricht ab› (1) Die Ψυχή ist als „Seinsentwurf“ zu nehmen, als ‹…›52, wo das Σοφόν geschieht. Die Seele ist weiter als alles Gehen, alle Wege, weil sie das Sein selbst vernimmt.53 |Vorlesungsgedankengang (1) Philosophie als historisches Problem (2) Wir sind die Griechen (3) Aristoteles’ Deutung des Anfangs der griechischen Philosophie a) Aristoteles’ Begriff der Philosophie b) Die vier Gründe c) ὕλης εἴδει:54 Blickpunkt der „Metaphysik“ (4) Thales (5) Anaximander (6) Heraklit a.) symbolische Philosophie 1. Feuerlehre 2. Gegensatzlehre 3. Theologie b.) eigentliche Philosophie 1. Σοφόν 2. Δόγος 3. Ψυχή 4. Φύσις 5. Αἰών (7) Parmenides a.) Das Grundproblem b.) Die beiden Teile des Lehrgedichtes? c.) Δίκη d.) τὸ ἐόν 519

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|18. Stunde: Disposition: Σοφόν? Der zentrale Begriff Heraklits. Kein „wer“, sondern eine „Macht“. Ein Waltendes. Worin waltend? τὸ Σοφόν bezeichnet kein Seiendes, sondern etwas Ursprünglicheres, einen Bezug: es ist der Lichtraum der Φύσις. Der Bereich des Aufgegangenseins der physis. τὸ Σοφόν: der positive Name für die Ἀλήθεια. τὸ Σοφόν ist die unsichtbare harmoniē τὸ Σοφόν ist die Zeit τὸ Σοφόν ist das Sein τὸ Σοφόν ist der logos τὸ Σοφόν ist die Φύσις τὸ Σοφόν ist die Ψυχή |Das Weise? 1.) Solches, das zufällig weise ist 2.) Solches, das wesentlich weise 3.) das Weise-sein 4.) die Weisheit? Es ist eine Macht, das Weise eignet nicht jemandem; es ist solches, dem55 ‹bricht ab› das Weise ist das Offene selbst. ‒ Das „Offene“ |Fr. 50: Hören auf welche Stimme? Fr. 32, Fr. 112, Fr. 18, 108 Σοφόν: kommt von σαφής. Wissen und Helle ὀμολογεῖν: das Gleiche sagen Plato denkt zum ersten Mal das Sein des Seienden vom Menschen her (εἶδος). Dieses Aussehen ist nichts Seiendes, ein Übersinnliches. Wie ἓν und πάντα: wie eint das Eins das Seiende? H‹eraklit› sagt im „Sein“ εἶναι. Der logos sagt, ἓν πάντα εἶναι Vereinen des Seienden im Sein Fr. 77 betrifft Wesen der γνώμη 64: κυβερνᾶν |(1) ἐπιστήμη: kommt von ἐπίστασθαι, sich vor etwas stellen, sich davor stellen, davor verweilen, ἐπίστασις = verweilendes Davorstehen. ἐπιστήμη = sich auf etwas verstehen (2) τέχνη: τεκεῖν, erzeugen und gebären, „zur Welt bringen“, nicht her­ stellen, machen, sondern „etwas ins Unverborgene bringen“. Hervor­ bringen, ins Offene stellen. Τέχνη = vorbereitendes Bereitstellen des Unverborgenen 520

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(3) (4) (5) (6) (7)

ἦθος: zunächst „Wohnung“, „Aufenthalt“. Ethik: das Wohnen des Men­ schen innerhalb des Seienden im Ganzen Λόγος: Lese, Sammlung, das lesend Versammelnde Ψυχή: Atem, Ein- und Ausholen der Luft, Aufgehen und Zurückneh­ men τὸ Σοφόν = das eigentlich zu Wissende (??) γνώμη = Erkenntnis, Gemütsstimmung, Grundstimmung, die das Seiende erblicken macht.

|Der Begriff des sophon = das Offene, die Lichtung des Seins. Das Σοφόν etwas, das keines Menschen Gedanke ist, keiner Subjektivität zugehörig. Gerade umgekehrt: Subjektivität ist offenstehend für das Offene. Der sub­ jektlose Gedanke, die Seinsmacht der Lichtung: dies ist die Grundauffassung der „physiologoi“. Aber auch die „subjektlose“ Kennzeichnung ist irrefüh­ rend. Keine Gedanken an sich im Sinne Bolzanos und dgl. Das Denken ist eine Seinsmacht. Das Denken ist das Offene. τὸ Σοφόν. Vergleich mit dem Licht. Das Licht ist allen Sehenden gemein­ sam, sie sehen erst, wenn sie den Gesichtssinn aufmachen, teilnehmen am Offenen, wenn sie die Augen schließen, so sehen sie eventuell noch ihre Bilder, die nur ihnen zugehören. Weil das Licht das Sehenlassende und Erscheinenlassende ist, ist es das Offene. Σοφόν und Σαφής. Das Licht ist ein ξυνόν, allen Sehenden, aber auch dem Sehenden und dem Gesehenen. Es ist da und hat „gelichtet“, das Sehen ist Teilnehmen am Licht. So ist das Σοφόν die Durchsichtigkeit des Seienden im Ganzen, die Offenheit des Grundrisses der Welt, der Spielraum von Sein und Werden. An ihm teilnehmend wird der Mensch offen, d. i. weise; von ihm zurückgezogen, wird er ein ἴδιος. Die Selbstheit als Gegensatz gegen die Wahrheit. Das Gemeinsame ist das Wesen der Wahrheit. Das heißt nicht: Intersubjektivität. |Die neuzeitliche subjektive Auffassung der Wahrheit kommt mit der Intersubjektivität = Objektivität nicht ins Reine. So bleibt ein unlösbarer Rest. Demgegenüber ist bei Heraklit alles gerade umgekehrt. Die Subjektivi­ tät tritt als die Eigentümlichkeit auf, die den ἴδιος κόσμος bildet. τὸ ξυνόν und τὸ ξὺν νῷ? ? „Feuerstelle“. Hegels Wort. Keine wahrhaftere Darstellung τὸ περιέχον: Heraklit-Kommentare in der Antike. = Das Umfangende Das Vernünftige ist nicht ein Innerliches, dem ein Äußeres als Objekt gegenüberstünde; Vernunft ist das Umfangende, alles Seiende Durchwal­ tende, Durch-Eilende, Durch-Dringende. Dikē. τὸ δίκαιον. Wort für Δίκη?? Lassalle-Stelle! τὸ Σοφόν … κεχωρισμένον. Das Licht ist nicht etwas Abgesondertes, es ist verschieden von dem, was im Licht steht, es ist bei allem, aber nicht wie 521

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ein Ding bei anderen Dingen, es ist das Worin der Dinge. Abgesondert vor allem, ist es jedoch auf eine eigene Weise bei allem. Es ist das Besondernde, in sich selbst Sonderung einlassend. Licht ist einlässig und durchlässig. (2) Σοφόν und Sein (3) Λόγος: die Gliederung des sammelnden Lesens (4) Ψυχή: Stellung des Menschen |18. Stunde: τὸ Σοφόν? Kein Weises als Subjektivität. Sondern? Schema

Ȱᛐɐɇɑ

Ȱᛐɐɇɑ

Zeit

Verborgenheit

Entborgenheit

Bleiben

Werden

Hades

Dionysos ȭɍɔɟɋ

Ȝᚫᛝɋ

Δ઀țȘ

ȭɍɔɟɋ

Ȧɟɀɍɑ

Δ઀țȘ Ȧɟɀɍɑ

|Thema der 19. Stunde: (1) Σοφόν und ξυνόν (Δίκη), ‒ : Hegels Wort (2) Λόγος ‒ „Sein“ ‒ : Die Artikulation der Helle (3) Ψυχή 20. Stunde: Φύσις und Αἰών Heraklits Lehre vom Spiel als dem Wesen des weltbildenden Werdens. Sein und Werden? Das Werden ist die Bewegtheit des Geschehens des Seins: das Sein wird: die Φύσις quillt und nimmt zurück. Quellend-verschlingend ist das Wesen der Zeit. Seinlassen ist das Wesen des Werdens

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|Platon, Sophistes: διαφερόμενον γὰρ ἀεὶ ξυμφέρεσθαι.56 Lassalle übersetzt: „Denn das Auseinandertretende einigt sich immer mit sich“.57 Platon abwandelnd das Fr. 5158 τὸ ἓν γὰρ, φησι [H‹eraklit›] διαφερόμενον αὐτὸ αὐτῷ ξυμφέρεσθαι ὣσπερ ἀρμονίαν τόξου τε καὶ λύρας.59 „Denn das Eine, indem es sich von sich trennt, (auseinandertritt), eint sich mit sich selbst, wie die harmoniē des Bogens und der Leier“60. Zu Δίκη vgl. die Platon-Stelle aus dem Kratylos. δίκαιον = διὰ παντὸς διεξιὸν, δἰ οὗ τὰ γεγνόμενα γίγνεσθαι Lassalle S. 9461 I. Feuerlehre: Licht-Dunkel. II. Gegensatzlehre: Leben und Tod. III. Abstrakte Philosophie: Φύσις ‒ Παίζων ‒ Zeit ‒ Dinge. Die Natur spielt das Sein aus dem Seienden. Die Zeit als das Spiel des Werdens (des Αἰών). In einem einzigen Fragment ist die Zeit direkt genannt (52). |Disposition (19. Stunde). (1)

(2) (3) (4) (5)

(6)

Erörterung des Begriffs τὸ Σοφόν ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis Heraklits. Dieser Begriff widerspricht gerade den Auffassungen, die wir haben; deswegen die vorsokratischen Reden vom Σοφόν, vom νοῦς, usw. so sehr mißverstanden. Das Vernünftige ist nichts Subjektives, und daher auch nichts Objektives. Verständigkeit der „Subjekte“, der Menschen ist durch die Teilnahme an kosmischer Seinsmacht des Σοφόν. Die grundsätzliche Bedeutung der kosmischen Auffassung der Ver­ nunft: Vernunft und Subjektivität. Natur und Selbst. Das Vernunftwe­ sen: als Problem der Stellung des Menschen. „Lumen“ Vergleich mit dem Licht. Sehen und Teilnehmen τὸ ξυνόν. ξυνόν und ξὺν νῷ (Fr. 114).62 Fr. 2; 113, (Gemeinsamkeit des Wie ist nicht ursprünglich!) τὸ περιέχον: Hegels Wort: S. 349, Berufung auf Sextus Empiricus, adv. Math.63 Das Umgebende ist vernünftig. Hegel nennt es „eine schöne, unbefangene, kindliche Weise, von der Wahrheit wahr zu sprechen“64 ‒ und „man kann sich nicht wahrer und unbefangener über die Wahr­ heit ausdrücken“.65 S. 352. Vgl. Fr. 2 ‒ Sextus Empiricus. „Kohlen“ …66 Δίκη: vgl. Lassalle S. 94. τὸ δίκαιον: Grundbegriff der Herakliteer. [Fr. 23, 28]67 Dikē also das Durchdringende, das Ordnende, Lichtende. Dikē ist die (τάξις τοῦ χρόνου?) Ordnungsmacht, die Alldurchwaltende, der „Blitz“, das Feuer usf.

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(7)

τὸ Σοφόν … κεχωρισμένον (Fr. 108). Das Umgebende und Durchdrin­ gende, das Lichtende und Ordnende, das vom | Seienden unterschie­ dene Sein (8) Heraklit nennt das Sein nicht eigentlich, so wenig wie das Werden. Sein und Werden aber sind sein Grundproblem. Das Sein und das Licht vom Sein nicht getrennt. Das Sein ist selbst das Lichte, in sich Helle (σαφές). Fr. 16, 17, 18, ‒ 49a (Flüsse, Selbigkeit, Sein und Nichtsein). (9) Logos-Lehre: Problem des Zusammenhangs von Σοφόν und Λόγος? Wie?? Logos ist die Gliederung des gelichteten Seins, das Gesetz und die Struktur; die „Lese“. Logos primär nicht das Sagen, Reden; nicht das Woher ist die ursprüngliche Sprache, sondern die vorgängige Gliederung des Verstehens von Sein. Das in sich gegliederte, differen­ zierte und gesammelte Sein ist die Macht des logos. Fr. 1, 2, (logos = ξυνόν) 72. Logos-Lehre Heraklits alles andere als eine Personifikation: Hellenismus? Dasselbe Problem: wie Σοφόν und Subjektivität, so logos als kosmische Macht und als Möglichkeit des Menschen (Rede). (10) Ψυχή: die Weltstellung des Menschen gerade anders gesehen als in der Metaphysik und in der Neuzeit. Nicht weil der Mensch als Freiheit existiert, ist er das Ausnahmewesen, – „Existenz“ nicht der Vorrang. Weil das Sein sich auf den Menschen zu sammelt und einen Bezug zu ihm hat, als Betroffener ist er ausgezeichnet und gezeichnet. Ψυχή nicht „Seele“ im Sinne einer abgetrennten Wesenheit vom Körper. Seele als das Aufgehen ins Offene. Die Seele ist nicht Licht, aber brennbar; ist nicht von sich aus Flamme, sondern als getroffene. Fr. 45, 109, 115, 11968 |Problem ist Zusammenhang Σοφόν ‒ Λόγος ‒ Ψυχή? Fr. dazu 72, 1 logos und „Gesetz“? Prägung – Lese Transzendenz? logos gehört nicht den Dingen und nicht dem Subjekt an, sondern dem Räumen des Offenen. Seele und logos 115, 45, 119 |Disposition der 20. Stunde Thema: sophon ‒ logos ‒ psychē 1. 2. 3.

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logos als Lese. Umgekehrt: nicht die Vernunft in den Dingen, sondern die Weltvernunft und der Mensch. logos als die Artikulation, die prägende Gliederung: das Seiende ist logisch, ist gesammelt und entzweit. Der logos nicht in der Seele, sondern im Lichtraum des sophon. Das aus der Φύσις heraustretende Seiende ist struktural.

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4. 5.

6.

Nicht die Transc‹endenz› des Menschen ist die Lichtung. Wie kommt der logos zur Seele. Psyche: keine Psychologie, sondern die Stellung des Menschen, der Weltort „suchte mich selbst“.69 Die Teilnahme am Weltfeuer. Die Seele kein Seiendes, sondern das Sein des Menschen als des weltoffenen. Selbstmehrender logos

|21. Stunde: Zusammenfassung der Heraklit-Interpretation im Begriff der Φύσις und des Αἰών: Sein und Werden Das Seinsproblem Sein und Schein Parmenides’ Grundfrage: die Entdeckung des Seins. Φύσις und ἐόν: Die Teile des parmenideischen Lehrgedichtes: I. Teil a.) Negativ b.) Positiv II. Teil doxa. |Die Theologie 79, 83, 102, 67, 62, 78 Fr. logos 1, 2 (logos und ξυνόν), 72, 45, 115 „Sein“ 16, 17, 18, 49a, 50 ξυνόν 113, 116 Δίκη 28 (23) Σοφόν 32, 41, 108, 113 Ψυχή 45, 101, 115, 119 (ἤθος – δαίμων) Αἰών 52 Φύσις 60 (ἄνω κάτω), 112, 123 Wachen-Schlaf 89, 75 |70Disposition der 16. Stunde Wiederholung: Überschau über die Dimension des heraklitischen „Gegensatzes“. Die Ineinssetzung des Gegensätzlichen tilgt nicht den Gegen­ satz, sondern umgreift ihn. Der gewöhnliche Gegensatz ‒ der ontologische Gegensatz ‒ der „phy­ siologische“ Gegensatz.

Leben und Tod 1.) Hades-Dionysos Licht und Dunkel 2.) Berührung als „Ergӓnzung“: Fr. 26, 21 3.) πόλεμος: Fr. 53 4.) Bogen – Leier: 48, 51, Platonstelle „Sophistes“ 525

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5.) ἓν-πάντα: Fr. 10, 88 6.) Theologie: die Weisheit, die das Ganze weiß, ist keine πολυμαθία Fr. 40,71 die wesentliche Wahrheit: die der Gott hat. 79, 83, 102, 67. Für Gott ist das wesentliche Wissen. Im Fr. 67 ist der Gott selbst die harmonie aphanēs. |Voraussetzungen der Metaphysik: Sein am Seienden Subjekt-Objekt Vernunft = selbsthaft Helle der alētheia als gegeben, nicht auf dem Grunde der Nacht Vereinzelung und Erscheinung Geist löst sich aus dem Naturgrunde ab. Das Sein ist am Seienden: d. h. die ontologische Differenz ist vollzogen; das Seiende ist. |Gang der Vorlesung: (1) Überblick: Thesen: a.) allg‹emeiner› Charakter der Vorsokratiker b.) ‹bricht ab› c.) ‹bricht ab› (2) Φύσις-Frg. ‹Fragmente› (3) Sein und Werden und die anderen Grundfragen. Heraklit sagt die spekulative Einheit von Allem ἓν-πάντα aus; Dionysos-Hades. Selbsthaft. Subjekt-Objekt72 Zu (1): Grenze der Metaphysik: ‹bricht ab› |I. (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8)

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Symbolische und eigentliche Philosophie Metaph‹ysisch›-aristotel‹ische› Interpretation der ὕλη? Grenze der Metaphysik?? Das Sein am Seienden! Dinge ‒ Welthelle (Σοφόν ‒ Λόγος) Vereinzelung ‒ Erscheinen und Vergӓnglichkeit Das Offene als Offenes d. h. auf dem Grunde der Nacht Die ἀρχή: der Ursprung: die Φύσις Unerhörte Möglichkeit der Philosophie: Wissen des Ursprungs des Seienden aus dem Sein

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II. Interpretation der Φύσις-Frg. ‹Fragmente› III. Sein und Werden |(1) Überblick über die bisherige Exposition der heraklitischen Philosophie: eine unerhörte Möglichkeit der Philosophie. Das Denken, das die Wahrheit des Seins selbst aussagt: „Dinge“ ‒ „Weltaufbruch“ – Helle Sichzeigen (Erscheinen) ‒ Fügen ‒ „Vereinzelung“ ‒ Objekt-Subjekt ‒ Weltstellung des Menschen ‒ |Überblick über Heraklit: (1) Deutung ist schon die Anordnung der Frag­ mente. Symbolische und eigentliche Philosophie. Die „Metaphysik“ als fragwürdige Basis: die Metaphysik denkt das Sein am Seienden: der Vorrang des Dinges (nicht des Naturdings). |(Nach den Weihnachtsferien) Die Philosophie Heraklits haben wir in einem Überblick kennengelernt; von den 130 Frg. haben wir mehr als die Hälfte vorgelegt. Es kommt darauf an, die Idee der Philosophie zu begreifen, die in den Denkern des Anfangs wirklich war und deren Ansprüche uns aufrufen ins Wagnis einer geistigen Nachfolge, die das Fundament ‹bricht ab› 1.) Interpretation ist die Anordnung der Frg. ‒ die Unterscheidung zwischen symbol‹ischer› und eigentl‹icher› Philosophie ‒ Symbolisch? Dimension? Aristoteles: ὕλη = Feuer. Fragwürdige Basis ist die Deutung einer bestimmten ὕλη. Ist das Grundsein im Sinne der ὕλη überhaupt der Gedanke Heraklits? ὕλη als eine Weise des Grundseins, des Anfangseins. Das Feuer Heraklits ist vor allem das Licht, kein Seiendes, die Dinge und das Licht: Σοφόν und Λόγος. Weltstellung des Menschen. Ψυχή: das Erscheinen? Dinge erscheinen. |Die Philosophie des Anfangs denkt das Sein, denkt es als das Bleibende, ὕλη. Interpretation der metaphysischen Philosophie. Vormetaph‹ysik›: das Bleiben des Ursprungs: Sein als das Thema der Philosophie von Anbeginn: Sein und Werden, Sein und Schein, Sein und Denken. Von ‹bricht ab› |Nicht sind die Dinge schon „vereinzelt“ und dann erst nachtrӓglich fӓllt die Helle über sie ‒ die Unverborgenheit (alētheia) ist kein ihnen ӓußerlich Zustoßendes oder etwas, was erst das Vorhandensein des Menschen voraus­ setzt. 527

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Im Gang in die Vereinzelung gehen die Dinge in die Helle, wo sie sich zeigen. Dingsein und Erscheinen ist eins. Die Sphӓre des Erscheinens ist auch das Reich der Vereinzelung und das Reich der Vergӓnglichkeit. Die Zeit ist das Vereinzelnde, Erscheinenlassende und Wӓhrenlassende. [Bei Kant ist auf dem Boden der Subjektivitӓt dieser Doppelbezug zwischen Dingsein und Erscheinung-sein gesehen!!] |Die Philosophie H‹eraklits› im Umriß ihrer Grundbegriffe. Symbolische und eigentliche Philosophie Dabei sind wir im Ausgang von den Texten abgekommen von der vulgären Deutung Heraklits als des Gegners der Beharrlichkeit der Dinge. Weder ist für Heraklit das Dingsein Bestӓndigkeit noch Unbestӓndigkeit, sein wesentliches Denken hӓlt sich gar nicht auf im Raume einer Interpreta­ tion der Dinge. So wenig wie er auch ein Ding zugrunde legt. Aristoteles’ Interpretation! Feuer als ὕλη?? Symbolische Philosophie und eigentliche Philosophie Feuer = Licht. Licht = das in sich selbsthelle Sein: das Offene, der Zeitraum, das, worin die Dinge sind. |Disposition (1) Keine Leugnung der Beharrlichkeit der Dinge. Nicht die Deutung der Dinge. ‒ Das Offene. (2) Das Offene und die Dimension der Metaphysik (3) Über das Offene hinaus: die Φύσις. (4) Φύσις-Frg. ‹Fragmente› (5) Die Grundfrage Heraklits: Sein und Werden |1.) 2.) 3.) 4.)

Sonette an Orpheus Parmenides-Seminar: Gang der Γυμνασία Vorlesung: Heraklit und Parmenides Briefe73

These: Heraklits Philosophie ist exponiert im Raume des Problems von Sein und Werden. Das „und“ ist dabei das Entscheidende. Es ist keine Zusammenstellung von zwei in sich selbst verständlichen Titeln, die auf ihren Bezug hin untersucht werden. Das Sein ist Werden, ist Zeitigung. These: Parmenides’ Philosophie fragt in den Zusammenhang von Sein und Schein. Heraklits’ Feuerlehre: das Licht ist das „Offene“, das allen Dingen Zeitraum und Erscheinen gewӓhrt. Das Licht und der Schein 528

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Doppelsinn von Schein, Anschein und Vorschein |Die Metaphysik denkt das Sein am Seienden. Heraklit denkt das Sein als „Ursprung“ des Seienden. Solange ein Seiendes als ἀρχή bestimmt wird, ist die Vorme­ taph‹ysik› gleichsam nicht ihres Problems mӓchtig; erst wenn sie das Sein als Ursprung des Seienden denkt, kommt sie zu sich selbst: bei Anaximan­ der. Das gewöhnliche Dasein ist nur eingestellt für die Dinge, und ist schon blind für die Aufgabe einer metaphysischen Besinnung auf das Sein des Seienden. Um so ferner ist ihm die Möglichkeit, noch hinter die Vorausset­ zungen der Metaphysik zurückzugehen und das Sein an ihm selbst, d. h. als den Ursprung des Seienden zu begreifen. Das Fragen Heraklits wirft uns zurück auf eine Aufgabe, die unserem Dasein bevorsteht, noch ursprünglicher zu denken als die Metaphysik. Die Grundfragen der Philosophie sind vierfach: Sein und Nichts, Sein und Werden, Sein und Schein und Sein und Denken. Diese vier Fragen beherrschen die Metaphysik; aber auch das vormetaph‹ysische› Denken. |Heraklits Denken ist das Erdenken des Ganzen des Seienden; das Ganze aber ist nicht der Inbegriff von Dingen; Dinge und undingliche Seinsmächte: Seiendes und das Licht. Das Licht als das Σοφόν, als übergrei­ fende Einheit von Subjekt und Objekt. Das Licht ist ursprünglicher als die Transzendenz des Daseins. Weltstellung des Menschen, Wesen der Ψυχή: Wohnort des Λόγος. Das Ganze der ἁρμονίη ἀφανής: Φύσις und die Lichtung des Seins, des Hervorkommens der Dinge. Welthelle und Weltnacht = Dionysos und Hades (1) Disposition. Fr. 123: Φύσις κρύπτεσθαι φιλεί. Begriff des Ganzen, der Weltnacht; „Tag und Nacht“. Fr. 57: Tag und Nacht sind eins (wie πάντα – ἓν) (2) Fr. 60 ὁδὸς ἄνω κάτω μία καὶ ὡυτή. Wesensbestimmung der Φύσις und ihres Bezugs zur Helle und zum Vielen. Weg der Bewegung. Zeit: Sein und Werden (3) Fr. 112: physis als das Letzte (4) Fr. 52 aiōn: die Zeit und ihr Spiel |Σοφόν ‒ Λόγος ‒ Ψυχή Der Zeit-Raum der währenden und erscheinenden Einzeldinge als Ganzes ist die Sphӓre der Vergänglichkeit, die Sphäre des „Seienden“: dieses Seiende ist durchmachtet von der Helle (vom Licht) und vom Gesetz der Fügung (Λόγος), ist der Katarakt der Vergänglichkeit, der Weltsturz, wo 529

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Vereinzelung und Aufscheinen geschieht. Heraklit denkt das Ganze des „Seienden“, indem er die Helle des Offenen denkt und die darin waltende Macht des logos. Und so begreift er den Zeit-Raum der Welt als den offenen Bereich des Seienden, des auseinandergegangenen Seins: das Sein ist im Offenen als Werden (als Entstehen und Vergehen). Das Entstehen des Entstehens aber ist das Problem des Ursprungs. Entstehen und Vergehen ist eine Weise, wie Seiendes ist. Das Walten der Zeit ist der Bereich des Offenen. Nichts steht, alles ist im Wandel; im Umtrieb des Wandels aber ist der Übergang ins Gegenteil. Gegenteilig ist alles Seiende, weil es „im Wandel“ steht. Dies aber ist nur die Vordergrundsansicht der Heraklitischen Philosophie. ‒ Der Wandel (die Zeitlichkeit alles Seienden) ist | kein Thema, das „metaphysisch“ gefaßt wäre: nicht als eine ontologische Interpretation des Seins des Seienden, sondern tiefer: die Zeitlichkeit ist das Spiel der Zeit und des Seins! I (1) (2) (3) (4) (5)

Φύσις κρύπτεσθαι φιλεί74 ὁδὸς ἄνω κάτω μία καὶ ὡυτή75 Tag und Nacht = eins σωφρονεῖν ἀρετὴ μεγίστη76 Αιὼν παὶς παίζων77

II Das Problem Heraklits: Sein und Werden Diese Frage nach dem Sein keine vergangene und keine „aktuelle“, sondern eine Grundfrage der Philosophie; 1.) Sein kein Seiendes 2.) Sein am Seienden 3.) Seiendes aus dem Sein Sein und Werden? Das Sein zeitigt sich als das Werden und ist so ständig Sein und Nichtsein in eins verschlungen. Das Werden ist die Tätigkeit des Seins, sein Weg, seine Bewegung. |Vorrang des Dinges (der Substanz) Ding und Sein Das Sein am Seienden Der Dualismus von Sein und Seiendem als metaph‹ysisch›, steht trotz aller Spannung noch innerhalb der Welthelle. Die Welthelle: der Weltfeuerschein Der Zeit-Raum des Σοφόν: Heraklit und Anaximander: das Bleiben des unvergänglichen Einen im Vergehen der Vielen. Das Reich des Vielen, des Vereinzelten und Erscheinenden = des Her­ vorkommenden. 530

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Heraklit denkt diese Einheit des Vielen. I. Einheit des Vielen in der Helle des Σοφόν : Λόγος : Ψυχή. II. Einheit des Vielen in der Φύσις III. Φύσις und Welt: Spiel des Αιών. |Lassalle περιέχον (1) = θεῖος λόγος (2) kein Heraklitischer Ausdruck, gehört den Commentatoren an. (3) = das Allgemeine (4) περιέχειν = Umgeben (deswegen kann τὸ περιέχον die Atmosphäre auch heißen) (5) = das Umfangende, alles Durchlaufende, sich durch alles Ziehende; das Hindurchgehende. περιέχον = τὸ ξυνόν |Wie stehen folgende Motive zusammen? Grenze der Metaphysik, Sein und Seiendes (I. kein Seiendes, II. am Sei­ enden, III. Ursprung des Seienden), Dinge und ‒ Vereinzelung, Vergӓnglich­ keit, Erscheinen, das „Offene“ vor Subjekt und Objekt, Σοφόν, Λόγος, Ψυχή, ἓν – πάντα – εἶναι, nicht das Ding ist Modell des Seienden, son­ dern ‹bricht ab› Die Philosophie Heraklits, die unter der landläufigen Kennzeichnung ein­ geht eine‹r› Flußlehre, ist alles eher als eine Leugnung des beständigen Seins. Sie sucht nicht das Bleibende im Ding, sie macht überhaupt nicht die Natur des Dinges zu einem expliziten ontologischen Thema. Die Vorso­ kratiker fragen nicht nach dem Ding, warum nicht, nicht weil dies Problem vergessen, vielmehr weil sie das Seinsproblem ursprünglicher ansetzen als die Frage nach dem Dingsein des Dinges. Nicht die Seiendheit des Seienden, nicht die Substanzialitӓt der Substanzen ist ihr Problem, sie überfragen alles dinglich-Seiende. Dinge sind je einzelne und sind zeitweilige und erscheinende. Zeitweiligkeit, Vereinzelung und Erscheinung werden als Fragehorizonte „ursprünglicher“ und einheitlicher begriffen. Problem ist das Seiende im Ganzen (und dabei ist es offen, ob dieses Ganze | als Sein oder als Seiendes zu denken ist). ‒ Die Dinge sind im Wirbel des Vergehens, des Erscheinens und der Vereinzelung: die Dinge stehen im Offenen, in der Helle des Weltfeuerscheins, der ein Vernünftiges ist, das Σοφόν, das die Dinge vereinzelt, erscheinen und währen lӓßt. Im Σοφόν ist die Einheit der πάντα (der vielen Dinge) da ‒ aber als Einheit des schon ausgegangenen Seienden; aber diese Einheit ist nicht die entscheidende; die Einheit des Ursprungs ist, was Heraklit denkt. Das Offene ist der Raum der abendlӓndischen Philosophie; die alētheia als vollzogen. 531

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Die Offenheit wird vernommen in der Ψυχή, aber mehr noch: die ἀλήθεια als solche auf dem Grunde der Nacht. Indem die Philosophie zum Erscheinenden, Vereinzelten, Vergӓnglichen den Grund, die arché, den Ursprung denkt, denkt sie das Verborgene, das All-Eine, das Unvergӓngli­ che: denkt sie die Φύσις. Der Φύσις-Begriff Heraklits ist kein phӓnomena­ ler, kein Teilbereich des Wirklichen und des Vereinzelten, Vergӓnglichen, Erscheinenden. Die Φύσις ist das immer gegenwӓrtige Sein, aus dem das Seiende entspringt. Natur weder als Naturmacht noch als physikalischer Begriff. Φύσις ist das Sein, sofern es als der unbegrenzte, immerwӓhrende, unentstandene, unerschöpfliche und unzerstörbare Grund aller Dinge gedacht wird und nicht als das ὑποκείμενον, ὕλη (also als eine Weise, wie das „Ding“ bleibt). |Heraklit zusammenfassen: ὕλη: (metaphysische Interpretation) das Blei­ ben im Wandel Feuer als das Bleibende, kein Stoff, das Licht. Das Zugrundeliegen die ursprünglichste Form des Bleibens. Wir sind gewohnt, das Zugrundeliegen ontisch zu denken; aber es ist sehr die Frage, ob nicht das ursprüngliche ὑποκεῖσθαι eine Weise des Seins ist. I. Das Sein ist kein Seiendes; II. Das Sein ist am Seienden; III. Das Seiende ist aus dem Sein. Metaphysik und ihre Grenze. Alle Probleme der Philosophie sind bei Heraklit da, ebenso bei Par­ menides: Das Seinsproblem ist vierfӓltig: S‹ein› und N‹ichts›, S‹ein› und W‹ahrheit›, S‹ein› und Sch‹önes›, S‹ein› und D‹enken›. |Begriff des Erscheinenden (sich Zeigenden), Hervorkommenden. Das Seiende ist ein Vorkommnis des Seins. Das Sichzeigende steht im Offenen, im Hellen, in der gelichteten Weite der Welt, Welt umfӓngt das waltende Ganze. Die Φύσις aber ist nicht in der Welt; die Welt ist die aufgegangene Φύσις. Das Seiende = das Ding = der Gegenstand = das Objekt ist ein Sich­ zeigendes in der Helle der gelichteten vernünftigen, vom Λόγος geprӓgten Weite des Offenen. Sichzeigen, Erscheinen ist zutiefst nicht eine erkenntnis­ theoretische Sache, sondern ursprünglicher eine Weise des Hervorgangs der Dinge aus einem Grund. Das Aufgehen des Offenen zeigt den Bereich des Entborgenen als einen Raum des Werdens. Das Sein als Werden ist das Hervorgehen des werdenden Seienden aus dem Grunde des Seins. |Die Φύσις ist der Gegenbegriff zur Welthelle (zum „Tag“). Das Feuer kommt aus dem nächtlichen Dunkel der Φύσις und erhellt sie. Das Licht lӓßt sonst 532

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in solches sehen, was schon ist. Die Dinge sind vor dem Erscheinen nicht schon vereinzelt, weil das „Erscheinen“ nicht gleich ist mit Gegenstandsein für ein erkennendes Subjekt. Erscheinen = ins Licht kommen, zum Vorschein kommen. Die Dinge im Zeit-Raum des Offenen sind hervorgekommene, vorgekommene, „Vorkommnisse“ des Seins ins Seiendsein im Offenen. Heraklit denkt über die Dinge in das Σοφόν, in die Welthelle, und durch diese in das Weltdunkel des verborgenen Ursprungs. Φύσις κρύπτεσθαι φιλεῖ.78 Die Φύσις ist der Grund des Vielen, das Dunkel der Grund der Helle, Hades der Grund des zerstückelten Dionysos, die Verborgenheit der Grund des Offenen ‒ die Weise, wie hier „Grund“ verstanden ist, ist einzigartig; umfangender Ursprung!! Die Verborgenheit ist das nur, weil sie das ins Licht Lassende ist, das Ewige, weil es das Zeitigende ist ‒ der Weg ist alles. Weg des Seins ins Seiende: ὁδὸς ἄνω κάτω …79. Der Weg ist erst der Umkreis des „Ganzen“: des Seienden im Ganzen. Die Philosophie der vor-metaphysischen Zeit ist das denkende Erfassen des Ganzen: das Denken des Weges des Seins. Das Sein ist auf dem | Wege in die Vereinzelung, Erscheinung und Zeitlichkeit. Die Φύσις und das Offene (mit den Dingen) ist ein Lauf: die Zeit. ‒ Heraklit denkt diesen Lauf als einen Weg ἄνω κάτω. Das Ganze ist Weg, ὁδός! Kein Weg von-zu, vielmehr eine Bewegung: das Offene ist auch das Verschlossene, das Sein ist die Einheit des Offenen und Verschlossenen: des Einen und Vielen, des Tages und der Nacht. Die Φύσις ist das umgreifende Ganze; innerhalb ihrer ist das Offene und das, was sonst den Menschen als das Seiende gilt, die Vielfalt der Dinge. ἄρετὴ μεγίστη …80. Fr. 52. Αιών …81. Abschluß: das Problem von „Sein und Werden“. Die Seinsfrage, heute das allgemeine Losungswort. Müssen wir nicht wieder lernen von den frühen Denkern, was die Frage des Seins ist. Sein und Werden: als das Grundproblem Heraklits; was ist das für eine Frage? Das Sein ist das Gesche­ hen der Zeit, in der das Seiende entspringt. Sein nicht der Gegenbegriff zu Werden. Sein wird als Werden begriffen: nicht das Werden von Dingen, das Entstehen, das Werden von Seiendem aus Seiendem, sondern das Werden des Seienden aus dem Sein. |Dinge = (Seiendes) stehen schon in der Helle, im gelichteten ZeitRaum der Vergӓnglichkeit und des Erscheinens und der Vereinzelung: und in diesem dreifachen Bezug zu einander sind sie durchwirkt von der Macht des Σοφόν und des Λόγος und sind als im Offenen stehend vernommen vom Menschen, der noch ein Tieferes vernimmt: die Einsheit des Vielen: die Weltstellung des Menschen: er ist der Ort der Wahrheit nicht nur über das Seiende, nicht nur über das Σοφόν und den Λόγος, sondern über die Einsheit von allem: diese Wahrheit ist die Weisheit: das Wissen des Ursprungs des Seienden aus dem Sein. Dinge ‒ „Welthelle“ und die Φύσις! 533

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Dieser Zusammenhang des ἓν und der πάντα ist die Wahrheit des Ursprungs. Das Offene (Vereinzelung, Erscheinung, Vergängnis): und das Verbor­ gene (Verschlossene) Helle (Tag) und Nacht sind eins!? Die Φύσις: ist nicht ein Bereich im Ganzen der Dinge, nicht die Natur im Gegensatz zur Geschichte und zur Kultur, ist überhaupt kein Bereich des Seienden, sondern ist der Grund alles Seienden. Und diese Φύσις liebt das Verbergen. Die Helle aus der Φύσις: in der Helle erst zeigt sich die Verborgenheit, d. h. erst in einem Denken, das die Helle als Helle begreift. Das frühe Denken ist also nicht „naiv“, sondern es bedenkt | gerade noch eigens, was in der Folgezeit vergessen wurde: die Helle selbst als auf dem Grunde des Dunkels. Die Philosophie (vor der Metaphysik) erfӓhrt die Verborgenheit der Φύσις. Diese Verborgenheit ist der Gegenbegriff zu der Helle des Offenen, des Σοφόν. Damit ist der Ursprung das Thema der Philosophie.82 (1) Philosophie H‹eraklits› = symbolische und eigentliche Philosophie Flußlehre: Dinge Aristoteles’ ὕλη (2) Bereich der Dinge: Erscheinen, Vereinzelung (3) Offene: Seiende im Ganzen |83Fr. 1: logos alles Geschehende seinlassend / Naivitӓt der Menschen als Schlaf Fr. 2: logos ξυνός: die Vielen glauben eine „eigene“ Einsicht zu haben 16: Sein: als das nimmer Untergehende 17: Sein: immer da, aber zumeist nicht erkannt 18: Sein: ἐλπίς 23 23 } ǻ઀țȘ 28 28 32: Σοφόν: Ζεύς 41: Σοφόν: Verstehen des sophon, das alles steuert 45: Seele Grenzen 49: Wir sind und sind nicht (Flüsse) 50: Λόγος: alles eins, ἓν πάντα 52: παὶς παίζων 60: ὁδὸς ἄνω κάτω 72: Λόγος und Sein (Naivitӓt der Indifferenz) 534

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75: 89: 101: 108: 112: 113: 115: 116: 119: 123:

Schlaf Schlaf Selbst erforscht κεχωρισμένον (λόγος, Σοφόν) ἄρετὴ μεγίστη : κατὰ φύσιν Gemeinsamkeit des Denkens (φρονεῖν) für alle Seele selbstmehrender logos Gemeinsamkeit (wie 113) Ethos ‒ Dӓmon Φύσις κρύπτεσθαι φιλεῖ

|Zitierte Heraklit-Fragmente in der Vorlesung: Grundfragen der antiken Philosophie W.S. 1947/48:84 Fr. 92, 125a, 121, 34, 93, 64, 11, 100, 94, 30, 76, 90, 126, 111, 58, 61, 80, 8, 54, 15, 103, 10, 51, 48, 53, 102, 28, 75, 89, 1, 43, 113, 116, 79, 82, 83, 67, 5, 62, 32, 50, 40, 41, 2, 16, 17, 18, 108, 1, 72, 101, 45, 115, 118, 119, 123, 57, 60, 112, 5285 |Das Aufgehen des weder „subjektiven“ noch „objektiven“ Geschehens der Lichtung. Die Lichtung ist nicht die „Transzendenz“ des Daseins.86 Disposition der 21. Stunde: Zusammenfassung Heraklits: (1) Philosophie ist eine ungeheuere Möglichkeit, Ort zu sein der Welt­ helle, Mehrung des logos, (2) Dinge – Λόγος – Σοφόν ‒‒‒ Φύσις Ψυχή87 Die Φύσις als das Verborgene, in-sich-Verschlossene, das Sein ist stӓrker denn seine Lichtung. Die Welthelle und das Weltdunkel Der „Tag“ und die „Nacht“ „… tiefer als der Tag gedacht …“88 „In der Nacht sucht der Mensch das Licht …“ Die Metaphysik denkt das Offene im Offenen, ohne es auf dem Grunde der Nacht zu sehen. Aus dem Abgrund der verborgenen Φύσις steigen alle Seienden auf: das Sein am Seienden! |Das Seiende als Gezeitigtes, Vereinzeltes, Gelichtetes, Erscheinendes, Sichzeigendes. Das herausgegangene Seiende ‒ das Sein am Seienden und die Welthelle.

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Φύσις ist der Ursprung, der Schoß der Zeit, der Schoß des Lichts. Aber sie ist auch das Allgegenwӓrtige, das nicht ein Begrenztes ist, das verstellt und doch immer da ist. Unsichtbar ist die Φύσις doch „in“ allem Sichtbaren, unbegrenzt in allem Begrenzten, unvergӓnglich in allem Vergӓnglichen. Das Dunkle im Hellen, das Unvergӓngliche im Vergӓnglichen, das Unbegrenzte-Unerschöpfliche im Begrenzten und Erschöpflichen, das Zeitlose im Zeitlichen, das Raumlose im Rӓumlichen, das Sein in allem Seienden. Dinge ‒ „Subjekt“ ‒ Helle (πῦρ, Σοφόν) Dunkle Φύσις |Konzentration auf den Gedankengang: (1) Aufgabe: „ursprünglicher zu denken als die Metaphysik“. Ursprüngli­ cher = den Ursprung zu denken: das Sein als das Werden zu denken. (2) Die Licht-Tendenz der abendl‹ändischen› Metaphysik; sie denkt nicht den Grund, aus dem her sie ist; vgl. Schelling: der „Grund in Gott“, die Sucht (Sehnsucht) („Gottheiten von Samothrake“). (3) Was heißt dies: das Sein ist der Ursprung des Seienden‹?› |Thema der 22. Stunde: (1)

Sein und Werden: als Grundproblem Heraklits ist eine Gestalt der Seinsfrage. Die Seinsfrage geht durch die vormetaphysische und die metaphysische Philosophie hindurch. Aufgabe: „ursprünglicher zu denken als die Metaphysik“ = den Ursprung zu denken. Wie kommt das Sein in die Vielfalt des Seienden, wie geht es so „auseinander“? Das „Auseinander“ ist eine Weise des Seienden als des ausgegangenen Seins (Dionysos). Das Abgründig-Eine (der Hades)! Das Sein oder die Φύσις ist das Ganze des Weges, der Bewegung. Das Ewige fӓllt in die Zeit, das Unsterbliche in die Sterblichkeit, das Unerschöpfliche in die Erschöpfung. Das Verschlossene „bleibt“ nicht in sich und das „Aufge­ gangene“ bleibt nicht das Endliche, sondern in eins geht der Weg ἄνω κάτω. Das Sein „geschieht“ im Ausspielen der seiendsbildenden Kraft. |(2) Sein und Werden: nur eine Gestalt der Seinsfrage. Sein und Schein: das Herausgehen des Seins ist das Scheinen im Offenen (im Menschen­ land). Das Sein ist Ferne. Nah ist den Menschen das Scheinende: τὰ δοκοῦντα. Das Sein ist verborgen im Wesensgrunde.

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Das Bleiben des Seins = Vormetaphysische Philosophie Das Wesen des Seins Das Bleiben des Seienden Metaphysische Philosophie Das Wesen im Seienden Die Metaphysik denkt Einsichten der physiolog‹ischen› Philosophie um in den Bau des Dinges (= des Seienden). |Das Eingangsfragment beginnt mit Tag und Nacht, also gerade mit sol­ chem, das nur eine ausgedachte, aber unwahre Hypothese sein soll. Die symbolischen Figuren, die entrücken, gehören selbst in das Reich des Scheinens; die Heliaden sind scheinende Göttinnen, also aus dem Schein entrückt das Scheinende (die Heliaden). Irgendwelche Rosse? Die Rosse des Hēlios? Das Wagengespann des „Phaeton“. Vgl. dazu Platons Phaidros, der Aufstieg im Gefolge des Zeus und an den Rand des Himmels. Der vielberühmte Weg = der Weg der Sonne oben am Himmelsgewölbe. Der Weg hat den Charakter des „Sonnenaufgangs“. Die Heliadenmӓdchen eilen voraus dem Sonnengott. ἔνθα. „Dort“ ist Gegenbegriff zum „Hier“. Das Aufgehend-Verschließende ist das Doppelreich von Tag und Nacht: dort ist die Tür und der Türsturz und die Schwelle. Das „ӓtherische Tor“ mit den Türflügeln. Das Tor als der Übergang. Dikē, vielstrafende, wechselnde Schlüssel?? Dikē an der Grenze von Offenem und Verschlossenem (Tag und Nacht). Was ist Dikē: die Verwalterin des Seins‹?› Die „öffnenden“ Heliaden sprechen der Dikē zu und diese | öffnet ‒ außer der Reihe und außer der Ordnung ‒ das Tor, das in das Haus der Dikē führt. Und die Göttinnen (Heliaden) lenken mitten durch Wagen und Rosse. Göttin (θεά) offenbart nun. Die Eröffnung des Verborgenen (des Seins selbst) und nicht des Seienden. Keine μοῖρα κακή führte diesen „außer­ menschlichen“ Weg; alle Pfade der Menschen sind den Dingen zugewandt und nicht dem Sein. Führer auf dem Weg zum Sein ist Themis und Δίκη. Themis, Dikē??? „Fug und Recht“. Alles erfahren, auch das sonst Verborgene, den Menschen nicht Zugӓngliche. Herz der Wahrheit: die innerste Wahrheit des ganzen Seins, und der Sterblichen Meinungen (?). Ist dies schon eine Reflexion auf die Subjektivitӓt und ihr Meinen, oder ist die Menschen-Meinung der Bereich des Scheinens? |Eingangsfragment 1 537

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Rosse auf dem vielgesagten (πολύφημον) Weg tragen … Göttinnen geleiten den wissenden Mann (εἰδότα φῶτα) und wissen den Weg. Heliaden-Mӓdchen (?), die aus dem Haus der Nacht gekommen sind lichtwӓrts = εἰς φάος [Die Auffahrt des Denkers wie die Auffahrt des Sonnengottes: lichtend!!] Heliaden als entbergend, Hüllen zurückstoßend. Licht und Dunkel und Auffahrt ins Licht, und als Lichtung! Dort (ἔνθα) ist die Tür zwischen Nacht und Tag, zwischen dem Offenen und dem Verborgenen. Tor, Tür, zwischen dem Offenen und Verborgenen? Das Tor ist Durchgang, Ausgang des einen ins andere, des Offenen ins Verborgene und umgekehrt. Dikē, die vielstrafende, verwaltet die wechselnden Schlüssel; zunӓchst ganz auf Tag und Nacht hin gesagt: wechseln von Tag und Nacht; (vgl. Heraklit – Dikē und Erinnyen und Hēlios). Der Wechsel des Offenen und Verborgenen ist ein von der Dikē, der „Fügung“, verwalteter: nach ewiger Ordnung geht er vor sich. Der Zugang des Denkers erfordert, daß das Seiende sich ausnahme­ weise lichtet!! |„Auffliegend“ öffnet sich das Tor … Haus der Δίκη mit den zwei Türflügeln für Tag und Nacht. Δίκη nimmt freundlich auf und gibt die Hand und spricht den Menschen an (im Bunde mit den Unsterblichen). Keine μοῖρα κακή, sondern θέμις καὶ Δίκη ἐκτός: außerhalb des Menschlichen ist dieser Pfad Alles erfahren: ‹das› unerschütterliche Herz der wohlgerunde­ ten ‹Wahrheit› und die δόξας βροτῶν, in denen keine πίστις ἀληθής ist.89 Wie das Scheinende scheinend notwendig ist durch alles hindurchge­ hend. |Die „lichtwӓrts“, zum Geist tendierende Entwicklung der abendlӓndischen Metaphysik: die Ablösung aus dem Naturgrunde, aus dem „Materiellen“, von der Φύσις weg, zum „Absoluten“ (das christlich mitgefärbt ist). Platonismus, Neuplatonismus, Gnosis: Erdfeindschaft. Das ins „Licht“ steigende Denken löst sich ab, wird „vergeistigt“. – Nietzsches Einwand gegen den „Platonis­ mus“ ist in einem wesentlichen Sinne berechtigt. Die sublime, vergeistigte Tendenz der Metaphysik ist ein Herausfallen aus einem bergenden Grund. |Hegel über Parmenides in seiner Geschichte der Philosophie (1) Allgemein über die Eleaten: Gedanke ganz für sich selbst, frei. ‒ Anfang der Dialektik als der Bewegung des Gedankens. Gegensatz des Denkens gegen die Erscheinung (sinnliches Sein), des Ansichseins gegen das Füreinandersein. [Faßt Hegel hier den „Schein“ nicht subjektiv als „Anschein“??] 538

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Hegels konstruktives Schema für die Eleaten: a)

Der reine Gedanke (das reine Sein) als Eins (νοούμενον) setzt sich gegen das Andere als das Nichtige. b) Aufzeigen der Nichtigkeit des Anderen c) Setzen des Anderen (2)

des Aristoteles’ Unterscheidung: das Eins dem Begriff nach = Parme­ nides das Eins dem Stoff nach = Melissos (3) Xenophanes: das Seiende ist = ewig, unwandelbar, unverӓnderlich, ἀΐδιον; kein Entstehen und Vergehen. Unmöglich, aus dem Nichts entstehen weder aus90 ‹bricht ab› Unmöglich ein Entstehen aus dem Seienden Unbegrenzt, ohne Anfang und Ende Unbeweglich Wahrheit und Meinung (4) Parmenides: bestimmter der Gegensatz von Sein und Nicht-Sein. „Majestӓtischer Eingang“. Lehre von der Wahrheit und Lehre von den menschlichen Meinungen (?) (?) |(5) Zwei Formen der Meinungen (von denen die eine Form nicht sein sollte) = das Nichtseiende reprӓsentiert Licht und Dunkel und Lockeres und Festes [vgl. Reinhardt] das „seiende“ und das „nichtseiende“ Prinzip In der Mitte der Krӓnze (στεφάναι) sei ‒ nach Plutarch ‒ die Göttin (δαίμων), κυβερνήτης, κληροῦχος (Verleiher), Dikē und Notwendigkeit (6) Hegels Darstellung von Parmenides’ Auffassung von Empfindung und Denken (αἴσθησις und νοεῖν) |Die Γυμνασία im platonischen Parmenides und das Lehrgedicht des Par­ menides? Die 3 Gӓnge der γυμνασία und die 3 Wege des Lehrgedichts? Liegt hier eine Entsprechung? |Disposition für Heraklit (1) (2) (3) (4) (5)

Feuerlehre. Übergang zu Zeus Gegensӓtze (Paradoxien) „Bogen und Leier“ „Sein“ (Σοφόν ‒ Δίκη ‒ Ψυχή) Δόγος Φύσις: ὁδὸς ἄνω κάτω μία91

Feuerlehre und der Blitz

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Der Blitz ist das erhellende Lichten, das aufgeht aus der Dunkelheit der Φύσις und sie gerade als das gewaltige Dunkel zeigt. Aus ihr wirkt das Licht, das sie übersteigt. Der Blitz ist wie die τάξις τοῦ χρόνου: er ist, er bildet den Raum, das Worin der Gegensӓtze; er ist die Entgegensetzungssphӓre. Der Blitz lichtet den Raum, aus dem die Dinge gegensӓtzlich sich gegen­ einanderstellen. Im Licht des Blitzes überholt die Φύσις alles in Gegenseitigkeit ausge­ legte Seiende. Der Blitz ist der Weltschein der Φύσις. |Lassalles Interpretation (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10) (11) (12) (13) (14) (15) |(16) (17) (18) (19)

Sein – Nichtsein ὁδὸς ἄνω κάτω μία ἓν σοφόν = Zeus πόλεμος (πατήρ) ἁρμονία ἐναντία ῥοή (Plato) Feuer: πῦρ (Austausch-Fug) Klassifikation in den Dingen, der Stoffwechsel Das Eine (= das Werden) = das Allgemeine (ξυνόν) = τὸ περιέχον (?) Das Allgemeine = (εἱμαρμένη) = Λόγος und dikē Weil bestimmtes Dasein ohne „Grund“ ist, ist die Weltbildung das Spielen des aiōn Ψυχή Erkenntnis Wachen und Schlaf Sinne = Lügenschmiede, Lügenzeugen Dikē = Macht des reinen Werdens ἰδέα φρόνησις (= οἴησις) = Wähnen Das Vernünftige = das Allgemeine Heraklits Polemik gegen das Sinnliche als das fixierte Einzelne Philosophie der Sprache. Etymologien

Lassalle erkennt die Zeit und die Φύσις.92 Wichtig und richtig erkennt Lassalle, daß die Bewegung des Werdens nicht ἀλλοίωσις ist. |Bei Heraklit keine Identifikation der Gegensӓtze, keine dialektische Ein­ heit des Verschiedenen, keine „spekulative Idee“. Gegen Lassalles höchst verdienstvolle Heraklit-Interpretation! Bei Heraklit die Berührung der Gegensӓtze, aber nicht nur so wie das Kalte das Warme anrührt. Das Oberweltliche, als das Reich des auseinandergetretenen Seienden, der Zer­ 540

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stücktheit, ist beherrscht vom Wandel, von dem Werden ins Gegenteil (Übergӓngliche), der „harmoniē des Sichtbaren“ ‒ und muß „ergӓnzt“ werden durch die „unsichtbare harmoniē“ zur Einheit mit der „Unterwelt“. Es sind keine „Reiche“, die nebeneinander sind, vielmehr sind sie in einem Weg zusammen (ὁδὸς ἄνω κάτω μία). Die Φύσις, der Abgrund, ist selbst das Licht Setzende, die Zeit Zeiti­ gende ‒ und so ist sie das apeiron, das alles peras, alles Begrenzte umfӓngt. Leben und Tod, Licht und Dunkel. Zeit-Zeitlose, Zeit und Zeitloses. αἰών παῖς πάιζων?93 Das Spiel des Außersichgehens der Φύσις |16. Stunde: Thema ist H‹eraklits› Lehre von den Gegensӓtzen. Die ontische Gegenstellung. Der ontologische Gegensatz als Bestim­ mung alles endlichen Seienden. Alles Vergӓngliche ist übergӓnglich. Hera­ klits Philosophie sagt nicht nur über die Dinge aus; sondern über die Φύσις und die Dinge, über das Sein und Werden. Die Φύσις aber ist das Werden (nicht das im Werden Befindliche). Die Φύσις ist das Licht, weil sie das Dunkel ist (das im Licht Stehende sind die Dinge). Die Dimension der Gegensӓtze ist eine „spekulative“ Gleichung der Gegenteiligen: πόλεμος ist die Entzweiung im Ureinen. Polemos ist zugleich harmoniē. Das Unbegrenzte (die Φύσις) ist Krieg und Frieden, ist das „Eine, in sich unterschiedene, das zusammengeht“. Als Zeit ist es der Horizont des Seins, und als Zeit ist es das Licht, das aufgeht aus dem Dunkel. Leben und Tod, Dunkel und Licht: dies sind die beiden Fundamen­ talgegensӓtze, die keine Gegensӓtze zwischen den Dingen sind (wie kaltwarm). Thema der 16. Stunde ist die tiefere „physiologische“ Fassung der Gegensӓtze. Die metaphysische Gegensӓtzlichkeit ist fundiert. |1. Φύσις (ewiges Sein, zeitlos, raumlos) 2. Raum (Licht) und Zeit 3. die Dinge Die Aktion der Φύσις ist das Hervorgehenlassen und Verschließen Der Weg des ἄνω κάτω

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Bleiben: Einfaches Thales Wandel: Vielfaches

apeiron: alterlos, unerschöpflich, unaufhörlich

Anax‹imander:› ȮəɌɇɑ ɒ‹૵ɋ› ɖɏ‹Ʉμəɒɘɋ› peras: Entstehen und Vergehen (Buße und Strafe) Heraklit. Φύσις ‒ Weg nach oben und unten ‒ Dinge ἁρμονίη ἀφανής Parmenides τὸ ἐόν |Heideggers Heraklit-Vorlesung94 Heraklit Fr. 50 logos 32 physis Fr. 112 108, 41, 77, 64 101, 112 72 60 (wesentlichstes Fr.) 16 Kategorie und Aussage logos = physis = alētheia, sofern es als Lese das vereinigende Eine ist Offenheit des Menschen für das Eine der physis Fr. 45 Bezug von Sein zum Menschenwesen? Metaphysik nicht faßbar, weil alle Metaphysik denkt „Subjekt-Objekt“. Φύσις = ζωή: Aufgehendes-Sichverschließendes (Licht und Luft) Alētheia = Φύσις = Λόγος!! |Das apeiron ist das Sein und das Seiende Ermöglichende, ist die unzerstör­ bare, immer bleibende Zeit, die Zeit lӓßt und zerstört das Zerstörbare, das Unbegrenzte, das begrenzend ist und so die begrenzten Dinge einlӓßt in ihr Geprӓge. |Φύσις: ἐπιστήμη φυσική = Wissenschaft vom Seienden im Ganzen = Wissenschaft von Sein

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|I. Logos ‒ „Sein“ ‒ Σοφόν

II. III.

Ψυχή (Stellung des Menschen) Φύσις Φύσις und Αἰών

|Der weltdurchwaltende logos als die harmoniē aphanēs, er vermeint das σοφόν. Ψυχή: Ort des Menschen: der Wisser und Hüter der unsichtbaren harmoniē des Seins mit dem Seienden. Fr. 115: der λόγος ἑαυτὸν αὔξων,95 der sich mehrende logos ist „der Seele“. Das heißt nicht die Seele hat einen logos, der sich selbst vermehrt, weil die Seele logisch tätig ist. Die Weltstellung der Seele ist damit ausgesprochen. Sie ist der Ort des logos, der alles lenkt, und ist die Hüterin der ἁρμονία ἀφανής. |Die Φύσις ist I. das Bleibende gegenüber den „Dingen“, die entstehen und vergehen und gemischt sind – ‹das› Einfache (Thales) II. III.

ist das Unbegrenzte gegenüber den begrenzten Dingen (Anaximander) ist ‹das› Verschlossene gegenüber dem Offenen

das ἓν gegenüber τὰ πάντα Hades gegenüber Dionysos Sein und Werden Zeitigung ἁρμονία ἀφανής (Heraklit) ὁδὸς ἄνω κάτω IV. ist das „Sein“ gegenüber τὰ δοκοῦντα ὄνομα Sein Menschenschein und Δόξα Schein (Parmenides) Licht und Dunkel |24. Stunde: Parmenides’ ontologische Explikation der Φύσις als „Sein“ 25. Stunde: Parmenides’ Lehre vom „Schein“ 26. Stunde: die Grundfrage des Parmenides und Rückblick auf die Vor­ lesung. Ausblick auf nӓchstes Semester. Ursprung der Metaphysik bei Platon

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|Gott und das „Seiende“ ‒ Gott und die Φύσις?? Das Parmenideische τὸ ὄν ist keine „Abstraktion“ (gegen K. Reinhardt). Substantivierte Neutra: ἄπειρον (Anaximander), πυκνόν, ἄρκιον (Anaxime­ nes), eleatisch: ὄν, ἕν, ὃμοιον ταὐτόν, Heraklits σοφόν usw. nicht nur Quali­ täten, sondern Wesenheiten. ἀγαθόν, καλόν, δίκαιον – K. Reinhardt: ἄπειρον des Anaximander ist Stoff so gut wie das elea­ tische ὄν. Ist dies nicht die aristotelische, also metaphysische Deutung? Parmenides’ ὄν: ὡς ἀγένητον εὂν καὶ ἀνώλεθρόν ἐστιν, οὗλον μουνογενές τε καὶ ἀτρεμὲς ἠδ’ ἀτέλεστον.96 Logisches Sein der Marburger oder Substanz, diese Alternative für K. Reinhardt müßig, weil das ὄν des Parmenides beides ist?!? „Parmenides will Anaximander überbieten …“97 Vorher: τὰ ὄντα, dann τὸ ἐόν Das Sein als das „Begrenzte“?? οὓνεκεν οὐκ ἀτελεύτητον τὸ ἐὸν θέμις εἶναι‧ ἔστι γὰρ οὐκ ἐπιδευές, [μὴ] εὂν δ’ ἂν παντὸς ἐδεῖτο.98 Kugelform als Konsequenz |Parmenides, K. Reinhardt (1) Sein und Schein: Gleichstelle des Gedichts schwach entwickelt (2) διάκοσμον ἐοικότα πάντα, „Weltzustand, ganz wie er scheint“.99 Wi­ lamowitz: nicht wie sie ‹er› erscheint, wie sie ‹er› scheinbar ist. Die Δόξα-Lehre soll nach Wilamowitz eine „konsequente Hypothese“ sein, die „auf eine probehaltige Weise Realitӓt“ hat.100 Βροτῶν δόξα? Ist dies die Menschen-Meinung, mit dem verӓchtlichen Sein? Oder ist es der „Schein im Menschenland“?101 Der Denker steigt auf ‹in› den Bereich des Scheins, des Lichtens und kommt an den Rand, wo Dikē das Tor hütet. Die scheinende Sonne dringt ins Dunkel des Abgrundes und erhellt diesen als das Sein. Der Denker ist der einzige, der wie Orpheus im Hades, die Wahrheit des Verborgenen erschaut.

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|24. Stunde Die Interpretation des Eingangsfragments. Die eigentliche Philosophie des Parmenides. Wege der Forschung. τὸ ὄν102 Das Eingangsfragment zeigt die Denkbewegung, welche die archaische Phi­ losophie versucht im Symbol: das Ungeheuerliche und Über-menschliche, den Standort des Menschen Verrückende: das Denken der archē Nirgends ist diese gegeben, nie treffen wir sie, immer sind wir bei den Dingen, mit anderen Menschen, mit Tieren und Winden und Felsen und Wӓldern und stehen unter den Augen der Himmlischen. Aber diese ganze Welt ist nicht das Feld der Philosophie. Die Φυσιολόγοι fassen sie nicht als das Feld ihres Fragens. Aber nicht, indem sie über die Welt hinausgehen, „metaphysisch“, sondern im Andenken der Φύσις selbst. Diese ist weder die große Erde noch der Himmel, weder Land noch Meer, weder Engel noch Menschen, weder Steine noch Tiere, noch Zahlen, noch Staaten. In all dem ist sie auch als das Umfangende und nie Einzelne. Die Φύσις begreift Anaximander als das Unbegrenzte, das das Begren­ zende ist, als das Unzerstörbare, das zerstört, das Zeitlose, das zeitigt. Φύσις aber ist selbst noch ein „Bild“, eine „Metapher“. |Anax‹imander› = im Unbegrenzten wird mit verstanden das Sein Heraklit = Φύσις als das Spiel der Zeit Parmenides = begreift die Φύσις als das Sein Grundfehler der gӓngigen Interpretation: sie nimmt das ἐόν wie ein einziges, großes Ding Die parmenideische Spekulation faßt nicht im Lichte der Wahrheit des Seins irgendein „Absolutes“, sondern denkt einzig allein das Sein selbst. Das Sein (τὸ ἐόν) wird zumeist übersetzt mit „das Seiende“. Beide Übersetzungen treffen nicht zu, weder die verbale „Sein“ noch die nominale „Seiendes“. Das Sein im Gegensatz zum Schein: das Seiende gegen das Nichtige (οὔκ) und μὴ ὄν Die Wahrheit des Seins, d. h. die Enthüllung der stӓrksten Verhüllung, geschieht allein im Denken. Denken ist dabei nicht das bekannte Vermögen, gleichsam ein Instrument, über das wir verfügen, sondern was Denken ist, zeigt sich erst im Andenken des Seins. Leitbegriff: das Abwesende anwesen zu lassen |Sext‹us› Emp‹iricus› berichtet, daß Heraklit die Zeit als Erstes setzt. Heraklits Sprache nicht mythisch, sondern symbolisch ‒ wie des pythi­ schen Apoll σημαίνει [Idee ist die Φύσις = das σημαίνει] 545

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Winke (Lassalle S. 21) Einblick-Stelle [Hölderlin, „und Winke sind von alters her die Sprache der Götter“103] [Fragwürdige Deutung Lassalles: Apoll = das reine Werden des UrEinen, Dionysos = das Bleiben im zerstreuten Vielen!?] |Falsch ist K. Reinhardts These: Wahrheit über den Wahn (= den Anschein) Gegensatz von Νόμος und Φύσις Der Schein (die Δόξα) ist nicht ein nur subjektiver Schein (wobei, wie Reinhardt meint, die Subjektivitӓt von Parmenides nicht gegriffen werden könne, so daß er bei den Dingen sich Rat holen müsse). K. Reinhardt verwundert sich, daß der II. Teil des Lehrgedichts (Δόξα) beginnt mit einer Setzung der Menschen, und alsbald diese bloßen Gesetzt­ heiten „selbststӓndig“ werden usw., „aus der Erkenntnistheorie erwӓchst, zu unserer Überraschung, eine Kosmogonie ...“ S. 30 Ich interpretiere: das ὄν scheint (vorscheint) und im Vorschein des ὄν steht der Mensch und nennt das Scheinende. Recht hat Reinhardt mit der These, daß die beiden Teile des Gedichts zusammengehören und so ein Ganzes ergeben. |Ewigkeit in der Vergӓnglichkeit, K. Reinhardt, Parmenides Eleaten: Gegensӓtze schließen einander aus, also Folge, sie sind nicht Heraklit: Gegensӓtze bedingen einander, Gegensatz: das Wesen der Dinge Parmenides sucht das οὖλον μουνογενές, das einartige Ganze.104 Mӓchte der Zeugung, des Gedeihens, des Wachstums, des Friedens, andererseits Schlaf, Tod, Vergessen, Untergang, Krieg, Welken Übliche Auffassung: so wӓre die Falschheit, wenn sie wahr wӓre. Reinhardt: Wahrheit über den Wahn Diels: Δόξα-Lehre als eine polemische Verzerrung, das Falsche in einer vollkommenen Form von platonischer Ironie |Nach der bisherigen Darstellung sieht es so aus, auf dem „Sonnenwagen“ vollzieht sich der Weg des Denkens aus dem Tag in die Nacht und dort wird das Sein selbst gesehen, entborgen; aber der Parmenideische Denker denkt nicht nur die Verborgenheit, sondern das ganze Sein. Wir sind im zerstückten und mit dem Nichts gemischten Sein zu Hause, und diese Zerstückung kommt aus dem Dunkel; aber nun ist nicht das Sein als „Mutterschoß des Seienden“ das Thema des Parmenides: sondern das Sein selbst, noch vor seiner Unterscheidung in Helle und Dunkel. Parmenides ist radikaler als Heraklit, er denkt das Sein vor der Nacht der Φύσις und vor der Helle des Offenen. 546

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„Zerstreuen“ und „zusammenstellen“ ist das Wesen des scheinenden Seins: Aufgehen und Sichverschließen, in der einen einheitlichen Bewegung des ἄνω-κάτω Also die Nacht (die Verbergung) und das Offene, das Viele (Zeitliche, Vereinzelte, Sichzeigende), das Eine und Viele im Heraklitischen Sinne, ist das Sein in der Bewegung der Zeit: Sein und Werden. Parmenides denkt das Sein rein in sich selbst. Das Sein ist: Das Abwesende ist nicht nur das Verborgene, sondern das Sein. Aus dem Schein des Seins in das Wesen des Seins. Nicht nur von dem erscheinenden Seienden zurück in die Nacht, aus welcher der Schein hervorkommt. |Fr. 4: τὰ παρεόντα: und ἀπεόντα?105 Plural? Ist dieser Plural „allgemein“ zu nehmen, aber als das allgemeine Wesen des νοῦς? In der zweiten Zeile kommt der Singular vor. Der νοῦς, als solcher, der das Abwesende anwesend sein lӓßt, wird τὸ ἐόν nicht abtrennen vom ἐόν und zwar weder zerstreuend κατὰ κόσμον (über die Welt hin), noch zusammenballend: zusammenschließend und zerstreuend ist das Sein in seiner Bewegung, in seinem Gang des Scheinens und Verbergens; aber wenn es selbst gedacht wird, wie es der νοῦς vernimmt: dann ist es weder zerstreut, noch „geballt“106 (zusammengestellt). Gerade sofern das Sein als Φύσις abwest und anwest, ist es im Ganzen abwesend und muß mit dem νοῦς in seinem Sein ergriffen werden. Scheinen ist auf den Gegensatz von Helle und Dunkel bezogen. Die Φύσις als das Umfangende von Unten und Oben ist sie in der Weise des Scheinens. Aber das Sein „ursprünglich“ gefaßt ist nicht nur die Verbergung, sondern das Verborgene und Helle, das in seinem Zusammenhang das Scheinen ist. Fr. 4 also hat erst den Begriff des νοῦς. |Aus dem Ungeborensein, Unvergӓnglichsein usw. heraus soll denkend erfaßt werden das Sein. Das Sein also das gar nicht selbst „thematisch“ zu Denkende, vielmehr macht alles Verstehen von ungeboren, unvergӓnglich usf. schon Gebrauch vom Verstehen des Seins. Das Sein das am schwers­ ten Faßbare Die ontologische Explikation des Seins ist weder das Ziehen von „logi­ schen Folgerungen aus dem Wörtchen ὄν“ (Reinhardt), noch überhaupt die Aufstellung einer Logik. Parmenides hat nicht den nivellierten Seinsbegriff der logischen Kopula, des Wörtchens „ist“. Vielmehr geschieht dort erstmals die ernsthafte Entfaltung des ἔστι.

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ἔστιν – μὴ εἶναι (οὐκ ἔστι) οὐκ ἔστι μὴ εἶναι τὸ μὴ ἐόν εἶναι (+ νοεῖν) τὸ ἐόν εἶναι (ἔστι γάρ) τὸ πέλειν οὐκ εἶναι |(ὡς) ἔστιν πελέναι

μὴ ἐόντα μὴ ἐόν (μὴ ἐόντος ἐάσσω) τὸ μηδέν τὸ μὴ ἐόν οὐκ ἔστιν οὐκ ἐόν

ἔστιν ἢ ἐόν |Individuation Vergӓnglichkeit Erscheinung Hades-Dionysos Leben und Tod Die Wahrheit des Seins entrissen der höchsten Verbergung. Wahrheit über das Sein und die Wahrheit, die das Sein dem Menschen zuspricht, die übermenschliche Wahrheit, die in der „Philosophie“ sich ereignet.107 Drei Schritte: 1. 2. 3.

Verschlossenes ‒ Offenes Offenheit der Verschlossenheit ‒ Offenheit des Offenen Schein Sein

Das Sein ist anders als die scheinenden Dinge. |Disposition der 24. Stunde (1) Fr. 2 enthӓlt Parm‹enides’› Lehre vom Sein. Welches Sein? Φύσις. Ontologische Explikation der Seinsheit des Seins (2) Φύσις und EON? |Das „Sein“ ist in sich das Abwesende-Anwesende, das Verborgene-Offen­ bare, die Einheit des Einen und Vielen, des Hades und Dionysos. Die Φύσις ist ebenso abwesend-anwesend, ist ὁδὸς ἄνω κάτω, das Anwesen Gewӓhrende und sich zugleich dem Zudrang Entziehende. Der Zusammenhang von νοεῖν und εἶναι ist auf die Seinsweise des „Seins“, abwesend-anwesend zu sein, und auf die Fӓhigkeit des νοῦς, das „Abwesende anwesen“ zu lassen, hin zu orientieren. 548

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Nehmen wir also den νοῦς nicht als das Vermögen der Vergegenwӓrti­ gung, nicht als Einbildungskraft (vgl. Kants Definition), was ist er dann? Das νοεῖν, wie es Parmenides meint? Das „Wesen“ als ‹das› Abwesende und doch Anwesende!? |Wichtiger Gedanke: Der Λόγος hat in sich die Seinsauffassung, wonach Sein und Nichts unvermischbar sind, Sein und Nichts getrennt und ausein­ ander sind. Bestӓndigkeit, Festigkeit, Unwankendheit usw. sind im „Sein“ gedacht. Die impliziten Gedanken, in denen die Seinsheit des Seins gedacht wird, als ‹bricht ab› In allem Erkennen und Sagen ist schon ein Vorentwurf des Wesens des Seins am Werk, eine Grundauffassung, ein latenter Seinsbegriff („Wahrheit des Seins“). Also nicht die Banalitӓt, wo nichts ist, kann nichts erkannt werden, denn Erkennen gibt es nur von Seiendem; sondern mehr: Das Erkennen will bleibendes, stӓndiges, unerschütterliches Seiendes erkennen. Sein und Erkennen: ist dies die erste erkenntnistheoretische Reflexion? Oder ist die ἀλήθεια und das Sein in seinem Wesensbezug im Blick??? |23. Stunde (1) (2) (3) (4)

Auslegung des Eingangsfragments Sein und Nichtsein (Fr. 2) νοεῖν: das Vernehmen des Abwesenden! Frg. 3, 4, 5, 6 (Reinhardts Anordnung?)

Das Sein ist das Abwesende, das Ferne108 Reinhardt: ἀλήθεια = eine Anzahl von Folgerungen, gezogen aus dem Wört­ chen ὄν … (S. 74)109 Licht: Dunkel, Lockeres – Festes, πυκνόν – ἀραιόν. Cicero über Par­ menides.110 Krieg, Zwietracht, Begierde, Krankheit, Schlaf, Vergessen und Alter111 Licht = Leichtes, Dünnes, Eros. Dunkel = Schweres, Festes, Thanatos, Ὕπνος, Γῆρας, Λήθη. Φάος und ἀιδής (bei Hippokrates)

Sein mit Licht verwandt Licht und Schein??? Dunkelheit mit Nichtsein |Das Sein ist das seiendste Seiende?!! 549

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Wird das Sein dadurch, daß es ins Licht tritt, nicht selbst zu etwas Scheinhaftem, Beschienenem? Oder ist es selbst das, was den Schein aus sich herausgehen lӓßt? Ist es die Kraft des Seins, sich scheinend im Schein zu verbergen? Verbirgt der Schein gerade das Sein? Ist die Helle des Offenen das, was das Eine verbirgt, verdeckt?? Lichtend die Verborgenheit der Φύσις als das „Sein“ und zugleich die Scheinwelt als den Schleier. Verbergung im Licht: höchste und ӓußerste Verbergung |Schöpfung Zeit vor dem Sein. Zeit ist ablösbar.112 Wesen:

1.) Selbstӓndig-Seiendes z. B. Lebewesen 2.) Wesens-Allgemeinheit (Was-Sein) 3.) als das Eigentliche einer Sache 4.) Gewesenheit

Bestehen:

1.) aus etwas sein 2.) darauf stehen 3.) aushalten 4.) befehden

Ansichseinsontologie113 εἶναι Sein γίγνεσθαι Entstehen φθείρεσθαι Vergehen114 |Nach Thales fӓllt Anaximander. Aristoteles, Φυσικά, A, 4, 187a 20ff. Γ, 4, 203b 6115 |Zu Fragment 4: das νοεῖν, der „Geist“, ist bestimmt als das Vernehmen des Abwesenden: Das Abwesende ist das Sein (im Bilde der Φύσις). Das noetische Vernehmen faßt das Sein in seinem Ansich, es zerstreut es nicht κατὰ κόσμον (über den gegebenen Weltzustand) und lӓßt es nicht zusammen; sondern ergreift das Abwesende an ihm selbst: Wechselweise Implikation von νοεῖν und εἶναι!: Das νοεῖν, der νοῦς, lӓßt das abwesende Sein mit Sicherheit anwesen ‒ und zwar deshalb, weil es wie das Sein selbst „ist“, abwesend-anwesend. Zu Fragment 5: ξυνόν ist das Sein: ein Gemeinsames; Anfang und Ende des Denkens des Seins fallen zusammen. Wogegen ist hier das ξυνόν der Gegenbegriff?? Etwa gegen das ἴδιον?? Das Sein ist weder ein Gemeinsames noch Privates, weder intersubjektiv noch einzelsubjektiv. Das ξυνόν hat 550

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einen anderen Richtungssinn: Es ist ein Verbundenes, ein Einiges, hat eine einzigartige „Einsheit“. Es ist Anfang und Ende in sich selbst. |Entscheidend ist, den ontologischen Rückwurf in der parmenideischen Seinsinterpretation zu sehen: Das Sein wird ausgelegt durch es selbst, also durch immanente Begriffe, es ist keine Kugel, sondern analog. Die ontologische Analogie als die eigentliche Schwierigkeit der Exegese. |Zu Fr. 6: Notwendigkeit des Sagens und Denkens, daß das ἐόν ist. εἶναι ist; μηδέν ist nicht. Der erste Weg der Forschung, vor dem die Göttin warnt: die ontologische Setzung des Nichts als „seiend“? 2. Warnung: Weg der Sterblichen, der nichts Wissenden, δίκρανοι? Die Doppelköpfe?? Das Sein als doppeltes, als eins und als unterschieden vom Nichts, „gegenstrebige Bahn“: die Gegensӓtze!! Zu Fr. 7: Welcher Weg? Derjenige der Doppelköpfe? Oder der: das Nichts ist?? Wie stehen 2. und 3. Weg zusammen? Der 2. Weg ist die stumme (aber philosophische) Voraussetzung für den dritten Weg!??! Aus dem Gang des Frg. aber geht hervor, daß der 3. Weg gemeint ist: Gewohnheit, ‹das› blicklose Auge, ‹das› dröhnende Gehör und das Geschwӓtz (Zunge) Denken als Entscheidung der Prüfung Nur ein Weg bleibt: Σήματα τοῦ ἑόντος Σῆμα: Analogie: es folgt die zentrale Explikation usw., usw. Höhepunkt des ontologischen Entwurfs Selbigkeit von Denken und Sein Scheinbarer Widerspruch: die Sagbarkeit des ontologisch „Falschen“: Namen der Sterblichen??? Namen sind keine Konventionen, νόμοι u. dgl.! Was dann? |Disposition der 25. Stunde: (1) Interpretation des νοῦς und des „Seins“: abwesend-anwesend; vgl. mit Heraklits Frg. ‹Fragmenten› (2) Die 3 Wege, der wahre, der falsche und der scheinhafte. ἀλήθεια ‒ Irrtum ‒ „Wahrheit“ des Scheins (3) Σήματα τοῦ ἑόντος. Hauptstelle der Parmenideischen Seinsauffassung (4) Philosophische Ortsbestimmung dieser ontologischen Explikation (5) Bis heute unwiderlegt: Der Seinsgedanke (Seinsentwurf des Parmen­ ides) ist die „Summe“ der den Ursprung denkenden Philosophie. Disposition der 26. Stunde: (1) Parmenides’ Lehre vom „Schein“ (2) Die ursprüngliche Philosophie steht noch in der Helle der „Wahrheit des Seins“. 551

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(3) Grundfragen: Sein und Werden, Sein und Schein (4) Abschluß: unser Philosophieren und die ersten Fragen der Griechen. Kein bloßes Anhören von vergangenen Meinungen, sondern ‹von› dem ewigfragenden menschlichen Geist und dem „verlorenen Wesen“ des Menschen!! |Das ursprüngliche Sein, die archē, ist nicht etwas Anwesendes, sie west ab und doch auch an. Vgl. Heraklit Fr. 18. ἔλπις = Ahnung. Ist es die gleiche Erfahrung bei Heraklit und Parmenides? Das νοεῖν gewöhnlich das Denken gegenüber der aisthēsis, das Denken schweift über das Gegebene hinweg und erkundet das Ferne; ferner das diskursive Denken, Urteilen usw. νοῦς = Verstand, Vernunft?? Ist der Satz des Parmenides von der Selbigkeit von εἶναι und νοεῖν gleichbedeutend mit „das Sein ist vernünftig“??? Ist das Sein vernünftig (im menschlichen oder subjektiven Sinne von „Vernunft“)? Wenn das Sein vernünftig ist, so in einem unmenschlichen Sinn. „Vernunft“ (= τὸ Σοφόν); es ist ein weltdurchwaltendes Licht, aber so ist das „Licht“ nicht gleich dem Sein selbst. Aus dem Sein bricht das Licht auf; die Lichtung ist eine Kraft im Sein, aber nicht das ganze Sein. Dieses ist Dunkel und Helle. (Die Metaphysik und die „Lichttendenz“: das Sein wird in lauter Licht aufgelöst. Plotin: Φῶς!) Das νοεῖν ist wie das Sein?? Abwesend-anwesend? Nicht nur das Abwesende beibringend oder hinlangend zum Abwesenden, sondern es „ist“ abwesend-anwesend!?? Das νοεῖν ist das Verhalten, das in den Abgrund, in das „Ungegebene“ reicht: Die Gewagtheit des „archaischen“ | Denkens ist das „Andenken“ an den Ursprung. Das νοεῖν ist das Vernehmen des ganzen Seins, des in sich entzweiten, in Oberwelt und Unterwelt, in Offenes und Verschlossenes geschiedenen: Im νοεῖν hӓlt das Sein sich selbst zusammen. Νοεῖν ist das Offenstehen für den „Doppelbereich“ von „Oben“ und „Unten“. Das νοεῖν ist eine Grundkraft des Seins. Νοεῖν und εἶναι sind dasselbe?? |Zur Interpretationsfrage, ob es um zwei Wege oder 3 Wege geht in der Unterweisung der δίκη In Fragment 2 wird unterschieden: a.) ὁπως ἔστιν καὶ ὡς οὐκ ἔστι μὴ εἶναι, b.) ὡς οὔκ ἐστιν καὶ ὡς χρεών ἐστι μὴ εἶναι; also der Weg der Überzeug‹ung› und der alētheia = a.) und der Weg, der unerkundbar, unerkennbar und unaussprechbar ist = b.) ‹bricht ab› In Fragment 6 aber sind es 3 Wege: a.) … ἐὸν ἔμμεναι, ἔστι γὰρ εἶναι b.) μηδὲν δ’ οὐκ ἔστιν. Also der Weg τὸ μηδέν ἐστιν als der 1. Weg, vor dem die Göttin warnt. 552

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c.) der Weg der βροτοὶ εἰδότες οὐδὲν δίκρανοι = τὸ πέλειν καὶ οὐκ εἶναι ταύτον νενόμισθαι κοὐ ταὐτόν. In Fragment 7/8 wieder fӓllt der 2. und 3. Weg zusammen. Das „εἶναι μὴ ἐόντα“ ist auch der Weg der Gewohnheit, des blicklosen Auges usw. Das Verhӓltnis der 3 Wege? Vgl. K. Reinhardts Dreiteilung: ὄν ἐστιν, μὴ ὄν ἐστιν, ὂν καὶ μὴ ὄν ἐστιν (ταυτὸν καὶ οὐ ταυτόν) Das Sein des Nichtseienden ist die Wesensbestimmung des Scheins. Der Schein ist nicht, hat kein wahrhaftes d. i. wesenhaftes Sein. Der Begriff des Seins ist nie abzunehmen am Erscheinenden, sondern ist allein im νοῦς | vernehmbar, der das abwesende wesenhafte eigentliche, ursprüngliche Sein vernimmt. Die Wege 2 und 3 sind in einem Fundierungsbezug derart, daß im 3. Weg als ontologische Voraussetzung der 2. Weg steckt. Inwiefern? |„Kugel“? Gleichmӓßig? εἰς ὁμόν. Warum? ἄσυλον: unversehrt. Sich selbst gleich und auf gleichmӓßige Weise begegnet so seinen Grenzen. |Ohne γένεσις und ὄλεθρος,116 ἄναρχον, ἄπαυστον, anfangslos, endlos, γένεσις und ὄλεθρος in die Ferne verschlagen. πίστις ἀληθής verstieß diese. Dasselbe in demselben (ταὐτόν ἐν ταὐτῷ bleibend μένον καθ̓ ἑαυτό für sich liegt es κεῖται und so bleibt es an (Ort und Stelle?)) Die Ἀνάγκη hӓlt es in den Banden der Grenze, die es rings umzirkt, weil es nicht ἀτεύλευτητον sein darf. [Wie steht dieses Prӓdikat des ἀτεύλευτον zu dem ἄναρχον ἄπαυστον (7/8, 26)?] Das ἐόν οὐκ ἐπιδευές = unbedürftig ‒ ‒ ‒ (?) Nach dieser ontologischen Explikation des Seins ‹bricht ab› die von ἔστι und νοεῖν ‹bricht ab› Denken und Sein, Band der μοῖρα Ein Ganzes-Unbewegtes (Denken und Sein) Das Denken empfӓngt seine Wesensbestimmung vom „Sein“. Denken und Name?? Ein Gegensatz! Entstehen, Vergehen, Sein und Nichtsein, Wechsel des Orts und Wech­ sel der leuchtenden Farben Das ἐόν = ein τετελεσμένον (ein vollendetes), vergleichbar einer Kugel, gleichgewichtig von der Mitte her; ‹bricht ab› |Nach den σήματα τοῦ ἑόντος Welcher Ursprung? Woher sein Wachsen? Auch nicht aus dem Nicht­ seienden ist ein Herauswachsen zu sagen und zu denken. Denn: nicht sagbar und nicht denkbar (νοητόν) ist, daß das Nicht ist. Unmöglichkeit der 553

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Herkunft aus dem Nichts? Sein – oder gar nicht sein! Kein Sein kann aus dem Nichts kommen. Das Sein ist: dieses Festhalten in der Fuge (dikē). Kein Werden und Vergehen. Κρίσις (Kritik, Entscheidung im Denken des Seins): ἔστιν ἤ οὐκ ἔστιν. Κέκριται: Entschieden ist: Das Nichtsein als undenkbar beiseite zu lassen! (nicht der wahre Weg). ‒ Der andere Weg ist. Der Weg zum ἔστι ist selbst. Der Weg zum οὐκ ἔστι ist nicht. Kein Entstehen und kein Zugrundegehen. Entstehen kann nur, was noch nicht ist. Entstehen ist „verlöscht“ und Vergehen „verschollen“. Auch nicht teilbar, weil es gӓnzlich gleichartig ist. „οὐδὲ διαιρετόν“ und „πᾶν ὁμοῖον“. Und es ist nicht irgendwo eine stӓrkere Stelle, die den Zusammenhang unterbricht, voll erfüllt von Seiendem. συνεχές. Dicht. Ferner ἀκίνητον in den Grenzen gewaltiger Bande |Fragment 2: die Dikē sagt, welche Wege der Forschung zu denken sind. Sie führt diese Wege selbst nicht aus. Warum noch Wege, ist es keine Ankunft in die Tiefe des Ursprungs? Ist die Endlichkeit nicht behoben? Absolutes und absolute Erkenntnis?? Bahn der Überzeugung = ὅπως ἔστιν μὴ εἶναι οὐκ ἔστι Unerkundbarer Pfad = ὡς οὐκ ἔστιν καὶ χρεών ἐστι μὴ εἶναι (τὸ μὴ ἐόν) = unerkennbar, unausführbar, unaussprechbar Sein also das Erkennbare, Ausführbare, Aussprechbare Fr. 3: Sein und Denken ταυτόν? Fr. 4: Begriff des Geistes: νοῦς und νοεῖν? Fr. 5: ξυνόν: ausgangnehmend und zurückkehrend (Weg??) Fr. 6: Sagen und Denken sagt und denkt, daß das „Sein“ ist. Das „εἶναι“ ist, das μηδέν ist nicht. Fernhaltung von der Erforschung des Nichts |Zweitens Fernhaltung vom zweiten Weg, dem üblichen Menschenweg (der Doppelköpfe); warum sind die Menschen überhaupt Doppelköpfe: offen für das Sein und für das Nichts. Im Schein befangen, d. h. in der Mischung von Sein und Nichts (?) Αμηχανίη (= Ratlosigkeit) (oder Machtlosigkeit) Sein und Nichtsein als dasselbe und nicht dasselbe, und bei allem eine gegenstrebige Bahn (Gegen-satz)? Fr. 7: Unmöglich ist zu erweisen, daß μὴ ἐόντα sind (die μὴ ἐόντα ‒ ist das = τὰ δοκοῦντα?) Die Gewohnheit (ἔθος) vielerfahrene. Zurück auf die Schein-Bahn, die Bahn, die den Sinnen vertraut: blickloses Auge und dröhnendes Gehör und die Zunge. Nein, das Denken (λόγῳ) als Instanz für die Entscheidung des Streits? Welcher Λόγος? Das subjektive Erkenntnisvermögen oder die kosmische Macht? 554

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Dann bleibt nur ein Weg: ὡς ἔστιν. σήματα: Zeichen des Weges: Zeichen, in denen sich „Seyn“ zeigt: unge­ boren (ἀγένητον), ἀνώλεθρον = unvergӓnglich, unzerstörbar, ganz-gebaut oder „gӓnzlich“ = οὐλομελές, ἀτρεμές = unerschütterlich, ἀτέλεστον = ohne Ziel in der Zeit, weder war es (ἦν) noch wird es sein (ἔσται), weil es im Jetzt als Ganzes zusammen ist = ἐπεὶ νῦν ἔστιν ὁμοῦ πᾶν, als ἕν, συνεχές. |Interpretation des I. Teils des Lehrgedichts (Fortsetzung) Fr. 4–7/8 (1) Wiederholung der Auslegungsthese: die Frage des Parmenides geht nicht auf das Sein der Dinge, sondern auf das Sein an ihm selbst: Wahrheit des Seins. Und diese hat den Charakter der Implikation. Die ontologische Explikation ist in sich selbst eingewickelt. Die Seins­ heit des Seins. Das Denken denkt so das ӓußerste. [Hinweis auf die Erklӓrung überhaupt; sie geht vom Allgemeinen aus.] (2) Fr. 4: Erster Vorbegriff des Geistes: das Abwesende und zugleich Anwe­ sende. „Hier“ im Menschenland ist das Sein nicht anzutreffen, hier ist das Scheinende, solches, das nicht eigentlich ist: (die Seinsnatur des Seins selbst als eigentlich und uneigentlich!! ‒ D. h. nicht bestimmtes Seiendes, das aus einem festen und gesicherten Begriff als das eigentliche bestimmt ist. Nicht um den Rang von Dingen geht es, sondern um den Rang des Seins selbst). Die Seinsheit des Seins ist nicht „anwesend“, es ist nie „gegeben“!! Das Sein ist fern und doch in dieser Ferne vernehmbar durch den Νοῦς. Er ist damit kein rӓtselhaftes Fernvermögen des Men­ schen, er ist selbst in seinem Wesen bestimmt durch die Beziehung zum Abwesenden. Der Geist, νοῦς, ist das Abwesende anwesen Lassende ‒ aber wodurch, weil er die Natur des Seins hat‹?› Νοῦς: 1.) das Abwesende anwesen zu lassen; 2.) das Vernehmen des Seins, weil es abwesendanwesend; der νοῦς ist also entscheidend als der Bezug zum Sein gefaßt, nicht als das „Seinsverstӓndnis“ schlechthin, sondern als das Verstӓndnis des ursprünglichen Seins (Seinsbegriff); |3.) der Bezug des Seins zum Menschen (wie er in der anrufenden Stimme der Göttin erscheint) ist im Νοῦς da: der νοῦς ist eine das Sein durchwaltende Macht, Sein und νοεῖν sind selbig; aber nicht so, daß hier eine „rationalistische Vorentscheidung“ der Identitӓt des Wirklichen und Vernünftigen fiele. Das Sein ist als abwesendes selbst in die Kraft gestellt anzuwesen: und auf den Menschen als die Stӓtte seiner Wahrheit hinzudrӓngen. (3) Der νοῦς als der, welcher das abwesende Sein anwesen lӓßt, oder anders, in welchem sein Anwesen geschieht, wird das ἐόν nicht abtrennen, Zerstreuung und Vereinzelung. Der νοῦς vernimmt das zerstreute und vereinzelte Sein, das Seiende, nicht. 555

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(4) Als nicht Zerstreutes und Vereinzeltes ist ein ξυνόν. Anfang und Ende des Weges der seinsbegrifflichen Forschung fӓllt in eins. (5) Fragment 6: Der Überblick über die 3 Wege: a.) Sein ist b.) Nichtsein ist c.) Sein und Nichtsein als dasselbe und nicht dasselbe. Weg der Gewohnheit, Auge,117 Doppelköpfe, Ratlosigkeit, schwankender νοῦς, Treiben, stumm, blind, ‹der› verblendete, unentschiedene Haufen, befangen in Gegensӓtzen (6) Fr. 7/8: der eigentliche Höhepunkt der ontologischen Explikation. Die 3 Wege: Warnung vor dem Weg der Gewohnheit (Auge, Gehör, Zunge). Prüfung des Seins: die ontologische Prüfung als die eigentliche Thematik der parm‹enideischen› Philosophie. |Fr. 7/8: das Fragment nimmt die bereits ausgesprochene Abwegigkeit der These: das Nichtseiende ist, auf. Nicht soll zwingen die vielerfahrene Gewohnheit, noch blickloses Auge, noch dröhnendes Gehör und Zunge (das Nennen, das Geschwӓtz). Λόγος als Entscheidung der ontologischen Prüfung! Charakter des ἔλεγχος: der Ontologie?? Nur ein Weg bleibt: Σήματα? Ungeboren, unvergӓnglich (unzerstörbar), ganz im Bau (οὐλομελές) und unerschütter­ lich (ἀτρεμές) [vgl. ἀτρεμές ἤτορ der Wahrheit!] und ἀτέλεστον (ohne Ziel, Ende in der Zeit); nicht „gewesen“ und nicht „künftig“, im Jetzt ganz zusammen, eins (ἕν), zusammenhӓngend (συνεχές) Kein Ursprung im Sinne von Herkunft, woher herwachsen (Verendli­ chung) [also kein Herkommen aus dem Seienden], auch kein Herkommen aus dem Nichtseienden (ἐκ μὴ ἐόντος). Begründung: Undenkbar und unsag­ bar ist, daß Nichts ist. Warum kein Entstehen aus dem Nichts? Im Nichts kein Grund für irgendeinen Anfang. πάμπαν πελέναι χρεών ἐστιν ἢ οὐχί.118 Ganz und gar sein oder überhaupt nicht. Aus Nichts wird nichts: dies die ontolog‹ische› Grundüberzeugung der Antike [das Sein ist in sich „ewig“]. Die dikē hat nicht zum Entstehen noch Vergehen das Sein freigegeben, es lockernd in den Fesseln, sie hӓlt fest, sie ist die Schließe und Fuge des Seins, seine Wahrheit. (Entweder ist das Sein oder nicht. Der Abweg ist nicht denk- und nicht sagbar). ἐόν kann nicht entstehen noch vergehen, sonst ist es nicht, wenn es war oder sein wird. Entstehen verlöscht, verschollen, Vergehen ‹bricht ab› |Auch nicht teilbar (οὐδὲ διαιρετόν) πᾶν ὁμοῖον, ganz gleichartig, nicht hier stӓrker, dort minder, ἔμπλεόν (ganz erfüllt), συνεχές. Unbeweglichunverӓnderlich in gewaltigen Banden, anfangslos und endlos (zeitlich) (denn Entstehen und Vergehen in Ferne verschlagen). Ταὐτόν ἐν ταὐτῷ μένον, κεῖται119 für sich, denn die anankē hӓlt es, das Sein [anankē? Eben die 556

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Seinsheit des Seins!], und schließt es ab, unbedürftig, also auch kein Fehlen des Ganzseins. Rund 20 Σήματα, als ontologische Charakteristika des Seins. Darin zeigt sich sein Wesen. Damit das Maß des Seins aufgestellt: Alles, was den Anspruch auf Sein erhebt, muß sein ungeworden usw. Damit der eigentliche ontologische Entwurf im Vernehmen der Stimme der Δίκη (ontologische Erfahrung). Jetzt erst, nach der ontologischen Explikation der Seinsheit (der Wahr­ heit des Seins), kommt es zur Klӓrung der Ineinssetzung von νοεῖν und εἶναι. Das Denken ist „wesenhaft“ der Gedanke, daß das Sein ist, d. h. im Denken wird primӓr dieser Entwurf der Seinsheit des Seins gedacht; das Wesen des Seins, seine Wahrheit, hat seinen Ort im Denken. Alles Denken ist das voraussetzende Denken, das sich im Entwurf einer Wahrheit des Seins ‹bricht ab› |Ein Weg der „streitreichen Prüfung“ des Seins: ‹bricht ab› Natur der „ontologischen Prüfung“: ‹bricht ab› Die Σήματα? Der Begriff des Zeichens? Das Sein ist nur durch in ihm Gründendes zu explizieren, nur durch immanente Analogien; das Sein ist durch die „ontologische Analogie“ in seiner Wahrheit zu fixieren. (Onto­ logische Analogie ist ein vieldeutiger Ausdruck: das Sein am Seienden: mtph. ‹metaphysisch› das Wesen des Seins selbst) Die Σήματα: Zeichen, in denen das Wesen des Seins sich zeigt: ἀγένητον, ἀνώλεθρον usw. Ewigkeit des Seins Das Σῆμα: die Kugel | ਝȜ੾șİȚĮ

Negative Charakteristik des ਥȩȞ ௅ ausführlich

Positive Charakteristik des ἐόν – wenig Δόξα. Seiendes und Nichtseiendes Jeder Körper ist ταὐτὸν καὶ οὐ ταὐτόν, εἶναι τε καὶ οὐχί Dualismus (Welt als Gegensӓtze). Relativitӓt der Eigenschaften. Mischung im Subjekt und in den Dingen. Eine ontologische Formel für die Scheinwelt Seiendes verbunden mit Nichtseiendem = ergibt Schein (Wahnwelt) Φύσις – νόμος: Dualismus

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Beiläufiges. Zur Vorlesung über Grundfragen der antiken Philosophie

|Disposition (1) a.)

Parmenides’ Lehre von der Δόξα Die übliche Deutung: die Δόξα als subjektives Meinen, als Trug und Wahn, aber bezogen auf dasselbe wie der Νοῦς (der Λόγος πιστός); Δόξα und Νοῦς unterscheiden sich wie wahre und falsche Ansicht der Dinge. b.) Diese Deutung ist falsch. Der Νοῦς ist keine Theorie über die Dinge, sondern über das Sein. Der Νοῦς vernimmt das ἐόν: das Sein in seiner Wahrheit. c.) Der Νοῦς denkt die abwesende archē, nicht das anwesende Viele. d.) Die Falschheit der Δόξα, die τὰ δοκοῦντα vernimmt und den „διάκοσμον ἐοικότα“, besteht nicht darin, daß sie die Dinge sieht usw., sondern daß sie dabei von einem unrechten Seinsbegriff geführt ist. e.) Die Einsicht in den fundamentalen Unterschied vom ursprünglichen Sein, archē, und der Welt, als dem aufgegangenen Sein, dem zur Vielheit der Dinge entfalteten, ist Voraussetzung für den Standort der vorsokratischen und d. h. vor-metaphysischen Philosophie. Es geht dort nicht um eine richtigere Ansicht der Dinge als es die Menge hat; es geht um den Bezug des Menschen zur Seinsheit des Seins. |f.) Die Welt (Individuation ‒ Vergang ‒ Scheinen) ist der Schein des Seins: der „Weltschein“ (wie Sonnenschein). Die Δόξα ist das Vernehmen der erscheinenden Dinge. Δοκεῖν und Δόξα!? Das Δοκεῖν ist die Basis der Δόξα und nicht umgekehrt. Nicht also ist die Subjektivitӓt der Grund des Scheins, sondern der Schein der Grund der Subjektivitӓt. Inwie­ fern? g.) Steht das nicht im Widerspruch mit der Lehre des Parmenides? Wird dort nicht der Mensch zur Quelle des Scheins? Ist nicht die Subjekti­ vitӓt der Grund des Scheins? „Δόξα“ = die auf den Schein bezogene Meinung. Μάνθανε = lerne! Also mehr als bloßes Kennenlernen! „ἀπατηλὸν κόσμον“?? Menschliche γνώμη entspringt dem Nennen. Nennend hat der Mensch nur das Sein und das Seiende. Nicht eine Konvention, nicht eine sprachliche Verabredung. Altern, Vergehen, Sterben und Hinfall wӓre nur eine menschliche Konvention. Daß es keine Konvention ist, sagt schon die Stelle 7/8, 39 πεποιθότες εἶναι ἀληθῆ,120 „überzeugt, sei wahr“. Das Sagen und Reden als der Grund, das Sein im Schein zu erfahren?? Der Mensch und die Rede? Redend ist er offend für das Sein, er spricht die Dinge an als seiende. „In“ der Rede haust eine Ahnung vom Sein; die menschliche Sprache als der Ort, wo die Ahnung „ist“: aber sie ist auch das Schweigende, das Angesagte ist das Ding, angesprochen als seiend; gesagt wird das Sein selbst nicht; es ist „namenlos“: und so der 558

Beiläufiges. Zur Vorlesung über Grundfragen der antiken Philosophie

h.)

i.)

Grund für alle |Namen. Wie ist das zu verstehen? Die Sprache ist kein bloßes „Mittel“ der Verstӓndigung. Sie ist das Wesen des Menschen. Sofern er Sprache hat, ist er der Ort des Seins im Ansprechen des Sei­ enden. Das Sagbare sind die Dinge. Sagen bewegt sich in der Offenheit für Sein. Das Tier hat den Feind, die Brut, den Umkreis der …, aber es hat nicht das Sein selbst. Und ferner, der Mensch spricht aus dem ahnenden Wissen von Sein dann das Vereinzelte, Zeigende und Vergӓngliche an als seiend. Alles Sagen ist so verkehrt. Die Namen gehören den Dingen. Im Benennen aber mißt der Mensch ‒ aus der Seinsahnung lebend und existierend ‒ den Dingen Sein zu und dieses Zumessen hat die Weise des Vermischens von Sein und Nichts. Durch diese Mischung der Urgegensӓtze erst entsteht die Welt der Gegensӓtze: solches was nichts ist, wird selbst als „seiend“ angesagt, das Nichts gleichsam gesetzt: und so Licht und Nacht, das Feste, Dichte und das Lockere, Leichte. Licht und Erde als die Elemente des Seienden, die sich zeigen in der menschlichen Nennung. Benennen ist Scheidung. Die Welt der Δόξα ist eine Welt der Namen; aber dies nicht ein Unterschied gegenüber den „Sachen“. Wo es „Sachen“ gibt, ist schon der Schein des Seins, als das Zum-VorscheinKommen geschehen. Die Sprache also als der „Ort“, wo der Schein entspringt. Im Nennen und nicht, wie man zumeist denken könnte, in der Unzuverlӓssigkeit des Erkenntnisorgans des Subjekts gründet der Schein. Sprechendes Wesen zu sein, ist die Wesensbestimmung des Menschen; sprechend scheidet er und sagt das Nichts und Nichtige an, ist | er doppelköpfig. Auseinandersetzung mit K. Reinhardt: er verwundert sich, weil das, was bloßer Name sei, zu einer Entitӓt wird; „ein starkes Stück“, zieht als Begründung bei ταὐτò νοεῖν καὶ εἶναι. Wesentlich ist die Kosmologie, die Reinhardt entwickelt: vor allem die unphysikalische Bedeutung der beiden Prinzipien Licht und Nacht. Gedankengang der Kosmogonie im Einzelnen. Vgl. vor allem Anfang des Fr. 9. Nach der Benennung ‒ πᾶν πλεόν ἐστίν! Äther. Eine Kosmo­ gonie gibt es nur von der erscheinenden Welt. Fr. 19

|Der Übergang zum „Schein“ ist noch in Fr. 7/8. Nach der Vision der Seins­ kugel beschließt die Göttin den πιστὸν λόγον und das Denken der Wahrheit (νόημα). Von hier ab die menschlichen δόξας. Die Δόξα im Gegensatz zum νοῦς. Der νοῦς ist das Denken des Gedankens vom Sein. Das Denken denkt die Wahrheit des Seins. Alles andere Sagen ist Δόξα. Also nicht wird zuvor eine Kritik der Erkenntnisvermögen, eine Kritik der Sinnlichkeit vollzogen u. dgl. 559

Beiläufiges. Zur Vorlesung über Grundfragen der antiken Philosophie

Denken wird in seinem Wesen geprӓgt durch das Sein: es ist der Entwurf, was „Sein“ ist. Der Seinsentwurf allein ist Denken. Alles andere ist Δόξα. Dazu gehört alles „gewöhnliche Denken“. Nur das Denken der archē (Sein als archē) ist νοεῖν. Alles andere ist Δόξα. Das Ansetzen von Werden, von Vergehen, von Ortsverӓnderung, „Wechsel der leuchtenden Farben“.121 D. h. die ganze Welt, wie wir sie sehen, wir sie hinnehmen mit dem Vergӓnglichen, dem Vereinzelten, Erscheinenden, diese phӓnomenale Welt ist Δόξα βρότῶν. Die übliche Interpretation sieht darin eine Negation der Welt, als ob sie eine Illusion wӓre, ein Truggebilde. Aber gerade das ist falsch. Die phӓnomenale Welt „ist“, aber sie hat kein echtes Sein. Nur das Sein ist wahrhaft „seiend“: der Urgrund, die archē. Die Phӓnomenalitӓt besteht nicht in der Subjektivitӓt eines „Anscheins“ von Welt. Das Phӓnomen ist das Namenhafte. Von Namen her ist die Δόξα primӓr angesetzt. Was ist das Sagbare, das Abgesetzte, das Einzelne, das sich Zei­ gende? Das Ungesagte in allem Sagen, das Ungedachte in allem gemeinen Denken, das Unverstandene in allem | Verstehen ist das Sein; aber zugleich ist es das primӓr Gedachte, primӓr Gesagte, Verstandene. Es ist der Raum für all dies. Die βρότοι haben festgemacht (Reinhardt νόμος gegen φύσις) zwei Formen in Benennungen, von denen eine nicht nötig ist; in diesem Punkte also der Irrtum: sie sehen das Negative als „seiend“ an. Nennend scheiden die Sterblichen gegensӓtzlich δέμας (die Gestalt??) und sondern Zeichen. Feuer, milde, leicht, überall mit sich selbig (vgl. die Einheit des Lichts als das „Offene“). Licht (Gegensatz zum „anderen“ (ἕτερωι)) und auch das andere für sich. Scheidung in Gegensӓtzen, Entzweiung in Getrenntheit; entgegengesetzt: die lichtlose Nacht, dicht‹es› und schweres Gebilde. Diese Weltverfassung ἐοικότα, die scheinende, sagt die Göttin, damit nie eine Ansicht den Sterblichen den Rang ablaufe. Die βρότοι haben geschieden und die βρότοι werden keine wahrere γνώμη gewinnen. Im Nennen der Sterblichen scheidet sich die Welt; ‹bricht ab› Fr. 9: Nach der Benennung von πάντα ‹als› φάος und νύξ und ihren Krӓften (δυνάμεις) – das All erfüllt mit Licht und Nacht (unsichtbaren) gleichen (Ranges), nichts, was nicht untersteht … ‹bricht ab› |Fr. 10: Ätherwesen und Sternbilder genesis von hēlios, usw. φύσιν von Sonne φύσιν von σελήνη ἔφυ vom umfassenden Himmel Hier wird das Werden der Dinge ernst genommen. Fr. 11: Erde, Sonne, Mond, Äther ξυνός und Milchstraße und ӓußerster Olymp. Wie sie strebten zu entstehen. 560

Beiläufiges. Zur Vorlesung über Grundfragen der antiken Philosophie

Fr. 12: In der Mitte der Ringe von Feuer und Finsternis die Δαίμων, die alles κυβερναῖ. Geburt und Paarung. Die Göttin des Werdens Fr. 13: ἔρως zunӓchst! Fr. 14: Über den Mond. Irren, also Bewegung Fr. 15 Fr. 16: Gedanke und Licht. νοῦς und Lichtnatur Fr. 19: κατὰ δόξαν ἔφυ Namen setzen Schein und Namen.

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Parmenides-Kolloquium ‹WS 1948/49›

E. Fink, Parmenides-Lektüre (zusammen mit Prof. Lohmann, Bröse, Dr. Struwe). WS 1948 Zu Fr. I, 1: Worauf bezieht sich das ὅσον …? Diese Frage ist philosophisch wichtig. Hat der θυμός des Menschen (des Denkers) die Macht über die Rosse, derart daß er ihnen das Ziel vorschreibt, oder sind die Rosse nur willfährig, bis ans Äußerste zu gehen mit dem Menschen, der aber im Voraus nicht weiß, „wohin er steigt“? Wir beziehen also das ὅσον auf φέρουσιν und nicht wie Diels-Kranz auf πέμπον. Denn sonst wäre dem Menschen das Ziel bekannt. Zu Fr. I, 2ff.: ὁδός? Irgend ein Weg und ein bestimmter Weg. Meine These: der Sonnen-Weg. Das Gespann des Hēlios. Dieser Sonnenweg ist πολύϕημος = vielberühmt und vielzeigend, vielkündend – und er führt hoch über alle Wohnstätten der Menschen hin. I, 3: Statt δαίμονες wie Kranz liest, δαίμονος! Aber nicht: Göttin (nicht die Dikē), sondern: des Gottes (= Hēlios) I, 4: ϕερόμεν = die Passivität des Gefahren-Werdens in eins mit der höchsten Aktivität des Wagnisses des über-menschlichen Weges!

‹Erläuterungen zu Hesiods Theogonie, 736–757, und Parmenides’ Proömium› I.

Das „Haus der Nacht“ (Parm‹enides› B1, Vers 9) und die „Torschwelle der Wege von Tag und Nacht“ (ibid., Verse 11–12) bei Hesiod (Theog. 736–757). Die Hesiod-Stelle gibt das mythologische Bild im einzelnen wieder, das für das Parmenideische Proömium den selbstverständlichen Hintergrund bildet. Von den 3 Teilen, in die sich B1 schon äußerlich durch das Tempus scheidet (1–10: Präsens, Imperfektum und iterativer Optativ; 11–14: Präsens; 15–23: Aorist in allen entscheidenden Aussagen), stellt der mittlere selbst, auch in der äußeren Form (entha … wie Theog. 729, 736, 758, 767, 775, 807), 563

Parmenides-Kolloquium

eine solche Hesiodeische Beschreibung dar, der erste bildet im symbolischen Gleichnis der Sonnenfahrt die Kraft des Gedankens des „wissenden Mannes“ an sich ab, und der dritte schildert schließlich in der Form eines unerhörten Ereignisses den Durchbruch des Denkens zur entscheidenden Erkenntnis: Dikē selbst (nach demselben Hesiod, Theog. 902, eine der „Horen“ – die bei Homer das Wolkentor des Himmels hüten –, und also berufen, darüber zu wachen, daß alles, insbesondere aber Tag und Nacht – Licht und lēthē –, in den ihnen bestimmten Grenzen bleibt, die ‹in› Theog. 750–757 plastisch geschildert werden) gibt den Weg frei zu den noch nie betretenen Pfaden der pistis a-lēthes. II.

Zum Parmenideischen Proömium: 1.) Der mythologische Hintergrund stimmt in allen Einzelheiten zu der Theogonie-Stelle. 2.) Das Mittelstück (Verse 11–14) hat ganz den Charakter der Hesiode­ ischen Unterwelt-Beschreibungen, wie diese mit entha … einsetzend, bei Hesiod finden sich alle Einzelheiten wieder: das Tor, das das „Drau­ ßen“ und das „Drinnen“ scheidet, das „Haus der Nacht“, von schwarzen Wolken bedeckt, vor dem Atlas den Himmel trägt, an der Stelle, wo Tag und Nacht sich begegnen, die nie zugleich in der Tiefe weilen („im Hause“). 3.) Davor wird, symbolisch-gleichnishaft mit dem Gedanken-Weg des Denkers identifiziert, der gewöhnliche Sonnen-Weg geschildert (im Imperfektum und iterativen Optativ), dahinter das einmalige Ereignis des Eindringens in die Tiefe, in der die Ausgangs- und Endpunkte von allem sich befinden und vor der die Götter selbst einen Schauder emp­ finden. 4.) Das Reich der Menschen, der epichthonioi, ist gekennzeichnet durch den Wechsel von Licht und Nacht, die jedes die ihnen bestimmte Stunde haben, die sie jeweils harrend erwarten. 5.) Diese natürliche Ordnung wird jetzt mit Bewilligung der Dikē selbst durchbrochen, der Denker soll, von göttlicher Huld begnadet, alles erfah­ ren, das reine Licht wie die absolute Nacht, und auch die Notwendigkeit der aus „Nacht“ und „Licht“ gemischten Meinungen der Menschen.

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Parmenides-Kolloquium

‹Schlußbemerkung›

Es müssen nur noch wenige Seiten getippt werden, dann kann das Manu­ skript abgehen. Auf Text und Übersetzung folgen einige Erläuterungen, deren Schlußabschnitt hier folgt: „Für Parmenides ist das Seiende selbst der ständig anwesende Raum, der alles Erscheinen gewährt, das Erkennen aber das Gegenwärtig-Haben dieses Anwesenden. Das deutet auf einen Zusammenhang von Seiendem – Erkenntnis des Seienden – Raum – und Zeit, der bei P‹armenides› selbst nicht mehr in den Bereich des Fragens tritt, der aber auch in der gesamten Geschichte der Philosophie nach ihm verborgen bleibt, bis Heidegger die Frage nach Sein und Zeit stellt. Indem Heidegger das Dasein, welches das Sein ‚versteht‘, anspricht als ek-sistent, d. h. in die Offenheit des Seins gestellt, und die Ek-sistenz auslegt als die ursprüngliche Zeitlichkeit, d. h. als ein Außersichsein in den ‚Ekstasen‘ der Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart, und indem er den ‚Horizont‘, in welche diese Ekstasen das Dasein entrücken, deutet als das sich lichtende Offene, als das ‚Da‘, welches das Sein selbst ist, macht sich sein Denken auf den Weg, das von Parmenides Gedachte ursprünglicher, d. h. in die Dimension des von Parmenides schwei­ gend Vorausgesetzten hineindenkend, zu wiederholen. Im Lichte dieser Wiederholung sind die hier gegebenen Erläuterungen möglich geworden.“

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‹Dispositionen zur Übung „Zur Geschichte des WeltBegriffs (Timaios)“› ‹SS 1949›

|(1) Thema: Zur Geschichte des Welt-Begriffs. Antike Gelehrsamkeit. Systematische und historische Behandlung der Philosophie? Analogie zu den Wissenschaften? Wiederholung? Ist Nachdenken. Der antike Welt-Begriff ist nicht einfach festzustellen in einem nicht-philosophi­ schen Denken. (2) Welt-Begriff? Nicht Begriff im gewöhnlichen Sinne. Welt ist nie unbe­ kannt. (3) Der populäre Begriff von Welt? a) All des Seienden b) Irdisches – nicht Jenseits c) Heidnisches – nicht Christliches d) Welt = Gewordenes (antik oder christlich) e) = Region, Gebiet f) Neuplat‹onischer› Gegensatz von Welt und Überwelt: Theoso­ phie g) Planetarische Redeweise: W‹elt›-Geschichte, W‹elt›-Herrschaft (4) Antiker Begriff der Welt? Auskunft beim Mythos. Hesiod. Chaos: Uranos-Gaia: Chronos: Zeus (5) Ewigkeit der Welt (Antike) – Geschaffenheit der Welt (Christentum)? Ewigkeit und Geschaffenheit und das Zeitverständnis: immerzeitig |(6) Griechische Philosophie: erste Frage nach der ἀρχή. Was ist das für eine Frage? Φυσιολόγοι Thales 624–546 Anaximander 610–546 Anaximenes 585–528 Heraklit 544–484 (60 Jahre) Begriff des Kosmos bei Heraklit: Zustand des Seienden im Ganzen Frag‹ment› 30.1 Interpretation des Fragments: κόσμον = Zustand, τόνδε = diesen. Diesheit der Welt. κόσμος ἁπάντων. κόσμος ἴδιος. κόσμος κοινός vgl. Frg. 892

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‹Dispositionen zur Übung „Zur Geschichte des Welt-Begriffs (Timaios)“›

|Protokoll. Kurze Rekap‹itulierung› von Heraklit Frg. 30 κόσμος: Schmuck, Ordnung? Gemachte Ordnung und bestehende? Nicht als Urmodell. – „Glanz“ τόνδε? ἐποίησεν, Begriff der ποίησις Erglimmend nach Maßen?? Festes Verhältnis von Stoffen? Wesentliche Unterscheidung: das Unwandelbare und das Wandelbare Parmenides Weltbegriff „διάκοσμον ἐοικότα“. Diels 18, B 8, 603 Die vorsokratische Philosophie als Bezugshorizont der platonischen Weltfrage. (Heraklit, Pythagoras, Parmenides, Melissos, Empedokles usw.) Stellung des Timaios? Zu den Altersdialogen. Viel gelesen in der Antike, Poseidonios (Stoiker)-Kommentar. (Schellings Urteil: Philosophie und Reli­ gion 1804) |(1) Seminar-Thema: κόσμος als ontolog‹isches› Sonderproblem. Zwitter­ stellung des κόσμος. Entscheidend ist, daß der „Dualismus“ dadurch zu einem Trialismus wird. Welt: Körper – Seele – Zeit. Wie dieses Verhältnis? Wesen des Körpers: ein γιγνόμενον; als Weltkörper aber bestimmt durch αὐτάρκεια Seele aber das Mittelnde zwischen den ontolog‹ischen› Sphären. Welt­ seele nimmt diese Sphären sozusagen in sich hinein. Seele ist als der Bezug des ἀεὶ ὄν und des γιγνόμενον, der γένεσις. Wesen der γένεσις = χρόνος (2) Unser Begriff von Zeit zunächst orientiert an dem Formalen des „Nach­ einander“. Zeitform. χρόνος ist aber hier voller zu nehmen. Zeit als das Zeitliche (Zeitform, Zeitinhalt, Zeitgliederung und Zeitmaß) 1.)

Bestimmung: Abbild, das ständig ist, Abbild des in sich bleiben­ den Äon 2.) Tag, Nacht, Monat? Zeitmaße oder Zeitweilen? ἅμα von Zeitwei­ len und οὐρανός 3.) εἴδη der Zeit: τὸ ἦν und τὸ ἔσται?? Das, was allen „Weilen“ in ihrem Verweilen den schwindenden Stand gibt. Entstanden in der Zeit oder als Zeit?? γεγονότα? 4.) Wie μέρη und εἴδη τοῦ χρόνου? |5.) Die λήθη: wir vergessen die Zeitentrücktheit, besser Vergänglich­ keitsentrücktheit. Das, was so besteht, daß es war und sein wird, ist in der Zeit. Sein und Zeit:

568

‹Dispositionen zur Übung „Zur Geschichte des Welt-Begriffs (Timaios)“›

τὸ γιγνόμενον – ἀεὶ ὄν (ἀΐδιον) ἦν – ἔστι – ἔσται ἔστι γένεσις ἐν χρόνῳ ἰοῦσα 6.) Die εἴδη der Zeit = κινήσεις. Zeit unter dem Aspekt der Bewe­ gung?? Muß es nicht umgekehrt sein? Seiendes in der Zeit bewegt oder das „Jetzt“ bewegt? Das Bewegte sichtlich am Gegenbegriff: das ἀεὶ κατὰ ταὐτὰ ἔχον ἀκινήτως οὔτε πρεσβύτερον οὔτε νεώτερον:4 die Bewegung ist das Altern. (Alter und Veränderung?) Das ἀεὶ ὄν hat nicht den Charakter des Bleibens eines Immerver­ änderlichen. 7.) Inwiefern ist χρόνος μίμησις und κύκλος? Hängen beide Bestim­ mungen zusammen? Ja, denn die Nachahmung der „Ewigkeit“ ist der Zeit nur möglich, wenn sie in sich zurückläuft (Ewige Wieder­ kehr?) |8.) Μίμησις bezogen auf eine Differenz? Bild und Abbild: Sein und Werden, οxὐσία und γένεσις. Aber wie αἰῶν und χρόνος? 9.) Das Sein auf die Zeit hin gesagt ist selbst mimetisch. (Kein sog‹enanntes› „ist“!!) 10.) λύσις der Zeit und Welt? Vgl. Parmenides! διάκοσμος 11.) Zeit als die Vollendung des κόσμος: ὁμοιότατος! An der Zeit ist das Wesen der Welt am meisten im Bezug zum Immerseienden. Höchstes „Sein“ im Werden! Entstandenheit der ganzen Zeit Das Entstehen des κόσμος nicht in der Zeit ἃμα von Zeit und οὐρανός (3) Gang des übersprungenen Textes: Demiurg bildet die unsterblichen Götter in Nachbildung des Weltganzen und diese bilden in Nachbildung der demiurgischen Weltbildung die Lebewesen, die sterblichen, Menschen und Tiere. Begriff der αἰτία wird erörtert. Erste und zweite αἰτία. Vernünftige und vernunftlose αἴτια; Ἀνάγχη: Rolle derselben ist umgekehrt als bei Parmen­ ides! |(4) Kap. XVIII, 48e, 35: τρίτον γένος! Die Kosmologie hat eine neue Grundkategorie gefordert. ὑποδοχή, τιθήνη. – Übersprungen ist: Die Auseinandersetzung mit der ioni­ schen Physik. Im Wandel der Elemente verbirgt sich das den-Wandel-Las­ sende. Alles Wandelnde aber „ist“ nicht, sondern „ist“ nur als so beschaffenes!

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‹Dispositionen zur Übung „Zur Geschichte des Welt-Begriffs (Timaios)“›

a.) ταὐτόν: wesentliche Charakteristik des dem Wandel Zugrundelie­ genden b.) οὐκ ἐξίσταται τῆς ἑαυτῆς δυνάμεως6 c.) aufnehmend nimmt sie selbst keine „Form“ an, keine μορφή: κεῖται (Passiv-liegend) wird passiv bewegt, φαίνεται als ein Anderes (5) Also τὸ γιγνόμενον, τό ἐν ᾧ γίγνεται, τὸ ὅθεν … ἐκτὸς εἰδῶν! |(6) ἀνόρατον εἶδος ist die ὑποδοχή ἄμορφον, πανδεχές = ein νοητόν??? (7) Übersprungener Text: Ontolog‹isches› Verhältnis von αἰσθητόν und εἶδος – νοητόν expliziert am Verhältnis von νοῦς und ἀληθὴς δόξα (8) 527: Die drei „ontolog‹isch›-kosmolog‹ischen›“ Sphären: I. τὸ κατὰ ταὐτὰ ἔχον: ἀγένητον, ἀνώλεθρον, οὐκ εἰσδεχόμενον, οὐκ εἰς ἄλλο ἰόν, ἀνόρατον. I = ὄν. II. τὸ ὁμώνυμον, αἰσθητόν, γενητόν, πεφορήμενον ἀεί, γιγνόμενον ἔν τινι τόπῳ, ἀπολλύμενον. II = γένεσις. III. χώρα, ἕδραν παρέχον. III = χώρα |(1) Exposition des Dialogs‹:› großartige, einfach scheinende onto­ log‹ische› Begriffsaufstellungen – Die einmalige Besonderung? ੕ɋ

– ɀɇɀɋɟμɂɋɍɋ ɐɓɋȽ઀ɒɇɍɋ ɁɄμɇɍɓɏɀɟɑ

Hinblick als Vorbild-Blick Woran der Tätigkeit Leitbild Anfang der Bewegung

Aristotel‹ische› 4 ἀρχαὶ καὶ αἴτια (2) Problem des παράδειγμα: die ontolog‹ische› Differenz überbracht? (3) Paradeigma ist Problem in bezug auf das Ganze der γιγνόμενα (οὐρανός – κόσμος) (4) Aber das Ganze gerät γιγνόμενον. Begründung??

in

die

ontolog‹ische›

Sicht

eines

(5) Schönheit und Gutheit von Welt und Demiurg? (6) εἴκων und παράδειγμα und die zugehörigen λόγοι? Die Offenbarkeit eines Seienden verhält sich so – wie das Sein des Seienden selbst. Offenbarkeit 570

‹Dispositionen zur Übung „Zur Geschichte des Welt-Begriffs (Timaios)“›

des immer gleich und selbig Verhaltenden ist immer gleich und selbig und ungelichtet. Die Offenbarkeit hat dasselbe Sein wie das in ihr Offenbare!! (7) Wesensort des Menschen in der Schein-Welt! |(1) Problem der 1. und 2. Mischung? Es handelt sich um die Weltseele. Aber so, daß zuerst das, was Seele überhaupt ausmacht, durch die Mischung als τρίτον εἶδος entsteht. 2. Mischung ergibt das Ganze, worin Selbiges und Teilhaftes vermittels des Bindeglieds „Seele“. ψυχή als „Vermittlung“ begriffen. Was ist das Selbige und was Andershafte? Idee und Zahl (nicht Idee und Sinnliches, sondern was ontologisch die Wurzel des Sinnlichen ist)

(2) Nach der zweiten Mischung: Einteilung: 1 + 2 + 3 + 4 + 9 + 8 + 27. 54 Teile, Rest 46 Teile, komplizierte Aufgliederung (3) Ontolog‹ische› Hereinnahme der „Ideen“ in die Welt!?? a.) das Selbige und Andershafte und Seele; b.) ‹bricht ab› (4) Kap. IX, 36d 7: Der Körperhafte ist innerhalb der Seele. Die ψυχὴ τοῦ κόσμου λέγει: Der Λόγος durchwaltet sie (5) ‹bricht ab› |Timaios, 28b 1 (13. Juni 1949) (1) Der Schluß von der Sichtbarkeit des Kosmos auf seine Gewordenheit? Ist dies ein Fehlschluß? Zusammenhang von ἀεὶ ὄν und νόησις und von γιγνόμενον und δόξα? (2) κόσμος καλός und δημιουργὸς ἀγαθός? καλός bezieht sich auf das Ganze des Seienden, kein binnenweltlich Schönes, Komparativität?? Was bedeutet der Superlativ? (3) κόσμος ein εἴκων [Idee und Sinnending – Idee und Welt?] (4) Der Unterschied zwischen dem παράδειγμα und dem εἴκων, also zwischen dem Immerseienden und Welt. Auch ein Unterschied der λόγοι: ἀλήθεια – πίστις. Der logos des Ständigen ist selbst ständig und bleibend ξυγγενής; Sein und Wahrsein. (Nicht „certitudo“!) Das Unumstößlichsein ist ein Standfestsein der Wahrheit. Der logos, der auf die Welt geht, ist ein logos von einem Abbildhaften (aber einem Abbild des Ständigen). γένεσις : οὐσία = 571

‹Dispositionen zur Übung „Zur Geschichte des Welt-Begriffs (Timaios)“›

πίστις : ἀλήθεια [vgl. dazu Parmenides’ ἐόν und τὰ δοκοῦντα] – „menschliche Natur“ des Fragenden? Sofern er selbst ein Werdendes ist, Standort im Reich des Werdens |(5) Proömium ist zu Ende. Beginn der Kosmologie mit dem 6. Kap‹itel›, 29d 7: ἀρχὴ? In welchem Sinne ist hier von αἰτία die Rede. Causa finalis! (οὗ ἕνεκεν, ἀγαθός). Ἀγαθός ist der Urheber. Ein „Vollendeter“. Φθόνος, Neid nicht im moralischen, sondern ontolog‹ischen› Sinn. Neid, Mehrsein, Mangel, Bedürftigkeit. Alles Seiende, das wird und vergeht, ist im Neide. (6) θεός (δημιουργός, ποιητής, πατήρ, ξυνιστάς) bezogen auf das Sichtbare, das in unregelhafter und ungeordneter Bewegtheit ist, führt das Seiende in die τάξις. Τάξις: Ordnung des Ganzen. Verfestigte Ordnung oder lebendige Ordnung. Νοῦς und τάξις. Νοῦς – ψυχή – σῶμα. Τάξις der Bewegung. Taxis der Bewegung (7) Welches Immerseiende (welches Lebendige) war Vorbild der Welt? |Vollständigkeit (οὐκ ἀτελές) – τάξις und καλός, ‹bricht ab› |20. Juni 1949 (1) Timaios nicht im Durchgang interpretiert, nur an ontologisch zentralen Stellen, die für den Ansatz des Weltproblems wichtig ‹sind› 1.) Proömium 2.) VI. Buch, 29d 7–34bB [mit bloßen Hinweisen bis 37c 6]. 37c 6–38c 2 (Zeit!) 3.) 2. Gang: XVIII. Buch, 48e 3–52e 5. τρίτον εἶδος τῆς χώρας (2) Timaios als die „Physik“ Platons: Φύσις ist Abbild des Seins selbst. Zwiefache ontolog‹ische› Differenz bei Platon: εἶδος und γιγνόμενον und τὸ ἀγαθόν und κόσμος (3) Buch VI. 29d 7: αἰτία? = Beweggrund für das Werken des Δημιουργός? Ἀγαθός (= seinstärkster). Kein Mangel, kein Fehlen, also kein Neid. Φθόνος ist nur bei einem sich nicht genügenden Wesen möglich. Das vollkommenste Seiende kann nur „Ӓhnliches“ bilden wollen. Θεός (δημιουργός, πατήρ, ξυνιστάς, θεός) ἀγαθὰ πάντα = so seiend wie möglich! Das Vorfindliche ist bewegt! Warum: weil es γιγνόμενον. γιγνόμενον und κόσμος! 572

‹Dispositionen zur Übung „Zur Geschichte des Welt-Begriffs (Timaios)“›

Der Gott ist der Ordnende; die geordnete Bewegung ist besser (= seins­ stärker). Kein vernunftloses Ding schöner als ein vernünftiges. Dies nicht | ein regional-ontischer Satz Das glänzende Ding und das vernünftige Ding? Der Weltkörper als vernünftig. Vernunft in einer Seele und diese in einem Körper. Abbild des einen logos Welches Vorbild? Das lebendige Wesen: kein Lebewesen im bekannten Sinne; sondern die Idee als Lebewesen. [Doppelsinn: die Idee des Lebewe­ sens ist selbst lebendig, das Intelligible ist selbst denkend! Vgl. Kant] Φύσις als Abbild der? = Idee der Ideen, des Seins Das Urlebendige verhält sich zu den Ideen, wie die Welt zum Binnenwelt­ lichen Letzter Grund der Welt-Einzigkeit: Abbild des Ur-Einen „τρίτος-ἄνθρωπος“ – Argumentation hinsichtlich des Vorbildes der Welt. Μονογενές. [Dies auch die ontolog‹ische› Bezeichnung des ἐόν bei Parmen­ ides!] Das Reich des Werdens ein Abbild des Reichs des Seins (4) Buch VII, 31b 5: metaphysische Deduktion der Körperlichkeit der Welt. [Umgekehrte Tendenz: nicht vom Sinnlichen zum Übersinnli­ chen, sondern vom Übersinnlichen zum Sinnlichen!] [Bei Platon sind es Δημιουργός und Ἀνάγκη, welche die Sinnenwelt erschaffen; bei Parmenides: Sprache und Δίκη] |Weltordnung. Keine Schöpfungsgeschichte, eine onto­ log‹ische› Nachkonstruktion des Werdenden Feuer: Grund der Sichtbarkeit. ੒ɏȽɒઁɑ ɈȽ੿ ਖπɒંɑ Erde: Grund der Tastbarkeit. Ɉɟɐμɍɑ Feuer und Erde [δύο μορφαί des Parmenides]. Beisammen? Gemischt oder nebeneinander? Die sinnliche Grundvorstellung: Himmel und Erde. Prob­ lem der Vereinigung. Einssein ist das Problem. Zwei Seiende können nur geeint sein, wenn das Verbindende selbst etwas ist. Analogie, Proportion: Folgezeit bedeutsam! Zahlen, Massen, Kräfte? Sind dies nur Beispiele, oder selbst eine Triade, die eine Proportion bedeutet? [Gedankending – Sinnending – Lebendiges] Proportion: a : b : c / b : c = a : b und b : a = c : b / b:a:c/a:c:b b:c:a/c:a:b

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‹Dispositionen zur Übung „Zur Geschichte des Welt-Begriffs (Timaios)“›

Feuer – Band – Erde Band : Erde = Feuer : Band Band : Feuer = Erde : Band Band : Feuer : Erde / Feuer : Erde : Band Band : Feuer : Erde / Feuer : Erde : Band Notwendigkeit von zwei Bändern? Feuer und Erde in der Fläche verbunden: ein Band im Raume verbunden: zwei Bänder. Metaphysische Deduktion der vier Elemente aus dem dreidimensionalen System des Raumes

das Zwischen!! |27. Juni 1949 (1) Ob im Protokoll die Deutung der κίνησις als γιγνόμενον, der ἀταξία und der τάξις? (2) ζῷα νοητά: wichtiger Aspekt der Ideenlehre. Gang: der κόσμος ein ζῷον ἔμψυχον εὔνουν. Aber wem gleichend? Dem ἀεὶ ὄν, aber einem solchen, das ein ζῷον ist. Dem Lebewesen in der Sphäre des γιγνόμενον muß ein Lebewesen in der Sphäre des ἀεὶ ὄν entsprechen. Ist die Idee des Lebewesens selbst „lebendig“, so wie die Idee der schönen Dinge selbst schön, „am schönsten“ ist?? Ist die Idee des Hässlichen selbst hässlich? Oder ist die Bestimmung der „Lebewesen“ hier eine tiefere? Sind alle Ideen „lebendig“??? Gibt es im Ideenreich nur „Leben“ (die Bewegung der κοινονία τῶν εἰδῶν)? Ideenlehre erstes Stadium, Kontrast zu den ὄντα γιγνόμενα; zweites Stadium: Bewegung der Ideen selbst; der Bezug von Idee und Ding nicht bloß als χωρισμός, sondern als Bezug κατὰ τὸ εἰκός. Gibt es im Reiche der Ideen nur ζῷα? Bewegte „Ideen“? Hat das Ständige selbst die Seinsweise des Bewegten? Wenn auch eine andere κίνησις als die κίνησις des ὂν γιγνόμενον!! (3) ἐν μέρους εἴδει Was ist das Teilhafte in der Sphäre des ἀεὶ ὄν? Die einzelnen Ideen

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|30c, 5: τἆλλα ζῷα καθ᾽ ἓν καὶ κατὰ γένη μόρια?? Nicht Einzelnes im Sinne des Individuellen, sondern einzelne Ideen und Gattungen von Ideen (4) Welteinzigkeit? Wie begründet? Welt am meisten ähnlich dem umfas­ senden Lebewesen der Ideenwelt. Wie jenes die Teile (die „Ideen“) in sich enthält, so die Welt die Dinge. Das ist das ζῷον πάντα ἐν ἑαυτῷ περιλαβόν,8 ist das κάλλιστον: dieses ist das παράδειγμα für den κόσμος. – Verwandtschaft zwischen κόσμος und den Dingen in ihm. Differenz und Verwandtschaft von Welt und Binnenweltlichem. Aus der Einzigkeit des Ur-Lebewesens folgt die Einzigkeit der Welt (vom παράδειγμα schließt Platon auf das Abbild-Einzige). Das Paradeigma (ζῷον περιέχον πάντα) muß einzig sein. |Zu Timaios 29 E ff. Zuerst Beweggrund für die Bildung des κόσμος: Modell des ἔργον. Die Vorhabe, die Absicht, die vorgreift auf das künftige, mögliche Werk. Ἀγαθός ἦν = seinsstark, nicht durch einen Fehl behaftet. Aber er ist nicht alles; aber er ist ein heiles, in sich voll-kommenes Seiendes. „Neid“ kann er nicht haben, weil er nichts ermangelt. Deswegen wollte er neidlos das Ganze so ähnlich sich „wie möglich“ machen. γένεσις καὶ κόσμος: das Werden und das Ganze des Werdens soll so gut, seinsstark, wie möglich, nichts sollte schlecht, d. h. seinsschwach sein. Warum findet der Demiurg die Dinge nicht in Ruhe? Weil sie γιγνόμενον sind. ἀτάκτως – τάξις ἀτάκτως: bewegt, doch ordnungslos; das Entstehen entsteht nicht aus dem Vergehen eines anderen. Entstehen und Vergehen ist nicht ineinander geflochten, Ring, ewige Wiederkehr des Gleichen. |τάξις = nicht eine hübsche Anordnung, sondern die Bindung alles Entstehens und Vergehens in eins Der Zusammensteller |Der Demiurg ist die ontolog‹ische› Konstruktion ‹bricht ab› |(1) Der paradoxe Charakter des Weltkörpers: weil er nicht Körper unter anderen Körpern ist, hat er nicht das Verderben-Bringende außer sich, sondern begreift alles ein: alles Feuer, alle Luft usw. (2) Der paradoxe Charakter der Weltseele. Zunächst räumliche Bestimmun­ gen: in der Mitte, durch das Ganze und außen herum? Die Seele ist nicht räumlich wie jeweils ein Körperding; aber sie waltet, sie durchdringt, sie faßt irgend‹wie› zusammen. Das Alldurchdringende, das Überall der Seele ist der Grund dafür, daß der κόσμος εἷς, μόνος, ἔρημος ist. Das Eine-All­ 575

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durchwaltende ist die primäre Bestimmung der Seele, die sich ausdrückt in ihrem Zugleich an vielen Orten. (3) Die „aretē“ der Welt besteht in dem Umgang mit sich selbst und der Unbedürftigkeit eines Anderen. Bedeutet dies, daß wir das Sein der Welt am Modell eines selbstgenügenden, unbedürftigen Seienden denken dürfen? Nein. Die Welt hat Umgang mit sich, sofern alles Seiende in ihr durch diesen Umgang „umgangen“ ist. Im Einssein der Welt ist das viele Binnenweltliche umgängig verbunden, es erkennt sich in seinem gemeinsamen Hingehören zur Welt und ist befreundet unter sich im Sichselbstliebsein des κόσμος. |(4) Warum das Ältere nicht herrscht über das Jüngere? Der ontologische Vorrang drückt sich im Zeitlichen aus. (5) I. Mischung zwischen dem Selbigen und dem „Anderen“ ergibt die Seele. Ψυχή überhaupt ist die Mischung. Keine phänomenale Charakteristik, son­ dern eine spekulative Bestimmung. Die Seele hat Teil an beiden Bereichen; sie macht ja diese Unterscheidung, existiert als diese Unterscheidung; als verstehende ist sie auch „verwandt“ mit dem, was sie versteht. [Vgl. Kants Bestimmung der Seele als transz‹endentale› Apperzeption: Einheit und Vielheit, Bleiben und Wechsel.] (6) II. Mischung ergibt die Weltseele: Selbiges – Seele – Anderes in Eins gebracht. Die Seele ist das Bindeglied zwischen den Sphären des Selbigen und Anderen, weil sie ja schon als Seele an beiden teilhat. | Wenn die Weltseele die Mischung aus Selbigem, Seele und Anderem ist, dann ist der ontolog‹ische› Gegensatz, der zu Anfang einfach aufgestellt wurde, jetzt in die Welt hineingenommen. |Zeit (χρόνος) und χώρα, Raum, nicht gleichartig. Zeit wird gebildet, um den κόσμος noch ähnlicher zu machen, μᾶλλον ὅμοιον.9 ζῷον ἀΐδιον = τὸ ἀγαθόν, φύσις = αἰώνιος! κόσμος = εἰκὼ κινητόν. Bewegung geht der Zeit vorauf. κινηθέν! αἰών Zeit = nach der Zahl gehendes ständiggegenwärtiges (ewiges) Abbild des in seiner Einheit bleibenden Aion. Definition der Zeit Zeit = Tage, Nächte, Monate, Jahre – also Zeitmaße. Die Zeitmaße gab es nicht vor dem Entstehen des Himmels ἃμα: Zeitmaße und οὐρανός entstehen gleichzeitig μέρη χρόνου (Teile!? Im Sinne von Maßen oder Teile im Sinne von Stü­ cken?)

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τὸ ἦν und τὸ ἔσται = γεγονότα εἴδη εἴδη: Formen der Zeit, entstanden in der Zeit oder sofern die Zeit entstanden ist?? |10Wie stehen μέρη und εἴδη τοῦ χρόνου zueinander, wie Tage und Monate zu dem „War“ und „Wirdsein“?? Die Vergessenheit (λανθάνομεν), die λήθη? Wodurch vergessen wir die ständige Gegenwart der οὐσία? ἦν – ἔστι – ἔσται und τὸ ἔστιν μόνον. (τὸ γιγνόμενον) (τὸ ἀΐδιον) κατὰ λόγον ἐν χρόνῳ γένεσις ἰοῦσα [οὐκ ἐν χρόνῳ] Das ἦν und ἔσται bezeichnen Bewegungen (κινήσεις); die Zeit gerät unter den Aspekt der Bewegung. Das ἦν wird gesagt von einem Seienden in der Zeit und von einem „Jetzt“!! Das ἀεὶ κατὰ ταὐτὰ ἔχον: ἀκινήτως οὔτε πρεσβύτερον οὔτε νεώτερον γίγνεσθαι διὰ χρόνου Das ἀεὶ hat nicht den Charakter des Bleibens eines Unveränderlichen. Weder geworden jemals (irgendwann) noch jetzt werdend noch künftig werdend: d. h. = nie im Lauf der Zeit stehend. γένεσις τοῖς φερομένοις ἐν αἰσθήσει |αἴσθησις ist in sich auf φερόμενα bezogen, das heißt auf Bewegtes!! ταῦτα αἰῶνα: dieses Ständige. εἴδη γέγονεν, die Formen sind geworden. Formen der Zeit, die das Ständige nachahmt und die sich im Kreise nach der Zahl dreht! Inwiefern ist die μίμησις bezogen auf eine Differenz? Dimension der Differenz, Abbild und Urbild. Werden und Sein. Abbild ist die Zeit des Seins des Ständigen, wenn sie in sich zurückkehrt, wenn sie sich nicht verläuft. Keine geradlinige Folgerung!! [Ewige Wiederkunft des Gleichen] τὸ γεγονὸς εἶναι γεγονός: das Entstandene „ist“ Entstandenes. Zwei­ deutigkeit des Ausdrucks: das „Entstandene“ kann bedeuten solches, das entstanden ist, aber auch das Entstandensein als solches. Kein logisches „ist“ der Kopula! λύσις!? [Vgl. Parmenides’ zukünftiges Ende des διάκοσμος ἐοικός]11. Die Zeit ist die Vollendung des κόσμος: ὁμοιότατος! |αἰών und χρόνος ζῷον ἀΐδιον und κόσμος (ζῷον ἔμψυχον, εὔνουν)

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Werdenloses Sein: höchstes Sein im Werden Der οὐρανός ist nicht entstanden in der Zeit, sondern die Zeit ist mit dem οὐρανὸς ἅμα entstanden, sie sind verbunden und werden nur miteinander aufgelöst, wenn es eine λύσις geben sollte. κόσμος, οὐρανός, Welt: ἅπαντα χρόνον: die ganze Zeit. War, ist und wird sein ἥλιος … entstanden, um die Zeit entstehen zu lassen. Zeit ist immer mit Maßen, mit Weilen gegliederte Zeit. Metrik ist sekundär. Demiurg bildet die Götter als Feuer, als Sterne in Nachbildung des Welt­ ganzen, und diese Götter bilden wieder in Nachbildung der Bildung der Welt durch den Demiurg die Menschen. Der Demiurg bildet die gewordenen, fortan unsterblichen Götter und diese bilden den sterblichen Menschen und die Tiere. Begriff der Ursache: letzte Ursache und zweitrangige Ursachen. Ver­ nünftige und vernunftlose, zweckhafte und zwecklose Ursachen |Vernünftige und unvernünftige αἰτία. Rolle der ἀνάγκη ist umgekehrt als bei Parmenides! Die „wahrscheinliche“ oder die abbildliche oder die scheinhaft-befangene Ansicht über die Entstehung gemäß der ἀνάγκη Neuer Anfang‹:› Kap. XVIII, 48e 2 ‹bricht ab› |Platons Methode: Zuerst wird die Welt gebildet nach dem Körper und dann erklärt, daß die Seele der Welt dem Körper der Welt voranginge, dann die Zeit, und erklärt, daß sie ἅμα mit dem οὐρανός entstanden sei. Also: die methodischen operativen Voraussetzungen werden schritt­ weise hineingenommen, also das ausdrücklich genannt, in dem man zuvor unausdrücklich sich bewegt hat. Verhältnis von ਕɋəɀɈɄ und ਥંɋ bei Parmenides ! und Verhältnis von ਕɋəɀɈɄ und ɋɍ૨ɑ bei Platon 48a 1 (Timaios) [Mit Lohmann Kap. XVII durchsprechen!] 48 ff. (S. 352) |Kein Bezug der gebildeten Welt zum Demiurgen selbst!?? Weltseele: gemischt aus dem Unteilbaren und dem Selbigen und dem Körperlich-Teilbaren. Weltseele ist das τρίτον (aus Selbigem und Unselbi­ gem) 1.) Welt steht mitten zwischen ὂν γιγνόμενον 2.) Welt-Körper ist ein τρίτον. Weltseele ist das τρίτον12

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Seele = 1.) Mischung des Teilbaren und Unteilbaren 2.) Selbiges: Wandelloses, Anders = Wandelbares Seele ist Mischung des Unwandelbaren und Wandelbaren. |Seele = Mischung des Gleichbleibenden und des Teilbaren Unteilbare – Seele (Mischung) – Teilbare

X Jedes (Seiende) zusammengesetzt aus Selbigem, Anderem und Seelensub­ stanz X X und X X X 2 1.) x Einfache 2.) 2x Doppelte Anderthalbfache des 2. 3.) 2x   ∙  1,5 = 3x 4.) 2x   ∙  2 = 4x Zahlenspekulation 5.) 3x   ∙  3 = 9x 6.) 8 ∙  x = 8x 7.) = 27x |Wiederholung 31b, 5: Körperlichkeit des Alls; die Einzigkeit des Alls muß sich in einem einzigen Körper dartun. Aber soll ὁρατὸν καὶ ἁπτόν sein. Feuer und Erde: nicht das Sichtbare und Tastbare, sondern das Sichtbarmachende und Tastbarma­ chende Himmel und Erde, Band der Analogie! Notwendigkeit von zwei Bändern, 3-Dimensionalität des Raumes und metaphysische Deduktion der 4 Elemente. Φιλία als Einheitsband κόσμος = ζῷον τέλεον ἐκ τελέων τῶν μερῶν. ἀγήρων, ἄνοσον13 Die verwandte Gestalt |Im Protokoll: κίνησις des ὁρατόν vor der Tätigkeit des Demiurgen: weil ein γιγνόμενον; deswegen ein κινούμενον. κίνησις bedeutet Werden (Entstehen, Vergehen); diese κίνησις ist ἀτάκτως καὶ πλημμελῶς,14 weil Entstehen und Vergehen sich nicht in eins schlingt, weil Entstehen des einen, Aufgehen des einen nicht zugleich Vergehen, Untergang des anderen ist, „Leben und Tod“ nicht ineinander verknüpft sind, durch das, woraus den Dingen ist ihr 579

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Entstehen, in dasselbe geschieht auch ihr Vergehen nach dem Nötigen; denn sie geben einander δίκην καὶ τίσιν κατὰ τοῦ χρόνου τάξιν.15 Die τάξις bedeutet also die Verschlingung des Entstehens in das Verge­ hen und umgekehrt (ewige Wiederkehr des Gleichen). πρόνοια: nicht Vorsehung; sondern der Vorblick des Δημιουργός auf das παράδειγμα des ἀεὶ ὄν, dem gemäß er den κόσμος als das schönste Werk bildet. |In der Ideenwelt gibt es nur ζῷα, auch die Ideen des Leblosen sind ζῷα. Die Ideen selbst bewegt, aber ihr „Leben“, ihre Bewegtheit hat nicht den Charakter des Entstehens und Vergehens. Zunächst ist der χωρισμός zwischen Idee und Einzelding ein solcher zwischen dem Ständigen und dem Unständigen – aber das Problem der κοινωνία τῶν εἴδων erzwingt eine Einsicht in den Bewegtheitscharakter der Ideen. Das Bleibende, gegenüber dem Vergänglichen, dem Umfallenden, ist selbst in Bewegung, aber in einer ewigen (Kreislauf). |In Platons Timaios ist bereits das Seiende im eigentlichen Sinne als Leben gedacht. Ζῷον νοητόν! |Die Interpretation des Timaios verfolgt das Ziel, den antiken Weltbegriff zu verdeutlichen. Welt ist das Ganze des Seienden, das aber entweder selbst ewig ist, schon immer war – oder vom Demiurg gebildet im Verein mit der anankē, aber fortan unvergänglich ist. Die Welt und das Sein selbst: der Anfang des Seins und seine Verschlossenheit

|ਕİ੿ ੕Ȟ ȗ૶ȠȞ



ȖȑȞȘ IJ૵Ȟ İ੅įȦȞ

– țંıȝȠȢ

੓ȞȖȚȖȞȩȝİȞȠȞ – IJ੹ ੕ȞIJĮ

IJઁ ʌ઼Ȟ ĸ țંıȝȠȢ ĺȟȣȖȖİȞȒȢ țĮIJ੹ IJઁ İੁțંȢ

|Keine Behauptung ‹–› κόσμος κάλλιστος, κόσμος γιγνόμενος, das abbildlich nach dem Immerseienden gebaut ist Ist nicht das Sinnending immer Abbild des Ständigen? Gewiß, aber vergängliches Abbild des Unvergänglichen. Dagegen Welt ist Abbild des Unvergänglichen, sofern sie das Unvergänglichsein abbildet. Sie ist Abbild, und sofern Abbild gibt es von ihr nur einen abbildlichen logos, eine πίστις, keine ἀλήθεια.16 Beweggrund für den Demiurgen? Er war gut, neidlos (kein Mangel, alles also ihm so ähnlich als möglich). Der Demiurg will ein möglichst ähnliches 580

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Abbild seiner selbst. Er ist θεός (die Reihe der Bestimmungen läuft also aus in θεός). Gott will alles soweit als möglich als seiend. Der Seiendste will alles so seiend als möglich machen. Er findet das Sichtbare als bewegt vor, aber regellos. |Das Proömium enthält die ontolog‹ischen› Elemente, mit denen der Dia­ log operiert.17 Nicht in Ruhe (wieso nicht‹?›). Die Bewegung macht nicht der Gott, er macht auch nicht das ὂν γιγνόμενον (das Entstehend-Vergehende), sondern er ordnet es. Als γιγνόμενον ist das Zu-Ordnende schon bewegt. (τὰ γιγνόμενα = die Φυσικά) Die geordnete Bewegung besser (seinsstärker) als die regellose? Der Beste (ἄριστος) kann und soll das Schönste (κάλλιστον) vollbringen. Unter den ὁρατά ist kein vernunftloses Ding. Schönes als ein vernunftbegab­ tes. Wieso ist dieses schöner, erscheinender, leuchtender? Sofern sie als Ganze genommen werden. Das glänzende Ding leuchtet, das vernunftbe­ gabte aber leuchtet in einem inneren Licht. Vernunft muß mit Seele, Seele mit Körper zusammen sein. Die Vernunft in eine Seele und diese in einen Körper. Aus der Einzigkeit der Vernunft die Einzigkeit von | Weltseele und Weltkörper. – Abbildlicher logos Welches lebendige Wesen als Vorbild? Gattung der Teile nicht Nach dem Vorbild des All-Lebendigen „an sich“ Die Φύσις als Abbild der Idee der Ideen (des Ἀγαθόν), des Seins. Aus diesem Abbildbezug zum Ἀγαθόν, das als das All-Lebendige an sich gefaßt wird, folgt die Einzigkeit der Welt. Die Einzigkeit des All-Lebendigen an sich. Τρίτος ἄνθρωπος Argumentation. [Die belebten Wesen der Gedanken­ welt sind keine Region von Lebewesen, sondern sind das Seiende an sich, die Ideen, die lebendigen Seinsgedanken, die ihre κοινωνία haben im Sein selbst, und die ständig in Bewegung sind.] Welt ein μουνογενές! [Dies auch die ontolog‹ische› Bezeichnung des ἐόν bei Parmenides. Die Welt der δοκούντα, hinsichtlich deren es keine ἀλήθεια, sondern nur die πίστις gibt, ist ein Abbild des ἐόν, von jenem verschieden und doch auch trotz Verschiedenheit ähnlich.] |Bis hierher ist die genetische Perspektive angesetzt: das Reich des Wer­ dens im Verhältnis zum Reich des Seins. γένεσις : οὐσία / oder πίστις : ἀλήθεια

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II. Der κόσμος als gebildeter, gewordener, muß körperlich, sichtbar, fühlbar sein. Platon deduziert die metaphysische Notwendigkeit des Körperlichen. Gleichsam die umgekehrte Tendenz, wie die, welche zur Schau der Ideen führt, dort vom Sinnlichen auf das Unsinnliche, hier vom Unsinnlichen die Notwendigkeit des Sinnlichen deduziert. [Bei Platon ist es der Δημιουργός, der die Sinnenwelt erschafft, bei Parmenides ist es die Sprache des Menschen und dann auch die Δίκη.] Gang der Weltbildung: keine Schöpfungsgeschichte, sondern ein Wer­ densbild vom Werdenden, das Werdensbild; die Nachkonstruktion ist aber ontologisch, nicht ontisch Feuer: Grund der Sichtbarkeit. Früher ὁρατὸς καὶ ἁπτὸς κόσμος Erde: Grund der Tastbarkeit Feuer und Erde [vgl. δύο μορφαί des Parmenides, Licht und Dunkel, „Himmel und Erde“. Hesiod!?]. Die beiden Dinge sind beisammen, sind sie gemischt? Ein Gemenge? Ein μίγμα. Oder sind neben-einander, einander begrenzend? Wieso können sie nicht bandlos nebeneinander sein? Und warum muss es gerade 4 Elemente geben, warum nicht diese wieder durch Bänder verbunden sein? Feuer und Erde stehen nicht bezuglos nebeneinan­ der, wie ein Stein neben einem anderen liegt. Sie sollen ja vereinigt werden. Es handelt sich um ein Einssein. |Das Getrennte (Feuer und Erde) soll in Einem verbunden sein. Zwei Seiende überhaupt können nur zusammen sein, wenn das Verbindende selbst etwas ist. Schönstes Band die Analogie (Proportion) [Dieser Gedanke in Folgezeit höchst bedeutsam, Analogia entis, bei Aristoteles, Scholastik]. Zahlen – Massen – Kräfte [Sind dies bloße Beispiele von Seiendem verschiedener Seinsweise? Zahl: ein gedankliches Seiendes. Masse: ein sinnlich vorhan­ denes Seiendes. Kraft: ein Lebendiges. Oder sind diese Beispiele selbst eine Proportion?] Proportion: a – b – c b:c=a:b b:a=c:b b–a–c|a–c–b b–c–a c–a–b Feuer – x – Erde x : Erde = Feuer : x x : Feuer = Erde : x x – Feuer – Erde | Feuer – Erde – x x – Erde – Feuer Erde – Feuer – x

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|Wenn der Leib des Alls zweidimensional hätte werden sollen Fläche ohne Höhe, dann hätte ein Mittelglied genügt. Ist das verstehbar? Feuer und Erde verbunden in einem Band, wenn Erde (Fläche) und Feuer als Fläche zusammen sein sollten. Körper: alle Körper durch zwei Mittelglieder zusammengehalten. Inwie­ fern

Das Zwischen als das Wesen des Körpers |Seminar-Vorbereitung. Protokoll! Wir stehen bei der Frage nach der Geschichte des Weltbegriffs. Ergänzung zur Vorlesung, vor allem der antike Weltbegriff! Inwiefern der antike von unserem verschieden? Wie verhält sich die „geschichtliche Erinnerung“ zur systemati­ schen Problemstellung? Abwehr der Auffassungen: a.) Vergangene Philosophien sind überholt; b.) Alle wesentlichen Denker sind „gleichzeitig“. Ablehnung also der: Philosophie in ihrem gegenwärtigen Stand. Philoso­ phia perennis Die üblichen Begriffe von Welt. Welt als Allheit, Welt als geistige Umwelt, Welt als Gegenbegriff zu Über-Welt, Welt als Gegenbegriff welt­ flüchtiger Gesinnung Antiker und christlicher Begriff der Welt. Ewigkeit und Geschaffen­ heit. Welt bezogen auf Dimensionen der Zeit. Welt und Zeit: Weltganzes und Zeitganzes? Heraklit Frg. 30 κόσμον τόνδε, τὸν …18 κόσμος = Schmuck, Ordnung. Inwiefern kann Welt so gefaßt werden? Ordnung als eine gemachte, hergestellte? Ist jede Ordnung „gemacht“? Modell der Ordnung, die von selbst ist. Ur-Modell ist das Licht. Das Licht scheidet und trennt, bringt in den Umriß und läßt jedes Einzelne sein, was es ist. |Das Licht als das Ordnende ist auch das Glänzende (Schmuck). Das Seiende als das in bestimmtem Gefüge sich Zeigende und Aufglänzende ist die Ordnung. τόνδε: = Vierheit der Welt, nicht Dreiheit eines Dinges. Dieses Ding, eins unter vielen

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ἐποίησεν: hervorbringen, ins Licht stellen Diese Welt, als die im Licht stehende, hat weder einer der Götter noch Menschen hervorgebracht (ins Licht gestellt), sondern sie war immer und ist und wird sein immerlebendiges Feuer (= Licht), erglimmend nach Maßen (= ‹bricht ab› Das Feuerlicht ist das maßgebende für alles, aber ist selbst dem μέτρον untertan! Wie? Vielleicht wie sie als die Zeit selbst in der Zeit ist? Einfache simple Deutung: das Verhältnis von Feuer, Luft, Wasser, Erde, der Wandelgang des Sich-Entzündens und Erlöschens ist gleich-mäßig? Oder Aufgang und Untergang (Tag und Nacht) der Welt im Ganzen? |Das Erstzuerforschende über die Welt (Himmel, ἢ κόσμος), ob er immer war oder geworden ist. Zuerst also die ontolog‹ische› Scheidung überhaupt und dann die Anwendung dieser Unterscheidung. Entscheidung fällt für Gewordenheit. Sichtbar und tastbar und körperhabend. Ist dieser Gedan­ kengang richtig? Das Sichtbare und Tastbare ist αἰσθητόν = dieses aber ist γιγνόμενον. Wenn aber dieser Kosmos schön ist? Schön, geordnet, gelichtet, maßvoll, regelmäßig, bestimmt. Wenn der Demiurg gut (= tüchtig, taugend) (nicht = gütig) ist, dann ist der Hinblick des Bildens auf das Ständige. Dann ist das γιγνόμενον ein Abbild des Ewigen? (Paradoxie). Heißt das: ist das γιγνόμενον konstruiert nach dem Urbild des ἀΐδιον, oder ist das Ganze der γιγνόμενα nach dem Urbild des Ständigen geordnet?? Unterschied von εἴκων und παράδειγμα – Unterschied des zugehörigen Λόγος |Der logos ist ξυγγενής mit der Seele, worüber er geht. Der λόγος des Bleibenden, Festen und des ‹…› Erscheinenden ist selber bleibend und unerschütterlich. Was immer gleich sich verhält, dessen Offenbarkeit verhält sich auch immer gleich. Der λόγος vom Nachgebildeten, also der logos vom Nach-Bild (Abbild) ist selbst ein λόγος εἰκώς. λόγος εἰκὼς ἀνὰ λόγον. γένεσις : οὐσία = πίστις : ἀλήθεια. Der wesentliche Stand des Menschen in der Offenbarkeit des Seienden im Ganzen ist bestimmt durch die Situation inmitten der γιγνόμενα (die εἰκόνες sind).

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|καλόν, schön Das Erste ist der ontolog‹ische› Unterschied des Ständigen (Seienden) und des Unständigen (Werdenden) (ὄντως ὄν) und (ὄντως ὂν οὐδέποτε) γιγνόμενον = ὑπ’αἰτίου εἶναι Δημιουργός (1) Woran der Tätigkeit (2) Woraufhin der Tätigkeit (3) Leitbild der Tätigkeit (4) Anfang der Bewegung Problem des παράδειγμα. Wie ist die ontolog‹ische› Differenz der beiden Sphären durch einen παράδειγμα-Bezug überbrückbar? Dies der entschei­ dende Gedanke! καλόν: wenn das γιγνόμενον vom Seienden her geordnet wird, οὐ καλόν: wenn vom Werdenden Was ist das ontolog‹ische› Paradeigma? Bedürftigkeit eines Para­ deigma liegt in der gebrechlichen Natur des γιγνόμενον. Die Einheit des Seins, Analogia entis zwischen dem minderen und dem eigentlichen Sein! |Das Verwunderliche des Ansatzes ist die Unterscheidung allgemeinster ontologischer Art τὸ ὂν ἀεί, γένεσιν οὐκ ἔχον und τὸ γιγνόμενον, ἀεὶ ὂν δὲ οὐδέποτε Νόησις μετὰ λόγου – αἴσθησις ἄλογος γιγνόμενον καὶ απολλύμενον ἀεὶ κατὰ ταυτά οὔτως ὂν οὐδέποτε ὑπ’αἰτίου εἶναι Der Δημιουργός? Besonderung des ὑπ’αἰτίου εἶναι Begriff des Verursachens Hinblicken (Vorblicken auf die künftige Gestalt, das Woraufhin des Werdens) Ursache als Woher der Bewegung Ursache als Woraus des Bestehens παράδειγμα? Wie kann das Ständige Vorbild des Unständigen sein? εἶδος: Anblick (κατὰ ταυτά) δύναμις: Kraft (des Sichhaltens)

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|Wesentlich an diesem Fragment: das Ewige (ἀεὶ ζῷον) an ihr und der Wandel (nach μέτρα). Die Antike sagt die Ungewordenheit der Welt aus, aber scheidet gerade das Ewige und das Wandelbare. Das Unwandelbare =?? Das Wandelbare = das Entstehende, Vergehende, Erscheinende Parmenidesʼ Weltbegriff ὄν, das kein Entstehen und Vergehen kennt Διακόσμον ἐοικότα Γένεσις und ὄλεθρος. Diels 18, B 8, 2119 Διάκοσμος |Die eigentümliche Bewegung Platons Die Welt ist geworden. Weil sie sichtbar, fühlbar und körperhaft ist. Sie ist geworden nach dem Vorbild des Immerseienden. Weil sie schön und der Demiurg gut ist; weil sie das Schönste und der D‹emiurg› der Beste ist. Sie ist εἴκων. Wenn sie also εἴκων ist, muß unterschieden werden das εἴκων des Immerseienden und das Immerseiende selbst (παράδειγμα). Der Unterschied wird ausdrücklich in bezug auf die λόγοι. So wie παράδειγμα und εἴκων, ἀεὶ ὄν und κόσμος (γιγνόμενον – aber im Hinblick auf das Ständige gemacht). Der logos ist selber mitbetroffen von der ontolog‹ischen› Valenz dessen, was er entbirgt. Der logos des Ständigen ist selber ständig. ξυγγενές: von Sein und Wahrsein. Der logos des Bleibenden ist selber bleibend, und fest und unumstößlich. [Nicht certitudo!]. Der logos des Abbildhaften (aber Abbild des Ständigen) |γένεσις : οὐσία = πίστις : ἀλήθεια Die Natur der Wahrheit über die Φύσις (den κόσμος) ist πίστις (weil der κόσμος εἴκων ist, wenngleich εἴκων des Ständigen), und weil wir Menschen (und keine Götter) sind, selber vergängliche, gewordene Wesen. [Aber ist der λόγος τοῦ εἴδου keine menschliche Möglichkeit???] Die menschli­ che Weise des Wissens vom Ursprung des Kosmos ist eine πίστις und eine Grenze!! Nach diesem Ansatz, der die Endlichkeit des menschlichen Wissens unterstreicht, beginnt die Kosmologie. Das Proömium ist zu Ende. Welchen Sinn hat das Proömium? Die ontolog‹ische› Scheidung, die Grundbegriffe und die Einzigartigkeit der Weltfrage 1.) Etappe: (1) Ursache, gemäß welcher der Urheber (Zusammenste­ hen) zusammenstellte? Ursache? Causa finalis? Ursache ist das Gutsein des Demiurgen. Neid?? Mehrsein, Mangel, Bedürftigkeit – Φθόνος, nicht moralisch, sondern ontologisch

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|ἰδέα (εἶδος) – γιγνόμενον. Differenz und methexis. Das Einzelding ist teilhabend an der Idee. Dieses Verhältnis nun auf das Ganze der Dinge. Ideen. Welt als γιγνόμενον, aber darin ein εἴκων des Ständigen. Welt also ein Abbild der Ideen noch in einem anderen Sinne als die Einzeldinge Abbilder sind |Alles Werdende ist sinnlich Ɉંɐμɍɑ ist sinnlich

Ist dieser Schluß richtig ‹?›

Also ist er ein ɀɇɀɋɟμɂɋɍɋ

Alle Menschen sind sterblich Dies da ist sterblich Also ist Dies-da ein Mensch? (oder ein Tier?)20 Ist dieser Schluß Platons falsch? Nein, aber von da aus verstehen wir besser die Zuordnung von ἀεὶ ὄν und νόησις und γιγνόμενον und δόξα |Ist das Ganze des Werdenden und Sinnlich-Vernehmbaren auch selbst ein Gewordenes und Sinnlich-Vernehmbares? |Wenn καλός ist der κόσμος und der Demiurg ἀγαθός, dann muß er auf das Ständige hingeblickt haben. Warum? Wie stehen Schönsein und Gutsein zum Ständigsein? Ist der Gedanke für uns zwingend‹?› Ist das Schöne ein Hinweis auf Ständiges oder ist zuweilen gerade das flüchtige Fließen der Dinge, ihre Zerbrechlichkeit das Schöne? Wenn die Welt „schön“ und der Demiurg „gut“ ist, dann muß er auf das Immerseiende als Vorbild geblickt haben. Sie ist das Schönste vor allem Gewordenen und er ist der Beste aller Urheber.21 Also muß er auf das Immerseiende geblickt haben. Inwiefern ist der Kosmos das Schönste? Inwiefern ist das Ganze schöner als Dinge in der Welt? Ist die Schönheit des Weltganzen eine komparative Schönheit mit dem Schönen des Inner­ weltlichen? |πᾶσα ἀνάγχη: Notwendigkeit, daß diese Welt ein εἴκων ist Das Entscheidende, Größte ist aber, den Anfang anzufangen κατὰ φύσιν Welt ist ein εἴκων

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Aristoteles, Nikomachische Ethik ‹1950›

(Aristoteles-Interpretation auf dem Fleiner-Haus, Todtnauberg 4.–6. März 1950. Nikomachische Ethik VI. Buch; 6. Kap.) 1140b 3ff. Wir stehen bei der Abgrenzung der φρόνησις gegen die übrigen Weisen des ἀληθεύειν. Die ἐπιστήμη wird bestimmt als ὑπόληψις περὶ τῶν καθόλου. Die ἐπιστήμη ist „Urteil“ im Bereich des Allgemeinen, aber ist nicht das Erfassen des Allgemeinen selbst. Sie ist Wissensweg, ein Gang des Ableitens und ist deswegen ἀπόδειξις. Ableitung im Rückgang auf die ἀρχαί. Weil die epistēmē aufzeigendes, im Rückgang auf die ἀρχαί in Gang befindliches Wissen ist, gibt es von der ἀρχή des ἐπιστητόν keine ἐπιστήμη. Denn das Wissen von der ἀρχή kann nicht selbst ableitendes-aufzeigendes Wissen sein. Es ist eben auch nicht τέχνη und auch nicht φρόνησις. τέχνη, φρόνησις, ἐπιστήμη werden ausgegrenzt. Übrig sind σοφία und νοῦς. Grund für die Ausgrenzung von ἐπιστήμη ist, daß das Gewußte ἀποδεικτόν ist – τέχνη und φρόνησις aber gehen auf die ἐνδεχόμενα ἄλλως ἔχειν. [Aber gibt es dort nicht auch ἀρχή? Die ποίησις der τέχνη und die προαίρεσις der φρόνησις: ἀρχή oder Mensch]. Archē ist hier als das Ständige begriffen. Hat es am Ende die σοφία mit den ἀρχαί zu tun? Aber nicht in letztlicher Hinsicht. Denn auch der σοφός weiß nicht unmittelbar die Anfänge, sondern hat Ableitungen: er weiß nicht nur das Sein, auch das | Seiende als gegründetes im Sein! „περὶ ἐνίων ἔχειν ἀπόδειξίν“ (1141a, 1). Das Einige (ἔνια) ist nicht Einzelnes, sondern die Aufgliederung des Seienden in seiner Herkunft aus den „Anfängen“ (ἀρχαί). Der Satz 1141a, 3 „εἰ δὴ οἷς ἀληθεύομεν καὶ μηδέποτε διαψευδόμεθα“ ist äußerst schwierig zu verstehen. Das ἀληθεύειν geht auf τὰ μὴ ἐνδεχόμενα und τὰ ἐνδεχόμενα ἄλλως ἔχειν; was überrascht ist dies μηδέποτε διαψευδόμεθα. Gibt es denn nicht ein vermeintliches ἀληθεύειν? Heißt dies, daß wir unfehlbar seien im Wahrheiten? Das wäre ein unsinniger Satz. Es handelt sich dabei nicht um die je im Einzelfall faktische Wahrheit, etwa als „Übereinstimmung“, sondern um die ontologische Nähe. Das Wahr­ heiten ist die Zusammenkunft von Seiendem und Mensch. Diese „Nähe“ ist die Voraussetzung dafür, daß im Einzelfall Täuschung möglich ist. Täuschung ist nie darüber, daß wir überhaupt beim Seienden sind. „Zu keiner Zeit“ 589

Aristoteles, Nikomachische Ethik

(μηδέποτε)sind wir nicht beim Seienden. In der Offenheit für das Seiende, in diesem Offenstand täuschen wir uns nie. Sofern wir sind, sind wir beim Seienden. Die ἐπιστήμη, φρόνησις, σοφία und der νοῦς sind die Weisen des Wahrheitens, die als ontologische Nähe begriffen werden müssen. Dabei gibt es aber noch eine Rangfolge. ἐπιστήμη und die anderen Weisen des ἀληθεύειν sind nicht in gleicher Weise „ontologische Nähe“. νοῦς ist die Nähe des | Menschen zum Sein (aristotelisch als ἀρχαί verstanden), σοφία ist Nähe zum Seienden im Lichte des Seins. Ebenso φρόνησις, obgleich sie sich zum ἐνδεχόμενα ἄλλως ἔχειν verhält. Und ἐπιστήμη ist die Nähe zum Seienden, die in der Nähe zum Sein „gründet“. Es bleibt also nur der νοῦς übrig (λείπεται). Dieses Übrigbleiben ist kein äußerliches in einer Aufzählung, sondern in einer Rangfolge. νοῦς ist am meisten die Nähe, die das Wesen der Wahrheit ausmacht. Der νοῦς ist die ἀλήθεια τῶν ἀρχῶν.

7. Kap. des VI. Buches, 1141a, 9ff. Thema wird nunmehr die σοφία. Die Art und Weise, wie sie charakterisiert wird, überrascht. Sie wird zuerst von der τέχνη aus in den Blick genommen. Σοφία ist doch kein hervorbringendes Wissen, keine ποίησις – eher würde man erwarten, sie von der ἐπιστήμη aus anzugehen. Sie wird vorläufig bestimmt als τέχνη, aber als ἀκριβεστάτη. Σοφός ist dem vorläufig gängigen Sinn nach einer, der sich auskennt. Aber als Beispiel nennt Aristoteles den Phidias und den Polyklet. Sind das gewöhnliche Techniten wie Schuhmacher oder Weber? Offenbar nicht. Sie sind keine Steinmetze, die nur einen über-wunderwerklichen Grad von Genauigkeit der τέχνη vermögen. Phidias läßt aus dem Stein die Pallas Athene hervortreten, im Kunstwerk ist das Ganze des athenischen Daseins ins Werk gesetzt. So kann Aristoteles die σοφία vordeutend bestimmen als ἀρετὴ τέχνης. Die σοφία ist eine Auskenntnis ὅλως, οὐ κατὰ μέρος. Der zweite Ansatz charakterisiert die σοφία als ἀκριβεστάτη ἂν τῶν ἐπιστημῶν. Inwiefern ist sie eine Art von ἐπιστήμη? Weil sie nicht die ἀρχαί direkt weiß, sondern um die ἀρχαί weiß (μὴ μόνον τὰ ἐκ τῶν ἀρχῶν εἰδέναι, ἀλλὰ καὶ περὶ τὰς ἀρχὰς ἀληθεύειν); die σοφία steht zwischen νοῦς und ἐπιστή|μη; sie ist, wenn sie schon als ἐπιστήμη genommen werden soll, die höchste, die hauptsächlichste (κεφαλὴν ἔχουσα ἐπιστήμη) – und zwar die höchste epistēmē, weil sie das Wissen des höchsten Seienden ist (ἐπιστήμη τῶν τιμιωτάτων). Die Kennzeichnung der σοφία vollzog sich also 1.) von der τέχνη aus (ἀρετὴ τέχνης); 2.) von der ἐπιστήμη aus (hauptsächlichste Wissenschaft vom Würdigsten). Eigenartigerweise wird also die σοφία von anderen Weisen des 590

7. Kap. des VI. Buches, 1141a, 9ff.

ἀληθεύειν her umrissen: aber dies bedeutet nicht die These, daß sie wirklich eine τέχνη und wirklich eine ἐπιστήμη sei, sondern eine Analogie. Sie ist in gewisser Weise die auf das ἀκριβές hin gesteigerte τέχνη und ἐπιστήμη. 1141a, 21ff. Von der σοφία aus, die ἐπιστήμη τῶν τιμιωτάτων genannt wurde, ergibt sich eine Bestimmungsmöglichkeit der φρόνησις. Und zwar, sie hat es nicht mit dem Würdigsten zu tun. Politik und phronēsis sind nicht das Ernsthafteste, weil nicht der Mensch τὸ ἄριστον τῶν ἐν τῷ κόσμῳ ist. Politik und φρόνησις haben es also mit dem Menschen zu tun. Politik und phronēsis stehen bei einander. Warum? Die φρόνησις geht auf das dem Menschen Gute und Zuträgliche (ἀγαθὰ καὶ συμφέροντα [an einer früheren Stelle]). Die Politik ist das Wissen um das einer Gemeinschaft, einer πόλις Gute und Zuträgliche. Deswegen kann er [Aristoteles] ja im 1. Buch der Nik‹omachischen› Ethik das gesuchte Wissen vom ἀγαθὸν ἀθρώπινον eine πολιτικὴ τις nennen.1 Der Mensch ist nicht das Beste (τὸ ἄριστον). Deswegen differiert auch das dem Menschen Gute und das den Fischen z. B. Eine solche Differenz ist nur möglich, weil es dabei um ein relativ Gutes sich handelt. |[1141a, 25] Das den Menschen und den Fischen Gute ist ἕτερον. Anders als solches relatives ἀγαθόν ist z. B. das Weiße und das Gerade. Weiß und Gerade ist immer dasselbe (ἀεὶ ταυτόν), es ist nicht für die einen Lebewesen ὄν, für die anderen anders.

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‹Notizen zur Übung „Platons Philebos“› ‹SS 1951›

23c, 3: τὰ νῦν ὄντα:1 Das im InderZeitsein angelangte Seiende, das also sein „ontologisches“ Werden, seine „Ontogonie“ hinter sich hat, „perfekt“ ist, auch wenn es im ontischen Werden, im Prozeß seines Inder­ Zeitseins immer noch „unterwegs“ ist. [„Mischung“ und „Genesis“ als spekulative Modelle – die als solche nicht erörtert werden!] Auseinanderlegung διαλαβεῖν (= διαλέγεσθαι) der νῦν ὄντα in πέρας und ἄπειρον. Platon praktiziert hier in einer neuen Dimension, was er vorher „allgemein“ gefordert hatte: das ὁπόσα der Ideen aufdecken. Die konstitutiven Ideen für das „Werden“ (für die Ontogonie) des Seienden sind zwiefach, dreifach, vierfach, fünffach. τρίτον ἐξ ἀμφοῖν τούτοιν ἕν τι συμμισγόμενον:2 spekulative Formel für die νῦν ὄντα! 23d: γελοῖος! Weil der Anschein eines Zusammenstückens und Zusam­ menrechnens entsteht. Die ontogonische Genesis gerät in den lächer­ lichen Aspekt einer vermischten Zusammenstückung von Bestandtei­ len. αἰτία συμμείξεως? Ontogonie und Ursache. Natur dieser Ursache ξυμμείξις und διάκρισις. „Mischung“ und „Scheidung“ als die ontogoni­ schen Paradigmen, in denen im versagenden Modell „Entstehen“ und „Vergehen“ gedacht wird. |24aff.: ἄπειρον und πέρας: nicht als unbestimmte Gegenbegriffe, sondern als die zwei „Bestandteile“ des ontogonischen Werdens. τὸ ἄπειρον τρόπον τινὰ πόλλα?3 Nicht also das ἄπειρον der nicht durchgezählten Menge, die sich im Durchzählen bestimmt in ein Wieviel. Sondern das ἄπειρον ist ein „Vieles“ (in gewisser Weise), es ist nicht „viel“, als vielfache Wiederholtheit des Eins, sondern viel als unbestimmt durch die prägende, umriß-gebende Zahl.

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‹Notizen zur Übung „Platons Philebos“›

θερμοτέρον – ψυχροτέρον? Die Komposition bedeutsam, er ‹Pla­ ton› verweist auf das Fließende, Unbestimmte. Ungebändigte (durch eine Prägung). Aber schon ohne Steigerung: das Warme, das Kalte wird ein Bestimmbares, aber von Hause aus Unbestimmtes, Bestimmtheit Aufnehmendes gedacht. Dieses ist ohne πέρας: ist μᾶλλόν τε καὶ ἧττον ‹bricht ab›

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Heraklit-Interpretationen ‹1950–1954›

Der Grundgedanke der Auslegung steht in schroffem Gegensatz zu der seit Aristoteles üblichen Heraklitdeutung; Heraklit denkt nicht das Ursachesein als hylē, er denkt überhaupt nicht das Sein (die Seinsverfassung) des Seien­ den, – nicht den kategorialen Bau der Dingheit oder die Wesensverfassung der Dinge: er denkt einzig und allein die Entbergung und Verbergung des Seins, das Ur-Ereignis der Lichtung als Aufgang des vielen Seienden in der Einheit der Welt und zugleich den nächtigen Grund, der in der Lichtung aufbricht und sie überhaupt sein-läßt. Heraklit hat nichts mit „jonischer Physik“ zu tun, die eine fragwürdige Erfindung der Philosophiehistoriker ist. Die im Folgenden gegebene Anordnung der Fragmente beansprucht nicht, eine Conjectur zu sein der heraklitischen Ordnung selbst; sie ist lediglich bedingt durch einen durchlaufenden Interpretationsgang. Fr. 641: ta panta = das vielfache Seiende im Ganzen, die vielen endlichen Dinge insgesamt; die endlichen Dinge sind in Bewegung, sie kommen und gehen, verändern sich, nehmen zu und ab, wesen an und ab; ihr Wandel aber ist gesteuert; was sie steuert, lenkt, einrichtet ist der keraunos, der BlitzSchlag. Keraunos ist nicht selbst ein endliches Ding, er steht den ta panta gegenüber, genauer er umfängt sie; in seiner Helle vielfältigen sie sich erst; im Licht des Blitzschlags bricht das Viele und zwar alles in eins gesammelte Viele erst auf und hat in der Helle seinen blitzgesteuerten Wandel. Das oiakizei bedeutet die Lenkung und Steuerung von solchem, was allererst in solcher Lenkung entsteht-entspringt. Der Weltblitzschlag der Lichtung des Seins ist der prägende Schlag, der alle vereinzelten, endlichen, abgegrenzten, zeitweiligen Dinge herausreißt aus dem Schoß der physis, sie ins Offene stellt, „hervorbringt“. Keraunos ist Licht im Aufgang. Wie der Blitz aus der dunklen Wet­ terwolke bricht und alles in seine Helle stellt, so ur-ereignet sich die Seinslichtung, die in ihrer Helle alles viele Seiende aufscheinen läßt. Blitz ist kein verharrendes Licht, ist sozusagen reiner Aufgang, ist reine Lichtung. Keraunos ist ein Symbol des Feuers, wie hēlios, die Horen usw. Feuer ist nicht primär bei Heraklit ein elementarisches Feuer, sondern das Himmels­ feuer: die Weltlichtung. 595

Heraklit-Interpretationen

Fr. 112: Was im Fr. 64 der Blitzschlag ist, ist hier die plēgē; plēgē ist ebenso der schlagende Schlag als auch der geschlagene Schlag; mit dem Schlag wird alles Kreuchende geweidet; neben diesem gleichnishaften Sinn von „weiden“ schwingt hier der ursprünglichere von „zuteilen“ mit. Alles Kreuchende wird durch den Schlag (der Individuation) eingeteilt derart, daß ihm dabei sein Sein (sein Aussehen, sein Ort und seine Weile) zugemessen wird. Nemesthai also als das einteilende Zuteilen = als das Vereinzeln. Der Sinn von herpeton ist schwerer zu fassen. Pan herpeton? Wird hier eine Aussage gemacht über einen Bezirk des Seienden, eben über das Kreuchende – oder über alles Seiende, auch wieder über die ta panta, wie in Fr. 64? Pan = herpeton, d. h. = ta panta als |herpeton begriffen; d.h. alles endliche, in der Zeit treibende Seiende ist gleichsam ein Kreuchendes – gemessen an dem, was ihm als Schlag sein Teil zuteilt, gemessen am Lichtschlag. Das herpeton ist nur verstehbar, wenn bereits das Zuteilende-Schlagende genommen wird als die Zeit. Keraunos (aus Fr. 64) und plēgē sind dasselbe – und auch dasselbe wie hēlios, pyr usf. Die Lichtung ist = Zeit. Gemessen am Vorgang der Zeit selbst, gemessen an der Urbewegung selbst wirkt das Binnenzeitliche; die bewegten Dinge als „Kreuchendes“ (herpeton). Das Fragment macht keine Aussage über einen eingeschränkten Bezirk des Seienden, sondern über alles Seiende und zwar im Bezug zu dem zuteilenden Schlag (der Welt). Fr. 1003: Das einteilende Zuteilen der plēgē des Fr. 11 wird hier gleichsam genauer bestimmt in seinem zeitlassenden Sinn: die Stunden, die alles tragen. Die sich in sich selber gliedernde Zeit ist die gliedernde, fügende Macht über alles Seiende. Fr. 944: Das Fragment hat keinen naturwissenschaftlichen Sinn, sagt nichts aus über die Gesetzmäßigkeit der Sonnenbahn. Hēlios ist die Lichtung des Seins, die offene weite Helle, in der alle Dinge sind. Er ist das eine himmlische Feuer, das alles viele Seiende in sich gesammelt und versammelt hält; die endlichen Dinge haben in seinem Licht Umriß und Aussehen. Aber Heraklit denkt in diesem Fragment sozusagen hinter die Lichtung zurück, er bedenkt sie als Lichtung, – als ein selbst Begrenztes, wenn auch anderer Art, als es die darin versammelten Einzeldinge sind. Die Lichtung des Seins ist gleichsam nur eine „Seite“, eine Dimension. Die Dimension des Aufgangs ist selbst eine begrenzte; sie wird in ihrer Grenze, ihren Maßen gehalten durch die dikē, die hier eine verwandte Rolle hat, wie im Weltgedicht des Parmenides. Sie ist die Hüterin der Schwelle zwischen Helle und Nacht, Entbergung des Seins im Aufgang des vielen Seienden und Verbergung des Seins, wo alles eins ist. Die Lichtung des Seins ist gehalten durch die Macht der dikē; die Lichtung kann sich von sich aus nicht erweitern und die Nacht, den dunklen Urgrund, dem sie aufruht selbst, in sich hineinreißen. Hēlios 596

‹Notizen und Dispositionen zu Heraklit-Seminaren SS 1950 und SS 1954›

ist als Weltlicht der Maßgeber aller Dinge, der Grenzensetzende für alle Dinge, die im Umriß stehen; er selbst hat nicht Grenzen, wie die Dinge in der Helle, – aber hat „Grenzen“ in einem ganz anderen Sinne. Alle Lichtung des Seins kommt aus der Nacht; sie ist die Grenze des hēlios; allerdings nicht die Nacht als die mit dem Tag abwechselnde Verhüllung aller Dinge in der Finsternis; „Nacht“ meint eine ursprünglichere Verschlossenheit, die als Dimension des Seins dem Offenen entgegengesetzt ist, jenem Offenen, worin Tag und Nacht abwechseln. Hēlios als der Maßgeber aller Dinge ist der dikē unterworfen, selbst in ein Maß eingeschränkt. Fr. 995: hier wird die eigenartige Seinsweise des hēlios bedacht – im Vergleich zu den anderen Sternen. Andere Sterne sind Hellen, die nicht das Ganze des Seienden umspannen und umfangen; ihr Licht hat nicht den Charakter einer Lichtung im Ganzen; vielmehr leuchten sie in der Nacht; ihre Helle zeigt selbst die Nacht mit, in der und aus der heraus sie leuchten; sie werden ohne weiteres als begrenzt durch die umgebende Nacht verstanden; anders ist die Helle des hēlios; die Nacht, aus der er aufbricht, wird durch ihn verdeckt, sie ist wie nicht, sie ist kein Mitanwesendes; wo hēlios anwest, west die Nacht ab. Grundsätzlicher: das Weltlicht des hēlios ist anders als die binnenweltlichen Lichter; im Offenen der Welthelle ist das abgründige Dunkel der Nacht, die den6 hēlios entläßt, wie vergessen; d. h. ‹bricht ab›

‹Notizen und Dispositionen zu Heraklit-Seminaren SS 1950 und SS 1954› Fr. 1247: κόσμος mit dem Superlativ κάλλιστος? Die schönste Ordnung wie ein Dreckhaufen? Oder: die Welt (als die Lichtung, o‹der› als Licht das Schönste); κάλλιστος also nicht die schönste Welt unter den möglichen Welten, sondern der κόσμος als die lichtoffene Weltweite ist das Schönste. Auch dieses Schönste ist wie (gleicht) ein ausgegossener Kehrichthau­ fen. Ein wüstes Durcheinander, ein „Abfall“. Das Viele ist, obzwar geeint in der Fuge der Welt, doch Vieles in Vielerlei, die Lichtung ist Abfall vom „Eins“. Das Viele-Aufgegangene ist ein „Ausgegossenes“, Weggescheitertes. Urbezug von Grund und Welt. Im Fr. 124 ist die Lichtung von der Verbergung aus gesehen: das Ausgeschüttete, der Abfall. Im Fr. 57 aber ist die spekulative Identität von Lichtung und Verschlossenheit ausgesagt: Tag und Nacht: Tag des Seins (= Welt, Lichtung): κόσμος Nacht des Seins (= Urgrund): φύσις ἕν = Einssein von Tag und Nacht? = Nicht dieselbe Selbigkeit, sondern Selbigkeit in der Verschiedenheit 597

Heraklit-Interpretationen

|Exercitium über ἕν, Einheit, Einsheit, nummerisches Eins, Selbig­ keit usf. Fr. 318: τρόπαι πυρός? Wende des Elements oder der Lichtwende, Sonnenwende. Feuers Wende, Wasser, hälftig Erde, Gluthauch Das Lichtmeer des Weltfeuers ist umgewendet, dennoch Meer, Erde und Gluthauch Damit kommt man nicht durch

Meer als das Verschlossene, das hälftig Erde und Gluthauch ist

Fr. 31: Die τρόπαι πυρός: zuerst Meer, zur Hälfte Erde, zur Hälfte Glut­ hauch (Hitze) Meer Also Gluthauch Feuer – Luft – Wasser – Erde Wasser Wasser, Erde, Luft Feuer ist das Elementare Luft Erde der binnenweltlichen Dinge Das Licht ist seltenes ‹Licht› |Heraklits Grundproblem ist das Wesen der Welt, das Walten, die Bewe­ gung des Seins, „Sein und Werden“. |Problem der Interpretation Heraklits: die metaphysischen Fragen sind unzureichend, er denkt noch die Bewegung des Seins selbst. |Bei Heraklit kein Ansatz bei den „Dingen“ d. h. dem Seienden, keine „Meta­ physik“! Φύσις, kein Ding, kein Erscheinendes, das Erscheinen-Lassende! τὸ ἄπειρον: das Unvergängliche als Vergehen-Lassendes das Unzerstörbare als Zerstörendes das Unerschöpfliche als Erschöpfendes das Alterslose als Altern-Machende |Hēlios – Dikē Lichtung des Seins Das Sein ist das aus der Nacht Sich-Lichtende Nacht und Licht |Ποίησις: Ποίησις der Φύσις und die Ποίησις der Götter und Menschen. Es ist keine einfache Aussage, keine dogm‹atische› Behauptung der Ungeschaf­ 598

‹Notizen und Dispositionen zu Heraklit-Seminaren SS 1950 und SS 1954›

fenheit der Welt. Es steckt vielmehr alles in ποίησις und dem Bezug von Göttern und Menschen, als den poietischen Seienden. κόσμος = etwas durch eine ποίησις Die Ordnung: das Eins, das alles umfängt; die Ordnung, die nur einiges umfängt, ist eine solche von Göttern und Menschen gemachte. Götter und Menschen als poiētēs von Ordnungen, Fügungen. Die Fügung, die selbe für alles Seiende, hat weder einer der Götter noch der Menschen hervorgebracht … Fügung ins Offene stellen! Fügung zeigt sich in der Entbergung des Seins. „War immer“, etwas war immer! Ist der Gedanke überhaupt auszuden­ ken, daß „etwas“ immer war? So bestand schon in jedem Moment einer Vergangenheit. Welt? Immer wie der „Weltstoff“? Was ist das für eine Schwierigkeit: Ewigkeit als ewige Binnen-Zeitlichkeit? πῦρ ἀείζωον: immerlebendiges Feuer = Lichtung des Seins. μέτρα: räumlich, nicht zeitlich zu nehmen. |Fr. 769: Feuer lebt der Erde Tod; Feuer, die Lichtung, ist die Vernichtung eine Verbergung, aber sie lebt von dem Vernichteten. Luft lebt des Feuers Tod? Luft als Umwandlung des Feuers? Das Durchsichtige, aber nicht mehr das Lichtende. Das Verhältnis des Durchsichtigen zum Licht ist analog wie das des Lichts zur Nacht. Wasser lebt der Luft Tod? Wasser umgewandelte Luft! Wasser ist gegenüber dem Offenen der Luft schon das Verschlossene. Wie Licht und Erde, Offenheit und Verbergung, so Luft und Wasser. Im Verhältnis von Luft und Wasser zueinander wiederholt sich im Offenen selbst das Gegenspiel von Lichtung und Verbergung [vgl. Platons Timaios!] Erde das Feste, Wasser das weniger ‹Feste›, Luft … Feuer. So wie Feuer zu Erde, so Luft zu Wasser. So wie Feuer zu Luft, so Luft zu Wasser, Wasser zu Erde. So wie Erde zu Wasser, so Wasser zu Luft, Luft zu Feuer. So wie Feuer zu Erde überhaupt, so innerhalb des damit aufgerissenen Zwischenraumes, Feuer zu Luft, Luft zu Wasser, Wasser zu Erde. Die Wandlung des Feuers aber operiert mit dem Gegenbezug von Leben und Tod. |(1) „Heraklit-Interpretationen“ – ihre außerordentliche Schwierigkeit nicht durch den dunklen Stil; durch die dunkle Sache. Worüber Hera­ klit spricht, ist uns in unserer philos‹ophischen› Tradition (Meta­

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Heraklit-Interpretationen

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physik) verdeckt. Aufgabe eines Rückstiegs in die Dimension des Herakliteischen Problems. Es bedarf eines „delischen Tauchens“. Heraklits Problem ist die „Lichtung des Seins“. Nicht der „Urstoff“ (Aristoteles, Met. A, 3. Kap. ‹983a 29›). Fr. 64. Blitz (Snell, S. 23;10 Kranz, S. 7211). τὰ πάντα = das viele Seiende wird gelenkt, es hat seinen Lauf, seinen Gang, sein Kommen und Gehen gemäß dem Blitz. Fr. 11 (Snell, S. 8,12 Kranz, S. 72) Die Aristoteles-Stelle vielleicht miβdeutend, dort ist die Rede von den Banden des Gottes. Alles Dahingehende, Kreiselnde wird mit dem Schlag zugeteilt. νέμω = zuteilen νέμεσις. Das Zuteilend-Waltende. „Lichtung“: Räumung-Zei­ tigung. Der prägende-sammelnde Schlag ist der Blitz. Blitz ist Feuer und Licht. Fr. 100 (Snell, S. 30; Kranz, S. –). Hēlios und Horen: alles Seiende ist in der Zeit. Fr. 94: Grenze der Lichtung: hēlios und dikē!! (Kranz, S. 72) Fr. 30: κόσμον …

|Heraklit-Interpretationen, SS 1950 Anordnung der Fragmente: Fr. 64, 11, 100, 94, 99, 3, 6, 30, 124, 57, 31 |(1) Wiedervergegenwärtigung: κόσμος: Fügung. Nicht also ein „Gefügtes“, sondern ein Geschehnis des Sichfügens Fügung ist immer ein Verhältnis von Eins und Vieles. Jedes Scheinende ist die Bändigung des Regellosen durch die Regel: Feuer ist immer Einheit. Ordnungen, Fügungen entstehen durch Menschen, z. B. Fügung ist hier das Bilden eines Gebildes in der τέχνη etwa. Doch ist das Gebilde immer eine Formung eines Zugrundeliegenden. Das „Material“ ist eine Voraussetzung der Fuge, und ist somit von der Fuge selbst nicht abhän­ gig. Eine solche Ordnung ist immer eine einfordernde. Die menschliche Fügung, die ποίησις des Menschen, ist keine unbedingte. Auch die Fügung der Götter ist nicht unbedingt, ist begrenzt durch die ἀνάγχη, die μοῖρα. Menschliches und auch göttliches Fügen ist ein Hervorbringen bedingter Art, ist ποίησις als „Wiederholung“ der ποίησις der Natur. |Menschen und Götter sind nicht binnenweltliches Seiendes wie Stein und Baum und Tier, sie sind das Seiende, das in der Weltoffenheit hinaus­ steht, sind Mitwisser der Hervorbringung alles Seienden. Deswegen ist der κόσμος als die Hervorbringung bezogen, wenn auch abwehrend, auf Götter und Menschen. Wenn man das ἐποίησεν zu christlich als „geschaffen“ nimmt, verliert man das Sein gänzlich. Es wird nicht gesagt: die Welt ist ungeschaffen, 600

‹Notizen und Dispositionen zu Heraklit-Seminaren SS 1950 und SS 1954›

also war immer und ist immer und wird immer sein. So bleibt das ganze Verstehensschema noch in der Zeit. Welt wird als binnenzeitliche ständige Vorhandenheit genommen. Der Gedanke wird viel schärfer und philosophischer: diese Fügung, dieselbe für alles Seiende, hat weder einer der Götter und Menschen hervor­ gebracht (ins Offene geführt), sondern sie war immer und ist und wird sein lichtendes, immerlebendiges Feuer, d. h. Lichtung als alles Binnengelichtete überholendes Ganzes der Zeit. ἁπτόμενον – ἀποσβεννύμενον / μέτρα ἡλίου! |Heraklit Fr. 3013: Zentralbegriff der ποίησις. Keine dogm‹atische› These über die Ungeschaffenheit der Welt. Κόσμος und ποίησις. Hervorbringen = Lichtung. Kosmos : Fügung des erscheinenden Seienden: vieles in Einem. Fügungen von Menschen poietischen Wesen von Göttern Mensch und Götter ‹haben› einen eigenen Weltbezug ἦν ἀεὶ καὶ ἔστιν καὶ ἔσται: was für eine Zeitbestimmung? Paradoxon der vergangenen Ewigkeit! Ewigkeit von Weltschöpfer? Oder keine binnenzeit­ liche Ewigkeit?? μέτρα: Eine Fügung der propädeutischen Verhältnisse von Elementen, – oder μέτρα noch immer gewandt auf das im Licht Aufscheinende, – oder μέτρα das Licht selbst im Sinne einer zeitlichen Abfolge? Nein, sondern Grenzen der Lichtung. (Wie die μέτρα des hēlios in 94) Fr. 124: κάλλιστος κόσµος = σάρµα κεχυµένον? Die Gegenbetrachtung, der κόσµος ist nur eine Seite. Abfall des ἕν! Fr. 57 Fr. 31: τροπαὶ πυρός? Wandlung eines Elements oder Lichtwende, → Meer, Meer → 1) Erde, 2) Glutwind Sonnenwende? Feuer |Feuer wendet sich in gegenteilige Nässe, aber scheidet sich zur Hälfte in Wind und Erde. Fr. 76: Feuer lebt den Tod der Erde, Lichtung und Verbergung. Luft – des Feuers Tod: Dursichtiges und Licht. Wasser – der Luft Tod: Wasser, das Verschlossene, gegenüber dem Offenem, der Luft. Erde und Wasser: das Starre und Flüssige. Im Verhältnis von Luft und Wasser wiederholt sich im Offenen das Grundverhältnis von Feuer und Erde.

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Heraklit-Interpretationen

Sowie Feuer zu Erde, so Luft zu Wasser Sowie Feuer zu Luft, so Luft zu Wasser, Wasser zu Erde Sowie Erde zu Wasser, so Wasser zu Luft, Luft zu Feuer Sowie Feuer (Licht) zu Erde (Verschließung), so im Zwischenraum Feuer zu Luft, Luft zu Wasser, Wasser zu Erde „Wendungen des Feuers“ aber operiert mit dem Gegensatz von Leben und Tod. Fr. 36: ψυχή? Hauch der Seele? Seele – Wasser – Erde?? Unvollständige Elementenlehre?? Zum Zusammenhang von Seele und Wasser: Fr. 77 und 118. Fr. 90: Gegenwechsel von Feuer und τὰ πάντα. Wie kann das Feuer gegen τὰ πάντα stehen, wenn es ein Element ist? Fr. 65: χρησμοσύνη καὶ κόρος Fr. 66 Fr. 84: μεταβάλλον ἀναπαύεται: Ruhe und Bewegung in eins |(1) Heraklits Elementenlehre ist kein abgesondertes Thema, das aus sich verstehbar wäre. Keine Elementenreihe und Stoff. Feuer Sonderstel­ lung. Fr. 31, Fr. 36 (Feuer fehlt), 76 (Leben und Tod als Bezeichnung für das Verhältnis der Elemente ‹unter›einander), 77 (Leben und Tod als Trocken und Feucht). (2) Fr. 90: Gegenwechsel von πῦρ und τὰ πάντα! πῦρ gehört offenbar nicht zu τὰ πάντα? πῦρ und πάντα wie Gold und Waren. ἕν und πολλά! ὅκωσπερ! Wie. Nicht gerade so. Nicht so, daß an Stelle des Einen das Viele tritt und umgekehrt. Nicht wie ein Ding in viele Dinge zerfällt und sich aus vielen Dingen zusammensetzt, sondern das Eine gegenwechselt ins Viele und umgekehrt. Was für ein ἕν? [ἓν τὸ σοφόν?] Identität in der Verschiedenheit des Einen und Vielen. (3) Fr. 7: πάντα τὰ ὄντα = καπνός (Rauch und Feuer). Die phänomenale Ein­ heit (als Ununterscheidbarkeit) ist noch nicht die Einheit des Feuers! Fr. 98: Seelen im Hades (4) Fr. 65: χρησμοσύνη und κόρος (5) Fr. 88: ταὐτό: ζῶν καὶ τεθνηκὸς καὶ [τὸ] ἐγρηγορὸς καὶ καθεῦδον καὶ νέον καὶ γηραιόν. Ist das eine „Gegensatzlehre“: Identität in Gegensätzen? Oder ist hier die spekulative Identität von Leben – Tod, Wach – Schlaf, Alt und Jung? Sind das Weisen der Zeit (und des Feuers)? (6) Fr. 84 μεταβάλλον, τοῖς αὐτοῖς (Elemente?), ἄρχεσθαι (Medien). |Χρησμοσύνη: das Feuer (das Licht) ist Mangel, weil es in seinem Licht das Endliche, das Mangelhafte, Mangelnde, wo eines das andere braucht (wo die 602

‹Notizen und Dispositionen zu Heraklit-Seminaren SS 1950 und SS 1954›

Gegensätze herrschen), wo im Licht das verendlichte, dem letzten Grund abgerissene Seiende aufscheint, ‹bricht ab› = διακόσμησις Feuer ist aber κόρος, sofern es der Aufgang des ureinen Grundes ist, πῦρ ist die φύσις im Aufgang. Von dem Aufgegangenen (Erscheinenden) her ist πῦρ = χρησμοσύνη. Von dem gelichteten Grund her = κόρος = ἐκπύρωσις |Sitzung vom 19. Juni 1950 des Heraklit-Seminars Heraklits Elementen-Lehre ist merkwürdig verschlungen 1.) Zunächst legt er das Verhältnis der Elemente zueinander aus, indem er operiert mit Leben und Tod und zwar transitivisch (Leben des Todes) 2.) Tritt das Leben (ψυχή = Seele der Lebenden oder Seele der Abgeschiede­ nen?) in dem Elementen-Verhältnis auf? ψυχή ‒ ὕδωρ γῆ 3.) wird das Verhältnis von Leben und Tod operativ ausgedrückt mit dem Elementen-Verhältnis von Trocken und Feucht‹?› ψυχή = ist nicht gleich πῦρ (Feuer, Lichtung), aber ist das in die Lichtung Hinausstehende; die feuchte Seele wird weglos, verliert Orientierung und den Bezug zum Offenen. |Heraklit-Interpretationen, SS 1954 (1)

Übung steht in Zusammenhang mit Nietzsche-Vorlesung und SpielÜbung. Ein bestimmter Hinblick leitet. Einseitiger Vorgriff (2) Heraklit: nicht irgendein beliebiges Seminar-Thema. Im 19. Jahrhun­ dert wird Heraklit bedeutsam: Hegel, Marx, Nietzsche, Lassalle, Spengler u. a. ‒ Symptom! Läßt sich Heraklit mit den Mitteln der ontologisch-metaph‹ysischen› Philosophie begreifen? (3) Unsere Linie: das Weltproblem! (4) Frg. ‹Fragmente› sind dunkel, ‹…›, voll von Entrückungen und schwer von Symbolik. Aber was ist Tiefsinn und was sind Symbole?? Damit ist die Dimension dieses Denkens keineswegs charakterisiert. Historisch-philolog‹ische› Fragen diskutieren wir hier nicht. Edition von Diels als Basis. Aber andere Anordnung. Jede Reihung ist schon eine „Auslegung“. Unsere Reihe will keine Rekonstruktion sein, nur eine bestimmte Blickbahn für eine Auslegung, die unter Führung eines Vorgriffs steht: Weltproblem. Dabei ist nicht vorausgesetzt, was man alltäglich unter Welt vermeint; vielmehr soll von Heraklits Sprüchen ein Wink auf das Wesen des Welthaften gesucht werden. |(5) Beginn mit Fragment 64: τὰ πάντα? Die vielen endlichen Dinge, in ihrer Bewegtheit ‒ kommen und gehen, verändern sich, wechseln den Ort usw., ‒ ein Wandel und Gang umgreift alle; keine Summe, eine Gesamtbewegung, Aufgang und Untergang, Aufschein und Weggang. 603

Heraklit-Interpretationen

Wandel der Dinge ist gesteuert. Was steuert, ist nicht selbst ein endliches Ding. κεραυνός = der Blitzschlag. Im Licht des Blitzschlages geht das vielfältige, bewegte (seiende) Dinghafte erst auf; in der Helle, die einend trennt, versammelt sich das vielfach Gegliederte und bewegt sich in ihr. Die Ur-Bewegung ist die Lichtung: blitzgedauerter Wandel. Blitz ‒ Zeus οἰακίζει = steuern im Sinne von einrichten, hervorbringen, entste­ hen lassen κεραυνός = Licht im reinen Aufgang. Κεραυνός: eine Gestalt des Feuers, wie hēlios, wie das πῦρ ἀείζωον, wie die Horen. Nicht primär elementarisches Feuer, sondern Himmelsfeuer = Weltlicht. Fr. 11: πληγῇ: der Schlag, der schlagende Schlag und auch der geschlagene Schlag! Mit dem Schlag wird der Kreuchende geweidet. Weiden ‒ zuteilen. Alles Kreuchende wird durch den Schlag [der Individuation] eingeteilt, so daß ihm Ort und Weile und Wesen zugeteilt wird. Νέμεται = einteilendes Zuteilen = Vereinzeln. πᾶν ἐρπετόν?? Kein Bezirk der Dinge (= vielmehr alle Dinge sind kreuchend). Das In-der-Zeit-Seiende und die Zeit selbst. Licht und Zeit? Frg. ‹Fragmente› 100, 94, 99. |(1) Frg. 31: ohne vorerst den Sinn von τροπή zu bestimmen ‒ folgender Gang der Wendung

Ȗો I ʌ૨ȡ

șȐȜĮııĮ ʌȡȘıIJ੾ȡ

II șȐȜĮııĮ

įȚĮȤ੼İIJĮȚȝİIJȡ੼İIJĮȚ

Wie steht II zu I? Ist es der „Gegenlauf“ der Elemente (in der ἐκπύρωσις)? Oder eine Explikation der Weise, wie I geschieht?? Ist diese letztere Auffassung philologisch möglich? [Feuer wird sich anders und wird zu Meer, Meer wird sich anders (im analogen Verhältnis, nicht im gleichen Verhältnis, weil Entfremdung in der Entfremdung) nach dem λόγος, der früher war, als die Erde wurde??] (2) Frg. ‹Fragmente› 76 und 77?? Nach Kritik unecht?? Aber bedeutsam durch Leben-und-Tod-Kategorien! |(3) Frg. 117 und 118. Mensch und die Feuerswende. Vgl. Rolle des Men­ schen im Frg. 30! (4) Frg. 90: ἀνταμοιβή: Wechseltausch? Modell: Gold-Brauchbares? Gold = das Glänzende, Lichthafte, Sonnenhafte (Gold und Sonne!). Ist am Ende die ἀνταμοιβή etwas Anderes als Pauschalhandel?? πυρὸς τροπαί?? 604

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(5) (6) (7) (8)

Frg. 65: χρησμοσύνη (– χρήματα) κόρος (χρυσός) Nicht nacheinander, sondern zugleich in den πυρὸς τροπαί!? Frg. 88: ταὐτό ‒ im Gegensätzlichen! ‹In› welchem Gegensätzlichen: Lebendes – Totes, Wachendes – Schlafendes, Junges – Altes ‒ Zeit?? Frg. 84: Ruhe und Bewegung in eins. Frg. ‹Fragmente› 62, 26, 21, 27, 28, 111, 58, 56, 61, 80, 53, 51, 48, 8

|(1) Eine erste Gruppe von Frg. ‹Fragmenten›: Κεραυνός ‒ ὥραι – πληγή des „Offenen“, des Anwesens ‒ εὐφρόνη. Binnenweltlicher Ort des Ἥλιος: Frg. 3 und 6

Raumgröße (Frg. 3), „Größe“ des Raumgebenden Zeitgröße (Frg. 6), „Dauer“ des Zeitigenden (2) Das in den erörterten Frg. ‹Fragmenten› Gedachte ist: die Weltoffenheit als Eröffnung und Einrichtung, die διακόσμησις. Zu Frg. 30: Thema: κόσμος? Ordnung, Fügung, Gefüge? Demonstra­ tiver Sinn von „τόνδε“? Weltzustand? Demonstration bezogen auf Jeweiliges!? Zustand (bezogen nicht auf eine Abfolge von Zuständen, sondern auf den Weg hinauf-hinab). Selbigkeit der Fügung für ἀπάντα. κόσμος und πάντα! ἐποίησε = hervorbringen, aufscheinen lassen. Der κόσμος als das, was den vielen Dingen Aufschein gibt, Raum gibt und Zeit lässt, ist von niemandem hervorgebracht. Warum Bezug, wenn auch verneinend, auf | Götter und Menschen? Götter und Menschen = hervorbringende Wesen; je anders hervorbrin­ gend. Götter „regierend, erfindend, stiftend“ ‒ die Menschen nachamend im Regieren usf. τέχνη und der Mensch. Endliches Vermögen des Hervorbringens ‒ auf dem Boden des Wachstums. Götter und Men­ schen sind genannt, weil sie dem κόσμος nahestehen. Sie werden nicht abgelehnt, weggestellt, außer Betracht gesetzt; im Gegenteil: sie werden in Weltbezug gesetzt. Den κόσμος haben nicht Götter und Menschen ins Offene des Aufscheinens gestellt, sondern er war und ist und wird sein; das πῦρ ἀείζωον. Genauer Sinn: wer hat den κόσμος hervorgebracht (als die Fügung der Dinge) ‒ oder was „war und ist und wird sein“ der κόσμος? Die Horizonte der Zeit und das Feuer und die μέτρα ‒ wogegen? Feuer: das himmlische Feuer. (3) Fügung der Dinge: Lichtung (bzw. Zeitigung und Raumgebung) ‒ im Ganzen „begrenzt“ gegen das „Abwesen“. Frg. 124: „Grenze“ des κόσμος: Hs. ‹Heraklits› σάρξ (= Fleisch). Diels σάρμα: Kehrichthaufen. 605

Heraklit-Interpretationen

κάλλιστος κόσμος? κάλλιστος ist explikativ für κόσμος!? κεχυμένων: aus­ geschüttet? (Nicht für die „Unverständigen“, sondern der Sache nach!!) Frg. 57: Die fixe Scheidung von κόσμος und? (Hades) „εὐφρόνη“ ist falsch. Die μέτρα sind nicht fixe Grenzen, auch wenn die Δίκη sie bewahrt und bewacht. ἡμέρα und εὐφρόνη: Frg. ‹Fragmente› des Erscheinens (= κόσμος) und Nacht (des Abwesens) sind eins. Einheit einer „Bewegung“. (4) Neue Umschrift der Auslegung: „Elementenlehre“? 31, 76, 96, 77, 117, 118, 90, 65

Beilage Heraklit-Seminar 20.I.’51: Fr. 32

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14:

1) Der Spruch steht in der Spannung von λέγειν und ὄνομα (logos und Namen). Das, was Namen hat, ist endlich-Seiendes; das Seiende in der Weise der Festgestelltheit, ‹des› zum Stehen, „zu Stand“ Gebracht-Seins. Der geschichtliche Horizont dafür: vgl. ὄνομα – εἶναι bei Parmenides als das Wesen der Δόξα; ferner bei Platon die Spannung zwischen Dialektik und dem ὀνομάζειν; ferner bei Aristoteles die Fassung des Satzes vom Widerspruch: der indirekte Beweis dafür (τί λέγειν; die Festliegendheit des Seienden, der Stand im Namen, das ὁρισμένον = λεγόμενον ὄν). Ist alles, was ist, so, daß es in einem Gepräge, in einem „Umriß“, in einem „Schlag“ steht, – oder ist noch solches, was deswegen nicht ein Gepräge hat, weil es das Prägende ist, – nicht einen Umriß hat, weil es das Umreißen ist, – nicht einem Schlag angehört, weil es das Schlagende [πληγή] ist. Ζηνὸς ὄνομα: ist das ζῆν (Leben) in Ζεῦς mitgehört? (Ζεῦς bedeutet nach seiner Sprachwurzel = Licht, Himmel.) Ist Ζεῦς = πῦρ ἀείξωον, – das kein Seiendes (im Sinne der endlichen Dinge, des ὁρισμένον) ist, wohl aber das, was die ὁρισμένα sein läßt. οὐκ ἐθέλει καὶ ἐθέλει? Das ἀείξωον πῦρ will als Endliches erscheinen und zugleich den Anschein des Endlichen abtun, – es drängt ins Gesagtsein und drängt zugleich daraus hinaus. Das θέλειν ist ein solches des λέγεσθαι. Warum dieser Zudrang und zugleich dieser Entzug?? Weil das, was mit Zeus’ Namen gesagt und nicht gesagt ist (als Namen gesagt d. h. als ὁρισμένον), das Sagende und als dieses das Unsägliche ist, die „Sprache des Seins“. Analoges Verhältnis wie

Beilage

6)

beim Licht: es ist das Ursprünglich-Gesehene und doch für uns zuletzt Gesehene oder gar nicht Sehbare (wie ein Ding). (Das Spekulative besteht in der Spannung von logos und ὄνομα).15 τὸ σοφόν: das Subjekt der Sprache. Das „Weise“? die zentralen Begriffe der griech‹ischen› Philosophie in diesen merkwürdigen Neutra: [τὸ ἄπειρον, ἐόν, σοφόν, ἀγαθόν, ὄν]. Was ist das? Sind es substantivierte Adjektive und Partizipien? Meinen sie nominali­ sierte „Eigenschaften“? Z. B. τὸ λευκόν, das Weiße, ist Eigenschaft des Schnees, einmal zufällige, dann wesentliche Eigenschaft, – das Weiß-sein. Wäre τὸ σοφόν so verstanden, so wäre es eine Eigen­ schaft, die ev‹entuell› dem Zeus zukommen könnte, die aber nicht Zeus wäre! Τὸ σοφόν ist nicht das Unbestimmte einer wesenlosen Eigenschaft, die auf einen Inhaber wartet, sondern ist Seinsmacht. Das „Weise“ – nicht als Eigenschaft von Erkenntnissubjekten, viel­ mehr sind Subjekte weise, wenn sie teilnehmen an dem „Weisen“. Τὸ Σοφόν = das Seinslicht, das die Welt erhellt; es ist ἕν weder im Singular, noch hat es einen möglichen Plural gegen sich; nur in sich. Das ἕν ist spekulativ. Ebenso das μοῦνον. Das Seinslicht [der logos], die Lichtung des Seins, der Blitz des Zeus (κεραυνός) lenkt und bestimmt und gibt Vernehmbarkeit für alle Dinge.

Verhältnis der spekulativen Wahrheit zum ὄνομα – wie der Blitz des Zeus zu seiner verhüllenden Gestalt: Σεμέλη.16

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Zu Aristoteles’ Physik, 4. Buch, 10. Kap. ‹1951›

Die Stelle der Untersuchung über die Zeit ist im Anschluß an die Erörterung des τόπος (Ort, Raum) und des κενόν (Leeren). Zeit (χρόνος). Exposition des Problems zuerst vermittelst „exoterischen Logoi“. Fragestellung: gehört χρόνος zu den ὄντα oder den μὴ ὄντα? Und dann die Frage nach der φύσις (der Natur) der Zeit. Argwohn, daß die Zeit nicht ist (οὐκ ἔστιν) oder kaum ist (μόλις) oder in unkenntlicher Weise (ἀμυδρῶς), wird so geargwöhnt: das eine von ihr ist schon gewesen (γέγονε καὶ οὐκ ἔστιν), das andere noch nicht, sofern es künftig ist (μέλλει καὶ οὔπω ἔστιν). Die Zeit als unbegrenzte (χρόνος ἄπειρος) und die begrenzte Zeit, die jeweils gewonnene Zeit (λαμβανόμενος χρόνος), ist zusammengesetzt aus diesen beiden „nicht-seienden“ Teilen (συγκεῖται).1 Das aus „Nichtseiendem“ Zusammengesetzte aber scheint unmöglich an der ουσία teilnehmen zu können. – [Dies ist der erste Verdacht. Der zweite richtet sich auf einen operativen Gedanken des ersten Ganges: von Teilen war die Rede. Χρόνος also ist offenbar etwas Teilbares. Teilbares aber wird aus dem Modell des gleichzeitig-bestehenden Ganzen exponiert.] Das teilbare Ding (τὸ μεριστόν) ist doch so beschaffen, daß, wenn es ist, alle Teile oder doch einige sind. Aber bei der Zeit sind die einen Teile „gewesen“ und die anderen „noch nicht“. – |Kein Teil (οὐδέν) aber ist, obgleich sie ein Teilbares sein soll. [Der Einwand meldet sich, aber wenn das Vergangene nicht mehr, das Künftige noch nicht ist, so ist doch der „Teil“ der Gegenwart: das Jetzt.] Das Jetzt, sagt Aristoteles, ist kein Teil (τὸ δὲ νῦν οὐ μέρος)2 [Warum nicht?] Weil bei einem Ganzen der Teil ein Maß ist, der das Ganze mißt (μετρεῖ) und ferner das Ganze (τὸ ὅλον) muß aus den Teilen zusammenge­ setzt sein. Die Zeit aber scheint (δοκεῖ) nicht aus dem Jetzt zusammengesetzt zu sein. [Warum nicht?] Das Jetzt, das abzugrenzen scheint (διορίζειν φαίνεται) das Vergangene und Künftige, ist nicht leicht zu erkennen, ob es als dasselbe immer bleibt (ταὐτὸν ἀεὶ διαμένες) oder immer ein anderes und anderes ist (ἄλλο καὶ ἄλλο). Wenn es immer ein Verschiedenes ist und wenn von den Teilen der Zeit nie einer mit einem anderen zugleich ist (außer bei der Umfassung), – wenn 609

Zu Aristoteles’ Physik, 4. Buch, 10. Kap.

ferner, alles was jetzt nicht ist, aber früher war, notwendig einmal zugrunde gegangen sein muß, – dann werden die vielen einzelnen Jetzte nicht zugleich miteinander bestehen, sondern es muß jedesmal das frühere Jetzt zugrunde gegangen sein. [Nun kommt die Aporie des Zugrundegehens]. |Wann? Während das Jetzt ist, kann es nicht zugrundegehen, – [also während ein anderes Jetzt ist??] Es kann auch nicht vergehen, während ein anderes Jetzt ist, [warum nicht? Weil] ein Jetzt sich nicht ans andere teilt wie Punkt an Punkt. [Nicht Jetzt an Jetzt wie Punkt an Punkt? Warum ist diese Analogie falsch? Punkt an Punkt sind gleichzeitig, Jetzt an Jetzt sind nie gleichzeitig??] Jetzt schließt sich an Jetzt nicht wie Punkt an Punkt, bedeutet doch: daß die Möglichkeit erwogen wird, es wäre nicht im nächsten, nächstfol­ genden, sondern in einem anderen (ἄλλῳ) vergangen. Es müßte aber im nächstfolgenden vergangen sein, oder sonst müßte es andauern während der Zwischenzeit seines Jetztseins und seiner Vernichtung. Auch nicht als νῦν ταυτóν kann das Jetzt bleiben. Denn es gibt von einem Teilbaren und Begrenzten nicht bloß eine Grenze, wenn es nach einer oder nach mehreren Richtungen kein Kontinuierliches ist [wie die Zeit]. Das Jetzt ist Grenze (πέρας). [Die Zeitstrecke, χρóνος πεπερασμένος, die von Jetzt bis zu einem anderen Jetzt danach, steht dabei im Blick.] Widerspruch zum Begriff des Zugleichseins. | [Es gäbe, – wenn man das selbige-bleibende Jetzt annehmen wollte, überhaupt kein früher und später.] Die bisherigen Aporien betreffen die ὑπάρχοντα der Zeit. Nun wendet sich Aristoteles direkt der Frage zu, was die Zeit sei und was ihre Natur. Die ὑπάρχοντα = μέρος, νῦν, τὸ παρελθóν, τὸ μέλλον, πέρας, πεπερασμένον. Was die Zeit sei, was ihre Natur, ist unenthüllt, ἄδηλον. Traditionelle Thesen: 1) χρóνος = κίνησις τοῦ ὅλου 2) χρóνος = σφαῖρα (Kugel) Der Teil eines Umlaufs (περιφορά) ist auch Zeit, ist selbst aber kein Umlauf. [Zeit und Teilstrecke.] Zeit ist auch nicht gleich σφαῖρα ὅλου, wenn es mehrere Himmelsgebäude gäbe, gäbe es offenbar mehrere Zeiten [was sich ausschließt]. In der Zeit ist alles und in der Kugel ist alles: Dies nimmt Aristoteles als Motiv an für diejenigen, welche Zeit und σφαῖρα identifizieren. Nun Übergang zu Grundbedingungen: Zeit = κίνησις καὶ μεταβολὴ ἐκάστου ἐν αὐτῷ τῷ μεταβάλλοντι μóνον ἐστίν.3 |[Aristoteles argumentiert, μεταβολή und κίνησις ist jeweils in dem Bewegten und herschlagenden Einzelnen; er konstatiert also die κίνησις der Zeit und μεταβολή gegen die Bewegung und Veränderung von Dingen (In­ nerzeitlichem).] Die Zeit ist überall (ὁμοίως καὶ πανταχοῦ καὶ παρὰ πᾶσιν).4 610

Zu Aristoteles’ Physik, 4. Buch, 10. Kap.

Ferner die κίνησις und μεταβολή des Seienden ist bald schneller und langsamer, die Zeitwandlung aber nicht, vielmehr ist langsam und schnell eben durch die Zeit bestimmt. Zeit aber ist nicht durch Zeit bestimmt (weder nach ποσóς noch ποιóς …). Deswegen ist die Zeit nicht Bewegung (οὐκ ἔστιν κίνησις)5 [Aristoteles gebraucht hier κίνησις und μεταβολή gleich]. (11. Kap.) Aber auch nicht ohne μεταβολή ist die Zeit. Ohne Veränderung [wessen, bleibt noch offen] z. B. unserer selbst, scheint uns keine Zeit vergangen. Wenn da Jetzt nicht immer ein verschiedenes, sondern ein nämliches wäre und Eines, so wäre auch keine Zeit. [Bedenket dies: das Jetzige, das InderZeitseiende??] Weil wir Zeit vernehmen, wenn in der Zeit Veränderung, Bewegung [des Seienden] ist, so gehört irgendwie κίνησις und μεταβολή zur Zeit. Zeit also weder Bewegung, noch ohne Bewegung (ὅτι μὲν οὖν οὔτε κίνησις οὔτ’ ἂνευ κινήσεως καὶ μεταβολής, φανερóν).6 |Aristoteles setzt die Frage jetzt an auf der Basis der Erkenntnis, die Zeit ist nicht Bewegung, aber sie ist nicht ohne Bewegung. Was ist sie an der Bewegung‹?› Zeit und Bewegung werden ἃμα wahrgenommen. (Nicht nur an der Bewegung der äußeren Dinge, auch „im Finsteren“, wo wir die Bewegungen der der Seele (ἐν τῇ ψυχῇ) ‹bricht ab› Da die Zeit nicht selbst Bewegung ist, muß sie etwas an der Bewegung sein. Aristoteles stellt einen Fundierungszusammenhang auf: von Größe (μέγεθος), Bewegung (κίνησις) und Zeit (χρóνος). Ferner weil Größe kontinuierlich (συνεχές), deswegen auch κίνησις und χρóνος kontinuierlich! [Insofern gründet Zeit in Bewegung und Bewegung in Größe? Was ist der Vorrang der Größe? Was heißt μέγεθος‹?› Ist dies Raumgröße? Ist die Zeit über die Bewegung in Raume fundiert?] Aristoteles bestimmt das Bewegtwerdende als ἔκ τινος εἴς τι. Das κινοῦμενον κινεῖται ἔκ τινος εἴς τι.7 Bewegung ist Übergang, aus etwas heraus in etwas hinein. Das Woraus oder das Wovonher ist das πρóτερον, das Wohinein ist das ὕστερον. |Die Größe (μέγεθος) aber ist συνεχές. Die Größe ist Raumgröße?!? Die κίνησις ἀκολυθεῖ τῷ μεγέθει.8 D. h. die Bewegung, als das Bewegt­ werden eines Beweglichen aus etwas in etwas, aus einem Vorgängigen in ein Nachgängiges, ist ein Übergang: etwas wird größer oder kleiner (αὔξησις, φθίσις) etwas wird anders (ἀλλοίοσις) etwas wird = entsteht, und geht unter (γένεσις, φθορά) etwas wird von einem Ort zu einem anderen bewegt (φορά). 611

Zu Aristoteles’ Physik, 4. Buch, 10. Kap.

[Inwiefern folgt hier die Bewegung der Größe?]. Das Vor und Nach ist als erstes im Ort. Die Ortsbewegung ist somit die Grund-Bewegung. Von A → B, A = das πρóτερον, B das ὕστερον. Die Bewegung ist entlang der Ordnung der Größe (Raumgröße). Die Lage1 und die Lage2 sind wesentlich das πρóτερον – ὕστερον. Die Raumlagen bestimmen die Ordnung der Bewegung (des Übergangs ἔκ τινος εἴς ‹τι›) und diese Ordnung der Bewegung das πρóτερον – ὕστερον der Zeit. Zeit also als Raumerscheinung angesetzt. |Zeiterkenntnis als Erfassung des πρóτερον – ὕστερον einer Bewegung. Die Zeitabgrenzung durch das Jetzt-Sagen: Aussprechen von zwei Jetzt, das eine als πρóτερον, das andere als ὕστερον: das nennen wir Zeit. τοῦτó φαμεν εἶναι χρóνον.9 Definition der Zeit: τοῦτο γάρ ἐστιν ὁ χρóνος, ἀριθμὸς κινήσεως κατὰ τὸ πρóτερον καὶ ὕστερον.10 Zeit ist nicht Bewegung, sondern inwiefern die Bewegung Zahl hat. [Was heißt dies, inwiefern hat überhaupt eine Bewegung Zahl? Wesen der Bewegung ist der Übergang ἔκ τινος εἴς τι, von einem πρóτερον zu einem ὕστερον, von einer Raumlage zu einer anderen. Z. B. der Rauch steigt, er bewegt sich von unten nach oben. Jetzt ist er unten, … jetzt oben. Zwischen den beiden Jetzten des Beweglichen ist eine Zeitstrecke. Wo ist hier die Zahl der Bewegung? Jetzt und noch ein Jetzt und noch ein Jetzt? Aber die Jetzt sind doch keine Teile der Zeit und doch messen sie die Zeit aus?] |Als ein σημεῖον, Kennzeichen, das für seine These vom Wesen der Zeit spricht, gibt Aristoteles an: Das Mehr und Weniger (τὸ πλεῖον καὶ ἔλαττον) unterscheiden wir durch die Zahl. Die Zahlen also gerade das Mittel, das Gleitende zu messen. Mehrere oder wenigere Bewegungen durch die Zeit. [Schnelle und langsame Bewegung!] Zeit also irgendeine Zahl, ἀριθμὸς ἄρα τις ὁ χρóνος.11 Die bisherigen Grundbedingungen: Zeit etwas an der Bewegung Zeit gründet in Bewegung, Bewegung in Größe In Größe, Bewegung und Zeit ist das πρóτερον – ὕστερον Zeit ist Zahl der Bewegung Was ist Zahl? Zahl doppeldeutig: 1.) das Gezählte (und Zählbare), 2.) das womit gezählt wird. Χρóνος = das Gezählte (ἀριθμοῦμενον) und nicht das, womit wir zählen, καὶ οὔχ ᾡ ἀριθμοῦμεν.12 Aristoteles statuiert einen Unterschied zwischen Zeit und demjenigen, wodurch sie gezählt wird. ἔστι ἕτερον ᾡ ἀριθμοῦμεν καὶ τὸ ἀριθμοῦμενον.13

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Und wie die κίνησις immer eine andere ist, ἀεὶ ἄλλη καὶ ἄλλη,14 | so auch die Zeit. [Heißt Zeit hier nicht soviel wie Zeitstrecke?] Also die einzelnen Zeiten (Zeitstrecken). Die gesamte Zeit (ὁ δὲ ἅμα πᾶς χρóνος ὁ αὐτός)15 ist zusammen eine und dieselbe. [Verhältnis von einzelner Zeitstrecke zur ganzen Zeit (die irgendwie Strecke bleibt) nicht klar!] Die Begründung ist wichtig, die Aristoteles für die Einheit der Zeit (gegenüber allen Zeiten) gibt: er springt auf das Jetzt über. Das Jetzt ὃ ποτ᾿ἦν16 ist das gleiche. [Das Jetzt als Jetzt unterscheidet sich nicht von einem früheren, und als Jetzt von Jetzigem ist es unterschieden‹]› τὸ δὲ εἶναι: das Sein (nicht des Jetzt, sondern des Jetzigen) ist je ein anderes. Das Jetzt mißt die Zeit, inwiefern es ein früheres und späteres ist (τὸ δὲ νῦν τὸν χρóνον μετρεῖ, ᾗ πρóτερον καὶ ὕστερον)17 [Dieses Messen muß aber offenbar ein eigenartiges sein, wenn anders das Jetzt kein Teil der Zeit ist.] Das Jetzt ist das nämliche (bleibende) und auch das jeweils andere. Genauer Aristoteles sagt ὡς. |Die Selbigkeit und Verschiedenheit des νῦν ist offenbar keine solche, wie sie einem Ding (einem Seienden) eignet. τὸ δὲ νῦν ἔστι μὲν ὡς τὸ αὐτό, ἔστι δ’ ὡς τὸ αὐτό.18 νῦν ὅποτε ὄν:19 das Jetzt als Jetzt [nicht als Jetzt von Jetzigem] Denn es folgt die Größe der Bewegung, dieser aber die Zeit; in gleicher Weise (ὁμοίως) folgt dem Punkt das Bewegt-Werdende (φερόμενον) und das πρóτερον und ὕστερον in ihr. [Das φερόμενον als ὅποτε ὄν ist ein selbiges. D. h. als ein solches, das die Möglichkeiten des „anders“ in seiner Selbigkeit hat, das bald da, bald dort ist. – Dem λόγος nach, τῷ λόγῳ δὲ ἄλλο,20 aber ist es in jeder Situation ein Verschiedenes.] τῷ δὲ φερομένῳ ἀκολουθεῖ τὸ νῦν – ὥσπερ ὁ χρóνος τῇ κινήσει21 [Was bedeutet dies? Dem Bewegtwerden in seinem Bewegtwerden folgt das Jetzt, jetzt ist es da, jetzt da usf. – Und ebenso – analog – folgt die Zeit der Bewegung. Dem Mitgehen des Jetzt mit dem φερόμενον entspricht | ein Mitgehen der Zeit (= Zeitdauer, Zeitstrecke) mit der Bewegung.] Durch das Bewegtwerdende erkennen wir das πρóτερον – ὕστερον ἐν κινήσει. Sofern das πρóτερον – ὕστερον zählbar ist (ἀριθμητόν), ist es das νῦν. Sodaß es als das jeweilige Jetzt dasselbe ist: ἀυτό. Denn Früher und Später ist es das-in-der-Bewegung-Seiende. τὸ δ’ εἶναι ἓτερον:22 seinem Seinsgehalt nach ist es verschieden. Selbig als Bewegtes (in der Bewegung Befindliches) und verschieden, andersartig, sofern es bald so, bald anders ist. 613

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|Die Populär-These, die Zeit ist nicht, weil ein Teil gewesen und der andere Teil künftig ist, operiert über die Zeit so, als wäre sie etwas in der Zeit. Warum ist die Zeit nicht aus Jetzten zusammengesetzt? Das Jetzt ist nicht das Maß der ganzen Zeit! Das Jetzt ist angesichts des Zeitganzen die kleinste Zeit. Es scheint zu fehlen die Erörterung, warum das Jetzt nicht im Nächstfolgen­ den untergegangen sein kann. |Das Sein des Seienden als „Ansichsein“ usw. ist streng genommen keine Seinserfassung des Seienden (weder Wesen, noch Daß-Sein, noch katego­ rialer Bau usf.), sondern betrifft die Wie-haftigkeit des Seienden. |Größe (Extensivität) : Ortsbewegung Grad (der Intensivität) : αὔξησις – φθίσις Existenz in der Zeit : ἀλλοίωσις

Dasein

Möglichkeit Wirklichkeit: Ȟ੼ɋɂɐɇɑ – ɔɅɍɏə Notwendigkeit

|Das Seiende im Sinne der Physik des Aristoteles ist jenes, das die Bewegung in sich hat. Bewegung, Unbegrenztes, Ort, Zeit, das Leere Welche „Bewegung“ ist die entscheidende? Die Bewegung, als welche alles Seiende ist, das Hervorkommen und Weggehen, das „Scheinen“. |IV. Band der Physik des Aristoteles: Ὁμοίος … in gleicher Weise ist über den Ort zu erkennen wie über das ἄπειρον. Warum? Ist der τόπος eine ähnliche Problematik? Oder am Ende gar ist eine bestimmte Weise nach dem ἄπειρον zu fragen, wenn der Ort zum Thema wird?

Problemstellung:

ɂੁ ਩ɐɒɇɋ ਲ਼ μ੾ ʌ૵ɑ ਥɐɒ઀ ɒ઀ ਥɐɒɇɋ

੒ ɒɟʌɍɑ

Die Frage εἴ ἔστιν ist doch nicht von ungefähr; sie bedeutet nicht: die gewöhnliche Ob-Frage. Z. B. bei Kentauren, Fabelwesen läßt sich fragen, ob dergleichen ist. Aber der Ort ist ja nicht in diesem Sinne fraglich. Fraglich ist, ob er im strengen Sinne „ist“. Die Frage operiert nicht gedankenlos mit dem „ist“, sondern stellt dieses „ist“ ebenso zur Frage wie der Ort. Kann das Sein 614

Zu Aristoteles’ Physik, 4. Buch, 10. Kap.

am Ende nur solchem zugesprochen werden, das „ist“ in der Weise der Dinge? Ist das dingliche Sein das Maß des Seins schlechthin? Oder anders, ist alles „Seiende“ πέρας oder kann dem ἄπειρον auch in gewisser Weise das „Seiend“ zugesprochen werden? Ob, Wie, Was? Die Reihenfolge des εἰ, πῶς, τι ist nicht ohne tie­ fere Bedeutung. Wenn der Ort „ist“ (auf die Art der Dinge), dann ist er in seinem Wie zu fassen und in seinem Wesen zu charakterisieren. Im zweiten Satz ist das „Maß“ genannt: τὰ όντα. Die Dinge sind ποῦ; und die Bewegung κοινὴ μάλιστα καὶ κυριωτάτη ist die κατὰ τόπον.23 |Das bedeutet: im Verständnis der Dinge halten wir uns in einem Verstehen von Ort und ebenso bei der Bewegung. Aber ist der Ort? τὶ ποτ᾽ἔστιν ὁ τόπος?24 οὐ ταυτόν. Es enthält also Widersprüche, Schwierigkeiten. Daß es ist, δοκεῖ ἐκ τῆς ἀντιμεταστάσεως25 Worin, das Enthaltende ɋɍ૨ɑ

|

II ʌɍɜɄɐɇɑ – ʌɏ઼Ɍɇɑ

I ਕɂ੿ ੕ɋɒȽ – ੕ɋɒȽ ɀɇɀɋɟμɂɋȽ

ਕɏɖȽɜ ɍ੝Ɉ ਥɋɁɂɖɟμɂɋȽ ਙɉɉɘɑ ਩ɖɂɇɋ ਥʌɇɐɒɛμɄ ȭɍɔɜȽ ȭɍɔɜȽ: ਕɏɂɒ੽ ɒɍઃ ਥπɇɐɒɄμɍɋɇɈɍ૨

ਕɏɖȽɜ ਥɋɁɂɖɟμɂɋȽ ਙɉɉɘɑ ਩ɖɂɇɋ ɒɚɖɋɄ ɔɏɟɋɄɐɇɑ ਕɏɖɛ = ɍ੠ ਪɋɂɈȽ ȰɏɟɋɄɐɇɑ = ਕɏɂɒ੽ ɒɍઃ ɉɍɀɇɐɒɇɈɍ૨

Verhältnis von ȭɍɔɜȽ und ȰɏɟɋɄɐɇɑ ਕɏɂɒ੽ ʌɍɇɍ૨ɐȽ?? ȭɍɔɜȽ ʌɍɇɂ૙ ɒ੽ɋ ɂ‫ރ‬ɁȽɇμɍɋɜȽɋ |ɒɚɖɋɄ – ɔɏɟɋɄɐɇɑ

ɋɍ૨ɑ

ਥʌɇɐɒɛμɄ – ɐɍɔɜȽ

I

εὐβουλία

φρόνησις als – διάνοια = ὀρθότης βουλῆς ὀρθότης πλεοναχῶς

II σύνεσις III γνώμη

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Zu Aristoteles’ Physik, 4. Buch, 10. Kap.

|1) Entstehen und Vergehen: in welchem Bezug? 2) Keine „Logik“ des ἐόν. Das ἐόν ist keine Dimension, in der die „Logik“ fraglos gilt. 3) Begriff des σῆμα: in Begriffen, die im Bereich der τὰ δοκοῦντα bezeichnet sind, und des ἐόν angesprochen. „Onto-logie“ und „Eonto-logie“! 4) Nicht die „Differenz“, der „Bezug“ von ἐόν und δοκοῦντα ist das zen­ trale Problem. |Das Seinsgerede, die Seinserfahrung und der neue Ansatz des Denkens. Das alles gilt auch für den Deutschen Idealismus. Eine neue Erfahrung des Seins steigt auf am Horizont unseres Lebens. Noch hat niemand das Wort dafür und keiner der Sterblichen wird es von sich aus ins Wort zwingen. Aber das Neue wird zur Sprache kommen, wie seit alters das Sein zur Sprache gekommen ist. Sein und Zeit? Zeit ist eine Grundbestimmtheit der Welt. Sein und Welt. Über die Welt hinausdenken, ist unmöglich. Sie ist das Spiel des Seins. Spielraum und Spielzeit, Raumspiel und Zeitspiel des Seins = das ist die Welt. |Die Interpretation der platonischen Ideenlehre leidet an der uns geläufigen Unterscheidung von konkreten und abstrakten Begriffen. Man sagt z. B. der Baum ist ein konkreter Begriff, die Baumheit ein abstrakter. Aber τὸ δίκαιον ist nicht das Gerechte, das gleichbedeutend ist mit „Gerechtigkeit“, τὸ καλόν nicht das Schöne im Sinne der Schönheit. τὸ καλόν und τὰ καλά Solches, dem Schönsein zukommt Das Schönsein selbst τὸ ὄν τὰ ὄντα Solches, dem Seiendsein zukommt das Seiendsein selbst |Ontologische Erfahrung ist nicht die Erfahrung vom Sein, nicht eine „Parallele“ zur ontischen Erfahrung. Das Sein ist kein Gegenstand, von dem es eine eigene genannte Erfahrungsweise gäbe. |Aristoteles’ Begriff der Zeit. Physik, 4. Buch. Dort im Zusammenhang mit dem Raum. |Das Dasein räumt und zeitigt nicht ursprünglich, sondern das Sein als Weltaufgang ist räumender Raum und zeitigende Zeit.

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‹Dispositionen zum Seminar über „Vom Wesen der Freundschaft“ (Aristoteles, Ethika Nikomacheia, 8. und 9. Buch)› ‹SS 1953›

1. Stunde: „Freundschaft“ – seltsames Thema eines Seminars! Ein Problem der Psychologie oder Soziologie usf.? Freundschaft: als ein zentrales onto­ logisches Problem des menschlichen Miteinanderseins! – Innerhalb der „Ethik“ des Aristoteles?? „Ethik“: uns ein geläufiger Begriff, aber fraglich, ob Aristoteles mit diesem Wust das Gleiche meinte. Kurzer Hinweis auf die ethischen Schriften des Aristoteles: Eth‹ika› Eud‹ēmeia› – Eth‹ika› meg‹ala› und Ethika Nikomacheia. – Skizze der Grundprobleme: ἀγαθὸν ἀνθρώπινον – εὐδαιμονία – βίος – ἀρετή – eth‹ische› Tugend. Verhältnis von eth‹ischen› und dia­ noet‹hischen› Tugend: μεσότης-Tugenden und die δικαιοσύνη. 5 Weisen des ἀληθεύειν – ἐπισήμη, νοῦς, σοφία – τὸ ἐνδεχόμενον ἄλλως ἓχειν : τέχνη und φρόνησις = ἐνδεχόμενον ἄλλως ἓχειν; ποίησις und πράξις – ἐγκράτεια und ἀκράτεια, ἡδονή — |Hier schließt die Erörterung über die Φιλία an. Φιλία: schwer zu übersetzen. Liebe und Freundschaft und nicht nur zwischen Menschen, auch von Menschen zu Dingen (Wein z. B.), und von Menschen zum καλόν z. B. bei Platon, dort Zusammenhang von Eros und Philosophie. Zunächst gibt der Text sich als eine schlichte Lobpreisung der Φιλία. Aber bei näherem Zuschau‹en› zeigt sich eine denkerische Tiefe darin. Φιλία: erste Bestimmung = ἀρετή τις, eine Jugend o‹der› mit Jugend zusammenhängend? ἀρετή = Seinstüchtigkeit, Seinshöchststand eines Sei­ enden, vor allem des Menschen. Wenn der Mensch als individuiertes, „zerrissenes“ Wesen zur Seins­ tüchtigkeit nur kommen kann, sofern er „ergänzt“ wird, – wenn er auf das Mitsein mit Anderen angelegt ist, dann ist die Φιλία eine zentrale ontol‹ogische› Struktur der menschlich‹en› Existenz. Ohne Freunde möchte keiner leben! Warum? Das Mitsein mit Freunden ist ein ἀγαθόν. Aber nicht eins neben anderen ἀγαθά. Aristoteles | grenzt dieses ἀγαθόν (der Φιλία) ab gegen alle übrigen ἀγαθά. D. h. erst unter der Voraussetzung, daß Φιλία ist, sind die übrigen Güter sinnvoll. Die Φιλία ist qua ἀγαθόν eine Bedingung der Möglichkeit, daß die übrigen ἀγαθά ‹bricht ab› 617

‹Dispositionen zum Seminar über „Vom Wesen der Freundschaft“›

Das zeigt Aristoteles überraschender Weise an den Reichen, Herrschern und Mächtigen. Das menschl‹iche› Leben ist durch mannigfache Gliederun­ gen aufgespalten: Reich – Arm, Mächtig – Ohnmächtig z. B. – Der Reiche hat Überfluß, hat keine „Not“. Und doch steht gerade er paradigmatisch für das Menschenwesen in der χρεία. Vorher hieß es schon, die Freundschaft sei das ἀναγκαιότατον εἰς τὸν βίον. Was heißt hier „notwendig“?? Nicht als Gegenbegriff gegen „zufällig“, sondern gegen „überflüssig“. Notwendig = das Not-Wendende. Wie Hunger eine „Not“, Sättigung nicht Beseitigung, sondern nur eine „Wendung“ der „Not“ ist; denn der Mensch bleibt ein auf Nahrung angewiesenes Lebewesen; so ist die Φιλία die Not-Wendung der wesenhaften χρεία des endlichen, ver|einzelten, auf „Miteinandersein“ angelegten Menschen. An den Reichen, Mächtigen, Herrschern zeigt Arist‹oteles›, also an den „notlosen“ (im Sinne der λοιπὰ ἀγαθά), die „Not“ des Angewiesenseins auf die Φιλία, unter deren Bedingung erst die λοιπὰ ἀγαθά überhaupt ἀγαθά sein können. Der Reiche und Mächtige usf. braucht die Freunde zur εὐεργεσία; er will sich mit ihnen teilen in den Genuß des Reichtums, der Macht usf. und umgekehrt braucht er sie zur Bewahrung, Rettung und Sicherung seiner Herrschaft. Ohne „Befreundung“ ist Reichtum, Macht, Herrschaft kein „mensch­ liches“ Glück. – (Wie in der Midas-Mythe. Man meint oft, in blinder Selbstsucht, alles zu sich allein sei zu wünschen, – aber man braucht Freunde, um das Leben zu ertragen). In der Armut (und auch Ohnmacht polit‹tischer› Art) sind Freunde μόνη καταφυγή. – Die wesenhafte Not des Daseins ist in der faktischen Not auch mit da, nicht nur in der faktischen „Notlosigkeit“ (des Reichen und Mächtigen). – |Ein neues Motiv kommt, sofern die Φιλία erörtert wird in Bezug auf die Altersstufe des Menschenlebens. Die Jungen, sofern sie in der „Not“ der Ratlosigkeit stehen und ihre Vernunft nicht voll innehaben und von den Leidenschaften getrieben werden, sind in der χρεία, des Rates von Freunden zu bedürfen, um nicht in Verfehlungen zu fallen; die Alten brauchen Pflege, sie sind in der Schwäche und Unkraft, – und deswegen ist ihre χρεία: Freunde zu haben, die sie pflegen und betreuen. Die aber in der ἀκμή sind, also Vernunft haben und keine Pflege und Hilfe brauchen, stehen in der allgemeineren menschlichen „Not“, daß ihre πράξεις häßlich und schlecht werden können – sie brauchen „Freunde“, um zu „schönem Tun“ zu gelangen. „πρὸς τὰς καλὰς πράξεις“.1

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‹Notizen zur Übung „Platons Sophistes“› ‹WS 1953/54›

216a: Exposition des Dialogs: Theodoros bringt einen Fremdling zu Sokra­ tes, einen „philosophischen Mann“. Sokrates, anscheinend scherzhaft, meint: vielleicht sei er ein „Gott“. Damit ist das Thema des Dialogs angemeldet: die Undurchsichtigkeit des philos‹ophischen› Men­ schen, Sein und Schein, Mensch oder Gott! Der Gott sei schauend bezogen auf die ὕβρεις καὶ εὐνομίας der Menschen: auch b: hier das Thema Sein und Schein, Maß und Unmaß. Der Gott: ein θεὸς ἐλεγκτικός: ein überführender Gott. [Die Zweideu­ tigkeit des Schillerns von Sein und Schein – muss offenbar auf eine letzte „kritische“ Instanz bezogen sein!!] c: Theodoros bestimmt nun den τρόπος des Fremden, er sei kein Gott, der den „Streit“ zwischen Sein und Schein bewältige, aber ein „göttli­ cher Mensch“. Sokrates: das γένος der Philosophen ist nicht leichter zu unterscheiden als das des Gottes. [So wie der Gott sich in menschlicher Gestalt zeigt und verbirgt, so auch der Philosoph im Zwielicht: aber was ist sein „Schein“?]. ἇνδρες φανταζόμενοι [die Philosophen zeigen sich wegen der Unwissendheit der anderen im verhüllten Anschein] – und zwar gerade die seienden und nicht „angeblichen“ Philosophen [der Mensch, der in der Wahrheit lebt, zeigt sich nicht unverstellt, aber der Grund seiner Verstelltheit liegt nicht in ihm, sondern der ἄγνοια ἄλλων] | Die wahrhaftigen Philosophen schauen ὑψόθεν das Leben der Niederen – und gelten einigen nichts, anderen alles, stehen im Anschein bald von Politikern, bald von Sophisten. [Die Philosophen sind φαντάζεσθαι, in δόξαν παρέχειν. Sokrates will vom Fremdling wissen, was die Leute vom τόπος des Philosophen halten und sagen (ἡγοῦντο καὶ ὠνόμαζον)] 217a: Sophist – Staatsmann – Philosoph – wie gelten dort im Lande des Fremdlings die drei? [Überhaupt sind dies 3 verschiedene τόποι des Menschen, oder einer, der im Zwielicht vom Sein und Schein schillert? Geht es nur um den Unterschied von Philosoph und Sophist im Sinne des Echten und Unechten, des Urbilds und des Abbilds oder Zerrbilds, des Wesens oder des Unwesens? Oder muss der Philosoph (der Mann 619

‹Notizen zur Übung „Platons Sophistes“›

b: d:

des Seins) einen notwendigen Bezug haben zum Sophisten (dem Mann des Scheins) – am Ende über den πολιτικός? ὑψόθεν: von oben (jenseits des Staats) schaut der Philosoph der platon‹ischen› Πολιτεία herab; er muss niedersteigen in die „Höhle“, sich ins Land des Scheins begeben. Vielleicht also liegt im πολιτικός die Klammer, die die Spannungsdifferenz von Philosoph und Sophist übergreift.] Der Fremde antwortet: dreifach ist seinem eidos nach verschieden: Philosoph –politikos – Sophist. Aber diese Unterschiede obenhin zu sagen ist leicht, schwer dagegen καθ᾽ ἕκαστον | διορίσασθαι ist οὐ σμικρόν. Der Fremde nimmt den Theaitetos als Gesprächspartner an und erklärt sich bereit zur Rede. – Motiv der „Scham“ und des „Großtuns“, αἰδώς und ἐπίδειξις (zwei Weisen, wie im Menschlichen Sein und Schein sich verstellt).

218b: Zu zweit ist zu spähen über den Sophisten durch suchenden und aufhellenden logos, was er wohl sei. – τί ἐστι Frage. Zunächst ὄνομα des Sophisten gegeben. ὄνομα – ἔργον;

κοινῇ : ὄνομα ἰδίᾳ : ἔργον

218c– δεῖ … τὸ πρᾶγμα αὐτὸ μᾶλλον διὰ λόγων statt ὄνομα μόνον 219: χωρὶς λόγου. Frage: τί ποτ᾽ ἔστιν, ὁ σοφιστής – und zwar in Hinblick auf den „Stamm“ (φῦλον) Wichtiges methodisches Leitprinzip (218d): über das Große (μεγάλα) καλῶς διανοεῖσθαι, scheint allen (δέδοκται πᾶσιν), dass man dies zuvor am Kleinen und Leichten üben müsse. [Umgekehrt wie in der Politeia, wo der Mensch im Großen leichter die Gerechtigkeit erkennen läßt als der Mensch im Kleinen (Staat – Individuum; große und | kleine Buchstaben] Das γένος des Sophisten χαλεπὸν καὶ δυσθήρευτον: [„Jagd“ – Motiv]: Die μέθοδον προμελετᾶν … τὶ τῶν φαύλων als παράδειγμα τοῦ μείζονος! [Sonst ist doch das Wesentlichere Urbild des Abgeleiteten; hier aber ist eine Relation anderer Artung im Blick: παράδειγμα: „für uns“, nicht „an sich“ [Diese Abbildlichkeit „für uns“ gründet in der Abbildlichkeit des Unwesens im Wesen „an sich“; wir müssen aus dem Schein ins Wesen zurück und können im Erscheinen nur die Spur des Wesens finden, weil das Wesen in der Erscheinung selbst hereinscheint!!] Modellfall: ἀσπαλιευτής (Angelfischer) [Wundervolle Anspielung]

620

‹Notizen zur Übung „Platons Sophistes“›

219:

Frage – Methodos beginnt: ist der Angelfischer ɒɂɖɋɜɒɄɑ? ɒɂɖɋɜɒɄɑ – oder ਙIJİȤȞȠȞ, aber doch eine ਙȜȜȘ ɁɠɋȽμɇɑ? ɒɂɖɋᛟɋ πȽɐᛟɋ ɐɖɂɁᛂɋ ɂᚬɁɄ Ɂɠɍ 1. ɂᚬɁɍɑ: ɅɂɏȽπɂɜȽ πɂɏᚷ ɒᛂ ɅɋɄɒᛂɋ ɐᛟμȽ , ਪȞ ੕ȞȠμȽ + ɐɈɂᛒɍɑ (ɐɠɋɅɂɒɍɋ ɈȽᚷ πɉȽɐɒɟɋ), + μɇμɄɒɇɈɛ

πᾶν πρότερόν μὴ ὂν – εἰς οὐσίαν ἄγειν = ποιεῖν (bzw. ποιεῖσθαι) [das ὄν tritt hier in den Horizont des ποιεῖν ‹bricht ab›

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‹Dispositionen zum Proseminar „Der Satz vom Widerspruch“› ‹WS 1959/60›

|1. Stunde am 11.XI.59 (1) Ein Proseminar über den Satz vom Widerspruch scheint in Wider­ spruch zu den pädagogisch-didaktischen Erfordernissen einer Anfän­ ger-Übung zu stehen. Wird hier nicht eine ausgebildete Fähigkeit im abstrakten Denken, eine Reflexionsstufe des Wissens vorausgesetzt, die einen längeren Umgang mit philos‹ophischen› Fragen verlangt? Niemand wird in Abrede stellen, daß der Satz vom Widerspruch ein „Grundprinzip“ darstellt, so etwas wie eine Generalregel des Den­ kens u. dgl. – man kennt im ungefähren seine Bedeutung und seinen Rang; jedoch dies genau anzugeben, ist schwierig. Ein schwieriges Prinzip zu erörtern oder doch zu erörtern zu ver­ suchen, widerspricht nicht der Didaktik der Philosophie. Von allen Orten aus und auf allen Wegen vermag man zur Philosophie ‹zu› gelan­ gen. Die Sphäre der vor-philosophischen Lebenshaltung ist der Aus­ gang. Die Kennzeichnung der „vor“-philosophischen Lebenssphäre ist nicht geleistet, wenn sie nur im Hinblick auf die Philosophie charakte­ risiert wird: als „Vorstufe“, uneigentliches Verständnis usf. Der Boden aller Philosophie ist die natürliche Lebenswelt. Diese jedoch ist kein konstanter Befund, sondern ein geschichtliches Faktum: darin vermen­ gen sich unmittelbare Gewissheit mit Sinnprodukten der Wissenschaf­ ten und der Philosopheme. |Der Weg von der Sphäre des ungebrochenen Seinsverständnisses zur philosophischen Reflexion ist niemals ein festes Wegsystem, das man durchlaufen könnte, um sich über den „naiven“ Standpunkt hin­ auszubringen – der Weg ist immer wieder nötig und möglich. Ein fundamentales Problem der Philosophie hat eine Vielfalt von Wegen und Dimensionen. Der Gang, den wir hier versuchen wollen, beginnt zunächst mit einer rohen Bestandsaufnahme unserer Meinun­ gen über den Satz vom Widerspruch, erörtert dann paradigmatisch einige philosophische Deutungen und Formeln des S. v. W. ‹Satzes 623

‹Dispositionen zum Proseminar „Der Satz vom Widerspruch“›

(2)

(3)

(4) (5) (6)

vom Widerspruch› – und leitet dann zum Zusammenhang von Widerspruchsatz und Individuationsproblem über. Dies als „Vordeu­ tung“. Diese subjektive Absicht kann durch die objektive Ausgestaltung der Seminarübung verändert werden. Was ist das „Thema“? Der Satz vom Widerspruch! Gewiß. Was ist das für ein Satz? „Satz“ = sprachliche Aussage? Satz = Setzung? Eine Aussage über … einen Sachverhalt? Verhalt von Sachen = Dingen und idealen Sinngebilden. Oder ein Satz über die Sagbarkeit von | Verhalten? Der Satz vom Widerspruch – vom ausgeschlossenen Dritten – der Satz der Identität – der Satz vom Grunde – solche Grundsätze des Denkens? Grundsätze des Vernunftgebrauchs? Denken? Im Unterschied von „Vor­ stellen“, „Einbilden“, Träumen, Phantasieren. Das „Lügen“ – und das Kreuzverhör (Aufdeckung von Widersprüchen). Denkprinzipien oder Seinsprinzipien? Oder Prinzipien, die das Verhältnis von Denken und Sein betreffen. Der Bereich des Formalontologischen und Formalapophantischen (Husserls Begriff der „Konsequenzlogik“). Analytische Verhältnisse? Der Satz vom Widerspruch und seine prohibitive Funktion (nega­ tive Form) Satz der Identität und die Kehrseite: der Satz des Widerspruchs

|2. Stunde am 25. November 1959 (1) Kurzer Rückblick: vorbereitende Besinnung, Frage nach dem „Satz“Charakter des Satzes vom Widerspruch? (a.) Der Widerspruch ist nicht Gegenrede eines Partners im Gespräch: eine Aussage (ein Satz) steht im Widerspruch zu einem Sach­ verhalt, ist also unzutreffend, unrichtig, unwahr. Eine Meinung und formulierte Meinung bezieht sich auf einen Sachverhalt: Meinungen über eine Sache können „sich widersprechen“, ohne sich wechselseitig auszuschließen, – und ohne daß die Richtigkeit jeder Meinung, ihre Sach-Wahrheit sich herausstellt. Meinungen können sich auch so widersprechen, daß die eine mit der anderen unvereinbar und unverträglich ist, – daß die eine die andere aus­ schließt. Worauf beruht aber dann das wechselseitige Sichausschließen? Auf Verhältnissen von Begriffen oder von begrifflich intendier­ ten Sachen? Der Widerspruch als Phänomen der „Inkonsequenz“?

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‹Dispositionen zum Proseminar „Der Satz vom Widerspruch“›

(b.)

Der Satz vom Widerspruch – im Zusammenhang mit dem Satz der Identität (A = A), dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten und mit dem Satz vom Grunde? Strukturen des Seienden – der Sagbarkeit des Seienden, der Bestimmtheit von Seiendem mitten unter Seiendem und in Abhängigkeit vom Ganzen – Welt-Horizont der Grundsätze. |(c.) Satz vom Widerspruch = ist kein faktischer Satz, sondern ein „idealer Satz“, – dem gemäß wir die Dinge ansprechen und besprechen – und den wir als „Regel“ fixieren können, indem wir uns zu einer eingehaltenen Regel des Sprechens (über Seiendes zu Mit-Sprechern) sprechen. (d.) Der prohibitive Sinn des Satzes vom Widerspruch? Der Satz formuliert ein Verbot: von Denken – Sprechen – Sein von endli­ chen Dingen. (2) Wo ist der Widerspruch? Im Verhältnis der Vorstellung, der Meinung, des Urteils, der subj‹ektiven› Erscheinung – zur Sache selbst? (3) Die Dinge, die selbsthaft sind (gemäß A = A) haben mannigfache Differenzen an sich: Selbst und Darstellung, Substanz und Akzidenz, Wesen und Erscheinung. Die richtigen Verhältnisse gründen: Sache – Erscheinen – Mensch. – Widerspruch im Feld des Wahrseins von Dingen – Denken und Sein? Widerspruch im Denken? Im Sein endlicher Dinge? Widerspruch im Denken und im Sein? (4) Dinge und die Gegensätze |3. Stunde am 2. Dezember 1959 (1)

Die erste, einleitende Überlegung war angesetzt an einer Erörterung über das alltägliche Phänomen des Widerspruchs (als Widerrede) – um den sozialen, intersubjektiven Horizont der menschlichen Rede anzuzeigen, am Unterschied von faktischem Satz und idealem SatzSinn – um den Satz vom Widerspruch als einen idealen Satzsinn über das ideale Verhältnis von Strukturen des Seienden abzuheben, am Phänomen der Vielfalt menschlicher Vorstellungen, Meinungen, Urteile in bezug auf eine Sache oder einen Sachverhalt. Die „Wahrheit“ = das Erscheinen der Dinge für uns ist der Bereich für die zutreffende und für die verfehlende – und für die lügende Rede. Die Voraussetzung: das Seiende selbst ist dem Widerspruch ent­ rückt, nur die menschlichen Meinungen und Aussagen können sich in Widerspruch – und sogar in Selbstwiderspruch verstricken. Die Dinge sind: selbsthaft und sich darstellend, eins und vieles, Substanz und Akzidenz, Wesen und Erscheinung, Verharren und Wechsel. Wider­ 625

‹Dispositionen zum Proseminar „Der Satz vom Widerspruch“›

sprüche im „ontolog‹ischen› Grundriß“ des endlichen Dinges? Dinge – zwischen den elementarischen Gegensätzen – Ding und Element? [Ding und Welt?] |(2) Der Satz vom Widerspruch ist ein onto-logischer Satz! Inwiefern „onto-logisch“? Was heißt „ontologisch“? Sätze, in denen die Seins­ verfassung des Seienden formuliert wird. Beispiele? Kategorie und Art-Gattung und Transzendentalien. Ontologische Sätze solche, die das Seinsstrukturgefüge, den Grundriß des Dinges als solchen ansagen und aussprechen, – denen gemäß wir im faktischen Sprechen und Urteilen aussagen, – die wir eigens „vergegenständlichen können, als apriorische Erkenntnisse“. Innerhalb der apriorischen Erkenntnisse bzw. Erkanntheiten der Unterschied von leerformalem und von mate­ rialem Apriori – Fundierungs-Verhältnis. Formale Ontologie und materiale Ontologie. Formale Ontologie und formale Apophantik. Der Satz vom Widerspruch → leerformales Apriori. Kant: analytisches und synthetisches Apriori. Der Satz vom Widerspruch ist jedoch nicht so „ontologisch“, vielmehr onto-logisch, er formuliert den Zusammen­ hang von Sagen (Denken) und Sein von Seiendem. (3) Das Sagen von Seiendem (ὂν λεγόμενον) setzt voraus, daß das Seiende steht, ständig ist. Das meint jetzt kein Ständigsein des einzelnen Dinges – vielmehr Ständigkeit, Festigkeit seines Verhaltens-Stils. |1Was ist das für eine vorausgesetzte Ständigkeit? Offenbar ein Verhältnis von Sein und Zeit!? Ständigkeit – als Regel, Festigkeitsform „in Fällen“ – Ständig sind die Dinge? Welche, welches – gibt es auch nur ein Ding in der ganzen Welt, das ständig ist = immer ist = das bleibt und in allem Wandel sich verharrend verhält? Rangordnung der phänomenalen Dinge – je nach dem Grade von Ständigkeit?? Mensch – weniger ständig als manche Tiere und Pflanzen, sicher weniger stän­ dig als der Stoff? Dieser weniger ständig als die Zeit, die steht, damit in ihr das Vergängliche fließen kann. Je höher ein Seiendes, desto fra­ giler!? Wie steht es mit den Göttern? Materialismus und Idealismus (im metaphysischen Sinne). Ständigkeit des Kosmos – und Ständig­ keit der Dinge? (4) Die Dinge werden nicht nur gesehen, wahrgenommen. Sie werden verstanden – von woher? Das Verstehen ist ein Umgang, der die Dinge bezieht auf ein Worauf, einen Zweck, einen Bewegungszweck, – auf eine Ankunft, Abkunft, Abhängigkeit, – auf Gründe. – Die endlichen Dinge sind – sind als gewordene, sind als zielhafte, sind (als Kunstdinge) auf „Zwecke“ entworfen usw. Der Grund eines Dinges: ein Grund des Werdens, ein Grund des Seins, ein Grund des Erkanntwer­ dens. 626

‹Dispositionen zum Proseminar „Der Satz vom Widerspruch“›

|2Wie und inwiefern führt das Seiende die Möglichkeit mit sich – als Sinn-Horizont – vom Menschen gesagt zu werden? Was ist Gesagtsein? Genanntsein? Etwas ähnliches wie das Bearbeitetsein? Lässt sich das Gesagtwerdenkönnen des Seienden gewissermaßen anziehen – wie ein Kleid – Seiendes „logisch nackt“??? Menschliches Seinsverständnis und Sprache? |4. Stunde am 9. Dezember 1959 (1)

Der Satz vom Widerspruch = ein onto-logischer Satz betrifft das Ver­ hältnis zwischen dem Sein von endlichen Dingen und ‹dem› Sagen. – Betrifft er irgendein Verhältnis – oder ein ausgezeichnetes Ver­ hältnis, – etwa das Verhältnis der Verhältnisse? Der Satz von Identität, des Grundes, des ausgeschlossenen Dritten – sind Sätze über Grundstrukturen des Seienden. Der Satz vom Widerspruch ein Satz über das Sagen des Seienden. (2) Satz vom Widerspruch = ein Satz, der das Verhältnis von Sein der Dinge und Sagen als Zu-Ordnung von Ständigkeit voraussetzt. Ständigkeit des Verhaltens der Dinge ist Voraussetzung der Sagbar­ keit. Also ein Verhältnis von Sein und Zeit oder genauer von Sein der endlichen Dinge und Zeit. (3) „Ständigkeit“ – als Regel, Festigkeitsformen „in Fällen“. – Ständig sind Dinge, ständig sind in ihrem Stil beständige Dinge. Wo gibt es im Universum Dinge oder auch nur ein Ding, das beständig wäre, immer wäre? Allen Wandel unterläuft? |‹(4)› Rangordnung der phänomenalen Dinge nach der Ständigkeit? Mensch – weniger ständig als manches Tier und manche Pflanze, – sicher weniger ständig als der Stoff. Dieser weniger ständig als die Zeit, die steht, damit in ihr Fließen und Vergehen des Zeitlichen ist. Je höher ein Seiendes, desto fragiler? Wie steht es mit den Göttern, den Ideen ‹?› Materialismus und Idealismus (im metaphysischen Sinne). Ständigkeit des Kosmos und Ständigkeit der innerweltlichen Dinge. (5) Vorbegriff der „ἀρχή“: das Erste, von woher etwas ist, wird, erkannt wird. Oder Vierfalt: Woraus = ὕλη Was = εἶδος – τὸ τὶ ἦν εἶναι Worumwillen, Ziel = τέλος Anfang der Bewegung = ἀρχή τῆς κινήσεως 627

‹Dispositionen zum Proseminar „Der Satz vom Widerspruch“›

(6)

Oder lat‹einisch›: causa materialis causa formalis causa finalis causa efficiens 3Aristoteles, Metaphysik Γ: 1. Kap. – eine ἐπιστήμη τις …→ τὸ ὂν ᾗ ὂν καὶ τὰ τούτῳ ὑπάρχοντα καθ᾽ αὑτό. |2. Kap. τὸ ὂν λέγεται πολλαχῶς. πολλαχῶς – im Sinne der κατηγορίας. ἓν und πόλλα als Gegensätze. 3. Kap. ἀξιώματα – οὐσία. Φυσική und πρώτη φιλοσοφία. Das sicherste Prinzip, βεβαιοτάτη ἀρχὴ. Analogie? Das Superlativ βεβαιοτάτη ἀρχὴ πασῶν = über welche eine Täuschung unmög­ lich ist und was nicht vorausgesetzt ist. Was als das „Verständnis von Seiendem“ notwendig ist, ist keine Voraussetzung. Φύσει – ist der S. v. W. ‹Satz vom Widerspruch›?

|5. Stunde am 16.XII.59 (1) Vorbegriff von ἀρχή: Dreifalt: Das Erste, von woher etwas ist, wird, erkannt wird (ἔστι – γίγνεται – γίγνώσκεται). Erkanntwerden ist ein Geschehen. Geschehen ist eine Art von „Sein“. Implikation und Gegen­ verhältnis – Sein – Zeit – Wahrheit – Das Seiende (= die Einzeldinge) ist „gegründet“. Dies verweist auf einen Hervorgang und Anfang. Ein Erkennen der Dinge nach ihrem Hervorgang – als abkünftig von Grün­ den, die die Dinge be-dingen. – Vierfalt der Gründe – (2) Metaphysik Γ, 1. Kap. ἐπιστήμη τις …→ ὄν → ὑπάρχοντα. – Das Seiende wird verstanden als Gefüge – 2. Kap. τὸ ὂν λέγεται πολλαχῶς. 3. Kap. ἀξιώματα. Leitbegriff von βέβαιος? „Fest“, oder „sicher“?? |6. Stunde am 13. Januar 1960 (1)

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Vergegenwärtigung des bisherigen Ganges: (a.) Widerspruch = ein Phänomen der Sprache. – Rede und Gegen­ rede – (b.) Satz steht in Widerspruch zu Sache (c.) Meinungen über Sachen „widersprechen sich“ (d.) Voraussetzung: das Seiende selber ist dem Widerspruch ent­ rückt. Die Sphäre des Erscheinens der Dinge und des Aussagens

‹Dispositionen zum Proseminar „Der Satz vom Widerspruch“›

– als Bereich der Widersprüche. Was „ist“, ist schon wider­ spruchsfrei. (e.) Der ontolog‹ische› Grundriß des endlichen Dinges und der Widerspruch: selbsthaft und sich darstellend. Wesen und Erscheinung. Verharren und Wechsel (f.) Dinge – in den elementarischen Gegensätzen (g.) Satz vom Widerspruch = ein ontologischer Grundsatz? (h.) Satz vom Widerspruch = ein onto-logischer Satz (i.) Die Ständigkeit des endlichen Seienden und die Sagbarkeit (k.) Ding und seine „Gründe“. ἀρχή: Dreifalt und Vierfalt (l.) βεβαιοτάτη ἀρχή. |(2) Die aristotelische Problem-Formel. αὐτό – ἅμα – αὐτῷ. εἶναι καὶ μὴ εἶναι. ὑπολαμβάνειν und λέγειν (3) Widerlegender Beweis: ἐὰν τι λέγει |7. Stunde am 20. Januar 1960 (1)

Der Satz vom Widerspruch – bei Aristoteles – die festeste archē – ein onto-logischer Satz über das Verhältnis von Sein endlicher Einzeldinge und Sagbarkeit des einzelhaftig Seienden. (2) Das vereinzelte Seiende = die Dinge!? (3) S = P zugleich mit S ≠ P ist nicht möglich. Sein und Nichtsein = der erste Gegensatz. Wie ist dieser Gegensatz gefaßt? Als ὑπάρχειν und ἅμα μὴ ὑπάρχειν. Sein und Nicht-sein genommen als Bestimmtsein. ἀδύνατον: 1) ὑπάρχειν und μὴ ὑπάρχειν, 2) ὑπολαμβάνειν: τἀυτὸν εἶναι καὶ μὴ εἶναι. Die Unmöglichkeit von 2) resultiert aus 1). Zu „glau­ ben“, dasselbe sei und sei nicht, ist ein Fall des Unmöglichseins von Sein und Nichtsein, sofern zwei entgegengesetzte Meinungen beste­ hen würden. |(4) Es gibt, sagt Aristoteles, solche, die sagen, daß dasselbe sein und nicht sein kann – und daß man dies glauben könne. Widerlegender Beweis: Schrittgang: a) τί λέγει b) σημαίνειν τι – ἑαυτᾦ καὶ ἄλλῳ c) ὄνομα – εἶναι, μὴ εἶναι

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‹Dispositionen zum Proseminar „Der Satz vom Widerspruch“›

|8. Stunde am 27. Januar 1960 (1) Widerlegender Beweis des Aristoteles für den Satz vom Widerspruch wendet sich gegen die Leugnung des Satzes und gegen die These, man könne die Leugnung glauben. „Subsumption“? Ontologie und Gesetz des sagbaren Seienden? Das Sagen des Seins (von endlichen Dingen) untersteht dem Strukturgesetz des Säglich-Seienden, – das λέγειν des ὄν untersteht der Regel des ὄν λεγόμενον. (Seinsverständnis unter Sach-Logik)? (2) Beweisgang: (3) Übergang zu Kant Leibnizens Scheidung von verités de raison und verités de fait Kants Scheidung innerhalb der apriorischen Erkenntnisse: analyti­ sche Urteile a priori, synthetische Urteile a priori Der Satz vom Widerspruch als Prinzip der analytischen Urteile a priori Der Satz vom Grunde – wo? Im obersten Prinzip aller syn­ thet‹ischen› Urteile a priori!! |9. Stunde am 3. Februar 1960 (1) Kurze Rekap‹itulierung› des Kantischen Ansatzes: a) Analytische und synthetische Urteile a priori b) Doppelbegriff des Apriorischen – Das Denkbare und das Erfahr­ bare. (2) Ort der thematischen Behandlung des Satzes vom Widerspruch in der Kritik der reinen Vernunft. (3) System der Grundsätze des reinen Verstandes? Anschauung und Den­ ken – Schematismus – (4) „Logik“ (als formale Logik) als „Leitfaden“ (5) „Vom obersten Grundsatze aller analytischen Urteile“. Kommentation: Kritik der reinen Vernunft, S. 150ff.4 (6) Denken und Sein, Sein und Gegenstandsein. Denken von „Gegenstän­ den“ Etwas Gegenstand Nichts 630

‹Dispositionen zum Proseminar „Der Satz vom Widerspruch“›

Das „gedachte Etwas“ ist für Kant = ens rationis = Mögliches oder auch Nichts? |Welches Verhältnis zwischen Denken und Sein? Denken = Den­ ken von Gegenständen [endlich] Alle Erfahrungsdinge sind wenigstens Denkgegenstände – wenngleich sie mehr sind Denkbarkeit = possibilitas. Wieso weist das Denken das Möglich­ sein aus? „Gedacht“ ist doch auch das „Ding an sich“ – ist es in gleicher Weise möglich wie die Chimaira – wie Gott? Gedacht ist auch das „Totum“ der tr‹anszendentalen› Dialektik! – Nach Kant soll es jedoch nur eine regulative Idee sein – („Aufgegebenes“). Das Verhältnis des logischen Seins zum Sein von Dingen und zum Sein ‹von› Gebilden des transz‹endentalen› Scheins – zu Realisie­ rung, Hypostasierung und Personifikation der omnitudo realitatis – wird bei Kant nicht problematisch. Die „Logik“ ist für ihn außer der Kritik der reinen Vernunft Sinn der Kantischen Polemik gegen das aristotelische ἅμα??? |10. Stunde am 10. Februar 1960 (1)

Allgemeiner Horizont der Kantischen Philosophie – „Ort“ des Pro­ blems des Satzes vom Widerspruch? (2) Inwiefern ist die Problematik des Satzes vom Widerspruch bei Kant ähnlich – und inwiefern unähnlich wie bei Aristoteles?? wie: a.) Satz vom Widerspruch = ein Satz über das Allgemeinste der Wahrheit – über sagbare Wahrheit. b.) Satz vom Widerspruch = betrifft Dinge, oder das Wahr-sein von Dingen = [endlich Seiendem] nicht wie: Aristoteles’ Formel ist doppelt: sie betrifft das Zukom­ men und Nichtzukommen von Bestimmungen – zu einer Sache –; das Leugnenkönnen des Satzes vom Widerspruch und die Unmöglichkeit, solche Leugnung zu glauben (Leugnung führt zum geistigen Suizid). Kant formuliert offenbar streng „ontologisch“ – oder „logisch“: Ding und Dingprädikat!? Ding jedoch nicht „Seiendes an sich“, sondern Gegenstand: Denkgegenstand oder Erfahrungsgegenstand. |(3) Kants These: a.) „Keinem Ding kommt ein Prädikat zu, welches ihm widerspricht“. Was heißt Ding, Zukommen, Widerspruch? b.) Negatives Kriterium aller Wahrheit? Kriterium, negativ, aller Wahrheit?? c.) Positiver Gebrauch? Wo ist die Grenze der Einsicht in Implikati­ onsverhältnissen?

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‹Dispositionen zum Proseminar „Der Satz vom Widerspruch“›

d.) Satz vom Widerspruch = allgemeines Prinzip aller analytischen Erkenntnis? conditio sine qua non, jedoch nicht „Bestimmungs­ grund“ der Wahrheit unserer Erkenntnis e.) bei synthetischen Erkenntnissen: sie dürfen den Satz vom Wider­ spruch nie verletzen ‹und› können sich nicht aus ihm begründen (4) Satz vom Widerspruch = nur „logisch“? Denkgesetz: = formales Seins­ gesetz für alle Gegenstände |(5) Kants Kritik an Aristoteles: a.) unnötig sei die „apodiktische Form“??? Schachtelung von Modali­ täten?? b.) Kant interpretiert, daß Aristoteles das Verhältnis von Prädikaten zueinander primär im Auge gehabt hätte und zu ihrer Ausschlie­ ßung das ἅμα gebracht hätte?? c.) Sein von Dingen – bei Aristoteles = zeithaft. Sein von Dingen – bei Kant a.) logisch, b.) zeithaft (Erfahrung) (6) Satz vom Widerspruch = bei Kant = logisch. Logik der Gegenstände (der endlichen). Die Dinge – als Gegenstände – sind in sich wider­ spruchsfrei, Widerspruch hat seinen Ort im menschlichen Meinen (7) Rolle der Dialektik: Paralogismen, Antinomie, Ideal. Widerspruch in der tr‹anszendentalen› Dialektik muß „aufgelöst“ werden |(8) Übergang zu Hegel: Hegels Kantkritik und „Differenzschrift“ |11. Stunde am 17. Februar 1960 (1) Wichtig war in der letzten Stunde vor allem, daß Kants Begriff „Ding“ – in seiner Formel für den Satz vom Widerspruch – prinzipiell „Gegen­ stand“ besagt. Das, was auf alle Gegenstände sich bezieht, ist das Denken; – ist der Satz vom Widerspruch ein Denkgesetz, so ist er ein gegenstandstheoretisches Gesetz für alle Gegenstände überhaupt. Widerspruch wird als Begriffsverhältnis gefaßt. (2) Kants Kritik an der aristotelischen Formel: [vgl. letzte Stunde-Text] (3) Übergang zu Hegel – nicht mehr über die „Differenzschrift“, obwohl sie einen leichteren Einstieg bietet („Prinzip einer Philosophie in der Form eines absoluten Grundsatzes“). Wissenschaft der Logik – Gliederung: Objektive und Subjektive Logik. Objektive Logik: Subjektive Logik:

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Lehre vom Sein 1. Buch. Lehre vom Wesen 2. Buch Der Begriff 3. Buch

‹Dispositionen zum Proseminar „Der Satz vom Widerspruch“›

Ortsbestimmung der Erörterung des Satzes vom Widerspruch: Wesen = Reflexion in ihm selbst – Zweites Kapitel vgl. Lasson – Hoffmeister – S. 23: Wesenheiten oder Reflexionsbestimmungen!!5 |12. Stunde am 25. Februar 1960 (1) Der Ort der Erörterung des Satzes vom Widerspruch ist die Wissenschaft der Logik (Lehre vom Wesen – Reflexionsbestimmungen). – Vgl. Kants „Amphibolie der Reflexionsbegriffe“ in der Kritik der reinen Vernunft – Einerleiheit und Verschiedenheit Einstimmung und Widerstreit Inneres und Ӓußeres Materie und Form (2) Reflexion – bei Hegel – hat den Sinn einer ins Seiende einrückenden Bewegung. Übergang des Seins in das Wesen (3) Textauslegung (4) Ausblick auf das Problem der Individuation a.) Unterschied von ontischer und kosmischer Dialektik b.) Welt und Ding

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‹Dispositionen zum Seminar „Heraklit und Parmenides“ (mit Martin Heidegger)› ‹WS 1966/67›

|1. Sitzung am 9. November 1966 (1) Eröffnung des Seminars mit dem Dank an Heidegger: für die Bereit­ schaft, die Führung zu übernehmen bei dem gemeinsamen Versuch, in den Bereich der großen und geschichtsmächtigen Denker H‹eraklit› und P‹armenides› vorzudringen, deren „Stimme“ weiter als durch tausend Jahre reicht – Denker, die im Ursprung der Philosophie beheimatet sind –, längst vergangen und gleichwohl von uns noch nicht eingeholt. Von Heideggers Dialog mit den Griechen, der in all seinen Werken schwingt, können wir lernen, wie das Weiteste nah und wie das Vertrauteste fremd sein kann, – wie wir nicht zur Ruhe kommen in einer gesicherten und verläßlich befestigten Deutung, – wie die Griechen eine unaufhörliche Herausforderung sind. Das Seminar hat einfachere, bescheidenere Ziele. Es ist eine Übung und will eine Übung im Denken werden, im Nach-Denken vor-gedachter Gedanken. Wir werden konfrontiert mit „Texten“. Dabei interes|sieren uns nicht die philologischen Probleme (so wichtig sie sein mögen). Die „Sache selbst“, das, was für Heraklit und Parmenides im Blick gestanden haben muß, ist das Ziel unseres Fragens. Falsche Meinung: die Sache auf der einen, die sprachliche Formulierung auf der anderen Seite. Wir können nicht am Text vorbei – wenn es glückt, – durch ihn hindurch!! Wir suchen – und sind als Suchende dem „Manne“ gleich, „der vergessen hat, wohin der Weg führt“. Keine spektakuläre Angelegenheit, eine nüchterne und wahrscheinlich an Enttäuschungen und Niederlagen reiche Veranstaltung. (2) Herr Prof. Heidegger und ich sind übereingekommen, daß ich zunächst eine vorläufige Interpretation der Sprüche Heraklits versuche, um so eine Basis der Erörterung und kritischen Diskussion vorzusehen. [Es wäre vielleicht jetzt von einigem Vorteil, auf die Sprache der herakli­ teischen Sprüche zu | reflektieren, die Viel-Dimensionalität zu kennzeich­ nen, die ebenso die gnomische, sentenzenhafte, volkstümliche Einfachheit 635

‹Dispositionen zum Seminar „Heraklit und Parmenides“ (mit Martin Heidegger)›

des Ausdrucks mit einer spekulativen Tiefe vereinigt. Doch ist zuerst hier Erfahrung zu machen.] Wir legen dem Seminar Die Fragmente der Vorsokratiker von Hermann Diels zugrunde, eine kritische Ausgabe. – Dabei ist die von Diels vorge­ nommene Reihung der Fragmente für uns nicht verbindlich – nicht daß wir eine bessere hätten –, eine andere aber, die einen Zusammenhang aufleuchten läßt. – Leitfaden auf Probe – (3) 1. Fragment (= Frg. 64 Diels) τὰ δὲ πάντα!? τὸ πᾶν und τὰ πάντα? Was ist gemeint mit τὰ πάντα??? ? = die endlichen Dinge?? Elemente und Dinge – Verhältnis von Elementen und Dingen? – Allheit und πάντα? Ist der Blitz kein Seiendes?? |(4) 2. Fragment (Diels Frg. 11) = πᾶν γὰρ ἑρπετὸν πληγῇ νέμεται??

|2. Sitzung am 23. November 1966 (1) Im Ausgang vom Frg. 64 sind wir vor die Schwierigkeit gekommen, τὰ πάντα zu erläutern – als das, worauf der Blitz steuernd sich bezieht. – Der Blitz, ein aufreißendes Licht, ein Feuer in der Momentaneität, bringt zum Vorscheinen τὰ πάντα und lenkt ihre Bewegung (ihren Wandel und Gang). Um die Frage schärfer zuzuspitzen: was oder wer sind die τὰ πάντα – sind es die Einzeldinge, die Elemente oder die Gegenbezüge? –, blicken wir voraus auf die anderen Frg. ‹Fragmente›, die τὰ πάντα nennen (schließen die Frg. ‹Fragmente› aus, ‹wo› von bestimmten „allen“ Menschen usw. die Rede ist). Es ergeben sich vornehmlich 15 Textstellen, die wir uns vergegen­ wärtigen, ohne in die nähere Auslegung einzutreten: 1.)

2.)

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Frg. 1: γινομένων γὰρ πάντων κατὰ τὸν λόγον τόνδε. Die πάντα sind als geschehende, werdende, entstehende (vergehende??) angesetzt, deren Genesis nach dem logos geschieht. | Interessante Verflechtung: die Menschen „werden“ zu Unverständigen (γίνονται) – in bezug auf den Λόγος, der das Werden und Hervorkommen des insgesamt Vielen (der πάντα) bestimmt. Frg. 7: πάντα τὰ ὄντα καπνὸς γένοιτο, … πάντα = πάντα τὰ ὄντα = [erläutert ὄντα die πάντα oder ist πάντα nur unbestimmtes Zahl­

3. Sitzung am 30. November 1966

3.) 4.) 5.) 6.) 7.) 8.) 9.) 10.) 11.) 12.) 13.) 14.) 15.)

wort inbegrifflicher Art??] Wichtig scheint mir, daß πάντα auf das Unterschiedene bezogen ist – daß auch ein Phänomen Unterschiede verhüllender Art nicht das Unterschiedensein der πάντα aufhebt: ῥῖνες ἂν διαγνοῖεν. Die πάντα – in Bewegung und sind in Unterschieden. Frg. 80: πάντα κατ᾽ ἔριν γίνονται [vergleiche Frg. 1!!?] [ἔρις und πόλεμος??] | Frg. 10: … ἐκ πάντων ἓν καὶ ἐξ ἑνὸς πάντα: [eine genesis??] Frg. 29: ἓν ἀντὶ ἁπάντων …? Frg. 30: κόσμον … ἁπάντων?? Frg. 41: ἓν τὸ σοφόν … πάντα διὰ πάντων Frg. 50: σοφόν ἐστιν ἓν πάντα εἶναι Frg. 53: πόλεμος πατήρ πάντων, πάντων βασιλεύς – ἔδειξε – ἐποίησε – Frg. 80: … καὶ γινόμενα πάντα κατ᾽ ἔριν … Frg. 90: πυρός ἀνταμοιβὴ τὰ πάντα καὶ πῦρ ἁπάντων … Frg. 100: ὥρας αἳ πάντα φέρουσι Frg. 102 [θεῷ καλὰ πάντα …] Frg. 108: Σοφόν … πάντων κεχωρισμένον Frg. 114: ξυνόν πάντων

Ergebnis: es wird immer fragwürdiger, was τὰ πάντα sind, wie sie geschehen und zum Vorschein kommen – wie der Bezug von ἓν und πάντα. |(2) Übergang zum Frg. 11 soll weiterführen in Hinsicht auf die Art und Weise, wie das himmlische Feuer des Blitzes lenkt und steuert – πᾶν γὰρ ἑρπετὸν πληγῇ νέμεται – πληγῇ = der Geißelschlag des Donners – aufjagend und treibend und zuteilend das Zugemessene – νέμεται – νέμεσις – Ist mit ἑρπετόν ein Bereich herausgegriffen – oder sagt er das insgesamt Viele, die πάντα so an, daß jegliches, was im Blitz-Feuerschein aufglänzt, – gemessen an der schnellsten und un-überholbaren Bewegung des Blitzes ein „Kriechendes“ ist??

|3. Sitzung am 30. November 1966 (1) Weitergang der Auslegung zu Frg. 11 – Weitergang besagt nicht, daß wir das Frg. 64 zureichend interpretiert hätten – das Problem hat sich verschärft, wie der Blitz – als ἓν – als Blitzschlag – den τὰ πάντα „gegenüber“ ist, ohne selbst ein Eins unter Vielem zu sein – eher schon sind die τὰ πάντα (das insgesamt-Viele) in der Helle des Blitzlichtes – πάντα und ein γίγνεσθαι πάντα und ὄντα (= Unterschiedensein) πάντα und ἔρις 637

‹Dispositionen zum Seminar „Heraklit und Parmenides“ (mit Martin Heidegger)›

πάντα und ἓν (ἐκ πάντων ἓν – ἐξ ἑνὸς πάντα) ἀντὶ (ἓν ἀντὶ πάντων) πάντα und κόσμος πάντα und σοφόν (ἓν – πάντα – εἶναι) πάντα und πόλεμος ἀνταμοιβή ὥραι – φέρειν ἓν πάντων κεχωρισμένον |Frg. 11: πᾶν γὰρ ἑρπετὸν πληγῇ νέμεται: a.) Was motiviert, dieses Fragment anzureihen? Ist darin angesprochen, wie der „Blitz steuert“ und wie er den Wandel und Gang der πάντα – ihr γένεσθαι κατὰ τὸν λόγον – κατ᾽ ἔριν lenkt? Oder ist etwas völlig Anderes damit angezielt? b.) Wir gehen zuerst von der πληγή aus, vom Schlag – der Schlag, der die Herde antreibt, der Schlag, der der Donner des Blitzes ist, der Schlag, der weidet und zuteilt, – zumißt, Platz und Gang bestim­ mend lenkt, der Schlag, der regiert, – die Weite durchhallt, in der an- und zugewie­ sen wird. c.) Das schlagend-donnernde Zuteilen – vereinigt das „Harte“ der Schick­ salsgewalt und das „Friedliche“ des Weidens, – den Schlag und die Hut, „nemesis“ und „Σοφόν“. d.) Aber bezieht sich der Donnerschlag auf τὰ πάντα?? Kein inbegrifflicher Plural? – | es sieht so aus, als würde aus den πάντα ein Feld, ein Bezirk neben anderen Bezirken herausgegrenzt – das Kriechende, SichSchlängelnde, etwa neben den anderen Feldern des Schwimmenden, des Fliegenden. Wir sind der Vermutung, daß es dennoch sich um die πάντα handelt – πᾶν ἑρπετόν = τὰ πάντα ὡς ἑρπετά!? πᾶν = jegliches, was kreucht. – Gemessen am unüberholbar schnellen Blitzschlag sind alle Gänge, alles im-Gang-sein der πάντα wie ein Kriechen. „Weiden“ ist eine vorausblickende, zusammenhaltende und auseinandersetzende Weise des Führens – und ist eine überlegene, an Einsicht in das Zumessbare überlegene Lenkung. e.) Die Gleichung: πᾶν ἑρπετόν mit den πάντα!!?? [Der Welt-Hirt selbst wird nicht genannt: | es wird nur das Betroffensein und Unterworfen­ sein der πάντα angesprochen, – das Unterworfensein dem Einen gegen­ über, das das „allein Weise“ ist und mit der πληγή zumessend lenkt]. Frg. 100 … ὥρας αἳ πάντα φέρουσιν. Der Kontext spricht von hēlios – das Blitzfeuer und der weithin hallende Donner [= die Stimme des Blitzes] sind Feuer, die kurz, momentan sind – und doch die einzigartige herrscherliche 638

4. Sitzung am 7. Dezember 1966

Weise des Feuers und seiner Stimme sehen lassen. Mit dem Hinblick auf hēlios kommt ein ständiges, aber auch sich wandelndes Feuer in den Denkblick. Die Stunden, „Zeiten“ bringen, tragen τὰ πάντα. Stunden, Zeiten nicht als gemessene, fixierte Zeitlängen in einer homogenen Zeit, vielmehr die Tages- und Jahreszeiten, die zumessend die πάντα bestimmen. |Frg. 94: hēlios – die Maße: die er setzt – oder die ihm gesetzt sind?? Hēlios, das Himmelsfeuer, untersteht der dikē und ihrer Rachemacht, welche die Verletzung des Abgrundes ahnden lässt durch die Nachtdämonen.

|4. Sitzung am 7. Dezember 1966 (1) Nach dem Frg. 100 Übergang zu Frg. 94: ὥραι = die „erfüllte Zeit“, die alle Dinge erbringt, jegliches zu seiner Zeit, zeitigend – und keine homogene Hohlform für beliebige „Inhalte“. Die Jahres-Zeiten – im Zusammenhang mit einem Feuer, das nicht plötzlich aufreißt und alles ins Gepräge schlägt – das vielmehr anhält, dauernd ist und dauernd sich wandelt durch die Stunden des Tages und des hēlios – das hervorbringt, erhält, nährt, ins Gedeihen bringt, – das himmlische Leuchtfeuer des hēlios, der Sonne, – das wachsen läßt und Zeit läßt. Dieses Sonnenfeuer und Himmelsleuchte, – die alles ausleuchtet, ver­ weilt nicht starr, sondern im Wandel am Himmelsgewölbe hin, – und ist in ihrem Gang das Zumessende und Zeitmessende. Die Sonne und die μέτρα!? Zuerst wohl die μέτρα in Gang und Lauf, die | Maße, die Zumessende sind in bezug auf die rechten Zeiten des Blühens, Reifens, – die Sonnenmaße als „gerechter“ ordnungshafter Lauf und Gang, der die Zeiten bestimmt und bringt. μέτρα = auf den Sonnenlauf bezogen. Hēlios = als maßsetzende Macht (die regiert, lenkt und steuert und „zuteilt“, weidet und hütet) hat eigene, ihm eigentümliche Maße: Aufgang, Untergang, Steigen und Fallen, Morgen–Mittag–Abend. Ist hēlios (an rechte Maße gebunden) – in einer eigenartigen Weise auch an Maße (im Sinne von Grenzmarken) gebunden? Vgl. Frg. 120: τέρματα? Endgrenzen – des Sonnenlaufes – und damit Eingrenzungen des hēlios-Bereichs (αἰθρίου Διός) – Zeus als Blitz und Zeus als hēlios. Das Phänomen der Grenzenlosigkeit der Tageshelle – Wolken – Erde – Licht und Luft – gegenüber Wasser und Erde – das Nicht-feurige!? |Hēlios und die in seinen Gang-Maßen und Grenzmarken eingegrenz­ ten Dinge – im Verhältnis von ἕν und πάντα?? 639

‹Dispositionen zum Seminar „Heraklit und Parmenides“ (mit Martin Heidegger)›

Frg. 99: Hēlios – als die Tageshelle ist grenzenlos offen, ist nicht umwandet, – dagegen τὰ ἄλλα ἄστρα = Lichter in der Nacht. Glanzpunkte am dunklen Himmelsgewölbe – oder wie der Mond in aufgehellter Nacht. Ist auch das Licht des hēlios – wenn auch im Phänomen nicht bezeugt – begrenzt – auch ein „Licht in der Nacht“?? Frg. 3: Die Sonne, die Lichtquelle, erscheint „klein“ – in der Breite eines menschlichen Fußes – das, was das Eröffnende für die Tageshelle ist, versteckt sich in ihrem eigenen Strahlbereich [wie das Sein inmitten des Seienden]. Frg. 6: Sonne neu an jedem Tage. Frg. 57: ἔστι γὰρ ἕν?? Frg. 106: Unkenntnis der φύσις des Tages – μία φύσις – |(2) In einem Zusammenfassen der hēlios- und Tag-Frg. ‹Fragmente› ver­ flechten sich mehrere Gedankenmotive. a.)

Das Himmelsfeuer hēlios verhält sich ähnlich zu allem, was durch den Sonnengang Entstehen, Aufblühen, Gedeihen hat, wie das ἕν des Blitzes zu den πάντα – hēlios gibt Sichtraum und Umriß und läßt Zeit für alles, was wächst. b.) Hēlios ist in seinem Gang durch μέτρα bestimmt, die er einzuhalten hat, – durch μέτρα, die er für die Dinge „setzt“. c.) „Er wird nicht überschreiten“ – als die Ordnung nicht einhalten – oder als Überschreitung der τέρματα?? d.) Δίκη und Ερινύες?? Schutzgottheit des Rechtes oder Hüterin der verschlossenen Erdtiefe. e.) μέτρα dreifach fragwürdig: 1) Maße des Sonnenlaufes; 2) Grenzmarken des Sonnenlaufes; 3) Grenze der übergrenzt scheinenden Helle. |f.) Sonne und Tag – bzw. Nacht. g.) Sonne – eingestellt in die eigene Helle. h.) Sonne täglich neu – und doch die selbe?? Tag und Nacht im Wechsel­ tausch enden und beginnen je die-selbe oder eine andere Sonne?? i.) φύσις des Tages, μία οὖσα – Selbigsein im phänomenal verschie­ den Scheinenden – eine Wandlung – Tag-Nacht-Wechsel im Raum des „Offenen“. (3) Weitergang von dem hēlios-Fragment zu kosmos-Fragment 30 und Frg. 124. (4) Es wird immer schwieriger, die Mannigfalt der Bezüge zusammenzuhal­ ten – nicht in vorschnellen Identifizierungen die besonderen Phänomene und Blickbahnen zu nivellieren. 640

5. Sitzung am 14. Dezember 1966

|5. Sitzung am 14. Dezember 1966 (1) Der bisherige Gang war bezogen auf zwei Frg.‹Fragmente›-Gruppen. a.) Blitz und Schlag (wo das plötzliche Feuer den πάντα gegenüberge­ stellt wird und das Verhältnis von ἕν und πάντα – als Helle und im Lichtraum Befindliches – genommen wird). ἕν ist kein Eins, das neben anderen Eins stehen könnte, – vielmehr das Eins, in dem das Vielessein der πάντα zum Aufschein kommt. b.) Das Sonnenfeuer, das die Zeiten regelt und damit die Zeiten der Dinge unter der Sonne – Sonnenfeuer und Zeitwandel (dreifache μέτρα – Sterne in der Nacht – Tag und Nacht) – (Sonnen-Reich und die Grenzen, welche die Δίκη hütet). (2) Übergang zu den Frg. ‹Fragmenten›, die thematisch von πῦρ sprechen: Frg. 30: κόσμος – vorerst zurückgestellt – und verglichen mit Frg. 124. | ἐποίησεν = hervorbringen – nicht erschaffen, vor allem nicht ex nihilo. Abwehr von Göttern und Menschen als poietischen (zum Aufschein brin­ genden) entbergenden, lichtenden Wesen – ein Aufscheinen, das nicht von solchen her zu denken ist, die selbst ihre Leuchtkraft zu Lohen haben [das menschliche Aufscheinenlassen ist nicht ἀεί, das der Götter dagegen ist immer], das Scheinen, Leuchten des Feuers [das nicht nur einbehält, auch in allem ist] – Blitz und hēlios sind bekannte Feuer in der Welt – der Blitz zuckt auf und erlischt. Die Sonne durchzieht das Himmelsgewölbe in ihrem Tageslauf, ist jeden Tag neu, steht im Wechseltausch mit der Nacht – ἦν ἀεὶ καὶ ἔστιν καὶ ἔσται ‹–› die zeitliche Aussage über etwas und dessen InderZeitsein oder die Zeit-Dimensionalität des πῦρ selbst? – was kann für ein Immerseiendes der Unterschied von „war“, „ist“ und „wird sein“ besagen? Nur dann, wenn es in diesem Immerseienden solches gibt, das nicht immer ist – und worauf | vom Immerseienden die drei temporalen Seinsaussagen möglich werden – [Vgl. Kant, „Weltmaterie und Zeit“].1 Eine harte Fügung ist, daß das πῦρ ἀείζωον verbunden wird mit ἁπτόμενον μέτρα καὶ ἀποσβεννύμενον μέτρα – [Ist das ἀείζωον kein phäno­ menaler Zug des πῦρ, wird es durch das Sichentzünden und Erlöschen als etwas dargetan, was nie untergeht (oder nur unterzugehen scheint)?] [Vgl. Frg. 16!]. Feuer – als Weltbildung: κόσμον τόνδε – vgl. dazu Frg. 124.

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‹Dispositionen zum Seminar „Heraklit und Parmenides“ (mit Martin Heidegger)›

(3) Frg. 31: πυρὸς τροπαί? Was und wie wendet sich etwas um?

ɀો Feuer

Ʌ੺ɉȽɐɐȽ πɏɄɐɒɛɏ

|(4) Frg. 76 – Das Verhältnis der „Elemente“ als ein „den Tod leben“?? (5) Frg. 98: ἀνταμοιβὴ πυρός? πάντα – πῦρ und πῦρ – πάντα. Die χρήματα – χρυσός (6) Frg. 65.

|6. Sitzung am 21. Dezember 1966 (1) Frg. 30: Wir haben begonnen, das Fragment von seiner 2. Hälfte her zu lesen: ἦν ἀεί – ἔστι – καὶ ἔσται – nicht als Zeitcharakteristik des πῦρ ἀείζωον – im Sinne des InderZeitseins, – vielmehr als die Kennzeichnung des ἀείζωον, das für das im Feuerschein Stehende und Gehende die Zeithorizonte des Gewesenen – Gegenwärtigen und Zukünftigen offenhält. Andere Deutung: κόσμος als „Subjekt“ der zweiten Satzhälfte. Glatterer Sinn: diesen Kosmos haben weder die Götter noch die Menschen hervorge­ bracht (in den Aufschein gebracht), sondern er war immer usw. – was war er immer? Ein immerlebendiges Feuer? Wird so das Feuer vom Kosmos her gedacht, so in der ersten Deutung der Kosmos vom Feuer her – |Die zweite Deutung: scheint „plausibler“!? – : das ἁπτόμενον μέτρα und ἀποσβεννύμενον μέτρα = Tag und Nacht – im gemessenen Wechsel!? [Frg. 16: das immerlebendige Feuer, das niemals untergeht!?] [ebenso das Σοφόν und der Δόγος]. Wir entscheiden uns gleichwohl für die erste Deutung. [Wenn die erste Deutung vorgezogen wird, so muß man das entzündet in Hinsicht der Maße und gelöscht in Hinsicht der Maße interpretieren 1.) als die Maße setzend für Tag und Nacht 2.) als die Maße der Dinge im Offenen, das wechselweise von Tag und Nacht erfüllt ist 3.) als die Maße setzend für das Feuer selbst (τέρματα).]2 Der κόσμος ist eingerückt in die Sicht, ein zum Vorschein Gebrachtes zu sein – als schön gefügte Ordnung – zum Vorschein bringen auch Götter und auch Menschen, wenngleich in je anderer Weise – die Götter im Weltregiment, die Menschen in der τέχνη – 642

7. Sitzung am 11. Januar 1967

[vgl. dazu Frg. 124: κάλλιστος κόσμος = der am meisten im Glanz aufscheinende Kosmos – ist wie ein hingeschütteter Dreckhaufen – die harte Kontrastierung des schönsten Kosmos gegen – wogegen? 1.) gegen das Feuer 2.) gegen das ἕν (der Nacht)]. |(2) Frg. 66: πάντα γὰρ τὸ πῦρ ἐπελθὸν κρινεῖ καὶ καταλήψεται. Dieses Fragment als „Stütze“ der ersten Deutung des Frg. 30. Vorrang des πῦρ gegenüber dem Kosmos – und nicht die Gleichsetzung von Kosmos und Feuer – (3) Frg. 31

|7. Sitzung am 11. Januar 1967 (1) Frg. 31: Die ausgezeichnete – uns jedoch noch nicht faßliche – Sonder­ stellung des πῦρ: als Κεραυνός, ἥλιος, (ὥραι) πῦρ ἀείζωον, im Verhältnis des ἕν zu den πάντα – war charakterisiert worden als ein „Steuern“, „Schlagen“ (ins Gepräge schlagen) – „weichen, zuteilen, zumessen“ – gemäß der ἔρις, gemäß dem λόγος usf. Nun ist die Rede von πυρὸς τροπαί … Es erheben sich Bedenken, ob man τροπαί mit Umwandlungen – und nicht bloß mit Um-wendungen übersetzen könne, – ob zu denken sei an eine „ἀλλοίωσις der Weltsubstanz“ – oder an Wendepunkte im Gang etwa des Sonnenfeuers [das die Zeit mißt]. Zunächst ist im Fragment die Umwende des | πῦρ ausgesagt: unsere Vorstellungen von Umwendung oder auch von Umwandlung kennen eingelaufene – und auch ausgearbeitete Denkbahnen, so z. B. ein Wesen erscheint in mannig­ fachen Verfremdungsgestalten, erscheint im scheinbar Anderen und dgl. – oder man denkt an Elementenspekulation und die Übergänge verschiedener Elemente ineinander. Hat das πῦρ die Funktion der Grundsubstanz, die verdeckt wird durch Verfremdungsgebilde? Wenn es so wäre, so würde die Struktur von ἕν und πάντα als Gegenspannung verloren gehen. Also Vorsicht und Mißtrauen in alle naheliegenden Auffassungsschemata!! Text des Fragments sagt: Umwende des Feuers zuerst zu Wasser. Das Weltfeuer wendet sich um ins Meer – Feuer → Wasser – dies ein vertrauter und |bekannter „ontischer“ Gegensatz von Feuer und Wasser. Im Kleinbereich löscht Wasser Feuer und bringt Feuer Wasser zum Verdampfen – im Umkreis der Lebewesen geschieht immerfort ein Streit von Wasser und Feuer – [aber auf dem Boden der Erde!] – im Großbereich 643

‹Dispositionen zum Seminar „Heraklit und Parmenides“ (mit Martin Heidegger)›

sind die Feuer am Himmel und das erdumgürtende Meer geschieden – löschen sich nicht aus. Das Feuer wendet zuerst in Meer, das Meer jeweils hälftig in Erde und in Gluthauch – die Erde verfließt (διαχέεται) in Meer in dem Maße, wie es zuvor Meer war (nämlich als die Hälfte, die zu Erde geworden war‹)›. Ob und wie der Gluthauch (πρηστήρ) weiter | gewendet wird, darüber wird nichts ausgesagt. Wir haben nur die Wendung von Meer in Erde (hälftig) und von Erde in Meer. Gluthauch Schema: Feuer: ĺ Meer Erde

Meer (nach dem Maß der Hälfte). Wir finden im Text nur den Wechseltausch von Wasser, Meer und Erde – das Flüssige und das Feste, was einen bekannten gegensätzlichen Unter­ schied bildet, wenden sich ineinander um. Vom πρηστήρ gibt es keine weitergehende Wendung und Wandlung, – auch keine Rückwendung. Das Unterschiedene von Erde und Meer wird rückbezogen auf eine Herkunft, auf eine stufenweise Herkunft aus dem Feuer – Stufen einer Genesis. |Wir sind in größter Verlegenheit, wenn wir nicht das Begriffsschema von Substanz und ihren modalen Zuständen anlegen können. Was ist im Fragment denkerisch erfahren oder erschaut?? Das „Tagen“ an der jonischen Küste, der Aufgang des κόσμος im Feuerschein?? (2) Die Beiziehung des Frg. 76 – das ziemlich ungesichert ist – liefert keine Bestätigung und auch keine Widerlegung der Deutungs-These. Mehrere τροπή-Reihen Feuer lebt der Erde Tod Luft lebt des Feuers Tod Wasser lebt der Luft Tod Erde lebt der Luft Tod 2.) des Feuers Tod ist der Luft Entstehung der Luft Tod ist des Wassers Entstehung |3.) der Erde Tod läßt Wasser werden des Wassers Tod läßt Luft werden und der Luft Tod läßt Feuer (wiederum) werden. 1.)

(3) Was besagt: den Tod von etwas leben?? Merkwürdigerweise verstehen wir diese „dunkle Formel“ gerade bei solchem Seienden, das weder „lebt“, noch „tot“ ist. Z. B. das Wasser behauptet sich im Löschen des Feuers, 644

8. Sitzung am 18. Januar 1967

– das Feuer im Verdunstenmachen des Wassers. Offenbar solches, das sich bestreitet, lebt den Tod des anderen, zu dem es feindlich (ἔρις-haft) sich verhält. (4) Übergang zu Frg. 90

|8. Sitzung am 18. Januar 1967 (1) Frg. 31 blieb uns „verschlossen“ – 1.) weil strittig der Plural von τροπή – 2.) Umwendung?? = Umwandlung eines Ur-Stoffes – oder Emanation einer Ur-Sache, die sich in ihren Erscheinungen als Entfremdungsgestal­ ten verdeckt?? – Mißtrauen gegen die Schemata der Emanation und der ἀλλοίωσις! – Ein Versuch, das Fragment vom Phänomen des „Tagens“ aus zu deuten (an der Küste Ioniens), bleibt in der Charakterisierung des aufgehenden Aufscheinens hinter der Aufgabe zurück, die τροπή weder als reale Umwandlung, noch als bloß ohnmächtige Beleuchtung (durch das Feuer) zu denken. (2) Beiziehen von Frg. 76. Hier treten folgende Fassungen auf: a.) Feuer lebt der Erde Tod – Luft lebt des Feuers Tod – Wasser lebt der Luft Tod – Erde lebt des Wassers Tod [also Erde → Feuer → Luft → Wasser → Erde: | wichtig scheint, daß die Vernichtung des Vorangegangenen das Entstehen des Nachfolgenden ist]. Variante Maximus: Feuer lebt der Luft Tod Luft lebt des Feuers Tod Wasser lebt der Erde Tod Erde lebt des Wassers Tod

– der stoischen Einschwärzung verdächtig wegen ἀήρ – Weitere Variante: Feuer lebt des Wassers Tod, Wasser lebt des Feuers und der Erde Tod, die Erde den des Wassers. Vgl. Frg. 36: ψυχαί?? τροπή: ψυχῇσιν – γενέσθαι ὕδωρ – θάνατος ψυχαί =? nicht Menschenseelen Vgl. Frg. 77?? | Mit den ψυχαί ein neues Gedankenmotiv, in den „Wendungen“ (des Feuers) tritt die Seele (oder die Seelen) auf. Vgl. Frg. 88: ταὐτό: ζῶν καὶ τεθνηκὸς καὶ ἐγρηγορὸς καὶ καθεῦδον καὶ νέον καὶ γηραιόν. Frg. 62 645

‹Dispositionen zum Seminar „Heraklit und Parmenides“ (mit Martin Heidegger)›

|9. Sitzung am 25. Januar 1967 Vorbemerkung: Wegen einer Reise kann Prof. Heidegger heute nicht kom­ men – er bittet, in der Textauslegung fortzufahren und wird das nächste Mal – durch das Protokoll informiert – zur Sache sich äußern. (1) Vergegenwärtigen wir uns kurz den Gedankenzug – oder besser: den Zug offener Fraglichkeiten, der uns in der letzten Stunde geführt hat: die Umwen­ dung (oder Umwendungen des Feuers) = eine Veränderung eines Urstoffes oder eine Anzielung auf das Verhältnis von ἕν und πάντα?? Im Fragment 76 die schwerfaßliche Formel ζῇ πῦρ τὸν γῆς θάνατον – diese Formel tritt im Frg. 62 auf als Kennzeichnung des Verhältnisses der Unsterblichen und der Sterblichen – offenbar nicht kosmisch, sondern auf die kosmo-logischen Lebewesen bezogen. |Oder ist die Beziehung der Unsterblichen und der Sterblichen ein Analogon der Beziehung von ἕν (πῦρ, ἥλιος, Κεραυνός) zu den πάντα?? Wird das Grundverhältnis eher säglich von seiner Spiegelung her?? Struktur: Ἀθάνατοι = Götter, – vom Tode unbedroht und doch dem Tode offen (den Menschentod schauend und im Anblick des Vergänglichen und Schwin­ denden ihrer Unvergänglichkeit und Beständigkeit gewiß). θνητοί = die Menschen, dem Tod verfallen und ihre Todgeweihtheit wissend, morituri. Die größte innerweltliche Ferne zwischen den Göttern und uns Menschen, – und doch aufeinander bezogen [auch in ihrem Seinsverständnis]. Der Unter­ schied von Unsterblichen und Sterblichen wird vom Tode her charakterisiert, ist jedoch | nicht so, wie der Unterschied von Leben und Tod selbst. Sowohl die Unsterblichen, als auch die Sterblichen „leben“. Ist das Verhältnis der Götter zu den Menschen so, wie das der Lebenden zu den Toten?? Der weitest ausgespannte Unterschied: der der Götter und Menschen, der Himmlischen und der Erdbewohner, der Un-sterblichen und der Sterb­ lichen wird verschränkt und zusammengespannt in seinen Extremen – [in Analogie zu ἕν und πάντα?????] [ἕν und τὰ πάντα sind nicht neben-einander = nicht übereinander usf. – es ist ein einzigartiges Verhältnis] Lesemöglichkeiten: Unsterbliche : Sterbliche – oder Unsterbliche Sterb­ liche?? Sie leben den Tod jener – sie sind abgestorben (oder sie sterben) das Leben jener – [Deutungen: a.) sie, die Götter, leben den Tod der | Menschen, – die Menschen sterben das Leben der Götter – b.) die Götter leben sich verglei­ chend mit den todverfallenen Sterblichen – die Menschen sind sterbend ihrer Vergänglichkeit und zugleich Un-Vergänglichkeit (in dem Eros) gewiß – und gleichen so den Göttern??‹]›

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10. Sitzung am 1. Februar 1967

Dreifaches Leben-Tod-Verhältnis: a.) Unsterbliche – Sterbliche b.) den Tod leben c.) das Leben sterben [Denken wir daran, daß das ἕν als πῦρ ἀείζωον – gegenüber den πάντα angesprochen wurde, – die πάντα – als das von den Horen Gebrachte, also Zeitweilige (d. h. nicht Immerseiende ist) – so verhalten sich ἕν und τὰ πάντα analog wie Unsterbliche und Sterbliche: am meisten verschieden und doch verspannt.] |(2) Frg. 90: Was Verspannung des gewaltigsten Unterschieds, eben des Unterschieds von Leben und Tod, bzw. des „einen Tod leben“ und „ein Leben sterben“, besagt, ist auch mit dem Wort ἀνταμοιβή genannt – (πάντα gleichbedeutend gebraucht mit ἅπαντα – wichtig in bezug auf Frg. 30 κόσμον τόνδε, τὸν αὐτὸν ἁπάντων) – das Gleichnis scheint ein Austausch von Stoffen oder von Stoffen und „Zeichen“ zu sein. Gold aber ist das Symbol des Sonnenhaften. Goldglanz des ἥλιος und der πάντα!3 (3) Frg. 88: ταὐτό = Selbigkeit (wovon gesagt: von den Unterschieden, die im Hinblick auf die Zeit ausgesagt werden: Lebendes und Totes, Wachendes und Schlafendes, Junges und Altes‹)›. Was ist das Umschlagende? Der phänomenale Umschlag – und der nichtphänomenale Umschlag zurück?? [wobei allerdings Wachen in Schlaf und Schlaf in Wachen umschlägt!!]4

|10. Sitzung am 1. Februar 1967 (1) In der letzten Stunde der Versuch, die Formel aufzubrechen: den Tod (eines anderen) leben und das Leben (eines anderen) sterben – oder in bezug darauf totsein. Frg. 62: ἀθάνατοι und θνητοί – in ihrem Gegenverhältnis vom Tod charakterisiert – das Verhalten im Verhältnis charakterisiert als ein verbales Tod-leben und Leben-sterben – unsere Deutung: Götter und Menschen als seinsverstehende Wesen, die in ihrem Selbst und Seinsverständnis aufeinan­ der zugehen und anziehen-abstoßen. Frg. 90: ἀνταμοιβή! Was mit πυρὸς τροπαί und mit „Tod leben“ und „Leben sterben“ gesagt ist, als „Wechselumsatz“ gefaßt!? ἕν (= χρυσός) – πάντα (= χρήματα). Zwei Deutungsmöglichkeiten: a.) ἐκπύρωσις und διακόσμησις b.) ἕν – οἰακίζει – τὰ πάντα.

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‹Dispositionen zum Seminar „Heraklit und Parmenides“ (mit Martin Heidegger)›

(2) Übergang zu Frg. 88: ταὐτό = Selbiges ist. (Wovon wird das Selbige ausgesagt: von dem, | was sonst offenkundige Unterschiede sind – Unter­ schiede, die nicht auf einen Bezirk zutreffen, vielmehr alles Lebende betref­ fen‹)›. Es sind drei Gruppen von Unterschieden: a.) Lebendes-Totes b.) Schlafendes-Wachendes c.) Junges-Altes Für unser gewöhnliches Verstehen hat Lebendsein, Wachsein, Jungsein einen Vorrang gegenüber Totsein, Schlafendsein, Altsein. Das Fragment spricht nicht nur gegen das gewöhnliche, den Vorrang von Lebendsein, Wachendsein, Jungsein ansetzende Meinen, – es spricht auch eine Nähe und ein Zusammengehören aus der drei Gruppen: Lebendsein verhält sich wie Wachsein und Jungsein zu Totsein, Schlafendsein und Altsein. μεταπεσόντα? Umschlagend?? Der phänomenale Umschlag: = Lebend­ sein → Totsein, Wachsein → Schlafendsein, Jungsein → Altsein. |Der Rück-Umschlag? Phänomenal nur bei Wachen und Schlaf – kehrt Totsein in Lebendigsein, Altsein in Jungsein zurück?? Von wem ist das Selbige, ταὐτό und ταῦτα ausgesagt? Von den Lebewesen, – von Göttern und Menschen – oder vom πῦρ ἀείζωον?? Handelt es sich auch hier um anthropologische Analogiebasen für das Ur-Verhältnis von ἕν und πάντα?? Frg. 26: Nacht und Licht – der Mensch „zwischen“ Nacht und Licht – Mensch als sehbegabter ist im Lichtlosen nichtsehend – Feuerzündend – licht-„anrührend“, aus dem Nächtigen ins Helle kommend – gelöscht in bezug auf die Augen – [Deutungen: a.) der Mensch träumt – b.) Mensch zündet Feuer (Feuerverwandt) – | c.) das „Zwischenwesen“ rührt an die Nacht und an das Licht, das als solches nachttilgend, nachtverzehrend ist, wie die Nacht lichttilgend, lichtlöschend ist‹]›

?

[das Licht lebt den Tod der Nacht die Nacht lebt das Sterben des Lichtes das Licht stirbt das Leben der Nacht die Nacht stirbt das Leben des Lichtes].

?

Im Leben, also lebendseiend, rührt der Mensch an den Toten im Schlaf, – schlafend leben = den Toten anrührend wachend leben = den Schlafenden anrührend anrühren?? = angrenzen oder nahekommend Frg. 27, 21

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11. Sitzung am 8. Februar 1967

|11. Sitzung am 8. Februar 1967 (1) Frg. 26: Das letzte Mal haben wir die Elemente des Fragments erörtert: a.) der Mensch als Feuer-zündendes und so zwischen Nacht und Licht geartetes Wesen – der Schlaf als Zwischen-Zustand zwischen Wach-Leben (als eigentlichem Leben) und Totsein. b.) ἅπτεσθαι = zünden, rühren an …, – (dies die Formel für „zwischensein“ zwischen den „Gegensätzen“ – ein Element des Lichtens und ein Element des Anrührens). c.) Das Verhältnis des Menschen zur „Nacht“ ist anders als das Verhältnis zum lichthaften ἕν. – Vgl. Frg. 89 (2) Frg. 27: die Menschen verhalten sich zur Zukunft – in der Weise des Vorgriffs (ἐλπίς und δόξα) – in der naiven Projektion der prae-mortalen Zustände ins Post-Mortale = in der Übertragung der „Unterschiede“ – und nicht im Loslassen aller Unterschiede. Übersetzung von δοκέουσιν mit wähnen?? |(3) Frg. 28: δοκιμώτατος = der am meisten Wissende – bezogen auf δοκέοντα (das Wißbare) – γιγνώσκει = erkennen auf das hin, was die Vielzahl der δοκέοντα auf das ἕν hin sammelt. – Daß δοκιμώτατος ganz positiv gemeint ist, geht daraus hervor, was über Δίκη gesagt wird. – Lügenschmiede = die das Viele wissen, sich im Vielen verfangen, und – implizit – sagen: πάντα = πολλά [statt πάντα-ἕν]. (4) Verhältnis der Unterschiede – ihre Verspannung und ihr Zusammenfall (teils offen, teils in einer ἁρμονία ἀφανής). Frg. 111: νοῦσος → ὑγιείη λιμός → κόρος κάματος → ἀνάπαυσις Phänomenale Verspannung – als Kontraste – im Übergang – ἀγαθόν und ἡδύ = bestimmt sich aus dem Gegenseitigen, das verlassen wird. |Frg. 126: phänomenales Übergehen der Gegensätze. Mit Frg. 8 τὸ ἀντίξουν συμφέρον – ἐκ διαφερόντων καλλίστη ἁρμονία – Kontrast als Voraussetzung des Einklangs?? Frg. 10: spricht härter: Einklang selbst nur ein Moment an der Zusam­ menstellung von Einklang-Zwieklang – Συνάψιες = keine Verschmelzung von Gegensätzlichen auf der gleichen Sachebene, vielmehr πάντα-ἕν-Bezug. Frg. 48: Einheit von Leben und Tod: „Bogen“ (nicht der Gegensatz von „Namen“ und „Werk“ – lebenserhaltende und todbringende Waffe – das Bogenhafte = die Einsbindung der Gegenstrebungen – je kräftiger die Gegenstrebung, desto mächtiger die bindende Einheit). 649

‹Dispositionen zum Seminar „Heraklit und Parmenides“ (mit Martin Heidegger)›

Frg. 51: Momente des Spruches: a.) sie verstehen nicht – wer? Die Menschen, die dem Vielen, Verschiedenen zugewandt sind, – sie verstehen nicht, wie das Auseinandergetragene ὁμολογεί mit sich selbst [wie es trotz Entzweiung eines ist]. | b.) παλίντροπος ἁρμονίη: diese Harmonie der zusammengespannten Gegenwendigkeit besteht nicht jeweils am Bogen und an der Leier – besteht im Verhältnis von Bogen (Waffe) und Leier (Fest) – und jeweils auch am Bogen selbst und an der Leier selbst. Frg. 53: πόλεμος = der Krieg, der entzweit, auseinandersetzt = πάντων πατήρ – πάντων βασιλεύς Ʌɂɍ઄ɑ ਩ɁɂɇɌɂ

Ɂɍɠɉɍɓɑ ਕɋɅɏɣπɍɓɑ

ਥπɍɜɄɐɂ ਥɉɂɓɅɚɏɍɓɑ

Götter Krieg ĺ π੺ɋɒȽ

Sklaven Menschen

Freie 

Wie verhalten sich die Menschen zu den Göttern ‹?› – (Wie Affe zu Mensch – Vgl. Frg. ‹Fragmente› 82/83) – Krieg? – der Welt – Frg. 80: der alles aussetzende Krieg ist ξυνόν.

|12. Sitzung am 15. Februar 1967 (1) Frg. 26: 1.) 2.)

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Wenn das erste ἀποθανών stehen bleibt, hat das Fragment einen „orphischen“ Sinn, der – für mich – nicht akzeptabel ist (Wiedererwe­ ckung von Toten und zwar aus deren eigener Kraft??) – ohne ἀποθανών: in der Nacht zündet sich – für sich – der Mensch ein Licht an, wenn das Sehvermögen zu ist, er schläft – eben im Traume – (??) Von woher wäre eine solche Aussage gesprochen?? Der Schläfer sieht nicht, jedoch das Traumwelt-Ich sieht – sieht Traumweltdinge und Traumwelt-Mitmenschen. Ist das „Licht“ (der Seh-Bereich) des Traumwelt-Ichs ein vom Menschen, als einzelnem, selbstgemachtes?? In dieser Deutungsversion ist – für mich – kein sinnvoller Zusam­ menhang mit dem 2. Teil des Fragments.

12. Sitzung am 15. Februar 1967

|3.) Der Mensch – als Feuerzünder (die ungeheuere Bedeutung dieser ποίησις in der Frühkultur), das Prometheische-Erbe. – Der Mensch zündet ein „Feuer in der Nacht“ – nicht ein Weltfeuer wie hēlios, der die Nacht verjagt – vgl. Frg. 99 – Wenn er wegen der Nacht, die seine ὄψεις löscht, obwohl die ὄψις als solche „offen“ ist, ein Feuer zündet, rührt er an die Lichtmacht – der Mensch ist „benachbart“ dem Feuer und der Nacht, ist Nachbar des πῦρ ἀείζωον mit seiner Macht, ein πῦρ οὐκ ἀείζωον zu zünden, und ist Nachbar der εὐφρόνη. Die Nachbarschaft zu Licht und zur Nacht wird mit dem ἅπτεται (= zünden und rühren) ausgesagt – „ans Licht / Feuer rühren“ = Feuer-zünden „an die Nacht rühren“ = als rühren an den Schlafenden und über den Schlafenden an den Toten – |an das Feuer rühren = Feuerzünden = Verstehen aus Abstand, abstän­ diges Seinsverständnis (bezogen auf ἕν-πάντα) – an Schlaf und Tod rühren = inständiges und dunkles Verstehen – „ἓν καὶ πᾶν“ – abständiges Verstehen = ontologisches Verstehen vor allem bei onti­ scher Verschiedenheit inständiges Verstehen = dunkles und kaum gegliedertes Verstehen bei ontischer Verwandtschaft [vgl. Frg. 21??] = [als Wachende stehen wir im gegenständlichen Gegen­ satz zum Tod] (2) Frg. 27 [vgl. vorige Stunde!!] (3) Frg. 28 [vgl. vorige Stunde!] (4) Frg. 18: das Fragment scheint in Widerspruch zu stehen zu Frg. 27 – dort aber war von den Menschen, von den Vielen, die Rede, die sich ver-hoffen und verirrend meinen – im Frg. 18 aber ist von einem Menschen die Rede, | eben vom Denker, der anders als die Vielen ‹ist›, sich schon abwendet von dem Vielzahligen und Vielgearteten der πάντα und bereits zuwendet dem Einen, dem ἕν – bleibt das ἕν ein ἀν-έλπιστον, so wird es auch nicht gefunden, ist ein ἀνεξερεύνητον und ein ἄπορον. Das Fragment spricht aber nicht wie Frg. 27 über den Bezug zum Tod und über das Totsein. (5) Frg. 111 (vgl. vorige Stunde).

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‹Dispositionen zum Seminar „Heraklit und Parmenides“ (mit Martin Heidegger)›

|13. Sitzung am 22. Februar 1967 (1) Frg. 27: das „Anrühren“ an den Toten (im Schlaf), von welchem in Frg. 26 die Rede war, besagt ein Verhältnis zu etwas Unbestimmtem, Unfaßli­ chem, – das aber gleichwohl von den Menschen vergeblicherweise „faßlich“ gemacht wird. [ἐλπίς – als Vorgriff ins ausstehend Künftige – δοκέουσιν = zutreffender Weise meinen]. Die Projektion der Sphäre des abgegrenzten und mannigfaltig individuierten Seienden ins „Niemandsland“ hinter dem Tode ist das zumeist vorherrschende Verhältnis. Und dagegen spricht das Frg. 27 – die Menschen reichen mit Hoffen und Zutreffendmeinen nicht in das Land hinter dem Acheron – Der Spruch wehrt ab, wehrt eine Angleichung des Totenreiches an das Land der Lebenden – und der Unterschiede ab. Kritik an der Diels-Übersetzung: „wähnen“ Vgl. dazu Frg. 28: [siehe vorige Stunde!]. 18

‹Anhang 1› Gegensätze Frg. 8 126 Frg. 10 Frg. 15 (Διόνυσος – Ἀίδης) Frg. 48 Frg. 51 54 53 / 80 πόλεμος(γενόμενα πάντα) 54 ἁρμονίη ἀφανής 57 (Tag – Nacht – eins) 67 (Gott – als Einheit der Gegensätzen) 78 79 82 83 93 οὔτε λέγει 102

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‹Anhang 2›

‹Anhang 2› Blitz → hēlios – Schlag – Horen – ἕν ↔ πάντα – πῦρ – ζωή – θάνατος – ἀθάνατον – θνητοί Gottheit – Σοφόν – Πόλεμος – ἔρις – Gott = coincidentia oppositorum Λογος – κεχωρισμένον Blinde und weltoffene Existenz des Einzelnen und der polis

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Textkritischer Apparat

I. Der Aufbau des Bandes Der vorliegende Band 11 der Eugen Fink Gesamtausgabe (= EFGA) enthält in drei Abteilungen Texte, die Fink der Interpretation der antiken Philosophie von den ionischen physiologoi bis zu Aristoteles widmet. Sie sind ein Zeugnis für seine intensive Erörterung der altgriechischen Philosophie, die sich über die Jahre 1946 bis 1967 erstreckt. Die Gedanken von Parmenides, Platon und Aristoteles stehen auch im Mittelpunkt des Werks Nachdenkliches zur ontologischen Frühgeschichte von Raum – Zeit – Bewegung (1957), das bereits in der II. Abteilung der EFGA (Ontologie – Kosmologie – Anthropologie), Band 6 publiziert wurde. Die altgriechischen Philosophen – allen voran Heraklit, wie die in dem vorliegenden Band 11 versammelten Texte zeigen – bilden für Fink zentrale Bausteine, anhand derer er in einem ständigen kritischen Umgang mit den Anfängen der metaphysischen Tradition seine eigene onto-kosmologische Fragestellung erarbeitet. Die Hauptexte des vorliegenden Bandes, in denen der Standpunkt einer philosophischen Ideengeschichte in den Vordergrund tritt, sind: (1.) die Vorlesung Grundfragen der antiken Philosophie vom Wintersemester 1947/48, (2.) das philosophische Proseminar Der Satz vom Widerspruch vom Wintersemester 1959/60 sowie (3.) das Heraklit-Seminar, das Fink im Wintersemester 1966/67 gemeinsam mit Martin Heidegger hielt. Während der zweite Text bislang unveröffentlicht geblieben ist, wurde der Text des Heraklit-Seminars mit einer kurzen Vorbemerkung von Fink selbst bereits 1970 bei Vittorio Klostermann, der Text der Grundfragen posthum von Franz-Anton Schwarz bei Königshausen & Neumann (1985) publiziert. Das in Band 11 der EFGA abgedruckte Textkorpus der Grundfragen basiert jedoch nicht nur auf dieser vorigen Veröffentlichung, sondern bezieht auch Finks Originaltyposkript der Vorlesung von 1947/48 ein. In der zweiten Abteilung („Ergänzende Texte“) des vorliegenden Bandes werden kleinere Arbeiten herausgegeben, die spezifische Aspekte der Phi­ losophien von Platon und Aristoteles zum Thema haben: der Heidelberger Vortrag „Zeit und Zeitbegriff bei Aristoteles“ vom 13. November 1963 sowie der Aufsatz „Asebeia und technē im 10. Buch der Nomoi“, der 1969 in der Festschrift für Bernhard Lakebrink – Gegenwart und Tradition. Strukturen des Denkens (Rombach, Freiburg) – erschienen ist. 655

Textkritischer Apparat

Die dritte Abteilung („Notizen und Dispositionen“) gibt das vorwiegend handschriftliche Nachlassmaterial wieder. Es umfasst sowohl vorbereitende Notizen zur Vorlesung vom WS 1947/48 und zu den oben genannten Seminaren als auch Finks Entwürfe und Aufzeichnungen im Umkreis meh­ rerer Seminarübungen zu Heraklit, Parmenides, Platon und Aristoteles, die er seit dem Beginn seiner Lehrtätigkeit in der Universität Freiburg (1946) bis in die 1960er Jahre hinein hielt. Das Material zur Vorbereitung der im ersten Teil von Band 11 edierten Lehrveranstaltungen besteht aus: (1.) einer Mappe von 182 Blättern, die mit „Beiläufiges. Zur Vorlesung über Grundfragen der antiken Philosophie“ überschrieben ist; (2.) den hand­ schriftlichen Dispositionen zum Proseminar von 1959/60 sowie (3.) Finks Dispositionen zu den einzelnen Sitzungen des Seminars über „Heraklit und Parmenides“ (so der ursprüngliche Titel des gemeinsam mit Heidegger veranstalteten Seminars vom Wintersemester 1966/67). Die übrigen hand­ schriftlichen Unterlagen zu Seminaren und Übungen Finks zur antiken Philosophie, die in mehreren Mappen im Universitätsarchiv Freiburg liegen und hier erstmals veröffentlicht werden, umfassen verschiedene Notizen bzw. Vermerke Finks, die Grundzüge seiner interpretativen Erarbeitung und Darstellung der altgriechischen philosophischen Themen durchscheinen lassen. Wo lediglich knappe Aufzeichnungen zu einigen Übungen Finks über griechische Autoren vorliegen – die vorwiegend aus einzelnen Stichwörtern, Skizzen des Inhalts eines Textes oder Zitaten bestehen –, wurde für den Abdruck in diesem Band eine Auswahl getroffen (so z. B. hinsichtlich der Notizen zu Heraklit-Seminaren aus den Sommersemestern 1950 und 1954). Alle Notizen und Dispositionen aus dem Nachlass Finks werden in chro­ nologischer Abfolge wiedergegeben. In dieser dritten Abteilung werden auch Unterlagen abgedruckt, die sich auf editorische Projekte beziehen, wie z. B. das Typoskript eines Nachworts Finks von 1946 zu einer geplanten Ausgabe der Fragmente Heraklits von Walter Bröcker. Die Veröffentlichung verschiedener Seminarnotizen, die in den Mappen 448 und 451 von Finks Nachlass hinterlegt sind und sich auf Übungen zu Aristoteles’ Nikomachische Ethik (1949–1950), Platons Nomoi (1950–1951) und Symposion (1952) beziehen, ist für Band 19 der EFGA (Metaphysik der Erziehung) geplant, in dessen Mittelpunkt der Begriff der paideia bei Platon und Aristoteles steht. Sämtliche Texte Finks wurden in der überlieferten, zu Finks Lebzeiten gültigen Rechtschreibung belassen. Auch die vielen zusammengesetzten philosophischen Termini wurden in der Form beibehalten, in der Fink sie niederschrieb. So hat er immer wieder Komposita ohne Trennstriche verwendet (z. B.: „ImRaumsein“, „InderWeltsein“, „InderZeitsein“, „Insich­ verschlossenheit“), an anderen Stellen jedoch Trennstriche eingeführt (z. B.: „In-der-Welt-sein“, „An-und-für-sich-sein“); dasselbe gilt für einzelne Aus­ drücke, die an verschiedenen Textstellen wiederkehren. „Fr.“ (manchmal 656

I. Der Aufbau des Bandes

auch „Frg.“) ist Finks Abkürzung für „Fragment“ in den Verweisen auf die nach der Edition von Hermann Diels und Walther Kranz angeführten Fragmente der Vorsokratiker (im Folgenden: DK). In seinen Typoskripten gab Fink griechische Wörter mit Großbuchstaben des lateinischen Alphabets wieder; in der vorliegenden Edition werden sie in Kleinbuchstaben und kur­ siv angeführt (mit folgenden besonderen Anpassungen in der Transliteration von griechischen Buchstaben: η = ē, ῃ = ēi, ω = ō, ῳ = ōi). Hat hingegen Fink selbst die Grundbegriffe der griechischen Philosophie in griechischer Schreibweise wiedergegeben – so regelmäßig in seinen handschriftlichen Notizen –, wurde auch hier diese Gewohnheit beibehalten. Im Fall von Zitaten von Heraklit, Parmenides, Platon und Aristoteles, die Fink in deut­ scher Übersetzung in seine Texte einführte, wurde die originale Textpassage identifiziert und in einer Endnote nach dem griechischen Originaltext zitiert. Fink pflegte in seinen Vorlesungen, Seminaren und Vorträgen sowie dem darauf bezogenen Vorbereitungsmaterial Textstellen von anderen Phi­ losophen (bisweilen frei) zu zitieren. In den hier veröffentlichten Doku­ menten werden insbesondere Zitate aus den uns überlieferten Fragmenten der Vorsokratiker (die unter der Signatur B in DK gesammelt sind), aus Platons Dialogen und Aristoteles’ Schriften, aber auch aus Werken von neuzeitlichen Philosophen (in primis Hegel) oder Gedichten von Hölderlin und Rilke angeführt. Diese Zitate werden von Fink sowohl in Typoskripten als auch in Handschriften üblicherweise in Anführungszeichen gesetzt, zumeist jedoch ohne Hinweise auf Ausgabe und Seitenzahl wiedergegeben. Wir führen in dieser Edition die Zitate von Fink so an, wie er selbst sie zitiert hat, und weisen in den textkritischen Anmerkungen auf die ursprünglichen Textstellen bzw. Quellen hin. Nur wenige Tippfehler oder fehlende Interpunktion in den Zitaten wurden stillschweigend korrigiert. In einigen Fällen war es jedoch schwierig, zu rekonstruieren, welche Ausgabe der Werke eines Autors Fink zugrunde legte. Hier wird dann auf neuere Ausgaben Bezug genommen (vgl. das „Verzeichnis der von Fink zitierten Texte“). Sätze und Textpassagen, die Fink nur in Ausschnitten zitiert hat, werden in eckigen Klammern in den Anmerkungen ergänzt. Auf die gleiche Art werden auch andere zitierte Textstellen, die Fink in seinen Typoskripten oder Notizen nicht in Anführungszeichen setzte, explizit und ausführlich in den Anmerkungen wiedergegeben. Zusätze der Herausgeber im Text – wie z. B. die Vervollständigung von abgekürzten Wörtern – wurden in spitze Klammern gesetzt. Ledig­ lich wenige Wörter, die in den handschriftlichen Notizen in abgekürzter Form erscheinen und besonders häufig vorkommen (z. B.: „u.“ statt „und“, „Mtph.“ statt „Metaphysik“), wurden stillschweigend in ergänzter Form transkribiert. Sämtliche Hervorhebungen (Unterstreichungen, Sperrungen) von einzelnen Wörtern bzw. Sätzen im Text der Typoskripte werden in 657

Textkritischer Apparat

diesem Band kursiv wiedergegeben. Von den zahlreichen Unterstreichungen in den handschriftlichen Notizen und Dispositionen wurden hier nur die von Fink besonders hervorgehobenen Wörter und Sätze durch Kursivdruck gekennzeichnet. In den textkritischen Anmerkungen sind Wörter und Text­ passagen von Fink in der Grundschrift, Anmerkungen der Herausgeber dagegen im Kursivdruck wiedergegeben. Folgende Abkürzungen werden verwendet: D = Drucktext; Ts = Typoskript; Ms = Manuskript; m. Bleist. = mit Blei­ stift; m. Rotst. = mit Rotstift; am Rd. = am Rand; gestr. = gestrichen; korrig. = korrigiert; Einf. = Einfügung; Erg. = Ergänzung; V. f. = Veränderung für; SS = Sommersemester; WS = Wintersemester.

II. Beschreibung der Texte und textkritische Anmerkungen Grundfragen der antiken Philosophie Im Wintersemester 1947/48 hielt Fink in der Universität Freiburg die Vor­ lesung Grundfragen der antiken Philosophie. Von dieser Vorlesung liegt im Universitätsarchiv Freiburg (unter der Signatur E15/110) das von Fink ange­ fertigte Typoskript vor, das bereits die Basis der Erstausgabe der Grundfragen bildete, die 1985 beim Verlag Königshausen & Neumann von Franz-Anton Schwarz herausgegeben wurde. Das originale Manuskript besteht aus 182 Seiten, die auf Papier vom Format 216 x 279 mm mit einzeiligem Zeilenab­ stand und schmalen Seitenrändern getippt und mit Tinte durchnummeriert wurden. Die maschinenschriftliche Fassung des Textes der einzelnen Vor­ lesungsstunden erfolgt nahezu durchgehend; die Aufgliederung des Vorle­ sungstextes wurde meist durch Trennungsstriche im Typoskript angezeigt. Ein „Gedankengang der Vorlesung“, der aus drei unnummerierten maschi­ nengeschriebenen Seiten besteht, geht in der Mappe dem Originaltyposkript der Vorlesung voraus und stellt sich als eine detaillierte Inhaltsangabe der Vorlesung dar. Zahlreiche Seiten des Originaltyposkripts weisen Eingriffe auf (Einfügungen, Ergänzungen, Streichungen, neue Formulierungen von Wörtern bzw. Sätzen), die von Fink mit Tinte durchgeführt wurden. Auf diese Eingriffe, die schon von dem Herausgeber der Erstausgabe aufge­ nommen wurden, wird in den textkritischen Anmerkungen hingewiesen. Ebenfalls im Archiv der Universität Freiburg befindet sich eine 293-seitige, ordentlich getippte Abschrift dieses Originals (E15/148). Der Edition der Grundfragen der antiken Philosophie im Band 11 der EFGA liegen nicht nur das Originaltyposkript sowie dessen Abschrift zugrunde, sondern auch die Ausgabe des Vorlesungstextes, die 1985 von Franz-Anton Schwarz publiziert wurde. Im vorliegenden Abdruck wurden 658

II. Beschreibung der Texte und textkritische Anmerkungen

daher einige Korrekturen bzw. Verbesserungen stillschweigend übernom­ men, welche Franz-Anton Schwarz für gelegentliche Versehen in Orthogra­ phie, Mängel in der Interpunktion sowie grammatikalische Fehler vorge­ schlagen hatte. Die seltenen Diskrepanzen zwischen dem Vorlesungstext im Typoskript (= Ts) und seinem ersten Druck (= D) werden in den folgenden textkritischen Anmerkungen angezeigt. Wie schon in der Erstausgabe wur­ den auch in der vorliegenden Ausgabe einfache zeitliche Angaben (wie z. B. „das letzte Mal“, „in der letzten Stunde“), mit denen sich Fink auf die jeweils vorangehende Vorlesungsstunde bezieht, fallengelassen und lediglich in den textkritischen Anmerkungen wiedergegeben. Der abgedruckte Text der Grundfragen behält den Charakter der uni­ versitären Vorlesung bei, die in einzelne Einheiten von ähnlicher Dauer gegliedert ist. Daher entspricht auch die hier herangezogene Aufteilung des Textes in 26 Unterkapitel der Gliederung der verschiedenen Vorlesungs­ stunden. Die Unterscheidung von fünf Teilen bzw. Kapiteln (I. Wir und die Griechen, II. Ausgang der Interpretation von der „Philosophiegeschichte“ des Aristoteles (Met. A), III. Anaximander, IV. Heraklit, V. Parmenides) ent­ spricht nicht der Textgestalt des Typoskripts, sondern dem Gedankengang der Vorlesung. Im Text der Vorlesung nimmt Fink insbesondere Bezug auf folgende Werke und Editionen: W. Bröcker, Aristoteles, 1935. H. Diels, Doxographi Graeci, 1929. H. Diels, Parmenides Lehrgedicht, 1897. H. Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, 1934–1935. F. Lassalle, Die Philosophie Herakleitos’ des Dunklen von Ephesos, 1858. E. Pfleiderer, Die Philosophie des Heraklit von Ephesus im Lichte der Mysterienidee, 1886. K. Reinhardt, Parmenides und die Geschichte der griechischen Philoso­ phie, 1916. Am Rand des Textes der vorliegenden Ausgabe wird die Originalpaginierung des Typoskripts der Vorlesung durch Zahlen in Grundschrift, die Paginie­ rung der Auflage von 1985 dagegen durch Zahlen in Schrägschrift vermerkt.

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Textkritischer Apparat 1 S. 7 Nach Gedankengang im Ts der Vorlesung || 2 S. 7 die aristotelische Interpretation der Anfänge des griechischen Denkens nicht im Ts || 3 S. 10 statt Die Vorlesung wählt zu ihrem Gegenstand im D Gegenstand unseres Nachdenkens sind (korr. nach Ts)||4 S. 10 Ts: den Römern Einf. m. Tinte||5 S. 10 Ts: wenngleich schwindende Einf. m. Tinte am Rd.||6 S. 10 statt Vorlesung über die griechische Philosophie im D Erörterung der griechischen Philosophie (korr. nach Ts) || 7 S. 11 [Hegel, Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, Werke Bd. 2, S. 182: „Die Philosophie ist ihrer Natur nach etwas Esoterisches, für sich weder für den Pöbel gemacht noch einer Zubereitung für den Pöbel fähig; sie ist nur dadurch Philosophie, daß sie dem Verstande und damit noch mehr dem gesunden Men­ schenverstande, worunter man die lokale und temporäre Beschränktheit eines Geschlechts der Men­ schen versteht, gerade entgegensetzt ist; im Verhältnis zu diesem ist an und für sich die Welt der Philosophie eine verkehrte Welt.“]||8 S. 11 statt Der Verlauf der Vorlesung soll sie versuchen, ins Recht zu setzen im D Der Verlauf des Gedankenganges soll versuchen, sie ins Recht zu setzen (korr. nach Ts) || 9 S. 12 [Nietzsche, Also sprach Zarathustra (Von alten und neuen Tafeln § 11), KSA Bd. 4, S. 254: „Ein großer Gewalt-Herr könnte kommen, ein gewitzter Unhold, der mit seiner Gnade und Ungnade alles Vergangene zwänge und zwängte: bis es ihm Brücke würde und Vorzeichen und Herold und Hahnenschrei.“] || 10 S. 14 [Hegel, Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philoso­ phie, Werke Bd. 2, S. 19f.] || 11 S. 14 statt Vorlesung im D Erörterung (korr. nach Ts) || 12 S. 15 Ts: rechte Einf. m. Tinte || 13 S. 17 [Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Einleitung, Werke Bd. 18, S. 20: „Was diese Geschichte uns darstellt, ist die Reihe der edeln Geister, die Galerie der Heroen der denkenden Vernunft, welche in Kraft dieser Vernunft in das Wesen der Dinge, der Natur und des Geistes, in das Wesen Gottes eingedrungen sind und uns den höchsten Schatz, den Schatz der Ver­ nunfterkenntnis, erarbeitet haben.“] || 14 S. 18 statt Vorlesung im D Überlegungen (korr. nach Ts) || 15 S. 18 Wir stehen bis Thema nicht im D || 16 S. 18 [Goethe, West-Östlicher Divan, Buch des Unmuts, in: Berliner Ausgabe. Poetische Werke Bd. 3, Berlin 1960, S. 64f.: „Wer nicht von dreitausend Jah­ ren / Sich weiß Rechenschaft zu geben, / Bleib’ im Dunkeln unerfahren, / Mag von Tag zu Tage leben.“] || 17 S. 18 nach haben im Ts das letzte Mal || 18 S. 20 nach Epoche im Ts usw. || 19 S. 21 Ts: nur Einf. m. Tinte || 20 S. 23 Ts: müssen Einf. m. Tinte || 21 S. 25 [Hölderlin, Hyperion, Werke und Briefe Bd. 1, S. 297: „Eines zu sein mit Allem, was lebt, in seeliger Selbstvergessenheit wiederzukehren ins All der Natur, das ist der Gipfel der Gedanken und Freuden, das ist die heilige Bergeshöhe, der Ort der ewigen Ruhe, wo der Mittag seine Schwüle und der Donner seine Stimme verliert und das kochende Meer der Woge des Kornfelds gleicht.“] || 22 S. 27 Ts: wehen V. m. Tinte f. weht || 23 S. 27 Ts: die Winde des „Archipelagus“ Einf. m. Tinte statt griechische Luft (gestr.) || 24 S. 29 Ts: tragisch durchstimmte Einf. m. Tinte || 25 S. 30 [Hegel, Einleitung in die Geschichte der Philosophie, Werke Bd. 18, S. 320: „Hier sehen wir Land; es ist kein Satz des Heraklit, den ich nicht in meine Logik aufgenommen.“] || 26 S. 30 Ts: grundsätzlich Einf. m. Tinte||27 S. 31 [Aristoteles, De anima, 431b 21: „ἡ ψυχὴ τὰ ὄντα πώς ἐστι πάντα“]|| 28 S. 34 Ts: [zu geben] Einf. m. Tinte || 29 S. 34 [Hegel, Glauben und Wissen oder Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philoso­ phie, Werke Bd. 2, S. 432: „Der reine Begriff aber oder die Unendlichkeit als der Abgrund des Nichts, worin alles Sein versinkt, muß den unendlichen Schmerz, der vorher nur in der Bildung geschichtlich und als Gefühl war, worauf die Religion der neuen Zeit beruht – das Gefühl: Gott selbst ist tot (das­ jenige, was gleichsam nur empirisch ausgesprochen war mit Pascals Ausdrücken: »la nature est telle qu´elle marque partout un Dieu perdu et dans l´homme et hors de l´homme«) –, rein als Moment,

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II. Beschreibung der Texte und textkritische Anmerkungen aber auch nicht als mehr denn als Moment der höchsten Idee bezeichnen und so dem, was etwa auch entweder moralische Vorschrift einer Aufopferung des empirischen Wesens oder der Begriff formeller Abstraktion war, eine philosophische Existenz geben und also der Philosophie die Idee der absoluten Freiheit und damit das absolute Leiden oder den spekulativen Karfreitag, der sonst historisch war, und ihn selbst in der ganzen Wahrheit und Härte seiner Gottlosigkeit wiederherstellen, aus Härte allein – weil das heitere, Ungründlichere und Einzelnere der dogmatischen Philosophien sowie der Naturreligionen verschwinden muß – die höchste Totalität in ihrem ganzen Ernst und aus ihrem tiefsten Grunde, zugleich allumfassend und in die heiterste Freiheit ihrer Gestalt auferstehen kann und muß.“] || 30 S. 40 [Platon, Phaedo, 67e: „τῷ ὄντι ἄρα, ἔφη, ὦ Σιμμία, οἱ ὀρθῶς φιλοσοφοῦντες ἀποθνῄσκειν μελετῶσι“]||31 S. 40 [Platon, Theaet., 173e–174a: „οὐδὲ γὰρ αὐτῶν ἀπέχεται τοῦ εὐδοκιμεῖν χάριν, ἀλλὰ τῷ ὄντι τὸ σῶμα μόνον ἐν τῇ πόλει κεῖται αὐτοῦ καὶ ἐπιδημεῖ, ἡ δὲ διάνοια, ταῦτα πάντα ἡγησαμένη σμικρὰ καὶ οὐδέν, ἀτιμάσασα πανταχῇ πέτεται κατὰ Πίνδαρον ‘τᾶς τε γᾶς ὑπένερθε’ καὶ τὰ ἐπίπεδα γεωμετροῦσα, ‘οὐρανοῦ θ᾽ ὕπερ’ ἀστρονομοῦσα, καὶ πᾶσαν πάντῃ φύσιν ἐρευνωμένη τῶν ὄντων ἑκάστου ὅλου, εἰς τῶν ἐγγὺς οὐδὲν αὑτὴν συγκαθιεῖσα.“] || 32 S. 40 [Platon, Theaet., 174a: „ταὐτὸν δὲ ἀρκεῖ σκῶμμα ἐπὶ πάντας ὅσοι ἐν φιλοσοφίᾳ διάγουσι.“] || 33 S. 40 [Platon, Theaet., 174a: „ὥσπερ καὶ Θαλῆν ἀστρονομοῦντα, ὦ Θεόδωρε, καὶ ἄνω βλέποντα, πεσόντα εἰς φρέαρ, Θρᾷττά τις ἐμμελὴς καὶ χαρίεσσα θεραπαινὶς ἀποσκῶψαι λέγεται ὡς τὰ μὲν ἐν οὐρανῷ προθυμοῖτο εἰδέναι, τὰ δ᾽ ἔμπροσθεν αὐτοῦ καὶ παρὰ πόδας λανθάνοι αὐτόν.“] || 34 S. 41 [Platon, Theaet., 174b: „τῷ γὰρ ὄντι τὸν τοιοῦτον ὁ μὲν πλησίον καὶ ὁ γείτων λέληθεν, οὐ μόνον ὅτι πράττει, ἀλλ᾽ ὀλίγου καὶ εἰ ἄνθρωπός ἐστιν ἤ τι ἄλλο θρέμμα: τί δέ ποτ᾽ ἐστὶν ἄνθρωπος καὶ τί τῇ τοιαύτῃ φύσει προσήκει διάφορον τῶν ἄλλων ποιεῖν ἢ πάσχειν, ζητεῖ τε καὶ πράγματ᾽ ἔχει διερευνώμενος.“] || 35 S. 42 Ts: gedacht wird Einf. m. Tinte || 36 S. 42 nach also im Ts für das nächste Mal || 37 S. 43 [Rilke, Achte Duineser Elegie, V. 38–40, in: Duineser Elegien. Die Sonette an Orpheus, S. 36: „Doch sein Sein ist ihm / unendlich, ungefaßt und ohne Blick / auf seinen Zustand, rein, so wie sein Ausblick.“] || 38 S. 43 Ts: tragend- Einf. m. Tinte || 39 S. 44 Ts: in echter Weise Einf. m. Tinte || 40 S. 44 [Aristoteles, Metaph. I (A) 988b 16: „ὅτι μὲν οὖν ὀρθῶς διώρισται περὶ τῶν αἰτίων καὶ πόσα καὶ ποῖα, μαρτυρεῖν ἐοίκασιν ἡμῖν καὶ οὗτοι πάντες, οὐ δυνάμενοι θιγεῖν ἄλλης αἰτίας.“] || Aristoteles, Frankfurt a. M.: Klostermann 1935, S. 10] || 42 S.

45 [Aristoteles,

Metaph. I (A) 980a 21: „πάντες ἄνθρωποι τοῦ εἰδέναι ὀρέγονται φύσει.“] || 43 S.

49 [Aristoteles,

41 S.

45 [Bröcker,

Metaph. I (A) 982a 14–18: „καὶ τῶν ἐπιστημῶν δὲ τὴν αὑτῆς ἕνεκεν καὶ τοῦ εἰδέναι χάριν αἱρετὴν οὖσαν μᾶλλον εἶναι σοφίαν ἢ τὴν τῶν ἀποβαινόντων ἕνεκεν, καὶ τὴν ἀρχικωτέραν τῆς ὑπηρετούσης μᾶλλον σοφίαν“] || 44 S. 50 [Aristoteles, Metaph. I (A) 982b 8–9: „ἐξ ἁπάντων οὖν τῶν εἰρημένων ἐπὶ τὴν αὐτὴν ἐπιστήμην πίπτει τὸ ζητούμενον ὄνομα: δεῖ γὰρ ταύτην τῶν πρώτων ἀρχῶν καὶ αἰτιῶν εἶναι θεωρητικήν“]|| 45 S. 51 Ts: unmittelbar Einf. m. Tinte || 46 S. 51 [Aristoteles, Metaph. I (A) 983a 26–34: „τὰ δ᾽ αἴτια λέγεται τετραχῶς, ὧν μίαν μὲν αἰτίαν φαμὲν εἶναι τὴν οὐσίαν καὶ τὸ τί ἦν εἶναι (ἀνάγεται γὰρ τὸ διὰ τί εἰς τὸν λόγον ἔσχατον, αἴτιον δὲ καὶ ἀρχὴ τὸ διὰ τί πρῶτον), ἑτέραν δὲ τὴν ὕλην καὶ τὸ ὑποκείμενον, τρίτην δὲ ὅθεν ἡ ἀρχὴ τῆς κινήσεως, τετάρτην δὲ τὴν ἀντικειμένην αἰτίαν ταύτῃ, τὸ οὗ ἕνεκα καὶ τἀγαθόν (τέλος γὰρ γενέσεως καὶ κινήσεως πάσης τοῦτ᾽ ἐστίν)“] || 47 S. 51 nach gedacht wird im Ts Das nächste Mal wollen wir versuchen, dies uns näher zu bringen. || 48 S. 53 Ts: fernen V. m. Tinte f. noch uner­ reichten (gestr.) || 49 S. 56 [Aristoteles, Metaph. 5 (Δ) 1013a 18: „πασῶν μὲν οὖν κοινὸν τῶν ἀρχῶν τὸ πρῶτον εἶναι ὅθεν ἢ ἔστιν ἢ γίγνεται ἢ γιγνώσκεται“]||50 S. 56 Ts: von woher es Einf. m. Tinte||51 S. 57 statt Wir haben im Ts Das letzte Mal haben wir || 52 S. 57 [Aristoteles, Metaph. I (A) 983a 27] || 53 S. 57 statt unserer Vorlesung im D unseres Gedankenganges (korr. nach Ts) || 54 S. 58 Anaximander nicht im Ts

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Textkritischer Apparat || 55 S. 58 Ts: immer noch Einf. m. Tinte || 56 S. 58 Ts: ungeprüfter Umgang mit Einf. m. Tinte || 57 S. 58 Ts: Eigentümer Einf. m. Tinte || 58 S. 58 Ts: Selbständiges V. m. Tinte f. Bestimmtes (gestr.) || 59 S. 59 [Aris­ toteles, Metaph. I (A) 983a 29] || 60 S. 59 [Aristoteles, Metaph. I (A) 983a 30] || 61 S. 59 [Aristoteles, Metaph. I (A) 983a 31] || 62 S. 60 [Aristoteles, Metaph. V (Δ) 1013a 17: „πασῶν μὲν οὖν κοινὸν τῶν ἀρχῶν τὸ πρῶτον εἶναι ὅθεν ἢ ἔστιν ἢ γίγνεται ἢ γιγνώσκεται“] || 63 S. 62 Ts: sich zeigenden V. m. Tinte f. wirklichen (gestr.) || 64 S. 62 [Aristoteles, Metaph. 4 (Γ) 1003a 21: „ἔστιν ἐπιστήμη τις ἣ θεωρεῖ τὸ ὂν ᾗ ὂν καὶ τὰ τούτῳ ὑπάρχοντα καθ᾽ αὑτό.“] || 65 S. 64 [Aristoteles, Metaph. 1 (A) 983b 2–13: „τῶν δὴ πρώτων φιλοσοφησάντων οἱ πλεῖστοι τὰς ἐν ὕλης εἴδει μόνας ᾠήθησαν ἀρχὰς εἶναι πάντων: ἐξ οὗ γὰρ ἔστιν ἅπαντα τὰ ὄντα καὶ ἐξ οὗ γίγνεται πρώτου καὶ εἰς ὃ φθείρεται τελευταῖον, τῆς μὲν οὐσίας ὑπομενούσης τοῖς δὲ πάθεσι μεταβαλλούσης, τοῦτο στοιχεῖον καὶ ταύτην ἀρχήν φασιν εἶναι τῶν ὄντων, καὶ διὰ τοῦτο οὔτε γίγνεσθαι οὐθὲν οἴονται οὔτε ἀπόλλυσθαι, ὡς τῆς τοιαύτης φύσεως ἀεὶ σωζομένης“] || 66 S. 66 [Aristoteles, Metaph. 1 (A) 983b 12–13: „καὶ διὰ τοῦτο οὔτε γίγνεσθαι οὐθὲν οἴονται οὔτε ἀπόλλυσθαι“] || 67 S. 67 [Aristoteles, Metaph. 1 (A) 983b 13–16: „ὥσπερ οὐδὲ τὸν Σωκράτην φαμὲν οὔτε γίγνεσθαι ἁπλῶς ὅταν γίγνηται καλὸς ἢ μουσικὸς οὔτε ἀπόλλυσθαι ὅταν ἀποβάλλῃ ταύτας τὰς ἕξεις, διὰ τὸ ὑπομένειν τὸ ὑποκείμενον τὸν Σωκράτην αὐτόν, οὕτως οὐδὲ τῶν ἄλλων οὐδέν“] || 68 S. 67 statt Vor­ lesung über die im D Erörterung der (korr. nach Ts) || 69 S. 67 Ts: unbestimmten Einf. m. Tinte || 70 S. 68 nach haben im Ts das letzte Mal vorwiegend || 71 S. 68 [Aristoteles, Metaph. I (A) 993a 15: „ψελλιζομένῃ γὰρ ἔοικεν ἡ πρώτη φιλοσοφία περὶ πάντων“] || 72 S. 69 Ts: im Bezug von Sein und Zeit Einf. m. Tinte am Rd. || 73 S. 69 nach aber im Ts das letzte Mal || 74 S. 70 Ts: phänomenal Einf. m. Tinte || 75 S. 71 Ts: neue Einf. m. Tinte || 76 S. 71 [Aristoteles, Metaph. I (A) 983a 30] || 77 S. 71 [Aristoteles, Metaph. I (A) 983a 31] || 78 S. 71 [Aristoteles, Metaph. I (A) 983a 27] || 79 S. 72 Ts: und Fingerzeig Einf. m. Tinte || 80 S. 73 [Aristoteles, Metaph. I (A) 983b 10] || 81 S. 75 Ts: wenn bis ist Einf. m. Tinte am Rd.||82 S. 75 Ts: des Menschen bis Wesens Einf. m. Tinte am Rd.||83 S. 76 nach wollen im Ts das nächste Mal || 84 S. 79 statt des einen, alles Land und alles darauf Liegende umgreifenden Wassers im D alles Umgreifenden (korr. nach Ts) || 85 S. 79 Ts: Symbol V. m. Tinte f. Bild || 86 S. 79 Statt Simplicius im Ts Simplikios (korr. nach D) || 87 S. 80 [Rilke, Die Sonette an Orpheus, XVIII, V. 5–8, in: Duineser Elegien. Die Sonette an Orpheus, S. 70] || 88 S. 83 [Aristoteles, Phys. 3 (Γ) 4 203b 13: „ἀθάνατον γὰρ καὶ ἀνώλεθρον, ὥσπερ φησὶν Ἀναξίμανδρος καὶ οἱ πλεῖστοι τῶν φυσιολόγων.“]||89 S. 84 [Anaximander, DK B 2: „ταύτην (sc. φύσιν τινὰ τοῦ ἀπείρου) ἀίδιον εἶναι καὶ ἀγήρω“] || 90 S. 86 [Goethe, Faust I, Studier­ zimmer I, V. 1338–1341: „Ich bin der Geist, der stets verneint! / Und das mit Recht; denn alles, was entsteht, / Ist wert, daß es zugrunde geht; / Drum besser wär’s, daß nichts entstünde.“] || 91 S. 86 [Aristoteles, Phys. 3 (Γ) 4 203b 7–11: „ἔτι δὲ καὶ ἀγένητον καὶ ἄφθαρτον ὡς ἀρχή τις οὖσα˙ τό τε γὰρ γενόμενον ἀνάγκη τέλος λαβεῖν, καὶ τελευτὴ πάσης ἐστὶ φθορᾶς. διὸ καθάπερ λέγομεν, οὐ ταύτης ἀρχή, ἀλλ’ αὕτη τῶν ἄλλων εἶναι δοκεῖ καὶ περιέχειν ἅπαντα καὶ πάντα κυβερνᾶν“] || 92 S. 86 [Anaxi­ mander, DK B 3: „ἀθάνατον … καὶ ἀνώλεθρον“] || 93 S. 86 [Anaximander, DK B 2: „ταύτην (sc. φύσιν τινὰ τοῦ ἀπείρου) ἀίδιον εἶναι καὶ ἀγήρω“] || 94 S. 87 statt Simplicius im Ts Simplikios (korr. nach D) || 95 S. 87 [Diels, Doxographi Graeci, S. 277] || 96 S. 87 Ts: die Berge verwittern und Einf. m. Tinte || 97 S. 89 [vgl. Themistii in Aristotelis Physica Paraphrasis, 230, 11, in: Commentaria in Aristotelem graeca, V, 2 (hg. v. H. Schenkl), Berlin 1900] || 98 S. 89 [Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Werke Bd. 18, S. 210: „Der Bestimmungen dieses Unendlichen aber sind wenige: α) Es sei das Prinzip alles Werdens und alles Vergehens; es entstehen in langen Zwischenräumen aus ihm unendliche Welten oder Götter, und vergehen wieder in dasselbe (das hat einen ganz orientalischen

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II. Beschreibung der Texte und textkritische Anmerkungen Ton).“] || 99 S. 89 Ts: obwohl bis spricht Einf. m. Tinte am Rd. || 100 S. 90 [Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA Bd. 1, S. 817f.: „Anaximander aus Milet, der erste philosophische Schriftsteller der Alten, schreibt so, wie der typische Philosoph eben schreiben wird, so lange ihm noch nicht durch befremdende Anforderungen die Unbefangenheit und die Naivetät geraubt sind: in großstilisierter Steinschrift, Satz für Satz Zeuge einer neuen Erleuchtung und Ausdruck des Verwei­ lens in erhabenen Contemplationen.“] || 101 S. 90 [Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA Bd. 1, S. 817f.: „Wenn er vielmehr in der Vielheit der entstandenen Dinge eine Summe von abzubüssenden Ungerechtigkeiten schaute, so hat er das Knäuel des tiefsinnigsten ethi­ schen Problems mit kühnem Griffe, als der erste Grieche, erhascht.“] || 102 S. 90 [Anaximander, DK B 1: „Ἀ. … ἀρχὴν … εἴρεκε τῶν ὄντων τὸ ἄπειρον … ἐξ ὧν δὲ ἡ γένεσίς ἐστι τοῖς οὖσι͵ καὶ τὴν φθορὰν εἰς ταῦτα γίνεσθαι κατὰ τὸ χρεών· διδόναι γὰρ αὐτὰ δίκην καὶ τίσιν ἀλλήλοις τῆς ἀδικίας κατὰ τὴν τοῦ χρόνου τάξιν.“] || 103 S. 91 Ts: endlichen Einf m. Tinte || 104 S. 92 vor Es im Ts Das wollen wir das nächste Mal versuchen. || 105 S. 96 nach haben im Ts das letzte Mal || 106 S. 101 nach wir im Ts das nächste Mal || 107 S. 101 Von der Interpretation bis zu Heraklit nicht im D || 108 S. 101 Ts: über Gott Einf. m. Tinte || 109 S. 104 Ts: erst nachträglich Einf. m. Tinte || 110 S. 109 [Hegel, Phänomenologie des Geistes. Vorrede, Werke Bd. 3, S. 46: „Das Wahre ist so der bacchantische Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist; und weil jedes, indem es sich absondert, ebenso unmittelbar [sich] auflöst, ist er ebenso die durch­ sichtige und einfache Ruhe.“] || 111 S. 109 nach Ephesos. im Ts Ihm wenden wir uns das nächste Mal zu||112 S. 110 [Hölderlin, „Wie wenn am Feiertage …“, Werke und Briefe, hg. v. F. Beißner und J. Schmidt, Bd. 1, S. 135: „Denn sie, sie selbst, die älter denn die Zeiten / Und über die Götter des Abends und Orients ist, / Die Natur ist jetzt mit Waffenklang erwacht, / Und hoch vom Aether bis zum Abgrund nieder / Nach festem Gesetze, wie einst, aus heiligem Chaos gezeugt, / Fühlt neu die Begeisterung sich, / Die Allerschaffende, wieder.“] || 113 S. 113 [Heraklit, DK B 92: „Σίβυλλα δὲ μαινομένῳ στόματι καθ΄ Ἡράκλειτον ἀγέλαστα καὶ ἀκαλλώπιστα καὶ ἀμύριστα φθεγγομένη χιλίων ἐτῶν ἐξικνεῖται τῇ φωνῇ διὰ τὸν θεόν.“] || 114 S. 113 [Heraklit, DK B 125a: „μὴ ἐπιλίποι ὑμᾶς πλοῦτος, Ἐφἑσιοι, ἵν̓ ἐξελέγχοισθε πονηρευόμενοι.“] || 115 S. 113 [Heraklit, DK B 121: „ἄξιον Ἐφεσίοις ἡβηδὸν ἀπάγξασθαι πᾶσι καὶ τοῖς ἀνήβοις τὴν πόλιν καταλιπεῖν, οἵτινες Ἑρμόδωρον ἄνδρα ἑωυτῶν ὀνήιστον ἐξέβαλον φάντες· ἡμέων μηδὲ εἷς ὀνήιστος ἔστω, εἰ δὲ μή, ἄλλη τε καὶ μετ̓ ἄλλων.“]||116 S. 114 [Heraklit, DK B 34: „ἀξύνετοι ἀκούσαντες κωφοῖσιν ἐοίκασι· φάτις αὐτοῖσιν μαρτυρεῖ παρεόντας ἀπεῖναι.“] || 117 S. 114 [Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA Bd. 1, S. 833] || 118 S. 114 [Nietzsche, Die Philosophie im tra­ gischen Zeitalter der Griechen, KSA Bd. 1, S. 834] || 119 S. 115 [Diogenes Laertius, IX, 14: „Ὁκόσοι τυγχάνουσιν ὄντες ἐπιχθόνιοι τῆς μὲν ἀληθηίης καὶ δικαιοπραγμοσύνης ἀπέχονται, ἀπληστίῃ δὲ καὶ δοξοκοπίῃ προσέχουσι κακῆς ἕνεκα ἀνοίης. ἐγὼ δ’ ἀμνηστίην ἔχων πάσης πονηρίης καὶ κόρον φεύγων παντὸς οἰκειούμενον φθόνῳ καὶ διὰ τὸ περιίστασθαι ὑπερηφανίην οὐκ ἂν ἀφικοίμην εἰς Περσῶν χώρην, ὀλίγοις ἀρκεόμενος κατ' ἐμὴν γνώμην.“] || 120 S. 115 Ts: rund Einf m. Tinte || 121 S. 116 [Heraklit, DK B 93: „ὁ ἄναξ οὗ τὸ μαντεῖόν ἐστι τὸ ἐν Δελφοῖς, οὔτε λέγει οὔτε κρύπτει ἀλλὰ σημαίνει.“] || 122 S. 116 [Lassalle, Die Philosophie Herakleitos’ des Dunklen von Ephesos, Berlin 1858, S. 17] || 123 S. 117 [Heraklit, DK B 64: „τὰ δὲ πὰντα οἰακίζει κεραυνός.“] || 124 S. 118 Ts: bestimmten Einf. m. Tinte || 125 S. 119 [Heraklit, DK B 11: „πᾶν γὰρ ἑρπετὸν (θεοῦ) πληγῇ νέμεται“] || 126 S. 121 [Heraklit, DK B 100: „περιόδους· ὧν ὁ ἥλιοςἐπιστάτης ὢν καὶ σκοπὸς ὁρίζειν καὶ βραβεύειν καὶ ἀναδεικνύναι καὶ ἀναφαίνειν μεταϐολὰς καὶ ὥρας αἳ πάντα φέρουσι καθ̓ Ἡράκλειτον κτλ.“] || 127 S.

122 [Heraklit,

DK B 94: „Ἥλιος γὰρ οὐχ

ὑπερϐήσεται μέτρα· εἰ δὲ μή, Ἐρινύες μιν Δίκης ἐπίκουροι ἐξευρήσουσιν.“] || 128 S. 123 [Heraklit, DK B

663

Textkritischer Apparat 30: „κόσμον τόνδε, τὸν αὐτὸν ἁπάντων, οὔτε τις θεῶν, οὔτε ἀνθρώπων ἐποίησεν, ἀλλ᾽ ἦν ἀεὶ καὶ ἔστιν καὶ ἔσται πῦρ ἀείζωον, ἁπτόμενον μέτρα καὶ ἀποσϐεννύμενον μέτρα.“] || 129 S. 123 nach schon im Ts das letzte Mal || 130 S. 123 nach Zustand im D der Welt (korr. nach Ts) || 131 S. 124 [Heraklit, DK B 76: „ζῇ πῦρ τὸν ἀέρος θάνατον καὶ ἀὴρ ζῇ τὸν πυρὸς θάνατον, ὕδωρ ζῇ τὸν γῆς θάνατον, γῆ τὸν ὕδατος.“] || 132 S. 125 [Heraklit, DK B 36: „ψυχῇσιν θάνατος ὕδωρ γενέσθαι, ὕδατι δὲ θάνατος γῆν γενέσθαι, ἐκ γῆς δὲ ὕδωρ γίνεται, ἐξ ὕδατος δὲ ψυχή.“] || 133 S. 125 [Heraklit, DK B 90: „πυρός τε ἀνταμοιϐὴ τὰ πάντα καὶ πῦρ ἁπάντων ὅκωσπερ χρυσοῦ χρήματα καὶ χρημάτων χρυσός.“] || 134 S. 125 Ts: alles fressenden Einf. m. Tinte || 135 S. 126 Ts: eigentlich Einf. m. Tinte || 136 S. 126 [Lassalle, Die Philosophie Herakleitosʼ des Dunklen von Ephesos, S. 1]||137 S. 127 Ts: Zeichen V. m. Tinte f. Symbol (gestr.)||138 S. 129 [vgl. Reinhardt, Parmenides und die Geschichte der griechischen Philosophie, S. 208f.] || 139 S. 130 [Heraklit, DK B 126: „τὰ ψυχρὰ θέρεται, θερμὸν ψύχεται, ὑγρὸν αὐαίνεται, καρφαλέον νοτίζεται.“] || 140 S. 130 [Heraklit, DK B 111: „νοῦσος ὑγιείην ἐποίησεν ἡδὺ, κακὸν ἀγαθόν, λιμὸς κόρον, κάματος ἀνάπαυσιν.“] || 141 S. 131 [Heraklit, DK B 80: „εἰδέναι δὲ χρὴ τὸν πόλεμον ἐόντα ξυνόν, καὶ δίκην ἔριν, καὶ γινόμενα πάντα κατ΄ ἔριν καὶ χρεών.“] || 142 S. 131 [Heraklit, DK B 8: „Ἡ. τὸ ἀντίξουν συμφέρον καὶ ἐκ τῶν διαφερόντων καλλίστην ἁρμονίαν“] || 143 S.

132 [Heraklit,

DK B 54: „ἁρμονίη ἀφανὴς φανερῆς κρείττων.“] ||

144 S. 133 [Heraklit, DK B 96: „νέκυες γὰρ κοπρίων ἐκβλητότεροι.“] || 145 S. 133 [vgl. Pfleiderer, Die Phi­ losophie des Heraklit von Ephesus im Lichte der Mysterienidee, Berlin 1886] || 146 S. 133 Ts: Bezugsglie­ dern V. m. Tinte f. Dingen (gestr.) || 147 S. 134 [Heraklit, DK B 15: „εἰ μὴ γὰρ Διονύσῳ πομπὴν ἐποιοῦντο καὶ ὕμνεον ᾆσμα αἰδοίοισιν, ἀναιδέστατα εἴργαστ᾽ ἄν· ὡυτὸς δὲ Ἀίδης καὶ Διόνυσος, ὅτεῳ μαίνονται καὶ ληναΐζουσιν.“] || 148 S. 134 Ts: Selbigkeit bis Harmonie“ Einfügung m. Tinte || 149 S. 136 Ts: esse = idem esse Einf. m. Tinte||150 S. 137 Ts: Man sagt, Einf. m. Tinte||151 S. 137 Ts: gültig Einf. m. Tinte||152 S. 138 nach wir im Ts das letzte Mal || 153 S. 139 [Heraklit, DK B 103: „ξυνὸν γὰρ ἀρχὴ καὶ πέρας ἐπὶ κύκλου περιφερείας.“] || 154 S. 139 [Heraklit, DK B 60: „ὁδὸς ἄνω κάτω μία καὶ ὡυτή.“] || 155 S. 139 [Heraklit, DK B 10: „συνάψιες ὅλα καὶ οὐχ ὅλα, συμφερόμενον διαφερόμενον, συνᾷδον διᾷδον, καὶ ἐκ πάντων ἓν καὶ ἐξ ἑνὸς πάντα.“] || 156 S. 140 [Heraklit, DK B 51: „οὐ ξυνιᾶσιν ὅκως διαφερόμενον ἑωυτῷ ὁμολογέει· παλίντροπος ἁρμονίη ὅκωσπερ τόξου καὶ λύρης.“] || 157 S.

141 [Platon,

Symp. 187a 4: „τὸ ἓν γάρ

φησι ‘διαφερόμενον αὐτὸ αὑτῷ συμφέρεσθαι, ὥσπερ ἁρμονίαν τόξου τε καὶ λύρας.“]||158 S. 141 [Heraklit, DK B 48: „τῷ οὖν τόξῳ ὄνομα βίος, ἔργον δὲ θάνατος.“] || 159 S. 141 [Heraklit, DK B 53: „Πόλεμος πάντων μὲν πατήρ ἐστι, πάντων δὲ βασιλεύς, καὶ τοὺς μὲν θεοὺς ἔδειξε τοὺς δὲ ἀνθρώπους, τοὺς μὲν δούλους ἐποίησε τοὺς δὲ ἐλευθέρους.“] || 160 S. 142 [Heraklit, DK B 102: „τῷ μὲν θεῷ καλά πάντα καὶ ἀγαθὰ καὶ δὶκαια, ἄνθρωποι δὲ ἅ μὲν ἄδικα ὑπειλήφασιν ἃ δὲ δίκαια.“] || 161 S. 143 Ts: Menschen und Tiere, Einf. m. Tinte am Rd. || 162 S. 144 [Heraklit, DK B 26: „ἄνθρωπος ἐν εὐφρόνῃ φάος ἅπτεται ἑαυτῷ [ἀποθανών] ἀποσβεσθείς ὄψεις, ζῶν δὲ ἅπτεται τεθνεῶτος εὕδων, [ἀποσϐεσθεὶς ὄψεις], ἐγρηγορὼς ἅπτεται εὕδοντος.“] || 163 S.

145 [Heraklit,

DK B 75: „τοὺς καθεύδοντας οἶμαι ὁ Ἡ. ἐργάτας εἶναι λέγει καὶ

συνεργοὺς τῶν ἐν τῷ κόσμῳ γινομένων.“] || 164 S. 145 [Heraklit, DK B 89: „ὁ Ἡ. φησι τοῖς ἐγρηγορόσιν ἕνα καὶ κοινὸν κόσμον εἶναι, τῶν δὲ κοιμωμένων ἕκαστον εἰς ἴδιονἀποστρέφεσθαι.“]||165 S. 146 [Heraklit, DK B 1: „τοὺς δὲ ἄλλους ἀνθρώπους λανθάνει ὁκόσα ἔγερθέντες ποιοῦσιν, ὅκωσπερ ὁκόσα εὕδοντες ἐπιλανθάνονται.“] || 166 S. 167 S.

146 [Heraklit,

146 [Heraklit,

DK B 43: „ὕβριν χρὴ σβεννύναι μᾶλλον ἢ πυρκαϊήν.“] ||

DK B 113: „ξυνόν ἐστι πᾶσι τὸ φρονέειν.“] || 168 S.

146 [Heraklit,

DK B 113:

„ἀνθρώποισι πᾶσι μέτεστι γινώσκειν ἑωυτοὺς καὶ σωφρονεῖν.“] || 169 S. 147 [Heraklit, DK B 78: „ἦθος γὰρ ἀνθρώπειον μὲν οὐκ ἔχει γνώμας, θεῖον δὲ ἔχει.“] || 170 S. 147 [Heraklit, DK B 79: „ἀνὴρ νήπιος ἤκουσε πρὸς δαίμονος ὅκωσπερ παῖς πρὸς ἀνδρός.“]||171 S. 147 [Heraklit, DK B 82: „πιθήκων ὁ κάλλιστος αἰσχρὸς

664

II. Beschreibung der Texte und textkritische Anmerkungen ἀνθρώπων γένει συμβάλλειν.“]||172 S. 147 [Heraklit, DK B 83: „ἀνθρώπων ὁ σοφώτατος πρὸς θεὸν πίθηκος φανεῖται καὶ σοφίᾳ κάλλει καὶ τοῖς ἄλλοις πᾶσιν.“]||173 S. 147 [Heraklit, DK B 67: „ὁ θεὸς ἡμέρη εὐφρόνη, χειμὼν θέρος, πόλεμος εἰρήνη, κόρος λιμός (τἀναντία ἅπαντα· οὗτος ὁ νοῦς), ἀλλοιοῦται δὲ ὅκωσπερ (πῦρ), ὁπόταν συμμιγῇ θυώμασιν ὀνομάζεται καθ΄ ἡδονὴν ἑκάστου.“] || 174 S. 148 [Heraklit, DK B 5: „οὔ τι γινώσκων θεοὺς οὐδ᾽ ἥρωας οἵτινές εἰσι.“ / „Sie kennen eben die Götter und Heroen nicht nach ihrem wahren Wesen.“] || 175 S. 148 [Heraklit, DK B 62: „ἀθάνατοι θνητοί, θνητοὶ ἀθάνατοι, ζῶντες τὸν ἐκείνων θάνατον, τὸν δὲ ἐκείνων βίον τεθνεῶτες.“] || 176 S. 148 Ts: dichten Einf. m. Tinte || 177 S. 148 [Heraklit, DK B 32: „ἓν τὸ σοφὸν μοῦνον λέγεσθαι οὐκ ἐθέλει καὶ ἐθέλει Ζηνὸς ὄνομα.“] || 178 S. 149 nach (der Zeit) im Ts Der Aufhellung des inneren Zusammenhangs dieser Begriffe sollen die nächsten Stunden gewid­ met sein. ||179 S. 150 [Heraklit, DK B 50: „οὐκ ἐμοῦ, ἀλλὰ τοῦ λόγου ἀκούσαντας ὁμολογεῖν σοφόν ἐστιν ἓν πάντα εἶναί“] || 180 S. 151 Ts: ‒ und stehen auch vor den Problemen „der eigentlichen Interpretation“ Einf. m. Tinte || 181 S. 151 Ts: allmächtiger Einf. m. Tinte || 182 S. 151 Ts: und Ergreigen Einf. m. Tinte || 183 S. 154 nach wir im Ts demnächst || 184 S. 154 statt Jetzt im Ts Heute || 185 S. 155 nach Bänke im Ts hier || 186 S. 157 nach etwa im Ts hier || 187 S. 158 [Heraklit, DK B 40: „πολυμαθίη νόον ἔχειν οὐ διδάσκει· Ἡσίοδον γὰρ ἂν ἐδίδαξε καὶ Πυθαγόρην αὖτις τε Ξενοφάνεά τε καὶ Ἑκαταῖον.“] || 188 S. 159 [Heraklit, DK B 41: „εἶναι γὰρ ἓν τὸ σοφόν, ἐπίστασθαι γνώμην, ὁτέη ἐκυβέρνησε πάντα διὰ πάντων.“] || 189 S. 161 [Heraklit, DK B 50: „διὸ δεῖ ἕπεσθαι τῷ (ξυνῷ, τουτέστι τῷ) κοινῷ· ξυνὸς γὰρ ὁ κοινός. τοῦ λόγου δὲ ἐόντος ξυνοῦ ζώουσιν οἱ πολλοὶ ὡς ἰδίαν ἔχοντες φρόνησιν.“] || 190 S. 163 [Sextus Empiricus, Adversus mathematicos, VII 130: „ἐν δὲ ἐγρηγόρσει πάλιν διὰ τῶν αἰσθητικῶν πόρων ὥσπερ διά τινων θυρίδων προκύψας καὶ τῷ περιέχοντι συμβαλὼν λογικὴν ἐνδύεται δύναμιν. ὅνπερ οὖν τρόπον οἱ ἄνθρακες πλησιάσαντες τῷ πυρὶ κατ' ἀλλοίωσιν διάπυροι γίνονται, χωρισθέντες δὲ σβέννυνται, οὕτω καὶ ἡ ἐπιξενωθεῖσα τοῖς ἡμετέροις σώμασιν ἀπὸ τοῦ περιέχοντος μοῖρα κατὰ μὲν τὸν χωρισμὸν σχεδὸν ἄλογος γίνεται, κατὰ δὲ τὴν διὰ τῶν πλείστων πόρων σύμφυσιν ὁμοιοειδὴς τῶι ὅλωι καθίσταται.“] || 191 S. 163 [Hegel, Einleitung in die Geschichte der Philosophie, Werke Bd. 18, S. 338: „Ich führe dies ausführlicher hier an; es ist eine schöne, unbefangene, kindliche Weise, von der Wahrheit wahr zu sprechen.“] || 192 S. 163 [Hegel, Einleitung in die Geschichte der Philosophie, Werke Bd. 18, S. 341f.] || 193 S. 163 Ts: faktischen Einf. m. Tinte || 194 S. 164 [Plato, Crat. 412d 3–8: „ὅσοι γὰρ ἡγοῦνται τὸ πᾶν εἶναι ἐν πορείᾳ, τὸ μὲν πολὺ αὐτοῦ ὑπολαμβάνουσιν τοιοῦτόν τι εἶναι οἷον οὐδὲν ἄλλο ἢ χωρεῖν, διὰ δὲ τούτου παντὸς εἶναί τι διεξιόν, δι᾽ οὗ πάντα τὰ γιγνόμενα γίγνεσθαι: εἶναι δὲ τάχιστον τοῦτο καὶ λεπτότατον.“] || 195 S. 164 nach wir im Ts letztes Mal||196 S. 165 [Heraklit, DK B 16: „τὸ μὴ δῦνόν ποτε πῶς ἄν τις λάθοι;“]|| 197 S. 165 [Heraklit, DK B 17: „οὐ γὰρ φρονέουσι τοιαῦτα πολλοί, ὁκοίοις ἐγκυρεῦσιν, οὐδὲ μαθόντες γινώσκουσιν, ἑωυτοῖσι δὲ δοκέουσι.“] || 198 S. 165 [Heraklit, DK B 18: „ἐὰν μὴ ἔλπηται, ἀνέλπιστον οὐκ ἐξευρήσει, ἀνεξερεύνητον ἐὸν καὶ ἄπορον.“] || 199 S. 166 [Heraklit, DK B 108: „Ἡρακλείτου. ὁκόσων λόγους ἤκουσα,οὐδεὶς ἀφικνεῖται ἐς τοῦτο, ὥστε γινώσκειν ὅτι σοφόν ἐστι πάντων κεχωρισμένον.“] || 200 S. 167 aber nicht im D (korr. nach Ts) || 201 S. 167 statt Vorlesung im D Erörterung (korr. nach Ts) || 202 S. 168 Das nächste Mal bis zeigt nicht im D || 203 S. 169 [Plato, Crat. 431b: „εἰ δὲ ῥήματα καὶ ὀνόματα ἔστιν οὕτω τιθέναι, ἀνάγκη καὶ λόγους˙ λόγοι γάρ που, ὡς ἐγᾦμαι, ἡ τούτων σύνθεσίς ἐστιν.“] || 204 S.

170 [Ioh

1: „Ἐν ἀρχὴ ἦν ὁ λόγος, καὶ ὁ λόγος ἦν πρὸς τὸν θεόν, καὶ θεὸς ἦν ὁ λόγος.“] ||

205 S. 172 [Heraklit, DK B 1: „τοῦ δὲ λόγου τοῦδ᾽ ἐόντος ἀεὶ ἀξύνετοι γίγνονται ἄνθρωποι καὶ πρόσθεν ἢ ἀκοῦσαι καὶ ἀκούσαντες τὸ πρῶτον· γινομένων γὰρ πάντων κατὰ τὸν λόγον τόνδε ἀπείροισιν ἐοίκασι, πειρώμενοι καὶ ἐπέων καὶ ἔργων τοιούτων, ὁκοίων ἐγὼ διηγεῦμαι διαιρέων ἕκαστον κατὰ φύσιν καὶ φράζων ὅκως ἔχει.“] || 206 S. 172 [Heraklit, DK B 72: „ᾧ μάλιστα διηνεκῶς ὁμιλοῦσι λόγῳ τῷ τὰ ὅλα

665

Textkritischer Apparat διοικοῦντι, τούτῳ διὰφέρονται, καὶ οἷς καθ΄ ἡμέραν ἐγκυροῦσι, ταῦτα αὐτοῖς ξένα φαίνεται.“] || 207 S. 174 [Heraklit, DK B 101: „ἐδιζησάμην ἐμεωυτόν.“] || 208 S. 174 [Heraklit, DK B 45: „ψυχῆς πείρατα ἰὼν οὐκ ἂν ἐξεύροιο, πᾶσαν ἐπιπορευόμενος ὁδόν· οὕτω βαθὺν λόγον ἔχει.“] || 209 S. 175 [Heraklit, DK B 115: „ψυχῆς ἐστι λόγος ἑαυτὸν αὔξων.“] || 210 S. 175 [Heraklit, DK B 119: „Ἡ. ἔφη ὡς ἦθος ἀνθρώπῳ δαίμων.“] || 211 S. 176 nach 21 im Ts Nach den Weihnachtsferien: || 212 S. 176 statt wir haben … versucht im Ts Die Philosophie Heraklits im Umriß ihrer wesentlichen Grundbegriffe sichtbar zu machen, haben wir in den letzten Stunden versucht || 213 S. 176 Ts: eines Lehrsystems Erg. m. Tinte am Rd || 214 S. 177 Ts: des Seienden Einf. m. Tinte || 215 S. 178 Ts: schrittweise Einf. m. Tinte || 216 S. 178 [Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, KSA Bd. 1, S. 875: „Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der Weltgeschichte: aber doch nur eine Minute.“] || 217 S. 180 Ts: formalen Einf. m. Tinte || 218 S. 180 Ts: und seßhaft gemacht Einf. m. Tinte || 219 S. 180 Ts: geschaffenen Einf. m. Tinte || 220 S. 181 [Heraklit, DK B 123: „φύσις δὲ καθ΄ Ἡράκλειτον κρύπτεσθαι φιλεῖ.“] || 221 S. 182 [Hera­ klit, DK B 57: „διδάσκαλος δὲ πλείστων Ἡσίοδος· τοῦτον ἐπίστανται πλεῖστα εἰδέναι, ὅστις ἡμέρην καὶ εὐφρόνην οὐκ ἐγίνωσκεν· ἔστι γὰρ ἕν.“]||222 S. 182 [Heraklit, DK B 60: „ὁδὸς ἄνω κάτω μία καὶ ὡυτή.“]|| 223 S. 183 [Heraklit, DK B 112: „σωφρονεῖν ἀρετὴ μεγίστη, καὶ σοφίη ἀληθέα λέγειν καὶ ποιεῖν κατὰ φύσιν ἐπαΐοντας.“] || 224 S. 184 [Heraklit, DK B 52: „αἰὼν παῖς ἐστι παίζων, πεσσεύων· παιδὸς ἡ βασιληίη.“] || 225 S. 184 Das nächste Mal bis zu Parmenides nicht im D || 226 S. 185 Ts: der Begriff der Einf. m. Tinte || 227 S. 185 [Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA Bd. 1, S. 836: „Parmen­ ides hat, wahrscheinlich erst in seinem höheren Alter, einmal einen Moment der allerreinsten, durch jede Wirklichkeit ungetrübten und völlig blutlosen Abstraktion gehabt; dieser Moment – ungrie­ chisch wie kein andrer in den zwei Jahrhunderten des tragischen Zeitalters –, dessen Erzeugnis die Lehre vom Sein ist, wurde für sein eigenes Leben zum Grenzstein, der es in zwei Perioden trennte: zugleich aber zerteilt derselbe Moment das vorsokratische Denken in zwei Hälften, deren erste die anaximandrische, deren zweite geradezu die parmenideische genannt werden mag.“] || 228 S. 186 [Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA Bd. 1, S. 844: „Einem Griechen war es damals möglich, aus der überreichen Wirklichkeit wie aus einem bloßen gaukleri­ schen Schematismus der Einbildungskräfte zu flüchten ‒ nicht etwa, wie Plato, in das Land der ewigen Ideen, in die Werkstätte des Weltenbildners, um unter den makellosen unzerbrechlichen Urformen der Dinge das Auge zu weiden ‒ sondern in die starre Todesruhe des kältesten, nichtssagenden Begriffs, des Seins.“] || 229 S. 191 nach ist im Ts ein Gedicht, || 230 S. 192 Ts: aus dem wohnlichen bis Seienden, Einf. m. Tinte||231 S. 192 nach sichten. im Ts Bei der Kürze der noch zur Verfügung stehenden Zeit mag Manches zu kurz geraten, mehr Andeutung als Ausführung sein;||232 S. 194 Ts: die Heliaden das Gesicht Einf. m. T. || 233 S. 194 [Parmenides, DK B 1 10: „εἰς φάος φάος, ὠσάμεναι κράτων ἄπο χερσὶ καλύπτρας.“]||234 S. 196 [Parmenides, DK B 1 27: „ἦ γὰρ ἀπ̓ ἀνθρώπων ἐκτὸς πάτου ἐστίν“]||235 S. 196 Ts: menschliche Einf. m. Tinte || 236 S. 197 [Parmenides, DK B 1 28–32: „Χρεὼ δέ σε πάντα πυθέσθαι ἠμὲν Ἀληθείης εὐκυκλέος ἀτρεμὲς ἦτορ ἠδὲ βροτῶν δόξας, ταῖς οὐκ ἔνι πίστις ἀληθής. Ἀλλ΄ ἔμπης καὶ ταῦτα μαθήσεαι, ὡς τὰ δοκοῦντα χρῆν δοκίμως εἶναι διὰ παντὸς πάντα περῶντα.“] || 237 S. 198 [Reinhardt, Parmenides und die Geschichte der griechischen Philosophie, S. 29] || 238 S. 201 Ts: rätselhafte Einf. m. Tinte||239 S. 202 Ts: erwachender Einf. m. Tinte||240 S. 205 [Parmenides, DK B 2 1-2: „εἰ δ̓ ἄγ̓ ἐγὼν ἐρέω, κόμισαι δὲ σὺ μῦθον ἀκούσας, αἵπερ ὁδοὶ μοῦναι διζήσιός εἰσι νοῆσαι“] || 241 S. 206 Ts: ihrerseits Einf. m. Tinte||242 S. 208 [Parmenides, DK B 3: „τὸ γὰρ αὐτὸ νοεῖν ἐστίν τε καὶ εἶναι.“]||243 S. 208 [Parmenides, DK B 4: „λεῦσσε δʼ ὅμως ἀπεόντα νόῳ παρεόντα βεβαίως· οὐ γὰρ ἀποτμήξει τὸ ἐὸν τοῦ ἐόντος ἔχεσθαι

666

II. Beschreibung der Texte und textkritische Anmerkungen οὔτε σκιδνάμενον πάντῃ πάντως κατὰ κόσμον οὔτε συνιστάμενον.“] || 244 S. 209 Ts: überhaupt nicht V. m. Tinte f. sowenig (gestr.) || 245 S. 209 Ts: spezifischen Einf. m. Tinte. || 246 S. 216 Ts: als Vergängnis Einf. m. Tinte am Rd || 247 S. 216 [Parmenides, DK B 8 21: „Τὼς γένεσις μὲν ἀπέσϐεσται καὶ ἄπυστος ὄλεθρος.“] || 248 S. 217 Ts: es ist bis Gegenwart Einf. m. Tinte am Rd || 249 S. 217 [Parmenides, DK B 8 34: „ταὐτὸν δʼ ἐστὶ νοεῖν τε καὶ οὕνεκεν ἔστι νόημα.“] || 250 S. 217 [Parmenides, DK B 8 35: „Οὐ γὰρ ἄνευ τοῦ ἐόντος, ἐν ᾧ πεφατισμένον ἐστιν, εὑρήσεις τὸ νοεῖν·“]||251 S. 217 Ts: Wir nennen bis Färben Einf. m. Tinte am Rd || 252 S. 218 [Diels, Parmenides Lehrgedicht, S. 63] || 253 S. 219 [Reinhardt, Parmenides und die Geschichte der griechischen Philosophie, S. 30] || 254 S. 220 [Parmenides, DK B 8 31-32: „Ἀλλ΄ ἔμπης καὶ ταῦτα μαθήσεαι, ὡς τὰ δοκοῦντα χρῆν δοκίμως εἶναι διὰ παντὸς πάντα περῶντα.“] || 255 S. 221 [Rein­ hardt, Parmenides und die Geschichte der griechischen Philosophie, S. 66] || 256 S. 222 Ts: Namengeber Einf. m. Tinte || 257 S. 223 Nach sonderten: im Ts (ich zitiere) || 258 S. 223 [Parmenides, DK B 8 56-59: „τῇ μὲν φλογὸς αἰθέριον πῦρ, ἤπιον ὄν, μέγ'ἐλαφρόν, ἑωυτῷ πάντοσε τωὐτόν, τῷ δ' ἑτέρῳ μὴ τωὐτόν· ἀτὰρ κἀκεῖνο κατ' αὐτό τἀντία νύκτ’ ἀδαῆ, πυκινὸν δέμας ἐμβριθές τε.“] || 259 S. 223 [Parmenides, DK B 8 60: „τόν σοι ἐγὼ διάκοσμον ἐοικότα πάντα φατίζω“]||260 S. 224 Nach Deutung im Ts , die im Einzelnen zu belegen, jetzt keine Zeit mehr ist, || 261 S. 224 Nach Umschlag: im Ts (ich zitiere) || 262 S. 224 [Par­ menides, DK B 9: „αὐτὰρ ἐπειδὴ πάντα φάος καὶ νὺξ ὀνόμασται καὶ τὰ κατὰ σφετέρας δυνάμεις ἐπὶ τοῖσί τε καὶ τοῖς, πᾶν πλέον ἐστὶν ὁμοῦ φάεος καὶ νυκτὸς ἀφάντου ἴσων ἀμφοτέρων, ἐπεὶ οὐδετέρῳ μέτα μηδέν.“] || 263 S. 225 nach ich im Ts Ihnen || 264 S. 225 statt Vorlesung war im D Erörterung intendierte (korr. nach Ts)

Der Satz vom Widerspruch Zum wissenschaftlichen Nachlass Eugen Finks gehört das maschinenge­ schriebene Protokoll des Proseminars „Der Satz vom Widerspruch“, das Fink im Wintersemester 1959/60 durchgeführt hat. Dieses Protokoll wurde von dem damaligen Assistenten Finks, Dr. Gerhard Schmidt, verfasst. Das gebundene Typoskript, das im Universitätsarchiv Freiburg unter der Signatur E15/002 hinterlegt ist, besteht aus 61 nummerierten Seiten und enthält keine Korrekturen. 1 S. 230 [Aristoteles, Metaph. IV (Γ) 1005b 19–20: „τὸ γὰρ αὐτὸ ἅμα ὑπάρχειν τε καὶ μὴ ὑπάρχειν ἀδύνατον τῷ αὐτῷ καὶ κατὰ τὸ αὐτό“] || 2 S. 233 [Hegel, Wissenschaft der Logik II, Werke Bd. 6, S. 74: „Alle Dinge sind an sich selbst widersprechend, und zwar in dem Sinne, daß dieser Satz gegen die übrigen vielmehr die Wahrheit und das Wesen der Dinge ausdrücke.“] || 3 S. 239 [Aristoteles, Metaph. V (Δ) 1013a 18–19: „πασῶν μὲν οὖν κοινὸν τῶν ἀρχῶν τὸ πρῶτον εἶναι ὅθεν ἢ ἔστιν ἢ γίγνεται ἢ γιγνώσκεται“] || 4 S. 243 [Aristoteles, Metaph. IV (Γ) 1003a 33: „τὸ δὲ ὂν λέγεται μὲν πολλαχῶς, ἀλλὰ πρὸς ἓν καὶ μίαν τινὰ φύσιν καὶ οὐχ ὁμωνύμως“] || 5 S. 243 [Aristoteles, Metaph. IV (Γ) 1005b 9–10: „προσήκει δὲ τὸν μάλιστα γνωρίζοντα περὶ ἕκαστον γένος ἔχειν λέγειν τὰς βεβαιοτάτας ἀρχὰς τοῦ πράγματος, ὥστε καὶ τὸν περὶ τῶν ὄντων ᾗ ὄντα τὰς πάντων βεβαιοτάτας.“]||6 S. 243 [Aristoteles, Metaph. IV (Γ) 1005b 11–12: „βεβαιοτάτη δ᾽ ἀρχὴ πασῶν περὶ ἣνδιαψευσθῆναι ἀδύνατον“]||7 S. 244 [Aristoteles, Metaph. IV (Γ) 1005b 19–20: „τὸ γὰρ αὐτὸ ἅμα ὑπάρχειν τε καὶ μὴ ὑπάρχειν ἀδύνατον τῷ αὐτῷ καὶ

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Textkritischer Apparat κατὰ τὸ αὐτό (καὶ ὅσα ἄλλα προσδιορισαίμεθ᾽ ἄν, ἔστω προσδιωρισμένα πρὸς τὰς λογικὰς δυσχερείας)“]|| 8 S. 247 [Aristoteles, Metaph. IV (Γ) 1005b 24–26: „ἀδύνατον γὰρ ὁντινοῦν ταὐτὸν ὑπολαμβάνειν εἶναι καὶ μὴ εἶναι, καθάπερ τινὲς οἴονται λέγειν Ἡράκλειτον. οὐκ ἔστι γὰρ ἀναγκαῖον, ἅ τις λέγει, ταῦτα καὶ ὑπολαμβάνειν∙“] || 9 S. 248 [Aristoteles, Metaph. IV (Γ) 1005b 26–30: „εἰ δὲ μὴ ἐνδέχεται ἅμα ὑπάρχειν τῷ αὐτῷ τἀναντία(προσδιωρίσθω δ᾽ ἡμῖν καὶ ταύτῃ τῇ προτάσει τὰ εἰωθότα), ἐναντία δ᾽ ἐστὶ δόξα δόξῃ ἡ τῆς ἀντιφάσεως, φανερὸν ὅτι ἀδύνατον ἅμα ὑπολαμβάνειν τὸν αὐτὸν εἶναι καὶ μὴ εἶναι τὸ αὐτό∙“] || 10 S. 249 [Aristoteles, Metaph. IV (Γ) 1005b 32: „ἅμα γὰρ ἂν ἔχοι τὰς ἐναντίας δόξας ὁ διεψευσμένος περὶ τούτου.“] || 11 S. 249 [Aristoteles, Metaph. IV (Γ) 1005b 33–34: „διὸ πάντες οἱ ἀποδεικνύντες εἰς ταύτην ἀνάγουσιν ἐσχάτην δόξαν: φύσει γὰρ ἀρχὴ καὶ τῶν ἄλλων ἀξιωμάτων αὕτη πάντων.“] || 12 S. 250 [Aristoteles, Metaph. IV (Γ) 1006a 29–30: „πρῶτον μὲν οὖν δῆλον ὡς τοῦτό γ᾽ αὐτὸ ἀληθές, ὅτι σημαίνει τὸ ὄνομα τὸ εἶναι ἢ μὴ εἶναι τοδί, ὥστ᾽ οὐκ ἂν πᾶν οὕτως καὶ οὐχ οὕτως ἔχοι.“] || 13 S. 252 [Aristoteles, Metaph. IV (Γ) 1007b 19–23: „ἔτι εἰ ἀληθεῖς αἱ ἀντιφάσεις ἅμα κατὰ τοῦ αὐτοῦ πᾶσαι, δῆλον ὡς ἅπαντα ἔσται ἕν. ἔσται γὰρ τὸ αὐτὸ καὶ τριήρης καὶ τοῖχος καὶ ἄνθρωπος, εἰ κατὰ παντός τι ἢ καταφῆσαι ἢ ἀποφῆσαι ἐνδέχεται, καθάπερ ἀνάγκη τοῖς τὸν Πρωταγόρου λέγουσι λόγον.“] || 14 S. 252 [Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke Bd. 3, S. 22: „Dies Eine Wissen, daß im Absoluten Alles gleich ist, der unterscheidenden und erfüllten oder Erfüllung suchenden und fordernden Erkenntnis entgegenzusetzen, ‒ oder sein Absolutes für die Nacht auszugeben, worin, wie man zu sagen pflegt, alle Kühe schwarz sind, ist die Naivität der Leere an Erkenntnis.“] || 15 S. 252 [Aristoteles, Metaph. IV (Γ) 1008b 7–11: „εἰ δὲ ὁμοίως ἅπαντες καὶ ψεύδονται καὶ ἀληθῆ λέγουσιν, οὔτε φθέγξασθαι οὔτ᾽ εἰπεῖν τῷ τοιούτῳ ἔσται: ἅμα γὰρ ταῦτά τε καὶ οὐ ταῦτα λέγει. εἰ δὲ μηθὲν ὑπολαμβάνει ἀλλ᾽ ὁμοίως οἴεται καὶ οὐκ οἴεται, τί ἂν διαφερόντως ἔχοι τῶν γε φυτῶν;“] || 16 S. 253 [Aristoteles, Metaph. IV (Γ) 1008b 12–24: „ὅθεν καὶ μάλιστα φανερόν ἐστιν ὅτι οὐδεὶς οὕτω διάκειται οὔτε τῶν ἄλλων οὔτε τῶν λεγόντων τὸν λόγον τοῦτον. διὰ τί γὰρ βαδίζει Μέγαράδε ἀλλ᾽ οὐχ ἡσυχάζει, οἰόμενος βαδίζειν δεῖν; οὐδ᾽ εὐθέως ἕωθεν πορεύεται εἰς φρέαρ ἢ εἰς φάραγγα, ἐὰν τύχῃ, ἀλλὰ φαίνεται εὐλαβούμενος, ὡς οὐχ ὁμοίως οἰόμενος μὴ ἀγαθὸν εἶναι τὸ ἐμπεσεῖν καὶ ἀγαθόν; δῆλον ἄρα ὅτι τὸ μὲν βέλτιον ὑπολαμβάνει τὸ δ᾽ οὐ βέλτιον. εἰ δὲ τοῦτο, καὶ τὸ μὲν ἄνθρωπον τὸ δ᾽ οὐκ ἄνθρωπον καὶ τὸ μὲν γλυκὺ τὸ δ᾽ οὐ γλυκὺ ἀνάγκη ὑπολαμβάνειν. οὐ γὰρ ἐξ ἴσου ἅπαντα ζητεῖ καὶ ὑπολαμβάνει, ὅταν οἰηθεὶς βέλτιον εἶναι τὸ πιεῖν ὕδωρ καὶ ἰδεῖν ἄνθρωπον εἶτα ζητῇ αὐτά: καίτοι ἔδει γε, εἰ ταὐτὸν ἦν ὁμοίως καὶ ἄνθρωπος καὶ οὐκ ἄνθρωπος.“]||17 S. 254 [Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 158/B 197, Werkausgabe Bd. III, S. 201: „Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung, und haben darum objektive Gültigkeit in einem synthetischen Urteile a priori.“] || 18 S. 258 [Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 151/B 190, Werkausgabe Bd. III, S. 196: „Der Satz nun: keinem Dinge kommt ein Prädikat zu, welches ihm widerspricht, heißt der Satz des Widerspruchs, und ist ein allgemeines, obzwar bloß negatives, Kriterium aller Wahrheit, gehört aber auch darum bloß in die Logik, weil er von Erkenntnissen, bloß als Erkenntnissen überhaupt, unangesehen ihres Inhalts gilt, und sagt: daß der Widerspruch sie gänzlich vernichte und aufhebe.“] || 19 S. 265 [vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik I, Werke Bd. 5, S. 82] || 20 S. 266 [vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik II, Werke Bd. 6, S. 17] || 21 S. 267 [Hegel, Wissenschaft der Logik II, Werke Bd. 6, S. 36: „Die Reflexionsbestimmungen pflegten sonst in die Form von Sätzen aufgenommen zu werden, worin von ihnen ausgesagt wurde, daß sie von allem gelten.“] || 22 S. 267 [Hegel, Wissenschaft der Logik II, Werke Bd. 6, S. 37: „Die Reflexionsbestimmungen dagegen sind nicht von qualitativer Art. Sie sind sich auf sich beziehende und damit der Bestimmtheit gegen Anderes zugleich entnommene Bestimmungen.

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II. Beschreibung der Texte und textkritische Anmerkungen Ferner indem es Bestimmtheiten sind, welche Beziehungen an sich selbst sind, so enthalten sie inso­ fern die Form des Satzes schon in sich.“] || 23 S. 267 [Hegel, Wissenschaft der Logik II, Werke Bd. 6, S. 37: „Den Reflexionsbestimmungen dagegen als in sich reflektiertem Gesetztsein liegt die Form des Satzes selbst nahe.“] || 24 S. 268 [Hegel, Wissenschaft der Logik II, Werke Bd. 6, S. 38: „Endlich aber haben die Reflexionsbestimmungen zwar die Form, sich selbst gleich und daher unbezogen auf Anderes und ohne Entgegensetzung zu sein; aber wie sich aus ihrer nähern Betrachtung ergeben wird ‒ oder wie unmittelbar an ihnen als der Identität, der Verschiedenheit, der Entgegensetzung erhellt ‒, sind sie bestimmte gegeneinander, sie sind also durch ihre Form der Reflexion, dem Übergehen und dem Widerspruche nicht entnommen. Die mehreren Sätze, die als absolute Denkgesetze aufgestellt werden, sind daher, näher betrachtet, einander entgegengesetzt, sie widersprechen einander und heben sich gegenseitig auf.“] || 25 S. 268 [Hegel, Wissenschaft der Logik II, Werke Bd. 6, S. 38: „Wenn alles identisch mit sich ist, so ist es nicht verschieden, nicht entgegengesetzt, hat keinen Grund.“] || 26 S. 268 [Hegel, Wissenschaft der Logik II, Werke Bd. 6, S. 38: „Die gedankenlose Betrachtung der­ selben zählt sie nacheinander auf, so daß sie in keiner Beziehung aufeinander erscheinen; sie hat bloß ihr Reflektiertsein in sich im Sinne, ohne ihr anderes Moment, das Gesetztsein oder ihre Bestimmtheit als solche zu beachten, welche sie in den Übergang und in ihre Negation fortreißt.“] || 27 S. 268 [Hegel, Wissenschaft der Logik II, Werke Bd. 6, S. 39: „Diese Identität mit sich ist die Unmittelbarkeit der Reflexion.“] || 28 S. 269 [Hegel, Wissenschaft der Logik II, Werke Bd. 6, S. 39: „Sie ist nicht diejenige Gleichheit mit sich, welche das Sein oder auch das Nichts ist, sondern die Gleichheit mit sich, welche als sich zur Einheit herstellende ist, nicht ein Wiederherstellen aus einem Anderen, sondern dies reine Herstellen aus und in sich selbst, die wesentliche Identität. Sie ist insofern nicht abstrakte Identität oder nicht durch ein relatives Negieren entstanden, das außerhalb ihrer vorgegangen wäre und das Unterschiedene nur von ihr abgetrennt, übrigens aber dasselbe außer ihr als seiend gelassen hätte vor wie nach.“] || 29 S. 269 [Hegel, Wissenschaft der Logik II, Werke Bd. 6, S. 40: „Der Begriff der Identität, einfache sich auf sich beziehende Negativität zu sein, ist nicht ein Produkt der äußeren Reflexion, sondern hat sich an dem Sein selbst ergeben.“] || 30 S. 269 [Hegel, Wissenschaft der Logik II, Werke Bd. 6, S. 39f.: „Man muß diese Versicherungen und Meinungen von dem, was die Vernunft tue, ganz beiseitegestellt lassen, indem sie gewissermaßen bloß historische sind und vielmehr die Betrachtung von allem, was ist, an ihm selbst zeigt, daß es in seiner Gleichheit mit sich sich ungleich und widersprechend und in seiner Verschiedenheit, in seinem Widerspruche mit sich identisch und an ihm selbst diese Bewegung des Übergehens einer dieser Bestimmungen in die andere ist, und dies darum, weil jede an ihr selbst das Gegenteil ihrer selbst ist.“]||31 S. 269 [Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, Werke Bd. 2, S. 96: „Das Absolute selbst aber ist darum die Identität der Identität und der Nichtidentität; Entgegensetzen und Einssein ist zugleich in ihm.“] || 32 S. 269 [Hegel, Wissenschaft der Logik II, Werke Bd. 6, S. 40: „Als absolute Negation ist sie die Negation, die unmittelbar sich selbst negiert, – ein Nichtsein und Unterschied, der in seinem Entstehen verschwindet, oder ein Unterscheiden, wodurch nichts unterschieden wird, sondern das unmittelbar in sich selbst zusammenfällt.“] || 33 S. 269 [Hegel, Wissenschaft der Logik II, Werke Bd. 6, S. 46]||34 S. 270 [Hegel, Wissenschaft der Logik II, Werke Bd. 6, S. 45: „Der andere Ausdruck des Satzes der Identität, A kann nicht zugleich A und Nicht-A sein, hat negative Form; er heißt der Satz des Widerspruchs.“] || 35 S. 270 [Hegel, Wissenschaft der Logik II, Werke Bd. 6, S. 74: „Alle Dinge sind an sich selbst widersprechend, und zwar in dem Sinne, daß dieser Satz gegen die übrigen vielmehr die

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Textkritischer Apparat Wahrheit und das Wesen der Dinge ausdrücke.“] || 36 S. 270 [Hegel, Wissenschaft der Logik II, Werke Bd. 6, S. 75: „Denn die Identität ihm gegenüber ist nur die Bestimmung des einfachen Unmittelbaren, des toten Seins; er aber ist die Wurzel aller Bewegung und Lebendigkeit; nur insofern etwas in sich selbst einen Widerspruch hat, bewegt es sich, hat Trieb und Tätigkeit.“]||37 S. 270 [Hegel, Wissenschaft der Logik II, Werke Bd. 6, S. 75: „Der Widerspruch wird gewöhnlich fürs erste von den Dingen, von dem Seienden und Wahren überhaupt, entfernt; es wird behauptet, daß es nichts Widersprechendes gebe.“] || 38 S. 270 [Hegel, Wissenschaft der Logik II, Werke Bd. 6, S. 75: „Er wird fürs andere dagegen in die subjektive Reflexion geschoben, die durch ihre Beziehung und Vergleichung ihn erst setze. Aber auch in dieser Reflexion sei er nicht eigentlich vorhanden, denn das Widersprechende könne nicht vorgestellt noch gedacht werden.“] || 39 S. 270 [Hegel, Wissenschaft der Logik II, Werke Bd. 6, S. 75: „Was nun die Behauptung betrifft, daß es den Widerspruch nicht gebe, daß er nicht ein Vorhandenes sei, so brauchen wir uns um eine solche Versicherung nicht zu bekümmern; eine absolute Bestimmung des Wesens muß sich in aller Erfahrung finden, in allem Wirklichen wie in jedem Begriffe.“] || 40 S. 270 [Hegel, Wissenschaft der Logik II, Werke Bd. 6, S. 76: „Man muß den alten Dialektikern die Widersprüche zugeben, die sie in der Bewegung aufzeigen, aber daraus folgt nicht, daß darum die Bewegung nicht ist, sondern vielmehr, daß die Bewegung der daseiende Widerspruch selbst ist.“] || 41 S. 271 [Hegel, Wissenschaft der Logik II, Werke Bd. 6, S. 79: „Die endlichen Dinge in ihrer gleich­ gültigen Mannigfaltigkeit sind daher überhaupt dies, widersprechend an sich selbst, in sich gebrochen zu sein und in ihren Grund zurückzugehen.“]

Heraklit (Seminar mit Martin Heidegger) Im Wintersemester 1966/67 fand an der Universität Freiburg i. Br. ein von Martin Heidegger und Eugen Fink gemeinsam veranstaltetes HeraklitSeminar statt, dessen Sitzungen von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, dem damaligen Assistenten Finks, protokolliert wurden. Eine Kopie des maschinengeschriebenen protokollierten Seminartextes befindet sich im Nachlass Finks in Freiburg (Signatur E15/24); der Titel lautet Heraklit und Parmenides, da ursprünglich vorgesehen war, auf die Auslegung Heraklits eine Auslegung des Parmenides folgen zu lassen. Der Text wurde 1970 im Verlag Vittorio Klostermann und 1986 innerhalb des Bandes 15 der Martin Heidegger Gesamtausgabe veröffentlicht. In diesem Band 15 erläutert Fried­ rich-Wilhelm von Herrmann die Entstehung dieses Seminars ausführlich in einem Nachwort. Dem Abdruck des Seminars im vorliegenden Band liegt die 1970 erschienene Fassung zugrunde, in der einige Sätze der protokollierten Originalfassung – vorwiegend philologische Ausführungen von Seminar­ teilnehmern – gestrichen und Überschriften für die 13 Seminarsitzungen hinzugefügt wurden. Wie Friedrich-Wilhelm von Herrmann in seinem Nachwort erklärt, hatte Heidegger ihn und Fink mit der Vorbereitung der 670

II. Beschreibung der Texte und textkritische Anmerkungen

Druckvorlage und der Betreuung der Drucklegung beauftragt. In dieser Fassung erschienen zudem die einleitenden Sätze Finks, die wir am Anfang des Seminartextes wiedergeben. Die im Text vorhandenen Verweise auf die Fragmente Heraklits folgen der Nummerierung der „Diels-Kranz“-Ausgabe (fünfte Auflage, 1935). 1 S. 296 [Reinhardt, „Heraklits Lehre vom Feuer“, in: Hermes 77, 1942, S. 25] || 2 S. 299 [Karl Jaspers, Die großen Philosophen, Bd. 1, München: Piper 1957, S. 634] || 3 S. 306 [Hölderlin, Der Frieden, in: Werke und Briefe, Erster Band, Vers 13–18, S. 60] || 4 S. 306 [Hölderlin, Stimme des Volks (Erste Fassung), in: Werke und Briefe, Erster Band, Vers 33–36, S. 85] || 5 S. 330 [Thrasybulos Georgiades, „Sprache als Rhythmus“ (1959), in: ders., Kleine Schriften, Tutzing: Hans Schneider 1977, 81–96] || 6 S. 330 [Thrasybulos Georgiades, Musik und Rhythmus bei den Griechen: Zum Ursprung der abendländischen Musik, Hamburg: Rowohlt 1958] || 7 S.

330 [Archilochos,

Fr. 67a (Diehl) = 128 (West)] ||

8 S. 330 [Aeschylus, Prometheus, hg. v. Martin L. West, Stuttgart: Teubner 1992, Verse 239–241: „θνητοὺς δ᾽ ἐν οἴκτῳ προθέμενος, τούτου τυχεῖν / οὐκ ἠξιώθην αὐτός, ἀλλὰ νηλεῶς / ὧδ᾽ ἐρρύθμισμαι, Ζηνὶ δυσκλεὴς θέα.“] || 9 S. 336 [Hermann Fränkel, „Die Zeitauffassung in der frühgriechischen Lite­ ratur“, in: ders., Wege und Formen frühgriechischen Denkens, München 1955, S. 1–22] ||10 S. 344 [Bruno Snell, „Die Sprache Heraklits“, in: Hermes 61 (4), 1926, S. 353–381] || 11 S. 364 [Hans Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1955] || 12 S. 366 [Felice Tocco, „Hera­ clit., fr. XXV (p. 11 Byw.)“, in: Studi italiani di filologia classica, IV, 1896, S. 5–6] || 13 S. 378 [Hölderlin, Hyperion Schicksalslied, in: Werke und Briefe, Erster Band, S. 44–45] || 14 S. 382 [Hölderlin, Mnemo­ syne. Zweite Fassung, in: Werke und Briefe, Erster Band, S. 100] || 15 S. 390 [Hölderlin, Der Rhein, in: Werke und Briefe, Erster Band, S. 150: „Es haben aber an eigner / Unsterblichkeit die Götter genug, und bedürfen / Die Himmlischen eines Dings, / So sinds Heroen und Menschen / Und Sterbliche sonst.“] || 16 S. 442 [Heidegger, Sein und Zeit, S. 219]

Zeit und Zeitbegriff bei Aristoteles Im Nachlass Eugen Finks (E15/484) befinden sich zehn maschinengeschrie­ bene Blätter im DIN A4-Format, die unter dem Titel (Zeit und Zeitbegriff bei Aristoteles) die Aufschrift „Heidelberger Vortrag 13. November 1963“ tra­ gen. Die Seitenzahlen sind mit roter Tinte eingetragen. 1 S. 447 [Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in Werke Bd. 19, S. 132: „denn er [Aristoteles] ist eins der reichsten und umfassendsten (tiefsten) wissenschaftlichen Genies gewesen, die je erschienen sind, – ein Mann, dem keine Zeit ein Gleiches an die Seite zu stellen hat.“] || 2 S. 448 [Rilke, Die neunte Elegie, V. 10–13, in: Duineser Elegien. Die Sonette an Orpheus, S. 38: „Aber weil Hiersein viel ist, und weil uns scheinbar / alles das Hiesige braucht, dieses Schwindende, das / seltsam uns angeht. Uns, die Schwindendsten.“] || 3 S. 450 sei V. mit Kugelschreiber f. ist (gestr.) || 4 S. 451 [Aristoteles, Phys. IV 10, 218a 1–2: „ἐκ δὲ τούτων καὶ ὁ ἄπειρος καὶ ὁ ἀεὶ λαμβανόμενος χρόνος σύγκειται.“] || 5 S. 452 sei V. mit Kugelschreiber f. wäre (gestr.) || 6 S. 453 [Aristoteles, Phys. IV 10, 219a

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Textkritischer Apparat 8–9: „ὤστε ἤτοι κίνησις ἢ τῆς κινήσεως τί ἐστιν ὁ χρόνος.“] || 7 S. 454 [Aristoteles, Phys. IV 10, 219a 1– 2: „τοῦτο γάρ ἐστιν ὁ χρóνος, ἀριθμὸς κινήσεως κατὰ τὸ πρóτερον καὶ ὕστερον.“] || 8 S. 457 [Aristoteles, Phys. IV 12, 221a 21–23: „εἰ γὰρ ἔσται τὸ ἔν τινι οὕτω, πάντα τὰ πράγματα ἐν ὁτῳοῦν ἔσται, καὶ ὁ οὐρανὸς ἐν τῇ κέγχρῳ· ὅτε γὰρ ἡ κέγχρος ἔστιν, ἔστι καὶ ὁ οὐρανός.“] || 9 S. 457 [Aristoteles, Phys. IV 12, 221a 30–221b 3: „καὶ πάσχει δή τι ὑπὸ τοῦ χρόνου, καθάπερ καὶ λέγειν εἰώθαμεν ὅτι κατατήκει ὁ χρόνος, καὶ γηράσκει πάνθ’ ὑπὸ τοῦ χρόνου, καὶ ἐπιλανθάνεται διὰ τὸν χρόνον, ἀλλ’ [221b] οὐ μεμάθηκεν, οὐδὲ νέον γέγονεν οὐδὲ καλόν· φθορᾶς γὰρ αἴτιος καθ' ἑαυτὸν μᾶλλον ὁ χρόνος· ἀριθμὸς γὰρ κινήσεως, ἡ δὲ κίνησις ἐξίστησιν τὸ ὑπάρχον·“] || 10 S. 458 [Aristoteles, Phys. IV 14, 223a 16–18: „ἄξιον δ’ ἐπισκέψεως καὶ πῶς ποτε ἔχει ὁ χρόνος πρὸς τὴν ψυχήν, καὶ διὰ τί ἐν παντὶ δοκεῖ εἶναι ὁ χρόνος, καὶ ἐν γῇ καὶ ἐν θαλάττῃ καὶ ἐν οὐρανῷ.“] || 11 S. 458 [Aristoteles, Phys. IV 14, 223a 21–29: „πότερον δὲ μὴ οὔσης ψυχῆς εἴη ἂν ὁ χρόνος ἢ οὔ, ἀπορήσειεν ἄν τις. ἀδυνάτου γὰρ ὄντος εἶναι τοῦ ἀριθμήσοντος ἀδύνατον καὶ ἀριθμητόν τι εἶναι, ὥστε δῆλον ὅτι οὐδ’ ἀριθμός. ἀριθμὸς γὰρ ἢ τὸ ἠριθμημένον ἢ τὸ ἀριθμητόν. εἰ δὲ μηδὲν ἄλλο πέφυκεν ἀριθμεῖν ἢ ψυχὴ καὶ ψυχῆς νοῦς, ἀδύνατον εἶναι χρόνον ψυχῆς μὴ οὔσης, ἀλλ’ ἢ τοῦτο ὅ ποτε ὂν ἔστιν ὁ χρόνος, οἷον εἰ ἐνδέχεται κίνησιν εἶναι ἄνευ ψυχῆς. τὸ δὲ πρότερον καὶ ὕστερον ἐν κινήσει ἐστίν· χρόνος δὲ ταῦτ’ ἐστὶν ᾗ ἀριθμητά ἐστιν.“]

Asebeia und technē im 10. Buch der „Nomoi“ Finks Aufsatz „Asebeia und technē im 10. Buch der Nomoi“ erschien 1969 in einem Sammelband mit dem Titel Gegenwart und Tradition. Strukturen des Denkens. Eine Festschrift für Bernhard Lakebrink (hg. v. Cornelio Fabro) im Verlag Rombach (Hamburg), S. 11–22. Für diese Festschrift zum 65. Geburtstag seines Kollegen Lakebrink wählte Fink einen Abschnitt aus seiner Vorlesung Die Erziehungsmetaphysik bei Platon und Aristoteles, die er seit dem Sommer 1952 häufig wiederholt und im WS 1967/68 letztmalig angeboten hatte. Für den vorliegenden Abdruck dieses Aufsatzes wurde auch das ursprüngliche Typoskript dieses Textes berücksichtigt, das sich unter der Signatur E15/232 im Nachlass Finks im Universitätsarchiv Freiburg befin­ det. Dieses Typoskript besteht aus 17 mit doppeltem Zeilenabstand getipp­ ten Seiten und weist wenige, mit blauem Kugelschreiber vorgenommene Korrekturen auf. Zudem wurden einige Stellen mit Schreibmaschine durch­ gestrichen. In der Mappe 232 befinden sich zudem: (1.) drei getippte num­ merierte Seiten; die erste trägt die mit Tinte notierte Aufschrift ‹Eugen Fink – Funkfassung: „Gesetz, Gottlosigkeit und Technik“. Sendung am 7. und 14. Dezember 1969 Südwestfunk, AULA›, auf der dritten wurde abschließend mit Bleistift die Aufschrift ‹Funksendungtext geht weiter mit „Asebeia und technē“› notiert; (2.) ein Blatt, das auf beiden Seiten eine mit blauem Kugelschreiber abgefasste Notiz über das Thema des technē-Begriffs in Platons Nomoi enthält; (3.) acht getippte Seiten, die die Paginierung 110

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II. Beschreibung der Texte und textkritische Anmerkungen

bis 117 tragen und aus der Vorlesung Die Erziehungsmetaphysik bei Platon und Aristoteles entnommen sind. 1 S. 469 [Plato, Leg. 10, 892c: „ταῦτ᾽ ἔσθ᾽ οὕτως ἔχοντα, ἂν ψυχήν τις ἐπιδείξῃ πρεσβυτέραν οὖσαν σώματος, ἄλλως δὲ οὐδαμῶς.“] || 2 S. 469 [Plato, Leg. 10, 892b: „δόξα δὴ καὶ ἐπιμέλεια καὶ νοῦς καὶ τέχνη καὶ νόμος σκληρῶν καὶ μαλακῶν καὶ βαρέων καὶ κούφων πρότερα ἂν εἴη: καὶ δὴ καὶ τὰ μεγάλα καὶ πρῶτα ἔργα καὶ πράξεις τέχνης ἂν γίγνοιτο, ὄντα ἐν πρώτοις, τὰ δὲ φύσει καὶ φύσις, ἣν οὐκ ὀρθῶς ἐπονομάζουσιν αὐτὸ τοῦτο, ὕστερα καὶ ἀρχόμενα ἂν ἐκ τέχνης εἴη καὶ νοῦ.“]

Heraklits Leben und Lehre Der wiedergegebene Text basiert auf der Durchschrift eines dreiseitigen Typoskripts, auf dem unter dem Titel die Aufschrift „Nachwort zu einer geplanten Ausgabe der Fragmente von W. Bröcker“ vermerkt ist. Das Projekt einer solchen Ausgabe der Heraklit-Fragmente wurde nicht realisiert. Der von Fink angefertigte Text befindet sich in der Mappe E15/277, die verschie­ dene Unterlagen aus dem Jahr 1946 versammelt, die in Zusammenhang mit Finks Antrittsvorlesung „Die Voraussetzung der Philosophie“ und dem Editionsprojekt „Lexis – Zeitschrift für Sprachphilosophie, Sprachgeschichte und Wortforschung“ (gemeinsam mit Walter Bröcker, Franz Dornseiff und Johannes Lohmann) stehen. 1 S. 474 [Anaximander, DK B 1: „ἐξ ὧν δὲ ἡ γένεσίς ἐστι τοῖς οὖσι, καὶ τὴν φθορὰν εἰς ταῦτα γίνεσθαι κατὰ τὸ χρεών· διδόναι γὰρ αὐτὰ δίκην καὶ τίσιν ἀλλήλοις τῆς ἀδικίας κατὰ τὴν τοῦ χρόνου τάξιν.“] || 2 S. 476 [Heraklit, DK B 103: „ξυνὸν γὰρ ἀρχὴ καὶ πέρας ἐπὶ κύκλου περιφερείας.“]

Notizen zur Übung „Platons Parmenides“ Zum wissenschaftlichen Nachlass Eugen Finks gehört die Mappe E15/281, die 63 Blätter umfasst, welche handschriftliche Notizen und Dispositionen Finks zur Übung Platons „Parmenides“ vom Wintersemester 1947/48 ent­ halten. Die Blätter, die von verschiedener Art und unterschiedlichem Format sind, werden durch ein gefaltetes liniertes Blatt (im A4-Format) zusam­ mengehalten, das den Titel „Zu ‚Parmenides‘ – Übung W.S. 1947/48“ trägt. Eine Notiz vermerkt das Datum 13.10.47, wahrscheinlich das Datum des Beginns der Übung. Die Notizen wurden mit Tinte und Bleistift geschrieben; lediglich eine Seite weist Unterstreichungen mit rotem Buntstift auf. Einige Notate vermerkte Fink auf beiden Seiten eines Blattes. Die Seiten wurden von Fink nicht paginiert und nicht in der Reihenfolge eingeordnet, die der Folge der Übungsstunden und der Entwicklung des von Fink interpretierten 673

Textkritischer Apparat

Werkes von Platon entspricht. Die Herausgeber haben daher versucht, die Abfolge der Notizen nach der Entwicklung der Argumente im Verlauf der Übung zu rekonstruieren. 1 S. 477 [Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke Bd. 3, S. 66] || 2 S. 481 [Vielheit selbst eine ontolog‹ische› Struktur!] am linken Rand notiert || 3 S. 482 130b mit rotem Buntstift unterstrichen || 4 S. 486 [Platon, Parmenides, 135e: „πλὴν τοῦτό γέ σου καὶ πρὸς τοῦτον ἠγάσθην εἰπόντος, ὅτι οὐκ εἴας ἐν τοῖς ὁρωμένοις οὐδὲ περὶ ταῦτα τὴν πλάνην ἐπισκοπεῖν, ἀλλὰ περὶ ἐκεῖνα ἃ μάλιστά τις ἂν λόγῳ λάβοι καὶ εἴδη ἂν ἡγήσαιτο εἶναι.“]||5 S. 487 1. Gang bis μὴ ὄν am linken Rand der Seite notiert||6 S. 487 [Platon, Parmenides, 137b: „ἢ βούλεσθε, ἐπειδήπερ δοκεῖ πραγματειώδη παιδιὰν παίζειν, ἀπ᾽ ἐμαυτοῦ ἄρξωμαι καὶ τῆς ἐμαυτοῦ ὑποθέσεως, περὶ τοῦ ἑνὸς αὐτοῦ ὑποθέμενος, εἴτε ἕν ἐστιν εἴτε μὴ ἕν, τί χρὴ συμβαίνειν;“]|| 7 S. 487 137c–142b am linken Rand der Seite notiert || 8 S. 488 [Platon, Parmenides, 139b: „ἀλλὰ μὴν τό γε μηδέποτε ἐν τῷ αὐτῷ ὂν οὔτε ἡσυχίαν ἄγει οὔθ᾽ ἕστηκεν“] || 9 S. 488 [Platon, Parmenides, 141e: „τὸ ἕν οὔτε ἕν ἐστιν οὔτε ἔστιν“] || 10 S. 489 Zwei Vorgänge bis steht am linken Rand der Seite notiert || 11 S. 492 danach horizontaler Strich über die ganze Seite || 12 S. 492 nach Ruhe horizontaler Strich über die ganze Seite|| 13 S. 494 [μέλλει!] am linken Rand der Seite notiert || 14 S. 495 [Platons Werke von F. Schlei­ ermacher, Ersten Teiles Zweiter Band, Berlin 1818, S. 169: „Denn nur so kann sowohl das Seiende recht sein, als das Nichtseiende recht nichtsein, wenn dem Seienden das Sein des Seiendseins eignet und das Nichtsein des Nichtseiendseins, wofern es vollständiglich sein soll: dem Nichtseienden aber das Nichtsein des Nichtseiend-Nichtseins und das Sein des Nichtseiendseins, wenn auch dieses, das Nichtseiendsein vollständiglich nichtsein soll […] Also da dem Seienden ein Nichtsein, und dem Nichtseienden ein Sein zukommt: so eignet auch dem Eins da es nicht ist nothwendig ein Sein, näm­ lich das des Nichtseins.“ Platon, Parmenides, 162a–b: „οὕτως γὰρ ἂν τό τε ὂν μάλιστ᾽ ἂν εἴη καὶ τὸ μὴ ὂν οὐκ ἂν εἴη, μετέχοντα τὸ μὲν ὂν οὐσίας τοῦ εἶναι ὄν, μὴ οὐσίας δὲ τοῦ μὴ εἶναι μὴ ὄν, εἰ μέλλει τελέως εἶναι, τὸ δὲ μὴ ὂν μὴ οὐσίας μὲν τοῦ μὴ εἶναι μὴ ὄν, οὐσίας δὲ τοῦ εἶναι μὴ ὄν, εἰ καὶ τὸ μὴ ὂν αὖ τελέως μὴ ἔσται […]. οὐκοῦν ἐπείπερ τῷ τε ὄντι τοῦ μὴ εἶναι καὶ τῷ μὴ ὄντι τοῦ εἶναι μέτεστι, καὶ τῷ ἑνί, ἐπειδὴ οὐκ ἔστι, τοῦ εἶναι ἀνάγκη μετεῖναι εἰς τὸ μὴ εἶναι.“] || 15 S. 495 Nichtsein am linken Rand senkrecht notiert || 16 S. 495 Nichtsein am linken Rand senkrecht notiert|| 17 S. 496 [Vgl. Platon, Parmenides, 128e– 129a] || 18 S. 497 Ӓhnlichkeit – eidos dreimal unter Steine – Pflanzen – Tiere senkrecht notiert || 19 S. 498 1) τὰ ὄντα bis Essenz! am unteren Rand des Blattes mit Bleistift notiert

Beiläufiges. Zur Vorlesung über Grundfragen der antiken Philosophie Zum wissenschaftlichen Nachlass von Eugen Fink gehört auch die Mappe E15/330. Dabei handelt es sich um einen braunen Papierumschlag, der die mit Tinte geschriebene Aufschrift „Fink / Zu: Grundfragen der antiken Philosophie (Anaximander, Heraklit, Parmenides)“ trägt und handschrift­ liche Notizen und Dispositionen zur Vorbereitung auf die gleichnamige Vorlesung enthält, die Fink im Wintersemester 1947/48 an der Universi­ tät Freiburg hielt. Die Notizen sind mit Tinte auf nummerierte Blätter Papier von unterschiedlicher Beschaffenheit und Größe niedergeschrieben 674

II. Beschreibung der Texte und textkritische Anmerkungen

(Zettel, Heftblätter, Universitätspapiere usw.); diese Blätter (insgesamt 119) wurden in ein einziges gefaltetes Blatt (im A4-Format) eingelegt, auf dem Fink „Beiläufiges. Zur Vorlesung über Grundfragen der antiken Philosophie“ vermerkt hat. Einige Seiten sind nicht durch Zahlen, sondern durch Buchstaben nummeriert und bilden isolierte Gruppen von Notizen, die ihrerseits durch gefaltete Blätter zusammengehalten sind. Die Blätter sind nicht immer in der Reihenfolge eingeordnet, die der zeitlichen Folge der Vorlesungsstunden entspricht, und gehen wahrscheinlich auf verschiedene Zeiten der Planung der Vorlesung zurück. Häufig machte Fink auf beiden Seiten eines Blattes Notizen. Nicht selten benutzte er auch den freien Rand einer bereits beschriebenen Seite, um eine Notiz wieder aufzunehmen (oder einen ganz neuen Gedanken zu for­ mulieren). Wenige Wörter sind mit rotem Buntstift unterstrichen. Auf den handgeschriebenen Notizblättern hat Fink zahlreiche Unterstreichungen vorgenommen, die ihm vermutlich als Lesehilfe dienten. Von diesen Unter­ streichungen werden im hier abgedruckten Text nur die von ihm besonders hervorgehobenen Wörter bzw. Sätze durch Kursivdruck gekennzeichnet. 1 S. 500 Der Weg bis Philosophie gestr. || 2 S. 501 Was bis Aufgabe gestr. || 3 S. 502 danach zwei horizontale Striche über die ganze Seite || 4 S. 503 Die Seiendheit bis hylē gestr. mit drei Querstrichen; danach hori­ zontaler Strich über die ganze Seite || 5 S. 503 danach horizontaler Strich über die ganze Seite || 6 S. 503 (5) Tragweite bis Anaximander gestr. || 7 S. 503 οὐσία bis Nichts gestr. || 8 S. 504 Sein und Schein gestr. || 9 S. 505 Substrat gestr. || 10 S. 505 Aufliegen bis ist am linken Blattrand geschrieben || 11 S. 505 mehrere dreimal unterstrichen || 12 S. 506 [vgl. Aristoteles, Metaph. I (A), 3 983b 6–14] || 13 S. 506 *Εἶδος bis ἀρχή ‹…› am unteren Blattrand geschrieben || 14 S.

506 [Aristoteles,

Metaph. I (A), 3 984a 8:

„Ἐμπεδοκλῆς δὲ τὰ τέτταρα, πρὸς τοῖς εἰρημένοις γῆν προστιθεῖς τέταρτον.“] || 15 S. 507 [Aristoteles, Metaph. I (A), 3 983b 6–7: „τῶν δὴ πρώτων φιλοσοφησάντων οἱ πλεῖστοι τὰς ἐν ὕλης εἴδει μόνας ᾠήθησαν ἀρχὰς εἶναι πάντων‧“] || 16 S. 507 [Aristoteles, Metaph. I (A), 3 983a 26–34: „τὰ δ’ αἴτια λέγεται τετραχῶς, ὧν μίαν μὲν αἰτίαν φαμὲν εἶναι τὴν οὐσίαν καὶ τὸ τί ἦν εἶναι (ἀνάγεται γὰρ τὸ διὰ τί εἰς τὸν λόγον ἔσχατον, αἴτιον δὲ καὶ ἀρχὴ τὸ διὰ τί πρῶτον), ἑτέραν δὲ τὴν ὕλην καὶ τὸ ὑποκείμενον, τρίτην δὲ ὅθεν ἡ ἀρχὴ τῆς κινήσεως, τετάρτην δὲ τὴν ἀντικειμένην αἰτίαν ταύτῃ, τὸ οὗ ἕνεκα καὶ τἀγαθόν (τέλος γὰρ γενέσεως καὶ κινήσεως πάσης τοῦτ̓ ἐστίν)“] || 17 S. 508 [Aristoteles, Metaph. I (A), 3 984b 11–14: „τοῦ γὰρ εὖ καὶ καλῶς τὰ μὲν ἔχειν τὰ δὲ γίγνεσθαι τῶν ὄντων ἴσως οὔτε πῦρ οὔτε γῆν οὔτ' ἄλλο τῶν τοιούτων οὐθὲν οὔτ' εἰκὸς αἴτιον εἶναι οὔτ' ἐκείνους οἰηθῆναι‧“] || 18 S. 508 [Aristoteles, Metaph. I (A), 3 984b 18–22: „φανερῶς μὲν οὖν Ἀναξαγόραν ἴσμεν ἁψάμενον τούτων τῶν λόγων, αἰτίαν δ̓ ἔχει πρότερον Ἑρμότιμος ὁ Κλαζομένιος εἰπεῖν. οἱ μὲν οὖν οὕτως ὑπολαμβάνοντες ἅμα τοῦ καλῶς τὴν αἰτίαν ἀρχὴν εἶναι τῶν ὄντων ἔθεσαν, καὶ τὴν τοιαύτην ὅθεν ἡ κίνησις ὑπάρχει τοῖς οὖσιν.“] || 19 S. 508 [Aristoteles, Metaph. I (A), 4 985a 4–10: „εἰ γάρ τις ἀκολουθοίη καὶ λαμβάνοι πρὸς τὴν διάνοιαν καὶ μὴ πρὸς ἃ ψελλίζεται λέγων Ἐμπεδοκλῆς, εὑρήσει τὴν μὲν φιλίαν αἰτίαν οὖσαν τῶν ἀγαθῶν τὸ δὲ νεῖκος τῶν κακῶν‧ ὥστ' εἴ τις φαίη τρόπον τινὰ καὶ λέγειν καὶ πρῶτον λέγειν τὸ κακὸν καὶ τὸ ἀγαθὸν ἀρχὰς Ἐμπεδοκλέα, τάχ̓ ἂν λέγοι καλῶς, εἴπερ τὸ τῶν ἀγαθῶν ἁπάντων αἴτιον αὐτὸ τἀγαθόν ἐστι [καὶ τῶν κακῶν τὸ κακόν]“]|| 20 S. 508 [Aristoteles, Metaph. I (A), 4 985a 10–14: „ οὗτοι μὲν οὖν, ὥσπερ λέγομεν, καὶ μέχρι τούτου

675

Textkritischer Apparat δυοῖν αἰτίαιν ὧν ἡμεῖς διωρίσαμεν ἐν τοῖς περὶ φύσεως ἡμμένοι φαίνονται, τῆς τε ὕλης καὶ τοῦ ὅθεν ἡ κίνησις, ἀμυδρῶς μέντοι καὶ οὐθὲν σαφῶς ἀλλ' οἷον ἐν ταῖς μάχαις οἱ ἀγύμναστοι ποιοῦσιν‧“] || 21 S. 508 [Aristoteles, Metaph. I (A), 4 985a 15–16: „καὶ γὰρ ἐκεῖνοι περιφερόμενοι τύπτουσι πολλάκις καλὰς πληγάς, ἀλλ̓ οὔτε ἐκεῖνοι ἀπὸ ἐπιστήμης οὔτε οὗτοι ἐοίκασιν εἰδέναι ὅ τι λέγουσιν‧“] || 22 S. 508 [Aristoteles, Metaph. I (A), 4 985b 4–10: „Λεύκιππος δὲ καὶ ὁ ἑταῖρος αὐτοῦ Δημόκριτος στοιχεῖα μὲν τὸ πλῆρες καὶ τὸ κενὸν εἶναί φασι, λέγοντες τὸ μὲν ὂν τὸ δὲ μὴ ὄν, τούτων δὲ τὸ μὲν πλῆρες καὶ στερεὸν τὸ ὄν, τὸ δὲ κενὸν τὸ μὴ ὄν (διὸ καὶ οὐθὲν μᾶλλον τὸ ὂν τοῦ μὴ ὄντος εἶναί φασιν, ὅτι οὐδὲ τοῦ κενοῦ τὸ σῶμἀ), αἴτια δὲ τῶν ὄντων ταῦτα ὡς ὕλην.“] || 23 S. 508 [Aristoteles, Metaph. I (A), 4 985b 11–13: „καὶ καθάπερ οἱ ἓν ποιοῦντες τὴν ὑποκειμένην οὐσίαν τἆλλα τοῖς πάθεσιν αὐτῆς γεννῶσι, τὸ μανὸν καὶ τὸ πυκνὸν ἀρχὰς τιθέμενοι τῶν παθημάτων, τὸν αὐτὸν τρόπον καὶ οὗτοι τὰς διαφορὰς αἰτίας τῶν ἄλλων εἶναί φασιν.“] || 24 S. 509 [Aristoteles, Metaph. I (A), 4 985b 14–19: „ταύτας μέντοι τρεῖς εἶναι λέγουσι, σχῆμά τε καὶ τάξιν καὶ θέσιν: διαφέρειν γάρ φασι τὸ ὂν ῥυσμῷ καὶ διαθιγῇ καὶ τροπῇ μόνον: τούτων δὲ ὁ μὲν ῥυσμὸς σχῆμά ἐστιν ἡ δὲ διαθιγὴ τάξις ἡ δὲ τροπὴ θέσις: διαφέρει γὰρ τὸ μὲν Α τοῦ Ν σχήματι τὸ δὲ ΑΝ τοῦ ΝΑ τάξει τὸ δὲ Ζ τοῦ N θέσει.“] || 25 S. 509 [Aristoteles, Metaph. I (A), 4 985b 19–20: „περὶ δὲ κινήσεως, ὅθεν ἢ πῶς ὑπάρξει τοῖς οὖσι, καὶ οὗτοι παραπλησίως τοῖς ἄλλοις ῥᾳθύμως ἀφεῖσαν.“] || 26 S. 509 [Aristoteles, Metaph. I (A), 7 988a 24] || 27 S. 509 [Aristoteles, Metaph. I (A), 7 988a 33–34] || 28 S. 509 [Aristoteles, Metaph. I (A), 7 988a 34–35] danach horizontaler Strich über die ganze Seite||29 S. 509 vor Die gestr. Diejengen die als ἓν τε τὸ πᾶν||30 S. 509 [vgl. Aristoteles, Metaph. I (A), 8 988b 23–24: „ὅσοι μὲν οὖν ἕν τε τὸ πᾶν καὶ μίαν τινὰ φύσιν ὡς ὕλην τιθέασι, καὶ ταύτην σωματικὴν καὶ μέγεθος ἔχουσαν, δῆλον ὅτι πολλαχῶς ἁμαρτάνουσιν.“]||31 S. 509 [Aristoteles, Metaph. I (A), 8 988b 26–29: „καὶ περὶ γενέσεως καὶ φθορᾶς ἐπιχειροῦντες τὰς αἰτίας λέγειν, καὶ περὶ πάντων φυσιολογοῦντες, τὸ τῆς κινήσεως αἴτιον ἀναιροῦσιν.“] || 32 S. 509 [Aristoteles, Metaph. I (A), 8 988b 29: „ἔτι δὲ τῷ τὴν οὐσίαν μηθενὸς αἰτίαν τιθέναι, μηδὲ τὸ τί ἐστι“] || 33 S. 509 [Aristoteles, Metaph. I (A), 8 989a 11–12: „οὕτως ἀρχαίαν καὶ δημοτικὴν συμβέβηκεν εἶναι τὴν ὑπόληψιν“] || 34 S. 510 [Aristoteles, Metaph. I (A), 7 988a 22–23: „ἀλλὰ πάντες ἀμυδρῶς μὲν ἐκείνων δέ πως φαίνονται θιγγάνοντες.“]||35 S. 511 [Aristoteles, De coelo III, 5 303b 13: „ἄπειρον ὄν, ὃ περιέχειν πάντας τοὺς οὐρανούς“] || 36 S. 511 [K. Goebel, Die vorsokratische Philosophie, Bonn: C. Georgi 1910] || 37 S. 511 [Aristoteles, Phys. III, 4 203b 11–13: „διὸ, καθάπερ λέγομεν, οὐ ταύτης ἀρχή, ἀλλ᾿ αὕτη τῶν ἄλλων εἶναι δοκεῖ καὶ περιέχειν ἅπαντα καὶ πάντα κυβερνᾶν“] || 38 S. 511 [Anaximander, DK A 14: „λέγει γοῦν διότι ἀπέραντόν ἐστιν, ἵνα μηδὲν ἐλλείπῃ ‹ἡ› γένεσις ἡ ὑφισταμένη.“] || 39 S. 511 [Aristoteles, Phys. I, 4 187a 20–21] || 40 S. 512 [Heraklit, DK B 52: „αἰὼν παῖς ἐστι παίζων, πεσσεύων· παιδὸς ἡ βασιληίη“; „Die Lebenszeit ist ein Knabe, der spielt, hin und her die Brettsteine setzt: Knabenregiment“] || 41 S. 512 danach horizontaler Strich über die ganze Seite||42 S. 513 Disp. bis Platon nehmen gestr. mit einer Wellenlinie ||43 S. 513 danach horizontaler Strich über die ganze Seite.||44 S. 516 [Heraklit, DK B 50: „Ἡ. μὲν οὖν ἕν φησιν εἶναι τὸ πᾶν διαιρετὸν ἀδιαίρετον, γενητὸν ἀγένητον, θνητὸν ἀθάνατον, λόγον αἰῶνα, πατέρα υἱόν, θεὸν δίκαιον·“] || 45 S. 516 [Heraklit, DK B 41: „εἶναι γὰρ ἓν τὸ σοφόν, ἐπίστασθαι γνώμην, ὁτέη ἐκυϐέρνησε πάντα διὰ πάντων.“] || 46 S. 516 [Heraklit, DK B 108: „Ἡρακλείτου. ὁκόσων λόγους ἤκουσα, οὐδεὶς ἀφικνεῖται ἐς τοῦτο, ὥστε γινώσκειν ὅτι σοφόν ἐστι πάντων κεχωρισμένον.“] || 47 S. 516 [F. Lassalle, Die Philosophie Herakleitos des Dunklen von Ephesos, I, in: Gesammelte Reden und Schriften. Hg. von E. Bernstein, Bd. 7, Berlin 1920] || 48 S. 519 aufgrund eines Tintenflecks unleserlich || 49 S. 519 aufgrund eines Tintenflecks unleser­ lich || 50 S. 519 aufgrund eines Tintenflecks unleserlich || 51 S. 519 aufgrund eines Tintenflecks unleserlich || 52 S. 519 aufgrund eines Tintenflecks unleserlich || 53 S. 519 Die Ψυχή bis vernimmt am linken Blattrand

676

II. Beschreibung der Texte und textkritische Anmerkungen geschrieben || 54 S. 519 [Aristoteles, Metaph. I (A) 3 983b 6–7: „τῶν δὴ πρώτων φιλοσοφησάντων οἱ πλεῖστοι τὰς ἐν ὕλης εἴδει μόνας ᾠήθησαν ἀρχὰς εἶναι πάντων‧“] || 55 S. 520 dem gestr. || 56 S. 523 [Platon, Soph., 242e] || 57 S. 523 [F. Lassalle, Die Philosophie Herakleitos des Dunklen von Ephesos, I, in: Gesam­ melte Reden und Schriften. Hg. von E. Bernstein, Bd. 7, Berlin 1920, S. 117] || 58 S. 523 [Heraklit, DK B 51: „οὐ ξυνιᾶσιν ὅκως διαφερόμενον ἑωυτῷ ὁμολογέει· παλίντροπος ἁρμονίη ὅκωσπερ τόξου καὶ λύρης.“] || 59 S. 523 [Platon, Symp., 187a] || 60 S. 523 Platon, Sophistes bis der Leier“ gestr. mit einem Querstrich; danach horizontaler Strich über die ganze Seite || 61 S. 523 danach horizontaler Strich über die ganze Seite || 62 S. 523 [Heraklit, DK B 114: „ξὺν νόῳ λέγοντας ἰσχυρίζεσθαι χρὴ τῷ ξυνῷ πάντων, ὃκωσπερ νόμῳ πόλις, καὶ πολὺ ἰσχυροτέρως.“] || 63 S. 523 [Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Werke 18, S. 339: „Sextus führt uns die Bestimmung hiervon so an: ‚Alles, was uns umgibt, sei selbst logisch und verständig‘, – das allgemeine Wesen der Notwendigkeit.“] || 64 S. 523 [Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Werke 18, S. 338] || 65 S. 523 [Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Werke 18, S. 341f.]||66 S. 523 [Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Werke 18, S. 340: „,Nach der Weise, wie die Kohlen, die dem Feuer nahekommen, selbst feurig werden, getrennt davon aber verlöschen, so wird der Teil (µοῖρα)‘ – die Notwendigkeit (s. oben) –, ‚der in unseren Körpern von dem Umgebenden beherbergt ist, durch die Trennung fast unvernünftig‘, – das Gegenteil von denen, welche meinen, Gott gebe die Weisheit im Schlafe, im Somnambulismus.“] (1) Erörterung bis „Kohlen“ … gestr. mit einem Querstrich || 67 S. 523 [Fr. 23, 28] gestr. || 68 S. 524 Am unteren Blattrand τὸ σοφὸν = μοῦνον (Fr. 32) (mit einer Wel­ lenlinie gestr.) || 69 S. 525 [Heraklit, DK B 101: „ἐδιζησάμην ἐμεωυτόν.“] || 70 S. 525 die ganze Notiz quer durchgestrichen || 71 S. 526 [Heraklit, DK B 40: „πολυμαθίη νόον (ἔχειν) οὐ διδάσκει· Ἡσίοδον γὰρ ἂν ἐδίδαξε καὶ Πυθαγόρην αὖτις τε Ξενοφάνεά (τε) καὶ Ἑκαταῖον.“] || 72 S. 526 danach horizontaler Strich über die ganze Seite || 73 S. 528 danach horizontaler Strich über die ganze Seite || 74 S. 530 [Heraklit, DK B 123] || 75 S. 530 [Heraklit, DK B 60] || 76 S. 530 [Heraklit, DK B 112: „σωφρονεῖν ἀρετὴ μεγίστη καὶ σοφίη ἀληθέα λέγειν καὶ ποιεῖν κατὰ φύσιν ἐπαΐοντας.“] || 77 S. 530 [Heraklit, DK B 52: „αἰὼν παῖς ἐστι παίζων, πεσσεύων‧ παιδὸς ἡ βασιληίη.“] || 78 S. 533 [Heraklit, DK B 52] || 79 S. 533 [Heraklit, DK B 60: „ὁδὸς ἄνω κάτω μία καὶ ὡυτή.“] || 80 S. 533 [Heraklit, DK B 112] || 81 S. 533 [Heraklit, DK B 52] || 82 S. 534 danach zwei horizontale Striche über die ganze Seite || 83 S. 534 alle Zeilen dieser Notiz sind gestr. || 84 S. 535 Zitierte bis 1947/48 am linken Blattrand senkrecht geschrieben || 85 S. 535 alle Zahlen mit Rotst. geschrieben || 86 S. 535 danach horizontaler Strich über die ganze Seite || 87 S. 535 danach zwei horizontale Striche über die ganze Seite. || 88 S. 535 [Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA Bd. 4, S. 404: „Oh Mensch! Gieb Acht! / Was spricht die tiefe Mitternacht? / ‚Ich schlief, ich schlief –, / Aus tiefem Traum bin ich erwacht: – / Die Welt ist tief, / Und tiefer als der Tag gedacht. / Tief ist ihr Weh –, Lust – tiefer noch als Herzeleid: / Weh spricht: Vergeh! / Doch alle Lust will Ewigkeit – / – will tiefe, tiefe Ewigkeit!‘“] || 89 S. 538 [Parmenides, DK B 26–30: „ἐπεὶ οὔτι σε μοῖρα κακὴ προὔπεμπε νέεσθαι / τήνδ’ ὁδόν – ἦ γὰρ ἀπ' ἀνθρώπων ἐκτὸς πάτου ἐστίν –, / ἀλλὰ θέμις τε δίκη τε. Χρεὼ δέ σε πάντα πυθέσθαι / ἠμὲν Ἀληθείης εὐκυκλέος ἀτρεμὲς ἦτορ / ἠδὲ βροτῶν δόξας, ταῖς οὐκ ἔνι πίστις ἀληθής.“] || 90 S. 539 weder aus gestr. || 91 S. 539 [Heraklit, DK B 60] danach horizontaler Strich über die ganze Seite || 92 S. 540 danach horizontaler Strich über die ganze Seite || 93 S. 541 [Heraklit, DK B 52] || 94 S.

542 Heideggers

Heraklit-Vorlesung am linken Blattrand senkrecht geschrieben ||

95 S. 543 [Heraklit, DK B 115: „ψυχῆς ἐστι λόγος ἑαυτὸν αὔξων.“] || 96 S. 544 [Parmenides, DK B 8 3–4: „ὡς ἀγένητον ἐὸν καὶ ἀνώλεθρόν ἐστιν, ἐστι γὰρ οὐλομελές τε καὶ ἀτρεμὲς ἠδ̓ ἀτέλεστον·“] || 97 S. 544 [K.

677

Textkritischer Apparat Reinhardt, Parmenides und die Geschichte der griechischen Philosophie, Frankfurt am Main: Kloster­ mann 52012, S. 254] || 98 S. 544 [Parmenides, DK B 8 32–33: „οὕνεκεν οὐκ ἀτελεύτητον τὸ ἐὸν θέμις εἶναι· ἔστι γὰρ οὐκ ἐπιδεές· μὴ ἐὸν δ' ἂν παντὸς ἐδεῖτο.“] || 99 S. 544 [U. v. Wilamowitz-Möllendorf, „Lesefrüchte“, in: Hermes 34.2, 1899, S. 204: „das nennt sie [die Göttin] einen διάκοσμον ἐοικότα πάντα, wie mich dünkt, nicht ‚eine Weltordnung ganz wie sie erscheint‘, sondern ‚eine, die ganz scheinbar ist‘, die zwar nur eine Meinung, also trüglich ist, aber eine in sich geschlossene und durchaus wahrscheinliche, ‚so daß kein sterblicher mit seiner γνώμη dir den Rang ablaufen kann‘ …“] || 100 S. 544 [U. v. Wilamowitz-Möllendorf, „Lesefrüchte“, S. 205] || 101 S. 544 Parmenides bis im Men­ schenland gestr. m. einem Kreuz; danach horizontaler Strich über die ganze Seite || 102 S. 545 Die Inter­ pretation bis τὸ ὄν gestr. mit einem Querstrich; danach horizontaler Strich über die ganze Seite || 103 S. 546 [Hölderlin, Rousseau, Werke und Briefe Bd. 1, S. 67: „Vernommen hast du sie, verstanden die Sprache der Fremdlinge, / Gedeutet ihre Seele! Dem Sehnenden war / Der Wink genug, und Winke sind / Von alters her die Sprache der Götter.“] || 104 S. 546 danach horizontaler Strich über die ganze Seite || 105 S. 547 [Parmenides, DK B 4: „λεῦσσε δ’ ὅμως ἀπεόντα νόῳ παρεόντα βεβαίως·οὐ γὰρ ἀποτμήξει τὸ ἐὸν τοῦ ἐόντος ἔχεσθαι οὔτε σκιδνάμενον πάντῃ πάντως κατὰ κόσμον οὔτε συνιστάμενον.“]|| 106 S. 547 geballt mit einem Kreuz gestr. || 107 S. 548 danach horizontaler Strich über die ganze Seite || 108 S. 549 23. Stunde bis Ferne gestr. mit einer Wellenlinie; danach horizontaler Strich über die ganze Seite||109 S. 549 [Reinhardt, Parmenides und die Geschichte der griechischen Philosophie, S. 74] danach horizontaler Strich über die ganze Seite || 110 S. 549 [Vgl. Cicero, de nat. deor. I 11, 28; Parmenides, DK A 37] || 111 S. 549 danach horizontaler Strich über die ganze Seite || 112 S. 550 danach horizontaler Strich über die ganze Seite || 113 S. 550 Ansichseinsontologie am linken Blattrand senkrecht geschrieben || 114 S. 550 εἶναι bis Vergehen am unteren Rd. der Seite geschrieben || 115 S. 550 die Notiz ist mit zwei roten Strichen markiert || 116 S.

553

Ohne γένεσις und ὄλεθρος gestr. || 117 S.

556 Weg

bis Auge gestr. ||

118 S. 556 [Parmenides, DK B 8 11: „οὕτως ἢ πάμπαν πελέναι χρεών ἐστιν ἢ οὐχί.“]||119 S. 556 [Parmenides, DK B 8 29–30: „Ταὐτόν τ̓ ἐν ταὐτῷ τε μένον καθ̓ ἑαυτό τε κεῖται χοὔτως ἔμπεδον αὖθι μένει“] || 120 S. 558 [Parmenides, DK B 8 39: „ὅσσα βροτοὶ κατέθεντο πεποιθότες εἶναι ἀληθῆ,“] || 121 S. 560 [Par­ menides, DK B 8 38–41: „τῷ πάντ̓ ὄνομ̓ ἔσται, ὅσσα βροτοὶ κατέθεντο πεποιθότες εἶναι ἀληθῆ, γίγνεσθαί τε καὶ ὄλλυσθαι, εἶναί τε καὶ οὐχί, καὶ τόπον ἀλλάσσειν διά τε χρόα φανὸν ἀμείβειν.“]

Parmenides-Kolloquium Wiedergegeben wird eine mit schwarzer Tinte handgeschriebene Notiz, die nach der Aufschrift „E. Fink“ den Titel „Parmenides-Lektüre“ trägt. Das Notizblatt ist in einer Aktenmappe (Signatur E15/285) enthalten, die auf der Vorderseite den Anlass dieses kurzen Textes verzeichnet: „E. Fink, Parme­ nides-Kolloquium (in Gemeinschaft mit Lohmann, Bröse, Struwe – zuwei­ len M. Heidegger) 1949“ (das Notizblatt verweist aber auf „Wintersemester 1948“). In der Mappe liegen zudem: (1.) zwölf Blätter mit gezeichneten Skiz­ zen und kurzen Aufzeichnungen, (2.) ein Inhaltsverzeichnis zu Lexis (Band II), (3.) sieben maschinengeschriebene Blätter, in denen die Fragmente 1–3 678

II. Beschreibung der Texte und textkritische Anmerkungen

von Parmenides’ Gedicht sowie die Verse 736–761 von Hesiods Theogonie transliteriert und übersetzt werden, (4.) eine Kopie des Typoskripts der Antrittsvorlesung von Walter Bröcker (gehalten in Kiel am 16.11.1948). Mit Bezug auf (3.) werden hier zudem (a.) zwei Notizen wiedergegeben, in denen Fink das Proömium des Parmenideischen Lehrgedichts skizzenhaft mit der Theogonie Hesiods (Verse 736–757) vergleicht und beide Texte erläutert, (b.) eine kurze getippte Schlussbemerkung, die sich wahrscheinlich auf den Entwurf einer Veröffentlichung dieser Texte bezog. Dispositionen zur Übung „Zur Geschichte des Welt-Begriffs (Timaios)“ Im Nachlass Eugen Finks im Universitätsarchiv Freiburg findet sich eine Mappe (E15/290), auf der mit schwarzer Tinte „Zur Geschichte des WeltBegriffs (Timaios) S.S. 1949“ notiert ist: Ein gefaltetes Blatt vom Format A4 umfasst 33 durchnummerierte Blätter, die Dispositionen zu einer Seminar­ übung enthalten. Die meisten davon sind sowohl auf der Vorder- als auch auf der Rückseite mit Tinte ordentlich beschrieben; manche Blätter wurden in zwei Hälften gefaltet. 1 S.

567 [Heraklit,

DK B 30: „κόσμον τόνδε, τὸν αὐτὸν ἁπάντων, οὔτε τις θεῶν, οὔτε ἀνθρώπων

ἐποίησεν, ἀλλ᾽ ἦν ἀεὶ καὶ ἔστιν καὶ ἔσται πῦρ ἀείζωον, ἁπτόμενον μέτρα καὶ ἀποσβεννύμενον μέτρα.“] || 2 S. 567 [Heraklit, DK B 89: „ὁ Ἡ. φησι τοῖς ἐγρηγορόσιν ἕνα καὶ κοινὸν κόσμον εἶναι, τῶν δὲ κοιμωμένων ἕκαστον εἰς ἴδιον ἀποστρέφεσθαι.“] || 3 S. 568 [Parmenides, DK B 8, 60–61: „τόν σοι ἐγὼ διάκοσμον ἐοικότα πάντα φατίζω, ὡς οὐ μή ποτέ τίς σε βροτῶν γνώμη παρελάσσῃ.“] || 4 S. 569 [Plato, Timaeus, 38a] || 5 S. 569 [Plato, Timaeus, 48e: „ἡ δ᾽ οὖν αὖθις ἀρχὴ περὶ τοῦ παντὸς ἔστω μειζόνως τῆς πρόσθεν διῃρημένη: τότε μὲν γὰρ δύο εἴδη διειλόμεθα, νῦν δὲ τρίτον ἄλλο γένος ἡμῖν δηλωτέον“] || 6 S. 570 [Plato, Timaeus, 50b: „ταὐτὸν αὐτὴν ἀεὶ προσρητέον· ἐκ γὰρ τῆς ἑαυτῆς τὸ παράπαν οὐκ ἐξίσταται δυνάμεως“]|| 7 S. 570 [vgl. Plato, Timaeus, 52a] || 8 S. 575 [Plato, Timaeus, 30c–d: „τὰ γὰρ δὴ νοητὰ ζῷα πάντα ἐκεῖνο ἐν ἑαυτῷ περιλαβὸν ἔχει, καθάπερ ὅδε ὁ κόσμος ἡμᾶς ὅσα τε ἄλλα θρέμματα συνέστηκεν ὁρατά.“] || 9 S. 576 [Plato, Timaeus, 37c: „ὡς δὲ κινηθὲν αὐτὸ καὶ ζῶν ἐνόησεν τῶν ἀιδίων θεῶν γεγονὸς ἄγαλμα ὁ γεννήσας πατήρ, ἠγάσθη τε καὶ εὐφρανθεὶς ἔτι δὴ μᾶλλον ὅμοιον πρὸς τὸ παράδειγμα ἐπενόησεν ἀπεργάσασθαι.“] || 10 S. 577 [vgl. Plato, Timaeus, 37e–38b] || 11 S. 577 [Parmenides, DK B 8, 60: „τόν σοι ἐγὼ διάκοσμον ἐοικότα πάντα φατίζω“] || 12 S. 578 danach ein Strich über die ganze Seite || 13 S. 579 [vgl. Plato, Timaeus, 32d–33a] || 14 S. 579 [vgl. Plato, Timaeus, 30a] || 15 S. 580 [Anaximander, DK B 1: „Ἀ. … ἀρχήν … εἴρηκε τῶν ὄντων τὸ ἄπειρον … ἐξ ὧν δὲ ἡ γένεσίς ἐστι τοῖς οὖσι, καὶ τὴν φθορὰν εἰς ταῦτα γίνεσθαι κατὰ τὸ χρεὼν∙ διδόναι γὰρ αὐτὰ δίκην καὶ τίσιν ἀλλήλοις τῆς ἀδικίας κατὰ τὴν τοῦ χρόνου τάξιν.“] || 16 S. 580 danach ein Strich über die ganze Seite || 17 S. 581 Das Proömium bis operiert gestr. || 18 S. 583 [Heraklit, DK B 30: „κόσμον (τόνδε), τὸν αὐτὸν ἁπάντων, οὔτε τις θεῶν, οὔτε ἀνθρώπων ἐποίησεν, ἀλλ᾽ ἦν ἀεὶ καὶ ἔστιν καὶ ἔσται πῦρ ἀείζωον, ἁπτόμενον μέτρα καὶ ἀποσϐεννύμενον μέτρα.“] || 19 S. 586 [Parmenides, DK B 8, 21: „Τὼς γένεσις μὲν ἀπέσβεσται καὶ ἄπυστος ὄλεθρος.“]||20 S. 587 danach ein Strich über die ganze Seite || 21 S. 587 danach ein Strich über die ganze Seite

679

Textkritischer Apparat

Aristoteles, Nikomachische Ethik Im Nachlass Eugen Finks befinden sich handschriftliche Notizen, die dem VI. Buch der Nikomachischen Ethik von Aristoteles gewidmet sind (Signatur E15/447). Sie beziehen sich (wie man aus einem mit roter Tinte vermerkten Hinweis entnimmt) auf die „Aristoteles-Interpretation auf dem FleinerHaus, Todtnauberg 4.–6. März 1950“. Die Notizen wurden mit blauer oder schwarzer Tinte auf nicht nummerierte Blätter von verschiedenem Format geschrieben. Im Konvolut befinden sich zudem weitere unsystematische Notizen zu dieser Aristoteles-Interpretation (manchmal nur einzelne Wörter und Wendungen), die hier nicht abgedruckt werden. Im vorliegen­ den Band erscheinen 5 von 29 Seiten, die auf eine mehr systematische Weise die Kapitel 6 und 7 des VI. Buchs der Nikomachischen Ethik betrachten. 1 S. 591 Aristoteles, Ethica Nicomachea I, 2, 1094b 7, 11.

Notizen zur Übung „Platons Philebos“ Der Signatur E15/452 entspricht im Nachlass Eugen Finks eine Mappe aus Karton, die zwölf durchnummerierte handgeschriebene Blätter enthält. Auf dem Umschlag wurde „‚Zum Heraklit-Seminar 1950/51‘ (Eleaten)“ vermerkt. Auf Seite 1v finden sich „Notizen zur Übung ‚Platons Philebos‘“, die hier abgedruckt werden. Seite 10v beinhaltet Notizen zum „HeraklitSeminar 20.I.’51“, die im vorliegenden Band als Beilage der unter der Signatur E15/453 versammelten Texte erscheinen. 1 S. 593 [Plato, Phil. 23c, 3: „πάντα τὰ νῦν ὄντα ἐν τῷ παντὶ διχῇ διαλάβωμεν, μᾶλλον δ᾽, εἰ βούλει, τριχῇ.“]||2 S. 593 [Plato, Phil. 23c–d]||3 S. 593 [Plato, Phil. 24a: „ὅτι δὲ τρόπον τινὰ τὸ ἄπειρον πόλλ᾽ ἐστί, πειράσομαι φράζειν. τὸ δὲ πέρας ἔχον ἡμᾶς περιμενέτω.“]

Heraklit-Interpretationen Zum wissenschaftlichen Nachlass Finks unter der Signatur E15/453 gehö­ ren Notizen über Heraklit, die in einem Umschlag aus Karton mit der Aufschrift „Heraklit-Interpretationen./Sommer 1950“ verwahrt sind. Sie umfassen zunächst zwei nummerierte maschinengeschriebene Blätter im A4-Format, die unter dem Titel Heraklit-Interpretationen Erläuterungen verschiedener Fragmente Heraklits enthalten. In derselben Mappe befinden 680

II. Beschreibung der Texte und textkritische Anmerkungen

sich mit blauer oder schwarzer Tinte handgeschriebene nummerierte Blätter verschiedener Größen, die Notizen und Dispositionen zu Heraklit-Semina­ ren aus den Sommersemestern 1950 und 1954 wiedergeben. Als Beilage werden im vorliegenden Band des Weiteren Notizen abgedruckt, die die Aufschrift „Heraklit-Seminar 20.I.’51“ tragen und in der Mappe E15/452 hinterlegt sind. 1 S. 595 [Heraklit, DK B 64: „τὰ δὲ πὰντα οἰακίζει κεραυνός“]||2 S. 596 [Heraklit, DK B 11: „πᾶν γὰρ ἑρπετὸν πληγῇ νέμεται“]||3 S. 596 [Heraklit, DK B 100: „… περιόδους· ὧν ὁ ἥλιος ἐπιστάτης ὢν καὶ σκοπὸς ὁρίζειν καὶ βραβεύειν καὶ ἀναδεικνύναι καὶ ἀναφαίνειν μεταβολὰς καὶ ὥρας αἳ πάντα φέρουσι καθ΄Ἡράκλειτον κτλ.“] || 4 S. 596 [Heraklit, DK B 94: „Ἥλιος γὰρ οὐχ ὑπερβήσεται μέτρα· εἰ δὲ μή, Ἐρινύες μιν Δίκης ἐπίκουροι ἐξευρήσουσιν“]||5 S. 597 [Heraklit, DK B 99: „εἰ μὴ ἥλιος ἦν, ἕνεκα τῶν ἄλλων ἄστρων εὐφρόνη ἄν ἦν.“] || 6 S. 597 den Einf. m. Bleist. || 7 S. 597 [Heraklit, DK B 124: „σάρµα εἰκῆ κεχυµένον ὁ κάλλιστος, φησὶν Ἡράκλειτος, [ὁ] κόσµος“]||8 S. 598 [Heraklit, DK B 31: „πυρὸς τροπαὶ πρῶτον θάλασσα, θαλάσσης δὲ τὸ µὲν ἥµισυ γῆ, τὸ δὲ ἥµισυ πρηστήρ“; „θάλασσα διαχέεται καὶ µετρέεται εἰς τὸν αὐτὸν λόγον, ὁκοῖος πρόσθεν ἦν ἢ γενέσθαι γῆ“] || 9 S. 599 [Heraklit, DK B 76: „ζῇ πῦρ τὸν ἀέρος θάνατον καὶ ἀὴρ ζῇ τὸν πυρὸς θάνατον, ὕδωρ ζῇ τὸν γῆς θάνατον, γῆ τὸν ὕδατος“] || 10 S. 600 [vgl. Fragmente: Griechisch und Deutsch / Heraklit, hg. v. B. Snell, München: Heimeran 1926]||11 S. 600 [vgl. W. Kranz, Vorsokratische Denker. Auswahl aus dem Ueberlieferten. Griechisch und Deutsch, Berlin: Weidmann 1949] || 12 S. 600 Snell S. 8 mit Tinte gestr.||13 S. 601 [Heraklit, DK B 30: „κόσμον τόνδε, τὸν αὐτὸν ἁπάντων, οὔτε τις θεῶν οὔτε ἀνθρώπων ἐποίησεν, ἀλλ᾽ ἦν ἀεὶ καὶ ἔστιν καὶ ἔσται πῦρ ἀείζωον, ἁπτόμενον μέτρα καὶ ἀποσβεννύμενον μέτρα“] || 14 S. 606 [Heraklit, DK B 32: „ἓν τὸ σοφὸν μοῦνον λέγεσθαι οὐκ ἐθέλει καὶ ἐθέλει Ζηνὸς ὄνομα.“] || 15 S. 607 Das Spekulative bis ὄνομα am linken Rand der Seite senkrecht notiert || 16 S. 607 Verhältnis bis Σεμέλη am linken Rand der Seite senkrecht notiert

Zu Aristotelesʼ Physik, 4. Buch, 10. Kap. Die im Universitätsarchiv Freiburg befindliche Mappe (E15/454) trägt die mit rotem Kugelschreiber vorgenommene Aufschrift „Aristoteles Physik 4. Buch“: Ein gefaltetes Blatt rosa Karton vom Format A4 umfasst 16 durch­ nummerierte handschriftliche Blätter, die mit Tinte ordentlich beschrieben wurden. Zwei Blätter wurden in zwei Hälften gefaltet und auf allen Seiten beschrieben, vier Blätter wurden auf der Vorder- und Rückseite, zehn Blätter nur auf der Vorderseite beschrieben. Auf der ersten Seite dieser Sammlung von Notizen, die Fink in Vorbereitung der Vorlesung „Ontologische Grund­ probleme“ (Sommersemester 1951, veröffentlicht 1957 unter dem Titel Zur ontologischen Frühgeschichte von Raum – Zeit – Bewegung) festhielt, findet sich die Aufschrift „Zu Aristoteles ‚Physik‘, 4. Buch, 10. Kap.“. 1 S. 609 [Aristoteles, Phys. IV 10, 218a 1–2] || 2 S. 609 [Aristoteles, Phys. IV 10, 218a 6] || 3 S. 610 [Aris­ toteles, Phys. IV 10, 218b 11] || 4 S.

610 [Aristoteles,

Phys. IV 10, 218b 13] || 5 S.

611 [Aristoteles,

681

Textkritischer Apparat Phys. IV 10, 218b 18] || 6 S. 611 [Aristoteles, Phys. IV 11, 219a 1–2] || 7 S. 611 [Aristoteles, Phys. IV 11, 219a 10–11] || 8 S. 611 [Aristoteles, Phys. IV 11, 219a 11] || 9 S. 612 [Aristoteles, Phys. IV 11, 219a 28–29] || 10 S. 612 [Aristoteles, Phys. IV 11, 219b 1–2] || 11 S. 612 [Aristoteles, Phys. IV 11, 219b 5] || 12 S. 612 [Aristoteles, Phys. IV 11, 219b 8] || 13 S. 612 [Aristoteles, Phys. IV 11, 219b 8–9] || 14 S. 613 [Aris­ toteles, Phys. IV 11, 219b 9–10] || 15 S. 613 [Aristoteles, Phys. IV 11, 219b 10] || 16 S. 613 [Aristoteles, Phys. IV 11, 219b 11] || 17 S. 613 [Aristoteles, Phys. IV 11, 219b 12] || 18 S. 613 [Aristoteles, Phys. IV 11, 219b 12–13] || 19 S. 613 [Aristoteles, Phys. IV 11, 219b 14–15] || 20 S. 613 [Aristoteles, Phys. IV 11, 219b 20] || 21 S. 613 [Aristoteles, Phys. IV 11, 219b 22–23] || 22 S. 613 [Aristoteles, Phys. IV 11, 219b 27] || 23 S. 615 [Aristoteles, Phys. IV 1, 208a 31–32] || 24 S. 615 [Aristoteles, Phys. IV 1, 208a 33] || 25 S. 615 [Aristoteles, Phys. IV 1, 208b 1–2]

Dispositionen zum Seminar über „Vom Wesen der Freundschaft“ (Aristoteles, Ethika Nikomacheia, 8. und 9. Buch) In diesem unter der Signatur E15/39 aufbewahrten Heft aus dem Nachlass Finks sind lediglich die ersten fünf Seiten beschrieben. Es handelt sich um mit blauer Tinte verfasste Dispositionen zum „Seminar über ‚Vom Wesen der Freundschaft‘ (Aristoteles, Ethika Nikomacheia, 8. und 9. Buch)“, die auf das Jahr 1953 zurückgehen. 1 S. 618 [Aristoteles, Ethica Nicomachea, 1155a]

Notizen zur Übung „Platons Sophistes“ Zum wissenschaftlichen Nachlass von Eugen Fink gehört die Mappe E15/461: ein brauner Papierumschlag mit der Aufschrift „Diverses“, der 54 Blätter unterschiedlicher Formate bündelt. Mit Ausnahme einer maschinengeschriebenen Seite („Diskursthese in Oberaudorf“ 1967) enthal­ ten sie handschriftliche Notizen, die sich auf verschiedene Projekte aus den 1950er und 1960er Jahren beziehen. Im vorliegenden Band werden die Seiten 53 und 54 (Vorder- und Rückseite) der Mappe wiedergegeben, auf denen Finks Notizen zur Übung des Wintersemesters 1953/54 zu Platons Sophistes festgehalten sind.

682

II. Beschreibung der Texte und textkritische Anmerkungen

Dispositionen zum Proseminar „Der Satz vom Widerspruch“ Zum wissenschaftlichen Nachlass von Eugen Fink gehört ein grünes Heft (E15/60), das die handschriftlichen Dispositionen enthält, die Fink in Vor­ bereitung auf das Proseminar „Der Satz vom Widerspruch“ (Wintersemester 1959/60) verfasst hat. Fink pflegte alle von ihm gehaltenen Seminare bzw. Übungen in der Weise vorzubereiten, dass er die wesentlichen Punkte sowie die Grundstruktur der jeweils folgenden Seminarsitzung schriftlich fixierte. Die Dispositionen zum Proseminar vom Wintersemester 1959/60 wurden mit blauer Tinte in ein kariertes Heft geschrieben und weisen zahlreiche Unterstreichungen mit roter Tinte auf; ganze Seiten wurden mit grünem Kugelschreiber gestrichen. Die verwendeten Seiten des Heftes sind nummeriert. 1 S. 626 Die ganze Seite (von Was ist bis Grund des Erkanntwerdens) ist mit Kugelschreiber gestr. || 2 S. 627 die ganze Seite (von Wie und bis Sprache) ist mit Kugelschreiber gestr. || 3 S. 628 der ganze Punkt 6 (von 2 Aristoteles bis S. v. W.) ist mit Kugelschreiber gestr. || 4 S. 630 [Kant, Kritik der reinen Ver­ nunft, A 150ff.] || 5 S. 633 [Hegel, Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, hg. von G. Lasson und J. Hoff­ meister, Bd. 4: Wissenschaft der Logik. Zweiter Teil (hg. von Georg Lasson), Leipzig: Meiner, 1934, S. 23]

Dispositionen zum Seminar „Heraklit und Parmenides“ (mit Martin Heidegger) Der Text gibt den Inhalt eines Heftes wieder, in das Fink mit blauer Tinte den geplanten Verlauf des Seminars notiert hat, das er zusammen mit Heidegger im Wintersemester 1966/67 veranstaltete (Signatur E15/92). Der Titel lautet Heraklit und Parmenides, da ursprünglich vorgesehen war, das Seminar beiden Denkern zu widmen. Die handschriftlichen Dispositio­ nen weisen zahlreiche Unterstreichungen und Markierungen mit Lineal und rotem Kugelschreiber auf. Alle Seiten sind paginiert, wenngleich nur die rechten Seiten des Heftes beschrieben sind. 1 S. 641 Vgl. die Interpretation der ersten Analogie der Erfahrung in Kants Kritik der reinen Vernunft, die Fink in seinem Kantseminar von WS 1964/65 entwickelt hat: E. Fink, Epilegomena zu Immanuels Kants „Kritik der reinen Vernunft“. Ein phänomenologischer Kommentar (1962–1971), hg. v. Guy van Kerckhoven, in: EFGA 13/2, S. 499f. || 2 S. 642 Wenn die erste bis (τέρματα) im Heft auf die linke Seite (S. 46) geschrieben und mit einem Pfeil auf die rechte Seite (S. 47) verbunden. || 3 S. 647 auf der linken Seite des Heftes (S. 76) verweist ein Pfeil, parallel zu Goldglanz des ἥλιος und der πάντα!, auf folgende Anmerkung: Vgl. Frg. 108 Σοφόν = πάντων κεχωρισμένον || 4 S. 647 auf der linken Seite des Heftes (S. 76) verweist ein Pfeil, parallel zur letzten Zeile der Seite 77, auf folgende Anmerkung: Frg. 26

683

Textkritischer Apparat

Verzeichnis der von Fink zitierten Texte Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und deutsch von Hermann Diels, hg. von Walther Kranz, Bd. 1, Zürich: Weidmann 2004. – [DK] Aristoteles, Aristotelis Opera, hg. von Immanuel Bekker, 5 Bände, Berlin: Reimer 1831–1870. Hermann Diels, Parmenides, Lehrgedicht, Berlin: Reimer 1897. –, Doxographi Graeci (1879), Berlin: De Gruyter 21929. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986. – [Werke] – Bd. 2: Jenaer Schriften. – Bd. 3: Phänomenologie des Geistes. – Bd. 5: Wissenschaft der Logik I. – Bd. 6: Wissenschaft der Logik II. – Bd. 18: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer, 151984. Friedrich Hölderlin, Werke und Briefe, hg. von Friedrich Beißner und Jochen Schmidt, Bd. 1 (Gedichte – Hyperion), Frankfurt am Main: Insel Verlag 1969. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (Werke in zwölf Bänden, Bd. 3 und 4), hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1968. Ferdinand Lassalle, Die Philosophie Herakleitos’ des Dunklen von Ephesos, Berlin: Duncker 1858. Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York: De Gruyter 1999. – [KSA] – Bd. 1: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemässe Betrachtungen I–IV. Nachgelassene Schriften 1870–1873. – Bd. 3: Morgenröte. Idyllen aus Messina. Die fröhliche Wissenschaft. – Bd. 4: Also sprach Zarathustra I–IV. Plato, Opera, Recognovit brevique adnotatione critica instruxit I. Burnet, 5 Bände, Oxford: Clarendon Press 1906–1907. Karl Reinhardt, Parmenides und die Geschichte der griechischen Philosophie (1916), Frankfurt am Main: Klostermann 52012. Rainer Maria Rilke, Duineser Elegien. Die Sonette an Orpheus, nach den Erstdrucken von 1923 kritisch hg. von Wolfram Groddeck, Ditzingen: Reclam 1997. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, „Lesefrüchte“, in: Hermes. Zeitschrift für Clas­ sische Philologie, XXXIV, 2, 1899, S. 203ff.

Weitere Autoren und Werke, auf die sich Fink gelegentlich bezieht, werden in den textkritischen Anmerkungen angegeben.

684

Nachwort der Herausgeberin und des Herausgebers*

1. Die Weltontologie Finks und die antike Philosophie Finks Auseinandersetzung mit der antiken Philosophie, der der vorliegende Band der Eugen Fink Gesamtausgabe gewidmet ist, spielt eine zentrale Rolle in der Entwicklung seiner Weltontologie seit den 1940er Jahren,1 und das aus mindestens drei Gründen. Erstens folgt das antike Denken einer philosophischen Frage, die Fink zufolge das Staunen über das Sein voraussetzt, und zwar jenes Staunen (thaumazein), durch das der Mensch zum ersten Mal in der Geschichte des Abendlandes seinen Blick für den ontologischen Ursprung seiner Erfahrung von der Welt und der Vielfalt der Dinge geöffnet hat. Dieser Erfahrung korrespondiert ein erstmaliger Entwurf der Struktur des Seins. Der von Fink immer wieder herangezogene Begriff des Entwurfes2 bezeichnet eine aktive Bewegung des Denkens, welche die Weltstruktur im Lichte der Erfahrung des Seins a priori (vor der Erfahrung des Seienden) umreißt. Fink zufolge hat der antike Mensch erstmals das Geheimnis des Seins erahnt und damit – was dieses Geheimnis noch vertieft – vorgezeichnet, wie sich die Beziehung zwischen Mensch und Welt seit 2500 Jahren ereignet. Für die antiken Philosophen wurde so die menschliche Erfahrung des Seienden erstmals frag-würdig: Was ist das Seiende als solches? Was ist die Ganzheit des Seienden bzw. die Ganzheit der Welt? Was ist die Wahrheit des Seienden? Was ist das am meisten Seiende bzw. der Grund des Seienden? Diese Fragen, die seitdem die zentralen Problemkreise der Ontologie bilden,3 brachen sich damals mühsam durch das Staunen Bahn, welches das Denken der ersten Philosophen führte und Die Abschnitte 1 und 2 des vorliegenden Nachworts wurden von Simona Bertolini, die Abschnitte 3 und 4 von Riccardo Lazzari verfasst. 1 Dass Fink sich mit der Antike systematisch erst nach dem Krieg auseinandersetzt, schließt nicht aus, dass er sich bereits in früheren Jahren mit antiken Autoren befasst hat. Paradigmatisch hierfür sind beispielsweise Notizen aus dem Jahr 1934, in denen Fink das Fragment 30 von Heraklit inter­ pretiert und hier ein Interesse erkennen lässt, das die den Vorsokratikern gewidmete hermeneutische Aufmerksamkeit der folgenden Jahre vorwegnimmt: vgl. Eugen Fink, Phänomenologische Werkstatt. Teilband 2: Die Bernauer Zeitmanuskripte, Cartesianische Meditationen und System der phänomenolo­ gischen Philosophie, hg. v. R. Bruzina, Eugen Fink Gesamtausgabe (= EFGA) Bd. 3.2, S. 197–198. 2 Vgl. z. B. Eugen Fink, Philosophie des Geistes, hg. v. F.-A. Schwarz, Würzburg: Königshausen & Neumann 1994, S. 135–136 (diese Vorlesung ist für Band 5.1 der EFGA vorgesehen). 3 Zu diesem Thema vgl. Eugen Fink, Einleitung in die Philosophie, hg. von F.-A. Schwarz, Würzburg: Königshausen & Neumann 1985, Kap. 9 (vorgesehen für Band 4 der EFGA). *

685

Nachwort der Herausgeberin und des Herausgebers

ihnen auferlegte, das apriorische Feld abzustecken, auf dem (und durch das) der Mensch in den folgenden Jahrhunderten auf die binnenweltlichen Dinge treffen würde. Der zweite Grund, weshalb die Auseinandersetzung mit der antiken Philosophie für Fink grundlegend ist, besteht darin, dass diese Philosophie keiner fernen Vergangenheit angehört, die für die Gegenwart einen lediglich historischen Wert hätte, sondern nach wie vor gültig ist, insofern sie die ontologischen Wurzeln birgt, auf die sich auch unsere heutige Auffassung von Sein bzw. unsere Bezugnahme auf das Seiende und die Welt gründet. Unsere Welterfahrung ist durch ein Vor-verständnis von Sein bedingt, das die philosophische Tradition und den Seinsentwurf der Griechen als Erbschaft voraushat; Fink behauptet in seinem 1957 publizierten Text Zur ontologischen Frühgeschichte von Raum – Zeit – Bewegung, der auf eine 1951 in Freiburg gehaltene Vorlesung zurückgeht: „Wir sind die Erben der Griechen, auch wenn wir uns darum gar nicht kümmern“4. Vorausgesetzt, dass ein Wandel des ontologischen Gefüges, das unserer Beziehung zum Seienden zugrunde liegt, langsamer verläuft als die geschichtliche Verände­ rung der Kultur und der Sitten, trägt der philosophische Entwurf, durch den die antiken Denker die naive Seinsgewissheit in Bewegung brachten, zur Stiftung auch der apriorischen Gedanken bei, die das gegenwärtige Verständnis der innerweltlichen Dinge tragen. Sich mit den Griechen aus­ einanderzusetzen bedeutet dann, sich erneut den Ursprung des eigenen Weltverständnisses anzueignen. Drittens bewegt sich die Philosophie der Antike laut Fink in der Nähe des Ursprungs des ontologischen Entwurfs selbst, jenes Ursprungs also, den die Metaphysik über die Jahrhunderte immer nachdrücklicher übersprungen hat und der unter der Bezeichnung „Welt“ das Hauptthema des Fink’schen Denkens nach dem Zweiten Weltkrieg bildet. Fink findet in der antiken Ontologie ein Philosophieren, das Gestalt annimmt, ohne den eigenen Boden zu vergessen, indem es seine Untersuchungen mit Bezug auf eine einheitliche und ursprüngliche Sphäre – die Totalität der physis – durchführt. So implizit und wenig thematisiert dieser Bereich auch sein mag, es ist ein Horizont, der im Hintergrund der Fragen der antiken Denker steht, was die zentrale Bedeutung der Auseinandersetzung mit den ersten Philosophen für die Entwicklung der Weltphilosophie Finks erklärt. Danach ist die antike Welt- und Seinserfahrung nicht nur der geschichtliche Anfang unserer ontologischen und apriorischen Erfahrung (das heißt der Weise, wie wir die Welt empirisch erfahren können), sondern auch die Erfahrung der ursprüng­ 4 Vgl. nun Eugen Fink, „Nachdenkliches zur ontologischen Frühgeschichte von Raum – Zeit – Bewe­ gung“, in: ders., Sein, Wahrheit, Welt, EFGA 6, hg. v. V. Cesarone, Freiburg/München: Alber 2018, S. 15–205, hier S. 28.

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1. Die Weltontologie Finks und die antike Philosophie

lichen Dimension, in welcher jede – apriorische und empirische – Erfahrung wurzelt. Da die Geschichte der Metaphysik der Frage nach dieser von den Antiken gedachten oder aber erahnten Dimension immer stärker ausgewi­ chen ist, ist ein eigentlicher Dialog zwischen Gegenwart und Antike umso unausweichlicher, will man den Ursprung der Erscheinung des Seienden und seiner Wahrheit philosophisch wiedergewinnen. Ein solcher Dialog wird von Fink nicht als reine Wiederholung oder philologische Rekonstruktion verstanden, sondern als „Horizontverschmelzung“ (um einen Ausdruck von Hans-Georg Gadamer aufzugreifen), in der sich der gegenwärtige Mensch – von seiner eigenen Seinserfahrung ausgehend – für ein Verständnis der Wurzeln seines ontologischen Bodens öffnet. Dies bedeutet aber nicht, dass Fink die antike Philosophie einheitlich interpretiert. Ganz im Gegenteil hebt er wesentliche Unterschiede in der Weise hervor, wie die ersten Denker die Spuren des Seins im Lichte des Staunens über die existierende und erscheinende Welt lesen konnten. Zu diesem Thema enthält der in EFGA 6 abgedruckte Text Nachdenkliches zur ontologischen Frühgeschichte von Raum – Zeit – Bewegung (1957) wichtige Hinweise, die uns helfen können, den Wert und die theoretische Bedeutung auch der im vorliegenden Band enthaltenen Texte zu verstehen. Fink unterscheidet zunächst zwischen antiker Metaphysik und vorso­ kratischer Philosophie, sofern die erstere, die seiner Auffassung nach mit Aristoteles erstmals umfassende Gestalt annimmt, als Ontologie des inner­ weltlichen Seienden definiert wird, in der die archē zum Grund, zur Ursache, zur Struktur und Seiendheit der Dinge wird: Die eigenartige Verwandlung des Begriffs der archē bei Aristoteles führt zur Einebnung eines fundamentalen Unterschieds, der in seiner Unausdenklichkeit das eigentliche Element des Denkens war – des Unterschieds nämlich zwischen Welt und Ding. Die vorsokratischen Denker insgesamt […] begriffen das erscheinende Seiende, die Dinge, als abkünftig, als herkommend aus Wurzel­ gründen, welche nicht das Beschränkte von dinghaft Seiendem an sich haben, sondern in einem verwegenen Sinne das Unbeschränkte und Unbedingte sind: archē tōn ontōn to apeiron.5

Obwohl Aristoteles die onta mit Bezug auf die Ganzheit der physis betrach­ tet, legt seine Philosophie den Schwerpunkt auf das Wesen und die Ding­ heit (die kategoriale Struktur) des Dinges bzw. auf die Weise, wie die Dinge anwesend sind. Sie besteht auf ihre Gestalt, auf ihren Umriss, auf ihre Bewegung, auf ihre Sagbarkeit usw.: „Der aristotelische Entwurf der Gegründetheit des Seienden nimmt die archē in die Verfassung des Dinges hinein. Das Grundsein des Grundes wird vom Ding aus verstanden – und 5

Ebd., S. 175.

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Nachwort der Herausgeberin und des Herausgebers

nicht mehr primär das Dingsein vom Grunde aus“6. Eine solche Philoso­ phie ist Fink zufolge eine Anwesenheitsphilosophie, die die abgründige kosmische Ganzheit, die dem Sein der Dinge zugrunde liegt, voraussetzt und doch zugleich in den Hintergrund treten lässt: „Physis und physei onta fallen zwar für Aristoteles nicht einfach zusammen, aber auch nicht auseinander in den abgründigen Unterschied von Welt und Dingen“7. Ist dieser Unterschied entscheidend für die Vorsokratiker und noch in einigen platonischen Dialogen gegenwärtig,8 wird er doch von Aristoteles nicht mehr thematisiert, da der Stagirit einseitig auf den Dingen beharrt. Eine weitere wesentliche Unterscheidung ist die zwischen dem ioni­ schen und dem eleatischen Denken. Innerhalb der vorsokratischen Philoso­ phie habe Parmenides eine Wende initiiert, da er zum ersten Mal ausdrück­ lich das Sein gedacht habe, während im Mittelpunkt der Philosophie der Ionier, so Fink, die Welt stand; das Weltdenken der Ionier wurde dann durch das Seinsdenken der Eleaten ersetzt, was eine radikale Veränderung bedeu­ tete, welche mehr oder weniger bruchlos die Geschichte der Philosophie für die folgenden Jahrhunderte vorgezeichnet habe. Mit der Behauptung, ,das Seiende ist‘ und könne in keiner Weise nichtig sein, beginnt nach Fink eine neue Phase der Ontologie, die wie „Dynamit“ wirke, da dieser Gedanke impliziere, dass das Sein dem Nichts entgegengesetzt werden, dass es überall und zu jeder Zeit seiend sein müsse.9 Dies wiederum bedeute, dass das Sein zum Nicht-Vergänglichen und Nicht-Endlichen geworden sei, während die Welt, in der die vergänglichen und endlichen Dinge entstehen und vergehen, vom Verhältnis von Erscheinung und Wesen bzw. vom Erscheinen aus bestimmt werde. Obwohl der Kosmos im Denken von Parmenides the­ matisch bleibe, werde doch der kosmische bzw. der zeitliche und räumliche Bereich der Endlichkeit in einer nicht-ursprünglichen Dimension gesehen, insofern die Welt nun nicht mehr das Feld des Seins selbst sei, sondern zum – ontologisch sekundären – Feld des Begrenzten, des Zeitweiligen, des Entstehens und des Vergehens werde: „Mit Parmenides beginnt die Weltvergessenheit der Philosophie“10, welche die Sphäre der Erscheinung auf etwas ontologisch Erstes (als das eigentlich Seiende) zurückführt. Vergleichen wir diese Bemerkungen zur Weltontologie, die seit den 1940er Jahren in den Schriften und Vorlesungen Eugen Finks Gestalt annimmt, wird unmissverständlich deutlich, dass sich Spuren der gesamten antiken Philosophie in ihr finden und für sie wesentlich sind: sowohl die Suche nach dem Ursprung der Welt, die das vorsokratische Denken als Ebd., S. 176. Ebd. 8 Z. B. im Timaios: vgl. ebd., Kap. 15. 9 Ebd., S. 53. 10 Ebd., S. 89. 6 7

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1. Die Weltontologie Finks und die antike Philosophie

Suche nach der archē kennzeichnet, als auch die von der antiken Metaphysik (insbesondere von Aristoteles) beschriebene Struktur des innerweltlich Sei­ enden. Dies erklärt die Vielfalt der Beiträge, aus denen sich der vorliegende Band zusammensetzt, in denen die Namen der Vorsokratiker wie auch die von Platon und Aristoteles immer wiederkehren. Einerseits beharrt Fink in seinen Schriften darauf, dass eine nicht-meta­ physische und von der kosmologischen Differenz geleitete Ontologie den Weltbegriff bzw. den Aufgang des ganzen Bereichs der Phänomenalität denken müsse, was die Wiederentdeckung der vorsokratischen Philosophie notwendig mache; in diesem Zusammenhang spielt die Auseinandersetzung mit Denkern wie Anaximander, Heraklit und Parmenides eine zentrale Rolle. Andererseits darf man nicht vergessen, dass Finks Weltauffassung die Idee eines logos der Welt einschließt, die Idee einer universalen ontolo­ gischen Struktur, die das Erscheinen wie auch die Erfahrung der Phänomene bestimmt und deren Kategorien zum ersten Mal von Platon und Aristoteles ausgearbeitet wurden. Obwohl diese beiden Denker – im Unterschied zu Vorsokratikern wie Anaximander und Heraklit – das Sein der Welt nicht mehr als solches thematisieren, haben sie doch dazu beigetragen, die Wahrheit über die Welt insofern zu enthüllen, als sie den jeder onto­ logischen Erfahrung (jedem ontologischen Entwurf) zugrundeliegenden Aufbau beschreiben. Gerade die Nähe zum Ursprung und das Staunen gegenüber dem Sein führen sie zu der Ausarbeitung einer ganzen Reihe von Begriffen (Idee, Wesen, Substanz usw.), die die Weise erfassen, wie die Welt zeitlich erscheint. Vielleicht, so Fink, haben Platon und Aristoteles die Weltganzheit nicht eigens gedacht, aber sie haben sie doch beobachtet und geschildert.11 Aus diesem Grund ist die Auseinandersetzung mit ihnen unumgänglich im Zusammenhang seiner Philosophie, deren erster Schritt der phänomenologischen Beschreibung der Erfahrung der Welt und der ontologischen ,Übersetzung‘ der Struktur dieser Erfahrung entspricht. In diesem Sinne gewinnt der Text des im Wintersemester 1959/60 gehaltenen Proseminars zum Satz vom Widerspruch, der im vorliegenden Band unter den Haupttexten erscheint, eine paradigmatische Rolle. Tatsäch­ lich betont Fink hier von Anfang an, dass der erstmals von Aristoteles ausgedrückte Satz zunächst ein ontologisches Prinzip sei, das nicht nur die Logik und die Regeln des Denkens, sondern auch die Individuation des Seienden betreffe. Zusammen mit dem Satz der Identität, dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten und dem Satz vom Grunde beziehe sich der Satz vom Widerspruch auf die ontologische Struktur der Dinge, welche sich 11 Das betrifft auch die Beschreibung des Menschen und menschlicher Phänomene: vgl. z. B. Eugen Fink, Metaphysik der Erziehung im Weltverständnis von Plato und Aristoteles, Frankfurt am Main: Klostermann 1970 (vorgesehen für Band 19 der EFGA).

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Nachwort der Herausgeberin und des Herausgebers

als Substanzen mit einer Vielzahl von Eigenschaften dem menschlichen Vorstellen zu erkennen geben. Da Widersprüche in der Wahrheitsdimension eines solchen Vorstellens auftreten können, bedeute der Satz vom Wider­ spruch eine onto-logische Anzeige, die ein Verhältnis zwischen dem Sein der Dinge und dem menschlichen Denken bzw. Sagen impliziere, indem vorausgesetzt werde, dass die Dinge ein beständiges Gepräge haben, wel­ ches Widersprüchlichkeit ausschließt. Der Satz und das dingliche Gefüge, welches Aristoteles in seiner Metaphysik beschreibt, werden folglich als zwei Seiten ein und derselben Medaille bestimmt: Wie man im vierten Buch der Metaphysik lesen kann, ist das Seiende als Träger zu denken, dem Bestimmungen und Attribute zukommen, die sich im Sprechen in Form von wahren oder falschen Aussagen spiegeln können. Aus diesem Grund behauptet Fink im Rahmen dieses Proseminars, das Verstehen des strukturierten Dinggefüges sei der Ur-Satz bzw. der Satz aller Sätze, sofern sich die logischen Sätze immer auf die Seinssphäre beziehen. Nicht zufällig entspricht dieses von Aristoteles gedachte dingliche Gefüge, das auf dem Substanzbegriff basiert, auch der Struktur des inner­ weltlichen Dinges, das Fink in seinen Werken im Zusammenhang der Welt­ philosophie beschreibt. Obwohl die aristotelische Substanz in der Ontologie Finks unter Berücksichtigung einer ständigen dialektischen Bezugnahme auf die Weltganzheit interpretiert wird, bleibt sie der Kern der Weise, wie auch Fink das Seiende auffasst. Das Ding ist ihm zufolge sowohl ein beharrender Träger von Eigenschaften als auch ein Seiendes, dessen Sein eine strukturelle Offenheit zur Welt impliziert; der substanzielle Bau wird gehalten und zugleich angesichts dieser Offenheit definiert. Dies verdeutlichen insbeson­ dere die folgenden Zeilen aus Sein und Mensch (1950/51): Das Ding ist […] in sich verschlossen wie die Erde, und doch anders, – es ist als die Substanz, als das Wesen, das in sich bleibt, das in sich geborgen und verborgen bleibt, das einen undurchdringlichen Kern behält, wie immer es sich auch sonst zeigen mag. […] Das Ding erschöpft sich nicht in seinen Eigenschaf­ ten; es ist nicht nur die Summe seiner Merkmale und Äußerungen; denn was als Eigenschaft sich zeigt und sich äußert, ist je das Sichaussichhinausgetrauen des Dinges; aber dieses ist sozusagen niemals total; es bleibt immer ein letzter, unauflöslicher Rest, ein geheimnisvoller Träger der Eigenschaften, der selbst keine Eigenschaft zeigt, der sich zurückbehält.12

Die Struktur der Substanzialität, die erstmals von Aristoteles theoretisch erfasst wurde, wird in diesen Sätzen bestätigt, wenn auch innerhalb der ontologischen Ganzheitsdimension der Welt, deren Betrachtung sehr wohl eine Erweiterung der Perspektive der antiken Metaphysik, aber keine radikal Eugen Fink, Sein und Mensch. Vom Wesen der ontologischen Erfahrung, Freiburg/München: Alber 2004, S. 304 (vorgesehen für Band 5.1 der EFGA).

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2. Heraklit und der Anfang des kosmologischen Denkens

neue Interpretation des Innerweltlichen erfordert. Ganz im Gegenteil findet Fink bei Aristoteles eine Reihe von Begriffen vor (Substanz, Akzidenz usw.), die die ontologischen Gegensätze und Gesetze des innerweltlichen Phänomens so schildern und erfassen, dass sie als Ergebnis einer ersten phänomenologischen Beschreibung der Dinge gewürdigt werden können. Daher eignen sich solche Begriffe (und die Sätze, die auf sie hinweisen) dazu, als Bezugspunkte für die gedankliche Ausarbeitung der kosmologischen Philosophie zu dienen, und zwar einer Philosophie, deren Ziel es ist, den Ursprung der Welt von der Totalität des Weltganzen her zu denken und die Weltstruktur phänomenologisch zu rekonstruieren. Aristoteles hat zwar dazu beigetragen, die Welt als solche vergessen zu machen, er hat aber zugleich eine Ontologie vorgelegt, die den Aufbau der Dinge innerhalb des Kosmos begrifflich fassbar macht. Weltvergessenheit und Vertiefung des Innerweltlichen sind in seiner Philosophie zuinnerst verbunden, was ver­ ständlich macht, weshalb Fink sie überwinden will, ohne auf den Reichtum ihrer ontologischen Untersuchungen zu verzichten.

2. Heraklit und der Anfang des kosmologischen Denkens Unter den Vorsokratikern, die Fink zufolge die Tiefe des Weltursprungs denken, verdient Heraklit besondere Aufmerksamkeit. Die Interpretation Heraklits steht im Mittelpunkt von zwei Haupttexten des vorliegenden Bandes; ihm sind sowohl die zentralen Kapitel von Grundfragen der antiken Philosophie (einer Vorlesung, die Fink im Wintersemester 1947/48 in Freiburg hielt) als auch ein Seminar gewidmet, das er 1966/67 zusammen mit Martin Heidegger veranstaltete. Hat schon Anaximander nach Finks Auffassung dem Problem der Beziehung zwischen Sein und Erscheinung dadurch Tribut gezollt, dass sein Begriff des apeiron das Unvergängliche denkt, das die vergänglichen Dinge aus sich entlässt und in sich zurücknimmt (wie im dritten Teil der Grundfragen zu lesen ist), so habe doch Heraklit die Implikationen dieses Themas mit besonderem Bezug auf das Seiende im Ganzen und die Zeit weiterentwickelt. Die Vielfalt der Fragmente Heraklits wird von Fink dahingehend interpretiert, dass er in ihnen die graduelle Vertiefung einer Seinsauffassung erkennt, die das Sein als Zum-Sein-Kommen bzw. als Übergang vom Dunkel zum Licht des ganzen Feldes der Phänomenalität denkt. Insbesondere beschreibt Fink unterschiedliche Stufen, in denen sich die von Heraklit betrachtete Seinsbewegung manifestiert und zu erkennen gibt: das Verhältnis zwischen einzelnen Dingen, die sie umfangende und ordnende Ganzheit des Kosmos, das dynamische Erscheinen dieser Ganz­ heit und die Dunkelheit, aus der heraus der Kosmos entsteht. Das Werden, 691

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das man üblicherweise als innerweltliches zeitliches Werden für den Haupt­ begriff der Philosophie Heraklits hält, wird in diesem Zusammenhang auf unterschiedlichen Ebenen interpretiert, insofern es sowohl auf den Wechsel der Dinge als auch auf die ontologische Bewegung, die die Existenz der Dinge ermöglicht, zurückgeführt wird. Genauso ist die Zeit (aiōn), die im Fragment 52 auftritt, Fink zufolge nicht nur die zeitliche Dimension des Seienden, sondern auch die dem Sein korrespondierende zeitigende Zeit, die als ursprüngliches Ereignis die dingliche Zeitlichkeit hervortreten lässt. Das theoretische Universum, das sich auf diese Weise aus den Frag­ menten Heraklits entfaltet, besteht daher aus Begriffen und Symbolen, die gemeinsam zu einem gegliederten ontologischen Aufbau führen, der sich von den später von der Metaphysik beschriebenen Seinsauffassungen dadurch unterscheidet, dass er nicht der Struktur des Seienden, sondern der Bewegung des Erscheinens der Welt selbst entspricht. In den Sprüchen Heraklits lässt sich nach Fink ein Denken finden, das die Welttotalität geahnt und zum Ausdruck gebracht hat, bevor sie von der metaphysischen Tradition vergessen wurde. Die Erforschung der oben genannten Stufen stimmt mit der Entdeckung einer graduellen Reduktion überein, die durch die Fragmente Heraklits Gestalt annimmt, als würde Fink in den Symbolen des vorsokratischen Denkers die Spuren einer anfänglichen phänomenologischen Kosmologie finden. Das innerweltliche Werden und die Gegensätze, die die Beziehungen zwischen den Dingen bedingen, finden in Heraklits Sprüchen Resonanz und werden zudem ,begründet‘, insofern dieselben Sprüche zugleich auf ursprünglichere Gegensätze verweisen: so auf den Gegensatz zwischen der Vielfältigkeit der Dinge und der sie umfassenden Einheit der Welt wie auch auf den Gegensatz zwischen der gelichteten und einheitlichen Weltdimension und ihrer ebenso einheitlichen dunklen Quelle, die Fink auch „Weltnacht“ nennt. Von den einzelnen Phänomenen und von der Sphäre ihres Erscheinens ausgehend, stößt Heraklit – so Fink – zu immer tieferen Bedingungen des Phänomen-Seins vor, die die menschliche Erfahrung in der alltäglichen natürlichen Einstellung normalerweise vergisst, wenngleich der Mensch die Weite dieser Bedingungen ahnt und sich ihrem Verständnis öffnen kann. Dies beweist nicht nur eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen dem theoretischen Weg, den Fink bei Heraklit findet, und dem Forschungs­ weg, der seiner eigenen Weltontologie nach dem Krieg zugrunde liegt, sondern auch eine gewisse Nähe Heraklits (nach Finks Interpretation) zu dem methodischen Gang, der in den Jahren der Zusammenarbeit mit Hus­ serl die Forschungen Finks von der phänomenologischen Beschreibung der

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2. Heraklit und der Anfang des kosmologischen Denkens

innerweltlichen Erfahrung bis zu den spekulativen (und auf gleiche Weise phänomenologisch gerechtfertigten) Grundlagen der Meontik führte.13 Die Interpretation Finks zeichnet sich dadurch aus, dass sie phänome­ nologisch nach der Wahrheit der Worte Heraklits forscht und über eine ontische Auslegung insofern hinausgeht, als sie auf der Suche nach den Spuren ist, die auf die Tiefe der oben genannten Stufen – von den innerwelt­ lichen Phänomenen bis zum abgründigen Ursprung des Seins – verweisen. Unter der Schicht der unmittelbaren Bedeutung der Herakliteischen Worte, die sich in Anbetracht der Dinge und ihrer Bewegung erschließt, sucht Fink nach der eigentlichen, verborgenen Dimension, die sich in diesen Ausdrücken zu erkennen gibt, nämlich nach dem ursprünglichen Feld, von dem aus das dingliche Erscheinen und die innerweltlichen Gegensätze allererst möglich sind. Die Dunkelheit der Fragmente Heraklits impliziert folglich unterschiedliche Interpretationsebenen, die dem graduellen Abstieg zu den Wurzeln des erscheinenden Seienden und des auf das Seiende bezogenen Sagens entsprechen. In diesem Zusammenhang erweisen sich die Begriffe des logos, des sophon, der psychē und der physis als wesentlich, wie man den Grundfragen der antiken Philosophie entnehmen kann, wo Fink sich auf die Übersetzung der Fragmente durch Hermann Diels stützt. Besonders die Fragmente 32, 50, 45 und 123 sind hier von Bedeutung: „Eins, das allein Weise (hen to sophon), will nicht und will doch mit dem Namen des Zeus benannt werden“; „Haben sie nicht mich, sondern den logos vernommen, so ist es weise, dem logos gemäß zu sagen, alles sei eins“; „Der Seele Grenzen kannst du im Gehen nicht ausfindig machen, und ob du jegliche Straße abschrittest; so tiefen logos hat sie“; „Die Natur (physis) liebt es, sich zu verbergen“.14 In jedem dieser Fragmente verbirgt sich laut Fink ein entscheidendes Moment, das zusammen mit den anderen Fragmenten die Struktur der Dynamik der Entstehung der Welt und der Erscheinung ausmacht. Aus diesem Grund müssen die einzelnen Sprüche Heraklits und die entsprechenden Begriffe als Teile eines einzigen Ganzen gedeutet werden. Hen to sophon, „das eine Weise“, entzieht sich personalen Kategorien und stimmt mit dem Licht überein, durch das die Dinge erscheinen und vom menschlichen Auge erfasst werden können. Es wird von Fink als Welt-Ver­ nunft und gelichtete Weite des Offenen definiert, in der das Sich-Zeigen der Phänomene statthat und diese in ihre Einzelheit umgrenzt werden. Wie wir Zum Begriff der Meontik vgl. Ronald Bruzina, Edmund Husserl and Eugen Fink. Beginnings and Ends in Phenomenology, 1928–1938, New Haven/London: Yale University Press 2004, Kap. 7. 14 Zu Finks Deutung dieses Fragments vgl. Yusuke Ikeda, „Eugen Finks transzendental-phänome­ nologisches Weltdenken und seine Heraklit-Interpretation unter besonderer Berücksichtigung des Begriffs der Physis“, in: C. Nielsen/H. R. Sepp (Hg.), Wohnen als Weltverhältnis. Eugen Fink über den Menschen und die Physis, Freiburg/München: Alber 2011, S. 15–41, Abschnitt 3. 13

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im Abschnitt 18 der Grundfragen lesen, ist to sophon der positive Name für die alētheia des Seins, für den Raum der Vernehmbarkeit und Sichtbarkeit, in dem der Mensch die Dinge in der Einheit der Welt über die Vernunft erfahren kann. To sophon ist gerade diese Welteinheit, das Einssein von allem, die offene und einheitliche Dimension des Aufenthaltes des dinglichen Seins und der menschlichen Erfahrung, das heißt das Entstehen des räumlichen und zeitlichen Reichs der Vereinzelung, wo alles, was existiert, eine Weile, einen Ort und eine Gestalt erhält. Dies ist laut Fink die eigentliche bzw. kosmische Weisheit, auf die das Fragment 32 anspielt. Ist to sophon die Seinsmacht, die mit dem Sich-Entbergen der Welt übereinstimmt, ist der von Heraklit erwähnte logos die damit verbundene Struktur, die das Ganze des Seienden und alle Dinge (ta panta) durchwaltet; er ist der Sinn, zu dem sich die Menschen verhalten müssen, damit sie die Welt verstehen und untereinander auf der Basis dieses gemeinsamen Verständnisses kommunizieren können. Anders formuliert: Ist to sophon die einheitliche, allgemeine und Welt erhellende Vernunft, an der die vernünftigen Wesen (die Menschen) teilhaben, ist der logos die ontologische Durchgliederung und das strukturelle Prinzip einer solchen Vernunft, das heißt die Weise, wie sie sich innerlich auffächert. Während Fink den zeitlichräumlichen Horizont der Dinge auf den Begriff des sophon zurückführt, wird die ontologische Bedingung des Ding-Seins im Begriff des logos gedacht. Logos und sophon sind dann unterschiedliche Momente eines einzigen ontologischen Ereignisses, und zwar desjenigen Weltaufbruchs, der nach Fink sowohl der Kern der eigentlichen Philosophie Heraklits als auch die nicht thematisierte und vergessene Voraussetzung der auf sie folgenden Metaphysik ist. Auch der Begriff der psychē wird insofern im Blick darauf interpretiert, als er die besondere Beziehung zwischen Weltlogos und Mensch betrifft. Die psychē, die Seele, die von Heraklit u. a. in den Fragmenten 45, 115 und 118 zur Sprache kommt, ist kein Vermögen, das unter anderen Vermögen die menschliche Erkenntnis betrifft, sondern die Offenheit selbst zum Sein und zum Licht der Welt, die es dem Menschen erlaubt, am kosmischen logos teilzuhaben und die Dinge in diesem Licht zu erfassen. Die so interpretierte Seele ist nichts Subjektives, sondern – so Fink – der Einbruch des kosmischen logos in den Menschen. Die besondere Stellung des Menschen im Kosmos, die sich aus den Fragmenten Heraklits ergibt, impliziert folglich, dass einzig der Mensch unter allen Lebewesen das Geheimnis des Seins verstehen kann, da einzig die menschliche Vernunft für den logos der Welt (ihre prägende Fügung) und das sophon (das weltdurchwaltende Licht) offen ist. Wie Fink, Heraklit interpretierend, in den Grundfragen behauptet, ist der Mensch

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2. Heraklit und der Anfang des kosmologischen Denkens

aus diesem Grund ein ontologisches Tier,15 in dem die kosmischen Mächte Wohnung nehmen und das grundsätzlich über zwei divergente Verständnisund Wissensmöglichkeiten verfügt: Entweder es denkt diese Offenheit als solche und erreicht auf diese Weise das echte philosophische Wissen oder aber sein Blick bleibt von der Vielfalt der Dinge so benommen, dass es vor lauter Bäumen den Wald (die Lichtung des Seins) nicht sieht. Das ist der zentrale Unterschied zwischen dem Vielwissen (polymathiē), um das es im Fragment 40 geht, und der wahren Weisheit (sophiē), welche die Zerstreuung und Vielfalt der Dinge – phänomenologisch – einklammert und sich auf diese Weise der Weisheit der Welt zuwendet. Ein weiterer Begriff, der Finks Interpretation zufolge die Seinsauffas­ sung Heraklits betrifft, ist der Begriff der physis, dessen Erfassung eine radikale (die äußerste) Wandlung des Denkens mit sich bringt. Während sich logos und sophon auf das sich lichtende Feld des Aufgangs der Dinge bezie­ hen, ist physis der Gegenbegriff zu sophon, das heißt sein nicht-scheinender und verborgener Ursprung. Physis ist nicht die Welthelle, sondern die verschlossene Weltnacht und Weltdunkelheit, die nur negativ angesprochen werden kann und auf die das Licht grundsätzlich bezogen bleibt. Lichtung und Verbergung, das Reich der Allheit des Vielen (panta) und das Reich der unbestimmten Einheit (hen) sind zwei Seiten derselben Medaille bzw. desselben ontologischen Geschehnisses, das Heraklit in seiner scheinbar kryptischen Sprache umreißt. Die Wahrheit, die Fink in den Herakliteischen Fragmenten findet, dreht sich dann um dieses wesentliche und untrennbare Verhältnis zwischen sophon und physis, zwischen dem Offenen, in dem sich die vielen Dinge aufhalten, und seinem einheitlichen Grund. Auf dieselbe Wahrheit verweisen ferner die Symbole und Bilder, die Heraklit in seinen Sprüchen verwendet, um seinem Denken Ausdruck zu verleihen, wie z. B. das in den Fragmenten 30 und 90 verwendete Bild des Feuers (das die Zeit als bleibende Bewegung des Erscheinens symbolisiert) und der Gegensatz zwischen Dionysos und Hades (Fr. 15), Leben und Tod (Fr. 76), Bogen und Leier (Fr. 51), sichtbarer und unsichtbarer Harmonie (Fr. 54). Diesen Gegensätzen liegt nach Fink nicht primär der Bezug auf einen ontischen Unterschied zugrunde, sondern der Verweis auf die ursprüngliche Bewegung, die hen und panta vereinigt. Er hält diesbezüglich fest, dass die Inhalte der „symbolischen Philosophie“ Heraklits und seiner „eigentlichen Philosophie“ (die sich in den oben genannten Begriffen ausdrückt) zusam­ menfallen. Die Wege des Abstiegs zum ontologischen Ursprung, aus dem die Fragmente Heraklits ihre Wahrheit schöpfen, münden dann in der physis 15

Vgl. Eugen Fink, Grundfragen der antiken Philosophie, oben in diesem Band, S. 168ff.

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als dem dunklen Boden, aus dem sich die Lichtdimension der Welteinheit (to sophon), ihre Gliederung (logos), die menschliche Offenheit zur Welt (psychē) wie auch die einzelnen Dinge entbergen; dieser „Boden“ ist daher das letzte und tiefste Ergebnis des geschichteten Seinsverständnisses und der ontologischen Ausgrabung, die sich in den Sprüchen Heraklits sowohl durch Symbole als auch durch Begriffe entfalten. Dass ein solches Konzept von physis in Finks Perspektive zentral ist, geht eindeutig auch aus dem Text des Heraklit gewidmeten Seminars hervor, das Fink 1966/67 gemeinsam mit Heidegger in Freiburg veranstaltete.16 Einerseits zeigt das Seminar die Ähnlichkeit der Deutungsansätze beider Denker auf, die vom Seinsdenken und vom Gedanken der ontologischen Differenz geführt werden. Es ist offensichtlich, dass sich beide in demselben Problemfeld bewegen und sich von hier ausgehend mit der Philosophie Heraklits auseinandersetzen. Während der Auslegung der Fragmente im Laufe des Seminars werden andererseits Unterschiede zwischen den beiden Interpretationen offenkun­ dig, die keineswegs sekundär sind und auch die Rolle bzw. Bedeutung der physis betreffen.17 Auch wenn diese Differenzen nicht nachdrücklich betont werden, tritt doch eine gewisse Resistenz Heideggers gegenüber der Deutung Finks, insbesondere den Begriffen, die die Einheit und Dunkelheit des Allgrunds betreffen, immer deutlicher hervor. In Übereinstimmung mit seiner Ontologie, die das Sein als Ereignis und Unverborgenheit des Seien­ den denkt und auf keinerlei ontische Kategorien zurückgreift, akzeptiert Heidegger nur zögernd das Beharren Finks auf der Idee eines einheitlichen und dunklen Allgrunds, der das Sein der Dinge sowohl gibt als auch nimmt. So erläutert Fink beispielsweise am Anfang des Seminars das Bild des Blitzes im Fragment 64, indem er behauptet, der Blitz sei „der plötzliche Aufbruch des Lichts im Dunkel der Nacht“;18 er bemüht also unmittelbar das Bild eines unbestimmten und mit dem Licht verbundenen Dunkels. Wie das Denken der Lichtung des Seins und die Idee einer nächtlichen ontologischen Dimension koexistieren können, ist jedoch für Heidegger nur schwer zu fassen, wie immer wieder geäußerte Fragen und Zweifel im Laufe des Semi­ nars zeigen: „Wenn wir Fragment 123 dazunehmen: φύσις κρύπτεσθαι φιλεῖ, wie ist dann hier φύσις zu verstehen?“19; „Ist das ἕν, das Sie jetzt im Blick 16 Zu diesem Seminar vgl. David Krell, „The Heraclitus Seminar“, Research in Phenomenology, 1 (1971), S. 137–146; John Sallis/Kenneth Maly (Hg.), Heraclitean Fragments. A Companion Volume to the Heidegger/Fink Seminar on Heraclitus, Alabama: The University of Alabama Press 1980. 17 Zu einem Vergleich zwischen Heidegger und Fink mit Bezug auf den Begriff der physis, vgl. Cathrin Nielsen, „Kategorien der Physis. Heidegger und Fink“, in: C. Nielsen/H. R. Sepp (Hg.), Weltdenken. Annäherungen an die Kosmologie Eugen Finks, Freiburg/München: Alber 2011, S. 154–183. Im selben Band vgl. auch Helmuth Vetter, „Die nächtliche Seite der Welt. Anmerkungen zu Martin Heidegger und Eugen Fink“, S. 184–207. 18 Eugen Fink, Heraklit (Seminar mit Martin Heidegger – 1966/67), oben in diesem Band, S. 282. 19 Ebd., S. 319.

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2. Heraklit und der Anfang des kosmologischen Denkens

haben, so etwas wie ein Über-Sein, das noch über das Sein hinausgeht?“20; „Herr Fink hat also die Auslegung Heraklits mit dem Blitz angefangen. Ist dieser Anfang selbstverständlich? Ist er nicht überraschend?“21; „Sie unterstreichen die Nacht und verstehen sie spekulativ“22; „Sie gehen mir zu rasch in die spekulative Dimension über“23. Heidegger zufolge darf sich das streng ontologische Denken nicht aus dem Raum des Sich-Lichtens des Seins entfernen, da diese Entfernung einen Übergang zum Spekulativen und einen Verrat am Phänomen mit sich bringen würde. Dagegen zeigen Fink zufolge die Phänomene selbst (allem voran das Phänomen des Todes) auf das Nichts, was heißt, dass ein Verrat am Phänomen viel eher mit der Vergessenheit dieser Dimension und mit dem einseitigen Beharren auf der Sphäre des Lichts (wie von Heidegger vorgeschlagen) zusammenfallen würde. Das Ziel der beiden Denker mag dasselbe sein, das Verfolgen dieses Ziels aber setzt unterschiedliche theoretische und hermeneutische Perspektiven voraus, die sich in ihren jeweiligen Interpretationen Heraklits spiegeln. Der Unterschied erscheint umso klarer, wenn man die oben umrissenen Betrachtungen Finks in Sachen Heraklit mit der Interpretation vergleicht, die Heidegger in den 1940er Jahren entwickelt hat. Insbesondere in seiner Vorlesung vom Sommersemester 1943 (Der Anfang des abendländischen Denkens) legt Heidegger die von Heraklit gedachte physis so aus, dass er sie in Beziehung zur Erfahrung der Unverborgenheit, des Lichts und des Aufgehens der Erscheinungsdimension (Lichtung) des Seienden setzt, ausgehend somit von einer Bedeutung des Lichts, die der Bedeutung des Dunkels, die bei Fink zentral sein wird, entgegensetzt wird. Mit Bezug auf das Fragment 123, das wenig später eine wesentliche Rolle auch in der Vorlesung Finks zu den Grundfragen der antiken Philosophie spielen wird, insistiert Heidegger ausdrücklich darauf, die physis, die der Hauptbegriff der vormetaphysischen Philosophie Heraklits sei, als ein „immerdar Aufgehen“ zu verstehen.24 Aus diesem Grund schlägt er eine Übersetzung des Frag­ ments vor, die von der in der verwendeten Diels/Kranz-Ausgabe abweicht: Statt „Die Natur liebt es, sich zu verbergen“ solle es heißen: „Das Aufgehen dem Sichverbergen schenkt’s die Gunst“.25 Während die physis nach Fink das Reich der Verborgenheit ist, dessen untrennbares Verhältnis zur Offenheit Ebd., S. 320. Ebd., S. 347. 22 Ebd., S. 407. 23 Ebd., S. 408. 24 Martin Heidegger, „Der Anfang des abendländischen Denkens“, in: Heraklit, Gesamtausgabe 55, hg. v. Manfred S. Frings, Frankfurt am Main: Klostermann 21987, S. 109. Im selben Band vgl. auch „Logik. Heraklits Lehre vom Logos“, S. 183–387. Zu Heideggers und Finks Interpretation von Heraklit vgl. Adriano Ardovino, Interpretazioni fenomenologiche di Eraclito, Macerata: Quodlibet 2012. 25 Heidegger, „Der Anfang des abendländischen Denkens“, S. 110. 20

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der Welt seine einheitliche Identität nicht negiert, ist sie dagegen nach Heidegger die Un-Verborgenheit und das Offene, das dem Sichverbergen insofern „die Gunst schenkt“, als sich Aufgehen und Untergehen in ihm fügen und in Harmonie miteinander stehen.26 Anders ausgedrückt: Heidegger lässt zwar innerhalb seiner physis- und Seinsauffassung das Sich-Verbergen zu, nennt es aber als das Unscheinbare des Erscheinens selbst, das als solches nie erscheine, ohne es als einheitliche Weltnacht zu denken (wie dies bei Fink der Fall ist). Eine Sphäre vorauszusetzen, die über das Sein hinausgeht, impliziert nach Heidegger tatsächlich einen Absturz in die Spekulation (wie er 1966/67 im gemeinsamen Seminar mit Fink äußert), während eine solche Sphäre zuzulassen nach Fink mit der Strenge des phänomenologischen Blicks bzw. den Voraussetzungen einer meontischen Phänomenologie aus­ drücklich kompatibel ist. Es ist daher keine Überraschung, dass die beiden Philosophen aufgrund dieser unterschiedlichen Ausgangspunkte in den 1940er Jahren auch den Herakliteischen Begriff der harmoniē aphanēs auf unterschiedliche Art interpretieren. Fink deutet sie im 15. Kapitel der Grundfragen der antiken Philosophie als Harmonie zwischen der Dunkelheit der physis und der Welt der Dinge, während Heidegger in seiner Vorlesung aus dem Jahr 1943 behauptet: „Die ἁρμονία der φύσις, die Fügung, als welche die φύσις west, ist nicht etwa deshalb ἀφανής […], weil zu ihr das κρύπτεσθαι gehört in dem mißdeuteten Sinn des Sichversteckens, sondern weil die φύσις als das reine Aufgehen offener ist als jedes geradehin Offenkundige“27. Konsequenterweise und ausgehend von diesen Prämissen verwundert es weiter nicht, dass sie in dem Heraklit gewidmeten gemeinsamen Seminar vom Wintersemester 1966/67 jeweils verschiedenen Begriffen ausdrücklich Vorrang einräumen: Konzepte wie sophon und Feuer machen den Leitfaden der Interpretation von Fink aus, während logos und alētheia, die sich auf das Entspringen des Offenen beziehen, die Ausgangspunkte der Interpretation Heideggers bilden, wie dieser selbst klarstellt. Obwohl also Heraklit in beiden Fällen ein Denker bleibt, dessen philosophische Wahrheit zutage zu fördern ist, um einer eigentlichen, post-metaphysischen Ontologie erneut zu ihren eigenen Wurzeln zu verhelfen, wird doch diese Wahrheit durch unterschiedliche Deutungswege errungen, die sich wiederum beide am Rande des phänomenalen Bereichs und in der Nähe seines Übergangs zum Licht bewegen.

26 27

Ebd., S. 141. Ebd., S. 143.

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3. Parmenides und die Entstehung der Ontologie

3. Parmenides und die Entstehung der Ontologie Der abschließende Teil von Finks Vorlesung über die Grundfragen der antiken Philosophie ist einer eingehenden Auslegung des Lehrgedichts des Parmenides gewidmet, die vor allem dessen „innere Einheit“28 hervorheben will. Dabei geht es Fink weniger darum, die Fragen, die sich seit jeher hinsichtlich der Deutung des Parmenideischen Textes verdichten (z. B. ob und wie sich der erste und zweite Teil der Offenbarung der Göttin an den Philosophen vereinbaren lassen oder wie viele „Wege“ sie ihm tatsächlich weist), aus historiographischer und philologischer Perspektive zu lösen, als darum, das Problem, das dem Denken des Parmenides zugrunde liegt, in seiner Gesamtheit wiederzuentdecken. In seiner Untersuchung des Parmenides wie auch schon Heraklits erhebt Fink einen Anspruch, der für einen Großteil seiner Forschungen während der Nachkriegszeit gilt, in mancher Hinsicht allerdings schon in der früheren (im engeren Sinne „phänomenologischen“) Phase seiner Betrachtungen auftaucht. Es geht um den Anspruch, eine Auseinandersetzung mit dem griechischen Anfang des abendländischen Denkens anzuregen, um, indem man vor die Metaphysik und ihre Geschichte zurückgeht, ebendiesen Anfang phänomenologisch-spe­ kulativ und zugleich phänomenologisch-hermeneutisch zu befragen. Eine solche Befragung ist einerseits auf die „Sache selbst“ des ganzen philosophi­ schen Denkens gerichtet, welche als die „Frage nach dem Ursprung der Welt“ bezeichnet werden kann,29 und wird andererseits grundsätzlich mittels der Interpretation überlieferter Texte – in diesem Fall: Fragmente – durchge­ führt, wobei eine Wechselwirkung von Verwandtschaft und Fremdheit, von Nähe und Distanz zum frühgriechischen Denken erfahren wird. Weder leugnet Fink die Notwendigkeit der philologischen Vorarbeit, die in der Tat „eine unerlässliche Voraussetzung für jeden philosophierenden Zugang zum wesentlichen Denken der Antike“30 bildet, noch lehnt er das Bedürfnis nach einer textimmanenten Interpretation ab, die er seinerseits als Untersuchung der impliziten Modelle und operativen Begriffe im Denken eines Autors unternimmt. Darüber hinaus ist er sich der zahllosen philolo­ gischen und begrifflichen Hindernisse bewusst, die jedem Versuch eines einund ganzheitlichen Verständnisses von Parmenides’ Lehrgedicht, und zwar in der Form, die von Herrmann Diels auf der Grundlage der überlieferten Fragmente rekonstruiert wurde, im Wege stehen. Von diesem Hintergrund Fink, Grundfragen der antiken Philosophie, oben in diesem Band, S. 193. Eugen Fink, „Die phänomenologische Philosophie Edmund Husserls in der gegenwärtigen Kritik“ (1933), in: ders., Studien zur Phänomenologie (1930–1939), Den Haag: M. Nijhoff 1966, S. 101 (vor­ gesehen für Band 1 der EFGA). Vgl. in diesem Band Finks Vorlesung Grundfragen der antiken Philo­ sophie, S. 107: „Die Philosophie denkt den Ursprung der Welt“. 30 Fink, Grundfragen der antiken Philosophie, oben in diesem Band, S. 10. 28

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ausgehend stellt sich Fink zwei Aufgaben: 1) das Problem (welches bereits in den Worten der Göttin am Ende von Fragment 1 angedeutet wird) des Verhältnisses von Sein und Schein zu erhellen, das in der Geschichte des philosophischen Denkens auf das Denken des Parmenides zurückgeht; 2) das Problem des inneren Zusammenhangs zwischen den beiden Teilen des Gedichts zu lösen. Freilich entspringt Finks Lösung beider Probleme eher einem philosophisch-spekulativen Interesse als einer streng exegetischen Absicht. Das zeigt sich vor allem in der Art und Weise, wie Fink sich auf Karl Reinhardts berühmtes Werk Parmenides und die Geschichte der griechischen Philosophie (1916) bezieht, welches sowohl für seine Rezeption des Parmenideischen Textes als auch zuvor für Heideggers Interpretation des Denkens des Philosophen aus Elea (wie eine Fußnote in Sein und Zeit von 1927 bezeugt)31 entscheidend wurde. „Für Parmenides ist keiner der beiden [Teile des Gedichts] ohne den anderen denkbar, und zusammen erst ergeben sie ein Ganzes“32: Es ist bekannt, dass gerade durch das Erscheinen von Reinhardts Werk jede Inter­ pretation des Parmenideischen Textes, die von der Evidenz dieser Annahme absah, ihre Plausibilität verlor. Damit deutete Reinhardt an, dass Parme­ nides’ Doxa-Lehre, in deren Mittelpunkt die Scheinwelt steht, nicht nur ein Abriss umstrittener Ansichten früherer Denker oder ein hypothetisches Konstrukt (wie Diels und Wilamowitz – wenn auch mit unterschiedlicher Betonung – behaupteten), sondern „eine höchst originelle Schöpfung“33 sei. Auch Fink weist auf die Gleichwertigkeit des zweiten Teils des Parmenidei­ schen Gedichts über die Welt der Erscheinungen (ta dokounta) mit dem ersten Teil über die Wahrheit des ur-einen Seins (to eon) hin, unterstreicht jedoch eine gewisse interpretatorische Zurückhaltung des berühmten Philo­ logen und Hellenisten bei der eingehenden Untersuchung der ontologischen Voraussetzungen des Verhältnisses von Wahrheit und Schein, von alētheia und doxa. Obwohl philologisch fundiert, verläuft sich Reinhardts zentrale Intuition (wonach der Weg der doxa nicht im Widerspruch zum ersten Weg steht) in einer erkenntnistheoretischen Erläuterung des Begriffs des Scheins (im Sinne von Trug oder Wahn), die letztendlich auf die theoretische Voraussetzung eines erkennenden, vorstellenden Subjekts zurückführt. Für Fink kann man hingegen zu einem einheitlichen Verständnis des Parmeni­ deischen Systems nur dann gelangen, wenn man auf eine „aktualisierende“ Lesart, die seine Bedeutung im Lichte des modernen Dualismus von Subjekt und Objekt umdeutet, verzichtet und stattdessen versucht, jene ontologische Grundfrage, die als Grundimpuls für die Philosophie des Parmenides wirkte, Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer 151979, S. 223. Karl Reinhardt, Parmenides und die Geschichte der griechischen Philosophie (1916), Frankfurt am Main: Klostermann 52012, S. 32. 33 Ebd., S. 27.

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wieder aufzugreifen, um mittels eines spekulativen Sprungs zu jener „Sache selbst“ zu kommen, die im Mittelpunkt dieser Frage steht. Die Frage des Denkers aus Elea sei wieder einmal jene Frage nach dem Weltursprung, nach der archē, die den Fragehorizont aller physiologoi (die Fink, im Anschluss an Nietzsche, keineswegs als bloße Vorläufer der „klassischen“ Denker Platon und Aristoteles betrachtet) kennzeichnet und bei Parmenides im Vergleich zu den Philosophien von Anaximander und Heraklit eine neue Konfiguration erfährt. Diese interpretative These Finks hat zwei Auswirkungen. Erstens setzt sie voraus, dass bei Parmenides die Philosophie „ausdrücklich für sich wird, was sie an sich schon war“34, und zwar in dem Sinne, dass die Philosophie des Parmenides die erste Form der ontologischen Erkenntnis darstellt, die das, was die früheren Philosophen bis dahin implizit durch die Begriffe archē, apeiron, physis gedacht hatten, explizit als Sein denkt. Für Fink stiftet die Philosophie des Parmenides „den philosophischen Begriff des Seins“35, der dann die Philosophien von Platon und Aristoteles weiterhin beeinflusst, auch wenn dieser Begriff von ihnen an einerseits jene kosmologischen Resonanzen allmählich verliert, die bei dem Denker aus Elea das eon mit der ursprünglichen physis verbanden, und andererseits von einer konsequenten Begrenzung des Denkens vom Sein auf eine substanzialistische Ontologie, die sich auf die Dimension der innerweltlichen Dinge bezieht, begleitet wird. In Finks Diagnose des Schicksals der Ontologie korrespondiert das Aufkommen des Seinsproblems in der Philosophie des Parmenides mit dem Beginn des Verschwindens des Weltproblems, einem Verschwinden, das wiederum eine eigentümliche Verflechtung mit dem Nihilismus als arrière-pensée der gesamten abendlän­ dischen Philosophie offenbart. Der Weltverlust ist für Fink freilich auch eine Folge des Ausschlusses des Nichts aus dem Sein, welcher einerseits den Geburtsakt der Ontologie markiert und andererseits verhindert, dass das Nichts selbst als „die ungeheure Macht, deren das heile und in sich volle Sein bedarf, um sich zu verendlichen, um aufgehen zu können als Welt, als die Stätte alles endlichen Seienden“36, gedacht wird. Zweitens deutet Fink auf eine spezifische Artikulation der Seinsfrage von ihren Anfängen an, und zwar durch vier Grundformen, die sich auf folgende Titel zurückführen lassen: Sein und Nichts, Sein und Werden, Sein und Schein, Sein und Denken. Diese Vierfältigkeit – die in vielerlei Hinsicht an eine ähnliche Aufteilung Heideggers in seiner Vorlesung Einführung in die Metaphysik vom Sommersemester 1935 erinnert, wo er von einer Beschrän­ Fink, Grundfragen der antiken Philosophie, oben in diesem Band, S. 209. Ebd., S. 224. 36 So Fink in der Vorlesung „Welt und Endlichkeit“ vom Sommersemester 1949, nun in: ders., Sein und Endlichkeit, EFGA 5.2, hg. v. R. Lazzari, Freiburg/München: Alber 2916, S. 191–402, hier S. 399. 34

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kung des Seins spricht37 – ist nach Fink sowohl in der vormetaphysischen als auch in der metaphysischen Philosophie am Werk, obwohl nur in der ersteren die Kraft der einzigen Frage nach dem Sein, d. h. die Natur einer Frage, die zum Ursprung aller Dinge, zur ursprünglichen archē oder physis führt, zu spüren sei. Eben aus dieser Interpretationsperspektive definiert Fink die altbe­ kannte Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Denken des Heraklit und dem des Parmenides neu und schließt zugleich jede Interpretation aus, die dieses Verhältnis auf einen Gegensatz von Thesen ontischer Bedeutung (z. B. universeller Fluss der Dinge vs. Unbewegtheit des einen Seienden) zurückführen will. Finks These nach kreisen beide Philosophen um die Seinsfrage im Ganzen, und zwar durch eine doppelte Denkbewegung, näm­ lich „im Abstoß vom Bezirk des Augenscheins und in der interpretierenden Rückkehr zu ihm“38. Wenn aber das Grundproblem Heraklits das von Sein und Werden, d. h. vom Hervorkommen und Zurückgehen der Dinge aus der physis und in die physis ist, ist das Grundproblem des Parmenides das von Sein und Schein, wobei Schein als ontologischer und nicht als gno­ seologischer Begriff zu verstehen ist. Denn in der eleatischen Philosophie – wie in allem vorsokratischen Denken – weist er nicht in Richtung der Subjektivität, wie das im modernen Denken der Fall ist, sondern auf die weltliche Äußerung des Seins – er ist kein Anschein, sondern Vorschein.39 Was aber – so unsere Frage – ist das Grundproblem, das Fink im Visier hat, wenn er das Denken des Parmenides und von da aus die gesamte Geschichte der Ontologie interpretiert? Es scheint, dass es sich dabei grund­ sätzlich um das Problem jenes Verhältnisses handelt, das im metaphysischen Denken vernachlässigt wurde: das Verhältnis von Sein und Welt. Wenn es ein Leitmotiv gibt, das alle Überlegungen Finks – von der Vorlesung vom Sommersemester 1947/48 bis zu dem im Wintersemester 1966/67 gemein­ sam mit Heidegger veranstalteten Seminar über Heraklit – durchzieht, so scheint es in dem Versuch zu bestehen, die geheime Weltherkunft der Grundworte der Ontologie ans Licht zu bringen und damit eine Überprüfung der ontologischen Begrifflichkeit der Metaphysik „von der Basis eines echten Weltverständnisses aus“40 zu vollziehen. Der Anspruch, das Verhältnis von Vgl. Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Tübingen: Niemeyer 1953, S. 71. Fink, Grundfragen der antiken Philosophie, oben in diesem Band, S. 94. 39 Vgl. ebd., S. 191. Zum Unterschied zwischen „Anschein“ und „Vorschein“ bei Fink siehe Eugen Fink, „Sein, Wahrheit, Welt. Vor-Fragen zum Problem des Phänomen-Begriffs“ (1958), Kap. 8–10, EFGA 6, S. 279–308. Vgl. auch Eugen Fink, „Die intentionale Analyse und das Problem des spekulativen Denkens“ (1952), in: ders., Nähe und Distanz. Phänomenologische Vorträge und Aufsätze, hg. v. Fr.-A. Schwarz, Freiburg/München: Alber 1976, S. 139–157 (vorgesehen für Band 1 der EFGA). 40 Fink, „Welt und Endlichkeit“, EFGA 5.2, S. 380. Zu diesem Thema siehe Hans Rainer Sepp, „Total­ horizont – Zeitspielraum. Übergänge in Husserls und Finks Bestimmung der Welt“, in: Anselm Böh­ 37

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Sein und Welt jenseits der Metaphysik neu zu bestimmen, liegt auch der Art und Weise zugrunde, wie Fink, ausgehend von einer Neubesinnung auf das schwierige Erbe der Husserlschen Phänomenologie, in den Nachkriegsjah­ ren auf die rastlose Entwicklung des Seinsdenkens von Heidegger reagiert. Es ist nicht zu übersehen, dass Fink jedes Mal, wenn er mit Heidegger in Dialog tritt (beginnend 1952 mit dem „Colloquium über Dialektik“ in Muggenbrunn),41 dazu neigt, die Seinsfrage an die Weltfrage zu binden; zu übersehen ist auch nicht, wie er bereits 1949 in der Vorlesung Welt und Endlichkeit die Entwicklung des Heideggerschen Denkens, welche sich von Sein und Zeit (1927) bis zum Brief über den Humanismus (1947) erstreckt, interpretiert: nicht als „Kehre“ in der Seinsfrage, sondern als eine Wandlung des Weltbegriffs (von einem „existenziellen“ in einen „kosmischen“). Dass die unter anderen Aspekten ähnlichen philosophischen Perspekti­ ven Heideggers und Finks – welche ihre Distanz zur Metaphysik einmal auf­ grund der „ontologischen Differenz“ (Heidegger), das andere Mal aufgrund der „kosmologischen Differenz“ (Fink) betonen – gerade im Ausgang von der Frage zum Verhältnis von Sein und Welt voneinander abweichen, lässt sich an dem Gespräch über die Interpretation des Heraklit ablesen, das die beiden Philosophen während des gemeinsamen Seminars im Winter 1966/67 führten (und dem, ihren Absichten nach, eine Interpretation des Parmenides folgen sollte). Im Verlauf einer eingehenden Diskussion der Herakliteischen Fragmente – welche sich entlang eines von Fink entworfenen, aber durch Heideggers Fragen umgestalteten interpretatorischen Pfades entfaltet – scheint es zuweilen, als würden „zwei Wege“, d. h. „zwei mögliche Ansätze“ des philosophischen Denkens skizziert.42 Gerade in der Frage, wie das Verhältnis zwischen onta und ta panta (zwischen den vielen seienden Dingen und allem Seienden) bei Heraklit zu begreifen sei, tut sich ein Unterschied in der Herangehensweise der beiden Denker auf, den Fink so erläutert: Wenn wir die onta von den ta panta her denken, bewegen wir uns in einem ausdrücklichen Weltverhältnis, ohne jedoch die Welt schon zu denken. Ver­ stehen wir aber die ta panta von den onta her, bewegen wir uns in einem Seinsverständnis und denken es auf die Ganzheit hin.43

Im Laufe des Heraklit-Seminars zeigt sich bei Fink zudem die Tendenz, von einem ontologischen zu einem kosmologischen Vokabular überzugehen, zum Beispiel, wenn er die Begriffspaare ontisch-ontologisch und kosmischmer (Hg.), Eugen Fink. Sozialphilosophie – Anthropologie – Kosmologie – Pädagogik – Methodik, Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, S. 154–172, hier S. 159. 41 Vgl. Martin Heidegger, „Colloquium über Dialektik“, hg. v. G. van Kerckhoven, Hegel-Studien, 25 (1990), S. 10–40. 42 Fink, Heraklit (Seminar mit Martin Heidegger – 1966/67), oben in diesem Band, S. 364. 43 Ebd., S. 363f.

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kosmologisch als gleichwertig betrachtet – was bei Heidegger einige Beden­ ken und Reaktionen hervorruft.44 Es handelt sich dabei nicht um eine bloße sprachliche Übertragung von einer semantischen Ebene auf eine andere, welche den letzten Sinn der Seinsfrage unverändert ließe, sondern um Finks Versuch, zu zeigen, dass und wie die Welt grundsätzlich eine Rolle spielt, und zwar eine mehr oder weniger verborgene, sobald vom Sein die Rede ist. Ist ein solcher Weltbezug aber nicht schon in der metaphysischen Ontologie impliziert, die sich uneingestandenermaßen räumlicher Kategorien bedient und die Sprache der Welt spricht, etwa, wenn sie zwischen „diesseits“ und „jenseits“ unterscheidet?45 Vor diesem Problemkreis erweist sich eine Interpretation des Denkens des Parmenides für Fink als unausweichlich, um zu erhellen, inwieweit die Weltfrage bereits in den Ursprung der Ontologie in der Seinsfrage einbeschlossen ist. Fink will zeigen, dass eine Explikation des Seins – wie sie erstmals eben von Parmenides angeregt wurde – nicht auf einen einzigen Titel reduziert werden, d. h. nicht in der vermeintlichen Absolutheit eines einzigen Grundwortes (auch nicht des Wortes „Sein“) und dessen Ableitungen belassen werden darf, sondern in einem zirkulären Verhältnis zur Explikation des Denkens der Welt und damit der Grundworte, durch die wir Welt verstehen, vollzogen werden muss. Fink geht es darum, die verbor­ genen Horizonte der Welt, die in der Ontologie in den Untergrund gedrängt wurden, wieder ans Licht zu bringen; es geht darum, „das Ungedachte [aus dem] Wurzelboden der Ontologie“46 auszugraben: „Seit Parmenides“, so Fink beim „Muggenbrunner Colloquium“ mit Heidegger 1952, „wird der Weltbegriff nicht mehr gedacht, er wird innerweltlich und geht mit der Ontologie eigentlich verloren“47. Diesem Urteil, das in den Grundfragen vom Wintersemester 1946/47, wo jedoch eher die Absicht einer (wenn auch spekulativ motivierten) Interpretation des Parmenideischen Textes „von innen“ vorherrschte, nur skizziert wurde, wird in der späteren Vorlesung von 1951 (erst 1957 unter dem Titel Zur ontologischen Frühgeschichte von Raum – Zeit – Bewegung veröffentlicht) eine ausführliche Erläuterung gewidmet.48 In dieser Vorlesung bildet die Interpretation des Denkens des Parmenides den Ausgangspunkt, von dem aus Fink sich seiner eigenen kosmologischen Fragestellung annähert (kurz darauf mit systematischer Absicht in Sein, Wahrheit, Welt, 1958). Vgl. ebd., S. 386f. Vgl. Fink, „Nachdenkliches zur ontologischen Frühgeschichte von Raum – Zeit – Bewegung“, EFGA 6: „Wo immer die Ontologie die Sprache des Seins spricht, spricht sie auch, wenn auch unein­ gestanden die Sprache des Raumes, der Zeit, der Bewegung, d. h. die Sprache der Welt“ (S. 46). 46 Ebd. 47 Fink in: Heidegger, „Colloquium über Dialektik“, S. 13. 48 Zu Finks Interpretation von Parmenides in seinem 1957 erschienenen Werk siehe Virgilio Cesa­ rone, „Nachwort des Herausgebers“ zu Fink, Sein, Wahrheit, Welt, in: EFGA 6, S. 559ff. 44

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4. Die Parmenideische Explikation des Seins und das Weltproblem

4. Die Parmenideische Explikation des Seins und das Weltproblem Ein fester Punkt in Finks Auslegung des Parmenideischen Lehrgedichts in den Grundfragen – die hier ja im Mittelpunkt unserer Überlegungen stehen – ist die Überlegung, dass es im Gedicht nicht um das Sein am Seienden, also um die Seinsverfassung des Dinges (der Substanz bwz. ousia) geht, wie es später für das Projekt der Metaphysik kennzeichnend wird, sondern um das als archē gedachte Sein, d. h. um das Sein gleichsam vor dem Weltaufbruch, vor seiner Unterscheidung in Helle und Dunkel als Dimensionen des Erscheinens, vor seiner Zerstreuung in die Vielheit der Erscheinungen. Fink erkennt, wie schon gesagt, eine grundsätzliche Kontinuität zwischen den Philosophien von Anaximander, Heraklit und Parmenides – zwischen der Lehre vom apeiron, dem Begriff der physis und dem Begriff des eon –, und zwar in dem Sinne, dass der eleatische Denker das Gleiche denkt, was bereits im Blick der ionischen Denker stand: die archē als Ursprung der Welt, wobei „Ursprung“ hier eher als unendlicher Abgrund denn als oberste Ursache verstanden werden soll. Doch in der Philosophie des Parmenides – das zeigt Fink – wird die archē jener impliziten Metaphern sozusagen entkleidet, die bis dahin das Denken des Ursprungs kennzeichneten (schließlich war auch die physis noch ein Sinnbild, denn sie wurde als unerschöpflicher „Mutterschoß“, als,,Allesgebärerin“ betrachtet), und nun begrifflich „in ihrem reinen Wesen – ohne die Einkleidung ins Symbol“49 gedacht. Eine solche Behauptung mag fragwürdig anmuten, denkt man an den sinnbildlichen Auftakt des Gedichts (die Fahrt des Philosophen im Sonnenwagen zum Haus der Nacht als Symbol für den Weg des Denkens und die Bewegung des Enthüllens, des Offenbarmachens und Lichtens) und an die weiteren metaphorischen Aspekte, welche die Rede der Göttin einrahmen, und auf die Fink selbst immer wieder hinweist;50 oder wenn wir bedenken, dass Fink bereits in Bezug auf Heraklit von jenen Grundbegriffen sprach, welche seine „authentische“ Philosophie abgrenzten gegenüber der „symbolischen“ (wo die Funktion des Symbols trotzdem nicht die einer äußeren Hülle einer nicht-sinnlichen Wahrheit war). Worauf Fink in den Grundfragen aber hinauswill, ist nicht so sehr die Tatsache, dass das Denken des Parmenides weniger von Metaphern und Symbolen geprägt und in dieser Hinsicht also radikaler ist als das des Heraklit, sondern dass erst in der Spekulation des Parmenides das „ursprüngliche Sein“ begrifflich erfasst und durch ein komplexes Geflecht Fink, Grundfragen der antiken Philosophie, oben in diesem Band, S. 203. Z. B. jene „grandiose Metapher“ der „wohlgerundeten Kugel“, die nach Fink den Höhepunkt der Explikation des Seins im Fragment 8 und die konsequenteste Offenlegung des Analogiecharakters der von Parmenides angewandten Begriffe darstellt. Vgl. ebd., S. 217. 49

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Nachwort der Herausgeberin und des Herausgebers

von miteinander verwandten Wörtern explizit gemacht wird: eon, emmenai/ einai, estin, to pelein, und, umgekehrt, ouk esti, mē einai, to mē eon, ouk einai, mē eonta, ouk eon, mēden. Gerade der scheinbar tautologische Charakter der Offenbarung des Weges der Wahrheit (Fr. 2, Verse 3–4) – der auf die Doppelthese Sein ist, Nichtsein ist nicht zurückzuführen ist – lässt sich nach Fink dadurch erklären, dass unser Verständnis hier zum ersten Mal auf das Sein selbst zurückgeworfen und dem unwegsamen Weg, der das Nichts postuliert, gegenübergestellt wird. Folglich betonen die Fragmente 3 bis 6 des Lehrgedichts die Fähigkeit des nous, das eon als die abwesende archē anwesend zu machen, nämlich als das, was auf dem Grund aller Dinge, d. h. des vielfältigen Seienden (der mē onta von Fr. 7), in denen sich Sein und Nichts vermischen, verborgen und vergessen bleibt. Das Fragment 8 macht allerdings deutlich – so Fink –, wie der Versuch, sich auf den Ursprung zu besinnen bzw. das, was an sich ungegeben bleibt, zu denken und zu sagen, nur auf einem Umweg erfolgen kann, und zwar mittels ontologischer Analogien, die dennoch „versagende Metaphern“51 bleiben, weil sie in Bezug auf das, was sie aufzeigen, unzulänglich sind. Fink spricht von einem grundlegenden Analogiecharakter der Zeichen oder Wegmarken (sēmata) auf dem Weg zum Sein: Nur dank dieses Charakters können sie auf das verweisen, was über die Dimension des Phänomenalen hinausgeht und unserer ontisch-natürlichen, dem Kosmos der Erscheinungen verbundenen Sprache unverfügbar bleibt. Wenn er das Moment der Analogie als Schlüssel zur Explikation des Seins heranzieht, lässt sich Fink nicht so sehr von früheren platonischen und aristotelischen Denkmodellen inspirieren, um die Parmenideische Spekulation zu interpre­ tieren, sondern er greift implizit auf ein ursprüngliches Modell zurück, mit dem er bereits zuvor, in der transzendental-phänomenologischen Phase seiner Forschungen, experimentiert hatte. Wir wollen sehen, um welches Modell es sich handelt. Ein wichtiges Motiv von Finks (lange unveröffentlichtem) Projekt einer VI. Meditation (1932) – welche die Ergänzung und den Abschluss einer Umarbeitung von Husserls Cartesianischen Meditationen bilden sollte – war der Rückgriff auf die Analogie in einem neuen, nicht-metaphysischen Sinn. Im Mittelpunkt stand das Problem der Möglichkeit, die transzendentale Subjektivität am analogischen Leitfaden des Seienden in der Welt zu bestim­ men, „gleichsam als ob sie ein Seiendes wäre“52, d. h. ausgehend von der Erfahrung, dass wir uns beim Phänomenologisieren zur nicht-ontischen, Ebenda. Eugen Fink, „Sechste Meditation: Die Idee einer transzendentalen Methodenlehre“, in: ders., Text­ entwürfe zur Phänomenologie (1930–1932), EFGA Bd. 2, hg. v. G. van Kerckhoven, Freiburg/München: Alber 2019, S. 284. 51

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4. Die Parmenideische Explikation des Seins und das Weltproblem

transzendentalen Weltkonstitution (verstanden als Prozess der „primären Verweltlichung“) analog wie zu einem Seiendem verhalten. In der VI. Medi­ tation tritt dieses Motiv allmählich in den Vordergrund, wenn Fink das Prob­ lem der „sekundären Verweltlichung“ der phänomenologisch-transzenden­ talen Wissenschaft, d. h. ihrer notwendigen Äußerung oder Erscheinung in der Welt (in der Sprache, im wissenschaftlichen Diskurs und in der philo­ sophischen Kommunikation) behandelt. Insbesondere im Hinblick auf die Bestimmung der „transzendentalen Prädikation“53 als Äußerungsform des wissenschaftlichen Tuns des phänomenologisierenden Subjekts stellt Fink im § 10 die Frage nach der Sprache, derer sich das Subjekt bedient, um seine Erkenntnis zu artikulieren, und geht von der Auffassung aus, dass es keine echt transzendentale Sprache gibt, da jede Sprache aus dem Boden der natür­ lichen Einstellung hervorgeht. Dies führt zu folgendem Problem: Während der Ausdruckscharakter der natürlichen, weltlichen Sprache (der einzigen, die uns zur Verfügung steht) darin besteht, dass sie sich auf das Seiende allein bezieht, müssen wir bei der Äußerung der phänomenologischen Wis­ senschaft und ihrer Kommunikation eine Bedeutung angeben und explizit machen, die sich nicht auf das Seiende bezieht, sondern auf etwas anderes, und zwar auf jenes transzendental-konstituierende Leben, welches Fink dort als „Vorsein“ auffasst. Dementsprechend fragt er sich, ob bestimmte natür­ liche Wort- und Satzbedeutungen dank „einer lebendig analogisierenden Affinität“54 dazu dienen könnten, transzendentale Bedeutungen auszudrü­ cken, welche sich auf die Dimension des „Vorseins“, also nicht mehr auf die Welt der natürlichen Einstellung beziehen. Fink geht es darum, die Mög­ lichkeit einer „transzendentalen Analogie des Bedeutens“55 auszuloten, die uns in die Lage versetzen würde, über jede natürliche Analogie oder Sym­ bolik hinauszugehen, welche Seiendes mit Seiendem vergleicht. Mit ande­ ren Worten geht es darum, eine „Analogie zur Analogie“56 zu konzipieren, also eine Analogie zweiter Ordnung, die sich weiterhin der natürlichen Sprache bedient, diese aber einer „Reduktion der Sprache“ unterzieht, die parallel zur „Reduktion der Seinsidee“57 erfolgt. Auf diese Weise, so Fink, wird der Bezugsrahmen der ontischen Bedeutungen gesprengt und es wird gewährleistet, dass bestimmte Wörter und Ausdrücke in der Phänomeno­ logie als Anzeige einer meontischen Bedeutung fungieren können, ohne dass jedoch die Unangemessenheit aller transzendentalen Prädikation jemals behoben wird. 53 54 55 56 57

Ebd., S. 290. Ebd., S. 292. Ebd., S. 294. Ebenda. Ebd., S. 295.

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Nachwort der Herausgeberin und des Herausgebers

Auch nach jenem Übergang von einer transzendentalen Fragestellung zu einer Weltontologie, den Finks Reflexion in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre vollzieht, bestehen diese und andere Motive, die seiner Auseinander­ setzung mit der Husserlschen Phänomenologie eine deutlich spekulative Konnotation verliehen hatten, weiter. Die Auslegung des vorsokratischen Denkens, die Fink in jenen Jahren vornimmt, bietet ihm sogar die Mög­ lichkeit, die Frage nach dem Ursprung der Welt, die er zunächst als die Grundfrage der Phänomenologie bezeichnet hatte, von der transzendentalen auf die onto-kosmologische Ebene zu übertragen und diese also in einen Problemkreis zu überführen, der über „die intentionale Auslegung des Sinnes, den die Welt ständig für mich und uns hat“58, hinausgeht. Vor diesem Hintergrund – so scheint es uns – kehrt in Finks Vorle­ sungen zur antiken Philosophie (sowohl im Wintersemester 1947/48 als auch im Sommersemester 1951) das Problem des Verhältnisses zwischen natürlicher Sprache und Wissen über den Ursprung wieder, nun aber aus der Perspektive jener ontologischen Analogien beleuchtet, in denen er die Bedeutung der Parmenideischen sēmata sieht. Die Explikation des Seins kann, wie Fink zeigt, in der Tat durch Zeichen (vor allem: „ungeworden“, „unvergänglich“, „unversehrt“, „unerschütterlich“, „endlos“) erfolgen, die, wenn sie als spekulative Begriffe verstanden werden, einen mehrdeutigen, analogischen Status behalten: Jedes dieser Zeichen beruht zwar auf der Negation eines bestimmten natürlichen Begriffs, der sich auf die Welt der vielfältigen und vergänglichen Dinge bezieht, setzt aber dennoch ein dingliches Modell voraus, insofern es durch „die Metapher des von allen Endlichkeiten befreiten Dinges“59 to eon meint. Daraus ergibt sich jene grundlegende Schwierigkeit der Ontologie, dass sie, auch wenn sie das Sein meint, an eine ontische Sprache gebunden bleibt, die lediglich das Seiende „sagt“. Die Zweideutigkeit und Unangemessenheit der ontologischen sēmata – d. h. ihr analogischer und formal-anzeigender Charakter – lässt sich besser verstehen, wenn man sich dem Bereich der doxa zuwendet, wo sie für Fink ihre Wurzeln behalten, obwohl sie auf den unendlichen Grund aller endlichen Dinge verweisen. Die doxa umfasst bekanntlich die gesamte Dimension des Erscheinens, d. h. die Welt der Vereinzelung, der Endlichkeit und der Zeit, also „die Welt, in der wir leben, wahrnehmen und fühlen“60: das Reich der Phänomene, das Menschenland. Man kann ja sagen, dass nach Dazu siehe Guy van Kerckhoven, „Die Heimat Welt. Zur Deutung der Denkspur Martin Heideggers in Eugen Finks Frühwerk“, Perspektiven der Philosophie, 22 (1996), S. 105–137, hier S. 115. 59 Fink, Grundfragen der antiken Philosophie, oben in diesem Band, S. 216. 60 So Reinhardt – und später Fink selbst – in Bezug auf die „Sterblichen“ (brotoi) aus den Fragmenten 1 und 8 (Reinhardt, Parmenides, S. 66). Vgl. Fink, Grundfragen der antiken Philosophie, oben in diesem Band, S. 221. 58

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4. Die Parmenideische Explikation des Seins und das Weltproblem

Fink die doxa mit dem menschlichen Vernehmen der erscheinenden Dinge zusammenfällt, sofern man sie nicht als einfaches, subjektives und illusori­ sches Meinen auffasst: Bei Parmenides wird sie vielmehr ausgehend von der menschlichen Rede, von der Sprache betrachtet. Allerdings ist die Sprache – daran erinnert Fink – nicht einfach ein Vermögen des Menschen, denn der Mensch selbst gehört seit jeher zur Sprache und erst durch das Sprechen, verstanden als ein unaufhörliches ,,Ist“-Sagen, also durch das Nennen der seienden Dinge hat er eine Ahnung vom Sein. Für Fink stellt die doxa also eine Dimension dar, die sowohl den Menschen als auch das Erscheinen des vielfältigen Seienden beherrscht und mit dem ursprünglichen Nennen der Dinge, mit jenem Namengeben zusammenfällt, mittels dessen alles, was einen Namen hat, vereinzelt, vom „Ganzen“ getrennt und abgesondert wird: „Der Name“ – so Fink in seiner Ontologischen Frühgeschichte – „ist die Burg des endlichen Dinges“.61 Erst durch das Ansprechen des Seienden als Namengebung – nach Finks Auslegung der Fragmente 8 (Verse 50– 61) und 9 des Parmenides – nimmt die Erscheinungswelt der Sterblichen (der diakosmos eoikōs) eine präzise Physiognomie und Gliederung an, und die Macht des Unterschieds tritt zutage, und zwar ausgehend von jenem Unterschied und Gegensatz von Helle und Nacht (dem phaos und der nux), der alle anderen Unterschiede und Gegensätze begründet. Dieser Lesart nach wird die doxa zum Ausdruckskosmos des Seins, in dem die Dinge in ihren vielfältigen Bestimmungen und gegenseitigen Bezie­ hungen, die sie bezeichnen, durch ein Geflecht von Namen zum Vorschein kommen. Für Fink gilt die doxa aber auch als ante-litteram-Formulierung der „natürlichen Einstellung“ Husserls, d. h. jener „Weltbefangenheit des Menschen“, welche „die Grundweise unseres zunächst nur Offenseins für binnenweltlich Begegnendes“62 darstellt, und zwar noch vor dem Erwachen der Philosophie. Fink erinnert uns daran, dass der Philosoph lediglich innerhalb der Doxa-Welt und damit innerhalb einer Dimension, in der wir ständig von den Dingen „benommen“ sind, sowohl das Erscheinen als auch den Entzug des Seins als das, was in der Tat „namenlos“ bleibt, erfahren kann. Das heißt, dass wir zwar durch die sēmata auf das Sein als das Ungegebene verweisen können; dennoch bleibt unsere ontologische Explikation – so Fink in seinem Text von 1957 – „in der doxa gefangen, auch wenn sie deren Befangenheit durchbricht“63. In seiner Interpretation 61 Fink, „Nachdenkliches zur ontologischen Frühgeschichte von Raum – Zeit – Bewegung“, EFGA 6, S. 68f. 62 Eugen Fink, „Philosophie als Überwindung der ‚Naivität‘“ (1948), in: Nähe und Distanz, S. 107. Vgl. Georgy Chernavin, „Die flimmernde Natur der Doxa. Zwischen Gefangenschaft und Durchbruch der Befangenheit“, in: Nielsen/Sepp (Hg.), Wohnen als Weltverhältnis, S. 90–101. 63 Fink, „Nachdenkliches zur ontologischen Frühgeschichte von Raum – Zeit – Bewegung“, EFGA 6, S. 82.

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Nachwort der Herausgeberin und des Herausgebers

der Parmenideischen Ontologie bedient sich Fink einer Unterscheidung zwi­ schen „Gefangenschaft“ (der unüberwindbaren Dimension der Alltagswelt) und „Befangenheit“ (derselben Dimension, soweit sie noch nicht als solche erkannt wird), wobei an dieser Unterscheidung – neben dem Hinweis auf die platonische Höhle – noch einmal die phänomenologischen Prämissen der ersten Phase seiner Betrachtungen zu erkennen sind, als es um das Verhältnis von natürlicher Einstellung, Weltbefangenheit und Reduktion ging.64 Wir wenden uns hier jedoch einer anderen Überlegung zu. Die Grundfrage, die Fink im Zuge seiner Auseinandersetzung mit der Parmenideischen Philosophie aufwirft, besteht darin, ob der eleatische Denker der Explikation des Seins anhand der sēmata nicht doch stillschwei­ gend einige Merkmale zuordnet, die ursprünglich der Welt eigen sind, wenn diese nicht nur als Inbegriff der Erscheinungen, sondern als die eigentliche Bewegung des Auftauchens der Helle aus jenem Dunkel, das alles bedeckt und bewahrt, als der Spielraum und die Spielzeit aller Dinge erfasst wird. Demzufolge sind für Fink jene Züge der Ungewordenheit und Unvergänglichkeit, die Parmenides dem eon zuschreibt, ebenso wie jene, die in den vielfältigen anderen sēmata zum Ausdruck kommen, zunächst in einem kosmologischen Sinne zu überdenken. Ist die Welt nicht – so fragt er – „das einzige Unentstandene und Unvergängliche, weil Entstehen und Vergehen sich nur in ihr ereignen kann, das Einzig-Heile, dem nichts fehlen kann – das Einzige, das nicht in der Zeit ist, sondern die Zeit ist […]?“65 Und weiter: „Ist die Welt nicht das prinzipielle Leitmodell, nach dessen Bild der Gedanke das seiend denkt?“66; genauer gesagt: „Ist nicht der Weltgedanke doch viel mehr als ein Gedanke unter anderen, der Gedanke, durch den wir überhaupt denken können?“67 In gewisser Weise geht es also darum, jene Gedankenneigung umzukehren, die sich in der westlichen Philosophie seit Platons Timaios durchgesetzt hat, wonach der Kosmos zu einem Abbild des ewigen, unvergänglichen und unbewegten Seins wird und das Werdende nur nach dem Maßstab des Immerseienden gedacht wird. Es geht um die Wiederentdeckung der kosmologischen Bedeutung der Parmenideischen sēmata des Seins sowie aller ontologischen Begriffe, die nur im Lichte der Weltoffenheit des menschlichen Daseins bzw. von dessen Offenstehen für das Weltganze zu verstehen sind. Diese Fragestellungen und Reflexionsansätze sind in den Grundfragen vom Wintersemester 1947/48 nur skizziert, werden in der späteren Vor­ Vgl. dazu Giovanni Jan Giubilato, Freiheit und Reduktion. Grundzüge einer phänomenologischer Meontik bei Eugen Fink (1927–1946), Nordhausen: Traugott Bautz 2017. 65 Ebd., S. 82f. 66 Ebd., S. 83. 67 Ebd., S. 91. 64

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lesung Ontologische Grundprobleme von 1951, welche ebenfalls durch wei­ tere Seminare und Forschungsvorhaben zu Platons Parmenides (wiederum 1947/48), Timaios und Philebos (1949 bzw. 1951) und zu Aristoteles’ Physik (1951) vorbereitet und unterstützt wurde,68 hingegen explizit gemacht. Finks Absicht nach der Vorlesung vom Winter 1947/48 war es nämlich, die nächsten beiden Universitätssemester einer Behandlung des Denkens des Platon und des Aristoteles zu widmen. Verschiedene, mit den Wechselfällen während der ersten Jahre seiner Lehrtätigkeit an der Universität zusam­ menhängende Gründe führten dann aber zu Veränderungen in seinem Vorlesungsplan: In den auf die Vorlesung über die Grundfragen der antiken Philosophie folgenden Semestern setzte sich Fink intensiv vor allem mit Philosophen wie Kant, Hegel und Nietzsche auseinander, d. h. mit den am entgegengesetzten Pol des geschichtlichen Bogens der Metaphysik, die aus einer wirkmächtigen Transformation der Grundgedanken der griechischen physiologoi hervorging, angesiedelten Denkern. Als Fink in der Vorlesung von 1951 zu einer Erörterung des griechischen Denkens mit Blick auf eine kosmologische Ergänzung der Ontologie zurückkehrt, geht er diesmal vom Denken des Parmenides aus, um dann – nach einer Diskussion der Aporien des Zenon – zu den Philosophien von Platon und Aristoteles überzugehen. Die Überzeugung, die inzwischen in Finks Denken gereift ist, lautet, dass die Philosophie des Parmenides den Scheidepunkt bildet, von dem aus Ontologie und Kosmologie, die Frage nach dem Sein und die Frage nach der Welt, auseinandertreten: Die entscheidende Zäsur in der antiken Philosophie scheint mir nicht jene zu sein, welche die im Denken des Platon und des Aristoteles gestiftete Metaphysik trennt von den Vorsokratikern – so bedeutsam diese auch sein mag –, sondern der Graben, welcher das Welt-Denken der Jonier scheidet vom Seins-Denken der Eleaten, in zwei großen Gestalten repräsentiert: Heraklit und Parmenides. Von Parmenides an gibt es die ontologische Philosophie.69

Erinnert sei auch an das „Parmenides-Kolloquium“, das Fink im WS 1948/49 in Gemeinschaft mit Johannes Lohmann, Siegfried Bröse, Wolfgang Struwe – und „zuweilen“ Martin Heidegger – veranstaltete und von dem nur wenige Notizen in Finks Nachlass erhalten sind (siehe oben in diesem Band, S.563.). 69 So Fink in seinem Vortrag „Hegels ontologischer Grundansatz“, Heidelberg, 23. Mai 1951 (vor­ gesehen für Band 14 der EFGA) und mit fast denselben Worten in „Nachdenkliches zur ontologischen Frühgeschichte von Raum – Zeit – Bewegung“, EFGA 6, S. 49f. 68

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Nachwort der Herausgeberin und des Herausgebers

Eine Wiederaufnahme jener in seinem Übergang von Heraklit zu Parmen­ ides idealtypisch rekapitulierten Fragen – wie sie erstmals in den Grund­ fragen vom Wintersemester 1947/48 und erneut wieder zwanzig Jahre später im gemeinsamen Seminar 1966/67 mit Heidegger, das aber „ein Torso, ein Fragment über Fragmente bleiben sollte“,70 erfolgte – bedeutete für Fink nicht die Erfüllung eines rein antiquarischen Interesses für das griechische Denken; vielmehr führte sie die Wiederbelebung eines ganzen Problemkreises mit sich, der in der Geschichte der westlichen Ontologie und Metaphysik verloren gegangen war. Die Rückbesinnung auf die Grund­ fragen der ionischen physiologoi und der Eleaten bot Fink die Möglichkeit, neue Wege zu erschließen, die in der Geschichte der Philosophie weitge­ hend unerforscht geblieben waren, und diese in der Auseinandersetzung mit jenen frühen Denkern wiederzuentdecken, bei denen – ungeachtet des Gegensatzes zwischen ionischer und eleatischer Spekulation – jene endgültige Demarkationslinie zwischen dem Sein auf der einen und der Bewegung des Erscheinens auf der anderen Seite noch nicht gezogen wurde und das Problem der Welt, welche diese beiden Pole einschließt, immer im Blick stand. *** Wir möchten den Herausgeberinnen und Herausgebern der EFGA unseren Dank aussprechen: Frau Dr. Annette Hilt, Frau Dr. Cathrin Nielsen, Herrn Prof. Dr. Alexander Schnell, Herrn Prof. Dr. Hans Rainer Sepp und Herrn Prof. Dr. Holger Zaborowski, die uns mit der Aufgabe der editorischen Ausführung dieses Bandes betraut haben. Unser besonderer Dank gilt Herrn Dr. Franz-Anton Schwarz, dem langjährigen Herausgeber der Schriften und Vorlesungen Eugen Finks, der uns in zahlreichen Einzelfragen bereitwillig unterstützt hat. Dankbar sind wir auch Herrn Zahoransky und den Mitar­ beitern des Universitätsarchivs in Freiburg für ihre Hilfsbereitschaft und Präzision, sowie Herrn Lukas Trabert, bis 2020 Leiter des philosophischen Fachverlags Karl Alber. Des Weiteren möchten wir für mannigfache Rat­ schläge den Kollegen und Freunden Herrn Prof. Dr. Virgilio Cesarone, Herrn Prof. Dr. Guy van Kerckhoven, Herrn Prof. Dr. Alfredo Marini sowie Frau Dr. Fiorenza Bevilacqua und Herrn Dr. Massimo Mezzanzanica danken. Frau Dr. Cathrin Nielsen, die durch ihre geduldige Durchsicht der Texte und des kritischen Apparats dazu beigetragen hat, dass dieser Band erscheinen kann, gilt unsere tiefe Dankbarkeit. Dankbar sind wir auch Herrn Vgl. das Vorwort Finks zu: Martin Heidegger/Eugen Fink, Heraklit, Klostermann: Frankfurt am Main 1970, S. 5 (siehe oben in diesem Band, S.273).

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Prof. em. Dr. Friedrich-Wilhelm von Herrmann (†) für seine hilfreichen Ratschläge und seine Unterstützung. Milano – Parma, im Sommer 2022 Simona Bertolini und Riccardo Lazzari

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